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AUGUST 2004 · € 6,90 (D/A) DEUTSCHE AUSGABE DES

> Olympia: Sport und Technik

> Wölfe im Yellowstone-Park


> Die Krux mit dem Sex
> Mathematik: Emmy Noether
> ESSAY: Was ist Gerechtigkeit?

www.spektrum.de

KOSMOLOGIE

Die Zeit
vor der
ZEIT
Der Urknall war womöglich
nicht der Beginn von allem

13,50 sFr / Luxemburg 8,– €

MEDIZIN
Was tun bei
Kreislaufschock?
D6179E

MASSENSTERBEN
Streit um das Ende
der Dinosaurier
EDITORIAL z Reinhard Breuer
Chefredakteur

Verbotene Fragen

W ussten Sie, dass sich einige Arten von Rädertieren seit 70 Millionen
Jahren überaus erfolgreich vermehren – ungeschlechtlich? Warum sie
nicht längst von der Bildfläche verschwanden, ist durchaus ein Rätsel. In dem
Artikel »Die Krux mit dem Sex« auf Seite 58 werden jedenfalls die sonst
gepriesenen evolutionären Vorzüge sexueller Reproduktion kritisch unter die
Lupe genommen.
In der Schule habe ich noch gelernt: Mit geschlechtlicher Fortpflanzung
können schlechte Mutanten wirksamer zurückgedrängt und neue Genvarian-
ten leichter hervorgebracht werden. Aber offenbar ist es keineswegs so of-
fensichtlich, dass Reproduktion per Sex ihren Alternativen immer überlegen
ist. Von »einer der heikelsten Fragen der Biologie« spricht denn auch der ka-
lifornische Biologe Christopher Wills und führt »über dreißig Hypothesen«
an, die derzeit miteinander konkurrieren. Keine Sorge: Es geht beim Thema
Sex, wie auch sonst in diesem Magazin, um seriöse Fragen, die vielleicht nur
nicht so häufig gestellt werden.
Als ein absolutes Tabu galt bis vor wenigen Jahren beispielsweise die Fra-
ge, was vor dem Urknall gewesen sei. Im kosmischen Standardmodell setzt ANZEIGE
die Zeit erst mit dem Urknall ein, ihr
Nullpunkt liegt im »singulären« Ge-
Was Sie schon immer über Sex und burtsmoment der Raumzeit. Ein Da-
den Urknall wissen wollten vor konnte es im Standardszenario
so wenig geben wie ein Außerhalb
des Universums – schon danach zu
fragen war sinnlos. Aber die Urknallsingularität mit unendlich hoher Dichte
und Temperatur trug stets den Makel eines unphysikalischen Anfangs-
zustands.
Im Lichte moderner und – zugegeben – spekulativer Theorien vom Kosmos
dürfen Forscher inzwischen immerhin solche Frage stellen, ohne sich den
Zorn ihrer Fachkollegen zuzuziehen. Als wir vor drei Jahren zum ersten Mal
über ein »All ohne Urknall« berichteten (SdW 8/2001, S. 12), hielt der Münch-
ner Kosmologe Gerhard Börner solche Überlegungen immerhin für legitim,
solange sie nicht als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis angepriesen
würden. Was die Angelegenheit unterdes-
sen von purer Spekulation unterscheidet,
sind Vorschläge für Beobachtungen, mit
denen sich – zumindest prinzipiell – nach
Spuren eines Kosmos vor dem unsrigen
fahnden ließe (Seite 30).

S eit kurzem ist unser Medizin-Spezial


»Moderne Medizin« an den Kiosken.
Das Titelthema beschreibt die Aussichten,
erblindete Menschen mit einem »Sehchip«
wieder sehend zu machen. Daneben geht
es um das spannende Gebiet der regene-
rativen Medizin: Aus körpereigenen Zellen
sollen Gewebe und Organe nachgezüchtet
oder an Ort und Stelle repariert werden.
Wir berichten über die Verwirklichung die-
ser Vision.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
A U G U S T 2004
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I N I HN HAA L TT

SPEKTROGRAMM NATURSCHUTZ
Wieder Wölfe in Yellowstone
10 Teleportation von Atomen · Mit Vollgas
Seit im Yellowstone-Nationalpark in
gegen Staus · Sprachbegabter Hund ·
Strom von der Seeschlange u. a. den USA wieder Wölfe leben, regene-
riert sich das Ökosystem
13 Bild des Monats
Urtier im Ei

FORSCHUNG AKTUELL
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SE TE 42
14 Rohrpost zwischen Zellen
Über neu entdeckte Nanoröhren werden MED Z N
substanzgefüllte Bläschen ausgetauscht Neues Mittel gegen Schock
16 Wird R2-D2 bald Wirklichkeit? Zu den ge ürch e s en med z n schen Komp ka onen gehör der Schock E ne
Ein sprechender Haushaltsroboter soll Zu a sen deckung könn e he en d e Über ebenschancen zu erhöhen
Pflegebedürftige umsorgen
19 Korallenriffe heizten die Erde auf
Die heutigen Opfer der Erderwärmung
waren einst Täter im Klimageschehen
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PLANETENFORSCHUNG
THEMEN
Cassini – Ankunft am Saturn
r 24 Wölfe als Naturschützer Während der Orbiter Cassini bereits spektakuläre Bilder vom Ringplaneten sen-
Ihre Rückkehr in den Yellowstone- det, soll in Kürze die Sonde Huygens auf dem größten Saturnmond Titan landen
Nationalpark tat dem Ökosystem gut
r 30 Kosmologie
Gab es ein All vor dem Urknall?
r 42 Neue Behandlung für Schockpatienten
Ein Hormon bietet überraschende Hilfe
bei völligem Kreislaufkollaps
48 Neues vom Ringplaneten
Erste detaillierte Fotos von den Ringen
und Monden des Saturnsystems
r 58 Wofür Sex da ist
Wissenschaftlich lässt sich das
gar nicht so leicht erklären
r 62 Woran starben die Dinosaurier wirklich?
Noch immer wogt der Streit über das
Massensterben am Ende der Kreidezeit
SE TE 58
r 70 Emmy Noether
Die bedeutendste Mathematikerin EVOLUT ON
des 20. Jahrhunderts Die Krux mit dem Sex
r 78 Essay: Gerechtigkeit Fas ede Spez es prak z er Sex und möch e hn auch ke nes a s m ssen
Die Philosophie des John Rawls Dabe g b es v e e fiz en ere Wege s ch or zupflanzen Wo ür a so s Sex
r 90 Olympia e gen ch da?
Siegen dank Training und Forschung:
• Sensortechnik verbessert das Training
• Von der Vorstellung zur Bewegung --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SEITE 62
• Kann Gentechnik das Training ersetzen?
• Sportgeräte vom Feinsten ERDGESCHICHTE
Endloser Streit um das
Titelbild: Fünf vor zwölf – im klassischen Urknall- Ende der Dinosaurier
modell eine verbotene Angabe. Nach der String- Verursachte der Einschlag eines Him-
theorie jedoch wird aber selbst eine Zeit »vor dem melskörpers im Süden Mexikos das
Urknall« vorstellbar. Massensterben am Ende der Kreide-
Bild: Tom Draper Design; Hintergrund: MSX / IPAC / NASA zeit? Nach jahrzehntelangen Debatten
schien sich diese Theorie durchgesetzt
Die auf der Titelseite angekündigten Themen sind mit
zu haben. Doch Skeptiker erheben
r gekennzeichnet
neue Einwände

6 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
AUGUST 2 0 0 4

REZENSIONEN

109 Die Alpen von Werner Bätzing


Landschaften zwischen Himmel und Erde
von Art Wolfe und Art Davidson
The Pathological Protein von Philip Yam
Die Krankheitserfinder von Jörg Blech

PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN

101 Leichtes Spiel mit dem Schwerpunkt

KOMMENTAR
20 Wirtschaft forscher als der Staat
Industrie leistet Löwenanteil an Forschung
und Entwicklung in Deutschland
22 Nachgehakt

SEITE 30 Übergewicht und Elend

WISSENSCHAFT IM …
TITELTHEMA KOSMOLOGIE 40 Alltag: Die heimlichen Sieger
56 Rückblick: Mistkäfer-Orientierung im
Die Zeit vor dem Urknall polarisierten Licht u. a.
98 Unternehmen: Die Goldschmiede

WEITERE RUBRIKEN
5 Editorial · 8 Leserbriefe / Impressum ·
89 Preisrätsel · 114 Vorschau
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MATHEMATIKGESCHICHTE
Emmy Noether (1882 – 1935)
Die »Noether-Theoreme« zählen zum SPEKTRUM-PLUS.DE
ZUSATZANGEBOT NUR FÜR ABONNENTEN
Grundbestand der mathematischen
Physik. Ihre geniale Schöpferin hatte
sich gegen Hindernisse durchzuset-
zen, die uns heute völlig antiquiert
erscheinen

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PHILOSOPHIE
Essay: Metamorphosen der Gerechtigkeit
Der Moralphilosoph John Rawls widmete sein ganzes Leben dem Problem der
Gerechtigkeit

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SPORTWISSENSCHAFT Aus urheberrechtlichen Gründen Gedankenleser


Olympiade der Forschung können wir Ihnen die Bilder leider Erkennen, was im Kopf eines anderen
Wenn in Athen die besten Sportler nicht online zeigen. vorgeht – Wissenschaftler tüfteln an
der Welt an den Start gehen, steht Maschinen, die Gedanken lesen sollen
auch die Wissenschaft vor einer Be- ZUGÄNGLICH ÜBER WWW.SPEKTRUM-PLUS.DE NACH
ANMELDUNG MIT ANGABE DER KUNDENNUMMER
währungsprobe

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 7
LESERBRIEFE
Mars im Fokus dert sich die Geometrie der nen parabelförmig gekrümm- Briefe an die Redaktion …
LESERBRIEFE

Mai 2004 Agglomerate immer mehr in te Zylinderspiegel (nicht Para-


… richten Sie bitte mit Ihrer
Richtung Kugel (sie rollen bolspiegel) sind. vollständigen Adresse an:
Dass es auf dem Mars einmal dann sogar richtig im Gefäß). Karl Bednarik, Wien
Spektrum der Wissenschaft
größere Mengen Wasser gege- Es wäre also denkbar, dass
Ursula Wessels
ben hat, bezweifle ich zwar die Mars-Sphärulen einen Postfach 10 48 40
nicht, jedoch erlaubt die An- ähnlich trockenen Entste- Die Ursachen D-69038 Heidelberg
wesenheit makroskopischer hungsprozess durchlaufen ha- der Eifersucht E-Mail: wessels@spektrum.com
Mengen von Nanopartikeln ben, wobei das »Schütteln« Juni 2004 Fax: 06221 9126-729
(Staub) in Verbindung mit durch andere mechanische
wasserlöslichen Salzen und Einwirkungen auf den Staub, Die Ursache für Eifersucht ist
dem spurenhaften Auftreten zum Beispiel von Sandstür- schlichtweg Besitz. Sie hat sprochen die Unterscheidung
von Wasser noch eine alterna- men, übernommen wurde. nichts mit Liebe zu tun. Eifer- zwischen Konnotation und
tive Erklärung zur Bildung Mirko Eretel, Berlin süchtig sind wir, weil wir das Denotation eine Rolle, so
dieser Objekte. Objekt, auf das wir es abgese- im Abschnitt »Vieldeutige
Beispielsweise ist bei Ae- hen haben, besitzen wollen. Bedeutungen«: »Das Wort
rosil (mikronisiertes Silizium- Spiele mit Es geht nicht um drohende, DDR zum Beispiel klingt
dioxid, Korngröße zirka 10 bis ebenen Spiegeln verschwendete Vaterschaftsbe- heute anders als vor 1989,
15 nm) folgendes Phänomen Physikalische Unterhaltungen,
mühungen bei Männern oder obendrein anders für einen
beobachtbar: Wenn diese pul- Juni 2004
um verlorene emotionale Zu- SED-Funktionär als für ei-
verförmige Substanz mecha- wendung für die Kinderauf- nen Mauerflüchtling, anders
nischer Beanspruchung (zum Eine interessante Variante der zucht bei Frauen. für einen Ossi als für einen
Beispiel durch leichtes Schüt- Amici-Spiegel ist die unten Dass dennoch eine unter- Wessi.«
teln) ausgesetzt wird, bilden stehende Anordnung aus vier schiedliche Ausprägung bei Welche Art von Missver-
sich durch elektrostatische Spiegeln. Das Gerät selbst ist beiden Geschlechtern stattfin- ständnissen ist hier nun genau
Kräfte und Kohäsion lockere nahezu unsichtbar, denn man det und beobachtet wird, liegt gemeint? Es handelt sich in
Zusammenballungen von bis sieht die beiden seitlichen an Folgendem: Männer müs- diesem Fall tatsächlich wohl
zu 5 mm Durchmesser. Wie Spiegel und die Boden- und sen besitzen, weil sie sich über eher um verschiedene Konno-
ich in einem einfachen Expe- Deckplatte nur von der Kan- Besitz definieren und bestä- tationen, die mit ein und
riment beobachten konnte, te. Deshalb kann man neben tigt werden. demselben Begriff verbunden
lassen sich diese durch Zuga- dem umgeleiteten Bild des Wir bewundern Männer, werden können – eine ziem-
be von Partikeln anderer Zu- Hintergrunds an allen Seiten die es zu Ansehen und Reich- lich normale, alltägliche Sa-
sammensetzung und Korn- den echten Hintergrund auf tum gebracht haben. Frauen che. Der Essay entwickelt kei-
größe so modifizieren, dass direktem Wege sehen. hingegen müssen ihre Kinder nen befriedigenden Gedan-
diese kleiner, dichter und fes- Es geht auch mit drei erziehen und dies geschieht kengang.
ter werden. Außerdem verän- Spiegeln, wenn zwei von ih- unabhängig von emotionaler Dr. Leonardus van de Velde, Tossens
Zuwendung. Es reicht, wenn
der Mann jagt oder ihr Geld
l Der Betrachter hat den vollen lässt. Das ist nicht gewährleis- Night Visions
Durchblick auf das Karnickel, wäh- tet, wenn er sich woanders
Rezensionen, April 2004
rend die auf dem direkten Weg lie- umschaut.
genden Äpfel seinem Blick verbor- Dies scheint also die evo- Der auf Seite 95 groß abge-
gen bleiben. lutionspsychologische An- bildete Schmetterling Habro-
sicht zu bestätigen, wenn syne scripta gehört nicht zur
auch aus einem anderen, ein- Familie der Spanner (Geome-
facheren Motiv heraus. Doch tridae), sondern zur Familie
es bleibt die Tatsache, dass der Eulenspinner (Cymato-
Eifersucht ein angeborenes phoridae).
Verhalten ist. Gerhard Staguhn, Hamburg
Dominique Boursillon, Sigmaringen
Anmerkung der Redaktion:
Beide Familien gehören zur
Missverständnisse Oberfamilie der Spannerarti-
gen (Geometroidea). Anstelle
Essay, Mai 2004
von Cymatophoridae ist auch
Der Essay ist nicht uninteres- der Familienname Thyatiridae
sant, allerdings im Hinblick gebräuchlich. Die Systematik
KARL BEDNARIK

auf das Thema viel zu kurz der Schmetterlinge wird un-


und oberflächlich. An eini- ter den Fachleuten häufig
gen Stellen spielt unausge- kontrovers diskutiert.

8 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Im Wandel pfeile in der Grafik müssen

BUNDESANSTALT FÜR WASSERBAU


der Gezeiten parallel sein. Diese bei tiefe-
Mai 2004 rem Eindringen in den ver-
kürzt dargestellten Sachver-
Zu diesem Artikel erhielten wir halt zunächst schwer nach-
viele Leserbriefe, die sich mit der zuvollziehende Gegebenheit
dort abgebildeten und vermeint- resultiert aus der besonderen
lich falschen Grafik »Wie die Art der als »Revolution ohne
Gezeitenberge und -täler entste- Rotation« bezeichneten Erd-
hen« auseinander setzten. Der bewegung: der Drehung des
Autor Albrecht Sauer gibt dazu Zwei-Körpersystems Erde-
folgenden Kommentar: Mond um den gemeinsamen
Schwerpunkt und der Dre-
S = Schwerpunkt der gemeinsamen Bewegung
Wenn komplexe Sachverhalte hung der Erde um sich selbst von Erde und Mond
auf schnellfassliche Erklärun- – schließlich wendet die Erde
gen heruntergebrochen wer- dem Mond nicht stets diesel-
den, wie es in einer besucher- be Seite zu. Dabei führen alle kräfte nur scheinbare Kräfte o Erde und Mond kreisen um einen
nahen Ausstellung mit kurzen Punkte auf der Erdoberfläche seien, die lediglich aus der gemeinsamen Schwerpunkt (S), der
Verweilzeiten vor dem Einzel- eine Kreisbewegung aus, bei Sicht des rotierenden Systems innerhalb des Erdkörpers liegt. Die
exponat nötig ist, gehen not- der sie gleich großen, parallel bestehen. Die beiden Ge- Fliehkraft der gemeinsamen Bewe-
gedrungen manche Details wirkenden Fliehkräften aus- zeitenberge bildeten sich gung (rote Pfeile) wirkt an allen
verloren beziehungsweise wer- gesetzt sind. In der hier ge- aber auf der mondzu- wie Punkten der Erdoberfläche mit glei-
den Zusammenhänge zur zeigten Grafik (oben) ist dies der mondabgewandten Seite cher Kraft parallel zur Verbindungs-
Veranschaulichung besonders exemplarisch für vier Punkte ebenso aus, wenn Erde und achse der beiden Himmelskörper.
pointiert. dargestellt (gelber, blauer, grü- Mond »aufeinander zu fie-
So auch die Pfeile der ner und roter Kreis). len«, also kein Gleichgewicht
Kräfteparallelogramme in der Die Stärke der Fliehkräfte zwischen Flieh- und Gravita- Erde differenzielle Gravitati-
im Mai-Heft auf S. 58 abge- (und damit die Länge der tionskräften bestünde. Denn onskraft des Monds als ein-
bildeten Grafik: Ihre Rich- Pfeile) entspricht exakt der in diesem Fall würden durch zige für die Gezeiten ursäch-
tung und ihre Länge über- Gravitationskraft des Monds die Massenträgheit der Erde liche Kraft bezeichnen.
zeichnen die grundsätzlichen im Schwerpunkt der Erde, ihre dem Mond nächsten Tei- Zum tieferen Verständnis
Gegebenheiten der gezeiten- ihre Richtung ist entgegenge- le am stärksten, hingegen die ist vielleicht eine ausführli-
erzeugenden Kräfte. Auch ist setzt: Es ist die Kraft, die ver- entferntesten am schwächsten chere Erklärung des Gesamt-
»Gramm« heute keine korrek- hindert, dass Erde und Mond beschleunigt und der Erd- phänomens hilfreich, die sich
te Bezeichnung für Kräfte »aufeinander zu fallen«. körper und seine Meere ent- im Internet unter der Adresse
mehr, dafür aber eine für je- Einige Fachwissenschaft- sprechend eiförmig verformt. http://home.t-online.de/
dermann vorstellbare Größe. ler wiesen außerdem in Leser- Unter diesem Verständnis home/Kreuer.Dieter/Astro/
Dennoch: Die Fliehkraft- briefen darauf hin, dass Flieh- lässt sich die auf und in der Tides/Tides.htm befindet.

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Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Dr. Markus Fischer, der Wissenschaft, Kasernenstraße 67, D-40213 Düsseldorf, President and Chief Executive Officer: Gretchen G. Teichgraeber,
Dr. Werner Gans, Dr. Rainer Kayser, Dr. Frank Scholz, Tel. 0711 88723-87, Fax 0211 374955 Vice President: Frances Newburg, Vice President and
Dr. Frank Schubert, Dr. Hans Zekl. Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 25 vom 01.01.2004. International Manager: Dean Sanderson

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 9
SPEKTROGRAMM
SPEKTROGRAMM

ENERGIEGEW INNU NG

Den Wellengang geschmeidig nutzen


Q Die Idee eines Wellenkraftwerks ist nicht neu. Doch bisher gelang es nie, die
Gewalt der Wogen dauerhaft zu bändigen. Deshalb haben Ingenieure der norwe-
gischen Firma Hydro nun ein flexibles System entwickelt: die »Wellenwurst«.
Während starr im Meer stehende Versuchsanlagen stets irgendwann unter der
Wucht der anbrandenden Wellen zerbarsten, treibt die über 120 Meter lange und
nur sieben Meter breite Konstruktion locker vertäut im Wasser. So trotzt sie nun
schon seit einigen Wochen den Gezeiten vor den schottischen Orkneyinseln. Mit
ihren vier durch Scharniere verbundenen Segmenten passt sich »Pelamis« – so
der offizielle Name nach dem griechischen Wort für Seeschlange – dem Wellen-
gang geschmeidig an. Beim Schaukeln schwappt eine Hydraulikflüssigkeit in ih-
rem Inneren hin und her und treibt dabei eine Turbine an, welche die Bewegung
in elektrischen Strom umwandelt. Noch erfolgt die Energiegewinnung nicht stabil
genug, aber immerhin hält die Seeschlange eisern den widrigen Bedingungen in
der stürmischen Nordsee stand. Künftig soll jede Einheit genug Strom für 130
Wohnungen produzieren. Auch marine Kraftwerkfarmen mit bis zu vierzig Gene-
ratoren sind in Planung. Billig ist der so erzeugte Strom wegen des anspruchs-
vollen Verfahrens bisher allerdings nicht. Doch Richard Erskine, Leiter von Hydro
Technology Venture, rechnet damit, die Kosten innerhalb von zehn Jahren auf
den Preis von Kohle und Erdgas drücken zu können. (Norsk Hydro)

ASTRONOMIE

Ein Licht im Zentrum der Katastrophe


Q Astronomen von der York University ge Explosionswolke und nannten sie wolke ein Leuchten im Radiobereich
in Toronto haben in der 30 Millionen entsprechend SN1986J. Heute ist der ausmachen. Es stammt zweifelsfrei
Lichtjahre entfernten Galaxie NGC 891 Supernova-Überrest 18 Jahre alt. von dem Relikt des kollabierten Sterns:
den jüngsten strahlenden Überrest ei- In diesem zarten Alter haben die einem Schwarzen Loch oder einem
ner Supernova entdeckt. Die Sternex- Astronomen ein solches Objekt bisher Neutronenstern. Beides sind extrem
plosion selbst wäre 1983 zu beobach- noch nie zu Gesicht bekommen. Alle kompakte Objekte, die umgebende
ten gewesen, aber die Wissenschaftler anderen bekannten Exemplare existie- Materie aufsaugen, wobei Strahlung
verpassten das Ereignis und erfuhren ren mindestens seit einigen hundert ausgesandt wird. Bis jetzt konnten die
erst davon, als schon alles vorbei war: Jahren. Doch bei SN1986J ließ sich Forscher noch nicht zwischen den zwei
Zufällig erspähten sie 1986 die gewalti- schon jetzt im Zentrum der Explosions- Möglichkeiten unterscheiden. Sie sind
jedoch zuversichtlich, dass ihnen dies
bei der weiteren Beobachtung gelingt.
AUFNAHME: N. BARTEL UND M. F. BIETENHOLZ, YORK UNIVERSITY; KOLORIERUNG: G. ARGUNER

In jedem Fall werden sie die Entwick-


lung ihres Babys in den nächsten Jah-
ren wachsam verfolgen; schließlich ist
dies eine einmalige Gelegenheit, mehr
über das Schicksal eines massereichen
Sterns unmittelbar nach seinem fulmi-
nanten Ende zu erfahren. (Science express,
10.6.2004)

l Das im Radiobereich leuchtende Zentrum von


Supernova 1986J ist von Material, das der Stern
während der Supernova-Explosion weggeschleu-
dert hat (rot), und von einer Staubscheibe (blau)
umgeben. Die Farben auf dieser Zeichnung sind
willkürlich gewählt.

10 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
BIOLOGIE / ETHOLOGIE

Was ein Hund


so alles versteht
Q Rico besitzt eine Stofftiersammlung,
um die ihn jedes Kind beneiden dürfte.
Was aber noch erstaunlicher ist: Er
kennt jedes seiner über 200 Plüschtie-
re mit Namen. Damit beeindruckte er
schon 1999 ein Millionenpublikum bei
»Wetten, dass ...?«. Wie Wissenschaft-
ler am Max-Planck-Institut für evolutio-
näre Anthropologie in Leipzig nun he-
rausfanden, reichen seine geistigen
Fähigkeiten aber noch weiter. So kann
der neunjährige Bordercollie im Aus-
schlussverfahren neue Begriffe lernen.
Das demonstrierten die Forscher
mit einem einfachen Versuch: Sie leg-
ten unbemerkt ein neues Stofftier in
Ricos Sammlung und forderten ihn auf,
Liefern Farmen aus »Wellenwürsten« es zu apportieren, indem sie es beim

NORSK HYDRO
den Ökostrom der Zukunft? Namen nannten. Der Rüde hatte das
betreffende Wort zwar noch nie ge-
hört, brachte aber trotzdem das richti-
ge Objekt. Offenbar begriff er, dass mit
G EN E TIK dem unbekannten Ausdruck das frem-
de Plüschtier gemeint sein musste.
Hitze macht Alge heiß Eine solch abstrakte Denkleistung
traute man bisher nur Menschen zu.
l Volvox-Kolonie mit vegetativ gebildeten Able- Insgesamt kann Rico mit dem Sprach-
gern (dunkelgrün). In der Hitze geht die Kugelalge verständnis eines Dreijährigen mithal-
dagegen auf sexuelle Vermehrung über. ten. Ist er also ein Wunderhund oder
repräsentativ für seine Artgenossen?
Juliane Kaminski, die mit ihm arbeite-
benprodukte des Stoffwechsels, die te, glaubt Letzteres. Ihrer Ansicht nach
biologisches Gewebe zerstören und die haben Hunde sich seit ihrer Domesti-
AURORA NEDELCU

Erbsubstanz DNA schädigen können. zierung vor rund 15 000 Jahren der
Ihre Menge nimmt zu, wenn sich menschlichen Kommunikation ange-
bei steigender Temperatur der Stoff- passt. (Science, 11.6.2004, S.1682)
umsatz der Alge erhöht. Zwar verfügt
Volvox über Mittel, die freien Radikale
Q Gegen harte Zeiten hat Volvox carte- abzubauen, bevor sie Schaden anrich- u Kluger Hund! Rico zeigt das Sprachverständ-
ri ein Patentrezept: Sex. Die Kugelalge, ten können. Mit zunehmender Wasser- nis eines dreijährigen Kindes.
die im Süßwasser lebt, vermehrt sich temperatur erreicht die Konzentration
normalerweise ungeschlechtlich. Wird der aggressiven Molekülfragmente
das Wasser jedoch sehr warm, schaltet jedoch einen kritischen Wert. Ein spezi-
sie auf sexuelle Fortpflanzung um. Da- elles Gen veranlasst dann die Produk-
bei entstehen so genannte Zygoten, tion zweier Geschlechtshormone, die
die praktisch keinen Stoffwechsel mehr den Umstieg auf die sexuelle Vermeh-
betreiben und mit ihren harten Zellwän- rung bewirken. Die Zygoten mit ihrem
den – ähnlich wie Sporen – auch in aus- stillgelegten Stoffwechsel sind nicht
getrockneten Gewässern überleben mehr durch freie Radikale gefährdet.
können. Aurora Nedelcu von der Uni- Zudem wird bei der sexuellen Vermeh-
BAUS / KRZESLOWSKI

versität von Neubraunschweig in Frede- rung das Genmaterial neu gemischt.


ricton (Kanada) hat nun den molekula- Geschädigte Abschnitte können dabei
ren Auslöser dieses Strategiewandels gegen korrekte ausgetauscht werden.
gefunden: freie Radikale. Das sind Ne- (Proceedings of the Royal Society B, im Druck)

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 11
KLIMAFORS CHUN G l In dieser Ionenfalle gelang erstmals die Tele-
SPEKTROGRAMM

portation von Kalzium-Atomen.


Blick ins Tiefkühl-
fach der Erde zwei Physikerteams unabhängig von-
einander erstmals auch den Quanten-
Q Einen Rekord vermelden Klimafor- zustand eines Atoms teleportieren.
scher aus der Antarktis: Sie konnten Grundlage der Versuche bildete −
mehr als drei Kilometer tief ins ewige wie bei den Photonen − die so ge-
Eis am Südpol bohren. In den gewon- nannte Verschränkung, die bei materi-
nenen zylindrischen Eisblöcken sind ellen Teilchen jedoch viel schwerer zu
lückenlos alle Schneefälle der letzen erreichen ist. Zwei Atome wurden bei
740 000 Jahre eingeschlossen. Damit extrem tiefen Temperaturen in einer

C. LACKNER
drangen die Teilnehmer des »Europäi- Ionenfalle in der Schwebe gehalten
schen Projekts für Eisbohrungen in der und in einen gemeinsamen Quanten-
Antarktis« fast doppelt so weit in die zustand versetzt. Dieser ist stets
irdische Klimahistorie vor wie ihre russi- QUANT E N P H Y S I K messbar, während der Einzelzustand
schen Kollegen vor einem Jahrzehnt an unbekannt bleibt.
der Station Vostok. Hatte deren Bohr- Teleportation mit Forscher der Universität Innsbruck
kern vier Eiszeiten überspannt, so sind verschränkten nun eines der beiden
es jetzt acht. Das ergibt sich aus der ganzen Atomen Atome zusätzlich mit einem dritten,
per Isotopen-Analyse rekonstruierten dessen Zustand sie dann mit Hilfe von
Temperaturkurve. Allerdings waren die Q Captain Kirk und Mr. Spock nannten Laserpulsen mit einer Erfolgsrate von
Klimaextreme in den ältesten Zyklen es Beamen. Mit dieser Technik schaff- 75 Prozent über eine Entfernung von
nicht ganz so groß wie in den jüngeren. ten sie es, sich von einem Ort an einen wenigen Mikrometern teleportieren
Besonders interessant sind die Er- anderen versetzen zu lassen, ohne die konnten. Sie arbeiteten dabei mit Kalzi-
gebnisse für die Warmzeit vor 425 000 dazwischen liegende Strecke zurückle- um, das Team vom National Institute of
bis 395 000 Jahren; denn damals gen zu müssen. Physiker sprechen von Standards and Technology (NIST) in
stimmten die Parameter der Erdbahn, Teleportation und stellen auch etwas Boulder (Colorado) dagegen mit Beryl-
von denen das irdische Klima abhängt, geringere Ansprüche. Sie wollen nicht lium. Die Teleportation von Zuständen
ziemlich genau mit den heutigen über- einen kompletten Gegenstand, son- ganzer Atome ließe sich für Quanten-
ein – was seither nie wieder der Fall dern nur die komplette Information computer nutzen, wenn es gelänge,
war. Diese Warmzeit kann somit als darüber an einen anderen Ort übertra- sie mit sehr viel einfacheren und klei-
historisches Modell für die heutige Si- gen. Mit Lichtquanten ist ihnen das neren Apparaturen zu erreichen. (Nature,
tuation dienen. Tatsächlich deckt sich schon 1997 gelungen. Jetzt konnten 17. Juni 2004, S.734/737)
der Kohlendioxidgehalt der seinerzeit
im Eis eingeschlossenen Luftbläschen
mit dem vor dem Beginn der industriel- VE RKE H R S S I M U LAT I O N
len Revolution. Sollte die heutige
Warmzeit genauso lang verlaufen wie Mit Vollgas aus dem Stau
damals, hätten wir noch gut 15 000
Jahre bis zum nächsten Absturz in den Q Notorische Raser werden es gerne ßenverkehrs in Bogotá reproduzieren
Eiskeller. Allerdings hat der massive hören: Aggressives Fahren kann Staus und den Grund für den meist reibungs-
Ausstoß von Kohlendioxid durch den vermeiden helfen. So das Ergebnis losen Fluss ermitteln.
Menschen unser Klimasystem vermut- einer Computersimulation am Beispiel Verblüffendes Ergebnis: Es liegt an
lich längst aus den natürlichen Geleisen Bogotás. Schon lange rätselten Luis E. dem besonders rasanten Fahrstil der
geworfen. (Nature, 10.6.2004, S. 623) Olmos und José D. Muños von der Kolumbianer. Allerdings nicht allein:
Nationaluniversität Kolumbiens, warum Eine Verbesserung der öffentlichen
Abschnitt des 2,5 Kilometer langen Eisbohr- es in der Metropole mit ihren sieben Verkehrsmittel und der Infrastruktur für
kerns vor dem Camp auf »Dome C« im Osten Millionen Einwohnern, von denen im- Radfahrer sowie Restriktionen für die
der Antarktis, wo die Bohrung stattfand merhin jeder siebte ein Auto hat, kaum Benutzung von Privatwagen sorgten
Staus gibt. Auf der Suche nach der zugleich für eine Entlastung der Stra-
Antwort fuhren die Forscher bei zufäl- ßen. Außerdem hat auch in Kolumbien
lig ausgewählten Personen mit und die Raserei ihren Preis: Jeder sechste
notierten durchschnittliche Geschwin- Einwohner, der keines natürlichen To-
digkeit, Bremshäufigkeit und Beschleu- des stirbt, fällt einem Verkehrsunfall
nigung. Aus diesen Daten konstruier- zum Opfer. (International Journal of Modern
S. KIPFSTUHL, AWI

ten sie Verhaltensregeln für virtuelle Physics C, Juni 2004)


Fahrer in einem zellulären Automaten.
So konnten sie die Merkmale des Stra- Mitarbeit: Dagny Lüdemann

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
BILD DES MONATS
Aus urheberrechtlichen Gründen
können wir Ihnen die Bilder leider
nicht online zeigen.

Urtier im Ei
Fossile Dinosaurier-Eier gibt es relativ viele, aber Nordosten Chinas. Es hat etwa die Größe eines
nur in wenigen wurde auch ein Embryo entdeckt. Hühnereis und wurde auf ein Alter von 121 Millio-
Und der ist meist so schlecht erhalten, dass selbst nen Jahren datiert. Es ist der erste fossil erhaltene
eine grobe stammesgeschichtliche Zuordnung Embryo eines Flugsauriers überhaupt. Die genaue
schwer fällt. Um so faszinierender ist der jüngste Analyse der Knochen ergab, dass das Tier zur
Fund zweier chinesischer Forscher: die Versteine- Familie der Ornithocheiriden in der Unterordnung
rung eines flach gedrückten Eis (oben links) mit so der Pterodactyloiden gehörte. Zudem sind Teile
gut konserviertem Embryoskelett, dass sich nicht der Flugmembran und Hautabdrücke erhalten.
nur die Familienzugehörigkeit bestimmen, son- Die Flügelspannweite beträgt 27 Zentimeter. Der
dern auch rekonstruieren ließ, welche Körperhal- Embryo im Ei hat nur deshalb die Jahrmillionen
tung das kurz vor dem Schlüpfen stehende Tier überdauert, weil er bei einer Naturkatastrophe –
einnahm (Zeichnung). Das Fossil stammt aus krei- vermutlich einem Vulkanausbruch – getötet und
dezeitlichen Schichten in der Provinz Liaoning im sofort unter Gesteinsschutt begraben wurde.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 13
FORSCHUNG AKTUELL
BIOLOGIE
FORSCHUNG AKTUELL

Rohrpost zwischen Zellen


Forscher an der Universität Heidelberg haben tunnelartige Verbin-
dungen zwischen Säugerzellen entdeckt. Durch die mikrometerlan-
gen Nanoröhren werden selektiv und nur in eine Richtung substanz-
gefüllte Membranbläschen geschleust. Der Zweck ist noch unklar.

Von Georg Sposny

A m Anfang stand eine Nachlässig-


keit. Amin Rustom, Doktorand bei
Hans-Hermann Gerdes am Institut für
Neurowissenschaften der Universität Hei-
delberg, sollte Tumorzellen der Ratten-
niere untersuchen, die er in einer Petri-
schale gezüchtet hatte. Üblicherweise zog
er dafür vorher das Nährmedium ab und
färbte dann die Plasmamembran ein.

BEIDE BILDER: A. RUSTOM UND H. GERDES


Doch diesmal verzichtet der Jungforscher
auf den ersten Schritt und gibt gleich den
Farbstoff zu. Prompt erlebt er im Mikro-
skop eine Überraschung: Wie feine Fä-
den spannen sich zwischen den Zellen
hauchdünne, geheimnisvoll schimmern-
de Membranröhren. Beim Abziehen des
Mediums hatte er sie zuvor stets unwis-

o
sentlich zerstört. men Empfindlichkeit der Strukturen zu- Zwischen Nierenzellen bilden sich
Obwohl Rustom und sein Doktorva- sammenhängt. Das Mikroskop für die beim Kultivieren in der Petrischale
ter keine Experten für extrazelluläre Zell- Untersuchungen steht in einem verzweig- lange, straff gespannte Membranröhren,
strukturen sind, sondern sich auf Signal- ten System unterirdischer Gänge, das die die im Rasterelektronenmikroskop deut-
vorgänge innerhalb von Nervenzellen Institute im Theoretikum der Universität lich erkennbar sind (unten). Sie dienen of-
spezialisiert haben, erkennen sie das Be- Heidelberg miteinander verbindet. Im fenbar dazu, substanzgefüllte Membran-
sondere ihrer Entdeckung. Zunächst su- Tunnel vor dem Untersuchungsraum bläschen zu übertragen. Das geschieht
chen sie in anderen Zellkulturen in ih- aber rumpelt regelmäßig ein Müllwagen- jedoch nur in einer Richtung (oben).
rem Labor – normalen Zellen der Rat- Konvoi vorbei. Die Erschütterungen las-
tenniere und menschlichen embryonalen sen die TNTs vor den Augen von Rustom
Nierenzellen – nach den Nanoröhren ins Nirwana entschwinden. Aber schließ-
und werden fündig. Offenbar tritt das lich gelingt es, die Bürokraten davon zu nommen hat, bilden sich die anderen
Phänomen also verbreitet auf und ist kei- überzeugen, die Müllwagen umzuleiten zurück. Zugleich wird die entstandene
ne einmalige Zufallserscheinung. und den Tunnel zur verkehrsberuhigten Nanoröhre, die zunächst wie ein lockerer
Messungen ergeben, dass die Fäden Zone zu erklären. Faden durchhängt, straff gespannt.
50 bis 200 Nanometer dick sind und sich Was die Kontaktsuche auslöst, ob sie
über eine Länge von mehreren Zelldurch- Mit Membranschläuchen gerichtet verläuft und warum nur eine
messern – also bis zu einige Dutzend Mi- auf Kontaktsuche Verbindung bestehen bleibt, ist noch un-
krometer weit – erstrecken können. Nun Nun ist es endlich möglich, die Bildung geklärt. Doch so viel steht fest: Sobald
wird es auch Zeit, über einen Namen der TNTs ohne Störung zu verfolgen der Kontakt hergestellt ist, verschmelzen
nachzudenken. Die Forscher erlauben und sie dabei zu filmen. Die Videos zei- die Membranen des Schlauchs und der
sich einen kleinen Scherz und wählen gen, wie in der Zellmembran der Kon- Empfängerzelle miteinander. Damit ha-
TNT, bekannt als Kurzbezeichnung für takt suchenden Zelle zunächst an einer ben nun beide Zellen eine gemeinsame,
den Sprengstoff Trinitrotoluol; in diesem oder mehreren Stellen kleine Knubbel zusammenhängende Hülle – mit der Na-
Fall aber steht es für »tunneling nano- aussprossen. Sie wachsen zu Membran- noröhre als verbindendem Tunnel.
tube« (tunnelartige Nanoröhre). schläuchen heran – bis die Zelle aussieht Die Entdeckung einer solchen Mem-
Die weitere Erforschung des Phäno- wie der Kopf einer Zahnbürste mit lan- brankontinuität zwischen Zellen von er-
mens droht zunächst an einem profanen gen Borsten. Sobald ein Schlauch den wachsenen Wirbeltieren kann als Sensa-
Problem zu scheitern, das mit der extre- Kontakt mit einer Nachbarzelle aufge- tion gelten. Zwar kennt man schon lan-

14 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
ge diverse Kontaktstellen, an denen eine gestellt. Nach der einen könnten die En-
elektrische oder durch spezielle Boten- dosomen mit Hilfe eines Motors ähnlich
stoffe vermittelte Kommunikation statt- dem Myosin der Muskelzellen aus eige-
findet; und manchmal werden sogar klei- ner Kraft durch die Röhre schwimmen.
ne Moleküle ausgetauscht. Stets aber Dafür bräuchten sie jedoch den Treib-
bleiben die beteiligten Zellen physisch stoff Adenosintriphosphat (ATP), bei
getrennte, von einer eigenen Plasma- dessen Spaltung und Umwandlung in
membran umschlossene Einheiten. Adenosindiphosphat (ADP) Energie frei
Nur im Pflanzenreich gilt das nicht. wird. Es ist im Cytoplasma frei verfüg-
Über Plasmodesmata, kleine Poren, sind bar, im engen TNT aber, wenn über-
hier benachbarte Zellen und deren Cyto- haupt, sicher nur in geringen Mengen
plasma (»Zellsaft«) miteinander verbun- vorhanden. Das Endosom müsste also
den. Gleichwohl bestehen grundlegende selbst genügend ATP mitführen – was
Unterschiede zu den jetzt entdeckten unwahrscheinlich erscheint.
TNTs. Beispielsweise sind diese, wie sich Deshalb favorisieren die beiden For-
inzwischen gezeigt hat, keine reinen scher ein anderes Modell. Dabei heftet
Membranen, sondern umschließen ein sich das Endosom am Eingang zum Tun-
Aktinfilament, das mit ihnen wächst. nel an die Aktinfaser und lässt sich von
Aktin ist ein weit verbreiteter Eiweißstoff ihr wie von einem Förderband durch die
mit vielen Aufgaben. Insbesondere er- Röhre ziehen. Das setzt voraus, dass sich
zeugt es in Verbindung mit dem Motor- der Aktinfaden selbst bewegt, wobei er
protein Myosin die Muskelbewegung. auf der einen Seite – in der Kontakt su-
chenden Zelle – stetig verlängert und auf
Schleuse für Transportbehälter der anderen abgebaut wird. Das ist nicht
im Zell-Zell-Verkehr unwahrscheinlich; schließlich weiß man,
Ein weiterer Unterschied zwischen TNTs dass Faserproteine oft in einer Art Fließ-
und Plasmodesmata: Selbst in ausge- gleichgewicht vorliegen – wobei am ei-
klügelten Versuchen ist es nicht gelun- nen Ende Auf- und am anderen Abbau- ANZEIGE
gen, einen Fluss von Cytoplasma, Mole- prozesse stattfinden.
külen oder Ionen durch die Nanoröhren Dazu passt auch, dass die Organellen
hindurch nachzuweisen. Nur bei Protei- in recht gemächlichem Tempo wandern.
nen, die in die Plasmamembran selbst Sie bringen es nur auf 25 Nanometer pro
eingebettet sind und sich darin frei bewe- Sekunde, sodass sie für das Durchqueren
gen, ließ sich durch Kopplung mit Farb- des Tunnels bis zu mehrere Minuten
stoffen zeigen, dass sie über den Tunnel brauchen. Folglich dürften die TNTs
hinweg von der einen Zelle zur anderen nicht zur raschen Signalübermittlung
wandern können. Dieser Nachweis, der dienen, sondern eher eine Rolle bei der
die Membrankontinuität zweifelsfrei do- mittel- bis langfristigen Koordination
kumentiert, war freilich mühsam: Er kos- der beteiligten Zellen spielen. Über ih-
tete Rustom und Gerdes zusammen mit ren genauen Zweck aber lässt sich einst-
Rainer Saffrich, einem Experten für Mi- weilen nur spekulieren.
kroinjektion in Heidelberg, der tagsüber Ohnehin ist noch keineswegs sicher,
einem anderen Projekt verpflichtet war, dass sie überhaupt im lebenden Organis-
mehr als hundert nächtliche Stunden. mus vorkommen. Bisher wurden sie näm-
Wozu aber dient der Tunnel? Wie lich nur in Zellkulturen beobachtet. Ei-
sich zeigte, ist er eine exklusive Einbahn- nes der nächsten Ziele ist also ihr Nach-
straße für spezielle, membranumhüllte weis im Körper. In welchen Organen
Körperchen: die Endosomen. Mit ihrem kommen sie vor? Verbinden sie nur Zel-
Durchmesser von etwa fünfzig Nanome- len gleichen Typs oder auch unterschied-
tern passen diese Organellen gerade eben liche Gewebe? Denkbar wäre, dass die
durch die dünne Röhre. Üblicherweise Nanoröhren ein den gesamten Körper
fungieren sie als Transportbehälter für überspannendes Netzwerk bilden, das
diverses Material – Signalmoleküle etwa, Biologen und Mediziner bisher schlicht
oder kleine bis mittelgroße Proteinkom- übersehen haben. In diesem Fall hätte die
plexe. In der Nanoröhre werden sie von kleine Nachlässigkeit eines Doktoranden
der den Fühler ausstreckenden zu der eine Revolution im Verständnis des Wir-
von ihm kontaktierten Zelle geschleust beltierorganismus ausgelöst. l
(Science, Bd. 303, S. 1007).
Zum Bewegungsmechanismus haben Georg Sposny studiert an der Universität Heidelberg
Gerdes und Rustom zwei Theorien auf- Biologie und arbeitet nebenher als freier Journalist.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 15
ROBOTIK »Bitte hole mir einen Apfelsaft aus
FORSCHUNG AKTUELL

der Küche!«, verlangt eine ältere Dame,


Wird R2-D2 bald Wirklichkeit? die auf dem Sofa Platz genommen hat.
Care-O-bot II fährt los und findet dank
einem Laserscanner, mit dem er seine
Ein sprechender Haushaltsroboter des Fraunhofer-Instituts für Pro- Umgebung abtastet, den Weg zum Kühl-
duktionstechnik und Automatisierung soll vor allem in der Altenpflege schrank. Dort angekommen, öffnet er
eingesetzt werden. Bislang noch im Prototyp-Stadium, leistet er doch vorsichtig die Tür und schließt sie wie-
der, nachdem er das Getränk herausge-
schon Erstaunliches. holt hat. Dann angelt er ein Glas aus
dem Küchenschrank, bringt es zusam-
Von Frank Schubert breit geöffnetem Mund, der auf den Na- men mit dem Saft ins Wohnzimmer und
men Care-O-bot II hört. Am Fraunho- stellt beides auf dem Couchtisch ab.

S prechende, intelligente Roboter geis-


tern seit Jahrzehnten durch futuristi-
sche Romane, Filme und Comics – sei es
fer-Institut für Produktionstechnik und
Automatisierung (IPA) in Stuttgart ge-
baut, hatte er kürzlich Gelegenheit vor-
Der elektronische Butler
im intelligenten Haus
als Freund des Menschen wie die munte- führen, was er alles kann. Care-O-bot II wurde vor anderthalb Jah-
re Blechbüchse R2-D2 in »Star Wars« »Darf ich Ihnen einen Saft anbie- ren konstruiert und hat schon viele Tests
oder als dessen unerbittlicher Feind wie ten?«, fragt der maschinelle Butler form- hinter sich. Jetzt haben ihn die Fraunho-
die Killermaschine im ersten »Termina- vollendet einen staunenden Journalisten. fer-Forscher in ein elektronisch vernetz-
tor«-Film. Mit der Gegenwart haben die- Ein metallener Greifarm fährt vor, mit tes Wohnhaus integriert: das so genann-
se Kunstwesen noch wenig zu tun. Doch einem Glas Orangensaft in der zangen- te intelligente Haus (»inHaus«) in Duis-
langsam beginnt die Realität die Fantasie ähnlichen Hand. Als der Mann zugreift, burg, ebenfalls eine deutsche Innovation.
einzuholen. So könnte die sprechende lockert Care-O-bot II seinen Griff und Ein Konsortium unter Führung des
Roboter-Putzhilfe schon bald im heimi- gibt das Glas frei. Geduldig wartet der Fraunhofer-Instituts für Mikroelektroni-
schen Wohnzimmer Staub wischen. Roboter, bis der Journalist getrunken sche Schaltungen und Systeme (IMS)
Und wenn es so weit ist, dürfen hat. Dann meldet sich die tonlose Stim- hat es zu dem Zweck entwickelt, neue
deutsche Forscher sich rühmen, maßgeb- me wieder: »Bitte geben Sie mir das Technologien rund ums Wohnen zu tes-
lich zum Erfolg beigetragen zu haben. Glas.« Care-O-bot II lässt es sich reichen, ten. Das Hauptaugenmerk liegt auf der
Tatsächlich bildet ihr jüngstes Produkt dreht sich um und rollt zum Esstisch. elektronischen Vernetzung: Kühlschrank,
einen Meilenstein auf dem Weg zur voll- Als ihm ein Wissenschaftler in den Weg Waschmaschine, Heizung, Alarmanlage,
elektronischen Perle: ein menschenähn- tritt, bleibt er sofort stehen und wartet, Badewanne und das Multimedia-Auto
lich gestalteter Haushaltsroboter mit fla- bis er weiterfahren kann. Dann erst stellt der Bewohner kommunizieren miteinan-
chem Kopf, runden Kamera-Augen und er das Glas auf dem Tisch ab. der und tauschen Daten aus. Dadurch

u
Der bewusst menschenähnlich ge-
staltete Care-O-bot II kann mit sei-
nem einen Arm ein volles Saftglas rei-
chen oder entgegennehmen, ohne es zu
zerbrechen oder etwas zu verschütten.
IPA

16 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
lassen sich alle Funktionen Tag und
Nacht überwachen und steuern.
»Das Haus stellt zum Beispiel fest,
wann Sie da sind, und regelt Licht und
Heizung entsprechend«, erklärt Klaus
Scherer vom IMS. Tritt ein Defekt in der
Heizanlage auf, benachrichtigt diese au-
ßer den Bewohnern auch den Handwer-
ker. Der kann per Internet abfragen, wo
der Schaden liegt, und gleich das passen-
de Werkzeug mitbringen. Ein anderes
Beispiel: Ein verfrühter Besucher steht
vor der Tür, bevor man selbst zu Hause
ist. Der Heimcomputer schickt dann eine
Nachricht aufs Handy. Mittels Haustür-
kamera kann man den Gast auf dem
Handy-Display sehen und ihn gegebe-
nenfalls schon einlassen. Oder man fragt
auf dem Heimweg vom Auto aus ab, wel-
che Lebensmittel noch im Kühlschrank
sind – und startet bei gähnender Leere
gleich zum Supermarkt durch.
In dieser vernetzten Umgebung las-
sen sich die Fähigkeiten von Care-O-bot
II beträchtlich erweitern. Indem der Ro-
boter mit den Haushaltsgeräten kommu-
niziert, kann er zum Beispiel jederzeit ab-
fragen, welche Medikamente, Getränke ANZEIGE
oder Speisen vorrätig sind und wo sie ge-
lagert werden. Die entsprechenden Pro-
duktpackungen werden dazu mit elektro-
nischen Etiketten versehen, sodass Kühl-
oder Arzneischrank im Stande sind, ihren
Inhalt selbsttätig zu erfassen. Diese Infor-
mation können sie wiederum an den Ro-
boter weiterleiten.
Demonstration gefällig? »Bring mir
eine Cola!«, bittet der Projektleiter. Die
elektronische Haushaltshilfe funkt den
Kühlschrank an, und der gibt die Infor-
mation zurück: keine Cola da. »Cola
nicht vorhanden«, erklärt Care-O-bot II,
»darf ich ein anderes Getränk bringen?«

Entlastung bei der Altenpflege


Wo liegt der Nutzen solcher Haushalts-
roboter? Birgit Graf vom IPA, die maß-
geblich an der Entwicklung von Care-O-
bot II beteiligt war, sieht Anwendungen
vor allem in der Altenpflege: »In einigen
Jahrzehnten wird es doppelt so viele Pfle-
gebedürftige geben wie heute. Sie wollen
und können nicht alle ins Altersheim.«
Roboter sollen künftig einfache Auf-
gaben im Haushalt übernehmen, ihren
Schützlingen als Gehhilfe dienen und
überdies mobile Kommunikationsstation
sein – Care-O-bot II lässt sich zum Bei-
spiel mit einem abnehmbaren Berüh-
rungsbildschirm steuern, der künftig r r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
ANZEIGE
r auch als Telefon und Internet-Anbin- reife werden noch Jahre vergehen. Die
dung dienen soll. bisherigen Entwicklungskosten belaufen
Allerdings weckt die Vorstellung, dass sich auf geschätzte 2 Millionen Euro, der
Roboter hinfälligen Menschen zur Hand angepeilte Stückpreis in der Serienpro-
gehen, nicht bei allen Begeisterung. duktion soll bei 20 000 Euro liegen. Ob
Schnell ist von Entwürdigung die Rede. sich damit das Ziel verwirklichen lässt,
Natürlich solle die Maschine den Pfleger die ausufernden Personalkosten im Pfle-
nicht ersetzen, sondern nur entlasten, be- gebereich einzudämmen, wird die Zu-
tonen die Fraunhofer-Forscher. Auch sie kunft zeigen. Jedenfalls ist der sprechen-
geben freilich zu, dass noch viele ethische de Haushaltsroboter kein Hirngespinst
Fragen zu klären sind. Bislang gibt es nur mehr – in absehbarer Zeit könnte er zum
spärliche Erfahrungen zur Akzeptanz des Inventar vieler Wohnungen zählen. l
Roboters bei Pflegebedürftigen.
Ohnehin ist Care-O-bot II nur ein Frank Schubert ist promovierter Biophysiker und
experimenteller Prototyp; bis zur Serien- Wissenschaftsjournalist in Heidelberg.

KLIMA

Riffe heizten die Erde auf


Die Korallen der tropischen Meeresregionen trugen über Jahrtau-
sende hinweg zur Anreicherung des Treibhausgases Kohlendioxid in
der Atmosphäre bei.

Von Adam Vecsei gen der Erdbahn zusammenhängt. Die-


ser Effekt selbst ist aber viel zu gering, um
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H äufige ungewöhnliche Wetterlagen
in Mitteleuropa – extreme Hitze
und Dürre im vergangenen Sommer, ge-
den Temperaturanstieg seit der Eiszeit zu
erklären. Kohlendioxid dürfte als ent-
scheidender Verstärker gewirkt haben.
waltige Überflutungen im Jahr davor –
sind möglicherweise Vorboten eines Opfer und Täter zugleich
drastischen Klimawandels. Die Haupt- Aber woher kam es? Die Hauptquelle
schuld daran trägt der Mensch, der mit wird in den Ozeanen vermutet. Diese
dem massiven Ausstoß von Kohlendi- speichern etwa 50-mal so viel Kohlen-
oxid den Treibhauseffekt der Atmosphä- stoff, wie heute in der Atmosphäre vor-
re erheblich verstärkt. handen ist. Daher lässt schon eine gerin-
Allerdings hat der Kohlendioxidge- ge Abgabe von Kohlendioxid aus den
halt der Lufthülle in der Vergangenheit Meeren die Konzentration des Treib-
schon wiederholt auch auf natürliche hausgases in der Luft stark zunehmen.
Weise stark geschwankt. So ist er vom Daniel M. Sigman von der Universi-
Höhepunkt der letzten Eiszeit vor knapp tät Princeton (New Jersey) und Edward
20 000 Jahren bis zum Beginn der In- A. Boyle vom Massachusetts Institute of
dustrialisierung Mitte des 18. Jahrhun- Technology in Cambridge schätzten im
derts von etwa 180 auf rund 280 milli- Jahr 2000 ab, welchen Einfluss die Oze-
onstel Teile oder ppm (parts per million) ane auf den Anstieg des Kohlendioxid-
angestiegen. Dies belegen Gasbläschen gehaltes der Atmosphäre seit dem Höhe-
in Bohrkernen aus dem mächtigen Eis punkt der letzten Vereisung hatten. Da-
der Polargebiete, in denen Proben der bei berücksichtigten sie Faktoren wie die
einstigen Luft konserviert sind. Abnahme der Löslichkeit des Gases im
Viele Forscher sehen in diesem zu- Wasser mit steigender Temperatur. Ihren
sätzlichen Kohlendioxid den Hauptver- Berechnungen zufolge ließen die Verän-
ursacher der Temperaturerhöhung seit derungen in den Ozeanen die Kohlendi-
dem Ende der letzten Eiszeit. Den An- oxidkonzentration in der Luft um bis zu
stoß zur Erwärmung gab zwar vermutlich 95 ppm steigen. Doch gleichzeitig ver-
eine geringe Änderung der Menge und brauchte der Aufbau der Wälder unge-
Verteilung der Sonneneinstrahlung auf fähr 45 ppm, sodass netto nur 50 ppm
der Erdoberfläche, die mit Schwankun- übrig blieben. r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 19
r Damit klafft zu dem gemessenen An- ich die Quelle gefunden zu haben: Nach akut bedroht. Immer mehr dieser einzig-
FORSCHUNG AKTUELL

stieg von rund 100 ppm eine Lücke von unseren Untersuchungen und Berech- artigen Lebensräume bleichen aus und
50 ppm. Bisher war unklar, welcher Pro- nungen handelt es sich überraschender- gehen zu Grunde – vermutlich, weil die
zess dieses fehlende Kohlendioxid beige- weise um die Korallenriffe. Korallentiere die hohen Wassertempera-
steuert haben könnte. Doch nun glau- Dies birgt eine gewisse Ironie. Als turen nicht vertragen. Während die Riffe
ben Wolfgang H. Berger von der Scripps prachtvollstes und artenreichstes marines heute also primär Leidtragende der glo-
Institution of Oceanography der Univer- Ökosystem sind die Riffe durch die mo- balen Erwärmung sind, waren sie in der
sität von Kalifornien in San Diego und mentane Aufheizung der Erde nämlich Vergangenheit bedeutende Mittäter.

KOMMENTAR
Es wäre nur fair, dass die Regierung
Wirtschaft forscher als der Staat die Anstrengungen der Wirtschaft aner-
Den Hauptteil an Forschung und Entwicklung in Deutschland leistet die Industrie. kennt. Doch sucht man einen solchen
Hinweis in der Presseverlautbarung des
Das Ziel ist hoch gesteckt: »Wir wollen bis steckt wie der Bund und somit die tra- Forschungsministeriums vergeblich. Da-
zum Jahr 2010 einen Anteil der Ausga- gende Säule der deutschen Forschung bei kann Deutschland natürlich auch
ben für Forschung und Entwicklung von bildet. Außerdem hat sie ihre Ausgaben nicht ohne die Hilfe der Wirtschaft das
drei Prozent am Bruttoinlandsprodukt er- in der Fünfjahresfrist gleich um mehr als Drei-Prozent-Ziel erreichen. Denn selbst
reichen«, verkündete Bundesforschungs- zwanzig Prozent erhöht: von 30,3 auf wenn die Regierung jährlich eine zusätz-
ministerin Edelgard Bulmahn bei der Vor- 36,8 Milliarden Euro. Die Steigerungs- liche Milliarde Euro in Forschung und
stellung des Bundesforschungsberichts rate ist also fast doppelt so hoch wie die Entwicklung investierte – was ange-
Anfang Mai dieses Jahres. Immerhin des Bundesforschungsministeriums. sichts der leeren Staatskasse illusorisch
seien die Mittel seit 1998 schon um eine ist –, bliebe die Messlatte in weiter Fer-
Milliarde auf nunmehr 9,2 Milliarden Nur dem hohen Anteil der Wirtschaft ist es ne. Eines aber darf man zumindest vom
Euro gestiegen. Über die vergangenen auch zu verdanken, dass im vergange- Staat erwarten: dass er in den kommen-
fünf Jahre erhöhte der Bund seine For- nen Jahr die Ausgaben für Forschung den Jahren wenigstens mit den Steige-
schungsausgaben damit um insgesamt und Entwicklung immerhin 2,52 Prozent rungsraten der Wirtschaft mithält. Nur
12,4 Prozent. Eine stolze Leistung. vom Bruttoinlandsprodukt ausmachten. dann gerät das Drei-Prozent-Kriterium in
Sie relativiert sich allerdings, wenn Der Bund selbst steuerte lediglich vier greifbare Nähe. Alles andere wäre rei-
man sie mit den Anstrengungen der Promille bei, was im Übrigen fast iden- nes Lippenbekenntnis.
Wirtschaft vergleicht. Kaum jemand tisch ist mit dem, was Bund, Länder und Gerhard Samulat
weiß, dass die Industrie gut viermal so Gemeinden zusammen für die Kultur Der Autor ist freier Journalist für Wissenschaft
viel Geld in Forschung und Entwicklung ausgeben. und Technik in Wiesbaden.

Finanzierung
Wirtschaft Bund Länder PNP Ausland
35,3 9,1 8,3 0,2 1,3

1,2 32,9 1,0 1,9 1,8 4,3 5,5 2,3 0,1 0,1 0,9 0,2 0,2

0,2 1,1 0,5

Die Grafik zeigt die Ausga-


ben Deutschlands für For-
Bruttoinlandsausgaben schung und Entwicklung im
für Forschung und Entwicklung Jahre 2001 nach finanzieren-
54,2 Milliarden Euro den und durchführenden
Sektoren in Milliarden Euro.

Ausland Wirtschaft Hochschulen private Institutionen ohne


2,3 36,3 8,5 Erwerbszweck (PNP)
Durchführung 8,5
BMBF

20 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
o
Das lebende Riff ist eine Art dünner Riffe wie dieses auf den Malediven
Überzug auf einem harten Skelett aus sind die artenreichsten marinen
Kalkstein, das die Korallen (Polypen) Ökosysteme. Die Korallentiere bilden nur
und die mit ihnen zusammenlebenden einen dünnen Überzug auf einem harten
Algen (Zooxanthellen) als Nebenpro- Skelett aus Kalkstein, den sie bei ihrem
dukt ihres Wachstums bilden. Es türmt Wachstum ausscheiden.
sich im Laufe der Jahrtausende zu einem ANZEIGE
mächtigen Sockel auf. Kalk besteht che-
misch aus Kalziumkarbonat (CaCO3).
Er bindet somit pro Kalzium-Atom ein während der vergangenen 14 000 Jahre
Molekül Kohlendioxid. Insgesamt ent- abgeschätzt. Das war keineswegs ein-
zieht die Lösung von Kalzium aus Sili- fach. Noch immer wirkt sich negativ
katgestein und seine Abscheidung im aus, dass die marinen Geowissenschaf-
Meer der Atmosphäre also Kohlendi- ten ein relativ neues Fach sind, das bis
oxid. Wie aber können Korallen dann zu den 1970er Jahren ein Schattenda-
im Gegenteil bei der Bildung ihres Kalk- sein führte.
gerüstes das Treibhausgas freisetzen? Bezeichnend für den späten Fort-
schritt auf diesem Wissensgebiet ist, dass
Der Kreislauf des Kohlenstoffs die Gesamtfläche der Korallenriffe erst
Der Grund liegt darin, dass der Gesamt- 1997 bekannt wurde: ungefähr 285 000
vorgang in zwei Schritte zerfällt. Im ers- Quadratkilometer. Bei üblichen Fällungs-
ten, der Verwitterung, löst kohlensaures raten von 1,5 bis 3 Kilogramm je Qua-
Regenwasser Kalzium aus Silikatgestein dratmeter und Jahr werden also jährlich
heraus und verwandelt es in Kalziumhy- im Durchschnitt etwa 640 Millionen
drogenkarbonat [Ca(HCO3)2]. Wie man Tonnen Kalziumkarbonat abgelagert
der Formel entnehmen kann, bindet ein und dabei über 280 Millionen Tonnen
Kalzium-Atom dabei gleich zwei Molekü- Kohlendioxid ins Meer freigesetzt. Auch
le Kohlendioxid. Wenn Korallen und an- wenn davon nur ein Teil in die Atmos-
dere Organismen das ins Meer gespülte phäre gelangt, verdeutlicht die schiere
lösliche Kalziumhydrogenkarbonat dann Größe dieser Zahl die Bedeutung der
als Kalk abscheiden, wird eines der bei- Riffe für den Kreislauf des Kohlenstoffs.
den Kohlendioxidmoleküle wieder frei. Doch wie sah es in der Vergangenheit
Dieses löst sich zunächst im Meerwasser, aus? Als das Eis vor 20 000 Jahren zu
kann aber nach relativ kurzer Zeit in die schmelzen begann, stieg der Meeresspie-
Atmosphäre entweichen. Tatsächlich ma- gel zunächst zu schnell an, als dass sich
ßen japanische und französische Wissen- Korallen, die nur im seichten, lichtdurch-
schaftler in der Luft über Korallenriffen fluteten Wasser gedeihen, dauerhaft hät-
deutlich erhöhte Kohlendioxidwerte. ten ansiedeln können. Der Untergrund
Berger und ich haben nun die Kalk- der meisten heutigen Riffe, die zu über
fällungsraten durch die Riffkorallen neunzig Prozent im Indopazifik r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 21
r wachsen, wurde erst während der ver- Zudem existieren wahrscheinlich be-
Auftauchen aus der Eiszeit gangenen 10 000 Jahre überflutet. deutende Kohlenstoff-Senken an Land –
Lucien Montaggioni vom Centre etwa große Torfansammlungen –, die
National de la Recherche Scientifique in Sigman und Boyle in ihrer Abschätzung
Lage des Meeresspiegels unter heutigem Niveau in Metern

Blütezeit pazifischer Riffe Marseille fand durch die Auswertung von nicht berücksichtigt haben. Auch sollte
0 Bohrkernen und mittels anderer Daten sich mit der allmählichen Erwärmung
heraus, dass diese Riffe im frühen Holo- und dem Schwinden der Gletscher die
Tiefe des Untergrunds
20 zän – vor 9000 bis 6000 Jahren – ihre Verwitterung beschleunigt haben, wo-
vieler Riffe Blütezeit erlebten. Damals waren die Be- durch der Luft vermehrt Kohlendioxid
dingungen für sie ideal, weil sich ihre entzogen wurde.
40 Wachstumsgeschwindigkeit und das
Tempo des Meerespiegel-Anstiegs vieler-
orts gerade die Waage hielten. Seither ha- NACHGEHAKT
60 Meeresspiegel ben viele Riffe – darunter das Große Bar-
Pazifik
rier-Riff Australiens – den Meeresspiegel
80
Atlantik
erreicht und können nur noch stark ein- Übergewicht und Elend
geschränkt weiterwachsen. Entsprechend Viele Menschen sind zu dick. Aber wie viele
Höhepunkt hat die Fällungsrate von Kalk deutlich
100 Warmzeit der Eiszeit genau? Darüber lässt sich trefflich strei-
abgenommen. ten. Wenn die statistische Verteilung des
Bei unserer Abschätzung stützten wir Körpergewichts annähernd einer Gauß’-
120
uns auf ein numerisches Modell der eins- schen Glockenkurve folgt, liegt sie zur
tigen Riffverteilung, das Joan Kleypas Hälfte rechts vom Mittelwert, und auto-
vom National Center for Atmospheric matisch ist man bei der Hiobsbotschaft:
Temperatur gegenüber heute in der Antarktis in Grad Celsius

+2 Research in Boulder (Colorado) aufge- Jede(r) Zweite hat Übergewicht. Definie-


0,3 stellt hat. Die Sedimentationsrate setzten ren unterschiedliche Institutionen extre-
Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre in Promille

wir mit einem Kilogramm pro Quadrat- me Fettlebigkeit als das, worunter die
meter und Jahr sehr konservativ an. Für schwersten fünfzehn, zehn oder sieben
0 0,28
die Blütezeit der Riffe im älteren Holo- Prozent der Menschen leiden, kommen
zän verdoppelten wir diesen Wert. entsprechend mehr oder weniger Fett-
0,26 Unter diesen Voraussetzungen ergab süchtige heraus.
–2 sich für die vergangenen 14000 Jahre Mit solchen Argumenten gab die »Frank-
eine gesamte Riffkalk-Ansammlung von furter Allgemeine Sonntagszeitung« Ende
0,24 etwa 2900 Milliarden Tonnen und eine Juni Entwarnung: Die Fettleibigkeits-Epide-
–4 Kohlendioxidabgabe an die Atmosphäre mie bei Kindern in Deutschland, wegen der
von 210 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. Verbraucherministerin Renate Künast kurz
0,22
Umgerechnet auf den Kohlendioxidge- zuvor Alarm geschlagen hatte, sei ein Phan-
–6
halt der Lufthülle entspricht das unge- tom. Darf also die Couch Potato erleichtert
0,20 fähr hundert ppm. Das Riffwachstum al- seufzen: »Alles nur eine Frage der Statis-
lein könnte demnach den gesamten An- tik« – und sich vor dem Fernseher weiter
stieg in der Kohlendioxidkonzentration mit Chips, Schokoriegeln und süßer Limo-
–8 0,18 der Lufthülle während der letzten 20 000 nade den Wanst voll schlagen?
Jahre erklären.
0 5 10 15 20
Jahrtausende vor heute Immerhin warnte Anfang Juni der Chefre-
Überschuss statt Fehlbetrag dakteur der renommierten Fachzeitschrift
im Kohlendioxid-Budget »Science« in einem Editorial, das sein
Die letzte Eiszeit endete vor etwa 10 000 Jahren. In Tatsächlich fehlen im Budget, wie oben Vorgänger gleich mit unterzeichnet hat,
den Jahrtausenden davor erwärmte sich die At- berechnet, aber lediglich 50 ppm. Da- vor einer weltweit um sich greifenden
mosphäre stark und schnell, ihr Kohlendioxid- mit haben wir es statt mit einem Fehl- Fettsucht; der nachdrückliche Appell stütz-
gehalt nahm erheblich zu, und das abtauende betrag plötzlich mit einem ebenso ho- te sich auf Erhebungen der Weltgesund-
A. VECSEI UND W. H. BERGER / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Eis ließ den Meeresspiegel weltweit steigen. hen Überschuss zu tun. Verschärfend heitsorganisation (WHO), wonach welt-
Erst dadurch wurden die weiten Tieflandregio- kommt hinzu, dass verkalkendes Plank- weit fast eine Milliarde Erwachsene über-
nen überflutet, auf denen sich Korallen ansie- ton vermutlich ebenso viel Kohlendio- gewichtig und mindestens 300 Millionen
deln konnten. Vor etwa 9000 bis 6000 Jahren xid abgab wie die Korallen. Möglicher- fettleibig sind. Im Mai verabschiedete die
erlebten daher insbesondere die pazifischen Rif- weise ist ein großer Teil des im flachen WHO deshalb eine »Globale Strategie für
fe ihre Blütezeit. Meer freigesetzten Treibhausgases nicht Ernährung, körperliche Aktivität und Ge-
Seiher hat sich die Entwicklung verlangsamt; in die Atmosphäre entwichen, sondern sundheit«, die vor allem empfiehlt, die
allerdings schoss die Kohlendioxidkonzentration wurde in das Tiefenwasser unterge- Einnahme von Fetten, Salz und Zucker zu
in der Luft seit Beginn der Industrialisierung in mischt, von wo es, wenn überhaupt, erst drosseln.
die Höhe. mit großer Verzögerung in die Lufthülle
gelangen kann.

22 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Generell herrscht auf diesem Gebiet Zu- und Abflüsse von Kohlenstoff be-
noch erhebliche Unsicherheit. So ist die züglich der Atmosphäre endgültig bilan-
Rolle des organischen Kohlenstoffs auf zieren können. Dass die Korallenriffe
den großflächigen Kontinentalschelfen einen Beitrag zum sich verstärkenden
und in den Süßwasserseen nicht einmal Treibhauseffekt seit dem Ende der Eis-
so weit geklärt, dass man definitiv wüss- zeit leisteten, steht nach unseren Berech-
te, ob diese Bereiche Quellen oder Sen- nungen jedoch außer Frage. l
ken von atmosphärischem Kohlendioxid
sind. Erst nach Beantwortung solcher Adam Vecsei ist promovierter Geologe und Privat-
grundsätzlichen Fragen werden wir die dozent an der Universität Leipzig.

Auf die WHO-Studie berief sich auch schöne Menschen, die sich in der Fern-
die Verbraucherministerin, als sie im sehwerbung verführerisch Kalorienbom-
Juni ihre »Initiative für eine neue Ernäh- ben zwischen die Lippen schieben.
rungsbewegung in Deutschland« starte- Vielleicht wird sich die Essenswer-
te. Jedes fünfte Kind und jeder dritte bung bei tatsächlich steigendem Ernäh-
Jugendliche in Deutschland seien über- rungsbewusstsein bald hüten, Men-
gewichtig, so Künast, mehr als sieben schen beim Kauen zu zeigen – so wie
Prozent der Kinder litten an krankhafter die Zigarettenwerbung den Marlboro-
Adipositas (Fettsucht). Mann zwar Pferde bändigen, aber kei-
Gewiss, alle genannten Zahlen sind nen Lungenzug mehr machen lässt.
statistische Schätzungen und wurden in
den USA und in Deutschland auch gleich Glück kann man nicht essen. Wer weiß
als wissenschaftlich umstritten kritisiert. schon, wie viel Übergewicht in Wahrheit
Doch an der von Nahrungswissenschaft- Kummerspeck oder Angstpanzer ist,
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lern beobachteten Tendenz ist kaum zu trauriges Kompensieren von mangeln-
rütteln: In aller Welt wächst die Anzahl den Chancen und fehlendem sozialem
der Dicken – am meisten in den USA, Gewicht? Unbestritten ist jedenfalls,
wo der europäische Besucher längst ein dass Fettsucht mit niedrigem Sozialsta-
erstaunliches Nebeneinander von Kor- tus und geringem Bildungsniveau korre-
pulenz, Körperkult und Diätbewusstsein liert ist. Nachgewiesen wurde auch ein
vorfindet; aber auch Europa folgt die- Zusammenhang zwischen exzessivem
sem Trend. Fernsehkonsum – einer einsamen Be-
Besondere Sorge macht der WHO, schäftigung – und Übergewicht.
dass die fatalen Folgen falscher Ernäh- Global betrachtet leben an beiden Rän-
rung – Diabetes, Herz- und Kreislauf- dern der statistischen Körpergewichts-
erkrankungen, Krebs – nun auch die Ent- kurve Unglückliche: am linken Rand die
wicklungsländer zu erfassen beginnen. Hungernden und am anderen Ende die
Die Nachkommen der Maya in Guate- Vielesser. Appelle an das individuelle Er-
mala, die Schwarzen Südafrikas, die aus- nährungsverhalten wären in dem einen
tralischen Aborigines und die Bewohner Fall offensichtlich zynisch, im anderen
der Pazifik-Inseln leiden bereits unter sind sie es vielleicht auch. So wie die ei-
den Folgen von kalorienreicher Nahrung nen Nahrung brauchen, um endlich satt
und Bewegungsarmut. zu werden, brauchen die anderen soziale
Perspektiven, reelle Chancen und attrak-
Aus der globalen Diagnose folgt in diesem tive Angebote, die
Fall die Therapie eigentlich von selbst: sie aus dem Fern-
weniger Kalorien aufnehmen und sich sehsessel holen.
mehr bewegen. Doch das ist leichter
gesagt als getan. Mit perfider Raffines-
se setzt die Nahrungsmittelindustrie ih- Michael Springer
re suggestivsten Werbemittel ein: der Der Autor ist stän-
Hamburgerladen als Szenetreff, der Pau- diger freier Mitar-
sensnack als Glücksbringer. Nicht Über- beiter bei Spektrum
gewichtige sind es, sondern schlanke, der Wissenschaft.
NATURSCHUTZ z
Wieder Wölfe
im Yellowstone-Park

Seit im Yellowstone-Nationalpark in den USA wieder


Wölfe leben, regeneriert sich das Ökosystem verblüffend
schnell. Auf die neue Situation reagierten unerwartet viele
Tier- und Pflanzenpopulationen – aber nicht alle gleich.

Von Jim Robbins der Wind an diesem Augusttag 2003 Abstand von vielleicht dreißig Zentime-
kräftig durchpustet. tern, die das jährliche Wachstum anzei-

N
ormalerweise geraten Ökolo- Diese jungen Pappeln – in Amerika gen. »Das heißt: Die Wapitis haben den
gen angesichts von ein paar cottonwood genannt – wachsen im Lamar Baum in diesem Jahr nicht verbissen und
mickrigen Pappeln nicht Valley, einem der schönsten Täler des auch letztes Jahr nicht. Seit 1998 haben
gleich in Begeisterung. Doch Yellowstone-Nationalparks, das sich im sie ihn in Ruhe gelassen.« Mit Wapitis
dem Botanikprofessor William J. Ripple Nordosten des um die 200 Meter hoch meint Ripple die sehr großen Rothirsche
von der Oregon State University in Cor- gelegenen Refugiums erstreckt. »Man Nordamerikas, eine eigene Unterart.
vallis sieht man die helle Freude an. Die sieht die Narben der Gipfelknospe«, er- Der Ökologe weist über das weite
Lesebrille auf der Nase, beäugt er aus klärt Ripple verzückt. Er hat den dün- Gebirgstal, in dem um uns her viele alte
nächster Nähe die paar kaum doppelt nen Stamm eines der Bäumchen he- Pappeln verstreut stehen. Jungwuchs da-
mannshohen Bäumchen, deren Gezweig runtergebogen und deutet auf Linien im gegen sieht man von hier aus nur an die-

24 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
DIANE HARGREAVES

o
ser einen Stelle. Die stattlichen Exempla- tion ausgerottet – damals in voller Ab- Vorfrühling im Lamar-Tal des Yel-
re der Talsohle zählen sämtlich mindes- sicht, denn Wölfe galten als bedrohlich. lowstone-Nationalparks: Wölfe ja-
tens 70 bis 100 Jahre. Ein ähnliches Bild Durch die Wiedereinbürgerung dieses gen Wapitis, die großen amerikanischen
bieten die Zitterpappeln auf den Hän- obersten Räubers in den Nahrungsketten Rothirsche. Ein Grizzly beobachtet das
gen – wie die europäische Zitterpappel Mitte der 1990er Jahre werden nun öko- Geschehen. Vielleicht wird er die Wölfe
wird auch diese amerikanische Art Espe logische Wechselwirkungen deutlich, die nachher vom erlegten Wild verjagen.
(aspen) genannt. Nirgends wachsen da- selbst Experten vielfach so nicht erwartet Oder er macht sich erst später über die
zwischen Schösslinge, die den Bestand hätten. Reste her.
einmal verjüngen könnten. Die neuen Wölfe stammten aus zwei
Nach Ansicht mancher Fachleute Gebieten der kanadischen Rocky Moun-
wären diese prägenden Pappelarten ir- tains. Mitten im Winter 1995/96 brach-
gendwann aus dieser Landschaft ver- ten die Nationalparkverwaltung und die dichte der Wapitis verringern und auf ei-
schwunden, hätte man im Yellowstone- US-Behörde für Fischerei und Wildtiere nem niedrigeren Level halten würden.
Park nicht wieder Wölfe ausgesetzt. die ersten 14 Tiere dorthin. Ein Jahr spä- Nachdem in dem Gebiet keine Wöl-
Noch als das hoch gelegene Naturschutz- ter wurden weitere 17 Wölfe übersiedelt. fe mehr vorkamen, hatte sich die Rot-
gebiet am Ostrand der Rocky Mountains Diese großen Fleischfresser würden, so hirsch-Unterart rasch stark vermehrt.
(siehe Karte S. 26) 1872 eingerichtet die Hoffnung, wieder natürlichere ökolo- Zeitweise regulierte der Mensch den Be-
wurde, jagten Wolfsrudel dort vor allem gische Verhältnisse schaffen. Unter ande- stand, zeitweise machten auch harte
Wapitis. Doch bis 1930 war die Popula- rem erwartete man, dass sie die Bestands- Winter den Tieren zu schaffen. Aber um r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 25
NATURSCHUTZ z
r 1990 beispielsweise lebten in Yellow-
stone um die 20 000 Rothirsche. Die
und den Pflanzenwuchs Einfluss neh-
men. Inzwischen verfolgen und untersu-
diese Baumart im Nationalpark zu-
rückging, aber niemand den Grund da-
Wölfe enttäuschten nicht. Sie vermehr- chen Wissenschaftler aus den gesamten für kannte. Der Botaniker zeigt alte
ten sich gut und bilden heute 16 Rudel Vereinigten Staaten diese Auswirkungen. Schwarz-Weiß-Fotos, die im Lamar-Tal
aus im Durchschnitt etwa zehn Tieren. »Wie es hier aussieht, so gestalten das die jeweils von derselben Stelle aus aufge-
Grob gerechnet reißt eine Gruppe dieser Wölfe«, betont denn auch der Leiter des nommen wurden. Anfang des 20. Jahr-
Größe einen Wapiti pro Tag. Tatsächlich Yellowstone-Wolfprojekts Douglas W. hunderts waren noch viele junge Zitter-
ist deren Population inzwischen nur halb Smith. »In dreißig Jahren wird man den pappeln und Weiden zu sehen. Nach
so groß wie vor 15 Jahren. Nationalpark kaum wiedererkennen.« 1930 fehlten die Jungpflanzen. »Die Be-
Ripple seinerseits hofft besonders auf stände haben sich nicht mehr regene-
Canis lupus als Landschaftspfleger Baumnachwuchs. Am meisten erwartet riert«, lautet Ripples Kommentar dazu.
Andere Entwicklungen hatten die Biolo- er sich von den Zitterpappeln. Diese »Als ich diese Bilder sah, ging mir ein
gen nicht vorhergesehen. Sie staunen Espen seien im amerikanischen Westen Licht auf«, fährt er fort. Da er einen Ver-
beispielsweise, wie sehr sich mancherorts Brennpunkte der Artenvielfalt. Sie bö- dacht hegte, entnahm er zunächst den
die Landschaft umgestaltet und wie ten einer ganzen Palette von Singvögeln Stämmen von an die hundert großen Zit-
deutlich die Wölfe offenbar schon nach Lebensraum. Ripple kam 1997 nach terpappeln Bohrproben, um anhand der
so kurzer Zeit auf einige Tierbestände Yellowstone, weil er erfahren hatte, dass Jahresringe ihr Alter zu bestimmen. Und
tatsächlich waren seit 1930 nur zwei der
Bäume neu gewachsen. Alle anderen
Kanadische Wölfe für Yellowstone stammten aus den Zeiten, als in Yellow-
stone noch nennenswerte Wolfsbestän-
Die im Yellowstone-Park ausgesetzten del bildeten, sollten manche Tiere sich de umherstreiften. Bemerkenswerterwei-
Wölfe stammen aus zwei Gebieten in kennen. Andererseits war es unter ge- se standen die beiden jüngeren Espen in
den kanadischen Rocky Mountains. Die- netischen Aspekten wichtig, Tiere aus besonders unübersichtlichem Gelände,
se Wolfspopulationen sind gewohnt, verschiedenen Gebieten und Gruppen wo Raubtiere sich gut hätten verstecken
Wapitis zu jagen – anders als einige Ru- auszusetzen. können und das Wapitis deswegen wohl
del in Montana, die sich auf kleinere Die Wölfe haben sich mittlerweile gut instinktiv mieden. Ripple erzählt auch
Hirscharten verlegt haben. vermehrt. Im letzten Winter zählten die noch, dass er zu Beginn seiner Arbeit au-
Insgesamt 31 Wölfe trafen in den Ranger 16 Rudel mit insgesamt rund ßer den alten Espen nur sehr junge
Wintern 1995/96 und 1996/97 ein. Zu- 170 Tieren. Die Behörden möchten die Schösslinge vorfand. Dazwischen klaffte
nächst lebten sie zwei Monate in gro- Population nun von der Liste der ge- eine Lücke von über sechzig Jahren.
ßen Wildgehegen, um sich an die neue schützten Arten nehmen. Dann dürften Das war der erste konkrete Hinweis
Umgebung zu gewöhnen. Obwohl Wöl- die Farmer angrenzender Gebiete Wölfe auf den vermuteten »Wolfeffekt«: Der
fe ohnehin den Menschen meiden, wur- schießen, die außerhalb der Schutzzone Wapitibestand in Yellowstone wurde frü-
de Sorge getragen, dass sich Kontakte Schaden anrichten. Manche der beteilig- her von der Wolfspopulation so niedrig
auf das Allernotwendigste beschränk- ten Forscher halten die Maßnahme aller- gehalten, dass diese Hirsche einen Teil
ten. Damit sich bald funktionsfähige Ru- dings für verfrüht. des Baumjungwuchses verschonten. So-
bald die Wapitis dem herkömmlichen
Feinddruck nicht mehr ausgesetzt waren,
so die These, und sie sich deswegen über-
Fort St. John (Fanggebiet von 1996) mäßig vermehrten, litt die Vegetation
Hinton (Fanggebiet von 1995)
der verschiedenen Pappeln und Weiden
dermaßen unter dem verstärkten Fraß,
British
Columbia Alberta dass das Lamar-Tal einen ganz anderen
DA

Charakter bekam.
A
N
KA

Rückkehr der Biber


Montana
Unter dem kargen Baumangebot litten
auch andere Arten, etwa die Biber. Diese
Yellowstone-
Nationalpark Nager brauchen junge Bäume als Nah-
rung und für ihre Gewässer regulieren-
Idaho den Bauten. Sie verschwanden aus dem
Nationalpark spätestens in den 1950er
Wyoming
LUCY READING UND NINA FINKEL

Jahren. Ohne sie fehlen aber die aufge-


stauten Wasserflächen. Das wiederum
SA

dezimiert die Vegetation feuchter Stand-


U

orte, wo die Grizzlys sich nach dem


Winterschlaf wieder Kraft anfuttern.
Viele dieser Veränderungen scheinen
sich nun zurückzuregulieren. So schnell

26 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
l
Wölfe sind nun im Yellowstone-Park
die obersten Raubtiere. Davon pro-
fitieren viele andere Fleischfresser, von
den Grizzlys bis zu den Kolkraben.

chen Stellen bremst es die Strömung.


Von gestauten, ruhigen Abschnitten pro-
fitieren etwa Forellen.
Insgesamt scheinen die Wölfe ganz
unterschiedliche ökologische Posten im

JIM MCGRAW, WILDEYE IMAGES


Yellowstone-Park zu beeinflussen. Dra-
matisch sind die Auswirkungen für die
Kojoten, die um einiges kleiner sind als
Wölfe (siehe Bild S. 28). Das Biologen-
ehepaar Robert Crabtree und Jennifer
Sheldon begann deren Populationsent-
sich die ausgebrachten Wölfe vermehrt nen Meter Höhe abgeäst. Dort gewährt wicklung drei Jahre vor der Wiederein-
haben, so schnell nahm offenbar die das ebene Gelände ihnen einen Panora- führung der Wölfe zu beobachten. Crab-
Zahl der Wapitis ab – und die Vegeta- mablick. In den letzten drei Jahren ha- tree ist heute leitender Wissenschaftler
tion zu. Das dokumentieren Ripple und ben die Hirsche hier oft gefressen. »Die am Yellowstone Ecological Research
sein Kollege Robert L. Beschta, Forstwis- Ökologie der Angst!«, meint Ripple. Center, einer Non-Profit-Organisation
senschaftler und Gastforscher an der Außerdem kehren die Biber zurück. mit Sitz in Bozeman (Montana).
Oregon State University. Sie verzeichne- Ein Stück weiter flussaufwärts haben sie Wie die beiden Forscher feststellten,
ten sowohl viele mehrjährige Pappeln als einen Damm gebaut. Insgesamt drei der hat sich die Zahl der Kojoten im Yel-
auch Weiden, beides Anzeichen, dass Bauwerke zieren nun den Lamar – erst- lowstone-Park im letzten Jahrzehnt hal-
sich die betreffenden Arten nach siebzig mals wieder seit über 50 Jahren. Den biert. Offenbar mussten diese ebenfalls
Jahren erstmals regenerieren können. Slough Creek, einen Nebenfluss des La- hundeartigen Raubtiere der übermächti-
Auf einer Wanderung entlang dem mar, stauen schon sechs Dämme. Ripple gen Konkurrenz weichen. In zentralen
Lamar-Fluss schiebt Ripple hinter einer und Smith führen auch das auf die neue Wolfsgebieten sank ihre Zahl sogar um
kleinen Anhöhe die dicht herabhängen- Vegetation zurück. Die großen Nager 90 Prozent. Die jetzigen Männchen sind
den Zweige einer Weide auseinander. würden hier offenbar wieder Futter fin- außerdem insgesamt etwas kleiner als
Zum Vorschein kommen der ausge- den. »Ihre Vorratskammern sind voller früher. Crabtree vermutet, dass die größ-
bleichte Schädel, Rippen und Rückgrat Weidenzweige«, erzählt Smith. ten Tiere wohl auch am aggressivsten
eines Wapitis. Nicht sehr weit von hier waren. Vielleicht griffen sie die Wölfe an,
hat ein Wolfsrudel seinen Bau. Die Wei- Kojoten als Verlierer zogen dabei aber den Kürzeren.
denbüsche rundum wachsen bereits drei Des Weiteren erwarten die Forscher Aus- Da Kojoten vor allem kleine Nager
Meter hoch und mehr. wirkungen auf die Ökologie des Lamar. fressen, explodieren nun deren Popula-
Offenbar stellen sich die Wapitis in Wenn erst entlang dem Fluss Gehölze tionen. Hiervon wiederum profitieren
ihrem Äsungsverhalten schon auf die wuchern, würde das seine Ufer stabilisie- der Rotfuchs und Raubvögel. Die Kehr-
neue Gefahr ein. Die hoch gewachsenen, ren und manchmal Erosionen aufhalten. seite: Der Rotfuchs erbeutet auch klei-
über 300 Kilogramm schweren, eleganten Eine dichtere Vegetation würde ihn zu- nere Vögel. Deren Bestände könnten lei-
rötlich braunen Wiederkäuer suchen heu- dem beschatten: Dann bliebe das Wasser den, wenn die Rotfüchse zunehmen.
te seltener als früher Flussniederungen in Sommer kühler. Mehr Gehölz bedeu- Manchen mag es verwundern, dass
auf. Dafür sieht man sie öfter an rundum tet zugleich mehr Totholz, das in den Wölfe eine Reihe anderer Fleischfresser
übersichtlichen Stellen. Auch das hat auf Fluss fällt oder gespült wird. An man- mit Nahrung versorgen. Zwar greifen r
die Vegetation Einfluss: Am stärksten wu-
chert es auf Flächen, wo die Rundum- IN KÜRZE
sicht fehlt. Zum Beispiel liegt die Stelle
mit dem Weidengebüsch in einer Kuhle r Im Yellowstone-Nationalpark wurden Mitte der 1990er Jahre über dreißig
hinter einem kleinen Hügel. Hier zeigt Wölfe aus Kanada ausgesetzt, die sich inzwischen schon stark vermehrt haben –
ein genauerer Blick, dass die Weiden seit 70 Jahre nach der Ausrottung der letzten angestammten Tiere.
mehreren Jahren praktisch überhaupt r Seitdem scheint sich die Vegetation zu erholen. Nach Jahrzehnten wachsen
nicht mehr verbissen wurden. wieder Jungbäume nach. Forscher schreiben dies den Wölfen zu, die den Bestand
Wapitis würden sich hier unsicher der Wapitis – der nordamerikanischen Rothirsche – offenbar halbiert haben.
fühlen, behauptet Ripple. Sie könnten r Die Lebensbedingungen zahlreicher weiterer Tierarten haben sich ebenfalls ver-
eben nicht alles sehen, was in der Nähe ändert, angefangen beim Kojoten und dem Rotfuchs, dem Grizzly und dem Biber
vorgeht. Nur 50 Meter entfernt sind die bis hin zum Kolkraben und den Singvögeln.
Weiden dagegen bis auf weniger als ei-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


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NATURSCHUTZ z

LINKS: JESS R. LEE; RECHTS: DONALD M. JONES


o o
Die Wapitikuh sichert rundum, während sie ihr Kalb säugt. Zu den Verlierern gehören die Kojoten. Ihr Bestand hat
Seit Wölfe den Yellowstone-Nationalpark wieder besie- sich halbiert. Trotzdem hat hier einer die Chance, an ei-
deln, verschwinden viel mehr Kälber als früher. Die Wapitipopu- nem von Wölfen gerissenen Wapiti zu fressen. Neben Elstern
lation ist auf die Hälfte geschrumpft. (im Bild) finden sich in der Regel auch Kolkraben ein.

r Grizzlys und Pumas einen ausgewachse- Calgary bietet dafür ein Beispiel. Dort- fach zu behaupten, sei schlechte Wissen-
nen Wapiti selten an. Mitunter töten sie hin kehrten Wölfe in den 1980er Jahren schaft. »Das Ökosystem von Yellowstone
allerdings Kälber, und im Winter fressen von selbst zurück. Nun wachsen wieder ist ein multikausales interaktives System.
sie auch verendete große Hirsche. Dage- Weiden, und es gibt doppelt so viele Für nichts gibt es hier eine einzige Ursa-
gen reißen Wölfe zu jeder Zeit auch Alt- Singvögel, auch doppelt so viele Arten. che – und selbst eine Hauptursache in
tiere. An einem Riss bekommen die an- Auf ähnliche Entwicklungen hoffen Or- den wenigsten Fällen. Gerade als die
deren Arten ihre Chance, wenn sich die nithologen und andere Naturfreunde Wölfe sich wieder breit machten, gab es
Wölfe voll gefressen haben und den Ka- nun auch für Yellowstone. Um die ersten am Fluss Überschwemmungen. Außer-
daver für einen Verdauungsschlaf verlas- Anzeichen nicht zu verpassen, wenn sich dem ist das Klima derzeit viel wärmer.
sen. Grizzlys gelingt es sogar nicht selten, Flora und Fauna der Flussufer ändern, Die Wölfe spielen bei den Veränderun-
das Rudel von der Beute zu vertreiben. und dies zu dokumentieren, laufen min- gen vermutlich auch eine Rolle, aber
destens sechs ökologische Projekte. welche genau, werden wir erst in frühes-
Fleischlieferanten Doch nicht jeder der Forscher glaubt tens zwanzig Jahren wissen.«
für andere Arten an den Wolfeffekt. Crabtree zum Bei- In dieser Richtung argumentiert
Seit die Wölfe wieder in Yellowstone ja- spiel hält es keineswegs für erwiesen, auch der Ökologe Duncan Patten, ehe-
gen, sind insgesamt viel mehr große dass die Wiederansiedlung von Wölfen mals Professor der Arizona State Univer-
Tierkadaver als vorher verfügbar, an de- so eng mit dem neuen Pflanzenwachs- sity in Tempe. Für die amerikanische
nen sich praktisch alle dort lebenden tum korreliert wie behauptet. Das ein- Nationale Akademie der Wissenschaften
Aasfresser verköstigen. Das spiegelt sich
in ihren gestiegenen Populationen wider,
vom Grizzly bis zur Elster. Einmal wur-
den an einem Wolfsriss 135 Kolkraben
gezählt, ein Rekord. »Wo immer ein
Rudel einen Wapiti erlegt hat, finden sie
sich alle ein: Weißkopfseeadler, Steinad-
ler, Kojoten, Kolkraben, Elstern«, notiert
Smith. »Ich möchte wissen, was die frü-
her gemacht haben.«
Allerdings gehen die Meinungen aus-
einander, ob Wölfe wirklich einen so be-
herrschenden Einfluss auf ein Ökosys-
tem haben können, wie viele der Wis-
senschaftler derzeit glauben. Laut Smith
bedeuten diese Topraubtiere für Yellow-
stone so viel »wie Wasser für die Ever-
glades«, das berühmte Feuchtrefugium
in Florida. Sie seien eben ein Primärfak-
tor, der das Ökosystem forme.
Der Banff-Nationalpark in den Süd-
kanadischen Rocky Mountains nahe bei

28 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
LINKS: DIANE HARGREAVES; RECHTS: DONALD M. JONES
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Siebzig Jahre lang wuchsen im Lamar-Tal praktisch keine Dass Biber nach fünfzig Jahren wieder im Yellowstone-
jungen Pappeln nach – hier die als cottonwood bezeich- Nationalpark siedeln, dürfte vor allem auf das jetzt dicht
nete Art. Jetzt verzeichnen die Forscher wieder mehrjährige wachsende Weidengebüsch zurückgehen. Die Dämme dieser
Jungbäume. Nager helfen, die Landschaft reicher zu gestalten.

führte er im Yellowstone-Park eine 2002 im Winter würden die meisten dieser wandeln sie das Ökosystem. Viele der
erschienene Studie durch. Seit dort Wöl- Rothirsche freiwillig nicht in so großer Auswirkungen halten wir Menschen für
fe in größerer Zahl lebten, bemerkt er, Höhe bleiben, sondern in tiefere Regio- sinnvoll und wertvoll. Müssten wir selbst
habe es keine harten Winter gegeben. nen ziehen. Der Jagddruck außerhalb regulierend eingreifen, käme uns das
Vielleicht fanden die Wapitis genügend des Parks dränge sie aber in das um die reichlich teuer.
anderes Futter und mussten nicht auf 2000 Meter hoch gelegene Schutzgebiet. Nicht zuletzt lehren uns die Wölfe
junge Bäume ausweichen. »Zwei wirk- Auch dazu, wie viele Wapitis natürli- die Bedeutung großer Raubtiere an der
lich strenge Winter hintereinander, dann cherweise in Yellowstone leben würden, Spitze einer Nahrungskette. Daran er-
glaube ich an den Wolfeffekt.« sind die Meinungen geteilt. Nach An- kennen wir, wie viel in Landschaften
Die Debatte facht einen jahrzehnte- sicht der Parkverwaltung lag der vormals fehlt, in denen die obersten Fleischfres-
langen Streit wieder an, nämlich darü- dichte Bestand noch innerhalb der na- ser nicht mehr vorkommen. Wo sie ein-
ber, wie die Wapitibestände des Natur- türlichen Grenzen. Manche Forscher greifen, pflanzt sich der Effekt durch das
parks richtig zu managen seien. Es gab meinen nun, das könne nicht stimmen, ganze Ökosystem fort.
eine Zeit, da nahm bei der Parkverwal- wenn man jetzt sehe, wie die Flussufer Naturfreunden bringen die Yellow-
tung die Meinung überhand, die Rothir- wieder zuwüchsen. Doch Smith vertei- stone-Wölfe in einzigartiger Weise bei,
sche hätten sich zu stark vermehrt. In digt das Yellowstone-Management. Gro- wie die vielen Glieder eines solchen Sys-
den 1960er Jahren fingen und schossen ße Populationsschwankungen seien bei tems ineinander greifen. Dank der akri-
Ranger die Hirsche zu Tausenden. Bis Wapitis normal. Noch immer seien die bischen Dokumentation, die in diesem
1970 betrug deren Zahl schätzungsweise Zahlen hoch, und langfristig gesehen Fall möglich ist, gewinnen verschwom-
nur noch 4000. Wegen massiver Proteste hätten auch die Spitzen dazu gepasst. mene Vorstellungen über ökologische Be-
der Bevölkerung stellten die Verantwort- ziehungen mehr Klarheit. Somit gestalten
lichen das Abschlachten dann aber wie- Streit um die richtigen Maßnahmen diese Wölfe nicht nur den Yellowstone-
der ein. Sie entschieden sich nun dazu, Der Philosoph Alston Chase jedoch kri- Nationalpark, sondern sie vermehren
der Natur die Regulierung selbst zu tisiert diese Auffassung heftig. In den auch unser Wissen über die Natur. l
überlassen. Nach diesem Konzept sollte 1980er Jahren schrieb er das Buch
das Naturschutzgebiet ein Stück des ur- »Playing God in Yellowstone«, in dem er
A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E

Jim Robbins ist freier Wissen-


tümlichen, vom Menschen wenig be- die Politik der Parkverwaltung, der Na- schaftsautor. Er lebt in Helena
rührten Amerika repräsentieren. Die tur ihren Lauf zu lassen, niedermachte. (Montana).
Zahl der Wapitis wuchs wieder. Bei Recherchen hätte er keinerlei Hin-
Yellowstone after wolfes. Von
Die nächsten Jahrzehnte brachten weise auf frühere hohe Wapitivorkom- Douglas W. Smith et al. In: Bio
von anderer Seite neue Proteste, diesmal men in dem Gebiet gefunden. Sie seien Science, Bd. 54, Heft 4, S. 330, April 2003
unter anderem von der Regierung des erst aufgetreten, nachdem der Natur- Yellowstone wolfes in the wild. Von James C.
Staates Montana, zu dem ein Streifen schutzpark eingerichtet wurde, man die Halfpenny. Riverband Publishing, 2003
des Yellowstone-Parks gehört. Es hieß, es Indianer vertrieb, die Jagd verbot und
Cottonwoods, elk and wolfes in the Lamar valley
sei Unsinn, die Natur in einer so hoch- den Wölfen den Garaus machte. of Yellowstone National Park. Von Robert L.
gradig unnatürlichen Situation allein Wie auch immer – erste Anzeichen Beschta. In: Ecological Applications, Bd. 15, Heft
walten zu lassen. Die Wapitibestände sei- könnten wirklich bedeuten, dass die 5, S. 1295, 2003
en entschieden viel zu hoch im Verhält- Wölfe sozusagen Naturschutz betreiben. Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei
nis zur Weidefläche. Das zeige sich be- Einfach indem sie in der ihnen gemäßen www.spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
sonders in der kalten Jahreszeit. Denn Weise hauptsächlich Wapitis reißen, ver-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 29
KOSMOLOGIE z
Die Zeit vor
dem Urknall
Quantentheorien der Gravitation legen nahe, dass das
Universum nicht erst mit dem Urknall begann – ein
dramatischer Bruch mit der bisherigen Vorstellung vom
Anfang der Zeit. Demnächst verfügbare Instrumente
könnten subtile Spuren aus dieser kosmischen Vorzeit
nachweisen.

Von Gabriele Veneziano Woher kommen wir? Was sind wir?


Wohin gehen wir? Das Kunstwerk

B
egann die Zeit wirklich mit stellt den Kreislauf von Geburt, Leben
dem Urknall – oder existierte und Tod – Ursprung, Identität und
das Universum bereits davor? Schicksal jedes Individuums – dar, und
Noch vor zehn Jahren erschien diese persönlichen Fragen sind unmit-
ein solcher Gedanke geradezu als Blas- telbar mit kosmologischen verbunden.
phemie. Die meisten Kosmologen wa- Wir können unsere Herkunft durch
ren überzeugt, die Frage nach einer die Generationen zurückverfolgen bis
Zeit vor dem Urknall sei ebenso sinn- zu unseren tierischen Vorfahren und
los wie die Suche nach einem Ort weiter zu den ersten Lebensformen, zu
nördlich des Nordpols. Doch neuere den chemischen Vorformen des Le-
Entwicklungen in der Theoretischen bens, zu den Elementen, die im frühen
Physik, insbesondere die Stringtheorie, Universum synthetisiert wurden, und
haben den Blickwinkel der Kosmolo- zu der amorphen Energie, die zuvor
gen verändert: Das Universum vor den Raum erfüllte. Reicht unser
dem Urknall ist heute ein respektabler Stammbaum unendlich weit zurück?
Forschungsgegenstand. Oder enden seine Wurzeln irgendwo?
Damit schwingt das Pendel einer Ist der Kosmos so vergänglich wie wir
geistigen Auseinandersetzung, die in selbst?
unterschiedlicher Form seit Jahrtau- Schon die alten Griechen debattier-
senden unentschieden hin- und her- ten lebhaft über den Ursprung der
wogt, erneut in eine Richtung aus. In Zeit. Aristoteles argumentierte gegen
allen Kulturen hat das Problem des Ur- einen Urbeginn, denn aus nichts ent-
sprungs das Denken beschäftigt. Es stehe nur wieder nichts. Wenn das
hängt eng mit den großen Mensch- Universum niemals vom Nichtsein
heitsfragen zusammen, die Paul Gau- zum Sein habe übergehen können,
guin 1897 in seinem berühmten Ge- müsse es immer existiert haben. Da-
mälde D’où venons-nous? Que sommes- rum erstrecke sich die Zeit unbegrenzt
nous? Où allons-nous? dargestellt hat: in Zukunft und Vergangenheit. r

30 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Begann die kosmische Uhr im Moment
ALFRED T. KAMAJIAN

des Urknalls zu ticken – oder hat die Zeit


weder Anfang noch Ende? Diese zunächst
rein philosophische Frage suchen nun
Kosmologen zu klären.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 31
r
KOSMOLOGIE z
Den entgegengesetzten Standpunkt
vertraten die christlichen Theologen. Au-
und Isotropie, welches das Universum
im Großen aufweist. Damit der Kosmos
Im Prinzip wäre denkbar, dass jedes
dieser separaten Gebiete von Anfang an
gustinus zufolge existiert Gott jenseits mehr oder weniger überall gleich ausse- exakt gleiche Eigenschaften bekam; dann
von Raum und Zeit und vermag darum hen kann, muss es zwischen weit ent- wäre die Homogenität purer Zufall. Die
diese Attribute genauso zu erschaffen wie fernten Raumregionen irgendeine Art Physiker bevorzugen jedoch zwei plau-
alle anderen Aspekte unserer Welt. Auf von Kommunikation zur Abstimmung siblere Erklärungen: Das frühe Univer-
die Frage, was Gott tat, bevor er die Welt ihrer Eigenschaften gegeben haben. sum war viel kleiner oder viel älter als im
schuf, gab Augustinus zur Antwort: Da Doch das steht im Widerspruch zur ur- Standardmodell. In beiden Fällen wäre
die Zeit selbst Teil der göttlichen Schöp- sprünglichen Version des kosmologi- eine Kommunikation zwischen entfern-
fung ist, gab es kein Vorher. schen Standardmodells. ten Regionen möglich.
Einsteins Allgemeine Relativitätsthe- Heute ist besonders die erste Lösung
orie führte praktisch zum selben Schluss. Die Homogenität war kein Zufall populär. Demnach durchlief unser Uni-
In dieser Theorie sind Raum und Zeit Betrachten wir, was in den 13,7 Milliar- versum in seiner Frühzeit eine Phase be-
gleichsam weich und verformbar. Im den Jahren seit der Freisetzung der kos- schleunigter Expansion, die so genannte
Großen verhält sich der Raum selbst dy- mischen Hintergrundstrahlung gesche- Inflation. Vorher war der Kosmos er-
namisch: Indem er mit der Zeit expan- hen ist. Der Abstand zwischen den Gala- heblich kleiner als im Modell, und heu-
diert oder schrumpft, bewegt er die Ma- xien nahm durch die Expansion auf das te weit entfernte Regionen des Raumes
terie wie Treibgut bei Ebbe und Flut. Tausendfache zu, während der Radius konnten damals ihre Eigenschaften an-
In den 1920er Jahren entdeckten die des beobachtbaren Universums um den gleichen. Erst während der Inflation riss
Astronomen, dass unser Universum ge- viel größeren Faktor hunderttausend an- dieser Kontakt ab, weil das Licht nicht
genwärtig expandiert: Ferne Galaxien wuchs, weil das Licht die Expansion mit dem extremen Expansionstempo
bewegen sich voneinander fort. Wie die überholte. Wir sehen heute Bereiche des Schritt halten konnte. Nach dem Ende
Physiker Stephen Hawking und Roger Universums, die wir vor 13,7 Milliarden der Inflation verlangsamte sich die Ex-
Penrose in den 1960er Jahren bewiesen, Jahren nicht hätten sehen können. Tat- pansion und die Galaxien bekamen
kann sich deshalb die Zeit nicht unbe- sächlich erreicht zum ersten Mal in der einander nach und nach wieder zu Ge-
grenzt in die Vergangenheit erstrecken. kosmischen Geschichte das Licht der sicht.
Spult man nämlich die Geschichte des fernsten Galaxien unsere Milchstraße. Die Physiker postulieren als Ursache
Kosmos rückwärts ab, so vereinigen sich Dennoch stimmen die Eigenschaften der Inflation die potenzielle Energie ei-
schließlich alle Galaxien in einer punkt- der Milchstraße im Wesentlichen mit nes neuartigen Quantenfelds namens
förmigen Singularität – fast so, als wür- denen der fernsten Galaxien überein. Es Inflaton, das 10–35 Sekunden nach dem
den sie von einem Schwarzen Loch ver- ist, als ginge man zu einer Party und stell- Urknall seine Wirkung entfaltete. Diese
schlungen. Jede Galaxie oder ihr urtüm- te dort verblüfft fest, dass alle Gäste ge- potenzielle Energie führte – anders als
licher Vorläufer wird auf die Größe null nau die gleiche Kleidung tragen. Wären Ruhemasse oder kinetische Energie – zu
zusammengepresst, während Dichte, nur zwei gleich angezogen, könnte man einer gravitativen Abstoßung. Während
Temperatur und Raumzeitkrümmung dies als Zufall abtun, aber so muss man die Schwerkraft normaler Materie die
ins Unendliche wachsen. Die Singulari- annehmen, die Gäste hätten sich vorher Expansion bremst, wirkte das Inflaton
tät ist der absolute Endpunkt unserer abgesprochen. In der Kosmologie geht es beschleunigend. Das erstmals 1981 vor-
kosmischen Ahnenreihe. nicht nur um ein Dutzend, sondern um geschlagene Inflationsszenario vermag
Die unvermeidliche Singularität stellt Zehntausende – so groß ist bei der kos- eine Vielzahl von Beobachtungen präzise
die Kosmologen vor ernste Probleme. mischen Hintergrundstrahlung die An- zu erklären. Dennoch bleiben theoreti-
Insbesondere verträgt sie sich schlecht zahl unabhängiger und doch statistisch sche Probleme – so die Frage, was das
mit dem hohen Maß an Homogenität gleichartiger Himmelsabschnitte. Inflaton eigentlich ist und woher seine
gewaltige potenzielle Energie stammt
IN KÜRZE (siehe »Ein Universum voll dunkler Rät-
sel« von Gerhard Börner, Spektrum der
r Seit jeher diskutieren Philosophen, Theologen und Wissenschaftler, ob die Wissenschaft 12/2003, S. 28).
Zeit ewig oder endlich ist. Nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie ist die Zeit Eine andere, weniger bekannte Lö-
endlich: Das Universum hat mit dem Urknall angefangen zu existieren. sung des kosmologischen Rätsels folgt
r Doch in der Nähe des Urknalls kommen Quanteneffekte ins Spiel und die All- der zweiten Alternative, indem sie die
gemeine Relativitätstheorie verliert ihre Gültigkeit. Ein Favorit für eine vollständi- Singularität abschafft. Wenn die Zeit
ge Quantentheorie der Gravitation ist die Stringtheorie. Sie postuliert als neue nicht erst mit dem Urknall anfing, son-
Naturkonstante ein minimales Quantum der Länge. Damit wird die Entstehung dern schon lange vor Beginn der Expan-
des Kosmos aus der Urknall-Singularität unmöglich. sion, dann hätte die Materie viel Zeit ge-
r Gemäß den Symmetrien der Stringtheorie hat die Zeit weder Anfang noch Ende. habt, sich gleichförmig zu arrangieren.
Der Urknall hat zwar trotzdem stattgefunden, aber nicht als singulärer Moment Darum haben einige Forscher die Argu-
unendlicher Dichte. Das Universum könnte anfangs fast leer gewesen sein und mente, aus denen die Notwendigkeit ei-
sich allmählich bis zum Urknall verdichtet haben – oder es könnte einen Zyklus ner Singularität hervorgeht, kritisch un-
von Entstehen und Vergehen durchlaufen. In jedem Fall hat die Zeit vor dem Ur- ter die Lupe genommen.
knall den gegenwärtigen Kosmos mitgeformt. Fragwürdig ist schon die Vorausset-
zung, die Relativitätstheorie gelte unein-

32 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Zwei Versionen des Anfangs
In unserem expandierenden Universum streben die Galaxien aus- selben Ort gewesen sein. Seither hat es Phasen beschleunigter
einander. Die Geschwindigkeit, mit der sich zwei Galaxien von- und verlangsamter Expansion gegeben. In den Raum-Zeit-Dia-
einander entfernen, ist proportional zu ihrem Abstand: Ein um grammen (unten) folgen die Galaxien darum Kurven, die sie
500 Millionen Lichtjahre getrenntes Paar entfernt sich doppelt manchmal aus dem beobachtbaren Raumgebiet (gelber Keil)
so schnell voneinander wie eines mit 250 Millionen Lichtjahren heraus- und wieder hineinführen. Am Anfang dieser Bewegung
Abstand. Darum müssen alle Galaxien einmal zur selben Zeit am – dem Urknall – bricht die herkömmliche Physik zusammen.

Gegenwart

Grenze des
beobachtbaren
Universums
Weg einer Galaxie
Zeit

Raum
Urknall

SAMUEL VELASCO
Nach der klassischen Urknall-Kosmologie, die auf Einsteins Allgemei- In modernen Modellen verbieten Quanteneffekte, dass die Galaxien auf
ner Relativitätstheorie beruht, betrug der Abstand zweier beliebiger einen infinitesimalen Punkt komprimiert werden; der Abstand kann
Galaxien vor endlich langer Zeit exakt null. Vor diesem Zeitpunkt eine minimale Distanz nicht unterschreiten. Solche Modelle lassen
verlieren die Begriffe Raum und Zeit jede Bedeutung. die Existenz eines Universums vor dem Urknall zu.

geschränkt. In nächster Nähe der mut- ben in den letzten Jahren große Fort- Modifikation der Einstein’schen Theorie
maßlichen Singularität müssen Quan- schritte erzielt und tiefe Einsichten ge- halte, ist die Stringtheorie. Auf sie kon-
teneffekte eine dominante Rolle gespielt wonnen. zentriert sich dieser Artikel, obwohl Be-
haben, doch die Allgemeine Relativitäts- fürworter der Loop-Quantengravitation
theorie kennt solche Effekte nicht. An Schleifen oder Fäden? behaupten, sie könnten mit ihrem Mo-
die Unvermeidlichkeit der Singularität Trotzdem ist ihr Ansatz vielleicht nicht dell zu ganz ähnlichen Schlussfolgerun-
zu glauben bedeutet also, dieser Theorie radikal genug. Mit einem ähnlichen Pro- gen gelangen.
übermäßig zu vertrauen. Um zu wissen, blem sahen sich die Teilchenphysiker Die Stringtheorie erwuchs aus einem
was beim Urknall wirklich geschah, müs- konfrontiert, nachdem Enrico Fermi Modell, das ich bereits 1968 aufstellte,
sen die Physiker erst eine Quantentheo- 1934 seine Theorie der schwachen Kern- um Kernteilchen wie Proton und Neu-
rie der Gravitation entwickeln. Seit Ein- kraft aufgestellt hatte: Alle Anstrengun- tron und deren Wechselwirkungen zu
stein haben sich Theoretiker darum be- gen, eine Quantenversion von Fermis beschreiben. Trotz anfänglicher Begeiste-
müht, bis Mitte der 1980er Jahre jedoch Theorie zu schaffen, schlugen fehl. Of- rung scheiterte das Modell. Es wurde ei-
praktisch ohne Erfolg. fenbar war nicht bloß ein neues Rechen- nige Jahre später zu Gunsten der Quan-
Derzeit versprechen vor allem zwei verfahren nötig, sondern eine grundle- tenchromodynamik aufgegeben, welche
Ansätze Erfolg. Der eine heißt Loop- gende Neuerung, welche erst die Theorie die Kernteilchen mit Hilfe noch funda-
Quantengravitation; er behält Einsteins der elektroschwachen Wechselwirkung mentalerer Bausteine beschreibt. Diese
Theorie im Wesentlichen bei, führt aber von Sheldon L. Glashow, Steven Wein- so genannten Quarks sind innerhalb ei-
Quanten von Raum und Zeit ein (siehe berg und Abdus Salam in den späten nes Protons oder Neutrons eingesperrt,
»Quanten der Raumzeit« von Lee Smo- 1960er Jahren mit sich brachte. als seien sie durch elastische Fäden anei-
lin, Spektrum der Wissenschaft 3/2004, Der zweite Ansatz, den ich persön- nander gefesselt. Im Rückblick zeigt sich,
S. 54). Die Anhänger dieser Theorie ha- lich für eine wirklich revolutionäre dass die ursprüngliche Stringtheorie r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 33
KOSMOLOGIE z
Kleiner Kurs in Stringtheorie

Die Stringtheorie ist die führende – wenn


auch nicht einzige – Theorie, die zu be-
schreiben versucht, was im Augenblick

subatomarer Bereich
Minimallänge
des Urknalls geschah. Strings sind subato-
mare Fäden, die wie Violinsaiten schwin-
gen. Wenn ein Geiger einen Finger auf
dem Griffbrett zu sich schiebt, verkürzt er
die Saite und erhöht dadurch nach Belie-
ben die Frequenz – und Energie – der
Schwingungen. Im subatomaren Bereich
kommen jedoch Quanteneffekte ins Spiel zen
erkür
und definieren eine Minimallänge für uv
z
Strings. gs
Strin
he,
suc
Ver
Ein String kann sich nicht nur als Ganzes großer Zylinder
fortbewegen oder wie eine Saite schwin-
gen, sondern sich auch wie eine Sprung- wenig Energie nötig, um
Geschwindigkeit zu erhöhen
feder einrollen. Stellen wir uns einen zylin-
drischen Raum vor, dessen Umfang grö-
spiralförmige Fortbewegung eines Strings
ßer ist als die zulässige Minimallänge
des Strings. Dann ist für jede Erhöhung
der Fortpflanzungsgeschwindigkeit wenig viel Energie nötig, um
Energiezufuhr nötig, während jede zusätz- Windungszahl zu erhöhen
liche Windung viel Energie verschlingt. Ist
der Zylinderumfang hingegen kleiner als um den Zylinder gewickelter String
die Minimallänge, gilt das Umgekehrte:
Eine Extrawindung kostet weniger Energie kleiner Zylinder
als die schnellere Fortbewegung. Letztlich
viel Energie nötig, um
kommt es aber nur auf die Gesamtenergie Geschwindigkeit zu erhöhen
an, und sie ist vom Zylinderumfang unab-
hängig. In jedem Fall schrumpft der String
nicht unter die Minimallänge. Dies verhin-
wenig Energie nötig, um
dert, dass die Materie beim Urknall unend- Windungszahl zu erhöhen
lich verdichtet wird.
SAMUEL VELASCO

r (string englisch für Faden) diesen Aspekt renden String angewendet – der einer Wirkungsquantum h hinzukommt. Die-
der nuklearen Welt erfasst hatte. Doch winzigen Violinsaite gleicht, nur breiten se Konstante spielt eine entscheidende
erst später wurde sie als Kandidat für die sich die Schwingungen darauf mit Licht- Rolle bei fast jedem Aspekt der Stringthe-
Vereinigung von Relativitäts- und Quan- geschwindigkeit aus –, so tauchen neue orie, indem sie Größen auf endliche Wer-
tentheorie wieder hervorgeholt. Eigenschaften auf. Diese haben grund- te beschränkt, die sonst entweder null
Die Grundidee besagt, dass die fun- legende Bedeutung für Teilchenphysik oder unendlich würden.
damentalsten Teilchen nicht punktför- und Kosmologie. Zweitens können selbst masselose
mige Gebilde sind: Der große Zoo der Erstens haben Strings eine endliche Strings einen Drehimpuls haben. In der
Elementarteilchen, jedes mit all seinen Länge. Gäbe es keine Quanteneffekte, so klassischen Physik ist der Drehimpuls
typischen Eigenschaften, geht aus den könnte man eine Geigensaite immer wei- eine Eigenschaft eines Objekts, das um
vielen möglichen Schwingungszuständen ter halbieren, bis schließlich ein punkt- eine Achse rotiert. In der Formel für den
unendlich dünner, eindimensionaler Fä- förmiges, masseloses Teilchen übrig blie- Drehimpuls werden Geschwindigkeit,
den oder Strings hervor. Wie kann eine be. Doch die Heisenberg’sche Unbe- Masse und Abstand von der Achse mit-
so simple Theorie die komplizierte Welt stimmtheitsrelation verhindert, dass einander multipliziert; folglich kann ein
der Teilchen und ihrer Wechselwirkun- Strings kürzer werden als 10 –34 Meter. masseloses Objekt keinen Drehimpuls
gen beschreiben? Dieses irreduzible Längenquant, die besitzen. Doch in der Stringtheorie ma-
Die Antwort liegt in einer Art Quan- String-Länge lS, ist eine neue Naturkons- chen sich Quantenfluktuationen be-
ten-String-Zauberei. Werden die Regeln tante, welche durch die Theorie zur Licht- merkbar. Ein masseloser String kann des-
der Quantenmechanik auf einen vibrie- geschwindigkeit c und dem Planck’schen halb bis zu zwei Einheiten von h an

34 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Drehimpuls aufnehmen. Diese Eigen-
schaft ist den Physikern sehr willkom- Das Prä-Urknall-Szenario
men, denn sie passt zu den Trägern aller
bekannten Wechselwirkungen – etwa Ein erster Versuch, die Stringtheorie auf
zum Photon für den Elektromagnetis- die Kosmologie anzuwenden, war das
mus und zum Graviton für die Schwer- Prä-Urknall-Szenario. Demnach ist der
verlangsamte
kraft. Historisch gesehen war es der Urknall nicht der ultimative Beginn des Expansion
Drehimpuls, der den Physikern die Be- Universums, sondern nur eine Durch-
beschleunigte
deutung der Stringtheorie für die Quan- gangsphase. Davor beschleunigte sich Expansion
tengravitation aufzeigte. die Expansion, während sie sich danach
Drittens erfordern Strings die Exis- – zumindest anfangs – verlangsamte.
tenz von zusätzlichen Raumdimensionen Der Weg der Galaxien durch die Raum-
zu den üblichen drei. Während eine klas- zeit ist geformt wie ein Cocktailglas
sische Violinsaite unabhängig von den (rechts).
Eigenschaften von Raum und Zeit
schwingt, ist ein String wählerischer: Sei-
ne Schwingungsgleichungen gelten nur,
wenn die Raumzeit entweder – im Wi-
derspruch zu den Beobachtungen – stark
gekrümmt ist oder sechs zusätzliche
Raumdimensionen enthält.
Viertens haben physikalische Größen
wie die Gravitations- oder die Dielektri-
zitätskonstante, die in den physikali-
schen Gleichungen auftreten und die Ei-
genschaften der Natur festlegen, nicht Das Universum existiert ewig. In ferner Die Kräfte wurden allmählich stärker und
mehr beliebige feste Werte. In der String- Vergangenheit war es fast leer. Alle Na- die Materie klumpte sich zusammen. In
theorie erscheinen sie als Felder, die, turkräfte – insbesondere die Gravitation – einigen Regionen stieg die Dichte so sehr
ähnlich dem elektromagnetischen Feld, waren damals viel schwächer als heute. an, dass ein Schwarzes Loch entstand.
ihre Werte dynamisch verändern kön-
nen. Diese Felder können in verschiede-
nen kosmologischen Epochen oder in
weit entfernten Raumregionen unter-
schiedliche Werte annehmen. Sogar heu-
te könnten die vermeintlichen physikali-
schen Konstanten winzige Abweichun-
gen zeigen. Die Beobachtung solcher
Schwankungen würde der Stringtheorie
enormen Auftrieb verleihen.

Raumzeit mit elf Dimensionen Der Raum innerhalb des Lochs expan- Im Loch stürzte die Materie zum Zentrum
Eines dieser Felder, das so genannte Di- dierte beschleunigt. Die Materie im In- und wurde komprimiert, bis ihre Dichte
laton, ist der Hauptschlüssel zur String- nern wurde von der Außenwelt abge- die von der Stringtheorie gesetzte Gren-
theorie: Es bestimmt die Stärke sämt- schnitten. ze erreichte.
licher Wechselwirkungen. Das Dilaton
fasziniert die Stringtheoretiker, weil sein
Wert als Größe einer zusätzlichen Raum-
dimension interpretiert werden kann;
dadurch erhält die Raumzeit insgesamt
elf Dimensionen.
Außerdem haben die Strings den
SAMUEL VELASCO

Physikern ganz neuartige Natursymmet-


rien beschert. Diese so genannten Duali-
täten werfen unsere Vorstellung von ex-
trem kleinen Objekten völlig um. Eine
Dualität habe ich bereits erwähnt: Nor- Als die Materie die größtmögliche Dichte erreichte, kam es auf Grund von Quanten-
malerweise ist ein kurzer String leichter effekten zu einem Urknall. Außerhalb begannen sich andere Schwarze Löcher zu
als ein langer – doch wenn wir versu- bilden – jedes ein eigenes Universum.
chen, ihn unter die fundamentale Größe
lS zu verkürzen, wird er wieder schwerer. r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 35
r
KOSMOLOGIE z
Eine andere Symmetrie ist die T-Du-
alität; sie besagt, dass kleine und große
so können die beiden Bewegungszustän-
de ihre Rollen vertauschen: Energien, die
lenfaktor äquivalent zu solchen mit gro-
ßem. In den Einstein’schen Gleichungen
Extradimensionen einander äquivalent zuvor durch kreisförmige Bewegungen gibt es keine derartige Symmetrie; sie
sind. Diese Symmetrie entsteht, weil produziert wurden, werden nun durch entsteht erst aus der Vereinheitlichung
Strings sich auf kompliziertere Weise be- Aufwickeln erzeugt und umgekehrt. Ein der Naturkräfte im Rahmen der String-
wegen können als punktförmige Teil- äußerer Beobachter bemerkt nur die theorie, wobei das Dilaton die zentrale
chen. Betrachten wir einen geschlosse- Energieniveaus, nicht deren Ursachen. Rolle spielt.
nen String; diese Schleife liegt auf einem Deshalb sind für ihn große und kleine Jahrelang glaubten die Stringtheo-
zylindrischen Raum, dessen kreisförmi- Zylinderradien physikalisch äquivalent. retiker, die T-Dualität gelte nur für ge-
ger Querschnitt eine endliche Extradi- schlossene Strings und nicht für offene,
mension darstellt. Der String kann nicht Strings mit losen Enden weil deren lose Enden sich nicht aufwi-
nur vibrieren, sondern auch als Ganzes Zwar wird die T-Dualität üblicherweise ckeln könnten. Doch 1995 erkannte Jo-
um den Zylinder wandern oder sich ein- anhand von zylinderförmigen Räumen seph Polchinski an der Universität von
mal oder mehrmals um ihn herumwin- beschrieben, bei denen eine Dimension Kalifornien in Santa Barbara, dass die T-
den wie ein Gummiband, das um ein- – der Umfang – endlich ist, doch eine Dualität sich sehr wohl auf offene Strings
gerolltes Papier gewickelt wird (siehe Variante bezieht sich auf unsere gewöhn- anwenden lässt, sofern das Vertauschen
Bild S. 34). lichen drei Dimensionen, die sich an- zwischen großen und kleinen Zylinder-
Der Energieaufwand für diese zusätz- scheinend unendlich weit erstrecken. radien mit einem Wechsel der Bedin-
lichen Stringzustände hängt von der Grö- Spricht man von der Expansion eines gungen an den Enden der Strings ein-
ße des Zylinders ab. Die Energie für das unendlichen Raumes, ist Vorsicht gebo- hergeht. Zuvor hatten die Physiker
Herumwinden ist direkt proportional ten: Seine Gesamtgröße kann sich nicht Randbedingungen postuliert, bei denen
zum Zylinderradius: Ist der Zylinder di- ändern; sie ist und bleibt unendlich. keine Kraft auf die String-Enden wirkt
cker, muss sich der String beim Herum- Dennoch expandiert der Raum in dem und diese lose umherflattern können. Im
wickeln mehr dehnen, und deshalb ent- Sinn, dass in den Raum eingebettete Rahmen der T-Dualität gelten jedoch die
halten die Windungen mehr Energie als Objekte, etwa Galaxien, sich voneinan- so genannten Dirichlet-Randbedingun-
bei einem dünneren Zylinder. Die Ener- der entfernen. Die entscheidende Vari- gen, welche die Enden fixieren.
gie für Bewegungen um den Zylinder- able ist nicht die Größe des gesamten Bei jedem String können beide Arten
umfang ist hingegen umgekehrt propor- Raumes, sondern sein Skalenfaktor – das von Randbedingungen gemischt auftre-
tional zum Radius: Größere Zylinder heißt der Faktor, um den der Abstand ten. Zum Beispiel können Elektronen
erlauben größere Wellenlängen, die we- zwischen den Galaxien wächst; ihn mes- Strings sein, deren Enden sich in drei
niger Energie repräsentieren als kleine sen die Astronomen mittels der galakti- Raumdimensionen frei bewegen, aber in
Wellenlängen. Wechselt man nun einen schen Rotverschiebung. Der T-Dualität den übrigen sieben festsitzen. Die drei
dicken gegen einen dünnen Zylinder aus, zufolge sind Universen mit kleinem Ska- Dimensionen bilden einen Unterraum,

Das ekpyrotische Szenario


Wenn unser Universum eine mehrdimensi-
onale Membran oder »Bran« ist, die durch
einen höherdimensionalen Raum treibt, parallele Bran
könnte der Urknall die Kollision unserer
Bran mit einer anderen gewesen sein.
Solche Zusammenstöße könnten zyklisch
wiederkehren. Der Weg jeder Galaxie
durch die Raumzeit gleicht einem Stun-
denglas (unten).

Raum
expandiert

Raum zieht sich


zusammen unsere Bran

Zwei fast leere Branen ziehen einander Die Branen kollidieren; ihre Bewegungs-
an. Während der Annäherung zieht sich energie verwandelt sich dabei in Strah-
jede rechtwinklig zur Bewegungsrichtung lung und Materie. Dieser Zusammenstoß
zusammen. ist der Urknall.

36 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
der Dirichlet-Membran oder kurz D- chanismus vorstellen, der die Singulari- üblichen Inflationstheorie enthält: Unser
Bran heißt. 1996 vermuteten Petr Hora- tät so glatt eliminiert. Universum musste eine Phase beschleu-
va an der Universität von Kalifornien in In der Nähe des Urknalls herrschten nigter Expansion durchlaufen, um derart
Berkeley und Edward Witten vom Insti- so extreme Bedingungen, dass noch nie- homogen und isotrop zu werden. In der
tute for Advanced Study in Princeton, mand die Gleichungen zu lösen weiß. Standardtheorie geschieht die Beschleu-
unser Universum residiere in einer sol- Dennoch wagen die Stringtheoretiker nigung nach dem Urknall infolge eines
chen Membran. Die eingeschränkte Be- Hypothesen über das Universum vor ad hoc angenommenen Inflaton-Feldes.
weglichkeit der Elektronen und anderer dem Urknall. Derzeit sind zwei Modelle Im Prä-Urknall-Szenario geschieht sie
Teilchen erklärt somit, warum wir nicht im Gespräch. vor dem Urknall – als natürliche Konse-
alle zehn Raumdimensionen wahrzuneh- Das erste heißt Prä-Urknall-Szenario quenz der neuen String-Symmetrien.
men vermögen. und wurde von meinen Kollegen und
All die magischen Eigenschaften der mir 1991 entwickelt. Es kombiniert die Ein Spiegel der Post-Urknalls
Strings weisen in eine bestimmte Rich- T-Dualität mit der besser bekannten Nach diesem Szenario war das Prä-
tung: Strings verabscheuen Unendlich- Symmetrie der Zeit-Umkehr; sie besagt, Urknall-Universum ein fast perfektes
keit. Sie können nicht zu einem infini- dass die physikalischen Gleichungen un- Spiegelbild des Post-Urknall-Universums
tesimalen Punkt kollabieren, und so abhängig davon, ob die Zeit vorwärts (siehe Bild S. 35). Wenn das Universum
vermeiden sie die damit verbundenen oder rückwärts abläuft, genau gleich bis in alle Ewigkeit existiert und sich sein
Paradoxien. Ihre endliche Länge und die funktionieren. Die Kombination ermög- Inhalt dabei langsam immer weiter ver-
neuartigen Symmetrien definieren obere licht neue Kosmologien, bei denen das dünnt, dann existiert es demnach auch
beziehungsweise untere Grenzen für Universum beispielsweise fünf Sekunden seit Ewigkeiten. Vor unendlich langer
physikalische Größen, die in herkömm- vor dem Urknall gleich schnell expan- Zeit war es fast leer, nur von einem dün-
lichen Theorien gegen unendlich oder dierte wie fünf Sekunden danach. Aller- nen chaotischen Gas aus Strahlung und
gegen null streben. dings änderte sich die Expansionsge- Materie durchzogen. Die vom Dilaton-
Geht man in der Geschichte des schwindigkeit in den beiden Augenbli- Feld kontrollierten Naturkräfte waren so
Universums immer weiter zurück, so cken in entgegengesetzter Weise: Wenn schwach, dass die Gaspartikel kaum in
nimmt die Krümmung der Raumzeit sie sich nach dem Urknall verlangsamte, Wechselwirkung traten.
immer mehr zu. Doch gemäß der String- so beschleunigte sie sich davor. Dem- Mit der Zeit wurden die Kräfte stär-
theorie wird die Krümmung nie unend- nach war der Urknall nicht der Beginn ker und zogen Materie zusammen. Eini-
lich groß wie bei der traditionellen des Universums, sondern bloß ein hefti- ge Regionen sammelten zufällig mehr
Urknall-Singularität, sondern erreicht ger Übergang von Beschleunigung zu Materie als ihre Umgebung. Schließlich
schließlich ein Maximum und sinkt wie- Verlangsamung. wuchs in diesen Regionen die Dichte so
der ab. Bevor es die Stringtheorie gab, Das Schöne an diesem Bild ist, dass stark an, dass sich Schwarze Löcher bil-
konnten die Physiker sich keinen Me- es automatisch die große Erkenntnis der deten. Dadurch wurde die Materie in r

Die Branen prallen voneinander ab und Im zyklischen Modell bremst die Anzie- Das Driften hört auf, die Branen begin-
beginnen mit abnehmendem Tempo zu hung zwischen den Branen deren Ausei- nen sich einander zu nähern. Während
expandieren. Die Materie klumpt zusam- nanderdriften ab. Die Materie verdünnt der Bewegungsumkehr expandieren
SAMUEL VELASCO

men; Galaxienhaufen entstehen. sich immer mehr. beide beschleunigt.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 37
KOSMOLOGIE

r diesen Gebieten vom Rest des Univer-


sums abgeschnitten, und es zerfiel in un-
z aus dem unser Kosmos hervorging, müs-
se ungewöhnlich groß gewesen sein –
das heißt Strings, die knapp davor stan-
den, zu Schwarzen Löchern zu werden.
zusammenhängende Stücke. viel größer als die Längenskala der Das Verhalten dieser Löcher könnte das
Innerhalb eines Schwarzen Lochs Stringtheorie. Darauf lässt sich erwidern, von Damour und Henneaux aufgewor-
vertauschen Raum und Zeit ihre Rollen. dass die Gleichungen Schwarze Löcher fene Problem lösen. Einen ähnlichen
Das Zentrum des Schwarzen Lochs ist in allen möglichen Größen zulassen. Un- Vorschlag haben Thomas Banks von der
kein Punkt im Raum, sondern ein Zeit- ser Universum hat sich eben zufällig in Rutgers-Universität und Willy Fischler
punkt. Während die einfallende Materie einem genügend großen Schwarzen Loch von der Universität von Texas in Austin
sich dem Zentrum näherte, stieg ihre gebildet. gemacht. Es gibt weitere Kritikpunkte –
Dichte immer weiter an. Doch sobald Ein heiklerer Einwand wurde von aber ob sie tatsächlich einen fundamen-
Dichte, Temperatur und Krümmung Thibault Damour am Institut des Hautes talen Fehler im Prä-Urknall-Szenario auf-
den von der Stringtheorie erlaubten Ma- Études Scientifiques in Bures-sur-Yvette zeigen, muss sich erst erweisen.
ximalwert erreichten, kehrte sich die (Frankreich) und Marc Henneaux an der
Entwicklung um, und die Größen nah- Freien Universität Brüssel erhoben: Ma- Wenn Membranen kollidieren
men ab. Diesen Umkehrmoment nen- terie und Raumzeit hätten sich nahe Das zweite wichtige Modell eines Uni-
nen wir Urknall. Aus dem Innern eines dem Urknall chaotisch verhalten, und versums vor dem Urknall ist das ekpyro-
dieser Schwarzen Löcher wurde unser das widerspreche der beobachteten tische Szenario (von Ekpyrose, einem
Universum. Gleichmäßigkeit des frühen Universums. Begriff der antiken Stoiker für griechisch
Kein Wunder, dass ein derart unkon- Als Antwort habe ich kürzlich vorge- »[Entstehung] aus Feuer«). Es wurde
ventionelles Szenario für Kontroversen schlagen, dass der chaotische Zustand 2001 von einem Team aus Kosmologen
sorgt. Andrei Linde von der Stanford- ein dichtes Gas von winzigen und mas- und Stringtheoretikern entwickelt: Justin
Universität meint, das Schwarze Loch, sereichen »String-Löchern« erzeugte – Khoury von der Columbia-Universität,
Paul J. Steinhardt von der Princeton-
Universität, Burt A. Ovrut von der Uni-
Verräterische Spuren der Zeit vor dem Urknall versität von Pennsylvania, Nathan Sei-
berg vom Institute for Advanced Study
Wie wollen Forscher das Universum vor sowie Neil Turok von der Universität
dem Urknall beobachten? Nur eine Form Cambridge. Das ekpyrotische Modell
von Strahlung kann von damals zurück- beruht auf der Idee, dass unser Univer-
geblieben sein – Gravitationswellen. sum nur eine von vielen D-Branen ist,
Diese periodischen Schwankungen des die in einem höherdimensionalen Raum
Gravitationsfeldes machen sich entwe- treiben (siehe Spektrum der Wissen-
der indirekt durch eine Polarisation der schaft 8/2001, S. 12). Die Branen ziehen
kosmischen Hintergrundstrahlung be- einander an und kollidieren gelegentlich.
merkbar (rechts) oder direkt als Gravita- Der Urknall ist demnach als Kollision ei-
tionswellen. Das Prä-Urknall- und das gen vermögen nicht zwischen diesen ner anderen Bran mit unserer eigenen zu
ekpyrotische Szenario sagen mehr hoch- Modellen zu unterscheiden, aber künfti- erklären (siehe Kasten S. 36/37).
frequente und weniger niederfrequente ge Beobachtungen mit dem Planck-Sa- In einer Variante dieses Szenarios
Gravitationswellen voraus als die her- telliten sowie mit den irdischen Gravita- wiederholen sich die Kollisionen zyk-
kömmlichen Inflationsmodelle (unten). tionswellen-Detektoren Ligo und Virgo lisch: Zwei Branen stoßen zusammen,
Gegenwärtige astronomische Messun- werden dazu wohl fähig sein. prallen voneinander ab, trennen sich,
ziehen sich an, kollidieren erneut und
1 so weiter. Zwischen den Kollisionen ver-
künftig mögliche Empfindlichkeit halten sich die Branen wie elastisches
Energiedichte der Gravitationswellen

von Ligo und Virgo Material: Sie expandieren während der


in kosmologischen Einheiten

10–5 Trennungsphase und ziehen sich bei An-


näherung zusammen. Während der Be-
10–10 wegungsumkehr beschleunigt sich die
Prä-Urknall-Modell Expansion; die gegenwärtig beschleunig-
gewöhnliche Inflation te Expansion des Kosmos könnte somit
10–15 anzeigen, dass eine weitere Kollision be-
NASA (OBEN); GABRIELE VENEZIANO, CERN (UNTEN)

Empfindlichkeit vorsteht.
10–20
des Planck-Satelliten Das Prä-Urknall-Szenario und das
ekpyrotische Modell weisen einige Ge-
ekpyrotisches Modell meinsamkeiten auf. Beide beginnen mit
einem großen, kalten und fast leeren
–15 –10 –5
10 10 10 1 105 1010 Universum, und beide leiden an dem
schwierigen – und bislang ungelösten –
Frequenz der Gravitationswellen in Hertz
Problem des Übergangs von der Prä- zur
Post-Urknall-Phase. Mathematisch liegt

38 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
der Hauptunterschied zwischen den Sze- deren Wirkung während der Phase be- Ein vierter Test betrifft die Statistik
narien im Verhalten des Dilaton-Feldes. schleunigter kosmischer Expansion ma- der Fluktuationen. Im Inflationsmodell
Im Prä-Urknall-Modell hat das Dilaton kroskopisch vergrößert wurde (siehe folgen die Schwankungen einer Glo-
anfangs einen niedrigen Wert – wodurch »Auf der Suche nach dem Quanten- ckenkurve oder Gauß-Verteilung. Das
die Naturkräfte schwach sind – und wird Ursprung der Zeit« von Craig J. Hogan, Gleiche gilt vermutlich auch im ekpyro-
allmählich stärker. Im ekpyrotischen Sze- Spektrum der Wissenschaft 12/2002, S. tischen Modell, während das Prä-Ur-
nario ist es umgekehrt: Hier kommt es 28). Darum stimmen die Phasen der knall-Modell deutliche Abweichungen
zur Kollision, wenn die Kräfte am Wellen überein. von der Gauß-Kurve zulässt.
schwächsten sind. Die Analyse der Hintergrundstrah-
Die Schöpfer des ekpyrotischen Mo- Test für das Prä-Urknall-Modell lung ist aber nicht die einzige Möglich-
dells hatten ursprünglich gehofft, wegen Zweitens sagt jedes Modell eine andere keit, die drei Theorien zu überprüfen.
der Schwäche der Kräfte würde der Zu- Verteilung der Temperaturschwankun- Das Prä-Urknall-Szenario müsste einen
sammenprall leichter zu analysieren sein. gen in Abhängigkeit von deren Winkel- zufallsverteilten Hintergrund von Gravi-
Auf Grund der dennoch enorm starken größe voraus. Den Beobachtungen zu- tationswellen erzeugen; sie lägen in ei-
Raumkrümmung bleibt aber bislang of- folge haben die Fluktuationen in allen nem Frequenzbereich, der zwar im
fen, ob das Szenario tatsächlich eine Sin- Größen ungefähr dieselbe Amplitude. Mikrowellen-Hintergrund keine Spuren
gularität vermeidet. Außerdem muss das Geringe Abweichungen von dieser Regel hinterlässt, aber für künftige Gravita-
ekpyrotische Szenario sehr spezielle An- treten nur bei sehr kleinen Winkeln auf, tionswellen-Detektoren nachweisbar sein
fangsbedingungen erfüllen. Zum Bei- weil die primordialen Schwankungen sollte. Zudem variiert im Prä-Urknall-
spiel müssen die Branen kurz vor der durch spätere Prozesse verändert wur- und im ekpyrotischen Szenario das Dila-
Kollision fast exakt parallel zueinander den. Das Inflationsmodell reproduziert ton-Feld; da es an das elektromagnetische
sein, damit ein genügend homogener diese Verteilung sehr gut. Da sich wäh- Feld gekoppelt ist, führen beide Modelle
Urknall zu Stande kommt. Die zyklische rend der Inflation die Krümmung des zu großräumigen Magnetfeld-Fluktuati-
Version könnte dieses Problem lösen, Raumes relativ langsam änderte, wurden onen. Spuren davon könnten sich in den
denn wiederholte Kollisionen würden unterschiedlich große Fluktuationen un- galaktischen und intergalaktischen Mag-
die Branen passend ausrichten. ter fast gleichen Bedingungen erzeugt. netfeldern nachweisen lassen.
Abgesehen von der schwierigen Auf- In den beiden String-Modellen hin- Noch weiß die Wissenschaft keine
gabe, die beiden Szenarien mathematisch gegen entwickelte sich die Krümmung endgültige Antwort auf die Frage, wann
vollständig zu begründen, müssen die schnell und erhöhte dadurch bevorzugt die Zeit begann. Aber immerhin gibt es
Physiker sich fragen, ob die Modelle die Amplitude kleinräumiger Fluktuatio- zwei vielleicht schon bald überprüfbare
überhaupt beobachtbare Konsequenzen nen. Doch weil andere Prozesse die groß- Theorien, denen zufolge das Universum
haben. Auf den ersten Blick wirken bei- räumigen Fluktuationen verstärkten, – und mit ihm die Zeit – schon lange
de Szenarios eher wie Metaphysik – inte- blieben letztlich wiederum alle Fluktua- vor dem Urknall existiert hat. Falls eines
ressante Ideen, die sich empirisch weder tionen gleich stark. Beim ekpyrotischen dieser Szenarien zutrifft, gab es den Kos-
beweisen noch widerlegen lassen. Doch Szenario gewährleistet dies die zusätzliche mos schon immer – und selbst wenn er
diese Ansicht ist zu pessimistisch. Wie Raumdimension, welche die kollidieren- eines fernen Tages wieder kollabiert, wird
die Inflationsphase könnte auch eine den Branen voneinander trennt. Im Prä- er ewig fortbestehen. l
Epoche vor dem Urknall winzige Spuren Urknall-Szenario wirkt das Axion – ein
am Himmel hinterlassen, insbesondere mit dem Dilaton verwandtes Quanten- Gabriele Veneziano ist theo-
in den kleinen Unregelmäßigkeiten, die feld – in diesem Sinne ausgleichend. In- retischer Physiker am europäi-
in der Temperatur des kosmischen Strah- sofern stimmen alle drei Modelle mit schen Forschungszentrum Cern.
lungshintergrunds zu beobachten sind. den Daten überein. Schon Ende der 1960er Jahre ent-
Erstens hat sich gezeigt, dass diese Drittens können Temperaturschwan- wickelte er ein Stringmodell für A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
Atomkerne. Als die Stringtheorie
Fluktuationen mehrere hunderttausend kungen zwei unterschiedliche Prozesse im in den 1980er Jahren ein Come-
Jahre lang durch akustische Wellen ge- frühen Kosmos widerspiegeln: Fluktua- back als Theorie der Gravitation erlebte, war Ve-
formt wurden (siehe »Die Symphonie tionen in der Materiedichte und Gravita- neziano einer der Ersten, der sie auf Schwarze Lö-
der Schöpfung« von Wayne Hu und tionswellen. Bei der Inflation spielt beides cher und kosmologische Fragen anwandte.
Martin White, Spektrum der Wissen- eine Rolle, während beim Prä-Urknall- Das elegante Universum. Von Brian Greene. Ber-
schaft 5/2004, S. 48). Die Regelmäßig- und beim ekpyrotischen Modell Dichte- liner Taschenbuch Verlag, Berlin 2002
keit der Schwankungen bedeutet, dass schwankungen dominieren. Gravitations- The Pre-Big Bang scenario in string cosmology.
diese Wellen synchronisiert gewesen sein wellen einer bestimmten Größe würden Von Maurizio Gasperini und Gabriele Veneziano
müssen. eine eindeutige Spur in der Polarisation in: Physics Reports, Bd. 373, S. 1 (2003)
Die Kosmologen warfen im Lauf der der kosmischen Mikrowellenstrahlung A cyclic model of the universe. Von Paul J. Stein-
Jahre viele kosmologische Modelle über hinterlassen (siehe »Der Nachhall des Ur- hardt und Neil Turok in: Science, Bd. 296, S. 1436
Bord, weil sie diese Tatsache nicht zu re- knalls« von Robert R. Caldwell und Marc (2002)
produzieren vermochten. Doch das In- Kamionkowski, Spektrum der Wissen- Superstring cosmology. Von James E. Lidsey et al.
flations-, das Prä-Urknall- und das ekpy- schaft 4/2001, S. 50). Künftige Beobach- in: Physics Reports, Bd. 337, S. 343 (2000)
rotische Szenario bestehen den Test. In tungen, etwa mit dem europäischen Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei www.
allen drei Modellen entstanden die akus- Planck-Satelliten, sollten diese Spur nach- spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
tischen Wellen aus Quantenprozessen, weisen können, falls es sie gibt.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 39
W I SS E N S C H A F T IM AL LTA G
WISSENSCHAFT IM ALLTAG

S P OR TK LEIDUNG

Die heimlichen Sieger


»Atmungsaktive« Kleidung erobert immer neue Märkte, im
Sport geht längst nichts mehr ohne Polyester.

Von Mark Fischetti

W enn demnächst Tausende von


Zuschauern in der Hitze des
griechischen Sommers die olympischen r
Spezielle Polyester-
fasern sorgen dafür,
Sportstätten bevölkern, wird sich wohl dass Funktionskleidung
mancher darunter Funktionskleidung Schweiß aufsaugt und
wünschen, wie sie die Athleten tragen. rasch wieder abgibt.
Schweiß verdampft von der Haut und
kühlt so den Körper – das ist ein wich-
tiger Teil der physiologischen Tempera-
turregulation, doch das Ergebnis ist
auch feuchte Kleidung. Die trägt sich
unangenehm und erschwert weitere
Verdunstung: Die Körpertemperatur
steigt. Um dem abzuhelfen, bringen
Kleidungshersteller im Sport- und Frei-
zeitsektor »atmungsaktive« Gewebe mit
»Feuchtigkeitsmanagement« auf den
Markt. Sie sollen den Schweiß vom
Körper schnell nach außen führen und
abgeben.
Die Hersteller pressen dazu mo-
derne Polyester zu Fasern mit einem
äußerst geringen Feuchtigkeitsgehalt,
nämlich 0,5 Prozent, im Vergleich zu
vier Prozent bei Nylon und sechs bis
sieben Prozent bei Baumwolle. Neue
Verfahren der Kunststoffverarbeitung
ermöglichen es auch, spezielle Quer-
schnitte herzustellen (siehe Abbildung),
sodass sich eine Kapillarwirkung ergibt.
Der Markt expandiert und bringt
immer neue Produkte hervor. Silber-
ionen in den Fasern sollen durch ihre
keimtötende Wirkung Bakterienwachs-
tum und damit Schweißgeruch verhin-
dern, elektrisch leitfähige Zusatzstoffe
dafür sorgen, dass die Oberfläche der
Kleidung bei den ersten Regentropfen
Wasser abstoßend wirkt. Wer immer
auf dem neuesten Stand sein will, muss
allerdings ordentlich in die Tasche grei-
fen. Doch wie im Automobilmarkt gilt:
Was heute Luxus ist, wird in den Folge-
generationen zur Serienausstattung. l

Der Autor Mark Fischetti ist Redakteur bei »Sci-


entific American«.

40 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
WUSSTEN SIE SCHON?
r Synthetische Fasern können elektrostatische Ladung häufig r Ein lose gewebtes Hemd schützt nicht vor Sonnenbrand. Fester
nicht abgeben, sodass sie am Körper kleben. Einige Hersteller gewebte Stoffe erschweren aber den Luftaustausch, sodass
mischen daher antistatisch wirkende Stoffe bei. ein Hemd daraus schnell feucht und klamm wird. Neuerdings
mischen Faserhersteller Mattierungsmittel wie Titandioxid
r Zur Erhöhung der Fleckenresistenz, so behauptete ein Textil-
bei, die Ultraviolettstrahlen streuen.
hersteller, habe er »Nanotechnologie« verwendet. Experten zu-
folge wurden die fraglichen Hosen einfach mit Teflon beschich- r Auch Winterkleidung soll für Feuchtigkeit durchlässig sein,
tet, was die Oberflächenspannung mindert, sodass Flüssig- Wärme aber zurückhalten. Das gelingt mit hohlen Fasern, in
keiten weniger leicht haften bleiben. Zwar haben Moleküle denen Luft als Wärmeisolator eingeschlossen ist. Dieses Prin-
tatsächlich Nanodimension, aber Teflon ist keineswegs neu. zip imitiert die Natur: Auch das Haar der Eisbären ist hohl.

u
Mitunter enthalten Garnbündel auf der Stoffinnenseite
weniger, dafür größere Fasern, solche auf der Außenseite

u
mehr und kleinere Fasern. Nach außen hin wächst so die innere Der Polyester im häufig verwen-
Oberfläche der Fasern, das verstärkt den »Saugeffekt«. Die Feuch- deten Coolmax-Gewebe wird zu
tigkeit verteilt sich zudem außen besser und kann so leichter ver- Fasern mit einem eingebuchteten ova-
dampfen. Kühlende Luft dringt durch Lücken im Gewebe ein. len Querschnitt gepresst. Auf diese Wei-
se entstehen Mikrokanäle, die durch Ka-
pillarwirkung Schweißperlen von der
Haut leiten.

Wasserdampf

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Mikrokanal
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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 41
MEDIZIN z
Neue Therapie
bei Kreislaufschock
Zu den gefürchtetsten medizinischen Komplikationen
gehört der Schock. Eine Zufallsentdeckung könnte dazu
beitragen, die Aussicht auf Überleben zu erhöhen.

r
Von Donald W. Landry und Juan A. Oliver hirn und andere lebenswichtige Organe Hier bemüht sich medizinisches
ernsten Schaden, ist der Patient oft nicht Personal um einen Patienten, der,

E
in Schock im medizinischen mehr zu retten. Zwar verfügt die Not- bedingt durch lebensbedrohlichen Blut-
Sinne ist immer lebensbedroh- fallmedizin über ein Repertoire an Maß- verlust, unter Kreislaufschock steht.
lich. In dieser Hinsicht ist es nahmen, um den Totalzusammenbruch
gleich, ob der totale Kreislauf- aufzufangen. Doch in vielen Fällen wir-
zusammenbruch nun bei einem Herzin- ken diese Schritte nicht wie gewünscht.
farkt auftritt, nach einer Verletzung mit Das gilt besonders für den septischen Es handelt sich um ein Hormon, das
hohem Blutverlust, ob er zum Beispiel Schock, der auf einer außer Kontrolle auch im menschlichen Körper vor-
auf eine Sepsis, eine so genannte Blutver- geratenen Infektion beruht. Allein in kommt: Vasopressin, auch Adiuretin ge-
giftung, zurückgeht oder auf eine heftige Europa sterben hieran täglich wohl eini- nannt. Seine Verabreichung behebt zwar
allergische Reaktion. Nach einer Erhe- ge hundert Menschen. letztlich nicht die eigentlichen Ursachen
bung in den USA stirbt etwa jeder zwei- Schon lange bemühen sich die Medi- des Schocks, aber es erweist sich jetzt
te Patient, der aus einem solchen Grund ziner intensiv um effektivere Behand- schon bei der Behandlung betroffener
einen akuten Kreislaufschock erleidet. lungsmöglichkeiten, doch viel zu oft ver- Patienten als hilfreich. Vor allem brach-
Vielfach kennzeichnet der Zustand aber sagen immer noch alle Bemühungen. ten unsere Forschungen mit der Subs-
auch das letzte Stadium einer tödlichen Auch einige in den letzten Jahren er- tanz auch neue Einsichten in die noch
Krankheit. probte, zunächst viel versprechende Me- unzureichend verstandenen physiologi-
Ärzte kennen nur zu gut den fatalen dikamente brachten dann doch nicht schen Mechanismen eines Schocks. So
Teufelskreis: Der Blutdruck sinkt so ex- den Durchbruch. Hier möchten wir von steht zu hoffen, dass diese Erkenntnisse
trem, dass die Gewebe unzureichend einer Zufallsentdeckung berichten, die wie auch die umfangreichen Arbeiten
oder gar nicht mehr mit frischem Blut in vielen Fällen bereits zu einer wirksa- anderer Wissenschaftlergruppen künftig
versorgt werden. Erleiden dabei das Ge- meren Therapie geführt hat. die Überlebensaussichten bei diesem ver-
heerenden Zusammenbruch des Orga-
IN KÜRZE nismus weiter heben.
Um die komplexen Mechanismen des
r Nur jeder zweite Patient überlebt einen physiologischen Schock, bei dem die Schocks zu verstehen, muss man sich den
feinen Blutgefäße – die Arteriolen – ihren Dienst versagen. Weil wichtige Organe Sinn des Blutkreislaufs vergegenwärtigen.
wegen des totalen Kreislaufkollapses nicht mehr durchblutet werden, ist dieser Die primitivsten tierischen Lebensformen
Zustand immer lebensbedrohlich. Insbesondere droht ein Schock bei einer Blut- benötigen noch keinen Kreislauf. Sauer-
vergiftung oder Sepsis, einer außer Kontrolle geratenen Infektion. stoff und Nährstoffe diffundieren einfach
r Wirklich effektive medizinische Behandlungsmöglichkeiten gegen den Kreis- in die Zellen, Kohlendioxid und andere
laufschock gibt es bisher kaum. Neue Ansätze erfüllen meist doch nicht die Er- Schlackstoffe werden auf dem umgekehr-
wartungen, weil entscheidende körperliche Reaktionen bei einem Schock anders ten Weg entsorgt. Das Prinzip funktio-
verlaufen als sonst. niert allerdings nur über einige Millime-
r Nun erweist sich die zufällig entdeckte Wirkung des Hormons Vasopressin ter Wegstrecke. Größere Tiere brauchen
(auch Adiuretin oder ADH genannt) als viel versprechend. Dieses Hormon ver- zu demselben Zweck Blut, das die Stoffe
mag beim Schockzustand die feinen Blutgefäße enger zu stellen. transportiert, und ein Kreislaufsystem,
um das Blut zu bewegen. r

42 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
RICH PRESS

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 43
r
MEDIZIN z
Über Adern, die sich immer feiner
verzweigen, gelangt sauerstoffreiches
septisch-toxischen Schock und – bei Al-
lergien – von einem anaphylaktischen
Infarkt die Ursache: Blockiert ein Blut-
gerinnsel eine Herzkranzarterie, bleiben
Blut bis in die Gewebe. Die feinsten Ge- Schock. Beziehungsweise sie unterschei- Teile des Herzmuskels unterversorgt und
fäße, die Kapillaren, haben hoch durch- den auf einer übergeordneten Ebene nach sterben ab. Je nach Lage und Größe des
lässige Wände. Sie bilden im Körper ins- dem Erscheinungsbild hauptsächlich drei Infarktareals ist dann die Herzfunktion
gesamt eine riesige Austauschfläche. Bei Formen. massiv gestört. Auch Herzrhythmusstö-
den meisten Tieren pumpt ein Herz das Hiervon gehört zu den häufigsten rungen, das Versagen einer Herzklappe,
Blut durch die Adern, genauer gesagt in der »hypovolämische Schock«. Dieser eine Lungenembolie oder eine Herzmus-
die Arterien und durch die feinen Arteri- Zustand tritt auf, wenn das Blutvolumen kelentzündung können zum kardioge-
olen, die sich schließlich in Kapillarnet- stark sinkt – etwa bei einer Verletzung, nen Schock führen.
zen aufzweigen, bevor das Blut über Ve- während einer Operation, wegen eines Die Behandlung bei dieser Schock-
nen zurückbefördert wird. Normalerwei- blutenden Magengeschwürs oder be- form reicht von der Gabe von Medika-
se ist der erzeugte Druck hoch genug, dingt durch massiven Flüssigkeitsverlust menten zur Steigerung der Herzleistung,
um die Passage noch durch die feinsten bei Durchfall. Obwohl das Herz den dem Ersatz der defekten Herzklappe
Gefäße zu gewährleisten, die wegen ihres Verlust durch sehr rasches Schlagen zu oder der Implantation eines Defibrilla-
geringen Durchmessers den größten Wi- kompensieren versucht, fällt der Blut- tors bis hin zur Herztransplantation.
derstand bieten. druck stark ab. Wichtige Organe werden Die dritte und häufigste Form ist der
Täglich ungefähr tausendmal beför- nicht mehr ausreichend versorgt. »vasodilatatorische Schock« oder »Wider-
dert unser Herz die etwa fünf Liter Blut standsverlustschock«. Dabei sind die fei-
des Menschen durch ein Gefäßnetz von An septischem Schock nen Gefäße so weit gestellt, dass das Blut
insgesamt 15 Kilometer Länge. Schon stirbt jeder zweite Betroffene kaum noch oder gar nicht mehr fließen
sechs Sekunden Unterbrechung können Zu den dringlichsten ärztlichen Sofort- kann. Manchmal tritt dieser Zustand
genügen, um bewusstlos zu werden. Ge- maßnahmen gehört in diesem Fall, den nach mehreren Tagen bei einem hypovo-
hirnschäden durch Sauerstoffmangel dro- Blut- und Flüssigkeitsverlust auszuglei- lämischen oder kardiogenen Schock auf,
hen sehr schnell, wenn der Blutdruck nur chen und die Blutung zu stoppen. Dies der sich trotz aller medizinischen Maß-
etwas absackt. Es dauert auch kaum Mi- ist auch ein intensives Forschungsfeld. nahmen nicht regulieren ließ. Doch die
nuten, bis andere Organe ebenfalls ver- Unter anderem werden neue Möglich- meisten Fälle gehen auf eine Blutvergif-
sagen. Das ist der Schockzustand. Hält er keiten der Blutstillung zum Beispiel mit tung oder Sepsis zurück, und man spricht
an und tragen Organe bleibende Schäden gerinnungsfördernden Gelen erprobt und auch von einem septischen Schock.
davon, stirbt der Betroffene. neue Blutersatzlösungen getestet. Dann überschwemmt eine Bakteri-
Üblicherweise klassifizieren Mediziner Einen »kardiogenen Schock« nennen en- oder Pilzinfektion den Körper und
Schockformen zum einen nach den ver- Mediziner den Zustand, wenn das Herz löst eine generelle Entzündungsreaktion
schiedenen auslösenden Ursachen. Sie versagt, das heißt die nötige Pumpleis- aus. Um die Infektion zu bekämpfen,
sprechen etwa von einem septischen oder tung nicht mehr bringt. Häufig ist ein greifen weiße Blutkörperchen und ande-

Die drei Schockformen


Mediziner verstehen unter einem Schock, vereinfacht gesagt, ei- mangel kann Organe schon nach wenigen Minuten schädigen.
nen anhaltenden bedrohlichen Blutdruckabfall. Der Sauerstoff- Notfallärzte unterscheiden drei Schockgrundformen.

Art des Schocks mögliche Ursachen Herz-/Kreislauffunktion Arteriolenfunktion Therapie


hypovolämischer Schock, schwere Verletzung Herzfunktion normal äußere Arteriolen Blutstillung
Volumenmangelschock Magenblutung Blutvolumen stark eng gestellt, weil (hierzu werden auch neue
(durch starken Blut- oder starker Durchfall erniedrigt Blut nur noch die Verfahren erforscht)
Flüssigkeitsverlust) wichtigsten Organe Ersatz des Blutvolumens
versorgt; dadurch und evtl. der Blutbestand-
kalte Haut teile durch Salzlösungen,
Blutkonserven, Blutersatzlö-
sungen etc.
kardiogener Schock Herzinfarkt Pumpfunktion des äußere Arteriolen Medikamente zur Unterstüt-
(durch Pumpversagen Versagen einer Herzklappe Herzens bei normalem eng gestellt, weil zung der Herzfunktion
des Herzens) Herzrhythmusstörungen Blutvolumen massiv Blut nur noch die Klappenersatz
gestört wichtigsten Organe implantierbarer Defibrillator
versorgt; dadurch in schwersten Fällen:
kalte Haut Herztransplantation
vasodilatatorischer länger anhaltender Herzfunktion normal äußere Arteriolen zusätzlich zu evtl. obigen
Schock, Widerstandsver- hypovolämischer oder Blutvolumen normal weit gestellt; Maßnahmen u. a.:
lustschock (durch Erwei- kardiogener Schock (trotz Fehlfunktion der dadurch warme Entzündungshemmung
terung der äußeren Beseitigung der primären Arteriolen Haut durch Steroide,
Arteriolen) Ursache) Unterversorgung Antibiotika,
Blutvergiftung (Sepsis) von Organen Vasopressin

44 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
re Komponenten des Immunsystems die
Organe an. Etwa jeder zweite Betroffene
stirbt dabei trotz intensivster medizini-
scher Bemühungen – obwohl das Herz
einwandfrei funktioniert und sich die
Haut, anders als bei den anderen beiden
Schockformen, warm anfühlt.
Das Problem liegt bei den feinsten
Arterien: den Arteriolen, die sich in die
Kapillarnetze aufzweigen. Dass die The-
rapie unter anderem dort ansetzen müss-
te, vermuten Wissenschaftler seit lan-
gem. Auch wir machten unsere Zufalls-
entdeckung vor sechs Jahren bei Versu-
chen, die Entgleisung der Arteriolen in
den Griff zu bekommen.
Normalerweise reagiert der Körper
auf sinkenden Blutdruck durch Gegen-
steuerung, indem er die Gefäße, insbe-
sondere die Arteriolen, enger stellt. Das nützt, diesen Schockpatienten die beiden haben. Unser Verdacht war, dass sich die
geschieht durch Kontraktion ihrer Wand- Substanzen zu verabreichen. Die Wände komplex gesteuerten Elektrolytverhält-
muskulatur. Die Arteriolenweite wird der Arteriolen reagieren darauf einfach nisse an ihren Außenmembranen aus ir-
in einem hochkomplexen Regelsystem nicht mehr so wie normalerweise. Daraus gendwelchen Gründen nicht mehr regu-
durch eine Vielfalt von Signalsubstanzen schlossen Mediziner früher, dass die Wur- lieren lassen (siehe Kasten S. 46 ).
gesteuert. Dazu gehören Hormone und zel des Übels irgendwo bei den Muskel- Die Außenmembranen aller Zellen
andere Stoffe, unter anderem Noradrena- zellen der Arteriolenwände liegen müsse. weisen zwischen ihrer Innen- und Außen-
lin, Vasopressin, Angiotensin II, Dopa- Mitte der 1980er Jahre erkannten seite eine elektrische Spannung auf, ein so
min und Stickstoffmonoxid. sie, dass der Fehler weniger in den Ge- genanntes Membranpotenzial. Das hängt
Fällt der Blutdruck, treten Noradre- fäßwänden selbst zu suchen ist als we- mit der unterschiedlichen Verteilung der
nalin und Angiotensin II ins Blut über. sentlich auf ein Überangebot an Stick- positiv oder negativ geladenen Elektrolyte
Sie wirken vasokonstriktorisch, das heißt stoffmonoxid (NO) zurückgeht. Dass – einfachen Ionen von Salzen bis hin zu
sie verengen die Arteriolen. Gleichzeitig dieses einfache Molekül bei vielen Kör- großen Molekülen wie Proteinen – in den
wird die Freisetzung einer gefäßerweitern- perfunktionen entscheidend mitwirkt, Zellen und außerhalb zusammen. Für ei-
den, also vasodilatatorischen Substanz, ist noch nicht lange bekannt. Unter an- nige dieser Elektrolyte besitzt die Zelle
des natriuretischen Peptids, gedrosselt. derem sorgt es für die Erweiterung der spezifische Ionenkanäle in ihrer Außen-
Funktioniert diese Steuerung, dann wer- Gefäße. Es ist sogar die wichtigste vaso- membran, um sie, auch entgegen dem
den die Arteriolen etwa in der Haut und dilatatorische Substanz. chemischen oder physikalischen Gefälle,
in manchen Muskeln eng. Nur die wich- Wie sich herausstellte, steigern Zel- ein- oder auszuschleusen.
tigsten Organe erhalten noch frisches len ihre Stickstoffmonoxidsynthese unter
Blut. So reagiert der Körper auch bei ei- Infektionen wie einer Lungen- oder Schädliche Reaktionen
nem hypovolämischen Schock, sozusagen Hirnhautentzündung, die zu einer Blut- von Muskelzellen
um wenigstens die wichtigsten Körper- vergiftung entgleisen können. Alsbald Das Membranpotenzial beruht haupt-
funktionen aufrechtzuerhalten. erfolgte eine klinische Studie, bei der ein sächlich auf der Verteilung der positiv
Hemmstoff gegen dieses Molekül einge- geladenen Kalium-Ionen. An der Innen-
Suche nach Verdächtigen setzt wurde. Ohne Stickstoffmonoxid, so seite der Zellmembran sind sie stets
Doch wenn der Engstellmechanismus damals die Hoffnung, würden die vaso- reichlich vorhanden, doch durch beson-
versagt und sich die Arteriolen unwichti- konstriktorischen Substanzen Noradre- dere Kanäle sickern sie auch nach außen.
gerer Organe nicht zusammenziehen, nalin und Angiotensin II wunschgemäß Dennoch haben Zellen Möglichkeiten,
wenn also keine solche Umverteilung des wirken. Doch die Studie verlief enttäu- diese Verteilung zu beeinflussen.
Bluts stattfindet, bleiben unter dem zu schend. Es gab sogar mehr Komplikatio- Was nun die Außenmembran einer
niedrigen Blutdruck auch lebenswichtige nen und Todesfälle als sonst, vermutlich Muskelzelle der Arteriolenwand betrifft,
Organe unterversorgt. Eben das ist beim wegen der vielen anderen, erst teilweise so ist dort die Spannung nicht konstant,
vasodilatatorischen Schock der Fall, ge- verstandenen Funktionen des kleinen sondern sie verschiebt sich mit der Io-
schieht also auch beim septischen Schock. Moleküls, die nun gestört wurden. nenverteilung. Hierüber steuern die
Dennoch weisen diese Patienten er- Auch ein anderer Ansatz, auf den wir Muskelzellen ihre Kontraktion – genauer
staunlicherweise hohe Blutspiegel von 1992 stießen, hat leider schwere Neben- gesagt den dazu erforderlichen Einstrom
Noradrenalin und Angiotensin II auf – wirkungen. Wir hatten überlegt, woran von Kalzium-Ionen. Wenn außen eine
fehlende vasokonstriktorische Stimuli es liegen könnte, dass Noradrenalin und leicht negative Ladung gegen innen
sind also offenbar nicht schuld an dem Angiotensin II bei einem Schock auf die herrscht – also wenig Kalium-Ionen
Desaster. Hierzu passt, dass es wenig Gefäßmuskelzellen keinen Einfluss mehr nach außen gelangt sind – und die Zelle r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 45
MEDIZIN z
r zugleich Signale von Noradrenalin oder
Angiotensin II erhält, dann öffnen sich
Kalziumkanäle können auf die gefäßver-
engenden Signalstoffe nur bei den passen-
ist dafür der zelluläre Energieträger ATP
(Adenosintriphosphat) wichtig – ein Mo-
spezifische Membrankanäle, durch die den Ladungsverhältnissen ansprechen. lekül, das die Energie aufnimmt, die
Kalzium-Ionen in die Zelle dringen. Anders und einfacher gesagt: Die beim Abbau von Nährstoffen gewonnen
Umgekehrt erschlafft die Muskelzelle Kalziumkanäle steuern zwar, ob sich die wird, und sie später wieder zum Stoff-
der Arteriolenwand, wenn außen eine po- Arteriolenmuskulatur zusammenzieht. wechsel beisteuert. Zum Umsetzen der
sitivere Ladung herrscht, weil viele Kali- Doch die Kontrolle darüber, ob sie sich Nährstoffe benötigt die Zelle Sauerstoff.
um-Ionen nach außen wandern konnten. öffnen können, üben Kaliumkanäle aus Sinken bei Sauerstoffmangel die
Denn dann schließen sich die Mem- – die letztlich die Ladungsverhältnisse an ATP-Spiegel, so öffnen sich einige Kali-
brankanäle für Kalzium-Ionen und der den Zellmembranen herbeiführen. umkanäle. Nun strömen rasch Kalium-
Kalziumspiegel in der Zelle sinkt. Nun Für unser Problem ist bedeutsam, Ionen in größeren Mengen aus der Zelle.
können Noradrenalin und Angiotensin II dass die Kaliumkanäle ihrerseits von ver- Das aber bedeutet eine Verschiebung hin
nichts mehr ausrichten. Das bedeutet, die schiedensten Substanzen abhängen. So zu einer positiven Ladung an der Außen-

Wie Vasopressin bei Schock wirkt

Arteriole
1 Normalzustand
Bevor sauerstoffreiches Blut die Kapillaren erreicht, passiert es die Arteriolen.
Diese stellen sich normalerweise so eng wie erforderlich, um den Blutdruck auf-
rechtzuerhalten. Hierauf nehmen viele körpereigene Stoffe Einfluss.
Im Regelfall sind die Arteriolen in Skelettmuskulatur und Haut ziemlich stark
kontrahiert. So fließt genügend Blut zu den inneren Organen. Eine Muskelzelle
Kapillarnetz Vene der Gefäßwand zieht sich zusammen, wenn Kalziumionen in sie einströmen.
Dazu müssen sich Kalziumkanäle öffnen, was etwa Noradrenalin bewirkt.
Arterie

Arteriole
im Querschnitt
Noradrenalin 1
Kalium
(K+)
Muskelzelle der
Arteriolenwand
Kalziumkanal
2
Stickstoff-
2 Schock
Kalzium
monoxid (NO)

(Widerstandsverlustschock) (Ca2+)
Der Körper produziert erhöhte Mengen von
Stickstoffmonoxid. Dadurch steigt in den Mus- Kalium-
kelzellen der Arteriolenwände die Konzentration cGMP kanal
des Signalstoffs cGMP. Nun öffnen sich in der cGMP
cGMP
Zellmembran bestimmte Kaliumkanäle.
Kaliumionen dringen nach außen; das elektri- cGMP
sche Potenzial an der Membran verschiebt sich; Vasopressin
die Kalziumkanäle schließen sich, Noradrenalin NO 3
kann nichts mehr ausrichten und die Muskelfa-
sern erschlaffen: Die Arteriolen werden weit.
Wegen des zu geringen Widerstands fließt
übermäßig viel Blut in die Peripherie statt zu den
lebenswichtigsten Organen. cGMP

3 Verhalten unter Vasopressin


Das Hormon wirkt gefäßverengend – auch, wenn man es bei einem Ca2+
Schock verabreicht. Es scheint dazu beizutragen, dass sich die Kalzi-
umkanäle wieder öffnen können.
TAMI J. TOLPA

46 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
seite der Zellmembran. Folglich schlie- Hormon absetzten, sank der Blutdruck benwirkungen zu verursachen. Zahlreiche
ßen sich die Kalziumkanäle und die des Patienten. Daraufhin gaben wir ihm Fallberichte von Ärzten bestätigten diesen
Muskelfaser erschlafft: Die Arteriolen wieder Vasopressin – und der Blutdruck Befund. In etlichen großen Kliniken welt-
werden weit und der Blutdruck sinkt. stieg. Reagierte der Mann wegen der In- weit erhalten Patienten bei einem vasodi-
Bei einem Schock wird der Sauer- fektion besonders empfindlich auf den latatorischen Schock jetzt Vasopressin.
stoff vielerorts knapp. Es lag nahe zu ver- Wirkstoff? Zurzeit läuft an Patienten mit einer Blut-
muten, dass dadurch ein ATP-Mangel Die Erfahrung ermutigte uns, einen vergiftung eine Großstudie, die genauer
entsteht, dass sich deswegen die Kalium- Patienten mit septischem Schock mit klären soll, ob die Normalisierung des
kanäle weit öffnen und dass die Arterio- Vasopressin zu behandeln. Wir mussten Blutdrucks auch andere Schocksympto-
lenwände in der Folge erschlaffen. Ob sehr behutsam vorgehen. Schließlich lau- me bessert und ob mehr Patienten über-
der Schockzustand wirklich mit dem tet das erste ärztliche Prinzip: »Primum leben. Das Medikament herzustellen ist
fehlenden ATP zusammenhängen könn- nil nocere«, »vor allem nicht schaden«. nicht einmal teuer, weil Vasopressin nicht
te, prüften wir mit dem Wirkstoff Gli- Darum begannen wir mit einem Zehntel patentgeschützt ist.
benclamid, der die Funktion ATP-ab- der Dosis, die der Kranke mit der Spei-
hängiger Kaliumkanäle hemmt. Tatsäch- seröhrenblutung erhalten hatte. Hiervon Ein Ansatz unter vielen
lich beobachteten wir, dass der Blutdruck erwarteten wir noch keinen Effekt auf Dies ist bei weitem nicht der einzige neue
nun wieder anstieg. Das erklärt, weshalb den Blutdruck. Doch wir irrten: Er stieg Ansatz im Kampf gegen den Kreislauf-
die Gabe von Noradrenalin oder Angio- sofort deutlich an. Wie anschließende schock. In den letzten Jahren konnten
tensin II Schockpatienten so wenig hilft: Untersuchungen ergaben, ist der Vaso- Forscher zum Beispiel einzelne Schritte
Wenn die Kaliumkanäle der Gefäßmus- pressinspiegel beim septischen Schock der generalisierten Entzündungsreaktion
kelzellen offen stehen, können die gefäß- offenbar besonders niedrig. Das war er aufklären, die bei einer Blutvergiftung
erweiternden Signalstoffe natürlich nicht auch bei dem Patienten mit der Speise- den Schock herbeiführt. Unter anderem
viel ausrichten. röhrenblutung gewesen. möchten sie den Ablauf gezielt mit maß-
Wie schon angedeutet, hat auch Gli- Das Gegenteil hätten wir vorausge- geschneiderten Antikörpern unterbre-
benclamid bei der Schockbehandlung be- sagt. Eigentlich sollte der Körper das chen, die einzelne Reaktionspartner außer
trächtliche Nebenwirkungen, abgesehen Hormon bei gefährlich niedrigem Blut- Gefecht setzen würden. Sie prüfen auch,
davon, dass der Blutdruckanstieg nicht druck in großer Menge freisetzen. Wei- inwieweit entzündungshemmende Steroi-
lange vorhält. Verabreichte man das Prä- tere Nachforschungen brachten eine de (etwa Cortisonabkömmlinge) die Kas-
parat in den Mengen, wie sie zur Schock- plausible Erklärung. Tatsächlich ist der kade in Grenzen zu halten vermögen.
behandlung erforderlich wären, sänke der Vasopressinspiegel im Blut zu Beginn ei- Zu erleben, wie sich einzelne Er-
Blutzuckerspiegel gefährlich ab. Denn das nes Schockzustands extrem hoch, unab- kenntnisse über die Blutdruckregulation
Medikament regt die Bauchspeicheldrüse hängig davon, was die fatale Situation und den Kreislaufschock durch einen
zur Insulinausschüttung an. Deswegen er- auslöste. Nach ein paar Stunden geht er Zufall plötzlich zusammenfügten, war
halten es, allerdings in geringeren Dosie- jedoch zurück. Anscheinend mobilisiert aufregend. Mit besonderer Genugtuung
rungen, manche Patienten mit Alters- der Körper anfänglich sämtliche Reser- erfüllt uns, dass der daraus entwickelte
diabetes. ven des Hormons. Die Substanz wird neue Therapieansatz so rasch den Weg in
aber bald abgebaut, und nennenswerten erste Kliniken fand. l
Überraschung durch Vasopressin Nachschub kann der Körper so schnell
Die Situation war frustrierend: Wir nicht liefern. Donald W. Landry (oben) und
kannten einzelne physiologische Mecha- Später stießen wir auf zwei diesbe- Juan A. Oliver haben beide
nismen des Schockgeschehens, nur fand zügliche Veröffentlichungen. Wegen der Professuren am College für In-
sich kein Weg, sie zum Nutzen des Pati- herrschenden Meinung, eine Vasopres- ternisten und Chirurgen an der
enten zu verwenden. Das änderte sich singabe würde bei einem Schock nichts Columbia-Universität in New A U T O R E N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
York. Landry leitet die Abteilun-
plötzlich 1997. Damals behandelten wir nützen, hatten wir diese Forschungen gen für Nephrologie und für
einen Patienten mit Blutungen der Spei- bisher nicht zur Kenntnis genommen. experimentelle Therapie. Oliver
seröhre, der dann eine schwere Infektion Nun erfuhren wir, dass das Hormon begann seine medizinische Aus-
entwickelte. dem gefäßerweiternden Effekt von Stick- bildung in Barcelona, forschte
dann an der Harvard-Universität
Gleich bei der Aufnahme in die Kli- stoffmonoxid an den Arteriolen entge- in Cambridge (Massachusetts)
nik erhielt der Mann gegen die Blutun- genwirkt. Außerdem, so lernten wir, und hat heute eine Professur für klinische
gen das Hormon Vasopressin oder Adiu- inaktiviert Vasopressin ATP-abhängige Medizin.
retin (ADH). Es war bekannt, dass die Kaliumkanäle. Dadurch können sich die Präklinische Versorgung des Patienten mit
Hypophyse dieses Hormon bei niedri- Kalziumkanäle öffnen, und die Muskel- Schock. Von Frank Christ und Christian K. Lackner
gem Blutdruck ausschüttet und dass es zelle kontrahiert sich. in: Internist, Bd. 45, Nr. 3, S. 267, März 2004
die Blutgefäße verengt – sofern es aus Inzwischen liegen zehn kleinere Stu- The pathogenesis of vasodilatory shock. Von D.
dem Körper selbst stammt. Früheren dien aus verschiedenen Ländern vor, in W. Landry und J. A. Oliver in: New England Jour-
medizinischen Studien zufolge wirkte denen Forscher die Wirkung von Vaso- nal of Medicine, Bd. 345, Heft 8, S. 588, 23. Au-
verabreichtes Vasopressin in dieser Weise pressin bei Schockpatienten untersucht gust 2001
allerdings nur bei den Gefäßen der Spei- haben. Wie sich zeigte, stellt das Hormon Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei
sesöhre. Was wir nicht erwartet hatten: den Blutdruck in diesem Zustand verläss- www.spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
Als die Blutungen aufhörten und wir das lich wieder her – ohne bedeutende Ne-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 47
PLANETENFORSCHUNG z
Cassini –
Ankunft
am Saturn
Nach siebenjähriger Reise ist die Doppelsonde Cassini-
Huygens am zweitgrößten Planeten des Sonnensystems
eingetroffen und hat bereits erste Aufnahmen geliefert.
Im Mittelpunkt der Erkundung stehen der Riesenplanet
selbst sowie sein Ringsystem, sein größter Mond Titan
und die rund 30 weiteren Trabanten.

Von Jonathan I. Lunine den Höhepunkt zu erleben: die erste verstehen, woher die Ringe des Saturns
Langzeiterkundung des Saturnsystems. stammen und wie das starke Magnetfeld

F
rühmorgens am 15. Oktober Nun ist es so weit: Am 1. Juli des Planeten die Eismonde und die obere
1997, noch vor Sonnenaufgang, schwenkte Cassini-Huygens in eine Um- Atmosphäre Titans beeinflusst.
fand ich mich am Rand einer laufbahn um den zweitgrößten Planeten Die Cassini-Huygens-Mission könn-
alligatorverseuchten Bucht nahe des Sonnensystems ein. Seit den Missio- te den Erfolg der Sonde Galileo wieder-
Cape Canaveral in Florida ein. Einige nen Pioneer 11 und Voyager 1 und 2 vor holen, die während ihrer achtjährigen
Kilometer entfernt glänzte eine Rakete mehr als 20 Jahren haben Wissenschaft- Untersuchungen unser Wissen über Ju-
im Flutlicht der Startrampe. Mit Tausen- ler ungeduldig auf diesen Tag gewartet. piter und seine Monde revolutionierte.
den anderer Zuschauer beobachtete ich, Dennoch gibt es fundamentale Unter-
wie eine kleine Flamme aus den Trieb- Titan: Modellsystem für die Erde? schiede zwischen den beiden Missionen.
werken schoss und rasch anschwoll. Nur Obwohl seine Oberfläche weit weniger Galileo setzte eine Instrumentenkapsel
dieser feurige Schweif war zu sehen, als dramatische Vorgänge aufweist als der frei, die Jupiters Atmosphäre untersuch-
die Trägerrakete abhob, eine Kumulus- näher gelegene und größere Jupiter, te. Der Cassini-Orbiter wird die Huy-
wolke durchstieß und nach Osten in könnte Saturn wichtige Hinweise auf die gens-Tochtersonde zu dem Mond Titan
Richtung Weltraum entschwand. langfristige Entwicklung aller Gasplane- und nicht zu dem Gasplaneten Saturn
An Bord befand sich die größte ten liefern. Saturns Gefolge besteht aus schicken. Und im Gegensatz zu Galileo
Raumsonde, die jemals gebaut worden 30 kleinen eisigen Monden und einem ist Cassini-Huygens ein wahrhaft inter-
war: der Orbiter Cassini und die Lande- weiteren Trabanten, der sogar größer ist nationales Unternehmen: Die Nasa bau-
einheit Huygens. Eine sieben Jahre lange als der Planet Merkur. Dieser Mond, Ti- te den Orbiter und leitet die Mission,
Reise durch den interplanetaren Raum tan, hat eine dichte Atmosphäre, die wie die Europäische Raumfahrtbehörde Esa
lag vor diesen Lkw-großen Instrumen- die irdische Lufthülle hauptsächlich aus entwickelte die Huygens-Sonde; die
tenträgern. Schon als Doktorand war ich Stickstoff besteht. Die Wissenschaftler er- Teams, welche die wissenschaftlichen Ex-
an der Planung der Mission beteiligt. hoffen sich deshalb Hinweise darauf, wie perimente auf den Raumfahrzeugen be-
Doch ich musste bis zur Mitte meiner einst das Leben auf der Erde entstanden treuen, setzen sich aus Europäern und
wissenschaftlichen Laufbahn warten, um sein könnte. Des Weiteren möchten sie Amerikanern zusammen.

48 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
DON DIXON

Die Landung der Eintauchsonde Huygens


auf dem größtem Saturnmond, Titan,
wird einer der Höhepunkte der Cassini-
Huygens-Mission sein. Durch die Analyse
chemischer Verbindungen in Titans At-
mosphäre und auf seiner Oberfläche er-
hoffen sich die Wissenschaftler Rück-
schlüsse darauf, wie vor Jahrmilliarden
das Leben auf der Erde entstand.

Saturn ist von der Sonne fast doppelt nung untersuchte sie die Eigenschaften sowie andere Messungen zeigen, dass die
so weit entfernt wie Jupiter – 1,4 Milli- der Saturnatmosphäre und bestimmte Größe der Partikel, aus denen die Ringe
arden Kilometer anstelle von 780 Millio- die Stärke und Geometrie des planetaren bestehen, von Staubkörnern bis zu
nen. Allein deshalb schon ist er seit jeher Magnetfelds. mächtigen Felsbrocken variiert.
der Forschung schwerer zugänglich. Im Voyager 1 und 2, die 1980/81 durch Die Voyager-Sonden lieferten auch
Vergleich zu Jupiter weist seine Atmos- das Saturnsystem flogen, verfügten über einzelne Bilder von einigen der vereisten
phäre weniger helle und dunkle Wolken- empfindlichere Kameras und Spektrome- Saturnmonde. Auf den Fotos ist zu se-
bänder auf, aus denen sich auf Wind- ter. Mit ihnen wurden unerwartete hen, dass unterschiedlich starke Schmelz-
strömungen schließen lässt. Saturns Ma- Strukturen in den Saturnringen entdeckt: prozesse die Oberflächen umgestalteten.
gnetosphäre – die Region, die durch das dunkle, radiale Striche, die wie die Spei- Aber es war Titan, der für die spannends-
Magnetfeld des Planeten dominiert wird chen eines Rads aussehen. Offenbar sind ten Entdeckungen sorgte. Voyager 1 nä-
– ist viel ruhiger als diejenige von Jupi- sie auf elektromagnetische Effekte zu- herte sich diesem Trabanten bis auf 4000
ter, welche sogar Radiosignale erzeugt, rückzuführen, die Staub aus der Ring- Kilometer; Titan ist nach Jupiters Gany-
die auf der Erde zu registrieren sind. Die ebene herausheben. Dieses Phänomen med der zweitgrößte Mond im Sonnen- r
Atmosphäre Titans entdeckten Astrono-
men im Jahr 1943, aber bis zum Raum-
fahrtzeitalter wusste man nur wenig über IN KÜRZE
ihn und die anderen Saturnmonde. r Nach siebenjähriger Reise erreichte die Doppelsonde Cassini-Huygens am
Das erste Raumfahrzeug, das dem 1. Juli 2004 den Saturn und schwenkte in eine Umlaufbahn um den Planeten ein.
beringten Riesenplaneten einen Besuch r Bis 2008 untersucht der Orbiter Cassini die Atmosphäre des Riesenplaneten,
abstattete, war Pioneer 11. Nach ihrem seine Monde, die Ringe und das Magnetfeld.
Vorbeiflug an Jupiter 1974 zog die Son- r Im Dezember 2004 wird Cassinis Tochtersonde Huygens Kurs auf Titan, den
de fünf Jahre später an Saturn vorbei. größten Saturnmond, nehmen und nach dreiwöchigem Flug in seine Atmosphä-
Ihre Instrumente entdeckten eine weite- re eindringen. Die Oberfläche des Himmelskörpers ist womöglich mit Seen oder
re Komponente des Ringsystems (den so Meeren aus flüssigen Kohlenwasserstoffen bedeckt.
genannten F-Ring). Aus großer Entfer-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 49
PLANETENFORSCHUNG z
r system. Dichter orangefarbener Dunst
verhinderte zwar den Blick auf die Ober-
Die Ergebnisse der Voyager-Sonden
ermutigten die Forscher, einen Orbiter
Der Cassini-Orbiter und die Huy-
gens-Sonde bilden zusammen das größte
fläche Titans. Doch andere Instrumente zu planen, der das Saturnsystem ausgie- interplanetare Raumschiff, das je gebaut
maßen Temperatur und Druck der At- big untersuchen könnte. Aber in den wurde. Zwölf wissenschaftliche Experi-
mosphäre und fanden heraus, dass Stick- frühen 1980er Jahren waren die Mittel mente transportiert der Orbiter und
stoff das am häufigsten vorkommende für die Planetenforschung begrenzt. Ver- sechs weitere die Eintauchsonde (kleines
Gas ist, gefolgt von Methan. treter der Nasa und der Esa überlegten Bild im Kasten auf S. 54). Inklusive
Die Sonde entdeckte zudem, dass Ti- sich schließlich, ihre Ressourcen zu bün- Treibstoff wog Cassini-Huygens beim
tans Atmosphäre ähnlich dynamisch ist deln. 1982 und 1983 trafen sich Teams Start 5,6 Tonnen und war 6,8 Meter
wie die irdische – nur übernimmt im aus Europa und den USA, um gemein- hoch. Weil Cassini fast doppelt so weit
Wettergeschehen auf dem Saturnmond same Projekte zur Erforschung des Son- wie Galileo reisen musste, benötigte das
Methan die Rolle, die auf der Erde dem nensystems zu entwerfen. Eine Mission Raumfahrzeug ein aufwändigeres Kom-
Wasser zukommt. zum Saturnsystem stand ganz oben auf munikationssystem. Die Antennen kon-
ihrer Wunschliste. struierte die Italienische Raumfahrtbe-
Ehrgeiziges Unternehmen Einigkeit bestand darin, mit einem hörde. Größere Treibstoffvorräte für
Methan bildet auch die Grundlage orga- Orbiter Saturns Atmosphäre, Ringe, Bahnkorrekturen und leistungsfähigere
nisch-chemischer Reaktionen, die in Ti- Monde und Magnetosphäre zu erfor- Batterien waren ebenfalls erforderlich.
tans oberer Atmosphäre ihren Anfang schen. Gerungen wurde darum, ob man Wie Galileo erzeugt auch Cassini seine
nehmen, wenn die UV-Strahlung der eine Sonde in die Atmosphäre Saturns Energie aus dem radioaktiven Zerfall des
Sonne das aus einem Kohlenstoff- und oder Titans schicken sollte oder sogar zu Elements Plutonium, dessen Zerfallswär-
vier Wasserstoffatomen bestehende Mo- beiden Himmelskörpern. Die letzte me in Strom umgewandelt wird.
lekül aufbricht. Wissenschaftler vermu- Möglichkeit musste schließlich aus Kos-
ten, dass es in diesem atmosphärischen tengründen verworfen werden. Letztlich Eiertanz durchs Sonnensystem:
Kreislauf flüssige Kohlenwasserstoffe reg- entschieden sich die Projektplaner wegen Auf verschlungenen Pfaden zum Ziel
net. Der Niederschlag könnte sich in der faszinierenden Entdeckungen der Obwohl Cassini-Huygens mit der da-
Seen und Ozeanen auf der Oberfläche Voyager-Sonde für Titan. mals leistungsfähigsten Rakete gestartet
sammeln. Die Temperatur auf der Bis 1985 entwickelte die Esa ein neu- wurde – einer Titan-4 der US-Luftwaffe,
Oberfläche – rund 95 Kelvin oder –178 artiges Design für eine Eintauchsonde, wobei die oberste Stufe von einer Cen-
Grad Celsius – ist viel zu niedrig, als dass die mit den Umgebungsbedingungen in taur-Rakete stammte –, war das Gerät
flüssiges Wasser existieren könnte. Aber Titans Atmosphäre zurechtkommen soll- viel zu schwer, um direkt zum Saturn ge-
für Tümpel aus flüssigen Kohlenwasser- te. Benannt wurde die Kapsel nach dem schickt zu werden. Wie es sich schon bei
stoffen ist sie gerade passend. Leben, so niederländischen Astronomen Christiaan früheren Missionen zum äußeren Son-
wie wir es kennen, hat sich auf Titan Huygens, der Titan im 17. Jahrhundert nensystem bewährt hatte, holte sich Cas-
wohl nie entwickelt. Doch die Untersu- entdeckt hatte. Der Orbiter, der vom Jet sini die notwendige Geschwindigkeit
chung der organisch-chemischen Kreis- Propulsion Laboratory in Pasadena (Ka- durch eine Reihe naher Vorbeiflüge an
läufe auf diesem Himmelskörper könnte lifornien) gebaut wurde, erhielt seinen Planeten, bei denen das Raumfahrzeug
Hinweise darauf liefern, wie das Leben Namen von dem französisch-italieni- jedes Mal etwas beschleunigt wurde.
auf der Erde in ihrer Frühzeit entstand. schen Astronomen Giovanni Domenico Zwischen 1998 und 2000 passierte Cas-
Cassini, der – ebenfalls im 17. Jahrhun- sini zweimal die Venus sowie je einmal
dert – vier weitere Monde des Saturns die Erde und den Jupiter.
NASA / JPL / SPACE SCIENCE INSTITUTE

sowie eine große Teilung in seinen Rin- Während des Vorbeiflugs an Jupiter
gen entdeckt hatte. im Dezember 2000 untersuchte Cassini
Die gesamten Entwicklungskosten das Magnetfeld des Riesenplaneten –
der Mission von etwa 3 Milliarden US- und ergänzte damit die Messungen der
Dollar – von denen die Europäer rund Galileo-Sonde, die den Riesenplaneten
25 Prozent trugen – sind im Vergleich zu in geringerer Distanz umrundete. Erst-
den meisten Planetenmissionen hoch, mals überhaupt wurden derartige Mes-
aber dennoch vergleichbar mit denen an- sungen simultan vorgenommen. Die
derer Großprojekte wie dem Hubble- Analyse ergab, dass Jupiters Magneto-
Weltraumteleskop. sphäre unsymmetrisch ist: An einer Seite
treten ungewöhnlich viele Ionen und
Elektronen aus. Cassini lieferte auch be-
merkenswerte Bilder von Jupiter, auf de-

l
Während des Vorbeiflugs an dem nen selbst feine Details der turbulenten
Saturnmond Phoebe am 11. Juni Atmosphäre zu sehen sind.
2004 fotografierte Cassini den nur 220 Die komplizierte Reiseroute bot
Kilometer großen Brocken. Der Himmels- noch einen weiteren Vorteil: Die Nasa
körper scheint sehr viel Eis zu enthalten und die Esa hatten ausreichend Zeit, ein
und an seiner Oberfläche von dunklerem unvorhergesehenes Problem zu lösen. Im
Material bedeckt zu sein. Jahr 2000 fanden die Projektverantwort-

668 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Trickreiche Flugroute
Auf ihrem Weg zum Saturnsystem hat die Cassini-Huygens-Sonde Ring geflogen. Während der größten Annäherung an den Plane-
mehr als 3 Milliarden Kilometer zurückgelegt. Nach dem Start im ten zündete sie ihr Triebwerk entgegen der Flugrichtung. Durch
Oktober 1997 holte sie durch nahe Vorbeiflüge an den Planeten dieses Bremsmanöver (rotes Bahnstück in der Grafik unten
Venus (zweimal), Erde und Jupiter Schwung, damit sie ihre nöti- rechts) gelangte das Raumfahrzeug in eine elliptische Umlauf-
ge Reisegeschwindigkeit erreichte (Grafik unten links). Am 1. Juli bahn. Nachfolgende Bahnkorrekturen verkleinern den Orbit, so-
2004 ist die Sonde durch die Lücke zwischen Saturns F- und G- dass die Huygens-Sonde den Saturnmond Titan erreichen kann.

Cassinis Reise durchs Sonnensystem Einschuss in die Saturn-Umlaufbahn

Ankunft
am Saturn
Saturn

Vorbeiflüge
an der Venus
F-Ring

G-Ring

Vorbeiflug Cassinis Flugbahn


Start am Jupiter
Phase des
Bremsmanövers
Vorbeiflug
an der Erde

Reiseroute durchs Saturnsystem

Huygens’ Landung auf Titan on der Erde


Anflug v

4. Orbit 3. Orbit
2. Orbit 1. Orbit
Titan von Cassini
ALLE GRAFIKEN: DON DIXON

Iapetus

lichen einen Designfehler in Cassinis geschwindigkeit zwischen Orbiter und die steinigen Kerne der äußeren Planeten
Kommunikationssystem, das während Eintauchsonde und damit auch die formten. Drei Wochen später, am 1. Juli,
des Abstiegs der Huygens-Sonde zur Ti- Doppler-Verschiebung kleiner wird. näherte sich die Raumsonde dem Plane-
tan-Oberfläche Daten empfangen soll. Cassinis erste nahe Begegnung mit ten und durchflog von unten her kom-
(Der Orbiter dient als Relaisstation für dem Saturnsystem fand bereits am 11. mend die Ringebene durch die breite Lü-
die Datenübertragung zur Erde.) Ein Juni 2004 statt, als sie an Phoebe vorbei- cke zwischen dem F- und G-Ring. Um
Verbindungstest, in dem die erwartete flog, einem Mond, der sich auf einer irre- das Raumfahrzeug so weit abzubremsen,
Doppler-Verschiebung in Huygens’ Sen- gulären Bahn in rund 13 Millionen Kilo- dass es in eine Umlaufbahn einschwenken
defrequenz simuliert wurde, schlug fehl: meter Abstand vom Planeten bewegt. kann, zündete es für 96 Minuten sein
Der Empfänger auf dem Orbiter regist- Cassini passierte den 220 Kilometer gro- Haupttriebwerk entgegengesetzt zur Flug-
rierte kein Signal, weil die verschobene ßen Himmelskörper in nur 2000 Kilome- richtung. Dieses Bremsmanöver, das in
Frequenz außerhalb seiner Bandbreite zu ter Abstand (Foto auf der linken Seite). nur 18 000 Kilometer Abstand vom Sa-
liegen kam. Nach monatelangen Bera- Er fasziniert die Wissenschaftler deshalb, turn erfolgte, brachte Cassini in eine stark
tungen fanden die Experten schließlich weil er ein Überbleibsel des ursprüngli- elliptische Bahn, die nach und nach
eine Lösung: Die geplante Flugbahn chen Baumaterials sein könnte, aus dem durch weitere Bremsmanöver korrigiert
wurde so verändert, dass die Relativ- sich vor mehr als 4,5 Milliarden Jahren wird (Grafik im Kasten oben). r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 51
PLANETENFORSCHUNG z
Was Cassini und Huygens erforschen sollen
Das Reiseziel der Cassini-Huygens-Mission ist einer der exotischs- tig. Das Infrarot-Spektrometer auf dem Cassini-Orbiter kann den
ten Orte im Sonnensystem: ein gigantischer Gasplanet, umge- Heliumanteil genauer ermitteln. Cassini wird auch die von Sa-
ben von einem eindrucksvollen Ringsystem, ausgestattet mit ei- turn abgestrahlte Wärme exakter messen. Diese Untersuchun-
nem starken Magnetfeld und umgeben von einem Schwarm gen könnten zeigen, ob sich Helium und Wasserstoff in den tie-
eisiger Satelliten sowie einem merkurgroßen Mond. Nachfol- fen Bereichen des Planeten wirklich trennen.
gend einige Schwerpunkte des Forschungsprogramms.

Magnetosphäre
Saturn Reicht bis zu 1,5 Millionen
Durchmesser: 120 536 Kilometer Kilometer in Richtung Sonne
Entfernung von der Sonne: 1,4 Milliarden Kilometer und 10- bis 100-mal so weit in
die Gegenrichtung

J. T. TRAUGER, NASA / JPL


B-Ring A-Ring Saturns Magnetfeld ist symmet-
rischer aufgebaut als jenes von
Jupiter und erzeugt auch ein
viel schwächeres Rauschen im

NASA / JPL / SPACE SCIENCE INSTITUTE


Radiobereich. Eine Ursache dafür könnte darin liegen, dass das
Innere Saturns eine im Vergleich zu Jupiter schlechtere elektri-
sche Leitfähigkeit aufweist.
Dennoch sind die im Magnetfeld des Gasplaneten eingefange-
Cassini- Encke-
Teilung Teilung
nen Ionen energiereich genug, um die vereisten Oberflächen der
Monde zu verändern, Titans Atmosphäre zu erodieren, kleine Par-
tikel aus den Ringen herauszureißen und Polarlichter hervorzuru-
Im Anflug: Cassini nahm dieses Bild im März 2004 auf, als das fen (wie auf obiger Aufnahme des Hubble-Weltraumteleskops zu
Raumfahrzeug noch 56 Millionen Kilometer vom Saturn entfernt sehen). Cassinis Messungen werden dazu beitragen, die ver-
war. Der Gasplanet besteht hauptsächlich aus Wasserstoff und schiedenen Magnetosphären
Helium, mit geringen Anteilen an Methan und Stickstoff. Seine im Sonnensystem – einschließ-
Masse beträgt rund ein Drittel derjenigen von Jupiter. lich des irdischen Magnetfelds
Saturn strahlt eine überraschend große Menge an Wärme ab. – besser zu verstehen.
NASA / JPL / SPACE SCIENCE INSTITUTE

Laborexperimente und Modellrechnungen weisen darauf hin,


dass die Wärme durch Reibung entsteht, wenn Tropfen flüssi-
gen Heliums durch den leichteren flüssigen Wasserstoff in Rich- Ringe
tung des Planetenzentrums sinken. Wenn dies zutrifft, sollte der Radius: von 67 000 Kilometer
Heliumanteil in der Atmosphäre relativ gering sein. (innerer Rand des D-Rings)
Voyager 1 bestimmte die Heliumhäufigkeit indirekt mit sei- bis 483 000 Kilometer (äußerer
nem Infrarot-Spektrometer, aber das Ergebnis war nicht eindeu- Rand des E-Rings)

r In den folgenden Wochen fliegt Cas- den orangefarbenen Dunst schwebt, ana- gen hundert Metern des Landeanflugs
sini zweimal an Titan vorbei, um die At- lysieren der Gaschromatograf und das beleuchtet eine auf der Sonde montierte
mosphäre und Oberfläche des Trabanten Massenspektrometer (GCMS) die Zu- Weißlichtlampe die Oberfläche. Norma-
zu untersuchen und die Huygens-Missi- sammensetzung der Atmosphäre. Ein lerweise würde diese schmutzig rot er-
on vorzubereiten. Am 25. Dezember be- anderes Instrument sammelt und ver- scheinen, weil die Atmosphäre den blau-
ginnt die Huygens-Sonde dann ihren 20 dampft feste Partikel, damit sie ebenfalls en Anteil des Sonnenlichts absorbiert.
Tage währenden Flug zu Titan: Am 14. vom GCMS identifiziert werden kön-
Januar 2005 wird sie in die bis zu 1000 nen. Gleichzeitig werden die Abstiegs- Huygens’ Einsatz
Kilometer dicke Atmosphäre des Monds kamera und das Spektral-Radiometer dauert nur knapp drei Stunden
eintauchen (siehe Grafik im Kasten auf (DISR) der Sonde Bilder der Methan- Die Beleuchtung erlaubt es, mit dem
S. 54). Ein untertassenförmiger Hitze- wolken aufnehmen, damit die Wissen- DISR die Zusammensetzung der Ober-
schild schützt die Kapsel vor den hohen schaftler deren Größe und Form ermit- fläche zu analysieren. Während des ge-
Temperaturen beim Eintritt in die Gas- teln können. samten Abstiegs der Sonde werden die
hülle. Etwa 170 Kilometer über der Ab einer Höhe von etwa 50 Kilome- Verschiebungen ihrer Funkfrequenz re-
Oberfläche werden sich Fallschirme öff- ter wird das DISR mit Panorama-Auf- gistriert, um daraus Informationen über
nen, die den Abstieg verlangsamen und nahmen der darunter liegenden Land- die Windstärken zu erhalten. Das Huy-
stabilisieren. Während Huygens durch schaft beginnen. Auf den letzten weni- gens Atmospheric Structure Instrument

52 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Rillen und Speichen: Warum sind die Ringe des Saturns – hier in tergroße Seen aus flüssigem Wasser erschaffen, die unter einer
einer Aufnahme von Voyager 2 aus dem Jahr 1981 zu sehen – so dünnen Eiskruste jahrhundertelang bestehen blieben – falls Am-
viel dramatischer und massereicher als die der anderen Riesen- moniak zugegen wäre, das als Gefrierschutzmittel wirkt, sogar
planeten im Sonnensystem? Und sind die Ringe so alt wie noch länger. Einfache Kohlenwasserstoffe und Nitrite in diesen
Saturn selbst oder nur kurzlebige Gebilde? Seen könnten sich in Aminosäuren, Purine, Zucker und andere
Cassinis Kameras und Spektrometer analysieren die Struktur Lebensbausteine verwandeln. Wie dies auf der Erde vonstatten
der Ringe wesentlich genauer, als es frühere Raumsonden ver- ging, lässt sich nicht mehr in Erfahrung bringen, da die Hinweise
mochten, und liefern so Hinweise auf ihre Entwicklung. Außer- darauf durch das Leben selbst zerstört wurden.
dem wird Cassini Funksignale durch die Ringe hindurch zur Erde Doch auf Titans Oberfläche sind die Merkmale solcher urzeit-
senden. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Eigenschaften lichen Reaktionen möglicherweise erhalten geblieben. Cassinis
der Ringpartikel ziehen. Das Missionsteam wird auch die elek- Kameras und Spektrometer forschen deshalb nach organischen
tromagnetische Anhebung des Staubs über die Ringebene ge- Substanzen und nach Variationen in ihren Ablagerungen.
nauer untersuchen – ein Effekt, der sich auf den Voyager-Aufnah-
men als dunkle Streifen auf den Ringen bemerkbar machte.
Diese Forschungen können Wissenschaftlern helfen, die Prozes-
Die Eissatelliten
se der Planetenbildung in den erheblich größeren Trümmerschei- Durchmesser: 20 Kilometer
ben um neu entstandene Sterne zu verstehen. (Pan, der kleinste vermes-
sene Mond) bis 1528 Kilome-
ter (Rhea, der zweitgrößte
Titan
INSTITUTE OF TECHNOLOGY / W. M. KECK OBSERVATORY
M. BROWN, A. H. BOUCHEZ, C. A. GRIFFITH, CALIFORNIA

Trabant)
Durchmesser: 5150 Kilometer Abstand vom Saturn: 134 000
Entfernung vom Saturn: Kilometer (Pan) bis 23 Millio-
1,2 Millionen Kilometer nen Kilometer (Ymir)
NASA / JPL

Der größte Saturnmond, Titan, ist Mit Ausnahme von Titan sind
größer als der Merkur und ver- Saturns Monde alle kleiner als die Galileischen Monde Jupiters.
fügt über eine Atmosphäre, Ihr Aussehen ist sehr unterschiedlich. Die Oberfläche von Ence-
die dichter ist als jene der ladus (hier auf einer Aufnahme von Voyager 2 zu sehen) ist sehr
Erde. In seiner klimatischen glatt, was darauf schließen lässt, dass sie in jüngster Vergangen-
und chemischen Komplexität ähnelt Titan – hier in einer Aufnah- heit umgestaltet wurde. Ein solches Phänomen tritt gewöhnlich
me des Keck-II-Teleskops gezeigt – unserem Heimatplaneten. nur bei Himmelskörpern wesentlich größerer Masse auf. Im Ge-
Freilich ist es wegen der Oberflächentemperatur von –180 Grad gensatz dazu zeigt Iapetus eine zweigesichtige Oberfläche: die
Celsius äußerst unwahrscheinlich, dass dort Leben existiert. Seite des Monds, die in seine Flugrichtung weist, ist wesentlich
Doch könnten durchaus gelegentlich chemische Reaktionen dunkler als die andere.
auf der Oberfläche stattgefunden haben – angeregt durch Wär- Um Licht in diese Geheimnisse zu bringen, wird Cassini meh-
me aus dem Innern des Monds oder durch Kometeneinschläge. rere der Satelliten aus der Nähe fotografieren und mit seinen
Wenn große Kometen auftreffen, können sie sogar kilome- Messinstrumenten untersuchen.

(HASI) wird die Temperatur, den Druck von Eis überzogener Trabant, dessen flüssig ist. Sollte die Sonde die Landung
und die elektrischen Felder messen, die Oberfläche mit Kratern übersät ist? Um überstehen, können für weitere drei bis
das Vorkommen von Blitzen anzeigen. diese Fragen zu klären, führt die Sonde dreißig Minuten Messwerte zum Orbiter
Der gesamte Landevorgang wird zwi- ein Surface Science Package (SSP) mit übertragen werden, bevor er hinter dem
schen zweieinhalb und drei Stunden sich, das während der Endphase der Lan- Horizont verschwindet. Falls Huygens in
dauern. dung Schallwellen aussenden wird, um einem Kohlenwasserstoff-See oder in ei-
Wenngleich das Hauptziel der Huy- die Rauigkeit der Oberfläche zu ermit- nem Ozean niedergeht, kann das SSP
gens-Sonde die Untersuchung von Ti- teln. HASI wird ähnliche Messungen Temperatur, Dichte und andere Charak-
tans Atmosphäre ist und keine Vorkeh- mit seinem Radar durchführen. Beim teristika des »Gewässers« messen. Die
rungen für eine sichere Landung getrof- Aufprall, der mit der relativ gemächli- Sensoren können auch die Schallge-
fen wurden (was zu teuer gewesen wäre), chen Geschwindigkeit von einigen Me- schwindigkeit in der Flüssigkeit bestim-
sind die Wissenschaftler stark an der tern pro Sekunde erfolgt, werden die men und vielleicht auch deren Tiefe aus-
Oberfläche des Saturnmonds interessiert. Daten der Beschleunigungssensoren an loten. In der Zwischenzeit wird das DISR
Ist sie mit flüssigen Kohlenwasserstoffen Bord der Sonde sehr schnell durch das Aufnahmen machen und das GCMS
bedeckt? Zeigt sie Anzeichen geologi- SSP weitergeleitet. wird versuchen, die Kohlenwasserstoffe
scher Aktivität oder organisch-chemi- Damit soll festgestellt werden, ob der zu analysieren. Die Huygens-Sonde ist so
scher Evolution? Oder ist Titan nur ein Untergrund hart, schneebedeckt oder gebaut, dass sie in Kohlenwasserstoffen r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 53
PLANETENFORSCHUNG

Kundschafter auf Titan


z
Am 25. Dezember wird der Cassini-Orbiter die 320 Kilogramm lysieren Partikel, die schnelle Ionen aus den Eismonden heraus-
schwere Huygens-Sonde freisetzen, die dann am 14. Januar schlagen. Zudem untersuchen sie die obersten Schichten der
2005 mit einer Geschwindigkeit von 20 000 Kilometer pro Stun- Titanatmosphäre, wenn Cassini in 1000 Kilometer Höhe über die
de in Titans Atmosphäre eintauchen wird. Etwa 170 Kilometer Mondoberfläche jagt. Ein Magnetometer, das an einem 11 Me-
über der Oberfläche bremsen Fallschirme die Geschwindigkeit ter langen Ausleger montiert ist, wird Stärke und Form von Sa-
ab, und der Hitzeschild wird abgeworfen. Erst dann können die turns Magnetfeld ermitteln.
wissenschaftlichen Instrumente an Bord der Kapsel Atmosphäre
und Oberfläche des Monds untersuchen. Die Sonde sendet die Cassinis vier Meter große Antenne dient nicht nur der Datenüber-
Daten zum Cassini-Orbiter, der sie dann zur Erde weiterleitet. tragung, sondern wird auch als Radar eingesetzt. Die Antenne
strahlt Radioimpulse ab und registriert die Echos, die von festen
Auch der Cassini-Orbiter (kleines Bild) wird bei einigen Vorbeiflü- Körpern reflektiert werden. Daraus lassen sich Form und Rauig-
gen den Saturnmond Titan untersuchen. Eine Palette des Orbi- keit der Oberfläche ableiten. Zusätzlich wird die Mikrowellen-
ters enthält zwei Kameras und mehrere Spektrometer. Auf einer strahlung Titans gemessen, aus der sich die Temperatur seiner
zweiten Palette untergebrachte Instrumente untersuchen Sa- Oberfläche und seiner Atmosphäre ermitteln lässt. Schließlich
turns Magnetosphäre, also die Region, die vom Magnetfeld des können mit der Antenne die Atmosphären Saturns und Titans
Planeten beherrscht wird, sowie geladene Teilchen, die durch untersucht werden, indem Radiosignale durch sie in Richtung
das Feld wirbeln. Andere Geräte messen Staubströme und ana- Erde gesendet werden.

DON DIXON
Wie die Huygens-Sonde in Titans Atmosphäre eintaucht

Huygens
trennt sich
von Cassini
Hilfsfallschirm
entfaltet sich

Eintritt in die
Titanatmosphäre

Haupfall-
Cassini-Raumsonde schirm
Hauptantenne entfaltet sich
Magnetometer- Hauptfallschirm
arm Hitzeschutz- wird durch
Feld- und schild wird kleineren Fall-
Teilchen- abgeworfen schirm ersetzt
Detektoren

Fernerkundungs-
instrumente Huygens- Aufprall auf der
Sonde Oberfläche

Haupttriebwerk

r schwimmt, obwohl die Dichte dieser anderen Satelliten und seinen Ringen Instrumente in der optimalen Reihenfol-
Substanzen kleiner als die von Wasser ist. machen sowie andere Regionen der Ma- ge eingesetzt werden können.
Nach Huygens’ Landung wird der gnetosphäre untersuchen kann. Im Ge- Die vielfältigen wissenschaftlichen
Cassini-Orbiter auf seinem vierjährigen gensatz zu Galileo und Voyager besitzt Experimente, die im Saturnsystem durch-
Flug durch das Saturnsystem den Tra- Cassini keine drehbare Plattform, mit geführt werden sollen, können hier nur
banten Titan weiter untersuchen. Die der sich die Instrumente ausrichten lie- angerissen werden (siehe Kasten auf der
meisten der geplanten 76 Saturn-Um- ßen: Um die Entwicklungskosten zu ver- vorherigen Doppelseite). Mein eigenes
kreisungen führen Cassini wieder nahe ringern, wurden die Geräte starr am zy- Interesse gilt Titan. Neben der Frage, ob
an dem größten Mond vorbei. Jede Be- lindrischen Körper des Satelliten befes- sich auf seiner Oberfläche komplexe or-
gegnung wird auch Cassinis Umlauf- tigt. Deshalb müssen die an der Mission ganische Moleküle entwickelt haben,
bahn verändern, sodass das Raumfahr- beteiligten Wissenschaftler ihre Beob- wollen die Forscher noch viel mehr über
zeug auch Nahaufnahmen von Saturns achtungen sorgfältig planen, damit die diese Welt herausfinden. Auf der Erde ist

54 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
r
Direkt nach dem Einschuss in die

NASA / JPL / SPACE SCIENCE INSTITUTE


Umlaufbahn fotografierte Cassini
die Saturnringe in bisher unerreichter De-
tailfülle. Der 325 Kilometer breiten Encke-
Teilung im A-Ring verleiht ein schmaler
Ring in der Mitte das Aussehen einer
Straße. Die Wellen am inneren Rand der
Lücke werden durch den Mond Pan ver-
ursacht, der den Saturn in der Encke-
Teilung umrundet (rechts). Der Mond
Prometheus wiederum erzeugt die bän-
derartigen »Verwehungen« im weiter au-
ßen gelegenen F-Ring (ganz rechts).

Wasser verantwortlich für die ständige Titan in seiner Vergangenheit wahr- Nach Cassinis erstem Vorbeiflug an
Umgestaltung der Oberfläche und den scheinlich nie genug Methan oder Ethan Titan und nach der Landung der Huy-
Energieaustausch zwischen ihr und der besessen, um solche Gewässer bilden zu gens-Sonde wird über die Planetenfor-
Atmosphäre. Auf Titan übernimmt Me- können. Dann wäre die momentane scher wohl eine Flut von Entdeckungen
than diese Rolle. Aber da diese Substanz Charakteristik der Titanatmosphäre – in hereinbrechen. Und der Strom neuer Er-
in der Atmosphäre des Saturnmonds der das Methan einen Treibhauseffekt kenntnisse wird nicht versiegen, wenn
durch photochemische Reaktionen abge- hervorruft – wahrscheinlich nur ein Zu- der Orbiter weiter den Riesenmond beo-
baut wird, muss sie fortlaufend nachge- fallsergebnis, hervorgerufen durch einen bachtet. Dennoch wird auch die Cassini-
liefert werden – entweder von der Ober- kürzlich stattgefundenen Kometenein- Huygens-Mission nicht alle noch offe-
fläche, aus dem Inneren oder durch Ko- schlag oder einen Ausbruch aus dem nen Fragen beantworten können. Viel-
meteneinschläge. Mondinneren. Letztlich wollen die Pla- leicht denken die Forscher bald über
netenforscher herausfinden, woher Ti- Ballone, Luftschiffe und Landegeräte
Gibt es auf Titan tans Gashülle stammt und warum er der nach, mit denen sie Titans dichte At-
Seen aus Kohlenwasserstoffen? einzige Mond im Sonnensystem ist, der mosphäre näher untersuchen wollen.
Die gegenwärtige Methanhäufigkeit auf eine dichte Atmosphäre besitzt. Vermutlich wird die lange Entdeckungs-
Titan, wie sie Voyager gemessen hatte, Alle Bordinstrumente werden not- reise, die mit Cassini-Huygens begann,
scheint bei einem kritischen Wert zu lie- wendig sein, um die Antworten auf diese noch nicht so schnell enden. l
gen – gerade genug, um Wolken und Fragen zu finden. Kameras, Spektrome-
Regen aus diesem einfachsten Kohlen- ter und das Radar des Orbiters, welches
Jonathan I. Lunine ist Professor
wasserstoff zu ermöglichen. Aber die durch Titans dichten Dunst hindurch- für Planetenkunde und Physik
Konzentration ist zu niedrig, als dass rei- schauen kann, werden nach Meeren aus sowie Leiter des Programms für
nes, flüssiges Methan auf der Oberfläche Kohlenwasserstoffen suchen, wenn sie Theoretische Astrophysik an der
vorkommen könnte: Methantropfen die Mondoberfläche kartieren. Universität von Arizona. Er forscht
über die Entstehung und Entwick-
würden verdunsten, bevor sie die Ober- Andere Instrumente untersuchen die lung der Planeten und des Sonnensystems. Zudem
fläche erreichten. Wechselwirkung von Titans Atmosphäre

A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
interessiert er sich für die Prozesse, die zu be-
Falls es auf Titan Seen gäbe, bestün- mit geladenen Teilchen in Saturns Mag- wohnbaren Welten führen. An der Cassini-Huy-
den sie höchstwahrscheinlich aus flüssi- netfeld. Radiosignale, die durch die At- gens-Mission arbeitet er als interdisziplinärer
gem Ethan – das durch photochemische mosphäre des Monds geschickt werden, Wissenschaftler mit.
Reaktionen in der Atmosphäre des zeigen, wie die Temperatur abhängig von Passage to a ringed world: the Cassini-Huygens
Monds entsteht –, in dem gewisse Men- Länge und Breite variiert. Durch Kombi- mission to Saturn and Titan. Von Linda J. Spilker
gen Methan gelöst sind. nieren dieser Ergebnisse mit den Bildern (Hg.). Nasa, 1997
Woher kommt das Methan und wo- des Orbiters und der Huygens-Sonde Titan: the Earth-like moon. Von Athena Coustenis
hin gehen seine photochemischen Reak- kann das Ausmaß des Methannieder- und Fred Taylor. World Scientific Publishing, 1999
tionsprodukte? Diese Frage gehört zu schlags bestimmt werden. Zusammen
Lifting Titan’s veil: exploring the giant moon of Sa-
den wichtigsten, welche die Cassini- mit Bildern der Methanwolken wird die turn. Von Ralph Lorenz und Jacqueline Mitton.
Huygens-Mission beantworten soll. Sind Sonde auch direkte Temperatur- und Cambridge University Press, 2002
Methan und Ethan in Seen oder Meeren Druckwerte liefern. Hinweise auf mögli-
Mission to Saturn: Cassini and the Huygens pro-
aus Kohlenwasserstoffen auf Titans che Quellen für Methan und Stickstoff be. Von David M. Harland. Springer-Verlag, 2002
Oberfläche vermischt? Neueste Daten auf diesem Mond könnten sich aus zwei
The Cassini-Huygens mission: overview, objec-
des Arecibo-Radioteleskops in Puerto atmosphärischen Schlüsselparametern er-
tives and Huygens instrumentarium. Von Christo-
Rico scheinen darauf hinzuweisen. Aber geben: der Häufigkeit der Methanmole- pher T. Russel (Hg.). Kluwer Academic Publishers,
nur der Cassini-Orbiter und die Huy- küle, die das Wasserstoffisotop Deuteri- 2003
gens-Sonde können die Antwort liefern. um enthalten, und den Verhältnissen
Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei
Falls das Raumschiff keine Anzeichen zwischen Stickstoff und den Edelgasen www.spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
für Seen oder Meere findet, dann hatte Argon und Krypton.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 55
WISSENSCHAFT IM RÜCKBLICK
Höhen-, Seiten- und Kurs- Gelöstes Sonnenrätsel hätte hervorgerufen sein kön-
WISSENSCHAFT IM RÜCKBLICK

werte anfliegender Flugzeuge. nen, wenn sie eine Begleitlinie


Sobald das Radargerät ein Die letzte unbekannte Linie gehabt hätte, die man aber
Flugzeug auffaßt, erscheint im Spektrum der Sonnenko- nicht finden konnte. Nun
auf dem Bildschirm … ein rona konnte jetzt identifiziert konnte man am »High-Alti-
wandernder Lichtpunkt, das werden. 1869 hatten Astro- tude«-Observatorium in Co-
Radarecho. Diesen Punkt er- physiker die Emissions-Linien lorado beweisen, daß die Li-
Einweisungsgerät faßt der Bedienungsmann mit entdeckt. 1940 konnte der nie tatsächlich von Kalzium
für Flugzeuge einem neuartigen Gerät Physiker Bengt Edlén nach- stammt, die Begleitlinie aber
(s. Abb.), dem sogenannten weisen, daß diese von ge- fehlen muß, weil sie mit einer
Vom Amerikaner Bejamin Kurs- und Geschwindigkeits- wöhnlichen Elementen stam- Absorptionsbande zusammen-
Greene jr. et al. wurde vor nehmer; er verfolgt ihn damit. men … Er konnte die meisten fällt und ausgelöscht wird. (Die
kurzem ein völlig neuartiges, (Industriekurier, Wochenausgabe Tech- Linien identifizieren, bis auf Neue Zeitung, 10. Jg., Nr. 188, S. 17,
halbautomatisches Lande-Ein- nik und Forschung, 7. Jg., Nr. 116, eine gelbe, die durch Kalzium August 1954)
weisungsgerät für Flugzeuge S. 267, August 1954)
entwickelt … Es ist damit Mistkäfer-Orientierung im polarisierten Licht
jetzt möglich, alle 30 Sekun-
den (!) ein Flugzeug landen zu Die gleiche Fähigkeit, die schon bei Bienen, Ameisen und einer
lassen … »Volscan« arbeitet Krebsart nachgewiesen wurde, konnte Birukow kürzlich auch
nach dem Funkmeßprinzip – dem Mistkäfer … zuschreiben. Dieser vermag die Polarisation
also mit Radar – und hat eine des Lichtes zu erkennen. Überträgt man einen Käfer, der bei
Reichweite von radial 100 freiem Ausblick auf die Sonne einen bestimmten Kurs nach die-
km. Es ermittelt in seinen ser gelaufen war, in einen innen schwarzen, nur nach oben offe-
Zusatzaggregaten die genauen nen Zylinder, behält das Tier die Richtung bei, obwohl es die
Sonne nicht mehr sehen kann. Voraussetzung ist, daß der blaue
Himmel sichtbar ist … Daß die Orientierung tatsächlich nach
r Mit der Pistole wird ein Lichtpunkt
der Polarisation des Himmelslichtes erfolgt, erweisen Versuche,
auf dem Bildschirm verfolgt – so bei denen der Zylinder samt Käfer gedreht wird: Das Tier kor-
werden Geschwindigkeit und Kurs rigiert seine Richtung um den entsprechenden Winkel. (Die Um-
eines Flugzeugs gemessen. schau, 54. Jg., Heft 15, S. 472, August 1954)

Sterne und ihre Temperatur Karussell mit


Flugmaschinen
Erst 1892 gelang es, mit der Photographie die Kenntnis von der
Sterntemperatur … dahingehend zu erweitern, dass durch Tem- Die lenkbare Luftschiffahrt
peratursteigerung das Spektrum eine Erweiterung nach dem ul- nimmt für das Publikum jetzt
travioletten Ende, durch Erniedrigung der Temperatur eine Ver- eine andere Stellung ein als
kürzung dortselbst erfahre. Doch … machte sich die Absorption noch zur Zeit Lilienthals. Ihr ten lenkbaren Ballons und
der ultravioletten Strahlen im Glase der verwendeten Apparate Entwicklungsgang führt … Flugmaschinen … ausgestellt.
störend bemerkbar. Erst die jüngsten Aufnahmen, bei denen jetzt auch zum »Appell ans (Illustrierte Aëronautische Mitteilun-
statt Glas Quarz zur Verwendung kam …, lieferten korrekte Er- Publikum«. So hat H. Ma- gen, 8. Jg., Heft 8, S. 33, August
gebnisse … Bei den Spektren der kälteren Sterne wiegen die xims Flugmaschinenkarussell 1904)
Emissionen im Rot, bei den heisseren im Ultraviolett vor. (Die in London bereits im »Greater
Umschau, 8. Jg., Nr. 32, S. 636, August 1904) New York« sein Gegenstück
gefunden; auf dem »Riesen-
Biegsame Wellen zur Abflußreinigung juxplatz« Luna Park am Bade-
Jeder, der die unangenehme gungen folgen … Sie können strand von Coney Island be-
… Arbeit kennt, die mit dem am Ende mit einer Drahtbürs- findet sich ein Ballonkarus-
Reinigen von Rohren verbun- te versehen werden … Zur sell. In dem Vergnügungslokal
den ist … wird schon das Be- Beseitigung festsitzender Hin- »Dreamland« ebendort wird
dürfnis nach einem guten dernisse kann man das Ende aber schon Ernsteres geboten:
Hilfsmittel … empfunden ha- auch mit einer dreifachen Santos Dumonts kleines, aber
ben. Die biegsamen Wellen, Klaue versehen, die in das wohlgelungenes Luftschiff Nr.
aus zwei eng nebeneinander Hindernis eingeschraubt wird, 9 ist dort zur Besichtigung
gewundenen Gußstahl-Spiral- und ist alsdann das Herauszie- ausgestellt und wird allen
drähten … sind vorzüglich hen des letzteren leicht und Neugierigen aufs eingehends-
zum Reinigen von Kanälen unfehlbar sicher. (Zeitschrift für te erklärt … Zur weiteren Er-
und Röhren zu verwenden, da Bauhandwerker, 48. Jg., Nr. 15, S. 120, ziehung des Publikums sind
sie bequem auch scharfen Bie- August 1904) Modelle fast aller je versuch- o Modell von H. Maxims Karussell

56 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
EVOLUTION z
Die Krux mit dem Sex
Fast jede Spezies – unsere eigene eingeschlossen –
praktiziert Sex und möchte ihn auch keinesfalls missen,
und das, obwohl es viel effizientere Wege gibt,
sich fortzupflanzen. Wofür ist dann Sex eigentlich da?

Von Christopher Wills über dreißig Hypothesen, darunter auch die


erwähnte Standarderklärung. Die meisten al-

A
ls Anton van Leeuwenhoek, der be- lerdings sind experimentell nur dürftig belegt,
rühmte Mikroskopbauer des 17. und keine konnte bislang befriedigen.
Jahrhunderts, einen Tropfen Teich- In den letzten Jahren jedoch machten sich
wasser mit seinem Instrument un- Experimentatoren wie ich daran, den Vor-
tersuchte, da sah er als erster Mensch so sprung der Theoretiker einzuholen. Wir über-
genannte Rädertiere: winzige Geschöpfe mit prüfen die bestehenden Theorien an natürli-
einem Kranz langer »Wimpern« um das chen und künstlichen Populationen, die sich
Mundfeld, die in einer Weise schlagen, dass sowohl aus sexuellen als auch aus asexuellen
man ein drehendes Rad zu sehen meint. Ihre Stämmen einer Art zusammensetzen oder aus
Schönheit und Eleganz faszinierten den Na- Individuen, die zwischen beiden Vermeh-
turforscher. Was er indes nicht ahnen konnte: rungstypen wechseln. Die sich abzeichnenden
Aus urheberrechtlichen Gründen Einige Arten von Rotiferen – so der Fach- Ergebnisse bestätigen, was die Theoretiker
können wir Ihnen die Bilder leider name – halten den Weltrekord in sexueller lange vermuteten – dass nämlich ein empfind-
nicht online zeigen. Abstinenz. Sie unterliegen seit 70 Millionen liches Gleichgewicht zwischen sexueller und
Jahren einem strengen Zölibat – sogar aus asexueller Fortpflanzung besteht und dass ge-
der Sicht der frommsten Mönche Respekt eignete Bedingungen es in die eine oder ande-
einflößend. re Richtung auszulenken vermögen.
Die ausdauernde Keuschheit solcher Roti- Je mehr man über Sex nachdenkt, desto
feren ist freilich mehr als eine Kuriosität, sie mehr Fragen tauchen auf. Die genetische Re-
stellt die Biologen vor ein großes Rätsel. Denn kombination mag in der Tat neue Genkombi-
Sex scheint für das langfristige Überleben nationen ermöglichen, aber was, wenn die an-
wichtig zu sein: Arten, die keinen Geschlechts- fängliche Mischung hervorragend ist? Warum
verkehr mehr praktizieren, verschwinden ge- sie verändern und eine Menge schlechterer
wöhnlich innerhalb einiger hunderttausend Nachkommen produzieren? Und das ist nicht
Jahre. Die Standarderklärung hierfür lautet, alles; denn sexuelle Organismen haben noch
dass so genannte genetische Rekombinationen einen anderen, fast erdrückenden Nachteil:
– das neue Mischen der genetischen Karten Sie produzieren Männer.
mit jeder Generation – unerlässlich seien, um Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber wir
die Auswirkung gefährlicher Mutationen zu Männer sind für die meisten Dinge wirklich
mindern und neue Genkombinationen zu er- nicht besonders viel nütze. Stellen Sie sich
möglichen. Aber die lang anhaltende Absti- eine Population von Tieren vor, von denen ei-
nenz von Rädertieren lässt vermuten, dass an nige sich sexuell, andere hingegen asexuell
dieser Sichtweise irgendetwas nicht stimmen vermehren. Jedes Individuum soll genau zwei
kann. Trotz ihrer Enthaltsamkeit floriert die Nachkommen produzieren. In dieser Situa-

o
Etliche Arten von Räder- Gruppe: Weltweit gibt es über 300 asexuelle tion besitzen die asexuellen Artgenossen einen
tieren gedeihen seit 70 Rotiferen-Arten. klaren Vorteil. Denn die Sexuellen müssen
Millionen Jahren ohne Sex. Aber wenn Sex nicht unbedingt nötig ist, sich paarweise zusammentun, um gemeinsam
Die strikte Abstinenz stellt Bio- warum gibt es ihn dann? Zu dieser Frage – ei- zwei Nachkommen zu haben. Die Kopfstärke
logen vor ein Rätsel. ner der heikelsten in der Biologie – kursieren jeder Generation bleibt daher gleich. Die Zahl

58 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
der Asexuellen hingegen verdoppelt sich in
der ersten Nachkommengeneration, vervier-
facht sich in der zweiten und so fort. Die Ase-
xuellen sollten demnach jeden Ressourcen-
wettstreit mit links gewinnen.
Den numerischen Nachteil, den sexuelle
Tiere im Konkurrenzkampf mit gleichwerti-
gen asexuellen Tieren haben, nennen Fachleu-
te die doppelten Kosten von Sex. Wenn ein
Lebewesen einer sich sexuell vermehrenden
Art eine Mutation erwirbt, die zur Asexualität Aus urheberrechtlichen Gründen
führt, dann sollten seine Nachkommen einen können wir Ihnen die Bilder leider
klaren Fortpflanzungsvorteil haben, den Res- nicht online zeigen.
sourcenwettstreit für sich entscheiden und die
sexuellen Artgenossen ins Abseits drängen. Sex
erscheint so gesehen als Verlierer-Strategie.
Unter diesem Blickwinkel wäre verständ-
lich, wieso etliche Rotiferen dem Sex entsagt
haben. Wenn ihre »Stammmutter« über gute
genetische Voraussetzungen verfügte, dann
konnten ihre Nachkommen prächtig gedei-
hen. Leider hat jedoch auch die asexuelle Stra-
tegie einen Haken. Auf lange Sicht ist sie
nicht das Gelbe vom Ei. Eine Genkombina-
tion, die vor 70 Millionen Jahren hervorragend
war, wird es heute höchstwahrscheinlich nicht
mehr sein, denn die Welt hat sich seither
beträchtlich verändert. Für die Rotiferen be-
stand die einzige Chance, sich anzupassen, in

o
der Anreicherung von Mutationen. Die geht zung übergehen. Viele asexuelle Spezies erwie- Wenn Lotosblumen im
aber nur langsam vonstatten, was wohl der sen sich schlicht als ein »Kreuzungsprodukt« Nildelta auf landwirt-
Grund dafür ist, dass die meisten asexuellen zweier sexueller Spezies, das sich asexuell fort- schaftliche Flächen übergrei-
Spezies – in evolutionären Zeiträumen gemes- pflanzen kann. Sie sind in Teichen und Was- fen, setzen sie verstärkt auf un-
sen fast augenblicklich – wieder ausstarben. serläufen oft anzutreffen. Ihr Erscheinen und geschlechtliche Vermehrung.
Verschwinden sollte etwas darüber aussagen,
Doppelte Kosten aufwiegen wo sich die unterschiedlichen Fortpflanzungs-
Genau das ist das Problem der Theoretiker. strategien auszahlen.
Einerseits muss Sex Vorteile haben, sonst wäre Wie Vrijenhoek feststellte, dominieren die
er nicht so weit verbreitet. Andererseits sollte asexuellen Jungfernkärpflinge oft in extremen
Asexualität auf kurze Zeit immer gewinnen – Umgebungen, zum Beispiel in Teichen mit
und gleichzeitig langfristiges Überleben nicht hoher Wassertemperatur. Der Grund: Alle
unbedingt ausschließen, wie das Beispiel der Nachkommen eines asexuellen, temperatur-
Rotiferen zeigt. toleranten Individuums verfügen über die
Mehrere natürliche Systeme haben sich gleiche Genkombination wie es selbst und
bei dem Versuch, dieses Paradoxon aufzulö- können somit in der extremen Umgebung
sen, als nützliches Testmodell erwiesen. Dazu überleben. Ein sexueller Fisch, der zufällig der
gehört eine Gruppe von 21 eng verwandten hohen Temperatur standhält, wird hingegen
Süßwasserfisch-Arten der Gattung Jungfern- hauptsächlich Nachkommen hervorbringen,
kärpflinge ( Poeciliopsis), die in Mexiko und im die nicht so gut angepasst sind, da sie über an-
Südwesten der Vereinigten Staaten leben. Ro- dere Genkombinationen verfügen als er.
bert Vrijenhoek von der Rutgers-Universität Nichtsdestotrotz überdauern sexuelle Po-
in New Jersey hat diese Fische einige Jahre pulationen. Die Vorzüge ihrer Fortpflanzung
lang beobachtet. Er konnte ein komplexes müssen beträchtlich sein, um deren doppelte
Wechselspiel zwischen ihnen feststellen, das Kosten zu kompensieren. Ein möglicher Vor-
eindrucksvoll veranschaulicht, wie empfind- teil besteht darin, dass sexuelle Fische in wech-
lich die Balance zwischen den Vorteilen sexu- selnden Umgebungen überleben können. Wo
eller und asexueller Reproduktion ist. Wasserläufe in ihrer Temperatur und Fließge-
Vrijenhoek entdeckte, dass die Fische in schwindigkeit jahreszeitlich stark schwanken,
dieser Gruppe auf ungewöhnlich einfache dominieren sexuelle Spezies von Jungfern-
Weise von sexueller zu asexueller Fortpflan- kärpflingen. Liegt hier das Geheimnis? r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 59
EVOLUTION z r Das Auftreten von Asexualität bei Tieren
führt gewöhnlich in eine Einbahnstraße: Vri-
folgt, dass räumlich komplexe Lebensräume
der sexuellen Fortpflanzung einen Vorteil ver-
jenhoeks asexuelle Fische können ihre Ge- schaffen. Denn die Nachkommen sexueller
schlechtlichkeit nie wieder erlangen. Viele Organismen sind untereinander verschieden:
Pflanzen vermögen jedoch zweigleisig zu fah- Wie zahlreich sie auch sein mögen, irgendwo
ren, was einiges darüber verrät, wann sich wel- findet eigentlich jeder von ihnen ein Plätzchen
che der beiden Strategien eher auszahlt. Ein zum Leben. Asexuelle Organismen hingegen
Beispiel sind ägyptische Lotosblumen (Nym- produzieren nur Nachkommen, die mit ihnen
paea lotus), die wild im Nildelta wuchern. Der selbst identisch sind, deshalb müssen die meis-
biologische Erfolg dieser Seerosen lässt sich ten von ihnen jene wenigen Plätze bevölkern,
zum Teil darauf zurückführen, dass sie sich – an denen die passenden Lebensbedingungen
wie viele andere Pflanzen – sexuell und asexu- vorliegen. Mithin bleiben ihnen viele Lebens-
ell vermehren. Eine Lotosblume kann nämlich räume verwehrt, die von sexuellen Nachkom-
sowohl Samen ausstreuen als auch unterirdi- men noch besiedelt werden können. Der nu-
sche Ausläufer in jede Richtung aussenden. merische Vorteil asexueller Fortpflanzung
Ableger, die genetisch identisch mit ihrer Mut- schwindet dadurch.
terpflanze sind, somit Klone darstellen, entwi- Eine wirklich schöne These – doch leider
ckeln sich überall dort, wo die »Stolonen« ge- gibt es nur wenige experimentelle Belege da-
nannten Ausläufer die Oberfläche erreichen. für. Im Jahre 1987 untersuchten Graham Bell
Ahmed Hegazy und seine Kollegen von von der McGill-Universität in Montreal und
der Universität Kairo fanden heraus, dass in sein Kollege Austin Burt, inzwischen am Im-
natürlichem Sumpfland, in dem die Lotosblu- perial College in London, wie oft durch so ge-

u
Im Sommer, bei gu- men normalerweise wachsen, drei Viertel aller nanntes Crossing-over genetisches Material
ten Bedingungen, pflan- neuen Pflanzen aus solchen Ausläufern hervor- zwischen Chromosomen von Säugetieren aus-
zen sich Wasserflöhe durch gehen. Wenn das Gewächs jedoch auf bewirt- getauscht wird, wenn Geschlechtszellen ent-
Jungfernzeugung fort. Erst zum schaftete Flächen vordringt, erreichen Pflanzen stehen. Dabei verglichen sie vermehrungsfreu-
Herbst hin vermehren sie sich aus Stolonen sogar ein Verhältnis von zehn zu dige Arten mit solchen, die wenige Nachkom-
geschlechtlich. eins gegenüber solchen aus Samen. Angesichts men hervorbringen – beispielsweise Nagetiere
neuer Möglichkeiten in einer anderen Umwelt mit Primaten. Die Forscher vermuteten, dass
wird auf schnelle Reproduktion und mithin die Austauschhäufigkeit bei Tieren mit gro-
auf Asexualität umgeschaltet. ßen Würfen ausgeprägter sein müsse. Denn
nur dann sei gewährleistet, dass die zahlrei-
Sex ist für Wasserflöhe günstig chen Nachkommen untereinander verschie-
Viele »Unkräuter« verfolgen ähnliche Strate- den genug wären, um in ihrer komplexen
gien. Bei ihnen hängt die Balance zwischen Umgebung allesamt einen Platz zum Leben
asexueller und sexueller Vermehrung demnach zu finden. Indes, Burt und Bell konnten kei-
von der Umgebung ab. Asexuelle Spezies schei- nen solchen Trend feststellen.
nen einen Vorteil zu haben, wenn die Bedin- Es ist demnach wohl nicht die räumliche
gungen konstant oder wenigstens von einer Vielfalt eines Lebensraums, die Sex vorteilhaft
Generation zur nächsten vorhersagbar bleiben. macht. Ist es vielleicht die Unvorhersehbarkeit
Sexuelle Arten hingegen mögen mit unvorher- zeitlicher Abläufe? Einige Organismen, darun-
Aus urheberrechtlichen Gründen sehbar wechselnden Bedingungen besser zu- ter verschiedene Spezies von Wasserflöhen der
können wir Ihnen die Bilder leider rechtkommen. Was aber verschafft ihnen mehr Gattung Daphnia, pflanzen sich während des
nicht online zeigen. Vorteile: räumliche Vielfalt oder zeitliche Ver- Sommers asexuell fort, wenn das Leben ein-
änderungen? fach ist. Doch zum Herbst hin produzieren sie
Im letzten Kapitel seines Buches »Über die neben weiblichen auch männliche Nachkom-
Entstehung der Arten« schildert Charles Dar- men, die sich miteinander paaren. Einige ihrer
win sehr poetisch, wie komplex die meisten Eier überleben den Winter, und im darauf fol-
natürlichen Umgebungen sind: »Wie anzie- genden Frühling schlüpft eine Vielzahl gene-
hend ist es, ein mit verschiedenen Pflanzen tisch unterschiedlicher Individuen.
bedecktes Stückchen Land zu betrachten, mit Mag sein, sexuelle Fortpflanzung ist des-
singenden Vögeln in den Büschen, mit zahl- halb vorteilhaft, weil sich Umweltbedingun-
reichen Insekten, die durch die Luft schwir- gen von Jahr zu Jahr unvorhersehbar ändern –
ren, mit Würmern, die über den feuchten doch meist tun sie das eigentlich nicht: Die
Erdboden kriechen ...« Er fährt fort mit dem Jahreszeiten folgen vielmehr gewöhnlich in
Anspruch, dass seine Theorie der Evolution vorhersagbarer Weise aufeinander. Die sexuelle
solche Komplexität erklären könne. Vermehrung ist für den Wasserfloh wohl eher
Heute nutzen Biologen die Idee der Um- deshalb günstig, weil die sexuelle »Neumi-
weltkomplexität, um die Funktion von Sex zu schung« ein breites Spektrum unterschiedli-
erklären. Aus den darauf fußenden Theorien cher Eier hervorbringt: Einige von ihnen über-

60 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
leben den Winter immer – obwohl Daphnia
eigentlich auf schnelles Wachstum und schnel-
le Vermehrung in einem warmen Milieu zuge-
schnitten ist. Ähnlich wie die Lotosblume pro-
fitiert der Wasserfloh vom Wechsel zwischen
sexueller und asexueller Fortpflanzung.
Der Schlüssel für den mysteriösen Vorteil
von Sex könnte dennoch in der Unvorhersag-
barkeit künftiger Umweltbedingungen liegen.
Neuere Experimente untermauern diese The-
se. Veena Prahlad und Elizabeth Goodwin
von der Universität von Wisconsin in Madi-
son sowie Dave Pilgrim vom kanadischen Bi-
ological Sciences Centre in Alberta untersuch-
ten kürzlich Fadenwürmer der Art Caenorhab-
ditis elegans. Statt Weibchen gibt es hier
Zwitter, die sich »asexuell« oder sexuell fort-
pflanzen. Wie die Forscher feststellten, kön-
nen sich die sexuell gezeugten Nachkommen
leichter an veränderte Umweltbedingungen pyrgus antipodarum stärker von parasitischen
anpassen und dabei ihr Geschlecht ändern. Würmern befallen werden als sexuelle Popula-
tionen. Und Steven Kelley von der Emory-
Harter Wettlauf Universität in Atlanta (Georgia) fand beim
zwischen Mensch und Mikrobe Gewöhnlichen Ruchgras (Anthoxanthum odo-
Eine der Hauptquellen für die Unvorherseh- ratum), das sich ebenfalls sexuell und asexuell
barkeit liegt in Krankheiten – auch beim vermehrt, dass die sexuellen Populationen sel-
Menschen. Der kürzlich verstorbene englische tener unter Viren leiden. In meiner Arbeits-
Evolutionsbiologe William Hamilton vermu- gruppe ließen wir »Killer« und »Sensibelchen«
tete, dass wir gezwungen sind, eine variable der Brauhefe (Saccharomyces cerevisiae) gegen-
Nachkommenschaft zu zeugen, weil unsere einander antreten. Die Killerstämme verhalten
Krankheitserreger sich stets weiterentwickeln: sich wie Krankheitskeime: Sie zerstören die
Sollte plötzlich ein tödliches Virus auftau- sensiblen Artgenossen und vermehren sich auf
chen, ist die Chance größer, dass wenigstens deren Kosten. Wie wir feststellten, können
einige aus der Schar der Sprösslinge resistent sich die sensiblen Hefestämme besser gegen
genug sind, um das reproduktive Alter zu er- ihre aggressiven Kollegen wehren, wenn sie
reichen. Umweltveränderungen in diesem sich sexuell fortpflanzen. Im Gegenzug werden
Sinne sind tatsächlich nicht vorhersehbar und auch die Killer effizienter, sobald sie diese Stra-
könnten Sex den entscheidenden Vorteil ver- tegie verfolgen. Wenn beide Stämme auf ge-
schaffen. Hamilton zufolge befinden wir uns schlechtliche Vermehrung setzen, dann endet
in einem verbissenen Wettlauf mit vielen das Gerangel oft unentschieden.
Krankheitserregern. Gibt es Beweise dafür? Von allen Theorien über Sex scheint jene,
Es scheint so. Daten aus dem Human-Ge- die von einem Wettstreit mit Erregern ausgeht,
nom-Projekt zeigen, dass jene Gene, die für experimentell am besten belegt zu sein. Aber
unser Immunsystem verantwortlich zeichnen, noch ist es zu früh, die anderen zu verwerfen.
sich schneller entwickeln als andere Erbfakto- Wie schaffen es etwa die Rädertiere, Epidemi-
ren – vermutlich weil sie im Wettstreit mit en zu entgehen, obwohl sie sich asexuell ver- Christopher Wills
A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S

ist Biologe an der


den Bakterien und Viren liegen, die uns atta- mehren? Noch fehlt eine gute Antwort darauf,
Universität von Ka-
ckieren. Burt und Bell stellten fest, dass bei aber Matthew Meselson von der Harvard-Uni- lifornien in San Di-
langlebigen Säugern wie Primaten die Aus- versität in Cambridge (Massachusetts) hat Be- ego und Autor des
tauschhäufigkeit durch Crossing-over höher lege dafür, dass die Rotiferen höchstens ein Buches »Understan-
ist als bei kurzlebigen wie etwa Lemmingen. paar mobile DNA-Elemente besitzen, die im ding Evolution«, das demnächst er-
scheinen wird. © New Scientist
Der Grund könnte sein, dass die langlebigen Erbgut »springen« und ernste Mutationen ver-
während ihrer Lebensdauer mit einer größe- ursachen können. Vielleicht sind die Geschöp- Roles for mating and environment
ren Bandbreite von Keimen in Berührung fe nicht so stark durch gefährliche Mutationen in C. elegans sex determination.
Von V. Prahlad, D. Pilgrim und E. B.
kommen als die kurzlebigen – und deshalb belastet wie die meisten anderen Organismen. Googwin in: Science, Bd. 302, S.
genetisch variabler sein müssen. Und so mag sich die These doch noch als 1047, 2003
Neuere Untersuchungen lieferten zusätz- stichhaltig erweisen, dass Sex in erster Linie
Weblinks zum Thema finden Sie bei
liche Hinweise. Curtis Lively von der Indiana- dazu da ist, die Auswirkungen gefährlicher www.spektrum.de unter »Inhalts-
Universität in Bloomington zeigte, dass asexu- Mutationen zu mindern. Vertrauen wir darauf, verzeichnis«.
elle Populationen der Deckelschnecke Potamo- dass die Rädertiere Außenseiter sind. l

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 61
ERDGESCHICHTE z
Streit um das Ende
der Dinosaurier
Nach jahrzehntelangen Debatten schien sich die Ansicht
durchgesetzt zu haben, dass der Einschlag eines Himmels-
körpers, dessen Krater in Mexiko entdeckt wurde, das
Massensterben am Ende der Kreidezeit auslöste. Doch
Skeptiker erheben neue Einwände.

Von Erwin Lausch sie zufällig bei der Auswertung jahrzehn- eine Schar von Dissidenten alle für sicher
tealter Kerne von Erdölbohrungen und erachteten Erkenntnisse über den Krater

N
och immer erhitzt die Frage mittels geophysikalischer Sondierungen. und seine Bedeutung. Ihre Wortführe-
die Gemüter nicht nur von Nach einer lokalen Kleinstadt tauften sie rin ist Gerta Keller von der Universität
Forschern: Was geschah am den verschütteten Krater »Chicxulub«. Princeton (New Jersey), sekundiert von
Ende der Kreidezeit, in ei- Auch nachdem an seiner Existenz – Wolfgang Stinnesbeck von der Universi-
ner der dramatischsten Phasen der Erd- spätestens seit 1991 – kein Zweifel mehr tät Karlsruhe und Thierry Adatte von der
geschichte vor 65 Millionen Jahren? bestand, blieben noch viele Fragen über Universität Neuchâtel (Schweiz). Nach
Glaubt man der Vorstellung, die bei den seine Struktur zu klären. Deshalb war ei- Ansicht dieser Abweichler
Geowissenschaftlern mittlerweile großen- nes der ersten Projekte des internationa- r misst der Chicxulub-Krater nicht
teils anerkannt und auch in der Öffent- len kontinentalen Bohrprogramms, das 180, sondern maximal 120 Kilometer;
lichkeit weit verbreitet ist, stürzte ein auf Initiative deutscher Geowissenschaft- r ereignete sich der Einschlag nicht ge-
etwa zehn Kilometer großer Himmels- ler Mitte der 1990er Jahre aus der Taufe nau an der Wende zwischen Kreidezeit
körper, ein Asteroid oder Komet, auf die gehoben wurde, eine Bohrung in den und Tertiär – also am Übergang zwi-
Erde und schuf einen mindestens 180 Chicxulub-Krater. Nach einer nahe gele- schen Erdmittelalter und -neuzeit –, son-
Kilometer weiten Krater. Durch die Fol- genen Hazienda Yaxcopoil-1 oder kurz dern etwa 300 000 Jahre früher;
gen des Einschlags – oder Impakts, wie Yax-1 genannt, erreichte sie Ende 2001 r war am großen Sterben zum Ende der
Fachleute sagen – geriet das Leben welt- eine Tiefe von 1511 Metern. Kreidezeit ein anderer Impakt beteiligt,
weit in eine seiner schwersten Krisen: Der mit Spannung erwartete Bohr- dessen Krater bisher unbekannt ist. r
Nicht nur die Dinosaurier starben aus, kern ist inzwischen untersucht – und hat
sondern mit ihnen etwa 75 Prozent aller neue heftige Auseinandersetzungen aus-
damaligen Tier- und Pflanzenarten. gelöst. Die Befunde sind in zwei Sonder-

r
Nach gängiger Meinung liegt der ausgaben der Zeitschrift »Meteoritics and So könnte es ausgesehen haben,
Krater, den die Bombe aus dem All hin- Planetary Science« vom Juni und Juli die- als vor 65 Millionen Jahren bei der
terließ, am Nordende der mexikanischen ses Jahres zusammengetragen (Bd. 39, heutigen Halbinsel Yukatan ein Himmels-
Halbinsel Yukatan, halb an Land und Heft 6 und 7, 2004). Über ihre Deutung körper von rund zehn Kilometer Durch-
halb im Meer. Am Erdboden ist von ihm stritten aber schon im Herbst 2003 die messer in ein flaches Meer einschlug und
freilich nichts zu sehen: Die gewaltige Teilnehmer der dritten internationalen einen 180 bis 280 Kilometer breiten Kra-
Narbe in der Erdkruste, damals von ei- Konferenz über große Meteoriten-Ein- ter erzeugte. Der Aufprall hatte verhee-
nem flachen Meer bedeckt, wurde im schläge in Nördlingen. rende Auswirkungen auf das Klima und
Laufe der Jahrmillionen Hunderte von Während die Mehrzahl der Chicxu- löste nach gängiger Meinung das Mas-
Metern tief unter jüngeren Ablagerungen lub-Experten ihre Vorstellungen in den sensterben am Ende der Kreidezeit aus,
begraben. Geowissenschaftler entdeckten Grundzügen bestätigt sah, bezweifelte dem die Dinosaurier zum Opfer fielen.

62 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
NASA / JPL / DONALD E. DAVIS
r
ERDGESCHICHTE z
Solcher Streit hat Tradition. Er tobt
schon, seit amerikanische Forscher 1980
Schon damals galten die Dinosaurier,
die in den Ablagerungen des Erdmittel-
verändert, also allmählich und in kleinen
Schritten. Sind die Wandlungen in der
die Einschlagthese aufstellten. Tausende alters häufig vorkommen, aber in Gestei- Gegenwart auch minimal, so nehmen sie
von Untersuchungen wurden zu diesem nen der Erdneuzeit fehlen, als hervor- über geologische Zeiträume doch gewal-
Thema veröffentlicht. Über keinen ande- stechendes Beispiel für das Aussterben tige Ausmaße an. Die Vertreter dieses
ren Abschnitt der Erdgeschichte ist wohl ganzer Tierordnungen – auch über die Gradualismus suchten folglich allein aus
so viel geschrieben und diskutiert wor- Fachgrenzen hinaus. »Es starb zu dersel- der Beobachtung gegenwärtiger geologi-
den wie über den Grenzbereich zwischen bigen Stunde«, ulkte der Schriftsteller Jo- scher Vorgänge Rückschlüsse auf Vor-
Kreide und Tertiär. Trotzdem lässt sich seph Victor von Scheffel in einem seiner gänge in der Erdgeschichte zu ziehen.
kein Ende der Debatte absehen. Die Studentenlieder, »die ganze Saurierei. Sie Die Gegenwart ist der Schlüssel zur Ver-
Kontroverse verebbte nicht, als mit Chic- kamen zu tief in die Kreide, da war es gangenheit, lautete ihre Devise.
xulub ein in Größe und Alter passender natürlich vorbei.« Dieses heute als Aktualismus be-
Krater für den Impakt entdeckt wurde, War schon das ständige Vergehen kannte Motto erwies sich als überaus
und auch die jüngste Bohrung brachte und Entstehen von Arten nicht leicht zu fruchtbarer Ansatz für die Geowissen-
sie nicht zum Verstummen. erklären, so galt das erst recht für die schaften. Die Katastrophenlehre hinge-
Massensterben – zumal zu einer Zeit, als gen galt bald als überholt, schlimmer
Tief verwurzelte Vorbehalte die Aussagen der Bibel noch weithin noch: als unwissenschaftlich, ja lächer-
gegen Katastrophentheorien auch als naturwissenschaftliche Wahrheit lich. Vor diesem Hintergrund ist die ver-
Im Grunde reichen die Wurzeln des galten. Immerhin ist im Alten Testament breitete Ablehnung zu verstehen, die der
Streits bis weit in das 19. Jahrhundert von der Sintflut die Rede. Nun ließ sich Impakt-Theorie zur Erklärung des Mas-
zurück. Als damals die Grundlagen der die Vielfalt der mächtigen Ablagerungen sensterbens am Ende der Kreidezeit zu-
Paläontologie geschaffen wurden, zeigte mit ihrem wechselnden Inhalt an Fossi- nächst entgegenschlug. Viele Geologen
sich schnell, dass sich die fossil überlie- lien zwar nicht durch eine einzige große sahen darin eine Wiederkehr der Kata-
ferten Lebewesen der Vergangenheit Überschwemmung erklären. Aber konn- strophenlehre und waren peinlich be-
deutlich von denen der Gegenwart un- ten es vielleicht auch mehrere gewesen rührt. Dabei lagen der Idee in diesem
terscheiden. Demnach mussten sich sein? Vor diesem Hintergrund entstand Fall sehr wohl harte, überprüfbare Fak-
Tier- und Pflanzengesellschaften im Lau- eine Katastrophenlehre, der zufolge in ten zu Grunde.
fe der Erdgeschichte immer wieder ver- der Vergangenheit immer wieder gewal-
ändert haben. Das bot den Forschern die tige Wassermassen alles Land überflute- Kosmisches Iridium
Möglichkeit, mit Hilfe von »Leitfossili- ten. Ihr prominentester Vertreter war der Die Grenze zwischen den erdgeschichtli-
en«, die in den Gesteinen ganz bestimm- französische Zoologe Georges Cuvier chen Epochen Kreide und Tertiär zeich-
ter Zeitabschnitte weit verbreitet sind, (1769 –1832), einer der bedeutendsten net sich in Gesteinen, die damals unter
die Erdgeschichte zu gliedern. Naturforscher seiner Zeit. Wasser abgelagert wurden, durch eine
Über 99 Prozent aller Arten, die je- Ganz anders sahen das zwei schotti- dunkle, meist nur wenige Zentimeter di-
mals gelebt haben, sind längst wieder sche Geologen: James Hutton (1726 – cke Tonschicht ab. Die Existenz eines
ausgestorben. Aus den jeweils Überle- 1797) und Charles Lyell (1797–1875). solchen »Grenztons« – etwa in der Nähe
benden entwickelten sich neue Spezies. Sie fühlten sich weder dem Schöpfungs- der mittelitalienischen Stadt Gubbio, wo
Neben dem gleichmäßigen Arten- bericht in der Bibel verpflichtet noch er Kalksteinschichten der Kreidezeit von
schwund registrierten die Paläontologen glaubten sie an irgendwelche Kräfte, die solchen des Tertiärs trennt – war in den
aber auch Phasen besonders massiven unerklärbar in ferner Vergangenheit
Artensterbens, denen entsprechend tief wirkten. Vielmehr habe sich die Erde –
greifende Erneuerungen folgten. Zwei genauso wie heute – stets nur graduell
JPL / NASA
derart drastische Einschnitte in der Ent-
wicklung des Lebens wurden um die
Mitte des 19. Jahrhunderts als Grenzen
zwischen Altertum, Mittelalter und Neu-
zeit der Erde definiert.
Ringstruktur

r
Obwohl der einstige Krater am Bo-
den nicht mehr zu erkennen ist, zei-
gen Satellitenaufnahmen Ringstrukturen,
die beim Einschlag entstanden sind. So
zeigt diese farbcodierte Höhenkarte, die
Dolinen
per Radar von der Raumfähre aus erstellt
wurde, einen halbkreisförmigen Graben,
der etwa fünf Kilometer breit und nur drei
bis fünf Meter tief ist. Weit gehend paral-
lel dazu verläuft ein Kranz von Dolinen.

64 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
1970er Jahren allgemein bekannt. Doch
im Laufe welcher Zeitspanne hatte sich Kahlschlag beim Plankton
die Schicht abgesetzt? Das fragten sich
damals viele Geologen – freilich ohne Diese Fotomontage illustriert den Kahl-
Hoffnung auf baldige Antwort; denn es schlag unter den Plankton-Foraminife-
gab kein probates Verfahren, Zeiträume ren am Übergang zwischen Kreidezeit
auf weniger als 10 000 Jahre genau zu be- und Tertiär. Die mikroskopisch kleinen

Tertiär
stimmen. Einzeller mit Kalkgehäuse, die in den
An der Universität von Kalifornien Ozeanen treiben, finden sich in der
in Berkeley hatten der Geologe Walter obersten Kreideformation noch in gro-
Alvarez und sein Vater Luis, Physiker ßer Zahl und Artenvielfalt. Dagegen
und Nobelpreisträger, dazu jedoch eine gibt es in den untersten Tertiärschich-
neue Idee: Sie wollten die staubfeine kos- ten nurmehr wenige, kümmerliche Ex- Grenzton
mische Materie, die Jahr für Jahr aus dem emplare. Die Grenze dazwischen be-
All auf die Erde rieselt, als Zeitmesser steht aus einer nur wenige Zentimeter
nutzen. Dieser himmlische Dreck hat dicken Lage aus Ton. Sie ist reich an
eine andere Zusammensetzung als irdi-

Kreide
Auswurfmaterial, das beim Einschlag
sches Gestein. Er enthält wie alles, was eines Himmelskörpers hoch in die At-
aus dem All zu uns kommt, das auf der mosphäre geschleudert wurde und
Erde extrem seltene Edelmetall Iridium sich über den gesamten Globus ver-
in erheblich größeren Mengen. Relativ teilt hat. Außerdem enthält sie unge-
viel Iridium im Grenzton, so die Überle- wöhnlich viel Iridium.
A. MONTANARI
gung von Vater und Sohn Alvarez, ließe
auf Jahrtausende der Ablagerung schlie-
ßen, wenig Iridium auf nur Jahrhunderte eine Staubwolke gehüllt, die monatelang Forscher Alan Hildebrand von der Uni-
oder gar Jahre. Auskunft über den Iridi- das Sonnenlicht abschirmte. Ohne Son- versität Calgary (Alberta), »verwandelte
umgehalt des Grenztons sollte ein hoch ne kam die Photosynthese der Pflanzen die Erdoberfläche in eine lebende Hölle,
empfindliches neues Verfahren geben: an Land wie im Meer zum Erliegen. Den in eine dunkle, brennende, schweflige
die Neutronenaktivierungsanalyse. Tieren, die direkt oder indirekt von Welt, in der sich alle Regeln für das Über-
Das Geologe-Physiker-Gespann er- Pflanzen leben, wurde die Nahrungs- leben der am besten Angepassten inner-
lebte jedoch eine herbe Enttäuschung: grundlage entzogen. So starben viele Ar- halb von Minuten veränderten.«
Die Konzentrationen, die bei den Unter- ten aus. Und so formierte sich eine Opposi-
suchungen im Lawrence Livermore Na- tion mit einem Gegenmodell zur Ein-
tional Laboratory herauskamen, fielen Überleben in der Hölle schlagtheorie, die so gar nicht in ihr na-
überhaupt nicht in die erwartete Spanne, Die Publikation erregte enormes Aufse- turwissenschaftliches Weltbild passte:
sondern waren entschieden zu hoch. Ein hen. Es war nicht allein die unheimliche Vulkane sollten nun die Übeltäter sein.
Jahr lang hielten die verblüfften Forscher Vorstellung einer urplötzlich aus dem All Tatsächlich traten um die Wende von der
die Ergebnisse unter Verschluss. Sie un- über die Erde hereinbrechenden Kata- Kreide zum Tertiär über einen Zeitraum
tersuchten Grenztone aus Dänemark strophe, die instinktive Ablehnung her- von mehreren Millionen Jahren hinweg
und Neuseeland und fanden auch dort vorrief. Auch die Grundlagen der Evo- im Westen des indischen Subkontinents
ungewöhnliche Anreicherungen von Iri- lutionslehre schienen erschüttert. Hatte immer wieder immense Lavaströme aus
dium. Daraufhin diskutierten sie ihre Charles Darwin nicht gelehrt, dass sich und erstarrten zu einer der größten Flut-
Ergebnisse mit Kollegen und überschlu- das Leben Schritt für Schritt weiterentwi- basaltdecken auf der Erde: bis 2400 Me-
gen anhand ihrer Stichproben, wie viel ckelt und im Kampf ums Dasein jene Ar- ter mächtigen Schichten, die unter Ex-
von dem Edelmetall vor 65 Millionen ten gewinnen, die an die Bedingungen perten als Dekkan-Trapps bekannt sind.
Jahren weltweit zusätzlich zu dem stän- ihrer jeweiligen Umwelt am besten ange- Nach Schätzungen von Vulkanologen ha-
digen Strom durch den kosmischen passt sind? Bei einem Impakt aber nützt ben sich gut zwei Millionen Kubikkilo-
Staub auf die Erde gelangt sein musste. selbst eine noch so gute Anpassung an ir- meter Lava über mehr als zwei Millionen
Anfang Juni 1980 veröffentlichten dische Umstände nichts. Das Überleben Quadratkilometer Land ergossen.
sie ihre Deutung schließlich in der Wis- hängt allein von glücklichen Zufällen ab. Sicherlich beeinflussten die Gase, die
senschaftszeitschrift »Science«: Ein Aste- War es vorstellbar, dass ganze Grup- in den aktiven Eruptionsphasen zusam-
roid oder Komet mit mindestens zehn pen von Organismen wie die Dinosaurier men mit den Magmamassen austraten,
Kilometer Durchmesser sei vor 65 Mil- oder die Ammoniten, die sich in großer das irdische Klima. Doch bislang gibt es
lionen Jahren auf die Erde gestürzt und Artenvielfalt weit über 100 Millionen keine Hinweise darauf, dass Fauna und
beim Aufprall verdampft. So habe sich Jahre lang erfolgreich entwickelt hatten, Flora während einer solchen Eruption
das Iridium über den Planeten verteilt. gleichsam von heute auf morgen aus- von Flutbasalten, wie sie auch zu ande-
Wie von Zauberhand schien sich da- gelöscht wurden und die Verlierer von ren Zeiten stattfand, nennenswert litten.
mit auch das Massensterben zu erklären: gestern plötzlich unverdiente Gewinner Außerdem ließ sich der hohe Iridium-
Durch den Impakt wurde, so das plau- waren? »Der Impakt an der Kreide-Terti- gehalt des Grenztons, der bald an vielen
sible Katastrophenszenario, die Erde in är-Grenze«, formulierte der Chicxulub- Stellen der Erde nachgewiesen wurde, r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 65
ERDGESCHICHTE z l
Vom Meteoriteneinschlag, der den
Chicxulub-Krater schuf, zeugen un-
gungen für die Konservierung der
»schrecklichen Echsen« bieten, von der
ter anderem solche Glaskügelchen. Sie Kreidezeit bis zum Übergang ins Tertiär
entstanden, als ausgeschleuderte Tröpf- ungestört erhalten sind. Akribisch durch-
chen geschmolzenen Gesteins in der At- musterten Spezialisten diese Sedimente
mosphäre erstarrten. Im Nordosten Mexi- auf Dinosaurierreste und wurden reich-
kos kommen sie auch in Sedimenten vom lich fündig – allerdings nur bis drei Me-
Ende der Kreidezeit vor. Einige Paläonto- ter unterhalb der Kreide-Tertiär-Grenze.
logen schließen daraus, dass der Chicxu- Dort war Schluss mit den fossilen Kno-
lub-Einschlag schon vor der Wende zum chen. Trotzdem ließen sich bis 37 Zenti-
Tertiär stattfand und nicht das Massen- meter unterhalb der Grenze Trittspuren
sterben verursacht haben kann. von Dinosauriern ausmachen. Demnach
gab es die Echsen noch; nur hinterließen
J. SMIT
sie keine Knochen mehr.
Tatsächlich fehlen in den obersten
r durch den Vulkanismus in Indien nicht am Ende der Kreide untergegangenen Metern der Kreide auch Fossilien von
befriedigend erklären. Bei anderen typi- Tierstämme den Beginn des Tertiärs anderen Wirbeltieren. Offenbar haben
schen Zeugnissen für einen Impakt, die noch erlebten. sich also die Bedingungen für die Erhal-
sich in der an Iridium reichen Schicht Luis Alvarez hatte, als er 1988 starb, tung von Knochenmaterial rapide ver-
fanden – speziell deformierte (»geschock- längst die Geduld verloren. Als Physiker schlechtert, was einen Niedergang der
te«) Quarzkristalle, eine Hochdruckform zweifelte er nicht daran, dass der Auf- Dinosaurier vor dem Impakt lediglich
des Quarzes (Stishovit) und eine Gruppe prall eines Himmelskörpers furchtbare vortäuschte.
von Mineralien, die als nickelreiche Spi- Folgen für das irdische Leben gehabt ha-
nelle bezeichnet werden – schied ein vul- ben muss. Schließlich wurde dabei eine Makabrer Zombie-Effekt
kanischer Ursprung ohnehin aus. Energie entfesselt wie bei der Explo- Zu diesem falschen Eindruck trugen
Zwar war zunächst kein passender sion von Millionen Wasserstoffbomben. auch mangelhafte statistische Ansätze bei:
Krater bekannt, doch sprach das nicht Wenn die Paläontologen das große Ster- Eine viele Millionen Jahre lange Entwick-
ernsthaft gegen die Impakt-These. In 65 ben nicht entdeckten, schrieb er in ei- lungsgeschichte wurde mit einer viel kür-
Millionen Jahren konnte selbst ein riesi- nem wütenden Artikel in der »New York zeren Endphase verglichen, in der natür-
ger Krater durch Erosion bis zur Un- Times«, konnte das nur an ihrer Inkom- lich entsprechend weniger Fossilien vor-
kenntlichkeit abgetragen oder von jün- petenz liegen. kamen – oder eben auch zufällig gar
geren Sedimenten verschüttet worden Doch Alvarez unterschätzte einfach keine. So entstand die lange herrschende
sein. War der Asteroid ins Meer gestürzt, die Schwierigkeiten, mit denen Paläon- Lehrmeinung, dass sich die Dinosaurier
bestanden noch weniger Chancen, seine tologen zu kämpfen haben. Was in den schon Jahrmillionen vor dem Ende der
Spur zu finden. Gesteinen von der Erdgeschichte über- Kreidezeit auf dem absteigenden Ast be-
liefert ist, wird gern mit einer Chronik fanden. Etwas anderes konnten sich viele
Lücken in der Chronik verglichen, aus der viele Seiten herausge- Paläontologen vor der Diskussion über
des großen Sterbens rissen sind. Eigentlich fehlt sogar das den Impakt ohnehin nicht vorstellen.
Doch die Verfechter der Einschlagtheo- meiste. Selbst vorhandene Seiten sind oft Für einige Aufregung sorgten auch
rie hatten Glück: Nach der Entdeckung fast oder völlig leer: Obwohl es von Le- Dinosaurierzähne, die noch in frühen
von Chicxulub ließ sich nicht länger ben nur so gewimmelt haben muss, gibt Ablagerungen des Tertiärs gefunden wur-
leugnen, dass ein riesiges kosmisches Ge- es keine oder kaum Fossilien. Lebensres- den. Sie schienen der Beweis, dass die
schoss auf die Erde geprallt war. Die te bleiben nämlich nicht so ohne weite- Echsen den Einschlag sehr wohl überlebt
Skeptiker blieben allerdings unbeein- res erhalten – ihre Bewahrung erfordert hatten. Penible Nachuntersuchungen er-
druckt. Sie fragten nach den Beweisen ganz besondere Umstände. gaben jedoch, dass die Zähne in Wahr-
dafür, dass so viele Arten wirklich durch Gerade bei den Dinosauriern, die heit eben doch aus der Kreidezeit
den Impakt ausgelöscht wurden und zum Symbol des Massensterbens wur- stammten. Nach der Erosion des Ge-
nicht doch aus anderen Gründen aus- den, sind die Voraussetzungen für die ge- steins, in dem sie ursprünglich gesteckt
starben. naue Datierung ihres Exitus denkbar un- hatten, waren sie in eine Rinne mit jün-
Vor allem Paläontologen ließen sich günstig. Herauszufinden, wie viele Arten geren Ablagerungen gespült worden.
nicht so leicht überzeugen. Natürlich exakt an der Kreide-Tertiär-Grenze auf Eine solche Wiederaufarbeitung, als
stand fest, dass die meisten Spezies aus der Strecke geblieben sind, erwies sich bei »Zombie-Effekt« bekannt, ist nicht un-
der Kreidezeit im Tertiär nicht mehr der Lückenhaftigkeit der Überlieferung gewöhnlich und macht den Paläontolo-
existierten. Doch waren sie wirklich alle als äußerst schwierig. Das in der Paläon- gen das Leben schwer.
genau an der Grenze der beiden Erdzeit- tologie gewohnte grobe Zeitraster von Selbst bei den viel häufigeren Am-
alter verschwunden? Fossilfunde schie- Millionen Jahren genügte da nicht mehr. moniten spielte die Statistik den For-
nen stattdessen zu belegen, dass die Ar- Obwohl Dinosaurierknochen vieler- schern zunächst einen Streich. Bei Un-
ten im Laufe von Millionen Jahren nach orts gefunden wurden, gibt es auf der tersuchungen an einem musterhaft voll-
und nach ausstarben. Außerdem gab es ganzen Erde nur wenige Stellen, an de- ständigen Profil in Nordspanien wurden
Berichte, wonach einige der vermeintlich nen Ablagerungen, die günstige Bedin- zwar noch zwanzig Zentimeter oder we-

66 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
niger unterhalb der Kreide-Tertiär-Gren- Über die Jahre bekehrte sich dadurch und bevölkern die Meere in zahlreichen
ze verschiedene Arten geborgen, aber un- mancher – wie Ward – vom Saulus zum Arten, die sich an den hinterlassenen
mittelbar darunter kein einziges Exemp- Paulus. Andere Paläontologen rangen Kalkpanzern unterscheiden lassen. Nur
lar mehr. Diese Lücke entpuppte sich sich zu einem Kompromiss durch: Sie ein Teil von ihnen ging am Ende der
später jedoch als rein lokales Phänomen. streiten beträchtliche Auswirkungen des Kreidezeit zu Grunde, während aus den
An anderen Stellen fanden sich letzte Impakts nicht mehr ab, schreiben aber Überlebenden neue Arten entstanden.
Ammoniten auch direkt an der Grenze. zugleich dem indischen Vulkanismus, Schon seit Jahrzehnten wird erbittert
»Ich war ursprünglich derjenige«, be- Schwankungen des Meeresspiegels sowie darüber gestritten, welche Foraminiferen
kannte Peter Ward von der Universität Klimaänderungen in den Jahrmillionen seinerzeit ausstarben und wann genau
von Washington in Seattle, »der in alle vor der Kreide-Tertiär-Grenze eine meist ihre Todesstunde schlug.
Welt hinausposaunte, dass die Ammoni- nicht näher spezifizierte Rolle zu. Als Widerpart von Gerta Keller und
ten schon vor der Grenze ausstarben. ihren Anhängern profilierte sich dabei
Aber nun bin ich überzeugt: Sie starben Plankton als Kronzeuge Jan Smit von der Freien Universität
direkt an der Grenze aus.« Auch in dem neuen Streit geht es wie- Amsterdam, der zu den Protagonisten
Solche Erfahrungen waren durchaus der um die alte Frage: plötzliches Aus- der Impakt-Hypothese zählt. Ende der
heilsam. Die anhaltenden Diskussionen sterben oder allmählicher Niedergang? 1970er Jahre hatte er in Südostspanien
über den Impakt zwangen die Paläonto- Verknüpft wird sie mit Zweifeln an der an einem Paradeprofil über die Kreide-
logen, sich mit den Tücken ihres Arbeits- Rolle des Einschlags, der den Chicxulub- Tertiär-Grenze hinweg den Bestand an
feldes intensiver auseinander zu setzen. Krater schuf. Die neuen Abweichler Foraminiferen aufgenommen, als die
Viel mehr als früher achten sie jetzt auf glauben beweisen zu können, dass dieser Nachricht von den überraschend hohen
Lücken in den überlieferten Gesteinen spezielle Impakt von seinem Ausmaß Iridiumwerten im Grenzton von Gubbio
und die Wiederaufarbeitung von Fossi- und genauen Zeitpunkt her für das Mas- die Runde machte. Er fand in der betref-
lien. Außerdem berücksichtigen sie den sensterben am Ende der Kreidezeit gar fenden Schicht gleichfalls reichlich Iridi-
nach zwei Kollegen benannten »Signor- nicht verantwortlich sein konnte. um und sprach sich als einer der Ersten
Lipps-Effekt«, der einen an sich simplen Den Part der Kronzeugen spielen da- für einen Asteroideneinschlag als Ursa-
Sachverhalt beschreibt: Das jüngste Fos- bei Lebewesen, die im Unterschied zu che des Massensterbens aus.
sil, das Forscher in einem Gesteinsstapel Dinosauriern und Ammoniten reichlich Smit kam damals in Spanien zu dem
von einer Spezies finden, war mit größter vorhanden sind: Plankton-Foraminife- Ergebnis, dass alle Plankton-Foraminife-
Wahrscheinlichkeit nicht der letzte Ver- ren. An den mikroskopisch kleinen Ein- ren mit Ausnahme einer einzigen Art ge-
treter seiner Art weltweit, erst recht nicht zellern, die in den Ozeanen treiben und nau an der Grenze ausgestorben seien.
bei seltenen Arten. Neue statistische An- deren kalkige Gehäuse sich nach dem Doch Gerta Keller, die sich seit Mitte
sätze wurden entwickelt, die eine realisti- Tod der Organismen am Meeresboden der 1980er Jahre mit Foraminiferen be-
schere Auswertung der fast immer bekla- sammeln, herrschte in der Kreidezeit wie schäftigt und darüber zahlreiche Arbei-
genswert spärlichen Funde erlauben. im Tertiär kein Mangel. Sie bevölkerten ten veröffentlicht hat, widersprach. Nach r

Der Untergrund des Kraters

äußerer Ring Impakt-Brekzien

DAVID A. KRING, NASA / UNIVERSITY OF ARIZONA SPACE IMAGING CENTER


Impakt-Schmelzdecke
Bohrung Yax-1
GEOFORSCHUNGSZENTRUM POTSDAM

zentrale Hebung

innerer Ring

Eine 1511 Meter tiefe Bohrung, die im Jahre 2001 sechzig Kilome- haben. Die so entstandene Struktur ist in dem geologischen
ter vom Zentrum des Chicxulub-Kraters entfernt niedergebracht Schnitt dargestellt. Kritiker behaupten dagegen, diese angeblich
wurde, sollte die Verhältnisse am Kraterboden klären. Nach An- gerutschten Schollen seien in Wahrheit an Ort und Stelle geblie-
sicht der Befürworter der Einschlagtheorie bestätigte sie das ben und lägen außerhalb des Kraterrandes. Die Einschlagnarbe
bisherige Modell, nach dem von den Seiten her große Schollen sei demnach maximal 120 Kilometer breit – viel schmaler als die
in den primären Krater gerutscht sind und ihn dadurch erweitert bisher angenommenen 180 bis 280 Kilometer.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 67
ERDGESCHICHTE

Fragwürdige Fossilien
z subtropischen Arten« an der Kreide-Ter-
tiär-Grenze. Dennoch hat sie die Wende
allenfalls halbherzig vollzogen. Immer
G. KELLER

wieder ist das Bestreben zu erkennen, die


Bedeutung eines Einschlags aus dem All
herunterzuspielen. Der Impakt, sagt sie
mit einer englischen Redewendung bis
heute, »war lediglich der Strohhalm, der
den Rücken des Kamels brach«. Den
0,2 mm 0,2 mm Satz hat sie nicht nur erst kürzlich wie-
Rugoglobigerina Rugoglobigerina rugosa der in einer Pressemitteilung ihrer Uni-
macrocephelaa versität verbreiten lassen, er steht auch in
einer ihrer wissenschaftlichen Veröffent-
lichungen aus jüngster Zeit.
Durch die Bohrung Yax-1 hat der
alte Foraminiferen-Streit nun neue Nah-
0,2 mm rung erhalten. Dabei geht es um fünfzig
Zentimeter Sediment, die sich im Bohr-
0,2 mm
Globotruncana Plummerita kern unmittelbar über der Schicht mit
insignis hantkeninoides
den Einschlagtrümmern befinden, sich
Gerta Keller von der Universität Princeton der der Chicxulub-Einschlag schon vor also erst nach dem Impakt abgelagert ha-
(New Jersey) und Kollegen haben in ei- der Grenze zum Tertiär stattfand oder die ben. Gerta Keller und ihre Kollegen be-
ner 50 Zentimeter dicken Scheibe des Foraminiferen erst zu Beginn des Terti- richteten auf dem Nördlinger Kongress,
Bohrkerns oberhalb der Impaktit-Schicht, ärs ausstarben. Andere Wissenschaftler sie hätten dort Foraminiferen aus der
die sich unmittelbar nach dem Einschlag halten die Kalkstrukturen dagegen für Endphase der Kreidezeit nachgewiesen.
abgelagert hat, Kalkstrukturen (farbig) bloße Dolomitkristalle oder glauben, Der Impakt, der Chicxulub erzeugte,
gefunden, die den Schalen mehrerer Fo- dass sie durch Erosion und erneute Ab- könne somit gar nicht derjenige gewesen
raminiferen-Arten aus der Kreidezeit äh- lagerung nachträglich in jüngere Sedi- sein, der die Kreidezeit mit einem Mas-
neln. Sie schließen daraus, dass entwe- mentschichten gelangt sind. sensterben abrupt beendete. Nach ihren
Schätzungen müsste er 300000 Jahre
früher stattgefunden haben. Der Krater
r ihren Untersuchungen an verschiedens- mit als erwiesen an, dass alles Mögliche – für den verheerenden Einschlag an der
ten Punkten der Erde schwanden die Klimaänderungen, Meeresspiegelschwan- Kreide-Tertiär-Grenze bleibe somit noch
Plankton-Foraminiferen der späten Krei- kungen, Sauerstoffmangel in den Ozea- zu finden.
dezeit stufenweise: Nur rund die Hälfte nen und Vulkanismus – zum allmählichen Die Kollegen im Saal nahmen die
der Arten starb an oder wenigstens in der Aussterben der kreidezeitlichen Plank- Botschaft skeptisch bis frostig auf. Der
Nähe der Grenze zum Tertiär aus, ein ton-Foraminiferen geführt habe. Einem ewige Gegenspieler Jan Smit war nicht
Sechstel ging schon früher zu Grunde, Impakt schrieb sie nur vergleichsweise anwesend, aber andere Diskussionsred-
ein Drittel überlebte bis in die Erdneu- geringe Bedeutung zu, und das auch nur ner machten eine Verwechslung mit Do-
zeit hinein. in niederen Breiten. lomitkristallen geltend. Smit schloss sich
Um die Unstimmigkeit aufzuklären, dieser Auffassung später an und unter-
wurde seinerzeit ein »Blindversuch« aus- Dolomitkristalle oder Kalkpanzer mauerte sie in etlichen Internet-Diskus-
gerichtet, bei dem vier andere Mikro- Bei genauem Hinsehen verdeutlichte der sionsrunden, größtenteils mit Gerta Kel-
paläontologen einschlägige Proben auf Blindversuch von El Kef aber vor allem ler allein. Selbst wenn in dem kritischen
Plankton-Foraminiferen untersuchten. die Schwierigkeiten, selbst bei den in Abschnitt Kreide-Foraminiferen gefun-
Jeder wusste zwar, dass das Material von Meeressedimenten reichlich vorhande- den würden, erklärte er, wären sie auf-
einem klassischen Profil bei El Kef in Tu- nen Foraminiferen zu eindeutigen Er- gearbeitet – nichts Spektakuläres also.
nesien stammte, das die Internationale gebnissen zu kommen. Die Urteile der Dagegen bietet Gerta Keller mancherlei
Kommission für Stratigrafie zu einem Experten wichen erheblich voneinander Argumente auf, die nach ihrem Dafür-
»Stratotyp« erklärt hatte: einem Standard ab. Nicht einmal in der Abgrenzung der halten eine Wiederaufarbeitung aus-
in der Abfolge und der Beschaffenheit einzelnen Arten waren die vier sich einig. schließen. Beide Kontrahenten schenken
der Schichten. Die vier Experten erhiel- Außerdem erwiesen sich die Proben im sich nichts und unterstellen einander ei-
ten aber keine Auskunft darüber, wel- Nachhinein als zu klein – wären sie grö- nen Mangel an Einsicht.
chen Schichten ihre Proben jeweils ent- ßer gewesen, hätte man wohl festgestellt, Die These, dass der Chicxulub-Ein-
nommen waren. dass mehr Foraminiferen erst an der schlag dem Ende der Dinosaurier 300000
Die Ergebnisse wurden 1994 bekannt Grenze ihr Schicksal ereilte. Überdies Jahre vorausgegangen sei, hatten Keller
gegeben und bestätigten auf den ersten wurde der Signor-Lipps-Effekt noch und ihre Mitstreiter allerdings schon vor
Anschein, was Gerta Keller gefunden hat- nicht beachtet. einigen Jahren aufgestellt. Damals stütz-
te: kein schlagartiges Aussterben, sondern Auch Gerta Keller spricht inzwischen ten sie sich auf Untersuchungen von
ein graduelles. Die Forscherin sah es da- vom »Aussterben aller tropischen und Glaskügelchen, die bei starken Einschlä-

68 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
gen gebildet werden, wenn ausgeschleu- sie auch aus der Umgebung des Kraters weltweite Spuren zu hinterlassen. Aber
derte winzige Tröpfchen geschmolzenen bekannt sind. Um diese wenig gestörten solche Zeugnisse wurden unterhalb des
Gesteins in der Atmosphäre erstarren. Schichten entspann sich die Auseinan- Grenztons bisher nirgends gefunden –
Diese sinken nach oft Tausende von Kilo- dersetzung. weder eine iridiumreiche Schicht noch
meter weitem Flug zur Erde. Keller, Stin- Bei einem Einschlag bohrt sich das geschockte Quarze, Stishovit oder ni-
nesbeck und Adatte haben – ebenso wie kosmische Geschoss innerhalb von Se- ckelreiche Spinelle. Warum nicht?
Smit – solche »Mikrotektite« in weitem kunden in die Erde und erzeugt zunächst
Umkreis des Chicxulub-Kraters unter- ein schmales Loch, dessen Tiefe bei Kosmische Bomben im Doppelpack?
sucht. Vielerorts wurden mehrere Lagen Chicxulub auf dreißig Kilometer ge- Außerdem rechnen Experten nur einmal
gefunden, wobei Einigkeit darüber schätzt wird. Während der Auswurf von alle 100 Millionen Jahre mit einer ex-
herrscht, dass die oberen Schichten je- verdampftem, geschmolzenem und zer- trem heftigen kosmischen Kollision wie
weils anderswo abgetragen und unter brochenem Gestein beginnt, federt der am Ende der Kreidezeit. Sollte es also in-
Wasser aufs Neue abgelagert, also wieder- Boden zurück. Später rutschen von den nerhalb von nur 300000 Jahren – nach
aufgearbeitet worden sind. Seiten her große Schollen in den primä- geologischen Maßstäben ein Augenblick
Kein Konsens besteht dagegen bei ei- ren Krater und erweitern ihn, wobei – gleich zwei solche Katastrophen gege-
ner speziellen Fundstätte im Nordosten mehrere konzentrische Ringstrukturen ben haben, bei denen jeweils schlagartig
Mexikos. Dort gibt es Mikrotektit-Lagen entstehen. Die auf dem Kongress in die Energie von Millionen Wasserstoff-
in Sedimenten aus der letzten Phase der Nördlingen umstrittene Frage: Gehören bomben freigesetzt wurde? Die Wahr-
Kreidezeit. Demnach muss der Chicxu- die Kreide-Sedimente auf den untersten scheinlichkeit dafür ist sehr gering.
lub-Impakt, von dem sie stammen, 615 Metern der Bohrung zu einer abge- Man darf gespannt sein, wie die De-
schon vor der Wende zum Tertiär statt- rutschten Scholle? batte ausgeht. Bisher scheinen die Argu-
gefunden haben – so der Schluss, den Der Impakt-Experte Dieter Stöffler mente der Dissidenten allerdings nicht
Frau Keller und ihre Mitarbeiter seiner- vom Museum für Naturkunde in Berlin überzeugend genug, um sich gegen die
zeit zogen. Smit liefert jedoch eine ande- räumt ein, dass er sich den Untergrund Belege der Gegenseite zu behaupten. Die
re Erklärung dafür, wie die Mikrotektite von Chicxulub stärker mitgenommen Chancen auf einen Sieg der Abweichler
in die älteren Kreideablagerungen ge- vorgestellt hatte. Doch ihm bereiten die stehen also eher schlecht. Doch in der
langt sind. Seiner Ansicht nach hat der vorgefundenen Verhältnisse kein Kopf- Wissenschaft hat jeder die Chance, seine
Einschlag gewaltige Tsunamis und un- zerbrechen. Sein Mitarbeiter Thomas Sache zu vertreten, und immer wieder
termeerische Rutschungen ausgelöst und Kenkmann hat anhand der Analyse seis- sind Ideen von Außenseitern zu Lehr-
dadurch die geologischen Verhältnisse mischer Daten in Verbindung mit dem meinungen geworden. Dabei zählen im
weithin durcheinander gebracht. Bohrkern festgestellt, dass es sich um gelehrten Diskurs letztlich nur die stich-
mehrere gegeneinander verstellte »Mega- haltigeren Argumente. Keine Rolle spielt
Debatte um die Kratergröße blöcke« handelt. dagegen die Resonanz einer Hypothese
Auch die Ergebnisse der Bohrung selbst, Anders Dissident Stinnesbeck, der in in der breiteren Öffentlichkeit. Hier ha-
die etwa sechzig Kilometer vom Zen- Nördlingen auch im Namen von Keller ben Gerta Keller und ihre Mitstreiter ei-
trum des Kraters entfernt abgeteuft wur- und Adatte sprach. Seiner Ansicht nach nige Publizität erlangt. Doch das erklärt
de, deuten Keller und Kollegen völlig ist das Kreide-Gestein in sechzig Kilo- sich wohl vor allem mit der Neigung der
anders als das Gros der Wissenschaftler. meter Entfernung vom Kraterzentrum Medien, sich auf die Seite vermeintlicher
Der Bohrmeißel durchschnitt zunächst gar nicht gerutscht, sondern unberührt Kämpfer gegen etablierte Meinungen zu
einen 795 Meter mächtigen Block aus vom Impakt an Ort und Stelle geblie- schlagen. l
Sedimenten, die sich in den vergangenen ben. Wenn das stimmt, kann der Krater
65 Millionen Jahren über den Krater ge- aber maximal 120 Kilometer weit sein. Erwin Lausch ist promovierter
legt haben. Darunter folgt die eigentlich Gegen diese Annahme sprechen aller- Biologe und freier Wissen-
interessante Schicht: eine hundert Meter dings die Ergebnisse von seismologi-
A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
schaftsjournalist mit Schwer-
dicke Lage aus geschmolzenem und schen Untersuchungen und Schwere- punkt auf den Geowissenschaf-
dann zu Glas erstarrtem Gestein, durch- messungen. In einer neuen Veröffentli- ten. Er lebt in Ahrensburg bei
Hamburg.
setzt mit nicht oder nur teilweise ge- chung (Proceedings of the National
schmolzenen Trümmern. Dieser »Impak- Academy of Science of the USA, 16.3. Initial results of the Chicxulub Scientific Drilling
Project (CSDP). Special edition of Meteoritics &
tit« entstand aus der zentralen Glutwol- 2004, S. 3753) geben Gerta Keller und
Planetary Science, Bd. 39, Juni/Juli 2004
ke, die nach dem Einschlag in die ihre Kollegen die Kratergröße denn auch
Atmosphäre aufstieg und dann in sich mit einem etwas höheren Wert von 145 Chicxulub impact predates the K-T boundary mass
extinction. Von G. Keller et al. in: Proceedings of
zusammenbrach. Das glühend heiße Kilometern an. the National Academy of Sciences of the USA, Bd.
Auswurfmaterial stürzte zur Erde zurück Von der dadurch bewirkten Verwir- 101, S. 3753; 16.3. 2004
und bedeckte den Krater und seine Um- rung abgesehen, werfen die Ansichten
The global stratigraphy of the Cretaceous Tertia-
gebung. der Dissidentenfraktion zwei grundle- ry boundary impact ejecta. Von J. Smit in: Annu-
Unter dem Impaktit stießen die For- gende Fragen auf. Einmal angenommen, al Review of Earth and Planetary Sciences, Bd. 27,
scher dann bis zum Abbruch der Boh- der Chicxulub-Einschlag war nicht der- S. 75; 1999
rung in 1511 Meter Tiefe auf Sedimente jenige am Übergang zwischen Kreide Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei www.
aus der Kreidezeit – Kalkstein, Dolomit und Tertiär. Auch in diesem Fall sollte er spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
und Anhydrit (wasserfreier Gips) –, wie trotzdem heftig genug gewesen sein, um

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 69
MATHEMATIKGESCHICHTE z
Emmy Noether

»Meine Herren, eine Universität


ist doch keine Badeanstalt!«
Die bedeutendste Mathematikerin des 20. Jahr-
hunderts überwand die Hindernisse, die ihr wegen ihres
Geschlechts und ihrer jüdischen Abstammung in
den Weg gelegt wurden. Als erste Frau in Deutschland
begründete sie eine wissenschaftliche Schule.

Von Renate Tobies zahlreiche Schüler. Durch die National- Hier heiratete er 1880 die ebenfalls
sozialisten aus dem Amt getrieben, emi- aus vermögenden jüdischen Verhältnis-

Z
u den grundlegenden Prinzipi- grierte sie 1933 in die USA. Ihr plötzli- sen stammende Ida Kaufmann (1852 –
en der Physik zählen die Er- cher Tod zwei Jahre später beendete eine 1915). Der Wohlstand der Familie er-
haltungssätze für Energie, Im- einzigartige wissenschaftliche Karriere. laubte es, auch der am 23. März 1882
puls und Drehimpuls. Eine Aus ärmlichen Verhältnissen hat geborenen Tochter Amalie Emmy ein
weit reichende Theorie, die diese Sätze Emmy Noether sich nicht emporarbei- Studium zu finanzieren und den weite-
mit fundamentalen Eigenschaften der ten müssen. Ihr Vater Max Noether ren Weg zu ebnen.
Raumzeit verbindet, verdanken wir der (1844 – 1921) stammte aus einer gut si- Emmy trat als Erstgeborene in die
Mathematikerin Emmy Noether (1882 – tuierten jüdischen Familie von Eisen- Fußstapfen ihres Vaters; ihr Bruder Al-
1935). Heute gehören die »Noether- großhändlern. Mit 14 Jahren an Kinder- fred (1883 – 1918) studierte Chemie und
Theoreme« zum Grundbestand der ma- lähmung erkrankt, hatte er die wissen- promovierte 1910 in Erlangen. Ihr jüngs-
thematischen Physik. schaftliche Laufbahn einschlagen dürfen. ter Bruder Gustav Robert (1889 – 1928)
In merkwürdigem Kontrast zur Mo- war geistig behindert. Den längsten ge-
dernität ihrer Leistungen steht ihre Le- Emmy, die höhere Tochter meinsamen Weg ging Emmy mit Bruder
bensgeschichte: Sie hatte sich als Frau Max Noethers akademischer Lehrer Al- Fritz (1884 – 1941), dessen Begabung in
gegen Widerstände einer Männergesell- fred Clebsch (1839 – 1872) gilt als Be- der angewandten Mathematik lag. Er
schaft durchzusetzen, die aus einer fer- gründer der algebraischen Geometrie promovierte 1909 an der Universität
nen Vergangenheit zu stammen schei- und erzielte herausragende Leistungen München bei Aurel Voß (1845 – 1931),
nen, obgleich sie erst hundert Jahre zu- auf den Gebieten Invariantentheorie und ebenfalls einem Clebsch-Schüler, »Über
rückliegen. Eine weniger geniale Frau Mechanik. Zu Clebschs bedeutenden rollende Bewegung einer Kugel auf Rota-
wäre, zumindest in Deutschland, an die- Schülern zählen Felix Klein (1849 – tionsflächen«. Im Vergleich zur Schwes-
sen Widerständen vermutlich geschei- 1925) und Paul Gordan (1837 – 1912); ter, die vor ihm promovierte, machte er –
tert; die Mathematikerinnen, die es vor noch heute spielen die Clebsch-Gordan- als Mann – schneller Karriere: 1911 an
ihr zu einiger Bedeutung brachten, Koeffizienten in der mathematischen der Technischen Hochschule Karlsruhe
stammten durchweg aus dem Ausland Physik eine bedeutende Rolle. habilitiert, wurde er dort 1918 außeror-
(Kasten S. 75). Klein und Gordan setzten durch, dentlicher Professor und 1921 ordentli-
Nach einem durch manche Hin- dass Max Noether 1875 zum außeror- cher Professor an der Technischen Hoch-
dernisse verzögerten Studium fand dentlichen Professor für Mathematik an schule Breslau (heute Wrócław); vor den
Emmy Noether zunächst keine Anstel- die Universität Erlangen berufen wurde Nazis floh er in die Sowjetunion und fiel
lung und arbeitete ohne Bezahlung als – was wegen der allgemeinen Widerstän- dort, zu Unrecht der Spionage verdäch-
Wissenschaftlerin. Erst nach dem Ende de gegen jüdische Wissenschaftler im 19. tigt, dem Stalin’schen Terror zum Opfer.
des Kaiserreichs kam sie zu offiziellen Jahrhundert nicht einfach war. Max Emmy Noether beschritt zunächst
Würden, wenn auch nicht zu großem Noether erhielt auch keinen weiteren ganz den Weg einer »höheren Tochter«.
Reichtum. Sie wirkte als ungeheuer pro- Ruf mehr und wurde erst 1888 in Erlan- Von 1889 bis 1897 besuchte sie die
duktive Mathematikerin und inspirierte gen zum ordentlichen Professor ernannt. Städtische Höhere Töchterschule Erlan-

70 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
l
Im Alter von 33 Jahren war Emmy
Noether bereits eine renommierte
Mathematikerin. Aber eine angemessene
Stelle bekam sie nicht, und nach Göttin-
gen, ins Zentrum der Mathematik, wurde
sie erst geholt, als ihre männlichen Kolle-
gen im Ersten Weltkrieg dienten.

Stelle die neue Freiheit – unter ihren


6851 männlichen Kommilitonen an den
damaligen drei bayerischen Landesuni-
versitäten München, Würzburg und Er-
langen eine verschwindende Minderheit.
In Erlangen, der kleinsten Universität,

NIEDERSÄCHSISCHE STAATS- UND UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK GÖTTINGEN; MIT FREUNDL. GENEHMIGUNG VON RENATE TOBIES
war unter 982 Immatrikulierten nur eine
Frau. Emmy Noether war es nicht; sie
wandte sich nach Göttingen. Dort konn-
te sie sich zwar nicht offiziell als Studen-
tin einschreiben – diese Möglichkeit er-
öffnete Preußen den Frauen als vorletztes
deutsches Land erst 1908; aber in Göt-
tingen war das Lehrangebot breiter, und
sie war nicht die einzige Frau in den Vor-
lesungen.

Göttingen, das internationale


Zentrum der Mathematik
Felix Klein, der erwähnte Studienfreund
und Kollege ihres Vaters, und David
Hilbert (1862 – 1943) hatten um 1900 in
Göttingen das herausragende internatio-
nale Zentrum der Mathematik geschaf-
fen; mit den »Mathematischen Annalen«
gaben sie eine der wichtigsten Zeitschrif-
ten heraus. Hilbert zählte zu dieser Zeit
zu den bedeutendsten Mathematikern
der Welt, während Klein – 51 Jahre alt –
gens. Nach weiterer Schulbildung in um das Abitur an einem Knabengymna- sich stärker um die Entwicklung der an-
Stuttgart absolvierte sie 1900 in Ansbach sium ablegen zu können. Als Externe ab- gewandten Mathematik und des mathe-
eine Prüfung für Lehrerinnen der franzö- solvierte sie am 14. Juli 1903 die Reife- matischen Unterrichts, einschließlich bes-
sischen und der englischen Sprache mit prüfung am königlichen Realgymnasium serer Bedingungen für den Unterricht an
sehr guten Noten. Nun ging sie jedoch in Nürnberg. Während ihre Brüder ei- den höheren Mädchenschulen, kümmer-
nicht den üblichen Weg als Erzieherin. nen zügigen Weg zum Abitur am Erlan- te. Beide hatten in Göttingen seit den
Die bayerische Staatsregierung hatte ger Knabengymnasium nahmen (Alfred 1890er Jahren das Frauenstudium geför-
am 28. März 1900, gerade rechtzeitig, 1902, Fritz 1903), gab es damals keinen dert und bereits mehrere Mathematike-
verordnet, dass Lehrerinnen Vorlesungen Unterricht in Mathematik und Natur- rinnen zum Doktortitel geführt.
der geistes- und der naturwissenschaftli- wissenschaften an Mädchenschulen; die- Damit waren die Mathematiker all-
chen Sektion der Philosophischen Fakul- ser wurde in Preußen als erstem deut- gemein und die Göttinger Mathematiker
täten besuchen durften – soweit die je- schem Land 1908 und in Bayern erst insbesondere ihren Landsleuten um Jahr-
weiligen Professoren keine Einwände er- 1910 eingeführt. zehnte voraus. In Deutschland herrschte
hoben. So konnte sich Emmy Noether Immerhin hätte Emmy Noether un- lange Zeit die Ansicht, dass Mathematik
an der Universität Erlangen einschrei- mittelbar nach dem Abitur ein Studium nichts für Frauen sei. Der Neurologe
ben. Die Zahl der Hörerinnen blieb zu- in ihrer Heimatstadt aufnehmen kön- Paul Möbius (1853 – 1907), heute vor
nächst gering; im Wintersemester 1902/ nen, denn just im September desselben allem als Verfasser des Buchs »Über den
03 waren es an der ganzen Universität Jahres verfügte Bayern als zweites deut- physiologischen Schwachsinn des Wei-
zehn, im darauf folgenden Sommerse- sches Land nach Baden (1900) die volle bes« berüchtigt, drückte das in seinem
mester nur drei. Emmy Noether eignete Immatrikulation für Frauen. Dreißig viel verlegten Buch »Über die Anlage zur
sich hier die notwendigen Kenntnisse an, Studienanfängerinnen nutzten auf der Mathematik« (1900) wie folgt aus: »Man r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 71
MATHEMATIKGESCHICHTE

Weib wider die Natur sei, im gewissen


z
r kann also sagen, dass ein mathematisches liche Doktorprüfung (Hauptfach Ma-
thematik, Nebenfächer Physik und ro-
Sinne ein Zwitter. Gelehrte und künstle- manische Philologie) absolvierte Emmy
rische Frauen sind Ergebnisse der Entar- Noether am Freitag, den 13. Dezember
tung. Nur durch Abweichung von der 1907, mit der Bestnote »summa cum
Art, durch krankhafte Veränderung, laude«. Damit war sie die zweite in
kann das Weib andere Talente, als die Deutschland geborene Mathematikerin
zur Geliebten und Mutter befähigenden, – nach einer Frau in Heidelberg –, die
erwerben.« an einer deutschen Universität promo-
vierte; in Göttingen hatten vor Noether
Promotion beim bereits sieben Ausländerinnen (vier aus
»König der Invariantentheorie« Russland, zwei aus den USA und eine
Nach einem Semester Auszeit wegen Engländerin) die Hürde genommen.

WIE S. 71
Krankheit setzte Emmy Noether im Nach der Promotion arbeitete Emmy
Herbst 1904 ihre Studien in Erlangen Noether zunächst einige Jahre ohne An-
fort und beendete diese 1908 formal mit stellung in Erlangen. Maßgeblich ange-
der Verteidigung ihrer mathematischen regt durch den Mathematiker Ernst Fi-
Dissertation »Über die Bildung des For- scher (1875 – 1954), knüpfte sie nach ih- Während sie 1909 noch ein Ergebnis aus
mensystems der ternären biquadrati- rer Dissertation an Ergebnisse Hilberts der formalen Invariantentheorie präsen-
schen Form«. Es handelte sich um ein an und wurde so schließlich wegberei- tierte, ließ vier Jahre später ihr nächster
Thema aus der algebraischen Invarian- tend für die theoretische Physik und die Vortrag »Über rationale Funktionenkör-
tentheorie (Kasten unten). moderne Algebra. per« erkennen, dass sie inzwischen in die
Diese Theorie wurde Ende des 19. Hilbert hatte bereits 1890 ein klassi- maßgeblich von Hilbert initiierte abs-
Jahrhunderts durch viele Mathematiker sches Problem der Invariantentheorie trakte Algebra in arithmetischer Auffas-
herausgebildet und zu einer ersten Blüte mit abstrakten Methoden gelöst. Zehn sung eingedrungen war. Dieser Aufsatz
gebracht. Emmy Noethers Doktorvater Jahre später zählte er dieses Gebiet zu erschien als ihr erster – von vielen weite-
Paul Gordan galt als »König der Invari- den Feldern der Mathematik, auf denen ren – in den »Mathematischen Annalen«
antentheorie«. Er war an der Entwick- er bedeutende Fortschritte erwartete. und wurde 1915 von Hilbert als Habili-
lung einer symbolischen Methode betei- In seiner berühmten und äußerst ein- tationsschrift empfohlen.
ligt, mit der man Invarianten wirklich flussreichen Liste von 23 bis dahin unge-
ausrechnen konnte, was Emmy Noether lösten Problemen, die er auf dem II. Drei Anläufe zur Habilitation
in ihrer Dissertation auch tat. Internationalen Mathematiker–Kongress Auf die Dauer wäre die Erlanger mathe-
Ihr Werk erschien in einer mathema- 1900 in Paris vortrug, betraf Nummer matische Fakultät für ihre weitere Lauf-
tischen Zeitschrift – sehr ungewöhnlich 14 eine Frage aus der Invariantentheorie. bahn nicht hilfreich gewesen. Sie war
in der damaligen Zeit und zweifellos Ihr wandte sich nun Emmy Noether zu. schlicht zu klein: Zwischen 1907 und
nicht auf väterliche Protektion zurückzu- Durch ihren Vater in die Gemein- 1945 promovierten dort nur 26 Perso-
führen, denn die Zeitschrift war das schaft der Mathematiker eingeführt, nen in Mathematik, darunter eine weite-
»Journal für die reine und angewandte fand sie mit ihren Arbeiten bald Auf- re Frau (1936), in Göttingen dagegen im
Mathematik (Crelle’s Journal)« und nicht merksamkeit. Die Liste der Vortragen- selben Zeitraum ungefähr 160. Für
etwa die durch Clebsch begründeten den auf den jährlichen Tagungen der Emmy Noethers Weg wurde entschei-
»Mathematischen Annalen«, deren Re- Deutschen Mathematiker-Vereinigung dend, dass sie in einem Zentrum höchs-
daktion ihr Vater angehörte. Die münd- (DMV) legt davon beredtes Zeugnis ab. ter Produktivität Fuß fassen konnte.
Zum Sommersemester 1915 kam sie
Algebraische Invarianten auf Wunsch Kleins und Hilberts – als
Ersatz für die im Ersten Weltkrieg die-
Ein Beispiel für eine algebraische Invariante zusammensetzen. Hilberts »Endlichkeits- nenden Privatdozenten – nach Göttin-
ist das Polynom x1x2x3 + x1x2x4 + x1x3x4 + satz« von 1890 ist ein sehr weit reichen- gen. Die dortigen Mathematiker bean-
x2x3x4, denn es ist invariant (bleibt unver- des Resultat über eine derartige Zusam- tragten die Habilitation für sie; und der
ändert) unter jeder Vertauschung der Vari- mensetzbarkeit. bereits emeritierte Klein gab in einem
ablen x1, x2, x3 und x4. Allgemein ist eine Algebraische Invarianten sind bis heu- Brief an das preußische Kultusminis-
algebraische Invariante ein Polynom, das te Gegenstand intensiver Forschung. terium die folgende Einschätzung ab:
heißt, eine Summe von Ausdrücken der Wenn ein Problem – das durchaus den »… dass Frl. Noether den Anforderun-
Form Konstante mal Produkt von Poten- Materialwissenschaften oder der Bildver- gen, die wir bei einer Habilitation an
zen der Variablen, das unter gewissen arbeitung entstammen kann – durch Po- den Bewerber zu stellen pflegten, durch-
Transformationen seiner Variablen invari- lynome ausdrückbar ist, dann kann man aus genügt, ja die mittlere Qualität der
ant ist. gewisse Symmetrieeigenschaften des Kandidaten, die wir in den letzten Jah-
Es gibt Beziehungen unter den alge- Problems mit Hilfe algebraischer Invari- ren zugelassen haben, übertrifft.«
braischen Invarianten; so kann man anten ausdrücken und dadurch das Pro- Das Vorhaben schlug zunächst fehl,
komplizierte Invarianten aus einfachen blem erheblich vereinfachen. obgleich Emmy Noether auch die ande-
ren Göttinger Mathematiker schnell von

72 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
MIT FREUNDL. GENEHMIGUNG VON RENATE TOBIES
GÖTTINGER MATHEMATISCHES INSTITUT;
DEUTSCHES MUSEUM MÜNCHEN

WIE S. 71
o
ihrer Leistungsfähigkeit überzeugt hatte. den der Göttinger Physiker Eduard Rie- Der echte und die wissenschaftli-
Preußen hatte nämlich durch Erlass vom cke (1845 – 1915) bereits 1911 formu- chen Väter: Max Noether, Paul Gor-
29. Mai 1908 den Frauen die Habilitati- lierte: »Die mathematiker sind von der dan, Felix Klein (Gemälde von Max Lie-
on untersagt, und zwar kurioserweise in- eleganz der rechnungsregeln hypnoti- bermann, 1912) und David Hilbert
dem es in einem ungewöhnlich demo- siert, die physiker kritisch.« Dass der
kratischen Akt dem Willen seiner Unter- Raum gekrümmt sein könnte, konnte
tanen folgte. Nachdem 1907 die Bonner die Mathematiker, die durch die Schule
Biologin Maria Gräfin von Linden der nicht-euklidischen Geometrie gegan- 1919 an Ministerialdirektor Naumann
(1869 – 1936) die Aufnahme in den il- gen waren, nicht ernstlich schrecken. Sie in Berlin: »Bei den heutigen Zeitumstän-
lustren Kreis der Lehrbefähigten bean- trugen, wie es Klein ausdrückte, »die den kann es in der Tat nicht fehlen, dass
tragt hatte, holte das Kultusministerium neuen Gedankenreihen vermöge ihrer die jetzige Stellung von Frl. Noether von
in einer Rundfrage die Meinung der invariantentheoretischen (oder geometri- vielen Seiten als eine unbillige Einen-
Universitätsprofessoren zur Frage der schen) Untersuchungen, wenn auch in gung empfunden wird, zumal die wis-
Frauen-Habilitation ein; die Mehrheit anderer Form, ohne es zu wissen, bereits senschaftliche Leistung von Frl. Noether
sprach sich dagegen aus. fertig in sich herum«. alle von uns gehegte Voraussicht weit
Die Göttinger Mathematiker, die Hilbert hielt im Sommersemester übersteigt. Sie hat im letzten Jahre eine
schon damals dafür gestimmt hatten, er- 1916 eine Vorlesung über Grundlagen Reihe theoretischer Untersuchungen ab-
reichten 1915 ebenso wie bei einem der Physik; Klein beschäftigte sich ab geschlossen, die oberhalb aller im glei-
zweiten Anlauf 1917 keine Ausnahme diesem Zeitpunkt ebenfalls intensiver chen Zeitraum von Anderen hierorts rea-
für Emmy Noether. Aus den heftig ge- damit, begann ab März 1917 eine Kor- lisierten Leistungen liegen (die Arbeiten
führten Debatten innerhalb der eigenen respondenz mit Einstein und gestaltete der Ordinarien mit eingeschlossen).«
Universität ist der Ausspruch Hilberts Vorlesungen und Vortragsreihen zur All-
überliefert: »Aber meine Herren, wir gemeinen Relativitätstheorie. Sowohl Die Noether-Theoreme
sind doch in einer Universität und nicht Hilbert als auch Klein bedankten sich in Am 8. Mai 1919 verfügte das Ministe-
in einer Badeanstalt!« (In einer Badean- ihren entsprechenden Publikationen bei rium für Wissenschaft, Kunst und Volks-
stalt waren damals Frauen und Männer Emmy Noether und betonten, dass sie bildung, wie es jetzt während der Wei-
in der Regel noch getrennt.) Immerhin ohne ihre Hilfe nicht hätten in den Ge- marer Republik hieß, dass es keine Ein-
konnte Hilbert, als er 1917 einen Ruf genstand eindringen können. wände gegen die Habilitation Emmy
nach Berlin hatte, in den Bleibeverhand- Aus dieser engen Zusammenarbeit Noethers erhebe. Die erwähnte Arbeit
lungen durchsetzen, dass er Vorlesungen resultierte Noethers Arbeit »Invariante von 1918, in der sie die berühmten
»unter Mitwirkung von Frl. Dr. Noe- Variationsprobleme«, die Felix Klein am Noether-Theoreme formulierte, wurde
ther« ankündigen durfte. 26. Juli 1918 in der Sitzung der Gesell- als Habilitationsschrift anerkannt. Damit
Noch während des Ersten Weltkriegs schaft der Wissenschaften zu Göttingen erreichte sie endlich die lang erstrebte
begannen die Göttinger Mathematiker, (heute »Göttinger Akademie der Wissen- Lehrbefugnis – mit Ausnahmegenehmi-
Emmy Noether eingeschlossen, sich mit schaften«) vorlegte. Einstein schrieb dazu gung, denn das Gesetz, das die Zulas-
den neuesten Ideen der theoretischen am 27. Dezember 1918 an Felix Klein: sung nicht mehr an das Geschlecht der
Physik auseinander zu setzen. Im Jahre »Beim Empfang der neuen Arbeit von Person band, trat erst am 21. Februar
1915 hatte Albert Einstein (1879 – 1955) Frl. Noether empfand ich es wieder als 1920 in Kraft.
seine Allgemeine Relativitätstheorie ver- grosse Ungerechtigkeit, dass man ihr die Bereits kurz nach Erscheinen der Ar-
öffentlicht und damit bei seinen eigenen venia legendi vorenthält. Ich wäre sehr beit »Invariante Variationsprobleme«
Fachkollegen zunächst Skepsis, bei den dafür, dass wir beim Ministerium einen griffen Einstein, Hilbert, Hermann Weyl
Mathematikern jedoch große Begeiste- energischen Schritt unternähmen.« Da- (1885 – 1955) und andere ihre Ergebnis-
rung geerntet. Typisch ist der Ausspruch, raufhin wandte sich Klein am 5. Januar se auf. Diese sind zwar von mathemati- r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 73
MATHEMATIKGESCHICHTE z l
Vier bekannte Mathematikerinnen
beim Internationalen Mathemati-
kerkongress in Zürich 1932: Olga Taussky,
Frau Köthe, Emmy Noether und Ruth
Moufang

rianz des Wirkungsintegrals unter räum-


lichen Translationen folgt die Erhaltung
des Impulses.
Obgleich sich Frauen seit 1920 habi-
litieren durften, war ein Weg zur beam-
teten Professur nicht sofort in jedem
deutschen Land möglich. Die ersten
zwei ordentlichen Professorinnen wur-
den 1923 in Jena (Thüringen) und Stutt-
gart-Hohenheim (Württemberg) ernannt.
MIT FREUNDL. GENEHMIGUNG VON KARL SIGMUND, WIEN
Das preußische Abgeordnetenhaus je-
doch diskutierte noch 1928 darüber, ob
r scher Art, haben aber wesentliche Kon- rimentell und durch Hermann Helm- man Frauen nicht wenigstens ein verbe-
sequenzen für die theoretische Physik – holtz (1821 – 1894) mathematisch be- amtetes Extraordinariat zugestehen solle.
so sehr, dass sie mittlerweile zum gründet, war ein Markstein in der Ge- Eine Entscheidung fiel nicht, und dem-
Grundbestand dieser Wissenschaft zäh- schichte der Physik; weitere Erhaltungs- nach wurde Frauen in Preußen nur der
len. Als Folgerung aus ihren Sätzen sätze folgten. Titel, nicht aber das Amt zugestanden.
konnte Emmy Noether eine Vermutung r Variationsprinzipien wurden erstmals Emmy Noether wurde im April 1922
Hilberts über das Versagen »eigentlicher von Gottfried W. Leibniz (1646 – 1716) zum »nichtbeamteten außerordentlichen
Energiesätze« in der Allgemeinen Relati- und Pierre L. M. de Maupertuis (1698 – Professor« ernannt, nachdem sie seit
vitätstheorie beweisen (Kasten S. 76). 1759) aufgestellt. Die beiden Wissen- 1919 Lehrveranstaltungen unter ihrem
Die Noether-Theoreme prägen vor schaftler hatten bemerkt, dass beispiels- eigenen Namen angeboten hatte. In dem
allem deshalb die moderne Physik, weil weise ein Lichtstrahl von allen denkba- entsprechenden Antrag schrieb die Göt-
sie drei große Prinzipien miteinander ren Wegen von A nach B denjenigen mit tinger mathematisch-naturwissenschaft-
verbinden: Symmetrien, Erhaltungssätze dem kürzesten Zeitaufwand nimmt, und liche Fakultät, Emmy Noether übe »auf
und Variationsprinzipien. Jedes dieser zwar auch dann, wenn er unterwegs ge- die begabten Studenten eine starke wis-
Prinzipien hat eine eigene Geschichte. brochen wird, weil A in der Luft und B senschaftliche Anziehungskraft aus und
r Die physikalische Welt weist Symme- im Wasser liegt. Allgemein lässt sich häu- hat viele von ihnen wesentlich gefördert,
trien auf, das heißt, die grundlegenden fig eine gewisse Größe konstruieren, die darunter auch solche, die inzwischen Or-
Gesetze der Physik sind unter bestimm- beim tatsächlichen physikalischen Ablauf dinariate erreicht haben«.
ten Transformationen invariant (unver- – verglichen mit anderen denkbaren Ab- Ihr Professoren-Titel war nicht mit
ändert): Das physikalische Verhalten ei- läufen – minimal oder auch maximal, je- einem Gehalt verbunden. Sie lebte von
nes abgeschlossenen Systems ändert sich denfalls extremal wird. einer kleinen Erbschaft, die allerdings
nicht, wenn man das ganze System an ei- 1923 durch die Inflation vernichtet wur-
nen anderen Ort im Raum bringt oder Spartanisches Leben de. Seit dem Sommersemester 1923 er-
verdreht. Das Gleiche gilt für Zeitver- in der Mansardenwohnung hielt sie erstmals mit einem Lehrauftrag
schiebungen: Ein physikalischer Prozess, Dieses »Prinzip der kleinsten Wirkung« für Algebra – der für jedes Semester neu
zum Beispiel ein Experiment, läuft un- erhielt 1834 im Hamilton’schen Prinzip beantragt werden musste – geringe fi-
verändert ab, wenn man ihn zu einem seine heute noch gültige Form. Das Vari- nanzielle Einkünfte von der Universität.
späteren Zeitpunkt wiederholt. ationsprinzip reduziert die relevante phy- Dies reichte für ein spartanisches Leben
r Erhaltungssätze drücken aus, dass be- sikalische Information auf eine einzige in einer Mansardenwohnung. Emmy
stimmte Quantitäten wie Masse, Impuls, Funktion, das so genannte Wirkungs- Noether lebte für die Mathematik.
Energie und elektrische Ladung erhalten integral, und besagt, dass die Vorgänge Ihre Präsenz in nationalen und inter-
bleiben in dem Sinne, dass sie nicht in einem gewissen Sinne »mit kleinst- nationalen Gemeinschaften war Aus-
spurlos verschwinden, sondern höchs- möglichem Aufwand« ablaufen. druck ihrer Kreativität. In der Göttinger
tens ihre Erscheinungsform verändern. Emmy Noether bewies, dass aus ei- Mathematischen Gesellschaft gehörte sie
Erhaltungssätze sind ein entscheidendes ner kontinuierlichen Symmetrie auf dem zu den am häufigsten Vortragenden. Von
Hilfsmittel, sich in der physikalischen Weg über ein Variationsprinzip ein Er- 1920 bis 1925 hatte sie auch auf jeder
Welt zurechtzufinden. Der Energieerhal- haltungssatz folgt und umgekehrt. Insbe- Jahresversammlung der Deutschen Ma-
tungssatz, durch Julius Robert Mayer sondere folgt aus der Invarianz des Wir- thematiker-Vereinigung (DMV) etwas
(1814 – 1878) erstmals ausgesprochen, kungsintegrals unter Zeitverschiebung Neues zu berichten. Dass sie eingeladen
durch James P. Joule (1818 – 1889) expe- die Erhaltung der Energie; aus der Inva- wurde, 1922 für die DMV einen Bericht

74 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
über »Algebraische und Differentialinva- Bedeutsame Mathematikerinnen
rianten« zu erstatten, zeugt von besonde-
rer Anerkennung durch ihre Fachkolle- Hypatia Die berühmteste Wissenschaftlerin,
Aus urheber-
gen. Auf dem Internationalen Mathema- rechtlichen * um 370 Alexandria Philosophin und Mathematikerin der
tiker-Kongress 1928 in Bologna, an dem Gründen † 415 Alexandria Antike verfasste unter anderem Kom-
können wir
– erstmals nach dem Ersten Weltkrieg – Ihnen die Bilder mentare zur Kegelschnittlehre des
deutsche Mathematiker wieder teilneh- leider Apollonius, zur Arithmetik des Dio-
nicht online
men durften, präsentierte sie Ergebnisse zeigen.
phant sowie zum astronomischen
ihrer neuen Forschungsrichtung »Hyper- Hauptwerk des Ptolemaios.
komplexe Größen«; auf dem nächsten CORBIS-BETTMANN
derartigen Kongress 1932 in Zürich wur-
de sie bereits zu einem Hauptvortrag Gabrielle-Émilie le Sie ging als Geliebte von Voltaire in
Aus urheber-
darüber gebeten. Zahlreiche Einladun- rechtlichen Tonnelier de Breteuil, die Geschichte ein. Als ihre bedeu-
gen zu auswärtigen Vorträgen belegen, Gründen Marquise du Châtelet tendste Leistung gilt die Überset-
können wir
dass man ihre Leistungen und ihre Ihnen die Bilder * 17.12.1706 Paris zung und mathematische Kommen-
Fähigkeit zur Kooperation zu schätzen leider † 10.9.1749 Lunéville tierung von Newtons Hauptwerk
nicht online
wusste, desgleichen zwei Gastprofessuren zeigen.
»Philosophiae naturalis principia ma-
1928/29 in Moskau und 1930 eine Ver- BRIDGEMAN-GIRAUDON
thematica«.
tretung des bedeutenden Zahlentheoreti-
kers Carl Ludwig Siegel (1896 – 1981) in Maria Gaetana Agnesi Sie trieb die Differenzial- und Integral-
Frankfurt am Main. Aus urheber- * 16.5.1718 Mailand rechnung voran und lieferte originäre
rechtlichen
Von ihren vielen Kooperationspart- Gründen † 9.1.1799 Mailand Beiträge für die Untersuchung von
nern sei an dieser Stelle noch der in können wir Kurven. Papst Benedikt XIV. ernannte
Ihnen die Bilder
Wien geborene Emil Artin (1898 – 1962), leider sie 1750 zur Professorin in Bologna;
Professor in Hamburg, hervorgehoben. nicht online den ihr zugedachten Lehrstuhl be-
zeigen.
Die Kreise um Noether und Artin pfleg- setzte sie jedoch nicht.
ten einen engen wissenschaftlichen und CORBIS-BETTMANN
persönlichen Kontakt. Beide wurden
1932 gemeinsam mit dem Alfred-Acker- Aus urheber- Sophie Germain Die bedeutende Zahlentheoretikerin,
mann-Teubner-Gedächtnispreis ausge- rechtlichen * 1.4.1776 Paris Autodidaktin, korrespondierte unter
Gründen
zeichnet; damit bescheinigte ihnen die können wir † 27.6.1831 Paris Pseudonym mit Carl Friedrich Gauß,
Fachwelt, dass sie in den 1920er Jahren Ihnen die Bilder der ihre Leistungen schätzte und sie
leider
die bedeutendsten Leistungen auf den nicht online
für ein Ehrendiplom in Göttingen vor-
Gebieten Arithmetik und Algebra erzielt zeigen. schlug (Spektrum der Wissenschaft
hatten. BRIDGEMAN-GIRAUDON
2/1992, S. 80).

Noethers Schule der Aus urheber- Mary Somerville, geb. Mit Büchern zur Himmelsmechanik,
Modernen Algebra rechtlichen Fairfax, verwitwete Greig Physik und Geologie erreichte sie in-
Gründen
Emmy Noether verfolgte ein eigenes können wir * 26.12.1780 Jedburgh ternationale Anerkennung. Ihr wich-
fruchtbares Forschungsprogramm, an Ihnen die Bilder (Schottland) tigstes von vier Büchern war eine
leider
dem sich zahlreiche Fachkollegen betei- nicht online † 19.11.1872 Neapel Übersetzung von Laplaces »Mécha-
ligten. Der Niederländer Bartel L. van zeigen. nique céleste« (1831).
der Waerden (1903 – 1996), einer ihrer BRIDGEMAN-GIRAUDON
bedeutendsten Schüler, brachte 1930/31
zwei Bände »Moderne Algebra« heraus, Aus urheber- Ada Auguste Countess of Sie schrieb die ersten Programme für
die auf Vorlesungen von Noether und rechtlichen Lovelace, geb. Byron die von Charles Babbage (1792–
Gründen
Artin fußten und zahlreiche Auflagen er- können wir * 10.12.1815 London 1871) konzipierte »Analytical Engi-
lebten. Darin sowie in den durch Noe- Ihnen die Bilder † 27.11.1852 London ne«, mit der unter anderem lineare
leider
ther angeregten Bänden »Algebren« nicht online
Gleichungssysteme gelöst werden
(1935) von Max Deuring (1907 – 1984) zeigen. konnten (Spektrum der Wissenschaft
und »Idealtheorie« (1935) von Wolfgang BRIDGEMAN-GIRAUDON
4/1993, S. 78).
Krull (1899 – 1971) sind wichtige Ergeb-
nisse der Noether-Schule zusammenge- Sofja Kowalewskaja, geb. Als Schülerin des Berliner Mathema-
fasst. Korwin-Krukowskaja tikers Karl Weierstraß promovierte
Ihr als »begriffliche Mathematik« be- * 15.1.1850 Moskau sie 1874 in absentia an der Universi-
zeichnetes Herangehen war von Richard † 10.2.1891 Stockholm tät Göttingen; sie leistete bedeuten-
Dedekind (1831 – 1916) geprägt, der de Beiträge zur klassischen Mecha-
erstmals die Gemeinsamkeiten algebrai- nik, insbesondere zur Kreiseltheorie.
scher Strukturen verschiedener Herkunft AUS: ACTA MATHEMATICA 16, 1892/93
in Begriffe wie Ideal, Ring und Körper r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 75
MATHEMATIKGESCHICHTE

»Die Maxime, von der sich Emmy Noe-


z
r fasste. In den Worten van der Waerdens: greift darüber hinaus und durchsetzt ei-
gentlich die ganze Mathematik. Überall
radezu sprichwörtlich waren gewaltige
Schüsseln von Pudding, bei dessen Ver-
ther immer hat leiten lassen, könnte kann man ihr Prinzip anwenden, die zehr in ihrer Mansardenwohnung höchs-
man folgendermaßen formulieren: Alle einfachsten begrifflichen Grundlagen für te Mathematik getrieben wurde, ebenso
Beziehungen zwischen Zahlen, Funktio- eine vorliegende Theorie aufzusuchen wie bei ausgedehnten Wanderungen zu
nen und Operatoren werden erst dann und dadurch vereinheitlichend und sys- einem nahe gelegenen Gasthof sowie im
durchsichtig, verallgemeinerungsfähig tematisierend zu wirken …« Göttinger Stadtbad.
und wirklich fruchtbar, wenn sie von ih- Im Rahmen unseres jüngsten, von
ren besonderen Objekten losgelöst und Höchste Mathematik mit Pudding der Volkswagenstiftung geförderten For-
auf allgemeine begriffliche Zusammen- Emmy Noether hatte bereits vor 1919 schungsprojekts konnten wir drei bisher
hänge zurückgeführt werden.« Dissertationen angeregt; zwei ihrer Schü- unbekannte deutsche Promovenden aus-
Dieses Herangehen war nicht nur für ler promovierten schon in Erlangen. Seit findig machen. Insgesamt hat Emmy
die Algebra fruchtbar, sondern für zahl- 1925 durfte sie in Göttingen als Haupt- Noether mindestens 18 Personen, da-
reiche weitere Gebiete. Helmut Hasse referentin bei den Promotionsverfahren runter zwei Frauen, zur Doktorwürde
(1898 – 1979), der Emmy Noether als mitwirken und ihre Schüler selbst beim geführt, und das mit außergewöhnlich
seine »Lehrmeisterin« hinsichtlich »der Doktorexamen prüfen, was normaler- guten Ergebnissen: Fünfzehn von ihnen
begrifflichen Durchdringung und invari- weise ordentlichen Professoren vorbehal- erzielten eine der Bestnoten, »summa
anten Gestaltung algebraischer Sachver- ten war. Ihr Schülerkreis – die »Noether- cum laude« oder »magna cum laude«.
halte« bezeichnete, beschrieb bereits boys« – reichte bis nach Frankreich, Ja- Mehr als die Hälfte ihrer direkten Schü-
1929 den weit reichenden Einfluss der pan, in die Sowjetunion und die USA. ler schlug eine wissenschaftliche Karriere
modernen Algebra: »Wie schon ange- Ihre Schüler und Freunde rühmten ein und konnte damit eine Generation
deutet, ist die moderne algebraische Me- nicht nur die mathematische Förderung, von Noether-Enkeln heranziehen.
thode keineswegs auf den klassischen Be- die sie erfuhren, sondern auch ihre Güte Dass Emmy Noether ihre Enkel-Ge-
stand der Algebra beschränkt, sondern und ihre Gastfreundschaft. Berühmt, ge- neration selbst bewusst wahrnahm und

Symmetriegruppen und Erhaltungssätze


Eine Kugel ist symmetrisch bezüglich aller Eine solche unendlich-dimensionale
Drehungen um ihren Mittelpunkt, denn α Gruppe bilden die Eichtransformationen
sie geht aus jeder dieser Drehungen un- in der Quantentheorie. Für sie gilt ein
verändert (»invariant«) hervor. Alle Dre- weiteres Noether-Theorem, das etwas
hungen um diesen Punkt heißen daher anders zu formulieren und zu beweisen
Symmetrietransformationen der Kugel. ist. Es liefert zum Beispiel die Erhaltung
Es gibt unendlich viele von ihnen; jede der elektrischen Ladung, als Konsequenz
wird durch drei reelle Zahlen, die »Para- ψ der Eichinvarianz des Wirkungsintegrals
meter«, beschrieben: eine für den Dreh- der Elektrodynamik.
winkel und zwei für die Lage der Dreh- φ
achse (Bild). Der Unterschied zwischen endlich- und
Zusammen bilden diese Drehungen unendlich-dimensionalen Transformati-
eine Gruppe, denn jede von ihnen ist um- SPEKTRUM
DER WISSENSCHAFT
onsgruppen hat Konsequenzen für die
kehrbar, und zwei Drehungen hinterei- Physik. In der Allgemeinen Relativitäts-

o
nander ergeben wieder eine Drehung. Eine Drehung im Raum wird be- theorie gibt es zwar auch einen Energie-
Darüber hinaus ist diese Gruppe konti- schrieben durch den Drehwinkel α erhaltungssatz, aber keine lokalisierbare
nuierlich, das heißt, eine beliebig kleine sowie geografische Länge φ und Breite ψ Energie mehr. In klassischen Theorien
Veränderung der Parameter ergibt ein der Drehachse. gibt es die in einem Raumgebiet enthal-
neues, beliebig wenig unterschiedliches tene Energiemenge, die sich nur dadurch
Element der Gruppe. ändert, dass Energie über die Grenzen
Die Gruppe der Verschiebungen im des Gebiets in das Gebiet hinein- oder
Raum und in der Zeit ist ebenfalls konti- und lasse diese Transformation gegen aus ihm herausströmt. Daraus folgt un-
nuierlich; die Parameter sind die Kompo- die Identität streben. Aus den Ergebnis- mittelbar der Energieerhaltungssatz. Sol-
nenten des Verschiebungsvektors. sen kann man mit Hilfe der Analysis, che »eigentlichen« Erhaltungssätze gibt
Da es insbesondere beliebig kleine genauer: der Variationsrechnung, Schlüs- es in der Allgemeinen Relativitätstheorie
Verschiebungen und Drehungen gibt – se ziehen. Das ist die wesentliche Idee nicht mehr. Das Gravitationsfeld enthält
allgemeiner: Transformationen, die belie- zum Beweis der Noether-Theoreme. zwar Energie, aber man weiß nicht mehr
big wenig von der Identität abweichen –, wo. Dass dies auf die unendliche Dimen-
kann man in kontinuierlichen Gruppen Es gibt kontinuierliche Gruppen, die nicht sion der Transformationsgruppe zurück-
Differenzialrechnung betreiben: Man be- nur von endlich vielen Zahlen parametri- zuführen ist, hatte Hilbert vermutet und
trachte die Änderung einer physikali- siert werden, sondern in denen die Para- Emmy Noether in ihrer Arbeit »Invariante
schen Größe unter einer Transformation meter selbst Funktionen sein dürfen. Variationsprobleme« bewiesen.

76 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
sehr stolz darauf war, geht aus einem
Brief vom 5. März 1933 an einen ihrer
engsten Mitarbeiter, den Topologen Pa-
vel Sergejewitsch Alexandroff (1896 –
1982), hervor: »Ich freue mich sehr, dass
jetzt bei Euch im Institut so schön gear-
beitet wird; Du wirst Dir jetzt bald eine
jüngere topologische Generation heran-
ziehen, wo Pontrjagin und die übrigen
mir Bekannten schon Elternstelle vertre-
ten, du Dich also jugendlich Deiner En-
kel erfreust. (›Ich höre, Sie fühlen sich
Großmutter‹, sagte mir Fischer-Köln
einmal in Bezug auf F. K. Schmidt-Er-
langen).«
Wie viele weitere Wissenschaftler AUS BREWER/SMITH »EMMY NOETHER, A TRIBUTE TO HER LIFE AND WORK«, MIT FREUNDL. GENEHMIGUNG VON RENATE TOBIES
wurde auch Emmy Noether durch die

o
Nazis – nach dem »Gesetz zur Wieder- Emmy Noether (5. von rechts) wan- Der neue, erfolgreiche Start in den
herstellung des Berufsbeamtentums« vom dert 1932 mit Schülern und Kolle- USA fand ein jähes Ende, als Emmy
7. April 1933 – aus ihrer Position ge- gen zum Gasthof Vollbrecht. Der Mann Noether am 14. April 1935 plötzlich
drängt. Zwölf ihrer Schüler fanden sich mit dem Hut ist Hermann Weyl. und unerwartet an den Folgen einer
damals zusammen, um gegen ihre Ent- Unterleibsoperation verstarb. In kurzer
lassung zu protestieren, wobei sie unter Zeit hatte sie jedoch einen neuen Schü-
anderem hervorhoben: »Das Gebiet, das lerinnenkreis auf den Weg gebracht, »a
sie erforscht, die lebendigen Fragestel- Noether einen Vertrag über zwei Wo- new Noether family«, wie Grace Shover
lungen, die sie aufstellt, haben alle ihre chenstunden Vorlesung. Sie fuhr jeden Quinn formulierte, der ihre Methoden
Schüler mit Begeisterung und Leiden- Dienstag hin und lehrte das, was sie in den USA fortpflanzen konnte.
schaft für die Mathematik erfüllt.« montags zuvor ihren Schülerinnen in In seiner Gedenkrede am 5. Septem-
Bryn Mawr beigebracht hatte. Im letzten ber 1935 in Moskau bezeichnete Pavel
Jeden Dienstag zur Vorlesung erhaltenen Brief an Alexandroff schrieb S. Alexandroff Emmy Noether als »die
nach Princeton sie am 3. Mai 1934, »dass ich mich größte Mathematikerin, eine führende
Emmy Noether emigrierte in die USA. einstweilen für überhaupt, trotz viel Ver- Wissenschaftlerin, wunderbare Lehrerin
Auf Grund eines Stipendiums der Ro- lockendem, für Moskau und für die Al- und einen unvergesslichen Menschen«. l
ckefeller Foundation erhielt sie am be- gebraprofessur, noch nicht binden will.
rühmten Women’s College Bryn Mawr Bis Herbst 1935 bin ich ja überhaupt
eine befristete Position als Professorin. noch hier verpflichtet; und für später ha- Renate Tobies ist für Geschich-
In Göttingen hatte sie noch die drei- ben sie mir jetzt in Princeton wieder ge- te der Mathematik und Naturwis-
bändige Edition der Werke Dedekinds sagt, dass ich bleiben sollte. In welcher senschaften habilitiert und lehrte
in Leipzig, Kaiserslautern, Göttin-
abschließen und die Herausgabe der Form – ob weiter pendeln oder ganz
gen, Oldenburg, Linz und Braun-
Korrespondenz Dedekinds mit Georg dort – wissen sie wohl selbst noch nicht. schweig. Sie ist wissenschaft-

A U T O R I N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
Cantor (1845 – 1918) auf den Weg brin- Hier zu bleiben hat natürlich den gro- liche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Institut für
gen können. In den USA setzte sie ei- ßen Vorteil, dass man – trotz Dollar- Techno- und Wirtschaftsmathematik in Kaisers-
gene Forschungen fort – die allerdings devaluation – in alle Himmelsgegenden lautern und forscht hauptsächlich über die
Geschichte der Mathematik des 19. und 20. Jahr-
nicht mehr zur Publikation gelangten. reisen kann; vielleicht sind in dieser hunderts.
»Hier habe ich mir einiges Neue über ga- Hinsicht in Amerika meine Ansprüche
loissche Zahlkörper überlegt; es ist aber gestiegen!« Traumjob Mathematik! Berufswege von Frauen
und Männern in der Mathematik. Von Andrea
nicht ganz, was man sucht«, schrieb sie Um Emmy Noethers Schülerinnen- Abele, Helmut Neunzert und Renate Tobies. Birk-
am 19. März 1934 an Alexandroff. Sie Kreis zu fördern, war 1934 ein besonde- häuser, Basel 2004
hielt engen Briefkontakt mit ihren Schü- res »Emmy Noether Fellowship« einge-
Gesammelte Abhandlungen. Collected Papers.
lern und Kollegen in Deutschland und richtet worden. Erste und einzige Emp- Von Emmy Noether. Von Nathan Jacobson (Hg.).
in anderen Ländern, bemühte sich wei- fängerin dieses Stipendiums war Grace Springer, Berlin 1983
ter um Beiträge für die »Mathematischen Shover (verheiratete Quinn), die später
Emmy Noether. A tribute to her life and work. Von
Annalen«, nahm Einladungen zu wissen- Professorin für Mathematik und Statistik James W. Brewer und Martha K. Smith. Marcel
schaftlichen Vorträgen an und träumte an der American University in Washing- Dekker, New York 1981
von einer festen Position in Princeton ton wurde. Zum Kreis um Noether in
Emmy Noether. Von Auguste Dick. Birkhäuser, Ba-
(New Jersey). Bryn Mawr gehörten außerdem die be- sel 1970
Mit dem »Institute for Advanced reits promovierten Olga Taussky und
Weitere Literaturhinweise sowie Weblinks zu die-
Studies« der Princeton University – wo Marie Weiss sowie Ruth Stauffer (verhei- sem Thema finden Sie bei www.spektrum.de un-
Albert Einstein und Hermann Weyl un- ratete McKee), deren Dissertation Emmy ter »Inhaltsverzeichnis«.
tergekommen waren – hatte Emmy Noether anregte.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 77
SPEKTRUM-ESSAY

PHILOSOPHIE
z
Metamorphosen
der Gerechtigkeit
Schleier des Nichtwissens: Der Moralphilosoph
John Rawls widmete sein ganzes Werk dem Problem
der Gerechtigkeit.

Von Hubertus Breuer nisiert sein muss, um als »gerecht« zu gelten.


Das Stück liest sich wie eine geniale Rechtfer-

D
er Weg zu einer Nachkriegs- tigung liberaler Demokratie.
ordnung im Irak ist äußerst müh- Im Zentrum steht ein verblüffendes Ge-
sam. Schon die im März ver- dankenexperiment. Stellen wir uns einen Ur-
abschiedete Übergangsverfassung zustand vor, in dem die Vertreter aller sozialen
kam nur unter den größten Schwierigkeiten Gruppen einen Gesellschaftsvertrag aushan-
zu Stande; und das endgültige Gesetzeswerk deln. Nur wissen die Repräsentanten nicht,
steht immer noch in Frage. Zu unterschied- wen sie eigentlich vertreten – es könnte jede
Aus urheberrechtlichen Gründen lich sind die Interessen der beteiligten Grup- soziale Gruppe sein. Sie sollen also den Ku-
können wir Ihnen die Bilder leider pen: Die Vereinigten Staaten lehnen eine chen schneiden, ohne zu wissen, welches
nicht online zeigen. endgültige Verfassung ab, die den Islam zur Stück sie bekommen.
Staatsreligion und zur Inspirationsquelle für In diesem Falle, so spekuliert Rawls, wer-
Gesetze erhebt. Die Schiiten, größte Bevölke- den die Unterhändler nicht nur für alle Bür-
rungsgruppe im Land, beäugen einen föde- ger gleiche Rechte und die Freiheit fordern,
ralen Irak mit Skepsis. Die Kurden behalten einem in ihrem Sinne guten Leben nachzuge-
sich ein Vetorecht gegen jegliche endgültige hen. Sie werden auch soziale und wirtschaftli-
Verfassung vor. che Ungleichheiten aller Art nur dann akzep-
Das Gezerre wird noch komplizierter da- tieren, wenn sie auch den auf der untersten
durch, dass es keine allgemein anerkannten Sprosse der sozialen Leiter stehenden Men-
Verfahrensrichtlinien gibt. Welche Legitimi- schen noch einen Vorteil bringen. Schließlich
tät hat eine verfassunggebende Versammlung, könnte es sein, dass der Stellvertreter gerade
die von der bisherigen Besatzungsmacht für diese Gruppe das Wort führen muss.
USA eingesetzt ist und kein Vertrauen beim Damit wendet sich Rawls direkt gegen die

o
John Rawls, geboren Volk genießt? Auf welchen Grundsätzen darf utilitaristische Ethik, die im »größten Glück
1921 in Baltimore (Mary- eine Verfassung beruhen? Was ist letztlich der größten Zahl« ihr Heil sucht, und sichert
land), studierte ab 1939 an der gerecht? den Status von Schwachen und Minderhei-
Universität Princeton und pro- Bei solchen Problemen zitieren Kommen- ten. Denn man könne »Institutionen nicht
movierte 1950 mit einer Arbeit tatoren gerne John Rawls, der sich ein Leben damit rechtfertigen, dass den Unbilden eini-
über die Beurteilung von Cha- lang mit dem Problem der Gerechtigkeit aus- ger ein größerer Gesamtnutzen gegenüberste-
rakteren. Von 1964 an bis zu einander gesetzt hat. Als der Harvard-Profes- he. Es mag zweckmäßig sein, ist aber nicht
seinem Tod am 24. November sor 1971 die Studie »Eine Theorie der Gerech- gerecht, dass einige weniger haben, damit es
2002 war er Professor für Phi- tigkeit« veröffentlichte (auf Deutsch 1975), anderen besser geht. Dagegen ist nichts Unge-
losophie an der Harvard-Uni- traf es die akademische Öffentlichkeit wie ein rechtes an den größeren Vorteilen weniger,
versität. Paukenschlag, und das Fach »Politische Philo- falls es dadurch auch den nicht so Begünstig-
sophie« gewann mit einem Streich neues An- ten besser geht«. Mit diesem Maßstab liefert
sehen. In dem Werk, dessen erste Anfänge bis Rawls gleichzeitig die moralphilosophische
1955 zurückreichen, legte Rawls systematisch Rechtfertigung für einen freiheitlichen und
dar, wie eine Gesellschaft institutionell orga- sozialen demokratischen Rechtsstaat.

78 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Aus urheberrechtlichen Gründen
Zu dieser Zeit waren normative Fragen in können wir Ihnen die Bilder leider
den akademischen Zirkeln eigentlich außer nicht online zeigen.
Mode: In den angelsächsischen Ländern
herrschten metaethische Debatten, in Konti-
nentaleuropa philosophiegeschichtliche Auf-
arbeitung vor. Aber der ebenso eingängigen
wie streitbaren Argumentation von Rawls
konnte man sich nicht verschließen. Erstmals
debattierten Philosophen und Politikwissen-
schaftler die Inhalte der Ethik wieder direkt.
Die »Theorie der Gerechtigkeit« war bald in

o
aller Munde, sie mutierte gar zum Bestseller. des Pluralismus« in den Mittelpunkt stellt. Klammheimlich, in Form
Das war der Beginn der Rawls-Industrie. In modernen demokratischen Gesellschaften einer gemütlichen Kaf-
Jeder hatte etwas beizutragen; Chef des Dis- kursieren zahlreiche »vernünftige umfassende feetafel und unter Ausschluss
kurses blieb jedoch der Meisterdenker selbst. Lehren«, einschließlich der »nicht-liberalen des Volkes, das sie vertreten
Über zwanzig Jahre stand er dem Debattier- und religiösen«. Weil sie vernünftig sind, kann soll, übernimmt am 28. Juni
klub vor, hörte sich geduldig Vorschläge an, keine von ihnen von vornherein abgewiesen dieses Jahres die vorläufige
integrierte vieles und verwarf manches. Ge- werden. Also gilt es, sie unter einen Hut zu Regierung des Irak die zivile
meinsam mit seinen Anhängern verteidigte er bringen. Dieser Befund nötigte Rawls, sein Gewalt von den amerikani-
seinen egalitären Liberalismus gegen kommu- Modell auf höherer Ebene neu zu durchden- schen Besatzern – eine Konzes-
nitaristische Tugendbolde, für die Gesellschaft ken: »Wie kann eine Gesellschaft freier und sion an den allgegenwärtigen
nur als gewachsene Wertegemeinschaft funk- gleicher Bürger, die durch konträre religiöse, Terror und zugleich das Einge-
tioniert, ebenso wie gegen jene zügellosen philosophische und moralische Lehren ein- ständnis, dass sich diese Re-
Geister, für die das Boot den besten Kurs steu- schneidend voneinander getrennt sind, dauer- gierung ihre Legitimität erst
ert, wenn man das Ruder laufen lässt. haft bestehen?« Jedenfalls nicht durch eine alle noch erarbeiten muss.
Die Debatte blieb nicht ohne Folgen. Im anderen überragende Megaweltanschauung;
Jahre 1993 veröffentlichte Rawls sein zweites denn die gibt es offensichtlich nicht.
großes Buch, »Politischer Liberalismus«. Es ist So vermögen Christen und strikte Libera-
mehr das Ergebnis der Diskussionen um die le kaum einen moralischen Konsens zu erzie-
übermächtige »Theorie der Gerechtigkeit« als len, wenn es um die Zulässigkeit der Abtrei-
ein Werk von eigenem Recht, gewissermaßen bung geht. Sie können jedoch eine rechtliche
die Version 2.0 des Klassikers – jedoch mit ei- Einigung finden, wenn sie sich der »öffentli-
nem gewichtigen Unterschied. Rawls vollzieht chen Vernunft« und damit der höheren, prag-
hier die Wende vom reinen Moralphilosophen matischen Einsicht stellen, dass es ein dauer-
zum pragmatisch denkenden Geist. haftes Miteinander nur im Frieden gibt. Die
Lösung für Probleme, die Mitgliedern einer
Gesellschaft aus verschiedenen Weltbildern
Der »Schleier des Nichtwissens«
erwachsen, liegt also nicht im Grundsätzli-
motiviert zur Gerechtigkeit chen, sondern im Politischen – und das führt
zu dem moralischen Imperativ offenen, libe-
In dem aus Vorlesungen entstandenen ralen Diskurses. Deswegen wählte Rawls für
Traktat unterzieht Rawls seine alten Konzepte die Fortschreibung seiner Gerechtigkeitstheo-
einer kritischen Revision und weicht sie dabei rie den Titel »Politischer Liberalismus«.
auf. So war immer wieder eingewendet wor- Der Charakter der übergreifenden Ver-
den, die »Theorie der Gerechtigkeit« sei nur nunft, an deren Händchen fremde Weltbilder
eine sich an das Projekt der Aufklärung an- zueinander finden sollen, spiegelt sich in den
schließende säkulare Heilslehre. Wer deren Gesetzen und der staatlichen Verfassung eines
Voraussetzungen, zum Beispiel den Glauben pluralistischen Staates. In ihnen kommt zum
an autonom handelnde Individuen, nicht ak- Ausdruck, was alle Bürger, trotz weltanschau-
zeptiere, der bleibe außen vor. Moderne Ge- licher Differenzen, allgemein anerkennen.
sellschaften sind aber zu vielfältig, als dass Ihre normative Grundlage hat diese Vernunft
Rawls’ Modell jedem ihrer Mitglieder ver- wiederum in Rawls’ Gedankenexperiment.
nünftig erscheinen müsste. Nur geht es den Unterhändlern nicht direkt
In seinem neuen Werk trägt Rawls diesem um die »Gerechtigkeit« selbst, sondern zu-
Umstand Rechnung, indem er das »Faktum nächst um die Frage, was als rationale Grund- r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 79
SPEKTRUM-ESSAY z r lage des Umgangs der Bürger miteinander gel-
ten soll. Damit verweist Rawls pikanterweise
schen Kultur oder die territoriale Integrität
zugestehen muss.
sein bis dahin zentrales Konzept der Gerech- Doch in den Genuss solchen Rechtsschut-
tigkeit auf den zweiten Rang. Denn erst nach- zes soll nicht jeder Staat kommen. Ebenso wie
dem seine fiktiven Unterhändler ihre Staats- beim »Faktum des Pluralismus« lässt sich der
verfassung beschlossen haben, können sie sich Philosoph von der Realität belehren, diesmal
– auf deren Grundlage – darum streiten, was darüber, dass es nicht nur »gute« Demokrati-
etwa »gerecht« sein soll. en, sondern auch menschenverachtende Dik-
Auf diese schlaue Weise erweitert, vereint taturen gibt. Wer über dieses Detail hinweg-
das Rawls’sche Modell nicht mehr nur Freun- sieht, sanktioniert die Ungerechtigkeit in je-
de, sondern auch einstige Feinde unter seinem nen Ländern – und potenziell weltweit. Denn
Theoriegewölbe. Mit etwas gutem Willen »die großen Übel in der menschlichen Ge-
können da auch Kommunitarier ihre Werte- schichte«, wie ungerechte Kriege und Unter-
drückung, Völker- und Massenmord, seien
»Folgen politischer Ungerechtigkeit«. Vor
Um zur Völkergemeinschaft zugelassen zu werden, muss ein dem Schiedsgericht der Vernunft sind also
Staat nicht demokratisch sein – nur »achtbar« die Staaten, anders als die Einzelmenschen,
keineswegs gleich. Expansionistische »Schur-
gemeinschaften unterbringen – eine Gruppe kenstaaten« und wohlwollende, doch unge-
kann sich schließlich darauf einigen, nach be- rechte Regime bleiben deshalb von seinem
stimmten Werten zu leben, etwa wie die Vertragswerk ausgeschlossen.
Amish People in den Vereinigten Staaten, Ein Irak unter Saddam Hussein musste
während ihre Nachbarn ganz anderen Idealen nach Rawls’ Vorgaben draußen bleiben; De-
folgen. Auch Rawls selbst darf seine ursprüng- mokratien dagegen haben natürlich Zutritt
liche, das Rechte vor das Gute stellende Ge- zur Gemeinschaft gleichberechtigter Mitglie-
rechtigkeitskonzeption nach wie vor für die der. Doch auch Rawls dachte daran, Völker,
»vernünftigste« halten, wenngleich er unum- die auf Grund »ungünstiger Bedingungen«
wunden eingesteht: »Darüber stimmen, wie es noch kein gerechtes Institutionensystem aus-
scheint, andere vernünftige Menschen nicht bilden konnten, ebenfalls einzulassen – das
mit mir überein.« trifft auf den Irak natürlich zu. Aber das nützt
Der »Politische Liberalismus« schloss in der gegenwärtigen Situation nicht viel – im
Rawls’ jahrzehntelanges Nachdenken über die Irak ist ja gerade umstritten, wer für dieses
normativen Aspekte politischen Handelns im Land die Stimme führen darf.
Rechtsstaat weit gehend ab. Doch seinem um- Außerdem will Rawls jene Länder zulas-
fangreichen Theoriegebäude fehlte trotz skru- sen, die keine demokratische Verfassung ha-
pulöser Argumentation ein Schlussstein. Die ben, aber dennoch »achtbar« sind, weil sie die
Erörterungen drehen sich nur um die Gerech- Menschenrechte einhalten, Rechtssicherheit
tigkeit innerhalb von Staaten, nicht aber da- gewährleisten und keine Angriffskriege füh-
rum, wie man Gerechtigkeit in Zeiten der Glo- ren, selbst wenn es kein umfassendes Mitbe-
balisierung unter den Völkern definieren mag. stimmungsrecht oder keine Religionsfreiheit
Hubertus Breuer In seinem Traktat »Recht der Völker« (2001, geben mag. Die Zulassung dieser Länder hat
ist promovierter auf Deutsch 2002), kurz vor seinem Tod er- Rawls heftige Kritik eingetragen. Denn letzt-
Philosoph und ar- schienen, reicht er seine Antwort darauf nach. lich stellt er sie mit Demokratien auf eine Stu-
beitet als Wissen-
A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E

Statt natürlicher Personen sind es nun fe, und es ist nicht ganz ersichtlich, was jene
schaftsjournalist
in New York. ganze Völker, die in einem hypothetischen undemokratischen, aber liberalen Staaten vor
Gesellschaftsvertrag die Grundsätze ihrer künf- restriktiveren Ländern auszeichnen soll. Prag-
Eine Theorie der Gerechtigkeit. Von tigen Beziehungen festlegen sollen. Analog matisch gesehen mag die Entscheidung ver-
John Rawls. Suhrkamp, Frankfurt
am Main 2003 zur »Theorie der Gerechtigkeit« müssten sie ständlich sein. Doch indem die Verfassung
sich unter dem »Schleier des Nichtwissens« unfreier Gesellschaften als »achtbar« und da-
Politischer Liberalismus. Von John
darauf einigen, die am meisten benachteilig- mit vernünftig gilt, erhalten sie durch die
Rawls. Suhrkamp, Frankfurt am
Main 2003 ten Mitglieder der internationalen Völkerge- Hintertür moralphilosophische Weihen.
meinschaft zu stärken. Doch unter den auf- Wenn also der Irak sich eine Verfassung
Gerechtigkeit als Fairneß. Von John
Rawls. Suhrkamp, Frankfurt am
geweichten Prinzipien des »Politischen Libera- geben würde, die den Koran zur Grundlage
Main 2003 lismus« geht es wiederum mehr um die jeden Rechts erhebt, undemokratisch ist und
Verfahrensregeln des Miteinander, die eine Minderheiten nicht zum Zuge kommen lässt,
Das Recht der Völker. Von John
Rawls. De Gruyter, Berlin 2002
Debatte über »Gerechtigkeit« überhaupt erst so hätte Rawls aus seiner philosophischen Po-
erlauben. Wenig überraschend leitet Rawls sition nichts dagegen einzuwenden. Das bleibt
Weblinks zum Thema finden Sie bei her, dass ein solches Vertragswerk den einzel- unbefriedigend – zumindest für jene sturen
www.spektrum.de unter »Inhalts-
verzeichnis«.
nen Staaten Dinge wie politische Unabhän- Köpfe, die unverzagt am Ideal liberaler De-
gigkeit, Selbstachtung, den Schutz der politi- mokratie festhalten. l

80 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
PREISRÄTSEL
Spaziergang auf einem Schachbrett
Von Pierre Tougne
10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6

14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13

Ein Spielstein steht in der linken oberen 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2

12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1
Ecke eines Schachbretts. Er kann ent-
10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6
weder nach rechts oder nach unten ge- 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13

hen. Sein Ziel ist die rechte untere Ecke 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2 15 11 5 2

1 1 1 1 1 1 1 1
(ein möglicher Weg ist auf dem ersten 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4

Brett grün eingezeichnet).


Wie viele verschiedene Wege kann er außerdem diagonal nach unten rechts delberg. Unter den Einsendern der
gehen, um sein Ziel zu erreichen? Wie ziehen kann (ein Weg ist violett einge- richtigen Lösung verlosen wir einen Ex-
viele Wege kann er auf jedem der drei zeichnet)? perimentierkasten »Kosmos Electro E
anderen Bretter gehen, deren rote Fel- Schicken Sie Ihre Lösung in einem 2000«. Der Rechtsweg ist ausgeschlos-
der er nicht betreten darf? frankierten Brief oder auf einer Postkar- sen. Es werden alle Lösungen berück-
Wie viele Wege sind in jedem der vier te an Spektrum der Wissenschaft, Leser- sichtigt, die bis Dienstag, 17. August
Fälle möglich, wenn der Spielstein nun service, Postfach 10 48 40, D-69038 Hei- 2004, eingehen.

um nicht angeschnitten zu werden, ist


Lösung zu »Buntes Durcheinander« (Mai 2004) rot umrandet. Sie hat von den beiden
Dies ist der einzig mögliche Endzustand Schnittlinien AM und MC wieder den
des Puzzles (Bild rechts). Die Zahlen auf Abstand ρ. Manche Leser nahmen an,
den Farbplättchen geben eine mögliche
4 10 8 16 6 es handle sich um einen Kreissektor.
Auslege-Reihenfolge an. Es gibt 14 925 Dies ist nicht der Fall.
verschiedene Reihenfolgen, wie Micha- Die Wahrscheinlichkeit, mit welcher
el Goetze aus Esslingen durch erschöp-
3 14 9 3 13 die Nuss angeschnitten wird, ist nun
fende Suche mit Hilfe eines Computer- gleich dem Verhältnis von grünem Kreis-
programms herausfand. ausschnitt zu dem Bereich, der außer-
Die Gewinner der fünf Kreisel »Gyro- 2 15 11 5 2 halb der roten Fläche liegt. Aber wie
twister« sind Christine Kiss, Tönisvorst; groß ist diese Fläche?
Heidemarie Lampe, Greifswald; Wer- Die Hälfte davon ist AMSB. Sie setzt
ner Hanke, Erlangen; Johann Meier, 1 12 7 4 1 sich aus zwei Teilen zusammen, nämlich
Unterschleißheim; und Arnfried Mack, dem Dreieck MSB mit der Höhe h und
Karlsruhe. a b c d Grundseite MS sowie dem Kreissektor
MBA mit dem Winkel α.
α und h ergeben sich aus trigonome-
Lösung zu »Der Nusskuchen« (Juni 2004) trischen Überlegungen. Die Grundseite
MS ist der Radius eines regelmäßigen
Zehnecks mit der Kantenlänge 2ρ. Da-
C auf 10 Prozent zu drücken, müsste man mit sind alle benötigten Größen be-
D ρ den Kuchen auf einen Durchmesser von kannt, und das Verhältnis der Flächen
ρ etwa 63,08 cm vergrößern. ergibt sich zu 0,3078.
r S M Bernd Rümmler aus Göttingen be- Indem man in der entstandenen Glei-
trachtete nur eines der 10 Kuchenstücke chung das Flächenverhältnis mit 0,1 vor-
h
α (hellbraun in der Skizze links). Da die gibt und stattdessen den Kuchenradius
B Nuss nicht aus dem Kuchen herausragen r als Unbekannte nimmt, erhält man
A kann, muss ihr Mittelpunkt in dem grün eine neue Gleichung, die iterativ zu lö-
berandeten Kreissektor AMC liegen. sen ist. Das Ergenis ist r = 63,08 cm.
Die Wahrscheinlichkeit, die Nuss anzu- Der Abstand des Kreisbogens AC zum Die Gewinner der drei Strategiespiele
schneiden, beträgt bei einem Kuchen äußeren Kuchenrand ist gleich dem Ra- »Blokus« sind Wolfgang Meier, Bo-
mit 20 cm Durchmesser etwa 30,78 dius ρ der Nuss. Die Fläche, in welcher chum; Jürgen Baumann, Köln; und Hans
Prozent. Um diese Wahrscheinlichkeit der Mittelpunkt der Nuss liegen muss, Böckl, München.

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 89
SPORTWISSENSCHAFT
REPORT

Forschen Aus urheberrechtlichen Gründen


können wir Ihnen die Bilder leider

für Rekorde
nicht online zeigen.

Medaillen sind nicht nur für Sportler Lohn


der Mühe, sondern auch für die Wissen-
schaftler, die das Training optimieren und
Hightech-Sportgeräte entwickeln.

TR AINING I tens 20 Sprünge pro Woche kann der For-


scher so analysieren.
Der vermessene Athlet Die Informationen übermittelt er per
E-Mail an Sportler und Trainer – angerei-
chert mit einer Art Strichmännchendar-
Raffinierte Sensorsysteme und computergestützte Videoauswertung stellung des Bewegungsablaufs. »Daraus
helfen, Bewegungsabläufe und Krafteinsatz zu optimieren. lässt sich beispielsweise auf einen Blick er-
kennen, wie sich die Griffhände beim Ein-
Von Frank Frick tion ausgewählter Punkte wie etwa der Fer- stich des Stabs bewegt haben – was wieder-
se Lobingers. um etwas darüber sagt, welche Biegearbeit

W enn Tim Lobinger, im vergangenen


Jahr Hallenweltmeister im Stab-
hochsprung, zu seinem ersten Versuch an-
Mit seinem Messkäfig ist Schade regel-
mäßig zu Gast bei deutschen Meisterschaf-
ten, sogar das Stabhochsprung-Finale bei
der Athlet am Stab verrichtet hat«, erläu-
tert Schade. Die muss auf die physischen
Voraussetzungen des Springers und die
läuft, hat Falk Schade einen wichtigen Teil den Olympischen Spielen in Sydney hat er Härte des Stabs abgestimmt sein.
seiner Arbeit schon hinter sich: Mit Hilfe analysiert. Nach dem Wettkampf errechnet
eines sechs Meter langen Gitterkäfigs hat der Wissenschaftler im Institut für Bio- Diagnostik des Absprungs
der Leiter für biomechanische Leistungs- mechanik der Deutschen Sporthochschule Einmal pro Saison bespricht er seine Ana-
diagnostik des Olympiastützpunkts Köln- Köln mit einer Software Länge und Ge- lysen mit den Athleten des Nationalka-
Bonn-Leverkusen fünf Videokameras ein- schwindigkeit der letzten Anlaufschritte, ders, ihren Trainern und dem Teamleiter
gerichtet, die den Absprungbereich im Vi- die stärkste Durchbiegung des Stabs, die Stabhochsprung des Deutschen Leicht-
sier haben. Die Überlagerung der Video- maximale Höhe des Körperschwerpunkts athletik-Verbands. Natürlich könne er
mitschnitte des Sprungs mit diesen sowie die Energie des Athleten beim Ein- dem Sportler etwa empfehlen, die Schritte
Kalibrationsaufnahmen ermöglicht dann stich des Stabs und beim Überqueren der des Anlaufs auf eine bestimmte Weise zu
die genaue Angabe der räumlichen Posi- Latte. Für seine Auswertung liest Schade verändern, so Schade. Allerdings: »Oft ist
nicht alle Bilder eines Sprungs in den Com- der Bewegungsablauf Ausdruck körperli-
puter ein, sondern wählt einige in entschei- cher Gegebenheiten und der Sportler muss
denden Phasen aus. Darin markiert er erst einmal an seinen Sprungfähigkeiten
Aus urheberrechtlichen Gründen wichtige Körperteile des Athleten, zum arbeiten, um die Technik umstellen zu
können wir Ihnen die Bilder leider Beispiel Fußspitzen, Kniegelenke, Ellenbo- können.«
nicht online zeigen. gen und Kopf, und lässt den Computer de- Schade und die Kölner Biomechaniker
ren Bewegungsbahn errechnen. Mindes- arbeiten bereits an der nächsten Entwick-
lungsstufe ihres Diagnosesystems: Dabei
beziehen sie auch die Zu- und Abnahme
der Energie im Stab in ihre Analysen ein,

l
Auch Tim Lobinger, Hallenwelt- indem sie die Kräfte im Einstichkasten
meister im Stabhochsprung 2003, messen. »Patentrezepte nach dem Motto
setzt beim Training auf die Wissenschaft. ›Verbessere diesen Wert, dann wirst du au-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
tomatisch höher springen‹ wird es jedoch Bis 1990, damals noch als DDR-Ein- Fabrikbetrieb und -automatisierung (IFF)
nie geben«, ist der Forscher überzeugt. richtung, betrieb das FES eine eigene Flot- entwickelten einen »digitalen Wurfspeer«,
Notwendige Umstellungen der kompli- te von Messbooten. »Der technische Un- in den eine 75 Gramm leichte Bordelekt-
zierten Abläufe beim Stabhochsprung lie- terschied zwischen denen und den Renn- ronik eingebaut ist. Sensoren messen wäh-
gen eher im Detail. exemplaren wurde zu groß, der Unterhalt rend der Werfer anläuft und beim Abwurf
Offensichtlicher sind die Auswirkun- der Flotte zu teuer«, begründet Schaale, des Speers nicht weniger als 500-mal pro
gen vergleichbarer Messungen bei Spitzen- warum das FES schon vergleichsweise früh Sekunde die Beschleunigung. Ein Compu-
ruderern. Ausgetüftelt vom Institut für auf Sensorsysteme setzte, die in das norma- terchip speichert die Daten. Über einen
Forschung und Entwicklung von Sportge- le Sportgerät integriert werden können. Magnetadapter kann die Information di-
räten (FES) in Berlin (siehe den Beitrag S. rekt nach dem Wurf auf einen Laptop
98) erfasst eine mobile Elektronik im Bug Speerwurftraining überspielt werden. Trainerin Ritschel über-
und an jedem Ruderplatz mit Hilfe von mit dem Beschleunigungssensor prüft mit dem IFF-Speer im Wurfzentrum
Dehnungsmessstreifen acht verschiedene Andere Sportarten hinken da hinterher: des Olympiastützpunkts Magdeburg/Halle
Parameter, beispielsweise die Kräfte an den Wenn die Abwurfgeschwindigkeit eines regelmäßig den Leistungsstand der Sport-
Dollen oder an den Stemmbrettern. Die Speerwerfers gemessen werden sollte, muss- lerinnen. Der grafischen Darstellung der
Grafiken der Kraftverläufe können am PC te dieser bis zum letzten Jahr einen speziel- Messwerte entnimmt sie, wie gut der Ab-
im Begleitboot mit Videobildern synchro- len Speer in die Luft schleudern, der über wurf war: »Ideal ist ein extrem steiler, fast
nisiert werden. So sieht der Trainer sofort, Drähte mit einer Auswertungselektronik nadelförmiger Beschleunigungsverlauf«, so
ob die Mannschaft harmoniert. »Notfalls am Körper verbunden war. »Diese Verka- Ritschel. r
wird ein Ruderer ausgetauscht«, erläutert belung störte den Bewegungsablauf sehr«,
Harald Schaale, Direktor des FES. sagt Maria Ritschel, Speerwurf-Bundes-
In den Stützpunkten des Deutschen trainerin für Frauen. Hinzu kam, dass die

u
Ruderverbands wird dieses System auch Messspeere deutlich schwerer waren als Wie wird Tim Lobinger bei der
benutzt, um die individuelle Technik zu normale Geräte und auch einen anderen Olympiade abschneiden? Video-
perfektionieren. Bildschirme im Boot ge- Schwerpunkt hatten. analysen am Institut für Biomechanik der
ben jedem Athleten ein direktes Feed-back: Inzwischen gibt es Abhilfe: Ingenieure Deutschen Sporthochschule Köln helfen,
Ein Blick und er erkennt, wie sich die rele- vom Magdeburger Fraunhofer-Institut für seine Technik zu verfeinern.
vanten Daten während seiner letzten Ru-
derschläge verändert haben. Mitglieder des
A-Kaders trainieren seit Jahren mit dem
System. »Die schauen auf die Messkurven
und wissen sofort, was sie ändern müssen«,
konstatiert Peter Teller, der das Messsystem
am FES entwickelt hat.
BEIDE ABBILDUNGEN: DEUTSCHE SPORTHOCHSCHULE KÖLN, INSTITUT FÜR BIOMECHANIK

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 91
u
Welche Muskelkräfte sowie Dreh- r Auch in der Heidelberger Schwimm- delberg regelmäßig überprüft wird. Nach-
momente ein Reckturner aufbringt, halle des Olympiastützpunkts Rhein- dem der Sportler aus dem Wasser gestiegen
simuliert eine an der Universität Tübin- Neckar ist ein sensorbestücktes Gerät im ist, werden die Daten auf einen Computer
gen entwickelte spezielle Software in Routineeinsatz, mit dem sich die Bewe- übertragen. Zur Analyse können später
Echtzeit. gungen der Sportler unter besonders wett- Bildinformationen und Messkurven simul-
kampfnahen Bedingungen analysieren las- tan wiedergegeben werden. »Typische Feh-

THORSTEN HANS, UNIVERSITÄT TÜBINGEN


sen. Bisher hingen die Schwimmer bei der ler wie zu starkes Anhocken der Beine in
Technikanalyse an Zugseilen, die aber der Rückholphase des Brustschwimmens
bremsen und mit denen man den Ge- oder das Einbrechen des hohen Ellenbo-
schwindigkeitsverlauf jeweils nur für we- gens sind so leicht erkennbar«, sagt EML-
nige Schwimmzyklen messen kann. Oder Wissenschaftler Markus Buchner, der den
ein Sportler musste ortsfest in einem digitalen Schwimmbegleiter wesentlich
Schwimmkanal trainieren – eine Situation, mitentwickelt und den einzigartigen Mess-
die vor allem anders auf die Psyche wirkt platz Anfang 2003 aufgebaut hat.
als in einem normalen Becken. Auch die virtuelle Realität hat den
Leistungssport erreicht. Der Astrophysiker
Typische Schwimmfehler und Biomechaniker Hanns Ruder von der
zeigt der Monitor Uni Tübingen und sein Doktorand Thors-
Der walkmangroße »DigiCoach«, entstan- ten Hans haben einen Simulator für das
den aus einer Kooperation der EML Re- Reckturnen entwickelt. Der Athlet kann
search GmbH mit dem Institut für Sport vor dem Bildschirm an einem 17-gliedri-
und Sportwissenschaften der Universität gen Homunkulus Bewegungsabläufe tes-
Heidelberg, wird mit einem Gurt über der ten, bevor er sie an der Stange ausführt.
Lendenwirbelsäule des Schwimmers befes- Für den Koblenzer Leistungsturner Se-
tigt. Wie der digitale Speer arbeitet der bastian Quirbach haben sich die Trocken-
digitale Schwimmbegleiter während der übungen ausgezahlt: Am Joystick über-
Aktivitäten des Athleten autonom und wand er seine Probleme mit dem kompli-
speichert Beschleunigungswerte. Zusätzlich zierten Kovacs-Salto. l
nehmen zwei Unterwasserkameras die Be-
wegungen der Juniorenschwimmer auf, de- Frank Frick ist promovierter Chemiker und freier Wis-
ren Technik im Olympiastützpunkt in Hei- senschaftsjournalist in Bornheim bei Bonn.
FES

Dehnungsmessstreifen ermitteln beim


Rudereinsatz bis zu acht Parameter. Auf
den Bildschirmen erkennt jeder Athlet so-
fort, ob er gerade gut ins Team passt.
l
Schuss ins Schwarze: Sportarten
mit einem hohen Aufwand an kog-
Aus urheberrechtlichen Gründen nitiver Leistung eignen sich besonders
können wir Ihnen die Bilder leider gut, um die Ausführung mental zu üben.
nicht online zeigen.

Doch warum erzielt die mentale Simu-


lation überhaupt eine Wirkung? Bereits
1852 hatte der britische Forscher William
B. Carpenter angenommen, reflexhafte Be-
wegungen können durch Vorstellungen
ausgelöst werden. Solche »ideomotorischen
Reflexe« entstünden, weil Vorstellungen
und Bewegungen eine feste Verbindung
TRA INING II eingehen. 1932 zeigte Edmond Jacobson,
dass das gedankliche Durchspielen von Be-
Fleiß ohne Schweiß wegungen tatsächlich auch von einer elek-
trischen Aktivierung der benötigten Mus-
kelgruppen begleitet wird. Der Effekt von
Gedankliches Durchspielen der Bewegungsabläufe kann im Hochleis- mentalem Training würde demnach auf
tungssport über Sieg und Niederlage entscheiden. deren wiederholter Ansteuerung beruhen.
Aktuellere Studien zeigten allerdings: Diese
Von Thomas Schack ning das aktive Üben zwar nicht ersetzen Aktivierung ist eher Folge, nicht Ursache
kann, aber dennoch die sportliche Leis- von Lerneffekten der geistigen Simulation.

M it hochkonzentriertem Gesichtsaus-
druck, doch scheinbar in Gedanken
versunken bereitet sich eine Sportlerin auf
tung verbessert. Wie diese beiden Trai-
ningsformen – mit und ohne Bewegung –
optimal zu kombinieren sind, ist abhängig
Das Gehirn aktivieren
Offenbar sind Bewegungen im Gedächtnis
den nächsten Versuch im Hochsprung vor. von der Sportart. Je höher die Anforderun- gespeichert, Vorstellung und Ausführung
Das merkwürdige Verhalten vieler Athle- gen an die kognitiven Fähigkeiten, wie laufen auf der Basis derselben Gedächt-
ten ist Teil eines systematischen Trainings, etwa beim Turnen oder Sportschießen, nisstrukturen ab. Nicht nur die motorische
das seit mehreren Jahrzehnten im Hoch- desto mehr profitiert der Sportler von der Aktivität optimiert also diese Erinnerungs-
leistungssport eingesetzt wird. Es basiert geistigen Einübung der Abläufe. Bei Sport- einträge, sondern auch die mentale Simu-
auf Vorstellungen der Bewegungsabläufe arten, die vor allem energetische Anforde- lation einer Bewegung. Insbesondere die
ohne tatsächliche körperliche Aktivität. rungen stellen wie der Ausdauerlauf, sind Forschungsgruppe um den französischen
Dabei kann sich ein Hochspringer den die Effekte weit geringer. Neurophysiologen Marc Jeannerod konnte r
»Fosburyflop« aus der Innenperspektive
DEUTSCHE SPORTHOCHSCHULE KÖLN, INSTITUT FÜR PSYCHOLOGIE

vorstellen oder aus der Warte eines Zu-


schauers. Dieses mentale Training wird seit
den 1960er Jahren genutzt, damals noch
unter Geheimhaltung. Wissenschaftliche
Untersuchungen interessierten anfangs
nicht, es zählte allein der Erfolg bei der Sta-
bilisierung und Optimierung sportlicher
Leistungen während des Wettkampfs. So
waren es zunächst Einzelergebnisse und
anekdotische Erzählungen, die dem men-
talen Training zum Durchbruch verhalfen.
Systematische Studien gibt es erst seit
den 1980er Jahren, sowohl aus osteuropäi-
schen als auch aus westlichen Ländern.
Schnell wurde deutlich, dass mentales Trai-

r
Wie die Vorstellung von Bewegung
während des mentalen Trainings
mit Gehirnaktivitäten einhergeht, mes-
sen Wissenschaftler im Testlabor der
Sporthochschule Köln.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 93
r in den letzten Jahren zeigen, dass beim Vorfeld untersucht. So zeigte zum Beispiel
mentalen wie beim aktiven Training jeweils eine der Außenangreiferinnen eine klar
dieselben Hirnareale beteiligt sind. strukturierte und nahezu idealtypische Be-
Dieser Nachweis erfolgt aber meist an wegungsrepräsentation des Angriffsschlags
wenig komplexen Bewegungen etwa der im Gedächtnis. Bei einer anderen hinge-
Finger. Um zu klären, welche Hirnbereiche gen, die seit mehreren Jahren Schwierigkei-
bei der Vorstellung körperlicher Abläufe ten mit der optimalen Ausführung hatte,
beim Sport aktiviert werden, haben wir in ergab die Analyse eine weniger ausgeprägte
den letzten Jahren ein neurowissenschaft- Gedächtnisstruktur für die Impulsfolge bei
liches Zentrum an der Deutschen Sport- Anlauf und Absprung.
hochschule Köln eingerichtet. Die von mir Ein individualisiertes mentales Trai-
geleitete Arbeitsgruppe »Neurokognitive ning setzte deshalb dort an. Dabei achteten
Architektur von Bewegungen« und die Ar- wir in einem ersten Schritt darauf, dass die
beitsgruppe »Sport und Gehirn« von Wil- Spielerin bei der realen Ausführung die
dor Hollmann versuchen eine Bewegungs- veränderte Bewegung spürte, also ein neu-
neurowissenschaft zu etablieren. Dabei es Gefühl dafür entwickelt. Dieses sollte
geht es im Zusammenhang mit mentalem dann beim mentalen Training nachemp-
Training um neurophysiologische und ko- funden werden. So konnte die Spielerin ih-
gnitive Strukturen, die sowohl für Bewe- ren Angriffschlag deutlich verbessern: Sie
gungsausführung als auch -vorstellung von spielt jetzt in der A-Nationalmannschaft
Bedeutung sind. Dazu entwickelten wir der Frauen.
1 computergestützte experimentelle Verfah- Inzwischen wird mentales Training
ren, um bewegungsbezogene Gedächt- nicht nur im Leistungs-, sondern auch im
Anlauf Absprung nisstrukturen in relativ kurzer Zeit – 10 bis Breitensport und darüber hinaus in der Re-
Schlag- Schlagausführung
vorbereitung 15 Minuten – zu erfassen. Dabei messen habilitation eingesetzt. Bei Sportverletzun-
wir unter anderem die Gehirnaktivität gen bietet es die Chance, auch dann zu trai-
während des mentalen Trainings. nieren, wenn die aktive Ausführung einer
Bewegung noch stark eingeschränkt ist.
Knoten im Kopf Nach Gelenkoperationen oder Gelenker-
Eine aktuelle Untersuchung beschäftigt satz hilft das geistige Üben beim Wiederer-
sich mit dem Angriffsschlag im Leistungs- lernen alter Bewegungsmuster. Auch in der
(1 2 3) (4 5) (6 7 8) 12 (9 10 11)
volleyball. Dort sind mindestens zwölf neurologischen Rehabilitation von Schlag-
Anlauf: 1. Zurückführen der Arme, 2. Stemmschritt Zwischenschritte wichtig. Die »Knoten- anfallpatienten lässt sich mentales Training
3. Beugung Knie+Rumpf punkte« 1 bis 3 in Verbindung mit 4 und 5 wirkungsvoll einsetzen. Hier können bei-
FOTO- UND GRAFIKVORLAGEN: DEUTSCHE SPORTHOCHSCHULE KÖLN, INSTITUT FÜR PSYCHOLOGIE

Absprung: 4. Doppelarmschwung, 5. Beinstreckung bilden die Phase »Anlauf und Absprung«. spielsweise Greifbewegungen stabilisiert
Schlagvorbereitung: 6. Bogenspannung, 7. Schlag-
arm zurück, 8. hoher Ellenbogen Die »Schlagvorbereitung« besteht aus den und schrittweise verbessert werden. l
Schlagausführung: 9. Blick auf den Block, 10. Schlag Knoten 6, 7 und 8, schließlich ergeben 9,
aus Handgelenk, 11. peitschenartige Streckung des 10, 11 und 12 die »Schlagausführung«. Thomas Schack ist Hochschuldozent am Psycholo-
Armes, 12. Schlagarm durchschwingen
Wie diese Zwischenschritte im Gedächtnis gischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln
2 hinterlegt sind, haben wir bei der Juniorin- und lehrt derzeit Sportmotorik und Sportbiomechanik
nen-Nationalmannschaft im Volleyball im an der Universität Halle-Wittenberg.

9 (11 12 10) (1 6 8 7) (5 2 4 3)

o
Die Gedächtnisstrukturen der Be-
wegungsabfolge beim Volleyball-
Angriffsschlag (Foto) sollten nach dem
in Grafik 1 dargestellten Muster mit zwölf
»Knotenpunkten« organisiert sein. Grafik
2 zeigt eine abweichende Anordnung –
das erklärt die Probleme der betreffen-
den Spielerin mit dieser Technik. Menta-
les Training half bei der »Umschulung«.

94 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
G EN DOPING deutlich häufiger verbreitet als bei Sprin-
tern. Menschen, die im normalen Leis-
Muskeln nach Maß tungsbereich sporteln, zeigten übrigens
keinen solchen Unterschied.
Montgomerys Ergebnisse schienen zu-
Die körperliche Leistungsfähigkeit des Menschen wird zum Teil von nächst eindeutig, doch werden sie mittler-
seinen Genen bestimmt. Wird es irgendwann möglich sein, Super- weile in Frage gestellt, denn neuere Unter-
sportler zu züchten? suchungen können sie nicht bestätigen. So
verglich Wolfarth gemeinsam mit dem der-
zeit in Amerika tätigen Wissenschaftler
Von Stefanie Reinberger körperlicher Leistungsfähigkeit zu stehen Claude Bouchard in seiner »Genathleten-
scheint, wird er aufgenommen. Ein spezi- Studie« Ausdauersportler mit Normalper-

S ie haben klangvolle Namen wie Marga-


ret Okoya, Hicham El Guerrouj oder
Haile Gebreselassie. Sie kommen aus Ke-
elles Gen für Kraft, Ausdauer oder Schnel-
ligkeit hat aber noch niemand gesichtet.
»In den letzten fünf Jahren wurde viel ver-
sonen: Bei den insgesamt 585 Probanden
zeichnete sich keinerlei Tendenz in der Ver-
teilung der ACE-Varianten ab.
nia, Marokko und Äthiopien und dominie- öffentlicht, aber nur wenig bestätigt«, gibt Ein weiterer Kandidat, der Anlass zu
ren die Lang- und Mittelstreckenrennen Wolfarth überdies zu bedenken. Spekulationen gibt, ist das Gen für den
der Welt. Und auch der Deutsche Dieter Erythropoetin-Rezeptor, kurz EPOR ge-
Baumann bekam nach seinem olympischen Gene für mehr Sauerstoff nannt. Erythropoetin (EPO) ist den meis-
Sieg über 5000 Meter in Barcelona den Bei- Interessante Anwärter gibt es allerdings. So ten Sportinteressierten aus Dopingskanda-
namen »der weiße Kenianer«. Fast scheint nahm ein Forscherteam um Hugh Mont- len im Radsport bekannt. Der Wachstums-
es, als ob das ausdauernde Laufen eine na- gomery vom University College London faktor regt die Vermehrung der Sauerstoff
türliche Gabe der Frauen und Männer des das Agenosin-Konvertierungsenzym, nach transportierenden roten Blutkörperchen
Schwarzen Kontinents sei. Haben sie viel- dem englischen Namen kurz ACE ge- an (allerdings mit dem Risiko für Ausdau-
leicht ein spezielles Lauf-Gen? nannt, unter die Lupe. Das ist an der Re- ersportler, dass bei gleichzeitig hohem Was-
»Es ist durchaus denkbar, dass die Leis- gulation des Blutdrucks beteiligt und seine serverbrauch das Blut zu stark eindickt und
tung der Kenianer eine genetische Grund- Erbinformation tritt in zwei Versionen auf: Gefäße verstopfen). Dass auch der zuge-
lage hat«, glaubt Bernd Wolfarth vom Kli- als normal langes Gen und als verkürztes hörige Rezeptor eine wichtige Rolle spielt,
nikum rechts der Isar in München. Zwil- ACE-D, dem 287 DNA-Basenpaare feh- entdeckten die finnische Ärztin Eeva Ju-
lingsstudien in den 1970er und 1980er len. Montgomery verglich 1998 normal vonen und ihr Team von der Universität
Jahren hätten gezeigt, dass die Ausdauer- sportliche Menschen mit Bergsteigern, die Helsinki. Anfang der 1990er Jahre unter-
leistungsfähigkeit in hohem Maße gene- Höhen über 7000 Meter ohne Sauerstoff- suchte sie eine Familie mit einer erblichen
tisch festgelegt ist. Doch an ein einzelnes gerät bewältigten. Dabei stellte er fest, dass Erythrozytose, einer starken Vermehrung
Lauf-Gen glaubt Wolfarth nicht. die ACE-D-Variante in der Extremsport- der roten Blutkörperchen. Ursache war
Der Sportmediziner beschäftigt sich seit lergruppe deutlich häufiger vorkam. Eine eine Mutation im EPOR-Gen. Die Betrof-
langem mit den molekularbiologischen Studie mit russischen Athleten wies in die fenen zeigten keine Krankheitssymptome
Grundlagen körperlicher Leitungsfähigkeit. gleiche Richtung: Bei Ausdauersportlern und hatten eine normale Lebenserwartung.
Gemeinsam mit einer internationalen wie Triathleten war die verkürzte Variante Auffällig war aber, dass ein Familienange- r
Gruppe von Wissenschaftlern gibt er jedes
Jahr die »Fitmap« heraus, eine Art Landkar-
te für Genvarianten, fachlich Polymorphis-
men genannt, die im Zusammenhang mit
der Fitness stehen. Diese natürlich vorkom-
menden Variationen umfassen oft nur weni-
ge Bausteine der Erbsubstanz (DNA), doch
die können entscheidend dafür sein, ob ein
Körper den zur Verfügung stehenden Sauer- Aus urheberrechtlichen Gründen
stoff besser oder schlechter umsetzt. können wir Ihnen die Bilder leider
Über 70 Einträge kreuz und quer über nicht online zeigen.
das menschliche Genom hinweg verzeich-
net die Fitmap mittlerweile. Wann immer
ein Forscherteam einen Polymorphismus
identifiziert, der im Zusammenhang mit

r
Auf Lang- und Mittelstrecken ha-
ben afrikanische Läufer die Nase
vorn. Möglicherweise trägt ihre geneti-
sche Ausstattung zum Erfolg bei.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 95
r
Langjährige Kreuzung führte zur
REPORT

Bodybuilder-Erscheinung der Belgi-


schen Blau-weißen Rinder – Ergebnis ei- Aus urheberrechtlichen Gründen
nes funktionslosen Myostatin-Gens. können wir Ihnen die Bilder leider
nicht online zeigen.

r höriger trotz oder gerade wegen dieser Ver-


änderung mehrere Weltmeistertitel und ei-
nen Olympiasieg im Skilanglauf erringen
konnte. Tatsächlich sind mittlerweile meh-
rere EPOR-Genvarianten bekannt, die im
Zusammenhang mit erhöhter Sauerstoff-
aufnahme und dadurch mit besserer Aus-
dauer stehen könnten. Umfeld und seine persönliche Entwick- Auf demselben Effekt basiert übrigens
»Doch das sind alles nur Hinweise auf lung. Und auch Montgomery ist sich si- die muskulöse Statur der Belgischen Blau-
mögliche Mitspieler im Gesamtgesche- cher: »Wenn Sie mir 100 000 britische weißen Rinder. Der Verlust des Myostatins
hen«, erklärt Wolfarth. »Die menschliche Pfund gäben, um eine Fußballmannschaft ist hier allerdings nicht Ergebnis geneti-
Genetik ist so kompliziert, dass wir sicher aufzustellen, wäre ich gut beraten, Jugend- scher Manipulation, sondern langjähriger
nicht von einem Gen ausgehen können, vereine für die Auswahl von talentiertem Kreuzung. Und auch Menschen scheinen
das alleine die sportlichen Fähigkeiten ei- Nachwuchs zu bezahlen, anstatt das Geld ohne den Wachstumshemmer übermäßige
nes Menschen bestimmt.« Sollte es also ge- für genetische Tests auszugeben.« Muskeln zu entwickeln. Vor viereinhalb
lingen, »Markergene« zu finden, die eine Jahren kam in Berlin ein Junge mit einem
Aussage über Leistungsfähigkeit erlauben, Mäuse, Menschen, Muskelbullen entsprechenden Gendefekt zur Welt. Be-
so kommt ihnen wahrscheinlich nur eine Für Diskussionen hat indes etwas ganz an- reits nach der Geburt fiel seine ungewöhn-
bescheidene Rolle im komplexen Zusam- deres gesorgt: die Vision vom genmanipu- liche Arm- und Beinmuskulatur auf. Heu-
menspiel von hemmenden und stimulie- lierten Supersportler. Forscher um Se-Jin te kann das Kleinkind bereits eine drei
renden Faktoren zu. Lee von der Johns-Hopkins-Universität in Kilogramm schwere Hantel am ausgestreck-
Eine Auswahl von Nachwuchssport- Baltimore haben 1997 monströse Mäuse ten Arm halten. Wie sich die überdimen-
lern mit Hilfe eines Genscreenings, also ei- gezüchtet. Um die Funktion eines Muskel- sionierten Muckis langfristig auf die Ge-
ner systematischen Durchmusterung der proteins namens Myostatin zu untersu- sundheit des Jungen auswirken, ist noch
Erbsubstanz, hält der Sportmediziner da- chen, manipulierten sie das Erbgut der unklar. Kardiologen befürchten etwa Pro-
her in naher Zukunft für wenig wahr- kleinen Nager und schalteten das für die bleme im Herz-Kreislauf-System, denn
scheinlich. Selbst wenn irgendwann bewie- Produktion des Eiweißstoffes verantwortli- auch der Herzmuskel scheint von der Mu-
sen werden sollte, dass eine bestimmte che Gen ab. Das Ergebnis war frappierend: tation betroffen zu sein.
Genvariante im Zusammenhang mit Kraft Aus den sonst so zierlichen Tiere waren Myostatin ist aber nicht der einzige
oder Ausdauer steht, heißt ihr Vorkommen muskelbepackte Riesennager geworden – Faktor, der das Ausmaß der Muskulatur
noch lange nicht, dass die zugeordnete Ei- Schwarzeneggermäuse, wie Lee seine Tiere bestimmt, wie H. Lee Sweeny und Elisa-
genschaft tatsächlich auch ausgeprägt wird. nannte. Demnach hatten die Forscher mit beth Barton von der Universität von Penn-
Denn ob ein Kind zum Leistungssportler dem Myostatin-Gen die Kontrolle für das sylvania in West Philadelphia bewiesen.
wird, entscheiden vor allem sein soziales Muskelwachstum abgestellt. Statt ein Gen auszuschalten, fügten sie ei-
nes hinzu: In ein harmloses Virus, eine so
genannten Genfähre verpackt, schleusten
sie die Erbinformation für den Wachs-
tumsfaktor IGF-1 in die Zellen von Mäu-
sen ein. IGF-1 unterstützt sowohl Wachs-
tum als auch die Reparaturmechanismen
von Muskelzellen. Sweeny und Barton be-
handelten auf diese Weise sowohl ungebo-
rene als auch vier Wochen alte Nager – mit
Erfolg. Die Tiere wurden größer als ihre
Artgenossen und hatten deutlich mehr
Muskeln, die sich auch mit fortschreiten-

r
Mit einem defekten Myostatin-Gen
geboren, hatte ein Berliner Junge
schon als Neugeborener eine ausgepräg-
te Arm- und Beinmuskulatur.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
dem Alter nicht zurückbildeten. Ratten
ließen sich ebenfalls derart verändern. INTERVIEW..................
Wurden die Tiere einem Training unterzo-
gen, bei dem sie mit Gewichten auf dem damit, die zusätzliche Erbsubstanz ge-
Rücken kleine Leitern besteigen mussten, zielt und sicher an den Wirkungsort zu
vergrößerten sich ihre Muskelpakete sogar bringen. Erste Therapieversuche wur-
noch. Das Erstaunlichste: Die dicken Mu- den immer wieder aufgegeben, weil es
ckis bildeten sich in der anschließenden zu Komplikationen kam. In Frankreich er-
Trainingspause nicht zurück. krankten beispielsweise mehrere Kinder
Solche Forschungsansätze sind darauf an Leukämie, nachdem sie wegen einer
ausgerichtet, genetische Erkrankungen wie erblichen Immunschwäche genthera-
die Muskeldystrophie, einen vererblichen peutisch behandelt wurden.
Muskelschwund, zu heilen. Eine Genthe- Spektrum: Müsste man also bei einem
rapie könnte vielleicht endlich Hilfe gegen Gendoping mit größeren Problemen
das bislang tödliche Leiden bringen. Es be- rechnen als bei den herkömmlichen Me-
steht aber durchaus die Gefahr, dass diese thoden?
Technik missbraucht wird, um die Leis- Wolfarth: Auch Doping mit Ampheta-
tungsfähigkeit von Sportlern zu steigern. minen oder Anabolika hat Nebenwir-
Denn auch bei gesunden Menschen könn- Leistungssteigerung kungen. Aber bei genetischen Ansätzen
te ein zusätzlich eingebrachter Wachstums- sind diese nicht abschätzbar und stellen
faktor zu übernatürlichem Muskelwachs-
durch Gendoping? daher eine unkontrollierbare Gefahr dar.
tum führen. Doch noch steckt die Gen- Der Sportmediziner Bernd Wolfarth be- Ein Medikament kann man nach Been-
therapie in den Kinderschuhen und die treut am Münchner Klinikum rechts der den der Sportkarriere absetzen – einge-
meisten Ansätze sind weit von einer An- Isar deutsche Hochleistungssportler. schleuste Gene wären weiter aktiv.
wendung beim Menschen entfernt. So wer- Er beschäftigt sich außerdem mit den Außerdem ist zu befürchten, dass sich
den wohl einige Jahre ins Land gehen, bis molekularbiologischen Grundlagen der das Ausmaß der Veränderungen nicht
der erste Genathlet auf einem olympischen Ausdauerleistung. steuern lässt. Hält das Knochengerüst
Treppchen steht oder – wie Exzehnkämp- einem Zuviel an Muskeln stand? Ein
fer Frank Busemann es ausdrückte – ein Spektrum der Wissenschaft: Die genma- solches Problem wurde bereits in Tier-
deutscher Läufer mit kenianischen Genen nipulierte »Mighty Mouse« hat für eini- versuchen beobachtet, etwa bei Rin-
Rekorde bricht. l gen Wirbel gesorgt. Ist sie der erste dern, die wegen ihrer Muskelmassen
Schritt zum Supersportler? nicht mehr stehen konnten.
Stefanie Reinberger ist promovierte Biologin und Dr. Bernd Wolfarth: Ich weiß nicht, ob es Spektrum: Sie selbst erforschen Genvari-
freie Wissenschaftsjournalistin in Heidelberg. den jemals geben wird. Aber es ist anten, die Sie in Ihrer »Fitmap« allge-
durchaus denkbar, dass irgendwann gen- mein zugänglich machen. Arbeiten Sie
AP

technische Methoden eingesetzt wer- damit nicht dem Doping in die Hände?
den, um eine Leistungssteigerung zu er- Wolfarth: Im Gegenteil, unsere Kartie-
zielen. Das gilt vor allem für Bereiche, rung ist auch eine präventive Maßnah-
die Thema klinischer Forschung sind. me. Je mehr veröffentlicht wird und je
Aus urheberrechtlichen Gründen Spektrum: Zum Beispiel? gläserner die Forschung in diesem Be-
können wir Ihnen die Bilder leider Wolfarth: Gentherapeutische Ansätze reich ist, umso eher kann man Miss-
nicht online zeigen. gegen Muskelschwund oder Blutarmut brauch erkennen und vermeiden.
könnten natürlich auch dem Gesunden Spektrum: Sind Nachweisverfahren für
helfen, Muskeln aufzubauen bezie- Gendoping denn schon ein Forschungs-
hungsweise seine Hämoglobinmasse thema?
zu steigern. Wolfarth: Natürlich. Irgendwann kommt
Spektrum: Sind solche Fälle schon be- der erste Fall und dann heißt es: Warum
kannt? habt ihr euch darauf nicht vorbereitet?
Wolfarth: Nein. Genmanipulierte Tiere Die World Anti Doping Agency vergibt
wie die »Mighty Mice« haben natürlich daher seit drei Jahren Gelder für Projek-
Furore gemacht und die Presse greift te, die zu Nachweismethoden beitra-
solche Themen begierig auf. Es gab so- gen. Klar kann man diese Ergebnisse
gar Zeitungsartikel, die für Olympia 2002 auch umgekehrt für genmanipulative
die ersten genmanipulierten Sportler auf Methoden nutzen. Aber wir müssen
dem Podium vorhergesagt hatten. Das wissen, in welchen Bereichen eine Ma-
war und ist völliger Unsinn. Es gibt bis- nipulation möglich wäre, um geeignete
lang keine uneingeschränkt in der Praxis Kontrollmethoden zu entwickeln.
eingesetzte und sicher funktionierende
Gentherapie. Derzeit kämpft man noch Das Interview führte Stefanie Reinberger.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 97
WISSENSCHAFT IM UNTERNEHMEN
SPORTTECHNIK
WISSENSCHAFT IM UNTERNEHMEN

Die Goldschmiede
In Berlin-Schöneweide bauen Ingenieure die besten Wettkampfboote
und schnellsten Rennräder der Welt.

Von Bernd Müller die der Ruderer aufbringt, weit mehr als
Luftwiderstand und Materialverformung.

M aterialdoping – auf diesen Begriff


reagiert Harald Schaale allergisch.
»Doping ist was Negatives. Wir bewegen
Der Reibungsverlust wächst mit der vom
Wasser benetzten Rumpfoberfläche, und
diese versuchen die Ingenieure mit spezi-
uns aber immer im Rahmen der Regeln.« eller Konstruktionssoftware zu verrin-

FES
Wir, das sind die 50 Mitarbeiterinnen gern. Seit vier Jahren schreibt das Regle-

o
und Mitarbeiter des Instituts für For- ment keine Mindestbreite der Boote Wird aufgewandte Kraft beim Ein-
schung und Entwicklung von Sportgerä- mehr vor und Dalichows Entwürfe wer- tauchen eines Kajakpaddels gut in
ten (FES), und Schaale ist ihr Direktor. den schlank wie Pfeile. Freilich gibt es Antrieb umgesetzt? Zur Analyse messen
Wenn deutsche Ruderer und Kanuten Grenzen. »Irgendwo müssen die Ruderer die Ingenieure die Strömungsgeschwin-
ihre schnittigen Boote im Olympiakanal ja noch sitzen«, schmunzelt der gelernte digkeit (von blau nach rot zunehmend).
von Athen zu Wasser lassen, geht ein Teil Schiffbauer, und genau hier liege die He-
ihres Erfolgs auf das Konto des Instituts rausforderung: physikalische Gesetze und
im Berliner Vorort Schöneweide – wie die Bedürfnisse des Sportlers unter einen
schon all die Jahre zuvor: In Sydney 2000 Hut zu bringen. und Abtauchen im Takt der Ruder und
gewannen deutsche Athleten 20 von 57 durch Wellen ständig verändert, lässt sich
Medaillen mit FES-Geräten, bei den Ruderer haben mehr Gefühl noch nicht verlässlich modellieren. So ge-
Winterspielen 1998 in Nagano waren es Das gilt auch für den Querschnitt der nannte Mehrkomponentensimulationen,
12 von 29. Die 2,7 Millionen Euro, die Boote. Eine Kugel besitzt bei gleichem wie sie in der Autoindustrie zwar propa-
ein Trägerverein aus 22 Sportfachverbän- Volumen die geringste benetzbare Ober- giert, aber erst mit bescheidenem Erfolg
den und dem Nationalen Olympischen fläche, daher fahren alle internationalen eingesetzt werden, dürften für die Sport-
Komitee pro Jahr zahlt, sind also gut an- Spitzenteams mit Booten, deren Rumpf geräteentwicklung erst in ein paar Jahren
gelegt. Für Direktor Schaale zählt nur unter der Wasserlinie einen exakten Halb- von Nutzen sein, meint Ralf Gollmick,
eins: »Unser Ziel ist ein Wettbewerbsvor- zylinder bildet. Weil das Boot dann insta- Abteilungsleiter für computergestützte
teil vor anderen Nationen.« bil wird, legen die Entwickler den Schwer- Konstruktion. »Die ideale Form eines
Ruderboote und Kajaks bilden dabei punkt möglichst tief. Das durch die ex- Bootes mal kurz durchrechnen – das geht
einen Forschungsschwerpunkt. Schon trem leichte Haut aus Laminatschichten nicht.« Das Institut setzt stattdessen auf
kurz nach den Sommerspielen 2000 be- von Karbon und Harz gesparte Gewicht das in über vier Jahrzehnten angesam-
gann Andreas Dalichow mit der Konzep- wird zudem an Bug und Heck zugege- melte Know-how, das in umfangreichen
tion der neuen Modelle. Anhand von ben, um die Drehbewegung zu verrin- Datenbanken gespeichert ist, aber lau-
Wettkampfergebnissen entwirft der Pro- gern. Trotzdem sind die Boote immer fend auch in Simulationssoftware ein-
jektleiter Rudern neue Bootsvarianten schwerer zu beherrschen. »Aber die Ru- fließt. Dort werden Geometrien, Werk-
am Computer, ein Entwicklungszyklus derer haben heute auch mehr Gefühl«, stoffe, Rennstrecken, Fahrzeiten, Regel-
dauert drei bis vier Jahre. Die Marschrich- hat Dalichow festgestellt. werke und nicht zuletzt Informationen
tung ist klar: Der Reibungsverlust zwi- Natürlich spielt die Computersimu- über die Sportler abgelegt.
schen Boot und Wasser muss so gering lation am FES eine große Rolle. Doch die Leicht und dennoch möglichst steif –
wie möglich sein, denn der frisst mit rund Strömung an der Grenze von Luft und diese Devise gilt häufig bei Sportgeräten.
90 Prozent den Löwenanteil der Energie, Wasser, die sich zudem durch das Auf- Deshalb gibt es am FES eine eigene Ab-
teilung, die sich mit neuen Laminatver-
Die FES-Erfolgsgeschichte bindungen aus Kohlefasern beschäftigt.
Denn was sich die Konstrukteure am
Das Institut für Forschung und Entwick- gestuft, dehnte das Institut nach der Computer ausdenken, muss schließlich
lung von Sportgeräten wurde 1962 in Wiedervereinigung seine Aktivitäten in der Werkstatt umgesetzt werden. »Das
der DDR an der Deutschen Hochschu- auf Bobs und Karbonschäfte für Ge- Harz ist das schwächste Glied«, sagt An-
le für Körperkultur und Sport gegrün- wehre aus. Nach der Fusion der För- dré Pokorny, Verfahrenstechniker und
det. Große Erfolge feierte das FES in dervereine von FES und IAT (Institut für die Entwicklung neuer Materialien
den 1980er Jahren vor allem im Rad- für angewandte Trainingswissenschaft zuständig. Unter Hochdruck wird des-
sport, etwa mit dem ersten karbonfa- an der Universität Leipzig) ist auch die halb jeder Überschuss herausgepresst, bis
serverstärkten Fahrradrahmen. Im Ei- Finanzierung durch öffentliche Aufträge das Bauteil wie ein Klotz aus Kohle aus-
nigungsvertrag als erhaltenswert ein- zumindest vorerst gesichert. sieht, nur viel leichter und steifer. Falls
ein Bauteil, etwa ein Fahrradrahmen,

98 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
doch mal bricht, hilft eine simple Metho- widerstand im Wasser wirklich so gering
de bei der Ursachenforschung: Bei 350 ist wie berechnet. Dazu wird ein Zugarm
Grad Celsius verbrennt das Harz, zurück mit einem Kraftmesser im Schwerpunkt
bleiben die dünnen Karbonfaserschich- des Boots befestigt und raue See über
ten und die Rissstelle wird sichtbar. eine Wellenmaschine simuliert. Auch das
»Wissen ist Gold wert«, bekräftigt Olympiaboot für die 470er Segelklasse,
Harald Schaale. Deshalb gebe es ständig das komplett am FES entwickelt wurde,
Abwerbungsversuche, neuerdings aus Ja- hatte hier seine erste Bewährungsprobe.
pan, wo ein neues Institut mit einem Etat
von 40 Millionen US-Dollar dem FES Neue Regeln, neue Räder
den Rang ablaufen soll – bisher ohne Er- Während sich die FES-Experten bei Se-
folg. Einige Nationen haben vergeblich gelbooten auf ein bewährtes Reglement
versucht, an die FES-Erfolge heranzu- verlassen können, glich der Bau von
kommen, es fehlte meist die Kontinuität. Bahnrädern in den 1990er Jahren dem
So wurde das Australian Institute of Sport Wettlauf zwischen Hase und Igel. Kaum
zur Olympiade in Sydney zwar mit 180 waren deutsche Pedalritter mit einem
Millionen Dollar ausgestattet, nach den noch leichteren und schnelleren Fahrrad
Spielen erlahmte aber das Interesse wie- erfolgreich, wurde die Konstruktion über
der. Zurzeit kauft Bahrain Sportwissen- ein neues Regelwerk sofort verboten –
schaftler ein. Wo Geld nicht hilft, ver- um die Chancengleichheit zu wahren,
sucht man es mit illegalen Mitteln – wie lautete stets die Begründung. Doch neue
Hacker aus Italien, die den E-Mail-Ver- Regeln setzt ein Institut wie das FES
kehr des FES abfangen wollten. schnell wieder um und der Abstand in
Doch die entscheidenden Informati- der sporttechnischen Ausstattung der
onen befinden sich ohnehin in den Köp- Nationen wächst also eher noch.
fen der Mitarbeiter. Die arbeiten immer Auch wenn manche Trainer behaup-
an mehreren Varianten gleichzeitig. Erst ten, dass vor allem ihre ausgefeilten Trai-
wenn die Sportler grünes Licht geben, ningsmethoden zur Leistungssteigerung
kommt eine Konstruktion in die engere führen, ist für Harald Schaale klar: »Ohne
ANZEIGE
Wahl. Dann muss zum Beispiel ein neues Technologieentwicklung kann man heu-
Boot im 280 Meter langen Schleppkanal te keine Goldmedaille mehr gewinnen.«
der Schiffbauversuchsanstalt in Potsdam Welchen Anteil Technologie am Erfolg
unter Beweis stellen, dass der Reibungs- der Radler hat, zeigt die Entwicklung des
Stundenweltrekords im »Bahnfahren«.
1972 kam Eddie Merckx in einer Stunde
49,40 Kilometer weit. Der aktuelle Re-

u
Die beiden Radfahrerlegenden Ed- kord von Chris Boardman steht bei 56,70
die Merckx (rechts) und Chris Board- Kilometern. Ein Triumph von Kraft und
man trennen scheinbar Welten: Letzterer Ausdauer? Nachdem das Reglement für
bewältigt pro Stunde fast sieben Kilome- das Material verschärft wurde und die
ter mehr. Doch ein Großteil dieser Leis- Techniker die meisten modernen Ent-
tung geht auf das Konto der Ausrüstung. wicklungen herauskonstruieren mussten,
übertraf Boardman die Radsportlegende
Merckx nur noch um zehn Meter. l

Der Physiker Bernd Müller ist freier Wissenschafts-


Aus urheberrechtlichen Gründen und Technikjournalist in Esslingen.
können wir Ihnen die Bilder leider
nicht online zeigen.

Aus urheberrechtlichen Gründen


können wir Ihnen die Bilder leider
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PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN

PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN
Leichtes Spiel mit dem gentialgeschwindigkeit rotierenden Erde,
die ja außerdem noch schneller um die
Sonne und um die Mitte der Galaxis
Schwerpunkt läuft: Man muss sich nicht im Gerings-
ten um diese Geschwindigkeit kümmern
und kann sie auch nicht mechanisch
messen.
Harte und weiche Stoßexperimente lassen sich im Kopf berechnen, Bei aller Gleichberechtigung gibt es
wenn man die Bezugssysteme geschickt wählt. für jede Wechselwirkung zwischen zwei
Objekten ein spezielles Inertialsystem,
das dadurch ausgezeichnet ist, dass in
Von Norbert Treitz Hat man ein Inertialsystem, dann ist ihm die Beschreibung noch einfacher
jedes Bezugssystem, das sich gegenüber geht: das gemeinsame Schwerpunktsys-

D ie Physik beschreibt – frei nach Ein-


stein – die Natur so einfach wie
möglich, aber nicht einfacher. Von einem
diesem mit konstanter Geschwindigkeit
bewegt, ebenfalls ein Inertialsystem.
(Konstant nach Richtung und Betrag,
tem. Es ist dasjenige System, in dem die
Summe der Impulse gleich null und die
Summe der Bewegungsenergien kleiner
kurvenfahrenden Auto aus betrachtet, wohlgemerkt – rotierende Bezugssyste- ist als in jedem anderen.
fliegen Häuser und Bäume auf krummen me sind nicht gemeint!) Mehr noch: Alle Im Folgenden soll es um Stöße ge-
Bahnen um einen herum, angetrieben diese Systeme sind gleichberechtigt. Man hen; das sind Wechselwirkungen, bei de-
von Scheinkräften. Diesen Standpunkt kann sie durch (systeminterne) mechani- nen Impuls plötzlich, das heißt in ziem-
einzunehmen ist nicht falsch, aber sehr sche Experimente nicht voneinander un- lich kurzer Zeit und bei ziemlich kurzen
ungeschickt. Eine viel einfachere Be- terscheiden. Insbesondere gibt es kein Laufwegen von einem Objekt zu einem
schreibung gelingt in einem Inertialsys- Bezugssystem, das man als absolut ru- anderen überspringt, sodass man die lan- r
tem, das heißt einem Bezugssystem, in hend auszeichnen könnte. Das ist das
dem die Gegenstände nicht Scheinkräf- Relativitätsprinzip. Mit der Relativitäts-
ten, sondern nur systeminternen Kräften, theorie hat es – fast – nur den Namen

u
vor allem aber der eigenen Trägheit (latei- gemeinsam; es gilt auch schon in der Ein kleiner Ball auf einem großen
nisch inertia) folgen. In diesem Fall sagt klassischen (»nichtrelativistischen«) Me- hüpft überraschend hoch, wenn
nämlich der Impulserhaltungssatz (das chanik, von der hier die Rede ist. man beide zugleich fallen lässt.
dritte der berühmten Gesetze aus New- Unmittelbar erfahrbar ist es beim
tons »Principia mathematica«) sehr weit Eingießen von Getränken im fahrenden
gehend, was nicht geschehen kann. ICE oder auf der mit beachtlicher Tan-
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

101
r ge Zeit davor und die lange Zeit danach Der Fall (c) tritt vor allem bei Rei- Autos können von der Fahrbahn abkom-
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN

nahezu konstante Impulsvektoren hat. bung auf, also Übergang von Energie in men und gegen Bäume oder Häuser
Ein Stoß heißt elastisch, wenn die Sum- solche Formen, die man makroskopisch prallen. Wenn also jemand von hinten
me aller Bewegungsenergien vorher und – wenn überhaupt – nur als Tempera- mit 150 km/h auf einen Wagen mit 140
nachher – nicht unbedingt während der turerhöhung bemerkt. Auch der Fall (a) km/h fährt, so ist das nicht gefährlicher
Impulsübergabe! – gleich ist, und total kommt in der Realität vor, wenn näm- als ein Stoß mit 10 km/h auf einen ru-
inelastisch, wenn beide Objekte hinter- lich im Stoß dem System Energie aus an- henden Wagen, vorausgesetzt, man
her relativ zueinander ruhen. Dazwi- deren Quellen zugeführt wird. Frösche macht das nicht auf der schmalen Auto-
schen liegt die Mehrheit der realistischen und Knallfrösche sind typische Beispiele. bahn, sondern auf dem Großen Salzsee
Fälle, die uns aber zu kompliziert sind. Fall (b) ist der elastische Stoß. Wegen ohne Hindernisse rundherum.
der Betragsgleichheit der Impulse ist im Aus dem gleichen Grund ist in der
Spender gesucht: Zwei Bälle A und B Schwerpunktsystem nicht nur die Sum- Elementarteilchenphysik entscheidend,
stoßen elastisch zusammen. Dabei me der Bewegungsenergien vorher und welche Energie die zusammenprallenden
springt eine Impulsdifferenz dp→ von A nachher dieselbe, sondern jeder der bei- Teilchen in ihrem gemeinsamen Schwer-
nach B, das heißt, A hat nachher den den Bälle bekommt am Ende seine Be- punktsystem haben. Ein Collider, in
Impuls dp→ weniger, B mehr als vorher, wegungsenergie genau wieder; während dem Elementarteilchen frontal aufeinan-
und wir wollen etwas spezieller anneh- des Kontakts kann sie ganz oder teilwei- der geschossen werden, erzielt weit höhe-
men, dass wir kein Überspringen von se als Verformungsenergie zwischengela- re Kollisionsenergien als ein klassischer
Drehimpuls zu betrachten haben. Wer gert sein. Im Falle einer Anziehungskraft Beschleuniger, der die Teilchen gegen ein
gibt nun wem Bewegungsenergie? Wenn ist die Bewegungsenergie während des ruhendes Target schleudert. In der Rela-
Ball A vorher ruht und nachher nicht Kontakts sogar größer als vorher und tivitätstheorie ist zwar der Zusammen-
mehr, ist er Empfänger von Energie. nachher. hang zwischen Energie und Impuls an-
Wenn B vorher ruht, ist es umgekehrt: A Beim elastischen Stoß zweier Objek- ders als in der klassischen Physik, das Er-
ist Spender. Wegen des Relativitätsprin- te im gemeinsamen Schwerpunktsystem gebnis ist jedoch qualitativ ganz ähnlich.
zips sind das möglicherweise nur zwei wird also zwar Impuls, aber keine Ener-
Beschreibungen desselben Vorgangs in gie übertragen – ein gewöhnungsbedürf- Huckepack fallende Bälle: Lassen Sie
zwei Inertialsystemen. tiges Ergebnis. Unter einem Wechsel des mit zwei Händen zwei deutlich verschie-
Wir können uns die Sache bequem Bezugssystems ändern sich nicht nur Im- den schwere Bälle von möglichst guter
machen und in allen Fällen das beiden pulse und Energien, sondern möglicher- Elastizität wenige Dezimeter tief auf den
Bällen gemeinsame Schwerpunktsystem weise auch die Rollen von Spendern und Tisch fallen derart, dass beim Start der
verwenden: Vorher haben die Bälle zwei Empfängern der Energie. leichte lose genau mitten auf dem schwe-
entgegengesetzte Impulse gleichen Be- ren liegt. Der leichte springt dann über-
trags, nachher auch; allerdings hängen Frontaler Zusammenstoß: Am Biertisch raschend hoch und übersteigt dabei sei-
deren (entgegengesetzte) Richtungen sitzen die Helden der Autobahn und dis- ne Starthöhe (Bild S. 101). Offenbar be-
von Details des Kontakts ab – die kutieren, welcher Unfall schwerer sei: kommt er Energie vom schweren, aber
schlechte Billardspieler dem Zufall über- wenn zwei gleich schwere Autos frontal wieso?
lassen. Dank dieser Symmetrie muss mit den Geschwindigkeiten v und –v Mit einer Betrachtung im gemeinsa-
man im Schwerpunktsystem nur drei zusammenstoßen, oder wenn eins davon men Schwerpunktsystem kann man das
Fälle unterscheiden: Die Beträge der steht und das andere von vorne mit 2v fast ohne Rechnung einsehen: Der erste
beiden Impulse sind nach dem Stoß dagegen fährt. Sie meinen wegen der Stoß erfolgt zwischen dem unteren,
r (a) größer als vorher, gleichen Geschwindigkeitsdifferenz, dass schweren Ball und der noch viel schwe-
r (b) so groß wie vorher oder beides gleich schlimm sein müsse. Zwei reren Erde. Das gemeinsame Schwer-
r (c) kleiner als vorher. Physikstudenten hören das und wissen punktsystem unterscheidet sich fast gar
es wegen der Formel für die Bewegungs- nicht vom Laborsystem, in dem die Be-
ZUR ERINNERUNG energie besser (Kasten links): Im zweiten obachter auf der Erde sitzen. Wenn wir
Fall sei die Energie beider Wagen zusam- die Geschwindigkeit am Ende des freien
Für den Impuls p→ und die kinetische men doppelt so groß und der Unfall also Falls –v nennen, so kehrt der Ball beim

Energie E eines Massenpunkts der schlimmer. Wer hat Recht? Kontakt mit dem Tisch (beziehungswei-
Masse m, der sich mit der Ge- Der unmittelbare Stoß hat wenig mit se dem Planeten) nach oben um und

schwindigkeit v bewegt, gelten die den Geschwindigkeiten relativ zur Stra- steigt mit +v auf. Der leichte ist aber im-
Formeln ße zu tun, und die für Zerstörung oder mer noch mit –v unterwegs, und beide
→ →
p = mv Verformung »nutzbare« Energie ist die bekommen nun einen engeren Kontakt,
und Bewegungsenergie im Schwerpunktsys- während der untere Ball den Kontakt
E = (m/2) v 2 tem, also in beiden Fällen die gleiche. In- zum Planeten verliert. Wenn wir nun
→ →
v und p sind Vektoren, was zum sofern haben die Biertischexperten idealisierend die Masse des kleinen Balls
Beispiel bei der Addition von Impul- Recht. Der Unterschied kann aber bei als vernachlässigbar gering annehmen,
sen zu beachten ist. Mit v (ohne einem Folgeereignis bedeutsam werden: ruht der schwere Ball im gemeinsamen

Pfeil) wird der Betrag des Vektors v Im zweiten Fall bewegt sich der gemein- Schwerpunktsystem beider Bälle; der
bezeichnet. same Schwerpunkt weiter, gedämpft leichte kommt von oben mit –2v in die-
durch Reibung mit der Straße, und die sem Schwerpunktsystem an und wird

102 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
Die Swing-by-Technik

240
Eine Raumsonde (blau) fliegt fast frontal 220
200
auf einen Planeten (rot) zu und umrun- 180
160
det ihn in einer sehr eng anliegenden
140
Hyperbel. Das linke Bild zeigt oben die
0 40 80 120 160 200 240
Bahn im heliostatischen Bezugssys- 130
131
tem (in dem die Sonne ruht), darunter 120
100
80
dieselbe Bahn im Schwerpunktsystem 60 40 20 0

von Planet und Raumsonde, das we-


gen der geringen Masse der Letzteren
mit dem Bezugssystem des Planeten 129 132

praktisch identisch ist. Die gelben Qua-


240 133
drate an den Geschwindigkeitsvekto- 200
220 128

180 127 134


ren zeigen die Bewegungsenergie des 160 126

Raumschiffs an, gemessen im jeweili- 135 120 134


140
gen Bezugssystem; die kleinen blauen 110 150
160

Zahlen bezeichnen Zeitpunkte in will- 130 H P


120
kürlichen Einheiten. 100 80
60 40 20 0

Das rechte Bild zeigt die Geschwindig- NORBERT TREITZ / SDW


keit des Raumschiffs (Endpunkte der
Geschwindigkeitsvektoren) zu den ver- die Lage H bzw. P des Nullpunkts und die energie »unendlich weit« vor und nach
schiedenen Zeiten des Swing-by-Vor- Bahn der Raumsonde ist ein Kreis, der im dem Stoß gehören, also bei maximaler
gangs. In dieser Darstellung (dem »Ge- Grenzfall der Parabelbahn durch P geht. Energie des Schwerefelds, die ebenso be-
schwindigkeitsraum«) unterscheiden Der kleine grüne Kreis um P enthält alle quem wie irreführend als Nullpunkt der
sich beide Bezugssysteme nur durch Geschwindigkeiten, die zu der Bewegungs- Energie verwendet wird.

durch den Kontakt reflektiert, also hat er am Boden ruht. Dagegen würde er in Geschwindigkeit des Raumschiffs erheb-
nachher +2v darin und +3v im Laborsys- dem idealisierten ersten Fall so hoch lich ändern.
tem Erde. Damit steigt er bis zum Neun- springen, als gäbe es den leichten gar Nur sind Planeten leider nicht ge-
fachen der Starthöhe, denn die Bewe- nicht, also bis zur Starthöhe. polstert und auch aus anderen Gründen
gungsenergie geht quadratisch mit der Die Bewegungsenergie im Laborsys- als Reflektoren für Raumschiffe ungeeig-
Geschwindigkeit, und die Schwereener- tem war vor beiden Stößen 2mv 2, wenn net. Da hilft ein Trick: Für einen abrup-
gie ist so gut wie proportional zur Höhe wir die Massen m und 3m nennen. Nach ten Richtungswechsel auf dem Schulhof
(»homogenes Feld«). beiden Stößen hat der leichte Ball diese kann man, statt sich von einer Wand ab-
Etwas mehr rechnen muss man, Energie ganz für sich allein. zustoßen, auch um eine Säule oder einen
wenn der leichte Ball nicht mehr unend- freundlicherweise anwesenden Mitschü-
lich leicht ist. Wenn Sie zwei Bälle guter Planeten als Impulsspender: Nehmen ler herumschwingen. Im letzteren Fall
Elastizität mit einem Massenverhältnis wir an, dass wir eine Fernsehkamera mit bewirken die Arme eine Anziehung. Pla-
von 1 : 3 haben, können Sie einen voll- Zubehör zu fernen Planeten schießen neten stellen uns hierzu ihr Gravitations-
ständigen Transfer der im Laborsystem wollen, um sie und ihre Satelliten aus feld zur Verfügung. Zielt das Raumschiff
vorhandenen Bewegungsenergie errei- der Nähe anzusehen. Leider ist der gravi- knapp neben den Planeten, so läuft es
chen: Auch hier hat der schwere Ball tative Potenzialtopf der Sonne sehr tief, im gemeinsamen Schwerpunktsystem
nach dem ersten Stoß die Geschwindig- und wir kreisen mit der Erde ziemlich auf einer Hyperbel. Von dieser brauchen
keit +v und der leichte –v, aber der ge- weit unten darin. Wenn das Raumschiff wir fast nur die Asymptoten als Nähe-
meinsame Schwerpunkt steigt mit +v /2. heliostatisch (das heißt relativ zu einem rung für Hin- und Rückweg. Wenn der
Relativ zu diesem hat daher zwischen Inertialsystem, in dem die Sonne ruht) Planet nicht punktförmig ist, dann ist
den beiden Stößen der schwere Ball die mit 10 km/s läuft, ist das schon nicht eine Richtungsänderung um 180 Grad
Geschwindigkeit +v /2 und der leichte schlecht, aber viel zu wenig. Wenn man allerdings nicht erreichbar, weil der
–3v /2. Beide drehen beim zweiten Stoß das Gerät mit 10 km/s gegen einen hin- Scheitel der Bahn sonst in den Planeten
nur die Vorzeichen um, und die Rück- reichend elastisch gepolsterten Planeten eintauchen müsste. Weit draußen auf
rechnung ins Laborsystem ergibt 0 für wirft, hat seine Geschwindigkeit nach den Asymptoten haben wir in gleichen
den schweren und +2v für den leichten. dem Abprallen eine andere Richtung Abständen gleiche Beträge der Ge-
Dieser kann also auf die vierfache Start- und denselben Betrag – relativ zum Pla- schwindigkeit des Raumschiffs – relativ
höhe steigen, während der schwere ohne neten. Wenn der aber seinerseits in Be- zum Planeten. Uns interessieren aber die
irgendwelche Reibungsvorgänge sofort wegung ist, kann sich die heliostatische heliostatischen Geschwindigkeiten. r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 103

v1

v1
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN


v1 →
v2

v1

→ →
v v2

v2
vorher während des Stoßes nachher

v2

o
liegen die Bälle vor dem Stoß im Schwer- Beim elastischen Stoß zweier Bil-
punktsystem symmetrisch im Abstand lardbälle, dargestellt im Geschwin-
v /2 vom Nullpunkt. Das muss nach ei- digkeitsraum (links im Laborsystem,
nem elastischen Stoß wieder so sein oben im Schwerpunktsystem), ist die Ge-
(nicht aber während dessen). Die Eintra- samt-Bewegungsenergie hinterher die
r Wie beim Stoß der Bälle zeigt sich gungen liegen also hinterher auf dem gleiche wie vorher, wie aus dem Satz des
hier die entscheidende Stärke der Ener- gleichen Kreis mit Radius v /2 um den Pythagoras folgt. Nur während des Sto-
gie- und Impulsbilanz: Wir können die Nullpunkt einander gegenüber. (Bei ei- ßes steckt ein Teil der Energie in der De-
Geschwindigkeiten »vorher« und »nach- ner Bewegung in allen drei Dimensionen formation der Bälle.
her« bestimmen, ohne uns um die De- ist der Kreis durch eine Kugel zu erset-
tails zu kümmern. Wir müssen nicht zen.) Nennen wir die neuen Geschwin-
einmal wissen – und können von weitem digkeiten v→1 und v→2, so bilden die Punkte
auch gar nicht sehen –, ob es sich um 0, v→, v→1 und v→2 die Ecken eines Recht- als Deformationsenergie zwischengela-
Anziehung oder Abstoßung handelt. ecks (Bild links, oben). gert. Die Richtung der übertragenen Im-
Nehmen wir als heliostatische Geschwin- Dem Übergang vom Schwerpunkt- pulsdifferenz haben wir bisher als zufäl-
digkeiten vorher –10 km/s für das zum Laborsystem – das heißt dem Sys- lig angesehen. Bei kugelrunden Bällen ist
Raumschiff und +20 km/s für den Pla- tem, in dem der Billardtisch ruht – ent- sie einfach die Richtung zwischen den
neten an, so hat die Relativgeschwindig- spricht im Geschwindigkeitsraum nichts Mittelpunkten während des Kontakts.
keit vorher und nachher den Betrag 30 weiter als eine Verschiebung des Null- Ein fast genau vorwärts weglaufender
km/s. Im Falle fast vollständiger Rich- punkts. Der Vektor v→, also die Ge- Ball bekommt fast die ganze Energie, ein
tungsumkehr kann das Raumschiff da- schwindigkeit des stoßenden Balls vor- fast rechtwinklig weggestoßener fast gar
her mit fast 50 km/s heliostatisch weiter- her, ist nun die Diagonale des Rechtecks keine. Welcher Ball das jeweils ist, ist
reisen. Das ist das Prinzip hinter der oder, wenn man das Rechteck entlang beim fast genau zentralen Stoß anders als
»Swing-by«-Technik, das den Voyager- dieser Diagonale halbiert, die Hypotenu- beim knapp streifenden.
Raumsonden die weite Reise durch das se eines rechtwinkligen Dreiecks. Dessen Wahrscheinlich hat Pythagoras von
ganze Sonnensystem ermöglichte. Erst Katheten werden durch die beiden Ge- Samos nicht Billard gespielt. Eigentlich
vor einem Monat erreichte auch die schwindigkeitsvektoren »nachher« gebil- schade, denn er hätte eine schöne
Sonde »Cassini« ihr Ziel, das Ringsystem det (Bild links, unten). Anwendung für den nach ihm be-
des Saturns, indem sie sich en passant zu- Auf diese schlichte Weise erkennt nannten Satz finden können: die Um-
sätzlichen Impuls bei der Venus (zwei- man nicht nur, dass nach dem Stoß die verteilung der Bewegungsenergie beim
mal), der Erde und dem Jupiter holte Bälle auf zueinander rechtwinkligen Bah- Billardstoß. l
(siehe S. 48). nen einander davonlaufen, sondern auch,
Allgemein kann das weitaus leichtere dass die gesamte Bewegungsenergie wie-
Norbert Treitz ist apl. Professor
Objekt fast das Doppelte der Geschwin- der erreicht wird. (Sie bleibt streng ge- für Didaktik der Physik an der
digkeit des schwereren zugewinnen; das nommen nicht erhalten, weil sie wäh- Universität Duisburg-Essen. Sei-
gilt für jedes Inertialsystem. Aus diesem rend des Stoßes teilweise als elastische ne Vorliebe für erstaunliche und
Grund ist auch ein vorher fast ruhender Energie zwischengelagert wird.) Denn möglichst freihändige Versuche
und Basteleien sowie anschau-
Tischtennisball doppelt so schnell wie nach dem Impulserhaltungssatz muss v→
liche Erklärungen dazu nutzt er
der Schläger. die Vektorsumme aus v→1 und v→2 sein, das nicht nur für die Ausbildung von Physiklehrkräf-
heißt, die drei Vektoren müssen ein Drei- ten, sondern auch zur Förderung hochbegabter
Pythagoreisches Billard: Beim Billard eck bilden, und nach dem Satz des Pytha- Kinder und Jugendlicher.
sind die Bälle gleich schwer. Deswegen goras muss dieses Dreieck rechtwinklig Nüsse & Rosinen. Von Norbert Treitz. CD mit
läuft die Addition ihrer Impulse auf die sein, denn aus der Energiebilanz folgt Buch. Harri Deutsch, Frankfurt (Main), in Vorbe-
Addition ihrer Geschwindigkeiten hi- (wegen der gleichen Massen) v 2 = v12 + v22. reitung
naus. Die Darstellung im Geschwindig- Während des Stoßes wandern die Brücke zur Physik. Von Norbert Treitz. 3. Auflage,
keitsraum, die wir im Kasten auf der vo- Spitzen der Pfeile v→1 und v→2 auf geraden Harri Deutsch, Frankfurt (Main) 2003
rigen Seite kennen gelernt haben, liefert Linien von der Anfangs- zur Endposi- Spiele mit Physik! Von Norbert Treitz. 4. Auflage,
hier überraschend schnell ein klares Bild. tion. Unterwegs ist das Dreieck nicht Harri Deutsch, Frankfurt (Main) 1996
Ein Billardball trifft mit der Ge- rechtwinklig und die Quadratsumme der
Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei www.
schwindigkeit v→ einen auf dem Tisch ru- Geschwindigkeiten vorübergehend klei- spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
henden Ball. Im Geschwindigkeitsraum ner als v 2, denn ein Teil der Energie wird

104 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
REZENSIONEN
GEOGRAFIE Alpen als monofunktionalen »Ergän-

REZENSIONEN
Werner Bätzing zungsraum« zu sehen, vor 1945 zur mili-
Die Alpen tärischen Grenzsicherung, danach für Frei-
zeit und Erholung. In Italien haben sich
Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft
traditionelle Strukturen noch am stärks-
C. H. Beck, München 2003. 431 Seiten, € 34,90
ten erhalten, wenn auch in überalterten
und erstarrten Formen. Nicht zufällig fin-

D
ie moderne Nutzung in der In- stand jene traditionelle Welt im Alpen- det hier zurzeit die größte Entsiedlung
dustrie- und Dienstleistungsge-raum, die erst im 20. Jahrhundert unter- statt. Frankreich dagegen hat seit der Ver-
gegangen ist.
sellschaft gefährdet die ökologi- abschiedung des Berggebietsgesetzes 1985
sche Stabilität und biologische Vielfalt desDie folgenden zwei Kapitel behan- die Trendumkehr geschafft: Seit gut 20
hochsensiblen Lebensraums Alpen. Die deln diesen Untergang und den darauf Jahren wächst in seinen Alpenregionen
Rückkehr zur vorindustriellen Gesell- folgenden großen Strukturwandel – der die Bevölkerung wieder erheblich an.
sich sehr ungleichmäßig ausprägt, da der
schaft ist undenkbar. Ziel ist daher, die Im abschließenden Abschnitt entwi-
modernen Wirtschafts-, Lebens- und Kul- Alpenraum in den verschiedenen Anrai- ckelt der Autor seine Leitidee der »ausge-
turformen mit traditionellen Erfahrungennerstaaten einen sehr unterschiedlichen wogenen Doppelnutzung«: Eine nach-
zu einem langfristig tragfähigen Gesamt-politischen, wirtschaftlichen, kulturellen haltige Zukunft ist nur realisierbar, wenn
konzept zu verbinden. Mit diesem Buch und mentalen Stellenwert hat. die Alpen sich weder von Europa ab-
leistet Werner Bätzing, Professor für Kul- In föderalistischen Staaten wie der schotten noch in die Einzugsbereiche der
turgeografie an der Universität Erlangen-Schweiz oder Österreich haben periphe- einzelnen Großstädte zerfallen, sondern
Nürnberg, seinen Beitrag dazu. re Räume in der nationalen Politik eine ein eigenständiger und multifunktiona-
erhebliche Bedeutung, ler Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben
was sich in vergleichs- oder wieder werden. Hilfreich bei der
Der hochmittelalterliche Siedlungsausbau war von
weise guten Förder- Umsetzung dieser Idee wäre die Alpen-
derselben Dynamik wie die industrielle Revolution maßnahmen und ge- konvention oder die EU-Gemeinschafts-
ringen räumlichen initiative Interreg III, die der Förderung
Nur zu Beginn des ersten Kapitels Disparitäten niederschlägt. Im eigentlich der großräumigen transnationalen Zu-
»Die Alpen im Agrarzeitalter« beschäftigt zentralistischen Freistaat Bayern spielen sammenarbeit dient. Die Fortsetzung der
sich der Autor mit der physischen Geo- die Alpen eine wichtige Rolle für das gegenwärtigen Wirtschaftsweise würde
grafie: Klima, Vegetation und Geologie. Selbstbild des modernen Bayern mit die ökologischen und kulturellen Grund-
Danach dominieren durchwegs human- »Laptop und Lederhose«. So kommt es, lagen des Alpenraums zerstören.
und kulturgeografische Themen, abge- dass die bayerischen Alpen der mit Ab- Es bleibt zu hoffen, dass möglichst
handelt in strikt chronologischer Folge. stand am stärksten durch flächenhafte viele aktuelle und zukünftige Entschei-
Bätzing schreibt über die ersten Bauern- Übernutzung geprägte Teilraum sind: dungsträger dieses äußerst empfehlens-
gesellschaften, die aus dem Orient kom- Sein Bevölkerungswachstum wird ledig- werte Buch lesen und sich zu Herzen
mend um 5500 v. Chr. den Südwestrand lich von den Zwergstaaten Monaco und nehmen.
der Alpen erreichten, die Bronzezeit mit Liechtenstein übertroffen. Gunther Jauk
ihrem starken Wirtschaftsaufschwung, Zentralistische Staaten wie Italien und Der Rezensent ist Diplomgeograf und Wissen-
die Eisenzeit und Einflüsse der Römer Frankreich dagegen tendieren dazu, die schaftsjournalist in Graz.
wie etwa Weinanbau und ein gut ausge-
bautes Straßennetz.
Mit dem Zerfall des Römischen Rei-
ches im 5. Jahrhundert entvölkerten sich
die Alpen; erst um das Jahr 1000 setzte
der hochmittelalterliche Siedlungsausbau
ein, eine Umgestaltungsphase, die in ih-
rer Dynamik nur noch mit der industri-
ellen Revolution im 19. Jahrhundert ver-
gleichbar ist. Voraussetzungen hierfür
waren die politische Konsolidierung Eu-
ropas nach den militärischen Siegen über
die Ungarn und Sarazenen sowie eine sig-
nifikante Klimaerwärmung. Damals ent-

r
Eine unternutzte Almfläche im
Gasteiner Tal in 1800 Meter Höhe:
Die Zwergsträucher breiten sich wieder
aus, und die Artenvielfalt geht zurück.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 109
BILDBAND diert, und in der Tat sind seine besten
REZENSIONEN

Art Wolfe (Fotos) und Art Davidson (Essays) Landschaftsbilder komponiert wie Ge-
Landschaften zwischen Himmel und Erde mälde, mit Sonnenuntergängen, deren
wilde Farben man im normalen Leben
Aus dem Amerikanischen von Eva Dempewolf.
Frederking & Thaler, München 2004. 240 Seiten, € 50,– kaum zu sehen bekommt. Unglaublich,
wie viele günstig gelegene Bergseen er
gefunden hat, die er als Naturspiegel zu

L
esen Sie über die Werbepausen Kampf um ihre Erhaltung aufgenom- verwenden wusste. Wüsten und Meere
hinweg. In mehreren über das men, insbesondere die 1970 gegründete konnte er nicht ganz so eindrucksvoll in
Buch verteilten »Essays« versucht Organisation Natural Resources Defense Szene setzen.
der Publizist Art Davidson uns immer Council (NRDC), zu deren Werbeträger Aber die besten Bilder möchte man
wieder von derselben Botschaft zu über- sich das Buch macht. Nichts gegen die sich am liebsten noch viel größer an die
zeugen: Die Natur ist grandios, vor al- Botschaft; es ist nur die Wiederholung, Wand hängen.
lem die unberührte, der Mensch ist die stört. Alice Krüßmann
schlecht, weil er sie zerstört, aber einige Die Stärke von Art Wolfe liegt in den Die Rezensentin ist Bildredakteurin bei Spektrum
wenige Berufene haben den heroischen Bergen. Eigentlich hat er Malerei stu- der Wissenschaft.

Monte Fitz Roy im Nationalpark


»Los Glaciares« (Argentinien)

MEDIZIN schung verfolgt Yam die Entdeckungs-


Philip Yam geschichte dieser außergewöhnlichen
The Pathological Protein Krankheitserreger.
Stephen Churchill, 19, stirbt 1995
Mad Cow, Chronic Wasting, and Other Deadly Prion Diseases
binnen eines Jahres an einer mysteriösen
Copernicus, New York 2003. 290 Seiten, $ 27,50
Krankheit, die ihn zuletzt in völliger De-
menz versinken lässt. Die Autopsie legt

S
ie gehören zu den zähesten und töd- schen als auch die Traberkrankheit bei einen massiven Verfall seines Gehirns of-
lichsten Krankheitserregern, die Schafen, die Rinderseuche BSE und an- fen: Ganze Areale sind von mikrosko-
dem Menschen bekannt sind – ko- dere tödlich verlaufende Hirnerkrankun- pisch feinen Löchern durchsiebt, das zer-
chendes Wasser und gängige Sterilisati- gen von Mensch und Tier. störte Nervengewebe sieht unter dem
onsmethoden können ihnen nichts an- Diesen Prionen-Erkrankungen hat Mikroskop aus wie ein Schwamm. Die
haben. Und sie existieren in jedem Men- Philip Yam, Redakteur bei Scientific Diagnose ist klar, aber höchst unge-
schen: Prionproteine. American, sein schriftstellerisches Erst- wöhnlich: Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
Aber erst wenn sich diese Eiweiße in lingswerk gewidmet. Von den ersten Be- (CJD), ein sehr seltenes Leiden, das nor-
Nervenzellen zu einer fehlerhaften Form obachtungen mysteriöser neurologischer malerweise erst bei älteren Menschen zu
auffalten, erlangen sie ihr fatales Poten- Krankheiten zu Beginn des 20. Jahrhun- geistigem Verfall und Tod führt.
zial: Dann verursachen sie sowohl die derts bis zu den neuesten Erkenntnissen Die Entdeckung untypischer Amylo-
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit des Men- der molekularbiologischen Prionenfor- idplaques im Nervengewebe von Stephen

110 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004
führt Yam und seine Leser ins Neugui-
nea der 1950er Jahre, wo der exzentri-
sche Neurologe Carleton Gajdusek ver-
sucht, der rätselhaften Kuru-Epidemie
der eingeborenen Papua auf die Spur zu
kommen. Der Nachweis des Übertra-
gungswegs brachte ihm 1976 den No-
belpreis ein: Verstorbene Stammesange-
hörige wurden verspeist und mit ihnen
die Krankheitserreger aus dem Nerven-
gewebe – die Toten infizierten ihre kan-
nibalischen Stammesgenossen.
Doch welcher Natur war dieser Erre-
ger? Yam versteht es hervorragend, die
Spannung der jahrzehntelangen Fahn-
dung nach der geheimnisvollen Ursache
der Hirnkrankheiten auf seine Leser zu
übertragen. Der Erreger war viel zu klein,
um ein Bakterium oder ein Virus zu sein,
und außerdem wesentlich unempfindli-
cher als alle bis dahin bekannten Keime.
Schließlich wagte es Stanley Prusiner
nach Ausschluss aller anderen Möglich-
keiten als Erster, das Unmögliche zu pos-
tulieren: Kein herkömmlicher Krank-
heitserreger, sondern allein ein Protein
musste hinter den rätselhaften Nerven-
krankheiten stecken.
Ein Dogma der Mikrobiologie war
gebrochen. Eine Krankheit, die sich ANZEIGE
ohne Erbgut übertragen und verbreiten
sollte? Undenkbar! Obwohl die Prion-
theorie auch heute noch nicht unum-
stritten ist, wurde Prusiners Forschung
1996 mit dem ruhmträchtigen Anruf
aus Stockholm belohnt.
Derweil waren Prionen-Erkrankun-
gen in den Mittelpunkt auch des gesell-
schaftlichen Interesses gerückt: durch
den Ausbruch der BSE-Seuche in den
1980er Jahren und das anschließende
Auftauchen einer neuen Variante der
CJD, die nicht nur Stephen Churchill,
sondern bis März 2003 noch mehr als
130 weitere, meist junge Menschen das
Leben gekostet hat.
Mit diesen Ereignissen wird Yams
wissenschaftlicher Krimi zu einem politi-
schen; er ruft die gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Folgen der BSE-Krise ins
Gedächtnis, die besonders Großbritanni-
en bis heute beschäftigen. Das endgültige
Eingeständnis der damaligen Regierung
unter Premierminister Major, dass die
Rinderseuche nicht nur eine rein veteri-
närmedizinische Katastrophe ist, sondern
auch auf den Menschen übertragbar sein
könnte, war für die Briten und für alle
von BSE betroffenen Länder ein trauma-
tisches Erlebnis. r

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 111
r Als US-Amerikaner geht Yam auch MEDIZIN
REZENSIONEN

auf die spezifischen Probleme seines Lan- Jörg Blech


des ein: Bei BSE handelt es sich nicht Die Krankheitserfinder
nur um eine Gefahr »da draußen« im al-
Wie wir zu Patienten gemacht werden
ten Europa; auch die »Chronic Wasting
S. Fischer, Frankfurt am Main 2003. 256 Seiten, € 17,90
Disease«, die bei Hirschen und Elchen
Nordamerikas auftritt, könnte wie BSE

E
auf den Menschen übertragbar sein. igentlich, sollte man meinen, gibt zumindest irgendwie Behandlungsbe-
Insgesamt stellt Yams erstes Buch ein es auf Erden von Natur aus genü- dürftiger wird.
solides Stück Journalismus dar: span- gend Krankheiten, und man muss Da gibt es etwa das »Aging Male
nend geschrieben, aber fern von Sensa- nicht noch weitere hinzufantasieren. Syndrome«, die Menopause des Mannes.
tionsmacherei; anspruchsvoll, aber auch Aber genau das tun bestimmte Interes- Die wissenschaftliche Basis für die
für naturwissenschaftliche Laien hervor- sengruppen, behauptet der Journalist »männlichen Wechseljahre« ist dürftig.
ragend verständlich und schließlich voll Jörg Blech in seinem neuen Buch. Dem Nichtsdestotrotz propagieren Hormon-
interessanter Details und Anekdoten, die markigen Titel »Die Krankheitserfinder« firmen die »Andropause« als ernste, weit
in ihrer Gesamtheit den perfekten Span- hat der Verlag die Anweisung »Lesen Sie verbreitete Erkrankung mit Symptomen
nungsbogen halten. So merkt der Leser dieses Buch, bevor Sie zum Arzt gehen!« wie Stimmungsschwankungen, Schlaf-
kaum, dass er durch einfaches Schmö- hinzugefügt. Und der Rücktitel spricht störungen und Leistungsabfall, denen
kern unglaulich viele Informationen auf- von einem »Aufklärungsbuch«, in dem mit Testosteron-Gelen in Monatspa-
nimmt. der Autor »enthüllt, wie wir systematisch ckungen ab 65 Euro abzuhelfen sei.
Einziger Wermutstropfen: Die weni- zu Patienten gemacht werden«.
gen Abbildungen von kranken Tieren, So viel Anmache macht misstrauisch. Wenn man wirklich zum Arzt muss,
Fleisch verzehrenden Politikern und Schon wieder einer dieser endlos vielen
Hirnarealen ergänzen zwar den erzählen- Gesundheitsratgeber über Analfisteln, sollte man dieses Buch nicht lesen
den Charakter des Buchs, aber die eine Pilzbefall oder das Zappelphilippsyn-
oder andere zusätzliche sachliche Abbil- drom, die beim Leser außer Panik nichts Ein besonders schönes Beispiel dafür,
dung hätte doch zum Verständnis man- bewirken? wie man sich therapiebedürftige Men-
cher Mechanismen beigetragen. So hätte Der provokante erste Eindruck schen generieren kann, ist die sexuelle
eine dreidimensionale Strukturabbildung täuscht: Der Inhalt des Buchs stimmt Unlust der Frau. Zur »weiblichen sexuel-
des Prionmoleküls den – zweifelsohne weniger nutzlos-aufgeregt als zutiefst len Dysfunktion« pathologisiert, soll sie
sehr anschaulichen – Erklärungen Yams nachdenklich. Jörg Blech will an diversen ausgerechnet mit dem Medikament ku-
zur Prionenstruktur wertvolle Schützen- Beispielen aufzeigen, wie Krankheiten er- rierbar sein, das den Hersteller Pfizer zur
hilfe gewähren können. Ist es doch gera- funden werden, um pharmazeutischen weltgrößten Pharmafirma hat aufsteigen
de die Formänderung vom normalen Unternehmen neue Märkte für ihre Pro- lassen: der Männerpille Viagra – einzu-
zum pathogenen Protein, die Prionen so dukte zu erschließen und Arztpraxen nehmen, wohlgemerkt, von der Frau.
gefährlich macht. schleichend in Verkaufsstätten umzuwan- Keine »Indikationserweiterung«, son-
Moritz Nowack deln. Dies gelingt zumeist, indem hin- dern eine Erfindung im wörtlichen Sinn
Der Rezensent hat Biologie studiert und promo- länglich bekannte Krankheitsbilder so er- ist wohl das »Sissi-Syndrom«, eine
viert zurzeit am Max-Planck-Institut für Züch- weitert oder umgedeutet werden, dass Krankheit, die erstmals 1998 in den Me-
tungsforschung in Köln. aus einem Gesunden ein Kranker oder dien auftauchte. Menschen, die darunter

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leiden, wurde behauptet, sind aktiv und
lebensbejahend, allerdings nur dem An-
schein nach. Denn im Grunde sind sie
depressiv und damit Kandidaten für Psy-
chopharmaka, wie die legendäre und in
dem gleichnamigen Film verewigte ös-
terreichische Kaiserin Elisabeth (»Sissi«).
Mediziner der Universitätsklinik in
Münster, schreibt Blech, haben das be-
nannte und angeblich drei Millionen
Menschen quälende Leiden mittlerweile
als Schöpfung der Industrie enttarnt.
Der Autor lässt es nicht bei der Auf-
zählung mehr oder weniger eindrückli-
cher Beispiele für »neue« Krankheiten be-
wenden. Er zeichnet vor allem die raffi-
nierten Marketingstrategien nach, mit
denen die Gesundheitsindustrie ihre
Kunden – Ärzte und ihre Patienten – er-
reicht. Da werden vermeintlich unabhän-
gige Meinungsforschungsinstitute ange-
heuert, teure PR- und Werbeagenturen
beauftragt, Professoren angesehener Uni-
versitäten als Meinungsbildner – bei Insi-
dern »Mietmäuler« genannt – gedungen
und Journalisten als unkritische »Multi-
plikatoren« benutzt. Der enormen Medi-
enpräsenz des genannten Sissi-Syndroms,
die von Fachzeitschriften über »Spiegel«
und »Stern« bis zur Yellow Press reichte, ANZEIGE
rühmt sich beispielsweise noch heute eine
PR-Firma aus Oberursel auf ihrer Inter-
netseite. Man habe, heißt es dort, eine
»neue Depression« etabliert, die mittler-
weile von Medizinern und Patienten ak-
zeptiert sei. Zu den Erfolgen des Unter-
nehmens zählt auch ein lanciertes Sach-
buch, verfasst von einer Ärztin und
Medizinjournalistin und eingeleitet vom
Chefarzt einer neurologischen Fachkli-
nik. Bis zu 80 Prozent aller Artikel und
Beiträge zu Medizinthemen in den Me-
dien, schreibt Blech, sollen auf eine der-
art gezielte, von langer Hand geplante
Öffentlichkeitsarbeit zurückgehen.
Man sollte das Buch nicht lesen,
wenn man wirklich zum Arzt muss. Wer
krank ist, braucht nicht noch mehr Be-
unruhigung, sondern Vertrauen. Aber
man sollte das spannend und populär
geschriebene Buch lesen, um sich die
fließende Grenze zwischen Gesund- und
Kranksein zu vergegenwärtigen und sich
die kritische Frage zu stellen, ob es klug
ist, den Medizinbetrieb allein den Trivi-
algesetzen des Marktes zu überlassen.
Claudia Eberhard-Metzger
Die Rezensentin ist Biologin und Germanistin.
Sie arbeitet als Wissenschaftspublizistin in Mai-
l
kammer an der südlichen Weinstraße.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Q AUGUST 2004 113
I M S E P T EM BER - HEFT 2004 AB 2 4 . AUGUST AM KI O S K
V O VR OSR SC C HH AAU U

Jenseits von Nervenzellen


Einsteins Gehirn besaß nicht Nervenzellen im Übermaß, aber Gliazellen.

JEFF JOHNSON
Diese Begleiter wichtiger Gehirnvorgänge scheinen Signalgebung und
Lernen in hohem Maße direkt zu steuern
JACK UNRUH

WEITERE THEMEN IM SEPTEMBER

Lebensförderndes Methan
Heute sind Methan produzierende
Mikroben auf sauerstofffreie Nischen
verbannt, aber in der Urzeit der Erde, Çatal Hüyük –
als die Sonne deutlich schwächer Stadt der Frauen?
strahlte, sorgten sie für ein lebens- Lange galt Çatal Hüyük, eine der
freundliches Klima ältesten bewehrten Siedlungen der
Menschheit, als eine Domäne des
Matriarchats. Doch warum zeigen die
vielen Bildwerke dann ausschließ-
lich Männer?
FOTO: AIP / ESVA, ILLU: JANA BRENNING

ESA / NASA UND A. ZIJLSTRA

Außergewöhnlicher Tod ge-


wöhnlicher Sterne
In fünf Milliarden Jahren wird die
Sonne in einem spektakulären Finale
verglühen. So wie andere Sterne
ihrer Art wird sie sich in eines der
Die Poincaré’sche Vermutung schönsten Kunstwerke der Natur ver-
Es geht um Eigenschaften dreidimen- wandeln: in einen Planetarischen
sionaler »Flächen« im vierdimensiona- Nebel
len Raum. Ein Rätsel, das Henri Poin-
caré vor hundert Jahren aufgeworfen
hat, scheint endlich gelöst zu sein

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