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KOSMOLOGIE
Die Zeit
vor der
ZEIT
Der Urknall war womöglich
nicht der Beginn von allem
MEDIZIN
Was tun bei
Kreislaufschock?
D6179E
MASSENSTERBEN
Streit um das Ende
der Dinosaurier
EDITORIAL z Reinhard Breuer
Chefredakteur
Verbotene Fragen
W ussten Sie, dass sich einige Arten von Rädertieren seit 70 Millionen
Jahren überaus erfolgreich vermehren – ungeschlechtlich? Warum sie
nicht längst von der Bildfläche verschwanden, ist durchaus ein Rätsel. In dem
Artikel »Die Krux mit dem Sex« auf Seite 58 werden jedenfalls die sonst
gepriesenen evolutionären Vorzüge sexueller Reproduktion kritisch unter die
Lupe genommen.
In der Schule habe ich noch gelernt: Mit geschlechtlicher Fortpflanzung
können schlechte Mutanten wirksamer zurückgedrängt und neue Genvarian-
ten leichter hervorgebracht werden. Aber offenbar ist es keineswegs so of-
fensichtlich, dass Reproduktion per Sex ihren Alternativen immer überlegen
ist. Von »einer der heikelsten Fragen der Biologie« spricht denn auch der ka-
lifornische Biologe Christopher Wills und führt »über dreißig Hypothesen«
an, die derzeit miteinander konkurrieren. Keine Sorge: Es geht beim Thema
Sex, wie auch sonst in diesem Magazin, um seriöse Fragen, die vielleicht nur
nicht so häufig gestellt werden.
Als ein absolutes Tabu galt bis vor wenigen Jahren beispielsweise die Fra-
ge, was vor dem Urknall gewesen sei. Im kosmischen Standardmodell setzt ANZEIGE
die Zeit erst mit dem Urknall ein, ihr
Nullpunkt liegt im »singulären« Ge-
Was Sie schon immer über Sex und burtsmoment der Raumzeit. Ein Da-
den Urknall wissen wollten vor konnte es im Standardszenario
so wenig geben wie ein Außerhalb
des Universums – schon danach zu
fragen war sinnlos. Aber die Urknallsingularität mit unendlich hoher Dichte
und Temperatur trug stets den Makel eines unphysikalischen Anfangs-
zustands.
Im Lichte moderner und – zugegeben – spekulativer Theorien vom Kosmos
dürfen Forscher inzwischen immerhin solche Frage stellen, ohne sich den
Zorn ihrer Fachkollegen zuzuziehen. Als wir vor drei Jahren zum ersten Mal
über ein »All ohne Urknall« berichteten (SdW 8/2001, S. 12), hielt der Münch-
ner Kosmologe Gerhard Börner solche Überlegungen immerhin für legitim,
solange sie nicht als gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis angepriesen
würden. Was die Angelegenheit unterdes-
sen von purer Spekulation unterscheidet,
sind Vorschläge für Beobachtungen, mit
denen sich – zumindest prinzipiell – nach
Spuren eines Kosmos vor dem unsrigen
fahnden ließe (Seite 30).
SPEKTROGRAMM NATURSCHUTZ
Wieder Wölfe in Yellowstone
10 Teleportation von Atomen · Mit Vollgas
Seit im Yellowstone-Nationalpark in
gegen Staus · Sprachbegabter Hund ·
Strom von der Seeschlange u. a. den USA wieder Wölfe leben, regene-
riert sich das Ökosystem
13 Bild des Monats
Urtier im Ei
FORSCHUNG AKTUELL
---------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SE TE 42
14 Rohrpost zwischen Zellen
Über neu entdeckte Nanoröhren werden MED Z N
substanzgefüllte Bläschen ausgetauscht Neues Mittel gegen Schock
16 Wird R2-D2 bald Wirklichkeit? Zu den ge ürch e s en med z n schen Komp ka onen gehör der Schock E ne
Ein sprechender Haushaltsroboter soll Zu a sen deckung könn e he en d e Über ebenschancen zu erhöhen
Pflegebedürftige umsorgen
19 Korallenriffe heizten die Erde auf
Die heutigen Opfer der Erderwärmung
waren einst Täter im Klimageschehen
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SEITE 48
PLANETENFORSCHUNG
THEMEN
Cassini – Ankunft am Saturn
r 24 Wölfe als Naturschützer Während der Orbiter Cassini bereits spektakuläre Bilder vom Ringplaneten sen-
Ihre Rückkehr in den Yellowstone- det, soll in Kürze die Sonde Huygens auf dem größten Saturnmond Titan landen
Nationalpark tat dem Ökosystem gut
r 30 Kosmologie
Gab es ein All vor dem Urknall?
r 42 Neue Behandlung für Schockpatienten
Ein Hormon bietet überraschende Hilfe
bei völligem Kreislaufkollaps
48 Neues vom Ringplaneten
Erste detaillierte Fotos von den Ringen
und Monden des Saturnsystems
r 58 Wofür Sex da ist
Wissenschaftlich lässt sich das
gar nicht so leicht erklären
r 62 Woran starben die Dinosaurier wirklich?
Noch immer wogt der Streit über das
Massensterben am Ende der Kreidezeit
SE TE 58
r 70 Emmy Noether
Die bedeutendste Mathematikerin EVOLUT ON
des 20. Jahrhunderts Die Krux mit dem Sex
r 78 Essay: Gerechtigkeit Fas ede Spez es prak z er Sex und möch e hn auch ke nes a s m ssen
Die Philosophie des John Rawls Dabe g b es v e e fiz en ere Wege s ch or zupflanzen Wo ür a so s Sex
r 90 Olympia e gen ch da?
Siegen dank Training und Forschung:
• Sensortechnik verbessert das Training
• Von der Vorstellung zur Bewegung --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- SEITE 62
• Kann Gentechnik das Training ersetzen?
• Sportgeräte vom Feinsten ERDGESCHICHTE
Endloser Streit um das
Titelbild: Fünf vor zwölf – im klassischen Urknall- Ende der Dinosaurier
modell eine verbotene Angabe. Nach der String- Verursachte der Einschlag eines Him-
theorie jedoch wird aber selbst eine Zeit »vor dem melskörpers im Süden Mexikos das
Urknall« vorstellbar. Massensterben am Ende der Kreide-
Bild: Tom Draper Design; Hintergrund: MSX / IPAC / NASA zeit? Nach jahrzehntelangen Debatten
schien sich diese Theorie durchgesetzt
Die auf der Titelseite angekündigten Themen sind mit
zu haben. Doch Skeptiker erheben
r gekennzeichnet
neue Einwände
REZENSIONEN
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN
KOMMENTAR
20 Wirtschaft forscher als der Staat
Industrie leistet Löwenanteil an Forschung
und Entwicklung in Deutschland
22 Nachgehakt
WISSENSCHAFT IM …
TITELTHEMA KOSMOLOGIE 40 Alltag: Die heimlichen Sieger
56 Rückblick: Mistkäfer-Orientierung im
Die Zeit vor dem Urknall polarisierten Licht u. a.
98 Unternehmen: Die Goldschmiede
WEITERE RUBRIKEN
5 Editorial · 8 Leserbriefe / Impressum ·
89 Preisrätsel · 114 Vorschau
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MATHEMATIKGESCHICHTE
Emmy Noether (1882 – 1935)
Die »Noether-Theoreme« zählen zum SPEKTRUM-PLUS.DE
ZUSATZANGEBOT NUR FÜR ABONNENTEN
Grundbestand der mathematischen
Physik. Ihre geniale Schöpferin hatte
sich gegen Hindernisse durchzuset-
zen, die uns heute völlig antiquiert
erscheinen
------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------ SEITE 78
PHILOSOPHIE
Essay: Metamorphosen der Gerechtigkeit
Der Moralphilosoph John Rawls widmete sein ganzes Leben dem Problem der
Gerechtigkeit
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ENERGIEGEW INNU NG
ASTRONOMIE
NORSK HYDRO
den Ökostrom der Zukunft? Namen nannten. Der Rüde hatte das
betreffende Wort zwar noch nie ge-
hört, brachte aber trotzdem das richti-
ge Objekt. Offenbar begriff er, dass mit
G EN E TIK dem unbekannten Ausdruck das frem-
de Plüschtier gemeint sein musste.
Hitze macht Alge heiß Eine solch abstrakte Denkleistung
traute man bisher nur Menschen zu.
l Volvox-Kolonie mit vegetativ gebildeten Able- Insgesamt kann Rico mit dem Sprach-
gern (dunkelgrün). In der Hitze geht die Kugelalge verständnis eines Dreijährigen mithal-
dagegen auf sexuelle Vermehrung über. ten. Ist er also ein Wunderhund oder
repräsentativ für seine Artgenossen?
Juliane Kaminski, die mit ihm arbeite-
benprodukte des Stoffwechsels, die te, glaubt Letzteres. Ihrer Ansicht nach
biologisches Gewebe zerstören und die haben Hunde sich seit ihrer Domesti-
AURORA NEDELCU
Erbsubstanz DNA schädigen können. zierung vor rund 15 000 Jahren der
Ihre Menge nimmt zu, wenn sich menschlichen Kommunikation ange-
bei steigender Temperatur der Stoff- passt. (Science, 11.6.2004, S.1682)
umsatz der Alge erhöht. Zwar verfügt
Volvox über Mittel, die freien Radikale
Q Gegen harte Zeiten hat Volvox carte- abzubauen, bevor sie Schaden anrich- u Kluger Hund! Rico zeigt das Sprachverständ-
ri ein Patentrezept: Sex. Die Kugelalge, ten können. Mit zunehmender Wasser- nis eines dreijährigen Kindes.
die im Süßwasser lebt, vermehrt sich temperatur erreicht die Konzentration
normalerweise ungeschlechtlich. Wird der aggressiven Molekülfragmente
das Wasser jedoch sehr warm, schaltet jedoch einen kritischen Wert. Ein spezi-
sie auf sexuelle Fortpflanzung um. Da- elles Gen veranlasst dann die Produk-
bei entstehen so genannte Zygoten, tion zweier Geschlechtshormone, die
die praktisch keinen Stoffwechsel mehr den Umstieg auf die sexuelle Vermeh-
betreiben und mit ihren harten Zellwän- rung bewirken. Die Zygoten mit ihrem
den – ähnlich wie Sporen – auch in aus- stillgelegten Stoffwechsel sind nicht
getrockneten Gewässern überleben mehr durch freie Radikale gefährdet.
können. Aurora Nedelcu von der Uni- Zudem wird bei der sexuellen Vermeh-
BAUS / KRZESLOWSKI
C. LACKNER
drangen die Teilnehmer des »Europäi- Ionenfalle in der Schwebe gehalten
schen Projekts für Eisbohrungen in der und in einen gemeinsamen Quanten-
Antarktis« fast doppelt so weit in die zustand versetzt. Dieser ist stets
irdische Klimahistorie vor wie ihre russi- QUANT E N P H Y S I K messbar, während der Einzelzustand
schen Kollegen vor einem Jahrzehnt an unbekannt bleibt.
der Station Vostok. Hatte deren Bohr- Teleportation mit Forscher der Universität Innsbruck
kern vier Eiszeiten überspannt, so sind verschränkten nun eines der beiden
es jetzt acht. Das ergibt sich aus der ganzen Atomen Atome zusätzlich mit einem dritten,
per Isotopen-Analyse rekonstruierten dessen Zustand sie dann mit Hilfe von
Temperaturkurve. Allerdings waren die Q Captain Kirk und Mr. Spock nannten Laserpulsen mit einer Erfolgsrate von
Klimaextreme in den ältesten Zyklen es Beamen. Mit dieser Technik schaff- 75 Prozent über eine Entfernung von
nicht ganz so groß wie in den jüngeren. ten sie es, sich von einem Ort an einen wenigen Mikrometern teleportieren
Besonders interessant sind die Er- anderen versetzen zu lassen, ohne die konnten. Sie arbeiteten dabei mit Kalzi-
gebnisse für die Warmzeit vor 425 000 dazwischen liegende Strecke zurückle- um, das Team vom National Institute of
bis 395 000 Jahren; denn damals gen zu müssen. Physiker sprechen von Standards and Technology (NIST) in
stimmten die Parameter der Erdbahn, Teleportation und stellen auch etwas Boulder (Colorado) dagegen mit Beryl-
von denen das irdische Klima abhängt, geringere Ansprüche. Sie wollen nicht lium. Die Teleportation von Zuständen
ziemlich genau mit den heutigen über- einen kompletten Gegenstand, son- ganzer Atome ließe sich für Quanten-
ein – was seither nie wieder der Fall dern nur die komplette Information computer nutzen, wenn es gelänge,
war. Diese Warmzeit kann somit als darüber an einen anderen Ort übertra- sie mit sehr viel einfacheren und klei-
historisches Modell für die heutige Si- gen. Mit Lichtquanten ist ihnen das neren Apparaturen zu erreichen. (Nature,
tuation dienen. Tatsächlich deckt sich schon 1997 gelungen. Jetzt konnten 17. Juni 2004, S.734/737)
der Kohlendioxidgehalt der seinerzeit
im Eis eingeschlossenen Luftbläschen
mit dem vor dem Beginn der industriel- VE RKE H R S S I M U LAT I O N
len Revolution. Sollte die heutige
Warmzeit genauso lang verlaufen wie Mit Vollgas aus dem Stau
damals, hätten wir noch gut 15 000
Jahre bis zum nächsten Absturz in den Q Notorische Raser werden es gerne ßenverkehrs in Bogotá reproduzieren
Eiskeller. Allerdings hat der massive hören: Aggressives Fahren kann Staus und den Grund für den meist reibungs-
Ausstoß von Kohlendioxid durch den vermeiden helfen. So das Ergebnis losen Fluss ermitteln.
Menschen unser Klimasystem vermut- einer Computersimulation am Beispiel Verblüffendes Ergebnis: Es liegt an
lich längst aus den natürlichen Geleisen Bogotás. Schon lange rätselten Luis E. dem besonders rasanten Fahrstil der
geworfen. (Nature, 10.6.2004, S. 623) Olmos und José D. Muños von der Kolumbianer. Allerdings nicht allein:
Nationaluniversität Kolumbiens, warum Eine Verbesserung der öffentlichen
Abschnitt des 2,5 Kilometer langen Eisbohr- es in der Metropole mit ihren sieben Verkehrsmittel und der Infrastruktur für
kerns vor dem Camp auf »Dome C« im Osten Millionen Einwohnern, von denen im- Radfahrer sowie Restriktionen für die
der Antarktis, wo die Bohrung stattfand merhin jeder siebte ein Auto hat, kaum Benutzung von Privatwagen sorgten
Staus gibt. Auf der Suche nach der zugleich für eine Entlastung der Stra-
Antwort fuhren die Forscher bei zufäl- ßen. Außerdem hat auch in Kolumbien
lig ausgewählten Personen mit und die Raserei ihren Preis: Jeder sechste
notierten durchschnittliche Geschwin- Einwohner, der keines natürlichen To-
digkeit, Bremshäufigkeit und Beschleu- des stirbt, fällt einem Verkehrsunfall
nigung. Aus diesen Daten konstruier- zum Opfer. (International Journal of Modern
S. KIPFSTUHL, AWI
Urtier im Ei
Fossile Dinosaurier-Eier gibt es relativ viele, aber Nordosten Chinas. Es hat etwa die Größe eines
nur in wenigen wurde auch ein Embryo entdeckt. Hühnereis und wurde auf ein Alter von 121 Millio-
Und der ist meist so schlecht erhalten, dass selbst nen Jahren datiert. Es ist der erste fossil erhaltene
eine grobe stammesgeschichtliche Zuordnung Embryo eines Flugsauriers überhaupt. Die genaue
schwer fällt. Um so faszinierender ist der jüngste Analyse der Knochen ergab, dass das Tier zur
Fund zweier chinesischer Forscher: die Versteine- Familie der Ornithocheiriden in der Unterordnung
rung eines flach gedrückten Eis (oben links) mit so der Pterodactyloiden gehörte. Zudem sind Teile
gut konserviertem Embryoskelett, dass sich nicht der Flugmembran und Hautabdrücke erhalten.
nur die Familienzugehörigkeit bestimmen, son- Die Flügelspannweite beträgt 27 Zentimeter. Der
dern auch rekonstruieren ließ, welche Körperhal- Embryo im Ei hat nur deshalb die Jahrmillionen
tung das kurz vor dem Schlüpfen stehende Tier überdauert, weil er bei einer Naturkatastrophe –
einnahm (Zeichnung). Das Fossil stammt aus krei- vermutlich einem Vulkanausbruch – getötet und
dezeitlichen Schichten in der Provinz Liaoning im sofort unter Gesteinsschutt begraben wurde.
o
sentlich zerstört. men Empfindlichkeit der Strukturen zu- Zwischen Nierenzellen bilden sich
Obwohl Rustom und sein Doktorva- sammenhängt. Das Mikroskop für die beim Kultivieren in der Petrischale
ter keine Experten für extrazelluläre Zell- Untersuchungen steht in einem verzweig- lange, straff gespannte Membranröhren,
strukturen sind, sondern sich auf Signal- ten System unterirdischer Gänge, das die die im Rasterelektronenmikroskop deut-
vorgänge innerhalb von Nervenzellen Institute im Theoretikum der Universität lich erkennbar sind (unten). Sie dienen of-
spezialisiert haben, erkennen sie das Be- Heidelberg miteinander verbindet. Im fenbar dazu, substanzgefüllte Membran-
sondere ihrer Entdeckung. Zunächst su- Tunnel vor dem Untersuchungsraum bläschen zu übertragen. Das geschieht
chen sie in anderen Zellkulturen in ih- aber rumpelt regelmäßig ein Müllwagen- jedoch nur in einer Richtung (oben).
rem Labor – normalen Zellen der Rat- Konvoi vorbei. Die Erschütterungen las-
tenniere und menschlichen embryonalen sen die TNTs vor den Augen von Rustom
Nierenzellen – nach den Nanoröhren ins Nirwana entschwinden. Aber schließ-
und werden fündig. Offenbar tritt das lich gelingt es, die Bürokraten davon zu nommen hat, bilden sich die anderen
Phänomen also verbreitet auf und ist kei- überzeugen, die Müllwagen umzuleiten zurück. Zugleich wird die entstandene
ne einmalige Zufallserscheinung. und den Tunnel zur verkehrsberuhigten Nanoröhre, die zunächst wie ein lockerer
Messungen ergeben, dass die Fäden Zone zu erklären. Faden durchhängt, straff gespannt.
50 bis 200 Nanometer dick sind und sich Was die Kontaktsuche auslöst, ob sie
über eine Länge von mehreren Zelldurch- Mit Membranschläuchen gerichtet verläuft und warum nur eine
messern – also bis zu einige Dutzend Mi- auf Kontaktsuche Verbindung bestehen bleibt, ist noch un-
krometer weit – erstrecken können. Nun Nun ist es endlich möglich, die Bildung geklärt. Doch so viel steht fest: Sobald
wird es auch Zeit, über einen Namen der TNTs ohne Störung zu verfolgen der Kontakt hergestellt ist, verschmelzen
nachzudenken. Die Forscher erlauben und sie dabei zu filmen. Die Videos zei- die Membranen des Schlauchs und der
sich einen kleinen Scherz und wählen gen, wie in der Zellmembran der Kon- Empfängerzelle miteinander. Damit ha-
TNT, bekannt als Kurzbezeichnung für takt suchenden Zelle zunächst an einer ben nun beide Zellen eine gemeinsame,
den Sprengstoff Trinitrotoluol; in diesem oder mehreren Stellen kleine Knubbel zusammenhängende Hülle – mit der Na-
Fall aber steht es für »tunneling nano- aussprossen. Sie wachsen zu Membran- noröhre als verbindendem Tunnel.
tube« (tunnelartige Nanoröhre). schläuchen heran – bis die Zelle aussieht Die Entdeckung einer solchen Mem-
Die weitere Erforschung des Phäno- wie der Kopf einer Zahnbürste mit lan- brankontinuität zwischen Zellen von er-
mens droht zunächst an einem profanen gen Borsten. Sobald ein Schlauch den wachsenen Wirbeltieren kann als Sensa-
Problem zu scheitern, das mit der extre- Kontakt mit einer Nachbarzelle aufge- tion gelten. Zwar kennt man schon lan-
u
Der bewusst menschenähnlich ge-
staltete Care-O-bot II kann mit sei-
nem einen Arm ein volles Saftglas rei-
chen oder entgegennehmen, ohne es zu
zerbrechen oder etwas zu verschütten.
IPA
KLIMA
stieg von rund 100 ppm eine Lücke von unseren Untersuchungen und Berech- artigen Lebensräume bleichen aus und
50 ppm. Bisher war unklar, welcher Pro- nungen handelt es sich überraschender- gehen zu Grunde – vermutlich, weil die
zess dieses fehlende Kohlendioxid beige- weise um die Korallenriffe. Korallentiere die hohen Wassertempera-
steuert haben könnte. Doch nun glau- Dies birgt eine gewisse Ironie. Als turen nicht vertragen. Während die Riffe
ben Wolfgang H. Berger von der Scripps prachtvollstes und artenreichstes marines heute also primär Leidtragende der glo-
Institution of Oceanography der Univer- Ökosystem sind die Riffe durch die mo- balen Erwärmung sind, waren sie in der
sität von Kalifornien in San Diego und mentane Aufheizung der Erde nämlich Vergangenheit bedeutende Mittäter.
KOMMENTAR
Es wäre nur fair, dass die Regierung
Wirtschaft forscher als der Staat die Anstrengungen der Wirtschaft aner-
Den Hauptteil an Forschung und Entwicklung in Deutschland leistet die Industrie. kennt. Doch sucht man einen solchen
Hinweis in der Presseverlautbarung des
Das Ziel ist hoch gesteckt: »Wir wollen bis steckt wie der Bund und somit die tra- Forschungsministeriums vergeblich. Da-
zum Jahr 2010 einen Anteil der Ausga- gende Säule der deutschen Forschung bei kann Deutschland natürlich auch
ben für Forschung und Entwicklung von bildet. Außerdem hat sie ihre Ausgaben nicht ohne die Hilfe der Wirtschaft das
drei Prozent am Bruttoinlandsprodukt er- in der Fünfjahresfrist gleich um mehr als Drei-Prozent-Ziel erreichen. Denn selbst
reichen«, verkündete Bundesforschungs- zwanzig Prozent erhöht: von 30,3 auf wenn die Regierung jährlich eine zusätz-
ministerin Edelgard Bulmahn bei der Vor- 36,8 Milliarden Euro. Die Steigerungs- liche Milliarde Euro in Forschung und
stellung des Bundesforschungsberichts rate ist also fast doppelt so hoch wie die Entwicklung investierte – was ange-
Anfang Mai dieses Jahres. Immerhin des Bundesforschungsministeriums. sichts der leeren Staatskasse illusorisch
seien die Mittel seit 1998 schon um eine ist –, bliebe die Messlatte in weiter Fer-
Milliarde auf nunmehr 9,2 Milliarden Nur dem hohen Anteil der Wirtschaft ist es ne. Eines aber darf man zumindest vom
Euro gestiegen. Über die vergangenen auch zu verdanken, dass im vergange- Staat erwarten: dass er in den kommen-
fünf Jahre erhöhte der Bund seine For- nen Jahr die Ausgaben für Forschung den Jahren wenigstens mit den Steige-
schungsausgaben damit um insgesamt und Entwicklung immerhin 2,52 Prozent rungsraten der Wirtschaft mithält. Nur
12,4 Prozent. Eine stolze Leistung. vom Bruttoinlandsprodukt ausmachten. dann gerät das Drei-Prozent-Kriterium in
Sie relativiert sich allerdings, wenn Der Bund selbst steuerte lediglich vier greifbare Nähe. Alles andere wäre rei-
man sie mit den Anstrengungen der Promille bei, was im Übrigen fast iden- nes Lippenbekenntnis.
Wirtschaft vergleicht. Kaum jemand tisch ist mit dem, was Bund, Länder und Gerhard Samulat
weiß, dass die Industrie gut viermal so Gemeinden zusammen für die Kultur Der Autor ist freier Journalist für Wissenschaft
viel Geld in Forschung und Entwicklung ausgeben. und Technik in Wiesbaden.
Finanzierung
Wirtschaft Bund Länder PNP Ausland
35,3 9,1 8,3 0,2 1,3
1,2 32,9 1,0 1,9 1,8 4,3 5,5 2,3 0,1 0,1 0,9 0,2 0,2
Blütezeit pazifischer Riffe Marseille fand durch die Auswertung von nicht berücksichtigt haben. Auch sollte
0 Bohrkernen und mittels anderer Daten sich mit der allmählichen Erwärmung
heraus, dass diese Riffe im frühen Holo- und dem Schwinden der Gletscher die
Tiefe des Untergrunds
20 zän – vor 9000 bis 6000 Jahren – ihre Verwitterung beschleunigt haben, wo-
vieler Riffe Blütezeit erlebten. Damals waren die Be- durch der Luft vermehrt Kohlendioxid
dingungen für sie ideal, weil sich ihre entzogen wurde.
40 Wachstumsgeschwindigkeit und das
Tempo des Meerespiegel-Anstiegs vieler-
orts gerade die Waage hielten. Seither ha- NACHGEHAKT
60 Meeresspiegel ben viele Riffe – darunter das Große Bar-
Pazifik
rier-Riff Australiens – den Meeresspiegel
80
Atlantik
erreicht und können nur noch stark ein- Übergewicht und Elend
geschränkt weiterwachsen. Entsprechend Viele Menschen sind zu dick. Aber wie viele
Höhepunkt hat die Fällungsrate von Kalk deutlich
100 Warmzeit der Eiszeit genau? Darüber lässt sich trefflich strei-
abgenommen. ten. Wenn die statistische Verteilung des
Bei unserer Abschätzung stützten wir Körpergewichts annähernd einer Gauß’-
120
uns auf ein numerisches Modell der eins- schen Glockenkurve folgt, liegt sie zur
tigen Riffverteilung, das Joan Kleypas Hälfte rechts vom Mittelwert, und auto-
vom National Center for Atmospheric matisch ist man bei der Hiobsbotschaft:
Temperatur gegenüber heute in der Antarktis in Grad Celsius
wir mit einem Kilogramm pro Quadrat- me Fettlebigkeit als das, worunter die
meter und Jahr sehr konservativ an. Für schwersten fünfzehn, zehn oder sieben
0 0,28
die Blütezeit der Riffe im älteren Holo- Prozent der Menschen leiden, kommen
zän verdoppelten wir diesen Wert. entsprechend mehr oder weniger Fett-
0,26 Unter diesen Voraussetzungen ergab süchtige heraus.
–2 sich für die vergangenen 14000 Jahre Mit solchen Argumenten gab die »Frank-
eine gesamte Riffkalk-Ansammlung von furter Allgemeine Sonntagszeitung« Ende
0,24 etwa 2900 Milliarden Tonnen und eine Juni Entwarnung: Die Fettleibigkeits-Epide-
–4 Kohlendioxidabgabe an die Atmosphäre mie bei Kindern in Deutschland, wegen der
von 210 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. Verbraucherministerin Renate Künast kurz
0,22
Umgerechnet auf den Kohlendioxidge- zuvor Alarm geschlagen hatte, sei ein Phan-
–6
halt der Lufthülle entspricht das unge- tom. Darf also die Couch Potato erleichtert
0,20 fähr hundert ppm. Das Riffwachstum al- seufzen: »Alles nur eine Frage der Statis-
lein könnte demnach den gesamten An- tik« – und sich vor dem Fernseher weiter
stieg in der Kohlendioxidkonzentration mit Chips, Schokoriegeln und süßer Limo-
–8 0,18 der Lufthülle während der letzten 20 000 nade den Wanst voll schlagen?
Jahre erklären.
0 5 10 15 20
Jahrtausende vor heute Immerhin warnte Anfang Juni der Chefre-
Überschuss statt Fehlbetrag dakteur der renommierten Fachzeitschrift
im Kohlendioxid-Budget »Science« in einem Editorial, das sein
Die letzte Eiszeit endete vor etwa 10 000 Jahren. In Tatsächlich fehlen im Budget, wie oben Vorgänger gleich mit unterzeichnet hat,
den Jahrtausenden davor erwärmte sich die At- berechnet, aber lediglich 50 ppm. Da- vor einer weltweit um sich greifenden
mosphäre stark und schnell, ihr Kohlendioxid- mit haben wir es statt mit einem Fehl- Fettsucht; der nachdrückliche Appell stütz-
gehalt nahm erheblich zu, und das abtauende betrag plötzlich mit einem ebenso ho- te sich auf Erhebungen der Weltgesund-
A. VECSEI UND W. H. BERGER / SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Eis ließ den Meeresspiegel weltweit steigen. hen Überschuss zu tun. Verschärfend heitsorganisation (WHO), wonach welt-
Erst dadurch wurden die weiten Tieflandregio- kommt hinzu, dass verkalkendes Plank- weit fast eine Milliarde Erwachsene über-
nen überflutet, auf denen sich Korallen ansie- ton vermutlich ebenso viel Kohlendio- gewichtig und mindestens 300 Millionen
deln konnten. Vor etwa 9000 bis 6000 Jahren xid abgab wie die Korallen. Möglicher- fettleibig sind. Im Mai verabschiedete die
erlebten daher insbesondere die pazifischen Rif- weise ist ein großer Teil des im flachen WHO deshalb eine »Globale Strategie für
fe ihre Blütezeit. Meer freigesetzten Treibhausgases nicht Ernährung, körperliche Aktivität und Ge-
Seiher hat sich die Entwicklung verlangsamt; in die Atmosphäre entwichen, sondern sundheit«, die vor allem empfiehlt, die
allerdings schoss die Kohlendioxidkonzentration wurde in das Tiefenwasser unterge- Einnahme von Fetten, Salz und Zucker zu
in der Luft seit Beginn der Industrialisierung in mischt, von wo es, wenn überhaupt, erst drosseln.
die Höhe. mit großer Verzögerung in die Lufthülle
gelangen kann.
Auf die WHO-Studie berief sich auch schöne Menschen, die sich in der Fern-
die Verbraucherministerin, als sie im sehwerbung verführerisch Kalorienbom-
Juni ihre »Initiative für eine neue Ernäh- ben zwischen die Lippen schieben.
rungsbewegung in Deutschland« starte- Vielleicht wird sich die Essenswer-
te. Jedes fünfte Kind und jeder dritte bung bei tatsächlich steigendem Ernäh-
Jugendliche in Deutschland seien über- rungsbewusstsein bald hüten, Men-
gewichtig, so Künast, mehr als sieben schen beim Kauen zu zeigen – so wie
Prozent der Kinder litten an krankhafter die Zigarettenwerbung den Marlboro-
Adipositas (Fettsucht). Mann zwar Pferde bändigen, aber kei-
Gewiss, alle genannten Zahlen sind nen Lungenzug mehr machen lässt.
statistische Schätzungen und wurden in
den USA und in Deutschland auch gleich Glück kann man nicht essen. Wer weiß
als wissenschaftlich umstritten kritisiert. schon, wie viel Übergewicht in Wahrheit
Doch an der von Nahrungswissenschaft- Kummerspeck oder Angstpanzer ist,
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lern beobachteten Tendenz ist kaum zu trauriges Kompensieren von mangeln-
rütteln: In aller Welt wächst die Anzahl den Chancen und fehlendem sozialem
der Dicken – am meisten in den USA, Gewicht? Unbestritten ist jedenfalls,
wo der europäische Besucher längst ein dass Fettsucht mit niedrigem Sozialsta-
erstaunliches Nebeneinander von Kor- tus und geringem Bildungsniveau korre-
pulenz, Körperkult und Diätbewusstsein liert ist. Nachgewiesen wurde auch ein
vorfindet; aber auch Europa folgt die- Zusammenhang zwischen exzessivem
sem Trend. Fernsehkonsum – einer einsamen Be-
Besondere Sorge macht der WHO, schäftigung – und Übergewicht.
dass die fatalen Folgen falscher Ernäh- Global betrachtet leben an beiden Rän-
rung – Diabetes, Herz- und Kreislauf- dern der statistischen Körpergewichts-
erkrankungen, Krebs – nun auch die Ent- kurve Unglückliche: am linken Rand die
wicklungsländer zu erfassen beginnen. Hungernden und am anderen Ende die
Die Nachkommen der Maya in Guate- Vielesser. Appelle an das individuelle Er-
mala, die Schwarzen Südafrikas, die aus- nährungsverhalten wären in dem einen
tralischen Aborigines und die Bewohner Fall offensichtlich zynisch, im anderen
der Pazifik-Inseln leiden bereits unter sind sie es vielleicht auch. So wie die ei-
den Folgen von kalorienreicher Nahrung nen Nahrung brauchen, um endlich satt
und Bewegungsarmut. zu werden, brauchen die anderen soziale
Perspektiven, reelle Chancen und attrak-
Aus der globalen Diagnose folgt in diesem tive Angebote, die
Fall die Therapie eigentlich von selbst: sie aus dem Fern-
weniger Kalorien aufnehmen und sich sehsessel holen.
mehr bewegen. Doch das ist leichter
gesagt als getan. Mit perfider Raffines-
se setzt die Nahrungsmittelindustrie ih- Michael Springer
re suggestivsten Werbemittel ein: der Der Autor ist stän-
Hamburgerladen als Szenetreff, der Pau- diger freier Mitar-
sensnack als Glücksbringer. Nicht Über- beiter bei Spektrum
gewichtige sind es, sondern schlanke, der Wissenschaft.
NATURSCHUTZ z
Wieder Wölfe
im Yellowstone-Park
Von Jim Robbins der Wind an diesem Augusttag 2003 Abstand von vielleicht dreißig Zentime-
kräftig durchpustet. tern, die das jährliche Wachstum anzei-
N
ormalerweise geraten Ökolo- Diese jungen Pappeln – in Amerika gen. »Das heißt: Die Wapitis haben den
gen angesichts von ein paar cottonwood genannt – wachsen im Lamar Baum in diesem Jahr nicht verbissen und
mickrigen Pappeln nicht Valley, einem der schönsten Täler des auch letztes Jahr nicht. Seit 1998 haben
gleich in Begeisterung. Doch Yellowstone-Nationalparks, das sich im sie ihn in Ruhe gelassen.« Mit Wapitis
dem Botanikprofessor William J. Ripple Nordosten des um die 200 Meter hoch meint Ripple die sehr großen Rothirsche
von der Oregon State University in Cor- gelegenen Refugiums erstreckt. »Man Nordamerikas, eine eigene Unterart.
vallis sieht man die helle Freude an. Die sieht die Narben der Gipfelknospe«, er- Der Ökologe weist über das weite
Lesebrille auf der Nase, beäugt er aus klärt Ripple verzückt. Er hat den dün- Gebirgstal, in dem um uns her viele alte
nächster Nähe die paar kaum doppelt nen Stamm eines der Bäumchen he- Pappeln verstreut stehen. Jungwuchs da-
mannshohen Bäumchen, deren Gezweig runtergebogen und deutet auf Linien im gegen sieht man von hier aus nur an die-
o
ser einen Stelle. Die stattlichen Exempla- tion ausgerottet – damals in voller Ab- Vorfrühling im Lamar-Tal des Yel-
re der Talsohle zählen sämtlich mindes- sicht, denn Wölfe galten als bedrohlich. lowstone-Nationalparks: Wölfe ja-
tens 70 bis 100 Jahre. Ein ähnliches Bild Durch die Wiedereinbürgerung dieses gen Wapitis, die großen amerikanischen
bieten die Zitterpappeln auf den Hän- obersten Räubers in den Nahrungsketten Rothirsche. Ein Grizzly beobachtet das
gen – wie die europäische Zitterpappel Mitte der 1990er Jahre werden nun öko- Geschehen. Vielleicht wird er die Wölfe
wird auch diese amerikanische Art Espe logische Wechselwirkungen deutlich, die nachher vom erlegten Wild verjagen.
(aspen) genannt. Nirgends wachsen da- selbst Experten vielfach so nicht erwartet Oder er macht sich erst später über die
zwischen Schösslinge, die den Bestand hätten. Reste her.
einmal verjüngen könnten. Die neuen Wölfe stammten aus zwei
Nach Ansicht mancher Fachleute Gebieten der kanadischen Rocky Moun-
wären diese prägenden Pappelarten ir- tains. Mitten im Winter 1995/96 brach-
gendwann aus dieser Landschaft ver- ten die Nationalparkverwaltung und die dichte der Wapitis verringern und auf ei-
schwunden, hätte man im Yellowstone- US-Behörde für Fischerei und Wildtiere nem niedrigeren Level halten würden.
Park nicht wieder Wölfe ausgesetzt. die ersten 14 Tiere dorthin. Ein Jahr spä- Nachdem in dem Gebiet keine Wöl-
Noch als das hoch gelegene Naturschutz- ter wurden weitere 17 Wölfe übersiedelt. fe mehr vorkamen, hatte sich die Rot-
gebiet am Ostrand der Rocky Mountains Diese großen Fleischfresser würden, so hirsch-Unterart rasch stark vermehrt.
(siehe Karte S. 26) 1872 eingerichtet die Hoffnung, wieder natürlichere ökolo- Zeitweise regulierte der Mensch den Be-
wurde, jagten Wolfsrudel dort vor allem gische Verhältnisse schaffen. Unter ande- stand, zeitweise machten auch harte
Wapitis. Doch bis 1930 war die Popula- rem erwartete man, dass sie die Bestands- Winter den Tieren zu schaffen. Aber um r
Charakter bekam.
A
N
KA
r Grizzlys und Pumas einen ausgewachse- Calgary bietet dafür ein Beispiel. Dort- fach zu behaupten, sei schlechte Wissen-
nen Wapiti selten an. Mitunter töten sie hin kehrten Wölfe in den 1980er Jahren schaft. »Das Ökosystem von Yellowstone
allerdings Kälber, und im Winter fressen von selbst zurück. Nun wachsen wieder ist ein multikausales interaktives System.
sie auch verendete große Hirsche. Dage- Weiden, und es gibt doppelt so viele Für nichts gibt es hier eine einzige Ursa-
gen reißen Wölfe zu jeder Zeit auch Alt- Singvögel, auch doppelt so viele Arten. che – und selbst eine Hauptursache in
tiere. An einem Riss bekommen die an- Auf ähnliche Entwicklungen hoffen Or- den wenigsten Fällen. Gerade als die
deren Arten ihre Chance, wenn sich die nithologen und andere Naturfreunde Wölfe sich wieder breit machten, gab es
Wölfe voll gefressen haben und den Ka- nun auch für Yellowstone. Um die ersten am Fluss Überschwemmungen. Außer-
daver für einen Verdauungsschlaf verlas- Anzeichen nicht zu verpassen, wenn sich dem ist das Klima derzeit viel wärmer.
sen. Grizzlys gelingt es sogar nicht selten, Flora und Fauna der Flussufer ändern, Die Wölfe spielen bei den Veränderun-
das Rudel von der Beute zu vertreiben. und dies zu dokumentieren, laufen min- gen vermutlich auch eine Rolle, aber
destens sechs ökologische Projekte. welche genau, werden wir erst in frühes-
Fleischlieferanten Doch nicht jeder der Forscher glaubt tens zwanzig Jahren wissen.«
für andere Arten an den Wolfeffekt. Crabtree zum Bei- In dieser Richtung argumentiert
Seit die Wölfe wieder in Yellowstone ja- spiel hält es keineswegs für erwiesen, auch der Ökologe Duncan Patten, ehe-
gen, sind insgesamt viel mehr große dass die Wiederansiedlung von Wölfen mals Professor der Arizona State Univer-
Tierkadaver als vorher verfügbar, an de- so eng mit dem neuen Pflanzenwachs- sity in Tempe. Für die amerikanische
nen sich praktisch alle dort lebenden tum korreliert wie behauptet. Das ein- Nationale Akademie der Wissenschaften
Aasfresser verköstigen. Das spiegelt sich
in ihren gestiegenen Populationen wider,
vom Grizzly bis zur Elster. Einmal wur-
den an einem Wolfsriss 135 Kolkraben
gezählt, ein Rekord. »Wo immer ein
Rudel einen Wapiti erlegt hat, finden sie
sich alle ein: Weißkopfseeadler, Steinad-
ler, Kojoten, Kolkraben, Elstern«, notiert
Smith. »Ich möchte wissen, was die frü-
her gemacht haben.«
Allerdings gehen die Meinungen aus-
einander, ob Wölfe wirklich einen so be-
herrschenden Einfluss auf ein Ökosys-
tem haben können, wie viele der Wis-
senschaftler derzeit glauben. Laut Smith
bedeuten diese Topraubtiere für Yellow-
stone so viel »wie Wasser für die Ever-
glades«, das berühmte Feuchtrefugium
in Florida. Sie seien eben ein Primärfak-
tor, der das Ökosystem forme.
Der Banff-Nationalpark in den Süd-
kanadischen Rocky Mountains nahe bei
führte er im Yellowstone-Park eine 2002 im Winter würden die meisten dieser wandeln sie das Ökosystem. Viele der
erschienene Studie durch. Seit dort Wöl- Rothirsche freiwillig nicht in so großer Auswirkungen halten wir Menschen für
fe in größerer Zahl lebten, bemerkt er, Höhe bleiben, sondern in tiefere Regio- sinnvoll und wertvoll. Müssten wir selbst
habe es keine harten Winter gegeben. nen ziehen. Der Jagddruck außerhalb regulierend eingreifen, käme uns das
Vielleicht fanden die Wapitis genügend des Parks dränge sie aber in das um die reichlich teuer.
anderes Futter und mussten nicht auf 2000 Meter hoch gelegene Schutzgebiet. Nicht zuletzt lehren uns die Wölfe
junge Bäume ausweichen. »Zwei wirk- Auch dazu, wie viele Wapitis natürli- die Bedeutung großer Raubtiere an der
lich strenge Winter hintereinander, dann cherweise in Yellowstone leben würden, Spitze einer Nahrungskette. Daran er-
glaube ich an den Wolfeffekt.« sind die Meinungen geteilt. Nach An- kennen wir, wie viel in Landschaften
Die Debatte facht einen jahrzehnte- sicht der Parkverwaltung lag der vormals fehlt, in denen die obersten Fleischfres-
langen Streit wieder an, nämlich darü- dichte Bestand noch innerhalb der na- ser nicht mehr vorkommen. Wo sie ein-
ber, wie die Wapitibestände des Natur- türlichen Grenzen. Manche Forscher greifen, pflanzt sich der Effekt durch das
parks richtig zu managen seien. Es gab meinen nun, das könne nicht stimmen, ganze Ökosystem fort.
eine Zeit, da nahm bei der Parkverwal- wenn man jetzt sehe, wie die Flussufer Naturfreunden bringen die Yellow-
tung die Meinung überhand, die Rothir- wieder zuwüchsen. Doch Smith vertei- stone-Wölfe in einzigartiger Weise bei,
sche hätten sich zu stark vermehrt. In digt das Yellowstone-Management. Gro- wie die vielen Glieder eines solchen Sys-
den 1960er Jahren fingen und schossen ße Populationsschwankungen seien bei tems ineinander greifen. Dank der akri-
Ranger die Hirsche zu Tausenden. Bis Wapitis normal. Noch immer seien die bischen Dokumentation, die in diesem
1970 betrug deren Zahl schätzungsweise Zahlen hoch, und langfristig gesehen Fall möglich ist, gewinnen verschwom-
nur noch 4000. Wegen massiver Proteste hätten auch die Spitzen dazu gepasst. mene Vorstellungen über ökologische Be-
der Bevölkerung stellten die Verantwort- ziehungen mehr Klarheit. Somit gestalten
lichen das Abschlachten dann aber wie- Streit um die richtigen Maßnahmen diese Wölfe nicht nur den Yellowstone-
der ein. Sie entschieden sich nun dazu, Der Philosoph Alston Chase jedoch kri- Nationalpark, sondern sie vermehren
der Natur die Regulierung selbst zu tisiert diese Auffassung heftig. In den auch unser Wissen über die Natur. l
überlassen. Nach diesem Konzept sollte 1980er Jahren schrieb er das Buch
das Naturschutzgebiet ein Stück des ur- »Playing God in Yellowstone«, in dem er
A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
B
egann die Zeit wirklich mit stellt den Kreislauf von Geburt, Leben
dem Urknall – oder existierte und Tod – Ursprung, Identität und
das Universum bereits davor? Schicksal jedes Individuums – dar, und
Noch vor zehn Jahren erschien diese persönlichen Fragen sind unmit-
ein solcher Gedanke geradezu als Blas- telbar mit kosmologischen verbunden.
phemie. Die meisten Kosmologen wa- Wir können unsere Herkunft durch
ren überzeugt, die Frage nach einer die Generationen zurückverfolgen bis
Zeit vor dem Urknall sei ebenso sinn- zu unseren tierischen Vorfahren und
los wie die Suche nach einem Ort weiter zu den ersten Lebensformen, zu
nördlich des Nordpols. Doch neuere den chemischen Vorformen des Le-
Entwicklungen in der Theoretischen bens, zu den Elementen, die im frühen
Physik, insbesondere die Stringtheorie, Universum synthetisiert wurden, und
haben den Blickwinkel der Kosmolo- zu der amorphen Energie, die zuvor
gen verändert: Das Universum vor den Raum erfüllte. Reicht unser
dem Urknall ist heute ein respektabler Stammbaum unendlich weit zurück?
Forschungsgegenstand. Oder enden seine Wurzeln irgendwo?
Damit schwingt das Pendel einer Ist der Kosmos so vergänglich wie wir
geistigen Auseinandersetzung, die in selbst?
unterschiedlicher Form seit Jahrtau- Schon die alten Griechen debattier-
senden unentschieden hin- und her- ten lebhaft über den Ursprung der
wogt, erneut in eine Richtung aus. In Zeit. Aristoteles argumentierte gegen
allen Kulturen hat das Problem des Ur- einen Urbeginn, denn aus nichts ent-
sprungs das Denken beschäftigt. Es stehe nur wieder nichts. Wenn das
hängt eng mit den großen Mensch- Universum niemals vom Nichtsein
heitsfragen zusammen, die Paul Gau- zum Sein habe übergehen können,
guin 1897 in seinem berühmten Ge- müsse es immer existiert haben. Da-
mälde D’où venons-nous? Que sommes- rum erstrecke sich die Zeit unbegrenzt
nous? Où allons-nous? dargestellt hat: in Zukunft und Vergangenheit. r
Gegenwart
Grenze des
beobachtbaren
Universums
Weg einer Galaxie
Zeit
Raum
Urknall
SAMUEL VELASCO
Nach der klassischen Urknall-Kosmologie, die auf Einsteins Allgemei- In modernen Modellen verbieten Quanteneffekte, dass die Galaxien auf
ner Relativitätstheorie beruht, betrug der Abstand zweier beliebiger einen infinitesimalen Punkt komprimiert werden; der Abstand kann
Galaxien vor endlich langer Zeit exakt null. Vor diesem Zeitpunkt eine minimale Distanz nicht unterschreiten. Solche Modelle lassen
verlieren die Begriffe Raum und Zeit jede Bedeutung. die Existenz eines Universums vor dem Urknall zu.
geschränkt. In nächster Nähe der mut- ben in den letzten Jahren große Fort- Modifikation der Einstein’schen Theorie
maßlichen Singularität müssen Quan- schritte erzielt und tiefe Einsichten ge- halte, ist die Stringtheorie. Auf sie kon-
teneffekte eine dominante Rolle gespielt wonnen. zentriert sich dieser Artikel, obwohl Be-
haben, doch die Allgemeine Relativitäts- fürworter der Loop-Quantengravitation
theorie kennt solche Effekte nicht. An Schleifen oder Fäden? behaupten, sie könnten mit ihrem Mo-
die Unvermeidlichkeit der Singularität Trotzdem ist ihr Ansatz vielleicht nicht dell zu ganz ähnlichen Schlussfolgerun-
zu glauben bedeutet also, dieser Theorie radikal genug. Mit einem ähnlichen Pro- gen gelangen.
übermäßig zu vertrauen. Um zu wissen, blem sahen sich die Teilchenphysiker Die Stringtheorie erwuchs aus einem
was beim Urknall wirklich geschah, müs- konfrontiert, nachdem Enrico Fermi Modell, das ich bereits 1968 aufstellte,
sen die Physiker erst eine Quantentheo- 1934 seine Theorie der schwachen Kern- um Kernteilchen wie Proton und Neu-
rie der Gravitation entwickeln. Seit Ein- kraft aufgestellt hatte: Alle Anstrengun- tron und deren Wechselwirkungen zu
stein haben sich Theoretiker darum be- gen, eine Quantenversion von Fermis beschreiben. Trotz anfänglicher Begeiste-
müht, bis Mitte der 1980er Jahre jedoch Theorie zu schaffen, schlugen fehl. Of- rung scheiterte das Modell. Es wurde ei-
praktisch ohne Erfolg. fenbar war nicht bloß ein neues Rechen- nige Jahre später zu Gunsten der Quan-
Derzeit versprechen vor allem zwei verfahren nötig, sondern eine grundle- tenchromodynamik aufgegeben, welche
Ansätze Erfolg. Der eine heißt Loop- gende Neuerung, welche erst die Theorie die Kernteilchen mit Hilfe noch funda-
Quantengravitation; er behält Einsteins der elektroschwachen Wechselwirkung mentalerer Bausteine beschreibt. Diese
Theorie im Wesentlichen bei, führt aber von Sheldon L. Glashow, Steven Wein- so genannten Quarks sind innerhalb ei-
Quanten von Raum und Zeit ein (siehe berg und Abdus Salam in den späten nes Protons oder Neutrons eingesperrt,
»Quanten der Raumzeit« von Lee Smo- 1960er Jahren mit sich brachte. als seien sie durch elastische Fäden anei-
lin, Spektrum der Wissenschaft 3/2004, Der zweite Ansatz, den ich persön- nander gefesselt. Im Rückblick zeigt sich,
S. 54). Die Anhänger dieser Theorie ha- lich für eine wirklich revolutionäre dass die ursprüngliche Stringtheorie r
subatomarer Bereich
Minimallänge
des Urknalls geschah. Strings sind subato-
mare Fäden, die wie Violinsaiten schwin-
gen. Wenn ein Geiger einen Finger auf
dem Griffbrett zu sich schiebt, verkürzt er
die Saite und erhöht dadurch nach Belie-
ben die Frequenz – und Energie – der
Schwingungen. Im subatomaren Bereich
kommen jedoch Quanteneffekte ins Spiel zen
erkür
und definieren eine Minimallänge für uv
z
Strings. gs
Strin
he,
suc
Ver
Ein String kann sich nicht nur als Ganzes großer Zylinder
fortbewegen oder wie eine Saite schwin-
gen, sondern sich auch wie eine Sprung- wenig Energie nötig, um
Geschwindigkeit zu erhöhen
feder einrollen. Stellen wir uns einen zylin-
drischen Raum vor, dessen Umfang grö-
spiralförmige Fortbewegung eines Strings
ßer ist als die zulässige Minimallänge
des Strings. Dann ist für jede Erhöhung
der Fortpflanzungsgeschwindigkeit wenig viel Energie nötig, um
Energiezufuhr nötig, während jede zusätz- Windungszahl zu erhöhen
liche Windung viel Energie verschlingt. Ist
der Zylinderumfang hingegen kleiner als um den Zylinder gewickelter String
die Minimallänge, gilt das Umgekehrte:
Eine Extrawindung kostet weniger Energie kleiner Zylinder
als die schnellere Fortbewegung. Letztlich
viel Energie nötig, um
kommt es aber nur auf die Gesamtenergie Geschwindigkeit zu erhöhen
an, und sie ist vom Zylinderumfang unab-
hängig. In jedem Fall schrumpft der String
nicht unter die Minimallänge. Dies verhin-
wenig Energie nötig, um
dert, dass die Materie beim Urknall unend- Windungszahl zu erhöhen
lich verdichtet wird.
SAMUEL VELASCO
r (string englisch für Faden) diesen Aspekt renden String angewendet – der einer Wirkungsquantum h hinzukommt. Die-
der nuklearen Welt erfasst hatte. Doch winzigen Violinsaite gleicht, nur breiten se Konstante spielt eine entscheidende
erst später wurde sie als Kandidat für die sich die Schwingungen darauf mit Licht- Rolle bei fast jedem Aspekt der Stringthe-
Vereinigung von Relativitäts- und Quan- geschwindigkeit aus –, so tauchen neue orie, indem sie Größen auf endliche Wer-
tentheorie wieder hervorgeholt. Eigenschaften auf. Diese haben grund- te beschränkt, die sonst entweder null
Die Grundidee besagt, dass die fun- legende Bedeutung für Teilchenphysik oder unendlich würden.
damentalsten Teilchen nicht punktför- und Kosmologie. Zweitens können selbst masselose
mige Gebilde sind: Der große Zoo der Erstens haben Strings eine endliche Strings einen Drehimpuls haben. In der
Elementarteilchen, jedes mit all seinen Länge. Gäbe es keine Quanteneffekte, so klassischen Physik ist der Drehimpuls
typischen Eigenschaften, geht aus den könnte man eine Geigensaite immer wei- eine Eigenschaft eines Objekts, das um
vielen möglichen Schwingungszuständen ter halbieren, bis schließlich ein punkt- eine Achse rotiert. In der Formel für den
unendlich dünner, eindimensionaler Fä- förmiges, masseloses Teilchen übrig blie- Drehimpuls werden Geschwindigkeit,
den oder Strings hervor. Wie kann eine be. Doch die Heisenberg’sche Unbe- Masse und Abstand von der Achse mit-
so simple Theorie die komplizierte Welt stimmtheitsrelation verhindert, dass einander multipliziert; folglich kann ein
der Teilchen und ihrer Wechselwirkun- Strings kürzer werden als 10 –34 Meter. masseloses Objekt keinen Drehimpuls
gen beschreiben? Dieses irreduzible Längenquant, die besitzen. Doch in der Stringtheorie ma-
Die Antwort liegt in einer Art Quan- String-Länge lS, ist eine neue Naturkons- chen sich Quantenfluktuationen be-
ten-String-Zauberei. Werden die Regeln tante, welche durch die Theorie zur Licht- merkbar. Ein masseloser String kann des-
der Quantenmechanik auf einen vibrie- geschwindigkeit c und dem Planck’schen halb bis zu zwei Einheiten von h an
Raumzeit mit elf Dimensionen Der Raum innerhalb des Lochs expan- Im Loch stürzte die Materie zum Zentrum
Eines dieser Felder, das so genannte Di- dierte beschleunigt. Die Materie im In- und wurde komprimiert, bis ihre Dichte
laton, ist der Hauptschlüssel zur String- nern wurde von der Außenwelt abge- die von der Stringtheorie gesetzte Gren-
theorie: Es bestimmt die Stärke sämt- schnitten. ze erreichte.
licher Wechselwirkungen. Das Dilaton
fasziniert die Stringtheoretiker, weil sein
Wert als Größe einer zusätzlichen Raum-
dimension interpretiert werden kann;
dadurch erhält die Raumzeit insgesamt
elf Dimensionen.
Außerdem haben die Strings den
SAMUEL VELASCO
Raum
expandiert
Zwei fast leere Branen ziehen einander Die Branen kollidieren; ihre Bewegungs-
an. Während der Annäherung zieht sich energie verwandelt sich dabei in Strah-
jede rechtwinklig zur Bewegungsrichtung lung und Materie. Dieser Zusammenstoß
zusammen. ist der Urknall.
Die Branen prallen voneinander ab und Im zyklischen Modell bremst die Anzie- Das Driften hört auf, die Branen begin-
beginnen mit abnehmendem Tempo zu hung zwischen den Branen deren Ausei- nen sich einander zu nähern. Während
expandieren. Die Materie klumpt zusam- nanderdriften ab. Die Materie verdünnt der Bewegungsumkehr expandieren
SAMUEL VELASCO
Empfindlichkeit vorsteht.
10–20
des Planck-Satelliten Das Prä-Urknall-Szenario und das
ekpyrotische Modell weisen einige Ge-
ekpyrotisches Modell meinsamkeiten auf. Beide beginnen mit
einem großen, kalten und fast leeren
–15 –10 –5
10 10 10 1 105 1010 Universum, und beide leiden an dem
schwierigen – und bislang ungelösten –
Frequenz der Gravitationswellen in Hertz
Problem des Übergangs von der Prä- zur
Post-Urknall-Phase. Mathematisch liegt
S P OR TK LEIDUNG
u
Mitunter enthalten Garnbündel auf der Stoffinnenseite
weniger, dafür größere Fasern, solche auf der Außenseite
u
mehr und kleinere Fasern. Nach außen hin wächst so die innere Der Polyester im häufig verwen-
Oberfläche der Fasern, das verstärkt den »Saugeffekt«. Die Feuch- deten Coolmax-Gewebe wird zu
tigkeit verteilt sich zudem außen besser und kann so leichter ver- Fasern mit einem eingebuchteten ova-
dampfen. Kühlende Luft dringt durch Lücken im Gewebe ein. len Querschnitt gepresst. Auf diese Wei-
se entstehen Mikrokanäle, die durch Ka-
pillarwirkung Schweißperlen von der
Haut leiten.
Wasserdampf
S
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RI
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IN
D
AN
ES
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T TEX
DUPON
Mikrokanal
IORS
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Luft Garnbündel
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Schweißtropfen SN
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Von Donald W. Landry und Juan A. Oliver hirn und andere lebenswichtige Organe Hier bemüht sich medizinisches
ernsten Schaden, ist der Patient oft nicht Personal um einen Patienten, der,
E
in Schock im medizinischen mehr zu retten. Zwar verfügt die Not- bedingt durch lebensbedrohlichen Blut-
Sinne ist immer lebensbedroh- fallmedizin über ein Repertoire an Maß- verlust, unter Kreislaufschock steht.
lich. In dieser Hinsicht ist es nahmen, um den Totalzusammenbruch
gleich, ob der totale Kreislauf- aufzufangen. Doch in vielen Fällen wir-
zusammenbruch nun bei einem Herzin- ken diese Schritte nicht wie gewünscht.
farkt auftritt, nach einer Verletzung mit Das gilt besonders für den septischen Es handelt sich um ein Hormon, das
hohem Blutverlust, ob er zum Beispiel Schock, der auf einer außer Kontrolle auch im menschlichen Körper vor-
auf eine Sepsis, eine so genannte Blutver- geratenen Infektion beruht. Allein in kommt: Vasopressin, auch Adiuretin ge-
giftung, zurückgeht oder auf eine heftige Europa sterben hieran täglich wohl eini- nannt. Seine Verabreichung behebt zwar
allergische Reaktion. Nach einer Erhe- ge hundert Menschen. letztlich nicht die eigentlichen Ursachen
bung in den USA stirbt etwa jeder zwei- Schon lange bemühen sich die Medi- des Schocks, aber es erweist sich jetzt
te Patient, der aus einem solchen Grund ziner intensiv um effektivere Behand- schon bei der Behandlung betroffener
einen akuten Kreislaufschock erleidet. lungsmöglichkeiten, doch viel zu oft ver- Patienten als hilfreich. Vor allem brach-
Vielfach kennzeichnet der Zustand aber sagen immer noch alle Bemühungen. ten unsere Forschungen mit der Subs-
auch das letzte Stadium einer tödlichen Auch einige in den letzten Jahren er- tanz auch neue Einsichten in die noch
Krankheit. probte, zunächst viel versprechende Me- unzureichend verstandenen physiologi-
Ärzte kennen nur zu gut den fatalen dikamente brachten dann doch nicht schen Mechanismen eines Schocks. So
Teufelskreis: Der Blutdruck sinkt so ex- den Durchbruch. Hier möchten wir von steht zu hoffen, dass diese Erkenntnisse
trem, dass die Gewebe unzureichend einer Zufallsentdeckung berichten, die wie auch die umfangreichen Arbeiten
oder gar nicht mehr mit frischem Blut in vielen Fällen bereits zu einer wirksa- anderer Wissenschaftlergruppen künftig
versorgt werden. Erleiden dabei das Ge- meren Therapie geführt hat. die Überlebensaussichten bei diesem ver-
heerenden Zusammenbruch des Orga-
IN KÜRZE nismus weiter heben.
Um die komplexen Mechanismen des
r Nur jeder zweite Patient überlebt einen physiologischen Schock, bei dem die Schocks zu verstehen, muss man sich den
feinen Blutgefäße – die Arteriolen – ihren Dienst versagen. Weil wichtige Organe Sinn des Blutkreislaufs vergegenwärtigen.
wegen des totalen Kreislaufkollapses nicht mehr durchblutet werden, ist dieser Die primitivsten tierischen Lebensformen
Zustand immer lebensbedrohlich. Insbesondere droht ein Schock bei einer Blut- benötigen noch keinen Kreislauf. Sauer-
vergiftung oder Sepsis, einer außer Kontrolle geratenen Infektion. stoff und Nährstoffe diffundieren einfach
r Wirklich effektive medizinische Behandlungsmöglichkeiten gegen den Kreis- in die Zellen, Kohlendioxid und andere
laufschock gibt es bisher kaum. Neue Ansätze erfüllen meist doch nicht die Er- Schlackstoffe werden auf dem umgekehr-
wartungen, weil entscheidende körperliche Reaktionen bei einem Schock anders ten Weg entsorgt. Das Prinzip funktio-
verlaufen als sonst. niert allerdings nur über einige Millime-
r Nun erweist sich die zufällig entdeckte Wirkung des Hormons Vasopressin ter Wegstrecke. Größere Tiere brauchen
(auch Adiuretin oder ADH genannt) als viel versprechend. Dieses Hormon ver- zu demselben Zweck Blut, das die Stoffe
mag beim Schockzustand die feinen Blutgefäße enger zu stellen. transportiert, und ein Kreislaufsystem,
um das Blut zu bewegen. r
Arteriole
1 Normalzustand
Bevor sauerstoffreiches Blut die Kapillaren erreicht, passiert es die Arteriolen.
Diese stellen sich normalerweise so eng wie erforderlich, um den Blutdruck auf-
rechtzuerhalten. Hierauf nehmen viele körpereigene Stoffe Einfluss.
Im Regelfall sind die Arteriolen in Skelettmuskulatur und Haut ziemlich stark
kontrahiert. So fließt genügend Blut zu den inneren Organen. Eine Muskelzelle
Kapillarnetz Vene der Gefäßwand zieht sich zusammen, wenn Kalziumionen in sie einströmen.
Dazu müssen sich Kalziumkanäle öffnen, was etwa Noradrenalin bewirkt.
Arterie
Arteriole
im Querschnitt
Noradrenalin 1
Kalium
(K+)
Muskelzelle der
Arteriolenwand
Kalziumkanal
2
Stickstoff-
2 Schock
Kalzium
monoxid (NO)
(Widerstandsverlustschock) (Ca2+)
Der Körper produziert erhöhte Mengen von
Stickstoffmonoxid. Dadurch steigt in den Mus- Kalium-
kelzellen der Arteriolenwände die Konzentration cGMP kanal
des Signalstoffs cGMP. Nun öffnen sich in der cGMP
cGMP
Zellmembran bestimmte Kaliumkanäle.
Kaliumionen dringen nach außen; das elektri- cGMP
sche Potenzial an der Membran verschiebt sich; Vasopressin
die Kalziumkanäle schließen sich, Noradrenalin NO 3
kann nichts mehr ausrichten und die Muskelfa-
sern erschlaffen: Die Arteriolen werden weit.
Wegen des zu geringen Widerstands fließt
übermäßig viel Blut in die Peripherie statt zu den
lebenswichtigsten Organen. cGMP
Von Jonathan I. Lunine den Höhepunkt zu erleben: die erste verstehen, woher die Ringe des Saturns
Langzeiterkundung des Saturnsystems. stammen und wie das starke Magnetfeld
F
rühmorgens am 15. Oktober Nun ist es so weit: Am 1. Juli des Planeten die Eismonde und die obere
1997, noch vor Sonnenaufgang, schwenkte Cassini-Huygens in eine Um- Atmosphäre Titans beeinflusst.
fand ich mich am Rand einer laufbahn um den zweitgrößten Planeten Die Cassini-Huygens-Mission könn-
alligatorverseuchten Bucht nahe des Sonnensystems ein. Seit den Missio- te den Erfolg der Sonde Galileo wieder-
Cape Canaveral in Florida ein. Einige nen Pioneer 11 und Voyager 1 und 2 vor holen, die während ihrer achtjährigen
Kilometer entfernt glänzte eine Rakete mehr als 20 Jahren haben Wissenschaft- Untersuchungen unser Wissen über Ju-
im Flutlicht der Startrampe. Mit Tausen- ler ungeduldig auf diesen Tag gewartet. piter und seine Monde revolutionierte.
den anderer Zuschauer beobachtete ich, Dennoch gibt es fundamentale Unter-
wie eine kleine Flamme aus den Trieb- Titan: Modellsystem für die Erde? schiede zwischen den beiden Missionen.
werken schoss und rasch anschwoll. Nur Obwohl seine Oberfläche weit weniger Galileo setzte eine Instrumentenkapsel
dieser feurige Schweif war zu sehen, als dramatische Vorgänge aufweist als der frei, die Jupiters Atmosphäre untersuch-
die Trägerrakete abhob, eine Kumulus- näher gelegene und größere Jupiter, te. Der Cassini-Orbiter wird die Huy-
wolke durchstieß und nach Osten in könnte Saturn wichtige Hinweise auf die gens-Tochtersonde zu dem Mond Titan
Richtung Weltraum entschwand. langfristige Entwicklung aller Gasplane- und nicht zu dem Gasplaneten Saturn
An Bord befand sich die größte ten liefern. Saturns Gefolge besteht aus schicken. Und im Gegensatz zu Galileo
Raumsonde, die jemals gebaut worden 30 kleinen eisigen Monden und einem ist Cassini-Huygens ein wahrhaft inter-
war: der Orbiter Cassini und die Lande- weiteren Trabanten, der sogar größer ist nationales Unternehmen: Die Nasa bau-
einheit Huygens. Eine sieben Jahre lange als der Planet Merkur. Dieser Mond, Ti- te den Orbiter und leitet die Mission,
Reise durch den interplanetaren Raum tan, hat eine dichte Atmosphäre, die wie die Europäische Raumfahrtbehörde Esa
lag vor diesen Lkw-großen Instrumen- die irdische Lufthülle hauptsächlich aus entwickelte die Huygens-Sonde; die
tenträgern. Schon als Doktorand war ich Stickstoff besteht. Die Wissenschaftler er- Teams, welche die wissenschaftlichen Ex-
an der Planung der Mission beteiligt. hoffen sich deshalb Hinweise darauf, wie perimente auf den Raumfahrzeugen be-
Doch ich musste bis zur Mitte meiner einst das Leben auf der Erde entstanden treuen, setzen sich aus Europäern und
wissenschaftlichen Laufbahn warten, um sein könnte. Des Weiteren möchten sie Amerikanern zusammen.
Saturn ist von der Sonne fast doppelt nung untersuchte sie die Eigenschaften sowie andere Messungen zeigen, dass die
so weit entfernt wie Jupiter – 1,4 Milli- der Saturnatmosphäre und bestimmte Größe der Partikel, aus denen die Ringe
arden Kilometer anstelle von 780 Millio- die Stärke und Geometrie des planetaren bestehen, von Staubkörnern bis zu
nen. Allein deshalb schon ist er seit jeher Magnetfelds. mächtigen Felsbrocken variiert.
der Forschung schwerer zugänglich. Im Voyager 1 und 2, die 1980/81 durch Die Voyager-Sonden lieferten auch
Vergleich zu Jupiter weist seine Atmos- das Saturnsystem flogen, verfügten über einzelne Bilder von einigen der vereisten
phäre weniger helle und dunkle Wolken- empfindlichere Kameras und Spektrome- Saturnmonde. Auf den Fotos ist zu se-
bänder auf, aus denen sich auf Wind- ter. Mit ihnen wurden unerwartete hen, dass unterschiedlich starke Schmelz-
strömungen schließen lässt. Saturns Ma- Strukturen in den Saturnringen entdeckt: prozesse die Oberflächen umgestalteten.
gnetosphäre – die Region, die durch das dunkle, radiale Striche, die wie die Spei- Aber es war Titan, der für die spannends-
Magnetfeld des Planeten dominiert wird chen eines Rads aussehen. Offenbar sind ten Entdeckungen sorgte. Voyager 1 nä-
– ist viel ruhiger als diejenige von Jupi- sie auf elektromagnetische Effekte zu- herte sich diesem Trabanten bis auf 4000
ter, welche sogar Radiosignale erzeugt, rückzuführen, die Staub aus der Ring- Kilometer; Titan ist nach Jupiters Gany-
die auf der Erde zu registrieren sind. Die ebene herausheben. Dieses Phänomen med der zweitgrößte Mond im Sonnen- r
Atmosphäre Titans entdeckten Astrono-
men im Jahr 1943, aber bis zum Raum-
fahrtzeitalter wusste man nur wenig über IN KÜRZE
ihn und die anderen Saturnmonde. r Nach siebenjähriger Reise erreichte die Doppelsonde Cassini-Huygens am
Das erste Raumfahrzeug, das dem 1. Juli 2004 den Saturn und schwenkte in eine Umlaufbahn um den Planeten ein.
beringten Riesenplaneten einen Besuch r Bis 2008 untersucht der Orbiter Cassini die Atmosphäre des Riesenplaneten,
abstattete, war Pioneer 11. Nach ihrem seine Monde, die Ringe und das Magnetfeld.
Vorbeiflug an Jupiter 1974 zog die Son- r Im Dezember 2004 wird Cassinis Tochtersonde Huygens Kurs auf Titan, den
de fünf Jahre später an Saturn vorbei. größten Saturnmond, nehmen und nach dreiwöchigem Flug in seine Atmosphä-
Ihre Instrumente entdeckten eine weite- re eindringen. Die Oberfläche des Himmelskörpers ist womöglich mit Seen oder
re Komponente des Ringsystems (den so Meeren aus flüssigen Kohlenwasserstoffen bedeckt.
genannten F-Ring). Aus großer Entfer-
sowie eine große Teilung in seinen Rin- Während des Vorbeiflugs an Jupiter
gen entdeckt hatte. im Dezember 2000 untersuchte Cassini
Die gesamten Entwicklungskosten das Magnetfeld des Riesenplaneten –
der Mission von etwa 3 Milliarden US- und ergänzte damit die Messungen der
Dollar – von denen die Europäer rund Galileo-Sonde, die den Riesenplaneten
25 Prozent trugen – sind im Vergleich zu in geringerer Distanz umrundete. Erst-
den meisten Planetenmissionen hoch, mals überhaupt wurden derartige Mes-
aber dennoch vergleichbar mit denen an- sungen simultan vorgenommen. Die
derer Großprojekte wie dem Hubble- Analyse ergab, dass Jupiters Magneto-
Weltraumteleskop. sphäre unsymmetrisch ist: An einer Seite
treten ungewöhnlich viele Ionen und
Elektronen aus. Cassini lieferte auch be-
merkenswerte Bilder von Jupiter, auf de-
l
Während des Vorbeiflugs an dem nen selbst feine Details der turbulenten
Saturnmond Phoebe am 11. Juni Atmosphäre zu sehen sind.
2004 fotografierte Cassini den nur 220 Die komplizierte Reiseroute bot
Kilometer großen Brocken. Der Himmels- noch einen weiteren Vorteil: Die Nasa
körper scheint sehr viel Eis zu enthalten und die Esa hatten ausreichend Zeit, ein
und an seiner Oberfläche von dunklerem unvorhergesehenes Problem zu lösen. Im
Material bedeckt zu sein. Jahr 2000 fanden die Projektverantwort-
Ankunft
am Saturn
Saturn
Vorbeiflüge
an der Venus
F-Ring
G-Ring
4. Orbit 3. Orbit
2. Orbit 1. Orbit
Titan von Cassini
ALLE GRAFIKEN: DON DIXON
Iapetus
lichen einen Designfehler in Cassinis geschwindigkeit zwischen Orbiter und die steinigen Kerne der äußeren Planeten
Kommunikationssystem, das während Eintauchsonde und damit auch die formten. Drei Wochen später, am 1. Juli,
des Abstiegs der Huygens-Sonde zur Ti- Doppler-Verschiebung kleiner wird. näherte sich die Raumsonde dem Plane-
tan-Oberfläche Daten empfangen soll. Cassinis erste nahe Begegnung mit ten und durchflog von unten her kom-
(Der Orbiter dient als Relaisstation für dem Saturnsystem fand bereits am 11. mend die Ringebene durch die breite Lü-
die Datenübertragung zur Erde.) Ein Juni 2004 statt, als sie an Phoebe vorbei- cke zwischen dem F- und G-Ring. Um
Verbindungstest, in dem die erwartete flog, einem Mond, der sich auf einer irre- das Raumfahrzeug so weit abzubremsen,
Doppler-Verschiebung in Huygens’ Sen- gulären Bahn in rund 13 Millionen Kilo- dass es in eine Umlaufbahn einschwenken
defrequenz simuliert wurde, schlug fehl: meter Abstand vom Planeten bewegt. kann, zündete es für 96 Minuten sein
Der Empfänger auf dem Orbiter regist- Cassini passierte den 220 Kilometer gro- Haupttriebwerk entgegengesetzt zur Flug-
rierte kein Signal, weil die verschobene ßen Himmelskörper in nur 2000 Kilome- richtung. Dieses Bremsmanöver, das in
Frequenz außerhalb seiner Bandbreite zu ter Abstand (Foto auf der linken Seite). nur 18 000 Kilometer Abstand vom Sa-
liegen kam. Nach monatelangen Bera- Er fasziniert die Wissenschaftler deshalb, turn erfolgte, brachte Cassini in eine stark
tungen fanden die Experten schließlich weil er ein Überbleibsel des ursprüngli- elliptische Bahn, die nach und nach
eine Lösung: Die geplante Flugbahn chen Baumaterials sein könnte, aus dem durch weitere Bremsmanöver korrigiert
wurde so verändert, dass die Relativ- sich vor mehr als 4,5 Milliarden Jahren wird (Grafik im Kasten oben). r
Magnetosphäre
Saturn Reicht bis zu 1,5 Millionen
Durchmesser: 120 536 Kilometer Kilometer in Richtung Sonne
Entfernung von der Sonne: 1,4 Milliarden Kilometer und 10- bis 100-mal so weit in
die Gegenrichtung
r In den folgenden Wochen fliegt Cas- den orangefarbenen Dunst schwebt, ana- gen hundert Metern des Landeanflugs
sini zweimal an Titan vorbei, um die At- lysieren der Gaschromatograf und das beleuchtet eine auf der Sonde montierte
mosphäre und Oberfläche des Trabanten Massenspektrometer (GCMS) die Zu- Weißlichtlampe die Oberfläche. Norma-
zu untersuchen und die Huygens-Missi- sammensetzung der Atmosphäre. Ein lerweise würde diese schmutzig rot er-
on vorzubereiten. Am 25. Dezember be- anderes Instrument sammelt und ver- scheinen, weil die Atmosphäre den blau-
ginnt die Huygens-Sonde dann ihren 20 dampft feste Partikel, damit sie ebenfalls en Anteil des Sonnenlichts absorbiert.
Tage währenden Flug zu Titan: Am 14. vom GCMS identifiziert werden kön-
Januar 2005 wird sie in die bis zu 1000 nen. Gleichzeitig werden die Abstiegs- Huygens’ Einsatz
Kilometer dicke Atmosphäre des Monds kamera und das Spektral-Radiometer dauert nur knapp drei Stunden
eintauchen (siehe Grafik im Kasten auf (DISR) der Sonde Bilder der Methan- Die Beleuchtung erlaubt es, mit dem
S. 54). Ein untertassenförmiger Hitze- wolken aufnehmen, damit die Wissen- DISR die Zusammensetzung der Ober-
schild schützt die Kapsel vor den hohen schaftler deren Größe und Form ermit- fläche zu analysieren. Während des ge-
Temperaturen beim Eintritt in die Gas- teln können. samten Abstiegs der Sonde werden die
hülle. Etwa 170 Kilometer über der Ab einer Höhe von etwa 50 Kilome- Verschiebungen ihrer Funkfrequenz re-
Oberfläche werden sich Fallschirme öff- ter wird das DISR mit Panorama-Auf- gistriert, um daraus Informationen über
nen, die den Abstieg verlangsamen und nahmen der darunter liegenden Land- die Windstärken zu erhalten. Das Huy-
stabilisieren. Während Huygens durch schaft beginnen. Auf den letzten weni- gens Atmospheric Structure Instrument
Trabant)
Durchmesser: 5150 Kilometer Abstand vom Saturn: 134 000
Entfernung vom Saturn: Kilometer (Pan) bis 23 Millio-
1,2 Millionen Kilometer nen Kilometer (Ymir)
NASA / JPL
Der größte Saturnmond, Titan, ist Mit Ausnahme von Titan sind
größer als der Merkur und ver- Saturns Monde alle kleiner als die Galileischen Monde Jupiters.
fügt über eine Atmosphäre, Ihr Aussehen ist sehr unterschiedlich. Die Oberfläche von Ence-
die dichter ist als jene der ladus (hier auf einer Aufnahme von Voyager 2 zu sehen) ist sehr
Erde. In seiner klimatischen glatt, was darauf schließen lässt, dass sie in jüngster Vergangen-
und chemischen Komplexität ähnelt Titan – hier in einer Aufnah- heit umgestaltet wurde. Ein solches Phänomen tritt gewöhnlich
me des Keck-II-Teleskops gezeigt – unserem Heimatplaneten. nur bei Himmelskörpern wesentlich größerer Masse auf. Im Ge-
Freilich ist es wegen der Oberflächentemperatur von –180 Grad gensatz dazu zeigt Iapetus eine zweigesichtige Oberfläche: die
Celsius äußerst unwahrscheinlich, dass dort Leben existiert. Seite des Monds, die in seine Flugrichtung weist, ist wesentlich
Doch könnten durchaus gelegentlich chemische Reaktionen dunkler als die andere.
auf der Oberfläche stattgefunden haben – angeregt durch Wär- Um Licht in diese Geheimnisse zu bringen, wird Cassini meh-
me aus dem Innern des Monds oder durch Kometeneinschläge. rere der Satelliten aus der Nähe fotografieren und mit seinen
Wenn große Kometen auftreffen, können sie sogar kilome- Messinstrumenten untersuchen.
(HASI) wird die Temperatur, den Druck von Eis überzogener Trabant, dessen flüssig ist. Sollte die Sonde die Landung
und die elektrischen Felder messen, die Oberfläche mit Kratern übersät ist? Um überstehen, können für weitere drei bis
das Vorkommen von Blitzen anzeigen. diese Fragen zu klären, führt die Sonde dreißig Minuten Messwerte zum Orbiter
Der gesamte Landevorgang wird zwi- ein Surface Science Package (SSP) mit übertragen werden, bevor er hinter dem
schen zweieinhalb und drei Stunden sich, das während der Endphase der Lan- Horizont verschwindet. Falls Huygens in
dauern. dung Schallwellen aussenden wird, um einem Kohlenwasserstoff-See oder in ei-
Wenngleich das Hauptziel der Huy- die Rauigkeit der Oberfläche zu ermit- nem Ozean niedergeht, kann das SSP
gens-Sonde die Untersuchung von Ti- teln. HASI wird ähnliche Messungen Temperatur, Dichte und andere Charak-
tans Atmosphäre ist und keine Vorkeh- mit seinem Radar durchführen. Beim teristika des »Gewässers« messen. Die
rungen für eine sichere Landung getrof- Aufprall, der mit der relativ gemächli- Sensoren können auch die Schallge-
fen wurden (was zu teuer gewesen wäre), chen Geschwindigkeit von einigen Me- schwindigkeit in der Flüssigkeit bestim-
sind die Wissenschaftler stark an der tern pro Sekunde erfolgt, werden die men und vielleicht auch deren Tiefe aus-
Oberfläche des Saturnmonds interessiert. Daten der Beschleunigungssensoren an loten. In der Zwischenzeit wird das DISR
Ist sie mit flüssigen Kohlenwasserstoffen Bord der Sonde sehr schnell durch das Aufnahmen machen und das GCMS
bedeckt? Zeigt sie Anzeichen geologi- SSP weitergeleitet. wird versuchen, die Kohlenwasserstoffe
scher Aktivität oder organisch-chemi- Damit soll festgestellt werden, ob der zu analysieren. Die Huygens-Sonde ist so
scher Evolution? Oder ist Titan nur ein Untergrund hart, schneebedeckt oder gebaut, dass sie in Kohlenwasserstoffen r
DON DIXON
Wie die Huygens-Sonde in Titans Atmosphäre eintaucht
Huygens
trennt sich
von Cassini
Hilfsfallschirm
entfaltet sich
Eintritt in die
Titanatmosphäre
Haupfall-
Cassini-Raumsonde schirm
Hauptantenne entfaltet sich
Magnetometer- Hauptfallschirm
arm Hitzeschutz- wird durch
Feld- und schild wird kleineren Fall-
Teilchen- abgeworfen schirm ersetzt
Detektoren
Fernerkundungs-
instrumente Huygens- Aufprall auf der
Sonde Oberfläche
Haupttriebwerk
r schwimmt, obwohl die Dichte dieser anderen Satelliten und seinen Ringen Instrumente in der optimalen Reihenfol-
Substanzen kleiner als die von Wasser ist. machen sowie andere Regionen der Ma- ge eingesetzt werden können.
Nach Huygens’ Landung wird der gnetosphäre untersuchen kann. Im Ge- Die vielfältigen wissenschaftlichen
Cassini-Orbiter auf seinem vierjährigen gensatz zu Galileo und Voyager besitzt Experimente, die im Saturnsystem durch-
Flug durch das Saturnsystem den Tra- Cassini keine drehbare Plattform, mit geführt werden sollen, können hier nur
banten Titan weiter untersuchen. Die der sich die Instrumente ausrichten lie- angerissen werden (siehe Kasten auf der
meisten der geplanten 76 Saturn-Um- ßen: Um die Entwicklungskosten zu ver- vorherigen Doppelseite). Mein eigenes
kreisungen führen Cassini wieder nahe ringern, wurden die Geräte starr am zy- Interesse gilt Titan. Neben der Frage, ob
an dem größten Mond vorbei. Jede Be- lindrischen Körper des Satelliten befes- sich auf seiner Oberfläche komplexe or-
gegnung wird auch Cassinis Umlauf- tigt. Deshalb müssen die an der Mission ganische Moleküle entwickelt haben,
bahn verändern, sodass das Raumfahr- beteiligten Wissenschaftler ihre Beob- wollen die Forscher noch viel mehr über
zeug auch Nahaufnahmen von Saturns achtungen sorgfältig planen, damit die diese Welt herausfinden. Auf der Erde ist
Wasser verantwortlich für die ständige Titan in seiner Vergangenheit wahr- Nach Cassinis erstem Vorbeiflug an
Umgestaltung der Oberfläche und den scheinlich nie genug Methan oder Ethan Titan und nach der Landung der Huy-
Energieaustausch zwischen ihr und der besessen, um solche Gewässer bilden zu gens-Sonde wird über die Planetenfor-
Atmosphäre. Auf Titan übernimmt Me- können. Dann wäre die momentane scher wohl eine Flut von Entdeckungen
than diese Rolle. Aber da diese Substanz Charakteristik der Titanatmosphäre – in hereinbrechen. Und der Strom neuer Er-
in der Atmosphäre des Saturnmonds der das Methan einen Treibhauseffekt kenntnisse wird nicht versiegen, wenn
durch photochemische Reaktionen abge- hervorruft – wahrscheinlich nur ein Zu- der Orbiter weiter den Riesenmond beo-
baut wird, muss sie fortlaufend nachge- fallsergebnis, hervorgerufen durch einen bachtet. Dennoch wird auch die Cassini-
liefert werden – entweder von der Ober- kürzlich stattgefundenen Kometenein- Huygens-Mission nicht alle noch offe-
fläche, aus dem Inneren oder durch Ko- schlag oder einen Ausbruch aus dem nen Fragen beantworten können. Viel-
meteneinschläge. Mondinneren. Letztlich wollen die Pla- leicht denken die Forscher bald über
netenforscher herausfinden, woher Ti- Ballone, Luftschiffe und Landegeräte
Gibt es auf Titan tans Gashülle stammt und warum er der nach, mit denen sie Titans dichte At-
Seen aus Kohlenwasserstoffen? einzige Mond im Sonnensystem ist, der mosphäre näher untersuchen wollen.
Die gegenwärtige Methanhäufigkeit auf eine dichte Atmosphäre besitzt. Vermutlich wird die lange Entdeckungs-
Titan, wie sie Voyager gemessen hatte, Alle Bordinstrumente werden not- reise, die mit Cassini-Huygens begann,
scheint bei einem kritischen Wert zu lie- wendig sein, um die Antworten auf diese noch nicht so schnell enden. l
gen – gerade genug, um Wolken und Fragen zu finden. Kameras, Spektrome-
Regen aus diesem einfachsten Kohlen- ter und das Radar des Orbiters, welches
Jonathan I. Lunine ist Professor
wasserstoff zu ermöglichen. Aber die durch Titans dichten Dunst hindurch- für Planetenkunde und Physik
Konzentration ist zu niedrig, als dass rei- schauen kann, werden nach Meeren aus sowie Leiter des Programms für
nes, flüssiges Methan auf der Oberfläche Kohlenwasserstoffen suchen, wenn sie Theoretische Astrophysik an der
vorkommen könnte: Methantropfen die Mondoberfläche kartieren. Universität von Arizona. Er forscht
über die Entstehung und Entwick-
würden verdunsten, bevor sie die Ober- Andere Instrumente untersuchen die lung der Planeten und des Sonnensystems. Zudem
fläche erreichten. Wechselwirkung von Titans Atmosphäre
A U T O R U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
interessiert er sich für die Prozesse, die zu be-
Falls es auf Titan Seen gäbe, bestün- mit geladenen Teilchen in Saturns Mag- wohnbaren Welten führen. An der Cassini-Huy-
den sie höchstwahrscheinlich aus flüssi- netfeld. Radiosignale, die durch die At- gens-Mission arbeitet er als interdisziplinärer
gem Ethan – das durch photochemische mosphäre des Monds geschickt werden, Wissenschaftler mit.
Reaktionen in der Atmosphäre des zeigen, wie die Temperatur abhängig von Passage to a ringed world: the Cassini-Huygens
Monds entsteht –, in dem gewisse Men- Länge und Breite variiert. Durch Kombi- mission to Saturn and Titan. Von Linda J. Spilker
gen Methan gelöst sind. nieren dieser Ergebnisse mit den Bildern (Hg.). Nasa, 1997
Woher kommt das Methan und wo- des Orbiters und der Huygens-Sonde Titan: the Earth-like moon. Von Athena Coustenis
hin gehen seine photochemischen Reak- kann das Ausmaß des Methannieder- und Fred Taylor. World Scientific Publishing, 1999
tionsprodukte? Diese Frage gehört zu schlags bestimmt werden. Zusammen
Lifting Titan’s veil: exploring the giant moon of Sa-
den wichtigsten, welche die Cassini- mit Bildern der Methanwolken wird die turn. Von Ralph Lorenz und Jacqueline Mitton.
Huygens-Mission beantworten soll. Sind Sonde auch direkte Temperatur- und Cambridge University Press, 2002
Methan und Ethan in Seen oder Meeren Druckwerte liefern. Hinweise auf mögli-
Mission to Saturn: Cassini and the Huygens pro-
aus Kohlenwasserstoffen auf Titans che Quellen für Methan und Stickstoff be. Von David M. Harland. Springer-Verlag, 2002
Oberfläche vermischt? Neueste Daten auf diesem Mond könnten sich aus zwei
The Cassini-Huygens mission: overview, objec-
des Arecibo-Radioteleskops in Puerto atmosphärischen Schlüsselparametern er-
tives and Huygens instrumentarium. Von Christo-
Rico scheinen darauf hinzuweisen. Aber geben: der Häufigkeit der Methanmole- pher T. Russel (Hg.). Kluwer Academic Publishers,
nur der Cassini-Orbiter und die Huy- küle, die das Wasserstoffisotop Deuteri- 2003
gens-Sonde können die Antwort liefern. um enthalten, und den Verhältnissen
Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei
Falls das Raumschiff keine Anzeichen zwischen Stickstoff und den Edelgasen www.spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
für Seen oder Meere findet, dann hatte Argon und Krypton.
A
ls Anton van Leeuwenhoek, der be- lerdings sind experimentell nur dürftig belegt,
rühmte Mikroskopbauer des 17. und keine konnte bislang befriedigen.
Jahrhunderts, einen Tropfen Teich- In den letzten Jahren jedoch machten sich
wasser mit seinem Instrument un- Experimentatoren wie ich daran, den Vor-
tersuchte, da sah er als erster Mensch so sprung der Theoretiker einzuholen. Wir über-
genannte Rädertiere: winzige Geschöpfe mit prüfen die bestehenden Theorien an natürli-
einem Kranz langer »Wimpern« um das chen und künstlichen Populationen, die sich
Mundfeld, die in einer Weise schlagen, dass sowohl aus sexuellen als auch aus asexuellen
man ein drehendes Rad zu sehen meint. Ihre Stämmen einer Art zusammensetzen oder aus
Schönheit und Eleganz faszinierten den Na- Individuen, die zwischen beiden Vermeh-
turforscher. Was er indes nicht ahnen konnte: rungstypen wechseln. Die sich abzeichnenden
Aus urheberrechtlichen Gründen Einige Arten von Rotiferen – so der Fach- Ergebnisse bestätigen, was die Theoretiker
können wir Ihnen die Bilder leider name – halten den Weltrekord in sexueller lange vermuteten – dass nämlich ein empfind-
nicht online zeigen. Abstinenz. Sie unterliegen seit 70 Millionen liches Gleichgewicht zwischen sexueller und
Jahren einem strengen Zölibat – sogar aus asexueller Fortpflanzung besteht und dass ge-
der Sicht der frommsten Mönche Respekt eignete Bedingungen es in die eine oder ande-
einflößend. re Richtung auszulenken vermögen.
Die ausdauernde Keuschheit solcher Roti- Je mehr man über Sex nachdenkt, desto
feren ist freilich mehr als eine Kuriosität, sie mehr Fragen tauchen auf. Die genetische Re-
stellt die Biologen vor ein großes Rätsel. Denn kombination mag in der Tat neue Genkombi-
Sex scheint für das langfristige Überleben nationen ermöglichen, aber was, wenn die an-
wichtig zu sein: Arten, die keinen Geschlechts- fängliche Mischung hervorragend ist? Warum
verkehr mehr praktizieren, verschwinden ge- sie verändern und eine Menge schlechterer
wöhnlich innerhalb einiger hunderttausend Nachkommen produzieren? Und das ist nicht
Jahre. Die Standarderklärung hierfür lautet, alles; denn sexuelle Organismen haben noch
dass so genannte genetische Rekombinationen einen anderen, fast erdrückenden Nachteil:
– das neue Mischen der genetischen Karten Sie produzieren Männer.
mit jeder Generation – unerlässlich seien, um Es fällt mir schwer, das zu sagen, aber wir
die Auswirkung gefährlicher Mutationen zu Männer sind für die meisten Dinge wirklich
mindern und neue Genkombinationen zu er- nicht besonders viel nütze. Stellen Sie sich
möglichen. Aber die lang anhaltende Absti- eine Population von Tieren vor, von denen ei-
nenz von Rädertieren lässt vermuten, dass an nige sich sexuell, andere hingegen asexuell
dieser Sichtweise irgendetwas nicht stimmen vermehren. Jedes Individuum soll genau zwei
kann. Trotz ihrer Enthaltsamkeit floriert die Nachkommen produzieren. In dieser Situa-
o
Etliche Arten von Räder- Gruppe: Weltweit gibt es über 300 asexuelle tion besitzen die asexuellen Artgenossen einen
tieren gedeihen seit 70 Rotiferen-Arten. klaren Vorteil. Denn die Sexuellen müssen
Millionen Jahren ohne Sex. Aber wenn Sex nicht unbedingt nötig ist, sich paarweise zusammentun, um gemeinsam
Die strikte Abstinenz stellt Bio- warum gibt es ihn dann? Zu dieser Frage – ei- zwei Nachkommen zu haben. Die Kopfstärke
logen vor ein Rätsel. ner der heikelsten in der Biologie – kursieren jeder Generation bleibt daher gleich. Die Zahl
o
der Anreicherung von Mutationen. Die geht zung übergehen. Viele asexuelle Spezies erwie- Wenn Lotosblumen im
aber nur langsam vonstatten, was wohl der sen sich schlicht als ein »Kreuzungsprodukt« Nildelta auf landwirt-
Grund dafür ist, dass die meisten asexuellen zweier sexueller Spezies, das sich asexuell fort- schaftliche Flächen übergrei-
Spezies – in evolutionären Zeiträumen gemes- pflanzen kann. Sie sind in Teichen und Was- fen, setzen sie verstärkt auf un-
sen fast augenblicklich – wieder ausstarben. serläufen oft anzutreffen. Ihr Erscheinen und geschlechtliche Vermehrung.
Verschwinden sollte etwas darüber aussagen,
Doppelte Kosten aufwiegen wo sich die unterschiedlichen Fortpflanzungs-
Genau das ist das Problem der Theoretiker. strategien auszahlen.
Einerseits muss Sex Vorteile haben, sonst wäre Wie Vrijenhoek feststellte, dominieren die
er nicht so weit verbreitet. Andererseits sollte asexuellen Jungfernkärpflinge oft in extremen
Asexualität auf kurze Zeit immer gewinnen – Umgebungen, zum Beispiel in Teichen mit
und gleichzeitig langfristiges Überleben nicht hoher Wassertemperatur. Der Grund: Alle
unbedingt ausschließen, wie das Beispiel der Nachkommen eines asexuellen, temperatur-
Rotiferen zeigt. toleranten Individuums verfügen über die
Mehrere natürliche Systeme haben sich gleiche Genkombination wie es selbst und
bei dem Versuch, dieses Paradoxon aufzulö- können somit in der extremen Umgebung
sen, als nützliches Testmodell erwiesen. Dazu überleben. Ein sexueller Fisch, der zufällig der
gehört eine Gruppe von 21 eng verwandten hohen Temperatur standhält, wird hingegen
Süßwasserfisch-Arten der Gattung Jungfern- hauptsächlich Nachkommen hervorbringen,
kärpflinge ( Poeciliopsis), die in Mexiko und im die nicht so gut angepasst sind, da sie über an-
Südwesten der Vereinigten Staaten leben. Ro- dere Genkombinationen verfügen als er.
bert Vrijenhoek von der Rutgers-Universität Nichtsdestotrotz überdauern sexuelle Po-
in New Jersey hat diese Fische einige Jahre pulationen. Die Vorzüge ihrer Fortpflanzung
lang beobachtet. Er konnte ein komplexes müssen beträchtlich sein, um deren doppelte
Wechselspiel zwischen ihnen feststellen, das Kosten zu kompensieren. Ein möglicher Vor-
eindrucksvoll veranschaulicht, wie empfind- teil besteht darin, dass sexuelle Fische in wech-
lich die Balance zwischen den Vorteilen sexu- selnden Umgebungen überleben können. Wo
eller und asexueller Reproduktion ist. Wasserläufe in ihrer Temperatur und Fließge-
Vrijenhoek entdeckte, dass die Fische in schwindigkeit jahreszeitlich stark schwanken,
dieser Gruppe auf ungewöhnlich einfache dominieren sexuelle Spezies von Jungfern-
Weise von sexueller zu asexueller Fortpflan- kärpflingen. Liegt hier das Geheimnis? r
u
Im Sommer, bei gu- men normalerweise wachsen, drei Viertel aller nanntes Crossing-over genetisches Material
ten Bedingungen, pflan- neuen Pflanzen aus solchen Ausläufern hervor- zwischen Chromosomen von Säugetieren aus-
zen sich Wasserflöhe durch gehen. Wenn das Gewächs jedoch auf bewirt- getauscht wird, wenn Geschlechtszellen ent-
Jungfernzeugung fort. Erst zum schaftete Flächen vordringt, erreichen Pflanzen stehen. Dabei verglichen sie vermehrungsfreu-
Herbst hin vermehren sie sich aus Stolonen sogar ein Verhältnis von zehn zu dige Arten mit solchen, die wenige Nachkom-
geschlechtlich. eins gegenüber solchen aus Samen. Angesichts men hervorbringen – beispielsweise Nagetiere
neuer Möglichkeiten in einer anderen Umwelt mit Primaten. Die Forscher vermuteten, dass
wird auf schnelle Reproduktion und mithin die Austauschhäufigkeit bei Tieren mit gro-
auf Asexualität umgeschaltet. ßen Würfen ausgeprägter sein müsse. Denn
nur dann sei gewährleistet, dass die zahlrei-
Sex ist für Wasserflöhe günstig chen Nachkommen untereinander verschie-
Viele »Unkräuter« verfolgen ähnliche Strate- den genug wären, um in ihrer komplexen
gien. Bei ihnen hängt die Balance zwischen Umgebung allesamt einen Platz zum Leben
asexueller und sexueller Vermehrung demnach zu finden. Indes, Burt und Bell konnten kei-
von der Umgebung ab. Asexuelle Spezies schei- nen solchen Trend feststellen.
nen einen Vorteil zu haben, wenn die Bedin- Es ist demnach wohl nicht die räumliche
gungen konstant oder wenigstens von einer Vielfalt eines Lebensraums, die Sex vorteilhaft
Generation zur nächsten vorhersagbar bleiben. macht. Ist es vielleicht die Unvorhersehbarkeit
Sexuelle Arten hingegen mögen mit unvorher- zeitlicher Abläufe? Einige Organismen, darun-
Aus urheberrechtlichen Gründen sehbar wechselnden Bedingungen besser zu- ter verschiedene Spezies von Wasserflöhen der
können wir Ihnen die Bilder leider rechtkommen. Was aber verschafft ihnen mehr Gattung Daphnia, pflanzen sich während des
nicht online zeigen. Vorteile: räumliche Vielfalt oder zeitliche Ver- Sommers asexuell fort, wenn das Leben ein-
änderungen? fach ist. Doch zum Herbst hin produzieren sie
Im letzten Kapitel seines Buches »Über die neben weiblichen auch männliche Nachkom-
Entstehung der Arten« schildert Charles Dar- men, die sich miteinander paaren. Einige ihrer
win sehr poetisch, wie komplex die meisten Eier überleben den Winter, und im darauf fol-
natürlichen Umgebungen sind: »Wie anzie- genden Frühling schlüpft eine Vielzahl gene-
hend ist es, ein mit verschiedenen Pflanzen tisch unterschiedlicher Individuen.
bedecktes Stückchen Land zu betrachten, mit Mag sein, sexuelle Fortpflanzung ist des-
singenden Vögeln in den Büschen, mit zahl- halb vorteilhaft, weil sich Umweltbedingun-
reichen Insekten, die durch die Luft schwir- gen von Jahr zu Jahr unvorhersehbar ändern –
ren, mit Würmern, die über den feuchten doch meist tun sie das eigentlich nicht: Die
Erdboden kriechen ...« Er fährt fort mit dem Jahreszeiten folgen vielmehr gewöhnlich in
Anspruch, dass seine Theorie der Evolution vorhersagbarer Weise aufeinander. Die sexuelle
solche Komplexität erklären könne. Vermehrung ist für den Wasserfloh wohl eher
Heute nutzen Biologen die Idee der Um- deshalb günstig, weil die sexuelle »Neumi-
weltkomplexität, um die Funktion von Sex zu schung« ein breites Spektrum unterschiedli-
erklären. Aus den darauf fußenden Theorien cher Eier hervorbringt: Einige von ihnen über-
Von Erwin Lausch sie zufällig bei der Auswertung jahrzehn- eine Schar von Dissidenten alle für sicher
tealter Kerne von Erdölbohrungen und erachteten Erkenntnisse über den Krater
N
och immer erhitzt die Frage mittels geophysikalischer Sondierungen. und seine Bedeutung. Ihre Wortführe-
die Gemüter nicht nur von Nach einer lokalen Kleinstadt tauften sie rin ist Gerta Keller von der Universität
Forschern: Was geschah am den verschütteten Krater »Chicxulub«. Princeton (New Jersey), sekundiert von
Ende der Kreidezeit, in ei- Auch nachdem an seiner Existenz – Wolfgang Stinnesbeck von der Universi-
ner der dramatischsten Phasen der Erd- spätestens seit 1991 – kein Zweifel mehr tät Karlsruhe und Thierry Adatte von der
geschichte vor 65 Millionen Jahren? bestand, blieben noch viele Fragen über Universität Neuchâtel (Schweiz). Nach
Glaubt man der Vorstellung, die bei den seine Struktur zu klären. Deshalb war ei- Ansicht dieser Abweichler
Geowissenschaftlern mittlerweile großen- nes der ersten Projekte des internationa- r misst der Chicxulub-Krater nicht
teils anerkannt und auch in der Öffent- len kontinentalen Bohrprogramms, das 180, sondern maximal 120 Kilometer;
lichkeit weit verbreitet ist, stürzte ein auf Initiative deutscher Geowissenschaft- r ereignete sich der Einschlag nicht ge-
etwa zehn Kilometer großer Himmels- ler Mitte der 1990er Jahre aus der Taufe nau an der Wende zwischen Kreidezeit
körper, ein Asteroid oder Komet, auf die gehoben wurde, eine Bohrung in den und Tertiär – also am Übergang zwi-
Erde und schuf einen mindestens 180 Chicxulub-Krater. Nach einer nahe gele- schen Erdmittelalter und -neuzeit –, son-
Kilometer weiten Krater. Durch die Fol- genen Hazienda Yaxcopoil-1 oder kurz dern etwa 300 000 Jahre früher;
gen des Einschlags – oder Impakts, wie Yax-1 genannt, erreichte sie Ende 2001 r war am großen Sterben zum Ende der
Fachleute sagen – geriet das Leben welt- eine Tiefe von 1511 Metern. Kreidezeit ein anderer Impakt beteiligt,
weit in eine seiner schwersten Krisen: Der mit Spannung erwartete Bohr- dessen Krater bisher unbekannt ist. r
Nicht nur die Dinosaurier starben aus, kern ist inzwischen untersucht – und hat
sondern mit ihnen etwa 75 Prozent aller neue heftige Auseinandersetzungen aus-
damaligen Tier- und Pflanzenarten. gelöst. Die Befunde sind in zwei Sonder-
r
Nach gängiger Meinung liegt der ausgaben der Zeitschrift »Meteoritics and So könnte es ausgesehen haben,
Krater, den die Bombe aus dem All hin- Planetary Science« vom Juni und Juli die- als vor 65 Millionen Jahren bei der
terließ, am Nordende der mexikanischen ses Jahres zusammengetragen (Bd. 39, heutigen Halbinsel Yukatan ein Himmels-
Halbinsel Yukatan, halb an Land und Heft 6 und 7, 2004). Über ihre Deutung körper von rund zehn Kilometer Durch-
halb im Meer. Am Erdboden ist von ihm stritten aber schon im Herbst 2003 die messer in ein flaches Meer einschlug und
freilich nichts zu sehen: Die gewaltige Teilnehmer der dritten internationalen einen 180 bis 280 Kilometer breiten Kra-
Narbe in der Erdkruste, damals von ei- Konferenz über große Meteoriten-Ein- ter erzeugte. Der Aufprall hatte verhee-
nem flachen Meer bedeckt, wurde im schläge in Nördlingen. rende Auswirkungen auf das Klima und
Laufe der Jahrmillionen Hunderte von Während die Mehrzahl der Chicxu- löste nach gängiger Meinung das Mas-
Metern tief unter jüngeren Ablagerungen lub-Experten ihre Vorstellungen in den sensterben am Ende der Kreidezeit aus,
begraben. Geowissenschaftler entdeckten Grundzügen bestätigt sah, bezweifelte dem die Dinosaurier zum Opfer fielen.
r
Obwohl der einstige Krater am Bo-
den nicht mehr zu erkennen ist, zei-
gen Satellitenaufnahmen Ringstrukturen,
die beim Einschlag entstanden sind. So
zeigt diese farbcodierte Höhenkarte, die
Dolinen
per Radar von der Raumfähre aus erstellt
wurde, einen halbkreisförmigen Graben,
der etwa fünf Kilometer breit und nur drei
bis fünf Meter tief ist. Weit gehend paral-
lel dazu verläuft ein Kranz von Dolinen.
Tertiär
stimmen. Einzeller mit Kalkgehäuse, die in den
An der Universität von Kalifornien Ozeanen treiben, finden sich in der
in Berkeley hatten der Geologe Walter obersten Kreideformation noch in gro-
Alvarez und sein Vater Luis, Physiker ßer Zahl und Artenvielfalt. Dagegen
und Nobelpreisträger, dazu jedoch eine gibt es in den untersten Tertiärschich-
neue Idee: Sie wollten die staubfeine kos- ten nurmehr wenige, kümmerliche Ex- Grenzton
mische Materie, die Jahr für Jahr aus dem emplare. Die Grenze dazwischen be-
All auf die Erde rieselt, als Zeitmesser steht aus einer nur wenige Zentimeter
nutzen. Dieser himmlische Dreck hat dicken Lage aus Ton. Sie ist reich an
eine andere Zusammensetzung als irdi-
Kreide
Auswurfmaterial, das beim Einschlag
sches Gestein. Er enthält wie alles, was eines Himmelskörpers hoch in die At-
aus dem All zu uns kommt, das auf der mosphäre geschleudert wurde und
Erde extrem seltene Edelmetall Iridium sich über den gesamten Globus ver-
in erheblich größeren Mengen. Relativ teilt hat. Außerdem enthält sie unge-
viel Iridium im Grenzton, so die Überle- wöhnlich viel Iridium.
A. MONTANARI
gung von Vater und Sohn Alvarez, ließe
auf Jahrtausende der Ablagerung schlie-
ßen, wenig Iridium auf nur Jahrhunderte eine Staubwolke gehüllt, die monatelang Forscher Alan Hildebrand von der Uni-
oder gar Jahre. Auskunft über den Iridi- das Sonnenlicht abschirmte. Ohne Son- versität Calgary (Alberta), »verwandelte
umgehalt des Grenztons sollte ein hoch ne kam die Photosynthese der Pflanzen die Erdoberfläche in eine lebende Hölle,
empfindliches neues Verfahren geben: an Land wie im Meer zum Erliegen. Den in eine dunkle, brennende, schweflige
die Neutronenaktivierungsanalyse. Tieren, die direkt oder indirekt von Welt, in der sich alle Regeln für das Über-
Das Geologe-Physiker-Gespann er- Pflanzen leben, wurde die Nahrungs- leben der am besten Angepassten inner-
lebte jedoch eine herbe Enttäuschung: grundlage entzogen. So starben viele Ar- halb von Minuten veränderten.«
Die Konzentrationen, die bei den Unter- ten aus. Und so formierte sich eine Opposi-
suchungen im Lawrence Livermore Na- tion mit einem Gegenmodell zur Ein-
tional Laboratory herauskamen, fielen Überleben in der Hölle schlagtheorie, die so gar nicht in ihr na-
überhaupt nicht in die erwartete Spanne, Die Publikation erregte enormes Aufse- turwissenschaftliches Weltbild passte:
sondern waren entschieden zu hoch. Ein hen. Es war nicht allein die unheimliche Vulkane sollten nun die Übeltäter sein.
Jahr lang hielten die verblüfften Forscher Vorstellung einer urplötzlich aus dem All Tatsächlich traten um die Wende von der
die Ergebnisse unter Verschluss. Sie un- über die Erde hereinbrechenden Kata- Kreide zum Tertiär über einen Zeitraum
tersuchten Grenztone aus Dänemark strophe, die instinktive Ablehnung her- von mehreren Millionen Jahren hinweg
und Neuseeland und fanden auch dort vorrief. Auch die Grundlagen der Evo- im Westen des indischen Subkontinents
ungewöhnliche Anreicherungen von Iri- lutionslehre schienen erschüttert. Hatte immer wieder immense Lavaströme aus
dium. Daraufhin diskutierten sie ihre Charles Darwin nicht gelehrt, dass sich und erstarrten zu einer der größten Flut-
Ergebnisse mit Kollegen und überschlu- das Leben Schritt für Schritt weiterentwi- basaltdecken auf der Erde: bis 2400 Me-
gen anhand ihrer Stichproben, wie viel ckelt und im Kampf ums Dasein jene Ar- ter mächtigen Schichten, die unter Ex-
von dem Edelmetall vor 65 Millionen ten gewinnen, die an die Bedingungen perten als Dekkan-Trapps bekannt sind.
Jahren weltweit zusätzlich zu dem stän- ihrer jeweiligen Umwelt am besten ange- Nach Schätzungen von Vulkanologen ha-
digen Strom durch den kosmischen passt sind? Bei einem Impakt aber nützt ben sich gut zwei Millionen Kubikkilo-
Staub auf die Erde gelangt sein musste. selbst eine noch so gute Anpassung an ir- meter Lava über mehr als zwei Millionen
Anfang Juni 1980 veröffentlichten dische Umstände nichts. Das Überleben Quadratkilometer Land ergossen.
sie ihre Deutung schließlich in der Wis- hängt allein von glücklichen Zufällen ab. Sicherlich beeinflussten die Gase, die
senschaftszeitschrift »Science«: Ein Aste- War es vorstellbar, dass ganze Grup- in den aktiven Eruptionsphasen zusam-
roid oder Komet mit mindestens zehn pen von Organismen wie die Dinosaurier men mit den Magmamassen austraten,
Kilometer Durchmesser sei vor 65 Mil- oder die Ammoniten, die sich in großer das irdische Klima. Doch bislang gibt es
lionen Jahren auf die Erde gestürzt und Artenvielfalt weit über 100 Millionen keine Hinweise darauf, dass Fauna und
beim Aufprall verdampft. So habe sich Jahre lang erfolgreich entwickelt hatten, Flora während einer solchen Eruption
das Iridium über den Planeten verteilt. gleichsam von heute auf morgen aus- von Flutbasalten, wie sie auch zu ande-
Wie von Zauberhand schien sich da- gelöscht wurden und die Verlierer von ren Zeiten stattfand, nennenswert litten.
mit auch das Massensterben zu erklären: gestern plötzlich unverdiente Gewinner Außerdem ließ sich der hohe Iridium-
Durch den Impakt wurde, so das plau- waren? »Der Impakt an der Kreide-Terti- gehalt des Grenztons, der bald an vielen
sible Katastrophenszenario, die Erde in är-Grenze«, formulierte der Chicxulub- Stellen der Erde nachgewiesen wurde, r
zentrale Hebung
innerer Ring
Eine 1511 Meter tiefe Bohrung, die im Jahre 2001 sechzig Kilome- haben. Die so entstandene Struktur ist in dem geologischen
ter vom Zentrum des Chicxulub-Kraters entfernt niedergebracht Schnitt dargestellt. Kritiker behaupten dagegen, diese angeblich
wurde, sollte die Verhältnisse am Kraterboden klären. Nach An- gerutschten Schollen seien in Wahrheit an Ort und Stelle geblie-
sicht der Befürworter der Einschlagtheorie bestätigte sie das ben und lägen außerhalb des Kraterrandes. Die Einschlagnarbe
bisherige Modell, nach dem von den Seiten her große Schollen sei demnach maximal 120 Kilometer breit – viel schmaler als die
in den primären Krater gerutscht sind und ihn dadurch erweitert bisher angenommenen 180 bis 280 Kilometer.
Fragwürdige Fossilien
z subtropischen Arten« an der Kreide-Ter-
tiär-Grenze. Dennoch hat sie die Wende
allenfalls halbherzig vollzogen. Immer
G. KELLER
Von Renate Tobies zahlreiche Schüler. Durch die National- Hier heiratete er 1880 die ebenfalls
sozialisten aus dem Amt getrieben, emi- aus vermögenden jüdischen Verhältnis-
Z
u den grundlegenden Prinzipi- grierte sie 1933 in die USA. Ihr plötzli- sen stammende Ida Kaufmann (1852 –
en der Physik zählen die Er- cher Tod zwei Jahre später beendete eine 1915). Der Wohlstand der Familie er-
haltungssätze für Energie, Im- einzigartige wissenschaftliche Karriere. laubte es, auch der am 23. März 1882
puls und Drehimpuls. Eine Aus ärmlichen Verhältnissen hat geborenen Tochter Amalie Emmy ein
weit reichende Theorie, die diese Sätze Emmy Noether sich nicht emporarbei- Studium zu finanzieren und den weite-
mit fundamentalen Eigenschaften der ten müssen. Ihr Vater Max Noether ren Weg zu ebnen.
Raumzeit verbindet, verdanken wir der (1844 – 1921) stammte aus einer gut si- Emmy trat als Erstgeborene in die
Mathematikerin Emmy Noether (1882 – tuierten jüdischen Familie von Eisen- Fußstapfen ihres Vaters; ihr Bruder Al-
1935). Heute gehören die »Noether- großhändlern. Mit 14 Jahren an Kinder- fred (1883 – 1918) studierte Chemie und
Theoreme« zum Grundbestand der ma- lähmung erkrankt, hatte er die wissen- promovierte 1910 in Erlangen. Ihr jüngs-
thematischen Physik. schaftliche Laufbahn einschlagen dürfen. ter Bruder Gustav Robert (1889 – 1928)
In merkwürdigem Kontrast zur Mo- war geistig behindert. Den längsten ge-
dernität ihrer Leistungen steht ihre Le- Emmy, die höhere Tochter meinsamen Weg ging Emmy mit Bruder
bensgeschichte: Sie hatte sich als Frau Max Noethers akademischer Lehrer Al- Fritz (1884 – 1941), dessen Begabung in
gegen Widerstände einer Männergesell- fred Clebsch (1839 – 1872) gilt als Be- der angewandten Mathematik lag. Er
schaft durchzusetzen, die aus einer fer- gründer der algebraischen Geometrie promovierte 1909 an der Universität
nen Vergangenheit zu stammen schei- und erzielte herausragende Leistungen München bei Aurel Voß (1845 – 1931),
nen, obgleich sie erst hundert Jahre zu- auf den Gebieten Invariantentheorie und ebenfalls einem Clebsch-Schüler, »Über
rückliegen. Eine weniger geniale Frau Mechanik. Zu Clebschs bedeutenden rollende Bewegung einer Kugel auf Rota-
wäre, zumindest in Deutschland, an die- Schülern zählen Felix Klein (1849 – tionsflächen«. Im Vergleich zur Schwes-
sen Widerständen vermutlich geschei- 1925) und Paul Gordan (1837 – 1912); ter, die vor ihm promovierte, machte er –
tert; die Mathematikerinnen, die es vor noch heute spielen die Clebsch-Gordan- als Mann – schneller Karriere: 1911 an
ihr zu einiger Bedeutung brachten, Koeffizienten in der mathematischen der Technischen Hochschule Karlsruhe
stammten durchweg aus dem Ausland Physik eine bedeutende Rolle. habilitiert, wurde er dort 1918 außeror-
(Kasten S. 75). Klein und Gordan setzten durch, dentlicher Professor und 1921 ordentli-
Nach einem durch manche Hin- dass Max Noether 1875 zum außeror- cher Professor an der Technischen Hoch-
dernisse verzögerten Studium fand dentlichen Professor für Mathematik an schule Breslau (heute Wrócław); vor den
Emmy Noether zunächst keine Anstel- die Universität Erlangen berufen wurde Nazis floh er in die Sowjetunion und fiel
lung und arbeitete ohne Bezahlung als – was wegen der allgemeinen Widerstän- dort, zu Unrecht der Spionage verdäch-
Wissenschaftlerin. Erst nach dem Ende de gegen jüdische Wissenschaftler im 19. tigt, dem Stalin’schen Terror zum Opfer.
des Kaiserreichs kam sie zu offiziellen Jahrhundert nicht einfach war. Max Emmy Noether beschritt zunächst
Würden, wenn auch nicht zu großem Noether erhielt auch keinen weiteren ganz den Weg einer »höheren Tochter«.
Reichtum. Sie wirkte als ungeheuer pro- Ruf mehr und wurde erst 1888 in Erlan- Von 1889 bis 1897 besuchte sie die
duktive Mathematikerin und inspirierte gen zum ordentlichen Professor ernannt. Städtische Höhere Töchterschule Erlan-
NIEDERSÄCHSISCHE STAATS- UND UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK GÖTTINGEN; MIT FREUNDL. GENEHMIGUNG VON RENATE TOBIES
war unter 982 Immatrikulierten nur eine
Frau. Emmy Noether war es nicht; sie
wandte sich nach Göttingen. Dort konn-
te sie sich zwar nicht offiziell als Studen-
tin einschreiben – diese Möglichkeit er-
öffnete Preußen den Frauen als vorletztes
deutsches Land erst 1908; aber in Göt-
tingen war das Lehrangebot breiter, und
sie war nicht die einzige Frau in den Vor-
lesungen.
WIE S. 71
Krankheit setzte Emmy Noether im Nach der Promotion arbeitete Emmy
Herbst 1904 ihre Studien in Erlangen Noether zunächst einige Jahre ohne An-
fort und beendete diese 1908 formal mit stellung in Erlangen. Maßgeblich ange-
der Verteidigung ihrer mathematischen regt durch den Mathematiker Ernst Fi-
Dissertation »Über die Bildung des For- scher (1875 – 1954), knüpfte sie nach ih- Während sie 1909 noch ein Ergebnis aus
mensystems der ternären biquadrati- rer Dissertation an Ergebnisse Hilberts der formalen Invariantentheorie präsen-
schen Form«. Es handelte sich um ein an und wurde so schließlich wegberei- tierte, ließ vier Jahre später ihr nächster
Thema aus der algebraischen Invarian- tend für die theoretische Physik und die Vortrag »Über rationale Funktionenkör-
tentheorie (Kasten unten). moderne Algebra. per« erkennen, dass sie inzwischen in die
Diese Theorie wurde Ende des 19. Hilbert hatte bereits 1890 ein klassi- maßgeblich von Hilbert initiierte abs-
Jahrhunderts durch viele Mathematiker sches Problem der Invariantentheorie trakte Algebra in arithmetischer Auffas-
herausgebildet und zu einer ersten Blüte mit abstrakten Methoden gelöst. Zehn sung eingedrungen war. Dieser Aufsatz
gebracht. Emmy Noethers Doktorvater Jahre später zählte er dieses Gebiet zu erschien als ihr erster – von vielen weite-
Paul Gordan galt als »König der Invari- den Feldern der Mathematik, auf denen ren – in den »Mathematischen Annalen«
antentheorie«. Er war an der Entwick- er bedeutende Fortschritte erwartete. und wurde 1915 von Hilbert als Habili-
lung einer symbolischen Methode betei- In seiner berühmten und äußerst ein- tationsschrift empfohlen.
ligt, mit der man Invarianten wirklich flussreichen Liste von 23 bis dahin unge-
ausrechnen konnte, was Emmy Noether lösten Problemen, die er auf dem II. Drei Anläufe zur Habilitation
in ihrer Dissertation auch tat. Internationalen Mathematiker–Kongress Auf die Dauer wäre die Erlanger mathe-
Ihr Werk erschien in einer mathema- 1900 in Paris vortrug, betraf Nummer matische Fakultät für ihre weitere Lauf-
tischen Zeitschrift – sehr ungewöhnlich 14 eine Frage aus der Invariantentheorie. bahn nicht hilfreich gewesen. Sie war
in der damaligen Zeit und zweifellos Ihr wandte sich nun Emmy Noether zu. schlicht zu klein: Zwischen 1907 und
nicht auf väterliche Protektion zurückzu- Durch ihren Vater in die Gemein- 1945 promovierten dort nur 26 Perso-
führen, denn die Zeitschrift war das schaft der Mathematiker eingeführt, nen in Mathematik, darunter eine weite-
»Journal für die reine und angewandte fand sie mit ihren Arbeiten bald Auf- re Frau (1936), in Göttingen dagegen im
Mathematik (Crelle’s Journal)« und nicht merksamkeit. Die Liste der Vortragen- selben Zeitraum ungefähr 160. Für
etwa die durch Clebsch begründeten den auf den jährlichen Tagungen der Emmy Noethers Weg wurde entschei-
»Mathematischen Annalen«, deren Re- Deutschen Mathematiker-Vereinigung dend, dass sie in einem Zentrum höchs-
daktion ihr Vater angehörte. Die münd- (DMV) legt davon beredtes Zeugnis ab. ter Produktivität Fuß fassen konnte.
Zum Sommersemester 1915 kam sie
Algebraische Invarianten auf Wunsch Kleins und Hilberts – als
Ersatz für die im Ersten Weltkrieg die-
Ein Beispiel für eine algebraische Invariante zusammensetzen. Hilberts »Endlichkeits- nenden Privatdozenten – nach Göttin-
ist das Polynom x1x2x3 + x1x2x4 + x1x3x4 + satz« von 1890 ist ein sehr weit reichen- gen. Die dortigen Mathematiker bean-
x2x3x4, denn es ist invariant (bleibt unver- des Resultat über eine derartige Zusam- tragten die Habilitation für sie; und der
ändert) unter jeder Vertauschung der Vari- mensetzbarkeit. bereits emeritierte Klein gab in einem
ablen x1, x2, x3 und x4. Allgemein ist eine Algebraische Invarianten sind bis heu- Brief an das preußische Kultusminis-
algebraische Invariante ein Polynom, das te Gegenstand intensiver Forschung. terium die folgende Einschätzung ab:
heißt, eine Summe von Ausdrücken der Wenn ein Problem – das durchaus den »… dass Frl. Noether den Anforderun-
Form Konstante mal Produkt von Poten- Materialwissenschaften oder der Bildver- gen, die wir bei einer Habilitation an
zen der Variablen, das unter gewissen arbeitung entstammen kann – durch Po- den Bewerber zu stellen pflegten, durch-
Transformationen seiner Variablen invari- lynome ausdrückbar ist, dann kann man aus genügt, ja die mittlere Qualität der
ant ist. gewisse Symmetrieeigenschaften des Kandidaten, die wir in den letzten Jah-
Es gibt Beziehungen unter den alge- Problems mit Hilfe algebraischer Invari- ren zugelassen haben, übertrifft.«
braischen Invarianten; so kann man anten ausdrücken und dadurch das Pro- Das Vorhaben schlug zunächst fehl,
komplizierte Invarianten aus einfachen blem erheblich vereinfachen. obgleich Emmy Noether auch die ande-
ren Göttinger Mathematiker schnell von
WIE S. 71
o
ihrer Leistungsfähigkeit überzeugt hatte. den der Göttinger Physiker Eduard Rie- Der echte und die wissenschaftli-
Preußen hatte nämlich durch Erlass vom cke (1845 – 1915) bereits 1911 formu- chen Väter: Max Noether, Paul Gor-
29. Mai 1908 den Frauen die Habilitati- lierte: »Die mathematiker sind von der dan, Felix Klein (Gemälde von Max Lie-
on untersagt, und zwar kurioserweise in- eleganz der rechnungsregeln hypnoti- bermann, 1912) und David Hilbert
dem es in einem ungewöhnlich demo- siert, die physiker kritisch.« Dass der
kratischen Akt dem Willen seiner Unter- Raum gekrümmt sein könnte, konnte
tanen folgte. Nachdem 1907 die Bonner die Mathematiker, die durch die Schule
Biologin Maria Gräfin von Linden der nicht-euklidischen Geometrie gegan- 1919 an Ministerialdirektor Naumann
(1869 – 1936) die Aufnahme in den il- gen waren, nicht ernstlich schrecken. Sie in Berlin: »Bei den heutigen Zeitumstän-
lustren Kreis der Lehrbefähigten bean- trugen, wie es Klein ausdrückte, »die den kann es in der Tat nicht fehlen, dass
tragt hatte, holte das Kultusministerium neuen Gedankenreihen vermöge ihrer die jetzige Stellung von Frl. Noether von
in einer Rundfrage die Meinung der invariantentheoretischen (oder geometri- vielen Seiten als eine unbillige Einen-
Universitätsprofessoren zur Frage der schen) Untersuchungen, wenn auch in gung empfunden wird, zumal die wis-
Frauen-Habilitation ein; die Mehrheit anderer Form, ohne es zu wissen, bereits senschaftliche Leistung von Frl. Noether
sprach sich dagegen aus. fertig in sich herum«. alle von uns gehegte Voraussicht weit
Die Göttinger Mathematiker, die Hilbert hielt im Sommersemester übersteigt. Sie hat im letzten Jahre eine
schon damals dafür gestimmt hatten, er- 1916 eine Vorlesung über Grundlagen Reihe theoretischer Untersuchungen ab-
reichten 1915 ebenso wie bei einem der Physik; Klein beschäftigte sich ab geschlossen, die oberhalb aller im glei-
zweiten Anlauf 1917 keine Ausnahme diesem Zeitpunkt ebenfalls intensiver chen Zeitraum von Anderen hierorts rea-
für Emmy Noether. Aus den heftig ge- damit, begann ab März 1917 eine Kor- lisierten Leistungen liegen (die Arbeiten
führten Debatten innerhalb der eigenen respondenz mit Einstein und gestaltete der Ordinarien mit eingeschlossen).«
Universität ist der Ausspruch Hilberts Vorlesungen und Vortragsreihen zur All-
überliefert: »Aber meine Herren, wir gemeinen Relativitätstheorie. Sowohl Die Noether-Theoreme
sind doch in einer Universität und nicht Hilbert als auch Klein bedankten sich in Am 8. Mai 1919 verfügte das Ministe-
in einer Badeanstalt!« (In einer Badean- ihren entsprechenden Publikationen bei rium für Wissenschaft, Kunst und Volks-
stalt waren damals Frauen und Männer Emmy Noether und betonten, dass sie bildung, wie es jetzt während der Wei-
in der Regel noch getrennt.) Immerhin ohne ihre Hilfe nicht hätten in den Ge- marer Republik hieß, dass es keine Ein-
konnte Hilbert, als er 1917 einen Ruf genstand eindringen können. wände gegen die Habilitation Emmy
nach Berlin hatte, in den Bleibeverhand- Aus dieser engen Zusammenarbeit Noethers erhebe. Die erwähnte Arbeit
lungen durchsetzen, dass er Vorlesungen resultierte Noethers Arbeit »Invariante von 1918, in der sie die berühmten
»unter Mitwirkung von Frl. Dr. Noe- Variationsprobleme«, die Felix Klein am Noether-Theoreme formulierte, wurde
ther« ankündigen durfte. 26. Juli 1918 in der Sitzung der Gesell- als Habilitationsschrift anerkannt. Damit
Noch während des Ersten Weltkriegs schaft der Wissenschaften zu Göttingen erreichte sie endlich die lang erstrebte
begannen die Göttinger Mathematiker, (heute »Göttinger Akademie der Wissen- Lehrbefugnis – mit Ausnahmegenehmi-
Emmy Noether eingeschlossen, sich mit schaften«) vorlegte. Einstein schrieb dazu gung, denn das Gesetz, das die Zulas-
den neuesten Ideen der theoretischen am 27. Dezember 1918 an Felix Klein: sung nicht mehr an das Geschlecht der
Physik auseinander zu setzen. Im Jahre »Beim Empfang der neuen Arbeit von Person band, trat erst am 21. Februar
1915 hatte Albert Einstein (1879 – 1955) Frl. Noether empfand ich es wieder als 1920 in Kraft.
seine Allgemeine Relativitätstheorie ver- grosse Ungerechtigkeit, dass man ihr die Bereits kurz nach Erscheinen der Ar-
öffentlicht und damit bei seinen eigenen venia legendi vorenthält. Ich wäre sehr beit »Invariante Variationsprobleme«
Fachkollegen zunächst Skepsis, bei den dafür, dass wir beim Ministerium einen griffen Einstein, Hilbert, Hermann Weyl
Mathematikern jedoch große Begeiste- energischen Schritt unternähmen.« Da- (1885 – 1955) und andere ihre Ergebnis-
rung geerntet. Typisch ist der Ausspruch, raufhin wandte sich Klein am 5. Januar se auf. Diese sind zwar von mathemati- r
Noethers Schule der Aus urheber- Mary Somerville, geb. Mit Büchern zur Himmelsmechanik,
Modernen Algebra rechtlichen Fairfax, verwitwete Greig Physik und Geologie erreichte sie in-
Gründen
Emmy Noether verfolgte ein eigenes können wir * 26.12.1780 Jedburgh ternationale Anerkennung. Ihr wich-
fruchtbares Forschungsprogramm, an Ihnen die Bilder (Schottland) tigstes von vier Büchern war eine
leider
dem sich zahlreiche Fachkollegen betei- nicht online † 19.11.1872 Neapel Übersetzung von Laplaces »Mécha-
ligten. Der Niederländer Bartel L. van zeigen. nique céleste« (1831).
der Waerden (1903 – 1996), einer ihrer BRIDGEMAN-GIRAUDON
bedeutendsten Schüler, brachte 1930/31
zwei Bände »Moderne Algebra« heraus, Aus urheber- Ada Auguste Countess of Sie schrieb die ersten Programme für
die auf Vorlesungen von Noether und rechtlichen Lovelace, geb. Byron die von Charles Babbage (1792–
Gründen
Artin fußten und zahlreiche Auflagen er- können wir * 10.12.1815 London 1871) konzipierte »Analytical Engi-
lebten. Darin sowie in den durch Noe- Ihnen die Bilder † 27.11.1852 London ne«, mit der unter anderem lineare
leider
ther angeregten Bänden »Algebren« nicht online
Gleichungssysteme gelöst werden
(1935) von Max Deuring (1907 – 1984) zeigen. konnten (Spektrum der Wissenschaft
und »Idealtheorie« (1935) von Wolfgang BRIDGEMAN-GIRAUDON
4/1993, S. 78).
Krull (1899 – 1971) sind wichtige Ergeb-
nisse der Noether-Schule zusammenge- Sofja Kowalewskaja, geb. Als Schülerin des Berliner Mathema-
fasst. Korwin-Krukowskaja tikers Karl Weierstraß promovierte
Ihr als »begriffliche Mathematik« be- * 15.1.1850 Moskau sie 1874 in absentia an der Universi-
zeichnetes Herangehen war von Richard † 10.2.1891 Stockholm tät Göttingen; sie leistete bedeuten-
Dedekind (1831 – 1916) geprägt, der de Beiträge zur klassischen Mecha-
erstmals die Gemeinsamkeiten algebrai- nik, insbesondere zur Kreiseltheorie.
scher Strukturen verschiedener Herkunft AUS: ACTA MATHEMATICA 16, 1892/93
in Begriffe wie Ideal, Ring und Körper r
o
nander ergeben wieder eine Drehung. Eine Drehung im Raum wird be- theorie gibt es zwar auch einen Energie-
Darüber hinaus ist diese Gruppe konti- schrieben durch den Drehwinkel α erhaltungssatz, aber keine lokalisierbare
nuierlich, das heißt, eine beliebig kleine sowie geografische Länge φ und Breite ψ Energie mehr. In klassischen Theorien
Veränderung der Parameter ergibt ein der Drehachse. gibt es die in einem Raumgebiet enthal-
neues, beliebig wenig unterschiedliches tene Energiemenge, die sich nur dadurch
Element der Gruppe. ändert, dass Energie über die Grenzen
Die Gruppe der Verschiebungen im des Gebiets in das Gebiet hinein- oder
Raum und in der Zeit ist ebenfalls konti- und lasse diese Transformation gegen aus ihm herausströmt. Daraus folgt un-
nuierlich; die Parameter sind die Kompo- die Identität streben. Aus den Ergebnis- mittelbar der Energieerhaltungssatz. Sol-
nenten des Verschiebungsvektors. sen kann man mit Hilfe der Analysis, che »eigentlichen« Erhaltungssätze gibt
Da es insbesondere beliebig kleine genauer: der Variationsrechnung, Schlüs- es in der Allgemeinen Relativitätstheorie
Verschiebungen und Drehungen gibt – se ziehen. Das ist die wesentliche Idee nicht mehr. Das Gravitationsfeld enthält
allgemeiner: Transformationen, die belie- zum Beweis der Noether-Theoreme. zwar Energie, aber man weiß nicht mehr
big wenig von der Identität abweichen –, wo. Dass dies auf die unendliche Dimen-
kann man in kontinuierlichen Gruppen Es gibt kontinuierliche Gruppen, die nicht sion der Transformationsgruppe zurück-
Differenzialrechnung betreiben: Man be- nur von endlich vielen Zahlen parametri- zuführen ist, hatte Hilbert vermutet und
trachte die Änderung einer physikali- siert werden, sondern in denen die Para- Emmy Noether in ihrer Arbeit »Invariante
schen Größe unter einer Transformation meter selbst Funktionen sein dürfen. Variationsprobleme« bewiesen.
o
Nazis – nach dem »Gesetz zur Wieder- Emmy Noether (5. von rechts) wan- Der neue, erfolgreiche Start in den
herstellung des Berufsbeamtentums« vom dert 1932 mit Schülern und Kolle- USA fand ein jähes Ende, als Emmy
7. April 1933 – aus ihrer Position ge- gen zum Gasthof Vollbrecht. Der Mann Noether am 14. April 1935 plötzlich
drängt. Zwölf ihrer Schüler fanden sich mit dem Hut ist Hermann Weyl. und unerwartet an den Folgen einer
damals zusammen, um gegen ihre Ent- Unterleibsoperation verstarb. In kurzer
lassung zu protestieren, wobei sie unter Zeit hatte sie jedoch einen neuen Schü-
anderem hervorhoben: »Das Gebiet, das lerinnenkreis auf den Weg gebracht, »a
sie erforscht, die lebendigen Fragestel- Noether einen Vertrag über zwei Wo- new Noether family«, wie Grace Shover
lungen, die sie aufstellt, haben alle ihre chenstunden Vorlesung. Sie fuhr jeden Quinn formulierte, der ihre Methoden
Schüler mit Begeisterung und Leiden- Dienstag hin und lehrte das, was sie in den USA fortpflanzen konnte.
schaft für die Mathematik erfüllt.« montags zuvor ihren Schülerinnen in In seiner Gedenkrede am 5. Septem-
Bryn Mawr beigebracht hatte. Im letzten ber 1935 in Moskau bezeichnete Pavel
Jeden Dienstag zur Vorlesung erhaltenen Brief an Alexandroff schrieb S. Alexandroff Emmy Noether als »die
nach Princeton sie am 3. Mai 1934, »dass ich mich größte Mathematikerin, eine führende
Emmy Noether emigrierte in die USA. einstweilen für überhaupt, trotz viel Ver- Wissenschaftlerin, wunderbare Lehrerin
Auf Grund eines Stipendiums der Ro- lockendem, für Moskau und für die Al- und einen unvergesslichen Menschen«. l
ckefeller Foundation erhielt sie am be- gebraprofessur, noch nicht binden will.
rühmten Women’s College Bryn Mawr Bis Herbst 1935 bin ich ja überhaupt
eine befristete Position als Professorin. noch hier verpflichtet; und für später ha- Renate Tobies ist für Geschich-
In Göttingen hatte sie noch die drei- ben sie mir jetzt in Princeton wieder ge- te der Mathematik und Naturwis-
bändige Edition der Werke Dedekinds sagt, dass ich bleiben sollte. In welcher senschaften habilitiert und lehrte
in Leipzig, Kaiserslautern, Göttin-
abschließen und die Herausgabe der Form – ob weiter pendeln oder ganz
gen, Oldenburg, Linz und Braun-
Korrespondenz Dedekinds mit Georg dort – wissen sie wohl selbst noch nicht. schweig. Sie ist wissenschaft-
A U T O R I N U N D L I T E R AT U R H I N W E I S E
Cantor (1845 – 1918) auf den Weg brin- Hier zu bleiben hat natürlich den gro- liche Mitarbeiterin am Fraunhofer-Institut für
gen können. In den USA setzte sie ei- ßen Vorteil, dass man – trotz Dollar- Techno- und Wirtschaftsmathematik in Kaisers-
gene Forschungen fort – die allerdings devaluation – in alle Himmelsgegenden lautern und forscht hauptsächlich über die
Geschichte der Mathematik des 19. und 20. Jahr-
nicht mehr zur Publikation gelangten. reisen kann; vielleicht sind in dieser hunderts.
»Hier habe ich mir einiges Neue über ga- Hinsicht in Amerika meine Ansprüche
loissche Zahlkörper überlegt; es ist aber gestiegen!« Traumjob Mathematik! Berufswege von Frauen
und Männern in der Mathematik. Von Andrea
nicht ganz, was man sucht«, schrieb sie Um Emmy Noethers Schülerinnen- Abele, Helmut Neunzert und Renate Tobies. Birk-
am 19. März 1934 an Alexandroff. Sie Kreis zu fördern, war 1934 ein besonde- häuser, Basel 2004
hielt engen Briefkontakt mit ihren Schü- res »Emmy Noether Fellowship« einge-
Gesammelte Abhandlungen. Collected Papers.
lern und Kollegen in Deutschland und richtet worden. Erste und einzige Emp- Von Emmy Noether. Von Nathan Jacobson (Hg.).
in anderen Ländern, bemühte sich wei- fängerin dieses Stipendiums war Grace Springer, Berlin 1983
ter um Beiträge für die »Mathematischen Shover (verheiratete Quinn), die später
Emmy Noether. A tribute to her life and work. Von
Annalen«, nahm Einladungen zu wissen- Professorin für Mathematik und Statistik James W. Brewer und Martha K. Smith. Marcel
schaftlichen Vorträgen an und träumte an der American University in Washing- Dekker, New York 1981
von einer festen Position in Princeton ton wurde. Zum Kreis um Noether in
Emmy Noether. Von Auguste Dick. Birkhäuser, Ba-
(New Jersey). Bryn Mawr gehörten außerdem die be- sel 1970
Mit dem »Institute for Advanced reits promovierten Olga Taussky und
Weitere Literaturhinweise sowie Weblinks zu die-
Studies« der Princeton University – wo Marie Weiss sowie Ruth Stauffer (verhei- sem Thema finden Sie bei www.spektrum.de un-
Albert Einstein und Hermann Weyl un- ratete McKee), deren Dissertation Emmy ter »Inhaltsverzeichnis«.
tergekommen waren – hatte Emmy Noether anregte.
PHILOSOPHIE
z
Metamorphosen
der Gerechtigkeit
Schleier des Nichtwissens: Der Moralphilosoph
John Rawls widmete sein ganzes Werk dem Problem
der Gerechtigkeit.
D
er Weg zu einer Nachkriegs- tigung liberaler Demokratie.
ordnung im Irak ist äußerst müh- Im Zentrum steht ein verblüffendes Ge-
sam. Schon die im März ver- dankenexperiment. Stellen wir uns einen Ur-
abschiedete Übergangsverfassung zustand vor, in dem die Vertreter aller sozialen
kam nur unter den größten Schwierigkeiten Gruppen einen Gesellschaftsvertrag aushan-
zu Stande; und das endgültige Gesetzeswerk deln. Nur wissen die Repräsentanten nicht,
steht immer noch in Frage. Zu unterschied- wen sie eigentlich vertreten – es könnte jede
Aus urheberrechtlichen Gründen lich sind die Interessen der beteiligten Grup- soziale Gruppe sein. Sie sollen also den Ku-
können wir Ihnen die Bilder leider pen: Die Vereinigten Staaten lehnen eine chen schneiden, ohne zu wissen, welches
nicht online zeigen. endgültige Verfassung ab, die den Islam zur Stück sie bekommen.
Staatsreligion und zur Inspirationsquelle für In diesem Falle, so spekuliert Rawls, wer-
Gesetze erhebt. Die Schiiten, größte Bevölke- den die Unterhändler nicht nur für alle Bür-
rungsgruppe im Land, beäugen einen föde- ger gleiche Rechte und die Freiheit fordern,
ralen Irak mit Skepsis. Die Kurden behalten einem in ihrem Sinne guten Leben nachzuge-
sich ein Vetorecht gegen jegliche endgültige hen. Sie werden auch soziale und wirtschaftli-
Verfassung vor. che Ungleichheiten aller Art nur dann akzep-
Das Gezerre wird noch komplizierter da- tieren, wenn sie auch den auf der untersten
durch, dass es keine allgemein anerkannten Sprosse der sozialen Leiter stehenden Men-
Verfahrensrichtlinien gibt. Welche Legitimi- schen noch einen Vorteil bringen. Schließlich
tät hat eine verfassunggebende Versammlung, könnte es sein, dass der Stellvertreter gerade
die von der bisherigen Besatzungsmacht für diese Gruppe das Wort führen muss.
USA eingesetzt ist und kein Vertrauen beim Damit wendet sich Rawls direkt gegen die
o
John Rawls, geboren Volk genießt? Auf welchen Grundsätzen darf utilitaristische Ethik, die im »größten Glück
1921 in Baltimore (Mary- eine Verfassung beruhen? Was ist letztlich der größten Zahl« ihr Heil sucht, und sichert
land), studierte ab 1939 an der gerecht? den Status von Schwachen und Minderhei-
Universität Princeton und pro- Bei solchen Problemen zitieren Kommen- ten. Denn man könne »Institutionen nicht
movierte 1950 mit einer Arbeit tatoren gerne John Rawls, der sich ein Leben damit rechtfertigen, dass den Unbilden eini-
über die Beurteilung von Cha- lang mit dem Problem der Gerechtigkeit aus- ger ein größerer Gesamtnutzen gegenüberste-
rakteren. Von 1964 an bis zu einander gesetzt hat. Als der Harvard-Profes- he. Es mag zweckmäßig sein, ist aber nicht
seinem Tod am 24. November sor 1971 die Studie »Eine Theorie der Gerech- gerecht, dass einige weniger haben, damit es
2002 war er Professor für Phi- tigkeit« veröffentlichte (auf Deutsch 1975), anderen besser geht. Dagegen ist nichts Unge-
losophie an der Harvard-Uni- traf es die akademische Öffentlichkeit wie ein rechtes an den größeren Vorteilen weniger,
versität. Paukenschlag, und das Fach »Politische Philo- falls es dadurch auch den nicht so Begünstig-
sophie« gewann mit einem Streich neues An- ten besser geht«. Mit diesem Maßstab liefert
sehen. In dem Werk, dessen erste Anfänge bis Rawls gleichzeitig die moralphilosophische
1955 zurückreichen, legte Rawls systematisch Rechtfertigung für einen freiheitlichen und
dar, wie eine Gesellschaft institutionell orga- sozialen demokratischen Rechtsstaat.
o
aller Munde, sie mutierte gar zum Bestseller. des Pluralismus« in den Mittelpunkt stellt. Klammheimlich, in Form
Das war der Beginn der Rawls-Industrie. In modernen demokratischen Gesellschaften einer gemütlichen Kaf-
Jeder hatte etwas beizutragen; Chef des Dis- kursieren zahlreiche »vernünftige umfassende feetafel und unter Ausschluss
kurses blieb jedoch der Meisterdenker selbst. Lehren«, einschließlich der »nicht-liberalen des Volkes, das sie vertreten
Über zwanzig Jahre stand er dem Debattier- und religiösen«. Weil sie vernünftig sind, kann soll, übernimmt am 28. Juni
klub vor, hörte sich geduldig Vorschläge an, keine von ihnen von vornherein abgewiesen dieses Jahres die vorläufige
integrierte vieles und verwarf manches. Ge- werden. Also gilt es, sie unter einen Hut zu Regierung des Irak die zivile
meinsam mit seinen Anhängern verteidigte er bringen. Dieser Befund nötigte Rawls, sein Gewalt von den amerikani-
seinen egalitären Liberalismus gegen kommu- Modell auf höherer Ebene neu zu durchden- schen Besatzern – eine Konzes-
nitaristische Tugendbolde, für die Gesellschaft ken: »Wie kann eine Gesellschaft freier und sion an den allgegenwärtigen
nur als gewachsene Wertegemeinschaft funk- gleicher Bürger, die durch konträre religiöse, Terror und zugleich das Einge-
tioniert, ebenso wie gegen jene zügellosen philosophische und moralische Lehren ein- ständnis, dass sich diese Re-
Geister, für die das Boot den besten Kurs steu- schneidend voneinander getrennt sind, dauer- gierung ihre Legitimität erst
ert, wenn man das Ruder laufen lässt. haft bestehen?« Jedenfalls nicht durch eine alle noch erarbeiten muss.
Die Debatte blieb nicht ohne Folgen. Im anderen überragende Megaweltanschauung;
Jahre 1993 veröffentlichte Rawls sein zweites denn die gibt es offensichtlich nicht.
großes Buch, »Politischer Liberalismus«. Es ist So vermögen Christen und strikte Libera-
mehr das Ergebnis der Diskussionen um die le kaum einen moralischen Konsens zu erzie-
übermächtige »Theorie der Gerechtigkeit« als len, wenn es um die Zulässigkeit der Abtrei-
ein Werk von eigenem Recht, gewissermaßen bung geht. Sie können jedoch eine rechtliche
die Version 2.0 des Klassikers – jedoch mit ei- Einigung finden, wenn sie sich der »öffentli-
nem gewichtigen Unterschied. Rawls vollzieht chen Vernunft« und damit der höheren, prag-
hier die Wende vom reinen Moralphilosophen matischen Einsicht stellen, dass es ein dauer-
zum pragmatisch denkenden Geist. haftes Miteinander nur im Frieden gibt. Die
Lösung für Probleme, die Mitgliedern einer
Gesellschaft aus verschiedenen Weltbildern
Der »Schleier des Nichtwissens«
erwachsen, liegt also nicht im Grundsätzli-
motiviert zur Gerechtigkeit chen, sondern im Politischen – und das führt
zu dem moralischen Imperativ offenen, libe-
In dem aus Vorlesungen entstandenen ralen Diskurses. Deswegen wählte Rawls für
Traktat unterzieht Rawls seine alten Konzepte die Fortschreibung seiner Gerechtigkeitstheo-
einer kritischen Revision und weicht sie dabei rie den Titel »Politischer Liberalismus«.
auf. So war immer wieder eingewendet wor- Der Charakter der übergreifenden Ver-
den, die »Theorie der Gerechtigkeit« sei nur nunft, an deren Händchen fremde Weltbilder
eine sich an das Projekt der Aufklärung an- zueinander finden sollen, spiegelt sich in den
schließende säkulare Heilslehre. Wer deren Gesetzen und der staatlichen Verfassung eines
Voraussetzungen, zum Beispiel den Glauben pluralistischen Staates. In ihnen kommt zum
an autonom handelnde Individuen, nicht ak- Ausdruck, was alle Bürger, trotz weltanschau-
zeptiere, der bleibe außen vor. Moderne Ge- licher Differenzen, allgemein anerkennen.
sellschaften sind aber zu vielfältig, als dass Ihre normative Grundlage hat diese Vernunft
Rawls’ Modell jedem ihrer Mitglieder ver- wiederum in Rawls’ Gedankenexperiment.
nünftig erscheinen müsste. Nur geht es den Unterhändlern nicht direkt
In seinem neuen Werk trägt Rawls diesem um die »Gerechtigkeit« selbst, sondern zu-
Umstand Rechnung, indem er das »Faktum nächst um die Frage, was als rationale Grund- r
Statt natürlicher Personen sind es nun fe, und es ist nicht ganz ersichtlich, was jene
schaftsjournalist
in New York. ganze Völker, die in einem hypothetischen undemokratischen, aber liberalen Staaten vor
Gesellschaftsvertrag die Grundsätze ihrer künf- restriktiveren Ländern auszeichnen soll. Prag-
Eine Theorie der Gerechtigkeit. Von tigen Beziehungen festlegen sollen. Analog matisch gesehen mag die Entscheidung ver-
John Rawls. Suhrkamp, Frankfurt
am Main 2003 zur »Theorie der Gerechtigkeit« müssten sie ständlich sein. Doch indem die Verfassung
sich unter dem »Schleier des Nichtwissens« unfreier Gesellschaften als »achtbar« und da-
Politischer Liberalismus. Von John
darauf einigen, die am meisten benachteilig- mit vernünftig gilt, erhalten sie durch die
Rawls. Suhrkamp, Frankfurt am
Main 2003 ten Mitglieder der internationalen Völkerge- Hintertür moralphilosophische Weihen.
meinschaft zu stärken. Doch unter den auf- Wenn also der Irak sich eine Verfassung
Gerechtigkeit als Fairneß. Von John
Rawls. Suhrkamp, Frankfurt am
geweichten Prinzipien des »Politischen Libera- geben würde, die den Koran zur Grundlage
Main 2003 lismus« geht es wiederum mehr um die jeden Rechts erhebt, undemokratisch ist und
Verfahrensregeln des Miteinander, die eine Minderheiten nicht zum Zuge kommen lässt,
Das Recht der Völker. Von John
Rawls. De Gruyter, Berlin 2002
Debatte über »Gerechtigkeit« überhaupt erst so hätte Rawls aus seiner philosophischen Po-
erlauben. Wenig überraschend leitet Rawls sition nichts dagegen einzuwenden. Das bleibt
Weblinks zum Thema finden Sie bei her, dass ein solches Vertragswerk den einzel- unbefriedigend – zumindest für jene sturen
www.spektrum.de unter »Inhalts-
verzeichnis«.
nen Staaten Dinge wie politische Unabhän- Köpfe, die unverzagt am Ideal liberaler De-
gigkeit, Selbstachtung, den Schutz der politi- mokratie festhalten. l
14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13
12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1 12 7 4 1
Ecke eines Schachbretts. Er kann ent-
10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6 10 8 16 6
weder nach rechts oder nach unten ge- 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13 14 9 3 13
1 1 1 1 1 1 1 1
(ein möglicher Weg ist auf dem ersten 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4 12 7 4
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für Rekorde
nicht online zeigen.
l
Auch Tim Lobinger, Hallenwelt- indem sie die Kräfte im Einstichkasten
meister im Stabhochsprung 2003, messen. »Patentrezepte nach dem Motto
setzt beim Training auf die Wissenschaft. ›Verbessere diesen Wert, dann wirst du au-
u
Ruderverbands wird dieses System auch Messspeere deutlich schwerer waren als Wie wird Tim Lobinger bei der
benutzt, um die individuelle Technik zu normale Geräte und auch einen anderen Olympiade abschneiden? Video-
perfektionieren. Bildschirme im Boot ge- Schwerpunkt hatten. analysen am Institut für Biomechanik der
ben jedem Athleten ein direktes Feed-back: Inzwischen gibt es Abhilfe: Ingenieure Deutschen Sporthochschule Köln helfen,
Ein Blick und er erkennt, wie sich die rele- vom Magdeburger Fraunhofer-Institut für seine Technik zu verfeinern.
vanten Daten während seiner letzten Ru-
derschläge verändert haben. Mitglieder des
A-Kaders trainieren seit Jahren mit dem
System. »Die schauen auf die Messkurven
und wissen sofort, was sie ändern müssen«,
konstatiert Peter Teller, der das Messsystem
am FES entwickelt hat.
BEIDE ABBILDUNGEN: DEUTSCHE SPORTHOCHSCHULE KÖLN, INSTITUT FÜR BIOMECHANIK
M it hochkonzentriertem Gesichtsaus-
druck, doch scheinbar in Gedanken
versunken bereitet sich eine Sportlerin auf
tung verbessert. Wie diese beiden Trai-
ningsformen – mit und ohne Bewegung –
optimal zu kombinieren sind, ist abhängig
Das Gehirn aktivieren
Offenbar sind Bewegungen im Gedächtnis
den nächsten Versuch im Hochsprung vor. von der Sportart. Je höher die Anforderun- gespeichert, Vorstellung und Ausführung
Das merkwürdige Verhalten vieler Athle- gen an die kognitiven Fähigkeiten, wie laufen auf der Basis derselben Gedächt-
ten ist Teil eines systematischen Trainings, etwa beim Turnen oder Sportschießen, nisstrukturen ab. Nicht nur die motorische
das seit mehreren Jahrzehnten im Hoch- desto mehr profitiert der Sportler von der Aktivität optimiert also diese Erinnerungs-
leistungssport eingesetzt wird. Es basiert geistigen Einübung der Abläufe. Bei Sport- einträge, sondern auch die mentale Simu-
auf Vorstellungen der Bewegungsabläufe arten, die vor allem energetische Anforde- lation einer Bewegung. Insbesondere die
ohne tatsächliche körperliche Aktivität. rungen stellen wie der Ausdauerlauf, sind Forschungsgruppe um den französischen
Dabei kann sich ein Hochspringer den die Effekte weit geringer. Neurophysiologen Marc Jeannerod konnte r
»Fosburyflop« aus der Innenperspektive
DEUTSCHE SPORTHOCHSCHULE KÖLN, INSTITUT FÜR PSYCHOLOGIE
r
Wie die Vorstellung von Bewegung
während des mentalen Trainings
mit Gehirnaktivitäten einhergeht, mes-
sen Wissenschaftler im Testlabor der
Sporthochschule Köln.
Absprung: 4. Doppelarmschwung, 5. Beinstreckung bilden die Phase »Anlauf und Absprung«. spielsweise Greifbewegungen stabilisiert
Schlagvorbereitung: 6. Bogenspannung, 7. Schlag-
arm zurück, 8. hoher Ellenbogen Die »Schlagvorbereitung« besteht aus den und schrittweise verbessert werden. l
Schlagausführung: 9. Blick auf den Block, 10. Schlag Knoten 6, 7 und 8, schließlich ergeben 9,
aus Handgelenk, 11. peitschenartige Streckung des 10, 11 und 12 die »Schlagausführung«. Thomas Schack ist Hochschuldozent am Psycholo-
Armes, 12. Schlagarm durchschwingen
Wie diese Zwischenschritte im Gedächtnis gischen Institut der Deutschen Sporthochschule Köln
2 hinterlegt sind, haben wir bei der Juniorin- und lehrt derzeit Sportmotorik und Sportbiomechanik
nen-Nationalmannschaft im Volleyball im an der Universität Halle-Wittenberg.
9 (11 12 10) (1 6 8 7) (5 2 4 3)
o
Die Gedächtnisstrukturen der Be-
wegungsabfolge beim Volleyball-
Angriffsschlag (Foto) sollten nach dem
in Grafik 1 dargestellten Muster mit zwölf
»Knotenpunkten« organisiert sein. Grafik
2 zeigt eine abweichende Anordnung –
das erklärt die Probleme der betreffen-
den Spielerin mit dieser Technik. Menta-
les Training half bei der »Umschulung«.
r
Auf Lang- und Mittelstrecken ha-
ben afrikanische Läufer die Nase
vorn. Möglicherweise trägt ihre geneti-
sche Ausstattung zum Erfolg bei.
r
Mit einem defekten Myostatin-Gen
geboren, hatte ein Berliner Junge
schon als Neugeborener eine ausgepräg-
te Arm- und Beinmuskulatur.
technische Methoden eingesetzt wer- damit nicht dem Doping in die Hände?
den, um eine Leistungssteigerung zu er- Wolfarth: Im Gegenteil, unsere Kartie-
zielen. Das gilt vor allem für Bereiche, rung ist auch eine präventive Maßnah-
die Thema klinischer Forschung sind. me. Je mehr veröffentlicht wird und je
Aus urheberrechtlichen Gründen Spektrum: Zum Beispiel? gläserner die Forschung in diesem Be-
können wir Ihnen die Bilder leider Wolfarth: Gentherapeutische Ansätze reich ist, umso eher kann man Miss-
nicht online zeigen. gegen Muskelschwund oder Blutarmut brauch erkennen und vermeiden.
könnten natürlich auch dem Gesunden Spektrum: Sind Nachweisverfahren für
helfen, Muskeln aufzubauen bezie- Gendoping denn schon ein Forschungs-
hungsweise seine Hämoglobinmasse thema?
zu steigern. Wolfarth: Natürlich. Irgendwann kommt
Spektrum: Sind solche Fälle schon be- der erste Fall und dann heißt es: Warum
kannt? habt ihr euch darauf nicht vorbereitet?
Wolfarth: Nein. Genmanipulierte Tiere Die World Anti Doping Agency vergibt
wie die »Mighty Mice« haben natürlich daher seit drei Jahren Gelder für Projek-
Furore gemacht und die Presse greift te, die zu Nachweismethoden beitra-
solche Themen begierig auf. Es gab so- gen. Klar kann man diese Ergebnisse
gar Zeitungsartikel, die für Olympia 2002 auch umgekehrt für genmanipulative
die ersten genmanipulierten Sportler auf Methoden nutzen. Aber wir müssen
dem Podium vorhergesagt hatten. Das wissen, in welchen Bereichen eine Ma-
war und ist völliger Unsinn. Es gibt bis- nipulation möglich wäre, um geeignete
lang keine uneingeschränkt in der Praxis Kontrollmethoden zu entwickeln.
eingesetzte und sicher funktionierende
Gentherapie. Derzeit kämpft man noch Das Interview führte Stefanie Reinberger.
Die Goldschmiede
In Berlin-Schöneweide bauen Ingenieure die besten Wettkampfboote
und schnellsten Rennräder der Welt.
Von Bernd Müller die der Ruderer aufbringt, weit mehr als
Luftwiderstand und Materialverformung.
FES
Wir, das sind die 50 Mitarbeiterinnen gern. Seit vier Jahren schreibt das Regle-
o
und Mitarbeiter des Instituts für For- ment keine Mindestbreite der Boote Wird aufgewandte Kraft beim Ein-
schung und Entwicklung von Sportgerä- mehr vor und Dalichows Entwürfe wer- tauchen eines Kajakpaddels gut in
ten (FES), und Schaale ist ihr Direktor. den schlank wie Pfeile. Freilich gibt es Antrieb umgesetzt? Zur Analyse messen
Wenn deutsche Ruderer und Kanuten Grenzen. »Irgendwo müssen die Ruderer die Ingenieure die Strömungsgeschwin-
ihre schnittigen Boote im Olympiakanal ja noch sitzen«, schmunzelt der gelernte digkeit (von blau nach rot zunehmend).
von Athen zu Wasser lassen, geht ein Teil Schiffbauer, und genau hier liege die He-
ihres Erfolgs auf das Konto des Instituts rausforderung: physikalische Gesetze und
im Berliner Vorort Schöneweide – wie die Bedürfnisse des Sportlers unter einen
schon all die Jahre zuvor: In Sydney 2000 Hut zu bringen. und Abtauchen im Takt der Ruder und
gewannen deutsche Athleten 20 von 57 durch Wellen ständig verändert, lässt sich
Medaillen mit FES-Geräten, bei den Ruderer haben mehr Gefühl noch nicht verlässlich modellieren. So ge-
Winterspielen 1998 in Nagano waren es Das gilt auch für den Querschnitt der nannte Mehrkomponentensimulationen,
12 von 29. Die 2,7 Millionen Euro, die Boote. Eine Kugel besitzt bei gleichem wie sie in der Autoindustrie zwar propa-
ein Trägerverein aus 22 Sportfachverbän- Volumen die geringste benetzbare Ober- giert, aber erst mit bescheidenem Erfolg
den und dem Nationalen Olympischen fläche, daher fahren alle internationalen eingesetzt werden, dürften für die Sport-
Komitee pro Jahr zahlt, sind also gut an- Spitzenteams mit Booten, deren Rumpf geräteentwicklung erst in ein paar Jahren
gelegt. Für Direktor Schaale zählt nur unter der Wasserlinie einen exakten Halb- von Nutzen sein, meint Ralf Gollmick,
eins: »Unser Ziel ist ein Wettbewerbsvor- zylinder bildet. Weil das Boot dann insta- Abteilungsleiter für computergestützte
teil vor anderen Nationen.« bil wird, legen die Entwickler den Schwer- Konstruktion. »Die ideale Form eines
Ruderboote und Kajaks bilden dabei punkt möglichst tief. Das durch die ex- Bootes mal kurz durchrechnen – das geht
einen Forschungsschwerpunkt. Schon trem leichte Haut aus Laminatschichten nicht.« Das Institut setzt stattdessen auf
kurz nach den Sommerspielen 2000 be- von Karbon und Harz gesparte Gewicht das in über vier Jahrzehnten angesam-
gann Andreas Dalichow mit der Konzep- wird zudem an Bug und Heck zugege- melte Know-how, das in umfangreichen
tion der neuen Modelle. Anhand von ben, um die Drehbewegung zu verrin- Datenbanken gespeichert ist, aber lau-
Wettkampfergebnissen entwirft der Pro- gern. Trotzdem sind die Boote immer fend auch in Simulationssoftware ein-
jektleiter Rudern neue Bootsvarianten schwerer zu beherrschen. »Aber die Ru- fließt. Dort werden Geometrien, Werk-
am Computer, ein Entwicklungszyklus derer haben heute auch mehr Gefühl«, stoffe, Rennstrecken, Fahrzeiten, Regel-
dauert drei bis vier Jahre. Die Marschrich- hat Dalichow festgestellt. werke und nicht zuletzt Informationen
tung ist klar: Der Reibungsverlust zwi- Natürlich spielt die Computersimu- über die Sportler abgelegt.
schen Boot und Wasser muss so gering lation am FES eine große Rolle. Doch die Leicht und dennoch möglichst steif –
wie möglich sein, denn der frisst mit rund Strömung an der Grenze von Luft und diese Devise gilt häufig bei Sportgeräten.
90 Prozent den Löwenanteil der Energie, Wasser, die sich zudem durch das Auf- Deshalb gibt es am FES eine eigene Ab-
teilung, die sich mit neuen Laminatver-
Die FES-Erfolgsgeschichte bindungen aus Kohlefasern beschäftigt.
Denn was sich die Konstrukteure am
Das Institut für Forschung und Entwick- gestuft, dehnte das Institut nach der Computer ausdenken, muss schließlich
lung von Sportgeräten wurde 1962 in Wiedervereinigung seine Aktivitäten in der Werkstatt umgesetzt werden. »Das
der DDR an der Deutschen Hochschu- auf Bobs und Karbonschäfte für Ge- Harz ist das schwächste Glied«, sagt An-
le für Körperkultur und Sport gegrün- wehre aus. Nach der Fusion der För- dré Pokorny, Verfahrenstechniker und
det. Große Erfolge feierte das FES in dervereine von FES und IAT (Institut für die Entwicklung neuer Materialien
den 1980er Jahren vor allem im Rad- für angewandte Trainingswissenschaft zuständig. Unter Hochdruck wird des-
sport, etwa mit dem ersten karbonfa- an der Universität Leipzig) ist auch die halb jeder Überschuss herausgepresst, bis
serverstärkten Fahrradrahmen. Im Ei- Finanzierung durch öffentliche Aufträge das Bauteil wie ein Klotz aus Kohle aus-
nigungsvertrag als erhaltenswert ein- zumindest vorerst gesichert. sieht, nur viel leichter und steifer. Falls
ein Bauteil, etwa ein Fahrradrahmen,
u
Die beiden Radfahrerlegenden Ed- kord von Chris Boardman steht bei 56,70
die Merckx (rechts) und Chris Board- Kilometern. Ein Triumph von Kraft und
man trennen scheinbar Welten: Letzterer Ausdauer? Nachdem das Reglement für
bewältigt pro Stunde fast sieben Kilome- das Material verschärft wurde und die
ter mehr. Doch ein Großteil dieser Leis- Techniker die meisten modernen Ent-
tung geht auf das Konto der Ausrüstung. wicklungen herauskonstruieren mussten,
übertraf Boardman die Radsportlegende
Merckx nur noch um zehn Meter. l
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN
Leichtes Spiel mit dem gentialgeschwindigkeit rotierenden Erde,
die ja außerdem noch schneller um die
Sonne und um die Mitte der Galaxis
Schwerpunkt läuft: Man muss sich nicht im Gerings-
ten um diese Geschwindigkeit kümmern
und kann sie auch nicht mechanisch
messen.
Harte und weiche Stoßexperimente lassen sich im Kopf berechnen, Bei aller Gleichberechtigung gibt es
wenn man die Bezugssysteme geschickt wählt. für jede Wechselwirkung zwischen zwei
Objekten ein spezielles Inertialsystem,
das dadurch ausgezeichnet ist, dass in
Von Norbert Treitz Hat man ein Inertialsystem, dann ist ihm die Beschreibung noch einfacher
jedes Bezugssystem, das sich gegenüber geht: das gemeinsame Schwerpunktsys-
u
vor allem aber der eigenen Trägheit (latei- gemeinsam; es gilt auch schon in der Ein kleiner Ball auf einem großen
nisch inertia) folgen. In diesem Fall sagt klassischen (»nichtrelativistischen«) Me- hüpft überraschend hoch, wenn
nämlich der Impulserhaltungssatz (das chanik, von der hier die Rede ist. man beide zugleich fallen lässt.
dritte der berühmten Gesetze aus New- Unmittelbar erfahrbar ist es beim
tons »Principia mathematica«) sehr weit Eingießen von Getränken im fahrenden
gehend, was nicht geschehen kann. ICE oder auf der mit beachtlicher Tan-
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
101
r ge Zeit davor und die lange Zeit danach Der Fall (c) tritt vor allem bei Rei- Autos können von der Fahrbahn abkom-
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN
nahezu konstante Impulsvektoren hat. bung auf, also Übergang von Energie in men und gegen Bäume oder Häuser
Ein Stoß heißt elastisch, wenn die Sum- solche Formen, die man makroskopisch prallen. Wenn also jemand von hinten
me aller Bewegungsenergien vorher und – wenn überhaupt – nur als Tempera- mit 150 km/h auf einen Wagen mit 140
nachher – nicht unbedingt während der turerhöhung bemerkt. Auch der Fall (a) km/h fährt, so ist das nicht gefährlicher
Impulsübergabe! – gleich ist, und total kommt in der Realität vor, wenn näm- als ein Stoß mit 10 km/h auf einen ru-
inelastisch, wenn beide Objekte hinter- lich im Stoß dem System Energie aus an- henden Wagen, vorausgesetzt, man
her relativ zueinander ruhen. Dazwi- deren Quellen zugeführt wird. Frösche macht das nicht auf der schmalen Auto-
schen liegt die Mehrheit der realistischen und Knallfrösche sind typische Beispiele. bahn, sondern auf dem Großen Salzsee
Fälle, die uns aber zu kompliziert sind. Fall (b) ist der elastische Stoß. Wegen ohne Hindernisse rundherum.
der Betragsgleichheit der Impulse ist im Aus dem gleichen Grund ist in der
Spender gesucht: Zwei Bälle A und B Schwerpunktsystem nicht nur die Sum- Elementarteilchenphysik entscheidend,
stoßen elastisch zusammen. Dabei me der Bewegungsenergien vorher und welche Energie die zusammenprallenden
springt eine Impulsdifferenz dp→ von A nachher dieselbe, sondern jeder der bei- Teilchen in ihrem gemeinsamen Schwer-
nach B, das heißt, A hat nachher den den Bälle bekommt am Ende seine Be- punktsystem haben. Ein Collider, in
Impuls dp→ weniger, B mehr als vorher, wegungsenergie genau wieder; während dem Elementarteilchen frontal aufeinan-
und wir wollen etwas spezieller anneh- des Kontakts kann sie ganz oder teilwei- der geschossen werden, erzielt weit höhe-
men, dass wir kein Überspringen von se als Verformungsenergie zwischengela- re Kollisionsenergien als ein klassischer
Drehimpuls zu betrachten haben. Wer gert sein. Im Falle einer Anziehungskraft Beschleuniger, der die Teilchen gegen ein
gibt nun wem Bewegungsenergie? Wenn ist die Bewegungsenergie während des ruhendes Target schleudert. In der Rela-
Ball A vorher ruht und nachher nicht Kontakts sogar größer als vorher und tivitätstheorie ist zwar der Zusammen-
mehr, ist er Empfänger von Energie. nachher. hang zwischen Energie und Impuls an-
Wenn B vorher ruht, ist es umgekehrt: A Beim elastischen Stoß zweier Objek- ders als in der klassischen Physik, das Er-
ist Spender. Wegen des Relativitätsprin- te im gemeinsamen Schwerpunktsystem gebnis ist jedoch qualitativ ganz ähnlich.
zips sind das möglicherweise nur zwei wird also zwar Impuls, aber keine Ener-
Beschreibungen desselben Vorgangs in gie übertragen – ein gewöhnungsbedürf- Huckepack fallende Bälle: Lassen Sie
zwei Inertialsystemen. tiges Ergebnis. Unter einem Wechsel des mit zwei Händen zwei deutlich verschie-
Wir können uns die Sache bequem Bezugssystems ändern sich nicht nur Im- den schwere Bälle von möglichst guter
machen und in allen Fällen das beiden pulse und Energien, sondern möglicher- Elastizität wenige Dezimeter tief auf den
Bällen gemeinsame Schwerpunktsystem weise auch die Rollen von Spendern und Tisch fallen derart, dass beim Start der
verwenden: Vorher haben die Bälle zwei Empfängern der Energie. leichte lose genau mitten auf dem schwe-
entgegengesetzte Impulse gleichen Be- ren liegt. Der leichte springt dann über-
trags, nachher auch; allerdings hängen Frontaler Zusammenstoß: Am Biertisch raschend hoch und übersteigt dabei sei-
deren (entgegengesetzte) Richtungen sitzen die Helden der Autobahn und dis- ne Starthöhe (Bild S. 101). Offenbar be-
von Details des Kontakts ab – die kutieren, welcher Unfall schwerer sei: kommt er Energie vom schweren, aber
schlechte Billardspieler dem Zufall über- wenn zwei gleich schwere Autos frontal wieso?
lassen. Dank dieser Symmetrie muss mit den Geschwindigkeiten v und –v Mit einer Betrachtung im gemeinsa-
man im Schwerpunktsystem nur drei zusammenstoßen, oder wenn eins davon men Schwerpunktsystem kann man das
Fälle unterscheiden: Die Beträge der steht und das andere von vorne mit 2v fast ohne Rechnung einsehen: Der erste
beiden Impulse sind nach dem Stoß dagegen fährt. Sie meinen wegen der Stoß erfolgt zwischen dem unteren,
r (a) größer als vorher, gleichen Geschwindigkeitsdifferenz, dass schweren Ball und der noch viel schwe-
r (b) so groß wie vorher oder beides gleich schlimm sein müsse. Zwei reren Erde. Das gemeinsame Schwer-
r (c) kleiner als vorher. Physikstudenten hören das und wissen punktsystem unterscheidet sich fast gar
es wegen der Formel für die Bewegungs- nicht vom Laborsystem, in dem die Be-
ZUR ERINNERUNG energie besser (Kasten links): Im zweiten obachter auf der Erde sitzen. Wenn wir
Fall sei die Energie beider Wagen zusam- die Geschwindigkeit am Ende des freien
Für den Impuls p→ und die kinetische men doppelt so groß und der Unfall also Falls –v nennen, so kehrt der Ball beim
→
Energie E eines Massenpunkts der schlimmer. Wer hat Recht? Kontakt mit dem Tisch (beziehungswei-
Masse m, der sich mit der Ge- Der unmittelbare Stoß hat wenig mit se dem Planeten) nach oben um und
→
schwindigkeit v bewegt, gelten die den Geschwindigkeiten relativ zur Stra- steigt mit +v auf. Der leichte ist aber im-
Formeln ße zu tun, und die für Zerstörung oder mer noch mit –v unterwegs, und beide
→ →
p = mv Verformung »nutzbare« Energie ist die bekommen nun einen engeren Kontakt,
und Bewegungsenergie im Schwerpunktsys- während der untere Ball den Kontakt
E = (m/2) v 2 tem, also in beiden Fällen die gleiche. In- zum Planeten verliert. Wenn wir nun
→ →
v und p sind Vektoren, was zum sofern haben die Biertischexperten idealisierend die Masse des kleinen Balls
Beispiel bei der Addition von Impul- Recht. Der Unterschied kann aber bei als vernachlässigbar gering annehmen,
sen zu beachten ist. Mit v (ohne einem Folgeereignis bedeutsam werden: ruht der schwere Ball im gemeinsamen
→
Pfeil) wird der Betrag des Vektors v Im zweiten Fall bewegt sich der gemein- Schwerpunktsystem beider Bälle; der
bezeichnet. same Schwerpunkt weiter, gedämpft leichte kommt von oben mit –2v in die-
durch Reibung mit der Straße, und die sem Schwerpunktsystem an und wird
240
Eine Raumsonde (blau) fliegt fast frontal 220
200
auf einen Planeten (rot) zu und umrun- 180
160
det ihn in einer sehr eng anliegenden
140
Hyperbel. Das linke Bild zeigt oben die
0 40 80 120 160 200 240
Bahn im heliostatischen Bezugssys- 130
131
tem (in dem die Sonne ruht), darunter 120
100
80
dieselbe Bahn im Schwerpunktsystem 60 40 20 0
durch den Kontakt reflektiert, also hat er am Boden ruht. Dagegen würde er in Geschwindigkeit des Raumschiffs erheb-
nachher +2v darin und +3v im Laborsys- dem idealisierten ersten Fall so hoch lich ändern.
tem Erde. Damit steigt er bis zum Neun- springen, als gäbe es den leichten gar Nur sind Planeten leider nicht ge-
fachen der Starthöhe, denn die Bewe- nicht, also bis zur Starthöhe. polstert und auch aus anderen Gründen
gungsenergie geht quadratisch mit der Die Bewegungsenergie im Laborsys- als Reflektoren für Raumschiffe ungeeig-
Geschwindigkeit, und die Schwereener- tem war vor beiden Stößen 2mv 2, wenn net. Da hilft ein Trick: Für einen abrup-
gie ist so gut wie proportional zur Höhe wir die Massen m und 3m nennen. Nach ten Richtungswechsel auf dem Schulhof
(»homogenes Feld«). beiden Stößen hat der leichte Ball diese kann man, statt sich von einer Wand ab-
Etwas mehr rechnen muss man, Energie ganz für sich allein. zustoßen, auch um eine Säule oder einen
wenn der leichte Ball nicht mehr unend- freundlicherweise anwesenden Mitschü-
lich leicht ist. Wenn Sie zwei Bälle guter Planeten als Impulsspender: Nehmen ler herumschwingen. Im letzteren Fall
Elastizität mit einem Massenverhältnis wir an, dass wir eine Fernsehkamera mit bewirken die Arme eine Anziehung. Pla-
von 1 : 3 haben, können Sie einen voll- Zubehör zu fernen Planeten schießen neten stellen uns hierzu ihr Gravitations-
ständigen Transfer der im Laborsystem wollen, um sie und ihre Satelliten aus feld zur Verfügung. Zielt das Raumschiff
vorhandenen Bewegungsenergie errei- der Nähe anzusehen. Leider ist der gravi- knapp neben den Planeten, so läuft es
chen: Auch hier hat der schwere Ball tative Potenzialtopf der Sonne sehr tief, im gemeinsamen Schwerpunktsystem
nach dem ersten Stoß die Geschwindig- und wir kreisen mit der Erde ziemlich auf einer Hyperbel. Von dieser brauchen
keit +v und der leichte –v, aber der ge- weit unten darin. Wenn das Raumschiff wir fast nur die Asymptoten als Nähe-
meinsame Schwerpunkt steigt mit +v /2. heliostatisch (das heißt relativ zu einem rung für Hin- und Rückweg. Wenn der
Relativ zu diesem hat daher zwischen Inertialsystem, in dem die Sonne ruht) Planet nicht punktförmig ist, dann ist
den beiden Stößen der schwere Ball die mit 10 km/s läuft, ist das schon nicht eine Richtungsänderung um 180 Grad
Geschwindigkeit +v /2 und der leichte schlecht, aber viel zu wenig. Wenn man allerdings nicht erreichbar, weil der
–3v /2. Beide drehen beim zweiten Stoß das Gerät mit 10 km/s gegen einen hin- Scheitel der Bahn sonst in den Planeten
nur die Vorzeichen um, und die Rück- reichend elastisch gepolsterten Planeten eintauchen müsste. Weit draußen auf
rechnung ins Laborsystem ergibt 0 für wirft, hat seine Geschwindigkeit nach den Asymptoten haben wir in gleichen
den schweren und +2v für den leichten. dem Abprallen eine andere Richtung Abständen gleiche Beträge der Ge-
Dieser kann also auf die vierfache Start- und denselben Betrag – relativ zum Pla- schwindigkeit des Raumschiffs – relativ
höhe steigen, während der schwere ohne neten. Wenn der aber seinerseits in Be- zum Planeten. Uns interessieren aber die
irgendwelche Reibungsvorgänge sofort wegung ist, kann sich die heliostatische heliostatischen Geschwindigkeiten. r
→
v1 →
v2
→
v1
→ →
v v2
→
v2
vorher während des Stoßes nachher
→
v2
o
liegen die Bälle vor dem Stoß im Schwer- Beim elastischen Stoß zweier Bil-
punktsystem symmetrisch im Abstand lardbälle, dargestellt im Geschwin-
v /2 vom Nullpunkt. Das muss nach ei- digkeitsraum (links im Laborsystem,
nem elastischen Stoß wieder so sein oben im Schwerpunktsystem), ist die Ge-
(nicht aber während dessen). Die Eintra- samt-Bewegungsenergie hinterher die
r Wie beim Stoß der Bälle zeigt sich gungen liegen also hinterher auf dem gleiche wie vorher, wie aus dem Satz des
hier die entscheidende Stärke der Ener- gleichen Kreis mit Radius v /2 um den Pythagoras folgt. Nur während des Sto-
gie- und Impulsbilanz: Wir können die Nullpunkt einander gegenüber. (Bei ei- ßes steckt ein Teil der Energie in der De-
Geschwindigkeiten »vorher« und »nach- ner Bewegung in allen drei Dimensionen formation der Bälle.
her« bestimmen, ohne uns um die De- ist der Kreis durch eine Kugel zu erset-
tails zu kümmern. Wir müssen nicht zen.) Nennen wir die neuen Geschwin-
einmal wissen – und können von weitem digkeiten v→1 und v→2, so bilden die Punkte
auch gar nicht sehen –, ob es sich um 0, v→, v→1 und v→2 die Ecken eines Recht- als Deformationsenergie zwischengela-
Anziehung oder Abstoßung handelt. ecks (Bild links, oben). gert. Die Richtung der übertragenen Im-
Nehmen wir als heliostatische Geschwin- Dem Übergang vom Schwerpunkt- pulsdifferenz haben wir bisher als zufäl-
digkeiten vorher –10 km/s für das zum Laborsystem – das heißt dem Sys- lig angesehen. Bei kugelrunden Bällen ist
Raumschiff und +20 km/s für den Pla- tem, in dem der Billardtisch ruht – ent- sie einfach die Richtung zwischen den
neten an, so hat die Relativgeschwindig- spricht im Geschwindigkeitsraum nichts Mittelpunkten während des Kontakts.
keit vorher und nachher den Betrag 30 weiter als eine Verschiebung des Null- Ein fast genau vorwärts weglaufender
km/s. Im Falle fast vollständiger Rich- punkts. Der Vektor v→, also die Ge- Ball bekommt fast die ganze Energie, ein
tungsumkehr kann das Raumschiff da- schwindigkeit des stoßenden Balls vor- fast rechtwinklig weggestoßener fast gar
her mit fast 50 km/s heliostatisch weiter- her, ist nun die Diagonale des Rechtecks keine. Welcher Ball das jeweils ist, ist
reisen. Das ist das Prinzip hinter der oder, wenn man das Rechteck entlang beim fast genau zentralen Stoß anders als
»Swing-by«-Technik, das den Voyager- dieser Diagonale halbiert, die Hypotenu- beim knapp streifenden.
Raumsonden die weite Reise durch das se eines rechtwinkligen Dreiecks. Dessen Wahrscheinlich hat Pythagoras von
ganze Sonnensystem ermöglichte. Erst Katheten werden durch die beiden Ge- Samos nicht Billard gespielt. Eigentlich
vor einem Monat erreichte auch die schwindigkeitsvektoren »nachher« gebil- schade, denn er hätte eine schöne
Sonde »Cassini« ihr Ziel, das Ringsystem det (Bild links, unten). Anwendung für den nach ihm be-
des Saturns, indem sie sich en passant zu- Auf diese schlichte Weise erkennt nannten Satz finden können: die Um-
sätzlichen Impuls bei der Venus (zwei- man nicht nur, dass nach dem Stoß die verteilung der Bewegungsenergie beim
mal), der Erde und dem Jupiter holte Bälle auf zueinander rechtwinkligen Bah- Billardstoß. l
(siehe S. 48). nen einander davonlaufen, sondern auch,
Allgemein kann das weitaus leichtere dass die gesamte Bewegungsenergie wie-
Norbert Treitz ist apl. Professor
Objekt fast das Doppelte der Geschwin- der erreicht wird. (Sie bleibt streng ge- für Didaktik der Physik an der
digkeit des schwereren zugewinnen; das nommen nicht erhalten, weil sie wäh- Universität Duisburg-Essen. Sei-
gilt für jedes Inertialsystem. Aus diesem rend des Stoßes teilweise als elastische ne Vorliebe für erstaunliche und
Grund ist auch ein vorher fast ruhender Energie zwischengelagert wird.) Denn möglichst freihändige Versuche
und Basteleien sowie anschau-
Tischtennisball doppelt so schnell wie nach dem Impulserhaltungssatz muss v→
liche Erklärungen dazu nutzt er
der Schläger. die Vektorsumme aus v→1 und v→2 sein, das nicht nur für die Ausbildung von Physiklehrkräf-
heißt, die drei Vektoren müssen ein Drei- ten, sondern auch zur Förderung hochbegabter
Pythagoreisches Billard: Beim Billard eck bilden, und nach dem Satz des Pytha- Kinder und Jugendlicher.
sind die Bälle gleich schwer. Deswegen goras muss dieses Dreieck rechtwinklig Nüsse & Rosinen. Von Norbert Treitz. CD mit
läuft die Addition ihrer Impulse auf die sein, denn aus der Energiebilanz folgt Buch. Harri Deutsch, Frankfurt (Main), in Vorbe-
Addition ihrer Geschwindigkeiten hi- (wegen der gleichen Massen) v 2 = v12 + v22. reitung
naus. Die Darstellung im Geschwindig- Während des Stoßes wandern die Brücke zur Physik. Von Norbert Treitz. 3. Auflage,
keitsraum, die wir im Kasten auf der vo- Spitzen der Pfeile v→1 und v→2 auf geraden Harri Deutsch, Frankfurt (Main) 2003
rigen Seite kennen gelernt haben, liefert Linien von der Anfangs- zur Endposi- Spiele mit Physik! Von Norbert Treitz. 4. Auflage,
hier überraschend schnell ein klares Bild. tion. Unterwegs ist das Dreieck nicht Harri Deutsch, Frankfurt (Main) 1996
Ein Billardball trifft mit der Ge- rechtwinklig und die Quadratsumme der
Weblinks zu diesem Thema finden Sie bei www.
schwindigkeit v→ einen auf dem Tisch ru- Geschwindigkeiten vorübergehend klei- spektrum.de unter »Inhaltsverzeichnis«.
henden Ball. Im Geschwindigkeitsraum ner als v 2, denn ein Teil der Energie wird
REZENSIONEN
Werner Bätzing zungsraum« zu sehen, vor 1945 zur mili-
Die Alpen tärischen Grenzsicherung, danach für Frei-
zeit und Erholung. In Italien haben sich
Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft
traditionelle Strukturen noch am stärks-
C. H. Beck, München 2003. 431 Seiten, € 34,90
ten erhalten, wenn auch in überalterten
und erstarrten Formen. Nicht zufällig fin-
D
ie moderne Nutzung in der In- stand jene traditionelle Welt im Alpen- det hier zurzeit die größte Entsiedlung
dustrie- und Dienstleistungsge-raum, die erst im 20. Jahrhundert unter- statt. Frankreich dagegen hat seit der Ver-
gegangen ist.
sellschaft gefährdet die ökologi- abschiedung des Berggebietsgesetzes 1985
sche Stabilität und biologische Vielfalt desDie folgenden zwei Kapitel behan- die Trendumkehr geschafft: Seit gut 20
hochsensiblen Lebensraums Alpen. Die deln diesen Untergang und den darauf Jahren wächst in seinen Alpenregionen
Rückkehr zur vorindustriellen Gesell- folgenden großen Strukturwandel – der die Bevölkerung wieder erheblich an.
sich sehr ungleichmäßig ausprägt, da der
schaft ist undenkbar. Ziel ist daher, die Im abschließenden Abschnitt entwi-
modernen Wirtschafts-, Lebens- und Kul- Alpenraum in den verschiedenen Anrai- ckelt der Autor seine Leitidee der »ausge-
turformen mit traditionellen Erfahrungennerstaaten einen sehr unterschiedlichen wogenen Doppelnutzung«: Eine nach-
zu einem langfristig tragfähigen Gesamt-politischen, wirtschaftlichen, kulturellen haltige Zukunft ist nur realisierbar, wenn
konzept zu verbinden. Mit diesem Buch und mentalen Stellenwert hat. die Alpen sich weder von Europa ab-
leistet Werner Bätzing, Professor für Kul- In föderalistischen Staaten wie der schotten noch in die Einzugsbereiche der
turgeografie an der Universität Erlangen-Schweiz oder Österreich haben periphe- einzelnen Großstädte zerfallen, sondern
Nürnberg, seinen Beitrag dazu. re Räume in der nationalen Politik eine ein eigenständiger und multifunktiona-
erhebliche Bedeutung, ler Lebens- und Wirtschaftsraum bleiben
was sich in vergleichs- oder wieder werden. Hilfreich bei der
Der hochmittelalterliche Siedlungsausbau war von
weise guten Förder- Umsetzung dieser Idee wäre die Alpen-
derselben Dynamik wie die industrielle Revolution maßnahmen und ge- konvention oder die EU-Gemeinschafts-
ringen räumlichen initiative Interreg III, die der Förderung
Nur zu Beginn des ersten Kapitels Disparitäten niederschlägt. Im eigentlich der großräumigen transnationalen Zu-
»Die Alpen im Agrarzeitalter« beschäftigt zentralistischen Freistaat Bayern spielen sammenarbeit dient. Die Fortsetzung der
sich der Autor mit der physischen Geo- die Alpen eine wichtige Rolle für das gegenwärtigen Wirtschaftsweise würde
grafie: Klima, Vegetation und Geologie. Selbstbild des modernen Bayern mit die ökologischen und kulturellen Grund-
Danach dominieren durchwegs human- »Laptop und Lederhose«. So kommt es, lagen des Alpenraums zerstören.
und kulturgeografische Themen, abge- dass die bayerischen Alpen der mit Ab- Es bleibt zu hoffen, dass möglichst
handelt in strikt chronologischer Folge. stand am stärksten durch flächenhafte viele aktuelle und zukünftige Entschei-
Bätzing schreibt über die ersten Bauern- Übernutzung geprägte Teilraum sind: dungsträger dieses äußerst empfehlens-
gesellschaften, die aus dem Orient kom- Sein Bevölkerungswachstum wird ledig- werte Buch lesen und sich zu Herzen
mend um 5500 v. Chr. den Südwestrand lich von den Zwergstaaten Monaco und nehmen.
der Alpen erreichten, die Bronzezeit mit Liechtenstein übertroffen. Gunther Jauk
ihrem starken Wirtschaftsaufschwung, Zentralistische Staaten wie Italien und Der Rezensent ist Diplomgeograf und Wissen-
die Eisenzeit und Einflüsse der Römer Frankreich dagegen tendieren dazu, die schaftsjournalist in Graz.
wie etwa Weinanbau und ein gut ausge-
bautes Straßennetz.
Mit dem Zerfall des Römischen Rei-
ches im 5. Jahrhundert entvölkerten sich
die Alpen; erst um das Jahr 1000 setzte
der hochmittelalterliche Siedlungsausbau
ein, eine Umgestaltungsphase, die in ih-
rer Dynamik nur noch mit der industri-
ellen Revolution im 19. Jahrhundert ver-
gleichbar ist. Voraussetzungen hierfür
waren die politische Konsolidierung Eu-
ropas nach den militärischen Siegen über
die Ungarn und Sarazenen sowie eine sig-
nifikante Klimaerwärmung. Damals ent-
r
Eine unternutzte Almfläche im
Gasteiner Tal in 1800 Meter Höhe:
Die Zwergsträucher breiten sich wieder
aus, und die Artenvielfalt geht zurück.
Art Wolfe (Fotos) und Art Davidson (Essays) Landschaftsbilder komponiert wie Ge-
Landschaften zwischen Himmel und Erde mälde, mit Sonnenuntergängen, deren
wilde Farben man im normalen Leben
Aus dem Amerikanischen von Eva Dempewolf.
Frederking & Thaler, München 2004. 240 Seiten, € 50,– kaum zu sehen bekommt. Unglaublich,
wie viele günstig gelegene Bergseen er
gefunden hat, die er als Naturspiegel zu
L
esen Sie über die Werbepausen Kampf um ihre Erhaltung aufgenom- verwenden wusste. Wüsten und Meere
hinweg. In mehreren über das men, insbesondere die 1970 gegründete konnte er nicht ganz so eindrucksvoll in
Buch verteilten »Essays« versucht Organisation Natural Resources Defense Szene setzen.
der Publizist Art Davidson uns immer Council (NRDC), zu deren Werbeträger Aber die besten Bilder möchte man
wieder von derselben Botschaft zu über- sich das Buch macht. Nichts gegen die sich am liebsten noch viel größer an die
zeugen: Die Natur ist grandios, vor al- Botschaft; es ist nur die Wiederholung, Wand hängen.
lem die unberührte, der Mensch ist die stört. Alice Krüßmann
schlecht, weil er sie zerstört, aber einige Die Stärke von Art Wolfe liegt in den Die Rezensentin ist Bildredakteurin bei Spektrum
wenige Berufene haben den heroischen Bergen. Eigentlich hat er Malerei stu- der Wissenschaft.
S
ie gehören zu den zähesten und töd- schen als auch die Traberkrankheit bei einen massiven Verfall seines Gehirns of-
lichsten Krankheitserregern, die Schafen, die Rinderseuche BSE und an- fen: Ganze Areale sind von mikrosko-
dem Menschen bekannt sind – ko- dere tödlich verlaufende Hirnerkrankun- pisch feinen Löchern durchsiebt, das zer-
chendes Wasser und gängige Sterilisati- gen von Mensch und Tier. störte Nervengewebe sieht unter dem
onsmethoden können ihnen nichts an- Diesen Prionen-Erkrankungen hat Mikroskop aus wie ein Schwamm. Die
haben. Und sie existieren in jedem Men- Philip Yam, Redakteur bei Scientific Diagnose ist klar, aber höchst unge-
schen: Prionproteine. American, sein schriftstellerisches Erst- wöhnlich: Creutzfeldt-Jakob-Krankheit
Aber erst wenn sich diese Eiweiße in lingswerk gewidmet. Von den ersten Be- (CJD), ein sehr seltenes Leiden, das nor-
Nervenzellen zu einer fehlerhaften Form obachtungen mysteriöser neurologischer malerweise erst bei älteren Menschen zu
auffalten, erlangen sie ihr fatales Poten- Krankheiten zu Beginn des 20. Jahrhun- geistigem Verfall und Tod führt.
zial: Dann verursachen sie sowohl die derts bis zu den neuesten Erkenntnissen Die Entdeckung untypischer Amylo-
Creutzfeldt-Jakob-Krankheit des Men- der molekularbiologischen Prionenfor- idplaques im Nervengewebe von Stephen
E
auf den Menschen übertragbar sein. igentlich, sollte man meinen, gibt zumindest irgendwie Behandlungsbe-
Insgesamt stellt Yams erstes Buch ein es auf Erden von Natur aus genü- dürftiger wird.
solides Stück Journalismus dar: span- gend Krankheiten, und man muss Da gibt es etwa das »Aging Male
nend geschrieben, aber fern von Sensa- nicht noch weitere hinzufantasieren. Syndrome«, die Menopause des Mannes.
tionsmacherei; anspruchsvoll, aber auch Aber genau das tun bestimmte Interes- Die wissenschaftliche Basis für die
für naturwissenschaftliche Laien hervor- sengruppen, behauptet der Journalist »männlichen Wechseljahre« ist dürftig.
ragend verständlich und schließlich voll Jörg Blech in seinem neuen Buch. Dem Nichtsdestotrotz propagieren Hormon-
interessanter Details und Anekdoten, die markigen Titel »Die Krankheitserfinder« firmen die »Andropause« als ernste, weit
in ihrer Gesamtheit den perfekten Span- hat der Verlag die Anweisung »Lesen Sie verbreitete Erkrankung mit Symptomen
nungsbogen halten. So merkt der Leser dieses Buch, bevor Sie zum Arzt gehen!« wie Stimmungsschwankungen, Schlaf-
kaum, dass er durch einfaches Schmö- hinzugefügt. Und der Rücktitel spricht störungen und Leistungsabfall, denen
kern unglaulich viele Informationen auf- von einem »Aufklärungsbuch«, in dem mit Testosteron-Gelen in Monatspa-
nimmt. der Autor »enthüllt, wie wir systematisch ckungen ab 65 Euro abzuhelfen sei.
Einziger Wermutstropfen: Die weni- zu Patienten gemacht werden«.
gen Abbildungen von kranken Tieren, So viel Anmache macht misstrauisch. Wenn man wirklich zum Arzt muss,
Fleisch verzehrenden Politikern und Schon wieder einer dieser endlos vielen
Hirnarealen ergänzen zwar den erzählen- Gesundheitsratgeber über Analfisteln, sollte man dieses Buch nicht lesen
den Charakter des Buchs, aber die eine Pilzbefall oder das Zappelphilippsyn-
oder andere zusätzliche sachliche Abbil- drom, die beim Leser außer Panik nichts Ein besonders schönes Beispiel dafür,
dung hätte doch zum Verständnis man- bewirken? wie man sich therapiebedürftige Men-
cher Mechanismen beigetragen. So hätte Der provokante erste Eindruck schen generieren kann, ist die sexuelle
eine dreidimensionale Strukturabbildung täuscht: Der Inhalt des Buchs stimmt Unlust der Frau. Zur »weiblichen sexuel-
des Prionmoleküls den – zweifelsohne weniger nutzlos-aufgeregt als zutiefst len Dysfunktion« pathologisiert, soll sie
sehr anschaulichen – Erklärungen Yams nachdenklich. Jörg Blech will an diversen ausgerechnet mit dem Medikament ku-
zur Prionenstruktur wertvolle Schützen- Beispielen aufzeigen, wie Krankheiten er- rierbar sein, das den Hersteller Pfizer zur
hilfe gewähren können. Ist es doch gera- funden werden, um pharmazeutischen weltgrößten Pharmafirma hat aufsteigen
de die Formänderung vom normalen Unternehmen neue Märkte für ihre Pro- lassen: der Männerpille Viagra – einzu-
zum pathogenen Protein, die Prionen so dukte zu erschließen und Arztpraxen nehmen, wohlgemerkt, von der Frau.
gefährlich macht. schleichend in Verkaufsstätten umzuwan- Keine »Indikationserweiterung«, son-
Moritz Nowack deln. Dies gelingt zumeist, indem hin- dern eine Erfindung im wörtlichen Sinn
Der Rezensent hat Biologie studiert und promo- länglich bekannte Krankheitsbilder so er- ist wohl das »Sissi-Syndrom«, eine
viert zurzeit am Max-Planck-Institut für Züch- weitert oder umgedeutet werden, dass Krankheit, die erstmals 1998 in den Me-
tungsforschung in Köln. aus einem Gesunden ein Kranker oder dien auftauchte. Menschen, die darunter
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leiden, wurde behauptet, sind aktiv und
lebensbejahend, allerdings nur dem An-
schein nach. Denn im Grunde sind sie
depressiv und damit Kandidaten für Psy-
chopharmaka, wie die legendäre und in
dem gleichnamigen Film verewigte ös-
terreichische Kaiserin Elisabeth (»Sissi«).
Mediziner der Universitätsklinik in
Münster, schreibt Blech, haben das be-
nannte und angeblich drei Millionen
Menschen quälende Leiden mittlerweile
als Schöpfung der Industrie enttarnt.
Der Autor lässt es nicht bei der Auf-
zählung mehr oder weniger eindrückli-
cher Beispiele für »neue« Krankheiten be-
wenden. Er zeichnet vor allem die raffi-
nierten Marketingstrategien nach, mit
denen die Gesundheitsindustrie ihre
Kunden – Ärzte und ihre Patienten – er-
reicht. Da werden vermeintlich unabhän-
gige Meinungsforschungsinstitute ange-
heuert, teure PR- und Werbeagenturen
beauftragt, Professoren angesehener Uni-
versitäten als Meinungsbildner – bei Insi-
dern »Mietmäuler« genannt – gedungen
und Journalisten als unkritische »Multi-
plikatoren« benutzt. Der enormen Medi-
enpräsenz des genannten Sissi-Syndroms,
die von Fachzeitschriften über »Spiegel«
und »Stern« bis zur Yellow Press reichte, ANZEIGE
rühmt sich beispielsweise noch heute eine
PR-Firma aus Oberursel auf ihrer Inter-
netseite. Man habe, heißt es dort, eine
»neue Depression« etabliert, die mittler-
weile von Medizinern und Patienten ak-
zeptiert sei. Zu den Erfolgen des Unter-
nehmens zählt auch ein lanciertes Sach-
buch, verfasst von einer Ärztin und
Medizinjournalistin und eingeleitet vom
Chefarzt einer neurologischen Fachkli-
nik. Bis zu 80 Prozent aller Artikel und
Beiträge zu Medizinthemen in den Me-
dien, schreibt Blech, sollen auf eine der-
art gezielte, von langer Hand geplante
Öffentlichkeitsarbeit zurückgehen.
Man sollte das Buch nicht lesen,
wenn man wirklich zum Arzt muss. Wer
krank ist, braucht nicht noch mehr Be-
unruhigung, sondern Vertrauen. Aber
man sollte das spannend und populär
geschriebene Buch lesen, um sich die
fließende Grenze zwischen Gesund- und
Kranksein zu vergegenwärtigen und sich
die kritische Frage zu stellen, ob es klug
ist, den Medizinbetrieb allein den Trivi-
algesetzen des Marktes zu überlassen.
Claudia Eberhard-Metzger
Die Rezensentin ist Biologin und Germanistin.
Sie arbeitet als Wissenschaftspublizistin in Mai-
l
kammer an der südlichen Weinstraße.
JEFF JOHNSON
Diese Begleiter wichtiger Gehirnvorgänge scheinen Signalgebung und
Lernen in hohem Maße direkt zu steuern
JACK UNRUH
Lebensförderndes Methan
Heute sind Methan produzierende
Mikroben auf sauerstofffreie Nischen
verbannt, aber in der Urzeit der Erde, Çatal Hüyük –
als die Sonne deutlich schwächer Stadt der Frauen?
strahlte, sorgten sie für ein lebens- Lange galt Çatal Hüyük, eine der
freundliches Klima ältesten bewehrten Siedlungen der
Menschheit, als eine Domäne des
Matriarchats. Doch warum zeigen die
vielen Bildwerke dann ausschließ-
lich Männer?
FOTO: AIP / ESVA, ILLU: JANA BRENNING
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