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4.

20
SPEZIAL Physik Mathematik Technik
der Wissenschaft SPEZIAL Physik Mathematik Technik Abstrakte Welten 4.20

SPEZIAL Physik Mathematik Technik

Abstrakte Welten
Überraschende
Verbindungen in der
Mathematik
24525
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DREIKÖRPERPROBLEM Ein altes Rätsel liefert neue Erkenntnisse


KNOTEN Warum sind einige stabiler als andere?
KATEGORIENTHEORIE Brückenschlag zwischen den Disziplinen
ü
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EDITORIAL
MATHEMATISCHE ABENTEUER
Von Manon Bischoff, Redakteurin dieses Hefts
m.bischoff@spektrum.de


Liebe Leserinnen und Leser, als Mathematikredakteurin werde ich häufig
gefragt, worüber ich schreibe: »Weiß man denn in dem Fach nicht schon
längst alles?« Es ist überraschend, wie sich die Ansichten von Laien und DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN:
Experten in diesem Punkt unterscheiden. Die meisten Mathematiker haben den
Eindruck, vor etlichen Geheimnissen zu stehen. Die unerforschten Kontinente
in der Welt der Zahlen, Mengen und Gleichungen scheinen die bekannten
Regionen bei Weitem zu übersteigen.

HINTERGRUND:
Wissenschaftler können in dieser Landschaft verschiedene Rollen einneh­
men. Einige sind regelrechte Abenteurer. Sie dringen in unbekannte Gebiete

MATDESIGN24​/ GETTY IMAGES / ISTOCK


LIDIIA MOOR / GETTY IMAGES / ISTOCK;
ein und stellen sich dabei unvermittelt auftauchenden Hindernissen. Mathe­
matiker sind oft Einzelkämpfer, aber an manchen Stellen kommen sie allein
nicht weiter. In solchen Fällen müssen sie auf die Hilfe anderer zurückgreifen,
die ihrerseits über besondere Fähigkeiten verfügen. Zum Beispiel suchte der
Kalifornier Richard Montgomery einen spanischen Kollegen auf, der sich
besonders gut mit computergestützten Methoden auskennt, um einen gewis­
sen Aspekt des Dreikörperproblems zu beleuchten (S. 6). Montgomerys Reise
führte ihn dabei entlang verschlungener Pfade, durch die er in verschiedenste Spektrum KOMPAKT
Bereiche eindrang, etwa in die Topologie oder die Theorie dynamischer Sys­ »Unendlich«
teme. Oftmals geriet er dabei auf Irrwege, doch nach mehr als 20 Jahren Mathematikern gelang es erst im
wurde er schließlich fündig. Damit ist sein Vorstoß ins Ungewisse allerdings 19. Jahrhundert, das Konzept unvorstell-
nicht beendet. Wie so viele Abenteurer hat er unterwegs zahlreiche Eindrücke bar großer Werte konsistent in ihre
gesammelt, denen er nun weiter nachgehen möchte, indem er sich tiefer Modelle einzubauen. Dabei fanden sie
vorwagt. beispielsweise heraus: Es gibt nicht nur
Neben den Abenteurern gibt es Brückenbauer. Sie versuchen, die Ufer eine Art von Unendlichkeit, sondern
verschiedener Regionen miteinander zu verbinden (S. 68). René Descartes unendlich viele! Wie gewöhnliche Zahlen
erkannte beispielsweise im 17. Jahrhundert als einer der Ersten, dass die lassen sich einige von ihnen ordnen – bei
beiden so unterschiedlich anmutenden Disziplinen Algebra und Geometrie anderen ist dagegen nicht einmal sicher,
zusammenhängen. Geometrische Probleme durch algebraische Gleichungen ob sie wirklich existieren.
zu lösen, erscheint uns heute selbstverständlich – wir lernen das schon in der
Mittelstufe. Denkt man allerdings genauer über die Verbindung nach, ist sie Spektrum KOMPAKT – Themen auf den Punkt gebracht
Unsere Spektrum-KOMPAKT-Digitalpublikationen
gar nicht so einleuchtend. Lassen sich alle möglichen Formen und ihre Eigen­
stellen Ihnen alle wichtigen Fakten zu ausge-
schaften durch Gleichungen beschreiben, oder sind der Verbindung vielleicht wählten Themen als PDF-Download zur Verfügung –
Grenzen gesetzt? Gibt es neben der Brücke zwischen Algebra und Geometrie schnell, verständlich und informativ!
noch weitere? Um das herauszukriegen, wandern Mathematiker verschiedene
Regionen ihrer Welt ab, von der Zahlentheorie über die Analysis bis hin zur www.spektrum.de/kompakt
Topologie, und suchen nach unentdeckten Möglichkeiten, von einer in die
andere zu gelangen. In diesem Heft erwarten Sie verblüffende Funde, auf die
sie dabei in den letzten Jahren gestoßen sind.

Ich wünsche Ihnen eine spannende Entdeckungsreise!


Ihre

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 3


ü
INHALT
PHYSIKALISCHE FRAGEN

6 BEWEGUNGEN 6
DAS DREIKÖRPERPROBLEM BEWEGUNGEN
Drei sich gegenseitig anziehende Körper verhalten
sich unvorhersehbar. Dennoch verstecken sich in
DAS DREIKÖRPER-
PROBLEM

3DDDCHARACTER / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


solch einem System einige Erkenntnisse.
Von Richard Montgomery

14 STREUAMPLITUDEN
DER TEILCHEN-CODE
Die Wechselwirkungen im größten Beschleuniger
der Welt lassen sich nur mit Tricks genau erfassen.
Von Matthew von Hippel

20 STABILITÄT
WELCHER KNOTEN HÄLT AM BESTEN?
Wissenschaftler haben Me­thoden aus der Elastizi-
tätstheorie und Topologie vereint.
Von Manon Bischoff

IN FORM GEBRACHT

26 TROPISCHE GEOMETRIE
DAS SKELETT DER AMÖBE
Ein neues Fachgebiet vereinfacht komplizierte
Oberflächen enorm.
Von Antoine Chambert-Loir

32 SYMMETRIEN
20
PETERSCHREIBER.MEDIA / STOCK.ADOBE.COM

DER TROPISCHE SPIEGEL


Seltsame Ähnlichkeiten unter Objekten verwun- STABILITÄT
dern nicht nur Stringtheoretiker. WELCHER KNOTEN HÄLT AM BESTEN?
Von Manon Bischoff

36 KURVEN
RECHTECKE IM KREIS
Kann man in jeder Schleife vier Punkte markieren,
42
damit ein Rechteck mit beliebigen Pro­portionen ÄSTHETIK
entsteht?
Von Kevin Hartnett
MATHEMATISCHE
KUNST

42 ÄSTHETIK
MATHEMATISCHE KUNST
Aus der Mathematik inspirierte Bilder und Skulp-
turen entfalten ihre atemberaubende Schönheit.
Von Stephen Ornes

4 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ROMAN VEROSTKO

ü
48
POLYTOPE
ORDNUNG MESSEN 48 POLYTOPE
ORDNUNG MESSEN
Zerlegen und Sortieren hat unerwartete Folgen.
Von Kevin Hartnett

MÖGLICHES UND UNMÖGLICHES

52 LOGIK
UNENTSCHEIDBARE AUSSAGEN
ÜBER DIE NATUR
Behauptungen können unbeweisbar oder unwiderleg-
PAUL-DANIEL FLOREA / GETTY IMAGES / ISTOCK

bar sein – und das hat ganz reale Konsequenzen.


Von Toby S. Cubitt, David Pérez-García und Michael Wolf

62 INFORMATIK
WIE KOMPLEX DARF ES SEIN?
Überraschung: Computer können die Lösung eines
Problems immer in vertretbarer Zeit überprüfen!
Von Manon Bischoff

GRENZÜBERSCHREITUNGEN

68 LANGLANDS-PROGRAMM
BRÜCKENSCHLAG IN DER MATHEMATIK
Ein geheimnisvoller Zusammenhang führt näher an die
Lösung eines großen Rätsels.
Von Erica Klarreich

74 KATEGORIENTHEORIE
AUS DER VOGELPERSPEKTIVE
Ein neues Gebiet erlaubt es, über den Disziplinen zu
schweben, und offenbart erstaunliche Verbindungen.
Von Manon Bischoff

3 EDITORIAL ∙ 61 IMPRESSUM ∙ 82 VORSCHAU

Titelbild: maxkabakov / Getty Images / iStock;


Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft

Alle Artikel auch digital


JAMESTEOHART / GETTY IMAGES / ISTOCK

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62 Auf Spektrum.de berichten unsere
INFORMATIK Redakteure täglich aus der Wissenschaft:
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Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 5


ü
3DDDCHARACTER / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
BEWEGUNGEN
DAS DREIKÖRPER-
PROBLEM
Obwohl Forscher seit Jahrhunderten wissen,
dass es unmöglich ist, die Flugbahnen dreier sich
gegenseitig anziehender Objekte zu berechnen,
birgt das Dreikörperproblem dennoch einige
Überraschungen. Indem sich Mathematiker auf
einzelne Aspekte des Themas konzentrieren,
machen sie faszinierende Entdeckungen.

Richard Montgomery ist Professor für


Mathematik an der University of
California in Santa Cruz.

 spektrum.de/artikel/1701286


Im Frühjahr 2014 hatte ich die Hoffnung weitestgehend
aufgegeben, eine Antwort auf mein mathematisches
Problem zu finden. Aus Mangel an Ideen begann ich,
näherungsweise Lösungen am Computer zu berechnen.
Natürlich würde ich so niemals meine Frage beantworten,
aber ich hoffte, dass die Ergebnisse auf einen zielführen­
den Weg deuten würden. 
Leider bin ich kein Programmierexperte. Mir dauer­
te alles zu lange und ich wurde immer ungeduldi­
ger – wodurch ich alles verschlimmerte. Für einen
Mathematiker wie mich, der sonst nur mit Stift
und Papier arbeitet, entwickelte sich das Ganze
zu einer sehr unangenehmen Erfahrung. Des­
halb beschloss ich, in diesem Herbst zu meinem
Freund Carles Simó an die Universität Barcelona
zu reisen, um ihn zu bitten, mich bei meiner
unbeholfenen Suche zu unterstützen.

6 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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3DDDCHARACTER / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Simó gilt als einer der erfinderischsten Experten für Wie Newton herausfand, entsprechen die Lösungen
numerische Analysis. Zudem verschwendet er keine Zeit des Zweikörperproblems immer Kegelschnitten. Die
damit, um den heißen Brei herumzureden. An meinem Umlaufbahnen haben also entweder die Form eines
ersten Nachmittag in seinem Büro schilderte ich ihm mein Kreises, einer Ellipse, einer Parabel oder einer Hyperbel.
Problem. Daraufhin sah er mich mit seinen durchdringen­ Dadurch konnte Newton die Gesetze der Planetenbewe­
den Augen an und fragte: »Warum interessierst du dich gung mathematisch herleiten, die Johannes Kepler bereits
überhaupt dafür?« Das 1609 durch empirische Beobachtungen postuliert hatte.
war wie ein harter Beispiele für Flugbahnen zweier Körper Das erste keplersche Gesetz erwies sich durch Newtons
Schlag ins Gesicht – Masse der Sonne ist viel größer als die der Arbeit bei genauerem Hinsehen als falsch. Denn in unse­
schließlich hatte ich Planeten, daher ist ihre Ellipsenbahn winzig. rem Sonnensystem bewegen sich nicht bloß Planeten auf
dieser Aufgabe bereits Bahn des Planeten einem Kegelschnitt, sondern auch die Sonne. Weil diese
17 Jahre lang den aber so schwer ist, folgt sie kaum merkbar einer winzigen
Großteil meiner Zeit Umlaufbahn des Zentrum der Sonne elliptischen Bahn. 
geopfert. Planet
Das Zweikörperproblem ist extrem gut verstanden und
× Sonne
Meine Forschung begegnet vielen Menschen bereits in der Schule. Doch
geht auf die Dynamik Massenschwerpunkt sobald man statt zwei Objekten drei betrachtet, landet
von Objekten zurück, man in einer Sackgasse. Zwar kann man in diesem Fall

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


die schon Isaac New­ zwei gleiche Massen mit ebenfalls Differenzialgleichungen aufstellen, diese lassen
elliptischen Bahnen
ton 1687 in seiner sich aber nicht allgemein lösen. Man kann nur für wenige
»Principia« beschäf­ Spezialfälle genaue Umlaufbahnen berechnen. Trotz leis-
tigten. Damals unter­ tungsfähiger Compu­
×
suchte er, wie sich ter und jahrhunderte­
gemeinsamer Schwerpunkt Beispiele für Flugbahnen dreier Körper
zwei Körper im Raum langer Bemühungen,
bewegen, die sich fanden Wissenschaft­ Eine von Eulers
Lösungen:
gegenseitig über die ler bis heute nur für
Drei gleiche
Schwerkraft anziehen. In der gleichen Arbeit leitete er ein fünf Typen von Bah­ Massen, von
System von Differenzialgleichungen her, aus denen man die nen exakte Gleichun­ denen sich eine
immer im
Flugbahn zweier Massen berechnen kann, wenn man ihre gen: Drei entdeckte Zentrum befindet.
aktuelle Position und Geschwindigkeit kennt.  Leonhard Euler 1767 Die Körper sind
stets auf einer
und zwei weitere Geraden angeordnet.

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


berechnete Joseph-
Eine von Lagranges
Louis Lagrange fünf Lösungen:
Jahre später.  Die drei Massen
Ende des 19. Jahr­ bilden zu jeder
Zeit ein gleich-
hunderts erkannte seitiges Dreieck.
Henri Poincaré
schließlich die Ursa­
che für all die Kom­
plikationen: Die Bewe­
gungen dreier Körper sind meist chaotisch. Sobald man
die Anfangsbedingungen, also die Geschwindigkeit und
die Position der Objekte, auch nur leicht verändert, kann
deren Umlaufbahn völlig anders aussehen. Tatsächlich
sind viele Lösungen nicht einmal periodisch, das heißt die
Bewegungen der Körper wiederholen sich niemals. Glück­
licherweise können moderne Algorithmen einige Ab­

Wie bewegen sich drei Körper, die sich gegen-


seitig anziehen? Diese Frage beschäftigt viele
Wissenschaftler seit Jahrhunderten. Eine
endgültige Antwort wird es darauf nie geben.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 7


ü
Als ich darüber nachdachte, stieß ich auf eine Frage, die
mich nicht mehr losließ: Wenn man eine beliebige periodi­
AUF EINEN BLICK sche Folge aus Einsen, Zweien und Dreien niederschreibt,
EIN UNLÖSBARES RÄTSEL entspricht sie dann immer der Eklipsenfolge einer periodi­
schen Lösung des Dreikörperproblems? Oder kann man die

1 Eine der ältesten mathematischen Sackgassen ist das


Dreikörperproblem. Die Frage, wie sich drei gegenseitig
anziehende Körper bewegen, stellt sich als unlösbar
drei Ziffern auch so aneinanderreihen, dass es keine Kon­
figuration dreier Körper gibt, die sich so umkreisen, dass
ihre Eklipsen gleich der Folge sind? Meiner Meinung nach
heraus. musste es immer eine passende Lösung des Dreikörperpro­
blems geben, konnte es aber nicht beweisen.
2 Dennoch gibt es für einige Spezialfälle explizite Lösun­
gen – und Wissenschaftler sagen immer wieder neue
Arten von Flugbahnen dreier Körper voraus.
Um mein ungewöhnliches Interesse vor Simó zu recht­
fertigen, erinnerte ich ihn daran, dass die Frage drei ver­
schiedene Zweige der Mathematik verbindet: Die Topolo­
gie, die geometrische Objekte gemäß ihrer globalen Eigen­
3 Für viele Forscher ist das jahrhundertealte Problem
spannend, weil es unterschiedliche mathematische
Konzepte vereint und somit zu interessanten neuen
schaften – etwa Löcher – klassifiziert; die riemannsche
Geometrie, bei der es um das Vermessen gekrümmter
Erkenntnissen führen kann. Oberflächen geht; und
zuletzt die Dynamik, Topologie
die sich mit Bewe­
gungsabläufen be­
schnitte von Umlaufbahnen zumindest näherungsweise schäftigt. 
bestimmen, was beispielsweise für die Planung von Raum­ In der Topologie
fahrtmissionen unerlässlich ist. Je länger man einen Com­ gelten zwei geometri­
puter rechnen lässt, desto genauer werden die Ergebnisse. sche Objekte als
Darüber hinaus gibt es viele weitere spannende Aspekte gleich, wenn man sie
des Dreikörperproblems, die noch nicht gelöst sind. Deswe­ ineinander verformen
gen konnte ich Simós Worte nicht wirklich nachvollziehen. kann, ohne Löcher in
»Natürlich interessiert es mich«, dachte ich. »Ich arbeite seit sie zu reißen. Dadurch
fast zwei Jahrzehnten an diesem Problem!« Ich hatte es auf lassen sich viele
ein ganz bestimmtes Phänomen in Dreikörpersystemen Berechnungen verein­
abgesehen: So ge­ fachen. Wenn eine
NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019

Finsternis nannte Eklipsen, die Oberfläche etwa sehr


3 entstehen, wenn sich kompliziert ist, hilft es
1 2 1 3 1 2 alle Objekte entlang manchmal eine topo­
2
3 einer Geraden anord­ logisch gleiche, aber
nen. Ein bekanntes simplere Figur zu
Diesen Moment bezeichnet man als Eklipse 2 Beispiel dafür ist eine betrachten. Beispiels­
(Der Körper »2« befindet sich in der Mitte). Sonnenfinsternis, bei weise ist eine Ebene,
der sich der Mond der ein Punkt fehlt,
zwischen die Sonne und die Erde schiebt, so dass unser topologisch gesehen
Planet abgedunkelt wird. gleich der Oberfläche
Je nach Umlaufbahn befindet sich mal der eine und mal eines Wurmlochs, ein
der andere Körper in der Mitte. Verfolgt man die Eklipsen so genanntes Kate­
eines Systems über einen längeren Zeitraum, erhält man noid. Man kann das
eine Ziffernfolge aus Einsen, Zweien und Dreien, je nach­ Loch in der Ebene
dem, welcher Körper in der Mitte ist. vergrößern, nach
unten ziehen und Katenoid
Eine Folge von Finsternissen dann umstülpen,
In einer vereinfachten Version des Sonne-Erde-Mond-Sys­ wodurch das Katenoid
tems, in dem alle Objekte kreisförmigen Bahnen folgen, entsteht. Auf dieser
umkreist der Mond (3) jeden Monat die Erde (2), während Fläche lassen sich
diese um die Sonne (1) rotiert. Die Bewegung wiederholt neue Arten von Aufga­
NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019

sich immer wieder, wodurch eine periodische Eklipsenfolge ben definieren, die in
entsteht: 2, 3, 2, 3, 2, 3 und so weiter. Weil die Sonne nie- der durchstochenen
mals zwischen Mond und Erde landet, taucht keine 1 auf. Ebene zu Problemen
Da die Lösungen des Dreikörperproblems nicht immer führen. Zum Beispiel
periodisch sind, muss sich die dazugehörige Eklipsenfolge kann man den kürzes­
nicht zwingend wiederholen, sondern kann ewig ohne ten Weg um das Loch
erkennbares Muster weitergehen.  berechnen, indem

8 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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man eine Differenzialgleichung löst, ganz ähnlich wie beim Paris Diderot die erste Lösung in Form einer 8
Dreikörperproblem. periodische Lösung
Das verdeutlicht, wie die drei Gebiete zusammenpassen: des Dreikörperprob­
Dank der Topologie kann man eine Oberfläche so lange lems ohne Gesamt­
verformen, bis man mit den Mitteln der riemannschen drehimpuls wieder, die
Geometrie ein bestimmtes Problem lösen kann, das aus der Cris Moore vom Santa
Dynamik stammt. Fe Institute bereits
Im Dreikörperproblem übernimmt der so genannte 1993 mit Computerun­
Konfigurationsraum die Rolle der Oberfläche. Dieser Raum terstützung vorausge­ neue Bahnkurven
besteht aus Punkten, die den Positionen aller drei Körper sagt hatte. Die Bahn­
entsprechen. Da man sich nur für Systeme interessiert, in kurve beschreibt
denen die Körper nicht zusammenstoßen, muss man die dabei einen geschlos­
Kollisionspunkte entfernen: Den Ort 12, an dem die Koor­ senen Pfad, der die
dinaten des ersten und des zweiten Objekts gleich sind, Form einer Acht hat.
und analog 23 und 13. Für den Fall, dass alle drei Massen Die drei Massen jagen
gleichzeitig zusammenstoßen (123), versagen die newton­ sich entlang dieser
schen Bewegungsgleichungen, so dass ein solcher Punkt Kurve ewig hinterher.
gar nicht erst auf­ Die dazugehörige
taucht. kollisionsfreier Konfigurationsraum periodische Eklipsen­
Eigentlich würde folge lautet 123123...
13
man erwarten, dass NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019 Unsere Ergebnisse
der kollisionsfreie führten dazu, dass der
Konfigurationsraum Forschungsbereich
1 2 3
neundimensional ist, 13 12 23 13 regelrecht explodierte.

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


da er die Positionen Mit Hilfe des Prinzips
aller drei Massen der kleinsten Wirkung
enthält. Wie sich aber fanden Mathematiker
13
herausstellen wird, etliche neue Kurven,
ist er topologisch die beispielsweise das
gesehen gleich einer zweidimensionalen Ebene mit zwei N-Körper-Problem mit
Löchern – bei 12 und 23. 13 ist in diesem Modell ein Punkt gleichen Massen
bei unendlich, den man ebenfalls ausschließt. Die Gerade, lösen. Die Achterform
die durch 12 und 23 verläuft, ist daher in drei Abschnitte schaffte es mit dem chinesischen Science-Fiction-Roman
(1, 2, 3) geteilt, welche die verschiedenen Typen von Eklip­ von Liu Cixin, dessen deutsche Übersetzung den Titel »Die
sen symbolisieren. drei Sonnen« trägt, sogar in die Bestsellerlisten. 
Eine Kurve im kollisionsfreien Raum beschreibt eine Trotz all dieser Fortschritte blieb mein Verdacht jedoch
Bewegung dreier Massen und könnte also eine Lösung des unbewiesen. Deswegen hatte ich mich im Herbst 2014
Dreikörperproblems sein. Kreuzt die Kurve den ersten verzweifelt an Simó gewandt. Nachdem wir eine Nacht
Abschnitt der Geraden, dann findet eine Eklipse vom Typ 1 über mein Problem geschlafen hatten, sagte Simó am
statt. Analog dazu ergeben sich andere Eklipsen, wenn die nächsten Morgen etwas, was mich nachhaltig prägte.
Kurve die Gerade an anderen Stellen durchläuft. Eine Eklip­ »Wenn du mit deiner Vermutung richtigliegst, dass sich alle
senfolge charakterisiert also, wie sich eine Kurve um die Eklipsenfolgen aus Lösungen des Dreikörperproblems
Löcher des Konfigurationsraums windet. Ist die Kurve ergeben, dann muss es irgendeinen dynamischen Mecha­
geschlossen, ist sowohl die Bewegung als auch die Folge nismus geben, der dahintersteckt.« 
periodisch.
Um zu prüfen, ob eine Kurve das Dreikörperproblem löst, Auf der Suche nach versteckten
muss man auf einen jahrhundertealten Satz der klassischen Mechanismen
Mechanik zurückgreifen. Er besagt, dass jede Kurve im Diese Worte führten dazu, dass ich plötzlich anfing, meine
Konfigurationsraum eine Lösung ist, wenn sie die so ge­ langjährigen Überzeugungen zu überdenken. Ich gab mei-
nannte Wirkung minimiert. Diese ist eine Art Mittelwert aus nen Versuch auf, eine Antwort über die minimale Wirkung
der kinetischen minus der potenziellen Energie des Sys­ zu suchen, und wandte mich stattdessen den dynamischen
tems. Um meine ursprüngliche Frage zu beantworten, Modellen zu. Doch welche davon hatte ich im Dreikörper­
musste ich also beweisen, dass sich jede periodische problem überhaupt verstanden? 
Eklipsenfolge durch eine Kurve erzeugen lässt, welche die Tatsächlich kam mir eines in den Sinn, das meine Hoff­
Wirkung minimiert – und damit ein Dreikörperproblem löst.  nung aufrechterhielt. Als ich es genauer betrachtete, fiel mir
Mehr als 17 Jahre lang tüftelte ich an dieser Aufgabe. eine etwa 20 Jahre alte Veröffentlichung des Mathemati­
Und tatsächlich lohnte sich die Mühe: Ich stieß auf viele kers Rick Moeckel von der University of Minnesota ein. In
spannende neue Zusammenhänge. Zum Beispiel fand ich den 1980er Jahren hatte er sich mit Flugbahnen von Kör­
2000 zusammen mit Alain Chenciner von der Université pern beschäftigt, die zusammenstoßen. Als ich seine

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ü
2
1 2
1

1 2 3
3
verschieden
3
Aufsätze erneut durchsah, glaubte ich, den Schlüssel zu zwei gleichseitige Dreiecke dass das eine die

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


meinem Problem gefunden zu haben. Ich zögerte nicht 3 3 gespiegelte Version
lange, setzte mich mit Moeckel in Verbindung, und inner­ des anderen ist. Weil
verschieden
halb weniger Tage gelang es uns, meine Frage zu beant­ es keine Möglichkeit
worten – zumindest fast.  gibt, sie durch Dre­
Anders als ich verfolgte Moeckel in seiner Arbeit nicht hen, Verschieben oder
die genaue Position aller drei Massen, sondern konzentrier­ 1 2 2 1 Skalieren ineinander
te sich auf ihre allgemeine Anordnung. Die drei Objekte Lagrange-Punkt 4 Lagrange-Punkt 5 umzuwandeln, sind
formen stets ein Dreieck – wenn man auch »entartete« die zwei gleichseitigen
Versionen zulässt, deren Eckpunkte auf einer Geraden Dreiecke verschieden.
liegen und daher Eklipsen bilden. Anstatt Flugbahnen zu Ebenso besitzt jedes Dreieck auf der oberen Halbkugel ein
untersuchen, verzeichnet Moeckel, wie sich ein Dreieck mit gespiegeltes Gegenstück, das sich auf der unteren Halbku­
der Zeit ändert. Dabei gelten zwei Anordnungen als gleich, gel befindet, während der Äquator aus entarteten Drei­
wenn sie sich durch einfaches Verschieben, Drehen oder ecken besteht.
Skalieren ineinander Der Äquator enthält daher drei Punkte, an denen je zwei
Formen
umwandeln lassen, Körper zusammenstoßen, 12, 23 und 13. Bei diesen »Drei­
also die gleiche Form ecken« liegen zwei der drei Eckpunkte aufeinander. Um
2 haben. In diesem Fall Kollisionen auszuschließen, muss man die Punkte von der
spielen die Position Formkugel entfernen. Dadurch lässt sich erklären, warum
des Massenschwer­ der kollisionsfreie Konfigurationsraum gleich einer zwei-
NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019

1 3 gleich gleich
punkts, die Größe und fach durchstochenen Ebene ist: Es gibt nämlich einen
2 die Ausrichtung des Mechanismus, die so genannte stereografische Projektion,
1 2 Dreiecks keine Rolle die eine Kugeloberfläche mit einer zweidimensionalen
1
mehr.  Ebene verbindet.
1 2 3
3 Die Bewegung Entfernt man einen
verschieden dreier Körper führt in Punkt auf einer Kugel­ stereografische Projektion
3
dem Modell von oberfläche, etwa den
zwei gleichseitige Dreiecke Moeckel zu einer Nordpol, und plat-
3
Kurve in3einem komplizierten Raum, der aus Punkten ziert eine Lichtquelle
besteht, die den möglichen Formen von Dreiecken entspre­
verschieden hinein, kann man

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


chen. Wie Mathematiker heraus­fanden, bildet dieser abs­ die Sphäre auf eine
trakte Raum die Oberfläche einer Kugel, eine so genannte darunter befindliche
Formkugel. Sie ist zweidimensional, weil zwei Winkel Ebene projizieren. Je
1 2 2 1
bereits genügen, um die Form eines Dreiecks festzulegen. näher ein Punkt der
Lagrange-Punkt 4 Lagrange-Punkt 5
Nord- und Südpol stellen Anordnungen mit größtmöglicher Lichtquelle ist, desto
Fläche dar, also gleichseitige Dreiecke. Diese beiden diame­ weiter tendiert seine
tral angeordneten Dreiecke unterscheiden sich dadurch, Projek­tion in Richtung

Das Chaos zähmen Erde, Mond und Sonne bilden ein entwickelt, um das jahrhundertealte
eher problemloses Dreikörpersystem. Problem besser zu bewältigen.
Die Bahnkurven von drei Körpern, die Weil die Masse des Monds und der Philip G. Breen von der University
sich gegenseitig durch die Schwer­ Erde verhältnismäßig klein ausfallen, of Edinburgh nutzte gemeinsam mit
kraft anziehen, lässt sich meist nicht beeinflussen sie die Sonne kaum. seinen Kollegen künstliche Intelligenz
exakt berechnen. Das liegt daran, Daher bewegen sich unser Planet (KI), um komplizierte Bahnen dreier
dass die Bewegungen der Objekte – und sein Trabant auf nahezu perfek­ Körper extrem schnell zu bestimmen.
bis auf wenige Ausnahmen – chao­ ten Ellipsen. Wenn drei Körper aller­ Dazu speiste das Team ein neurona­
tisch sind. Das heißt, kleinste Verän­ dings vergleichbare Massen haben, les Netzwerk mit knapp 10 000 Posi­
derungen können enorme Folgen stoßen Forscher oft an ihre Grenzen, tionen dreier gleicher Massen, die
haben: Kennt man die Bahnkurven wenn sie deren Verhalten vorhersa­ anfangs ruhen, und den dazugehöri­
eines Systems aus drei Sternen und gen wollen. Sie müssen dann auf gen durch konventionelle Computer­
variiert die Position des einen nur um leistungsfähige Computer zurückgrei­ programme berechneten Flugbah­
wenige Millimeter, können die Flug­ fen, die oftmals tagelang rechnen. nen. Anschließend übergaben die
bahnen plötzlich völlig verschieden Doch Ende 2019 haben zwei Forscher der KI 5000 neue Startposi­
verlaufen. Forschergruppen neuartige Verfahren tionen und ließen sie die Bewegun­

10 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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unendlich. Eine Ebene mit einem Punkt bei unendlich ist Eine weitere Besonderheit der zentralen Konfigurationen
deshalb topologisch gesehen gleich einer Kugeloberfläche.  ist, dass die drei Massen keine Anfangsgeschwindigkeit
Platziert man die Lichtquelle der stereografischen Projek­ haben. Man kann sich vorstellen, wie jemand plötzlich drei
tion in den Kollisionspunkt 13, kann man die Formkugel so Körper im luftleeren Raum loslässt. Im Allgemeinen können
ausrichten, dass die Bildpunkte des Äquators auf einer in einem solchen Fall allerlei verrückte Dinge geschehen,
Geraden liegen. Eine Eklipsenfolge entsteht, wenn sich eine bei denen die Massen etwa die wildesten Tänze vollführen
projizierte Kurve um die Kollisionspunkte windet und die oder sogar in die Unendlichkeit verschwinden. 
Äquatorgerade kreuzt.  Wenn man die Objekte allerdings in eine der fünf zentra­
Es blieb herauszufinden, welche Kurven das Dreikörper­ len Konfigurationen anordnet und in Ruhe loslässt, führt die
problem lösen. Dazu sah ich mir die fünf Typen von Um­ Schwerkraft dazu, dass sie sich geradlinig aufeinander
laufbahnen dreier Körper an, für die es exakte Gleichungen zubewegen. Das von ihnen gebildete Dreieck schrumpft mit
gibt: Die von Euler und Lagrange entdeckten »zentralen der Zeit immer weiter zusammen, ohne seine Form zu
Konfi­gurationen«. Sie entsprechen den einzigen Fällen, für ändern, bis alle drei Körper gleichzeitig zusammenstoßen.
welche die Form der Dreiecke zeitlich immer gleich bleibt. Eine solche dreifache Kollision ist aus mathematischer
Daher beschreiben Sicht problematisch, weil sie chaotisches Verhalten verur­
Die Formkugel diese Lösungen keine sacht. Wie der finnische Mathematiker Karl Sundman in
Lagrange-Punkt 4 (gleichseitiges Dreieck) Kurven auf der Form­ den frühen 1900er Jahren bewies, führen ausschließlich die
kugel, sondern ent­ fünf zentralen Konfigurationen mit anfangs ruhenden
Euler-Punkt 2 Euler-Punkt 3 sprechen einfachen Massen zu einer dreifachen Kollision. 
Punkten.  Wenn sich drei Körper sehr nahekommen, ähnelt ihre
dreifache Bei den »Lagrange- Umlaufbahn der Lösung von einer der fünf zentralen Konfi­
Kollision Kollision
von 2 und 3 Lösungen« (genannt gurationen. Da man
L4 und L5) bilden die Kollisionspunkte und Eklipsen diese exakt berechnen
drei Körper jederzeit kann, wollte ich diese
ein gleichseitiges Eigenschaft nutzen,
NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019

Arsyc 11
Bogen 3 1 2
Dreieck. Daher befin­ um meinen Verdacht
den sie sich auf dem zu beweisen. Sund­
Euler-Punkt 1 Kollision
Nord- und Südpol der mans Arbeit allein half
von 1 und 2
Formkugel. Die drei Bogen
Arc 1 Bogen
Arc 22 mir jedoch nicht,
Kollision Kollision
übrigen zentralen denn sie steckt voll

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


von 1 und 2 von 1 und 3
Konfigurationen sind komplizierter Algebra
Lagrange-Punkt 5 (gleichseitiges Dreieck)
die berühmten »Euler- Kollision und Analysis, wo­
von 2 und 3
Lösungen« (genannt durch seine Ergebnis­
E1, E2 und E3), die auf dem Äquator jeweils zwischen zwei Kollision se intuitiv kaum zu
von 1 und 3 ogenrc
Bogen 33
Kollisionspunkten liegen. Bei diesen exakt berechenbaren verstehen sind. Glück­
Umlaufbahnen sind die drei Massen immer in einer geraden licherweise entwickel­
1 2 3
Linie angeordnet.  te der US-amerikani­

gen der Objekte vorhersagen. Die anzugehen. Sie konzentrierten sich die Flugbahnen der zwei übrigen ge-
Ergebnisse der KI stimmten extrem dabei auf Objekte mit vergleichbaren bundenen Objekte aussieht. Die zwei
gut mit den tatsächlichen Lösungen Massen. Solche Systeme enden Forscher können dadurch ganz ohne
überein. Dabei arbeitet das neurona­ meist damit, dass sich einer der drei aufwändige Computerprogramme
le Netz viel schneller als gewöhnliche Körper irgendwann herauslöst und den Endzustand eines Dreikörpersys­
Computerprogramme. Breen und ins Unendliche verschwindet, wäh­ tems bestimmen.
seine Kollegen hoffen in Zukunft mit rend die zwei übrigen ein gebunde­
ihrer Methode Dreikörperprobleme nes Zweikörpersystem bilden. Stone
QUELLEN
zu lösen, die für herkömmliche und Leigh haben eine statististische
Algorithmen nicht bewältigbar sind. Methode entwickelt, um den Endzu­ Breen, P. G. et al.: Newton vs the
machine: solving the chaotic three-
Nicolas Stone von der Hebrew stand solcher Systeme vorherzusa­
body problem using deep neural
University in Jerusalem und Nathan gen. Kennt man die Positionen und networks. arXiv 1910.07291, 2019
Leigh von der Universidad de Con­ Geschwindigkeiten der drei Massen,
Stone, N. C., Leigh, N. W. C.: A statis-
cepción in Chile wählten einen liefert ihr Ansatz die Wahrschein­ tical solution to the chaotic, non-
anderen Ansatz, um die anspruchs­ lichkeit dafür, welcher Körper wie hierarchical three-body problem.
volle Aufgabe ganz ohne Computer schnell wohin verschwindet und wie Nature 576, 2019

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 11


ü
sche Mathematiker Moeckels Graph
zentrale Konfiguration repräsentieren, und verband diese
Richard McGehee in über sechs Kanten miteinander. Jeder Weg auf diesem
den 1970er Jahren die Lagrange-Punkt 4 Diagramm ist eine Lösung des Dreikörperproblems, wobei
so genannte Blow- die Umlaufbahnen dabei zeitweise denen einer zentralen
up-Methode, wo­ Euler-Punkt 1 Konfiguration ähneln. 

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


durch man die Bewe­ Ein Beispiel dafür ist der Weg E1–L4–E2–L5: Zuerst
gungen fast kollidie­ explodieren die Körper aus einem Gleichgewichtspunkt in
render Körper besser Euler point 2
Euler-Punkt eine E1-Konfiguration. Irgendwann kehrt sich die Bewegung
nachvollziehen kann.  um, die Massen nähern sich und haben die Form einer
Euler-Punkt 3
Die größte L4-Anordnung, bis sie fast zusammenzustoßen. Im letzten
Schwierigkeit einer Moment entfernen sie sich jedoch wieder voneinander und
Lagrange-Punkt 5
dreifachen Kollision bilden dabei eine E2-Konstellation, wonach sie in einer
ist, dass die newton­ L5-Konfiguration aufeinander zurasen.
schen Bewegungs­ Kurz nachdem
gleichungen in diesem Fall versagen. Sobald sich der Simó bei meinem eingebetteter Graph
Abstand r der Massen der Null nähert, wachsen einige Besuch einen dyna­
Lagrange-Punkt 4
Größen in den Gleichungen ins Unendliche. McGehee fand mischen Mechanis­
einen Ausweg, indem er die Variablen des Konfigurations­ mus erwähnt hatte,
raums und der Zeit änderte, wodurch er die Kollision ver­ wurde mir klar, dass Kollision
zögerte und den problematischen Punkt r = 0 zu einer sich Moeckels Graph von 1 und 3

Sammlung von Punkten »aufblies«. Aus dem einzelnen auf die Formkugel Euler point 11
Euler-Punkt Euler point 33
Euler-Punkt

Kollisionspunkt wird ein Kollisionsraum, der überraschen­ auftragen lässt.

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


derweise der Formkugel entspricht. Dadurch verschwinden Überraschenderwei­
die Unendlichkeiten und es entsteht ein neuer Satz von se enthält dieser Euler point 2 2
Euler-Punkt
Bewegungsgleichungen, die sogar im Punkt r = 0 funktio­ eingebettete Graph
nieren. die gleichen topologi­
schen Informationen
Kollision Lagrange-Punkt 5 Kollision
Zum Gleichgewicht hin und wieder weg wie die Formkugel: von 1 und 2 von 2 und 3
Während es für die newtonschen Gleichungen keine An­ Die dreifach durch­
ordnung gibt, in der die drei Körper für alle Zeiten ruhen, stochene Sphäre
existieren solche Gleichgewichtspunkte im abgeänderten lässt sich zu dem eingebetteten Diagramm verformen,
System: Sie entstehen, wenn die Massen zusammensto­ wenn man die Kolli­sionslöcher so stark vergrößert, dass sie
ßen. Insgesamt gibt es zehn Gleichgewichtspunkte, je zwei sich fast berühren und nur noch ihre Umrandungen übrig
für jeden der fünf zentralen Konfigurationen. Das liegt bleiben. Man kann daher jede Kurve auf der Formkugel auf
daran, dass die Bewegungsgleichungen unverändert blei­ einen Weg entlang des eingebetteten Graphen abbilden.
ben, wenn man die Zeit umkehrt. Daher können alle Prozes­ Wie Moeckel gezeigt hatte, lösen diese Wege immer ein
se genauso rückwärts ablaufen: Man kann einerseits drei Dreikörperproblem – damit war ich fast fertig! Denn daraus
ruhende Massen in einer zentralen Konfiguration loslassen, würde folgen, dass es zu jeder Eklipsenfolge eine Lösung
wodurch sie kollidieren und ihren Gleichgewichtspunkt des Dreikörperproblems gibt. 
erreichen, andererseits können drei Massen aus einem In meiner Vorstellung machte das alles Sinn. Doch um
Punkt heraus »explodieren« und in einer zentralen Konfigu­ diese Gedanken zu beweisen, fehlte noch ein entscheiden­
ration enden. der Schritt. Ich musste erst sicherstellen, dass nichts schief­
Diese zwei Lösungen – Kollision und Explosion – passen läuft, wenn man den Graphen auf die Formkugel aufträgt.
reibungslos zusammen und lassen sich aneinanderreihen. Projiziert man die von Moeckel berechneten Lösungen auf
Eine solche »Explosionskollisionslösung« beginnt bei r = 0, die Sphäre, dürfen sie nicht zu stark von ihrer ursprüngli­
wo sich die drei Massen am selben Punkt befinden. Da- chen Form abweichen. Wenn sich eine Kurve beispielswei­
nach wächst r und die Massen gewinnen an Abstand, bis se einmal mehr um einen Kollisionspunkt auf der Form­
r maximal wird. Dann kehrt sich der Vorgang um, die kugel windet, dann entspräche sie topologisch gesehen
Körper nähern sich wieder, und r schrumpft, bis es im einem anderen Weg auf dem Graphen, womit sich auch die
Kollisionsraum endet, wo alle drei Massen zusammensto­ Reihenfolge der Eklipsen unterscheiden würde.
ßen und einen Gleichgewichtspunkt erreichen. An diesem Punkt steckte ich wirklich fest. Deshalb bat
Wie Moeckel herausfand, lösen einige der zusammen­ ich Moeckel in einer E-Mail um Hilfe. Seine Antwort kam
geführten Lösungen das Dreikörperproblem. Um das zu postwendend: »Du willst mich ernsthaft zwingen, meine
erkennen, brauchte er allerdings aktuelle Ergebnisse aus Veröffentlichungen von vor über 20 Jahren zu lesen?«
der Erforschung dynamischer Systeme, die Newton, La­ Trotzdem tauchte er wieder in seine alte Forschung ein.
grange oder Sundman noch nicht zur Verfügung standen.  Und tatsächlich gelang es ihm zu beweisen, dass die proji­
Durch einen Graphen veranschaulichte Moeckel, zierten Lö­sungen immer in der Nähe des eingebetteten
welche Arten von Explosionen und Kollisionen zusammen­ Graphen landen. Meine Frage war also endlich bejaht – aber
passen. Dazu brauchte er fünf Knoten, die jeweils eine nur fast.

12 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Die Lösungen des Eklipsenfolge
topologischen Typ repräsentieren. Zum Beispiel beschrei­
Dreikörperproblems, ben 23, 2223, 222223 und 2333 allesamt Kurven, die einmal
welche die Wirkung um das Loch 23 herumgehen. Wann immer eine Kurve
aller Kurven mit einer zweimal hintereinander den gleichen Bogen kreuzt, kann
bestimmten Eklipsen­ 12 23
man diese Schwingungen glätten, wodurch sich die dop­
folge minimieren, 1 2 3 pelten Durchgänge aufheben. Zwei aufeinander folgende
müssen einen Dreh­ Eklipsenzahlen lassen sich daher löschen, ohne dass sich
impuls von null dabei der topologische Typ einer Kurve ändert. Entfernt
haben. Moeckel man alle doppelten Ziffern, entsteht eine so genannte
braucht allerdings ein zulässige Eklipsenfolge. 
klein wenig Drehim­ 12 23
Wenn man doppelte Ziffern streichen kann, dann lassen
puls, um die Lösun­ 1 2 3 sich auch Paare hinzufügen. Das kommt unserem Problem
gen zu erhalten, die zugute. Hat man eine kurze Eklipsenfolge, etwa 123232,

NIGEL HAWTIN / SCIENTIFIC AMERICAN AUGUST 2019


sich entlang der auf die das Theorem nicht zutrifft, kann man sie verlängern.
Kanten seines Gra­ Dazu wählt man eine ungerade Zahl n, die mindestens so
phen bewegen.  groß ist wie N. Danach potenziert man jede Ziffer mit n,
Und es gibt noch wobei die Potenz für die Anzahl aufeinander folgender Zif-
einen weiteren Ha­ 1 2 3 fern steht, etwa 13 = 111. Aus 123232 wird 1n 2n 3n 2n 3n 2n.
ken. Sobald die Die längere Folge ist vom gleichen topologischen Typ wie
Lösungen von Moe­ die vorige, da n ungerade ist. Auf diese Weise kann man
ckel den Äquator der unser Theorem anwenden: Zur langen Eklipsenfolge gibt es
Formkugel in der Nähe eines Euler-Punkts kreuzen, schwin­ eine periodische Lösung des Dreikörperproblems, die den
gen sie um den Äquator herum hin und her, bevor sie gleichen topologischen Typ hat wie die zu 123232 gehörige
weiterwandern. Das führt dazu, dass sich die Ziffern der Kurve.
entsprechenden Eklipsenfolge häufig wiederholen. Man Das klingt, als hätten wir es geschafft. Doch wir haben
nennt eine Folge N-lang, wenn alle Ziffern der Folge min­ noch viel harte Arbeit vor uns. Als ich meine Frage vor fast
destens N-mal hintereinander auftreten. Beispielsweise ist 20 Jahren stellte, wollte ich nur Lösungen mit einem Dreh­
1112222333332222 drei-lang, weil die 1 nur dreimal hinter­ impuls von null. Inzwischen mehren sich aber die Hinweise,
einander erscheint. Wegen der auftretenden Schwingungen dass die Antwort für einen solchen Fall nein lautet. Es
konnten Moeckel und ich meine Vermutung nur für sehr deutet sogar einiges darauf hin, dass es selbst zur einfachs­
lange Folgen beweisen.  ten periodischen Folge 23 keine periodische Lösung des
drehmomentfreien Dreikörperproblems gibt. Außerdem
Das zwei Jahrzehnte alte Problem suchen wir noch nach einem Theorem, das sich auf zulässi­
scheint gelöst – aber nur fast ge Folgen anwenden lässt, und nicht nur auf ihre verlänger­
Formal lautet unser Ergebnis: Für ein Dreikörperproblem ten Versionen.
mit kleinem Drehimpuls existiert eine große positive ganze Zwar habe ich mein Problem nach zwei Jahrzehnten
Zahl N, so dass es zu jeder beliebigen N-langen Eklipsen­ intensiver Forschung noch nicht ganz gelöst, doch auf dem
folge eine Lösung des Dreikörperproblems gibt. Wenn die Weg dahin habe ich viel Neues gelernt. Ich werde auf jeden
Folge periodisch ist, dann ist es die Lösung ebenfalls. Fall weiter dranbleiben. Meiner Meinung nach kann es sich
In meiner ursprünglichen Frage tauchte allerdings kein für jeden lohnen, an solchen »hoffnungslosen« Problemen
großes N auf – ich wollte eine Aussage für jede Eklipsenfol­ zu arbeiten. Denn die Geschichte der Mathematik lehrt uns,
ge und nicht nur für extrem lange. Doch ich muss geste­ dass man selbst in einer Sackgasse spannende Erkenntnis­
hen, dass ich mich in Wirklichkeit nicht für Eklipsen interes­ se gewinnen kann. 
sierte, sondern für Kurven. Eigentlich wollte ich herausfin­
den, ob es zu jedem topologischen Typ einer Kurve eine
Lösung des Dreikörperproblems gibt.  QUELLEN
Ein topologischer Typ besteht aus allen Objekten, die Chenciner, A. et al.: Simple choreographic motions of N bodies:
topologisch gleich sind. Für Kurven heißt das, dass sie sich Preliminary study. In: Newton, P. et al. (Hg.): Geometry, mecha­
problemlos ineinander verformen lassen. Beispielsweise ist nics, and dynamics. Springer, 2002
ein Kreis in der Ebene gleich einer Ellipse. Wenn man Chenciner, A., Montgomery, R.: A remarkable periodic solution
geschlossene Kurven auf durchlöcherten Körpern betrach­ of the three-body problem in the case of equal masses. Annals
tet, wird es hingegen komplizierter, denn in diesen Fällen of Mathematics 152, 2000
können sie sich um die Löcher winden. Solche Kurven Moeckel, R., Montgomery, R.: Realizing all reduced syzygy
unterscheiden sich beispielsweise von jenen, die kein Loch sequences in the planar three-body problem. Nonlinearity 28,
umschließen. 2015

Der topologische Typ einer Kurve auf der Formkugel McGehee, R.: Triple collision in the collinear three-body prob­
lässt sich durch eine Eklipsenfolge charakterisieren, die lem. Inventiones mathematicae 27, 1974
bestimmt, wie sich die Kurve um die Kollisionslöcher win­ Sundman, K.: Mémoire sur le problème des trois corps. Acta
det. Allerdings können verschiedene Folgen den gleichen Mathematica 36, 1912

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 13


ü
STREUAMPLITUDEN
DER TEILCHEN-CODE
Im größten Beschleuniger der Welt prallen Partikel
nahezu mit Lichtgeschwindigkeit aufeinander.
So entstehen enorme Datenmengen, die Physiker
nach unerwarteten Ereignissen durchforsten. ­Dafür
müssen die Wissenschaftler genau verstehen,
was gängige Theorien vorhersagen – doch das ist
alles andere als einfach.

Matthew von Hippel ist theoreti-


scher Physiker am Niels-Bohr-Institut
von der Universität Kopenhagen.
Außerdem bloggt er auf Englisch
unter 4gravitons.wordpress.com.
OLA J. JOENSEN

 spektrum.de/artikel/1640028

AUF EINEN BLICK


NEUE MATHEMATIK FÜR DEN LHC

1 Um unerwartete Phänomene am Teilchenbeschleuniger


zu finden, müssen Physiker genaue Wahrscheinlich­
keiten für die Zusammenstöße und Reaktionen kennen.

2 Weil die dafür nötigen Berechnungen extrem kompliziert


sind, nutzen so genannte Amplitudenforscher aktuelle
Fortschritte aus der Mathematik.

3 Dadurch können Physiker nun mit der Präzision des LHC


mithalten. Sie hoffen, Abweichungen von gängigen
Theorien zu finden und so endlich die neuartigen Teil­
chen aufzuspüren, die sie schon lange erwarten.

14
2007-2009 CERN

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü

Der Large Hadron Collider (LHC) in Genf ist die größte Dazu wühlen sie sich jährlich durch 30 Petabyte an
Maschine, die die Menschheit je gebaut hat. Die dort Daten, die während der Experimente entstehen. Sie suchen
beschleunigten Protonen sind nur um ein millionstel nach winzigen Abweichungen zu den gängigen Theorien,
Prozent langsamer als das Licht. Prallen die Teilchen bei was auf neue physikalische Phänomene hindeuten würde.
dieser Schwindel erregenden Geschwindigkeit aufeinander, Dazu muss man natürlich wissen, was das Standardmodell
explodieren sie regelrecht: Sie zerfallen in ihre Bestandteile, genau vorhersagt.
Quarks und Gluonen, die sich anschließend zu neuen Da kommen Theoretiker wie ich ins Spiel. Physiker
Teilchen zusammenfügen. können durch ihre Versuche nur Fragen beantworten, die
Auf diese Weise kamen die Wissenschaftler am CERN mit Wahrscheinlichkeiten zu tun haben. Zum Beispiel: Wie
2012 zu ihrem bislang bedeutendsten Ergebnis. Sie wiesen groß ist die Chance, dass zwei Protonen aufeinanderpral­
das lang ersehnte Higgs-Boson nach, das letzte fehlende len? Wie häufig entsteht dabei ein Higgs-Boson? Dafür
Teilchen im Standardmodell der Teilchenphysik. Physiker brauchen sie so genannte Streuamplituden. Die Formeln
hoffen allerdings, dass der LHC bald etwas wirklich Neues dafür geben an, wie wahrscheinlich es ist, dass Teilchen
findet: bisher unbekannte Partikel, die zum Beispiel das aneinander abprallen (»streuen«). Ich gehöre zu einer Grup­
Geheimnis der Dunklen Materie lüften oder Lösungen für pe von Forschern, die versuchen, die aufwändigen Berech­
andere offene Fragen bieten. nungen zu vereinfachen oder überhaupt erst zu ermögli­
chen. Wir nennen uns daher auch »Amplitudenforscher«.
Unser Feld geht auf eine 1986 erschienene Arbeit der
Physiker Stephen Parke und Tomasz Taylor zurück, die
damals zusammen am Fermilab in Illinois arbeiteten. Es
gelang ihnen zu der Zeit, die Kollision von beliebig vielen
Gluonen durch eine einzige Formel zu beschreiben. Um
solche komplizierten Streuprozesse zu berechnen, musste
man sich zuvor mit seitenlangen Einzelfallbetrachtungen
herumplagen. Als in den nächsten 20 Jahren eine Reihe
neuer Methoden die schwierigen Gleichungen weiter
verkürzte, blühte die Amplitudenforschung endgültig auf.
Inzwischen boomt unser Fachgebiet: Die Konferenz »Ampli­
tudes 2018« zählte 160 Teilnehmer, 100 junge Forscher
besuchten zudem den davor stattfindenden einwöchigen
Kurs. Selbst in einer Folge der beliebten Fernsehserie »The
Big Bang Theory« erzählt der Sonderling Sheldon Cooper,
dass er sich in der Amplitudenforschung versucht habe.
In den letzten Jahren haben wir enorme Fortschritte
gemacht. Unsere Ergebnisse sind inzwischen so detailliert,
dass sie mit der wachsenden Präzision des LHC mithalten.
Damit können wir selbst kleinste Unterschiede zwischen
den Vorhersagen des Standardmodells und der Realität
erkennen und sind dadurch endlich in der Lage, nach
Spuren von mysteriösen Teilchen zu suchen, von denen
Physiker schon so lange träumen.

Diagramme aus Linien und Schleifen


Doch wie berechnet man Streuamplituden? Üblicherweise
nutzen Wissenschaftler dafür so genannte Feynman-­
Diagramme, welche die extrem langen Formeln übersichtli­
cher gestalten. Diese 1948 vom berühmten Physiker Ri­
chard Feynman entwickelten Zeichnungen symbolisieren
die möglichen Pfade, auf denen sich Teilchen während
eines Streuprozesses bewegen können.
Angenommen, man möchte die Wahrscheinlichkeit
dafür berechnen, dass sich zwei Gluonen zu einem Higgs-
In Teilchenbeschleuni- Boson verbinden. Dann zeichnet man zuerst die Pfade aller
gern prallen Partikel involvierten Teilchen: links zwei Eingangslinien für die
mit aberwitzigen Gluonen und rechts eine Ausgangslinie für das entstehende
Geschwindigkeiten Higgs-Boson. Diese Pfade muss man anschließend nach
aufeinander und den Regeln des Standardmodells miteinander verbinden.
­verbinden sich zu Die Theorie erlaubt es allerdings nicht, sie einfach zusam­
neuen Teilchen. menzufügen, da aus zwei Gluonen niemals direkt ein Higgs-

15
2007-2009 CERN

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Boson entsteht. Der Prozess kann aber über einen Umweg Doch glücklicherweise gibt es einen Ausweg: Wegen der
stattfinden. Die Gluonen können beispielsweise zu jeweils geringen Stärke der quantenmechanischen Kräfte muss
einem Quark-Antiquark-Paar zerfallen, aus denen schließ­ man meist nur wenige Diagramme tatsächlich ausrechnen.
lich ein Higgs-Boson hervorgeht. Zeichnet man die Quark- Wenn Teilchen miteinander wechselwirken, verbindet man
Pfade in das Diagramm, bilden sie eine Schleife (siehe ihre Linien im Feynman-Diagramm. Das betreffende Inte­
»Feynman-­Diagramm«, S. 17). Ein Teilchen, das sich in einer gral multipliziert man dann mit der Stärke dieser Wechsel­
solchen Schleife bewegt, heißt »virtuell«. Denn es hat wirkung. Für Elektrizität und Magnetismus ist der Wert
weder einen Ursprung noch ein Ende: Seine Eigenschaften beispielsweise sehr klein: Für jede Schleife, die einen zu­
können niemals in einem Experiment gemessen werden. sätzlichen Verbindungspunkt schafft, teilt man das Ergeb­
Um die Wahrscheinlichkeit dafür zu berechnen, dass nis durch etwa 137. Je mehr Schleifen ein Diagramm also
zwei Gluonen zu virtuellen Quarks zerfallen und ein Higgs- hat, desto kleiner wird sein Beitrag – bis Experimente ihn
Boson entsteht, braucht man nicht bloß die Energie und schließlich nicht mehr auflösen können.
Geschwindigkeiten der echten Teilchen, sondern auch die Die genauesten Experimente in den Naturwissenschaf­
der virtuellen Quarks. Aber woher soll man wissen, wie ten sind solche, die elektromagnetische Eigenschaften
schnell sie sind und welche Energie sie haben? Tatsächlich unter­suchen. Wissenschaftler können ihre Ergebnisse auf
gibt es darauf keine eindeutige Antwort. Diese Unschärfe bis zu zehn Dezimalstellen exakt messen. Um auf theoreti­
taucht überall in der Quantenmechanik auf. So kann man scher Seite so weit zu kommen, braucht es »nur« vier
zum Beispiel nicht den Ort und den Impuls eines Teilchens Schleifen, das heißt vier Faktoren von 1/137. In einigen Fällen
gleichzeitig genau bestimmen. Die Quantenmechanik lehrt haben Forscher diese Werte berechnet, und alle zehn
uns aber auch, wie man mit dieser Ungewissheit umgeht: Dezimalstellen stimmen mit den Laborergebnissen überein.
Man muss jede einzelne Möglichkeit in Betracht ziehen und Die starke Kernkraft, die Quarks unter anderem zu Proto­
die jeweiligen Wahrscheinlichkeiten dafür aufsummieren. nen und Neutronen zusammenklebt, ist da schon kompli­
In unserem Fall müssen wir das für alle möglichen Ge­ zierter. Für die Prozesse am LHC bedeutet jede Schleife,
schwindigkeiten und Energien der virtuellen Quarks tun. dass man die Integrale durch zehn teilen muss. Um eine
Das funktioniert am besten mit einem Integral. Präzision von zehn Dezimalstellen zu erreichen, bräuchte
Damit ist man jedoch noch nicht fertig. Um die Streu­ man also zehn Schleifen.
amplitude dafür zu berechnen, dass aus der Kollision zweier
Gluonen ein Higgs-Boson entsteht, muss man weiter ge­ Zwei Schleifen für die starke
hen. Denn bevor sich die virtuellen Teilchen zu einem Wechselwirkung
Higgs-Boson verbinden, könnten sie in virtuelle Gluonen Allerdings ist der LHC bei Weitem nicht so exakt wie die
zerfallen, die wieder in virtuelle Quark-Antiquark-Paare Experimente zum Elektromagnetismus. Der Beschleuniger
zerfallen, und so weiter. Um die gesamte Streuamplitude erreicht gerade einmal eine Genauigkeit von zwei bis drei
zu berechnen, braucht man jedes mögliche Feynman-­ Schleifen. Für die starke Kernkraft sind solche Formeln
Diagramm, das die realen Teilchen nach den Regeln des bereits so schwierig, dass man sie ohne Vereinfachungen
Standardmodells verbindet. Das sind unendlich viele: Man meist nicht berechnen kann. Diese Erfahrung machten 2010
kann immer mehr Schleifen hinzufügen, wodurch zusätz­ Vittorio Del Duca, heute an der ETH Zürich, Claude Duhr,
liche und kompliziertere Integrale entstehen. der damals an der University of Durham arbeitete, und
Vladimir Smirnov von der Staatlichen Universität Moskau.
Sie wollten wissen, wie wahrscheinlich es ist, dass zwei
Gluonen am LHC kollidieren und dabei vier Gluonen heraus­
kommen. Selbst mit einer vereinfachten Theorie und
Kurz erklärt: Polynomiale ­einigen trickreichen Abkürzungen füllt ihre Zwei-Schleifen-­
und algebraische Gleichungen Formel 17 Seiten mit komplizierten Integralen. Das ver­
wunderte damals niemanden; jeder wusste, dass solche
Eine polynomiale Gleichung summiert die Viel­ Be­rechnungen extrem schwierig sind.
fachen ai von Potenzen einer Variablen x, zum Einige Monate später kam die große Überraschung. Die
Beispiel: f(x) = a₁ x + a₂ x2 + … + an xn . Eine algeb­ Physiker Marcus Spradlin, Cristian Vergu, Anastasia Volo­
raische Zahl löst stets eine polynomiale Gleichung vich und der Mathematiker Alexander B. Goncharov, da­
mit ganzzahligen Koeffizienten ai. Algebraische mals alle an der Brown University in Rhode Island, stellten
Gleichungen sind dagegen vielfältiger. Im strengen die gleiche Gluonenkollision in bloß zwei Zeilen dar. Dafür
mathematischen Sinn sind sie Lösungen einer nutzten sie einen mathematischen Trick, der den meisten
polynomialen Gleichung. Häufig lassen sie sich Amplitudenforschern bis dahin nicht bekannt war.
daher als Multiplikation, Division, Summe oder Zeigt man einem Mathematiker ein Integral, das sich aus
Differenz von Polynomen darstellen. Feynman-­ einem Feynman-Diagramm ergibt, wird er als Erstes sagen:
Diagramme führen immer zu Integralen über eine »Das ist eine Periode.« Perioden sind eine abstrakte Art von
algebraische Gleichung, weshalb ihre Lösung Zahlen. Die wohl einfachsten Zahlen sind die natürlichen,
eine Periode ist. gefolgt von den rationalen Zahlen. Irrationale Zahlen sind
schon komplizierter, denn sie lassen sich nicht mehr als
Quotient zweier ganzzahliger Zahlen darstellen. Ein Beispiel

16 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Feynman-Diagramm: Schleifen innerhalb
Zwei Gluonen rein, ein Higgs-Boson raus von Schleifen

Selbst wenn man die Energien


JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

der Gluonen kennt …


… und weiß, wie schnell virtuelles
Teilchen
das Higgs-Boson ist,

Higgs-Boson

Gluonen

… weiß man noch


nichts über die
Quark
Quark-Antiquark-
Schleife.
Daher muss man alle Möglichkeiten in
einem Integral aufsummieren.

dafür ist die Wurzel aus zwei. Anders als π zählt sie zu den
»algebraischenyZahlen«: Sie ist die Lösung einer polynomia­
len Gleichung mit ganzzahligen Koeffizienten (siehe »Kurz
erklärt«, links), in diesem Fall x2 = 2. Perioden sind Zahlen,
die keine solche Gleichung erfüllen müssen. Dafür kann
man sie aber immer durch ein Integral über eine algebrai­
b
sche Funktion berechnen. ∫
Integral: Area =a f(x) dx
Die meisten Menschen verstehen unter Perioden etwas
Zwei-Schleifen-
anderes. Tatsächlich tragen die seltsamen Zahlen x nicht
zufällig diesen Namen. a Im einfachsten
b Fall beschreiben sie
Beispiel: Zwei
tatsächlich die kürzeste Distanz, bis sich etwas wiederholt. Gluonen rein, vier
Um das zu verstehen, helfen der Cosinus und der Sinus. Gluonen raus
Man kann sie mit imaginären Zahlen (Wurzeln negativer
Zahlen) verbinden, indem man die eulersche Formel ver­
wendet: eix = cos(x) + i sin(x), wobei e die eulersche Zahl ist
und i die Quadratwurzel aus minus eins. Alle drei Funktio­
nen, sin(x), cos(x) und eix, haben die Periode 2π: Wenn x Gluonen
von 0 auf 2π steigt und dann weiter anwächst, wiederholen
sich die jeweiligen Funktionswerte.
Die Zahl 2π löst zwar keine algebraische Gleichung, lässt Schleifen
sich aber durch ein Integral berechnen. Zeichnet man ein
Diagramm
y von eix in der komplexen Ebene, mit den imagi­
nären Zahlen auf einer Achse und den reellen Werten auf
der anderen, dann bildet die Funktion einen Kreis mit Radius
eins (siehe »Visualisierung der eulerschen Formel«, S. 18). Im Allgemeinen können Perioden allerdings viel kompli­
Indem man jedes Liniensegment des Kreises b
mit Hilfe eines zierter sein als die beiden Beispiele. In den letzten 25 Jah­
Integrals addiert, erhält manIntegral:
seinenArea =a ∫ f(x)
Umfang, dx
nämlich 2π. ren haben Physiker eine Schwindel erregende Anzahl
Doch was passiert, wenn man nur die x Länge eines exotischer Zahlen gefunden (siehe Spektrum August 2017,
Bogenstücks a bis zu einem
b gewissen Punkt z berechnen S. 66), als sie die Integrale von Feynman-Diagrammen
möchte? In diesem Fall muss man die Gleichung z = eix berechneten. Erstaunlicherweise lassen sich viele solcher Euler
nach der Variablen x auflösen, die der gesuchten Bogen­ ­Perioden in Logarithmen zerlegen.
länge entspricht. Dafür braucht man den natürlichen Loga­ Diese Eigenschaft nutzte Goncharov 2010, wodurch er
rithmus ln(z). Das gleiche Ergebnis erhält man, wenn man mit seinem Team das 17-seitige Durcheinander von
die einzelnen Liniensegmente des Kreises bis zum Punkt z
aufsummiert. Die Lösung des Integrals ist also ein Loga­
Del Duca und dessen Kollegen durch eine Art Alphabet aus
Logarithmen ausdrücken konnte. Das Alphabet gehorcht
e
rithmus – daher sind Logarithmen Perioden, auch wenn sie einer eigenen Grammatik, die auf logarithmischen Rechen­
im Gegensatz zu 2π nicht danach aussehen. regeln basiert, wie ln(xy) = ln(x) + ln(y) oder ln(xn) = n ln(x).

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 17


ü
=

Visualisierung der eulerschen Formel

JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Mit Goncharovs Trick lässt sich das komplizierte
Integral eines Feynman-Diagramms …

e ix = cosinus (x) + i sinus (x)


A C B AIntegral:DFlächeE=∫ f(x). .dx.
=

imaginäre Zahlen
e ix
=

sinus ( x)
ln (AB) = ln (A) + ln(B)
=
… durch einfache Buchstaben ausdrücken,
die sich wie Logarithmen verhalten.
reelle Zahlen
A C B A D E ... =

cosinus (x) A C B =A D E . . .
C F A BAE CD =B CA=F ln EE +. D
DA(A) .ln(B)
.+ C F B E D
ln (AB)
Die Buchstaben gehorchen einer »Grammatik«,
A C B A= ln D(A)E +. .ln(B)
.
die auf den Rechenregeln für Logarithmen basiert.
ln (AB)
C F Alog
natürlicher A
B E
C CB F A
Dln= (AB) A
E ... B E
DD(A)
= Eln + C+ Fln(B) D
n
eine
Peri C F A B E Dln= (AB)
ln(C ) = n ln(C)
= ElnD(A)
C F A + C+ Fln(B)
B E D

o de ( Zum Beispiel ist der log von A mal B gleich
2π),
Zeit C F A B dem
E Dlog ln
= von(AB)
) ==nln (A)
C nAF plus
ln(C A dem + ln(B)
E •Dlog+von
ln(C) C B.F B E D

C F A B E D = C nF A E •D + C F B E D
ln(C ) = n ln(C)
C F AB E D = C nF A E D + C F B E D
D A Cn B ln(C ) = n ln(C)
A = n• • D A C B A
Und der log von C hoch n entspricht n mal
D A Cn B A = n • vonDC. A C B A
dem
n log
ln(C ) = n • ln(C)
D A C n B A n= n
ln(C ) = n D•• ln(C)
•A C B A

Zeit D A Cn B A = n • D A C B A
Nach diesen Regeln können wir die Wörter
für Feynman-Diagramme umschreiben.
D A Cn B A = n • D A C B A
D A Cn B A = n •
• D A C B A

Zusammengefasst bedeutet das: Physiker berechnen die Antwort. Bestimmte Wörter kann man sofort aussor­
Streuamplituden mit Feynman-Diagrammen, die Integrale tieren, weil sie Teilchen beschreiben, die es nicht gibt, oder
erfordern. Diese Integrale sind wiederum Perioden, die man Diagramme repräsentieren, die unmöglich zu zeichnen
oftmals in einfachere Logarithmen zerlegen kann. Dadurch wären. Andere Ergebnisse erklären wiederum Dinge, die
ist es möglich, die Integrale durch Buchstaben auszudrü­ wir bereits wissen. Auf sie kann man ebenso verzichten.
cken, die logarithmischen Rechenregeln folgen. Am Ende bleibt von den Millionen Wörtern nur noch eine
Goncharovs Trick wäre aber nicht annähernd so beein­ einzige Antwort übrig, die der gesuchten Streuamplitude
druckend, wenn er bloß Platz sparen würde. Kennt man das entspricht.
richtige Alphabet, kann man die Feynman-Diagramme Lance J. Dixon, heute am Stanford Linear Accelerator
komplett überspringen und die Formel einer Streuamplitude Center, und James M. Drummond von der University of
einfach erraten. Das erleichtert nicht nur die Arbeit der Southampton nutzten diese Methode 2011 zusammen mit
Physiker, sondern macht einige Berechnungen überhaupt Johannes Henn, damals an der Humboldt-Universität zu
erst möglich. Berlin und inzwischen am Max-Planck-Institut für Physik in
Die Buchstaben muss man dafür wie bei Scrabble so München, um das richtige »Wort« für eine Drei-Schleifen-­
anordnen, dass ein sinnvolles »Wort« entsteht. In unserem L E T HBerechnung
N I E C zu finden. Als ich zwei Jahre später während
Fall ist es sogar etwas einfacher, da wir bereits wissen, wie meiner Doktorarbeit an der Stony Brook University auf
M
L ESTOHLong
RNUI EHCI A G L T
lang das gesuchte Wort sein soll. Wenn man faul ist, kann Island von ihrer Forschung erfuhr, entschied ich mich,
man einen Computer die Buchstaben in jeder möglichen N
M R E E C
L ESTOHRNUI E
den B HCI A GI H
L
WinterS E
über TG U
Lmit Dixon an der Stanford University zu
Reihenfolge aufschreiben lassen und diese Liste nach einer arbeiten. Wir wollten herausfinden, wie das Drei-Schleifen-
Lösung durchsuchen.
N
L ERSTEOH
M ERNCUB
IEHLCIS
Ergebnis AEGI H
L TGwenn
aussieht,
U man alle Buchstaben detailliert in
Die Liste kann jedoch ziemlich lang sein. Glücklicher­N R E E CUB
M RN IEHLCIS
L ESTOHIntegrale AEGI H
L TG Uum es dann mit der Zwei-Schleifen-
umschreibt,
weise gibt uns das Standardmodell weitere Hinweise auf
L E TM
NH NERCIUEBHC
Berechnung von Del Duca und seinen Kollegen zu verglei­
RSEO LISAEGI H
L TG U
18 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20
ü
M SNORR E EUCH B LI S
AEGI HLGTU

NREECBLSEIHGU
um jeweils einen der beiden Kreise, erhält man einen Loga­
rithmus. Doch auf dem Torus zeichnen sich nicht bloß
Elliptisches Integral um einen Torus
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2019; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Kreise, sondern auch Ellipsen ab. Möchte man die Bogen­


länge einer solchen »elliptischen Kurve« berechnen, fällt
erste zweite das Ergebnis wesentlich komplizierter aus als ein Logarith­
Periode Periode mus (siehe »Elliptisches Integral um einen Torus«, links).
Elliptische Kurven tauchen bei vielen mathematischen
Problemen auf. Manche davon sind so schwer zu lösen,
dass beispielsweise die National Security Agency sie nutzt,
um geheime Informationen zu codieren. Unsere Probleme
sind zwar nicht ganz so hartnäckig, aber trotzdem knifflig.
elliptisches
Integral Mit zunehmender Präzision des LHC werden auch ellipti­
sche Integrale immer wichtiger. Wegen verschiedener
technischer Aufrüstungen pausiert der Teilchenbeschleuni­
Auf einem Torus gibt es zwei unterschiedliche Perioden ger zwar seit Ende 2018, die Forscher müssen jedoch noch
(rot und blau), deren jeweilige Durchmesser durch ein etliche Daten untersuchen, bevor er 2021 wieder in Betrieb
einfaches Integral berechenbar sind. Möchte man geht. Dann wird der LHC zehnmal mehr Kollisionen produ­
dagegen die Bogenlänge einer Ellipse (gelb) berechnen, zieren als zuvor. Das spornt Wissenschaftler auf der ganzen
ergibt sich ein kompliziertes elliptisches Integral. Welt an, sich mit elliptischen Integralen zu befassen – und
sie haben schon erhebliche Fortschritte erzielt.
Insgesamt entwickelt sich unser Forschungsgebiet
rasend schnell. Im Winter 2017 habe ich mich zwei Wochen
chen. Die zusätzliche Schleife führt dazu, dass sich die lang mit meinen Kollegen Andrew J. McLeod, Jacob L.
Formel nicht über 17, sondern über mehr als 800 Seiten Bourjaily, Matthias Wilhelm und Spradlin in der Princeton
erstreckt. University eingesperrt, um einen unserer Entwürfe so rasch
Inzwischen haben sich weitere Wissenschaftler unserem wie möglich fertig zu stellen. In der kurzen Zeit konnten wir
Team angeschlossen, um noch mehr Feynman-Diagramme eine vollständige Veröffentlichung ausarbeiten, in der wir
miteinzubeziehen. Wir knabbern nun schon an sieben eine Streuamplitude mit elliptischen Integralen berechnet
Schleifen, und ich weiß nicht, wie viele Seiten die neuen haben. So schnell habe ich noch nie ein Paper geschrieben!
Formeln benötigen, wenn man sie wirklich ausschreibt. Bei Und dennoch befürchteten wir die ganze Zeit über, dass
diesen komplizierten Fällen reicht nicht einmal mehr Gon­ uns eine andere Gruppe zuvorkommen könnte.
charovs Methode aus, um die Ergebnisse ausreichend zu Kurz darauf erhielten wir ein vorzeitiges Weihnachts­
vereinfachen. Daher speichern wir sie in Computerdateien, geschenk: Lorenzo Tancredi vom CERN und seine Kollegen
die so groß sind, dass man meinen könnte, es handle sich fan­den einen einfacheren Weg, um mit den elliptischen
um Videos und nicht um Text. Doch ohne Goncharovs Trick Inte­gralen zurechtzukommen, indem sie sich auf eine frühe­
wären solche detaillierten Berechnungen gar nicht möglich. re Arbeit der Mathematiker Francis Brown von der University
of Oxford und Andrey Levin von der Higher School of Econo­
Verkeilte Integrale mics in Moskau bezogen. Zusammen mit einer späteren
Je mehr Schleifen wir berücksichtigen, desto genauer wird Veröffentlichung von Brenda Penante vom CERN lieferte
unsere Vorhersage. Wozu braucht man aber so viele davon? uns das das fehlende Puzzlestück: ein Alphabet »elliptischer
Der LHC erreicht bloß die Genauigkeit von zwei oder drei Buchstaben«.
Schleifen. Mit unseren Ergebnissen wären wir sogar präzi­ Mit diesem Werkzeug können wir Goncharovs Trick nun
ser als der aktuelle Stand des Elektro­mag­ne­tis­mus. Aller­ auch auf komplexere Integrale anwenden. Damit fangen
dings hat die Sache einen Haken: In den Sieben-­Schleifen- wir langsam an, Zwei-Schleifen-Amplituden in der realen
Berechnungen verwenden wir ein vereinfachtes Modell Welt zu verstehen statt bloß im vereinfachten Modell.
unserer Welt, in dem die quantenmechanischen Wechsel­ Unsere Vorhersagen können wir bald mit den Daten des
wirkungen weniger kompliziert sind. Eine der schönsten LHC vergleichen. Falls sie nicht übereinstimmen, hätten wir
Eigenschaften des Modells ist, dass Goncharovs Trick erstmals einen Hinweis darauf, dass etwas wirklich Neues
immer funktioniert: Wir können die Integrale stets in ein vor sich geht. 
Alphabet von Logarithmen zerlegen.
In der realen Welt stößt diese Taktik aber schon bei zwei
Schleifen auf Probleme. Denn die Integrale können sich QUELLEN
»verfangen«, so dass man sie nicht voneinander trennen Bourjaily, J. L. et al.: Elliptic double-box integrals: massless
kann. Solche »elliptischen Integrale« stellen uns vor große scattering amplitudes beyond polylogarithms. Physical Review
Letters 120, 2018
Herausforderungen. Man kann sich das Phänomen wie bei
zwei Ringen vorstellen, die sich nicht auseinanderziehen Dixon, L. J. et al.: Bootstrapping six-gluon scattering in planar
lassen. Bewegt man den einen Ring um den anderen, N=4 super-Yang-Mills theory. ArXiv 1407.4724, 2014
zeichnet sich eine donutförmige Fläche (»Torus«) ab, die Goncharov, A. B. et al.: Classical polylogarithms for amplitudes
gewissermaßen zwei separate Perioden hat: Integriert man and Wilson loops. Physical Review Letters 105, 2010

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 19


ü
STABILITÄT
WELCHER KNOTEN
HÄLT AM BESTEN?
Schon wieder ist der Schnürsenkel offen! Aber
warum? Forscher haben nun eine simple
Methode gefunden, um die Stabilität der gän­
gigsten Knoten zu überprüfen – ganz ohne
aufwändige Berechnungen oder Simulationen.

Manon Bischoff ist theoretische


Physikerin und Redakteurin bei
»Spektrum der Wissenschaft«.

 spektrum.de/artikel/1725080


Die mathematische Forschung gilt als abstrakt und Umso erstaunlicher ist es, dass diese allgegenwärtigen
lebensfern. Das Gebiet der Knotentheorie bildet da eine Strukturen noch immer etliche Rätsel bergen. Beispiels­
seltene Ausnahme. Knoten begegnen uns ständig, sei weise ähnelt ein Altweiberknoten, mit dem man Schnürsen­
es in gewebten Stoffen, beim Schnüren von Schuhen oder kel bindet, dem weniger geläufigen Kreuzknoten. Wie die
beim Bergsteigen. Inzwischen gehen Wissenschaftler Erfahrung und Experimente zeigen, ist Letzterer wesentlich
PETERSCHREIBER.MEDIA / STOCK.ADOBE.COM

davon aus, dass Menschen schon vor einer halben Million robuster – allerdings gab es bislang kein einfaches theo­
Jahren Knoten bildeten – lange bevor das Rad erfunden retisches Modell, welches das erklärt. Das hat der Mathe­
wurde. Und sogar einige Affen, darunter Gorillas, verknoten matiker Vishal Patil vom Massachusetts Institute of Techno­
nachweislich Gräser, wenn sie ihre Nester bauen. logy zusammen mit seinen Kollegen nun geändert.

20 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
AUF EINEN BLICK
DIE SCHLINGE ZIEHT SICH ZU

1 Zwar untersuchen Forscher schon seit Jahrhunderten


verschieden Knotenarten, doch sie können noch nicht
erklären, warum manche besser halten als andere.

Es gibt etliche verschiedene


Knoten. Mathematiker be­ 2 Um das zu ändern, haben Wissenschaftler nun Me­
thoden aus der Elastizitätstheorie und Topologie vereint
und damit die gängigsten Knoten analysiert.
schäftigt vor allem die Frage,
wie man beurteilen kann,
ob zwei Knoten gleich sind.
3 Sie entwickelten ein einfaches Verfahren, das die S ­ ta-
PETERSCHREIBER.MEDIA / STOCK.ADOBE.COM

bilität vieler Knoten beurteilt. Unter anderem zeigt


Ein allgemeines Rezept
es, welche Schlinge sich am besten eignet, um Schuhe
fehlt ihnen bisher noch. zuzuschnüren.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 21


ü
In der Anfang Januar 2020 im Fachmagazin »Science«
erschienenen Arbeit identifizierten die Forscher drei leicht

TRACED BY STANNERED (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:UNKNOTS.SVG)


zu bestimmende Merkmale, anhand derer sich beurteilen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: AXELBOLDT AT ENGLISH WIKIPEDIA,


lässt, wie stabil geläufige Knoten sind. Patil und sein Team
bestätigten ihre theoretischen Ergebnisse anschließend
durch Computersimulationen und Laborexperimente. Damit
haben Wissenschaftler nun endlich eine einfache Methode
zur Hand, die erklärt, warum manche Knoten besser halten
als andere.
Der erste schriftliche Nachweis, der verschiedene Kno­
ten beschreibt, findet sich im »Iatrikon Synagogus«, einer
medizinischen Abhandlung aus dem 4. Jahrhundert n. Chr.
Danach tauchten Knoten erst wieder im 18. Jahrhundert
vermehrt in wissenschaftlichen Texten auf. Das lag vor Beide Diagramme entsprechen dem
allem daran, dass es damals viele Seefahrer gab, die sich gleichen Knoten – oder besser gesagt:
über die nützlichsten Versionen austauschten. dem gleichen Nichtknoten.
Damit erwachte das Interesse der Mathematiker. Carl
Friedrich Gauß war 1794 einer der Ersten, der das Thema
aufgriff, als er den Elektromagnetismus studierte und man sie ineinander verformen kann, ohne dabei Löcher in
mögliche Formen der Feldlinien beschreiben wollte. Es sie zu reißen. Topologisch gesehen ist eine Tasse daher
waren aber vorrangig seine Schüler, die das Gebiet voran­ nicht von einem Donut unterscheidbar, denn man kann sie
brachten. Mangels anderer Darstellungsmöglichkeiten problemlos ineinander umwandeln, wobei der Henkel der
projizierten sie die dreidimensionalen Gebilde auf eine Tasse zum Loch des Gebäcks wird.
Ebene, wodurch ein Bild verschlungener Kurven entstand, Als Knoten immer weiter in den wissenschaftlichen
ein so genanntes Knotendiagramm. Fokus rückten, fingen auch Topologen an, sich mit ihnen zu
Das Problem dabei: Die Diagramme sind nicht eindeutig. beschäftigen – und wandten dabei die ihnen vertrauten
Ein und derselbe Knoten kann verschiedene zweidimensio­ Regeln an: Kann man einen Knoten durch bloßes Ziehen
nale Darstellungen haben, abhängig davon, wie man die und Lockern zu einem anderen verformen, ohne eine
Projektionsebene wählt. Zwei völlig unterschiedliche Dia­ Schnur zu zerschneiden, dann sind sie gleich. Dadurch wird
gramme können daher das gleiche Objekt beschreiben. ersichtlich, warum sich Topologen nicht für Strukturen mit
Mathematiker versuchten daraufhin Methoden zu entwi­ offenen Enden interessieren. Denn in einem solchen Fall,
ckeln, um äquivalente Knotendiagramme zu identifizieren. etwa bei Schnürsenkeln, lässt sich ein Knoten immer lösen;
Sie wollten dadurch alle möglichen Knoten klassifizieren, er ist dadurch identisch zu einem Nichtknoten.
beginnend mit dem einfachsten hin zu immer komplizierte­
ren Strukturen – ein ehrgeiziges Ziel, von dem sie auch Welcher Knoten ist überhaupt ein richtiger
heute noch weit entfernt sind. Knoten?
Um zu verstehen, warum sich das so komplex gestaltet, Mathematiker konzentrierten sich deshalb zunächst auf
muss man wissen, dass sich mathematische Knoten von »richtige« Knoten, die wenig mit denen aus unserem Alltag
denen unterscheiden, die uns im Alltag begegnen. Möchte zu tun haben. Um sie zu klassifizieren, gingen sie wie in der
man etwa zwei Seile aneinanderbinden, hat man zwei Topologie üblich vor. Sie suchten nach so genannten Invari­
Schnüre zur Verfügung, die man umeinanderwindet und anten, die ein Objekt charakterisieren und erlaubte Verfor­
festzieht. Mathematische Knoten sind dagegen immer mungen unverändert überstehen. Bei zweidimensionalen
geschlossen: Sie bestehen aus einer einzigen, mit sich Oberflächen ist die Anzahl der Löcher eine solche Invarian­
selbst verbundenen Schnur. te, wie das Beispiel der Tasse und des Donuts zeigt. Es
Grund dafür ist die Topologie. In diesem abstrakten erwies sich jedoch als schwierig, eine vergleichbare Größe
mathematischen Bereich sortieren Forscher die betreffen­ für Knoten zu finden.
den Objekte nach ihren groben Eigenschaften. Für Topo­ Am naheliegendsten ist es, sie nach der Anzahl gekreuz­
logen sind beispielsweise zwei Figuren identisch, wenn ter Schnüre einzuteilen. Allerdings lässt sich die Zahl der
so genannten Kreuzungen nur schwer aus einem Diagramm
bestimmen. Denn es können mal mehr oder mal weniger
Kreuzungen zu sehen sein, je nachdem, wie genau man
einen Knoten abbildet. Glücklicherweise besitzt jeder Kno­-
Mehr Wissen auf ten eine Mindestzahl an Kreuzungen. Unabhängig davon,
Spektrum.de wie man ihn auf eine Ebene projiziert, tauchen niemals
weniger auf. Bei komplizierten Objekten ist es jedoch
Unser Online-Dossier zum Thema
äußerst schwer, die Darstellung mit der kleinsten Anzahl an
finden Sie unter
spektrum.de/t/topologie Kreuzungen zu finden.
MATJAZ SLANIC / GETTY IMAGES
/ ISTOCK Inzwischen wissen Mathematiker, dass es keine Knoten
mit nur einer oder zwei Kreuzungen gibt. Es existieren aber

22 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
je eine Art von Knoten mit drei und vier Kreuzungen, zwei Um die zweidimensionalen Diagramme von Zöpfen
mit fünf, drei mit sechs, sieben mit sieben Kreuzungen und zu vereinfachen, identifizierte der deutsche Mathematiker
so weiter. Die Anzahl der topologisch verschiedenen Kno­ Kurt Reidemeister in den 1930er Jahren drei nach ihm
ten wächst rasant an, es gibt beispielsweise 1 388 705  Kno­ benannte Bewegungen, die eine bestimmte Struktur nicht
ten mit 16 Kreuzungen. Wie diese Folge weitergeht, ist verändern (siehe Abbildung S. 24). Außerhalb der abstrak­
noch unklar, man weiß nicht, wie viele unterschiedliche ten Welt der Topologie stimmt das allerdings so nicht ganz.
Struk­turen es mit 17 oder mehr Kreuzungen gibt. Man geht Berücksichtigt man etwa die mechanischen Eigenschaften
aber davon aus, dass die Zahlen stetig weiterwachsen. Bis eines Knotens (oder Zopfes), erzeugt die erste Reidemeister-­
heute sind Mathematiker noch weit von einer Methode Bewegung zum Beispiel Spannungen in einem Strang.
entfernt, die alle Knoten kategorisiert. Möchte man daher beurteilen, ob ein in der Seefahrt ge­
Daher entwickelten Wissenschaftler Mitte des 20. Jahr­ nutzter Knoten stabil ist, genügt es nicht, bloß topologische
hunderts neue Ansätze, um sich dem Problem zu widmen. Prinzipien zu betrachten. Man muss unter anderem auch
Der englische Mathematiker John Horton Conway war Konzepte aus der Elastizitätstheorie miteinbeziehen. Doch
einer der Ersten, der vorschlug, Knoten in kleinere Bestand­ wie geht man dabei vor, ohne sich in extrem komplizierten
teile zu zerlegen und diese zu studieren. Die Segmente, für Berechnungen zu verlieren?
die er sich interessierte, enthielten vier freie Enden, die so Patil und seine Kollegen fanden eine einfache Möglich­
miteinander verwoben sind, wie bei den uns geläufigen keit, um topologische Knotendiagramme mit mechanischen
Knoten. Diese Objekte heißen in der Fachsprache Zöpfe. In Informationen zu verbinden. In ihrer Arbeit untersuchten sie
der Seefahrt oder beim Klettern nutzt man also streng den spezifischen Fall zweier Seile, die man durch einen
genommen keine Knoten, sondern zwei Stränge, die einen Knoten zu einem längeren verknüpft. Mathematisch gese­
Zopf bilden. hen entspricht das einem Zopf aus zwei Strängen mit vier
offenen Enden. Die Forscher wollten herausfinden, ob sich
ein Knoten festigt, wenn man an zwei der losen Enden
Mathematiker arbeiten an einer vollstän­digen Liste topo­ zieht – und wenn ja, wie viel er aushält. Daher suchten sie
logisch unterschiedlicher Knoten. Die Zahl bezeichnet zuerst nach den Mechanismen, die einen Knoten beim
die Anzahl der Kreuzungen, der Index nummeriert sie. Zuziehen stabilisieren.

kein Knoten 31 41 51 52
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: JKASD (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:KNOT_TABLE.SVG)

61 62 63 71 72

73 74 75 76 77

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 23


ü
An jedem Punkt, an dem sich zwei Stränge kreuzen,
entsteht Reibung, die eine Rollbewegung verursacht. Wenn
ein Strang bei jeder Kreuzung in die gleiche Richtung ver­
dreht wird, kann er wegrollen. Unterscheiden sich die
Drehrichtungen dagegen, ist das System robust, und der
Knoten lässt sich schlechter lösen. Patil und seine Kollegen
wogen die möglichen Verdrehungen eines Knotendia­
gramms deshalb durch eine einfache Formel gegeneinander
auf, wodurch sie eine Kenngröße τ erhielten. Je höher τ
ausfällt, desto mehr Drehbewegungen verlaufen entgegen­
gesetzt, das heißt, der Knoten ist fest. Mit diesem Wert
fanden die Forscher bereits den größten Unterschied zwi­
schen einem Kreuz- und einem Altweiberknoten: Bei Letzte­
rem ist die Drehrichtung immer gleich, wodurch er nicht so
gut hält. Das ist der Grund, warum Schnürsenkel manchmal
einfach aufgehen.

Drei Kenngrößen, um Knoten


zu unterscheiden
Die Größe τ allein genügt allerdings nicht, um alle gängigen
Knoten miteinander zu vergleichen. Das lässt sich am
Beispiel des Diebesknotens erkennen: Das Knotendia­
gramm ist das gleiche wie das des Kreuzknotens, außer
dass man dabei an einem anderen Strang zieht. Beide
Knoten verdrehen sich durch Zug auf gleiche Weise, besit­
zen also das­selbe τ, dennoch lässt sich der Diebesknoten
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

leichter lösen.
Patil und sein Team suchten deshalb nach weiteren
stabilisierenden Faktoren. Wie sich herausstellte, sind
Knoten robuster, wenn nebeneinander verlaufende Stränge
sich beim Ziehen in entgegengesetzte Richtungen bewe­
gen. Die Wissenschaftler definierten eine zweite Größe Γ,
die im Wesentlichen zählt, wie viele Strangabschnitte sich
gegenläufig zusammenziehen. Während der Kreuzknoten
beispielsweise über vier solche Segmente verfügt, hat der
Diebesknoten bloß einen. Das erklärt, warum der Kreuzkno­
ten besser hält.
Indem die Forscher die Anzahl der Kreuzungen N, die
Verdrehungen τ und die entgegengesetzten Strangabschnit­
te Γ für gängige Knotenfamilien bestimmten, konnten sie
beurteilen, wie stabil welche Knoten sind. Dafür brauchten
sie weder aufwändige Computersimulationen noch detail­
lierte Berechnungen, sondern zählten bloß Eigenschaften,
die sich aus einem Knotendiagramm sofort ergeben.
Allerdings sind all diese Überlegungen nicht viel wert,
wenn man sie nicht überprüft. Daher führten Patil und seine
Kollegen Experimente mit sich farblich verändernden Seilen
durch. Diese bestehen aus einem elastischen Kern, der von
mehreren Schichten transparenter Elastomere mit unter­
schiedlichen Brechungsindizes umgeben ist. Sobald man
ein solches Seil verbiegt oder daran zieht, ändert sich die
Dicke der Elastomere und damit auch ihre Farbe. Dadurch
lassen sich die Kräfte abbilden, die auf einen Knoten wirken.
Auf diese Weise konnten die Forscher ihre theoretischen
Ergebnisse mit Experimenten an einfachen Knoten und
dazugehörigen Computersimulationen bestätigen. Alle drei
Die drei so genannten Reidemeister-Bewe­gungen Methoden führten zu den gleichen Resultaten. Anschlie­
lassen ein Knotendiagramm topologisch gesehen ßend widmeten sich die Forscher komplizierteren Knoten,
unverändert. etwa dem gesteckten Schmetterlingsknoten mit zwölf oder

24 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
dem Zeppelinstek mit zehn Kreuzungen. Die entsprechen­
den drei Größen (N, τ, Γ) legen nahe, dass der unter Berg­
steigern verbreitete gesteckte Schmetterlingsknoten
schlechter hält als der Zeppelinstek. Auch das bestätigten
die Computersimulationen der Forscher.
Wenn es darum geht, die besten Knoten zu identifizie­
ren, muss man sich also nicht mehr nur auf Erfahrungswer­
te beziehen, sondern kann das nun mathematisch erklären.
»Wir können jetzt endlich Knoten miteinander vergleichen,
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: COUNTINGPINE, PAR

ALTWEIBERKNOTEN UND (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/


(COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:GRANNY_KNOT.SVG)

die man beim Nähen, Segeln, Klettern und Bauen verwen­


FILE:SQUARE_KNOT.SVG) KREUZKNOTEN

det«, sagt der Mechanikprofessor Matthias Kolle, Mitautor


der Studie. »Das ist wunderbar!« 

QUELLE

Patil, V. P. et al.: Topological mechanics of knots and tangles.


Science 367, 2020

LITER ATURTIPPS

Adams, C. C.: The knot book. An elementary introduction to the


mathematical theory of knots. American Mathematical Society,
1994

Dieses Buch behandelt die bekanntesten Knoten sowie die


Mathematik dahinter.
Den Altweiberknoten (unten) nutzt man meist, Turner, J. C., van de Griend, P.: History and science of knots.
um Schuhe zu binden. Doch als wesentlich World Scientific, 1996
stabiler stellt sich der Kreuzknoten (oben) heraus, Das Werk beschreibt die Geschichte von Knoten, von den ersten
der diesem stark ähnelt. Spuren bis hin zur modernen Knotentheorie.

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ü
TROPISCHE GEOMETRIE
DAS SKELETT DER AMÖBE
Jüngst entstand ein neues Fachgebiet, bei dem Mathematiker
geometrische Objekte so stark verändern, dass nur ein »Ske­
lett« der eigentlichen Form zurückbleibt. Dennoch behalten
die Strukturen viele ihrer ursprünglichen Eigenschaften bei –
wodurch sie unerwartete Geheimnisse offenbaren.

Antoine Chambert-Loir ist Mathematikprofessor


an der Université Paris-Diderot. Er hat sich auf
algebraische und arithmetische Geometrie spezia­
lisiert.

 spektrum.de/artikel/1640006


Wenn man ein kompliziertes mathemati-
sches Problem lösen möchte, erweist sich
der direkte Weg manchmal als schwierig. In
diesen Fällen lohnt es sich, vom gewohnten Pfad
abzuweichen und einen Umweg in Kauf zu nehmen.
In einer solchen Situation befand sich Gerolamo Cardano
im 16. Jahrhundert. Damals biss er sich an der Lösung kubi-
scher Gleichungen die Zähne aus. Doch irgendwann kam
ihm eine zündende Idee, welche die moderne Mathematik
auf ungeahnte Weise prägen sollte: Er führte während seiner Indem man gewöhn­
Berechnungen Wurzeln aus negativen Zahlen ein – heute liche Gleichungen
sind sie als imaginäre Zahlen bekannt. Er maß ihnen keine »tropisiert«, ähneln die
besondere Bedeutung bei, sie halfen ihm aber, die kniffligen dadurch entstehen-
Aufgaben zu lösen. Inzwischen haben sich komplexe Zahlen, den Objekte Amöben
die sich aus reellen und imaginären Zahlen zusammensetzen, mit Tentakeln, die
als so wichtig herausgestellt, dass viele aktuelle Fortschritte sich ins Unendliche
ANTOINE CHAMBERT-LOIR

der Naturwissenschaften ohne sie nicht denkbar wären. erstrecken.

26 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
AUF EINEN BLICK
TROPISCHE GEOMETRIE

1 In diesem jungen Forschungsgebiet ersetzt man die


Addition zweier Zahlen durch den größeren der beiden
Werte und die Multiplikation durch ihre Summe.

v = log |y|
2 Dadurch vereinfachen sich komplizierte Oberflächen
zu tropischen Kurven, die sich aus mehreren Linien­
segmenten zusammensetzen.
v = log (eu + 1)

3 Trotz der massiven Veränderungen behalten die tropi-


schen Kurven viele Eigenschaften der ursprünglichen
Objekte bei, was neue Blicke auf alte mathematische
Probleme ermöglicht.

v = log (eu – 1)

Links: Der rot markierte Bereich in der Ebene ist die


u = log |x| ­»Amöbe« der komplexen Geradengleichung x + y = 1. Ihr
Skelett (blau) entspricht der tropischen Kurve. Sie ist
durch alle Punkte (u, v) gegeben, für die mindestens zwei
der Argumente u, v und 0 maximal sind. Unten: Indem man
v = log (1 – eu) die Basis des Logarithmus (hier für x + y = 1) vergrößert,
ANTOINE CHAMBERT-LOIR

zieht sich die Amöbe immer weiter zusammen.


Für den Grenzfall, bei dem die Basis gegen unendlich geht,
bleibt nur noch ihr Skelett übrig.

Die tropische Geometrie ist ein weiteres Beispiel für aus zwei reellen Koordinaten a und b und der imaginären
einen zielführenden Umweg. Sie entstand in den Einheit i, die der Wurzel aus minus eins entspricht. Die
1980er Jahren und ist inzwischen zu einem aktiven For- ursprüngliche Gleichung F(x, y) = 0 hängt also von insge-
schungsfeld herangewachsen, das auch andere mathe­ samt vier reellen Koordinaten ab und spaltet sich in zwei
matische Bereiche beeinflusst. Einer der größten Nutz­ unabhängige Teile auf: in einen Realteil ohne i und einen
nießer dieser Entwicklung ist die algebraische Geometrie. Imaginärteil mit i. Die entsprechende geometrische Figur ist
Wie Mathematiker feststellten, kann es sich in diesem dann streng genommen keine Kurve mehr, sondern eine
Gebiet lohnen, einen Schlenker über die tropische Geomet- Oberfläche im vierdimensionalen Raum.
rie zu machen. Denn einige Eigenschaften algebraischer Das mag abstrakt klingen, doch Mathematiker haben
Kurven lassen sich im tropischen Teil einfacher berechnen. verschiedene Methoden entwickelt, um diese Objekte zu
Um das nachzuvollziehen, muss man zuerst algebraische untersuchen. Allerdings stoßen sie dabei häufig an ihre
Kurven verstehen. Sie bestehen aus einer Menge von Grenzen. Denn die algebraische Geometrie hat sich in
Punkten (x, y), die eine so genannte polynomiale Gleichung vielen Punkten als äußerst schwierig entpuppt.
lösen, zum Beispiel F(x, y) = axy3 + bx2y + cx + dy + f = 0. In den 1990er Jahren hatten die Forscher Israel Gelfand
Die Punkte x und y können dabei nicht bloß reelle, sondern an der Rutgers University in New Jersey, Mikhail Kapra-
auch komplexe Werte annehmen, also imaginäre Zahlen nov, damals an der Northwestern University in Illinois,
enthalten. In solchen Fällen besteht jede Variable x = a + ib und Andrei Zelewinsky an der Northeastern University in

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 27


ü
v

Boston eine merkwürdig erscheinende Idee für einen


Umweg, der die Erforschung algebraischer Kurven er-
leichtern sollte. Anstatt direkt die komplexen Lösungen x 5

und y einer Gleichung F(x, y) = 0 zu studieren, betrachte-


ten sie die Logarithmen ihrer Beträge. Das heißt, sie
visualisierten alle Punkte (u, v) = (log |x|, log |y|). Weil die
Beträge komplexer Zahlen reell sind, halbierten die For-

ANTOINE CHAMBERT-LOIR
scher so die Dimensionen des eigentlichen Problems:
Aus den seltsamen Flächen im vierdimensionalen Raum –5 5 u
werden gewöhnliche Kurven in der Ebene. Das Erstaun­
liche ist, dass dabei einige Eigenschaften der ursprüngli-
chen Gleichung erhalten bleiben.

Komplizierte Gerade –5
Um das zu erkennen, hilft ein Beispiel. In komplexen Koordi-
naten beschreibt die Geradengleichung x + y – 1 = 0 eine
komplizierte Fläche. Betrachtet man dagegen die Logarith-
men der Beträge von x und y, füllen diese Punkte einen Teil
der zweidimensionalen Ebene aus, die durch drei Kurven- Die Anzahl der Schnittpunkte zweier tropischer Kurven
gleichungen begrenzt ist (siehe Bild auf S. 27): Für negati- ist, wie für algebraische Kurven auch, gleich dem
ve u gehören alle Punkte (u, v) innerhalb von v = log (eu + 1) Produkt ihres Grades. Im obigen Bild kreuzt der tropi­
und v = log (1 – eu) zur Lösung, während für positive u alle sche Kegelschnitt (rot) x2 + 4xy – 300x – 40y – 50 die
zwischen v = log (eu + 1) und v = log (eu – 1) die Gleichung kubische Kurve (grün) ⅛  x3 + x2y + 2xy2 + y3 + 2x2 +
erfüllen. 15xy + 400y2 + 5x + 100y + 1 in 2 · 3 = 6 Punkten. Dabei
Die Kurvengleichungen begrenzen ausufernde Bereiche, zählt der blaue Punkt doppelt, weil diese Koordinaten
deren Form an Tentakel erinnert. Das ist keine Besonderheit zweimal in der Lösung auftauchen.
der betrachteten Gerade, sondern ein Merkmal aller algeb-
raischen Kurven. Wegen ihrer Ähnlichkeit zu den Wechsel-
tierchen bezeichnen Mathematiker die geometrischen x + y = 1 wie y ≈ –x verhält. Insbesondere stimmen die
Objekte als Amöben. Beträge beider Zahlen überein, wodurch sich die diagonale
Doch woher kommen diese Tentakel? Tatsächlich haben Gleichung v = u ergibt. Der linke Tentakel entspricht da­
sie einen einfachen Ursprung. Sie entsprechen den Gebie- gegen vernachlässigbar kleinen Werten von x. In diesem
ten, in denen die Koordinaten x und y entweder sehr groß Fall vereinfacht sich die ursprüngliche Gleichung zu y ≈ 1,
oder sehr klein sind. Im diagonalen Tentakel sind beispiels- woraus v = log |y| ≈ 0 folgt. Ebenso ergibt sich der untere
weise sowohl x als auch y groß, so dass sich die Gleichung Tentakel für kleine y aus u = log |x| ≈ 0.
Indem man diese Extremfälle betrachtet, kann man das
»Skelett« der Amöbe nachzeichnen. Für x + y = 1 besteht es
v aus drei Halbgeraden, die sich im Ursprung treffen. Die
russischen Mathematiker Victor Maslov von der Lomonos-
sow-Universität in Moskau und Oleg Viro, damals an der
Universität Uppsala in Schweden, fanden heraus, wie es
sich herausarbeiten lässt: Man ersetzt die Basis des Loga-
rithmus, der die Koordinaten u und v definiert, durch immer
größere Zahlen. Das hungert die Amöbe nach und nach aus
ANTOINE CHAMBERT-LOIR

und legt ihr Skelett frei.


Dieses Phänomen verdankt man den Eigenschaften der
Logarithmusfunktion. Sie wandelt beispielsweise die Multi-
u plikation in eine Addition um: Wenn z = xy, dann ist
logb z = logb x + logb y. Mit w = logb z folgt also w = u + v.
Während sich die Multiplikation vereinfacht, wird die Additi-
on allerdings komplizierter: Für z = x + y ist w = logb(x + y) 
u v
= logb(blog x + blog y), also w = logb(b  + b ).
Der letzte Ausdruck erscheint zwar recht umständlich, er
nimmt aber eine einfachere Gestalt an, wenn die Basis b des
Logarithmus sehr groß ist. In diesem Fall dominiert die grö-
Die tropische Kurve der Funktion ßere der beiden Zahlen u und v, das heißt, nur sie bleibt im
F(x, y) = 1 + 2xy + x3 + y3 entspricht den Punkten Grenzfall einer unendlich großen Basis übrig: w = max (u, v).
(u, v), für die mindestens zwei der vier Argumente Addition (+) und Multiplikation ( · ) werden also durch die
0, log 2 + u + v, 3u und 3v maximal sind. Operationen »max« und + ersetzt. Heute ist diese »Max-

28 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Plus-Algebra« als tropische Algebra bekannt (siehe »Exoti-
sche Namensgebung«, unten).
Jedes Polynom lässt sich derart in eine tropische Form
übersetzen (siehe Bild links unten). Die Geradengleichung
x + y – 1 = 0 wird beispielsweise zu max (u, v, 0). Diese
tropische Kurve entspricht den drei Halbgeraden, die das

POUR LA SCIENCE OKTOBER 2018; BEARBEITUNG:


Skelett der Amöbe nachzeichnen. Die tropische Gleichung
von a · xn ist demzufolge log |a| + n · u, und das Polynom

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


5x2 – 4y3 – 2 vereinfacht sich analog zu max (log 5 + 2u,
log 4 + 3v, log 2).
Zwei Eigenschaften haben alle algebraischen Kurven
gemeinsam: Ihr Skelett besteht immer aus gebietsweise
linearen Funktionen; und ihre Amöbe setzt sich stets aus
endlich vielen konvexen Bereichen zusammen. Letzteres
bedeutet, dass sich entweder zwei Punkte außerhalb der
Amöbe durch eine Gerade verbinden lassen oder dass es
keine stetige Kurve gibt, die beide Punkte verknüpft, ohne Zwei Punkte in einer Ebene definieren genau eine
die Amöbe zu kreuzen. Sprich: Die Gebiete haben stets die Gerade. Durch fünf willkürlich verteilte Punkte verläuft
Form einer Amöbe mit langen Tentakeln. Im Gegensatz genau ein Kegelschnitt (hier eine Ellipse). Für Kurven
zu den betrachteten Beispielen ist die grafische Darstellung höheren Grades gibt es ähnliche Beziehungen. 2005
des Skeletts und der Amöbe einer polynomialen Glei- legten Mathematiker dazu einen Beweis vor, den sie
chung aber nicht immer einfach. Daher haben sich tropi- mit Hilfe der tropischen Geometrie führten.
sche Kurven inzwischen als eigenständiges Forschungs-
thema etabliert.
Was macht diese seltsamen Objekte für Mathematiker stellt keinerlei Bedingungen an die zwei Geraden, während
überhaupt interessant? Einer ihrer Reize ist, dass sie trotz die algebraische Variante erfordert, dass sie sich nicht über
ihrer Einfachheit die ursprüngliche komplexe Kurve ziemlich eine gewisse Strecke überlappen. Der tropische Satz von
genau widerspiegeln. Komplizierte algebraische Fragestel- Bézout bietet zudem einen weiteren Vorteil: Neben der
lungen verwandeln sich auf tropischer Ebene in rein kombi- Anzahl an Schnittpunkten liefert er auch Hinweise darauf,
natorische Probleme, die ein Computer lösen kann (siehe wo sie zu finden sind.
»Spektrum« November 1995, S. 20).
Denn erstaunlicherweise haben tropische und algebrai- Zählen von Lösungen
sche Kurven viele Gemeinsamkeiten. Ein Beispiel dafür Dass solche Theoreme aus der algebraischen Geometrie
zeigt sich im »Satz von Bézout«, wonach die Anzahl der einfach auf tropische Objekte übertragbar sind, verwundert
Schnittpunkte zweier Kurven gleich dem Produkt ihres Mathematiker. Doch das gibt ihnen ein neues Werkzeug in
jeweiligen Grades ist, das heißt des höchsten Exponenten die Hand. So konnten sie in den letzten Jahren die Gemein-
der Variablen x und y im Polynom F(x, y). Überraschender- samkeiten von tropischen und algebraischen Kurven nut-
weise lässt sich der Satz von Bézout auch auf tropische zen, um komplizierte Beweise zu vereinfachen.
Kurven übertragen (siehe Bild links oben) – in diesem Fall ist Das wohl prominenteste Beispiel dafür findet sich in der
er sogar allgemeiner. Die tropische Version des Theorems enumerativen Geometrie, einem der ältesten mathemati-
schen Bereiche. Schon in der Antike interessierten sich
Gelehrte für die Anzahl von Lösungen geometrischer Prob-
leme. Apollonios von Perge fragte sich etwa, wie viele
Exotische Namensgebung Kreise man zeichnen kann, die drei vorgegebene Kreise
gleichzeitig berühren. Im 16. Jahrhundert fand man heraus,
Woher stammt der Name »tropische« Geometrie? dass die Aufgabe immer acht Lösungen hat – unabhängig
Häufig übernehmen Mathematiker Begriffe aus davon, wie die drei vorgegebenen Kreise angeordnet sind.
der Alltagssprache, ohne jeglichen Bezug zu ihrem Auch Euklid beschäftigte sich mit dem Zählen von Lösun-
wörtlichen Sinn. Das ist auch hier der Fall. In gen. Er postulierte im 3. Jahrhundert v. Chr., dass es nur
seinen Anfängen hieß der Bereich exotische Algeb- eine Gerade gibt, die durch zwei beliebig platzierte Punkte
ra, danach wurde er bis Ende der 1980er Jahre verläuft. Seither versuchen Mathematiker das Problem zu
Max-Plus-Algebra genannt. Inzwischen ist er zur verallgemeinern (siehe Bild oben): Wie viele Kurven be-
»tropischen Algebra« geworden, auf Anregung stimmten Grades verlaufen durch drei oder mehr willkürlich
mehrerer theoretischer Informatiker von der Uni- verteilte Punkte in der Ebene oder in einem komplizierte-
versität Paris-VII, die ihrem brasilianischen Kolle- ren Raum?
gen Imre Simon, einem Pionier auf diesem Gebiet, Im 17. Jahrhundert hatte sich der französische Mathema-
Tribut zollen wollten. tiker Blaise Pascal jene Aufgabe für Figuren gestellt, die
sich aus dem Schnitt eines Kegels mit einer Ebene ergeben
(»Kegelschnitte«). Zu diesen Kurven zweiten Grades zählen

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 29


ü
Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln. Er fand heraus, dass fünf
beliebig verteilte Punkte – von denen höchstens zwei auf
Rationale Kurven einer Geraden liegen – eindeutig einen Kegelschnitt definie-
ren. Geometer fragten sich daraufhin, ob solche enumerati-
Geraden und Kegelschnitte (unten) sind die ein- ven Probleme für alle algebraischen Kurven allgemein gelöst
fachsten Beispiele so genannter rationaler Kurven. werden können. Wie sich herausstellte, gibt es zumindest
Das hat mit ihrer algebraischen Beschreibung zu eine bestimmte Klasse, so genannte rationale Kurven, für die
tun. Tatsächlich kann man eine Kurve auf mehrere das möglich ist (siehe »Rationale Kurven«, links). Und die
Arten darstellen. Die erste Möglichkeit ist, sie durch tropische Geometrie sollte den Beweis dieser Aussage
eine gewöhnliche Gleichung F(x, y) = 0 auszudrü- drastisch vereinfachen.
cken. Das erweist sich als hilfreich, wenn man Erst 1994 fand der französisch-russische Geometer ­
prüfen möchte, ob ein Punkt (A, B) auf der Kurve Maxim Kontsevich, der heute am Institut des Hautes Études
liegt. Dazu setzt man seine Koordinaten in die Scien­tifiques (IHES) in der Nähe von Paris arbeitet, eine
Gleichung ein und prüft, ob auf beiden Seiten des Methode, um rationale Kurven zu zählen. Er leitete eine
Gleichheitszeichens das gleiche Ergebnis steht. Formel her, welche die Anzahl Nd aller rationalen Kurven
Möchte man dagegen herausfinden, welche d-ten Grades berechnet, die 3d – 1 Punkte in der Ebene
Punkte auf der Geraden liegen, funktioniert eine durchqueren.
andere Darstellung besser. Durch eine geeignete Aus Kontsevichs Formel folgt unter anderem, dass es
»Parametrisierung« hängt beispielsweise eine zwölf Kurven dritten Grades gibt, die durch acht vorgegebe-
Gerade, die durch die Punkte (xA, yA) und (xB, yB) ne Punkte verlaufen (N₃ = 12); dass 620 Kurven vierten
verläuft, nur von einem Parameter t ab, wird dafür Grades elf Punkte durchqueren (N₄ = 620) und 87 304 Kurven
aber durch zwei Gleichungen beschrieben: fünften Grades 14 Punkte schneiden (N₅ = 87 304). Diese
Ergebnisse waren schon vorher bekannt. Mit Kontsevichs
x(t) = (1 – t) ·xA + t · xB y(t) = (1 – t) · yA + t · yB Formel kann man jedoch Kurven beliebig hohen Grades auf
einfache Weise zählen. Sie lieferte unter anderem die bislang
Um einen Punkt (x(t), y(t)) der Geraden zu be- unbekannten Werte: N₆ = 26 312 976, N₇ = 14 616 808 192 und
rechnen, muss man einen Wert für t in beide Glei- N₈ = 13 525 751 027 392. Obwohl die Zahlen rasant ansteigen,
chungen einsetzen. bleiben sie stets endlich. Das mag auf den ersten Blick
Rationale Kurven zeichnen sich dadurch aus, erstaunlich wirken, aber die 3d – 1 Punkte legen eine kom-
dass sie sich durch einen Quotienten zweier Poly- plexe rationale Kurve fest (siehe »Wie Punkte in der Ebene
nome P(t) und Q(t) parametrisieren lassen. Für komplizierte Kurven festlegen«, rechts).
einen Kreis mit Mittelpunkt in 0 und Radius 1, Elf Jahre nach Kontsevichs bahnbrechender Veröffentli-
dessen Gleichung also x2 + y2 – 1 = 0 lautet, ergibt chung fanden Andreas Gathmann und Hannah Markwig von
sich beispielsweise: der Universität Kaiserslautern eine tropische Version von
Kontsevichs Formel. Sie zählt alle tropischen Kurven d-ten
x(t) = (1 – t2) / (1 + t2) Grades, die 3d – 1 Punkte kreuzen. Zusammen mit einer
Arbeit von Grigory Mikhalkin von der Universität Genf, in der
y(t) = 2t / (1 + t2) er eine Verbindung zwischen algebraischen Kurven d-ten
Grades und ihren tropischen Analoga fand, liefert das
Ergebnis einen einfacheren Beweis für Kontsevichs
Formel.
ADÈLE GALLÉ / POUR LA SCIENCE OKTOBER 2018

Die Rückkehr ins Reelle ist nicht


immer einfach
Allerdings vermag man damit lediglich komplexe Kurven
zu zählen. Beschränkt man sich auf rein reelle Objekte,
gestaltet sich das Problem weitaus schwieriger. Ihre
Anzahl hängt nämlich von der genauen Verteilung der
Punkte im Raum ab. Erst 2002 fand der Mathematiker
Jean-Yves Welschinger, der heute an der Université de
Lyon arbeitet, einen Trick zur Berechnung der nach ihm
benannten Welschinger-Invarianten Wd. Diese bestimmt
jedoch nicht alle reellen Kurven d-ten Grades, die durch
Kegelschnitte ergeben sich aus dem Schnitt eines 3d – 1 Punkte verlaufen, sondern bloß ihre Mindestanzahl.
Kegels mit einer Ebene. Diese Kurven lassen sich Welschingers Ansatz besteht darin, alle Kurven mit einem
durch polynomiale Gleichungen F(x, y) = 0 zweiten Vorzeichen zu versehen, bevor er sie zählt. Dadurch tragen
Grades beschreiben. manche positiv und andere negativ zu der Anzahl bei. Er
konnte zeigen, dass diese Summe Wd nicht mehr von der
genauen Verteilung der Punkte im Raum abhängt.

30 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Wie Punkte in der Ebene komplizierte Kurven festlegen
Maxim Kontsevichs Formel berech- rapide wächst. Das liegt daran, zusätzliche Symmetrie reduziert die
net die Anzahl aller rationaler dass 3d – 1 Punkte einige rationale Anzahl der benötigten Koeffizienten
Kurven d-ten Grades, die durch Kurven d-ten Grades vollständig um weitere drei. Eine rationale
3d – 1 willkürlich verteilte Punkte in bestimmen. Eine solche Kurve ist Kurve d-ten Grades hängt also bloß
einer Ebene verlaufen: im Allgemeinen wie folgt parametri- von (3d + 2) – 3 = 3d – 1 Parame-
siert: tern ab.
Nd = ∑ Na · Nb · [a2 · b2 · C(3d – 4, 3a – 2)  Falls eine solche Kurve 3d – 1
– a3 · b · C(3d – 4, 3a – 1)]  x(t) = (a₀ + … + ad td)/(c₀ + … + cd td) Punkte in der Ebene durchquert,
kann sie von keinem weiteren Wert
Die Summe ∑ läuft über alle positi- y(t) = (b₀ + … + bd td)/(c₀ + … + cd td) mehr abhängen – solange die
ven ganzen Zahlen a und b, welche Punkte »in allgemeiner Lage« sind,
die Gleichung a + b = d erfüllen. Sie hängt von 3 · (d + 1) Koeffizien- das heißt, dass jeder Einzelne von
C(p, q) bezeichnet den Binomial­ ten a₀, …, ad , b₀, …, bd, c₀, …, cd ab. ihnen die Freiheitsgrade einer Kurve
koeffizienten p! / [q! (p – q)!], mit Allerdings kann man den Zähler um eins reduziert.
p! = p · (p – 1) · (p – 2) · … · 2 · 1.  und Nenner beider Brüche durch Indem Mathematiker die Koordi-
Die Zahl Nd lässt sich also nur eine Zahl teilen, beispielsweise cd, naten der Punkte in die Parametri-
berechnen, wenn man Na und Nb ohne etwas an der Form der Kurve sierung einsetzen, können sie das
kennt. Glücklicherweise weiß man, zu ändern. Das eliminiert einen so entstehende riesige Gleichungs-
wie groß N1 und N2 sind, so dass Koeffizienten, so dass nur noch system lösen, um die Koeffizienten
sich aus ihnen alle anderen Nd 3 · (d + 1) – 1 = 3d + 2 übrig sind. a₀, …, ad , b₀, …, bd, c₀, …, cd zu
bestimmen lassen. Darüber hinaus kann man für berechnen. Das System hat Nd
Es mag zunächst überraschend komplexe rationale Kurven den Lösungen, deren Anzahl sich mit
erscheinen, dass die obige Summe Parameter t durch einen Bruch der Formel von Kontsevich bestim-
endlich bleibt, selbst wenn sie (g · t + h) / (u · t + w) ersetzen. Diese men lässt.

Es fehlte aber eine einfache Methode wie Kontsevichs rem bedeutet, dass es unmöglich ist, jede dieser Kurven
Formel, um Welschinger-Invarianten zu berechnen. Hier durch rationale Funktionen zu beschreiben.
kommt die tropische Geometrie ins Spiel und liefert eines Insgesamt hat die tropische Geometrie zu wichtigen
der ersten Beispiele, in dem das junge Forschungsgebiet zu Fortschritten in unterschiedlichen mathematischen Berei-
neuen mathematischen Erkenntnissen geführt hat. 2009 chen geführt. Sogar in der Physik könnte sie ein jahrzehnte-
fanden Ilia Itenberg von der Pariser Sorbonne Université, altes Rätsel lösen (siehe »Der tropische Spiegel« ab S. 32).
Viatcheslav Kharlamov von der Université de Strasbourg Es wundert noch immer viele Wissenschaftler, dass sich
und Eugenii Shustin von der Universität Tel Aviv mit Hilfe der brandneue Forschungszweig als so effizient erweist.
der tropischen Geometrie eine Formel, die Welschinger- Sein Vorteil besteht darin, dass er viele komplizierte Proble-
Invarianten ausspuckt. Aus ihr folgt beispielsweise, dass me zu rein kombinatorischen Fragen vereinfacht, die ein
W₁ = 1, W₂ = 1, W₃ = 8 und W₄ = 240 ist. Wenn es also Computer beantworten kann. 
N₃ = 12 komplexe Kurven dritten Grades gibt, die durch acht
Punkte in der Ebene verlaufen, sind mindestens W₃ = 8
QUELLEN
davon reell. Unter Berücksichtigung der verschiedenen
Vorzeichen bedeutet das: Es gibt je nach Verteilung der Gathmann, A., Markwig, H.: The Caporaso-Harris formula and
acht Punkte im Raum entweder acht (alle haben das gleiche plane relative Gromov-Witten invariants in tropical geometry.
Mathematische Annalen 338, 2007
Vorzeichen), zehn (eine hat ein anderes Vorzeichen als die
neun übrigen) oder zwölf (zwei Kurven haben ein negatives Itenberg, I. et al.: A Caporaso-Harris type formula for Welschin-
ger invariants of real toric Del Pezzo surfaces. Commentarii
und zehn ein positives Vorzeichen) reelle Kurven, die sie
Mathematici Helvetici 84, 2009
passieren.
Die tropische Geometrie half im August 2018 auch David Kontsevich, M.: Enumeration of rational curves via torus
actions. ArXiv hep-th/9405035, 1994
Jensen von der University of Kentucky und Sam Payne von
der Yale University dabei, eine bisher unbekannte Eigen-
schaft algebraischer Kurven zu enthüllen. Da diese Kurven WEBLINK
eigentlich zweidimensionale Objekte sind, können sie Rau, J.: A first expedition to tropical geometry.
Löcher haben, über die sie häufig klassifiziert werden. https://bit.ly/2o6Bzn2, 2017
Jensen und Payne fanden heraus, dass solche mit 22 und Eine einfach gehaltene, englischsprachige Einführung in die
23 Löchern von »allgemeinem Typ« sind, was unter ande- tropische Geometrie, die sich an Anfänger richtet

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 31


ü
SYMMETRIEN
DER TROPISCHE SPIEGEL
Ein rätselhafter Zusammenhang zwischen völlig
unterschiedlichen geometrischen Objekten ver-
wundert Stringtheoretiker und Mathematiker. Kann
die tropische Geometrie das Geheimnis lüften?

Das Ergebnis von Candelas und seinen Kollegen hatte


Manon Bischoff ist theoretische enorme Auswirkungen, die über das bloße Zählen von
Physikerin und Redakteurin Kurven hinausgeht: Es deutete auf eine fundamentale
bei »Spektrum der Wissenschaft«.
Verbindung zwischen zwei völlig unterschiedlichen geome-
trischen Gebieten hin. Eine solche Übereinstimmung hatte
 spektrum.de/artikel/1640008
niemand erwartet – und sie gibt Wissenschaftlern bis heute
zahlreiche Rätsel auf. Inzwischen haben einige Mathemati-
ker herausgefunden, dass die tropische Geometrie die
ungeahnten Gemeinsamkeiten beider geometrischer Wel-
ten erklärt.


Im Mai 1991 ahnten die Besucher einer Konferenz Der bizarre Zusammenhang fiel erstmals Stringtheoreti-
des Mathematical Sciences Research Institute in kern in den 1980er Jahren auf. Die Stringtheorie soll die
Kali­­fornien nicht, dass sie eine große Überraschung Gravitation mit den quantenmechanischen Gesetzen sub-
erwar­tete. Der britische Stringtheoretiker Philip Candelas, atomarer Teilchen vereinigen, indem sie winzige Fädchen
damals an der University of Texas in Austin, präsentierte (»Strings«) definiert, die durch ihre Schwingungen die uns
dort seine Forschungsergebnisse, doch die größtenteils aus bekannten Elementarteilchen und fundamentalen Kräfte
Mathematikern bestehenden Zuhörer zweifelten die Rich- erzeugen.
tigkeit dieser Arbeit an.
Der Physiker behauptete, eine Formel gefunden zu
haben, die »rationale Kurven« auf einer extrem komplizier- Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Struktur
ten sechsdimensionalen »Oberfläche« zählt. Mathematiker scheinen völlig verschiedene geometrische Figuren
konnten bisher bloß Kurven ersten, zweiten und dritten durch eine »Spiegelsymmetrie« verbunden.
Grades mit aufwändiger Computerunterstützung auf den
seltsamen Gebilden zählen (siehe »Das Skelett der Amöbe«
ab S. 26). Außerdem hatten sie kein Muster hinter diesen
schnell anwachsenden Zahlen erwartet – geschweige denn,
dass sich eine Formel zu ihrer Berechnung finden ließe.
Während des Vortrags fiel einigen Zuhörern auf: Can-
delas‘ Wert für die Anzahl der Kurven dritten Grades unter-
schied sich von dem bereits bekannten Ergebnis der nor-
wegischen Mathematiker Stein Arild Strømme, damals an
IVANMOLLOV / GETTY IMAGES / ISTOCK

der University of Utah, und Geir Ellingsrud, damals an der


Universität Bergen. »Die algebraischen Geometer [im
Publikum] zeigten sich arrogant, sie nahmen an, dass die
Physiker einen Fehler gemacht hatten«, schreibt der Organi-
sator der Konferenz und Fields-Medaillen-Träger Shing-Tung
Yau in seinem Buch »The Shape of Inner Space«. Während
Candelas und seine Kollegen daraufhin fieberhaft nach
einem Fehler suchten, entdeckten Strømme und Ellingsrud
etwa einen Monat später Ungereimtheiten in ihrem Pro-
grammcode – und gaben öffentlich bekannt, dass die
Physiker richtiglagen.

32 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Allerdings funktioniert die spekulative Theorie nur,
wenn die Welt, die sie beschreibt, neun Raumdimensionen
besitzt. Das widerspricht unserem Verständnis des Uni­ AUF EINEN BLICK
versums, in dem wir nur drei wahrnehmen. Ein Ausweg DAS UNGLEICHE SPIEGELBILD
­besteht darin, anzunehmen, dass die überschüssigen
Dimensionen an jedem Punkt unserer Raumzeit ganz klein
aufgerollt (kompaktifiziert) sind, so dass wir sie nicht 1 Stringtheoretiker fanden in den 1980er Jahren heraus,
dass zwei völlig unterschied­liche geometrische Objek-
te miteinander zusammenhängen.
­bemerken. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, zu
welcher sechsdimensionalen Form, einer so genannten
Mannigfaltigkeit, sie kompaktifiziert sein könnten. Je nach-
dem, ob die Strings in einer sechsdimensionalen »Kugel­
2 Noch heute versuchen Mathematiker herauszufinden,
was hinter dieser unerwarteten »Spiegelsymmetrie«
steckt.
oberfläche« oder einem »Donut« hin- und herschwingen,
ergeben sich daraus völlig andere physikalische Gesetze.
Stringtheoretiker gehen davon aus, dass sich unsere
Welt bloß reproduzieren lässt, wenn die überschüssigen
3 Inzwischen sind immer mehr Forscher davon über-
zeugt, dass die tropische Geometrie die mysteriöse
Übereinstimmung erklärt.
Dimensionen auf ganz bestimmte Weise aufgerollt sind: zu
so genannten Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten. Davon gibt es
jedoch unendlich viele, die sich zum Teil stark von­einander
unterscheiden. Herauszufinden, welche dieser ungewöhn­
lichen sechsdimensionalen »Oberflächen« ­unsere Natur­ bestimmten Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit studierte, stellte
gesetze passend beschreibt, gehört zu den schwierigsten er fest, dass die »Typ-IIB«-Stringtheorie für eine vollkommen
Aufgaben der Stringtheorie. Denn die extrem k ­ omplizierten andere Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit die gleichen Resultate
geometrischen Gebilde bereiten selbst ­Mathematikern lieferte. Die Physiker konnten ihren Augen kaum trauen. Sie
Kopfschmerzen. spielten das Szenario für verschiedene Kompaktifizierungen
durch und stießen immer wieder auf das gleiche Ergebnis.
Verschiedene Versionen unserer Welt Offenbar haben die auf den ersten Blick grundverschie­
Die Situation ist allerdings noch verzwickter: Es gibt nicht denen geometrischen Gebilde mehr Gemeinsamkeiten als
nur eine Art von Stringtheorie, die unsere Welt beschreiben gedacht.
könnte, sondern sogar fünf, die sich durch ihre Symmetrien Diese mysteriöse Entdeckung nannten die Physiker
unterscheiden. Zunächst schienen die verschiedenen fortan Spiegelsymmetrie, da sie jeder Calabi-Yau-Mannigfal-
Versionen nichts miteinander zu tun zu haben. Doch als tigkeit X einen »Spiegel« Y zuordnet. Das überraschende
Ende der 1980er Jahre der Physiker Wolfgang Lerche, dabei ist, dass sich X und Y kein bisschen ähneln: Selbst
damals am California Institute of Technology in Pasadena, wenn man die extrem grobe Einordnung von Topologen
mit seinen Kollegen die »Typ-IIA«-Stringtheorie mit einer nutzt, die Figuren unabhängig ihrer genauen Form bloß
nach der Anzahl ihrer Löcher kategorisieren (für sie sind ein
Donut und eine Tasse identisch), unterscheiden sich die
Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten drastisch. Zum Beispiel könn-
te X zwei Löcher haben, während Y kein einziges besitzt.
Dass beide Objekte zu der gleichen Physik führen, ist, als
würde man einen Fußballspieler beobachten, der mit einem
Ball genauso gut herumhantiert wie mit einem viereckigen
Betonklotz.
Für Physiker war diese Übereinstimmung von Anfang an
ein Segen. Denn einige hoch komplizierte Probleme der
Typ-IIA-Stringtheorie fallen im Spiegel deutlich einfacher
aus – und machen eine Berechnung oft überhaupt erst
möglich. Das äußert sich insbesondere in einem vereinfach-
ten Modell der Stringtheorie, der so genannten topologi-
IVANMOLLOV / GETTY IMAGES / ISTOCK

schen Stringtheorie. Physiker ziehen sie heran, um sonst


unergründliche Eigenschaften der vollständigen Theorie zu
untersuchen. Denn auch wenn die vereinfachte Variante
nicht unsere echte Welt widerspiegelt, teilt sie dennoch
einige Merkmale mit der gewöhnlichen Stringtheorie.
Statt fünf gibt es nur zwei verschiedene Versionen der
topologischen Stringtheorie – das A- und das B-Modell.
Glücklicherweise existiert auch im vereinfachten Modell
eine Spiegelsymmetrie: Zu jedem A-Modell mit einer
­Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit X gibt es ein dazu äquivalentes
B-Modell mit einer anderen Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit Y.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 33


ü
Diese Eigenschaft hatten sich Candelas und seine Kol­ Wenn die Spiegelsymmetrie es aber ermöglicht, Kurven
legen zu Nutze gemacht, als sie die Bewegungen von auf Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten zu zählen, könnte man
»geschlossenen« Strings (deren Enden sich zu einem Ring sie vielleicht auch ganz allgemein als mathematisches
verbinden) im A-Modell untersuchten. Die möglichen Werkzeug in der enumerativen Geometrie nutzen. Dieser
Schwingungen der winzigen Fäden zu verstehen, ist für Hoffnung folgend stürzten sich immer mehr Mathematiker
Stringtheoretiker essenziell, da aus ihnen alle beobachtba- auf die Spiegelsymmetrie, um sie besser zu verstehen.
ren physikalischen Phänomene folgen. Allerdings sind die Denn hinter der Spiegelsymmetrie schien ein bisher unbe-
Berechnungen auf der A-Seite extrem schwierig: Ein quan- kannter Mechanismus zu stecken, der zwei unterschiedli-
tenmechanisches Teilchen wie ein String bewegt sich nicht che mathematische Bereiche verbindet: die so genannte
geradewegs von einem Punkt zum nächsten. Stattdessen symplektische Geometrie, durch die das A-Modell definiert
müssen Physiker alle möglichen Pfade berücksichtigen, die ist, und die dem B-Modell zu Grunde liegende algebraische
es gehen könnte, und die entsprechenden Wahrscheinlich- Geometrie. Beide Konzepte weichen dabei nicht zwingend
keiten für jeden dieser Wege in einer unendlichen Summe durch die äußere Erscheinung der Objekte, die sie beschrei-
aufaddieren. Bis auf einzelne Ausnahmen lässt sich eine ben, voneinander ab, sondern durch deren innere Struktur.
solche Berechnung auf der A-Seite überhaupt nicht be- Es ist, als würde man verschiedene Baustoffe vergleichen.
werkstelligen.
Doch die Spiegelsymmetrie bot den Physikern einen Zwei unterschiedliche Baustoffe erweisen
Ausweg. Anstatt sich mit diesem komplizierten Problem he- sich als gleich
rumzuschlagen, verlagerten sie ihre Berechnungen auf die Die algebraische Geometrie ist recht steif. Verändert man
B-Seite. Dort fallen die quantenmechanischen Korrekturen beispielsweise die Form einer algebraischen Kurve ganz
für die Bewegungen geschlossener Strings überraschen- leicht, dann lässt sie sich möglicherweise nicht mehr durch
derweise weg: Ihre Schwingungen lassen sich durch rein eine polynomiale Gleichung beschreiben – und ist dadurch
geometrische Überlegungen ermitteln. nicht mehr algebraisch.
Dieses Ergebnis präsentierten Candelas und seine Kolle- Die symplektische Geometrie ist dagegen viel flexibler.
gen 1991 auf der eingangs erwähnten mathematischen Zupft man an einer Ecke einer symplektischen Kurve, dann
Konferenz. Denn die Bewegungen von geschlossenen ist sie danach immer noch symplektisch. Dieser Teilbereich
Strings hinterlassen schlauchartige Spuren in der Raumzeit der Geometrie entstand aus der klassischen Mechanik. Um
(siehe Bild unten), die jenen rationalen Kurven entsprechen, zum Beispiel einen fliegenden Ball zu beschreiben, ist es
an denen Geometer schon so lange interessiert sind. Seit wichtig, nicht nur seinen Ort zu jeder Zeit, sondern auch die
der Erforschung von Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten fragten dazugehörige Geschwindigkeit zu kennen. Aus diesen
sie sich, wie viele rationale Kurven auf diesen seltsamen beiden Größen konstruieren Physiker einen so genannten
Gebilden Platz finden. In die Sprache der Stringtheorie Phasenraum. Jeder Punkt darin repräsentiert Ort und
übersetzt lautet diese Frage: Wie viele Möglichkeiten haben Geschwindigkeit zu einer bestimmten Zeit. Das unterschei-
geschlossene Strings, sich in einer Calabi-Yau-Mannigfaltig- det sich drastisch von der algebraischen Geometrie, in der
keit zu bewegen? Genau das konnten Candelas und seine eine Figur der Lösung einer komplexen polynomialen
Kollegen mit Hilfe der Spiegelsymmetrie beantworten. Gleichung entspricht.
Was ist es also, das diese so unterschiedlich erscheinen-
den Konzepte verbindet? Tatsächlich lüftet die Stringtheorie
Geschlossene Strings (blaue Kreise) hinterlassen wäh- das Geheimnis. Denn die symplektische Calabi-Yau-Man-
rend ihrer Bewegung durch die Raumzeit schlauchförmige nigfaltigkeit und ihr Spiegel teilen eine gemeinsame Kom-
Spuren (lila), die rationalen Kurven entsprechen. ponente, die mit offenen Strings zusammenhängt. Anders
als die geschlossenen Fäden, die Candelas mit seinen
Kollegen erforschte, flattern die Enden offener Strings nicht
lose im Raum herum, sondern haften an seltsamen Gebil-
den, so genannten D-Branen. Man kann sich Letztere
vereinfacht als Flächen vorstellen, auch wenn sie im Allge-
meinen mehr als zwei Dimensionen haben können.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF

1996 hatten Andrew Strominger, damals an der Universi-


ty of California in Santa Barbara, Shing-Tung Yau von der
Harvard University und Eric Zaslow, damals ebenfalls an
der Harvard University, erkannt, dass die Calabi-Yau-Man-
nigfaltigkeit im B-Modell mit den D-Branen des A-Modells
zusammenhängt. Genauer gesagt erzeugen alle D-Branen
der A-Seite einen Raum, in dem jeder Punkt einer solchen
Brane entspricht. Dieser Raum lässt sich als komplexe
Mannigfaltigkeit darstellen, die der gesuchten Calabi-Yau-
Mannigfaltigkeit der B-Seite entspricht.
Weil die offenen Strings aus dem A-Modell an den
D-Branen hin- und herschwingen, entstehen dabei aller-

34 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Um den Spiegel einer symplektischen Mannigfaltigkeit dings komplizierte Vibrationen, die sich auf die komplexe
(oben links) zu berechnen, muss man zunächst das Geometrie der B-Seite auswirken. Das stellt Wissenschaft-
A-Modell samt aller Spuren offener und geschlossener ler vor eine große Herausforderung, denn solche Quanten-
Strings tropisieren, so dass eine dreidimensionale effekte lassen sich nicht ohne Weiteres berechnen.
Struktur mit gebietsweise linearen Kurven entsteht Auf der Suche nach einer Lösung dieses Problems
(Mitte, hier in 2-D dargestellt). Die Anzahl aller offenen stießen Bernd Siebert, damals an der Albert-Ludwigs-Uni-
tropischen Kurven entspricht dabei den Quanteneffek- versität Freiburg und der Universität Hamburg, heute an der
ten, die offene Strings auf der Mannigfaltigkeit des University of Austin, und Mark Gross, früher an der Univer-
B-Modells (unten links) hinterlassen und eine Konstruk- sity of California San Diego und inzwischen am King’s
tion dieser so schwer machen. College in Cambridge, 2007 auf die tropische Geometrie.
Genau wie Kurven lassen sich auch Flächen oder höher-
A-Modell dimensionale Mannigfaltigkeiten tropisieren. Dazu ersetzt
man die komplexen Koordinaten durch die Logarithmen
algebraische ihrer Beträge und betrachtet die neue Struktur für den
Kurve
Grenzfall, dass die Basis des Logarithmus gegen unendlich
geschlossener
String geht. Auf diese Weise wird aus der sechsdimensionalen
offene
D-Brane Strings symplektischen Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit des A-Modells
eine dreidimensionale reelle »Oberfläche«.

Tropische Spuren von Strings


Neben der Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit der A-Seite »tropi-
sierten« Siebert und Gross auch alle möglichen darauf
verlaufenden rationalen Kurven, die den Bewegungen
offener und geschlossener Strings entsprechen. Auf der
dreidimensionalen reellen Oberfläche (der ehemaligen
Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit) sehen die tropischen Kurven
ganz ähnlich aus wie die gebietsweise linearen Strukturen
in der reellen Ebene (siehe »Das Skelett der Amöbe« ab
S. 26). Je nachdem, wie sie sich auf der dreidimensionalen
Struktur zusammensetzen, können dabei offene oder
geschlossene tropische Kurven entstehen.
Tropisieren
Gross und Siebert erkannten, dass sie aus den offenen
tropischen Kurven die komplexe B-Seite herleiten können.
Denn die Anzahl offener Kurven bestimmt, wie sich die
Schwingungen offener Strings auf die Geometrie des
B-Modells auswirken. Mit diesen quantenmechanischen
Korrekturen haben die beiden Mathematiker schließlich den
Spiegel einer symplektischen Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit
konstruiert (siehe Bild links).
Die Anzahl der offenen Kurven Das bringt Siebert seinem Ziel einen Schritt näher: die
bestimmt Quantenkorrekturen Spiegelsymmetrie als mathematisches Werkzeug zu etab-
im B-Modell.
lieren, wie es Physiker für einige Spezialfälle schon seit
mehr als 25 Jahren nutzen. Die tropische Geometrie scheint
dabei der fehlende Baustein zu sein, nach dem viele
algebraische

Mathema­tiker so lange gesucht haben. Sie bildet die Brü-


Kurve

B-Modell cke in der Geometrie, wo niemand zuvor eine Verbindung


D-Branen sind im erwartet hatte. 
A- und B-Modell
gleich.
D-Brane

QUELLEN
geschlossener

Abromovich, D. et al.: Decomposition of degenerate Gromov-


Witten invariants. ArXiv 1709.09864, 2017
String
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF

Siebert, B., Gross, M.: From real affine geometry to complex


geometry. Annals of Mathematics 174, 2011

LITERATURTIPP

Gross, M.: Tropical geometry and mirror symmetry. American


Strings
offene

Mathematical Society, 2008

Der Mathematiker Mark Gross fasst die Vorträge einer Konferenz


über tropische Geometrie und Spiegelsymmetrie zusammen.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 35


ü
KURVEN
RECHTECKE
IM KREIS
Auf Grund der wegen des Coronavirus
herrschenden Ausgangsbeschränkun­
gen konnten sich zwei Mathematiker
in Ruhe einem jahrzehntealten geome­
trischen Rätsel widmen. Anfangs
machten sie sich wenig Hoffnung –
doch dank eines Tricks lag die Lösung
plötzlich vor ihnen.

Kevin Hartnett ist


­Wissenschafts­journalist in
­Columbia, South Carolina.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


 spektrum.de/artikel/1783520

AUF EINEN BLICK


VOM MÖBIUSBAND
ZUR KLEINSCHEN FLASCHE

1 Kann man in jeder Schleife vier Punkte markieren,


damit ein Rechteck mit beliebigen Pro­portionen
­entsteht? Diese einfach anmutende Frage plagt Mathe-
matiker seit Jahrzehnten.

2 Während der Corona-Pandemie widmeten sich zwei


Forscher diesem Problem. Dazu verfrachteten sie
es in einen bestimmten vierdimensionalen Raum, um
dessen besondere Eigenschaften zu nutzen.

3 Sie fanden Gemeinsamkeiten zu bekannten Objekten


wie der kleinschen Flasche und einem Möbiusband,
was sie zu einem unverhofften Beweis führte.
Welche Rechtecke
lassen sich in
einer geschlossenen
Kurve finden?

36 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Aspect Ratios
1 Aspect
AspectRatios
Ratios 2
11 Aspect Ratios
22
1 2


Als sich das neue Corona­
virus im März 2020 auf der
ganzen Welt ausbreitete und
die meisten Staaten nach und
1:1 1 2:1 1
1:1
1:1 1 1 2:1
2:1 11

1
nach Ausgangsbeschränkungen
verhängten, fanden sich die 1:1 1 2:1 1
Mathematiker Joshua Greene vom
Boston College, Massachusetts,

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


und Andrew Lobb vom Okinawa
Institute of Science and Technolo- 1 2

gy in Japan isoliert in ihrem jeweili-


gen Zuhause wieder. Um mit der unge-
wohnten Situation fertigzuwerden, be-
schlossen die beiden Kollegen, sich in ihre 7:9
Forschung zu stürzen. 16:9 7:9
7:9

9
Eine der Aufgaben, der sich die Freunde 16:9
16:9 7:9

9
zuwandten, ist eine jahrzehntealte Frage 16:9
aus der Geometrie: Kann man in einer
geschlossenen Kurve (einer Schleife) immer
vier Punkte markieren, damit ein Rechteck
16
mit allen denkbaren Seitenverhältnissen
entsteht? »Das Problem lässt sich einfach formulieren und Rechtecke können
7
leicht verstehen, aber es ist wirklich kompliziert«, sagt die unendlich viele verschiedene
Knotentheoretikern Elizabeth Denne von der Washington Seitenverhältnisse haben.
and Lee University.
Auf den ersten Blick wirkt es wie eine Aufgabe aus Ein Rechteck lässt sich dadurch charakterisieren,
einem Mathematikwettbewerb, die ein Schüler der Mittel- dass sich die zwei gleich langen Hauptdiagonalen im
stufe mit Lineal und Zirkel lösen könnte. Doch in Wirklich- Mittelpunkt des Vierecks schneiden.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

keit hat es sich jahrzehntelang den größten Bemühungen


der Mathematiker widersetzt. Als Greene und Lobb es in A B
Angriff nahmen, hatten sie keinen besonderen Grund zu
erwarten, es besser zu machen. Von all den verschiedenen
Projekten, an denen er arbeitete, schätzte es Greene als das
am wenigsten vielversprechende ein.

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


Mittelpunkt
Rechtecke in neuem Licht
Während sich die Pandemiesituation weiter zuspitzte,
telefonierten Greene und Lobb wöchentlich und machten
schnell Fortschritte. Am 19. Mai, als einige Teile der Welt
gerade wieder anfingen, die Beschränkungen zu lockern,
veröffentlichten die beiden Mathematiker schließlich eine
Lösung des Problems. Die Arbeit, in der sie die Existenz der
vorhergesagten Rechtecke beweisen, verfrachtet die Frage
D C
in ein völlig neues geometrisches Gebiet.
AC = BD
Das Rechteck-Problem ist die abgewandelte Version
einer Vermutung, die der deutsche Mathematiker Otto nicht glatt sein. Das heißt, sie können an einer Stelle schlag-
Toeplitz (1881–1940) 1911 aufstellte. Demnach sollte jede artig ihre Richtung wechseln. Einen Extremfall bildet die
geschlossene Kurve vier Punkte enthalten, die sich zu fraktale Koch-Kurve, die einer Schneeflocke ähnelt und im
einem Quadrat verbinden lassen. Die so genannte Toeplitz- Grenzwert ausschließlich aus Ecken besteht. Diese und
Vermutung ist bis heute unbewiesen. ähnliche Kurven lassen sich nicht durch die Infinitesimal-
Die Schwierigkeit liegt in der Art von Kurven, die das rechnung oder verwandte Methoden der Analysis untersu-
Problem zulässt. Wenn man Sie bittet, eine Schleife auf ein chen, was es besonders schwierig macht, mit ihnen zu
Blatt Papier zu malen, werden Sie höchstwahrscheinlich arbeiten.
eine Kurve zeichnen, die Mathematiker als glatt und stetig Deshalb wandten sich Greene und Lobb einer Version
bezeichnen würden. Stetigkeit bedeutet, dass es weder der Toeplitz-Vermutung zu, die nur glatte Kurven zulässt.
Brüche noch Lücken gibt, während glatte Kurven keine Wie der US-amerikanische Mathematiker Arnold Emch
Ecken aufweisen. (1871–1959) bereits 1916 bewiesen hat, enthalten solche
Die Toeplitz-Vermutung ist dagegen allgemeiner: Die Schleifen stets vier Punkte, die ein Quadrat bilden. Greene
darin auftretenden Kurven müssen zwar auch stetig, aber und Lobb stellten sich nun die Frage, ob es immer vier

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 37


ü
Punkte gibt, die ein Rechteck mit einem beliebigen Seiten- Damit das gelingt, hilft es, alle möglichen Punktepaare
verhältnis bilden, was Quadrate mit einem Verhältnis von der Kurve zu bilden und grafisch darzustellen. Das Verfah-
eins zu eins einschließt. ren lässt sich durch folgendes Beispiel veranschaulichen:
Den ersten großen Fortschritt erzielte der US-amerikani- Man kann zwei Punkte des Zahlenstrahls – etwa 7 und
sche Mathematiker Herbert Vaughan (1911–1992) in den 8 – stets einem einzigen Punkt in der Ebene zuordnen, etwa
späten 1970er Jahren. Er etablierte völlig neue Methoden, (7, 8). Betrachtet man alle möglichen Zahlenpaare, die sich
die danach viele seiner Kollegen, darunter Greene und aus dem Zahlenstrahl erzeugen lassen, könnte man damit
Lobb, aufgriffen. »Jeder kennt diesen Beweis«, sagt Greene. die gesamte zweidimensionale Ebene ausfüllen.
»Es ist die Art von Dingen, die man am Mittagstisch im Vaughan tat etwas Ähnliches mit der geschlossenen
Gemeinschaftsraum diskutiert.« Kurve, die wie der Zahlenstrahl eindimensional ist. Indem er
Um ein Rechteck zu charakterisieren, wählte Vaughan Paare aus allen darauf befindlichen Punkten bildete, erhielt
einen ungewöhnlichen Weg. Er konzentrierte sich auf zwei er allerdings keine flache Ebene, sondern ein Möbiusband.
Paare von Punkten, die in einer bestimmten Beziehung Dieses geometrische Gebilde entspricht einem Streifen, den
zueinander stehen. Stellen Sie sich dazu ein Rechteck mit man ringförmig zusammenklebt, nachdem man eines der
den Ecken ABCD vor, im Uhrzeigersinn von links oben mit A Enden einmal gedreht hat. Dadurch besitzt es nur eine
beginnend. Eine Diagonale des Rechtecks (die Strecke AC) Fläche, man kann nicht zwischen Innen- und Außenfläche
ist dabei immer genauso lang wie die andere Diagonale unterscheiden.
(BD), wobei sich beide Strecken in ihren Mittelpunkten Warum gerade ein Möbiusband eine geschlossene Kurve
schneiden. Um Rechtecke in einer geschlossenen Kurve zu parametrisiert, lässt sich leicht nachvollziehen. Wählt man
identifizieren, muss man also Punktepaare finden, die gleich zwei Punkte auf der Schleife aus und beschriftet sie mit x
Makingmitademselben
lange Liniensegmente Möbius Strip besitzen.
Mittelpunkt und y, kann man mit einem Finger von x nach y entlang des
Bogens der Kurve gleiten und gleichzeitig mit dem anderen
Finger von y nach x entlang des komplementären Bogens.
Dabei durchquert man alle möglichen Punktepaare auf der
Kurve, die sich zwischen (x, y) und (y, x) bilden lassen. Am
Ende kehrt man wieder zum Ausgangspunkt zurück, aller-
dings mit umgekehrter Orientierung: Die Finger haben ihre
Wenn man Positionen getauscht. Ein solcher Richtungswechsel cha-
die Punktepaare c rakterisiert ein Möbiusband.
in die zwei­ Das gab Mathematikern ein neues Objekt zur Hand, das
dimensio­nale sie untersuchen konnten, um das Rechteck-Problem anzu-
Ebene überträgt, gehen. Vaughan gelang es, auf diese Weise zu zeigen, dass
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE

a bilden sie ein jede stetige, glatte, geschlossene Kurve mindestens vier
Möbiusband. Punkte enthält, die ein Rechteck bilden.
Der Beweis von Greene und Lobb baut auf Vaughans
Arbeit auf, enthält aber auch geometrische Erkenntnisse,
die erst kürzlich veröffentlicht wurden. Einen der wichtigs-
ten Bausteine lieferte der Princeton-Absolvent Cole Hugel-
d meyer im November 2019, der eine neue Methode entwi-
ckelte, um mit Möbiusbändern zu arbeiten. Seine Idee
bestand darin, das Objekt in einen anderen geometrischen
b Raum zu verfrachten, Mathematiker bezeichnen das als
Einbettung.

{a,b} ungeordnete Paare


{c,d } Vierdimensionale Antworten
Ein einfaches Beispiel dafür ist eine eindimensionale Linie,
die man in einen zweidimensionalen Raum überträgt.
Anfangs ist jeder Punkt auf der Linie durch eine einzige Zahl
definiert. Im zweidimensionalen Raum braucht man jedoch
zwei Werte, um einen Punkt darzustellen – die x- und
y-Koordinaten. In diesem neuen Rahmen lässt sich die Linie
mit den Werkzeugen der zweidimensionalen Geometrie
bearbeiten, was sich häufig als hilfreich erweist.
Hugelmeyer folgte dem Gedanken und bettete das
Möbiusband in einen vierdimensionalen Raum ein. »Im
Wesentlichen hat man ein Möbiusband, und man ordnet
jedem Punkt vier Koordinaten zu«, erklärt Lobb. Wie bei
einer Postanschrift weist er jedem Punkt des Möbiusbands
so etwas wie ein Land, einen Ort, einen Straßennamen und

When plotted onto 2D space, these pairs form a Möbius strip.


38 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20
ü
a c
y
( a,b,c, ... )
2. The third coordinate is
the straight-line distance
between the pair of points.

c x
Kurven im vierdimensionalen Raum
Wenn man eine Kurvein in Four-Dimensional
den vierdimensionalen Raum einbettet, weist man jedem
( a,b,c, ... )
Embedding Curves Space y
­PEmbedding
unktepaar eine vierdimensionale
Embedding a curveCurves Adresse
in Four-Dimensional
in four-dimensional zu, die
Space
space means giving each durch vier Werte festgelegt ist.
3. The fourth coordinate is
pair of points on the curve a four-dimensional “address,” defined by x
Embedding a curve in four-dimensional space means giving each
four coordinate values.
pair of points on the curve a four-dimensional “address,” defined by
the angle formed by a line
four coordinate values.
y
that runs through the pair
y
Die ersten beiden Die vierte
of Koordinate
points andergibt
y 1. The first two coordinates 3. The fourth coordinate is the x-axis.
Koordinaten der Adresse sich durch den Winkel,
in the four-dimensional the angle formed by a line
entsprechen
1. The first twodem
coordinates welche die Verbindungs­
address are the coordinates that runs through the pair
Mittelpunkt
in des Punkte-
the four-dimensional linie der Punkte mit der
of the midpoint between the of points and the x-axis.
paars. are the coordinates
address x-Achse bildet.
pair of points.
of the midpoint between the 130º-Winkel
pair of points.
b 130º-Winkel
b ( a,b, ... )
( a,b, ... ) ( a,b,c,d
( a,b,c,d ) )
x x x
a
x
y a
Assigning these four coordinates to each point on the Möbius strip
y 2. The third coordinate is
the straight-line distance
Assigning theseIndem
makes it possible
four man
to embed jedem
the stripPunkt
coordinates to des Möbiusbands
in four-dimensional
each pointspace.
on the Möbius strip
Der
2. dritte
The thirdWert ist dieis
coordinate diese vier Koordinaten zuordnet, kann man es in
between the pair of points.
Distanz
the zwischen
straight-line den
distance
makes it possibleden to vierdimensionalen
embed the stripRaum in four-dimensional
einbetten. space.
beiden Punkten.
between the pair of points.
( a,b,c,d )
c
c
( a,b,c, ... ) ( a,b,c,d )
( a,b,c, ... )
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE

x
x
y 4-D-Raum

y 3. The fourth coordinate is


the angle formed by a line
3. The fourth coordinate is
that runs through the pair
the angle formed by a line
of points and the x-axis.
that runs through the pair
eine Hausnummer zu. Hugelmeyer konnte somit die
of points and the x-axis.
Eigen-
schaften der vierdimensionalen Geometrie nutzen, um die
130º-Winkel 4-D-Raum
möglichen Rechtecke in einer geschlossenen Kurve zu
130º-Winkel
untersuchen.
Dabei erzeugte er die vierdimensionalen (a,b,c,d )
Koordinaten auf
geschickte Weise. Er nahm einen x (a,b,c,d
Punkt auf )
dem Möbius-
band und betrachtete die zwei xentsprechenden Punkte auf Wie bereits erwähnt, kann man sich ein Rechteck als
der ursprünglichen
Assigning these fourgeschlossenen Kurve.
coordinates to each point Dann
on the Möbiusberechnete
strip zwei Paare von Punkten vorstellen, die einen gemeinsamen
er deren Mittelpunkt
makes und
it possible to embed wählte
the strip in die space. x- und
dazugehörigen
four-dimensional Mittelpunkt haben und gleich weit voneinander entfernt
Assigning these four coordinates to each point on the Möbius strip
y-Koordinaten als die
makes it possible ersten
to embed beiden
the strip Werte derspace.
in four-dimensional vierdimen­ sind. Diese Eigenschaften sind in den ersten drei Werten
sionalen Adresse. Die dritte Koordinate entsprach dem der vierdimensionalen Adresse kodiert. Hugelmeyer hat das
gerad­linigen Abstand zwischen ( a,b,c,d )
den beiden ursprünglichen Möbiusband im vierdimensionalen Raum daher so gedreht,
Punkten auf der Kurve. Schließlich ( a,b,c,d )
berechnete Vaughan dass sich nur die letzte Koordinate ändert – als würde man
den Winkel, der entsteht, wenn eine Linie durch die beiden im gleichen Staat, in der gleichen Stadt und der gleichen
ursprünglichen Punkte auf die x-Achse trifft. Dieser Winkel Straße bleiben, aber alle Hausnummern eines Viertels
stellt den vierten Wert in der abstrakten, vierdimensionalen abwandeln. Dadurch blieben die drei Koordinaten, die den
Adresse dar. Mittelpunkt der Punkte und ihren Abstand enthalten, gleich.
Das Vorgehen mag kompliziert erscheinen, aber es Die Rotation wirkt sich also nur auf den letzten Wert aus,
4-D-Raum
erlaubte Hugelmeyer, große Fortschritte zu erzielen. Um der Informationen über den Winkel des Liniensegments
4-D-Raum
die möglichen Rechtecke in der geschlossenen Kurve zwischen den Punktepaaren beinhaltet.
zu identifizieren, drehte er das eingebettete Möbiusband im Ein Schnittpunkt zwischen der gedrehten Kopie des
vierdimensionalen Raum – was zwar schwer vorstellbar, Möbiusbands und dem Original entspricht daher zwei
allerdings mathematisch leicht zu bewerkstelligen ist. Das verschiedenen Punktepaaren auf der geschlossenen Kurve,
versetzte Band kreuzt dabei das Original an bestimmten die den gleichen Mittelpunkt haben und gleich weit vonein-
Stellen. Diese entsprechen den Punktepaaren, die vier ander entfernt sind. Sie bilden zusammen die vier Ecken
Eckpunkte eines Rechtecks auf der ursprünglichen Schleife eines Rechtecks auf der ursprünglichen geschlossenen
bilden. Kurve.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 39


ü
möglich, in der dazugehörigen Kurve Rechtecke mit allen
erdenklichen Seitenverhältnissen zu finden.
Overlapping Möbius Strips Mitte April 2020 arbeiteten sie eine Strategie aus, die sie
Überlappende Möbiusbänder
After the Möbius strip is embedded in four-dimensional space, zum Ziel führen sollte. Dabei verfrachteten sie das Möbius-
Nach der Einbettung im
mathematicians rotate it.vierdimensionalen Raum band in eine spezielle Version des vierdimensionalen
drehen Mathematiker das Möbiusband. Raums. Ihr Vorgehen unterscheidet sich von Hugelmeyers,
Möbius strip in 4D space da man das Band nicht beliebig darin platzieren kann. Die
Möbiusband im 4-D-Raum (hier als Anzahl der Möglichkeiten, das zu bewerkstelligen, ist
y (represented here as a curve in 2D space)
Kurve im 2-D-Raum dargestellt) dadurch begrenzt. Denn der von Greene und Lobb betrach-
tete vierdimensionale Raum besitzt eine Struktur, die den
Der Schnittpunkt Prozess erschwert.
The point of intersection
zwischen dem
between the rotated
rotierten Möbius-
band und dem
Symplektische Geometrie als Lösung
Möbius strip and
Original entspricht Einthe
zweidimensionales Beispiel dafür ist eine Karte, die mit
unrotated Möbius
zwei Punktepaaren stripübersät ist. Ein solches Vektorfeld nutzen beispiels-
Pfeilen
auf der ursprüngli-
corresponds exactly
chen geschlossenen weisetoMeteorologen, um anzuzeigen, in welche Richtung
Kurve, die ein
two pairs of points
und back
mit welcher Geschwindigkeit ein Wind weht. Möchte
Rechteck bilden.
man eine geschlossene Kurve in eine solche Karte einbet-
on the original closed

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


curve that formten,
the könnte man fordern, dass die Schleife immer der
Richtung der Pfeile folgen muss. In diesem Fall gibt es
vertices of a rectangle.
weitaus weniger Möglichkeiten, eine Kurve in der Ebene zu
x platzieren.
0
Je nach Art des geometrischen Raums lassen sich dem
verschiedene Einschränkungen auferlegen. Greene und
Lobb konzentrierten sich auf einen so genannten symplekti-
Tatsächlich ist die Idee nicht neu, einen Schnittpunkt schen Raum, den Mathematiker erstmals im 19. Jahrhun-
zwischen zwei Räumen zu nutzen, um Punkte mit gewissen dert untersuchten, um dynamische physikalische Systeme
Eigenschaften zu finden. Mathematiker verwenden sie wie kreisende Planeten zu beschreiben. Wenn sich ein
schon lange bei geometrischen Problemen. »Viele Beweise Objekt durch den dreidimensionalen Raum bewegt, definie-
basieren darauf«, sagt auch Elizabeth Denne. Indem Hugel- ren drei Koordinaten seine Position. Wie der irische Mathe-
meyer das Problem jedoch in den vierdimensionalen Raum matiker William Rowan Hamilton (1805–1865) feststellte, ist
verfrachtete, konnte er mehr herausholen als jeder andere
vor ihm. Wie er bewies, ergeben ein Drittel aller Rotationen Embedding Curves
des Möbiusbands zwischen 0 und 360 Grad einen Schnitt-
punkt zwischen dem Original und der gedrehten Kopie. Das Kurven einbetten
Embedding
heißt, man kann auf jeder geschlossenen Kurve Rechtecke
A one-dimensional curve is
mit einem Drittel aller möglichen Seitenverhältnisse finden. placedEinbettung (or embedded)
Platziert man eineinto
ein­
So beeindruckend das Ergebnis ist, verwunderte es dimensionale
two-dimensional Kurve Now
space. in den
Mathematiker zugleich: Wenn sich der vierdimensionale zweidimensionalen Raum,
each point on Punkt
ist jeder the curve is
auf der
Raum so gut eignet, um das Problem anzugehen, warum defined Kurve durch
by two zwei Koordi­
coordinates.
sollte er dann nur für ein Drittel aller Rechtecke nützlich naten definiert.
sein? »Man sollte in der Lage sein, auch die anderen zwei
Drittel abzuhandeln«, sagt Greene.
Schon vor dem Ausbruch der Pandemie hatten sich
Greene und Lobb für das Rechteck-Problem interessiert.
Als Letzterer im Februar 2020 eine Konferenz im Okina-
wa Institute of Science and Technology veranstaltete,
an der unter anderem Greene teilnahm, verbrachten die
beiden ein paar Tage damit, über das Thema zu reden.
Danach setzten sie ihr Gespräch während einer ein­
wöchigen Besichtigungstour in Tokio fort. »Wir haben
nicht aufgehört, über das Problem zu reden«, erinnert
sich Lobb. »Wir gingen in Restaurants, Cafés, Museen,
und immer wieder dachten wir darüber nach.« RulesEinbettungsregeln
of Embedding
Nachdem sie wegen des grassierenden Coronavirus in Diese Einbettung erfüllt
This embedding conforms to
SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE

gewisse Regeln. Die Kurve


ihren jeweiligen Wohnorten eingesperrt waren, führten sie certainfolgt rules,
denorPfeilen,
structure,
die den
die Diskussion fort. Sie wollten beweisen, dass sich jede placedzweidimensionalen
on the two-dimensionalRaum
füllen.
mögliche Drehung des Möbiusbands im vierdimensionalen space. The embedded curve
Raum mit dem Original schneidet. Denn dann wäre es follows the arrows, or vectors,
in the two-dimensional space.
40 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20
ü
es an jedem Punkt der Planetenbewegung möglich, einen
Vektor zu setzen, der den Impuls des Objekts darstellt,
ähnlich wie bei einer Wetterkarte. Kleinsche
In den 1980er Jahren entdeckte der Mathematiker Vladi- Flasche
mir Arnold (1937–2010), dass sich symplektische Räume Klein Bottle
nach einer Drehung häufiger schneiden als Räume ohne Die kleinsche
The Klein bottle is a
eine solche Struktur. Daher entschieden sich Greene und ­Flasche ist eine
Lobb dafür, das Möbiusband in einen symplektischen two-dimensional
zweidimensionale surface. In
vierdimensionalen Raum einzubetten. »Wir hatten die three-dimensional
Oberfläche, die sich im space, the
entscheidende Einsicht, dass wir das Problem aus der dreidimensionalen Raumitself.
surface intersects
Perspektive der symplektischen Geometrie betrach- stets selbst durchdringt.
ten sollten«, so Greene. »Das war eine völlig neue Allerdings lässt sie sich ohne
Erkenntnis.« However,imit’s
Überschneidung possible to embed
gewöhn­
Ende April 2020 fand er mit Lobb eine Mög- thevierdimensionalen
lichen Klein bottle in ordinary

SAMUEL VELASCO / QUANTA MAGAZINE


lichkeit, das Möbiusband in den entsprechen- Raum einbetten. Im sym-
four-dimensional space so that
den Raum einzubetten. Das ermöglichte es plektischen vierdimensiona-
it doesn’t intersect itself. But in
ihnen, die Werkzeuge der symplektischen len Raum ist es wiederum
Geometrie einzusetzen – von denen viele four-dimensional
anders, symplectic
dort gibt es keine
darauf abzielen, zu erklären, wie sich Räume space,
sich nichtsuch a nonintersecting
kreuzenden
schneiden. An diesem Punkt angelangt, zeigten ­kleinschen Flaschen.
embedding is not possible.
sich Greene und Lobb zuversichtlich, das Ergeb-
nis von Hugel­meyer verbessern zu können. Sie woll-
ten zeigen, dass mehr als ein Drittel aller Rotationen
einen Schnittpunkt liefern.
Aber ihr Ergebnis war wesentlich weitreichender und hätte man eine kleinsche Flasche erzeugt, die sich nicht
stellte sich viel schneller ein, als sie es erwartet hatten. Der kreuzt. Das ist im vierdimensionalen symplektischen Raum
Grund dafür hat mit der so genannten kleinschen Flasche allerdings unmöglich. Daher muss sich jede mögliche
zu tun, die eine wichtige Eigenschaft besitzt, wenn man sie Drehung des eingebetteten Möbiusbands schneiden – das
im Kontext der symplektischen Geometrie betrachtet. heißt, jede geschlossene, glatte Kurve enthält Mengen von
Die kleinsche Flasche ist eine zweidimensionale Ober­ vier Punkten, die sich zu Rechtecken aller Seitenverhältnis-
fläche, die einem modernen Wasserkrug ähnelt. Wie das se zusammenfügen lassen. Damit hatten Greene und Lobb
Möbiusband hat sie nur eine Fläche, die gleichzeitig innen unverhofft eine Lösung für das jahrzehntealte Problem
und außen ist. Man kann eine kleinsche Flasche herstellen, gefunden.
indem man zwei Möbiusbänder zusammenklebt. Unabhän- Der Durchbruch verdeutlicht, wie wichtig es ist, wissen-
gig davon, wie man sie erzeugt, wird sie sich im dreidimen- schaftliche Fragestellungen im richtigen Licht zu betrach-
sionalen Raum immer selbst durchdringen. ten. Generationen von Mathematikern waren vor ihnen
Im vierdimensionalen Raum kann man die kleinsche gescheitert, weil sie eine Antwort in gewöhnlichen geomet-
Flasche dagegen überschneidungsfrei platzieren. Das ist rischen Umgebungen suchten. Sobald Greene und Lobb es
ähnlich wie bei zwei Personen, die auf einer eindimensiona- jedoch in die symplektische Welt verschoben hatten, war
len Linie aufeinander zugehen und zwangsweise zusam- der Weg schnell offensichtlich. 
menstoßen, während sie sich in einer zweidimensionalen
Ebene leicht ausweichen können. QUELLEN
Als Greene und Lobb im Mai 2020 weiter an ihrem Greene, J., Lobb, A.: The rectangular peg problem. ArXiv,
Problem arbeiteten, kam ihnen wieder eine interessante 2005.09193, 2020
Eigenschaft der kleinschen Flasche in den Sinn: Es ist
Hugelmeyer, C.: Inscribed rectangles in a smooth Jordan curve
unmöglich, sie in einen vierdimensionalen symplektischen attain at least one third of all aspect ratios. ArXiv, 1911.07336,
Raum einzubetten, ohne dass sie sich überschneidet. Das 2019
heißt, es gibt keine kleinsche Flasche, die den besonderen
Toeplitz, O.: Über einige Aufgaben der Analysis situs. Verhand-
Regeln des symplektischen Raums entspricht und sich lungen der Schweizerischen Naturforschenden Gesellschaft in
nicht selbst durchdringt. Das war der Schlüssel zu ihrem Solothurn 94, 1911
Beweis.
Denn die beiden Mathematiker hatten bereits eine
Methode gefunden, um ein Möbiusband in den vierdimen- Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
Fassung des Artikels »New Geometric Perspective Cracks Old
sionalen symplektischen Raum einzubetten. Was sie wirk-
Problem About Rectangles« aus »Quanta Magazine«, einem inhalt-
lich wissen wollten, war, ob jede Drehung des Bands das lich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die
Original schneidet. Nun entsprechen zwei überlappende Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den
Möbiusbänder einer kleinschen Flasche, die sich in dieser Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
Art von Raum selbst durchdringt. Würde sich das Möbius-
band nach einer Rotation nicht mit dem Original schneiden,

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 41


ü
ROMAN VEROSTKO

42 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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ÄSTHETIK
MATHEMATISCHE
KUNST
Von der Mathematik in-
spirierte Bilder und Skulp-
turen entfalten ihre atem-
beraubende Schönheit. Manchester Illuminated
Turing Machine, #23 (1998)
Stephen Ornes ist
Wissenschaftsjournalist Der US-Amerikaner Roman Verostko machte in den
in Nashville, Tennessee, 1940er Jahren eine Kunstausbildung, wurde Priester,
und schreibt unter verließ diesen Beruf wieder, heiratete, zerlegte
anderem für »Scientific ­Computer und lernte in BASIC zu programmieren. Er
American« und »New
ist einer der Ersten, der seine Werke mit selbst ent­
Scientist«.
wickelter Software erzeugte, und zählt daher zu den
 spektrum.de/artikel/1654772 Pionieren der »algorithmischen Kunst«.
Als Verostko 1998 das Buch »The Emperor’s New
Mind« des berühmten Physikers Roger Penrose las,
ließ ihn ein darin beschriebener Aspekt nicht mehr
los. Penrose definiert in seinem Werk eine universelle
Version der nach dem britischen Wissenschaftler
Alan Turing benannten Maschinen, die die Arbeits-
weise eines Computers modellieren. Ihre universelle
Version sollte Penrose zufolge jede Funktion einer
spezialisierten Turing-Maschine nachahmen können.
Demnach kann eine universelle Turing-Maschine
(UTM) alles berechnen, was berechenbar ist. Dieses
Konzept begeisterte Verostko außerordentlich.
Daher entschied er, dass die UTM eine prachtvolle
Aufmachung verdient. Wegen seiner theologischen
Studien orientierte er sich dabei an handschriftlichen
mittelalterlichen Texten, die aufwändig mit goldenen
und silbernen Illustrationen verziert sind. Mit einem
Plotterstift schuf Verostko die abstrakten Figuren, mit
denen er die binäre Definition der UTM – eine lange
Folge aus Nullen und Einsen – geschmückt hat.
ROMAN VEROSTKO

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 43


ü

Vielen Menschen haucht Mathematik Ehrfurcht ein.
Ihre starren Regeln und Prinzipien lassen nur wenig
Spielraum für Interpretationen. So wird es beispiels-
weise immer unendlich viele Primzahlen geben, genauso,
wie die Ziffern der Kreiszahl Pi niemals enden.
Andererseits ist es diese Beständigkeit, welche die
Mathematik für viele so attraktiv macht. Ein Beweis oder
eine Gleichung kann ausgesprochen elegant wirken.
­Gerade der Bereich der Gruppentheorie, der unter anderem
Drehungen und Spiegelungen von Objekten beschreibt,
ist dabei besonders reizvoll. Denn die Transformationen
lassen sich oft durch Symmetrien visualisieren, wie man sie
etwa in den ästhetischen Mustern von Schneeflocken

BATHSHEBA GROSSMAN
erkennt. 

Borromean Rings Seifert Surface (2008)


Seit mehr als einem Jahrzehnt schmiedet die in der Nähe von Boston
lebende Künstlerin Bathsheba Grossman mit Hilfe eines 3-D-Druckers
mathematische Skulpturen aus Metall.
Die drei Außenringe ihres Werks berühren sich zwar nicht, sind aber
trotzdem untrennbar miteinander verbunden. Entfernt man einen Ring,
lösen sich auch die zwei anderen voneinander. Diese berühmten borromäi-
schen Ringe zieren das Logo der Internationalen Mathematischen Union. Für Mathematiker, die im
Bereich der Knotentheorie arbeiten, sind solche Gebilde besonders interessant.
Die durch die borromäischen Ringe begrenzte Oberfläche heißt Seifert-Oberfläche. Um ihre
seltsame Form hervorzuheben, hat Grossman eine perforierte Textur gewählt, die durch ein ab-
wechslungsreiches Licht- und Schattenspiel ihre ungewöhnliche Topografie betont.

Aurora Australis (2010)


Der Informatiker Carlo H. Séquin von der University of California in
Berkeley ist durch hunderte Werke bekannt, die abstraktesten
geometrischen Konzepten eine Gestalt verleihen. Er hat inzwischen
eine vielseitige Sammlung außergewöhnlicher Skulpturen aus
Holz, Metall und Kunststoff geschaffen.
Für dieses Werk inspirierte ihn ein Lichtspektakel am Himmel
der südlichen Hemisphäre: die Aurora australis. Das verdrehte
Band symbolisiert die sich auf- und abwiegenden Lichtstreifen.
Es wechselt von flach zu gebogen und verbindet sich schließlich
mit sich selbst. Setzt man einen Finger auf die Skulptur und folgt
ihrem Verlauf, berührt man währenddessen die gesamte Figur
und kehrt am Ende dorthin zurück, wo man gestartet ist. Die
Innenfläche ist demnach auch die Außenfläche des Stücks,
was es zu einem Möbiusband macht, der einfachsten
»nicht orientierbaren« Oberfläche. Letzteres bedeutet, dass
man einem solchen Objekt keine Begriffe wie »vorne«,
»hinten«, »innen« oder »außen« zuordnen kann.
Laut Séquin sind diese Visualisierungen nicht nur fesselnd,
sondern sie verschaffen selbst »Menschen, die Mathe hassen,
einen einfacheren Zugang zu abstrakten Konzepten«.
CARLO H. SÉQUIN

44 Spektrum SPEZIAL
ü
Buddhabrot (1993)

Ende des 20. Jahrhunderts eroberte die »Mandel­


brotmenge« die Welt der Mathematik und der
Kunst. Diese fraktale Menge ist nach dem fran­
zösisch-amerikanischen Mathematiker Benoît
Mandelbrot (1924–2010) benannt, der in den
1970er Jahren als Erster fraktale Strukturen unter-
suchte. Sein 1982 erschienenes Buch »The Fractal
Geo­metry of Nature« ist noch heute ein Klassiker.
Um zu prüfen, ob ein Punkt in der komplexen
Ebene zur Mandelbrotmenge gehört, muss man
seine Koordinaten in eine bestimmte Gleichung
einsetzen. Das Ergebnis dieser Berechnung steckt
man anschließend wieder in die Gleichung und
wiederholt diese Prozedur immer weiter. Falls die
dabei entstehenden Werte nicht unbegrenzt
ansteigen, liegt der Ausgangspunkt innerhalb der
Menge.
Die Mandelbrotmenge besteht aus faszinieren-
den Mustern, die sich beim Hinein- und Heraus­
zoomen in der Ebene wiederholen. Sie ähnelt
einem großen Käfer, der von kleineren Käfern
umgeben ist, an denen noch kleinere Käfer kleben
und so weiter.
Der Programmiererin Melinda Green gefiel diese
Darstellung jedoch nicht. Anstatt bloß die Aus-
gangspunkte zu visualisieren, veranschaulichte sie,
wie einige Punkte durch das Einsetzen in die
Gleichung in der Ebene herumhüpfen. Was dabei
auf ihrem Monitor erschien, erschreckte sie ge­
radezu. Das so entstandene Bild ähnelt über­
raschenderweise einer Buddhafigur, die sie durch
verschiedene Färbungen deutlich betont.
MELINDA GREEN

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 45


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 Einige Wissenschaftler halten es deshalb für falsch,
Mathematik und Kunst strikt voneinander zu trennen. Sie
versuchen beide Fächer zu verbinden, indem sie Probleme Hyperbolic Plane / Pseudosphere
in der abstrakten Sprache von Zahlen und Gruppen formu- (2005)
lieren und ihre Antworten in Metallen, Kunststoffen, Höl-
zern oder auf dem Computerbildschirm suchen. Sie weben, Daina Taimina begann ihr geometrisches Hand-
zeichnen und bauen. Viele »mathematische Künstler« werk in den 1990er Jahren, als die heute pensio-
tauschen sich jährlich auf der internationalen Bridge-Kon­ nierte Mathematikerin von der Cornell University
ferenz aus oder treffen sich auf der alle zwei Jahre stattfin- einen Kurs zu hyperbolischer Geometrie gab. In
denden Gathering 4 Gardner, benannt nach Martin Gardner, der Schule begegnen uns meist nur ebene Flä-
der 25 Jahre lang die beliebte Kolumne »Mathematical chen, auf denen es beispielsweise nur genau eine
Games« für das Magazin »Scientific American« schrieb. Gerade gibt, die parallel zu einer vorgegebenen
In den vergangenen Jahren hat das Interesse an mathe- Geraden durch einen Punkt außerhalb von dieser
matischer Kunst immer stärker zugenommen, was sich in verläuft. Auf hyperbolischen Flächen gibt es
der wachsenden Menge von Ausstellungen und akademi- dagegen mehrere solcher Objekte. Das liegt daran,
schen Zeitschriften zu diesem Thema zeigt. Die Anfänge dass diese Flächen eine konstante negative Krüm-
des gegenwärtigen Booms reichen bis zum Ende des mung haben – sie ähneln einem Sattel. Ein Beispiel
20. Jahrhunderts zurück. Inzwischen decken Künstler dafür sind die krausen Ränder von Grünkohl.
allerdings ein deutlich breiteres Spektrum an mathemati- Taimina wollte handfeste Modelle hyperboli-
schen Gebieten ab und verwenden modernere Werkzeuge scher Flächen kreieren, um ihren Studenten einen
beim Bau ihrer Kunstwerke.  anschaulichen Eindruck negativer Krümmung zu
vermitteln. Weil sie schon fast ihr ganzes Leben
LITER ATURTIPP lang häkelt, war das ihr Mittel der Wahl. Mit einer
Gamwell, L.: Mathematics and art: A cultural story. Princeton Häkelnadel und Garn bewaffnet, begann sie hyper-
University Press, 2015 bolische Flächen zu erzeugen. Das hier gezeigte
Die kulturelle Geschichte von Mathematik und Kunst, von der Exemplar ist eine so genannte Pseudosphäre, die
Antike bis heute überall negativ gekrümmt ist. Sie ist gewisserma-
ßen das »Gegenteil« einer gewöhnlichen Kugel­
oberfläche, die in jedem Punkt eine positive
Krümmung hat.
Taimina kann sich guten Gewis-
sens als Erfinderin der »hyperboli-
schen Häkelarbeit« bezeichnen:
Inzwischen hat sie Dutzen-
de solcher Modelle in
allerlei Farben herge-
stellt – das größte
wiegt knapp acht
Kilogramm.
DAINA TAIMINA

46 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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Atomic Tree (2002)

Die Natur steckt voll fraktaler Muster, die in jeder Skalierung


gleich aussehen, egal ob man hinein- oder herauszoomt: von
den buschigen Brokkoliröschen bis hin zu zerklüfteten Ge-
birgszügen. Forscher können mit Fraktalen außerdem etliche
interessante Phänomene untersuchen, wie die Struktur des
Kosmos oder die Flugmuster von Vögeln.
Dieses Bild des in Florida lebenden Künstlers John
Sims kombiniert drei Darstellungen von Bäumen: eine
realistische Form, eine gezeichnete und ein baumförmi-
ges Fraktal. »Es steht für die Schnittstelle von Mathe-
JOHN SIMS

matik, Kunst und Natur«, erklärt Sims. Diese drei For-


men bilden einen Baustein, der sich in unterschiedlichen
Größen innerhalb des gesamten Bilds wiederholt und zu
einem großen Netzwerk zusammensetzt.
Sims stellte das Werk erstmals bei der MathArt /
ArtMath aus, einer 2002 von ihm mitkuratierten Aus-
stellung am Ringling College of Art and Design in Florida.
Außerdem kreierte er viele Werke, die von der Kreiszahl Pi
inspiriert sind, darunter Steppdecken und Kleider. Mit seiner
Kollegin Vi Hart produzierte er 2015 den Ohrwurm »Pi Day
Anthem«, in dem sie, begleitet von Trommeln und Bässen, die
Ziffern von Pi rezitieren.

Scarabs (2018)
Bjarne Jespersen bezeichnet sich selbst als magischen
Holzschnitzer. Der dänische Künstler strebt nach Verwunde-
rung: Er will, dass die Menschen seine Holzkreationen sehen,
halten, bewegen und trotzdem nicht an sie glauben. »Ich
sehe mich eher als Magier denn als Mathematiker oder
Künstler«, sagt er.
Wenn man »Scarabs« in den Händen hält, merkt man
schnell, dass die aus einem einzigen Buchenstück ge-
schnitzte Kugel aus losen Käfern besteht. Dennoch grei-
fen die Figuren ineinander und können nicht herausgelöst BJARNE JESPERSEN

werden, ohne dass etwas zerbricht.


Für diese Arbeit inspirierte ihn der niederländische
Künstler M. C. Escher, dessen Werke größtenteils mathe-
matischer Natur sind. Escher machte geometrische For­-
men populär, die in einem sich wiederholenden Muster
eine Ebene lückenlos bedecken. Mathematiker untersu-
chen seit Langem die Eigenschaften solcher Mosaikarbei-
ten – nicht nur auf ebenen Flächen, sondern auch in ge-
krümmten Räumen oder in höheren Dimensionen. Escher
selbst ließ sich von der islamischen Kunst inspirieren, insbe-
sondere von den Mustern, welche die Wände der Alhambra
in Südspanien zieren. Für »Scarabs« verwendete Jespersen
einen kleinen Käfer als Grundbaustein seiner Kachelung.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 47


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POLYTOPE
ORDNUNG MESSEN
Als Mathematiker geometrische Figuren sortierten, stießen
sie auf eine Verbindung zu einem völlig anderen Bereich.
Damit könnten sie sich dem Ziel, algebraische Gleichungen
nach ihren Grundbausteinen zu ordnen, endlich nähern.

Kevin Hartnett ist Wissenschafts­


journalist in Columbia, South Carolina.

 spektrum.de/artikel/1711064

Sie zerschneiden eine Figur in


PAUL-DANIEL FLOREA / GETTY IMAGES / ISTOCK

kleinere Bestandteile und setzen sie


zu einer neuen zusammen. Wie
lässt sich ermitteln, wann zwei Formen
derart »scherenkongruent« sind?

48 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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Stellen Sie sich vor, es liegen zwei Vielecke (Polygone) »Einige Kollegen spekulieren, dass Hilbert dieses Problem
aus Papier vor Ihnen. Ist es möglich, das erste so zu nur in seine Liste aufnahm, weil sein Student es bereits
zerschneiden und neu zusammenzusetzen, dass die gelöst hatte«, sagt Zakharevich. Unabhängig davon, ob das
zweite Form dabei herauskommt? Was wie eine typische zutrifft oder nicht: Dehns Ergebnis wälzte die bisherige
Knobelaufgabe für Rätselliebhaber klingt, beschäftigt geometrische Vorstellung vieler Mathematiker um.
Mathematiker nun schon seit Tausenden von Jahren.  Es zeigte, dass ein Tetraeder nicht scherenkongruent zu
Denn so einfach die Frage auch anmutet, geben sich einem Würfel gleichen Volumens ist. Egal, wie man Erste­
Forscher nicht damit zufrieden, eine Schere in die Hand zu res zerschneidet, man wird nie in der Lage sein, es als
nehmen und herumzuprobieren. Stattdessen suchen sie Würfel wieder zusammenzusetzen. 
nach Merkmalen, die im Vorfeld eindeutig festlegen, ob ein Dehn ging in seiner Arbeit sogar noch weiter. Er bewies
Objekt »scherenkongruent« zu einem anderen ist.  nicht nur, dass es mehr als das Volumen braucht, um
Tatsächlich gibt es für das obige Beispiel zweidimensio­ scherenkongruente Objekte in drei Dimensionen zu identifi­
naler Polygone ein erstaunlich einfaches Kriterium: Solche zieren, sondern er führte eine neue Größe namens Dehn-­
Objekte sind scherenkongruent, wenn sie den gleichen Invariante ein. Er konnte belegen, dass alle scherenkongru­
Flächen­inhalt haben. Diese Erkenntnis eröffnete sofort neue enten dreidimensionalen Polyeder sowohl das gleiche
Fragen. Wie verhält es sich mit höherdimensionalen Figu­ Volumen als auch die gleiche Dehn-Invariante haben.
ren, etwa einem Tetraeder? Und was passiert, wenn man
die zweidimensionalen Polygone, dreidimensionalen Poly­ Eine neue Invariante
eder oder höherdimensionalen Polytope in gekrümmten Um den neuen Parameter zu berechnen, muss man die
Geometrien betrachtet, in denen ihre Seiten nicht mehr Innenwinkel zwischen den Flächen eines Polyeders bestim­
geraden Linien entsprechen, sondern Geodäten, ähnlich men. In einem Würfel treffen alle Flächen unter einem
den Längengraden der Erdkugel?  Winkel von 90 Grad aufeinander. Kompliziertere Objekte
Schnell stellten Mathematiker fest, dass die Frage nach haben jedoch meist unterschiedliche Innenwinkel, die nicht
der Scherenkongruenz in solchen Fällen wesentlich kompli­ alle im gleichen Maß zur Form des Poly­eders beitragen. Die
zierter ausfällt. Trotz jahrhundertelanger Bemühungen Winkel zwischen längeren Kanten beeinflussen die Figur
konnten sie keine Merkmale identifizieren, die eindeutig stärker als solche zwischen kürzeren Kanten. Daher führte
festlegen, ob sich Polytope ineinander zerlegen lassen. Dehn für die Innenwinkel Gewichtungen ein, die von den
dazugehörigen Kantenlängen abhängen. Er konstruierte aus
Zwei eindeutige Kriterien diesen Größen eine komplizierte Formel, welche die Dehn-
Doch im Herbst 2019 machten zwei Mathematiker bedeu­ Invariante eines Polyeders liefert.
tende Fortschritte. In ihrer kürzlich veröffentlichten Arbeit Damit konnte er zeigen, dass alle dreidimensionalen
konnten Jonathan Campbell von der Duke University und scherenkongruenten Polyeder das gleiche Volumen haben
Inna Zakharevich von der Cornell University beweisen, dass und zudem dehninvariant sind, das heißt die gleiche Dehn-
zwei grundlegende Eigenschaften von Polytopen ausrei­ Invariante besitzen. Allerdings gelang es ihm nicht, die
chen, um zu beurteilen, ob sie scherenkongruent sind – umgekehrte Richtung der Aussage zu beweisen: nämlich
­vorausgesetzt, eine andere mathematische Vermutung ist dass sich dehninvariante Polyeder gleichen Volumens
richtig. Dabei könnten ihre Erkenntnisse neue Wege auf­ zwangsläufig ineinander zerlegen lassen. Erst nach mehr
zeigen, um die Scherenkongruenz mit einem der komplizier­ als 60 Jahren, 1965, konnte Jean-Pierre Sydler schließlich
testen Bereiche der Mathematik zu verbinden, den alge­ diesen Nachweis führen. Kurze Zeit später bewies Børge
braischen Gleichungen.
Dass zwei Polygone scherenkongruent sind, wenn sie
den gleichen Flächeninhalt haben, bemerkte Euklid bereits
vor mehr als 2000 Jahren. Viele Mathematiker gingen
daraufhin davon aus, dass man auch Polyeder oder höher­ AUF EINEN BLICK
dimensionale Objekte mit gleichem Volumen auf ähnliche MIT SCHERE UND HIRNSCHMALZ
Weise ineinander zerlegen kann.
Doch David Hilbert erkannte um 1900, dass das Problem
nicht so einfach ist, wie es scheint. In jenem Jahr hielt er
seine berühmte Rede auf dem Internationalen Mathe­ma­ti­
1 Wann lässt sich eine Form zerlegen und wieder zusam­
mensetzen, so dass eine bestimmte andere dabei
herauskommt? Oft lässt sich das schwer beantworten.
ker­­kongress in Paris, in der er 23 offene Probleme vorstell­
te, denen man sich in den nächsten 100 Jahren widmen
sollte. Hilberts drittes Problem hing mit der Scherenkongru­ 2 Im 20. Jahrhundert untersuchten Mathematiker, ob
zwei bis dahin identifizierte Kenngrößen ausreichen,
um Objekte in jeder Dimension und Geometrie durch
enz zusammen. Er vermutete, dass das Volumen allein nicht
Zerschneiden ineinander zu überführen.
ausreicht, um zu beurteilen, ob dreidimensionale Polyeder
scherenkongruent sind – und forderte seine Kollegen her­
3 Einer Vermutung zufolge könnten sich auf die Art sogar
PAUL-DANIEL FLOREA / GETTY IMAGES / ISTOCK

aus, ein entsprechendes Beispiel zu finden, das seinen algebraische Fragen in das einfacher zu handhabende
Standpunkt beweise. Reich der Geometrie verfrachten und dort lösen lassen.
Nicht einmal ein Jahr später stellte ein Student von
Hilbert, Max Dehn, zwei entsprechende Polyeder vor.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 49


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Jessen, dass die vierdimensionalen Versionen von Volumen »Man sieht im Wald einen Ring aus Pilzen und fragt sich,
und Dehn-Invarianten auch die Scherenkongruenz vierdi­ warum sie genau so gewachsen sind. Um den Grund zu
mensionaler Polytope eindeutig bestimmen. erfahren, muss man graben: Dann erkennt man, dass sich
Daraufhin widmeten sich Mathematiker der allgemeinen unter der Erde in Wirklichkeit nur ein Pilz befindet.«
Fragestellung, ob Volumen und Dehn-Invariante ausreichen, Goncharov vermutete, dass es in der Mathematik eine
um die Scherenkongruenz in jeder Dimension und Geomet­ ähnliche versteckte Struktur gibt, die viele scheinbar ver­
rie festzulegen. Besonders interessant erschienen dabei schiedenen Gebiete miteinander verbindet. In einer Reihe
Polytope, die in sphä­rischen oder hyperbolischen Geome­ von Hypo­thesen versuchte er 1996 meh­rere mathemati-
trien auftauchen, deren Seiten also Kreisbögen, Hyperbeln sche Phänomene zu erklären, darunter auch die Scheren­
oder anderen Kurven entsprechen. kongruenz. 
Ende des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der sowjetisch-
US-amerikanische Mathematiker Alexander Goncharov, der Ein universelles mathematisches Konzept
heute an der Yale Uni­versity arbeitet, eine Vermutung, die Eine der Annahmen besagt, dass das Volumen und die
das Problem ein für alle Mal lösen sollte – und die Scheren­ Dehn-Invariante ausreichen, um in jeder Dimension und
kongruenz dabei überraschenderweise mit einem völlig geometrischen Umgebung zu bestimmen, ob Polytope
anderen Bereich der Mathematik verband. In der Mathema­ scherenkongruent sind. Goncharovs Vermutungen gehen
tik verhält es sich wie in der Natur, so Inna Zakharevich: noch viel weiter. Ihnen zufolge ist die Scherenkongruenz
ein universelles Konzept, das sich
nicht bloß auf Polytope anwenden
lässt, sondern ebenfalls für Graphen
Scherenkongruenz in vielen Dimensionen gilt, die Lösungen algebraischer
Gleichungen entsprechen, etwa
Mathematiker wollen herausfinden, welche Polytope sich ineinander x2 + y2 + z2 = 1. Das heißt, dass auch
zerschneiden lassen. Sie hoffen, dass die Merkmale, die scheren­ algebraische Gleichungen Merkmale
kongruente Figuren identifizieren, ihnen dabei helfen, algebraische besitzen, die sie nach ihren Grund­
Gleichungen besser zu verstehen. bausteinen klassifizieren.
Das war eine riesige Überra­
schung, denn auf den ersten Blick
zweidimensionale haben beide Gebiete nichts mitein­
Vielecke
Die Objekte sind
ander zu tun. Es wirkte etwa so,
scherenkongruent, als ob das gleiche Prinzip, mit dem
wenn sie den gleichen man Tiere in verschiedene Klassen
Flächeninhalt haben.
Polygon 1 zerschneiden und Polygon 2 einordnet, es irgendwie erlauben
neu zusammensetzen
würde, chemische Elemente zu
dreidimensionale Polyeder kategorisieren. 
Höherdimensionale Figuren sind scherenkongruent, wenn sie das Tatsächlich lassen sich die Lösun­
gleiche Volumen und die gleiche Dehn-Invariante besitzen. Letztere
hängt von den Innenwinkeln und Kantenlängen des Polytops ab. gen einer polynomialen Gleichung
zerlegen – so, wie man Polytope zer-
schneiden und neu zusammenset­
Kantenlänge

Diese zwei zen kann. Für x2 + y2 + z2 = 1 bilden


Poly­eder sind die Lösungen zum Beispiel die
nicht scheren­
kongruent: Sie Oberfläche einer Kugel. Diese lässt
haben zwar das sich wiederum in kleinere Bestand­
Innenwinkel gleiche Volumen,
weichen aber teile aufteilen, die jeweils anderen
in ihrer Dehn- Gleichungen entsprechen. Die
Würfel regelmäßiges Tetraeder Inva­riante
Kugeloberfläche enthält etwa einen
LUCY READING-IKKANDA / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Volumen: 1 Volumen: 1 voneinander ab.


Dehn-Invariante: 0 Dehn-Invariante: nicht 0 Kreis, den Äquator, der x2 + y2 = 1
löst. Andererseits kann man auch
einen einzelnen Punkt wie den
Von Polytopen zu Nordpol der Kugel betrachten,
algebraischen Gleichungen Untergraph für welcher die Gleichung z = 1 darstellt. 
den Nordpol
So wie man Polytope zerschneiden
z = 1
Indem man solche Untergraphen
kann, lassen sich auch Graphen
algebraischer Gleichungen in untersucht, lässt sich einiges über
kleinere Untergraphen zerlegen. Untergraph für die Eigenschaften der zu Grunde
Mathematiker suchen nach einem den Äquator
x2 + y2 = 1 liegenden Struktur erfahren. Seit
Analogon der Dehn-Invariante, das
angibt, wann sich zwei Gleichungen Gleichung für mehr als 50 Jahren arbeiten Mathe­
aus den gleichen Grundbausteinen die Kugeloberfläche: matiker an einer Theorie, die algeb­
zusammensetzen. x2 + y2 + z2 = 1
raische Gleichungen auf diese Weise
beschreibt. Sie gehen dabei davon

50 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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aus, dass die Gleichungen aus Grundbau­steinen, so ge­ gen sei. Campbell wollte es trotzdem versuchen, und es
nannten Motiven, bestehen, ganz ähnlich, wie Materie aus gelang ihm schnell, seine Kollegin zu überreden. 
Atomen aufgebaut ist. In der dabei entstandenen Arbeit präsentierten die zwei
Eine Kugel setzt sich zum Beispiel aus Kreisen, Punkten Forscher ein Gedankenexperiment: Man stelle sich ein
und Ebenen zusammen. Wenn man die Werkzeuge der Hotel mit extrem vielen Zimmern vor. Dann platziert man
Analysis auf die Elemente anwendet, stellt man fest, dass alle scherenkongruenten Polytope im selben Raum. In Wirk­
auch diese wieder kleinere Bausteine enthalten. Man kann lichkeit weiß man nicht genau, wie sich scherenkongruente
die Zerlegung immer weiter fortführen, bis man schließlich Objekte identifizieren lassen – das ist schließlich der Kern
auf Motive trifft, die postulierten Grundbausteine algebrai­ des Problems. »Wir tun aber so, als gäbe es eine allwissen­
scher Gleichungen. de Gestalt, die eine solche Einordnung vornehmen kann«,
erklärt Zakharevich.

Man kann auch algebraische Nachdem die Sortierung vorgenommen ist, kann man
überprüfen, ob alle Polytope eines Raums das gleiche
Gleichungen in ihre Bestandteile ­Volumen und die gleiche Dehn-Invariante haben. Zudem
muss man sicherstellen, dass jedes dehninvariante Objekt
zerlegen! mit gleichem Volumen auch wirklich im richtigen Raum
gelandet ist. Das Ziel des Gedankenexperiments besteht
Das Ziel lautet demnach, algebraische Gleichungen nach darin, eine perfekte Eins-zu-eins-Übereinstimmung zwi­
ihren Motiven zu klassifizieren, also eine Art Periodensys­ schen scherenkongruenten Polytopen und dehninvarianten
tem zu schaffen, um einen systematischeren Überblick zu Polytopen gleichen Volumens zu finden. Kann man
erhalten. Doch diese Aufgabe erweist sich als extrem ­be­weisen, dass eine solche Abbildung zwischen beiden
schwierig und blieb bisher unvollendet.  Gruppen existiert, dann genügen Volumen und Dehn-­
Goncharov vermutete in seiner 1996 erschienenen Invariante tatsächlich, um scherenkongruente Polytope zu
Arbeit, dass die Einteilung von Polytopen in scherenkon- identifizieren.
gruente Typen und das Kategorisieren algebraischer Glei­ Goncharov hatte eine solche Eins-zu-eins-Übereinstim­
chungen nach Motiven zwei Seiten der gleichen Medaille mung bereits in den 1990er Jahren angenommen, doch erst
sind. Wenn man es also schafft, die eine Aufgabe zu bewäl­ Campbell und Zakharevich konnten diese in ihrer Arbeit
tigen, kann man damit ebenso das andere Problem lösen. beweisen – jedoch nur unter einem Vorbehalt. Das Ergebnis
Dazu müsse es in der Welt der algebraischen Gleichungen ihrer Arbeit hängt von einer anderen, noch unbewiesenen
ein Analogon zur Dehn-Invariante geben, so Goncharov. Hypothese ab. Diese hat mit einer der so genannten Beilin­
Statt sich aus geometrischen Zusammenhängen zu erge­ son-Vermutungen zu tun, die beschreibt, wann gewisse
ben, ließe es sich durch eine ähnliche Berechnung mit Terme einer bestimmten Gleichung null sind.
Motiven bestimmen. Der Aufsatz von Campbell und Zakharevich genügt also
Algebraische Gleichungen tauchen in den verschiedens­ leider noch nicht, um die zwei Vermutungen von Goncharov
ten mathematischen Disziplinen auf und zählen daher zu zu beweisen: dass Dehn-Invariante und Volumen als cha­
den bedeutendsten Objekten des Fachs. Auch wenn sie auf rakteristische Größen ausreichen, um scherenkongruente
den ersten Blick einfach anmuten, bergen sie doch etliche Polytope zu klassifizieren, und dass sich auch algebraische
Geheimnisse. Deshalb erscheint die von Goncharov vermu­ Gleichungen durch ein Analogon der Dehn-Invariante
tete Verbindung zu Polytopen extrem verlockend: Einige gemäß ihrer Motive einordnen lassen. Doch nun haben
komplizierte algebraische Fragestellungen könnte man Mathematiker einen neuen Anhaltspunkt, um die Aufgabe
dadurch in das einfacher zu handhabende Reich der Geo­ anzugehen: Wenn es ihnen gelingt, die Beilinson-Vermutun­
metrie verfrachten und dort lösen. gen zu beweisen, lösen sie gleichzeitig das Problem der
Scherenkongruenz. 
Was haben geometrische Formen und Gleichungen
gemeinsam? QUELLEN
Doch die Verbindung zwischen den zwei Gebieten kann Campbell, J., Zakharevich, I.: Hilbert’s third problem modulo
nur existieren, wenn die Dehn-Invariante tatsächlich For­ torsion and a conjecture of Goncharov. ArXiv 1910.07112, 2019
men in scherenkongruente Gruppen sortiert. Für drei- und
Goncharov, A.: Volumes of hyperbolic manifolds and mixed
vierdimensionale Polytope trifft das zu, aber es könnte Tate motives. ArXiv alg-geom/9601021, 1996
sein, dass einige höherdimensionale dehninvariante Objekte
gleichen Volumens nicht scherenkongruent sind. 
Seither versuchen Mathematiker zu beweisen, dass Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
dieser Fall nicht eintreten kann. So auch Campbell und Fassung des Artikels »Mathematicians Cut Apart Shapes to Find
Pieces of Equations« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich
Zakharevich, die im Juni 2018 drei Wochen lang am Insti­
unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbrei­
tute for Advanced Study in Princeton, New Jersey, zusam­ tung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Natur­
menarbeiteten. Das Problem der Scherenkongruenz und wissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
Goncharovs Vermutungen hatte beide Forscher schon
lange fasziniert. Zakharevich ging aber davon aus, dass
diese Mammutaufgabe niemals in so kurzer Zeit zu bewälti­

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 51


ü
LOGIK
UNENTSCHEIDBARE
AUSSAGEN ÜBER DIE NATUR
Die mathematische Logik
lehrt uns, dass es grundsätz-

ANDREAS BATTENBERG, TUM


lich unmöglich sein kann, eine
Behauptung zu beweisen oder
zu widerlegen. Überraschen-
Toby S. Cubitt (links) ist Royal Society Research Fellow und
derweise gilt das nicht nur Dozent für Quanteninformatik am University College in London.
für abstrakte mathematische Nach einer Promotion in Physik sowie Postdoc-Stellen in Mathe-
matik und Computerwissenschaft widmet er sich jetzt Fragen
Aussagen, sondern im Prinzip der Quantenmechanik, die all diese Bereiche überspannen.
auch für solche über real David Pérez-García (Mitte) ist Professor für Mathematik an der
Universidad Complutense und ständiges Mitglied des Instituto
existierende Gegenstände. de Ciencies Matemáticas, beide in Madrid. Er arbeitet an mathe-
matischen Problemen der Quantenphysik. Michael Wolf ist

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / CHRISTOPH PÖPPE


Professor für Mathematische Physik in der Fakultät für Mathe-
matik der Technischen Universität München. Seine Forschungs-
arbeit konzentriert sich auf mathematische und konzeptionelle
Grundlagen der Quantentheorie.

 spektrum.de/artikel/1609516

52 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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Wir drei saßen zusammen in einem Café in Seefeld, Michaels halb scherzhafter Vorschlag führte uns in
einem kleinen Städtchen tief in den österreichischen ein großes Abenteuer. Drei Jahre später hatten wir es ge-
Alpen. Es war Sommer 2012, und wir steckten fest. schafft: Unser Beweis von der Unentscheidbarkeit der
Nicht in dem Café, im Gegenteil: Der prachtvolle Sonnen- Spektrallücke wurde im Fachmagazin »Nature« publiziert.
schein, der glitzernde Schnee auf den Alpengipfeln und die Um zu verstehen, was es damit auf sich hat, müssen wir
wunderschöne Umgebung verlockten uns nur allzu sehr, einige der Gedankengänge vom Beginn des 20. Jahrhun-
dem mathematischen Problem, mit dem wir nicht voran­ derts nachzeichnen, welche die moderne Physik, Mathema-
kamen, davonzulaufen und nach draußen zu gehen. Wir tik und Computerwissenschaft begründeten. Zu all diesen
versuchten, zwei der großen intellektuellen Errungenschaf- sehr verschiedenen Ideen hat David Hilbert (1862–1943)
ten des 20. Jahrhunderts zusammenzubringen: auf der beigetragen, der bedeutendste Mathematiker seiner Zeit.
einen Seite die mathematischen Erkenntnisse von Kurt Schon früh lieferte Hilbert entscheidende Beiträge zur
Gödel und Alan Turing, auf der anderen Seite die Quanten- Funktionalanalysis, insbesondere zu deren Teilgebiet na-
physik. Das war zumindest die große Idee, die uns zwei mens Spektraltheorie, die sich als unser entscheidendes
Jahre zuvor gekommen war, während wir uns ein Semester Hilfsmittel herausstellen sollte. Sein Interesse daran hatte
lang am Mittag-Leffler-Institut nahe Stockholm mit Quan- zunächst rein mathematische Gründe. Aber wie so oft
teninformation befassten. kamen seine Ergebnisse den Physikern zur Klärung einer
Da das Gebiet für uns vollkommen neu war, nahmen wir verwirrenden Frage gerade recht.
uns für den Anfang ein kleines und nicht besonders bedeu-
tendes Problem vor. Seit Monaten hatten wir einen Beweis Energieniveaus von einzelnen Atomen
für ein ähnliches Problem. Um ihn aber auf unseres übertra- und größeren Ensembles
gen zu können, mussten wir dieses auf recht künstliche und Viele Stoffe beginnen zu glühen, wenn man sie erhitzt –
unbefriedigende Weise konstruieren – so, als würden wir ihre Atome senden Licht aus. Das intensiv gelbe Licht der
die Frage passend zur Antwort zurechtmachen. Natriumdampflampen, die oft Fußgängerüberwege be-
In der Pause nach dem ersten Vortragsblock auf dem leuchten, ist ein gutes Beispiel: Natriumatome emittieren
Workshop in Seefeld, der uns 2012 zusammengebracht überwiegend Licht einer Wellenlänge von 590 Nanometern,
hatte, gingen wir das Problem wieder an und fanden immer im gelben Teil des sichtbaren Spektrums. Ein Atom gibt
noch keinen Ausweg. Halb im Scherz fragte einer von uns Licht ab oder absorbiert es, wenn ein Elektron in seiner
(Michael Wolf): »Warum beweisen wir nicht die Unent- Hülle von einem Energieniveau zu einem anderen wechselt.
scheidbarkeit von etwas, was die Leute wirklich interes- Die Frequenz dieses Lichts hängt von der Energiedifferenz
siert, wie die Spektrallücke?« (»Lücke«) zwischen den Niveaus ab; also kann man aus den
Zu dieser Zeit beschäftigte uns nämlich die Frage, ob Frequenzen des emittierten wie des absorbierten Lichts
bestimmte Probleme der Physik unentscheidbar sind. Diese die Lücken zwischen den verschiedenen Energieniveaus
Begriffsbildung stammt eigentlich aus der mathematischen erschließen. Um die Erklärung dieser Phänomene rangen
Logik. Eine Aussage ist unentscheidbar, wenn sie weder die Physiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es war die
­bewiesen noch widerlegt werden kann – und diese Unmög- Geburtsstunde der Quantenphysik, und Hilberts Spektral-
lichkeit ist manchmal sogar beweisbar (»Spektrum« Sep- theorie spielte dabei eine zentrale Rolle.
tember 2017, S. 72). In der Physik würde das bedeuten, dass Eine der Lücken zwischen den Energieniveaus ist von
es eine vollkommen vernünftige Frage zu einem physikali- besonderer Bedeutung, und zwar die zwischen dem nied-
schen System gäbe, und es wäre unmöglich, diese Frage zu rigsten Energieniveau eines Atoms, dem so genannten
beantworten – nicht weil unsere Messmethoden mangel- Grundzustand, und dem nächsthöheren, dem ersten ange-
haft oder unser Verstand beschränkt sind, sondern aus regten Zustand. Wegen ihrer Bedeutung wird sie häufig
prinzipiellen Gründen. ­einfach nur als Spektrallücke bezeichnet.
Im Gegensatz zu der Frage, an der wir feststeckten, ist Energieniveaus gibt es nicht nur für einzelne Atome,
das Spektrallückenproblem, das Michael vorschlug, von sondern auch bei Materialien, die aus vielen eng miteinan-
zentraler Bedeutung in der Physik (mehr dazu später). Wir der wechselwirkenden Atomen bestehen. In einigen von
hatten zwar den Verdacht, es könnte unentscheidbar sein, ihnen gibt es wie bei Einzelatomen einen deutlichen Niveau-
waren aber sehr unsicher, ob wir in der Lage sein würden, unterschied zwischen dem Grundzustand und dem ersten
diese Frage zu klären. Wenn wir es allerdings schafften, angeregten Zustand. Andere Materialien dagegen sind
wäre das eine Erkenntnis von echter Relevanz für die Physik »lückenlos«: Es gibt angeregte Zustände mit beliebig kleiner
und obendrein eine erhebliche mathematische Leistung. Energiedifferenz zum Grundzustand. Das heißt, eine ver-
schwindend kleine Energiezufuhr, zum Beispiel durch die
Wärmebewegung der Atome des Materials, kann dieses
Es ist möglich, einen unendlich großen Badezimmerfuß- bereits in einen angeregten Zustand versetzen. Im Grund­
boden aperiodisch zu kacheln: Das Muster ist keine un- zustand befindet sich das Material also nur bei Abwesen-
endlichfache Wiederholung eines Grundmusters, selbst heit jeglicher Wärmebewegung, das heißt am absoluten
wenn dieses beliebig groß wäre. Während der praktische Nullpunkt der Temperatur (–273,15 Grad Celsius). Ob es eine
Nutzwert dieser Aussage wenig ersichtlich ist, lässt sich Spektrallücke hat oder nicht, ist entscheidend für sein
mit ihrer Hilfe die Unentscheidbarkeit eines bedeutenden Verhalten bei niedrigen Temperaturen. Das gilt insbeson­
physikalischen Problems beweisen. dere für Quanten-Phasenübergänge.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 53


ü
Von einem Phasenübergang spricht man, wenn ein Ma- kleiner Masse. Experimentelle Daten zum Beispiel vom
terial plötzlich und dramatisch seine Eigenschaften ändert. Large Hadron Collider bei Genf unterstützen diese Annah-
Einige Phasenübergänge sind uns sehr vertraut: Eis schmilzt me ebenso wie gewaltige numerische Berechnungen mit
unter Wärmezufuhr, und Wasser verdampft. Aber es gibt Hilfe von Supercomputern. Sie streng zu beweisen, ist
exotischere, so genannte Quanten-Phasenübergänge, allem Anschein nach extrem schwierig – so sehr, dass das
die auch bei beliebig niedrigen Temperaturen stattfinden Clay Mathematics Institute dieses Yang-Mills-Massenlücken-
können. So kann die Änderung eines äußeren magneti- problem in die Reihe der sieben Millennium-Probleme
schen Felds oder des Drucks bewirken, dass ein Isolator ein aufgenommen hat, auf deren Lösung ein Preis von je einer
Supraleiter wird oder ein Festkörper eine Supraflüssigkeit. Million Dollar ausgesetzt ist.
Wie kann ein Material einen Phasenübergang nahe Alle diese Fragen lassen sich auf ein verallgemeinertes
dem absoluten Nullpunkt durchlaufen, bei dem es keine Spektrallückenproblem zurückführen. Und für jeden, der
Wärmebewegung gibt, die Energie bereitstellen könnte? an einer allgemeinen Antwort auf eine von ihnen arbeitet,
Hier kommt es auf die Spektrallücke an. Wenn es keine haben wir eine schlechte Nachricht. Unser Beweis zeigt,
gibt, sondern ein Kontinuum von Energieniveaus, das bis dass diese Fragen noch weit schwieriger sind als vermutet.
zum Grundzustand reicht, dann genügt die kleinste Energie- Ihre Lösung läuft nämlich auf ein Problem aus der mathe-
menge, um den Phasenübergang einzuleiten. Eigentlich matischen Logik hinaus, das Entscheidungsproblem.
braucht es sogar überhaupt keine Energie. Denn infolge der
sonderbaren Quanteneffekte, die bei diesen Temperaturen Gödels Unvollständigkeitssatz
das Geschehen beherrschen, kann sich das Material vorü- und das Halteproblem für die Turing-Maschine
bergehend aus dem Nichts ein bisschen Energie »auslei- In den 1920er Jahren verfolgte Hilbert das große Ziel, die
hen«, mit deren Hilfe einen Phasenübergang vollziehen und Mathematik auf ein stabiles, gesichertes Fundament zu
dann die Energie wieder »zurückgeben«. Unser Verständnis stellen – ein Unternehmen, das als Hilberts Programm
von Quanten-Phasenübergängen und generell den Zustän- bekannt wurde. Er war der Überzeugung, dass es zumin-
den quantenmechanischer Systeme am Temperaturnull- dest im Prinzip möglich sein müsste, jede beliebige mathe-
punkt (»Quantenphasen«) hängt also ganz entscheidend an matische Aussage entweder zu beweisen oder zu wider­
der Frage, ob ein Material eine Spektrallücke hat oder nicht. legen. Es sollte nichts geben, was man aus prinzipiellen
Darüber hinaus findet sich das Spektrallückenproblem Gründen nicht beweisen kann.
an zahlreichen Stellen in der theoretischen Physik wieder. 1928 präzisierte er diese Frage in Form des »Entschei-
Viele berühmte und seit Langem ungelöste Probleme in der dungsproblems« – das auch im Englischen so heißt. Gibt es
Physik der kondensierten Materie laufen auf das Spektral­ eine Methode oder einen Algorithmus, der zu einer vorge-
lückenproblem für ein bestimmtes Material hinaus. legten mathematischen Aussage entscheidet, ob sie wahr
Eine eng verwandte Frage existiert auch in der Teilchen- oder falsch ist?
physik. Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass die Für die Aussage »Die Multiplikation einer beliebigen
grundlegenden Gleichungen, die Quarks und deren Wech- ganzen Zahl mit 2 ergibt eine gerade Zahl« würde dieses
selwirkungen beschreiben, die Existenz einer »Massen­ Verfahren leicht zu dem Ergebnis »wahr« kommen: Etwas
lücke« erzwingen: Die von diesen Gleichungen beschrie­ elementare Logik und Arithmetik genügen. Für andere
benen Teilchen haben entweder die Masse null oder Aussagen ist das weniger klar. Zum Beispiel: »Beginne mit
eine Minimalmasse; es gibt also keine Partikel mit beliebig einer beliebigen natürlichen Zahl. Wenn sie gerade ist, teile
sie durch 2; wenn sie ungerade ist, multipliziere sie mit 3
und addiere 1. Wende dieselbe Vorschrift auf das Ergebnis
an, auf das nächste Ergebnis wieder dieselbe Vorschrift und
AUF EINEN BLICK so weiter. Irgendwann erreicht die Folge der Ergebnisse die
DAS PROBLEM DER SPEKTRALLÜCKE Zahl 1.« Allem Anschein nach ist diese Aussage über die
berüchtigte Collatz-Folge wahr, aber bewiesen ist sie bis

1 Kurt Gödel entdeckte in den 1930er Jahren, dass es heute nicht (»Spektrum« Februar 2014, S. 72).
bei manchen mathematischen Aussagen prinzipiell Hilberts Hoffnungen sollten bald begraben werden. 1931
unmöglich ist, zu beweisen, ob sie wahr oder falsch veröffentlichte Kurt Gödel (1906–1978) seine Aufsehen erre-
sind – sie sind »unentscheidbar«. genden Unvollständigkeitssätze. Darin bewies er, dass es
sinnvolle mathematische Aussagen über ganze Zahlen gibt,

2 Ein bedeutendes Problem der Quantenphysik ist


ebenfalls unentscheidbar, das Spektrallückenproblem:
Gibt es eine Differenz zwischen dem Grundzustand
die weder bewiesen noch widerlegt werden können – was
die Grundlagen der Mathematik bis ins Mark erschütterte.
Wer Schwierigkeiten hat, das zu verstehen, befindet sich
und dem ersten angeregten Zustand eines Materials? in guter Gesellschaft. Hier eine Andeutung von Gödels
Gedankengang: Wenn jemand sagt »Dieser Satz ist eine
3 Damit ist denkbar, dass weitere Fragen nicht beant-
wortbar sind. Dazu zählt das Massenlückenproblem
aus der Teilchenphysik: Kann es Teilchen mit beliebig
Lüge«, sagt diese Person die Wahrheit, oder lügt sie? Wenn
sie die Wahrheit sagt, dann ist der Satz nach seinem Wort-
kleiner Masse ungleich null geben? laut eine Lüge. Aber wenn sie lügt, dann ist er wahr. Dieses
Dilemma ist bekannt als das Lügner-Paradox. Obwohl der
Satz vollkommen vernünftig zu sein scheint, lässt sich ihm

54 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Energie
Kern
Elektron

allgemeinen Algorithmus geben kann, der zu jeder mathe-


matischen Aussage entscheidet, ob sie wahr oder falsch ist.
Kern
Die
Energie Grundzustand (Kurz vor Turing bewies dies unabhängig auch der amerika-

Kern
Elektron
Spektral-
Energie angeregter Zustand
nische Mathematiker Alonzo Church. Turings Beweis war
letztlich jedoch bedeutender. Manchmal erweist sich in der
Elektron lücke Mathematik der Beweis eines Ergebnisses als wichtiger als
Grundzustand
das Ergebnis selbst.)
Während in einzelnen Atomen die Energieniveaus Zu diesem Zweck musste Turing den Begriff der bere-
stets
Grundzustand
angeregter durch
Zustand eine echte Lücke getrennt sind, gibt es chenbaren Zahl (»computable number«) und damit den des
in ausgedehnten Materialien, die aus unzähligen Rechnens überhaupt präzise fassen. Und dazu wiederum
angeregterAtomen
Zustand bestehen, manchmal keinen Abstand ersann er eine idealisierte Maschine – wohlgemerkt bevor
zwischen dem Grundzustand und dem ersten es die heute zum Rechnen genutzten Maschinen, die Com-
angeregten Zustand. Dann genügt die kleinste puter, überhaupt gab (siehe »Turing-Maschinen«, S. 56).
Energiemenge, um das Material aus dem Grundzu- Inte­ressanterweise kann eine Turing-Maschine theoretisch
stand in einen angeregten Zustand zu heben. alles berechnen, was überhaupt berechenbar ist, wenn auch
möglicherweise mit einem astronomisch hohen Zeitbedarf.
Mit Spektrallücke Die Idee der Turing-Maschine war noch bedeutender als
Es gibt diskrete Energieniveaus, so dass jeweils die Lösungangeregter
des Entscheidungsproblems. Indem Turing eine
hoch

Zustand 4
eine bestimmte Energiemenge notwendig ist, um präzise, mathematisch strenge Definition für die Begriffe
Energieniveaus

die Lücken zwischen den Niveaus zu überwinden. »Berechnung« angeregter Zustand 3


und »Algorithmus« gab, begründete er die
angeregter Zustand 2
moderne Computerwissenschaft. Mit Hilfe dieses theoreti-
schen Werkzeugs konnte
angeregter er beweisen,
Zustand 1 dass kein mathema-
hoch hoch

angeregter Zustand 4
tisches oder algorithmisches Verfahren eine einfache Frage
Lücken
Energieniveaus

angeregter
angeregter Zustand
Zustand 3
4
niedrig

angeregter Zustand 2 für jeden Fall beantworten


Grundzustandkann: Wird eine Turing-Maschine
Energieniveaus

angeregter mit gegebenem Input jemals anhalten? Diese Frage ist als
angeregter Zustand
Zustand 3
1
angeregter Zustand 2 das Halteproblem bekannt. Zu jener Zeit war das Ergebnis
Lücken
schockierend. Heute haben sich die Mathematiker daran
niedrigniedrig

angeregter Zustand 1
Grundzustand
Lücken ­gewöhnt, dass jede Vermutung, an der sie arbeiten, beweis-
Grundzustand
bar, widerlegbar oder eben unentscheidbar sein kann.
Ohne Spektrallücke
hoch

Es gibt Niveaus mit


Die angeregten Zustände bilden ein Kontinuum Der Quantencomputer kommt ins Spiel
beliebig kleinen Energien
Energieniveaus

über dem Grundzustand. So kann das Material In unserer Arbeit wollten wir alle diese verschiedenen F
­ äden
durch beliebig kleine Energien angeregt werden. zusammenführen. Genauer: Wir wollten die Quantenphysik
hoch hoch

Es gibt Niveaus mit


beliebig kleinen Energien
der Spektrallücke, die Computerwissenschaft zur Unent-
Energieniveaus

Es gibt Niveaus mit scheidbarkeit und die Spektraltheorie zusammenbringen,


JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2018

niedrig

beliebig kleinen Energien. um zu beweisen, dass das Spektrallückenproblem, wie das


Energieniveaus

Grundzustand
Halteproblem, zu den unentscheidbaren gehört, über die
Gödel und Turing uns aufgeklärt hatten.
niedrigniedrig

Grundzustand An jenem sonnigen Mittag in dem Café in Seefeld ging


es darum, ein schwächeres mathematisches Ergebnis
Grundzustand in Bezug auf die Spektrallücke zu beweisen. Wir klopften
unsere Idee von verschiedenen Seiten ab, noch ohne sie
aufzuschreiben, und es schien, als könnte sie funktionieren.
Dann war die Pause zu Ende, der nächste Vortragsblock be-
kein Wahrheitswert zuweisen. Gödel gelang es, das Lügner- gann, und das Projekt ruhte eine Weile in unseren Köpfen.
Paradox als Beziehung unter natürlichen Zahlen auszudrü- Einige Monate später besuchte einer von uns (Toby
cken und so in das Reich der Arithmetik zu versetzen; diese Cubitt) Michael in München, und wir erledigten, was wir in
ist ihrerseits eine auf Axiome gegründete Theorie. Seefeld nicht getan hatten: Wir schrieben unsere Gedanken
Der nächste Protagonist in der Geschichte des Entschei- auf und überzeugten uns Schritt für Schritt, dass sie Hand
dungsproblems ist der englische Computerwissenschaftler und Fuß hatten. In den folgenden Wochen vervollständigten
Alan Turing (1912–1954; siehe »Spektrum« Juni 2012, S. 80). wir die Argumentation und hielten sie in einer privaten
Die Öffentlichkeit kennt ihn, weil er im Zweiten Weltkrieg vierseitigen Notiz fest.
maßgeblich an der Entschlüsselung der deutschen militäri- Was bis dahin mehr ein Spaß als ein ernsthaftes Projekt
schen Geheimnachrichten beteiligt war, die Fachwelt aber gewesen war – der Beweis der Unentscheidbarkeit der
vor allem wegen seiner Arbeit von 1937 »On Computable Spektrallücke –, rückte damit in den Bereich des Möglichen.
Numbers, with an Application to the Entscheidungspro- Wir waren aber noch am Anfang eines langen Wegs.
blem«. Stark beeinflusst von Gödels Ergebnissen, hatte der Was wir auf den vier Seiten in Händen hielten, war deutlich
junge Turing eine negative Antwort auf Hilberts Entschei- schwächer als das, was wir erreichen wollten – und wir
dungsproblem gegeben, indem er bewies, dass es keinen wussten zunächst nicht, wie wir es ausbauen konnten.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 55


ü
Turing-Maschinen
Lange bevor es moderne Computer
gab, ersann der Mathematiker Alan
Turing ein hypothetisches Gerät,
heute Turing-Maschine genannt, das
Begriffe wie »Algorithmus« und
unendlich
»Berechenbarkeit« mathematisch langes Band
fassbar machte. Lese-/Schreibkopf
Die Maschine arbeitet mit einem
unendlich langen, in Datenfelder
eingeteilten Band; jedes dieser
Felder kann ein Symbol aus einem
kleinen Vorrat von Symbolen
tragen. Die Symbole, die
anfangs auf dem Band
stehen, entsprechen
dem Input der
Maschine,
und diejeni-
gen, die am
Ende auf dem Band
stehen, dem Ergebnis. Das Halteproblem
Ein Rechenschritt besteht Eine Turing-Maschine kann je nach der Menge ihrer
darin, dass die Maschine das inneren Zustände (ihrem »Programm«) und ihrem
Symbol liest, das sich unter ihrem Lese-/ Input entweder irgendwann anhalten oder auf ewig
Schreibkopf befindet, und abhängig von weiterlaufen. Es ist offensichtlich unmöglich, in
dem gelesenen Symbol und ihrem inneren endlicher Zeit zu entscheiden, welcher der beiden

BEN GILLILAND / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2018


Zustand ein neues Symbol aufs Band Fälle vorliegt, indem man die Maschine einfach
schreibt sowie das Band um ein Feld laufen lässt. Es ist aber im Allgemeinen auch unmög-
vor- oder zurückbewegt – oder eben anhält, lich, diese Frage zu entscheiden, indem man ein
womit ihre Arbeit beendet ist (»Spektrum« mathematisches Verfahren den Input und das Pro-
September 2017, S. 72). gramm der Maschine analysieren lässt.

Hilfe kam abermals von einem Computer, der bislang Später entwickelte Alexei Kitaev vom California Institute of
nur in der Theorie existiert. Diesmal war es der Quanten- Technology diese Idee beträchtlich weiter, indem er sich
computer. In einer grundlegenden Arbeit von 1985 hatte der eine Quantenmaterie ausdachte, deren Grundzustand exakt
Phy­siker und Nobelpreisträger Richard Feynman (1918– diese Eigenschaft hatte.
1988) skizziert, wie man den Grundzustand eines Quanten- Unsere Beweisidee lief nun darauf hinaus, das Halte­
systems für eine Berechnung nutzt. Das klingt zunächst problem in das Spektrallückenproblem zu überführen. Wir
paradox. Eine Berechnung ist ein dynamischer Prozess: wollten zeigen, dass jede Methode, die das Spektrallücken-
Man gibt Input in den Computer ein, der durchläuft meh­ problem löst, auch das Halteproblem lösen würde. Da aber
rere Arbeitsschritte und gibt schließlich ein Ergebnis aus. Turing bereits gezeigt hatte, dass das Halteproblem unent-
Der Grundzustand eines Quantensystems ist dagegen völlig scheidbar ist, würden wir damit beweisen, dass das Spek­
ereignislos: Die Materie verharrt bei tiefsten Temperaturen, trallückenproblem ebenfalls unentscheidbar sein muss.
und es geschieht weiter nichts. Wie kann ein Grundzustand Das Halteproblem in einen Quantenzustand zu überset-
also eine Berechnung widerspiegeln? zen, war keine neue Idee. Seth Lloyd, jetzt am Massachu-
Die Erklärung kommt von einer wesentlichen Eigen- setts Institute of Technology, hatte genau das vor fast zwei
schaft der Quantenphysik: der Überlagerung. Ein Quanten- Jahrzehnten vorgeschlagen, um die Unentscheidbarkeit
objekt kann sich in verschiedenen Zuständen zugleich einer anderen Quantenfrage zu demonstrieren. Daniel
befinden, wie Schrödingers berühmte Katze, die sich in Gottesman vom Perimeter Institute for Theoretical Physics
einer Überlagerung der Zustände tot und lebendig befindet. in Waterloo (Ontario, Kanada) und Sandy Irani von der
Feynman schlug nun vor, einen Quantenzustand zu kons­ University of California in Irvine hatten mit Hilfe von Kitaevs
truieren, der die Überlagerung aller Schritte innerhalb einer Idee gezeigt, dass sogar eindimensionale Ketten miteinan-
Berechnung ist: Input, alle Zwischenschritte und Ergebnis. der wechselwirkender Quantenteilchen sehr komplexes

56 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Verhalten zeigen können. Auf deren Version von Kitaevs Die Antwort hängt davon ab, welche Fliesensorten Ihnen
Konstruktion hofften wir aufbauen zu können. zur Verfügung stehen. Mit manchen Sortimenten wird
Vor einer Verbindung zum Spektrallückenproblem stan- sich der unendliche Fußboden kacheln lassen, mit anderen
den allerdings noch einige mathematische Hindernisse, wird sich irgendwann eine Stelle ergeben, an die keine
die zunächst unüberwindlich schienen. Das erste betraf den Fliese in irgendeiner Orientierung mehr passt – vielleicht
Input für die Turing-Maschine, die ihrerseits durch den sehr bald, vielleicht aber auch erst nach ein paar Quadrat­
Quantencomputer verkörpert werden sollte. Beim Halte­ kilometern (oder Quadratlichtjahren). Natürlich möchten
problem geht es ja um die Unmöglichkeit, zu jedem beliebi- Sie vor dem Kauf sicher sein, dass Ihnen das nie passieren
gen Input bestimmen zu können, ob die Turing-Maschine wird. Leider ist diese Frage unentscheidbar, wie der Mathe-
anhält. Also mussten wir unsere imaginäre Quantenmaterie matiker ­Robert Berger 1966 bewiesen hat. Es gibt kein
so konzipieren, dass sie beliebigen Input zulässt. allgemeines Verfahren, das zu jedem vorgelegten Fliesen-
sortiment Auskunft darüber gibt, ob es die Ebene pflastert.
Die Frage, ob man ein unendliches Badezimmer Die Sache wäre noch überschaubar, wenn es nur um
vorschriftsmäßig fliesen kann, ist unentscheidbar periodische Pflasterungen ginge, also solche, in denen
Für das Problem, über dem wir in dem Café in Seefeld sich – zum Beispiel – ein rechteckiges Stück stets parallel-
brüteten, hatten wir eine Lösungsidee: Man baue eine Art verschoben wiederholt. Um eine solche Pflasterung zu
Verdrehung in die Wechselwirkung zwischen benachbarten finden, genügt es, Kacheln aus dem Sortiment zu einem
Teilchen ein. Der Input sollte dann in den Drehwinkeln Rechteck zusammenzusetzen, in dem die Farbfolgen auf
stecken. Im Januar 2013 trafen wir uns auf einer Konferenz gegenüberliegenden Seiten übereinstimmen (»Einen unend-
in Peking und diskutierten diesen Ansatz. Wir erkannten lichen Badezimmerboden kacheln«, S. 58/59). Dann könnte
jedoch bald, dass das, was wir beweisen wollten, einem man nämlich unendlich viele dieser Rechtecke einfach
Widerspruch zu Ergebnissen, die über Quanten-Turing-­ nebeneinanderlegen und hätte überall die Anlegeregel
Maschinen bekannt waren, sehr nahekam. Bevor wir diese eingehalten. Der Grund für die Unentscheidbarkeit des
Richtung weiter verfolgten, mussten wir einen strengen, Fliesenproblems ist, dass es auch nichtperiodische Lösun-
wasserdichten Beweis haben. gen geben kann: Muster, die den unendlichen Boden
Zu dieser Zeit war Toby Cubitt von Madrid, wo er mehr ­bedecken, sich aber nie wiederholen. Aus diesem Grund
als zwei Jahren in der Arbeitsgruppe von David Pérez-­ entscheidet sich die Frage, ob die Pflasterung scheitert,
García zugebracht hatte, an die University of Cambridge nicht innerhalb einer begrenzten Fläche, sondern mögli-
gewechselt; aber seine neue Wohnung dort war noch nicht cherweise überhaupt nicht.
bezugsfertig. Für zwei Monate fand er Unterschlupf bei Das entspricht genau der Situation bei der Turing-Ma-
seinem Freund und Fachkollegen Ashley Montanaro, und schine. Man könnte versuchen, das Halteproblem zu lösen,
in dieser Zeit machte er sich an einen strengen Beweis für indem man die Maschine mit dem vorgegebenen Input eine
den »verdrehten« Ansatz. Sein Freund fand ihn morgens große Zahl N von Schritten, sagen wir 100 000, laufen lässt.
am Küchentisch, mit einer Reihe leerer Kaffeetassen neben Aber das sagt noch nichts über die Maschinen, die nach
sich und auf dem Weg ins Bett, nachdem er die ganze N Schritten noch laufen, einerlei wie hoch man die Grenze
Nacht hindurch Einzelheiten ausgearbeitet und alles sorg­ N ansetzt. Entsprechend hat man bei einer nichtperiodi-
fältig aufgeschrieben hatte. Am Ende dieser zwei Monate schen Pflasterung, die bis zur N-ten Fliese gut gegangen
schickte Toby den kompletten Beweis in die Runde. Die ist, keine Gewähr, dass das auf ewig so weitergehen wird.
Turing-Maschine hatte ihren Input. Als wir unser erstes kleines Ergebnis diskutierten, unter-
Mit diesem mittlerweile 29-seitigen Manuskript war suchten wir eine Vereinfachung von Bergers ursprüngli-
das erste Hindernis ausgeräumt. Ein weit größeres folgte chem Beweis, die Rafael Robinson von der University of
auf dem Fuß: Das sich ergebende Quantenmaterial hatte California in Berkeley 1971 verfasst hatte. Robinson erstellte
zwar den gewünschten Grundzustand, es war jedoch ein Sortiment aus 56 Urkacheln, die ein verflochtenes
stets »lückenlos«, das heißt ohne Spektrallücke. Für diese Muster von immer größeren Quadraten bilden. Dieses
Konstruk­tion war das Spektrallückenproblem also alles Muster sieht periodisch aus, in Wirklichkeit wiederholt es
andere als unentscheidbar. sich aber nie exakt (siehe auch »Spektrum« November 2017,
Gleichwohl gelang es uns im Rahmen unseres ersten, S. 26, und Mai 2011, S. 73). Wir hatten intensiv darüber
schwächeren Projekts aus Seefeld, dieses Hindernis zu diskutiert, ob man die Unentscheidbarkeit des Pflasterungs-
umgehen, und zwar durch einen Ausflug in ein weiteres problems auf irgendwelche Quanteneigenschaften über­
Gebiet der Mathematik: Pflasterungen. Angenommen, Sie tragen könnte. Nur die Spektrallücke kam uns damals nicht
möchten einen Badezimmerboden fliesen, und zwar einen in den Sinn, und wir verfolgten die Idee nicht weiter.
unendlich großen. Auf den (quadratischen) Kacheln befin- Im April 2013 besuchte Toby Charlie Bennett im Thomas-
det sich ein sehr einfaches Muster: Jede der vier Seiten hat J.-Watson-Forschungszentrum der IBM. Bennett ist ein
eine Farbe; auf die Musterung im Inneren kommt es nicht überaus vielseitiger Wissenschaftler; er zählt nicht nur zu
an. Sie haben verschiedene (natürlich unendlich große) den Gründervätern der Quanteninformationstheorie, son-
Schachteln mit je einer Sorte Kacheln, und Sie wollen eine dern schrieb bereits 1970 eine bahnbrechende Arbeit über
»Anlegeregel« einhalten: Auf dem fertigen Boden soll Turing-Maschinen (und fand nebenher Zeit für eine Studie
beiderseits jeder Fuge stets dieselbe Farbe zu sehen sein. über die Evolution von Kettenbriefen, siehe »Spektrum«
Ist das möglich? Januar 2004, S. 78). Wir wollten ihn zu einigen technischen

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 57


ü
Details unseres Beweises befragen, um sicherzugehen,
dass wir nichts übersahen. Obgleich Bennett seit 40 Jahren
nicht mehr auf dem Gebiet gearbeitet hatte, erklärte er uns
einige subtile Details seiner Arbeit von 1970 und lieferte uns
Einen unendlichen
damit die Bestätigung, dass unser Beweis in Ordnung war. ­Badezimmerboden kacheln
Nachdem wir über Turing-Maschinen und Unentscheid-
barkeit gesprochen hatten, kramte er einige alte Veröffent­ Gegeben sei ein Sortiment von wenigen quadrati-
lichungen zum Thema hervor und schickte uns Kopien per schen Kacheln, die jede in unendlicher Menge vor­
E-Mail. Eine war Robinsons Arbeit von 1971, die wir uns rätig sind. Jede Seite eines Quadrats ist einheitlich
auch schon angesehen hatten. Es schien an der Zeit, die gefärbt. Die Aufgabe besteht darin, die Ebene so mit
Idee mit der Unentscheidbarkeit des Pflasterungsproblems diesen Kacheln zu bedecken, dass stets nur gleich
aus unseren früheren Diskussionen wieder zum Leben gefärbte Quadratseiten aneinandergrenzen.
zu erwecken. Als wir Robinsons Arbeit erneut lasen, Abhängig vom Sortiment gibt es Lösungen der
­bemerkten wir, dass sie genau das tat, was wir brauchten, Aufgabe, die ein »periodisches«, sich ständig wieder-
um zu verhindern, dass die Spektrallücke verschwindet. holendes Muster bilden, und »aperiodische«, bei
denen es keine solche Wiederholung gibt.
Durchbruch bei der Klausuraufsicht
Ursprünglich wollten wir nur ein Exemplar der Turing-­ Periodische Muster
Maschine in den Grundzustand unseres hypothetischen In diesem Beispiel besteht das Sortiment aus drei
Quantenmaterials abbilden. Und zwar wollten wir die Urkacheln mit insgesamt fünf verschiedenen Farben.
Wechselwirkungen zwischen den Quantenteilchen so Es gelingt, aus diesem Sortiment ein Rechteck –
gestalten, dass die Energie des Grundzustands genau dann hier sogar ein Quadrat – zu legen, dessen linke Seite
ein wenig höher ist, wenn die Turing-Maschine anhält. dieselbe Farbfolge zeigt wie die rechte, ebenso die
Die Spektral­lücke – der Energieunterschied zum ersten obere und die untere Seite. Daher kann man die
angeregten Zustand – würde dann davon abhängen, ob die ganze Ebene mit lauter Exemplaren des zusammen-
Turing-Maschine anhält oder nicht. Es gab nur ein großes gesetzten Rechtecks (des »Fundamentalbereichs«)
Problem: Mit zunehmender Teilchenzahl wurde der an das bedecken.
Anhalten geknüpfte Zuwachs an Energie immer geringer
und verschwand im Grenzfall unendlich vieler Teilchen
ganz, wodurch das Material wieder lückenlos wurde.
Wir lösten das Problem, indem wir nicht nur eine Turing-
Sortiment
Maschine, sondern viele identische Exemplare in den aus drei
Grundzustand abbildeten. Und zwar hängten wir gewisser- Urkacheln Fundamentalbereich
maßen an jede Kachel einer Robinson-Pflasterung ein
Exemplar der Turing-Maschine an. Wenn eine von ihnen
anhält, tun das alle; sie sind ja identisch. Also summieren
sich ihre Energiebeiträge. Wenn die Anzahl der Teilchen
zunimmt, wird die Zahl der Quadrate im Kachelmuster
größer. Entsprechend tragen mehr Turing-Maschinen zur
Gesamtenergie bei, so dass der Unterschied zwischen
Halten und Nichthalten auch im Grenzwert großer Teilchen-
zahlen merklich bleibt. Damit rückte die Existenz einer
Spektrallücke wieder in den Bereich des Möglichen.
Noch hatte unser Ergebnis allerdings eine wesentliche
Schwäche. Wenn unser Material eine Lücke aufwies, konn-
ten wir zwar beweisen, dass sie größer als null war – aber
mehr auch nicht. Dagegen konnte man einwenden, dass
die Lücke möglicherweise so klein sei, dass sie ebenso gut
Fundamentalbereich
auch nicht existieren könnte. Darum mussten wir beweisen,
dass die Lücke, wenn sie existierte, tatsächlich groß war.
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2018

Unsere erste Lösung für dieses Problem fanden wir, indem


wir die dritte räumliche Dimension berücksichtigten. Bisher
hatten wir uns auf Materie in zwei Dimensionen, also in
einer Ebene, beschränkt.
Wenn man nicht aufhören kann, über ein mathemati-
sches Problem nachzudenken, kommt der Durchbruch oft
bei den unmöglichsten Gelegenheiten. David grübelte über
den dreidimensionalen Fall, während er eine Klausur zu
beaufsichtigen hatte. Geistesabwesend schlich er durch die

58 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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Aperiodische Muster
Das hier gezeigte spezielle Kachelsortiment hat der Mathematiker Rafael Robinson 1971 entworfen. Die Anlege­
regeln besagen, dass die blauen und die schwarzen Linien sich über jede Fuge hinweg in der richtigen Farbe
fortsetzen sollen. Dabei darf man jede Kachel vor dem Einsetzen um Vielfache von 90 Grad drehen.
Die Kacheln passen so aneinander, dass immer größere Quadrate aus blauen und schwarzen Linien entste-
hen. In diesem speziellen Muster kann es also keine Parallelverschiebung geben, die das ganze unendliche
Muster in sich selbst überführt; denn zu jedem Verschiebungsvektor gibt es ein noch größeres blaues oder
schwarzes Quadrat, das die Periodizität vereitelt.
Es ist auch möglich, diese Fliesen in einem anderen, periodi-
Sortiment aus sechs Urkacheln
schen Muster anzuordnen, aber durch Hinzufügen weiterer An-
legeregeln entwickelte Robinson ein Sortiment von 56 Fliesen,
das die Aperiodizität erzwingt.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / CHRISTOPH PÖPPE

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 59


ü
Sitzreihen, während die Studierenden um ihn herum fieber- weises von mindestens einem von uns überprüft worden,
haft arbeiteten. Und als die ihre Zettel abgegeben hatten, aber keiner war die komplette Argumentationskette in allen
konnte auch David diesen Teil des Beweises zu Papier Einzelheiten von Anfang bis Ende durchgegangen.
bringen. Im Sommer 2014 war David während eines Forschungs-
Wir wussten jetzt, dass es möglich war, ein hypotheti- freisemesters an der Technischen Universität München bei
sches Material mit einer großen Spektrallücke zu konstruie- Michael. Toby schloß sich ihnen an. Während dieser Zeit
ren. Waren dazu drei Dimensionen notwendig, oder könnte wollten wir den gesamten Beweis Zeile für Zeile prüfen und
man auch mit zweien auskommen? Dafür mussten wir in eine auch für andere lesbare Form bringen. David und
noch einmal zu unserem unendlichen Badezimmerfuß­ Toby teilten sich ein Büro. Jeden Morgen kam David mit
boden zurückkehren. Wenn man in der klassischen Pflaste- einem neuen Ausdruck des Entwurfs, massenhaft Notizen
rung von Robinson eine Fliese durch eine andere ersetzt, und Fragen, die an die Ränder und auf eingefügte Blätter
entsteht ein »Defekt«, ein Verstoß gegen die Anlegeregeln. gekritzelt waren. Wir drei holten uns Kaffee, machten da
Um diesen auszubessern, muss man die Nachbarn der weiter, wo wir tags zuvor aufgehört hatten, und diskutierten
»falschen« Fliese ebenfalls austauschen, dann möglicher- den nächsten Abschnitt des Beweises an der Tafel. Am
weise deren Nachbarn und so weiter. Wir mussten bewei- Nachmittag teilten wir wieder die Arbeit unter uns auf:
sen, dass der Einfluss des Defekts begrenzt bleibt. Man einen Abschnitt umformulieren, neues Material einbauen
muss also das Pflaster nur in einer kleinen Umgebung der und den nächsten Abschnitt durchgehen. Da Toby wegen
falschen Fliese aufreißen und neu verlegen und findet unter eines Bandscheibenvorfalls nicht sitzen konnte, hatte er ­
Einhaltung der Anlegeregeln einen Anschluss an den Rest einen umgedrehten Papierkorb auf dem Tisch und darauf
des Fußbodens. Wenn wir diese »Stabilität« von Robinsons den Laptop, während auf Davids Tisch gegenüber der
Pflasterungen zeigen könnten, würde das bedeuten, dass Papierhaufen aus Ausdrucken und Notizen auf ähnliche
eine Spektrallücke, wenn sie existiert, nicht klein sein kann. Höhe anwuchs. An ein paar Stellen fanden wir Lücken im
Beweis. Diese erwiesen sich als überwindbar, aber nur mit
Der optimale Platz zum Forschen: erheblichem Aufwand, was unseren Text weiter verlängerte.
Gleich neben der Kaffeemaschine Nach sechs Wochen hatten wir jede einzelne Zeile
Im Spätsommer 2013 glaubten wir, dass wir auch für diesen des Beweises geprüft, vervollständigt und verbessert. Das
Teil des Beweises alle Zutaten beisammen hatten. Aber im- endgültige Aufschreiben nahm weitere sechs Monate in
mer noch war etliches zu klären, zum Beispiel ob die Stabili- Anspruch. Schließlich veröffentlichten wir im Februar 2015
tät der Pflasterung mit all den anderen Beweiselementen das Paper auf arXiv.org.
widerspruchsfrei zusammengeführt werden konnte.
Während des Herbstsemesters 2013 veranstaltete das Was das alles bedeutet
Isaac Newton Institute for Mathematical Science in Cam- Was sagen uns nun diese 146 Seiten Mathematik? Sie
bridge (England) einen speziellen Workshop zum Thema liefern vor allem einen strengen mathematischen Beweis
Quanteninformation. Wir waren alle drei eingeladen – die dafür, dass eine grundlegende Frage der Quantenphysik
perfekte Gelegenheit, das Projekt gemeinsam zum Ab- im Allgemeinen nicht beantwortet werden kann. Die Ein-
schluss zu bringen. Aber David konnte nicht bis zum Ende schränkung »im Allgemeinen« ist hier wichtig. Das Halte­
bleiben; also mussten wir uns beeilen. problem ist zwar im Allgemeinen unentscheidbar, doch
Im Isaac Newton Institute gibt es überall Tafeln – sogar für bestimmte Inputs einer Turing-Maschine ist es häufig
in den Toiletten! Für unsere Diskussionen wählten wir eine möglich zu entscheiden, ob sie anhalten wird oder nicht.
der Tafeln auf einem Flur, gleich neben der Kaffeemaschine. Wenn zum Beispiel die erste Anweisung »halt« lautet, ist die
Dort formulierten wir in vielen Stunden die noch fehlenden Antwort ziemlich klar. Das Gleiche gilt, wenn die erste
Aussagen und teilten dann die Aufgabe, diese sorgfältig zu Anweisung die Maschine in eine Endlos­schleife befördert.
prüfen und aufzuschreiben, unter uns auf. Dieser Prozess Übertragen auf das Spektrallückenproblem bedeutet
kostet immer deutlich mehr Zeit und Mühe, als es an der das: Seine Unlösbarkeit im Allgemeinen verhindert nicht,
Tafel den Anschein hat. Als die Zeit knapp wurde, arbeite- dass es für bestimmte Materialien lösbar ist, und die Physik
ten wir ohne Pause den ganzen Tag und den größten Teil der kondensierten Materie ist reich an Beispielen dafür.
der Nacht. Wenige Stunden vor Davids Abreise hatten wir Gleichwohl zeigt das Ergebnis, dass selbst eine vollständige
schließlich einen kompletten Beweis. Kenntnis der mikroskopischen Wechselwirkungen eines
In Physik und Mathematik veröffentlichen die Forscher Materials nicht immer ausreicht, um seine makroskopi-
ein Ergebnis meist zuerst auf dem Preprintserver arXiv.org, schen Eigenschaften zu bestimmen.
bevor sie es bei einer Zeitschrift zur Veröffentlichung (und Das ist nun äußerst merkwürdig. Die Natur verhält sich
Begutachtung) einreichen. Obwohl wir von unserem Werk so oder anders, und wir verstehen nicht immer, wie sie sich
eigentlich überzeugt waren und der härteste Teil hinter uns verhalten wird. Doch unser Ergebnis würde ja gewisser­
lag, war unser Text noch nicht veröffentlichungsreif. Viele maßen bedeuten, dass die Natur selbst nicht weiß, wie sie
mathematische Kleinigkeiten und Erklärungen waren noch sich verhalten soll. Man könnte unser hypothetisches
einzufügen. Bei der Gelegenheit wollten wir das Manuskript Material im Labor herstellen – theoretisch, die Realisierung
auch umformulieren und aufräumen, in der Hoffnung, unserer äußerst komplizierten Wechselwirkungen würde
es würde dadurch kürzer werden (was kläglich scheiterte). unsere technischen Möglichkeiten noch lange überfordern,
Zudem war zu diesem Zeitpunkt jeder Baustein des Be­ aber immerhin. Und dann würde man seine Spektrallücke

60 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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messen und bekäme entweder das Ergebnis »null« oder können. Aber sie zeigt, gestützt auf einen mathematischen
»größer als null«, jedenfalls nicht »weiß nicht«. Damit Beweis, dass man bei der Extrapolation von Ergebnissen
hätte man dann eine angeblich unbeantwortbare Frage bis ins Unendliche sehr sorgfältig vorgehen muss.
beantwortet. Kommen wir zurück zum Yang-Mills-Problem – der
Die Auflösung dieses scheinbaren Paradoxons liegt Frage, ob die Gleichungen, die Quarks und deren Wechsel-
darin, dass die Begriffe »lückenlos« und »lückenhaft« wirkungen beschreiben, eine Massenlücke aufweisen.
­mathematisch streng nur im Grenzwert unendlich großer Computersimulationen lassen vermuten, dass die Antwort
Materialstücke definiert sind. Nun besteht bereits ein Ja ist. Unser Ergebnis dagegen zeigt, dass ein verwandtes
Kubikzentimeter fester Materie größenordnungsmäßig aus Problem unentscheidbar ist.
etwa 1023 Atomen. Für gewöhnliche Materialien ist das Könnte es sein, dass die Computersimulation für die
nahe genug an unendlich, so dass zwischen der Natur und Yang-Mills-Massenlücke zu dem Ergebnis »Nein« kommen
der mathematischen Idealisierung kein nennenswerter würde, wenn wir sie nur ein wenig größer machen?
Unterschied besteht. Aber für das sehr eigenartige Material, Unser Ergebnis sagt darüber nichts aus, aber es öffnet die
das wir in unserem Beweis konstruieren, ist groß nicht Tür zu der faszinierenden Möglichkeit, dass das Yang-­
gleichbedeutend mit unendlich. Vielleicht verhält sich ein Mills-­Problem und andere für Physiker wichtige Fragen
Materialstück mit 1023 Atomen im Experiment wie eines unentscheidbar sein könnten.
ohne Spektrallücke. Nur um sicher zu sein, nimmt man eine Und was ist mit dem ursprünglichen kleinen und eher
Probe des Materials von doppelter Größe und misst wieder. unbedeutenden Problem, das wir in dem Café in Seefeld zu
Immer noch keine Spektrallücke. Dann kommt eines Nachts lösen versucht hatten? Wir arbeiten immer noch daran. 
ein Doktorand ins Labor und fügt nur ein weiteres Atom
hinzu. Am nächsten Morgen, wenn wieder gemessen wird,
hat das Material plötzlich eine Spektrallücke! QUELLEN
Aus unserem Ergebnis folgt auch, dass die Größe, bei der Cubitt, T. S. et al.: Undecidability of the spectral gap. Nature
ein solcher Übergang stattfinden kann, im Allgemeinen un- 528, 2018. Langfassung (146 Seiten) unter arxiv.org/
berechenbar ist (in dem oben ausgeführten Sinn von Gödel abs/1502.04573
und Turing). Diese Geschichte ist zugegeben hypothetisch, Robinson, R. M.: Undecidability and nonperiodicity for tilings of
weil wir ein derart kompliziertes Material nicht herstellen the plane. Inventiones Mathematicae 12, 1971

Spektrum der Wissenschaft


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Knoten hält am besten? SdW 6/2020 ∙ Das Skelett der Amöbe SdW 6/2019 ∙ Der tropische Spiegel

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Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, messen! SdW 4/2020 ∙ Unentscheidbare Aussagen über die Natur SdW 1/2019 ∙ Wie komplex darf es
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Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 61


ü
INFORMATIK
WIE KOMPLEX
DARF ES SEIN?
Kann ein Computer die Lösung eines Problems
immer in vertretbarer Zeit überprüfen, egal wie
schwierig es ist? Ja, sagt ein neuer Beweis –
und widerlegt damit eine ganze Reihe etablierter
Vermutungen aus der Mathematik und Physik.

Manon Bischoff ist theoretische Physikerin


und Redakteurin bei »Spektrum der Wissenschaft«.

 spektrum.de/artikel/1736696

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62 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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Fortschritte in der Physik beein-
flussen auch die theore­tische
Informatik: Quanten­computer AUF EINEN BLICK
ermöglichen neue Szenarien, DETEKTIVARBEIT MIT COMPUTERN
wenn es um die Lösung komple-
xer Probleme geht.
1 Um die Schwierigkeit eines Problems zu bemessen,
untersuchen Informatiker unter anderem, wie
kompliziert es ist, dessen Lösung nachzurechnen.

2 Forscher konnten nun zeigen, dass gewöhnliche


Computer fast jede Art von Aufgabe überprüfen
können, wenn verschränkte Quantencomputer die
Lösung geliefert haben.

3 Dieses Ergebnis schlägt auch in der Physik und Mathe-


matik hohe Wellen, denn es widerlegt mehrere
jahrzehntealte Vermutungen aus diesen Disziplinen.
JAMESTEOHART / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 63


ü

Wissenschaftler lieben es, Dinge zu kategorisieren – Seit den 1970er Jahren versuchen Computerwissen-
zumindest auf abstrakter Ebene. Chemiker teilen schaftler, Komplexitätsklassen immer feiner zu unterteilen.
beispielsweise alle Elemente in das Periodensystem Dazu haben sie Probleme identifiziert, die noch schwieriger
ein, Biologen ordnen Lebewesen nach Familien und Arten, sind als NP. Raum für mehr Komplexität bot dabei vor allem
und Mathematiker haben im vergangenen Jahrzehnt, nach die Überprüfung eines Ergebnisses. In manchen Fällen
langer Suche, alle endlichen einfachen Gruppen gefunden wächst die dafür nötige Zeit nicht mehr polynomial mit der
und aufgelistet. Länge der Aufgabe an, sondern etwa exponentiell. Hier ist
Informatiker suchen ebenfalls nach Ordnung, wenn auch die Sache also sehr viel schwieriger als bei einem Sudoku,
ein wenig anders: Sie sortieren Probleme nach ihrer Kom- dessen Lösung man vorgesetzt bekommt.
plexität. Bereits in der Vergangenheit haben sie herausge- Um solche Probleme klassifizieren zu können, führten
funden, dass gewisse Aufgaben für Computer sehr einfach Informatiker in den 1980er Jahren so genannte interaktive
zu lösen sind. Bei ihnen wächst mit der Länge des Prob- Beweissysteme ein. Sie stellten sich dabei einen allmächti-
lems die zur Lösung nötige Rechenzeit bloß langsam (poly- gen Computer vor, den »Beweisführer«. Dieser ist stets in
nomial) an. Aus Sicht von Informatikern gehören sie damit der Lage, die Lösung zu einer Aufgabe zu liefern, unabhän-
zur so genannten Komplexitätsklasse P. gig davon, wie komplex sie ist. Er kann folglich Probleme
Probleme, die schwer zu lösen sind, sich aber einfach berechnen, die weit komplizierter sind als Sudoku. Dabei
überprüfen lassen, zählen zur Klasse NP. Ein Beispiel ist ein verfügt er über unendliche Speicherkapazitäten und kann
anspruchsvolles Sudoku: Bei diesem ist es schwierig, die im Prinzip unendlich lange rechnen.
passenden Zahlen zu finden. Hat man sie jedoch einmal Allerdings ist der Beweisführer nicht vertrauenswürdig,
ausgetüftelt oder bekommt ein ausgefülltes Blatt präsen- weshalb man zusätzlich einen Prüfer braucht, der das
tiert, lässt sich leicht überprüfen, ob es korrekt ist. Ob P und gelieferte Ergebnis nachrechnet. Beim Sudoku wäre er es,
NP wirklich verschiedene Klassen sind oder ob man einfach der sicherstellt, dass eine Lösung korrekt ist. Der Prüfer
noch keinen Algorithmus kennt, der die entsprechenden ist – anders als der Beweisführer – ein realistischer Compu-
Probleme effizient löst, zählt zu den wichtigsten offenen ter, der über begrenzte Ressourcen verfügt. Das heißt, seine
Fragen der theoretischen Informatik. Sie ist eines der sieben Berechnungsdauer darf bloß polynomial vom Umfang der
Millennium-Probleme, deren Lösung das Clay Mathematics Aufgabe abhängen.
Institute mit je einer Million US-Dollar belohnt. Weil die vom Beweisführer gelieferte Lösung unter
Mit P und NP fängt der Spaß aber erst an. Computerwis- Umständen extrem lang und kompliziert ist, lässt sich das
senschaftler haben mittlerweile eine Hierarchie von Kom- Ergebnis häufig nicht im Detail nachrechnen. Deshalb greift
plexitätsklassen herausgearbeitet, von sehr einfachen hin der Prüfer auf andere Tricks zurück, um sich vom Wahr-
zu extrem anspruchsvollen Aufgaben. Diese Einteilung ist heitsgehalt zu überzeugen. Tatsächlich ähnelt der Prozess
nicht rein abstrakt, denn tatsächlich spielen dabei physikali- einem Verhör: Der Prüfer stellt dem Beweisführer mehrere
sche Komponenten eine Rolle. Die Komplexität eines Prob- Fragen und testet so, ob die vorgesetzte Lösung stimmt.
lems hängt von dem zur Lösung benötigten Speicherplatz Zur Veranschaulichung kann man sich einen Tisch in
und der beanspruchten Rechenkapazität ab. Kein Wunder einem stockfinsteren Zimmer vorstellen, auf dem mehrere
also, dass Quantencomputer auch die theoretische Informa- identisch geformte Holzklötze liegen. Die Aufgabe besteht
tik umgewälzt haben: Sie ermöglichen neue Strategien, darin, sie nach ihrer Farbe zu sortieren. Der Beweisführer –
wenn es darum geht, Probleme zu lösen oder Ergebnisse allmächtig wie er ist – hat kein Problem damit. Trotz Dunkel-
auf ihre Korrektheit zu überprüfen. heit teilt er die Klötze in zwei Stapel auf. Der Prüfer muss
nun durch Fragen herausbekommen, ob zwei beliebig
Eine der größten Überraschungen herausgegriffene Klötze von unterschiedlichen Stapeln
des Jahrhunderts wirklich verschiedene Farben haben.
Eine Frage, die Computerwissenschaftler lange beschäftig- Der Beweisführer könnte etwa sagen, dass der eine Klotz
te, lautete: Wie kompliziert darf eine Aufgabe höchstens rot und der andere blau ist. Aber stimmt das? Um dies zu
sein, damit ein gewöhnlicher Computer die Lösung in ange- klären, versteckt der Prüfer die Holzklötze hinter seinem
messener – also polynomialer – Zeit verifizieren kann? Ein Rücken, vertauscht sie mehrmals und fragt dann den Be-
Team um Zhengfeng Ji von der University of Technology in weisführer, welcher nun der angeblich rote sei. Wiederholt
Sydney hat im Januar 2020 eine überraschende Antwort man das Experiment oft genug, wird der Beweisführer
gefunden, die für großes Aufsehen unter Fachleuten ge- entweder in rund der Hälfte aller Fälle falschliegen (wenn er
sorgt hat. Demnach lassen sich mit der richtigen Strategie gelogen hat) oder immer richtig antworten (wenn er die
rein theoretisch selbst die schwierigsten Probleme der Wahrheit gesagt hat).
Informatik in vertretbarer Zeit angehen. Computerwissenschaftler haben herausgefunden, dass
»Ich kann mich nicht an eine einzige Person erinnern, die man für manche Aufgaben nur mit einer solchen Frage-­
das erwartet hätte«, schreibt der Informatiker Scott Aaron- Antwort-Strategie prüfen kann, ob ein geliefertes Ergebnis
son von der University of Texas in Austin dazu in seinem korrekt ist. Derartige Probleme erweitern die Komplexitäts-
Blog. Sollte die Arbeit der Prüfung durch unabhängige Ex- klasse NP zu IP (englisch: interactive polynomial time).
perten standhalten, handle es sich um eine der größten Es gibt sogar eine Möglichkeit, noch schwierigere Aufga-
Überraschungen aus der theoretischen Informatik in die- ben anzugehen: Man lässt nicht bloß einen Beweisführer,
sem Jahrhundert. sondern gleich mehrere zu. Diese dürfen sich austauschen,

64 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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während sie eine Lösung ausarbeiten. Doch sobald sie das zen, doch inzwischen weiß man, dass sich so keine Infor-
Ergebnis geliefert haben und der Prüfer es untersucht, sind mation übermitteln lässt – und die Gesetze der speziellen
sie voneinander getrennt. Relativitätstheorie damit gewahrt bleiben.
Auf diese Weise kann die Lösung der Aufgabe, die der Komplexitätsforscher schenkten der Möglichkeit von
Prüfer anschließend mit der Frage-Antwort-Strategie verschränkten Quanten-Beweisführern zunächst nicht viel
­beackert, noch komplizierter ausfallen – und trotzdem in Aufmerksamkeit, da man davon ausging, dass die dazu­
polynomialer Zeit überprüft werden. Denn der Prüfer hat es gehörige Komplexitätsklasse MIP* kleiner wäre als MIP
leichter, wenn er zwei oder mehr Instanzen befragen kann: oder gar IP. Schließlich liegt der Vorteil von MIP darin, dass
So wie ein Polizeikommissar bei separaten Verhören größe- man die allwissenden Computer separat befragt. Wenn
re Chancen hat, Zeugen einer Lüge zu überführen, lassen sie aber während des Verhörs verschränkt sind, wirkt sich
sich auf diese Weise anspruchsvollere Probleme lösen. Die die Antwort des einen auf den Zustand des anderen aus –
dazugehörige Komplexitätsklasse MIP ist noch größer als sie sind nicht mehr unabhängig voneinander.
IP, wie Informatiker 1988 entdeckten. »Die natürliche Reaktion von allen inklusive mir war,
dass man den Beweisführern nun mehr Macht einräumt«,
Computer, die miteinander verschränkt sind so der Computerwissenschaftler Thomas Vidick vom
Nach diesem Ergebnis ruhte das Gebiet der interaktiven California Institute of Technology, Mitautor der neuen
Beweissysteme erst einmal. Bis sich einige Forscher frag- Veröffentlichung. Schließlich könnten die Beweisführer die
ten, was passieren würde, wenn die beiden Beweisführer Verschränkung nutzen, um ihre Antworten während des
keine klassischen Computer wären, sondern Quantencom- Verhörs durch den Prüfer abzustimmen.
puter, die mittels so genannter Verschränkung gekoppelt Doch 2012 kam die erste große Überraschung: Vidick
sind – ein Phänomen, über das sich schon Albert Einstein bewies mit seinem Kollegen Tsuyoshi Ito von der University
den Kopf zerbrochen hat. Er nannte es »spukhafte Fernwir- of Waterloo, dass man mit verschränkten Quantencompu-
kung«, denn wenn man den Zustand eines von zwei ver- tern alle Probleme aus MIP in polynomialer Zeit überprüfen
schränkten Objekten misst, legt man damit gleichzeitig kann. Demnach sind beide Komplexitätsklassen mindes-
auch den Zustand des anderen fest; unabhängig davon, wie tens gleich groß.
weit die beiden räumlich voneinander entfernt sind. An- Sieben Jahre später folgte die nächste Wendung. Die
fangs bereitete dieser Umstand Physikern Bauchschmer- Physiker Anand Natarajan vom California Institute of Tech-
nology und John Wright vom Massachusetts Institute of
Technology entdeckten, dass die Quantencomputer-Klasse
Informatiker ordnen Probleme in Komplexitätsklas- MIP* sogar größer ist als MIP. Demnach muss die Ver-
sen ein. Einfache Aufgaben gehören zu P, danach schränkung kein Nachteil sein, sondern der Prüfer kann sie
werden sie immer schwieriger. Wie sich nun gezeigt sogar zu seinem Vorteil nutzen – und auf diese Weise noch
hat, enthält MIP* die kompliziertesten Probleme. komplexere Aufgaben angehen als gedacht.

P: polynomiale Zeit MIP: multiple interaktive


Beweissysteme
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF

NP: nichtdeterministisch
polynomiale Zeit MIP*: multiple interaktive
Quanten-Beweissysteme
IP: interaktive
Beweissysteme

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 65


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Der Trick besteht darin, mit Hilfe der Verschränkung die Geschwindigkeit eines Teilchens gemessen und ermit-
geeignete Fragen zu formulieren. Das heißt, die Beweisfüh- telt danach seine Position, verschwimmt das erste Resultat.
rer befragen sich zunächst selbst. Das mag auf den ersten Es lässt sich nicht mehr exakt angeben, wie schnell das
Blick paradox erscheinen; weil die zwei Beweisführer aber Objekt nun ist.
miteinander verschränkt sind, können sie mehrere Antwor- Die Beweisführer dürfen deshalb während des Verhörs
ten gleichzeitig durchspielen und so in kürzerer Zeit mehr bloß komplementäre Berechnungen durchführen, so dass
denkbare Überprüfungsschritte abhandeln. Diese Fragen sie ihre Antworten nicht aufeinander abstimmen können.
übermitteln sie dem Prüfer. Befragt man den ersten Quantencomputer nach einem
Der muss beim eigentlichen Test dann nur noch garan- Rechenwert, löscht das die dazugehörige Information des
tieren, dass die Fragen genügend Fakten einholen, um den zweiten Quantencomputers.
Wahrheitsgehalt wirklich beurteilen zu können. Zudem Damit wussten Informatiker, dass MIP* die Komplexität
müssen sie sinnvoll gestellt sein, und die dazugehörigen von MIP übersteigt. Doch wie groß die Klasse wirklich ist,
Antworten dürfen zu keinen Widersprüchen führen. All war zunächst unklar. Um wie viel besser lassen sich Lösun-
diese Kriterien lassen sich in angemessener Zeit prüfen, gen überprüfen, wenn man verschränkte Quantencomputer
wodurch ein gewöhnlicher Computer ein geliefertes Ergeb- befragt? Tatsächlich scheint dies die Menge der Aufgaben
nis verifizieren kann. Die dafür benötigte Rechendauer auf maximale Art und Weise zu vergrößern. Wie Zhengfeng
wächst bloß polynomial mit der Länge des Problems an. Ji zusammen mit Natarajan, Vidick, Wright und Henry Yuen
von der University of Toronto nun in ihrem Aufsehen erre-
Die heisenbergsche Unschärfe genden Fachaufsatz gezeigt haben, enthält MIP* sämtliche
als Lösung berechenbaren Probleme der Informatik!
Bei diesem Verfahren muss man allerdings sicherstellen, Dem Beweis zufolge ist MIP* identisch mit der riesigen
dass – selbst wenn die Fragen der Beweisführer quanten­ Komplexitätsklasse RE. Sie umfasst alle Entscheidungs­
mechanisch zusammenhängen – die dazugehörigen Ant- probleme (solche, deren Antwort Ja oder Nein lautet), die
worten nicht auch verschränkt sind. Denn das käme zwei ein Computer in endlicher Zeit bejahen kann. Darunter fällt
Verdächtigen gleich, die sich während eines Verhörs ab- unter anderem die hartnäckigste aller Aufgaben, das be-
sprechen. rühmte Halteproblem. Dabei geht es darum, zu bestimmen,
Natarajan und Wright lösten das Problem, indem sie ein ob ein Computer bei einer Berechnung jemals anhalten
weiteres bizarres Konzept aus der Quantenmechanik nutz- kann – oder für immer weiterrechnet.
ten: die dem Mikrokosmos innewohnende Unschärfe, der Der britische Informatiker Alan Turing bewies zwar 1936,
zufolge sich zwei »komplementäre« Eigenschaften eines dass es keinen Algorithmus gibt, der das Halteproblem
Objekts, etwa Ort und Geschwindigkeit, nicht gleichzeitig allgemein lösen kann. Das widerspricht allerdings nicht der
beliebig genau bestimmen lassen. Hat man beispielsweise neuesten Veröffentlichung. Denn die Arbeit von Ji und

Quanten-Spiele
Als Physiker Anfang des 20. Jahr- eine unvollständige Theorie. Phä- und die Spieler können verschränkt
hunderts die Quantenmechanik nomene wie Verschränkung tauch- sein, dann gewinnen sie wesent-
entwickelten, zweifelten viele ten ihnen zufolge nur auf, weil lich häufiger.
Experten die neue Theorie an. man zu wenig über die tatsächliche Solche Gedankenspiele wurden
Einige der daraus abgeleiteten Physik wisse. inzwischen etliche Male experi-
Effekte schienen zu verrückt, um Um diese These zu testen, mentell umgesetzt. Meist überneh-
wahr zu sein. Ein prominentes veröffentlichte John Bell 1964 eine men dabei verschränkte Photonen
Beispiel dafür ist die Verschrän- Arbeit, in der er eine Art Quanten- die Rolle der Spieler. Wie die
kung. Gemäß der Quantenphysik Spiel vorstellte. Dabei versuchen Versuche zeigten, lagen Einstein,
können mehrere Teilchen auf zwei Spieler gemeinsam eine Podolsky und Rosen falsch.
seltsame Weise gekoppelt sein und Aufgabe zu lösen. Wie das Spiel Ein ähnliches Quanten-Spiel
sich dadurch augenblicklich ge- bei häufigen Wiederholungen entwickelte auch der theoretische
genseitig beeinflussen – unabhän- ausgeht, hängt dabei davon ab, ob Informatiker Zhengfeng Ji mit
gig davon, wie weit sie voneinan- die Quantentheorie vollständig ist seinen Kollegen, um eine mathe-
der entfernt sind. oder nicht. Hätten Einstein, Rosen matische Vermutung zu widerle-
Unter anderem fochten Albert und Podolsky Recht, dann könnte gen. Doch anders als die Gedan-
Einstein, Boris Podolsky und die Anzahl der Gewinne einen kenexperimente von Bell umfasst
Nathan Rosen diese Vorstellung bestimmten Wert nicht überschrei- das Spiel unendliche Größen,
an. Ihrer Meinung nach handelte es ten. Folgt der Mikrokosmos jedoch wodurch es sich nicht ohne Weite-
sich bei der Quantenphysik um den Gesetzen der Quantenphysik res im Labor überprüfen lässt.

66 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
System verschränkter Teilchen als Produkt der möglichen
Zuständen der einzelnen Partikel. Der andere Ansatz be-
trachtet ein System als Ganzes und prüft, ob es sich viel-
leicht in kleinere Teile zerlegen lässt. Wenn das möglich ist,
unterscheiden sich beide Vorgehensweisen nicht. Doch
insgesamt ist die zweite allgemeiner, denn sie handelt Syste-
me ab, die sich nicht so einfach zerstückeln lassen.
Vom mathematischen Standpunkt aus kann man ver-
schränkte Zustände im ersten Fall durch Matrizen beschrei-
ben, eine Art Liste von Zahlen. Im zweiten Fall kommt man
mit Matrizen – die endlich viele Zeilen und Spalten haben –
allerdings nicht aus. Man braucht so genannte Operatoren,

INKOLY / GETTY IMAGES / ISTOCK


die unter Umständen unendlich-dimensional sind. Das
macht es viel schwerer, mit ihnen umzugehen.
Connes vermutete 1976, dass sich bestimmte unendlich-
dimensionale Operatoren durch extrem große Matrizen
annähern lassen. Sprich: Statt mit den abstrakten Objekten
Die Informatiker haben gezeigt, dass man – gerade in zu rechnen, kann man Matrizen nutzen, um eine Aufgabe zu
der Quantenmechanik – Unendlichkeiten nicht immer lösen. Tsirelson übertrug diese Hypothese auf die Quanten-
durch große endliche Systeme annähern kann. mechanik, indem er annahm, dass die zwei unterschiedli-
chen Beschreibungen von Verschränkung im Wesentlichen
gleich sind. Wie sich später herausstellte, sind Tsirelsons
seinen Kollegen besagt, dass ein gewöhnlicher Prüfer in Vermutung und Connes’ Einbettungsproblem zwei Seiten
polynomialer Zeit die Aussage von zwei miteinander ver- der gleichen Medaille: Wenn es gelingt zu zeigen, dass eine
schränkten allwissenden Quantencomputern überprüfen der beiden Aussagen zutrifft, hat man die andere gleichzeitig
kann, der zufolge ein Computer für eine bestimmte Aufgabe mitbewiesen.
zum Halten kommt. Behauptungen, dass ein Programm Doch nun hat die neueste Arbeit der theoretischen Infor-
beispielsweise in einer Endlosschleife stecken bleiben wird, matiker Tsirelsons Vermutung und damit auch Connes’
lassen sich so aber nicht verifizieren. Einbettungsproblem widerlegt. Das hat drastische Folgen:
Anders als häufig angenommen, kann man ein unendliches
Computerwissenschaftliches Ergebnis widerlegt System nicht immer beliebig genau durch ein endliches
mathematische Vermutung annähern.
Das Ergebnis hat theoretische Informatiker verblüfft. Uner- Ji und seine Kollegen beschreiben in ihrer Veröffentlichung
warteterweise wirkt es sich aber auch auf andere Fachbe- ein Beispiel für eine Situation, in der dieser Fall eintritt.
reiche aus. Denn dadurch entpuppt sich das in den 1970er Dazu konstruierten sie ein Spiel, an dem zwei Personen
Jahren vom Fields-Medaillen-Preisträger Alain Connes teilnehmen, die miteinander verschränkt sind (siehe
formulierte »Einbettungsproblem« aus der Funktionalanaly- »Quanten-­Spiele«, links) und das Spiel entweder gemeinsam
sis als falsch – was viele Wissenschaftler erstaunt. Von gewinnen oder verlieren können. Beschreibt man den Zu-
diesem hängen wiederum weitere Hypothesen ab, wie die stand beider Personen durch unendlich-dimensionale Opera-
quantenmechanische Vermutung des russisch-israelischen toren, dann gewinnen die Spieler bei optimaler Strategie mit
Mathematikers Boris Tsirelson (1950–2020), die folglich einer Chance von 1, also immer; verwendet man dagegen
ebenso wenig stimmen. »Wenn ich eine Veröffentlichung endliche Matrizen, dann beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür
mit der Überschrift MIP* = RE sehe, dann gehe ich erst höchstens 1/2. Folglich kann man mit endlichen Matrizen
einmal davon aus, dass sie nichts mit meiner Arbeit zu tun niemals beliebig nah an das Ergebnis der Operatoren heran-
hat«, sagte der Quantenphysiker Miguel Navascués von der kommen, unabhängig davon, wie groß man sie wählt.
Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Damit hat die Arbeit der theoretischen Informatiker nicht
»Das war eine echte Überraschung.« bloß Auswirkungen auf die Komplexitätstheorie. Das zeigt,
Das Einbettungsproblem handelt unter anderem von so dass das Gebiet – anders als häufig behauptet – kein völlig
genannten Operatoralgebren, die zum mathematischen lebensferner Bereich ist, der allein für sich steht, sondern
Bereich der Funktionalanalysis gehören, aber auch in der auch andere Disziplinen beeinflusst, wie die theoretische
Quantenmechanik auftauchen. Dort hängen sie beispiels- Quantenphysik und Mathematik. 
weise mit dem physikalischen Phänomen der Verschrän-
kung zusammen. Denn es ist immer noch nicht vollkom- QUELLEN
men klar, wie man verschränkte Teilchen mathematisch
korrekt beschreibt. Ito, T., Vidick, T.: A multi-prover interactive proof for NEXP
sound against entangled provers. ArXiv 1207.0550, 2012
Bislang gibt es unterschiedliche Ansätze, die zwei ver-
schiedenen Ansichten widerspiegeln: Beim ersten geht Ji, Z. et al.: MIP* = RE. ArXiv 2001.04383, 2020
man davon aus, dass sich die Physik aus einzelnen Be- Natarajan, A., Wright, J.: NEEXP in MIP*. ArXiv 1904.05870,
standteilen heraus aufbaut. Das heißt, man beschreibt ein 2019

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 67


ü
LANGLANDS-
PROGRAMM
BRÜCKENSCHLAG IN
DER ­MATHEMATIK
Seit Jahrzehnten vermuten Wissenschaftler,
dass zwei völlig verschiedene mathematische
Gebiete miteinander verwoben sind. In einer
für das Fach ungewöhnlich großen Zusam-
menarbeit konnten Forscher diese geheimnis-
volle Verbindung nun erweitern.

Erica Klarreich hat in Mathematik


promoviert und ist Wissenschafts-
journalistin in Berkeley (Kalifornien).

 spektrum.de/artikel/1744804

INIMALGRAPHIC / STOCK.ADOBE.COM

68 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü

Anfang der 1990er Jahre gelang dem englischen hätte kommen können. Anstatt sich dem Problem direkt
Zahlentheoretiker Andrew Wiles das Unfassbare: Er zu widmen, arbeitete Wiles an einer bis dahin hypothe­
bewies eines der größten Rätsel der Mathematik. tischen Verbindung zwischen zwei grundverschiedenen
Jahrhundertelang hatten sich sowohl Experten als auch mathematischen Bereichen. Sein Beweis von Fermats
interessierte Laien an Fermats großem Satz die Zähne großem Satz lief darauf hinaus, einen Zusammenhang
ausgebissen. Wegen seiner vermeintlichen Einfachheit zog zwischen zwei Teilgebieten dieser Bereiche nachzuweisen –
er etliche Menschen in seinen Bann: Er besagt, dass es so, als würde man eine Brücke zwischen zwei Ländern
keine natürlichen Zahlen x, y und z gibt, welche die Glei- unterschiedlicher Kontinente errichten. Die Arbeit des
chung x n + y n = z n für n größer als zwei erfüllen. Der franzö- englischen Mathematikers steckte voller tief greifender
sische Gelehrte Pierre de Fermat (1607–1665) notierte diese neuer Ideen, wodurch er eine Flut weiterer Ergebnisse auf
Behauptung an den Rand einer Kopie von Diophantus’ beiden Seiten der nun verbundenen Gebiete auslöste.
»Arithmetica« und merkte an, er habe einen »wirklich So beeindruckend Wiles’ Leistung auch ist, bildet sein
wunderbaren Beweis« dafür entdeckt, aber ihm reiche der Beweis nur einen kleinen Baustein zur Klärung eines
Platz dafür nicht aus. Das ermutigte viele, sich daran zu viel größeren Rätsels: Die gesamte Verbindung, die als
versuchen – allerdings ohne Erfolg. Langlands-Korrespondenz bekannt ist und zwei riesige
Der Weg, der Wiles schließlich mit der Hilfe von Richard mathematische Bereiche verbinden soll, ist nach wie vor
Taylor zum Ziel führte, war etwas, auf das Fermat niemals unvollständig. Eine solche Korrespondenz würde, wie
Wissenschaftler hoffen, zu zahlreichen neuen mathemati-
schen Zusammenhängen führen. Denn dadurch könnte
man Konzepte des einen Gebiets über die Brücke in den
anderen Bereich verfrachten und dort lösen. Wie sich
herausstellt, erscheinen nämlich viele Probleme – etwa der
große Satz von Fermat – auf der einen Seite der Brücke
schwierig, während sie sich auf der anderen plötzlich in
bewältigbare Aufgaben verwandeln.
Nachdem Wiles seine bahnbrechende Arbeit veröffent-
licht hatte, erweiterten andere Mathematiker eifrig seine
Ideen und fanden dadurch immer mehr Verbindungen
zwischen beiden Bereichen. Doch dann landeten sie in
einer Sackgasse, in der sie lange festsaßen.

AUF EINEN BLICK


ERSTAUNLICHE ZUSAMMENHÄNGE

1 Ende der 1960er Jahre vermutete Robert Langlands


eine Verbindung zwischen zwei Gebieten der
­Ma­thematik, die auf den ersten Blick grundverschieden
wirken – und verblüffte damit die Fachwelt.

2 Indem Andrew Wiles 20 Jahre später einen Teil dieser


Vermutung belegte, löste er gleichzeitig ein
INIMALGRAPHIC / STOCK.ADOBE.COM

jahrhunderte­altes Rätsel: Fermats großen Satz.

3 Nun haben Forscher bedeutende Fortschritte beim so


genannten Langlands-Programm gemacht, die
zum Beweis einer allgemeineren Version von Fermats
großem Satz führen könnten.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 69


ü
Nun haben mehr als ein Dutzend Mathematiker in einer Auf der anderen Seite der Langlands-Korrespondenz
für das Fachgebiet ungewöhnlich großen Zusammenarbeit leben so genannte automorphe Formen. Man kann sich
einen Ausweg gefunden. Ihre Ergebnisse könnten dabei diese Objekte als verallgemeinerte periodische Funktionen
helfen, Fermats großen Satz zu erweitern, indem man ihn vorstellen. Während gewöhnliche Funktionen wie eine
für Zahlensysteme jenseits der natürlichen Zahlen beweist. Sinusfunktion Zahlen anderen Zahlen zuordnen, weisen
»Es wurden grundlegende mathematische Phänomene automorphe Formen auch komplizierteren mathemati-
aufgedeckt, die wir gerade erst anfangen zu verstehen«, schen Strukturen Zahlenwerte zu. Um sie grafisch abzubil-
sagt Matthew Emerton von der University of Chicago. den, kann man sie durch symmetrische Färbungen be-
Das Langlands-Programm zielt darauf ab, zwei Bereiche stimmter geometrischer Kachelungen darstellen. Wiles
zu verbinden, die kaum unterschiedlicher sein könnten. untersuchte beispielsweise automorphe Formen, deren
Auf der einen Seite geht es um die so ziemlich einfachsten Kachelungen den berühmten Mosaiken des niederländi-
mathematischen Ausdrücke, die man sich vorstellen kann. schen Künstlers M. C. Escher ähneln: mit Fischen oder
Diese so genannten diophantischen Gleichungen kombinie- Engeln und Teufeln gefüllte Scheiben, deren Symbole zum
ren Variablen, Exponenten und Koeffizienten zu simplen Rand hin immer kleiner werden. Geht man über die Arbeit
Polynomen wie y = x 2 + 6x + 8 oder x 3 + y 3 = z 3. Wählt von Wiles hinaus, könnten die Kachelungen im weiteren
man die Variablen aus einem Pool reeller Zahlen, kann man Langlands-Universum auch höherdimensionale Räume
die verschiedenen Lösungsmöglichkeiten schnell angeben. füllen, etwa dreidimensionale Kugeln.
Lässt man dagegen nur natürliche oder ganze Zahlen zu,
wird es kompliziert. Ein junges Genie voller
Im antiken Griechenland fanden Gelehrte ganzzahlige Selbstzweifel
Lösungen für diophantische Gleichungen, die bloß aus zwei Auf den ersten Blick ist es schwer vorstellbar, dass die
Variablen bestehen und deren Exponenten kleiner als drei simplen diophantischen Gleichungen mit automorphen
sind. Andere Fälle wie elliptische Kurven, die y 2 und Terme Formen zusammenhängen. Doch Mitte des 20. Jahrhun-
dritter Potenz aufweisen, etwa y 2 = x 3 + 4x, sind schwieri- derts begannen Mathematiker, tief greifende Beziehungen
ger zu behandeln. Seit Jahrtausenden suchen Mathemati- zwischen ihnen aufzudecken. Zu Weihnachten 1966 ver-
ker nach geeigneten Kombinationen natürlicher Zahlen, die fasste der damals erst 30-jährige US-amerikanisch-kanadi-
diophantische Gleichungen erfüllen. In erster Linie treibt sie sche Mathematiker Robert Langlands einen 17-seitigen
dabei die wissenschaftliche Neugier an, aber einige kürzlich Brief an seinen renommierten französischen Kollegen
erschienene Arbeiten aus dem Bereich haben unvorherge- André Weil (1906–1998), in dem er einige seiner neuesten
sehene Anwendungen in der Kryptografie. Ideen darlegte. Voller Selbstzweifel schrieb er darin:
»Wenn Sie bereit sind, meine Erkenntnisse als reine Spe-
kulation zu betrachten, wäre ich Ihnen dankbar. Wenn
nicht, bin ich sicher, dass Sie einen Papierkorb zur Hand
Kurz erklärt: haben.« Seine damalige Vermutung, dass diophantische
Uhrzeit-Arithmetik Gleichungen und automorphe Formen zusammenhängen,
entwickelte sich zu einem der bedeutendsten modernen
Bereits in der Grundschule lernen wir, Zahlen zu mathematischen Forschungsprojekte: Weil ließ Langlands’
addieren, zu subtrahieren, zu multiplizieren und zu Brief abtippen und verteilte ihn unter anderen Mathemati-
dividieren. In der höheren Mathematik erweist es kern, wodurch das so genannte Langlands-Programm
sich oftmals als nützlich, über diese gewöhnliche entstand, bei dem es darum geht, die Ideen Langlands’ zu
Arithmetik hinauszugehen. Zum Beispiel kann man beweisen.
sich so genannten modularen Systemen zuwen- Einige Forscher erkannten, dass man sowohl aus dio-
den, die ähnliche Rechenregeln befolgen wie eine phantischen Gleichungen als auch aus automorphen
Uhr: Statt über unendlich viele Zahlen zu verfügen, Formen unendliche Zahlenfolgen erzeugen kann. Lässt
gibt es eine festgelegte größte Zahl n. Möchte man man für die Variablen diophantischer Gleichungen zum
zwei Zahlen in diesem System addieren und würde Beispiel nicht bloß natürliche Zahlen zu, sondern nutzt
dadurch gemäß den gewöhnlichen Rechenregeln andere Zahlensysteme, dann verändert sich die Anzahl der
eine Zahl N erhalten, die größer ist als n, dann teilt möglichen Lösungen. Indem man diese Anzahl für ver-
man N durch n und nimmt den ganzzahligen Rest schiedene Zahlensysteme berechnet, entsteht eine unend-
als Ergebnis. Im Fall einer gewöhnlichen Uhr ist liche Zahlenfolge auf der diophantischen Seite. Automor-
n = 12. Möchte man wissen, wie spät es ist, wenn phe Formen lassen sich dagegen durch die Werkzeuge der
nach elf Uhr drei Stunden vergehen, dann rechnet so genannten harmonischen Analysis in eine Summe
man: 11 + 3 = 14; 14 : 12 = 1 mit Rest 2; demnach zerlegen. Auf diese Weise erhält man für eine automorphe
ist es dann zwei Uhr. Derartige arithmetische Form eine unendlich lange Reihe, deren Vorfaktoren
Systeme lassen sich für beliebige n entwickeln. ebenfalls eine Zahlenfolge bilden.
­Besonders interessant sind aber meist die Fälle, Als sich Langlands diophantischen Gleichungen widme-
bei denen n eine Primzahl ist. te, betrachtete er deren Lösungen für Zahlen mit einer so
genannten Uhrzeit-Arithmetik (siehe »Kurz erklärt«, links).
Solche Zahlensysteme sind gewissermaßen periodisch,

70 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
LINASVEPSTAS (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:DISCRIMINANT_REAL_PART.JPEG) /
KURVE, PFEIL: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT; AUTOMORPHE FORM RECHTS:

CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)

Die Lösungen diophantischer Gleichungen (links) und Fermats großer Satz war bei Weitem nicht die einzige
automorphe Formen (rechts) hängen überraschender- Entdeckung, auf die man beim Langlands-Programm stieß.
weise zusammen. Einigen Fachleuten gelang es beispielsweise, die so genann-
te Sato-Tate-Vermutung zu beweisen. Dabei handelt es sich
um eine Hypothese des japanischen Mathematikers Mikio
wie eine Uhr: Im üblichen Zwölf-Stunden-Takt ergeben sich Satō und seines US-amerikanischen Kollegen John Tate aus
Berechnungen wie 10 + 4 = 2. Statt der Zwölf als Basis dem Jahr 1960, wonach die statistische Verteilung der
fokussierte sich Langlands auf Systeme, deren Periodizität Anzahl von Lösungen einer elliptischen Kurve mit den
durch eine Primzahl festgelegt ist (zum Beispiel drei, wo- Vorfaktoren gewisser automorpher Formen zusammen-
durch man Berechnungen der Form 2 + 2 = 1 erhält). Er hängt.
erkannte, dass die Folge, die sich aus der jeweiligen Anzahl Nachdem Wiles und Taylor ihre Ergebnisse veröffentlicht
der Lösungen ergibt, mit den Vorfaktoren automorpher hatten, erkannten Zahlentheoretiker, dass die beiden Wis-
Formen zusammenhängt, wenn man diese in eine unend­ senschaftler ihre Methode noch nicht voll ausgeschöpft
liche Reihe zerlegt. Damit gäbe es zu jeder diophantischen hatten. Bald stellte sich heraus, wie man den Ansatz auf
Gleichung eine entsprechende automorphe Form und andere elliptische Kurven ausdehnen kann. Nach einigen
umgekehrt. Dass die beiden Bereiche derart zusammen­ Jahren gelang es sogar, die Ergebnisse für Koeffizienten mit

passen, verwundert noch heute viele Fachleute. »Für mich einfachen irrationalen Zahlen wie 3 + √ 2 zu erweitern.
wirkt es immer wieder unglaublich, auch wenn ich mich
seit über 20 Jahren damit beschäftige«, sagt Emerton. Ein neuer Ansatz muss her
Bereits Ende der 1960er Jahre konnten Mathematiker Allerdings ließ sich die Taylor-Wiles-Methode nicht auf
einige dieser Verbindungen beweisen: Sie fanden heraus, elliptische Kurven verallgemeinern, deren Koeffizienten
wie man von bestimmten automorphen Formen ausgehend komplexe Zahlen wie i (die Quadratwurzel aus –1) enthalten.
die passenden elliptischen Kurven mit rationalen Koeffizien- Ebenso wenig war es damit möglich, mit diophantischen
ten findet. Doch wie und ob das auch in umgekehrter Gleichungen umzugehen, deren Exponenten größer als 4
Richtung funktionierte, war lange Zeit unklar. In den 1990er sind. In diesen Fällen bricht der Ansatz zusammen. All­
Jahren entwickelte Wiles mit den Beiträgen seines Kollegen mählich erkannten Mathematiker, dass man die Langlands-­
Taylor einen Weg, um einer bestimmten Familie elliptischer Korrespondenz nicht mehr durch bloßes Anpassen der
Kurven die entsprechenden automorphen Formen zuzuord- Taylor-Wiles-Methode erweitern konnte. Sie schienen auf
nen. Durch dieses Ergebnis bewies er außerdem Fermats grundlegende Hindernisse gestoßen zu sein, die neue Ideen
großen Satz. Denn Mathematiker hatten zuvor gezeigt, dass erforderten.
mindestens eine dieser elliptischen Kurven keine passende Taylor und Wiles fanden die passende automorphe Form
automorphe Form besäße, wenn Fermats Behauptung für eine diophantische Gleichung, indem sie diese nach und
falsch wäre. nach durch andere automorphe Formen annäherten. Wenn
die Koeffizienten der diophantischen Gleichung aber kom-
plexe Zahlen enthalten oder der Exponent größer als 4 ist,
gibt es kaum noch geeignete automorphe Formen. Tatsäch-
»Für mich wirkt es immer lich tauchen sie in diesen Fällen so selten auf, dass eine

noch unglaublich, auch Näherung nicht mehr möglich ist. Schon bei den diophanti-
schen Gleichungen, mit denen Wiles arbeitete, war es
wenn ich mich seit 20 Jahren schwer, genügend automorphe Formen zu finden. Wenn
aber komplexe Koeffizienten oder höhere Exponenten im
damit beschäftige«  Matthew Emerton Spiel sind, scheint die Suche vollkommen vergebens.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 71


ü
deckte. Aber dafür musste man ihren Verdacht erst be­
weisen. Dieser basierte wiederum auf drei weiteren Ver-
Glossar mutungen, die noch nicht belegt waren. Calegari erinnert
sich: »Es war, als ob meine Arbeit mit Geraghty erkläre,
Diophantische Gleichungen gehören zu den wie man zum Mond gelangt – vorausgesetzt, jemand
augenscheinlich einfachsten Objekten der Mathe- würde zuvor ein Raumschiff, Raketentreibstoff und Raum-
matik. Dabei handelt es sich um Polynome, die anzüge liefern.«
man zu Gleichungen zusammensetzt, etwa: Unter anderem erforderte die Methode von Calegari
3x 3 + 2xy 2 + 4 = z 6. Die Schwierigkeit besteht und Geraghty, dass es bereits eine Verbindung in die
darin, alle Lösungen (hier: x, y und z) zu finden, die umgekehrte Richtung gibt, also von den automorphen
einem bestimmten Zahlensystem entspringen, Formen zu den diophantischen Gleichungen. Darüber
etwa den natürlichen Zahlen oder den rationalen hinaus sollte diese Brücke nicht nur automorphen Formen
Zahlen. eine entsprechende Gleichung zuordnen, sondern auch
Torsionsklassen. »Ich glaube, viele Leute hielten das
Anschaulich sind automorphe Formen verallge- anfangs für ein hoffnungsloses Problem«, sagt Taylor, der
meinerte periodische Funktionen, die komplizierte jetzt an der Stanford University arbeitet.
mathematische Strukturen auf Zahlen abbilden. Doch weniger als ein Jahr nachdem Calegari und
Ähnlich wie man in der Musik einen Ton in eine Geraghty ihre Arbeit veröffentlichten, verblüffte der deut-
Summe aus Obertönen zerlegen kann, lassen sich sche Fields-Medaillen-Preisträger Peter Scholze von der
auch automorphe Formen in eine unendliche Reihe Universität Bonn die Welt der Zahlentheoretiker. Er fand
entwickeln: heraus, wie man von Torsionsklassen ausgehend zu ellipti-
a1 x + … + an–1 x n–1 + an x n + … Die Vorfaktoren ai schen Kurven gelangt, deren Koeffizienten einfache kom-

bilden dabei eine unendliche Reihe, die mit der plexe Zahlen wie 3 + 2i oder 4 – √ 5 i enthalten.
Anzahl der möglichen Lösungen diophantischer Scholze hatte damit die erste der drei Vermutungen von
Gleichungen zusammenhängt. Calegari und Geraghty bewiesen. Zwei weitere Abhandlun-
gen des deutschen Mathematikers, die er zusammen mit
seiner Kollegin Ana Caraiani vom Imperial College London
verfasste, kamen dem Beweis der zweiten Vermutung
Die zwei Mathematiker Frank Calegari von der University extrem nahe. Dabei geht es darum, zu zeigen, dass die von
of Chicago und David Geraghty, der jetzt für Facebook Scholze aufgebaute Verbindung bestimmte Eigenschaften
forscht, präsentierten 2012 einen neuen Weg, um das erfüllt.
Problem anzugehen. Sie vermuteten, dass der Ansatz von
Taylor und Wiles eigentlich ein Spezialfall einer viel allge- Ein Workshop voller
meineren Methode sei, mit der sich beide Seiten der Lang- brillanter Ideen
lands-Korrespondenz verbinden lassen. Beflügelt von den unerwarteten Fortschritten, organisier-
Wiles betrachtete in seiner Arbeit automorphe Formen, ten Caraiani und Taylor im Herbst des Jahres 2016 einen
deren Kachelungen zweidimensional sind. Die Probleme einwöchigen Workshop mit mehreren Experten des
ergeben sich jedoch erst, wenn man sich höherdimensiona- ­Gebiets am Institute for Advanced Study in Princeton. Sie
len Kachelungen zuwendet, denn dort gibt es weniger hofften, so die letzten Hürden zu einem vollständigen
automorphe Formen. Dafür besitzen Kachelungen in diesen Beweis von Calegaris und Geraghtys Verbindung zu über-
Fällen aber eine wesentlich reichere Struktur als ihre zwei­ winden. Nach einigen Tagen ausführlicher Diskussionen
dimensionalen Varianten. Calegari und Geraghty erkannten, begannen die Teilnehmer zu erkennen, wie sie die zweite
dass man diese Eigenschaft ausnutzen könnte, um den Vermutung abschwächen und der dritten Hypothese
Mangel an automorphen Formen auszugleichen. ausweichen konnten. »Letztendlich lösten wir alle Proble-
Automorphe Formen weisen einer bestimmten Kache- me innerhalb eines Tags, nachdem wir sie ausführlich
lung eine Färbung zu. Betrachtet man einen beliebigen dargelegt hatten«, erinnert sich der Zahlentheoretiker Toby
Ausschnitt einer Kachelung, kann man mit Hilfe der auto- Gee, ebenfalls vom Imperial College London, der am
morphen Form die durchschnittliche Farbe dieses Stücks Workshop teilnahm.
berechnen. Wenn man höherdimensionale Objekte betrach- Die Mathematiker verbrachten den Rest der Woche
tet, kann man ihnen neben einer Färbung auch andere damit, verschiedene Aspekte des Beweises auszuarbeiten.
Merkmale zuordnen. Diese Aufgabe übernehmen so ge- Während der nächsten zwei Jahre schrieben sie ihre
nannte Torsionsklassen, die einem bestimmten Ausschnitt Ergebnisse in einer Arbeit mit zehn Autoren nieder – eine
einer Kachelung eine Zahl aus der Uhrzeit-Arithmetik zuwei- ungewöhnliche hohe Anzahl von Personen für eine Veröf-
sen. Im Gegensatz zu automorphen Formen gibt es solche fentlichung in diesem mathematischen Gebiet. In ihrem
Torsionsklassen in Hülle und Fülle. Calegari und Geraghty Aufsatz gelang es ihnen, eine Langlands-Brücke für ellipti-
schlugen daher vor, sich der gesuchten automorphen Form sche Kurven zu errichten, deren Koeffizienten aus rationa-
durch Torsionsklassen anzunähern. len Zahlen plus einfachen irrationalen und komplexen
Die Arbeit der beiden Forscher stellte eine allgemeinere Zahlen besteht. »Eigentlich wollten wir bloß herausfinden,
Verbindung in Aussicht als die von Wiles und Taylor ent- wie nahe wir einem Beweis kommen könnten«, sagt Gee.

72 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
»Ich glaube nicht, dass jemand erwartet hatte, das Problem
tatsächlich zu lösen.«
Zur gleichen Zeit bemühten sich einige Zahlentheoreti- Mehr Wissen auf
ker, die Langlands-Korrespondenz über elliptische Kurven Spektrum.de
hinaus zu beweisen, das heißt, auch höhere Exponenten in Unser Online-Dossier zum Thema
den diophantischen Gleichungen zuzulassen. Calegari und finden Sie unter
Gee arbeiteten damals mit dem Mathematiker George spektrum.de/t/zahlentheorie
/ ISTOCK
Boxer von der École normale supérieure de Lyon zusam- FRANKRAMSPOTT / GETTY IMAGES

men, um Gleichungen anzugehen, deren höchster Expo-


nent fünf oder sechs ist – statt den bisher bekannten Fällen
von drei oder vier. Die Forscher landeten jedoch schnell in University of California in Los Angeles und Jack Thorne von
einer Sackgasse, aus der sie keinen Ausweg fanden. der University of Cambridge etwa bereits nachgewiesen,
Am Wochenende nach dem Workshop in Princeton dass ein beträchtlicher Teil der automorphen Formen, die
erschien eine Arbeit des französischen Mathematikers während des Princeton-Workshops untersucht wurden,
Vincent Pilloni, ebenfalls von der École normale supérieure genau an der erwarteten Stelle liegen.
in Lyon, die unter anderem einen möglichen Weg präsen- Derart exakte Brücken könnten es Mathematikern künf-
tierte, um das Problem von Boxer, Calegari und Gee zu tig ermöglichen, zahlreiche neue Theoreme zu beweisen.
umgehen. Die drei Forscher beschlossen daraufhin, Pilloni Eines davon ist die jahrhundertealte Verallgemeinerung des
aufzusuchen, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Innerhalb großen Satzes von Fermat. Bisher können Mathematiker
weniger Wochen gelang es den vier Mathematikern, eine nur vermuten, dass die Gleichung x n + y n = z n auch dann
keine Lösung besitzt, wenn x, y und z nicht nur natürliche
Zahlen, sondern zusätzlich Kombinationen mit der imagi­

»Ich glaube nicht, nären Zahl i enthalten.


Obwohl die zwei neuesten Arbeiten große Bereiche der
dass jemand erwartet beiden Langlands-Kontinente verbinden, lassen sie noch
immer riesige Gebiete unerforscht. Auf der Seite der dio-
hatte, das Problem phantischen Gleichungen ist unklar, wie man mit Exponen-

tatsächlich zu lösen«  Toby Gee


ten größer als sechs oder mit mehr als zwei Variablen
umgeht. Auf der anderen Seite gibt es automorphe Formen,
die auf extrem komplizierten Gebilden leben. Um diese
Herausforderungen zu bestreiten, braucht man wahrschein-
Lösung zu finden – auch wenn es zwei Jahre und fast lich neue Ideen. Langlands selbst zog beispielsweise nie-
300 Seiten brauchte, bis sie ihren Beweis vollständig ausge- mals Torsionsklassen in Betracht, als er über automorphe
arbeitet hatten. Ende Dezember 2018 erschienen dann Formen nachdachte. »Wir haben den von Langlands vorge-
schließlich sowohl ihr Ergebnis als auch die Resultate des zeichneten Weg verlassen«, sagt Taylor. »Wir wissen nicht
Princeton-Workshops. genau, wohin uns der neue Pfad führen wird.« 
Diese zwei Arbeiten erweitern die mysteriöse Verbin-
dung zwischen den diophantischen Gleichungen und den QUELLEN
automorphen Formen entscheidend. Allerdings ist die so Allen, P. B. et al.: Potential automorphy over CM fields. ArXiv
erbaute Brücke zwischen den beiden Gebieten nicht per- 1812.09999, 2018
fekt: Man weiß zwar, dass es zu den betrachteten diophan-
Boxer, G. et al.: Abelian surfaces over totally real fields are
tischen Gleichungen jeweils eine passende automorphe potentially modular. ArXiv 1812.09269, 2018
Form gibt, doch es ist nicht immer klar, ob diese an der
Calegari, F., Geraghty, D.: Modularity lifting beyond the Taylor-
erwarteten Stelle zu finden ist. Die beiden Aufsätze stellen
Wiles method. ArXiv 1207.4224, 2012
nämlich keinen exakten Zusammenhang, sondern bloß eine
so genannte potenzielle Automorphie zwischen den zwei Caraiani, A., Scholze, P.: On the generic part of the
­cohomology of non-compact unitary Shimura varieties. ArXiv
Bereichen fest.
1909.01898, 2019
Glücklicherweise reicht das bereits für viele Anwendun-
gen aus – zum Beispiel bei der Sato-Tate-Vermutung, bei Wiles, A.: Modular elliptic curves and Fermat’s Last Theorem.
Annals of mathematics 141, 1995
der es um die statistische Verteilung der Lösungen von
diophantischen Gleichungen mit Uhrzeit-Arithmetik geht.
Nach ihrem Workshop konnten die zehn Forscher diese
Hypothese in einem viel breiteren Zusammenhang als Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und redigierte Fas-
sung des Artikels »›Amazing‹ Math Bridge Extended Beyond
bisher beweisen.
Fermat’s Last Theorem« aus dem »Quanta Magazine«, einem
Momentan versuchen Mathematiker herauszufinden, inhaltlich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich
wie sich die potenzielle Automorphie zu einer exakten die Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und
Verbindung erweitern lässt. Im Oktober 2019 haben die drei den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
Zahlentheoretiker Patrick Allen von der University of Illinois
in Urbana-Champaign, Chandrashekhar Khare von der

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 73


ü
KATEGORIENTHEORIE
AUS DER VOGEL­
PERSPEKTIVE

MARTIN KUPPE FÜR SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


In den letzten 70 Jahren entstand ein mathematischer Bereich, der
es unter anderem ermöglicht, unerwartete Zusammenhänge
aufzudecken. Inzwischen findet die abstrakte Disziplin auch hand-
feste Anwendungen in der Physik, Informatik oder Linguistik.

74 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Manon Bischoff ist theoretische
Physikerin und Redakteurin bei
»Spektrum«.

 spektrum.de/artikel/1681198


Stellen Sie sich vor, Sie fliegen über eine Welt namens
Mathematistan. Relativ mittig erblicken Sie das be-
kannte Reich der Arithmetik, in dem Zahlen miteinan-
der addiert, multipliziert, voneinander abgezogen und
MARTIN KUPPE FÜR SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

dividiert werden. Daran grenzen die Hügel der Zahlentheo-


rie, mit Primzahlen und anderen seltsamen Konstrukten,
während sich südlich das riesige Kalifat der Al-Gebra befin-
det, in dem sich nicht nur wie in der Arithmetik Zahlen
miteinander verknüpfen lassen, sondern auch komplizierte-
re Objekte wie Matrizen.
In solcher Höhe verschwimmen die Details der einzelnen
Gebiete, man kann bloß grobe Strukturen erkennen. Dafür
macht man Brücken und Grenzregionen zwischen den
verschiedenen Reichen aus, die sie verbinden. Beispielswei-
se liegt zwischen der Tundra der Topologie und dem Kalifat
der Al-Gebra der Wald der algebraischen Topologie. Darin
sind die Konzepte aus beiden Welten vereint: Während die
Bewohner der Tundra beispielsweise geometrische Objekte
nach der Anzahl ihrer Löcher klassifizieren, berechnen
algebraische Topologen diese Anzahl durch algebraische
Konstrukte wie Funktionen oder Gruppen.
Viele Forscher würden sich wünschen, die verschiede-
nen Bereiche der Mathematik auf ähnliche Weise überbli-
cken zu können. Vor mehreren hundert Jahren gab es noch
Universalgelehrte, die sich in fast allen Wissenschaften
auskannten, von Philosophie über Physik bis hin zu Medizin.
Ihre Erkenntnisse im einen Fachgebiet halfen ihnen in
anderen Bereichen weiter. An so etwas ist heute gar nicht
mehr zu denken. Ein Zahlentheoretiker und ein Stochastiker
werden einander höchstwahrscheinlich nur schwer verste-
hen – und das, obwohl beide Mathematiker sind.
Dabei sind die einzelnen mathematischen Disziplinen gar
nicht so unterschiedlich, wie sie auf den ersten Blick schei-
nen. Tatsächlich finden Wissenschaftler immer wieder
strukturelle Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Wenn etwa ein
Problem aus der Analysis, die sich meist mit glatten Funk­
tionen beschäftigt, einer ungelösten Aufgabe aus der Zah-
lentheorie gleicht, lassen sich die Werkzeuge aus dem einen
Gebiet auf das andere übertragen. Doch dazu muss man
bereit sein, das eigene vertraute Reich zu verlassen und eine
Vogelperspektive einzunehmen, um sich nicht in den Details
der einen oder anderen Disziplin zu verlieren. Genau das
versucht die Kategorientheorie zu erreichen.

In der fiktiven Welt »Mathematistan« sind die


verschiedenen mathematischen Disziplinen
angesiedelt. Die Kategorientheorie nimmt dabei
eine besondere Stellung ein: Sie ermöglicht es,
die unterschiedlichen Gebiete zu überblicken.

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 75


ü
70 Jahre wären ohne die Kategorientheorie undenkbar. Doch
selbst heute scheiden sich die Geister, ob es sich dabei
AUF EINEN BLICK wirklich um eine eigenständige Theorie handelt oder bloß
HÖHENFLUG FÜR MATHEMATIKER um ein hilfreiches Begriffssystem, mit dem man komplizierte
Sachverhalte einfacher darstellen kann.

1 Die Kategorientheorie ermöglicht es, über den ver-


schiedenen mathematischen Disziplinen zu »schwe-
ben«, wodurch sich unerwartete Zusammenhänge
Obwohl sie als extrem abstrakt gilt, taucht die Kategorien-
theorie in den letzten Jahren vermehrt in anderen Wissen-
schaften auf, um deren Probleme in einem neuen Licht
offenbaren. darzustellen. So greifen beispielsweise Informatiker darauf
zurück, um neue Programmiersprachen zu entwickeln, oder
2 Allerdings führt der Perspektivwechsel auch dazu,
dass sich keine Details mehr erkennen lassen.
Explizite Ergebnisse liefert das Gebiet also nicht.
Linguisten decken damit grammatikalische Gemeinsam­
keiten verschiedener Sprachen auf. 

Rechnen nach Rezept


3 Dennoch widmen sich inzwischen vermehrt andere
Wissenschaftler wie Physiker oder Linguisten der
abstrakten Theorie, um handfeste Probleme ihrer
Kategorien fügen sich so gut in verschiedenste Disziplinen
ein, weil sie ganz allgemein definiert sind: Eine Kategorie
Gebiete neu zu beleuchten. besteht aus einer Sammlung von Dingen, die sich durch so
genannte Morphismen ineinander umwandeln lassen (siehe
»Kategorien«, unten). Worum genau es sich bei den Dingen
und Morphismen handelt, ist nicht entscheidend. Ein Bei-
»Mich hat dieser Aha-Moment schon immer angezogen, spiel für eine Kategorie sind natürliche Zahlen (n, m, …) als
der aufkommt, wenn sich scheinbar ungleiche Ideen verein- Objekte und Funktionen (f: n m) als Morphismen, die sie
heitlichen lassen«, erzählt die Mathematikerin Tai-Danae einander zuordnen. Oder die natürlichen Zahlen als einziges
Bradley von der City University of New York. »Deshalb war Objekt und alle Funktionen, die natürliche Zahlen auf sich
ich sehr aufgeregt, als ich zum ersten Mal von einem Zweig selbst abbilden, als Morphismen. Andererseits können auch
der Mathematik erfuhr, der dabei hilft, klar über solche Oberflächen Objekte darstellen, während die Transforma­
übergreifenden Konzepte nachzudenken.« tionen, die sie ineinander umformen, Morphismen entspre-
Ein derartiger Perspektivwechsel hat aber auch Nach­ chen. Ganz allgemein kann man sich eine Kategorie als
teile. Kategorientheoretiker schweben in so hohen Sphären, Sammlung von Pfeilen (Morphismen) vorstellen, die ver-
dass sie kaum explizite Ergebnisse liefern: Sie werden schiedene Punkte (Objekte) miteinander verbindet. Was
niemals eine Differenzialgleichung lösen oder ein Integral genau die Pfeile und die Punkte repräsentieren, spielt keine
berechnen. Andererseits können sie unbekannte Wege Rolle; entscheidend ist nur, wie sie zusammenhängen.
entdecken, die zur Lösung eines handfesten Problems Diese Ansicht stellte vor 70 Jahren einen drastischen
führen. Um diese tatsächlich zu berechnen, muss man dann Paradigmenwechsel dar. Denn die Mengenlehre, auf der fast
jedoch wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren die gesamte Mathematik fußt, definiert die Objekte eines
und die Arbeit im passenden Gebiet erledigen. jeden Bereichs sehr klar. In der Kategorientheorie können
In ihren Anfängen fand die Kategorientheorie keinen dagegen natürliche Zahlen und geometrische Formen
großen Anklang. Mathematiker bezeichneten sie häufig – manchmal ununterscheidbar erscheinen, während die Kate-
zum Teil auch humorvoll – als »abstrakten Unsinn«. Dass gorie der Zahlen, die durch stetige Funktionen verknüpft
das Gebiet äußerst nützlich sein kann, ist inzwischen aber sind, völlig anders ist als die Kategorie der Zahlen mit diffe-
unbestritten. Viele mathematische Fortschritte der letzten renzierbaren Funktionen.

Kategorien
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF

Eine Kategorie besteht formal aus einer Sammlung


von Objekten (A, B, C, …, rote Punkte) und Um-
wandlungen (f, g, h, …, lila Pfeile), so genannten
Morphismen, wobei jeder Morphismus f genau
zwei Objekte (f: A B) verbindet. Zusätzlich muss
jedes Objekt einen neutralen Morphismus besit-
zen (1A: A A), und je zwei Morphismen der Art
f: A B und g: B C müssen sich miteinander
verknüpfen lassen g o f: A C, so als würde man
sie hintereinander ausführen. Diese Verknüpfung
ist assoziativ, das heißt: h o (g o f) = (h o g) o f.

76 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


ü
Geometrie Geometrie Algebra Auf der geometrischen Seite

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF


und Algebra widmete sich Grothendieck der
Kategorie der »affinen Schemata«,
Schon drei Jahrhunderte vor der die alle topologischen Räume
Kategorientheorie erkannte René enthält, die sich aus den kommuta-
x 2+ y 2 = 1
Descartes, dass Geometrie und tiven Ringen ergeben. Für Polyno-
Algebra zusammenhängen. Wäh- me ist der dazugehörige Raum eine
rend es bei Ersterer um Sammlun- algebraische Kurve.
gen von Punkten im Raum geht, Indem Grothendieck die alge-
beschäftigt sich die Algebra mit der ren. Er untersuchte damals auf der braische Geometrie von bloßen
Verknüpfung abstrakter Objekte. algebraischen Seite die Kategorie Kurven auf Schemata erweiterte,
Möchte man beispielsweise die der so genannten kommutativen wälzte er das Gebiet vollständig
Schnittpunkte zweier Kurven ermit- Ringe. Dabei handelt es sich um um. Er konnte dadurch zeigen, dass
teln, kann man sie entweder zeich- eine Sammlung von Elementen, die es wirklich eine Eins-zu-eins-Über­
nen und das Ergebnis im Koordina- man wie die ganzen Zahlen addie- einstimmung zwischen der Algebra
tensystem ablesen oder die dazuge- ren und multiplizieren kann. Ein und der Geometrie gibt: Für jeden
hörigen algebraischen Gleichun- Beispiel dafür sind Polynome wie kommutativen Ring gibt es genau
gen gleichsetzen und die Punkte an  x n + … + a₁ x + a₀. Die Kategorie ein affines Schema und umgekehrt.
berechnen. dieser Ringe enthält Abbildungen f, Aus kategorientheoretischer Sicht
Den formalen Beweis, dass die einen Ring R in einen anderen sind beide Kategorien daher äquiva-
beide Bereiche wirklich gleichwer- Ring S überführt (f: R S), also lent. Das ermöglicht es, Theoreme
tig sind, erbrachte aber erst Alexan- beispielsweise die Polynome in aus dem einen Bereich in den
der Grothendieck in den 1970er Jah- reelle Zahlen. anderen zu »übersetzen«.

Ein Objekt ist in der Kategorientheorie vollständig durch sich ein Funktor finden, der beide ineinander umwandelt.
seine Beziehung zu den anderen Objekten definiert – unab- Die Geometrie und die Algebra bilden damit eine höhere
hängig davon, ob es sich um eine Zahl, eine Oberfläche Kategorie.
oder etwas Abstrakteres handelt. Das mag ungewöhnlich
klingen, doch der Gedanke ist nicht neu: In der Physik iden- Unerwartete Zusammenhänge
tifiziert man beispielsweise ein Teilchen in einem Beschleu- Die Geburtsstunde der abstrakten Theorie ließ jedoch noch
niger, indem man es mit anderen Partikeln bombardiert 300 Jahre auf sich warten. 1941 hielt der US-amerikanische
und die Wechselwirkungen zwischen ihnen untersucht. Mathematiker Saunders Mac Lane an der University of
Die Kategorientheorie bietet Mathematikern einen Michigan eine sechsteilige Vortragsreihe über seine jüngs-
allgemein gültigen theoretischen Rahmen, den sie mit ten Forschungsergebnisse im Bereich der Zahlentheorie. Im
Objekten und Abbildungen ihres jeweiligen Bereichs füllen Publikum saß unter anderem sein Kollege Samuel Eilen-
können. Sie müssen dabei nicht zwischen einzelnen Fach- berg, der allerdings am letzten Vortrag nicht teilnehmen
gebieten unterscheiden, sondern konzentrieren sich nur auf konnte. Als er wenig später Mac Lane aufsuchte, wieder-
die jeweiligen zu Grunde liegenden Strukturen. holte dieser die Präsentation in einem privaten Rahmen.
Man kann sogar noch weiter gehen. Da es egal ist, mit Eilenberg traute seinen Augen kaum: Sein Kollege konstru-
welchen Objekten man eine Kategorie füllt, kann man sie ierte dabei ein mathematisches Objekt, das er schon einmal
ihrerseits mit Kategorien füllen, wodurch man eine »höhere in einem völlig anderen Zusammenhang gesehen hatte,
Kategorie« erhält. Damit lassen sich Brücken zwischen nämlich im Bereich der Topologie.
mathematischen Disziplinen entdecken, denn die Brücken Das erschien äußerst seltsam, schließlich haben Topo­
entsprechen gerade den Umwandlungen, so genannten logie und Zahlentheorie nur wenig gemeinsam. Die Topolo-
Funktoren, die eine Kategorie in eine andere überführen gie ist wie eine Art Geometrie, die das Messen verlernt
(siehe Grafik S. 78 oben). Eines der bekanntesten Beispiele hat. Sie beschreibt zwar auch Formen und Körper, doch die
für einen Funktor fand der französische Gelehrte René Details entgehen ihr. Manchmal wird die Topologie als
Des­cartes bereits im 17. Jahrhundert, lange bevor es die Knetgeo­metrie bezeichnet, denn sobald man zwei Dinge
Kategorientheorie überhaupt gab. Damals stellte er fest, ineinander verformen kann, ohne Löcher in sie zu reißen,
dass sich viele geometrische Probleme durch algebraische sind sie für Topologen identisch. Die Zahlentheorie beschäf-
Gleichungen lösen lassen. Er führte das nach ihm benannte tigt sich dagegen mit Zahlensystemen. Erstaunlicherweise
kartesische Koordinatensystem ein, womit er den ersten hängen beide Bereiche eng mit der Algebra zusammen.
Zusammenhang zwischen der Geometrie und der Algebra Anders als bei der Geometrie dauerte es recht lange, bis
begründete (siehe »Geometrie und Algebra«, oben). Da Mathematiker bemerkten, dass sich topologische Konzepte
man beide Gebiete als Kategorien auffassen kann, lässt in die Sprache der Algebra übertragen lassen. Anfang des

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 77


ü
Funktor
20. Jahrhunderts steckte die algebraische Topolo-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF


gie noch in den Kinder­schuhen. Der Grund dafür
ist die Ungenauigkeit, welche die Topologie
ausmacht. Eine gewöhnliche Gleichung wie natürliche
Kategorie Transformation Kategorie
x2 + y 2 = 1 entspricht beispielsweise dem Ein-
heitskreis; eine Ellipse, die topologisch gesehen
identisch ist, wird dagegen durch eine völlig
andere Gleichung beschrieben.
Da Funktionen sie nicht weiterbrachten, wechselten Funktor
Mathematiker zu anderen algebraischen Objekten: den
ganzen Zahlen. Durch »topologische Invarianten« klassifi- Ein Funktor bildet eine Kategorie auf eine andere ab,
zieren Forscher verschiedene Objekte, etwa Oberflächen, während eine natürliche Abbildung die Funktoren
indem sie die Anzahl ihrer Löcher zählen. Während ein Bröt- verbindet. Durch »höhere Kategorien« verallgemeinern
chen und eine Brezel topologisch gesehen grundverschie- Mathematiker dieses Konzept.
den sind, erscheinen eine Tasse und ein Donut hier gleich.
Diese simple Klassifizierung versteht selbst ein Kind. Auf
formaler Ebene kann sie sich aber recht schwierig gestal- ihre charakteristischen Zahlen gleich bleiben. Scheitert man
ten. Muss man jede geometrische Form erst visualisieren, also an der Aufgabe, die Invariante eines topologischen
um auf die Anzahl ihrer Löcher und damit ihre topologi- Raums zu berechnen, kann man sich stattdessen den dazu-
schen Invarianten zu schließen? In zwei Dimensionen mag gehörigen Homologiegruppen zuwenden.
das ja möglich sein, doch sobald man sich mehrdimen­ Damit begründete die deutsche Mathematikerin eine neue
sionalen Problemen stellt, führt es zu Schwierigkeiten. Ära der algebraischen Topologie. Plötzlich standen nicht
Daher suchten Mathematiker nach einer Methode, mehr nur die topologischen Räume im Rampenlicht, son-
Löcher mit algebraischen Mitteln aufzuspüren. Henri Poin- dern ebenso die Beziehungen zwischen ihnen. Denn die
caré erkannte 1895 als einer der Ersten, dass eine Möglich- Transformationen, die einen Raum verformen, ohne Löcher
keit darin besteht, alle möglichen geschlossenen Kurven in ihn zu reißen, hängen mit den Abbildungen zwischen den
auf einer geometrischen Form zu untersuchen. Wenn sich dazugehörigen Homologiegruppen zusammen. Damit zeich-
jede Kurve – ohne die Oberfläche zu durchdringen oder zu nete sich damals schon das Hauptmerkmal der Kategorien-
verlassen – wie ein Lasso zusammenziehen lässt, dann gibt theorie ab, dessen Fokus auf den Zusammenhängen zwi-
es kein Loch. Das ist auf einer Kugel der Fall. Bei einem schen Objekten liegt.
Torus, einer donutförmigen Oberfläche, gibt es dagegen
gleich zwei verschiedene Arten von Kurven, die sich nicht Verwickelte Donuts
zusammenziehen lassen (siehe Bild unten). Bevor Eilenberg an die University of Michigan gereist war,
Allerdings sind die Objekte der Topologie, so genannte hatte er die Homologiegruppen komplizierter Räume er-
topologische Räume, nicht immer so anschaulich wie eine forscht. Mac Lane untersuchte hingegen Gruppen, die in der
Kugel oder ein Torus. Sie können unzusammenhängende Zahlentheorie auftauchen. Verknüpft man Zahlen miteinan-
Formen in Schwindel erregend hohen Dimensionen sein der, lässt sich dabei häufig eine Gruppenstruktur erkennen.
oder aus Elementen seltsamer Zahlensysteme bestehen. In Beispielsweise bilden die ganzen Zahlen zusammen mit der
solchen Fällen lassen sie sich nicht so einfach klassifizieren.  Addition eine Gruppe. Gerade in den abstrakten Bereichen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF


Als sich die deutsche Mathematikerin Emmy Noether der Zahlentheorie erweist es sich häufig als nützlich, statt
Anfang des 20. Jahrhunderts mit diesen Problemen be- der Zahlen die dazugehörigen Gruppen zu studieren.
schäftigte, fiel ihr auf, dass topologische Räume nicht nur Mac Lane interessierte sich damals für extrem komplizier-
mit ganzen Zahlen, sondern auch mit Gruppen zusammen- te Zahlensysteme. Um seine Berechnungen zu vereinfachen,
hängen. Die einfachsten Versionen dieser algebraischen verfrachtete er das Problem in den Bereich der Algebra.
Objekte bestehen aus Transformationen wie Drehungen Dazu konstruierte er eine spezielle Art von Gruppe, eine
oder Spiegelungen. Im Allgemeinen ähnelt die Definition »Gruppenerweiterung«. Einfach ausgedrückt
einer Gruppe der einer Kategorie: Sie ist eine Sammlung besteht ein solches Objekt aus einer
von Dingen, die man ineinander umwandeln kann, und Gruppe G, die so um eine andere
besitzt ein neutrales Element. Doch eine Gruppe muss eine Gruppe H »vergrößert« wird,
weitere Anforderung erfüllen. Zu jedem Element gibt es dass daraus wieder eine
ein »Inverses«, so dass beide miteinander verknüpft das Gruppe entsteht.
neutrale Element ergeben. Eilenberg erkannte die
Wie Noether herausfand, gibt es eine bestimmte Art von Gruppenerweiterung
Gruppen, so genannte Homologiegruppen, aus denen sich sofort wieder. Er hatte sie
charakteristische Zahlen berechnen lassen, die den Inva­ bereits in der Arbeit seines
rianten topologischer Räume entsprechen. Verformt man Kollegen Norman Steenrod
ein geometrisches Objekt, ohne dabei die dazugehörigen gesehen, in der dieser einen
Invarianten zu verändern, gibt es ganz ähnliche Transforma- komplizierten topologischen
tionen, die Homologiegruppen umwandeln, wobei auch Raum untersucht hatte. Der

78 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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Raum ergibt sich, wenn man einen Torus nimmt und in des- geht, geometrische Objekte mit differenzierbaren Funktio-
sen Inneres einen weiteren Torus p-mal hineinwickelt, in nen zu vermessen. Sein Forschungsinteresse wandelte sich
diesen wieder einen Torus p-mal hineinwickelt und das allerdings, als er Mitte der 1950er Jahre in die USA aus­
unendlich oft wiederholt. Die Schnittmenge all dieser Tori wanderte. Damals hatte er keine Anstellung in Frankreich
ergibt den topologischen Raum, dessen dazugehörige ge­funden, denn er hatte sich geweigert, die französische
Homologiegruppe der Gruppe von Mac Lane entsprach. Staatsbürgerschaft anzunehmen, um dem Militärdienst zu
»Wir blieben die ganze Nacht auf, um herauszufinden, entgehen – und war daher mehrere Jahre staatenlos.
warum das so war«, erinnert sich Mac Lane. Das war der
Beginn einer fruchtbaren Zusammenarbeit und einer le- Einzelgänger revolutioniert die Mathematik
benslangen Freundschaft zwischen den beiden Forschern. Während eines Forschungsaufenthalts in Kansas begann er,
Was sie so faszinierte, war, dass die Berechnungen von sich mit algebraischer Topologie auseinanderzusetzen.
Mac Lane wesentlich einfacher ausfielen als jene im Zu- Damals war das Gebiet noch ziemlich chaotisch. Tatsächlich
sammenhang mit topologischen Räumen. Häufig ist es sucht man bis heute nach einem allgemeinen Rezept, das
nämlich extrem schwierig, Homologiegruppen zu bestim- für jede Art von topologischem Raum die dazugehörige
men. Doch wie die Forscher nach einigen Monaten harter Homologiegruppe ausspuckt. Stattdessen gibt es mehrere
Arbeit herausfanden, bilden die Gruppenerweiterungen Methoden, so genannte Homologien (siehe »Homologien«,
eine Art Brücke zwischen verschiedenen algebraischen S. 86), die sich je nach Art des Raums voneinander unter-
Methoden, um die topologischen Eigenschaften eines scheiden. Grothendieck gelang es, ein gemeinsames Funda-
Raums zu ermitteln. Das war ein echter Durchbruch. Wenn ment für viele dieser Konzepte zu schaffen. Zudem fand er
ein algebraischer Ansatz nicht funktionierte, konnten die dadurch weitere Homologien, mit denen sich die Homolo-
Gruppenerweiterungen einen anderen Weg aufzeigen, um giegruppen eines topologischen Raums berechnen lassen.
einen topologischen Raum zu untersuchen. Damals interessierte sich Grothendieck vor allem für so
In den folgenden Jahren fanden die beiden Forscher genannte Garben, die auftauchen, wenn man algebraische
weitere Übereinstimmungen zwischen Algebra und Topolo- Strukturen auf komplizierten topologischen Räumen unter-
gie. »Da war mehr, als wir erwartet hatten«, sagte Mac sucht. Formal sind topologische Räume als Vereinigung von
Lane. »Wir waren gezwungen, Kategorien zu erfinden, um Mengen definiert – man »klebt« einzelne Bereiche zusam-
das zu beschreiben.« Sie definierten Kategorien damals men. Wenn man ein algebraisches Objekt wie eine Funktion
nicht als die abstrakten Objekte, die man heute kennt, auf einem solchen Raum betrachtet, muss man verstehen,
sondern betrachteten bloß den Spezialfall einer Kategorie, wie es sich an den Klebestellen verhält. Dabei hilft die
die aus Gruppen besteht. Theorie der Garben.
Wissenschaftler schenkten den Kategorien damals Sie spielt auch in der Physik eine wichtige Rolle, etwa in
kaum Beachtung. Erst Alexander Grothendieck erkannte, der allgemeinen Relativitätstheorie, die beschreibt, wie
wie nützlich das Konzept sein kann. Der Mathematiker Masse die Raumzeit krümmt. Um die Bewegung von Teil-
zählte zu den einflussreichsten Meistern seines Fachs – zu- chen im Kosmos nachzuvollziehen, muss man daher die
mindest bis er sich 1991 in ein kleines französisches Berg­ physikalischen Gleichungen in einem gekrümmten Raum
dorf zurückzog und jeglichen Kontakt zur Außenwelt lösen. Physiker behelfen sich dabei mit einem Trick: Sie
abbrach (siehe »Spektrum« Juli 2015, S. 52). betrachten nur einen winzigen Ausschnitt des Raums, der
Bis kurz nach seiner Promotion hatte sich Grothendieck dadurch flach erscheint – genauso wie die Erde in unserer
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF

der Analysis gewidmet, bei der es hauptsächlich darum Umgebung eben wirkt. Das ermöglicht es ihnen, die phy­
sikalischen Gleichungen an jedem Punkt der Raumzeit für
den flachen Fall zu berechnen und diese Lösungen dann
Anders als bei einer Kugeloberfläche gibt es auf »zusammenzukleben«.
einem Torus zwei Arten von geschlossenen Kurven Die Garbentheorie wirkt meist nur lokal: Man arbeitet
(gelb und grün), die sich nicht zu einem Punkt sich von Punkt zu Punkt in einem Raum fort, ohne die
zusammenziehen lassen, ohne die Oberflä- globale Struktur zu beachten. Beispielsweise macht es
che zu verlassen. keinen Unterschied, ob man die Funktionen auf einer zylin-
derförmigen Fläche zusammenklebt oder auf einem Mö­
biusband. Bei der Topologie sind aber die globalen Eigen-
schaften eines Raums ausschlaggebend – Möbiusband und
Zylinder sind zwei grundverschiedene Räume. Daher such-
ten viele Mathematiker Mitte der 1950er Jahre nach einer
homologischen Theorie der Garben, die erklären würde, wie
die globalen Merkmale eines Raums mit den darauf defi-
nierten algebraischen Objekten zusammenhängen.
Auch Eilenberg wusste, dass es eine homologische
Theorie der Garben geben musste. Doch weder ihm noch
seinen Kollegen gelang es, eine solche zu konstruieren. Erst
Grothendieck fand eine Lösung, indem er einen Umweg
machte und sich zunächst Kategorien zuwandte. Im Gegen-

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 79


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Abbildungen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MANON BISCHOFF


Topologie
Homologien
Bisher kennt man noch keine allge-
mein gültige Methode, mit der sich Verbindung zwischen
die Homologiegruppen beliebiger Abbildungen
topologischer Räume berechnen Homologie Homologie
lassen. Doch für einige Spezialfälle
gibt es Möglichkeiten, diese Grup- Abbildungen
pen zu bestimmen. Ein Beispiel
dafür ist die so genannte Triangulie- Algebra Gruppe G Gruppe H

rung. Wenn man es mit einem


einfachen topologischen Raum wie rung ergibt eine topologische Inzwischen nutzt man Computer,
einer Kugeloberfläche oder einem Invariante (E – K + F = ). Dieser um Triangulierungen und die dazu-
Torus zu tun hat, kann man ein Netz »Euler-Charakter« ist bei einer gehörigen Homologiegruppen zu
aus einzelnen Dreiecken über die Kugel immer zwei, ganz egal wel- berechnen. Doch leider lässt sich
Oberfläche spannen. Aus der einst che genaue Triangulierung man nicht jeder topologischer Raum
glatten Form wird dadurch ein wählt, während er bei einem Torus triangulieren. Tatsächlich ist diese
Polyeder mit Ecken, Kanten und stets null ist. Die Anzahl der Löcher Methode nur zuverlässig auf Räume
Flächen.  eines Objekts erhält man, wenn der Dimension kleiner gleich drei
Wie Leonhard Euler bereits 1750 man zweimal den Euler-Charakter anwendbar. Höherdimensionale
erkannte, lässt sich die Anzahl der von der Zahl Zwei abzieht. Aus den Strukturen nehmen teilweise so
Löcher eines solchen Polyeders auf Ecken, Kanten und Flächen lassen komplizierte Formen an, dass eine
einfache Weise bestimmen. Denn sich zudem Gruppen definieren, mit Triangulierung nicht möglich ist. In
die Anzahl der Ecken E minus die denen man die Homologiegruppen solchen Fällen müssen andere
Anzahl der Kanten K plus der An- des ursprünglichen topologischen Konzepte herhalten, um Homolo-
zahl der Flächen F einer Triangulie- Raums konstruieren kann. giegruppen zu finden.

satz zu seinen Kollegen Mac Lane und Eilenberg, die Kate- sich kaum vorstellen, wie diese Bereiche ohne sein Zutun
gorien nutzten, um ein bestimmtes Problem anzugehen, heute aussehen würden.
strebte Grothendieck nach Höherem. Er suchte nach einem
übergreifenden Rahmen, der Homologien erweitert. Dabei Ein neues Fundament für die
behandelte er Kategorien erstmals nicht nur als Werkzeug, gesamte Mathematik
sondern als eigenständige Theorie, die verschiedene Berei- Nach diesen und vielen anderen beeindruckenden Ergeb-
che miteinander verschmilzt. Dadurch konnte er Verbindun- nissen wurde die Kategorientheorie immer beliebter. Der
gen zwischen Verbindungen erkennen: Plötzlich verstand US-amerikanische Forscher William Lawvere ging in seiner
er, wie einige Homologien zusammenhängen – er hatte Doktorarbeit 1963 sogar noch einen Schritt weiter: Er
Abbildungen gefunden, die Homologien auf andere Homo- äußerte die Idee, die gesamte Mathematik auf der Katego­
logien abbilden. Dadurch war er in der Lage, völlig neue rientheorie zu begründen und damit die Mengenlehre als
Homologien zu entwickeln, darunter eine für Garben. Grundlage abzulösen. Ihm und vielen seiner Kollegen gefiel
Nach diesen bahnbrechenden Entdeckungen wandte der Gedanke eines übergreifenden Rahmens, bei dem nicht
sich der vielseitige Forscher einem neuen Bereich zu, der die genaue Art der Objekte entscheidend ist, sondern ihre
algebraischen Geometrie. Dabei geht es um geometrische Verbindungen zueinander. »Viele Mathematiker haben eine
Formen, die sich aus polynomialen Gleichungen (etwa kategorische Denkweise, selbst wenn sie nicht alle Konzep-
3 x4 y2 + 6 y2 + 5 = 0) ergeben. Auch in diesem Fall half ihm te oder Theoreme nutzen«, meint Tai-Danae Bradley.
die Kategorientheorie, das Gebiet nachhaltig zu verändern. Anstatt also die Mathematik aus den Axiomen der Zer-
Grothendieck beförderte die algebraische Geometrie auf melo-Fraenkel-Mengenlehre aufzubauen, schlug Lawvere
eine abstraktere Stufe, indem er nicht bloß Polynome als vor, Mengen durch Kategorien zu definieren und daraus
Forschungsgegenstände zuließ, sondern ganz allgemein alles herzuleiten. Allerdings interessierten sich nur wenige
»Ringe«. Ringe ähneln Gruppen, nur dass sie zwei Verknüp- Mathematiker für diesen Ansatz. »Wissenschaftler widmen
fungen zwischen ihren Elementen enthalten. Ein Beispiel ihre Zeit interessanteren Dingen«, erklärt Steve Awodey von
dafür sind Polynome, die man addieren und miteinander der Carnegie Mellon University in Pittsburgh. Aus einigen
multiplizieren kann. Durch die Erweiterung auf Ringe offen- Konzepten der Kategorientheorie ging aber die Homotopie-
barte der Mathematiker unerwartete Zusammenhänge typentheorie (HoTT) hervor, die der 2017 verstorbene russi-
zwischen der algebraischen Geometrie und anderen mathe- sche Mathematiker Vladimir Voevodsky (siehe »Spektrum«
matischen Disziplinen, etwa der Zahlentheorie. Man kann Dezember 2016, S. 60) zusammen mit Awodey und anderen

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mitbegründet hat. »Dafür muss man zwar auch die Grund- oder chemische Reaktionen besser zu verstehen. John
lage der Mathematik zumindest umschreiben, allerdings Carlos Baez von der University of California in Riverside
nicht aus philosophischen Gründen, sondern aus prakti- organisierte in den letzten drei Jahren mehrere Konferenzen
schen«, sagt Awodey. Ziel dieser Theorie ist es, mathemati- zu angewandter Kategorientheorie, um zu zeigen, dass die
sche Formalismen wie Beweise Computern zugänglich zu abstrakte Theorie auch in der Physik, Informatik, Linguistik,
machen, um sie einfacher und schneller zu überprüfen. Biologie und vielen anderen Bereichen nützlich sein kann.
Inzwischen zweifelt keiner mehr daran, wie nützlich die
Kategorientheorie ist. Ohne sie gäbe es keine algebraische Eine Welt voller Kategorien
Geometrie oder algebraische Topologie – jedenfalls nicht Zum Beispiel bedienen sich Festkörperphysiker der Katego-
in der Form, wie wir sie kennen. Dennoch sehen einige rientheorie, um vor Kurzem entdeckte exotische Zustände –
Forscher den Bereich nicht als eigenständige Theorie an. so genannte topologische Phasen – von Materie zu be-
»Es ist nicht so, dass die Kategorientheorie frei im Raum schreiben. Informatiker nutzen die abstrakten Konzepte
schwebt, sondern sie ist immer an andere Disziplinen hingegen, um neue Programmiersprachen zu entwickeln,
gebunden. Deswegen ist sie für mich eher ein Begriffs­ die weniger fehleranfällig sein sollen. Das berühmteste
system«, sagt Christoph Schweigert von der Universität Beispiel dafür ist »Haskell«. Und selbst Biologen können mit
Hamburg. Denn die besondere Kraft der Kategorientheorie Hilfe der Prinzipien der Kategorientheorie beschreiben,
besteht darin, nützliche Verbindungen aufzudecken, die wie Enzyme in metabolischen Systemen ausgewechselt
man dann mit den Werkzeugen anderer mathematischer und repariert werden. Zudem schafft die mathematische
Disziplinen wie der Algebra oder Topologie auf konkrete Diszi­plin Ordnung in komplizierten chemischen Reaktionen
Situationen anwenden kann. zwischen verschiedenen Molekülen. Auch die Sozialwissen-
Andere Forscher teilen diese Ansicht allerdings nicht. schaften profitieren von der Kategorientheorie: Linguisten
»Es gibt auch eigenständige Zweige der Kategorientheorie. decken beispielsweise mit mathematischen Mitteln
Es gibt viele Mathematiker, die Kategorientheoretiker sind, ­grammatikalische Gemeinsamkeiten unterschiedlichster
es gibt Tagungen zu diesem Thema, Zeitschriften, unzäh­ Sprachen auf.
lige Veröffentlichungen und so weiter«, entgegnet Awodey. Zudem kann die Kategorientheorie Forscher verschiede-
Offenbar führt die Kategorientheorie noch immer zu ner Disziplinen zusammenführen. In der Vergangenheit hat
Unstimmigkeiten. Gerade wenn es darum geht, was genau sie Algebraiker und Topologen nähergebracht, nun könnte
Äquivalenz bedeutet, liefert die abstrakte Theorie zum sie das auch über die Fachbereiche hinaus tun, wie es der
Beispiel ganz andere Antworten als die Mengenlehre. Aus Mathematiker Schweigert auf einer Konferenz erlebte: »Es
mengentheoretischer Sicht ist es einfach zu beurteilen, ob ist erstaunlich, plötzlich konnte ich mich mit einem Compu-
zwei Dinge identisch sind, da Objekte in ihr klar definiert terwissenschaftler am Frühstückstisch darüber unterhalten,
sind. In der Kategorientheorie ist das anders. So etwas wie woran er gerade forscht – und wir benutzten eine gemein-
»die« natürlichen Zahlen gibt es nicht, sondern bloß das same Sprache!« 
Konzept der natürlichen Zahlen. Daher sind aus katego­ Doch dafür müssen Wissenschaftler erst einmal bereit
rientheoretischer Sicht zwei Dinge gleich, wenn sie iso- sein, einen ihnen gegebenenfalls unbekannten und abstrak-
morph sind, das heißt, wenn es eine Abbildung und ent- ten Formalismus zu lernen. Das kann sich aber lohnen,
sprechende eine Umkehrabbildung gibt, die beide Objekte wie der Informatiker Thorsten Altenkirch von der University
verbindet. Dieser Aspekt führte im Jahr 2018 zu einem of Nottingham feststellte. »Als ich erstmals von höherer
Streit zwischen drei berühmten Mathematikern (siehe Kategorientheorie gehört habe, habe ich die Nase gerümpft
»Spektrum« Januar 2019, S. 30). und gedacht ›Was ist das denn für eine Spinnerei‹«, erinnert
Dabei ging es um die berühmte ABC-Vermutung, die der er sich. »Wie sich herausstellt, ist es genau die, die man
Japaner Mochizuki nach eigenen Angaben gelöst haben braucht.« In einigen Bereichen der Informatik ist die abs-
soll. Sein Beweis umfasst 500 Seiten, die sich wiederum trakte Theorie mittlerweile unerlässlich. »Kategorientheorie
auf weitere 500 Seiten Hintergrundmaterial beziehen. kann man entweder lernen oder neu erfinden«, erklärt
Forscher aus aller Welt hatten große Schwierigkeiten, dem Altenkirch. Auftauchen wird sie aber so oder so. 
ungewöhnlichen Stil des Japaners zu folgen. Nun glauben
die Mathematiker Jakob Stix und der Fields-Medaillen-
QUELLEN
Preisträger Peter Scholze einen Fehler in seiner Argumenta-
tion gefunden zu haben. Der scheinbare Widerspruch Baez, J. C., Stay, M.: Physics, topology, logic and computa­tion:
a rosetta stone. In: Coecke, B. (Hg.): New structures for physics.
ergibt sich, wenn man an einer Stelle des Beweises isomor-
Springer, 2011
phe Objekte als identisch behandelt. Mochizuki hält daran
fest, dass man die betreffenden Objekte unterscheiden Bradley, T.-D.: What is applied category theory? ArXiv
1809.05923, 2018 
muss, während die deutschen Mathematiker anderer
Meinung sind. Wer von ihnen richtigliegt, wird sich hoffent- Marquis, J.-P.: From a geometrical point of view. Springer, 2009
lich bald zeigen.  Mazur, B.: When is one thing equal to some other thing? In:
Unterdessen betreiben einige Wissenschaftler große Gold, B., Simons, R. A. (Hg.): Proof and other dilemmas: mathe-
Anstrengungen, um die Kategorientheorie auch auf Prob­ matics and philosophy. Mathematical Association of America,
2008
leme anderer Fachbereiche anzusetzen. Sie könnte For-
schern dabei helfen, komplexe Systeme wie Schaltkreise Spivak, D. I.: Category theory for the sciences. MIT Press, 2014

Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20 81


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Die nächste Ausgabe dieser Reihe ist ab 19. 2. 2021 im Handel.

VORSCHAU
DAS ALL IM VISIER THEMEN SIND UNTER ANDEREM:
Seit Jahrhunderten dokumentieren Menschen mit Fernrohren die
Himmelskörper des Sonnensystems sowie die Sterne und Galaxien KOSMISCHES PLANKTON
des Kosmos. Manche Phänomene des Universums können wir
allerdings erst seit Beginn des Raumfahrtzeitalters mit Hilfe spezia­ Die vielen kleinen Sternsysteme in
lisierter Satelliten erspähen. Diese zeichnen beispielsweise die unserer galaktischen Umgebung
spektakulären Vorgänge rund um Schwarze Löcher und Supernovae verhalten sich ganz anders, als es
auf, die sich durch Röntgenstrahlung verraten. Unterdessen drin­ laut Simulationen zu erwarten wäre.
gen auch irdische Instrumente in vormals unzugängliche Bereiche
vor: Astronomen verfolgen mit ihnen etwa die Entstehung junger BLICK INS DUNKLE
Planetensysteme oder entdecken Spuren von Teilchen, die durch ZEITALTER
bisher unbekannte Vorgänge auf allerhöchste Energien beschleu­
nigt wurden. Dank rasanter technischer Fortschritte in den vergan­ Lange schienen die Signale aus der
genen Jahren verstehen Wissenschaftler zahlreiche Phänomene ersten Jahrmilliarde des Universums
am Himmel immer besser – und stehen dennoch mit jeder neu­ unmessbar schwach zu sein. Doch
artigen Aufnahme aus den Tiefen des Universums vor weiteren nun spürt ihnen eine neue Generation
Mysterien. von Radioteleskopen nach.

BESUCHER AUS DER FERNE


In den letzten Jahren hat man erst­
mals Objekte im Vorbeiflug an der
Sonne entdeckt, die aus anderen
Sternsystemen stammen. Sie stellen
Fachleute vor Rätsel.
ESO / PETR HORÁLEK (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/POTW1845A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

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82 Spektrum SPEZIAL  Physik Mathematik Technik  4.20


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