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6.

20
6.20

Covid-19-PANDEMIE
Covid-19-
PANDEMIE

Eine neue
Ordnung der Zeit
Quantenmaterie
mit exotischer Symmetrie
erobert die Labore
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
8,90 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

MEDIZIN Innovative Medikamente dank künstlicher Intelligenz


ASTROPHYSIK Warum finden wir keine außerirdischen Zivilisationen?
WALDBRÄNDE Den Giftstoffen im Rauch auf der Spur
T H E M E N AU F D E N P U N K T G E B R AC HT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie: Unsere Spektrum KOMPAKT-Digitalpublikationen stellen Ihnen alle
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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

DIE UNSICHTBARE
MACHT
Hartwig Hanser, Redaktionsleiter

CHARLIE LEIGHT / ARIZONA STATE UNIVERSITY


hanser@spektrum.de

 Zurzeit wird uns allen die ungeheure Macht der Viren besonders eindrücklich
vor Augen geführt. Dabei bestehen diese winzigen Partikel nur aus ein paar
Molekülen: DNA oder RNA sowie – als Virionen außerhalb befallener Zellen – eini-
gen Proteinen und vielleicht noch einer Membranhülle, fertig. Sie sind zudem
auf Wirtszellen angewiesen, um sich zu vermehren. Deshalb sprechen viele ihnen FRANK WILCZEK
gar den Status eines Lebewesens ab. Und trotzdem haben es die unsichtbaren 2004 erhielt der US-Theoretiker
Molekülaggregate geschafft, unser Leben in den letzten Wochen massiv zu beein- den Nobelpreis für Physik. 2011
trächtigen. Wieder einmal, muss man sagen, nach all den Virusepidemien der stieß er auf das Konzept eines
Menschheitsgeschichte, von den inzwischen glücklicherweise ausgerotteten seltsamen, scheinbar unmögli-
Pocken über die Spanische Grippe bis hin zur aktuellen Covid-19-Pandemie. chen Materiezustands (S. 12).
Deren Erreger namens Sars-CoV-2 stellt die Forschung vor große Herausforde-
rungen. Ein zentraler Punkt ist die möglichst zügige Einführung eines wirksamen
Impfstoffs. Ab S. 25 beschreibt der Biochemiker Stefan Müller seine Arbeit an
einem der Kandidaten dafür, die derzeit weltweit entwickelt und geprüft werden.
Im Juni sollen erste Tests an Menschen beginnen; wenn alles klappt, könnte der
Impfstoff in einem Jahr in die Massenproduktion gehen.
Bis dahin ist die Politik gefordert. Um Wirksamkeit wie Notwendigkeit der

STEVE GREEN
verschiedenen sozialen und gesellschaftlichen Eingriffe zur Eindämmung der
Krankheitsausbreitung besser einzuschätzen, greifen die Entscheider zunehmend
auf Computersimulationen zurück, die den Verlauf der Epidemie abhängig von KENNETH C. CATANIA
verschiedenen Einflussfaktoren nachstellen. Wie die Forscher beim Entwickeln Der Neurobiologe erforscht die
solcher Modelle vorgehen, können Sie ab S. 22 lesen. Sinnessysteme von Tieren. Ab
Während uns die Covid-19-Pandemie im Griff hält, sollte man aber nicht ver­ S. 32 beschreibt er, wie eine
gessen, dass Viren nicht nur eine Gesundheitsbedrohung darstellen. Sie spielen Begegnung mit Zitteraalen seine
auch eine sehr nützliche, vermutlich sogar lebensnotwendige Rolle. In den letzten Neugier weckte, mehr über die
Jahren geriet das Mikrobiom in den Fokus der Forscher: die Gesamtheit aller Fische herauszufinden.
Mikroorganismen – etwa Bakterien – in unserem Körper. Dieser beherbergt aller-
dings mindestens genauso viele Viren wie Mikroben. Die meisten von ihnen
­infi­zieren gezielt bestimmte Bakterien und regulieren so das Mikrobiom. Damit
erweisen sich die in uns lebenden Viren als unsere Verbündete, die uns helfen,
gesund zu bleiben. Und wie der Artikel ab S. 40 aufzeigt, lassen sich mit ihrer Hilfe
sogar antibiotikaresistente Bakterien effektiv bekämpfen.
NERISSA ESCANLAR

Eine erhellende Lektüre wünscht

CALEB A. SCHARF
Seit Jahren fragt sich der Brite,
ob es außerirdische Zivilisationen
im Weltall gibt. Warum wir diese
schlicht noch nicht entdeckt
haben könnten, erklärt der Leiter
des multidisziplinären Astro­
biology Center an der Columbia
NEU AM KIOSK! University in New York ab S. 74.
Unser Spektrum SPEZIAL Biologie – Medizin –
Hirnforschung 2.20 entführt Sie in eine geheimnisvolle,
verborgene Welt: die Ozeane.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 3


INHALT
3 EDITORIAL 12 QUANTENSYSTEME ZEITKRISTALLE
In exotischen Materiezuständen offenbart sich eine ganz neue Art von
6 SPEKTROGRAMM Regelmäßigkeit: wiederkehrende Muster in der Zeit.
Von Frank Wilczek
20 FORSCHUNG AKTUELL
Tropenwälder verlieren
ihre Senkenfunktion
Noch binden sie mehr CO2, 32 BIOLOGIE DER LEBENDE TASER
als sie abgeben.
Ausgeklügelte Messungen und schmerzhafte Selbstversuche liefern erstaunli-
che E
­ insichten in das Verhalten der Zitteraale.
Simulationen für Von Kenneth C. Catania
die Politik Covid-19-PANDEMIE
Mathematische
Modelle zur Ent-
Covid-19-
PANDEMIE 40 PHYSIOLOGIE NÜTZLICHE BAKTERIENKILLER
scheidungsfindung. In unserem Körper siedeln ­zahllose Viren. Die meisten von ihnen sind Pha-
gen – und tragen unter anderem dazu bei, unsere bakteriellen Untermieter
Impfstoff gegen Covid-19 unter Kontrolle zu halten.
Die weltweite Suche nach Von Daniel Bojar
einem Vakzin.

46 MEDIZIN BLICK IN DEN KÖRPER


Abelpreis 2020
Serie: Die Röntgen-Revolution (Teil 2) Die Entdeckung der Röntgenstrahlen
Zwei Mathematiker suchen
läutete die klinische Bildgebung ein und ermöglichte das äußerst leistungsfä-
Ordnung im Chaos.
hige Verfahren der Computertomografie.
Symmetrisches Neutron Von Stefan Wesarg und Emmanuelle Vaniet
Der Kernbaustein schweigt
zu einem kosmischen Rätsel.
52 INFORMATIK AUF DER JAGD NACH NEUEN MEDIKAMENTEN
31 SPRINGERS EINWÜRFE Es wird zunehmend schwerer, neue, effektive Wirkstoffe zu finden. Viele
Experimentelles Risiko Pharmakonzerne setzen ihre Hoffnungen deshalb in künstliche Intelligenz.
Von David H. Freedman
Moderne Biolabore erfordern
neue Sicherheitskonzepte.
60 LUFTVERSCHMUTZUNG GROSSFEUER MIT NEBENWIRKUNGEN
59 FREISTETTERS FORMELWELT
Weltweit wüten immer wieder Waldbrände. Welche Stoffe dabei in die Luft
Geheimnisvolles Kernöl gelangen und wie gefährlich diese sind, beginnen Forscher erst zu verstehen.
Das Farbspiel des Öls Von Kyle Dickman
fasziniert viele Menschen.

81 ZEITREISE 70 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN


ENERGIE SPEICHERN AUF DIE SCHNELLE
82 SCHLICHTING!
Experimentieranleitung für einen selbst gebauten Superkondensator.
Ein Geysir mitten in Von Dennis Lüke, Matthias Ducci und Marco Oetken
Deutschland
Am Rhein entweicht Gas auf
spektakuläre Weise. 74 ASTRONOMIE DER GALAKTISCHE ARCHIPEL
Wenn es außerirdische Zivilisationen gibt, warum haben wir dann noch
90 REZENSIONEN nichts von ihnen mitbekommen? Ein neues Modell für die Kolonisierung der
Milchstraße könnte unsere kosmische Einsamkeit schlüssig erklären.
93 IMPRESSUM Von Caleb Scharf

95 LESERBRIEFE
84 MATHEMATIK WELCHER KNOTEN HÄLT AM BESTEN?
96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE Forscher haben eine simple Methode gefunden, um die Stabilität der gängigs-
ten Knoten zu überprüfen – ganz ohne aufwändige Berechnungen.
98 VORSCHAU Von Manon Bischoff

TITELBILD:
MARK ROSS STUDIO / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019; BEARBEITUNG:
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT; VIRUS: KOTO_FEJA / GETTY IMAGES / ISTOCK;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft  6.20


MARK ROSS STUDIO / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019
12
TITELTHEMA
EINE NEUE ORDNUNG DER ZEIT
SCIEPRO / STOCK.ADOBE.COM

40 60
PHYSIOLOGIE GROSSBRÄNDE
NÜTZLICHE GIFTIGER
VIREN RAUCH
(EARTHOBSERVATORY.NASA.GOV/IMAGES/144225/)
NASA EARTH OBSERVATORY, JOSHUA STEVENS
FREDER / GETTY IMAGES / ISTOCK

PETERSCHREIBER.MEDIA / STOCK.ADOBE.COM

74 84
ASTRONOMIE MATHEMATIK
GALAKTISCHER WELCHER KNOTEN HÄLT AM
ARCHIPEL BESTEN?
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Spektrum der Wissenschaft  6.20 5


SPEKTROGRAMM

WEISSE BLÜTEN ÜBER DEM MEER

 Wolken können sehr verschiedene Formen annehmen.


Einen besonderen Typ zeigt diese Aufnahme des auf
Wolkenbeobachtungen spezialisierten NASA-Satelliten
Aqua. Zu sehen sind mehrere »actinoforme« Wolken, die im
Westen der australischen Küste übers Meer treiben. Für
gewöhnlich entstehen sie, wenn sich mehrere flache Wol-
ken in einer blütenförmigen Anordnung sammeln.
Vom Erdboden aus kann man die Formationen aus
NASA EARTH OBSERVATORY, JOSHUA STEVENS (EARTHOBSERVATORY.NASA.GOV/IMAGES/146244/)

mehreren Gründen fast nie beobachten: Zum einen ist die


Ausdehnung der Strukturen riesig; sie erreichen viele Dut-
zend, manchmal auch hunderte Kilometer. Zum anderen
entstehen die Gebilde meist über dem offenen Ozean. Dort
können sie sich bis zu drei Tage halten – und sorgen auf der
Erde oft für unangenehmen Nieselregen. Wie genau sich
die rosettenförmigen Wolken bilden, ist noch unklar. For-
scher vermuten, dass Schwebeteilchen vom Festland eine
Rolle dabei spielen.

Pressemitteilung des NASA Earth Observatory, Januar 2020

6 Spektrum der Wissenschaft  6.20


NASA EARTH OBSERVATORY, JOSHUA STEVENS (EARTHOBSERVATORY.NASA.GOV/IMAGES/146244/)

Spektrum der Wissenschaft  6.20


7
SPEKTROGRAMM
ASTRONOMIE
SCHWARZES LOCH DER MITTELKLASSE

 Im Reich der Extreme liegt das


Außergewöhnliche manchmal im
Mittelmaß. Die vermutlich extremsten
aufgespürt. Er ist in einer rund 750 Mil-
lionen Lichtjahre entfernten Galaxie
zu Hause und soll gut 50 000 Sonnen-
konnten Dacheng Lin und seine Kolle-
gen ausschließen, dass die Strahlung
auf eine andere Ursache zurückgeht.
Objekte des Universums, die Schwar- massen auf die Waage bringen. Nor- Neue Beobachtungsdaten von
zen Löcher, kennen wir bislang in zwei malerweise wäre das Schwarze Loch XMM-Newton und des Weltraumteles-
Varianten: Als Millionen Sonnenmas- so gut wie unsichtbar. Doch scheint es kops Hubble passen am besten zu
sen schwere Giganten im Zentrum von unlängst einen Stern zerrissen zu dem Szenario, dass sich das Schwarze
Galaxien und als wenige Sonnenmas- haben, was große Mengen von Rönt- Loch im Zentrum einer dichten An-
sen wiegende Überreste eines Sterns. genstrahlung freigesetzt hat. sammlung von Sternen befindet.
Umstritten ist hingegen die Existenz Als Kandidat für ein mittelschweres Möglicherweise handelt es sich um
von Exemplaren mit mittlerer Masse Schwarzes Loch ist das System 3XMM das einstige Herz einer Zwerggalaxie,
(siehe »Spektrum« April 2018, S. 18). J215022.4-055108 schon länger be- die von der Gravitation ihrer neuen
Ein Team um Dacheng Lin von der kannt: Die Teleskope Chandra und Galaxie auseinandergerissen wurde.
University of New Hampshire hat nun XMM-Newton hatten es bereits vor
auf Umwegen solch einen außerge- Jahren als kräftige Quelle von Rönt- The Astrophysical Journal Letters
wöhnlichen Durchschnittskandidaten genstrahlung entdeckt. Doch erst jetzt 10.3847/2041-8213/ab745b, 2020

Kommt ein Stern einem


Schwarzen Loch zu nahe,
saugt es in hohem Tempo
Materie ab – und setzt
dabei große Mengen an
Röntgenstrahlung frei
(Illustration).

ESA/HUBBLE, M. KORNMESSER (SPACETELESCOPE.ORG/IMAGES/HEIC2005A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

8 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

FOTO: SONGMEI HU / ANTIQUITY PUBLICATIONS LTD; HU, S. ET AL.: FROM PACK ANIMALS TO POLO: DONKEYS FROM THE
NINTH-CENTURY TANG TOMB OF AN ELITE LADY IN XI‘AN, CHINA. ANTIQUITY, 10.15184/AQY.2020.6, 2020, FIG. 5
KULTUR
ESELPOLO IM
ALTEN CHINA

 Im Grab einer chinesischen Adligen


des 9. Jahrhunderts haben Archäo-
logen die Knochen dreier Esel gefun-
den. Vermutlich dienten sie einer Frau
mit dem Namen Cui Shi einst als
Reittiere bei einer Variante des Polos.
Anders jedenfalls können sich die
Forscher um Songmei Hu von der
Archäologischen Akademie Shaanxi
die Skelette nicht erklären.
Esel dienten im alten China vor Ein Eselschädel aus dem Grab einer chine­
allem als Lasttiere, etwa auf Handels- sischen Adligen legt nahe, dass die
straßen. Bei den Exemplaren aus dem Tiere einst beim Polo zum Einsatz kamen.
Grab scheint es sich jedoch um beson-
dere Vertreter der Spezies gehandelt
zu haben: Sie waren verhältnismäßig
klein und scheinen nicht, wie für immer wieder zu tödlichen Unfällen Überlieferungen zufolge bekleidete die
Karawanenesel üblich, ihr Leben lang kam, etablierte sich in China eine im Grab bestattete Adlige eine heraus-
geradeaus gelaufen zu sein. Beides harmlosere Variante mit Eseln. Sie soll gehobene Stellung in der damaligen
passe zu einer Verwendung im Reit- auch in ärmeren Schichten populär Gesellschaft: Ihr Gatte Bao Gao wurde
sport, argumentieren die Forscher. gewesen sein – und bei älteren und vom polobegeisterten Kaiser Xizong
Aus Schriftstücken der Tang Dynas- weiblichen Adligen. wegen seiner Fähigkeiten im Spiel zum
tie (618–907) ist schon länger bekannt, Bisher gab es jedoch keine archäo- General befördert. Die Auszeichnung
dass Polo damals ein populärer Zeit- logischen Überbleibsel, die dies zwei- war jedoch teuer bezahlt: Bao Gao
vertreib war. Einst im Iran erfunden, felsfrei belegt hätten. Der Fund aus verlor beim Polospiel ein Auge.
kamen bei dem Reitsport eigentlich dem Grab in der Metropole Xi’an
Pferde zum Einsatz. Da es jedoch ändert dies aus Sicht der Forscher. Antiquity 10.15184/aqy.2020.6, 2020

PALÄONTOLOGIE
AFFEN ÜBERQUERTEN DEN ATLANTIK

 Vor vielen Millionen Jahren sind


Tiere von Afrika aus über den
Atlantik bis nach Südamerika gelangt.
beiden Kontinenten erst im Eozän
(56 bis 34 Millionen Jahre vor heute)
voneinander abspalteten.
etwa 34 Millionen Jahren über das
Meer gekommen sind.
Zu jener Zeit war der Atlantik zirka
Neue Belege dafür liefert nun ein Team Seiffert und seine Kollegen sind in 1500 Kilometer breit. Der antarktische
um Erik Seiffert von der University of Peru auf fossile Zähne von Primaten Eisschild war im Entstehen begriffen,
Southern California. Tief im peruani- gestoßen, die zur heute ausgestorbe- so dass der Meeresspiegel fiel, was die
schen Regenwald haben die Forscher nen Familie der Parapithecidae gehör- Reise erleichtert haben dürfte. Den-
Überreste von Affen gefunden, die ten, einer ursprünglich in Nordafrika noch mussten die Tiere wohl wochen-
offensichtlich von afrikanischen Prima- verbreiteten Affenlinie. Ucayalipithe- lang auf dem Wasser überleben. Wahr-
ten abstammten. cus perdita, so der Name der neu scheinlich trieben sie auf großen Pflan-
Vor rund 130 Millionen Jahren entdeckten fossilen Art, lebte wahr- zenteppichen, so genannten schwim-
begannen sich die Landmassen des scheinlich während des Oligozäns von menden Inseln, über den Ozean. Starke
heutigen Afrikas und Südamerikas vor 34 bis vor 23 Millionen Jahren Stürme oder Hochwasser können
voneinander zu trennen. Zwischen und war ungefähr so groß wie heutige solche Gebilde von Mangroven ablö-
ihnen öffnete sich der Atlantik, über südamerikanische Krallenäffchen. sen, oder sie entwurzeln große Bäume,
den aber noch viele Millionen Jahre Da die Zähne der Tiere große die dann andere Pflanzen mitreißen
lang Tiere und Pflanzen gelangten. Das Ähnlichkeiten mit denen ihrer Über- und so natürliche Flöße schaffen.
zeigen Abstammungsanalysen, laut seeverwandten aufweisen, vermuten
denen sich Organismengruppen auf die Wissenschaftler, dass die Tiere vor Science 10.1126/science.aba1135, 2020

Spektrum der Wissenschaft  6.20 9


SPEKTROGRAMM
PHYSIK
SPINWOLKE SCHIRMT ELEKTRONEN AB

 Wenn sich Elektronen durch ein


Metall bewegen, stoßen sie dabei
immer wieder auf Hindernisse. Oft
nen – die jeden der Ladungsträger zu
einem Minimagneten machen – sind
darin gerade so orientiert, dass sie die
Die Wissenschaftler machten sich
dazu Fortschritte in der Nanoelektro-
nik zu Nutze, dank derer man mittler-
sind dies fremde, von außen in den Störstelle abschirmen. Andere Elek­ weile eine Art künstliches Atom her-
Festkörper gelangte Atome, von denen tronen können dann ohne Probleme stellen kann, einen so genannten
ein winziges Magnetfeld ausgeht. Es um das Hindernis herumfliegen. Quantenpunkt. Verbindet man ihn mit
lenkt Elektronen um und erhöht daher Als theoretische Vorhersage kennen einer Verunreinigung in einem Halb­
den elektrischen Widerstand des Physiker das Phänomen schon lange, leiter, lässt sich die Ausdehnung der
Materials. sie sprechen vom »Kondo-Effekt«. Kondo-Wolke ermitteln. Den Mes­
Doch unter bestimmten Umständen Doch bisher ist es Forschern nicht sungen zufolge erstreckt sich das
können Elektronen darauf reagieren: zweifelsfrei gelungen, die abschirmen- abschirmende Elektronenkollektiv über
Bei niedrigen Temperaturen und in de Spin-Wolke in einem Laborexpe­ mehrere Mikrometer, was der Vorher-
manchen Materialien schließen sich riment zu beobachten, trotz vieler Ver- sage aus theoretischen Arbeiten
etliche von ihnen zu einem Kollektiv suche in den vergangenen 50 Jahren. entspricht.
zusammen, die sich wie eine schüt- Einem Team um Ivan V. Borzenets
zende Wolke um die Verunreinigung von der City University of Hong Kong Nature 10.1038/s41586-020-2058-6,
legen. Die Spins der einzelnen Elektro- will das Kunststück nun geglückt sein. 2020

MOLEKULARBIOLOGIE

KATJA LUCK, DANA-FARBER CANCER INSTITUTE, ET AL.


DAS SOZIALE NETZWERK
UNSERER PROTEINE

 Forscher um Michael Calderwood


von der Harvard University haben
für etwa 8000 menschliche Eiweiße
geklärt, welche Wechselwirkungen
diese untereinander haben. Ihre Ergeb-
nisse haben sie im bislang größten
»Interaktom« präsentiert – einem Kar-
tenwerk, das angibt, welche Proteine
paarweise miteinander interagieren.
Das soll beispielsweise beim Verständ-
nis von Krankheiten helfen. Eine neue Karte zeigt, welche Proteine in Zellen jeweils paarweise zusammen­
Das menschliche Erbgut enthält arbeiten (links). Die Eiweiße gruppieren sich dabei in separaten Clustern
20 000 bis 25 000 Gene. Sie liefern mit verschiedenen Funktionen, die hier unterschiedlich eingefärbt sind (rechts).
die Bauanleitungen für 80 000 bis
400 000 Proteine. Welche Aufgaben
diese jeweils in unserem Organismus zwei Sorten menschlicher Proteine Interaktionen, die es zwischen den
erfüllen, zeigt sich oft erst dann, wenn herstellten. In den Zellen traten diese Proteinen unseres Organismus gebe.
sie nicht mehr richtig funktionieren. Moleküle nun miteinander in Kontakt – Trotz dieses eher geringen Anteils
Das neue Interaktom soll bei der Vor- oder auch nicht. Dies erkannten die könne ihr Interaktom wertvolle Informa-
hersage helfen, welche Rolle ein be- Forscher, indem sie zusätzliche Subs- tionen liefern, betonen die Wissen-
stimmtes Protein spielt – denn wenn tanzen an die Proteine koppelten, die schaftler, denn es habe die Anzahl der
sich zwei Proteine Interaktionspartner sich im Fall eines Kontakts gegenseitig bekannten Protein-Interaktionen ver-
teilen, sind sie wahrscheinlich auch an aktivierten und einen Wachstums- vierfacht. So half es bei manchen
ähnlichen biologischen Prozessen schub der Hefezelle auslösten. Dieser Eiweißen bereits, Eigenschaften zu
beteiligt. ließ sich per Mikroskopie leicht fest- erkennen, die bisher unbekannt waren,
Um herauszufinden, ob zwei Eiwei- stellen. Insgesamt wiesen die Forscher etwa eine Beteiligung am program­
ße miteinander interagieren, nutzten etwa 53 000 Protein-Protein-Wechsel- mierten Zelltod oder an Transportpro-
die Forscher Hefezellen, die genetisch wirkungen nach. Das seien schät- zessen.
so verändert waren, dass sie jeweils zungsweise zwei bis elf Prozent aller Nature 10.1038/s41586-020-2188-x, 2020

10 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

KLIMAWANDEL Polarstern gesammelt hat. Die Wissen- Dort bilden sie seit Langem eine
schaftler querten dazu wiederholt wichtige Basis für die Entstehung von
MEHR NÄHRSTOFFE eine dominante Oberflächenströmung Leben und fördern beispielsweise
AM NORDPOL des arktischen Ozeans, den Transpo- das Wachstum von Phytoplankton:
lardrift. Er befördert Wasser aus Sibi- mikroskopisch kleinen Algen, der

 Die Arktis erwärmt sich viel schnel-


ler als viele andere Gebiete der
Erde. Weil der Permafrostboden im
rien am Nordpol vorbei in den Nord­
atlantik. Die Forscher stießen dabei
auf einen Überschuss an Spurenele-
Basis des marinen Nahrungsnetzes.
Mit dem Klimawandel scheint sich der
Zustrom der Nährstoffe zu vergrößern,
hohen Norden taut, könnten künftig menten wie Eisen, Kobalt, Nickel und was das Algenwachstum ankurbeln
vermehrt Spurenelemente und Kohlen- Kupfer. Sie stammen vermutlich aus und die Ökosysteme im Polarmeer
stoff in den Arktischen Ozean gelan- Flüssen und Schelfsedimenten vom und Nordatlantik deutlich verändern
gen. Das zeigen Wasserproben, die ein Festland und sind von dort gemeinsam könnte.
internationales Forscherteam 2015 mit mit organischem Material ins Polar- Journal of Geophysical Research:
den Eisbrechern USCGC Healy und meer getrieben. Oceans 10.1029/2019JC015920, 2020

KOSMOLOGIE
SCHLEIMPILZ VERRÄT STRUKTUR DES ALLS

 Das Weltall gleicht einem weit


verzweigten Netz, das von etlichen
dünnen Fäden zusammengehalten
Physarum polycephalum basiert. Die-
ser bildet beim Wachstum ebenfalls
ein weit verzweigtes Netz.
Galaxien – das gut zu den wenigen
bekannten Filamenten passt. Das
All scheint also ähnlichen Ausbrei-
wird. Gruppen von Galaxien bilden da- Die Forscher fütterten das Compu- tungsregeln zu folgen wie ein
rin die Knotenpunkte, die Filamente terprogramm mit Beobachtungsdaten Schleimpilz auf der Suche nach
bestehen aus dünn verteiltem Gas. von 37 000 Galaxien. Der Algorithmus Nahrung.
Eingebettet ist das Ganze in große lieferte daraufhin eine Prognose für The Astrophysical Journal Letters
Mengen Dunkler Materie, die nicht das Aussehen der Fäden zwischen den 10.3847/2041-8213/ab700c, 2020
auf Teleskopbildern auftaucht.
So legen es zumindest Computer-
simulationen nahe, welche die Ent- Mit einem besonderen Computerprogramm haben Forscher simuliert, wie die
wicklung des Kosmos auf Basis der aus Gas bestehenden Verbindungen (lila) zwischen 37 000 bekannten Galaxi­
bekannten Naturgesetze nachstellen. en (gelb) aussehen müssten. Basis der Vorhersage bildete das Verhalten eines
Ob das Weltall tatsächlich so aus- Schleimpilzes, der beim Wachstum ähnliche Strukturen ausbildet.
sieht, können Astronomen bisher
jedoch nur punktuell überprüfen,
indem sie die Verteilung hell leuchten-
der Gala­xien ermitteln. Diese passt
insgesamt gut zur Theorie des kosmi-
schen Netzes.
Schwieriger ist der Nachweis der
Filamente zwischen den Massenzent-
NASA, ESA, AND J. BURCHETT AND O. ELEK (UC SANTA CRUZ) (SPACETELESCOPE.ORG/IMAGES/HEIC2003A/)

ren. Zum einen tauchen die Fäden


des Netzes kaum auf Teleskopaufnah-
men auf. Zum anderen ist ihre genaue
Form schwer zu simulieren, da sehr
viele Parameter und Prozesse auf
/ CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

unterschiedlichen Größenordnungen
zu beachten sind.
Eine Arbeitsgruppe um Joseph
Burchett von der University of Califor-
nia in Santa Cruz hat daher nun einen
ungewöhnlichen Weg gewählt, um
eine Vorhersage für die kosmische
Struktur zu erhalten: Die Forscher
nutzten einen Algorithmus, der auf
der Ausbreitung der Schleimpilzart

Spektrum der Wissenschaft  6.20 11


QHANTENSYSTEME
ZEITKRISTALLE
In herkömmlichen Kristallen wiederholen sich räum­
liche Strukturen regelmäßig. Nun haben Physiker
bei exotischen Materiezuständen eine ganz andere Art
von Symmetrie entdeckt: in der Zeit!

Frank Wilczek ist theoretischer Physiker am


Massachusetts Institute of Technology im US-ame-
ARIZONA STATE UNIVERSITY

rikanischen Cambridge. Für seine Beiträge zur


Theorie der starken Wechselwirkung erhielt er 2004
CHARLIE LEIGHT /

den Nobelpreis für Physik.

 spektrum.de/artikel/1725062

Das Konzept der Zeitkristalle


erweitert die etablierten
Vorstellungen von Strukturen
in Raum und Zeit.

AUF EINEN BLICK


EINE NEUE ORDNUNG DER ZEIT

1 Bei Kristallen ordnen sich die Atome in wiederkehren-


den Mustern an. Physiker sprechen von einer spontan
gebrochenen räumlichen Symmetrie.

2 Theoretische Überlegungen enthüllten eine hypotheti-


sche, völlig neue Art der Regelmäßigkeit: Zeitkristalle.
Sie verhalten sich nicht im Raum periodisch, sondern in
der Zeit.

3
MARK ROSS STUDIO / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019

Daraufhin suchten Wissenschaftler Materialien, in


denen das Phänomen real vorkommt. Sie spürten den
Effekt erstmals 2017 auf und entdeckten seither diverse
weitere der exotischen Systeme.

12 Spektrum der Wissenschaft  6.20


MARK ROSS STUDIO / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019

Spektrum der Wissenschaft  6.20


13

Kristalle sind die ordentlichsten Orte der Welt. Die

JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019


Atome und Moleküle in ihrem Inneren sortieren sich
von selbst zu überaus regelmäßigen, sich wieder­
holenden Strukturen. Auf die Weise wachsen oft auch Atomkern
d
größere feste Gebilde heran, die obendrein hübsch anzu-
schauen sind.
Seit jeher haben Menschen sich von Kristallen faszinie-
ren lassen und sie als Juwelen geschätzt. Als Forscher sie
im 19. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Formen und ihrer
Wirkungen auf Licht klassifizierten, brachte das die Mathe-
matik und die Physik entscheidend voran. Im 20. Jahr­
hundert entwickelten sich dann zahlreiche technische Ein Kristall mit Atomabstand d sieht nur nach einer
Revolutionen, etwa die moderne Halbleiterelektronik, auf Verschiebung um Vielfache von d aus wie vorher.
der Basis der quantenmechanischen Eigenschaften der
Elektronen in Kristallen.
Im Lauf des letzten Jahrzehnts sind Physiker beim Ver- Der mathematische Blick auf die Symmetrie erlaubt
ständnis der regelmäßigen Körper nun erneut einen wichti- zudem Verallgemeinerungen: Wir können die Idee so an-
gen Schritt weitergekommen und dabei in eine ganz neue passen, dass sie nicht nur für Formen, sondern auch für
Dimension vorgestoßen. Der Weg dorthin begann bei physikalische Gesetze gilt. Regeln sind symmetrisch, wenn
einem grundlegenden Aspekt von Albert Einsteins Relativi- sie gültig bleiben, während wir den Kontext ändern, in dem
tätstheorie: Raum und Zeit sind eng miteinander verwoben. sie angewendet werden. Zum Beispiel ist eine Grundannah-
Daher liegt es nahe, zu fragen, ob es nicht nur im Raum me der speziellen Relativitätstheorie: Die physikalischen
Kristalle gibt, sondern auch Objekte vergleichbare Eigen- Gesetze sind gleich, egal von welcher bewegten Position
schaften in der Zeit aufweisen können. aus wir die Welt sehen, sofern die Beobachter relativ zu­
einander konstante Geschwindigkeiten haben. Die Relativi-
Manche Dinge bleiben gleich, tätstheorie verlangt also Symmetrie bezüglich besonderen
obwohl sie sich verändern Transformationen zwischen unterschiedlichen Bezugs­
Aber was genau ist überhaupt ein Kristall? Die aus wissen- systemen.
schaftlicher Sicht fruchtbarste Antwort baut auf zwei Für Kristalle ist eine andere Klasse von Transformationen
überaus wichtigen Konzepten auf: Symmetrie und deren wichtig. Die dafür nötigen Schritte heißen Translationen.
spontaner Bruch. Während bei der Relativitätstheorie die Gesetze für unter-
In der Physik und Mathematik gilt ein Objekt als symme- schiedlich bewegte Beobachter gleich bleiben, bedeutet
trisch, wenn es Transformationen gibt, die es im Prinzip Translationssymmetrie, dass die gleichen Zusammenhänge
verändern könnten – es aber tatsächlich nicht tun. Die an verschiedenen Orten gelten. Wer sein Labor an eine
Definition mag auf den ersten Blick seltsam und abstrakt andere Stelle verlegt, wird dort auf dieselben Regeln sto-
erscheinen. Zur Veranschaulichung hilft als einfaches ßen. Mit anderen Worten: Wo auch immer wir Gesetze
Beispiel ein Kreis. Egal, um welchen Winkel wir ihn um entdecken, sie gelten überall. Translationssymmetrie gibt es
seine Mitte drehen, stets erscheint er gleich, obwohl sich nicht nur bezüglich des Raums, sondern zudem in der Zeit,
jeder Punkt auf ihm bewegt hat. Der Kreis hat eine perfekte also für Beobachter in der Vergangenheit oder in der Zu-
Rotationssymmetrie. Ein Quadrat hat ebenfalls eine gewis- kunft. Das heißt entsprechend: Wann auch immer wir Ge-
se Symmetrie, aber weniger als ein Kreis. Denn es erlangt setze entdecken, sie gelten jederzeit.
erst nach einer Drehung um genau 90 Grad sein ursprüng­ Ohne räumliche und zeitliche Translationssymmetrie
liches Aussehen wieder (siehe Bild unten). wären Experimente, die an verschiedenen Orten und Zeit-
punkten durchgeführt werden, nicht reproduzierbar. In ihrer
täglichen Arbeit nehmen Wissenschaftler die beiden Sym-
Eine Drehung um jeden beliebigen Winkel bildet metrien als selbstverständlich hin. In der Tat wäre For-
einen Kreis auf sich selbst ab. Bei einem Quadrat schung, wie wir sie kennen, sonst unmöglich. Dennoch ist
funktioniert das nur mit Vielfachen von 90 Grad. wichtig zu betonen, dass wir die Translationssymmetrie in
Raum und Zeit empirisch testen können. Etwa beim Verhal-
ten weit entfernter astronomischer Objekte: Sie befinden
sich offensichtlich an anderen Orten, und auf Grund der
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019

endlichen Lichtgeschwindigkeit beobachten wir in der


irdischen Gegenwart, wie sie sich in der kosmischen Ver-
gangenheit verhalten haben. So überprüfen Astronomen
die universelle Gültigkeit der Naturgesetze mit hoher Ge-
nauigkeit.
Zurück zu den Kristallen. So ästhetisch sie üblicherweise
sind, ist ihr bestimmendes Merkmal in der Physik gerade
perfekt symmetrisch teilweise symmetrisch
ein Fehlen an Symmetrie. Gehen wir zur Veranschaulichung

14 Spektrum der Wissenschaft  6.20


einmal von einem extrem idealisierten Kristall aus, der le-
Welle bewegt ion
diglich eine Dimension besitzt. Das heißt, seine Atomkerne ress ng, t
sich in der Zeit Kom
p chtu k
befinden sich in regelmäßigen Abständen d entlang einer X-Ri Zeitpun
s t e r
Linie und haben daher die Koordinaten n d mit der ganzen fe
Zahl n. Wenn wir den Kristall um Vielfache der Distanz d Y-R
ic htu
verschieben, sieht er wieder genau so aus wie vorher und ng
lässt sich auf die gleiche Weise beschreiben – aber nur
dann! Der idealisierte Kristall hat daher einen reduzierten
Grad an räumlicher Translationssymmetrie, ähnlich wie ein
Quadrat weniger Rotationssymmetrie hat.

JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC


AMERICAN NOVEMBER 2019
Physiker sagen, in einem Kristall sei die kontinuierliche
Translationssymmetrie gebrochen. Die verringerte verblei-
bende Symmetrie ist gewissermaßen das, was den Kristall
eigentlich ausmacht. Wenn wir nämlich wissen, dass die
Symmetrie eines Kristalls aus Translationen durch Vielfache Bei einer ebenen Schallwelle wiederholt sich die
des Abstands d besteht, können wir sofort alle Atome Kompression an einem Punkt im Raum periodisch.
relativ zueinander richtig platzieren (siehe Bild links oben).
In zwei und drei Dimensionen sind die Muster mitunter
bedeutend komplizierter. Es gibt Kristalle mit partiellen zeitkristalle beschreiben? Und zweitens: Weisen diese
Rotations- und Translationssymmetrien in vielen Varianten. Regelmäßigkeiten auf bestimmte Materiezustände hin?
Schon beispielsweise die Künstler, die im 14. Jahrhundert Das war für mich der Beginn eines wissenschaftlichen
den Palast der Alhambra im spanischen Granada ausge- Abenteuers voller Überraschungen.
schmückt haben, haben zahlreiche solcher zweidimensio- Die Antwort auf die erste Frage ist recht einfach. Wäh-
nalen Formen entdeckt. Im 19. Jahrhundert erfassten rend bei gewöhnlichen Kristallen Objekte regelmäßig im
Mathematiker schließlich die dreidimensionalen Kristalle Raum angeordnet sind, sind es bei Raumzeitkristallen
systematisch (siehe Bild unten). Ereignisse in der Raumzeit. Das können wir uns wie bei den
konventionellen Kristallen anhand eines eindimensionalen
Vom Vorlesungsstoff zur neuartigen Materie Beispiels besser vorstellen. Dieses macht aus einem Raum-
Im Sommer 2011 hatte ich vor, alle diese Zusammenhänge zeitkristall einen reinen Zeitkristall. Gesucht sind also Syste-
im Rahmen einer Vorlesung über die physikalische Bedeu- me, deren Gesamtzustand sich in regelmäßigen Abständen
tung von Symmetrie zu unterrichten. Wenn es sich anbietet, wiederholt. So etwas ist uns gut vertraut. Beispielsweise
versuche ich immer, meinem Lehrmaterial etwas Neues wendet sich die Erde im Weltraum täglich in fast gleicher
hinzuzufügen. Da kam mir in den Sinn, die Klassifizierungen Weise der Sonne zu, und das Erde-Sonne-System wieder-
kristalliner Muster im dreidimensionalen Raum auf solche in holt seine Konfiguration in jährlichen Abständen. Uhren
der vierdimensionalen Raumzeit auszudehnen. sind im Lauf vieler Jahrzehnte immer besser darin gewor-
Ich erwähnte die Idee im Gespräch mit meinem ehemali- den, nach sehr präzisen Intervallen wieder die gleiche
gen Studenten und nunmehr geschätzten Kollegen Alfred Anordnung zu zeigen, von Pendel- und Federuhren bis zu
Shapere von der University of Kentucky. Er legte mir nahe, modernen Exemplaren. Die Genauigkeit heutiger Zeitmes-
zwei grundlegende physikalische Fragen zu prüfen. Erstens: ser ist bereits enorm; trotzdem gibt es gute Gründe, sie
Welche real vorhandenen Systeme lassen sich durch Raum- weiter zu verbessern – und Zeitkristalle könnten sogar dabei
helfen.
In der höherdimensionalen Raumzeit finden sich in eini-
Kristalle können komplexe Regelmäßigkeiten aufwei­ gen bekannten Systemen der realen Welt ebenfalls Kristall-
sen, sowohl in zwei Dimensionen (Muster in der muster. Das ist etwa bei einer ebenen Schallwelle der Fall.
Alhambra, links) als auch in drei (Diamant, rechts). Die Höhe der schwingenden Oberfläche zeigt die Auslen-
kung in Raum und Zeit an (siehe Bild oben).
Solche Arten von Raumzeitkristallen etikettieren existie-
rende Phänomene jedoch einfach um. Wir betreten erst
physikalisches Neuland, wenn wir uns mit Shaperes zweiter
Frage nach charakteristischen Materiezuständen beschäfti-
gen. Dazu brauchen wir zusätzlich zu den bisher vorgestell-
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019

ten Konzepten noch das der spontanen Symmetriebre-


chung.
Wenn eine Flüssigkeit oder ein Gas abkühlt und zu einem
Kristall wird, geschieht etwas Bemerkenswertes: Das, was
aus den fundamentalen physikalischen Wechselwirkungen
schließlich hervorgeht – der Kristall – weist weniger Sym-
metrie auf, als die Gesetze prinzipiell zuließen. Da sich die
Symmetrie allein wegen der Temperatur und ohne beson-

Spektrum der Wissenschaft  6.20 15


sie so starr, weil das regelmäßige Muster der Atome in
ihrem Inneren über große Entfernungen bestehen bleibt
Zeitkristalle konstruieren und sich Störungen widersetzt.
Die drei Merkmale der Kristallisation – reduzierte Sym-
So ähnlich wie sich in einem üblichen Kristall die metrie, Phasenübergang und Rigidität – sind eng miteinan-
räumliche Anordnung der Atome wiederholt, der verbunden. Das Grundprinzip aller drei ist die Tendenz
kehrt der Zustand der Bestandteile eines Zeitkris- der Atome, energetisch günstige Muster zu bilden. Die
talls in bestimmten Perioden regelmäßig wieder. verschiedenen Phasen zeigen sich je nach den äußeren
2017 haben zwei Forscherteams, eines um Mikhail Bedingungen wie Druck und Temperatur. Unter veränder-
Lukin von der Harvard University und eines um ten Umständen sortieren sich die Atome neu. Das erfordert
Christopher Monroe von der University of Mary- ein kollektives Verhalten, und entsprechend setzt sich die
land, erstmals solche Materialien erzeugt. Ordnung durch das gesamte Material fort. Um wieder in
einen anderen Zustand zu wechseln, bedarf es dann erneut
normaler Kristall: sich wiederholende räumliche Ordnung einer hinreichend starken Störung.

Abstand Scheinbar unvereinbare Konzepte


Als ich meine Überlegungen aufschrieb, erzählte ich meiner
Zeitkristall: sich wiederholende Abfolge von Ereignissen Frau Betsy Devine davon: »Es ist wie bei einem Kristall, aber
bezüglich der Zeit.« Sie fragte mich, wie ich das Phänomen
Zeit nennen wollte. »Spontaner Bruch der Zeittranslationssym-
metrie«, antwortete ich. »Auf keinen Fall!«, erwiderte sie.
»Nenn sie Zeitkristalle.« Selbstverständlich hörte ich auf sie.
Das Lukin-Experiment 2012 stellte ich das Konzept im Rahmen zweier Veröffent­
Die Wissenschaftler haben mit Hilfe der Spins in Stick-
stofffehlstellen in einem Diamanten einen Zeitkristall lichungen vor, eine davon gemeinsam mit Shapere. Im
erzeugt. Regelmäßige Strahlungspulse beeinflussten Folgenden bezeichne ich die Zeittranslationssymmetrie mit
die Ausrichtung der Spins. Schließlich wiederholte sich
deren Konfiguration regelmäßig, allerdings mit einer
dem griechischen Buchstaben t (tau).
anderen Periode als derjenigen der Anregung. Entsprechend der beschriebenen Situation in normalen
Kristallen ist ein Zeitkristall ein System, in dem t spontan
Zeit gebrochen wird. Man könnte sich fragen, warum die Verei-
Wechsel- nigung der Konzepte von Zeittranslationssymmetrie und
Mikro- wirkungen Mikro-
wellen- wellen- des spontanen Symmetriebruchs so lange auf sich warten
puls puls
ließ. Schließlich existieren sie in der Wissenschaft seit
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019

vielen Jahren nebeneinander. Doch t unterscheidet sich


von anderen Symmetrien in entscheidender Weise. Darum
ist die Möglichkeit ihres spontanen Bruchs viel weniger
offensichtlich.
Spins in anders Die Wurzeln der Verschiedenheit liegen in einer tiefgrün-
Stickstofffehlstellen ausgerichtete digen Erkenntnis, welche die deutsche Mathematikerin
im Diamanten Spins
Emmy Noether in den 1910er Jahren bewiesen und veröf-
fentlicht hat. Das Noether-Theorem verbindet Symmetrien
und Erhaltungssätze miteinander: Für jede Symmetrie gibt
es eine andere Größe, die unverändert bleibt. Der Zeittrans-
dere äußere Einwirkung verringert, heißt die Brechung der lationssymmetrie entspricht die Energieerhaltung. Anders
Translationssymmetrie spontan. gesagt, wenn in irgendeinem System t gebrochen wird, ist
Ein wichtiges Merkmal der Kristallisation ist, dass sich die Energieerhaltung hier kein nützliches Charakteristikum
das ganze System abrupt anders verhält. Wir haben es mit mehr. Etwas technischer ausgedrückt bekommt man ohne
einem so genannten Phasenübergang zu tun. Oberhalb t, wenn man die einzelnen Beiträge aus dem System auf-
einer bestimmten kritischen Temperatur (die von der chemi- summiert, nicht mehr eine energieähnliche, zeitunabhängi-
schen Zusammensetzung und dem Umgebungsdruck ge Größe.
abhängt) haben wir eine Flüssigkeit, darunter einen Kristall Das passt allerdings nicht mehr zur üblichen Erklärung
mit völlig anderen Eigenschaften. Der Übergang erfolgt dafür, warum es überhaupt zu einem spontanen Symme-
nach genauen Regeln und setzt Energie in Form von Wär- triebruch kommt. Die lautet nämlich: Er ist energetisch
me frei. Solche Prozesse sind uns gut vertraut, etwa wenn günstig. So begründen Wissenschaftler beispielsweise die
Wasser zu Eis gefriert. Das macht den Umstand aber nicht gewöhnliche Kristallisation. Wenn der Zustand mit der
weniger erstaunlich, dass eine kleine Änderung der Umge- niedrigstmöglichen Energie die räumliche Symmetrie bricht
bungsbedingungen eine Substanz in ein qualitativ ganz und die Situation einmal herbeigeführt wurde, dann dauert
neues Material verwandelt. sie an, sofern die Energie des Systems erhalten bleibt.
Die Festigkeit der Kristalle unterscheidet sie deutlich von Darum ist ein Kristall stabil. Aber die Erklärung funktioniert
Flüssigkeiten und Gasen. Aus mikroskopischer Sicht sind nicht für den Bruch von t, denn mit dem Vorgang verlieren

16 Spektrum der Wissenschaft  6.20


wir gleichzeitig das Maß für die Energie. Darum haben sich
die meisten Physiker nie näher Gedanken darüber gemacht Das neue Material geht in
und das damit verbundene Konzept der Zeitkristalle unter-
sucht. einen stabilen Zustand über,
Es gibt jedoch einen allgemeineren Weg zum spontanen
Symmetriebruch, der sich auch auf t anwenden lässt. Ein in dem es mit dem Antrieb
Material könnte in einem bestimmten Zustand aus anderen
als energetischen Gründen stabiler sein und sich deshalb keine Energie mehr aus-
umwandeln. Beispielsweise lassen sich Strukturen aus
vielen Teilchen nicht so leicht umsortieren, da die meisten tauscht – ein subtiler, aber
störenden Kräfte lokal begrenzt wirken. Wenn man ein
Material in eine neue Ordnung überführt, die sich über eine entscheidender Unterschied
größere Skala erstreckt als zuvor, könnte es darum bereits
allein deswegen stabiler sein.
Letztendlich kann sich kein gewöhnlicher Zustand der e die Ladung eines Elektrons und h die plancksche Kons-
Materie auf Dauer gegen alle denkbaren Einflüsse behaup- tante ist. Hier variiert zwar der Aufbau des Experiments an
ten. Diamanten etwa sind laut einer bekannten Werbekam- sich nicht mit der Zeit (mit anderen Worten: t bleibt erhal-
pagne »unvergänglich«. Aber unter dem richtigen Gasge- ten), aber das daraus resultierende Verhalten verändert sich.
misch und bei genügend hohen Temperaturen verbrennt Die volle Zeittranslationssymmetrie reduziert sich auf eine
jeder Brillant. Im Grunde genommen sind Diamanten unter Symmetrie unter der Verschiebung um ein Vielfaches der
Normalbedingungen keine stabile Form des Kohlenstoffs. Periode h / 2 e U.
Sie entstehen bei viel höherem Druck und behalten ihre Der Josephson-Effekt verkörpert somit das grundlegen-
Gestalt dauerhaft, sobald sie einmal gebildet sind. Doch de Konzept eines Zeitkristalls. In mancher Hinsicht ist er
theoretisch werden sie irgendwann alle zu Graphit. Daher jedoch nicht ideal. Um die Spannung aufrechtzuerhalten,
verstehen wir unter einem Materiezustand normalerweise muss man eine Stromquelle anschließen. Aber der Wech-
lediglich eine Substanz, die sich für alle praktischen Zwecke selstromkreis erzeugt Wärme, strahlt elektromagnetische
lange genug gegenüber einer gewissen Bandbreite äußerer Wellen ab, und die Batterie entleert sich. Das alles geht auf
Einflüsse behauptet. Kosten der Stabilität.
Ein typisches Beispiel für einen Zeitkristall entspringt
dem so genannten Josephson-Effekt (nach dem britischen Endlose Schwingungen in Diamanten
Physiker Brian Josephson, der für die Entdeckung 1973 den Geeignete Bauteile reduzieren den Einfluss solcher Effekte.
Nobelpreis erhielt). Er tritt auf, wenn eine dünne, isolierende Andere Systeme etwa mit Suprafluiden (Flüssigkeiten ohne
Barriere zwei supraleitende Materialien voneinander trennt innere Reibung) oder Magneten zeigen ähnliche Phänome-
und eine konstante Spannung U (also ein Potenzialunter- ne und minimieren die Probleme. 2017 haben Nikolai
schied) anliegt (siehe Bild unten). Dann fließt ein Wechsel- Prokof’ev und Boris Svistunov von der University of Massa-
strom mit der Frequenz 2 e U / h durch den Übergang, wobei chusetts in Amherst einen Aufbau mit sich gegenseitig
durchdringenden Suprafluiden vorgeschlagen. Die zentrale
physikalische Idee hinter diesen und weiteren ähnlichen
Trennt eine dünne Barriere zwei unter Spannung Experimenten ist bereits in Josephsons Veröffentlichung
stehende Supraleiter, misst man einen Wechselstrom, von 1962 implizit enthalten. Darum handelt es sich hierbei
dessen Frequenz zur Spannung proportional ist. sozusagen um eine alte Form der Zeitkristalle.
Wirklich neuartige Zeitkristalle betraten am 9. März 2017
die Bühne. Das war das Erscheinungsdatum einer Ausgabe
des Fachmagazins »Nature«, in der zwei Forscherteams
unabhängig voneinander entsprechende Entdeckungen
konstante
Spannung beschrieben haben (siehe »Spektrum« Juni 2017, S. 25). In
einem Experiment schuf ein Team unter der Leitung von
Supraleiter Isolator Supraleiter Christopher Monroe von der University of Maryland in
College Park einen Zeitkristall aus einer Kette von Ytterbi-
um-Ionen. In einem anderen Versuch konstruierte Mikhail
Lukins Gruppe an der Harvard University einen Zeitkristall
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019

in einem Diamanten mittels tausender Kristalldefekte, so


genannter Stickstofffehlstellen.
In beiden Systemen ändert sich regelmäßig die Richtung
der Spins der Bestandteile (entweder der Ytterbium-Ionen
oder der Diamantdefekte), und die Atome kehren periodisch
in ihre ursprüngliche Konfiguration zurück. In Monroes
Experiment verwendeten die Forscher Laser, um die Spins
Wechselstrom an der Barriere
der Ionen umzudrehen und in verschränkte, also quanten-

Spektrum der Wissenschaft  6.20 17


mechanisch zusammenhängende Zustände zu bringen. schüttelte, floss das Metall an der Oberfläche oft in Wel-
Daraufhin oszillierten die Spins mit der halben Rate der len mit der Periode 2T. Doch dieser Symmetriebruch
Laserpulse. In Lukins Projekt verwendeten die Wissen- erlaubt – ähnlich wie bei vielen anderen vor 2017 unter-
schaftler zum Umklappen der Spins Mikrowellenstrahlung. suchten Systemen – keine saubere Trennung zwischen
Sie beobachteten Zeitkristalle mit Schwingungen im dop- dem Material und der treibenden Kraft (in Faradays Fall
pelten und dreifachen Abstand der Pulse. In beiden Fällen das Rütteln), und er zeigt nicht die typischen Merkmale
gab es eine äußere Anregung, woraufhin die Materialien eines spontanen Symmetriebruchs. Der Antrieb pumpt
eine andere Periode aufwiesen als die Stimuli (siehe »Zeit- ständig Energie (genauer gesagt: Entropie) hinein, die in
kristalle konstruieren«, S 16). Mit anderen Worten, sie Form von Wärme abgegeben wird. Letztlich hat das
brachen die Zeitsymmetrie spontan. gesamte Objekt schlicht weniger Symmetrie als die Anre-
Solche Experimente sind Teil einer zunehmend aktiven gung an sich.
Forschungsrichtung. Seither sind auf Grundlage derselben Im Gegensatz dazu geht das Material in den 2017
allgemeinen Prinzipien weitere Systeme aufgetaucht. Die entdeckten Systemen nach einer kurzen Abklingzeit in
gesamte Klasse dieser Materialien, welche die diskrete einen stabilen Zustand über, in dem es mit dem Antrieb
Zeittranslationssymmetrie einer regelmäßigen Anregung keine Energie oder Entropie mehr austauscht. Der Unter-
brechen, heißt inzwischen Floquet-Zeitkristalle. schied ist subtil, aber physikalisch entscheidend. Anders
Sie unterscheiden sich in wichtigen Punkten von ver- als bei den (für sich genommen interessanten) früheren
wandten, viel früher entdeckten Phänomenen. Bereits 1831 Beispielen sind die neuen Floquet-Zeitkristalle eine eigene
hat der englische Physiker Michael Faraday festgestellt: Phase der Materie mit allen Merkmalen eines spontanen
Wenn er eine Schüssel mit Quecksilber mit der Periode T Symmetriebruchs.

Neue Zeitkristalle – ohne Antrieb, ohne Quanten


Ob Laserpulse oder Mikrowellen, Umständen verhalten sich die besondere Vielteilcheneffekte, die
beim Konzept der Zeitkristalle Bestandteile des geschlossenen es jedoch klassisch nicht gibt. Hier
braucht es immer irgendeinen Systems dann ganz von selbst wie lässt sich der Austausch zwischen
Taktgeber. Nur dann können die ein Zeitkristall, der periodisch Antrieb und System aber beispiels-
Systeme dessen Symmetrie bre- zwischen Zuständen hin und her weise durch Reibungseffekte und
chen. Im Gleichgewicht und isoliert wechselt und robust gegenüber kleine Störungen steuern und auf
von der Umgebung – also ohne Störungen ist – zumindest theore- das für lange Haltbarkeit nötige
äußere Anregung – wird kein tisch. Praktisch erscheint eine Maß reduzieren.
Material aus sich heraus zu einem experimentelle Umsetzung wegen Im Februar 2020 hat ein Team
Zeitkristall. Das haben Haruki der schwierig handhabbaren Quan- um Norman Yao von der University
Watanabe und Masaki Oshikawa tenzustände vorerst aussichtslos. of California in Berkeley berechnet,
von der Universität Tokio 2015 auf Gibt es Zeitkristalle auch bei wie ein solcher Versuchsaufbau
Grund thermodynamischer Überle- größeren, nichtquantenmechani- sehr stabil bleiben könnte: Die
gungen bewiesen. schen Phänomenen? Bereits aus einzelnen verbundenen Oszillatoren
Allerdings haben Valerii Kozin dem 19. und 20. Jahrhundert sind sind ein wenig nichtlinear, schwin-
und Oleksandr Kyriienko von der Effekte bekannt, die Zeitkristallen gen also nicht perfekt gleichmäßig.
Staatlichen Universität für Informa- verdächtig nahekommen. Wissen- Sie zeigen einen Phasenübergang,
tionstechnologien, Mechanik und schaftler um Toni L. Heugel von der und ein Zeitkristall entsteht. Zwar
Optik in Sankt Petersburg im ETH Zürich haben im März 2019 ist der nicht ewig stabil, doch die
November 2019 ein Schlupfloch gezeigt, wie sich solche Beobach- Forscher um Yao argumentieren:
gefunden. Ihr Trick: Die eiserne tungen mit dem quantenmechani- Praktisch macht das keinen Unter-
Regel »kein Antrieb, kein Zeitkris- sche Konzept verbinden lassen. Sie schied. Wenn man die schwingen-
tall« gilt nur, wenn die maßgebli- demonstrierten außerdem experi- den Elemente untereinander immer
chen Wechselwirkungen eine kurze mentell einen Symmetriebruch für komplexer verknüpft, kann man die
Reichweite besitzen, so wie unter den Fall gekoppelter Federn. Lebensdauer des Zeitkristalls
geladenen oder magnetischen Ob mechanische oder quanti- beliebig steigern.
Teilchen im Mikrokosmos üblich. sierte Welt, es braucht in jedem Der Ansatz des Teams für diese
Die beiden russischen Physiker Fall zugeführte Energie, die sich auf Verbindungen ähnelt der Konstruk-
hingegen betrachteten quantenme- die schwingenden Komponenten tion so genannter zellulärer Auto-
chanisch verschränkte Objekte, die übertragen kann, so dass sich kein maten, die etwa beim Wachstum
über große Distanzen miteinander dauerhafter Zeitkristall bildet. Auf biologischer Strukturen eine große
verknüpft sind. Unter gewissen Quantenebene verhindern das Rolle spielen.

18 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Bricht die Raumzeit unter motivierter Versuch, t in der Kosmologie aufrechtzuerhal-
ten. Hierbei sollte der Zustand oder das Aussehen des

den extremen Bedingungen Universums in großen Maßstäben unabhängig von der Zeit
sein. Mit anderen Worten, die Zeitsymmetrie bleibt er­

beim Urknall und in halten.


Aber das stationäre Modell ist inzwischen überholt, denn

Schwarzen Löchern die Astronomen haben Beweise dafür gesammelt, dass das
Universum vor 13,7 Milliarden Jahren, unmittelbar nach

Zeittranslationssymmetrie? dem Urknall, ganz anders aussah, obwohl die gleichen


physikalischen Gesetze galten. In dem Sinn wird t (mögli-
cherweise spontan) durch das Universum als Ganzes ge­
brochen. Einige Kosmologen vermuten, das All könne
In diesem Sinn sind die Rotation der Erde oder ihre Dre- zyklisch sein oder eine Phase schneller Schwingungen
hung um die Sonne keine Zeitkristalle. Hier stammt die durchlaufen haben. Solche Spekulationen – bis heute sind
Stabilität aus der näherungsweisen Erhaltung von Energie sie nicht mehr als das – berühren den Ideenkreis der Zeit-
und Drehimpuls, und beide haben nicht die niedrigstmögl­ kristalle.
ichen Werte. Zudem gibt es anders als in einem Kristall Derzeit basiert unser bestes Verständnis der Struktur der
keine langreichweitige Ordnung über viele Objekte. Tat- Raumzeit auf den Gleichungen der allgemeinen Relativitäts-
sächlich verändern Gezeiteneffekte, der gravitative Einfluss theorie, welche in mindestens zwei Extremsituationen
anderer Planeten und sogar die Entwicklung der Sonne zusammenbricht: wenn man versucht, das Modell der
die Erdbewegung geringfügig. Bekanntlich sind für die Urknallkosmologie auf den Anfangsmoment zurückzufüh-
damit verbundenen Zeitmaße wie Tag und Jahr gelegent­ ren, sowie im Mittelpunkt von Schwarzen Löchern. Anders-
liche Korrekturen erforderlich. wo in der Physik ist das Versagen von Gleichungen für das
Verhalten der Materie oft ein Signal dafür, dass das System
Von Quantensystemen zum zyklischen Universum einen Phasenübergang durchläuft. Könnte die Raumzeit
Die Muster der neuen Zeitkristalle hingegen sind äußerst unter solch extremen Bedingungen die Zeittranslationssym-
stabil gegenüber Störungen. Darum könnten sie der metrie brechen?
­Schlüssel zu noch genaueren, weniger störungsanfälligen Vielleicht bietet das Konzept der Zeitkristalle eine neue
Messgeräten für Entfernungen und Zeiten sein. Typische theoretische Perspektive auf solche Fragen. Oder die
Anwendungen hochpräziser Uhren reichen von der Posi­ Laborversuche zu dem Phänomen offenbaren technisch
tionsbestimmung über das Erkennen unterirdischer Mate- nützliche Eigenschaften. In jedem Fall sind Zeitkristalle
rieverteilungen mit Hilfe der Schwerkraft bis zur Detektion höchst interessante Objekte. So oder so werden sie unsere
von Gravitationswellen. Mit Blick darauf finanziert inzwi- Vorstellungen über die Strukturen der Materie grundlegend
schen die Forschungsbehörde des US-Verteidigungsminis- erweitern. 
teriums DARPA die Entwicklung von Zeitkristallen.
Die Ideen und Experimente rund um Zeitkristalle und
den spontanen Bruch von t stecken noch in den Kinder-
schuhen. Es gibt viele offene Fragen und zu bewältigende
Aufgaben. Dazu gehört etwa, Zeitkristalle in größeren und Mehr Wissen auf
besser handhabbaren Systemen zu erzeugen und eine Spektrum.de
größere Vielfalt von Mustern in der Raumzeit abzubilden. Unser Online-Dossier zum Thema
Spannend ist ebenso die Natur der Phasenübergänge, die finden Sie unter
Materie in diese Zustände bringen – und wieder heraus. spektrum.de/t/quantenphysik OM
PETER JURIK / STOCK.ADOBE.C
Zudem gibt es noch viele ungeklärte physikalische
Eigenschaften von Zeitkristallen (und Raumzeitkristallen,
bei denen sowohl Raumsymmetrie als auch t spontan
gebrochen werden). Bei Halbleitern etwa dürften viele
Effekte bezüglich des Wechselspiels von Elektronen und QUELLEN
Licht auf ihre Entdeckung warten.
Choi, S.: Observation of discrete time-crystalline order in a
Darüber hinaus könnte es sich lohnen, das Konzept auf
disordered dipolar many-body system. Nature 543, 2017
Zeitquasikristalle (eine besondere Ordnung ohne sich
wiederholende Muster), Zeitflüssigkeiten (bei denen die Shapere, A., Wilczek, F.: Classical time crystals. Physical
Review Letters 109, 2012
Dichte der Ereignisse im Lauf der Zeit konstant ist, die
Periode aber nicht) und Zeitgläser (deren Muster starr Wilczek, F.: Quantum time crystals. Physical Review Letters
aussieht, aber kleine Abweichungen aufweist) auszudeh- 109, 2012
nen. Es gibt sogar eine Verbindung von Zeittranslations- Yao, N. Y., Nayak, C.: Time crystals in periodically driven
symmetrie mit dem All und Schwarzen Löchern. Mitte des systems. Reports on Progress in Physics 81, 2018
20. Jahrhunderts war das Modell eines stationären Uni­ Zhang, J. et al.: Observation of a discrete time crystal. Nature
versums populär. Es war letztlich ein weltanschaulich 543, 2017

Spektrum der Wissenschaft  6.20 19


FORSCHUNG AKTUELL
KLIMAFORSCHUNG
TROPENWÄLDER VERLIEREN IHRE SENKENFUNKTION
Regenwälder in Südamerika und Afrika entziehen bislang der Atmosphäre mehr CO2, als sie abgeben.
Doch das könnte sich ändern – vor allem in Amazonien.


Weltweit nimmt die Gesamtfläche nahme tropischer Regenwälder«, Dürren auf als in Amazonien. Außer-
des tropischen Regenwalds durch unten). Woher rühren diese unter- dem herrschen in den meist höher
Abholzung, Straßenbau und schiedlichen Entwicklungen? liegenden Wäldern in Afrika generell
Brände ab – ein Trend, der sich in den Auf Grund des wachsenden Kohlen- niedrigere Lufttemperaturen. Dagegen
letzten Jahren noch verschärft hat. dioxidgehalts der Atmosphäre und konnten die Forscher durch statisti-
Gleichzeitig beeinflusst der vom Men- des damit einhergehenden Düngungs- sche Analysen belegen, dass der
schen verursachte Klimawandel die effekts nehmen die Wälder beider Rückgang der Kohlenstofffixierung in
Funktionsweise dieser Ökosysteme. Kontinente langfristig mehr Kohlen- Amazonien eindeutig auf Hitze und
Bislang können intakte Wälder der stoff auf. Auf der anderen Seite verrin- wiederholten extremen Dürreereignis-
Atmosphäre Kohlenstoff in Form von gerte sich seit der Jahrtausendwende sen beruht.
CO2 durch Fotosynthese aktiv entzie- das Pflanzenwachstum durch anstei- Die Wissenschaftler führen somit
hen und als Biomasse speichern. Etwa gende Jahresmitteltemperaturen den Rückgang der Kohlenstoffaufnah-
die Hälfte der terrestrischen Kohlen- sowie zunehmende Trockenheit. In me auf klimatische Veränderungen
stoffbindung beruht auf dieser Leis- Afrika hielt sich die Kohlenstoffaufnah- zurück. Unberücksichtigt blieben
tung. Wie ein internationales Team um me länger auf einem hohen Niveau, andere Faktoren wie die Konkurrenz
den Biologen Wannes Hubau von der denn hier schritt die Klimaerwärmung der Bäume um Licht oder Nährstoffe.
belgischen Universität Gent nun langsamer fort, und es traten weniger Dass Einflüsse wie begrenzte Nähr-
berichtet, könnte diese global ent-
scheidende Funktion als Kohlenstoff-
senke sowohl in Amazonien als auch
in den afrikanischen Regenwäldern Nettokohlenstoffaufnahme
schwinden – allerdings in unterschied- tropischer Regenwälder
lichem Maß.
Wälder fungieren als Nettokohlen- Wissenschaftler um Wannes Hubau schätzten mit Wachstums- und
stoffsenke, wenn die durch das ­Mortalitätsdaten ab, wie viel Kohlenstoff tropische Wälder in Afrika und
Wachstum der Bäume gebundene Amazonien netto aus der Atmosphäre aufnehmen. Diese Funktion als
Kohlenstoffmenge größer ist als die Kohlenstoffsenke nahm in Südamerika seit den 1990er Jahren ab, wäh-
durch abgestorbene Pflanzen frei rend sie in Afrika bis 2015 stabil blieb. Mit Hilfe statistischer Modelle
gegebene. Dann nimmt der in der prognostizierten die Wissenschaftler die weitere Entwicklung. Demnach
Biomasse gespeicherte Kohlenstoff wird sich die Nettokohlenstoffaufnahme auf beiden Kontinenten vermin-
mit der Zeit zu. Aus dem Zusammen- dern, in Amazonien um 2035 sogar die Nulllinie unterschreiten – die
spiel zwischen Aufnahme und Abgabe dortigen Wälder verwandeln sich dann von einer Senke zu einer Kohlen-
ergibt sich die Kohlenstoffverweilzeit, stoffquelle.
die bestimmt, wie lange der Kohlen-
stoff im Wald gespeichert wird.
Messdaten: Afrika Amazonien
Die Wissenschaftler um Hubau
Prognose: Afrika Amazonien
werteten zwischen 1968 und 2015
NATURE; RAMMIG, A.: TROPICAL CARBON SINKS ARE OUT OF SYNC. NATURE 579, 2020;

gewonnene Wachstums- und Mortali- 1


tätsdaten von 244 ungestörten Wald-
Kohlenstoff in Tonnen
pro Hektar und Jahr

stücken in elf afrikanischen Ländern


aus und verglichen diese mit ähnlichen 0,5
Messungen von 321 Parzellen in
Amazonien (siehe Foto rechts). Wie sie
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

0
dabei herausfanden, blieb die Kohlen-
stoffsenke in den afrikanischen Regen-
wäldern weitgehend stabil, wohinge- –0,5
gen in Südamerika die jährliche Netto- 1990 2000 2010 2020 2030 2040
kohlenstofffixierung seit etwa 1990
abnimmt (siehe »Nettokohlenstoffauf-

20 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

Solche Extrapolationen sind aller-


dings mit Vorsicht zu genießen, da
globale Modelle anderer Forscher eine
Verstärkung der Kohlenstoffsenke
durch CO2-Düngung in intakten Tro-
penwäldern vorhersagen. Wie meine
Arbeitsgruppe in München 2019
feststellte, kann andererseits mangeln-
de Nährstoffverfügbarkeit, insbeson-
dere von Phosphor, im Boden der
Amazonaswälder deren Funktion als
Kohlenstoffsenke maßgeblich ein-
schränken. Die aktuellen Ergebnisse
von Hubau und seinen Kollegen unter-
streichen somit die Dringlichkeit,
verschiedene ökologische Faktoren
umfassend zu untersuchen, um diese
in globale Modelle zur Dynamik tropi-
scher Regenwälder zu integrieren.
JOÃO MARCOS ROSA; MIT FRDL. GEN. VON NATURE

Was folgt aus den weltweit beob-


achtbaren Veränderungen in der
Kohlenstoffbilanz intakter Tropenwäl-
der? Bisherige Klimamodelle, mit
denen die maximal vertretbare Menge
an anthropogenen CO2-Emissionen
berechnet werden, um die globale
Erwärmung auf deutlich unter zwei
Im Amazonasregenwald klettert und die Kohlenstofffixierung erhöhen, Grad Celsius zu begrenzen – das Ziel
ein Wissenschaftler zwei Meter doch sie steigert auch die CO2-Abga- des Pariser Klimaschutzabkommens
hoch, um den Umfang eines be, da rascher wachsende Bäume von 2015 –, gehen davon aus, dass die
Baumstamms zu messen. Mit jünger absterben und damit langfristig Tropen weiterhin als bedeutende
solchen langfristig erhobenen wenig zur Kohlenstoffsenke beitragen. Kohlenstoffsenke fungieren. Auf Basis
Daten lässt sich die Menge des im Eine erhöhte Baumsterblichkeit in der Ergebnisse der Forscher um
Wald gespeicherten Kohlenstoffs Verbindung mit chronischen Hitze- Hubau, wonach sich die Tropen sehr
abschätzen. und Trockenperioden führt zu mehr bald von einer Senke zur Kohlenstoff-
Kohlenstoffverlusten, wobei dieser quelle verwandeln könnten, müssten
Effekt im Amazonasgebiet stärker neben dem Schutz intakter Regenwäl-
stoffverfügbarkeit mit zunehmender ausgeprägt ist als in den afrikanischen der die anthropogenen Treibhausgas­
Kohlendioxidkonzentration das Pflan- Wäldern. Messdaten von afrikanischen emissionen noch stärker als im Ab-
zenwachstum beeinträchtigen können, Flächen weisen darauf hin, dass sich kommen festgelegt gesenkt werden,
wissen wir aus Freilandexperimenten, hier solche Kohlenstoffverluste erst um katastrophale Klimaveränderungen
bei denen der CO2-Gehalt der Luft seit etwa 2010 andeuten. zu verhindern.
künstlich angereichert wurde. Aller- Die Wissenschaftler um Hubau Anja Rammig ist Biologin und Assis-
dings fehlen bislang solche Daten aus wagen mit ihren statistischen Model- tenzprofessorin für »Land Surface-­
alten Tropenwäldern Afrikas und len auch einen Blick in die Zukunft bis Atmosphere Interactions« an der
Südamerikas. zum Jahr 2040. Demnach werden in Technischen Universität München.
Während in Amazonien die Netto- beiden Erdteilen die tropischen Regen-
kohlenstoffaufnahme bereits in den wälder ihre Rolle als Kohlenstoffsenke QUELLE
1990er Jahren einbrach, blieb die immer mehr einbüßen. Den Prognosen Hubau, W. et al.: Asynchronous carbon
Bilanz in Afrika noch bis vor einem zufolge wird in Afrika die Kohlenstoff- sink saturation in African and Amazoni-
Jahrzehnt ausgeglichen. Dieser Unter- bilanz 2030 um 14 Prozent niedriger an tropical forests. Nature 579, 2020
schied beruht nach Ansicht der For- liegen als im Zeitraum zwischen 2010
scher auf dem schnelleren Pflanzen- und 2015. Im Amazonasgebiet könnte
wachstum und der damit kürzeren sie um das Jahr 2035 sogar auf null
Verweildauer des Kohlenstoffs in zurückgehen – es wird dann also keine © Springer Nature Limited
Südamerika. Die Düngung durch Nettokohlenstoffaufnahme aus der www.nature.com
Kohlendioxid sollte die Wachstumsrate Atmosphäre mehr stattfinden. Nature 579, S. 38–39, 2020

Spektrum der Wissenschaft  6.20 21


FORSCHUNG AKTUELL
COVID-19

KOTO_FEJA / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG:


Covid-19-PANDEMIE

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


SIMULATIONEN FÜR DIE POLITIK
Covid-19-
PANDEMIE

Ganze Staaten richten ihre Entscheidungen nach Computermodellen,


die den Verlauf der Covid-19-Pandemie simulieren. Die Verlässlichkeit der
Vorhersagen ist aber noch unklar.


Als der mathematische Epidemio- Pandemie tatsächlich abbilden, wird Mit Hilfe detaillierter Informationen
loge Neil Ferguson vom Imperial sich wahrscheinlich erst in einigen über die Bevölkerungsgröße und -dich-
College London Mitte März die Monaten oder Jahren zeigen. te, Altersstruktur, die Verkehrsverbin-
britische Regierung in der Downing Die Modelle verschiedener For- dungen, den Umfang der sozialen
Street besuchte, war er der Covid-19- schungsgruppen unterscheiden sich Netzwerke und die Gesundheitsversor-
Pandemie näher, als ihm bewusst war. teilweise stark, doch die zu Grunde gung erstellen Modellierer die virtuelle
Er informierte die Beamten über die liegenden mathematischen Prinzipien Kopie einer Stadt, einer Region oder
neuesten Ergebnisse seiner Computer- sind ähnlich. Man geht davon aus, eines ganzen Lands und simulieren die
modelle, mit denen er die Verbreitung dass Menschen zwischen drei Haupt- Interaktionen der Personengruppen
des Coronavirus Sars-CoV-2 simuliert. zuständen wechseln: Sie sind entwe- durch Differenzialgleichungen. Dann
Weniger als 36 Stunden später wurde der anfällig (englisch: susceptible, S) setzen sie eine Infektion in diese Welt –
Ferguson positiv auf das Virus getes- für das Virus, haben sich damit infiziert und beobachten, wie sich die Dinge
tet – und wurde damit zu einem Daten- (I) oder sind es wieder los (removed, entwickeln.
punkt in seinem eigenen Projekt. R), das heißt, sie erholen sich oder Man kann die dafür benötigten Kenn-
Covid-19 verursachte bei ihm relativ sterben. Es wird angenommen, dass größen am Anfang einer Epidemie
milde Symptome, er arbeitete weiter. die R-Gruppe gegen das Virus immun jedoch nur grob abschätzen, etwa wie
Die Computersimulationen berech- ist und es nicht mehr weitergeben viele der Infizierten sterben und an wie
nen, welche Maßnahmen den Verlauf kann. Auch Personen mit natürlicher viele Menschen eine infizierte Person
der Pandemie verändern. Nie war Immunität gehören zu dieser Gruppe. das Virus durchschnittlich weitergibt
Forschung für die Politik wichtiger als Die simpelsten SIR-Modelle enthal- (R0). In ihrem Bericht vom 16. März
jetzt. Die Ergebnisse des Teams um ten darüber hinaus einige Vereinfa- schätzten die Modellierer vom Imperial
Ferguson wiesen darauf hin, dass die chungen: Jede Person hat die gleiche College beispielsweise, dass 0,9 Pro-
schweren Fälle von Covid-19 das Chance, sich bei einem Infizierten zent der an Covid-19 erkrankten Men-
britische Gesundheitswesen bald anzustecken, zudem sind alle Erkrank- schen in Großbritannien sterben, R0
überfordern würden. Demnach könnte ten bis zu ihrem Tod oder ihrer Gene- zwischen 2 und 2,6 liegt und dass es
es mehr als 500 000 Todesfälle geben, sung gleichermaßen infektiös. Fort- 5,1 Tage dauert, bis sich die Infektion
sofern die Regierung nicht handele. schrittlichere Modelle unterteilen bei einer Person manifestiert. Diese
Premierminister Boris Johnson ver- Menschen dagegen in kleinere Grup- Zahlen basieren auf Angaben von
hängte daraufhin fast augenblicklich SCHOCKIERENDE
pen: Sie unterscheiden unter anderem Epidemiologen, die im Frühstadium der
strenge Einschränkungen für die nach Alter, Geschlecht, Gesundheits- Pandemie versucht haben, die grund­
Bevölkerung. Das gleiche Modell SIMULATION
zustand und Beschäftigung (siehe legenden Eigenschaften des Virus zu
Ein Modell, das das Imperial College London Mitte März
besagt, dass in den Vereinigten Staa- Grafik rechts oben). bestimmen.
angefertigt hat, sagt für Großbritannien mehr als 500 000
ten ohne Gegenmaßnahmen bis zu Tote voraus. Wenn keine Maßnahmen durchgeführt
2,2 Millionen Menschen am Corona­
NATURE, NACH FERGUSON, N. ET AL.: REPORT 9: IMPACT OF NON-PHARMACEUTICAL INTERVENTIONS (NPIS)
TO REDUCE COVID19 MORTALITY AND HEALTHCARE DEMAND. IMPERIAL COLLEGE LONDON, 16. MÄRZ 2020,
FIG. 1A (HDL.HANDLE.NET/10044/1/77482); ADAM, D.: MODELLING THE PANDEMIC. NATURE 580, 2020

virus sterben könnten. Als diese Nach- Ein Modell, das das Großbritannien USA
richt das Weiße Haus erreichte, folg- Imperial College in 25
ten rasch neue Leitlinien zur sozialen London Mitte März
Distanzierung (siehe Grafik rechts). veröffentlicht hat, sagt
20
Todesfälle pro Tag pro
100 000 Einwohner

Auf der ganzen Welt verlassen sich für Großbritannien


Regierungen momentan auf mathe­ mehr als 500 000 Tote
15

matische Berechnungen. Computer­ voraus, wenn keine


simulationen machen dabei nur einen Gegenmaßnahmen
10
Bruchteil der Analysen aus, doch sie getroffen werden, um
werden immer wichtiger. Viele Eigen- das Virus zu stoppen. In
5
schaften von Sars-CoV-2 sind aller- den USA sollen dann
dings noch unbekannt, was die Genau- sogar mehr als 2,2 Milli-
0
igkeit der Prognosen einschränkt. Wie onen Menschen an Mrz Apr Mai Jun Jul Aug Sep
gut die Simulationen den Verlauf der Covid-19 sterben. 2020

22 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Sozialkontakte pro Tag in China dar. Es geht davon aus,
dass keine Gegenmaßnahmen unternommen werden,
um das Virus zu kontrollieren. Die Kontakte werden nach 40
Orten und Altersgruppen eingeteilt. Dies liefert Daten,
durchschnittliche Anzahl der Kontakte pro Tag 20

0
0 1 2 3 ≥4
0 10 20 30 40 50 60 70 80
alle Kontakte Arbeit
80
Alter der Kontakte (Jahre)
80

Alter der Kontakte (Jahre)


60 60

40 40
NATURE; ADAM, D.: THE SIMULATIONS DRIVING THE WORLD’S RESPONSE TO COVID-19. NATURE 580, 2020

20 20

0 0
0 10 20 30 40 50 60 70 80 0 10 20 30 40 50 60 70 80
Alter einer Person (Jahre) Alter einer Person (Jahre)
zu Hause Schule
80 80

60 60

UNTERSUCHUNG
40 DER 40
SOZIALEN
20
DURCHMISCHUNG
Ein Modell der London School of Hygiene and Tropical 20
Medicine stellt die durchschnittliche Anzahl der
Sozialkontakte pro0 Tag in China dar. Es geht davon aus,
dass keine Gegenmaßnahmen 0
0 10 unternommen
20 30 werden,
40 50 60 70 80 0 10 20 30 40 50 60 70 80
um das Virus zu kontrollieren. Die Kontakte werden nach
Orten und Altersgruppen
Arbeit eingeteilt. Dies liefert Daten,
andere Orte
80
durchschnittliche Anzahl der Kontakte pro Tag
Alter der Kontakte (Jahre)

80
Alter der Kontakte (Jahre)

0 160 2 3 ≥4 60
alle Kontakte
80 40 40
Alter der Kontakte (Jahre)

Ein Modell der London School of Hygiene and Tropical


Medicine stellt die durchschnittliche Anzahl der Sozialkon-
60 20
takte pro Tag in China dar. Es geht davon aus, dass keine 20
Gegenmaßnahmen
40 getroffen werden, um das Virus zu
0 0
kontrollieren. Die
0 Kontakte
10 20werden
30 nach
40 Orten
50 und60 Alters-
70 80 0 10 20 30 40 50 60 70 80
20
gruppen eingeteilt. Das liefert
AlterDaten, um die
einer Person Ausbreitungs-
(Jahre) Alter einer Person (Jahre)
geschwindigkeit des Virus zu simulieren.
0 Schule
0 10 80 20 30 40 50 60 70 80
Alter einer Person (Jahre)
Eine gewöhnliche SIR-Simulation wie die Charaktere im Videospiel Rahmen eines Citizen-Science-Projekts
Hause60die gleiche Prognose. So
liefertzuimmer »Die Sims«. Agentenbasierte Model- der BBC sammelten Forscher der
80
genannte stochastische Modelle le bauen die gleiche Art virtuelle LSHTM, des University College London
40
enthalten
60 hingegen ein Zufalls­element. Welt auf wie gleichungsbasierte, und der University of Cambridge Sozial-
Es ist, als ob ein virtueller Würfel wobei sich jede Person in einer kontaktdaten von mehr als 36 000 Frei-
20
entscheidet,
40 ob jemand aus der bestimmten Situation anders verhal- willigen – und konnten dadurch ihre
I-Gruppe eine0 S-Person infiziert, wenn ten kann. Modelle verbessern.
sie20sich treffen.0 Führt
10 man 20ein derarti-
30 40 50 Die 60verschiedenen
70 80 Ansätze haben Das Team vom Imperial College hat
ges Modell mehrfach aus, ergeben jeweils ihre Stärken und Schwächen. sowohl agenten- als auch gleichungs-
0 andere Orte
sich 0daraus unterschiedliche
10 80 20 30 40 mögliche
50 60 70 Menschengruppen
80 innerhalb eines basierte Ansätze genutzt. Bei den
Alter der Kontakte (Jahre)

Szenarien. gleichungsbasierten Modells zu Simulationen vom 16. März, die das


Arbeit
Auch menschliche Interaktionen
80 bündeln, macht die Dinge einfacher Team durchführte, um die britische
60
Alter der Kontakte (Jahre)

bilden Mathematiker auf verschiedene und schneller. »Die hochspezifischen Regierung zu einer Reaktion zu bewe-
Weise
60 nach.40In gleichungsbasierten Modelle sind dagegen extrem daten- gen, setzte es ein agentenbasiertes
Modellen teilen sie Personen in viele hungrig«, sagt Kathleen O’Reilly, Modell ein. Dieses wurde im Jahr 2005
40 soziale Untergruppen ein.
kleine Epidemiologin an der London School entwickelt, um vorherzusagen, was
20
Alternativ kann man einen agenten­ of Hygiene and Tropical Medicine passieren würde, falls das Vogelgrippe-
20
basierten Ansatz 0 verfolgen, bei dem (LSHTM). »Man muss wissen, wie virus H5N1 zu einer Version mutiert, die
jedes
0 Individuum 0 sich
10 nach20 eigenen
30 40 Personen
50 60 zur70 Arbeit
80 kommen oder sich leicht von Mensch zu Mensch
Regeln0 bewegt
10 20und30
handelt, ähnlich
40Alter
50einer 70 was
60Person 80 sie am Wochenende tun.« Im
(Jahre) verbreitet.
Alter einer Person (Jahre)

Schule Spektrum der Wissenschaft  6.20 23


80

60
geschätzte Zahl an Krankenhaus-Intensivbetten
Fallisolierung, Haushaltsquarantäne und
generelle soziale Distanzierung

FORSCHUNG AKTUELL keine Maßnahmen


Schul- und Universitätsschließungen,
Fallisolierung und generelle soziale Distanzierung

Am 26. März 2020 veröffentlich- Eine konsequente Um- 250

belegte Intensivbetten pro


Beibehaltung der
ten Ferguson und sein Team dann setzung der Maßnah- Interventionen

NATURE, NACH FERGUSON, N. ET AL.: REPORT 9: IMPACT OF NON-PHARMACEUTICAL INTERVENTIONS (NPIS)


200

100 000 Einwohner

TO REDUCE COVID19 MORTALITY AND HEALTHCARE DEMAND. IMPERIAL COLLEGE LONDON, 16. MÄRZ 2020,
FIG. 3A (HDL.HANDLE.NET/10044/1/77482); ADAM, D.: MODELLING THE PANDEMIC. NATURE 580, 2020
globale Vorhersagen über die Auswir- men, um das Virus
150
kungen von Covid-19. Dabei nutzten einzudämmen, könnte
sie einen einfacheren, gleichungs­ verhindern, dass 100
basierten Ansatz, der Menschen in ­Covid-19-Patienten das 50
vier Gruppen einteilt: S, E, I und R. knappe Kontingent an
0
»E« (für exposed) enthält Personen, die Krankenhaus-Intensiv- Mrz Mai Jul Sep Nov Jan
Kontakt zu Infizierten hatten, aber betten in den USA über- 2020 2021
noch nicht ansteckend sind. Die lasten, so eine Simulati-
Hochrechnungen ergaben für die on des Imperial College geschätzte Zahl an Krankenhaus-Intensivbetten
Vereinigten Staaten 2,18 Millionen in London. Aus den
Fallisolierung, Haushaltsquarantäne und
Tote, sofern die Regierung nichts Ergebnissen folgt aber generelle soziale Distanzierung
gegen das Virus unternehmen würde. auch, dass im späteren keine Maßnahmen
Zum Vergleich: Die frühere agenten­ Verlauf des Jahres eine
Schul- und Universitätsschließungen,
basierte Simulation schätzte die Zahl zweite Pandemiewelle Fallisolierung und generelle soziale Distanzierung
der Toten auf 2,2 Millionen. ausbricht.
Auch wenn sich die Vorhersagen 250

belegte Intensivbetten pro


Beibehaltung der
beider Ansätze kaum unterscheiden, Interventionen
200

100 000 Einwohner


sagt das nichts darüber aus, wie Um die unvollständigen Daten Doch dann erhöhten sie ihre Schät-
zuverlässig sie sind. Das lässt sich zumindest teilweise auszugleichen, 150 zung auf 30 Prozent – was das briti-
während einer laufenden Pandemie lassen Modellierer ihre Simulationen100 sche Gesundheitssystem mit nicht viel
generell nur schwer beurteilen. »Na­ meist hunderte Male laufen. Dabei mehr als 4000 Intensivbetten gänzlich
50
türlich kann man die Zahlen hoch­ passen sie die Eingaben immer wieder überfordern würde.
rechnen und dem gegenüberstellen, ein wenig an. Das soll verhindern, dass0 Bis dahin hatten Regierungsbeamte
Mrz Mai Jul Sep Nov
was man sieht«, sagt der Modellierer die Ergebnisse zu stark schwanken, die Strategie verfolgt, man solle die Jan
2020 2021
John Edmunds von der LSHTM. wenn man einen einzelnen Parameter Krankheit ausbrechen lassen und
»Aber ist die Zahl der gemeldeten Fälle verändert. Zudem holte die britische lediglich die Ältesten der Gesellschaft
korrekt? Nein. Sind die Angaben Regierung den Rat unterschiedlicher schützen. Die meisten Infizierten
genau? Nein.« Forschungsgruppen ein, um sich nicht würden sich erholen und anschließend
Erst vor Kurzem haben Forscher bloß auf ein Modell zu verlassen. »Wir immun sein. Aber als die Politiker die
begonnen, ihre Modelle für retrospek- kamen alle zu ähnlichen Ergebnissen«, neuen Zahlen sahen, änderten sie
tive Analysen bereitzustellen. 2019 sagt Ferguson. ihren Kurs und schwenkten daraufhin
untersuchte das Team um Edmunds Als die Wissenschaftler vom Impe- rasch auf Social-Distancing-Maßnah-
die während des Ebola-Ausbruchs in rial College ihr Modell Anfang März men um (siehe Grafik unten).
Sierra Leone 2014/15 getroffenen Prog- auf den neuesten Stand brachten, Während Epidemiologen mehr über
nosen. Die Wissenschaftler stellten veranlasste das die britische Regie- das Virus herausfinden, aktualisieren
fest, dass sich der Verlauf der Epide- rung, ihre Politik bezüglich der Pande- die Modellierer fortlaufend ihre Simu-
mie für ein oder zwei Wochen zuver- mie zu ändern. Experten hatten zuvor lationen. Zum Beispiel korrigierte das
EIN LOCKDOWN HÄLT DIE
lässig vorhersagen ließ – doch mehr damit gerechnet, dass 15 Prozent der Imperial-Team in einem Bericht vom
NEUINFEKTIONEN
war wegen der großen Unsicherheiten
IN SCHACH 26. März die bisherigen Schätzungen
Laut einem Modell Krankenhausfälle auf einer
des Imperial College London Intensiv­
haben die
nicht möglich. station behandelt
Maßnahmen Großbritanniens werden müssten.
die Reproduktionszahl des Virus des R0-Werts auf eine Zahl zwischen
von fast vier auf etwa eins abgesenkt. Dabei handelt es sich um 2,4 und 3,3. Als Wissenschaftler vier
die Anzahl der Menschen, die ein Infizierter im Durchschnitt
Tage später Daten aus elf europäi-
NATURE, NACH FLAXMAN, S. ET AL.: REPORT 13: ESTIMATING THE NUMBER OF INFECTIONS AND THE

IMPERIAL COLLEGE LONDON, 30. MÄRZ 2020, FIG. 2K (HDL.HANDLE.NET/10044/1/77731); ADAM, D.:
IMPACT OF NON-PHARMACEUTICAL INTERVENTIONS ON COVID-19 IN 11 EUROPEAN COUNTRIES.

A: Selbstisolierung B: soziale Distanzierung C: Schulschließungen


Laut einem Modell schen Ländern vorstellten, kamen sie
THE SIMULATIONS DRIVING THE WORLD’S RESPONSE TO COVID-19. NATURE 580, 2020

D: Verbot öffentlicher Veranstaltungen und kompletter Lockdown


des Imperial College dagegen auf einen Wert zwischen 3
6
of London haben die
glaubwürdige Intervalle*: A B C D
und 4,7.
Maßnahmen Groß­ Außerdem könnte ein zuverlässiger
Reproduktionszahl (Rt)†

50 % 95 %
britanniens die Repro- 5 Test, der bestimmt, wer infiziert war,
zeitabhängige

duktionszahl des 4 ohne Symptome zu zeigen, und inzwi-


Virus von fast vier auf schen genesen ist, die Vorhersagen
etwa eins abgesenkt. 3 erheblich verändern. Denn die regist-
Dabei handelt es sich 2 rierten Todesfälle im Vereinigten
um die Anzahl der Königreich passen zu verschiedenen
Personen, die ein 1 SIR-Modellen, wie ein Team der Uni-
Infizierter im Durch- 0 versity of Oxford um die theoretische
schnitt ansteckt. Februar 2020 März Epidemiologin Sunetra Gupta anmerk-
* Baysianische Statistik: Zeitabschnitt, in dem ein nicht beobachteter
24 Parameter mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit abfällt.
†Rt: Durchschnittliche Anzahl von Infektionen (zum Zeitpunkt t), die ein
Infizierter während seiner Krankheit verursacht hat. Wenn Rt < 1 gehalten
wird, nehmen die Neuinfektionen ab, was zur Kontrolle der Epidemie führt.
te – auch zu einem, das davon aus- Übertragung von Sars-CoV-2 zu verrin- Fall ist. Nur solche Daten liefern Mo-
geht, dass Millionen von Menschen gern. Wie lange man die Maßnahmen dellierern die nötigen Informationen,
bereits infiziert sind, aber keine Symp- aufrechterhalten muss, ist eine wichti- die sie für langfristige Prognosen der
tome zeigen. ge Frage für die Länder, die sich um Pandemie benötigen.
Eine offene Frage ist weiterhin, wie ihre Wirtschaft und die geistige und David Adam ist Wissenschaftsjournalist in
gut die Social-Distancing-Maßnahmen körperliche Gesundheit ihrer Bürger London.
wirken. Laut Umfragen aus China sorgen. Die soziale Distanzierung
hatten die Bürger von Wuhan und dämmt die Ausbreitung des Virus zwar QUELLEN
Schanghai während der Ausgangs- vorerst ein, Lockerungen könnte
Ferguson, N. et al.: Report 9: Impact of
sperre sieben- bis neunmal weniger jedoch eine zweite Welle der Pande- non-pharmaceutical interventions (NPIs)
tägliche Kontakte zu anderen Men- mie einläuten, wie ein Modell des to reduce COVID-19 mortality and
schen. Von dieser Größenordnung Imperial College prognostiziert (siehe healthcare demand. doi 10.25561/
gehen die britischen Modellierer in Grafik links oben). 77482, 2020
ihren Simulationen ebenfalls aus. Ferguson empfiehlt, man solle dem Flexman, S. et al.: Report 13: Estimating
Die Ergebnisse des Imperial-Teams praktischen Beispiel Südkoreas folgen. the number of infections and the impact
legen nahe, dass die weltweiten Das Land hat es geschafft, eine weni- of non-pharmaceutical interventions on
COVID-19 in 11 European countries. PDF
Todesfälle durch Covid-19 bis zum ger strenge Version der sozialen
unter: http://hdl.handle.net/10044/
Jahresende weniger als 1,9 Millionen Distanzierung durchzusetzen, indem 1/77731, 2020
betragen könnten, wenn die Länder es extrem viel testete und die Kontakte
Strategien zur sozialen Distanzierung, von Infizierten zurückverfolgte. Wer-
Testung und Isolierung von Infizierten den die Sperrmaßnahmen gelockert,
anwenden. muss man die betroffenen Regionen © Springer Nature Limited
Durch landesweite Lockdowns genau überwachen, wie es momentan www.nature.com
arbeitet nun ganz Europa daran, die in der chinesischen Provinz Hubei der Nature 580, S. 316–318, 2020
KOTO_FEJA / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: ‚SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

MEDIZIN Covid-19-PANDEMIE

»AM ENDE WIRD ES MEHR


Covid-19-
PANDEMIE

ALS EINEN IMPFSTOFF GEBEN«


Die Coronakrise hält die Welt im Atem. Auch in Deutschland suchen Biochemiker nach Impf­
stoffen gegen Sars-CoV-2, den Erreger der Krankheit Covid-19. Stefan Müller, der die präklinische
Entwicklung an der biopharmazeutischen Firma »CureVac« leitet, ist einer davon.


Diverse Forschergruppen entwi- Wir testen unseren Impfstoffkandi­ verraten. Fest steht aber, dass sie in
ckeln Impfstoffe gegen das neue daten gegenwärtig in den vom Gesetz­ deutschen und belgischen Zentren
Coronavirus Sars-CoV-2. Auch die geber geforderten präklinischen stattfinden sollen. Dort testen wir
deutsche Firma CureVac ist dabei. Das Modellen – an Zellkulturen wie auch bereits einen Tollwutimpfstoff. Die
Unternehmen mit Sitz in Tübingen an Nagetieren. Kontakt mit den Zulas- Zusammenarbeit ist gut, die Abläufe
geriet zwischenzeitlich in die Schlag- sungsbehörden für erste Tests am sind erprobt.
zeilen, weil US-Präsident Donald Menschen haben wir aber schon
Trump laut Medienberichten versucht aufgenommen. Im Januar haben Sie mit der
haben soll, sich die Rechte am Impf- Forschung begonnen, im Juni
stoff zu sichern – was Firmenvertreter Wann sollen die ersten Tests am erste Tests – das ist schneller als
bestreiten. Finden erste Tests an Menschen starten? üblich. Ist es deshalb riskanter?
Menschen noch diesen Sommer statt? Wir sind in engem Austausch mit den Riskanter ist es nicht unbedingt, weil
Und was für ein Impfstoff ist das zuständigen Behörden und planen, im wir eine bekannte Technologie nutzen.
genau? Ein Gespräch mit Stefan Juni erstmals Probanden den Impfstoff Wir kennen grundlegende Daten zum
Müller, Vice President Preclinical bei zu spritzen. Die Behörden prüfen Beispiel von unserem Tollwutimpfstoff
CureVac. unsere bisherigen Daten, um sicherzu- und wissen, dass das System funktio-
stellen, dass die Substanz die erforder- niert. Die Entscheidung fällt letztlich
Sie arbeiten an einem Impfstoff lichen Qualitätskriterien erfüllt, also die Behörde, basierend auf unseren
gegen das neue Coronavirus. sicher und wirksam ist. Details zu den Ergebnissen, die wir seit Januar
Wie weit sind Sie? klinischen Studien kann ich nicht gesammelt haben. Wären die nicht

Spektrum der Wissenschaft  6.20 25


FORSCHUNG AKTUELL
gut, würden keine Tests am Men- kurz mRNA. Was bedeutet das tauscht gewissermaßen nur die Farbe
schen stattfinden. Das ist klar. genau? aus, je nach interessierendem Antigen.
mRNA oder Boten-RNA ist die Vor­ Die Farbe ist in diesem Fall eine von
Manche kritisieren die Eile. Ein lage, die der Zellapparat in Peptide uns gewählte Nukleotidsequenz des
Argument: Beschleunigte Test- oder Proteine übersetzt. Die DNA – Virus, die mRNA. Sie codiert das
verfahren könnten zu unsicheren ­unser Erbgut – enthält die Bauanlei­ jeweilige Protein, das als Antigen wirkt,
Mitteln führen, das wiederum tungen für die mRNAs der diversen und sorgt somit dafür, dass unser
würde die Gesundheit vieler Proteine und Peptide, die am Funktio- Organismus dieses Protein selbst
gefährden und die Forschung nieren unseres Organismus betei- herstellt. Unser Immunsystem produ-
komplett zurückwerfen. Schritt ligt sind. ziert dann die passenden Antikörper
für Schritt sei der bessere Weg. dagegen und ist anschließend in der
Was sagen Sie dazu? Wenn Viren uns infizieren, Lage, die echten Viren zu attackieren,
Das ist prinzipiell ein valider Punkt. reagiert unser Immunsystem auf sobald sie den Körper angreifen.
Schließlich bekommen Gesunde das körperfremde Bestandteile des
Mittel, und es soll sie schützen, nicht Virus, auf dessen so genannte Für Ihre Arbeit war also entschei-
krank machen. Doch wir machen ja Antigene. Genau diese enthält dend, dass Forscher im Januar
dieselben Tests wie bei einer normalen Ihr Impfstoffkandidat aber nicht, das Erbgut von Sars-CoV-2 ent-
Entwicklung auch – bloß in kürzerer sondern die Bauanleitung dafür schlüsselt und veröffentlicht
Zeit. Das macht die Versuche selbst in Form von mRNAs. Was ist der haben?
nicht schlechter oder weniger aussa- Vorteil davon? Genau. Sobald wir wussten, wie das
gekräftig. Sie können sich RNA-Vakzine wie eine Virus aussieht, das heißt seine Nukleo-
Druckerpatrone vorstellen. Das Außen- tidsequenz kannten, konnten wir unser
Sie arbeiten mit so genannten gehäuse ist stets ähnlich – es handelt Vakzin entsprechend zielgerichtet
messenger-RNA-Molekülen, sich um Lipid-Nanopartikel –, und man designen.

Ähnliche Feinde, ähnliche Abwehrwaffen


Mehrere Forschergruppen, die ren die Tiere binnen zweier Wochen len, die zum Immunsystem gehö-
schon seit Jahren an Impfstoffen zahlreiche Antikörper dagegen. Auf ren. Dies half den Tieren anschlie-
gegen Coronaviren arbeiten, haben Grund ihrer Erfahrungen mit dem ßend, eine Infektion mit Mers-Viren
ihre dabei gewonnenen Erkenntnis- Mers-Erreger vermuten die For- zu überstehen, welche bei unbe-
se genutzt, um innerhalb weniger scher, dass dies den Tieren eine handelten Mäusen tödlich wirkt.
Wochen einen Ansatz gegen das anhaltende Immunität gegen Sars- Basierend auf diesen Arbeiten
neue Virus Sars-CoV-2 zu entwi- CoV-2 vermittelt. Als Nächstes haben die Forscher auch Impfstoff-
ckeln. Ein Team um Andrea planen sie klinische Studien mit kandidaten gegen Sars-CoV-2
Gambot­to von der University of Menschen und haben hierfür eine entwickelt, die sie nun an Versuchs­
Pittsburgh nutzte hierfür Erfahrun- Zulassung bei der Arzneimittel­ tieren testen wollen.
gen mit einem Impfstoff gegen behörde FDA beantragt. Frank Schubert ist Redakteur
Mers-CoV, den Erreger der Mers-­ Ein weiteres Team um Paul bei »Spektrum der Wissenschaft«.
Erkrankung, der ebenfalls zu den McCray von der University of Iowa
Coronaviren gehört. Die Forscher hat einen Impfstoff gegen den QUELLEN
wandelten ein selbst entwickeltes Mers-Erreger vorgestellt, der sich
Kim, E. et al.: Microneedle array
und erprobtes Verfahren gegen das wohl ebenfalls so modifizieren lässt, delivered recombinant coronavirus
Mers-Virus ab und wendeten es dass er gegen Sars-CoV-2 wirkt. vaccines: Immunogenicity and
gegen den verwandten Erreger Das Vakzin basiert auf dem relativ rapid translational development.
Sars-CoV-2 an. In Zellkulturen harmlosen Parainfluenza-Virus EBioMedicine, 102743, 2020
stellten sie einen Bestandteil des PIV5, welches so verändert wurde, Li, K. et al.: Single-dose, intranasal
Virus, ein so genanntes Spike-Pro- dass es das Spike-Protein des immunization with recombinant
tein, massenhaft her. Mit dessen Mers-Virus trägt. Bekamen Labor- Parainfluenza Virus 5 expressing
Middle East Respiratory Syndrome
Hilfe koppelt der Erreger an seine mäuse diesen Impfstoff verabreicht,
Coronavirus (MERS-CoV) spike
Zielzellen. Wenn die Wissenschaft- entwickelten sie sowohl Antikörper protein protects mice from fatal
ler dieses Protein in die Haut von gegen den Mers-Erreger als auch MERS-CoV infection. mBio 11,
Labormäusen einbringen, produzie- eine verstärkte Aktivität von T-Zel- e00554-20, 2020

26 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Mit wie vielen verschiedenen Erwarten Sie, dass die Infektio-
mRNA-Molekülen testen Sie? nen im Herbst wieder zunehmen,
Am Menschen dann nur noch mit ähnlich wie bei der Grippe?
einem. In unseren präklinischen Mo- Das weiß ich nicht. Viele gehen davon
dellen haben wir uns verschiedene aus, dass das Virus saisonal auftreten
mRNA-Konstrukte angeschaut, die wird und im Herbst eine neue Welle
unterschiedliche Virus-Sequenzen anrollt. Wir treiben den Prozess aber
enthalten. Genommen haben wir das schon jetzt so schnell voran wie mög-
Konstrukt, das die stärkste Immunant- lich, weil täglich Menschen an den
wort auslöste und die beste Qualität Folgen sterben. Jede Woche, die wir
aufweist. Das sorgt bestenfalls für aus- früher impfen, kann Menschen vor

MIT FRDL. GEN. VON STEFAN MÜLLER


reichend viele Antikörper, die das Virus Covid-19 bewahren und damit Leben
unschädlich machen können. retten.

80 Impfstoffe sollen derzeit RKI-Chef Lothar Wieler sagte


schon weltweit in diversen jüngst erneut, er rechne nicht
Testphasen sein. In Seattle vor Frühjahr 2021 mit dem Impf-
beispielsweise testen Forscher Der Biochemiker und Fachtoxikologe stoff wegen der Zulassung.
bereits einen Impfstoff in einer Stefan Müller leitet die präklinische Teilen Sie die Auffassung?
von der US-Regierung geförder- Entwicklung des Impfstoffherstel- Die präklinische Entwicklung dauert,
ten Phase-1-Sicherheitsstudie. lers CureVac und CureVacs Corona- da man Menschen nur mit einem
Wie beurteilen Sie das? virus-Projekt. sicheren Vakzin impfen darf, auch
Auch das ist ein mRNA-Impfstoff, und wenn wir hier wirklich Gas geben.
es ist gut, dass es verschiedene Ansät- Versuche am Menschen brauchen
ze gibt. Die ersten Daten gilt es nun Hat die mediale Aufregung ebenfalls ihre Zeit. Und Zulassungen
auszuwerten. Fest steht aber schon darum Ihre Arbeit beeinflusst? ebenso. Sollte nächstes Jahr ein Impf-
jetzt: Es wird am Ende nicht nur einen Nur indirekt. Wir hatten deshalb weder stoff zugelassen sein, wäre das noch
Impfstoff geben. Probleme mit Behörden in Europa oder immer schnell. Zusätzlich beschleuni-
den USA noch hat sich an der Förde- gen ließe es sich mit einer Notzulas-
Wieso? Letztlich benötigen rung etwas geändert. Es gab aller- sung. Aber auch ich gehe vom Frühjahr
wir doch nur ein wirksames dings deutlich mehr Presseanfragen 2021 aus.
Vakzin? als üblich. Die Fragen stellte Alina Schadwinkel,
Es braucht mehrere Lösungsansätze. ­Redaktionsleiterin von »Spektrum.de«.
Schon allein, weil es unterschiedliche
Bevölkerungsgruppen gibt. Je nach-

ABELPREIS 2020
dem, wer den Impfstoff wofür nutzt,
kann es von Vorteil sein, ein ganzes

ORDNUNG IM CHAOS
Arsenal von Vakzinen zu haben. Und
auch die Dosis wird unterschiedlich
ausfallen, abhängig davon, ob es sich
um einen DNA-, RNA- oder peptid­ Durch einen statistischen Ansatz gelang es
basierten Wirkstoff handelt. Und wie Hillel ­Fürstenberg und Grigori Margulis, in
könnten Sie bei nur einem Impfstoff unerwartete Bereiche der Mathematik vorzudringen.
sicherstellen, dass sich genug davon


für alle Menschen weltweit produzie- Den diesjährigen Abelpreis, der gearbeitet haben. Das hat verschiede-
ren lässt? Es geht letztlich auch dar- das Lebenswerk von Mathemati- ne Gründe: So ist der 1935 in Berlin
um, die zuverlässige Herstellung zu ge- kern ehrt, teilen sich Hillel Fürs- geborene Fürstenberg mehr als zehn
währleisten. tenberg und Grigori Margulis. Sie Jahre älter als Margulis, der 1946 in
erhalten ihn für die Entwicklung statis- Moskau zur Welt kam. Zudem verhin-
US-Präsident Donald Trump soll tischer Methoden, die zu zahlreichen derten der Kalte Krieg und systemati-
laut Medienberichten versucht Durchbrüchen in verschiedensten sche Diskriminierung jahrelang, dass
haben, exklusiv die Rechte an mathematischen Bereichen geführt Margulis die Sowjetunion verlassen
Ihrem Impfstoff zu erwerben. haben. durfte.
Was haben Sie gedacht, als Sie Etwas überraschend mag dabei Der begabte Mathematiker fiel
das hörten? erscheinen, dass die beiden Forscher – schon früh auf: Mit nur 32 Jahren
Es hat solch ein Angebot nicht gege- obwohl sie sich ähnlichen Themen erhielt er für seine Beiträge zur Grup-
ben. Wir haben das klar dementiert. widmeten – niemals direkt zusammen- pentheorie die Fields-Medaille, eine

Spektrum der Wissenschaft  6.20 27


FORSCHUNG AKTUELL
der wichtigsten Auszeichnungen der keitstheorie als einen Zweig der ange- menhang die Null). Die ganzen Zahlen
Mathematik. Allerdings konnte er den wandten Mathematik. Kaum einer mit der Addition sind ein unproblemati-
angesehenen Preis nicht entgegenneh- hätte sich damals ausgemalt, dass sie sches Beispiel für eine Gruppe. Im
men, da die sowjetische Regierung zu Fortschritten in Bereichen der Prinzip können diese Strukturen aber
ihm die Ausreise nach Finnland zur reinen Mathematik wie der Zahlenthe- extrem kompliziert werden, wodurch
Verleihung verweigerte. orie oder Algebra führen würde, wie sich ihre Eigenschaften nur schwer
In den darauf folgenden Jahren der Mathematiker François Labourie untersuchen lassen. Wie Margulis
erlebte Margulis weitere Rückschläge. von der Université Côte d’Azur in Nizza herausfand, ermöglichen es statistische
Obwohl er zu den begabtesten Vertre- betont, der Teil des Abel-Komitees ist. Methoden wie der Random Walk, in
tern seines Fachs gehörte, erhielt er Unter anderem arbeiteten Fürsten- unerforschte Bereiche solcher Gruppen
keine Anstellung an der renommierten berg und Margulis mit einer weit vorzudringen (die ganzen Zahlen mit
Moskauer Universität, weil er jüdischer verbreiteten statistischen Methode, der Addition lassen sich bereits mit
Abstammung war. Daher arbeitete er dem so genannten »Random Walk«. dem zuvor erwähnten eindimensiona-
am Institut für Informationsübertra- Diesen verwenden unterschiedlichste len Random Walk studieren).
gung, dessen leitender Wissenschaft- Wissenschaftler schon lange, um Einen weiteren Fortschritt erzielte
ler er 1986 wurde. Als die UdSSR fünf dynamische Systeme wie Börsenkur- Margulis in der Graphentheorie. Gra-
Jahre später zusammenbrach, wan- se, das Jagdverhalten von Tieren oder phen bestehen aus einer Sammlung
derte er schließlich in die USA aus und die Bewegung von Molekülen zu von Knoten, die durch Verbindungen
nahm dort eine Stelle an der Yale beschreiben. zusammenhängen. Seine Arbeit beim
University in New Haven, Connecticut, In einer Dimension kann man sich Institut für Informationsübertragung
an. Diese hat er bis heute inne. einen Random Walk durch einen veranlasste Margulis, sich solchen
Auch das Leben von Fürstenberg ist Menschen vorstellen, der auf einem Gebieten zuzuwenden.
von Schicksalsschlägen geprägt. Als Zahlenstrahl auf der Null steht. Die Um zum Beispiel Informationen in
er vier Jahre alt war, floh seine Familie, Person kann mit einer gewissen Wahr- einem Netzwerk wie dem Internet
ebenfalls jüdischer Abstammung, in scheinlichkeit entweder einen Schritt effizient übertragen zu können, sollte
die Vereinigten Staaten. Auf der Reise vor auf die Eins oder einen zurück auf jeder Knoten schnell erreichbar sein.
verstarb sein Vater, so dass Fürsten- die minus Eins gehen. Indem man die Das lässt sich verwirklichen, indem
berg von seiner Schwester und Mutter jeweiligen Chancen für einen Sprung man möglichst viele Verbindungen
in New York aufgezogen wurde. nach vorn oder hinten verändert, zwischen ihnen aufbaut.
Als er seine ersten wissenschaftli- lassen sich verschiedene zufällige Andererseits möchte man aber
chen Arbeiten Mitte der 1950er Jahre Ereignisse modellieren. Kabel sparen. Daher versuchen Wis-
veröffentlichte, glaubten einige seiner Random Walks eignen sich dazu, senschaftler Netzwerke zu entwerfen,
Kollegen, der Name Fürstenberg sei große unübersichtliche Strukturen zu in denen man jeden Punkt schnell
ein Pseudonym, den sich eine Gruppe erforschen. In den 1960er und 70er anlaufen kann, die gleichzeitig aber
von Mathematikern zugelegt habe – so Jahren zeigte Fürstenberg mittels möglichst wenige Verbindungen auf-
vielseitig erschienen ihnen die darin solcher statistischer Methoden, dass weisen. In den 1980er Jahren kannte
entwickelten Ideen. 1965 wanderte unendlich große Mengen ganzer man Strukturen mit solchen Eigen-
Fürstenberg nach Israel aus, wo er die Zahlen eine gewisse Ordnung besit- schaften, so genannte Expander-­
Hebräische Universität Jerusalem zu zen – unabhängig davon, wie man die Graphen, wusste allerdings nicht, wie
einem der anerkanntesten Zentren der darin enthaltenen Elemente auswählt. man sie konstruiert. Durch statistische
mathematischen Forschung verwan- Diese Erkenntnis führte zu mehreren Methoden gelang es Margulis erstmals,
delte. Seit 2003 ist er im Ruhestand. Durchbrüchen in der Zahlentheorie, einen Bauplan für Expander-Graphen
Selbst wenn die zwei Wissenschaft- unter anderem im Bereich der Prim- zu entwerfen, was zu etlichen weiteren
ler nicht direkt zusammenarbeiteten, zahlen. Durchbrüchen in der Graphentheorie
beeinflussten sie sich aus der Ferne Margulis wandte sich in jungen führte.
durch ihre Arbeiten. Beide nutzten Jahren dagegen der Gruppentheorie Insgesamt haben die Arbeiten der
statistische Methoden, um Probleme zu, die zum Bereich der Algebra zählt. beiden Mathematiker statistische
anderer mathematischer Gebiete zu Eine Gruppe ist eine Sammlung von Ansätze in den Bereich der reinen
untersuchen (siehe »Spektrum« März Objekten (etwa ganze Zahlen), die man Mathematik katapultiert und damit zu
2003, S. 70). zu einem weiteren Element der Gruppe neuen Anwendungsgebieten geführt.
Unter anderem fragten sie sich, verknüpfen kann (beispielsweise durch Ihre Ergebnisse haben mehrere Kolle-
inwiefern zufällig gewählte Stichpro- Addition). Dabei besitzt jedes Objekt gen inspiriert, unter anderem den
ben etwas über ein gesamtes System ein Inverses (eine Zahl mit umgekehr- renommierten Fields-Medaillen-Gewin-
aussagen können. Ihre Ergebnisse ten Vorzeichen), und es muss ein ner Terence Tao sowie die Abel-
prägten das gesamte Fach nachhaltig, neutrales Element geben, das ein preis-Laureaten Yakov Sinai und Endre
denn Mitte des 20. Jahrhunderts Objekt nicht verändert, wenn man es Szemerédi (siehe »Spektrum« Mai 2012,
betrachtete man die Wahrscheinlich- damit verknüpft (in diesem Zusam- S. 22).

28 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Den Abelpreis, der mit einem Manon Bischoff ist theoretische Physikerin Chang, K.: Abel Prize in mathematics
Preisgeld von etwa 760 000 Euro und Redakteurin bei »Spektrum der Wissen- shared by 2 trailblazers of probability
schaft«. and dynamics. New York Times, 2020
dotiert ist, vergibt die Norwegische
https://www.nytimes.com/2020/03/18/
Akademie der Wissenschaften seit science/abel-prize-mathematics.html
2003. Eigentlich sollte die offizielle
Preisverleihung im Mai 2020 stattfin- WEBLINKS Castelvecchi, D.: Mathematics
pioneers who found order in chaos win
den, doch angesichts der Covid19-­ Norwegische Akademie der Wissen- Abel prize. Nature News, 2020
Pandemie wird das Ereignis auf nächs- schaften: Abelpreis, 2020 https://www.nature.com/articles/
tes Jahr verschoben. https://www.abelprize.no d41586-020-00799-7

TEILCHENPHYSIK
DAS NEUTRON BLEIBT SYMMETRISCH
Sind die Ladungen innerhalb der elektrisch neutralen Kernbausteine ungleichmäßig verteilt?
Die Entdeckung hätte tief greifende Folgen für das physikalische Weltbild. Jetzt bringen neue
Präzisionsmessungen bessere Daten – und vorläufige Ernüchterung.


Das Neutron – unverzichtbares grundlegende Fragen zu den Vorgän- noch einmal deutlich verbessert und
Bauteil aller Atomkerne mit mehr gen in den ersten Augenblicken nach festgestellt: Er ist höchstens halb so
als einem Proton – ist nach außen dem Urknall beantworten sollen. klein wie bisher bekannt.
hin zwar elektrisch neutral. Aber es Darum suchen Physiker schon seit Hätte das Neutron ein elektrisches
setzt sich aus geladenen Bestandteilen Jahrzehnten nach einem elektrischen Dipolmoment, würde das auf die Spur
zusammen. Diese wiederum könnten Dipolmoment des Neutrons. Das jener Vorgänge führen, die im frühen
in seinem Inneren unsymmetrisch Problem: Sofern es überhaupt eines Kosmos die Materie von der Antimaterie
angeordnet sein. Dann würden sie das gibt, müsste es winzig sein – und die getrennt haben. Denn dass es seit dem
ganze Teilchen in einem elektrischen Experimente entsprechend empfind- Urknall nicht bloß reine Energie, son-
Feld ausrichten wie eine Kompass­ lich. Die bisher genauesten Grenzen dern Galaxien und letztlich uns gibt,
nadel im Magnetfeld. Das Neutron hatten Wissenschaftler in einem verdanken wir einer fundamentalen
besäße ein so genanntes elektrisches Versuch von 2006 gezogen. Nun hat Asymmetrie.
Dipolmoment. ein internationales Team um Philipp Eigentlich sollten sich die Naturge-
Ein solches ist Bestandteil verschie- Schmidt-Wellenburg am Paul Scherrer setze nicht unterscheiden, wenn man
dener Theorien, die das Standardmo- Institut im schweizerischen Villingen alle Ladungen umkehrt, die Welt im
dell der Teilchenphysik erweitern und den Wert mit sorgfältigen Messungen Spiegel betrachtet oder die Zeit rück-
wärtslaufen lässt. Es ändert sich höchs-
tens ein Vorzeichen. Bei Vorgängen, an
Während der Messung befinden sich die Neutronen in einem etwa einen denen nur die Gravitation oder die
halben Meter breiten Bereich zwischen Metallelektroden, umgeben von einem elektromagnetische Kraft beteiligt sind,
Magnetfeld und durch eine Vakuumkammer von der Außenwelt getrennt. ist das auch so. Doch seit Jahrzehnten
enthüllen immer mehr Versuche kleine
PAUL SCHERRER INSTITUT (PSI), ZEMA CHOWDHURI

Unregelmäßigkeiten bei Wechselwir-


kungen in der subatomaren Welt.
Lediglich eine dreifach gespiegelte
Realität folgt wieder vollends den
bekannten Regeln. Dazu muss man alle
drei Operationen vereinen und sowohl
Teilchen gegen Antiteilchen (englisch:
charge, C) als auch die Raumkoordina-
ten (Parität, P) sowie die Zeitrichtung
(time, T) wechseln. Das wird als CPT-­
Invarianz der physikalischen Gesetze
bezeichnet. Bei weniger umfassenden
Kombinationen von C-, P- oder T-­
Vertauschungen können sich die Zu-
sammenhänge ändern. Besonders

Spektrum der Wissenschaft  6.20 29


FORSCHUNG AKTUELL
interessant sind für Theoretiker Die Experimente mit Neutronen insgesamt mehr als 54 000-mal wie­
CP-Verletzungen, also abweichende sind enorm aufwändig, weil ein etwai- derholt.
Gesetzmäßigkeiten nach einer kombi- ges elektrisches Dipolmoment extrem Auf dem Weg zu höchster Präzision
nierten Ladungs- und Raumspiege- klein wäre. Viele störende Einflüsse war das Magnetfeld der entscheidende
lung. Der sowjetische Physiker Andrei aus der Umgebung sind viel größer Faktor, denn von ihm hängt die Stärke
Sacharow zeigte in den 1960er Jahren: und müssen sehr genau bekannt sein, der Taumelbewegung ab. Die Forscher
Die CP-Verletzung hat dafür gesorgt, damit die Wissenschaftler sie heraus- mussten es in der gesamten Apparatur
dass nach dem Urknall mehr Materie rechnen können. Deswegen hat es exakt kontrollieren. Dabei half neben
als Antimaterie übrig geblieben ist. mehr als ein Jahrzehnt gedauert, um verbesserter Technik ein Trick: Gemein-
Heute suchen Teilchenphysiker mit im Labor vom bislang besten Wert (der sam mit den Neutronen befanden sich
diversen Experimenten Systeme, in auf einer 2015 vorgenommenen Neu- als Referenz Quecksilberatome in der
denen die CP-Symmetrie gebrochen auswertung des eingangs erwähnten Kammer. Auch sie richten sich magne-
ist. So haben sie bereits mehrere Experiments von 2006 beruht) zu dem tisch aus, doch ihre Elektronenhülle
entsprechende Prozesse entdeckt und zu kommen, den die Forscher nun in schirmt ein etwaiges elektrisches
ins Standardmodell eingebaut (siehe der Schweiz bestimmt haben. Dipolmoment des Kerns ab. Der Ver-
»Spektrum« März 2018, S. 12). Aber die Um das elektrische Dipolmoment gleich der Präzessionsfrequenzen von
bisher bekannten CP-Verletzungen des Neutrons zu vermessen, nutzten Neutronen und Quecksilberatomen
reichen zusammengenommen nicht sie dessen Spin aus. Dieser innere lieferte dann genaue Werte, um ver-
aus, um den Materieüberschuss im Drehsinn richtet sich nach einem bliebene Unregelmäßigkeiten im
Kosmos zu erklären. äußeren Magnetfeld aus, so ähnlich, Magnetfeld herauszurechnen.
Wissenschaftler hoffen, eine weite- wie sich ein rotierender Kreisel entlang Die Teams haben anschließend
re Asymmetrie auch beim Neutron zu der Schwerkraft aufstellt. Wenn man die Daten und alle möglichen Einfluss­
finden. Hätte es nämlich ein elektri- den Kreisel leicht anstößt, kippt er faktoren in zwei voneinander unab­
sches Dipolmoment, würde das die nicht um, sondern seine Drehachse hängigen Gruppen eingehend unter-
T-Symmetrie verletzen. Das liegt kommt ins Trudeln, was man Präzessi- sucht und verglichen. Daraus haben
daran, dass das Neutron einen quan- on nennt. Eine ähnliche Bewegung die Forscher ein Gesamtergebnis
tenmechanischen Drehsinn besitzt, führt der Spin des Neutrons im Mag- errechnet. Sie konnten kein elektri-
den Spin. Unter Zeitumkehr würde er netfeld aus, wenn man ihn etwas aus sches Dipolmoment feststellen. Statis-
sich ändern, wie beim Video eines seiner Vorzugsrichtung auslenkt. tische und systematische Effekte
Kreisels, das man rückwärtslaufen Würde das Neutron neben dem beschränken die Genauigkeit des
lässt. Ein etwaiges elektrisches Dipol- Spin zusätzlich ein elektrisches Dipol- Resultats auf eine neue Obergrenze
moment wäre aus quantenmechani- moment besitzen, sollte es ganz von 1,8 · 10 –26 Elektronenladungen mal
schen Gründen in gleicher Richtung analog an dem Teilchen zerren, sobald Zentimeter. Das bedeutet: Wäre ein
orientiert wie der Spin. Doch die dafür man ein elektrisches Feld anlegt. Neutron so groß wie die Erde, könnten
ursächliche innere Ladungsverteilung Schaltet man dieses zusätzlich zum die elementaren Ladungen darin
würde sich bei der Zeitumkehr nicht magnetischen Feld an, kommen also höchstens um einen Abstand vonein-
vertauschen, so wenig, wie sich ein beide Effekte zusammen. Das verän- ander getrennt sein, welcher etwa der
Kreisel in einem rückwärtslaufenden dert die Präzessionsfrequenz. Die Länge eines Bakteriums entspricht.
Film auf den Kopf stellt. Das verletzt wiederum lässt sich sehr genau be- Der Vergleich verdeutlicht die enorme
die T-Symmetrie. Um die unumstößli- stimmen – in der Medizin ist das zu Präzision der Messung, doch selbst der
che CPT-Invarianz insgesamt wieder Grunde liegende Prinzip für die Mag- neue Wert ist nur ein Zwischenstand
herzustellen, gäbe es gewissermaßen netresonanztomografie wichtig. auf dem Weg zu noch genaueren
zum Ausgleich außerdem eine CP-Ver- Dafür haben die Forscher in der Untersuchungen. Seit dem Ende der
letzung. Schweiz »kalte« Neutronen verwendet Experimente 2017 bauen die Physiker
Manche Theorien, die über das und die damit sehr langsamen Teil- bereits am n2EDM genannten Nach­
Standardmodell der Teilchenphysik chen über längere Zeit in einem Tank folger. Er soll noch einmal deutlich
hinausgehen, liefern vergleichsweise von der Größe einer Paellapfanne bessere Einblicke in das Neutron
große Werte für das elektrische Dipol- eingesperrt. Das ermöglicht präzise liefern – und damit in das grundlegen-
moment des Neutrons. Die bereits ins Messungen an ihnen. Die Wissen- de Ungleichgewicht des Kosmos.
Standardmodell integrierten, bekann- schaftler haben alle paar Minuten Mike Beckers ist Physiker und Redakteur bei
ten CP-Verletzungen ergeben jedoch Pakete mit über 11 000 Neutronen »Spektrum der Wissenschaft«.
höchstens ein sehr kleines. Je genauer eingeschleust, etwa eines pro Kubik-
Physiker den Betrag des elektrischen zentimeter. Bevor die Teilchen durch QUELLE
Dipolmoments eingrenzen, desto Kollisionen mit den Wänden der
Abel, C. et al.: Measurement of the
besser können sie exotische Einflüsse Kammer wieder verloren gingen, konn- permanent electric dipole moment of the
abschätzen und unpassende Ansätze ten die Forscher sie untersuchen. Das neutron. Physical Review Letters 124,
ausschließen. haben sie im Lauf von zwei Jahren 2020

30 Spektrum der Wissenschaft  6.20


SPRINGERS EINWÜRFE
EXPERIMENTELLES RISIKO
Mit den rapiden Fortschritten der synthetischen
Biologie wächst die Wahrscheinlichkeit riskanter
Nebenwirkungen. Freiheit und Sicherheit der
Forschung stehen neu in Frage.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1725082

J
eder technische Prozess soll sein Ergebnis Irak zugeschrieben; tatsächlich entstammten sie einem
­möglichst unfallfrei erreichen. Diesem Ziel der US-Militärlabor.
Betriebssicherheit (englisch: safety) dienen in Das alles mutet an wie aus einer anderen Zeit ange-
Biolabors gewisse Standards, die nicht nur die sichts einer Viruspandemie, deren Erreger irgendwann
Mitarbeiter schützen, sondern auch verhindern sollen, Ende 2019 vom Tier auf den Menschen übergesprun-
dass beispielsweise gentechnisch veränderte Organis- gen ist. Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach auf einem
men in die Umwelt gelangen. Markt geschehen, doch Spekulationen über einen
Es gibt aber noch einen zweiten Sicherheitsaspekt, Ursprung in einem Labor, das mit seiner Arbeit just
der im Englischen mit »security« bezeichnet wird. einer möglichen Pandemie vorzubeugen suchte, halten
Während die »safety« Vorkehrungen gegen technisches sich hartnäckig.
oder menschliches Versagen bezweckt, soll die Kurz davor, im Juli 2019, organisierte Sam Weiss
­»security« den jeweiligen Betriebsablauf vor gezielten Evans, ein Spezialist für Technikfolgenabschätzung von
Vergehen schützen, etwa vor dem Missbrauch von der Harvard University, einen Workshop an der Univer-
Daten, Patenten und Substanzen. sity of Cambridge zum Thema Biosicherheit. In einem
Ein Bruch der »security« vollzieht sich nur aus- daraus hervorgegangenen Artikel vertreten er und
nahmsweise als Raub sensibler Papiere aus einem seine Koautoren die These, das Feld der synthetischen
Laborsafe bei Nacht und Nebel. Zentrale Errungen- Biologie bewege sich so schnell vorwärts, dass noch
schaften biologischer Forschung sind über Veröffentli- so aktuelle Sicherheitsüberlegungen immer zu spät zu
chungen in Fachzeitschriften allgemein zugänglich. kommen drohen. Die einzige Chance sei ein experimen-
Immer öfter entzündet sich vielmehr eine Sicherheits- teller Ansatz, der alle möglichen Sicherheitsstrategien
debatte an dem Verdacht, bestimmte Versuche würden vergleicht und auf einer Metaebene diskutiert (Science
zum Missbrauch geradezu einladen. Das war beispiels- 368, S. 138–140, 2020).
weise der Fall, als Wissenschaftler 2011 mit dem Erre-

D
ger der Vogelgrippe experimentierten und es vorüber- er Ausgangspunkt solcher Überlegungen ist die
gehend so aussah, als könnte eine Laborvariante des Stiftung International Genetically Engineered
Virus H5N1 auch den Menschen befallen. Eine lebhafte Machine (iGEM), die jährlich einen weltweiten
Debatte entbrannte: Darf die Methode veröffentlicht Wettbewerb von Studenten und universitärem
werden? Was, wenn ein Bösewicht damit eine Biowaffe Mittelbau – auch aus mehreren deutschen Universitä-
entwickelt? ten – um besonders innovative Ideen zur synthetischen
Medizinethiker diskutieren das so genannte »Dual- Biologie auslobt. Zunehmend geht es iGEM auch um
use«-Problem in der Infektionsforschung: Lässt sich ein Methoden der einschlägigen »safety« und »security«.
Resultat sowohl zur Krankheitsbekämpfung nutzen als Die Veranstalter scheuen nicht einmal den Kontakt zur
auch zu terroristischen Zwecken missbrauchen? US-Bundespolizei FBI, die auf diese Weise das drin-
Ein älteres, heute schon fast vergessenes Beispiel gend nötige Knowhow für ihre »Biological Countermea-
liefern die 2001 quer durch die USA verschickten und sures Unit« auf den neuesten Stand bringen möchte.
teils tödlichen Briefe mit dem bakteriellen Milzbrand­ Unstrittig bleibt: Die besten Sicherheitskontrolleure der
erreger. Sie wurden zunächst fälschlicherweise dem Bioforschung sind die Forscher selbst.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 31


BIOLOGIE
DER LEBENDE TASER
Zitteraale jagen ihre Beute mit intensiven
elektrischen Impulsen. Diese setzen sie
­außerdem geschickt zur Verteidigung ein.
Ausgeklügelte Messungen und schmerz-
hafte Selbstversuche liefern erstaunliche
­Einsichten in das Verhalten der Tiere.

Kenneth C. Catania ist Professor für Biologie an der


Vanderbilt University in Tennessee. Er forscht auf dem
Gebiet der vergleichenden Neurobiologie und hat
sich auf die Sinnessysteme von Tieren spezialisiert.
STEVE GREEN

 spektrum.de/artikel/1725064

FOTO: DAVID LIITTSCHWAGER

32 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Als einer der mitgebrachten Zitteraale ein Beutetier mit
einer Hochspannungssalve angriff, wurden innerhalb von
drei Millisekunden alle in der Nähe befindlichen Fische im
Tank völlig unbeweglich. Sie trieben wie erstarrt im Wasser.
Zunächst dachte ich, sie seien tot. Aber sobald der Zitteraal
die Hochspannung wieder abstellte, wachten die Fische auf
und schwammen rasch von dannen. Die Auswirkungen des
Angriffs waren also nur vorübergehend. Das faszinierte
mich enorm, und nun wollte ich unbedingt mehr darüber
herausfinden.
Mir fielen als offensichtlichste Analogie sofort die als
Taser bekannten Elektroschockpistolen ein. Diese setzen
die Opfer mit Hochspannungsimpulsen außer Gefecht,
welche die Fähigkeit des Nervensystems beeinträchtigen,
willkürliche Muskelbewegungen auszulösen. Taser schie­
ßen Kabel ab, durch die sie 19 Stromimpulse pro Sekunde
schicken. Zitteraale brauchen dazu gar keine Drähte, denn
das Wasser leitet gut. Sie können während einer Angriffs­
salve mehr als 400 Impulse pro Sekunde mit einer jeweili­
gen Dauer von zwei Millisekunden abgeben. Sind die Tiere
quasi schwimmende Hochleistungs-Taser?
Mit dieser Frage im Hinterkopf ging ich auf eine For­
Zitteraale können schungsmission, die drei Jahre dauern sollte: Ich wollte den
mehr als zwei Meter Angriffsmechanismus des Zitteraals und die Auswirkungen
lang werden. seiner Elektroschocks auf Beute und potenzielle Feinde
aufklären. Mit jedem Zwischenergebnis überraschte mich
aufs Neue, wie ausgeklügelt sich das Tier die Elektrizität zu
Nutze macht.
Der Zitteraal ist trotz seines Namens und Aussehens gar
kein echter Aal, sondern gehört zu einer Familie von Fi­
schen, die als Gymnotidae bezeichnet werden und in Süd­
amerika leben. Die übrigen Vertreter dieser Gruppe geben


Zitteraale betäuben ihre Beute – das ist weithin be­ nur sehr schwache elektrische Entladungen ab, mit deren
kannt. Berichte dazu reichen Jahrhunderte zurück. Der Hilfe sie kommunizieren und ihre Umgebung erkunden. Der
Begriff »Betäuben« ist aber aus wissenschaftlicher Zitteraal hat seine Leistung im Lauf der Evolution hoch­
Sicht viel zu vage. Was passiert wirklich, wenn die Fische gefahren. Dank des beinahe körperlangen elektrischen
angreifen? Bis vor Kurzem wussten Biologen überraschend Organs – die Tiere können fast zweieinhalb Meter und mehr
wenig darüber. als 20 Kilogramm erreichen – generiert er eine Spannung
Ursprünglich hatte ich gar nicht die Absicht, dieses von bis zu 600 Volt. Das Organ ist aus speziellen scheiben­
außergewöhnliche Phänomen näher zu untersuchen, und förmigen Zellen zusammengesetzt, den so genannten Elekt­
erst recht hätte ich mir nie vorstellen können, im Namen rozyten. Sie speichern und liefern Elektrizität wie Batterien.
der Forschung einmal einem Exemplar meinen Arm anzu­ Um zu untersuchen, ob der Zitteraal wirklich wie ein
bieten. Wie kam es dazu? Als Professor für Biologie wollte Taser auf seine Opfer wirkt, musste ich das Tier im Jagd­
ich meine Lehrveranstaltungen mit Fotos und Zeitlupen­ modus beobachten. Also entwarf ich ein Experiment, bei
filmen von Zitteraalen aufpeppen. Eines Tages nahm ich dem ich von seinem unersättlichen Appetit auf Regenwür­
ein paar Exemplare mit in mein Labor. Da beobachtete ich mer profitierte. Zuerst setzte ich einen toten Fisch, der noch
FOTO: DAVID LIITTSCHWAGER

etwas so Seltsames, dass ich alles andere stehen und funktionierende Nerven und Muskeln besaß, ins Wasser
liegen ließ, um mich fortan intensiv damit zu beschäftigen. zum Zitteraal – von diesem durch eine elektrisch durchläs­

Spektrum der Wissenschaft  6.20 33


sige Barriere getrennt. Ich verband ihn mit einem Gerät zum Schließlich jagen wilde Exemplare im Amazonasgebiet im
Messen von Muskelkontraktionen. Dann fütterte ich den Dunklen, umgeben von versteckt lebender Beute, die viel
Aal mit Regenwürmern, die er mit Vergnügen schockte und schwieriger zu finden ist als Würmer und Goldfische in
auffraß. Der Versuchsaufbau erlaubte mir eine Reihe von einem sauberen Aquarium.
Tests zu den Auswirkungen auf den Messfisch, der norma­ Die Zitteraale in meinem Labor gaben während der
lerweise auch potenzielle Beute wäre. Suche oft Doublets ab. Das Zucken schien bis dahin unent­
Bei diesem lösten die Hochspannungssalven starke deckte Beute zu verraten und führte zum Angriff. Das
Muskelkontraktionen aus. Sie begannen drei Millisekunden waren aussagekräftige Beobachtungen, aber noch kein
nach dem Angriff – genau die gleiche Zeit, die vergangen direkter Beweis. Darum befestigte ich einen toten Fisch an
war, bevor die Fische in meinen ersten Zeitlupenaufnahmen einem Stimulationsgerät, das entweder von mir oder den
bewegungslos wurden. Aber die Experimente zeigten noch Doublets des Aals ausgelöst werden konnte. Daraufhin
viel mehr. Zitteraale regen die Muskelzellen nicht direkt an, steckte ich den verkabelten Fisch in einen Plastikbeutel, der
sondern die zugehörigen Neurone. Jeder Impuls erzeugt ihn vom direkten Einfluss der Doublets des Zitteraals isolier­
dort ein Aktionspotenzial. te. So konnte ich den Zeitpunkt der Muskelreaktion beim
Das elektrische Organ des Zitteraals ist selbst ein modifi­ Fisch selbst bestimmen. Eindeutig erfolgte auf ein Doublet
zierter Muskel, der durch die motorischen Nervenzellen des der Jäger nur dann ein Angriff, wenn der Fisch gezuckt
Tiers aktiviert wird, und diese wiederum von Neuronen im hatte. Die Attacken waren also tatsächlich eine Reaktion
Gehirn. Vom elektrischen Organ aus setzt sich das Signal auf die durch Doublets ausgelösten Bewegungen. Der
durch das Wasser fort, zunächst zu den Motoneuronen und Elektrokünstler kann demnach einerseits versteckte Beute
darüber dann zu den Muskeln von in der Nähe befindlichen aufspüren und sie andererseits daraufhin in eine Starre
Fischen. Es liegt nahe zu vermuten, dass sich die elektri­ versetzen.
schen Fähigkeiten des Zitteraals an die Reaktion der Mus­
keln der Beute angepasst haben. Geschickte Verrenkungen für
Nach dieser Einsicht betrachtete ich die Hochspan­ konzentrierte Leistung
nungssalven unter einem neuen Blickwinkel. Dabei faszi­ Neben diesen Tricks hat der Zitteraal eine raffinierte Lösung
nierten mich besonders die Forschungsberichte des Deut­ für ein grundlegendes Problem im Umgang mit Elektrizität
schen Richard Bauer, der in den 1970er Jahren Folgendes entwickelt. Anders als bei Superhelden, die gezielt Blitze
herausfand: Zitteraale geben bei der Jagd oft Paare von schleudern, verteilt sich unter Wasser die Leistung des
Hochspannungsimpulsen ab, die um zwei Millisekunden Hochspannungsimpulses gleichmäßig auf die Umgebung.
voneinander getrennt sind; sie werden Doublets genannt. Infolgedessen trifft nur ein Bruchteil der gewaltigen Kraft
Die Aale in meinem Labor zeigten das gleiche Verhalten. die Beute. Dem englischen Physiker und Chemiker Michael
Doublets sind aus muskelphysiologischer Sicht der beste Faraday, der bereits 1838 mit Zitteraalen forschte, verdan­
Weg, um maximale Spannung zu erzeugen. Das zeigten ken wir eine gute Veranschaulichung des Problems: Das
auch meine Experimente. Die Doppelimpulse lassen bei in elektrische Feld des Aals stellt einen so genannten Dipol
der Nähe befindlicher Beute kurz den gesamten Körper dar. Die Feldlinien gehen dabei vom positiv geladenen Kopf
zucken, ganz im Gegensatz zu den lähmenden Salven. Das des Aals aus und enden am Schwanz. Ein elektrisches Feld
Zucken wiederum verdrängt schlagartig Wasser, erzeugt ist an den Polen stets am stärksten – dort sind die Feldlinien
also gewissermaßen ein Unterwassergeräusch. Zitteraale besonders dicht – und nimmt mit dem Abstand davon
können noch die geringste Wasserbewegung wahrnehmen. rasch ab. Aus der Physik wissen wir, dass es die Feldstärke
Dubletts sind darum eine Art zu fragen: »Lebst du?« erheblich erhöht, wenn man einen negativen Pol näher an
einen positiven heranführt. Offenbar haben das auch Zitter­
aale herausgefunden. Bei sich hartnäckig zur Wehr setzen­
der Beute halten sie das Opfer fest im Maul und krümmen
AUF EINEN BLICK ihren negativ gepolten Schwanz darum, bevor sie eine
SPANNENDE FELDFORSCHUNG Reihe von Hochspannungssalven abgeben.
Um die Wirkung dieses Manövers zu messen, entwarf

1 Der Zitteraal betäubt seine Opfer mit Elektroschocks.


Der genaue Mechanismus und die Auswirkungen des
Angriffs waren jedoch lange ein Rätsel.
ich eine Art Kauspielzeug: ein Paar Elektroden auf einem
Kunststoffhalter, eingepackt in einen toten Fisch. Die Zitter­
aale packten den Apparat, woraufhin ich die daran befestig­
ten Drähte schüttelte, um kämpfende Beute zu simulieren.

2 Eine Reihe von Laborexperimenten zeigt nun, wie das


Tier potenzielle Beute mit Hilfe von elektrischen Feldern
aufspürt, verfolgt und bewegungsunfähig macht.
Die Zitteraale spielten mit, bogen ihre Schwanzspitze und
schockten die Elektroden aus der Nähe. Erwartungsgemäß
stieg die Feldstärke – und zwar auf mehr als das Doppelte.
Diese Strategie ermöglicht es dem Zitteraal, seine s­ onst
3 Der Fisch setzt seine speziellen Fähigkeiten auch ein,
um Bedrohungen abzuwehren. Er springt dabei sogar
aus dem Wasser, um den Stromfluss durch größere
festgelegte Ausgangsleistung auf ein Ziel zu kon­zen­trieren.
Die Auswirkungen des dergestalt verstärkten Elektro­
Feinde zu maximieren. schocks auf die Beute sind verheerend. Weiteren Experi­
menten zufolge löst er ungewöhnlich starke Muskelkontrak­
tionen aus und erschöpft die Beute in nur wenigen Sekun­

34 Spektrum der Wissenschaft  6.20


elektrisch
leitender
Kohlenstoff

Plastik
KENNETH C. CATANIA

Der Zitteraal spürt Beute anhand ihrer elektrischen ihrer Umwelt haben die Zitteraale beibe­halten, aber viel­
Leitfähigkeit auf. Experimente mit einer sich schnell leicht nutzen sie dazu außerdem die Hochspannung. Ich
drehenden Scheibe zeigen die Präzision der Angriffe. beschloss, das zu überprüfen.
Der Räuber attackiert das leitende Stück Kohlenstoff Tiere sind tendenziell leitfähiger als das Wasser, in dem
und ignoriert das optisch identische Plastik. sie sich befinden. Darum erkennt der Zitteraal andere
Lebewesen grundsätzlich an ihrem geringen elektrischen
Widerstand. Das tut er üblicherweise mit seinem Nieder­
den völlig. Dieses elektrische Analogon eines Neurotoxins spannungssystem, das immer aktiv ist – bis er während
ermöglicht es dem Zitteraal, sogar eigentlich gefährliche eines Angriffs auf Hochspannung umschaltet. Kann der
Tiere wie große Krebse zu fangen und zu überwältigen. Zitteraal diese dann ebenfalls zur Ortung und Vermessung
Im Lauf meiner Untersuchungen bemerkte ich etwas, des Ziels nutzen? Um das zu testen, musste ich das Verhal­
das mich fragen ließ, ob die Elektroschocks möglicherwei­ ten des Tiers während der Angriffe, also während das
se mehr als nur eine Waffe sind. Normalerweise spielen Niederspannungssystem ausgeschaltet und nur das Hoch­
sich drei Dinge ab, sobald Zitteraale töten: Zuerst geben sie spannungssystem aktiv war, in Zeitlupe untersuchen.
eine volle Salve ab, anschließend schnappen sie nach der Das erste einfache Experiment bestand darin, im Aqua­
Beute und saugen sie zu guter Letzt in ihr Maul. In meinen rium einen Stab aus Kohlenstoff zu platzieren, und zwar
Experimenten mit dem toten Fisch in der isolierten Plastik­ in der Nähe des Fisches im Plastikbeutel. Das Material ist
tüte brach der Zitteraal den Angriff jedoch immer wieder elektrisch leitfähig, aber im Gegensatz zu Metallen che­
ab. Nach der Hochspannungssalve schnellte er auf den misch träge. Das verhindert einen galvanischen Effekt, der
Fisch zu, verfehlte ihn allerdings und unterließ den letzten ein elektrisches Feld hätte erzeugen und den Versuch
Saugbiss. beeinflussen können. Wieder griff der Zitteraal an, als er die
Ich hatte bis dahin angenommen, der Angriff sei gewis­ vom Zucken verursachte Wasserbewegung wahrnahm.
sermaßen ballistisch – ein geplantes Ereignis ohne sensori­ Diesmal änderte er jedoch auf halbem Weg seinen Kurs,
sche Rückkopplung. Nun kam es mir so vor, als ob die Tiere schoss zum Kohlenstoffstab und versuchte, sich diesen mit
die Hochspannungsimpulse zur Verfolgung nutzten. Das einem Saugbiss einzuverleiben. Der Zitteraal schien den
würde erklären, warum sie die in Plastik verpackte Beute Stab für einen Fisch zu halten – wie man es erwarten
übersahen. Zitteraale haben sich evolutionär aus Fischen würde, wenn er die Hochspannungsimpulse zur Ortung
entwickelt, die schwache Elektrizität dazu verwenden, ihre einsetzt. Das war ein guter Anfang, aber ich brauchte mehr
Umgebung zu untersuchen. Diesen Weg zur Erfassung Beweise. Dazu entwickelte ich zusätzliche Tests mit Kohlen­

Spektrum der Wissenschaft  6.20 35


Auf Angriff gepolt
Ein Zitteraal setzt seine Beute mit einer ausgefeilten Jagdtechnik außer Gefecht. Er nutzt Elektrizität auf zweierlei
Art: Versteckte Tiere spürt er auf, indem er sie mittels kurzer Ladungsstöße zum Zucken veranlasst, und einmal
gefundene Opfer lässt er mit Spannungssalven regelrecht erstarren. Der räuberische Fisch kann außerdem sich noch
bewegende Beute mit Hilfe seiner elektrischen Sinne verfolgen. Normalerweise geht ein Großteil der eingesetzten
Energie ungerichtet im umgebenden Wasser verloren, und nur ein Teil des Stroms trifft die Beute. Im Lauf der Evolu­
tion hat sich eine ausgeklügelte Lösung entwickelt, welche die Effizienz der Attacken erhöht.

abgegebene Spannung 1 2 3 4

1 Elektrorezeption 2 Hochspannungs- 3 unwillkürlich


mittels Niederspannung Doppelimpuls zuckende Beute

egebene Spannung 500


Volt

Elektrorezeption Hochspannungs- unwillkürlich Angriffssalve mit


mittels Niederspannung Doppelimpuls zuckende Beute Hochspannung

Fokussierter Stromschlag
Das elektrische Feld des Zitteraals ist physikalisch betrachtet ein Dipol: Vom positiv geladenen Kopf gehen
Feldlinien aus und enden am negativ gepolten Schwanz. Ihre Dichte gibt die Stärke des elektrischen Felds
an jedem Punkt im Raum an. Bringt man den Pluspol näher an den Minuspol, erhöht sich die Feldstärke. Der
Zitteraal zieht dazu den Schwanz an die Beute, die er im Maul hält, bevor er seine Salven abschießt.

MATTHEW TWOMBLY, NACH CATANIA, K.C.: ELECTRIC EELS CONCENTRATE THEIR ELECTRIC FIELD TO INDUCE INVOLUNTARY FATIGUE IN STRUGGLING PREY. CURRENT
BIOLOGY 25, 2015, UND NACH CATANIA, K.C.: THE SHOCKING PREDATORY STRIKE OF THE ELECTRIC EEL. SCIENCE 346, 2014 / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019
+

+ –

+
Je näher sich die
beiden Körperenden
des Zitteraals
Je näher sich die kommen, desto
beiden Körperenden stärker wird das
des Zitteraals elektrische Feld.
kommen, desto
stärker wird das
elektrische Feld.

– – an der Beute
anliegende
Spannung

36 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Ruhm bei. Spätere Gelehrte waren jedoch skeptisch. War­
um sollten Zitteraale gegen so große Tiere, die sie ohnehin
nicht fressen konnten, in die Offensive gehen und dabei
Schrittweises Töten Verletzungen riskieren? 200 Jahre lang gab es keine weite­
Die Fische nutzen sowohl niedrige als auch hohe ren dokumentierten Fälle eines solchen Verhaltens – bis ich

MATTHEW TWOMBLY, NACH CATANIA, K.C.: ELECTRIC EELS CONCENTRATE THEIR ELECTRIC FIELD TO INDUCE INVOLUNTARY FATIGUE IN STRUGGLING PREY. CURRENT
BIOLOGY 25, 2015, UND NACH CATANIA, K.C.: THE SHOCKING PREDATORY STRIKE OF THE ELECTRIC EEL. SCIENCE 346, 2014 / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019
elektrische Spannung, um ihre Umgebung zu
­erfassen  1 . Während der Räuber zwischen Pflanzen eines Tages den falschen Kescher wählte, um ein Exemplar
nach versteckter Beute sucht, gibt er Paare von in meinem Labor zu fangen.
­Hochspannungsimpulsen ab 2 . Diese Doublets
lassen in der Nähe befindliche Tiere stark zucken 3 . In der Regel springen Zitteraale nicht aus ihrem Aquari­
Die plötzliche Bewegung verdrängt das umgebende um. Nähert man sich jedoch einem in die Ecke getriebenen
Wasser und verrät die Position. Hat der Zitteraal sein
Ziel ausgemacht, schießt er eine lähmende Angriffs­
Tier mit einem leitfähigen Objekt, das aus dem Wasser ragt,
salve mit vielen Hochspannungsimpulsen ab 4 . greift der Zitteraal an. Ich entdeckte dieses Verhalten, als
ich versuchte, einen der Fische in ein neues Aquarium zu
500 überführen. Ich wollte ihn mit einem Netz herausholen, das
Volt
in Metall eingefasst war. Augenblicklich schraubte sich der
Jäger aus dem Wasser und sprang mit dem Kiefer an den
4 Angriffssalve mit Metallgriff, während er eine lange Salve von Hochspan­
Hochspannung
nungsimpulsen ausstieß. Glücklicherweise trug ich einen
Schutzhandschuh aus Gummi. Dieses Verteidigungsverhal­
ten konnte ich bei jedem daraufhin untersuchten Zitteraal
feststellen.
Allmählich fügten sich die vielen Teile des Puzzles zu­
sammen. Wenn Zitteraale kleine elektrische Leiter als Beute
interpretieren, dann liegt es nahe, dass sie herannahende,
teilweise eingetauchte, große Objekte als bedrohlichen
Feind wahrnehmen – beispielsweise als ein Krokodil. Weg­
schwimmen ist nicht immer möglich: Im Amazonasgebiet
werden Zitteraale in der Trockenzeit oft in kleinen Tümpeln
eingeschlossen. Das ist genau die von Humboldt berichtete
Situation. Da sich unter Wasser ein Stromschlag aus der
Distanz nicht ausrichten oder dosieren lässt, scheint die
stoff- und Kunststoffstäben, um Einflüsse der visuellen Entwicklung einer so verblüffenden Verteidigungsstrategie
Wahrnehmung auszuschließen. Tatsächlich wurden stets wie von dem Naturforscher beobachtet nur folgerichtig.
+
nur die Objekte aus Kohlenstoff angegriffen. Darüber
hinaus konfrontierte ich die Zitteraale mit einer sich schnell Wenn künstliche Gliedmaßen und Leuchtdioden
drehenden Scheibe, in deren Oberfläche ein einziger kleiner ein lebendes Opfer nicht ersetzen können
Leiter neben einer Reihe identisch aussehender Nichtleiter Für eine Reihe weiterer Experimente zum Sprungverhalten
eingebettet war (siehe Bilder S. 35). Die Leistung der Fische der Aale brauchte ich künstliche Gliedmaßen. Es gibt
war unglaublich: Sie identifizierten während der Hochspan­ Dinge, die sind der Einkaufsabteilung einer Universität nur
nungssalve den elektrischen
– Leiter mit einer Geschwindig­ schwer zu erklären, und abgetrennte Zombie-Arme fallen
keit und Genauigkeit, die allem weit überlegen ist, was von geradewegs in diese Kategorie. Daher hielt ich es für
anderen Tieren mit aktiver Elektrorezeption bekannt ist. Es ­besser, im Kostümgeschäft mein eigenes Geld zu investie­
bestand kein Zweifel mehr, dass Zitteraale Hochspannung ren. Nachdem ich das falsche Blut von den Kunststoff­
gleichzeitig als Waffe und als Teil eines sensorischen Sys­ armen abgeschrubbt hatte, montierte ich daran Leucht­
tems benutzen. Mein Respekt vor den Tieren wuchs von dioden und hielt das ganze Konstrukt den Zitteraalen hin.
Tag zu Tag. Dies sollte sich noch als mein Glück erweisen, Während die Tiere springend ihr Verteidigungsverhalten
da ihr nächster Trick gegen mich gerichtet war. demonstrierten, leuchteten die Lämpchen – umso mehr
Im März des Jahres 1800 heuerte der preußische Natur­ und umso heller, je höher der Fisch aus dem Wasser seines
forscher Alexander von Humboldt Fischer im Amazonas­ Tanks schnellte.
gebiet an, um Zitteraale für seine Experimente zu fangen. Um zu untersuchen, was genau dabei elektrisch pas­
Die Arbeiter trieben 30 Pferde und Maultiere in einen Tüm­ siert, musste ich zunächst die so genannte Ersatzschaltung
pel. Daraufhin sprangen die Zitteraale aus dem Schlamm ermitteln, einen vereinfachten Plan der verschiedenen
auf und attackierten die Tiere wiederholt mit Elektro­ Komponenten. Ich wollte die Spannung beziehungsweise
schocks. Die Fischer trieben die verängstigten Pferde die elektromotorische Kraft des elektrischen Organs des
immer wieder zurück ins Wasser, bis die Zitteraale völlig Zitteraals bestimmen und berechnen, wie stark die Materia­
erschöpft warenanunddergefahrlos
Beute eingesammelt werden konn­ lien im Stromkreis den Widerstand beeinflussen. Also
anliegende
ten. In dem grausigen Durcheinander starben zwei Pferde, entwarf ich Experimente, um jede Variable nacheinander zu
Spannung
andere brachen noch am rettenden Ufer zusammen. Hum­ messen, angefangen mit dem elektrischen Organ. Mit
boldt veröffentlichte 1807 einen Bericht über das Spektakel, knapp einem Meter Länge hatte das größte Tier in meinem
und die Geschichte trug nicht unwesentlich zu seinem Labor ein elektrisches Potenzial von 382 Volt und einen

Spektrum der Wissenschaft  6.20 37


Die beste Verteidigung
Zitteraale springen aus dem Wasser, wenn sie bedroht werden. Das maximiert den Strom, der durch das Gegen­
über fließt. Um das für den Fall eines Menschen zu messen, hat der Autor ein Experiment entworfen, in dessen
Verlauf er einem Jungtier seinen eigenen Arm anbot. Sobald der Zitteraal aus dem Wasser aufsteigt, fließt der
Strom anders als unter Wasser, und zwar vor allem direkt durch das Ziel 1 . Eine größere Höhe verstärkt die
Wirkung 2 . Schließlich betrug der Strom durch den Arm ungefähr 43 Milliampere 3 . Auf den Schlag hin wich
der Autor reflexartig zurück. Ein ausgewachsenes Tier kann noch wesentlich mehr Energie aufbringen.

Strommessgerät

MATTHEW TWOMBLY, NACH CATANIA, K.C.: POWER TRANSFER TO A HUMAN DURING AN ELECTRIC EEL’S
33
isoliertes Kabel 22
+
+

SHOCKING LEAP. CURRENT BIOLOGY 27, 2017 / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2019
11
+
Plastik-
– behälter –

Griff leitfähiges
Aluminiumband
gemessene Stromstärke 22 33 50 Milliampere
1
1

Innenwiderstand von bloß 450 Ohm. Das machte Ströme Das war unbefriedigend. Zudem kursierte 2016, gerade
von fast einem Ampere möglich, sofern keine anderen als meine ersten Publikationen über die Sprungattacken
Widerstände vorhanden waren. Das ist ein ziemlich kräfti­ veröffentlicht worden waren, im Internet ein Video einer
ger Stromschlag – ein Taser liefert nur einen Bruchteil solchen Situation. Es zeigte einen großen Zitteraal, der
davon. einen Fischer in Südamerika angriff. Dieser war zeitweilig
Luft ist ein schlechter Leiter. Wenn der Zitteraal aus dem bewegungsunfähig und erholte sich wieder, ähnlich wie bei
Aquarium schießt und seinen Kopf gegen das Opfer drückt, der Wirkung eines Tasers. Auf einmal sah ich die realen
fließt der Strom von dort bis zum Schwanz nicht mehr Auswirkungen des Stromkreises, den ich aus reiner Neugier
durch Wasser, sondern lediglich durch das Zielobjekt: zum studiert hatte.
umso größeren Teil, je höher der Fisch herausschnellt. Das Also entschloss ich mich, meine Vorhersagen an mir
System ähnelt in bemerkenswerter Weise einem Lautstär­ selbst zu überprüfen und die letzte Variable mit meinem
keregler. Der Zitteraal erhöht je nach Bedarf kontinuierlich eigenen Arm zu bestimmen. Dafür wählte ich einen sehr
die Wirkung seiner Elektroschocks. Die Beobachtung kleinen Zitteraal mit einer elektromotorischen Kraft von
erklärt, wie sich das Verhalten allmählich evolutionär entwi­ 198 Volt und einem Innenwiderstand von 960 Ohm aus. Ich
ckelt haben könnte, da jede weitere Steigerung der Sprung­ baute außerdem ein Gerät, mit dem ich während des Vor­
höhe einen Vorteil bietet. Wie effizient kann der Zitteraal gangs den durch meinen Arm fließenden Strom messen
dabei wohl werden? konnte. So klärte ich die Details des Schaltplans schließlich
Beim Ausarbeiten der Details stieß ich auf ein grundle­ auf – und spürte am eigenen Leib, wie effektiv die Tiere ihre
gendes Problem elektrischer Schaltungen: die Berechnung Leistung hochfahren, wenn sie beim ersten Mal noch nicht
des Stroms, wenn zwei Widerstände nebeneinander ange­ ausreicht. 
ordnet sind. Es ist eine beliebte Aufgabe in Physikprüfun­
gen, und man muss zur Lösung den Wert beider Wider­
QUELLEN
stände kennen. Den einen, nämlich den zwischen dem Kopf
des Zitteraals und der Wasseroberfläche, konnte ich mit Catania, K. C.: The shocking predatory strike of the electric eel.
Hilfe von Metallplatten messen, die ich angreifen ließ. Der Science 346, 2014
andere Widerstand war der des eigentlichen Zielobjekts, Catania, K. C.: Electric eels use high-voltage to track fast-­
des eingetauchten Arms. Zwar hatte ich Daten für alle moving prey. Nature Communications 6, 2015
anderen Variablen gesammelt, aber diesen letzten Wert Catania, K. C.: Power transfer to a human during an electric
konnte ich für den Fall eines lebenden Opfers nur schätzen. eel’s shocking leap. Current Biology 27, 2017

38 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Bewegende Geschichte,
spannende Zukunft.

Geschichte, echt spannend. Neugierig auf morgen.

Jetzt im Handel.
VIROBIOM
NÜTZLICHE
BAKTERIENKILLER
In unserem Körper siedeln
­zahllose Viren. Die meisten von
ihnen sind Phagen – und
tragen unter anderem dazu bei,
unsere bakteriellen Untermieter
unter Kontrolle zu halten.

Daniel Bojar ist Biophysiker und


arbeitet am Wyss Institute for
Biologically Inspired Engineering der
Harvard University.

 spektrum.de/artikel/1725066


Zäher Schleim verklebte die Lunge von Isabelle Car-
nell-Holdaway. Für das Mädchen, das zu den weltweit
rund 70 000 Mukoviszidose-Patienten gehört, war das
nichts Neues. Ein angeborener Defekt in einem Protein, das
Chlorionen durch die Membranen von Deckgewebezellen
schleust, sorgte für die Bildung des viskosen Schleims in
ihren Atemwegen – ein typisches Symptom der Muko­
viszidose. Das zähflüssige Sekret schränkte die Lungen-
funktion ein und bot einen hervorragenden Nährboden für
Mikroben, die sich in den Atemwegen ansiedelten. Aus
diesem Grund war Isabelle schon seit vielen Jahren mit
bakteriellen Keimen – Mycobacterium abscessus – infiziert,
die ihr Atem­organ so stark schädigten, dass sie mit 16 Jah-
ren bereits eine Lungentransplantation über sich ergehen
lassen musste. Leider war die Infektion damit nicht besei-
tigt, im Gegenteil: Wegen der ständigen Behandlung mit
Antibiotika waren die krank machenden Bakterien resistent
dagegen geworden und verbreiteten sich im ganzen Körper,
als Isabelle infolge der Organverpflanzung immununterdrü-
ckende Medikamente nehmen musste. Die Situation schien
vollends hoffnungslos zu werden. Keine bekannte Therapie
konnte dem Mädchen jetzt noch helfen.
Da kam Isabelles Mutter Jo eine Idee, die sie der behan- Bakteriophagen (hier eine Illustration)
delnden Ärztin Helen Spencer vom Great Ormond Street infizieren Bakterien, indem sie sich an
Hospital in London mitteilte. Diese tat sich 2018 mit führen- deren Hülle anheften und dann ihr
SCIEPRO / STOCK.ADOBE.COM

den Virenforschern um Graham Hatfull von der University Erbgutmolekül in die Zelle injizieren.

40 Spektrum der Wissenschaft  6.20


AUF EINEN BLICK
VIREN ALS VERBÜNDETE

1 Unser Organismus enthält etwa so viele bakterielle wie


menschliche Zellen – und mindestens noch einmal
die gleiche Anzahl an Viren. Die meisten davon sind
Bakteriophagen.

2 Diese Viren sorgen für eine Balance unseres Mikro­


bioms und treiben seine Entwicklung maßgeblich
voran. Vermutlich erfüllen sie noch weitere, bislang
unbekannte Funktionen.

3 Bakterielle Infektionen, die Krankheiten verursachen,


lassen sich mit ausgewählten Phagen bekämpfen.
Hierin liegt die Chance, antibiotikaresistente Keime
zurückzudrängen.
SCIEPRO / STOCK.ADOBE.COM

Spektrum der Wissenschaft  6.20 41


of Pittsburgh in Pennsylvania zusammen, um eine unkon- Kopf

LEONHARD VON WELSER, LAWRENCE PALADINE AT THE GERMAN LANGUAGE WIKIPEDIA


(COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:BAKTERIOPHAGE_T2_GESCHNITTEN.PNG) /
ventionelle Therapie auszuprobieren. Sie verabreichten (Kapsid mit DNA)

CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/DE/LEGALCODE);


Hohlstift
Isabelle so genannte Bakteriophagen – das sind Viren, die (Schwanzrohr)
Kragen
Bakterien infizieren.

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Schon bald darauf erholte Isabelle sich wieder. Bereits kontraktile Schwanzfiber
nach drei Tagen der Behandlung mit Phagen gingen ihre Scheide
Krankheitssymptome deutlich zurück; nach sechs Wochen
war sie weitgehend beschwerdefrei. Basisplatte
Wie kommen Forscher darauf, ausgerechnet Viren,
sozusagen die Inkarnation von Krankheit, als Arzneistoffe
zu verwenden? Welches Potenzial steckt darin, diese
­in­fektiösen Partikel gentechnisch zu verändern, wie es in Spikes
Isabelles Fall geschah? Lassen sie sich damit zu »intelli­ 50 mm
genten Medikamenten« machen?
Tatsächlich gehen Viren nicht immer mit Krankheiten Aufbau eines Bakteriophagen. Mit Hilfe seiner
einher. Sie sind überall in unserem Organismus zu finden Schwanzfibern und Spikes heftet er sich an
und bereiten oft überhaupt keine gesundheitlichen Proble- die Wirtszelle an. Durch das Schwanzrohr injiziert
me. Viele von ihnen wohnen dauerhaft in und auf unserem er dann seine DNA in diese hinein.
Körper, ähnlich etwa den Mikroorganismen der Darmflora.
Am häufigsten sind sie im Verdauungstrakt anzutreffen –
schließlich haust dort schon eine Unzahl von Bakterien, die liche Zellen. Dabei stützten sie sich auf frühere Untersu-
für uns lebensnotwendige Funktionen der Verdauung und chungen von Mikrobiologen. Jedoch waren in diesen die
des Stoffwechsels ausüben und zudem verhindern, dass Zellen des Blut bildenden Systems nicht mitgezählt worden,
schädliche Mikroben den Darm besiedeln. und die stellen das größte Zellreservoir des Körpers. Eine
Bakterien können sich rasch vermehren; warum nimmt Studie von Wissenschaftlern um Ron Milo vom Weizmann
unsere Darmflora dann nicht schon nach kurzer Zeit über- Institute of Science (Israel) hat 2016 ergeben, dass unser
hand? Unter anderem wegen der Viren, die uns kolonisie- Organismus etwa genauso viele bakterielle wie menschli-
ren. Die Bakteriophagen unter ihnen sorgen dafür, dass kein che Zellen enthält, nämlich rund 40 Billionen. Hinzu kommt
einzelner Stamm unseres Mikrobioms dominieren und die mindestens noch einmal die gleiche Zahl an Viren, die uns
anderen verdrängen kann. Sie dringen in Bakterien ein und besiedeln, wie unter anderem Forest Rohwer und seine
setzen sich entweder dauerhaft in deren Erbgut fest, bis die Kollegen von der San Diego State University im Jahr 2003
Zeit zur Vermehrung gekommen ist (lysogener Zyklus), oder geschätzt haben. Deren Gesamtheit heißt dann, analog zum
wandeln ihre Wirte in Fabriken um, die pausenlos neue Mikrobiom, »Virobiom«.
Viren produzieren, bis sie aufplatzen und die infektiösen Die weitaus meisten Viren in uns sind Bakteriophagen,
Partikel freisetzen (lytischer Zyklus). wie schon Rohwer und sein Team zeigten. Sie sind überall
dort zu finden, wo sich die Bakterien unseres Mikro­bioms
Der Mensch als Superorganismus aus aufhalten – am zahlreichsten im Darm. Viren, die menschli-
Tierzellen, Bakterien und Viren che Zellen befallen, halten sich tendenziell an anderen
Bakteriophagen erkennen ihr Ziel an spezifischen Proteinen Orten des Körpers auf, etwa im Mund, wobei selbst hier die
auf der Bakterienoberfläche. Dies sorgt dafür, dass jede Phagen überwiegen.
Phagensorte in der Regel nur eine bestimmte Bakterien­ Die Zusammensetzung der viralen Mundflora variiert von
spezies in unserem Darm befällt – ein großer Vorteil, wenn Person zu Person sehr stark, aber nicht nur der genetischen
Phagen als Arzneistoffe eingesetzt werden. Denn sie sollen Unterschiede wegen, die zwischen Menschen bestehen,
dann natürlich nur ganz gezielt krank machende Keime sondern auch auf Grund von Umwelteinflüssen. Die Ernäh-
vernichten und nicht die Mitglieder unseres normalen rung beispielsweise prägt die Virengemeinschaft in der
körpereigenen Mikrobioms. Mundhöhle sehr stark, ebenso wie das Virobiom eines
Forscher nahmen früher an, der menschliche Organis- Partners darauf einen Einfluss hat. Noch ist nicht völlig
mus enthalte etwa zehnmal so viele Bakterien wie mensch- geklärt, ob wegen Körperkontakt, gemeinschaftlichem
Essen oder beidem, aber die viralen Mundfloren von Men-
schen, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, gleichen
sich einander an. Das haben der Mikrobiologe David T.
Pride von der University of California in San Diego und sein
Mehr Wissen auf Team 2013 gezeigt.
Spektrum.de Viren unterliegen der Evolution und können sich infolge
rascher Vermehrung in geeigneten Wirten sehr schnell an
Unser Online-Dossier zum Thema
Veränderungen in der Umwelt anpassen. Das äußert sich
finden Sie unter
spektrum.de/t/mikrobiom beispielsweise darin, dass der Grippeimpfstoff jährlich neu
FOTOLIA / KATERYNA_
KON
zusammengestellt werden muss, um zu den aktuell zirkulie-
renden Influenza-Erregern zu passen – denn diese mutieren

42 Spektrum der Wissenschaft  6.20


sehr schnell. Das Virobiom in unserem Darm weist zwar ab. Darauf deuten unter anderem Beobachtungen hin, laut
insgesamt über Jahre hinweg eine weitgehend gleich denen das Virobiom im Atemtrakt eines Mannes stark dem
bleibende Zusammensetzung auf, wie der Mikrobiologe seiner Frau glich, die an Mukoviszidose erkrankt war, ob-
Frederic D. Bushman von der University of Pennsylvania wohl der Mann selbst keine Symptome aufwies.
und seine Kollegen 2013 herausfanden, doch gilt das den
Forschern zufolge nicht für einzelne Arten: Einige Bakterio- Überraschender Fund im Blut
phagen, die uns besiedeln, können binnen drei Jahren so Während die bisher genannten viralen Lebensräume un­
stark mutieren, dass sie am Ende zu einer neuen Spezies seres Organismus – Verdauungstrakt, Atemwege sowie
geworden sind. Haut – über Oberflächen in Kontakt zur Umwelt stehen,
Außer im Verdauungstrakt siedeln Bakteriophagen noch gilt das für den Blutstrom nicht. Dieser besitzt keinerlei frei
auf unserer Haut und in den Atemwegen. Hier sind ebenso zugänglichen Abschnitte und galt unter Medizinern des-
Viren zu finden, die eukaryotische Zellen befallen – etwa halb lange als steriler Teil des Organismus. Umso über­
Polyoma-, Papillom-, Picorna- und Coronaviren. Der bereits raschender war es, als Wissenschaftler um Forest Rohwer
erwähnte Forest Rohwer und sein Team beobachteten und Mya Breitbart im Jahr 2005 Viren im Blut gesunder
2009, dass bei Mukoviszidose-Patienten nicht nur die Menschen nachwiesen – und zwar sowohl Bakteriophagen
Bakteriengemeinschaft in den verschleimten Atemwegen wie infektiöse Partikel, die eukaryotische Zellen b
­ e­fallen.
verändert ist, sondern auch das dortige Virobiom. Und Darunter waren das Torque-Teno-Virus und das SEN-Virus,
zwar bei unterschiedlichen Erkrankten in ähnlicher Weise – denen sich bislang keine spezifische Erkrankung zuordnen
offenbar eine allgemeine Reaktion auf die modifizierte lässt. Beide sind eher in der Mundhöhle ansässig, daher
Bakterienbesiedlung. spekuliert das Team, dass sie über die Mundschleimhaut
Bei Gesunden wiederum hängt die Virengemeinschaft in ins Kreislaufsystem vordringen. Sicher ist das allerdings
der Lunge anscheinend stark von den Umweltbedingungen nicht.

Abgestimmte Attacken
Viren tauschen Botschaften unter- um kapert und dabei Arbitrium-Mo- die Immunabwehr ihrer bakteriel-
einander aus und koordinieren leküle in die Umgebung entlässt, len Wirtszellen überwinden. Aller-
damit ihre Angriffe auf Zellen. Zu signalisiert er anderen Viren damit: dings ist ein einzelnes Virus zu
dieser erstaunlichen Erkenntnis »Ich habe ein Opfer gefunden.« schwach dafür. Es kommt deshalb
kam im Jahr 2017 ein Team um Trifft diese Botschaft sehr häufig zu mehreren Angriffswellen: Die
Rotem Sorek vom Weizmann ein, dann hat es offensichtlich viele zuerst attackierenden Viren fallen
Institute of Science (Israel). Die Opfer gegeben, so dass die noch dem bakteriellen Immunsystem
Forscher beobachteten, wie Heu­ nicht befallenen Wirte selten zu zum Opfer, erschöpfen es dabei
bazillen (Bacillus subtilis) von ver- werden drohen. In dieser Situation aber – und ebnen so den Weg für
schiedenen Bakteriophagen­typen ist es für die Phagen von Vorteil, in die zweite Welle, die das Bakteri-
infiziert werden. Dabei stellten sie den weniger aggressiven Repro- um überwältigt. Andere Forscher
fest, dass diese Viren ein winziges duktionszyklus zu wechseln, um haben sogar davon berichtet,
Protein namens Arbitrium freiset- nicht ihre eigene Vermehrungs- Gruppen von Rotaviren würden
zen, sobald sie eine Wirtszelle grundlage zu zerstören. gemeinsam kleine Bläschen (»Vesi-
befallen. Je häufiger das geschieht, Sorek und sein Team haben kel«) als Transportvehikel nutzen,
umso mehr von dem Protein sam- später noch viele weitere Phagen- um ihre tierischen Wirtsorganis-
melt sich im Umgebungsmedium typen gefunden, die mit Hilfe men zu befallen.
an. Darauf reagieren die Bakterio- kleiner Proteine untereinander Frank Schubert ist Redakteur bei
phagen: Überschreitet die Arbitri- kommunizieren. Jeder von ihnen »Spektrum der Wissenschaft«.
um-Konzentration einen bestimm- scheint dabei seine eigene mole­
ten Wert, dann wechseln sie vom kulare Sprache zu benutzen. Noch QUELLEN
lytischen in den lysogenen Zyklus – merkwürdiger ist, dass Viren
Bondy-Denomy, J. et al.: Bacterio­
sie hören also auf, ihre Wirte zur mitunter selbstlos agieren, wie phage cooperation suppresses CRISPR-
pausenlosen, zellzerstörenden zwei Teams um Stineke van Houte Cas3 and Cas9 immunity. Cell 174, 2018
Virenproduktion anzutreiben, und von der University of Exeter und Sorek, R. et al.: Communication
beginnen damit, sich ins Erbgut der Joseph Bondy-Denomy von der between viruses guides lysis-lysogeny
Zellen zu integrieren und dort eine University of California im Jahr decisions. Nature 541, 2017
Art Ruhezustand einzunehmen. 2018 erkannt haben. Demnach Van Houte, S. et al.: Anti-CRISPR
Dieses Verhalten ist sinnvoll. stellen manche Phagen so genann- phages cooperate to overcome
Denn wenn ein Phage ein Bakteri- te Acr-Proteine her, mit denen sie CRISPR-Cas immunity. Cell 174, 2018

Spektrum der Wissenschaft  6.20 43


Deutlich mehr Viren im Blut finden sich bei immunsup- Abwehrzellen des Körpers lernen, sowohl den eigenen
primierten Patienten, wie etwa Stephen R. Quake von der Organismus als auch das Mikrobiom zu verschonen. In
Stanford University und seine Kollegen 2013 festgestellt ähnlicher Weise beeinflusst das Virobiom unsere Immun­
haben. Das körpereigene Abwehrsystem ist beispielsweise abwehr, damit es dauerhaft in und auf uns siedeln kann,
infolge einer HIV-Infektion oder einer Chemotherapie ohne vernichtet zu werden.
­geschwächt; nach Organtransplantationen wird das auch Die Phagen in unserem Verdauungstrakt sorgen nicht
absichtlich medikamentös herbeigeführt. Das Immun­ nur für eine Balance des bakteriellen Mikrobioms, sondern
system hat es dann anscheinend deutlich schwerer, eindrin- treiben ebenso dessen Entwicklung voran. Lysogene Pha-
gende Viren zu erkennen und zu bekämpfen. gen, die sich ins Genom ihrer Wirtszellen einbauen, be-
Um Viren im Körper nachzuweisen und zu untersuchen, schleunigen deren Evolution – denn sie sorgen einerseits
setzen Forscher auf Methoden der Metagenomik. Das für mehr Änderungen im Erbgut und zwingen die Bakterien
heißt, sie extrahieren aus Körperproben möglichst sämtli- andererseits dazu, Schutzmechanismen gegen die infektiö-
ches genetisches Material (meist in Form von DNA) und sen Partikel zu entwickeln. Zudem transportieren sie gele-
sequenzieren es, um zu ermitteln, von welchen Organis- gentlich Gene zwischen den Mikroben hin und her. Dabei
men es stammt und wie zahlreiche diese in der Probe handelt es sich unter anderem um Erbanlagen, die Stoff-
vertreten sind. Bei Bakterien funktioniert das sehr gut, da wechselfunktionen erfüllen oder ihren Trägern Antibiotika-
deren Erbmoleküle immer aus DNA bestehen. Viren dage- resistenzen verleihen.
gen enthalten mitunter RNA als Träger der Erbinformation
und fallen deshalb oft durchs Raster gängiger Metageno- Gut für dich, gut für mich: Wenn
mik-Verfahren. Zwar kann man mit existierenden Me­ Parasiten ihren Wirtsorganismen helfen
thoden durchaus RNA-Viren detektieren, dies ist aber Das Virobiom erfüllt manch überraschende Funktion. So
deutlich schwerer, da man dann zwischen ihnen und der wiesen Rohwer und seine Kollegen in Bakteriophagen,
Boten-RNA von DNA-Viren unterscheiden muss. Deshalb die Mukoviszidose-Patienten besiedeln, bestimmte Gene
haben bisherige Studien die Größe des menschlichen nach, die für Enzyme eines sauerstofffreien (anaeroben)
Virobioms wohl unterschätzt, indem sie zahlreiche RNA-Vi- Stoffwechsels codieren. Da es in dem zähen Lungen-
ren nicht erfassten. schleim dieser Patienten an Sauerstoff mangelt, sind ent-
Mittlerweile gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass das sprechende Enzyme wichtig für die dort siedelnden Bakte­
bakterielle Mikrobiom uns in vielerlei Hinsicht beeinflusst. rien und somit auch für deren Phagen. Frederic D. Bushman
Höchstwahrscheinlich gilt das ebenso für unser Virobiom. und sein Team haben 2011 zudem belegt: Phagen, die
Doch auf welche Weise? Laut Tierversuchen haben steril dauerhaft im Darm vorkommen, vermitteln ihren bakteriel-
gehaltene Mäuse, die ohne Mikrobiom aufwachsen, ein len Wirtszellen nützliche Enzyme für den Kohlenhydrat-
stark verändertes Immunsystem. Denn die Bakterienflora und Aminosäurestoffwechsel. Offenbar profitieren die Viren
wirkt daran mit, die Immunabwehr zu »erziehen«: Die davon, wenn es den Mikroben gut geht. Schließlich haben
Forscher um Michel Favre vom Institut Pasteur in Paris
2009 berichtet, das Virobiom stehe mutmaßlich mit der
Wie Phagen ihre bakteriellen Wirte dezimieren, lässt Wundheilung in Verbindung: Eine besondere Art der Papil-
sich in Experimenten demonstrieren. Hier haben lomviren namens Beta-HPV könne Keratinozyten (Horn
Bakteriophagen ein Loch (einen »Lysehof«, Pfeil) in bildende Zellen der Oberhaut) zu starker Vermehrung anre-
eine Kultur von Bacillus anthracis gefressen. gen und so am Wundverschluss mitwirken.

CDC / COURTESY OF LARRY STAUFFER, OREGON STATE PUBLIC HEALTH LABORATORY

44 Spektrum der Wissenschaft  6.20


sen Aktivität drosselt, und vom Phagen BP erzeugten sie
eine mutierte Variante mit höherer Infektionsrate. Mit
diesem Virencocktail konnten sie den M.-abscessus-
Stamm, der Isabelle infiziert hatte, besiegen. Für andere
Bakterienstämme müsste man allerdings wieder eine neue
Mischung von gegebenenfalls modifizierten Phagen finden,
(DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PBIO.0020053) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

um eine ausreichende therapeutische Wirkung zu erzielen.


Das ist der Nachteil eines solchen zielgerichteten, individu-
POWLEDGE, T.M.: NEW ANTIBIOTICS - RESISTANCE IS FUTILE. PLOS BIOLOGY 2, E53, 2004, FIG. 2

ell zugeschnittenen Ansatzes.

Kampf gegen bakterielle Biofilme


Wissenschaftler forschen bereits an weiteren Formen der
Phagentherapie. Dabei geht es beispielsweise darum,
bakterielle Biofilme aufzulösen – Schleimschichten, in
denen die Mikroben eingebettet und vor äußeren Einflüs-
sen wie Antibiotika geschützt sind. James J. Collins von
der Boston University und Timothy K. Lu haben das 2007
demonstriert, indem sie Bakteriophagen mit biofilmabbau-
enden Enzymen ausstatteten und gegen solche Schleim-
schichten einsetzten, woraufhin diese sich fast vollständig
auflösten. Ein anderes Team um den Genetiker Rob Lavig-
ne von der Katholischen Universität Löwen in Belgien
Viruspartikel von Bakteriophagen (Bacillus phage versucht, gramnegative Bakterien zu bekämpfen, die mit
Gamma isolate d’Herelle), aufgenommen mit einem einer zusätzlichen Lipidschicht ausgestattet und daher sehr
Transmissions-Elektronenmikroskop. widerstandsfähig sind. Bakteriophagen verfügen über
Enzyme, die bakterielle Zellhüllen durchdringen können.
Indem Lavigne und sein Team solche Enzyme mit Hilfe von
Wahrscheinlich werden mit fortschreitender Erforschung Protein-Engineering-Verfahren zielgerichtet veränderten,
des Virobioms weitere Funktionen bekannt werden. Und entwickelten sie im Jahr 2014 so genannte Artilysine:
dann gibt es natürlich noch die Möglichkeit, dem Mikro- Moleküle, welche die Lipidschicht überwinden und krank
oder Virobiom bestimmte Fähigkeiten künstlich zu verlei- machende Bakterien binnen 30 Minuten zersetzen.
hen – im Rahmen der synthetischen Biologie. Durch Modifi- Phagentherapien können vielleicht einmal zu einer
zieren bestehender Erbanlagen oder das Einführen neuer mächtigen Waffe im Kampf gegen antibiotikaresistente
Gene lassen sich Bakterien oder Viren zielgerichtet verän- Bakterien werden, wie das Beispiel von Isabelle zeigt. Doch
dern, was ganz neue Therapieverfahren ermöglicht. Das bis dahin gilt es noch etliche regulatorische Hürden zu
war zum Beispiel der Fall bei der Phagentherapie der jungen überwinden. Es muss sichergestellt sein, dass solche
Isabelle Carnell-Holdaway. Zu den Vorteilen hierbei zählt, therapeuti­schen Bakteriophagen nicht zur Verbreitung von
dass unser Organismus dauerhaft von zahllosen Phagen Antibio­tika­resistenzgenen beitragen sowie jeweils gezielt
besiedelt ist, weshalb sie für den Körper grundsätzlich nur den gewünschten Bakterienstamm attackieren. Die
nichts Fremdes sind. Und weil sie meist spezifisch nur eine Werkzeuge, um diese Herausforderungen zu bewältigen,
Bakterienart infizieren, erlauben sie es, krank machende gibt es grundsätzlich schon heute, doch es liegt noch viel
Mikroben gezielt zu vernichten, ohne das restliche Mikrobi- Arbeit vor den Forschern. 
om zu schädigen (wie es bei Antibiotika der Fall ist).
Die Mediziner um Graham Hatfull und Helen Spencer
QUELLEN
wählten für die Behandlung Isabelles nicht nur eine Phagen-
spezies aus, sondern drei verschiedene, um die krank Breitbart, M., Rohwer, F.: Method for discovering novel
DNA viruses in blood using viral particle selection and shotgun
machenden Keime möglichst effektiv zu bekämpfen und
sequencing. Biotechniques 39, 2005
zugleich zu verhindern, dass diese resistent gegen die
Therapie werden. Sie begannen mit einer Auswahl von Bushman, F. D. et al.: Rapid evolution of the human gut virome.
PNAS, 2013
10 000 Phagen, von denen bekannt ist, dass sie das Bakteri-
um Mycobacterium smegmatis infizieren können – einen Hatfull, G. F. et al.: Engineered bacteriophages for treatment
Verwandten von Mycobacterium abscessus, den Erreger of a patient with a disseminated drug-resistant Mycobacterium
abscessus. Nature Medicine 25, 2019
von Isabelles Krankheit. Drei dieser Virenarten konnten in
den Versuchen auch M. abscessus angreifen. Eine davon, Lu, T. K., Collins, J. J.: Dispersing biofilms with engineered
als »Muddy« bezeichnet, setzten die Mediziner in natürli- enzymatic bacteriophage. PNAS 104, 2007

cher Form ein, die anderen beiden veränderten sie mit Pride, D. T. et al: Association between living environment and
gentechnischen Methoden, um ihnen höhere therapeuti- human oral viral ecology. ISME J 7, 2013
sche Wirksamkeit zu verleihen. Aus dem Genom des Bakte- Quake, S. R. et al.: Temporal response of the human virome to
riophagen ZoeJ entfernten sie ein Repressorgen, das des- immunosuppression and antiviral therapy. Cell 155, 2013

Spektrum der Wissenschaft  6.20 45


MEDIZIN
BLICK IN DEN KÖRPER
Die Entdeckung der Röntgenstrahlen läutete die klinische
Bildgebung ein – und ermöglichte das äußerst leistungs-
fähige Verfahren der Computertomografie.

Stefan Wesarg (links) ist Physiker und promovierter Informatiker. Er leitet


die Abteilung »Visual Healthcare Technologies« am Fraunhofer-Institut
für Graphische Datenverarbeitung IGD in Darmstadt. Emmanuelle Vaniet
ist promovierte Biologin und Journalistin in Darmstadt.

 spektrum.de/artikel/1725068


Als Wilhelm Conrad Röntgen im November des Jahres (im Englischen heißen sie weiterhin »x-rays«) weltweit als
1895 die X-Strahlen entdeckte, ahnte er noch nicht, zu überaus wichtiges Mittel der Medizindiagnostik etabliert –
welch dramatischem Sprung er der Medizin damit nicht nur bei Untersuchungen des Knochenapparats, son-
verhalf. Er hatte eine Kathodenstrahlröhre mit Strom ver- dern ebenso der Lunge, der Brust, der Zähne, des Magen-
sorgt, worauf daneben liegendes phosphoreszierendes Darm-Trakts, des Herzens oder der Blutgefäße. Die Rönt-
Papier plötzlich zu leuchten angefangen hatte. Kurze Zeit genbildgebung läuft meist wie folgt ab:
später nutzte er die Strahlen, um die Handknochen seiner In einer so genannten Röntgenröhre legt man zwischen
Frau Anna Bertha als Schattenriss auf einem Fluoreszenz- zwei Elektroden eine Hochspannung im Bereich von 10 bis
schirm abzubilden. Anfang 1896 präsentierte Röntgen seine 150 Kilovolt an. Aus einer der Elektroden, der Kathode,
Entdeckung vor der Physikalisch-Medizinischen Gesell- treten Elektronen aus und bewegen sich in Richtung der
schaft in Würzburg und durchleuchtete diesmal die Hand anderen Elektrode, der so genannten Anode. Beim Auftref-
Albert von Koellikers, des Ehrenpräsidenten der Gesell- fen auf diese wandelt sich die Energie der Elektronen zu
schaft. Koelliker war vom Anblick seiner eigenen Knochen einem kleinen Teil (rund ein Prozent) in Röntgenstrahlung
stark beeindruckt und erkannte als Anatom und Physiologe um, die seitlich aus der Röhre austritt.
nicht nur, dass man dadurch Veränderungen am Knochen- Trifft die Röntgenstrahlung nun auf ein Medium wie
gerüst darstellen könne – sondern auch, dass dies einen menschliches Gewebe, nimmt dieses die Strahlung zum Teil
Paradigmenwechsel in der Medizin bedeutete. auf (»Absorption«) und vermindert damit den Anteil, der das
Seither haben sich die »Röntgen’schen Strahlen«, wie sie Medium durchdringt. Maßgeblich dafür ist, welche Weg-
auf Koellikers Vorschlag hin im Deutschen genannt wurden strecke die Strahlen in dem jeweiligen Objekt zurücklegen
müssen und wie stark es absorbiert.
Ein Detektor fängt die durch das Objekt hindurch getrete-
ne, abgeschwächte Röntgenstrahlung auf und erfasst die
AUF EINEN BLICK Stärke der Strahlung.
REVOLUTION IN DER DIAGNOSTIK Was dabei auf dem Detektor entsteht, ist eine Projektion
des aufzunehmenden Objekts. Jeder Bildpunkt entspricht

1 Die Entdeckung der Röntgenstrahlen ermöglichte es, in


den Körper zu blicken, ohne ihn zu öffnen.
der Gesamtabsorption eines Strahls, der das Objekt durch-
drungen hat. Das Röntgenbild eines Körperteils stellt somit
viele hintereinander liegende Strukturen dar, wodurch

2 In den 1960er Jahren entwickelte der Brite Godfrey


Hounsfield die Technik entscheidend weiter, indem er
die Grundlagen der Computertomografie (CT) legte.
deren Umrisse oft nicht scharf begrenzt sind. Große Unter-
schiede in dem Anteil der Strahlung, die das Objekt passie-
ren kann, finden sich vor allem dort, wo starke Dichteab-
weichungen bestehen – etwa zwischen Luft (kaum Absorp-
3 Dank ständiger Verbesserung erlaubt es die CT heute,
binnen weniger Sekunden hochauflösende Bilder vom
Körperinnern zu liefern.
tion), Muskel- oder Fettgewebe (mittlere Absorption) sowie
Knochen oder Zähnen (starke Absorption). Deshalb spielt
die klassische Röntgendiagnostik vor allem dann eine Rolle,
wenn Ärzte die Lunge, das Skelett oder den Zahnapparat

46 Spektrum der Wissenschaft  6.20


SERIE
Die Röntgen-Revolution

Teil 1: Mai 2020


Als die Welt durchsichtig wurde
Dirk Eidemüller
Teil 2: Juni 2020
Blick in den Körper
Stefan Wesarg, Emmanuelle Vaniet
Teil 3: Juli 2020
Röntgenastronomie
Belinda J. Wilkes
ZEPHYR / SCIENCE PHOTO LIBRARY

Bei einer Koronarangiografie der Herzkranzgefäße birgt. Dennoch hat sie eine große Bedeutung für die Herz­
spritzen die Ärzte ein Kontrastmittel in den Blut­kreis- diagnostik erlangt. Mediziner nehmen dabei nicht nur ein
lauf, so dass die blutgefüllten Gefäße mehr Rönt- einzelnes Bild auf, sondern eine ganze Bildserie, die dar-
genstrahlung absorbieren. Dadurch heben diese sich stellt, wie sich das Kontrastmittel nach seinem Einspritzen
stärker vom umgebenden Gewebe ab. im Blutgefäß verteilt. Das hilft unter anderem, Verengungen
der Gefäße zu erkennen, die unbehandelt zu einem Herzin-
farkt führen können (siehe Bild oben).
untersuchen. 2014 entfielen in Deutschland 40 Prozent der Die Aussagekraft von Röntgenbildern ist allerdings
Röntgenuntersuchungen auf die Zahnmedizin, 29 Prozent begrenzt. Denn räumliche Strukturen lassen sich aus zwei-
betrafen das Skelett und 10 Prozent den Bereich des Brust- dimensionalen Projektionsbildern nur schwer oder gar nicht
korbs. Bis heute stellt also die Analyse von Knochenstruktu- rekonstruieren. In den 1960er Jahren versuchte der briti-
ren einen Schwerpunkt der Röntgendiagnostik dar. sche Elektrotechniker Godfrey Hounsfield beim Unterneh-
men Electric and Musical Industries (EMI) deshalb, die
Mehr Kontrast, mehr Erkenntnis Röntgenmethode derart abzuwandeln, dass sich damit das
Eine spezielle Form der Röntgenbildgebung ist die so Körperinnere dreidimensional darstellen lässt. EMI war um
genannte Koronarangiografie, die seit den 1960er Jahren diese Zeit nicht nur im Musikbusiness tätig, es war auch an
zur Herzkreislaufmedizin gehört. Dabei machen Mediziner der Entwicklung von Radargeräten und Computern betei-
die feinen Herzkranzgefäße sichtbar, indem sie deren ligt. Der Firmenumsatz schoss wegen der enormen Erfolge
Absorption mit Hilfe eines jodhaltigen Kontrastmittels der Beatles, die damals bei EMI unter Vertrag standen,
verstärken. Hierfür schieben sie einen Katheter – meist von stark in die Höhe. Hounsfield wurde deshalb ein großzügi-
einer Arterie in der Leistengegend aus – in Richtung des ger Freiraum gewährt, um sich ein Forschungsgebiet nach
Herzens vor, um das Kontrastmittel zielgerichtet in das Wahl auszusuchen, und er wendete sich der Röntgentech-
darzustellende Gefäß einzubringen. Die Koronarangiografie nik zu. 1968 entwarf er den ersten Prototyp eines Compu-
ist somit ein invasives Bildgebungsverfahren, wobei das tertomografen (CT). In dem Gerät waren die Röntgenquelle
Eindringen in den Körper für Patienten potenzielle Gefahren und der Röntgendetektor miteinander gekoppelt – was

Spektrum der Wissenschaft  6.20 47


später als »Gantry« für »Portal« oder »Gerüst« bezeichnet kleines Stück senkrecht zur Rotationsebene und wiederholt
wurde – und rotierten gemeinsam um das aufzunehmende das ganze Verfahren, erhält man das Schnittbild der nächs-
Objekt herum (siehe Bild S. 49). So ließ sich dieses aus ten Körperschicht und so weiter.
vielen verschiedenen Winkeln durchleuchten. Während sich die dreidimensionale Struktur des Körper-
Das Wort Tomografie ist zusammengesetzt aus dem innern relativ einfach durch Aneinanderreihen der Schnitt-
griechischen »tomé« (»Schnitt«) und »gráphein« (»schrei- bilder ergibt, ist deren Gewinnung aus den jeweiligen Rönt-
ben«). Der Begriff beschreibt recht gut das Prinzip dieser genabsorptionsprofilen weitaus komplizierter und stützt
Methode: Im Gegensatz zu einer gewöhnlichen Röntgen- sich teilweise auf komplexe mathematische Werkzeuge. Die
aufnahme durchleuchten die Mediziner hier nicht mehr den theoretischen Grundlagen dazu legte der österreichische
kompletten Querschnitt der interessierenden Körperregion, Mathematiker Johann Radon im Jahr 1917. Er führte eine
sondern tasten mit einem flächigen Strahlenbündel eine mathematische Operation ein – die Radon-Transformati-
dünne Schicht daraus ab. Die Strahlung, die den Organis- on –, die das Linienintegral einer Funktion längs aller Gera-
mus durchdrungen hat, wird nicht mehr mit einem groß­ den innerhalb einer Ebene bestimmt. Ohne von Radons
flächigen Detektor aufgenommen, sondern mit linear Arbeiten zu wissen, wandte der südafrikanische Physiker
aneinandergereihten, kleinen Detektorelementen – einer so Allan McLeod Cormack ähnliche Konzepte auf die Absorp­
genannten Detektorzeile. Jedes einzelne Element erfasst tion von Röntgenstrahlen in menschlichem Gewebe an und
idealisiert einen einzelnen Röntgenstrahl, der auf seinem stellte 1964 erstmals Methoden vor, die aus solchen Ab-
Weg durch den Körper mehr oder weniger stark abge- sorptionswerten die Rekonstruktion eines Querschnittbilds
schwächt wurde. Lässt man jetzt die Gantry ein wenig ermöglichen. Hounsfield selbst kannte weder Radons noch
rotieren und macht eine neue Aufnahme, durchleuchtet das Cormacks Arbeiten, und er entwickelte noch einmal unab-
Strahlenbündel den Organismus aus einem anderen Win- hängig davon eigene Methoden einer solchen Herleitung.
kel. Das Kombinieren mehrerer Absorptionsprofile aus Wird ein Objekt mit Röntgenstrahlen durchleuchtet,
verschiedenen Winkeln erlaubt es, die Dichteverteilung lassen sich mit Hilfe der Radon-Transformation seine Ab-
innerhalb der abgetasteten Schicht zu rekonstruieren, also sorptionsprofile berechnen – und zwar anhand der Dichte-
deren innere Struktur. Bewegt man den Patienten ein verteilung des Objekts in der jeweils interessierenden
Schicht. Mittels einer Rücktransformation ist auch der
umgekehrte Weg möglich, nämlich die Herleitung der
Dichteverteilung (also des Schnittbilds) aus den Absorpti-
Glossar onsprofilen. Bis heute dient hierfür eine inverse Radon-
Transformation namens gefilterte Rückprojektion. Dabei
Absorption von Röntgenstrahlung: Das Ausmaß, projiziert man die Absorptionsprofile gewissermaßen auf
in dem ein Medium, das von Röntgenstrahlen das Objekt zurück, indem man sie entlang der jeweiligen
durchdrungen wird, diese Strahlung aufnimmt und Strahlrichtung über das ganze Bild »verschmiert«. Wieder-
somit »verschluckt«. Je (röntgen-)dichter das Mate- holt man das mit allen Absorptionsprofilen, die aus ver-
rial, umso weniger Strahlung lässt es passieren. schiedenen Winkeln aufgenommen wurden, und überlagert
man alle dabei gewonnenen Rückprojektionen, lässt sich
Absorptionsprofil: Die von einer Detektorzeile die Dichteverteilung rekonstruieren, allerdings nur ver-
ausgelesenen Absorptionswerte einer Körper- schwommen. Die vorherige Anwendung eines speziellen
schicht, die ein Röntgenstrahlenbündel flächig Filterverfahrens auf die Absorptionsprofile hilft, diese
durchleuchtet. Unschärfe zu korrigieren – daher der Begriff gefilterte
Rückprojektion.
Detektorzeile: Eine Reihe mehrerer Detektorele-
mente in einem Computertomografen, die das Schrittweise Annäherung von der
Röntgenlicht registrieren, das den Patienten durch- vermuteten an die tatsächliche Struktur
quert hat. Mittlerweile setzen die Mediziner weitere Rekonstruk­
tionsmethoden ein, die zwar genauer, allerdings rechenin-
Gantry: Verbund aus einer Röntgenquelle und tensiver sind. So genannte iterative Techniken starten
einem Detektor(-Arrangement), der in einem beispielsweise mit einer bestimmten Annahme über das
Computertomografen um den Patienten rotiert. zu rekonstruierende Bild, berechnen daraus die resultieren-
den Absorptionsdaten, vergleichen diese mit den echten
Schnittbild: Eine zweidimensionale Aufnahme, die Daten und verändern das Bild daraufhin, um die Differenz
die Dichteverteilung einer dünnen Körperschicht zu verkleinern. Dieser Prozess läuft mehrmals durch, bis
wiedergibt. Sie wird beim Durchleuchten des die angenommenen Projektionsdaten mit den tatsächlichen
Körpers mit Röntgen-Fächerstrahlen gewonnen Messwerten weitestgehend übereinstimmen.
und aus mehreren Absorptionsprofilen berechnet, EMI brachte 1972 den ersten kommerziellen CT-Scanner
die aus verschiedenen Winkeln aufgenommen auf den Markt, vor allem für Untersuchungen im Kopfbe-
wurden. reich. Das Gerät ermöglichte es unter anderem, Hirnblutun-
gen von Durchblutungsstörungen zu unterscheiden, ent-
zündliche beziehungsweise altersbedingte Prozesse zu er-

48 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Die Hounsfield-Skala

Die Aufnahme eines Computerto- und demselben Gerät während Hounsfield-Einheiten (HE). Der
mografen gibt die Absorptionswer- eines Scanvorgangs. Daher spei- Nullpunkt dieser Skala ist als der
te der Strahlung in der jeweils chert das System zu jedem auf­ Absorptionswert von Wasser
betrachteten Körperschicht wieder. genommenen Schnittbild verschie- definiert, ihr Minimum entspricht
Das sind allerdings zunächst Roh- dene Informationen, die das Ein­ dem Absorptionswert von Luft. Auf
werte, die noch normiert werden ordnen in eine standardisierte einem normierten CT-Bild besitzen
müssen. Denn sie hängen von der Messskala erlauben: die Houns- Knochen einen Absorptionswert
Energie des Röntgenstrahls ab, und field-Skala. Diese ist nach dem von 1000 HE und mehr, während
diese Energie variiert nicht nur Erfinder der Computertomografie sich Organe, Muskeln und Fett im
zwischen verschiedenen Geräten, Godfrey Hounsfield benannt und Bereich zwischen –220 bis +100 HE
sondern verändert sich auch bei ein erstreckt sich von –1000 bis +3000 wiederfinden.

kennen, kleine Tumoren eindeutig zu diagnostizieren und wegungen resultieren (etwa infolge des Atmens) und
Feinstrukturen zu sehen, die man bis dahin nur bei Autop­ dadurch Bilder besserer Qualität zu erzeugen.
sien Verstorbener zu Gesicht bekommen hatte. Die Einfüh- Ein Meilenstein war die Einführung des Spiralscanners
rung der CT entpuppte sich schon bald als enormer medizi- 1987. Bis dahin hatten CT-Geräte ihre Gantry immer einmal
nischer Durchbruch; Hounsfield und Cormack erhielten für vollständig rotiert, bevor der auf dem Untersuchungstisch
ihre Verdienste im Jahr 1979 gemeinsam den Nobelpreis für liegende Patient ein Stück weiter geschoben und das
Physiologie oder Medizin. Seither werden die Geräte konti- nächste Schnittbild aufgenommen wurde. Der Spiralscan-
nuierlich weiterentwickelt, um möglichst jede Körperregion ner jedoch, den der Physiker Willi Kalender bei Siemens
in hoher Auflösung zu untersuchen – und um die Scanzei- Medical Systems in Erlangen entwarf, kombiniert ein
ten immer weiter zu verringern, bis in den Bereich weniger permanentes Rotieren der Gantry mit einem kontinuierli-
Sekunden hinein. Dies ist einerseits wichtig, um die Strah- chen Tischvorschub. Dadurch bewegt sich die Quelle-De-
lenbelastung zu minimieren – andererseits aber auch, um tektor-Einheit auf einer Spiralbahn um den Patienten herum,
Bildstörungen möglichst klein zu halten, die aus Körperbe- was die Untersuchungszeit erheblich verkürzen hilft. Weil
der Patiententisch aber während der Messung vorwärts-
fährt, entstehen Bildartefakte, die beim Rekonstruieren der
Bei einer Computertomografie rotiert die Gantry um Schnittbilder mittels einer so genannten Interpolation
den Patienten und erfasst mit einem Fächerstrahl korrigiert werden müssen. Der Computer setzt hier für
eine dünne Körperschicht aus vielen verschiedenen fehlende Daten zwischen den Absorptionsprofilen gegenei-
Winkelstellungen. nander versetzter Winkelstellungen auf der Spiralbahn
Schätzwerte ein und korrigiert noch andere Werte, die zu
Rotation der Röntgeneinheit und
des Detektors Fehlern führen könnten.
Röntgeneinheit
Das Verfahren der Interpolation ließ sich mit Mehrzeilen-
= Röhre CTs vereinfachen, die ab Ende der 1990er Jahre zum Einsatz
kamen. Statt jeweils nur eine Körperschicht zu untersu-
chen, durchleuchten diese Geräte mehrere benachbarte
Schichten zugleich und nehmen deren Absorptionsprofile
entsprechend mit mehreren Detektorzeilen auf. Eine einzel-
Scaneinheit ne Rotation der Gantry deckt somit einen breiteren Bereich
= Gantry
des Körpers ab, was die Untersuchungszeit deutlich redu-
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: COMPUTERTOMOGRAPHIE, SIEMENS MEDICAL, 2006

ziert und zudem bessere Interpolationsmöglichkeiten beim


Rekonstruieren der Schnittbilder bietet. Mehrzeilige Spiral-
CTs erlauben es in vielen Fällen, eine Röntgenuntersuchung
in wenigen Sekunden durchzuführen, was somit innerhalb
einer Atempause erfolgen kann. Das verbessert die Lungen-
diagnostik erheblich, hat aber ebenso bei der Herzbildge-
Patiententisch
bung neue Möglichkeiten eröffnet. Findet eine Mehrzeilen-
spiral-CT gleichzeitig mit einem Elektrokardiogramm (EKG,
der Aufzeichnung der elektrischen Aktivitäten des Herz-
muskels) statt, dann lassen sich daraus räumliche Bilder er-
Detektor­ zeugen, die die unterschiedlichen Phasen des schlagenden
Herzens präzise darstellen.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 49


Mehrzeilige Spiral-CT-Geräte erfuhren kurz nach der Mittels DECT
Jahrtausendwende eine zusätzliche Erweiterung in Form gemessene und
der so genannten Dual-Source-CT. Hier besteht die Gantry rekonstruierte
nicht mehr nur aus einem Röntgenquelle-Detektor-Paar, Verteilung der
sondern aus zwei solchen Paaren, die gegeneinander um Knochendichte in
90 Grad verdreht sind (siehe Bild unten). Dies hat zwei einem Wirbelkör-
Vorteile für die Bildgebung. Zum einen misst das Gerät die per. Rote Regio-
Absorptionswerte gleichzeitig aus zwei verschiedenen nen signalisieren
Winkeln, was die erforderliche Scanzeit weiter reduziert. niedrige Dichte

STEFAN WESARG
Zum anderen besteht die Möglichkeit, die beiden Röntgen- und sind ein
quellen mit unterschiedlichen Energien zu betreiben – Fach- Hinweis auf
leute nennen dieses Verfahren Dual-Energy-CT (DECT). Sein Osteoporose.
großer Pluspunkt: Verschiedene Körpergewebe zeigen bei
veränderter Röntgenenergie eine leicht unterschiedliche
Abweichung ihres Absorptionsverhaltens. Deshalb lassen basieren. Sie ermöglichen es beispielsweise, die Knochen-
sich Gewebe, die auf einem normalen CT-Bild die gleichen dichte von Wirbelkörpern räumlich und farbcodiert dar­
Absorptionswerte zeigen und daher schlecht voneinander zustellen, was es Ärzten erlaubt, Bereiche niedriger Dichte
zu separieren sind, mit DECT durchaus abgrenzen. zu erkennen – wichtig für Osteoporose-Untersuchungen.
Direkte Anwendung findet das beim Einsatz von Rönt- Dass die Patienten bei der Dual-Source-CT die doppelte
genkontrastmitteln. Denn diese Substanzen sind auf Rönt- Strahlendosis erhalten, wie es auf den ersten Blick scheint,
genbildern oft schwer von dichten Strukturen wie Knochen stimmt dabei nur teilweise. Zwar bekommen sie pro Rotati-
zu unterscheiden. Allerdings absorbieren viele Kontrast­ on der Gantry die doppelte Dosis, verglichen mit der klassi-
mittel stärker bei niedrigen Röntgenenergien als im hoch- schen Computertomografie, da sie gleichzeitig von zwei
energetischen Bereich – und unterscheiden sich darin von Quellen bestrahlt werden statt nur von einer. Jedoch ist mit
Knochen. Es wird damit möglich, nichtknöcherne Objekte Dual-Source-CT die Zeitersparnis beim Scannen so hoch,
niedriger Dichte, die dank des Kontrastmittels stärker dass die insgesamt während der Untersuchung anfallende
sichtbar sind, als solche zu identifizieren. Mit DECT lassen Dosis kleiner ausfällt als bei der Single-Source-CT.
sich unter anderem innere Blutungen besser untersuchen
sowie die Zusammensetzung von Nierensteinen oder Nur so gut wie absolut nötig
Knochen präziser bestimmen. Die Arbeitsgruppe von einem Ohnehin gehört das Minimieren der Strahlendosis zur
von uns (Wesarg) am Fraunhofer-Institut für Graphische Da- Grundregel jeder CT-Untersuchung: Die Ärzte machen nur
tenverarbeitung in Darmstadt hat Algorithmen zur Drei-D- Aufnahmen, die qualitativ gerade ausreichen, um die jewei-
Bildgebung entwickelt, die unter anderem auf DECT-Daten lige medizinische Frage zu klären – aber keine besseren
Bilder, die eine intensivere Bestrahlung erfordern würden.
Die effektive Strahlenbelastung einer CT-Untersuchung
Bei der Dual-Source-CT rotieren zwei um 90 Grad ver- liegt derzeit zwischen 1 und 10 Millisievert, das entspricht
setzte Quelle-Detektor-Paare simultan um den Pa­ dem 0,5- bis 5-fachen der Dosis, die eine in Deutschland
tienten. Die beiden Röntgenquellen lassen sich dabei lebende Person im Mittel pro Jahr auf Grund natürlicher
mit unterschiedlichen Energien betreiben. Exposition erhält. Strahlenmediziner schätzen das als ein
vertretbares Risiko ein – und die Ärzte arbeiten daran, bei
Quelle B jeder CT-Aufnahme die Strahlintensität an die Anatomie des
Patienten anzupassen, um die Dosis weiter zu reduzieren.
Rotationsrichtung Dies gelingt ihnen mit verschiedenen Maßnahmen:
Da der Querschnitt des menschlichen Körpers eher oval
Detektor A
als kreisförmig ist, reduzieren sie die Strahlenintensität
beim Durchleuchten des Körpers von vorn oder hinten,
verglichen mit dem Durchleuchten von der Seite.
Quelle A
Körperbereiche wie den Bauch oder die Lunge, die weni-
ger stark absorbieren, untersuchen sie mit schwächeren
Strahlen.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: SIEMENS-HEALTHINEERS.COM/
DE/COMPUTED-TOMOGRAPHY/NEWS/MSO-BACK-TO-THE-FUTURE.HTML

Sie achten darauf, außen liegende und empfindliche Orga-


ne wie die weibliche Brust zu schonen.
Bei Kindern und schlanken Patienten setzen sie von vorn-
herein eine niedrigere Intensität ein als bei beleibten Men-
schen.
Detektor B Auch mit Hilfe besserer Rekonstruktionsverfahren lässt
sich die verabreichte Dosis verkleinern. Die bereits erwähn-
ten iterativen Techniken nutzen beispielsweise statistische
Modelle, die nicht nur die Daten jeweils eines einzelnen

50 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Detektorelements, sondern auch mehrerer Nachbarelemen- mit der Magnetresonanztomografie (MRT), die ohne ionisie-
te einbeziehen. Dadurch kommen sie mit weniger präzisen rende Strahlen auskommt und somit weniger schädlich ist.
Daten aus, was eine geringere Strahlenintensität erlaubt. Bei der Darstellung weicher Gewebe wie Muskeln oder
Durch zusätzliche Modellierung des Rauschverhaltens lässt Gehirn kann die MRT bessere Bilder liefern. Allerdings ist
sich die Dosis insgesamt um bis zu 60 Prozent reduzieren. sie wegen ihrer langen Aufnahmezeiten, die zwischen 15
Die Herausforderung beim Entwickeln neuer Systeme und 30 Minuten betragen, vielfach im Nachteil – etwa bei
besteht darin, bei gleich bleibender oder sinkender Dosis Notfällen oder wenn es um die Untersuchung medizinisch
die Qualität der aufgenommenen Bilder zu erhöhen. Ingeni- intensiv zu betreuender Patienten geht. Hier bleibt die
eure entwickeln hierzu unter anderem neue Detektoren, Computertomografie, deren Scanzeiten im Sekundenbe-
deren Sensorelemente nur noch ein Viertel der gängigen reich liegen, das Mittel der Wahl, zumal sie räumlich hoch-
Größe besitzen und damit die Aufnahme feinerer anatomi- auflösende Analysen des schlagenden Herzens, der Leber
scher Details ermöglichen. Zudem führen sie künstliche oder der Lunge erlaubt. Bis heute erwecken solche Bilder
Intelligenz und Deep Learning in die Rekonstruktionsverfah- dieselbe Faszination, die Albert von Koelliker vor 125 Jahren
ren ein. Dabei lernen Algorithmen anhand tausender qua­ empfand, als er das Skelett seiner Hand erblickte. 
litativ hochwertiger Aufnahmen, Bildrauschen und -arte­
fakte zu identifizieren und aus den Daten herauszufiltern. QUELLEN
Dies hat zu Bildern von noch nie dagewesener Auflösung
Boedeker, K.: AiCE deep learning reconstruction: Bringing the
geführt und die Ära der »ultrahochauflösenden CT« einge- power of ultra-high resolution CT to routine imaging. Canon
läutet. Medical Systems Corporation, 2019
Die Entdeckung der X-Strahlen vor 125 Jahren markierte Hounsfield, G. N.: Computerized transverse axial scanning
die Geburtsstunde der klinischen Bildgebung – eine Revolu- (tomography). British Journal of Radiology 46, 1973
tion in der Medizin. Sie machte es möglich, ins Innere des
Kalender, W. A. et al.: Spiral volumetric CT with single-breath-
Körpers zu blicken, ohne ihn zu öffnen. Und die Einführung hold technique, continuous transport, and continuous scanner
der Computertomografie in den 1970er Jahren erschloss rotation. Radiology 176, 1990
eine ganz neue Dimension anatomischer Detailuntersu-
Röntgen, W. C.: Über eine neue Art von Strahlen. Sitzungsbe-
chungen. Seither verläuft die technische Weiterentwicklung richte der Physikalisch-Medizinischen Gesellschaft zu Würzburg.
kontinuierlich zu stets besseren Bildqualitäten und geringe- Springer, Berlin, Göttingen und Heidelberg, Jg. 1895 und Jg.
ren Strahlendosen hin. Heute konkurriert die CT vor allem 1896

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Spektrum der Wissenschaft  6.20 51
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Seit Jahren steckt die Arzneimittelforschung in der
Krise: Es wird immer schwerer, effektive Wirkstoffe
zu finden. Viele Pharmakonzerne setzen ihre Hoff­
nungen deshalb auf künstliche Intelligenz. Aber kön­
nen die selbstlernenden Algorithmen den Erwar­
tungen standhalten?

David H. Freedman ist ein Wissenschaftsjournalist


aus Boston in den Vereinigten Staaten.

 spektrum.de/artikel/1725072


Bevor ein Wirkstoff für den Einsatz beim Menschen
zugelassen wird, muss er zahlreiche Tests durchlaufen.
Häufig kommt es dabei vor, dass viel versprechende
Kandidaten unerwarteterweise doch noch ausscheiden.
Einer der Gründe dafür sind die Cytochrome P450 (CYP450):
eine Reihe von Enzymen, die hauptsächlich die Leber
produziert. Sie zersetzen verschiedene Chemikalien und
verhindern dadurch, dass sich diese im Blutkreislauf zu
gefährlichen Mengen aufschaukeln. Wie sich herausstellt,
hemmen viele Wirkstoffe die Produktion von CYP450, was
sie für den Menschen toxisch macht.
Pharmafirmen versuchen daher vorab herauszufinden,
welche Kandidaten eine solche Nebenwirkung haben
könnten. Unter anderem analysieren sie das potenzielle
Medikament im Reagenzglas, vergleichen, wie ähnliche,
bereits bekannte Wirkstoffe mit CYP450 reagieren oder

Selbstlernende Algorithmen durchsuchen


riesige Datenbanken nach chemischen
Verbindungen, die sich als Medikament
eignen könnten.
YUUJI / GETTY IMAGES / ISTOCK

52 Spektrum der Wissenschaft  6.20


AUF EINEN BLICK
KI FÜR PHARMAFORSCHUNG

1 Firmen müssen immer mehr Zeit und Geld investieren,


um neue Arzneimittel hervorzubringen.

2 KI könnte verschiedene Bereiche der Medikamenten-


entwicklung unterstützen, von der Identifizierung eines
schädlichen Proteins bis hin zu einem Molekül, das es
blockiert.

3 Doch Wissenschaftler warnen vor einem Hype. Noch


steckt die Forschung in den Kinder­schuhen; kaum
eines der Medikamente hat es bisher in das Stadium
von Tierversuchen geschafft.
YUUJI / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  6.20 53


führen Tierversuche durch. Allerdings erweisen sich etwa erste Firmen begonnen, die viel versprechenden modernen
ein Drittel der so gewonnenen Vorhersagen als falsch. In Technologien zu nutzen. So haben etwa Forscher des
diesen Fällen zeigen erst Versuche an Menschen, dass sich US-amerikanischen Pharmaunternehmens Bristol-Myers
der Wirkstoff nicht eignet – was hohe Geldsummen und Squibb aus New York kürzlich ein maschinelles Lernpro-
jahrelange Arbeit verschwendet. gramm entwickelt, das besser vorhersagen soll, welche
Wegen solcher und anderer Schwierigkeiten steckt die Arzneimittel die CYP450-Produktion hemmen könnten. Laut
Medikamentenentwicklung in der Pharmaindustrie seit min- Saurabh Saha, dem Senior Vice President für Forschung
destens zwei Jahrzehnten in einer Krise. Die Unternehmen und Entwicklung des Konzerns, seien die Ergebnisse des
geben zunehmend Geld aus – die zehn größten investieren Algorithmus um 95 Prozent genauer als herkömmliche
inzwischen fast 80 Milliarden Euro jährlich – und bringen Methoden – wodurch sechsmal weniger Medikamente
dabei immer weniger erfolgreiche Wirkstoffe hervor. Das ausfallen würden. »Die KI kann frühzeitig potenziell toxische
hat gleich mehrere Gründe. Zum einen ist das Gebiet abge- Wirkstoffe ausschließen, bevor man allzu viel in sie inves-
grast: Die einfachsten Substanzen, mit denen man häufige tiert«, sagt der Chief Data and Analytics Officer Vipin Gopal
Krankheiten behandelt, sind bereits gefunden. Die noch vom US-amerikanischen Pharmakonzern Eli Lilly in Indiana.
ungelösten Probleme sind extrem komplex. Zudem betref-
fen viele der anvisierten Erkrankungen nur kleine Teile der Revolution in der medizinischen Forschung oder
Bevölkerung, was zu deutlich niedrigeren Einnahmen führt. verfrühte Euphorie?
Die durchschnittlichen Kosten für die Markteinführung Die Investitionen in neue Technologien haben sich in den
eines Medikaments haben sich zwischen 2003 und 2013 letzten Jahren drastisch erhöht. 2018 konnten neu gegrün-
fast verdoppelt und betragen nun rund 2,3 Milliarden Euro, dete Unternehmen, die mit KI-basierten Methoden an
berichtet das unabhängige Tufts Center for the Study of Arzneimitteln forschen, bereits über mehr als eine Milliarde
Drug Development. Auch die Dauer von den ersten Labor- Euro verfügen – Tendenz stark steigend. Inzwischen hat
tests bis zur Zulassung hat sich inzwischen auf zwölf Jahre jedes große Pharmaunternehmen angekündigt, mit einer
verlängert. Besonders frustrierend ist dabei, dass etwa solchen Firma zusammenzuarbeiten.
90 Prozent der Medikamente erst in späten Phasen, wäh- So viel versprechend das auch klingt, einige Experten
rend der Versuche an Menschen, ausscheiden. warnen vor verfrühter Begeisterung. Kaum einer der durch
Deshalb interessiert sich die Pharmaindustrie zuneh- eine KI entdeckten Wirkstoffe ist bisher für Versuche an
mend für neue Technologien wie künstliche Intelligenz. Menschen vorgesehen – und keiner hat es in die dritte
Solche Algorithmen brauchen keinen Experten, der ihnen klinische Phase geschafft, den wichtigsten Test für Medika-
genaue analytische Techniken einprogrammiert. Stattdes- mente. Saha räumt ein, dass sich erst in einigen Jahren
sen übergibt man ihnen zahlreiche Eingangsdaten (etwa zeigen wird, ob sein Unternehmen dank präziser CYP450-
Moleküle) und die dazugehörigen Ergebnisse (wie sich die Hemmungen wirklich mehr Zulassungen erhält.
Moleküle als Wirkstoff verhalten). Die Software entwickelt Neben künstlicher Intelligenz haben Pharmafirmen auch
dann eigene Ansätze, um zu erklären, wie die Resultate zu in andere innovative Methoden investiert. Seit über einem
Stande kommen. Jahrzehnt entwickeln Forscher immer bessere statistische
Modellierungsprogramme, mit denen sie verschiedene
biophysikalische Prozesse am Computer simulieren. Zudem
90 Prozent der potenziellen Me­- gab es große Fortschritte im Bereich der Bioinformatik, in

dikamente scheiden erst durch dem es darum geht, biologische Erkenntnisse aus riesigen
Datenmengen abzuleiten. Das ermöglicht es Wissenschaft-
Versuche am Menschen aus lern, die Eigenschaften von Molekülen immer korrekter
vorherzusagen.
Doch all diese Methoden haben einen Nachteil. Sie
Die Forscher nutzen dabei hauptsächlich zwei verschie- hängen vom Wissen der Forscher ab, das in der Regel
dene Formen künstlicher Intelligenz: maschinelles Lernen unvollständig ist. Wenn unklar ist, welche Merkmale ent-
und das so genannte Deep Learning. Programme aus der scheidend sind, kann man einer Software nicht sagen, wie
ersten Kategorie benötigen geordnete und beschriftete sie die Daten verarbeiten soll. KI leitet dagegen eigenstän-
Datensätze, während Deep-Learning-Algorithmen mit dig Erkenntnisse ab, wodurch sie erkennt, welche Informa-
unstrukturierten Daten umgehen können – hierbei brau- tionen wichtig sind und wie sie zusammenhängen.
chen sie aber viel größere Mengen. Man kann einem ma- Selbstlernende Algorithmen lassen sich auf mehrere
schinell lernenden Programm zehntausende Bilder beschrif- Bereiche der Medikamentenherstellung anwenden. Einige
teter Zellen vorsetzen, wodurch es lernt, die verschiedenen Firmen konzentrieren sich etwa darauf, einen Wirkstoff zu
Merkmale einer Zelle zu erkennen. Eine Deep-Learning-Ver- finden, der ein so genanntes Target effektiv ausschaltet.
sion identifiziert hingegen selbstständig die Eigenschaften Dabei handelt es sich meist um ein Protein, das mit einer
unmarkierter Bilder, benötigt aber möglicherweise hundert- bestimmten Krankheit zusammenhängt. Forscher suchen
tausende oder gar Millionen Beispiele. dann nach einem Molekül, das an das Target bindet und es
Viele Wissenschaftler glauben, dass solche Ansätze so verändert, dass es nicht mehr zur Erkrankung oder ihren
neue Wirkstoffe hervorbringen und den Prozentsatz zuge- Symptomen beiträgt. Das kanadische Biotechnologieunter-
lassener Medikamente erhöhen werden. Inzwischen haben nehmen Cyclica in Toronto arbeitet an einer Software, die

54 Spektrum der Wissenschaft  6.20


biochemische Wechselwirkungen von Millionen verschie- einer gefährlichen Dosis anreichern. Die Software von
dener Moleküle mit etwa 150 000 Proteinen abgleicht. Cyclica berücksichtigt all diese Anforderungen.
Geeignete Wirkstoffkandidaten müssen aber zusätzliche Biomediziner gehen davon aus, dass an komplexen
Hürden überwinden. »Ein Molekül, das mit einem Target Krankheiten wie Krebs Hunderte von Proteinen beteiligt
reagiert, tut das normalerweise auch mit mehr als 300 wei- sind. Cyclica möchte deshalb Moleküle finden, die mit
teren Proteinen«, erklärt Naheed Kurji, CEO von Cyclica. dutzenden Targets wechselwirken, zugleich aber alle le-
»Die anderen 299 Wechselwirkungen könnten sich kata­ benswichtigen Proteine unberührt lassen. Gegenwärtig
strophal auf den Menschen auswirken.« Zudem sollten die speisen die Forscher ihre Programme mit anonymisierten
Wirkstoffe durch den Darm in den Blutkreislauf gelangen, genetischen Daten, um herauszufinden, bei welchen Pati-
ohne dass die Leber oder weitere Stoffwechselprozesse sie enten die potenziellen Medikamente am besten wirken.
sofort abbauen. Wenn sie an einem bestimmten Ort wie der Kurji geht davon aus, dass der siebenjährige Zeitrahmen,
Niere wirken, dürfen sie andere Organe nicht stören. Und den ein Wirkstoff typischerweise bis zu Tests am Menschen
zuletzt müssen sie den Körper verlassen, bevor sie sich zu braucht, sich um fünf Jahre verkürzen ließe.

Beschleunigte Medikamentensuche
Die Entdeckung eines neuen Wirkstoffs beginnt meist damit, ein »Target« zu identifizieren: ein Protein, das
mit einer bestimmten Krankheit zusammenhängt. Ziel ist es dann, eine chemische Verbindung zu finden, die
sich an das Protein heftet, um den Krankheitsverlauf zu stoppen. Übergibt man der KI der Arzneimittelfirma
Exscientia ein Target, liefert sie Moleküle, die das Protein vielleicht ausschalten könnten. Zudem schlägt der
Algorithmus Ver­suche vor, die dabei helfen, die Liste der möglichen Kandidaten zu reduzieren.

2
Inkompatible
und giftige
1 Verbindungen
Protein als Information über werden
mögliches ein Target wird aussortiert.
Target einer Datenbank
übergeben.

4
Die neuen Ergebnisse
zu den Target- und
Wirkstoffversuchen
werden hinzugefügt.
mögliche
Wirkstoff-
verbindung

5
Prozess wird wie-
derholt, bis die
Liste der mögli-
chen Kandidaten 3
so kurz ist, dass Die Software
CAMPBELL MEDICAL ILLUSTRATION / SCIENTIFIC AMERICAN FEBRUAR 2020

getestet wer- kennzeichnet viel


den kann. versprechende
Verbindungen
und nennt weitere
Versuche.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 55


Merck und Bayer haben angekündigt, mit Cyclica zu Proteine anzugreifen. Dadurch könnte man die Wirkstoffe
kollaborieren. Weil solche großen Konzerne ihre Forschung schnell für weitere Anwendungen umwidmen.
vorerst meist geheim halten, ist noch nicht offiziell bekannt, Selbst wenn man ein Target gefunden hat, weiß man –
an welchen Wirkstoffen sie arbeiten. Cyclica hat jedoch wie bei etwa 90 Prozent der Proteine im menschlichen
schon einige erfolgreiche Ergebnisse veröffentlicht. Unter Körper – häufig wenig über dessen Struktur und Eigen-
anderem haben die Wissenschaftler zwei Targets identifi- schaften. Ohne diese Informationen können die maschinel-
ziert, die offenbar mit systemischer Sklerodermie – einer len Lernprogramme aber nicht herausfinden, wie sich ein
Autoimmunkrankheit der Haut und anderer Organe – und Protein medikamentös angreifen lässt. Einige Technologie-
mit dem Ebolavirus zusammenhängen. Erfreulicher­weise unternehmen widmen sich deshalb diesem Problem.
scheinen bereits zugelassene Medikamente, die bei HIV-Er- Die britische Firma Exscientia hat etwa eine Software
krankungen und Depressionen eingesetzt werden, die entwickelt, um Moleküle aufzuspüren, die sich an ein kaum

KI in der Antibiotikaforschung men. Dazu speisten sie es mit mehr als 2300 bekannten
chemischen Verbindungen, die Wissenschaftler in Labor-
Auf der Suche nach neuen, effektiven Antibiotika haben versuchen bezüglich dieser Fähigkeit zuvor als »Treffer«
sich Forscher unterschiedlicher Fachbereiche zusammen- oder »Nichttreffer« klassifiziert hatten. Das zeigte dem
geschlossen, um zu diesem Zweck künstliche Intelligenz Algorithmus, welche Atomanordnungen und Bindungs-
einzusetzen. Im Februar 2020 veröffentlichte das Team um strukturen relevant sind. Weil nur etwa zehn Prozent dieser
den Biologen James Collins und die Computerwissen- Verbindungen bekannten Antibiotika entsprechen, enthält
schaftlerin Regina Barzilay, beide am Massachusetts das neuronale Netz keine Vorurteile darüber, wie die Mole-
Institute of Technology, einen damit identifizierten, viel küle funktionieren oder aussehen sollen. Somit lernte es
versprechenden Kandidaten, der auf ungeahnte Weise auch Substanzen zu identifizieren, die sich von aktuellen
verschiedene antibiotikaresistente Bakterien bekämpft. Medikamenten stark unterscheiden und daher bisher nicht
Dabei war das Präparat bereits bekannt – allerdings als auf dem Radar waren.
mögliches Diabetesmedikament. Das trainierte Netzwerk speisten Collins und seine
Seit Alexander Fleming erstmals Penizillin aus Pilzen Kollegen mit Daten aus dem »Drug Repurposing Hub«,
gewann, diente die Natur als Quelle für antibakterielle einer Sammlung von mehr als 6000 Wirkstoffen gegen
Wirkstoffe. Es ist jedoch extrem teuer und zeitaufwändig, Krankheiten, die für Versuche am Menschen geprüft
tausende natürliche Substanzen zu isolieren und zu analy- werden. Darunter befinden sich auch viele bereits zugelas-
sieren. Daher versuchten Forscher zu verstehen, wie Bakte- sene Medikamente gegen andere Leiden. Entsprechend
rien leben und sich vermehren, und suchten chemische »könnte man die Substanzen deutlich schneller klinisch
Verbindungen, die diese Prozesse stören, etwa indem sie testen«, erklärt der Biologe César de la Fuente von der
die Zellwände der Bakterien beschädigen oder ihre Protein- University of Pennsylvania.
produktion hemmen.
In den 1980er Jahren entstanden erste computerge- Neuartiges Antibiotikum mit innovativer
stützte Screeningmethoden, mit denen Biologen innerhalb Wirkungsweise
kurzer Zeit viele Stoffe testen konnten. Doch auch das Collins, Barzilay und ihre Kollegen sortierten unter den
führte kaum zu Fortschritten: Gelegentlich stieß man zwar Ergebnissen jene Verbindungen aus, die bestehenden
auf Wirkstoffkandidaten, aber diese ähnelten den bekann- Antibiotika ähneln, da sie befürchteten, dass diese nichts
ten Antibiotika meist zu stark, um bereits resistente Keime gegen multiresistente Keime ausrichten. Unter den übrigen
anzugreifen. Deshalb haben Pharmaunternehmen die Kandidaten stach einer deutlich heraus: der c-Jun N-termi-
Antibiotikaentwicklung weitgehend aufgegeben und nale Kinase-Hemmer SU3327, der aktuell zur Behandlung
widmen sich lukrativeren Medikamenten. von Diabetes getestet wird. Die Forscher nannten den
Die neue Arbeit verfolgt einen ganz anderen Ansatz, der Wirkstoff fortan Halicin (als Hommage an HAL, die künstli-
auf den ersten Blick absurd erscheint: Man ignoriert, wie che Intelligenz aus dem Buch und Film »2001: Odyssee im
eine Substanz genau wirkt. Stattdessen entwickelten die Weltraum«).
Forscher ein neuronales Netz, dessen Knoten und Verbin- Mehrere Laborversuche ergaben, dass Halicin nicht nur
dungen den Nervenzellen im Gehirn nachempfunden sind. das Wachstum von E. coli stört, sondern auch andere
Anders als Computerprogramme, die Sammlungen von Bakterien abtötet. Zu ihnen zählen Mycobacterium tubercu-
Molekülen nach einer bestimmten chemischen Struktur losis (das Tuberkulose verursacht), Clostridioides difficile (ein
durchsuchen, lernen neuronale Netze, welche Eigenschaf- häufiger Krankenhauskeim; verantwortlich für einige
ten der Stoffe nützlich sein könnten. Magen-­Darm-Erkrankungen) und viele weitere, oft antibio-
Die Forscher trainierten ihr Netzwerk auf Substanzen, tikaresistente Bakterien, die zu Sepsis, Lungenentzündung,
die das Wachstum des Bakteriums Escherichia coli hem- Wundinfektionen und anderen verbreiteten, schwer zu

56 Spektrum der Wissenschaft  6.20


untersuchtes Targetprotein binden könnten. Das Programm noch extrem viele Kandidaten, weshalb die Software zu-
liefert bereits ab zehn Daten über das Protein nützliche sätzlich angibt, welche weiteren Daten sie benötigt, um die
Ergebnisse, behauptet der CEO des Unternehmens Andrew Liste zu verkürzen. Indem die Forscher beispielsweise
Hopkins, seines Zeichens Professor für medizinische Infor- gezielt Gewebeproben untersuchen, können sie den Algo-
matik an der University of Dundee in Schottland. rithmus mit neuen Informationen füttern, worauf dieser
Dabei geht der Algorithmus folgendermaßen vor: In nochmals eine Liste generiert und Experimente vorschlägt.
einem ersten Schritt vergleicht er die verfügbaren Informa- Den Prozess wiederholt man so lange, bis man eine über-
tionen mit einer Datenbank, die etwa eine Milliarde ver- schaubare Anzahl an Wirkstoffkandidaten erhält.
schiedene Wirkungen von Proteinen enthält. Dadurch Hopkins zufolge ließe sich so die durchschnittliche Zeit
grenzt das Programm die möglichen Verbindungen ein, die für die Entdeckung eines neuen Medikaments von vierein-
das Target ausschalten könnten. Meist gibt es dann immer halb Jahren auf ein Jahr verkürzen und die Kosten dadurch
um 80 Prozent senken. Zudem müsste man nur noch etwa
ein Fünftel der bisher benötigten Moleküle synthetisieren,
so Hopkins. Exscientia arbeitet aktuell mit dem US-ameri-
kanischen Biotech-Riesen Celgene aus Delaware zusam-
behandelnden Infektionen führen. Ebenso viel ver- men, um neue Wirkstoffe für drei Targets zu finden. Eine
sprechend erscheint, dass Halicin nach einem Monat Kollaboration zwischen Exscientia und dem britischen
wiederholter Anwendung keine resistenten E. coli- Pharmaunternehmen GlaxoSmithKline aus London hat
Mutanten hervorbrachte, während man bei den bereits zu einer – wie die Unternehmen behaupten – viel
meisten Antibiotika bereits nach wenigen Tagen versprechenden Verbindung geführt, die chronische obst-
Hinweise auf Resistenzen findet. ruktive Lungenerkrankungen behandeln soll.
Nachdem die Forscher die antibakteriellen Mög-
lichkeiten von Halicin erkannt hatten, führten sie Baldige Tests am Menschen
mehrere Experimente zur näheren Erforschung des Wie erfolgreich Pharmatechfirmen wie Exscientia tatsäch-
Wirkstoffs durch. Wie sich herausstellte, stört Halicin lich sind, lässt sich allerdings noch nicht beurteilen. Weil sie
die Bewegung der Protonen und das elektrochemi- erst seit Kurzem existieren, haben es ihre Wirkstoffkandida-
sche Potenzial der Bakterienmembranen. Reaktionen, ten nicht bis in die späten Phasen medizinischer Studien
die von diesen Protonengradienten abhängen, sind geschafft – was normalerweise fünf bis acht Jahre erfor-
entscheidend für den Stoffwechsel und die Mobilität dert. Hopkins hat jedoch angekündigt, dass ein von Exsci-
der Mikrobenzellen – aber Biomediziner hatten sie entia entwickeltes Medikament bereits 2020 an Menschen
bisher nicht als Angriffspunkt gesehen. getestet werden könnte.
Nach ihrem Erfolg ließen die Forscher das neuro- Bevor man jedoch daran arbeitet, ein Target zu bekämp-
nale Netz auf eine noch größere Datenbank mit mehr fen, muss man dieses erst identifizieren. Bisherige Ansätze
als 107 Millionen chemischen Verbindungen los. Der basieren häufig auf einem begrenzten Forschungsbereich,
Algorithmus konnte alle Moleküle in nur vier Tagen dem sich der entsprechende Wissenschaftler widmet. Das
klassifizieren und identifizierte dabei 23 Kandidaten verzerrt die Ergebnisse und schränkt die möglichen Kandi-
für weitere Tests. daten ein. Zwar findet man oft Proteine, die mit einer Krank-
Collins und sein Team arbeiten nun daran, das
Netzwerk genauer auf bestimmte Krankheitserreger
abzustimmen. Das könnte zu zielgerichteteren Anti-
biotika führen, die das körpereigene Mikrobiom Mehr Wissen auf
schonen. Spektrum.de
Katherine Harmon Courage ist Journalistin und schreibt Unser Online-Dossier zum Thema
unter anderem für die »New York Times« und das »Quanta finden Sie unter
Magazine«. spektrum.de/t/kuenstliche-intelligenz
/ ISTOCK
METAMORWORKS / GETTY IMAGES

QUELLE

Stokes, J. M. et al.: A deep learning approach to anti-


biotic discovery. Cell 180, 2020 heit zusammenhängen, doch sie erweisen sich häufig nicht
als Ursache. Speziell dafür produzierte medikamentöse
Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete Behandlungen sind dann wirkungslos.
Fassung des Artikels »Machine Learning Takes On Antibiotic
Das US-amerikanische Biotechnologieunternehmen Berg
Resistance« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unab-
hängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die in Massachusetts hat sich deshalb selbstlernenden Algo-
Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und rithmen zugewandt, die Informationen aus riesigen Daten-
den Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat. mengen unterschiedlichster Form ziehen sollen: von Gewe-
beproben über Organflüssigkeiten bis hin zu Blutproben
eines Patienten. Diese stammen dabei sowohl von kranken
als auch gesunden Menschen und werden in allen Stadien
des Krankheitsverlaufs entnommen. Zudem setzen die

Spektrum der Wissenschaft  6.20 57


»Wir verlassen uns auf den kommenden Jahren wird sich zeigen, ob künstliche
Intelligenz die Branche wirklich effizienter macht, sagt Sara
drei Dinge: Daten, Daten und Kenkare-Mitra, Senior Vice President of Development
Sciences bei der Roche-Tochter Genentech.
noch mehr Daten« Naheed Kurji Saha betont, dass die Rate zugelassener, KI-entwickelter
Medikamente in der nächsten Zeit wahrscheinlich noch
niedrig bleiben wird. Sie könnte jedoch drastisch steigen,
Forscher lebende Zellen im Labor verschiedenen Bedingun- sofern man die Zulassungsverfahren auf die neuen Systeme
gen aus, etwa indem sie den Sauerstoff- oder Glukosege- anpassen würde. »Wenn die Regulierungsbehörden den
halt der Umgebung verändern. gleichen Wert in der KI sehen wie wir, könnte man in eini-
Anschließend übergeben sie ihrem Deep-Learning-Pro- gen Fällen die Tierversuche überspringen und direkt zu
gramm all diese Informationen, wodurch es eine Liste von Menschen übergehen, sobald man gezeigt hat, dass die
Proteinen erstellt, die eine Krankheit beeinflussen könnten. Medikamente nicht toxisch sind«, sagt Saha. Solche Szena-
Hat die Software ein Target gefunden, sucht sie nach rien seien aber noch viele Jahre entfernt, räumt er ein.
Molekülen, die es ausschalten. Durch die vielen Daten lässt Der ganze Hype könnte sogar schädlich sein, erklärt
sich außerdem vorhersagen, bei welchen Patienten das Narain von Berg. »Nüchtern betrachtet handelt es sich nur
Target eine Krankheit verursacht. Dadurch können Wissen- um Werkzeuge, die zwar helfen können – jedoch keine
schaftler die relevanten Merkmale einer Erkrankung bestim- Lösungen liefern«, sagt er. Kurji von Cyclica verurteilt
men, etwa den Einfluss gewisser Gene. Künftig könnte man Firmen, die seiner Meinung nach übertriebene Äußerungen
daher schon vor der Einnahme eines Medikaments testen, aufstellen, etwa die, dass sie viele Jahre der Entwicklung
ob es für einen Patienten wirksam ist. auf wenige Wochen drücken und enorme Geldsummen
einsparen könnten. »Das ist einfach nicht wahr«, sagt er.
Viel versprechendes Krebsmedikament »Und es ist unverantwortlich, so etwas zu behaupten.«
Mit dieser Methode hat Berg den wohl vielversprechends- Dennoch glaubt Kurji, dass KI-basierte Methoden die
ten Wirkstoff entwickelt, der bisher aus einem KI-bezoge- Pharmaindustrie stark verändern werden. Das Hauptaugen-
nen Ansatz hervorging: Das Krebsmedikament BPM31510. merk liege darauf, hochwertige Informationen für die
Kürzlich ging eine Phase-2-Studie für Patienten mit fortge- selbstlernenden Algorithmen zu erhalten. »Wir verlassen
schrittenem Bauchspeicheldrüsenkrebs zu Ende. Phase- uns auf drei Dinge: Daten, Daten und noch mehr Daten«,
1-Studien sagen meist nur aus, bei welcher Dosis etwas sagt Kurji. Diese Ansicht teilt Enoch Huang, Vizepräsident
giftig ist. Als die Forscher ihren Wirkstoff dabei aber auf für medizinische Wissenschaften bei Pfizer, dem zufolge ein
andere Krebsarten anwandten, konnten sie überraschen- guter Algorithmus nicht der wichtigste Faktor ist.
derweise einige Ergebnisse der Software überprüfen: Das Forscher führen inzwischen gezielte Experimente durch,
Programm hatte zuvor etwa 20 Prozent der Patienten ident- um für die KI relevante Informationen zu generieren. »Es
ifiziert, die wahrscheinlich auf den Wirkstoff ansprechen gibt nicht immer genügend klinische Daten für das maschi-
würden, sowie diejenigen vorhergesagt, die mit Nebenwir- nelle Lernen«, sagt Kenkare-Mitra. »Aber wir können sie oft
kungen rechnen müssten. Als die Forscher den Algorith- in vitro erzeugen und dann in das System einspeisen.«
mus mit Analysen von Gewebeproben speisten, kam her- Das könnte zu einem neuen Kreislauf in der Arzneimittel-
aus, dass das neue Medikament am wirksamsten gegen entwicklung führen: Computer schlagen Forschern Experi-
aggressive Krebsarten sei. Denn es greife Mechanismen an, mente vor, mit denen diese die Datensätze erweitern, um
die bei diesen Krankheiten eine wichtige Rolle spielen. Letztere danach wiederum den Algorithmen zu übergeben.
Inzwischen arbeitet Berg mit dem britisch-schwedischen »Es ist gar nicht so sehr die KI, an die wir glauben«, sagt
Pharmariesen AstraZeneca zusammen, um Targetmoleküle Kenkare-Mitra, »sondern das Zusammenspiel zwischen
für Parkinson und andere neurologische Erkrankungen zu Mensch und KI.« Selbstlernende Algorithmen werden die
finden. Zudem kollaboriert die Firma mit dem französischen konventionelle Forschung nicht ersetzen, so Saha. Es sei
Pharmakonzern Sanofi Pasteur, um verbesserte Grippeimpf- immer noch Aufgabe des Menschen, biologische Erkennt-
stoffe zu entwickeln. Darüber hinaus forscht Berg mit dem nisse abzuleiten, Forschungsrichtungen festzulegen, Ergeb-
US-Veteranenministerium und der Cleveland Clinic an nisse zu interpretieren und die benötigten Daten zu produ-
Targets für Prostatakrebs. Die Software hat dabei diagnosti- zieren. Computer unterstützen uns dabei bloß. 
sche Tests geliefert, mit denen man eine solche Erkrankung
von einer gutartigen Prostatavergrößerung unterscheiden QUELLEN
kann, was derzeit meist eine Operation erfordert.
DiMasi, J. A. et al.: Innovation in the pharmaceutical industry:
Mittlerweile haben große Pharmakonzerne mindestens New estimates of R&D costs. Journal of Health Economics 47,
20 Kooperationen mit modernen Technologieunternehmen 2016
angekündigt. Pfizer, GlaxoSmithKline und Novartis bauen Kundranda, M. N. et al.: Phase II trial of BPM31510-IV plus
zudem offenbar hausinterne KI-Abteilungen auf, um ihre gemcitabine in advanced pancreatic ductal adenocarcinomas
Medikamentenentwicklung zu verbessern. (PDAC). Journal of Clinical Oncology 38, 2020
Viele Forschungsleiter dieser Unternehmen berichten Zhu, H.: Big data and artificial intelligence modeling for drug
begeistert über ihre Ergebnisse. Dennoch geben sie zu, discovery. Annual Review of Pharmacology and Toxicology 60,
dass die neuen Methoden noch nicht sicher erprobt sind. In 2020

58 Spektrum der Wissenschaft  6.20


FREISTETTERS FORMELWELT
DAS GEHEIMNIS
DES KÜRBISKERNÖLS
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

Ein erstaunlicher Farbentrick mit einer einfachen


FRANZI SCHÄDEL (FLORIAN-FREISTETTER.DE/PRESSE/) /

Erklärung: Manchmal bestimmt das Auge die Wahr-


nehmung, manchmal die Physik.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und Wissenschaftskabarettist bei den


»Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1725084

A
nfang des Jahres war ich in Freiburg auf der Kul- In der Astronomie taucht dieser Zusammenhang
turbörse, einer Messe für die Eventszene im beispielsweise auf, wenn man die Eigenschaften von
deutschsprachigen Raum. Dort werden keine Licht untersucht, das durch die Atmosphäre strahlt.
Bücher oder Autos angepriesen, sondern Künst- Beim Kernöl muss jedoch noch ein anderer Effekt eine
lerinnen und Künstler. Meine Kollegen und ich waren Rolle spielen, denn dabei ändert sich ja nicht nur die
da, um unsere neue Wissenschaftskabarettshow zu Intensität, sondern auch die Farbe.
verkaufen; wir haben uns aber auch angesehen, was es Was in so einem Fall passiert, haben die sloweni-
sonst noch so Neues in der Branche gibt. schen Wissenschaftler Samo und Marko Kreft 2007
Dabei habe ich zwei österreichische Künstlerinnen untersucht. Wie sie herausfanden, tritt der Dichroma-
getroffen, die unter dem schönen Namen Kernölamazo- tismus auf, wenn das Absorptionsspektrum einer
nen auftreten. Sie erzählten mir amüsiert vom Besuch Substanz ganz bestimmte Kriterien erfüllt. Außerdem
eines lokalen Radiosenders, bei dem ihnen der Modera- hängt das Phänomen davon ab, wie gut die Farbrezep-
tor eine chemische Formel präsentierte, die angeblich toren in unseren Augen auf die Wellenlängen reagieren.
den molekularen Aufbau von Kernöl beschreibe. Das

B
ließ mich ein wenig über die Wissenschaft hinter der ei einer dünnen Schicht Kernöl hat das Absorp­
Spezialität aus der Steiermark nachdenken. tionsspektrum im grünen Bereich ein breites
Kernöl ist eine interessante Substanz. Es wird aus Minimum – das heißt, ein Großteil der grünen
Kürbiskernen gepresst, und man bekommt es vor allem Wellenlängen wird wenig abgeschwächt. Im
in Südösterreich zu vielen verschiedenen Gerichten roten Bereich gibt es ebenfalls ein Minimum, das sogar
serviert. In der Flasche sieht das Öl dunkelrotbräunlich, ausgeprägter ist, also noch mehr Licht durchlässt.
ja fast schon schwarz aus, auf dem Teller erscheint es Folglich erreicht das Auge mehr rotes Licht als
dann plötzlich grünlich. Aber wieso ändert das Öl seine grünes. Allerdings ist unser Auge für das langwelligere
Farbe? Ich war mir sicher, die Antwort müsse irgendet- rote Licht nicht so sensibel; grünes Licht registriert es
was mit dem lambert-beerschen Gesetz zu tun haben: dagegen sehr gut. Deswegen nehmen wir dünne
Schichten als grünlich wahr. Nimmt die Dicke des Öls
zu, gewinnt irgendwann das lambert-beersche Gesetz
die Oberhand und löscht die Farben gemäß ihrer Ab-
sorption nacheinander aus: Schließlich kommt nur so
verschwindend wenig grünes Licht durch, dass man
Diese Formel kenne ich noch aus dem Astronomiestu- lediglich das weniger stark absorbierte Rot sieht.
dium. Erstmals formulierte sie der französische Astro- Tatsächlich ist der Dichromatismus bei Kürbiskernöl
nom Pierre Bouguer (1698–1758), doc­­h benannt ist sie besonders stark ausgeprägt, wie Samo und Marko
nach den Physikern Johann Lambert (1728–1777) und Kreft in einer weiteren Arbeit festgestellt haben. Ähn-
August Beer (1825–1863). Sie beschreibt, wie die Strah- lich deutlich tritt der Farbwechsel bei Bromphenolen
lungsintensität abnimmt, wenn Licht ein absorbieren- auf: chemischen Verbindungen aus Brom, Kohlenstoff,
des Medium durchquert. d bezeichnet dabei die Dicke Wasserstoff und Sauerstoff, die unter anderem als
des Mediums; c ist die Stoffmengenkonzentration der Desinfektionsmittel eingesetzt werden. Bromphenole
absorbierenden Substanz, und ελ ist der so genannte sind aber definitiv nicht so schmackhaft wie das Kern-
Extinktionskoeffizient, eine materialspezifische Kons- öl – und auch nicht besonders gut als Namensgeber für
tante, bezogen auf eine bestimmte Wellenlänge λ. eine Kabarettgruppe geeignet.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 59


LUFTVERSCHMUTZUNG
GROSSFEUER MIT
NEBENWIRKUNGEN
Weltweit gab es in den letzten Jahren große
Waldbrände. ­Welche Stoffe dabei in die Luft gelangen
und wie sie wirken, ist nur teilweise erforscht.
Mit h­ och­empfindlichen Instrumenten und fliegenden
­Laboratorien kommen Atmosphären­forscher den
­Gefahren des Rauchs auf die Spur.

Kyle Dickman ist Wissenschafts­


journalist in New Mexiko und hat fünf
Jahre lang Waldbrände bekämpft.
DAN WINTERS

 spektrum.de/artikel/1725074

Das »Camp Fire« von 2018 gilt


als einer der heftigsten Waldbrände
in der Geschichte Kaliforniens.
Neben der direkten Zerstörung
setzen solche Wildfeuer Unmengen
verschiedener Schadstoffe frei.
(EARTHOBSERVATORY.NASA.GOV/IMAGES/144225/)
NASA EARTH OBSERVATORY, JOSHUA STEVENS

60 Spektrum der Wissenschaft  6.20


AUF EINEN BLICK
SIGNALE AUS DEM RAUCH

1 Bei heftigen Waldbränden gelangen zahlreiche


­schädliche Stoffe in die Luft. Welche genau, ist noch
teilweise unbekannt.

2 Forscher haben herausgefunden, dass die Zusammen­


setzung des Rauchs zum größten Teil von der Intensität
des Feuers abhängt und nicht vom Brennmaterial.

3 Bei ihren Untersuchungen sind sie auf ein Molekül


(EARTHOBSERVATORY.NASA.GOV/IMAGES/144225/)
NASA EARTH OBSERVATORY, JOSHUA STEVENS

gestoßen, das möglicherweise als Reservoir für


­Stickoxide wirkt und die Luftschadstoffe so über weite
Strecken transportiert.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 61



»Diese hier sieht interessant aus. Nicht zu dicht«, sagt
der Atmosphärenchemiker James Crawford. Hinter
seinem Ohr klebt ein Pflaster gegen Reiseübelkeit. Er
beugt sich über eine Rauchwolke, die vom Cockpit aus zu
sehen ist. Es ist Ende Juli 2019, und wir befinden uns
in einem ehemaligen Passagierflugzeug, das die NASA zu
einem Labor umfunktioniert hat. In der Kabine kalibrieren
35 Wissenschaftler und Ingenieure ihre Instrumente. Sie
sind voll gespannter Erwartung. Ihre Ausrüstung ist eigent­
lich dafür konzipiert, Luftschadstoffe in Städten zu messen.
Jetzt sollen sie in dieser partikelgeschwängerten Umge­
bung Proben nehmen. Wie das 50 Jahre alte Flugzeug in
einer Rauchsäule zurechtkommen wird, muss sich auch
erst noch zeigen. Die Maschine ruckelt und hüpft, als sie in
4000 Meter Höhe in die dunkle Wolke eintaucht, die sich
über einem Feuer außerhalb von Missoula im US-Bundes­
staat Montana auftürmt. »45 Sekunden, dann drehen Sie
um«, weist Crawford den Piloten an. Die Turbulenzen
entpuppen sich als überraschend schwach, und so nehmen
sie einen weiteren Anlauf auf die Wolke.

NASA / KATE SQUIRES


Es ist der dritte Flug im Rahmen von FIREX-AQ, einem ein riesiger Pilz, der sich 10 000 Meter hoch aus dem
ehrgeizigen Dreijahresprojekt unter Leitung der National ­»Williams Flats Fire« im Bundesstaat Washington erhob.
Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA) und der Noch nie zuvor wurde der Rauch, der beim Verbrennen von
NASA. Das Kürzel steht für »Fire influence on regional to organischem Material entsteht, so detailliert und umfas­
global environments and air quality« (Einfluss von Bränden send untersucht. Bis zu ein Drittel aller Partikel in der Atmo­
auf die regionale und globale Umwelt sowie die Luftquali­ sphäre stammt aus Bränden. Trotzdem »gibt es nur sehr
tät). Ziel ist es, den Rauch, der beim Verbrennen von Bio­ wenige Studien, die untersuchen, welche spezifische Rolle
masse entsteht, näher zu untersuchen: Wie genau ist er die verschiedenen Bestandteile des Rauchs in Bezug auf
chemisch zusammengesetzt, wann wird er für die mensch­ Krankheiten und deren Schwere spielen«, sagte ein Direktor
liche Gesundheit am gefährlichsten und warum? Im Som­ der US-amerikanischen Umweltschutzbehörde 2018.
mer 2019 flogen die Wissenschaftlerinnen und Wissen­ Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO)
schaftler in ihrer Forschungsmaschine und zwei kleineren zufolge starben 2016 weltweit 4,2 Millionen Menschen
Begleitflugzeugen, ebenfalls mit Geräten ausgestattet, vorzeitig auf Grund von Luftverschmutzung. In einer Studie
sechs Wochen lang durch mehr als 100 unterschiedlichste von 2020 hat ein Team vom Max-Planck-Institut für Chemie
Rauchsäulen, um Proben aus der Atmosphäre zu nehmen. in Mainz errechnet, dass sogar gut doppelt so viele vorzei­
Das kleinste Untersuchungsobjekt war eine Rauchschwade, tige Todesfälle darauf zurückzuführen sind. Damit verringert
die von einem Ackerbrand in Kansas aufstieg, das größte dreckige Luft die Lebenserwartung weltweit stärker als
beispielsweise Rauchen, HIV oder Malaria. Schuld an der
toxischen Wirkung ist laut der WHO vor allem der darin
enthaltene Feinstaub – kleinste, bloß mikrometergroße
Drei Typen von Waldbränden Partikel, die in jeder Art von Rauch vorkommen. Feinstaub
mit einem Durchmesser von weniger als 2,5 Mikrometern
Erdfeuer, auch Schwelbrände genannt, breiten ist in der Lage, bis in die Lungenbläschen zu gelangen. Ist
sich unterirdisch und normalerweise sehr lang­ man ihm chronisch ausgesetzt, kann das unter anderem zu
sam aus. Herz- und Lungenerkrankungen, Herzrhythmusstörungen
und verstärktem Asthma führen. Aber neben diesen Parti­
Bodenfeuer verbrennen bodennahe Pflanzen keln enthält Rauch noch viele andere schädliche Stoffe,
sowie Büsche, Blätter und am Boden liegendes beispielsweise Ozon. Eine Studie von 2017 legt nahe, dass
Brennmaterial. Feuer, die der Wind vorwärtstreibt, rund eine Million Menschen vorzeitig sterben, weil sie dem
bezeichnet man als Lauffeuer. Gas langfristig ausgesetzt sind. Es kann durch chemische
Reaktionen entstehen, wenn beispielsweise Rauch in die
Schlagen die Flammen bis auf die Kronen der Atmosphäre gelangt (siehe »So entsteht Ozon«, S. 64).
Bäume über, entstehen Kronenfeuer. Sie sind Noch fehlt aber ein grundlegendes Verständnis dafür, wie
extrem heiß, intensiv und schwer zu bekämpfen. und wann sich derartige giftige Bestandteile in verschie­
Normalerweise treten Kronenfeuer nicht allein, denen Arten von Rauch bilden. Das Team von FIREX-AQ
sondern in Kombination mit Bodenfeuern auf. Man will daher mehr über die zu Grunde liegenden chemischen
spricht dann von einem Vollbrand. Abläufe herausfinden. Unter anderem wollen sie mit ­diesem
Wissen genauer vorhersagen, wo mit welchen waldbrand­
bedingten Emissionen zu rechnen ist. Auf der Grundlage

62 Spektrum der Wissenschaft  6.20


MATT NAGER (MATTNAGER.COM)
NASA / KATE SQUIRES

Ein umgebautes
­Passagierflugzeug dient
als fliegendes Labor.
Zahlreiche Instrumente
messen, welche Stoffe
in den Rauchfahnen
von Großbränden ent-
halten sind.

solcher Prognosen wüssten beispielsweise Fußballtrainer, Kriterien für ihre Mission erfüllt. »Eine Menge Wissen­
ob sie ihre Sportstunde absagen müssen; für Kranken­ schaftlerinnen und Wissenschaftler sind mit im Boot, und
häuser wäre besser absehbar, wann mit vielen immun­ alle sind an leicht unterschiedlichen Dingen interessiert«,
geschwächten Personen zu rechnen ist; und Behörden sagt Amber Soja, die am National Institute of Aerospace
könnten Warnungen zum Arbeiten im Freien herausgeben. forscht und 400 Beteiligten von FIREX-AQ einen Überblick
Darüber hinaus wäre es mit Hilfe der Daten des For­ über die an diesem Tag brennenden Feuer geben soll.
schungsteams möglich, kontrollierte Feuer zu legen, um Für die heutige Mission hat sich das Team das »North
heftigere Waldbrände mit schwerwiegenderen Auswirkun­ Hills Fire« in Montana ausgesucht. Es hat von den neun zur
gen auf die Gesundheit zu verhindern. Auswahl stehenden Bränden die markanteste Rauchsäule.
Mit einer Fläche von nicht einmal 19 Quadratkilometern ist
Jedes Feuer ist anders – doch gibt es eine das Feuer ziemlich unbedeutend – und das macht es
­gemeinsame Chemie? ­wissenschaftlich interessant. Die Feuerwehr ist zwar noch
Crawford scrollt auf seinem Tablet durch Echtzeit-Updates dabei, die Flammen unter Kontrolle zu bringen, hat der
hunderter Partikel und Gase, von denen gerade Proben Maschine aber trotzdem die Erlaubnis gegeben, an ver­
genommen werden. Als er das letzte Mal mit dem For­ schiedenen Stellen und zu unterschiedlichen Zeitpunkten
schungsflugzeug unterwegs war, untersuchte er Luftschad­ Proben der Rauchfahne zu nehmen. So wollen die Forscher
stoffe in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Aber auch herausfinden, wie sich deren Zusammensetzung verändert,
in kleinen Städten, sagt er, beobachte man oft eine viel wenn der Wind die Partikel weiterträgt und diese unter
schlimmere Luftverschmutzung als die, die er und sein neuen Bedingungen sowie in anderer Umgebung reagieren.
Team heute aufzeichnen. »Doch wie addieren sich all diese Nach einer Stunde und 16 Flügen quer durch die Rauch­
Brände auf?«, fragt er. »Wie viel Ozon produzieren Feuer? wolke erhält Crawford eine Nachricht von Warneke. »Fliegt
Welche chemischen Reaktionen laufen dabei ab? Und wie sofort dorthin!«, hat der Kollege in Rot neben das Foto einer
reguliert man solch einen natürlichen Prozess?« Rauchsäule gekritzelt, die hoch über die Wolken aufragt,
Etwa 350 Meilen weiter südlich sichten Carsten War­ knapp 1300 Kilometer entfernt in Kalifornien.
neke vom Earth System Research Laboratory in Boulder, Das Projekt FIREX-AQ wurde im Missoula Fire Sciences
Colorado, und 50 weitere Fachleute meteorologische Laboratory in Montana ins Leben gerufen. Dort interes­
Daten, Brennmaterial, Echtzeit-Satellitendaten und aktuelle sierte sich der Chemiker James Roberts für die verschiede­
Feuer-Updates. Sie wollen bestimmen, welcher der Wald­ nen Säuren, die der bei Waldbränden entstehende Rauch
brände, die derzeit im Westen der USA wüten, die meisten enthält. Der NOAA-Wissenschaftler fand 2009 heraus, dass

Spektrum der Wissenschaft  6.20 63


So entsteht Ozon
Ob Ozon für den Menschen nütz­ In der Troposphäre läuft der Das Ganze ist zunächst ein
lich oder schädlich ist, hängt davon Prozess anders ab, da die zur Nullsummenspiel. Doch weitere
ab, wo es sich befindet. Die Ozon­ Sauerstoffspaltung benötigte Verbindungen in der Atmosphäre
schicht hoch oben in der Strato­ kurzwellige UV-Strahlung bereits kurbeln die Ozonproduktion an.
sphäre ist für uns lebenswichtig: in der Ozonschicht absorbiert Durch die Oxidation verschiede­
Sie schützt uns vor kurzwelliger wird. Aber auch am Boden wird ner Stoffe – flüchtiger organi­
ultravioletter Strahlung, indem sie Ozon ständig produziert und scher Verbindungen, Methan
einen Teil davon absorbiert. wieder verbraucht. Dabei wirkt oder Kohlenstoffmonoxid – ent­
Der direkte Kontakt mit dem Stickstoffdioxid (NO2) als Kataly­ stehen so genannte Peroxy­
Gas ist hingegen gesundheitsge­ sator: radikale. Die wichtigsten sind das
fährdend, da es die Atemwege Hydroperoxyradikal HO2 und das
angreift. Daher ist es problema­ NO2 NO Methylhydroperoxyradikal CH3O2.
tisch, wenn sich viel »bodennahes Sie oxidieren NO zu NO2, das
Ozon« in der Troposphäre bildet. O2 + O O3 anschließend direkt durch Son­
Hoch oben in der Stratosphäre nenlicht wieder gespalten wird
entsteht das Gas, indem kurz­ NO2 NO und entsprechend der Reaktions­
wellige UV-Strahlung Sauerstoff­ gleichung links neues Ozon
moleküle in Sauerstoffatome Licht spaltet Stickstoffdioxid bildet. Jedes NO2-Molekül kann
spaltet. Diese Radikale reagieren (NO2) in Stickstoffmonoxid (NO) dabei über rund 30 Zyklen hin­
mit molekularem Sauerstoff zu und ein einzelnes Sauerstoff­ weg für die Bildung von neuem
Ozon. M ist in der Reaktionsglei­ radikal (O). Letzteres ist extrem Ozon sorgen. Wie viel Ozon
chung ein neutrales Molekül, das reaktiv und verbindet sich mit gebildet wird, hängt folglich
überschüssige Energie aufnimmt. einem Molekül Sauerstoff (O2) zu davon ab, wie viele Stickoxide
Ozon (O3). Dieses wiederum und flüchtige organische Verbin­
O2 —› O + O reagiert mit NO zurück zu NO2 so­ dungen in der Luft vorhanden
wie O2 und O, wodurch sich der sind und in welchem Verhältnis
O + O2 + M —› O3 + M Kreis schließt. sie vorliegen.

beim Verbrennen von Gelbkiefernzweigen und anderem Dort fanden sich auch 23 der 25 am stärksten mit Feinstaub
organischen Material, das für den Westen der USA typisch belasteten Metropolen. Dieser Trend wird mit Sicherheit
ist, Isocyansäure entsteht. Sind Menschen dieser gesund­ anhalten: Die US-Forstbehörde rechnet momentan damit,
heitsschädlichen Verbindung regelmäßig ausgesetzt, dass sich die Fläche, die jedes Jahr Bränden zum Opfer
beispielsweise durch Rauchen oder Kochen am offenen fällt, bis 2050 verdoppeln wird, weil der Westen Amerikas
Feuer, kann das Grauen Star, rheumatische Arthritis und immer heißer und trockener wird. Zwischen 1972 und
Herzerkrankungen hervorrufen. 2018 hat sich die pro Jahr verbrannte Fläche in Kalifornien
Kurz darauf brach das verheerendste Großfeuer in der sogar verfünffacht. Das ist mit großer Wahrscheinlichkeit
Geschichte des Bundesstaats Colorado aus, verbrannte darauf zurückzuführen, dass die Temperaturen an heißen
zehntausende Hektar Land und zerstörte mehrere hundert Tagen um durchschnittlich 1,4 Grad Celsius gestiegen sind,
Häuser. Roberts detektierte mit seinem Säuremessinstru­ wie der Klimamodellierer Park Williams von der Columbia
ment die höchste Konzentration von Isocyansäure, die je in University 2019 zeigte. Grund dafür ist laut dem Wissen­
der Atmosphäre gemessen wurde. Davor war niemand schaftler die menschengemachte Erderwärmung.
auf die Idee gekommen, danach zu suchen. »Ich habe zwei Auch der Zustand der Wälder trägt einen großen Teil
Nächte lang nicht geschlafen«, sagt er. »Die Fachleute, dazu bei, dass Wildfeuer schlimmer werden. 100 Jahre
die sich mit der Verbrennung von Biomasse beschäftigen, lang wurden natürliche Brände, die für die Ökosysteme im
wussten nicht, dass Rauch Isocyansäure enthält. Was US-amerikanischen Westen unerlässlich sind, massiv
wussten wir noch alles nicht?« unterdrückt. Dadurch sind viele Wälder heute weitaus
Allgemein hat sich die Luftqualität in den US-amerikani­ dichter als früher. In einigen Teilen der kalifornischen Sier­
schen Städten seit der Verabschiedung des Clean Air Act ras wachsen beispielsweise 1000 Bäume pro Hektar, wo
durch den Kongress 1970 stark verbessert. Aber wenn früher zwischen 50 und 70 standen. Gleichzeitig siedelt
Waldbrände in der Nähe städtischer Gebiete wüten, lösen sich der Mensch zunehmend in Gegenden an, die eigentlich
sich diese Errungenschaften buchstäblich in Rauch auf. auf Feuer eingestellt sind. In den 1990er Jahren lebten in
Im Jahr 2019 lagen die acht amerikanischen Städte, deren den USA 30,8 Millionen Menschen in Regionen, die regel­
Luft am meisten Ozon aufwies, alle im Westen der USA. mäßig brannten, oder in direkter Nachbarschaft dazu.

64 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Durch Reaktion von Stickoxiden mit Eine ähnliche Funktion könnte
organischen Radikalen bildet sich das kleine Molekül Brenzcate­
Peroxyacetylnitrat (PAN), ein Molekül, chin haben. Wissenschaftler der
das bei kühleren Temperatu­ NOAA haben nachgewiesen,
ren relativ stabil ist. Feinstaub OH dass sich bei Waldbränden
OH
Solange PAN O nitrierte Brenzcatechine
nicht zerfällt, O bilden. Ob sie ebenfalls
O NO2 Ozon NO2
sind die kälter
O
als Reservoir dienen,
Stickoxide Peroxyacetylnitrat (PAN) 3 nitrierte Brenzcatechine das Stickoxide
daher gebun­ flüchtige organische wieder freisetzt,
den. Steigen die Verbindungen oder ob es die
Temperaturen, Zerfall Bildung Zerfall Bildung Substanzen
etwa wenn der dauerhaft bindet,
Rauch aus der OH ist noch
oberen Tropo­ NOX organische NOX NOX OH NOX offen.
sphäre wieder Radikale
absinkt, zerfällt Brenzcatechin
es jedoch und
wärmer

Feinstaub
setzt die schäd-
lichen Stickstoff­ flüchtige organische Verbindungen
verbindungen
erneut frei. Isocyansäure
Ozon NOX N C O
O3 NH3
H
organische Verbindungen
Zahlreiche Stoffe entstehen bei Licht
Hitze
Waldbränden, unter anderem

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BUSKE-GRAFIK


Feinstaubpartikel, flüchtige
organische Verbindungen (VOC)
und Stickoxide (NOx).

Heute, zwei Jahrzehnte später, sind es 43,4 Millionen. Die 2000er Jahren untersuchten sie den Dunst, der regelmäßig
tödliche Konvergenz dieser Entwicklungen wurde spätes­ über Asien in die Arktis transportiert wird (»arctic haze«
tens 2018 deutlich, als das »Camp Fire« die 26 800 Einwoh­ oder arktischer Dunst, siehe Spektrum Februar 2020, S. 64).
ner zählende Stadt Paradise in Kalifornien in Schutt und Sie waren überrascht, dass sich in all ihren Daten stets die
Asche legte. 18 804 Gebäude verbrannten, mindestens 85 Spuren von Waldbränden wiederfanden. »Wir hatten uns
Menschen starben. jahrelang auf die Luftverschmutzung in Städten konzent­
riert, doch als wir durch diese urbanen Gebiete flogen,
Brände gewinnen an Zerstörungskraft sahen wir überall die Emissionen der Waldbrände«, sagt
Die zunehmende Vernichtungskraft des Feuers ist ein Roberts. Bald war er davon überzeugt, dass sich die NOAA
weltweites Problem. Die australischen Buschfeuer, die ab mit voller Aufmerksamkeit Rauch und Luftqualität widmen
Ende 2019 monatelang wüteten, zerstörten Flächen in nie sollte. Die Vorhersagen, wie sich der Rauch von Bränden
gekanntem Ausmaß und waren teils so stark, dass sie für entwickeln würde, basierten auf Beobachtungen und waren
Feuerwehrleute unmöglich zu bekämpfen waren. Zwar unzuverlässig, was sie heute noch sind. Im Jahr 2008
schrumpft weltweit die Gesamtfläche der jährlichen Feuer, verglich eine Forschungsgruppe vier Modelle zu Emissio­
weil natürliche Landschaften in Weiden und Ackerland nen bei Bränden und kam zu dem Schluss, dass die Schät­
umgewandelt werden. Doch durch den Klimawandel bren­ zungen der monatlichen Beiträge zum atmosphärischen
nen heute Gegenden, die früher verschont blieben. Und CO2-Gehalt um den Faktor 10 variieren konnten. Ein Prob­
dort, wo Wildfeuer traditionell auftreten, werden diese lem bestand darin, dass die Modelle auf Daten von nur
intensiver. So kam es im Sommer 2018 in Nordirland zu nie 39 verschiedenen Bränden gründeten – eine sehr schmale
da gewesenen Großbränden, und 2019 standen in Sibirien Basis, wenn bedenkt, wie stark sich Feuer unterscheiden.
und Alaska mehrere Millionen Hektar in Flammen – es
waren die am längsten andauernden arktischen Waldbrän­
de, die je aufgezeichnet wurden. Der Feuerwissenschaftler
Stephen Pyne, ein emeritierter Professor der Arizona State Mehr Wissen auf
University, hat dieses Zeitalter daher schon als Pyrozän
bezeichnet (Zeitalter des Feuers, von griechisch: pyrein,
Spektrum.de
Unser Online-Dossier zum Thema
brennen).
finden Sie unter
Die Wissenschaftler der NOAA kamen über Umwege spektrum.de/t/feueroekologie
dazu, den Rauch von Feuersbrünsten zu untersuchen: Es GILITUKHA / STOCK.ADOBE.COM

wurde einfach unmöglich, ihn zu ignorieren. In den frühen

Spektrum der Wissenschaft  6.20 65


Als ihr Interesse geweckt war, kontaktierten Roberts und Eines Tages wollen die Fachleute vorhersagen können,
Warneke, die gemeinsam bei der NOAA arbeiteten, ihren wie die Substanzen, die bei Waldbränden in die Luft
langjährigen Kollegen Robert Yokelson von der University of ­geschleudert werden, die menschliche Gesundheit beein­
Montana, der seit fast 30 Jahren den Rauch von Waldbrän­ trächtigen. Dazu müssen sie aber detaillierter über die
den untersucht. Der ehemalige Feuerwehrmann half dabei, Zusammensetzung von Rauch Bescheid wissen und die
die erste Version von FIREX-AQ zu leiten. Bis vor 20 Jahren, Prozesse entschlüsseln, durch die sich darin gefährliche
sagt er, betrieben er und einige Hochschulprofessoren Stoffe bilden. Kennt man die Unterschiede zwischen den
quasi im Alleingang die Feldforschung auf dem Gebiet. Sie verschiedenen Raucharten, könnte das auch die Brand­
mieteten sich ein kleines Flugzeug, beluden es mit Instru­ bekämpfung erleichtern, insbesondere wenn es darum
menten und flogen von Rauchsäule zu Rauchsäule. Zwar geht, gezielt Feuer zu legen. Solche kontrollierten Brände
interessierten sie sich für die gleichen Aerosole, Partikel sind weniger intensiv als natürliche Waldbrände und wer­
und Gase, die das große Projekt jetzt unter die Lupe nimmt, den absichtlich entfacht, um die Menge an Brennmaterial
doch ihre Messungen waren – auch auf Grund der fehlen­ zu reduzieren, das für künftige Waldbrände zur Verfügung
den Mittel – viel gröber. steht. Aus sozialen, ökologischen und regulatorischen
Als schließlich mehrere Jahre in Folge heftige Brände ­Gründen ist es jedoch schwer, sie zu entzünden.
auftraten, flossen auf einmal Millionen Dollar in umfang­ Doch was ist nun besser – jetzt den Rauch eines vorsätz­
reiche Forschungskampagnen. Das umgerüstete DC-8- lich entfachten Brands am Himmel stehen zu haben oder
Flugzeug, das sehr hoch fliegen kann und eine große Reich­ später die gewaltigen Qualmwolken eines Wildfeuers?
weite hat, erhielt Unterstützung durch zwei kleinere, Manche Arten von Rauch sind für die menschliche Gesund­
schnelle Maschinen, die mit Luftqualitätsmessgeräten heit gefährlicher als andere, man weiß nur noch nicht viel
ausgestattet wurden. Sie sollen tiefer fliegen und näher an darüber. »Wir müssen die Faktoren verstehen, die bei
die Rauchsäulen sowie an rauchbedeckte ländliche Gebiete Emissionen eine Rolle spielen, damit die Menschen vor Ort
herankommen. Lastwagen, die Rauch am Boden untersu­ bessere Entscheidungen treffen können«, sagt Soja daher.
chen, ergänzen die Flotte. Im Herbst 2016 begab sich das FIREX-AQ-Team in das
Der Jet verfügt über eine Reihe an Messinstrumenten: Missoula Fire Sciences Laboratory in Montana, um die
Laser verschiedener Wellenlängen erstellen in Echtzeit Geheimnisse des Rauchs Schicht für Schicht frei zu legen.
dreidimensionale Abbilder der Rauchsäulen; ein Instrument Letztlich wollten sie herausfinden, wie sich seine Zusam­
erfasst Acetonitril, einen Stoff, der als Indikator für die mensetzung auf seinem Weg mit dem Wind verändert und
Verbrennung von Biomasse dient; wieder andere Sensoren wie sich in ihm schädliche Aerosole und Ozon bilden. Aber
detektieren winzige Aerosole und zahlreiche andere Kom­ dazu mussten sie erst verstehen, welche Inhaltsstoffe bei
ponenten. Gase und Partikel aller denkbaren Zusammenset­ der Verbrennung selbst entstehen. Vielleicht hing es ja von
zungen, Formen und Größen kann das Team mit seinem der Pflanzenart ab, wie viel Ozon oder Feinstaub sich
mobilen Labor messen. bildete?

Riesige Rauchschwaden
ziehen über den Himmel bei
Malibu in der Nähe von

USDA, U.S. FOREST SERVICE


Los Angeles. Das »Woolsey
Fire« wütete dort 2018.
PETER BUSCHMANN, USDA, U.S. FOREST SERVICE

66 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Das Team sammelte Zweige von Gelbkiefern aus Monta­ sind. Es wird bei Schwelbränden freigesetzt, also bei Feu­
na, Fliederbüsche aus Kalifornien, Material von Eichen aus ern, die nicht besonders heiß sind. Sollte also die Feinstaub­
Arizona und von 18 weiteren Gruppen von Pflanzenarten, bildung auf diese Weise direkt mit der Temperatur zusam­
die regelmäßig im US-amerikanischen Westen in Flammen menhängen? Falls ja, dann könnte man möglicherweise die
stehen. Dann trockneten und wogen die Forscher die Feinstaubemissionen mit Hilfe von Satelliten vorhersagen,
Pflanzenteile und verteilten sie auf einem Maschendraht­ die die Feuerintensität messen, hofft Warneke.
gitter, über dem eine massive Abzugshaube angebracht Darüber hinaus fand er gemeinsam mit dem NOAA-Wis­
war. Mit jedem Brennstoff entfachten sie zwei verschiedene senschaftler Matthew Coggon heraus, dass Brenzcatechin
Feuer: einen Schwelbrand mit zäh herumwaberndem auch bei der Ozonbildung im Zusammenhang mit Wald­
Rauch sowie einen heißen, bei dem Rauch und Flammen bränden eine Schlüsselrolle spielen könnte. Die langfristige
kerzengerade nach oben schossen. Exposition mit Ozon kann die Lungenfunktion beeinträchti­
Überraschenderweise stellten sie fest, dass die Emissio­ gen. Das Gas entsteht nicht unmittelbar bei Wildfeuern,
nen weitaus stärker von der Temperatur abhingen als von sondern erst, wenn die richtige Mischung von Stickoxiden
der Pflanzenart. Bei »kühleren« Bränden entstanden andere (NOx), VOC und Sonnenlicht vorliegt (siehe »So entsteht
flüchtige organische Verbindungen (VOC, englisch für Ozon«, S. 64). Flüchtige organische Verbindungen und
volatile organic compounds) als bei heißen. Allein durch die Sonnenlicht sind bei Waldbränden immer vorhanden. In
Temperatur des Feuers ließen sich 80 Prozent der ausgesto­ welcher Form Stickstoffverbindungen dabei in die Luft
ßenen Stoffe vorhersagen, wie das Team 2018 herausfand. gelangen, unterscheidet sich jedoch. Bei Schwelbränden
wird aus Pflanzen Ammoniak (NH3) freigesetzt, was nicht
Ein kleines Molekül unterstützt im Laborversuch sehr reaktiv ist. Heiße Feuer hingegen produzieren flüchtige
die Bildung von Feinstaub Stickoxide (NO und NO2). »Das Knifflige daran ist, dass die
Die Forscher nahmen Proben des Rauchs von einigen ihrer Chemie in einer Rauchfahne bei ziemlich hohen Temperatu­
im Labor entfachten Brände und steckten sie in einen ren abläuft«, sagt Coggon. »Selbst bei großen Bränden
Behälter aus Teflon, in dem ultraviolettes Licht die Sonnen­ verwandeln sich die ursprünglichen Bestandteile daher
einstrahlung simulierte. So wollten sie Feinstaubpartikel innerhalb einer Stunde in etwas komplett anderes.«
untersuchen, die bei allen Bränden freigesetzt werden. Die Gründe dafür kennt man seit fast 20 Jahren. Bei
In den Teflonbehältern ging die anfängliche Bildung von großen Waldbränden werden die von den verbrennenden
Feinstaub schnell zurück, und die Partikelkonzentration Pflanzen freigesetzten Stickoxide in den Rauch gerissen
nahm – wie erwartet – ab. In manchen Experimenten und durch die Hitze des Feuers in die obere Troposphäre
begannen bestimmte Stoffe jedoch nach einigen Stunden geweht. Beim Aufsteigen reagieren einige der Verbin­
zu kondensieren. Wie Quecksilberperlen, die sich zusam­ dungen mit Radikalen, bis nach einer Kaskade von Reak­
menlagern, setzten sich auf den wachsenden Oberflächen tionen aus den ursprünglichen Stickoxiden Peroxyacetyl­
weitere Teilchen ab, so dass die Feinstaubwerte, die nur nitrat (PAN) entstehen kann (siehe Grafik auf S. 65). Bei
wenige Stunden zuvor gesunken waren, erneut in die Höhe ausreichend niedrigen Temperaturen ist dieses Molekül
schossen. Warneke war sich nicht sicher, welcher Prozess relativ stabil. Solange der Rauch in der recht kühlen Umge­
die Neubildung der Partikel erklärt, aber er glaubte, einen bung in der oberen Troposphäre weiterdriftet, bleiben die
guten Ausgangspunkt gefunden zu haben: Meist stieg der Stickstoffverbindungen daher auf diese Weise gebunden,
Anteil, wenn ein Stoff namens Brenzcatechin zugegen war. wodurch der Ozonbildungsprozess im Wesentlichen einge­
USDA, U.S. FOREST SERVICE

Das Molekül ist ein struktureller Bestandteil von Catechi­ froren ist.
nen, einer Klasse von Stoffen, die in Pflanzen enthalten Sobald der Rauch jedoch wieder in die wärmeren, tiefe­
ren Lagen absinkt, zerfällt das PAN, und die Stickoxide
melden sich zurück. Dadurch kann sich plötzlich Ozon in
Mengen bilden, die für den Menschen giftig sind – hunder­
te oder sogar tausende Kilometer windabwärts des Feuers.
Aus diesem Grund schnellen bei bestimmten Flächenbrän­
den die Ozonwerte in Städten in die Höhe, die weit vom
Brandherd entfernt liegen. Treffen die Emissionen eines
Waldbrands an einem heißen Sommertag auf eine Stadt,
deren Luft bereits reichlich Stickoxide aus Straßenverkehr
und Industrie enthält, werden die zulässigen Grenzwerte
schnell um ein Vielfaches überschritten. Wegen solcher
Bedingungen maß Seattle 2018 an mehreren Stellen die
schlechteste Luftqualität der Welt.
Coggon und Warneke wollten nun wissen, ob auch
andere Moleküle eine ähnliche Rolle spielen wie PAN. Bei
ihren Laboruntersuchungen stießen sie auf Brenzcatechin.
Mit Stickoxiden in der Atmosphäre können sich daraus
nitrierte aromatische Verbindungen bilden, wie eine For­
schungsgruppe kürzlich herausgefunden hat. Zunächst war

Spektrum der Wissenschaft  6.20 67


das kein besonders interessantes Ergebnis – nur ein wei­ sen hatten, als sie brennendes organisches Material in
teres Molekül unter den Hunderten flüchtiger organischer Kansas untersuchen wollten. Angesichts der zunehmenden
Verbindungen, die sie identifiziert hatten. Doch in den Regelmäßigkeit, mit der Waldbrände auf die menschliche
folgenden zwei Jahren entwickelte Coggon ein chemisches Infrastruktur übergreifen, könnte diese Fallstudie noch
Modell, das nahelegte, dass Nitroaromaten eine Schlüssel­ besonders nützlich sein. Oder das kontrollierte Feuer in den
rolle im Stickstoff-Lebenszyklus und damit bei der Ozon­ Kiefernwäldern Floridas, das fast unmittelbar nach seiner
bildung spielen könnten. »Immer wenn Nitroaromaten Entzündung massenhaft Ozon produzierte, während ein
zugegen waren, war weniger Ozon vorhanden«, sagt er. hochintensiver Flächenbrand in Washington praktisch keins
Nach einer groben Überschlagsrechnung auf der Grund­ zu emittieren schien. Warneke vermutete, dass der Unter­
lage seines Modells vermutete Coggon, dass durch Wald­ schied recht einfach zu erklären sei: Ozonbildung benötigt
brände erhebliche Mengen an Nitroaromaten entstehen. In Licht. Beim Feuer in Florida verbrannte stickstoffreiches
diesem Zusammenhang waren diese Moleküle noch nie Brennmaterial an einem hellen, sonnigen Tag mit wenig
untersucht worden. Daher bauten Warneke und Coggon Rauch, während die Rauchsäule in Washington 10 000 Me­
aus einem ihrer bestehenden Werkzeuge ein Gerät, das ter in die Höhe ragte und durch Licht verursachte Reaktio­
deren Konzentration in der Luft zehnmal pro Sekunde misst. nen verhinderte, weil kein Sonnenlicht in ihr Inneres dringen
Dieses so genannte Protonentransfer-Reaktions-Massen­ konnte.
spektrometer montierten sie in ihren Forschungsjet. Das vielleicht quälendste Rätsel von allen war die sekun­
däre Bildung kleinster Feinstaubpartikel. Bei mehreren
Messungen aus dem Flugzeug bestätigen die Bränden ließ sich beobachten, dass die Menge der weniger
­theoretischen Annahmen als 2,5 Mikrometer großen Teilchen zunächst abnahm, um
»Wir fliegen jetzt in die Rauchwolke«, kündigt Crawford anschließend wieder zuzunehmen. Waren die gleichen
über das Kommunikationssystem des Flugzeugs an, als die Prozesse, die sie im Labor beobachtet hatten, auch in der
­Maschine zu wackeln und zu piepsen beginnt. Eineinhalb Natur am Werk?
Stunden nachdem wir das Feuer in Montana verlassen Nach einer Stunde, in der sie kreuz und quer durch die
haben, sind wir nun in einem raschen Sinkflug an der Stelle, Rauchfahne des »Tucker Fire« geflogen sind, versinkt die
die Warneke rot eingekringelt hat: beim 14 000 Hektar Sonne hinter dem Pazifik. Aus dem Fenster des Jets ist das
umfassenden »Tucker Fire« im Schatten des Mount Shasta. Feuer am Boden noch sichtbar, als langes, orangefarbenes
Als das Flugzeug in die Rauchschwaden eintritt, wird Band schlängelt es sich durch die Schwärze. Die DC-8 hat
das Licht orange und der Geruch von Holzfeuer erfüllt die nur noch wenig Kraftstoff zur Verfügung. Die Piloten lenken
Kabine. das Flugzeug in eine Kurve nach Osten, und Crawford
Coggon sitzt hinter der linken Tragfläche und starrt auf verlässt schließlich das Cockpit. »Als einzelnes Ereignis war
einen Bildschirm mit den Daten aus dem Spektrometer. Die dieses hier ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagt er. »Aber
Tabelle zeigt die molekulare Verteilung von hunderten die Erkenntnisse, die wir daraus extrapolieren können,
verschiedenen VOC. Coggons Augen sind auf den Wert für werden wirklich wertvoll sein.« 
Brenzcatechin fixiert. Das Molekül ist nun in sehr großen
Mengen vorhanden, seine Konzentration nimmt jedoch
schnell ab. »Das ist sogar noch mehr, als wir vor zwei Tagen QUELLEN
gesehen haben«, sagt er. Plötzlich ist er auf den Beinen und Finewax, Z. et al.: Identification and quantification of 4-nitroca­
stakst durch die Turbulenzen zu dem Doktoranden Wyatt techol formed from OH and NO3 radical-initiated reactions of
Brown. Dessen Instrument kann im Gegensatz zu Coggons catechol in air in the presence of NOx: Implications for seconda­
Submikron-Aerosole wie Nitroaromaten detektieren. Und ry organic aerosol formation from biomass burning. Environ­
mental Science & Technology 52, 2018
tatsächlich: Brown deutet auf den Bildschirm, der anzeigt,
dass sie soeben nitrierte Brenzcatechine in der Rauchfahne McClure, C. D., Jaffe, D. A.: U.S. particulate matter air quality
eindeutig nachgewiesen haben. improves except in wildfire-prone areas. PNAS 115, 2018
Coggons Reaktion zu beschreiben, ist fast unmöglich: Er Prunicki, M. et al.: The impact of prescribed fire versus wildfire
sah in diesem Moment, wie die Realität seine theoretischen on the immune and cardiovascular systems of children. Allergy
Modelle bestätigte. Und trotzdem markierte die Entde­ 74, 2019

ckung nur den Anfang eines komplizierten Prozesses. Roberts, J. M. et al.: Isocyanic acid in the atmosphere and its
Coggon vermutete später, dass es zwei Jahre und weitere possible link to smoke-related health effects. PNAS 108, 2011
Studien benötigen würde, um festzustellen, ob nitrierte Sekimoto, K. et al.: High- and low-temperature pyrolysis
Brenzcatechine ähnlich wie PAN als Stickstoffreservoir profiles describe volatile organic compound emissions from
fungieren, welche das Element vorübergehend gefangen western US wildfire fuels. Atmospheric Chemistry and Physics
18, 2018
halten und die Ozonproduktion verzögern, oder ob sie es
dauerhaft einschließen und diese damit stoppen. Beide
Theorien hätten möglicherweise tief greifende Auswirkun­ LITER ATURTIPPS

gen auf die Vorhersage der Ozonbildung durch Rauch und spektrum.de/wissen/1639880
damit auf dessen Auswirkungen für den Menschen. Was wir noch nicht über Feinstaub wissen
Im Lauf der Messkampagne traten immer mehr solche spektrum.de/news/1674074
Rätsel auf. Da war der Hausbrand, den sie zufällig gemes­ Die Folgen der riesigen arktischen Flächenbrände

68 Spektrum der Wissenschaft  6.20


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ENERGIE SPEICHERN
AUF DIE SCHNELLE
Superkondensatoren können rasch große Mengen
elektrischer Energie aufnehmen und wieder bereit­
stellen. Wie das System funktioniert, lässt sich mit
einfachen Experimenten sichtbar machen.

Dennis Lüke (links) beschäftigt sich an der Pädagogi-


schen Hochschule Freiburg mit der experimentellen
Erschließung moderner Energiespeicher für den Chemie-
unterricht. Matthias Ducci (Mitte) ist Professor für
Chemie und ihre Didaktik am Institut für Chemie an der
Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Marco Oetken ist
Abteilungsleiter und Lehrstuhlinhaber in der Abteilung
Chemie der ­Pädagogischen Hochschule Freiburg.

DENNIS LÜKE UND MARCO OETKEN, PH FREIBURG


 spektrum.de/artikel/1725076 Na+
Na+

SO42–


Obwohl Hermann von Helmholtz (1821–1894) bereits
Na+
vor fast 200 Jahren den Grundstein für Superkonden-
satoren als Energiespeicher legte, fristeten diese
lange Zeit ein Schattendasein. Das liegt unter anderem SO42–

daran, dass in mobilen Endgeräten vorrangig Lithium-


Na+ SO42–
Ionen-Akkumulatoren zum Einsatz kommen. Sie weisen
eine hohe Energiedichte auf und lassen sich daher Platz
sparend unterbringen.
Elektrode

Dabei bieten Superkondensatoren in bestimmten Berei- Na+

chen klare Vorteile gegenüber der dominierenden Lithium- Na+

Ionen-Technologie: Sie kommen ohne teure Metalloxide in


den Elektrodenmaterialien aus, sind deutlich langlebiger
und lassen sich sehr viel schneller laden und entladen als elektrochemische Abstand d
Akkumulatoren. Muss also in kurzer Zeit viel elektrischer Doppelschicht
Strom gespeichert oder bereitgestellt werden, sind Super-
kondensatoren die perfekten Kandidaten. Daher kommen Na+ Natrium-Kation
solvatisierendes Wassermolekül
sie heute in zahlreichen Bereichen zum Einsatz: von statio-
nären Energie-Back-up-Systemen bis hin zu mobilen An- negative Ladung (Elektron)
wendungen wie der Bremskraftrückgewinnung in Bussen SO42– Sulfat-Anion
positive Ladung
und Bahnen oder dem Beschleunigen von Hybrid- und
Elektrofahrzeugen.
Die Vorteile der Superkondensatoren gründen auf ihrer Ladevorgang eines elektrochemischen Doppelschicht­
einfachen, aber effektiven Funktionsweise. Der klassische kondensators in wässriger Salzlösung.

70 Spektrum der Wissenschaft  6.20


DENNIS LÜKE UND MARCO OETKEN, PH FREIBURG
Ein aus Alltagsmaterialien aufgebauter Superkonden­ elektrochemische Doppelschichtkondensator besteht aus
sator (schematischer Aufbau unten) kann einen kleinen zwei Elektroden, die in eine leitfähige Salzlösung – den
Propeller etwa eine halbe Minute lang betreiben. Elektrolyten – eintauchen. Das Anlegen einer Ladespan-
nung polarisiert die Elektroden gegensätzlich, indem es
Elektronen aus der Pluspol-Elektrode in die des Minuspols
Spannungsquelle zwingt. Daraufhin streben die Ionen in der Salzlösung
einen Ausgleich dieser neuen Ladungsverhältnisse an und
bewegen sich jeweils zu der Elektrode, die nun die ihnen
entgegengesetzte Ladung aufweist. Negativ geladene
Ionen (Anionen) wandern dementsprechend zum positiv
Voltmeter
polarisierten Pluspol und Kationen zum Minuspol. Die
Ionen liegen dabei aber nicht »nackt« in der Lösung vor,
sondern sind stets von einer Hülle aus Lösungsmittelmole-
külen umgeben. In der wässrigen Salzlösung unseres
Beispiels besteht diese »Solvathülle« aus Wassermole­
Krokodilklemme
külen.
Die Ionen lagern sich samt ihrer Solvathülle an das
Lüsterklemme
Elektrodenmaterial an (sie adsorbieren). Dadurch entste-
hen die für dieses Speichersystem namensgebenden
Bleistiftmine elektrochemischen Doppelschichten (siehe Grafik auf
S. 70), die auf der einen Seite negativ, auf der anderen
positiv polarisiert sind. Die Solvathülle der Ionen hält die
DENNIS LÜKE UND MARCO OETKEN, PH FREIBURG

Natriumsulfatlösung entgegengesetzten Ladungen auf Abstand und damit die


Doppelschicht aufrecht.
Auf Grund der Ladungstrennung in der elektrochemi-
schen Doppelschicht bildet sich ein elektrisches Feld aus,
Tic-Tac-Dose
das sich über den Abstand der getrennten Ladungen
hinweg erstreckt (siehe Grafik auf S. 70). In diesem Be-
reich wird Energie gespeichert, die man der Zelle beim

Spektrum der Wissenschaft  6.20 71


Die Elektrodenpolarisation entsteht, weil (wie anfangs
beschrieben) das Anlegen einer Ladespannung dem Pluspol
Elektronen entzieht und diese dem Minuspol zuführt. Da-
durch verschiebt sich das Elektrodenpotenzial des Graphits
in den positiven beziehungsweise negativen Bereich. Dank
dieser Potenzialverschiebungen können nun Redoxreaktio-
nen ablaufen, die mit unpolarisiertem Graphit nicht möglich
sind. Eine solche ist die Reduktion von Silberionen zu
elementarem Silber durch den negativ polarisierten Minus-
pol des Superkondensators. Um diese Reaktion ablaufen zu
lassen, wird der selbst gebaute Superkondensator bei
1,6 Volt geladen. Anschließend entnimmt man die als
Minuspol geschaltete Bleistiftmine aus dem Energiespei-
DENNIS LÜKE UND MARCO OETKEN, PH FREIBURG

cher und stellt sie in eine Silbersalzlösung (AgNO3, beste-


hend aus Ag+- und NO3–-Ionen). Augenblicklich scheidet
sich festes Silber auf der Elektrode ab (siehe Bild links,
linkes Foto).
Silber ist ein sehr edles Metall und liegt daher bevorzugt
in seiner reduzierten, festen Form vor. Um die Silberionen
aus der Salzlösung in diese Gestalt zu überführen, braucht
Abhängig von der Ladespannung verschiebt sich das es aber Elektronen. Und eben jene Elektronen liefert die
Potenzial des Graphits an Plus- und Minuspol. Mit den negativ polarisierte Superkondensator-Elektrode. Folgende
polarisierten Elektroden lassen sich eindrucksvolle Redoxreaktion läuft ab:
Redoxreaktionen durchführen: Am negativ polarisierten
Minuspol scheidet sich aus einer Silbernitratlösung Oxidation: Cn– —› Cn + e–
elementares Silber ab (links), während der positiv pola­
risierte Pluspol Iodid zu Iod oxidiert (rechts). Reduktion: Ag+ + e– —› Ag

Gesamt: Ag+ + Cn– —› Ag + Cn


Laden zuführt. Die Doppelschichten an Plus- und Minuspol
verhalten sich dabei wie zwei in Reihe geschaltete physi- C steht dabei für Kohlenstoff, aus dem der Graphit besteht,
kalische Plattenkondensatoren. und n für eine unbestimmte Menge davon.
Anders als bei Akkus kommt es also bei der Energie- Auch mit der als Pluspol geschalteten Elektrode lassen
speicherung in elektrochemischen Doppelschichtkonden- sich nun Redoxreaktionen durchführen. Dazu entnimmt
satoren zu keiner Elektronenübertragung zwischen Ionen man die positiv polarisierte Bleistiftmine nach dem Lade­
und Elektroden, das heißt auch zu keiner chemischen vorgang ebenfalls aus dem Superkondensator und bringt
Reaktion. Weil die Ionenadsorption ausschließlich auf die sie in eine Kaliumiodidlösung (KI, bestehend aus K+- und
Elektrodenoberfläche begrenzt ist, lässt sich der Superkon- I--Ionen).
densator sehr schnell laden und entladen. Da an der positiv polarisierten Elektrode ein Elektronen-
Mit einfachen Mitteln kann man einen Superkondensa- mangel herrscht, werden Elektronen der Iodidionen auf
tor zu Hause nachbauen. Als Elektrodenmaterial kommen diese übertragen.
dazu Bleistiftminen aus Graphit zum Einsatz. Um eine
ausreichend große Oberfläche für die Ionenanlagerung zu Oxidation: 2 I– —› I2 + 2 e–
schaffen, glüht man die Minen zunächst über einer Flam-
me aus. Dabei verbrennt das vom Hersteller zugeführte Reduktion: Cn2+ + 2 e– —› Cn
Bindemittel, so dass ein leitfähiges Graphitgerüst mit
großer Oberfläche zurückbleibt. Als Elektrolyt wird eine Gesamt: 2 I– + Cn2+ —› I2 + Cn
0,5-molare wässrige Natriumsulfatlösung (Na2SO4) ange-
setzt und in eine kleine Plastikdose gefüllt. Die ausgeglüh- Das entstehende elementare Iod (I2) bildet mit überschüssi-
ten Elektroden können zur besseren Handhabung mit einer gen Iodidionen (I–) das gut sichtbare braune Triiodid (I3–)
Lüsterklemme fixiert werden, bevor man sie in den Elek­ (siehe Bild oben, rechtes Foto). Der Farbeindruck lässt sich
trolyten stellt. Anschließend wird der fertige Superkonden- noch intensivieren, wenn man wenige Tropfen Stärkelösung
sator bei 1,6 Volt geladen und betreibt bereits nach einer hinzugibt. Je nachdem, welche Art von Stärke man verwen-
Ladezeit von 30 Sekunden einen kleinen Glockenankermo- det, bilden sich dadurch dunkelblaue bis rötliche Farbkom-
tor (siehe Bilder auf S. 71). plexe.
Wie die Energiespeicherung in einem solchen Super- Die Elektrodenpolarisation ließ sich durch diese Redoxre-
kondensator funktioniert, kann man anhand zweier daran aktionen, die mit unpolarisiertem Graphit nicht möglich sind,
beteiligter Phänomene veranschaulichen: der Elektroden- leicht veranschaulichen. Doch wie gelingt der Nachweis
polarisation und der Ionenadsorption. für die Ionenadsorption, die ja der Grund für die Polarisation

72 Spektrum der Wissenschaft  6.20


DENNIS LÜKE UND MARCO OETKEN, PH FREIBURG
M+ R–

M+ R–

Elektrode (Bleistiftmine)
M+ R–

M+ R–
DENNIS LÜKE UND MARCO OETKEN, PH FREIBURG

solvatisiertes negative Ladung (Elektron)


R– Cochenillerot A
positive Ladung
solvatisiertes
M+
Methylenblau

Farbige Ionen im Elektrolyten machen die elektrochemische Doppelschicht sichtbar: Nach dem Laden werden
die Elektroden in eine farblose Elektrolytlösung getaucht. Durch das Entladen des Superkondensators löst sich die
Doppelschicht dort auf, und die desorbierten Farbstoffionen zeigen sich als Farbschleier um die Elektroden.

ist? Ganz einfach: Man verwendet Ionen, die man auch sich die elektrochemische Doppelschicht ab, und die
sehen kann! Dazu eignen sich zum Beispiel das negativ Farbstoffionen lösen sich von den Elektroden. Sie diffun-
geladene Cochenillerot A sowie das positiv geladene dieren langsam in die farblose Salzlösung, wo sie als
Methylenblau. Beide kommen als Lebensmittelfarbstoffe deutliche Farbschlieren im Bereich um die Elektroden
zum Einsatz und sind daher leicht zu beschaffen. Man erscheinen. 
setzt eine Lösung aus Methylenblau und Cochenillerot A
an und verwendet diese als Elektrolyten für den Super­ QUELLEN
kondensator, den man anschließend für ein bis zwei Burke, A. et al.: Ultracapacitors: why, how, and where is the
Minuten lädt. Da die Lösung intensiv gefärbt ist, lässt sich technology. Journal of Power Sources 91, 2000
zunächst jedoch nichts erkennen. Darum überführt man
Flint, A. et al.: Chemie fürs Leben – Elektrochemie. Universität
die Elektroden nach dem Ladevorgang in eine farblose Rostock, 2016
Natriumsulfatlösung, wo sie entladen werden.
Gu, W. et al.: Review of nanostructured carbon materials for
Bereits nach kurzer Zeit sind die desorbierenden, also
electrochemical capacitor applications: advantages and limita-
sich von den Elektrodenoberflächen lösenden Ionen tions of activated carbon, carbide-derived carbon, zeolite-temp-
sichtbar: Um den Minuspol herum zeigt sich ein blauer lated carbon, carbon aerogels, carbon nanotubes, onion-like
Farbschleier, während der Elektrolyt um den Pluspol rot carbon, and graphene. WIREs Energy Environ 3, 2014
erscheint (siehe Bilder oben). Kötz, R. et al.: Principles and applications of electrochemical
Der Grund für diese eindrückliche Farbtrennung ist die capacitors. Electrochimia Acta 45, 2000
Doppelschicht, die sich beim Laden des Superkondensa- Pal, B. et al.: Electrolyte selection for supercapacitive devices: a
tors ausbildet. Weil der Minuspol negativ polarisiert ist, critical review. Nanoscale Advances 1, 2019
bewegen sich positiv geladene Kationen, in diesem Fall
also das Methylenblau, zu ihm hin und adsorbieren an EXPERIMENTIERANLEITUNG
seiner Oberfläche. Die Cochenillerot-A-Anionen hingegen
www.spektrum.de/artikel/1725076
wandern in die entgegensetzte Richtung und adsorbieren
am Pluspol. Beim anschließenden Entladen gleichen sich Hier finden Sie eine PDF-Datei mit ausführlichen Versuchsbe-
die Ladungen der Elektroden wieder aus. Folglich baut schreibungen.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 73


ASTRONOMIE
DER GALAKTISCHE
ARCHIPEL
Es gilt als nicht unwahrscheinlich, dass es außerirdische
Zivilisationen in der Milchstraße gibt. Doch wieso
haben wir dann noch nichts von ihnen mitbekommen?
Eine neue Erklärung besagt: Vielleicht driften wir in
einer besonders schwer zugänglichen Region durchs All.

Caleb Scharf ist Direktor des Astrobiology Center an der Columbia University in New York und

FREDER / GETTY IMAGES / ISTOCK


Autor ­mehrerer Bücher, darunter »The Copernicus Complex« (2014) und »The Zoomable
Universe« (2017). Er schreibt einen Blog für »Scientific American« und hat Artikel in vielen anderen
Zeitschriften veröffentlicht.
NERISSA ESCANLAR

 spektrum.de/artikel/1725078


Am 15. Januar 1790 kamen neun Meuterer von der Polynesien, Mikronesien und Melanesien gibt es Zehntau­
HMS Bounty, 18 Menschen aus Tahiti und ein Baby auf sende von Inseln, die über Millionen von Quadratkilometern
der Insel Pitcairn an, einem der isoliertesten bewohn­ verstreut sind. Bei vielen von ihnen handelt es sich bloß
baren Orte der Erde. Umgeben von hunderten Kilometern um schroffe Felsen oder Korallenriffe. Aber es sind auch
offenem Meer ist das Eiland im Südpazifik der Inbegriff der paradiesische Eilande dabei, die immer wieder Menschen
Einsamkeit. Bis ins 15. Jahrhundert hatte eine Gruppe angelockt haben.
Polynesier auf der Insel gelebt, die dann jedoch ausgestor­ Damit weist die Südsee so manche Parallele zu unserem
ben ist. So betrat die Besatzung der Bounty eine menschen­ kosmischen Umfeld auf: In der Milchstraße gibt es hun­
leere Insel – und erhielt erst 18 Jahre später Besuch von derte Milliarden Sterne. Manchen Hochrechnungen zufolge
einem anderen Schiff. kreisen um zehn Milliarden von ihnen Felsplaneten, auf
Die Geschichte ist ein extremes Beispiel für die unge­ deren Oberfläche gemäßigte Temperaturen herrschen
wöhnliche Dynamik der Besiedlung des Südpazifiks. In könnten. Wie die Inseln der Erde könnten diese Exoplane­

74 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Unsere Galaxie besteht aus hunderten
Milliarden Sternsystemen. In einigen
von ihnen könnte es Zivilisationen
geben, die mit Raumschiffen zu
anderen Sonnen aufbrechen.
FREDER / GETTY IMAGES / ISTOCK

ten Lebewesen einen Platz bieten. Und vielleicht haben sofern es sie gibt – doch längst auf der Erde angekommen
einige von ihnen die Technologie entwickelt, die nötig ist für sein müssten.
eine Reise zu den Sternen. Die Frage entwickelte sich im Lauf der Zeit zu dem
berühmten, wenn auch etwas unglücklich benannten
Ein berühmtes Mittagessen und »Fermi-Paradoxon«: Wenn technologisch versierte Spezies
Enrico Fermis Paradoxon nicht extrem selten sind, sollten sie sich inzwischen prak­
Dieses Gedankenspiel wirft allerdings eine Frage auf, die tisch überall in der Galaxie ausgebreitet haben. So legte
der Physiker Enrico Fermi bereits im Jahr 1950 gestellt es zumindest eine von Fermis blitzschnellen Überschlags­
haben soll. Bei einem Mittagessen mit Kollegen, so die rechnungen nahe, für die der Wissenschaftler bei seinen
berühmte Anekdote, platzte es auf einmal aus ihm heraus: Kollegen bekannt war.
»Fragt ihr euch nicht manchmal, wo die alle stecken?« 1975 erstellte der Astrophysiker Michael Hart eine erste
Gemeint waren jene raumfahrenden Außerirdischen, die – detaillierte Studie zu Fermis Idee. Er hielt zunächst »Fakt A«

Spektrum der Wissenschaft  6.20 75


fest: Heute gibt es keine Außerirdischen auf der Erde, ganze Idee einer galaktischen Besiedlung buchstäblich ins
was für die meisten besonnenen Menschen wohl eine Leere. Diesen Einwand brachten Carl Sagan und William
unumstößliche Tatsache sein dürfte. Sie führte Hart Newman bereits im Jahr 1983 vor. Aber wie mein Kollege
zu der Schlussfolgerung, dass es in unserer Galaxie derzeit Jason Wright feststellt, ist die Behauptung wohl ein Trug­
keine anderen technologisch weit entwickelten Zivilisatio­ schluss, zumindest wenn man damit Fermis Frage beant­
nen gibt – oder jemals gegeben hat. Die Argumentation worten will. Denn es dürfte unmöglich sein, mit Gewissheit
ähnelte der von Fermi: Eine Spezies mit einigermaßen weit über das Verhalten einer ganzen Spezies zu spekulieren,
entwickelten Raumantrieben würde, wenn man in kos­ solange diese aus Individuen besteht.
mischen Maßstäben denkt, nur recht wenig Zeit brauchen, Zumindest bei uns Menschen hat jedenfalls jeder Einzel­
um die 100 000 Lichtjahre messende Milchstraße zu be­ ne eine eigene Sichtweise, und entsprechend wird es
siedeln. immer Menschen geben, die ins Weltall aufbrechen wollen.
Der US-Physiker Frank Tipler rechnete 1980 vor, dass Und selbst wenn die überwiegende Mehrheit der mut­
entsprechend motivierte Aliens binnen einer Million Jahren maßlichen Raumfahrer-Aliens keine galaktische Diaspora
wohl jeden Fleck unserer Galaxie erreichen könnten. Wenn anstrebt: Es reicht schon aus, wenn eine einzige weit
man bedenkt, dass es unser Sonnensystem seit 4,5 Milliar­ entwickelte Kultur aus diesem Rahmen fällt, um potenziell
den Jahren gibt und dass sich die Milchstraße vor mindes­ Lebensspuren über etliche Sternsysteme zu verteilen.
tens zehn Milliarden Jahren gebildet hat, sollten die Außer­ Da verwundert es wenig, dass in der Geschichte von
irdischen also mehr als genug Zeit gehabt haben, um sich Fermis Paradoxon viel über die zu Grunde liegenden An­
auf allen bewohnbaren Welten niederzulassen. nahmen gestritten wurde und es eine Vielzahl angeb­licher
Sowohl Hart als auch Tipler gingen davon aus, dass die Lösungen gibt. So könnte man zum Beispiel für die schnelle
Sternreisenden geeignete Planeten kolonisieren und diese Durchquerung des interstellaren Raums derart viele Res­
dann als Ausgangsbasis für die weitere Expansion nutzen. sourcen brauchen, dass dies selbst sehr weit entwickelte
Im Detail trafen die beiden Forscher jedoch unterschiedli­ Aliens vor ein unüberwind­bares Hindernis stellt. Das würde
che Annahmen: Hart ging von einer biologischen Spezies zweifellos Harts »Fakt A« erklären.
aus, deren Mitglieder sich selbst ins Raumschiff setzen.
Tipler hingegen spekulierte über Schwärme von sich selbst
replizierenden Sonden, die sich automatisiert über die
Galaxis ausbreiten. Spuren technologischen
Die Unterschiede machen sofort eine der großen Her­
ausforderungen dieser Art von Studien deutlich: die nicht Lebens würden auf
überprüfbaren Grundannahmen. Einige sind vernünftig und
leicht zu rechtfertigen, andere heikel. Beispielsweise enthal­ der Erde keineswegs ewig
ten alle Szenarien Vermutungen über die Technologie, die
für interstellare Raumflüge nötig ist. Auch die Frage, ob erhalten bleiben
intelligente Wesen Reisen von Stern zu Stern überhaupt
überleben können, ist bisher offen.
Wir Menschen wissen bisher lediglich, dass solch ein Oder aber das Bevölkerungswachstum ist keine so
Unterfangen eine große Herausforderung ist. Selbst ein starke Motivation, den Heimatplaneten zu verlassen, wie
Raumschiff, das zehn Prozent der Lichtgeschwindigkeit manche Forscher annehmen. Im Gegenteil: Fremde Zivilisa­
erreicht, übersteigt derzeit unsere technischen Möglichkei­ tionen könnten eine komplett nachhaltige Existenz anstre­
ten bei Weitem. Als Antrieb kämen hier wohl nur gezielt ben, die es unnötig macht, in die Ferne zu reisen. Eine
gezündete Wasserstoffbomben in Frage. Oder kolossale weitere mögliche Erklärung für unsere kosmische Einsam­
Lichtsegel, die von Laserstrahlen angetrieben werden. keit ist das Konzepte des »großen Filters«: Vielleicht gibt es
etwas, das jede Art früher oder später in ihre Schranken
Ein »großer Filter«, der alle weist. Etwa ein unvermeidliches Scheitern der Vision einer
Zivilisationen zu Fall bringt? komplett nachhaltigen Lebensweise, das unweigerlich zu
Außerdem müsste man Raumgleiter vor Gasatomen und großen Verwerfungen und gewaltsamen Konflikten führen
Staubkörnern schützen. Bei derart hohen Geschwindigkei­ könnte. Vielleicht sind es auch extreme Naturkatastrophen,
ten würde jedes von ihnen wie eine Granate einschlagen. die expansive Imperien regelmäßig zu Fall bringen, etwa
Langsamere Raumschiffe wären daher sicherer, bräuchten Supernova-Explosionen oder Ausbrüche des Schwarzen
jedoch viele Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende für eine Lochs im Zentrum der Milchstraße.
Reise zum nächsten Stern. Diese Zeitspanne dürfte die Für großes Unbehagen sorgt auch die so genannte
Lebensspanne der meisten Organismen übersteigen – und Zoo-Hypothese. Demnach isolieren fremde Mächte uns
stellt daher entsprechende Anforderungen an die Lebens­ absichtlich und beobachten die Menschheit wie Versuchs­
erhaltungssysteme. tiere. In eine ähnliche Richtung geht das, was ich das
Die umstrittensten Annahmen betreffen wohl die Moti­ Paranoia-Szenario nenne: Es gibt andere Zivilisationen im
vation fremder Zivilisationen sowie deren Überlebensdauer. Weltall, sie verstecken sich allerdings voreinander und
Wenn zum Beispiel eine außerirdische Spezies einfach nicht verweigern die Kommunikation aus Angst vor einer Art
daran interessiert ist, andere Sterne zu besuchen, führt die kosmischer Fremdenfeindlichkeit.

76 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Womöglich lässt sich das Fermi-Paradoxon viel leichter
auflösen. Hier kommen die Inseln des Südpazifiks ins
Spiel. Sie zeigen uns, dass Lebensräume mitunter nur AUF EINEN BLICK
spärlich und in großen zeitlichen Abständen bewohnt KOSMISCHE EINSAMKEIT
werden. Wie im Weltall entscheiden verschiedene Faktoren
über die Besiedlung – etwa die Zahl guter Plätze oder die
Zeit, die eine Bevölkerung braucht, um zu neuen Ufern 1 Hochrechnungen zeigen, dass sich fortschrittliche
Zivilisationen schnell über die gesamte Galaxie aus­
breiten könnten. Allerdings haben wir bisher auf der
aufzubrechen.
Adam Frank von der University of Rochester und ich Erde keine Belege für ihre Existenz gefunden. Warum?
haben uns hierzu erstmals 2015 Gedanken gemacht, wie
einst Fermi und seine Kollegen bei einem gemeinsamen
Mittagessen. Wir gingen dabei von einem einfachen Ge­
2 Mögliche Antworten gibt es viele: Vielleicht sind wir
schlicht allein im Weltall, oder interstellare Reisen
sind unmöglich. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch
danken aus: Genau wie auf der Insel Pitcairn könnte es keine dieser Optionen besonders plausibel.
auch im All immer wieder neue Wellen der Erkundung oder

3
Besiedlung geben. Wir Erdlinge hätten in diesem Szenario Eine bessere Erklärung für unsere Einsamkeit ist,
die Blüte unserer Zivilisation während einer der Flauten dass die Besiedlung des Alls in Wellen erfolgt – und
erreicht. wir gerade eine Flaute erleben.
Die Idee knüpft direkt an Harts »Fakt A« an, dass wir auf
der Erde bisher nichts von Außerirdischen mitbekommen
haben. Sie geht jedoch noch weiter. So erscheint es sinn­
voll, den Zeitraum einzuschränken, in der die Erde keine Astronomen wissen schon lange, dass sich die Sterne im
Kolonie einer fremden Spezies war. Der Gedanke mag Umkreis von ein paar hundert Lichtjahren um die Sonne
abwegig klingen, aber vielleicht haben Außerirdische in der wie die Teilchen in einem Gas bewegen. Im Verhältnis zu
fernen Vergangenheit vorbeigeschaut – und sind dann jedem Fixpunkt in diesem Volumen kann sich ein Stern
wieder abgedüst. schnell oder langsam bewegen, in jede Richtung. Zoomt
Dass dies durchaus eine Möglichkeit ist, verdeutlicht man weiter heraus, so dass man Tausende von Lichtjahren
eine Studie meiner Kollegen Gavin Schmidt und Adam im Blick hat, registriert man eine gemeinsame Bahnbewe­
Frank. Demnach würden Spuren technologischen Lebens gung, die unsere Sonne einmal in etwa 230 Millionen
auf der Erde keineswegs ewig erhalten bleiben, sondern mit Jahren um den Mittelpunkt der Milchstraße transportiert.
der Zeit verschwinden. Nach mehr als einer Million Jahre Sterne, die näher am galaktischen Zentrum sind, brauchen
wären bloß noch isotopische oder chemische Anomalien weniger Zeit für einen Umlauf. Auch ober- und unterhalb
im Erdboden auffindbar, etwa in Form synthetischer Mole­ der galaktischen Scheibe gibt es sehr schnelle Sonnen, die
küle, Kunststoffe oder radioaktiven Fallouts. Fossile Über­ immer wieder durch diese hindurchtauchen.
reste und andere paläontologische Marker wären hingegen Für jede Zivilisation ändert sich das kosmische Umfeld
so selten und abhängig von besonderen Entstehungsbedin­ daher laufend. Ein gutes Beispiel dafür ist unser eigenes
gungen, dass sie uns vermutlich nichts sagen würden. Sonnensystem. Im Moment ist Proxima Centauri unser
Tatsächlich bedecken Siedlungen heutzu­tage nur rund ein nächster Nachbar, in einer Distanz von 4,24 Lichtjahren. In
Prozent der Planetenoberfläche. Paläontologen der fernen rund 10 000 Jahren wird er jedoch nur noch 3,5 Lichtjahre
Zukunft müssten also viel Glück bei der Suche nach Über­ entfernt sein – eine erhebliche Einsparung an interstellarer
resten der Menschheit haben. Reisezeit. In 37 000 Jahren ist der nächstgelegene Stern
­hingegen ein Roter Zwerg namens Ross 248, von dem uns
Unser kosmisches Umfeld ändert sich dann bloß noch drei Lichtjahre trennen.
laufend Unsere Simulation findet daher in einem dreidimensiona­
Schmidt und Frank kommen außerdem zu dem Schluss, len Volumen statt, in dem Sterne sich nach einem ähnlichen
dass noch niemand erschöpfend nach Spuren technologi­ Muster bewegen wie in dem uns bekannten Ausschnitt der
scher Hochkulturen gesucht hat. Ihr Fazit: Wenn schon Milchstraße. Der Computer weist dann manchen der Sterne
einmal eine Industriegesellschaft auf der Erde existiert hat, eine Zivilisation zu. Diese haben eine begrenzte Lebensdau­
dann wüssten wir vielleicht nichts davon. Das bedeutet er, so dass sie von der Karte auch wieder verschwinden.
keineswegs, dass dies so sein muss. Es zeigt lediglich, dass Einprogrammiert ist eine Wartezeit, die vergehen muss, ehe
die Möglichkeit nicht rigoros ausgeschlossen werden kann. eine Spezies eine Sonde oder ein Schiff mit Kolonisten zu
In den letzten Jahren haben wir die Implikationen dieser ihrem nächsten Nachbarstern starten kann.
Ideen mit Blick auf unsere Galaxie ausgelotet. Die Leitung Wir können diese Details der Simulation beliebig verän­
der Studie fiel dabei Jonathan Carroll-Nellenback von der dern – und dadurch sehen, wie bestimmte Annahmen das
University of Rochester zu, mit dabei war auch Jason Ergebnis beeinflussen. Bei einer Vielzahl der Durchläufe
Wright von der Pennsylvania State University. Mit Hilfe erkennen wir, dass sich eine leicht zerklüftete Siedlungs­
neuartiger Computersimulationen und altmodischer Papier- front von System zu System ausbreitet (siehe »Umgeben
und-Bleistift-Mathematik konnten wir ein realistischeres von Aliens«, S. 78/79). Die Geschwindigkeit der Kolonisie­
Bild davon zeichnen, wie sich Spezies in unserer Galaxie rung scheint dabei der Schlüssel zur Überprüfung verschie­
ausbreiten würden. dener Lösungen des Fermi-Paradoxons zu sein.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 77


Umgeben von Aliens
Es gibt viele mögliche Antworten auf die Frage, warum wir bisher keine Außerirdischen entdeckt
haben. Die vielleicht plausibelste: Sie existieren, aber nicht in unserer Nähe. Dazu könnte es kommen,
wenn sich Spezies nicht gleichmäßig über die Milchstraße ausbreiten, sondern dies nur in Wellen tun
und dabei manche Regionen bevorzugen. Simulationen zufolge würden sich so Ballungen besiedelter
Sternsysteme bilden, die von isolierten Bereichen umgeben sind. In ihnen würden Zivilisationen wie
die Menschheit für lange Perioden nichts von anderen Lebewesen mitbekommen.

Galaktische Diaspora
Die rechts abgebildete Momentaufnahme stammt aus einer Computersimulation. Sie zeigt, wie
stark sich außerirdische Zivilisationen binnen zehn Millionen Jahren ausbreiten könnten. Den Kolo­
nisten standen in diesem Fall 10 000 geeignete Welten in einem 464 Lichtjahre großen Modellkasten
zur Auswahl (nicht besiedelbare Sternsysteme sind in der Grafik nicht abgebildet – sie sind Schät­
zungen zufolge 22-mal so häufig wie Sonnen mit lebensfreundlichen Planeten). Blickt man aus
großer Ferne auf solch einen Ausschnitt des Weltalls, bewegen sich die Sterne darin kreuz und quer
durcheinander, wie Moleküle in einem Gas. Raumsonden rasen mit 3000 Kilometern pro Sekunde
durch das virtuelle Universum – 100-mal schneller als ein durchschnittlicher Stern in der Simulation.

Jeder Punkt zeigt die aktuelle Position eines besiedelten oder besiedelbaren Planetensystems.

Die Karte rechts zeigt den Stand am Ende der Simulation. 6948 der betrach­
teten Systeme wurden von einer Sonde erreicht, aber lediglich 403 beher­
bergen aktive Siedlungen. 3052 Sterne mit geeigneten Planeten im Orbit
Wenn eine Zivilisation erhielten hingegen keinen Besuch. Auf diese Weise entstanden elf vonein­
nur eine Hand voll ander getrennte »Imperien« aus mindestens zehn besiedelten Systemen, die
No active settlementhier
Systeme besiedelt within Settlement
jeweils collapsed
mit einer Currently
eigenen Farbe active settlement
markiert wurden.
hat, ist dies in Grau
the past 1 million years 0.5 million years ago
dargestellt.

No active
apsed settlement
Currently within
active Settlement collapsed Currently active settlement
settlement 10 light-years
aktive Siedlung
s agothe past 1 million years keine
0.5 million
aktiveyears ago binnen
Siedlung
der letzten Million Jahre
No active settlement within Settlement collapsed Currently active settlement
the past 1 million years 0.5 million years ago
10 light-years 10 light-years
zehn Lichtjahre
Siedlung ist vor 0,5 Millionen frühere
10 light-years neuere
Jahren kollabiert. Verbindung
Earlier MoreVerbindung
recent
connection in der Simulation
Die Zivilisationen connection
flogen jeweils
Verblasste Farben weisen auf Systeme hin, die
nur kolonisierbare Systeme in einem Radius von
keine aktiven Siedlungen mehr haben. Die derzeit
zehn Lichtjahren an. Und das auch nur, wenn noch
aktiven Kolonien sind hingegen von halbtrans­
keine andere Spezies dort lebte oder dahin
Earlierparenten BlasenMore recent Radius vonEarlier
mit einem zehn More recent ­unterwegs war. Die Linien in der Grafik verbinden
Lichtjahren umgeben, die den fiktivenconnection
Einfluss­ connection
connection connection
bereich für ein einzelnes System abgrenzen.
kürzlich besiedelte Systeme mit ihren Mutter­
systemen. Sie zeigen jedoch nicht den tatsächlich
Earlier More recent
zurückgelegten Weg. Dieser fällt komplizierter
connection connection
aus, da sich die Sterne ständig gegeneinander
verschieben. UNIVERSITY OF ROCHESTER / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2020
NADIEH BREMER, NACH: JONATHAN CARROLL-NELLENBACK,

78
Und die Erde?
Die Simulation ist eine grobe
Annäherung an unsere galakti­
sche Nachbarschaft. Das Sonnen­
UNIVERSITY OF ROCHESTER / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2020

system könnte sich in jedem noch


NADIEH BREMER, NACH: JONATHAN CARROLL-NELLENBACK,

nicht besiedelten Teil des abgebil­


deten Kastens befinden. Durch
statistische Schwankungen in den
Flugbahnen der Sterne und in der
Zusammensetzung der Planeten­
systeme entstehen Regionen, in
denen bewohnbare Welten
außerhalb der Reichweite der
umgebenden Zivilisationen liegen
würden.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 79


Tatsächlich läuft die Bewegung der Sterne in der Gala- Dieses »Galaktischer Archipel«-Szenario könnte unsere
xie darauf hinaus, dass selbst die Siedlungsfronten langsa­ Situation auf der Erde erklären. Wenn Zivilisationen im
mer Zivilisationen die Galaxie in weit weniger als einer Durchschnitt eine Million Jahre überdauern und nur drei
Milliarde Jahren durchqueren würden. Mit »langsam« sind Prozent der Sternsysteme tatsächlich kolonisierbar sind,
hier Sonden mit Geschwindigkeiten von 30 Kilometern besteht unseren Simulationen zufolge eine etwa zehnpro­
pro Sekunde gemeint. Damit sind sie immerhin fast doppelt zentige Wahrscheinlichkeit, dass ein Planet wie die Erde
so schnell wie die 1977 gestartete Voyager-1-Sonde, errei­ seit ein paar Millionen Jahren nicht besucht wurde.
chen aber lediglich ein Zehntausendstel der Lichtgeschwin­ Umgekehrt impliziert dieses Szenario, dass es anderswo
digkeit. in der Galaxie Bereiche mit vielen interstellaren Spezies
Wenn wir die galaktische Rotation oder die durch die gibt, für die kosmische Nachbarn oder Besucher die Norm
Scheibe schießenden Sterne aus dem galaktischen Vorhof und nicht die Ausnahme sind. Für all dies sind keine extre­
mit einbeziehen, schrumpft die Zeit, die für die Erschlie­ men Hypothesen erforderlich: Basis dafür sind eine konser­
ßung der Galaxie nötig ist, sogar noch. Mit anderen Wor­ vative Abschätzung der Planetenzahl und die Sternbewe­
ten: Wie Fermi vermutete, ist es wirklich nicht schwer, die gungen in der Milchstraße. Natürlich fließen nicht überprüf­
bare Annahmen über die Durchführbarkeit interstellarer
Reisen mit ein sowie die Frage, ob intelligente Lebewesen

Mancherorts könnte es
sich tatsächlich auf den Weg machen würden.
Andere Faktoren können wir hingegen zunehmend gut

Ballungen lebensfreundlicher bestimmen. Wie häufig mit Leben kompatible Welten sind,
grenzen Exoplaneten-Forscher beispielsweise immer weiter

Welten geben – anderswo ein. Auch über andere Fragen, wie etwa die Langlebigkeit
von Zivilisationen, lernen wir selbst immer mehr. Etwa

hingegen kaum welche indem wir selbst versuchen, eine nachhaltige Wirtschaft
aufzubauen.
Darüber hinaus können wir nach besiedelten Sternarchi­
pelen Ausschau halten oder nach Indizien für eine Welle der
Milchstraße mit Leben zu füllen. Wie voll sie dann am Ende Kolonisation suchen. Eine interessante neue Strategie wäre
ist, hängt jedoch sowohl von der Anzahl der wirklich be­ beispielsweise, unsere Teleskope nicht bloß auf einzelne,
wohnbaren Exoplaneten ab als auch von der Überlebens­ bekannte Exoplanetensysteme zu richten. Stattdessen
dauer der Zivilisationen. könnten wir galaktische Regionen in den Blick nehmen, in
Verringert man etwa die Anzahl der nutzbaren Planeten denen die Anordnung der Sterne die interstellare Expansion
und geht von Spezies aus, die nur etwa 100 000 Jahre begünstigen würde. Bis vor Kurzem war unsere dreidimen­
bestehen, erhält man eine sehr leere Galaxie. Wählt man sionale Karte des galaktischen Raums leider nur sehr unge­
hingegen optimistischere Werte für diese Parameter, füllt nau. Aber das Gaia-Weltraumteleskop der Europäischen
sich das Weltall mit Raumfahrernationen. Interessanterwei­ Weltraumorganisation ESA hat in den vergangenen Jahren
se scheint es fast egal zu sein, wie lange sich Spezies die Position von einer Milliarde astronomischer Objekte und
durchschnittlich auf einem Planeten halten, wenn es genü­ Sternbewegungen in unserem Umfeld bestimmt. Auf Basis
gend geeignete Welten zum Besiedeln gibt. Sofern die dieser Daten können wir potenzielle Hotspots vielleicht bald
Aliens die für Raumreisen nötige Technologie bewahren, ausfindig machen.
können sie von System zu System ziehen und letztlich die Letztlich wäre Fermis Paradoxon damit in Wahrheit gar
ganze Galaxie erschließen. kein Paradoxon. Für eine Welt wie die Erde kann es ganz
normal sein, für lange Zeit nicht von Außerirdischen be­
Eine zehnprozentige Wahrscheinlichkeit, sucht zu werden – selbst wenn es diese in den Weiten des
dass die Erde lange nicht besucht wurde Alls in Hülle und Fülle gibt. So wie Pitcairn im Pazifischen
Aber gerade zwischen diesen extremen Szenarien entste­ Ozean mehrere Jahrhunderte lang unbewohnt blieb, erlebt
hen die überzeugendsten und potenziell realistischsten die Erde vielleicht gerade eine Periode kosmischer Isolation,
Situationen. Wenn lebensfreundliche Welten in einer Gala­ bevor eine neue Welle pangalaktischen Lebens sie erreicht.
xie weder besonders häufig noch besonders selten sind, Die Frage ist, ob unsere Zivilisation noch da sein wird, wenn
kann die Zahl geeigneter Welten von Region zu Region es so weit ist. 
stark schwanken. Mancherorts entstehen dadurch An­
sammlungen von attraktiven Systemen, die wiederholt von
Besiedlungswellen heimgesucht werden. Sie erinnern damit QUELLEN
an Inselgruppen im Ozean, an denen Seefahrer immer Carroll-Nellenback, J.: The Fermi paradox and the aurora
wieder vorbeikommen. Diese Häufung attraktiver Sternsys­ effect: Exo-civilization settlement, expansion, and steady states.
teme bringt jedoch mit sich, dass die Cluster typischerwei­ The Astronomical Journal 158, 2019
se von großen, unbesiedelten Regionen umgeben sind. In Cirkovic, M.: The great silence: Science and philosophy of
ihnen mag es vereinzelt geeignete Welten geben. Sie sind Fermi’s paradox. Oxford University Press, 2018
einfach zu weit weg und zu spärlich verteilt, als dass man Finney, B., Jones, E.: Interstellar migration and the human
sich die Mühe machen würde, sie zu besuchen. experience. University of California Press, 1985

80 Spektrum der Wissenschaft  6.20


ZEITREISE
Wissenschaft vor 100 und vor 50 Jahren – aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek
für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums

DER STAMM IN DER ERDE,


DIE BLÄTTER AM BODEN
1920 ERSTMALS GENE
VON BAKTERIEN ISOLIERT
1970
»Die Welwitschia gehört zu den auffallendsten Formen des »Die Isolierung eines Gens beziehungsweise eines Komple-
Pflanzenreiches. Dieses etwa ½ m hohe Gewächs ist dem xes von drei Genen, welche eine einzige Funktion steuern,
Blütenkopf einer Sonnenblume nicht unähnlich. Während gelang einer Forschergruppe an der Harvard-Universität.
seines Lebens erzeugt es nur zwei, bis 3 m lange lederarti- Diese Gene sind Teil des Laktose-Operons des Bakteriums
ge Blätter, die ständig nachwachsen, sich auf dem Erdbo- Escherichia coli. Die Isolierung gelang durch die Kombina-
den langsam vorwärtsschieben [und] allmählich absterben. tion verschiedener Verfahren. Zunächst wurden die Lakto-
Die beiden Blätter zerrreißen in Riemen, die den im Boden se-Gene in Viren konzentriert, in Bakteriophagen, die zur
steckenden Stamm kranzförmig umgeben. Bei dem lang- Übertragung eines bakteriellen Genomfragmentes von
samen Wachstum müssen solche Pflanzen ein hohes Alter, einer Bakterienzelle in eine andere befähigt sind. Die Arbei-
vielleicht von hundert Jahren, erreichen.« Kosmos 6, S. 156 ten bedeuten einen bemerkenswerten wissenschaftlichen
Fortschritt. Jedoch wurden auch Befürchtungen erregt,
Welwitschia mirabilis nämlich daß die Biologen diese Kenntnisse mißbrauchen
in Namibia. könnten, beispielsweise durch Hervorrufung von hochviru-
lenten Infektionen oder durch Manipulieren des menschli-
chen genetischen Materials. Dagegen spricht, daß es noch
lange dauern dürfte, bis die Isolierung eines Säugetier-
Gens möglich ist, und noch viel länger, ehe ein Gen erfolg-
reich in das Genom einer Wirtszelle eingeführt werden
kann. Ließe sich dies erreichen, dann könnten genetische
Schäden behoben und Erbkrankheiten geheilt werden.«
Naturwissenschaftliche Rundschau 6, S. 248

DIE ATMOSPHÄRE PER GRANATE ERKUNDEN


»Über die Verhältnisse des Luftmeeres sind wir nur sehr LAPPRIGES LENKRAD FRUSTRIERT DIEBE
unvollkommen unterrichtet. Graf de la Baume-Pluvinel hat »Weich wie Gummi wird das Autolenkrad, das der japani-
einen höchst eigenartigen, an seinen Landsmann Jules sche Ingenieur Unawa erfunden hat, wenn der Stromkreis
Verne erinnernden Plan unterbreitet. Er hat berechnet, daß mittels eines Sicherheitsschlüssels ausgeschaltet wird. Das
man mit einem Geschütz eine große Granate bis zu einer soll der neueste Diebstahlschutz für Autos sein, da nie-
Höhe von 78 000 Meter emportreiben könne – 10 800 m hat mand mit einem schlappigen Lenkrad fahren kann und die
man 1901 im Freiballon und 10 000 m 1919 im Flugzeug Härte des Steuers nur vom Wagenbesitzer wiederherge-
erreicht –, und in dieser Granate will de la Baume-Pluvinel stellt werden kann.« Neuheiten und Erfindungen 400, S. 111
an einem Fallschirm befestigte Meßinstrumente unterbrin-
gen, derart, daß beim Platzen der Granate der Fallschirm
die Instrumente heil zur Erde trägt. Das klingt etwas sehr SPRECHEN MACHT SCHLAU
phantastisch, dürfte es doch nur so wenig sein, daß die »Wir wählten aus zwei Kindergärten 30 vierjährige Jungen
größte Schwierigkeit in der Beschaffung der erforderlichen und Mädchen nach Zufall aus, unterzogen sie einem Intelli-
Geldmittel liegen wird.« Prometheus 1600, S. 312 genztest [und] teilten die Kinder in zwei nach Intelligenz,
Alter und Geschlecht gleiche Gruppen ein. Beide wurden
über einen Zeitraum von vier Wochen täglich eine Stunde
SCHMETTERLINGE BRAUCHEN WENIG DRUCK lang bei einer Spielsituation betreut. Zwar erhielt jede Grup-
»Das Ausschlüpfen des Schmetterlings aus der Puppe pe dieselben Spiele, [doch] die Kinder der einen Gruppe
untersuchte A. Pictet und fand, daß das Ausschlüpfen der wurden während des Spielens intensiv zu sprachlichen
weitaus meisten Puppen mit einem Fallen des Barometers Äußerungen angehalten, während die Kinder der anderen
zusammentraf, und daß [dafür] ein Sinken des äußern Gruppe dazu in keiner Weise aktiviert wurden. Nach der
Luftdrucks nötig ist. Wenn man Puppen aus dem Tiefland vierwöchigen Spielperiode wurden alle Kinder erneut dem
ins Gebirge bringt, bewirkt der sinkende Luftdruck das Intelligenztest unterzogen. Dabei ergab sich, daß die
Ausschlüpfen von vielen; umgekehrt werden die Falter Testwerte der Gruppe, die zum Verbalisieren angehalten
beim Herabsteigen durch den steigenden Luftdruck in der worden war, eindeutig höher lagen als die Werte der
Puppe zurückgehalten.« Die Umschau 23, S. 382 anderen Gruppe.« Umschau 12, S. 386

Spektrum der Wissenschaft  6.20 81


SCHLICHTING!
EIN GEYSIR MITTEN
IN DEUTSCHLAND
In tiefem Grundwasser kann
sich bei hohem Druck viel
Kohlendioxid lösen. Wenn
sich die Mischung unter
speziellen Bedingungen den
Weg zur Oberfläche bahnt,
kommt es zu einem spekta-
kulären Ausbruch – und zwar
immer wieder.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an
der Universität Münster. Seit 2009 schreibt er für »Spektrum« über physikali-

H. JOACHIM SCHLICHTING
sche Alltags­phänomene.

 spektrum.de/artikel/1725084

Dass nichts von selbst geschieht, Der welthöchste Kaltwassergeysir in


sondern unter dem Druck der Notwendigkeit Andernach wirft die Wassermassen zirka
acht Minuten lang bis zu 60 Meter hoch.
Leukipp (5. Jh. v. Chr.)


Ein Geysir ist ein besonderer Anblick, vom plötzli- das CO2 stammt aus tiefen Magmakammern. Obwohl das
chen Ausbruch bis zum Kollaps der Fontäne. So ein darüber befindliche Schiefergestein ziemlich undurchläs-
Naturschauspiel ist auch hier zu Lande in Andernach sig ist, gelangt das Gas durch Risse und Brüche zu den
am Rhein zu erleben – erschaffen mit etwas menschlicher immer noch mehrere hundert Meter unter der Erdoberflä-
Hilfe. Anders als die aus Island und weiteren Teilen der che liegenden Grundwasserschichten. Dort steht das
Erde bekannten Exemplare, die von heißem Wasser- Wasser unter einem relativ hohen Druck. Deswegen kann
dampf angetrieben werden, befindet sich dort ein so es beachtliche Mengen CO2 aufnehmen. Ein Rechenbei-
genannter Kaltwassergeysir. Er bezieht seine Energie aus spiel: Die Löslichkeit von CO2 in Wasser beträgt bei
dem Lösungsvermögen von Kohlenstoffdioxid (CO2) in normalem Luftdruck und einer Temperatur von 20 Grad
Wasser. Celsius 1,7 Gramm pro Liter. Verzehnfacht man den
Wir kennen das Phänomen im Prinzip von kohlensäu- Druck, erhöht sie sich auf 14 Gramm pro Liter, also auf
rehaltigen Getränken (siehe »Spektrum« Januar 2020, mehr als das Achtfache.
S. 72). So trennt sich beim Öffnen einer Sprudelflasche In Andernach wurde ein 350 Meter tiefer Brunnen
ein Teil des Gases zischend vom Mineralwasser. Das CO2, gebohrt. Nun verbindet ein langes Rohr, das in den
das bei höherem Druck im Wasser gelöst war, sammelt unteren Bereichen mit seitlichen Öffnungen versehen ist,
sich in Gasblasen. Diese steigen infolge des Auftriebs zur die dortigen Wasserschichten mit der Erdoberfläche. Die
Oberfläche und entweichen in die Atmosphäre. Verstärkt unter Druck stehende Flüssigkeit dringt ein und steigt
man den Vorgang, indem man die Flasche vor dem langsam auf. Wenn das Rohr gut gefüllt ist, lastet die
Aufdrehen heftig schüttelt, so hat man grob gesehen hohe Wassersäule stark auf dem untersten Bereich.
bereits eine Miniaturversion eines Kaltwassergeysirs. Darum bleibt das CO2 hier im Wasser gelöst. Weiter oben
Kohlendioxidhaltiges Wasser entsteht oft natürlicher- ist der hydrostatische Druck jedoch kleiner. Wie beim
weise in der Erde. So auch beim Geysir von Andernach – Öffnen einer Sprudelflasche bilden sich dort Gasblasen.

82 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Während sich das Wasser allmählich dem oberen Rand
nähert, entweicht blubbernd CO2. Die Zuschauer an der
Oberfläche sehen von alldem noch nichts.
Die Lage ändert sich dramatisch, sobald schließlich
das Rohr voll ist. Dann läuft es über. Denn von unten
kommen beständig weiter Gasblasen, die Wasser ver-
drängen. Nach dem ersten Herausschwappen lastet
weniger Gewicht auf den tieferen Schichten. Das wieder-
um verringert die druckabhängige Löslichkeit des CO2
und beschleunigt dessen Ausperlen. Außerdem dehnen
sich die in größere Höhen gelangenden Blasen aus – dort
wird der hydrostatische Druck geringer, durch den sie
komprimiert werden. So fließt noch mehr Wasser heraus.
Die mittlere Dichte in der mehr und mehr von Gas durch-
setzten Wassersäule nimmt weiter ab. Manche Blasen H. JOACHIM SCHLICHTING

füllen den Rohrdurchmesser sogar völlig aus und schie-


ben das ganze darüber befindliche Wasser wie Kolben
nach oben. Ausgasung und Abnahme des hydrostati-
schen Drucks verstärken sich gegenseitig in positiver
Rückkopplung und erfassen schließlich auch die Flüssig-
keit im unteren Bereich des Rohrs. So pressen immer grö-
ßere Blasen die Wasser-Gas-Säule eruptionsartig in Form
des Geysirs empor.
Entscheidend für einen solchen Ausbruch ist der
Aufstieg des gashaltigen Wassers in einem engen Kanal.
Bei einer großflächigen Verbindung mit der Außenwelt
könnte Wasser, das von den nach oben entkommenden
Blasen verdrängt wird, von den Seiten zurückfließen und
den entstandenen Hohlraum schnell wieder füllen. In
Andernach verhindert das der dünne Rohrdurchmesser.
Der Ausbruch dieses Kaltwassergeysirs dauert etwa
acht Minuten. Dabei erhebt sich die Wasserfontäne bis zu Am Boden kristallisieren gelöste Feststoffe aus
einer Höhe von 60 Metern. Danach sackt sie in sich der niedergegangenen Flüssigkeit zu ästhetisch
zusammen; oberflächlich ist die Aktivität zu Ende. Doch ansprechenden Mustern.
tief im Inneren füllt sich der entleerte Brunnen allmählich
wieder mit kohlendioxidhaltigem Wasser, und nach rund
100 Minuten herrschen abermals die richtigen Bedingun- ßenen Wasser nicht nur CO2 gelöst ist. Die Steine sind
gen für ein erneutes Aufwallen. Es sei denn, man ver- von einem Belag vor allem in Rot- und Brauntönen über-
schließt den Brunnen und verhindert das Überlaufen – da- zogen. Leider schenken die Besucher diesem Phänomen
für sorgt außerhalb der Besuchszeiten eine entsprechen- kaum Aufmerksamkeit oder tun es mit einem negativen
de Vor­richtung. Unterton als Rost ab. Schaut man sich den Belag jedoch
Was aufsteigt, muss herunterkommen. Das Wasser genauer an, entdeckt man ein ästhetisch ansprechendes,
regnet in der Nähe der Rohröffnung ab und landet unter natürliches Kunstwerk. Im Lauf der Zeit sind die im
anderem auf den gepflasterten Wegen, wo es versickert Mineralwasser des Geysirs gelösten Stoffe wie Magnesi-
und verdunstet. Dort wird erkennbar, dass im ausgesto- um, Eisen und Kalzium auskristallisiert und haben filigra-
ne, farbige Muster gebildet.
Der Geysir zerstäubt das Wasser und vergrößert
Am Ende wirkt es, als wäre nichts gewesen. dessen Oberfläche. So verdunstet es leicht. Das reichert
Restwasser fließt in das Rohr zurück. In der Tiefe die in den Tropfen gelösten Mineralien bereits etwas an,
braut sich der nächste Ausbruch zusammen. bevor diese sich nach dem Auftreffen auf dem Pflaster
zufällig gesteuert mit den vorhandenen Kristallschichten
H. JOACHIM SCHLICHTING

verbinden. Die abwechslungsreichen Strukturen wachsen


damit in jeder Pause ein mikroskopisch kleines Stück
weiter. Während sich unter der Erde schon eine neuer­
liche Eruption anbahnt, ist die Situation deswegen auch
oberirdisch nur scheinbar ereignislos.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 83


MATHEMATIK
WELCHER KNOTEN
HÄLT AM BESTEN?
Schon wieder ist der Schnürsenkel offen! Aber
warum? Forscher haben nun eine simple
Methode gefunden, um die Stabilität der gän­
gigsten Knoten zu überprüfen – ganz ohne
aufwändige Berechnungen oder Simulationen.

Manon Bischoff ist theoretische


Physikerin und Redakteurin bei
»Spektrum der Wissenschaft«.

 spektrum.de/artikel/1725080


Die mathematische Forschung gilt als abstrakt und Umso erstaunlicher ist es, dass diese allgegenwärtigen
lebensfern. Das Gebiet der Knotentheorie bildet da eine Strukturen noch immer etliche Rätsel bergen. Beispiels­
seltene Ausnahme. Knoten begegnen uns ständig, sei weise ähnelt ein Altweiberknoten, mit dem man Schnürsen­
es in gewebten Stoffen, beim Schnüren von Schuhen oder kel bindet, dem weniger geläufigen Kreuzknoten. Wie die
beim Bergsteigen. Inzwischen gehen Wissenschaftler Erfahrung und Experimente zeigen, ist Letzterer wesentlich
PETERSCHREIBER.MEDIA / STOCK.ADOBE.COM

davon aus, dass Menschen schon vor einer halben Million robuster – allerdings gab es bislang kein einfaches theo­
Jahren Knoten bildeten – lange bevor das Rad erfunden retisches Modell, welches das erklärt. Das hat der Mathe­
wurde. Und sogar einige Affen, darunter Gorillas, verknoten matiker Vishal Patil vom Massachusetts Institute of Techno­
nachweislich Gräser, wenn sie ihre Nester bauen. logy zusammen mit seinen Kollegen nun geändert.

84 Spektrum der Wissenschaft  6.20


AUF EINEN BLICK
DIE SCHLINGE ZIEHT SICH ZU

1 Zwar untersuchen Forscher schon seit Jahrhunderten


verschieden Knotenarten, doch sie können immer noch
nicht erklären, warum manche stabiler sind als andere.

Es gibt etliche verschiedene


Knoten. Mathematiker be­
2 Um das zu ändern, haben Wissenschaftler nun Me­
thoden aus der Elastizitätstheorie und Topologie vereint
und damit die gängigsten Knoten analysiert.
schäftigt vor allem die Frage,
wie man beurteilen kann, ob
zwei Knoten gleich sind. Ein 3 Sie entwickelten ein einfaches Verfahren, das die Sta-
bilität vieler Knoten beurteilt. Unter anderem können
PETERSCHREIBER.MEDIA / STOCK.ADOBE.COM

allgemeines Rezept fehlt ihnen sie damit erklären, welche Schlinge sich am besten
bisher noch. eignet, um Schuhe zuzuschnüren.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 85


In der Anfang Januar 2020 im Fachmagazin »Science«
erschienenen Arbeit identifizierten die Forscher drei leicht

TRACED BY STANNERED (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:UNKNOTS.SVG)


zu bestimmende Merkmale, anhand derer sich beurteilen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: AXELBOLDT AT ENGLISH WIKIPEDIA,


lässt, wie stabil geläufige Knoten sind. Patil und sein Team
bestätigten ihre theoretischen Ergebnisse anschließend
durch Computersimulationen und Laborexperimente. Damit
haben Wissenschaftler nun endlich eine einfache Methode
zur Hand, die erklärt, warum manche Knoten besser halten
als andere.
Der erste schriftliche Nachweis, der verschiedene Kno­
ten beschreibt, findet sich im »Iatrikon Synagogus«, einer
medizinischen Abhandlung aus dem 4. Jahrhundert n. Chr.
Danach tauchten Knoten erst wieder im 18. Jahrhundert
vermehrt in wissenschaftlichen Texten auf. Das lag vor Beide Diagramme entsprechen dem
allem daran, dass es damals viele Seefahrer gab, die sich gleichen Knoten – oder besser gesagt:
über die nützlichsten Versionen austauschten. dem gleichen Nichtknoten.
Damit erwachte das Interesse der Mathematiker. Carl
Friedrich Gauß war 1794 einer der Ersten, der das Thema
aufgriff, als er den Elektromagnetismus studierte und man sie ineinander verformen kann, ohne dabei Löcher in
mögliche Formen der Feldlinien beschreiben wollte. Es sie zu reißen. Topologisch gesehen ist eine Tasse daher
waren aber vorrangig seine Schüler, die das Gebiet voran­ nicht von einem Donut unterscheidbar, denn man kann sie
brachten. Mangels anderer Darstellungsmöglichkeiten problemlos ineinander umwandeln, wobei der Henkel der
projizierten sie die dreidimensionalen Gebilde auf eine Tasse zum Loch des Gebäcks wird.
Ebene, wodurch ein Bild verschlungener Kurven entstand, Als Knoten immer weiter in den wissenschaftlichen
ein so genanntes Knotendiagramm. Fokus rückten, fingen auch Topologen an, sich mit ihnen zu
Das Problem dabei: Die Diagramme sind nicht eindeutig. beschäftigen – und wandten dabei die ihnen vertrauten
Ein und derselbe Knoten kann verschiedene zweidimensio­ Regeln an: Kann man einen Knoten durch bloßes Ziehen
nale Darstellungen haben, abhängig davon, wie man die und Lockern zu einem anderen verformen, ohne eine
Projektionsebene wählt. Zwei völlig unterschiedliche Dia­ Schnur zu zerschneiden, dann sind sie gleich. Dadurch wird
gramme können daher das gleiche Objekt beschreiben. ersichtlich, warum sich Topologen nicht für Strukturen mit
Mathematiker versuchten daraufhin Methoden zu entwi­ offenen Enden interessieren. Denn in einem solchen Fall,
ckeln, um äquivalente Knotendiagramme zu identifizieren. etwa bei Schnürsenkeln, lässt sich ein Knoten immer lösen;
Sie wollten dadurch alle möglichen Knoten klassifizieren, er ist dadurch identisch zu einem Nichtknoten.
beginnend mit dem einfachsten hin zu immer komplizierte­
ren Strukturen – ein ehrgeiziges Ziel, von dem sie auch Welcher Knoten ist überhaupt ein richtiger
heute noch weit entfernt sind. Knoten?
Um zu verstehen, warum sich das so komplex gestaltet, Mathematiker konzentrierten sich deshalb zunächst auf
muss man wissen, dass sich mathematische Knoten von »richtige« Knoten, die wenig mit denen aus unserem Alltag
denen unterscheiden, die uns im Alltag begegnen. Möchte zu tun haben. Um sie zu klassifizieren, gingen sie wie in der
man etwa zwei Seile aneinanderbinden, hat man zwei Topologie üblich vor. Sie suchten nach so genannten Invari­
Schnüre zur Verfügung, die man umeinanderwindet und anten, die ein Objekt charakterisieren und erlaubte Verfor­
festzieht. Mathematische Knoten sind dagegen immer mungen unverändert überstehen. Bei zweidimensionalen
geschlossen: Sie bestehen aus einer einzigen, mit sich Oberflächen ist die Anzahl der Löcher eine solche Invarian­
selbst verbundenen Schnur. te, wie das Beispiel der Tasse und des Donuts zeigt. Es
Grund dafür ist die Topologie. In diesem abstrakten erwies sich jedoch als schwierig, eine vergleichbare Größe
mathematischen Bereich sortieren Forscher die betreffen­ für Knoten zu finden.
den Objekte nach ihren groben Eigenschaften. Für Topo­ Am naheliegendsten ist es, sie nach der Anzahl gekreuz­
logen sind beispielsweise zwei Figuren identisch, wenn ter Schnüre einzuteilen. Allerdings lässt sich die Zahl der so
genannten Kreuzungen nur schwer aus einem Diagramm
bestimmen. Denn es können mal mehr oder mal weniger
Kreuzungen zu sehen sein, je nachdem, wie genau man
einen Knoten abbildet. Glücklicherweise besitzt jeder
Mehr Wissen auf Knoten eine Mindestzahl an Kreuzungen. Unabhängig
Spektrum.de davon, wie man ihn auf eine Ebene projiziert, tauchen
niemals weniger auf. Bei komplizierten Objekten ist es
Unser Online-Dossier zum Thema
jedoch äußerst schwer, die Darstellung mit der kleinsten
finden Sie unter
spektrum.de/t/topologie Anzahl an Kreuzungen zu finden.
MATJAZ SLANIC / GETTY IMAGES
/ ISTOCK Inzwischen wissen Mathematiker, dass es keine Knoten
mit nur einer oder zwei Kreuzungen gibt. Es existieren aber

86 Spektrum der Wissenschaft  6.20


je eine Art von Knoten mit drei und vier Kreuzungen, zwei Um die zweidimensionalen Diagramme von Zöpfen zu
mit fünf, drei mit sechs, sieben mit sieben Kreuzungen und vereinfachen, identifizierte der deutsche Mathematiker Kurt
so weiter. Die Anzahl der topologisch verschiedenen Kno­ Reidemeister in den 1930er Jahren drei nach ihm benannte
ten wächst rasant an, es gibt beispielsweise 1 388 705  Kno­ Bewegungen, die eine bestimmte Struktur nicht verändern
ten mit 16 Kreuzungen. Wie diese Folge weitergeht ist noch (siehe Abbildung, S. 88). Außerhalb der abstrakten Welt
unklar, man weiß nicht, wie viele unterschiedliche Struk­ der Topologie stimmt das allerdings so nicht ganz. Berück­
turen es mit 17 oder mehr Kreuzungen gibt. Man geht aber sichtigt man etwa die mechanischen Eigenschaften eines
davon aus, dass die Zahlen stetig weiterwachsen. Bis heute Knotens (oder Zopfes), erzeugt die erste Reidemeister-Be­
sind Mathematiker noch weit von einer Methode entfernt, wegung zum Beispiel Spannungen in einem Strang. Möch­
die alle Knoten kategorisiert. te man daher beurteilen, ob ein in der Seefahrt genutzter
Daher entwickelten Wissenschaftler Mitte des 20. Jahr­ Knoten stabil ist, genügt es nicht, bloß topologische Prinzi­
hunderts neue Ansätze, um sich dem Problem zu widmen. pien zu betrachten. Man muss unter anderem auch Konzep­
Der englische Mathematiker John Horton Conway war te aus der Elastizitätstheorie miteinbeziehen. Doch wie geht
einer der Ersten, der vorschlug, Knoten in kleinere Bestand­ man dabei vor, ohne sich in extrem komplizierten Berech­
teile zu zerlegen und diese zu studieren. Die Segmente, für nungen zu verlieren?
die er sich interessierte, enthielten vier freie Enden, die so Patil und seine Kollegen fanden eine einfache Möglich­
miteinander verwoben sind, wie bei den uns geläufigen keit, um topologische Knotendiagramme mit mechanischen
Knoten. Diese Objekte heißen in der Fachsprache Zöpfe. In Informationen zu verbinden. In ihrer Arbeit untersuchten sie
der Seefahrt oder beim Klettern nutzt man also streng den spezifischen Fall zweier Seile, die man durch einen
genommen keine Knoten, sondern zwei Stränge, die einen Knoten zu einem längeren verknüpft. Mathematisch gese­
Zopf bilden. hen entspricht das einem Zopf aus zwei Strängen mit vier
offenen Enden. Die Forscher wollten herausfinden, ob sich
ein Knoten festigt, wenn man an zwei der losen Enden
Mathematiker arbeiten an einer vollstän­digen Liste topo­ zieht – und wenn ja, wie viel er aushält. Daher suchten sie
logisch unterschiedlicher Knoten. Die Zahl bezeichnet zuerst nach den Mechanismen, die einen Knoten beim
die Anzahl der Kreuzungen, der Index nummeriert sie. Zuziehen stabilisieren.

kein Knoten 31 41 51 52
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: JKASD (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:KNOT_TABLE.SVG)

61 62 63 71 72

73 74 75 76 77

Spektrum der Wissenschaft  6.20 87


An jedem Punkt, an dem sich zwei Stränge kreuzen,
entsteht Reibung, die eine Rollbewegung verursacht. Wenn
ein Strang bei jeder Kreuzung in die gleiche Richtung ver­
dreht wird, kann er wegrollen. Unterscheiden sich die
Drehrichtungen dagegen, ist das System robust, und der
Knoten lässt sich schlechter lösen. Patil und seine Kollegen
wogen die möglichen Verdrehungen eines Knotendia­
gramms deshalb durch eine einfache Formel gegeneinander
auf, wodurch sie eine Kenngröße τ erhielten. Je höher τ
ausfällt, desto mehr Drehbewegungen verlaufen entgegen­
gesetzt, das heißt der Knoten ist fest. Mit diesem Wert
fanden die Forscher bereits den größten Unterschied zwi­
schen einem Kreuz- und einem Altweiberknoten: Bei Letzte­
rem ist die Drehrichtung immer gleich, wodurch er nicht so
gut hält. Das ist der Grund, warum Schnürsenkel manchmal
einfach aufgehen.

Drei Kenngrößen, um Knoten


zu unterscheiden
Die Größe τ allein genügt allerdings nicht, um alle gängigen
Knoten miteinander zu vergleichen. Das lässt sich am Bei-
spiel des Diebesknotens erkennen: Das Knotendiagramm ist
das gleiche wie das des Kreuzknotens, außer dass man
dabei an einem anderen Strang zieht. Beide Knoten verdre­
hen sich durch Zug auf gleiche Weise, besitzen also das­
selbe τ, dennoch lässt sich der Diebesknoten leichter lösen.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Patil und sein Team suchten deshalb nach weiteren


stabilisierenden Faktoren. Wie sich herausstellt, sind Kno­
ten robuster, wenn nebeneinander verlaufende Stränge sich
beim Ziehen in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Die
Wissenschaftler definierten eine zweite Größe Γ, die im
Wesentlichen zählt, wie viele Strangabschnitte sich gegen­
läufig zusammenziehen. Während der Kreuzknoten bei­
spielsweise über vier solche Segmente verfügt, hat der
Diebesknoten bloß einen. Das erklärt, warum der Kreuzkno­
ten besser hält.
Indem die Forscher die Anzahl der Kreuzungen N, die
Verdrehungen τ und die entgegengesetzten Strangabschnit­
te Γ für gängige Knotenfamilien bestimmten, konnten sie
beurteilen, wie stabil welche Knoten sind. Dafür brauchten
sie weder aufwändige Computersimulationen noch detail­
lierte Berechnungen, sondern zählten bloß Eigenschaften,
die sich aus einem Knotendiagramm sofort ergeben.
Allerdings sind all diese Überlegungen nicht viel wert,
wenn man sie nicht überprüft. Daher führten Patil und seine
Kollegen Experimente mit sich farblich verändernden Seilen
durch. Diese bestehen aus einem elastischen Kern, der von
mehreren Schichten transparenter Elastomere mit unter­
schiedlichen Brechungsindizes umgeben ist. Sobald man
ein solches Seil verbiegt oder daran zieht, ändert sich die
Dicke der Elastomere und damit auch ihre Farbe. Dadurch
lassen sich die Kräfte abbilden, die auf einen Knoten wirken.
Auf diese Weise konnten die Forscher ihre theoretischen
Ergebnisse mit Experimenten an einfachen Knoten und
dazugehörigen Computersimulationen bestätigen. Alle drei
Methoden führten zu den gleichen Resultaten. Anschlie­
Die drei so genannten Reidemeister-Bewe­ ßend widmeten sich die Forscher komplizierteren Knoten,
gungen lassen ein Knotendiagramm topologisch etwa dem gesteckten Schmetterlingsknoten mit zwölf oder
gesehen unverändert. dem Zeppelinstek mit zehn Kreuzungen. Die entsprechen­

88 Spektrum der Wissenschaft  6.20


den drei Größen (N, τ, Γ) legen nahe, dass der unter Berg­
steigern verbreitete gesteckte Schmetterlingsknoten
schlechter hält als der Zeppelinstek. Auch das bestätigten
die Computersimulationen der Forscher.
Wenn es darum geht, die besten Knoten zu identifizie­
ren, muss man sich also nicht mehr nur auf Erfahrungswer­
te beziehen, sondern kann das nun mathematisch erklären.
»Wir können jetzt endlich Knoten miteinander vergleichen,
die man beim Nähen, Segeln, Klettern und Bauen verwen­
(COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:THIEF_KNOT.SVG) UND
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: COUNTINGPINE, PAR

(COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:SQUARE_KNOT.SVG)

det«, sagt der Mechanikprofessor Matthias Kolle, Mitautor


der Studie. »Das ist wunderbar!« 

QUELLE

Patil, V. P. et al.: Topological mechanics of knots and tangles.


Science 367, 2020

LITER ATURTIPPS

Adams, C. C.: The knot book. An elementary introduction to the


mathematical theory of knots. American Mathematical Society,
1994

Dieses Buch behandelt die bekanntesten Knoten sowie die


Mathematik dahinter.

Den Altweiberknoten (unten) nutzt man meist, Turner, J. C., van de Griend, P.: History and science of knots.
World Scientific, 1996
um Schuhe zu binden. Doch als wesentlich
stabiler stellt sich der Kreuzknoten (oben) heraus, Das Werk beschreibt die Geschichte von Knoten, von den ersten
Spuren bis hin zur modernen Knotentheorie.
der diesem stark ähnelt.

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Spektrum.de/plus Spektrum der Wissenschaft  6.20 89
REZENSIONEN

GEORGE STEINMETZ; AUS STEINMETZ, G., REVKIN, A.: HUMAN PLANET; MIT FRDL. GEN. DES KNESEBECK VERLAGS
George Steinmetz,
Andrew Revkin
HUMAN PLANET
Wie der Mensch
die Erde formt
Aus dem Engli-
schen von Karin
Maack

GEORGE STEINMETZ; AUS STEINMETZ, G., REVKIN, A.: HUMAN PLANET; MIT FRDL. GEN. DES KNESEBECK VERLAGS
Knesebeck,
München 2020
256 S., € 45,–

Gewächshäuser mit Plastik­


dächern breiten sich in Süd­
spanien über 300 Quadrat­
kilometer aus (oben). In
handgegrabenen Erdtrichtern
der algerischen Wüste ge­
deihen Wüstengärten (unten).

90 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

LUFTBILDFOTOGRAFIE Text geht aber hervor, dass es um


Tische herum angeordnete Plastik-
Aus Italien, einem der am stärksten
betroffenen Länder Europas, erreicht
DIE WELT VON OBEN stühle sind, aufgestellt zum Fest des uns nun »In Zeiten der Ansteckung«
Dieser Bildband zeigt eindrücklich, Krebsessens im chinesischen Xuyi. des Wissenschaftsjournalisten Paolo
wie sehr der Mensch die Erde Dort gedeihen die »kleinen Hummer« Giordano. Der in Turin in theoretischer
prägt. genannten Tiere auf Grund ihrer robus- Physik promovierte Autor ist mit
ten Konstitution in Aquazucht ohne seinem Roman »Die Einsamkeit der

 Eine kleine blaue Kugel schimmert


in der Tiefe und Schwärze des
Weltalls: Das erste Farbfoto, das
Pestizide. Den Vorteil haben die dorti-
gen Farmer erkannt; als Teil von Um-
weltkontrollmaßnahmen bauen sie ein
Primzahlen« (2009) weltweit bekannt
geworden. Das Buch wurde in mehr
als 20 Sprachen übersetzt und war im
Apollo-Astronauten aus großer Entfer- System auf, das es Konsumenten Jahr seines Erscheinens das meistver-
nung von der Erde aufnahmen, lässt erlauben soll, die Herkunft der gekauf- kaufte in Italien.
noch heute ein Gefühl der Ehrfurcht ten Tiere zu erkennen.
und Hochachtung entstehen. Die Im Nachwort berichtet Steinmetz,
Paolo Giordano
dünne Hülle unseres Planeten er- er habe ursprünglich eigentlich kein
IN ZEITEN DER
scheint sehr verletzlich und weckt den Umweltschützer sein wollen. Als ANSTECKUNG
Wunsch, ihn zu beschützen. Die junger Mann habe er rein beobach- Wie die Corona-
Aufnahmen in diesem Bildband erzeu- tend, journalistisch die Welt in den Pandemie unser
Leben verändert
gen ähnliche Gefühle, auch wenn der Blick nehmen und beschreiben wollen,
Aus dem Italieni-
Fotograf George Steinmetz diese ohne die Menschen zu missionieren. schen von Barbara
Aufnahmen nicht so hoch über dem Jetzt aber, 40 Jahre später, sieht er das Kleiner
Boden geschossen hat wie seinerzeit anders. Er war Zeuge davon, wie Rowohlt, Reinbek
2020
die Apollo-Raumfahrer. Ihn selbst schnell die Bevölkerung wächst und in 80 S., € 8,–
machten sie zu einem Umweltschützer einstige Wildnis vorstößt, wie natürli-
wider Willen, wie er schreibt. che Lebensräume schwinden und weit
Ob mit Hilfe von Drohnen, Hub- verzweigte Straßennetze in frühere
schraubern oder einem motorgetriebe- Wälder eindringen. Heute möchte er »In Zeiten der Ansteckung«, ge-
nen Gleitschirm: Steinmetz zeigt die nicht mehr nur Beobachter sein, schrieben zwischen dem 29. Februar
Welt immer von oben. Zu sehen sind sondern mit seinen Bildern die Men- und dem Ende der ersten Märzwoche,
Ölraffinerien zwischen Sanddünen, schen zu Veränderungen bewegen. bietet auf seinen knapp 80 Seiten eine
Straßenschluchten in New York, ver- Wer die Fotografien angesehen hat, gelungene Mischung aus Reflexionen,
lassene Ruinen in ehemaligen Wüsten- den lässt das Buch zumindest tief mathematischen Argumenten und
städten ebenso wie schwimmende berührt zurück. persönlichen Erfahrungen. Giordano
Wohnanlagen in den Niederlanden, die Die Rezensentin Katja Maria Engel ist promo- klärt im besten Wortsinn auf und regt
sich auf den Klimawandel und steigen- vierte Materialforscherin und Wissenschafts- zum Nachdenken an. Ausgehend von
de Meeresspiegel vorbereiten, sowie journalistin in Dortmund. der Epidemie »als bedeutendste medi-
Solaranlagen auf chinesischem Wüs- zinische Notfallsituation unserer Zeit«
tensand, die bis zum Horizont in Reih erzählt der Autor in 27 kurzen Kapiteln,
und Glied stehen. All diese Bilder
zeigen, wie stark der Mensch die Erde
GESELLSCHAFT wie er sich zunächst – von täglich
steigenden Zahlen gebannt und von
formt und ihre Ressourcen verein- GELUNGENER schwindenden Terminen im Kalender
nahmt. So sehr, dass die Hoffnung, SCHNELLSCHUSS irritiert – »in einem unerwartet leeren
den nächsten Generationen einen Raum« wiederfand. »Wir erleben die
Ein italienischer Wissenschafts­
bewohnbaren Planeten zu hinterlas- Suspendierung des Alltags, eine
autor legt ein rasch produziertes,
sen, gering erscheint. Unterbrechung des Rhythmus wie
aber überzeugendes Buch zur
Es überzeugen aber nicht nur die manchmal in Songs, wenn das Schlag-
Coronakrise vor.
Fotografien, sondern auch deren kurze zeug verstummt und es wirkt, als
Begleittexte von Andrew Revkin. Der
Umweltjournalist berichtet schon seit
Langem über den Klimawandel, das
 Die Medien sind seit Wochen voll
davon: Die Coronakrise bean-
sprucht unsere volle Aufmerksamkeit.
würde die Musik angehalten.« Er
beschließt, die Leere mit Schreiben
auszufüllen.
Anthropozän oder über Umweltaktivis- Und es ist zu vermuten, dass inzwi- Bald ist er mitten in der »Mathema-
ten. Revkin liefert unterstützende schen viele Autoren diese Pandemie tik der Ansteckung«. Er erläutert, wie
Erklärungen mit meist wertvollen und die freiwillige oder erzwungene Mathematik die Pandemie mit dem
Hintergrundinformationen. So zeigt Quarantäne nutzen, um ihre Erlebnis- Modell SIR zu verstehen hilft: S, die
eines der Fotos tausende rosa und se, ihre persönliche Betroffenheit und große Mehrheit der nicht immunen
weiße halbrunde Kleckse, die wie ihre Erfahrungen für die Nachwelt »susceptible individuals«; I die »infec-
Blätter von Blüten aussehen; aus dem festzuhalten. tious individuals«, also die angesteck-

Spektrum der Wissenschaft  6.20 91


REZENSIONEN
ten und ansteckenden Individuen; und Gewissheiten und fanden Meinungen.
R die »removed individuals«, also Wir haben vergessen, dass das immer Reinhard Wilhelm
EINSICHTEN EINES
wegen Tod oder Genesung nicht mehr so funktioniert, ja, dass es nur so INFORMATIKERS
am Krankheitsgeschehen teilnehmen- funktioniert, dass der Zweifel für die VON GERINGEM
den Personen. Es gehe darum, so Wissenschaft sogar heiliger ist als die VERSTANDE
Wahrheit.« Glossen aus dem
Giordano, die große Zahl der nicht Informatik
immunen Gesunden voneinander Weil der Mensch in ständig neue Spektrum
getrennt zu halten, weil sie potenziell Habitate von Wildtieren eindringe, Springer Nature,
siebeneinhalb Milliarden Menschen diese zerstöre, dabei in engen Kontakt Wiesbaden 2020
139 S., € 12,99
anstecken könnten. mit den Tieren kommt und sie sogar
Wie eine infizierte Kugel, die auf isst, steige das Risiko, dass deren
andere Kugeln zurollt, sie anstößt und Bakterien und Viren auf ihn übersprin-
dabei ansteckt, setzt die Pandemie gen. In den zurückliegenden Jahren
sich grenzenlos fort. Es komme darauf sind viele Infektionskrankheiten von
an, die exponentielle Vermehrung Wildtieren ausgegangen: Hendra, 2020 in der Fachzeitschrift »Informatik
der Infizierten so weit wie möglich zu Nipah, Sars, Mers, Ebola, die Vogel- Spektrum« erschienen sind. Es ist ein
minimieren, die Ansteckungsrate zu grippe oder auch das akute Durchfall- bunter Blumenstrauß an Themen, von
verlangsamen. »In Wirklichkeit ist es syndrom bei Schweinen. Es lauert hier der Navigationstechnik über Sprach-
die Natur selbst, die nicht linear struk- eine latente Gefahr, die Giordanos steuerung bis hin zur Energiewende.
turiert ist. Die Natur bevorzugt Buch nicht kleinredet. Der Autor Wilhelm schreibt humorvoll und
Schwindel erregendes oder entschie- fordert uns aber auf, »der Epidemie mit viel Selbstironie über die Tücken
den langsameres Wachstum, Expo- einen Sinn zu geben. Wir können diese der Alltagstechnik, zum Beispiel über
nenten oder Logarithmen. Die Natur Zeit besser verwenden, darüber nach- selbstaktivierte Anrufe per Sprach-
ist ihrer Natur nach nicht linear.« zudenken, was zu denken uns die steuerung: »Einmal bewundernd
Immer wieder reflektiert Giordano Normalität hindert: Wie wir bis zu ›Mamma mia!‹ ausgestoßen und
dabei Persönliches. Er erzählt von der diesem Punkt gekommen sind, wie wir schon wird die im Adressbuch ver-
letzten Einladung zum Abendessen neu starten wollen.« zeichnete Telefonnummer der Mama
bei Freunden, wo er niemanden zur Der Rezensent Josef König ist Germanist angerufen.« Das kann schon mal zu
Begrüßung umarmte – und welche und Philosoph, ehemaliger Leiter der Presse- kommunikativen Belastungsproben
Verwunderung das auslöste, so dass stelle der Ruhr-Universität Bochum und führen – zumal für Informatiker, bei
die Leute ihn zum Hypochonder hat den Informationsdienst Wissenschaft denen es sich laut Wilhelm um »kom-
mitbegründet.
erklärten. Und er kehrt zu noch frühe- munikationsgestörte, zur Vereinsa-
ren Erinnerungen zurück, einem Weg mung neigende Nerds« handelt.
in einem Skigebiet, auf dem die Grup- Besonders erheiternd ist die Glosse
pe nicht weiterkam, und er sich der TECHNIK über Algorithmen. Darin greift der
Worte seines Vaters entsann, »dass in
gewissen Situationen die einzige Form
INFORMATIK MIT Autor ein Zitat von Mercedes-Team-
chef Toto Wolff auf, der nach der
von Mut der Verzicht ist«. HUMOR verfehlten Boxenstoppstrategie für
Mit Schrecken stellt sich der Autor Der Informatiker Reinhard Wilhelm Lewis Hamilton beim Formel-1-Rennen
vor, was passierte, sollte sich das Virus parodiert die Alltagstücken der in Monaco sagte: »Irgendetwas in der
in Teilen Afrikas ausbreiten, wo das Computerwelt. Mathematik, im Algorithmus, in den
Krankenhauswesen weniger entwi- Daten hat nicht gestimmt.«
ckelt ist als bei uns oder es überhaupt
kein Krankenhauswesen gibt, bezie-
hungsweise in dortigen Massensied-
 Informatik ist ein sperriges Fach.
Die meisten Menschen haben keine
konkrete Vorstellung von Algorithmen
Der Algorithmus, konstatiert Wil-
helm, sei als die »moderne Mensch-
heitsplage« enttarnt worden. »Es
lungen, wo katastrophale hygienische oder Caches, obwohl sie täglich damit rückte blitzartig ins Bewusstsein der
Zustände herrschen. Jetzt sei die in Berührung kommen. Sei es im Menschen, dass Algorithmen ihr
Stunde der Wissenschaft, mahnt Zusammenhang mit einem Buchungs- Kaufverhalten analysieren und daraus
Giordano: »Mathematiker ans Werk, portal, einer Bürosoftware oder einer schließen, dass nur Ekelfleisch alle ihre
aber auch Physiker, Ärzte, Epidemiolo- Suchmaschine. Und wohl jeder hat preislichen Anforderungen erfüllt, (…)
gen, Soziologen, Psychologen, Anthro- schon mal einen Systemabsturz erlebt. dass Algorithmen ihre politischen
pologen, Städteplaner, Klimatologen.« Der Informatiker Reinhard Wilhelm, Präferenzen analysieren und ihnen
Der Autor geht auch auf die verwirren- emeritierter Professor an der Universi- voraussagen, dass sie eine Chaoten-
den und teils sich widersprechenden tät des Saarlandes, nähert sich der truppe mit kurzer Halbwertszeit wäh-
Stimmen aus der Wissenschaft ein: »In eigenen Disziplin mit Humor. In die- len werden«, schreibt Wilhelm. »Wir
Zeiten der Ansteckung hat uns die sem Büchlein versammelt er verschie- Informatiker können uns da nur wun-
Wissenschaft enttäuscht. Wir wollten dene Glossen, die zwischen 2012 und dern. Denn wir wissen ja schon lange,

92 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

dass Algorithmen das schlechte würden wahrscheinlich auf der Stelle Wilhelm beherrscht nicht nur
Wetter für das Ausflugswochenende, werbeblind oder werbeallergisch Programmiersprachen, sondern auch
falsche Boxenstoppempfehlungen, die werden und könnten gar nicht mehr die Sprache der Satire. Für seine
niedrigen Ausschüttungen an die von Werbung profitieren.« Wie gut sei Technikkritik wählt er das Florett der
Lebensversicherungsnehmer und die es da, dass wir Werbung als »persona- Ironie. Er doziert nicht, sondern er-
hohen an die Lebensversicherungsge- lisierte Medizin« verabreicht bekom- zählt, und das macht das Buch so
ber ausgerechnet haben.« men. An solchen Stellen offenbart sich stark. Wobei der Buchtitel reinstes
Die glossierende Betrachtung Wilhelms kabarettistisches Talent. Understatement ist: Wilhelm ist ein
entlarvt so manche falsche Vorstellung Die erratischen Bilderkennungssys- preisgekrönter Wissenschaftler. So
über Technik. Süffisant beschreibt der teme, die Fahrradträger mit querenden wurde er unter anderem mit der
Autor die Wirkung personalisierter Fahrrädern verwechseln und eine renommierten Konrad-Zuse-Medaille
Werbung: »Man stelle sich vor, Google Vollbremsung auslösen, klagt er nicht ausgezeichnet.
müsste Abstand davon nehmen, uns als Übel der Technik an, sondern Mancher Kalauer (»PNAS, nicht zu
mit Werbung zu beglücken! Da wür- persifliert sie mit spitzer Feder. verwechseln mit PEANUTS«) wie auch
den wir doch glatt den Entzug kriegen. Der Autor erzählt, wie er sich als die etwas arg ausgetappten Schilde-
Oder uns, weil es unsere Vorlieben Kind einen Spaß daraus machte, die rungen zur »Besenkammer-Affäre« von
nicht intensiv genug erforscht hat, neu installierte Ampel in seinem Dorf Boris Becker wären sicher verzichtbar
ungezielt mit Werbung vollmüllen! auf Rot zu schalten und so einen gewesen. Aber Humor ist bekanntlich
Unvorstellbar! Der reine Horror! Wir Stau hervorzurufen. Das Schelmisch- Geschmackssache. Wilhelm hat eine
Spitzbübische ist Wilhelm geblieben. ebenso geistreiche wie unterhaltsame
Dem Vorwort ist zu entnehmen, Glossensammlung vorgelegt, die auch
dass er die Satirenschreiberei in den dem Laien komplexe Zusammenhänge
Das Fazit des Algo- 1970er Jahren mit seinem früh verstor- der Informatik verständlich macht.

rithmus: Nur Ekel- benen Kollegen und Freund Harald


Ganzinger an der TU München be-
fleisch erfüllt alle gann. Damals mokierten sie sich über
die Juristenprosa des bayerischen
Der Rezensent Adrian Lobe arbeitet als
Journalist in Heidelberg und ist Autor

Preisanforderungen
der Kolumne »Lobes Digitalfabrik« auf
Innenministeriums. »Spektrum.de«.

Chefredakteur: Dr. Daniel Lingenhöhl (v.i.S.d.P.) Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk
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vorzunehmen: © 2020 (Autor), Spektrum der Wissen-
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Übersetzer: An diesem Heft wirkte mit: Dr. Dirk Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH und beim Pressefachhändler
Gassmann & Co. KG, Marktweg 42–50, 47608 Geldern mit diesem Zeichen.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 93


REZENSIONEN
MEDIZIN besser wie jenen, bei denen der Chir-
urg tatsächlich ins Gelenk geschaut
für chirurgische Prozeduren oft
schwierig umzusetzen sind, hält er es
SCHEINBEHANDLUNG und den Knorpel geglättet hatte. Der in vielen Fällen für machbar. Das
MIT DEM MESSER? Behandlungserfolg beruhte also nicht Argument, es sei ethisch nicht vertret-
auf der mechanischen Bearbeitung bar, Patienten eine wirksame Opera­
Viele chirurgische Eingriffe wirken des Gelenks, sondern auf dem Drum- tion vorzuenthalten, lässt er nicht
nicht besser als ein Placebo, herum des Eingriffs. gelten. Seiner Meinung nach ist es
kritisiert ein Arzt in diesem Buch.
Trotzdem werden viele OPs ohne moralisch viel weniger akzeptabel,

 Was kommt Ihnen in den Sinn,


wenn Sie den Titel dieses Buchs
lesen? Vermutlich etwas wie »Den
nachgewiesenen Nutzen weiterhin
durchgeführt. Und da es in der Medi-
zin natürlich auch um wirtschaftliche
tausende Patienten den Risiken einer
OP auszusetzen, obwohl diese nicht
besser wirkt als ein Placebo – ganz zu
Chirurgen gehts also nur ums Geld Aspekte geht, können finanzielle schweigen von den Kosten.
und deswegen wird zu viel operiert«. Überlegungen durchaus dazu führen, Natürlich gibt es chirurgische
Der englische Titel des Werks lautet dass die Indikation zu einer Operation Eingriffe, deren Nutzen offensichtlich
aber »Surgery, the Ultimate Placebo« großzügiger gestellt wird, als es not- ist, und es liegt Harris fern, sie alle
und trifft den Inhalt sehr viel besser. wendig wäre. Harris verneint in sei- pauschal in Frage zu stellen. Leider ist
Denn das Buch ist weit mehr als nem Buch aber explizit, dass Chirurgen es für Laien nicht immer einfach zu
simple Chirurgenschelte. Es geht um bewusst und nur aus finanziellen erkennen, welche OPs bei genau
den Placeboeffekt in der Chirurgie und Gründen einen solchen Eingriff emp- welcher Indikation der Autor kritisiert.
darum, wie er den Erfolg operativer fehlen würden. Aus seiner Sicht spie- Das könnte bei manchen Lesern dazu
Eingriffe beeinflusst. Autor Ian Harris len andere Aspekte eine viel größere führen, chirurgische Eingriffe generell
ist selbst als orthopädischer Chirurg abzulehnen, möglicherweise auch
tätig und leitet eine Forschungseinrich- Ian Harris solche, die Leben retten.
tung in Australien mit den Schwer- SCHNIPPELN FÜR Harris richtet sich vor allem an
punkten evidenzbasierte Medizin und DEN PROFIT seine Kolleg(inn)en, die er daran
klinische Studien in der Chirurgie. Ein Chirurg deckt erinnert, ihren eigenen Therapieerfol-
auf, warum zu
Harris stellt die provozierende häufig operiert wird gen etwas skeptischer gegenüberzu-
These auf, viele der üblichen chirurgi- und viele Operatio- stehen und sich auch in der Chirurgie
schen Eingriffe seien nicht hilfreicher nen überflüssig sind mehr auf wissenschaftliche Evidenz
riva, München 2020
als alternativmedizinische Behandlun- zu verlassen. Er hofft, sein Buch
256 S., € 19,99
gen. Zumindest gebe es kaum Bewei- werde dazu beitragen, das Bewusst-
se für eine Wirksamkeit. Denn anders sein für den Placeboeffekt in der
als bei der Zulassung eines neuen Chirurgie zu schärfen und mehr sowie
Medikaments müssen bei neuen qualitativ höherwertige Studien her-
chirurgischen Methoden keine klini- Rolle. So ist die Chirurgie sehr stark vorzubringen.
schen Studien den Erfolg des Eingriffs von Erfahrung und Tradition geprägt. Der Band ist laienverständlich
mit dem einer Scheinbehandlung Ein Chirurg lernt sein Handwerk von geschrieben, leicht zu lesen und
(Placebo) vergleichen. Harris zufolge einem älteren, erfahrenen Arzt, der zugleich wissenschaftlich fundiert und
gehören chirurgische Interventionen nicht in Frage gestellt wird, solange es mit zahlreichen Literaturhinweisen
mit ihren äußerst ungewöhnlich ge- den Patienten nach der OP besser geht belegt. Leider wirkt die Übersetzung
kleideten Medizinerteams, ihren als vorher. Harris hält es für typisch aus dem Englischen an manchen
Respekt einflößenden Operationssälen menschlich, sich mehr auf eigene Stellen sehr unprofessionell, was man
und dem Narkose-Prozedere zu den Beobachtungen zu verlassen als auf dem Autor aber nicht anlasten kann.
ultimativen und wirksamsten Placebos wissenschaftlich fundierte Zahlen Harris möchte alle Patient(inn)en mit
unserer Zeit. anderer. Folgt ein Ereignis auf ein seinem Buch dazu ermutigen, sich vor
Dass Operationserfolge zumindest anderes, beispielsweise Besserung auf einer anstehenden Operationsent-
teilweise auf dem Placeboeffekt Behandlung, dann neigt das menschli- scheidung valide zu informieren und
beruhen, ist eigentlich keine Neuigkeit. che Gehirn dazu, einen kausalen ihrem Arzt die richtigen Fragen zu
Jedem Facharzt sollten inzwischen Zusammenhang anzunehmen. Der ist stellen. Zu den Adressaten gehören
Studien bekannt sein, die ergeben aber vielleicht gar nicht vorhanden. wie gesagt auch chirurgisch tätige
haben, dass die Erfolge bestimmter Und eine wissenschaftlich plausible Ärztinnen und Ärzte, doch leider
OPs nicht größer waren als die von Erklärung dafür, wie eine Maßnahme werden die wohl von dem deutschen
Scheineingriffen. Als Beispiel sei die mutmaßlich wirkt, ist noch lange kein Titel eher abgeschreckt.
Kniearthroskopie bei Arthrose er- Beweis dieser Wirkung.
Die Rezensentin Tanja Neuvians hat in
wähnt. Erstaunlicherweise ging es den Harris ist ein überzeugter Vertreter Medizin und Tiermedizin promoviert und
Patienten, die lediglich Hautschnitte der evidenzbasierten Medizin. Auch arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in
erhalten hatten, nachher genauso viel wenn hochwertige klinische Studien Ladenburg bei Heidelberg.

94 Spektrum der Wissenschaft  6.20


LESERBRIEFE
ÜBERHOLTE GESETZESTEXTE? liche Bewertungsmaßstäbe angesetzt, da zum Beispiel
gentechnisch produzierte Medikamente akzeptiert seien
Im Editorial zum Titelthema der Aprilausgabe berich­ und gentechnisch veränderte Pflanzen wiederum nicht.
tete Redaktionsleiter Hartwig Hanser vom modernen Es ist aber doch so, dass ein ab einem gewissen Punkt
Genome Editing und dem Urteil des Europäischen nicht mehr regulierbarer Freilandanbau solcher Pflanzen ein
Gerichtshofs EuGH von 2018, auch die damit erzielten wesentlich größeres Schadenspotenzial hat als etwa Me­
Ergebnisse unter das Gentechnikgesetz zu stellen. dikamente, die nur in sehr begrenztem Rahmen Verbreitung
(Editorial, »Spektrum« April 2020, S. 3) finden und auch bei der Herstellung wesentlich besser zu
kontrollieren sind.
Eckhard Rüggeberg, per E-Mail: Der EuGH hatte (verein- Genauso schreibt Herr Kempken, es ginge in den aktuel-
facht gesagt) zu entscheiden, ob mit CRISPR-Cas (oder len Debatten häufig um die Risiken ungewollter Mutationen.
ähnlichen neuartigen Verfahren) erzeugte Pflanzen unter Das sehe ich nicht so. Das Gefährdungspotenzial geht von
das Gentechnikgesetz fallen oder nicht. Für einen juristi- der Wirkung auf die restliche Natur im Freiland aus. Mich
schen Laien ist es klar, dass für die Frage, ob ein Verfahren hätte tatsächlich sehr interessiert, wie die Forschung damit
ein gentechnisches ist oder nicht, nur das Verfahren ent- umgeht oder wie die Einschätzung im Detail vonstatten-
scheidend ist und nicht das Ergebnis. Es geht nicht darum, geht. Diese Chance hat der Autor leider vertan.
ob eine Mutation natürlich aufgekommen sein könnte,
sondern ob sie so oder durch ein gentechnisches Verfahren
entstanden ist.
Insofern ist meines Erachtens nicht der EuGH zu kritisie-
EINFACHERE ERKLÄRUNG
ren (wie Sie es im Editorial und Professor Kempken es im MÖGLICH
Vergleich auf S. 16 tun), sondern man muss sich fragen, ob Experimente der Quantenphysikerin Urbasi Sinha mit
der Gesetzestext noch zu den aktuellen wissenschaftlichen einem Drei­fachspalt führten auf subtile und meist
Möglichkeiten passt. Das ist übrigens beim deutschen übersehene Aspekte der Quantenmechanik. (»Zuwachs
Embryonenschutzgesetz noch viel weniger der Fall. für den Doppelspalt«, »Spektrum« April 2020, S. 62)

Roger Erb, Frankfurt: Dass der bereits aus dem Schul­


GEFÄHRDUNGSPOTENZIAL unterricht bekannte Doppelspalt noch Unbekanntes birgt,
weckt zwar unbedingt das Interesse, aber warum eine
IM FREILAND Korrektur bei der Berechnung der Lösungen der Wellenglei-
Der Biologe Frank Kempken beschrieb, wie in chungen notwendig ist, wird nicht klar. Der Anschluss
­Pflanzen neuerdings gewünschte Eigenschaften durch den Hinweis auf eine mögliche zukünftige Anwen-
­eingebracht werden, ohne dass man dem dung erscheint konstruiert. Man versteht am Befund nichts,
Erbgut hinterher den Eingriff ansieht. (»Die neue sondern muss ihn glauben – und gerade das macht Natur-
Grüne Revolution«, »Spektrum« April 2020, S. 12) wissenschaft nicht aus! Eine Recherche zu dem (mir bislang
unbekannten) Sorkin-Parameter zeigt, dass der Hintergrund
Hans Pfeiffer, per E-Mail: Im Artikel finden sich von Herrn sehr wohl vereinfacht hätte erklärt werden können: Neben
Kempken zwei gesellschaftlich relevante Aussagen. Diese den bei der Interferenz üblicherweise berücksichtigten
gehen leider an der vorgebrachten Kritik vorbei. Wegen müssen auch solche mit einbezogen werden, bei
Der Autor schreibt, es gäbe eine Diskussion über die denen das Photon eine Extrarunde durch die Spalte dreht.
Anwendungssicherheit und zwischen gentechnisch produ-
zierten Medikamenten, Enzymen und Nahrungszusatzstof-
fen auf der einen und dem Anbau gentechnisch veränderter ERRATA
Pflanzen auf der anderen Seite. Dabei würden unterschied-
»Funktion ein, Funktion aus«, Freistetters Formelwelt,
»Spektrum« April 2020, S. 73

Leserbriefe sind willkommen! In der im Artikel angegebenen Formel ist der Fall x = 0 nicht
abgedeckt. Es ist Definitionssache, ob man H(0) = 0 oder 1
Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches setzt.
Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an
leserbriefe@spektrum.de. Oder kommentieren Sie im Internet
»Aufnahme des Coronavirus«, Spektrogramm,
auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die
individuelle Webadresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten »Spektrum« Mai 2020, S. 6
Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe Die Viren auf der elektronenmikroskopischen Aufnahme
werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer
gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können
wurden zwar aus einem mit Sars-CoV-2 infizierten Patienten
so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar gewonnen. Sie haben sich im Labor aber nicht wie angege-
werden. ben in menschlichen Zellen vermehrt, sondern in so ge-
nannten Vero-Zellen, die aus Grünen Meerkatzen stammen.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 95


FUTUR III
Miau
Begleiter für alle Lebenslagen. Eine Kurzgeschichte von Norbert Stöbe

I
ch hatte einmal einen Kater namens Kurt. Er war schwarz war tatsächlich erstaunlich vielseitig. Und er war intelligent.
und hatte wunderschöne grüne Augen. Eines Tages Laut der ausführlichen Infos auf der Website von ETronic,
wurde er vor dem Haus überfahren und hinterließ, wie der Herstellerfirma, verfügte der E-Companion über eine
man so sagt, eine schwer zu füllende Lücke. Dass ich ihm externe KI, die auf einem Firmenserver lief. Dank schneller
eine Mitschuld an seinem Ableben gab, war der Grund, Datenverbindung erweckte er den Anschein, er bewerkstel-
weshalb ich mir keinen Ersatz anschaffte. lige alles von selbst, und das ausgesprochen überzeugend.
Mein Vertrauen in die Intelligenz von Katzen war nach- Charly holte mir nicht nur Jogurt, sondern bereitete auch
haltig erschüttert. Kurt hatte auf der Straße nichts zu su- das Frühstück zu, so dass ich morgens jetzt eine Viertel-
chen gehabt. Hinter dem Haus liegt ein Garten, und dahin- stunde länger schlafen konnte. Wenn ich die Tagesschau
ter sind Felder, auf denen sich ein Mauseloch ans andere versäumt hatte, las er mir die Nachrichten vor und imitierte
reiht – ein ideales Tummelfeld für einen Kater, sollte man dabei die Stimme meiner Lieblingssprecherin. Er nahm
meinen. Doch anscheinend sind Katzen nicht in der Lage, Pakete entgegen und quittierte den Empfang mit einer
das Risiko des Straßenverkehrs realistisch einzuschätzen. Unterschrift, die von der meinen nicht zu unterscheiden
Deshalb blieb ich danach jahrelang allein. war. Er wusste praktisch jede Frage zu beantworten, die mir
Dann stieß ich auf eine Anzeige für den E-Companion. in den Sinn kam, und vergaß nie, wohin ich etwas gelegt
Im Youtube-Filmchen klopfte eine junge Frau neben sich hatte.
aufs Sofa, und der Companion sprang zu ihr aufs Polster. Einmal wachte ich mitten in der Nacht auf. Charly lag
Sie streichelte ihn und fragte: »Was ist die Wurzel aus neben mir auf dem Bett, den Kopf dem Fernseher zuge-
46225?« wandt, denn wir hatten vor dem Einschlafen einen Film
»215!«, antwortete der Companion wie aus der Pistole geschaut. Er hatte die gelbbraunen Augen geschlossen,
geschossen. Während die junge Frau ihr elektronisches doch die Statuselektrode zwischen seinen Ohren blinkte
Haustier anerkennend tätschelte, kommentierte eine verhal- grün. Er hatte Datenverkehr. Was ging vor in seinem Elekt-
ten ironische Stimme aus dem Off: »Ihr Companion ist treu, ronenhirn? Dachte er? Löste er zum Spaß mathematische
vielseitig und sparsam in der Haltung. Nicht zu vergessen Gleichungen? Errechnete er Bitcoins für ETronic? Lud er
seine vielleicht wertvollste Eigenschaft: Er ist klüger als der seine oder meine Tageshistorie hoch?
Mensch!«
Dann folgte ein Schnitt: Die junge Frau vom Sofa ist um
mehrere Jahrzehnte gealtert. Nach einem Spaziergang mit
ihrem Companion steht sie vor der Haustür und sucht in der Der Gedanke, dass
der Kater allein zu
Handtasche vergeblich nach dem Schlüssel. Hilfloses
Kopfschütteln. Da stupst ihr Companion sie an, stellt sich
auf die Hinterbeine und reicht ihr mit den Vorderpfoten den
gesuchten Schlüssel. Erleichterung!
Der Werbespot war sicherlich kein Anwärter für den
Hause blieb, war mir
Innovationspreis der Werbewirtschaft, doch ich als Ü60
war nun zunehmend empfänglich für Verweise auf die
Tücken des Alters. Außerdem konnte ich einen Gefährten
plötzlich zuwider
gut gebrauchen. Also bestellte ich mir einen Companion
und nannte ihn Charly. Denkbar war natürlich auch, dass er gerade ein Update
Zur Auswahl standen eine Katze und ein Hund. Ich erhielt. Ich hätte ihn fragen können, aber ich tat es nicht.
wählte die Katze, in memoriam Kurt. Charly hatte steife Ich fühlte mich unbehaglich, als hätte ich eine Unschicklich-
Tasthaare um die Schnauze, und wenn ich ihn streichelte, keit begangen. Ich schloss die Augen und tat so, als ob ich
schnurrte er. Er war etwa so groß wie ein Golden Retriever schliefe. Doch ich lag lange wach. Charly, mein Companion,
und konnte auf zwei Beinen gehen. Die Krallen der Vorder- war mir auf einmal unheimlich geworden.
pfoten konnte er ausfahren und damit greifen. Sein Gleich- Am nächsten Tag nahm ich ihn zur Arbeit mit. Der Ge-
gewichtssinn war bemerkenswert. danke, dass er allein zu Hause blieb und irgendetwas an-
Wenn ich sagte: »Bring mir bitte mal einen Erdbeerjo- stellte, wovon ich niemals erfahren würde, war mir plötzlich
gurt!«, nahm er einen Becher aus dem Kühlschrank, zog zuwider. Ich arbeitete bei einem Start-up. Eigentlich sollte
den Aludeckel ab, entsorgte ihn im Gelben Sack und brach- ich von einem ehemaligen Start-up sprechen, denn die
te mir den Becher, ohne den Löffel zu vergessen. Charly Firma machte Gewinn. Die Atmosphäre aber war noch wie

96 Spektrum der Wissenschaft  6.20


Mehr Sciencefiction-Kurzgeschichten auf spektrum.de/kurzgeschichte

früher: alles junge Leute, die einander duzen. Als Alibi-Opa große Sache. Mit dem Arbeitslosengeld und einer kleinen
diente ich unserem Chef Andy als Beweis dafür, dass er Abfindung …«
keine Vorurteile hatte. »Verflucht noch mal!«, rief ich und sprang auf. »Wenn
Ich war in der Buchhaltung tätig. Das Meiste lief elektro- das hier ein Idiotenjob ist, dann lass doch Charly die Arbeit
nisch. Belege wurden gescannt und automatisch zugeord- machen!« Ich stürmte ins Freie und merkte erst zu Hause,
net. Ich sollte die Abläufe überwachen und das, was nicht dass ich meinen Companion in der Firma zurückgelassen
automatisch verarbeitet werden konnte, manuell eingeben. hatte.
In letzter Zeit hatte ich dabei leider einige Fehler übersehen Als ich am nächsten Morgen in die Firma kam, wichen
und zusätzlich ein paar selbst gemacht. Und wie der Zufall die jungen Kollegen meinem Blick aus. Statt mich zu grü-
es wollte, machte Charly mich gerade auf einen Zahlendre- ßen, tuschelten sie miteinander. Als ich durch die Glastür
her aufmerksam, als Andy hereinkam. meines Büros blickte, wurde mir klar, was ihr Gesprächs-
»Hallo, Hans«, sagte er. »Toll, du hast Unterstützung thema war. Charly saß auf meinem Stuhl, die Vorderbeine
mitgebracht.« auf die Tischplatte gelegt. Drei Fenster waren auf dem
Display geöffnet, der Inhalt scrollte so schnell, dass ich mit

»D
as ist Charly, mein elektronisches Haustier.« den Augen nicht folgen konnte. Mit seinen Klauenpfoten
»Wie ich sehe, kann die Katze nicht nur schnur- tippte er wie rasend. Verblüfft trat ich ein.
ren.« Er lachte. »Was machst du da?«
Ja, Andy bemühte sich immer um einen freundschaftli- »Du hast gestern gesagt, ich soll deine Arbeit machen.«
chen Umgangston und tat auch sonst viel fürs Betriebskli- »Und was meint Andy dazu?«
ma. Wir waren eine große Familie, und jeden Freitagnach- »Er hat gemeint, wenn du mich abends abholst, hat er
mittag gab es ein Kickerturnier in der Lobby – natürlich nichts dagegen.«
während der Arbeitszeit. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Eine
»Was führt dich her?«, sagte ich mit einem komischen Woche lang brachte ich Charly morgens zur Arbeit, redete
Gefühl im Bauch. Charly hatte die Vorderbeine auf den mir tagsüber ein, das Nichtstun zu genießen, und holte ihn
Schreibtisch gelegt und blickte zwischen dem Display, mir abends wieder ab. Etwas aber hatte sich verändert. Unsere
und Andy hin und her. Beziehung war gestört. Ich hatte sogar den Eindruck, Char­-
»Ich wollte dich fragen, ob du dich noch wohl bei uns ly sei kleinlaut geworden, so als plage ihn ein schlechtes
fühlst.« Gewissen.
»Ich bin Vierter in der Kicker-Gesamtwertung. Ich kann’s Am Sonntagabend nahm ich mir Charlys zweihundert-
gar nicht erwarten, Erster zu werden.« seitige Bedienungsanleitung vor. Dann kappte ich seine
Diesmal klang Andys Lachen ein wenig gepresst. Er Netzverbindung. Er hatte mir gerade Tee gemacht. Schlag-
setzte sich auf den Besucherstuhl meines winzigen Büros, artig erstarrte er, das Teeglas fiel ihm aus der Hand. Er ging
ein gefaltetes Papier in der Hand. auf alle viere nieder. Ich kehrte die Scherben zusammen,
»Mal im Ernst, Hans«, sagte er, »fühlst du dich den dann wies ich mit dem Kinn zum Schlafzimmer. »Was hältst
Anforderungen noch gewachsen?« du davon, wenn wir uns einen Film anschauen?«
»Ich habe mich selten besser gefühlt.« Mit schiefgelegtem Kopf sah er zu mir auf. »Miau?«
»Manchmal fällt es schwer, sich realistisch einzuschät- »Na los, komm schon.«
zen.« Er entfaltete das Papier und legte es auf den Tisch. Es Zögernd folgte er mir. Ich klopfte aufs Bett. Er sprang
war ein Ausdruck mit einer Tabelle und einem Diagramm hinauf. Ich startete eine Serie und streichelte den schnur-
mit einer dicken roten Linie. renden Charly. Noch ehe der Vorspann geendet hatte, war
»Deine Fehlerkurve ist ansteigend – kontinuierlich anstei- er eingeschlafen. 
gend. Wenn das so weitergeht, muss ich einen zweiten
Buchhalter einstellen, der dich überwacht.«
Es sollte ein Scherz sein, doch ich fand ihn nicht lustig.
DER AUTOR
»Das tut mir leid«, sagte ich. Mir wurde eng um die
Brust, meine Zunge fühlte sich geschwollen an. »Menschen Norbert Stöbe, Jahrgang 1953, lebt und arbeitet als Überset-
machen hin und wieder Fehler. Computer aber auch.« zer und Autor in Stolberg. 1982 wurde er vom Chemiker zum
Autor. Neben zahlreichen Storys hat er bislang sechs Romane
»Wohl eher weniger. Mensch, Hans, das hier ist bloß ein veröffentlicht, darunter »Der Weg nach unten«, »Morgenröte«
Job. Du bist einundsechzig, nur noch ein paar Jahre bis zur und zuletzt »Kolonie«. In diesem Jahr erscheint sein siebter
Rente. Wenn du dich überfordert fühlst, ist das doch keine Roman »Kleiner Drache«.

Spektrum der Wissenschaft  6.20 97


Das Juliheft ist ab 20. 6. 2020 im Handel.

VORSCHAU

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / VERENA TANG


DIVEDOG / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
DIE MILLIONENFRAGE
Ein Endlager für Atommüll muss für
eine Million Jahre sicher sein – so ist
es gesetzlich geregelt. In einem unter­
irdischen Forschungslabor in der
Schweiz untersuchen Wissenschaftler,
ob und wie ein Lager in Tonstein diese
Vorgabe erfüllen kann.

PINEAPPLE STUDIO / GETTY IMAGES / ISTOCK


DER URSPRUNG DES LEBENS
Alle heutigen Organismen stammen wohl von einem gemeinsamen
Vorfahren ab. Aber wie und wo entstand dieser LUCA genannte
FLEISCHERSATZ AUS
Urahn spontan? Biologen haben dazu beispielsweise tiefe, wasser­
PFLANZENPROTEINEN
gefüllte Erdspalten im Blick. Hohe Drücke und Temperaturen, eine In den Supermarktregalen häufen
brodelnde Mischung aus diversen Chemikalien sowie zahlreiche sich die Fleischersatzprodukte. Aber
verschiedene Reaktionsräume im Gestein könnten dort die Entste­ können sie das Original wirklich
hung des ersten Lebens angestoßen haben. überzeugend nachahmen? Erstaun­
licherweise weiß man bisher wenig
über die industrielle Verarbeitung von
pflanzlichen Proteinen – was For­
DAS WELTALL IN scher nun ändern wollen.
NEUEM LICHT
Die kosmische Röntgenstrahlung
durchdringt die Erdatmosphäre
nicht und blieb darum lange NEWSLETTER
unbemerkt. Ihre Erforschung Möchten Sie über Themen und Autoren
begann erst mit dem Raum­ des neuen Hefts informiert sein?
fahrtzeitalter. Moderne Satelliten Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
gestatten immer bessere Ein- per E-Mail – und natürlich kostenlos.
blicke in einige der seltsamsten Registrierung unter:
und spektakulärsten Vorgänge spektrum.de/newsletter
ESA - D. DUCROS

im Universum.

98 Spektrum der Wissenschaft  6.20


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