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7.19

Neustart der
Gentherapie
Eine gescheitert geglaubte
Methode feiert ihr Comeback
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
8,90 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

IM FOKUS
Herausforderung
Klimawandel

ASTRONOMIE So entstand das erste Bild eines Schwarzen Lochs


FRÜHMENSCHEN Knochensplitter verraten Verwandtschaftsverhältnisse
KLOSTERMEDIZIN Wie Hildegard von Bingen zum Popstar wurde
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SPEKTRUM
PSYCHOLOGIE –
Das Magazin
für den modernen,
selbstbestimmten
Menschen

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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

DIE ZUKUNFT
UNSERES KLIMAS
Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

 Der letzte Dürresommer ist noch allzu gut in Erinnerung, und die Grundwasser­
vorräte sind trotz einiger ergiebiger Regenfälle hier zu Lande nicht wieder auf­
gefüllt. Besonders Landwirte zittern vor dem Sommer, auch wenn niemand weiß,
ob es erneut zu wochenlanger Bruthitze kommt. Tatsächlich aber häuften sich in THOMAS HIGHAM
den vergangenen Jahren extreme Wetterbedingungen gerade in den Sommer­ KATERINA DOUKA
monaten – in Deutschland, in Europa und darüber hinaus. So überschwemmten Die beiden Archäologen entlocken
2018 zeitgleich zur hiesigen Dürre massive Regenfälle den Nordosten der USA. kleinsten Knochenstücken verblüf­
Ab S. 54 beschreibt Michael Mann, Professor für Atmosphärenforschung an fende Erkenntnisse über die Frühzeit
der Pennsylvania State University, eine aktuelle Hypothese für diese Entwicklung: des Menschen (ab S. 34).
Der Jetstream, eine gewaltige Strömung in der Erdatmosphäre, die hoch oben an
der Grenze zur Stratosphäre von West nach Ost zieht, schwächt sich im Sommer
ab und schlägt dadurch zunehmend wellenförmig nach Süden und Norden aus.
Bleiben diese Wellenberge und -täler dann längere Zeit an derselben Stelle hängen,
kommt es genau dort zu solchen Wetterextremen. Neuen Studien zufolge verstär­
ken aus der Quantenphysik bekannte Resonanzmechanismen die Ausschläge des
Jetstreams noch weiter.
Die Ursache für das Phänomen sehen Forscher darin, dass sich die Arktis
schneller erwärmt als unsere gemäßigten Breiten. Und das wiederum lässt sich laut
Modellrechnungen auf den menschengemachten Klimawandel zurückführen. Für MICHAEL E. MANN
Michael Mann ein weiteres Argument dafür, den Ausstoß von klimaverändernden Der Klimawandel bringt nicht nur
Gasen wie Kohlendioxid schnellstmöglich deutlich zu reduzieren, um die Entwick­ heißere Sommer, sondern auch
lung nicht noch zu verschlimmern. Sonst müssten wir auch in Deutschland spätes­ Starkregen und Überschwem­
tens ab 2050 mit einer weiteren dramatischen Zunahme sommerlichen Extrem­ mungen. Wie das mit dem Jet­
wetters rechnen. stream zusammenhängt und was
An dieser Stelle hakt Richard Conniff in seinem Beitrag ab S. 62 ein. Für den die Quantenphysik damit zu tun
Wissenschaftsautor ist der Zug in puncto CO2-Reduktion bereits abgefahren: ­ hat, erklärt der Atmosphärenfor­
Sie allein wird nicht reichen. Zusätzlich müssen wir das Treibhausgas möglichst scher ab S. 54.
effizient aus der Atmosphäre entfernen und neutralisieren, fordert er. Conniff gibt
einen umfassenden Überblick über die hierzu angedachten und zum Teil schon
PETRA ROTHÜTL

eingesetzten Technologien. Dazu bezieht er sich vor allem auf eine gründliche
Studie der deutschen Klimaforscherin Sabine Fuss vom Berliner Mercator-Institut.
Sein Fazit: Gelänge es, mehrere Ansätze optimal zu kombinieren, ließe sich die
notwendige, ungeheure Menge an CO2 wohl zu vertretbaren Kosten entfernen und
die Klima­erwärmung auf diese Weise begrenzen. Dann sollte auch der Jetstream
weniger ausgebremst werden – und damit hoffentlich sommerliches Extremwetter
nicht zur neuen Normalität werden.
TOBIAS NIEDENTHAL
Herzlich, Ihr Finsteres Mittelalter auf der einen
Seite, die Lichtgestalt Hildegard von
Bingen auf der anderen – der Würz­
burger Medizinhistoriker kämpft ab
S. 72 gegen Klischees.

NEU AM KIOSK!
Unser Spektrum SPEZIAL Physik – Mathematik – ­
Technik 2.19 präsentiert aktuelle Ansätze, welche
die Gravitation mit den Gesetzen der Quantenwelt
zu einer »Theorie von Allem« vereinen sollen.
Spektrum der Wissenschaft  7.19 3
INHALT
3 EDITORIAL 12 MEDIZIN GENTHERAPIE GEGEN HÖRSCHÄDEN
Serie: Gentherapie (Teil 1) Nach einem holprigen Start macht die Gen­
6 SPEKTROGRAMM therapie inzwischen w ­ ichtige Fortschritte. Forscher wollen sie etwa
nutzen, um eine bestimmte Form der Gehörlosigkeit zu behandeln.
24 FORSCHUNG AKTUELL Von Dina Fine Maron

Ein neuer Mensch


Zwergenhafter Zuwachs für 20 GENTHERAPIE BESSERE VERPACKUNG FÜR DNA-PAKETE
unsere Gattung
Künstlich veränderte Viren sollen helfen, Gen­material in
Primpolynome Körperzellen einzuschleusen, um so Erbkrankheiten zu behandeln.
Hintertür in der Von Neil Savage
­RSA-Verschlüsselung
Genetisches Alphabet
verdoppelt
Vier neue Buchstaben für die
34 ARCHÄOLOGIE DIE NADEL IM KNOCHENHAUFEN
DNA Knochen sind der Schlüssel, um das Leben unserer Urahnen zu erforschen.
Aber was tut man, wenn nur winzige Splitter übrig sind?
Schrödingers Katze Von Thomas Higham und Katerina Douka
erweitert ihr Revier
Quantenphysiker betreten
experimentelles Neuland 42 ASTRONOMIE INS HERZ DER FINSTERNIS
Astrophysiker haben erstmals ein Bild eines Schwarzen Lochs gemacht.
Eine Aufnahme für die Geschichtsbücher – und das Ende einer langen Reise.
33 SPRINGERS EINWÜRFE
Von Robert Gast
Hierarchien im Hirn
Der Umgang mit Überra- Im Fokus: Herausforderung Klimawandel
schungen verläuft gestaffelt.

52 SCHLICHTING!
54 KLIMAWANDEL GEFÄHRLICHER WETTERVERSTÄRKER
Das Wetter spielt immer häufiger und immer drastischer verrückt. Grund ist
Gefährliche Schräglage der Jetstream, der sich abschwächt und zu schlingern beginnt. Die globale
Das Lawinenrisiko hängt Erwärmung verstärkt diesen Trend.
vom Störenfried ab. Von Michael E. Mann

71 FREISTETTERS FORMELWELT
62 KOHLENDIOXID DAS KLIMAGAS VERGRABEN
Beharrliche Berechnungen
Im Kampf gegen den Klimawandel müssen wir bereits emittiertes CO2 aus der
Das Querprodukt stellt Atmosphäre entfernen. Doch welche Technologie eignet sich am besten?
Mathematiker vor Rätsel. Von Richard Conniff

79 ZEITREISE

86 REZENSIONEN 72 KLOSTERMEDIZIN VON MONTE CASSINO NACH BINGEN


Jahrhundertelang oblag es Geistlichen wie Hildegard von Bingen,
94 LESERBRIEFE ­medizinisches und pharmakologisches Wissen zu pflegen und zu mehren.
Von Tobias Niedenthal und Johannes Gottfried Mayer

96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE


80 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
97 IMPRESSUM NICHTPERIODISCHE PARKETTKUNST
Eine Mischung aus Regelhaftigkeit und Undurchschaubarkeit führt zu
98 VORSCHAU prächtigen Kunstwerken.
Von Christoph Pöppe

TITELBILD:
ANUSORN NAKDEE / GETTY IMAGES / ISTOCK;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft  7.19


ANUSORN NAKDEE / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
12
TITELTHEMA
COMEBACK DER GENTHERAPIE

34
ARCHÄOLOGIE
NADEL IM
KNOCHEN-
EHT COLLABORATION (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1907A/) /

HAUFEN
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
CHRISTOFFER RUDQUIST

42
ASTRONOMIE
EIN BILD EINES SCHWARZEN LOCHS
LIZ TORMES

HELMUTH SCHAM, MIT FRDL. GEN. DER STIFTUNG WELTERBE KLOSTERINSEL REICHENAU

62 72
KLIMA GESCHICHTE
CO2 VERGRABEN KLOSTERMEDIZIN

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Spektrum der Wissenschaft  7.19 5


6Spektrum der Wissenschaft  7.19
6.19
SPEKTROGRAMM

ESA/DLR/FU BERLIN (WWW.DLR.DE/DLR/DESKTOPDEFAULT.ASPX/TABID-10333/623_READ-32973/#/GALLERY/33853) /


CC BY-SA 3.0 IGO (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/IGO/LEGALCODE)
VOM MARSWIND VERWEHT

 Der Mars mag eine staubtrockene Wüs-


tenwelt sein, aber von einer eintönigen
Ödnis ist er weit entfernt. Das zeigen nicht
zuletzt Bilder wie dieses, welches die
ESA-Sonde Mars Express Anfang 2019
aufgenommen hat. Zu sehen ist die Region
Chalcoporos Rupes auf der Südhalbkugel
des Roten Planeten. Winde haben hier weit
ausgedehnte Dünenfelder aufgeweht
(rechts). Diese bestehen überwiegend aus
alter Vulkanasche, die vor allem am Boden
von Einschlagkratern zu Tage tritt. Sie ist
deutlich dunkler als der ockerfarbene
Staub, der große Teile der Marsoberfläche
bedeckt. Verantwortlich für den Farbunter-
schied ist die Oxidation, bei der das dunkle
Eisen in der Vulkanasche mit dem wenigen
Sauerstoff in der Marsatmosphäre reagiert
und sich dadurch rötlich verfärbt.
Auch die feinen dunklen Linien, die man
an vielen Stellen erkennen kann, gehen auf
Vulkanmaterial zurück: Hier haben so
genannte Staubteufel hellen Staub aufge-
wirbelt und hunderte Meter breite Schnei-
sen zurückgelassen. Ähnlich wie auf der
Erde entstehen die Windhosen, wenn
erwärmte Luft beim Aufsteigen in Rotation
gerät. Auf dem Mars können sie wegen der
höheren Temperaturunterschiede jedoch
ESA/DLR/FU BERLIN (WWW.DLR.DE/DLR/DESKTOPDEFAULT.ASPX/TABID-10333/623_READ-32973/#/GALLERY/33853) /

viel größer werden.


DLR-Pressemitteilung, 2019
CC BY-SA 3.0 IGO (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/IGO/LEGALCODE)

Spektrum
Spektrumder
derWissenschaft 
Wissenschaft  6.19
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SPEKTROGRAMM
ARCHÄOLOGIE
DAS MASSAKER
VON KOSZYCE

 Im Jahr 2011 gruben Archäologen


im südpolnischen Koszyce die
Skelette von 15 Menschen aus, darun-
ter vier Mütter mit ihren Kindern.
Man hatte ihnen vor etwa 4800 Jah-
ren brutal den Schädel eingeschla-
gen. Anders als man es von Massen-
gräbern erwarten würde, wurden die
Opfer jedoch sehr sorgfältig und mit
reichen Beigaben beigesetzt.
Nun hat eine Forschergruppe um
Hannes Schroeder von der Universi-
tät Kopenhagen durch Erbgutanaly-
sen die Verwandtschaftsverhältnisse
der Toten bestimmt. Demnach liegt
in Koszyce eine Großfamilie begra-
ben, in der die Männer untereinander
verwandt waren und die Frauen
überwiegend von außerhalb stamm-
ten. Auffällig ist auch, dass Ge-
schwister nebeneinander beerdigt
wurden und Kinder dicht an ihre
Mütter angeschmiegt. Wer immer
das Grab anlegte, habe die Toten also
wohl gut gekannt, folgern die For-
scher. In Frage kommen hier vor
allem die Väter: Von ihnen liegt nur
ein einziger im Grab. Als sich das
Massaker ereignete, waren viele der
Männer also möglicherweise ab­
wesend.
Weiterhin unklar ist, warum die
Großfamilie aus Koszyce sterben
musste. Immerhin eine Theorie gibt
es: Zu der Zeit fanden große kulturel-
le Umwälzungen statt. Menschen der
so genannten Schnurkeramik-Kultur
drangen damals immer weiter nach
Zentraleuropa vor und verdrängten
gewaltsam jene, die ihnen im Weg
standen – unter anderem die Mit­
glieder der Kugelamphoren-­Kultur,
zu der auch die Opfer von Koszyce
gehörten.
PNAS 10.1073/pnas.1820210116, 2019

Die Toten im Massengrab von


Koszyce wurden offenbar mit großer
Sorgfalt beerdigt: Geschwister
PIOTR WODARCZAK

liegen hier nebeneinander und


Kinder neben ihren Müttern.

8 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

BIOLOGIE
NATÜRLICHER IMPFSTOFF FÜR BIENEN

 Honigbienen teilen im Schwarm


offenbar einen bisher unbekannten
Impfstoff: Ein RNA-Molekül, das im
Maori und Kollegen: Die RNA-Mole­
küle wandern durch die Darmwand
in die Hämolymphe der Tiere und
noch, wie die Zellabwehr der Insekten
zwischen viraler RNA und den hilfrei-
chen RNA-Schnipseln unterscheidet.
Gelée royale und in der normalen Kost später, wenn die Bienen ausgewach- Eine andere Frage können die
für Arbeiterinnen enthalten ist, schütze sen sind, in die Kopfdrüsen. Von dort Forscher dagegen schon beantworten:
den Stock vor Virusinfektionen, berich- gelangen sie in den Nahrungsbrei, Offensichtlich bewahren Bienen den
tet ein Team um Eyal Maori von der mit dem Bienen den Nachwuchs fragilen RNA-Impfstoff durch ein
University of Cambridge. Die kurzen füttern. Ein Schwarm kann so über weiteres im Gelée royale enthaltenes
Erbgutschnipsel enthalten dabei keine Monate hinweg geschützt bleiben – Molekül. Das Major Royal Jelly Prote-
Bauanleitung für Proteine, kurbeln auch nachdem die erste Generation in-3 (MRJP 3) bindet sich an RNA und
aber die Immunabwehr der Insekten von geimpften Tieren schon gestorben formt dabei Kügelchen. Darin sind die
an und schützen sie so monatelang ist, wie die Experimente des Teams RNA-Moleküle weitgehend vor äuße-
vor viralen Erregern. zeigen. ren Einflüssen geschützt – bis sie im
Hat eine Biene die RNA einmal als Die Sequenz solcher RNA-Moleküle nächsten Insektendarm wieder freige-
Larve mit ihrer Nahrung aufgenom- ähnelt dabei der von Virus-RNA oder setzt werden.
men, gibt sie diese später an andere dem Erbgut anderer Erreger wie etwa Cell Reports 10.1016/j.celrep.2019.04.073,
Schwarmgenossen weiter, berichten insektenbefallener Pilze. Unklar ist 2019

KERNPHYSIK Detektor in einem Labor unter dem


Gran Sasso d’Italia. Mit dem akribisch
den Elektronen gefüllt wird. Dadurch
sendet das betroffene Atom charakte-
18 TRILLIARDEN JAHRE von Umwelteinflüssen abgeschirmten ristische Strahlung aus, welche die im
HALBWERTSZEIT Tank hielten die Wissenschaftler Tank installierten Messgeräte nachwei-
eigentlich nach Teilchen der Dunklen sen können. Zwischen Februar 2017

 Ein internationales Forscherteam


hat erstmals einen unvorstellbar
seltenen subatomaren Prozess beob-
Materie Ausschau, die besonders
bereitwillig mit den Atomkernen des
Edelgases kollidieren sollten.
und Februar 2018 haben die Wissen-
schaftler insgesamt 126 solcher Signale
aufgefangen.
achtet. Bei ihm schlucken Atomkerne Die extrem empfindliche Elektronik Für die Physiker ist das Ergebnis nur
des Edelgasisotops Xenon-124 zwei des Experiments war jedoch auch für ein Zwischenschritt: Sie gehen davon
Elektronen aus ihrer Schale und wan- andere Suchen geeignet, etwa die aus, dass sich bei einer anderen Varian-
deln damit zwei Protonen in Neutro- nach dem doppelten Elektronenein- te der Umwandlung die beiden Neutri-
nen um; aus Xenon-124 wird dadurch fang bei Xenon-124: Findet er statt, nos gegenseitig auslöschen. Das wäre
Tellur-124. Da der Kern bei der Um- hinterlassen die beiden vom Atomkern dann der »neutrinolose Doppel-Elektro-
wandlung unter anderem zwei Neutri- verschluckten Ladungsträger eine neneinfang«. Er wäre ein Hinweis auf
no-Teilchen ausspuckt, sprechen Lücke in der Atomschale, die nach neue Naturgesetze, die bei der Erklä-
Physiker vom »Zwei-Neutrino-Doppel- kurzer Zeit von nach innen rutschen- rung des offenkundigen Ungleichge-
Elektroneneinfang«. wichts zwischen Materie und Antimate-
Schätzungen zufolge hat dieser rie im Universum helfen könnten.
Zerfall in ein anderes Element eine Der Xenon1T-Detektor war Teil des Nature 10.1038/s41586-019-1124-4,
Halbwertszeit von 18 Trilliarden Jahren, Laboratori Nazionali del Gran Sasso. 2019
ein Vielfaches des Alters unseres
Universums. Ein einzelner Xenon-
XENON COLLABORATION

124-Atomkern hat sich nach dieser


Zeitspanne mit einer Wahrscheinlich-
keit von 50 Prozent in Tellur-124 umge-
wandelt. Betrachtet man sehr viele der
Atomkerne auf einmal, steigt die
Wahrscheinlichkeit, einer der seltenen
Transformationen beizuwohnen.
Die 160 Forscher der XENON-Kolla-
boration haben genau das getan:
Zwischen 2016 und 2018 betrieben sie
einen mit drei Tonnen Xenon gefüllten

Spektrum der Wissenschaft  7.19 9


SPEKTROGRAMM
ASTRONOMIE
2000 JAHRE ALTES
HIMMELSRÄTSEL GELÖST

 Im Mai des Jahres 48 v. Chr. fiel


chinesischen Astronomen ein neuer

ESA/HUBBLE AND NASA, F. GÖTTGENS (IAG)


Punkt im Sternbild Schütze auf, der
nach wenigen Tagen wieder verblass-
te. Was sich hinter diesem »Gaststern«
verbarg, blieb lange unklar. Doch nun
glaubt eine internationale Arbeitsgrup-
pe um Fabian Göttgens von der Uni-
versität Göttingen das Rätsel gelöst zu Im Kugelsternhaufen M22 haben
haben: Mit Hilfe des Very Large Tele- Astronomen einen leuchtenden Nebel
scope (VLT) in Chile haben die Astro- aufgespürt (oben, rot markiert). Er
nomen das Relikt einer gewaltigen könnte auf eine Sternexplosion zurück-
CHINESE TEXT PROJECT (CTEXT.ORG)

Explosion aufgespürt, deren Licht vor gehen, die chinesische Astronomen im


gut 2000 Jahren die Erde erreicht Jahr 48 v. Chr. dokumentierten (links).
haben müsste.
Der leuchtende Nebel befindet sich
im Kugelsternhaufen M22 – eine
kompakte Ansammlung von hundert- kritische Dichte, ab der Atomkerne 48 v. Chr. der »Gaststern« aufgetaucht
tausenden alten Sternen, die wie ein miteinander fusionieren. Die Folge sind sein soll. Allerdings konnte man damals
Satellit um unsere Galaxie kreist. Bei gewaltige Eruptionen, durch die der Himmelskoordination auch noch nicht
dem Nebel handelt es sich vermutlich Weiße Zwerg einige Tage lang enorm so genau erfassen wie heute, argumen-
um die Überreste einer so genannten viel Strahlung aussendet. tieren die Astrophysiker. Zudem seien in
Nova, argumentieren die Forscher Mit hoher Wahrscheinlichkeit dem fraglichen Ausschnitt des Himmels
nach Auswertung des Lichtspektrums. wurden die chinesischen Astronomen keine anderen Objekte bekannt, welche
Bei ihr saugt ein weißer Zwergstern vor 2067 Jahren Zeuge dieses Spek­ die Himmelserscheinung über China
Wasserstoff von einem benachbarten takels, so das Team um Göttgens. Die erklären könnten.
Stern ab. Früher oder später erreicht Position des Nebels stimme zwar Astronomy & Astrophysics 10.1051/0004-
das Material auf der Oberfläche eine nicht exakt mit jener überein, an der 6361/201935221, 2019

MEDIZIN
UV-EMPFINDLICHES GEL GEGEN INNERE BLUTUNGEN

 Bei Notfällen wünschen sich Medi-


ziner wirkungsvolle Pflaster für das
Körperinnere, mit denen sie lebens­
mit Kanülen leicht auftragen. Sobald
jedoch UV-Licht das Material trifft,
bindet es sich fest an Gewebeoberflä-
Millimeter Quecksilbersäule stand –
mehr, als im klinischen Notfall beim
Menschen meist auftritt. Auch härtete
bedrohliche Risse in Arterien oder im chen, auch unter den nassen Bedin- es binnen weniger Sekunden aus,
Herzen verschließen können. Die gungen des Körperinneren. schneller als frühere experimentelle
Flicken sollten nicht giftig sein, bei Möglich macht das die besondere Pflaster.
hohem Blutdruck dicht halten und Zusammensetzung: Die Forscher Letztlich könnte das Gel millimeter-
idealerweise aus einem biologisch haben den Stoff nach dem Vorbild der lange Risse in der Hauptschlagader
abbaubaren Material bestehen. Ein extrazellulären Matrix von Bindegewe- oder dem Herzen abdichten, glaubt
Team um Hongwei Ouyang von der be entwickelt, in der lose verwobene das Team. Bei Kaninchen gelang es
Zhejiang-Universität in China hat nun Proteinfäden und Kohlenhydratketten bereits, kleine Leberrisse zu schließen;
ein Pflaster entwickelt, das diesen die Zellen fixieren. Ähnliche Strukturen bei Schweinen dichteten die Wissen-
Anforderungen gerecht werden könn- bildet das Gel bei der Wechselwirkung schaftler mit dem Pflaster bis zu fünf
te: Bei Schweinen und Kaninchen mit UV-Licht aus. Aktive Aldehyd­ Millimeter große punktförmige Wun-
seien die Ergebnisse viel verspre- gruppen vernetzen dann Aminosäure- den ab. Die Versuchstiere überlebten
chend, berichten die Forscher. und Zuckerketten fest miteinander die Eingriffe und zeigten auch nach
Die Erfindung beruht auf einem Gel, und formen so ein stabiles, sehr dich- Wochen keine Folgeschäden.
das auf Strahlung reagiert. An und für tes Polymer. In den Versuchen hielt Nature Communications 10.1038/
sich ist es dünnflüssig und lässt sich es einem Blutdruck von bis zu 290 s41467-019-10004-7, 2019

10 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

MOBILITÄT Zunahme der Stunden geführt, die eigentlich nur um 22 Prozent zuneh-
Autofahrer durch zähflüssigen Verkehr men dürfen, von insgesamt 65 000 auf
RIDESHARING-DIENSTE oder Staus verlieren. In der kaliforni- 79 000 vergeudete Stunden, berichten
KÖNNTEN VERKEHRS- schen Stadt erfolgte 2016 jede siebte die Wissenschaftler. Tatsächlich
CHAOS VERGRÖSSERN Fahrt mit einem der Dienste. wuchs die verlorene Zeit aber um 62
Das Team hat mit hohem Aufwand Prozent.

 Mitfahr-Angebote wie Uber oder


Lyft haben sich in vielen Ländern zu
populären Alternativen zu Taxis und
die in der Vergangenheit erfolgten
Ridesharing-Fahrten rekonstruiert; die
Daten hierzu ließen sich auf Umwegen
Aus Sicht von Erhardts Team sind
verschiedene Ursachen denkbar: So
zeigen andere Studien, dass Uber- und
anderen Fortbewegungsmitteln entwi- aus den Apps von Uber und Lyft Lyft-Autos bis zur Hälfte ihrer Strecken
ckelt. Sie gelten auch als Brückentech- extrahieren. Das Ergebnis verglichen ohne Fahrgast absolvieren, etwa weil
nologie auf dem Weg zum großflächi- die Mobilitätsforscher mit Simulatio- sich die Fahrer in Gegenden bewegen,
gen Einsatz von autonomen Autos. nen, in denen die Dienste keine Rolle wo sie öfter nachgefragt werden.
Aber bringen die per App buchbaren spielten. Die Basis hierfür bildete eine Auch deuten vergangene Untersu-
Fahrer wirklich eine Entlastung für leistungsfähige Software, die mit Hilfe chungen darauf hin, dass rund jede
verkehrsgeplagte Städte, wie bisherige detaillierter demografischer Informati- zweite Ridesharing-Fahrt einen Weg
Studien zum Teil nahelegten? onen den Verkehrsfluss zu bestimmten zu Fuß, mit dem Fahrrad oder in einem
Ein Team um Gregory D. Erhardt Zeiten berechnet und dabei Uber & Co öffentlichen Verkehrsmittel ersetzt –
von der University Kentucky meldet außen vor lassen kann. oder ohne die Dienste überhaupt nicht
nun große Zweifel an: In San Francisco Ohne die Dienste hätte die Zeit, die stattgefunden hätte.
hätten Uber und Lyft in den Jahren Autofahrer durch zu viel Verkehr Science Advances 10.1126/sciadv.
2010 bis 2016 zu einer deutlichen verlieren, zwischen 2010 und 2016 aau2670, 2019

UMWELT

DAIJU AZUMA (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:HIRONDELLEA_GIGAS.JPG) /


CC BY-SA 2.5 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.5/LEGALCODE)
FALLOUT IN
TIEFSEEKREBSEN
Flohkrebse der

 Die Atombombentests der 1950er


und 1960er Jahre bliesen große
Mengen radioaktiven Materials in die
Art Hirondellea
gigas können
selbst in tiefen
Atmosphäre. Der meiste Fallout ist Meeresgräben
heute verschwunden, aber Wissen- überleben. Im
schaftler können nach wie vor Über- Körper der Tiere
reste davon aufspüren. So auch ein entdeckten
Team um Ning Wang von der Chinese Forscher nun
Academy of Science: In drei mehr als überraschend viel
6000 Meter tiefen Meeresgräben im radioaktiven
Pazifik, darunter der Marianengraben, Kohlenstoff.
entdeckten die Meeresbiologen Floh-
krebse, in deren Körper sich unge-
wöhnlich viel Kohlenstoff-14 angesam- schichten ausgebreitet hat. Dort kette von Flohkrebsen und anderen
melt hat. nutzen es Meerestiere für ihren Stoff- Lebewesen in der Tiefsee funktioniert.
Das radioaktive Isotop mit einer wechsel. Zur Überraschung der For- Kohlenstoff-14 gilt hier als wichtiger
Halbwertszeit von rund 5700 Jahren scher scheint das mittlerweile auch für Signalstoff, da es nur aus der Atmo-
kann einerseits auf natürlichem Weg sehr tiefe Meeressenken zu gelten: sphäre stammen kann.
entstehen, durch Kollisionen von Das Muskelgewebe dort gefangener Vermutlich werde die Nahrung der
Teilchen aus dem Weltall mit Bestand- Flohkrebse enthalte bis zu sechs Krebstiere an der Oberfläche mit dem
teilen der Erdatmosphäre. Doch auch Prozent mehr radioaktiven Kohlenstoff, Isotop angereichert und sinke von dort
durch die oberirdischen Atombomben- als man natürlicherweise erwarten rasch in die Tiefe, schreiben die Mee-
tests entstand der Stoff in großen würde, berichtet die Gruppe um Ning resbiologen. Folglich seien selbst
Mengen, denn die in den Explosionen Wang. Das seien Werte, die man sonst solche schwer zugänglichen Habitate
freigesetzten Neutronen reagierten mit nur von Organismen an der Meeres- nicht vor den Einflüssen der Mensch-
Stickstoff zu Kohlenstoff-14. oberfläche kenne. heit sicher.
Schon lange ist klar, dass sich Die Forscher wollten mit ihrer Geophysical Research Letters
dieses Isotop in den oberen Ozean- Studie verstehen, wie die Nahrungs- 10.1029/2018GL081514, 2019

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MEDIZIN
GENTHERAPIE
GEGEN HÖRSCHÄDEN
Nach holprigem Start macht die Gentherapie nun
­Fortschritte. Forscher wollen sie etwa nutzen, um eine
bestimmte Form der Gehörlosigkeit zu behandeln.

Dina Fine Maron war früher als Redakteurin


MIT FRDL. GEN. VON DINA F. MARON
REBECCA HALE / NAT. GEOGRAPHIC;

bei »Scientific American« tätig und


arbeitet jetzt als Reporterin bei »National
Geographic«.

 spektrum.de/artikel/1647832

ANUSORN NAKDEE / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

12 Spektrum der Wissenschaft  7.19


SERIE
Gentherapie

Teil 1: Juli 2019


Gentherapie gegen Hörschäden
Dina Fine Maron
Bessere Verpackung für Genpakete
Neil Savage

Teil 2: August 2019


Eine neue Haut
Kat Arney
Menschliche Zellen als Antikörper-Fabriken
Amanda Keener

Teil 3: September 2019


Reparatur in der Gebärmutter
Sarah Deweerdt

Bei einer Gentherapie bringen


Mediziner genetisches Material
in Körperzellen von Patienten
ein, um Krankheiten zu behan-
deln. Häufig geht es darum,
intakte Versionen von Genen
einzuschleusen, die der Patient
nur in defekter Form besitzt.
ANUSORN NAKDEE / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Spektrum der Wissenschaft  7.19 13



Angespannt beobachtet die junge Frau die Mimik und mit die häufigsten angeborenen Komplikationen – erstmals
Gestik ihres Gegenübers und nickt oder lächelt, wenn ursächlich behandelt werden können.
sie glaubt, es könnte passen. Denn obwohl die Laut- Dabei hat die Gentherapie einige schwierige Jahre hinter
stärke ihres Hörgeräts erst kürzlich erhöht wurde, versteht sich. 1999 verstarb auf Grund eines tragischen Behand-
sie in Unterhaltungen kaum noch etwas. lungsfehlers ein 18-jähriger Patient namens Jesse Gelsinger,
Hannah Corderman leidet an einer angeborenen Erkran- der an einem angeborenen Enzymdefekt litt. Wissenschaft-
kung namens Usher-Syndrom, die ihr langsam, aber sicher ler der University of Pennsylvania hatten ihm in einem
zwei Hauptsinne raubt. Auf Grund einer genetischen Muta- frühen Versuch, die Gentherapie anzuwenden, Adenoviren
tion stellen Zellen ihres Innenohrs sowie ihrer Netzhaut mit therapeutischen Genen injiziert. Allerdings waren die
bestimmte Proteine nicht mehr in ausreichender Menge her, Partikel viel zu hoch dosiert. Kurz nach dem Eingriff ver-
die für eine normale Zellfunktion erforderlich sind. Deshalb schlechterte sich Gelsingers Zustand, die Reaktion seines
hat sich, zusätzlich zum Verlust des Gehörs, auch ihre Immunsystems geriet außer Kontrolle und richtete sich
Sehkraft verschlechtert. Bereits als Teenager musste sie gegen den eigenen Organismus. Der Patient starb an einem
Nachtfahrten unterlassen. Heute, mit Mitte 20, erschweren Multiorganversagen. Diese Tragödie rückte die Gentherapie
ihr blinde Flecken selbst tagsüber das Sehen. Die Ärzte in ein sehr schlechtes Licht; Fördermittelgeber zogen ihre
haben bei ihr das Usher-Syndrom Typ 2A diagnostiziert, eine Unterstützung zurück, und viele Forscher gingen auf Ab-
erbliche Hör- und Sehbeeinträchtigung, die sich über Jahre stand.
hinweg allmählich ausprägt. Derzeit kann keine Therapie
den Fortschritt der Erkrankung stoppen oder wenigstens

ETHAN HILL (ETHANHILL.COM)


verlangsamen. Die junge Frau lebt also mit dem Wissen, Hannah Corderman leidet am Usher-Syndrom,
dass sie in 10 Jahren – vielleicht auch erst in 20, falls sich die einer angeborenen Erkrankung, bei der die
Krankheit langsam entwickelt – taub und blind sein wird. Betroffenen allmählich ertauben und erblinden.
Es gibt nicht viel, was die Ärzte tun können, um ihr zu
helfen. Sie könnten Corderman eines Tages ein Cochlea-­
Implantat einsetzen, das den Hörnerv direkt stimuliert,
gewissermaßen unter Umgehung der Haarsinneszellen im
Innenohr. Das würde auch dann noch eine gewisse Ton-
wahrnehmung ermöglichen, wenn die besten Hörgeräte
hierfür nicht mehr ausreichen. Dem Funktionsverlust der
Netzhaut wiederum ließe sich mit Retina-Implantaten
entgegenwirken, welche die lichtempfindlichen Zellen
elektrisch stimulieren. Doch werden sie selten eingesetzt,
da sie dem tatsächlichen Sehempfinden nicht wirklich
nahekommen.
Obwohl Corderman keine emsige Leserin wissenschaftli-
cher Zeitschriften ist, weiß sie, dass unweit ihres Wohnorts
in einigen Bostoner Laboren mehrere hundert Mäuse
gehalten werden, die eine ähnliche Hörstörung haben wie
sie. Doch den Nagern geht es, im Gegensatz zu ihr, zuneh-
mend besser. Denn Biologen haben mittels Gentherapie
zusätzliche Erbanlagen in die Tiere eingeschleust, welche
die korrekte Bauanleitung für jene Proteine tragen, an
denen es erkrankten Individuen mangelt. 2017 berichteten
die Biologin Gwenaëlle Géléoc vom Boston Children’s
Hospital und ihre Kollegen von einer »beispiellosen Gene-
sung« solcher Mäuse, denen die Wissenschaftler entspre-
chende DNA-Stücke ins Innenohr gespritzt hatten. Die
Behandlung stellte das Hörvermögen der Tiere nahezu
vollständig wieder her. Etwa zeitgleich teilte ein Forscher-
team von der Harvard Medical School mit, es habe eine
ähnliche Gentherapie getestet, allerdings an Mäusen mit
einem anderen angeborenen Gendefekt – und zunächst
eine leichte Verbesserung des Hörvermögens erzielt. Eine
dritte im Bostoner Raum arbeitende Gruppe nutzte kürzlich
Methoden des Genome Editing, um ein mutiertes Gen in
»Beethoven-Mäusen« auszuschalten (die Tiere sind nach
dem Komponisten benannt, der in seinen späteren Jahren
ertaubte). All diese Fortschritte geben Anlass zu der Hoff-
nung, dass genetisch bedingte Hörstörungen – in den USA

14 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Manche jedoch setzten ihre gentherapeutischen
­ rbeiten im Stillen fort, wobei sie sich zunächst auf Zell-
A
und Tierversuche konzentrierten – in der Hoffnung, AUF EINEN BLICK
­Be­handlungsansätze für solch komplexe Erkrankungen DIE TAUBHEIT ÜBERWINDEN
wie Osteo­arthritis, Krebs oder auch Diabetes Typ 1 entwi-
ckeln zu können. Zur Sicherheit reduzierten sie die Dosis
der als Genfähren dienenden Viren, um eine überschießen- 1 Hörschäden gehören zu den häufigsten Geburts­
defekten beim Menschen. In vielen Fällen haben sie
genetische Ursachen.
de Reaktion des Immunsystems zu vermeiden. Zudem
wendeten sie sich von dem Virustyp ab, der bei Gelsinger
benutzt worden war, und experimentierten stattdessen
mit anderen Arten infektiöser Partikel. Dabei zeichnete
2 Die Gentherapie hat ihre Startprobleme überwunden
und verzeichnet auf einigen Bereichen erste Erfolge.
Sie könnte helfen, erbliche Formen der Schwerhörig-
sich eine viel versprechende Alternative zu Adenoviren ab,
keit wie das Usher-Syndrom zu behandeln.
nämlich so genannte Adeno-assoziierte Viren (AAV), die
als Genfähren keine Immunkomplikationen auszulösen
scheinen, da sie menschliche Zellen nicht schädigen (siehe
auch Spektrum März 2019, S. 36). Zudem gelang es besser,
3 Mittels veränderter Viren mit therapeutischen Genen
ist es bereits gelungen, Mäuse von angeborener
­Schwerhörigkeit zu heilen. Jetzt gilt es, die Methode
die Wirkung der viralen Gentransporter auf bestimmte auf menschliche Patienten zu übertragen.
Zellen zu begrenzen. »Es geht darum, die richtigen Genfäh-
ren für die richtige Krankheit und die richtigen Zielzellen zu
finden, sie richtig zu dosieren und zu verstehen, wo im
Körper sie ihre Wirkung entfalten«, sagt Cynthia E. Dunbar, Hörschäden zu den häufigsten Geburtsdefekten beim
die an den National Institutes of Health (NIH) forscht und Menschen; sie betreffen etwa 3 von 1000 Neugeborenen.
bis vor Kurzem Präsidentin der American Society of Gene & Genveränderungen zeichnen für mehr als die Hälfte davon
Cell Therapy war. verantwortlich – einschließlich des Usher-Syndroms. Diese
Krankheit bietet sich als Ziel für Gentherapien besonders
Das Interesse an Gentherapie wächst massiv an, da die Patienten Mutationen in einzelnen Genen tragen,
Die Bemühungen trugen Früchte: Die amerikanische Arz- deren funktionaler Ersatz die Krankheitsursache und damit
neimittelbehörde FDA hat die ersten Gentherapieverfahren auch die Symptome beheben sollte. Bestimmte Typen der
für die Anwendung am Menschen zugelassen. Im August Erkrankung – etwa jener, unter dem Corderman leidet –,
2017 gab sie grünes Licht für Kymriah, ein gentechnisches schreiten relativ langsam fort, was ein Zeitfenster nach der
Verfahren zur Behandlung der akuten lymphatischen Leukä- Diagnose eröffnet, in dem sich die genetisch bedingte
mie, und im selben Jahr genehmigte sie die erste Genthera- Schädigung stoppen lässt. Der zunehmende Funktionsver-
pie für eine seltene Form angeborener Blindheit. Pharma­ lust betrifft unter anderem die Haarsinneszellen im Innen-
unternehmen und Risikokapitalgeber pumpen nun viel Geld ohr, die normalerweise von außen eintreffende Schallwellen
in dieses Forschungsgebiet, wie Dunbar berichtet. An der in Nervensignale umwandeln, welche sie ans Gehirn weiter-
Jahrestagung der American Society of Gene & Cell Therapy leiten. Bei Corderman und anderen vom Usher-­Syndrom
hätten 2018 etwa 3400 Personen teilgenommen; fünf Jahre Betroffenen sorgen defekte Gene dafür, dass die Haarsin-
zuvor waren es lediglich 1200 gewesen. neszellen nicht mehr richtig funktionieren.
Das neu erweckte Interesse an der Gentherapie wendet Jene Zellen gentherapeutisch zu behandeln, bietet die
sich auch der Behandlung von vererbten Hörstörungen zu. Chance, die Krankheit an der Wurzel zu bekämpfen, statt
Viele meinen, zunehmende Taubheit habe vor allem mit mit Hightech-Hörgeräten die Symptome zu lindern. Die
dem Älterwerden oder mit Unfällen zu tun, doch gehören jüngst in Tierversuchen erzielten Erfolge seien »sehr beein-
druckende und viel versprechende erste Schritte«, wie
Theodore Friedmann meint, ein Kinderarzt und Genthera-
pie-Forschungskoordinator an der University of California,
San Diego, der an diesen Arbeiten nicht beteiligt war. Nun

Das Usher-Syndrom
müsse das Verfahren aber noch erfolgreich auf den Men-
schen übertragen werden.
Wie ein solcher Tierversuch abläuft, konnte ich 2016 in
­bietet sich besonders einem Labor der Harvard University beobachten. Ich
­schaute dort Bence Gyorgy über die Schulter, der in der
gut für eine Gentherapie Abteilung für Neuro­biologie mit Mäusen experimentierte,
die mit schadhaften Haarsinneszellen gezüchtet wurden;

an, da ihm ­Mutationen ihre Gene wiesen ähnliche Defekte auf wie die von Usher-
Syndrom-Patienten. Gyorgy beugte sich über ein solches

in einzelnen Genen zu Tier, das narkotisiert worden war, und machte einen winzi-
gen Einschnitt hinter dessen Ohr. Von da aus schob er eine

Grunde liegen feine Kanüle durch verschiedene Gewebeschichten bis zu


einem winzigen Bereich im Mittelohr, der als Rundfenster-

Spektrum der Wissenschaft  7.19 15


membran bezeichnet wird und einen Zugang zum Innenohr Fachartikel, ein entsprechend modifizierter AAV-Typ in
ermöglicht. Dort hinein injizierte der Forscher eine blass­ Mäusen mit angeborener Taubheit habe funktionstüchtige
rosa Lösung mit etwa 200 Milliarden AAV-Partikeln. Alle Haarsinneszellen hervorgebracht. Andere Forschergruppen
davon enthielten eine intakte Form jenes Gens, das in der teilten mit, sie hätten AAV in die inneren Haarsinneszellen
Maus mutiert vorlag und ihren Hörschaden verursachte. von älteren Labormäusen eingebracht, deren Ohren mehr
Der Eingriff führte dazu, dass die AAV die Haarsinneszel- denen von kleinen Kindern ähneln.
len im Innenohr infizierten und dabei ihre Genfracht in diese
einschleusten. Wie die Wissenschaftler mittlerweile wis- Verdächtige Gene
sen, können sie nicht jeden AAV-Typ hierfür einsetzen. Das war aber nur eine Teilstrecke auf dem Weg dahin,
Manche Viren bringen ihre Genfracht nur in die inneren Hörschäden erfolgreich zu behandeln. Hinzukommen muss-
Haarsinneszellen ein, die mit Nervenzellen kommunizieren – te noch, jene Mutationen zu finden, die zur Ausprägung
aber nicht ausreichend in die äußeren Haarsinneszellen, die defekter Haarsinneszellen führen. Schon in den 1990er
das einlaufende Schallsignal zunächst verstärken. Um das Jahren hatten Wissenschaftler damit begonnen, indem sie
Hörvermögen möglichst vollständig wiederherzustellen, Familien identifizierten, in denen die typischen Hör- und
muss die Genfähre beide Zelltypen infizieren, betont der Sehstörungen des Usher-Syndroms auftraten, und deren
Neurobiologe David Corey von der Harvard University, ein Genome miteinander verglichen. Dabei fielen mehrere Gene
Kollege Gyorgys, der ebenfalls entsprechende Versuche an auf, die an der Entwicklung sowohl der Ohren als auch der
Mäusen durchgeführt hat. Augen beteiligt zu sein schienen und als mögliche Orte
Mittels Versuch und Irrtum sowie gezielten Umstruktu- krank machender Mutationen besonders verdächtig waren.
rierungen des viralen Genoms isolierten die Forscher einige Forscher züchteten daraufhin Mäuse mit oder ohne Muta­
AAV-Typen, die beide Haarsinneszellsorten im Innenohr als tionen in den entsprechenden Erbanlagen und beobachte-
Ziel erkennen. Die Wissenschaftler veränderten bestimmte ten, welche Tiere die Krankheitssymptome aufwiesen. Es
Proteine der äußeren Virushülle und erhielten so Moleküle, zeigte sich, dass Modifikationen des Gens USH2A hinter
die an die Oberfläche beider Zelltypen andocken und dem dem allmählich fortschreitenden Erkrankungstyp stecken,
Virus somit das Eindringen in sie ermöglichen. Gwenaëlle an dem Corderman leidet; die nichtmutierte Version dieser
Géléoc und ihre Mitarbeiter berichteten 2017 in einem Erbanlage bringt gesunde Haarsinneszellen hervor. An dem

Wiederherstellung
des Hörsinns
Akustische Signale laufen über das
äußere Ohr und das Mittelohr ins Innen-
ohr ein, wo Haarsinneszellen sie in
Nerven­signale umwandeln und ans
Gehirn weiterleiten. Sind bestimmte Gene
in diesen Zellen mutiert, bringen sie
defekte Proteine hervor, was zu einem
1.
Wissenschaftler
Funktionsverlust der Zellen und somit zu stellen intakte
Hörschäden führt. Forscher haben nun Versionen jener

EMILY COOPER / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2018; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
einen gentherapeutischen Ansatz ent­ Gene her, die bei
angeborenen
wickelt, um die mutierten Gene durch
Adeno-assoziiertes intaktes Hörschäden wie
intakte zu ersetzen. Sie bringen die Virus (AAV) Gen dem Usher-Syn-
korrekten Erbanlagen in veränderte drom mutiert sind.
Adeno-assoziierte Viren (AAV) ein und Zudem züchten sie
Adeno-assoziierte
spritzen diese dann ins Innenohr. Dort Viren (AAV) heran.
befallen die infektiösen Partikel die Haar-
sinneszellen und laden ihre genetische
Fracht darin ab. Das führte in Versuchen
mit Mäusen dazu, dass taube Tiere ihr 2.
Hörvermögen wiedererlangten. Falls das Die Forscher entfernen
auch beim Menschen funktionieren sollte, viruseigene DNA aus dem
ließen sich damit folgenreiche Geburts- Erbgut der AAV und
ersetzen sie durch die
defekte wohl an der genetischen Wurzel
künstlich erzeugten Gene.
packen.

16 Spektrum der Wissenschaft  7.19


schwersten und sich am schnellsten ausprägenden Usher- Erbanlagen aus dem Genom des Virus, die mit seinem
Syndrom vom Typ 1 sind Mutationen in fünf verschiedenen Fortpflanzungszyklus zu tun haben, und ersetzten sie durch
Genen beteiligt, darunter der Erbanlage USH1C, die für das intakte Versionen des Gens USH1C. Zudem führten sie
Protein Harmonin codiert. einen so genannten Promotor ein – eine DNA-Sequenz, die
In den zurückliegenden Jahren hat das Team um dafür sorgt, dass USH1C in den Haarsinneszellen abgelesen
Gwenaëlle Géléoc all diese Puzzleteile zusammengefügt. wird. Als die Forscher das Genkonstrukt mit Hilfe des Virus
Sie und ihr Ehemann, der HNO-Arzt Jeffrey Holt, produzier- in die Zellen eingeschleusten, produzierten diese in großer
ten zusammen mit weiteren Forschern eine AAV-Variante Menge intakte Harmoninmoleküle, so dass sie ihre norma-
mit maßgeschneiderter Virushülle. Sie entfernten mehrere len Zellfunktionen wieder ausüben konnten. Die Haarsin-

äußere
Haarsinneszelle

äußeres Ohr

Innenohr
Mittelohr

3. innere
Die Viren mitsamt Haarsinneszelle
ihrer Genfracht
werden ins Innenohr
des Patienten
gespritzt.
repariertes
Bündel von
Bündel von Haarsinnes- Haarsinneszellen
zellen, das auf Grund
mutierter Gene nicht

4. richtig ausgebildet ist


EMILY COOPER / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2018; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Dort infizieren
die AAV sowohl
innere als auch
äußere Haar­
sinneszellen
und laden ihre intaktes
Genfracht in Gen
diesen ab. mutiertes
Gen
defekte
Haarsinneszellen
Proteine

5. intaktes
Das Einbringen der intakten Genversionen versetzt die Zellen (wieder) in die Lage, Gen funktionierende
ihre Funktion im Innenohr auszuüben. Für einen unbeeinträchtigten Hörsinn sind Haarsinneszellen
beide Zelltypen erforderlich: sowohl innere als auch äußere Haarsinneszellen.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 17


ETHAN HILL (ETHANHILL.COM)
Gwenaëlle Géléoc und Jeffrey Holt forschen am tale oder vertikale Beschleunigungen des Körpers und
Boston Children’s Hospital. Sie verabreichen wirken entscheidend am Gleichgewichts- und Orientie-
­Mäusen mit an­geborenen Innenohrschäden rungssinn mit. Mäuse mit geschädigten Haarsinneszellen,
speziell veränderte Viren, deren Erbgut ein thera- wie sie bei verschiedenen Formen des Usher-Syndroms
peutisches Gen enthält. Die Behandlung gibt auftreten, zeigen oft Bewegungsstörungen und tun sich
den Tieren ihr Hörvermögen und ihren Gleich­ schwer damit, ihre Position im Raum zu erkennen. Statt im
gewichts- sowie Orientierungssinn zurück. Käfig herumzuschnüffeln, kauern sie sich in eine Ecke. Und
im Gegensatz zu ihren gesunden Artgenossen, die gebore-
ne Schwimmer sind, paddeln sie im Wasser panisch umher
neszellen stellten zwar weiterhin auch defekte Harmonin­ und versuchen festzustellen, wo »oben« ist. (Die Forscher
varianten her, da ihr Genom ja nach wie vor das mutierte nehmen die Tiere rechtzeitig heraus, bevor diese unter zu
USH1C enthielt, dies schadete aber nicht. großen Stress geraten.) Wenn die Gentherapie tatsächlich
Auf Basis dieser Methode haben die Forscher am Boston die Funktion der Haarsinneszellen wiederherstellt, sollten
Children’s Hospital dann Mäuse behandelt, die unter Hör- damit auch jene Symptome verschwinden.
schäden ähnlich jenen der menschlichen Usher-Syndrom- Als ich direkt nach meinem Besuch an der Harvard
Patienten litten. Sie brachten die modifizierten Viren mit University das Labor von Géléoc und Holt aufsuchte, sah
einem chirurgischen Eingriff, wie ich ihn bei Gyorgy beob- ich mit Gentherapie behandelte Mäuse, die sich erstaun-
achtet hatte, in die Tiere ein. In den ersten beiden Wochen lich normal verhielten. Tiere, die dem Eingriff zwei Monate
infizierten die Viren nur einige wenige Haarsinneszellen im zuvor unterzogen worden waren, legten im Wasser prak-
Innenohr der Nager; doch nach sechs Wochen hatten sie tisch dasselbe Verhalten an den Tag wie ihre gesunden
rund 80 Prozent von diesen befallen. Das Wichtigste jedoch Artgenossen und standen diesen selbst hinsichtlich des
war, dass die so behandelten Mäuse wieder auf Geräusche Orientierungssinns in nichts nach. Es war verblüffend, wie
reagierten. Wurden sie einem plötzlichen Alarmton ausge- wenig sich die beiden Gruppen voneinander unterschieden.
setzt, flüchteten viele, die es zuvor nicht getan hatten – die Trotz all dieser Erfolge bleiben noch große Schwierigkei-
einst tauben Nager konnten wieder hören. Haarsinneszellen ten zu lösen, bis es möglich sein wird, auch menschliche
üben freilich noch eine weitere wichtige Funktion im Körper Usher-Patienten mit maßgeschneiderten AAV zu behan-
aus: Sie reagieren auf Drehbewegungen sowie auf horizon- deln. Eines der Probleme lautet, dass die derzeit verwende-

18 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Die mit Gentherapie Mutter und die vom Vater geerbte) defekt sind. Falls es
gelingt, eine davon herauszuschneiden und gegen eine

­behandelten Mäuse
intakte auszutauschen, sollte das den weiteren Fortschritt
der Erkrankung verhindern.
Bislang ist das leider noch niemandem geglückt; die
­legten quasi ­dasselbe CRISPR-Cas-Technik scheint sich eher zum Heraus­
schneiden von DNA-Abschnitten als zu ihrem Einbau zu
Verhalten an den Tag eignen. Aus diesem Grund beschränkt sich die Anwen-
dung des Genome-Editing-Verfahrens derzeit auf Mäuse

wie ihre ­gesunden mit einer seltenen Form des Hörschadens, bei dem ­
lediglich eine Genkopie defekt ist statt beider. Wenn die

­Artgenossen prob­lematische Kopie ausgeschaltet wird, kann die ver­


bleibende gesunde ihre Arbeit fortsetzen und für eine
korrekte Z ­ ellfunktion sorgen – ein Ansatz, der bei den
Beethoven-­Mäusen gut funktioniert. Allerdings ist mittler-
weile b ­ ekannt, dass CRISPR-Cas unerwünschte DNA-
Verän­derungen herbeiführen kann. Momentan hält so gut
ten Viren zu klein sind. Ihre Größe genügt zwar, um Gene wie niemand die Methode für ausgereift genug, um am
zur Korrektur des Usher-Syndroms Typ 1C einzubringen; an ­Menschen eingesetzt zu werden. Noch scheint es in der
dieser Variante litten die Mäuse, die in den Studien so gut Gentherapie keine wirkliche Alternative zu viralen Fähren
auf die Gentherapie ansprachen. Aber bei vielen anderen zu geben.
Untertypen des Usher-Syndroms wirken weit größere Doch egal, welches Vehikel die therapeutischen Gene
Gene am Krankheitsgeschehen mit. An Cordermans Er- am Ende in den Organismus transportiert: Es wird wenig
krankungsform beispielsweise ist eine Erbanlage beteiligt, helfen, solange sich die Diagnose erblicher Hörschäden bei
für die in dem kleinen Genom der AAV schlicht zu wenig Kleinkindern nicht deutlich verbessert – denn die Betroffe-
Platz ist. nen profitieren am meisten von frühen Interventionen. In
den USA werden zwar die meisten Neugeborenen auf ihre
Zerlegt und wieder zusammengefügt Hörfunktionen hin untersucht, aber die Ärzte stellen dabei
Eine mögliche Lösung wäre, umfangreiche Gene in mehrere selten eine spezifische Erkrankung fest, geschweige denn
Stücke zu zerschneiden, die dann mittels verschiedener deren genetische Ursache. Das trifft auch auf Corderman
Genfähren verabreicht würden. Jedes dieser Stücke müsste zu: Erst in ihrer Highschool-Zeit kam heraus, an welcher
Enden aufweisen, die sich ganz spezifisch nur mit bestimm- Erbkrankheit sie leidet. Das muss sich ändern, damit die
ten anderen Enden zusammenlagern, so dass die verschie- betroffenen Kinder rechtzeitig behandelt werden können.
denen Genfragmente am Zielort zum gewünschten Konst- Hannah Corderman wartet nicht darauf, dass das rasant
rukt zusammenkämen. Die defekte Erbanlage bei Corder- wachsende Interesse an der Gentherapie in Form von
mans Usher-Typ etwa ist so lang, dass sie in drei Teile Behandlungsverfahren bei ihr ankommt. Sie hat ihre Ausbil-
zerschnitten werden müsste. Damit die Gentherapie zum dung abgeschlossen, arbeitet in der Marketing-Abteilung
Erfolg führt, müssten die drei viralen Genfähren mit jeweils des Bauunternehmens ihrer Familie und ist entschlossen,
einem dieser Abschnitte allesamt in die Haarsinneszellen ihr Leben in vollen Zügen zu genießen, solange dies noch
des Innenohrs gelangen und ihre Fracht darin abladen, so möglich ist. So hat sie mehrere Reisen zu den Polarlichtern
dass die Genfragmente dort zueinanderfinden und sich gebucht: »Seit mir bewusst ist, dass ich nicht mehr sehr viel
korrekt verbinden. Die hochspezifische Paarung der Zeit hierfür habe, hat sich meine Einstellung zum Leben
Nuklein­basen ermöglicht dies zwar – normalerweise lagern komplett verändert.« Corderman engagiert sich für andere
sich nur DNA-Stränge mit komplementärer Basensequenz Patienten und ermutigt diese dazu, ihr Leben in die Hand zu
zusammen –, doch die Methode ist kompliziert und damit nehmen und sich von der Krankheit nicht ausbremsen zu
störanfällig. lassen. Der Verlust des Gehörs bedeutet für sie nicht, sich
Eine weitere Option lautet, größere Viren zu verwenden, in die Stille zurückzuziehen. 
die nicht zu den AAV gehören, und diese so zu verändern,
dass sie keine umfassende Immunreaktion provozieren.
Man könnte auch komplett auf Viren verzichten und statt- QUELLEN
dessen versuchen, das Genmaterial mit Hilfe von Nano­
György, B. et al.: Rescue of hearing by gene delivery to inner-
partikeln einzubringen, also mit winzigen künstlichen ear hair cells using exosome-associated AAV. Molecular Thera-
Körnchen, die Zellmembranen durchdringen können. Meh- py 25, 2017
rere Forscher, darunter Géléoc und Holt, untersuchen Pan, B. et al.: Gene therapy restores auditory and vestibular
zudem, ob sich das schadhafte Gen mittels der Genome- function in a mouse model of Usher syndrome type 1c. Nature
Editing-­Methode CRISPR-Cas entfernen und durch eine Biotechnology 35, 2017
­korrigierte Version seiner selbst ersetzen lässt. Das Usher- Suzuki, J.: Cochlear gene therapy with ancestral AAV in adult
Syndrom ist eine rezessiv vererbte Erkrankung, die sich nur mice: complete transduction of inner hair cells without cochlear
dann ausprägt, wenn beide Kopien des Gens (die von der dysfunction. Scientific Reports 7, 2017

Spektrum der Wissenschaft  7.19 19


GENTHERAPIE
BESSERE VERPACKUNG
FÜR DNA-PAKETE
Künstlich veränderte Viren sollen helfen, Gen­material
in bestimmte Körperzellen einzuschleusen, um so Erb-
krankheiten zu behandeln.

Neil Savage ist Wissenschafts- und


Technologiejournalist. Er lebt in Lowell,
Massachusetts.

 spektrum.de/artikel/1647834


Luk Vandenberghe geht zu einem Regal hinüber und Vandenberghe ist Bio­
greift nach zwei faustgroßen Objekten. Eines davon ist ingenieur und leitet das
ein Ikosaeder, das aussieht wie ein besonders kompli- Grousbeck Gene Therapy
zierter magischer Würfel mit 20 Flächen statt der üblichen Center am »Massachu-
sechs. Bei dem anderen Objekt handelt es sich um eine setts Eye and Ear«-Kran-
cremefarbene Knolle aus Hartplastik, hergestellt von einem kenhaus in Boston. Er
3-D-Drucker, deren Oberfläche übersät ist mit Beulen, untersucht, wie die
Vertiefungen und insgesamt 20 Dreiergruppen pyramiden- winzigen Strukturen auf der
ähnlicher Gebilde. Beide Objekte stellen Modelle eines Oberfläche der Viren deren
Adeno-assoziierten Virus (AAV) dar. Diese infektiösen biologisches Verhalten prägen,
Partikel lassen sich als Genfähren einsetzen, um Erbanlagen und möchte die Partikel gezielt
in Körperzellen einzuschleusen. verändern, um sie zu besseren
Genfähren zu machen – jedoch
ohne ihre Ikosaederstruktur (oder, in der
Analogie, das Farbmuster des magischen Würfels) allzu
AUF EINEN BLICK sehr abzuwandeln. Vandenberghe promovierte 2007 an der
AUF DIE HÜLLE KOMMT ES AN Katholischen Universität Löwen in Belgien über die Struktur
der AAV-Viruspartikel und wurde später an der Harvard

1 In der Gentherapie dienen häufig Adeno-assoziierte University in Cambridge, Massachusetts, zum außerordent-
ERIC ZINN / VANDENBERGHE LAB, HARVARD UNIVERSITY

Viren (AAV) dazu, genetisches Material gezielt in Zellen lichen Professor berufen. Mittels Computermodellen und
einzuschleusen. experimenteller DNA-Synthese versucht er, die Anwendung
von AAV in der Gentherapie zu optimieren.

2 Forscher verändern die Proteinhüllen der Viren, um


diesen Vorgang effizienter zu machen, und optimieren
so die Genfähre.
Infizieren, ohne krank zu machen
Natürlich vorkommende AAV sind die Arbeitstiere der
modernen Gentherapie. Sie infizieren menschliche Zellen,
3 Solche abgewandelten AAV scheinen gut geeignet zu
sein, um Gendefekte zu behandeln, die zu Taub- und
Blindheit führen. Eine neu gegründete Firma soll helfen,
ohne diese krank zu machen, und existieren in zahlreichen
Varianten, die jeweils unterschiedliche Zelltypen befallen.
entsprechende Therapien auf den Markt zu bringen. Um modifizierte Erbanlagen in bestimmte Körperzellen zu
bringen, ist es sehr wichtig, den passen­den Virustyp zu
verwenden. Bisher haben Vandenberghe und seine Kolle-

20 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Modellhafte Darstellung der Hülle eines
Adeno-assoziierten Virus (AAV). Forscher
haben 75 AAV-Varianten miteinander
­verglichen und daraus rekonstruiert, aus
welchen gemeinsamen Vorfahren diese
entstanden sind. Der älteste der hypo­
thetischen Ahnen erwies sich als außer­
ordentlich leistungsfähige Genfähre.

ten die Wissenschaftler zu lösen. Da es sich um infektiöse


Partikel handelt, die in der natürlichen Umwelt auftreten, ha-
ben viele Menschen eine Immunität dagegen entwickelt.
Deshalb sind Therapieverfahren, die auf dem Einsatz von
AAV basieren, bei etlichen Patienten zum Scheitern verur-
teilt. Schätzungen zufolge sind zwischen 20 und 90 Prozent
der Menschen gegen solche Viren immun. Die große
Spannbreite dieser Angabe resultiert zum Teil aus regiona-
len Besonderheiten; so kommen AAV in Afrika viel häufiger
ERIC ZINN / VANDENBERGHE LAB, HARVARD UNIVERSITY

vor als in den USA.


Bioingenieure sind überzeugt davon, dass sich die Eigen-
schaften der AAV optimieren lassen, indem man deren
Proteinhülle (das so genannte Kapsid) verändert. Denn
gen mehr als 140 natürlich vorkommende Varianten des Unterschiede in der Kapsidstruktur führen unter anderem
Virus gefunden. Nun möchten sie die infektiösen Partikel dazu, dass einige natürlich auftretende Virusvarianten
subtil abändern, so dass diese das jeweilige Zielgewebe im menschliche Leberzellen bis zu 100-mal effizienter infizieren
Organismus effektiver erreichen und dort möglichst selek- als andere. »Leider wissen wir noch nicht genau, welche
tiv nur die gewünschten Zellen infizieren. Merkmale der Hülle diese starke Spezifität bedingen«, sagt
In den zurückliegenden beiden Jahrzehnten lautete das Vandenberghe. Ebenso ist noch zu wenig darüber bekannt,
vordringliche Ziel der AAV-Forschung, Behandlungsmetho- wie eine Abänderung in einem Teil des Kapsids dessen
den zu entwickeln, die eine niedrige Dosierung der Viren Struktur in einem anderen Teil beeinflusst – um in der
erlauben und ausschließlich im jeweiligen Zielgewebe Analogie zu bleiben: wie das Wegdrehen bestimmter Farb-
wirken. Auch ein anderes grundlegendes Problem versuch- flächen auf der Vorderseite des magischen Würfels auch

Spektrum der Wissenschaft  7.19 21


auf dessen Rückwand neue Farbflächen erscheinen lässt. säuresequenz«, beschreibt Kelsic. Per maschinellem
»Solche Probleme zu lösen, ist schon bei einem handelsüb- Lernen bringt er Computer dazu, die Auswirkungen vor-
lichen magischen Würfel nicht trivial«, sagt Vandenberghe, herzusagen, wenn einzelne Aminosäuren-Austausche
»und erst recht nicht bei einem mikroskopisch kleinen miteinander kombiniert werden. Sequenzen, die sich dabei
Ikosaeder.« als viel versprechend erweisen, stellt er anschließend im
Um mehr darüber zu erfahren, wie Struktur und Funktion Labor her und testet sie an Mäusen oder nichtmenschli-
des Viruskapsids miteinander zusammenhängen, beschlos- chen Primaten.
sen der Forscher und sein Team, die Evolution der AAV zu Kelsic zeigt sich überzeugt davon, dass ein effizienteres
rekonstruieren. Im Jahr 2015 speisten sie die Aminosäure- Einschleusen von genetischem Material zu besseren
sequenzen der Proteine von 75 AAV-Varianten, die aus Therapien führen wird – auch wenn es um Zielgewebe wie
menschlichen und tierischen Körpergeweben isoliert wor- das Gehirn geht, das sich mit AAV bereits heute recht gut
den waren, in ein Computerprogramm ein, das Evolutions- erreichen lässt. Seiner Meinung nach liegt eine besonders
prozesse simuliert. Der Algorithmus errechnete daraus die große Herausforderung darin, Genfähren für Organe wie
Sequenzen von neun möglichen Vorfahren der heutigen die Lunge und die Nieren zu finden, die derzeit schwer zu
AAV. Den ältesten dieser hypothetischen Ahnen bezeichne- behandeln sind.
ten die Forscher als Anc80. Vandenberghe betont, dass die Gegen Erblindung ist bisher ist nur eine einzige Gen­
tatsächlichen Vorläufer der heutigen Viren möglicherweise therapie verfügbar. Ende 2017 erteilte die US-amerika­
anders aussahen als von der Simulation vorgeschlagen. nische Arzneimittelbehörde FDA dem Therapeutikum
Doch darum gehe es gar nicht. »Wichtig war nur, dass Voretigen Neparvovec die Zulassung; es dient zum Behan-
unser Ansatz mögliche Wege aufzeigte, wie wir die Kapsid- deln von Netzhauterkrankungen infolge einer Mutation
struktur variieren konnten.« im Gen RPE65. Diese Erbanlage enthält den Bauplan für
ein wichtiges Protein der Netzhaut. Laut Studien ist Voreti-
Künstlich erzeugte Viren lassen kaum eine gen Neparvovec nachweislich wirksam, und Sehbeein-
­Haarsinneszelle aus trächtigungen lassen sich mittels Gentherapie erfolgreich
Das Team stellte die errechneten Vorläuferviren anschlie- behandeln. Allerdings gibt es mindestens 200 weitere
ßend tatsächlich her und experimentierte mit ihnen. Dabei Erbanlagen, die in mutierter Form angeborene Augener-
erwies sich Anc80 als besonders interessant. Als die For- krankungen verursachen können. Wie Vandenberghe
scher dieses Virus auf Mäuse übertrugen, infizierte es anmerkt, zeigt die Pharmaindustrie bislang wenig Interes-
sämtliche inneren und fast alle äußeren Haarsinneszellen se daran, spezifische Verfahren für diese Gendefekte zu
des Innenohrs, was zuvor bei keinem anderen AAV beob- entwickeln.
achtet worden war. Im Jahr 2017 setzten Vandenberghe Ein neues Medikament zu finden und in klinischen
und seine Kollegen das Anc80-Virus ein, um bei Labormäu- Studien zu prüfen, kann viele Millionen Dollar kosten.
sen einen angeborenen Gendefekt zu behandeln, der bei Therapien für sehr seltene Erkrankungen zur Marktreife zu
menschlichen Patienten zum Usher-Syndrom mit Taub- und bringen, ist für ein Pharmaunternehmen daher wirtschaft-
Blindheit führt (siehe »Gentherapie gegen Hörschäden« ab lich kaum von Interesse. Dies gilt vor allem im Bereich der
S. 12). Die Forscher waren von den Möglichkeiten ihrer Gentherapie, weil sich die Patienten hier oft mit einer
neuen Genfähre begeistert und gründeten in Boston das einzigen Dosis genetischen Materials erfolgreich behan-
Unternehmen Akouos, um Therapien für Menschen mit deln lassen, statt lebenslang Medikamente einnehmen zu
genetisch bedingtem Hörverlust zu entwickeln. müssen. Da die Netzhaut zudem ein kleines Organ ist,
Verschiedene weitere Firmen setzen Anc80 ebenfalls als fallen die bei erblichen Augenerkrankungen erforderlichen
Genfähre ein und entwickeln Behandlungsmethoden damit, Mengen an Gentherapeutika winzig aus. Eine einzige
darunter Selecta Biosciences in Watertown (Massachu- Produktionscharge eines solches Arzneistoffs könnte
setts), Vivet Therapeutics in Paris und Lonza in Basel. genügen, um sämtliche in den USA lebenden Patienten zu
Schon 2011, noch vor den Arbeiten mit Anc80, hatte Van- therapieren.
denberghe in Paris die Firma GenSight Biologics mit ge-
gründet, um Therapien für seltene erbliche Netzhauterkran- Behandlungsverfahren für sehr seltene Genschäden
kungen zu entwickeln. Zurzeit betreibt GenSight Biologics Mit einer Anfang 2018 gegründeten Firma geht Vanden-
klinische Studien mit zwei einschlägigen Arzneistoffen. berghe nun einen anderen Weg: Odylia Therapeutics soll
Bessere Genfähren zu entwickeln, sei der Schlüssel nicht gewinnorientiert sein und Therapien für äußerst
dazu, die Gentherapie voranzutreiben. Das betont Eric seltene angeborene Gendefekte entwickeln, die zur Erblin-
Kelsic, Systembiologe an der Harvard University. Kelsic dung führen und in den USA höchstens 3000 Menschen
sucht nach Wegen, Kapside von Viren gezielt zu verändern betreffen. Das Unternehmen wird finanziell unterstützt
und an bestimmte Anforderungen anzupassen. In Compu- vom Massachusetts-Eye-and-Ear-Krankenhaus und von
tersimulationen tauscht er systematisch jede Aminosäure in der Usher 2020 Foundation, einer gemeinnützigen Stif-
der Proteinsequenz eines AAV gegen jede einzelne der tung, die Initiativen fördert, um Sehverluste infolge des
übrigen 19 Aminosäuren aus, die als Proteinbausteine Usher-Syndroms zu behandeln. Einer der Stiftungsgrün-
dienen – und beobachtet jeweils, wie sich das auf die der, Scott Dorfman, hat zwei Kinder, die am Usher-Syn-
Kapsidstruktur auswirkt. »Auf diese Weise ermitteln wir die drom erkrankt sind, und ist Geschäftsführer von Odylia
Effekte sämtlicher möglicher Veränderungen in der Amino- Therapeutics.

22 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Zum Konzept der Firma gehört es, Kosten zu reduzieren, die es keine zufrieden stellende anderweitige Behandlung
indem Kooperationspartner, die an ähnlichen Arzneistoffen gibt. In diesem Fall gäbe es keine klinische Studie der Phase
arbeiten, Ressourcen und Expertise teilen. Wenn ein und III, die einen signifikanten Wirksamkeitsnachweis zwecks
dieselbe Forschergruppe die Arzneimittel entwickle, die Marktzulassung erbringt, beziehungsweise die meisten
klinischen Studien plane und die Materialien dafür produzie- Patienten würden als Teilnehmer einer zeitlich nicht be-
re, ließe sich viel doppelter Aufwand vermeiden, hofft Van- grenzten Studie angesehen.
denberghe. Auch baut er darauf, dass Odylia Therapeutics Sollten diese Strategien erfolgreich sein, könnten sie auf
nach der Entwicklung von zwei oder drei erfolgreichen The- andere seltene Erbkrankheiten ausgedehnt werden, denen
rapien genügend Daten für die FDA bereitstellen kann, um ein einzelnes defektes Gen zu Grunde liegt. Womöglich
die Behörde davon zu überzeugen, dass es viele Ähnlichkei- liefern sie sogar Erkenntnisse, die dazu beitragen, Genthera-
ten zwischen den Arzneistoffen gibt und sich daher aus pien für häufigere Erkrankungen zu entwickeln. »Vielleicht
Erfahrungen mit dem einen Mittel auf die Sicherheit und erkennt die Industrie irgendwann an, dass es in diesem
Effizienz eines anderen schließen lässt. Denkbar erscheint Bereich nicht so sehr mit Wettbewerb vorangeht, sondern
auch, dass Odylia Therapeutics die Entwicklung eines Medi- eher mit Kooperation«, hofft Vandenberghe. 
kaments so weit vorantreibt, dass ein gewinnorientiertes
Pharmaunternehmen es kauft und zur Marktreife bringt. Das QUELLEN
würde die Kosten und Risiken auf Seiten der Pharmafirma Gao, G. et al.: Clades of adeno-associated viruses are widely
reduzieren und Odylia Therapeutics Einnahmen verschaffen. disseminated in human tissues. Journal of Virology 78, 2004
Falls Odylia Therapeutics selbst einen Arzneistoff auf den
Pan, B. et al.: Gene therapy restores auditory and vestibular
Markt brächte, dann wohl zum Selbstkostenpreis, wie function in a mouse model of Usher syndrome type 1c. Nature
Vandenberghe darlegt. Die Therapie werde dann vermutlich Biotechnology 35, 2017
immer noch teuer sein, aber nicht so kostspielig, wie wenn
Zinn, E. et al.: In silico reconstruction of the viral evolutionary
sie auf dem üblichen Weg entwickelt worden wäre. Es lineage yields a potent gene therapy vector. Cell Reports 12, 2015
besteht außerdem die Möglichkeit, dass ein Arzneimittel-
kandidat die klinischen Studien der Phasen I und II erfolg-
reich absolviert und die FDA anschließend einem »compas- © Springer Nature Limited
sionate use« zustimmt, also dem Einsatz des noch nicht www.nature.com
zugelassenen Stoffs bei schweren Krankheitsverläufen, für Nature 564, S. S18–S19, 2018

Veranstaltungen des Verlags


Spektrum der Wissenschaft
13. September 2019
Offenbach

TASTING UND VORTRAG

Die Wissenschaft vom Whisky


Whisky ist ein komplexes Getränk – er überspannt das gesamte
Spektrum von fruchtigen Noten bis zu herben Raucharomen.
Doch welche Stoffe erzeugen Geruch und Geschmack der verschiedenen
Whiskys, und wie kommen sie ins Glas? Der Chemiker und Journalist
Lars Fischer erklärt die molekularen Hintergründe des schottischen
Nationalgetränks und beantwortet nebenbei auch die alte Streitfrage:
mit Wasser – ja oder nein?
Peter Reichard, Inhaber von »Die Genussverstärker« und Whisky-Experte,
hat sechs genussvolle schottische Whiskys für das Tasting ausgesucht
und berichtet zu den Brennereien und zu den Whiskys selbst.

Infos und Anmeldung:

Spektrum.de/live
A_NAMENKO / GET T Y IMAGES / ISTOCK
FORSCHUNG AKTUELL

CALLAO CAVE ARCHAEOLOGY PROJECT


PALÄOANTHROPOLOGIE
EIN NEUER MENSCH
Unsere Gattung bekommt einen weiteren Verwandten: Der zwergenhafte
Homo luzonensis lebte vor etwa 70 000 Jahren auf einer philippinischen Insel.


Seit vielen Millionen Jahren gilt: stellter Fund aus der Provinz Kalinga vielen Jahrhunderttausenden auf die
Wer nach Luzon will, muss das zeigte. Insel kam und hier einen eigenen
Meer überqueren. Auch in Zeiten, Ein Anhaltspunkt, wer dieser Je- Entwicklungspfad einschlug: Homo
als der Meeresspiegel weit mehr als mand gewesen könnte, war bereits luzonensis.
100 Meter tiefer lag als heute, trennte 2007 aufgetaucht, als der Archäologe Diesen Schluss zieht das Team um
eine Wasserstraße die größte der Armand Salvador Mijares von der Florent Détroit vom Muséum national
philippinischen Inseln vom asiatischen Universität der Philippinen in Quezon- d’histoire naturelle in Paris, das nun
Festland. Eine sich weitgehend isoliert Stadt mit seinem Team in der Callao- einen ganzen Schwung neuer Funde
entwickelnde Tier- und Pflanzenwelt Höhle auf einen merkwürdig kleinen präsentiert. Zu dem bereits entdeckten
gibt Zeugnis davon: Kaum eine Art Fußknochen stieß. Dieser hätte mit Fußknochen gesellen sich insgesamt
kam auf die Insel, kaum eine Art kam einem Alter von 67 000 Jahren theo­ zwölf weitere Skelettteile aus der
von ihr herunter. retisch zu einem modernen Homo Callao-Höhle, darunter Fuß- und
Zu den wenigen Ausnahmen zählt sapiens gehören können, doch anato- Handknochen, Zähne und ein Ober-
der Mensch. Seit mindestens misch gesehen war das ausgeschlos- schenkel (siehe Bild rechts). Weder
700 000 Jahren ist die Insel anschei- sen. Gehörte er vielleicht einem Nach- DNA-Reste noch Teile des Gesichts
nend bewohnt. Lange bevor sich der fahren jener uralten Nashornmetzger? blieben erhalten. Doch was an Skelett-
moderne Homo sapiens in Afrika Eine mögliche Antwort gibt es jetzt: bestandteilen vorliegt, unterscheidet
entwickelte, hatte jemand auf Luzon Jene mysteriösen Bewohner der Insel sich so grundsätzlich von anderen
ein Nashorn mit Werkzeugen aus Stein Luzon zählten aller Wahrscheinlichkeit frühmenschlichen Überresten, dass
zerlegt, wie ein im Jahr 2018 vorge- nach zu einer Spezies, die vielleicht vor die Forscher überzeugt davon sind, es

24 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de
CALLAO CAVE ARCHAEOLOGY PROJECT

Die Oberkieferzähne von Homo luzonensis (oben) sind wesentlich dann am anderen Ende der Welt bei
kleiner als die von Australopithecus afarensis und Homo sapiens. seinen Nachfahren wieder auftauchen
Wissenschaftler fanden insgesamt 13 Skelettteile in der Callao-Höhle sollten, erscheint wenig glaubwürdig.
(links) auf Luzon, der größten philippinischen Insel. Der Flores-Mensch galt noch als
evolutionäre Rückentwicklung, wie sie
auf isolierten Inseln mitunter vor-
kommt. Dasselbe Argument für eine
mit einer bislang unbekannten Art zu hatte es der anatomisch moderne weitere Spezies anzuführen, die eben-
tun zu haben. Mensch noch nicht bis nach Flores falls aus dem anatomischen Rahmen
Die winzigen Knöchelchen und oder Luzon geschafft. fällt, hieße, den Zufall übermäßig in
Zähnchen erinnern frappierend an das Die Funde passen genauso wenig Anspruch zu nehmen, meint der
Skelett des frei nach John R. R. Tolkien zum Kandidaten, den man nach Lage Anthropologe Matthew Tocheri von
»Hobbit« genannten Homo floresiensis der Dinge als Vorfahren erwarten der Lakehead University im kanadi-
von der indonesischen Insel Flores. sollte: Homo erectus. Seitdem dessen schen Thunder Bay.
Auch diese frühen Menschen waren Fossilien vor mehr als 100 Jahren in All das deutet darauf hin, dass ein
auf ihrem isolierten Eiland vermutlich Asien gefunden wurden – darunter der weiterer früher Vertreter der Gattung
über Jahrhunderttausende ohne »Java-Mensch« sowie der »Peking- Homo aus Afrika in die Welt aufbrach
Kontakt zu anderen Populationen ihre Mensch« – galt als ausgemacht, dass und Asien erreichte. Vielleicht handelt
eigenen evolutionären Wege gegan- es erst dieses aufrecht gehende und es sich sogar um einen unbekannten
gen. Beide erreichten nur rund einen recht passable Werkzeuge herstellen- Spross der Australopithecus-Linie.
Meter Körpergröße und hantierten – de Wesen zu Wege brachte, seinen Deren Nachfahren könnten dann in der
sofern man im Luzon-Menschen den Heimatkontinent Afrika zu verlassen. Abgeschiedenheit der südostasiati-
Urheber des 700 000 Jahre alten Doch die Anatomie von Flores- und schen Inselwelt bis in die jüngste Zeit
Nashornschlachtplatzes sieht – mit Luzon-Mensch verweist auf einen überdauert haben – als Zeitgenossen
schlichten Steinwerkzeugen. Vermut- noch viel urtümlicheren Ursprung. des asiatischen Homo erectus, der
lich war das Gehirn von Homo luzonen­ Viele Merkmale, welche die Forscher Denisovaner und schließlich des
sis nicht wesentlich größer als das um Détroit und Mijares an Homo anatomisch modernen Menschen.
des Flores-Menschen, dessen Hirnvo- luzonensis beobachteten und die man Und natürlich den Vertretern all jener
lumen eher dem eines Schimpansen auch von Homo floresiensis kennt, Populationen, die noch ihrer Entde-
gleicht. erinnern nicht an Homo erectus, son- ckung harren.
dern an die diversen Australopithecus- Jan Dönges ist Redakteur bei »Spek­
Hobbits widersetzen sich jeder Arten, die vor mehreren Millionen trum.de«.
Systematisierung Jahren im Osten und Süden Afrikas
Im anatomischen Detail unterscheiden lebten. Ebenso gibt es Paral­lelen zu QUELLEN
sich die beiden allerdings so deutlich, den robusten vormensch­lichen Par­
Détroit F. et al.: A new species of
dass sie sich nicht als Angehörige anthropus-Arten sowie zum Homo Homo from the late Pleistocene of the
derselben Art auffassen lassen, argu- habilis. Gebogene Hand- und Fuß­ Philippines. Nature 568, 2019
mentieren die Forscher. Wie die bei- knochen legen nahe, dass der neu
Ingicco, T. et al.: Earliest known
den Funde in den Stammbaum des entdeckte Luzon-Mensch sogar noch hominin activity in the Philippines by
Menschen einzugliedern sind, bleibt an das Klettern angepasst gewesen 709 000 years ago. Nature 557, 2018
rätselhaft. Manche Skelettmerkmale sein könnte.
Mijares, S. A.: New evidence for a
passen eher zu Homo sapiens als zu Viele dieser archaischen Merkmale 67,000-year-old human presence at
anderen möglichen Verwandten – was hatte Homo erectus längst verloren, als Callao Cave, Luzon, Philippines. Journal
nicht sein kann, denn zu jener Zeit er aus Afrika auswanderte. Dass sie of Human Evolution 59, 2010

Spektrum der Wissenschaft  7.19 25


FORSCHUNG AKTUELL
MATHEMATIK Random Walk
PRIMPOLYNOME Mit so genannten »Random Walks« untersuchen Mathematiker, ob sich
Polynome in einfachere Bestandteile zerlegen lassen.
Ähnlich wie Zahlen lassen sich
Polynome nicht immer in
einfachere Elemente zerlegen. Random Walk auf einem Zifferblatt
Im Gegensatz zu Primzahlen Eine Person steht auf einem Zifferblatt mit bloß
treten solche »Primpolynome« elf Einträgen und startet auf der Eins.
mit zunehmender Größe im- 0 0 0
mer häufiger auf. 0 10 0 01
10 10 1 10 1 0
10 0 01 0 1010 010 101 1
10 1 9 2
1 10 10 1
9 2
1 10 9
1 2
9 29 9 9 2 2 9 2 9 2 2 9 9 9 2 2 2


Primzahlen sind die Stars der 8 3 8 3 8 3
8 8 3 3 8 8 3 3 8 8 3 3
Mathematik. Jeder hat 8 von ihnen 37 8 4 73 4 8 7 3 4
gehört, unabhängig davon, ob
7 76 54 0 4 7 7
6 54 4 7 7
6 54 4
7 4 6 6 75 1
510 4 6 1056 0 5 1 7 6104 50
6 1 5
man sich in diesem Bereich auskennt6 5 6 25 6 59
9 9 2 2
oder nicht. Sie spielen die Hauptrolle in 10 0Die 1Person wählt 10 0Nun1wirft sie Der 10 0
Vorgang wiederholt
1 sich:
den berühmtesten offenen Problemen. 9 eine8 Zahl – bei- 3 8 Münze. 3
eine Die 8 multipliziert
Person 3 ihre
2 9 2 9 2
Neben Primzahlen gibt es aber auch spielsweise
7 drei –
4 Bei7 Kopf geht4 Position (4)7 mit drei 4(= 12
noch »Primpolynome«, die im Ruhm
8 36 5 8
und multipliziert 63 5
sie einen
8
= 11 + 1). Falls6 die35 Zahl grö-
ihrer populären Geschwister beinahe 7 sie mit4 der Ziffer, 7 4
weiteren 4 teilt sie die
ßer7als 11 ausfällt,
untergehen. Dabei liegen auch sie 6 auf5 der sie gerade 6 Schritt 5 nach 6
Zahl durch 511 und nimmt den
etlichen wichtigen Fragestellungen zu steht: 1 ∙ 3 = 3. vorne (4). Bei Rest (hier: 1). Dann geht sie
Grunde. Die Person geht Zahl bleibt sie zu dieser Position und wirft
Ein Polynom besteht aus einer Sum- zu dieser Zahl. stehen. wieder eine Münze.
me von Variablen x hoch einer Potenz,
die mit entsprechenden Koeffizienten Mathematiker interessiert, wie lange es dauert, bis die Person auf
ai multipliziert werden, wie zum Bei- allen Ziffern der Uhr mindestens einmal stehen geblieben ist. Und
spiel a₁ x + a₂ x2 + … + an x n. Genau wann sie alle Stellen ungefähr gleich häufig besucht hat.
2
wie Zahlen lassen sich Funktionen
2 + x 1 x1
1 2x+ +x2x+++1x1+ 1
addieren, subtrahieren, multiplizieren 1 x + 1 (x + 1) ∙ x = x
und teilen. Falls ein Polynom mit Wie Polynome
1ausx1einem
+ 1x + 1
Random
(x + 1)
Walk
(x∙ +x1)
= ∙xx2+ = x2 + x 0 x2 + x
entstehen
1∙x=x 0 x02 + x2 + x
ganzzahligen Koeffizienten nicht als 1 ∙ x 1 = ∙xx = x x22 + 21
x 21+ xx2x+ x
+
11 x++11
Produkt zweier einfacherer ganzzahli- 0 x1 xx + 1 x ∙ x (xx=2+∙xx21)=∙ xx2= x2 + x
x x ∙ x = x 2
1 1 1 1
ger Polynome zerlegt werden kann, 1x+1 0 0 (x + 1) ∙ x = x + x 2
00 2x2 +2x
x
hat man es mit einem Primpolynom zu 1∙x=x 0 x02 + xx0 x
1∙x=x 12+x
2
x ++ 11
tun. Mathematiker nennen solche
0 x x ∙ x = 2x2 1x2x+ 1
Gebilde irreduzibel. Tatsächlich lassen 1 x + 1 x ∙ x =(xx+2 1) ∙ x = x + x 1 0 x2
sich viele Probleme verschiedenster1 ∙ x = x
0 x 0 x2 + x
0 x2
Bereiche auf Fragen über Polynome Spielen Sie den oben Wiederholen Sie den Prozess, 1 x2 +indem 1
herunterbrechen. Dabei ist es essenzi- beschriebenen 0 x
Random x ∙
Sie x =
die x 2
Position der Person wieder mit
ell zu wissen, wie häufig Primpolyno- Walk für eine allgemeine x multiplizieren und entweder 0 x2 eine Null
0 1
me auftreten. Zahl x durch. Die neue oder eine Eins addieren. Nach 10 dieser
0 0 1
10 10 1
LUCY READING-IKKANDA / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Angesichts der Vielfalt an mögli- Position der Person ist nach Runde entspricht die neue Position 9 der 2
9 9 2 2
chen Termen, die aus beliebig vielen den ersten zwei Schritten Person einem der vier Polynome mit0
8 10 1 3
Variablen und Koeffizienten bestehen entweder x oder x + 1. Koeffizienten 0 und 1. 8 8 3 3
9
7 42
können, gestaltet sich diese Aufgabe 7 7
8 6 54 3 4
allerdings schwierig. Deshalb haben 0 6 56 5
Mathematiker das Problem in früheren Primpolynome finden: Die oben genannten 10 7 1 4
0 61 5
Arbeiten eingegrenzt. Im Oktober 2017 Schritte kann man für verschiedene Zifferblätter 9 10 2
zeigten beispielsweise die zwei israe­ wiederholen. Primpolynome besitzen durch- 9 2
lischen Experten Lior Bary-Soroker schnittlich nur einen Wert x, der die Person für 8 3
8 3
und Gady Kozma, dass fast alle Poly- alle möglichen Uhren, deren Zifferblatt von null 7 4
nome mit einem bestimmten einge- bis zu einer Primzahl geht, zum Punkt null führt. 7 4
6 6 55
schränkten Koeffizientenbereich irre-
duzibel sind.

26 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Emmanuel Breuillard und Péter
Varjú von der University of Cambridge
haben sich ein Jahr später dagegen
Hintertür in der RSA-Verschlüsselung
mit allgemeinen Polynomen beschäf- Eines der wichtigsten heutigen Verschlüsselungsverfahren ist die RSA-
tigt. In ihrer erstaunlichen Arbeit Verschlüsselung. Sie ähnelt dem denkbar einfachsten Codierungs­
bestätigten sie dadurch eine 25 Jahre schema: Man ordnet jedem Buchstaben einer geheimen Nachricht eine
alte Vermutung, die handfeste Folgen Zahl zu und multipliziert diese mit einer zuvor vereinbarten Zahl. Um
für ein weit verbreitetes Verschlüsse- den Code zu entschlüsseln, teilt man die Ziffernfolge einfach durch die
lungsverfahren hat. geheime Zahl.
Schon 1993 mutmaßten der Mathe- Bei der RSA-Verschlüsselung führt ein Benutzer mit seiner Nachricht
matiker Andrew Odlyzko von der Uni- mehrere Rechenschritte durch, unter anderem multipliziert er sie mit
versity of Minnesota und sein Kollege einer sehr großen Zahl (Hunderte von Stellen lang). Um die Nachricht zu
Bjorn Poonen, der heute am Massa- entschlüsseln, muss man die Primfaktoren des entstandenen Produkts
chusetts Institute of Technology herausfinden. Die Sicherheit dieser Methode beruht auf der Tatsache,
arbeitet, dass reduzible Polynome mit dass es keinen schnellen Weg gibt, um Primfaktoren großer Zahlen zu
wachsender Komplexität im Meer der berechnen.
Primpolynome untergehen. Zu diesem Allerdings hat dieses Verfahren eine Hintertür. Jede Zahl lässt sich
Schluss führte sie eine simple Über­ eindeutig durch ein Polynom mit den Koeffizienten null und eins dar­
legung. Primzahlen sind unter den stellen; und während es schwierig ist, Zahlen zu faktorisieren, gibt es
kleinen Zahlen weit verbreitet, werden effiziente Algorithmen, die ein Polynom in einfachere Bestandteile zer-
danach aber immer seltener. Das liegt legen. Sobald man die Teiler eines Polynoms kennt, lassen sich daraus
daran, dass die Liste der möglichen die Primfaktoren der ursprünglichen Zahl bestimmen.
Teiler für große Zahlen immer länger So funktioniert es:
wird. Bei Polynomen ist das anders.
1. Wählen Sie eine Zahl, zum Beispiel 15.
Zum Scheitern verurteilt 2. Drücken Sie 15 in binäre Schreibweise aus: 1111 = 23 + 22 + 21 + 20.
Damit ein Polynom faktorisierbar ist,
3. Verwandeln Sie diesen Ausdruck in ein Polynom, indem Sie die
müssen seine Koeffizienten im richti-
Ziffern als Koeffizienten eines Polynoms behandeln: x3 + x2 + x + 1.
gen Verhältnis zueinander stehen.
Für x = 2 entspricht dieses Polynom der Zahl 15.
x2 + 5 x + 6 kann beispielsweise zu
zwei Faktoren (x + 3) und (x + 2) 4. Faktorisieren Sie das Polynom: (x2 + 1) ∙ (x + 1).
zerlegt werden, weil es zwei ganze 5. Setzen Sie x = 2 in jeden dieser Faktoren ein: (22 + 1) = 5, (2 + 1) = 3.
Zahlen 2 und 3 gibt, die addiert den
Fazit: 5 und 3 sind die Primfaktoren von 15.
zweiten Koeffizienten 5 ergeben und
multipliziert den dritten (6) liefern. Dieser scheinbar komplizierte Weg, um die Teiler von 15 zu finden, er-
Polynome mit zusätzlichen Termen weist sich bei großen Zahlen als überaus nützlich. Wie der neue Beweis
führen zu wesentlich mehr und kompli- von Breuillard und Varjú aber zeigt, ist die RSA-Verschlüsselung da-
zierteren Bedingungen. Somit wird es durch nicht in Gefahr: Denn nicht jede faktorisierbare Zahl entspricht
immer unwahrscheinlicher, dass es einem reduziblen binären Polynom, wie das Beispiel 25 (= 24 + 23 + 1)
Faktoren mit ganzzahligen Koeffizien- zeigt. x4 + x3 + 1 ist nämlich ein Primpolynom, obwohl 25 keine Primzahl
ten gibt, die sie alle erfüllen. ist. Je größer ein Polynom, desto unwahrscheinlicher lässt es sich
Weil ein allgemeiner Beweis dieser zerlegen. Da die enorm großen Zahlen im RSA-Verfahren riesigen
Vermutung außer Reichweite war, Polynomen entsprechen, schwindet die Wahrscheinlichkeit, dass sie
beschränkten Odlyzko und Poonen ihr faktorisierbar sind.
Problem auf Polynome, deren Koeffizi-
enten lediglich die Werte null oder eins
haben. Doch selbst in vereinfachter dabei eine Person auf einem Zifferblatt Neuem: Multiplizieren der gedachten
Form dauerte es 25 Jahre, bis ihr vor, das gleichmäßig von eins bis elf Zahl x mit der Zahl, auf der sie steht,
Verdacht bestätigt wurde – unter der eingeteilt ist. Die Person steht am Münzwurf und entsprechend eventuell
Bedingung, dass die berühmte rie- Anfang auf der Eins und denkt sich einen Schritt weiter gehen. Sobald ihr
mannsche Vermutung korrekt ist. eine ganzzahlige Zahl x. Diese multipli- Ergebnis größer als elf ist, läuft die
Breuillard und Varjú stießen durch ziert sie mit der Zahl, auf der sie steht, Person einfach rund um die Uhr wei-
Zufall auf dieses Ergebnis. Denn sie und geht zu der entsprechenden Stelle ter, bis sie die erforderliche Anzahl an
beschäftigten sich nicht direkt mit auf dem Zifferblatt. Dann wirft sie Schritten erreicht hat. Solche »Uhren-
Primpolynomen, sondern interessier- eine Münze. Bei Zahl bleibt sie stehen, Mathematik« (so genannte modulare
ten sich für die Mathematik eines bei Kopf geht sie noch einen Schritt Zahlensysteme) taucht in vielen Frage-
»Random Walks«. Sie stellten sich weiter. Dann beginnt der Vorgang von stellungen auf.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 27


FORSCHUNG AKTUELL
Breuillard und Varjú wollten dabei ganzzahligen Koeffizienten widerspie- mit Koeffizient null oder eins irreduzi-
zwei Dinge herausfinden: Wie lange gelt: Wenn ein Polynom in allen modu- bel. Das hat auch handfeste Folgen:
dauert es, bis die Person auf jedem laren Zahlensystemen durchschnittlich Gerade Kryptografen dürften aufat-
Punkt im Zifferblatt mindestens einmal drei Nullstellen hat, dann hat es auch men, denn faktorisierbare Polynome
stehen geblieben ist? Und wann hat drei Teiler. Gibt es im Durchschnitt nur können das gängige digitale RSA-Ver-
sie jeden Ort ungefähr gleich oft eine Lösung, dann hat es lediglich schlüsselungsverfahren untergraben
besucht? einen Faktor, und das Polynom ist (siehe »Hintertür in der RSA-Verschlüs-
Um diese Fragen zu beantworten, irreduzibel. selung«, S. 27).
müssen Breuillard und Varjú die mögli- Mit dieser Methode haben Breuil- Kevin Hartnett ist Wissenschaftsjour-
chen Wege der Person nachvollziehen. lard und Varjú bewiesen, dass die nalist in Columbia (South Carolina).
Diese lassen sich durch Polynome Wahrscheinlichkeit, irreduzible Polyno-
beschreiben, mit der gewählten Zahl x me anzutreffen, für immer größere QUELLEN
als Variable und null oder eins als Terme (mit Koeffizienten null oder eins)
Bary-Soroker, L., Kozma, G.: Irreducib-
Koeffizienten (siehe »Random Walk«, gegen 100 Prozent strebt. Doch ihr le polynomials of bounded height.
S. 26). Die Zeitspanne, bis jeder Ort Ergebnis ist lückenhaft. Es hängt von ArXiv: 1710.05165, 2017
ungefähr gleich oft abgelaufen ist, der Richtigkeit der riemannschen
Breuillard, E., Varjú, P.: Irreducibility of
hängt von x ab. Denn jede Lösung Vermutung ab, einer der wichtigsten random polynomials of large degree.
eines Polynoms entspricht einem ungelösten mathematischen Hypothe- ArXiv: 1810.13360, 2018
Punkt auf dem Zifferblatt. Die Aufgabe sen, von der die meisten Experten
von Breuillard und Varjú läuft daher aber annehmen, dass sie stimmt. Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetz-
darauf hinaus, herauszufinden, wie Zwar hatten Mathematiker auch te und redigierte Fassung des Artikels »In
viele Lösungen ein Polynom in einem schon früher erwartet, dass Primpoly- the universe of equations, virtually all are
bestimmten modularen Zahlensystem nome mit wachsender Komplexität die prime« aus »Quanta Magazine«, einem in-
hat. Und wie sich zeigte, hängt das Oberhand gewinnen, doch sie dach- haltlich unabhängigen Magazin der Simons
Foundation, die sich die Verbreitung von
damit zusammen, ob es irreduzibel ist. ten, dass ihr Anteil viel geringer sei, als Forschungsergebnissen aus Mathe­matik
Frühere Arbeiten aus den 1980er es das Ergebnis von Breuillard und und den Naturwissenschaften zum Ziel
Jahren hatten nämlich gezeigt, dass Varjú voraussagt. Falls die riemann- gesetzt hat.
die Anzahl der Nullstellen eines Poly- sche Vermutung zutreffen sollte, sind
noms die Anzahl seiner Faktoren mit praktisch alle komplizierten Polynome

SYNTHETISCHE BIOLOGIE
GENETISCHES ALPHABET VERDOPPELT
Zusätzlich zu den vier vorhandenen Buchstaben haben US-Forscher vier neue geschaf-
fen, mit denen die DNA genetische Informationen speichern kann. Der Achtercode
funktioniert wie sein biologisches Vorbild – und beweist, dass Lebensprozesse auch
mit ungewöhnlichen Molekülen möglich sind.


Das Erbmolekül Desoxyribonukle- US-amerikanisches Forscherkonsor­ 2014 ein nicht natürlich vorkommen-
insäure (DNA) jeder Lebensform tium unter der Leitung des Biochemi- des Basenpaar in lebende Zellen.
unserer Erde speichert Informatio- kers Steven Benner. Benners jetzige Studie belegt nun
nen mit Hilfe von nur vier Schlüssel- Die vier bekannten DNA-Basen erstmals, wie die komplementären,
molekülen: den Basen Guanin, Cyto- formen normalerweise Paare im nicht natürlichen Basen zusammen­
sin, Adenin und Thymin (abgekürzt als Inneren der Doppelhelix, die aus zwei finden und aneinanderkoppeln –
G, C, A und T). Nun haben Wissen- umeinander gewundenen Strängen wobei die Doppelhelix aus DNA-Strän-
schaftler die Zahl dieser essenziellen besteht: A bildet Brücken mit T, G mit gen ihre Bauweise behält.
Bausteine im DNA-Molekül verdoppelt C. Seit Langem versuchen Wissen- Benners Team ging von der Mole-
und so eine neue synthetische Gen- schaftler, diesen Vierercode künstlich külstruktur der natürlichen DNA-Bau-
sprache mit acht statt vier Buchstaben zu erweitern. Benner war es schon in steine aus, die über Wasserstoffbrü-
erschaffen. Das erweiterte genetische den 1980er Jahren gelungen, unnatür- cken an die jeweilige Partnerbase
Alphabet kann offenbar Informationen liche Basen in DNA-Doppelstränge zu gebunden sind. Dabei stehen sich
wie in der natürlichen DNA codieren. integrieren. Der Molekularbiologe Wasserstoffatome und Stickstoff- oder
Das sollte theoretisch auch in Organis- Floyd Romesberg vom Scripps Re- Sauerstoffatome räumlich gegenüber,
men funktionieren, berichtet ein search Institute in La Jolla brachte so dass sie sich gegenseitig anziehen.

28 Spektrum der Wissenschaft  7.19


schuf Benners Team synthetische
HOSHIKA, S. ET AL.: HACHIMOJI DNA AND RNA: A GENETIC SYSTEM WITH EIGHT
BUILDING BLOCKS. SCIENCE 363, 10.1126/SCIENCE.AAT0971, 2019, FIG. 1; ABDRUCK
GENEHMIGT VON AAAS / CCC; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

DNA-Abschnitte, die für ein so genann-


tes Aptamer codieren – eine RNA-Se-
quenz, die sich an bestimmte Moleküle
G P
Z bindet und eine Fluoreszenz auslöst.
C
Hierbei bestätigte sich, dass das Um-
schreiben (die so genannte Transkrip­
tion) funktioniert.
Philipp Holliger sieht in der Arbeit
zwar einen viel versprechenden Aus-
gangspunkt, es bleibe jedoch noch ein
weiter Weg bis zu einem echten syn-
A B thetischen Gencode mit acht Buchsta-
T ben. So sei noch unklar, ob Polymera-
S
sen, also DNA synthetisierende Enzy-
In natürlicher DNA ist die Information in der Abfolge der Basen Cytosin ( C ), me, die künstliche DNA replizieren
Guanin ( G ), Thymin ( T ) und Adenin ( A ) verschlüsselt, wobei sich C mit können. Benner betont, sein Team habe
G sowie T mit A über Wasserstoffbrücken paart (links). Forscher fügten immerhin gezeigt, dass Leben auch mit
diesem Vierercode strukturell ähnlich gebaute Basen hinzu. Hierbei koppelt anders gestalteten DNA-Basen möglich
Z an P und S an B (rechts). R steht für den Zucker- (Desoxyribose-) ist. Und das könne bei der Suche nach
und den Phosphatanteil des jeweiligen Nukleotids. biologischen Signaturen im Universum
eine Rolle spielen.
Eine eher bodenständige Vision für
Das sei wie bei Legosteinen, bei denen unabhängig von der Reihenfolge der die neu hinzugefügten DNA-Buchsta-
Löcher und Noppen genau passen synthetischen Basen. Das ist wichtig, ben wäre, die vielfältigeren DNA- oder
müssen, erklärt Benner. da nur hochvariable Basensequen- RNA-Sequenzen andere Funktionen als
Durch den Umbau molekularer zen, die nicht das gesamte DNA-Kons- das Datenspeichern erledigen zu las-
Noppen und Löcher hatten die Wis- trukt auseinanderfallen lassen, eine sen. Beispiele hierfür hat Benners
senschaftler bereits 2015 mehrere Evolu­tion erlauben. Mit Hilfe von Gruppe schon geliefert: DNA-Stränge
neue DNA-Basen erzeugt – darunter Röntgenbeugung an Molekülkristallen mit Z und P binden sich besser an
korrespondierende Paare namens S bestätigte das Team, dass syntheti- manche Krebszellen als Sequenzen mit
und B sowie P und Z (siehe Grafik sche DNA-Stränge mit drei verschie- den vier Standardbasen. Das Forscher-
oben). Jetzt probierten sie, wie diese denen Sequenzen ihre Struktur beibe- team hat zudem weitere Paare syntheti-
synthetischen Basen mit den natürli- halten. scher Basen entwickelt. Sie eröffnen
chen Varianten kombiniert werden die Möglichkeit, DNA-Strukturen mit
können. Dabei entstand eine moleku­ Gelungene Übersetzung in RNA zehn oder sogar zwölf Buchstaben zu
lare Kunstsprache, welche die For- Andere Methoden zur Erweiterung des konstruieren.
scher nach den japanischen Bezeich- genetischen Alphabets hatten hier Matthew Warren ist promovierter
nungen für »acht« und »Buchstabe« nach Angaben des nicht an Benners Neurowissenschaftler und Wissen-
auf den Namen Hachimoji tauften. Die Arbeit beteiligten englischen Moleku- schaftsjournalist.
zusätzlichen Bausteine ähneln struktu- larbiologen Philipp Holliger versagt:
rell jeweils einer natürlichen DNA-Base Hierbei waren lipophile, also nicht QUELLEN
mit leichten Abweichungen bei der wasserlösliche Moleküle eingesetzt Georgiadis, M. M. et al.: Structural
Wasserstoffbrückenbindung. worden, die sich nicht per Wasser- basis for a six nucleotide genetic alpha-
Um ihre Fähigkeit als Lebensmole- stoffbrücken verpaarten. Man konnte bet. Journal of the American Chemical
kül zu beweisen, musste die künstliche sie zwar in gewissen Abständen zu- Society 137, 2015
DNA einige Tests bestehen: Tatsäch- einander zwischen natürlichen Basen Hoshika, S. et al.: Hachimoji DNA and
lich paarten sich bei hunderten synthe- in die DNA-Kette platzieren – nicht RNA: A genetic system with eight
tischen DNA-Molekülen die künstli- aber direkt nebeneinander, weil dies building blocks. Science 363, 2019
chen Basen mit ihrem jeweiligen die Helixstruktur zerstörte. Zhang, L. et al.: Evolution of functional
Partner ähnlich zuverlässig wie die Schließlich demonstrierten die six-nucleotide DNA. Journal of the
natürlichen – die synthetischen Mole- Forscher, dass sich die synthetische American Chemical Society 137, 2015
küle eignen sich also als Informations- DNA buchstabengetreu in RNA um-
speicher. schreiben lässt. Das ist die Voraus­
Im nächsten Schritt zeigten die setzung dafür, um Proteine zu erzeu- © Springer Nature Limited
Forscher, dass die Struktur dieser gen, die Arbeitspferde des Lebens. Um www.nature.com
Doppelhelices stabil bleibt – und zwar jenen Schritt sichtbar zu machen, Nature 566, S. 436, 2019

Spektrum der Wissenschaft  7.19 29


FORSCHUNG AKTUELL
QUANTENPHYSIK
SCHRÖDINGERS KATZE ERWEITERT IHR REVIER
Physiker haben eines der berühmtesten Gedankenexperimente der Wissenschaftsgeschichte auf
neuartige Weise im Labor verwirklicht – ganz ohne Versuchsstiere.


Deutsche Forscher haben auf fremdliche Realität: Den Gesetzen der Durch ein Gedankenspiel wollte er
raffinierte Weise zwei scheinbar Quantenphysik zufolge ist die Welt der 1935 zeigen, dass die Unschärfe des
getrennte Welten miteinander Atome und Elementarteilchen »verwa- Mikrokosmos zu Paradoxien führt,
verknüpft: die bizarre Quantenphysik schen«, wie Schrödinger schrieb. Er wenn man sie in die Alltagswelt über-
und die anschauliche klassische Phy- meinte damit, dass sich Objekte nicht führt. Er stellte sich eine geschlossene
sik. Konkret hat das Team um Gerhard mehr exakt verorten lassen. Vielmehr Kiste vor, die radioaktive Atome und
Rempe vom Max-Planck-Institut für kann man nur eine Wahrscheinlichkeit eine Katze enthält. Ein Geigerzähler
Quantenoptik in Garching das bekann- dafür angeben, ein Quantenobjekt an registriert, wenn einer der Atomkerne
te Gedankenexperiment von »Schrö- einem bestimmten Ort vorzufinden. zerfallen ist. Das Ausschlagen des
dingers Katze« erstmals mit einem Dies spiegelt nicht das Unwissen Geräts setzt wiederum Gift frei, das die
Laserpuls umgesetzt, der frei durch des Experimentators wider, sondern Katze tötet.
das Labor flog. Diese Variante der die Realität des Mikrokosmos. Ein
gleichzeitig lebenden und toten Katze Elektron oder ein Atom lässt sich Tot und lebendig?
könnte aus Sicht der Forscher sogar demnach ähnlich einer Welle beschrei- Schrödinger nahm an, dass die Wahr-
eine technische Anwendung haben. ben, die sich nicht auf einen Punkt scheinlichkeit, dass ein Atom zerfallen
»Was vor 80 Jahren ein rein intellektu- festzurren lässt, sondern ein ganzes ist, nach einer Stunde 50 zu 50 be-
elles Gedankenspiel war, können wir Gebiet einnimmt. Erst ein Beobachter, trägt. Solange niemand in die Box
immer besser praktisch umsetzen«, der das Teilchen registriert, legt fest, schaut, wären beide Möglichkeiten
sagt Rempe. an welchem Ort die Welle auf einen real, argumentierte der Österreicher.
In den 1930er Jahren hatten Physi- Punkt kollabiert – so sieht es zumin- So sehen es schließlich die Gesetze
ker wie Erwin Schrödinger und Werner dest die verbreitete »Kopenhagener der Quantenphysik vor, die für den
Heisenberg die Quantenmechanik ent- Deutung« der Quantenphysik vor. Atomkern gelten. Und weil das Schick-
wickelt. Mit ihren Gleichungen skiz- Erwin Schrödinger haderte mit den sal der Katze mit diesem verbunden
zierten die Wissenschaftler eine be- Implikationen dieser Interpretation. ist, sind ihre beiden Zustände gleich
wirklich: Das Tier ist gewissermaßen
sowohl tot als auch lebendig.
Bei Schrödingers Katze entscheidet der Zerfall eines Atom- Aus Sicht von Physikern sind Katze
kerns, ob ein Giftfläschchen geöffnet wird. Mathematisch und Atom miteinander »verschränkt«.
entspricht das dem Kollaps einer Wellenfunktion. Erst wenn ein Mensch den Deckel
öffnet, fällt die Entscheidung über das
Schicksal des Tiers. Das aber wider-
spricht unserer Alltagserfahrung,
betonte Schrödinger. Physiker folgern
daher seit Langem: Es muss eine Gren-
ze zwischen dem Mikrokosmos mit
seinen Quantenregeln und unserem
Makrokosmos mit den Gesetzen der
uns vertrauten Physik geben.
Die Forscher glauben dabei nicht an
einen harten Bruch, sondern an einen
CHRISTOPH HOHMANN, NANOSYSTEMS INITIATIVE MUNICH (NIM)

gemächlichen Übergang. Demnach


kann prinzipiell auch ein makroskopi-
sches Objekt in der Überlagerung
zweier Zustände verharren, wenn man
es von allen Umwelteinflüssen isoliert.
Aber schon der Zusammenstoß mit
einem Luftmolekül liefert Information
über das Objekt und ist somit das, was
Physiker eine »Beobachtung« nennen.

30 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Sie zwingt die Natur, eine der denkba- Institute of Standards and Technology reichen. Solch eine Welle wäre ein
ren Möglichkeiten zu realisieren. in Boulder, Colorado. Es verschränkte Beweis, dass die Quantenwelt in die
Vermeidet man hingegen den zwei Zustände der Elektronenhülle klassische Welt hineinwirkt. So weit
Kontakt zur Umwelt, sollte es möglich eines Ions mit zwei scharf festgelegten sind Physiker natürlich noch nicht.
sein, gegensätzliche Zustände simul- Aufenthaltsorten desselben. Eine klare Aber mit Lichtwellen ist dem Garchin-
tan zu erzeugen. Zu Schrödingers Lokalisierung ist ein typisch klassi- ger Team um Bastian Hacker nun ein
Zeiten war die experimentelle Physik sches Merkmal. Dadurch befand sich ähnliches Experiment geglückt.
dazu noch nicht fähig. Doch das das Ion gleichzeitig an zwei definierten
änderte sich am Ende des 20. Jahrhun- Plätzen, deren Abstand fast 1000-mal Eine Lichtwelle übernimmt die
derts. Physiker haben seitdem ver- so groß war wie das Atom selbst. Rolle der Katze
schiedene Analogien zu Schrödingers Es folgten weitere Experimente. Die Physiker ließen letzlich einen
Katze im Labor umgesetzt. Dabei Immer beliebter wurden »Katzenzu- Laserpuls mit zwei überlagerten
versuchen sie, sich immer näher an die stände« in Form von Licht, wie sie nun Phasenzuständen drei Meter frei
klassische Welt heranzutasten, also auch Rempes Team verwirklicht hat. durchs Labor fliegen. »Die größte
Quantenobjekte mit möglichst leicht Mit ihnen lässt sich gewissermaßen Herausforderung dabei war, dass
erfassbaren, eindeutigen Eigenschaf- klassische Physik in Reinkultur studie- niemand hinsieht«, sagt Rempe. Der
ten zu verwenden. So haben die ren: Licht als Welle hat immer eine fliegende Puls musste also von seiner
Forscher das Revier von Schrödingers klar definierte Phase, welche die Umwelt isoliert bleiben. Dafür sorg-
Katze zunehmend erweitert. momentane Wellenhöhe beschreibt. ten optische Bauteile wie Spiegel oder
Beispielsweise verschränkten sie Bei einer Wasserwelle legt die Phase Linsen höchster Qualität, die Licht
zwei mikroskopische Zustände eines zum Beispiel fest, ob das Nass gerade so gut wie nicht absorbierten oder
Teilchens mit zwei konträren klassi- bis zum Knie steht oder bis zum Hals. streuten.
schen Eigenschaften desselben. Als Würden die Gesetze der Quanten- Der Versuchsaufbau der Garchinger
Erstes gelang das 1996 einem Team welt am Badestrand gelten, könnte Forscher war dabei auf den ersten
um den späteren Physik-Nobelpreisträ- eine Welle einem Menschen gleichzei- Blick recht einfach. Zwei Spiegel
ger David Wineland vom International tig bis zum Knie und bis zum Hals standen einander in einem Abstand

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FORSCHUNG AKTUELL
Die Arbeit sei ein signifikanter

BASTIAN HACKER, MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR QUANTENOPTIK (MPQ)


Fortschritt für die Nutzung von »Kat-
zenzuständen« in Quantennetzwerken,
kommentiert Florian Marquardt vom
Max-Planck-Institut für die Physik des
Lichts in Erlangen, der nicht an der
Studie beteiligt war. Ein solches Netz
würde Quanteninformation vermitteln,
also Quantencomputer verbinden
oder abhörsichere Botschaften aus­
tauschen.
»Unser Katzenzustand ist ein Qubit,
das man auf Reisen schicken kann«,
sagt Rempe. Qubits speichern und ver-
arbeiten die zwei Bitwerte 0 und 1
simultan. Herkömmliche Bits müssen
Schrödingers Katze im Labor: Ein Atom zwischen zwei Spiegeln sich für jeweils einen der Werte ent-
verharrt in einer Überlagerung zweier Zustände (links). Verschränkt scheiden. Zwar lassen sich reisende
man eine Lichtwelle mit dem Atom, übernimmt sie gewissermaßen Qubits schon jetzt mit einzelnen
die Unbestimmtheit und trägt diese anschließend als überlagerten Photonen verwirklichen. Doch auf
»Katzenzustand« durch den Raum (rechts). Knopfdruck gelang das bisher nicht.
Die Arbeit der Garchinger Forscher
hingegen erzeuge »zum ersten Mal
von 0,5 Millimetern gegenüber. Licht welle eine klar definierte Eigenschaft, auf deterministische Art und Weise
mit der passenden Frequenz konnte in die sich makroskopisch bestimmen Katzenzustände«, erklärt Marquardt.
den Hohlraum dazwischen eindringen, lässt. Das Atom im Hohlraum hinge- Das heißt, das Qubit entsteht mit
darin hin- und hergeworfen werden gen unterlag dem Wahrscheinlichkeit- 100-prozentiger Sicherheit bei jedem
und wieder austreten. Dabei verschob scharakter der Quantenphysik, es Versuch. Für die Quantentechnik
sich die Phase der Lichtwelle um diente also als Analogon zum radioak- braucht man solche Zuverlässigkeit.
180 Grad. Wo erst ein Wellenberg war, tiven Atomkern in der Box der Katze. Zudem sei die Methode »konzeptionell
befand sich anschließend ein Wellen- Welchen Zustand es einnimmt, ließ sehr schön, da relativ einfach«, sagt
tal – und umgekehrt. Licht anderer Fre- sich von außen nicht sagen. der Physiker. Das verspreche robuste
quenzen gelangte nicht in den Hohl- Geräte.
raum, sondern wurde ohne Phasenver- Ein Qubit auf Reisen Allzu weit reist die Garchinger Vari-
schiebung an dessen Außenwand Aber in dem Experiment bildete sich ante von Schrödingers Katze indes-
reflektiert. eine Verschränkung zwischen Licht- sen noch nicht, wie Rempe einräumt.
In der Mitte einer kleinen Vakuum- welle und Rubidiumatom aus, ganz so Für Quantennetzwerke bräuchte
kammer zwischen den Spiegeln wie in Schrödingers Experiment man Verbindungen über Kilometer
hielten die Forscher ein einzelnes zwischen Katze und radioaktivem hinweg. Noch bessere optische
Atom des Elements Rubidium in der Atomkern. Statt sich für eine Möglich- Elemente könnten die Reichweite
Schwebe. Dieses brachten sie ge- keit zu entscheiden, trat der Laserpuls erhöhen: »Ein weiterer nächster Schritt
schickt dazu, in einer Überlagerung in dem Experiment einerseits in den wäre, die fliegende Schrödingerkatze
zweier Zustände zu verharren. Es Hohlraum ein, andererseits blieb er in einem Quantenspeicher einzu­
fungierte in dem Experiment als eine draußen. Entsprechend verschob sich fangen«, sagt der Physiker. »Dann
Art Türsteher: Der eine Zustand verän- einerseits seine Phase um 180 Grad, könnte die übertragene Quanten­
derte die Frequenz, die das Licht andererseits tat sie das nicht. Somit information am Zielort weiterverarbei-
braucht, um in den Hohlraum eindrin- erweiterte sich die Überlagerung der tet werden.«
gen zu können. In diesem Fall verhin- Zustände vom Rubidiumatom auf die Christian J. Meier ist promovierter
derte das Atom den Zutritt des Laser- Lichtwelle – und konnte sich anschlie- Physiker und Wissenschaftsjournalist in
pulses in den Hohlraum. Der andere ßend mit dem Laserstrahl im Raum Groß-Umstadt.
Zustand ließ alles beim Alten: Das ausbreiten. Um die Gleich­zeitigkeit von
Licht hatte freien Zugang. »tot« und »lebendig« zu verifizieren, QUELLEN
Das Ganze stellte damit eine ausge- leiteten die Forscher den Puls an­ Hacker, B. et. al.: Deterministic creati-
klügelte Variante von Schrödingers schließend zu einem Detektor, wo sich on of entangled atom-light Schrödinger-
Gedankenexperiment dar. Der Laser- die Wellenzustände überlagerten und cat states. Nature Photonics 13, 2019
puls übernahm die Rolle der Katze, so ihren gemischten Charakter offen- Monroe, C. et. al.: A Superposition
schließlich ist die Phase einer Licht- barten. State of an Atom. Science 272, 1996

32 Spektrum der Wissenschaft  7.19


SPRINGERS EINWÜRFE
HIERARCHIEN IM HIRN
Um sich einen Reim auf Überraschungen zu
machen, müssen separate Gruppen von
­Gehirnzellen einander gestaffelt zuarbeiten.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1647836

A
ngenommen, Sie sind zum Essen eingeladen, wiederum regelmäßige Abfolge. Die Tiere standen nun
und da es Ihnen wunderbar schmeckt, bitten vor dem Dilemma, darin bloß eine zufällige, vorüber­
Sie um das Rezept. Doch als Sie die Speise gehende Störung zu sehen – oder die systematische
selbst zubereiten, ist sie ungenießbar. Da Änderung zu erkennen. Tatsächlich dauerte es nur
fragen Sie sich: Habe ich beim Kochen etwas falsch kurz, bis den Primaten diese Erkenntnis gelang und sie
gemacht, oder ist das Rezept fehlerhaft? Fortwährend auf das neue System wiederum mit entsprechend
sind wir mit Überraschungen konfrontiert, deren angepassten Augenbewegungen antworteten.
Ursache nicht auf der Hand liegt. In der Regel glauben Was ging dabei in den Versuchstieren vor? Wäh-
wir erst an einen Zufall und versuchen das Nächstlie- rend der modifizierten Blickversuche ließ sich eine
gende: Der Koch wiederholt das Rezept. Erst wenn die besonders hohe Aktivität in zwei Regionen des Vorder-
Misserfolge nicht enden, sehen wir ein, dass etwas hirns feststellen: im dorsomedialen frontalen Kortex
prinzipiell nicht stimmt. (DMFC) und im knapp darunterliegenden anterioren
Wie kommt das Gehirn von Tieren und Menschen zingulären Kortex (ACC). Diese Gebiete waren von
zu der – mitunter lebenswichtigen – Erkenntnis, wel- vornherein »verdächtig« – sie sind auf Handlungskon­
che Ursache sich hinter einem unerwarteten Ereignis trolle, kognitive Prozesse und strategische Entschei-
verbirgt? Sind für diese kognitive Leistung spezielle dungen spezialisiert.
Areale zuständig, und wie arbeiten sie zusammen?

D
Die Frage haben die Hirnforscher Mehrdad ­Jaza­yeri er Clou der Studie ist aber der Nachweis einer
und Morteza Sarafyazd vom Massachusetts Insti­tute hierarchischen Zusammenarbeit beider Regio-
of Technology an Primaten untersucht. Sie konfrontier- nen. Die Information über die neue Reizfolge
ten Makaken mit Abfolgen von Lichtreizen und brach- landet nämlich zunächst »außen« beim DMFC
ten den Tieren durch kleine Belohnungen bei, je nach und wird dort nur als Überraschung registriert, als
der zeitlichen Abfolge der Farbpunkte mit Hin- oder enttäuschte Erwartung. In dieser Phase kann noch
Wegsehen zu reagieren. Letzteres garantierte, dass nicht entschieden werden, ob es sich um eine vorüber-
mehr zu Stande kam als ein bloßer Reiz-Reaktions-­ gehende Störung handelt, auf die man am besten mit
Automatismus (Science 364, eaav8911, 2019). »business as usual« reagiert, oder um etwas grundle-
Nachdem die Makaken gelernt hatten, eine be- gend Neues, das kognitive Verarbeitung und geänder-
stimmte Reizabfolge mit entsprechenden Blickbewe- tes Verhalten erfordert.
gungen zu quittieren, drehten die Forscher den Rhyth- Die Entscheidung darüber fällt »innen« im ACC,
mus der Farbblitze um. Jetzt bildeten diese eine neue, der als Informationspuffer wirkt und auf die neue
Nachricht verzögert reagiert. Erst wenn hier erkannt
wird, dass sich etwas dauerhaft verändert hat, kann
Wie registriert das Gehirn, sich das Individuum an die neue Situation anpassen.

was für eine Ursache sich Die derart hierarchisch organisierte Kognition des
Primatengehirns scheint also eines der Geheimnisse
hinter einem unerwarteten jener höheren Erkenntnisleistungen zu sein, die ihm
vorderhand kein künstliches neuronales Netz nachzu-
Ereignis verbirgt? machen vermag.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 33


ARCHÄOLOGIE
CHRISTOFFER RUDQUIST

DIE NADEL
IM KNOCHENHAUFEN
In Knochensplittern liegen oft erstaunliche Informationen über
die frühe Menschheitsgeschichte verborgen. Doch die winzigen
Fragmente verraten für sich betrachtet kaum etwas über ihre
Herkunft. Hier helfen Untersuchungen von Proteinen weiter, die
sich in den fossilen Überresten erhalten haben.

34 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Unter kleinsten fossilen
CHRISTOFFER RUDQUIST

Knochensplittern aller möglichen


­Tierarten können sich wert­­volle
menschliche Überreste verstecken.

Thomas Higham ist Professor für Archäologie an der University of


Oxford und leitet dort das Labor für Radiokarbondatierung. Sein
Forschungsschwerpunkt ist die Datierung mittel- und jungpaläoli-
thischer Knochen aus Eurasien. Katerina Douka ist promovierte
Archäologin am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in
Jena. Mit ihrer Forschergruppe durchsucht sie nicht identifizierte
Knochenfragmente aus verschiedenen Fundorten Asiens nach
fossilen Überresten von Neandertalern und Denisova-Menschen.

 spektrum.de/artikel/1647838

Spektrum der Wissenschaft  7.19 35



Elf Stunden dauert die Fahrt von Nowosibirsk zu einem
der wohl aufregendsten archäologischen Fundorte der
AUF EINEN BLICK letzten Jahre. Der Weg führt über holprige Straßen
WER DEN SPLITTER NICHT EHRT … Richtung Südosten durch die weite Ebene der südsibiri-
schen Steppe, bis sich schließlich die Ausläufer des Altai-

1 Während des Mittel- und Jungpaläolithikums teilten


sich Homo sapiens, Neandertaler und Denisova-Men-
schen eine Zeit lang ihren L
­ ebensraum.
Gebirges vor uns erheben. Schluchten, reißende Gebirgsbä-
che und idyllische Holzhäuser prägen die Landschaft; Adler
schweben über uns hinweg. Hoch über dem Fluss Anui,
hinter der Kurve eines Feldwegs, taucht sie plötzlich auf: die

2 Fossilien aus dieser Epoche sind selten und oft zu


klein, um genauer bestimmt zu werden. Art und Aus-
maß der Interaktionen zwischen den verschiedenen
Denisova-Höhle – und alle Gedanken an die lange, strapazi-
öse Reise verfliegen. Genau dort entdeckten Archäologen
vor rund zehn Jahren die Überreste einer bis dahin unbe-
Menschengruppen bleiben daher oft rätselhaft.
kannten Menschenart und veränderten damit grundlegend
unsere Vorstellung von der menschlichen Frühzeit.
3 Forscher ziehen nun aber auch aus winzigsten Kno-
chenfragmenten erstaunliche Erkenntnisse über diese
menschliche Frühzeit – anhand charakteristischer
Nachdem unsere Spezies, der Homo sapiens, vor Hun-
derttausenden von Jahren in Afrika auftauchte, breitete sie
Kollagensignaturen. sich allmählich nach Europa und Asien aus. Dort begegnete
sie anderen Menschenformen wie den Neandertalern, mit
denen sie sich jahrtausendelang ihren Lebensraum teilte,
bevor diese schließlich verschwanden. Inzwischen wissen
wir, dass die verschiedenen Menschengruppen nicht nur
nebeneinander hergelebt hatten. Sie zeugten sogar Nach-
wuchs miteinander. Noch heute tragen wir Menschen die
Mit ZooMS (Zooarchäologie durch Massenspektro­ DNA unserer ausgestorbenen Verwandten in uns.
metrie) konnte dieses fossile Knochenfragment aus der Wann und wo genau sich unsere Vorfahren getroffen
Denisova-Höhle in Südsibirien als Teil eines Hominiden – haben, wie oft sie sich vermischt haben und wie sie sich
eines Mitglieds der Gruppe der Menschenaffen ein­ gegenseitig kulturell beeinflussten, ist allerdings immer noch
schließlich des Menschen – identifiziert werden. ein Rätsel. Leider kennen wir bisher noch zu wenige Fund-
plätze aus jener Zeit, und oft bargen diese lediglich Stein-
werkzeuge und andere Artefakte. Menschliche Fossilien, die
CHRISTOFFER RUDQUIST

voll­ständig genug wären, um sie sicher einer bestimmten


Menschenart zuordnen zu können, fehlen hingegen fast
immer. Und so lässt sich nur selten feststellen, welche
Spezies die Geräte hergestellt hat, die man aus jener Über-
gangszeit kennt, und wie diese genau zu datieren sind.

Der Zoo im Massenspektrometer


Eine viel versprechende neue Technik könnte diese Fragen
endlich beantworten. Mit »Zooarchäologie durch Massen-
spektrometrie« (ZooMS), auch Kollagen-Peptidmassen-­
Fingerprinting genannt, lässt sich bestimmen, von welcher
Art Lebewesen ein unbekanntes Knochenfragment stammt
(siehe »Zu wem gehört der Knochen?«, S. 38). Das Protein
Kollagen ist am Aufbau von Knochen, Haaren und Nägeln
beteiligt, und seine charakteristische Zusammensetzung
liefert nach enzymatischer Spaltung in kleinere Peptide einen
eindeutigen molekularen Fingerabdruck (englisch: finger-
print). Selbst kleine Knochenfragmente, die optisch keine
typischen Kennzeichen ihrer Gattung oder Art erkennen
lassen, können auf diese Weise klassifiziert werden.
Durch die Analyse des Kollagens können wir also aus
einem Berg gleich aussehender kleiner Knochenfragmente
jene herausfinden, die von einem Vertreter der so genann-
ten Hominiden, also der Menschenaffen einschließlich der
Menschen stammen. Einmal als Überrest eines Primaten
identifiziert, lässt sich nun gezielt nach DNA suchen, um zu
klären, ob der fragliche Knochen zu einem Neandertaler,
einem anatomisch modernen Menschen oder einer anderen
menschlichen Spezies gehörte. Einen solchen Knochen

36
können wir außerdem direkt datieren. Für die Altersbestim- geführt hatten, das zwei Jahre zuvor in der Höhle gefunden
mung muss jedoch ein Teil des Knochens zerstört werden. worden war. Der kleine Knochen wirkte zunächst un­
Museumskuratoren geben daher meist nur ungern vollstän- scheinbar; umso spektakulärer war, was in ihm steckte: der
dige Skelettteile aus ihren Sammlungen für eine solche genetische Nachweis einer bisher völlig unbekannten
Analyse her. Weniger Bedenken haben sie bei ohnehin Menschenform – die genauso eng mit dem Neandertaler
schon stark fragmentierten Stücken. Durch sie lassen sich verwandt war wie wir. Der Knochen gehörte zu einem
jene Fundorte genauer untersuchen, an denen einst ver- jungen Mädchen, das die Paläoanthropologen zunächst
schiedene Menschenarten gleichzeitig lebten – vor allem, »X-Woman« tauften und das einer Population angehörte,
wenn neben den Knochen dort auch Artefakte zu Tage die man heute unter dem Namen Denisova-Menschen
gekommen sind. kennt. Seither tauchten noch etwa eine Hand voll weiterer
Etliche Forscher interpretieren insbesondere symboli- Urmenschenknochen und -zähne in der Höhle auf, sowohl
sche Objekte oder frühe Kunstwerke als Ausdruck der von Neandertalern als auch von Denisovanern.
einzigartigen kognitiven Fähigkeiten des anatomisch mo- Solche ungeahnten Einblicke in die Frühzeit der Mensch-
dernen Menschen. Andere wiederum trauen den Neander- heitsgeschichte verdanken Urgeschichtler modernen
talern durchaus zu, ebenfalls derartige Gegenstände herge- genetischen Methoden. Die Entschlüsselung alter DNA
stellt zu haben – vielleicht sogar nach ihren eigenen Tradi­ lieferte dabei nicht nur den Nachweis bis dahin unbekann-
tionen. Einige ihrer Kenntnisse könnten diese Urmenschen ter Menschenformen, sondern zusätzlich darüber, wie diese
möglicherweise auch an Homo sapiens weitergegeben mit den anatomisch modernen Menschen interagierten. So
haben. Fossile Fragmente, die gemeinsam mit solchen
kunstvollen Artefakten gefunden wurden, taxonomisch zu
bestimmen und zu datieren, könnte in dieser Debatte für Michael Schunkow (vorne links), Maxim Koslikin (vorne
mehr Klarheit sorgen. rechts) und Vladimir Vanejew (hinten rechts) von der
Bereits seit den 1980er Jahren graben russische Archäo- ­Russischen Akademie der Wissenschaften untersuchen
logen in der Denisova-Höhle. Doch erst 2010 erlangte die gemeinsam mit den Autoren Katerina Douka (hinten
Fundstelle weltweite Berühmtheit. In diesem Jahr veröffent- links) und Thomas Higham (hinten Mitte) die archäologi­
lichten Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für evolu- schen Schichten in der Denisova-Höhle, bevor sie Proben
tionäre Anthropologie in Leipzig die Ergebnisse von Gen- für die ZooMS-Analyse und die Radiokarbondatierung
analysen, die sie an einem Fingerknochenfragment durch- ­auswählen.
SERGEY ZELINSKI, RUSSISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

Spektrum der Wissenschaft  7.19 37


Zu wem gehört der Knochen?
Mit ZooMS, auch bekannt als Kolla- Enzym Trypsin das Kollagen in kleinere sie den Detektor. Die verschieden
gen-Peptidmassen-Fingerprinting, Peptidketten. Ein Laser ionisiert diese langen Moleküle werden nacheinander
können Forscher sonst nicht identifi- Bausteine, so dass sie durch die gemessen und ergeben ein charak­
zierbare Knochenfragmente taxono- elektromagnetischen Felder des teristisches Spektrum (»fingerprint«).
misch bestimmen. Dazu werden die im Massenspektrometers zum Detektor Anhand einer Bibliothek von Peptid­
Knochen konservierten Kollagenpro­ beschleunigt werden. Je kürzer und signaturen bekannter Tierarten lassen
teine in einem Massenspektrometer damit leichter die geladenen Peptid- sich die Messergebnisse einer
analysiert. Zunächst zerschneidet das ketten sind, desto schneller erreichen ­bestimmten Tiergruppe zuzuordnen.

Zugabe
des Enzyms
fossiles Trypsin
Knochen-
fragment Trypsin zerteilt die langen
Kollagenstränge, was eine
Mischung aus kurzen und
langen Peptiden ergibt.

Mittels starker
Säuren oder Basen extrahiertes einzelne
wird das Kollagen Kollagen Peptidketten
aus dem Knochen
extrahiert.
Laser
Peptidstruktur des
Knochenkollagens Die Peptide werden in
das Massenspektrometer
eingebracht.

lange, langsame Peptide

Die Mischung aus


langen und kurzen
Detektor Peptidketten ergibt
charakteristische
kurze, schnelle Peptide Spektren.

kurze, lange,
schnelle langsame
Peptide Peptide

Längere Eiweißketten
Intensität

bewegen sich langsamer,


kürzere schneller.
Letztere erreichen den
Detektor daher früher. Zeit

Bär Mensch Pferd


FALCONIERI VISUALS / SCIENTIFIC AMERICAN DEZEMBER 2018

38 Spektrum der Wissenschaft  7.19


wissen wir mittlerweile, dass sich Neandertaler und Homo nen. Soweit wir wissen, hat bisher noch niemand ZooMS
sapiens in den letzten 10 000 Jahren mindestens dreimal verwendet, um nach menschlichen Knochen zu suchen.
gekreuzt haben. Und auch die Denisovaner zeugten Nach- Zwar lässt sich mit dieser Methode wohl nicht zwischen
wuchs mit diesen zwei Menschenformen, mit denen sie Menschen und Menschenaffen unterscheiden, weil sich
sich den Lebensraum teilten. Die lange vertretene Meinung, deren Peptidsignaturen zu stark ähneln. Wir können aller-
der anatomisch moderne Mensch hätte bei seinem Auszug dings ausschließen, dass etwa Schimpansen oder Orang-
aus Afrika die archaischen Populationen Eurasiens einfach Utans während des Paläolithikums dort lebten. Wenn es
ausgelöscht und rasch ersetzt, muss folglich einem komple- uns also gelingen sollte, ein Knochenstück einem Homini-
xeren Szenario von Vermischung und Genfluss weichen. den zuzuordnen, sollte dieser menschlich sein. Die geneti-
Die meisten Fossilien aus der Denisova-Höhle sind aber sche Analyse kann die genaue Artbestimmung klären.
so unvollständig, dass wir menschliche Überreste mit Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre
bloßem Auge nicht erkennen können. Außerdem ist der Anthropologie in Leipzig und seine Arbeitsgruppe hatten
Fundplatz bis heute überaus schwierig zu datieren. Seit 2010 das Genom von »X-Woman« veröffentlicht, und wir
mittlerweile sechs Jahren wirken wir am Denisova-Projekt waren gespannt, was der Experte für alte DNA von unserer
als Experten für Radiokarbondatierung mit. Physikalische Idee hielt. Er war sofort begeistert und sicherte uns seine
Altersbestimmungen sind vor allem für Material aus dem Unterstützung zu. Auch Anatoli Derewjanko von der Russi-
Mittel- und Jungpaläolithikum (von vor rund 250 000 bis vor schen Akademie der Wissenschaften, der die Arbeit in der
40 000 beziehungsweise vor 40 000 bis 10 000 Jahren) Denisova-Höhle koordiniert, und Michail Schunkow, den
wichtig, denn die Geräte, etwa Faustkeile, aus diesen Leiter der Ausgrabungen, konnten wir überzeugen. Und so
Epochen zeigen keine charakteristischen Formen, die begannen wir einige Monate später, Proben von rund 3000
Archäologen mit bestimmten Zeiträumen verbinden könn- Fragmenten vermeintlich »wertloser« Knochen zu nehmen.
ten. Mit der C14-Methode versuchen wir, für die jüngere
Zeitspanne eine belastbare Chronologie der Denisova-Höhle Versteckt zwischen Mammuts und
und weiterer paläolithischer Orte in Eurasien zu erstellen. Wollnashörnern
Seit 2008 wurden an dem sibirischen Fundplatz mehr als Theoretisch, so dachten wir, sollte die Arbeit schnell erle-
13 000 Knochen ausgegraben. 95 Prozent können taxono- digt sein. In Wirklichkeit standen wir aber vor einer riesigen
misch nicht bestimmt werden, weil sie zu stark fragmen- Aufgabe: Aus jedem Fragment mussten wir ein winziges
tiert sind. Und auch alle identifizierten Urmenschenreste Knochenstück zur Analyse entfernen und dabei penibel
aus der Höhle sind winzig – in der Regel kürzer als zwei darauf achten, diese potenziell wertvollen Proben nicht zu
Zentimeter. Der Fingerknochen von »X-Woman« beispiels- verunreinigen. Eine unserer Studentinnen, Samantha
weise hatte nur die Größe einer Linse und wog weniger als Brown, verbrachte damit unzählige Stunden im Labor der
40 Milligramm. Auch die meisten anderen Knochen waren University of Oxford.
zerbrochen, vermutlich weil Raubtiere wie Hyänen im Lauf Die Analyseergebnisse der ersten 700 bis 800 Knochen-
der Zeit ebenfalls in der Höhle Schutz gesucht hatten, wo proben waren zwar interessant: Wir hatten Mammuts,
sie ihre Jungen mit Knochen gefüttert haben. Hyänen, Pferde, Rentiere, Wollnashörner – die gesamte
Wie könnten wir also in diesen tausenden Knochenfrag- Palette eiszeitlicher Tiere, aber leider keine Spur menschli-
menten mehr menschliche Überreste finden? Welche cher Existenz. Trotz der Enttäuschung suchten wir weiter.
weiteren genetischen und chronologischen Informationen Und tatsächlich erhielten wir eines Abends im Sommer
liegen darin wohl noch verborgen? Vielleicht schlummert 2015 eine E-Mail von Michael Buckley, dem ZooMS-Erfin-
hier sogar eine weitere unentdeckte Urmenschenart? Uns der, der ebenfalls mit uns zusammenarbeitet. Eine unserer
wurde klar, dass die ZooMS für ein solches Screening die Proben, DC1227, zeigte die charakteristischen Peptidmarker
Methode der Wahl ist. Denn Biomoleküle bleiben auf Grund eines Hominiden. Wir hatten also die sprichwörtliche Nadel
der stabilen und sehr niedrigen Durchschnittstemperatur in im Heuhaufen gefunden!
der sibirischen Höhle von zirka sechs Grad Celsius erstaun- Am nächsten Tag sahen wir uns im Oxforder Labor den
lich gut erhalten – selbst alte DNA. So stammen die beiden Knochen an. Ernüchtert mussten wir feststellen, dass das
vollständigsten Genome unserer Vorfahren, die bisher Fragment nur 25 Millimeter lang und damit selbst für Deni-
sequenziert wurden, von Fossilien aus der Denisova-Höhle. sova-Verhältnisse winzig war. Viele Möglichkeiten für
ZooMS wurde ursprünglich von Michael Buckley, heute weitere Analysen blieben uns nicht. Aber angesichts der
an der University of Manchester, und Matthew Collins von außergewöhnlichen Erhaltungsbedingungen hofften wir,
der University of York entwickelt. Mit der Methode identifi- dass die Menge ausreichen würde, um mit unseren Metho-
zieren Forscher seit mehr als einem Jahrzehnt Tierknochen den noch einiges über den Knochen herauszufinden. Wir
aus archäologischen Fundstätten. Sie ist mit umgerechnet machten hoch aufgelöste Fotos, schickten den Knochen
etwa 5 bis 10 Euro für eine Analyse relativ preiswert, und durch einen CT-Scanner und entnahmen zusätzliche Proben
man benötigt nur 10 bis 20 Milligramm Probenmaterial. Pro für die Datierung und Isotopenanalyse. Danach sandte
Woche kann ein einziger Wissenschaftler Hunderte von Brown den Rest nach Leipzig zur DNA-Analyse in Pääbos
Knochen auf diese Weise untersuchen. Labor.
So witterten wir eine große Chance: Wenn unter den Einige Wochen später erhielten wir die Ergebnisse der
Fragmenten aus der Denisova-Höhle weitere Reste von Radiokarbondatierung. Das Fehlen von radioaktivem Koh-
Urmenschen verborgen lagen, sollten wir sie finden kön- lenstoff in der Probe bedeutete, dass unser kleiner Knochen

Spektrum der Wissenschaft  7.19 39


CHRISTOFFER RUDQUIST

CHRISTOFFER RUDQUIST

Um fossile Knochen mit ZooMS analysieren Auch für die Radiokarbondatierung muss ein Teil des
zu können, schleifen die Forscher eine etwa ­Knochens zerstört werden. Von den häufig kleinen Splittern
20 Milligramm schwere Probe ab. bleibt nach ihrer Untersuchung oft nur wenig übrig.

mehr als 50 000 Jahre alt war. Auch die Ergebnisse der weisen ließ. Der etwa sieben Zentimeter lange Knochen
DNA-Analyse ließen nicht lange auf sich warten: Die mito- zeigte zudem auffällige Schnittspuren und weitere Anzei-
chondriale DNA – jener Teil des Erbguts, der nur über chen menschlicher Bearbeitung, wie man sie bereits von
die mütterliche Linie weitergegeben wird – ließ darauf anderen Neandertalerknochen kennt. Vermutlich stammen
schließen, dass die Mutter des Individuums, von dem der sie vom absichtlichen Zerteilen der Leiche; sie könnten
Knochen stammte, eine Neandertalerin war. Damit war sogar Spuren von Kannibalismus sein. Bald darauf bestätig-
es uns gelungen, einen Urmenschenknochen aufzuspüren, te Pääbos Team, dass es sich tatsächlich um einen Nean-
der sich zwischen unzähligen Überresten anderer Spezies dertaler gehandelt hatte.
versteckt hatte. Nach den ersten Erbgutanalysen wollte Das Exemplar mit der Analysennummer Vi-*28 sollte
Pääbos Team nun versuchen, die viel informativere Kern- sich als wichtiger Fund bei der chronologischen Neubewer-
DNA aus dem Knochen zu extrahieren, der jetzt die tung der Höhle und der Geschichte der Neandertaler her-
­Bezeichnung »Denisova 11« erhielt. In der Zwischenzeit ausstellen. Bis dahin legten Radiokarbondaten nahe, dass
entschieden wir, unsere Methode an weiterem Material die Frühmenschen bis vor zirka 30 000 Jahren dort lebten
zu testen. und sich somit eine unerwartet lange Zeit ihren Lebens-
Die Vindija-Höhle in Kroatien gilt als einer der wichtigs- raum mit anatomisch modernen Menschen teilten. Diese
ten Fundorte, um das Leben der späten Neandertaler und wanderten spätestens vor 42 000 bis 45 000 Jahren in die
ihr Miteinander mit anatomisch modernen Menschen in Region ein. Vindija galt daher als Refugium einer der letzten
Europa zu verstehen. Hier wollten wir ZooMS einsetzen, um Neandertaler-Gruppen, die in der Höhle Zuflucht fanden
einen besseren Überblick über die bislang nicht identifizier- und dort noch erstaunlich lange überleben konnten, wäh-
ten Knochen des Fundplatzes zu erhalten. rend ihre Artgenossen fast überall im restlichen Europa
Bisherige taxonomische Untersuchungen zeigten, dass längst Geschichte waren.
etwa 95 Prozent der besser erhaltenen Knochen aus der Diese Datierungen der menschlichen Überreste aus
Höhle von Höhlenbären stammen. Als unsere Studentin Vindija sind allerdings umstritten. Archäologen und Präpa-
Cara Kubiak mit ihren Analysen begann, erwarteten wir ratoren hatten die Knochen in der Vergangenheit mit
daher kaum, eine ebenso vielfältige Fauna vorzufinden, wie ­Konservierungsmitteln behandelt, die unter anderem Koh-
wir sie in der Denisova-Höhle entdeckt hatten. Umso er- lenstoff enthielten, der in die Knochen eindrang und so
staunlicher war es, als sich schon in der 28. Probe von die Isotopenverhältnisse für eine Radiokarbondatierung
insgesamt 350 die Peptidsequenz eines Hominiden nach- verfälschte. Glücklicherweise hatte man Vi-*28 irrtümlich

40 Spektrum der Wissenschaft  7.19


für einen Tierknochen gehalten und daher nicht konserviert. DNA mehr enthielt. Es ist uns gelungen, unter mehr als
Wir konnten sein Alter darum noch sehr genau bestimmen: 5000 Knochenfragmenten insgesamt fünf menschliche
Der Neandertaler, zu dem dieser Knochen gehörte, lebte Knochen zu finden, die ohne ZooMS wohl für immer in
vor etwa 47 000 Jahren und damit über 15 000 Jahre früher Vergessenheit geraten wären.
an diesem Fundplatz, als man ursprünglich angenommen Die aufregendste Entdeckung stand uns jedoch noch
hatte. bevor. Im Mai 2017 trafen wir uns mit Matthias Meyer
Wir entschieden uns daher, auch die bereits datierten und Janet Kelso von Pääbos Labor in Leipzig. Wir wollten
Neandertalerknochen aus der Vindija-Höhle erneut zu von ihnen wissen, ob sie es geschafft hatten, die Kern-
untersuchen. Das Ergebnis bestätigte, dass die haltbar DNA der Probe »Denisova 11« zu sequenzieren. Es kommt
gemachten Knochen falsche Ergebnisse geliefert hatten: nicht oft vor, dass man in der Wissenschaft völlig uner­
Sie sind unseren Messungen zufolge ebenfalls mehr als wartete Nachrichten erhält. Aber Meyer und Kelso lieferten
40 000 Jahre alt, so wie auch alle weiteren Proben der genau das. Die Kern-DNA, sagten sie, sei eigenartig
Frühmenschen von diesem Fundort, die bis jetzt datiert ­ge­spalten. Eine Hälfte passe zu einem Neandertaler, die
werden konnten. Die Neandertaler scheinen wohl doch andere schien von einem Denisova-Menschen zu stammen.
weit früher als vermutet aus Vindija verschwunden zu Um wirklich sicherzugehen, wollten sie die Proben noch
sein – v
­ ielleicht sogar noch, bevor die ersten anatomisch einmal analysieren. Nach einigen Monaten hatten wir
modernen Menschen dort ankamen. Gewissheit: Ihr Ergebnis war korrekt. Die mitochondriale
DNA hatte uns nur die Hälfte des Bildes gezeigt. Was wir
Sonderbare Mischung: gefunden hatten, war kein Neandertaler, sondern ein Nach-
Mutter Neandertalerin – Vater Denisovaner komme einer Neandertaler-Mutter und eines Denisovaner-
Mittlerweile haben auch andere Forschergruppen mit der Vaters – eine Hybride der ersten Generation, wie Genetiker
Technik große Erfolge erzielt. 2016 berichteten Frido Wel- sagen.
ker, heute am dänischen Naturkundemuseum in Kopenha- Durch die Genanalyse wissen wir auch, dass »Deniso-
gen, und seine Kollegen, dass sie mit der Methode von bis va 11« eine Frau war, die vor ungefähr 90 000 bis 100 000
dahin nicht identifizierten Knochenfragmenten aus der Jahren lebte. Ein CT-Scan ermöglichte es, die Knochendich-
Grotte du Renne in Burgund 28 als menschlich einordnen te zu bestimmen. Daran konnte der Anthropologe Bence
konnten. Vor Jahrzehnten fanden Forscher dort Neanderta- Viola von der University of Toronto erkennen, dass sie
lerknochen zusammen mit einer Reihe überraschend kom- mindestens 13 Jahre alt war, als sie starb. In ihrem Erbgut
plexer Artefakte, darunter Knochenwerkzeuge, Anhänger zeigte sich außerdem, dass ihr Denisovaner-Vater vermut-
und anderen Körperschmuck – Elemente der so genannten lich ebenfalls einen Neandertaler als entfernten Verwandten
Châtelperronien-Kultur am Übergang zwischen Mittel- und hatte – mehrere hundert Generationen zurück.
Jungpaläolithikum. Wir werden wohl nie erfahren, wie solche Vermischun-
Diese Entdeckung stand im krassen Widerspruch zu der gen in der Vorgeschichte zu Stande kamen. Wir wissen nur,
bis dahin vertretenen Vorstellung, Homo sapiens allein sei dass sie passierten. Ebenso wenig können wir feststellen,
zu einem solchen technischen und künstlerischen Einfalls- woran »Denisova 11« gestorben ist. Möglicherweise hat ein
reichtum fähig. Und so begann eine bis heute andauernde Raubtier, vielleicht eine Hyäne, ihre Überreste in die Höhle
Debatte darüber, ob wirklich Neandertaler mit den fort- geschleppt und sich daran gütlich getan. Ob das Mädchen
schrittlichen Artefakten in Verbindung gebracht werden zuvor von seinen Angehörigen feierlich bestattet wurde
können. oder ob es dem wilden Tier zum Opfer fiel, bleibt aber
Gegner dieser Theorie erwiderten, dass vermutlich die un­gewiss.
archäologischen Schichten am Fundplatz gestört worden Seit fast 100 000 Jahren lag dieses winzige Stückchen
waren. Ältere Neandertalerknochen seien dabei mit jünge- ihres Körpers ungestört in der Höhle und hätte noch viele
ren Artefakten des Homo sapiens vermischt worden. Die Jahre dort verborgen bleiben können. Doch dank moderner
28 Knochenfragmente, die Welker und seine Kollegen mit wissenschaftlicher Methoden konnten wir dem Knochen
ZooMS als menschlich identifizierten, hatten aber eindeutig wieder Leben einhauchen und ihm einen spannenden Teil
in derselben Schicht gelegen wie die fortschrittlichen Werk- seiner Geschichte entlocken. 
zeuge und Schmuckgegenstände. Ebenso eindeutig waren
die DNA-Ergebnisse: Die Knochen stammen von Neander- QUELLEN
talern. Das spricht klar dafür, dass die Urmenschen Châtel- Brown, S. et al.: Identification of a new hominin bone from
perronien- sowie andere komplexe Techniken beherrschten Denisova Cave, Siberia using collagen fingerprinting and
und sich künstlerisch betätigten. Sie waren offenbar intelli- mitochondrial DNA analysis. Scientific Reports 6, 2016
genter, als man es ihnen bisher zugetraut hatte. Devièse, T. et al.: Direct dating of neanderthal remains from the
Während unserer Arbeit an den Vindija-Knochen gingen site of Vindija Cave and implications for the middle to upper
die Untersuchungen an den Proben aus der Denisova-­ paleolithic transition. PNAS 114, 2017
Höhle weiter. Wir hofften darauf, noch mehr menschliche Slon, V. et al.: The genome of the offspring of a neanderthal
Fossilien zu finden. Und wir hatten Glück: Es kamen die mother and a denisovan father. Nature 561, 2018
Reste zweier weiterer Urmenschen ans Licht: DC3573, ein Welker, F. et al.: Palaeoproteomic evidence identifies archaic
über 50 000 Jahre altes Fragment eines Neandertalers, und hominins associated with the Châtelperronian at the Grotte du
DC3758, ein etwa 46 000 Jahre alter Knochen, der keine Renne. PNAS 113, 2016

Spektrum der Wissenschaft  7.19 41


ASTRONOMIE
INS HERZ
DER FINSTERNIS
Lange waren Schwarze Löcher etwas, was
man nur mit Formeln begreifbar machen konnte.
Nun haben Astrophysiker eines der Masse­
monster mit Teleskopen abgelichtet. Ein Bild für
die Geschichtsbücher – und der vorläufige
Höhepunkt einer langen Reise.

Robert Gast ist Physiker und Redakteur


bei Spektrum.

 spektrum.de/artikel/1647844


Am Ende ist das Wetter so gnädig wie seit Jahren nicht
mehr. Überall ist die Sicht klar: in der marshaften
Einöde der chilenischen Anden, auf dem Gipfel eines
erloschenen mexikanischen Vulkans, an einem überwach­
senen Bergkamm in Arizona, in der spanischen Sierra
Nevada, auf dem Mauna Kea in Hawaii und am Südpol. Erst

EHT COLLABORATION (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1907A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)


zögern die Wissenschaftler noch, dann gibt einer von ihnen
das Startsignal – und an jedem der Standorte schwenken
haushohe Teleskopschüsseln in Position.
Eines ihrer Ziele an diesem Apriltag des Jahres 2017: ein
aberwitzig kleiner Fleck im Sternbild Schütze. Astronomen
vermuten dort, im 26 000 Lichtjahre entfernten Mittelpunkt
unserer Galaxie, seit Langem ein Schwarzes Loch namens
Sagittarius A*. Schätzungen zufolge ist es 4,3 Millionen Mal
so schwer wie unsere Sonne. Es ist der Ort, um den sich die
spiralförmigen Arme der Milchstraße drehen. Zugleich ist
es ein Symbol für die Grenze des Wissens unserer Zivilisa­ Diese Aufnahme des Event Horizon
tion: Noch nie haben Menschen ein Schwarzes Loch gese­ Telescope ging um die Welt: Sie zeigt
hen. Bisher konnten sie immer nur indirekt auf die Existenz einen leuchtenden Ring aus heißer
der bizarren Objekte schließen. Materie, der das Schwarze Loch im
Über Stunden behalten die rund um den Globus verteil­ Zentrum der Galaxie M87 umgibt. Das
ten Parabolantennen die Region im Blick. Immer wieder Bild ist das Resultat einer Rekonstruk­
spähen sie auch ins Zentrum einer anderen Galaxie namens tion von Messdaten, die acht Observato­
M87, die im Sternbild Jungfrau am Nachthimmel steht und rien im April 2017 gesammelt hatten.

42 Spektrum der Wissenschaft  7.19


EHT COLLABORATION (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1907A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

AUF EINEN BLICK


DER SCHATTEN DES MONSTERS

1 Durch einen Zusammenschluss von acht Radioteles­


kop-Observatorien haben Astrophysiker erstmals die
Umrisse eines supermassereichen Schwarzen Lochs
»fotografiert«.

2 Die Aufnahme zeigt das Exemplar im Herzen der


55 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxie M87, das so
schwer ist wie 6,5 Milliarden Sonnen.

3 Astrophysiker in aller Welt haben zwei Jahrzehnte auf


das Bild hingearbeitet – dabei sah es immer wieder so
aus, als könnte das Projekt scheitern.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 43


in deren Herzen sich ein noch viel gewaltigeres Schwarzes des Objekts zwingt sämtliche Materie im Umfeld in eine
Loch versteckt halten soll. brodelnde, rasant rotierende Scheibe. An den Polen des
Fünf Tage dauert die Beobachtung durch den Teleskop­ Schwarzen Lochs setzt außerdem das ein, was Astrophysi­
verbund, den die Wissenschaftler Event Horizon Telescope ker einen Jet nennen – ein Strahl aus sengendem Plasma,
(EHT) getauft haben. 3300 Terabyte an Daten zeichnen die der Teilchen tausende Lichtjahre weit ins All schleudert.
acht Observatorien in dieser Zeit auf – viel zu viel, um sie Wie schwierig es war, dieses Inferno abzubilden, erzähl­
per Internet zu übertragen. Also packen die Forscher rund ten die beteiligten Wissenschaftler auf der Brüsseler Presse­
1000 Festplatten in gepolsterte Boxen und lassen sie nach konferenz. Am Nachthimmel hat der leuchtende Kranz um
Boston und Bonn fliegen, zur Auswertung. das Schwarze Loch von M87 gerade mal eine Ausdehnung
Zwei Jahre später, am 10. April 2019, gibt es endlich ein von 42 millionstel Bogensekunden. Das Vorhaben glich
Ergebnis: Auf nicht weniger als sechs Pressekonferenzen damit dem Versuch, eine Orange auf dem Mond abzubilden.
hat das internationale Team aus gut 200 Wissenschaftlern Um die nötige Auflösung zu erreichen, war der Zusam­
eine Aufnahme des EHT präsentiert. Es zeigt nur einen menschluss der acht rund um den Globus verteilten Obser­
verwaschenen roten Ring vor dunklem Hintergrund (siehe vatorien nötig. Gemeinsam bildeten die Radioteleskope ein
Aufnahme S. 42/43). Aber die Forscher sind sich sicher: »virtuelles« Teleskop von der Größe der Erde. »Im Team
Hier ist das Schwarze Loch im Zentrum der fernen Galaxie haben wir ein viel besseres Ergebnis erzielt, als wir es allein
M87 zu sehen – oder besser gesagt seine Umrisse. je hinbekommen hätten«, sagte EHT-Forscher Anton Zen­
sus, Direktor am Max-Planck-Institut für Radioastronomie.
So ikonisch wie der »Pale Blue Dot« In einer Hinsicht blieben die präsentierten Ergebnisse
Für manchen Forscher ist es eine Aufnahme, die man in allerdings hinter den Erwartungen zurück: Eigentlich wollten
eine Reihe mit dem ikonischen »Pale Blue Dot« aus dem die Wissenschaftler ja nicht nur das supermassereiche
Jahr 1990 stellen sollte. Das Bild zeigte die Erde als winzi­ Schwarze Loch im Zentrum der Galaxie M87 abbilden,
gen blauen Punkt in den Weiten des Alls, aufgenommen sondern auch das Exemplar im Herzen der Milchstraße.
von der Raumsonde Voyager 1. Schaut, wie zerbrechlich Noch ist unklar, ob die Daten von 2017 dafür ausreichen.
unsere Heimat ist, schien das Foto zu sagen. Die Aufnahme Das ruft in Erinnerung, wie nah Erfolg und Scheitern
des Event Horizon Telescope hat eine ähnlich gewichtige beim Event Horizon Telescope stets beisammenlagen. Von
Botschaft. Doch statt einer Oase des Lebens zeigt sie einen Anfang an war es Wissenschaft an der Grenze des tech­
Ort größtmöglicher Vernichtung. Es ist gewissermaßen das nisch Machbaren, und für die Radioastronomen war es so
Gegenteil der stabilen Biosphäre, die wir auf der Erde für etwas wie die Erstbesteigung des Mount Everest. Mehrfach
selbstverständlich nehmen. wäre das Projekt fast gescheitert. Am Ende wurde es nur
Dafür spricht jedenfalls alles, was Wissenschaftler über deshalb ein Erfolg, weil sich die Forscher weder von persön­
Schwarze Löcher wissen. Das Exemplar im Zentrum von lichen Differenzen noch von politischen Turbulenzen abbrin­
M87 bringt unvorstellbare 13 000 Billionen Billionen Billio­ gen ließen – und gemeinsam auf das Ziel hinarbeiteten.
nen Kilogramm auf die Waage (eine Zahl mit 41 Stellen), so Am Anfang dieser Geschichte steht eine Entdeckung aus
viel wie 6,5 Milliarden Sonnen. Die gewaltige Schwerkraft dem Jahr 1932: Techniker der berühmten Bell Telephone

NASA, ESA, AND THE HUBBLE HERITAGE TEAM (STSCI/AURA) (HUBBLESITE.ORG/IMAGE/2391/NEWS_RELEASE/2008-30)


Auf Bildern des Hubble-Welt­
raumteleskops erscheint die 55
Millionen Lichtjahre entfernte
Galaxie M87 als diffuser Lichthof.
Wenn man genau hinsieht, kann
man den »Jet« aus heißer Mate­
rie erkennen, den das Schwarze
Loch im Zentrum tausende
Lichtjahre weit ins All feuert.

44
Schwarze Löcher waren zu jener Zeit nicht mehr als
IRAM
(Spanien) eine kuriose Möglichkeit aus Albert Einsteins allgemeiner
SMT (Arizona)
Relativitätstheorie. Schon dem jungen Physiker Karl
SMA Schwarzschild war 1915 an der Ostfront des Ersten Welt­
JCMT
(Hawaii) kriegs aufgefallen, dass manche Lösungen der einstein­
LMT (Mexiko)
schen Feldgleichungen scheinbar widersinnige Ergebnisse
lieferten: Für extrem dichte Massehaufen spucken die
Gleichungen einen Radius aus, ab dem das Gravitationsfeld
TELESCOPE RESULTS. I. THE SHADOW OF THE SUPERMASSIVE BLACK HOLE.

gegen unendlich zu streben scheint – als würde man eine


SUW-GRAFIK, NACH EHT COLLABORATION: FIRST M87 EVENT HORIZON

ASTROPHYSICAL JOURNAL LETTERS 875, L1, 2019, FIG. 1; ERDE: NASA

Zahl durch null teilen.

APEX
Ein Punkt, an dem die Zeit stillsteht
ALMA Das konnte nicht sein, fanden Einstein, Schwarzschild und
(Chile)
viele andere. Doch in den folgenden Jahrzehnten beschäf­
tigten sich Astrophysiker immer wieder mit der Frage, was
mit Sternen passiert, die sämtliche Atomkerne in ihrem
Inneren zu schwereren Elementen verschmolzen haben. In
den 1930er Jahren kristallisierten sich Antworten heraus:
SPT (Antarktis)
Sterne vom Format unserer Sonne fallen zu einer milchig
schimmernden Kugel von der Größe eines Planeten zusam­
Die Observatorien des Event Horizon Telescope im men, einem Weißen Zwerg. Plasmakugeln mit etwas größe­
Jahr 2017: das James Clerk Maxwell Telescope und rer Masse kollabieren dagegen zu einem extrem kompakten
das Submillimeter Array auf Hawaii, das Submillimeter Objekt vom Format einer Großstadt, einem Neutronenstern.
Telescope in Arizona, das Large Millimeter Telescope Aber was, wenn ein noch schwererer Stern in sich zu­
in Mexiko, APEX und ALMA in Chile, das South Pole sammenfällt? Robert Oppenheimer, der spätere Vater des
Telescope am Südpol und das 30-Meter-Teleskop des amerikanischen Atombombenprogramms, machte sich
IRAM-Observatoriums in Spanien. dazu kurz vor dem Zweiten Weltkrieg Gedanken. Seinen
Rechnungen zufolge konnte nichts und niemand den Kol­
laps aufhalten – er setzt sich einfach immer weiter fort. Die
Laboratories im US-Bundesstaat New Jersey wollten da­ Materie müsste für alle Ewigkeit auf einen Punkt im Zent­
mals Funksprüche per Kurzwelle über den Atlantik senden. rum stürzen, prognostizierte der US-Amerikaner.
Auf der Suche nach möglichen Störquellen stieß der Physi­ Oppenheimer berief sich dabei auf Einsteins Relativitäts­
ker Karl Jansky auf ein rätselhaftes Signal, das seinen theorie: Laut ihr dehnen Massen das Gefüge von Raum und
Ursprung in der Mitte der Milchstraße zu haben schien. Das
war nicht die einzige mysteriöse Strahlungsquelle am
Nachthimmel: Nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckten
ehemalige Militärfunker um den Briten John Gatenby Radiowellen und Millimeter-
Bolton weitere Regionen am Firmament, aus denen extrem strahlung
schwache, aber klar nachweisbare Radiowellen zur Erde
drangen. Das Event Horizon Telescope fängt Strahlung einer
Erst in den 1960er Jahren lokalisierten Astronomen den Wellenlänge von 1,3 Millimetern auf; das entspricht
genauen Ursprung der Signale: Sie kamen aus einzelnen, einer Frequenz von 230 Gigahertz. Für Physiker
Millionen Lichtjahre entfernten Galaxien, darunter auch fällt sie damit gerade noch in den Bereich der
M87. In ihnen schien ein gigantisches Feuerwerk im Gang Radiowellen, die auch viele Zentimeter, Meter oder
zu sein. Ein Feuerwerk, das das Weltall mit Strahlung Kilometer lang sein können. Bei sichtbarem Licht
flutete. Nur woher nahmen diese »aktiven Galaxienkerne« liegen benachbarte Wellentäler hingegen nur
die nötige Energie? Selbst verschmelzende Atomkerne, wie 0,0004 bis 0,0007 Millimeter auseinander. Mit der
man sie zu jener Zeit aus Sternen oder Wasserstoffbomben Wellenlänge verändert sich die Art und Weise, wie
kannte, schienen hierfür nicht auszureichen, bei Weitem Strahlung mit Materie interagiert: Während eine
nicht. Hauswand oder interstellare Staubwolken sichtba­
Nach einigem Grübeln stießen Physiker auf eine andere res Licht zurückhalten, kann Millimeterstrahlung
Möglichkeit: Materie im freien Fall. Rechnungen zeigten, beides passieren. Für den Nachweis der Wellen
dass ein Objekt, das lange von einem Gravitationsfeld sind jedoch spezielle Parabolantennen nötig. Sie
beschleunigt wird, enorme Bewegungsenergie gewinnt. müssen eine besonders glatte Oberfläche auf­
Wird das Objekt dann abrupt abgebremst oder umgelenkt, weisen und sollten sich weit oberhalb des Meeres­
wandelt es die Energie in Wärme oder Strahlung um. Und spiegels befinden, da Millimeterstrahlung von
wie es der Zufall wollte, diskutierten die Gelehrten Mitte der Wasserdampf in der Atmosphäre absorbiert wird.
1960er Jahre gerade engagiert über etwas, was Materie die
nötige Beschleunigung verpassen konnte.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 45


Zeit wie Kaugummi. Bei sehr großen Massen hat das
bizarre Konsequenzen, argumentierte Oppenheimer. Hier ist
die Schwerkraft so stark, dass die Zeit praktisch einfriert,

GERMANY/IMAGES/ESO1907F/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)


zumindest aus der Perspektive eines außen stehenden

JORDY DAVELAAR ET AL./RADBOUD UNIVERSITY/BLACKHOLECAM (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/


Beobachters. Für ihn müsste es so wirken, als falle die
Materie eines kollabierenden Riesensterns immer weiter auf
den Punkt im Zentrum zu, dessen Dichte dadurch ins
Unendliche wächst. Für das Umfeld dieser Singularität
hätte das extreme Folgen: Sobald etwas einmal den von
Schwarzschild berechneten Radius passiert hätte, den so
genannten Ereignishorizont, könnte es nicht mehr kehrtma­
chen, egal, was passiert.
Bis in den 1960er Jahre hielten die meisten Physiker das
für einen originellen Gedanken ohne praktische Relevanz.
Doch die Entdeckung aktiver Galaxienkerne wie dem in der
Galaxie M87 machte die exotischen Gebilde plötzlich zu
einer plausiblen Möglichkeit. Unter anderem der umtriebige
US-Physiker John Archibald Wheeler setzte sich für Oppen­ Simulation des aktiven Galaxienkerns von M87: Das
heimers Idee ein – er sollte einige Jahre später auch den Schwarze Loch in der Mitte ist von einer rotierenden
­Begriff »black hole«, also »Schwarzes Loch« prägen. Scheibe aus Gas und Staub umgeben. Senkrecht dazu
Aber gab es die bizarren Objekte wirklich? Von den entweichen zwei Jets aus heißer Materie.
1970er Jahren an durchforsteten Astronomen das Weltall
nach ihnen. Die Forscher spürten dabei immer mehr ferne
Galaxien auf, in deren Kern sich ein unsichtbares Monstrum sereichen« Schwarzen Löcher müssten von Millionen Grad
zu verstecken schien. Bald wurden sie auch in unserer heißer Materie umgeben sein. Darunter auch Elektronen, die
Milchstraße fündig: Im 6000 Lichtjahre entfernten Sternsys­ fast mit Lichtgeschwindigkeit umhergeschleudert werden
tem Cygnus X-1 verschlingt ein etwa 15 Sonnenmassen und dabei große Mengen Strahlung abgeben.
schweres Schwarzes Loch einen Stern, was große Mengen Nach und nach tauchten immer mehr Hinweise auf, dass
an Röntgenstrahlung freisetzt. sich etwas Ähnliches auch im Herzen der Milchstraße ab­
Entdeckungen wie diese legten nahe, dass es die Raum­ spielt. Das dortige Schwarze Loch war jedoch offensichtlich
zeit-Löcher in ganz verschiedenen Größen gibt. Kollabieren­ bei Weitem nicht so aktiv wie das im Kern von M87, dessen
de Sterne mit sehr viel Masse hinterlassen offenbar »stella­ Zentrum zwei gewaltige Materiestrahlen ins All feuert (siehe
re« Schwarze Löcher wie das von Cygnus X-1, die allenfalls Bild oben). Trotzdem müsste man es aufspüren können,
einige Dutzend Sonnenmassen auf die Waage bringen. argumentierten Astrophysiker – nicht zuletzt über seine enor­
Schätzungen zufolge gibt es allein in unserer Galaxie Millio­ me Schwerkraft. Mit der Zeit wurden die innersten Lich­tjahre
nen solcher Objekte. In den allermeisten Fällen emittiert ihr unserer Galaxie zu einer der am besten studierten Regionen
Umfeld allerdings keine Strahlung. Und selbst wenn: Stella­ der Astronomie. Teleskope spürten dort allerlei exotische
re Schwarze Löcher sind viel zu klein, als dass man ihren Dinge auf: gewaltige Magnetfeldbogen, an denen Elektronen
Umriss auf Teleskopaufnahmen sehen könnte. wie an einer Wendeltreppe hinaufklettern. Rasant vorüber­
Auch die 1974 von Stephen Hawking prognostizierte ziehende Wolken aus heißem Gas. Blaue Riesensterne, die
Strahlung, die von Schwarzen Löchern selbst ausgehen mit tausenden Kilometern pro Sekunde durchs All schießen.
soll, kam nicht für einen Nachweis in Frage. Rechnungen
zufolge war sie viel zu schwach, um sie mit Teleskopen 10 000-mal kleiner als das, was das Weltraumteleskop
aufzufangen. Im Zentrum von Galaxien sah die Sache Hubble beobachten kann
jedoch anders aus. Hier müssten die extremen Objekte Das Schwarze Loch in Sagittarius A* stellte jedoch nur einen
millionen-, wenn nicht sogar milliardenfach mehr Masse winzigen Punkt in diesem Chaos dar. Seine Größe schätzten
haben und entsprechend größer sein, argumentierten Forscher damals auf ein Dutzend Millionen Kilometer, das
Forscher in den 1970er Jahren. Und viele dieser »supermas­ Neunfache des Durchmessers unserer Sonne. Aus heutiger
Sicht hatte man die Größe des Schwarzen Lochs damit um
50 Prozent unterschätzt. Und so gingen Experten noch zu
Beginn der 1990er Jahre davon aus, dass man das Masse­
monster mit irdischer Technik schlicht nicht erfassen könnte:
Mehr Wissen auf In 26 000 Lichtjahren Entfernung würde der Ereignishorizont
Spektrum.de 10 000-mal kleiner als das erscheinen, was das Hubble-Welt­
raumteleskop auflösen kann. Das hielt Radioastronomen
Mehr dazu finden Sie auf unserer
zwar nicht davon ab, ihre Parabolschüsseln immer wieder
Themenseite unter
spektrum.de/t/schwarze-loecher gen Sagittarius A* zu richten. Aber alles, was sie sahen, war
ISTOCK / OORKA ein verschwommener Fleck, der allenfalls Rückschlüsse auf
die weitläufige Umgebung im galaktischen Zentrum zuließ.

46 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Die Lage ändert sich erst in den 1990er Jahren. Der Kollegen auch gelten könnte, wenn ein Schwarzes Loch von
junge deutsche Astrophysiker Heino Falcke forscht damals heißer Materie umgeben ist. Ein ähnliches Szenario hatte der
am Bonner Max-Planck-Institut für Radioastronomie. Seit französische Astronom Jean-Pierre Luminet bereits 1979
seiner Doktorarbeit interessiert er sich brennend für das durchgespielt. Falcke kennt den Aufsatz nicht, stellt aber auf
Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße. Entweicht Basis von Bardeens Abschätzungen fest, dass Sagittarius A*
Radiostrahlung nur in großem Abstand von ihm oder auch wider Erwarten groß genug wäre für eine Beobachtung von
in unmittelbarer Nähe? Die unscharfen Mess­daten zu dieser der Erde aus.
Zeit sind mit beiden Szenarien kompatibel. Doch bereits Die Rechnungen passen auch gut zu Messdaten aus dem
1992 hat Falcke gemeinsam mit Kollegen ein Modell entwi­ galaktischen Zentrum, die Falckes Kollegen Anton Zensus
ckelt, dem zufolge die Strahlung von knapp oberhalb des und Thomas Krichbaum zu dieser Zeit am Bonner Max-
Ereignishorizonts kommen müsste, von dort, wo Materie in Planck-Institut vorstellen. Sie lassen zwar noch keinen
den Schlund des Monsters rutscht. Rückschluss auf Details zu. Mit etwas Optimismus kann man
Aber kann man das von der Erde aus wirklich beobach­ sie allerdings so extrapolieren, dass es in der Mitte von
ten? Genau wie seine Kollegen ist Falcke zunächst pessimis­ Sagittarius A* einen Bereich gibt, aus dem keine Strahlung
tisch. Doch eines Tages blättert er in der Bibliothek des entweicht.
Bonner Max-Planck-Instituts durch einen alten Tagungs­ Zensus und Krichbaum werden sich in den kommenden
band – und stößt per Zufall auf eine Arbeit aus dem Jahr Jahrzehnten zu einer treibenden Kraft entwickeln, wenn es
1973, die bis dahin kaum Beachtung gefunden hat. Der darum geht, mit immer mehr und besseren Teleskopen gen
US-Amerikaner James M. Bardeen rechnet darin aus, wie es Sagittarius A* zu blicken. Zunächst ist es aber ihr jüngerer
wirken würde, wenn ein Stern direkt hinter einem Schwarzen Kollege Falcke, der selbstbewusst auf Konferenzen verkün­
Loch stünde. In diesem Fall sähe ein Beobachter den Stern det, man könne ein Bild des Schattens von Sagittarius A*
trotzdem, denn Licht kann einen Bogen um das masserei­ machen. Anfangs wird er dafür zuweilen belächelt, mit der
che Objekt machen. Die Umrundung klappt jedoch nur bis Zeit bröckelt die Skepsis seiner Kollegen jedoch.
zu einem bestimmten Orbit: Fliegt ein Lichtteilchen zu nah Der endgültige Wendepunkt ist hier ein Fachaufsatz aus
am Schwarzen Loch vorbei, wird es auf Bahnen gezogen, dem Jahr 2000, den Falcke gemeinsam mit seinen Kollegen
die es im Inneren verschwinden lassen. Fulvio Melia und Eric Agol schreibt. Das Trio legt darin en
Auf einer Teleskopaufnahme würde dieser Rand – die détail dar, wie die Beobachtung gelingen könnte. Den
Physiker sprechen vom »letzten Photonenorbit« – klar Schlüssel sehen die Astrophysiker in einer Technik namens
hervortreten. Was die Größe der Struktur anbelangt (Falcke »Very Long Baseline Interferometry«, kurz VLBI. Das Verfah­
und seine Kollegen werden sie später »Schatten« taufen), ren ist in jenen Tagen bereits etabliert; unter anderem die
kommt Bardeen zu einem überraschend ermutigenden Bonner MPI-Gruppe um Anton Zensus arbeitet damit. Bei
Ergebnis: Der Schatten müsste einen 2,5-mal so großen VLBI blicken Astronomen mit mehreren weit entfernten
Durchmesser wie der Ereignishorizont haben, denn das Radioteleskopen auf dieselbe Quelle am Himmel. Mit Hilfe
Schwarze Loch verformt die umliegende Raumzeit zu einer extrem präziser Atomuhren halten die Astronomen an jedem
Art überdimensionierter Lupe. der Standorte fest, wann eine Radiowelle das jeweilige
»Das war der Aha-Moment«, erinnert sich Falcke. Denn Teleskop erreicht hat. Anhand dieser Zeitstempel fügen die
er erkennt, dass die Überlegung seines US-amerikanischen Forscher die Ergebnisse anschließend mit einem Supercom­

Auf die Auflösung kommt es an


Wer Genaueres über weit entfernte schüsseln wie das 100-Meter-Teles­ über den Globus verteilter Observa­
Regionen im Weltall lernen will, kop in Effelsberg erreichen eine torien. Bei dieser Very Long Base­
braucht ein Teleskop mit hoher Winkelauflösung von etwa zehn line Interferometry (VLBI) kann man
Auflösung, also mit der Fähigkeit, Bogensekunden – das entspricht den Abstand zwischen zwei weit
trotz der gewaltigen Entfernungen 0,5 Prozent der Ausdehnung des entfernten Standorten als Teleskop­
Strukturen möglichst detailliert Vollmonds am Nachthimmel. Der durchmesser in die obige Formel
abzubilden. Ring um das Schwarze Loch im einsetzen. Für einen erdumspan­
Eine Formel aus der Astronomie Zentrum von M87 hat am Firma­ nenden Verbund aus Teleskopen,
gibt hier seit Langem das Limit vor: ment jedoch gerade mal eine Größe die Strahlung mit einer Wellenlänge
Der gerade noch auflösbare Win­ von 42 millionstel Bogensekunden von 1,3 Millimetern auffangen,
kelabstand zwischen zwei Punkten (0,000002 Prozent des Vollmond­ ergibt sich eine maximale Auflö­
am Nachthimmel (Θ) ist proportio­ durchmessers). sung im Bereich von 20 millionstel
nal zur Wellenlänge der verwende­ Aber mit einem Trick lässt sich Bogensekunden – gerade genug,
ten Strahlung (l) und umgekehrt das Auflösungsvermögen deutlich um das Schwarze Loch in M87
proportional zur Größe des Teles­ verbessern: Astronomen kombinie­ sowie das im Zentrum der Milch­
kops (D): Θ ≈ l/D. Große Parabol­ ren dazu die Aufnahmen mehrerer straße erkennen zu können.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 47


puter zusammen. Damit erhält das Bild eine deutlich besse­ auch die Computerrevolution zur Hilfe: Sie macht Digital­
re Auflösung. Theoretisch kann ein VLBI-Verbund dadurch rekorder immer leistungsfähiger und preiswerter.
Werte eines gigantischen virtuellen Teleskops von der Bei den anfallenden Arbeiten tut sich Mitte der 2000er
Größe der Erde erreichen (siehe »Wie das ›Foto‹ entstanden Jahre unter anderem eine US-amerikanische Gruppe um
ist«, unten). Sheperd (»Shep«) Doeleman hervor, der damals am Massa­
Im Jahr 2000 ist allerdings klar: Für die Beobachtung chusetts Institute for Technology (MIT) forscht. Mit großem
eines Schwarzen Lochs im Zentrum einer Galaxie ist die Eifer arbeitet sich das Team an den technischen Problemen
Technik noch nicht gut genug. Denn im großen Stil funktio­ der Ein-Millimeter-VLBI ab. Es bringt dadurch vor allem die
niert VLBI damals nur für Strahlung mit einer Wellenlänge digitale Datenerfassung und die Breitbandtechnik deutlich
von drei oder mehr Millimetern. Für ein Bild des Schwarzen voran.
Lochs müsste man hingegen bei einem oder einigen zehn­ Ähnlich wie die Bonner MPI-Astronomen um Zensus und
tel Millimetern Wellenlänge beobachten. Und hier steckt Krichbaum versuchen die Amerikaner in dieser Phase
VLBI nach wie vor in den Kinderschuhen, trotz erster ermu­ immer wieder, einen Millimeter-Blick auf Sagittarius A* zu
tigender Tests durch die Gruppe um Zensus. werfen. 2006 koppelt Doelemans Gruppe dafür Teleskope in
Arizona, Kalifornien und auf Hawaii und richtet sie auf das
Dichte Staubwolken und turbulentes Gas versperren Zentrum der Milchstraße. Der erste Versuch geht schief,
den Blick in Richtung Schwarzes Loch doch im Jahr darauf gelingt die Beobachtung: Die drei
»Wir haben uns nach und nach an immer kürzere Wellen­ Teleskope fangen 1,3-Millimeter-Strahlung auf – die Wellen­
längen und größere Basislinien herangepirscht«, erinnert länge, bei der später auch das EHT arbeiten wird. Aus Sicht
sich der Bonner Astronom. Anfang der 2000er Jahre koordi­
niert Zensus etwa einen transatlantischen Zusammen­
schluss von europäischen und amerikanischen Radioteles­
kopen, die bei drei Millimetern beobachten, das Global Wie das »Foto« entstanden ist
mm-VLBI Array. Es sind wertvolle Erfahrungen für die
spätere Arbeit mit dem Event Horizon Telescope – aber für Wer zwei Teleskope zusammenschaltet, baut
einen klaren Blick ins galaktische Zentrum reicht es noch damit ein Interferometer. Lichtwellen eines fernen
nicht, auch wegen der verwendeten Wellenlänge. Objekts, die sich bei der Zusammenführung konst­
Hat sie einen anderen Wert als einen oder einige zehntel ruktiv überlagern, erscheinen für das Teleskoppaar
Millimeter, werden die Wellen entweder von der Erdatmo­ als heller Streifen. Strahlung, die sich gerade
sphäre abgefangen, oder sie kommen erst gar nicht durch auslöscht, wird hingegen zu einem dunklen Be­
die dichten Staub- und Gaswolken, die sich zwischen der reich. So legt das Interferometer gewissermaßen
Erde und dem Zentrum der Milchstraße ballen. Rund 10 000 ein schwarz-weißes Streifenmuster über den
Lichtjahre von der Erde entfernt driftet besonders turbulen­ Himmel – Strahlung aus den hellen Regionen kann
tes Gas durchs All, das sämtliche Bilder von Sagittarius A* es nachweisen, jene aus dunklen Gegenden nicht.
wie Milchglas verzerrt. Je größer der Abstand zwischen den Telesko­
Millimeterwellen können dieses Hindernis am ehesten pen, desto feiner wird das Muster. Hieraus bezieht
durchdringen. Anfang der 2000er Jahre gibt es jedoch nur die Technik der Very Long Baseline Interferometry
wenige Anlagen, welche diese Form der Strahlung auffan­ (VLBI) ihr enormes Auflösungsvermögen. Zum
gen können. Die Oberflächen der Parabolantennen müssen einen koppelt sie Teleskope, die tausende Kilome­
dafür deutlich glatter sein als bei Radioteleskopen für ter voneinander entfernt sind. Zum anderen ändert
größere Wellenlängen. Für den VLBI-Betrieb benötigt man die Rotation der Erde laufend die Länge und Orien­
zudem Rekorder, die sehr hohe Datenraten aufzeichnen tierung der gedachten Verbindungslinie zwischen
können. den Observatorien, der Basislinie. Dadurch werden
Daneben ist der Standort entscheidend: Die Teleskope immer neue Raster über die anvisierte Region am
sollten mehrere Kilometer oberhalb des Meeresspiegels Himmel gelegt.
stehen, da Wasserdampf in der Atmosphäre die Signale Wenn zwei VLBI-Teleskope bei einer bestimm­
abschwächt. Als wäre das noch nicht genug, ist das Wetter ten Basislinie gleichzeitig kohärente Radiowellen
ein wichtiger Faktor: Nur wenn der Himmel wolkenlos ist, auffangen, befindet sich ein Teil der Quelle offen­
können die Forscher aus den Daten am Ende ein stimmiges bar gerade unter einem hellen Streifen des Mus­
Bild rekonstruieren. ters. Man hat also einen Hinweis auf das Aussehen
Das Event Horizon Telescope nimmt daher erst Gestalt an, der Quelle gewonnen. Aus vielen solcher Puzzle­
als eine Reihe neuer Observatorien in Betrieb geht, die gut steine lässt sich ein Bild der Zielregion zusammen­
für Millimeter-Beobachtung geeignet sind. Etwa das Large setzen. Das Event Horizon Telescope hat nur an
Millimeter Telescope in Mexiko, das auf dem Gipfel des 4600 einigen Punkten auf der Erde gemessen, deshalb
Meter hohen Sierra Negra in den Himmel blickt. Oder das sind verschiedene Bilder mit den Daten kompati­
Atacama Pathfinder Experiment (APEX) auf dem Chajnantor- bel. Vier Gruppen ermittelten daher unabhängig
Hochplateau in Nordchile, 5100 Meter über dem Meeresspie­ voneinander das plausibelste Ergebnis.
gel. Die Aus- und Nachrüstungen dieser und anderer Teles­
kope wird Jahre in Anspruch nehmen. Letztlich kommt dabei

48 Spektrum der Wissenschaft  7.19


beizusteuern. »Ich hatte als Postdoc nicht das Geld, irgend­
wo ein Teleskop zu bauen«, sagt er. Auch habe er sich mit
anderen Projekten etablieren und Erfahrung sammeln wol­
len, beispielsweise mit dem europäischen Radiointerfero­
meter LOFAR. »Ich bin aber immer nah drangeblieben am

T. MÜLLER, M. PÖSSEL, MPI FÜR ASTRONOMIE & L.R. WEIH, L. REZZOLLA, ITP GOETHE UNIVERSITÄT FRANKFURT; MIT FRDL. GEN. VON L. REZZOLLA
EHT – und ich dachte eigentlich, dass wir das am Ende
gemeinsam machen.«
Im Jahr 2009 wird der Deutsche in dieser Hinsicht ent­
täuscht: In den USA werben Doeleman und Kollegen für eine
Von oben betrachtet hat die
Erwähnung in der »Astronomy and Astrophysics Decadal
Akkretionsscheibe (orange-gelb)
eines Schwarzen Lochs (grau) die Review«, einem wichtigen Strategiepapier der tonangeben­
Form einer Schallplatte (oben). Von der den US-Forschungsverbände. In dem Dokument wird Falcke
Seite ergibt sich ein anderes Bild: Selbst der jedoch nicht erwähnt, trotz gemeinsamer Vorarbeiten.
Teil der Scheibe, der hinter dem Schwarzen Für den Deutschen wirkt es so, als werde die Idee, die er
Loch liegt, ist in diesem Fall zu sehen (unten). gemeinsam mit Doeleman entwickelt hat, ohne ihn umge­
Das Ergebnis ähnelt der Darstellung, die
setzt.
aus dem Kinofilm »Interstellar« bekannt ist.
Wenn man den Amerikaner heute fragt, ob er Falcke
damals nicht dabeihaben wollte, schweigt er zunächst einige
Sekunden in den Telefonhörer. Dann sagt er diplomatisch:
»Es war zu dieser Zeit einfach nicht klar, was Heinos Rolle in
dem Projekt sein sollte.« Doeleman und seinen Kollegen
kommt es damals so vor, als hätten sie plötzlich viele neue
Freunde: Seit ihrer gelungenen VLBI-Beobachtung von
Sagittarius A* im Jahr 2007 wollen immer mehr Forscher an
den jährlich wiederkehrenden Messkampagnen teilnehmen.
vieler Astrophysiker ist damit die Generalprobe geglückt: Doeleman treibt dabei die Sorge um, die Kontrolle über
»Von da an war uns klar, dass die Sache machbar ist«, das Projekt zu verlieren – und am Ende nicht genug Anerken­
erinnert sich Doeleman. nung zu erhalten. Für Falcke ist der Widerstand gegen eine
Heino Falcke, der mittlerweile an der niederländischen Zusammenarbeit hingegen nur schwer nachvollziehbar. 2011
Universität Nimwegen arbeitet, ist in dieser Phase nur habe er einen großen niederländischen Forschungspreis
vereinzelt an den mühseligen Beobachtungen beteiligt. Als erhalten und angeboten, von dem Geld Equipment zu kau­
theoretischer Physiker schreibt er zwar immer wieder fen, erinnert er sich. Doch sein amerikanischer Kollege habe
Veröffentlichungen zu Sagittarius A* und den Radiowellen, davon nichts wissen wollen.
die vom Umfeld Schwarzer Löcher ausgehen könnten; ein Letztlich wird es auch Geldnot sein, welche die Wissen­
guter Teil seiner Zeit gilt aber anderen Projekten. schaftler zusammenbringt. Erst aber gelangt Falcke in eine
Nach seinem wegweisenden Fachaufsatz aus dem Jahr bessere Verhandlungsposition: Gemeinsam mit seinem
2000 hat sich Falcke mit Doeleman und anderen Forschern einstigen Mitdoktoranden Michael Kramer, mittlerweile
über den Weg zum Event Horizon Telescope ausgetauscht. Direktor am Max-Planck-Institut für Radioastronomie, und
Dabei sind Falcke und Doeleman jedoch aneinandergera­ dem Gravitationstheoretiker Luciano Rezzolla von der
ten – ein Konflikt, der die Geschichte des EHT prägen wird. ­Goethe-Universität Frankfurt bewirbt er sich für eine beson­
Falcke will eine professionell organisierte Kollaboration dere Form der Förderung durch die Europäische Union.
nach Vorbild des Genfer Kernforschungszentrums CERN
aufziehen, mit einem klar definierten Projektplan und Plötzlich wetteifern zwei Initiativen um das erste Bild
festgelegten Zuständigkeiten. Doeleman hingegen möchte eines Schwarzes Lochs
die Sache eher so angehen, wie es bei Astronomen üblich Für diesen »ERC Synergy Grant« gehen im Jahr 2013 statt­
ist: in kleinen, von einem Gruppenleiter gesteuerten Teams, liche 449 Bewerbungen ein. Am Ende erhalten nur 13 den
die spontan auf auftretende Probleme reagieren können. Zuschlag, darunter das Projekt von Falcke, Kramer und
Doeleman hat früh beschlossen, seine Karriere dem Rezzolla. Ihre »Black Hole Cam« wird von der EU mit 14 Mil­
Event Horizon Telescope zu widmen, schreibt der amerika­ lionen Euro gefördert. Das Ziel liegt dabei sehr nah an dem
nische Wissenschaftsjournalist Seth Fletcher in seinem des Event Horizon Telescope: Man will ebenfalls das galakti­
2018 erschienenen Buch »Einstein’s Shadow«. Dass Falcke sche Zentrum studieren, das Schwarze Loch dort fotogra­
viel Zeit für andere Projekte aufbringt und sich aus dem fieren und unter anderem nach Neutronensternen suchen,
Kampf mit der Technik eher heraushält, empfindet der die in der turbulenten Region umherdriften müssten.
Amerikaner als opportunistisch. »Ich und mein Team haben Nun gibt es plötzlich zwei Initiativen, die ein Schwarzes
damals etwas riskiert – das ist nötig, wenn man so ein Loch ablichten wollen. Zunächst hegen die europäischen
ambitioniertes Projekt zum Erfolg führen will«, sagt Doele­ Forscher den Gedanken, eigenständig auf dieses Ziel hinzu­
man rückblickend. arbeiten. Schnell erkennen sie jedoch, dass sie die besten
Falcke hingegen sieht in dieser Phase laut eigener Aus­ Erfolgsaussichten haben, wenn sie mit ihren Kollegen auf
sage keine Möglichkeit, von der experimentellen Seite mehr der anderen Seite des Atlantiks zusammenarbeiten. Dennoch

Spektrum der Wissenschaft  7.19 49


sorgt der ERC-Grant für Unmut bei manchen Forschern des zu erschöpft, um weiterzumachen. Zwei Tage später setzen
Event Horizon Telescope, allen voran bei Doeleman. sie die Beobachtung noch einmal fort – und sammeln erneut
In Amerika stockt allerdings die Forschungsförderung, zwei Nächte lang wertvolle Daten. Ein halbes Jahr dauert es,
das Geld für das EHT ist knapp. Und so finden sich europäi­ bis alle Festplatten am MIT sowie am Max-Planck-Institut für
sche und amerikanische Radioastronomen bald in zähen Radioastronomie angekommen sind – vom Südpol können
Verhandlungen über einen Zusammenschluss der Initiativen sie erst nach Ende des antarktischen Winters ausgeflogen
wieder. Auf einer Konferenz in Waterloo im November 2014 werden. An speziell programmierten Supercomputern fügen
einigt man sich schließlich auf eine Organisationsstruktur die Wissenschaftler die Messreihen zusammen. In mühsa­
für die Event Horizon Collaboration. Letztlich wird Doele­ mer Kleinstarbeit trennen sie Radiowellen von Rauschen und
man Direktor, Falcke Leiter des Wissenschaftsausschusses, suchen nach Fehlern. Erst nach Monaten sind die Daten so
und Zensus nimmt als Vorsitzender des Kollaborationsrats weit »kalibriert«, dass andere Arbeitsgruppen aus den Radio­
eine Vermittlerrolle ein. wellen ein Bild rekonstruieren können.
Die letzten offenen Fragen räumen die Forscher aber erst In dieser Phase wird den Forschern klar, dass die Beob­
aus, als das Atacama Large Millimeter/submillimeter Array achtungsdaten von M87 die reichste Beute versprechen. Das
(ALMA) sie zu einer Einigung zwingt. Die 66 Parabolanten­ dortige Schwarze Loch ist zwar 2000-mal so weit entfernt
nen im chilenischen Hochland bilden seit ihrer Einweihung wie das im Zentrum unserer Milchstraße. Aber dafür ist es
im Jahr 2013 das weltweit leistungsfähigste Observatorium auch 1500-mal schwerer und damit entsprechend größer. Es
für Millimeter-Strahlung. Und nach und nach realisieren die nimmt daher fast dieselbe, winzige Fläche am Nachthimmel
Forscher, dass sie es unbedingt brauchen, wenn das Event ein. Und im Vergleich zu Sagittarius A* verändert sich sein
Horizon Telescope ein Erfolg werden soll. Die Leitung von direktes Umfeld deutlich langsamer. Die Materie in der
ALMA legt allerdings großen Wert auf internationale Zu­ Akkretionsscheibe benötigt Tage, um sich sichtbar zu ver­
sammenarbeit – kein Wunder, schließlich wird der Teles­ schieben – im Zentrum der Milchstraße geschieht dies
kopverbund außer von der Europäischen Südsternwarte binnen Minuten. »Es ist so, als wollte man ein herumzap­
ESO auch von einer amerikanischen und einer japanischen pelndes Kleinkind mit einer langsamen Kamera fotografie­
Forschungsorganisation betrieben. Doeleman und seinen ren«, sagt Falcke.
Kollegen wird klar: Sie können ALMA nur dann verwenden, Die Astrophysiker konzentrieren ihre Ressourcen bei der
wenn sie mit Falckes ERC-Projekt und asiatischen Wissen­ Bilderstellung daher ganz auf M87. Das Prozedere ist nicht
schaftlern zusammenarbeiten. weniger mühsam als die Datenaufbereitung, schließlich
Und so kommt es, dass im April 2017 acht um den haben die Radiowellen-Observatorien nur an acht Punkten
Globus verteilte Observatorien in Richtung Sagittarius A* auf der Erdkugel Daten aufgezeichnet. Theoretisch ist also
und M87 blicken. Neben ALMA ist auf europäischer Seite eine Vielzahl von Bildern mit den aufgezeichneten Daten­
auch das 30-Meter-Teleskop IRAM in der spanischen Sierra punkten kompatibel. »Das Ganze ähnelt einem Puzzle, in
Nevada beteiligt, das unter anderem von der Max-Planck- dem man nur ein paar Teile hat«, sagt EHT-Forscherin Moni­
Gesellschaft betrieben wird, sowie das APEX-Teleskop in ka Moscibrodzka von der Universität Tübingen.
Chile. An allen Standorten ist der Himmel klar, selbst am
South Pole Telescope, das als Teil der Amundsen-Scott- Ein leuchtender Kranz, der einen dunklen Kreis
Südpolstation 2800 Meter über dem Meeresspiegel arbei­ ­umschließt
tet. Da es M87 zu dieser Zeit des Jahres nicht sehen kann, Vier Gruppen arbeiten unabhängig voneinander daran, aus
dient es vor allem zur Kalibrierung der Beobachtungen. diesen Teilen das plausibelste Bild zusammenzusetzen. Dazu
Stunde für Stunde verfolgen die Teleskope ihre Ziele am vergleichen sie die aufgefangenen Radiowellen mit zehntau­
Himmel. Nach drei Tagen sind die übernächtigten Forscher senden am Computer erstellten Bildern, die alle denkbaren

P. HORÁLEK/ESO (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1907D/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

Seit seiner Inbetriebnahme 2013


zählt ALMA zu den leistungs­
fähigsten Observatorien der Welt.
Die 66 Parabolantennen stehen
auf einer staubtrockenen
­Hochebene in der chilenischen
­Atacama-Wüste. Hier stört
nur noch wenig Wasserdampf
den Blick auf die Milchstraße.

50 Spektrum der Wissenschaft  7.19


davon aus, dass man von der Erde aus fast direkt von oben

DICK VAN AALST/UNIVERSITÄT NIJMEGEN (WWW.MPG.DE/7676792/ERC_SYNERGY_GRANTS_2013)


auf die Akkretionsscheibe blickt, unter einem Winkel von
17 Grad zur Totalen. Das Licht auf der EHT-Aufnahme, oder
zumindest ein Teil davon, könnte dabei auch vom Ursprung
des uns zugewandten Jets stammen.
Offen ist auch die Frage, wie gut die Aufnahme zu den
Vorhersagen der allgemeinen Relativitätstheorie passt.
Spätestens hinter dem Ereignishorizont, in der Singularität,
müsste das Regelwerk für die Gravitation ihre Aussagekraft
verlieren. Zeigen sich vielleicht bereits im Umfeld Abwei­
chungen? »Bisher stehen unsere Beobachtungen in gutem
Einklang mit Einsteins Theorie«, sagt Rezzolla. Ein rotieren­
des Schwarzen Loch ist jedoch nur eine der denk­baren
Lösungen für die Gleichungen der Relativitätstheorie. Immer
wieder haben Physiker auch Alternativen diskutiert. Einige
Heino Falcke, Luciano Rezzolla und Michael Kramer (von sehr exotische Möglichkeiten können die Forscher nun
links nach rechts) erhielten 2013 eine hoch dotierte Förde­ ausschließen: Unter anderem »nackte« Singularitäten und
rung von der Europäischen Union. Sie spielte eine Schlüs­ bestimmte Typen von Wurmlöchern passen überhaupt nicht
selrolle in der Geschichte des Event Horizon Telescope. zu dem Bild aus dem Zentrum von M87.
Generell sei die Bedeutung des Bildes immens, findet
Rezzolla: »Wir haben das mathematische Konzept eines
Möglichkeiten abdecken. Umso größer ist die Erleichte­ Ereignishorizonts, das ich bisher lediglich in Vorlesungen an
rung, als die vier Teams schließlich ihre Ereignisse verglei­ die Tafel schreiben konnte, in ein physikalisches Objekt
chen: Sie alle haben einen leuchtenden Kranz rekonstruiert, verwandelt.« Man könne dieses Objekt nun immer wieder
der einen dunklen Kreis umschließt. beobachten und Theorien damit testen. »Das ist ein funda­
Damit ist aber noch die Frage offen, was denn nun auf mentaler erster Schritt, wenn man wissenschaftlich voran­
der rekonstruierten Aufnahme genau zu sehen ist. Unter kommen will.«
anderem das Frankfurter Team um Luciano Rezzolla erstellt Gelegenheit dazu wird es in Zukunft vermutlich immer
mit einem eigens programmierten Computercode hunderte wieder geben. Zunächst wollen die Forscher noch den
Szenarien für die komplizierten Abläufe im unmittelbaren Datensatz des Jahres 2018 auswerten. Ob er das Bild des
Umfeld des Schwarzen Lochs. Für jedes von ihnen muss Schwarzen Lochs aus M87 oder dem Zentrum der Milch­
ein Supercomputer mit knapp 1000 Prozessorkernen tage­ straße deutlich verbessern kann, ist unklar: »Das Wetter war
lang rechnen. Dank dieser magneto-hydro­dynamischen schlecht, und zu allem Überfluss fiel auch noch ALMA aus«,
Simulationen können die Wissenschaftler letztlich ermit­ sagt Falcke. 2019 sagten die Astronomen die Beobach­
teln, welche physikalischen Vorgänge am besten zu dem tungskampagne kurzerhand ab, unter anderem weil sich die
rekonstruierten Bild des EHT passen. Sicherheitslage in Mexiko stark verschlechtert hatte.
Am Ende ähnelt die Aufnahme aus dem Zentrum von Aber im Frühling 2020 wollen die Forscher erneut um
M87 am ehestem dem, was viele Forscher im Vorfeld den Globus verteilte Parabolantennen koppeln, diesmal
vermutet hatten: dem Schatten eines Schwarzes Lochs, das auch mit Instrumenten in Frankreich und auf Grönland.
von heißer Materie umgeben ist. Und vieles spricht dafür, Mittelfristig werben Falcke und Kollegen außerdem für den
dass es sich um ein rotierendes Exemplar handelt, so wie Bau eines Observatoriums in Namibia. Und irgendwann
es der Neuseeländer Roy Kerr 1963 erstmals beschrieben wollen die Forscher dann ganz hoch hinaus: Mit zwei oder
hat. Mit dieser Kerr-Metrik jedenfalls ließe sich erklären, drei Radioteleskopen, die in einem Erdorbit schweben,
dass der untere Rand des Rings heller erscheint. Hier be­ könnte man Schwarze Löcher noch besser beobachten –
wegt sich die strahlende Materie auf den Beobachter zu, völlig unabhängig vom Wetter auf der Erde. 
vermuten die Forscher. In diesem Fall träte ein an den
klassischen Doppler-Effekt erinnerndes Phänomen aus der
Relativitätstheorie auf, das »relativistische Beaming«, das QUELLEN
die eine Seite des Kranzes aufhellt. Doeleman, S. et al: Event-horizon-scale structure in the super­
Wie es in der Umgebung des Schwarzen Lochs genau massive black hole candidate at the Galactic Center. Nature
aussieht, können die Forscher allerdings noch nicht sagen. 10.1038/nature07245, 2008
Dazu ist zum einen die Aufnahme noch nicht scharf genug. Falcke, H. et al.: Viewing the shadow of the black hole at the
Zum anderen machen es Schwarze Löcher neugierigen galactic center. The Astrophysical Journal 528, 2000
Beobachtern denkbar schwer. Die Masseklumpen lenken Krichbaum, T. P. et al.: VLBI observations of the galactic
Strahlung stark um, so dass man nicht immer genau sagen center source Sgr A* at 86 GHz and 215 GHz. Astronomy &
kann, wo ein auf dem Bild verewigter Lichtstrahl seinen Astrophysics 335, 1998
Ursprung hat. Auch ändert sich das Bild je nach Blickrich­ The Event Horizon Telescope Collaboration: First M87 Event
tung, wie Simulationen von Luciano Rezzolla zeigen (siehe Horizon Telescope Results. The Astrophysical Journal Letters
Grafik S. 49). Im Fall von M87 gehen die Astrophysiker 875, 2019

Spektrum der Wissenschaft  7.19 51


SCHLICHTING!
GEFÄHRLICHE SCHRÄGLAGE
Ist ein Sandhaufen zu steil, rutschen Teile von ihm ab. Doch was
passiert mit größeren Objekten auf dem Hang? Ob sie am
kritischen Winkel stabil liegen oder ins Gleiten geraten, hängt
davon ab, wie stark sie den Untergrund deformieren.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität Münster.
Seit 2009 schreibt er für Spektrum über physikalische Alltagsphänomene.

 spektrum.de/artikel/1647846

Ein kleiner Irrtum am Anfang Versucht man einen solchen Haufen zu besteigen, etwa
auf der lockeren Leeseite aktiver Sanddünen, ist das eine
wird am Ende ein großer
sportliche Herausforderung: Mit jedem Schritt nach oben
Giordano Bruno (1548–1600)
gleitet man auf einer kleinen Lawine wieder ein Stück
zurück. Weil ein Mensch aber dank seines Körpergewichts


Ein wachsender Sandhaufen wird ab einer bestimm- zugleich in den Sand einsinkt, bildet sich nach der kurzen
ten Neigung nicht mehr steiler. Vielmehr stellt sich Rutschpartie an den Füßen ein Wall mit einer unterkriti-
ein charakteristischer Schüttwinkel ein, indem oben schen Neigung. Darauf kann sich der Wanderer abdrü-
aufgetürmter Sand gelegentlich in Lawinen niedergeht. cken, um etwas höher zu kommen.
Sie flachen den Haufen ab, so dass darauf wieder Sand- Ein winziges Insekt hat es da einfacher. Es krabbelt den
körner liegen bleiben können, bis der kritische Winkel Hang hinauf, ohne dass viel passiert. Hier und da rieseln
erneut überschritten wird. In der nichtlinearen Physik ein paar Körnchen herab, aber es kommt voran. Doch wie
spricht man bei solchen Phänomenen von selbstorgani- ergeht es größeren Insekten, die den kritisch angewinkel-
sierter Kritikalität. ten Untergrund stark genug stören und eine Lawine
Es hängt zwar von zufälligen Störungen ab, wann auslösen?
genau ein Abgang ausgelöst wird. Trotzdem ist der Die Antwort liefert die Larve des Ameisenlöwen. Das
Prozess nicht ganz wahllos, sondern die Verteilung der Insekt bedient sich dieses Phänomens bei der Jagd. Dazu
Lawinen folgt einem Potenzgesetz – große kommen baut es einen Trichter und bringt dessen schräge Wände
seltener, kleinere viel häufiger vor. Derartige Skalengeset- immer wieder in den verhängnisvollen Winkelbereich
ze gibt es überall in Natur und Alltag. Sie beschreiben so (siehe Foto unten). Ameisen, Käfer, Spinnen und andere
verschiedene Phänomene wie die Verteilung der Einwoh- Kleintiere haben just die richtige Masse. Wenn sie auf die
nerzahl deutscher Städte oder die Ausmaße von Mond- inneren Flanken geraten und sie dadurch überkritisch
kratern. machen, lösen sie einen Hangrutsch aus. Darauf gleiten

Die Larven von Ameisen­


H. JOACHIM SCHLICHTING

löwen bauen Sandtrichter, in


denen sie auf Beute lauern.
Damit schlägt das Insekt
auch im übertragenen Sinn
mehrere Fliegen mit einer
Klappe: In seinem dauerhaft
trockenen, oft wüstenartigen
Lebensraum ist es durch den
Schatten der sonnenabge­
wandten Hangseite vor Hitze
und Austrocknung geschützt.

52 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Auf einer im kritischen Winkel geneig­
ten Sandfläche bleibt ein Plastikdeckel

H. JOACHIM SCHLICHTING
liegen (links). Mit einer Unterlegscheibe
belastet sinkt er etwas ein und gleitet
den Hang hinab (Mitte). Bei mehreren
Scheiben rutscht er tief in den Sand und
stoppt nach kurzer Strecke (rechts).

sie dann hinab – der am unteren Ende halb vergraben ten sie kleine Pappscheiben mit Metallgewichten und
lauernden Larve entgegen. untersuchten, wie sich die Gleiter unter verschiedenen
Das Tierchen muss dazu einen perfekten Trichter mit Bedingungen verhalten. Die Wissenschaftler haben dabei
genau der grenzwertigen Neigung bauen, ohne selbst den Druck variiert, also den Quotienten aus Gewichtskraft
ständig abzurutschen und das schöne Werk zu beschädi- und Auflagefläche der Scheiben. Ein wesentliches Ergeb-
gen. Die Lösung des Problems ist ebenso einfach wie nis der Untersuchung: Die Gleiter bewegten sich nur in
trickreich. Zunächst treibt die Larve in einer Art rückwär- einem kleinen Bereich unterschiedlicher Drücke den
tiger Schiebetechnik einen groben Krater im unterkriti- ganzen Hang hinab. Zu schwere und zu leichte Scheiben
schen Neigungsbereich in den sandigen Grund. Darauf- blieben liegen oder stoppten nach kurzer Strecke.
hin schleudert sie von der Mitte aus lockeren Sand nach Ursache für dieses Verhalten ist die mehr oder weniger
oben. Solange der kritische Winkel noch nicht erreicht ist, starke Verformung des granularen Untergrunds. Das lässt
bleibt er liegen. Sobald er überschritten wird, rutscht das sich mit Hausmitteln einfach qualitativ nachvollziehen,
Baumaterial ab. etwa mit einem Sandhaufen und einem kleinen, flachen
Plastikdeckel sowie mehreren Unterlegscheiben als
Vom tierischen Instinkt zur wissenschaftlichen potenzielle Zusatzlasten (siehe Bilder oben). Solange
Analyse wenig Gewicht auf dem Gleiter lastet, bleibt er ruhig
Kommen der Larve im zeitlichen Mittel genauso viele liegen. Wenn jedoch der Druck, also die Kraft pro Fläche,
Sandkörner wieder entgegen, wie sie hochkatapultiert, ist ein kritisches Maß überschreitet, bewegt er sich hangab-
ihr Werk vollendet. Die gleiche Technik wendet die Larve wärts und hinterlässt eine feine Spur im Sand. Sie wird
an, wenn ein Beutetier zu entkommen droht. Dann wirft bei größerem Gewicht aber so tief, dass der Deckel einen
sie dem Fliehenden einige Sandladungen hinterher, wachsenden Wall vor sich herschiebt, der ihn nach kurzer
wodurch die Wand überkritisch wird und es kein Halten Strecke ausbremst. Die Gleitfähigkeit eines gegebenen
mehr gibt. Gleiters hängt im Bereich des kritischen Winkels also
Das Beispiel des Ameisenlöwen zeigt, dass die Natur hauptsächlich von der Gewichtskraft ab.
die selbstorganisierte Kritikalität schon lange genutzt hat, Diese Ergebnisse geben Aufschluss über das Verhalten
bevor die Physiker sie entdeckt haben. Inzwischen hat von Lebewesen auf sandigem Untergrund. Sie erklären
sich auch eine französische Forschergruppe des interes- die Erfahrungen von Menschen, die sich an der kritischen
santen Phänomens angenommen. Sie ist in einer 2017 Wand einer Düne abmühen, ebenso wie die erfolgreiche
publizierten Arbeit allgemein der Frage nachgegangen, Strategie der Larve des Ameisenlöwen. Sowohl zu leichte
wie sich gleitende Gegenstände auf einer Flanke aus wie auch zu schwere Tiere kann sie damit nicht fangen.
granularer Materie verhalten. Laut der Untersuchungen der Wissenschaftler haben
Dabei entzieht sich der körnige Feststoff im kritischen Tiere unterhalb eines Körpergewichts von zwei Milli-
Winkelbereich einer deterministischen Beschreibung – gramm nichts zu befürchten, ebenso wenig solche mit
ein- und dasselbe Objekt kann unter sonst gleichen mehr als fünf Milligramm. Aber auf beide hat es die Larve
Bedingungen sowohl in Bewegung geraten als auch zur auch gar nicht abgesehen. Die einen lohnen den Aufwand
Ruhe kommen. Kleinste Störungen geben den Ausschlag. nicht, und die anderen sind als Beute zu groß. 
Daher lassen sich die Vorgänge nur mit Wahrscheinlich-
keiten auf Basis zahlreicher Experimente beschreiben. QUELLE
Als schiefe Ebene benutzten die Forscher einen Crassous, J. et al.: Pressure-dependent friction on granular
Schütthaufen aus winzigen Glaskügelchen. Darauf setz- slopes close to avalanche. Physical Review Letters 119, 2017

Spektrum der Wissenschaft  7.19 53


KLIMAWANDEL
GEFÄHRLICHER
WETTERVERSTÄRKER
Unwetter mit schweren Überschwemmungen
oder Hitzewellen werden immer häufiger
und dramatischer. Das liegt daran, dass der
Jetstream schwächer wird und große Kurven
beschreibt. Die globale Erwärmung beschleu-
nigt diesen Trend – warum, kann man mit
Hilfe quantenmechanischer Modelle erklären.

Hitze und Dürre fachten


im S
­ eptember 2018 in
GETTY IMAGES / AFP / JOSH EDELSON

Kalifornien verheerende
Waldbrände an.

54 Spektrum der Wissenschaft  7.19


entlang der Grenze zwischen den USA und Kanada. Manch-
mal bewegt er sich relativ geradlinig, er kann aber auch
große s-förmige ­Kurven nach Norden und Süden beschrei-
ben. Während sich solche Biegungen vorwärtsschlängeln,
befördern sie warme Luft nach Norden oder kühle Luft
nach Süden, was dort jeweils Niederschläge verursacht. So
bestimmt der Jetstream unser tägliches Wetter.
Michael E. Mann ist Professor für Während der genannten Wetterextreme verhielt sich der
Atmosphärenforschung und Direktor
des Earth System Science Center
Jetstream anders als sonst: Seine Kurven dehnten sich
an der Pennsylvania State University. außerordentlich weit nach Norden und Süden aus – und
Er hat mehrere Bücher verfasst. statt wie gewöhnlich weiter in Richtung Osten zu ziehen,
blieben sie an Ort und Stelle stehen. Je ausladender die
 spektrum.de/artikel/1647840 Kurve, desto extremer wird das Wetter in den Regionen, die
der nördliche Wellenberg beziehungsweise das südliche
Wellental einschließen. Bleiben die Wellen dann stehen,


Das Wetter spielt verrückt, hört man immer häufiger. wie zum Beispiel im Sommer 2018 in den USA, bekommen
Und tatsächlich haben sich gerade in den letzten die Gegenden, die sich direkt unterhalb der Kurven des
Jahrzehnten verheerende Wettereignisse im Sommer Jetstreams befinden, je nach ihrer Lage tagelang heftigen
gehäuft: beispielsweise die Hitzewelle in Europa im Jahr Regen oder sengende Hitze zu spüren. Die Folge sind
2003, Waldbrände in Russland 2010 und die gleichzeitigen Rekordfluten beziehungsweise Dürren, Hitzewellen und
Überflutungen in Pakistan, die zahlreiche Todesopfer for- Waldbrände.
derten. Während des Hitzesommers 2018 in Mitteleuropa Durch die globale Erwärmung treten solche stark aus­
wüteten auch in Kalifornien Waldbrände, und zeitgleich gebeulten, stehenden Wellenmuster, die extremes Wetter
wurde der Nordosten der USA von starken Regenfällen und begünstigen, immer häufiger auf. Das haben wir 2017
Überflutungen heimgesucht. Das ist kein Zufall, wie meine gezeigt. Nach unseren Vorhersagen werden sie in den
Kollegen und ich glauben: Denn all diesen Vorfällen ge- nächsten Jahrzehnten jedoch nicht mehr so stark zulegen,
meinsam war ein ungewöhnliches Verhalten des Jet- wie es bisher der Fall war. Das ist aber kein Grund, auf­zu­
streams. Dieser Luftstrom weht als ein schmales Band in atmen: Denn etwa ab dem Jahr 2050 werden auffällige
GETTY IMAGES / AFP / JOSH EDELSON

acht bis zwölf Kilometer Höhe von West nach Ost rund um Wet­ter­ereignisse deutlich heftiger werden, vor allem im
die Nordhalbkugel etwa über Mitteleuropa und weiter Sommer, sagen unsere Prognosen. Immer verheerendere

Spektrum der Wissenschaft  7.19 55


Stürme und Ernteausfälle bedrohen dann zunehmend die Rossby-Wellen in der Atmosphäre erstrecken sich über
menschliche Gesundheit und Sicherheit. Hunderte von Kilometern und bewegen sich auf der
Diese Schlüsse ziehen wir mit Hilfe von Wellenmathema- ­Nordhalbkugel von West nach Ost. Im Sommer, wenn der
tik und Quantenmechanik. Sie beschreiben das Verhalten Temperaturunterschied zwischen den Luftmassen ab-
winziger Teilchen wie Elektronen und helfen seltsamerwei- nimmt, beschreiben sie stärkere Kurven und rücken langsa-
se auch, Phänomene unserer Atmosphäre zu erklären, die mer vor. Damit bewegen sich auch die Windungen des
auf einer ganz anderen Größenskala ablaufen. Alles deutet Jetstreams langsamer vom Fleck.
darauf hin, dass ein merkwürdiges Zusammenspiel von Diese Biegungen erzeugen lokale Wettersysteme,
Treibhausgasemissionen und Schwefeldioxidbelastung der die sich mit dem Strom nach Osten bewegen. Auf Wetter­
Luft bestimmt, wie sich der Trend zu extremen Unwettern karten erscheinen sie als große Hoch- und Tiefdruck­
künftig entwickeln wird. Und dieses Zusammenspiel wirft gebiete. Ein Hochdruckgebiet, das sich unterhalb einer
die Frage auf, ob wir durch die Senkung der CO2-Emissio- nördlichen Ausbuchtung (eines so genannten Höhen­
nen vielleicht verhindern könnten, dass der Jetstream rückens) befindet, dreht sich im Uhrzeigersinn und bringt
Chaos und Verwüstung anrichtet. im Sommer trockenes, heißes Wetter mit. Für nasses,
Der Jetstream entsteht dort, wo sich warme Luft aus kühles Wetter sorgen die Tiefdruckgebiete, die sich ober-
den Subtropen nach Norden bewegt und auf kalte Luft aus halb der südlichen Ausbuchtungen (der so genannten
der Polarregion trifft. Er bläst in der Tropopause, der Schicht Höhentröge) befinden und sich gegen den Uhrzeigersinn
zwischen der Troposphäre (der untersten Schicht der drehen. Ist der Jetstream zu schwach, um sich weiterzube-
Atmosphäre, in der sich das Wetter abspielt) und der Stra- wegen, kommt die s-förmige Rossby-Welle zum Stillstand
tosphäre (der nächsthöheren Schicht, in der Flugzeuge und rückt nicht weiter nach Osten vor – eine stehende
fliegen). Welle bildet sich aus. In der Folge drehen sich die Hoch-
Je größer der Temperaturunterschied beim Zusammen- und Tiefdrucksysteme im Kreis und heizen die unter ihnen
treffen von subtropischer und polarer Luft ist, desto stärker liegende Erde immer mehr auf oder traktieren sie mit
wird der Jetstream. Weil die Differenz im Sommer geringer heftigen Regenschauern und Überschwemmungen. Das
ist als im Winter, weht der Strom dann schwächer und geschah beispielsweise, als Hurrikan Harvey und Hurrikan
neigt eher dazu, ausgedehnte Nord-Süd-Kurven zu be- Florence über die USA fegten.
schreiben.
Der Jetstream selbst wird von einer Reihe riesiger Wel- Die Atmosphäre kann die Ausschläge des Jetstreams
len beeinflusst, die durch die Atmosphäre wabern. Diese wie ein Wellenleiter verstärken
so genannten Rossby-Wellen sind nach dem schwedisch- Wirklich extremes Wetter entsteht, wenn die Kurven der
amerikanischen Meteorologen Carl-Gustaf Rossby benannt, Rossby-Wellen und damit der Jetstream in hohem Maße
der erstmals in den 1930er Jahren die Physik großräumiger verstärkt werden. Je höher die Rücken und je tiefer die
atmosphärischer Bewegungen erklärte. Sie entstehen Tröge, desto ausgeprägter sind die Hoch- und Tiefdruck­
natürlicherweise, wenn sich ein Körper wie die Erde in systeme. In diesem stehenden Wellenmuster kommt das
einem Fluid (einem flüssigen oder gasförmigen Medium) Hochdrucksystem zum Stillstand (manchmal auch blockie-
dreht – in diesem Fall Luft. Auch in Ozeanen treten solche rende Wetterlage genannt). Genau solch ein Effekt verur-
Wellen auf. sachte im Juli 2018 eine Hitzewelle im Südwesten der USA
und gleichzeitig Überschwemmungen im Nordosten, vor
allem in Pennsylvania und Maryland. Ein weiteres klassi-
sches Beispiel für so ein stehendes Wellenmuster war das
Hoch über Russland im Juli 2010, das Rekordhitze, Trocken-
AUF EINEN BLICK heit und Waldbrände mit sich brachte, während verheeren-
JETSTREAM IN RESONANZ de Überschwemmungen Teile Pakistans heimsuchten.
Gewöhnliche Rossby-Wellen können sich nur so weit

1 Wenn das weltumspannende Starkwindband ausge- nach Norden und Süden ausdehnen, wie es ihre Energie
prägte Kurven nach Norden und Süden beschreibt, erlaubt. Unter bestimmten Bedingungen kann die Atmo-
verursacht das Hitzewellen oder heftige Regenfälle. sphäre sie jedoch wie ein Wellenleiter verstärken. Diesen
Manchmal können sie tagelang andauern. kann man sich wie zwei Linien vorstellen, die den Jetstream
im Norden und Süden begrenzen. Eine Rossby-Welle

2 Quantenmechanische Modelle erklären, wie ein Reso-


nanzmechanismus in der Atmosphäre die Ausschläge
des Jetstreams verstärken kann. Außergewöhnliche
schlängelt sich nun innerhalb der dadurch gegebenen
Grenzen vorwärts und verliert dabei nur wenig Energie.
Diese Schranken halten auch den mäandernden Jetstream
Wetterereignisse werden dann noch folgenreicher. mit seinen starken Hoch- und Tiefdrucksystemen gefangen.
Im Alltag begegnet man Wellenleitern etwa in Form des
3 Bis etwa 2050 dürfte sich der Trend laut Prognosen
abflachen. Doch von da an werden die Wetterextreme
um ein Vielfaches häufiger und gravierender, sollte der
Koaxialkabels am Fernseher. Die elektromagnetischen
Wellen, die das Fernsehsignal übertragen, sind weitestge-
weltweite CO2-Ausstoß nicht rasch gesenkt werden. hend innerhalb des Kabels gefangen. So geht lediglich ein
kleiner Teil der Energie des Signals verloren, und wir sehen
gestochen scharfe Bilder.

56 Spektrum der Wissenschaft  7.19


GETTY IMAGES / CORBIS / GIDEON MENDEL

Verheerende Überschwemmungen, hervorgerufen gleichung und beschreibt eine Sinuskurve, ein liegendes S,
durch den atmosphärischen Effekt der so genannten genau wie der gewundene Jetstream. Das Elektron verhält
Quasiresonanzverstärkung, setzten weite Teile sich also nicht ausschließlich wie ein Teilchen, sondern
Pakistans im Jahr 2010 unter Wasser. auch wie eine Welle.
Interessant wird es, wenn die Wände keine unendlich
hohe potenzielle Energie mehr besitzen, sondern eine
Bilden sich stehende Wellen aus, können die Ausschläge endlich hohe. Dann kann das Elektron mit einer geringen
unter bestimmten Umständen in ihrer Amplitude wachsen. Wahrscheinlichkeit tatsächlich in die Wand eindringen
Dieses physikalische Phänomen ist als Resonanz bekannt. und – wenn diese dünn genug ist – sogar durch sie hin-
Im Sommer geschieht genau das öfter mit Rossby-Wellen, durchgelangen: Man spricht vom Tunneleffekt. An der
ein Effekt, der als Quasiresonanzverstärkung (QRA, eng- gegenüberliegenden Wand besteht dieselbe Wahrschein-
lisch: quasi-resonant amplification) bezeichnet wird. Im Jahr lichkeit. Der Behälter, in dem sich das Elektron größtenteils
2013 zeigten Vladimir Petoukhov und seine Mitarbeiter am aufhält, hat quasi zwei kleine »Löcher«.
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, dass es von der Dasselbe Bild bietet sich, wenn man sich einen dreidi-
Form des Jetstreams abhängt, ob die Bedingungen für QRA mensionalen Hohlleiter wie etwa ein Koaxialkabel vorstellt,
günstig sind. Der Klimawandel kann diese beeinflussen – der ganz leicht undicht ist. Die Gleichungen, welche die
und damit auch die QRA sowie die Häufigkeit extremer Objekte innerhalb des Hohlleiters beschreiben, kann man
Sommerwetterereignisse. mit einem mathematischen Trick lösen, der so genannten
Interessanterweise hilft die Quantenmechanik zu verste- WKB-­Approximation (benannt nach den drei Wissenschaft-
hen, wie diese Faktoren zusammenwirken. In der klassi- lern, die sie 1926 eingeführt haben – Gregor Wentzel,
schen Physik kann man ein Elektron gedanklich in einen Be- Hendrik Kramers und Léon Brillouin). Diese Annäherung
hälter »einsperren«, wenn dessen Wände unendlich hohe wird in der Quantenmechanik für viele Wellengleichungen
potenzielle Energie besitzen. Das Elektron kann die Wände verwendet und hilft bei der Entwicklung praktischer Elekt-
nicht passieren und hüpft daher zwischen ihnen hin und ronikteile wie Tunneldioden in Smartphones.
her – würde man von der Seite auf den Behälter blicken, In den frühen 1980er Jahren demonstrierten David
sähe man es unaufhörlich auf einer geraden Linie von links Karoly, heute bei der australischen Commonwealth Scien­
nach rechts und wieder zurück springen. tific and Indus­trial Research Organisation, und Brian Hos-
Die quantenmechanische Sicht auf das Gedankenexperi- kins von der University of Reading in England, dass sich die
ment ist etwas anders: Das Elektron hat keine definierte Erdatmosphäre wie ein Hohlleiter für stehende Rossby-­
Position mehr. Man kann aber mittels der berühmten Wellen verhalten kann, wenn diese bestimmte kurze Wel-
Schrödinger-Gleichung die Wahrscheinlichkeit angeben, wo lenlängen aufweisen. Konkret ist das der Fall bei sechs bis
das Elektron am ehesten anzutreffen ist. Sie ist eine Wellen- acht vollen Wellen um die Nordhalbkugel.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 57


Hartnäckige Wetterextreme Wellenleiter am Himmel
Der atmosphärische Wellenleiter, der Rossby-­
Der Jetstream ist die Triebfeder für das Wetter auf der Wellen einschließt, ähnelt mathematisch einem
Nordhalbkugel. Bildet er Kurven aus, kann er ausgepräg- Quanten-Wellenleiter, der ein Elektron gefangen
hält. In der klassischen Physik verhält sich ein
te Hoch- und Tiefdruckzentren erzeugen, die große Hitze
Elektron in einem Behälter mit unendlich hohen
oder heftigen Regen verursachen. Sehr große Kurven Wänden (diese stehen symbolisch für eine unend-
können zum Stillstand kommen, so dass sich die Wetter- lich hohe Energiebarriere) wie ein Teilchen, das
lage viele Tage lang hält, vor allem im Sommer. Interes- hin- und herspringt ( A , links). Haben die Wände
nur eine mäßig hohe Energie, kann ein Elektron
santerweise ähnelt die Physik, die sich in dieser planeta- aus dem Behälter entweichen ( A , rechts). In der
ren Größenordnung abspielt, der Quantenmechanik, die Quantenphysik hingegen verhält sich ein Elektron
Gesetze auf der Größenskala von Atomen beschreibt. wie eine Welle, die in einem Wellenleiter gefangen
ist ( B ). Ist dieser schwach (besitzt also mäßig
hohe Energie), kann das Elektron mit einer mess-
baren Wahrscheinlichkeit außerhalb des Behälters
angetroffen werden. Ganz ähnlich verhalten sich
Sub­tropenjetstream
Polarfrontjetstream Rossby-Wellen, die mit einem kurvigen Jetstream
Stratosphäre in Verbindung gebracht werden, wenn sie in
15

Kilometer über der


einem atmosphärischen Wellenleiter feststecken.

Erdoberfläche
Die Erde unter ihnen bekommt dann dauerhaft
10
Hitze oder Regen zu spüren.
Hadley-
Ferrel-
Luftzirkulation Zelle 5
Zelle Polarzelle
0

Äquator 30°N 60°N Nordpol Hoch- und Tiefdruckzentren wachsen


Im Sommer entstehen durch ausgeprägte Kurven im
Jetstream Tiefdrucksysteme (T), die kaltes, nasses
Ein Starkwind umströmt die Erde Wetter mitbringen, und Hochdrucksysteme (H), die für
Jetstreams treten ungefähr um den 30. und den 60. Breiten- heiße, trockene Bedingungen sorgen. Manchmal nimmt
grad auf, zwischen den großen atmosphärischen Zirkulations- der Jetstream eine sich wiederholende, ondulierende
systemen (Grafik oben). Der Polarfrontjetstream auf der nörd­ Form an. Diese folgt der Form der Rossby-­Wellen, die
lichen Halb­kugel weht von West nach Ost um den Globus: sich in der Atmosphäre bilden, weil die Erde sich darin
Manchmal annähernd gerade, manchmal bildet er Kurven aus dreht. Das Wellenmuster – und mit ihm das Wetter –
(unten). Wettersysteme folgen diesem Pfad. schreitet von West nach Ost voran.

Erdrotation
ERDKUGELN: 5W INFOGRAPHICS, JETSTREAM-WELLEN UND GRAFIK OBEN: JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2019

Polarfrontjetstream Tiefdrucksystem
Rossby-Wellenmuster

Hochdrucksystem

58 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Der Behälter hat endlich
A Klassische Physik Elektron
hohe Wände, stellt also
eine mittlere Energie­
Der Behälter hat unendlich hohe barriere dar.
Wände, bildet also eine unüber-
windbare Energiebarriere.

Elektronen sind Teilchen mit hoher Elektronen besitzen mäßig


Energie, die den Behälter nicht hohe Energie und können aus
verlassen können. dem Behälter entkommen.

B Quantenphysik
Der Behälter hat endlich
hohe Wände. Diese
Der Behälter hat unendlich mittlere Energiebarriere
hohe Wände. Das entspricht fungiert als schwacher
einer hohen Energiebarriere, Wellenleiter.
die sich wie ein starker 0 0
Wellenleiter verhält.
Elektronen sind Wellen und
Elektronen verhalten sich wie können mit messbarer Wahr-
Wellen und können mit einer scheinlichkeit außerhalb der
geringen Wahrscheinlichkeit durch Wände angetroffen werden.
die Wände tunneln.

Stürme treten in Resonanz Tag der Zerstörung


Große Rossby-Wellen und mit ihnen die Ausbuchtungen Ein resonierender Jetstream saß zwischen Ende Juli und
des Jetstreams können stoppen und eine stehende Welle Anfang August 2018 fest und entfachte oder verstärkte
ausbilden. Die Atmosphäre kann sich dann wie ein Wellen- ­Extremwetter rund um den Globus. Am 22. Juli erfassten
leiter verhalten (rote Linien). Dadurch treten die Wellen in Hitzewellen und Dürren mehrere Regionen und verschärften
Resonanz und werden immer größer, so dass sie zuneh- Waldbrände. Gleichzeitig hatten andere Gegenden mit
mend weiter nach Norden und Süden reichen. Die Wetter- starken Überschwemmungen zu kämpfen.
systeme verstärken sich dadurch und sitzen tagelang an
Ort und Stelle fest. Im Sommer tritt dieses Phänomen öfter
auf als im Winter.

Hitzewelle
in Japan

22. Juli
Waldbrände
2018
in Kalifornien

ERDKUGELN: 5W INFOGRAPHICS, JETSTREAM-WELLEN UND GRAFIK OBEN: JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2019

Wellenleiter Hitzewelle in
Skandinavien

intensive Druckzentren Hitzewelle


im Südwesten
der USA
Stehende Welle bildet
Resonanz aus.
Dürre in
Waldbrände
Mitteleuropa
in Griechenland
starke
Überschwemmungen
im Nordosten
der USA

Spektrum der Wissenschaft  7.19 59


Die stehende Rossby-Welle ist dann im Hohlleiter gefan-
gen, der an der nördlichen und südlichen Begrenzung nur
minimal undicht ist – genau wie das Elektron im Behälter. In
der Folge können die Ausschläge der Wellen durch Quasi­
resonanzverstärkung anwachsen. Dadurch entsteht eine
riesige stehende Welle, die in ihren Wellenbergen und
-tälern tagelang andauernde extreme Wetterlagen erzeugt.
Die WKB-Approximation, die sich eigentlich auf Hohlleiter-
probleme in der Quantenmechanik bezieht, hilft also auch,
das Rossby-Hohlleiterproblem zu lösen.
Damit wird klar, wie der Klimawandel die stehenden

GETTY IMAGES / SEAN GALLUP


Wellen beeinflusst, die uns anhaltende Wetterextreme
bescheren. Petoukhov und seine Potsdamer Mitarbeiter
bauten auf Karolys und Hoskins’ Arbeit auf und zeigten
2014, dass Wellenleiterbedingungen für stehende Rossby-
Wellen vor allem im Sommer entstehen. Denn zu dieser
Jahreszeit manifestiert sich der Jetstream oft nicht als
einziger, starker West-Ost-Wind, sondern alterniert viel-
mehr zwischen zwei Korridoren, die nördlicher beziehungs-
weise südlicher liegen als üblich.

Entspannung – aber nur bis 2050


Anhand der WKB-Approximation bewies Petoukhovs
Gruppe, dass sich die Atmosphäre gerade unter diesen
Bedingungen als Wellenleiter für Rossby-Wellen mit kurzen
Wellenlängen verhalten kann. Deren Amplitude ist im
Allgemeinen klein, ihre Biegungen schlängeln sich also
nicht sehr weit nach Norden oder Süden. Sobald aber eine
erste Kurve entsteht – beispielsweise, wenn eine Luftmas-
se, die sich von Westen nach Osten bewegt, auf die Rocky
Mountains oder die Alpen trifft oder auf starke Temperatur-
GETTY IMAGES / SEAN GALLUP

unterschiede an der Grenze zwischen Land und Meer –,


wachsen die Ausschläge der Rossby-Wellen durch den
QRA-Mechanismus sehr schnell an.
Ob die Bedingungen für die Quasiresonanzverstärkung
günstig sind, hängt größtenteils davon ab, wie sich die Tem-
peraturunterschiede zwischen Nord und Süd in den tieferen Während der Hitzewelle im Sommer 2018 in
Schichten der Atmosphäre gestalten. Klimamodelle geben Deutschland vertrockneten Sonnenblumen (oben),
diesen Zusammenhang gut wieder. Im Jahr 2017 haben mei- und ihre Samen verkümmerten (unten).
ne Kollegen und ich nachgewiesen, dass QRA-Bedingungen
in den letzten Jahrzehnten häufiger aufgetreten sind. Wie
Klimasimulationen zeigen, werden steigende Treibhausgas- Dieser zunehmende Trend erklärt, warum sich ausdau-
konzentrationen den Trend mit der Zeit weiter verstärken. ernde sommerliche Wetterextreme in den letzten 20 Jahren
Ebenso spielen natürliche Faktoren wie Schwankungen der auf der Nordhalbkugel häufen. Erst kürzlich haben Wissen-
Sonneneinstrahlung und Vulkanausbrüche sowie zusätzli- schaftler bewiesen, dass QRA-Bedingungen mit einer Reihe
che menschliche Einflüsse wie die Schwefeldioxidbelastung von Extremwetterereignissen der vergangenen Jahre in
der Luft eine Rolle. Die Simulationen, CMIP5 genannt, Verbindung stehen: mit der europäischen Hitzewelle von
haben mehr als 50 Forschungsgruppen weltweit für den 2003, den Waldbränden 2010 in Russland und den gleich-
jüngsten Bericht des Weltklimarats IPCC durchgeführt. zeitigen Überflutungen in Pakistan, der Dürre in Oklahoma
Übereinstimmend mit Temperaturaufzeichnungen an und anderen Teilen der USA im Jahr 2011 sowie den kalifor-
Wetterstationen kommen die Modelle zu dem Schluss, nischen Waldbränden 2015 und denen in Alberta im Jahr
dass sich die Arktis durch den Klimawandel schneller 2016. Die beispiellosen Waldbrände, die 2018 in Kalifornien
erwärmt als der Rest der nördlichen Hemisphäre – ein wüteten, können wir dieser Liste nun hinzufügen. Der
Effekt, der als Arktische Verstärkung bekannt ist. Sinkt der menschengemachte Klimawandel hat die Wahrscheinlich-
Temperaturunterschied zwischen mittleren und polaren keit für solche verheerenden Ereignisse in den jüngsten
Breiten, wird aber der Jetstream insgesamt langsamer, was Jahrzehnten um rund 50 Prozent erhöht.
lang anhaltende Wetterlagen begünstigt und mit dem Einige Faktoren deuten darauf hin, dass extreme Wet-
zwischen zwei Korridoren alternierenden Jetstream und der terphänomene immer heftiger werden: So speichert bei-
Quasiresonanzverstärkung in Verbindung gebracht wird. spielsweise eine wärmere Atmosphäre mehr Feuchtigkeit,

60 Spektrum der Wissenschaft  7.19


was zu stärkeren Regenfällen und Überschwemmungen stärker erwärmen. Besonders wird dieser Effekt im Som­
führt. Und ein wärmerer Planet bedeutet häufigere, längere mer in den mittleren Breiten zu bemerken sein, wenn
und intensivere Hitzewellen. Wie werden sich aber der die Sonneneinstrahlung maximal ist. In einigen Modell­­
stockende Jetstream und die Quasiresonanzverstärkung simulationen erwärmen sich die gemäßigten Breiten sogar
künftig auswirken? stärker als die Arktis. Dadurch nimmt die Arktische
Der berühmte Physiker Niels Bohr soll angemerkt haben, ­Ver­stärkung ab oder kommt ganz zum Erliegen. Folglich
dass Vorhersagen schwierig sind, »vor allem, wenn sie die würde die Quasi­resonanzverstärkung nicht mehr zuneh-
Zukunft betreffen«. In einer Studie haben meine Kollegen men, viel­leicht sogar abnehmen – und das Jetstream-­
und ich 2018 analysiert, wie sich die QRA-Ereignisse infolge Muster, das den Extremsommern zu Grunde liegt, sich
des prognostizierten Klimawandels wahrscheinlich ändern nicht noch weiter verstärken.
werden. Wir hatten erwartet, dass sich der bereits begon-
nene Trend unvermindert fortsetzen würde, kamen jedoch
zu einem anderen Ergebnis.
Die IPCC- und CMIP5-Experimente bewerten die zukünf- Mehr Wissen auf
tigen Bedingungen unter verschiedenen Annahmen: ange-
fangen von einer umfassenden, sofortigen Senkung der
Spektrum.de
Die 5 spannendsten Fragen
Kohlendioxidemissionen bis hin zu einem Szenario, in dem
zum Jetstream: spektrum.de/
der weltweite CO2-Ausstoß weiterhin im selben Maß an- wissen/jetstream/1647698
steigt wie bisher. Wir haben festgestellt, dass sich der NASA, GODDARD SPACE FLIGHT
CENTER

Trend zu QRA-Bedingungen unter dem letzteren, dem so


genannten »Business-as-usual-Szenario«, bis etwa 2050
abflachen wird. In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts Doch dieser kurzfristige mildernde Effekt geht mit hohen
steigt er nach unseren Berechnungen jedoch schneller als langfristigen Kosten einher: Bis Mitte des Jahrhunderts
bisher wieder an. werden die Aerosole weitgehend verschwunden sein. Von
Wie wir herausgefunden haben, spielt dabei ein weiterer da an werden daher steigende Treibhausgaskonzentratio-
wichtiger, doch manchmal übersehener menschengemach- nen die Temperaturen überall auf der Welt weiter in die
ter Klimafaktor eine Rolle: Luftschadstoffe wie Schwefel­ Höhe treiben. Die Polarregion wird sich ab dann wieder
dioxid, die durch Kohleverbrennung und andere industrielle schneller erwärmen als die mittleren Breiten. Die Arktische
Prozesse entstehen. Diese Schadstoffe bilden Partikel, so Verstärkung nimmt also erneut zu, und QRA-Ereignisse
genannte Aerosole, die in der Atmosphäre umherfliegen, treten häufiger auf. Bis zum Jahr 2100 werden sie um rund
Sonnenstrahlung zurück in den Weltraum reflektieren und 50 Prozent zunehmen. Auch hier zeigt sich der Wandel am
so die Erde kühlen. deutlichsten im Sommer in den mittleren Breiten. Das ist
insofern besonders beunruhigend, als dort die meisten
Der paradoxe »Nutzen« der Luftverschmutzung Menschen leben und große Mengen an Nutzpflanzen
Die Aerosolbelastung war für sauren Regen im Nordosten wachsen, die starker Hitze größtenteils nicht gut standhal-
der USA zwischen 1950 und 1970 verantwortlich. Der ten können.
»Clean Air Act« legte fest, dass Gaswäscher in den Schorn- Einige Simulationen deuten sogar darauf hin, dass die
steinen von Industrieanlagen installiert werden mussten, Zahl an QRA-Ereignissen um mehr als das Dreifache stei-
um das Schwefeldioxid aus den Abgasen zu entfernen. gen wird, andere wiederum sagen einen Rückgang vorher.
Während dies zur Rettung von Wäldern, Seen und Flüssen Die Berechnungen unterscheiden sich hauptsächlich des-
beitrug, gelangten auch weniger Sonnenlicht reflektierende halb, weil die Klimamodelle Aerosole unterschiedlich be-
Aerosole in die Atmosphäre. Ohne diese Partikel, die der handeln. Ob sich die Prognosen mit der Zeit aneinander
Erwärmung durch den steigenden CO2-­Gehalt entgegenwir- annähern werden, wissen wir noch nicht. Angesichts
ken konnten, heizte sich die Erde ab den 1970er Jahren solcher Unsicherheiten und des enormen Risikopotenzials,
schneller auf. das ein Worst-Case-Szenario mit sich bringt, ist es wohl am
Viele Länder der Welt arbeiten jedoch noch immer mit klügsten, die Verbrennung fossiler Brennstoffe und andere
veralteten industriellen Praktiken, allen voran China, das für Aktivitäten, die die Treibhausgaskonzentrationen erhöhen,
fast die Hälfte der heutigen Kohleverbrennung verantwort- unverzüglich zu reduzieren. 
lich ist. Im Business-as-usual-Szenario geht der Weltklima-
rat davon aus, dass Länder wie China weiterhin Kohle QUELLEN
verbrennen und zu einem höheren CO2-Ausstoß beitragen Coumou, D. et al.: The influence of arctic amplification on
werden. Nach seinen Berechnungen würde der Kohlen- mid-latitude summer circulation. Nature Communications 9,
stoffdioxidgehalt der Atmosphäre bis zum Ende des 2018
21. Jahrhunderts dann mehr als das Dreifache des vorindus- Mann, M. E. et al.: Influence of anthropogenic climate change
triellen Niveaus betragen. Ebenso nehmen die Experten in on planetary wave resonance and extreme weather events.
dem Szenario aber an, dass diese Industrien in den nächs- Scientific Reports 7, 2017
ten Jahrzehnten Gaswäscher installieren werden. Mann, M. E. et al.: Projected changes in persistent extreme
Dadurch wird der Anteil an Aerosolen bis zur Mitte des summer weather events: The role of quasi-resonant amplifica-
Jahrhunderts drastisch sinken und die Erde sich deutlich tion. Science Advances 4, 2018

Spektrum der Wissenschaft  7.19 61


KOHLENDIOXID

LIZ TORMES
DAS KLIMAGAS
VERGRABEN
Um die Folgen der globalen Erwärmung zu
begrenzen, reicht es inzwischen nicht mehr,
nur den Ausstoß von CO2 zu reduzieren.
Die Menschheit muss das Treibhausgas zu­
sätzlich aktiv aus der Atmosphäre ent­fernen.
Nun gilt es, unter den verschiedenen tech­
nischen Ansätzen den besten Mix zu finden.

Richard Conniff ist mehrfach ausgezeichneter


US-amerikanischer Wissenschaftsautor zu biologischen und
gesellschaftlichen Themen. Er lebt in Connecticut.

 spektrum.de/artikel/1647848

62 Spektrum der Wissenschaft  7.19



Um die Welt vor einem allzu dramatischen Klimawan-
LIZ TORMES

del zu bewahren, schien es bis vor etwa einem Jahr-


zehnt, als würde es genügen, die Treibhausgasemissio- AUF EINEN BLICK
nen zu reduzieren. Man müsse fossile durch saubere Ener- BRINGT DEN KLIMAKILLER
giequellen ersetzen, Autos und Gebäude effizienter UNTER DIE ERDE!
machen, auf LED-Beleuchtung wechseln, weniger Fleisch

1
essen und so weiter. Die wichtigste Expertengruppe für Für das Ziel einer globalen Erwärmung um weniger
solche Einschätzungen ist der auch Weltklimarat genannte als zwei Grad Celsius müssen bis zum Jahr­hundert­
IPCC (englisch für Intergovernmental Panel on Climate ende eine Billion Tonnen bereits emittiertes Kohlen­
Change), ein zwischenstaatlicher Ausschuss der Vereinten dioxid wieder aus der Atmosphäre verschwinden.
Nationen, der regelmäßig den Wissensstand der Klimafor-
schung zusammenträgt. Noch 2005 hielt der IPCC die
Strategie für ausreichend, Emissionen zu reduzieren und 2 Lösungsansätze reichen von der Aufforstung abge-
holzter Wälder bis zu Maschinen, die CO2 aus der
Luft filtern und einlagern. Doch nicht bei allen ist klar,
erneuerbare Energien zu fördern. Aber das hat nicht funkti-
ob und wie gut sie umsetzbar sind.
oniert – der globale CO2-Ausstoß ist seither nicht gesunken,
sondern gestiegen. Inzwischen helfen solche Maßnahmen
allein nicht mehr, selbst wenn die jährlichen Nettoemissio-
nen weltweit bis 2050 auf null fallen würden.
3 Entscheidend wird die Suche nach der optimalen
Kombination sein. Das jeweilige Potenzial liegt bes-
tenfalls bei einigen hundert Milliarden Tonnen bis
Die verheerenden wirtschaftlichen und ökologischen 2100, bei Kosten von bis zu 300 US-Dollar pro Tonne.
Folgen eines zu starken Klimawandels lassen sich Experten
zufolge nur noch mit negativen Emissionen abwenden. Das
bedeutet konkret: Jedes Jahr muss die Menschheit unter
dem Strich Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus der Atmo-
sphäre entfernen. Negative Emissionen in großem Maßstab
sind inzwischen eine »biophysikalische Notwendigkeit«, so

Diese Anlagen bei einem Geothermiekraftwerk im


isländischen Hellisheiði pressen in Wasser gelöstes
Kohlendioxid in poröse, tiefe Gesteinsschichten.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 63


LIZ TORMES
1
Eine Anlage saugt Luft an und entfernt Kohlendioxid daraus.

LIZ TORMES
eine Studie von 2018 unter der Leitung von Jan Christoph Zermahlen und großflächige Verteilen bestimmter Gesteins-
Minx vom deutschen Mercator Research Institute on Global arten, die CO2 aufnehmen.
Commons and Climate Change. Die meisten der Hightech-Lösungen befinden sich noch
Wie kommen wir dorthin? Die Zeit für eine Antwort in einem frühen Entwicklungsstadium. Sie erfordern enor-
drängt. Fast alle Nationen der Welt haben sich im Rahmen me Investitionen bei erheblichen Risiken des Scheiterns
des Pariser Klimaabkommens von 2016 darauf geeinigt, und bei potenziellen Nebenwirkungen. Sie konkurrieren
deutlich unter einer globalen Temperaturerhöhung um zwei zudem um Land, das zur Ernährung der Menschen oder als
Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu bleiben. naturnaher Lebensraum wichtig ist.
Das Ziel sind 1,5 Grad. Bei diesem Niveau gehen die Wis- Für welche der Unterfangen wir uns auch entscheiden,
senschaftler davon aus, dass die Einschnitte in unser ver- sie dürften unser letzter Ausweg sein. Als der Statistiker
trautes Leben gerade noch nicht zu stark sind. Die Erwär- Adrian Raftery von der University of Washington 2017 in
mung liegt derzeit bereits bei etwa einem Grad und steigt einer Studie zum Klimawandel gemeinsam mit seinen
mit 0,2 Grad pro Jahrzehnt. In einem Sonderbericht vom Kollegen aktuelle Trends untersuchte, stellte er fest, dass
Oktober 2018 warnte der IPCC, dass wir nur bis 2030 Zeit wir – ohne Technologien für negative Emissionen – auf dem
hätten, um zu handeln. Sonst würden wir 1,5 Grad Celsius besten Weg sind, bis zum Ende des Jahrhunderts ein Plus
überschreiten. von 3,2 Grad Celsius zu erreichen, bei einer Spanne zwi-
Wohl und Wehe der Klimapolitik hängen am so genann- schen 2 und 4,9 Grad. In einer weiteren Studie kategorisier-
ten Kohlenstoffbudget. Das ist die Gesamtmenge von te der Klimawissenschaftler Yangyang Xu von der Texas
Kohlendioxid, die wir der Atmosphäre ab Beginn der Indus­ A&M University eine Erwärmung von mehr als drei Grad als
trialisierung insgesamt hinzufügen können, ohne die Erwär- »katastrophal« und von mehr als fünf Grad als »existenzielle
mung über die kritische Temperatur hinauszutreiben. Bei Bedrohung für einen Großteil der Menschheit«.
den gegenwärtigen Emissionen – etwa 40 bis 50 Milliarden
Tonnen pro Jahr – könnte es im 1,5-Grad-Szenario nur noch Die Suche nach Rüstzeug vor einem
wenige Jahre dauern, warnte das Team um Minx 2018, bis Berg von Problemen
jede weitere Tonne eine gleich große Entnahme erfordere. Wenn also eine Billion Tonnen negativer Emissionen in
Nach Schätzungen der Forschergruppe muss die Welt bis diesem Jahrhundert notwendig sind – welchen Anteil am
2100 zwischen 150 Milliarden und mehr als einer Billion Ton- Kuchen könnte jede Methode ausmachen und zu welchem
nen CO2 aus der Atmosphäre entfernen. Das sind ab 2050 Preis? Welcher Mix ist angesichts der Konkurrenz um
etwa zwei Milliarden bis 16 Milliarden Tonnen pro Jahr, bestimmte Ressourcen, zum Beispiel Landfläche, am
wobei der Wert später im Jahrhundert deutlich zunimmt. besten geeignet? Und bringen wir den politischen Willen
Dazu müssen wir ab 2030 mehrere hundert Anlagen zur auf, negative Emissionen zu erreichen und gleichzeitig
Abscheidung und Speicherung von CO2 pro Jahr bauen, unseren derzeitigen Kohlendioxidausstoß drastisch zu
führen die Wissenschaftler weiter aus. Das können etwa senken?
große Maschinen sein, die Kohlendioxid aus der Luft zie- Das Modell für eine Antwort auf zumindest eine der
hen, oder Kraftwerke, die nachwachsende Biomasse ver- Fragen steht vielleicht auf Island vor den Toren von Reykja-
brennen, während die Emissionen aufgefangen und tief vík zwischen Felsbrocken und Moos. Inmitten der öden und
unter der Erde eingelagert werden. Zu den technisch weni- eisigen Vulkanlandschaft saugt eine Maschine von der
ger aufwändigen Optionen gehören die Wiederaufforstung Größe einer Autogarage Luft durch einen Filter mit einem
gerodeter oder die Erweiterung bestehender Wälder, die chemischen Absorber, der ihr Kohlendioxid entzieht. Sie
bessere Bindung von Kohlenstoff in Böden sowie das wird mit Abwärme aus einem benachbarten Geothermie-

64 Spektrum der Wissenschaft  7.19


LIZ TORMES
2 3
In nahe gelegenen Kuppeln wird Diese Minerale
das Gas mehr als 700 Meter unter sind als helle Stellen
die Erde gepumpt. Dort reagiert es in einer Basaltprobe
mit Basaltgestein zu Karbonaten. zu erkennen.
LIZ TORMES

kraftwerk betrieben und pumpt das CO2 gut 700 Meter tief Kohlekraftwerk würde dabei mehr Emissionen verursachen
unter die Erde. Dort reagiert das Gas mit Basalt­gestein als entfernen. Solar- oder Windparks hingegen bedecken
und verfestigt sich zu einem Mineral. Der Betreiber, das viel Land, das möglicherweise anderweitig benötigt wird.
Schweizer Start-up-Unternehmen Climeworks, entreißt der Der rasche Bau solcher Anlagen wäre zwar vielleicht
Atmosphäre mit dieser Anlage bescheidene 50 Tonnen Koh- wichtig, um zügig Erfahrungen für zukünftige Projekte in
lendioxid pro Jahr. einem viel größeren Umfang zu sammeln. »Aber würden
Eine solche direkte Abscheidung und Speicherung ist Sie heute die direkte Entnahme von 20 Millionen Tonnen
vielleicht der einfachste Weg zu negativen Emissionen. CO2 aus der Luft forcieren, wäre Ihr Geld grundfalsch
Turbinen schaufeln CO2 aus dem Himmel und vergraben es angelegt«, mahnt der Energietechnikforscher Roger Aines
regelrecht. Diverse Wissenschaftler meinen, die Technolo- vom Lawrence Livermore National Laboratory. »Die dafür
gie könne bis zum Ende des Jahrhunderts 10 bis 15 Milliar- nötige Sonnen- und Windenergie sollte man besser direkt
den Tonnen Kohlendioxid pro Jahr entfernen, manche ans Netz bringen und dafür Kohlekraftwerke abschalten.«
halten 40 Milliarden Tonnen für möglich. Die Aussicht ist Neue Emissionen zu vermeiden, ist nach wie vor oberste
unter Umständen sogar zu verlockend: Die Menschen könn- Priorität.
ten in der Hoffnung auf eine spätere technische Lösung die In ihrer Studie summiert Fuss nicht schlicht das Potenzial
sofort gebotene Verringerung der Nutzung fossiler Brenn- der sieben untersuchten Methoden auf, denn einige von
stoffe verschleppen. ihnen konkurrieren um die gleichen Ressourcen. So würde
2018 hat Sabine Fuss vom Mercator Institute mit ihrem beispielsweise Aufforstung eventuell Land beanspruchen,
Team die Kosten, die Nebeneffekte, die Umweltverträglich- das für den Anbau des Brennstoffs für Bioenergiekraftwer-
keit und weitere Faktoren sieben viel versprechender ke benötigt wird. Bioenergie wiederum könnte für die
CO2-Entfernungsmethoden gründlich untersucht. Fuss unterirdische Speicherung des entstehenden CO2 Lager-
schätzt das bis 2050 aufgebaute Potenzial für die direkte stätten benötigen, die dann nicht mehr für die direkte
Abscheidung und Speicherung etwas zurückhaltender Abscheidung aus der Atmosphäre verfügbar wären. Wis-
ein – auf nur eine halbe bis fünf Milliarden Tonnen pro Jahr. senschaftler zielen deswegen auf ein optimiertes Portfolio
In diesem Jahrhundert entspricht das insgesamt zwischen verschiedener Methoden ab.
25 und 250 Milliarden Tonnen, bei Kosten von 100 bis 300 Für den Anfang rät Peter Smith, Experte für Bodennut-
US-Dollar pro Tonne. (Zum Vergleich: Ein einzelnes Auto zung an der University of Aberdeen in Schottland, bereits
stößt jährlich mehrere Tonnen Kohlendioxid aus.) Einige bekannte Verfahren hochzuskalieren: »Wir wissen, wie man
Forscher meinen, die Kosten ließen sich unter 100 Dollar Bäume pflanzt. Wir wissen, wie man Moore renaturiert, vor
pro Tonne drücken. Doch Minx befürchtet, bis dahin könne allem durch Anheben des Grundwasserspiegels.« Torf
es zu spät sein. Dazu müsse man sich nur vor Augen führen, bindet Kohlendioxid. »Wir wissen, wie man den Kohlen-
dass es für die Solarenergie mehr als 60 Jahre brauchte, stoffgehalt im Boden erhöht. Das alles ließe sich relativ
um von der Anwendung bei Satelliten in den 1950er Jahren einfach und unmittelbar umsetzen. Und es brächte uns
zur heutigen breiten Marktdurchdringung zu gelangen. immerhin einen Schritt in die richtige Richtung.«
Zudem verbraucht die direkte CO2-Abscheidung enorme Eine viel versprechende Strategie ist die Wiederauffors-
Energiemengen. Die Entfernung von einer Million Tonnen tung. Traurigerweise sind die Regenwälder der Erde heute
Kohlendioxid pro Jahr – nur ein winziger Teil des Ziels von eher eine Quelle denn eine Senke für Kohlendioxid, weil
durchschnittlich 20 Milliarden Tonnen – würde ein 300- bis Bäume gefällt oder verbrannt werden und verwüstete Flä-
500-Megawatt-Kraftwerk erfordern, so Jennifer Wilcox, Ver- chen zurückbleiben. Die Wälder der Welt wieder zu Gebie-
­fahrenstechnikerin am Worcester Polytechnic Institute. Ein ten mit negativen Emissionen zu machen, würde tief grei-

Spektrum der Wissenschaft  7.19 65


Strategien gegen das Klimagas
VERGLEICH
ALLER ANSÄTZE Welche Techniken haben das beste Potenzial, um Kohlendioxid langfristig
Die Rechtecke zeigen die aus der Atmosphäre zu entfernen? Das große Diagramm (links) ver­
wahrscheinlichsten gleicht auf einen Blick die bis 2050 mögliche Einlagerung mit Hilfe
Spannen laut Experten-
einschätzung (mit verschiedener Ansätze sowie deren Kosten. Die jeweiligen
Ausnahme der Ozean­- ­Spannen der Daten basieren auf einer umfangreichen Analyse
­­düngung, F).
der Ökonomin Sabine Fuss und ihres Teams. Die kleineren
Einzeldarstellungen bewerten die Techniken im Detail.

IM FOKUS: DIE EINZELNEN METHODEN


Die Farben entsprechen Wertebereichen vieler
Einzelstudien. Je dunkler die Farben, desto
größer die Übereinstimmung.
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Die Skalen einzelner rig

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Beiträge (lila) sind zur
besseren Lesbarkeit BIOENERGIE MIT CO2-ABSCHEIDUNG
teilweise gestreckt oder
gestaucht. Biomasse, die durch Aufnahme von Kohlendioxid wächst, verbrennt
in Kraftwerken. Entstehendes CO2 wird aufgefangen und in den
Untergrund verpresst. Das Verfahren konkurriert freilich mit der
ILLUSTRATIONEN: BEN GILLILAND, DIAGRAMME: PITCH INTERACTIVE, NACH FUSS, S. ET AL.: NEGATIVE EMISSIONS - PART 2: COSTS, POTENTIALS

Nahrungsmittelproduktion um Agrarflächen.

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AND SIDE EFFECTS. ENVIRONMENTAL RESEARCH LETTERS 13, 063002, 2018, FIG. 14 / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2019

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AUFFORSTUNG BIOKOHLE
Bäume speichern CO2 aus der Luft in ihrem Holz. Neupflanzungen Organisches Material wird in einer sauerstofffreien Umgebung erhitzt.
können gerodete Wälder wieder herstellen oder bestehende Dabei entsteht Kohle. In Böden ausgebracht, überdauert diese dort
Flächen erweitern. Dafür wären tief greifende Reformen auf den und kann sogar das Wachstum und somit den CO2-Umsatz verbes-
globalen Holzmärkten nötig. sern. Die Energiekosten und der Biomassebedarf sind hoch.

66 Spektrum der Wissenschaft  7.19


PITCH INTERACTIVE / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2019
positiv positiv instabil instabil steigend steigend PRO UND KONTRA
begrenzt begrenzt
unsicher unsicherunverändert
unverändert Die Methoden, mit denen bis
2050 Kohlenstoff gebunden
negativ negativstabil stabil fallend fallend werden könnte, haben

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Risiko, dass CO2 wieder

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Aufforstung
Aufforstung entweicht. Die rechtesten
beiden Spalten stellen das
Bioenergie
Bioenergie anzunehmende Potenzial und
die Kosten für eine weitere
Biokohle Biokohle Ausweitung der Techniken
nach 2050 dar. Hier spielt
Verwitterung
Verwitterung beispielsweise die begrenzte
Landfläche eine Rolle. Die
direkte Luftentnahme
direkte Luftentnahme Beurteilung richtet sich nach
der überwiegenden Einschät-
Ozeandüngung
Ozeandüngung zung in wissenschaftlichen
Veröffentlichungen. Gibt es
Bodenbindung
Bodenbindung nicht genügend davon,
bleiben einzelne Einträge
Nebenwirkungen
Nebenwirkungen Trend nachTrend
2050nach 2050 unausgefüllt.

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BESCHLEUNIGTE VERWITTERUNG OZEANDÜNGUNG


Bestimmte Gesteinsarten werden abgebaut, pulverisiert und auf Eisenspäne im Oberflächenwasser der Ozeane könnten das Wachstum
dem Land oder im Ozean ausgebracht. Dort reagieren sie mit von Algen beschleunigen, die CO2 aufnehmen und nach ihrem Absterben
CO2 und wandeln sich in Karbonate um. Größtes Hemmnis sind zu Boden sinken. Wegen unklarer Auswirkungen auf die marinen Öko­-

ILLUSTRATIONEN: BEN GILLILAND, DIAGRAMME: PITCH INTERACTIVE, NACH FUSS, S. ET AL.: NEGATIVE EMISSIONS - PART 2: COSTS, POTENTIALS
die Kosten für die Förderung, Zerkleinerung und Verteilung. systeme wurde die Methode von den Experten nicht weiter einbezogen.

CO2 CO2 CO2 CO2


AND SIDE EFFECTS. ENVIRONMENTAL RESEARCH LETTERS 13, 063002, 2018, FIG. 14 / SCIENTIFIC AMERICAN JANUAR 2019
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DIREKTE LUFTENTNAHME KOHLENSTOFFBINDUNG IN BÖDEN


Große Maschinen saugen Luft aus der Atmosphäre ein, entfernen Das Wurzelwerk geeigneter Gräser und anderer Pflanzen befördert
chemisch CO2 und pumpen dieses tief in die Erde. Die Kosten sind verstärkt Kohlenstoff unter die Erde, wo er infolge angepasster
anfangs hoch, könnten aber mit Weiterentwicklung der Technik landwirtschaftlicher Praktiken verbleibt. Das zusätzliche Speicher­
sinken. (Daten für eine Darstellung des Potenzials fehlen.) vermögen der Böden ist jedoch begrenzt.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 67


mehrere Jahre vor dem Zeitpunkt, der unter dem Gesichts-
punkt der CO2-Speicherung am besten wäre. Wenn Waldbe-
sitzer die Möglichkeit hätten, Zertifikate zu verkaufen, um
den entgangenen Ertrag während der zusätzlichen Wachs-
tumsjahre z­ u kompensieren, könnte dies die Ernte hinauszö-
gern und insgesamt mehr Kohlenstoff in den Wäldern halten.
Ebenso könnte der Anbau von Stickstoff bindenden
Pflanzen und ein anderes System der Weideführung die
Beweidung produktiver machen und gleichzeitig die Kohlen-
stoffspeicherung in den Böden erhöhen. Fuss schätzt konser-

GETTY IMAGES / JEFF HUTCHENS


vativ, dass Verbesserungen hier bis zu 5,3 Milliarden Tonnen
pro Jahr ausmachen können – 265 Milliarden Tonnen in
diesem Jahrhundert –, bei 0 bis 100 Dollar pro Tonne.
Dazu kommt so genannte Biokohle. Dabei erhitzt ein
spezieller Ofen Biomasse in einer sauerstoffarmen Umge-
Biokohle wird aus Pflanzenmaterial hergestellt. In dieser bung. Es entstehen Holzkohle und technisch nutzbare Ne-
Form kann Kohlenstoff in landwirtschaftlich genutzte benprodukte wie Öl und Gas. Wenn die Kohle in landwirt-
Flächen eingebracht werden. Sie erhöht die Bodenqualität schaftliche Flächen eingebracht wird, bleibt der Kohlenstoff
und wird dort praktisch nicht abgebaut. im Boden und kann sogar die Ernteerträge verbessern.
Obwohl das noch niemand in großem Maßstab versucht
hat, halten Fuss und ihre Koautoren das Verfahren für eine
fende Reformen im internationalen Holzmarkt erfordern, plausible Möglichkeit, 300 Millionen bis zwei Milliarden
der stark vom illegalen Handel beeinflusst wird. Darüber Tonnen Kohlendioxid pro Jahr einzulagern, bei Kosten von
hinaus wären Flächen für die Wiederaufforstung geeignet, 90 bis 120 Dollar pro Tonne. Das sind 15 Milliarden bis 100
die für die Land- oder Weidewirtschaft gerodet worden Milliarden Tonnen in diesem Jahrhundert.
sind und später als unrentabel aufgegeben wurden. Ausrei-
chende Mittel vorausgesetzt, könnte die Wiederherstellung Zu Lande, zu Wasser und aus der Luft
von fünf Millionen Quadratkilometern solcher Areale Ein weiterer Ansatz ist Bioenergie mit CO2-Abscheidung
3,7 Milliarden Tonnen Kohlendioxid pro Jahr binden, so eine und -Speicherung, kurz BECCS. Die Pläne vieler Länder zur
Studie von 2015 unter der Leitung von Richard Houghton Erfüllung ihrer Pariser Verpflichtungen hängen daran, doch
von der Forschungsorganisation Woods Hole Research die Technik ist umstritten: Ein Kraftwerk verbrennt Holz,
Center. Würden sogar alle Weideflächen, die früher einmal landwirtschaftliche Abfälle oder andere Biomasse. Die
Wälder waren, konsequent in ihren Ursprungszustand Organismen haben der Atmosphäre während ihres Wachs-
zurückversetzt, könnten dem Ökologen Bronson Griscom tums Kohlendioxid entzogen. Im Kraftwerk wird es zwar
von der Naturschutzorganisation The Nature Conservancy wieder freigesetzt, aber aufgefangen und unterirdisch in
zufolge bis zu zehn Milliarden Tonnen negative Emissionen tiefe geologische Formationen zur endgültigen Speicherung
pro Jahr entstehen. Das ist bereits ein beträchtlicher Teil verpresst. Allerdings beansprucht die Bepflanzung in dem
der insgesamt nötigen Rückgewinnung von Kohlenstoff. von einigen Befürwortern vorgeschlagenen Umfang viel
Aber dieser Schritt würde global gesehen eine Abkehr vom Ackerfläche und konkurriert mit der Nahrungsmittelproduk-
Fleischkonsum erfordern – entgegen dem Trend. tion, mit natürlichen Lebensräumen sowie mit anderen
Fuss erkennt in der Aufforstung nicht ganz so viel Poten- Speichermethoden wie der Wiederaufforstung. Die Emissio-
zial. Bäume leben und sterben, sie geben den gespeicher- nen am Schornstein anzuzapfen, reduziert zudem den Wir-
ten Kohlenstoff also später in diesem oder im nächsten kungsgrad des Kraftwerks. Daher schätzt Fuss das Potenzial
Jahrhundert wieder ab. Die Menge des jährlich eingelager- von BECCS auf nur zwei Milliarden Tonnen pro Jahr und liegt
ten Kohlendioxids wird wahrscheinlich allmählich auch damit deutlich unter den Prognosen anderer Forscher. Die
zurückgehen, weil alte Wälder langsamer wachsen. Und Kosten lägen bei 100 bis 200 Dollar pro Tonne. Bis 2100 wä-
Risiken durch Waldbrände, erneute Rodung und direkte ren so 100 Milliarden Tonnen negative Emissionen möglich.
Auswirkungen des Klimawandels bleiben bestehen. Den- Ein viel diskutiertes Verfahren beschleunigt einen natürli-
noch könnte die Vergrößerung von Wäldern die Zeit ent- chen Verwitterungsprozess: Kohlendioxid in der Luft reagiert
scheidend überbrücken, bis technische Lösungen im gro- mit bestimmten Gesteinen wie Basalt zu festen Verbindun-
ßen Stil einsetzbar werden. Fuss hält bis Mitte des Jahrhun- gen. Forscher wollen Felsen regelrecht zermahlen, um durch
derts 0,5 bis 3,6 Milliarden Tonnen Kohlendioxid pro Jahr die dergestalt vergrößerte Oberfläche die chemische Um-
für möglich. Das könnte 25 Milliarden bis 180 Milliarden wandlung deutlich zu beschleunigen. Fuss schätzt das
Tonnen zum Gesamtziel von einer Billion Tonnen in diesem Potenzial auf zwei bis vier Milliarden Tonnen pro Jahr, bei
Jahrhundert beitragen. Die Kosten lägen wohl zwischen Kosten von 50 bis 200 Dollar pro Tonne.
5 und 50 Dollar pro Tonne. Gelegentlich wird über die Düngung der Ozeane nachge-
Auch ließe sich das Waldmanagement auf möglichst dacht. Eisen oder sonstige ins Meer eingebrachte Stoffe
optimalen Kohlenstoffeintrag umstellen. Laut Griscom sollen das Wachstum von Algen und anderem Plankton
ernten zum Beispiel Förster im Südosten der USA Kiefern stimulieren. Doch das wäre wohl nicht nur ineffizient und

68 Spektrum der Wissenschaft  7.19


von kurzer Dauer, sondern hätte unabsehbare Auswirkun- Produkt, das sinnvoll gehandelt werden kann, und ist nicht
gen auf die Ökosysteme. Es sei daher »keine praktikable nur ein Kostenfaktor.
Strategie für negative Emissionen«, schreibt das Team Bringt uns das Portfolio potenzieller Techniken zusam-
um Fuss. men mit Steueranreizen und Marktmechanismen zum Ziel
Was bleibt unter dem Strich? Die Spanne der aufsum- von einer Billion Tonnen bis 2100? Der extrem trockene
mierten Effekte liegt zwischen 150 Milliarden und etwas Sommer 2018 könnte aufgerüttelt haben. Auf vier Kontinen-
mehr als eine Billion Tonnen bis 2100. Der letzte Wert mag ten erlebten die Menschen Hitze und Dürre. Der US-ameri-
Hoffnungen wecken, aber wir dürfen die Zahlen wegen der kanische Westen stand in Flammen. In Japan kamen inner-
konkurrierenden Ressourcen nicht einfach addieren. Fuss halb einer Woche Tausende von Hitzschlagopfern ins
zufolge können wir bestenfalls das Portfolio optimieren und Krankenhaus. In Deutschland kürte die Gesellschaft für
vorteilhafte Überschneidungen nutzen. So wäre beispiels- deutsche Sprache »Heißzeit« zum Wort des Jahres. Klima-
weise die beschleunigte chemische Verwitterung auf den wissenschaftler warnten vor einem unkontrollierbaren
gleichen Flächen möglich, auf denen Biomasse für BECCS »Treibhaus Erde«, so etwa Hans Joachim Schellnhuber,
angebaut wird. emeritierter Direktor des deutschen Potsdam-Instituts für
Jedenfalls erfordern alle Ansätze massive Investitionen Klimafolgenforschung. Er umriss vor Reportern das Szena-
in Forschung und Entwicklung. »Das wird ein langer, harter rio einer Welt, die nur noch Lebensraum für eine Milliarde
Kampf«, meint Roger Aines. Die Regierungen zögern bei statt heute 7,5 Milliarden Menschen bieten könnte.
konkreten Finanzierungsentscheidungen, auch weil sie
unsicher sind, auf wen sie setzen sollen, und weil einige
frühere Investitionen bereits zu berüchtigten Misserfolgen
geführt haben. Das US-Energieministerium hat etwa riesige
Summen für Projekte ausgegeben, die auf »saubere Kohle« Mehr Wissen auf
durch Abscheidung der Verbrennungsprodukte bei der Spektrum.de
Stromerzeugung abzielten. Doch das Energieunternehmen Lesen Sie über erschöpfte Erdgas-
Southern Company beendete seine 7,5 Milliarden Dollar felder als CO2 -Endlager​ unter
teuren Versuche 2017 und stellte das entsprechende Kohle- spektrum.de/artikel/1644768
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MUTLU KURTBAS / GETTY IMAGES
kraftwerk in Kemper County in Mississippi auf Erdgas um.
Eine CO2-Steuer böte einen Ausweg aus der Verlegen-
heit, vorzeitig gewissermaßen die Gewinner des Technik-
wettrennens zu küren. Sie würde jede Emission von Kohlen- Politische Entscheidungsträger scheinen dem Klimawan-
dioxid direkt mit Kosten belegen. Der Gedanke dahinter ist, del trotz überwältigender Beweise immer noch unent-
einen Markt dafür zu schaffen, sowohl jetzt den Ausstoß zu schlossen gegenüberzustehen. Das Beunruhigende an
reduzieren als auch einmal in die Atmosphäre gebrachtes CO2-Speichertechnologien ist, dass hier selbst für die
CO2 später zurückzugewinnen. Mehrere Staaten haben so Wissenschaftler vieles ungewiss ist. Zum Kohlenstoff in
ein System bereits eingeführt, meist im Bereich von 20 Euro Böden meint die Ökologin Stephanie Roe von der University
pro Tonne. In den Volkswirtschaften, die stark von fossilen of Virginia etwa: »Wir diskutieren verschiedene Substrate
Brennstoffen abhängen, schrecken die Regierungen vor und dass es darauf ankommt, in welchem Teil der Welt man
einer drastischen Besteuerung jedoch oft zurück. sich befindet, wie die Niederschläge dort aussehen und
Bis auf wenige Ausnahmen zögern die Unternehmen welche Temperaturen herrschen.« Forscher streiten sogar
außerdem, in Speichertechnologien zu investieren, da sie darüber, ob sich irgendeine der Methoden zur Entfernung
bis vor Kurzem keinen Markt dafür sahen. Schließlich ist die von Kohlenstoff, geschweige denn alle, überhaupt bis zu
Klimarettung ein öffentlicher Nutzen, mit dem man keinen Milliarden Tonnen jährlich hochskalieren lässt. »Vielleicht
Gewinn erzielen kann. Aber das könnte sich ändern. So hat dreht sich in der Debatte zu viel um die mögliche Dimensi-
das US-Repräsentantenhaus Anfang 2018 ein überraschend on«, kommentiert Brendan Jordan vom Great Plains Insti­
überparteiliches Paket von Steueranreizen verabschiedet. tute in Minneapolis. »Ich fürchte, das lähmt uns, und das
Unternehmen sollen Vergünstigungen für die Abscheidung können wir uns nicht leisten.« Wir müssen auf negative
von Kohlendioxid, die Lagerung unter Tage – bis zu 50 Emissionen setzen, trotz aller Unsicherheiten. Denn diese
US-Dollar pro Tonne – und für verschiedene Formen der sind winzig im Vergleich zur Ohnmacht in einer Welt, auf
Nutzung von CO2 erhalten. Darunter ist das umstrittenste der das Klima mit uns »Reise nach Jerusalem« spielt und
Einsatzgebiet die »tertiäre Ölgewinnung«. Hier kauft eine auf der es, sobald die Musik zu spielen aufhört, für Milliar-
Ölgesellschaft Kohlendioxid, transportiert es per Pipeline den Menschen keinen Platz mehr gibt, sich hinzusetzen. 
und presst es in eigentlich erschöpfte Quellen. Das setzt
wiederum Ölreste frei, die sich mit herkömmlichen Mitteln QUELLEN
nicht mehr fördern ließen. Die Gewinnung fossiler Brenn-
stoffe als Folge des Kampfs gegen den Klimawandel klingt Fuss, S. et al.: Negative emissions – Part 2: Costs, potentials
and side effects. Environmental Research Letters 13, 2018
widersinnig und hat das Steuerprogramm bei Kritikern als
eine versteckte Subvention fossiler Brennstoffe in Verruf Griscom, B. W. et al.: Natural climate solutions. PNAS 114, 2017
gebracht. Doch einige Umweltschützer begrüßen den Mulligan, J. et al.: Technological carbon removal in the United
Perspektivenwechsel: Kohlendioxid wird so zu einem States. World Resources Institute, 2018

Spektrum der Wissenschaft  7.19 69


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Mathematiker brauchen Ausdauer. Manchmal dauert


FRANZISKA SCHÄDEL (WWW.FLORIAN-FREISTETTER.DE/BILDER.HTML) /

es Jahrzehnte, bis man endlich einen Beweis


findet. Aber auch Zahlen können hartnäckig sein!

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und


Wissenschaftskabarettist bei den »Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1647842

Q
uersummen von Zahlen sind nicht nur leicht zu plikative Ziffernwurzel übrig bleibt, ist 3 778  888 999,
berechnen, sondern haben auch ganz praktische während eine Beharrlichkeit von 11 erstmals bei
Anwendungen. Bis 2006 war zum Beispiel die 277 777 788 888 899 auftaucht.
Summe der zehn Ziffern einer Internationalen Überraschenderweise ist bisher noch nicht bekannt,
Standardbuchnummer (ISBN) immer restlos durch elf ob es eine Beharrlichkeit von 12 oder mehr überhaupt
dividierbar. Die Quersumme zeigte also schnell, ob eine gibt. Mathematiker vermuten, dass das nicht der Fall
ISBN gültig ist oder nicht. Inzwischen werden nur noch ist – das haben sie mit aufwändiger Computerunter-
13-stellige ISBN vergeben, die sich ebenfalls durch eine stützung für enorm viele Zahlen geprüft. Wenn also
allerdings komplexere Berechnung rasch überprüfen doch Zahlen mit einer Beharrlichkeit von mehr als elf
lassen. existieren sollten, dann müssen sie extrem groß sein.
Ein ähnlich einfaches Konzept wie die Quersumme

E
ist das Querprodukt. Auch wenn sich dafür weniger ine konkrete Anwendung ist aus diesem For-
konkrete Anwendungsfälle ergeben, ist es vom mathe- schungsgebiet noch nicht entstanden, weshalb die
matischen Standpunkt aus dennoch recht interessant. Beschäftigung mit der Beharrlichkeit von Zahlen
Ein Beispiel ist die Rechnung: nutzlos wirken mag. Tatsächlich erscheinen viele
Aufsätze zu diesem Thema in einer Zeitschrift des Titels
»Journal of Recreational Mathematics«. Es handelt sich
also um Mathematik, die der Unterhaltung und Erho-
lung dient. Diesen Zweck sollte man aber keinesfalls
unterschätzen!
Analog zur Quersumme bildet man aus den Ziffern Als Astronom ist mir mehr als deutlich bewusst, was
der Zahl ein Produkt. Das wiederholt man immer unterhaltsame Wissenschaft leisten kann. Nacht für
wieder, bis man schließlich bei einer einzelnen Ziffer Nacht packen überall auf der Welt Menschen ihre
landet. Die Anzahl der dafür nötigen Schritte (im obigen Teleskope aus und beobachten damit den Himmel. Das
Beispiel 2) wird als »Beharrlichkeit« der Ausgangszahl tun sie nicht, um astronomische Forschung zu betrei-
bezeichnet, und das Endergebnis (5) heißt »multiplikati- ben, sondern einzig und allein aus Spaß an der Betrach-
ve Ziffernwurzel«. tung des Kosmos. Die Hobbyastronomie ist für ihre
Offensichtlich ist 10 die kleinste positive Zahl, bei der Anhänger ebenso erholsam wie für andere ein Kino­
sich ein Querprodukt bilden lässt. Damit ist sie auch die besuch oder sportliche Aktivität.
kleinste Zahl, deren Beharrlichkeit 1 beträgt. Beharrli- Auch wenn die Mathematik oft in ihrer eigenen
cher ist erst die 25, und 39 ist die kleinste Zahl mit einer abstrakten Welt existiert, kann sie dennoch genauso
Beharrlichkeit von 3 (3 ∙ 9 = 27, 2 ∙ 7 = 14, 1 ∙ 4 = 4). als Entertainment dienen. Und genau diese Art von
Sucht man nach noch beharrlicheren Zahlen, stellt man »Unterhaltungsmathematik« ist es, die Menschen für
fest, dass sie sehr schnell sehr groß werden. Die kleins- Forschung und Wissenschaft begeistert, so dass sie
te Zahl, bei der man 10 Schritte braucht, bis die multi- eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe erfüllt.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 71


KLOSTERMEDIZIN
VON MONTE CASSINO
NACH BINGEN
Benedikt von Nursia legte den Grundstein der klösterlichen
Heilkunde, die in Hildegard von Bingen ihre wohl eigen­
willigste Vertreterin fand. Jahrhundertelang oblag es Geist­
lichen, das medizinische Wissen der Antike zu bewahren
und zum Wohl der Patienten zu erweitern.

Dieser Artikel war als gemeinsamer Beitrag des Medizin­his­torikers


Tobias Niedenthal (links) von der Forschergruppe Klostermedizin in
Würzburg und des Medizin- und Pharmaziehistorikers Johannes
Gottfried Mayer, dem Leiter der Gruppe, geplant. Mayer verstarb
unerwartet im März 2019. Der Artikel ist seinem Gedenken gewidmet.
PETRA ROTHÜTL

PETER RAIDER

 spektrum.de/artikel/1647248


Dass das Mittelalter in gesellschaftlicher wie wissen­ es verstanden hatte, sich in einer Welt der Männer bis in
schaftlicher Hinsicht eine Epoche der Finsternis war, ist höchste Kreise Respekt zu verschaffen. Schließlich schrieb
ein weit verbreitetes Klischee. Im 17. Jahrhundert Lipinska ihr sogar die Kenntnis des Blutkreislaufs wie auch
ersonnen, um die Leistungen der eigenen Gegenwart durch der Gravitation zu. Zur Erinnerung: Als nachweislich Erster
den Kontrast zur düsteren Vergangenheit noch strahlender beschrieb der Londoner Arzt William Harvey den Blutkreis­
erscheinen zu lassen, prägte es unser Bild jener Zeit – auch lauf 1616 in seinen Vorlesungen, und gut 70 Jahre später
in der Forschung. Beispielsweise sprach der Medizinhisto­ formulierte der britische Naturforscher Isaac Newton das
riker Julius Pagel, ein Pionier seines Fachs, um 1900 abwer­ Gravitationsgesetz. Wie konnte ihnen eine Nonne des
tend von einem Jahrtausend der Stagnation. Nur zögerlich 12. Jahrhunderts zuvorgekommen sein? Lipinskas Schluss­
gewannen Historiker ein differenzierteres Bild und trennten folgerung lautete: Ein solches Wissen musste Gott ge­
Fakten von Vorurteilen. 1964 bezeichnete der Heidelberger schenkt haben – Hildegard war schon zu Lebzeiten für ihre
Arzt und Historiker Heinrich Schipperges das frühe und Visionen berühmt.
hohe Mittelalter als eigenartigste Epoche in der Geschichte Ihre heutige Popularität verdankt sie aber vor allem dem
der abendländischen Medizin und charakterisierte sie als österreichischen Arzt Gottfried Hertzka, der seine angeblich
Zeit ohne Universitäten, in der sich in Europa nur Benedik­ auf den Werken der Äbtissin basierte »Hildegard-Medizin«
tiner auf die Heilkunde verstanden, als »Zeitraum, den man ab 1970 Gewinn bringend vermarktete (siehe Bild S. 76).
deshalb auch als Epoche der Klostermedizin oder als Zeit­ Auch er postulierte einen visionären Ursprung ihrer Natur-
alter der Mönchsärzte bezeichnet hat«. und Heilkunde; sie sei die »Sekretärin des Heiligen Geistes«
Zum Klischee der allgemeinen Düsternis gesellte sich ab gewesen. Von Anweisungen zur richtigen Ernährung und
dem ausgehenden 18. Jahrhundert im Hinblick auf die Rezepten für die Behandlung diverser Krankheiten ganz
gesellschaftlichen Aspekte noch ein romantisch verklärtes abgesehen habe die Nonne bereits von Viren, Blutgruppen,
Bild, geprägt von Burgen und edlen Rittern, Minneliedern
und Heldensagen. Und auch zum Negativbild der stagnie­
renden Klostermedizin existierte ein solcher Gegenentwurf: Hildegard von Bingen empfängt eine Inspiration Gottes.
Hildegard von Bingen (1098–1179). Dank der polnisch-fran­ Diese einzige zeitgenössische Darstellung der Äbtissin
zösischen Ärztin Mélanie Lipinska (1865–1933) avancierte entstammt ihrer ersten visionären Schrift, der »Scivias«.
die Äbtissin zunächst zur Ikone der Frauenbewegung, da sie Das Original ist durch Fotografien erhalten.

72 Spektrum der Wissenschaft  7.19


AKG IMAGES / ERICH LESSING

Spektrum der Wissenschaft  7.19 73


Hormonen und Tumorerkrankungen gewusst. »Nach Millio­
nen intensiver Forschungsstunden der gelehrtesten Män­
ner, der raffiniertesten biologischen Apparate und Messme­
thoden« erahnten Ärzte allmählich, »was Hildegards himm­
lisches Medizinprogramm an tiefgründigster Kenntnis über
Gesundheit und Krankheit enthält«. Freilich entsprach eine
solche Wertschätzung hildegardscher Erkenntnisse durch
die moderne Medizin nur Hertzkas Wunschdenken.
Gleichwohl ist die Nonne in der Alternativmedizin und
in esoterisch interessierten Kreisen sehr populär. Im Buch­
handel tummeln sich Ratgeber in Sachen Naturapotheke,
Gärtnern, Kochen, Fasten, Kindererziehung und Psychothe­
rapie. Der von ihr angeblich propagierte Dinkel bereichert
die Produktpalette der Bäckereien.
Im Rückblick erwies sich die Äbtissin somit einerseits als
Segen für die Erforschung der Klostermedizin, warf ihre
Person doch ein strahlendes Licht auf das angeblich finste­

AKG IMAGES / FINE ART IMAGES / HERITAGE IMAGES


re Mittelalter. Andererseits hat die Hildegard-Medizin wenig
mit Hildegards Werken zu tun. Lipinksa unterließ es, ihre
Zuschreibungen durch Verweise auf Textstellen zu belegen,
Herztka ignorierte die in den 1950er Jahren von Schipper­
ges und Peter Riethe, Emeritus der Universität Tübingen,
erstmals vorgelegte Gesamtausgabe der überlieferten
Schriften – vermutlich, da beide deren göttlichen Ursprung
nicht zur Grundlage ihrer Arbeit gemacht hatten.
Wichtiger war ihnen die Überlieferungsgeschichte. Denn In den Visionen Hildegards erschien die Welt als Kunst­
anders als ihre theologischen Werke sind Hildgards heil­ werk Gottes. Das »Liber Divinorum Operum« illus-
kundliche Texte wie auch die naturkundliche »Physica« trierte die komplexen Zusammenhänge zwischen den
nicht in Originalen, sondern nur in lange nach ihrem Tod Sphären.
entstandenen Kopien, Auszügen und Zitaten erhalten. Die
verschiedenen Fassungen unterscheiden sich, zudem ist die
Übersetzung keineswegs trivial, da Hildegard zwar latei­ »pediculi«, also Läusen die Rede, meinte die Äbtissin seines
nisch schrieb, für Pflanzen und Erkrankungen aber sehr oft Erachtens nach meist »virusartige Kleinstlebewesen, wel­
mittelhochdeutsche Bezeichnungen verwendete. che beim Aktivwerden das Krebs-Agens ausmachen«.
Hertzka, durch ein mystisches Erweckungserlebnis Inzwischen liegen wissenschaftliche Rekonstruktionen der
motiviert, unterließ die kritische Analyse und übersetzte natur- und heilkundlichen Schriften sowie deutsche Über­
bedenkenlos die ihm zur Verfügung stehenden lateinischen setzungen zur weiteren Analyse vor. Nach wie vor sind viele
Texte. Dabei nahm er sich verblüffende Freiheiten. War von Fragen offen. Doch schon jetzt erweisen sich etliche Vor­
stellungen der Hildegard-Szene als Missverständnisse, wenn
nicht sogar als regelrechte Erfindungen, die von einem
Autor zum nächsten tradiert wurden.
AUF EINEN BLICK So sprach die Nonne den in der Hildegard-Medizin so
DER MÖNCH ALS ARZT gelobten Dinkel nur in der »Physica« kurz an: »Dinkel ist
das beste Getreide, und er ist warm, fetthaltig, reichhaltig

1 Mit der Teilung des Römischen Reichs drohte im Wes­ und wohlschmeckender als anderes Getreide.« Das ein-
ten das Wissen griechischer Ärzte verloren zu gehen. zige authentische Rezept dazu lautet: »Wenn jemand so
Übersetzungen ins Lateinische haben im 5. und 6. Jahr­ schwach ist, dass er vor Schwäche nicht essen kann, dann
hundert zumindest einiges davon bewahrt. nimm ganze Dinkelkörner, koch sie in Wasser und füge
Schmalz oder Eidotter hinzu, so dass sie wegen des besse­

2 Dieses Wissen wurde jahrhundertelang ausschließlich


in Klöstern tradiert und zum Wohl von Patienten einge­
setzt. Erst ab dem 11. Jahrhundert entwickelte sich eine
ren Geschmacks gern gegessen werden können; gib das
dem Kranken auf diese Weise zu essen, und es heilt ihn
innerlich wie eine gute und gesunde Salbe.«
medizinische Ausbildung an Hochschulen.
Fasten »nach Hildegard-Art« ist eine Erfindung
3 Einen Schwerpunkt der Klostermedizin bildete die
Heilpflanzenlehre. Autoren entsprechender Schriften
stützten sich auf antikes Wissen oder – wie beispiels­
Wie dieses dienten auch andere Rezepte aus ihren Werken
stets der Gesundung. Weder verfasste die Nonne Koch-
weise Hildegard von Bingen – auf eigene Erkenntnisse. ­re­zepte noch empfahl sie bestimmte Tees, Suppen oder
Dinkelgerichte. Anleitungen zum richtigen Fasten wider­
sprechen sogar ihrer Mahnung, beim Essen nicht »übermä­

74 Spektrum der Wissenschaft  7.19


ßig enthaltsam zu sein«. Tatsächlich bedeutete Fasten in liotheken fanden. Um 529 gründete er mit einigen Anhän­
jener Zeit, sich nur einmal am Tag satt zu essen, und zwar gern eine Abtei auf dem Monte Cassino, etwa 140 Kilome­
laut einer in den meisten Klöstern gültigen Regel am späten ter südlich von Rom, und verfasste dafür die nach ihm
Nachmittag vor Sonnenuntergang. benannten Benediktinerregeln (»Regula Benedicti«). Eine
Im Blick heutiger Forscher erweist sich die Bingener von ihnen lautete: »Die Sorge für die Kranken muss vor und
Äbtissin fraglos als faszinierende Persönlichkeit, dabei aber über allem stehen. Man soll ihnen so dienen, als wären sie
als ein Kind ihrer Zeit und allenfalls als Endpunkt einer wirklich Christus.« Zudem legte er fest: »Die kranken Brüder
Entwicklung, die sieben Jahrhunderte zuvor ihren Anfang sollen einen eigenen Raum haben und einen Pfleger, der
genommen hatte. 493 übernahm der Ostgotenkönig Theo­ Gott fürchtet und ihnen sorgfältig und eifrig dient.« Um
derich die Überreste des Weströmischen Reichs. Ganz in diesem Auftrag nachzukommen, bedurfte es heilkundlicher
der antiken Herrschertradition lud er Gelehrte wie Boethius Schriften.
(480/85–524/26) und Cassiodor (um 485– um 580) an Zu den Epigonen Cassiodors und Benedikts zählt der
seinen Hof in Ravenna ein. Beide machten dem frühmittel­ Bischof Isidor von Sevilla (um 560–636), einer der meistge­
alterlichen Europa Wissen der Antike zugänglich: Boethius lesenen Autoren des Mittelalters. Für seine 20 Bücher
übersetzte Werke griechischer »Forscher« ins Lateinische, umfassende Enzyklopädie »Etymologiae« trug er das noch
Cassiodor verfasste auf der Grundlage antiker Wissen­ verfügbare Schrifttum der Antike zusammen. Das waren in
schaften eigene Schriften. Er gründete zudem um 554 das medizinischen Dingen Texte lateinischer Autoren des
Kloster Vivarium als Stätte der Gelehrsamkeit. Dessen 1. Jahrhunderts n. Chr. wie Aulus Cornelius Celsus und
Mönche mussten nicht nur die Werke der Kirchenväter Plinius der Ältere ebenso wie Schriften der spätantiken
studieren, sondern auch solche von Philosophen, außerdem Ärzte Caelius Aurelianus und Theodorus Priscianus. Zudem
Abhandlungen über Gartenbau und Medizin. zitierte Isidor – vermittelt durch frühere Autoren – aus dem
Vor allem Benedikt von Nursia (um 480–547 ) aber ist es »Corpus Hippocraticum«. Dabei handelt es sich um eine
zu verdanken, dass antike Bücher Eingang in die Klosterbib­ maßgeblich in Alexandria kompilierte Sammlung von
mehreren Dutzend medizinischen Texten, die vermutlich
zwischen dem 6. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhun­
Der für das Kloster St. Gallen entwickelte Grundriss dert n. Chr. geschrieben wurden. Trotz des Namens stamm­
setzte Standards. Zu den funktionalen Einheiten gehörte ten wohl die wenigsten von dem berühmten griechischen
auch ein Garten für Gemüse und Kräuter (Pfeil). Arzt Hippokrates selbst. Einige beschrieben Krankheitsver­
AKG IMAGES; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Spektrum der Wissenschaft  7.19 75


und Spital umfasste er auch einen Kräutergarten. Ent­
sprechend der von Karl dem Großen erlassenen Verord­
nung waren darin 16 Heilpflanzen vorgesehen, darunter
Salbei, Kerbel, Minze, Fenchel, Schlafmohn und die seit
der Antike gegen unterschiedlichste Leiden wie Atemnot
und Magenbeschwerden eingesetzte Eberraute. In seinem
etwa 20 Jahre später verfassten Lehrgedicht über den
Gartenbau, »Liber de cultura hortorum«, kurz »Hortulus«,
listete der Reichenauer Abt Walahfrid Strabo schon
24 Heilpflanzen auf, zehn aus dem Kräutergarten und vier,
die laut Klosterplan im Gemüsegarten kultiviert werden
sollten, sowie zehn, die neu hinzukamen. Zu letzteren
gehörte auch der heutzutage wenig bekannte Andorn
(Marrubium vulgare) – ein guter Schleimlöser bei Husten –
und der in der Medizin außer Gebrauch gekommene Heil-
Ziest (Betonica officinalis), der wie die Eberraute als All­

MIT FRDL. GEN. VON YVETTE E. SALOMON


heilmittel galt.
Zur Klostermedizin gehörten durchaus Aderlässe und
Bäder, im St. Galler Klosterplan gibt es dazu ein eigenes
Gebäude. Über chirurgische Eingriffe ist kaum etwas über­
liefert. Den Kern dieser Heilkunde bildete offenbar der
Einsatz von Heilpflanzen, der deshalb auch im Fokus der
Weil er für ein Krebsmittel der von ihm erfundenen Medizinhistoriker steht. Ein wahres Denkmal der »karolingi­
Hildegard-Medizin »Rohstoffe vom Geier« schen Renaissance« – der von Karl dem Großen geförder­
brauchte, erwirkte Gottfried Hertzka eine Abschuss­ ten neuen Gelehrsamkeit – ist ebenso das nach seinem
erlaubnis. mutmaßlichen Entstehungsort benannte »Lorscher Arznei­
buch« (siehe »Schatzkammer der Klostermedizin«, rechts).
Es wurde in den 1980er Jahren am Würzburger Institut für
läufe, warnten vor kritischen Tagen und gaben Hinweise für Medizingeschichte von Ulrich Stoll ediert, übersetzt und
die Therapie. Andere befassten sich mit der Entstehung von kommentiert. Das Herzstück bilden mehr als 50 Pergament­
Krankheiten und erklärten beispielsweise die Epilepsie mit blätter mit knapp 500 Rezepturen, die zum großen Teil aus
einem Ungleichgewicht von Körperflüssigkeiten (siehe »Auf antiken Quellen übernommen wurden. Ohne solche Vorläu­
den Schultern von Hippokrates und Galen«, Spektrum Juni fer scheint hingegen eine Wundsalbe aus Schafdung, Honig
2019, S. 78). und Käse zu sein, aufzutragen bei »Unterschenkelgeschwü­
Bei Isidor wird überdies deutlich, dass die Heilkunst im ren an den Schienbeinen«, und zwar »selbst wenn schon
Frühmittelalter unter Geistlichen umstritten war. Manche die Knochen herausschauen«. Tatsächlich könnte diese
kritisierten, Krankheit sei eine Strafe oder Prüfung Gottes Salbe antibakteriell gewirkt haben. Der Hinweis »es heilt
und der Mensch dürfe daher nicht eingreifen. Isidor hielt innert 20 Tagen« entspricht ungefähr der Behandlungsdau­
solchen Argumenten die Bibel entgegen: »Die Heilkraft er der ersten modernen Antibiotika.
der Medizin darf nicht gering geschätzt werden. Wir erin­
nern uns nämlich, dass Jesaia dem erkrankten Hiskia ein Mittelalterliche Salbe
Heilmittel empfohlen hat, und der Apostel Paulus sagte gegen moderne Keime
zu Timotheus, dass eine kleine Menge Wein nützlich sei.« Das »Lorscher Arzneibuch« ist nicht das einzige erhaltene
200 Jahre später waren solche Ansichten ohnehin Ge­ Werk, das solche überraschenden Rezepturen bietet. Ein
schichte. Die Organisation der Heilkunst wurde Chefsache: weiteres verdankt sich wohl dem englischen König Alfred
Karl der Große (747/748–814), König der Franken und erster dem Großen (848/49–899), der ebenfalls die Gelehrsamkeit
westliche Kaiser des Mittel­alters seit dem Ende des West­ förderte. In der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts entstand
römischen Reichs, ver­pflichtete die Krongüter und Klöster dann das »Bald’s Leechbook«. Darin findet sich ein Rezept
zum Anbau von Heilpflanzen, Mönchen erlegte er zudem für eine Augensalbe auf Basis von Lauch oder Zwiebeln –
die medizinische Versorgung der Bevölkerung auf. Für viele beide könnten mit dem aufgeführten altenglischen »crop-
Medizinhistoriker markiert dies den eigentlichen Beginn der leac« gemeint sein – und Knoblauch, vermischt mit Wein
Epoche der Klosterme­dizin. und Ochsengalle. Das Gemenge sollte neun Tage in einem
Eine Vorreiterrolle kam wohl den Mönchen der Boden­ Messinggefäß reifen, bevor man es mit einem Tuch aus­
seeinsel Reichenau zu. Sie entwickelten zwischen 819 und wrang. 2015 haben Forscher der University of Nottingham
826 einen Grundriss für das Kloster St. Gallen, das einen die Salbe hergestellt und an Zellkulturen von Staphylo­
umfangreichen Neubau plante. Der St. Galler Klosterplan coccus aureus antibakterielle Wirkungen nachgewiesen. In
(siehe S. 75) sollte in Europa zum Standard werden. Neben Tierexperimenten an der Texas Tech University in Lubbock
funktionalen Komponenten wie Kirche, Kreuzgang, Schreib­ wirkte die Salbe auch bei Varianten des Bakteriums, die
stube, Speise- und Schlafsäle, Küche, Badehaus, Latrine insbesondere gegen das Antibiotikum Methicillin Resistenz

76 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Schatzkammer der Klostermedizin
Das »Lorscher Arzneibuch« ist das älteste erhaltene
Werk der mittelalterlichen Klostermedizin.

Nicht weniger als 75 beidseitig be- Salben und Öle. Auch die Lagerung
schriebene Blätter aus Pergament – von Heilmitteln wurde thematisiert.
es war eine Sensation, als der Pio- Einige Verfahren waren besonders

SBBAM_MSCMED1/0066/IMAGE) / CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)


nier der Medizingeschichte Karl innovativ. Der Therapie eines Unter­

STAATSBIBLIOTHEK BAMBERG / GERALD RAAB (BIBLIOTHECA-LAURESHAMENSIS-DIGITAL.DE/VIEW/


Sudhoff 1913 ein bis dahin kaum schenkelgeschwürs beispielsweise
bekanntes Buch in die heutige diente ein frühes Antibiotikum:
Schrift übertrug und veröffentlichte. Schimmeliger Käse wurde so lange
Es erwies sich als die älteste erhal­ auf Schafdung gelegt, bis Pinsel­
tene medizinische Publikation aus schimmel (Penicillium) gedieh. Den
dem heutigen Deutschland. Sie vermengte man mit Honig und trug
diente Mönchen als Lehrkompen­ ihn auf die Wunde auf. Bei »offenen
dium zur medizinischen Schulung Füßen« – gemeint waren wohl
und als Nachschlagewerk mit Ödeme – sollte ein Gemisch aus der
praktischen Ratschlägen. im Mittelmeerraum verbreiteten
Der Würzburger Medizinhistori­ Meerzwiebel sowie Minze, Honig
ker Ulrich Stoll legte 1989 eine und Essig helfen, gegen leichte
kommentierte Gesamtausgabe mit psychische Befindlichkeitsstörun­
deutscher Übersetzung im Rahmen gen Johanniskraut.
seiner Promotion vor. Gemeinsam Die heute in der Staatsbibliothek
mit seinem Doktorvater Gundolf Bamberg lagernde Handschrift
Keil taufte er das Dokument »Lor­ enthält eine Seite, die vermutlich
scher Arzneibuch«. Es bietet faszi­ nachträglich eingefügt wurde. Der
nierende Einblicke in die Kloster­ Text stammte von Bischof Leo von
medizin zur Zeit Karls des Großen Vercelli († 1026), dem engsten 482 Rezepturen enthält die als
(747/48–814). Der namentlich nicht Vertrauten Kaiser Ottos III. Die dort »Lorscher Arzneibuch« weltbe­
genannte Autor des Arzneibuchs enthaltenen Angaben helfen, die rühmte Handschrift, die seit 2013
hatte dafür reichlich und mit spür­ Überlieferungsgeschichte des als Weltkulturerbe gilt.
barer Begeisterung aus den Quellen Arzneibuchs zu verstehen. Dem­
vorchristlicher Medizin geschöpft. nach besaß zeitweise Kaiser Otto
Doch dabei musste er sich einer das Werk, dann sein Nachfolger Kontakte zu Gelehrten am Hof Karls
grundlegenden theologischen Heinrich II., der es der Dombiblio­ des Großen. Strittig ist bis heute
Frage stellen: Wie vertragen sich thek Bamberg schenkte. 1803 die genaue Entstehungszeit, da die
eigentlich die ärztlichen Praktiken gelangte es dort in die Kurfürstliche Handschrift kein Datum trägt.
mit dem Christentum? Bibliothek. Während Keil von »um 788« aus­
Gemäß der Bibel besitzen Krank­ Da Otto in Italien residierte, ging, sprach sich Bischoff für
heiten prinzipiell zwei Funktionen: plädierte Karl Sudhoff 1913 für Anfang des 9. Jahrhunderts aus.
Gott kann mit ihnen die Glaubens­ einen italienischen Ursprung des Von Daniel Carlo Pangerl
stärke eines Christen prüfen, aber Arzneibuchs. 1974 nahm sich
auch Sünder bestrafen. Demgemäß Bernhard Bischoff, Emeritus für
QUELLEN
müsste ein Patient seine Krankheit Lateinische Philologie des Mittelal­
akzeptieren und so Gottes Willen ters in München, des Problems an. Bischoff, B.: Die Abtei Lorsch im
Spiegel ihrer Handschriften. Lauris­
respektieren. Dann aber wäre jede Er wies anhand eines Schriftver­
sa, 1989
therapeutische Maßnahme ein gleichs nach, dass das Werk im
Eingriff in den göttlichen Plan. Das Kloster Lorsch entstand, einer 764 Fischer, K.-D.: Das Lorscher Arznei­
buch im Widerstreit der Meinungen.
Vorwort des Arzneibuchs rechtfer­ gegründeten Benediktinerabtei im Medizinhistorisches Journal 45, 2010
tigte die ärztliche Tätigkeit jedoch heutigen Südhessen. Laut Gundolf
mit dem christlichen Gebot der Keil könnte es sich bei dem Autor Stoll, U.: Das »Lorscher Arzneibuch«.
Ein medizinisches Kompendium des
Nächstenliebe. um Richbod gehandelt haben. 8. Jahrhunderts (Codex Bambergen­
Herzstück des Arzneibuchs Jener war zwischen 784 und 804 sis medicinalis 1). Text, Übersetzung
waren 482 Rezepte für Tränke, Abt in Lorsch und pflegte gute und Fachglossar. Steiner, 1992

Spektrum der Wissenschaft  7.19 77


entwickelt hatten. Selbst Hautgeschwüre, verursacht von ca« zu thematisch entsprechenden Texten, wie Irmgard
den als Leishmanien bezeichneten Parasiten, vermag das Müller und die französische Hildegard-Forscherin Laurence
Heilmittel zu bekämpfen, wie Alvaro Acosta-Serrano und Moulinier von der Université de Lyon 2 sowie unsere Würz­
Lee Haines von der Liverpool School of Tropical Medicine burger Gruppe nachgewiesen haben. Ob ihre natur- und
zeigten. Leishmanien, die auch innere Organe mit dann heilkundlichen Schriften von Visionen inspiriert waren, ist
tödlichen Folgen befallen können, werden unter anderem unter Forschern umstritten, da entsprechende Hinweise der
von Sandflöhen übertragen. Die leben zwar ursprünglich in Äbtissin weitgehend fehlen. Vermutlich betrachtete sie die
den Tropen, kommen jedoch im Zuge des Klimawandels heilsamen Wirkungen zahlreicher Pflanzen im Kontext der
inzwischen beispielsweise sogar in Deutschland vor. göttlichen Schöpfung als Geschenk an den Menschen.
Wie beim »Lorscher Arzneibuch« lassen sich im »Bald’s Gleichzeitig aber bewegte sich die Nonne im Rahmen der
Leechbook« ebenfalls antike römische und griechische damaligen Medizintheorie. Das zeigt sich unter anderem da­
Quellen aufspüren. Das Werk dokumentiert zudem eine ma­ ran, wie einfach es Autoren des Mittelalters fiel, Passagen
gische Volksmedizin: Es enthält christianisierte Zauberfor­ ihres Werks zu übernehmen. So zitierte der »Gart der
meln, die auf heidnischen Vorläufern beruhen. Gesundheit« (1485) einzelne Textstellen nicht nur aus dem
Das meistgelesene Kräuterbuch dieser Epoche war das »Macer«, sondern auch aus der »Physica«. Im »Kochbuch
Lehrgedicht »Macer floridus«, das in fast 1000 Handschrif­ Meister Eberharts«, das in einer Handschrift aus dem
ten überliefert wurde. Es zu übersetzen, gehörte zu den 15. Jahrhundert erhalten ist, wird man ebenfalls fündig. Der
ersten Aufgaben der 1999 an der Universität Würzburg Küchenchef des Herzogs Heinrich von Landshut entnahm
gegründeten Forschergruppe Klostermedizin, durchgeführt der »Physica« Ratschläge zu 33 Lebensmitteln: ob diese für
von Johannes Mayer und dem Altphilologen Konrad Goehl. Kranke geeignet seien, ob man sie roh, gekocht oder gebra­
Lange galt der antike römische Dichter Aemilius Macer ten verzehren solle und gegebenenfalls nur bestimmte Teile
als Urheber, daher die Bezeichnung des Werks. Verfasst davon.
hatte es jedoch im 11. Jahrhundert der Mönch Odo Magdu­ Indem Forscher die Leistungen Hildegards von Bingen in
nensis aus Meung an der Loire, wie in einigen Handschrif­ das richtige Licht rücken, machen sie auch Geistesgrößen
ten vermerkt ist. Er bezog sich unter anderem auf den wie Odo von Meung wieder sichtbar. Dessen »Macer« über-
»Hortulus«, den er aber auch kritisierte, weil dieser Lieb­ lebte den Niedergang der Klostermedizin, den die Grün­
stöckel als schädlich für die Augen bewertete. Vor allem dung von Universitäten im 11. Jahrhundert mit sich brachte.
griff Odo auf antike Schriften zurück, insbesondere von Es gab kaum eine bedeutende Bibliothek, die keine Kopie
Dioskurides, Galen und Plinius dem Älteren, den er wegen davon führte. Der »Macer« wurde aus dem Lateinischen in
der Verwendung von Eisenkraut allerdings der Zauberei viele Sprachen übersetzt, 1477 in Neapel erstmals gedruckt.
bezichtigte. Der an einer Hochschule ausgebildete Mediziner Johann
Ab dem 11. Jahrhundert profitierte die Klostermedizin Wonnecke von Kaub übernahm bald darauf Textpassagen
auch von ersten Übersetzungen arabischsprachiger Medi­ für seinen »Gart der Gesundheit«, der dem 1557 erstmals,
zinbücher. Beispielsweise erweiterte Odo von Meung sein 1783 letztmals aufgelegten »Kräuterbuch« des Frankfurter
Werk in einer zweiten Fassung von 60 auf 77 Pflanzen, Stadtarztes Adam Lonitzer zu Grunde lag. Auf diesen
wobei die neu hinzugekommenen Kapitel fast ausschließ­ ­verschlungenen Wegen gelangten Passagen des »Macer«
lich die Heilwirkungen von Gewürzpflanzen aus Asien im 18. Jahrhundert in das »Grosse vollständige Universal-
beschrieben. Dafür nutzte er den »Liber graduum« des Lexicon aller Wissenschaften und Künste« des Verlegers
Constantinus Africanus, eines aus Nordafrika stammenden Johann Heinrich Zedler. Sogar in Nachschlagewerken des
Gelehrten, der in der als Schule von Salerno bekannten 20. Jahrhunderts lassen sich seine Spuren finden – ein
ersten medizinischen Bildungseinrichtung lehrte und dort überraschend langer Nachklang für ein Jahrtausend der
arabische Texte ins Lateinische übertrug. Stagnation. 

Ysop – gut für den Magen,


hilfreich bei Totgeburten QUELLEN
Schriften dieser Bildungseinrichtung waren in ganz West­ Brück, A. (Hg.): Hildegard von Bingen 1179–1979. Festschrift
europa verbreitet und machten weiteres griechisches, aber zum 800. Todestag der Heiligen. Gesellschaft für mittelrheini­
auch arabisches Medizinwissen verfügbar. Das lässt sich sche Kirchengeschichte, 1979
beispielsweise im »Innsbrucker (Prüller) Kräuterbuch« Mayer, J. G., Goehl, K.: Höhepunkte der Klostermedizin: Der
nachweisen. Wahrscheinlich stellte im frühen 12. Jahrhun­ »Macer floridus« und das Herbarium des Vitus Auslasser.
dert ein bayerischer Klerikerarzt es als erstes von vorn­ Reprint-Verlag, 2001
herein deutschsprachiges Werk zum Thema zusammen. Mayer, J. G., Niedenthal, T.: Hildegard – ein Mythos? Deutsche
Beispielsweise verriet er über den Ysop, eine im Mittelmeer­ Heilpraktiker-Zeitschrift 13, 2018
raum in der Heilkunde gern genutzte Pflanze: »Wenn die Mayer, J. G.: Klostermedizin als Teil der TEM. In: Steinmetz et
Geburt im Weibe stirbt, trinke Ysop mit warmem Wasser, al.: TEM – Traditionelle Europäische Medizin. 28. Band der
so löst sich das tote Kind von ihr. Es hilft auch denjenigen, Schriftenreihe der GAMED – Wiener Internationale Akademie
welchen der Magen schwärt.« für Ganzheitsmedizin (noch nicht erschienen)
Auch Hildegard von Bingen dürfte Lehren aus Salerno Niedenthal, T. et al.: Eine 1000 Jahre alte Rezeptur gegen
gekannt haben. Zu ähnlich sind einige Stellen ihrer »Physi­ multiresistente Keime. Zeitschrift für Phytotherapie 37, 2016

78 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek für Wissenschafts-
und Technikgeschichte des Deutschen Museums ZEITREISE
1919
ABWANDERUNG VON FACHKRÄFTEN
»Die Stellenlosigkeit technischer Kräfte, die mit dem
Aufhören der Kriegsaufträge und der Entlassung des
Heeres begann, hat bei vielen Technikern den Gedanken,
durch Auswanderung der wirtschaftlichen Not zu entge-
hen, wachgerufen. Um den technischen Kräften beratend
WEIHNACHTEN zur Seite zu stehen, wurde ein Zweckverband gegründet.
KOMMT IMMER SO Aufgabe wird es sein, auch durch entsprechende Maß-
PLÖTZLICH nahmen dafür Sorge zu tragen, daß der geistigen Verar-
mung unseres Volkes entgegengearbeitet wird.« Technische
»Die Christbaumschmuck­ Monatshefte 7, S. 223
industrie sucht ständig
neues zu schaffen. Zeitig Alles im Lot –
genug werden Modelle
Balancierlicht- GESCHICHTEN AUS DER GRUFT
halter für den
ausgedacht, damit sie recht- Christbaum. »Wachsen bei Toten vor und nach dem Eintritt der Leichen-
zeitig in Fabrikation genom- starre Haare und Nägel weiter? Immer wieder tauchen
men und auf die Herbstmes- angeblich beglaubigte Fälle auf, besonders in Amerika, wo
se in Leipzig gebracht wer- alles möglich ist, wie jener Fall, der einen Mann betraf, dem
den können. Es erfordert oft geraume Zeit, bis solche vier Jahre nach seinem Tode der Bart durch die Fugen des
Neuerungen ihren Zweck am Weihnachtsbaum erfüllen Sarges hindurchgewachsen war! Haare und Nägel wachsen
können. Ein von W. Marquard konstruierter Lichthalter nicht weiter, weil die Bedingungen zum Wachstum fehlen.
beruht auf dem Prinzip der Balancierhalter (Bild), wo ein Mir persönlich, der ich Tausende von Leichen sah, ist oft
dekorativ wirkendes Gegengewicht g, das durch einen aufgefallen, wie stark sich Haare und Nägel bemerkbar
Draht f mit dem Lichthalter verbunden ist, stets die senk- machen. Es liegt das wohl daran, daß die Haut eingesunken
rechte Lage des Lichtes bewirkt.« Die Umschau 27, S. 431 und zusammengefallen ist.« Kosmos 7, S. 175

1969
LOCKENDE MAGNETE
»Die neuen amerikanischen Lockenentwickler mit Magnet
und Batterie bieten die Möglichkeit, zu einer schönen und
haltbaren Frisur zu kommen. Vor dem Eindrehen werden
die Haare mit feinen Metallspänen, die mit Haarkosmetik-
VIEL(E) WIRBEL UM DIE CONCORDE puder gemischt sind, eingestäubt. Unter dem Einfluss der
in der Lockenwicklerrolle befindlichen Batterie bildet der
»Die Überschallgeschwindigkeit wirft besondere aerody- ›Kosmetik-Magnetstaub‹ eine Schicht um das gewickelte
namische Probleme auf, so daß zahlreiche Windkanalver- Haar, welche die Frisur für mehrere Tage haltbar macht.«
suche notwendig waren, Zur Ergänzung wurden auch Neuheiten und Erfindungen 391, S. 132
Versuche in einem hydrodynamischen Kanal durchgeführt.
In den meisten Fällen konnten die Versuche im Wasser
den Mechanismus komplexer Strömungen genau bestim-
men. Die Untersuchung der Wirbelerscheinungen, die für EIN HAUCH VON POMPEJI
die Strömung um die Concorde im Landeanflug kennzeich- »Gegenstände aus Holz aus der Mayazeit sind bisher
nend sind, stellt ein typisches Beispiel dar. Die Struktur der sehr selten geborgen worden; sie sind auch bei dem dort
Wirbel [konnte] dadurch sichtbar gemacht werden, daß herrschenden Klima nicht zu erwarten. 1966/67 stieß ich
man an verschiedenen Stellen der Modelle Farbe austreten bei Grabungen unter der Tempel-Pyramide [in Tikal] im
ließ (Bild).« Die Umschau 15, S. 484–485 Grab 195 auf besondere Umstände: In dieses um 600
n. Chr. errichtete Grabgewölbe war Schlamm eingedrun-
Concorde-Modell im gen und hatte die darin befindlichen Gegenstände be-
Wasser-Strömungskanal. deckt. Während das Holz im Laufe der Jahrhunderte
verging, hatte sich der Schlamm derartig verhärtet, daß
die ursprünglichen Formen als Hohlräume erhalten
blieben. Es gelang mir, diese mit Gips auszufüllen und so
positive Formen der ehemaligen Objekte zu erhalten.«
Die Umschau 16, S. 507

Spektrum der Wissenschaft  7.19 79


MATHEMATISCHE
UNTERHALTUNGEN
NICHTPERIODISCHE
PARKETTKUNST
Was Physikern als Modellstruktur für Quasi­kristalle dient,
machen sich Künstler zu Nutze, um aus der Mischung
von Regelhaftigkeit und Undurchschaubarkeit besondere
Effekte zu erzielen.

Christoph Pöppe ist promovierter Mathematiker und war bis 2018 Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft.

 spektrum.de/artikel/1647852


Einige Mathematiker haben sich doch tatsächlich in sich seinerseits in zwei »goldene« Dreiecke zerlegen. So
die fünfte Dimension begeben, um von diesem – sa- nennt man die beiden gleichschenkligen Dreiecke, bei
gen wir herausgehobenen – Standpunkt aus etwas denen die längere Seite zur kürzeren das Verhältnis des
ganz gewöhnlich Zweidimensionales zu studieren: die goldenen Schnitts hat (siehe Bild, S. 82 links).
nichtperiodischen Pflasterungen der Ebene mit dieser Aber so symmetrisch, wie sie aussehen, sind die Pflas-
seltsamen fünfzähligen Symmetrie, die unter dem Namen tersteine gar nicht. Wären sie es, so könnte man mit lauter
»Penrose-Pflasterungen« berühmt geworden sind. Der dicken oder lauter dünnen, parallel verschobenen Rauten
Umweg erweist sich als sehr elegant und öffnet das Tor zu die Ebene füllen. Ähnliches gelingt mit Drachen oder Pfeil,
einer umfassenden Theorie der nichtperiodischen Ordnung indem man an ein Element ein um 180 gedrehtes Exemp-
(siehe Spektrum Februar 2002, S. 64); zu allem Überfluss lar desselben anfügt und mit diesem Zweierverbundstück
kann man auf diesem Weg Tapetenfunktionen konstruie- die Ebene pflastert. Das wären allerdings periodische
ren, die einer echten Pflasterung schon sehr nahekommen Pflasterungen, also solche, die sich immer wieder parallel
(siehe Spektrum Mai 2019, S. 74). Aber geht es vielleicht verschoben bis ins Unendliche wiederholen; und das
auch etwas bodenständiger? sollen die Penrose-Pflasterungen gerade nicht sein.
Es geht. Zwei mathematische Hilfsmittel, die ohne
expliziten Rückgriff auf höhere Dimensionen auskommen, Anlegeregeln und Ammann-Linien
liefern eine Fülle von Ergebnissen. Das eine ist unter dem Vielmehr haben die Pflastersteine besondere Eigenschaf-
Stichwort »Anlegeregeln« bekannt, das andere unter den ten, die derartiges periodisches Anlegen verhindern. Man
Namen »Inflation«, »Deflation« und »Substitution«; jedes pflegt sie zu verdeutlichen, indem man die Steine mit
für sich beschreibt einen Teilaspekt des Werkzeugs. geeigneten Eindellungen und Ausbuchtungen versieht
Nichtperiodische Pflasterungen sind einerseits irgendwie oder mit Mustern, von denen man fordert, dass sie sich
anarchisch in dem Sinn, dass man sich nie darauf verlassen über eine Steingrenze hinweg fortsetzen.
kann, was als Nächstes kommt. Andererseits sind sie Unter allen denkbaren derartigen Musterungen ist die
überaus regelmäßig, indem dieselben Elemente und auch im rechten Bild auf S. 82 nicht unbedingt die schönste,
dieselben Zusammensetzungen aus Elementen immer aber zweifellos die aufschlussreichste. Es handelt sich um
wieder vorkommen. Dieses Spannungsfeld zwischen Ord- die Ammann-Linien, so benannt nach dem amerikani-
nung und Chaos eröffnet auch Künstlern reizvolle Möglich- schen Postbeamten und Amateurmathematiker Robert
keiten; von einigen soll im Folgenden die Rede sein. Ammann (1946–1994), der im stillen Kämmerlein nicht nur
Penrose-Pflasterungen gibt es in zwei Varianten. Die diese Linien, sondern auch noch zahlreiche andere Ergeb-
eine besteht aus »Pfeilen« und »Drachen« (in der Literatur nisse zum Thema fand.
als »darts« und »kites« bekannt), die andere aus dünnen Auf einem einzelnen Stein wirken die Ammann-Linien
und dicken Rauten. Sie sind eng miteinander verwandt; eher willkürlich. Warum verlaufen sie so und nicht anders?
denn jeder Baustein aus den beiden Pflasterungen lässt Immerhin fällt auf, dass sie den Weg eines Lichtstrahls

80 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Das »Wagenrad« (englisch: cartwheel), der gelb eingefärbte, zehnzählig-symmetri-
sche Ausschnitt aus einer Penrose-Pflasterung mit dicken und dünnen Rauten,
spielt innerhalb der Theorie eine herausragende Rolle, weil es die Anordnung der
weiter draußen liegenden Parkettsteine in hohem Ausmaß festlegt. Der Name hat
den Nürnberger Künstler Uli Gaenshirt dazu animiert, die dicken Rauten mit dem
MIT FRDL. GEN. VON ULI GAENSHIRT

Bild einer Frau zu dekorieren, die uns in 35-facher Ausfertigung demonstriert, wie
man ein Rad schlägt (englisch: doing a cartwheel).

Spektrum der Wissenschaft  7.19 81


aa Die elementaren Bausteine jeder Die Dekoration der a
Penrose-Pflasterung sind gleich- dicken und der
schenklige Dreiecke mit dem Seiten- dünnen Raute mit
verhältnis τ ≈ 1,618 des goldenen Ammann-­Linien (a)
Schnitts (»goldene Dreiecke« oder und mit zu den
auch »Robinson-Dreiecke«, a). Das Linien passendem
bb hohe Dreieck hat den Scheitelwinkel Zehneck (b). In einer
36 Grad, das breite 108 Grad. Zwei vorschrifts­mäßigen
b
gleiche goldene Dreiecke, mit ihren Pflasterung (c) ver­
Basisseiten aneinandergesetzt, laufen die Ammann-
ergeben die dünne und die dicke Linien gerad­linig
Raute der Penrose-Pflasterung in der über Steingrenzen
cc einen Variante (b). Setzt man diesel- hinweg – theoretisch
ben Dreiecke mit jeweils anderen bis ins Unendliche.
Seiten zusammen, so ergeben sich
Drachen und Pfeil der anderen
Variante (c). Damit diese beiden Teile
zusammenpassen, müssen die c
dd breiten Dreiecke mit dem Faktor τ
verkleinert (oder die hohen entspre-
chend vergrößert) werden. Ein hohes
Dreieck ist in ein kleines breites und
ein kleines hohes zerlegbar, ein
CHRISTOPH PÖPPE

CHRISTOPH PÖPPE
breites in ein hohes und ein kleines
breites (d).

beschreiben, der rechtwinklig in den Stein eindringt, mehr- Nur haben alle Anlegeregeln eine heimtückische Eigen-
fach an seinen Kanten innen reflektiert wird und am Ende schaft: Der Fliesenleger kann sich nie sicher sein, dass er
wieder rechtwinklig austritt. Und in das Muster der Am- nicht irgendwann in eine Sackgasse gerät – eine Anordnung,
mann-Linien passt ein regelmäßiges Zehneck mit seinen an die zumindest an einer Stelle kein Stein mehr passt.
Winkeln: perfekt in der dicken Raute, weniger überzeugend Das wirkt zunächst seltsam. Immerhin bringt jeder Stein
in der dünnen. Legt man aber die Steine so zu einer Pflas- seine Ammann-Linien mit sich; die kann man bis ins Un-
terung zusammen, wie die Dekoration es vorschreibt, dann endliche verlängern. Immer wieder treffen sich irgendwo
setzen sich die Ammann-Linien über alle Steine hinweg weit draußen mehrere Ammann-Linien von verschiedenen
geradlinig fort – bis ins Unendliche, wenn die Pflasterung Steinen, und zwar so, dass an dieser Stelle nur ein Stein
korrekt gebaut ist. und der nur in einer bestimmten Orientierung liegen kann.
Eine der beiden genannten Möglichkeiten, eine Penrose- Dieser Stein trägt gemeinhin noch weitere Linien abgese-
Pflasterung zu erzeugen, ist das Verfahren des Fliesenle- hen von jenen, die seine Position erzwingen. Dadurch füllt
gers: Man legt einen Stein irgendwohin und fügt weitere sich die Ebene allmählich mit Ammann-Linien, die weitere
Steine an, entsprechend den Anlegeregeln (»matching Positionen festlegen, und so fort.
rules«), die durch die Form der Steine oder ihre Musterung Es gibt also jede Menge Ordnung; aber alle Vorschriften
vorgegeben sind. zusammen – es gibt noch etliche mehr – geben dem Flie-
senleger keine eindeutige Anweisung an die Hand. Es gibt
Zweidimensionale Quasikristalle im Allgemeinen mehrere zulässige Möglichkeiten, eine
Für die Physiker ist das eine geradezu natürliche Vorgehens- angefangene Pflasterung fortzusetzen, und darüber hinaus
weise. Penrose-Pflasterungen sind nämlich eine auf zwei noch allerlei unzulässige. In der Realität würde der Quasi-
Dimensionen reduzierte Modellstruktur für etwas, das sie kristall nicht groß werden, bis er rein durch Zufall in die
wirklich interessiert: Quasikristalle, jene seltsamen Festkör- erste Sackgasse gerät. Wie könnte er wieder daraus her-
per, die im Röntgenbeugungsbild eine fünfzählige Symmet- ausfinden? Oder gibt es bessere Anlegeregeln, die ihn von
rie zu erkennen geben und aus diesem Grund keine gewöhn- vornherein auf den richtigen Weg zwingen? Bislang sind
lichen (periodischen) Kristalle sein können. Auch Quasikris- diese Fragen nicht endgültig geklärt.
talle haben einmal klein angefangen, das heißt, ein Atom Das zweite mathematische Mittel ist noch ferner der
nach dem anderen hat sich an das wachsende Häuflein physikalischen Realität, aber überaus hilfreich. Die Grund-
angelagert. Also müssen die Anlegeregeln irgendwelchen idee ist: Man zerlege jeden Pflasterstein aus dem Sortiment
Kräften entsprechen, die auf das anlagerungswillige Atom in kleinere Teile. Diese ergeben ein neues Sortiment, wel-
wirken und ihm helfen, seinen richtigen Platz zu finden. ches im Idealfall aus verkleinerten Exemplaren des ur-

82 Spektrum der Wissenschaft  7.19


sprünglichen besteht. Für die Penrose-Pflasterungen lässt
MIT FRDL. GEN. VON ULI GAENSHIRT

sich diese Substitution am einfachsten an den Dreiecken


darstellen, aus denen sich die Rauten einerseits sowie Pfeil
und Drachen andererseits zusammensetzen (siehe Bild d,
S. 82 links). Bemerkenswerterweise wird in einem ersten
Substitutionsschritt aus einem Pfeil-und-Drachen-Parkett
ein Rautenparkett, und im nächsten Schritt geschieht das
Umgekehrte.
Dass es für ein Sortiment von Steinen überhaupt eine
Substitution gibt, ist alles andere als selbstverständlich.
Aber es kommt in erstaunlich vielen Fällen vor; Dirk Frettlöh
von der Universität Bielefeld unterhält dazu eine umfangrei-
che Internet-Sammlung (http://tilings.math.uni-bielefeld.de/
substitution). Und mit einer Substitution hat man ein mäch-
tiges Mittel zur Erzeugung beliebig großer Pflasterungen an
der Hand.
Man beginnt mit einem kleinen Stück Parkett, zum Bei-
Ein steinernes Flechtmuster aus Kayseri (Anatolien) spiel einem einzelnen Stein, und macht daraus durch Anwen-
enthält neben langen geknickten Linien auch regel­ dung der Substitutionsregel ein Stück aus mehreren kleinen
mäßige Fünfecke. Uli Gaenshirt hat eine Fortsetzung Steinen. Dieses vergrößert man, bis die kleinen Steine auf die
dieses Musters konstruiert, indem er die Rauten Größe der ursprünglichen herangewachsen sind (»Inflation«
des Penrose-­Parketts mit geeigneter Musterung versah. im Sinn von Aufblasen). Bei Bedarf schiebt und dreht man es
Bemer­kenswerterweise sind in der dünnen Raute so zurecht, dass das alte Parkettstück mit einem Teil des
nicht nur ein Anteil vom regelmäßigen Fünfeck zu neuen zur Deckung kommt. Im Endeffekt hat man dadurch
finden, son­dern auch Linien, die den Ammann-Linien an das alte Stück ein paar neue Steine angebaut.
recht nahekommen. Diesen Prozess aus Substitution und Inflation kann man
nun beliebig oft wiederholen, wodurch das Parkettstück
MIT FRDL. GEN. VON ULI GAENSHIRT

Aus der dünnen Raute der Penrose-Pflasterung


entsteht ein langes Sechseck, aus der dicken
eine Form namens »boat«, die an ein Papier-
schiffchen erinnert (unten). Rechts: Rund um
das Zentrum C liegen vier gedachte Zehnecke,
an deren Eckpunkten sich je ein Fünfeck befin-
det (helle Punkte). In starkem Kontrast zu die-
ser Symmetrie nehmen die »Fäden« des Flecht-
werks völlig chaotisch erscheinende Wege.

C
MIT FRDL. GEN. VON ULI GAENSHIRT

Spektrum der Wissenschaft  7.19 83


CHRISTOPH PÖPPE
CHRISTOPH PÖPPE
Das »Wagenrad« besteht aus fünf dicken und fünf Aus dem zentralen Wagenrad (dunkle Farben) erwächst durch wieder-
dünnen Rauten, die sich in einer speziellen, wenig holte Substitution und Inflation ein Parkett beliebiger Größe. Wenn man
symmetrischen Anordnung zu einem regelmäßigen die vom Zentrum nach außen verlaufenden »Würmer« (linkes Bild, volle
Zehneck fügen. Das Zehneck (schwarz), das zu den Farben) um die eigene Achse dreht, bleiben alle Anlegeregeln erfüllt;
Ammann-Linien in der zentralen Raute (blassblau) insbesondere sind diese Positionen nicht durch das zentrale Wagenrad
passt, findet sich vergrößert in den Ammann-Linien erzwungen. Neben dem zentralen Wagenrad entstehen unweigerlich
der anderen Komponenten (gelb) wieder. viele weitere; das rechte Bild zeigt davon eine kleine Auswahl.

nach außen immer weiterwächst, im Inneren aber unver- Künstler Uli Gaenshirt hat die Rauten der Penrose-Pflaste-
ändert bleibt. So kann man unendlich große Parkettierun- rung so dekoriert, dass sie einem historischen Flechtwerk
gen erzeugen, ohne je in eine Sackgasse zu geraten. sehr nahekommen (siehe Bild, S. 83 oben).
Unter Umständen ist der Prozess sogar umkehrbar Für ein anderes, einem persischen Flechtwerk (Girih)
(»Deflation«). Man fasst dazu gewisse Gruppen von Stei- nachempfundenes Muster hat Gaenshirt die Penrose-Rauten
nen zu jeweils einem Superstein zusammen (dass es diese bis fast zur Unkenntlichkeit deformiert (siehe Bild, S. 83
Gruppen gibt, folgt aus den Anlegeregeln), verkleinert das unten). Zentrales Element dieses Bilds ist das so genannte
entstehende Parkett derart, dass die Supersteine wieder Wagenrad, ein Zehneck aus fünf dünnen und fünf dicken
Normalgröße haben, und wiederholt diese Aktionen, bis Rauten, das in der Theorie der Penrose-Pflasterungen eine
am Ende nur noch ein Stein übrig bleibt. Diese Herange- zentrale Rolle spielt (siehe Bild oben links).
hensweise ist zwar alles andere als konstruktiv, aber sie Durch wiederholte Substitution mit Inflation entsteht aus
erlaubt Rückschlüsse auf die Eigenschaften, die das Par- dem Wagenrad eine Parkettierung, die ihrerseits unendlich
kett vor dem Eindampfen haben musste. viele Wagenräder enthält (siehe Bilder oben Mitte und
Das Substitutionsverfahren erlaubt gewisse Variationen. rechts). Über seine künstlerische Arbeit hinaus hat Gaens-
So sind die goldenen Dreiecke des Penrose-Parketts zwar hirt ein Mittel gefunden, diese Parkettierung nicht nur über
spiegelsymmetrisch, aber ihre Binnenstruktur, die in den Substitution, sondern durch Einhaltung von Anlege­regeln
Anlegeregeln zum Ausdruck kommt, ist es nicht. Es gibt zu erzeugen. Allerdings muss der Fliesenleger sehr kompli-
also »rechte« und »linke« goldene Dreiecke (siehe Bild d, zierte Mittel anwenden, um sicherzugehen, dass der soeben
S. 82 links). Da kann sich ein Künstler die Freiheit nehmen, probeweise gelegte Stein tatsächlich richtig liegt. 
sie unterschiedlich zu behandeln. Die einfachste Möglich-
keit besteht darin, beim Spiegeln Schwarz und Weiß zu
vertauschen oder allgemeiner eine Farbe durch die andere QUELLEN
zu ersetzen. Oder wenn von zwei einander kreuzenden
Fang, F. et al.: Methods for calculating empires in quasicrystals.
Linien in einem Dreieck die eine zuoberst liegt, dann ist es Crystals 7, 2017
in dessen Spiegelbild die andere.
Gaenshirt, U., Willsch, M.: The local controlled growth of a
Der Österreicher Kurt Bruckner, der in Schaffhausen
perfect Cartwheel-type tiling called the quasiperiodic succession.
(Schweiz) lebt, ist ebenso wie Uli Gaenshirt eigentlich Philosophical Magazine 87, 2007
Bildhauer, hat sich aber in den letzten Jahren zunehmend
Senechal, M.: The Mysterious Mr. Ammann. The Mathematical
auf künstlerische Arbeiten mit Penrose-Pflasterungen
Intelligencer 26, September 2004
verlegt. Mit seinen speziellen Substitutionsverfahren erzielt
er eindrucksvolle Effekte (siehe www.kurtbruckner.ch). Steurer, W., Arlitt, S.: Kurt Bruckner’s view on the Penrose tiling.
Structural Chemistry, Juni 2016 10.1007/s11224-016-0790-1
Ob die Künstler, die im Mittelalter die komplizierten
islamischen Flechtwerkmuster in Stein meißelten oder aus
Kacheln zusammensetzten, eine Theorie der Substitution LITERATURTIPP

für Penrose-Parkette hatten? Paul Steinhardt und Peter Lu Grünbaum, B., Shephard, G. C.: Tilings and patterns. Freeman,
von der Harvard University hatten das 2007 auf Grund 1987
einer Analyse derartiger Muster vermutet (siehe Spektrum Kapitel 10 »Aperiodic Tilings« gibt die erste vollständige Theorie
September 2007, S. 14). Wie dem auch sei: Der Nürnberger der Penrose-Pflasterungen.

84 Spektrum der Wissenschaft  7.19


DEUTSCHER
Köpfe die Wissen schaffen. HOCHSCHUL
VERBAND

3
E=mc

Maschinen statt
Menschen?
Chancen und Grenzen künstlicher Intelligenz
aus Sicht der Wissenschaft

@
Symposium 2019
27. November
Bonn
dhvseminare.de/symposium_2019 | Claudia Schweigele | schweigele@hochschulverband.de | 0228.90266·68
REZENSIONEN

DIETER MAHSBERG, AUS FISCHER, S., NIERULA, F.: DER PALMÖL-KOMPASS; MIT FRDL. GEN. DES OEKOM VERLAGS

Frauke Fischer,
Frank Nierula
DER PALMÖL-
KOMPASS
Hintergründe,
Fakten und Tipps
für den Alltag
oekom, München
2019
176 S., € 20,–
Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

ÖKOLOGIE
HEISS BEGEHRT UND
HOCH PROBLEMATISCH
Rund 60 Millionen Tonnen Palmöl
werden jährlich produziert und
verarbeitet. Ein Ratgeber beleuchtet
die Hintergründe.

 Biodiesel, Schmierstoffe, Waschmit­


tel, Kosmetika, Lebensmittel: Sie alle
gehören zu den Produkten, die häufig
Palmöl enthalten. Die Biologen Frauke
Fischer und Frank Nierula widmen sich
in diesem Buch dem kommerziellen
Anbau der Ölpalme und den damit
verbundenen ökologischen und sozia­
len Schwierigkeiten. Verglichen mit
anderen Öl produzierenden Pflanzen
wie Mais, Soja oder Raps ist die Ölpal­
me die bei Weitem ergiebigste. Aus
Mais lassen sich pro Hektar Anbauflä­
che gerade einmal 145 Kilogramm, aus
Raps immerhin eine Tonne Öl gewin­
nen – während es bei der Ölpalme bis
zu fünf Tonnen sind. Südostasiatische
Staaten wie Indonesien und Malaysia
sind mit großem Abstand die Haupt­
anbaugebiete. Hinzu kommen afrikani­
sche Länder wie Nigeria, die Elfenbein­
küste, die Demokratische Republik
Kongo oder Ghana sowie mittel- und
südamerikanische Staaten wie Hondu­
ras, Guatemala und Ecuador.
Leider bringen der Anbau der Pal­
men und die Verarbeitung ihrer bis zu
25 Kilogramm schweren Fruchtstände
gewaltige Probleme mit sich. Planta­
genbetreiber müssen oft große Anbau­
flächen durch Brandrodung von Regen­
wald schaffen, was nicht nur die »grü­
ne Lunge« der Erde mitsamt ihrer
Artenvielfalt zerstört, sondern auch
DIETER MAHSBERG, AUS FISCHER, S., NIERULA, F.: DER PALMÖL-KOMPASS; MIT FRDL. GEN. DES OEKOM VERLAGS

riesige Mengen CO2 freisetzt. Zudem


haben Ölpalmen einen hohen Wasser­
bedarf, weshalb ihr großflächiger
Anbau in den Wasserhaushalt eines
Gebiets massiv eingreift. Bei der Ölge­
winnung selbst fallen unter anderem
Rückstände wie das »palm oil mill
effluent« (POME) an, das häufig nicht
fachgerecht verarbeitet, sondern

Ölpalmenplantagen, hier eine mit


Entwässerungsgraben in Costa Rica,
haben oft eine desaströse Ökobilanz.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 87


REZENSIONEN
ungeklärt in nahe gelegene Gewässer
eingeleitet wird und diesem durch
GESUNDHEITSWESEN Ausscheidungen. Wie konnte es so
weit kommen?
chemische Zersetzungsprozesse LAND UNTER Pflegende in Kliniken und Heimen
Sauerstoff entzieht. Massensterben IN DER PFLEGE stehen unter enormem Zeitdruck, wie
von Fischen und anderen Wasserbe­ aus dem Buch hervorgeht. Dadurch
wohnern sind die Folge – auch hier Der Krankenpflege-Azubi Alexander leidet die Qualität der pflegerischen
leidet also die Artenvielfalt. Ferner Jorde zeigt Missstände in seinem Versorgung, und auch die Gefahr von
Berufsfeld auf und sucht nach
schildert das Autorenduo die negati­ Fehlern erhöht sich. Statt Aufgaben in
Lösungen.
ven sozialen Folgen des Plantagenbe­ Ruhe, gewissenhaft und gründlich
triebs: etwa wenn das Profitstreben
von Konzernen dazu führt, geltendes
Arbeitsrecht auf den Plantagen zu
 Wenn es um die Pflege in Deutsch­
land geht, ist oft von Notstand die
Rede. Die Zahl der Menschen mit
erledigen zu können, müssen Pflege­
kräfte priorisieren: Was nicht lebens­
notwendig ist, hat zu warten.
missachten, keine Schutzkleidung für Pflegebedarf nimmt zu, doch mangelt In deutschen Kliniken kommt es
den Umgang mit giftigen Chemikalien es an Pflegekräften. Aus dem Themen­ häufig vor, dass Pfleger von Patient zu
bereitzustellen oder auf Kinderarbeit report »Pflege 2030« der Bertelsmann Patient hetzen. Andere Länder zeigen,
zurückzugreifen. Auch die Rechte Stiftung geht hervor, dass in zehn dass das nicht so sein muss. Parade­
Indigener geraten im Plantagenbetrieb Jahren bis zu 400 000 Pflegekräfte beispiel hierfür ist Norwegen. Auf eine
immer wieder unter die Räder. fehlen könnten. Pflegekraft kommen dort im Durch­
Als ein Gegenmittel heben die Im September 2017 ergriff der schnitt sechs Patienten. In Deutsch­
Autoren die Marktmacht aufgeklärter Krankenpflege-Azubi Alexander Jorde land sind es mehr als doppelt so viele.
Konsumenten hervor. Sie betonen die in der ARD-Sendung »Wahlarena« Jorde appelliert an die Politik, die
Möglichkeit, durch eigenes Kaufver­ das Wort. Jorde brachte den Notstand Missstände in der Pflege zu verringern.
halten die Nachfrage nach Palmöl und offen zur Sprache und bot Angela Der Blick ins Ausland könne dabei
damit die einschlägigen Probleme zu ­Merkel damit Paroli. Seit diesem Auf- helfen. Ein möglicher Schritt wäre
reduzieren. Dazu stellen sie Ökosiegel tritt ist der inzwischen 22-Jährige ein beispielsweise die Einführung einer
zum Palmölstandard vor und haben gefragter Gast in Talkshows. Er nutzt Untergrenze in der Pflege. Das würde
dem Buch einen praktischen Einkaufs­ den Medienrummel, um die Probleme bedeuten, die Zahl der zu versorgen­
helfer beigelegt. Es ist jedoch sehr seines Berufsstands in der Öffentlich­ den Patienten pro Pflegekraft zu
schwierig, entsprechende Produkte keit anzusprechen. begrenzen. Seit Anfang des Jahres
adäquat zu nennen, da Palmölzusätze gibt es solche Beschränkungen zwar,
selten als solche gekennzeichnet allerdings nur auf bestimmten Statio­
werden. Stattdessen verbergen sie Alexander Jorde nen. Zudem sollten, so der Autor,
KRANKE PFLEGE
sich oft hinter chemischen Bezeich­ jungen Menschen Anreize dafür gebo­
Gemeinsam aus
nungen, durch die man sich erst dem Notstand ten werden, diesen Berufsweg einzu­
mühsam im Kleingedruckten der Tropen, Stuttgart schlagen. Die momentan relativ
Zutatenlisten arbeiten muss. Daher ist 2019 schlechte Bezahlung, Schichtdienst
der Einkaufshelfer zwar gut gemeint, 210 S., € 17,– und starre Hierarchien in den Kliniken
doch wegen der vielen Stoffe, die schreckten eher ab.
Palmöl entweder sicher enthalten oder Auch von den Pflegekräften fordert
enthalten könnten, dürfte das kritische Jorde ein Umdenken. Statt im stillen
Durchschauen von Inhaltsangaben in Kämmerchen über die Zustände zu
der täglichen Einkaufspraxis schnell an schimpfen, sollten sie aktiv werden,
seine Grenzen stoßen. etwa durch das Eintreten in eine
Davon unbenommen legt das Gewerkschaft. Der Autor verlangt
Autorenduo eine leicht lesbare und Jorde steht kurz vor Abschluss auch Widerstand gegen eine unrealis­
fundierte Einführung ins Thema vor. seiner Ausbildung. Er hat sich bewusst tische Personalplanung. Derzeit funk­
Produktion, Einsatz und Probleme des für den Pflegeberuf entschieden, tioniere eine knappe Bemessung der
Palmöls sind gut aufgearbeitet, wozu seine Wahl bereut er nicht. Es sei, so Pflegekräfte von Seiten der Kliniken,
zahlreiche Tabellen, Karten und Grafi­ schreibt er, Sinn stiftend, kranke denn genügend Kolleg(inn)en seien
ken beitragen. Fachbegriffe werden Menschen zu pflegen und bei ihrer bereit, außerplanmäßig einzuspringen.
mit eingeschobenen Legenden sowie Genesung zu unterstützen. Die Ar­ Ohne diese Bereitschaft würde das
einem angehängten Glossar erklärt. beitsbedingungen in der Klinik ließen Ausmaß der Fehlplanungen viel deut­
Das Buch ist konsumkritischen Lesern die fachgerechte Pflege aber nicht zu. licher; im Extremfall müssten sogar
zu empfehlen. Stattdessen herrschten mitunter Stationen geschlossen werden. Ein
Der Rezensent Martin Schneider ist Wissen- schlimme Zustände: Pflegebedürftige entschiedeneres Pochen auf das
schaftshistoriker und Dozent in der Erwachse- Menschen litten unter Mangelernäh­ Einhalten von Dienstplänen würde
nenbildung. rung oder lägen stundenlang in ihren Klinikleitungen dazu zwingen, schon

88 Spektrum der Wissenschaft  7.19


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im Voraus mehr Pflegende pro Schicht Aulus Gellius sein Publikum, der wohl, nämlich nach dem Alphabet:
einzuteilen. vermutlich nur noch Latinisten be­ vom Aal bis zur Zicke. Der Autor
Gerade Lesern, die den pflegeri­ kannt ist. Gellius trug eine gewaltige beschreibt für diverse Redensarten,
schen Alltag in Kliniken nicht kennen, Sammlung von Lesefrüchten, Anek­ wie sie entstanden sind und welche
gewährt das Buch einen aufschlussrei­ doten und Kuriositäten zusammen Geschichte sie durchliefen, und er
chen Einblick. Der Autor hat zwar vor und kippte sie unter dem Titel »Atti­ fragt nach den zu Grunde liegenden
allem praktische und weniger theoreti­ sche Nächte« ungeordnet über seine Bildern der jeweiligen Tierspezies. Was
sche Expertise, dennoch – oder genau Leser aus. dabei herauskommt, ist laut Heine
deshalb – gelingt es ihm im Buch wie Ganz ähnlich verfährt nun der selbst »weniger ein Buch über Tiere als
in seinen Fernsehauftritten, die Proble­ Germanist und Journalist Matthias ein Buch über Menschen, die Tiere
me der Pflege anschaulich und unprä­ Heine in seinem Büchlein »Mit Affen­ nutzen, um sich selbst zu deuten«. Das
tentiös auf den Punkt zu bringen. zahn über die Eselsbrücke«. Dem Werk ähnelt fast schon einer miniaturi­
Die Rezensentin Hanna Stern hat Germanistik Werk ist unter anderem zu entneh­ sierten Kulturgeschichte des Verhält­
und Kognitionswissenschaft studiert, eine men, dass der »Kater« nach exzessi­ nisses von Mensch und Tier, wie es im
Krankenpflegeausbildung absolviert und vem Alkoholgenuss nichts mit der Sprachgebrauch fassbar wird – leicht­
arbeitet als Redakteurin in einem medizi- Deutschen liebstem Haustier zu tun händig formuliert und ohne überbor­
nischen Fachverlag.
hat, sondern auf eine Verballhornung dende Gelehrsamkeit.
des »Katarrh« zurückgeht, mit dem Die gesammelten Redensarten
Studenten früher diese Unpässlichkeit reichen von der indoeuropäischen
LINGUISTIK vornehm umschrieben. Frühzeit bis zum Computerzeitalter.
WIESO DER MAULWURF Anders als sein antiker Kollege
aber beschränkt Heine sich auf »Tiere
Erstaunt nimmt man zur Kenntnis,
dass eine 1970 patentierte »computer-
KEINE MÄULER WIRFT in unserer Sprache« (so der Unterti­ aided display control« bereits 1965 in
In unserer Alltagssprache wimmelt tel), und er ordnet sein Wissen sehr einem Forschungsbericht als »mouse«
es von Tieren. Wie es dazu kam, bezeichnet wurde. Wer wissen möch­
erklärt der Germanist Matthias te, seit wann Dinosaurier als Metapher
Matthias Heine für unbelehrbar rückständige Zeitge­
Heine.
MIT AFFENZAHN
ÜBER DIE nossen herhalten müssen (nicht erst

 Der Sternhaufen, den man »sucu­


lae« (Schweinchen) nenne, verdan­
ke seinen Namen einer Fehlüberset­
ESELSBRÜCKE
Die Tiere in
unserer Sprache
seit »Jurassic Park«); woher es kommt,
dass eine Krankheit wie ein Krustentier
heißt; oder warum das Leben kein
Atlantik, Hamburg
zung aus dem Griechischen. Dort näm­ 2019 Ponyhof ist: Hier wird er fündig. Die
lich heiße er »Hyaden«, was sich aber 253 S., € 16,– Autorin von Ponyhof-Büchern, die der
eben nicht von »hys« (Schwein) ablei­ Autor in diesem Zusammenhang
te, sondern von »hyein« (regnen). Mit anführt, heißt allerdings nicht Ilse,
solchen Informationen belieferte im sondern Lise Gast – ein verschmerzba­
2. Jahrhundert n. Chr. ein gewisser rer Fehler.

WAS IST LOS IN DER WELT


DER WISSENSCHAFT?
UNSPLASH / BARRETT WARD (https://unsplash.com/photos/0lMpQaXfOCg)

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Spektrum der Wissenschaft  7.19 89


REZENSIONEN
Freilich ist die Herkunft von Re­ und der Fotograf Nick Mann versu­ und das, wie wir im Text erfahren,
densarten und Ausdrucksweisen chen es mit spektakulären Fotos von schnell und erfolgreich, obwohl seine
heute oft nicht mehr eindeutig zu saftig grünen Bambusschösslingen, Organe nicht mit siedenden Flüssigkei­
klären. Die »Hechtsuppe«, die be­ ängstlichen Kätzchen oder Eisen- ten gefüllt sind. Dieses etwas seltsame
schreibt, wie es zieht, stammt vermut­ Schmelzöfen. Dazu mischen sie che­ Bild stellt in dem Buch zum Glück eine
lich doch nicht vom jiddischen »hech« mische Strukturformeln, Atommodelle Ausnahme dar, die anderen Vermitt­
(wie) und »supha« (starker Sturm) und erklärenden Text. Es macht lungsversuche erscheinen gelungener.
ab – schade eigentlich. Auch ist das Spaß, in dem Werk zu blättern. Und An anderer Stelle erklären die Auto­
Kürzel »nt« für »non testatum« (nicht genau das ist auch das Erste, was die ren, wie Gras wächst. Eine vergrößerte
bezeugt) wohl nicht der Ursprung der meisten Leser(innen) tun werden: Aufnahme aus dem Innern einer Pflan­
berüchtigten Zeitungsente. Die Drohne blättern und staunen, denn im Vorder­ zenzelle zeigt, wie Zelluloseketten
hingegen, die uns in absehbarer Zeit grund stehen Hochglanzbilder und entstehen und sich zusammenfügen.
die Pizza nach Hause liefern soll, hat – Illustrationen in satten und kräftigen Das ist ein eher langsamer chemischer
und da ist man nun recht sicher – nur Farben. In die eigentliche Lektüre Ablauf – genau wie das Trocknen von
vermeintlich etwas mit der männlichen werden die meisten erst danach Farbe, das Gray und Mann detailliert
Biene zu tun. In Wahrheit stand das einsteigen. erklären. Nebenbei erfahren die Leser
tiefe Brummen des Motors, das im Der Band handelt von chemischen hier, dass Latexfarbe nicht aus Latex­
Englischen »drone« genannt Reaktionen – im Labor, in der Küche, gummi besteht, sondern eine Dispersi­
wird, Pate. on von Polymeren wie Acryl in Wasser
Einige weitere Beispiele? Der Maul­ ist. Und während sich Fingerfarbe für
wurf wirft natürlich nicht Mäuler, Theodore Gray, Kinder mit Wasser leicht lösen lässt, ist
Nick Mann
sondern Haufen auf, wie der Vergleich REAKTIONEN
das bei Latexfarbe, bei der zwei ver­
mit dem altnordischen »mugi« (Hau­ Die faszinierende schiedene Lösungsmittel nacheinander
fen) lehrt. Der »Katzlmacher«, ein Welt der Chemie verdampfen, schon schwieriger.
offenbar schon für das 18. Jahrhundert in über 600 Spektakuläre Fotos von hochlodern­
Bildern
nachweisbares Schimpfwort für Edition Fackel­ den Stichflammen ziehen sich durch
italienische Gastarbeiter, macht keine träger, Köln 2019 das Kapitel über schnelle Reaktionen.
Katzen, sondern Kessel – genauer: 224 S., € 30,– Diese laufen ab, wenn etwa Sauerstoff
»cazza«, italienisch dialektal für Zinn­ nicht nur aus der Luft zur Verfügung
geschirr. So geht das immer weiter: steht, sondern bereits in das Reaktions­
Man liest ein Kapitel, dann noch eins, auf der Straße oder in der Natur. Die material quasi eingebaut ist. Geldschei­
und ehe man sich’s versieht, hat man Leser erfahren etwa, wie in Pflanzen ne aus Pyropapier beispielsweise fa­
den ganzen Band durch, einiges Zellulosefasern wachsen und sich ckeln schnell und rußfrei ab; Zauber­
gelernt und sich dabei prächtig amü­ vernetzen, warum »Zauberpapier« sich künstler benutzen sie gern. Pyropapier
siert. Ein Buch wie eine Tüte Kartoffel­ in Luft auflöst, wie das Klebereiweiß besteht aus Nitrozellulose, in der Nitrat­
chips, doch mit erheblich mehr Nähr­ Gluten im Brot chemisch aufgebaut ist gruppen verbaut sind. Diese instabilen
wert und ganz ohne unliebsame oder was im Ofen einer Eisenschmelze Molekülteile zersetzen sich, sobald es
Konsequenzen für die Figur. passiert. Die Beispiele haben oft Bezug etwas wärmer wird. Dabei wird Sauer­
Die Rezensentin Vera Binder hat Sprachwis- zum Alltag und dienen dazu, grundle­ stoff frei, der das Feuer noch mehr
senschaft und Philologie in Tübingen studiert gende chemische Vorgänge vorzustel­ anfacht. Ein Prinzip, das früher zu ver­
und ist Studienrätin im Hochschuldienst am len und zu erklären. heerenden Bränden in Kinos führte,
Institut für Altertumswissenschaften der Damit eine Reaktion überhaupt in denn Zelluloidfilme bestehen ebenfalls
Universität Gießen.
Gang kommt, sind bestimmte Umwelt­ aus Nitrozellulose. Bestrahlt von der
bedingungen erforderlich. Hohe heißen Lampe des Projektors, konnten
Temperaturen helfen meist. Lebewe­ sich die Filmrollen leicht selbst entzün­
CHEMIE sen jedoch können ihre Körpertempe­ den und abbrennen.
DIE WELT DER ratur nicht beliebig erhöhen und
benötigen daher Mechanismen, die
Die Stärke des Werks liegt in einer
Kombination aus faszinierenden Fotos
REAKTIONEN auch bei Raumtemperatur gut funktio­ und erklärendem Text. Es ist allerdings
Von Acryl bis Zelluloidfilm erklärt nieren. Deshalb nutzen sie Proteine fachlich nicht besonders tiefgründig und
dieses Werk anschaulich, wie als reaktionsbeschleunigende Kataly­ verbiegt Sachverhalte auch gern einmal
sich Moleküle zusammenfinden satoren. Um den Lesern etwas über ein wenig. Etwa wenn Gray schreibt,
oder auch trennen. die räumliche Struktur von Proteinen dass bei einer Kältepackung die kineti­
zu vermitteln, haben sich die Autoren sche Energie der Moleküle »irgendwie

 Wie lässt sich mit einem Chemie­


buch die Aufmerksamkeit von Laien
erhaschen? Der Autor Theodore Gray
eine skurrile Fotomontage ausgedacht.
Ein Kätzchen wehrt sich darin fau­
chend gegen eine riesige Schlange –
herausgesaugt« werde (später erklärt er
den Prozess vertieft). Wer über einen
teilweise amerikanisch-pathetischen

90 Spektrum der Wissenschaft  7.19


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Schreibstil in sperriger Übersetzung schen Erbfolgekrieg (1778/79), der bislang wenig beachteter Gedichte und
hinwegsieht, findet ein kurzweiliges, zwar ohne größere militärische Aktio­ Briefe erörtert. Gängige Erklärungsver­
unterhaltsames Werk mit bunten nen verlief, aber den fortdauernden suche, wonach sich der Kronprinz eine
Abbildungen und ansprechend erklär­ preußisch-österreichischen Gegensatz Geschlechtskrankheit eingefangen habe
ten chemischen Abläufen vor. Das verstetigte. und der dadurch erforderliche chirurgi­
Interesse für die Chemie weckt der Die Stärke von Blannings Buch liegt sche Eingriff ihn den Frauen entfremdet
Band auf alle Fälle. in der analytischen Tiefe und Strin­ und seine homophile Neigung begüns­
Die Rezensentin Katja Engel ist promovierte genz, mit denen es die Widersprüch­ tigt habe, greifen Blanning zufolge zu
Ingenieurin der Werkstoffwissenschaften und lichkeit Friedrichs in nahezu allen kurz. Briefe mit unmissverständlichem
Wissenschaftsjournalistin. Lebensbereichen erfasst. Aus einem homoerotischem Unterton, Friedrichs
außerordentlichen Wissensfundus Beziehung zu seinem Kämmerer Fre­
über den Preußenkönig schöpfend, dersdorf sowie zu königlichen Pagen
GESCHICHTE beschreibt der Autor seinen Protago­
nisten als einen schwer berechenba­
und Husaren deuten vielmehr auf ein
homophiles Umfeld am Königshof mit
KÖNIG DER ren und rücksichtslosen Machtmen­ bisweilen misogynen Tendenzen hin,
WIDERSPRÜCHE schen, der mit größter Beharrlichkeit wie der Autor schreibt. Friedrichs Hof in
seine ganz persönlichen Absichten Potsdam sei für Frauen gewissermaßen
Den Preußenherrscher Friedrich II.
verfolgte und dabei weder Risiken eine No-go-Area gewesen. Selbst
als fürsorglichen Landesvater
scheute noch seine territorialen Res­ Friedrichs Hunde hätten bei Damen­
darzustellen, sei eine postum ideali-
sourcen an Menschen und Material besuch gebellt.
sierende Konstruktion, schreibt His-
schonte. Der gleiche Herrscher, in Zwiespältig sind Friedrichs Wirken
toriker Tim Blanning.
dessen Reich jeder nach eigener als politischer Autor und sein Umgang

 Madame de Staël (1766–1817),


französische Schriftstellerin, hell­
sichtige Essayistin und intime Kenne­
Fasson glücklich werden sollte,
schränkte die Pressefreiheit ein und
ging mit drakonischen Strafen gegen
mit Gelehrten. Blanning kann schlüssig
nachweisen, dass die schriftstelleri­
schen Ambitionen des Preußenkönigs
rin Deutschlands, schrieb 1810, Preu­ Deserteure und Andersdenkende vor. im Wesentlichen davon geprägt waren,
ßen zeige ein »Doppelgesicht wie der Damit kratzt der Autor am Bild des seinen Nachruhm durch ein von ihm
Januskopf – ein militärisches und ein fürsorglichen Landesvaters. Wie der präsentiertes und geschöntes Ge­
philosophisches«. Diese Ambivalenz Autor überzeugend herausarbeitet, schichtsbild abzusichern. So wie die
hatte in Preußen offenbar eine lange ging es Friedrich mehr um seinen Selbststilisierung als Philosophenkönig
Tradition, denn schon der berühmte eigenen Ruhm als um das Wohl seines war auch seine angebliche spartanische
Preußenkönig Friedrich II. (1712–1786) Bescheidenheit nur Fassade. In Wahr­
war ein durch und durch widersprüch­ heit pflegte Friedrich einen babyloni­
Tim Blanning
licher Charakter gewesen, wie der FRIEDRICH DER
schen Lebensstil und gab ein Vermögen
englische Historiker Tim Blanning in GROSSE für Schnupftabakdosen und höfischen
diesem Buch schreibt. König von Preußen. Dekor aus.
Nach einer Einführung in die Ge­ Eine Biographie Bei aller Kritik an Friedrich beschreibt
C.H.Beck,
schichte Brandenburg-Preußens und ­München 2019 Blanning seinen Protagonisten ebenso
der Familie der Hohenzollern widmet 718 S., € 34,– als einen klugen Monarchen, der als
sich Blanning seinem Protagonisten, politischer Intellektueller hochkarätige
beschreibt wichtige Etappen in Fried­ historische Traktate verfasste, mit
richs Leben und stellt sie in den größe­ ungewöhnlichen Architekturkenntnis­
ren Zusammenhang von dessen sen ein beispielloses Bauprogramm bis
Regentschaft. Der Autor behandelt hin zur Machtarchitektur des Neuen
nahezu alle Aspekte: die traumatische Palais vorantrieb, Kammermusik schrieb
Kindheit unter dem tyrannischen Volks. Vieles, was der »erste Diener und praktizierte, die Berliner Akademie
Vater; die unbeschwerten Kronprinzen­ des Staats« innenpolitisch auf den der Wissenschaften förderte und die
jahre am Musenhof auf Schloss Weg brachte, sei aus staatspoliti­ Grundlagen für das großartige Geset­
Rheinsberg; den völkerrechtswidrigen schem Kalkül heraus erfolgt, die zeswerk des Allgemeinen Landrechts
Überfall auf Schlesien kurz nach vermeintliche Bürgernähe eine postum legte. Große Erfolge erzielte Friedrich
Friedrichs Regierungsantritt im Jahr idealisierende Konstruktion. auch bei der Ansiedlung ausländischer
1740; den verlustreichen Siebenjähri­ Dank profunder Kenntnis der Pri­ Bauern auf neu gewonnenem Acker­
gen Krieg und den damit verbundenen märquellen gelingt es Blanning, ein land. So gelang es zwischen 1746 und
Aufstieg Preußens zur europäischen differenziertes Bild Friedrichs heraus­ 1763, das Oderbruch zu entwässern,
Großmacht; die zwischen Österreich, zuarbeiten. Dies gilt insbesondere für mehr als 1000 Familien auf dem er­
Russland und Preußen beschlossene die Frage nach des Königs sexueller schlossenen Land anzusiedeln und
erste Teilung Polens sowie den Bayeri­ Orientierung, die der Autor anhand Handwerker und Fabrikanten mit Zu­

Spektrum der Wissenschaft  7.19 91


REZENSIONEN Achim Gruber
DAS KUSCHEL-
TIERDRAMA
schüssen und Steuerbefreiungen Ein Tierpathologe Ehepaars, das aus Mitleid einen Stra­
über das stille
anzuwerben. Leiden der ßenhund aus Marokko illegal nach
Wer Blannings Buch gelesen hat, Haustiere Deutschland eingeführt hatte. Kurze Zeit
wird einige Abstriche am traditionellen Droemer Verlag, später stellte sich heraus, dass das Tier
München, 2019
Bild des »Alten Fritz« machen müssen. 312 S., € 19,99 an Tollwut litt (anders als in Deutsch­
Blanning hat ein gründlich recherchier­ land ist diese virale Erkrankung in vielen
tes, quellennahes und äußerst infor­ Mittelmeerländern noch nicht ausgerot­
matives Buch vorgelegt, das trotz tet). Alle Kontaktpersonen des Ehepaars
erschlagender Materialfülle den roten mussten sofort geimpft und sämtliche
Faden nicht verliert und den Preußen­ und speziell im Tierkaufrecht Mangel- Tiere, die mit dem Hund potenziell in
könig in all seinen Licht- und Schatten­ und Gewährleistungsansprüche fest­ Berührung gekommen waren, einge­
seiten betrachtet. zustellen. schläfert werden, sofern sie nicht nach­
Der Rezensent Theodor Kissel ist Althistoriker, Gruber hat also viel zu erzählen, weislich einen lückenlosen Impfschutz
Sachbuchautor und Wissenschaftsjournalist. und genau das tut er gleich zu Beginn besaßen.
Er lebt in der Nähe von Mainz. seines Buchs, indem er seine Leser mit Ein Thema, das dem Autor sehr
gruselig anmutenden Kriminalfällen wichtig ist, sind »Qualzuchten«, denen
konfrontiert. Da geht es beispielsweise er sich im letzten Drittel des Buchs
TIERMEDIZIN um Messie-Wohnungen mit verwe­
senden Tierkadavern oder um Wasser­
widmet. Während in früheren Zeiten
vorwiegend auf Leistung, Arbeitsaufga­
ZU TODE GELIEBT leichen von Hunden, die jemand be und Charakter gezüchtet wurde,
Nicht artgerechte Haltung, Über­ loswerden wollte, indem er sie an steht bei heutigen Haustieren oft das
tragung von Krankheiten und Steine band und im Fluss versenkte. Aussehen im Vordergrund. Kurznasige
­angezüchtete Merkmale, die zur Das ist nichts für schwache Nerven: In Gesichter mit glubschigen Kulleraugen,
Qual werden: was Menschen die zahlreichen Abgründe der mensch­ die perfekt dem Kindchenschema
ihren Haustieren antun. lichen Natur zu schauen, kann emp­ entsprechen, kommen bei Käufern gut
findsame Seelen durchaus belasten. an. Dabei ist den meisten vermutlich

 Viele Menschen halten Haustiere –


und tun ihnen Schlimmes an, ohne
sich dessen bewusst zu sein. Achim
Als Leser sollte man insbesondere mit
bildhafter Sprache wie »eimerweise
Eiter« oder »knöcheltiefer Darminhalt«
nicht bewusst, dass die Tiere unter
solchen angezüchteten Veränderungen
oft sehr zu leiden haben. Eine zu kurze
Gruber sieht die Folgen davon täglich zurechtkommen. Doch der Autor will Nase etwa erschwert Hunden das
auf seinem Seziertisch. Er leitet das niemanden abschrecken, stattdessen Atmen und hindert sie daran, an heißen
Institut für Tierpathologie an der Freien für mehr Verständnis und Verantwor­ Sommer­tagen ausreichend zu hecheln,
Universität Berlin und hat neben tungsgefühl unseren Haustieren um sich abzukühlen. Da gezüchtet wird,
zahlreichen Fachbüchern und -artikeln gegenüber sorgen. was gekauft wird, sieht Gruber hier eine
nun sein erstes populärwissenschaftli­ Einerseits nehmen unsere tieri­ große Verantwortung bei den Kunden,
ches Buch geschrieben. Darin schil­ schen Mitbewohner immer mehr die die mit ihren oft uninformierten, rein
dert er, welch hässliche Konsequenzen Rolle von Sozialpartnern ein, teilen emotionalen Vorlieben das Tierwohl mit
die Unkenntnis, Gleichgültigkeit und nicht nur das Heim, sondern auch beeinflussen.
Nachlässigkeit vieler Tierhalterinnen Tisch und Bett (und manchmal sogar Gene, die ein erwünschtes Merkmal
und Tierhalter haben. Insbesondere die Herztabletten) mit ihren Haltern, wie eine bestimmte Fellfärbung hervor­
möchte er vor häufigen, meist unbe­ andererseits müssen sie – oft aus bringen, sind häufig mit angeborenen
wussten und ungewollten Fehlern im menschlicher Unkenntnis heraus – er­ Krankheiten assoziiert und werden
Umgang mit unseren irdischen Mitbe­ hebliches Leid ertragen. Das äußert deshalb Defektgene genannt. Sie ließen
wohnern warnen. sich etwa in einer nicht artgerechten sich mittels Zucht eigentlich leicht
Tierpathologen sind sowohl Patho­ Haltung und Fütterung, tritt aber eliminieren, was die Frage aufwirft,
logen als auch Rechtsmediziner. Als ebenso ein, wenn das Kuscheln mit warum das nicht schon längst gesche­
Erstere untersuchen sie beispielsweise dem Chinchilla zum Todeskuss wird. hen ist. Grubers Erklärung dazu ist
unklare Todesursachen und diagnos­ Denn eine für den Menschen weitge­ bezeichnend: Gerade »defektgezüchte­
tizieren Krankheiten etwa anhand hend harmlose Infektion wie der te« Tiere rufen bei ihren Haltern ein
von Biopsien. Besonders wichtig ist Lippenherpes kann für Kaninchen und ausgeprägtes Bindungsverhalten her­
dabei, ansteckende und auf den Chinchillas letal verlaufen. vor; der von Natur aus vorhandene
­Menschen übertragbare Infektions­ Auch andersherum kann aus Tier­ Pflegetrieb des Menschen werde durch
krankheiten (Zoonosen) zu erkennen, liebe großes Leid werden, wenn zum kränkelnde Schützlinge offenbar beson­
da diese sich im schlimmsten Fall Beispiel lebensbedrohliche Infektions­ ders gut befriedigt.
seuchenhaft ausbreiten können. Als krankheiten vom Tier auf den Men­ Das Buch ist sehr aufschlussreich
Rechtsmediziner tragen Tierpatholo­ schen überspringen. Gruber erzählt und fesselnd. Da verzeiht man Gruber
gen dazu bei, Verbrechen aufzuklären beispielhaft die Geschichte eines auch gern seine hier und da durch­

92 Spektrum der Wissenschaft  7.19


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scheinende Arroganz, die nicht unty­ Modernisierung der Industrie in ebenje­ In einem geschichtlichen Rückblick
pisch für seinen Berufsstand ist und nen Ländern. In politisch bisher stabilen macht Sendler die heutige Demokratie
sich etwa darin äußert, nachher Staaten wie den USA und Großbritanni­ als Ergebnis der Industrialisierung seit
immer alles besser zu wissen. Trotz en bröckelt derzeit das Vertrauen in die der Mitte des 19. Jahrhunderts aus.
einiger fachnaher Textpassagen ist demokratischen Institutionen. Zugleich Wenn aber die Industrie nun mit etwas
das Buch im Großen und Ganzen auch vollziehen sich dort ein Niedergang der komplett Neuem konfrontiert sei,
für Laien gut verständlich. Industrie und eine ungeregelte, biswei­ nämlich der weit reichenden Vernet­
Die Rezensentin Tanja Neuvians hat in len chaotisch fortschreitende Digitali­ zung von Menschen und Dingen,
Medizin und Tiermedizin promoviert und sierung. Das verunsichert viele. Sendler folge daraus, dass auch die Demokra­
arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in sieht die Lösung in einem konsequen­ tie verändert werden müsse, so der
Ladenburg bei Heidelberg. ten, doch im gesellschaftlichen Kon­ Autor. Dies sollte in einer breiten
sens beschrittenen Weg in eine digitale politischen Debatte ausgehandelt
Zukunft. werden: Wie werden die Daten jedes
DIGITALISIERUNG Einzelnen gesichert? Was dürfen

IM KONSENS Ulrich Sendler


autonom entscheidende Maschinen
und was nicht? Was können soziale
IN DIE ZUKUNFT DAS GESPINST
DER DIGITALISIE- Netzwerke zum gesellschaftlichen
RUNG Austausch beitragen? Ziel müsse es
Wie lässt sich die digitale Vernet- Menschheit im
zung für alle vorteilhaft gestalten? sein, schreibt Sendler, die Vernetzung
Umbruch – auf
Ein Debattenbeitrag. dem Weg zu einer für alle vorteilhaft zu machen. Sein
neuen Welt­ Buch ist gut zu lesen und leistet einen
anschauung

 Ulrich Sendler sieht einen Zusam­


menhang zwischen dem Anwach­
sen populistischer, demokratiefeindli­
Springer,
Wiesbaden 2018
wichtigen Beitrag zur Digitalisierungs­
debatte.
298 S., € 24,99 Der Rezensent Jürgen Scharberth
cher Strömungen in einigen westlichen ist D
­ iplomgeophysiker und Technischer
Staaten und einer missratenen digitalen Redakteur in Braunschweig.

Veranstaltungen des Verlags

Die Spektrum-
Spektrum der Wissenschaft

Schreibwerkstatt
Möchten Sie mehr darüber erfahren, wie
ein wissenschaftlicher Verlag arbeitet,
und die Grundregeln fachjournalistischen
Schreibens erlernen?
Dann profitieren Sie als Teilnehmer des
Spektrum-Workshops »Wissenschafts-
journalismus« vom Praxiswissen unserer
Redakteure.
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Spektrum.de/schreibwerkstatt
Spektrum der Wissenschaft  7.19 93
LESERBRIEFE
INTELLIGENZ ALS SACKGASSE? Leserbriefe sind willkommen!
Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches
Unser Kolumnist Michael Springer erörtert einen
Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an
neuen Erklärungsansatz zur alten Frage, warum wir leserbriefe@spektrum.de. Oder kommentieren Sie im Internet
nichts von anderen intelligenten Lebensformen mit­ auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die
bekommen – selbst wenn diese in der Milchstraße indivi­duelle Web­adresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten
verbreitet sein sollten. (»Aliens sind überall«, Spektrum Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe
werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer
April 2019, S. 27) gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können
so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar
werden.
Oswald Feix, Kummerfeld: Michael Springer erwähnt gute
Gründe für die Unwahrscheinlichkeit einer Begegnung mit
Außerirdischen. Mir scheint aber, es gibt noch einen weite-
ren: Es ist eine chauvinistische Haltung, die uns lange Zeit Hans-Joachim Dasting-Hussner, Koblenz: Auf der Erde
glauben machte, der Mensch stelle die Krone der Schöp- gab es in der Vergangenheit – teils durch biogene Aktivitä-
fung dar. Mehr noch, es spricht vieles dafür, dass der Zweig ten – mehrere Massenauslöschungen von Arten, und wir
des Homo sapiens eine Sackgasse der Evolution ist. Der arbeiten gerade mit Hochdruck daran, dass es ein weiteres
Verbrauch der verfügbaren Ressourcen in unserem Lebens- Massensterben gibt, das uns einschließen könnte. Nicht zu
raum übersteigt schon heute deutlich die verfügbaren vergessen sind auch die geologischen, interplanetaren und
Kapazitäten. Eine durchaus wahrscheinliche Folge davon ist kosmischen Katastrophen (Flächenvulkanismus, giganti-
die Vernichtung dieses Lebensraums. Nach einigen Millio- sche Asteroideneinschläge, nahe Supernovae et cetera),
nen Jahren könnte dann eine andere Spezies die Regie die uns hinwegraffen könnten. Mit all diesen Problemen
übernehmen. haben sicher auch Außerirdische zu kämpfen, weshalb es
Es klingt hart und demütigend, eine solche Perspektive gar nicht so unwahrscheinlich wäre, dass wir deswegen
zu erörtern. Aber aus der Sicht der Gesundheit des Planeten keine Aktivitäten beobachten, weil die meisten von ihnen
ist es eine Krankheit, mit Intelligenzen belastet zu sein. schon ausgestorben sind und andere sich noch nicht so
Nehmen wir an, dass auch die vielen Kandidaten für beleb- weit entwickelt haben.
te Planeten sich von solchen Leiden kurieren, dann gibt es Auch zu berücksichtigen wäre, dass alle chemischen
wenig Chancen, dass wir auf extraterrestrische Intelligen- Elemente, die für komplexes Leben notwendig sind, im All
zen stoßen. Wohlgemerkt, ich bin heilfroh, ein Element erst nach ungefähr 6 bis 8 Milliarden Jahren zur Verfügung
dieser pathogenen Viren zu sein. Als Schimpanse könnte standen. Setzt man voraus, dass intelligente Spezies zirka
ich nicht Springers Einwürfe lesen. 4 Milliarden Jahre Evolution benötigen, könnten die ersten
intelligenten Lebewesen erst 10 bis 12 Milliarden Jahre
nach dem Urknall aufgetaucht sein. Dieser fand aber vor
Auf der Suche nach Signalen außerirdischer Zivilisatio­ kaum 14 Milliarden Jahren statt. Mit anderen Worten: So
nen beobachten spezielle Teleskope (hier das Allen viele Aliens können es gar nicht sein.
Telescope Array in den USA) vor allem den Radiobereich
des elektromagnetischen Spektrums.
ÜBERSEHENE MACHT
DER KULTUR
In dem genetischen und kulturellen Austausch
mit konkurrierenden Frühmenschenarten
könnte der Schlüssel für den evolutionären
Erfolg unserer Spezies liegen. (»Die Letzte ihrer
Gattung«, Spektrum April 2019, S. 30)

Frank Wohlgemuth, Tornesch: Das herausragende


Merkmal des Homo sapiens ist kein anatomisches, son-
dern eine viel weitergehende Errungenschaft. Jeder ande-
ren Art steckt die Nische, die sie besetzt, im Genom. Der
Mensch dagegen muss nicht nur individuell lernen, wie er
seinen Lebensunterhalt bestreitet, er muss sogar lernen,
was ihm schmeckt. Unsere Art verlagert das Wissen über
SETH SHOSTAK/SETI INSTITUTE

die Welt vom Genom in die Kultur und erweitert hier die
genetische Evolution um eine kulturelle. Damit kann Homo
sapiens die Nische wechseln, ohne auf eine Mutation
warten zu müssen.

94 Spektrum der Wissenschaft  7.19


Sobald die Sprache im heutigen Sinn da ist, setzt eine weit zeigen Ethnien, die seit Jahrzehntausenden getrennt
ungeheure Beschleunigung der Entwicklung ein, die sich blieben, das gleiche kulturelle Potenzial; dennoch macht
auch im archäologischen Befund wiederfindet. Die kurze von da an der Mensch – bisher belegt ab 80 000 v. Chr. –
Meldung im Aprilheft »Vom Großwild- zum Affenjäger« beschleunigt eine kulturelle Entwicklung durch.
(S. 9) erzählt ja genau die Geschichte von der Möglichkeit Im Maiheft will uns Spektrum durch Michael Tomasello mit
der kulturell bestimmten Wahl des Habitats und der Nische der gleichen inkonsistenten Theorie zur Anthropogenese in
und damit auch die des Erfolgs unserer Art. Was sie von Gestalt der kulturellen Weitergabe abspeisen. Wäre es nicht
den anderen unterschied, war die Macht der Kultur, die an der Zeit, anderen gewichtigen Stimmen Gehör zu ver-
durch keine Kreuzung erklärbar ist. Vor diesem Hintergrund schaffen, die zu Recht auf den erkennbaren, qualitativen
wäre es vielleicht sinnvoller, die Spekulationen über Linien- Sprung hinweisen, durch den erst Homo sapiens sich kund-
musterartefakte nicht so stark zu bewerten und einmal zu tut? Ein qualitativer Sprung, der grundlegend das Prinzip
versuchen, die Kulturgeschichte der unterschiedlichen biologischer Evolution von dem Prinzip kultureller Entwick-
Gruppen der Menschheit auf ihr Innovationstempo hin zu lung trennt. Nur solch konträre Stimmen ermöglichen eine
untersuchen. Der Beginn der gerichteten zweiseitigen Debatte, die Licht ins Dunkel bringt.
Kommunikation mit dem neuen Medium Sprache, das zu Kate Wong verstärkt jedenfalls dieses Dunkel nur, statt
einem Denken führt, das gleichzeitig abstrakt und gemein- es zu erhellen, indem sie graduell einen frühen Homo
sam ist, sollte am in evolutionären Maßstäben relativ plötz- sapiens von 500 000 v. Chr. bis zum echten Homo sapiens
lich erhöhten Innovationstempo erkennbar sein. Das ist der um 40 000 v. Chr. evolvieren lässt. So gesehen zählten die
Punkt, an dem der Mensch vernünftig wurde. Aborigines nicht zum modernen Menschen. Auf diese
Spekulation eines fließenden Übergangs kann allerdings
Alexander Braidt, München: Ein zentraler Fehler der nur jemand kommen, der die nachweisliche Trennscheide
Spektrum-Serie war schon bei Kevin Laland, Thomas Sudden- zwischen Gattung Homo und Homo sapiens ignoriert, weil
dorf und Christine Kenneally auffällig: Alle hantieren unbe- er nie verstanden hat, was den modernen Menschen ganz
darft mit dem Begriff Homo sapiens, ohne einwandfrei allgemein ausmacht.
darzulegen, was den Menschen wesentlich zum Menschen
macht und ab wann diese Eigenschaft auszumachen ist. Joachim Bodesheim, per E-Mail: Seit dem ersten Heft
Kate Wong, die eine neue Theorie der multiregionalen und über 40 Jahren Abo lese ich Spektrum der Wissenschaft.
Evolution in Afrika vorstellen will, setzt diese Fehler fort und Seit einiger Zeit fällt mir auf, dass die guten alten Vorfahren,
überträgt sie auch noch auf die Analyseergebnisse alter die »Hominiden«, zu »Homininen« geworden sind. Mich
DNA durch deren Missinterpretation. Ihr zufolge entstünde würde es interessieren, wann und aus welchem Anlass
Homo sapiens bereits vor 500 000 Jahren bei der Abspal- diese »Geschlechtsumwandlung« stattgefunden hat.
tung vom mit dem Neandertaler gemeinsamen Vorfahren.
Angeblich optimierte sich dieser frühe Homo sapiens rein Antwort der Redaktion:
graduell durch Kreuzung bis zum Gesamtpaket des moder- Die frühere Bezeichnung »Hominiden« für die Vorfahren des
nen Menschen vor 40 000 Jahren. Menschen gilt inzwischen als veraltet, da auf Grund der
Da die evolutionäre Anthropologie keine präzise Bestim- engen Verwandtschaft hierzu auch die Großen Menschen-
mung dessen erarbeitet hat, was aus Homininen Homo affen Gorillas, Orang-Utans und Schimpansen zählen.
sapiens macht – sie nimmt unerklärte Einzelsymptome wie Zusammen bilden sie die Familie Hominidae der Säugetier-
verschachteltes Denken (Suddendorf) für das Entscheiden- ordnung Primates. Hierin enthalten ist die Tribus Hominini,
de –, gerät sie stets in Versuchung, durch kleine, kumulative welche die Gattung Homo sowie die ausgestorbenen
Schritte kooperativer Erfahrung von menschenähnlichen Vor- und Frühmenschen umfasst.
Vorfahren der Gattung Homo fließend zu Homo sapiens ge-
langen zu wollen. Alle ihre Vertreter in dieser Spektrum-Serie
übertragen dabei in unzulässiger Weise das typisch
menschliche Prinzip kultureller Entwicklung auf den primär
ERRATUM
biologischen Evolutionsprozess hin zum Menschen, der nur »Das Wackeln und Zittern der Moleküle«, Spektrum Mai
Mutation und Selektion kennt – keinesfalls eine Weitergabe 2019, S. 40
erworbener kognitiver Eigenschaften.
Während der etwa zwei Millionen Jahre dauernden Evo- Im Kasten »Molekülspezifische Vorlieben« (S. 44) fehlt beim
lution der Gattung hin zu Homo sapiens verdoppelte sich dargestellten Naturstoff Miltiradien und seiner Vorstufe (in
das Gehirnvolumen verschiedenster Homo-Varianten in etwa. der Grafik blau gezeichnete Moleküle) eine Methylgruppe.
Gleichzeitig optimierte sich die Faustkeilkultur des Acheu­ Korrekt sieht Miltiradien so aus:
léen kaum. Wie lässt sich diese grundlegende Tatsache mit
angehäufter Vererbung erworbener Erfahrung und verbes-
sertem geistigem Austausch (ebenfalls Suddendorf) erklä-
ren? Und noch paradoxer: Nach zirka 100 000 v. Chr. evol-
viert das Gehirn von Homo sapiens nicht mehr – denn welt­-

Spektrum der Wissenschaft  7.19 95


FUTUR III

Die Überlebenden und die Geheilten


Was passiert, wenn die große Seuche besiegt ist?
Eine Kurzgeschichte von Andrew David Thaler

M
eine Gelenke knacken, während ich mich die Treppe Schweigend nehme ich Platz. Wir sind eine gemischte
zu unserem Besprechungszimmer hinaufquäle. Ich Gruppe aus nicht infizierten Überlebenden und geheilten
lehne mich gegen die Wand, um Atem zu schöpfen. Infizierten, die miteinander ins Gespräch kommen sollen,
Natürlich hätte ich den Aufzug nehmen können und mir »damit die Heilung voranschreitet«. Die Treffen sollten
damit die Schmerzen erspart, aber ich muss gesund wer­ offen und anonym sein, aber die Überlebenden wissen
den. Ich habe Glück. Obwohl die Krankheit meinen Körper gleich, wer die Geheilten sind. Ein Blick auf unsere gebro­
verwüstet hat, kann ich noch gehen. Doch meine Beine chenen, verfaulten Körper genügt. Die meisten Überle­
sind schwach, meine Arme ausgemergelt, mein Gesicht benden vermeiden, von sich zu erzählen. Früher brachte
vernarbt und hohlwangig. Ich bleibe in Bewegung, damit ich zu den Treffen ein Bild meiner Frau mit, in der schwa­
mein Körper weiter ausheilt. Dazu sind wir hier: um zu chen Hoffnung, ein Überlebender würde sie erkennen,
gesunden. doch sie wollen nie ein Blick darauf werfen. Es fällt ihnen
Allerdings weiß ich nicht, warum ich noch teilnehme. schwer, in uns wieder Mitmenschen zu sehen.
Mir nützen diese Treffen nicht viel. Früher spendeten sie Ich verlasse das Treffen vorzeitig und ohne Begleitung.
Trost, aber jetzt sind sie bloß noch langweilig. Da die Über­ Wir Geheilte sind gern mit unseren Gedanken allein.
lebenden vor Kummer, Wut oder Ekel leicht die Beherr­ Schließlich konnten wir eine lange Zeit gar nicht denken.
schung verlieren, können sie sich nur selten uns Geheilten

B
gegenüber öffnen und ihre Erlebnisse mitteilen. Sie sind eim Laden an der Ecke mache ich Halt, um ein
Kämpfer, das mussten sie sein. Ein Nichtinfizierter überleb­ bisschen Essen für Frau Richmond zu kaufen. Sie
te nicht, wenn er weich war. Sie verinnerlichten alles. Viele arbeitete als Krankenschwester, als die Seuche
wurden so von Schuldgefühlen aufgefressen, dass sie nicht ausbrach und ihr Mann und ihr Enkel angesteckt wurden.
mehr weiterwussten. Selbstmorde von Überlebenden sind Sie ist eine zähe, geradlinige Person, und nie sah sie
heute alltäglich. sich Horrorfilme an. Während die Nachbarn Freunde und
Verwandte erschossen, versteckte sie ihre Lieben un­
auffällig im Keller und fütterte sie, so gut es ging. Im Lauf

Wir wussten nicht, der Jahre rettete sie Dutzende Infizierte, mich einge­
schlossen, vor dem tobenden und zunehmend verzwei­

was wir taten,


felten Mob.
Das kann nicht leicht gewesen sein. Einmal, erzählt
sie mir, bekam ein früherer Nachbar, der nun die örtliche

während unsere Körper Bürgerwehr anführte, Wind von ihrer heimlichen Tätig­
keit. Die Konfrontation endete nach einem zweitägigen

zusehends verfielen Stellungskrieg zwischen ihr und vier oder fünf Miliz­
angehörigen. Frau Richmond will noch immer nicht
sagen, wie der Streit gelöst wurde. Sie ist zäh.
Ihr verdanke ich mein Leben. Mich um ihre Einkäufe
Ich kann mich an überhaupt nichts erinnern. Wirklich. In zu kümmern, ist das Mindeste, was ich tun kann.
einem Moment liegen meine Frau und ich fieberkrank im Herr Richmond begrüßt mich, als ich in seine Straße
Bett und husten uns die Seele aus dem Leib, und im nächs­ einbiege. Er war früher Arzt. Er und Frau Richmond
ten wache ich an ein Krankenhausbett gefesselt auf, mit lernten sich in dem Krankenhaus kennen, in dem die
verkümmerten Gliedmaßen und zerstörtem Körper. Es ersten Seuchenopfer angeliefert wurden. Obwohl seit
dauerte danach Tage, bis ich ahnte, was geschehen war, Langem pensioniert, besuchte er seine Frau jeden
und Monate, bis ich damit klarkam. Mein Heim war von Tag in der Mittagspause. Er war einer der ersten Infizier­
einer der vielen durch die Stadt tobenden Feuersbrünste ten, und sein Körper siechte mit den Jahren dahin,
vernichtet worden. Ich weiß bis heute nicht, wo meine Frau bis er im Rollstuhl saß und kaum sprechen konnte. Doch
steckt und was aus ihr wurde. sein Geist ist klar, und das ist für uns alles, was zählt.

96 Spektrum der Wissenschaft  7.19


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Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Carsten Könneker M. A. (v.i.S.d.P.)


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Seither wohne ich bei den Richmonds und schlafe noch Assistenz des Chefredakteurs: Lena Baunacke
immer auf einem kleinen Klappbett in ihrem Keller. Obwohl Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Postfach 10 48 40,
69038 Heidelberg, Hausanschrift: Tiergartenstraße 15–17, 69121 Heidelberg,
ich mich an die Zeit im Versteck nicht erinnere, fühle ich Tel.: 06221 9126-600, Fax: 06221 9126-751, Amtsgericht Mannheim, HRB 338114
mich dort am sichersten. Geschäftsleitung: Markus Bossle
Auf dem Bildschirm im Wohnzimmer laufen die Nach­ Herstellung: Natalie Schäfer
richten. Noch ein Massenselbstmord von Überlebenden, Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel.: 06221 9126-741,
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die mit dem Sieg über die Seuche nicht klarkommen.
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Dieses Mal von der Brücke. Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Dr. Markus Fischer, Dr. Claudia Hecker,
Man kann ihnen kaum einen Vorwurf machen. Wir Dr. Michael Springer.
Infizierten waren unersättlich. In unserem kranken Wahn Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser, Ilona Keith,
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brachten wir unzählige Nichtinfizierte um. Wir wussten
Vertrieb und Abonnementverwaltung: Spektrum der Wissenschaft
nicht, was wir taten, während unsere Körper zusehends ­Verlags­gesellschaft mbH, c/o ZENIT Pressevertrieb GmbH, Postfach 81 06 80,
verfielen. Für die Überlebenden waren wir wandernde, 70523 Stuttgart, Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366,
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langsam verwesende Leichen. Es muss entsetzlich gewe­ Bezugspreise: Einzelheft € 8,90 (D/A/L), CHF 14,–; im Abonnement
sen sein. Die Nichtinfizierten nannten uns Zombies und (12 Ausgaben inkl. Versandkosten Inland) € 93,–; für Schüler und Studenten
gegen Nachweis € 72,–. PDF-Abonnement € 63,–, ermäßigt € 48,–.
begannen nach dem Vorbild gängiger Horrorfilme eine
Zahlung sofort nach Rechnungserhalt. Konto: Postbank Stuttgart,
Ausrottungskampagne gegen uns. Es lief genau ab wie im IBAN: DE52 6001 0070 0022 7067 08, BIC: PBNKDEFF
Gruselkino: Horden von »Untoten« gegen eine zusammen­ Die Mitglieder des Verbands Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in
Deutschland (VBio) und von Mensa e. V. erhalten Spektrum der Wissenschaft
gewürfelte Gruppe von Überlebenden, die kaum eine zum Vorzugspreis.
Chance hatten. Anzeigen: Karin Schmidt, Markus Bossle, E-Mail: anzeigen@spektrum.de,
Und dann fand jemand ein Gegenmittel. Auf einmal war Tel.: 06221 9126-741

alles anders: Die grauenhaften Untoten verwandelten sich Eine Anzeigenbuchung ist auch über iq media marketing gmbH möglich.
Ansprechpartnerin: Anja Väterlein, E-Mail: anja.vaeterlein@iqm.de
in pflegebedürftige Kranke. Druckunterlagen an: Natalie Schäfer, E-Mail: schaefer@spektrum.de
Wir wurden behandelt, und die Seuche war bald besiegt. Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 40 vom 1. 1. 2019.
Die Überlebenden nannten uns nun Geheilte. Wir haben Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH & Co. KG, Markt-
weg 42–50, 47608 Geldern
keine Erinnerung mehr an die grässliche Welt, die durch die
Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der Spektrum der
Krankheit entstand. Die meisten Menschen wurden damals Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche Nutzung des Werks, insbeson­
zu bewusstlosen Zombies, welche die wenigen Nicht­ dere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wiedergabe oder öffentliche
Zugänglichmachung, ist ohne die vorherige schriftliche Einwilligung des Verlags
infizierten durch eine filmreife Höllenlandschaft verfolgten. unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung des Werks ohne die Quellenangabe in
Aber es waren die Überlebenden, die zu Monstern der nachste­henden Form berechtigt den Verlag zum Schadensersatz gegen den
oder die jeweiligen Nutzer. Bei jeder autorisierten (oder gesetzlich gestatteten)
wurden.  Nutzung des Werks ist die folgende Quellenangabe an branchenüblicher Stelle
vorzunehmen: © 2019 (Autor), Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft
mbH, Heidelberg.
Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die
Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen. Auslassungen in
Zitaten werden generell nicht kenntlich gemacht.
ISSN 0170-2971
© Springer Nature Limited
www.nature.com SCIENTIFIC AMERICAN
Nature 495, S. 276, 14. März 2013 1 New York Plaza, Suite 4500, New York, NY 10004-1562
Editor in Chief: Mariette DiChristina, President: Dean Sanderson, Executive Vice
President: Michael Florek
DER AUTOR

Andrew David Thaler erforscht die Ökologie und den


Schutz von hydrothermalen Quellen am Grund der Erhältlich im Zeitschriften-
und Bahnhofsbuchhandel
Tiefsee. Für den populärwissenschaftlichen Blog und beim Pressefachhändler
»Southern Fried Science« (southernfriedscience.com) mit diesem Zeichen.
schreibt er über Meereswissenschaft.

Spektrum der Wissenschaft  7.19 97


Das Augustheft ist ab 20. 7. 2019 im Handel.

VORSCHAU

GARRYKILLIAN / GETTY IMAGES / ISTOCK

CENTRO DI MEDICINA RIGENERATIVA (CMR) UNIMORE


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DURCH GENTHERAPIE
Mit genetisch verändertem, künstlich
gezüchtetem Körpergewebe haben
Mediziner einen Jungen gerettet, der
an einer Erbkrankheit mit schwersten
Hautschäden litt. Ähnliche Techniken
könnten auch gegen Diabetes,
­Drogensucht und andere Störungen
helfen.

BODNARCHUK / GETTY IMAGES / ISTOCK


DOCH KEINE QUANTENGRAVITATION?
Bisher sind alle Versuche gescheitert, eine Quantentheorie der
Gravitation zu entwickeln. Manche Physiker sehen inzwischen der
Möglichkeit ins Auge, dass ihr Vorhaben gar nicht realisierbar ist.
NEUE SERIE
Sie erwägen eine Theorie, der zufolge die Schwerkraft wie von
Einstein beschrieben kontinuierlich verläuft, während in der Teilchen­
physik weiterhin alles in Häppchen auftaucht. Doch dazu müssen
GOLD
sie ihr Verständnis der Quantenphysik grundlegend überdenken. Was treibt Menschen seit Jahrtausen­
den dazu, nach dem Edelmetall zu
suchen und daraus die kunstvollsten
Dinge herzustellen? Seit einigen Jah­
ren fahnden Archäologen und Metall­
DER EXOPLANET urgen, Kulturanthropologen und His-
NASA / JPL-CALTECH

toriker gemeinsam nach Antworten.


NEBENAN
Die Venus ist so groß wie
die Erde und begann unter
ähnlich lebensfreundlichen
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Was steckt hinter der unter­ Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
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98 Spektrum der Wissenschaft  7.19


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