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EDITORIAL

Hartwig Hanser
Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

AUTOREN IN DIESEM HEFT

Mythen – damals und heute

M ythen sind Erzählungen, mit denen Menschen die Welt sowie ihre eigene Stellung in
ihr zu erklären versuchen und in einen größeren Zusammenhang einbetten. Dabei
­bedienen sie sich in der Regel übernatürlicher Elemente, beschreiben Dinge, die über die
Dale W. Laird (links), Paul D.
Lampe (Mitte) und Ross G.
Johnson ­berichten ab S. 24 über
­alltägliche Erfahrung hinausgehen und für die sich oft gar keine Worte finden lassen. Ver­ ihre langjährige Erforschung
mutlich gibt es Mythen, seit der Mensch anfing, über Grundbedürfnisse wie Essen, Sex und der »Gap Junctions«, die ein
Selbstbehauptung hinauszudenken – frühe Hinweise darauf liefern schon Neandertaler­ aufwändiges Kommunikations-
gräber. system der Zellen in unserem
Entsprechend interessieren sich auch Forscher bereits seit Längerem für das Thema. Zu ih­ Körper bilden.
nen ­gehört der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1908 – 2009), der Grundmuster
und elementare Bausteine (»Mytheme«) identifizierte und den Zusammenhang mit Kultur
und Denken herausarbeitete. Anders ging der Amerikaner Joseph Campbell (1904 – 1987) vor.
­Seine vergleichende Mythenforschung suchte nach Universalien, wobei er tiefenpsychologi­
sche Aspekte berücksichtigte. Bekannt wurde er durch seine detaillierte Erkundung des My­
thentyps der Heldenreise, nach dem inzwischen fast jeder Hollywood-Blockbuster funktio­
niert, allen voran »Star Wars« von George Lucas, der sich ausdrücklich auf Campbell berief.
Neben den Heldengeschichten von der »Odyssee« bis zum »Herrn der Ringe« gibt es aber Eine Immunisierung gegenüber
noch ganz andere Typen, die weniger eine spannende Story erzählen als vielmehr Situatio­ Grippeerregern kann dazu
nen darstellen, die ein Licht auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt werfen. Dazu führen, dass der Körper auf nach-
gehören Welterschaffungsmythen, Gründungslegenden wie jene der Stadt Rom sowie Aus­ folgende Infektionen nicht mehr
einandersetzungen mit den Grenzen und der Fehlbarkeit des Menschen – etwa die griechi­ so effektiv reagiert. Dieses ver-
schen Sagen von Ikarus oder Prometheus, aber auch viele biblische Überlieferungen. blüffende Phänomen untersucht
Da Mythen die längste Zeit mündlich weitergegeben wurden, veränderten sie sich natur­ der Epidemiologe Adam J.
gemäß immer wieder und passten sich dabei an neue Umstände an. Diese zeitliche Entwick­ Kucharski mit Hilfe mathema-
lung stand bislang kaum im Fokus der Aufmerksamkeit von Forschern. Jetzt hat sich der tischer Modelle (S. 32).
­junge französische Anthropologe Julien d’Huy vom Centre d’études des mondes africains in
­Paris eingehend damit beschäftigt (S. 66). Dazu nutzte er modernste Computeralgorithmen
ähnlich jenen, mit denen Genetiker evolutionäre Stammbäume von Organismen konstruie­
ren. So gelang es d’Huy, exemplarisch drei Mythenfamilien auf ihre Urformen zurück­
zuführen. Gleichzeitig geben seine Forschungen Aufschluss über die Wanderungsbewegun­
gen der Menschen in der Steinzeit.

K ein Mythos ist leider die alljährlich wiederkehrende Grippewelle, die auch jetzt wieder
auf uns zurollt. Warum ältere Menschen ebenso wie Kinder eine bessere Widerstands­
kraft gegenüber den auslösenden Viren haben als jüngere Erwachsene, erklärt der Epidemio­
Die Teilchenphysiker Rolf Ent
(links), Thomas Ullrich (Mitte)
und Raju Venugopalan beschrei-
loge Adam J. Kucharski ab S. 32. Außerdem stellt unser Artikel aktuelle Forschungen zur Ent­ ben ab S. 58, warum wir über
wicklung eines Universalimpfstoffs vor, der die jährliche Spritze überflüssig machen könnte. die Gluonen noch immer so
wenig wissen – und wie sich das
Herzlich Ihr ändern soll.

WWW.SPEKTRUM.DE 3
INHALT

3 Editorial 10 Forschung aktuell: Die Nobelpreise

6 Spektrogramm Nobelpreis für Chemie Nobelpreis für


Frühes Säugetier mit Stachelfell • Ver- Mechanismen zur Repara- Wirtschaftswissenschaften
eisungsschutz für Oberflächen • Glet- tur fehlerhafter DNA Konsumverhalten,
scherspalten auf Saturnmond • Schlaf Lebensplanung und
bei Naturvölkern • Künstlicher Tast- Nobelpreis für Physik Armutsbekämpfung
sinn • Neutronenwirbel in Pulsaren Neutrinos sind überra-
schend wandelbar SPRINGERS EINWÜRFE
9 Bild des Monats Muss Verhütung Frauen-
In Pollen getränkt Nobelpreis für Medizin sache bleiben?
Durchschlagende Waffen Konkrete Hoffnung auf
gegen Parasiten die Pille für den Mann

24 ............................................................................................................... BIOLOGIE & MEDIZIN

24 Wie Zellen sich unterhalten


Gap Junctions erlauben es den Bausteinen unseres Kör-
pers, untereinander Informationen auszutauschen – über
aufwändige Kanalsysteme.
Dale W. Laird, Paul D. Lampe und Ross G. Johnson

32 Der blinde Fleck der Immunabwehr


r

Eine überstandene Grippeinfektion schützt nicht unbe-


dingt vor ein wenig veränderten Erregern. Warum das so
PETER KRAEMER
ist, erklärt die »Antigenerbsünde«.
Adam J. Kucharski
46
40 Köstliche Früchte ohne Gentechnik
Der Geschmack von Obst und Gemüse geht beim Züchten
oft verloren. Jetzt gibt es molekulare Methoden, das Aroma
zurückzugewinnen.
Ferris Jabr

........................................................................................................ PHYSIK & ASTRONOMIE

SERIE »100 JAHRE ALLGEMEINE RELATIVITÄTSTHEORIE« TEIL 3


46 Warten auf die Welle
r

Vor 100 Jahren sagte Albert Einstein Gravitationswellen


NUMERISCHE SIMULATION: C. REISSWIG (AEI), L. REZZOLLA (AEI/ITP); WISSENSCHAFTL. VISUALISIERUNG: M. KOPPITZ (AEI/ZIB)
vorher. Mit neuen Detektoren hoffen Physiker die Schwin-
56 gungen der Raumzeit endlich direkt nachzuweisen.
Felicitas Mokler

SCHLICHTING!
56 Kunst unter der Eisdecke
Gefrierende Wasserflächen formen oft seltsame Strukturen.
H. Joachim Schlichting

58 Der Klebstoff der Welt


r

Gluonen halten die Materiebausteine zusammen. Aber


noch ist vieles an diesen Teilchen rätselhaft, denn sie sind
in Experimenten kaum fassbar.
Rolf Ent, Thomas Ullrich und Raju Venugopalan
H. JOACHIM SCHLICHTING

4 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


r TITELTHEMA

ANTHROPOLOGIE

66 Die Urahnen
der großen Mythen
Julien d’Huy

Mit den Algorithmen der Genetiker verfolgen


Anthropologen und Ethnologen die Evolution von
Mythenfamilien wie zum Beispiel der »Polyphem«-
Überlieferung zurück bis in vorgeschichtliche
Zeit – und rekonstruieren sogar deren Urformen.

74 .......................................................................................................................... ERDE & UMWELT

74 Dem Wandel gewachsen


r

Damit Kanadas Wälder fit für die Erderwärmung wer-


den, sollen aus südlicheren Regionen eingeführte Bäume
ihre Gene für Hitzetoleranz darin verbreiten.
Hillary Rosner

....................................................................................................... TECHNIK & COMPUTER

80 Die Synthesemaschine
TJ WATT (TJWATT.COM)

86 Ein Automat, der selbsttätig kleine organische Moleküle


zusammenbaut, befreit Chemiker von lästiger Routine­
arbeit.
Robert F. Service

MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
86 Computer-Halluzinationen
Neuronale Netze erzeugen Bilder, in die sie Versatzstücke
aus ihrer eigenen Erfahrung hineinfantasieren.
Brian Hayes
MICHAEL TYKA  ET AL., GOOGLE INC. / CC-BY-4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE),
USING NETWORK TRAINED ON PLACES BY MIT COMPUTER SCIENCE AND AI LABORATORY;
GOOGLERESEARCH.BLOGSPOT.DE/2015/06/INCEPTIONISM-GOING-DEEPER-INTO-NEURAL.HTML

93 Wissenschaft im Rückblick 102 Leserbriefe/Impressum


Vom Bruststimmen-Mikrofon zum Moor-
Camembert 104 Futur III
Tian Li: Schlechte Einschaltquoten für Kleopatra
94 Rezensionen
Luc Jacquet: Zwischen Himmel und Eis • Rudolf 106 Vorschau
Taschner: Die Mathematik des Daseins • Tim
Titelmotiv: Bridgeman Images / 2015 Museum of Fine Arts, Boston
Birkhead: Die Sinne der Vögel • Hans Biesalski: (Museum purchase with funds donated in honor of Edward W. Forbes) /
Mikronährstoffe als Motor der Evolution u. a. Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft, Anke Heinzelmann
Die auf der Titelseite angekündigten Themen sind mit r gekennzeichnet.

WWW.SPEK TRUM .DE 5


SPEKTROGRAMM

PALÄONTOLOGIE

Frühes Säugetier mit Stachelfell

A ußergewöhnlich gut erhaltene


Überreste eines frühen Säugetiers
erlauben einen neuen, detaillierten
Haarschäfte, was die Forscher als
Symptom einer Pilzinfektion interpre-
tieren. Das Tier litt demnach an einer
ten wie Haarkleid, Mähne und Ohr­
muscheln.
Nature 526, S. 380 –384, 2015
Blick in die Vergangenheit. Die verstei- Fellerkrankung. Schon frühere Studien
nerten Knochen- und Gewebereste hatten ergeben, dass solche Infektio-
stammen von einem Kleinsäuger, der nen bei heute ausgestorbenen Säugern
vor 125 Millionen Jahren in der Kreide- verbreitet waren.
zeit lebte, also zur Zeit der Dinosaurier. Spinolestes xenarthrosus lässt sich
Sogar Teile der Haut und des Haar- den Eutriconodonta zuordnen, einer
kleids haben die Jahrmillionen über- Säugetiergruppe, die im Erdmittelalter
standen. lebte und in der Oberkreide ausstarb.

ILLUSTRATION: OSCAR SANISIDRO; MIT GENEHMIGUNG DER NATURE PUBLISHING GROUP


Paläontologen um Thomas Martin Skelett- und Zahnmerkmale deuten
von der Universität Bonn haben die darauf hin, dass das Wesen am Boden
Überreste in der Fossillagerstätte Las lebte und möglicherweise graben
Hoyas in Spanien entdeckt. Laut ihren konnte. Insgesamt, schreiben die
Untersuchungen trug das etwa ratten- Forscher, verfügte das Tier schon über
große Tier kleine Stacheln auf dem zahlreiche typische Säugereigenschaf-
Rücken, vergleichbar vielleicht den
Borstenhaaren heutiger Stachelmäuse.
Diesem Merkmal verdankt es seinen Grafische Rekonstruktion eines Spinolestes
Namen Spinolestes xenarthrosus (von xenarthrosus. Forscher haben von diesem
lateinisch: spinosus = stachelig). Einige kreidezeitlichen Säugetier außerordent-
Fellreste zeigen dunkle, verkürzte lich gut erhaltene Überreste gefunden.

PHYSIK

Schutz vor Vereisung

A uf Oberflächen, die sowohl Wasser


anziehende (hydrophile) als auch
Wasser abstoßende (hydrophobe)
Erklärung der Forscher hierfür: Es bil-
den sich zwar in beiden Bereichen
kleine Wasserkugeln, diese verschmel-
Regionen besitzen, entsteht Eis langsa- zen aber an den Grenzen miteinander
mer. Forscher um Amy Betz von der und werden in den hydrophilen Regio-
Kansas State University kehrten von nen eingeschlossen. Die kombinier-
dem üblichen Ansatz ab, die Eisbildung ten Tropfen sind größer und müssen
mit komplett hydrophoben Materia­ mehr Wärme abgeben, um zu erstar-
lien behindern zu wollen. Stattdessen ren. Zudem ist ihre Gesamtoberfläche
Mehr Aktualität! untersuchten sie auf verschiedenen kleiner als die der Vorgängertropfen.
Oberflächen, bei welcher Temperatur Dadurch wird Energie aus Oberflächen-
binnen dreier Stunden die Vereisung spannung frei, was den Gefrierprozess
Auf Spektrum.de einsetzt. weiter verlangsamt.
Auf einem rein hydrophilen Stoff Den Wissenschaftlern zufolge hängt
berichten unsere  erstarrt das Wasser bei knapp unter die Größe des Effekts davon ab, wie
Redakteure täglich aus null Grad Celsius. Bei hydrophoben die hydrophilen und hydrophoben
der Wissenschaft: Flächen dagegen sinkt der Gefrier- Regionen angeordnet sind. Basierend
punkt um etwa ein Grad, da die Trop- auf diesem Prinzip lassen sich mögli-
fundiert, aktuell,  fen schlecht daran haften. Misch­ cherweise Flugzeugflügel, Kühlschrän-
exklusiv. beschichtungen schnitten noch deut- ke oder Klimaanlagen entwickeln, die
lich besser ab – sie erniedrigten den kaum vereisen.
Gefrierpunkt um mehrere Grad. Die Appl. Phys. Lett. 107, 141602, 2015

6 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


PLANETOLOGIE

Gletscherspalten auf Saturnmond

D ie NASA hat erste Nahaufnahmen vom Saturnmond


Enceladus präsentiert, gesendet von der Sonde Cassini.
Die Bilder entstanden, während die Sonde mehrmals an
Ozean und die Geysire sammeln. Wissenschaftler wollen so
herausfinden, ob Enceladus Leben beherbergen kann.
Pressemitteilung der NASA, 15. 10. 2015
dem Himmelskörper vorbeiflog. Aufgabe von Cassini ist es
unter anderem, mehr über die geologische Aktivität des
Monds herauszufinden.
Enceladus besitzt eine dünne Atmosphäre, Fontänen
spuckende Geysire und unter seinem Wassereispanzer
vermutlich einen salzigen Ozean. Wegen der Nähe zu Saturn
und dessen anderen Trabanten wirken Gezeitenkräfte auf
den Mond, die ihn erwärmen und seine Geysire antreiben.
Auf den neuen Aufnahmen sieht man zahlreiche Krater, wie
schon auf den Bildern der Voyager-Sonden, die Anfang der
1980er Jahre entstanden. Weil die Auflösung aber heute
höher ist als damals, sind jetzt auch dünne Grate zu erken-
nen, die die Krater trennen, sowie Spalten und Gräben. Die

NASA / JPL-CALTECH / SPACE SCIENCE


Forscher nehmen an, dass Letztere durch unterirdische
Eisbewegungen entstehen, ähnlich den Gletscherspalten auf
der Erde. Für Aufsehen sorgte das Foto dreier Krater, die in

INSTITUTE
ihrer Anordnung an einen Schneemann erinnern.
Bei weiteren Vorbeiflügen soll sich die Sonde bis auf
50 Kilometer dem Südpol nähern, der aktivsten Region des Enceladus’ Nordpolregion ist von Spalten und Kratern geprägt.
Monds. Dabei soll sie weitere Informationen über den Eine Kraterstruktur ähnelt einem Schneemann (kleines Bild).

PHYSIOLOGIE ISTOCK / GETTY IMAGES / DAN KITWOOD

Ausgeschlafene Naturvölker

V erhaltensforscher um Jerry Siegel


von der University of Los Angeles
beschäftigen sich mit den Schlafge-
Schnitt 3,3 Stunden nach Sonnen­
untergang, bei Hitze fast eine Stunde
später als an kühlen Abenden. Weit­
wohnheiten von Naturvölkern, die gehend unveränderlich ist dagegen der
traditionell als Jäger und Sammler Zeitpunkt, an dem sie aufwachen: kurz
leben – und gewinnen dabei zum Teil vor Morgengrauen. Lediglich die San
überraschende Erkenntnisse. Abgese- im Süden Namibias, wo es ausgeprägte
hen von kleinen Feuerstellen haben Jahreszeiten gibt, verschlafen im
die Indigenen kein künstliches Licht, Sommer die frühen Morgenstunden. Die San sind im südlichen Afrika behei­
das als wichtiger Verursacher von Die beiden anderen Ethnien, die Hadza matet und waren ursprünglich Jäger und
Schlafproblemen gilt. Und tatsächlich (Tansania) und die Tsimane (Bolivien), Sammler. Einige leben noch heute so.
sind ihnen Schlafstörungen so fremd, leben nah am Äquator, wo die Tages-
dass sie keinen Begriff dafür kennen. länge übers Jahr kaum schwankt.
Trotzdem schlummern die Jäger Insgesamt beobachtete das Team lich kann die Kombination von wenig
und Sammler weniger als viele Wohl- 94 Probanden durchschnittlich je zwölf Licht und niedriger Temperatur auch
standsmenschen: durchschnittlich 7,1 Tage lang. Da deren Schlafmuster Wohlstandsmenschen zu einem besse-
Stunden, in Hitzeperioden sogar nur kaum voneinander abwichen, obwohl ren Schlummer verhelfen. Statistiken
5,7. Ihr Schlafrhythmus hängt weniger die Indigenen in sehr verschiedenen zufolge leiden in Deutschland etwa
vom Licht als von der Umgebungs­ Umgebungen leben, spielen Umwelt- 25 Prozent der erwerbstätigen Bevölke-
temperatur ab. Sie legen sich zur Ruhe, einflüsse offenbar nur eine geringe rung an chronischen Schlafstörungen.
wenn es spürbar kälter wird – im Rolle für das Schlafverhalten. Womög- Curr. Biol. 25, S. 1 – 7, 2015

WWW.SPEK TRUM .DE 7


SPEKTROGRAMM

PROTHETIK

Künstlicher Tastsinn

W issenschaftler um Zhenan Bao von der Stanford


­University haben eine weiche Folie entwickelt, die bei
­mechanischem Druck ähnliche Signale erzeugt wie die
Bestimmte Rezeptoren in der Haut, so genannte Merkel-
Zellen, übersetzen Druckeinwirkungen in elektrische Impul-
se, deren Frequenz von der Druckstärke abhängt. Die Impul-
Tastrezeptoren der menschlichen Haut. Damit lassen sich se laufen über Nervenbahnen ins Gehirn. Um jenes System
Hirnneurone direkt stimulieren. Gestützt auf diese Metho- nachzuahmen, versehen die Forscher eine Folie mit einem
de ist es vielleicht möglich, Prothesen zu entwickeln, die feinen Netz aus Schaltkreisen organischen Materials. Diese
ihren Trägern bei Berührung eine sensorische Rückmeldung produzieren periodische Spannungsspitzen, die denen der
geben. An solchen »fühlenden Prothesen« besteht großer natürlichen Rezeptoren ähneln. Um die Frequenz der Span-
Bedarf, sie sind bislang technisch aber kaum realisierbar. nungsspitzen zu regulieren, setzen die Wissenschaftler
piezoresistive Elemente ein, also solche, die ihren elektri-
schen Widerstand druckabhängig verändern. Mit zunehmen-
BAO RESEARCH GROUP, STANFORD UNIVERSITY

dem Druck auf die Folie steigt die elektrische Spannung in


den Schaltkreisen – und mit ihr die Frequenz des Ausgangs-
signals, was dem Verhalten der Merkel-Zellen entspricht.
Die so erzeugten Impulse leitete das Team über feine
Drähte direkt in Gewebe aus dem somatosensorischen
Kortex von Mäusen. In dieser Hirnregion liegen Neurone,
die beim lebenden Tier den Tastsinn repräsentieren. Stimu-
liert von den künstlichen Spannungsspitzen, zeigten sie
natürliche Aktivitätsmuster. In einem weiteren Experiment
brachte das Team die Impulse über Lichtblitze ins Hirn­
gewebe ein, ermöglicht durch eine optogenetische Mani­pu­
lation der Gehirnzellen. Insbesondere die zweite Methode
Dehnbare Folien, bedruckt mit organischen Schaltkreisen, können habe sehr gute Ergebnisse geliefert, so die Forscher.
unseren Tastsinn imitieren. Science 350, S. 313 –316, 2015

ASTRONOMIE

Neutronenwirbel in Pulsaren

P ulsare sind rotierende Neutronen-


sterne mit 10 bis 20 Kilometer
Durchmesser, die Synchrotronstrah-
postulieren, dass nicht nur in der
inneren Kruste, wie bisher angenom-
men, sondern auch im Kern eines
Drehung, so rotiert der suprafluide
Bereich zeitweise schneller als die
äußere Schale. Ab einem bestimmten
lung aussenden. Sie entstehen, wenn Neutronensterns suprafluide, also Geschwindigkeitsunterschied lösen
ein massereicher Stern als Supernova widerstandsfrei fließende Neutronen sich die Wirbel auf und geben Energie
explodiert und sein Kern dabei zu existieren. Dort bilden sich stabile ab, was die Rotation der Kruste be-
einem extrem dichten Objekt kolla- Wirbel, die Rotationsenergie speichern. schleunigt. Laut den Forschern stim-
biert. In der Regel rotieren Pulsare Verlangsamt der Neutronenstern seine men die Vorhersagen dieses Modells
schnell und äußerst regelmäßig. gut mit den verfügbaren astronomi-
FOTOLIA / PITRIS [M]

Manchmal jedoch beschleunigen sie schen Messungen überein.


ihre Drehbewegung kurz und bremsen Daraus leiten die Wissenschaftler
dann langsam wieder ab. Diese so zudem einen Zusammenhang zwi-
genannten Glitches sind eigentlich schen Temperatur, Masse, Radius und
wegen der Energie- und Impulserhal- Rotationsgeschwindigkeit von Pulsa-
tung unmöglich: Ein rotierendes ren ab, anhand dessen sich die Masse
Objekt sollte ohne Fremdeinwirkung solcher Objekte bestimmen lässt.
nur langsamer, aber nicht schneller Anders als bei bisherigen Methoden
werden. funktioniert das sogar bei Neutronen-
Astronomen um Wynn Ho von der Künstlerische Darstellung eines Pulsars. sternen, die sich ohne Partner durchs
University of Southampton können Mit ihrer hohen Massendichte verzerren All bewegen.
die Beobachtung nun erklären. Sie diese Neutronensterne die Raumzeit stark. Sci. Adv. 1, e1500578, 2015

8 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


BILD DES MONATS

IN POLLEN GETRÄNKT
Beim jährlichen »Nikon Small World«-Wettbewerb zeichnet der japanische Hersteller von Präzisionsoptik
besonders gelungene Mikroskopaufnahmen aus. Das Siegerbild 2015 zeigt die Facetten eines Bienenauges
inmitten zahl­reicher Löwenzahnpollen. Der australische Lehrer Ralph Claus Grimm verwendete dazu ein
­Licht­mikroskop mit 120-facher Vergrößerung. Er hat früher selbst Bienen gezüchtet und möchte mit dieser
ungewöhnlichen Perspek­tive auch den Wert der Tiere für die Bestäubung in den Fokus rücken.

RALPH CLAUS GRIMM (JIMBOOMBA, QUEENSLAND, AUSTRALIEN)

WWW.SPEK TRUM .DE 9


FORSCHUNG AKTUELL

NOBELPREIS FÜR CHEMIE

DNA-Reparatur gegen Krebs und Altern


Tomas Lindahl, Paul Modrich und Aziz Sancar ergründeten, wie die Zelle Schäden im Erbgut ausbessert.
Für ihre bahnbrechenden Erkenntnisse erhielten sie nun den Chemienobelpreis.

VON LARS FISCHER

Tomas Lindahl (links) war Gruppenleiter


THE FRANCIS CRICK INSTITUTE

DUKE UNIVERSITY

MAX EGLUND, UNC SCHOOL OF MEDICINE


am Francis Crick Institute in London und
Direktor von Cancer Research UK am
Clare Hall Laboratory in Hertfordshire.
Paul Modrich (Mitte) forscht am How-
ard Hughes Medical Institute und ist
Professor für Biochemie an der Duke
University in Durham (North Carolina).
Aziz Sancar (rechts) ist Professor für Bio-
chemie und Biophysik an der University
of North Carolina in Chapel Hill.

D as Erbgut kann einiges wegstecken.


Es erfüllt seine Aufgabe zuverläs-
sig über Jahrzehnte und Dutzende von
im schlimmsten Fall einen Totalscha-
den verursachen.
Was macht das Erbgut so robust? Ei-
solche Schäden zu reparieren, sorgt da-
für, dass unser Genom stabil bleibt«, er-
klärt die Molekularbiologin Anna Müll-
Zellteilungen, wie das dauerhafte Funk- nen Teil der Antwort fanden in den ner vom Deutschen Krebsforschungs-
tionieren unserer unzähligen Körper- 1970er und 1980er Jahren Aziz Sancar, zentrum in Heidelberg. Das sei auch
zellen belegt. Selbst über hunderte und Tomas Lindahl und Paul Modrich, wo- deshalb wichtig, weil DNA-Defekte uns
tausende Generationen bleiben die in- für sie nun den Chemienobelpreis er- schneller altern lassen und Krebs för-
formationstragenden Basenfolgen in- hielten. Die drei Forscher entschlüssel- dern. Tatsächlich sind in manchen Tu-
takt, obwohl sie jeden Tag unzählige ten damals mehrere Mechanismen, mit morzellen einige Reparaturmechanis-
chemische und physikalische Angriffe denen Zellen Fehler in ihrem Erbgut men außer Kraft gesetzt.
erleiden und selbst kleine Mutationen finden und beheben. »Die Fähigkeit, Lange bevor der Träger der Erbinfor-
mation bekannt war, wusste man be-
reits: Röntgenstrahlen und vergleich-
Bei der von Tomas Lindahl ent- bare Einflüsse können Zellen auf mys-
JOHAN JARNESTAD / THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES

deckten Basenexzisionsrepara­ T C T T C T
teriöse Weise töten oder dauerhaft
tur entfernen Enzyme einzelne 1 G
2 G
verändern. Als Grund stellte sich in den
A G A A G A
falsche Basen aus dem DNA- C U 1940er Jahren heraus, dass sie Schäden
Molekül und ersetzen sie durch an der inzwischen als Erbmolekül iden-
korrekte. Das ist zum Beispiel Cytosin verliert leicht eine Uracil kann kein Basen- tifizierten DNA verursachen.
nötig, wenn sich Cytosin durch Aminogruppe und verwan- paar mit Guanin mehr Eine zweite Beobachtung aus jener
delt sich dabei in die Base bilden.
Desaminierung in Uracil ver- Uracil.
Zeit führte die Forscher auf die Spur der
wandelt hat. DNA-Reparatur: Zellen überlebten eine
an sich tödliche Dosis Röntgenstrah-
lung, falls sie direkt danach in blauem
3 T
G
C T
4 T
G
C T
5 T
G
C T
Licht badeten. Und wenn sie durch UV-
A G A A G A A G A
C Strahlung die Fähigkeit eingebüßt hat-
ten, zu wachsen und sich zu teilen, ver-
half ihnen die gleiche Behandlung zu
U
neuer Vitalität. Als verantwortlich für
Das Enzym Glycosylase Weitere Enzyme Die DNA-Polymerase füllt die überraschenden Heilkräfte des
entdeckt den Fehler entfernen den Rest die Lücke auf, und die DNA-
und schneidet das Uracil des Nukleotids aus Ligase schließt den DNA- Blaulichts erwies sich ein Enzym na-
heraus. dem DNA-Strang. Strang wieder. mens Photolyase.

10  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


T Thymin G Guanin
+ +
Dieses Molekül faszinierte den Me- Der Aufbau der DNA A Adenin C Cytosin
diziner Aziz Sancar so sehr, dass er es
Mitte der 1970er Jahre zum Gegenstand Ein Chromosom enthält doppelsträngige DNA, die
seiner Doktorarbeit machte. Unzufrie- aus Nukleotiden mit vier unterschiedlichen Basen
besteht. Adenin paart sich stets mit Thymin und
den mit seiner Tätigkeit als Landarzt in Guanin mit Cytosin. Die 46 Chromosomen der
der Türkei, war er in die USA gegangen, DNA-Helix menschlichen Zelle umfassen insgesamt sechs
um an der University of Texas in Austin Milliarden solcher Paare aus komplementären Basen.

Molekularbiologie zu studieren. Tat- G A C G T A G G T A C C T G T


sächlich gelang ihm 1976, das Photo­
lyase-Gen in Bakterien zu klonieren
C T G C A T C C A T G G A C A
und große Mengen des Enzyms zu ge- Chromosom
winnen. Allein, sein Ergebnis begeister-
te niemanden. Sämtliche Bewerbungen
auf Postdocstellen, an denen er seine C T T C T C T T T
G A A G A
Arbeit hätte fortführen können, stie-
ßen auf Ablehnung. So blieb ihm nichts A A
A C T
G A A
anderes übrig, als eine Stelle als Techni- C T G
ker an der Yale University in New Haven
T
(Connecticut) anzunehmen, um über- neuer DNA-Strang
haupt die Möglichkeit zu haben, weiter

A
über die DNA-Reparatur zu forschen.
neuer

G
Auf demselben Gebiet tummelte
DNA-Strang
sich damals auch Tomas Lindahl, der

T
­jedoch auf ganz anderem Weg dorthin
A

Wenn eine Zelle sich teilt, werden sämtliche


gelangt war. Der schwedische Krebs­
Chromosomen verdoppelt. Dazu trennen die
A
T

forscher hatte sich gefragt, wie stabil beteiligten Enzyme die Doppelhelix in die
die DNA unter normalen Umständen beiden Einzelstränge und erzeugen zwei neue
C
G

Gegenstränge, indem sie komplementäre


ist – also wenn man sie nicht gerade Basen anfügen.
mit Röntgenstrahlung gezielt schädigt.
T

Schon die Intuition sagt, dass kein Mo-


C

lekül der Welt ewig überdauert, und


G

schon gar kein so großes wie die Erb-


T

substanz. In der Tat erleidet zum Bei-


A

JOHAN JARNESTAD / THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES


spiel die 3,3 Milliarden Basenpaare lan-

JOHAN JARNESTAD / THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES

UV-Strahlung

T T T

A A A
A A Die von Aziz Sancar
aufgeklärte Nukleo-
tidexzisionsreparatur
1 UV-Strahlung kann benachbarte
Thymin-Basen (T) verknüpfen und
2 Das Enzym Exinuclease erkennt den Schaden,
durchtrennt den DNA-Strang vier Basen unterhalb und behebt Schäden
so von den Adenin-Basen (A) lösen. acht oberhalb davon und entfernt zwölf Nukleotide. durch UV-Strahlung
oder karzinogene
Substanzen, wie sie
T T T A G T A T T A T im Zigarettenrauch
A A A A
enthalten sind. Da-
bei wird ein größeres
DNA-Stück heraus-
geschnitten und
3 Die DNA-Polymerase füllt die entstandene Lücke,
indem sie einen neuen komplementären Strang synthetisiert.
4 Die DNA-Ligase verschweißt die
Enden. Der Schaden ist behoben. ersetzt.

WWW.SPEK TRUM .DE 11


FORSCHUNG AKTUELL

1 fehlerhafte Originalstrang mit 2 mutH


3 mutH

Basenpaarung Methylgruppen Beim Kopieren der


DNA vor jeder Zelltei-
mutL lung setzt die DNA-
mutS
Polymerase gelegent-
copy
mutL mutL mutS
lich eine falsche Base
ein. Die meisten
mutS
Zwei Enzyme namens mutS und Das Enzym mutH erkennt Methylgruppen Der neue Strang
mutL entdecken die Fehlpaarung. auf der DNA. Nur der Originalstrang, der als wird aufgeschnitten ...
solchen Fehlpaarun-
Matrize beim Kopiervorgang diente, trägt gen erkennt die
solche Gruppen.
Replikationsmaschi-

JOHAN JARNESTAD / THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES


nerie selbst und
4 mutH 5 repariert sie sofort.
Zur späteren Korrek-
tur der verbliebenen
mutL Fehler gibt es ein wei-
teres System, dessen
genaue Funktions-
mutS
weise Paul Modrich
Die DNA-Polymerase füllt die Lücke,
... und der fehlerhafte Abschnitt entfernt. und die DNA-Ligase verschweißt die Enden. aufgeklärt hat.

ge DNA des Menschen in der Zelle unter für, dass das Enzym sie aus der Erbsub- gleich einen ganzen Abschnitt der DNA
normalen Umständen pro Tag mehrere stanz entfernt hatte. heraus – jedoch nur am beschädigten
tausend potenziell verhängnisvolle Wie Lindahl in den nächsten Jahren Strang; sein Gegenstück bleibt erhal-
Verletzungen. Sie wird oxidiert oder feststellte, war die Glycosylase nur der ten. Dadurch können Reparaturenzy-
methyliert, ja verliert sogar ganze Ba- erste Vertreter einer großen Gruppe me anschließend die ursprüngliche
sen, die als Buchstaben des genetischen ähnlicher Proteine, die alle vergleichba- Doppelhelix wiederherstellen.
Alphabets dienen. Zudem kann der Erb- re Funktionen haben: Sie schneiden Nach diesen Entdeckungen durfte
faden, die spiralförmige Doppelhelix, einzelne beschädigte Basen aus der sich Sancar dann doch wieder seiner
einfach reißen. DNA, so dass andere Reparaturenzyme zunächst verpönten Photolyase-For-
Besonders faszinierte Lindahl ein die Lücke füllen können. schung widmen, und 1982 gelang es
ebenso häufiger wie gefährlicher Vor- Derweil erwies sich Yale für Sancar ihm schließlich, auch den chemischen
gang: Die Base Cytosin kann spontan als Glücksgriff. Er entwickelte dort eine Wirkmechanismus dieses Enzyms auf-
eine Aminogruppe verlieren. Dabei ver- Methode, mit Hilfe UV-geschädigter zuklären. Bis heute untersucht Sancar
wandelt sie sich in Uracil. Bei der Zell- Bakterienzellen die zu bestimmten Ge- die betreffenden Reparaturmechanis-
teilung unterscheiden sich beide Mole- nen gehörenden Proteine zu identifi- men und hat dabei unter anderem fest-
küle jedoch dramatisch. Während Cyto- zieren. Damit untersuchte er, unter- gestellt, dass sie an die »innere Uhr« ge-
sin mit Guanin ein Paar bildet, bindet stützt von seinem Kollegen Dean Rupp, koppelt sind.
sich Uracil an Adenin. Sobald sich die drei Gene, die für die DNA-Reparatur
Zelle also teilt und ihre DNA verdop- wichtig schienen; fehlte auch nur eines Fehler bei der DNA-Verdopplung
pelt, taucht an dieser Stelle ein neues von ihnen, waren die Zellen viel anfälli- Doch nicht nur äußere Einflüsse verur-
Basenpaar auf. ger für Schäden durch UV-Licht. sachen Schäden im Erbgut. Wie alle Me-
Wie Lindahl erkannte, treten derarti- Nachdem Sancar und seine Arbeits- chanismen der Zelle ist auch die DNA-
ge Mutationen viel zu oft auf, als dass gruppe größere Mengen der drei Pro­ Verdoppelung nicht fehlerfrei. Obwohl
das Erbgut über Generationen stabil teine mit den Namen UvrA, UvrB und die Polymerasen über eine integrierte
bleiben könnte. Folglich muss es Me- UvrC gewonnen hatten, begannen sie, Fehlerkorrektur verfügen, enthält der
chanismen geben, die solche Schäden deren Funktionsweise zu erforschen. frisch gefertigte Strang im Mittel zwei
rückgängig machen. In seinen Arbeiten UV-Strahlung bringt die DNA-Basen falsche Basen pro Million. In solchen
identifizierte der Nobelpreisträger ein dazu, chemisch miteinander zu reagie- Fällen treffen zwei normale, aber nicht
Enzym namens Glycosylase, welches ren. Als Folge davon kann die Zelle ihr zueinander passende Basen aufeinan-
das unerwünschte Uracil aus der DNA Erbgut weder korrekt auslesen noch bei der. Eine davon müssen die Reparatur-
herausschneidet. Wenn er uracilhaltige der Zellteilung verdoppeln. Um diesen enzyme entfernen, aber welche? Die
DNA mit ihm zusammenbrachte, rei- Defekt zu beheben, reicht es nicht Chance ist 50 zu 50, dass sie die falsche
cherte sich die defekte Base langsam in mehr, eine einzelne Base zu entfernen. wählen. Wenn die Zelle solche Fehlpaa-
der Lösung an – ein klares Zeichen da- Sancars Proteine schneiden deshalb rungen nach dem Zufallsprinzip korri-

12  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


gieren würde, entstünden also bei jeder versity in Cambridge (Massachusetts) zu rekonstruieren und sein Wirken im
Zellteilung im Menschen mehr als 3000 eine Vermutung. Demnach waren die Detail zu entschlüsseln.
neue Mutationen. Das wäre ein biss- Methylgruppen für ein weiteres uner- Modrich gehört zu jenen Forschern,
chen viel. klärtes Phänomen verantwortlich: In die den Nobelpreis nicht einer genialen
Die Reparaturkolonne der Zelle muss einem Doppelstrang mit Fehlpaarun- Eingebung verdanken, sondern sich ihre
also erkennen, welches der alte, korrekte gen verändern Enzyme bevorzugt den- bahnbrechenden Ergebnisse ausgehend
DNA-Strang ist. Tatsächlich hat die Evo- jenigen von beiden, der kein solches von einer Grundidee über Jahre erarbei-
lution auch für dieses Problem eine Lö- Anhängsel trägt. Zu Beginn der 1980er tet haben. Auch Sancar und Lindahl bau-
sung ersonnen. Auf sie stieß der dritte Jahre begannen Modrich und Meselson ten ihre ersten Einsichten in der Folge-
Nobelpreisträger, Paul Modrich, wäh- diese Hypothese zu testen. Zuerst be- zeit entscheidend aus. Insofern würdigt
rend seiner Arbeit an verschiedenen stätigten sie anhand unterschiedlich das Nobelkomitee mit dem diesjährigen
Molekülen, die allesamt mit der DNA in- methylierter DNA-Doppelstränge, dass Preis für Chemie nicht nur bedeutende
teragieren. Eines davon, die Dam-Me- tatsächlich derjenige ohne die Methyl- Erkenntnisse auf einem zentralen Ge-
thylase, hängt aus mysteriösen Grün- gruppen eher ausgebessert wurde. biet der Genetik, sondern zugleich drei
den ein Kohlenstoffatom samt dreier Dann entwickelte Modrich einen syste- ausgesprochen produktive Forscherkar-
Wasserstoffe an die DNA. Was diese Me- matischen Weg, die Reparatur zu erfas- rieren, die weniger durch Heureka-Er-
thylgruppe dort sollte, wusste niemand, sen und zu messen. Schließlich identifi- lebnisse als durch beharrliche, mühevol-
als Modrich an der Duke University in zierte er die beteiligten Enzyme nebst le Arbeit geprägt waren.
Durham (North Carolina) mit seinen ihren Kofaktoren und isolierte sie. Als
Untersuchungen begann. eindrucksvolle Krönung seiner Arbeit Lars Fischer ist studierter Chemiker, Mitglied
Immerhin hatte sein Kollege Mat- schaffte er es 1989, das komplette En- der Redaktion von »Spektrum.de« und Leiter des
thew Meselson von der Harvard Uni- zymsystem außerhalb lebender Zellen Blogportals »Scilogs«.

NOBELPREIS FÜR PHYSIK

Teilchen, wechsle dich


Neutrinos lassen sich nur extrem schwer aufspüren. Umso aufwändiger war es fest-
zustellen, dass sie entgegen der Vorhersage des Standardmodells eine Masse 
besitzen. Diese Leistung wird mit dem Nobelpreis für Physik 2015 ausgezeichnet.

VON PHILIPP HUMMEL


KAVLI FOUNDATION

K. MACFARLANE / QUEENS UNIVERSITY / SNOLAB

Takaaki Kajita (links) spürte Neutrinos am Detektor Kamiokande und


dessen Nachfolger Super-Kamiokande in Japan auf. Er stellte fest, dass
Myonneutrinos, die in der Erdatmosphäre entstehen, auf ihrem Weg
durch die Erde scheinbar verloren gehen – der erste Hinweis darauf,
dass sie sich in andere Neutrinotypen umwandeln. Der kanadische
Physiker Arthur B. McDonald (rechts) konnte am Sudbury Neutrino Ob-
servatory die Anteile verschiedener Neutrinoarten von der Sonne ver-
messen und so diese »Neutrinooszillation« bestätigen.

N eutrinos sind nach den Photonen


die häufigsten Teilchen im Uni­
versum. Sie entstehen beispielsweise,
ken. Billionen davon strömen jede Se-
kunde durch unseren Körper. Doch im
Gegensatz zu den meisten anderen
Schon 1930 hatte der österreichische
Physiker Wolfgang Pauli elektrisch neu-
trale, leichte Partikel ersonnen, um mit
wenn kosmische Strahlung auf die Erd- Teilchen bemerken wir sie nicht, da sie ihnen den radioaktiven Betazerfall
atmosphäre trifft, bei den Vorgängen in kaum mit der übrigen Materie wechsel- schlüssig zu erklären. Kurz darauf gab
der Sonne, aber auch in Kernkraftwer- wirken. ihnen sein italienischer Kollege Enrico

WWW.SPEK TRUM .DE 13


FORSCHUNG AKTUELL

Fermi ihren Namen. 1956 gelang es Donald würdigt unter anderem die Lö- Nun lassen sich mit Super-Kamio-
schließlich, die Existenz von Neutrinos sung dieses Rätsels. 1000 Meter unter kande nicht nur Neutrinos nachweisen,
nachzuweisen. der Erde nordwestlich von Tokio befin- die einen direkten Weg von der Atmo-
Doch die schwer fassbaren Teilchen det sich der riesige Detektor Super-Ka- sphäre zu dem Detektor hinter sich ha-
blieben mysteriös. Neutrinos kommen miokande. Er besteht aus einem 40 Me- ben, sondern auch jene, die nach ihrer
in drei »Flavours« vor (englisch für Ge- ter hohen Tank mit 50 000 Tonnen Entstehung quer durch die Erde geflo-
schmacksrichtungen) – so viel konnten hochreinem Wasser. Es ist so klar, dass gen sind. Denn selbst unser Planet ist
die Physiker seither herausfinden. Ne- sich Licht darin 70 Meter ausbreiten für die meisten der Neutrinos kein nen-
ben den Elektronneutrinos gibt es auch kann, bevor es die Hälfte seiner Intensi- nenswertes Hindernis.
Tau- und Myonneutrinos. Theorien zu tät verloren hat. In einem gewöhnli- Als die Forscher um Takaaki Kajita
den Prozessen in der Sonne sagten vor- chen Schwimmbecken geschieht das aber ihre Daten analysierten, stellten
her, dass dort zahlreiche Elektronneu­ bereits nach ein paar Metern. sie fest, dass die Myonneutrinos, die di-
trinos entstehen würden, die sich auf rekt von oberhalb des Detektors anka-
der Erde nachweisen lassen müssten. Blaue Blitze durchfahren men, zahlreicher waren als jene, die erst
1970 erschienen ihre Spuren erst- gigantische Wasserbecken den längeren Weg durch die Erde neh-
mals in einem Detektor in einer ehe- Rundum sind an der Innenseite mehr men mussten. Wo blieb der Rest? Die
maligen Goldmine in Süddakota. Als als 11 000 Strahlungsdetektoren ange- Zahl der Elektronneutrinos entsprach
Teilchenphysiker die Ergebnisse dieses bracht. Sie können es registrieren, wenn hingegen den Vorhersagen; Tauneutri-
Versuchs und anderer Experimente Neutrinos durch den Tank strömen, die nos ließen sich mit dem Detektor nicht
auswerteten, entdeckten sie aber ledig- in unserer Atmosphäre durch kosmi- messen. Eine mögliche Erklärung der
lich einen Bruchteil der vorhergesagten sche Strahlung entstehen. Zwar pas- Forscher aus dem Jahr 1998: Die Myon-
Neutrinos. Bis zu zwei Drittel fehlten siert die weitaus überwiegende Zahl der neutrinos verwandelten sich auf ihrer
einfach. Wo also waren die restlichen Teilchen das Wasser ohne jegliche Reise durch die Erde.
solaren Neutrinos geblieben? Oder traf Wechselwirkung, doch es kommt vor, Kurz darauf gelang es Wissenschaft-
etwa die Theorie der Kernreaktionen in dass ein Neutrino mit einem der Mole- lern um Arthur B. McDonald am Sud-
der Sonne nicht ganz zu? küle zusammenstößt. Dann entsteht bury Neutrino Observatory in Kanada,
Der diesjährige Nobelpreis für Phy- ein blauer Blitz aus so genannter Tsche- einen ähnlichen Effekt für Elektron-
sik an Takaaki Kajita und Arthur B. Mc- renkowstrahlung. neutrinos aus den Kernreaktionen der

JOHAN JARNESTAD / THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES


Neutrinos entstehen in der Atmosphäre Super-Kamiokande
aus kosmischer Strahlung. Kamioka, Japan

kosmische
Strahlung A tm o s p h ä
re
abschirmendes
1000 Meter
Bergmassiv

Myonneutrinos hinter-
lassen Lichtsignale im
Wassertank.
Super-
Kamiokande
Myonneutrino
direkt aus
der Atmosphäre

Myon-
neutrino 40 Meter

Myonneutrinos, die in der Erdatmosphäre entste-


Detektoren messen
hen, erzeugen im Super-Kamiokande-Detektor in das Tscherenkowlicht.
Japan Lichtblitze. Da die Teilchen die Erde fast Myonneutrino,
das die Erde
ungehindert durchqueren, sollten aus allen Rich- durchlaufen hat
tungen gleich viele Signale kommen. Doch von
unten laufen weniger Myonneutrinos ein – ein
Hinweis darauf, dass sie sich auf ihrem Weg in
Tscherenkowlicht
eine andere Neutrinosorte umgewandelt haben.

14  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


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FORSCHUNG AKTUELL

JOHAN JARNESTAD / THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES


Neutrinos aus der Sonne Sudbury Neutrino Observatory (SNO)
Ontario, Kanada

abschirmender Fels

Im Zentrum der Sonne


entstehen Elektron- Elektronneutrinos einerseits und
alle drei Neutrinosorten anderer- 2100 Meter
neutrinos.
seits erzeugen jeweils eine Art
von Signalen im Tank.

SNO Tscherenkow-
Der Detektor des Sudbury Neutrino strahlung
Observatory in Kanada ist mit schwe-
18 Meter
rem Wasser gefüllt, dessen Kern ein Neutron
enthält. Wenn mit diesem ein Elektronneutrino
aus der Sonne reagiert, erscheint Tscherenkow-
strahlung. Außerdem entstehen andere Signale,
wenn beliebige Neutrinotypen auf die Atom­
kerne stoßen. Aus dem Verhältnis der Teilchen­
arten lässt sich wiederum das Ausmaß der Neu-
trinooszillation bestimmen. schweres Wasser

Sonne zu messen. Der dortige 18 Meter warteten die Forscher für beide Erschei- gen des Teams von Takaaki Kajita am
hohe Detektor befindet sich zwei Kilo- nungen dieselbe Häufigkeit. Dennoch Super-Kamiokande-Detektor bestätigen
meter unter der Erde. 9500 Strahlungs- fanden sie weniger Ereignisse für Elek­ die Resultate, dass Neutrinos ihren Fla-
detektoren verzeichnen die Wechsel- tronneutrinos als solche für die Summe vour wechseln. Das hat weit reichende
wirkung der solaren Neutrinos mit aller drei Neutrinotypen. Die Erklärung: Auswirkungen auf das Standardmodell
1000 Tonnen schwerem Wasser, also Die Elektronneutrinos mussten auf ih- der Elementarteilchenphysik. Nach ihm
solchem, das statt Wasserstoff das um rem 150 Millionen Kilometer langen sind die Neutrinos einerseits masselos,
ein Neutron reichere Deuterium ent- Weg zur Erde eine Transformation andererseits können nur massebehafte-
hält. Der massigere Atomkern bietet zu- durchgemacht und sich zum Teil in te Partikeln ein solches Verhalten zei-
sätzliches Stoßpotenzial. mindestens eine der beiden anderen gen. Da mit den Oszillationen nachge-
Die Anlage in Kanada kann zwei Ar- Sorten umgewandelt haben. Aus Elek­ wiesen ist, dass Neutrinos entgegen der
ten von Ereignissen nachweisen. Ein- tronneutrinos waren Tau- oder Myon- ursprünglichen Vorstellung doch eine –
treffende Elektronneutrinos reagieren neutrinos geworden. wenn auch geringe – Masse haben,
mit den Neutronen des Deuteriums zu muss das Standardmodell in seiner bis-
einem Proton und einem extrem Eine winzige Masse lang akzeptierten Form überarbeitet
schnellen Elektron. Letzteres erzeugt mit schwer wiegenden Folgen werden.
Tscherenkowstrahlung, die Signale in Die Neutrinos wechseln ihre Gestalt je- Es gilt nun auf dem Weg zu einer
den Detektoren auslöst. Die anderen doch nicht zufällig, sondern mit einer neuen Physik weitere Rätsel zu lösen:
Neutrinosorten sind dazu nicht in der Regelmäßigkeit, die es erlaubt, dem Was ist die genaue absolute Masse der
Lage, können aber, wie zusätzlich auch Verwandlungsprozess eine Wellenlänge Neutrinos? Warum sind sie so leicht?
die Elektronneutrinos, durch Stöße mit und Frequenz zuzuschreiben, wie man Gibt es noch mehr Flavours als die drei
dem schweren Wasser wechselwirken. das von periodischen Prozessen kennt. bereits bekannten? Können Neutrinos
Auch dabei entstehen Signale, die aber Deshalb spricht man auch von Neutri- ihre eigenen Antiteilchen sein?
von denen aus dem ersten Reaktions- nooszillationen. Bei einem Telefonat mit einer Jour-
weg unterschieden werden können. Ihre Ergebnisse veröffentlichten die nalistin kurz nach der Verkündung woll­-
Da in der Sonne laut Theorie nur Forscher um Arthur B. McDonald 2001 te diese von Arthur B. McDonald wis-
Elektronneutrinos entstehen sollten, er- und 2002. Zusammen mit den Messun- sen, was die Entdeckung denn nun be-

16  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


deute und was der praktische Nut- sein. Kajita ließ sich bei seinem Inter- Philipp Hummel ist Wissenschaftsjournalist in
zen sei. McDonald musste ein wenig view erst gar nicht darauf ein: »Meine Berlin.
nachdenken, bis ihm doch noch etwas Arbeit bringt nicht gleich Nutzen.
einfiel, was über den reinen Erkennt­ Wenn man es schön ausdrückt, dann Hinweis: Ein Artikel von Takaaki Kajita erschien
nis­gewinn hinausgeht: Man verstehe erweitert sie den Horizont des mensch- in der Oktoberausgabe 1999 von »Spektrum der
jetzt auch die Prozesse in der Sonne lichen Wissens. Der Nobelpreis hat Wissenschaft«. Sie können den Text »Der Neutri-
bes­ser; das könne für die Erforschung Licht darauf geworfen, und ich bin nomasse auf der Spur« kostenfrei online lesen:
der Kernfusion auf der Erde nützlich dankbar dafür.« www.spektrum.de/artikel/825785

NOBELPREIS FÜR PHYSIOLOGIE ODER MEDIZIN

Durchschlagende Waffen gegen Parasiten


Die diesjährigen Preisträger sind drei bislang wenig bekannte Pharmakologen. Ihren hart-
näckigen jahrelangen Entwicklungsarbeiten an Parasitenmedikamenten verdanken 
Millionen von Menschen vor allem in armen Ländern der Tropen ihr Leben und eine Zukunft.

VON JAN OSTERKAMP

William C. Campbell (links) und Satoshi


TRINITY COLLEGE DUBLIN

MIT FRDL. GEN. DES  KITASATO INSTITUTE

YOUYOU TU


Omura (Mitte) entwickelten ein höchst
wirksames Mittel gegen zwei weit ver-
breitete tropische Wurmkrankheiten:
die Flussblindheit und die lymphatische
Filariose.
Youyou Tu (rechts) isolierte in jahre­
langer Arbeit aus einer Pflanze namens
Einjähriger Beifuß einen neuen, effek­
tiven Wirkstoff gegen den Erreger der
Malaria.

M it dem Nobelpreis für Physiolo-


gie oder Medizin sind in den letz-
ten Jahrzehnten vorwiegend Experten
sich den Preis mit der Chinesin Youyou
Tu, die nach jahrelangen Bemühungen
aus Pflanzen Artemisinin isolieren
Peking­ an, wo sie jahrzehntelang ge-
forscht hat. Bereits in den späten 1960er
Jahren machte sie sich mit allem da-
aus dem Bereich der zell- und moleku- konnte – ein heute unverzichtbarer, mals verfügbaren wissenschaftlichen
larbiologischen Grundlagenforschung hochwirksamer Bestandteil von Medi- und technischen Knowhow daran, her-
ausgezeichnet worden. Nicht so dieses kamentencocktails gegen Malaria, der auszufinden, welche potenziellen Wirk-
Jahr: Den Preis erhalten drei Außensei- häufigsten tödlichen Tropenkrankheit. stoffe tatsächlich in der Pflanze ste-
ter, deren Arbeit bereits Millionen von Artemisinin wird vom Einjährigen cken. Tu gelang es schließlich, einzelne
Menschenleben gerettet haben dürfte. Beifuß produziert, botanisch Artemisia biochemisch aktive Komponenten zu
Der US-Amerikaner William C. Camp­- annua genannt. In der traditionellen isolieren – zunächst allerdings mit

bell und der Japaner Satoshi Omura chinesischen Medizin setzt man ihn in wechselnden, kaum reproduzierbaren
entdeckten den Wirkstoff Avermectin vielfältigster Form allerlei Arzneien ge- Ergebnissen.
gegen Wurmparasiten und entwickel- gen die verschiedensten Wehwehchen
ten ihn weiter zum äußerst effektiven zu. Das war im Westen niemandem auf- Hinweise aus alten Schriften
Ivermectin. Letzteres bekämpft heute gefallen – der nun preisgekrönten chi- Der Durchbruch, so erzählt sie, kam
so erfolgreich die verbreiteten Tropen­ nesischen Pharmakologin Youyou Tu schließlich aus unerwarteter Richtung:
krankheiten Flussblindheit und lym- aber schon. Sie fand in alten chinesischen Schriften
phatische Filariose (Elephantiasis), dass Offiziell gehört die 74-Jährige auch Hinweise auf die korrekte Aufbereitung
diese womöglich bald ausgerottet sein im Ruhestand noch der Akademie für der Pflanze und konnte den Wirkstoff
könnten. Die beiden Forscher teilen traditionelle chinesische Medizin in dadurch in den frühen 1970er Jahren

WWW.SPEK TRUM .DE 17


FORSCHUNG AKTUELL

UNIVERSITY OF BRISTOL / PUBLIC DOMAIN;


KREIS: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Avermectin und sein chemisches Derivat Ivermectin. Der Unterschied in der Struktur ist gelb markiert.

sauberer herausfischen und schließlich den Krankheitserreger direkt töten Südostasien beschränkt und fehlen in
testen. Das ergab, dass Artemisinin ge- oder selektiver wirken. Denn es gibt Afrika.
gen Malariaparasiten (Einzeller namens Hinweise darauf, dass sie in den Einzel- Mit diesem Problem hat Ivermec-
Plasmodium falciparum) im Blut von lern die Kalziumpumpe PfATP6 ab- tin – das Produkt der beiden anderen
Versuchstieren und Menschen wirkt. schalten und diese damit eliminieren. frischgebackenen Nobelpreisträger –
Seit 2001 empfiehlt die WHO den Daneben scheint sich das Molekül aber derzeit noch kaum zu kämpfen. Tat-
Einsatz der Substanz zusammen mit auch noch an andere Proteine des Para- sächlich ist das Wurmmittel so wirk-
weiteren Wirkstoffen. Eine solche »Ar- siten zu binden, die damit mögliche sam, dass es seine Hauptangriffsziele
temisinin-basierte Kombinationsthera- Angriffspunkte darstellen. fast schon ausgerottet hat: die Nemato-
pie« ist effizienter als etwa die Behand- Die komplizierte chemische Struk- denparasiten (Fadenwürmer), welche
lung mit dem bekannten Chinin, gegen tur des Naturstoffs Artemisinin macht die tropischen Krankheiten Onchozer-
das mittlerweile viele Malariastämme die Substanz wirksam, aber auch teuer, kose (Flussblindheit) und lymphatische
weltweit resistent sind. Die Malaria­ weil sie sich lange Zeit nicht nachbauen Filariose verursachen; letztere heißt
todesfälle sind allein in Afrika dadurch ließ, sondern aus Pflanzen mühsam wegen der dabei anschwellenden Extre-
um mehr als 20 Prozent zurückgegan- isoliert werden musste. Erst in den letz- mitäten auch Elephantiasis. Beide In-
gen, bei Kindern sogar um gut 30 Pro- ten Jahren gelang es Forschern, Wege fektionen zählt die WHO zu den so ge-
zent; jedes Jahr sterben dort etwa für eine großtechnische Produktion zu nannten vernachlässigten Krankhei-
100 000 Menschen weniger. finden und die Herstellungskosten zu ten. Sie kommen dort vor, wo Ärzte wie
senken. Arzneimittel Mangelware sind, und
Eisenionen lassen aggressive Geld verdient übrigens niemand mit treffen vor allem arme Menschen. Die-
Sauerstoffradikale entstehen dem Wirkstoff, wie das Nobelpreisko- se stecken sich in ihrer Heimat ständig
Wie Artemisinin gegen die Parasiten mitee anlässlich der Bekanntgabe be- neu an, wenn die Krankheiterreger dort
wirkt, die rote Blutkörperchen befallen, tonte: Die heute massenhaft in den Fa- nicht ganz zurückgedrängt werden.
ist noch nicht vollständig geklärt. Allge- briken eines Pharmariesen hergestell-
mein nimmt man heute an, dass der ten halb synthetischen Artemisinine Einmalige Einnahme genügt
sekun­däre Pflanzenstoff – chemisch ge- stehen auf einer WHO-Liste, die den Zu- Hier gelang in den letzten Jahren ein
sehen ein so genanntes Sesquiterpen – gang lebenswichtiger Medikamente für Befreiungsschlag: Gab es noch 2008
die Plasmodien mit seiner ungewöhn­ die Ärmsten der Welt sicherstellen soll. etwa 100 Millionen Elephantiasis-Be-
lichen Peroxidbrücke angreift (siehe Darauf geführte Wirkstoffe entstehen troffene, so ist die Krankheit dort fast
die Strukturformel rechts oben). durch »nicht gewinnorientierte und verschwunden, wo das ungemein wirk-
Diese zerfällt in Gegenwart von Ei- verlustfreie« Produktion. same Ivermectin flächendeckend ein-
senionen und produziert chemisch äu- Auch Artemisinin dürfte jedoch kei- gesetzt wird. Der Erfolg des Medika-
ßerst reaktive freie Sauerstoffradikale. ne ultimative Waffe gegen Malaria dar- ments, für dessen Entdeckung nun Wil-
Da in roten Blutkörperchen das eisen- stellen: Es muss zum Beispiel in recht liam C. Campbell und Satoshi Õmura
haltige Sauerstofftransportmolekül kurzen Abständen immer wieder ein- geehrt wurden, beruht darauf, dass es
Hämoglobin vorkommt und die Plas- genommen werden und das aus gutem schon bei einmaliger Einnahme heilt.
modien dort ebenfalls Eisenionen an- Grund nur in Kombinationspräpara- So erfordert es nicht die sonst oft not-
reichern, kann so eine für den Parasiten ten, um die wohl unausweichliche Ent- wendige nachhaltige Betreuung, an der
tödliche Reaktion in Gang kommen. wicklung von Resistenzen zu erschwe- es in den vernachlässigten Regionen
Unklar ist noch, ob die Radikale einfach ren. Immerhin: Bislang sind solche auf der Erde meist mangelt.

18  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


dabei ein besonderes Augenmerk auf Neurotoxin Milben und Parasiten tötet.
die Antibiotika herstellende Gattung Mit chemischen Modifikationen ließen
Streptomyces gelegt. In langwierigen sich in den folgenden Jahren noch wirk-
und sorgfältigen Versuchsreihen ge- samere Varianten der Substanz produ-
lang es ihm schließlich, bislang unbe- zieren – wie etwa Ivermectin, das sich
kannte Stämme mit einem in vielerlei schließlich als besonders effektive Waf-
Hinsicht interessanten biochemischen fe entpuppte. Eine einzige geschluckte
LUKÁŠ MIŽOCH / PUBLIC DOMAIN

Produktportefeuille zu isolieren. Aus Dosis reicht aus, um bestimmte, nur bei


Tausenden solcher Stämme wählte er Wirbellosen vorkommende Ionenkanä-
dann die etwa 50 vielversprechendsten le so zu manipulieren, dass der dadurch
aus, um ihre Wirksamkeit gegen ver- ausgelöste Einstrom von Chlorid­ionen
schiedene schädliche Organismen ge- in Zellen die Parasiten tötet.
Der Malariawirkstoff Artemisinin nauer zu prüfen. Einer davon – Strepto- Die Forschungsarbeiten von Tu,

myces aver­mitilis – entpuppte sich als Campbell und Omura haben vielen
Volltreffer. Menschen das Leben gerettet, resü-
Ivermectin ist eine chemische Vari- Auf diesen Versuchen baute der 1930 miert das Nobelpreiskomitee: Mit den
ante des Avermectins, das zuerst der geborene Campbell auf, der von 1957 neuen Möglichkeiten haben sich Be-

1935 in Japan geborene Chemiker Omu- bis 1990 für die Pharmafirma Merck am handlung und Erfolgsaussichten in der
ra isoliert hat (siehe Strukturformeln Institute for Therapeutic Research in Tropenmedizin drastisch verbessert.
links oben). Er hatte an der Kitasato- Washington arbeitete und dort ständig Darüber hinaus kommt das Zurück-
Universität, wo er bis zu seiner Emeri- nach neuen Antibiotika suchte. Dem Pa- drängen dieser Krankheiten der gesam-
tierung 2007 tätig war, in den 1970er rasitologen gelang es, die bioaktive Sub- ten Gesellschaft in den betreffenden
Jahren begonnen, die natürlichen bio- stanz des Bodenbakteriums zu isolie- Ländern zugute.
chemischen Produkte von Bodenbakte- ren: Avermectin, biochemisch ein mak-
rien systematisch zu untersuchen, und rozyklisches Lacton, das als neuartiges Jan Osterkamp ist Redakteur bei »Spektrum.de«.

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NOBELPREIS FÜR WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN

Der Konsument, das unbekannte Wesen


Der Preis der schwedischen Reichsbank für Wirtschaftswissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel
geht an Angus Deaton »für seine Analyse von Konsum, Armut und Wohlfahrt«.

VON CHRISTOPH PÖPPE


LARRY LEVANTI / PRINCETON UNIVERSITY

Angus Deaton, geboren am 15. Oktober 1945 in


Edinburgh, promovierte 1974 in Wirtschaftswis-
senschaften an der Cambridge University. Seit
1983 ist er Professor an der Princeton University.
Deaton hat sowohl die britische als auch die ame-
rikanische Staatsbürgerschaft. In seinen zweimal
im Jahr erscheinenden »Letters from America«
(http://scholar.princeton.edu/deaton/letters-
america) beteiligt er sich wortgewaltig an der
wirtschaftspolitischen Diskussion.

A ngus Deaton ist nicht, wie sonst bei


Wirtschaftsnobelpreisen üblich, für
die Konstruktion mathematischer Mo-
mischer Daten kein sonderlich scharfes
Kriterium. In der Konsumforschung, ei-
nem von Deatons zahlreichen Arbeits-
folgen und nicht gegen die eigenen In-
teressen handeln. Das impliziert insbe-
sondere, dass sie
delle berühmt geworden, die wirtschaft- gebieten, kommt eine weitere Forde- ➤  sich nicht von den Preisen selbst be-
liche Aktivitäten beschreiben, sondern rung hinzu: Das Modell muss auch dann einflussen lassen, sondern nur von de-
eher für deren Dekonstruktion. Es ist be- vernünftige Ergebnisse liefern, wenn ren Verhältnis zu ihrem Ausgabebud-
zeichnend, dass das Paradox, das seinen nur Daten über große Kollektive (»ag- get, also ihr Ausgabeverhalten nicht än-
Namen trägt, sich durch die Korrektur gregate data«) zur Verfügung stehen. dern, wenn zum Beispiel plötzlich alles
eines Modellierungsfehlers auflöst. Wie alle Bewohner eines Landes zu- in Euro statt in DM abgerechnet wird;
Mathematische Modelle sind das un- sammen das Geld, das sie ausgeben, auf ➤  auf eine Preisänderung bei Ware A
entbehrliche, wenn auch problemati- Essen, Trinken, Wohnen, Unterhaltung in ihrem Einkaufsverhalten bezüglich
sche Mittel, mit dem man aus einer un- und die Befriedigung anderer Bedürf­ Ware B nicht anders reagieren, als wenn
übersehbaren Masse an Beobachtungen nisse verteilen, ist nicht schwer zu er­ A und B vertauscht werden;
Aussagen destilliert. Die wiederum die- mitteln: Die meisten Länder führen de- ➤  wenn eine Ware teurer wird und sich
nen als Grundlage für Prognosen der Art taillierte Statistiken über den Gesamt­ sonst nichts ändert, von dieser Ware
»Subvention X wird die Leute zu dem verbrauch an Lebensmitteln, das Miet- nicht mehr kaufen als zuvor.
­erwünschten Verhalten Y veranlassen«. niveau und ähnliche Zahlen. Wie aber
Man kann nur beobachten, was die Leu- die einzelnen Haushalte sich entschei- Sind Verbraucher rational?
te tun, nicht aber, warum sie es tun, weil den, erfährt man nur, wenn man sie Ein frühes Modell, das 1954 veröffent-
sie das in der Regel selbst nicht genau fragt – ein mühsames und fehlerträch- lichte »Linear Expenditure System« von
genug wissen. Also muss man über ihre tiges Verfahren, das große Sorgfalt er- Sir Richard Stone (Wirtschaftsnobel­
Motive geeignete Annahmen treffen – fordert. Deatons frühe Ergebnisse be- preis 1984), unterstellt dem Konsumen-
typischerweise in Form mathematischer treffen das Wechselspiel zwischen die- ten eine nachvollziehbare Denkweise:
Modelle. Dabei kann es für ein gegebe- ser mikroökonomischen Datenerhe- Von jeder Warengruppe kauft er zu-
nes ökonomisches Phänomen mehrere bung und der Entwicklung geeigneter nächst eine gewisse, zum Überleben er-
konkurrierende Modelle geben. Modelle. forderliche Mindestmenge. Was dann
Um sich für eines von ihnen zu ent- Von zentraler Bedeutung ist hier das vom Geld noch übrig bleibt, weist er
scheiden, muss man nicht nur berück- klassische Konzept vom rationalen proportional zu seinen – durch Zahlen
sichtigen, wie plausibel seine Annah- Nutzenmaximierer. Im Fall des Kon- ausgedrückten – persönlichen Vorlie-
men sind und wie gut es sich an die Da- sums läuft das auf die Unterstellung hi- ben den verschiedenen Warengruppen
ten anpassen lässt; Letzteres ist bei der naus, dass die Leute beim Geldausge- zu und kauft von jeder so viel, wie er bei
notorisch schlechten Qualität ökono­ ben ihren wohlüberlegten Wünschen den aktuellen Preisen kriegen kann.

20  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Stones Modell besticht durch seine So erlaubt das AIDS, dass die Leute in (Wirtschaftsnobelpreis 1976) zu Grun-
Einfachheit; aber die drei genannten manchen Monaten mehr Geld ausge- de. Natürlich kann in der Realität nie-
Kriterien für Rationalität sind bereits in ben, als sie haben. Es wäre also rational mand das beschriebene Verfahren
die Formeln eingebaut. Also kann kein für sie, einen Kredit aufzunehmen; praktizieren, weil man sein Lebensein-
Abgleich mit beobachteten Daten die aber den bekommen sie in der Realität kommen nicht im Voraus kennt. An die
Frage beantworten, ob die Leute sich wahrscheinlich nicht. Stelle einer wohlbestimmten Zahl muss
wirklich rational verhalten. Obendrein daher ein Erwartungswert treten, was
unterstellt das Modell, dass die Leute Heute ein Bier und morgen eins die Frage aufwirft, wie die Leute ihre
der doppelten Menge eines Guts den In engem Zusammenhang mit der Fra- Prognosen über ihr zukünftiges Wohl-
doppelten Nutzen zuschreiben (»Linea- ge, wie die Menschen ihre Ausgaben ergehen bilden. Gleichwohl erlaubt das
rität«) – was bei Gütern, von denen man auf die verschiedenen Warengruppen Modell einige Aussagen.
satt wird, offensichtlich Unsinn ist. verteilen, steht Deatons zweites großes So sollten, wenn die Realzinsen (No-
Gemeinsam mit seinem Fachkolle- Arbeitsgebiet: Wie verteilen die Leute minalzinsen minus Inflationsrate) stei-
gen John Muellbauer vom Birkbeck Col- ihre Ausgaben über die Zeit? Welchen gen, die Leute mehr sparen – was in
lege in London fand Deaton 1980 eine Anteil des Einkommens sparen sie, um der Realität aber nicht vorkommt. Dea-
Verallgemeinerung, das »almost ideal später mehr zur Verfügung zu haben? ton erledigte dieses »Deaton-Paradox«
demand system« (AIDS). Die Funktion, Wieder unterstellt man, dass die mit einem eleganten Gedankenexperi-
die das System definiert, enthält nicht­ Menschen sich – im Durchschnitt und ment. Gegeben seien zwei Gesellschaf-
lineare Anteile; die Parameter sind mit über lange Zeiträume – rational verhal- ten, die sich in nichts unterscheiden als
mä­ßigem Rechenaufwand bestimm- ten. Diesmal ist es von entscheidender dem Realzinssatz. Aus den genannten
bar – bei der damals knappen Rechenka- Bedeutung, dass die Nutzenfunktionen Gründen sparen die Angehörigen bei-
pazität ein bedeutender Vorteil –; und konkav sind. Der subjektiv empfun­de­ne der Gesellschaften in der Jugend und
es unterstellt nicht von vornhe­rein die Nutzen wächst nicht proportional zur verprassen das Ersparte im Alter. Je hö-
Rationalität der Konsumenten. Viel- Menge des konsumierten Guts, sondern her der Zinssatz, desto intensiver wird
mehr kann man aus den Ergebnissen langsamer. Das zweite Bier schmeckt gespart und geprasst; aber nach Vor-
ablesen, ob die genannten Rationalitäts- längst nicht mehr so gut wie das erste. aussetzung geben sie alle über ihr Le-
bedingungen erfüllt sind. Wer genau zwei Bier finanzieren kann, ben gerechnet dasselbe Geld aus, also
Bei den Vorgängermodellen konnte hat mehr davon, wenn er heute eins ist auch die Gesamtmenge des Gespar-
es passieren, dass sich jeder einzelne und morgen eins trinkt, als heute zwei ten unabhängig vom Zinssatz.
Verbraucher in diesem Sinn rational ver- und morgen gar keins. Deatons verfeinerte Modelle erlau-
hält, nicht aber ein fiktiver Normalver- Verallgemeinert bedeutet das: Am ben auch Aussagen darüber, wie die
braucher, dessen Einkaufsgewohnhei- besten teile ich mein Lebenseinkom- Leute ihre Erwartungen bilden. So
ten dem Durchschnitt aller – armen wie men so ein, dass ich jeden Monat unge- konnte er die Vorstellung widerlegen,
reichen – Einzelpersonen entspricht. fähr gleich viel konsumiere, also – bei sie nutzten zu jedem Zeitpunkt nur die
Unter diesem Nachteil, der den Über- konstanten Preisen – ungefähr gleich in diesem Moment verfügbaren Infor-
gang von den Mikro- zu den Makro­ viel ausgebe. Dabei muss ich berück- mationen. Dann bliebe ihnen nämlich
daten erschwert, leidet das AIDS nicht. sichtigen, dass die Preise steigen, dass nichts anderes übrig, als das gegenwär-
In den folgenden Jahrzehnten wurde Erspartes Zinsen bringt und dass ich tige Einkommen – vielleicht mitsamt
es zum bevorzugten Modell der Kon­ mit gutem Grund ungeduldig bin: Das einer unerwarteten Bonuszahlung – als
sumforschung. Noch heute dient es als Bier heute ist mir schon deswegen Schätzwert für das zukünftige Einkom-
Grundstein der Nachfrageschätzung mehr wert als das Bier morgen, weil ich men zu verwenden, was noch größere
überall in der Welt, und Deatons und es mit einer gewissen Wahrscheinlich- Schwankungen der Konsumausgaben
Muellbauers wissenschaftliche Arbeit keit – zum Beispiel wegen Ablebens – zur Folge hätte. Die aber werden in der
von 1980 wird unter die 20 einfluss- morgen nicht mehr genießen kann. Realität nicht beobachtet. Also muss
reichsten Artikel gezählt, welche die Alle diese Dinge lassen sich zu ei- ein brauchbares Modell zwischen – in
Zeitschrift »American Economic Re- nem einzigen Diskontfaktor zusam- der Wahrnehmung des Konsumenten –
view« in den ersten 100 Jahren ihres Be- menfassen. Wenn der größer als 1 ist – vorübergehenden und permanenten
stehens veröffentlichte. die Zinsen sind höher als die Inflations- Änderungen der wirtschaftlichen Situ-
Bemerkenswerterweise kommt bei rate, und ich bin nicht sehr ungedul- ation unterscheiden.
der Auswertung des Modells in der Re- dig –, dann ist es rational, einen gewis- Die letzten Jahrzehnte hat Deaton
gel heraus, dass die Rationalitätsbedin- sen Teil des Einkommens zu sparen. Ich vornehmlich mit dem Studium der Ar-
gungen nicht erfüllt sind. Aber statt da- habe ja später mehr davon. mut verbracht. Insbesondere führte er
raufhin ihr Modell zu verwerfen, nah- Diese Konzepte liegen der »Perma- in Zusammenarbeit mit der Weltbank
men Deaton und seine Kollegen diesen nent Income Hypothesis« des promi- Feldstudien durch, in denen er zahlrei-
Befund zum Anlass, es zu verbessern. nenten Ökonomen Milton Friedman che indische Haushalte über ihr Kon-

WWW.SPEK TRUM .DE 21


SPRINGERS EINWÜRFE

Muss Verhütung Frauensache bleiben? sumverhalten befragen ließ. Wieder ist


charakteristisch für ihn die enge Ver-
Konkrete Hoffnung auf die Pille für den Mann zahnung zwischen der Theorie und der
Praxis der Datenerhebung. So konnte

I n der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etablierte sich die Antibabypille in den In-
dustrienationen als das häufigste Mittel zur Empfängnisverhütung. Die dadurch
enorm erleichterte Trennung von Liebesakt und Schwangerschaft wurde weithin –
er zeigen, dass eine Längsschnitterhe-
bung – man fragt ein und denselben
Haushalt über Jahre hinweg immer wie-
das heißt außerhalb des kirchlichen Einflussbereichs – als sexuelle Befreiung be- der nach seinem Konsumverhalten –
grüßt. Die medikamentöse Verhütungspraxis besitzt allerdings bis heute eine fol- entgegen dem ersten Anschein nicht
genreiche Schlagseite: Sie ist reine Frauensache. Nur der weibliche Körper wird dau- besser, sondern sogar schlechter ist als
erhaft mit Hormonpräparaten traktiert, die nicht ganz ohne physische und die Pseudo-Längsschnitterhebung, bei
emotionale Nebenwirkungen sind. der man sich jedes Mal aufs Neue einen
Bisher sind andere Verhütungsmethoden, die eine Beteiligung des männlichen repräsentativen Querschnitt der Be­
Partners erfordern, aufwändiger oder weniger sicher – oder schlicht unter Männern völkerung zum Befragen zusammen-
unbeliebt. Die Sterilisierung durch operatives Durchtrennen der Samenleiter lässt sucht. Was nämlich aus dem ursprüng-
sich nicht ohne Weiteres rückgängig machen. Der Gebrauch eines Kondoms wiede- lichen Kollektiv – durch Abwanderung,
rum erfordert ein wenig Übung und Geduld; die Furcht, dabei die Erektion zu verlie- Tod oder andere Gründe – herausfällt,
ren, wird gern mit dem Stammtischwitz kaschiert, man habe eine Latexallergie. ist keine zufällig bestimmte Menge,
Dabei macht die Einseitigkeit der gängigen Verhütungspraxis nicht nur jede ein- sondern eine Auslese, wodurch die Er-
zelne Familienplanung zu einem mehr oder weniger unfairen Akt, sondern beein- gebnisse verfälscht werden.
flusst sogar die Entwicklung der gesamten Menschheit. Wie Julio Castaneda und
Martin M. Matzuk vom Baylor College of Medicine in Houston (Texas) betonen, hat Verkappter Sozialist?
sich die Weltbevölkerung trotz Pille von 1960 bis heute mehr als verdoppelt – mit In seinen wissenschaftlichen Arbeiten
entsprechenden Folgen wie Ressourcenknappheit und Umweltbelastung –, und da- beschränkt sich Deaton strikt auf die
ran haben ungewollte Schwangerschaften einen erheblichen Anteil. Ein männliches Darstellung der Ergebnisse, darunter so
Verhütungsmedikament würde diesen Trend bremsen und somit eine nachhaltige paradoxe wie jenes, dass der Durch-
Entwicklung künftiger Generationen fördern (Science 350, S. 385 – 386, 2015). schnittsinder mit steigendem Wohl-
Ein interdisziplinäres Team japanischer Genetiker und Immunologen um Masahi- stand zwar mehr Geld fürs Essen aus-
to Ikawa von der Universität Osaka in Suita hat nun in einer Serie komplizierter Ver- gibt, dabei aber weniger Kalorien auf-
suche eine Möglichkeit herausgefunden, die männliche Fruchtbarkeit – genauer die nimmt. Nur in seinen Meinungsstücken
Geißeln der Samenzellen – vorübergehend durch einen Wirkstoff zu lähmen. Dabei lässt er die Folgerungen aus seinen For-
handelt es sich um einen so genannten Calcineurin-Inhibitor (Science 350, S.  442 – schungen deutlich aufscheinen.
445, 2015). Ein Paradebeispiel für die Konkavi-
Calcineurin ist ein Enzym, das eine entscheidende Rolle beim Auslösen und Steu- tät der Nutzenfunktion ist das Gesund-
ern von Immunreaktionen spielt. Entsprechend setzen Mediziner Hemmstoffe ge- heitswesen. Ein umverteilter Dollar
gen es ein, um nach Transplantationen eine Abstoßung des Fremdorgans zu unter- hebt die Gesundheit des Armen weit
drücken. Diese Substanzen beeinflussen aber nicht nur Immunreaktionen, sondern mehr, als er die des Reichen beeinträch-
unter anderem auch die Beweglichkeit von Samenzellen. tigt. Aus den Daten geht hervor, dass
Durch Versuche mit genetisch manipulierten Mäusen identifizierten die japani- Ungleichheit an sich nicht gesund-
schen Forscher einen in den Nebenhoden sitzenden Calcineurin-Komplex, ohne des- heitsschädlich ist, wohl aber die Armut.
sen Mitwirkung die Geißeln der Spermien nicht stark genug schwänzeln können, Die aber wächst in einem Land mit rei-
um in die Eizelle einzudringen. Wurde er gentechnisch ausgeschaltet, waren die Na- chem Durchschnitt wie den USA mit
ger unfruchtbar. In anderen Tierversuchen zeigte das Team, dass sich derselbe Effekt der rapide zunehmenden Ungleichheit
erreichen ließ, wenn man normalen Mäusen vier Tage lang bestimmte Calcineurin- an. Die logische Konsequenz aus die-
Inhibitoren verabreichte. Innerhalb einer Woche nach der Behandlung verschwand sem Befund ist eine allgemeine Kran-
die Trägheit der Spermien wieder – die Mäuseriche gewan- kenversicherung mitsamt dem einge-
nen ihre Fruchtbarkeit zurück. bauten Umverteilungseffekt. Aber bei
Mit dieser Entdeckung könnte eine Pille für den Mann in den Republikanern, die genau das in
greifbare Nähe rücken. Er nähme sie – wie das jetzt Frauen den letzten Jahren heftig bekämpft ha-
tun müssen – so lange ein, wie er verhüten möchte, und ben und für deren Bemühungen Dea-
käme durch einfaches Absetzen der Pille fast sofort wieder in ton starke Worte findet, gilt er damit
den Besitz seiner Zeugungsfähigkeit. Allerdings: Wie es mit schon fast als Sozialist.
möglichen Nebenwirkungen aussieht, muss sich erst noch
Michael Springer
erweisen. Christoph Pöppe ist Redakteur bei »Spektrum
der Wissenschaft«.

22  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Sie macht uns groß. Und manchmal klein.

Jetzt
im Handel.
MOLEKULARBIOLOGIE

Wie Zellen sich unterhalten


Fast alle Zellen in unserem Körper tauschen mit ihren Nachbarn Informationen
durch Kanäle aus, über die sie direkt miteinander verbunden sind. Eine Unter-
PETER KRAEMER

24  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


BIOLOGIE & MEDIZIN

brechung dieses Kommunikationssystems kann Störungen verursachen,


die von Hörverlust bis hin zu Herzkrankheiten reichen.
Von Dale W. Laird, Paul D. Lampe und Ross G. Johnson

Zellen lassen sich als komplexe


biologische Maschinen be­
PETER KRAEMER

trachten – die in ständigem Aus-


tausch miteinander stehen.

WWW.SPEK TRUM .DE 25


D
amit unser Körper richtig funktioniert, müssen lust verantwortlich. Und es werden laufend weitere Krank­
sich seine Billionen von Zellen untereinander ver­ heiten entdeckt, die auf fehlerhaften Gap Junctions beru­-
ständigen können. Dabei nutzen sie ganz unter­ hen, wie etwa erst kürzlich ein bestimmter Epilepsietyp, der
schiedliche Formen des Informationsaustauschs. bei Kindern auftritt. Aktuelle Studien liefern nun spannen-
Einige produzieren Hormone, die über das Blut zu ihrem Ziel de neue Einblicke in den Aufbau von Gap Junctions und be­
gelangen, andere schütten Neurotransmitter aus, um Sig­ ginnen aufzudecken, wie ihre Störung zu Krankheiten füh­
nale von einem Neuron zum nächsten zu leiten. Daneben ha­ ren kann.
ben aber praktisch alle Zellen einen weiteren Kommunika­ Bei den ersten Experimenten mit Farbstoffinjektionen
tionsweg gemeinsam: Sie sind mit ihren Nachbarn über Ka­ dachten die Wissenschaftler noch nicht so sehr an die mögli­
näle verknüpft, die das Innere beider Partner in direkten che medizinische Bedeutung. In den 1960er und 1970er Jah­
Kontakt miteinander bringen. ren lag der Fokus darauf, weitere Nachweise für diese rätsel­
Eine eindrucksvolle Demonstration dieser Form der Zell- hafte nachbarschaftliche Kommunikation zwischen Zellen
Zell-Kommunikation gelang Mitte der 1960er Jahre, als For­ zu finden und mehr über deren Eigenschaften zu lernen. Be­
scher fluoreszierende Farbstoffmoleküle in eine einzelne Zel­ vor man Gap Junctions als solche entdeckte, hatten Physiolo­
le inmitten eines dicht gepackten Zellhaufens injizierten. gen bereits bei einer Vielzahl von Organen und Organismen
Durchs Mikroskop sahen sie, wie sich die Fluoreszenz rasch einen direkten zellulären Austausch von Molekülen nach­
von einer Zelle auf die nächste ausbreitete, bis mitunter gewiesen – von Tintenfischembryonen und elektrischen Fi­
Hunderte davon leuchteten. Zellen mussten also über Kanäle schen bis hin zu Säugetieren.
verfügen, durch die Moleküle von Zelle zu Zelle wandern Ende der 1960er Jahre wollten die Forscher dann genauer
können. herausfinden, wie die Kanäle aussehen und wie sie entste­
Inzwischen wissen Biologen, dass diese Kanäle in den Ge­ hen. Frühere mikroskopische Untersuchungen hatten große
weben aller Tiere einschließlich des Menschen vorkommen flache Bereiche gezeigt, an denen die Membranen zweier be­
und an außerordentlich vielfältigen Funktionen beteiligt nachbarter Zellen dicht beieinanderliegen. An diesen Kon­
sind. Die Kanäle gruppieren sich dabei zu so genannten Gap taktstellen (englisch: junctions) schienen die Zellen nur
Junctions, die bei der Synchronisation des rhythmischen Zu­ durch einen sehr schmalen, wenige Nanometer breiten Spalt
sammenziehens der Herzmuskelzellen ebenso mitwirken (englisch: gap) voneinander getrennt zu sein, was zu der Be­
wie bei den Uteruskontraktionen während der Geburt. Gap zeichnung »Gap Junction« führte.
Junctions ermöglichen es dem Auge, sich an unterschied­
liche Lichtverhältnisse anzupassen, und spielen sogar bei der Wie Gap Junctions entstehen
Organbildung während der embryonalen Entwicklung eine Welche Rolle spielen diese flachen Membranstellen bei der
Rolle. zellulären Verbindung, die man in den Farbstoff- und elektri­
In den letzten beiden Jahrzehnten haben Wissenschaftler schen Experimenten beobachten konnte? Um das zu klären,
herausgefunden, dass Fehler beim Zusammenbau oder bei begann einer von uns (Johnson) zu untersuchen, was pas­
der Aktivität von Gap Junctions zu einer Reihe von Erkran­ siert, wenn solche Kontaktstellen entstehen. Gemeinsam mit
kungen beitragen: Taubheit, Katarakten, Hautproblemen, seinen Kollegen an der University of Minnesota trennte er
neurologischen Erkrankungen, Herzkrankheiten und sogar aus einem Lebertumor stammende kultivierte Zellen vor­
Krebs. So ist eine einzelne Mutation in einem Proteinbe­ sichtig voneinander und vermischte sie dann wieder. Inner­
standteil einer Gap Junction im Innenohr bei bis zu 40 Pro­ halb von Minuten entstanden auf den Zellmembranen abge­
zent aller Personen mit erblicher Taubheit für den Hörver­ flachte Stellen – aber nur dort, wo sich zwei Zellen berührten.
Diese Beobachtung bestätigte eine Vermutung, der zufolge
der Aufbau einer Gap Junction ein Gemeinschaftsprojekt ist,
AUF EINEN BLICK
das die Zusammenarbeit benachbarter Zellen erfordert. Mit
der Größe dieser Kontaktstellen nahm auch der elektrische
ZELLGEFLÜSTER
Strom zwischen diesen Zellen zu; sie schienen also den Io­

1 Über Gap Junctions tauschen benachbarte Zellen Informatio-


nen aus. Solche »Unterhaltungen« sind wichtige Vorausset-
zungen für viele Funktionen; sie sind am synchronisierten Schla-
nenaustausch zu erleichtern.
Um sich das näher anzusehen, entfernten Johnson und
gen der Herzzellen ebenso beteiligt wie an unserer Fähigkeit sein Team die Membranen der miteinander verbundenen
zu hören. Zellen und entdeckten dadurch Partikel, die sich innerhalb

2 Gap Junctions bestehen oft aus mehr als 100 000 einzelnen Pro-
teinen. Trotz dieser Komplexität werden sie kontinuierlich ab-
und aufgebaut. Die sorgfältig gesteuerte Umstrukturierung ermög-
der abgeflachten Stellen angesammelt hatten. Wie sich spä­
ter herausstellte, handelte es sich dabei um genau die Kanäle,
licht es Zellen, rasch auf Verletzungen oder Stress zu reagieren. aus denen sich die Gap Junctions zusammensetzen (siehe
Kasten »Auf- und Abbau von Gap Junctions«). Jeder Kanal be­
3 Mutationen in den Genen, die für Gap-Junction-Proteine ko-
dieren, führen beim Menschen unter anderem zu Haut- und
Herzkrankheiten, Epilepsie und Schwerhörigkeit.
steht seinerseits aus so genannten Connexinen: Molekülen,
die zu einer Ende der 1980er Jahre entdeckten Proteinfamilie
gehören.

26  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Mitglied unseres Trios hatte als Postdoc in Jean-Paul Revels
MICHAEL M. ATKINSON UND JUDSON D. SHERIDAN, UNIVERSITY OF MINNESOTA

Labor am California Institute of Technology eine Reihe von


Antikörpermolekülen konstruiert, die spezifisch an Conne­
xin-Proteine binden. Diese molekularen Werkzeuge würden
uns ermöglichen herauszufinden, welche Bereiche der Con­
nexine für die Bildung und Aktivität der Gap Junctions von
Bedeutung sind.
Lairds Antikörper erkannten ein bestimmtes Connexin-
Molekül, das Cx43. Beim Menschen finden sich 21 verschie­
dene dieser Proteine, und jeder Zelltyp stellt sein eigenes
charakteristisches Sortiment davon her. Hautzellen bei­
spielsweise bilden bis zu neun verschiedene Connexine.
Beim Cx43 handelt es sich um das am weitesten verbreitete
Mitglied der Proteinfamilie. Es findet sich in vielen Organen,
neben der Haut etwa auch im Herz, im Gehirn, in den Lungen
Der in eine einzelne Zelle (Mitte) injizierte Farbstoff wandert und in Knochen.
rasch über Gap-Junction-Kanäle in deren Nachbarn hinein. Wie alle Connexine besteht Cx43 aus vier die Zellmemb­
ran durchziehenden Abschnitten, die das Protein in dieser
verankern. Der Schwanz des Proteins im Zellinnern enthält
Sechs Connexine bilden gemeinsam eine donutförmige viele Elemente, die seine Aktivität und den Zusammenbau
Struktur in der Außenmembran einer Zelle, die als Connexon zu Kanälen und Gap Junctions regulieren, wie wir später fest­
oder Hemikanal (Halbkanal) bezeichnet wird. Diese kann mit stellten. Durch die mehrfache Membrandurchdringung ent­
dem entsprechenden Gegenstück einer benachbarten Zelle stehen zwei Schleifen, die in den Raum zwischen den Zellen
einen gemeinsamen Kanal herstellen – eine Pore, über die ragen. Einige der von Laird erzeugten Antikörper richten sich
das Zytoplasma der einen Zelle direkt mit dem ihrer Nachba­ gegen diese extrazellulären Bereiche.
rin kommuniziert. Eine große Gap Junction kann durchaus Da die Schleifen aus der Zelloberfläche herausragen,
10 000 solcher Kanäle enthalten. Da jede Pore aus zwei Halb­ könnten sie sich wie bei einem Klettverschluss wechselseitig
kanälen besteht, macht das insgesamt 120 000 Connexine einhaken und so die Connexine miteinander verknüpfen.
pro Verbindung. Allein das Herz umfasst Milliarden von Zel­ Um diese Vermutung zu untersuchen, trennten wir erneut
len, von denen jede einzelne mit mehreren Nachbarzellen kultivierte Zellen voneinander und vermischten sie dann
über Gap Junctions kommuniziert. Diese vielen Konglome­ wieder – diesmal aber im Beisein von Lairds Antikörpern.
rate zu produzieren, stellt den Körper also vor eine Mammut­ Und jetzt bildeten sich keine Gap Junctions! Wir beobachte­
aufgabe. ten weder einen Transfer von injiziertem Farbstoff zwischen
Umso bemerkenswerter ist es, dass die Kontaktstellen kei­ Zellen noch die charakteristischen abgeflachten Stellen.
neswegs dauerhaft oder auch nur langlebig sind, sondern Durch Anheften an die Schleifen hatten die Antikörper ver­
kontinuierlich auseinander- und wieder zusammengebaut hindert, dass die Connexine verschiedener Zellen aneinan­
werden. So ersetzt unser Körper durchschnittlich alle zwei der andocken.
Stunden die Hälfte der Connexine einer Gap Junction im
Herz. Im Lauf eines Tages wird also höchstwahrscheinlich Folgen Sie dem Protein!
jede einzelne derartige Verbindung in einem menschlichen Als Nächstes wollten wir die Tunnelproteine auf ihrem Weg
Herz abgebaut, und neu zusammengebaute Kanäle treten an von der Produktion bis zur Gap Junction in einer lebenden
ihre Stelle. Zelle in Echtzeit beobachten. Aber dazu brauchten wir eine
Angesichts der Komplexität dieser außergewöhnlichen andere Technik. 1994 trafen wir drei uns erneut bei einer
Strukturen muss es wohl Systeme geben, die sicherstellen, Konferenz – diesmal der Tagung der Amerikanischen Gesell­
dass ihr Aufbau reibungslos verläuft, damit die Zell-Zell- schaft für Zellbiologie in San Francisco. In nächtelangen Ge­
Kommunikation nicht unterbrochen wird. Wir drei haben sprächen über die Vorträge, die wir gehört hatten, begeister­
uns zusammengetan, um diese regulatorischen Mechanis­ ten wir uns immer mehr für das grün fluoreszierende Pro­
men zu erforschen. Insbesondere interessiert uns, wie Auf- tein (GFP). Eine der bei dieser Tagung Vortragenden beschrieb,
und Abbau der Kommunikationskanäle gesteuert werden. wie sie diesen fluoreszierenden Marker an das von ihr unter­
Bei einem Kaffee auf einer Tagung zu Gap Junctions heck­ suchte Protein geklebt hatte, um seinen Weg in lebenden Zel­
ten wir 1991 den genauen Plan unserer zukünftigen Kollabo­ len verfolgen zu können. Entsprechend fragten wir uns, ob
ration aus. Paul Lampe war damals als Postdoc in Ross John­ unsere Forschungsgruppen GFP zum Erfassen der Bewegun­
sons Labor an der University of Minnesota, wo man gerade gen von Connexinen nutzen könnten.
begann, sich schwerpunktmäßig mit der Regulation des Auf­ Zunächst hefteten wir GFP an das Schwanzende. Zu unse­
baus von Gap Junctions zu beschäftigen. Dale Laird als letztes rer großen Freude funktionierte der Ansatz: Die markierten

WWW.SPEK TRUM .DE 27


Connexine wurden korrekt in die Zellmembran eingebaut,
wo sie sich zu funktionsfähigen Gap Junctions verbanden,
Auf- und Abbau von Gap Junctions
die sich praktisch normal verhielten. Damit hatten wir nun
eine leistungsfähige Methode, mit der wir das Verhalten von Zellen bauen ihre Gap Junctions (rechts unten) fortlaufend rasch
Connexinen innerhalb von Zellen beobachten konnten – auf und um. Zunächst produzieren sie Proteine namens Conne­
eine Arbeit, die Laird an seiner neuen Stelle an der University xine (1), fügen sie dann zu so genannten Halbkanälen zusam­-
of Western Ontario fortsetzte. men (2) und bauen diese schließlich in die Zellmembran ein (3).
Unsere allerersten Beobachtungen überraschten uns. Zu­ Treffen die Halbkanäle dort auf bereits bestehende Gap Junc-
nächst fotografierten wir die Zellen alle zehn Minuten in der tions, können sie an ihre Gegenstücke in der Nachbarzelle an­
Annahme, wir könnten die Einzelbilder zu einem Zeitraffer­ docken und so neue Verbindungsgänge zwischen diesen Zel-
film zusammensetzen, der die Bewegungen der Connexine len ausbilden (4). Gleichzeitig werden alte Gap-Junction-
wiedergibt. Aber diese waren so schnell, dass wir die einzel­ Kanäle entfernt und abgebaut (5 und 6).
nen Proteine nicht verfolgen konnten. Wir versuchten es er­
neut mit einem Abstand von zwei Minuten, aber auch das
war immer noch zu lang. Um einzelne markierte Moleküle
bei ihrer Wanderung innerhalb der Zelle beobachten zu kön­
nen, mussten wir im Endeffekt alle paar Sekunden eine Auf­
nahme machen.
Die entstandenen Filme ermöglichten es uns nicht nur,
die Bewegung der Connexine zu verfolgen, sondern auch,
wie die Halbkanäle in den Zellen entlang von molekularen
Schienen aus so genannten Mikrotubuli transportiert wur­
den. Wir und andere Forscher beobachteten, wie sich kleinere
Gap Junctions zu größeren zusammenlagern. Hinweise dar­
auf hatten wir bereits in unseren elektronenmikroskopi­
schen Untersuchungen gefunden. Umgekehrt können auch
größere Kontaktflächen auseinanderbrechen und dann klei­
nere bilden. Das geschieht, wenn die Zellen wachsen, sich be­
wegen, verformen und teilen. 1 C
 onnexine (blau), die Bau-
Unsere Kollegen entwickelten weitere Methoden, um einheiten der Gap Junctions,
werden in einem Zellkom-
Connexine zu markieren und fanden heraus, dass Gap Junc­
partiment, dem endoplas-
tions durch Anlagern weiterer Halbkanäle an ihre äußere Be­ matischen Retikulum,
grenzung wachsen. Damit stellt das Zentrum einer Gap Junc­ synthe­tisiert.
tion den »ältesten« Teil der Zell-Zell-Kontaktfläche dar. Diese endoplasmatisches
Retikulum
Komponenten scheinen im Lauf der Zeit entfernt und durch
neuere Kanäle aus den äußeren Regionen ersetzt zu werden.
Das könnte erklären, wie Gap Junctions erhalten bleiben, ob­
wohl in ihnen Connexine verloren gehen.

Zelluläre Kannibalen
Das vielleicht bemerkenswerteste Ergebnis unserer Untersu­
chungen an lebenden Zellen war, dass manchmal große Teile
von Gap Junctions plötzlich verschwinden. Dabei beißt eine
der beteiligten Zellen quasi ein Stück aus ihrem Nachbarn 6 Die Lysosomen bauen die
heraus und »schluckt« die von beiden Zellen gelieferten ver­ Gap-Junction-Proteine in ihre
Einzelelemente, die Amino-
bindenden Komponenten auf einen Schlag. Diesen Mecha­ säuren, ab und setzen diese ins
nismus haben schon andere Forschergruppen anhand frühe­ Zyto­plasma frei, wo sie zur
Herstellung neuer Proteine zur
rer elektronenmikroskopischer Aufnahmen vorgeschlagen. Ver­fügung stehen.
Das radikale Manöver könnte eine zuverlässige Methode dar­
stellen, um die Kommunikation zwischen zwei Zellen rasch
abzubrechen, wenn diese nicht länger erwünscht ist. Eine
Connexin
solche Beseitigung von Gap Junctions im großen Stil erfolgt
beispielsweise nach einer Geburt in der Gebärmutter, um
EMILY COOPER

das Kommunikationsnetzwerk abzuschalten, das sich zur


Koordinierung der Kontraktionen gebildet hatte.

28  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Kern
Halbkanal

Golgi-
Apparat
Vesikel mit
Halbkanälen

3 Die Halbkanäle gelangen wieder-


2 Vesikel transportieren die um per Vesikel zur Zellmembran.
Vesikel mit Connexine zum Golgi-Apparat, Dort bilden sie eine Pore, durch
Connexinen wo jeweils sechs davon einen die Ionen oder kleine Moleküle in
Halbkanal bilden. die Zelle hinein- oder aus ihr he-
rausgelangen können.

4 Halbkanäle diffundieren innerhalb der


Membran. Erreichen sie eine Gap Junction,
können sie sich mit Halbkanälen einer
gegenüberliegenden Zelle zu einer verlän-
gerten Pore verbinden, die vom Inneren
der einen Zelle bis ins Innere der anderen
reicht. Gap Junctions bestehen oft aus
Tausenden solcher gepaarten Halb-
kanäle.

Lysosom

Gap Junction

Connexosom
5 Zellen brechen immer wieder ganze
Blöcke (gelber Bereich) dieser Gap
Junctions ab und ersetzen sie durch
neuere Baueinheiten. Die entfern-
ten Abschnitte, die als Connexosome
bezeichnet werden, fusionieren mit
Lysosomen, den in der Zelle für die
Verdauung zuständigen Organellen.
Austausch
von Ionen
und kleinen
Molekülen
EMILY COOPER

WWW.SPEK TRUM .DE 29


Als Nächstes machten wir uns daran zu erforschen, wie vergrößern, werden sie später rasch wieder abgebaut, was die
Zellen diese massiven molekularen Umbauten überwachen Heilung unterstützt. Daher weisen Diabetiker einen langsa­
könnten. Erste Untersuchungen wiesen auf bestimmte Prote­ meren Wundverschluss auf – wegen ihrer kontinuierlichen
ine als Regulatoren hin, so genannte Kinasen. Indem diese an Überproduktion von Cx43. Und bei Kratzern in der Hornhaut
ein Zielprotein Phosphatgruppen anheften, können sie des­ des Auges können Connexine Entzündungen und Narben
sen Aktivität oder seinen Ort innerhalb der Zelle verändern. anstatt Heilung fördern. In diesen Fällen unterstützt eine Be­
Es galt nun herauszufinden, ob Proteinkinasen auch das grenzung der Produktion oder Aktivität von Cx43 in den die
Verhalten von Connexinen regulieren, und falls ja, was genau Verletzung umgebenden Zellen einen raschen und narben­
die Phosphorylierung bewirkt. Lampe übernahm die Leitung freien Wundverschluss. Inzwischen verfolgen auch verschie­
dieser Experimente, als er 1994 sein Labor am Fred Hutchin­ dene Biotechnologiefirmen diesen Ansatz.
son Cancer Research Center in Seattle einrichtete. Er und sei­ Allerdings müssen die Forscher noch besser verstehen,
ne Mitarbeiter nahmen Cx43 auseinander und untersuchten wie sich Connexine in verschiedenen Geweben und un-
einzelne Teile des Proteins. Da­ ter unterschiedlichen Be­
durch stellten sie fest, dass die­ dingungen zusammen­
Derzeit sind 14 verschiedene Er­k ran­
ses Connexin im Lauf seines Le­ lagern – und warum das
bens an bis zu 15 unterschied­ kungen bekannt, die von Defekten in bei manchen Krankhei­
lichen Stellen entlang seiner Connexinen herrühren ten schiefgeht. Die Unter­
Schwanzregion phosphoryliert suchung krank­heits­ver­
wird. Mit dieser Information konnten wir einige der Regeln ursa­chender Mutationen in Genen für Connexin-Proteine
aufdecken, nach denen sich Gap Junctions bilden, die Cx43 beginnt hierzu nützliche Einblicke zu liefern.
enthalten. Wenn bestimmte Kinasen an spezifischen Stellen Mitte der 1990er Jahre entdeckten Forscher den ersten
des Proteinschwanzes ihren Job erledigen, fördert die Modifi­ stichhaltigen genetischen Beweis dafür, dass Connexine an
kation den Aufbau solcher Verbindungen. Kinasen, die auf Krankheiten beteiligt sein können: Mutationen in dem Cx32-
andere Teile des Schwanzes einwirken, hemmen hingegen codierenden Gen verursachen eine Form des so genannten
die Bildung von Gap Junctions, ihre Aktivität oder Größe. Charcot-Marie-Tooth-Syndroms. Bei dieser Erkrankung ver­
schwinden die Gap Junctions aus der die Nerven isolieren­
Hilfestellung nach Herzinfarkt den Myelinschicht, wodurch diese sich auflöst und die Ner­
Dank solchen Einblicken können wir nun in menschlichen ven degenerieren. Das wiederum verursacht insbesondere in
Gewebeproben den Einfluss der Phosphorylierung darauf den Gliedmaßen Muskelschwund und -schwäche. Die Ent­
studieren, wie Gap Junctions nach einer Verletzung oder bei deckung, dass Mutationen in den Connexin-Genen schwer
einer Krankheit zusammengebaut werden und funktionie­ wiegende Konsequenzen haben, ließ das Interesse von For­
ren. Wir und andere haben beispielsweise begonnen zu un­ schern und Klinikern an Gap Junctions geradezu explodie­
tersuchen, wie sich die Kommunikation durch Gap Junctions ren. Folgestudien förderten weitere Connexin-Mutationen
verändert, wenn Herzzellen sich nach einem Infarkt von der zu Tage. Derzeit sind 14 verschiedene Erkrankungen bekannt,
Sauerstoffunterversorgung erholen oder wenn sich Hautzel­ die von Defekten in Gap-Junction-Connexinen herrühren.
len daran machen, einen Schnitt oder Kratzer zu heilen. In Das Auffälligste an dieser Sammlung von Störungen ist,
beiden Fällen, so fand Lampes Team heraus, nimmt die Phos­ wie stark sie sich voneinander unterscheiden. Neben der neu­
phorylierung an einer bestimmten Stelle am Schwanz von rodegenerativen Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung können
Cx43 zu, was kurzzeitig die Gap Junctions in diesen Geweben Mutationen in Connexinen verantwortlich sein für Hörver­
vergrößert. Denn die Modifikation hindert Cx43 daran, mit lust, Epilepsie, Herzkrankheiten, Hautkrankheiten, grauen
einem Protein in Wechselwirkung zu treten, das den Einbau Star sowie viele Krankheiten, die während der Embryoent­
neuer Connexine in bestehende Verbindungen bremst. Die wicklung entstehen. Wenig überraschend verursachen Muta­
resultierende Vergrößerung der Gap Junction erhöht die tionen in verschiedenen Connexinen auch unterschiedliche
Kommunikationsfähigkeit der Zellen – die in den ersten Mi­ Krankheitsbilder. Eher erstaunt, dass solche mutierten Kanal­
nuten nach einer Verletzung kritisch ist – und hält die Herz­ proteine nicht zwangsläufig alle Gewebe oder Organe glei­
gewebefunktion aufrecht beziehungsweise erleichtert die chermaßen beeinträchtigen: Wird eine bestimmte Mutante
Wanderung von Hautzellen zur offenen Wunde hin. in zwei Organen hergestellt, stört sie manchmal nur die Funk­
Dieses neue Wissen hat eine Tür zur Entwicklung von The­ tion des einen, nicht jedoch die des anderen.
rapeutika geöffnet, mit denen sich die Aktivität der relevan­ Viele Arbeitsgruppen arbeiten daran, das Phänomen zu
ten Proteinkinasen gezielt fördern oder hemmen lässt. Man verstehen. Eine mögliche Erklärung lautet, dass andere, ge­
sollte bei derartigen Behandlungsstrategien jedoch vorsich­ sunde Connexine die defekte Variante kompensieren können,
tig vorgehen, denn eine Zunahme von Gap Junctions in ei­ indem sie die Kommunikation der Gap Junctions aufrechter­
nem bestimmten Krankheitsstadium könnte sich in einem halten. Das mag nur in manchen Geweben stattfinden, nicht
späteren als schädlich erweisen. Zum Beispiel: Obwohl sich in anderen. Vielleicht spielt aber auch ein bestimmtes Conne­
Gap Junctions unmittelbar nach einer Verletzung kurzzeitig xin je nach Zellart abweichende Rollen, abhängig davon, wel­

30  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


che anderen Connexin-Typen auch noch vorkommen. Ver­ spezifische Arzneimittel die Fähigkeit der Connexine wieder­
schiedene Mitglieder der Connexin-Familie können sich au­ herstellen, einen funktionsfähigen Kanal auszubilden. Solche
ßerdem zusammentun und einen Hybridkanal ausbilden, der Therapien könnten die Zell-Zell-Kommunikation reparieren,
die Passage unterschiedlicher molekularer Signale erleichtert. ohne das mutierte Connexin komplett zu ersetzen. Für Letz­
Bei einigen Connexinen sorgen Defekte allerdings für Be­ teres wäre eine Gentherapie erforderlich, ein immer noch ris­
einträchtigungen in vielen Geweben. So untersuchen wir kanter Ansatz mit unsicherem Ausgang.
beispielsweise eine Krankheit namens okulodentodigitale Die Entdeckung krankheitsverursachender Mutationen in
Dysplasie (ODDD), die durch Mutationen im Cx43-Gen ver­ Connexinen bietet aber noch mehr als nur viel versprechen­
ursacht wird. Betroffene weisen eine Reihe unterschiedlicher de therapeutische Ziele. Sie gibt Wissenschaftlern eine neue
Symptome auf, etwa kleine Augen, unterentwickelte Zähne, Sammlung an Werkzeugen zum Erforschen der biologischen
Skelettanomalien im Gesicht und am Schädel sowie Gewebe Funktionen von Gap Junctions an die Hand. So kennen wir
zwischen den Fingern oder Zehen. Zudem entwickeln man­ immer noch nicht die spezifischen Moleküle, die über diese
che Patienten eine Hautstörung, die zu verdickten, schwie­ Kontaktstellen wandern. Von Herzzellen wissen wir zwar,
ligen Handinnenflächen und Fußsohlen führt. Aktuelle Stu­ dass die durch die Gap Junctions fließenden Ionen ein elekt­
dien zum Lebenszyklus von Connexinen haben Hinweise risches Sig­nal vermitteln. Aber es ist noch kaum bekannt,
darauf geliefert, warum einige Menschen unter einer schwe­ welche Sig­nalstoffe etwa die Funktion des Hörapparats im
reren Form der Krankheit leiden als andere. Ohr oder den Wundheilungsprozess in der Haut unterstüt­
Bei Patienten mit ODDD wurden mehr als 70 Mutationen zen. Erst wenn wir verstehen, wie sich die Connexin-Kanäle
in dem Gen gefunden, das für Cx43 kodiert. Wir begannen zu in unterschiedlichen Zellen verhalten und wie Veränderun­
erforschen, was diese Erbgutveränderungen bei dem Protein gen im Aufbau und in ihrer Aktivität Krankheiten hervorru­
bewirken und welche Folgen das für den Aufbau der Gap Junc­ fen, werden wir die wirklich grundlegenden Fragen zu dieser
tions hat. Laird und seine Kollegen fanden heraus, dass viele intimen Zellkommunikation stellen können: Was genau »er­
der Mutationen zu einem Connexin führen, das zwar bis zur zählen« sich Zellen, und wie regeln diese molekularen Bot­
Zellmembran gelangt, dort aber keine funktionsfähigen Gap schaften den Aufbau und Betrieb komplexer Lebewesen –
Junctions bildet: Da durch solche Kontaktstellen in Zellkultur­ einschließlich des Menschen?  Ÿ
tests kein Farbstoff fließt, werden entweder diese Gap Junc­
tion-Kanäle nicht korrekt zusammengebaut oder sie lassen
DI E AUTOREN
die Moleküle nicht hindurch. So oder so leidet die Kommuni­
kation der Zellen unter den genetischen Veränderungen.
Andere ODDD-Mutationen hingegen verhindern, dass die
Connexine die Zellmembran überhaupt erreichen. Davon be­
troffene Patienten leiden im Allgemeinen unter der schwere­
ren Form der Krankheit, die auch die Haut verändert. Offen­
bar haben Connexin-Halbkanäle noch eine andere Aufgabe,
als Gap Junctions auszubilden. Erfüllen sie diese nicht – was Dale W. Laird (links) ist Professor für Zellbiologie an der University
der Fall ist, wenn die Connexine erst gar nicht zur Zellmemb­ of Western Ontario, Paul D. Lampe (Mitte) forscht am Fred Hut-
chinson Krebsforschungszentrum in Seattle. Ross G. Johnson
ran gelangen –, erwachsen daraus schwerwiegendere Proble­ ist emeritierter Professor für Genetik, Zellbiologie und Entwick­lung
me. Statt sich zur Kanalbildung zusammenzulagern, könnten an der University of Minnesota. Er begann bereits in den 1960er
beispielsweise manche Halbkanäle Signale freisetzen oder Jahren mit der Erforschung von Gap Junctions und beschäftigte
sich gemeinsam mit Laird und Lampe über 20 Jahre lang mit ihrem
Moleküle aus der Umgebung der Zelle aufnehmen. Solche Ak­ Aufbau und ihrer Regulation.
tivitäten von Halbkanälen ließen sich experimentell bereits
nachweisen und haben der Rolle der Connexine in der Zell­
QUELLEN
kommunikation eine weitere Dimension hinzugefügt. Künf­
tige Untersuchungen mutierter Halbkanäle könnten neue Johnson, R. G. et al.: Gap Junction Assembly: Roles for the
Formation Plaque and Regulation by the C-Terminus of Conne-
Ziele für die Behandlung der ODDD oder anderer, mit Conne­
xin43. In: Molecular Biology of the Cell 23, S. 71 – 86, 2012
xinen zusammenhängender Erkrankungen aufzeigen. Diese Solan, J. L., Lampe, P. D.: Specific Cx43 Phosphorylation Events
schließen möglicherweise auch bislang nicht identifizierte Regulate Gap Junction Turnover in Vivo. In: FEBS Letters 588,
Moleküle ein, die durch ungekoppelte Halbkanäle in die Zel­ S. 1423 – 1429, 2014

len gelangen.
Neue Erkenntnisse dazu, wie sich Mutationen auf den Zu­ WEBLI N KS
sammenbau und das Verhalten von Gap Junctions auswirken, www.ScientificAmerican.com/may2015/gap-junctions
könnten zu besonders zielgerichteten Therapien führen, Hier können Sie sich zwei kurze Videos zur Funktion und zum Aufbau
die ohne schwer wiegende Nebenwirkungen helfen. Verän- von Gap Junctions ansehen.

dert etwa eine Mutation den Aufbau einer Gap Junction, nicht Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1372763
aber den Transport der Connexine zur Zellmembran, würden

WWW.SPEK TRUM .DE 31


INFEKTIONSMEDIZIN

Der blinde Fleck


der Immunabwehr
Wer eine Grippeinfektion überstanden hat, ist gegen die auslösenden Viren
weitgehend resistent. Kommt er dann jedoch mit leicht veränderten Erregern
in Kontakt, erweist sich die Körperabwehr oft als überraschend ineffektiv. Ein
mathematisches Modell zeigt, warum.
Von Adam J. Kucharski

Wie eine Katze, die nur aufgemalte Mauselöcher über-


wacht, ist auch unser Immunsystem gegen frühere Grippe-
erreger gewappnet, die womöglich gar nicht mehr existieren.
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IN
PAR

32 
NA

SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


AN
BIOLOGIE & MEDIZIN

K
rankheitserreger fordern gerade Kindern viel ab. nen (den so genannten Antigenen) wieder. Die Körper-
Die Kleinen werden in Kitas und Schulen mit di- abwehr produziert daraufhin Waffen wie Antikörper, die zu
versen Viren und Bakterien konfrontiert, die für diesen Antigenen passen, und macht die Eindringlinge un-
ihr Immunsystem neu sind. Deshalb häufen sich schädlich.
bei vielen Kindern kurz nach Beginn des Kitabesuchs die In- Bei immer wiederkehrendem Kontakt mit Masernerre-
fekte. Erwachsenen ergeht es besser: Sie haben zahlreiche gern sollte die Widerstandsfähigkeit eines Menschen dage-
Kontakte mit unterschiedlichsten Erregern hinter sich und gen theoretisch zunehmen – die Aktivität entsprechender
dadurch Immunität gegen viele davon erworben. Antikörper im Blut müsste sich im Lauf des Lebens verstär-
Merkwürdigerweise besteht im Fall der Virusgrippe (In- ken. Untersuchungen an verschiedenen Altersgruppen ha-
fluenza) kein solcher Altersvorteil. Untersuchungen zur ben das tatsächlich bestätigt. Ein solches Verhalten kann
Grippepandemie von 2009 haben sogar ergeben, dass kleine man mathematisch simulieren. Die Modelle, die wir dabei
Kinder tendenziell am widerstandsfähigsten gegen die gera- erhalten, erlauben es nicht nur, beobachtete Phänomene zu
de kursierenden Erreger sind, während die Immunität bei reproduzieren, sondern wir können mit ihrer Hilfe auch bio-
Menschen im mittleren Erwachsenenalter zurückgeht und logische Vorgänge studieren, die sich auf Grund ihrer Kom-
erst bei Senioren wieder ansteigt. Obwohl Erwachsene also plexität oder aus ethischen Gründen kaum experimentell
öfter Kontakt zu Influenzaviren hatten als Kinder, reagiert darstellen lassen. Beispielsweise können wir untersuchen,
ihr Immunsystem auf eine Ansteckung schwächer. wie eine Infektionswelle die Immunität einer Population be-
Zwar kennen Biologen und Mediziner dieses Phänomen einflusst, ohne Menschen dem Erreger wirklich auszusetzen.
schon länger, aber was dahintersteckt, verstehen sie nur un- Im einfachsten epidemischen Modell teilt man eine Po-
zureichend. Anhaltspunkte liefern nun mathematische Mo- pulation in drei Gruppen ein. Die erste ist für die betrachte-
delle, mit denen sich verschiedene Aspekte der Körperab- te Infektion empfänglich und könnte noch erkranken, die
wehr simulieren lassen. An zweite ist bereits krank, die
ihnen untersuchen wir, wie dritte hat die Infektion über-
frühere Kontakte zu Grippe- Weil Grippeviren sehr variabel wunden und ist nun immun
viren die Immunantwort auf sind, lassen sich Infektionen mit dagegen. Mit solchen Mo-
neue Infektionen beeinflus- dellen untersuchten der Epi-
sen und welche Rolle das Al-
ihnen schwer simulieren demiologe Roy M. Anderson
ter dabei spielt. Indem wir und der Biologe und Physi-
mathematische Methoden mit epidemiologischen und me- ker Robert McCredie May in den 1980er Jahren, wie empfind-
dizinischen Daten verknüpfen, beginnen wir allmählich die lich verschiedene Altersgruppen gegenüber Krankheiten
genauen Abläufe der Immunitätsbildung zu durchschauen. wie den Masern sind. Dabei erkannten sie, dass die Immuni-
tät bei jüngeren Altersgruppen in der Realität schneller zu-
Die entscheidenden ersten Kontakte nimmt als nach den Drei-Gruppen-Modellen zu erwarten
Unsere Forschungsarbeiten untermauern die mehr als 50 Jah­- wäre. Die Wissenschaftler vermuteten daher, dass Kinder
re alte, recht sonderbar anmutende Hypothese von der »An- dem Erreger öfter begegnen als Menschen anderer Alters-
tigenerbsünde« (englisch: original antigenic sin), wie Medi- gruppen, weil sie mehr soziale Kontakte haben als diese.
ziner sie nennen. Diese Hypothese hilft zu verstehen, wa­- Und tatsächlich: Veränderten die Teams ihre Modelle in
rum Grippeviren, denen man als Kind begegnete, für die Richtung eines höheren Infektionsrisikos während des Kin-
Immunabwehr ungleich mehr zählen als spätere Erregerkon- desalters, passten die Simulationsergebnisse besser zu den
takte. Auch erklärt sie, warum einige Bevölkerungsgruppen Beobachtungen.
so unerwartet heftig von früheren Grippewellen betroffen
waren. Vielleicht erlaubt sie sogar Prognosen darüber, wie AUF EINEN BLICK
stark bestimmte Altersgruppen von neuen Epidemien be-
troffen sein werden und wie sich Grippeimpfungen verbes- ZU FRÜH FESTGELEGT
sern lassen.
Epidemiologen haben sich in ihren mathematischen Mo-
dellen bislang kaum mit Immunreaktionen auf Influenzavi-
1
Virale Infektionen können lebenslange Immunität gegenüber
dem jeweiligen Erreger verleihen, etwa im Fall der Masern. Bei
Grippeviren ist das anders: Sie mutieren häufig und treten daher
ren befasst, denn weil die Erreger sehr variabel sind, lassen von Jahr zu Jahr in neuen Varianten auf.

sich solche Infektionen schwer simulieren. Meist modellierte


man den Krankheitsverlauf bei Infektionen wie den Masern, 2
Die Körperabwehr tut sich mit den veränderlichen Grippe­
erregern schwer. Das Konzept der Antigenerbsünde erklärt,
warum: Virenstämme, denen ein Mensch früh ausgesetzt ist,
die von wenig veränderlichen Viren ausgelöst werden, wes- prägen dauerhaft seine Immunreaktion. Das beeinträchtigt die
halb der Organismus einen lebenslangen Schutz dagegen Fähigkeit des Organismus, andere Stämme zu bekämpfen.
aufbauen kann. Wer Masern einmal überwunden hat oder
dagegen geimpft ist, dessen Immunsystem erkennt das 3
Für die These der Antigenerbsünde gibt es empirische Belege;
sie wird aber auch von mathematischen Modellen untermauert.
Virus bei neuen Kontakten sofort an den Oberflächenprotei-

WWW.SPEK TRUM .DE 33


Leider lässt sich die Immunität gegenüber Influenzaviren mehr als eine Million – unterschiedliche »Infektionsge-
nicht so leicht beschreiben. Denn diese mutieren sehr schnell schichten« denkbar. Bei 30 Stämmen sind es mehr als eine
und können von Jahr zu Jahr mit anderer Antigenausstat- Milliarde.
tung auftreten. Das macht es für den Organismus schwerer, Mit diesem Problem habe ich mich in meiner Doktorar-
sie wiederzuerkennen. Die hohe Mutationsrate der Grippevi- beit an der University of Cambridge befasst, gemeinsam mit
ren ist der Grund, warum der Grippeimpfstoff jährlich aktu- meiner Betreuerin Julia Gog. Wir überlegten: Kommt ein
alisiert werden muss. Mensch Jahr für Jahr mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
mit Grippeerregern in Kontakt, dann sollten seine Anste-
Anfällige Erwachsene ckungsrisiken den verschiedenen Stämmen gegenüber von-
Als ich erstmals die Daten zur Grippeepidemie von 2009 sah, einander unabhängig sein. Wenn wir also die Wahrschein-
begann ich darüber nachzudenken, wie die Altersverteilung lichkeit dafür ermitteln wollen, dass ein Mensch eine be-
der Immunität zu Stande kommt: hoch bei Kindern, niedrig stimmte Kombination von Infekten erleidet, müssen wir nur
bei Erwachsenen mittleren Alters, erneut hoch bei Betagten. die Ansteckungsrisiken gegenüber allen diesen Stämmen
Wenn Kinder viel Kontakt zueinander haben, so meine Über- miteinander multiplizieren.
legung, und deshalb mit zahlreichen Erregern konfrontiert Doch als wir jene Annahme in das Modell einfließen lie-
werden, sollten sie nach und nach eine immer bessere Im- ßen und rechneten, erhielten wir keineswegs die erwarteten
munität aufbauen. Sie sollten ein Immungedächtnis entwi- Ergebnisse, sondern etwas ziemlich Verrücktes: War jemand
ckeln mit der Fähigkeit, auf die meisten zirkulierenden Viren mit einem Virusstamm in Kontakt gekommen, dann war er
zu reagieren. mit größerer Wahrscheinlichkeit auch mit einem zweiten
Nach Schulzeit und Studium haben jedoch die meisten konfrontiert gewesen. Genauso gut könnte man behaupten:
Menschen weniger Kontakte zu anderen als zuvor. Daher Vom Blitz getroffen worden zu sein, macht eine Influenzain-
fangen sie sich nun seltener ein Grippevirus ein. Folglich fektion wahrscheinlicher. Ein anscheinend absurdes Resultat.
greift ihr Immunsystem, wenn es auf Ansteckungen reagiert, Der Grund dafür erwies sich als simpel – wir hatten das Le-
verstärkt auf Antikörper aus der Kindheit zurück. Die wirken bensalter nicht berücksichtigt. Angenommen, Infektionen
aber wegen der häufigen Veränderungen des Virus jetzt nicht ereignen sich mit halbwegs gleich bleibender Häufigkeit,
mehr so effektiv wie früher. Zu erwarten wäre also, dass die dann steigt mit dem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass eine
Influenzaimmunität im mittleren Alter statistisch sinkt – bestimmte Person wenigstens einmal mit Influenza infiziert
auch weil viele Erwachsene nicht regelmäßig an Grippeimp- gewesen ist. Greift man also einen beliebigen Menschen her-
fungen teilnehmen. Der erneute Anstieg im höheren Alter aus und erfährt, er habe bereits eine Grippeerkrankung hin-
wiederum könnte daran liegen, dass Senioren sich relativ oft ter sich (oder einen Blitzschlag), weiß man sofort, dass dieser
impfen lassen, was ihre Ausstattung mit Antikörpern lau- Mensch eher älter als jünger ist. Und das macht es wahr-
fend aktualisiert. scheinlicher, dass er noch andere Missgeschicke erlebt hat,
Soweit die Hypothese. Doch wie lässt sie sich im mathe- etwa die Infektion mit einem zweiten Virusstamm.
matischen Modell prüfen? Weil Influenzaviren sehr variabel
sind, kann eine Person gegen einen bestimmten Virusstamm Die Rolle der sozialen Kontakte
völlig immun sein, gegen einen anderen nur eingeschränkt Wenn wir die Altersklassen separat behandelten, waren die
und gegen einen dritten überhaupt nicht. Daher muss man Infektionen wieder voneinander unabhängig, übereinstim-
bei einschlägigen Untersuchungen genau wissen, welchen mend mit unseren Ausgangsüberlegungen. Das Modell
Virusstämmen jemand ausgesetzt war und in welcher Rei- schien somit brauchbar zu sein. Wir begannen damit zu si-
henfolge. Und hier wird es wegen der vielen Kombinations- mulieren, wie sich die Grippeimmunität eines Menschen im
möglichkeiten knifflig. Angenommen, es zirkulierten in der Lauf seines Lebens verändert. Hierbei berücksichtigten wir
betrachteten Zeitspanne 20 verschiedene Stämme: Dann nicht nur die hohe Mutationsrate des Grippevirus, sondern
sind für einen individuellen Menschen theoretisch 220 – auch den Umstand, dass das Infektionsrisiko in jeder Alters-
gruppe von der (durchschnittlichen) Zahl sozialer Kontakte
MEHR WISSEN BEI abhängt, über die epidemiologische Untersuchungen Aus-
kunft geben.
Unser  Leider reproduzierte unser Modell den Rückgang der Im-
Online-Dossier munität im mittleren Alter nicht korrekt. Immerhin lieferte
zum Thema  es für Kinder eine stärkere Immunität als für Erwachsene,
»Grippe«  entsprechend den Beobachtungen. Doch während der Anti-
finden Sie unter körperspiegel im Blut laut empirischen Daten schon zwi-
CDC / FREDERICK MURPHY

schen dem 5. und 10. Lebensjahr abzufallen beginnt, setzte er


www.spektrum.de/ in unseren Modellrechnungen erst zwischen dem 15. und 20.
t/grippe Lebensjahr ein, also erst nach der Schulzeit mit ihren vielen
sozialen Begegnungen.

34  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Der erste Eindruck zählt Kinder sind zahlrei­ Zwischen dem 5. und 10. Mit fortschreitendem
chen Krankheitskei­ Lebensjahr fährt das Alter kommt der Körper
Wenn Viren eines bestimmten Typs einen Or­ men ausgesetzt, Immunsystem die Pro- immer häufiger mit
ganismus infizieren und es diesem gelingt, während sie heran­ duktion neuer Antikör­ Grippeviren in Kontakt,
wachsen. Ihr Körper per zurück. Tauchen nun die sich stark von denen
sie zu besiegen, baut sein Immunsystem oft antwortet darauf mit geringfügig veränderte der Kindheit unterschei­
einen lebenslangen Schutz vor ihnen auf. Er­ der Produktion Grippeviren auf, hat die den, so dass das Immun­
wachsene besitzen deshalb meist eine stär­ diverser Antikörper, Körperabwehr mitunter system sie korrekt als
um einen Immun­ Schwierigkeiten damit, unbekannte Erreger
kere Körperabwehr als Kinder und werden schutz aufzubauen den Unterschied zu auffasst und mit frisch

SCIENTIFIC AMERICAN,  NACH: KUCHARSKI, A.J., GOG, J.R.: THE ROLE OF SOCIAL CONTACTS AND ORIGINAL ANTIGENIC SIN IN SHAPING
seltener krank. Das gilt allerdings nicht im und entsprechende erkennen. Sie bekämpft gebildeten – und somit
Fall der Influenza (Grippe). Zwar nimmt die Infektionen künftig die neuen Erreger mit aktuell angepassten –

THE AGE PATTERN OF IMMUNITY TO SEASONAL INFLUENZA. IN: PLOS COMPUTATIONAL BIOLOGY 8, E1002741, 2012, FIG. 2
zu verhindern. Antikörpern, die auf die Antikörpern gegen sie
Grippe­immunität während der Kindheit er­ Vorgängerviren zuge­ vorgeht. Dies verbessert
wartungsgemäß zu, sinkt aber im mittleren schnitten sind und jetzt den Immunschutz eben­-
Lebensalter wieder ab. Eine mögliche Erklä­ nicht mehr so gut so wie die häufigen
wirken. Der Immun­ Impfungen, die Senioren
rung hierfür lautet, das Immunsystem eines
schutz sinkt. üblicherweise erhalten.
Erwachsenen sei von den Erregern seiner
Anzahl neuer Antikörper im Blut

Kindheitstage geprägt – und übersehe, dass


hoch

die aktuellen Viren sich von diesen leicht un­


terschieden. Es reagiere auf neue Influenzain­ Stärke der Immunreaktion
fektionen deshalb mit veralteten Verteidi­
gungswaffen.
niedrig

Lebensalter

Ich habe mich mit zahlreichen Kollegen darüber ausge- denten der University of Michigan an Infektionen mit einem
tauscht, wie sich Immunitätsbildung modellieren lässt. Eine neuen, jedoch verwandten Influenzastamm. Als Francis die
von ihnen war die Evolutionsbiologin Andrea Graham von Immunität gegenüber den Viren des Impfstoffs mit jener ge-
der Princeton University in New Jersey, die mich mit dem genüber den neuen Viren verglich, stellte er fest, dass die Stu-
Konzept der Antigenerbsünde bekannt machte. Obgleich denten wirksame Antikörper besaßen, um die ersten zu atta-
umstritten, erschien es mir interessant genug, um es ver- ckieren, nicht aber die letzten.
suchshalber in unser Modell einzubauen. Ich war gespannt,
ob die Berechnungen dann realitätsnähere Ergebnisse lie- Mit alten Waffen gegen neue Feinde
fern würden. Diese merkwürdige Beobachtung versuchte Francis so zu er-
Der Begriff Antigenerbsünde spielt auf den Sündenfall klären: Das Immunsystem entwickle nicht für jedes neue Vi-
von Adam und Eva an, der all ihre Nachfahren belastet, und rus, mit dem es konfrontiert werden, eigene Antikörper. Son-
bezieht sich auf das erste Zusammentreffen eines unberühr- dern es bekämpfe Erreger, die bereits besiegten Eindringlin-
ten Immunsystems mit einem gefährlichen Pathogen. Das gen ähneln, mit dem gleichen Waffenarsenal wie diese.
Konzept besagt: Falls die Körperabwehr aus dieser Begeg- Virenstämme, die in der Vergangenheit zirkulierten, und die
nung siegreich hervorgeht, ist sie davon so stark geprägt, Reihenfolge, in der man sich mit diesen infizierte, könnten
dass sie auf jede weitere Infektion mit den gleichen Antikör- also einen großen Einfluss darauf haben, wie gut ein Mensch
pern reagiert. Selbst wenn, wie bei den Grippeviren, ein ver- spätere Varianten des Erregers zu bekämpfen vermag.
änderter Erreger erscheint, greift der Organismus zu den ur- In den 1960er und 1970er Jahren stießen Wissenschaftler
sprünglich bewährten Waffen, obwohl diese eigentlich nicht auf weitere Belege für dieses Phänomen. Seither haben ande-
mehr so recht passen. Nicht nur das, zudem scheint er die re Studien es wieder in Frage gestellt. 2008 untersuchten For-
Aktivität noch ungeprägter Immunzellen zu unterdrücken, scher der Emory University (Georgia, USA) die Antikörper-
die lernen könnten, spezifisch auf die neuen Erreger zu re- spiegel von gesunden, erwachsenen Freiwilligen, die gegen
agieren – uns das macht die eigentliche »Erbsünde« aus. Grippe geimpft worden waren, und stellten fest, dass deren
Als Erster stieß 1947 der amerikanische Virologe Thomas Immunsystem durchweg effektiv auf Virusinfektionen re-
Francis junior auf dieses Problem. Trotz eines groß angeleg- agiert. Ein Jahr später jedoch berichtete ein anderes Team
ten Grippeimpfprogramms im Jahr zuvor erkrankten Stu- derselben Universität, geleitet von dem Immunologen Joshy

WWW.SPEK TRUM .DE 35


Jacob: Infiziert man Mäuse mit lebenden Grippeviren statt len gebildet hat, deren Antikörper auf den diesjährigen Keim
mit inaktivierten Erregern, wie sie in Impfstoffen typischer- zugeschnitten sind. Das entspricht dem bekannten Bonmot
weise zum Einsatz kommen, dämpft das die Immunreaktion über die Generäle, die stets den vorherigen Krieg führen, ins-
auf andere Virusstämme – so, wie es nach dem Prinzip der besondere wenn sie ihn gewonnen haben. Auch unser Im-
Antigenerbsünde zu erwarten ist. munsystem stützt sich bei der Gefahrenbekämpfung stärker
Jacob und seine Kollegen vermuteten, dieser Mechanis- auf bewährte Strategien als darauf, neue zu entwickeln – vor
mus liege in den so genannten B-Gedächtniszellen begrün- allem, falls die ersten noch einigermaßen erfolgreich sind.
det. Jene Zellen bringen einen Teil der Immunantwort her- Während der Endphase meiner Doktorarbeit nahmen wir
vor. Während einer Infektion werden sie darauf program- den Mechanismus der Antigenerbsünde in unser Modell auf
miert, die Erreger zu erkennen und Antikörper dagegen zu und simulierten erneut die zeitliche Entwicklung der Immu-
produzieren. Nachdem der Körper die Erreger besiegt hat, nität. Jetzt gab das Modell deren Rückgang in der Lebensmit-
verbleiben einige diese spezifischen B-Zellen im Körper – je- te korrekt wieder. Wie im wirklichen Leben setzte sie in der
derzeit bereit, neue Antikörper freizusetzen, falls dieselbe Simulation nun nach dem siebten Lebensjahr ein, wenn die
Gefahr wieder auftaucht. Jacob zufolge könnte eine Infektion meisten Menschen bereits mindestens eine Grippeinfektion
mit lebenden Influenzaviren bereits vorhandene Gedächt- hinter sich haben. Von da an, so lassen sich die Ergebnisse der
niszellen aktivieren, wohingegen die Programmierung neuer Berechnungen interpretieren, beeinträchtigt die Immunität
B-Zellen weitgehend unterbleibt. gegenüber früheren Erregern die Körperabwehr darin, auf
Angenommen, man ist im zurückliegenden Jahr mit Influ- neue Viren zu reagieren.
enza infiziert gewesen und hat sich im aktuellen Jahr ein Uns ist noch nicht völlig klar, warum die Widerstandsfä-
leicht verändertes Grippevirus eingefangen. Da die B-Ge- higkeit bei älteren Menschen wieder zunimmt. Dies könnte
dächtniszellen über »startbereite« Antikörper gegen das ähn- das Ergebnis einer höheren Durchimpfung bei Senioren sein.
liche Vorjahresvirus verfügen, setzen sie diese sofort gegen Vielleicht leben diese Menschen aber auch schon so lang,
den aktuellen Erreger ein – noch bevor der Körper neue B-Zel- dass alle neuen Virusstämme, mit denen sie in Kontakt kom-

Immun für immer


Jedes Jahr zur Grippeimpfung? Das wird wohl nicht ewig so bleiben: Ein Impfstoff könnte dauerhaften
Schutz vor allen Grippestämmen bieten – sogar vor bisher unbekannten Erregern.
Von Lars Fischer

Alle Jahre wieder lesen die Seuchenexperten in der Kristallkugel: wählter Impfstoff wirklich alle Typen abdecken könnte. Tatsäch­
Welche Influenzasubtypen werden nächstes Jahr wahrscheinlich lich gibt es so etwas bereits: Seit ein paar Jahren kennt man so
am häufigsten zirkulieren – und müssen deswegen im neuen genannte breitneutralisierende Antikörper, die an viele unter­
Impfstoff erfasst werden? Das Immunsystem reagiert auf Struk­ schiedliche Influenzaviren binden. Das können sie, weil sie an
turen am oberen Teil des Virusproteins Hämagglutinin (HA) – je­ eine Region der Virushülle andocken, in der sich die verschiede­
nes Eiweißstoffs, für den das H in der Typbezeichnung der Viren nen Typen sehr stark ähneln. Dass man dieses Prinzip tatsächlich
steht. Diese Region aber unterscheidet sich nicht nur bei einzel­
nen Subtypen, sondern verändert sich auch im Lauf der Zeit, und
so wird jedes Jahr eine neue Impfung gegen die Grippe fällig.
Theoretisch müsste das aber nicht sein. Bei allen Unterschie­
den zwischen den Influenzaviren gibt es immer noch so viele Ge­
meinsamkeiten ihrer Außenmoleküle, dass ein sorgfältig ge­
CDC / DAN HIGGINS

3-D-Modell eines Influenzavirus: Die Virushülle enthält die Ober-


flächenmoleküle Hämagglutinin (blau), Neuraminidase (rot)
und Matrixproteine (lila). Im Virusinneren befindet sich das ein-
zelsträngige RNA-Genom (grün). Die zufällige Veränderung der
Oberflächenmoleküle ist für die jährlich veränderten Virustypen
verantwortlich. Diese Veränderungen kommen durch die natür-
liche Vervielfältigung des Virus zu Stande und erschweren so
seine medizinische Bekämpfung.

36  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


men, sich deutlich von denen ihrer Kindheit unterscheiden – ist nicht geklärt, warum dieser Ausbruch so heftig war. Bis-
weshalb die ursprüngliche Prägung ihres Immunsystems lang galt als logischste Erklärung, der Virenstamm von 1951
nicht mehr greift. In jedem Fall legen unsere Ergebnisse müsse sehr verschieden von dem des Vorjahres gewesen
nahe: Die Antigenerbsünde kommt als Grund für den seltsa- sein, so dass die Menschen über keinen wirksamen Immun-
men Lebensverlauf der Immunität eher in Frage als die An- schutz verfügten. Es gibt aber kaum Belege hierfür. Zudem
zahl der sozialen Kontakte. variierte das Ausmaß der Epidemie abhängig von der Re­
gion – nicht nur im Vereinigten Königreich sondern ebenso
Löchriger Schutz anderswo. England und dort vor allem Liverpool sowie Wales
Ausgehend von diesen Erkenntnissen fragten wir uns, ob waren schwer betroffen, während beispielsweise die USA ge-
fehlgeleitete Immunreaktionen auch beeinflussen können, genüber dem Vorjahr nur eine leicht erhöhte Grippemortali-
wie heftig eine Epidemie ausfällt. Laut unserem Modell lautet tät verzeichneten. Auch in jüngerer Zeit erlebte das Vereinig-
die Antwort Ja: Hin und wieder kam es in den Simulationen te Königreich dramatische Grippeausbrüche in den Jahren
zu großen Infektionswellen durch Erreger, die sich nur wenig 1990 und 2000, wieder ohne nennenswerten Hinweis darauf,
von Viren des Vorjahres unterschieden. Anscheinend hinter- dass in diesen Jahren besonders ungewöhnliche Virenstäm-
lässt die Antigenerbsünde mitunter Lücken im Immunschutz me zirkuliert seien.
bestimmter Altersgruppen – die Körperabwehr reagiert auf Unser mathematisches Modell kann zeitliche Verläufe er-
neue Keime dann mit unpassenden Antikörpern. zeugen, die denen der Grippewellen von 1951, 1990 und 2000
Die besten historischen Belege für diese These stammen ähneln. Unter Berücksichtigung der Antigenerbsünde beein-
aus dem Jahr 1951, als eine tödliche Grippewelle die engli- flusst die Reihenfolge, in der verschiedene Grippevirenstäm-
sche Stadt Liverpool erfasste. Hinsichtlich ihrer Ausbrei- me eine bestimmte Altersgruppe infizieren, wie resistent de-
tungsgeschwindigkeit und Mortalität stellte sie sowohl die ren Mitglieder gegenüber künftigen Infektionen sind. An-
spanische Grippe von 1918 in den Schatten als auch die asia- ders ausgedrückt, wenn eine Grippewelle ausbricht, hat jede
tische (1957) und die Hongkong-Grippe (1968). Nach wie vor geografische Region ihr eigenes Immunprofil, das sich von

für einen Universalimpfstoff nutzen kann, haben kürzlich die Er­ Ein zweites Team um Antonietta Impagliazzo vom niederlän­
gebnisse zweier internationaler Arbeitsgruppen gezeigt. dischen Pharmaunternehmen Janssen verfolgte einen anderen,
Die breitneutralisierenden Antikörper lassen den variablen eher evolutionären Ansatz. Die Forscher veränderten das Hämag­
Kopf des Hämagglutinins links liegen und halten sich an den so glutinin eines H1N1-Erregers einerseits gezielt in die gewünschte
genannten Stiel. Dieser Abstandhalter zwischen Kopf und Virus­ Richtung, andererseits erzeugten sie aber mit zufälligen Mutati­
hülle ist nicht nur bei allen Influenzaviren erstaunlich ähnlich, er onen ganze Molekülfamilien, aus denen sie wiederum mit stiel­
verändert sich zudem über evolutionäre Zeiträume kaum – das spezifischen Antikörpern die aussichtsreichsten Kandidaten her­
perfekte Ziel für einen Impfstoff gegen alle Grippeviren. ausfilterten. Das Ergebnis hier war ebenfalls ermutigend: Mäu­se,
Wissenschaftler müssen allerdings erst das Problem lösen, die mit dem Konstrukt behandelt wurden, erwiesen sich als ge­
dass der Stiel für die normale Immunreaktion nur eine unterge­ schützt vor H1-Subtypen (zu diesen zählte unter anderem der Er­
ordnete Rolle spielt, denn er ist im Gegensatz zum Kopf ver­ reger der spanischen Grippe) ebenso wie vor der Vogelgrippe
gleichsweise schlecht zu erreichen. Ein universeller Impfstoff H5N1. Auch Makaken, die damit immunisiert worden waren, ka­
muss daher den Stiel besonders prominent präsentieren. Dafür men mit dem potenziell tödlichen Vogelgrippevirus besser zu­
gibt es eine einfache Lösung: ab mit dem Kopf! Doch kürzt man recht. Zwar liegt ein künftiger Universalimpfstoff gegen die Grip­
das Gen so, dass die kodierenden Abschnitte für den Kopf fehlen, pe immer noch in recht ferner Zukunft. Doch der Weg dorthin ist
ändert sich die Struktur des Stiels sehr stark. nun deutlich erkennbar.
Um das zu vermeiden, bauten Forscher um Barney Graham
von den National Institutes of Health in den USA das Protein Lars Fischer ist Chemiker und Mitarbeiter bei »Spektrum.de«.

nach und nach um. Mit einer einfachen Verbindung ersetzten sie
den Kopf, zusätzlich stabilisierten sie die Struktur mit einem neu
QUELLEN
eingebrachten Molekülteil. Mit Antikörpern, die auf den Stiel zu­
geschnitten waren, prüfte Grahams Team nach jedem Schritt, ob Impagliazzo, A. et al.: A Stable Trimeric Influenza Hemagglutin
die Struktur intakt geblieben war. Nach mehreren Runden hatte in Stem as a Broadly Protective Immunogen. In: Science 349,
die Gruppe ein HA-Stiel-Konstrukt erhalten, das an Ferritinnano­ S. 1301 – 1306, 2015
Yassine, H. M. et al.: Hemagglutinin-Stem Nanoparticles
partikel gebunden sowohl Mäuse als auch Frettchen erfolgreich Generate Heterosubtypic Influenza Protection. In: Nature
vor dem Virussubtyp H5N1 schützte – obwohl das Ausgangsmo­ Medicine 21, S. 1065 – 1070, 2015
lekül von einem nur entfernt verwandten H1N1-Erreger stammte.

WWW.SPEK TRUM .DE 37


Gefährliche Influenza: In den
GETTY IMAGES / IMAGNO

1930er Jahren mussten Medizi-


ner ganze Zeltlager errichten,
um die Opfer von Grippewellen
zu behandeln.

dem der Nachbarregionen unterscheidet – mit spezifischen worden waren. Ihre Daten unterstützen die Vorstellung einer
»blinden Flecken« der Körperabwehr. Schwere Infektions- hierarchischen Grippeimmunität. Jede neue Influenzainfek­
wellen wie die in Liverpool könnten von solchen regionalty- tion lässt demnach die Spiegel verschiedener Antikörper ge-
pischen blinden Flecken verursacht worden sein. gen Stämme des Vorjahrs in die Höhe schießen. Das Immun-
Forschungsarbeiten über Grippeimmunität haben häufig system initiiert den Auswertungen zufolge stärkere Reaktio-
ziemlich spezielle Aspekte im Blick, etwa die Effektivität ei- nen gegenüber Viren, mit denen es früher konfrontiert wurde,
nes bestimmten Impfstoffs oder das Ausmaß der jährlichen und schwächere gegenüber später aufgetretenen Erregern.
Epidemie. Doch diese Probleme sind in Wirklichkeit nur Teil- Seit einigen Jahren arbeite ich mit dem FluScape-Team zu-
aspekte viel größerer Fragen: Wie entwickeln und bewahren sammen, um nach Mustern in dem Datenmaterial aus China
wir Immunität gegenüber Grippeviren und anderen Erre- zu suchen. Daraus könnten aufschlussreiche Hinweise er-
gern, die ihre Antigenausstattung laufend verändern? Kön- wachsen, wer gegenüber welchen Virenstämmen anfällig ist
nen wir besser verstehen, welche evolutionären Veränderun- und wie das auf die Evolution der Erreger zurückwirkt. Mit
gen Grippeerreger durchlaufen und wie sie sich ausbreiten? neuen Modellen und besseren Daten werden wir dann nach
Projekte wie die Studie »FluScape« in Südchina widmen und nach offenlegen, wie Individuen und Populationen ihre
sich diesen Fragen. Vorläufigen Ergebnissen zufolge, publi- spezifischen Grippeimmunitäten entwickeln.  Ÿ
ziert von Justin Lessler von der Johns Hopkins Bloomberg
School of Public Health (USA), muss das Konzept der Antigen­
DER AUTOR
erbsünde verfeinert werden. Laut den Forschern verhält es
sich nicht so, dass einfach der erste Virenstamm, mit dem Adam J. Kucharski forscht über die Epidemio­
ein Individuum in Kontakt kommt, die Immunantwort be- logie von Infektionskrankheiten an der London
School of Hygiene and Tropical Medicine.
stimmt. Vielmehr scheint der Erwerb einer Grippeimmuni-
tät einer Hierarchie zu folgen. Die Wissenschaftler vermuten,
dem ersten Stamm, mit dem ein Mensch konfrontiert werde,
komme die wichtigste Position beim Prägen der Immunre-
aktion zu. Der zweite Stamm bringe dann eine etwas schwä-
QUELLEN
chere Antwort hervor, gefolgt von einer noch schwächeren
Reaktion auf den dritten und so weiter. Das Ganze gelte aber Kucharski, A. J. et al.: Estimating the Life Course of Influenza
A(H3N2) Antibody Responses from Cross-Sectional Data. In: PLoS
nur für stark wandlungsfähige Erreger wie eben Grippeviren.
Biology 13, e1002082, 2015
Da die Wissenschaftler der FluScape-Studie lediglich aktu- Kucharski, A. J. et al.: The Contribution of Social Behaviour to the
ell entnommene Blutproben analysierten, erlauben die Stu- Transmission of Influenza A in a Human Population. In: PLoS
dienergebnisse keinen Aufschluss darüber, wie sich die Anti- Pathogens 10, e1004206, 2014
Kucharski, A. J., Gog, J. R.: The Role of Social Contacts and Original
körperspiegel im Lauf der Zeit verändern. Im August 2013 je- Antigenic Sin in Shaping the Age Pattern of Immunity to Seasonal
doch untersuchten Forscher der Icahn School of Medicine at Influenza. In: PLoS Computational Biology 8, e1002741, 2012
Mount Sinai (New York City) eine Reihe von Blutproben, die
über 20 Jahre hinweg insgesamt 40 Personen entnommen Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1372760

38  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


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Tomaten, die schön aussehen


und haltbar sind, müssen
nicht fad schmecken. Gezielte
genetische Analysen von
Pflanzen und Samen zusam-
men mit herkömmlicher
Kreuzung machen es möglich,
ihnen die früheren Aromen
wiederzugeben, ohne auf die
»praktischen« Eigenschaften
verzichten zu müssen.
FOTO: DAN SAELINGER; FOODSTYLING: BIRTE VON KAMPEN

40  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


BIOLOGIE & MEDIZIN

PFLANZENZUCHT

Köstliche Früchte
ohne Gentechnik
Oft sehen Obst und Gemüse zwar verlockend aus, doch der Geschmack
lässt zu wünschen übrig. Jetzt können Züchter ihn wieder in die Früchte
zaubern: mit genetischen Tricks – aber ganz ohne Gentechnik!
Von Ferris Jabr

D
as Obst und Gemüse in Supermärkten soll vor al- wird diese Kulturvarietät in Mittelamerika angebaut und in
lem das Auge ansprechen und allein durch das den Wintermonaten verkauft, wenn Melonen im Norden
Aussehen zum Kauf verleiten. Später sind wir oft nicht wachsen.
enttäuscht: Die Tomaten oder Erdbeeren schme- Auf herkömmliche Weise waren solche Zuchten bisher
cken fad und langweilig. Denn die Züchter haben Sorten ent- sehr langwierig und aufwändig. Bis man schließlich eine
wickelt, die lange Transportwege überstehen und sich einige Pflanze mit allen wesentlichen gewünschten Attributen er-
Zeit lagern lassen, ohne gleich zu verderben. Dadurch ging hält, können leicht zehn Jahre und mehr verstreichen. Auch
viel vom ursprünglichen Aroma und Geschmack verloren spielt dabei Zufall eine Rolle: In der Regel kreuzt man Kultur-
und leider auch vom Nährstoffgehalt. sorten miteinander, die einzelne der angestrebten Merkmale
Ein treffliches Beispiel hierfür sind Warzen- oder Canta- aufweisen. Danach gilt es abzuwarten, ob zumindest einige
loupemelonen, eine Kulturvarietät der Zuckermelonen. Voll- der Nachkommen bereits Früchte von insgesamt etwas güns-
reif geerntet und frisch gegessen schmecken sie köstlich, tigerer Qualität hervorbringen. Deren Samen werden dann
werden jedoch sehr schnell weich und matschig. Das liegt am weiterverwendet, die neuen Pflanzen wiederum mit anderen
Pflanzenhormon Ethylen, das die Reife herbeiführt – ein Pro- geeigneten Sorten gekreuzt und so fort.
zess, der nicht beim uns genehmen Stadium stoppt. Selbst Doch mittlerweile beschleunigen molekulargenetische
eisgekühlt halten sich diese Melonen nicht. Deswegen wur- Analyseverfahren den Zuchtprozess deutlich. Bei Monsanto,
den Sorten gezüchtet, die nur wenig Ethylen bilden und so- zu dem De Ruiter seit 2008 gehört, können Jeff Mills und sei-
mit haltbar sind. Allerdings bekommen sie auch nie das volle ne Kollegen bereits anhand der Samenkörner Eigenschaften
Aroma. der späteren Melonen vorhersagen. Zunächst hatten die For-
In den 1990er Jahren gelang den Züchtern jedoch ein Kom- scher mit Hilfe von genetischen Markern – charakteristi-
promiss: Dominique Chambeyron vom niederländischen schen DNA-Abschnitten – die Gene für den Geschmack und
Saatgutproduzenten De Ruiter erzeugte eine kleine gestreif- die Konsistenz von Melorange eingekreist. Nun können sie
te Cantaloupemelone namens Melorange, die nach der Ernte sie damit in den Samen aufspüren. Diese Durchmusterung
wochenlang fest bleibt und trotzdem schmeckt. Für die USA geschieht weitgehend automatisiert. Ein Roboter säbelt ein
winziges Scheibchen von einem Melonenkern ab – so wenig,
AUF EINEN BLICK dass dieser später trotzdem noch keimt. Weitere Geräte ex­
trahieren aus der Probe DNA, markieren die relevanten gene-
NEUE IDEEN ZUM SAMENVERTRIEB tischen Sequenzen mit fluoreszierenden Molekülen und ver-
vielfältigen sie, so dass Messgeräte sie erkennen und somit

1 Neue Zuchtmethoden können Obst und Gemüse des Groß-


handels wieder schmackhafter machen, ohne das Erbgut
gentechnisch zu manipulieren. Dies gelingt durch traditionelle
die entscheidenden Gene indirekt anzeigen.
Eigentlich ist die markergestützte Zucht gar nicht so neu –
Verfahren in Kombination mit DNA-Analysen. also eine Präzisionszucht mit Hilfe von markergestützter Se-
lektion, englisch auch »SMART Breeding« genannt. (Die Ab-
2 Konnten Pflanzenzüchter an Universitäten ihre Erzeugnisse
früher den Landwirten zur Verfügung stellen, so sind sie heute
oft gezwungen, sie Großkonzernen zu verkaufen, die dann ein
kürzung steht für »Selection with Markers and Advanced Re-
productive Technologies«.) Nur kann sie heute von der im
Monopol darüber vertreten. Mit einem neuen Ansatz nach dem
Open-Source-Prinzip könnten zumindest einige der neuen Lauf des letzten Jahrzehnts zunehmend schneller und billi-
Pflanzensorten frei zugänglich werden. ger gewordenen genetischen Sequenzierung profitieren. Bei
Monsanto arbeiten die dazu eingesetzten Roboter rund um

WWW.SPEK TRUM .DE 41


MEHR WISSEN BEI der hohe Aufwand für Zucht und Zulassung wirtschaftlich
nicht sonderlich lohnt. Zu den Ausnahmen zählen etwa vi-
Unser  rusresistente Papayas, Pflaumen und Kürbisse oder schäd-
Online-Dossier lingsresistenter Zuckermais.
zum Thema  Nicht nur bei uns, auch in den USA wehren sich manche
»Ernährung«  Verbraucher gegen »Genfood«. Die Hersteller befürchten da-
finden Sie unter her, dass weitere derartige Produkte auf Widerstand stoßen
FOTOLIA / MARCO TESSIERI

könnten. Gerade bei Obst und Gemüse bestehen Bedenken.


www.spektrum.de/ Auch wegen solcher Vorbehalte und Aversionen wird die
t/ernaehrung Präzisionszucht ohne Genmanipulation immer wichtiger –
zumal bereits mehrere Genome von Nutzpflanzen sequen­
ziert sind und ständig weitere dazukommen, was diese Ana-
die Uhr, und bei Bedarf erhalten die Züchter die Ergebnisse lysen wesentlich erleichtert. Denn Landwirte können nun
binnen zwei Wochen. Auf markergestützte Selektion greifen wieder mehr auf Merkmale hinarbeiten, die vornehmlich die
denn auch mittlerweile viele Firmen und Forschungsinstitu- Konsumenten schätzen. Auf die Verbraucher Rücksicht zu
te zurück, um Obst oder Gemüse gewünschte Eigenschaften nehmen, war und ist in der Pflanzenproduktion keineswegs
zu verpassen. Einige neue Produkte sind bereits auf dem selbstverständlich, weiß der Tomatenzüchter Harry Klee von
Markt, etwa ein besonders gesunder Brokkoli. der University of Florida in Gainesville aus eigener Erfah-
»Die Genomik spielt in die moderne Pflanzenzucht so rung: Da haben eher die Interessen der Farmer und Händler
stark hinein, dass ich kaum noch richtig mitkomme«, meint Vorrang.
Shelley Jansky. Der Kartoffelzüchter arbeitet mit dem US- Bestes Beispiel dafür sind herkömmliche für Supermärkte
Agrarministerium und mit der University of Wisconsin in gezüchtete Tomaten. Deren Geschmacksqualität hängt vom
Madison zusammen. »Vor fünf Jahren kam ein Student zu Verhältnis der Säuren und Zucker ab, und viele Menschen be-
mir, der sollte DNA-Sequenzen für Krankheitsresistenzen vorzugen Tomaten mit viel Süße. Trotzdem entwickelten
suchen. Nach drei Jahren hatte er schließlich 18 Marker auf- Züchter Pflanzen, deren feste, glatte Früchte zwar gut ausse-
gespürt. Heute schafft jemand in wenigen Wochen 8000 Mar- hen und längere Transporte und Lagerzeiten aushalten, die
ker bei 200 Pflanzen – bei jeder einzigen wohlgemerkt!« aber nur mäßig süß sind. Denn diese Sorten sind auf hohe Er-
Und das Besondere daran: Mit der so genannten Grünen träge gezüchtet, und je mehr Früchte eine Pflanze versorgen
Gentechnik, den kontrovers diskutierten gentechnologischen muss, desto weniger Zucker erhält die einzelne Tomate.
Eingriffen ins Erbgut, hat diese Methode der Präzisionszucht Klee möchte den Industrietomaten wieder zu einem bes-
nichts zu tun. Schon deswegen ist sie für Wissenschaftler seren Ruf verhelfen. Fast 200 alte Landsorten, die manche
und Saatgutproduzenten so attraktiv. Bauern und Gärtner noch anbauen, hat er umfangreichen
Geschmacktests unterzogen. Viele davon munden fantas-
Langer Weg bis zu einer sanften Revolution tisch und haben kräftige, teils überraschende Farben, sehen
Seit mindestens 9000 Jahren verändern Menschen Pflanzen aber nicht gerade prachtvoll aus. Ihre Haut platzt und ver-
zu ihrem Nutzen. Das meiste Obst oder Gemüse, das bei uns narbt leicht, und sie werden schnell weich. Außerdem tragen
auf den Tisch kommt, stammt von einer irgendwann domes- die betreffenden Pflanzen nicht sehr reich. Wie Klee heraus-
tizierten Art ab. In alter Zeit hat man die Samen jener Indivi- fand, bestimmt bei Tomaten keineswegs in erster Linie der
duen weiterverwendet, deren Eigenschaften besonders zu- Zuckergehalt das Geschmackserlebnis, sondern das von Gau-
sagten. Für neue Merkmalskombinationen wurden später men und Nase wahrgenommene Aroma: Die alten Sorten
auch verschiedene Pflanzen gezielt gekreuzt. So entstand strömen ein Bouquet flüchtiger chemischer Substanzen aus.
etwa aus Wildgräsern Getreide, aus der Teosinte Mais, und Zum Beispiel entdeckten der Forscher und seine Kollegen
Wildkohl ist die Urform einer bunten Palette von Gemüse- 2012, dass auch Tomaten mit relativ wenig Zucker lecker
kohlsorten, von Grün- und Rotkohl bis zu Brokkoli, Rosen- sind, sofern sie genug vom Duftstoff Geranial enthalten. Die-
und Blumenkohl. ses, glaubt Klee, verstärkt auch den Eindruck von Süße. Um
In der Pflanzenzucht brach ein neues Zeitalter an, als es in seine These zu prüfen, züchtete er Tomaten, die keine sol-
den 1980er Jahren mit gentechnologischen Methoden mög- chen flüchtigen Aromastoffe bilden. Und tatsächlich schme-
lich wurde, gezielt ins Erbgut einzugreifen, also Gene zu ver- cken sie den Leuten nicht. Selbst ziemlich zuckerhaltige
ändern, stillzulegen, zu entfernen oder einzuschleusen. In Früchte empfanden die Verkoster dann nicht als süß.
den USA kamen die ersten gentechnisch veränderten Pflan- Seit einigen Jahren versucht Klees Team nun, durch Kreu-
zenprodukte in den 1990er Jahren auf den Markt. Inzwischen zung der leckersten alten Sorten mit widerstandsfähigen In-
enthalten dort – anders als bei uns – gut zwei Drittel der in- dustrietomaten Hybridpflanzen zu züchten, welche die Vorlie-
dustriell verarbeiteten Nahrungsmittel Bestandteile von so ben sowohl von Produzenten und Händlern wie von den Ver-
genanntem Genmais, -soja oder -raps. Früchte oder Gemüse brauchern erfüllen. In groben Zügen geschieht diese Arbeit
betrifft das hingegen viel weniger – schon weil sich bei ihnen wie folgt: Mitarbeiter rütteln den Pollen mit einfachen elektri-

42  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


schen Zahnbürsten aus den Blüten und fangen ihn auf, um weise verspricht, Früchte mit glatter Haut oder mit größeren
ihn gegebenenfalls später zur Befruchtung zu verwenden. Aus Mengen flüchtiger Aromastoffe zu produzieren. Laut Klee be-
den Blättern der betreffenden Pflanzen werden derweil kleine stimmen solche Analysen mittlerweile entscheidend, welche
Stückchen ausgestanzt, an denen man ihr Erbgut auf geneti- individuellen Pflanzen man anschließend für die Kreuzungen
sche Hinweise darauf untersucht, ob eine Pflanze beispiels- auswählt. Dieses Verfahren habe die Zucht neuer Sorten

Gene bestimmen für die Zucht neuer Sorten


In eine Kulturpflanze gewünschte neue Merkmale einzukreu- Gene­ration allerdings die für solche Merkmale verantwortli-
zen, ohne gleichzeitig bewährte Eigenschaften zu verlieren, chen Gene identifiziert – mit so genannter markergestützter
kann mit herkömmlichen Methoden viele Jahre dauern, und Selektion –, gelingt die neue Kombination wesentlich rascher
hierbei ist auch einiges Glück im Spiel. Wenn man bei jeder und zuverlässiger.

konventionelles Vorgehen markergestützte Präzisionszucht


geschmackvoll und aromatisch, bissfest, aber fade, geschmackvoll und aromatisch, bissfest, aber fade,
wird schnell weich gut zu transportieren wird schnell weich gut zu transportieren

miteinander kreuzen und auf die Früchte warten kreuzen, aber schon die Samen werden genetisch analysiert

fade schnell weich bissfest

geschmackvoll

aromatisch

Die Qualität der Hybriden lässt sich erst bei der nächsten Ernte Wenn sich die entscheidenden Gene mit Markern
ermessen – oft erst im nächsten Jahr. Nur ein Teil der Pflanzen (bunte Kugeln) erkennen lassen, kann man sie
produziert die gewünschte Merkmalskombination (gelb). Mit den schon in Zellproben der Samen oder der Blätter
JEN CHRISTIANSEN

besten Exemplaren davon wird weitergezüchtet. junger Pflanzen aufspüren.

WWW.SPEK TRUM .DE 43


enorm beschleunigt, nicht zuletzt auch dank der Sequenzie- Klima der amerikanischen Ostküste und verwenden zur Wei-
rung des Tomatengenoms im Jahr 2012. terzucht nur Samen von denjenigen Pflanzen, die unter die-
Zwei neu gezüchtete Hybride hat die University of Flori- sen Bedingungen die vergleichsweise schönsten Köpfe aus-
da schon vorgestellt: Garden Gem und Garden Treasure. Bei- bilden. Auf die Weise erhielten sie einen Brokkoli, der ein
de sind zwar nicht ganz so ertragreich wie die üblichen paar mehr heiße Sommerwochen als sonst verträgt und
Pflanzen für Supermarkttomaten, bringen aber doch über schon recht passabel aussieht. Jetzt suchen die Forscher nach
dreimal so viele Früchte wie die in diese neuen Zuchtvarie- den hierfür verantwortlichen Genen, um noch gezielter wei-
täten eingegangenen alten Sorten. Außerdem schmecken terzuzüchten.
beide Tomaten hervorragend – und sie überstehen längere
Transporte recht gut. Frei zugängliche Samen:
Erdbeeren ging es bisher kaum besser als Tomaten: Die Die Open Source Seeds Initiative
Züchter setzten jahrelang auf große, haltbare Früchte und Ein Hauptgrund, Brokkoli auch an der amerikanischen Ost-
vernachlässigten darüber das Aroma. Doch bald dürfte Klees küste anzubauen, sind der Geschmack und die Inhaltsstoffe,
Kollege Vance Whitaker von der University of Florida, der denn beide verändern sich nach der Ernte rasch. Frischer
ähnlich vorgeht wie oben geschildert, Erdbeeren vorweisen Brokkoli schmeckt völlig anders als die typische amerikani-
können, die wenig Wünsche offen lassen. sche Supermarktware, erklärt Björkman. Er ist zart, mild und
Brokkoli bereitet Züchtern und Händlern aus anderen vollmundig mit einem sanften Eindruck von Honig und Blü-
Gründen Schwierigkeiten. In den Vereinigten Staaten wer- tenduft. Den strengen, scharfen Nachgeschmack hat er noch
den drei Viertel dieses Kohls in Kalifornien angebaut. Beson- nicht. Der entsteht erst, wenn dieser Kohl über größere Stre-
ders gut gedeiht er in der »Salatschüssel« der USA: im Tal des cken hinweg verfrachtet wird und dazu eisgekühlt im Dun-
Flusses Salinas, das sich südlich von San Francisco parallel keln liegt. Denn dann hört die Fotosynthese auf, und die Zel-
zur Küste hinzieht. Offenbar bekommen den Pflanzen die len bilden keinen Zucker mehr. Zudem platzen die Zellwän-
hier öfter auftretenden Nebel und dadurch verhältnismäßig de, was die Köpfe weicher macht. Vor allem aber setzen nun
kühlen Temperaturen. Wie Thomas Björkman von der Cor- Enzyme und an­dere Moleküle eine Reihe unerwünschter
nell University in Ithaca (New York) und seine Kollegen ent- chemischer Reak­tionen in Gang, die den Geschmack verän-
deckten, bildet Brokkoli nur dann ebenmäßige Köpfe dicht dern sowie gesunde Nährstoffe abbauen.
gepackter Blütenknospen im gleichen Stadium, wenn eine Richard Mithen und seine Kollegen vom Institut of Food
Mindestdauer an kühleren Phasen zusammenkommt. In Research in Norwich (England) verfolgten ein anderes Ziel,
den schwülheißen Sommern im Osten der USA ist das nicht um die Qualität von Brokkoli zu verbessern. Ebenfalls mit
gegeben. Dort entwickelt Brokkoli deswegen unansehnliche, markergestützter Zucht haben sie den Gehalt von Glucora-
unregelmäßige Köpfe mit ganz unterschiedlich weit gereif- phanin erhöht. Der Inhaltsstoff schützt mutmaßlich gegen
ten Blüten. Bakterien und Krebs, da er bei uns antioxidative Abwehrme-
Vor einigen Jahren beschloss jedoch eine große Forscher- chanismen in Gang setzt. Bioketten in England und Amerika
gruppe um Björkman sowie Mark Farnham vom US-Land- bieten das Gemüse bereits an. Die Lizenz für diesen Super-
wirtschaftsministerium, einen Brokkoli zu züchten, der im brokkoli namens Beneforté erwarb Monsanto. Gegen das
Osten der Vereinigten Staaten in gewünschter Weise gedeiht. dem Unternehmen vom Europäischen Patentamt zugespro-
Sie simulieren in Wachstumskammern das heiße, feuchte chene Patent gibt es allerdings Einspruch.
Als Björkman und Farnham ihr Ostküstenprojekt für
Brokkoli in Angriff nehmen wollten und dafür
beim US-Agrarministerium Gelder beantrag-
ten, sagte dieses eine Unterstützung nur un-
ter der Maßgabe zu, dass Saatgutunterneh-
men ein ernstliches Interesse an dem poten-
ziellen neuen Produkt für einen regionalen
Markt haben würden und sich an der Finanzie-
rung der Forschungen beteiligten. Monsanto, Syngenta und
Bejo Seeds, eigentlich Konkurrenten, stellen dazu Mittel zur
Verfügung. Wie schon mit den schmackhaften neuen Toma-
tensorten geschehen, hofft Björkman, dass eine Firma die
angestrebte neue Zuchtsorte übernehmen und das Saatgut
vertreiben wird. Die Forschungsinstitute selbst hätten nicht
das Kapital und die Möglichkeiten für Produktion und Ver-
trieb der erforderlichen Samenmengen.
Einige Pflanzenzüchter haben Bedenken gegenüber sol-
chen Bestrebungen. Sie fürchten, dass es auf ihrem For-

44  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Goldman und Jack Kloppenburg, der ebenfalls an der Univer-
sity of Wisconsin in Madison arbeitet. Sie möchten, dass das
Saatgut von ausgewählten neuen Kulturvarietäten unter be-
stimmten Vereinbarungen frei zugänglich ist, wie bei so ge-
nannten Open Source Lizenzen für Computersoftware. Diese
Zuchtsorten und ihre Produkte sollen dann nicht patentierbar
sein. Jeder, der sie verwendet, darf damit weiterzüchten und
muss bereit sein, sie sowie eigene neue Produkte auch ande-
ren unter den gleichen Voraussetzungen zur Verfügung zu
stellen. In der modernen Pflanzenzucht ist das ein ganz neuer
Ansatz. Zwar könnten Züchter Ähnliches auch über ein her-
kömmliches Patent oder Urheberrecht auf Saatgut erreichen,
nur wäre das sehr viel teurer und aufwändiger. Goldman
schwebt allerdings ein Kompromiss vor: Die Züchter würden
demnach nur einige ihrer neuen Pflanzensorten freigeben
und an anderen verdienen, indem sie diese lizensieren.
Der Tomatenzüchter Klee fragt sich, ob nicht eine gewisse

FOTO: DAN SAELINGER; FOODSTYLING: BIRTE VON KAMPEN


Konzilianz angebracht ist. Er meint: »In der Pflanzenzucht
können die Forschungsinstitute nun einmal nicht mit den
Großkonzernen konkurrieren. Die meiste Forschung an den
wirtschaftlich wichtigsten Pflanzen findet nicht länger an
Universitäten statt. Dort kümmert man sich mehr um Ni-
schenprodukte. An meinem Institut gibt es einen Experten
für Pfirsiche, einen für Blaubeeren und einen für Erdbeeren.
Bei Monsanto kenne ich etliche Leute, die sich mit solchen
Auf leckere Melonen müssen US-Bürger auch im Winter nicht weniger lukrativen Arten nicht mehr abgeben, weil sich das
länger verzichten: Eine neue haltbare und trotzdem aromatische für das Unternehmen einfach nicht lohnt.« Diese Nische bie-
Sorte übersteht den Transport aus Mittelamerika. tet sich für die öffentliche Forschung an, deren Produkte die
von der Industrie ergänzen, denn letztlich seien beide auf­
einander angewiesen.
schungsgebiet kaum noch wirkliche Fortschritte geben wird, Doch Klees dringlichstes Anliegen ist es, die Interessen
wenn die großen Konzerne alles an sich reißen. Irwin Gold- der Landwirte, die auf ihre Kosten kommen müssen, und die
man von der University of Wisconsin in Madison beobach- der Verbraucher zu vereinbaren. Er fasst zusammen: »Im
tet: »Indem die Technologie in den privaten Sektor abge­ Grunde ist es ganz einfach: Gebt den Menschen, was sie gern
wandert ist, sind staatliche Zuchtprogramme ziemlich stark essen!«  Ÿ
zurückgegangen. Manche mögen das begrüßen, aber öffent-
liche Forschung leistet einiges, wofür der Einsatz für Firmen
DER AUTOR
zu langwierig und risikobehaftet ist.« Goldman hat gerade
eine innen golden geringelte Rote Beete gezüchtet. Die glei- Ferris Jabr ist Journalist und freier Mitarbeiter
che Erfahrung wie er machte Jack Juvik, Leiter des Zentrums von »Scientific American«. Er schreibt auch
für andere Publikationen wie die »New York
für Pflanzenzüchtung der University of Illinois in Urbana- Times« und den »New Scientist«.
Champaign: »In den 1970er Jahren gab es viele kleinere Un-
ternehmen, die stellten eine Menge Saatgut bereit. Sie wur-
den seitdem entweder von den Konzernen aufgekauft oder
verdrängt. Die gesamte Branche hat sich völlig verändert. Da-
mals haben staatliche Institute fertige neue Zuchtsorten ge- QUELLE
liefert. Heute bekommen die großen Firmen von uns meis- Klee, H. J.: Improving the Flavor of Fresh Fruits: Genomics, Bioche-
tens lediglich spezielles Saatgut, mit dem sie dann weiter­ mistry, and Biotechnology. In: New Phytologist 187, S. 44 – 56, 2010
arbeiten. Sie haben eben die Mittel für die entsprechenden
Testreihen und können richtig gute Kultursorten erzeugen. LITERATURTIPP
Allerdings kontrollieren sie auch das meiste Saatgut und die
Ernährung. Spektrum der Wissenschaft Spezial: Biologie, Medizin,
entscheidenden Technologien.« Hirnforschung 2/2014
In den USA haben sich einige Züchter, Landwirte und ande- Artikel unter anderem zu Fettleibigkeit und Nahrungsproduktion
re Experten zu einer Interessengemeinschaft – der Open Sour-
ce Seeds Initiative – zusammengeschlossen, darunter auch Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1372761

WWW.SPEK TRUM .DE 45


ASTROPHYSIK

Warten auf die Welle


In einem internationalen Forschungsverbund sind Physiker den
von Albert Einstein vorhergesagten Schwingungen der Raum-
zeit auf der Spur. Mit verbesserten Instrumenten hoffen sie jetzt
­darauf, Gravitationswellen endlich direkt nachzuweisen.
Von Felicitas Mokler

K
urz vor dem Dorf Ruthe rund 20 Kilometer süd- ten Raum und Zeit als starr und geometrisch unveränderlich
lich von Hannover biegt Emil Schreiber in einen gegolten. Von nun an dachte man sich diese beiden Größen
Feldweg ein, der auf das Forschungsgelände mit aber zu einem dynamischen und geometrisch verformbaren
dem Gravitationswellendetektor GEO600 führt. Raum-Zeit-Gefüge verwoben. Mehr noch: Zwei Massen treten
»Rechts in dem Straßengraben verläuft eine der beiden Mess- jetzt nicht mehr unmittelbar über die Schwerkraft mit­
strecken unseres Detektors«, erklärt der Doktorand. Ange- einander in Wechselwirkung, wie es einst Sir Isaac Newton
kommen im Bürocontainer holt Schreiber eine Messkurve (1643 – 1727) beschrieb. Vielmehr verformt Materie in ihrer
auf den Computerbildschirm. »Hier sieht man die Erschütte- Umgebung die Raumzeit. Gerät ein anderer Körper in die
rung, die wir gerade eben verursacht haben, als wir mit dem Nähe dieser Raumzeit-»Delle«, wird er durch sie abgelenkt
Auto den kleinen Weg entlanggefahren sind.« Eigentlich sind und auf eine krumme Bahn gezwungen. Selbst Licht folgt der
die Forscher mit diesem Experiment aber auf der Suche nach neuen Geometrie. Und wann immer Materie in der Raumzeit
Gravitationswellen aus den Tiefen des Weltalls. ihren Bewegungszustand, also etwa die Richtung oder Ge-
Als der geniale Physiker Albert Einstein vor 100 Jahren die schwindigkeit ändert, vermag sie diese gar in Schwingungen
allgemeine Relativitätstheorie veröffentlichte, krempelte er zu versetzen, die sich mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. Je
unsere Vorstellung vom Kosmos gewaltig um. Bis dahin hat- massereicher und kompakter die Objekte, umso stärker fällt
der Effekt aus. Dass solche Gravitationswellen existieren, fol-
gerte Einstein ein Jahr nachdem er die Grundlagen seiner
DIE SERIE IM ÜBERBLICK neuen Theorie veröffentlicht hatte. Der Physiker glaubte
FERDINAND SCHMUTZER, 1921 / PUBLIC DOMAIN [M]

selbst jedoch nicht daran, dass sich diese Schwingungen der


Raumzeit jemals würden aufspüren lassen.
100 JAHRE ALLGEMEINE RELATIVITÄTSTHEORIE »Die Wechselwirkung zwischen Gravitationswellen und
Materie ist extrem schwach. Das macht es so schwierig, sie
Teil 1 ˘ Der Glanz des Genies  Oktober 2015
zu messen«, erläutert Karsten Danzmann. Nur selten ist der
Brian Greene
­Direktor am Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik in
 insteins Weg zur
E
Hannover und Leiter des Instituts für Gravitationsphysik der
allgemeinen Relativitätstheorie
Michel Janssen, Jürgen Renn dortigen Leibniz Universität in seinem Büro anzutreffen. Die
meiste Zeit reist er um in die Welt, um die Zukunft der Gravi-
Teil 2 ˘  Kosmische Würfelspiele November 2015
George Musser tationswellenforschung zu planen.
Bisher haben sich Gravitationswellen hartnäckig ihrer Be-
Teil 3 ˘  Warten auf die Welle Dezember 2015
Felicitas Mokler obachtung entzogen: Doch auch Danzmann ist hartnäckig –
und ausdauernd. Der Wissenschaftler hat es sich zur Lebens-
Teil 4 ˘  Auf der Suche nach der
Theorie von Allem Januar 2016 aufgabe gemacht, gemeinsam mit vielen anderen engagier-
Corey S. Powell ten Kollegen die messtechnischen Voraussetzungen zu
Teil 5 ˘  Die Vermessung Schwarzer Löcher Februar 2016 schaffen, mit denen sich die Schwingungen der Raumzeit de-
Dimitrios Psaltis, Shepard S. Doeleman tektieren lassen. Wenn dies endlich gelänge, ließe sich eine
Teil 6 ˘  Sind Zeitreisen möglich? März 2016 wichtige Lücke bei der Bestätigung der allgemeinen Relativi-
Tim Folger tätstheorie schließen. Einschlägige Nachweise verschiedener
Wo Einstein irrte Voraussagen der Theorie sind bereits erbracht, und die Mehr-
Lawrence M. Krauss heit der Wissenschaftsgemeinde erkennt Einsteins Konzept
zur Beschreibung der Gravitation heute als gültig an.

46  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


PHYSIK & ASTRONOMIE

Wenn sich zwei


Neutronensterne
oder – wie in dieser
Simulation – zwei
Schwarze Löcher
immer enger
umkreisen und
schließlich mitein­
ander verschmel­
zen, entstehen
Gravitationswellen.
NUMERISCHE SIMULATION: CHRISTIAN REISSWIG (AEI), LUCIANO REZZOLLA (AEI/ITP);
WISSENSCHAFTLICHE VISUALISIERUNG: MICHAEL KOPPITZ (AEI/ZIB)

WWW.SPEK TRUM .DE 47


»Vor allem wird sich uns mit den Möglichkeiten der Gravi- Raumzeit sich physikalisch von dem Phänomen Schall un-
tationswellenastronomie ein völlig neues Fenster ins Univer- terscheiden: »Wir werden sozusagen mit unseren Gra­vi­ta­
sum auftun«, merkt Danzmann an. Im Moment lässt sich die tionswellen­detektoren in das Weltall hinaushorchen können
Situation der Forscher vergleichen mit jemandem, der durch und dabei zuhören, wie zwei Neutronensterne oder Schwar-
einen Dschungel geht und nur sehen, aber zunächst nicht ze Löcher miteinander verschmelzen oder wie Sterne explo-
hören kann. Denn bisher beziehen sie sämtliche Information dieren. Das Universum wird sich uns in einer völlig neuen
über die Vorgänge im Weltall ausschließlich aus elektromag- ­Dimension erschließen«, so Danzmann. Bisher müssen die
netischer Strahlung unterschiedlichster Wellenlänge. Analog Forscher sich allerdings noch mit Computersimulationen
dazu nimmt der Dschungelreisende seine Umgebung vor von derlei Szenarien ab­finden.
­allem als grünes Dickicht wahr. Tun sich ihm schließlich die Für den indirekten Nachweis von Gravitationswellen gab
Ohren auf, wird er einen völlig neuen Eindruck gewinnen. es bereits 1993 den Nobelpreis für Physik. Die beiden Astro-
Nun wird er die Vögel­ hören können, die sich in den Baum- physiker Russell A. Hulse und Joseph H. Taylor hatten über
kronen tummeln, oder das Knacken im Unterholz, wenn sich mehrere Jahre hinweg ein besonderes Doppelsternsystem
ein Tiger anschleicht. Auch wenn die Schwingungen der beobachtet. In dem System PSR 1913+16 umkreisen sich zwei

Endspiegel
Endspiegel

Der Gravitationswellen­
detektor GEO600 in Ruthe
Messstrecke bei Hannover ist unscheinbar
im Vakuum-
Messstrecke rohr in die ländliche Umgebung
im Vakuum- ein­gebettet. Hier haben
rohr
Büro- und ­Physiker neue Technologien
Laborcontainer
entwickelt, die nun auch
bei anderen Detektoren der
HARALD LÜCK, AEI

internationalen Kollabo-
ration zum Einsatz kommen.

Prinzip eines Laserinterferometers


Ein Laserstrahl wird an einem Strahlteiler in zwei senkrecht Spiegelaufhängung
zueinander stehende Lichtwege aufgeteilt. Die Teilstrahlen
laufen die Interferometerarme zu den Spiegeln S1 und S2 ent-
lang. Von dort werden sie zurück zum Strahlteiler reflektiert,
Testmasse
wo sie sich überlagern und dann als Signalstrahl auf die Testmasse
BY INTERFEROMETRY (GROUND AND SPACE). IN: LIVING REVIEWS IN RELATIVITY 14, 2011, FIG. 3

Foto­diode treffen. Dessen Helligkeit hängt davon ab, in wel-


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: PITKIN, M.  ET AL.: GRAVITATIONAL WAVE DETECTION

cher relativen Phase die Teilstrahlen interferieren. Die Anlage


wird so eingestellt, dass die beiden Strahlen in Ruhe genau Spiegel S2
Spiegel S 1
um eine halbe Wellenlänge versetzt aufeinandertreffen und
sich auslöschen. Ändern sich die relativen Lichtlaufstrecken,
Strahlteiler
etwa wenn eine Gravitationswelle vorüberzieht, interferie-
ren die Teilstrahlen konstruktiv, der Signalstrahl wird sicht-
bar. Mit Hilfe weiterer Spiegel lassen sich Haupt- und Signal-
strahl für mehrere Umläufe im Interferometer halten. Damit
erhöht sich die verfügbare Lichtleistung (Power-Recycling),
und das Rauschen im Signalstrahl wird reduziert (Signal-­ Fotodiode

Recycling). Laser

48  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


AUF EINEN BLICK Heute scheint der Traum von Karsten Danzmann und sei-
nen Mitstreitern beinahe zum Greifen nah. Würde zum Bei-
EIN NEUES FENSTER INS ALL spiel morgen ein Stern in der Milchstraße sein Leben in einer
Supernova-Explosion aushauchen, wäre GEO600 dafür ge-
1 In seiner allgemeinen Relativitätstheorie sagte Albert Einstein
die Existenz von Gravitationswellen vorher. Jedoch glaubte er
nicht daran, dass sie sich jemals würden messen lassen.
wappnet. »Leider sind solche Ereignisse aber extrem selten.
Man rechnet etwa mit einer Supernova alle 30 bis 100 Jahre
pro Galaxie. Allerdings ist die Milchstraße längst überfällig«,
2 Heute lauschen Physiker von verschiedenen über den Erdball
ver­teilten Standorten mit Gravitationswellendetektoren ins
All. Das Experiment GEO600 bei Hannover ist an der Entwicklung
meint Danzmann. »Doch vorhersagen lassen sie sich einfach
nicht.«
neuer Technologien dafür maßgeblich beteiligt.
Der Gravitationswellendetektor reagiert auf relative Län­

3 Kürzlich sind die US-amerikanischen LIGO-Detektoren mit ge-


steigerter Messgenauigkeit wieder in Betrieb gegangen.
Damit erhöhen sich die Chancen, in den nächsten Jahren Gravita-
gen­­änderungen der Messstrecken von bis zu 10 –18 Metern.
Das entspricht einem Tausendstel des Durchmessers eines
tionswellen direkt zu messen. Protons. Genau in diesen Messbereich sollte auch das Signal
einer­ Supernova fallen, die sich in unserer Hälfte der Milch-
straße ereignet, so die Theorie. Bis eine solche Messempfind-
Neutronensterne in einem Abstand, der nur wenige Male der lichkeit möglich war, haben die Wissenschaftler fast drei
Distanz Erde-Mond entspricht. Die Sterne selbst sind äußerst Jahr­zehnte lang getüftelt – und arbeiten auch weiterhin dar-
kompakt. Sie vereinigen in sich jeweils etwa eine Sonnen- an, sie noch zu verbessern.
masse bei einem Durchmesser von nur wenigen Kilometern.
Deshalb ist die Gravitation an ihrer Oberfläche und in ihrer Der erste Testdetektor
Umgebung besonders stark. Ein perfektes Labor also, um die Ende der 1980er Jahre begann eine kleine Gruppe von Physi-
allgemeine Relativitätstheorie zu testen. Bei genauerem Hin- kern damit, die Möglichkeiten eines Michelson-Interfero­
sehen stellte sich heraus, dass die beiden Sterne sich immer meters als Gravitationswellendetektor zu erforschen. Das da­
schneller umrunden. Sie laufen also auf spiralförmigen Bah- malige Testgelände befand sich am Max-Planck-Institut für
nen aufeinander zu und verlieren dabei Energie. Der aus den Quantenoptik in Garching bei München. Das Messprinzip
Beobachtungen errechnete Energieverlust entspricht genau nutzt eine zentrale Eigenschaft des Lichts: seine Wellen­natur.
jenem Wert, den die allgemeine Relativitätstheorie für dieses Zunächst teilen die Forscher einen Laserstrahl in zwei auf und
System auf Grund der Abstrahlung von Gravitationswellen schicken diese auf senkrecht zueinander verlaufende Mess-
vorhersagt. Mittlerweile haben Astronomen rund ein Dut- strecken. Jeweils von einem Spiegel an deren Enden reflektiert,
zend ähnlicher Systeme untersucht und an ihnen denselben treffen sie am Ausgangspunkt wieder aufeinander und über-
Effekt bestätigt. Direkt beobachten lassen würden sich Gravi- lagern sich. Die Physiker sagen, sie inter­ferieren. Wie stark das
tationswellen aber wohl erst im künftigen Jahrhundert, pro- resultierende Summensignal ist, hängt davon ab, in welcher
phezeite damals das Nobelpreiskomitee. Wellenphase sich die beiden Lichtstrahlen relativ zuein­ander

Die Spiegel im Interfero­


meter des Gravitations­
wellendetektors sind aus
Quarzglas gefertigt und
wiegen bis zu zehn
Kilogramm. Sie sind als
Pendel aufgehängt, um
HARALD LÜCK, AEI / LUH

externe mechanische
Einflüsse weitestgehend
zu dämpfen.

WWW.SPEK TRUM .DE 49


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LISA Pathfinder – auf dem Weg zur Gravitationswellenastronomie im All
Gravitationswellen entstehen bei einer ganzen Reihe kosmischer gungen der Raumzeit vom All aus beobachten lassen. Bereits seit
Ereignisse. Die Wellenlänge beziehungsweise Frequenz und die rund 20 Jahren führen ESA und NASA gemeinsam Modellstudien
Intensität eines auf der Erde messbaren Signals hängen unter zu LISA durch: der Laser Interferometer Space Antenna. Allerdings
­anderem davon ab, wie massereich und kompakt die beteiligten ist die NASA 2011 aus finanziellen Gründen aus der Kollaboration
Objekte sind. Des Weiteren wird die Signalstärke durch die Ent- ausgestiegen. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass sie sich
fernung bestimmt, in der die Schwingungen der Raumzeit aus- mittelfristig wieder daran beteiligen wird.
gesandt werden. Gravitationswellen bei Frequenzen oberhalb
von zehn Hertz sollten sich mit den Detektoren der LIGO-­Virgo- Für das weltraumbasierte Gravitationswellenobservatorium sol-
Kollaboration messen lassen, wenn sie stark genug sind. Das len drei Satelliten in einer Dreieckskonfiguration um einen so ge-
könnte zum Beispiel der Fall für Supernovae sein, die sich in der nannten Lagrangepunkt der Erde kreisen und sich dabei auf einer
Milchstraße ereignen, oder für zwei Neutronensterne oder stabilen Umlaufbahn um die Sonne bewegen. Die Seitenlänge
Schwarze Löcher von etwa Sternenmasse, die miteinander ver- des Dreiecks, also eines Messarms des Interferometers, beträgt
schmelzen und nicht weiter als rund 50 Millionen Lichtjahre ent- eine Million Kilometer. In den baugleichen Satelliten wird jeweils
fernt sind. Für größere Entfernungen reicht die Empfindlichkeit ein Gehäuse integriert sein, in dem eine Testmasse frei schwebt.
der bodengebundenen Instrumente nicht aus. Außerdem sind Zwei Laserstrahlen, die zwischen den Satelliten hin- und herlau-
die Messstrecken für deutlich niedrigere Frequenzen unterhalb fen, sollen nach dem Prinzip eines Interferometers die relative
von einem Hertz und damit für höhere Wellenlängen schlicht zu Abstandsänderung zwischen den Testmassen messen.
kurz. Hierzu bedarf es Detektoren, die irdische Dimensionen weit Dazu müssen die Testmassen in den Satelliten frei von jegli-
übersteigen. chen äußeren Störungen, vor allem auch von noch so kleinen
Einen Dauerhintergrund an Gravitationswellen bei so niedri- elektrostatischen Kräften des umgebenden Gehäuses schweben
gen Frequenzen sollten etwa Doppelsternsysteme mit Weißen können. Um dies zu bewerkstelligen, mussten die Physiker eine
Zwergen erzeugen, von denen es vermutlich zahlreiche in unse- völlig neue Technologie entwickeln, die bisher bei noch keiner
rer Milchstraße gibt. Bis weit zurück in die Vergangenheit dürfte Weltraummission zum Einsatz kam. Mit dem ESA-Satelliten LISA
sich außerdem das Echo von extrem massereichen Schwarzen Pathfinder, der Ende 2015 starten soll, wollen sie diesen Mecha-
­Löchern aufspüren lassen, wenn die Kerne von zwei Galaxien im nismus sowie ein Modellsystem des gesamten Weltraum­
jungen Kosmos miteinander verschmelzen. Und nicht zuletzt er- interferometers, komprimiert auf eine Größe von 40 Zentime-
hoffen sich die Wissenschaftler, die Geschichte des Universums tern, auf seine Funktionsfähigkeit hin überprüfen.
mit Gravitationswellen weiter zurückzuverfolgen, als es anhand Der Erfolg der Testmission wird, neben einem direkten Nach-
des elektromagnetischen Spektrums möglich ist. weis von Gravitationswellen mit den bodengebundenen Detek-
Um Gravitationswellen bei möglichst allen Frequenzen und toren in den nächsten Jahren, richtungsweisend für die Realisie-
aus dem gesamten Universum erfassen zu können, arbeiten die rung eines Gravitationswellenobservatoriums im All sein. Der
Physiker deshalb an einer Technologie, mit der sich die Schwin- Start von LISA ist derzeit für 2034 geplant.

befinden. Schwingen sie im Gleichtakt und addieren sich Wenn eine Gravitationswelle vorübergehend die Raum-
gleichzeitig zwei Wellenberge beziehungsweise zwei Wellen- zeit entlang der Detektorarme verzerrt, verändern sich die
täler, verstärkt sich die Lichtintensität: Es kommt zu kon­s­t­ruk­ beiden Messstrecken relativ zueinander geringfügig. Dann
tiver Interferenz. Treffen sie dagegen phasenversetzt aufein- treffen die beiden Lichtstrahlen in jeweils einer anderen Pha-
ander, löschen sich die Laserstrahlen ganz oder teilweise aus se aufeinander als zuvor, und die Stärke des Signalstrahls be-
und der Signalstrahl wird dunkler (destruktive Interferenz). ziehungsweise das Interferenzmuster ändert sich. Das Prin-
zip klingt einfach. Doch jede Menge Einflüsse aus der Um-
MEHR WISSEN BEI welt wie auch innerhalb des Detektors selbst rufen einen
ganz ähnlichen Effekt hervor. Das Problem dabei: Die irdi-
Unser Online- schen Störungen sind in der Regel um Größenordnungen hö-
her als jene, welche Gravitationswellen verursachen sollten.
DOMAIN

Dossier zum
Thema »Einstein«  1990 übernahm Karsten Danzmann die Leitung der Ar-
FERDINAND SCHMUTZER, 1921 / PUBLIC

finden Sie unter beitsgruppe, drei Jahre später ging er nach Hannover. Dort
 baute er in Kooperation zwischen der Max-Planck-Gesell-
www.spektrum.de/ schaft und der Leibniz Universität Hannover gemeinsam mit
t/albert-einstein-und-die- Forschungseinrichtungen aus Großbritannien das Experi-
relativitaetstheorie ment GEO600 auf. Mittlerweile ist es in eine internationale
Kollaboration eingebunden. Ihr gehören noch zwei Detekto-

52  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Mit der Raummission LISA Path­
finder wollen Forscher die neue
Technologie für ein Gravitations­
wellenobservatorium im All –
LISA – testen. Ende 2015 soll LISA
Pathfinder starten.

ASTRIUM UK
ren in den USA namens LIGO an, jeweils einer an der West- besser aber noch vier oder mehr Gravitationswellendetekto-
und einer an der Ostküste, sowie das französisch-italienische ren an verschiedenen Standorten. Und je weiter diese Stand-
Experiment Virgo in Cascina bei Pisa. Alle diese Instrumente orte auf dem Erdball auseinanderliegen, umso schwächere
funktionieren nach demselben Prinzip; die mit den verschie- Quellen werden sich orten lassen.«
denen Detektoren aufgenommenen Daten werten die Wis- Die Größe eines Gravitationswellenobservatoriums dieser
senschaftler der Kollaboration gemeinsam aus. Demnächst Bauweise bestimmt maßgeblich seine Messempfindlichkeit.
soll außerdem ein Detektor in Japan den Testbetrieb aufneh- Außerdem legt sie den Frequenzbereich fest, innerhalb des-
men, ein weiterer ist in Indien geplant. sen sich Gravitationswellen messen lassen. Die Exemplare in
Von dem Forschungsverbund profitieren alle Beteiligten: Amerika und Italien sind größer und damit leistungsstärker
Anhand einer Mehrfachmessung können sie überprüfen, ob als GEO600. Die beiden LIGO-Detektoren besitzen eine Mes-
ein Signal tatsächlich aus dem All stammt oder irdischen Ur- strecke von vier Kilometern, Virgo bietet drei Kilometer. Da-
sprungs ist. Vor allem aber lassen sich auch Himmelsposi­ gegen kann GE600 nur mit 600 Metern aufwarten. Dennoch
tion und Entfernung einer Quelle nur im Zusammenschluss spielt der Hannoveraner Detektor eine wesentliche Rolle in
mehrerer Messgeräte bestimmen. »Das ist wieder ähnlich dem Forschungsverbund. Ursprünglich gar nicht dafür kon-
wie beim Hören«, erläutert Danzmann. »Wir benötigen beide zipiert, selbst Gravitationswellen zu messen, fungiert er seit
Ohren, um feststellen zu können, aus welcher Richtung ein jeher als Testlabor und Ideenschmiede. Physiker und Ingeni-
Geräusch kommt. Mit Gravitationswellen ist das noch ein eure entwickeln dort gemeinsam neue Technologien, testen
wenig komplizierter. Hierzu benötigen wir mindestens drei, deren Funktionsfähigkeit und machen sie anwendungsreif.

WWW.SPEK TRUM .DE 53


An einem Modell erklärt Emil Schreiber, wie die Spiegel ausgetauscht. Außerdem erhielten die LIGO-Detektoren eine
montiert sind, die den Laser in dem Interferometer ablen- stärkere Lichtquelle. Die neuen Hochleistungslaser mit einer
ken. Bis zu zehn Kilogramm wiegen sie und sind aus Quarz- Leistung von 200 Watt stammen ebenfalls aus Hannover. Die
glas gefertigt. Aufgehängt an einem speziellen Mehrfach- Physiker von GEO600 haben sie gemeinsam mit dem Laser
pendelsystem lassen sie sich gegen mechanisch bedingte Zentrum Hannover konzipiert.
Störeinflüsse von außen weit gehend isolieren. Mitte September 2015 hat das amerikanische Experiment
den Messbetrieb als Advanced LIGO wieder aufgenommen.
Rundum erneuert Letztlich sollen die Detektoren in der Lage sein, rund zehn-
Nun geht es in das Detektorgebäude, ebenfalls ein unschein- mal empfindlicher zu messen als zuvor. Ab 2017 soll schließ-
barer Container. In einem extra abgetrennten Raumbereich lich Virgo ebenfalls mit höherer Messgenauigkeit wieder ein-
stehen sechs größere Vakuumtanks aus Stahl. »Darin sind satzbereit sein. Künftig wird das Detektornetzwerk feiner hö-
verschiedene Spiegel untergebracht, die den Weg der Photo- ren können und damit auch deutlich schwächere Signale
nen im Interferometer bestimmen«, erläutert Schreiber. Sie einfangen oder solche von Quellen, die weiter entfernt sind.
teilen den Laserstrahl mit einer Wellenlänge von 1064 Nano- So vergrößert sich das beobachtbare Volumen des Welt-
metern und einer Leistung von zehn Watt zunächst auf und raums um das 1000-Fache, und die Anzahl an potenziellen
schicken die Teilstrahlen auf die senkrecht zueinander astrophysikalischen Gravitationswellenereignissen steigt –
­verlaufenden, 600 Meter langen Messarme. Die Spiegel sind und damit die Wahrscheinlichkeit, diese zu beobachten.
so angeordnet, dass die Photonen dort mehrmals hin- und Doch Danzmann und seine Kollegen von der LIGO-Virgo-
herrasen, bevor sie sich zum Signalstrahl vereinigen. Damit Kollaboration sind nicht die Einzigen, die darauf warten, dass
erhöht sich die Laserleistung innerhalb des Detektors. Auf ihnen endlich eine Gravitationswelle ins Netz geht. Es gibt
ähnliche Weise lassen sich auch winzige Änderungen im durchaus alternative Methoden, mit denen sich die Schwin-
­Signalstrahl etwa um das Zehnfache verstärken, bevor dieser gungen der Raumzeit aufspüren lassen sollten. Dazu neh-
auf den ­Fotodetektor trifft. men verschiedene Arbeitsgruppen aus Europa, Nordamerika
Dieses System des so genannten Signal-Recyclings haben und Australien seit einiger Zeit eine bestimmte Klasse von
die Forscher von GEO600 entwickelt. Mittlerweile ist es auch Pulsaren, die im Millisekundentakt rotieren, noch einmal
bei LIGO eingebaut und soll künftig ebenfalls bei Virgo ein- ­genauer ins Visier – und zwar diesmal nicht als System, das
gesetzt werden. Beide Experimente hatten 2011 den Beob- selbst Gravitationswellen aussendet, sondern als kosmische
achtungsbetrieb vorübergehend eingestellt. Kürzlich wur- Gravitationswellendetektoren. Wenn in den Tiefen des Welt-
den die beiden LIGO-Detektoren rundum erneuert. Die For- alls Galaxien kollidieren und die Schwarzen Löcher in ihrem
scher haben sämtliche Bestandteile der Messinstrumente Inneren miteinander verschmelzen, versetzt das ebenfalls
durch neue, qualitativ hochwertigere ersetzt, jeden Spiegel die Raumzeit in Schwingung. Ziehen diese Wellen an den Pul-

Mit den bisherigen Detektoren


der LIGO-Kollaboration haben
die Forscher nach Verschmel­
zungen von Schwarzen Löchern
stellarer Masse oder von
Neutronensternen bis zu einer
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BÄRBEL WEHNER, NACH: WWW.ADVANCEDLIGO.MIT.EDU/SUMMARY.HTML
Entfernung von 50 Millionen
Lichtjahren gesucht. Allerdings
ist die Ereignisrate extrem
niedrig. Die nun messempfind­ LIGO
licheren Advanced-LIGO-De­
tektoren werden in Zukunft
zehnmal weiter ins All horchen
und so ein 1000-mal größeres Advanced LIGO
Volumen ab­decken können.
Damit steigt die Ereignisrate –
und ebenso die Wahrschein­
lichkeit, Gravita­tionswellen
100 Millionen Lichtjahre
direkt zu messen. In Weiß an-
gedeutet ist die Struktur der
Galaxiencluster.

54  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


saren vorüber, sollten die Sterne allmählich ihren Takt än- Hinweise auf ein Gravitationswellensignal stoßen, führen sie
dern. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren könnte sich sehr sorgfältige Tests durch und prüfen, wie signifikant das
das messen lassen. Signal ist. Lässt sich ausschließen, dass es zum Beispiel irdi-
Außerdem hat der Kosmos gleich unmittelbar nach seiner schen Ursprungs ist, bereiten sie eine wissenschaftliche Ver-
Entstehung heftig gebebt. Nach heutigem Verständnis dehn- öffentlichung vor. »Bei einer gemeinsamen Konferenz gibt
te sich das Universum kurz nach seiner Geburt für einen schließlich das unabhängige Komitee bekannt, ob zu dem be-
winzigen Bruchteil einer Sekunde extrem schnell aus. Kos- treffenden Zeitpunkt ein entsprechendes Signal eingespeist
mologen bezeichnen diese Phase der explosionsartig be- wurde oder nicht«, verrät Danzmann. Während des gesamten
schleunigten Expansion als Inflation. Sie hat die Raumzeit Prozesses herrscht nach außen hin absolute Schweigepflicht.
gewaltig durchgeschüttelt und in Schwingungen versetzt. Auf diese Weise kontrollieren die Forscher die Qualität ih-
Zwar hallen diese auch im heutigen Universum noch nach. rer Datenanalyse. Außerdem wird sichergestellt, dass nicht
Mittlerweile sind sie jedoch viel zu schwach und ihre Fre- irgendwo eine vorschnelle und möglicherweise falsche Infor-
quenz ist zu niedrig, als dass sie sich direkt aufspüren ließen. mation über die erste direkte Detektion von Gravitations­
Die urtümlichen Gravitationswellen sollten aber dem kosmi- wellen durchsickert. Bisher hätten aber alle Beteiligten dicht-
schen Mikrowellenhintergrund ein charakteristisches Mus- gehalten, so Danzmann. Bei einer Kollaboration von etwa
ter aufgeprägt haben. Diese Mikrowellenstrahlung erreicht 1500 Wissenschaftlern sei das durchaus bemerkenswert.
uns aus einer Epoche, als das Universum rund 380 000 Jahre Dass den Detektoren der LIGO-Virgo-Kollaboration bisher
alt war. Weiter zurück in die kosmische Vergangenheit kön- keine Gravitationswellen ins Netz gegangen sind, ist für die
nen wir nicht blicken, denn davor war das Universum un- Wissenschaftler noch kein Grund zur Sorge. Zum einen mö-
durchsichtig für elektromagnetische Strahlung. gen die theoretischen Abschätzungen für die Stärke eines
Gravitationswellensignals von bestimmten astrophysikali-
Lackmustest schen Ereignissen früher etwas optimistischer ausgefallen
für Gravitationswellensignale sein als heute. Zum anderen waren sich die Wissenschaftler
Anhand der Fingerabdrücke der Gravitationswellen im Mi­ um Danzmann stets bewusst, dass sie sich bisher am Limit
krowellenhintergrund erhoffen sich die Forscher Einblicke in des Messbaren bewegt haben.
Vorgänge unmittelbar nach dem Urknall. Doch ein solches Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sich Gravita­
­Signal ist nicht leicht aus den Daten des kosmischen Mikro- tionswellen innerhalb der nächsten Dekade direkt werden
wellenhintergrunds herauszufiltern. Im Frühjahr 2014 ver- messen lassen. Mit dem Upgrade der LIGO-Detektoren dürf-
lautbarten Forscher des BICEP2-Experiments, das von der ten die Forscher ihrem Ziel ein ganzes Stück näher gekom-
Antarktis aus den Himmel im Mikrowellenbereich abscannt, men sein. Sollte ihnen das tatsächlich glücken, wird dies zu-
sie hätten Indizien für den Fingerabdruck dieser urtümlichen künftigen Missionen in der Gravitationswellenastronomie
Gravitationswellen gefunden. In der Presse schlug dieser ver- Rückenwind geben. Den Blick stets nach vorne gerichtet, pla-
meintliche Fund hohe Wellen. Doch mittlerweile ist klar: Ur- nen Danzmann und seine Kollegen nämlich längst ein weite-
sache für das damals gefundene Signal ist ganz einfach kos- res Gravitationswellenobservatorium: eine Messstation im
mischer Staub, der sich in unserer eigenen Galaxis befindet. Welt­­raum, LISA (siehe »LISA Pathfinder«, S. 52/53).  Ÿ
Um ganz auszuschließen, dass solche Signaturen über-
haupt existieren, ist es allerdings noch zu früh. Zunächst
DI E AUTORI N
muss der Mikrowellenhintergrund noch gründlicher analy-
siert werden. Dazu haben sich nun die BICEP2-Wissenschaft- Felicitas Mokler ist promovierte Astrophysi-
ler mit ihren Kollegen zusammengetan, die mit dem Planck- kerin und arbeitet als Redakteurin und
Wissenschaftsjournalistin im Raum Heidelberg.
Satelliten den gesamten Himmel im Bereich der Mikro­
wellenstrahlung mehrere Jahre lang detailliert vermessen
haben. Das Ergebnis hierzu steht noch aus. Würde man
schließlich den Fingerabdruck doch noch finden, wäre dies
wohlgemerkt ein indirekter, nicht aber ein direkter Nachweis
von Gravitationswellen, wie ihn die Hannoveraner Physiker LITERATURTIPPS
und ihre internationalen Kollegen anstreben. Grothues, H.-G., Reiche, J.: LISA Pathfinder. In: Sterne und Weltraum
Wie aber lässt es sich vermeiden, im kosmischen Jagd­ 7/2014, S. 34 – 43
fieber dem eigenen Wunschdenken zu erliegen? »Wir proben In diesem Artikel berichten Experten über die Entwicklung einer
neuen Technologie für die Gravitationswellensuche im All.
den Fall einer direkten Detektion in einem sehr realitäts­
getreuen Szenario«, erläutert Danzmann. »Ein unabhängiges Knispel, B.: Das Projekt Einstein@Home. Teil 1. In: Sterne und
Weltraum 4/2014, S. 46 – 53
Komitee von einer Hand voll Kollegen speist gelegentlich Hier erfahren Sie, wie Sie sich mit Ihrem Heimcomputer selbst an der
­simulierte Gravitationswellensignale in die Detektordaten Suche nach Gravitationswellen beteiligen können.
ein. Niemand außer ihnen weiß davon.« Wenn die übrigen
Wissenschaftler dann die Daten analysieren und darin auf Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1372764

WWW.SPEK TRUM .DE 55


SCHLICHTING!

Kunst unter der Eisdecke


»Sie schafft ewig neue Gestalten;
Statt einfach nur spiegelglatt zu werden, bilden frierende Wasser- was da ist, war noch nie,
flächen oft seltsame Strukturen – geformt durch die wechselhaften was war, kommt nicht wieder –
Bedingungen in dieser sehr speziellen Umgebung. alles ist neu, und doch immer das Alte.«
Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
VON H. JOACHIM SCHLICHTING

I m Winter bereiten frisch zugefrorene


Wasserpfützen besonders Kindern
ein Vergnügen. Unter ihrem Stampfen
Vorgeschichte. Und manchmal kommt
man nicht umhin, die Pfütze zumin-
dest teilweise zu dekonstruieren, in-
bricht das Eis mit einem krachenden dem man etwa eine Eisscholle heraus-
Geräusch und legt eine matschige Brü- trennt, um die Unterseite genauer zu
he frei. Die meisten Eltern dürften sich untersuchen.
dabei über die verschmutzten Schuhe
ärgern, doch mich betrübt mehr die Wasser –
Zerstörung der oft verborgenen Skulp- ein ganz besonderer Stoff
turen. Denn diese sind häufig ästhetisch Die Tatsache, dass sich Pfützen sowie
ansprechend und fordern die physikali- Seen unterhalb des Gefrierpunkts mit
sche Intuition heraus: Eine zufrierende einer festen Schicht kristallisierten Was-
Wasserpfütze zeigt eine beeindrucken- sers überziehen, ist aus lebensweltli-
de Formenvielfalt wie kaum ein anderer cher Sicht nichts Besonde­res. Physiker
H. JOACHIM SCHLICHTING

Phasenübergang vom flüssigen in den sehen die Sache anders. Sie betrachten
festen Zustand. Das steht im krassen die Gesamtheit der Stoffe und stellen
Widerspruch zur schlichten Schulweis- fest: Wasser verhält sich abweichend.
heit, wonach Wasser bei Unterschreiten Für ein einfaches Experiment kann
des Gefrierpunkts von null Grad Celsius man ein kleines Gefäß, zum Beispiel
erstarrt und in Eis übergeht. Es ist dann den Verschluss einer Getränkeflasche,
eine an Glas erinnernde feste Substanz – randvoll mit flüssigem Kerzenwachs
und sonst nichts. füllen und warten, bis es erstarrt ist.
Schon bei der eigenen Herstel- Das Volumen hat dann abgenommen,
lung von Eiswürfeln im Gefrierschrank und die Oberfläche des festen Wachses
kann man einige Überraschungen er­ ist konkav nach unten gedellt.
leben. Sei es, dass sie manchmal mit Bei Wasser ist es umgekehrt, das Eis
zapfenförmigen Auswüchsen versehen überwölbt das Gefäß (Bild unten). Das
sind (siehe »Eiszapfen, die gen Himmel liegt daran, dass Wasser seine größte
wachsen«, SdW 3/2011, S. 38), oder, dass Dichte bei vier Grad Celsius besitzt. So-
heißes Wasser erstaunlicherweise oft bald diese Temperatur unterschritten
schneller erstarrt als kaltes (»Das Rätsel
von Mpemba«, SdW 9/2015, S. 40). Von
H. JOACHIM SCHLICHTING

all dem ist im Physikunterricht übli- Wachs (links) und die meisten anderen
cherweise nicht die Rede. Dabei handelt Stoffe ziehen sich beim Erstarren zu­
es sich bei den Phänomenen nicht etwa sammen, Wasser (rechts) dehnt sich hin-
um bloße Launen der Natur. Zwar spielt gegen aus.
Kristallstrukturen unterhalb der Eisschicht der Zufall bei der Kristallbildung eine
einer zugefrorenen Pfütze. Bei einem wesentliche Rolle, aber er ist eingebun-
derart komplexen Formengewirr ist es – den in zwangsläufige Vorgänge, und
ohne die Randbedingungen des Frost­
H. JOACHIM SCHLICHTING

diese lassen sich im Prinzip physika-


vorgangs zu kennen – nicht mehr möglich, lisch erschließen. Dazu reicht nicht im-
die einzelnen physikalischen Ursachen mer der bloße Anblick der Muster aus;
zu rekonstruieren. oft braucht man Kenntnisse über die

56  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


BEIDE FOTOS: H. JOACHIM SCHLICHTING
Bei einigen einfacheren Strukturen lässt sich nachvollziehen, was zu
ihrer Entstehung führte, so etwa bei leicht erhabenen Bögen
(links) und den gefrorenen Tropfen (rechts) unterhalb der Oberfläche.

wird, dehnt es sich aus (»Anomalie des her entsteht so allmählich ein keil­ daran gestreute Licht als mehr oder we-
Wassers«). Das hat außerdem zur Folge, förmiger Hohlraum. An der Grenzlinie niger strukturiertes, oft ästhetisch an-
dass das kühlere Wasser nach oben zwischen Wasser, Luft und Eis bildet sprechendes Muster sichtbar (siehe Bil-
steigt und bei null Grad an der Ober­ sich wegen der guten Benetzbarkeit der ganz links).
fläche erstarrt. Andere Flüssigkeiten ge- von Eis ein Meniskus, der bei sinkender Zuletzt kann ein weiterer, häufig an-
frieren von unten her, da ihre kältesten Temperatur, also meistens nachts, zu zutreffender Effekt dadurch entstehen,
Bereiche dichter werden und absinken. einem Eiswulst gefriert. Er hält das Was- dass sich die Temperatur insbesondere
Obwohl sich eine ungestörte Pfütze ser noch einige Zeit lang fest, auch bei starker Sonneneinstrahlung in dem
normalerweise mit einer nach außen wenn sich der Schwund kontinuierlich Hohlraum wie in einem Treibhaus stark
hin glatten Eisschicht überzieht, kann fortsetzt. Hat sich dann der Pfützen­ erhöht. Dabei wird die Eisdecke teilwei-
man an der Unterseite, also zum noch inhalt so stark verringert, dass schließ- se von unten angeschmolzen, und der
nicht gefrorenen Wasser hin, oft auffälli- lich die Verbindung zwischen Wasser so entstehende Wasserfilm zieht sich
ge Muster erkennen – etwa helle, manch- und Eis reißt, stellt sich abermals eine stellenweise zu Tropfen zusammen, die
mal fast kreisförmig geschwungene Gleichgewichtslage ein. An der neuen darunter hängen bleiben und gelegent-
Streifen, die meist ungefähr um das Grenzschicht bildet sich bei wieder fal- lich den Durchmesser von einer Ein­
Zentrum der Pfütze herum angeordnet lender Temperatur der nächste ringför- euromünze annehmen. Wenn die Son-
sind. Trennt man eine Scholle heraus, so mige Eisvorsprung. Das kann sich je ne untergeht und die Temperatur wie­-
entpuppen sich diese Streifen als mehr nach Wetterlage und sonstigen Um- der unter den Gefrierpunkt sinkt, wer-
oder weniger deutlich ausgeprägte Erhe- ständen mehrmals wiederholen. den sie fest. In den erstarrten Trop-
bungen oder Wülste auf der Eisschicht. fen bleibt manchmal eine feine helle
Der sich aufdrängende Vergleich mit Unter dem Eisdach Musterung zurück. Sie kommt von der
Jahresringen ist insofern nicht abwegig, Solange die Eisschicht das Pfützen­ ursprünglich im Wasser gelösten Luft,
als sie eine zeitliche Entwicklung doku- wasser berührt, ist sie völlig transpa- die in feinen Hohlräumen gefangen
mentieren: Sie bilden sich, wenn die Eis- rent und erlaubt manchmal den Durch- bleibt und durch die Lichtstreuung
schicht den Kontakt zum Wasser ver- blick auf den Grund. Zieht sich aber sichtbar wird.  Ÿ
liert, aus dem sie hervorgegangen ist. die Flüssigkeit zurück und hinterlässt
Zwar versiegelt das Eis die Oberflä- einen feuchtigkeitsgesättigten Hohl-
DER AUTOR
che, so dass kein Wasser mehr verduns- raum, entsteht so etwas wie ein meteo-
tet, es kann aber nach wie vor weiterhin rologischer Mikrokosmos. Je nach den H. Joachim Schlichting
im Boden versickern. Da die feste Eis- Temperaturverhältnissen können sich war Direktor des In-
schicht die Flüssigkeit darunter isoliert, darin Konvektionswirbel bilden und stituts für Didaktik der
Physik an der Uni-
kühlt der feuchte Boden langsamer ab Wasserdampf in Kontakt mit dem kal- versität Münster. 2013
und erstarrt nicht so schnell, was das ten Eis bringen. Abhängig von der Kom- wurde er mit dem
Versickern sogar noch unterstützt. plexität der Vorgänge und der mikros- Archimedes-Preis für
Physik ausgezeichnet.
Wenn der Füllstand unter der Eis­ kopischen Topologie der Eisfläche kann
decke abnimmt, sinkt sie durch ihr ei- der Dampf an der Eisschicht kristalli­
genes Gewicht in der Mitte ein wenig sieren und sie von unten mit Raureif Dieser Artikel und Links im Internet:
ein und von den Rändern der Pfütze überziehen. Dieser wird dann durch das www.spektrum.de/artikel/1372768

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TEILCHENPHYSIK

Der Klebstoff der Welt


Gluonen halten Atomkerne zusammen und erzeugen einige der fundamentalen
Eigenschaften der Materie. Dabei ist vieles an diesen Teilchen rätselhaft, denn sie
sind in Experimenten kaum fassbar.
Von Rolf Ent, Thomas Ullrich und Raju Venugopalan

A
nfang des 20. Jahrhunderts zeigten Physiker, Und nicht nur in Protonen und Neutronen stecken
dass Atome ihren Namen zu Unrecht tra­ sie. Große Beschleuniger produzierten im letzten hal­
gen. Die nach dem griechischen Wort für ben Jahrhundert eine Vielzahl von Teilchen aus ver­
»unteilbar« bezeichneten Objekte ließen schiedensten Kombinationen von Quarks und Anti­
sich in noch kleinere Materiebausteine spalten: Elektro­ quarks. Physiker fassen sie alle unter dem Begriff »Ha­
nen sowie Protonen und Neutronen. Später stellte sich dronen« zusammen.
heraus, dass die beiden Letzteren ihrerseits aus weite­ Wie Quarks mit Gluonen prinzipiell wechselwirken,
ren Teilchen bestehen, den Quarks. So genannte Gluo­ können Theoretiker inzwischen beschreiben. Trotz­
nen – angelehnt an den englischen Begriff für Kleb­ dem fällt es ihnen schwer zu erklären, wie sich daraus
stoff – binden diese Quarks aneinander. Beide Teilchen­ die komplette Bandbreite der Eigenschaften von Had­
arten sind nach heutigem Wissen nicht weiter spaltbar. ronen ergibt. Addiert man beispielsweise die Massen
Laut Experimenten, die einen Blick in das Innere von Quarks und Gluonen innerhalb eines Protons, so
von Protonen und Neutronen erlauben, bestehen die erhält man weniger als dessen Gesamtmasse. Wo also
Kernteilchen (Nukleonen) aus je drei Quarks, zwischen kommt der zusätzliche Betrag her? Außerdem ist im­
denen sich eine schwankende Zahl von Gluonen befin­ mer noch unklar, wie Gluonen überhaupt Quarks an­
det. Hinzu kommen noch Paare aus Quarks und ihren einander binden. Und schließlich versteht noch nie­
Antiteilchen, die ständig auftauchen und wieder ver­ mand, wie die gemessene Eigendrehung eines Pro­
schwinden. tons – eine als Spin bezeichnete Größe – sich aus den
Spins der einzelnen Quarks und der Gluonen ergibt.
Wie bei der Masse führt auch hier eine simple Addition
AUF EINEN BLICK
nicht zum richtigen Ergebnis.
Erst, wenn die Physiker diese Probleme gelöst haben,
SUBATOMARE SPUKGESTALTEN
können sie anfangen zu begreifen, wie Materie auf
1 Die Atomkerne bestehen aus Quarks, die mittels Gluo-
nen aneinanderhaften. elementarer Ebene funktioniert. Laufende und künf­
tige Forschungsarbeiten, darunter Untersuchungen
2 Die Wechselwirkung beider Teilchenarten unterliegt
noch nicht vollständig verstandenen, komplizierten
Regeln. Unklar ist insbesondere, wie Quarks und Gluonen
exotischer Konfigurationen von Quarks und Gluonen,
könnten mit etwas Glück dabei helfen, den Schleier zu
die Masse und den Spin von Protonen und Neutronen lüften.
erzeugen.
Die Frage nach dem Ursprung der Masse ist über­

3 Um Gluonen gezielt untersuchen zu können, müssen


Forscher extreme Bedingungen wie kurz nach dem
Urknall herstellen. In neuen Experimenten gelingt ihnen
haupt eine der irritierendsten Fragen der Physik. Wir
verstehen heute zwar ziemlich gut, wie Quarks und
das immer besser. Leptonen – eine Familie von Teilchen, zu denen die
Elektronen gehören – dazu kommen. Masse entsteht

58  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


PHYSIK & ASTRONOMIE

Gluonen verknüpfen die


elementaren Materie­
bausteine, indem sie die
starke Kraft zwischen
Quarks (hier rot und blau)
vermitteln. Diese ist so
stark, dass urknallähn­
liche Bedingungen nötig
sind, um die Teilchen zu
SHUTTERSTOCK / CONCEPT W

trennen und ihre Eigen­


schaften zu untersuchen.

WWW.SPEK TRUM .DE 59


MEHR WISSEN BEI Abstoßung zwischen den positiv geladenen Protonen. Zu je­
der der vier Wechselwirkungen gehört ein spezielles Teil­
Unser  chen, das jeweilige Träger- oder Austauschteilchen. So wie
Online-Dossier  das Photon das Trägerteilchen des Elektromagnetismus ist,
BRICE / CERN

zum Thema  ist das Gluon dasjenige der starken Wechselwirkung (siehe
»Teilchenphysik «  Kasten »Der Teilchenbausatz«).
MICHAEL HOCH UND MAXIMILIEN

finden Sie unter Doch die starke Kraft funktioniert mitunter überra­
schend. Gemäß quantenmechanischer Regeln ist die Reich­
www.spektrum.de/ weite einer Wechselwirkung mit der Ruhemasse ihres Träger­
t/teilchenphysik teilchens verknüpft: Je leichter es ist, desto größer ist sie. Die
elektromagnetische Kraft hat wegen der masselosen Photo­
nen beispielsweise eine unendliche Reichweite. Ein freies
durch das Higgsboson, einem 2012 am Large Hadron Colli­ Elektron auf der Erde spürt – jedenfalls im Prinzip – eine
der aufgespürten Teilchen, und dem damit verbundenen leichte Abstoßung durch ein Elektron auf der erdabgewand­
Higgsfeld, das den gesamten Raum erfüllt. Wenn ein Teil­ ten Seite des Mondes. Im Gegensatz dazu reicht die starke
chen sich hindurchbewegt, wechselwirkt es mit ihm und er­ Wechselwirkung nicht über den Atomkern hinaus. Demnach
hält so Masse. Häufig liest man, dieser Higgsmechanismus sollten Gluonen sehr viel Masse besitzen – und doch müssen
sei die Ursache der Masse des sichtbaren Universums. Doch sie der Theorie zufolge masselos sein.
das stimmt so nicht: Die Masse der Quarks trägt nur zwei Seltsam ist außerdem, dass die Anziehungskraft zwischen
Prozent zu derjenigen von Protonen und Neutronen bei. Die zwei Quarks wächst, wenn der Abstand zwischen ihnen grö­
anderen 98 Prozent stammen, so vermuten Teilchenphysi­ ßer wird. Die elektromagnetische Kraft hingegen nimmt mit
ker, von den Gluonen. Doch wie diese den gewaltigen Bei­ dem Abstand ab. Experimente am Stanford Linear Accelera­
trag leisten, ist erst einmal nicht so klar – denn sie sind tor Center in den USA (heute das SLAC National Accelerator
selbst masselos. Laboratory), bei denen energiereiche Elektronen auf Proto­
nen trafen, lieferten in den 1960er Jahren erstmals Beweise
Nukleonenmasse durch für die Existenz der Quarks. Manchmal gingen die Elektro­
Bewegung und Bindung nen nicht durch die Protonen hindurch, sondern trafen auf
Einen Schlüssel zur Lösung des Rätsels liefert Einsteins be­ einen festen Widerstand – ein Quark – und prallten zurück.
rühmte Gleichung E = mc 2, die mit Hilfe der Lichtgeschwin­ Aus den Richtungen und den Geschwindigkeiten, mit der die
digkeit c eine Beziehung zwischen der Ruhemasse m und der Elektronen zurückgeworfen wurden, konnten die Forscher
Energie E eines Teilchens herstellt. Wir müssen also die Ge­ auf die Anwesenheit und die Anordnung der Teilchen im
samtenergie der Gluonen bestimmen, wenn wir die Masse Inne­ren der Protonen schließen. Diese »tiefinelastisch« ge­
des Protons ermitteln wollen. Sie zu berechnen ist jedoch ein nannten Streuexperimente zeigten den Physikern, dass
schwieriges Unterfangen. Wären die Gluonen nicht an ande­ Quarks sich bei kurzen Abständen nur schwach anziehen. Bei
re Partikel gebunden, wäre das einfach die Bewegungsener­ großen Abständen waren jedoch keine freien Quarks zu fin­
gie. Quarks und Gluonen lassen sich jedoch nicht isoliert ver­ den, was wiederum auf eine sehr starke Anziehungskraft
messen. Sie haben als freie Teilchen eine unvorstellbar kurze deutete.
Lebensdauer von Billionsteln einer billionstel Sekunde, dann Ein anschauliches Bild für dieses seltsame, »Confine­
sind sie bereits wieder Bestandteil eines neuen gebundenen ment« genannte Verhalten ist eine Art Gummiband, das zwei
Zustands und damit vor direkten Beobachtungen abge­ Quarks zusammenhält. Sind die beiden nahe beieinander, so
schirmt. Zudem steckt die Energie der Gluonen nicht nur in zieht es die Teilchen nur schwach aufeinander zu. Ist der Ab­
ihrer Bewegung, sondern auch in der Bindung, die aus ihnen stand zwischen ihnen groß, so ist das Band straff gespannt
und den Quarks Teilchen mit längerer Lebensdauer macht. und übt eine große Kraft aus. Die starke Wechselwirkung zwi­
Um das Geheimnis der Masse zu lüften, müssen wir also zu­ schen zwei Quarks zieht bei einem Abstand von der Größe ei­
nächst einmal verstehen, wie Gluonen als subatomarer Kleb­ nes Protons mit der Gewichtskraft von 16 Tonnen. Bei diesen
stoff wirken. Doch auch das ist kompliziert. Größenordnungen reißt das Band. Neue Teilchenpaare ent­
Auf den ersten Blick ist die Antwort auf die Frage, wie Glu­ stehen und verbinden sich mit den vorhandenen. Wie das
onen Quarks zusammenhalten, einfach: mit der so genann­ passiert, ist ein weiteres Mysterium und spielt eine wichtige
ten starken Wechselwirkung. Doch diese Kraft ist selbst ein Rolle bei der Frage, warum Gluonen das Innere von Atomker­
Rätsel. Sie ist neben der Gravitation, dem Elektromagnetis­ nen zusammenhalten, aber nicht darüber hinaus wirken.
mus und der schwachen Wechselwirkung eine der vier fun­ In den 1970er Jahren entwickelten Physiker die Quanten­
damentalen Naturkräfte. Von diesen ist sie bei Weitem die chromodynamik, kurz QCD. Diese Theorie beschreibt mathe­
stärkste – daher ihr Name. Sie bindet nicht nur Quarks zu Ha­ matisch die starke Wechselwirkung. Ganz ähnlich wie die
dronen, sondern auch Protonen und Neutronen zu Atomker­ elektromagnetische Kraft von elektrischen Ladungen aus­
nen. Dabei überwindet sie die gewaltige elektromagnetische geht, geht die starke Wechselwirkung gemäß der QCD von ei­

60  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


ner Eigenschaft namens »Farbladung« aus. Das Konzept löst onen in Hadronen, die ein isoliertes Auftreten dieser Teil­
dabei zwar das Problem, warum sich die starke und die elekt­ chen verhindert. Das ist auch eines von sechs herausragen­
romagnetische Wechselwirkung so sehr unterscheiden, wirft den mathematischen Problemen, für deren Lösung das
aber zugleich eine ganze Reihe neuer Fragen auf – darunter US-amerikanische Clay Mathematics Institute ein Preisgeld
die, warum einige Teilchen eine solche Eigenschaft haben, von einer Million Dollar ausgelobt hat.
andere dagegen nicht. Eine der verblüffenden Folgen aus der QCD ist, dass die
Gemäß der QCD tragen sowohl Quarks als auch Gluonen Anzahl der Bausteine im Inneren eines Protons erheblich
eine Farbladung. Derart geladene Teilchen wechselwirken schwankt. Zusätzlich zu dem Grundgerüst aus drei Quarks
miteinander, indem sie Gluonen austauschen. Demnach schwirrt eine sich ständig ändernde Anzahl von Gluonen
müssten also auch Gluonen ihresgleichen untereinander umher. Paare aus Quarks und Antiquarks entstehen und
hin- und hersenden. Das unterscheidet die Quantenchro­ vergehen wieder. Die Physiker sprechen bildhaft von einem
modynamik erheblich vom Elektromagnetismus. Photonen brodelnden »Quantenschaum«. Beschleunigt man Proto­
übertragen die elektrische Kraft, sind selbst aber ungeladen.
Sie beeinflussen sich daher nicht gegenseitig, wie man an
sich kreuzenden Lichtstrahlen in einem staubigen Raum be­ Der Teilchenbausatz
obachten kann. Die Theoretiker machen jedoch gerade diese
Selbstwechselwirkung der Quarks dafür verantwortlich, dass Die Kerne aller Atome im Universum bestehen aus nur Spin elektrische
die starke Kraft bei geringen Abständen abnimmt. Ein Gluon zwei Arten von Elementarteilchen: Quarks und Gluo- Ladung

kann sich vorübergehend in ein Paar aus Quark und Anti­ nen. Gluonen zählen zu den Bosonen (rechter Block),
Name des
quark oder in eines aus Gluonen verwandeln, um dann wie­ welche die Naturkräfte übertragen (mit Ausnahme des Teilchens
der zu einem einzelnen Gluon zu werden. Die erste dieser Higgs-Bosons). Sie sind die Träger der stärksten der
beiden Fluktuationen verstärkt die Wechselwirkung zwi­ Wechselwirkungen. Diese bindet die Quarks in Pro­ Masse (in Mega-
schen Farbladungen, die zu einem Gluonenpaar dagegen tonen und Neutronen aneinander. Neben den Boso- elektronvolt)
schwächt sie ab. Da Gluonenoszillationen in der Quanten­ nen gibt es noch die Fermionen (linker Block), zu denen
chro­modynamik häufiger auftreten als solche zu Quark und die Leptonen wie etwa das Elektron sowie die Quarks
Antiquark, tragen sie den Sieg davon. Für diese Entdeckung gehören. Von diesen gibt es sechs Typen, Flavours ge-
erhielten David Gross, Frank Wilczek und David Politzer 2004 nannt. In der Natur kommen jedoch nur »Up« und
den Physiknobelpreis. »Down« häufig vor – als Bausteine von Protonen und –1 0
Neutronen. Photon
Eine unhandliche Theorie (Elektroma-
gnetismus)
Über Jahrzehnte hinweg haben Experimente in aller Welt die Generation I Generation II Generation III
QCD als eine wichtige Säule des Standardmodells der Physik 0
bestätigt. Trotzdem sind immer noch viele Details dieser 1/2 +2/3 1/2 +2/3 1/2 +2/3
1 0
Theorie mysteriös. So trägt jedes Quark in einem Proton eine
Up Charm Top Gluon
individuelle Farbladung – und trotzdem ist das Proton insge­ (starke
samt farbladungsneutral. Auch beispielsweise in einem Had­ Kraft)
2,3 1 275 ~173 500
Quarks

ron namens Pi-Meson besitzen das Quark und das Antiquark 0


eine Farbladung – aber das aus ihnen gebildete Teilchen 1/2 –1/3 1/2 –1/3 1/2 –1/3
nicht. Diese Farbneutralität von Hadronen ähnelt der elektri­ 1 0
Z-Boson
BOSONEN

schen Ladungsneutralität von Atomen. Während Letztere je­ Down Strange Bottom
(schwache
doch einfach daraus folgt, dass sich die positiven Ladungen Kraft)
FERMIONEN

der Protonen und die negativen Ladungen der Elektronen 4,8 95 4 180
91 188
ausgleichen, bleibt es ein Rätsel der QCD, wie genau sich far­
1/2 0 1/2 0 1/2 0
bige Quarks und Gluonen immer zu farblosen Hadronen zu­ 1 ±1
sammenfügen. Elektron- Myon- Tau- W-Boson
Neutrino Neutrino Neutrino (schwache
Die QCD sollte außerdem eine Erklärung dafür liefern, wie
Kraft)
Atomkerne trotz der starken elektromagnetischen Absto­
< 0,000002 < 0,19 < 18,2
Leptonen

ßung zwischen den Protonen darin zusammenhalten. Doch 80 385

erweist es sich als große Herausforderung, die Kernphysik 1/2 –1 1/2 –1 1/2 –1
aus der QCD herzuleiten. Das Problem liegt in der schier un­ 0 0
Elektron Myon Tauon
überwindlichen Schwierigkeit, die Gleichungen für die gro­ Higgs-
Boson
ßen Abstände zu lösen, bei denen die Wechselwirkung zwi­
MOONRUNNER DESIGN

schen Quarks und Gluonen sehr stark wird. Weiterhin fehlt 0,511 105,7 1 776,8
~125 000
uns eine Antwort auf die Frage, wie aus der Theorie das Con­ zunehmende Fermionenmasse
finement folgt, also die Gefangenschaft von Quarks und Glu­

WWW.SPEK TRUM .DE 61


Geheimnisvolle Gluonen
Jedes Proton und Neutron im Inneren eines Atoms besteht im We-
sentlichen aus drei Quarks, zusammengehalten von Gluonen
(Bild). Zusätzlich zu diesen primären Teilchen entstehen und ver-
schwinden permanent Paare von Quarks und Antiquarks sowie
Gluonen. Das erzeugt einen »Quantenschaum«, der unablässig
die Landschaft in den Atomkernen verändert. Dieses Durcheinan-
der verkompliziert eine ganze Reihe grundlegender Fragen, bei-
spielsweise wie Quarks und Gluonen die Masse und den
Spin der aus ihnen aufgebauten Teilchen erzeugen oder
wie Gluonen die Quarks in stabilen Konfigurationen
zusammenhalten. Eine Methode, mit der Physiker
diese Mysterien auflösen wollen, ist die theo-
retische und sogar experimentelle Untersu-
chung von ungewöhnlichen Zusammen-
stellungen aus Gluonen und Quarks (ge-
genüberliegende Seite)

Die Atomstruktur unter


zwei Blickwinkeln
Das unten gezeigte klassische
Bild eines Atoms enthält
Elektronen, die einen Kern aus Gluon
Protonen und Neutronen
umkreisen. Diese bestehen
wiederum aus jeweils drei
Quarks. Das Bild rechts zeigt
außerdem den Quanten-
schaum, ein genaueres und
lebendigeres Bild des Inneren
subatomarer Teilchen.

Quantenschaum
Quark

Kern
Proton
Quarks
Das Innere eines Protons
oder Neutrons ist dyna-
misch: Zusätzlich zum
altbekannten Trio gibt es
einen See aus Quarks,
Antiquarks und Gluonen,
die ständig entstehen und
vergehen.

Der Gesamtspin eines


Nukleons (Pfeil) setzt sich
Elektron möglicherweise nicht nur
aus den Spins seiner Be­
standteile zusammen,
Neutron sondern auch aus deren
MOONRUNNER DESIGN

Bahnbewegungen.

62  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Exotische Materiezustände
Physiker haben ungewöhnliche Kombinationen aus Quarks und Gluonen jenseits der vertrauten Protonen
und Neutronen theoretisch entworfen – und in einigen Fällen sogar in Experimenten hergestellt. Diese
Exoten bieten neue Möglichkeiten, die starke Wechselwirkung zu untersuchen – und damit vielleicht einige
grundlegende Geheimnisse der Materie zu lüften.

Gluonenbälle und ihre Verwandtschaft


Theoretische Simulationen deuten darauf hin, dass Quarks und Gluonen auch andere Teilchen bilden können
als nur Protonen und Neutronen. Ein Beispiel sind »Gluonenbälle« (a), die ausschließlich aus Gluonen be­
stehen. Auch Hybride aus Gluonen und einem Quark-Antiquark-Paar (b) sind denkbar, sowie Tetraquarks (c)
aus Gluonen und zwei Quarkpaaren. Für Letztere gibt es inzwischen bereits eine wachsende Zahl von ex-
perimentellen Hinweisen. Gluonenbälle und Hybride entziehen sich bislang aber der Beobachtung.

a b c Anti-Charm-
Quark

Anti-Up-
Gluonen- Charm Quark
ball
Up-Quark
Up-Quark
Anti-Up-Quark

Gesättigter Zustand
Beschleunigt man Protonen und Neutronen auf hohe Geschwindigkeiten, so vervielfacht sich die Zahl ihrer
Gluonen. Dabei spalten sie sich fortlaufend in Tochterpaare auf, von denen jeder Partner etwas weniger Ener-
gie besitzt. Schließlich erreicht das Proton oder Neutron eine Grenze maximaler Besetzung – mehr Gluonen
passen nicht hinein. Dieser theoretisch vorhergesagte Zustand wird als Farb-Glas-Kondensat bezeichnet. Teil-
chenbeschleuniger haben zwar deutliche Hinweise auf seine Existenz geliefert, aber ein eindeutiger Beweis
steht noch aus.
zunehmender Impuls Farb-Glas-Kondensat

Ein Abbild des jungen Alls


Am Anfang war der Kosmos zu heiß, als dass sich Atome oder auch nur stabile Protonen und Neutronen
hätten bilden können. Quarks und Gluonen schwirrten damals frei umher. In Teilchenbeschleunigern gelang
es, beim Zusammenstoß extrem energiereicher, schwerer Atomkerne dieses Gefüge, ein Quark-Gluon-Plasma,
zu replizieren (links unten, künstlerische Darstellung). Es beim Abkühlen zu beobachten, liefert den Physikern
nicht nur neue Erkenntnisse über das Verhalten der Elementarteilchen, sondern auch über die Entwicklung
des frühen Universums.

?
MOONRUNNER DESIGN

WWW.SPEK TRUM .DE 63


ANTONIO SABA / CERN

Der abgebildete ALICE-Detektor ist Teil des Large Hadron Collider im CERN bei Genf. Bei diesem
Ex­periment versuchen Teilchenphysiker, mit kollidierenden Bleikernen einen Zustand extremer
Dichte und Temperatur zu erzeugen, in dem sich Quarks und Gluonen frei bewegen können.

nen und Neutronen extrem, so spalten sich die Gluonen in heute erreichen, können Aufschluss über diesen dichten, ex­
ihrem Inneren in Paare auf, von denen jedes Gluon weniger tremen Gluonenzustand liefern. Ist die Wechselwirkung, wel­
Energie besitzt als das ursprüngliche. Jedes dieser Produkte che die Anzahl der Gluonen im Farb-Glas-Kondensat be­
erzeugt weitere Paare mit noch weniger Energie. Theore­ schränkt, dieselbe, die auch die Nukleonen zusammenhält?
tisch geht dieser Prozess ewig fort – aber wir wissen, dass das In diesem Fall könnte die Beobachtung in zwei ganz verschie­
nicht der Fall ist. Denn wenn die Gluonen sich immer weiter denen Zusammenhängen neue Erkenntnisse darüber er­
aufspalten würden, wäre das Proton nicht stabil; es würde möglichen, wie die Gluonen diese Kraft erzeugen.
kollabieren. Da Materie aber offensichtlich recht haltbar
ist, muss etwas diese Kettenreaktion unterbrechen. Ein Lö­ Woher kommt
sungsansatz ist eine maximale Besetzungszahl für Gluonen der Spin des Protons?
in Protonen. Dabei werden sie so viele, dass einige den glei­ Ein weiteres Rätsel ist, wie sich der Spin der zusammenge­
chen Raum einnehmen müssten. Die Teilchen stoßen sich setzten Teilchen aus demjenigen der einzelnen Quarks und
dadurch ab, und die weniger energiereichen unter ihnen Gluonen ergibt. Alle Hadronen besitzen einen solchen quan­
verschmelzen zu Gluonen mit mehr Energie. Das führt tenmechanischen Drehimpuls, anschaulich vergleichbar
schließlich zu einem Gleichgewicht. mit dem eines rotierenden Körpers. Beispielsweise bewegen
Dieser gesättigte Gluonenzustand wird auch als Farb- sich Teilchen mit unterschiedlichem Spin in einem Magnet­
Glas-Kondensat bezeichnet. Er wäre eine Art Essenz der feld in verschiedene Richtungen.
stärksten Kräfte im Universum, bleibt vorerst jedoch nur Experimente zeigen, dass Quarks etwa 30 Prozent des
eine Vermutung. Bislang haben Forscher erst wenige experi­ Spins eines Protons erzeugen. Woher kommt der Rest? Das
mentelle Hinweise auf seine Existenz, und sie verstehen sei­ Bild eines Protons als schäumender Teilchensee aus Quarks
ne Eigenschaften keineswegs vollständig. Erst tiefinelasti­ und Gluonen legt sofort Letztere als weitere Verursacher
sche Streuexperimente mit noch höheren Energien, als wir nahe. Doch Versuche ergaben, dass nur etwa 20 Prozent des

64  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Protonenspins von dort stammt. Es fehlt also immer noch Gern würden Wissenschaftler die Aufenthaltsorte, Ge­
die Hälfte. schwindigkeiten und Spins aller Bestandteile von Protonen
Der Lösung des Problems könnte uns ein Blick in das Son­ und Neutronen vermessen können. Dann könnten sie die
nensystem näher bringen: Zum Gesamtdrehimpuls tragen Beiträge der Quarks und Gluonen zur Masse und zum Spin
hier nicht nur die Eigendrehungen der Himmelskörper bei, der aus ihnen gebildeten Teilchen berechnen. Dieses Wissen
sondern ganz entscheidend auch die Bahnbewegungen. Sol­ ließe sich jedoch nur mit einem »Femtoskop« erschließen –
che führen auch die Quarks, Antiquarks und Gluonen im In­ einem Streuexperiment mit einer Auflösung, die einem Tau­
neren eines Protons aus. Um diese Bahndrehimpulse zu ver­ sendstel des Protonenradius entspricht. In den USA bemü­
stehen, benötigen wir sowohl die Aufenthaltsorte als auch hen sich Labore darum, ein solches Projekt zu finanzieren.
die Geschwindigkeiten von Quarks und Gluonen im Pro- Im Gegensatz zu bisherigen tiefinelastischen Streuexperi­
ton. Einer der Autoren (Ent) führt zu diesem Zweck mit Elek­ menten, bei denen Elektronen auf stationäre Atomkerne
tronenstrahlen hoher Intensität tiefinelastische Streuexperi­ treffen, soll die neue Maschine beide Teilchenarten auf rela­
mente durch. Die Untersuchungen liefern immer mehr De­ tivistische Geschwindigkeiten beschleunigen und frontal in­
tails und entwickeln sich von einzelnen Schnappschüssen einanderrasen lassen. Dieser »Electron-Ion Collider« hätte
allmählich zu 3-D-Filmen von den subatomaren Bewegun­ neben der größeren Kollisionsenergie auch erheblich dichter
gen – und das mit einer Auflösung im Bereich von weniger gepackte Teilchenpakete in den Strahlen und damit eine we­
als einem Femtometer, einem billiardstel Meter. sentlich höhere Ausbeute an Zusammenstößen. Die Forscher
Um die wahre Natur der Wechselwirkungen zwischen hoffen auf eine tausendfach gesteigerte Kollisionsrate – und
Quarks und Gluonen zu verstehen, müssen wir die Teilchen damit auf eine entsprechend große Zahl von Schnappschüs­
nicht nur in den vertrauten Konfigurationen von Neutronen, sen aus dem Inneren der Protonen und Neutronen.
Protonen und anderen wohlbekannten Hadronen untersu­ Seit die Quantenchromodynamik vor vier Jahrzehnten
chen, sondern in allen möglichen Situationen. Die QCD er­ aufkam, haben die Teilchenphysiker bei ihrem Versuch, die
laubt auch die Existenz exotischer Zustände, die mit der nor­ starke Wechselwirkung zu verstehen, viele Fortschritte ge­
malen Materie nicht mehr viel zu tun haben. Simulationen macht. Doch es fehlen immer noch entscheidende Stücke zu
deuten auf die Existenz neuer, farbladungsneutraler Hadro­ einem umfassenden und einfachen Bild davon, wie die Gluo­
nen wie beispielsweise Gluonenbälle, die ausschließlich aus nen die Quarks zusammenkleben. Heute ist die Technik aber
Gluonen bestehen, oder so etwas wie Moleküle aus zwei so weit, dass in den nächsten vier Jahrzehnten hoffentlich
Quark-Antiquark-Paaren. Auch Hybride sind möglich: gebun­ eine Antwort auf die entscheidende Frage vorliegen wird, wie
dene Zustände aus Quark-Antiquark-Paaren und Gluonen. Materie auf allerkleinster Ebene beschaffen ist.  Ÿ
Bislang sind experimentelle Hinweise auf derlei seltsame
Zusammenballungen rar. Immerhin spürten die Forscher DI E AUTOREN
bereits Kandidaten für »Tetraquarks« oder »Pentaquarks«
aus vier beziehungsweise fünf Quarks auf (siehe SdW 10/2014,
S. 14/15, und SdW 9/2015, S. 6). Dank einer ganzen Reihe von
Projekten könnte sich die Situation jedoch bald deutlich
verbessern. Beispielsweise beginnt gerade das Experiment
GlueX an der Thomas Jefferson National Accelerator Facility
in Virginia, USA, das sich speziell diesen Exoten widmet.
Mit großen Teilchenbeschleunigern wie dem LHC bei Rolf Ent (links) arbeitet seit 1993 an der Thomas Jefferson National
Genf versuchen Physiker, einen extremen Materiezustand Accelerator Facility im US-Bundesstaat Virginia und ist dort stell­-
ver­tretender Direktor der experimentellen Kernphysik. Thomas
zu untersuchen, das Quark-Gluon-Plasma. Es entsteht, wenn Ullrich (Mitte) ist seit 2001 am Brookhaven National Laboratory
Atomkerne mit enorm hohen Energien aufeinanderprallen. in New York tätig. Außerdem forscht und lehrt er an der Yale
Theoretiker vermuten, dass bei einer solchen Kollision das Univer­sity. Er war an zahlreichen Experimenten zur Untersuchung
des Quark-Gluonen-Plasmas beteiligt. Raju Venugopalan leitet
Farb-Glas-Kondensat zerbricht und ein Schauer aus prak­ die Gruppe für theoretische Kernphysik am Brookhaven National
tisch ungebundenen Quarks und Gluonen entsteht. Das Plas­ Laboratory. Er untersucht dort die Wechselwirkung von Quarks
ma wäre mehr als vier Billionen Grad Celsius heiß. und Gluonen bei hohen Energien.
Das Quark-Gluon-Plasma ähnelt der Materie unmittelbar
nach dem Urknall. Wenn man es beim Abkühlen beobachten QUELLEN
könnte, wäre das also zugleich ein Einblick in die frühe Ent­ Braun-Munzinger, P., Stachel, J.: The Quest for the Quark-Gluon
wicklung des Kosmos. Außerdem ist die Verwandlung von Plasma. In: Nature 448, S. 302 – 309, 2007
Protonen und Neutronen in ein solches Plasma gewisserma­ Gross, D. J., Wilczek, F.: Ultraviolet Behavior of Non-Abelian Gauge
Theories. In: Physical Review Letters 30, 1343 – 1346, 1973
ßen die Umkehrung des Confinements und liefert so Rück­ Politzer, H. D.: Reliable Perturbative Results for Strong Interactions?
schlüsse auf das, was die einzelnen Kernbausteine zusam­ In: Physical Review Letters 30, S. 1346 – 1349, 1973
menhält (siehe »Die Jagd nach dem Quark-Gluon-Plasma«,
SdW 5/2011, S. 86 – 95). Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1368110

WWW.SPEK TRUM .DE 65


TITELTHEMA: ANTHROPOLOGIE

Die Urahnen
der großen Mythen
Anthropologen und Ethnologen analysieren Märchen, Mythen und Sagen,
um Entwicklungslinien aufzudecken. Mit den Algorithmen von Genetikern
verfolgen sie die Evolution der »Mythenfamilien« bis in vorgeschichtliche
Zeit – und rekonstruieren deren Urformen.
Von Julien d’Huy

E
inst begehrte Zeus, der Herr des Olymps, die schöne der ob-ugrischen Tradition verfolgt der Jäger einen Elch, re-
Nymphe Kallisto. Diese gehörte aber zum Gefolge der präsentiert durch unseren Großen Bären. Eine solche »Kosmi-
Jagdgöttin Artemis und war daher zur Keuschheit sche Jagd« kennen auch Völker in Afrika und in der Neuen
verpflichtet. Doch Zeus näherte sich der Nymphe in Welt. Bei den Irokesen im Nordosten Amerikas etwa jagen
der Gestalt ihrer Herrin. Zu spät erkannte Kallisto den Betrug. und verwunden drei Jäger einen Bären. Dessen Blut färbt die
Sie vermochte sich des mächtigen Gottes nicht zu erwehren, Blätter des Herbstwalds. Doch das Tier erklimmt einen Berg
und so nahm das Schicksal seinen Lauf: Die Schwangere wur- und springt von dort an den Himmel. Bär und Jäger ver-
de von Artemis verstoßen und nach der Niederkunft noch schmelzen daraufhin zum Sternbild des Großen Bären.
von Hera, der eifersüchtigen Gattin des Zeus, in eine Bärin
verwandelt. Eines Tages stieß sie auf ihren Sohn Arcas, aus Projektionsfläche Sternenhimmel
dem ein mutiger Jäger geworden war. Als der sich anschickte, Dass Menschen am Sternenhimmel Gestalten wahrnehmen,
die vermeintliche Bestie zu töten, griff Zeus ein und versetzte ist eine Eigenheit unseres kognitiven Systems, die wohl einen
beide als Sternbilder an das nächtliche Firmament. Wir ken- Überlebensvorteil bot: Wer ein im Blattwerk des Urwalds
nen sie unter den Namen Großer und Kleiner Bär. verborgenes Raubtier ausmachte, konnte sich in Sicherheit
Diese dramatische Erzählung aus der griechischen und bringen. Dass manche Kulturen andere Konstellationen mit
römischen Antike klingt überraschenderweise auch in vielen den jeweiligen Beutetieren identifizierten, verwundert nicht
Mythen anderer Völker der Welt an. Die in Sibirien lebenden weiter. Interessant ist die bei allen Variationen auffallende
Tschuktschen etwa deuten das Sternbild des Orion als einen grundlegende Struktur: Ein Jäger verfolgt oder erlegt ein
Jäger, der ein Rentier verfolgt. Es entspricht dem einem »W« Tier; beide werden zu Sternbildern. Viele Forscher betrachten
gleichenden Sternbild, das im Westen Kassiopeia heißt. In daher die verschiedenen Erzählungen als Vertreter einer
weltweiten Mythenfamilie: der »Kosmischen Jagd«.
Eine nahe liegende Erklärung dieses Phänomens wäre
AUF EINEN BLICK
eine universelle Eigenschaft der menschlichen Psyche, die
eine solche Geschichte als Erklärung der kosmischen Kons-
COMPUTERANALYSE URALTER LEGENDEN tellationen bei Jäger-und-Sammlervölkern geradezu zwin-

1 Drei Mythenfamilien sind weltweit in zahlreichen Varianten


vertreten: »Kosmische Jagd«, »Pygmalion« und »Polyphem«.
Jede Version lässt sich in ihre charakteristischen Einzelelemente
gend hervorbringt (bäuerliche Gesellschaften erkennen in
Sternbildern eher domestizierte Tiere). Doch warum fehlen
zerlegen, so genannte Mytheme. entsprechende Erzählungen in den mündlichen Traditionen
Indonesiens, Papua-Neuguineas und Australiens? Ethnolo-
2 Mytheme entsprechen in der Genetik den Grundbausteinen der
DNA, sie kodieren gleichsam einen Mythos. Mit Hilfe phylo-
genetischer Algorithmen lassen sich daher Stammbäume und so-
gen und Anthropologen der so genannten historisch-geogra-
fischen Theorie glauben, dass die Familie »Kosmische Jagd«
gar die Urform einer Familie rekonstruieren. auf eine Urerzählung zurückgeht, die sich weltweit über ei-

3 Mythenstammbäume spiegeln auch die Besiedelungsgeschichte


der Erde durch den Menschen wider. Insbesondere die »Kos-
mische Jagd« und »Polyphem« reichen offenbar bis in die Altstein-
nen sehr langen Zeitraum ausgebreitet hat. So waren Eura­
sien und Nordamerika 25 000 bis 14 000 v. Chr. durch eine
zeit zurück und gelangten im Zuge von Migrationen bis nach Landbrücke verbunden, was Migrationen ermöglichte. Ge-
Nord­amerika. netische Studien bestätigen, dass die meist als Präclovis be-
zeichneten ersten Siedler Amerikas aus Ostasien stammten.

66  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


MENSCH & KULTUR

Höhlenmalereien sind vielleicht die ältesten


Zeugnisse mythologischer Vorstellungen.
Diese Abbildung (zur besseren Ansicht
nachgezeichnet) aus der französischen Grotte
des Trois-Frères wirkt auf den ersten Blick
wie eine Jagdszene, lässt aber auch andere
Deutungen zu. Gibt es Parallelen mit der
vom Autor rekonstruierten Urfassung des
weltweit verbreiteten Polyphemmythos?

ABBÉ HENRI BREUIL; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


Geht die traurige Geschichte um Kallisto also auf einen My- Inhalt wiederzugeben, verändert man die Mythen zugleich.«
thos zurück, den sich Menschen schon in der Altsteinzeit am Über längere Zeiträume hinweg muss sich eine mündlich
Lagerfeuer erzählten? tradierte Erzählung also zwangsläufig verändern, und zwar
Das Phänomen solcher Familien, oft nur mündlicher umso stärker, je größer der zeitliche Abstand zu ihrem Ur-
Überlieferungen, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts offen- sprung wird.
bar – durch die Sammlungen von Sagen und Volksmärchen Diese »Evolution« kann zudem eine geografische Dimen­
der Sprachwissenschaftler Jakob und Wilhelm Grimm. Den sion haben. Schon 1951 zeigte die schwedische Volkskundlerin
Brüdern fielen bereits Ähnlichkeiten deutscher Volkserzäh- Anna Birgitta Rooth, dass »Aschenputtel« auf ein 4000 Jahre
lungen mit solchen aus Indien, Persien und anderen Ländern altes orientalisches Märchen zurückgeht: Eine Kuh ernährt
auf. Bald entstand das historisch-geografische ­Modell, dem zwei Kinder, deren leibliche Mutter gestorben ist. Ihre Stief-
zufolge solche Parallelen Anzeichen einer Verwandtschafts- mutter tötet das Tier, doch aus den vergrabenen Knochen
beziehung sind, die eine Eingruppierung der verschiedenen wächst ein Baum, der sie fortan nährt. Aus diesem Märchen
Vertreter in Familien rechtfertigt. verschwand im Lauf der Zeit der Bruder, das Mädchen hütet
Gleichsam würden Mythen von einer Generation zur die Kuh, während es am Spinnrad arbeitet. Nach dem Tod des
nächsten weitervererbt, wobei ihre wichtigsten Merkmale Tiers sprießen Früchte aus seinem Kadaver, die jedoch nur je-
zwar meist beibehalten werden, jedoch unter mehr oder ner Prinz ernten darf, der das Mädchen heiraten wird.
minder bewusster Hinzufügung von Innovationen eine Ent- Vor etwa 2500 Jahren sei auf dem Balkan eine neue Version
wicklung stattfindet. Der Anthropologe Claude Lévi-Strauss entstanden: Die nährende Rolle der Kuh und die Schlachtung
(1908 – 2009) schrieb dazu: »In dem Glauben, lediglich ihren bildeten noch immer den Kern des Geschehens, doch nun er-

Evolutionsgeschichte der »Kosmischen Jagd«

Evenki 3
Chanten
Samen Eurasien
Evenki 1
ob-ugrische Völker
Evenki 2
Basken 1
Basken 2
Twana Nordwestamerika
Snohomisch
griechische Antike 1 – Hesiod
griechische Antike 2 – Ovid Eurasien
griechische Antike 3 – Pseudo-Apollodorus
griechische Antike 4 – Pausanias
Ojibwa 1 Nordostamerika
Ojibwa 2
Nlaka’ Parnux Nordwestamerika
Lillooet
Cœur d’Alène Seneca
Micmac Nordostamerika
Mesquakie
Mohawk
Lenape
Wasco Nordamerika
Copper-Inuit
Île de Baffin Nordamerika
Natsilik-Inuit
Inughuit
Iglulik
Tuareg 1 Afrika
Tuareg 2
Samen Eurasien
Tschuktschen
Nordwestamerika
Chilcotin
Kali’na Südamerika
Mohave Akawaio Südwesten
Chemehuevi von
POUR LA SCIENCE [M], NACH: JULIEN D’HUY

Marikopa Nordamerika
Kiliwa
Karanga Afrika
Tswana
Rutul Eurasien
Wagogo
Khoïkhoï Afrika

68  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


scheinen prächtige Kleider dort, wo das Tier begraben wurde. in der Evolutionsbiologie zur Rekonstruktion der stammes-
Das ermöglicht der Heldin, eine Feier des Prinzen zu besu- geschichtlichen Entwicklung (der »Phylogenese«) verwendet
chen, wo sie ihren Pantoffel verliert. Der junge Mann sucht werden. Dieser damals noch grobe Ansatz wird seitdem von
nach der Besitzerin, droht aber einer Betrügerin aufzusitzen. einigen Forschern – darunter unserem Team – verfolgt, da er
Doch ein Tier entlarvt diese, der Prinz heiratet die Richtige. nicht nur mächtige, sondern auch verlässliche Werkzeuge be-
Die Geschichte ist Rooth zufolge quer durch Osteuropa bis reitstellt. Denn wie wir erstmals zeigen konnten, geben die
nach Skandinavien gewandert, wo sie um das Jahr 1000 als un- eingesetzten statistischen Verfahren Sicherheiten, die ein
ser heutiges »Aschenputtel« auftauchte. rein qualitatives Vorgehen nicht bieten kann.
Beispielsweise werfen Kritiker der historisch-geografi-
Die Anfänge statistischer Mythenforschung schen Theorie vor, ihre Kriterien der Familiengruppierung
Den Beziehungen unter den Angehörigen von Mythenfami­ seien willkürlich – mitunter werden nur ein oder zwei Cha-
lien gehen Forscher auf den Grund, indem sie strukturelle rakteristika zur Kategorisierung verwendet – und zudem sei-
Elemente und Motive identifizieren und deren Modifikatio- en sie ethnozentrisch – die meisten Mythenfamilien neh-
nen verfolgen. Ein Ziel solcher Forschung ist es, einen Stamm- men Bezug auf den westlichen Kulturkreis. Dazu käme eine
baum aufzustellen. Dieser mag Aufschlüsse über Migrations- Stichprobenverzerrung, weil europäische Volkstraditionen
bewegungen in der Vergangenheit geben oder helfen, die weit intensiver studiert wurden als außereuropäische, was
­ursprüngliche Geschichte, sozusagen ihren Urahn, zu rekons- jede Stammbaumrekonstruktion verfälsche. Durch die An-
truieren. In den 1990er Jahren setzte Jun’ichi Oda von der Uni- wendung phylogenetischer Algorithmen auf die verfügba-
versität Tokio erstmals mathematische Verfahren ein, wie sie ren Datensätze lässt sich die Stabilität einer solchen Berech-

Computeralgorithmen ermittelten die wahrscheinlichsten Ab- ner Mutter geheilt. Mit Hilfe einer Krücke macht er sich daran, die
stammungslinien der weltweit vorkommenden Versionen der Liebenden zu verfolgen, und holt sie ein. Er hackt dem Tapir den
»Kosmischen Jagd« (Abbildung links). Ein Kriterium war, dass die Kopf ab. Die Frau fliegt zusammen mit dem Geist des Tiers in den
Verzweigungen in mindestens der Hälfte aller berechneten mög- Himmel, verfolgt von ihrem Ehemann.« Letzterem entspricht das
lichen Bäume enthalten sind. Alle Varianten stammen von einer Sternbild Orion, die Plejaden stellen die Frau dar, und die Hyaden
Version 0 aus paläolithischer Zeit ab, die wir wie folgt rekonstru- formen den Kopf des Tapirs.
ierten: »Ein Mensch jagt ein großes, Gras fressendes Huftier mit
Hörnern. Diese Jagd findet im Himmel statt, oder sie führt die Be- karibischer Raum
teiligten dorthin. Das Tier überlebt und verwandelt sich in das Kali’na
subsaharischer Raum
Sternbild des Großen Bären.« Karanga
Yuma-Kulturkreis
In einer ersten Verzweigung entspringen diesem Original Marikopa Eskimokulturen
Natsilik und Inughuit
neun Varianten in Eurasien. Während die meisten dort bleiben,
gelangt eine nach Afrika, zwei kommen nach Amerika.
In der inzwischen verschwundenen Version 1 wird aus dem Tier Salish-Sprachen
das Sternbild Orion. Die nun folgende achtfache Verzweigung Cœur d’Alène

bringt insbesondere die deutlich veränderte Version 2 hervor: »Ein


Irokesen
großes, Gras fressendes Huftier mit Hörnern wird bis in den Him- ob- und an-
ugrischer grenzen-
mel verfolgt. Das Tier ist schon tot, als es unter die Sterne versetzt Kulturkreis der Raum
wird. Durch einen Fehltritt eines Familienmitglieds werden seine Salish
Cherokee
Jäger ebenfalls verwandelt, meist in die Plejaden, mitunter auch Twana
Sahara
Tuareg 2 griechische
in den Orion.« Antike
Während der Stamm der Chilcotin von British Columbia bei
alkonkine Kulturen
dieser Version stehen bleibt, erzählen die südamerikanischen Ojibwa 2
Kali’na und Akawaio, das Tier sei ein Tapir gewesen und das betref-
fende Familienmitglied eine Frau, die ein Tabu brach. Die resultie- Die obige Darstellung ordnet die verschiedenen Versionen der
rende Version 3 erlangte damit einen größeren gesellschaftlichen Kosmischen Jagd nach der Anzahl gemeinsamer Mytheme an.
Nutzen. Die Akawaio fügten einen Ehebruch und weitere Sternbil- Der Abstand zum Protomythos ist dabei umso länger, je mehr
der hinzu, womit wir Version 4 erhalten: »Eine Frau nimmt sich ei- ­Innovationen in eine Erzählung eingebaut wurden. Querverbin-
POUR LA SCIENCE, NACH: JULIEN D’HUY

nen Tapir zum Geliebten. Dieser verspricht, sie mit in den Osten zu dungen symbolisieren einen Austausch zwischen benachbarten
nehmen, wo der Himmel auf die Erde trifft. Die Frau wartet auf Versionen. Insgesamt zeigt diese Darstellung des Stammbaums
eine Gelegenheit, als ihr Ehemann auf einen Baum steigt, um ihm deutlich, dass die Mehrzahl der Mythen einer begrenzten Anzahl
die Beine abzuhacken. Jedoch wird der Bedauernswerte von sei- von Kulturräumen angehört.

WWW.SPEK TRUM .DE 69


Die berühmte Brunnenszene
NORBERT AUJOULAT / CENTRE NATIONAL DE PRÉHISTOIRE (CNP) / MINISTÈRE DE LA CULTURE ET DE LA COMMUNICATION (MCC)

in der Höhle von Lascaux


(17 000 bis 18 000 Jahre vor
heute) scheint eine Geschichte
zu erzählen, vielleicht über die
Konfrontation eines Jägers mit
einem verletzten Bison. Doch
es könnte sich ebenso um eine
mythologische Szene handeln.
Dafür spricht der Vogelkopf
des Menschen, der dem abge-
bildeten Vogel auf dem Pfahl
ähnelt. Möglicherweise steht
der Mensch auch aufrecht; die
Perspektive ist unklar. In dem
Fall fährt das Bison in den
Himmel auf, was gemeinsam
mit weiteren Details an die
»Kosmische Jagd« erinnert.

nung aber testen und eine einseitige Gewichtung von Stich- droht, nehmen die Indianer den Vogel gefangen und halten
proben korrigieren. ihn über einen qualmenden Schacht, was das schwarze Gefie-
Diese Techniken haben wir nicht nur auf die »Kosmische der erklärt, zudem an die Rolle des Feuers in der griechischen
Jagd«, sondern auch auf die Mythenfamilien »Polyphem« Sage erinnert. Der Rabe verspricht, die Tiere freizulassen, hält
und »Pygmalion« angewendet. Versionen des Letzteren kennt sich jedoch nicht daran (in gewisser Weise hatte auch der Zy-
man in Europa und in Afrika. Diese Sage kreist um einen klop ein Versprechen gebrochen: das den Griechen heilige
Menschen, der sich in ein von ihm geschaffenes Kunstwerk Gebot der Gastfreundschaft, an das Odysseus appellierte).
verliebt. In der griechischen Überlieferung nach Ovid ist es Nun verwandelt sich ein Indianer in einen Stab und ein zwei-
eine weibliche Marmorskulptur. Der von realen Frauen ent- ter in einen Welpen. Die Tochter des Raben empfängt sie und
täuschte Künstler kleidet sie, redet mit ihr, liebkost sie. Ge- führt sie in die Höhle. Dort verwandeln sich die beiden aber-
rührt haucht Venus dem Stein Leben ein. Beim Volk der Ven- mals, der eine in einen großen Hund und der andere in einen
da im südlichen Afrika schnitzt ein Mann die Frauenskulptur Menschen. Sie führen die Bisons ins Freie, doch um dem
aus einem Holzblock, die mal durch einen Priester, mal durch scharfen Blick des am Eingang wachenden Raben zu entge-
einen Gott lebendig wird. Als der Häuptling sie begehrt, wirft hen, verstecken sich beide im Fell eines Bisons.
der Künstler die Frau zu Boden, wo sie wieder zu Holz wird.
In den Mythen vom Polyphemtypus wagt sich ein Held in »Es gibt einen Helden«
die Höhle eines Monsters und entkommt in einer Tierherde Die phylogenetischen Algorithmen verarbeiten diskrete In-
verborgen. In Europa retten ihn meist Schafe. Die hier zu formationen, zum Beispiel die Abfolge der vier verschiede-
Lande bekannteste und namengebende Fassung stammt nen Nukleotide in der menschlichen DNA. Um die raumzeit-
wieder aus dem griechischen Sagenkreis: Der Held Odysseus lichen Verwandtschaftsverhältnisse der Sagen nachzuvoll-
dringt mit seinen Gefährten auf der Suche nach Nahrung in ziehen, haben wir daher jede Erzählung jeder Familie in
eine Höhle ein, nicht ahnend, dass sie dem Zyklopen Poly- Abfolgen der kürzest möglichen Sätze zerlegt, die wir als My-
phem als Schafstall dient. Der nimmt die Männer gefangen, theme bezeichnen. Vorsicht: Dies entspricht nicht der gängi-
um sie zu fressen. Zwar gelingt es den Griechen, Polyphem gen Definition, in der Mytheme bereits Kernelemente von
mit einer glühenden Pfahlspitze zu blenden, doch der Riese Mythen darstellen! Für unsere Zwecke ist es ausreichend,
bewacht weiterhin den Ausgang. Im Bauchfell der Schafe ver- Sätze wie »Es gibt einen Helden« oder »Der Held ist ein Jä-
steckt, gelingt dann endlich die Flucht. ger« zu verwenden. In der Zusammenschau der Mytheme
Ähnliche Erzählungen findet man auch in Nordamerika, kristallisieren sich dann die definierenden Merkmale der
so beispielsweise bei den Schwarzfußindianern, einem Volk großen Mythenfamilien heraus. Manche kommen in nur ei-
des algonkinen Sprach- und Kulturkreises. Sie erzählen von ner oder zwei Fassungen der Geschichte vor, andere dagegen
einem Raben, der Bisons in eine Höhle einsperrt. Ihrer wich- sind allen Versionen gemeinsam. Jedes Mitglied lässt sich an-
tigsten Nahrungsquelle beraubt und vom Hungertod be- hand einer Merkmalsliste beschreiben. Indem wir Anwesen-

70  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


heit oder Abwesenheit eines bestimmten Mythems mit 1 be- Solange man sich an eine eindeutig identifizierte Mythen-
ziehungsweise 0 kodieren, können wir sie mit den statisti- familie hält, kann man davon ausgehen, dass Innovationen
schen Methoden der Phylogenetik vergleichen, von anderen in der Merkmalsliste nur punktuell auftreten, so dass sie die
Familien abgrenzen und Stammbäume erstellen. genea­logische Aussage nicht verschleiern. Daher beobachtet
Die von uns verwendeten Algorithmen belegen, dass Ähn- man trotz aller Varianten, dass sich die Versionen einer My-
lichkeiten in den Merkmalslisten verschiedener Versionen thenfamilie meist in einer schlüssigen Anordnung gruppie-
eher auf verwandtschaftlichen Verbindungen beruhen als ren lassen, nämlich nach Kontinenten, geografischen Zonen
auf Neudichtungen, die zufällig einander entsprechen. Wie und Sprachgemeinschaften (Kasten S. 69). Dies zeugt von ei-
in der Evolution von Lebewesen gibt es aber Mutationen, in ner großen Beständigkeit der Erzählungen im Verlauf der Zeit.
diesem Kontext als Innovationen bezeichnet: Mytheme ver-
blassen, andere werden aus anderen Geschichten entlehnt. Kulturtransfer durch Migration
An die Stelle eines einäugigen Riesen tritt dann vielleicht ein An der sukzessiven Veränderung einer solchen von einer Ge-
Rabe, der Bisons statt Schafe einsperrt. Zum Glück gibt es sta- neration zur nächsten vererbten Geschichte kann man Wan-
tistische Methoden zur Einschätzung solcher Effekte. So er- derungsbewegungen ablesen. Beispielsweise lassen sich Pa­
möglicht der Retentionsindex, den Anteil solcher Merkmale rallelen zwischen der Ausbreitung des Pygmalionmythos
an der Gesamtliste zu ermitteln, die zwei oder mehr Ge- und einer Migration von Bevölkerungsgruppen aus dem
schichten gemeinsam sind, obwohl diese nicht von einem Nordosten Afrikas ins südliche Afrika ziehen, die vor etwa
gemeinsamen Vorfahren abstammen. 2000 Jahren stattgefunden hat. Die Polyphemerzählungen
Indem die Algorithmen nach Verzweigungspunkten su- gelangten in einer ersten Expansionswelle noch in der Alt-
chen, an denen möglichst wenige Innovationen auftreten, steinzeit weit über Europa hinaus bis nach Nordamerika;
ermitteln sie direkte Abstammungslinien, mithin Mythen- eine zweite Welle erfolgte in der Jungsteinzeit im Gefolge der
stammbäume. Dabei offenbart sich eine zeitliche Dimen­ Landwirtschaft.
sion: Verzweigungen einander ähnlicher Versionen können Es genügte nämlich nicht, dass beispielsweise ein Volk mit
nicht weit auseinanderliegen. einem entfernt lebenden im Warenaustausch stand, um neue
Übernimmt ein Volk eine Erzählung seiner Nachbarn, be- Elemente in einen letztlich identitätsstiftenden Mythos zu
steht eine Tendenz zur Verdrehung von Koordinaten. So wer- importieren. Gemeinsam mit Kollegen konnte Quentin At-
den beispielsweise mitunter Frauen in Männer verwandelt, kinson von der University of Auckland bestätigen, dass ethni-
oben und unten, Rohes und Gekochtes vertauscht. Im Ex­ sche und sprachliche Barrieren die Verbreitung von Folklore-
tremfall lässt sich die Verwandtschaft nicht einmal mehr er- elementen sogar stärker aufhalten als die von Genen. Die Ver-
kennen – weshalb derart starke Transformationen in unserer breitung einer solchen Überlieferung erforderte also eine
Studie keinen Eingang finden. Migration ihrer Überlieferer.

Die Eroberung der Welt durch den Homo sapiens begann vor etwa 20 000 Jahren während der letzten Eiszeit trockenfiel, er-
ungefähr 100 000 Jahren, als die ersten Gruppen des anatomisch reichte der Mensch den amerikanischen Doppelkontinent. Diese
modernen Menschen Afrika verließen. Vor etwa 60 000 Jahren großen Wanderungsphasen lassen sich heute durch gene­tische
drang er in mehreren Wanderungswellen nach Europa, Zentral­ Analysen, aber auch anhand der Stammbäume großer Mythen­
asien und bis nach Australien vor. Erst als die Beringstraße vor familien nachverfolgen.

Eurasien Nordamerika

Afrika Indonesien
POUR LA SCIENCE, NACH: JULIEN D’HUY

Südamerika
Migrationsbewegung
Australien
Bereich mythologischer
Entwicklung

WWW.SPEK TRUM .DE 71


Auch der Stammbaum der »Kosmischen Jagd« lässt da­rauf konkurrierenden Gruppen kann die Modifikation der My-
schließen, dass dieser Mythos Amerika in mehreren Schüben thologie dazu beitragen, sich von den jeweils anderen zu un-
erreicht hat. Überraschenderweise vereint ein Ast die griechi- terscheiden – ein gut dokumentiertes Phänomen in der Eth-
schen Versionen mit denen der algonkinen Sprachen und nologie. Ohnehin ist es sehr menschlich, Glaubensinhalte im
Kulturen. Das stimmt mit einigen Resultaten der Genetiker Spiegel neuer Umwelt- und Kultureinflüsse zu revidieren.
überein, die anhand von DNA-Vergleichen die Besiedlung
Amerikas rekonstruieren wollen: Beiden Volksgruppen ist die Suche nach der Urform
so genannte Haplogruppe X2 gemeinsam, ein Genkonglome- Phylogenetische Algorithmen helfen nicht nur, solche Pro-
rat, das immer komplett vererbt wird und von eurasischen zesse nachzuvollziehen. Ihre besondere Bedeutung in der
Vorfahren stammt, die vor etwa 30 000 Jahren lebten. vergleichenden Mythologie besteht darin, die jeweilige Ur-
Ein zweiter Ast des Stammbaums der »Kosmischen Jagd« form zu rekonstruieren. Denn sie ermitteln die Wahrschein-
weist auf die Überquerung der Beringstraße hin und setzt sich lichkeit, ob ein bestimmtes Mythem bereits im Prototyp des
über die Inuitkulturen bis weit in den Nordosten Amerikas Originals enthalten war oder nicht. Damit bestätigen sie die
fort. Schließlich gibt es einen dritten Zweig, der vermuten Annahme der historisch-geografischen Theorie, jeder gro-
lässt, dass Teile des Mythos von Asien ausgehend sowohl in ßen, weit verzweigten Mythenfamilie müsse eine Urform zu
Richtung Afrika als auch nach Amerika diffundierten. Grunde liegen, und machen obendrein verloren gegangene
Mit jeder Differenzierung wuchs ein Ast des Stamm- beziehungsweise entlehnte Mytheme sichtbar. Die Berech-
baums, und je länger er wurde, desto weniger hatten die Ver- nungen lassen sich immer wieder aktualisieren, sobald wei-
sionen am äußeren Ende mit ihrem Ursprung gemein. Eine tere Versionen in sie aufgenommen werden.
solche Beziehung beschreibt, was man in der Biologie als Eine der ersten Pygmalionversionen lautete demnach
punktuelles Gleichgewicht bezeichnet. Hiervon spricht man, etwa wie folgt: »Ein Mann schnitzt aus einem Baumstumpf
wenn Arten während langer Zeiträume stabil bleiben, jedoch eine Frauengestalt, um seine Einsamkeit zu durchbrechen.
nach Eintreten eines erbgutverändernden Ereignisses (einer Ein Gott haucht der Skulptur Leben ein, und sie verwandelt
so genannten Punktuation) relativ schnell mutieren. Genau sich in eine schöne junge Frau. Sie wird zur Gattin ihres
so verhielte es sich den berechneten Stammbäumen nach Schöpfers, jedoch gibt es daneben einen zweiten Mann, der
auch bei den Mythen, bei denen sich Phasen hoher Evoluti- sie gerne zur Gefährtin hätte.« Auf die Polyphemfamilie an-
onsgeschwindigkeit durch verschiedene Faktoren erklären gewandt berechneten die phylogenetischen Verfahren fol-
lassen. Insbesondere migriert immer nur eine begrenzte gende Geschichte: »Ein Jäger dringt in eine Höhle ein, in der
Zahl von Menschen, was die Stabilität ihres kulturellen Ge- eine Tierherde eingesperrt ist. Doch der Ausgang wird mit ei-
dächtnisses mindert. In einem Umfeld von um Ressourcen nem schweren Stein verschlossen, und ein Monster setzt alles

Von der Schlange zum Drachen

BRIAN C. LEE (MARKARIAN421) / CC-BY-SA-3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/


Der Auftritt des Drachen Smaug gehört sicher zu den packends-
ten Szenen in der dreiteiligen Verfilmung des »Hobbit«. Als bös-
artige, geflügelte Feuerspucker kennen viele Märchen und Sa-
gen des Abendlands die Drachen. In Ostasien ist ihre Bedeutung
eher die von Gottheiten denn von Dämonen. Der Kaiserthron LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)

Chinas galt als Drachenthron. Trotz der Bedeutungsunterschie-


de wie auch vieler Verschiedenheiten in ihrer Gestalt stellten
sich die Menschen weltweit Drachen als Wesen vor, deren Kör-
per der einer riesigen Schlange sei, welche aber Beine hat und
einen Kopf, der dem anderer Tiere gleicht. Als Urform aller Drachen rekonstruierte er eine Gestalt mit
»Spektrum«-Autor Julien d’Huy hat die phylogenetische dem Leib einer riesigen geschuppten Schlange, aber mit Hör-
Analyse auch auf diese mythologische Figur angewandt. So nern und Haaren, die ein Gewässer bewacht und fliegen, Stür-
finden sich Darstel­lungen gehörnter Schlangen auf vielen prä- me und Fluten auslösen kann. Diese Form reicht verschiedenen
historischen Felszeichnungen Afrikas und Nordamerikas (siehe Felsmalereien nach bis in die Altsteinzeit zurück.
Bild, San Rafael Swell, Utah). Der Forscher ermittelte grundle- Eine zweite Analyse befasste sich mit dem Kampf des grie-
gende ­Variablen (Mytheme) wie »keine Füße / zwei Füße / vier chischen Gottes Apollon gegen den Drachen Python um das
Füße« oder »ein Kopf / viele Köpfe«, »kann fliegen«, »ist mit Heiligtum Delphi. Das Motiv eines solchen Duells konnte d’Huy
Sturm verbunden«, »lebt in einer Höhle«. Insgesamt definierte bis nach Asien zurückverfolgen. Die positive Sichtweise auf Dra-
er Abbildungen und Erzählungen mittels 69 Variablen. chen entstand demnach erst im Lauf der Zeit. (K.-D. L.)

72  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


daran, ihn zu töten. Als es die Tiere nach draußen lässt, tastet des Bisons zum Rücken wäre dann ein Stern, die Haltung des
es sie einzeln ab. Doch dem Helden gelingt die Flucht, indem Tiers würde den Aufstieg zum Himmel andeuten. Weitere
er sich am Bauch eines Tiers festklammert.« Und die Urform Flecken am Boden wären sein Blut, das in manchen Versio-
der »Kosmischen Jagd« lautete mit hoher Wahrscheinlich- nen des Mythos die Herbstblätter färbt. Diese Beispiele sol-
keit: »Ein Huftier wird von einem Jäger verfolgt, wobei sich len vor allem das Potenzial der Methode aufzeigen, längst
dies am Himmel abspielt oder dorthin versetzt wird; das Tier vergangene Mythen zu neuem Leben zu erwecken.
lebt noch, als es unter die Sterne versetzt wird, und dieses Bleibt die Frage: Warum haben solche Erzählungen über-
Sternbild wird Großer Bär genannt.« haupt eine derart lange Tradition? Den griechischen Er­
Bemerkenswert ist, dass die rekonstruierten Ursprünge zählern der drei Sagen war sicher nicht bewusst, dass sie ei­-
der letzten bis in die Jüngere Altsteinzeit (Jungpaläolithi- ne jahrtausendealte Überlieferung fortsetzten. Vermutlich
kum) zurückreichen, also weit vor dem von der heutigen ver- brachten Mythen einer Gesellschaft Vorteile, beispielsweise
gleichenden Sprachwissenschaft erfassten Zeitraum liegen. indem sie Lebenserfahrungen weitergaben. Sicher halfen sie,
Aus diesem Abschnitt der Menschheitsgeschichte stammt der Welt eine Ordnung zu geben und so existentielle Ängste
eine Höhlenmalerei in der Drei-Brüder-Höhle (Grotte des zu lindern. Vielleicht dienten sie auch einem viel einfache-
Trois-Frères) in den französischen Pyrenäen (siehe Bild S. 70). ren Drang des Menschen: die Welt zu verstehen.  Ÿ
Sie zeigt ein Wesen mit dem Körper eines Menschen, aber
dem Kopf eines Bisons; es hält einen Stab oder kurzen Bogen
DER AUTOR
in den Händen. Ein Bison in einer Herde wendet sich ihm zu,
und die beiden Gestalten scheinen einen Blick auszutau- Julien d’Huy ist Anthropologe am Centre
schen. Betrachtet man das Hinterteil und insbesondere die d’études des mondes africains (UMR 8171) in
Paris.
Beine des Tiers genauer, erweisen sie sich aber ebenfalls als
menschlich. Der Prähistoriker André Leroi-Gourhan (1911 – 
1986) deutet sogar die Umrisse des scheinbaren Tiers als die
eines Menschen. Bemerkenswert ist außerdem die detaillier-
te Darstellung des Afters. Tatsächlich erzählen manche
QUELLEN
nordameri­kanischen Polyphemmythen, Helden hätten sich
im Inneren eines Tiers versteckt, indem sie durch dessen D’Huy, J.: Polyphemus (Aa. Th. 1137). A Phylogenetic Reconstruction
of a Prehistoric Tale. In: Nouvelle Mythologie Comparée 1, 2013.
Anus schlüpften. Zudem erinnern weitere Aspekte der Höh-
Im Internet unter: http://nouvellemythologiecomparee.hautetfort.
lenmalerei an den rekonstruierten Protomythos: Es gibt eine com/numero-1-no-1-2013/
Höhle und eine Herde, das Mischwesen hält einen Stab, und D’Huy, J.: A Cosmic Hunt in the Berber Sky: A Phylogenetic Recon-
es unterzieht sein Gegenüber einem prüfenden Blick. struction of a Palaeolithic Mythology. In: Les Cahiers de l’AARS 16,
S. 93 – 106, 2013
Auch für die »Kosmische Jagd« könnte es eine bildliche Tehrani, J. J.: The Phylogeny of Little Red Riding Hood. In: PLoS ONE 8:
Darstellung geben, eine Jagdszene aus der Höhle von Las- e78871. 10.1371/journal.pone.0078871, 2013
caux (siehe Bild links). Allerdings gingen hier die Spekulatio-
nen noch weiter: Ein dunkler Fleck am Übergang vom Hals Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1356012

WWW.SPEK TRUM .DE 73


TJ WATT (TJWATT.COM)

Die Sitka-Fichten in der kanadischen Provinz British Columbia


müssen vermutlich Gene von Bäumen aus wärmeren Regionen
übernehmen, um sich in Zeiten des Klimawandels zu behaupten.

74  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


ERDE & UMWELT

FORSTWIRTSCHAFT

Dem Wandel
­gewachsen
Die Klimaerwärmung bedrohnt Kanadas Wälder. Um sie fit
zu machen für höhere Temperaturen, wollen Forscher
Bäume aus südlicheren Gefilden einführen, die den h­ eimischen
­Beständen ihre Gene für Hitzetoleranz vererben.
Von Hillary Rosner

A
uf einem Feld in Vancouver, am Straßenrand di-
rekt gegenüber einer Häuserreihe, stehen unge-
fähr 500 Sitka-Fichten dicht an dicht und recken
ihr dunkelgrünes Nadelkleid der Sonne entgegen.
Obwohl alle vor sieben Jahren gleichzeitig gepflanzt wurden,
variiert ihre Größe dramatisch. Die kleinsten sind nur unge-
fähr 60 Zentimeter hoch und stammen von der Kodiak-Insel
in Alaska; die größten dagegen bringen es auf rund zwei Me-
ter und kommen aus Oregon. Doch die Größe ist nicht der
einzige augenfällige Unterschied. Obwohl die Fichten aus
Alaska zur selben Art gehören wie diejenigen aus Oregon,
knospen sie volle drei Monate früher. Zudem bleiben sie üp-
pig grün, egal wie tief die Temperaturen fallen.
Die Pflanzung am Rand des weitläufigen Campus der Uni-
versity of British Columbia ist Teil eines Experiments mit
dem Ziel, die kanadischen Wälder vor den Folgen des drohen-
den Klimawandels zu schützen. Bäume sind an ihren Lebens-
raum angepasst. Doch der verändert sich in dem Maße, wie
die Erde sich erwärmt. Nun können Bäume nicht einfach los-
marschieren und sich ein neues Habitat suchen. Wenn sie es
nicht schaffen, mit dem Klimawandel Schritt zu halten, sind
sie dem Untergang geweiht.
Da die Bäume selbst ortsgebunden sind, erproben Wissen-
schaftler eine neue Lösung: Sie wollen den Genen die Chance
geben, zu wandern – und den Pflanzen so dazu verhelfen, sich
genetisch den veränderten Umweltbedingungen anzupassen.
Für dieses Experiment hat Sally N. Aitken die Fichtenscho-
nung in Vancouver gepflanzt. Sie ist Direktorin des Centre for
Forest Conservation Genetics an der örtlichen Universität.
TJ WATT (TJWATT.COM)

Ihrer Ansicht nach könnte die Rettung der Wälder in British

WWW.SPEK TRUM .DE 75


Columbia – und andernorts – von einem Verfahren abhän- AUF EINEN BLICK
gen, das »assisted gene flow« heißt. Wissenschaftler verpflan-
zen dabei Organismen mit vorteilhaften Eigenschaften von BÄUME FÜR DEN KLIMASCHOCK RÜSTEN
einer Stelle ihres Verbreitungsgebiets an eine andere, wo sie
ihre besonderen Erbanlagen an die angestammte Flora wei- 1 Wälder passen sich genetisch an die lokalen Umweltbedin-
gun­gen an; der heutige Klimawandel vollzieht sich jedoch so
schnell, dass sie nicht mithalten können.
tergeben können. So besitzen die Bäume aus Oregon und die
aus Alaska vielleicht wechselseitig nützliche Gene. Doch ohne
menschliches Zutun kommen beide niemals zusammen. 2 Deshalb versuchen Wissenschaftler die Evolution zu be­
schleunigen, indem sie Bäume mit Genen für Hitzetoleranz
und geringen Wasserbedarf neben solche setzen, die diese
Förster können hier nachhelfen, indem sie beispielsweise Gene beziehungsweise Eigenschaften künftig benötigen; dann
Setzlinge von Fichten oder Küstenkiefern aus niedrigen Brei- können sich beide miteinander kreuzen.
tengraden nehmen und sie bei etwas höheren einpflanzen.
Wenn dort dann im Zuge der globalen Erwärmung die Durch- 3 Diese neue Strategie – »assisted gen flow« (AGF) – wird derzeit
in verschiedenen Klimazonen in British Columbia getestet.
schnittstemperatur steigt, sollten die Bäume am neuen
Standort problemlos gedeihen, sich mit verwandten Arten
vor Ort kreuzen und so ihre auf die Wärme zugeschnittenen ßes zu vermeiden. Ihr Team konnte bereits 35 DNA-Segmen-
Gene verbreiten. Der Wald insgesamt würde sich dadurch an- te identifizieren, die einen Einfluss darauf haben, wie kälte-
passen. Insofern bildet der »assisted gene flow« ein Mittel, empfindlich die Fichten sind und wann sie austreiben. Mitt-
der Evolution behutsam auf die Sprünge zu helfen. lerweile durchmustern die Forscher das Erbgut der Bäume
Doch ganz so simpel ist die Sache nicht. Man kann nicht auch nach Genen, die mit der Beständigkeit gegen andere
einfach einen Baum aus Oregon 1000 Meilen weiter nördlich Umwelteinflüsse zusammenhängen. Solche günstigen Versi-
in British Columbia einpflanzen und darauf warten, dass es onen sollen sich dann in Populationen verbreiten, die genau
dort wärmer wird. Der Grund sind genau jene lokalen Anpas- diese Eigenschaften benötigen – und zwar so schnell, dass die
sungen, die den »assisted gene flow« attraktiv erscheinen Veränderungen mit dem Klimawandel Schritt halten.
lassen. Küstenkiefern zum Beispiel wachsen in sehr verschie- Dieses größere Projekt namens AdapTree könnte wegwei-
denen Regionen Kanadas und haben je nach ihrem Standort send sein für ähnliche Vorhaben auf der ganzen Welt. Lang-
besondere Gene, die ihnen helfen, Hitze, Kälte oder Trocken- fristig profitieren vielleicht sogar andere Biotope davon –
heit zu ertragen oder lokal vorkommende Krankheiten oder zum Beispiel Korallenriffe, die ebenfalls durch den Klima-
Schädlinge abzuwehren. Wenn dann eine arktische Kaltfront wandel bedroht sind. Forscher in den Vereinigten Staaten,
durch Vancouver zieht und auf Setzlinge aus wärmeren Regi- Abu Dhabi, Katar und Australien haben vorgeschlagen, Koral-
onen trifft, bekommt das denen nicht gut. Denn ihnen feh- len aus dem Persischen Golf in den Indopazifik zu verpflan-
len die speziellen genetischen Anpassungen für das Gedei- zen, wo sie ihre Gene für Hitzetoleranz weitergeben könnten.
hen in ihrem neuen Lebensraum. »Wir müssen die Sache in Ebenso gibt es Versuche, mit Samen aus vielerlei Lebensräu-
ganz kleinen Schritten angehen«, sagt Aitken. »Obwohl die in men das Grasland im Mittleren Westen der USA wiederher­
einigen Jahrzehnten zu erwartenden Veränderungen erheb- zustellen.
lich sind, ist bis dahin noch mit wochen-, monate- oder jahre- Aitken und Michael C. Whitlock, Populationsgenetiker am
langen Unterbrechungen des allgemeinen Erwärmungs- zoologischen Institut der University of British Columbia, ha-
trends zu rechnen, die diese Bäume überleben müssen.« ben den Begriff »assisted gene flow« in einer Publikation aus
dem Jahr 2013 geprägt. Schon länger verfolgen Wissenschaft-
250 Millionen Setzlinge jährlich ler und Umweltschützer eine noch kühnere Idee, nämlich die
Herauszufinden, wie man die heutigen Wälder am besten für assistierte Migration. Hierbei werden Arten weit entfernt
das Klima von morgen rüsten kann, ist keine leichte Aufgabe. von ihrem Herkunftsort und außerhalb ihres natürlichen
Doch in British Columbia, wo die Forstwirtschaft für ein Drit- Verbreitungsgebiets angesiedelt. »Assisted gene flow« ist ein
tel aller Exporte aufkommt und die Hälfte des Baumbestands gemäßigterer Ansatz, der vor allem auf die Übertragung der
kommerziell verwertet wird, kommt ihr große Bedeutung zu. Gene zielt. Nach dem erfolgreichen Abschluss von AdapTree
Gesetze schreiben eine Wiederaufforstung nach dem Fällen in ein paar Jahren werden DNA-Sequenz-Daten für 12 000
vor, um den Holznachschub und gesunde Ökosysteme zu ge- Kiefern und Fichten vorliegen, die von mehr als 250 Popula-
währleisten. Ungefähr 250 Millionen Setzlinge werden jähr- tionen aus British Columbia und Alberta stammen.
lich gepflanzt. Woher sollten sie kommen, und wie weit ent- Diese Bäume spüren die Folgen des Klimawandels bereits.
fernt von ihrem Ursprungsort kann man sie einpflanzen? In den 1970er Jahren ließ die Regierung von British Columbia
Das sind ebenso knifflige wie drängende Fragen. Eine falsche eine Karte mit den verschiedenen biogeoklimatischen Zonen
Entscheidung könnte die Wälder für Jahrzehnte ruinieren. in der Provinz erstellen. 40 Jahre lang bildete diese Karte die
In dem kleinen Experiment mit den Sitka-Fichten unter- Grundlage für die waldbaulichen Planungen im westlichen
sucht Aitken Bäume von 14 unterschiedlichen Standorten Kanada und gab Auskunft darüber, welche Setzlinge wo zu
zwischen Kalifornien und Alaska. So will sie Erfahrungen pflanzen sind. Inzwischen ist sie aber durch den Klimawan-
sammeln, um massive Fehler bei Projekten größeren Ausma- del zu großen Teilen überholt. Einige Zonen haben sich ver-

76  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


schoben, andere sind dramatisch geschrumpft. Manche Le- Aitken ein. »In welchem Entwicklungsstadium sollen die
bensräume in höheren Regionen und auf einigen Hochebe- Bäume optimal an das Klima angepasst sein? Schon als Setz-
nen sind schon zur Hälfte verloren gegangen und dürften bis linge, im Alter von zehn oder gar erst von 30 Jahren?« Eine
2100 zu 80 Prozent verschwunden sein. Setzlinge von Bäu- naheliegende Möglichkeit, das Risiko zu minimieren, besteht
men, die einst in einer bestimmten Region gediehen, gehen darin, die Biodiversität zu erhöhen, indem man lokale Varie-
dort heute ein. Die Lebensräume verwandeln sich und brin- täten zusammen mit fremden anpflanzt. »Dabei wollen wir
gen Ökosysteme hervor, die sich von den früheren völlig un- nicht auf jedem Hektar das Gleiche machen; denn man sollte
terscheiden – wobei freilich umstritten ist, ab wann ein Öko- nicht nur für ein einziges Klimawandelszenario planen«, so
system als »völlig verändert« gelten kann. Aitken.
»Assisted gene flow« erscheint jedenfalls als probates Mit-
Logenplatz im Drama der globalen Erwärmung tel, für mehr genetische Vielfalt zu sorgen. Das Ziel muss da-
Die Anpassungsfähigkeit einer bestimmten Population bei sein, den Genpool der Wälder mit Elementen anzurei-
hängt entscheidend davon ab, wie schnell sich die Individu- chern, die ihre Widerstandskraft stärken. Während sich die
en fortpflanzen. In jeder Generation können neue nützliche Umwelt verändert, leiden einige Bäume vielleicht zunächst,
Eigenschaften aufkommen. Ein Käfer, der sich rasch ver- andere aber verfügen über Erbmaterial, das ihnen durch raue
mehrt, hat wesentlich bessere Aussichten, sich anzupassen, Zeiten hilft. »Da sich bevorzugt diejenigen Bäume fortpflan-
als ein Baum, der sehr lange lebt und sich nur langsam fort- zen, die robuster sind«, sagt Aitken, »erwarten wir Populatio-
pflanzt. In seiner kurzen Lebensspanne spürt das einzelne nen, die zunehmend besser mit den herrschenden Bedin-
­Insekt keine nennenswerte Veränderung. Ein Baum dagegen gungen fertigwerden.« Am wichtigsten sei es, in der Anpas-
sitzt im Drama der globalen Erwärmung gleichsam auf ei- sungsphase genug gesunde Bäume zu erhalten, die überleben
nem Logenplatz. und sich vermehren.
Frisch gepflanzte Bäume sind vor allem in den ersten 20 Aitken ist sehr heimat- und naturverbunden: Sie geht oft
Jahren gefährdet, dann werden sie widerstandsfähiger und wandern und unternimmt gerne Schitouren; außerdem be-
»können ungünstige Umstände eine Weile verkraften«, wie sitzt sie eine kleine Blockhütte in den Wäldern von British
Brad St. Claire, Genetiker am U.S. Forest Service in Corvallis in Columbia. Allein aus diesem Grund hofft sie, dass ihre Arbeit
Oregon, es ausdrückt. Doch in Zeiten der globalen Erwär- zu einer neuen, klügeren Strategie in der Forstwirtschaft bei-
mung steht zu befürchten, dass sich die lokalen Bedingun- trägt. Ohne »assisted gene flow« käme es, so fürchtet sie, zu
gen bereits in den kritischen ersten Dekaden beträchtlich einem allmählichen Niedergang der Bäume an den Rändern
verändern. ihres jeweiligen Verbreitungsgebiets. »Bäume können zwar
»Wenn man Pflanzen in höhere Breiten bringt, damit sie auch unter widrigen Umständen lange überleben, aber sie
an das künftige Klima angepasst sind, dann müssen sie mit verlieren die Fähigkeit, sich fortzupflanzen«, sagt Aitken.
der jetzt noch herrschenden Kälte dort zurechtkommen«, »Das wäre für die Wälder langfristig das Todesurteil. Sie be-
sagt St. Clair. »Wir haben ein bewegliches Ziel«, räumt auch stünden dann gewissermaßen nur noch aus lebenden Lei-

Wettertrends für Bäume


Wie stark sich das Klima im Westen Kanadas Veränderung der Niederschläge Veränderung der Wintertemperatur
bereits gewandelt hat, zeigt der Vergleich der prozentuale Abweichung vom Abweichung vom früheren Mittelwert
früheren Mittelwert in Grad Celsius
gemittelten Wetterdaten in den Zeitspannen
von 1961 bis 1990 und 1997 bis 2006. Im –24 –12 –6 –3 0 3 6 12 24 0 0,2 0,4 0,8 1,6  3,2
trockener keine nasser keine Veränderung wärmer
Durchschnitt haben die Niederschläge ent- Veränderung
lang der Pazifikküste stark zugenommen, wo-
durch es inzwischen immer öfter zur früher
seltenen Kiefernschütte durch Pilzbefall der
Nadeln kommt. Weiter im Landesinneren ist
das Klima dagegen trockener geworden, was
erklären könnte, warum dort vermehrt Fich-
ten und Espen eingehen. Dass es im Winter
heute überall wärmer ist, begünstigt zudem
die Ausbreitung des schädlichen Bergkiefer-
KARTEN: ANDREAS HAMANN

käfers. (Die Methoden für diese Analysen


wurden 2009 in der Fachzeitschrift »Agricul-
tural and Forest Meteorology« publiziert.)

WWW.SPEK TRUM .DE 77


CONNOR FITZPATRICK / ADAPTREE PROJECT, UNIVERSITY OF BRITISH COLUMBIA
JACK WOODS / ADAPTREE PROJECT, UNIVERSITY OF BRITISH COLUMBIA
1 2

Im Rahmen des AdapTree-Experiments nehmen Wissenschaftler Piniensamen aus unterschiedlichen Lebensräumen (1) und lassen sie im Ge-

chen.« Und zu allem Übel würden die Baum-Zombies Raum Genpool erweitert, eröffnet man der Population zweifellos
und Sonnenlicht beanspruchen – Ressourcen, welche die die besten Zukunftschancen.«
Keimlinge dringend benötigen. Die Wälder British Columbias erwirtschaften jährlich
Zur Mitte eines Ausbreitungsgebiets hin wäre die Situa­ zehn Milliarden Dollar und sind auch sonst von vielerlei Nut-
tion nicht ganz so dramatisch. Doch auch dort würden die zen, indem sie beispielsweise Überflutungen und die Boden-
Bäume wohl langsamer wachsen und sich nur mit Mühe erosion verhindern. Sie angesichts des Klimawandels einfach
­behaupten. Heißt das, dass sie letztlich ebenfalls zu Grunde ihrem Schicksal zu überlassen, wäre fahrlässig, zumal sich
gingen? »Wahrscheinlich nicht«, meint Aitken. »Innerhalb die Auswirkungen der globalen Erwärmung bereits zu zeigen
einer Population gibt es viel Variation. Deshalb werden die beginnen. Seit Mitte der 1990er Jahre haben Invasionen von
Arten wohl nicht aussterben, aber unsere Wälder dürften auf Schädlingen und Waldbrände – die beide mit den erhöhten
Dauer sehr ungesund aussehen.« Das zöge andere Pflanzen Temperaturen zusammenhängen – Millionen von Hektar
und Tiere in Mitleidenschaft, weil sich ganze Ökosysteme Wald vernichtet und viele Häuser zerstört. »Die Natur hat
um Bäume ranken – bieten diese doch vielen anderen Orga- schon mehrere Warnschüsse in Sachen Erderwärmung ab­
nismen Nahrung und Schutz, regulieren den Wasserhaushalt gegeben«, sagt Greg O’Neill, Wissenschaftler beim Ministry
und verhindern die Bodenerosion. of Forests, Lands and Natural Resource Operations von Bri-
Mit ihrem Ansatz stößt Aiken in eine Lücke: Bisher ist das tish Columbia. Durch die Insekten und Brände ist der Klima-
Versetzen einzelner Bäume innerhalb ihres normalen Ver- wandel ins Bewusstsein der Menschen hier gedrungen: »Es
breitungsgebiets wenig untersucht worden. Dabei sind die handelt sich um keine abstrakte Gefahr irgendwann in der
ökologischen Risiken geringer als beim Anpflanzen völlig Zukunft, wir stecken schon mittendrin.«
fremder Arten, weil diese nicht Teil des angestammten Öko-
systems sind – auch wenn sie einige erwünschte Eigenschaf- Schwindel erregende Masse an Daten
ten mitbringen. Die Schäden haben auch die Regierung zum Handeln bewo-
Der »assisted gene flow« birgt allerdings gleichfalls Risi- gen. 2009 begann British Columbia, die Vorschriften für das
ken. Im schlimmsten Fall könnten etwa zusammen mit den Ausbringen von Setzlingen zu überarbeiten. Im gleichen Jahr
nützlichen Genvarianten auch solche eingeführt werden, startete O’Neill einen Versuch zur assistierten Migration, um
welche die Überlebenschance einer größeren Population herauszufinden, ob, wo und wie Förster nach dem Holzein-
verschlechtern. »Das Problem sollte sich jedoch von selbst schlag ganz andere Arten als vorher ansiedeln könnten. An
lösen«, meint Andrew Weeks, Genetiker an der University of 48 verschiedenen Stellen in Kanada und den westlichen Ver-
Melbourne. »Die natürliche Selektion würde die nachtei­ einigten Staaten – von Whitehorse bis Sacramento – pflanz-
ligen Varianten mit der Zeit ausmerzen. Indem man den ten Wissenschaftler 15 Arten wirtschaftlich wichtiger Bäu-
me, die teils von tausende Meilen entfernten Standorten
MEHR WISSEN BEI stammten.
Diese extreme Migration dient zunächst einmal rein wis-
Unser Online-­ senschaftlichen Zwecken, um herauszufinden, wie die Bäu-
Dossier zum me den Ortswechsel vertragen. Es geht nicht um einen gene-
Thema »Wald und rellen Leitfaden für das Verpflanzen über weite Distanzen
Waldsterben« hinweg. Die Erkenntnisse sind sehr allgemeiner Natur – »et-
finden Sie unter was in der Art wie ›Pflanze diesen Baum nicht in geringerer
Höhe oder weiter südlich‹«, sagt O’Neill. Auf jeder Testfläche
FOTOLIA / SMILEUS

www.spektrum.de/ gibt es eine Wetterstation, und die Versuchsergebnisse sollen


t/wald zeigen, wie das Überleben und Gedeihen der Setzlinge von
den lokalen Bedingungen abhängt. Dann lässt sich, so der

78  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


JACK WOODS / ADAPTREE PROJECT, UNIVERSITY OF BRITISH COLUMBIA

PIA SMETS / ADAPTREE PROJECT, UNIVERSITY OF BRITISH COLUMBIA


3 4

wächshaus keimen (2). Anschließend vergleichen sie die Größe und Form der Triebe (3) und prüfen die Nadeln auf ihre Frostbeständigkeit (4).

Forscher, auch die Reaktion der Bäume auf den Klimawandel gewiesenen Pflanzgebiete für Bäume eng umgrenzt. »Das ist
vorhersagen. in einem stabilen Klima wahrscheinlich sinnvoll«, sagt Howe.
Die genetischen Analysen von AdapTree liefern ähnliche »Wenn sich das Klima ändert, könnte allzu restriktives Vorge-
Prognosen auf einem anderen Weg. In dem sich stetig auswei- hen jedoch zum Problem werden.«
tenden Projekt haben Wissenschaftler das Erbgut von Millio- British Columbia stellt sich der Herausforderung. Die
nen von Engelmann-Fichten und Küstenkiefern nach interes- Schwierigkeiten sind dabei nicht nur wissenschaftlicher Art,
santen DNA-Sequenzen durchkämmt und dazu eine schnelle sondern betreffen ebenso die Verwaltung. So verfügt die zen-
Screening-Methode entwickelt, die derjenigen ähnelt, welche trale staatliche Samenbank von British Columbia über Saat-
die Firma 23andMe für die Analyse mensch­licher Genome gut für mehr als sechs Milliarden Bäume. Diesen Bestand
einsetzt. Man betrachtet ungefähr 50 000 kurze Abschnitte des kann man nicht über Nacht komplett erneuern. Als zäh er-
genetischen Kodes, in denen jeweils ein Basen­paar variiert, weisen sich auch überkommene Vorstellungen und Verhal-
weshalb sie Einzelnukleotid-Polymorphismen (single nucleo- tensweisen: Wissenschaftler müssen die Forstverwaltungen
tide polymorphisms, SNPs) heißen, und versucht festzustel- dazu bringen, den Ergebnissen der Genanalysen zu vertrau-
len, welche davon mit der Anpassung an den jeweiligen Stand- en und nicht nur dem, was sie mit eigenen Augen in der frei-
ort zusammenhängen. Bei den bisherigen Untersuchungen en Natur sehen. Es kommt entscheidend darauf an, all die
an 600 jungen Bäumen gelang es, genetische Marker zu identi- Einzelnukleotid-Polymorphismen und Sequenzdaten in
fizieren, die viele der beobachteten Unterschiede in der Tole- »ein Lexikon für Förster zu übersetzen«, betont Aitken.
ranz gegenüber Kälte, Hitze und Trockenheit erklären. Denn letztendlich stecken dahinter lebende Bäume, die
Die Masse an Rohdaten ist Schwindel erregend. Beidseitig als unersetzliche Naturschätze unser aller Leben in vielfäl­
auf Din-A4-Blättern ausgedruckt, ergäben sie einen 150 Kilo- tiger Weise bereichern. Um unter veränderten Umweltbedin-
meter hohen Papierstapel, wie Aitkin veranschaulicht. Und gungen überleben zu können, müssen sich manche von ih-
das ist nur ein Teil der Information. Die Wissenschaftler un- nen neue Territorien erschließen. Und dafür benötigen sie
tersuchen nun, wie die Gene tatsächlich funktionieren, also unsere Hilfe.  Ÿ
wie die darin verschlüsselten Instruktionen ausgeführt wer-
den, wenn die Bäume unter Stress durch Hitze oder Trocken-
DI E AUTORI N
heit geraten.
Einige Breitengrade weiter südlich beginnen auch Spezia- Hillary Rosner ist Journalistin in Colorado. Sie
listen des U.S. Forest Service das Für und Wider des »assisted schreibt unter anderem für »National
Geographic«, »New York Times« und »Wired«.
gen flow« abzuwägen. In den Vereinigten Staaten haben Förs-
ter traditionell wenig auf Klimaunterschiede innerhalb der
Verbreitungsgebiete von Bäumen geachtet, wenn sie Pflan-
zungen vornahmen. Die regionale Temperaturvariation er-
schien einfach zu gering, um sich negativ auszuwirken. Doch QUELLEN
inzwischen ist auch hier das Bewusstsein für die Bedeutung
Aitken, S. N., Whitlock, M. C.: Assisted Gene Flow to Facilitate Local
des Mikroklimas gewachsen.
Adaptation to Climate Change. In: Annual Reviews of Ecology,
Schon immer haben Menschen Bäume in andere Regio- Evolution, and Systematics 44, S. 367 – 388, 2013
nen oder gar Kontinente verpflanzt. »Oft gab es Fehlschläge, Lotterhos, K. E., Whitlock, M. C.: Evaluation of Demographic History
weil die Bedingungen für das Gedeihen auf dem fremden and Neutral Parameterization on the Performance of FST Outlier
Tests. In: Molecular Ecology 23, S. 2178 – 2192, 2014
­Boden nicht ausreichend bekannt waren«, sagt Glenn Howe, Pedlar, J. H. et al.: Placing Forestry in the Assisted Migration
Waldgenetiker an der Oregon State University. Das brachte Debate. In: BioScience 62, S. 835 – 842, 2012
die Forstverwaltungen mit der Zeit dazu, auf Nummer sicher
zu gehen. In den westlichen Vereinigten Staaten sind die aus- Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1372765

WWW.SPEK TRUM .DE 79


CHEMIEROBOTER

Die Synthesemaschine
Ein Automat, der selbsttätig kleine organische Moleküle zusammenbaut,
verspricht Chemiker von lästiger Routinearbeit zu entlasten. Das könnte unter
­anderem die Entwicklung neuer Medikamente beschleunigen.
Von Robert F. Service

CHRIS BROWN PHOTOGRAPHY,  WWW.CHRISBROWNPHOTO.COM

80  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


TECHNIK & COMPUTER

D
ie organische Chemie ist eine Quälerei. Jeder
­Chemiestudent in höheren Semestern kann ein
Lied davon singen. Da gibt es die verwirrenden
Namen von Molekülen, Bindungstypen, Reaktio-
nen und Reagenzien, die »Kochrezepte«, das Hocken im
­Labor und Starren auf Glaskolben bis spät in die Nacht, die
Trennungen, Reinigungen und Analysen. Selbst für Experten
ist die Synthese von Molekülen ein zähes, mühsames Ge-
schäft.
»Wir meinen das ändern zu können«, verspricht Martin
Burke, Chemiker an der University of Illinois in Urbana-
Champaign. Und zum Beweis bietet er an, einen chemischen
Laien wie mich eine komplizierte Synthese durchführen zu
lassen.
Burke nimmt mich mit in Zimmer 456 des Roger Adams
Laboratory. Dort steht auf einer schwarzen Laborbank eine
Vorrichtung von der Größe einer üblichen Espressomaschi-
ne in Kaffeebars. Obenauf befinden sich zwei Aluminium-
blocks mit neun 2,4 Zentimeter breiten Löchern für Fläsch-
chen. Ein Gewirr von dünnen Schläuchen verbindet die ver-
schiedenen Teile. Doch das Grundprinzip ist einfach. Es
handelt sich um die chemische Version eines Autobahnkreu-
zes, dazu gedacht, Lösungen nach einem bestimmten Plan
von Behälter zu Behälter zu leiten. Burke und seine Mitarbei-
ter nennen es einfach »die Maschine«.
Burkes Doktorand Michael Schmidt gibt mir das Rezept
und die Ausgangsstoffe zur Herstellung von Crocacin C, ei-
nem im Jahr 2000 erstmals von drei australischen Chemi-
kern synthetisierten Fungizid. Das Plastikfläschchen Num-
mer 1, das eine Prise eines weißen, kristallinen Pulvers ent-
hält, kommt in Loch Nummer 1, Fläschchen 2 mit einem
anderen weißen Pulver in das zweite Loch und so weiter.
Schmidt lässt mich ein paar dünne Schläuche anschließen,
um Wasser, ein organisches Lösungsmittel, Luft und Stick-
stoffgas zuzuführen. Dann drücke ich den Startknopf auf
dem Laptop, der unter der Laborbank steht. Damit ist meine
Arbeit erledigt.

Der Chemiker Martin Burke vor dem von ihm entwickelten


Syntheseautomaten für organische Verbindungen an der
University of Illinois in Urbana-Champaign.
CHRIS BROWN PHOTOGRAPHY,  WWW.CHRISBROWNPHOTO.COM

WWW.SPEK TRUM .DE 81


Den Rest macht die Maschine. Mit sanftem Surren führt AUF EINEN BLICK
sie Dutzende von Reaktionsschritten im immer gleichen Zy-
klus durch: Vorbereiten, Reagierenlassen, Abtrennen, Spülen. MECHANISCHER MOLEKÜLEBASTLER
Zwei Tage später meldet Burke per E-Mail, dass meine erste
Totalsynthese abgeschlossen ist. Das Ergebnis: sechs Gramm
gelblich-weißes Crocacin C.
1 Organische Chemiker bauen ihre Moleküle bis heute per Hand
in Dutzenden von Schritten Stück für Stück zusammen.
Dabei nehmen sie teils immer wieder dieselben Prozeduren vor –
was auch ein Automat erledigen könnte.
Befreiung von der
Fron stupider Handarbeit 2 Solche Automaten werden inzwischen schon routinemäßig zur
Synthese von Eiweißstoffen oder Nukleinsäuren eingesetzt.
Hier dient eine Standardreaktion dazu, vorfabrizierte Bausteine in
Die Substanz ist nur eine von vielen organischen Verbindun-
einer vorgegebenen Reihenfolge zu verknüpfen.
gen, die Burkes Maschine herstellen kann: sowohl kettenarti-
ge als auch ringförmige oder wie Schalen gebogene Moleküle
mit Bindungen in allen möglichen Varianten und Orientie-
3
Forscher haben nun eine vielseitige Verknüpfungsreaktion
identifiziert, mit der sich auch andere organische Moleküle aus
kleineren Einheiten zusammenfügen lassen. Sie bildet den Kern ei-
rungen. Wie die schon länger bekannten DNA-Syntheseauto- nes neuartigen Syntheseautomaten für organische Verbindungen.
maten hängt das Gerät vorfabrizierte Bausteine aneinander.
Und weil Tausende solcher Blöcke inzwischen kommerziell
erhältlich sind, könnte es Milliarden unterschiedlicher orga- zusammenbauen: kurze DNA-Ketten (Oligonukleotide), Pro-
nischer Verbindungen herstellen – mit denkbaren Anwen- teinstücke (Peptide) und Oligosaccharide.
dungen als Medikamente, Agrochemikalien oder Werkstoffe. Die Verfahren haben inzwischen erhebliche wirtschaft­
»Es ist ein faszinierendes neues Hilfsmittel«, schwärmt liche Bedeutung erlangt. Nach Schätzungen des Marktfor-
Cathleen Crudden, organische Chemikerin an der Queen’s schungsunternehmens MarketsandMarkets wird das Ge-
University im kanadischen Kingston, »und es bedeutet einen schäft mit der Synthese von Oligonukleotiden bis 2019 ein
riesigen Fortschritt auf dem Gebiet der Synthese kleiner Volumen von 1,7 Milliarden Dollar (1,5 Milliarden Euro) errei-
Mole­küle.« Peter Seeberger vom Max-Planck-Institut für Kol- chen. Medikamente auf Basis synthetischer Peptide erbrin-
loid- und Grenzflächenforschung in Potsdam stimmt zu. »Es gen bereits mehr als 14 Milliarden Dollar (12 Milliarden Euro)
handelt sich um einen echten Meilenstein, und er bildet erst jährlich. »Wenn Ähn­liches mit kleinen Molekülen möglich
den Anfang«, erklärt der Forscher, der selbst Syntheseauto- wäre, hätte das enorme Auswirkungen«, sagt Richard Whitby,
maten für einen anderen Verbindungstyp entwickelt hat: die organischer Chemiker an der University of Southampton
Oligosaccharide genannten kurzen Zuckerketten, die als (England). Denn diese Moleküle bilden nicht nur das Rückgrat
Schwänze an vielen Proteinen und Fettstoffen hängen (siehe der pharmazeutischen Industrie, sondern dienen auch zur
Spektrum der Wissenschaft 8/2015, S. 28). Herstellung von zahllosen anderen Produkten wie Farb- und
Die wachsende Automatisierung, glauben er und eine Rei- Leuchtstoffen, Agrochemikalien und molekularen Sonden.
he seiner Kollegen, biete Biologen und Vertretern vieler an- Was es so schwierig macht, die Synthese von kleinen Mo-
derer Disziplinen einen neuartigen, einfachen Zugang zu lekülen zu automatisieren, ist die schier unbegrenzte Vielfalt
den Substanzen, die sie brau- geometrischer Formen, in
chen. Zugleich gebe sie orga- der sie daherkommen. Allein
nischen Chemikern die Frei- »Dies bedeutet einen riesigen die vier Elemente Kohlen-
heit, anspruchsvollere Ziele ­Fortschritt auf dem Gebiet stoff, Wasserstoff, Sauerstoff
zu verfolgen, als nur immer und Stickstoff lassen sich
der Synthese kleiner Moleküle«
wieder Moleküle herzustel- nach einer jüngst publizier-
Cathleen Crudden, Queen’s University
len, von denen sie längst wis- ten Berechnung zu 1060 ver-
sen, wie sie gemacht werden. schiedenen Verbindungen
»Je mehr wir dieses Hilfsmittel verbessern und allgemein zu- kombinieren – das ist mehr als die Anzahl der Atome im Uni-
gänglich machen, desto mehr profitiert die Wissenschaft«, versum.
versichert Seeberger. Zudem ähnelte die Synthese organischer Moleküle schon
Seit ihren Anfängen in den 1820er Jahren hat sich die or- immer eher dem Anfertigen von Möbelstücken als dem An-
ganische Chemie allen Automatisierungsversuchen hartnä- einanderhängen von Waggons. Schreiner können vielerlei
ckig widersetzt. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- Holz verwenden und es auf die verschiedensten Arten zu-
derts gelang die Konstruktion von Synthesemaschinen für sammenfügen: mit Zapfen, Schwalbenschwänzen, Überlap-
Biopolymere, in denen bestimmte Sorten von Bausteinen pungsfugen und so weiter. Wie Tischler müssen organische
über dieselbe Art von chemischer Bindung kettenartig mit­ Chemiker sicherstellen, dass jede Bindung richtig orientiert
einander verknüpft sind. Diese Bindung fungiert dabei wie ist. Wenn ein Kohlenstoffatom von einem Molekül nach au-
eine Eisenbahnkupplung, mit der Rangierer Waggons in be- ßen weg statt nach innen zeigt, ist das Produkt biologisch
liebiger Reihenfolge aneinanderhängen können. Heute las- meist genauso nutzlos wie ein Stuhl, von dem ein Bein seit-
sen sich so drei Sorten von Biopolymeren vollautomatisch lich absteht.

82  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Aus diesem Grund arbeiten organische Chemiker in der rivaten) davon – herzustellen, um die Biologie der Porenbil-
Regel mit komplizierten Vorschriften, um eine Bindung nach dung zu entschlüsseln, würde Jahre, wenn nicht Jahrzehnte
der anderen zu knüpfen, und bauen ein Molekül in Dutzen- dauern.
den bis Hunderten von Schritten Stück für Stück zusammen. Neidvoll blickte der Forscher auf seinen engen Freund
Nur dieses methodische Vorgehen bietet die Gewähr dafür, und Kollegen Rahul Kohli, der die biologische Aktivität gro-
dass am Ende genau das gewünschte Produkt herauskommt. ßer ringförmiger Peptide untersuchte. Am Ende jeder Woche
»Das ist das Dogma seit 180 Jahren«, meint Burke, der nicht tauschten die beiden sich bei einem Bier in der Bar »The Cel-
nur die hochgewachsene Statur, sondern auch etwas vom lar« über ihre Arbeit aus. »Es haute mich um, wie schnell sei-
Durchhaltevermögen eines Marathonläufers hat. Als Dokto- ne Forschung voranging«, berichtet Burke. Der Grund war
rand an der Harvard University in Cambridge (Massachu- ein Syntheseautomat, der ganze Bibliotheken von Peptiden
setts) traf er im November 1998 eine 22-jährige Patientin mit für Kohlis Untersuchungen ausspuckte. »Selbst während wir
Mukoviszidose. Bei dieser Erbkrankheit fehlt ein Protein, das beim Bier zusammensaßen, fabrizierte die Maschine weiter
normalerweise einen Ionenkanal durch die Zellmembran bil- Substanzen für ihn. Ich wurde krankhaft eifersüchtig auf die-
det, der zum Transport von Kochsalz dient. Ohne ihn ist der ses Gerät und fragte mich, ob etwas Analoges nicht für meine
Schleim in der Lunge zu zähflüssig, was zu chronischem Hus- Moleküle möglich wäre.«
ten und häufigen Infektionen führt. Die Patientin, eine intel-
ligente und wissbegierige junge Frau, stellte Burke immer
detailliertere Fragen zu der Krankheit, so dass er ihr den ge-
nauen genetischen Defekt erklärte. Am Ende fragte sie:
»Wenn die Ärzte die Ursache so genau kennen, warum kön-
nen sie nichts dagegen tun?« »Diese Unterredung veränderte
mein Leben«, sagt Burke.

Künstlicher Ersatz für einen fehlenden Ionenkanal


Wie er wusste, zielen moderne Arzneimittel darauf ab, über-
aktive Proteine zu hemmen, fehlende aber können sie nicht
ersetzen. Allerdings war dem Forscher auch bekannt, dass
kleine Wirkstoffmoleküle in manchen Fällen in der Lage sind,
die ausgefallene Funktion zu übernehmen. In seinen frühen
Vorlesungen über organische Chemie hatte er von einer sol-
chen Substanz erfahren: Amphotericin B oder kurz Amph B,
ein von Bakterien hergestelltes Antipilzmittel. Das Molekül
lagert sich mit seinesgleichen und bestimmten Bestandtei-
len der Zellmembran, so genannten Sterinen, zu einem Io-
nenkanal zusammen. Auf diese Weise, so die damalige Ver-
mutung, durchlöchert Amph B die Zellhülle der Pilze und
lässt sie absterben. Wegen erheblicher Nebenwirkungen
kommt die Substanz freilich nur bei schweren Pilzinfektio-
nen zum Einsatz.
Nach Abschluss seiner Doktorarbeit plante Burke 2005,
zunächst einmal den vermuteten Wirkmechanismus der
Substanz zu beweisen und sie dann so abzuwandeln, dass sie
weniger schädlich ist. Langfristig aber hatte er eine noch
CHRIS BROWN PHOTOGRAPHY,  WWW.CHRISBROWNPHOTO.COM

kühnere Vision: Er wollte die Fähigkeit des Moleküls, Kanäle


zu bilden, dazu nutzen, Mukoviszidosepatienten zu helfen.
Wenn seine Idee funktionierte, könnte Amph B als eine Art
molekulare Prothese den Salztransport in der Lunge über-
nehmen – vielleicht nicht so gut wie das Original, aber gut
genug, um die Symptome zu lindern.
Leider stieß Burke auf eine schier unüberwindliche Hür-
de. »Schnell erkannten wir, dass die Sache an der Synthese
zu scheitern droht«, sagt er. Amph B ist ein kompliziertes
Molekül, das 47 Kohlenstoffatome enthält, und die 1987 pu- Schläuche leiten die Ausgangsverbindungen aus Fläschchen
blizierte, einzige bekannte Synthese umfasst mehr als 100 ins Innere des Automaten. Dort werden sie schrittweise zu den
Schritte. Genug von dem Molekül – und Abwandlungen (De- gewünschten Molekülen verknüpft.

WWW.SPEK TRUM .DE 83


1. Der Automat verbindet
MIDA Kohlenstoffatome, die eine
entfernen Boronsäuregruppe tragen,
mit solchen, an denen ein
2. Halogenatom hängt. Eine
MIDA entfernen
MIDA-Gruppe wirkt dabei
Boronsäure entfernen als Schalter, der sich um
eine Boronsäuregruppe
3. wickelt und erst abgespal-
ten werden muss, bevor
sie reagieren kann.

Bausteine Halogen Boronsäure MIDA

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: SCIENCE

Als Burke genauer darüber nachdachte, wurde ihm klar, findet breite Anwendung; ihr Entdecker erhielt denn auch
dass die Aminosäurebausteine, die Kohlis Syntheseautomat 2010 den Nobelpreis.
zusammenfügte, strukturell durchaus komplex waren. Sie Damit hatte Burke seinen Verknüpfungsmechanismus
kommen in einer breiten Palette von Formen und Größen gefunden. Indem er Moleküle synthetisierte, die auf der ei-
daher, einige mit bis zu zwei Ringen als Anhängseln. Den- nen Seite eine Boronsäuregruppe und auf der anderen ein
noch fügte die Maschine sie anstandslos zusammen, indem Halogenatom trugen, konnte er sie gleichsam zusammen-
sie stets dieselbe Verknüpfung herstellte. »Die ganze Kom- knipsen wie Druckknöpfe. Aber er benötigte einen weiteren
plexität steckt in den Bausteinen, und die kauft man in der Mechanismus, der dafür sorgte, dass der Katalysator nicht
Flasche«, überlegte Burke. einfach endlos Bausteine in beliebigen Kombinationen anei-
Könnte dasselbe nicht auch bei kleinen Molekülen funk­ nanderfügte. »Um ein Molekül Schritt für Schritt aufzubau-
tionieren? Nach seiner Promotion beschloss der Jungwis­ en, brauchten wir einen Schalter«, erklärt Burke.
senschaftler, dieser Möglich- Im Jahr 2007 fand er ihn:
keit nachzugehen. Er konzi- ein Molekül namens MIDA
pierte ein entsprechendes »Es handelt sich um einen echten (N-Methyliminodiessigsäu-
Forschungsprogramm und Meilenstein, und er bildet erst den re), das sich um das Bor wi-
ging damit auf die Suche ckelt und es dadurch blo-
Anfang«
nach einer Postdoc-Stelle. ckiert. Nun konnte Burkes
Peter Seeberger, MPI für Kolloid- und Grenzflächenforschung
»Beim Bewerbungsgespräch Team mit einem Baustein
in Illinois machten sie mir beginnen, der nur eine freie
ein Angebot, und ich nahm es sofort an«, erzählt Burke. Seit- Boronsäuregruppe, aber kein Halogenatom trug. Zu ihm ga-
her arbeitet er dort an der Verwirklichung seiner Vision. ben die Forscher einen zweiten Baustein, der sowohl ein Ha-
logenatom als auch eine – allerdings eingewickelte – Boron-
Moleküle zusammenknipsen wie Druckknöpfe säuregruppe enthielt. Diese war somit blockiert und konnte
Als Erstes galt es, die beste Reaktion zum Verknüpfen der nicht an der Umsetzung teilnehmen. Das stellte sicher, dass
Bausteine auszumachen. Die Wahl fiel letztlich nicht schwer. nur eine Reaktion stattfand: zwischen dem Halogenatom am
In den 1970er Jahren hatte der Chemiker Akira Suzuki von zweiten Baustein und der Boronsäuregruppe am ersten. Und
der Universität Hokkaido (Japan) eine Möglichkeit entdeckt, schwupp waren die beiden Moleküle verknüpft! Anschlie-
mit Palladium als Katalysator die Kohlenstoffatome an zwei ßend entfernten die Forscher das MIDA von dem soeben ver-
Molekülen zu verbinden, während sich an den beiden Reakti- schweißten Paar, fügten einen anderen Baustein mit Halo­
onspartnern sonst nichts ändert. Der Trick bestand darin, an gen­atom und eingewickelter Boronsäuregruppe hinzu und
eines der Kohlenstoffatome ein Halogenatom wie Brom oder wiederholten die Prozedur (siehe Schemazeichnung oben).
Iod anzufügen und das andere mit einem Boronsäurerest zu Das Verfahren funktionierte. Im Jahr 2012 berichtete
versehen, einem Boratom mit zwei Hydroxylgruppen (OH). ­Burkes Team in den »Proceedings of the National Academy
Bei der Reaktion werden durch Zugabe von Natronlauge Bor- of Sciences«, dass es ihm mit dieser Methode gelungen war,
säure und Natriumchlorid abgespalten. Nach Aussage von ein abgewandeltes Amph B zu synthetisieren, das keine Io-
Seeberger ist diese so genannte Suzuki-Kupplung heute eine nenkanäle bilden konnte, aber trotzdem Pilze abtötete. Da-
der nützlichsten Reaktionen in der organischen Chemie und mit war die bisherige Annahme widerlegt: Die Substanz

84  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


wirkte nicht, indem sie die Zellhülle durchlöcherte, sondern 70 bis 75 Prozent der 260 000 bekannten kleinen organischen
indem sie die Sterine band, die nötig waren, damit die Mem- Naturstoffe anfertigen können. »Wenn uns das gelingt, verla-
branproteine korrekt arbeiten. gert sich der geschwindigkeitsbestimmende Schritt von der
Schon 2008 hatten Burke und seine Mitarbeiter im »Jour- Synthese zum Verständnis der Funktion«, meint Burke. »Ich
nal of the American Chemical Society« mitgeteilt, dass sich denke, die organische Chemie brennt darauf!«
ihr Verfahren dazu eigne, eine ganze Reihe pharmazeutisch Doch einige seiner Kollegen stehen der Automatisierung
wirksamer Verbindungen aus der Klasse der so genannten auch skeptisch gegenüber. »Manche fühlen sich bedroht«,
Poly­ene herzustellen. Wie sie später errechneten, reichen räumt Seeberger ein. Zudem sind bisher nur rund 200 Bau-
zwölf MIDA-Boronsäure-Bausteine aus, um drei Viertel der steine mit Halogenatom und in MIDA gewickelten Boronsäu-
2839 Polyene zu synthetisieren, die aus der Natur bekannt regruppen kommerziell erhältlich. Immerhin einige weitere
sind. Offen­bar waren sie auf dem richtigen Weg. Tausend tragen zumindest eines der beiden Anhängsel und
eignen sich somit als Start- oder Schlussglied. Dennoch
Probleme beim Reinigungsschritt müssten sich auch andere Chemiker mit der Methode an-
und ihre verblüffende Lösung freunden und mehr komplett ausgestattete Bausteine pro-
Allerdings nahmen sie all das Verknüpfen immer noch per duzieren, um das Potenzial des Verfahrens auszuschöpfen.
Hand vor. Den Vorgang zu automatisieren, warf neue Proble- Burke beschäftigt sich derweil wieder mit seiner Lieb­lings­
me auf. Das größte bestand darin, einen Weg zu finden, das je- verbindung: Amph B. Wie er berichtet, hat sein Team mit Hil-
weils erzeugte Molekülpaar zu reinigen, also von Nebenpro- fe des Syntheseautomaten bereits ein Derivat hergestellt, das
dukten, ungenutzten Ausgangssubstanzen und molekularem Pilze abtötet, menschliche Zellen hingegen schont. Es bindet
Abfall zu trennen. Bei Syntheseautomaten für DNA, Peptide sich an das pilzspezifische Ergosterin, aber nicht an das Cho-
und Oligosaccharide gelingt das, weil die Bausteine all dieser lesterin von Säugetieren. Dank dieser Selektivität ist es zu-
Biopolymere über einen einheitlichen chemischen Henkel mindest in Zellkultur weniger schädlich als Amph B. Anfang
verfügen, der sich dazu nutzen lässt, die Reaktionsprodukte 2015 hat Burke das entsprechende Knowhow in das von ihm
jeweils an einem Feststoff – etwa Plastikkügelchen – zu veran- gegründete Start-up-Unternehmen Revolution Medicines
kern. Zwischen den Syntheseschritten kann man die über- eingebracht, das auch seine Synthesemaschine vermarktet.
schüssigen Reagenzien dann einfach auswaschen. Seinen Traum einer molekularen Prothese für Muko­
Für kleine Moleküle existiert dagegen kein solcher ein- viszidosepatienten hat der Forscher gleichfalls noch nicht
heitlicher Henkel. Doch dann entdeckte Burkes Team 2008 aufgegeben. Wie er berichtet, arbeitet sein Team bereits an
per Zufall, dass die MIDA-Boronsäuren in Gegenwart eines einem Derivat von Amph B, das die fehlenden Ionenkanäle
Gemischs aus Methanol und Ether an Kieselgelteilchen haf- bildet. Noch lässt sich nicht sagen, wie die Sache ausgeht.
ten bleiben. Bei Zugabe von Tetrahydrofuran, einem anderen Aber der neue Ansatz, die organische Chemie zu automati-
Lösungsmittel, lösen sie sich dagegen ab. Das erlaubte den sieren, beginnt zweifellos Früchte zu tragen.  Ÿ
Forschern, ihre Moleküle nach Wunsch festzuhalten oder
freizugeben. Um die Verbindungen zu reinigen, ließen sie die
DER AUTOR
Lösung einfach zusammen mit einer Methanol-Ether-Mi-
schung durch ein mit Kieselgel gefülltes Glasrohr laufen. Robert F. Service ist Wissenschaftsredakteur in
Darin blieben die Reaktionsprodukte hängen. Nach dem Aus­ Portland (Oregon) und schreibt als Korres­
pondent für die Fachzeitschrift »Science« über
waschen der Verunreinigungen wurden sie dann mit Tetra- Chemie und Materialforschung.
hydrofuran wieder abgelöst. Dieses einfache Verfahren öff-
nete laut Whitby die Tür zur Automatisierung.
Burke und seine Mitarbeiter verfolgten fortan mit Hoch-
druck den Bau ihrer Maschine. Mehrere Jahre vergingen mit
QUELLEN
dem Entwerfen und Anpassen des Apparats. Zusammen mit
Ingenieuren aus der universitätseigenen Werkstatt fertigten Gray, K. C. et al.: Amphotericin Primarily Kills Yeast by simply
Binding Ergosterol. In: Proceedings of the National Academy of
und kombinierten die Forscher die nötigen Teile und schrie-
Sciences USA 109, S. 2234–2239, 2012
ben das Computerprogramm für das schrittweise Abarbei- Lee, S. J. et al.: Simple, Efficient, and Modular Syntheses of Polyene
ten der Synthesevorschriften. Währenddessen schufen sie Natural Products via Iterative Cross-Coupling. In: Journal of the
zusätzliche Möglichkeiten, die Bausteine in unterschiedli- American Chemical Society 130, S. 466 – 468, 2008
Woerly, E. M. et al.: Synthesis of Most Polyene Natural Products
chen Orientierungen zusammenzufügen und statt linearer Using just Twelve Building Blocks and One Coupling Reaction. In:
Kettenmoleküle auch steifere ringförmige Verbindungen zu Nature Chemistry 6, S. 484 – 491, 2014
erzeugen. Dadurch gelang es, ein breiteres Sortiment von Na-
turprodukten herzustellen. Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1372766
Noch ist unklar, wie viele Moleküle Burkes Synthesema-
© Science
schine letztendlich zu produzieren vermag. Mit rund 5000 Service, R. F.: The Synthesis Machine. Science 347, S. 1190 – 1193, 2015;
Bausteinen sollte sie nach Schätzungen des Forschers rund Abdruck genehmigt von AAAS

WWW.SPEK TRUM .DE 85


MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN

INFORMATIK

Computer-Halluzinationen
Neuronale Netze erkennen nicht nur vorgelegte Bilder sehr treffsicher – 
sie produzieren mit Hilfe ihres reichen Erfahrungsschatzes auch neue. Diese
freilich sehen aus wie Ausgeburten einer kranken Fantasie.

VON BRIAN HAYES

G esehene Gegenstände zu erkennen,


zählt zu den Stärken des menschli-
chen Gehirns. Wir können einen Stapel
schaft 9/2014, S. 62). Sie sind den Struk-
turen im echten Gehirn nachempfun-
den und haben ihre Fähigkeiten nicht
figkeit, mit der es Impulse ausstößt, im
nachgemachten Bauteil eine einfache
Zahl. Tausende bis Millionen von ih-
Fotos durchblättern und ohne Nach- einprogrammiert bekommen, sondern nen sind in Schichten angeordnet, und
denken sagen, was darauf abgebildet an Beispielen gelernt. Nun steckt ihr die Information fließt stets von einer
ist: Hund, Kuchen, Fahrrad, Teekanne … Wissen über Bilder in großen Zahlen­ Schicht zur nächsthöheren. Jedes Neu-
Wie wir diese Höchstleistung vollbrin- tabellen; und mit denen kann kein ron errechnet seinen eigenen Aktivitäts-
gen, wüssten wir allerdings nicht zu er- Mensch unmittelbar etwas anfangen. zustand aus den Zuständen gewisser
klären. Wenn ich eine Rose sehe, werden In den letzten zwei Jahren haben die Neurone in der Schicht unter ihm und
gewisse Neurone im visuellen Kortex neuronalen Netze jedoch diesen oder reicht diesen zu anderen in der unmit-
meines Gehirns aktiv; bei einer Tulpe jenen Blick in ihr Inneres preisgegeben. telbar darüberliegenden Schicht weiter.
sind es andere. Welche Unterschiede Ein Zugang verläuft über Bilder, die ei-
zwischen beiden Blumen lösen die ver- gens darauf angelegt sind, das Netz in Gelehrige Netze
schiedenen Reaktionen aus? die Irre zu führen, vergleichbar den Ve- In einem neuronalen Netz zur Bilder-
Niemand mag sich Elektroden in den xierbildern, die unser Gehirn zwischen kennung ist jedes Neuron der untersten
Schädel stechen lassen, um diese Frage zwei Interpretationen hin- und her- (»Eingabe«-)Schicht einem Pixel (Bild-
durch Experimente zu beantworten. springen lassen. Oder man betreibt das punkt) zugeordnet. Seine Aktivität ist
Wie wäre es, ersatzweise ein künstliches Netz sozusagen im Rückwärtsgang: gleich der Helligkeit dieses Pixels, und
Gehirn zu untersuchen? Neuerdings er- Statt ihm ein Bild vorzulegen und nach bei Farbbildern gibt es für jedes Pixel­
reichen die Computer in der Bilderken- dem zugehörigen Begriff zu fragen, drei Eingangsneurone für Rot-, Blau-
nung die Leistung menschlicher Exper- gibt man einen Begriff vor und lässt das und Grünwert. Die oberste Schicht be-
ten. Andererseits sind sie in allen Ein- Netz ein zugehöriges Bild erzeugen. steht aus »Ausgabe-Neuronen«, die je-
zelheiten von Menschen konstruiert – Ein verwandtes Verfahren löste in weils zu einer möglichen Bildkategorie
also müssten wir doch angeben können, den letzten Monaten einen gewaltigen (»Katze«, »Fahrrad«, »Rose«, »Tulpe«)
wie sie funktionieren. Aber das stimmt Wirbel aus. »Deep dreaming« reichert gehören. Die dazwischenliegenden
nicht. Die maschinellen Bild­er­ken­ ein Bild mit Motiven an, die das Netz zu »verborgenen« Schichten arbeiten ir-
nungs­sys­teme stellen sich als fast so erkennen gelernt hat. Ein Berggipfel gendwie die Merkmale heraus, welche
undurchschaubar heraus wie die natür- wird zum Vogelschnabel, ein Knopf ver- die Kategorien voneinander unterschei-
lichen. Es handelt sich um »tiefe neuro- wandelt sich in ein Auge, Schildkröten- den – wenn das Netz ausgelernt hat.
nale Netze« (Spektrum der Wissen- hunde, Fischeidechsen und andere Im Urzustand gleicht das Netz einer
Mischwesen bevölkern die Landschaft. »Tabula rasa«. Bevor es irgendetwas er-
Über den unmittelbaren Reiz hinaus, kennen kann, muss es trainiert werden.
der diese fantastischen Bilder im Inter- Ein Lehrer – üblicherweise ein Compu-
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MICHAEL TYKA  ET AL., GOOGLE INC. /

DE/2015/06/INCEPTIONISM-GOING-

net überaus populär gemacht hat, die- terprogramm – legt der Eingabeschicht
LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE);
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DEEPER-INTO-NEURAL.HTML

nen sie als (Zerr-)Spiegel für den »Geist ein Bild vor. Daraufhin wandert die Ak­
des neuronalen Netzes«. Sie geben einen tivität von unten nach oben durch das
Einblick in dessen Funktionsweise, der Netz, und irgendein Element der Aus­
auf direktem Weg nicht zu haben ist. gabeschicht zeigt schließlich maximale
Die Vorstellung des Netzes GoogLeNet von Wie ihre natürlichen Vorbilder sind Aktivität. Wenn es sich zum Beispiel um
den Begriffen »Banane« (links) und »Han- die Neurone eines künstlichen neurona- das Neuron für »Katze« handelt, das Bild
tel« (rechts). Offensichtlich hat das System len Netzes einfache signalverarbeitende aber eine Banane zeigt, dann wandert
eine Hantel kaum je ohne einen muskulö- Bauteile. Jedes von ihnen befindet sich eine Fehlerkorrektur von oben nach un-
sen Arm gesehen, der sie hochhält, und in einem gewissen Aktivitätszustand. ten durch das Netz mit dem Effekt, dass
sich daraufhin ein falsches Bild gemacht. Im natürlichen Neuron ist das die Häu- die Aktivität des falschen Ausgabe-Neu-

86  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


BRIAN HAYES

BRIAN HAYES
rons gedämpft und die des richtigen Aus sieben Bergen (Sandsteinformationen im Norden des US-Bundesstaats New Mexico)
verstärkt wird. Dabei werden nicht etwa fantasiert sich ein neuronales Netz sieben Zwerge zurecht – mit Hundeköpfen. Dabei
neue Verbindungen zwischen Neuronen interpretiert es vorhandene Merkmale des Originals auf neue Weise, zum Beispiel dunkle
geknüpft oder andere gekappt; auch die Flecken als Hundeschnauzen, und ergänzt diese zu vollständigen Köpfen. Ein Steilhang
Funktionsweise jedes einzelnen Neu- rechts hinten im Bild verwandelt sich in eine sanft ansteigende Landschaft.
rons bleibt gleich. Vielmehr ändern sich
nur die »synaptischen Gewichte«. Die-
se Zahlen geben an, wie stark die Aktivi- Manche Netze sind komplett ver- Im Effekt arbeitet eine solche Schicht
tät des signalsendenden Neurons auf drahtet: Jedes Neuron einer Schicht wie ein Gerät, das Nachrichtentechniker
die des empfangenden einwirkt. Wie sie empfängt Information von allen Neu- einen ortsunabhängigen Filter nennen
zu ändern sind, das errechnet ein Algo- ronen ein Stockwerk tiefer. Bei den neu- würden. Die zugehörige mathemati-
rithmus namens »Backpropagation«. eren Bilderkennungsnetzen dagegen sche Operation heißt Faltung (englisch:
Erst dieses Verfahren hat die künstli- reagiert ein Neuron nur auf das, was in convolution) und die nach diesem Prin-
chen neuronalen Netze zu einem prak- einem kleinen Bereich unter ihm pas- zip gebauten Netze »convolutional neu-
tisch anwendbaren System gemacht. siert. Zum Beispiel sind fast alle Schich- ral networks« oder kurz »Convnets«.
Frühe Realisierungen beschränkten ten so regelmäßig gitterförmig aufge- Ein solches Netz ist wie geschaffen,
sich auf eine verborgene Schicht, da baut wie die unterste, und jedes Neuron um in einem Bild eine Hierarchie aufei-
viel­schichtigere (»tiefere«) Netze nur achtet nur auf ein Quadrat der Größe nander aufbauender Strukturen zu fin-
schwer zu trainieren waren. Mittlerwei- 3·3 oder 5·5 unmittelbar unter sich. Au- den. Die Neurone der untersten Schich-
le ist dieses Problem durch schnellere ßerdem ist das Sortiment der synapti- ten sind extrem kurzsichtig, aber je
Hardware, bessere Algorithmen und schen Gewichte für alle Neurone einer weiter die Information nach oben wan-
größere Sortimente zum Trainieren Schicht dasselbe. Dadurch reagiert das dert, desto großräumigere Merkmale
überwunden worden. Netze mit mehr Netz in gleicher Weise auf spezielle Bild- geraten ins Blickfeld. So finden sich
als einem Dutzend Schichten sind heu- motive wie Kanten oder Kreise, einerlei kleine Elemente wie Augen, Mund und
te nichts Besonderes mehr. wo im Bild sie vorkommen. Nase zu ganzen Gesichtern zusammen.

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MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
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Einen unschuldigen Wolkenhimmel be-


völkert das neuronale Netz, das vorrangig
mit Tierbildern trainiert wurde, mit den
unglaublichsten Kreaturen. Immerhin
strecken alle Tiere ihre Beine nach unten,
und auch die Gebäude haben die richtige
Orientierung, mit der Kuppel nach oben.
MICHAEL TYKA  ET AL., GOOGLE INC. / CC-BY-4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE); GOOGLERESEARCH.BLOGSPOT.DE/2015/06/INCEPTIONISM-GOING-DEEPER-INTO-NEURAL.HTML

Jedes Jahr messen die Bilderken- mens GoogLeNet, das Christian Szege- und ihre Kollegen nachgehen. Sie grei-
nungsfachleute ihre Kräfte beim dy von Google gemeinsam mit acht fen sich ein bestimmtes Neuron der
ImageNet Large Scale Visual Recogni­ Kollegen entwickelt hat. obersten Schicht heraus und suchen
tion Challenge. Die Wettbewerber be- Wenn ein Convnet einen Welsh nach einem Bild, das dieses Zielneuron
kommen eine Trainingsmenge von Springer Spaniel erkennen kann, was zu maximaler Aktivität veranlasst. Rech-
1,2 Millionen Bildern, die in 1000 Kate- genau hat es dann gelernt? Bei einem nerisch ist das Verfahren dem Backpro-
gorien sortiert sind. Nach der Lern­ Menschen würden wir sagen, er habe pagation-Algorithmus zum Verwech-
phase müssen die Programme weitere sich einen Begriff oder ein geistiges seln ähnlich, nur arbeitet man nicht mit
100 000 Bilder in die richtigen – von Modell dafür zugelegt, wie diese einem fest vorgegebenen Bild und vari-
Menschen vergebenen – Kategorien Hunde­rasse aussieht. Vielleicht steckt ablen synaptischen Gewichten, sondern
einordnen. Manche Kategorien sind ungefähr so etwas in den synaptischen genau umgekehrt. Das Ergebnis dieser
weit gefasst (»Restaurant«, »Scheune«), Gewichten von GoogLeNet, aber wie Suche verkörpert in einem gewissen
andere sehr eng (»Welsh Springer Spa- sollen wir das in den 60 Millionen Zah- Sinn die Vorstellung des Netzes von ei-
niel«, »Stahlbogenbrücke«). len ausfindig machen? ner Banane oder einer Hantel (Bilder S.
In den Jahren 2012 bis 2014 haben Zum Beispiel, indem wir die Informa- 86). Gegenprobe mit Ihrem eigenen Ge-
stets Convnets die ersten Plätze bei tion gegen die übliche Richtung fließen hirn: Was für ein Bild ensteht in Ihrem
dem Wettbewerb belegt. Der Sieger von lassen – eine Idee, der neben anderen Kopf, wenn Sie an eine Banane denken?
2014 war ein 22-schichtiges Netz mit Gruppen Andrea Vedaldi und Andrew Mathematisch gesehen kann diese
ungefähr 60 Millionen Parametern na- Zisserman von der University of Oxford Umkehrung des Informationsflusses
(CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/2.0/LEGALCODE)

GÜNTHER NOACK, SOFTWARE ENGINEER / CC-BY-4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE);


GOOGLERESEARCH.BLOGSPOT.DE/2015/06/INCEPTIONISM-GOING-DEEPER-INTO-NEURAL.HTML
ZACHI EVENOR / CC-BY-2.0

Bei diesem Foto von Zachi Evenor hat der


Software-Ingenieur Günther Noack ein
neuronales Netz angewiesen, die Aktivität
der Neurone in einer niedrigen Schicht zu
verstärken. Offensichtlich sind diese auf
die Erkennung geschwungener Kanten
spezialisiert.

88  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


nie auf ein eindeutiges Ergebnis hinaus- zufälligen Störungen. Die heimtücki-

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laufen. Klassifizieren heißt viele Bilder schen Gegenbeispiele sind so extrem

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in einen Topf werfen; diese Abbildung selten, dass eine Fehlklassifikation rein
ist offensichtlich nicht umkehrbar. Jede durch Zufall praktisch nicht vorkommt.
Kategorie steht für eine potenziell un- Gleichwohl ist das Ergebnis bemer-
endliche Menge von Bildern, die zu ihr kenswert. Mathematiker stellen sich die
passen. Und das Netz kann uns auch Menge aller möglichen Bilder gern als
nicht ein typisches Beispiel zeigen, denn einen abstrakten Raum vor. Jedes Bild
es hat sich kein einziges Bild wirklich ge- ist ein Punkt in diesem Raum, und
merkt. Vielmehr präsentiert es uns eine wenn sich zwei von ihnen nur in weni-
wolkige und unvollständige Sammlung gen Pixeln unterscheiden, liegen die
von Merkmalen, die es für diese speziel-
le Klassifizierung als nützlich befunden
hat. Das sind schwarze und weiße Fle- Die Fantasie eines neuronalen Netzes
cken für den Dalmatiner und rundliche bringt Waldgeister zum Vorschein.
gelbe Bereiche für die Zitrone; viele an-
dere Einzelheiten fehlen oder sind dem
menschlichen Auge nicht zugänglich.

Lernen aus Defekten


Vieles über die kognitiven Fähigkeiten
des Menschen haben wir aus Fehlfunk-
tionen gelernt: von großen Ausfällen
durch Verletzungen oder Erkrankun-
gen bis zu gewöhnlichen Versprechern
oder Wahrnehmungstäuschungen.
Zwei Forschergruppen haben kürzlich

MICHAEL TYKA  ET AL., GOOGLE INC. / CC-BY-4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE); GOOGLERESEARCH.BLOGSPOT.DE/2015/06/INCEPTIONISM-GOING-DEEPER-INTO-NEURAL.HTML


diese Idee auf Convnets angewandt –
mit überraschenden Ergebnissen.
Ein Team unter der Leitung von
Christian Szegedy, dem Entwickler von
GoogLeNet, fand mit Hilfe eines Opti-
mierungsverfahrens Bilder, die ein
neuronales Netz in die Irre führen: In
einem Bild, welches das Netz korrekt als
Schulbus erkennt, ändert der Algorith-
mus ein paar Pixel, so wenig, dass das
menschliche Auge keinen Unterschied
bemerkt; aber das Netz ordnet nun das
Bild einer anderen Kategorie zu.
Ein komplementäres Experiment
führten Anh Nguyen, Jason Yosinski
und Jeff Clune von der University of
Wyoming durch. Sie konstruierten Bil-
der, in denen ein Mensch nur zufälliges
Rauschen sieht, das Netz jedoch mit
großer Sicherheit einen Gepard oder
Tausendfüßler erkennt.
Wer daraufhin Zweifel an der Brauch-
barkeit neuronaler Netze überhaupt be-
kommt, muss sich keine übertriebenen
Sorgen machen. Nicht jede zufällige
kleine Änderung einiger Pixel führt ein
Netz in die Irre – im Gegenteil, es ver-
trägt sogar eine reichliche Portion an

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MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN

MICHAEL TYKA  ET AL., GOOGLE INC. / CC-BY-4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE), USING NETWORK TRAINED ON PLACES BY
MIT COMPUTER SCIENCE AND AI LABORATORY; GOOGLERESEARCH.BLOGSPOT.DE/2015/06/INCEPTIONISM-GOING-DEEPER-INTO-NEURAL.HTML
Punkte nah beieinander. Durch das Bei diesem Bild wurde immer wieder das Zwischenprodukt durch einen vergrößerten
Training zerlegt das Netz den Raum in Ausschnitt seiner selbst ersetzt. Im Effekt bleibt von der Originalvorlage nichts übrig, so
Teilgebiete, die zu den verschiedenen dass man das Bild als freie Halluzination ansehen kann.
Kategorien gehören. Wir wissen jetzt,
dass es dort noch unübersichtlicher zu-
geht, als man bei der Raumdimension Der Algorithmus hinter den Tief- ses Wechselspiel aus Bilderkennung
von ungefähr einer Million ohnehin traum-Bildern stammt von Alexander (aufwärts) und Bildveränderung (ab-
annehmen möchte. Denn offensicht- Mordvintsev, einem Software-Ingeni- wärts) mehrere Male. Streue außerdem
lich gibt es so etwas wie »Wurmlöcher«, eur bei Google in Zürich. Den Blogbei- alle paar Runden etwas Zufall in den
die zwei eigentlich weit voneinander trag verfasste er gemeinsam mit Mike Prozess, indem du zum Beispiel die Pi-
entfernte Gebiete verbinden. Tyka, einem Biochemiker, Künstler und xel des Bilds aus denen der unmittelba-
Software-Spezialisten bei Google in Se- ren Umgebung neu berechnest.
Inceptionismus – attle, und dem Praktikanten Christo- Im Verlauf des Prozesses erscheinen
eine neue Kunstrichtung pher Olah aus Toronto. geisterhafte Strukturen im Bild, zu-
Im Juni 2015 erregte ein Beitrag im Ein Rezept für tiefe Träume lautet nächst schwach, dann immer deutli-
»Google Research Blog« plötzlich Auf- folgendermaßen: Nimm ein Bild als cher. Ein schwarzer Fleck wird zu einer
merksamkeit weit über den Kreis der Vorlage und wähle eine spezielle Schicht Hundeschnauze, eine Kleiderfalte zu ei-
Fachleute hinaus, vor allem wegen der innerhalb des neuronalen Netzes, die nem Spinnennetz, Windmühlen und
beigefügten Galerie surrealistischer »Arbeitsschicht«. Lass den Bild­erken­ Leuchttürme sprießen aus dem blauen
und seltsam attraktiver Bilder (Bild nungsprozess von unten nach oben bis Himmel. Der Prozess ist selbstverstär-
oben). Die neue Kunstrichtung bekam zu dieser Schicht ablaufen. Wende dann kend. Was immer das Netz im Verlauf
den Namen »Inceptionism« in An­ von der Arbeitsschicht aus abwärts den des Trainings an Bildelementen gese-
spielung auf den Sciencefiction-Film Backpropagation-Algorithmus an, aber hen hat, es baut sie dort ein, wo sie viel-
»Inception« und dort vor allem auf das verändere nicht wie sonst üblich die sy- leicht ein bisschen passen. Bei der
Zitat »We need to go deeper«. In einem naptischen Gewichte, sondern die Pixel nächsten Iteration passen sie schon et-
späteren Blogbeitrag wurde der Begriff des gewählten Bilds, und zwar so, dass was besser, und so weiter.
»deep dream« eingeführt und hat sich die Aktivität der Neurone in der Ar- Bemerkenswerterweise hatten Mord-
mittlerweile durchgesetzt. beitsschicht ansteigt. Wiederhole die- vintsev, Tyka und Olah gar keine künst-

90  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


lerischen Absichten im Sinn, als sie ihre Netz nicht zählen. Hunde haben häufig Ich wüsste auch gern, welche geome-
Technik erfanden, sondern ein ganz ge- mehr als vier Beine oder mehr als einen trischen Objekte in der Bildvorlage das
wöhnliches Bildbearbeitungsproblem: Kopf. Andererseits stehen alle Beine ir- Netz am ehesten zum Verschönern auf-
Verluste an Bildschärfe beim Vergrö- gendwie auf dem Boden. Dinge aller greift. Dieser Frage wollte ich nachge-
ßern auszugleichen. »Wir erwarteten, Art stehen aufrecht und ruhen auf ei- hen, indem ich ihm einfache Struktu-
dass einige fehlende Details hinzukom- ner Grundfläche, die das System bei Be- ren vorlegte, zum Beispiel Kiesel am
men würden, wenn wir die Aktivität des darf sogar zurechtmacht, indem es eine Strand. Aber dabei kommt nicht viel
Convnets an zufällig gewählten Stellen Steilwand uminterpretiert (Bilder S. 87). heraus. Der neueste Schrei ist »geführ-
eines leicht unscharfen Bilds maximie- Manchmal hat ein Bild sogar eine An- tes Träumen« (»guided dreaming«):
ren. Und siehe da, es funktionierte«, deutung von Perspektive: großer Hund Das Netz bereichert ein Bild nach den
schrieben sie mir auf meine Anfrage. vorne, winziges Gebäude am Horizont. Vorgaben eines anderen Bilds.
Wenige Wochen nach ihrem Blogbei- Die wildesten Halluzinationen stam- Vergessen wir nicht: Eigentlich sollte
trag stellten die drei ihr Programm men aus den mittleren Schichten eines die zugehörige Software nicht verrück-
»Deep Dream« frei verfügbar ins Netz. Convnets. Aber die Produkte der tiefe- te Bilder erzeugen, sondern gewöhnli-
Alsbald begannen viele andere mit dem ren Schichten sind nicht nur ansehn- che erkennen und klassifizieren. Und
Algorithmus zu experimentieren, und lich, sondern erzählen uns auch etwas das macht sie recht gut. Die zweiköpfi-
mittlerweile bieten kommerzielle Web- über Mechanismen der Wahrnehmung. gen Hunde und die Spinnen im blauen
sites Einfachversionen für den Ama- Der visuelle Kortex der Säuger entdeckt Himmel gehören offensichtlich quasi
teur an, der nicht in die Tiefen des Pro- in den ersten Verarbeitungsstufen Kan- als Nebenprodukte zu dieser Arbeit
grammierens einsteigen will. Binnen ten in verschiedenen Orientierungen, dazu. Es fragt sich nur, warum.  Ÿ
kurzer Zeit überschwemmte eine Fülle Helligkeits- und Farbverläufe sowie an-
von Bildern das Internet; suchen Sie dere einfache Formen mit großem Kon-
DER AUTOR
nach dem Stichwort »deep dreaming«. trast wie helle Punkte in dunkler Umge-
Das Programm selbst umfasst nur bung. Ganz ähnliche Motive finden sich Brian Hayes ist Verfasser
ungefähr 100 Zeilen in der Program- in den untersten Schichten eines neu­ der Kolumne »Computing
Science« in »American
miersprache Python, benötigt aber Zu- ronalen Netzes – und niemand hat sie
Scientist«, aus der dieser
satzsoftware, die zum Teil noch kompi- dort einprogrammiert. Vielmehr hat Artikel stammt. In seinem
liert werden muss. Wenn alles gut geht, das Netz sie sich beim Training selbst Blog http://bit-player.org
präsentiert er unter an-
braucht man für die Installation der zugelegt.
derem ergänzendes Material zu seinen
Software ein paar Stunden. Mir gelang Vielleicht ist die Deep-Dream-Tech- Kolumnen.
das erst beim dritten Versuch, mit einer nik nichts weiter als eine kurzlebige
jungfräulichen Festplatte. Mode. Bislang ist sie nur als Programm QUELLEN
und in Blogbeiträgen veröffentlicht; Mahendran, A., Vedaldi, A.: Under­
Freie Halluzinationen wissenschaftliche Arbeiten lassen noch standing Deep Image Representations
Eigentlich ist »Träumen« nicht das auf sich warten. by Inverting them. 2014.
http://arxiv.org/abs/1412.0035
richtige Wort für den Prozess. Ein ech- Dabei wirft die Methode eine Reihe Mordvintsev, A. et al.: Inceptionism:
ter Traum entsteht, wenn das Sehsys- interessanter Fragen auf. Warum etwa Going Deeper into Neural Networks.
tem abgeschaltet ist. Aber hier ist es hy- dominieren bestimmte Inhalte die http://googleresearch.blogspot.
de/2015/06/inceptionism-going-deeper-
peraktiv, und man sollte seine Produkte Traumbilder? Die Allgegenwart der into-neural.html
besser Halluzinationen nennen. In den Hundeköpfe mag durch Besonderheiten Nguyen, A. et al.: Deep Neural Networks
Bildern erleben wir gewissermaßen den der Bilddatenbank ImageNet zu erklä- are Easily Fooled: High Confidence
Predictions for Unrecognizable Images.
Versuch des neuronalen Netzes, das Ge- ren sein, aus der die Trainingsdaten
In: Computer Vision and Pattern
sehene mit Sinn zu versehen. Das Trai- stammen; 120 der 1000 Kategorien sind Recog­nition (CVPR‚ 15). IEEE, 2015
ning hat in ihm Erwartungen etabliert, Hunderassen. Vögel, Spinnen, pracht- Szegedy, C. et al.: Intriguing Properties
of Neural Networks. 2013.
wie die Bestandteile der Realität zusam- volle Gebäude, Laternen und Gartenpa-
http://arxiv.org/abs/1312.6199
mengehören, und entsprechend füllt es villons kommen ebenfalls häufig vor, Yosinski, J. et al.: Understanding Neural
die Lücken. und Augen sind überall. Aber wo sind Networks through Deep Visualization.
Vielen Bildern sieht man an, dass das die anderen Haustiere? Alle Trainings- In: 31st International Conference on
Machine Learning, 2015.
Netz auf kleinräumige Zusammenhän- bilder sind aus dem Internet, und das ist www.evolvingai.org/files/2015_
ge mehr Wert legt als auf das große Gan- angeblich voll von Katzen – so sehr, dass Yosinski_ICML.pdf
ze. Gesichter – von Menschen wie von das Programm »Google Brain« sie beim
Tieren – haben Augen, Mund und Nase Lernen ohne Lehrer zur zweitwichtigs- Dieser Artikel im Internet:
mitsamt ihrer Umgebung am richtigen ten Kategorie (nach menschlichen Ge- www.spektrum.de/artikel/1372769
Platz, aber häufig sitzt der Kopf auf dem sichtern) erklärte (Spektrum der Wis-
falschen Körper. Außerdem kann das senschaft 9/2014, S. 62). © American Scientist

WWW.SPEK TRUM .DE 91


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WISSENSCHAFT IM RÜCKBLICK Technikgeschichte des Deutschen Museums

chen sind eine ganze Reihe und zu verbilligen, ist von Mobile »Entseuchung«.
verschiedener Vorrichtungen der Firma Gebr. Körting
nötig, zu deren Durchfüh- die fahrbare Entseuchungs-
rung viel Personal, ausge- maschine durchgebildet, die
dehnte Entseuchungsanla- in sich alle erforderlichen
gen und mehrere Apparate Apparate vereinigt
bisher erforderlich waren. und es in einfachster
Kuriose Reinigung Um die Kosten möglichst Weise ermöglicht, weitest­
»Für die Reinigung und Ent- herabzumindern sowie die gehenden hy­gienischen For­
seuchung von Viehwagen, Reinigung und Entseuchung derungen zu entsprechen.« 
Ställen, Rampen und derglei- der Wagen zu vereinfachen Die Welt der Technik 24, 1915, S. 376

Wälder aus Stein Unter der Weste was Neues


»Versteinerte Wälder in Deutsch-Südwestafrika kommen in »Das Geräusch von Propeller und Motor macht die Verstän-
den Bezirken Gibeon und Keetmanshoop vor. An einer Stelle digung im Flugzeug sehr schwierig. Man hat versucht durch
finden sich Baumstämme bis zu 15 m Länge. Die Stämme lie- Mikrophone den Schall zu verstärken, ohne damit Erfolge
gen z. T. in rotem Sandstein eingebettet und sind von ihm zu erzielen, weil mit der Stimme des Sprechenden zugleich
derart umschlossen, daß man unwillkürlich denkt, der Sand- Nebengeräusche verstärkt werden. In Amerika soll jetzt ein
stein müsse eine weiche Masse gewesen sein, als er sich um »Aerophon« erprobt worden sein. Während bisher der Spre-
die Stämme legte. An Wahrscheinlichkeit gewinnt diese An- chende das Mikrophon vor den Mund halten mußte, wird
nahme durch einen in der Nähe gefundenen riesigen Mu- nach der neuen Erfindung das Mikrophon über der Brust
schelkern von etwa ½ m Länge. Die Kalkschale der eigentli- getragen. Es sollen nicht mehr die Schallwellen, sondern die
chen Muschel fehlt, sie ist wohl verwittert. Während das Resonanz des Brustkastens auf das Mikrophon einwirken;
versteinerte Holz hier grau ist, kenne ich eine Stelle, wo das da das Mikrophon zudem noch von der Weste bedeckt wird,
Holz eine Gelbfärbung von Gelblichweiß bis Zitronengelb können äußere Geräusche sich wenig bemerkbar ma­-
aufweist.«  Kosmos 12, 1915, S. 420/421 chen.«  Prometheus 1362, 1915, S. 159

Käse aus dem Moor reits durch Bäder- und sich dieser Moor-Käse gros-
»In dem oberbayrischen Trinkkuren erprobt ist. Der ser Beliebtheit und gilt als
Moor-Kurort Holzhausen Käse reift etwas langsamer besonders bekömmlich. Ob
wird neuerdings der zur und hat ei­ne graubraune er in grossem Masstab her-
Herstellung von Camenbert Färbung, unterscheidet sich gestellt und vertrieben wer-
verwendeten Milch Moor- jedoch im Geschmack nicht den darf, hängt noch von ei- Milchwirtschaft in Kiel er-
Schwebestoff zugesetzt, des- von dem normalen Produkt. nem Gutachten ab, das die statten wird.«  Neuheiten und
sen heilkräftige Wirkung be- Bei den Patienten erfreut Bundesversuchsanstalt für Erfindungen 355, 1965, S. 226

23 Zentimeter Rüssellänge Möwen unerwünscht


»Im Juliheft des ›Kosmos‹ erwähnt H. Eisenbeiss den Langrüs- »Als man in Oriental Bay, Wellington, neue Straßenlaternen
selschwärmer Macrosilia morgani preadicta aus Madagaskar aufstellte, wurden sie von den Möwen sofort als Schlaf­
als Beispiel für eine extreme Anpassung der Rüssellänge an plätze gewählt. Das führte zu Verschmutzungen, man be-
die Blütenspornlänge der Wirtspflanze. fürchtete auch, daß die Lichtausbeute vermindert und die
Hier in Brasilien lebt ein naher Verwand- Metallteile angegriffen würden. Vogelleim und ähnliche
Macrosilia cluentius.

ter dieser Art; Macrosilia cluentius. Das Abschreckungsmittel haben verschiedene Nachteile. Des-
Bild zeigt ein Exemplar, das von mir prä- halb habe ich eine andere Methode erfunden. Sie besteht
pariert wurde. Der Rüssel ist gut 23 cm darin, daß man parallel zu den zu schützenden Flächen
lang, und die Spannweite beträgt 18 cm. kurze Drahtstücke befestigt. Da Möwen sehr gut sehen,
Im Gegensatz zu der madagassischen kann die Verwendung von Drähten mit farbigen Kunst-
Art besucht dieses Tier die großen Blü- stoffüberzügen sowohl wegen der Sichtbarkeit als auch we-
ten der Stechapfelarten Datura suaveo- gen der besseren Rostbeständigkeit von Vorteil sein. Ein
lens und D. stramonium. Dr. Hans-Lö- Versuch hatte vollen Erfolg: Die Straßenbeleuchtungen
wental, Brasilien.«  Kosmos 12, 1965, S. 536 blieben sauber.«  Die Umschau 24, 1965, S. 784

WWW.SPEK TRUM .DE 93


REZENSIONEN

Luc Jacquet zusammen mit zwei anderen auf den


Zwischen Himmel und Eis Weg zur winzigen Forschungsstation
Dokumentation, Frankreich 2015 Charcot. Die Reise dauert mehrere Mo­
Lauflänge 89 Minuten nate, und nahe am Zielort ist es derma­
Ab 26. 11. 2015 in deutschen Kinos ßen kalt, dass es bereits einem Aben­
teuer gleichkommt, sich draußen zu er­
leichtern. Ein Jahr lang harren die drei
auf der Station aus. Sie sammeln unter
anderem Daten, aus denen sich die
Wanderbewegungen der Eisschilde be­
ERDE UND UMWELT rechnen lassen. Lorius ist fasziniert da­
von, wie viel Information bereits in der
Klimawandel individuellen Form der Kristalle steckt,
die er unter dem Mikroskop inspiziert.
in beeindruckenden Bildern Selbst wenn der Abenteurer in ihm nie­
mals sterben wird – von diesem Mo­
Ein Dokumentarfilm über das Leben des Antarktisforschers Claude Lorius. ment an ist er vor allem Wissenschaft­
ler. Er ahnt, dass tief im Eis noch weite­
re Geheimnisse verborgen sind. Die

D er französische Regisseur Luc Jac­ Jacquets Dokumentarfilm »Zwischen


quet (»Die Reise der Pinguine«) und Himmel und Eis«, der kurz vor der Pa­
sein Landsmann Claude Lorius, Glazio­ riser UN-Klimakonferenz in den deut­
Suche danach treibt ihn in den folgen­
den 28 Jahren dazu, noch 21 weitere
Male in die Polregionen aufzubrechen.
loge und emeritierter Präsident des Cen­ schen Kinos anläuft, warnt zum einen Seine wohl wichtigste wissenschaft­
tre national de la recherche scientifique vor dem anthropogenen Klimawandel. liche Erkenntnis kommt Lorius bei ei­
(CNRS), teilen eine Leidenschaft für ei­ Zum anderen ist er das Testament des nem abendlichen Whiskey, den er mit
nen ganz besonderen Ort: die Antarktis. 83-jährigen Lorius, dessen Lebensge­ Polareis genießt. Als das Eis schmilzt,
Beide kamen mit Anfang 20 zum ersten schichte anhand reichhaltigen Archiv­ steigen Gasblasen auf – Überbleibsel
Mal auf den weißen Kontinent, und bei­ materials aus der Ich-Perspektive er­ aus der Zeit, in der es einst gefror. Je tie­
de sollten dort mehr als ein Jahr lang zählt wird. fer die Eisschicht, umso älter müsse die
bleiben – wenn auch in unterschiedli­ Der Regisseur nimmt den Zuschauer darin eingeschlossene Luft sein, folgert
cher Mission und mit einem zeitlichen mit auf eine Zeitreise ins Jahr 1956. Lo­ der Forscher. Gelänge es, diese mit mo­
Abstand von 35 Jahren. Seither sind sie rius, damals Student an der Universität dernen Messinstrumenten zu untersu­
mehrfach dorthin zurückgekehrt, und seiner Heimatstadt Besançon, bewirbt chen, könne man vielleicht die Zusam­
es eint sie die Angst, große Teile dieser sich um die Teilnahme an einer Expe­ mensetzung der Atmosphäre in ver­
einzigartigen Eiswelt könnten der glo­ dition in die Antarktis. Zunächst von gangenen Zeiten bestimmen. Daraus
balen Erwärmung nicht standhalten. Abenteuerlust getrieben, macht er sich wiederum ließe sich das damalige Kli­
ma rekonstruieren.
Mitten in der aufgeheizten politi­
schen Stimmung der 1970er Jahre bricht
der französische Glaziologie zur russi­
Ein Wal taucht im Eiswasser ab. schen Forschungsstation Wostok auf,
unweit des geografischen Südpols. Unter
widrigsten Bedingungen birgt das Team,
dem neben dem Franzosen auch ameri­
kanische und russische Kollegen ange­
hören, Bohrkerne aus bis zu 3000 Meter
Tiefe. Bei 50 Grad unter dem Gefrier­
punkt sortieren die Wissenschaftler ihre
Proben. Die Mühe lohnt sich, denn die
im Eis eingeschlossene Luft erlaubt Ein­
blicke in 420 000 Jahre Klimageschichte.
Die Ergebnisse dieser Analysen ste­
hen heute in jedem Lehrbuch. In der
Summe ergeben sie das Bild von vier
verblüffend ähnlichen Zyklen von Eis­

94  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


zeiten und Interglazialen, innerhalb de­ Wissenschaftler seiner Zeit stolz auf Ob Luc Jacquet mit seinem neuen
rer die Durchschnittstemperatur jeweils sein Lebenswerk zurückblicken, für das Film diese Wirkung erzielt, darf man be­
um fünf Grad schwankte. Über den ge­ er in den zurückliegenden Jahren mit zweifeln. Dass der Mensch dringend die
samten Zeitraum hinweg wurden die Auszeichnungen überhäuft wurde. Im von ihm verursachten Treibhausgas­
Temperaturschwankungen offenkundig Film allerdings erscheint er immer wie­ emissionen reduzieren sollte, ist inzwi­
von Veränderungen der atmosphäri­ der mit betrübter Mine und fast bis zur schen keine neue Erkenntnis mehr. Zu­
schen CO2-Konzentration begleitet. In Hüfte im Wasser stehend – an Orten, wo dem setzt der Regisseur mit bildgewal­
den zurückliegenden Jahrzehnten aller­ die Auswirkungen des Klimawandels tigen Aufnahmen und anrührender
dings geriet dieser regelmäßige Zyklus bereits deutlich erkennbar sind. Mitt­ Musik eher auf Emotionen als auf Fak­
aus der Bahn: Der CO2-Gehalt stieg ex­ lerweile finde er zwar in der internatio­ ten. Trotzdem ist ihm ein beeindru­
ponentiell an, weit über den Rekordwert nalen Politik zunehmend Gehör, sagt ckendes Doppelporträt gelungen: von
der vorangegangenen 400 000 Jahre hin­ Lorius. Aber er beklagt, dass den zu­ einem Wissenschaftler mit Leib und
aus. Der anthropogen bedingte Klima­ stimmenden Worten der Politiker keine Seele – und von einer einzigartigen
wandel, dessen Existenz bis dahin nur Taten folgten. Daher beschleiche ihn Umwelt, die es in dieser Form wahr­
wenige Wissenschaftler postuliert hat­ das Gefühl, nichts erreicht zu haben. Al­ scheinlich nicht mehr lange geben wird.
ten, war wissenschaftlich bewiesen. lerdings gebe er die Hoffnung nicht
Eigentlich könnte Lorius, der füh­ vollkommen auf, denn »im Angesicht Maren Emmerich
rende Kopf hinter dieser gewaltigen Er­ des Wesentlichen wächst der Mensch Die Rezensentin ist promovierte Biologin und
kenntnis, als einer der erfolgreichsten über sich hinaus«. Wissenschaftsjournalistin in Stuttgart.

Rudolf Taschner weiter. Das erscheint plausibel, da man


Die Mathematik des Daseins zunächst davon ausgeht, dass sich das
Eine kurze Geschichte der Spieltheorie Werk mit der Theorie von Spielen be­
Hanser, München 2015 fasst; dennoch wirkt es in der häufigen
256 S., € 21,90 Wiederholung ermüdend. Am Ende des
Werks folgen – nach Dankesworten und
einem achtseitigen Glossar – noch
»Zahlenspiele«, zehn Aufgaben, anhand
derer die Leser überprüfen können, ob
MATHEMATIK sie die vorher vermittelten mathemati­
schen Strategien verstanden haben und
Streiflichter auf die Spieltheorie auch in leicht veränderten Situationen
anwenden können. Der Buchtitel »Die
Mathematik des Daseins« bezieht sich
Der Mathematiker Rudolf Taschner erzählt anekdotenreich über eine
auf die letzte der Geschichten, »Spielen
­spannende Disziplin – löst aber nicht alle Versprechen ein.
mit dem Dasein«, und beschäftigt sich
mit der berühmten pascalschen Wette,

R udolf Taschner ist Professor für Werk flüssig geschrieben und versucht
Mathematik an der Technischen immer wieder, die Neugier der Leser zu
Universität Wien und war Österreichs entfachen. Der Autor arbeitet viel mit
wonach der Erwartungswert des Ge­
winns, der durch Glaube an Gott er­
reicht werden kann, stets größer ist als
Wissenschaftler des Jahres 2004. Er hat Dialogen zwischen den handelnden der Erwartungswert durch Unglaube.
sich zudem als umtriebiger Buchautor Personen, die dem Leser den Eindruck Als Zwischenfazit nach den ersten
einen Namen gemacht. »Spektrum der vermitteln, Zeuge historischer Unter­ drei Kapiteln stellt man fest, nicht be­
Wissenschaft« hat viele seiner Werke haltungen zu sein. Allerdings sind die­ sonders viel über Spieltheorie erfahren
rezensiert, zuletzt »Die Zahl, die aus der se Gespräche zum großen Teil erfun­ zu haben. Vielmehr vermittelt das Werk
Kälte kam« (2013). Nun legt er einen den und werden als Stilmittel zu oft Details über die handelnden Personen
neuen Band vor. Der Einschlag wirbt eingesetzt, ebenso wie mehrere erfun­ und die Zeit, in der sie lebten – und vor
mit den Worten »Sein Buch liest sich dene »Zitate«. allem darüber, welchen Zeitgenossen
wie ein Thriller«, und beim flüchtigen Das Buch untergliedert sich in 17 Ge­ sie begegnet sind. Man liest etwa, dass
Betrachten bemerkt man vielleicht gar schichten, deren Überschriften alle es laut dem österreichischen Ökono­
nicht, dass diese »Spiegel«-Kritik sich gleich beginnen: »Spielen mit Wasser men Carl Menger (1840 – 1925) bei der
auf das Vorgängerbuch bezog. Nichts­ und Diamanten«, »Spielen mit der Krei­ Preisbildung auf den Grenznutzen ei­
destoweniger ist auch das aktuelle de«, »Spielen mit den Zahlen« und so ner Ware ankommt, und erfährt, wie

WWW.SPEK TRUM .DE 95


REZENSIONEN

dessen Sohn Karl zur Mathematik kam. zum Untertitel, weniger eine Geschichte arbeitet, welche Beiträge verschiedene
Auch lernt man das Spiel »Zahlensack« der Spieltheorie als eine Sammlung von Personen geleistet haben, die für die
des Bachet de Méziriac (1581 – 1638) Mosaiksteinchen, die für Leser ohne Entwicklung der Spieltheorie bedeut­
kennen, bei dem der Spielgegner keine Vorkenntnisse ein Bild davon vermittelt, sam waren. Unter anderem geht der
Chance hat, zu gewinnen; der Autor be­ womit sich Spieltheorie beschäftigt. Autor auf John von Neumanns Min-
zeichnet es deshalb als Falschspiel. Dazu gehören mehr oder weniger be­ Max-Theorem, auf John Nashs Gleich­
Auffällig ist, wie viele Wiener in dem kannte Szenarien, die mit Glücks­spielen gewicht und auf Anatol Rapaports Tit-
Buch vorkommen. So treten neben zu tun haben, etwa das Teilungs­problem for-Tat-Strategie ein.
dem Philosophen Ludwig Wittgenstein (»problème des partis«), das am Anfang­ Taschner hat eine große Begabung,
(1891 – 1951) und dem Musiker Wolf­ der Geschichte der Wahrscheinlich­ Geschichten zu erzählen, und diese lebt
gang Amadeus Mozart (1756 – 1791) et­ keitsrechnung stand, oder das Sankt-­ er auch im vorliegenden Buch wieder
liche Angehörige des Wiener Kreises Petersburg-Paradoxon. Natürlich darf aus. Wer »lediglich« geistreich unter­
auf – was insofern verwundert, als Letz­ in einem Buch, in dem Wahrscheinlich­ halten werden möchte, kann an dem
tere nichts mit Spieltheorie zu tun hat­ keiten und Erwartungswerte vorkom­ Werk seine Freude haben. Wer sich je­
ten. Nichtwiener wiederum, die sich men, auch das Ziegenproblem (Monty- doch am Untertitel orientiert und die
mit dem Thema »Spielen« auseinan­ Hall-Dilemma) nicht fehlen. Erwartung hegt, eine systematische
dergesetzt haben, fehlen, etwa Fried­ Spannend und für Unterrichtszwe­ Einführung in die Geschichte der Spiel­
rich Schiller (1759 – 1805). Dadurch be­ cke hervorragend verwendbar sind theorie zu bekommen, dürfte nach der
kommt das Werk einen Beigeschmack Taschners Analysen spieltheoretischer Lektüre eher unzufrieden sein.
von Lokalpatriotismus. Probleme, etwa des Gefangenendilem­
Es wäre überzogen, Taschners Buch mas, des Chicken Game oder des Conan Heinz Klaus Strick
als Enttäuschung zu bezeichnen, auch Doyles Final Game (Sherlock Holmes Der Rezensent ist Mathematiker und ehe-
wenn man als Mathematiker mehr er­ gegen Professor James Moriarty). Auch maliger Leiter des Landrat-Lucas-Gymnasiums
wartet. Es ist jedoch, im Widerspruch hat er gut nachvollziehbar herausge­ in Leverkusen-Opladen.

Tim Birkhead welt aufzuklären. Das gleicht oft einer


Die Sinne der Vögel packenden Detektivgeschichte – etwa
oder Wie es ist, ein Vogel zu sein bei Untersuchungen zur visuellen
Springer Spektrum, Berlin und Heidelberg 2015 Wahrnehmung. Lange verblüffte es For­
210 S., € 24,99 scher, dass viele Vögel ein so unfassbar
gutes Sehvermögen besitzen, obwohl
sie verglichen mit Menschen eher klei­
ne Augen haben. Laut Birkhead kann
beispielsweise der Buntfalke ein zwei
PHYSIOLOGIE Millimeter großes Insekt aus 18 Meter
Entfernung erkennen, während wir be­
Aus der Vogelperspektive reits aus vier Meter Distanz damit
Schwierigkeiten haben. Die Erforschung
dieses Rätsels führte zu der Erkenntnis,
Die faszinierenden Sinne von Adler, Kiwi und Co.
dass nicht nur die Augengröße das Seh­
vermögen bestimmt: Ebenso wichtig ist

D er britische Ornithologe Tim Birk­ widmet hat. Das Werk ist nicht nur für
head erklärt in diesem spannend Vogelenthusiasten lesenswert, sondern
geschriebenen Sachbuch, warum es spricht mit seiner unterhaltsamen Art
der anatomische Bau. Die Augen vieler
Vögel sind länglich geformt und funk­
tionieren damit ähnlich wie Fernrohre.
sinnvoll ist, Dinge nicht nur aus der Vo­ auch interessierte Laien an. Zudem weist die Netzhaut mancher
gelperspektive zu sehen, sondern eben­ Birkhead zeichnet wichtige biologi­ Greifvögel eine fünfmal so hohe Zap­
so zu hören, zu schmecken oder zu rie­ sche Erkenntnisse nach und überzeugt fendichte auf wie die des Menschen, lie­
chen. Als Professor für Verhaltensfor­ dabei als Experte für die Sinne der Vö­ fert also ein viel höher aufgelöstes Bild.
schung und Wissenschaftsgeschichte gel. Pointiert und mit Anekdoten unter­ Das Buch besticht nicht nur mit eta­
an der renommierten University of füttert, schildert er sowohl seine eige­ bliertem Wissen, sondern auch, indem
Sheffield (England) schreibt er über ein nen Forschungen als auch die von Kolle­ es auf Gebiete eingeht, in denen die
Thema, dem er sich erkennbar ein Le­ gen. Wissenschaftler wie er versuchen, moderne Wissenschaft noch Erkennt­
ben lang intensiv und mit Herzblut ge­ die rätselhaften Phänomene der Vogel­ nislücken hat. Eines davon ist der

96  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


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REZENSIONEN

schwer fassbare Magnetsinn, der wei­ Doch natürlich weiß auch Birkhead losophischer Perspektive nähert. Dies
terhin intensiv erforscht wird. Studien nicht wirklich, wie es sich anfühlt, ein gelingt ihm durchweg gut. Ein nützli­
zufolge können Rotkehlchen das Erd­ Vogel zu sein. Was erlebt ein Falke, der ches Glossar, umfangreiche Anmer­
magnetfeld nicht nur wahrnehmen, mit mehreren hundert Kilometern pro kungen nebst Literatur- und Stichwort­
sondern es regelrecht sehen. Und dass Stunde auf seine Beute herabstößt? Wie verzeichnis sowie die detailgetreuen
Trottellummen gute Nachbarn sind empfindet ein Kiwi, der seine Umwelt Zeichnungen der Künstlerin und Vogel­
und monogam lebende Zebrafinken praktisch nur mit Hilfe des Geruchs- kuratorin Katrina van Grouw runden
möglicherweise so etwas wie Liebe und Tastsinns per Schnabelspitze wahr­ das lesenswerte Buch ab.
empfinden, sind ebenso erstaunliche nimmt? Antworten darauf kann man
Einsichten. Hier kommt der Autor sei­ als Mensch nicht geben. Der Autor Arne Baudach
nem im Untertitel gegebenen Verspre­ macht denn auch klar, dass er sich den Der Rezensent ist Doktorand der Biologie in
chen schon ziemlich nahe. Vögeln aus biologischer und nicht phi­ Gießen.

Die Geheimnisse der Quantenphysik – man sie öffnet – per Zufall. Trotzdem
Welle oder Teilchen? findet man in der anderen Schachtel
Komplett-Media, Grünwald 2015 stets das Gegenstück. Und das im sel­
DVD, 2 Filme zu jeweils zirka 60 Minuten ben Moment, also schneller, als sich das
€ 29,99 Licht ausbreiten kann.
Die Quantenverschränkung ist wohl
das am widersinnigsten erscheinende
Phänomen der Physik. Al-Khalili bringt
es den Zuschauern mit gelungenen Ver­
PHYSIK gleichen und aufschlussreichen Experi­
menten näher. Natürlich kann er es
Der Albtraum, der wahr wurde nicht intuitiv begreifbar machen. Unser
Vorstellungsvermögen ist darauf aus­
gelegt, klassisch-physikalische Erschei­
Eine neue DVD verdeutlicht: Die Quantenphysik ist so seltsam wie
nungen zu verarbeiten; bei Quanten­
von Physikern befürchtet.
effekten versagt es.
Der Chronologie folgend, führt Al-

E ine mittelalterliche Burg mit meter­ widersprach seiner klassisch geprägten


dicken Wänden aus Stein. Was pas­ Intuition besonders stark: die Ver­
siert, wenn man die Mauern mit Bällen schränkung. Zwei Teilchen können ver­
Khalili über den Photoeffekt ins Thema
ein. Den Welle-Teilchen-Dualismus er­
klärt er mit dem Doppelspaltexperi­
bewirft? Sie prallen ab. Was in der klas­ bunden sein, so dass sie einen gemein­ ment. Sodann schreitet der Film über
sischen Welt normal erscheint, gilt in samen Quantenzustand ergeben. So­ die Quantenverschränkung zur bell­
der Quantenwelt der subatomaren Teil­ bald man Messungen an einem der schen Ungleichung fort und schließlich
chen nicht mehr. Dort tunneln Teilchen Teilchen vornimmt, steht das entspre­ zu den Experimenten, die diese über­
durch Potenzialwälle hindurch, die sie chende Messergebnis für das zweite prüfen – mit dem Ergebnis, dass Ein­
auf klassische Weise nicht überwinden schlagartig fest – egal, wie groß ihr Ab­ steins Albtraum Realität ist.
können. Der Film »Einsteins Albtraum«, stand ist. Und dies geht nicht auf ver­ Der Film ist absolut sehenswert, was
der erste auf der vorliegenden DVD, borgene Eigenschaften der Teilchen zu­ vor allem an den klugen Analogien liegt,
verdeutlicht das mit Bildern von riesi­ rück, wie Einstein vermutete. die der Physiker benutzt. Ein schönes
gen roten Medizinbällen, die »spuk­ Al-Khalili illustriert dies an einem Beispiel ist seine Wurfbude, an der er
haft« durch Burgmauern hindurch­ Paar Handschuhe. Er legt sie einzeln in versucht, mit roten, energiearmen
schweben. Damit entführt er seine Zu­ separate Schachteln. Wenn nun jemand Tischtennisbällen oder mit blauen,
schauer in die geheimnisvolle Welt der in einem Karton den rechten Hand­ energiereichen Golfbällen die Dosen
Quantenphysik. Als Sprecher tritt der schuh findet, weiß er sofort, dass in umzuwerfen. Dabei erklärt er sehr ge­
Physiker Jim Al-Khalili von der Univer­ dem anderen der linke sein muss. So schickt den Photoeffekt. An anderer
sity of Surrey (England) in Erscheinung. weit, so verständlich – doch hier hört Stelle spielt er Karten gegen einen Dä­
Der Filmtitel spielt darauf an, dass die Analogie auch schon auf. Denn die mon – und verliert immer, selbst wenn
die Quantenphysik Albert Einstein Quantenphysik ist um einiges be­ er die Regeln des Spiels noch ändern
(1879 – 1955) lebenslang Sorgen bereite­ fremdlicher: Was man aus der Schach­ darf. Denn der Dämon spielt so, wie sich
te. Einer ihrer vielen seltsamen Effekte tel zieht, entscheidet sich erst, wenn ein verschränktes Quantensystem ver­

98  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


hält: Seine Karten wissen auf spukhafte Der zweite Film auf der DVD, »Es ker nicht, eine durchgängige Geschich­
Weise immer schon, was Al-Khalili zieht. werde Leben«, beschäftigt sich mit te darüber zu präsentieren. Stattdessen
Es haben sich aber auch kleine Fehler Quantenbiologie. Zentraler Gegen­ liefert er mit seinen Ausführungen
in den Film eingeschlichen. So wird stand dieser modernen Disziplin sind über Rotkehlchen, Taufliegen und Frö­
der Begriff »Ultraviolettkatastrophe« biochemische Reaktionen, bei denen sche nur einzelne Beispiele. Vermutlich
unsauber verwendet. Er bezeichnet ei­ Quanteneffekte eine wichtige Rolle ist die Forschungsrichtung einfach
gentlich das Phänomen, dass die Aus­ spielen. Dazu gehören der Magnetsinn noch zu jung, um kohärente Erzähl­
strahlung eines Schwarzen Körpers, mancher Tiere, die Fotosynthese, die stränge darauf zu stützen.
­beschrieben mit der klassischen Strah­ Atmungskette oder genetische Mutatio­ Etwas eigenartig wirkt Al-Khalilis
lungsformel, bei kleinen Wellenlängen nen. Unlängst ist auf dem deutschen Perspektive auf die neu entdeckten
viel zu groß wird, so dass die Ge­samt­ Markt auch ein Buch hierüber erschie­ Quanteneffekte in der Biologie. Oft hö­
abstrahlung gegen unendlich strebt. Al- nen, an dem Al-Khalili mitgewirkt hat. ren sich seine Erklärungen so an, als fol­
Khalili hingegen benutzt ihn als Be­ Die zweite DVD-Episode ist sehr ak­ ge »die Natur« einer geheimen Intelli­
zeichnung dafür, dass es schwierig ist, tuell und wartet mit interessanten, genz und bediene sich der Quanten­
energiereiche Photonen zu erzeugen. lehrreichen Beispielen auf. Wussten Sie phänomene in lebenden Systemen
An anderer Stelle behauptet er, der beispielsweise, dass die gängigen Lehr­ bewusst. Das ist für meinen Geschmack
Schatten seiner Hand im Sonnenlicht bucherklärungen, wie das Riechen zu nahe an der kreationistischen Auf­
sei unscharf wegen der Wellen­ei­gen­ funktioniert, nicht ausreichen, um das fassung des »Intelligent Design«. Eine
schaften des Lichts. Tatsächlich ist der Phänomen zu verstehen? Das übliche Einbettung in die Evolutionstheorie
Grund viel simpler: Die Sonne ist keine Schlüssel-Schloss-Modell versagt an ei­ wäre sinnvoller gewesen.
punktförmige Lichtquelle. Mitunter nem bestimmten Punkt, und dort
wirkt auch die Übersetzung nicht sehr kommt man nur weiter, wenn man Stefan Gillessen
glücklich – es wäre besser, Einstein­ Quantenschwingungen der Elektronen Der Rezensent ist wissenschaftlicher Mitarbeiter
zitate direkt zu verwenden, statt sie aus berücksichtigt. Obgleich dieses Gebiet am Max-Planck-Institut für extraterrestrische
dem Englischen zurückzuübertragen. hoch spannend ist, schafft es der Physi­ Physik in Garching.

DER NEUE BILDKALENDER


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Sterne und Weltraum präsentiert im Bildkalender
»Himmel und Erde« 13 herausragende Motive aus
der astronomischen Forschung. Sie stammen aus
verschiedenen Bereichen des elektromagnetischen
Spektrums: dem sichtbaren Licht, dem Infrarotlicht,
dem Mikrowellen- und Radiowellenbereich. Zusätzlich
bietet er wichtige Hinweise auf die herausragenden
Himmelsereignisse 2016 und erläutert ausführlich
auf einer Extraseite alle auf den Monatsblättern des
Kalenders abgebildeten Objekte.

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WWW.SPEK TRUM .DE 99
REZENSIONEN

Ewald Weber
Der Fisch, der lieber eine Alge wäre. Das erstaunliche Zusammenleben von Tieren und Pflanzen
C.H.Beck, München 2015. 176 S., € 12,95
Natur fasziniert durch grandiosen Formen- und Strukturreichtum. Die Begeisterung hierfür ist dem
Biologen und Biochemiker Ewald Weber deutlich anzumerken. Er lädt seine Leser zu einer unter­
haltsamen Tour ein – durch Flora, Fauna und die schier unendliche Vielfalt irdischen Lebens. Anfangs
bereitet es Vergnügen, ihm zu folgen, doch zum Ende hin wird das Werk recht unspektakulär und
redundant. Dass der Titel so eindeutig auf den Fetzenfisch abhebt, ist etwas irreführend, denn dieses
Tier kommt in dem Buch nicht prominenter vor als zahlreiche andere Wesen. Zudem könnten die
farbigen Abbildungen den Kapiteln sinnvoller zugeordnet sein.  MAIKE KOMOREK

David Signer (Hg.)


Grenzen erzählen Geschichten – Was Landkarten offenbaren
Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2015. 136 S., € 29,90
Wie mit dem Lineal gezogen, merkwürdig ausgebuchtet oder im Nichts endend: Wer sich Landkarten
anschaut, entdeckt seltsame Grenzverläufe. Die Autoren nehmen 44 davon in den Blick und berich-
ten kurz und unterhaltsam, wie diese entstanden sind. Dabei schlagen sie einen weiten Bogen vom ko-
lonialen Erbe in Afrika bis zu bizarren Konstrukten direkt vor unserer Haustür. In den Niederlanden
etwa gibt es die belgische Enklave Baarle-Hertog und in dieser wiederum niederländische Enklaven. In
welchem Staat man wohnt, bestimmt sich dort danach, wo die Vorderseite des Hauses liegt, denn die
Grenze geht manchmal mitten durch die Gebäude. Solche Beispiele findet man in dem Buch viele,
jeweils mit kurzen, gut geschriebenen und verständlichen Erläuterungen zum geschichtlichen Hinter-
grund. Das liebevoll aufbereitete Buch lädt zum Stöbern ein und eignet sich gut als Geschenk –
nicht nur für Geografen.  TIM HAARMANN

Bernard Lown
Heilkunst – Mut zur Menschlichkeit
Schattauer, Stuttgart 2015. 320 S., € 24,99
»Die Zeit, die fürs Zuhören aufgewendet wird, ist Zeit, die der Heilung dient.« Gemäß dieser Überzeu-
gung plädiert der Kardiologe und Friedensnobelpreisträger Bernard Lown für ein menschlicheres Ge-
sundheitswesen, das den Patienten in den Fokus stellt und ihn nicht als zu reparierende »Maschine«
begreift. Obwohl Lown selbst maßgeblich an der Entwicklung des Defibrillators beteiligt war und
damit viele moderne Eingriffe erst ermöglicht hat, plädiert er gegen die zunehmende Technisierung
der Medizin. Aufwändige diagnostische und therapeutische Maßnahmen seien nicht immer das Beste
für den Patienten – wohl aber für den Geldbeutel des Arztes.
Für das vorliegende Werk hat der Autor verschiedene Beiträge seine Blogs zusammengestellt, die
zwischen 2008 und 2013 online erschienen sind. Die Texte sind zwar für Fachleute wie Laien lesens-
wert, bieten allerdings kaum Mehrwert gegenüber den kostenlosen Originalen. Da sie zudem weder
chronologisch sortiert noch mit Datumsangaben versehen sind, fällt es schwer, sie in ihren zeitlichen
Kontext einzuordnen. ELENA BERNARD

Gert Mittring
Von Pi nach Pisa – Mit Zahlen die Welt verstehen
Neues vom Rechenweltmeister
Fischer, Frankfurt am Main 2015. 288 S., € 9,99
Es ist ein bisschen wie Tonleitern spielen lernen bei einem Weltklassepianisten. Gert Mittring erklärt
uns das Umrechnen von Maßeinheiten, das geschickte Kürzen von Brüchen, das Runden zum Erleich-
tern des Rechnens und allerlei mehr bis hin zum schriftlichen Addieren im Binärsystem. Alles sehr nütz-
lich und ein überzeugender Beweis dafür, dass man sich auch ohne Taschenrechner in der Welt zu-
rechtfinden kann. Aber es bleibt himmelweit hinter den Fähigkeiten zurück, die den Autor zum zehnfa-
chen Rechenweltmeister gemacht haben (siehe auch SdW 10/2013, S. 100). Nichtsdestoweniger ist die
»Verpackung« hübsch: Mittring führt uns auf einer fiktiven Weltreise an verschiedene Orte und weiß
zu jedem eine interessante Geschichte zu erzählen. CHRISTOPH PÖPPE

100  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


Hans Konrad Biesalski sung an aquatische Nahrung gewesen
Mikronährstoffe als Motor der Evolution sein. Fische fangen konnten unsere Vor­
Springer Spektrum, Berlin und Heidelberg 2015 fahren wohl am besten, indem sie ruhig
246 S., € 49,99 im Wasser standen und mit den freien
Händen zugriffen oder -stießen, sobald
sich Beute näherte. Das erforderte aus­
dauerndes Verharren auf zwei Beinen.
Individuen mit dieser Fähigkeit dürften
einen Selektionsvorteil gehabt haben,
denn Fisch ist quantitativ und qualita­
EVOLUTION tiv ein hochwertiges Nahrungsmittel.
Den Körperbau der Pygmäen inter­
Wie die Nahrung pretiert Biesalski als Anpassung an eine
chronische Mangelernährung, ebenso
den Menschen machte wie die Verzwergung des Homo floresi-
ensis. Den massigen Neandertaler mit
Das Angebot von Vitaminen, Mineralstoffen und Spuren­ seinem großen Gehirn dagegen be­
trachtet der Autor als mögliche Adap­
elementen hat die Evolution unserer Vorfahren geprägt.
tion an ein Nährstoffüberangebot.
Inhaltlich ist das Buch aufschluss­

A ls »Mikronährstoffe« bezeichnet Bedarf durch Insektenverzehr decken reich, die eng gesetzten Textwüsten trü­
man Nahrungsbestandteile, die so konnten.
gut wie keine Energie liefern, aber trotz­
ben allerdings die Lesefreude. Für op­
Interessant sind seine Überlegungen tische Auflockerung sorgen Tabellen,
dem unverzichtbar sind, weil der Kör­ zum trichromatischen Sehen, also dem Text­einschübe und seltene Grafiken. An­
per ohne sie nicht funktioniert. Vitami­ visuellen Wahrnehmen mit drei Foto­ sprechende Bilder fehlen. Eine luftigere
ne, Mineralien und Spurenelemente pigmenten. Es ist bei unseren Ahnen und übersichtlichere Gestaltung wäre
gehören dazu. Wenn sie dauerhaft in vor einigen zehn Millionen Jahren aus möglich gewesen, hätte man die zahl­
der Nahrung fehlen, führt das zu chro­ dem dichromatischen Sehen (mit zwei reichen Redundanzen eingekürzt. Stel­
nischen Krankheiten bis hin zum Tod. Fotopigmenten) hervorgegangen. Laut lenweise häufen sich Fehler in Satzbau
Ob ein Organismus gut oder schlecht dem Autor könnte es sich evolutionär und Interpunktion.
mit Mikronährstoffen versorgt ist, wirkt auch deshalb durchgesetzt haben, weil »Mikronährstoffe als Motor der Evo­
sich auf seine reproduktive Fitness aus – es sich als nützlich bei der Futtersuche lu­tion« kann interessierten Lesern als er­
auf seine Fähigkeit also, überlebens- erwies: Trichromaten erkennen reife giebiges Nachschlagewerk und Re­cher­
und fortpflanzungsfähige Nachkom­ Früchte besser als Dichromaten. chehilfe nutzen. Man sollte sich jedoch
men hervorzubringen. Da liegt die Fra­ Ausführlich befasst sich das Buch auf mitunter zähe Lektüre einstellen.
ge nahe: Wie beeinflusst das Angebot mit Lebensraum und Ernährung ver­
an solchen Stoffen die Evolution von schiedener Hominini, etwa dem Sahel- Frank Schubert
Lebewesen? Antworten darauf gibt der anthropus tchadensis, der vor sechs bis Der Rezensent ist Redakteur bei »Spektrum der
Ernährungsmediziner Hans Konrad sieben Millionen Jahren lebte. Fossil­ Wissenschaft«.
Biesalski in diesem Fachbuch. Dabei funden zufolge hielt er sich in uferna­
stützt er sich auf zahlreiche Forschungs­ hen Wäldern auf, die von Savanne und
MEHR WISSEN BEI
arbeiten älteren und neueren Datums. Buschland umgeben waren. Dort hatte
Der Autor nimmt die Evolution des er Zugriff auf Früchte, Wasserpflanzen,
Menschen in den Blick, angefangen mit Kleintiere, Fische und größere Tiere.
unseren sehr frühen Vorfahren: kleinen Der Leser erfährt, wie man aus Fossilien
Säugetieren im Erdmittelalter, die ver­ herauslesen kann, was bei den Homini­
mutlich in Baumkronen von Regenwäl­ ni auf dem Speiseplan stand. So sagt die
dern lebten und Insekten fraßen. Später Isotopenzusammensetzung des Zahn­
erweiterten sie ihren Speiseplan um schmelzes etwas darüber aus, ob der
Früchte, Blätter und andere pflanzliche Besitzer des Zahns eher C3 -Pflanzen
Nahrung, bis vor rund 45 Millionen Jah­ verzehrte, die in Wäldern zu finden sind,
ren aus ihnen die ersten Primaten her­ oder eher C4 -Pflanzen, die in der Savan­ Mehr Rezensionen finden Sie
vorgingen. Biesalski listet den Nähr­ ne gedeihen. unter:
stoffgehalt verschiedener Kerbtiere auf Das aufrechte Stehen und Gehen www.spektrum.de/rezensionen
und erörtert, ob unsere Vorfahren ihren könn­te Biesalski zufolge eine Anpas­

WWW.SPEK TRUM .DE 101


LESERBRIEFE

Streitpunkt Emergenz jektiv nachweisbar, weder bei uns Men­

AGNESE ABRUSCI & DUILIO FARINA / ISTITUTO ITALIANO DI TECNOLOGIA (IIT)


schen noch bei Robotern.
Der Neurowissenschaftler Tony Prescott Viele Menschen mit Meditationspra­
versucht in einem internationalen xis berichten von der Erfahrung ihres
Forscherverbund, künstliches Bewusst- Subjekts in einem Zustand ohne Ge­
sein zu erschaffen (»Roboter mit Ego«, danken als pure Existenz außerhalb
August 2015, S. 80). von Zeit und Raum. Auf diesem Fun­
dament können sich höhere Bewusst­
Wolfgang Schaufler, Bad Mergent- seinszustände entwickeln, in die Wach-,
heim: Sicher wird eine zukünftige Ver­ Schlaf- und Traumzustand integriert
sion des iCub ihrem Schöpfer noch we­ sind. Ohne diese Bewusstseinsforscher,
sentlich perfekter ein fühlendes Wesen die den Weg nach innen erkunden
vorgaukeln können. Zu einem echten ­(Erste-Person-Perspektive), werden die
Gefühl gehört jedoch ein Subjekt, das psychischen Phänomene kaum erklärt
dieses Gefühl erlebt. werden können. Jene Wissenschaftler,
Wie kann solch ein Erleben in einer welche sich auf die Objekte draußen be­
komplexen Anordnung physischer Sub­ schränken (Dritte-Person-Perspektive),
stanzen »emergieren«? Eine neu auf­ würden diesen helfen, echte Erfahrun­ Der humanoide Roboter iCub lernt unter
tauchende Eigenschaft im System gen von Trugbildern zu trennen. Viel­ anderem durch Nach­ahmen.
muss durch die Eigenschaften der Teil­ leicht gelänge in einem gemeinsamen
systeme erklärt werden können (wie Projekt die Lösung des Rätsels Bewusst­
zum Beispiel die Eigenschaft eines sein. Form der Intelligenz bei einem hinrei­
Schwingkreises aus den Eigenschaften chend komplexen und komplizierten,
von Kondensator und Spule). Mein Er­ Helge Albert, Königs Wusterhausen: sich in seinen einzelnen Modulen selbst
leben ist aber nach den heute bekann­ Prescott vermutet, dass das Bewusst­ organisierenden System. Selbstprozes­
ten Gesetzen der Physik nicht aus den sein eine »emergente Eigenschaft eines se sind zum Beispiel das Zeitempfin­
Bausteinen des Gehirns ableitbar. Was geeignet konfigurierten Satzes von den: Vergangenheit, Jetzt und Zukunft.
auch immer Hirnforscher herausfin­ Selbstprozessen und kein gesondertes Der Selbstprozess Kommunikation be­
den werden – es wäre auch ohne Er­ Element« sei. Mit anderen Worten ent­ ginnt mit Gestik und führt über sehr
leben denkbar. Gefühle sind nicht ob­ steht Selbstbewusstsein als höchste differenziert gefühlsausdrückende Mi­

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Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel. 06221 9126-744 Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 36 vom 1. 1. 2015.
Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Dr. Claudia Hecker, Erhältlich im Zeitschriften- und Bahnhofs­
Dr. Ingrid Horn, Andrea Jungbauer, Dr. Rainer Kayser, Dr. Uschi Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH & Co. buchhandel und beim Pressefachhändler
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102  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


mik bis hin zur Sprache. Beim Men­ träger und Optiker bestätigen können.
schen lässt sich die Komplexität und Bei mir hatte sich in diesem Zeitraum FOLGEN SIE UNS
Kompliziertheit der Selbstprozesse am die Dioptrie von etwa – 3,0 auf – 5,5 ver­ IM INTERNET
Beispiel Kind verstehen. Ein Kind zeigt ändert. Eine Erklärung durch weiteres
Bewusstsein erst, wenn es diese Selbst­ Längenwachstum des Augapfels er­
prozesse aufgebaut und erlernt hat. Mit scheint mir in diesem Alter absurd.
vielleicht anderthalb bis zwei Jahren be­ Eine andere, meines Erachtens viel
www.spektrum.de/facebook
ginnt sich dann das Selbstbewusstsein schlüssigere Erklärung wäre, dass die
herauszubilden. Wenn später beispiels­ Linse eine zu starke und irreversible
weise bei Demenz einzelne Selbstpro­ Krümmung ausbildet. Dies würde nicht www.spektrum.de/youtube
zesse wieder zunehmend eingeschränkt nur den vorgelagerten Fokus bei Fern­

werden, verliert der erkrankte Mensch blick erklären, sondern auch die Ur­
allmählich das Selbstbewusstsein. sache: Viel Lesen, das heißt ständiger www.spektrum.de/googleplus
Ich glaube daher fest daran, dass ein Blick im Nahbereich, erfordert eine
Computer im Sinn eines komplexen, starke Krümmung (Verdickung) der
komplizierten Informationsverarbei­ Linse, ebenso Nahsicht unter schlech­
www.spektrum.de/twitter
tungssystems prinzipiell ein Bewusst­ ten Lichtverhältnissen, weil sich die Pu­
sein entwickeln kann. Noch ist das pille weiter öffnet und die Schärfentie­
menschliche Gehirn mit seiner Fähig­ fe abnimmt. Die Linse muss dies auch
keit der Selbstorganisation, mit seiner durch entsprechende, noch präzisere Tollwut nicht empfänglich ist und sich
massiv parallelen Verarbeitung und mit Krümmung ausgleichen. Sie ist mit zu­ das Problem Tollwut durch die Auswan­
seiner Informationsbreite dem heuti­ nehmendem Alter immer weniger in derung des Rotfuchses nach Norden er­
gen Computer um Größenordnungen der Lage abzuflachen, was erst scharfe ledigt. Aber auch für die arktische Toll­
voraus. Die Synapse arbeitet nicht binär Fernsicht ermöglicht. wutvariante, die normalerweise nur
wie der heutige Computer, sondern feu­ Das Auge stellt sich also über die beim Polarfuchs vorkommt, ist der Rot­
ert über eine Bandbreite beginnend von Krümmung der Linse immer mehr auf fuchs empfänglich, so dass sich das Pro­
null bis zum Maximum. Aber es sollte den häufig »benutzten« Nahbereich blem mitnichten erledigt, sondern im
nur eine Frage der Zeit sein, bis die sich ein. Dass diese, bei der es sich ja um ein Gegenteil verschärft darstellt.
rasch entwickelnden Informationsver­ bewegliches und flexibles Organ han­
arbeitungssysteme in die Ebene der delt, die Ursache für die Kurzsichtigkeit
Bewusstseinsbildung aufgeschwungen ist, erscheint doch glaubwürdiger als Erratum
haben. die durch nichts begründete Annahme, »Die Wiege des Indoeuropäischen«,
der Augapfel würde auf etwas schlech­ September 2015, S. 16
tere Lichtverhältnisse und häufige Nah-
Starke Krümmung einstellung des Auges mit Längenwachs- Die Andronovo-Kultur beziehungswei­
Studien mit Schülern erhellen, warum tum antworten. se Andronowo-Kultur wurde fälschli­
Myopie bei ihnen immer mehr um sich cherweise Andonowo-Kultur bezeich­
greift (»Kurzsichtigkeit – die neue Verschärftes Problem net. Ortrud Winkler aus München hat
Pandemie«, September 2015, Forschung uns da­rauf aufmerksam gemacht.
aktuell, S. 18). Durch den Klimawandel gelangen Er-
reger in Zonen der Erde, die dort bis-
Holger Casselmann, Odenthal: Der Ar­ her unbekannt waren und die Ökosys­
B R I E F E A N D I E R E DA K T I O N
tikel greift möglicherweise etwas zu teme durcheinanderwirbeln, so der
… sind willkommen! Schreiben Sie uns auf
»kurz«. Er beginnt mit der These, dass Umweltexperte Christopher Solomon www.spektrum.de/leserbriefe
bei Kurzsichtigkeit der Augapfel zu lang (»Die Arktis als neuer Seuchenherd«, oder schreiben Sie mit Ihrer kompletten
ist. Deshalb liegt der Fokus bei Sicht in Juli 2015, S. 68). Adresse an:
die Ferne vor der Netzhaut und nicht Spektrum der Wissenschaft
auf ihr. Hans-Joachim Bätza, Bonn: Im Artikel Leserbriefe
Sigrid Spies
Als Kurzsichtiger weiß ich aber aus wird ausgeführt, dass, »da sich die Toll­ Postfach 10 48 40
eigener Erfahrung, dass nach jeder neu­ wut dort nur in Gegenden mit Polar­ 69038 Heidelberg
en verschriebenen Brille die Dioptrien­ füchsen dauerhaft hält, könnten … die oder per E-Mail: leserbriefe@spektrum.de
zahl im Betrag – also die Kurzsichtig­ Fälle zurückgehen, wenn nun der Rot­
Die vollständigen Leserbriefe und Antwor-
keit – zugenommen hat. Das passiert fuchs weiter nach Norden wandert und
ten der Autoren finden Sie ebenfalls unter:
auch vielen anderen Personen im Alter den Polarfuchs verdrängt«. Diese Aus­ www.spektrum.de/leserbriefe
zwischen 25 und etwa 45, was Brillen­ sage suggeriert, dass der Rotfuchs für

WWW.SPEK TRUM .DE 103


FUTUR III

SCHLECHTE
EINSCHALTQUOTEN
FÜR KLEOPATRA
VON TIAN LI

»H e, Geschichtsfreak, wie ist die


neue Folge von ›Rom‹?« Mein
Mitbewohner Scott spaziert ins Wohn-
mit meine Befürchtung. »Vor allem der
Anblick von Kleopatra hat mich scho-
ckiert. Ich meine, wie kann so eine Frau
einfach, über 2200 Jahre hinweg ein kla-
res Signal zu bekommen.
Wie ich weiß, ist das nicht der ein­
zimmer, lässt sich neben mir auf die erst Julius Cäsar und dann auch noch zige Grund. Der Sender hatte erwar-
Couch fallen, beugt sich herüber und Mark Anton den Kopf verdrehen? Sei tet, Gladiatorenkämpfe und die Bilder
beäugt meinen Laptop. ehrlich, diese Kleopatra kann weder geschundener Sklaven würden die Ein-
»Das ist erst der Rohschnitt«, ant- Elizabeth Taylor noch Vivien Leigh das schaltquoten hochtreiben, viele Zu-
worte ich, »aber ich finde, die Serie hält Wasser reichen.« schauer fanden solche Szenen jedoch
ihr Niveau.« Ich seufze. Das Gleiche habe ich von zu ausufernd und zu blutig – ganz ein-
Ich bin privilegiert. Dank meiner anderen gehört, und die Umfragen deu- fach abstoßend. Es gab sogar Beschwer-
Sprach- und Geschichtskenntnisse darf ten ebenfalls in diese Richtung. Manche den wegen Cäsar: Man hätte gern mehr
ich die Episoden schon gut 24 Stunden Zuschauer sind zwar beeindruckt von über seine Jugend und sein Privatleben
vor Ausstrahlung der geschnittenen ihrer Klugheit oder fasziniert von ihren erfahren, etwas über Cäsars andere Sei-
und vor allem synchronisierten Fas- prächtigen Kleidern und Juwelen, aber te. Aber so funktioniert das wirkliche
sung ansehen. Oder besser gesagt: Ich fast alle haben sich die »schönste Frau Leben eben nicht – es ist, wie es ist.
durfte. Schade, aber alles hat einmal ein der Antike« ganz anders vorgestellt. »Zu dumm«, murmelt Scott. »Ich
Ende, in der Vergangenheit wie in der Ihre berühmte Nase ist nach heutigem dachte, es gibt eine zweite Staffel.«
Gegenwart. Geschmack einfach viel zu lang. Ich blicke ihn überrascht an: »Du re-
Scott zuckt die Achseln. Anschei- Jedenfalls sind die Einschaltquoten dest ja wie ein Fan.«
nend verliert er das Interesse an meiner abgestürzt, und die Episode der vorigen Scott lächelt. »Nun, die Serie mag ein
Lieblingsserie. Anfangs schauten wir Woche schlägt an Unbeliebtheit alle Re- bisschen schräg sein, aber wenigstens
uns die Originalversionen gemeinsam korde. erzählt sie die Wahrheit – und ver-
an, während ich sie ihm simultan über- »Schon gut, du musst Kleopatra nie schafft uns damit die Chance, ein paar
setzte. Er brüstete sich sogar vor seiner mehr sehen«, sage ich und versuche, historische Rätsel zu lösen. Ich wollte
neuen Freundin, er könne die lateini- mir die Enttäuschung nicht anmerken den wahren Grund erfahren, warum
schen Dialoge komplett verstehen – bis zu lassen. »Die Serie wurde abgesetzt.« Kleopatra den Antonius in der Schlacht
ich ihm erklärte, dass die Personen Scott macht erstaunte Augen. »Das bei Actium im Stich lässt. Erinnere dich
manchmal Griechisch sprechen. ist nicht dein Ernst! Warum?« Wahr- an ›Die Tudors‹, da haben wir die zweite
Doch in den letzten Wochen ließ sei- scheinlich heuchelt er sein Bedauern Staffel im Grund nur gesehen, weil wir
ne Begeisterung spürbar nach. Er war- nur mir zuliebe, aber ich bin ihm trotz- erleben wollten, aus welch fadenschei-
tet jetzt lieber auf die Synchronfassung. dem dankbar. »Wegen der schlechten nigen Gründen eigentlich Anne Boleyn
Und vor einer Woche ertappte ich ihn, Quote«, antworte ich achselzuckend. geköpft wurde.«
wie er sich die uralte Serie gleichen Na- »Zu wenige Zuschauer.« Ich grinse. Es stimmt, dass Boleyns
mens aus dem Jahr 2005 ansah­. Gewiss wäre ›Rom‹ im 3-D-Format unglückliches Ende die Einschaltquo-
»Deine letzte Folge hat mir nicht ge- besser angekommen als in 2-D – aber ten gerettet hat. Voyeurismus und Em-
fallen«, erklärt Scott und bestätigt da- was will man machen? Es ist nicht so pörung sorgen immer für die Quote.

104  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · DEZEMBER 2015


»Aber willst du wirklich die Wahr- »Möglich wär’s. Aber die Online­ DI E AUTORI N
heit?« frage ich. »Machen wir uns episoden werden nur Rohschnitte sein.
nichts vor, die Wirklichkeit ist oft sehr Ohne Synchronstimmen.« Tian Li lebt in China. 2012 absolvierte sie
ein Masterstudium in Biologie an der
verschieden von unseren Vorstellun- »Kannst du mir die Dialoge überset- Tsinghua-Universität in Peking. Sie liebt
gen – siehe Kleopatra.« zen?« Scott schaut wieder so begeistert Detektivromane und Sciencefiction.
Scott nickt. »Vielleicht hast du drein wie bei der ersten Folge.
Recht.« »Noch besser! Ich werde alles live
Was für eine Schande: Diese histori- untertiteln«, grinse ich.
schen Dokumentationen sind mehr als Das ist das Wenigste, was ich für Wohin mögen die Entwicklungen unserer
Zeit dereinst führen? Sciencefiction-Autoren
bloße Unterhaltung. Sie enthüllen Scott und seine Mitmenschen tun spekulieren über mögliche Antworten. Ihre
Wahrheiten, die lange hinter dem kann. Die unzähligen Sprachen, die ich Geschichten aus der »Nature«-Reihe »Futures«
Schleier der Vergangenheit verborgen kenne, sind in seiner Epoche ohne Be- erscheinen hier erstmals in deutscher Sprache.

lagen. Ich bin überzeugt, eines Tages deutung – für diese Leute bin ich nur © Nature Publishing Group
wird man sie zu schätzen wissen. ein Nerd mit Vorliebe für die Vergan- www.nature.com
Nature 521, S. 118, 7. Mai 2015
Plötzlich fällt Scott etwas ein: »He, genheit. Aber wenn ich das beim Sen-
du hast dir doch eben eine neue Origi- der durchkriege, werden zumindest ein
nalfolge angesehen! Wenigstens die paar Zuschauer schlauer. Und natürlich
geht doch auf Sendung, oder nicht?« der gute Scott.
Ich schüttle den Kopf. »Abgesetzt Ihm zuzusehen, wie er mehr über
ist abgesetzt.« Ich überlege. »Vielleicht das antike Rom erfährt – das allein ga-
lässt sich das Projekt so doch noch rantiert gute Unterhaltung. Für mein
retten?« anderes Publikum! Das wird die Ein-
Scott schaut mich fragend an. schaltquoten meiner Show ›Abenteuer
»Die Produktionskosten sind ja echt eines Geschichtsfreaks‹ mal wieder
niedrig: keine Honorare für Schauspie- nach oben schießen lassen. Das ist auch
ler, keine Kosten für Kostüme oder Bau- bitter nötig, denn ich muss die nächste
ten. Bloß die Temporaltechnik kostet Rate für meinen Zeitgleiter zahlen, so-
ein bisschen was. Der Sender könnte bald ich wieder in meine eigene Epoche
weitere Folgen einfach unbearbeitet zurückkehre.
online stellen – wir würden Cäsar, Anto- Allerdings muss ich Scott überreden,
nius und Octavian weiter sehen. So fin- sich ein neues Hemd zuzulegen. Nach-
dest du vielleicht doch noch heraus, lässige Kleidung gilt in meiner Heimat-
was während der Schlacht bei Actium gegenwart als unhöflich. Aber das krie-
wirklich geschah.« ge ich hin. Auch wenn mein temporärer
Scott strahlt. »Du meinst, wir kön- Mitbewohner es nie erfahren wird: Ich
nen doch noch eine Staffel kriegen?« mache aus ihm einen Fernsehstar! 

WWW.SPEKTRUM.DE 105
VORSCHAU Das Januarheft ist ab 19. 12. 2016 im Handel.

TIM BOWER
Auf der Suche
nach der Theorie von Allem
Einstein wollte mit einer »allgemeinen Feldtheorie« die Gravitation mit
den anderen Naturkräften vereinen – vergeblich. Eine neue Generation von
Forschern hofft nun zu vollbringen, woran der große Physiker scheiterte.

In den Fängen des Fettgens


Fruchtzucker macht hungrig und dick!
In Zellen wird er in Harnsäure um­
gesetzt, und die können wir nicht ab-
­bauen. So kommt der Teufelskreis
der Zivilisationskrankheiten in Gang.

JEFF WILSON
Die Geburt einer Rakete
Die USA arbeiten an einem neuen
Raketenprojekt für die bemannte
Raumfahrt und den Frachttransport mit
größeren Reichweiten. Wie ausgereift
ist das Space Launch System bereits –
FOTOLIA / PITRIS

und wird es den Menschen auch einmal


zum Mars bringen?

Haben wir Programmierte Bürger und


einen zweiten Hörsinn? automatisierte Gesellschaft NEWSLETTER
Laut aktuellen Untersuchungen Die digitale Revolution ist in Möchten Sie immer über die
verfügt der Mensch über Reste vollem Gang. Wie wird sie unsere Themen und Autoren des neuen
Hefts informiert sein?
eines urtümlichen Hörsinns, den Welt verändern? Ein Team inter­
Fische, Frösche und Krokodile nationaler Experten warnt vor Wir halten Sie gern auf dem 
nutzen. Er ist im Gleichgewichts­ der möglichen Zerstörung unserer Laufenden: per E-Mail – 
und natürlich kostenlos.
organ angesiedelt und spricht demokratischen Gesellschaft
vor allem auf Bassrhythmen an, durch die »sanfte Diktatur« Registrierung unter:
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weshalb uns diese buchstäblich ­allmächtiger Algorithmen – und
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106  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · DEZEMBER 2015


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