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P OR TR ÄT

ANGELA
FRIEDERICI
Wie der
Mensch zur
Sprache kommt

DEUTSCHE AUSGABE DES

7 ,40 € (D/A) · 8,– € (L) · 14,– sFr.


D6179E
E X TR EME ER E IGNI S SE R AUMFA HR T V ER H A LT EN
Wie sich Katastrophen Mit elektrischen Raketen Was Menschen von Meer-
vorhersagen lassen zu den Planeten schweinchen lernen können
01/10

Mit Pillen zum


Turbo-Gehirn?
JANUAR 2010

Die Denkfähigkeit
künstlich zu steigern,
ist keine Utopie mehr
EDITORIAL
Reinhard Breuer
Chefredakteur

Kommt das Jahrzehnt des frisierten Gehirns ?


Gegen Ende meines Studiums hatte ich Kon- überhaupt auftritt. Das ist zumindest unge-
takt zu einem Medizinstudenten, der sich wöhnlich, aber in diesem Fall wohl von Nut-
folgendermaßen auf seine Prüfungen vorberei- zen – kann es doch euphorischen Heilserwar-
tete: Morgens schluckte er Aufputschmittel, tungen wie Dämonisierungen von vornherein
spät nachts ging er mit Valium zu Bett. Das den Boden entziehen und die Diskussion in
ging wochenlang so. Über den Ausgang war einem rationalen Rahmen einfangen. Um die
ich wenig überrascht: Prompt fiel mein Freund aufkeimende Debatte vom Kopf auf die Füße
durch sein Staatsexamen. Im zweiten Anlauf zu stellen, berichten wir ab S. 46 darüber, was
machte er es dann auf die »normale« Art, heute an Mitteln und Wirkstoffen zum Neuro-
verzichtete ganz auf Pillen – und bestand. Enhancement tatsächlich bekannt ist. Auch
Jetzt im Handel: unser
Im letzten Jahr berichtete das Fachblatt habe ich die Medizinethikerin Bettina Schöne-
Sonderheft über die wichtigste
»Nature« vom Ergebnis einer kleinen Umfrage, Seifert, Mitglied der »Memorandum«-Gruppe,
Nebenbeschäftigung
wonach in den USA sowohl Studenten wie befragt, wie sie es mit der Kritik hält, mit der
Dozenten reihenweise Psychopharmaka gegen sie nach der Publikation des Thesenpapiers
Müdigkeit, Prüfungsangst oder Stresspro- überzogen wurde (S. 52).
bleme einnähmen. Seitdem bricht auch hier zu

NOAA
Lande die Diskussion um ein »verbessertes Was mich an den Naturwissenschaften stets am
Gehirn« aus. Hirnforscher sprechen von meisten fasziniert hat, ist ihre Kraft zur Vor-
»Neuro-Enhancement«, neudeutsch für die hersage – ihre prädiktive Macht. Die fällt
Steigerung von mentaler Leistungsfähigkeit, natürlich je nach Forschungsgebiet unter-
Selbstvertrauen und Motivation. Jüngst legte schiedlich aus. Der Wetterbericht will das
eine Forschergruppe zu diesem Thema ein Wetter in sieben Tagen korrekt vorhersagen.
»Memorandum« vor (publiziert in der Zeit- Meteorologen antizipieren das Erdklima in
schrift »Gehirn&Geist« 11/2009), in dem sie 100 Jahren. Den Lauf der Planeten können
für einen kritischen, letztlich aber doch libe- Astronomen auf Millionen, das Schicksal der
ralen Umgang mit solchen Mitteln plädieren. Sonne gar auf Milliarden Jahre bestimmen.
Zwei Dinge fallen dabei auf. Zum Ersten: Doch das Fallen eines Herbstblattes vom Schwierige Vorhersage extre-
mer Ereignisse: Wann kommt
Sieht man von Alltagsdrogen wie Kaffee oder Baum, ein Vorgang von wenigen Sekunden,
der nächste Tornado?
Tee ab, die man freilich auch in diesen Kontext lässt sich nicht exakt simulieren.
stellen muss, gibt es solche Superpillen noch Was aber leisten die Naturwissenschaften
kaum oder gar nicht, die Gedächtnis, Aufmerk- bei irdischen Ereignissen, wo wir als Mensch-
samkeit und Konzentration nachhaltig steigern heit ein existenzielles Interesse an zuverläs-
könnten. Zum Zweiten: Obwohl Neuro-Enhan- siger Prognostik haben, nämlich bei Katastro-
cer zumindest in Deutschland bisher nicht phen? Ob Erdbeben, Tsunamis, Hurrikane, Ihr Wunschartikel
nennenswert geschluckt werden, erhebt sich Brückeneinstürze oder Börsencrashs? Der preis- In der 13. Runde unserer
bereits ein Chor warnender Stimmen, die gekrönte Wissenschaftsautor Frank Grotelüschen Wunschartikel-Angebote
hatten Sie sich mehrheitlich
putative negative Folgen für Individuum und hat die Entwicklungen auf diesem spannenden
für folgen­des Thema
Gesellschaft beschwören. Gebiet für uns zusammengestellt (S. 74). entschieden: Elektrische
Es geht hier um »spekulative Ethik«, also Raketen (ab S. 32).
um die Diskussion eines Problems, bevor es Herzlich Ihr

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010 3


Inhalt 32

astronomie & physik


Elektrisch ins All

24
medizin & biologie
Sozialverhalten der Meerschweinchen 56

astronomie & physik


Atmosphärenwandel durch Gasverlust

aktuell astronomie & physik medizin & biologie


24 Wenn die Atmosphäre entweicht
10 Spektrogramm Lufthüllen um manche Planeten sind TITEL
Gentlemen bevorzugt · Ohne Sonne fragile Gebilde; denn die Gase gehen auf
kein Regen · Alltagsleben der Maya · vielerlei Wegen in den Weltraum verlo- 46 r Turbo für das Gehirn
Vegetarische Spinne · Doppelte Siche- ren – ein Aderlass mit gravierenden Folgen Werden wir künftig einfach Pillen
rung gegen Krebs u. a. einwerfen, um Konzentration,
32 r Elektrische Raketen Gedächtnis und Motivation zu
13 Bild des Monats steigern?
Für Raumfahrtmissionen in das äußere
Fossile Skorpionsfliege
Sonnensystem setzen Ingenieure auf elek- Interview
14 Qualitätskontrolle trische Ionen- oder Plasmamotoren, weil 52 Zu viel Schwarzmalerei
bei Antikörpern nur diese der Aufgabe gewachsen sind Die Medizin-Ethikerin Bettina
Wie der Körper Produktionsfehler bei Schöne-Seifert über die Moral beim
Schlichting!
seiner brisanten Abwehrwaffe verhindert Hirndoping
40 Phantom im Eis
16 Meilenstein für grüne Wie Gasbläschen ein Fahrrad am
Leuchtdioden Grund eines Sees auf dessen zugefrorene
Trickreiche Züchtung von Halbleiter­ Ober­fläche projizieren
kristallen für grüne Displays 56 r Meerschweinchen
als Sozialstrategen
20 Molekül steuert Lichtstrahl Physikalische Unterhaltungen
Von ihren wilden Verwandten haben
Ultimativer Transistor für optische 42 Doppelbilder sehen – Hausmeerschweinchen ein flexibles
Schaltkreise im Nanobereich ganz nüchtern Sozialverhalten geerbt. Trotzdem müssen
Stereobildpaare liefern nicht nur
22 Springers Einwürfe sie in der Jugend erlernen, worauf es im
­räumliche Eindrücke – sie helfen auch, täglichen Miteinander ankommt
Ist Sex im Alleingang besser?
Fälschungen zu erkennen
erde & umwelt
Vulkanismus am Meeresgrund 82

Titel
technik & computer
Brauchen wir Doping fürs Gehirn? 46 Neue Onlinegefahr Phishing 90

mensch & geist erde & umwelt technik & computer


Porträt 74 r Extrem gewagt Wissenschaft im Alltag

66 r Wie der Mensch zur Sprache Viele natürliche Katastrophen treten 88 Fleißige Mikroben
kommt häufiger auf, als nach klassischer Statistik Dank emsiger Bakterien und Schimmel-
Die Neurologin Angela Friederici er- zu erwarten wäre. Neue Forschungsansät- pilze wird aus Milch leckerer Käse
forscht die spezifisch menschliche Fähig- ze suchen jetzt nach besserer Prognostik
keit, Sprache zu verwenden. Ihre Arbeiten 90 Computer an der Angel
überbrücken die traditionelle Kluft 82 Feuer unter dem Wasser Mit fingierten E-Mails erbeuten Krimi­
zwischen Geistes- und Naturwissenschaft Forscher konnten jetzt im Detail klären, nelle alljährlich Milliarden Euro,
wie die erstarrte Lava, die den Unter- ­Tendenz steigend. Dabei nutzen sie
grund der Ozeane bildet, an mittelozea- nicht nur modernste Technik, sondern
nischen Rücken aus dem Erdinnern an auch menschliche Schwächen
den Meeresboden gelangt
Wissenschaft & KArriere

102 »Biostatistik ist mehr als ein


Titelmotiv: Splashlight Spiel mit Zahlen«
ab Seite 104 Als Einmannunternehmen bringt
Die auf der Titelseite angekündigten Themen sind
mit r gekennzeichnet; die mit markierten Artikel
der Mathematiker Burkhard Haastert
finden Sie auch in einer Audioausgabe dieses Ordnung in medizinische Daten
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Weitere Rubriken 98 Rezensionen: Joachim Radkau Technik in Deutschland – Vom 18. Jahrhundert bis heute
Henry Ernest Dudeney Die Canterbury Rätsel – Klassische Denk- und Knobelspiele
3 Editorial: Kommt das Jahrzehnt des
Daniel Dennett Den Bann brechen – Religion als natürliches Phänomen
frisierten Gehirns?
Keith Devlin Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks – Eine Reise in die
6 Onlineangebote
­Geschichte der Mathematik
8 Leserbriefe / Impressum
55 Im Rückblick
106 Vorschau
Online
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Die Erforschung von Sprache und Kom- Im Jahr 1609, vor 400 Jahren, veröffentlichte stimmen Sie mit ab
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Babys brüllen in ihrer Muttersprache, nova«. Heinz Klaus Strick berichtet in seinem verschlungenen evolutionären Wege, durch
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menschlicher Sprachfähigkeit, und selbst großen Forscher hen kam? Oder doch lieber Komplexitätstheo-
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Richard Mischak stellt einen Baukasten rund ein Wochenende in Heidelberg
um die Brennstoffzelle vor, der Tüftlerherzen
Reisen zu Sonne, Mond und Planeten  www.spektrum.de/artikel/1015414
höher schlagen lässt
Seit der kleine Satellit Sputnik das Weltall  www.spektrumdirekt.de/artikel/1015368
eroberte, hat sich an der Raumfahrtfront
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»Kepler und der Stern von Betlehem«
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»Schlaflos im Bett« »Kepler und der Klima zwischen Wissenschaft


Vielen Menschen gelingt es nicht mehr, richtig Stern von Betlehem« und Politik
ein- und durchzuschlafen. Ihre Leistungs­ Auch Johannes Kepler spekulierte, ob der Der Klimagipfel in Kopenhagen vom 7. bis
fähigkeit ist dadurch spürbar beeinträchtigt. biblische Stern der Weisen auf ein reales 18. Dezember beschäftigte natürlich auch
The­rapeutische Maßnahmen, vor allem Himmelsereignis zurückzuführen ist. Ein die Wissenslogs. In einem Sonderblog in
auch im Verhaltensbereich, können erneut zu »neuer Stern«, eine Supernova, lieferte ihm Kooperation mit Siemens machten sich
einem erholsamen Schlummer verhelfen entscheidende Hinweise unsere Autoren Gedanken über die Wissen-
Dieser Artikel ist für Abonnenten Diesen Artikel finden Sie als KOSTENLOSE schaft und die Politik des Klimawandels.
frei zugänglich unter Leseprobe von sterne und weltraum unter
Der Historiker Theodor Kissel zum Beispiel
 www.spektrum-plus.de www.astronomie-heute.de/artikel/1015935 beschrieb, wie schon Griechen und Römer
Raubbau an der Natur betrieben, und
»Die Marionettenspieler« Björn Lohmann vermutete, dass der Klima-
wandel bereits in unserem Wirtschafts-
Manche Parasiten machen selbst vor dem
system angelegt sei. Ebenfalls dabei: die
Denkorgan nicht Halt. Sie befallen das Gehirn
neue Bloggerin Susanne Plotz, die als
verschiedener Wirtstiere und manipulieren
Ärztin die möglichen gesundheitlichen
deren Verhalten. Auch der Mensch ist vor
Folgen des Klimawandels erläutert. Disku-
solchen Attacken nicht gefeit
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Sprachlich unsensibel
Lebensborn statt Todesbote Nie gesehenes Naturphänomen
Forschung aktuell, November 2009

Fast wäre mir das Heft aus der Hand ge- Als SdW-Leser seit über 30 Jahren bin len Scheibe)? Oder ist das alles kein
fallen, als ich die Überschrift »Lebens- ich einiges an Naturereignissen ge- Thema, sind beobachtete Größe und
born statt Todesbote« las. Der Lebens- wohnt – aber nicht einen so großen Form hinreichend bekannt, und kann
born e. V. war im Nationalsozialismus Eiskristall von einer Größe von rund 80 ein solches Objekt auch schon mal ei-
ein Verein unter der Ägide von Reichs- Millimetern, den ich neulich auf mei- nen Meter im Durchmesser haben?
führer SS Heinrich Himmler mit dem nem Balkon in einem herumstehenden Dipl.-Ing. Lutz-Michael Weiß, Berlin
Ziel, den »arischen« Nachwuchs zu för- Wasserglas fand. Bekannt sind mir Eis-
dern. Der Lebensborn e. V. unterhielt kristallgrößen zwischen 0,1 und 3 Mil- Antwort von Prof. Schlichting:
zahlreiche Mutter-Kind-Heime, in de- limetern. Da auch wissenschaftlich be- Vermutlich ist der Kristall von der Mit-
nen – im Sinn der NS-Rassenideologie – schlagene Leute in meinem Bekannten- te her zum Rand gewachsen. Denn es
rassisch einwandfreie Frauen ihr unehe­ kreis dieses Phänomen nicht erklären wäre unwahrscheinlich, dass gerade
liches Kind zur Welt bringen konnten. können: Wäre es möglich, Herrn Prof. sechs Eisbäumchen vom Rand her sym-
Die Väter waren in der Regel ebenfalls Schlichting, den Autor der gleichna- metrisch zur Mitte wachsen und sich
»arisch« reine SS-Angehörige. Außerdem migen Rubrik zu physikalischen Phäno- dort treffen. Auf Grund der Struktur
wurden während des Zweiten Weltkriegs menen im Alltag, um eine Antwort zu des Wassermoleküls bildet sich beim
blonde und blauäugige Kinder auf Be- bitten? Handelt es sich um einen Mo- Gefrieren an einem Keim eine winzige
fehl Himmlers aus den besetzten Ge­ nokristall? Kommt so etwas oft vor hexagonale Platte, die dann von diesem
bieten in die Lebensborn-Heime ver- beziehungs­weise ist das leicht in einer Startpunkt ausgehend weiterwächst.
schleppt und zur Adoption in deutsche solchen Größe reproduzierbar? Sind die Da beim Gefrieren Kristallisations-
Familien vermittelt. blattähnlich ausgerichteten Adern oder wärme entsteht, wird das Wachstum
Ich habe mich noch bemüht, eine Bläschen Lufteinschlüsse (in der dunk- besonders in der Nähe des bereits er-
weitere Bedeutung des Wortes Lebens-
born zu finden, bin aber in allen Nach-
schlagewerken immer nur auf die NS-
Einrichtung gestoßen. Ich unterstelle Antwort der Redaktion: Unbedarft
demjenigen, der die Überschrift getextet Der Ausdruck Lebensborn war bereits vor Plan für eine emissionsfreie Welt
hat, nicht, absichtlich Nazijargon ver- dem Nationalsozialismus durchaus ge- bis 2030, Dezember 2009
wendet zu haben. Trotzdem vermisse ich bräuchlich und findet sich etwa bei Fried-
sprachliche Sensibilität. Da »Born« ein rich Hebbel oder Theodor Storm. Außer- Der Artikel gehört wohl zum Unbedarf­
altes deutsches Wort für »Quelle« ist, dem passte er von Rhythmus und Allite- testen, was ich je zum Thema Energie ge-
liegt die unverfängliche und sogar noch ration her einfach ideal zum Todesboten. lesen habe. Er beschränkt sich im We-
verständlichere sprachliche Alternative Trotzdem hätten wir ihn vermieden, sentlichen darauf, darzutun, dass ge­
doch so nahe: »Lebensquell statt Todes- wenn uns die missbräuchliche Verwen- nügend Rohmaterialien vorhanden sind,
bote«. dung durch die NS-Rassenideologen in um mit Wind-, Wasser- und Solaranla-
Werner Kirsch, Köln diesem Moment bewusst gewesen wäre. gen den gesamten Energiebedarf der Erde

Die
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Wissenschaft
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Katharina Werle
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beide Fotos: Lutz-Michael WeiSS

Diesen ungewöhnlichen Eiskristall hat Le-


ser Weiß einmal vor dunklem Hintergrund
und einmal gegen das Licht fotografiert.

starrten und gerade erstarrenden Was- treiben. Nach dem gleichen Prinzip ver- steht per definitionem aus einem fehler-
sers gebremst. Dies gilt weniger für die zweigen sich diese Zweige und so weiter. freien Kristallgitter. Das schränkt aber
sechs Ecken. Insgesamt entstehen daher zwischen den die Schönheit und wohl auch Seltenheit
Wenn keine Störungen vorliegen, sechs Eisnadeln baumartige Gebilde. dieses Exemplars in keiner Weise ein.
entwickeln sich Eisnadeln von der be­ Bei den Verzweigungen hat sich Denn hier werden Zufall (ähnliche, aber
stehenden Eisstruktur weg in Richtung (etwa durch Verunreinigungen bedingt) nicht identische Zweige) und Notwen-
Gefäßrand. An den Seiten dieser Nadeln eine exakt hexagonale Struktur gegen digkeit (die hexagonale Grundstruktur)
entstehen (im vorliegenden Fall offenbar die stets vorhandenen zufälligen Ten- in ästhetisch ansprechender Weise mit­
weniger durch die hexagonale Grund- denzen nicht durchsetzen können. Es einander verknüpft. Die blattartigen
struktur bedingt als vielmehr durch Zu- sind Fraktale entstanden, wie man sie Strukturen sind demnach nicht auf
fall) einzelne Ausstülpungen von Eis, von vielen Wachstumsprozessen kennt Lufteinschlüsse zurückzuführen.
von denen die größten und damit von (von elektrolytischer Anlagerung über Ich selbst habe zwar Eisnadeln von
der Nadel am weitesten entfernten (wie- Einzugsbereiche von Flüssen bis zu Bäu- bis zu einem Meter Länge auf einem
der wegen der anfallenden Kristallisati- men). Sie sind in ihren Teilen nicht Teich beobachten können, auch meh­
onswärme) bevorzugt sind und als Eis- gleich, sondern selbstähnlich, und da- rere von einem Zentrum ausgehende,
zweige sowohl vom Zentrum als auch her haben wir es hier nicht mit einem aber bislang keine, die eine so strenge
von der Eisnadel weg schräg nach außen Monokristall zu tun. Denn dieser be- hexagonale Grundstruktur aufwiesen.

zu decken. Daran hat wohl bisher nie- ges nicht durch Muskelaktion auseinan- Brennpunkte in unterschiedlichen Ebe-
mand gezweifelt. Noch unbedarfter wäre dergezogen, um Gegenstände zu fokus­ nen«. Vielmehr liegt überhaupt kein
zu »beweisen«, dass die Solarkonstante sieren, sondern vielmehr durch die Kon- Brennpunkt vor, sondern ein Bildpunkt
von 1367 W/m2 multipliziert mit der traktion des ringförmigen Ziliarmuskels wird intraokular in Form eines Konoids
Oberfläche der Erde genügen würde, den entlastet, wodurch sich ihr Krümmungs- abgebildet. Zur Beschreibung von PRK
Energiebedarf unseres Planeten allein mit radius und damit die Brechkraft erhöhen. und Lasek wäre anzumerken, dass die
Solarenergie sogar mehrfach zu decken. Die Funktion der Pupille bei der Adapta- Behandlung in beiden Fällen erst erfolgt,
R. v. Schumacher, Rieden, Schweiz tion an unterschiedliche Lichtverhältnisse nachdem das Epithel mechanisch abge-
wird gern überschätzt, die Hauptverant- tragen wurde. Bei der Photorefraktiven
Antwort der Redaktion: wortung trägt tatsächlich die Netzhaut. Keratek­tomie regeneriert sie später vom
Sicher klammert der Artikel viele – vor Die Bedeutung der Lider in diesem Zu- Hornhautrand aus, bei der Laser Epithe-
allem politische – Probleme aus. Aber er sammenhang ist vernachlässigbar, sie die- lial Keratomileusis wird der Bereich als
geht doch weit über den bloßen Nach- nen vor allem, zusammen mit dem Trä- zusammenhängende Schicht aufgenom-
weis hinaus, dass die Voraussetzungen nenfilm, dem Schutz des Auges. Anders men und nach dem Eingriff wieder auf-
für die Energieversorgung der Welt allein als im Artikel dargestellt wird die Horn- gelegt.
mit Wind-, Solar- und Wasserkraft im haut in der Augenheilkunde nicht als Prof. Dr. Heinrich Gerding, Olten, Schweiz
Prinzip erfüllt sind. So entwirft er einen Schutzorgan, sondern als schützenswerter
Plan für einen sinnvollen nachhaltigen Or­ganteil eingestuft.
Energiemix und zeigt, dass ein Umstieg Unsauber ist etwa die Bezeichnung Briefe an die Redaktion …
wirtschaftlich machbar ist und regenera- der Zonulafasern als Bänder – Bänder … sind willkommen! Schreiben Sie uns auf
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Etwas zu unscharf beim Fernblick zu einer unscharfen Ab-


bildung, wenn sie nicht akkommodativ
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Bye-bye, Brille!, Wissenschaft im ausgeglichen wird, andererseits kann Redaktion Leserbriefe
Alltag, Oktober 2009 eine durch Akkommodation ausgegli- Postfach 104840
chene Weitsichtigkeit zu einer scharfen 69038 Heidelberg
In den Artikel haben sich einige Fehler Abbildung in der Nähe führen. Beim E-Mail: leserbriefe@spektrum.com
eingeschlichen. So wird die Linse des Au- Astig­matismus bestehen nicht »mehrere

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010  9


Spektrogramm
Erdbeben

Entspannung erst nach 200 Jahren


q Manche wie aus heiterem Himmel auf- die Spannungen allerdings meist nicht auf
tretende Erdstöße sind Nachbeben von einmal ganz gelöst. So kommt es danach
schweren seismischen Erschütterun­gen, die noch zu weiteren Erschütterungen.
bis zu mehrere hundert Jahre vorher Wo zwei Platten aneinanderstoßen, ist
stattfanden. Das haben Seth Stein von der die Relativbewegung zwischen ihnen
Northwestern University in Evanston ziemlich groß. Das fördert die Entladung
(Illinois) und Mian Liu von der University verbliebener seismischer Energie in Form
of Missouri in Columbia nun herausge­ von Nachbeben. Je weiter entfernt von
funden. einer Plattengrenze jedoch die Erdkruste
Bei Erdbeben werden ruckartig Ver- gebrochen ist, desto langsamer baut sich
spannungen in der Erdkruste gelöst. Diese dort neue Spannung auf. Dadurch ziehen
entstehen, weil sich die tektonischen Plat- sich Nachbeben über einen größeren Zeit-
ten – riesige Blöcke, aus denen die feste raum hin. Belege dafür fanden die beiden
Erdschale besteht – gegeneinander ver- Forscher auf der ganzen Welt. So kommt es
schieben und sich dabei immer wieder in- am Hebgen-Lake im Yellowstone-National-
einander verhaken. Beim gewaltsamen park bis heute zu Erschütterungen als
Aufbrechen der verkeilten Stellen werden Spätfolgen eines Erdbebens vor 50 Jahren.
Mitten auf der Nordamerikanischen Platte,
an der New-Madrid-Zone in Missouri, gibt
Diese Geländestufe entstand bei einem Erd- es sogar noch Nachbeben von schweren
beben im Yellowstone-Nationalpark vor 50 Erdstößen im Winter 1811/12.
Jahren. Noch heute gibt es dort Nach­beben.  Nature, Bd. 462, S. 87
Seth Stein, Northwestern University

KLIMAFORSCHUNG

Ohne Sonne kein Regen


q Der Monsun hat großen Einfluss auf Kli- Gang kommt. Über Land steigt dann erhitz- Starke Luftverschmutzung kann die Son-
ma und Vegetation in Südasien und damit te Luft nach oben und zieht feuchte, kühle neneinstrahlung verringern, so dass der
auf das Wohlergehen der dortigen Bevölke- Meeresluft nach. Wenn daraus Regentrop- Schwellenwert erst gar nicht erreicht oder
rung. Umgekehrt kann der Mensch aber fen kondensieren, wird Wärme freigesetzt, während der Monsunsaison unterschritten
auch den Monsun beeinflussen. Das zeigt was zu einem weiteren Aufstieg führt, wird. Dann bleibt der Niederschlag ganz
ein Modell, das Anders Levermann vom wodurch mehr feuchte Luft nachströmt. So aus, oder die Regenphase endet durch
Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung werden die Temperaturdifferenz und die Abbruch der Zirkulation unerwartet früh.
und seine Kollegen entworfen haben. Zirkula­tion aufrechterhalten.  PNAS, Online-Vorabveröffentlichung
Es gibt zwei konträre stabile Zustände

NASA, Johnson Space Center (JSC), Earth Sciences and Image Analysis Laboratory
des Monsuns: einen niederschlagsreichen
und einen trockenen. Zwischen ihnen findet
oft ein abrupter Wechsel statt. Dessen
Ursache wollten die Potsdamer Forscher
ergründen. Sie entwickelten dazu ein
numerisches Modell für die Luftzirkulation,
wel­che die treibende Kraft hinter dem
Monsun ist. Den Berechnungen zufolge
hängen die abrupten Übergänge mit einem
Schwellenwert der Sonneneinstrahlung
zusammen. Nur wenn er überschritten wird,
bildet sich im Frühjahr eine so große Tem-
peratur­differenz zwischen Land und Meer,
dass die Zirkulation in der Atmosphäre in

Monsunwolken, hier über Bangladesch, ver-


sorgen große Weltregionen regelmäßig mit
Niederschlägen.

10  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Wasserläufer

Gentlemen bevorzugt
q Gemeinhin gilt der erotische Draufgänger als beson-
ders erfolgreich. Doch das stimmt, wie Biologen um
Omar Tonsi Eldakar von der University of Arizona in
Tucson nun herausfanden, nicht einmal bei den psy-
chisch doch eher einfach gestrickten Wasserläufern.
Wird ein Weibchen im Labor mit einer gemischten
Gruppe aus sexuell bedrängenden und eher schüch-
ternen Männchen zusammengesperrt, haben letztere
zwar keine Chance. In freier Natur aber flüchtet sich
das Opfer der Zudringlichkeit, wie sich jetzt zeigte, an
einen Platz, wo ihm keine liebestollen Bewerber zuset-
zen, und paart sich dort mit eher zurückhaltenden
Männchen.
Die Forscher teilten männliche Wasserläufer (Aqua­
rius remigis) nach aggressivem Verhalten gegenüber dem
anderen Geschlecht in fünf Kategorien ein und mar-
kierten sie mit einer Kombination verschiedenfarbiger
Punkte. Danach wurden Fünfergruppen aus je einem
Vertreter jeder Kategorie zusammen mit fünf Weibchen
in isolierte Bereiche eines Beckens von 5,2 Quadratme-
ter Fläche gesperrt. Unter diesen Umständen stachen die
aggressiven Männchen die weniger zupackenden Mitbe-
werber aus. Doch dann öffnete das Team die Durchgänge
zwischen den Kammern, so dass sich die Insekten frei
bewegen konnten. Die belästigten Damen ergriffen
daraufhin die Flucht – hin zu sich neu bildenden Grup-
pen aus weniger fordernden Männchen. Diese kamen so
zu mehr Paarungen als ihre aggressiven Kollegen.
»Die Draufgänger bekommen zwar ein größeres Stück
vom Kuchen, aber für die Gesitteten ist der Kuchen Omar Tonsi Eldakar, University of Arizona

größer«, fasst John Pepper aus dem Team das Ergebnis


plastisch zusammen. Der aggressive Wasserläufer rechts versucht die Paarung eines zurückhal-
 Science, Bd. 326, S. 816 tenderen Männchens mit einem Weibchen (mit grünem Punkt) zu stören.

Maya-Kultur

Kaleidoskop des Alltagslebens


q Über den Alltag der Maya ist bislang sie bestens erhaltene Wandbilder, die ganz
Ramón Carrasco Vargas et al. / PNAS

wenig bekannt. Die Wandbilder in den be- normale Menschen bei ihren täglichen
rühmten Pyramiden zeigen fast nur prunk- Verrichtungen zeigen: bei der Beförderung
volle Szenen aus dem Leben der Herrscher. von Waren, bei der Zubereitung von
Nun wurden im südmexikanischen Calak- Mahlzeiten oder beim Essen und Trinken.
mul, der größten bisher bekannten Maya- Männer, Frauen und Kinder tragen die
Stadt, Malereien entdeckt, die auch die unterschiedlichsten Arten von Kleidung.
Welt der einfachen Leute beleuchten. Mal ist ein einfacher Lastenträger nur
Nördlich des Stadtkerns gruben Ramón mit Lendenschurz abgebildet, mal speisen
Carrasco Vargas vom Instituto Nacional Frauen gemeinsam in bunten Gewändern
de Antropología e Historia und sein Ar- und mit abwechslungsreichen Kopfbede­
chäo­logenteam einen Tunnel in eine große ckun­gen. Viele der Frauenfiguren sind
dreistufige Pyramide, in der – typisch für geschminkt. Schmuck trugen den Malereien
die Maya-Architektur – Bauten aus unter- zufolge im Maya-Reich beide Geschlechter.
schiedlichen Epochen ineinandergeschach- Jede Szene ist mit Hieroglyphen versehen,
telt sind. Dabei stießen die Forscher auf die das Bildmotiv er­klären, was den
den Teil, der im 7. nachchristlichen Jahr- Forschern zusätzliche Hinweise gibt. Südwestecke der neu entdeckten Maya-Pyra­
hundert errichtet wurde. Dort entdeckten  PNAS, Bd. 106 , S. 19245 mide mit bunten Alltagsszenen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 11


NACKTMULLE schmarotzer
Spektrogramm

Doppelte Sicherung Vegetarische


gegen Krebs Spinne
University of Rochester, New York

q Der Nacktmull ist der Methusalem unter Nacktmulle bilden wie soziale Insekten Kolo­ q Spinnen sind Räuber, die sich von
den Nagern: Er wird bis zu 28 Jahre alt. Das nien. Obwohl sie kaum größer und schwerer anderen Gliedertieren ernähren. So steht
liegt unter anderem daran, dass die Tiere sind als Mäuse, leben sie fast zehnmal so lan- es in den Lehrbüchern der Biologie. Doch
nicht an Krebs erkranken. Noch nie hat ein ge. Ein Grund dafür ist ihre Krebsresistenz. nun haben Christopher Meehan von der
Forscher einen Nacktmull mit Tumor zu Villanova University in Pennsylvania und
Gesicht bekommen. Über welche Geheim- Kollegen eine Art in Mittelamerika be-
waffe gegen Geschwülste die Nager verfü- hier eine noch strengere Kontaktsperre. schrieben, die fast rein vegetarisch lebt.
gen, war bisher unbekannt. Nun haben Vermittelt wird sie nicht durch p27, son- Die Springspinne Bagheera kiplingi un-
Andrei Seluanov von der University of dern durch eine erhöhte Konzentration des terwandert eine lange bekannte Symbiose
Rochester (New York) und seine Kollegen Proteins p16. Dieses stoppt das Wachstum zwischen Akazien­sträuchern und Amei­sen,
das Geheimnis gelüftet. schon bei einer sehr viel geringeren Zell- welche die Pflanze vor Fraßschädlingen
Bei Säugetieren existiert eine Kontakt- dichte. Diese frühe Kontakthemmung schützen. Belohnt werden die Leibwächter
hemmung für Zellen. Sobald sich zwei zu funktioniert allerdings nur, wenn zwei dafür mit Nektar und den so genannten
nahe kommen, sorgt ein erhöhter Wert des weitere Eiweißstoffe, p53 und das RB-Pro- beltschen Körperchen: protein- und fett-
Proteins p27 dafür, dass sie ihr Wachstum tein, vorhanden sind. reichen Noppen an den Akazienblättern.
einstellen. Bei Krebszellen funktioniert das Als die Forscher Krebsgene in die Daran tut sich auch die Spinne gütlich,
nicht; sie vermehren sich ungebremst wei- Nacktmullzellen einschleusten und gleich- allerdings ohne Gegenleistung. Exzellentes
ter und verklumpen: Ein Tumor entsteht. zeitig das Gen für p53 oder das RB-Protein Sehvermögen, Schnelligkeit und Intelli-
Da dies bei Nacktmullen noch nie be- ausschalteten, rückten die Zellen dichter

Robert L. Curry, Villanova University


obachtet wurde, untersuchten die Forscher zusammen – doch nur ein Stück; dann stieg
deren Abwehrmechanismus an Bindege- die Konzentration an p27 und wirkte in
webszellen, die sie in Kulturschalen züch- zweiter Instanz als Notbremse.
teten. Wie sie dabei feststellten, existiert  PNAS, Bd. 106, S. 19352

FRöSCHE

Tod durch Elektrolytmangel


q Seit vielen Jahrzehnten rafft eine Epide- Die Haut von Amphibien dient der At-
mie Amphibien reihenweise dahin. Bei der mung, der Regulation des Wasserhaushalts
Suche nach der Ursache fiel der Verdacht und dem Elektrolytaustausch. Eine dieser
zunächst auf Schadstoffe in der Umwelt. Funktionen, so Voyles’ Verdacht, sollte der
Doch inzwischen steht fest: Der Töpfchen- Pilz beeinträchtigen. Um herauszufinden,
pilz Batrachochytrium dendrobatidis ist der welche, infizierten die Forscher Korallenfin- Diese weibliche Spinne der Spezies Ba­
Hauptschuldige. Wie er den Tod verursacht, ger-Laubfrösche (Litoria Caerulea) mit dem gheera kiplingi lässt sich ein beltsches
blieb bislang allerdings ein Rätsel. Nun Schädling und ermittelten die Auswirkun­gen Körperchen schmecken, das sie von einem
haben Jamie Voyles von der James Cook durch Vergleich mit einer Kontrollgruppe. Akazienstrauch stibitzt hat.
University im australischen Townsville und Unter anderem maßen die Wissen-
ihre Kollegen die Lösung gefunden. schaftler die Konzentration verschiedener
Metall­ionen im Froschplasma – einmal vor genz helfen ihr, nicht von den Streife ge-
Jamie Voyles (JCU), Alex Hyatt (CSIRO) und Frank Filippi

und dreimal nach der Pilzinfektion. Dabei henden Ameisen erwischt zu werden. Auch
fanden sie eine stetig abnehmende Menge ihre Nester schützt B. kiplingi vor den
im Blut. Bei der letzten Messung war die Bodyguards der Akazien, indem sie sie
Natriumkonzentration um 20 Prozent redu- möglichst fernab der Patrouillenwege baut.
ziert, die von Kalium gar um die Hälfte. Wie Ein Vorteil dieser Ernährungsweise ist,
Elektrokardiogramme zeigten, verlangsa- dass die Körperchen das ganze Jahr über
mte das Ungleichgewicht bei den Elektro- zur Verfügung stehen. Außerdem schützen
lyten den Herzschlag, bis er schließlich die Ameisen außer den Sträuchern unge-
aussetzte. Zum Test verabreichten die wollt auch die Spinnen, indem sie deren
Forscher infizierten Fröschen Elektrolyt-­ Fressfeinde gleich mit fernhalten.
Dieser australische Corroboree-Frosch ist von dem
Ergänzungsmittel. Die so behandelten  Current Biology, Bd. 19, S. R894
tödli­chen Töpfchenpilz Batrachochytrium dendrobatidis
Tiere lebten mehr als 20 Stunden länger.
befallen.
 Science, Bd. 326, S. 582 Mitarbeit: Julia Eder und Nicole Mai

12  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Früher Die gemeinsame Entwicklung von bedecktsamigen Blütenpflanzen und sie bestäubenden Insekten in
der späten Kreidezeit – vor etwa 100 bis 65 Millionen Jahren – gilt als klassischer Fall einer

Bestäuber
Koevolution. Doch wie so oft stellt sich auch hier das berühmte Henne-Ei-Problem: Was war

bild des monats


zuerst da, üppige Blüten oder ihre Bestäuber? Eine genaue Untersuchung von bis zu 160
Millionen Jahre alten Fossilien aus China hat in diesem Fall nun die Antwort geliefert.
Die Versteinerungen zeigen ausgestorbene Skorpionsfliegen mit einem behaarten
Rüssel von einem Zentimeter Länge. Dieser diente offenbar dazu, pollenrei­che
Flüssigkeiten aus den einfachen, unscheinbaren Blüten von Nacktsamern
wie Nadelbäumen und Farnen zu saugen, die damals die einzigen
Pflanzenarten waren. Bei dem Vorgang konnte es auch zur Bestäu-
bung kommen. Auf der abgebildeten Versteinerung einer Skor­
pionsfliege der Art Lichnomesopsyche gloriae ist der lange,
gerade Rüssel besonders schön zu erkennen.

Wenying Wu
FORSCHUNG AKTUELL
Zellbiologie Diesen Artikel können Sie als Audiodatei beziehen; siehe www.spektrum.de/audio

Qualitätskontrolle bei Antikörpern


Bei der Synthese von Antikörpern in Immunzellen müssen mehrere Proteinkomponenten
korrekt zusammengesetzt werden. Ein System zur Qualitätskontrolle hält unfertige oder
falsch aufgebaute Exemplare zurück. Seine genaue Funktionsweise ließ sich jetzt aufklären.

Von Matthias Johannes Feige daran heften. Zugleich setzen sie weitere Antikörper bestehen aus vier Eiweiß­
und Johannes Buchner Abwehrmechanismen in Gang und re­ ketten, zwei schweren und zwei leichten,
krutieren zusätzliche Komponenten des die über Schwefelbrücken verknüpft

A ntikörper zählen zu den wichtigsten


Waffen des Immunsystems. Ihr Ein­
satz gegen Krankheitserreger hat sich als
Immunsystems. Dazu zählen Fresszellen,
die ihrem Namen alle Ehre machen, so­
bald sie einem durch einen Antikörper
sind. Diese vier Komponenten werden
von Ribosomen an der Membran des en­
doplasmatischen Retikulums zunächst
äußerst erfolgreiche Strategie erwiesen. markierten Fremdstoff im Körper begeg­ einzeln synthetisiert und in das Kanal­
So kommen sie in sehr ähnlicher Form nen, und natürliche Killerzellen – eine system eingeschleust. Dort müssen sie
beim Hai wie beim Menschen vor – zwei Klasse weißer Blutkörperchen, die Krank­ dann zueinander finden und sich zum
Organismen, die durch fast 500 Millio­ heitskeime direkt abtöten können. Komplex zusammenlagern. Im Verlauf
nen Jahre Evolution getrennt sind. Mit Millionen von Erregern muss der dieses Zusammenbaus werden auch die
In unserem täglichen Kampf gegen Organismus jeden Tag fertigwerden. Ent­ Schwefelbrücken gebildet und zwei Zu­
sich schnell anpassende Krankheitserre­ sprechend groß sind die benötigten Men­ ckerstrukturen angeheftet. Nur wenn alle
ger erkennen Antikörper die Eindring­ gen an Antikörpern. Sie werden in den diese komplizierten Schritte erfolgreich
linge und markieren sie, indem sie sich ebenfalls zu den weißen Blutkörperchen abgeschlossen sind, erhalten die Antikör­
gehörenden Plasmazellen produziert. Es per die Freigabe für den Weg zur nächs­
handelt sich um spezialisierte Fabriken ten Station, dem Golgi-Apparat. Von ihm
Antikörper der IgG-Klasse (links) bestehen für Antikörper, die mehrere tausend da­ aus gelangen sie schließlich an die Zell­
aus zwei schweren (gelb) und zwei leichten von pro Sekunde herstellen und in den oberfläche, wo sie freigesetzt werden.
Ketten (orange). Schwefelbrücken (S-S) hal- Blutstrom abgeben. Die wesentlichen Fehlerhafte Antikörper sind potenziell
ten sie zusammen, und angeheftete Zucker Produktionsschritte laufen im so genann­ gefährlich, weil sie selbst und die von ih­
(blaue Sechsecke) sind wichtig für die biolo- ten endoplasmatischen Retikulum ab nen in Gang gesetzten zusätzlichen Ab­
gische Funktion. Antikörper werden im en- (Bild unten). Dieses zellinterne mem­ wehrmechanismen sich auch gegen kör­
doplasmatischen Retikulum synthetisiert, bran­umhüllte Kanalsystem ist auf die pereigene Strukturen richten können.
von wo sie durch den Golgi-Apparat zur Zell­ Herstellung von Proteinen spezialisiert, Deshalb ist eine strenge Qualitätskon­
oberfläche gelangen (rechts). die zur Zelloberfläche gelangen sollen. trolle unabdingbar. Sie muss Zuverlässig­

Spektrum der Wissenschaft / Art For Science


Zellkern
VH variable Region
VH Ribosomen

VL VL
endoplasmatisches
Retikulum

CH1 CH1
CL CL
Zellmembran
S S S S
S S S S

CH2 C H2
konstante
Region

Golgi-
Anti- Apparat
CH3 CH3 körper

14 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010


Aktuell

Spektrum der Wissenschaft / Art For Science


VH VH VH VH
VL VL

CH1 CH1 BiP CH1 CH1


CL CL
S S S S S S
HS S S SH VL VL S S S S
PDI
CH2 CH2 CL CL CH2 C H2

SH HS
CH3 CH3 CH3 CH3

Überführung in den Überführung in den


Golgi-Apparat Golgi-Apparat

keit mit Effizienz verbinden – keine ne bestehen, auf eine bestimmte Weise Eine Vielzahl von Chaperonen wie BiP (Bin-
leichte Aufgabe für eine Zelle bei einem zu einer räumlichen Struktur gefaltet ist. deprotein) und Faltungshelfern wie das En-
Ausstoß von tausenden Antikörpern pro Bei Antikörpern heißt eines der zu­ zym PDI (Proteindisulfidisomerase), das die
Sekunde. Wie lässt sich erreichen, dass ständigen Chaperone BiP (für Bindepro­ Ausbildung korrekter Schwefelbrücken un-
praktisch kein Mängelexemplar überse­ tein). Kritisch ist nun die Frage, welches terstützt, inter­agieren mit dem Antikörper
hen wird? Dem sind wir nachgegangen Kennzeichen der unfertigen oder fehler­ während seiner Synthese im endoplasmati­
und haben eine Erklärung gefunden: In haften Antikörperexemplare genau diese schen Retikulum. Solange die schweren Ket-
das Antikörpermolekül selbst ist ein Me­ molekulare Gouvernante zum Einschrei­ ten allein vorliegen, ist eine Untereinheit
chanismus eingebaut, welcher der Zelle ten veranlasst. Durch unsere Arbeiten von ihnen, die so genannte CH1-Domäne, in
über den Status – korrekt zusammenge­ konnten wir das kritische Prüfmerkmal einem unstrukturierten Zustand, in dem sie
baut oder noch in Produktion – zuver­ in der schweren Kette des Antikörpers von BiP gebunden und dadurch am Weiter-
lässig Auskunft gibt. aufspüren. Genauer gesagt, befindet es transport gehindert wird. Erst wenn sich die
sich in einer Domäne – also einer struk­ leichten Ketten anlagern und so den Anti­
Kritisches Prüfmerkmal turellen Untereinheit – mit der Bezeich­ körper komplettieren, veranlassen sie die
Das Merkmal, das zur Qualitätskontrolle nung CH1. Dieser Abschnitt weist eine korrekte Faltung der CH1-Domäne, woraufhin
dient, befindet sich in einem bestimmten unerwartete Besonderheit auf: Solange sich BiP ablöst.
Bereich der schweren Kette. Es wird von die schwere Kette isoliert vorliegt, ist er
weiteren Proteinen erkannt, die alle un­ unstrukturiert und bildet ein ungeord­
fertigen oder falsch zusammengesetzten netes Knäuel. Alle anderen Domänen nismus zur Qualitätskontrolle die sichers­
Antikörper zurückhalten und nur ein­ der schweren und der leichten Ketten te Lösung für die Kontrolle der Antikör­
wandfreien Exemplaren gestatten, das en­ weisen bei Antikörpern der Klasse IgG, perproduktion. Aufgelöst wird diese Blo­
doplasmatische Retikulum zu verlassen. welche die häufigsten im Blut sind, da­ ckade unter normalen Umständen, wenn
Diese Proteine gehören zu den so ge­ gegen schon vor der Zusammenlagerung sich die leichten Ketten anlagern. Diese
nannten Chaperonen, was auf Deutsch zum fertigen Molekül ihre endgültige vervollständigen dabei nicht nur den An­
Anstandsdamen oder Gouvernanten be­ Faltungsstruktur auf. tikörper, sondern bringen auch die CH1-
deutet. Der Begriff gibt ihre Funktion An der CH1-Domäne können also BiP Domäne dazu, sich ordnungsgemäß zu
recht anschaulich wieder, verhindern sie und andere Chaperone erkennen, ob der falten. Erst dann, und nur dann, wenn
doch, dass die »beaufsichtigten« Mole­ Antikörper vollständig zusammengebaut der Antikörper korrekt zusammengesetzt
küle Unerlaubtes oder Gefährliches »un­ ist oder die schwere Kette noch ungepaart ist und die richtige Struktur hat, lösen
ternehmen«, solange sie noch unreif sind. vorliegt. Ist sie noch unstrukturiert, hef­ sich die Chaperone ab und entlassen das
Generell erkennen molekulare Cha­ ten sie sich daran und verhindern so, dass Molekül in den Golgi-Apparat.
perone Proteine, deren Eigenschaften das Molekül das endoplasmatische Reti­ Tatsächlich sind die beteiligten An­
noch nicht die Spezifikationen eines fer­ kulum verlässt (links im Bild oben). Da standsdamen aber nicht nur passive Tor­
tig strukturierten Proteins erfüllen. Meist die Abwehrmechanismen der Antikörper wächter. Vielmehr beteiligen sie sich auch
geht es darum, sicherzustellen, dass die durch die schwere Kette rekrutiert wer­ aktiv an der Faltung und am Zusammen­
lineare Aminosäurekette, aus der Protei­ den, ist ein in diese eingebauter Mecha­ bau des Antikörpers. Dazu rekrutieren sie

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010  15


weitere Helferproteine. So sorgen sie da­ der Evolution gelöst wurde. Doch auch sie mit technischen Verfahren effizienter
FORSCHUNG AKTUELL

für, dass Schlüsselreaktionen der Anti­ wir können davon lernen. Antikörper als bisher zu erzeugen und damit die
körperproduktion schneller ablaufen. stellen mittlerweile eine der wichtigsten Entwicklung neuer Behandlungsmetho­
Die neuen Einsichten in die mole­ Klassen von Diagnostika und Therapeu­ den erheblich zu beschleunigen.
kularen Mechanismen zur Qualitätskon­ tika dar, beispielsweise in der Krebs­
trolle von Antikörpern veranschaulichen therapie. Dank Erkenntnissen aus der Matthias Johannes Feige promoviert bei Johan­
einmal mehr, wie elegant und effizient Grundlagenforschung könnte es viel­ nes Buchner, der Professor für Biotechnologie
ein komplexes biologisches Problem in leicht schon in naher Zukunft gelingen, an der Technischen Universität München ist.

Halbleitertechnik

Meilenstein für grüne Leuchtdioden


Bisher erzeugen Leuchtdioden grünes Licht nur indirekt und deshalb wenig effizient.
Mit einem Trick gelang nun die Züchtung von Kristallen aus Zink­oxid, die diesen
Mangel beheben und damit den Weg zu noch sparsameren Lampen öffnen könnten.

Von Detlef Klimm, Detlev Schulz Verlagerung zur kurzwelligen Seite hin. optoelektronischen Bauteile noch daran,
und Steffen Ganschow Glühlampen haben allerdings den Nach­ dass ihr Licht eigentümlich kalt wirkt.
teil, dass sie erhebliche Anteile der Strah­ Wohl niemand würde es deshalb gern

S eit etwa fünf Milliarden Jahren ver­


sorgt die Sonne die Erde mit Licht-
und Wärmestrahlung. Ihre Licht­in­ten­
lung im unsichtbaren ultravioletten (UV)
oder infraroten (IR) Spektralbereich ab­
geben. So verschwenden sie einerseits
zur Wohnraumbeleuchtung verwenden.
Das liegt an der spektralen Zusammen­
setzung dieser Strahlung: Bei ihr stehen
sität als Funktion der Wellenlänge ent­ Energie, weshalb die Europäi­sche Union die Grundfarben Rot, Grün und Blau
spricht der eines schwarzen Strahlers mit ihre Abschaffung bis 2012 beschlossen nicht in demselben »ausgewogenen« Ver­
einer Temperatur von etwa 5800 Kelvin. hat; zum anderen ist die erzeugte Abwär­ hältnis wie beim Sonnenlicht.
Wir Menschen, die wir uns im Verlauf me oft sogar lästig – was jeder weiß, der Wirklich effizient können Leucht­
der Evolution den irdischen Bedingun­ sich im Hochsommer schon einmal in dioden derzeit nur rotes Licht erzeugen.
gen angepasst haben, nehmen solches der Leuchtenabteilung eines Waren­ Sogar Laser lassen sich für diesen Spek­
Licht als weiß wahr. Auch künstliche Be­ hauses umgesehen hat. tralbereich auf der Basis von Mischkris­
leuchtung empfinden wir dann als ange­ Nichtthermische Quellen wie Leucht­ tallen der Halbleiter Galliumarsenid und
nehm, wenn sie das Sonnenspektrum stoffröhren oder Energiesparlampen ver­ Indiumphosphid bauen. Auch blaue
möglichst gut nachbildet. meiden diesen Nachteil, indem sie fast Leuchtdioden gibt es inzwischen. Die ja­
Eine Glühlampe, die ebenfalls als nur im sichtbaren Spektralbereich zwi­ panische Elektronikfirma Nichia konnte
schwarzer Strahler fungiert, wenn auch schen 400 und 800 Nanometern emit­ sie auf der Grundlage von Gallium-Indi­
mit tieferer Temperatur, kommt diesem tieren. Allerdings müssen sie den betref­ um-Nitrid im Jahr 1993 erstmals her­
Ideal recht nahe. Zwar ist ihr Spektrum fenden Abschnitt des Sonnenspektrums stellen. Die Energieeffizienz dieser blau­
gegenüber dem der Sonne etwas in den hinreichend gut nachbilden, damit wir en Leuchtdioden ist aber sehr viel gerin­
langwelligen Bereich verschoben, doch ihr Licht als angenehm empfinden. Der­ ger als bei rot emittierenden LEDs.
stört uns das subjektiv weniger als eine zeitige Energiesparlampen können das Im so wichtigen grünen Spektralbe­
schon recht gut. Dabei erreichen sie ge­ reich sieht es noch schlechter aus. Der
genüber konventionellen Glühbirnen et- grüne Anteil von heutigen weißen
Detlef Klimm

1,0 wa die fünffache Lichtausbeute. Leucht­ Leuchtdioden wird erst nachträglich


di­oden (LEDs) bieten eine noch höhere durch Leuchtstoffe (»Phosphore«) aus
Energieeffizienz, was zum Beispiel mo­ blauem Licht erzeugt. Ein Grund für
relative Intensität

derne Fahrrad-Frontscheinwerfer an­ diesen unbefriedigenden Zustand ist der


schaulich belegen. Doch kranken solche Mangel an geeigneten Halbleitern. So
emittiert Galliumnitrid zwar im Grünen,
zersetzt sich aber beim Erhitzen unter
Abgabe von Stickstoff. Nun beruhen die
Das menschliche Auge ist an den sichtbaren meisten Kristallzüchtungsverfahren da­
UV IR Bereich des Sonnenspektrums angepasst. rauf, dass die betreffende Substanz in
Künstliche Lichtquellen müssen ihn mög- einem Tiegel bis über ihren Schmelz­
0,0
200 400 600 800 1000 1200 lichst getreu reproduzieren, um als natürlich punkt erhitzt und dann langsam von ei­
Wellenlänge in Nanometern empfunden zu werden. ner Seite her abgekühlt wird. Vorausset­

16 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010


0 Aktuell
Schmaler Grat
Logarithmus des Sauerstoffdrucks in Bar
Luft
zwischen Verbrennung und Zersetzung

ZnO(flüssig)
IrO2 Ir
ZnO(fest) Dieses Phasendiagramm zeigt die Stabilitätsbereiche und Zu-
O2 standformen von Iridium, Zink und ihren Oxiden in Abhängig-
C
keit vom (hier logarithmisch dargestellten) Sauerstoffdruck
–5
und der Temperatur. In den grauen Regionen reagiert entwe-
Argon der Iridium zum Dioxid, oder Zinkoxid zerfällt zu Zink und

g)
99,999 % Sauerstoff. Der Bereich dazwischen eignet sich jedoch zur

i
rm
Züchtung von Zinkoxidkristallen aus der Schmelze (blauer

sfö
(ga
Pfeil) in einem Iridiumtiegel. Kohlendioxid als Schutzgas lie-

Zn
fert durch seine temperaturabhängige Zersetzung bei allen
–10 Temperaturen genau so viel Sauerstoff, dass Iridium nicht ver-
Detlef Klimm

0 500 1000 1500 2000


brennt und Zinkoxid nicht zerfällt, was in hochreinem Argon
Temperatur in Grad Celsius
passieren würde.

zung dafür ist natürlich, dass der Halb­ muss jedoch zugegen sein, weil Zinkoxid zum Beispiel enthält 21 Prozent Sauer­
leiter auch im geschmolzenen Zustand sonst gemäß der Gleichung stoff, was einem Sauerstoffdruck von 0,21
stabil bleibt. Außerdem braucht man ein ZnO Zn + ½ O2 Bar entspricht. Laut Phasendiagramm ist
Tiegelmaterial, das dem thermischen in seine Elemente zerfällt. unter diesen Bedingungen zwar das Zink­
und chemischen Angriff der Schmelze Bei anderen Oxiden mit sehr hohem oxid bis über seinen Schmelzpunkt hi­
widersteht. Schmelzpunkt (beispielsweise Rubin und naus beständig; doch das Iridium ver­
Galliumnitrid erfüllt diese Bedingun­ Saphir oder mit Neodym dotierter Yttri­ brennt bei Temperaturen unterhalb von
gen nicht. Allerdings gibt es einen mög­ um-Aluminium-Granat für Laser) die­ 1000 Grad Celsius zum Dioxid.
lichen Ersatz. Zinkoxid (ZnO) hat ganz nen Tiegel aus Iridium als Behälter für Das für Kristallzüchtungsprozesse oft
ähnliche elektronische Eigenschaften und die Züchtung von Einkristallen. Dieses als Schutzgas verwendete hochreine Ar­
kann deshalb auch im grünen Spektral­ Edelmetall steht neben Platin in der 8. gon würde das zwar verhindern. Aber die
bereich emittieren. Erste LEDs aus die­ Nebengruppe des Periodensystems, hat verschwindende Menge Sauerstoff, die es
sem Material, wenngleich noch mit ge­ aber den sehr viel höheren Schmelz­ als Restverunreinigung enthält, wäre zur
ringer Effizienz, wurden 2005 in Japan punkt von 2446 Grad Celsius. Dafür ist Stabilisierung des Zinkoxids bei hohen
entwickelt. Auch Zinkoxid hat jedoch ei­ es gegenüber Sauerstoff allerdings erheb­ Temperaturen nicht ausreichend: Der
nen Nachteil: Einkristalle zur Herstel­ lich empfindlicher: Beim Erhitzen an der Halbleiter würde sich oberhalb von 1900
lung von Wafern – jenen Scheiben, auf Luft verbrennt es zum Oxid. Deshalb Grad Celsius zersetzen. Deshalb kann
denen man durch Abscheidung dotierter schien es bisher unmöglich, Iridiumtie­ man Zinkoxid nicht ohne Weiteres in Iri­
(mit Fremdatomen versehener) Schich­ gel auch zur Züchtung von Zinkoxidkris­ diumtiegeln schmelzen.
ten die Dioden erzeugt – werden derzeit tallen aus der Schmelze zu verwenden. Es gibt jedoch einen Ausweg, den wir
industriell ausschließlich aus alkalischen entdeckt haben. Tatsächlich ist er ebenso
wässrigen Lösungen nach dem so ge­ Zwischen Skylla und Charybdis einfach wie effektiv: Man verwendet
nannten Hydrothermal-Verfahren unter Der Blick auf das Phasendiagramm für Kohlendioxid als Schutzgas. Es bewahrt
hohen Temperaturen und Drücken er­ das System Iridium-Zink-Sauerstoff das Iridium bei tiefen Temperaturen vor
zeugt. Das führt unweigerlich zum Ein­ macht jedoch klar, dass der Schein trügt. Oxidation. Bei zunehmender Erwär­
bau geringer Anteile des Lösungsmittels Dieses Diagramm zeigt die Stabilitäts­ mung aber spaltet es sich gemäß
in den wachsenden Kristall – was für bereiche und Zustandsformen der bei­ CO2 CO + ½ O2
elektronische Materialien mit höchsten den Metalle in Abhängigkeit vom Sauer­ in Kohlenmonoxid und Sauerstoff auf.
Reinheitsanforderungen kritisch ist. stoffdruck und von der Temperatur Dadurch erzeugt es bei jeder Temperatur
Eigentlich sollten sich Zinkoxidkris­ (Grafik oben). Es enthält zwar Bereiche, genau so viel Sauerstoff, dass einerseits
talle auch aus der Schmelze ziehen las­ in denen entweder Iridium oxidiert oder das Iridium nicht angegriffen wird und
sen; denn die Substanz ist bei der dafür Zinkoxid in metallisches Zink und Sau­ andererseits das Zinkoxid nicht zerfällt:
nötigen hohen Temperatur sehr wohl be­ erstoff zerfällt. Dazwischen existiert aber Die von ihm quasi automatisch pro­
ständig. Als Stolperstein erweist sich in ein breiter Korridor moderater Bedin­ duzierte Sauerstoffkonzentration (grüne
diesem Fall jedoch der Behälter: Bisher gungen, unter denen das Iridium des Kurve in der Grafik oben) verläuft voll­
ließ sich kein geeignetes Material dafür Tiegels im Gleichgewicht mit flüssigem ständig innerhalb des Korridors, in dem
finden. Zinkoxid schmilzt erst bei 1975 oder festem Zinkoxid vorliegt. Dort die beiden Substanzen stabil sind.
Grad Celsius. Bei dieser Temperatur aber kann bei 1975 Grad Celsius der ge­ Damit ist der Weg frei für die Ent­
sind viele gebräuchliche Tiegelmateri­ wünschte Kristallzüchtungsprozess statt­ wicklung einer großtechnisch einsetzba­
alien wie Platin selbst schon flüssig. Alle finden – zumindest im Prinzip. ren Methode zur Züchtung von Zink­
anderen bekannten Stoffe mischen sich Es gibt jedoch einen Haken. Leider oxid-Einkristallen aus der Schmelze. In
entweder – wie feuerfeste Keramiken – existiert kein Sauerstoffdruck, bei dem so­ kleinem Umfang wird das Verfahren be­
mit geschmolzenem Zinkoxid oder ver­ wohl Zinkoxid als auch Iridium über den reits praktisch angewendet. Dabei liefert
brennen – wie Graphit und Wolfram – gesamten Temperaturbereich bis 1975 es eine Kristallqualität, welche die Her­
in Anwesenheit von Sauerstoff. Dieser Grad Celsius chemisch stabil sind. Luft stellung von Wafern erlaubt. Solche Wa­

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010  17


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Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH | Slevogtstraße 3–5 | 69126 Heidelberg | Telefon 06221 9126-600 | Telefax 06221 9126-751 | www.spektrum.de
Geschäftsführer: Markus Bossle, Thomas Bleck | Amtsgericht Mannheim | HRB 338114 | Abon­nementsverwaltung: Zenit Pressevertrieb GmbH | Julius-Hölder-Str. 47
70597 Stuttgart | Vertretungsberechtigter: Uwe Bronn
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auch kommerziell an – für Forschungs­


zwecke in wissenschaftlichen Einrichtun­
gen oder Entwicklungslabors von Unter­
nehmen. Zwar konnten noch keine
Leuchtdioden daraus gefertigt werden.
Doch ist es immerhin bereits gelungen,
dotiertes Zinkoxid einkristallin darauf
abzuscheiden. Die Chancen stehen dem­
nach gut, dass weiße LEDs demnächst
auch einen adäquaten Anteil an genuin
grünem Licht erzeugen und die Basis
von Energiesparlampen bilden, die noch
weniger Strom verbrauchen und auch
nicht wie die heutigen giftiges Quecksil­
ber enthalten.
Detlef Klimm

Detlef Klimm ist promovierter Kristallograf und


Privatdozent an der Hochschule für Technik und
Wirtschaft in Berlin. Auch Detlev Schulz hat in
Dieser Zinkoxidkristall mit einem Durchmesser von 33 Millimetern wurde durch Erstarrung Kristallografie promoviert, während Steffen Gan­
aus der Schmelze im Iridiumtiegel hergestellt. Er ist nicht ganz perfekt: Durch Spannungen schow Physiker ist. Alle drei sind wissenschaft-
auf Grund sehr hoher Temperaturgradienten im Tiegel sind am Rand Risse entstanden. Durch liche Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Kristall-
Optimierung des Temperaturfelds in der Züchtungsapparatur sollte sich dieses Problem je- züchtung in Berlin, Klimm als Leiter der Themen-
doch lösen oder zumindest verringern lassen. gruppe Zinkoxid.

Nanophotonik Diesen Artikel können Sie als Audiodatei beziehen; siehe www.spektrum.de/audio

Molekül steuert Lichtstrahl


Forschern in der Schweiz ist es gelungen, ein einzelnes Molekül als Transistor für Licht einzusetzen.
Damit haben sie einen Prototyp für optische Schaltkreise im Nanobereich geschaffen.

Von Stefan Maier Zwar steckt das Gebiet noch in den währten Siliziumtransistors? Die Antwort
Kinderschuhen. Doch nun hat eine ersieht man aus der Entwicklung der

D as erste Jahrzehnt des neuen Cen­


tenniums ist kaum vorüber, und
schon machen sich Wissenschafts­his­
Gruppe von Forschern am Laboratorium
für Physikalische Chemie der Eidgenös­
sischen Technischen Hochschule Zürich
­Taktraten von PCs. Während sich die
­Arbeitsgeschwindigkeit der Prozessoren,
ausgedrückt in Megahertz und später Gi­
toriker auf die Suche nach Leitmotiven. (ETHZ) einen wichtigen Schritt auf gahertz, noch bis vor einem Jahrzehnt
Als wichtigste Errungenschaft des 20. dem weiten Weg zur Realisierung der Vi­ regelmäßig in kurzen Abständen verdop­
Jahrhunderts erscheint im Rückblick die sion getan. Vahid Sandoghdar und sei­ pelte, hat sich dieser Anstieg letzthin
Mikroelektronik, die mit ihrem zentra­ nen Kollegen ist es gelungen, einen Tran­ deutlich verlangsamt. Dafür gibt es meh­
len Element, dem Transistor, innerhalb sistor für Laserstrahlen zu entwickeln, rere Gründe, unter anderem die Hitze­
kurzer Zeit unsere Welt verändert hat. der nur aus einem einzigen Molekül be­ entwicklung von Chips, die aus einer
Eine nicht weniger bedeutende Rolle steht (Nature, Bd. 460, S. 76). In der wachsenden Zahl immer kleinerer Tran­
könnte im neuen Jahrhundert die Nano­ vorliegenden Version eignet er sich zwar sistoren bestehen. Um dennoch schnelle­
photonik spielen. Angesiedelt im Grenz­ noch nicht zur Anwendung in optischen re Computer anbieten zu können, setzen
gebiet zwischen Physik, Materialwissen­ Schaltkreisen, die es im Nanoformat bis­ die Chiphersteller daher seit mehreren
schaften und Elektrotechnik, macht sie her ohnehin nicht gibt; doch ist er ein Jahren auf Rechner mit zwei, vier oder
sich anheischig, winzig kleine Schalt­ hervorragendes Modellsystem für die gar acht Zentraleinheiten statt nur einer.
kreise nicht für elektrische Ströme, son­ weitere Erforschung der Möglichkeiten, Die Koordination dieser Prozessoren
dern für Licht zu liefern, welche die heu­ Lichtstrahlen mit einzelnen Molekülen erfordert aber ein dichtes sie verbinden­
tigen Halbleiterchips in Sachen Arbeits­ zu steuern. des Leitungsnetz. Und genau hier tritt
geschwindigkeit weit in den Schatten Wieso bemühen sich Wissenschaftler ein neues Problem auf: Je dünner die
stellen würden. überhaupt um die Ablösung des altbe­ Drähte zwischen den Zentraleinheiten

20 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010


@
Aktuell Aktuell

sind, desto schlechter leiten sie den der Stromfluss zwischen der »Quelle«
Strom, weil der elektrische Widerstand, (source) und dem »Abfluss« (drain) durch
aber auch die Kapazität mit abnehmen­ eine am »Gatter« (gate) angelegte Span­
dem Querschnitt steigt. Die Nanophoto­ nung gesteuert.
nik weist da einen ebenso radikalen wie
eleganten Ausweg: Statt Elektronen sol­ Farbstoff als Schalter
len Photonen, also Lichtteilchen, zur In­ Bei Sandoghdar übernimmt nun ein ein­
formationsübertragung dienen. Im grö­ zelnes Farbstoffmolekül die Aufgabe des
ßeren Maßstab hat das ja schon hervor­ Transistors. Es schwächt oder verstärkt
ragend geklappt – man denke nur an die einen darauf fokussierten Laserstrahl –
Glasfaserkabel, die heute beispielsweise nennen wir ihn den Informationsstrahl –
Fernsehbilder und die Datenströme des beim Hindurchtreten. Das geschieht in wichtigeonlineadressen
Internets höchst effizient und mit hoher Abhängigkeit von der Stärke eines zwei­
Geschwindigkeit übermitteln. ten Strahls, der ebenfalls auf das Molekül
Optimal wäre es natürlich, auch trifft und dessen energetischen Zustand
Schalt­elemente zu verwenden, die mit beeinflusst. Dadurch ändert er die Fähig­
Pho­tonen statt Elektronen arbeiten. keit des Farbstoffs, den Informationsstrahl CONTOO
Zum einen entfiele dann die Umwand­ durch Absorption von Photonen zu ver­ Das Konferenzportal zur Organisation, Verwaltung
lung der kodierten Informationen von schlucken oder umgekehrt durch Emis­ und Präsentation wissenschaftlicher Tagungen
den Lichtsignalen auf den Leiterbahnen sion von Lichtteilchen zu verstärken. www.contoo.de
in die Elektronenströme innerhalb der Die Forscher von der ETHZ verwen­
Recheneinheiten. Zum anderen eignen deten ein Molekül aus einer Klasse von
sich Photonen vermutlich besser zum Verbindungen, die heute schon in vielen Managementwissen
Bau der viel beschworenen Quanten­ Bereichen von Wissenschaft und Tech­ per Fernlehre kostengünstig
computer, deren Leistungsfähigkeit fast nik zum Einsatz kommen und sich ortsunabhängig erwerben
ins Unermessliche ginge. Deshalb er­ durch eine Eigenschaft auszeichnen, die Qualitätsmanager, Qualitätsbeauftragter
scheint ein Transistor für Licht höchst als Fluoreszenz bezeichnet wird: Wenn www.cqa.de
erstrebenswert. sie ein Photon absorbieren, senden sie
Die grundlegende Aufgabe eines sol­ wenige Nanosekunden später ein Licht­
chen Bauteils besteht darin, ein Signal quant etwas größerer Wellenlänge aus – Kernmechanik
entweder zu verstärken oder abzuschwä­ die Energiedifferenz wird in Schwin­ Kernstrukturen + Dipolmomente
chen. In der Elektronik ist ein Transistor gungen des Moleküls und somit Wärme Neutrino-Quantengravitation
daher im Prinzip ein durch einen Strom umgewandelt. Zum Beispiel strahlen sol­ Kernmechanische Chemie
oder eine Spannung steuerbarer Wider­ che Substanzen nach Anregung mit ei­ www.kernmechanik.de
stand. Bei seiner gängigen Variante wird nem grünen Laserstrahl rotes Licht ab,
dessen Photonen langwelliger und folg­
lich energieärmer sind. SciLogs
Technische Universität München

Die größte deutschsprachige Webseite


In ihrem Experiment betteten San­
mit Wissenschaftsblogs
doghdar und seine Kollegen den Fluo­
www.scilogs.de
reszenzfarbstoff in einen Kristall ein. Die
Moleküle waren dadurch so verdünnt,
dass sie sich mit Hilfe eines Mikroskops FASZINATION WELTALL !
einzeln ansprechen ließen. Damit der Leuchtglobus »Der Mond«, Ø 26cm, EUR 89,95
Transistor wie vorgesehen funktionierte, Leuchtglobus »Sternenhimmel«, Ø 34cm,
durften die Energiezustände des Farb­ EUR 119,95
stoffs nur von den beiden Laserstrahlen www.weltraum-versand.de
und nicht auch von thermischen
Schwingungen beeinflusst werden. Des­
halb kühlten die Forscher ihren Kristall
fast auf den Temperaturnullpunkt von
– 273,16 Grad Celsius ab.
Das Farbstoffmolekül verfügt über
vier Energieniveaus, die für die Transis­ Hier können Sie den Leserinnen und Lesern von
Spektrum der Wissenschaft Ihre WWW-Adresse mitteilen.
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Künstlerische Darstellung eines photoni­ maximal fünfzeiligen Eintrag, der zusätzlich auf der
schen Chips, in dem einzelne fluoreszieren- Internetseite von Spektrum der Wissenschaft erscheint.
de Moleküle – gezeigt ist hier ein polyzyk­ Mehr Informationen dazu von
lischer aromatischer Kohlenwasserstoff – als
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Transistoren fun­gieren. Susanne Förster
Telefon 0211 61 88-563
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010  E-Mail: susanne.foerster@iqm.de 21
torfunktion entscheidend sind (siehe Kas­
FORSCHUNG AKTUELL

ten rechts). Indem ein Elektron zwischen


Springers Einwürfe ihnen wechselt, kommt es zur Absorp­
tion oder Emission von Photonen ver­
schiedener Energie.
Ist Sex im Alleingang besser? Der Informationsstrahl ist grün und
hat eine Wellenlänge von 590 Nanome­
Ein Fadenwurm als Kronzeuge tern. Trifft er auf das Farbstoffmolekül,
hebt er ein Elektron vom Grund- in den
tiefsten elektronischen Anregungszustand
Manches Wunder der Natur ist so unscheinbar, dass wir es wohl nie im Fernsehen an. Dieser sei hier mit der Ziffer 2 be­
zu Gesicht bekommen werden. Zum Beispiel Caenorhabditis elegans (griechisch für: zeichnet, während das Basisniveau die
zierliches neues Stäbchen). Das ist ein winziger, nur einen Millimeter langer Faden- Nummer 1 erhalten soll. Das angeregte
wurm, den Biologen wegen seiner einfachen Struktur gern als Modellorganismus für Elektron bleibt nur rund zehn Nanose­
ihre Forschungen verwenden. kunden im Zustand 2. Dann sendet es
Einfach ist er, aber nicht primitiv. So vermehrt sich das evolutionär höchst erfolg- ein langwelligeres rotes Photon aus und
reiche und entsprechend weit verbreitete Würmchen nicht etwa ungeschlechtlich – fällt dabei auf ein Niveau, das nur wenig
indem es durch simple Teilung oder Knospung identische Kopien seiner selbst er- über dem Grundzustand liegt. Durch die
zeugt –, sondern im Prinzip sexuell wie wir auch: durch Vereinigung von Ei- und Restenergie wird das Molekül zu Schwin­
Samenzellen. Allerdings macht es sich das Geschlechtsleben einfacher als wir und gungen angeregt, die aber sehr schnell
die meisten komplexeren Tiere, die entweder als Männchen oder als Weibchen chro- abklingen. Danach liegt das Molekül
nisch unerfüllt durchs Leben schweifen. Dieser Wurm ist mit Vorliebe Hermaphrodit. wieder im Grundzustand vor, und der
Das heißt, die meisten Exemplare von C. elegans tragen sowohl Samen- als auch Ei- Vorgang kann von vorn beginnen.
zellen in sich. Deshalb können sie sich als echte Zwitter die umständliche Partner- Dieser Prozess wiederholt sich viele
suche ersparen; durch Selbstbefruchtung zeugen und gebären sie ihre Nachkommen. Male pro Sekunde. Dabei verliert der grü­
ne Informationsstrahl, da aus ihm Pho­
Aber Inzucht ist in ihrem Fall kein Muss. Gelegentlich entstehen Fadenwurm-Männ- tonen entnommen und als rotes Licht
chen, die dann mangels eigener Eier die des nächstbesten Hermaphroditen begatten. wieder ausgesendet werden, an Intensität:
Damit ist C. elegans das ideale Tiermodell zur Klärung der Frage: Warum hat die Evo- Er schwächt sich bei dem Kristall von
lution zwei separat verkörperte Geschlechter hervorgebracht, statt es sich mit Selbst- Sandoghdar und Kollegen um etwa sie­
befruchtung bequem zu machen? Konkret: Was nützen der Fadenwurmpopulation ben Prozent ab.
die eingestreuten Männchen – auf den ersten Blick pure Minusposten, die für die
Produktion von Nachwuchs auf die Hilfe anderer angewiesen sind? Wegen Unterbesetzung
Wie den Biologen um Levi T. Morran an der University of Oregon in Eugene jetzt geschlossen
experimentell zeigen konnte, hat der Fremdsex tatsächlich Vorteile, die den repro- Entscheidend für die Transistorfunktion
duktiven Extraaufwand rechtfertigen (Nature, Bd. 462, S. 350). Die Forscher kreierten ist nun, dass sich der Grad dieser Ab­
durch Genmanipulation Wurmpopulationen, die entweder ausschließlich Selbst- schwächung durch einen zweiten Strahl
oder nur Fremdbefruchtung betrieben. Dann zwangen sie die armen Würmer, sich steuern lässt. Dieser war beim Experi­
über raues Terrain zu quälen, oder setzten sie schädlichen Bakterien aus. Und siehe ment der ETHZ-Forscher zerhackt: Die
da: Nach 40 bis 50 Generationen erwies sich, dass die Fremdgänger deutlich überle- Photonen wurden alle 13 Nanosekun­
bensfähiger waren als die sexuell selbstgenügsame Vergleichspopulation. den in 50 Pikosekunden langen Pulsen
Das Resultat wurde freilich in einer künstlich sehr unwirtlich gestalteten Umwelt abgegeben. Zudem bestand der Steuer­
gewonnen. Unter halbwegs konstanten Bedingungen rentiert sich der Hermaphrodi- strahl aus etwas höherenergetischen Pho­
tismus. Da kann man, passend zur trüben Jahreszeit, schon ins Grübeln kommen. Wie tonen einer Wellenlänge von 582 Nano­
schwer fällt uns modernen Menschen doch die Suche nach Liebe und partnerschaft- metern und spielte damit ins Bläuliche.
lichem Glück! Wie frustrierend ist oft der Besuch von Kneipen und Discos für bin- Auf diese Weise konnte er Elektronen
dungswillige Singles! Die Partnersuche per Internet spart zwar Zeit, kann aber auch aus dem Grundzustand auf ein Niveau
nicht garantieren, dass wir je das Glück zu zweit finden. befördern, das oberhalb desjenigen lag,
Würde sich da nicht der Versuch lohnen, das mühsame Verfahren abzukürzen? auf das sie vom Informationsstrahl ange­
Wäre es nicht einfacher, die Menschen künftig biotechnisch mit beiderlei Geschlechts- hoben wurden. Dieses Niveau sei hier
merkmalen zu versehen? Psychoanalytiker müssten dann nicht mit 3 bezeichnet. Im Grunde unter­
länger über den Penisneid bei der Frau und den Gebärneid beim schied es sich nur dadurch vom Zustand
Mann spekulieren. So entstünde eine Gesellschaft aus selbstzu- 2, dass das Molekül zusätzlich Schwin­
friedenen, keineswegs zur Kinderlosigkeit verdammten Singles. gungen ausführte. Diese klangen wiede­
Doch so verlockend diese schöne neue Welt auch scheinen rum sehr schnell ab. Deshalb gelangte
mag – ich persönlich könnte gern darauf verzichten. Wie arm das angeregte Elektron im Nu in den
wäre doch ein Leben ohne die Spannung, die aus dem Gegen- Zustand 2, wo es wiederum für zehn Na­
satz der Geschlechter und der Anziehungskraft zwischen Mann nosekunden verharrte.
Michael Springer
und Frau erwächst. Was ist die Konsequenz? Während sich
das Elektron im Niveau 2 aufhält, bleibt

22 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010


Aktuell

e
lan
fP
(Au
Funktionsweise des Molekültransistors
Interaktives Lernspiel
zu Astronomie und Raumfahrt
ab 10 Jahren
Der als Transistor dienende Fluores-

Spektrum der Wissenschaft, nach: J. Hwang et al., Nature 460, 76-80 (2009)
Abenteuer
Zustand 3
zenzfarbstoff hat vier Zustände, die für
seine Funktion entscheidend sind. Nor-
malerweise schwächt er den grünen In-
Zustand 2 im Weltall
formationsstrahl durch Absorption, bei
der ein Elektron vom Grundzustand in INFO-
Programm
gemäß
den Zustand 2 angehoben wird, von dem § 14
JuSchG

Flu
es mit zeitlicher Verzögerung durch Flu- herausgegeben von

Informationsstrahl

ore
oreszenz über Zustand 4 in den Grund-

Steuerstrahl

zen
zustand zurückkehrt. Diese Schwächung

z
in Kooperation mit

kann der blaue Steuerstrahl jedoch ver-


ringern oder sogar in eine Verstärkung
umwandeln, indem er seinerseits Elek-
tronen aus dem Grundzustand über den
Zustand 4
Zustand 3 in Zustand 2 befördert, von Softwarepreis CD.indd 1 29.10.2009 15:18:33 Uhr

dem sie dann durch stimulierte Emission strahlungsloser


Übergang
unter Aussendung grünen Lichts in den Grundzustand
Grundzustand zurückspringen.

der Grundzustand leer. Deshalb vermag zwischen Grundzustand und tiefstem


das Farbstoffmolekül kein Photon aus angeregtem elektronischem Niveau und
dem grünen Spektralbereich mehr zu ab­ damit die Fähigkeit des Moleküls, den
sorbieren. Der Informationsstrahl kann Informationsstrahl entweder zu absor­
das Molekül folglich ungehindert durch­ bieren oder zu verstärken.
dringen – es wirft quasi keinen Schatten. Zwar war die Spanne, über die sich
Weil aber der Steuerstrahl bei jedem Puls die Intensität verändern ließ, beim Züri­
mit umso höherer Wahrscheinlichkeit das cher Experiment mit maximal acht Pro­
Elektron aus dem Grundzustand des zent nicht besonders groß. Die Methode
Farbstoffmoleküls entfernt, je stärker er sollte jedoch auch mit Informations­
ist, lässt sich durch Steigerung seiner In­ strahlen viel geringerer Intensität funkti­
tensität die Absorption des Informations­ onieren, die sich dann weitaus stärker
strahls immer mehr verringern und beeinflussen ließen. Im Grenzfall könnte
schließlich auf null drücken. es auf diese Weise sogar gelingen, einzel­
Doch das ist noch nicht alles. Befin­ ne Photonen zu schalten – eine Grund­
det sich ein Elektron im Niveau 2 und voraussetzung für Quantencomputer.
trifft ein Photon des grünen Informati­ Natürlich bleibt abzuwarten, ob sich
onsstrahls auf das zugehörige Molekül, ein solcher Transistor auch bei höheren
kommt es zu einer so genannten stimu­ Temperaturen realisieren lässt. Immer­
lierten Emission. Das angehobene Elek­ hin haben die Forscher um Sandoghdar
tron wird zum Rücksprung in den bewiesen, dass die Manipulation von
Grundzustand veranlasst – unter Abgabe Lichtstrahlen mit einzelnen Molekülen
eines Lichtquants aus dem grünen Spek­ möglich ist, und damit den Grundstein
tralbereich. Auf dem gleichen Prinzip be­ zur optischen Informationsverarbeitung
ruht übrigens der Laser. Im Endeffekt auf kleinstem Raum gelegt. Trotzdem
wird also ein Photon des Steuer- in eines sind noch viele Herausforderungen zu
des Informationsstrahls verwandelt und meistern – darunter die Entwicklung
dieser entsprechend verstärkt – laut den winziger Leiterbahnen für Photonen.
Messungen der Züricher Forscher bei ih­ Aber das Jahrhundert hat ja erst ange­
rem Kristall um bis zu ein Prozent. fangen und den Forschern bleibt noch
Das Ergebnis ist ein optischer Transis­ reichlich Zeit, dafür zu sorgen, dass die
tor: Genauso wie im elektronischen Fall Nanophotonik vielleicht wirklich zur
die Steuerspannung die Ladungsträger­ zentralen Errungenschaft des neuen
dichte und somit den Widerstand in der Centenniums avanciert.
Bahn des Stroms zwischen Quelle und
Abfluss kontrolliert, beeinflusst hier Stefan Maier ist Professor für Physik am Imperial
der Steuerstrahl das Besetzungsverhältnis College in London.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010  23


Planetenatmosphären

Wenn die Atmosphäre


ins All entweicht
Die dünnen Lufthüllen um manche Planeten sind höchst fragile Gebilde,
denn Gase können auf vielerlei Wegen in den Weltraum verloren gehen. Nicht
nur für Erde, Venus und Mars ist dies ein Prozess mit gravierenden Folgen.

Von David C. Catling und Kevin J. Zahnle eine so dünne Atmosphäre besitzt. Jetzt aber

Z
fragen wir uns: Warum besitzt der Rote Planet
u den auffälligsten Eigenschaften überhaupt noch eine Atmosphäre? Stand für
des Sonnensystems gehört die Viel­ Titan während seiner Entstehungsgeschichte
falt planetarer Atmosphären. So er­ schlicht mehr Gas zur Verfügung, oder ist es
hitzt die Lufthülle der Venus die vielmehr Kallisto, der seine Atmosphäre im
Oberfläche des Planeten auf 460 Grad Celsius, Lauf der Zeit verlor? War Titans Lufthülle viel­
und der dort herrschende Druck ließe sich auf leicht früher noch dichter als heute? Wie
der Erde erst in über 900 Meter Wassertiefe konnte die Venus Stickstoff und Kohlendioxid
messen. Und das, obwohl beide Planeten ver­ an sich binden, während sie doch ihr Wasser

In Kürze gleichbare Größe und Masse besitzen. Etwa


denselben Umfang weisen auch die planeten­
großen Monde von Jupiter und Saturn auf,
verlor? War der Verlust von Wasserstoff mögli­
cherweise sogar eine Voraussetzung dafür, dass
auf der Erde komplexe Lebensformen entstan­
r  Viele der Gase, aus denen Kallisto und Titan. Doch Titans stickstoff­ den? Und wird sich unser Planet deshalb einst
sich die Atmosphären der reiche Lufthülle ist sogar dichter als die irdi­ in einen Zwilling der Venus verwandeln?
Erde und anderer Planeten sche, während Kallistos außerordentlich dünne Genau wie eine Rakete die so genannte
zusammensetzen, entwei- Atmosphäre kaum erwähnenswert ist. Worin Fluchtgeschwindigkeit besitzen muss, um das
chen mehr oder weniger liegen die Ursachen solcher extremen Unter­ Gravitationsfeld der Erde verlassen zu kön­
rasch ins All. Zu den Grün- schiede? Und wie ist es eigentlich um die Zu­ nen, müssen auch Atome und Moleküle diese
den dafür zählen ihre Wärme- kunft der irdischen Atmosphäre bestellt, die Minimalgeschwindigkeit erreichen, um in den
bewegung und chemische für unser Leben eine so zentrale Rolle spielt? Weltraum zu entkommen. Wenn dafür bei
Reaktionen, aber auch Zu einer Lufthülle gelangt ein Planet, wenn hohen Gastemperaturen schon die Wärmebe­
Einschläge von Kometen und aus seinem Inneren Dämpfe aufsteigen, wenn wegung der Moleküle ausreicht, sprechen For­
Asteroiden. er flüchtige Substanzen von abgestürzten Ko­ scher von thermischem Verlust oder ther­
r  Diese Verluste erklären meten und Asteroiden aufnimmt oder dank mischer Flucht. Vor allem in dieser Verlustart
viele Auffälligkeiten im seiner Schwerkraft Gase aus dem interplaneta­ scheint es auch begründet zu sein, dass unser
Sonnensystem, etwa die rischen Raum anzieht. Doch die Atmosphäre Sonnensystem mit atmosphärelosen Körpern
Röte des Planeten Mars und kann auch wieder verschwinden – unter Um­ durchsetzt ist. Bei diesen Himmelsobjekten
die Dichte der Lufthülle von ständen in einem einzigen kosmischen Augen­ übertrifft die Intensität der Sonneneinstrah­
Venus. Sie deuten auch blick. Zwar ist etwa auf der Erde die gegen­ lung einen bestimmten Grenzwert, der wiede­
darauf hin, dass die Erde wärtige Verlustrate der beiden leichtesten Gase rum von der Schwerkraft des jeweiligen Kör­
einst das Schicksal der gering: Bei Wasserstoff beträgt sie nur rund pers abhängig ist (siehe Grafik S. 26).
Venus mit ihrem galoppie- drei Kilogramm pro Sekunde, bei Helium sind Der thermische Verlust geht auf zweierlei
renden Treibhauseffekt es 50 Gramm. Über geologische Zeiträume Weise vonstatten. Beim Jeans-Verlust, benannt
teilen wird. hinweg ist aber auch dieses Heraussickern von nach dem englischen Astronomen James Jeans,
r  Der Verlust von irdischem Bedeutung: »Selbst ein kleines Leck kann ein der den Prozess im frühen 20. Jahrhundert
Wasserstoff könnte letztlich großes Schiff zum Sinken bringen«, sagte erstmals beschrieb, verdampft die Luft Atom
aber auch mit dafür verant- schon Benjamin Franklin. Und möglicherwei­ für Atom und Molekül für Molekül vom obe­
wortlich sein, dass sich vor se war die Verlustrate einst erheblich höher. ren Rand der Atmosphäre. In niedrigen Hö­
2,4 Milliarden Jahren Sauer- Das Wissen um die Vergänglichkeit von At­ hen werden die Teilchen noch von Kollisionen
stoff in der Erdatmosphäre mosphären hat unseren Blick auf das Sonnen­ aufgehalten, aber oberhalb einer bestimmten
ansammelte. system verändert. So versuchten Forscher jahr­ Höhe, der so genannten Exobase – sie liegt im
zehntelang herauszufinden, warum der Mars Fall der Erde in etwa 500 Kilometer Höhe –,

24  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Astronomie & Physik

Vergangenheit: vor 3 Milliarden Jahren


Alfred T. Kamajian

Gegenwart: die Erde heute

Zukunft: in 3 Milliarden Jahren

Der Verlust mancher Gase und insbesondere von


Wasserstoff hat unseren Planeten verändert. Er zählt
möglicherweise sogar zu den Gründen dafür, dass
sich überhaupt Sauerstoff in der Atmosphäre an-
reichern konnte. In einigen Milliarden Jahren aber
werden die Ozeane austrocknen und Leben wird
allenfalls in den Polarregionen überdauern.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 25


Thermische Verluste: Entweichen aus dem planetarischen Teekessel
Eine Hauptursache für atmosphärische Verluste besteht in der Erwärmung von Gasmolekülen durch die Sonnenstrahlung. Dann
kann es infolge zweier unterschiedlicher Mechanismen zum Entweichen der Luft kommen.

Die Luft verdampft Molekül für Molekül Erwärmte Luftmassen strömen ab


Sind Atome und Moleküle erst einmal in der Exosphäre, hält die Von Sonnenstrahlung erwärmte Luft steigt nach oben und erreicht
schnellsten von ihnen nichts mehr davon ab, ins All zu entkommen. Fluchtgeschwindigkeit. Dieser hydrodynamische Verlust war vor
Dieser so genannte Jeans-Verlust ist wesentlich für das Entweichen allem in der Frühzeit der Erde von Bedeutung und verwandelte wohl
von Wasserstoff aus der irdischen Atmosphäre verantwortlich. auch die Venusatmosphäre in eine lebensfeindliche Umgebung.

Molekül
Exosphäre
George Retseck

Allerdings entgehen einige der Wasser- und


Methanmoleküle diesen Prozessen. Sie errei­
chen die Stratosphäre, zerfallen und geben den
Wasserstoff frei, der dann langsam nach oben
diffundiert, bis er die Exobase erreicht. Wieder
ein Teil davon schafft es dann ins Weltall, wie
extrasolare
Planeten der Halo aus Wasserstoffatomen rund um un­
seren Planeten belegt (Aufnahme rechts).
Die Temperatur in Höhe der irdischen Exo­
Erwärmung durch stellare Strahlung

Merkur
Venus
base schwankt typischerweise um 1000 Kelvin.
Mond Erde
Bei dieser Temperatur besitzen Wasserstoff­
Ganymed Mars atome im Mittel eine Geschwindigkeit von fünf
Io Jupiter Kilometer pro Sekunde, doch die Geschwindig­
Kallisto
Europa Saturn keitsverteilung umfasst auch viel schnellere
Asteroiden
Japetus Titan Atome. Manche von ihnen erreichen auch
Uranus Fluchtgeschwindigkeit, die in dieser Höhe 10,8
Charon
Triton Kilometer pro Sekunde beträgt, was 10 bis 40
Pluto Neptun
Prozent des gegenwärtigen Wasserstoffverlusts
der Erdatmosphäre erklärt. Auf dem Mond ge­
Himmelskörper Himmelskörper schieht Vergleichbares: Das Fehlen einer lu­
naren Atmosphäre lässt sich teilweise ebenfalls
Alfred T. Kamajian

ohne Atmo- mit Atmosphäre


sphäre
durch den Jeans-Verlust beschreiben, denn aus
Schwerkraft dem Mond­oberflächengestein freigesetzte Gase
können leicht ins All entweichen.
Statt Molekül für Molekül verloren zu ge­
Auffälliger Zusammenhang: ist die Luft so dünn, dass sie nur noch selten hen, kann erwärmte Luft aber auch in großen
Himmelskörper, die keine zusammenstoßen. Hier wird ein Atom oder Mengen abströmen. Absorbiert die Hochat­
Atmosphäre (mehr) besitzen, Molekül mit der notwendigen Geschwindig­ mosphäre ultraviolette Strahlung, erwärmt sie
sind eher starker Erwärmung keit durch nichts mehr vom Entweichen ins sich und dehnt sich aus, wobei Luftmassen in
ausgesetzt, üben aber nur All abgehalten. Richtung Weltall gedrückt werden. Dabei wer­
schwache Gravitation aus Dank seiner geringen Masse kann Wasser­ den sie allmählich beschleunigt, überschreiten
(links der Diagonale). Bei stoff die Schwerkraft eines Planeten zwar im die Schallgeschwindigkeit und erreichen
Welten mit Atmosphären Vergleich zu anderen Elementen am leich­ schließlich Fluchtgeschwindigkeit. Diesen so
verhält sich dies umgekehrt testen überwinden, doch zunächst muss auch genannten hydrodynamischen Verlust bezeich­
(rechts der Diagonale). er die Exobase erreichen. In der irdischen At­ nen Forscher in Analogie zum Sonnenwind –
mosphäre ist das ein langwieriger Prozess, geladene Teilchen, die von der Sonne in den
denn wasserstoffhaltige Moleküle gelangen interplanetaren Raum strömen – auch als pla­
meist nicht über die untersten Schichten der netarischen Wind. Besonders anfällig für diese
Atmosphäre hinaus. Wasserdampf kondensiert Verlustart sind Atmosphären mit hohen Was­
und regnet wieder auf die Oberfläche herab, serstoffanteilen. Strömt Wasserstoff nach au­
Methan oxidiert zu Kohlendioxid und Wasser. ßen, kann er auf seinem Weg schwerere Mole­

26  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Astronomie & Physik

küle und Atome mitreißen. Je schwerer diese gen terrestrischen Planeten möglicherweise
sind, in desto geringerem Umfang ist dies al­ wasserstoffreiche Atmosphären. Der Wasser­
lerdings der Fall, weshalb uns die gegenwärtige stoff könnte aus chemischen Reaktionen von
Zusammensetzung einer Atmosphäre zeigen Wasser mit Eisen stammen, aber auch von Gas
kann, ob ein solcher Prozess in der Vergangen­ aus der einstigen Gas- und Staubwolke, die Ur­
heit stattgefunden hat. sprung unseres Planetensystems war, und aus
Bei dem jupiterähnlichen Exoplaneten HD der Aufspaltung von Wassermolekülen durch
209458b stießen Astronomen tatsächlich auf die UV-Strahlung der Sonne. In der Frühphase
die typischen Anzeichen für einen hydrodyna­ des Sonnensystems stürzten erheblich mehr
mischen Verlust. Alfred Vidal-Madjar vom In­ Asteroiden und Kometen als heute auf die Pla­
stitut d’Astrophysique de Paris und seine Kol­ neten. Immer, wenn sie in einen Ozean ein­ Entweichende Wasserstoffatome
legen berichteten 2003 von Beobachtungen schlugen, füllte sich die Atmosphäre mit erscheinen auf diesem im
mit dem Weltraumteleskop Hubble. Sie bele­ Dampf. Dieser kondensierte zwar im Verlauf Ultravioletten aufgenommenen
gen, dass HD 209458b eine durch nach oben von Jahrtausenden und fiel als Regen zurück Bild der Nachtseite der Erde als
drückende Luftmassen aufgeblähte Atmo­ auf die Oberfläche. Doch zumindest die Venus rotes Glühen rund um den
sphäre aus Wasserstoff besitzt. Nachfolgende ist der Sonne so nah, dass optimale Bedin­ Planeten. Aufgenommen wurde
Messungen zeigten, dass die aufgeblähte Luft­ gungen für den hydrodynamischen Verlust das Foto im Jahr 1982 vom
hülle zudem Kohlenstoff und Sauerstoff ent­ herrschten. Weil sich der Wasserdampf lange in NASA-Satelliten Dynamic
hält. (In ihren tieferen Schichten hätten sich der erwärmten Atmosphäre hielt, konnte er Explorer I. Für den Streifen um
diese Elemente gar nicht entdecken lassen.) durch die Strahlung aufgespalten werden. den Nordpol und die schwach
Weil diese Atome eigentlich zu schwer sind, In den 1980er Jahren zeigte James F. Kas- leuchtenden Strukturen in
um solche Höhen zu erreichen, müssen sie ting, jetzt an der Pennsylvania State Univer­ Äquatornähe sind Sauerstoff und
vom Wasserstoff mitgerissen worden sein. sity, dass die Venus auf diesem Weg binnen Stickstoff verantwortlich.
einiger weniger zehn Millionen Jahre extrem
Die gesamte Atmosphäre entrissen viel Wasserstoff verloren haben könnte – eine
Der hydrodynamische Verlust erklärt wohl Menge, die dem Wasserstoffgehalt eines gan-
auch, warum die Astronomen keine großen zen Ozeans entspricht (siehe SdW 4/1988, S.
Gasplaneten finden, die auf erheblich engeren 46). Gemeinsam mit einem von uns (Zahnle)
Bahnen als HD 209458b um ihren Stern krei­ zeigte Kasting dann auch, dass der Wasserstoff
sen. Objekten, die weniger als etwa drei Milli- einen Großteil des Sauerstoffs mitreißen, das
onen Kilometer (rund die Hälfte des Bahn­ Kohlendioxid jedoch zurücklassen würde. Da­
radius von HD 209458b) von ihrem Stern mit aber fehlte Wasser, das eine wichtige Rolle
entfernt sind, entreißt der hydrodynamische bei chemischen Reaktionen spielt, in denen
Verlust innerhalb einiger Milliarden Jahre die aus Kohlendioxid und anderen Elementen Mi­
gesamte Atmosphäre. Von Gasplaneten bleibt neralien wie etwa Kalkstein entstehen. Koh­
dann nur ein kleiner, nicht beobachtbarer lendioxid wurde also nicht gebunden, sondern
Kern zurück. sammelte sich in der Atmosphäre an und
Hinweise auf planetarische Winde wie in machte die Venus zu einer extrem lebensfeind­
diesem Fall stärken die in den 1980er Jahren lichen Welt.
aufgekommene Idee, dass der hydrodyna­ Mars und Erde litten in geringerem Maß
mische Verlust wohl auch eine wichtige Rolle ebenfalls unter hydrodynamischem Verlust.
in der Frühzeit von Venus, Erde und Mars Leichte Isotope nämlich – die leichter verlo­
spielte. Darauf weisen drei wichtige Indizien ren gehen können – finden sich hier in relativ
hin. Das erste betrifft die Edelgase: Kommt es geringer Menge. In den Atmosphären der bei­
nicht zu Verlusten, müssten chemisch nicht den Planeten liegt das Verhältnis von Neon-
reagierende Gase wie Neon und Argon auf 20 zu Neon-22 um 25 Prozent unter dem so­
Dauer in der Atmosphäre verbleiben – die laren Wert. In der Marsatmosphäre ist ein
Häufigkeitsverteilungen ihrer Isotope sollten ähnliches Defizit an Argon-36 gegenüber Ar­
daher immer noch ihren ursprünglichen Wer­ gon-38 nachzuweisen. Und selbst die Isotope
ten entsprechen. Die wiederum können als von Xenon, dem von Schadstoffen abgesehen
ungefähr bekannt gelten, weil Sonne und Pla­ schwersten Gas in der Erdatmosphäre, zeigen
neten einst aus der gleichen Gaswolke entstan­ Spuren des hydrodynamischen Verlusts. Dies
den. Tatsächlich aber unterscheiden sich die wirft allerdings eine Frage auf. Wenn der hy­
beobachteten Häufigkeitsverteilungen von de­ drodynamische Verlustprozess sogar Xenon­
nen, die zu erwarten wären. atome betraf: Warum riss er dann nicht auch
Das zweite Indiz: Junge Sterne – und unse­ alles andere mit? Die Antwort steht bislang
NASA / University of Iowa

re Sonne bildete vermutlich keine Ausnahme – noch aus.


senden intensive ultraviolette Strahlung aus, Auch Titan verlor wahrscheinlich einen
die den hydrodynamischen Verlust angetrieben Großteil seiner Luft durch hydrodynamischen
haben könnte. Und drittens besaßen die jun­ Verlust. Beim Sinkflug der ESA-Sonde Huy­

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 27


Planetenatmosphären
Welche Gase können entkommen?
Erde Saturn
Jupiter
Uranus
Auch einen weiteren Schwachpunkt der
Neptun planetaren Magnetfalle nutzen Ionen aus. Die
meisten Magnetfeldlinien verlaufen von
Merkur einem magnetischen Pol zum anderen. Doch
Mars der Sonnenwind zieht die äußeren Feldlinien
noch weiter nach außen – sie krümmen sich
Mond Venus
nicht zum Planeten zurück, sondern sind zum
interplanetarischen Raum hin offen. Den Weg
Titan entlang dieser Linien können allerdings nur
Temperatur

die leichtesten Teilchen wie Wasserstoff- und


Heliumionen nehmen, weil sie natürlich den­
noch die Schwerkraft überwinden müssen.
Wasserstoff Der so entstehende geladene Teilchenstrom,
Helium
Wasser der polare Wind, ist für 10 bis 15 Prozent des
Pluto
Sauerstoff Wasserstoffverlusts und nahezu den gesamten

Alfred T. Kamajian
Kohlendioxid Heliumverlust der Erde verantwortlich.
Manchmal reißen die leichten Ionen auch
schwerere Exemplare mit, was möglicherweise
Schwerkraft
das Xenonrätsel löst. War der polare Wind
einst stärker, ist denkbar, dass er Xenonionen
Leichte Gase wie Wasserstoff gens durch die Atmosphäre des Saturnmonds mit ins All trug. Als eines der Indizien dafür
sind weniger stark an einen im Jahr 2005 stellten die Messinstrumente fest, gilt, dass die Isotopenverteilung von Kryp-
Himmelskörper gebunden als dass das Verhältnis von Stickstoff-14 zu Stick­ ton – das Gas ist leichter als Xenon und sollte
schwere wie Kohlendioxid. Ihre stoff-15 70 Prozent über dem irdischen Wert unter sonst gleichen Bedingungen daher an­
Anfälligkeit für den Jeans-Verlust liegt – ein Rätsel, denn schließlich unterschei­ fälliger für Verluste sein – nicht dieselben Auf­
hängt von der Temperatur (verti- den sich diese Isotope kaum in ihrer Anfällig­ fälligkeiten wie jene von Xenon aufweist. An­
kale Achse) am äußeren Rand keit für den hydrodynamischen Verlust. Falls ders als Xenon lässt sich Krypton nämlich
der Atmosphäre beziehungswei- die Atmosphäre Titans ursprünglich die gleiche nicht ionisieren und darum auch von stär­
se an der Oberfläche atmosphä- Stickstoffzusammensetzung besaß wie die ir­ keren polaren Winden nicht mitreißen.
reloser Körper sowie der Stärke dische, dürfte Titan jedenfalls gewaltige Stick­
der Schwerkraft (horizontale stoffverluste erlitten haben – ein Vielfaches der Der vollen Wucht des
Achse) ab. Himmelskörper rechts heute vorhandenen, immer noch großen Men­ Sonnenwinds ausgeliefert
der Linie für ein bestimmtes Gas ge. Vielleicht war seine Atmosphäre einst also Auf Mars und möglicherweise auf Titan ist
können dieses an sich binden. sogar dichter als heute, was die ganze Sache in­ ein dritter nichtthermischer Prozess am Werk.
Liegen sie links der Linie, ver- dessen nur noch verwirrender macht. Beim fotochemischen Verlust wandern Sauer­
lieren sie es. Mars etwa verliert Bei einigen Planeten, zu denen auch die stoff-, Stickstoff- und Kohlenmonoxidmole­
Wasserstoff und Helium, außer- heutige Erde gehört, spielen indessen nicht­ küle in die Hochatmosphäre, wo die Strah­
dem viel Wasser, behält aber thermische Prozesse die größere Rolle. Dabei lung der Sonne sie ionisiert. Rekombinieren
Sauerstoff und Kohlendioxid. katapultieren chemische Reaktionen oder die ionisierten Moleküle mit Elektronen oder
Teilchenkollisionen die Partikel auf Fluchtge­ stoßen sie miteinander zusammen, werden sie
schwindigkeit. Durch ein einziges Ereignis von der freigesetzten Energie in Atome aufge­
oberhalb der Exobase erhält ein Atom oder spaltet, die dann Fluchtgeschwindigkeit besit­
Molekül so eine sehr große Geschwindigkeit zen können. Ein vierter nichtthermischer Pro­
und kann auch durch weitere Zusammenstö­ zess ist das Sputtering (englisch: to sputter =
ße nicht mehr am Entweichen gehindert wer­ zerstäuben). Weil Mars, Titan und Venus kein
den. Oft sind auch Ionen beteiligt. Üblicher­ globales, schützendes Magnetfeld besitzen, ist
weise sind diese geladenen Teilchen magnetisch ihre Hochatmosphäre der vollen Wucht des
an einen Planeten gebunden – entweder durch Sonnenwinds ausgeliefert. Dieser reißt Ionen
sein globales Magnetfeld oder durch lokale, mit sich, die – wenn aus ihnen per Ladungs­
vom Sonnenwind induzierte Felder. Entkom­ austausch neutrale Atome entstehen – schließ­
men können sie trotzdem. Eines der Schlupf­ lich entkommen können.
löcher ist der Ladungsaustausch: Kollidiert ein Vor allem Sputtering und fotochemische
schnelles Wasserstoffion mit einem neutralen Verluste sind wohl dafür verantwortlich, dass
Wasserstoffatom und fängt dessen Elektron ein, der Mars bis zu 90 Prozent seiner einstigen
ist das so entstandene schnelle neutrale Atom Atmosphäre verloren hat. Dies schließen For­
immun gegen das magnetische Feld. Dieser scher aus der Anreicherung der Marsatmo­
Prozess ist für 60 bis 90 Prozent des derzeitigen sphäre mit schweren Stickstoff- und Kohlen­
Wasserstoffverlusts der Erde und für den über­ stoffisotopen. Genauer wird dies erst die
wiegenden Teil des Wasserstoffverlusts der Ve­ NASA-Sonde Mars Atmosphere and Volatile
nus verantwortlich. Evolution herausfinden, die ab 2014 um den

28  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Nichtthermische Verluste: Moleküle verschwinden durch Schlupflöcher
Auch elektrisch geladene Teilchen verlassen die Atmosphäre in Richtung Weltall. Elektrische Felder können solche
­Ionen nämlich auf Entweichgeschwindigkeit beschleunigen. Zwar hält das Magnetfeld des Planeten die meisten von ih­
nen gefangen, doch auf unterschiedlichen Wegen entkommen manche dennoch.

Auf Elektronenfang
Stößt ein schnelles Ion mit einem neutralen
Atom zusammen, kann es von diesem ein
Elektron übernehmen. Dann ist es elektrisch
neutral und kann dem Magnetfeld entkommen.

Ion
magnetische
Feldlinie

Ion
Elektron
Auf der Feldlinie ins All
Manche Feldlinien in hohen Breiten krümmen
sich nicht zum Planeten zurück, sondern
magnetische verbinden sich mit interplanetarischen
Feldlinie Feldlinien. Ionen können durch die entstehen-
den Öffnungen im Magnetfeld entweichen.

Zerstäubt und entkommen


Besitzt ein Planet kein eigenes Magnetfeld, ist er
Ion
dem Sonnenwind ungeschützt ausgesetzt. Dann
kommt es zum so genannten Sputtering (Zerstäu-
ben): Die Magnetfelder des Sonnenwinds können
Ionen in den interplanetaren Raum reißen.

Sonnenwind Mars

George Retseck

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 29


Planetenatmosphären

Literaturhinweise: Roten Planeten kreisen und entkommende Der verloren gehende Atmosphärenanteil
Catling, D. C., Kasting, J. F.: Ionen und neutrale Atome untersuchen soll. ist dabei umso größer, je dünner die Luft ist –
Planetary Atmospheres and Life. Thermische wie nichtthermische Prozesse mit der Folge, dass eine bereits unter Verlusten
In: Sullivan, W. T., Baross, J. A. (Hg.): verursachen indessen nur ein unbedeutendes leidende Atmosphäre für Erosion durch wei­
Planets and Life: The Emerging Herauströpfeln im Vergleich zu den gewaltigen tere Einschläge umso anfälliger ist. Mit der
Science of Astrobiology. Cambridge
University Press, 2007.
Fontänen, die Kometen- oder Asteroidenein­ Zeit kann so die gesamte Lufthülle verschwin­
schläge verursachen. Große und schnelle Pro­ den. Der durch seine geringe Größe ohnehin
Catling, D. C. et al.: Biogenic jektile können dabei vollständig verdampfen; anfällige Mars verbrachte bereits seine frühen
Methane, Hydrogen Escape, and
the Irreversible Oxidation of
dasselbe geschieht mit einer vergleichbar gro­ Jahre nahe dem Asteroidengürtel. Die Konse­
Early Earth. In: Science 293, S. ßen Masse an Material der Planetenoberfläche. quenz: Der Rote Planet könnte seine Atmo­
839 – 843, 2001. Das entstehende heiße Gas expandiert dann sphäre infolge vieler Einschläge binnen weni­
Vidal-Madjar, A. et al.: An Exten­ mit einer Geschwindigkeit jenseits der Flucht­ ger als 100 Millionen Jahren verloren haben,
ded Upper Atmosphere around geschwindigkeit und treibt die darüberlie­ wie Berechnungen ergaben. Die großen Jupi­
the Extrasolar Planet HD 209458b. gende Luft ins Weltall hinaus. termonde halten sich aber ebenfalls in gefähr­
In: Nature 422, S. 143 – 146, Je größer die Einschlagenergie, desto größer licher Umgebung auf, nämlich tief im Schwe­
13. März 2003.
ist die betroffene kegelförmige Region. Bei refeld des Jupiters, das einfallende Asteroiden
Zahnle, K. J.: Origins of Atmos­ dem möglicherweise für das Dinosaurierster­ und Kometen weiter beschleunigt. Sollten die
pheres. In: Woodward, C. E. et al. ben verantwortlichen Asteroideneinschlag vor Monde jemals Atmosphären besessen haben,
(Hg.): Origins. Astronomical Society
of the Pacific Conference Series
65 Millionen Jahren umfasste der Kegel ver­ hätten Einschläge sie ihnen rasch entrissen.
148, S. 364 – 391, 1998. mutlich den gesamten Bereich innerhalb von Im Gegensatz dazu zieht Titan seine Bahn in
80 Grad zur Vertikalen. Etwa ein Hunderttau­ relativ großem Abstand vom Saturn. Die Ein­
sendstel der Erdatmosphäre ging so verloren. schlaggeschwindigkeiten sind daher kleiner,
Ein noch gewaltigerer Einschlag könnte gar Titans Atmosphäre blieb bestehen.
den gesamten Atmosphärenbereich hinwegfe­ Thermische und nichtthermische Verluste
gen, der oberhalb der Tangentialebene am Ort liefern ebenso wie Einschläge von Himmels­
des Einschlags liegt. körpern Erklärungen für die Verschiedenheit
der Atmosphären im Sonnensystem. Zu ihren
weniger offensichtlichen Konsequenzen gehört
Impakt: Die Atmosphäre wird hinausgeschleudert die Oxidation der Planetenoberflächen. Sauer­
stoff entkommt weniger leicht als Wasserstoff,
Durch auftreffende Himmelskörper gehen auf einen Schlag große Atmosphärenanteile verloren.
und dies ist letztlich der Grund, warum Mars,
Venus und Erde rot sind. Im Fall der Erde ver­
bergen Erdreich und Vegetation diese natür­
liche Farbe der kontinentalen Kruste aller­
dings. Doch ursprünglich bestanden die Ober­
flächen aller drei Planeten aus grauschwarzen
Gemischen vulkanischen Gesteins, das sich
erst durch chemische Reaktionen mit Sauer­
stoff und vor allem die Bildung von Eisenoxid
rot färbte. So lässt sich die Farbe des Mars nur
damit erklären, dass er einst Wasser besaß und
es in Mengen verlor, die den gesamten Pla­
neten mit einem mehrere zehn Meter tiefen
George Retseck

Ozean hätten bedecken können.


Auch ein weiteres Phänomen könnten die
Gasverluste aufklären. Die Zunahme des Sau­
erstoffgehalts der irdischen Atmosphäre vor
Die Erosion einer Atmosphäre in- 2,4 Milliarden Jahren schreiben die meisten
folge von Einschlägen fällt umso Forscher dem Aufkommen fotosynthetischer
stärker aus, je schwächer die Schwer­ Himmelskörper Organismen zu. Wir schlugen jedoch im Jahr
extrasolare
kraft (horizontale Achse) und je hö­ ohne Atmosphäre
Planeten
2001 vor, dass bei diesem Prozess auch der
Geschwindigkeit des Impaktors

her die Geschwindigkeit (vertikale Wasserstoffverlust eine wichtige Rolle spielte.


Achse) des einschlagenden Astero­ Ganymed Jupiter Wenn Mikroben Fotosynthese betreiben und
iden oder Kometen ist. Körper ohne Io Merkur dabei Wassermoleküle aufspalten, kann der
Atmosphäre liegen eher links oben Saturn entstehende Wasserstoff wie ein Stab beim
Europa Venus
im Diagramm, hier ist die Erosion Kallisto Uranus Staffellauf von der organischen Materie zu
Mond Erde
am stärksten. (Die Geschwindig­ Titan
Mars Methan weiterwandern und schließlich das
Triton Neptun
keiten im grün unterlegten Bereich Weltall erreichen. Dem durch diesen Prozess
treten nicht auf, denn die jeweilige Asteroiden zu erwartenden Wasserstoffverlust entspricht
Alfred T. Kamajian

Stärke der Schwerkraft sorgt für eine Charon Pluto Himmelskörper eine im System verbliebene Sauerstoffmenge,
Mindestgeschwindigkeit einschla­ mit Atmosphäre
gender Himmelskörper.)
30  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010
Schwerkraft
Welcher Planet verliert welche Gase?
Die Wirksamkeit der unterschiedlichen Prozesse, die zu Gasverlusten in THERMISCH NICHTTHERMISCH EINSCHLÄGE
Planetenatmosphären führen, ist von verschiedenen Faktoren abhängig.

dynamisch

Sputtering
austausch

chemisch
Ladungs-

polarer
Verlust

hydro­
Jeans-
Welche Gase

Wind

foto­
HIMMELSKÖRPER EPOCHE gehen hauptsächlich verloren?
gegenwärtig Wasserstoff ✓ ✓ ✓
Erde Helium ✓ ✓
ursprünglich Wasserstoff, Neon ✓
gegenwärtig Wasserstoff, Helium ✓ ✓
Venus
ursprünglich Wasserstoff, Sauerstoff ✓
Wasserstoff ✓
gegenwärtig
Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Argon ✓ ✓
Mars
alle Gase ✓
ursprünglich
Wasserstoff, Kohlendioxid ✓
Jupitermonde ursprünglich alle Gase ✓ ✓
gegenwärtig Wasserstoff ✓ ✓
Titan Methan, Stickstoff ? ✓ ✓

Planeten: Alfred T. Kamajian


ursprünglich Wasserstoff, Methan, Stickstoff ✓
Pluto gegenwärtig Wasserstoff, Methan, Stickstoff ?
HD 209458b gegenwärtig Wasserstoff, Kohlenstoff, Sauerstoff ✓

die wiederum hilft, die Menge an oxidiertem vor etwa 3,8 Milliarden Jahren nahm deren
Material auf der heutigen Erde zu erklären. Häufigkeit zudem rapide ab. Vielleicht ist der
Die dünne Marsatmosphäre lässt sich Mars dem finalen zerstörerischen Einschlag
durch das Entweichen von Gasen ins All also einfach glücklich entkommen. Zudem
ebenfalls erklären. Lange Zeit wurde vermu­ könnte ein großer eishaltiger Asteroid oder
tet, dass chemische Reaktionen zwischen Was­ Komet mehr flüchtige Stoffe zum Mars trans­
ser, Kohlendioxid und Gestein Bestandteile portiert haben, als ihm die nachfolgenden
der ursprünglich dichten Atmosphäre in Kar­ Einschläge wieder entrissen. Oder aber Atmo­
bonate, also kohlenstoffhaltige Mineralien, sphärenüberreste überdauerten im Marsbo­
umwandelten. Diese Karbonate wurden dann den, dem sie nach den Einschlägen allmählich
nie wieder zu Kohlendioxid zurückverwan­ wieder entströmten.
delt, weil der kleine Mars zu schnell abkühlte Die Erde wiederum überstand Verluste bis­
und der Vulkanismus auf seiner Oberfläche zu lang relativ unbeschadet. Doch die Helligkeit Der Planetenforscher David C. Cat-
früh endete. der Sonne steigt um etwa zehn Prozent pro ei­ ling (links) untersucht das Wechsel­
Doch ob dieses Szenario zutrifft, ist unge­ ner Milliarde Jahre. Über geologische Zeiträu­ spiel zwischen Oberflächen und
Atmosphären von Planeten. 2001
wiss. Denn Raumsonden entdeckten bislang me hinweg wirkt sich dieser Anstieg zerstö­ wechselte er vom Ames Research
nur eine einzige Region auf dem Planeten, wo rerisch aus, weil die Atmosphäre stärker er­ Center der NASA an die University
tatsächlich karbonathaltiges Gestein existiert. wärmt und dadurch auch feuchter wird. Nach of Washington, wo er als Projekt­
Überdies sind diese Felsaufschlüsse vermutlich und nach wird der in den interplanetaren wissenschaftler an der Marslande-
mis­sion Phoenix beteiligt war.
durch unterirdisches warmes Wasser entstan­ Raum fließende Strom von Wasserstoff immer
Kevin J. Zahnle ist seit 1989 als
den. Außerdem kann die Karbonattheorie mehr anschwellen. In rund zwei Milliarden Wissenschaftler am Ames Research
nicht erklären, warum die Mars­atmosphäre so Jahren werden die irdischen Ozeane ausge­ Center tätig. Seine Interessen
wenig Stickstoff und Edelgase enthält. Die trocknet sein. Dann ist die Erde zu einem reichen von Planetenatmosphären
Prozesse entweichender Gase bieten dagegen Wüstenplaneten geworden, auf dem nur noch über die Oberflächen bis hin zum
inneren Aufbau von Planeten. 1996
bessere Antworten: Die Atmosphäre wurde an den Polen Spuren von Wasser existieren. zeichnete ihn die NASA für seine
nicht im Gestein gebunden, sie entkam ins Und weitere zwei Milliarden Jahre später Arbeiten über den Einschlag des
Weltall. brennt die Sonne so gnadenlos auf die Erde Kometen Shoemaker-Levy 9 auf
Trotzdem beschäftigt die Astronomen ein herab, dass alles verbleibende Wasser ver­ Jupiter mit einer Medaille für
weiteres Problem. Eigentlich hätte die Mars­ dampft und der atmosphärische Treibhaus­ außergewöhnliche Leistungen aus.
atmosphäre durch Impakte vollständig verlo­ effekt so stark wird, dass sogar das Gestein auf
ren gehen müssen. Was also stoppte diesen der Oberfläche schmilzt. Ganz zum Schluss Weblinks zu diesem Thema
Vorgang? Eine mögliche Antwort lautet: der wird die Erde der heutigen Venus ähneln – finden Sie unter www.spektrum.de/
Zufall. Große Einschläge sind ohnehin selten, und als leblose Welt enden. artikel/1015399.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 31


Raumfahrttechnik

Das Zeitalter der


elektrischen RAketen
Bei der Erkundung des äußeren Sonnensystems durch Raumsonden mit k­ onventionellen che-
mischen Triebwerken stoßen die Weltraumagenturen an techni­sche Grenzen. Für künftige
Langstreckenmissionen setzen die Planer daher auf elektrische Ionen- oder Plasmamotoren.

Von Edgar Y. Choueiri nur ein Zehntel der Treibstoffmasse, um zu

In Kürze
J
dem Asteroidengürtel zu gelangen. Ohne den
enseits der Umlaufbahn des Planeten Ionenmotor, so hatten die Entwickler der
Mars rast die amerikanische Raumson- Dawn-Mission am kalifornischen Jet Propul-
r  Konventionelle Raketen de Dawn einsam auf den Asteroiden- sion Laboratory der NASA berechnet, hätte
erzeugen Schub durch die gürtel zu. Sie soll die Asteroiden Ce- Dawn entweder Ceres oder Vesta, nicht aber
Verbrennung chemischer res und Vesta untersuchen, zwei der größ- beide Asteroiden erreichen können.
Treibstoffe. Elektrische ten Überbleibsel jener Zeit vor 4,5 Milliarden »Elektrische Raketen« entwickeln sich all-
Triebwerke hingegen trei- Jahren, als zahlreiche Planetenvorläufer mitei- mählich zum Transportmittel der Wahl, wenn
ben Raumfahrzeuge an, nander zusammenstießen und verschmolzen, eine Mission zu weit entfernten Zielen aufbre-
indem sie Wolken elektrisch um die heutigen Planeten zu bilden. Dawns chen soll. Zu ihren Erfolgen zählen etwa der
geladener Teilchen, ioni­ Flug ist aber nicht nur bemerkenswert, weil er Besuch von Deep Space 1 bei einem Kome-
sierte Gase oder Plasmen, neue Einsichten in die Entstehungsphase des ten, der nur möglich war, weil nach Erreichen
mittels elektro­magnetischer Sonnensystems verspricht. Die 2007 gestar- des Hauptziels, des Asteroiden 9969 Braille,
Felder beschleunigen. tete US-Sonde verfügt auch über einen ganz noch genügend Treibstoff vorhanden war.
r  Zwar liefern sie einen sehr besonderen Antrieb: einen Ionenmotor. Elek­tri­sche Antriebe brachten auch die japa-
geringen Schub, können Die Bedeutung von Ionen- und Plasmaan- nische Sonde Hayabusa, die einem Asteroiden
aber bei gleicher Treibstoff- trieben für Missionen in die Tiefen des Son- Bodenproben entnehmen sollte, zum Ziel,
menge letztlich sehr viel nensystems wächst zunehmend. Den nötigen ebenso wie die europäische Mondsonde
höhere Geschwindigkeiten Schub erzeugen sie nicht wie herkömmliche SMART-1. Immer stärker setzen die Raum-
erreichen. Raketen durch das Verbrennen flüssiger oder fahrtbehörden in den USA, Europa und Japan
r  Besonders für Missionen fester chemischer Treibstoffe. Stattdessen nut- daher auf Ionen- und Plasmaantriebe, wenn
zu Zielen im äußeren Sonnen­- zen sie elektrische Energie, um ionisierte Gase sie neue Sonden zu den äußeren Planeten
system werden »elektrische oder Plasmen herzustellen und dann mit de- schicken wollen oder Missionen vorbereiten,
Raketen« künftig unverzicht- ren Hilfe die Raumsonde voranzutreiben. Das die der Suche nach extrasolaren Planeten oder
bar sein. Verfahren ist hocheffizient. Verglichen mit der Erforschung grundlegender physikalischer
einem chemischen Raketenmotor benötigt es Fragen in den Weiten des Weltraums dienen.

32  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Astronomie & Physik

Pat Rawlings / SAIC

Doch es hat lange gedauert, bis ihre Pläne wäh­rend des Flugs selbst praktisch keine Rol- Im Jahr 2011 wird sich die mit
Wirklichkeit wurden. Bereits im ersten Jahr- le. Der größte Teil des Treibstoffs wird in den einem Ionenantrieb ausge­
zehnt des 20. Jahrhunderts spekulierten Rake- ersten Minuten der Reise verbraucht, wenn stattete Raumsonde Dawn dem
tenpioniere, ob sich Elektrizität für den An- die Raumfahrzeuge von der Oberfläche der Asteroiden Vesta annähern.
trieb von Raumfahrzeugen nutzen ließe. Ernst Erde ins All geschossen werden. Für diesen Der helle Punkt oben rechts in
Stuhlinger – ein Mitglied von Wernher von Zweck sind chemische Antriebe auch heute dieser Grafik stellt Ceres dar,
Brauns legendärem Team deutscher Raketen- noch unverzichtbar, zudem eignen sie sich für das zweite Ziel der Sonde.
forscher, das die Speerspitze des US-Raum- Kurskorrekturen während des Flugs. Doch für Besäße Dawn einen konventio­
fahrtprogramms bildete – setzte das Konzept Exkursionen ins äußere Sonnensystem taugen nellen chemischen Antrieb,
Mitte der 1950er Jahre in eine technische An- sie wegen ihres hohen Treibstoffverbrauchs wäre die Mission bereits nach
wendung um. Ein paar Jahre später bauten nicht. Denn all dieser Treibstoff muss beim dem Besuch von Vesta
Ingenieure am Lewis (heute Glenn) Research Start mit ins All gehievt werden, zu Kosten mangels Treibstoff beendet.
Center der NASA die erste funktionstüchtige von rund 20 000 US-Dollar pro Kilogramm.
elektrische Rakete: Beim Space Electric Ro- Sparen ist aber auch schon bei kürzeren
cket Test 1 im Jahr 1964 arbeitete der elek- Missionen angesagt. Bis heute verbringen
trische Antrieb eine halbe Stunde lang, bevor Son­den oftmals Jahre damit, auf kompli-
die Rakete nach ihrem suborbitalen Flug zur zierten Bahnen wiederholt an Planeten vor-
Erde zurückfiel. Sowjetische Wissenschaftler beizufliegen, um sich in deren Schwerefeld,
entwickelten damals ebenfalls elektrische Ra- also ohne zusätzlichen Treibstoffverbrauch,
keten und setzten die Treibstoff sparende die nötige Energie für eine Beschleunigung in
Technik bereits um 1970 für die Lage- und die gewünschte Richtung zu holen. Doch sol-
Positionskontrolle geosynchroner Kommuni- che Fly-by-Manöver schränken die Missions-
kationssatelliten ein. planer auch deshalb stark ein, weil sie nur
Immer noch denken viele Menschen an während kurzer zeitlicher Startfenster möglich
lange feurige Schweife, die Raumschiffe auf sind. Schließlich müssen die Planeten in der
dem Weg zu fernen Planeten hinter sich her- jeweils richtigen Position stehen, um der Son-
ziehen. Tatsächlich aber spielt der Antrieb de den nötigen Schwung zu verleihen.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 33


Raumfahrttechnik

Tatsache, dass die Geschwindigkeit einer Ra-


Chemisch oder elektrisch? kete umso stärker anwächst, je schneller der
Treibstoff aus den Antriebsdüsen ausgestoßen
Chemische Raketen (linke wird. Stellen wir uns einen Tennisspieler (den
Spalte) erzeugen in kurzer Raketenmotor) mit einem Beutel voller Ten-
Zeit großen Schub, können nisbälle (dem Treibstoff) auf einem Skateboard
Raumsonden also schnell auf (dem Raumschiff) vor. Je größer nun die Ge-
hohe Geschwindigkeiten be- schwindigkeit, mit der der Tennisspieler die
schleunigen. Dabei verbrau- Bälle nach hinten schlägt, desto höher ist die
chen sie zwar viel Treibstoff, MISSIONSZIEL MISSIONSZIEL Geschwindigkeit, mit der sich das Skateboard
für kürzere Reisen sind sie Schub: null Schub: gering nach vorn bewegt. Die auf diese Weise schritt-
dennoch sehr gut geeignet. Geschw.: hoch Geschw.: sehr hoch weise erreichbare Geschwindigkeitszunahme
Tank: leer Tank: 30 Prozent
Elektrische Raketen (rech- bezeichnen Wissenschaftler als »Delta-v«.
te Spalte) benutzen ionisierte Die Raketengleichung stellt also einen
Gase oder Plasmen als Treib- ­Zusammenhang her zwischen der Ausstoß­
(genug für eine
stoff (genauer: als Stützmas- zweite Mission) geschwindigkeit des Treibstoffs, dem Delta-v
se), erzeugen aber sehr wenig eines Manövers während einer Mission und
HALBE STRECKE HALBE STRECKE
Schub. Der geringe Treibstoff- Schub: null Schub: gering der dafür nötigen Treibstoffmenge. Anders ge-
bedarf erlaubt indessen viel Geschw.: hoch Geschw.: hoch sagt: Bei vorgegebener Raketentechnik – von
längere Missio­nen. Das Prin- Tank: leer Tank: 60 Prozent ihr hängt die erreichbare Ausströmgeschwin-
zip dieser Aggregate beruht digkeit ab – liefert die Raketengleichung die
darauf, dass in der reibungs- für ein gewünschtes Delta-v nötige Treibstoff-
freien Umgebung des Welt- menge. Die Delta-v-Metrik ist deshalb eine
raums auch kleine Kräfte, so- Art »Preisschild«, denn die Kosten für die Be-
fern sie lange wirken, zu förderung des Treibstoffs dominieren typi-
hohen Geschwindigkeiten MISSIONSBEGINN MISSIONSBEGINN scherweise die Gesamtkosten einer Mission.
führen. Damit sind sie beson- Schub: hoch Schub: gering Konventionelle chemische Raketen besit-
Geschw.: gering Geschw.: gering
ders für weite Reisen geeig- Tank: voll Tank: voll zen indessen nur geringe Ausstoßgeschwindig-
net, die auch zu mehreren keiten von etwa drei bis vier Kilometer pro
Zielen führen können. (Als Sekunde. Außerdem führt der exponentielle
»Missionsbeginn« bezeichnet Charakter der Raketengleichung dazu, dass
die stark vereinfachende Gra- der Anteil des Treibstoffs an der Startmasse
CHEMISCHE ELEKTRISCHE
fik den Zeitpunkt, zu dem eine RAKETE RAKETE des Raumfahrzeugs exponentiell mit Delta-v
Sonde von einer konventio- anwächst: Ist für eine Mission zu einem Ziel
Kevin Hand

nellen Feststoffrakete im All im äußeren Sonnensystem ein hohes Delta-v


abgesetzt worden ist.) erforderlich, muss fast die gesamte Startmasse
des Raumschiffs aus Treibstoff bestehen.
Dann aber kann die wissenschaftliche
Hinzu kommt ein letztes großes Problem. Nutzlast nur gering ausfallen. Um etwa aus ei-
Nach jahrelanger Reise besitzt eine Sonde mit ner niedrigen Erdumlaufbahn zum Mars zu
chemischem Antrieb häufig nicht mehr genug fliegen, ist ein Delta-v von 4,5 Kilometer pro
Treibstoff für ein Bremsmanöver. Um aus­ Sekunde (km/s) nötig. Aus der Raketenglei-
gedehnte wissenschaftliche Beobachtungen chung ergibt sich, dass für eine solche Reise
durch­zuführen, müsste sie mit Hilfe ihrer zwei Drittel der Raumschiffmasse aus Treib-
Triebwerke in eine Umlaufbahn um ihr Ziel- stoff bestehen müssen. Ambitioniertere Ex­
objekt einschwenken. Mangels Treibstoff ist peditionen zu den äußeren Planeten erfor-
aber oft nur ein kurzer Vorbeiflug möglich. So dern sogar ein Delta-v von 35 bis 70 km/s,
wird die 2006 zum Zwergplaneten Pluto auf- der entsprechende Treibstoffanteil müsste
gebrochene NASA-Sonde New Horizons ihr schon mehr als 99,98 Prozent der Anfangs-
Missionsziel gerade einmal einen Tag lang be- masse betragen!
obachten können. Je weiter hinaus die Reise also führt, desto
Aber ist denn wirklich keine Abhilfe mög- weniger kommen chemische Antriebe in Fra-
lich? Die Antwort liefert die so genannte Ra- ge. Es sei denn, die Ingenieure fänden einen
ketengleichung, eine Formel, mit der sich die Weg, die Ausströmgeschwindigkeiten signi­
für eine Mission nötige Treibstoffmenge be- fikant zu erhöhen. Das aber würde extrem
rechnen lässt. Der russische Wissenschaftler hohe Verbrennungstemperaturen erfordern,
Konstantin Ziolkowski, einer der Väter der die nicht ohne Weiteres realisierbar sind. Sie
Raketen- und Weltraumforschung, hatte sie sind einerseits durch die bei den üblichen che-
im Jahr 1903 entwickelt. Die Raketenglei- mischen Reaktionen frei werdende Energie
chung beschreibt die intuitiv verständliche begrenzt, andererseits durch den Schmelz-

34  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Astronomie & Physik

punkt des Materials, aus dem Brennkammern sionen der Zukunft benötigen indessen Kern-
und Düsen bestehen. spaltungs- oder gar Kernfusionsreaktoren.
Die frühe Geschichte
Die Ausströmgeschwindigkeiten elektri­ Beim Start wäre das nukleare Brennmaterial
scher Antriebe sind hingegen von vornherein natürlich in geschützten Behältern unterge- der elektrischen Raketen
deutlich höher. Die Aggregate verbrennen kei- bracht, und aktiviert würde ein solcher Reak-
nen chemischen Treibstoff, sondern erzeugen tor erst, wenn sich das Raumfahrzeug in einer
Schub, indem sie ionisierte Gase oder Plasmen stabilen Umlaufbahn oder in sicherer Entfer-
auf sehr hohe Geschwindigkeiten beschleu­ nung von der Erde befindet.
nigen. Dazu führt man ihnen zunächst mit- Drei Varianten elektrischer Antriebe haben
tels Laser, Mikrowellen, Radiostrahlung oder die Entwicklungsingenieure mittlerweile so
starker elektrischer Felder Energie zu, so dass optimiert, dass sie für lang andauernde Welt-
aus den Atomen oder Molekülen des Gases raummissionen zum Einsatz kommen können,
Elektronen freigesetzt werden. Diese kön­nen darunter der auch von Dawn genutzte Ionen-
sich dann frei im Gas bewegen, während posi- antrieb. Er geht auf Ideen des amerikanischen
tiv geladene Ionen zurückbleiben. (Solche Plas- Raketenpioniers Robert H. Goddard zurück,
men sind darum bessere elektri­sche Leiter als die dieser vor rund einem Jahrhundert bei sei-
Kupfer.) Nun lässt sich die Bewegung der elek- nem Studium am Worcester Polytechnic In-
trisch geladenen Teilchen beeinflussen, indem stitute im US-Bundesstaat Massachusetts ent-
man zusätzliche elektrische oder magnetische wickelte. Ionenantriebe beziehen ihre Energie
Felder anlegt, welche die Teilchen beschleuni- meist aus Solarzellen und erreichen Ausström-
gen und aus der Antriebsdüse ausstoßen. Weil geschwindigkeiten von 20 bis 50 km/s (siehe Robert
den Gasen die nötige Energie erst zugeführt Kasten S. 36). Das Aggregat sieht in der Regel H. Goddard,
werden muss, werden sie von Ingenieuren wie ein gedrungener Zylinder aus, nicht viel um 1935
korrekter als Stützmasse bezeichnet, in Ab- größer als ein Eimer, der am hinteren Ende
grenzung zum Begriff des Treibstoffs, bei dem des Raumfahrzeugs sitzt. Im Inneren des Zy- Getty images / Hulton Archive

es auf dessen chemische Energie ankommt. linders strömt Xenongas aus dem Treibstoff-
tank in eine Ionisationskammer. Dort entrei-
Kernreaktor an Bord? ßen elektrische Felder den Xenonatomen Elek- 1903: Konstantin E. Ziolkowski ent­
Die nötigen Felder werden mit Elektroden tronen, es entsteht also ein Plasma. Diesem wickelt die Raketengleichung. In den
und Magneten erzeugt, per Induktion durch entzieht ein zwischen zwei Elektrodengittern folgenden Jahren spekuliert auch
externe Spulen oder indem man elektrischen angelegtes elektrisches Feld die positiven Io- er bereits über elektrische Antriebe.
Strom durch das Plasma leitet. Die elektrische nen und beschleunigt sie auf hohe Geschwin- 1906/07: Robert H. Goddard formuliert
Energie für die Erzeugung des Plasmas und digkeiten in Richtung der Auslassöffnung. in seinen Notizen die Idee, die elektrosta-
die Beschleunigung der Partikel liefern typi- Sobald ein positiv geladenes Ion aus dem tische Beschleunigung geladener Teil-
scherweise Solarzellen. Doch Ziele jenseits der Raumfahrzeug austritt, lässt es dieses aller- chen als Raketenantrieb zu nutzen. Später
Marsbahn, wo solche Zellen zu wenig Licht dings mit einer negativen Nettoladung zu- erfindet er einen Vorgänger des Ionen­
antriebs und lässt ihn 1917 patentieren.
einfangen, machen nukleare Energiequellen rück. Vergrößerte sich die Ladung über län-
erforderlich. Kleine robotische Sonden stattet gere Zeit hinweg immer weiter, bliebe irgend- 1954: Bei theoretischen Arbeiten findet
man daher mit thermoelektrischen Geräten wann der Schub aus, denn sie würde die Ernst Stuhlinger Möglichkeiten, Ionen­
antriebe zu optimieren. Später wird er
aus, in denen der Zerfall nuklearer Isotope ausgestoßenen Ionen wieder zum Raumfahr-
wichtiger Berater bei deren Bau.
Wärme erzeugt. Die anspruchsvolleren Mis­ zeug zurückziehen. Darum injiziert eine ex-
1962: Auf Basis von Forschungsarbeiten
in der Sowjetunion, Europa und den USA
wird von G. Seikel, F. Salz, E. Lary et al.
die erste Beschreibung eines Halleffekt-
Triebwerks veröffentlicht.
1962: Adriano Ducati entdeckt die
Technik des magnetoplasmadynamischen
Triebwerks.
1964: Mit SERT-1 testet die NASA
erstmals einen Ionenantrieb bei einem
suborbitalen Flug in den Weltraum.
1972: Sowjetische Meteor-Wettersatel-
liten verwenden die ersten Halleffekt-
Triebwerke im Weltall.
1998: Die von der NASA entwickelte
Sonde Deep Space 1 verwendet zum
ersten Mal ein Ionentriebwerk als Haupt-
antrieb einer Mission, die das Schwere-
feld der Erde verlässt.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 35


Raumfahrttechnik

Ionentriebwerk: das Arbeitspferd unter den elektrischen Antrieben


In diesem Aggregat wird ein neutrales Gas mit Elektronen aus gestoßen. Eine zwischen zwei Elektrodengittern angelegte Hoch-
einer heißen Elektrode bombardiert. Die entstehenden positiven spannung erzeugt das für die Beschleunigung der Ionen nötige
Ionen werden mit Hilfe von elektrischen Feldern aus dem Plasma elektrische Feld. Der Ausstoß der Ionen aus dem Raumschiff er-
herausgezogen, beschleunigt und entgegen der Flugrichtung aus- zeugt schließlich einen Schub in die entgegengesetzte Richtung.

Status: im Einsatz
Leistungsaufnahme: 1 bis 7 Kilowatt
Ausströmgeschwindigkeit: 20 bis 50 km/s ●
3  Elektronen bombar­

4  Das elektrische Potenzial
Schub: 20 bis 250 Millinewton dieren Xenonatome, so zwischen entgegengesetzt
Wirkungsgrad: 60 bis 80 Prozent dass aus diesen positiv geladenen Elektrodengittern
Anwendungen: Lagekontrolle und Positions­ geladene Ionen werden. beschleunigt die Ionen, so dass
korrekturen bei Satelliten, Magnet­
ringe sie nach hinten aus dem Raum-
Hauptantrieb bei kleinen
robotischen Sonden schiff herausströmen und Schub
erzeugen.


2  Xenongas strömt aus dem Treib- negativ geladenes Gitter
stofftank in die Ionisationskammer. positiv geladenes Gitter
Xenon-
atom
Plasma
Schub

Zuleitung vom
Xenontank Ionisations- Xenonion
heiße kammer
Elektrode
Magnet­ring ●
5  Von einer heißen Elektro-
de ausgesandte Elektronen
neutralisieren den positiven
Ionenstrom beim Verlassen

1  Eine heiße Elektrode (Kathode)
Elektron der Düse. Dadurch wird ver-
sendet Elektronen aus, denen in der heiße hindert, dass sich auf dem
Ionisationskammer über ein Magnet- Elektrode Raumfahrzeug eine negative
feld Energie zugeführt wird. Ladung aufbaut, welche die
Pat Rawlings / SAIC

Elektroneninjektor / positiven Ionen zur Sonde


Neutralisator zurückzieht und so den
Schub reduziert.

terne Elektronenquelle – eine negative Katho- demnächst brechen. Unlängst gelang Ingeni-
de oder eine Elektronenkanone – Elektronen euren des Jet Propulsion Laboratory auch der
in den positiven Ionenfluss, um ihn elektrisch Nachweis, dass Ionenantriebe über drei Jahre
zu neutralisieren. So bleibt auch das Raum- lang fehler- und unterbrechungsfrei arbeiten
fahrzeug als Ganzes neutral. können.
Dutzende kommerzieller Satelliten sind Das Leistungsvermögen elektrischer An-
derzeit mit Ionenantrieben ausgestattet, was triebe hängt außer von der Ausströmgeschwin-
den Betreibern jeweils mehrere Millionen digkeit auch von der Schubdichte ab. Darun-
Euro Kosten erspart. Vor allem Kommunika- ter versteht man die Schubkraft pro Einheits-
tionssatelliten in geostationären Umlaufbah­ fläche der Austrittsöffnung. Diese lässt sich
nen korrigieren damit ihre Position und Aus- nicht beliebig erhöhen. Denn ein großer
Don Foley, nach: NASA, JPL

richtung. Die erste Raumsonde mit elek- Nachteil von Ionenantrieben und ähnlichen
trischem Antrieb, die auch die Erdumlauf- elektrostatischen Raketenmotoren ist die so
bahn verließ, startete allerdings erst 1998. Mit genannte Raumladungsbegrenzung. Wenn die
weniger als 74 Kilogramm Xenon als Treib- positiven Ionen die elektrostatischen Gitter im
Geladene Xenonatome verursa­ stoff erreichte Deep Space 1 ein Delta-v von Ionenantrieb passieren, bildet sich in diesem
chen das blaue Glühen in diesem 4,3 km/s und durchflog den staubigen Bereich unvermeidlich eine positive Raumla-
Ionenantrieb. Das Bild zeigt ein Schweif des Kometen Borrelly. Das ist der bis- dung und begrenzt die Stärke des beschleuni-
in einer Vakuumkammer test­ lang höchste Geschwindigkeitszuwachs, den genden elektrischen Felds. Aus diesem Grund
weise gezündetes Aggregat mit ein Raumfahrzeug durch seinen eigenen An- ist die Schubkraft, die der Ionenantrieb von
einem Durchmesser von rund trieb erreichte, nur mit Fly-by-Manövern hat Deep Space 1 erzeugt, nicht stärker als die Ge-
40 Zentimetern. man schon mehr erzielt. Die Sonde Dawn soll wichtskraft eines einzigen Blatts Papier. Mit
diesen Rekord mit einem Wert von 10 km/s donnernden Raketenmotoren hat das wenig

36  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Astronomie & Physik

zu tun, eher schon mit einem Auto, das zwei


Tage benötigt, um von 0 auf 100 Kilometer
Hall thruster: der Herausforderer
pro Stunde zu beschleunigen. Typischerweise
aber hat eine Sonde mehrere Monate Zeit – Der Halleffekt-Antrieb erzeugt Schub, indem in seinem Inneren ein so genannter Hall-
das reicht, damit ihr Ionenantrieb das nötige strom mit einem radialen Magnetfeld gekreuzt wird. Die Elektronen, die als Hallstrom um
Delta-v für eine Reise in das äußere Sonnen- die Achse der Maschine kreisen, entreißen Xenonatomen deren Elektronen, ionisieren sie
system liefert. Schließlich gibt es im Vakuum also. Ein parallel zur Achse verlaufendes elektrisches Feld beschleunigt die Ionen schließ-
des Weltalls keine Reibung, die das Gefährt lich zum rückwärtigen Ende des Aggregats. Die Schubdichte eines Halleffekt-Antriebs über-
wieder ausbremst. Vielmehr kann es seine Ge- trifft die eines Ionenantriebs, weil sowohl die positiven Ionen als auch die negativen Elek-
schwindigkeit langsam und allmählich auf im- tronen ausgestoßen werden. So baut sich keine positive Ladung auf, welche die Stärke des
mer höhere Werte steigern. beschleunigend wirkenden elektrischen Felds begrenzen würde.

Bald mit höherer


Schubdichte unterwegs ●
1  Ein elektrisches Feld zwischen einer
Eine Alternative zum Ionenantrieb ist der so äußeren negativen Kathode und einer ●
2  Wird die Kathode aufgeheizt, sendet sie
genannte Halleffekt-Antrieb (englisch: Hall inneren positiven Anode erzeugt ein im Elektronen aus. Einige dieser Elektronen
Wesentlichen axiales elektrisches Feld treiben auf die Anode zu. Sobald sie in die
thruster, siehe Kasten rechts), bei dem die im Inneren der Beschleunigungs­kammer. Beschleunigungskammer eintreten, führen das
Raumladungsbegrenzung nicht zum Tragen radiale Magnetfeld und das axiale elektrische
kommt und der deshalb eine höhere Schub- Feld dazu, dass sie als Hallstrom um die Achse
dichte erreicht. Entwickelt worden war er im der Kammer kreisen.
Verlauf von rund drei Jahrzehnten zunächst in
der Sowjetunion. Seit den frühen 1990er Jah-
ren findet er auch in den anderen Raumfahrt- Magnet- Isolatorhülle
nationen Anerkennung und wird bald für spulen
Missionen zu ferneren Zielen einsatzbereit
sein. Sein Funktionsprinzip basiert auf dem äußere
1879 von Edwin H. Hall entdeckten und Kathode
innere Anode/
nach diesem benannten Halleffekt. Während Gasinjektor
seines Studiums an der Johns Hopkins Uni- radiales
versity im US-Bundesstaat Maryland war dem Magnetfeld
Physiker aufgefallen, dass im Inneren eines Hall- Elektronen
elektrischen Leiters, den man einem Magnet- strom
feld und einem senkrecht dazu stehenden
Xenon-
elektrischen Feld aussetzt, ein elektrischer atome
(Hall-)Strom zu fließen beginnt, und zwar
senkrecht zu den beiden Feldern. Beschleunigungs- Plasma
In Halleffekt-Antrieben sorgen eine innere kammer
Pat Rawlings / SAIC, nach: Y. Raitses et al.: plume reduction in segmented Electrode hall thruster, in: J. Appl. Phys. 88(3), AUGUST 2000

Xenonion
positive Anode und eine äußere negative Ka-
thode für elektrische Entladungen in einem
neutralen Gas, das sich daraufhin in Plasma
verwandelt. Die Wechselwirkung zwischen axiales
elektrisches Feld
einem radialen Magnetfeld und einem elek-
trischen Hallstrom, der in azimutaler Rich-
tung fließt, also in einer Art Kreisbahn um die
zentrale Achse, lässt schließlich eine Lorentz-
kraft wirken, die das Plasma aus dem An-

3  Ein Injektor an der positiven
Anode speist Xenongas in die ring-
triebszylinder heraus beschleunigt. Der Hall- förmige Beschleunigungskammer ●
4  Die von der Wechselwirkung
strom in diesem System wiederum ist eine ein. Die dort kreisenden Elektronen zwischen Magnetfeld und Hallstrom
Konsequenz aus der Kombination von Ma- stoßen mit den Xenonatomen zusam- erzeugten elektromagnetischen
men und ionisieren sie. Kräfte beschleunigen das Plasma
gnetfeld und elektrischem Feld. aus Ionen und Elektronen in rück-
Abhängig von der verfügbaren Energie las- wärtige Richtung.
sen sich so Ausströmgeschwindigkeiten von
10 bis zu mehr als 50 km/s erreichen. Zur Status: im Einsatz
Entstehung einer Raumladung kommt es da- Leistungsaufnahme: 1,35 bis 10 Kilowatt
Ausströmgeschwindigkeit: 10 bis 50 km/s
bei gar nicht erst, da das gesamte Plasma aus- Schub: 40 bis 600 Millinewton
gestoßen wird, also sowohl positive Ionen als Wirkungsgrad: 45 bis 60 Prozent
Nutzung: Lagekontrolle und Positionskorrektur bei Satelliten,
auch negative Elektronen. Schubdichte und Hauptantrieb bei robotischen Sonden mittlerer Größe
Schubkraft und damit auch das erreichbare
Delta-v sind daher um ein Mehrfaches höher
als bei einem Ionenantrieb gleicher Größe.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 37


Raumfahrttechnik

Schritt in diese Richtung gelang Wissenschaft-


MPD: die Zukunft des Plasmaantriebs lern des Princeton Plasma Physics Laboratory
in New Jersey, als sie segmentierte Elektroden
Ein magnetoplasmadynamischer Antrieb (MPD-Antrieb) beruht darauf, dass in die Wandung eines Halleffekt-Antriebs in-
die Lorentzkraft ein Plasma beschleunigt und aus der Beschleunigungskammer tegrierten. Diese Elektroden formen das inter-
ausstößt. Diese elektromagnetische Kraft (grüne Pfeile), deren wichtigste Kom- ne elektrische Feld so, dass sich das Plasma in
ponente parallel zur Achse verläuft, entsteht durch Wechselwirkung eines in ra- einem dünnen Strahl bündeln lässt. Dies re-
dialer Richtung fließenden Stroms (rote Linien) mit einem konzentrischen Ma- duziert die Radialkomponente des Schubs, die
gnetfeld (blauer Kreis). für den Antrieb nutzlos ist, und verlängert au-
ßerdem die Lebensdauer des Systems, weil der
Status: im Flug getestet, noch nicht im Einsatz Plasmastrahl von der Wandung der Antriebs-
Leistungsaufnahme: 100 kW bis 1 Megawatt kammer ferngehalten wird. Ein ähnlicher
Ausströmgeschwindigkeit: 15 bis 60 km/s
Schub: 2,5 bis 25 Newton
Fortschritt gelang deutschen Ingenieuren mit
Wirkungsgrad: 40 bis 60 Prozent Hilfe speziell geformter Magnetfelder. For-
Entwicklungsziel: Hauptantrieb für schwere unbemannte scher der kalifornischen Stanford University
und bemannte Raumfahrzeuge
konnten wiederum zeigen, dass die Beschich-
tung der Wandungen mit einer synthetischen

2  Sobald Lithiumgas in die Beschleuni- ●
4  Der radiale polykristallinen Diamantschicht deren Wider-
gungskammer eintritt, werden die Lithium- elektrische Strom standsfähigkeit gegen Erosion durch das Plas-
atome durch eine elektrische Entladung und das von ihm
ma erheblich verbessert.
zwischen Kathode und zylindrischer Anode induzierte Magnet-
ionisiert; ein Plasma bildet sich. feld erzeugen eine
Lorentzkraft, die Mit einem Megawatt durchs All
das Plasma aus der Wie aber lässt sich die Schubdichte eines elek-
Kammer heraus trischen Antriebs noch weiter erhöhen? Man
Stromversorgung beschleunigt.
könnte schlicht eine größere Menge an Plas-
ma beschleunigen. Doch wenn die Plasma-
Lorentzkraft dichte im Halleffekt-Antrieb steigt, stoßen die
Magnetfeld Elektronen häufiger mit Atomen und Ionen
zusammen – und damit wird es schwieriger,
den für die Beschleunigung nötigen Hall-
Hohlkathode strom aufrechtzuerhalten. Eine echte Alterna-
Plasma tive bietet der magnetoplasmadynamische oder
Lithium- MPD-Antrieb. Statt des Hallstroms dient hier
treibstoff eine parallel zum elektrischen Feld ausgerich-
Beschleunigungskammer tete Stromkomponente zur Beschleu­nigung
(siehe Kasten links). Dieser Strom ist auf
Grund seiner Richtung weniger anfällig für
radialer
Pat Rawlings / SAIC, nach: Princeton University

zylindrische Anode elektrischer Kollisionen mit Atomen und erlaubt daher


Strom eine höhere Plasmadichte.
(Entladung)
Ein MPD-Antrieb besteht im Wesent-
lichen aus einer zentralen Kathode, die sich

1  Erhitztes Lithiumgas ●
3  Der im Wesentlichen radial
innerhalb einer größeren zylindrischen Anode
strömt durch die zentrale fließende elektrische Strom
Hohlkathode. induziert ein Magnetfeld, das befindet. Ein Gas, typischerweise Lithium,
zirkular um die Kathode verläuft. strömt in den ringförmigen Bereich zwischen
Kathode und Anode und wird dort durch den
zwischen den Elektroden fließenden Strom
ionisiert. Der Strom induziert außerdem ein
Bereits über 200-mal wurden Satelliten für azimutales Magnetfeld, dessen Feldlinien um
den Einsatz in der Erdumlaufbahn mit einem die zentrale Kathode herum verlaufen. Die
Halleffekt-Antrieb ausgestattet, und auch die Wechselwirkung des Magnetfelds mit dem
europäische Sonde SMART-1 erreichte dank Strom erzeugt eine Lorentzkraft, die das Plas-
eines solchen Aggregats den Mond. Derzeit ma beschleunigt und Ausströmgeschwindig-
arbeiten die Ingenieure vor allem daran, grö- keiten von 15 bis 60 km/s erlaubt.
ßere Systeme zu entwickeln. Für sie soll mehr Mit seiner Leistungsaufnahme von bis zu
Energie zur Verfügung stehen, die wiederum einem Megawatt elektrischer Energie, ob mit
für noch höhere Ausströmgeschwindigkeiten Hilfe von Solarzellen oder einer nuklearen
und höheren Schub sorgen wird. Energiequelle erzeugt, übertrifft ein MPD-
Außerdem erlaubt die Lebensdauer der Antrieb einen Halleffekt-Antrieb bei Weitem.
Sys­teme bislang noch keine mehrjährigen Flü- Zudem lässt sich ein MPD-Antrieb einfach
ge in das äußere Sonnensystem. Ein wichtiger drosseln. Indem man die elektrische Strom-

38  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Astronomie & Physik

Sonnen- oder Kernenergie?


Bei Reisen in das innere Sonnensystem, wo die Sonnenstrah- Sonden müssten dazu mit einem Kernreaktor ausgestattet wer-
lung stark ist, können Solarzellen einen elektrischen Antrieb mit den. Für kleinere Sonden reichen dagegen thermoelektrische
ausreichend Energie versorgen. Flüge in das äußere Sonnensys­ Generatoren, die ihre Energie aus der beim Zerfall radioaktiver
tem erfordern jedoch nukleare Energiequellen. Große, schwere Elemente frei werdenden Wärme gewinnen.

Kuipergürtel
Merkur
Venus
Erde Mars
Neptun

Uranus

Asteroidengürtel Saturn
Jupiter

Missionen zu innereN Planeten Missionen zu äuSSeren Planeten


und Asteroidengürtel nukleare Energiequellen notwendig

Don Dixon
Sonne genügt als Energiequelle

stärke oder die Einströmrate des Treibstoffs ver­ dere kontinuierlich. Einige erzeugen Plasma
ändert, lassen sich Ausströmgeschwindigkeit über Entladungen an Elektroden, andere nut-
und Schub auf einfache Weise regulieren – zen die Induktion durch Magnetspulen oder
ideal, um die jeweils optimale Flugbahn von Antennen eingestrahlte Energie. Auch die
einzuhalten. Methoden zur Beschleunigung des Plasmas
Durch Erosion der Elektroden sowie durch variieren: Einige basieren auf der Lorentzkraft,
Plasmainstabilitäten und Energiedissipation andere verwenden magnetisch erzeugte Strom-
im Plasma werden Lebensdauer und Leis­ »Schichten« oder wandernde elektromagne-
tungsfähigkeit von MPD-Antrieben allerdings tische Wellen. Einer der Entwürfe sieht sogar
eingeschränkt. Neue, leistungsfähigere An- vor, dass das Plasma durch aus Magnetfeldern
triebe nutzen daher Lithium- und Bariumgase geformte »Düsen« ausströmt.
als Treibstoff. Lithium und Barium lassen sich Natürlich werden elektrische Raketen auch
leicht ionisieren, ihre Plasmen weisen gerin- in Zukunft langsamer beschleunigen als kon- Edgar Y. Choueiri lehrt Raumfahrt-
gere Energieverluste auf und helfen auch, die ventionell angetriebene Raumvehikel. Und technik und Angewandte Physik an
Kathode zu kühlen. Außerdem gaben die In- doch sind sie oft schneller am Ziel, weil sie bei der Princeton University. Er leitet
genieure der Kathode eine neue Form; sie ist gleicher Treibstoffzuladung letztlich höhere dort das Electric Propulsion and
Plasma Dynamics Laboratory sowie
nun mit Kanälen ausgestattet, welche die Geschwindigkeiten erreichen und auf Zeit das Programm Engineering Physics.
Wechselwirkung des elektrischen Stroms mit raubende Fly-by-Manöver verzichten können.
ihrer Oberfläche verändern. Beide Entwick- Für Marathonflüge zu fernen Zielen im Son-
lungen haben die Korrosion der Kathode er- nensystem sind sie daher derzeit ohne Alter- Choueiri, E. Y.: A Critical History
heblich verringert und führen allmählich zu native, zumal auch die Entwicklung schnell of Electric Propulsion: The First
50 Years (1906 – 1956). In: Journal
zuverlässigeren MPD-Antrieben. Unlängst hat voranschreitet. Die fortschrittlichsten Ent-
of Propulsion and Power 20(2),
ein Team von Forschern verschiedener Uni- würfe können heute ein Delta-v von 100 km/s S. 193 – 203, 2004.
versitäten und der NASA auch den Entwurf erreichen. Das ist noch viel zu wenig für eine
Goebel, D. M., Katz, I.: Fundamen-
eines modernen Lithium-MPD-Antriebs na- Mission zu den Sternen, aber mehr als genug, tals of Electric Propulsion: Ion
mens α 2. Mit einer nuklearen Energiequelle um Flüge zu den äußeren Planeten in über- and Hall Thrusters. Wiley-VCH,
ausgestattet, könnte er nicht nur robotische schaubaren Zeiträumen durchzuführen. Zu Weinheim, Berlin 2008.
Missionen zu den äußeren Planeten beför- den spannendsten dieser Vorhaben zählt der Woodcock, G. et al.: Benefits of
dern, sondern auch Fracht und Menschen zu Versuch, Bodenproben vom Saturnmond Ti- Nuclear Electric Propulsion for
Mond und Mars. tan zur Erde zu bringen, dessen Atmosphäre Outer Planet Exploration. American
Ionen-, Halleffekt- und MPD-Antrieb sind der Lufthülle der jungen Erde ähnelt. Eine Institute of Aeronautics and
zwar die heute am weitesten entwickelten elek- Sonde mit Plasmaantrieb, die ohne Fly-by- Astronautics, 2002.
trischen Antriebe, doch in den vergangenen Manöver auskäme und ausreichend Energie-
Jahrzehnten haben Forscher eine ganze Reihe reserven für die nötigen Brems- und Beschleu- Weblinks zu diesem Thema
weiterer viel versprechender Konzepte entwi- nigsmanöver besäße, wäre für diese Aufgabe finden Sie unter www.spektrum.de/
ckelt. Manche Aggregate arbeiten gepulst, an- ideal geeignet. artikel/1015394.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 39


Schlichting!

Das in die Eisdecke des westfäli-


schen Aasees »gemalte« Fahr-
rad (links) besteht aus »Türmen«
eingefrorener Gas­blasen (unten).

links: Steffen Hartmann; rechts: H. Joachim Schlichting


Phantom im Eis
Wie Gasbläschen ein Fahrrad am Grund eines
Sees auf dessen zugefrorene Oberfläche projizieren

E s gab eine Zeit, in welcher der Aasee im


westfälischen Münster vielfach als letzte
Ruhestätte für Fahrräder missbraucht wurde.
Die auf der Oberfläche des Fahrrads entste­
henden Bläschen lösen sich ab, sobald ihre mit
dem Volumen zunehmende Auftriebskraft grö­
Eines von ihnen scheint auf geheimnisvolle ßer wird als die Adhäsionskraft, mit der sie da­
Weise und mit bemerkenswerter Original­ ran haften. Sie steigen dann senkrecht auf und
treue unter die Eisschicht des zugefrorenen sammeln sich zu mehr oder weniger großen
Sees projiziert worden zu sein. Blasen. So bilden sie die Umrisse des Rads
Lagern Gegenstände einige Zeit unter Was­ ziemlich größengetreu in der Eisschicht ab,
ser, siedeln sich auf ihnen Mikroorganismen während das allmähliche Zufrieren sogar für
und Algen an. Diese geben Gase in Form win­ eine räumliche Struktur sorgt. Die Randlinien
ziger Bläschen ab, die meist unbemerkt zur wiederum heben sich besonders ab, weil hier
Oberfläche aufsteigen. Beginnt der See aller­ alle Blasen eintreffen, die von den nicht der
dings zuzufrieren, können sie nicht in die At­ Eisfläche zugewandten Fahrradteilen stammen.
mosphäre übergehen, sondern bleiben unter Denn diese müssen erst zum seitlichen Rand
der zunächst noch dünnen Eisschicht hängen. etwa des Rahmens hochdriften, bevor sie senk­
Dort sammeln sie sich in Blasen an, die – weil recht aufsteigen können.
die Eisschicht weiter nach unten wächst – Warum aber erscheinen die eingefrorenen
schließlich von Eis umgeben und eingeschlos­ Gasblasen so weiß? Eigentlich sollten sie wie
sen werden. Später aufsteigende Blasen steigen auch das Eis durchsichtig und nur auf Grund
nur noch bis zur jeweils neuen Eisgrenze und der Lichtbrechung an den Grenzflächen über­
werden ebenso konserviert. haupt zu sehen sein. Doch das Gas in den
So entsteht allmählich eine vielschichtige aufsteigenden Blasen ist mit Wasserdampf aus
Blasensäule, deren dreidimensionale Struktur dem umgebenden Wasser gesättigt. Sobald es
einiges über die Temperaturverhältnisse wäh­ im kalten Eis eingefroren ist, wird dessen Tau­
rend des Zufrierens der Eisfläche aussagt. Geht punkt unterschritten und der überschüssige
man von einer konstanten Gasproduktionsrate Wasserdampf gefriert sofort zu Eis. Im Blasen-
aus, so zeugen kleine Blasen in einer horizonta­ inneren bildet sich daher eine Raureifschicht
len Schicht von deren schnellem Zufrieren in aus winzigen Eiskristallen, die das Licht diffus
einer kalten Nacht. Denn bevor sich eine grö­ streut und die Kristalle ähnlich wie Schnee
ßere Menge Gas ansammeln konnte, war die weiß erscheinen lässt. Übrigens kann ein nur
H. Joachim Schlichting ist Professor
Blase auch schon vom Eis umschlossen. Je beiläufiger Blick auf das Foto leicht täuschen – und Direktor des Instituts für
langsamer die Eisdicke hingegen wächst, desto die Luftblasen stammen von einem Rad, das Didaktik der Physik an der Univer­-
größere Exemplare bilden sich. im Bild gar nicht zu sehen ist. sität Münster.

40 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010


PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN
Stereosehen

Mit allen beiden sehen Sie besser!


Mit zwei Augen (keineswegs mit

Foto links, rechts und Grafik unten: Christoph Pöppe


dem zweiten allein!) sehen Sie
geeignete flache Bilder echt drei­
dimensional, oder Sie sehen schlag­
artig die Unterschiede zwischen
Original und Fälschung. Hauptsache:
Sie schielen dabei.

Von Norbert Treitz In der Evolution sind die Zapfen us, einer mechanischen Vorrichtung zur
nicht wesentlich kleiner geworden als die Verbesserung der Ablesegenauigkeit.

W as machen Sie, wenn Sie ein


Auge schließen und trotzdem
Kaffee in eine Tasse gießen sollen, ohne
wellenoptische Begrenzung; das hätte ja
auch keinen Zuwachs an Information
geliefert. Dass unsere Augen und die an­
Um von zwei Gegenständen in den
Entfernungen e und e + d in benachbar­
ten Blickrichtungen das Vorzeichen von
mit den Händen die Entfernungen zu derer Wirbeltiere nicht wesentlich größer d erkennen zu können, benötigen wir die
tasten? Wackeln Sie mit dem Kopf. Ihr geworden sind, mag daran liegen, dass Noniensehschärfe s = |b/e – b/(e + d )|. Da­
Gehirn empfängt dann zwei geringfügig dann optische Inhomogenitäten Un­ bei ist b der Augenabstand, allgemeiner
verschiedene Netzhautbilder, und zwar schärfen liefern würden, wie ja auch Lin­ die »Stereobasis«, also zum Beispiel der
nicht, wie üblich, gleichzeitig von bei­ senteleskope bei Weitem nicht so groß Abstand der Kamerapositionen bei einem
den Augen, sondern nacheinander, kann gebaut werden wie Spiegelteleskope, bei Stereobildpaar. Aus dieser Gleichung
aber immer noch aus den Unterschieden denen nur die Oberfläche optisch ein­ folgt |d|≈e 2 s/b. Sind also b und s von
auf die Entfernungen schließen – jeden­ wandfrei sein muss. der Natur (oder der Technik) vorgege­
falls wenn Sie mit beiden Augen räum­ Damit bestimmt zunächst die Zap­ ben, so ist d im Wesentlichen proportio­
lich sehen können. Diese Fähigkeit kann fengröße das Winkelauflösungsvermö­ nal dem Quadrat von e. Damit ist unser
insbesondere durch unbehandeltes Schie­ gen: Damit man zwei Objekte als ge­ Bereich für unmittelbar, das heißt ohne
len in der Kindheit gestört sein. trennt erkennt, muss zwischen zwei be­ Vorkenntnis vom Objekt erfahrbare Ent­
Die beiden Netzhautbilder unter­ leuchteten Zapfen mindestens einer fernungen nach oben durch die Größen­
scheiden sich im Wesentlichen dadurch, dunkel bleiben. Damit kommt man auf ordung von 100 Metern begrenzt.
dass der nahe Gegenstand gegenüber etwa 1/120 Grad oder 30 Winkelsekun­
dem fernen Hintergrund um einen klei­ den. Den Verlauf beispielsweise einer lan­ Doppelbilder sehen
nen Winkel versetzt erscheint (Bild un­ gen geraden Grenze zwischen hell und Wer mit nur einer Kamera ein Stereo­
ten). Um also mit zwei bloßen Augen – dunkel kann das Gehirn noch etwas ge­ bildpaar anfertigen möchte, muss von
in deren naturgegebenem Abstand – nauer rekonstruieren, indem es die auf einem Bild zum anderen die Kamera ein
Entfernungen zu schätzen, braucht man teilweise beleuchtete Zapfen einfallende Stück nach rechts oder links verschieben
ein gutes Winkelauflösungsvermögen der Lichtmenge verrechnet; dadurch kann es oder – bei diffusem Hintergrund – das
Augen. Dieses ist wie bei jedem abbil­ etwa ein Drittel eines Zapfendurchmes­ Objekt geringfügig um eine vertikale
denden System einerseits begrenzt durch sers noch erkennen und kommt auf eine Achse drehen. Wenn Sie Stereobilder im
die wellenoptischen Beugungseffekte – je Hypersehschärfe von etwa 10 Bogense­ Zoo machen wollen, fotografieren Sie
kleiner der effektive Linsendurchmesser, kunden oder 0,00005 im Bogenmaß. Sie sinnvollerweise Bäume oder ganz lang­
desto schlechter –, andererseits durch die heißt Noniensehschärfe nach dem Noni­ same Tiere. Ich verbeiße mir hier Witze
Struktur, auf der das reelle Bild entsteht:
die Pixelgröße in der Digitalkamera, die
Körnigkeit beim Film, der Abstand der Der Winkel, um den ein nahes Objekt vor
Sehzellen im Auge. Beim Menschen han­ dem weit entfernten Hintergrund zu sprin­
delt es in der Netzhautmitte fast aus­ gen scheint, wenn man von einem auf das
b e
schließlich um die Zapfen (bitte nicht andere Auge wechselt, ist gleich dem Win­
als Zäpfchen bezeichnen: solche gibt es kel, um den die Augen, vom Gegenstand aus
im Hals oder auch aus der Apotheke). gesehen, voneinander entfernt sind.

42 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010


Astronomie & Physik

Der technische Ersatz für Stielaugen: Durch


Paare schräg gestellter Spiegel stellt sich
die Welt für Tim so dar, als wäre sein rechtes
Auge (Bild links) oder sogar beide Augen
(Bild ganz links) nach außen verschoben.
Dank dem so vergrößerten Augenabstand
kann er auch bei Gegenständen am Horizont
deren unterschiedliche Entfernungen auf ei­
nen Blick erkennen.

über gewisse Berufsstände oder Bewoh­ ren; diese Kopplung muss man sich für rechte Auge und umgekehrt), so muss
ner bestimmter Städte, die auch auf Fo­ die Betrachtung von Stereobildpaaren man überkreuz schielen und passend ak­
tos mit riesigen Belichtungszeiten nicht abgewöhnen, weil Blickrichtung und kommodieren, was viele Menschen als
verwackelt erscheinen. Dankbare Ob­ Akkommodation nicht zueinanderpas­ etwas schwieriger empfinden; man hat
jekte sind nachgemachte Tiere an Stelle sen. Die Auflösung einer solchen ner- aber dann für die Größe der Bilder keine
der echten oder auch geometrische Kon­ vösen Kopplung erfordert geduldiges Einschränkungen.
struktionen, deren räumliche Struktur Üben (versuchen Sie mal, einen kleinen Ganz ohne Augenmuskelakrobatik
ein Stereobildpaar eindrucksvoll vor bei­ Finger zu krümmen und dabei den be­ geht es mit Spiegeln, Prismen oder Lu­
de Augen führt (Bild unten). nachbarten Ringfinger frei im Raum ge­ pen. Manchen Büchern sind Prismen
Bei der Wiedergabe stereografischer streckt zu lassen …); die Mühe wird be­ beigelegt, mit denen man die seitlich
Bildpaare darf jedes Auge nur das Teilbild lohnt, wenn plötzlich das räumliche Bild oder nach oben und unten nebeneinan­
in den Blick nehmen, das für dieses Auge erscheint. Vielleicht kennen Sie das noch der versetzten Halbbilder mühelos anse­
vorgesehen ist. Das kann der Betrachter von den vor einigen Jahre in Mode ge­ hen kann. Stereo­skope sind Halterungen
mit Augenmuskeltraining oder optischen kommenen Autostereogrammen (»Ma­ für zwei Halbbilder (etwa Diapositive)
Ablenkungen erreichen; oder die Einzel­ gic Eye«, siehe Spektrum der Wissen­ genau geradeaus vor Ihren beiden Au­
bilder stehen nicht nebeneinander, son­ schaft 1/1995, S. 10). gen, mit je einer Lupe, die den Abstand
dern bedecken eine gemeinsame Fläche Sind die Einzelbilder kleiner als der zwischen Dia und Auge als Brennweite
und werden über getrennte Kanäle den Augenabstand, kann man die Augen na­ hat. So richten Sie Ihre Augen parallel
beiden Augen zugeführt. hezu parallel ausrichten, als würde man nach vorne und akkommodieren dazu
Betrachten wir ein Ding direkt vor in eine große Entfernung sehen. Sind passend ins Unendliche, die Lupen glei­
unserer Nase, so drehen sich unsere Aug­ dann statt vier Bildern nur drei zu sehen, chen das dann aus.
äpfel einwärts, und die Linse wird zur so muss man diese Blickrichtungen bei­ Beliebig große Halbbilder können
Scharfeinstellung (»Akkommodation«) behalten und trotzdem »scharf stellen«. Sie an die rechte und die linke Zimmer­
kontrahiert. Wir sind es gewohnt, beide Stellt man die Bilder jedoch umgekehrt wand hängen und dann mit zwei Ta­
Bewegungen stets gekoppelt auszufüh­ nebeneinander (links das Bild für das schenspiegeln vor den Augen ansehen.

Stereobilder zum gewöhnlichen oder Überkreuzschielen. Betrachten


Sie das mittlere Bild mit dem linken Auge und eines der beiden (glei­
chen) anderen mit dem rechten. Rechts ein Känguru mit herausnehm­
barem Kind, unten ein Oktaederstumpf mit einigen Diagonalen.
beide Serien: Norbert Treitz

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010  43


Norbert Treitz
raden Nummern und dem anderen die
PHYSIKALISCHE UNTERHALTUNGEN

mit den ungeraden zu. Dieser Trick wird


nicht nur für Stereobilder benutzt, son­
dern auch für das Wechseln zwischen
zwei ähnlichen Bildern beim leichten
Drehen der Karte, was zum Beispiel Au­
genzwinkern oder die Wirkung kosme­
tischer Operationen vortäuscht.
Mit einem einfachen Versuch können
Drei Ansichten der gleichen Hohlform: links tionsfilter jeweils nur das zu sehen, was Sie gleichsam Ihr Gehirn beim Schätzen
von außen, rechts von innen und in der Mit­ sie sollen. von Größen und Entfernungen beob­
te »im Halbprofil« Eine andere Methode der Kanaltren­ achten. Legen Sie zwei genau gleiche
nung nutzt die Trägheit unseres visuellen Kärtchen (Visiten- oder Spielkarten aus
Systems. Unser Auge nimmt auch dann einem Memory- oder einem Rommee-
Das bekannteste Beispiel für Bilder, noch eine kontinuierliche Bewegung Spiel) vor sich nebeneinander auf den
die sich eine Fläche teilen, sind die Ana­ wahr, wenn zwischen den Zeitintervallen, Tisch und schauen Sie überkreuz (ein­
glyphen: Die Teilbilder eines schwarz- in denen die Einzelbilder eines Films zu wärts schielend) so, dass nur ein (flaches)
weißen Bildpaars werden rot und grün sehen sind, genau so lange Pausen liegen. Bild zwischen zwei weiteren zu sehen ist.
eingefärbt und auf die gleiche Fläche ge­ In diesen Pausen wird das jeweils andere Wenn Sie nun den Abstand der beiden
druckt (oder projiziert); entsprechende Auge bedient. Wie eine Verkehrsampel Kärtchen vorsichtig ändern, scheint sich
Farbfilter lassen für jedes Auge nur das eine Unterführung ersetzt, aber um den die Größe zu ändern. Das Gehirn be­
Passende durch. Strichzeichnungen kann Preis, dass man jede der Straßen immer rücksichtigt nämlich bei der Größenab­
man mit dem Computer oder mit de­ nur in einem Teil der Zeit befahren kann, schätzung nicht nur die Größe der Netz­
ckenden Farbstiften auf schwarzem Un­ gibt man einem Bildschirm abwechselnd hautbilder, sondern auch anhand bishe­
tergrund ausführen, dabei müssen die die Bilder für die beiden Augen. Vor die­ riger Erfahrungen die Einwärtsdrehung
Schnittbereiche von roten und grünen se werden dann Brillen (»Shutter«) ge­ der Augenachsen. Es sieht die Karte dort,
Linien gelb gefärbt werden. setzt, die passend dazu vom zugehörigen wo sich die Blicke kreuzen, und wundert
Es geht auch ohne Verzicht auf bun­ Computer abwechselnd durchsichtig und sich sozusagen, dass sie trotz der ver­
te Farben. Man projiziert zum Beispiel undurchsichtig geschaltet werden. meintlichen Nähe so klein aussieht.
die linken Bilder eines farbigen Kino­ Auf Postkarten findet man manch­ Damit verwandt ist ein Effekt beim
films mit einem Polarisationsfilter und mal Bilder, die aus feinen senkrechten Betrachten eines farbnegativen Nach­
die rechten Bilder mit einem rechtwink­ Streifen aus den beiden Teilbildern be­ bilds: Man schaut starr, das heißt unter
lig dazu orientierten Filter. Dabei füllt stehen und auf die ein ebenso feines Pris­ Vermeidung von Augenbewegungen, mi­
jedes Bild die ganze Leinwand. Die Au­ menraster aufgeklebt ist. Dieses leitet nutenlang auf ein buntes und gut be­
gen bekommen durch passende Polarisa­ dem einen Auge die Streifen mit den ge­ leuchtetes Objekt und anschließend auf

Stereobilder berechnen
Dieses Bildpaar zeigt seine eigene Entstehung, genauer die
von einem der beiden Teilbilder.

Christoph Pöppe, nach Norbert Treitz


Der Würfel deutet ein Koordinatensystem an. In seiner Ihnen
zugewandten Wand ist genau in der Mitte das Projektionszen-
trum (Objektivmitte, Loch einer Lochkamera); die weiße Pyrami-
de ist ein dreidimensionales Objekt, die gelbe Figur an der Ihnen
zugewandten Wand ihr zentralprojiziertes ebenes Bild. Die Skiz-
ze auf der linken Wand zeigt, wie mit dem Strahlensatz die verti- L R
nah fern nah fern
kalen Koordinaten der einzelnen Punkte für das Bild aus denen
des Objekts gewonnen werden, die auf dem Boden entsprechend Von einem Punkt (0, 0, e) als Projektionszentrum wollen
für die waagerechten Koordinaten. Die Zentralprojektion bildet wir die Punkte (xi, yi, zi) in die Ebene z  =  0 auf die Punkte
gerade Strecken des Objekts auf gerade Strecken des Bilds ab. (ui, vi) in Zentralperspektive abbilden. Die Strahlensätze liefern
Das vereinfacht die Konstruktion von Strichzeichnungen ganz ui  =  xi e /(zi + e) und vi = yi e /(zi + e) . Damit ist eins der beiden
wesentlich. Es sei aber angemerkt, dass gleichstufige Skalen auf Teilbilder fertig. Für das zweite müssten wir eigentlich ein an-
einer solchen Geraden durchaus ungleichstufig abgebildet wer- deres Zentrum wählen. Wir können aber stattdessen das Objekt
den können (zum Beispiel bei Eisenbahnschwellen). um einen passenden Winkel f um eine senkrechte Achse drehen.
Ein einfaches Rechenprogramm sieht etwa so aus: Wir be- Das geschieht mit folgender Abbildung:
schreiben unser räumliches Objekt durch seine Eckpunkte mit xi ' = xi cos(f) + yi sin(f)
den Koordinaten (x1, y1, z1), (x2, y2, z2) und so weiter. Gewisse yi' = –xi sin(f) + yi cos(f)
Eckpunkte sind durch gerade Linien miteinander verbunden. zi' = zi

44 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010


Fehlersuche auf einen Blick
Wer in einem sehr detailreichen Bild und einer Kopie

Norbert Treitz
desselben mit einigen abweichenden Stellen diese Feh-
ler finden soll, richte jedes Auge auf eins der Bilder und
betrachte sie wie ein Stereopaar. Schon sieht man ein
auffallend flaches Bild mit Löchern an den Fehlerstel-
len. Man braucht dann die Zeit nur noch zum Ablesen
und nicht zum Suchen. Das hat ein pfiffiger Mensch in
der Fernsehsendung »Wetten, dass …?« als sensatio-
nelle Leistung vorgeführt (und dann nur vage erklärt).
Eine ernsthafte Anwendung desselben Prinzips be-
treiben die Astronomen: Betrachtet man jeweils mit
einem Auge zwei Fotos desselben Himmelsausschnitts,
so scheint ein Planet, der sich in der Zeit zwischen den
Aufnahmen bewegt hat, dem Betrachter ins Gesicht
(oder in die Gegenrichtung) zu springen.
links: Deutsche Bundespost; rechts: Norbert Treitz

jlkfoeömdfsjfdhdjelo33d892 jlkfofömdfsjfdhdjelo33d892
meönlxl,mnjföeiiwkacjndlfg meönlxl,mojföeiiwkacjndmfg
lherflkdmnlknlkgnbldknclvi lherflkdmnlknlkgobldknclvi
jäpbw+öltmblnhfdöjknlyknkx jäpbw+ölumblnhfdöjknlyknkx
c,wjqgöwihföoeihgotijgldöm c,wkqgöwihföoeihgotijgldöm

Norbert Treitz
3vklvnldfgjeoövndlfnjvkdhg 3vklvnldfgjeoövndmfnjvkdhg
valknvlknvlka8hdfjikhvlndw vamknvllnvlka8hdfjikhvlndw
ßvgjwlskmjeu8wpödxösöklshh ßvgjwlskmjeu8wpödxpsöklshh

eine weiße Wand. Sofort erscheint dann auf einer Bühne nach vorne und hinten ke einen Schritt seitwärts geht, scheint
das Objekt in Gegenfarben und in einer auseinandergezogen: Stereozoom. der Kopf einem durch eine – allerdings
Größe, die der Entfernung dieser Wand Noch verrückter wird es, wenn man doppelt so weite – Drehung nachzubli­
bei gleicher Netzhautbildgröße (also dem mit den beiden Spiegeln »effektiv« die cken. Wenn das Gehirn keine anderen
gleichen Sehwinkel) entspricht, also typi­ Augen miteinander vertauscht. Das weiß Hinweise wie den Parallaxeneffekt bei
scherweise viel größer. Goethe hat diesen das Gehirn zwar auf der bewussten Ebe­ beidäugigem Sehen, Schatten oder Bede­
physiologischen Effekt offenbar als Erster ne, ändert aber wegen solcher Kleinig­ ckungen zur Verfügung hat, gewinnt bei
entdeckt (und in seiner »Farbenlehre«, keiten nicht seine Bildauswertungsrouti­ der Bildverarbeitung die Erfahrung die
didaktischer Teil, Nummer 52, beschrie­ nen! Nun sehen wir vorne und hinten Oberhand: Es gibt eben normalerweise
ben): nicht in einem Labor, sondern im vertauscht, der vom Fenster optisch aus­ keine Hohlköpfe, jedenfalls keine, in die
Wirtshaus an einer Kellnerin, die er hin­ geschnittene Teil eines Baums scheint vor man hineinblicken kann.
reichend lange angestarrt hatte. dem Fenster im Zimmer zu stehen. Bei Wenn in Ihrem Bastelgeschäft die
einem Mobile aus kleinen Figuren, die an Puppenkopf-Gießmasken gerade ausver­
Menschen mit Gorillaarmen Stäben und Fäden hängen und sich lang­ kauft sind: Es geht auch mit Papier, das
Wenn wir die Augen so einfach seitwärts sam bewegen, schaltet das Gehirn schlag­ Sie zu einer hohlen Würfelecke falten
ausfahren könnten wie die Fingerspitzen, artig von der getäuschten Wahrnehmung und als Gesicht bemalen.
würden wir das vermutlich zum Entfer­ zur korrigierten um, sobald eine Figur
nungssehen ausnutzen. Mit zwei parallel beginnt, eine andere zu verdecken.
gestellten Spiegeln (Bilder S. 42/43) se­ Eine sehr starke Illusion liefert eine
hen wir Entfernungsunterschiede vergrö­ Gießform für Puppenköpfe, besonders
ßert, so als wenn die Augen den großen wenn man sie innen schön ausmalt. Man
Abstand der Spiegel hätten. Bäume oder betrachte diese Innenseite mit nur einem
Häuser am Horizont treten deutlich Auge, und zwar so, dass keine Schatten­
nach vorne oder hinten auseinander, und grenzen darin auftreten – und kann sich
ganz normale Menschen haben plötzlich der Illusion, einen konvexen Puppen­ Norbert Treitz ist pensionierter Professor für
Gorillaarme. Schiebt man einen der kopf zu sehen, nicht entziehen! Wenn Didaktik der Physik an der Universität Duisburg-
Essen.
Spiegel – der dann etwas größer sein man ihn nun in der Hand leicht dreht
sollte – während der Benutzung meter­ oder kippt, scheint er genau die entge­
weit auf einem Stativ seitwärts, so wer­ gengesetzte Bewegung zu machen, und Treitz, N.: Spiele mit Physik(!). Harri Deutsch,
den die Objekte scheinbar wie Kulissen wenn man bei ruhend aufgestellter Mas­ Frankfurt am Main 1991.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2010  45


Titelthema: Neuro-enhancer Diesen Artikel können Sie als Audiodatei beziehen; siehe www.spektrum.de/audio

Doping für das


Gehirn
Wird man künftig einfach zum Frühstück eine Pille einwerfen, um Konzentration und
Gedächtnis zu steigern? Geht das überhaupt, ohne langfristig das Gehirn zu schädigen?

Von Gary Stix rer unter Termindruck oder gestresste Manager

U
nehmen Modafinil, einen neueren Munter­
nter dem Label »Transhumanis- macher. Anwender schwören, dass die Substanz
mus« plädieren einige Futurologen viel mehr ausrichtet als zwei Tassen Espresso
für eine gesteigerte Version des gegen Schläfrigkeit. Sie berichten von laser-
Menschentums. Der verbesserte scharfer Konzentration, die ihnen hilft, die
Homo sapiens wird demnach schon bald eine Feinheiten der organischen Chemie oder die
Kombination von Spitzentechnologien wie Geheimnisse kollateraler Schuldobligationen
Stammzellen, Robotertechnik und Psycho- zu verstehen.
In Kürze pharmaka nutzen, um die natürlichen Gren-
zen seiner physischen und psychischen Leis-
Wissenschaftler und Pharmaunternehmen
sind seit Längerem bemüht, aus Erkenntnissen
r  Studenten und Manager tungsfähigkeit zu sprengen. In der Tat ist die über die molekulare Grundlage der Kognition
nehmen psychoaktive Idee, man könnte eine Pille schlucken, um Wirkstoffe zu entwickeln, die gezielt geistige
Medikamente ein, um die Aufmerksamkeit, Gedächtnis und planmäßi- Leistungen verbessern – zunächst vor allem für
geistige Leistungsfähigkeit ges Handeln zu forcieren, schon heute keine Demenzkranke. Doch Ärzte werden ein Medi-
zu steigern, obwohl die pure Fantasie mehr. Auf die 1990er Jahre, die kament, das bei Alzheimer- oder Parkinson­
Substanzen nie für diesen zur Dekade des Gehirns erklärt wurden, folgt patienten wirkt, angesichts einer alternden Be-
Zweck zugelassen wurden. jetzt gewissermaßen das »Jahrzehnt des besse- völkerung bald auch bei milderen Symptomen
r  Manche Ethiker und ren Gehirns«. verschreiben. Die beginnende Debatte über
Neurowissenschaftler dis- Schlagzeilenträchtige Begriffe wie kosmeti- die Ethik des »optimierten Gehirns« erweckt
kutieren, ob Gesunde sche Neurologie, Smart Drugs, Neuro-Enhan- den Eindruck, wir alle könnten demnächst
freien Zugang zu solchen cer, Hirndoping oder gar »Viagra fürs Gehirn« eine Pille für schnelleres Denken kaufen.
Medikamenten bekommen zeigen: Pharmakologische Kognitionsverstärker Schon wird in Fachjournalen und Tages-
sollen.
haben Konjunktur. Aus Sicht der Medien ist presse diskutiert, ob sich Studenten mit Hirn-
r  Unklar ist, ob ein die Ära der künstlichen Hirnoptimierung doping einen unfairen Vorteil bei Prüfungen
Wirk­stoff, der in grundle-
schon angebrochen. Unter US-Studenten ist es verschaffen, oder ob Firmenchefs von ihren
gende Denkfunktionen
eingreift, jemals so sicher
durchaus üblich geworden, von einem Kom- Beschäftigten die Einnahme solcher Mittel
sein kann, dass er wie militonen einige Tabletten des rezeptpflichti- verlangen dürfen, um einen knappen Produk-
Kaffee oder Tee konsu- gen Medikaments Ritalin (Methylphenidat) tionstermin einzuhalten.
miert werden kann. auszuborgen, um die ganze Nacht lang hell- Doch können heute zugelassene Arzneimit-
wach büffeln zu können. Softwareprogrammie- tel, die eigentlich gegen Aufmerksamkeitsstö-

46  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


medizin & biologie

Splashlight
rungen oder krankhaften Schlafdrang entwi- te, Letztere gegen Lampenfieber. Als häufigster
ckelt wurden, tatsächlich einem Studenten zu Grund wurde die Notwendigkeit genannt, die Darf man?
besseren Examensnoten verhelfen oder einem Konzentration zu steigern. Beschafft werden
Manager zu schlagfertigen Antworten im fir- die Medikamente oft aus dem Internet oder Im November 2009 veröf-
meninternen Kreuzverhör? Wird ein Medika- über Ärzte, die sie zweckentfremdet verschrei- fentlichte die Zeitschrift
ment, das in elementare Hirnfunktionen ein- ben; legal dürfen die Pharmaunternehmen »Gehirn&Geist« (G&G) unter
dem Titel »Das optimierte
greift, jemals rezeptfrei zu haben sein wie As­ nicht für diesen Missbrauch werben.
Gehirn« ein Experten-Memo-
pirin oder Alka-Seltzer? An solchen Fragen Die Einnahme solcher Präparate wird mit
randum, das für reichlich
entzünden sich hitzige Debatten unter Neuro- steigendem Durchschnittsalter und fortschrei- Wirbel sorgte. Einige Kern-
wissenschaftlern, Medizinern und Ethikern tender Globalisierung voraussichtlich zuneh- sätze:
(rechte Randspalte und Interview S. 52/53). men. »Ein 65-Jähriger aus Boston, dessen Al- r  »Ausgangspunkt unse-
tersversorgung durch die Finanzkrise nicht rer Überlegungen ist das
Ethische Bedenken mehr ausreicht, der deshalb weiterarbeiten muss Recht eines jeden entschei-
Einmal abgesehen von Aspekten wie Sicher- und mit einem 23-Jährigen aus Mumbay um dungsfähigen Menschen,
heit, Fairness und Nötigung – die Nachfrage den Job konkurriert, könnte sich geradezu ge- über sein persönliches
nach Kognitionsverstärkern ist wirklich groß. zwungen fühlen, zu diesen Pillen zu greifen«, Wohlergehen, seinen Körper
Nach offiziellen Schätzungen nutzten im Jahr erklärt Zack Lynch, Präsident des Interessenver- und seine Psyche selbst zu
2007 mehr als 1,6 Millionen US-Bürger Medi- bands Neurotechnology Industry Organization. bestimmen.«
kamente als Neuro-Enhancer, die eigentlich für Der Ruf nach ethischen Richtlinien unter- r  »Entgegen vielen Be-
die Behandlung des Aufmerksamkeitsdefizit- stellt freilich, dass die Präparate besser wirken fürchtungen (und Hoff-
Hyperaktivitätssyndroms (ADHS) verschrie- als Placebos und grundlegende Funktionen nungen) gibt es offenbar
ben werden. Dazu gehören Methylphenidat wie Aufmerksamkeit und Gedächtnis oder gegenwärtig noch keine
bemerkenswert wirksamen
(Handelsname Ritalin), die Amphetamine Ad- Vorausplanen und abstraktes Denken tatsäch-
Neuro-Enhancement-Prä­
derall und Benzedrin sowie Modafinil (Provi- lich günstig beeinflussen. Jedenfalls entstand
parate.«
gil, Nuvigil). An einigen Universitäten gab ein 2002 ein neues Fach namens Neuroethik mit
r  »Wir fordern einen
Viertel der Studenten an, diese Präparate schon dem Ziel, die moralischen und sozialen Kon-
offenen und liberalen, aber
einmal geschluckt zu haben. 2008 ergab eine sequenzen von kognitionssteigernden Medi-
keineswegs unkritischen
formlose Onlinebefragung der Zeitschrift kamenten und Geräten – etwa Hirnimplan- oder sorglosen Umgang mit
»Nature«, dass jeder fünfte von 1427 Wissen- taten – zu untersuchen. pharmazeutischem Neuro-
schaftlern aus 60 Ländern Methylphenidat, Eine Gruppe von Ethikern und Neurowis- Enhancement.«
Modafinil oder Betablocker eingenommen hat- senschaftlern publizierte 2008 in »Nature« ei-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 47


Titelthema: Neuro-enhancer

»Neuro-Enhancement- nen höchst provokanten Kommentar, der vor- sen sei, doch wohl unschädlich genug sein, um
hersagte, Medikamente würden künftig im- gesunden Erwachsenen zum Aufpeppen ihres
Präparate dürfen mer weniger als bloße Medizin gegen Krank- Gehirns zu dienen. In einem späteren Inter-
keine Entschuldigung heiten gelten. Die Verfasser rechnen damit, view prognostizierte Harris eine allmähliche
dass Psychostimulanzien, sobald ihre Wirk- Freigabe von Ritalin; falls keine Langzeit-­
dafür sein, das
samkeit und Unschädlichkeit bei Ge­sunden Nebenwirkungen aufträten, würde das derzeit
Be­mühen um eine einmal belegt ist, breite Anwendung zur Leis­ noch verschreibungspflichtige Medikament
bessere Gesellschaft tungssteigerung in Unterrichtsräumen und letztlich rezeptfrei erhältlich sein wie Aspirin.
Verhandlungszimmern finden. Studien, die
zu vernachlässigen« eine Wirkung solcher Substanzen auf das Ge- Viel Lärm um nichts?
(Aus dem Memorandum, dächtnis und andere Formen der Informa­ Diese Überlegungen blieben nicht unwider-
Gehirn&Geist 11/2009) tionsverarbeitung im Gehirn zeigen, dienen sprochen. Andere Forscher und Ethiker be-
den Autoren als Argument, das Hirndoping zweifeln, dass Medikamente, die Denkpro-
auf eine Stufe zu stellen mit »Erziehung, Ge- zesse modulieren, jemals so sicher anwendbar
sundheitsvorsorge und Datentechnik – lauter sein werden wie ein rezeptfreies Schmerzmit-
Methoden, mit denen unsere einzigartig inno- tel oder wie Kaffee und Tee. »Manche sagen,
vative Spezies sich zu verbessern sucht«. Neuro-Enhancement ist nichts weiter als das
Sechs Monate später ging einer der Auto- Aufsetzen einer Brille, damit man schärfer
ren, der Bioethiker John Harris von der Uni- sieht«, bemerkt James Swanson von der Uni-
versity of Manchester, im »British Medical versity of California in Irvine; er hat an kli-
Journal« noch einen Schritt weiter; Harris ist nischen Studien über Amphetamine und
Herausgeber des »Journal of Medical Ethics« Modafinil als Mittel gegen ADHS mitgewirkt.
und des Buchs »Enhancing Evolution« (Opti- »Viele unterschätzen das Risiko, wenn die
mierung der Evolution). Er meint, Methyl- Leute solche Substanzen massenhaft einneh-
phenidat dürfte, wenn es für Kinder zugelas- men. Ein gewisser Prozentsatz wird wahr-
scheinlich abhängig, und bei einigen wird die
geistige Leistung sogar abnehmen. Deshalb
Wer braucht Neuro-Enhancer? bin ich gegen einen breiten Einsatz.«
Die Bevölkerung altert (Grafik), Studenten und Angestellte leiden zunehmend Manche Wissenschaftler meinen, die De-
unter Terminstress und Leistungsdruck (Fotos). Dadurch wächst die Nachfrage nach batte sei überflüssig, denn wirklich schlauer
Medikamenten, die Konzentration und Merkfähigkeit steigern. werde man doch nur durch mühsamen Wis-
senserwerb. Einige, die an Wirkstoffen gegen
den Gedächtnisverlust bei Demenz forschen,
erwartete Zunahme der Langlebigkeit (1994 – 2020) halten Doping des gesunden Hirns bestenfalls
für eine vage Möglichkeit. »Ich würde mir
prozentuale Zunahme der Senioren über die Folgen von Kognitionsverstärkern bei
(65 Jahre und älter)
in der Gesamtbevölkerung Gesunden nicht viele Sorgen machen, weil so
200 etwas zurzeit gar nicht existiert«, sagt Rusiko
Bourtchouladze; er hat ein allgemein ver-
150 ständliches Buch über Gedächtnisforschung
verfasst und zu den Untersuchungen beigetra-
Großbritannien
Frankreich

Getty images / Jupiterimages

gen, die zum Nobelpreis für Erich Kandel im


Russland

100
Jahr 2000 führten. »Wahrscheinlich erleben
wir sie gar nicht. Viel Lärm um nichts.«
Kolumbien

50
Südkorea
Singapur

Brasilien

Nach dieser Auffassung steht das komplexe


Nigeria
Mexiko

Türkei



China
Japan

Gemisch aus chemischen Signalen, Enzymen


USA

0 Quelle: British Medical Journal und Proteinen, die gemeinsam einen Ge-
dächtnisinhalt formen, beim Gesunden in
Diagramm und Tabletten: Lucy Reading-Ikkanda

einem selbst regulierten Gleichgewicht, das


kein Herumpfuschen verträgt. Der Verlust an
Denkfähigkeit und Identität, den Demenz-
kranke erleiden, lässt sich vielleicht durch ge-
zielten Ersatz fehlender Signalsubstanzen be-
handeln, und das mag die Nebenwirkungen
entsprechender Medikamente rechtfertigen.
Doch ein Eingriff in das delikate Gleichge-
Larry Dale Gordon

wicht des gesunden Hirnstoffwechsels könnte


unabsehbare Folgen haben. Beispielsweise be-
einträchtigt eine Verstärkung des Langzeitge-
dächtnisses, in dem die Erinnerungen an die

48  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Medizin & Biologie

Kindheit und an die Ferien der letzten Jahre Methylphenidat, den Amphetaminen che-
gespeichert sind, vielleicht das Arbeitsgedächt- misch nahe verwandt, kam in den 1950er Jah-
nis – den Kurzzeitspeicher, mit dem wir uns ren als angeblich milderes Stimulans auf den
vorübergehend eine Telefonnummer merken. Markt – aus Sicht des Herstellers »die glück-
Einige Kritiker nennen die aktuelle Aufre- liche Mitte der psychomotorischen Stimula­
gung über Neuro-Enhancer einen Fall von tion« –, aber seine biochemische und psycho-
»spekulativer Ethik«. Diese Tendenz macht logische Wirkung ist bei höherer Dosierung
sich auch in der Nanotechnik und anderen die gleiche. Das goldene Zeitalter der Amphe-
aktuellen Bereichen bemerkbar, sobald sich tamine endete vor etwa 40 Jahren. In den
Ethiker, Wissenschaftler und Politiker über USA erreichte der Jahreskonsum damals mit
die sozialen Folgen von noch nicht existie- zehn Milliarden Tabletten einen Höhepunkt,
renden Technologien Gedanken machen, bevor die amerikanische Gesundheitsbehörde
seien es Smart Pills oder Amok laufende Na- FDA (Food and Drug Administration) Am-
noroboter. »Die Debatte über die technische phetamine unter Rezeptpflicht stellte. Der
Verbesserung des Menschen ... beruht großen- Neurowissenschaftler Michael S. Gazzaniga
teils auf überzogenen Erwartungen und Tech- von der University of California in Santa
nikhysterie«, schreibt Maartje Schermer von ­Barbara, einer der Autoren des erwähnten
der Erasmus-Universität Rotterdam in der »Nature«-Kommentars, erinnert sich, dass ihm,
Zeitschrift »Neuroethics«. während er Anfang der 1960er Jahre studier-
Die Idee, Medikamente könnten das Den- te, der Vater Benzedrin schickte.
ken bei Gesunden verbessern, ist fast ein Jahr- Als Mitte der 1990er Jahre immer häufiger
hundert alt und hatte zwiespältige Konse- Methylphenidat gegen ADHS verschrieben
quenzen. Der Chemiker Gordon Alles führte wurde, untersuchte man mit modernsten
1929 den synthetischen Wirkstoff Ampheta- bildgebenden Verfahren und raffinierten neu-
min als billigeren Ersatz für die pflanzliche psy- ropsychologischen Tests die Wirkung der Sub-
choaktive Substanz Ephedrin ein. Er entwi-
ckelte auch den Hauptinhaltsstoff der Party-
droge Ecstasy, MDMA, einen Abkömmling Helfen diese Psychopillen wirklich?
des Amphetamins. Im Zweiten Weltkrieg wur-
den verschiedene Amphetamin-Derivate ver- In Fachzeitschriften und Massenmedien werden Medikamente, die eigentlich
wendet, um die Soldaten wach zu halten und zur Behandlung neurologischer Erkrankungen zugelassen sind, als Substanzen
ihren Kampfgeist zu stärken. Deutsche und Ja- vorgestellt, die das Denkvermögen von Gesunden steigern können. Doch die In-
paner nahmen Methamphetamin ein, während dizien dafür sind keineswegs eindeutig, und die Risiken sprechen gegen eine
Briten und Amerikaner Benzedrin einsetzten, generelle Freigabe.
ein mit Adderall fast substanzgleiches Amphe-
tamin. Medikament medizinische Wirksamkeit als Risiken
Anwendung Neuro-Enhancer
Eine wechselhafte Vorgeschichte Methylphenidat Stimulanzien zur steigern die kognitive verschlechtern
Bald wollten Forscher wissen, ob die empfun- (Ritalin, Concerta Behandlung des Leistung bei be- die Leistung
dene Leistungssteigerung echt ist. Wie bri- und andere) und Aufmerksamkeits- stimmten Aufgaben bei komplexen
Amphetamine defizit-Hyperak- nach Schlafentzug; Aufgaben;
tische und amerikanische Psychologen in den (Benzedrin, tivitätssyndroms verbessern mitunter Herz-Kreislauf-
1940er Jahren feststellten, hatten Versuchs­ Adderall) (ADHS) und von Planungsfähigkeit und Komplikatio­
personen unter Amphetamin eine sehr hohe Narkolepsie eine Form des Arbeits- nen, Krampf­
(Schlafzwang) gedächtnisses; anfälle,Hallu­-
Meinung von den eigenen Leistungen beim erhöhen offenbar die zi­nationen und
Schnelllesen, Multiplizieren und anderen Tests. Leistung bei simplen Abhängigkeit
Doch die Ergebnisse waren meist nicht besser repetitiven Aufgaben
als bei Einnahme von Koffein. Bei komple- Modafinil neueres Psycho- verbessert anschei- könnte süchtig
xeren Aufgaben nahm die Leistung oft sogar (Provigil) stimulans gegen nend Konzentration machen; kann
ab. »Da Amphetamine die Stimmung aufhel- Narkolepsie und und Leistung bei schwere Haut-
extreme Müdig- beschränkten Aufga- ausschläge
len, gaukeln sie einem vor, man sei besonders keit bei Schicht- ben, etwa beim verursachen
leistungsfähig«, erklärt Nicolas Rasmussen, arbeit oder Apnoe Merken von langen
Wissenschaftshistoriker an der University of (Atemstillstand Ziffernfolgen
im Schlaf)
New South Wales in Sydney (Australien) und
Autor des Buchs »On Speed« (New York Uni- Donepezil Behandlung der unterstützt Lernen und könnte bei
versity Press, 2008). »Sie führen bei simplen (Aricept) Alzheimerkrank- Gedächtnis, doch die Gesunden die
heit; erhöht die Resultate sind wider- kognitiven
Labortests, welche die Leistung bei langwei- Verfügbarkeit des sprüchlich; wirkt oft Leistungen
ligen Aufgaben messen, zu besseren Ergebnis- Neurotransmit- erst nach mehreren etwas ver-
sen durch Steigern des Arbeitseifers. Solche ters Acetylcholin Wochen; wird seltener schlechtern
zur Verbesserung off-label genutzt als die
Tests lassen sich aber nicht mit einem Juraexa- der Hirnleistung obigen Substanzen
men oder einem Luftkampf vergleichen.«

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 49


Titelthema: Neuro-enhancer

stanz auf Gesunde, um sie mit ADHS-Pati-


Wie zwei Enhancer wirken enten zu vergleichen. Nach einer 1997 in der
Zeitschrift »Psychopharmacology« veröffent­
Kognitionsverstärker wie Methylphenidat und Amphetamine verändern die lichten Untersuchung von Barbara Sahakian
Aktivität des Neurotransmitters Dopamin an den Synapsen, den Schaltstellen und Trevor Robbins von der University of
zwischen Nervenzellen. Eine Stärkung der durch Dopamin vermit- Cambridge verbessert Methylphenidat bei
telten Signale verbessert möglicherweise die Lernfähigkeit ausgeruhten gesunden jungen Männern
durch gesteigerte Aufmerksamkeit und erhöhtes Interesse zwar räumliches Arbeitsgedächtnis und
an gestellten Aufgaben. Planung, nicht jedoch Aufmerksamkeit
und Sprachgewandtheit. Mit fortschreiten-
der Testdauer machten die Probanden mehr
normale Synapsenaktivität Fehler – vielleicht, weil sie sich infolge des
Wenn ein Dopamin produzierendes prä- Muntermachers überschätzten.
synaptisches Neuron aktiv ist, geben
Bei gesunden älteren Männern beobachte-
Vesikel (Bläschen) den Neurotransmitter
ten die Forscher kaum positive Wirkungen. Im

frei 1  . Einige Dopaminmoleküle über-
Jahr 2005 konnte eine Arbeitsgruppe der Uni-
queren den synaptischen Spalt, heften sich
an Rezeptoren am postsynaptischen Neuron versity of Florida Medical School in Gaines-

und aktivieren sie 2  . Dadurch steuern sie präsynaptisches ville keinerlei kognitive Wirkung von Methyl-
das Feuern des postsynaptischen Neurons. Neuron phenidat bei 20 durch Schlafentzug übermü-
Pumpen auf dem präsynaptischen deten Medizinstudenten feststellen. Dass die
Neuron saugen dann Do-
pamin aus dem Spalt
Substanz jemals frei verkäuflich neben Koffein-
zurück in die präparaten im Regal stehen wird, ist auch des-
Vesikel

Zelle 3  . halb unwahrscheinlich, weil sie Herzrhythmus-
störungen auslösen und als Lifestyledroge miss-
braucht werden kann. Normale Dosierung
führt zwar selten zur Abhängigkeit, aber in den
1970er Jahren war Sucht durch Inhalation
oder Schnupfen von »West Coast« – damaliger
Synapse
Szenename von Methylphenidat – durchaus

1 die Regel.
Neurotransmitter
Dopamin

3 Dopamin-
pumpe
Die Allzeit-bereit-Pille
Angesichts der zwiespältigen Karriere der Am-

2 postsynaptisches phetamine begrüßten Neurowissenschaftler
Neuron
und Ärzte Modafinil als neuen, harmlosen
Rezeptoren Muntermacher. Da das 1998 in den USA ein-
geführte Medikament befähigt, lange ohne
Pause zu arbeiten, hat es sich als Lifestyledroge
für Vielflieger etabliert, die ohne Jetlag in vier
Zeitzonen zu Hause sein möchten.
medikamentös verstärkte Synapsenaktivität James Cascio vom Institute for the Future
Methylphenidat (Ritalin, Concerta) Amphetamine (Benzedrin, Adderall) ge- in Palo Alto (Kalifornien) ließ sich von sei-
blockiert die Wiederaufnahme von langen über den Pumpmechanismus in nem Arzt Modafinil verschreiben, nachdem
Dopamin. Dadurch steht mehr Dopa- das präsynaptische Neuron und steigern ihm Bekannte, die viel unterwegs waren, da-
min für die Bindung an ein post­ die Freisetzung von Dopamin in den sy- von vorgeschwärmt hatten. Auf Überseereisen
synaptisches Neuron zur Verfügung, naptischen Spalt. Auch in diesem Fall
und die Stärke des übermittelten steht mehr Dopamin für die Rezeptoren stellte er fest, dass der Stoff ihn nicht nur
Signals nimmt zu. des postsynaptischen Neurons bereit. wach hielt, sondern auch geistesgegenwärtiger
machte. »Ich war sehr angenehm überrascht,
wie konzentriert und klar mir mein Denken
vorkam«, erzählt Cascio, der das Mittel in ei-
nigen Artikeln erwähnt hat. »Ich hatte nicht
das Gefühl, auf einmal ein Superhirn zu
Illustrationen dieser Doppelseite:  Andrew Swift

­haben, sondern leichter in einen kognitiven


Fluss einzutauchen, in einen Zustand, in dem
Methyl­
ich ohne Ablenkung arbeiten konnte.«
Amphetamin Tests bestätigen Cascios Eindrücke zum
phenidat
Teil. Wie Sahakian und Roberts 2003 beob-
achteten, schnitten 60 ausgeruhte gesunde
Männer bei einigen neuropsychologischen
Tests besser ab, zum Beispiel beim Merken

50  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Medizin & Biologie

von Zahlenfolgen. Auch andere Forscher fan-


den positive Effekte, obwohl Modafinil, wie
Medikamente gegen das Vergessen
Cascio betont, aus einem Schwachkopf kein
Genie macht. Außerdem wurde in keiner die- Seit Langem – in einem Fall
prä­ schon seit 20 Jahren – arbeiten
ser Studien die kognitive Wirkung über län- synaptisches
gere Zeiträume gemessen. Neuron Forscher an Me­dikamenten,
Von unreguliertem Zugang zu Modafinil die in die biochemischen
oder Methylphenidat ist auch deshalb abzu­ Mechanismen des Langzeit­
1 ● Glutamat
gedächtnis­ses eingreifen.
raten, weil diese Stoffe individuell unter- Angriffs­
punkt des Kalzium
schiedlich wirken. Anwender mit geringerem Wirk­stoffs
Intelligenzquotienten scheinen deutlicher von
AMPA- Das Langzeitgedächtnis beruht
Modafinil zu profitieren. Methylphenidat ver- ●
2 offenbar darauf, dass der Neuro-
Rezeptor NMDA-
bessert in Tests ein schwaches Arbeitsgedächt- Rezeptor transmitter Glutamat sich an zwei
nis, während ein von vornherein gutes Ge- Typen von Rezeptoren auf dem
dächtnis kaum davon profitiert. postsynaptisches postsynaptischen Neuron heftet.
Neuron
Weder Modafinil noch die Amphetamine Nachdem der AMPA-Rezeptor
wurden auf Grund tieferer Einsicht in die ●
Glutamat gebunden hat 1  , bewirkt
er, dass der andere, ebenfalls mit
Funktionsweise des Gehirns entwickelt. Wie zyklisches
e
AMP ad Glutamat besetzte NMDA-Rezeptor
sich erst neuerdings zeigt, beeinflusst Modafi- ask einen Ionenkanal öffnet und Kalzium
na l k
nil mehrere Neurotransmitter, die das Feuern Sig ●
einströmen lässt 2  . Die Ionen
bestimmter Neuronengruppen auslösen. Vor
setzen eine Signalkaskade in Gang,
Kurzem entdeckte Nora D. Volkow, Leiterin ●
3
die zur Bildung von zyklischem AMP
des National Institute of Drug Abuse, dass es Angriffspunkt
des Wirkstoffs

führt 3  . Dieses cAMP wiederum
sich dabei unter anderem um Dopamin han- signal­ aktiviert Signalproteine, die in den
verstärkende Zellkern wandern und das CREB-Pro-
delt; dieser Neurotransmitter wird auch durch Proteine tein in den aktiven Zustand verset-
die Amphetamine verstärkt und ist für deren Zellkern des
Suchtpotenzial verantwortlich. »Anders als Neurons

zen 4  . CREB bindet an die DNA im
Zellkern und veranlasst die Synthese
früher vermutet beeinflussen Methylphenidat von Proteinen, die dann zurück zur
aktiviertes DNA
und Modafinil das Dopaminsystem offenbar CREB
Synapse wandern und die Signalver-
auf sehr ähnliche Weise«, sagt Volkow. Bei bindung zwischen den beiden
beteiligten Neuronen stabilisieren
Modafinil sei die Suchtgefahr aber geringer, ●
5
●5  . Medikamente, die diesen
da es sich nicht dafür eigne, über den Magen ●
4
Prozess fördern – entweder indem
oder die Lunge einen starken Rauschzustand sie die Signalübertragung an den
herbeizuführen. Erst 2006 wurde entdeckt, AMPA-Rezeptoren verstärken oder
dass Modafinil böse Hautausschläge verursa- die Wirkung von cAMP verlängern –,
chen kann; seither lehnt die FDA den Einsatz sind bereits in der klinischen
gegen ADHS bei Kindern ab. Prüfung.
Auch wenn die alten Muntermacher nun
als Kognitionsverstärker für Studenten, Börsi-
aner und Softwareprogrammierer gepriesen Munter in den Krieg
werden, dürften sie kaum mehr bewirken als
ein doppelter Espresso. Was ist ein kognitiver Die Idee, eine Pille könne die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit ge-
Enhancer genau? Innerhalb des American nerell steigern, setzte sich im Zweiten Weltkrieg durch. An allen Fronten wur-
College of Neuropsychopharmacology wurde den Millionen Amphetaminpillen eingenommen. Hier überreicht ein Stabsarzt
eigens eine Gruppe gebildet, um den Begriff der britischen Royal Air Force dem Mitglied einer Bomberbesatzung eine Hand
zu definieren. Solche Substanzen könnten voll Muntermacher.
schließlich auch aus ganz anderen Forschungs-
bereichen hervorgehen. Zum Beispiel lieferten
Befunde, die besagen, wie wir das Bild eines
eum, Canada

Säuglings oder den Namen eines Freundes


dauerhaft im Gedächtnis speichern, den Aus-
ining Plan Mus

gangspunkt für die Entwicklung neuer Medi-


kamente gegen die Alzheimerkrankheit.
wealth Air Tra

Die Hoffnung auf neuartige Enhancer


speist sich vor allem aus solchen Fortschritten
der Grundlagenforschung. An mehr als 30 ver-
. des Common

schiedenen Linien genetisch veränderter Mäu-


se lässt sich deren gegenüber normalen Tieren
Mit frdl. Gen

erhöhte Fähigkeit nachweisen, Informationen


aufzunehmen und im Langzeitgedächtnis zu

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Titelthema: Neuro-enhancer

speichern. »Zum ersten Mal in der Geschichte erklärt Silva. Er schätzt, dass es noch Jahr-
der Neurologie verstehen wir in Umrissen die zehnte dauern kann, bis aus seiner Forschung
Molekular- und Zellbiologie des Gedächt- brauchbare Medikamente hervorgehen.
nisses«, sagt Alcino J. Silva, Neurobiologe an Auch die wirtschaftlichen Hürden sind
der University of California in Los Angeles. hoch. Von den ersten Unternehmen auf die-
»Das können wir jetzt nutzen, um die Art, wie sem Gebiet – einige von führenden Wissen-
wir lernen und uns erinnern, zu verändern.« schaftlern gegründet – sind mehrere geschei-
Doch die meisten der 200 Mutationen, mit tert. Das Wissenschaftsmagazin »Science«
denen Wissenschaftler in aller Welt das Mäu- nannte 2004 vier neue Firmen: Sention, Cor-
segedächtnis zu steigern suchen, wirken sich tex Pharmaceuticals, Memory Pharmaceuti-
negativ aus. Silva erinnert sich an eine Maus­ cals und Helicon Therapeutics. Sention hat
linie in seinem Labor, die den möglichen Preis den Betrieb eingestellt. Cortex wankt und
der Kognitionsverstärkung illustriert. Diese sucht verzweifelt einen finanzstarken Partner.
Tiere lernten zwar schneller als nicht mutierte Im Jahr 2008 kaufte Hoffmann-La Roche für
Mäuse, waren jedoch unfähig, eine komplexe einen Spottpreis die von Nobelpreisträger
Aufgabe zu lösen. »Wenn man ihnen etwas Kandel mitbegründete Firma Memory, nach-
Einfaches beibrachte, nahmen sie es schnell dem sie Mitarbeiter entlassen musste und
auf, aber alles Komplizierte überforderte sie«, mehrere ihrer klinischen Studien erfolglos

Interview
»Zu viel Schwarzmalerei«
Die pharmakologische Steigerung unserer Gehirnleistung
sollte nicht vorschnell verteufelt werden.
Bettina Schöne-Seifert ist Professorin für Ethik in der Medizin an der Universität Münster und Mitglied

Deutscher Ethikrat
des Deutschen Ethikrats. Gemeinsam mit sechs weiteren Autoren hat sie kürzlich das Memorandum
zum Neuro-Enhancement (kurz: NE) verfasst, also der Steigerung von Leistung, Gefühlen, Motivation.
Das Memorandum erschien in der Novemberausgabe der Zeitschrift »Gehirn&Geist«.

Spektrum der Wissenschaft: Das Memo- gar nicht zur Debatte. Davon abgesehen ist Entwicklungen führen oder den Charakter
randum zum Neuro-Enhancement befür- Sportdoping immer kompetitiv und eine verbiegen. Wir reden keiner Ellbogenge-
wortet weit gehend das Hirndoping. Das Verletzung bestehender Regeln. Beim NE, sellschaft das Wort.
haben einige Medien stark kritisiert und wo es etwa um Gedächtnissteigerung oder Spektrum: Warum sollten wir unsere
sprachen daraufhin sogar von einer Kampf- Stimmungsaufhellung ginge, müssen Ge- Hirnleistungen überhaupt künstlich ver-
ansage – fühlen Sie sich getroffen? sellschaften diese Regeln doch erst erar- stärken?
Prof. Bettina Schöne-Seifert: Ja, meine beiten. Es geht nicht darum, dass wir NE Schöne-Seifert: Wir fordern doch nicht
Mitautoren und ich fühlen uns in be- unbesehen richtig fänden. Aber wir dia- dazu auf! Aber wenn es eines Tages Präpa-
stimmten Punkten missverstanden. Schon gnostizieren Schwarzmalerei und mora- rate geben sollte, die uns geistig deutlich
Ihre Darstellung trifft nicht zu: Im Memo- lische Diffamierung, ohne dass dahinter fitter machen, als es Sudokus oder Training
randum befürworten wir nicht den unein- schon klare Befunde stünden. allein schaffen, dann wäre dies in den
geschränkten Gebrauch dieser Substan- Spektrum: Es gab ja noch weitere Kritik- ethischen Abwägungsprozessen jedenfalls
zen, die es in wirksamer Form noch gar punkte ... ein großer Pluspunkt.
nicht gibt, sondern eine offene und vorur- Schöne-Seifert: Ja. So wurde bemängelt, Spektrum: Im Bagatellbereich gibt es
teilslose Diskussion. Wir untersuchen die dass wir einen billigen Liberalismus ver- Muntermacher doch schon lange – Tee und
gängigen Verbotsargumente und finden träten, wo doch in der Realität die Freiheit Kaffee zum Beispiel.
die kategorischen unter ihnen nicht über- des Einzelnen absehbar unter die Räder Schöne-Seifert: Das Analogieargument
zeugend. Bedenken, die auf individuelle des Leistungsdrucks und der Pharmainte- gilt bei Kritikern als triviale Schönrederei.
oder gesellschaftliche Folgen abheben, ressen geraten werde. Das bleibt zu prü- Aber ernsthaft: Wo liegt der normative
nehmen wir durchaus ernst. Aber hier ist fen. Begründet werden muss jedenfalls Unterschied? Das Trinken von Kaffee ist
vieles Spekulation. nicht der Anspruch auf Freiheit, sondern Teil unserer Kultur geworden; ursprünglich
Spektrum: Es entsteht der Eindruck, Sie deren Einschränkung. galt er als umstrittenes Weckelixier, das
unterstützen jede Manipulation des Men- Spektrum: Nun will doch jeder im Leben vielen scheußlich schmeckte. Kaffee als
schen. Das ist schon beim Sportdoping so gut und fit wie möglich abschneiden – banales Genussmittel, aber die deutlich
verboten und dort zu Recht verpönt. körperlich, geistig, psychisch. Sind dafür »verbesserte« Koffeintablette, die uns die
Schöne-Seifert: Ein doppeltes Missver- nicht alle Mittel erlaubt? Zukunft bringen könnte, als Teufelszeug –
ständnis. Fremdbestimmte oder risiko- Schöne-Seifert: Nur so weit diese Dinge das leuchtet nicht ein.
trächtige Maßnahmen stehen auch bei uns nicht schädlich sind, zu problematischen Spektrum: Noch ist doch alles Spekula-

52  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Medizin & Biologie

blieben. Helicon überlebte nur durch die


Großzügigkeit des Styroporbecher-Milliardärs
Kenneth Dart. Die Firma arbeitet an einem
Wirkstoff, der in den Glutamat-Stoffwechsel
eingreifen soll; dieser Neurotransmitter steu-
ert einen komplizierten zellulären Signalweg,
der mit der Bildung langfristiger Gedächtnis-
inhalte zusammenhängt (siehe Kasten S. 51).
Eine Schwesterfirma von Helicon, Dart
NeuroScience, übernimmt inzwischen die
Entwicklung neuer Substanzen, so dass sich
Helicon auf klinische Studien konzentrieren
kann. Helicon hat mehr als 100 Millionen
Dollar an Fördermitteln erhalten, ohne dass
einer der Probestoffe ein spätes Prüfungsstadi-
um erreicht hätte. »In meinen Vorträgen er-
kläre ich das gern so: Bei der Gründung von
Helicon dachte ich, wir stellten Gedächtnis-

tion – es gibt bisher schließlich keine ner und sozialkompetenter würde. Wenn Fall. Natürlich gibt es auch einen subtilen
dauerhaft wirksamen Pillen zum NE. Wo- es erlaubt ist, sich durch Verhaltensthe­ Nutzungszwang – auch den finden wir
von redet man eigentlich? rapie zu verändern, warum sollte man das hochproblematisch. Allerdings geht ein
Schöne-Seifert: Richtig, wir reden von nicht auch medikamentös erreichen dür- gewisser Druck mit der Einführung vieler
einer Möglichkeit, die vielleicht in 10 fen? Wenn NE allerdings das Vertrauen in neuer Techniken einher. Denken Sie an
oder 20 Jahren Wirklichkeit wird – auch die eigene Leistungsfähigkeit beeinträch- Handys, Computer oder das Internet, die
wenn die ersten Anzeichen schon da sind. tigen würde, wäre das ein gewichtiges man heute nutzen muss, um beruflich
Nur: Früher hat man bei problematischen Gegenargument. konkurrenzfähig zu sein. Dennoch findet
technischen Entwicklungen – nehmen Sie Spektrum: Sie plädieren also für ... die Gesellschaft dies zumutbar.
Atomkraft, In-vitro-Fertilisation oder Gen- Schöne-Seifert: ... eine tabulose Debat- Spektrum: Aber hier geht es doch um di-
technik – zu Recht gesagt: Warum kommt te, vor dem Hintergrund, dass diese Dinge rekte Eingriffe in unseren Körper.
ihr mit der Ethikdebatte erst, nachdem in der westlichen Welt bereits heimlich Schöne-Seifert: Genau, und deshalb
der Rubikon überschritten ist? Jetzt kom- praktiziert werden. muss man das Thema auch anders behan-
men wir rechtzeitig, noch bevor die Mittel Spektrum: Philosophen sprechen gerne deln als Handys oder Computer.
überhaupt am Markt sind. Und da wird vom »gelingenden Leben«. Rechtfertigt Spektrum: Solche Mittel werden nicht
uns vorgehalten, dass wir damit nur einen das jedwede medizinische Eingriffe ins billig sein. Verstärkt das eine Zweiklas-
absurden Diskurs schaffen, die Nutzung Gehirn? sengesellschaft?
von NE-Präparaten anheizen und zu de- Schöne-Seifert: Natürlich nicht. Uner- Schöne-Seifert: Das ist ein Problem. Man
ren Verharmlosung beitragen. Das ist un- wünschte oder problematische Folgen wird abwägen müssen, ob es reicht, diese
gerecht, denn die Problematik lässt sich würden sich ja auch in der Bilanz eines Dinge zu verbieten. Oder ob wir dafür sor-
in Teilen schon absehen und diskutieren. gelingenden Lebens negativ niederschla- gen sollten, dass die Mittel nicht zu teuer
Spektrum: Aber sehen Sie das Thema gen. Wir befürworten, dass Präparate für und die Barrieren deutlich niedriger wer-
nicht insgesamt zu positiv? NE ganz offen in der Kontinuität mit ande- den als etwa für teure Nachhilfe.
Schöne-Seifert: Keineswegs wollen wir ren Möglichkeiten zur Leistungssteige- Spektrum: Die Stoffe wurden aber nicht
verharmlosen oder zu bedenkenlosen rung gesehen und diskutiert werden. So- für das Neuro-Enhancement entwickelt.
Selbstexperimenten einladen. ziale Probleme, die das womöglich schafft Schöne-Seifert: »Zweckentfremdung« als
Spektrum: Neuro-Enhancement soll nicht oder verstärkt, sollten in eigenem Recht solche ist ein ebenso zweifelhaftes Argu-
zur Heilung Kranker, sondern Gesunden untersucht und nicht von vornherein als ment wie der Einwand, dass dies künst-
zur mentalen Leistungssteigerung helfen. Totschlagargument speziell gegen NE ver- liche Substanzen seien. Die ganze Welt
Könnte das nicht zu Veränderungen der wendet werden. ist voller künstlicher Dinge. Wir sollten
Persönlichkeit führen? Spektrum: Solche Mittel könnten auch sie nicht nach ihrer Künstlichkeit beur­
Schöne-Seifert: Natürlich kann es zu sol- den Konkurrenzdruck im Berufsleben ver- teilen, sondern danach, ob sie uns zuträg-
chen Veränderungen kommen, aber die stärken. Wie stehen Sie dazu? lich sind.
können ja auch gewünscht sein. Ein bes- Schöne-Seifert: Kritisch. Man muss recht-
seres Gedächtnis ist ja nicht unbedingt lich verhindern, dass Arbeitgeber ihre An- Interview: Reinhard Breuer,
etwas Schädliches. Ebenso, wenn jemand gestellten verpflichten könnten, solche Chef­redakteur von
psychisch ausgeglichener, aufgeschlosse- Mittel zu nehmen. Das ginge auf keinen »Spektrum der Wissenschaft«

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 53


Titelthema: Neuro-enhancer

Enhancer-Kandidaten

Die Pharmaindustrie entwi- Medikamententyp Wirkmechanismus entwickelt von


ckelt Mittel gegen verschie­
dene Formen der Demenz – Aktivatoren steigern entweder die Konzentration des Neuro- Abbott, CoMentis,
des nikotinischen transmitters Acetylcholin im synaptischen Spalt EnVivo, Targacept /
von der altersbedingt zuneh- Acetylcholin­ oder aktivieren direkt den nikotinischen AstraZeneca und
menden Gedächtnisschwäche rezeptors Acetylcholin­rezeptor. Fördern Aufmerksamkeit, Xytis
bis zur Alzheimerkrankheit. Gedächtnis und andere Aspekte der Kognition
Wirkstoffe wie die rechts ge- Ampakine wirken auf AMPA-Rezeptoren und steigern Cortex Pharmaceuti-
nannten, die oft noch nicht so die neuronale Antwort auf den Neurotrans- cals, Eli Lilly, Glaxo­
abschließend klinisch geprüft mitter Glutamat. Dies soll die Bildung von SmithKline /Neuro-
Langzeitgedächtnisinhalten fördern (siehe Kasten search, Organon,
sind, könnten vielleicht auch auf S. 51) Pfizer und Servier
Gesunden zur Verbesserung
ihrer mentalen Fähigkeiten Phosphodiesterase- Ein PDE-Blocker ermöglicht dem Signalmolekül Helicon Thera­peutics,
dienen. Die Frage bleibt, wie Hemmer cAMP, in Hirnnerven länger aktiv zu bleiben, Hoffmann-La Roche
(PDE-Hemmer) und steigert dadurch die Aktivität des für das und Merck
sicher und wyirksam solche Langzeitgedächtnis wichtigen Proteins CREB
Stoffe für Menschen ohne ko- (siehe Kasten auf S. 51).
gnitive Defizite tatsächlich
Antihistaminika blockieren den Histaminrezeptor H3 und erhöhen GlaxoSmithKline,
sein werden. so Wachheit und Aufmerksamkeit. Ein in Russland Johnson & Johnson
gegen Heuschnupfen entwickeltes Medikament, und Medivation /
das mit dem H1-Rezeptor interagiert, wird als Pfizer
Neuro-Enhancer klinisch geprüft

verstärker für meine Eltern her, und ich hatte beeinflusst. Beispielsweise durchläuft gerade
kein graues Haar«, berichtet Tim Tully, Chef- ein Stoff die letzten Testphasen als Mittel ge-
wissenschaftler bei Helicon, der die Firma gen Alzheimer, der ursprünglich in Russland
mitbegründete, als er am Cold Spring Harbor als Antihistaminikum gegen Heuschnupfen
Laboratory arbeitete. »Jetzt sind sie tot, ich entwickelt wurde. Das riesige Marktpotenzial
bin ganz grau und weiß genau, dass es bei die- verleitet einige Firmen zu fragwürdigen Me-
sem Wettrennen um mich geht statt um sie.« thoden: Sie verkaufen ein Medikament, das in
Trotz dieser Rückschläge entwickeln die klinischen Studien gescheitert oder nicht zu
Pharmafirmen weiterhin Kognitionsverstärker Ende geprüft worden ist, als Nahrungsergän-
Gary Stix ist Redakteur bei
für die Alzheimerkrankheit und andere For- zungsmittel oder »medizinisches Nahrungs-
»Scientific American«. men der Demenz (siehe Tabelle oben). Man er- mittel«, weil solche Zulassungen weniger
probt Verbindungen, die an Stelle von Gluta- streng kontrolliert werden.
mat auf andere Neurotransmitter einwirken –
Galert, T. et al.: Das optimierte etwa auf Rezeptoren, die durch Nikotin Stochern im Nebel
Gehirn. In: Gehirn&Geist 11/2009, aktiviert werden, aber nicht süchtig machen. Neue Enhancer können auch entstehen, in-
S. 40 – 48.
Ein Grund für das Rauchen ist bekanntlich, dem die Zulassung eines bereits etablierten
Greely, H. et al.: Towards Respon­ dass Nikotin die Aufmerksamkeit steigert. Psychopharmakons erweitert wird. So erhielt
sible Use of Cognitive-Enhancing Die Lehren aus der Entwicklung von Mit- Cephalon, der Hersteller von Modafinil, die
Drugs by the Healthy. In: Nature
456, S. 702 – 705, 2008. teln gegen Demenz werden vielleicht auch zu Genehmigung der FDA, das Produkt für
Medikamenten führen, die normale kognitive Schichtarbeiter zu vermarkten. Dieser Kun-
Lee, Y. S., Silva, A. J.: The Molecu-
Alterserscheinungen mildern. Wenn solche denkreis ist natürlich viel größer als die ur-
lar and Cellular Biology of Enhanced
Cognition. In: Nature Reviews Pillen einigermaßen harmlos sind, könnten sprüngliche Zielgruppe der Narkoleptiker, die
Neuroscience 10, S. 126 – 140, sie ihren Platz in Studentenheimen und Büros an unkontrollierbarem Schlafdrang leiden. Ce-
2009. finden. »Die Pharmahersteller wissen, dass ein phalon musste an zwei Bundesstaaten und die
Rasmussen, N.: On Speed: The erfolgreicher Neuro-Enhancer das bestver- US-Bundesregierung fast 444 Millionen US-
Many Lives of Amphetamine. kaufte Medikament aller Zeiten wäre«, erklärt Dollar Strafe zahlen, weil die Firma Modafinil
New York University Press, 2008. Peter B. Reiner, Professor für Neuroethik an und zwei weitere Psychopharmaka für unzu-
Schermer, M. et al.: The Future of der University of British Columbia in Van- lässige Anwendungen angepriesen hatte.
Psychopharmacological Enhance- couver. Der Drang, geistige Fähigkeiten zu opti­mie­
ments: Expectations and Policies. Doch neue Arzneien gegen kognitive Stö- ren – insbesondere Konzentration und Ge­
In: Neuroethics 2, S. 75 – 87, 2009. rungen werden vorderhand wohl noch nicht dächtnis –, ist anscheinend fast unwidersteh-
aus tiefen Einsichten in die Funktion unseres lich. Pharmahersteller und Verbraucher drohen
Weblinks zu diesem Thema Nervensystems hervorgehen. Eher wird man dabei die Risiken zu vergessen, die dieses Spiel
finden Sie unter www.spektrum.de/ zufällig entdecken, dass eine für ganz andere mit den neuronalen Grundlagen unserer Per-
artikel/1014860. Zwecke zugelassene Verbindung das Denken sönlichkeit unvermeidlich nach sich zieht.

54  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Wissenschaft im Rückblick
kann. Ein normales Leichtmo­ Der Duft von Blut
torrad wurde zunächst zum
Dreirad umgebaut, dann die »Forscher der Universität Graz konnten kürzlich zeigen, daß die
Hinterräder mit breiten Gum­ Anlockung der blutsaugenden Insekten durch Warmblütler ne­
migurtketten versehen, um die ben anderen Faktoren durch ein im Blut vorhandenes Gemisch
Flächenpressung zu verrin­ erfolgt, dessen Bestandteile die Aminosäuren Cystin und Cys­
gern. Solange der Weg noch teïn, Alanin, Glutamin sowie Milchsäure, Amine und Ammo­
Motorradfahrten einigermaßen gebahnt ist. niak sind. Die Komponenten sind für sich nicht wirksam, zu
im Winter kann er damit fahren, für tie­ etwa gleichen Teilen gemischt dagegen noch in 2000facher Ver­
fen Schnee wird das Vorderrad dünnung. Aus dem Blut werden diese Stoffe durch die Haut in
»Ein junger Norweger hat sich auf einen Ski gestellt.« Populäre Dampfform abgegeben, wobei die Ausscheidung durch erhöhte
für seine Winterfahrten Mechanik, 5. Jg., Heft 1, Nr. 52, Temperatur und Luftfeuchtigkeit gesteigert wird.« Kosmos, 56. Jg.,
dieses eigenartige Gefährt Januar 1960, S. 23 Heft 1, Januar 1960, S. 8
gebaut, mit dem er auch
bei tiefem Schnee und
ungebahnten We­
Ein frühes Schnee- Temperaturschranke durchbrochen
mobil baute dieser
gen mit Mo­ norwegische »Durch Intensivierung der kritischen Wert überschreitet,
torkraft vom Erfinder. Energiekonzentration im wobei dann der Ener­gie­
Fleck kommen Lichtbogen wurde es möglich, überschuß in Form eines
die Temperaturschranke von hochintensiven Hochtempe­
ca. 5000 °C zu durchbrechen. ratur-Plasmastrahls radial von
Die in den USA befindlichen der Anode abgeschleudert
Anlagen des sogenannten wird. Anwendungsgebiete die­
Hierarc-Verfahrens erzeugen ser Hochtem­peraturerzeuger
Temperaturen von 8000 bis sind z. B. der Raketenbau und
16 000 °C. Im Hochintensiv­ andere Hochtemperaturum­
lichtbogen wird der Strom­ set­zun­gen.« Naturwissenschaftliche
fluß so geregelt, daß die Ano­ Rundschau, 13. Jg., Heft 1, Januar
denenergiekonzentration einen 1960, S. 28

Weitsprungkünstler Die Vorleser


»Während eines mehrmonatlichen Aufenthaltes auf Java hat M. »Der englische Generalpost­
Siedlecki die Lebensgeschichte des bisher noch wenig bekannten meister hat für London eine
javanischen Flugfrosches eingehend durchforscht. Wenn man ei­ neue Art der Briefübermitt­
nen Flugfrosch aufscheucht, so macht er einen überraschend lung für die Sonntage einge­
weiten Sprung; sowohl kleine Männchen als auch große und richtet, die aber nur für Adres­
schwere Weibchen sind imstande, auf eine Entfernung von 1 ½ saten gilt, die Telephon ha­ übergeben werden, welches
– 2 m zu springen. Während des Sprunges bringt der Frosch den ben. Das Schreiben muß mit gegen ½ 9 Uhr vormittags den
ganzen Körper in eine sehr charakteristische ›Schwebestellung‹. Namen und Fernsprechnum­ Inhalt der Briefe telephonisch
Die Vorderbeine sind mit dem Ellenbogengelenk stark an den mer des Adressaten, sowie mit bestellt. Außer einer Grund­
Körper gepreßt, die Vorderarme sind seitlich gestellt; deswegen der Aufschrift: ›Zur telepho­ gebühr werden für je 30 Worte
werden die Hautfalten an den Vorderbeinen in der Form einer nischen Übermittlung am 3 d. (25 Pf.) erhoben.« Elektro-
flachen Membran ausgebreitet. Die Entwicklung einer so gro­ Sonntag‹ versehen, dem Lon­ technische Zeitschrift, 31. Jg., Heft 2,
ßen Oberfläche während des Sprunges kann mäch- doner Haupttelegraphenamt 13. Januar 1910, S. 42
tig zur Verminderung der Fallge­
schwindigkeit beitragen. Die Be­ Hallo Mars, hier Erde
deutung der Fallvorrichtung
ist für dieses Tier eine sehr »Im Matin spricht der amerikanische Astronom William Picke­
große. Auf den Bäumen, auf ring über die Möglichkeit einer Verständigung mit Marsbewoh­
denen dieses Tier sein Leben nern, vorausgesetzt, daß solche existieren und mit einer den Erd­
Kürzungen werden nicht eigens kenntlich gemacht.

führt, finden sich auch die meisten bewohnern adäquaten Intelligenz ausgerüstet sind. Am meisten
seiner Feinde.« Die Umschau, 14. Jg., Nr. Aussicht haben nach seiner Meinung Signale durch Sonnenspie­
2, 8. Januar 1910, S. 35f. gel von etwa einem Quadratkilometer Oberfläche. Falls eine
Antwort erfolgte, müßte man sehr einfache sinnfällige arithme­
In der charakteristischen
tische Probleme signalisieren. Wären Begriffe wie Plus, Minus,
»Schwebestellung« von drüben verstanden, so könnte man mit komplizierteren
springt der javanische Dingen bis zur Herstellung eines Wörterbuches schreiten.« Cen-
Flugfrosch Feinden davon. tral-Zeitung für Optik und Mechanik, 31. Jg., Nr. 2, 15. Januar 1910, S. 22f.

55
Verhaltensforschung

Meerschweinchen als
Sozialstrategen
Von ihren wilden Verwandten haben die Hausmeerschweinchen ein
flexibles Sozialverhalten geerbt. Trotzdem müssen sie in der Jugend
erlernen, worauf es dabei ankommt.

Von Norbert Sachser und Sylvia Kaiser sen. Dass die Haltung Tieren nicht behagt, er-

M
kennen die Zoopfleger außerdem oft schon
indestens drei Dutzend Meer- daran, dass sich kein Nachwuchs einstellt.
In Kürze schweinchen wuseln in dem
kleinen Gehege herum, gut
Doch sogar Hausmeerschweinchen vertra-
gen sich nicht automatisch. Unter manchen
r  In größeren Kolonien die Hälfte davon erwachsene Bedingungen kämpfen die Böcke bis aufs Blut,
bilden Hausmeerschwein­ Männchen und Weibchen, dazu Jungtiere oder die Unterlegenen halten ihre Situation
chen Untergruppen mit verschiedenen Alters. Trotz aller Lebhaftig- nicht aus und werden krank. Inzwischen ver-
eigener Dominanzhierar­ keit geht es erstaunlich friedlich zu. Dabei stehen wir, wie und unter welchen Vorausset-
chie und festen Bindungen hat die Gruppe nur knapp zehn Quadratme- zungen es größere Meerschweinchengruppen
zwischen Männchen und ter zur Verfügung. zu Stande bringen, in relativ engen Verhältnis-
Weibchen. Diese Struktur Schaut man den Nagetieren länger zu, be- sen gut miteinander zurechtzukommen.
funktioniert relativ stress­ obachtet man viele soziale Kontakte. Hier Die wilde Stammart des Hausmeerschwein-
arm.
balzt ein großer Bock ein Weibchen an, dort chens benimmt sich unter ähnlichen Bedin-
r  Die Integrationsfähig­ droht ein anderer kurz einem weiteren Männ- gungen völlig anders: Es gelingt nach unserer
keit der Meerschweinchen chen, und das flitzt daraufhin davon. Jüngere Erfahrung normalerweise nicht, von diesen
in soziale Strukturen hängt
Tiere tollen miteinander herum. Ein Mutter- Tieren mehrere erwachsene Männchen zusam-
von den individuellen
Sozialisationserfahrungen tier sucht sich mit seinen lebhaft drängenden men mit Weibchen im selben Gehege zu hal-
während der Adoleszenz Neugeborenen eine ungestörte Ecke – Meer- ten. Uns interessierte deswegen auch, inwie-
ab, der Übergangsphase schweinchen kommen als »Nestflüchter« zur fern die Domestikation die Meerschweinchen
zwischen Kindheit und Welt. Harte Auseinandersetzungen sind nicht physiologisch und in sozialer Hinsicht verän-
Erwachsenenalter. Das zu sehen, auch keine verschreckten, küm- dert hat. Dies haben wir mit verschiedensten
beeinflusst auch ihre mernden oder immerzu gejagten Tiere. Verhaltensbeobachtungen und begleitenden
späteren Stressreaktionen. So viel Harmonie bei engem Zusammenle- phy­sio­logischen Untersuchungen unter ande-
r  Die verschiedenen Arten ben vieler erwachsener Artgenossen ist für Säu- rem der Stressreaktionen eingehend erforscht.
wilder Meerschweinchen getiere nicht selbstverständlich. Vor allem dür- Hausmeerschweinchen stammen aus der
tendieren zu unterschied­ fen Tierpfleger von den meisten Arten norma- Andenregion Südamerikas, wo die ländliche
lichen Formen des Zusam- lerweise nicht mehrere erwachsene Männchen Bevölkerung sie noch heute gern zur Fleisch-
menlebens. Die Haus­ mit Weibchen zusammensperren, ohne ernste versorgung hält. Erst Mitte des 16. Jahrhun-
meerschweinchen gleichen
Verletzungen oder Siechtum wegen übermäßi- derts brachten Spanier die ersten dieser Nager
darin, trotz der viel
­höheren Verträglichkeit, gen Stresses zu riskieren: Schon die reine An- mit nach Europa. Hausmeerschweinchen sind
ihrer Stammart. wesenheit von Weibchen pflegt Männchen zu größer, schwerer und plumper gebaut als die
heftigsten Auseinandersetzungen zu veranlas- Stammart – hier der Einfachheit halber Wild-

56  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Medizin & Biologie

meerschweinchen genannt (siehe Bilder S. 58). links), zum Beispiel daran, dass ein unterle-
Vor wenigstens 3000 Jahren, wahrscheinlich genes Tier dem ranghöheren tunlichst rasch
noch ein paar Jahrtausende früher, haben die ausweicht, sobald das in seine Nähe kommt.
Menschen im Hochland der Anden aus ihnen Wer Boss ist, duldet es vor allem nicht, wenn
Haustiere gezüchtet, sie also domestiziert. die anderen Männchen die Weibchen umwer-
Wenn sich Hausmeerschweinchen in einer ben oder sogar sexuell aktiv werden. Bemerkt
kleinen Gruppe aus jeweils etwa zwei oder drei er dergleichen, dann rennt er sofort hin und
geschlechtsreifen Männchen und Weibchen verjagt den Widersacher. Kämpfe unter den Hausmeerschweinchen gelingt
miteinander arrangieren, so bildet jedes Ge- Männchen treten in einer etablierten Gruppe es, mit vielen Artgenossen
schlecht seine eigene lineare Dominanzhierar- aber normalerweise nicht auf. Selbst zu hef- auf engem Raum zusammenzu­
chie, die in der Regel lange unverändert be- tigen Drohgebärden und Angriffen kommt es leben. Die erwachsenen Tiere
steht. Die Rangordnung der Weibchen ist die meiste Zeit wenig, und wenn, dann von errichten in der Situation
nicht so leicht erkennbar, weil diese sich dann Seiten des ranghöchsten Tiers. Werbe- und Unterstrukturen mit festen
selten attackieren. Meist sieht man nur gele- Sexualverhalten zu den Weibchen demons- Bindungen zwischen den Ge­
gentlich, dass ein bestimmtes Weibchen einem triert mit Abstand am häufigsten der Boss. schlechtern. Diese soziale
anderen aus dem Weg zu gehen pflegt oder Nach unseren Beobachtungen dürfte ein Organisationsform verhilft allen
dieses ihm manchmal droht. Großteil des Nachwuchses von ihm stammen. Beteiligten zu einem wenig
Dagegen ist die Rangordnung der Männ- In einer großen Meerschweinchengruppe belastenden, stressarmen
chen schnell ersichtlich (Grafik S. 59 oben herrscht dagegen ein andersartiges soziales Dasein.

Abteilung für Verhaltensbiologie, Universität Münster

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 57


Verhaltensforschung

Weibchen anderer Untergruppen ignorieren

Katja Siegeler
sie fast völlig – erstaunlich bei der geringen
räumlichen Distanz, bei der sie solche Weib-
chen zwangsläufig intensiv wahrnehmen.
Noch bemerkenswerter ist: Die jeweils
ranghöchsten Männchen, von uns Alphas ge-
nannt, etablieren zu den Weibchen ihrer Un-
tergruppe feste soziale Bindungen, die meh­
rere Jahre lang bestehen können. Sie halten
andere Männchen – auch die der eigenen Un-
tergruppe – von diesen Weibchen fern, vor
allem während deren Paarungsphasen. Nach
unseren genetischen Analysen zeugen diese
Alphas über 85 Prozent des Nachwuchses ih-
rer Bindungspartnerinnen. Der Rest stammt
von den rangniedrigeren Männchen. Auch sie
binden sich, wie wir zeigen konnten, an die
Weibchen ihrer Einheit und versuchen sie an-
Von Tieren dieser Art, dem Muster (Grafik S. 59 oben, rechts). Wächst zubalzen. Nur lässt der Alphabock ihr Werben
Gewöhnlichen Wildmeer­ die Anzahl geschlechtsreifer Männchen und meist nicht zu. Sogleich kommt er angerannt
schweinchen (Cavia aperea), Weibchen durch den Nachwuchs langsam auf und jagt sie weg.
stammen die Hausmeer­ rund ein Dutzend und mehr, dann wandelt Jene dauerhafte Untergliederung in Unter-
schweinchen ab. sich die lineare Rangstruktur in eine komple- gruppen, die sich gegenseitig tolerieren, er-
xere Organisationsform. Die Kolonie – in un- möglicht den Meerschweinchenkolonien of-
seren Studien waren es bis zu 50 Tiere – glie- fenbar das relativ friedliche Zusammenleben.
dert sich nun in stabile Untergruppen aus je- Denn diese stabile Struktur dürfte es allen
weils bis zu vier Männchen und bis zu sieben Tieren erleichtern, sich unter verlässlichen Be-
Weibchen. Trotz der gestiegenen Dichte be- dingungen zu orientieren, sowohl hinsichtlich
kommen die Weibchen weiterhin genauso oft der Artgenossen als auch der Raumverteilung.
Junge wie in kleinen Gruppen, und auch die Die stärksten Männchen gehören zu verschie-
Zahl der Angriffe und Drohgebärden steigt denen Untergruppen. Zwischen ihnen sind
im Verhältnis zur Tierzahl kaum. heftige Auseinandersetzungen nicht mehr er-
Ein typisches Habitat des Zwar bilden sich auf dem engen Raum kei- forderlich, da sie die Geschlechtsbeziehungen
Gewöhnlichen Wildmeer­ ne streng abgegrenzten Reviere. Doch jede der anderen dominanten Böcke respektieren
schweinchens in Brasilien: Das Untergruppe hat darin ihr bevorzugtes Auf- und nicht um dieselben Ressourcen – insbe-
Gelände bietet den Pflanzen enthaltsgebiet, das sie besonders in den Ruhe- sondere dieselben Weibchen – konkurrieren.
fressenden Nagern viel Nahrung, phasen nutzt. Wiederum erstellen die Männ- Aber auch die rangniedrigeren Tiere finden in
aber auch Schutz. Sie benötigen chen jeder Teilgruppe untereinander eine line- einer solchen Struktur eine Position, in der sie
nur kleine Streifgebiete und are Rangordnung. Interessanterweise küm- sich einrichten können.
bilden Harems aus – feste mern sie sich fast nur um die Weibchen ihrer Das bedeutet: Während bei kleinen Grup-
Strukturen mit einem Männchen eigenen sozialen Einheit: Nur diese Tiere bal- pen die Rangordnung hervorsticht, prägen bei
und einigen Weibchen. zen sie an. Sogar paarungsbereite – östrische – großen die sozialen Bindungen zwischen
beide Fotos: Matthias Asher, Universität Münster

58  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Medizin & Biologie

Männchen und Weibchen das Bild. Unseres

Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik, nach: N. Sachser, 1986, Behaviour 97, S. 253–272
Erachtens erleichtert der Wechsel von der ein- Sozialstruktur bei niedriger Dichte Sozialstruktur bei hoher Dichte
facheren Ordnung in die komplexere die An-
passung an hohe Populationsdichten. Wir hal-
ten das für einen besonderen sozialen Mecha-
nismus, der einer größeren Kolonie Ruhe und
entspannte Verhältnisse ermöglicht. Denn in-
teressanterweise wechseln Hausmeerschwein-
chen immer – unabhängig von den Indivi-
duen – in die komplexere soziale Struktur,
wenn eine Gruppe unter den beschriebenen
Bedingungen anwächst.
Es scheint die Nager psychisch tatsächlich
nicht zu belasten, in einer vielköpfigen Kolo-
nie zu leben. Nach unseren Befunden leiden Weibchen Männchen »Alpha«– Männchen
darunter auch nicht die unterlegenen Tiere.
Wir schließen das aus einer Reihe von Anzei-
chen. Zum einen handelt es sich um Verhal-
tensindizien: Die Anzahl der Auseinanderset- Anwesenheit des Bindungspartners gegen Bei zunehmender Dichte wech­
zungen steigt nicht merklich, und die Weib- akuten Stress schützt (siehe Grafik unten). seln Hausmeerschweinchen in
chen bringen genauso regelmäßig Junge zur Wird ein Männchen aus einer Kolonie al- eine neue soziale Struktur. Nicht
Welt wie in kleinen Gruppen. Doch zum an- lein in ein ihm fremdes Gehege gesetzt, so mehr die Hierarchie zwischen
deren besagen das auch unsere physiologi- tritt – wie bei allen Säugetieren – sehr schnell den Böcken, sondern die Bin­
schen Daten, allen voran Stresshormonmes- eine Stress­reaktion auf. Innerhalb von ein bis dungen zwischen Männchen und
sungen. Aufschlussreich war insbesondere das zwei Stunden steigen die Cortisolkonzentratio­ Weibchen stehen nun im Vorder­
Hormon Cortisol, das die Nebennierenrinde nen im Blut um etwa 80 Prozent an. Nach ein grund.
ausschüttet. Es gilt als das eigentliche Stress- paar Stunden normalisiert sich der Hormon-
hormon, da es psychische und physische Be­ level wieder auf den der Ausgangssituation.
lastungen anzeigt. Wenn wir in diesen Studien zu einem
Männchen unter sonst gleichen Bedingungen
Schutz durch Bindungspartner ein Weibchen aus der vertrauten Kolonie
Tiere, die bei hoher Populationsdichte in den dazusetzten, das dort jedoch einer anderen
Kolonien lebten, wiesen keine höheren Blut- Untergruppe angehörte, stieg das Cortisol so- In ein fremdes, leeres Gehege
konzentrationen des Cortisols auf als Tiere in gar noch etwas mehr an. Und noch etwas hö- zu kommen, provoziert bei Meer­
kleinen Gruppen. Somit scheint das enge Zu- here Werte bauten dieselben Männchen auf, schweinchenböcken eine starke
sammenleben mit vielen Artgenossen die wenn wir sie in dem fremden Gehege zudem Stressantwort. Das Stresshormon
Hausmeerschweinchen unter den geschilder- mit einem völlig fremden Weibchen konfron- Cortisol steigt deutlich weniger,
ten Voraussetzungen nicht sonderlich zu be­ tierten. wenn das Männchen dort ein
lasten. Deutlich anders reagierten dieselben Weibchen antrifft, zu dem eine
Des Weiteren stellten wir fest, dass sich in Böcke, wenn sie in dem fremden Gehege ihr soziale Bindung besteht. Andere
den großen Kolonien hoch- und niederrangige Lieblingsweibchen aus ihrer eigenen Unter- Weibchen bieten den Schutz
Männchen bezüglich ihrer Stresshormonkon- gruppe vorfanden. Jetzt stieg das Stresshor- nicht – im Gegenteil.
zentrationen nicht unterschieden. Ein niederer
sozialer Status muss ein Tier somit nicht
Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik,
nach: N. Sachser, M. Dürschlag & D. Hirzel, 1998, Psychoneuroendocrinology 23 (8), S. 891–904

zwangsläufig physisch oder psychisch mehr be- Männchen im Test


lasten als die hohe Position das dominante 500 500
Männchen. Nach unseren Studien ist dafür
aber wichtig, dass die sozialen Beziehungen
Cortisol in Nanogramm
pro Milliliter Blutserum

400 400
der Männchen untereinander geklärt sind. An-
dernfalls, wenn die Hierarchie nicht ausgehan- 300 300
delt ist und dies fortwährend zu Reibereien
führt, gehen auch bei Hausmeerschweinchen 200 200
die Stresshormonlevel in die Höhe.
Uns interessierte der Einfluss der Männ- 100 100
chen-Weibchen-Beziehungen auf die physio-
logischen Reaktionen. In einer Reihe von Un- 0 0
Ausgangswerte Maximalwerte
tersuchungen, die wir zusammen mit dem
Tierpsychologen Michael Hennessy von der allein mit bekanntem Weibchen aus anderer Untergruppe
Wright State University in Dayton (Ohio) mit Bindungspartnerin mit fremdem Weibchen
durchführten, konnten wir zeigen, dass die

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 59


Verhaltensforschung

Ganz anders Männchen, die einzeln oder


Spektrum der Wissenschaft / Buske-Grafik,
nach: N. Sachser, 1998, Naturwissenschaften 85, S. 307–317

Stressreaktion in fremder Kolonie


nur zusammen mit einem Weibchen auf-
700
pro Milliliter Blutserum wuchsen: Sobald sie in der neuen Gruppe auf
Cortisol in Nanogramm

ein Weibchen treffen, balzen sie dieses heftig


600 an. Und sie attackieren die Böcke, denen sie
begegnen. Allerdings werden sie im Lauf des
ersten Tages von den Alphamännchen besiegt.
300 Danach ziehen sie sich in eine Ecke des Gehe-
ges zurück, meiden fortan Kontakte und wer-
den auch von den anderen in Ruhe gelassen.
100
Trotzdem nehmen sie bis zum dritten Tag
zehn Prozent Gewicht ab. Der Cortisollevel,
der in den ersten fünf Stunden auf fast das
10 1 1 3 6 10 20
Dreifache ansteigt, normalisiert sich erst nach
Tag vor dem Einsetzen Tag nach dem Einsetzen
drei Wochen wieder (siehe Grafik links).
in einer Kolonie aufgewachsen einzeln aufgewachsen In einer Reihe von Studien haben wir die
Hintergründe für diese Verhaltensunterschie-
de ermittelt. Kurz gesagt weisen unsere Ergeb-
Sozialisationserfahrungen in mon lange nicht so stark an wie in sämtlichen nisse auf eine entscheidende Rolle von sozia­
der Adoleszenz wirken sich auf der anderen Testsituationen. Im Übrigen galt len Erfahrungen während der Adoleszenz hin,
das spätere soziale Verhalten Gleiches umgekehrt auch für die Weibchen: der Übergangsphase zwischen Kindheit und
und die Stressreaktionen von War ein Bindungspartner anwesend, verkraf- Erwachsenenalter. In diesem Alter wird das
Hausmeerschweinchen entschei­ teten sie die aufregende Situation viel besser. adäquate Verhalten durch Sozialisation ge-
dend aus. Nur Männchen mit Diese Befunde zeigten uns, dass Haus- lernt. Wachsen die jungen Männchen in den
entsprechenden frühen Erlebnis­ meerschweinchen von Bindungspartnern pro- Kolonien heran, so sind sie in der Phase in ag-
sen integrieren sich später fitieren. Ist das andere Tier in einer neuen Le- gressive Auseinandersetzungen mit älteren,
problemlos in große Gruppen. benslage dabei, dann schaukelt sich die Stress­ dominanten Böcken verwickelt. Hierbei er-
antwort deutlich weniger hoch. Stressforscher werben sie diejenigen sozialen Fähigkeiten,
wie Dietrich von Holst von der Universität die sie benötigen, um sich später mit gleichge-
Bayreuth prägten dafür den Ausdruck »soziale schlechtlichen Artgenossen stress- und aggres-
Unterstützung«. sionsarm arrangieren zu können.
Dass sich Hausmeerschweinchen bei hoher
Populationsdichte miteinander stress- und ag- Wichtige Jugenderfahrungen
gressionsarm zu arrangieren vermögen, ver- Lebt ein Männchen aber in der Adoleszenz al-
danken sie zum einen ihrer Domestikation, lein oder nur zusammen mit einem Weibchen,
die sie verträglicher machte. Zum anderen ver- dann erfährt es in dieser entscheidenden Ent-
muten wir, dass die Eigenschaft, nicht nur Do- wicklungsphase keine aggressiven Interaktio­
minanzbeziehungen, sondern auch soziale Bin- nen mit gleichgeschlechtlichen Artgenossen.
dungen auszubilden und zu respektieren, Darum lernt es essenzielle soziale Fähigkeiten
schon von der Wildform stammt. Interessan- nicht. Die Folge davon sind eskaliertes aggres-
terweise beherrschen die Hausmeerschwein- sives Verhalten und starke hormonelle Stress­
chen diesen differenzierten und toleranten reaktionen in den beschriebenen Situa­tionen.
Umgang mit Artgenossen allerdings nicht in- Begegnungen zwischen zwei so aufgewach-
stinktiv, also quasi automatisch. senen Tieren müssen in der Regel abgebrochen
Denn nur Männchen, die in größeren ge- werden, weil sonst schwer wiegende gesund-
mischtgeschlechtlichen Gruppen aufwuch- heitliche Schäden auftreten würden, bis hin
sen, integrieren sich als Erwachsene ohne zum Tod. Für die Hausmeerschweinchenweib-
Probleme in fremde Kolonien. Am ersten Tag chen fanden wir Gleiches nicht. Unabhängig
erkunden sie die neue Umwelt, aber sie grei- von ihren Sozialisationserfahrungen integrieren
fen die ansässigen Männchen nicht an, und sie sich in fremde gemischt­geschlechtliche So-
sie umwerben auch nicht die Weibchen. zialverbände immer stress- und aggressionsarm.
Während der nächsten Tage gliedern sie sich Soweit bisher untersucht, tendieren alle hö-
in das bestehende soziale Gefüge ein, ohne heren Wirbeltiere dazu, beim Zusammenleben
dass dabei größere Auseinandersetzungen auf- feste Dominanzbeziehungen zu errichten. Das
treten. Manche nehmen dann sogar eine hö- gilt sogar für solche Arten, deren Angehörige
here so­ziale Position ein als früher. Bei diesen von sich aus zu sozialer Toleranz, Kooperation
Tieren steigt während der Integrationsphase und freundschaftlichen Beziehungen neigen.
die Stresshormonkonzentration nicht (siehe Selbst sie verzichten nicht auf die soziale
Grafik oben). Sie verlieren auch kein Ge- Schichtung als ein anscheinend wesentliches
wicht. Grundmuster. Wie viele Befunde zeigen, ist es

60  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Medizin & Biologie

für die Individuen in Gruppen lebender Arten zukommen, lernen Säugetiere anscheinend
sogar essenziell, in eine derart geregelte soziale hauptsächlich während ihrer Sozialisation. Er-
Struktur integriert zu sein. Denn nur bei kla- fahrungen in der Jugend beeinflussen das Be-
ren, somit verlässlichen Rangverhältnissen müs- finden, die physiologischen Reaktionen und
sen weder ein niederer sozialer Status noch eine die Krankheitsanfälligkeit der erwachsenen
hohe Individuenzahl eine Belastung darstellen. Tiere. Über die Sozialisation entscheidet sich,
Unklare oder häufig wechselnde Dominanz­ welche der genetisch vorgegebenen Verhaltens-
verhältnisse wirken sich dagegen oft äußerst un- möglichkeiten später auftreten. Hier stellen
günstig auf das Befinden der Tiere aus. Die sich Weichen, wie ein Tier innerlich und äu-
physiologischen Stresssysteme arbeiten dann ßerlich mit bekannten und fremden Artgenos-
auf Hochtouren. Schließlich werden die Betrof- sen und mit aggressivem Verhalten umgeht.
fenen krank und können daran auch sterben.
Eine geklärte Position in der Hierarchie Von Wildmeerschweinchen geerbt
gibt dem Individuum Rückhalt – sogar dann, Die Eigenschaft der domestizierten Meer-
wenn es einen niedrigen Rang innehat. Doch schweinchen, bei hoher Individuenzahl stabile Die einzelnen Wildmeerschwein­
es gibt nicht nur schlechte Einflüsse des sozia­ Bindungen zum anderen Geschlecht auszubil- chenarten unterscheiden sich
len Umfelds auf die körperlichen Stressreaktio­ den, scheint, wie gesagt, ein Erbe der wilden in ihren Tendenzen des Zusam­
nen, die es möglichst einzuschränken gilt. Stammform zu sein. Denn diese Wildmeer- menlebens. Der Hintergrund
Durch ihre Anwesenheit allein können Artge- schweinchenart, die in Südamerika weit ver- dafür sind spezifische Anpassun­
nossen auch in der Gegenrichtung, also Stress breitet vorkommt, lebt dort in dauerhaften gen an die jeweilige Umwelt.
reduzierend wirken. Gerade aufregende Situa- Paaren oder in kleinen Harems, also in Ein- Die Gewöhnlichen Wieselmeer­
tionen mildern sich dadurch für ein Tier heiten aus einem Männchen und bis zu drei schweinchen (Galea musteloides,
manchmal stark. Allerdings sind die Artgenos- Weibchen. Das ergaben Studien, die wir ge- Foto unten) beispielsweise
sen nicht unbedingt austauschbar. Oft hilft meinsam mit Kolleginnen und Kollegen der neigen zur Promiskuität: Die
nur ein Bindungspartner. Universitäten Bielefeld, Bochum und São Weibchen initiieren eine Paa­
Wie man sich mit Artgenossen arrangiert, Paulo (Brasilien) durchführten. Dabei ver- rungsjagd und werden von
um einigermaßen verträglich miteinander aus- wendeten wir auch radiotelemetrische Posi­ mehreren Männchen begattet.
Abteilung für Verhaltensbiologie, Universität Münster

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 61


Verhaltensforschung

Die Wild- und die Haustierform genes freundliches Verhalten sieht man im

Abteilung für Verhaltensbiologie, Universität Münster


von Cavia aperea wirken sehr Freiland nur zwischen Männchen und Weib-
verschieden. Beide lassen sich chen derselben Einheit.
aber leicht kreuzen. Die Ver­ Soweit bisher bekannt, gibt es etwa 15 ver-
haltensweisen selbst blieben schiedene Arten von wilden Meerschwein-
den Hausmeerschweinchen chen. Alle leben in Südamerika. Sie werden
erhalten, jedoch äußern sie man­ vier verschiedenen Gattungen zugeordnet:
che davon mehr, andere seltener Cavia, Galea, Microcavia und Kerodon. Meh-
als ihre nicht domestizierten rere dieser Arten werden inzwischen auch
Verwandten. in Deutschland in Tiergärten und an For-
schungsinstituten gehalten, auch bei uns an
der Universität Münster. Die Hausmeer-
tionsbestimmungen sowie genetische Vater- schweinchen stammen vom so genannten Ge-
schaftsanalysen. wöhnlichen Wildmeerschweinchen ab, der
Die kleinen Gruppen haben feste Streif­ Art Cavia aperea. Sie gehören noch immer zur
gebiete, die sich nur wenig mit anderen über- selben Art. Das Verhaltensrepertoire hat sich
lappen. Die Haremschefs sind ausgewachsene nicht verändert. Auch können sich beide For-
Tiere von über 500 Gramm Gewicht. Bei ho- men verständigen, lassen sich miteinander
hen Populationsdichten fallen außerdem so kreuzen, und die Nachkommen pflanzen sich
genannte Vagabunden auf: etwas leichtere problemlos weiter fort.
Männchen, die in der gesamten Population
umherstreifen. Zudem treten so genannte Sa- Verschiedene Paarungssysteme
tellitenmännchen auf, die sich einem Harem Die einzelnen Meerschweinchenarten beneh-
für längere Zeit anschließen. Diese jungen men sich ganz unterschiedlich. Das macht sie
Böcke wiegen keine 350 Gramm. Die meisten für Analysen zur sozialen Evolution besonders
Jungtiere in einem Harem stammen tatsäch- interessant. Gut untersucht ist etwa die Art
lich von seinem Chef. Vereinzelt entdeckten Galea musteloides, das Gewöhnliche Wiesel-
wir zwar auch Würfe mit mehreren Vätern, meerschweinchen (siehe Bild S. 61). Nicht
aber im Vergleich zu vielen anderen Nager­ nur im Äußeren, auch im Verhalten sieht man
arten war deren Anteil mit nur etwa jedem fast auf den ersten Blick klare Unterschiede
fünften Wurf klein. zum Gewöhnlichen Wildmeerschweinchen.
Zunächst hatten wir angenommen, dass Diese Wieselmeerschweinchen vertragen sich
die Harems der Wildmeerschweinchen allein in Gehegen mit großen gemischtgeschlecht-
deswegen entstehen, weil sich erwachsene lichen Gruppen ohne Weiteres. Wir beobach-
Männchen nicht vertragen. Auswahltests in teten keine lang anhaltenden individuellen
unserem Institut zeigten allerdings, dass auch Beziehungen zwischen einzelnen Männchen
die Weibchen dabei eine aktive Rolle spielen. und Weibchen. Östrische Weibchen tendieren
Offenbar geht die Bindung zu einem be- stark dazu, sich mit mehr als einem Männ-
stimmten Männchen ebenso von ihnen aus. chen zu paaren. Entsprechend bestimmten
Dagegen meiden die Weibchen desselben Ha- wir durchschnittlich für vier von fünf Würfen
rems in der Regel die Nähe der anderen Weib- mehrere Väter.
chen. Enge Kontakte und aufeinander bezo- Diese Verhaltensunterschiede der beiden
Arten passen zu den jeweiligen ökologischen
Gegebenheiten in ihren Lebensräumen. Cavia
aperea hat sich an feuchte Graslandhabitate
angepasst (siehe Bild S. 58). Dort ist reichlich
Nahrung vorhanden und zudem gleichmäßig
verteilt, so dass ein Weibchen mit einem recht
kleinen Streifgebiet von ein paar hundert
Quadratmetern auskommt. Es macht auch
nichts, dass andere Weibchen teils auf dersel-
ben Fläche grasen. Bei so wenig Raumbedarf
können die größten Böcke leicht ein oder so-
gar mehrere Weibchen für sich allein bean-
spruchen und sie gegen Rivalen verteidigen –
woraus die Haremsstruktur resultiert.
Zugleich besteht in solchen Habitaten aber
ein hoher Feinddruck durch Raubtiere. Ne-
ben den offenen Grasflächen benötigen die
Meerschweinchen zum Verstecken unbedingt

62  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Medizin & Biologie

Auch Monogamie tritt bei


Meerschweinchen auf:
Das Münstersche Wieselmeer­
schweinchen (Galea monas­
teriensis) bildet feste Paare.
Konstantin Agelopoulos, Universität Münster

höhere, dichte Vegetation. Bei Gefahr verhar- tigen Regenfällen häufig Überflutungen auf-
ren sie darin fast bis zum letzten Moment­völ- treten.
lig reglos. Säugetiere mit dieser Feindvermei- Das Münstersche Wieselmeerschweinchen,
dungsstrategie pflegen sich generell unauf­fällig Galea monasteriensis, lebt im Andenhochland
zu benehmen und von Artgenossen fernzuhal- Boliviens. Freilanduntersuchungen an dieser
ten. Das Gewöhnliche Wildmeerschweinchen Wildmeerschweinchenart gibt es bisher nicht.
stellt in der Hinsicht keine Ausnahme dar. Wir entdeckten sie erst kürzlich, als wir neue
Hiermit mag zusammenhängen, dass diese Wieselmeerschweinchen einführten, um un-
Art keine großen Gruppen bildet und dass ein seren Bestand aufzufrischen. Von Anfang an
Männchen nur ganz wenige Weibchen zu ver- stach ihr Verhalten von dem der uns be- Norbert Sachser hat an der Univer-
teidigen vermag. kannten Galea-Art ab. Denn die Münster- sität Münster eine Professur für
Dagegen lebt die Art Galea musteloides in schen Wieselmeerschweinchen bilden feste Zoologie und leitet dort seit 1994
Halbwüsten, also in Gegenden mit spärlicher Paare – sie leben monogam (Bild oben). die Abteilung für Verhaltensbio­
logie. Sylvia Kaiser ist dort seit
Vegetation. Dort finden die Nager nur auf Zusammengefasst widersprechen diese 1998 wissenschaftliche Assistentin.
großen Flächen genügend Futter. Entspre- neueren Befunde der Annahme, die Paarungs- Sie habilitierte sich im Jahr 2004
chend haben die Weibchen Streifgebiete von und Sozialsysteme der Meerschweinchen und im Fachbereich Biologie.
über 2000 Quadratmetern (Männchen sogar der mit ihnen verwandten südamerikanischen
über 10 000) – deutlich größer als bei Cavia Nagetiere seien stammesgeschichtlich vorher-
aperea. Auf so weiten Flächen können die bestimmt. Viel wahrscheinlicher sind sie in Asher, M. et al.: Large Males
Dominate: Ecology, Social Organiza-
Männchen Weibchen anscheinend nicht mo- ihrer Vielfalt an die spezifischen Bedingungen tion, and Mating System of Wild
nopolisieren. Deswegen entstand bei dieser der jeweiligen ökologischen Nische angepasst, Cavies, the Ancestors of the Guinea
Art wohl erst gar keine Tendenz zu sozialen was in Einklang mit den Theorien der Verhal- Pig. In: Behavioral Ecology and
Bindungen. Die Tiere paaren sich vielmehr re- tensökologie stünde. Sociobiology 63, S. 1509 – 1521,
lativ wahllos. In der Verhaltensbiologie gelten die Haus- 2008.
Unseren Studien zufolge herrscht bei den meerschweinchen mittlerweile als ein Modell- Hennessy, M. B. et al.: Social
Meerschweinchenarten demnach nicht eine organismus für die Analyse sozialer Strukturen Buffering of the Stress Response:
Diversity, Mechanism and Func-
bestimmte soziale Organisationsform vor, die und Prozesse. Der Zusammenhang von sozia­
tions. In: Frontiers in Neuroendocri-
allenfalls leichte Abweichungen vom Haupt- ler Umwelt, Verhalten und Belastung ist bei nology 30(4), S. 470 – 482, 2009.
muster erlaubt. Nicht einmal die Arten dersel- kaum einem anderen Tier so gut untersucht
Sachser, N. et al.: Social Relation-
ben Gattung verhalten sich gleich. Das bewei- wie bei ihnen. Gleichzeitig haben wir und ships and the Management of
sen sowohl Beobachtungen an einer anderen auch andere das Leben der wilden Vorfahren Stress. In: Psychoneuroendocrino­
Galea- als auch an einer weiteren Cavia-Art. in ihrem natürlichen Habitat analysiert und logy 23, S. 891 – 904, 1998.
Das so genannte Große Wildmeerschwein- die Veränderungen vom Wild- zum Haustier Sachser, N., Kaiser, S.: The Social
chen, Cavia magna, bildet keine Harems. beim Domestikationsprozess ermittelt. Diese Modulation of Behavioural Develop-
Nach Freilanduntersuchungen scheinen die Untersuchungen lieferten nicht nur ein um- ment. In: Kappeler, P. (Hg.): Behavi-
Tiere keine Bindungen aufzubauen und auch fassendes biologisches Verständnis des Haus- our: Evolution & Mechanisms. Sprin-
nicht in stabilen Gruppen zu leben. Offenbar meerschweinchens, sondern erbrachten auch ger (im Druck).
paaren sie sich ziemlich beliebig. Diese Art allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Ursachen
hat sich damit anscheinend an die unvorher- und Konsequenzen sozialen Verhaltens bei Weblinks zu diesem Thema
sehbaren ökologischen Gegebenheiten in ih- Säugetieren, mit wichtigen Implikationen für finden Sie unter www.spektrum.de/
rem Lebensraum angepasst, in dem nach hef- den Menschen. artikel/1014862.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 63


Porträt: Angela Friederici

Wie das Gehirn


zur Sprache kommt
Die Neuropsychologin Angela Friederici erforscht die spezifisch menschliche
Fähigkeit, Sprache zu verwenden. Ihr interdisziplinärer Ansatz überwindet die
notorische Kluft zwischen Geistes- und Naturwissenschaft.

Von Michael Springer che berauben. Vielleicht endet er »genauso wie diejenigen, die am

E
stärksten überzeugt sind, dass ihre Zeit abgelaufen ist, sich den-
rst ganz am Ende seines monumentalen Romans »Auf der noch leicht überreden lassen, ihre Unfähigkeit, gewisse Wörter aus-
Suche nach der verlorenen Zeit« lässt Marcel Proust sein Al- zusprechen, habe nichts mit einem Schlaganfall, mit Aphasie zu
ter Ego den Entschluss fassen, eben dieses Werk der Erinne- tun, sondern müsse von einer Ermüdung der Zunge, einem dem
rung in Angriff zu nehmen. Der Autor im Buch wird also be- Stottern ähnlichen Nervenzustand oder der auf eine Verdauungs-
ginnen, just das Buch zu schreiben, das wir Leser einige Seiten störung folgenden Erschöpfung herrühren.«
weiter bedauernd zuklappen werden – eine schöne selbstbezüg- Das Wissen um den Zusammenhang zwischen Hirnläsionen und
liche Schleife. Auf diesen allerletzten Seiten überlegt Proust, was Sprachstörungen war um 1900 noch relativ neu, doch Marcel Proust
den Autor daran hindern könnte, seine Recherche zu vollenden. Er war darüber durch seinen Vater, einen prominenten Nervenarzt,
könnte zu früh sterben, oder ein Schlaganfall könnte ihn der Spra- bestens informiert. Damals boten die unterschiedlichen Störungs-
bilder der Aphasie, hervorgerufen durch Hirnschlag oder Kopfver-
letzung, die einzige Chance, den Zusammenhang von Sprache und
alle Fotos des Artikels:  Spektrum der Wissenschaft / Punctum,  Alexander Schmidt

Gehirn zu erforschen. Erst mit der Elektroenzephalografie (EEG)


und modernen bildgebenden Verfahren lässt sich der Zusammen-
hang zwischen Hirntätigkeit und Sprache detailliert untersuchen.
Ein Star der Forschung auf diesem Gebiet ist Angela Friederici. Sie
personifiziert durch ihren Werdegang – von Germanistik über Psy-
chologie zu Neurologie – den Brückenschlag zwischen Geistes- und
Naturwissenschaft, ohne den heute kein tieferes Verständnis von
Sprache möglich ist. Das Medium, in dem wir sprechen und lesen,
denken und dichten, mailen und twittern, ist ein spezifisch mensch-
liches Natur- und Kulturprodukt komplex verschalteter Neuronen-
bündel. Es bereitete mir großes Vergnügen, zu sehen, wie in den
Augen von Frau Friederici, während wir uns mit der Sprache über
die Sprache unterhielten, immer dann, wenn von der Aussicht auf
EEG-Ableitungspunkte zeigen lokale Aktivitäten an. neue Erkenntnisse die Rede war, die pure Forscherlust aufblitzte.

66  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JAnuar 2010


MEnsch & Geist
Mensch & geist

ZUR PERSON
Angela D. Friederici studierte
Linguistik und Psychologie an
den Universitäten Bonn und
Lausanne. 1976 promovierte
sie in Bonn im Fach Linguistik
und machte 1980 im Fach
Psychologie ihr Diplom. 1986
habilitierte sie sich in Gießen
in Psychologie. Nach ihrer
Promotion forschte sie am
Massachusetts Institute of
Technology (MIT), an den
Universitäten in Paris und San
Diego, später am Max-Planck-
Institut für Psycholinguistik in
Nijmwegen (Niederlande).
1989 übernahm sie den Lehr-
stuhl für Kognitive Psychologie
der Freien Universität Berlin
und wechselte 1994 als Grün-
dungsdirektorin an das Max-
Planck-Institut für Kognitions-
und Neurowissenschaften.
Sie leitet dort die Abteilung
Neuropsychologie und unter-
sucht die Vorgänge im mensch-
lichen Gehirn beim Verständ-
nis von Sprache. Sie hat drei
Honorarprofessuren inne, in
Psychologie (Uni­versität
Leipzig), in Linguistik (Univer-
sität Potsdam) und an der
Charité (Universitäts­medizin
Berlin). 1990 erhielt Angela
Friederici den Alfried-Krupp-
Preis für junge Hochschul­
lehrer, 1997 den Gottfried
Spektrum der Wissenschaft: Frau Professor eine Hirnschädigung auf einmal seine Gram- Wilhelm Leibniz-Preis der DFG.
Friederici, wie kamen Sie zur Wissenschaft? matik verlieren kann. Man besitzt Wörter, Sie ist Mitglied der Nationalen
Hatten Sie früh Interesse an empirischer Na- man kann sich im Grunde genommen auch Akademie der Wissenschaf-
turforschung, oder interessierte Sie mehr die noch im Telegrammstil verständlich machen – ten, der Brandenburgischen
Erforschung von Geist und Sprache? aber die Grammatik ist weg. Ich erlebte, dass Akademie der Wissenschaften
und der Academia Europaea.
Prof. Dr. Angela Friederici: Ganz am Anfang das, was wir als Geist bezeichnen, eine materi-
stand sicherlich mein Vater, der selbst Wissen- elle Grundlage hat, eben das Gehirn. Und von
schaftler war – Hämatologe – und mit dem da an bin ich meinen Weg gegangen.
ich einige Male ins Labor durfte. Beim Ent- Spektrum: Wie sah der aus?
schluss, was ich studieren wollte, stand aber Friederici: Nachdem ich die Germanistik hin-
eher die Sprache im Vordergrund. Deshalb ter mir hatte, absolvierte ich noch ein volles
habe ich zunächst Germanistik studiert. Ich Psychologiestudium, um Sprachprozesse zu
merkte aber bald, dass das, was in den Gram- verstehen. Die Sprache wird ja in der Germa-
matikbüchern steht, nicht unbedingt das ist, nistik als statisch beschrieben, aber der Prozess
was der Mensch spricht. Mich faszinierte ein der Kommunikation ist ein psychologischer
Gastdozent an der Universität Bonn, der ein Vorgang. Als dritter Aspekt trat das Gehirn
Seminar über Sprachstörun­gen leitete. Von hinzu. Ich ging in die USA und lernte in ei­
dem lernte ich, dass man durch bestimmte nem Jahr sozusagen Hirnforschung im Klein­
Hirnschädigungen, etwa bei einem Schlagan- format. Ich war dort in Boston am Massachu-
fall, nicht gleich die gesamte Sprache verliert, setts Institute of Technology tätig, und gleich-
sondern nur spezifische Teilfähigkeiten. zeitig sah ich am Veterans Administra­tion
Spektrum: Was für eine Fachrichtung hatte Hospital an den Patienten die Relation zwi-
dieser Dozent? schen Sprache und Gehirn.
Friederici: Günter Peuser war Linguist wie Spektrum: Sie untersuchen, wie das Gehirn
ich, hatte sich aber mit einem DFG-Projekt Sprache verarbeitet. Das ist ja ein interdiszi­
in einer Klinik für Sprachgestörte angesiedelt. plinärer Ansatz: Die geisteswissenschaftliche
Ich fand enorm interessant, dass man durch Sprachwissenschaft wird kombiniert mit na-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JAnuar 2010 67


Porträt: Angela Friederici

turwissenschaftlicher Hirnforschung. Haben santes Experiment gemacht. Wir ließen sehr


Sprache Sie dabei erlebt, dass Natur- und Geisteswis- kleine Kinder – die waren erst vier Monate
und Gehirn senschaft oft immer noch zu wenig voneinan- alt! – aus deutschen Elternhäusern ein wenig
der wissen? italienische Grammatik lernen.
Broca-Areal und Wernicke- Friederici: Ich glaube, das hat etwas mit der Spektrum: Wie kann man so ein Experiment
Areal bilden die Haupt­ Ausbildung zu tun. Die läuft doch jeweils sehr überhaupt kreieren?
komponenten des Sprach- fachintern. Inzwischen hat man dazugelernt Friederici: Im Italienischen geht ein be-
zentrums. Beide liegen
und arbeitet im Graduiertenprogramm, wenn stimmtes Hilfsverb mit einer ganz bestimmten
bei den meisten Menschen
in der linken Hirnhälfte –
es auf die Promotion zugeht, schon eher inter- Verbform zusammen. Ein Beispiel wäre im
das Broca-Areal im linken disziplinär. Ich glaube, wenn man die Kluft Deutschen »Er ist gelaufen«, dagegen die Form
Frontallappen, das Wer­ überwinden will, muss man bei den Studen­ »Er wird laufen«. Das gilt im Italienischen
nicke-Areal weiter hinten im ten anfangen und sie in interdisziplinäre Kon- auch. Wir haben nun den Kindern in vier so
linken Schläfenlappen. texte einbinden. Wenn Sie hier durch unser genannten Lernphasen von weniger als 3,5
Benannt ist das Broca-Areal Institut gehen, treffen Sie Philosophen, Psycho­ Minuten jeweils 64 Sätze vorgespielt, die im-
nach dem französischen logen, Linguisten, Mathematiker, Physiker, mer korrekt waren; immer ging das eine Hilfs-
Chirurgen Paul Broca Chemiker, Geologen – wir haben alle hier. verb mit der einen Verform zusammen und
(1824 – 1880), der es 1861 Für Sie wäre es wahrscheinlich schwierig, auf das andere mit der anderen Form. Wir haben
entdeckte. Das Wernicke-
Anhieb zu sagen, wer welche Profession hat. aber die Verben variiert – 32 verschiedene
Areal wurde im Jahr 1874
von dem deutschen Neurolo-
Der Physiker kann Ihnen etwas über Sprach- Verben. Das Einzige, was immer konstant
gen Carl Wernicke (1848– verarbeitung erzählen – und ich verstehe ein blieb, war das Hilfsverb und die Flexionsform
1905) beschrieben. Aus der bisschen was von Physik. des Verbs. Und die Kinder haben nach insge-
Art der Sprachstörung bei Spektrum: Aber wie kamen Sie zur Physik? samt 13 Minuten diese Regel kapiert. Wir prä-
Schädigung eines dieser Es ist doch leider so, dass in den »harten«, sentieren nach jeder Lernphase richtige und
Areale schloss man damals, empirienahen Wissenschaften die Männer do- falsche Kombinationen, also das falsche Hilfs-
dass das Broca-Areal vor minieren. verb mit einer nicht passenden Endung, und
allem für die Sprachproduk- Friederici: Dazu kann ich auf Grund meiner sehen dann, dass das Gehirn die richtigen von
tion zuständig ist, das Laufbahn eigentlich wenig sagen. Sprache ist den falschen Sätzen unterscheidet.
Wernicke-Areal eher für das etwas, was man vielleicht doch Frauen zu- Spektrum: Wie sehen Sie das?
Verstehen. Erst moderne
traut. Wenn man dann dafür noch Hirnfor- Friederici: Wir erkennen Unterschiede im er-
bildgebende Verfahren, vor
allem die Kernspintomo­
schung braucht, ist das wohl eher akzeptabel, eigniskorrelierten Hirnpotenzial …
grafie, zeigen im Detail, wie als wenn man gleich in die ganz harte Physik Spektrum: … also nicht allein im Verhalten
diese Areale über unter- geht. Kommunikation und Sprache sind kei- des Kindes.
schiedliche Nervenstränge ne Männerdomänen, und das hat mir viel- Friederici: Nein, das können wir in dem
komplex zusammenwirken, leicht den Weg ein bisschen geebnet. Alter noch nicht sehen, sondern wir leiten
und welche Hirnareale zu- Spektrum: Was haben Sie über Sprachverar- die Hirnaktivitäten mittels Elektroenzephalo­
sätzlich im Spiel sind, wenn beitung herausgefunden? Es gibt ja in der Lin- gramm (EEG) ab. Das Ergebnis halte ich für
Menschen zuhören, sprechen guistik die Frage: Was ist an Grammatik ange- einen erstaunlichen Beweis dafür, wie früh
oder lesen. boren, und was muss ein Kind erst mehr oder die­se Suche nach sprachlichen Regularitäten
weniger mühsam erlernen? schon losgeht.
Friederici: Es ist schon faszinierend, dass Kin- Spektrum: Sie würden aber nicht so weit ge-
der in aller Welt mit jeder Sprache zurecht- hen wie einerseits Noam Chomsky, anderer-
kommen. Sprachen sind ja sehr unterschied- seits Steven Pinker, die behaupten, dass es
lich, und das spätere Erlernen einer Zweit­ eine angeborene Universalgrammatik gibt?
spra­che fällt oft sehr schwer. Das Kind sucht Friederici: Ich würde gern daran glauben,
offenbar von Anfang an Regularitäten im aber im Moment hat das noch keiner bewie-
Sprach-Input, und das erleichtern ihm die sen. Wenn wir jedoch Universalgrammatik
»Es ist schon faszi- ­Eltern durch häufiges Wiederholen und be- nicht verstehen als eine Grammatik, die schon
nierend, dass Kin- sonderes Betonen: »Hat die Milch denn ge- ganz bestimmte Formen hat, sondern eher als
schmeckt? War die Milch denn gut? Ist die eine Fähigkeit, Regularitäten im Sprach-Input
der in aller Welt Milch heute gut?« zu erkennen, dann sind unsere Resultate ein
mit jeder Sprache Indem das Kind solche Wiederholungen erster Schritt dahin. Aber danach müsste man
hört, ein Wort in einem ganz bestimmten noch beweisen, dass just jene vier, fünf Para-
zurechtkommen« Kontext, der sich aber ändert, kann das Kind meter, die Chomsky als universell ansieht,
dieses eine Wort, wenn es auch noch beson- auch diejenigen sind, welche die Kinder als
ders betont wird, herausfiltern: Aha, das ist erste können, während andere Variationen der
ein Wort, das irgendwie etwas Besonderes be- Sprache erst später dazukommen.
deutet, wahrscheinlich hat es etwas mit dem Spektrum: Aber zeichnet es den Menschen
zu tun, was ich gerade esse. Das ist das eine. aus, dass schon kleine Kinder unerhört schnell
Das andere ist, wie Kinder Grammatik erler- im Begreifen solcher Differenzen und Struk-
nen. Da haben wir gerade ein sehr interes- turen sind?

68  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JAnuar 2010


Mensch & geist

Friederici: Absolut. Wir haben das jetzt für eine syntaktische Phrasengrenze. Das heißt: Mit dem Elektroenzephalo-
grammatische Relationen gezeigt. Letztes Jahr Wenn das Kind einmal gemerkt hat, dass eine gramm lässt sich die Hirn­
haben wir eine Studie über die sehr unter- Sprechpause es ihm erlaubt, den Satz in Ein- aktivität während der Verar­
schiedlichen Betonungen innerhalb der Spra- zelteile zu zerteilen, dann hat es auch gleich beitung einer sprachlichen
che veröffentlicht. Im Deutschen wird Máma, den syntaktischen Phrasensprung. Aufgabe (siehe Bild links) auf
Pápa immer auf der ersten Silbe betont, im Spektrum: Sozusagen ein gesprochener Bei- Tausendstelsekunden genau
Französischen auf der zweiten: Mamán, Papá. strich. ableiten.
Wir testeten vier bis fünf Monate alte Kinder, Friederici: Genau, das Komma. Wir haben im
einmal in Paris und einmal hier in Deutsch- EEG einen ganz bestimmten Effekt gefunden,
land. Die Frage war zum einen: Würden die der immer bei solchen prosodischen Phrasen-
Kinder diese Betonungsmuster unterscheiden grenzen auftaucht. Beim Erwachsenen sehe ich
können? Zum anderen: Haben sie schon eine diese Hirnantwort auch, wenn ich die Pause
Präferenz für die in ihrer Sprache üblichen wegnehme. Der Tonhöhenverlauf und die klei-
Betonungsmuster? Beides konnten wir bestä- ne Verlängerung der vorherigen Silbe genügen;
tigen, wiederum durch EEG-Ableitungen der der Erwachsene ist sensibel genug, das zu mer-
entsprechenden Hirnaktivitäten. ken. Bei sehr jungen Kindern – fünf Monate –
Spektrum: In Ihrem Beispiel des kleinen Kin- sehen wir eine ähnliche Reaktion, die aber aus-
des, das den Begriff »Milch« lernt, spielt of- bleibt, wenn wir die Pause wegnehmen. Das
fenbar die Betonung eine große Rolle. Sie ha- heißt, das Kind ist noch auf diese ganz starken
ben viel über die so genannte Prosodie ge- Hörreize angewiesen. Es dauert lange, bis es
forscht – die Sprachmelodie, das Heben und die feinen Parameter wie Tonhöhen- und Län-
Senken der Stimme. genverlauf in der Akustik benutzt, um zu er-
Friederici: Ja, heute haben wir die Möglich- kennen: Hier ist eine Phrase zu Ende.
keiten, per Computer ganz bestimmte Para- Spektrum: Sie haben zu Anfang Ihrer Lauf-
meter der Sprachmelodie oder den Tonhöhen- bahn auch Probleme der Raumvorstellung un-
verlauf systematisch zu verändern. Schon lan- tersucht, insbesondere, wie Astronauten unter
ge wurde vermutet, dass ein Kleinkind über Bedingungen der Schwerelosigkeit oben von
die Prosodie einen guten Einstieg in die Spra- unten unterscheiden.
che gewinnt. Ein Beispiel ist die prosodische Friederici: Das habe ich sogar in »Spektrum
Phrasengrenze. Wenn ich sage: »Peter ver- der Wissenschaft« (2/1987, S. 48) zusammen
spricht (Pause) Anna zu helfen«, verlängert mit dem Astronauten Reinhard Furrer publi-
sich die Silbe vor der Pause, und der Tonhö- ziert. Ich hatte lange Diskussionen mit Wil­lem
henverlauf ändert sich. Neben der Sprechpau- Levelt, dem damaligen Direktor des Max-
se geht es um Längen- und Tonhöhenverlauf. Planck-Instituts für Psycholinguistik in Nijme-
Und jetzt kommt’s: Bei den meisten Sprachen gen (Holland), der sich sehr für Raumwahrneh­
der Welt ist jede prosodische Grenze auch mung interessierte. Er verfolgte ein Gedanken-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JAnuar 2010 69


Porträt: Angela Friederici

experiment, welches fragte, ob unten immer da rade die Prüfung bestanden«. Wir haben nun
ist, wohin die Schwerkraft zieht: Wie würde die Prosodie mit der Aussage gekreuzt: positive
der Mensch reagieren, wenn die Schwerkraft Prosodie – fröhliche Satzmelodie – auf dem ne-
fehlt? Da habe ich gesagt: Es gibt ja die Mög- gativen Satz und umgekehrt. Dann maßen wir
lichkeit, das experimentell zu untersuchen. die Hirnaktivierung per EEG bei Männern und
Spektrum: Mit Parabelflügen? Frauen. Nach dem Satz kam ein kleines Wort
Friederici: Nein, in der Erdumlaufbahn im wie »Glück« oder »Unglück«, und darauf ha-
Rahmen der Spacelab-D1-Mission. Wie sich ben wir die Reaktion gemessen.
zeigte, stimmte Levelts Hypothese fast, aber Bei Frauen hatte nun direkt nach dem Satz
nicht ganz. Er meinte: In der Schwerelosigkeit nur die Prosodie Einfluss, während bei den
richte ich mich nach meinen visuell verfüg- Männern nur der Inhalt wirkte. Dann haben
baren Koordinaten, also der sichtbaren Um- wir das Wort um einige Millisekunden ver-
welt. Andere Forscher meinten, in der Schwe- schoben, und da reagierten Männer und
relosigkeit richtet man sich nach den Füßen, Frauen gleich. Die Frage war nun, ob man
anders gesagt, der Körper ist das Koordinaten- auch Männer dazu bringen könnte, sich auf
system. Nun haben wir einen Trick eingebaut, die Prosodie zu konzentrieren. Wenn man das
der auf einen Hinweis eines der Astronauten macht, reagieren sie wie Frauen. Aber wenn
zurückging. Der sagte: Ja, aber was ist, wenn man keine Instruktion gibt, dann gehen die
in der Schwerelosigkeit der Kopf zur Seite ge- Männer erst einmal nach dem Inhalt und die
»Ich weiß nicht, legt wird? Dann ist ja die Körperachse in Re- Frauen nach der emotionalen Satzmelodie.
was Bewusstsein lation zum Kopf geknickt. Hier unten auf der Spektrum: Kann man damit klären, ob das
Erde bekomme ich diese Information da- angeboren oder erlernt ist?
ist! Können Sie es durch, dass ich die Halsmuskeln seitlich span- Friederici: Wir vermuten, dass es für Frauen
mir sagen?« ne; in der Schwerelosigkeit fehlt sie mir. Das auch von ihrer genetischen Ausstattung her
führte zu der Alternativhypothese: Der Kopf sinnvoll ist, auf emotionale Prosodie zu rea-
ist das Koordinatensystem. Und das hat sich gieren, weil sie das in Mutter-Kind-Interak­
letztlich bestätigt. Genauer gesagt, der Ort auf tionen sehr viel häufiger brauchen. Da sich
der Netzhaut entscheidet. Kinder in einem Alter, wo sie sich noch nicht
Spektrum: Aber ist nicht in der Umlaufbahn artikulieren können, durch emotionale Proso-
die Erde immer unten? die mitteilen, ob sie etwas gut oder schlecht
Friederici: Die Erde wurde ausgeblendet. Wir finden, sollten Mütter darauf reagieren kön-
präsentierten in einer Art Taucherbrille zwei nen. Aber das ist eine Spekulation, die man
Punkte, einen schwarzen und einen weißen. bei einem Glas Wein diskutieren kann, die
Diese wurden um feste Winkel gedreht. Die nicht durch Daten direkt belegt ist.
im Spacelab schwebende Versuchsperson muss­ Spektrum: Bleiben wir bei Spekulationen: In
te nun sagen, ob der schwarze Punkt relativ der aktuellen Neurophilosophie wird lebhaft
zum weißen oben oder unten liegt. Die visu- über das Leib-Seele-Problem spekuliert, über
elle Umwelt wurde mittels Bäumen im Hin- den freien Willen und die Zurechnungsfähig-
tergrund simuliert, welche entweder aufrecht keit von Verbrechern. Haben Sie eine Position
oder quasi auf dem Kopf standen – ein auf- zu diesen Fragen?
wändiges Experiment, das viel Zeit kostete. Friederici: Mein Kollege Wolfgang Prinz hier
Aber irgendwie hatte es ja auch mit Sprache im Haus hat sich mit dem Thema beschäftigt,
zu tun. Ich habe daraus einen schönen Habi- und ich würde mich ihm gerne anschließen
litationsvortrag gemacht und mich wieder und sagen: Wenn es den freien Willen nicht
meinen eigentlichen Forschungen gewidmet. gibt, ist er jedenfalls eine gute und für die Ge-
Spektrum: Haben Sie bei der Sprachverarbei- sellschaft sinnvolle Konstruktion.
tung geschlechtsspezifische Unterschiede fest- Spektrum: Und was ist Bewusstsein?
stellen können? Friederici: Ich weiß nicht, was das ist! Kön-
Friederici: Jahrelang untersuchte ich Männer nen Sie es mir sagen? Häufig wird Bewusst-
und Frauen und stieß nie auf Unterschiede in sein als Gegenteil vom Unbewussten definiert,
der Verarbeitung von Grammatik oder Ähn- und das stimmt sicherlich nicht. Eher kann
lichem. Aber in der Prosodie sahen wir erst- ich über die so genannten Qualia sprechen,
mals Unterschiede. In Arbeiten zusammen also über etwas, dessen nur ich mir bewusst
mit der Psychologin Annett Schirmer fanden bin – aber ich weiß nicht, ob das nicht auch
wir auf einmal eine sehr große Varianz in den eine Illusion ist. Wenn man bedenkt, was an
Daten und trennten nach Männern und unbewussten Prozessen abläuft ... Wir haben
Frauen. Das Experiment zielte darauf ab, den die Sprachverarbeitung bei Personen kurz vor
Inhalt eines Satzes zu verarbeiten, der entwe- einer Operation getestet, wenn sie im Lauf
der positiv oder negativ war: »Ich bin gerade der Anästhesie verschiedene Stadien des Un-
durch die Prüfung gefallen« oder »Ich habe ge- bewussten durchlaufen.

70  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JAnuar 2010


Mensch & geist

Spektrum: Sie lassen sie zählen, so lange sie Frage: Diese Hirnaktivitäten, die wir sehen,
können? sind die unabhängig, treten die nur zufällig
Friederici: Zählen können sie bald nicht zusammen auf? Ziel ist natürlich der Nach-
mehr, weil ja die Artikulation nicht mehr weis einer materiellen Verbindung, so dass wir
funktioniert, aber hören und verstehen kön- sagen können: Die entsprechenden Hirnareale
nen sie noch sehr lange. Seit man das weiß, sind über eine Faserverbindung miteinander
hält man sich mit flapsigen Äußerungen wäh- verbunden. Erst das beweist, dass diese Hirn-
rend der Operation etwas zurück. Die Pati- areale wirklich kooperieren. »Meine Zukunft
enten könnten sich hinterher daran erinnern. Spektrum: Und was haben Sie gefunden?
Spektrum: Heißt das, es gibt einen fließenden Friederici: Im Gebiet zwischen Broca-Areal sehe ich in Studien,
Übergang vom Bewussten zum Unbewussten? und Wernicke-Areal (siehe Kasten S. 68) er-
Friederici: Wenn ich Bewusstes und Unbe- kennen wir zwei Faserverbindungen. Eine
die Hirnfunktion
wusstes als Naturwissenschaftler fasse, ja. Als geht oben herum, dorsal, und eine verläuft und -struktur immer
Philosoph kann ich mich von einem flie- unten, ventral. Beim Erwachsenen ist die dor-
ßenden Übergang freimachen und sagen: Das sale Verbindung aktiv, bei Kindern die untere, enger zusammen-
ist jetzt mein ganz eigenes bewusstes Erlebnis. ventrale. führen«
Wir haben ein gemeinsames Verständnis da- Spektrum: Was bedeutet das?
für, was Qualia und subjektives Bewusstsein Friederici: Wir haben gezeigt, dass beim Kind
sein sollen – aber wir können es nicht testen. die dorsale Faserverbindung noch nicht voll
Spektrum: Das Wesen des Bewusstseins ist entwickelt ist, sondern nur die ventrale. Ge-
für Sie eine Frage, die empirisch-naturwissen- nauer gesagt, wir messen den Grad der Myeli-
schaftlich nicht zu klären ist? nisierung der Nervenfasern und sehen: Die
Friederici: Da ich über die Jahre ja doch zur Umhüllung der Fasern mit Myelin, einer elek-
Naturwissenschaftlerin geworden bin, kann trisch isolierenden Biomembran, entwickelt
ich mir nur schwer ein Experiment ausden- sich bei der dorsalen Verbindung erst sehr spät.
ken, welches das klären könnte. Spektrum: Von welchem Alter reden wir da?
Spektrum: Wo sehen Sie Ansätze für weitere Friederici: Das sind sieben Jahre alte Kinder.
Forschungen? Interessant ist nun: Bei Erwachsenen sehen wir
Friederici: Wir haben ja immer untersucht, immer die beiden Hirnareale aktiv, wenn es
wo die Aktivitäten im Gehirn sind, und da um das Verarbeiten von komplexen Sätzen mit
haben wir häufig gesehen, dass es nicht nur Einbettungen geht: »Peter wusste, dass Maria,
ein Areal ist, das eine Leistung erbringt, son- die Hans, der gut aussah, liebte, Johann ge-
dern Netzwerke. Die können wir funktionell küsst hatte.« Erwachsene können so etwas ver-
beschreiben; das heißt, wir wissen, welche arbeiten, ein Kind nicht. Siebenjährige Kinder
Hirnareale agieren müssen, um eine ganz be- haben schon Schwierigkeiten mit einem Satz,
stimmte Aufgabe zu lösen. Der nächste bei dem ich das Objekt nach vorne gestellt
Schritt, für den uns früher die Methoden fehl- habe: »Den Bär schubst der Tiger.« Die Hypo-
ten, ist nun die Frage: Wo sind die nötigen these, die wir freilich erst noch beweisen müs-
Faser­verbindungen? Ist das funktionelle Netz- sen, ist nun, dass Kinder solche komplexen
werk auch strukturell testbar? Da sehen wir Sätze erst dann verarbeiten können, wenn die-
interessante Unterschiede zwischen dem er- se Faserverbindung voll myelinisiert ist.
wachsenen und dem sich entwickelnden Ge- Spektrum: Und was wird später aus den an-
hirn. Die neuen Verfahren der Kernspintomo- deren, schon sehr früh aktiven ventralen Ver-
grafie erlauben seit einigen Jahren, die Verbin- bindungen?
dungen zwischen verschiedenen Arealen am Friederici: Die bleiben bestehen und dienen
lebenden Gehirn anzuschauen … jenen automatischen Verarbeitungsprozessen,
Spektrum: … während Sie früher auf EEG- die immer mitlaufen. Diese sind für kleinere
Untersuchungen angewiesen waren. Einheiten im Satz zuständig. Wenn ich zum
Friederici: Mit dem EEG kann ich zwar Mil- Beispiel eine Präposition habe wie »im«, dann
lisekunde für Millisekunde sehen, was das Ge- weiß ich, das danach ein Bezugswort kommen
hirn gerade macht. Aber die Lokalisation ist muss; das läuft weiter über die entwicklungs-
schlechter, weil ich immer von der Kopfober- geschichtlich ältere Schiene.
haut zurückrechnen muss, wo die darunterlie- Spektrum: Was wollen Sie mit Ihren For-
gende Aktivierung herkommt. Mit der funk- schungen erreichen? Das Gespräch führte Michael
tionellen Kernspintomografie kann ich einzel- Friederici: Meine Zukunft sehe ich in solchen Springer, freier Redakteur bei
ne aktive Areale betrachten, doch dafür ist die Studien, die Funktion und Hirnstruktur im- »Spektrum der Wissenschaft«.
Zeitauflösung schlechter; da komme ich nicht mer enger zusammenführen. Damit sollten wir
unter eine halbe Sekunde, und da ist in der genauer verstehen, was im Hirn passiert, wenn Weblinks zu diesem Thema
Sprachverarbeitung inzwischen schon viel pas- wir Sprache lernen. Wovon ich Ihnen hier er- finden Sie unter www.spektrum.de/
siert. Doch beides zusammen erlaubt nun die zähle, das sind nur die ersten Schritte dahin. artikel/1014870.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JAnuar 2010 71


Extreme Ereignisse Diesen Artikel können Sie als Audiodatei beziehen; siehe www.spektrum.de/audio

Extrem gewagt
Schwere Erdbeben, Wirbelstürme und Überschwemmungen treten viel häufiger
auf, als nach der klassischen Statistik zu erwarten wäre. Neue Forschungsansätze
suchen nach einer besseren Erfassung extremer Ereignisse.

Von Frank Grotelüschen Max-Planck-Institut für Physik komplexer

M
Sys­teme in Dresden. Sollten sich tatsächlich
onsterwellen treffen auf Schiffe, Gemeinsamkeiten zwischen Wetterextremen,
beschädigen sie schwer oder las- Finanzkrisen und Erdstößen zeigen, dürften
sen sie sogar sinken (Bild demnach auch die Prognosen treffsicherer
rechts). Rekorderdbeben legen werden. Noch steht dieser Ansatz der Extrem-
ganze Regio­nen in Schutt und Asche. Jahr- forschung am Anfang. Doch erste Erfolge
hundertfluten überrollen Deiche und über- deuten sich bereits an.
schwemmen das Hinterland. Ungewöhnlich
In Kürze starke Hurrikane verwüsten Großstädte, ex-
treme Regenfälle und Hagelschauer vernich-
Die Idylle des Physikers:
lineare Modelle
r  Traditionell versucht ten Ernten. Und eine handfeste Finanzkrise Wie schön wäre es doch, wenn das Einzige,
man, zufallsbestimmte Er- vernichtet innerhalb von Monaten Milliarden- was die Bewegung des Meerwassers beeinfluss-
eignisse mit der Gauß- werte an Aktienkapital. te, die Gezeiten wären! Auf die Weltmeere wir-
Verteilung zu beschreiben. All diese Extremereignisse haben eines ge- ken eine konstante und eine periodisch variie-
Dem liegen gewisse Annah- meinsam: Sie treten höchst selten auf, können rende Kraft, nämlich die Anziehungskräfte der
men zu Grunde, die zum dabei aber enorme Schäden anrichten. Wann, Sonne und des Monds (genauer gesagt: deren
Beispiel bei Erdbeben oder wo und wie stark sie zuschlagen, scheint dem räumliche Variation); dem überlagert sich die
Monsterwellen nicht erfüllt Zufall überlassen. Zwar versuchen Wissen- ebenfalls zeitlich periodische Erdrotation, und
sind. schaftler seit Jahrzehnten, halbwegs verlässli- alle Effekte addieren sich – ungefähr, was für
r  Extreme Ereignisse sind che Prognosen und Frühwarnsysteme zu ent- Prognosezwecke allemal ausreicht. Deswegen
selten, aber nicht so sel- wickeln. Erfolg haben sie damit bislang aber ist das Extremereignis, bei dem alle Effekte ma-
ten, wie sie nach der traditi- kaum. Erdbeben, Tornados oder Börsenkrisen ximal sind und das gleiche Vorzeichen haben,
onellen Annahme sein lassen sich entweder gar nicht vorhersagen, die so genannte Springflut, an und für sich kei-
müssten: Die Verteilungs- oder die Prognosen sind zu vage, als dass sie ne Katastrophe; man kann sich ja darauf ein-
kurve hat dicke Schwänze konkreten Nutzen hätten. stellen. Die Deiche versagen erst, wenn zusätz-
(fat tails). Nun hofft die Fachwelt auf einen neuen lich starke Winde das ohnehin hohe Wasser
r  Mit etlichen neuen Ansatz. Statt nur innerhalb der einzelnen Dis- landeinwärts drücken.
Methoden versucht man ziplinen nach besseren Prognoseverfahren zu
diesen Phänomenen beizu- suchen, arbeiten die Wissenschaftler zuneh-
kommen: nichtlinearen mend auch interdisziplinär und fahnden nach Neuere Hilfsmittel wie Satellitenbilder oder wie
Modellen, Extremwertstatis- mathematischen Parallelen. »Wir hoffen, dass hier eine Handykamera liefern Belege dafür, dass
tik und neuen Formen der verschiedene Disziplinen voneinander lernen Monsterwellen kein Seemannsgarn sind. Diese
Zeitreihenanalyse. und wir neue, grundlegende Erkenntnisse ge- Bilder entstanden 2002 vor der Küste von Neu-
winnen«, sagt Professor Holger Kantz vom fundland.

74  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Don Mace / iStockphoto
ERDE & UMWELT

mit frdl. Gen. von Lyman Duggan, Naval Electronics Inc.,  (http://tv-antenna.com/heavy-seas/3/index.htm)

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 75


Extreme Ereignisse

Die Mathematik des Unberechenbaren

In den letzten Jahren haben sich die Extrem-Forscher gleich ten Anstoß aufschaukeln können. Systematisch können alle mög-
mehrere mathematische Werkzeuge zugelegt. Sie lassen sich lichen Randbedingungen eingestellt und die unterschiedlichsten
in drei Kategorien einordnen: Szenarien im Zeitraffer durchgespielt werden. So ist es möglich,
mit einem einfachen Sandhaufenmodell nachzuvollziehen, wie
➤  Der traditionelle Ansatz ist die Extremwertstatistik. Wäh- oft in einer Region größere Erdbeben drohen.
rend gewöhnliche Datenanalysen außergewöhnliche Werte oft Allerdings lässt sich nur selten sicher beurteilen, inwieweit
als »Ausreißer« ignorieren, bezieht die Extremwertstatistik die- ein Spielzeugmodell die Realität abbildet oder aber Zusammen-
se gezielt mit ein. So schauen sich die Experten an, wie viele hänge vorgaukelt, die in Wirklichkeit gar nicht bestehen. Oft ist
heftige Stürme in den letzten zehn Jahren über eine bestimmte es schwierig, für ein komplexes Phänomen ein geeignetes Spiel-
Region gezogen sind und welche Stärke sie hatten. Anhand die- zeugmodell zu finden. So vermutet man zwar, dass Sandhaufen-
ser Zahlen schätzen sie ab, mit wie vielen Stürmen man es in Zu- modelle wesentliche Eigenschaften von Erdbeben reproduzie-
kunft zu tun haben wird und wie stark ein Jahrhundertsturm sein ren, weil sie den Gesetzen der selbstorganisierten Kritizität
könnte. Auf der Basis dieser Extrapolation werden Deichpro- folgen. Überzeugende Nachweise dafür stehen jedoch noch aus.
jekte, Brücken oder Hochhäuser dimensioniert. Auch viele Versi-
cherungen und Rückversicherer bedienen sich dieser Methode, ➤  Bei der Zeitreihenanalyse notieren die Fachleute nicht nur,
um Risiken abzuschätzen und Beiträge zu kalkulieren. Der Nach- wie viele Ereignisse in einem bestimmten Zeitraum aufgetreten
teil: Die Extremwertstatistik macht weder Aussagen über die zu sind, sondern werten im Detail die Korrelationen zwischen ihnen
Grunde liegenden Mechanismen noch über den Zeitpunkt, an aus. Insbesondere studiert man die Wiederkehrzeitverteilung,
dem ein Extremereignis auftreten wird. also die Verteilung der Zeitabstände zwischen – zum Beispiel –
Während die klassische Extremwertstatistik davon ausgeht, zwei Nulldurchgängen einer bestimmten Variablen. Damit lässt
dass aufeinanderfolgende Messwerte völlig unabhängig vonei- sich herausfinden, ob bestimmte Ergebnisse gehäuft auftreten
nander sind, geben neuere Erweiterungen der Theorie diese An- oder stets in einigem Abstand stattfinden.
nahme auf. Dadurch lässt sich zum Beispiel beim Hochwasser- Eine mathematische Spektralanalyse, die besagt, aus wel-
schutz der Meeresspiegelanstieg, der durch den Klimawandel zu chen Grundfrequenzen sich ein Signal zusammensetzt, kann
erwarten ist, berücksichtigen. verborgene Periodizitäten sichtbar machen. So lässt sich allein
per Zeitreihenanalyse ausmachen, dass eine Springflut durch
➤  Seit einigen Jahren erfahren die Spielzeugmodelle einen die Überlagerung zweier periodischer Einflüsse entsteht.
lebhaften Aufschwung. Hier versuchen die Forscher, die Mecha- Modernere Methoden, basierend auf der fraktalen Geome-
nismen, die für ein Extremereignis – Erdbeben, Börsencrash oder trie, können auch komplexere, nichtlineare Zusammenhänge
Jahrhundertsturm – verantwortlich sind, mit stark vereinfachten enthüllen. Damit hofft man auf charakteristische Anzeichen wie
theoretischen Modellen nachzubilden und dadurch die Grundla- zum Beispiel bestimmte Fluktuationen auf dem Börsenparkett
ge für genauere Prognosen zu schaffen. Mit Formeln und Compu- zu stoßen, die den Extremereignissen zuverlässig vorangehen.
tersimulationen erschaffen die Experten Systeme, die sich durch Die Zeitreihenanalyse funktioniert jedoch nur, wenn ausrei-
Rückkopplungsschleifen und Wechselbeziehungen beim gerings- chend Daten über das Ereignis vorhanden sind.

Dicke Schwänze einer Bekannte, periodisch variierende Ursachen, im Gestein unter unseren Füßen – durch
die sich in ihren Wirkungen »linear«, das lauter zufällige Einzelereignisse beeinflusst
glockenförmigen Kurve heißt einfach durch Addition überlagern – das wird. Wir müssen sie im Einzelnen nicht
verheißen Übles: ist die Idealvorstellung. Von ihr möchten die kennen; es genügt, wenn sie alle von der glei-
Theoretiker möglichst wenig aufgeben, wenn chen Art sind (»derselben Zufallsverteilung
Extreme Ereignisse
es daran geht, die hässliche Realität zu be- gehorchen«), nicht voneinander abhängen
kommen häufiger vor, schreiben. Das Phänomen ist nicht offensicht- und ihre Effekte sich linear überlagern.
als man denkt lich periodisch? Dann kann man zumindest Unter diesen Voraussetzungen folgen näm-
versuchen, in den Daten aus der Vergangen- lich die zufälligen Fluktuationen unserer Va­
heit einen periodischen Anteil ausfindig zu riablen der Gauß-Verteilung, deren charak­
machen. Daraus erwachsen zum Beispiel The- teristische Glockenkurve den letzten Zehn-
orien von Konjunkturzyklen – leider mit sehr markschein zierte. Sie beschreibt zufällige
beschränkter Vorhersagekraft. Fluktuationen in sehr vielen physikalischen
Die Ursachen sind unbekannt oder zu- Systemen recht passabel.
mindest unserer Beobachtung nicht zugäng- Just für die genannten Extremereignisse je-
lich? Dann nennt man sie zufällig – und doch weicht sie an entscheidender Stelle von
muss deswegen nicht gleich die Flinte ins der Realität ab. Je größer eine Abweichung,
Korn werfen. Wir unterstellen, dass unsere desto seltener tritt sie auf; das gilt in der Rea-
Variable – zum Beispiel der Wasserstand, ein lität wie in der Theorie. Deswegen nähern
Börsenkurs oder die mechanische Spannung sich das linke und das rechte Ende der Glo-

76  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


ERDE & UMWELT

ckenkurve (ihre »Schwänze«) immer mehr der Ein Beispiel für nichtlineares Verhalten

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Nulllinie an. Das tun die aus der Realität ge- sind Monsterwellen. Experten schätzen, dass
wonnenen Kurven auch, nur viel langsamer; pro Jahr bis zu zehn große Schiffe durch diese
ihre Schwänze sind dicker (fat tails). Daher Freak Waves in die Tiefe gerissen werden. Ein
kommen bei Erdbeben und Monsterwellen lineares Modell vermag diese Wellen nicht
Ereignisse, denen die Gauß-Verteilung eine ausreichend zu erklären: Beschreibt man den
absurd kleine Wahrscheinlichkeit (»einmal Seegang als Überlagerung verschiedener Si-
pro hundert Millionen Jahre«) zuschreiben nuswellen derart, dass die Beobachtungen
würde, durchaus vor. passabel reproduziert werden, dann liefert das
Sie sind damit zwar viel häufiger, als die Modell nur etwa ein Fünfzigstel der Anzahl
Theorie behauptet, aber immer noch selten. von Extremwellen, die es laut Satellitenauf-
Deswegen gibt es über Megabeben, Jahrhun- nahmen tatsächlich gibt.
dertfluten und Rekorddürren viel zu wenig Manche Fachleute arbeiten daher bereits
Daten, auf deren Grundlage man leistungs­ Vermutungen über nichtlineare Effekte aus.
fähige Theorien entwickeln und überprüfen »Treffen in diesem nichtlinearen Szenario zwei
könnte. Eine Grafik mit einem Maßstab, der Wellen aufeinander, kann die eine Energie
auch die großen Häufigkeiten der kleinen Er- von der anderen abzapfen, oder beide generie-
eignisse darzustellen erlaubt, muss die dicken ren eine neue, dritte Welle«, erläutert Eric
Schwänze unweigerlich so dünn wiedergeben, Heller, Professor für Physik und Chemie an
dass sie ohne Weiteres zu übersehen sind der Harvard University. »Solche Effekte kön-
(Spektrum der Wissenschaft 12/2009, S. 92). nen durch das Zusammenspiel von ozea-
nischen Wirbeln, Wind und Erhebungen am
Nichtlineare Monsterwellen Meeresgrund verursacht werden.«
Warum versagt in diesen Fällen die ansonsten So könnte etwa ein ozeanischer Wirbel
vielfach bewährte Theorie? Eine Erklärung ist: Wellen in ähnlicher Weise bündeln wie ein
Die Linearitätsannahme ist nicht erfüllt. Die Brennglas das Licht. Im Brennpunkt einer Das Erdbeben vom 12. Mai 2008
meisten Systeme, die Extremereignisse zulas- solchen Wellenlinse bauen sich dann bevor- in der chinesischen Provinz
sen, sind nichtlinear. Diese Eigenschaft öffnet zugt riesige Wasserwände auf. Ausgehend von Sichuan hat ungefähr 50 000
der Unvorhersagbarkeit und dem Chaos Tür dieser Vorstellung will Heller nun eine Vor- Menschen das Leben gekostet.
und Tor, selbst dann, wenn der Zufall über- hersage für Monsterwellen erstellen. Als ent- Das Bild zeigt die zerstörte
haupt keine Rolle spielt (Spektrum der Wis- scheidende Maßzahl dient der Freak Index. Schule des Ortes Ying Xiu.
senschaft Spezial 2/2008 »Ist Mathematik die Liegt er für ein Seegebiet oberhalb des Wertes
Sprache der Natur?«, S. 47). Kleinste Ursa- 2, sollten die Schiffe eine Ausweichroute wäh-
chen genügen, um große Wirkungen zu ent- len. Man errechnet ihn aus einer Analyse der
falten. Weder analytisch mit Bleistift und Pa- Richtungen, in welche die Wellen in einem
pier noch numerisch mit Supercomputern bestimmten Seegebiet laufen. Diese wiederum
lässt sich voraussagen, wie sich solche Systeme lassen sich aus der Anzahl und Verteilung der
verhalten werden. Stürme ableiten, die in der Nähe toben. Ziel

Ideen für einen smarten Planeten

Stromnetze, die
Strom sparen.
Ein beträchtlicher Teil des Stroms, den wir erzeugen, geht auf dem
Weg zum Verbraucher verloren – ein Verlust, den wir uns nicht mehr
leisten können. Deshalb müssen wir unsere Stromnetze intelligenter
gestalten. Zum Beispiel, indem wir Einspeisung, Netzauslastung und
Verbrauch mit einem integrierten System in Echtzeit erfassen und
steuern. Das minimiert Verluste, erleichtert die Einbindung neuer, nach-
haltiger Energiequellen und hilft den Kunden, ihren Verbrauch be-
wusster zu steuern. Es ist, mit einem Wort, smart. Welchen Beitrag
IBM dazu leistet, erfahren Sie unter ibm.com/think/de/energy

IBM, das IBM Logo und ibm.com sind Marken oder eingetr. Marken der International Business Machines Corp. in den Vereinigten Staaten und/oder anderen Ländern. Andere Namen von Firmen, Produkten und Dienstleistungen können Marken oder eingetr. Marken ihrer jeweiligen Inhaber sein. © 2009 IBM Corp. Alle Rechte vorbehalten. O&M IBM L 48/09
Extreme Ereignisse

ist ein Vorhersagehorizont wie bei einem See- überraschend – kleine Beben häufiger als
wetterbericht. Für die kommenden ein, zwei große. Aber so etwas wie eine »typische« Er-
Tage wäre die Prognose relativ präzise, danach eignismagnitude sucht man vergebens. Aus­
ließen sich nur noch Trendaussagen treffen. gehend von der SOC-Hypothese konnte das
Zumindest haben Heller und seine Fach- Team um Holger Kantz zeigen, dass sich Me-
kollegen bereits eine brauchbare Arbeitsdefi- ga-Ereignisse zeitlich abstoßen und in ein und
nition für eine Monsterwelle gefunden: Für derselben Region nicht in kurzem Abstand
eine bestimmte Meeresregion wählt man von aufeinanderfolgen. Mit diesem Wissen lässt
100 Wellen die 33 höchsten aus und bildet sich abschätzen, mit welcher Wahrscheinlich-
ihren Mittelwert. Jede Welle, die um mehr als keit in naher Zukunft mit einem Extremereig-
das 2,2-Fache höher ist als dieser Mittelwert, nis zu rechnen ist.
gilt als Freak Wave. Damit ist nicht nur der Ob es prinzipiell möglich ist, ein Erdbeben
35-Meter-Brecher im Südatlantik gemeint, konkret vorherzusagen, ist umstritten. Um ein
sondern auch die Neun-Meter-Welle in der Großbeben etwa in San Francisco vorauszuse-
Nordsee, die sich bei ansonsten mäßigem See- hen, müsste man mit einer Genauigkeit von ei-
gang unvermittelt auftürmt. nigen Zentimetern überwachen können, wie
Für andere Extremphänomene steht eine sich im Inneren der San-Andreas-Verwerfung
präzise Begriffsklärung noch aus, ebenso wie die Spannungen zwischen den tektonischen
eine allgemein gültige Definition, was ein Ex- Platten aufbauen, um sich dann ruckartig zu
tremereignis überhaupt ist. Denn die abnor- entladen. Da das völlig unmöglich ist, sind die
malen Abweichungen zeigen sich in höchst Aussagen bisher wenig hilfreich. Was hat man
unterschiedlichen Formen – als außergewöhn- schon von der Auskunft, dass im Großraum
liche Magnitude eines Erdbebens, als extreme San Francisco in den nächsten drei Jahrzehnten
Dauer einer Dürre, als Phase überschäu- mit 63-prozentiger Wahrscheinlichkeit mit
mender Aktivität bei einem Finanzcrash. einem Beben der Stärke 6,7 zu rechnen ist?
Immerhin haben die Forscher bereits eini-
ge Kategorien zum Einteilen der Phänomene Die Blase erkennen, bevor sie platzt
gefunden. Ein Ereignis wie ein Erdbeben, bei Zumindest für eine kurzfristige Warnung ei-
dem das System sich selbst aufschaukelt, wird nige Stunden vor einem Beben gibt es Fort-
als endogen bezeichnet, im Gegensatz zu schritte. So hat das Team um den Oldenbur-
einem exogenen Ereignis wie einem Meteori- ger Physikprofessor Joachim Peinke und sei-
teneinschlag. Ein Ereignis, das sich an Ort nen Kollegen Mohammed Reza Rahimi Tabar
und Stelle wiederholen kann (Monsterwelle von der Sharif University of Technology in
im Gegensatz zu Brückeneinsturz), heißt re- Teheran eine neue Form der stochastischen
kurrent. Und während ein unbelebtes System Zeitreihenanalyse entwickelt. Die Experten
wie das Wetter rein physikalisch zu beschrei- suchen in den seismischen Signalen, die
ben ist, spielen Biologie und Soziologie mit einem Erdbeben vorausgehen, nach verräte-
hinein, wenn die Katastrophe, sagen wir ein rischen Mustern, zum Beispiel charakteristi-
Epilepsieanfall oder ein Börsencrash, ein be- schen Häufungen von Mikrobeben oder
lebtes System trifft. kurzen Phasen trügerischer Ruhe. Peinke und
Für manche Phänomene, insbesondere seinen Kollegen ist es gelungen, fünf bis zehn
Erdbeben, gibt es ein brauchbares, stark ver- Stunden vor dem Beben einen prägnanten
einfachtes Modell (»Spielzeugmodell«, siehe Übergang in den seismischen Signalen aufzu-
Kasten S. 76): den Sandhaufen. Kleinere oder spüren. Es sieht so aus, als würden sich viele
größere Sandlawinen gehen ab, wenn die kleine, über eine bestimmte Region verteilte
Steilheit des Sandbergs an einer bestimmten Mikrobeben plötzlich miteinander synchroni-
Stelle einen kritischen Wert überschreitet, mit sieren. »Bislang haben wir rund 25 Beben im
dem Effekt, dass sich auf die Dauer ein bevor- Nachhinein ausgewertet«, sagt Peinke. »In al-
zugter Neigungswinkel einstellt (Spektrum len Fällen hat unsere Methode die Vorläufer
der Wissenschaft 3/1991, S. 62). Die theore- des Bebens zuverlässig erkennen können.«
tische Analyse dieser »selbstorganisierten Kri- Das Verfahren kommt aus der Turbulenz-
tizität« (self-organized criticality, SOC) liefert forschung (Spektrum der Wissenschaft 12/
Vorhersagen, die sich zum Beispiel auch an 1997, S. 92). Turbulente Strömungen sind
Erdbeben bestätigen lassen. So sind – wenig chaotisch, weisen aber in der Hierarchie der
immer kleiner werdenden Wirbel eine Struk-
tur auf, die man für Prognosezwecke nutzen
Dass der Neckar über die Ufer tritt (hier der Pegel kann. Mit demselben Ansatz arbeiten die Ol-
an der Alten Brücke in Heidelberg), kommt denburger Forscher daran, Windböen vorher-
nicht gerade selten vor – aber nicht so häufig, dass zusagen, um Windkraftanlagen vor Überlas-
Christoph Pöppe
irgendeine Regelmäßigkeit erkennbar wäre. tung zu schützen (Spektrum der Wissenschaft

78  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


ERDE & UMWELT

2/2002, S. 10), und das Geschehen auf Fi-

fotolia / Fingolfin
nanzmärkten zu analysieren.
Mit den üblichen Methoden der Statistik
sind Extremereignisse wie die jüngste Finanz-
krise nicht zu erfassen. Die Standardverfahren
der Ökonomen gehen davon aus, dass auch
die größten Blasen lediglich exponentiell
wachsen: Von Monat zu Monat nimmt der
Börsenwert der betroffenen Unternehmen um
einen konstanten Faktor zu, wie eine Geld­
anlage mit Zins und Zinseszins. »Wir haben
festgestellt, dass eine Blase immer überexpo-
nentiell wächst«, sagt Didier Sornette, Inha-
ber des Lehrstuhls für unternehmerische Ri-
siken an der ETH Zürich. »Das wäre so, als
würde sich auf einem Sparkonto der Zinssatz
jedes Jahr verdoppeln: erst fünf, dann zehn,
dann 20 Prozent.« Das Wachstum beschleu-
nigt sich, bis die Blase unweigerlich platzt.
Allerdings ließen die konventionellen Me-
thoden nicht erkennen, ob sich die Finanzwelt
im Jahr 2008 in einem solch kritischen Zu-
stand überexponentiellen Wachstums befand
oder nicht. Deshalb hielten Finanzexperten
die Entwicklung viel zu lange für gesund.
Alan Greenspan, ehemaliger Chef der US-No-
tenbank, vertrat die Meinung, eine Blase sei
erst dann zu erkennen, wenn sie platze. »Das
ist falsch«, sagt Sornette. »Mit unseren mathe-
matischen Methoden können wir eine Blase
schon bis zu drei Monate vor ihrem Höhe-
punkt anhand der überschießenden Wachs-
tumsraten entdecken.« Sornette geht in seinen
Modellen davon aus, dass bei der Bildung ei- Eines der häufigen Erdbeben in Peru hat
ner Blase »schlafende« Rückkopplungsschlei- 2007 eine gewaltige Erdspalte aufge­
fen aktiviert werden. Demnach sind extreme rissen – ein attraktives Reiseziel für den
Ereignisse nicht einfach die selten auftreten- Katastrophentourismus.
den Werte in den Ausläufern einer statis­ti-
Extreme Ereignisse

Sequenz: iStockphoto / Sean Martin


Der Wirbelsturm, der am 20. schen Verteilung. Vielmehr gehören sie zu ei- den man an einem solchen Algorithmus ein-
August 2006 zwischen Bennett ner zweiten Verteilung, die im Normalfall al- stellen kann: die Empfindlichkeit (»Sensitivi-
und Watkin im US-Bundesstaat lerdings nicht wirksam ist. Vor Entstehen des tät«). Bei hoher Empfindlichkeit schlägt er
Colorado den Boden berührte, Extremereignisses schaltet der Prozess gewis- beim größten Teil der echten Ereignisse
erzeugte binnen weniger Sekun- sermaßen um und wechselt sein Verhalten. Alarm, verursacht jedoch Kosten durch häu-
den eine gewaltige Staubwolke. Ein mathematisch schwer zu fassender Me- fige Fehlalarme; umgekehrt ist es bei niedriger
chanismus, bei dem Fachleute spekulieren, Sensitivität. Hier gilt es einen brauchbaren
dass er eng mit der Komplexität menschlichen Kompromiss zu finden.
Verhaltens zusammenhängt. So hat der Doch schon die Brauchbarkeit eines be-
Mensch die Eigenart, auf Vorhersagen zu stimmten Vorhersagemodells zu bestimmen,
reagieren und sein Verhalten und damit auch ist alles andere als einfach. Dazu ermitteln die
das System zu ändern; das gilt übrigens für Experten mit speziellen Verifikationsverfah-
richtige wie für falsche Prognosen. ren, wie viele der Prognosen tatsächlich einge-
Eine Vorhersage kann auf zweierlei Art troffen sind und wie viele nicht, um dann das
falsch sein: indem sie einen Fehlalarm produ- Verhältnis von Treffern und Fehlalarmen aus-
ziert oder indem sie ein tatsächlich eintre- zurechnen. Ein Modell, das nur wenige, dafür
tendes Ereignis schlicht verpasst. Ein guter aber ernst zu nehmende Warnungen ausstößt,
Vorhersagealgorithmus sollte bei kleiner Fehl­ kann dabei durchaus besser sein als ein an-
alarmrate eine hohe Trefferquote liefern. In al- deres, das mehr Treffer, aber auch viele Fehl­
ler Regel gibt es jedoch nur einen Parameter, alarme produziert.

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ERDE & UMWELT

Allerdings versagen die üblichen Verifika- nados und Platzregen. Zum anderen sieht es
tionsverfahren oft bei Prognosemodellen für so aus, dass gerade bei Extremereignissen win-
Extremereignisse – weil diese so selten sind. zigste Änderungen in der Atmosphäre dra­
»Die Wahrscheinlichkeit, dass so ein Ereignis matische Folgen haben können. Ob sich ein
stattfindet, tendiert gegen null – und damit Tornado bildet oder nicht, scheint sich
auch die Trefferrate eines Vorhersagemo- manchmal innerhalb von Minuten zu ent-
dells«, sagt Cristina Primo Ramos vom Euro- scheiden – schlechte Voraussetzungen für eine
päischen Zentrum für mittelfristige Wetter- sichere Prognose.
vorhersage (European Center for Medium- Auch die Vorhersageverfahren für Hurri-
Range Weather Forecasts, ECMWF) im kane sind alles andere als perfekt. Aber eine
englischen Reading. Genau das macht die gewisse Schätzung für die Häufigkeit solcher
Resultate der üblichen Verifikationsverfahren Wirbelstürme brauchen die Versicherungen
Frank Grotelüschen hat in Mainz
wenig aussagekräftig: Manchmal bescheini- schon, um die Beiträge für ihre Policen zu kal- und Hamburg Physik studiert. Er
gen sie einem Prognosemodell eine Qualität, kulieren. Bis 2005 orientierten sie sich aus- lebt als freier Wissenschaftsjourna-
die es gar nicht hat, oder sie unterschätzen schließlich am statistischen Durchschnitt der list in Hamburg.
seine Fähigkeiten ganz erheblich. vergangenen Jahrzehnte. Doch dieser Ansatz
funktioniert nur, wenn die Hurrikanrate kon-
Wann kommt der nächste Tornado? stant ist – wovon man angesichts des Klima- Albeverio, S. et al. (Hg.): Extreme
Events in Nature and Society.
Abhilfe verspricht der »Extreme Dependency wandels nicht mehr ausgehen darf. Springer, Heidelberg 2007.
Score« – eine komplizierte Formel, mit der Um dennoch zu verlässlichen Prognosen
sich die Trefferquoten verschiedener Progno- zu kommen, hat die Firma Risk Management Bunde, A. et al. (Hg.): The Science
of Disasters. Climate Disruptions,
semodelle genauer vergleichen lassen. Das Solutions (RMS) einen ungewöhnlichen Weg Heart Attacks, and Market Crashes.
Problem dabei: Die Zahl der Fehlalarme eingeschlagen: Jedes Jahr trommelt das Bera- Springer, Heidelberg 2002.
bleibt außen vor. »Deshalb muss man die For- tungsunternehmen ein Gremium aus sieben
Coles, S.: An Introduction to
mel stets mit anderen Verfahren kombinie- Experten zusammen, die verschiedene Zweige Statistical Modeling of Extreme
ren«, sagt Primo Ramos. der Hurrikanforschung repräsentieren. Das Values. Springer, Heidelberg 2001.
Auch die Vorhersage extremer Wetterereig- Panel evaluiert den aktuellen Stand der For- Kantz, H., Schreiber, T.: Nonlinear
nisse gestaltet sich schwieriger als ursprüng- schung und bewertet rund 100 Prognosemo- Time Series Analysis. Cambridge
lich erwartet. So gab der Nationale Wetter- delle, welche die Hurrikanrate in den näch- University Press, Cambridge 2003.
dienst der USA (National Weather Service, sten fünf Jahren voraussagen. Schließlich ge- Sornette, D.: Why Stock Markets
NWS) noch vor fünf Jahren das strategische wichtet das Gremium die Modelle, und mit Crash. Critical Events in Complex
Ziel aus, im Jahr 2012 einen Tornado 13 Mi- Hilfe dieses gewichteten Ensembles kalkuliert Financial Systems. Princeton
nuten vor seinem Eintreffen voraussagen zu RMS die Hurrikanrisiken und gleichzeitig University Press, Princeton 2004.
können. Inzwischen musste der NWS einen auch die Versicherungsbeiträge für die US-
Rückzieher machen: Erst 2025 soll es eine Golfküste. Und die dürften deutlich steigen.
Weblinks zu diesem Thema
verlässliche Tornadoprognose geben – mit ei- Denn laut RMS wird die Zahl extremer Hur- finden Sie unter www.spektrum.de/
ner Vorwarnzeit von dann 30 Minuten. Noch rikane in den nächsten fünf Jahren signifikant artikel/1014867.
mangelt es an Daten über Hagelstürme, Tor- zunehmen.

Ideen für einen smarten Planeten

Städte, die uns das Leben


leichter machen.
Bis 2050 werden 70 % der Weltbevölkerung in Städten leben. Wenn
die urbanen Infrastrukturen mit diesem Ansturm Schritt halten sollen,
müssen wir sie intelligenter gestalten. Zum Beispiel, indem wir Städte
als komplexe Ökosysteme begreifen und die Infrastrukturen für Verkehr,
Wasser, Abfall, Verwaltung, Sicherheit, Energie miteinander vernet-
zen. Davon profitieren alle Aspekte der Lebensqualität – von sauberer
Luft über staufreie Straßen bis zur Schulbildung unserer Kinder. Es
ist, mit einem Wort, smart. Welchen Beitrag IBM dazu leistet, erfahren
Sie unter ibm.com/think/de/city

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Geologie

Feuer
unter dem Wasser
Der Untergrund der Ozeane ist mit Lava bedeckt, die an submarinen Vulkanen aus­gestoßen
wurde. Forscher konnten jetzt im Detail klären, woher all das geschmolzene Gestein stammt
und wie es aus dem Erdinneren zum Meeresboden gelangt ist.

Von Peter B. Kelemen ein detailliertes Bild der Geburt ozeanischer


In Kürze
I
Kruste zusammensetzen. Es hat wenig zu tun
m Dunkel der fast unzugänglichen mit der populären Vorstellung, wonach sich
r  An den mittelozeanischen Tiefsee spielen sich 85 Prozent der welt­ rot glühende Gesteinsschmelze in einer riesi­gen
Rücken bildet Magma, das weiten Vulkanausbrüche ab. Zwar merkt Magmakammer unter einem Vulkan sammelt
vom Erdmantel aufsteigt, un- praktisch niemand etwas davon; den­ und dann gewaltsam durch eine Spalte den
ablässig neuen Meeresboden. noch sind diese Eruptionen keineswegs bedeu­ Weg an die Oberfläche bahnt.
tungslos. Sie erzeugen jene gewaltigen, etwa Tatsächlich beginnt der Vorgang mehrere
r  Lange war unbekannt, wie
sieben Kilometer dicken Gesteinsplatten, die dutzend Kilometer unter dem Meeresboden,
das geschmolzene Gestein
den Boden aller Meeresbecken bilden und wo winzige Tropfen geschmolzenen Gesteins
aus der Tiefe an die Oberflä-
ozeanische Kruste genannt werden. durch mikroskopisch kleine Poren zwischen
che gelangt, ohne unterwegs
Die Entstehung des Meeresgrunds aus glut­ den Mineralkörnern wandern – mit einer Ge­
seine Zusammensetzung zu
flüssigen Gesteinsmassen ist schon seit den schwindigkeit von nur etwa zehn Zentimetern
ändern. Nun konnte Herkunft
1960er Jahren bekannt. Damals zeigten Son­ pro Jahr; das ist etwa so schnell, wie Fingernä­
und Wanderung des Magmas
dierungen der Tiefsee mit Sonargeräten, dass gel wachsen. Weiter oben vergrößern sich die
im Detail geklärt werden.
sich praktisch ununterbrochene Ketten aus Tropfen und zwängen sich durch Ritze und
r  Ausgangspunkt sind mi- Vulkanen – die mittelozeanischen Rückensys­ Klüfte. Schließlich vereinigen sie sich zu mäch­
kroskopisch kleine Tröpfchen teme – wie die Nähte auf einem Baseball um tigen Lavaströmen, die sich so rasend schnell
verflüssigten Gesteins in bis den Globus winden. Schon bald wurde auch über den Meeresboden ergießen, wie ein Last­
zu 150 Kilometer Tiefe. klar, warum dort unablässig Lava austritt. Ge­ wagen über die Autobahn braust. Die jüngsten
r  Diese Tröpfchen steigen mäß der Theorie der Plattentektonik wird die Erkenntnisse darüber, wie Magma in großen
durch kanalisiertes poröses ozeanische Kruste an diesen Vulkanketten aus­ Tiefen festes Gestein durchdringt, erklären
Fließen auf, indem sie Teile einandergezogen; in die entstehende Lücke aber nicht nur die Entstehung der ozeanischen
des umgebenden Gesteins dringt glutflüssiges Magma aus dem Erdinne­ Kruste, sondern werfen vielleicht auch ein
auflösen und sich zu ren ein. Doch aus welcher Tiefe es stammt neues Licht auf die Bildung anderer Transport­
Schmelzfäden vereinigen. und wie es zur Oberfläche gelangt, blieb offen. systeme für Flüssigkeiten wie die Adernetze
Aus den Poren werden so Inzwischen haben Untersuchungen an von Fließgewässern auf dem Festland.
allmählich Kanäle, die sich Blöcken alten Meeresbodens, die jetzt auf den Unter den Vulkanen der mittelozeanischen
vereinigen und das Magma Kontinenten liegen, sowie mathematische Rücken und den unzähligen, übereinanderge­
schließlich bis dicht unter Modelle der Wechselwirkung zwischen ge­ stapelten Lavaströmen, die zu Krustengestein
die Erdkruste führen. schmolzenem und festem Gestein eine Fülle wurden, liegt der Erdmantel. Diese 2850 Ki­
neuer Erkenntnisse geliefert. Daraus ließ sich lometer dicke Schicht hocherhitzten Gesteins

82  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


ERDE & UMWELT

Der Mittelatlantische Rücken


(schwarze Linie), eine 10000
Kilometer lange Reihe von
Vulkanen am Grund des Atlanti­
schen Ozeans, ist die längste
Gebirgskette der Welt. Die Farbe
zeigt das Alter der Gesteins­
kruste unter dem Meer an. Am
jüngsten (rot) ist der Meeres­
boden in der Nähe des Rückens.
Zu den Kontinenten hin wird er
immer älter.

Wie mitteloze­a-
ni­sche Rücken
entstehen
CIRES, University of Colorado at Boulder, Elliot Lim und Jesse Varner, und NOAA / National Geophysical Data Center (www.ngdc.noaa.gov/mgg);  nach: R. dietmar Müller et al.,
»Age, spreading rates and spreading symmetry of the world’s ocean crust«, in: Geochemistry, Geophysics, Geosystems, Vol. 9, 2008 (doi:10.1029/2007GC001743) Manchmal schmilzt eine
pilzartig aufsteigende Säule
stellt den mittleren Bereich des Erdinneren mittelozeanischen Rücken, wo das austretende aus heißem Mantelgestein –
dar und umschließt den metallischen Erd­ Magma erstarrt, ergaben eine andere che­ ein so genannter Plume –
einen Kontinent von unten an
kern. An der kühlen Erdoberfläche erscheinen mische Zusammensetzung, als die Ergebnisse
und dünnt ihn aus. Wenn
Gesteine, die von dort stammen, dunkelgrün. von Labor­experimenten erwarten ließen. gleichzeitig Strömungen im
Könnte man sie an ihrem Entstehungsort be­ In so genannten Diamantstempelzellen er­ Erdmantel oder andere
trachten, wären sie dagegen rot oder sogar hitzten und quetschten Forscher Kristalle aus tektonische Kräfte eine
weiß glühend. An der Oberfläche des Mantels Mantelgestein. Dabei erwies sich, dass die Zu­ Zugspannung auf das Gestein
herrscht eine Temperatur von etwa 1300 Grad sammensetzung des Magmas von der Tiefe ab­ an dieser Stelle ausüben,
Celsius. Sie nimmt nach unten pro Kilometer hängt, in der es sich bildet. Mantelgestein be­ bricht es. Geologen sprechen
um rund ein Grad zu. Das Gewicht des da­ steht vor allem aus zwei Mineralsorten: Olivin von kontinentalem Rifting. In
rüberliegenden Gesteins lässt auch den Druck und Pyroxen (das in den zwei Formen Ortho- seinem Verlauf bildet sich ein
mit der Tiefe steigen – um etwa 330 Atmo­ und Klinopyroxen vorkommt). Je höher Druck Grabenbruch oder Rift Valley.
sphären (33 Megapascal) pro Kilometer. und Temperatur sind – je tie­fer im Erdmantel In diese Senke ergießt sich
bei Vulkanausbrüchen
sich also das schmelzende Gestein befindet –,
basische Lava, die zu Basalt
Gestein aus großer Tiefe desto mehr vom Olivin abgeleitetes Material erstarrt, aus dem auch der
In Kenntnis dieser Zusammenhänge entwickel­ enthält das entstehende Magma. Lavaproben Meeresboden besteht.
ten Forscher Ende der 1960er Jahre die Vor­ aus den mittelozeani­schen Rücken stammten Wenn die tektonischen
stellung, der Ursprung der ozeanischen Krus­ demnach, wie ihre Analyse ergab, fast alle aus Kräfte die beiden Seiten des
te liege tief im Erdmantel, wo im Gestein – Tiefen unterhalb von 45 Kilometern. Rifts auseinanderziehen,
als ob es schwitzen würde – winzige Magma­ Dieser Befund löste eine lebhafte Debatte senkt sich der Graben weiter
tröpfchen entstünden. Selbst eine minimale darüber aus, wie Schmelze durch eine mehrere ab und gelangt schließlich
Druckentlastung, verursacht durch den Auf­ dutzend Kilometer dicke Gesteinsschicht auf­ unter den Meeresspiegel, so
stieg von Material (ohne Abgabe von Wärme), steigen und dabei ihre ursprüngliche Zusam­ dass er überflutet wird: Ein
neuer Ozean ist geboren. Die
führt dort zur Bildung von Schmelze in mi­ mensetzung bewahren kann. Unterwegs sollte
Vulkane des Grabenbruchs
kroskopisch kleinen Poren. das Magma nämlich Atome mit dem Gestein bilden nun einen mittel­
Wie dieses Magma an die Oberfläche ge­ austauschen, das es durchquert. Dabei löst es ozeanischen Rücken, an dem
langt, war allerdings schwieriger zu erklären. Orthopyroxen auf und scheidet Olivin ab. fortwährend neue Erdkruste
Zwar hat Schmelze eine geringere Dichte als Würde das Magma langsam durch kleine Po­ zwischen den beiden aus­
festes Gestein gleicher Temperatur und erfährt ren im Gestein aufwärtswandern, wie die For­ einanderdriftenden Bruch­
daher einen Auftrieb: Sie zeigt das Bestreben, scher vermuteten, müsste der daraus gebildete stücken des alten Kontinents
in Bereiche niedrigeren Drucks aufzusteigen. Meeresboden deshalb die Zusammensetzung entsteht.
Doch Analysen von Gesteinsproben von den von Schmelze aus der obersten Mantelzone in

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 83


Geologie

Unterhalb von 45 Kilo­ weniger als zehn Kilometer Tiefe widerspie­ Drucks normalerweise keine offenen Klüfte.
geln. Doch den Analysen zufolge war das nicht Doch könnte die Auftriebskraft der Schmelze,
metern ist der Erdman­ der Fall. Die Ursprungsschmelze der meisten so die Vermutung einiger Forscher, in man­
tel zähplastisch wie Lavaproben von mittelozeanischen Rücken chen Fällen ausreichen, um das darüberlie­
hatte bei der 45 Kilometer langen Wanderung gende feste Gestein aufzubrechen – ähnlich
Karamell, der in der an die Oberfläche also anscheinend kein Or­ wie ein Eisbrecher sich seinen Weg durch das
Sonne gelegen hat thopyroxen aus den umliegenden Gesteinen polare Packeis erzwingt.
gelöst. Wie konnte das sein? Tatsächlich fanden Adolphe Nicolas von
Anfang der 1970er Jahre gaben die Geolo­ der Université de Montpellier (Frankreich)
gen eine Antwort, die der populären Vorstel­ und seine Kollegen Hinweise auf solche Risse,
lung von Vulkanen nahekommt: Die Schmel­ als sie seltene Gesteinsformationen untersuch­
ze musste auf dem größten Teil ihrer Wegstre­ ten, die als Ophiolithe bekannt sind. In der
cke rasch durch breite Spalten aufgestiegen Regel verdichtet sich ozeanische Kruste durch
sein. Dabei blieb ihr keine Zeit, mit den um­ Alterung und fortschreitende Abkühlung so
gebenden Gesteinen Atome auszutauschen. sehr, dass sie an den Subduktionszonen – tie­
Außerdem käme Schmelze im Zentrum einer fen Gräben, wie sie den Pazifik säumen – in
Spalte nicht mit den Rändern in Berührung. den Mantel zurücksinkt. Ophiolithe hingegen
Zwar gibt es im oberen Mantel, der bis etwa sind Stücke alten Meeresbodens, die beim Zu­
700 Kilometer hinabreicht, wegen des hohen sammenstoß zweier tektonischer Platten, statt

Meeresboden aus Mantelschweiß


Der Untergrund der Meeresbecken besteht aus einer sieben Kilometer mächtigen
Schicht von Vulkangestein. Ausgangsmaterial dieser so genannten ozeanischen
Krus­te sind winzige Magmatröpfchen, die sich in weiten Bereichen des Erdmantels
bilden – fast so, als ob das Gestein dort schwitzen würde. Durch kanalisiertes po­ mittel­ozeanischer Rücken
röses Fließen gelangt der Inhalt dieser unzähligen Tröpfchen an den mitteloze­a­
nischen Rücken schließlich an die Oberfläche und schließt dort die Lücke zwischen
den auseinanderdriftenden älteren Krustenplatten.
Kristallbarriere

ozeanische
Kruste

4


1  Gestein »schwitzt«: Heißes
Mantelgestein beginnt zu schmel-
zen, wenn es, ohne abzukühlen,
in Regionen mit geringerem
Druck aufsteigt. Die Schmelze
(gelb) sammelt sich in mikro-
skopisch kleinen Poren zwi- Lösungskanäle
schen den festen Kristallen ●
3
(braun), aus denen das Gestein
besteht. Erdmantel


2  Kanäle entstehen: Die Schmel-
ze ist weniger dicht als festes
Gestein und erfährt daher einen
Auftrieb. Auf dem Weg nach
oben löst sie die Ränder
bestimmter Kristalle auf. Die
größer werdenden Lücken
vereinigen sich zu lang gezo-
genen Lösungskanälen.


3  Schmelze kriecht langsam: Die Schmel- ●4  Hindernisse stoppen Aufstieg: Nahe der Kruste ●
5  Spalten reißen auf: Unter dem mitteloze­a­
ze steigt nur wenige Zentimeter pro Jahr auf, verliert die aufsteigende Schmelze so viel Wärme, nischen Rücken blockiert auskristallisierte
weil die Lösungskanäle mit Gesteinskörnern dass sie teilweise auskristallisiert und Barrieren Schmelze den Aufstrom völlig. Magma sammelt
verstopft sind, die sie nicht auflösen kann. bildet. Diese leiten das verbliebene Magma schräg sich in linsenförmigen Taschen, bis der Druck
Allmählich vereinigen sich Millionen von aufwärts zum Rücken hin, weil sie mit zunehmender darin so stark angestiegen ist, dass das
Kevin Hand

Schmelzfäden zu größeren Kanälen. Entfernung von ihm immer tiefer liegen. kältere, spröde Gestein darüber zerbricht.

84  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


ERDE & UMWELT

abzutauchen, aufs Festland geschoben wur­ Zudem dürfte das Eisbrecher-Szenario nicht
den. Sie bestehen aus so genannter Lithosphä­ auf die Schmelzregion an solchen Rücken
re, die außer der Kruste auch noch die obers- übertragbar sein: Unterhalb von etwa zehn
te, starre Schicht des Mantels enthält. Kilometern ist der heiße Mantel hier nicht
Ein berühmtes Beispiel für Ophiolithe fin­ brüchig, sondern zähplastisch wie Karamell,
det sich im Oman. Dort ist während der noch der zu lange in der Sonne gelegen hat.
andauernden Kollision der Arabischen mit
der Eurasischen Platte ehemaliger Meeresbo­ Magma erzeugt Schmelzkanäle
den gestrandet. In diesen und anderen Ophio­ Das Rätsel bestand also weiter. Um es zu lö­
lithen fand das Team von Nicolas ungewöhn­ sen, begann ich an einer alternativen Hypo­
liche, helle Gänge. Es interpretierte sie als these für den Lavatransport unter mittelozea­
Risse, in denen Schmelze vor Erreichen des nischen Rücken zu arbeiten. Ende der 1980er
Meeresbodens erstarrte. Jahre entwickelte ich die Theorie, dass aufstei­
Das Problem war nur, dass die Gänge mit gende Schmelze weniger Olivin abscheidet, als
Gestein ausgefüllt sind, das aus einer Schmel­ sie Orthopyroxen auflöst. Unter dem Strich
Glossar
ze kristallisierte, die in den obersten Bereichen sollte ihr Volumen also zunehmen.
des Mantels entstanden war – also nicht un­ In den 1990er Jahren erstellte ich zusam­ Dunit: fast ausschließlich
terhalb von 45 Kilometern, woher die meiste men mit drei Kollegen – Jack Whitehead von aus dem Mineral Olivin
Lava an mittelozeanischen Rücken stammt. der Woods Hole Oceanographic Institution bestehendes Gestein, das
(Massachusetts), Einat Aharonov, heute am ein charakteristisches Netz
Weizmann-Institut für Wissenschaft in Reho­ heller Adern im oberen
vot (Israel), und Marc Spiegelman vom La­ Mantel bildet
mont-Doherty Earth Observatory der Colum­ kanalisiertes poröses
bia University in New York – ein mathemati­ Fließen: Bezeichnung für
sches Modell dieses Vorgangs. Es zeigte, wie die Art, wie Magma durch
der Lösungsvorgang allmählich die Zwischen­ die festen Gesteinsschichten
räume der Kristalle erweitert. Dadurch vergrö­ im Erdinneren wandert,
ßern sich die Poren und vereinigen sich zu lang indem es sich durch lang
gezogene Poren zwischen
gezogenen Kanälen, die sich ihrerseits zu di­
einzelnen mikroskopisch
ckeren Röhren zusammenschließen. Unseren kleinen Kristallen zwängt
numerischen Simulationen zufolge sammeln
sich so mehr als 90 Prozent des Magmas in Lava: geschmolzenes
weniger als 10 Prozent des verfügbaren Raums. Gestein, das bei einem
Vulkane an
Vulkanausbruch an der
mittel­ Millionen mikroskopisch kleiner Schmelze-
ozeanischem Erdoberfläche austritt
Rücken fäden münden also letztendlich in nur einige
Dutzend hochgradig poröser Kanäle mit Magma: geschmolzenes
Durchmessern von 100 oder mehr Metern. Gestein vor dem Austritt an

6
Selbst in den breitesten von ihnen bleiben der Erdoberfläche
zunächst aber noch viele Kristalle des ur­ mittelozeanische Rücken:
magma­ sprünglichen Mantelgesteins erhalten. Sie ver­ submarine Gebirgsketten,
gefüllte stopfen die Röhren und behindern den Durch­ an denen durch Vulkanaus-
Spalte
fluss. Deshalb kommt die Schmelze nur um brüche neuer Meeresboden
wenige Zentimeter pro Jahr voran. Mit der entsteht

5 Zeit jedoch passiert genügend Magma die Ka­ Minerale: Gesteinskompo-
näle, um alle Orthopyroxen-Kristalle aufzulö­ nenten definierter Zusam-
kristallisierte sen. Zurück bleiben nur Kristalle von Olivin mensetzung und Kristall-
Schmelze
Lösungskanal
und anderen in der Schmelze nicht löslichen struktur. Sie können aus
Mineralen. Von da an hat das Magma in sol­ einem oder mehreren Ele-
chen Kanälen nicht mehr die Zusammenset­ menten bestehen. Olivin ent-
zung, die der Gleichgewichtssituation unter hält zum Beispiel Silizium,
Sauerstoff und Magnesium,
dem herrschenden Druck entspricht, sondern
das teilweise durch Eisen
dokumentiert die Tiefe, in der es zuletzt einem
ersetzt ist
Orthopyroxen-Kristall begegnet ist.
Als eine der wichtigsten Konsequenzen Ophiolith: Bruchstück
dieses so genannten kanalisierten porösen Flie­ ozea­nischer Kruste und der
●6  Schmelze strömt rasch: Durch offene Spalten
steifen obersten Schicht des
kann die Schmelze unter völliger Leerung der ßens erweist sich, dass nur der Teil der Schmel­
Magmatasche schnell aufsteigen. Teilweise tritt Mantels, das bei der Kolli­
ze, der sich an den Rändern der Kanäle befin­
sie als Lava aus den Vulkanen des mitteloze­a­ sion tektonischer Platten auf
det, Orthopyroxen aus dem umliegenden Ge­ das Festland geschoben
nischen Rückens aus. Größtenteils erstarrt sie
aber noch innerhalb der Kruste. stein löst. Magma im Inneren steigt dagegen in wurde
unveränderter Zusammensetzung auf. Nume­

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 85


Geologie

rische Simulationen lieferten somit den ent­ Hypothese, dass es komplett aufgelöst wurde,
Interessante scheidenden Hinweis darauf, dass die Schmel­ bevor das Magma den obersten Teil des Man­
ze sich selbst ihren Weg aus großen Tiefen im tels erreichte. Dies und andere Befunde machen
Fakten Mantel nach oben bahnen kann – aber nicht klar: Bei den Dunitadern handelt es sich um
➤  Im Mittel dauert es 100 durch Zerbrechen des Gesteins, sondern durch einsti­ge Förderschlote, durch die unter einem
Jahre, bis ein sechs Meter dessen partielle Auflösung. Arbeiten im Gelän­ mittelozeanischen Rücken Schmelzen aus gro­
breites Stück neuer ozeani­ de erbrachten später auch handfeste Belege für ßer Tiefe im oberen Mantel aufgestiegen waren.
scher Kruste entsteht. kanalisiertes poröses Fließen in Ophiolithen. Man sieht gleichsam eingefrorene Momentauf­
➤  Das heiße Gestein des Nur aus der Luft lässt sich der Ophiolith- nahmen von Kanälen, die sich durch Heraus­
Erdmantels setzt sich aus Block im Oman voll und ganz würdigen. Die lösen einer Gesteinskomponente und Abschei­
festen Mineralkristallen zu- mächtige Formation besteht aus einem fast dung einer anderen gebildet haben.
sammen. Aber ähnlich wie durchgehenden, 500 Kilometer langen und bis So aufregend diese Erkenntnisse waren, ga­
ein Gletscher, der aus festen zu 100 Kilometer breiten Gesteinsband. Wie ben sie allerdings keine erschöpfende Antwort
Eiskristallen besteht, kann bei allen Ophiolithen ist der aus dem Mantel auf eine zweite Frage, die Geophysiker schon
Mantelgestein bis zu zehn
stammende Teil großenteils rostbraun verwit­ lange beschäftigte. Die mächtigen Lavaströme
Zentimeter pro Jahr fließen –
tert und auffällig von tausenden Adern gelb­ an mittelozeanischen Rücken stammen aus ei-
etwa so schnell, wie Finger-
nägel wachsen. braunen Gesteins durchzogen. Geologen ha­ nem schmalen Streifen mit einem Querschnitt
ben schon vor langer Zeit festgestellt, dass es von nur etwa fünf Kilometern. Dagegen zei­
➤  An mittelozeanischen
Rücken ausgetretene Lava
sich dabei um so genannten Dunit handelt. gen seismische Messungen, die zwischen fes-
strömt mit der enormen Außerhalb der Adern ist das Gestein gemäß tem und teilweise geschmolzenem Gestein
Geschwindigkeit von teils seiner Herkunft aus dem oberen Mantel reich unterscheiden können, dass Magma in einem
mehr als 100 Kilometern an Olivin und Orthopyroxen. Der Dunit da­ hunderte Kilometer breiten Areal bis zu einer
pro Stunde über den Mee- gegen besteht zu mehr als 95 Prozent aus Oli- Tiefe von mindestens 100 Kilometern vor­
res­boden. vin – dem Mineral, das beim Aufstieg der kommt. Wie wird aufsteigendes Magma aus
Schmelze durch den Mantel zurückbleibt. Or­ einem so großen Gebiet in einen schmalen
thopyroxen fehlt völlig – im Einklang mit der Streifen am Rückenkamm kanalisiert?

Wasser im Watt fließt wie Magma im Mantel


Wasser bahnt sich beim Fließen über einen das umgebende Gestein auflöst, erweitert sie all­
Strand ein Kanalnetz ähnlich dem, das geschmol­ mählich die Poren, durch die sie wandert. So ent­
sich verzweigende Kanäle
zenes Gestein beim Aufsteigen durch das feste stehen Lösungskanäle, die wachsen und sich ver­
Erd­innere erzeugt. Zwar entstehen diese Netze einigen. So kann das Magma schneller aufsteigen;
auf unterschiedliche Weise: Wasser am Strand denn der viskose Widerstand, welcher der Rei­
hebt Sandkörner an und bewegt sie mechanisch, bung entspricht, verringert sich mit zunehmender
während Schmelze einen Teil des umliegenden Porengröße. Ähnlich wie am Strand speisen viele
Gesteins auflöst. Doch lässt die Ähnlichkeit der kleine, aktive Kanäle einige wenige größere. Zum
gebildeten Strukturen vergleichbare physikali­ Teil erklärt dieses Muster, warum submarine Vul­
sche Gesetzmäßigkeiten dahinter vermuten. kanausbrüche fast nur an mittelozeanischen Rü­
In beiden Fällen entstehen regelmäßige Mus- cken stattfinden und nicht an zufällig über den
c ter trotz zufälliger Ausgangsbedingungen. Am Meeresboden verteilten Stellen.
Strand fließt Grundwasser, das bei Ebbe austritt, Unter veränderten Bedingungen können Ka­
rasch auf niedriger gelegene Stellen zu. Dabei näle, die vorher miteinander verschmolzen sind,
reißt es Sandkörner mit und gräbt immer tiefere sich auch wieder verzweigen. Am Strand lädt
Kanäle, die auch Wasser aus anderen Rinnsalen Wasser seine Sandfracht ab, wenn das Gefälle
abführen, die auf sie treffen (a). Auf diese Weise abnimmt. Dadurch entstehen Hindernisse im
b
sammelt sich das Grundwasser von zufällig ver­ Hauptkanal (c). Wie in einem Delta an der Mün­
teilten Austrittsstellen in einer Reihe fast gleich dung eines Flusses ins Meer sammelt sich Was­
weit voneinander entfernter Abflussrinnen, die ser hinter diesen Barrieren. Von Zeit zu Zeit
sich stromabwärts vereinigen (b). Analog ent­ fließt es über und erzeugt neue Rinnen, die wie­
stehen auch Bäche und Flüsse, die einen großen derum verstopfen und austrocknen. Zu ähnli­
Strom speisen. Solche Erosionsmuster minimie­ chen Verzweigungen kommt es in der obersten
a ren den Energieverbrauch. Je tiefer und breiter Mantelzone. Sie ist kühler als der Bereich da­
ein Kanal ist, umso weniger Energie geht durch runter. Dadurch kristallisiert ein Teil der Schmel­
die Reibung zwischen dem strömenden Wasser ze aus und verstopft den Kanal. Doch ab und zu
sich vereinigende Zuflüsse und dem Sand darunter verloren. durchbricht Magma diese Kristallbarrieren und
Peter B. Kelemen

Fließrichtung Das gleiche Prinzip liegt der chemischen Ero­ dringt auf Wegen, die es sich neu bahnt, weiter
sion im Erdmantel zu Grunde. Indem Schmelze vor – manchmal bis zum Meeresboden.

86  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


ERDE & UMWELT

Im Jahr 1991 schlugen David Sparks und Ehemalige ozeanische Kruste

Bradley R. Hacker
Mark Parmentier, damals beide an der Brown wurde im Oman auf die Eurasi­
University in Providence (Rhode Island), eine sche Platte geschoben. Die
Erklärung vor. Sie beruht darauf, dass die älte­ Erosion hat den mächtigen
ren Teile der aus ozeanischer Kruste und obers- Gesteinsblock braun verfärbt –
tem Mantel bestehenden Lithosphärenplatten vorher war er überwiegend
beim Wegdriften vom mittelozeani­schen Rü­ grünlich schwarz – und in eine
cken allmählich erkalten und dabei dichter zerklüftete Berglandschaft
und schwerer werden, so dass sie immer weiter verwandelt.
in den wärmeren, zähplastischen Mantel ein­
sinken. Deshalb liegen der Meeresboden und
die Untergrenze der ozeanischen Kruste weitab Zone unterhalb der Kruste anders verhalten
von ihrem Entstehungsort im Mittel zwei Ki­ als in größeren Tiefen. Da sie dort Wärme an
lometer tiefer als am Rückenkamm. Zudem den kalten Meeresboden verlieren, kristalli­
kühlt die kalte Kruste den oberen Mantel ab, siert ein Teil der Schmelze aus und wirkt als
wodurch sich der Teil von ihm, der zur starren Pfropf, der den weiteren Aufstieg des von
Lithosphäre gehört, verbreitert und sein unte­ unten­ nachdrängenden Magmas verhindert.
rer Rand sich weiter nach unten verlagert. Dieses beginnt sich deshalb in linsenförmigen
Auf der Grundlage dieser Zusammenhänge Taschen unter dem auskristallisierten Material
schufen Sparks und Parmentier ein Computer­ zu sammeln, was den Druck dort steigen lässt.
modell für das poröse Fließen im Mantel. In größeren Tiefen wäre das Gestein wegen
Ihren Simulationen zufolge verliert die aufstei­ der hohen Temperatur plastisch verformbar.
gende Schmelze so viel Wärme, dass ein Teil Es würde fließen und so für eine Druckent­
davon in der obersten Mantelregion kristalli­ lastung sorgen. Doch hier macht der Wärme­
siert und eine undurchlässige Deckschicht er­ verlust an den darüberliegenden Meeresboden
zeugt. Da sich diese Barriere mit abnehmender das Gestein steif und spröde. Unter dem zu­
Entfernung vom heißen mittel­ozeanischen Rü­ nehmenden Druck zerbricht es deshalb ver­ Peter B. Kelemen ist Professor am
cken in immer größerer Tiefe befindet, bildet einzelt über den Magmataschen. So entstehen Lamont-Doherty Earth Observatory
sie ein schräges Dach, an dem entlang die Rest­ Spalten, durch welche Schmelze bis zur Un­ der Columbia University in New
schmelze zum Rückenkamm hingeleitet wird. tergrenze der jungen Kruste gelangt. Dort York. Als er 1980 im Himalaja
Ophiolithe kartierte, fragte er sich
sammelt sie sich großenteils und erstarrt. Da­ zum ersten Mal, wie Magma wohl
Wieso gibt es Vulkanausbrüche? durch erzeugt sie neues Gestein, ohne an der durch den festen Teil des Erdinne­
Geländebeobachtungen und theoretische Mo­ Oberfläche auszutreten. Manchmal allerdings ren aufsteigt. Seither hat er mit
delle lieferten somit einleuchtende Antworten erzwingt sich die Schmelze den Weg bis ganz Feldforschungen im Gelände, mit
auf die beiden wichtigsten Fragen. Aufsteigen- hinauf und ergießt sich in bis zu zehn Meter mathematisch-chemikalischen
Modellen am Computer und mit
des Magma behält seine chemische Zusam­ dicken und zehn Kilometer langen Lavaströ­ fluiddynamischen Experimenten im
mensetzung bei und tauscht keine Atome mit men über den Meeresboden. Labor nach der Antwort gesucht.
dem umliegenden Mantelgestein aus, weil es Diese detaillierten Erkenntnisse über die
innerhalb breiter Dunitkanäle isoliert bleibt. Transportnetze von Schmelze in großen Tie­
Diese Kanäle führen zu den mittelozeanischen fen unter dem Meeresboden ähneln in vieler Braun, M. G., Kelemen, P. B.:
Rücken hin, da erkaltende Schmelze im obers­ Hinsicht dem, was über Gewässernetze an der Dunite Distribution in the Oman
Ophiolite: Implications for Melt Flux
ten Mantel auskristallisiert. Doch schon er­ Erdoberfläche bekannt ist. Ähnlich wie kleine through Porous Dunite Conduits.
hob sich eine dritte Frage: Falls der Aufstieg, Flüsse sich in den Untergrund eingraben und In: Geochemistry, Geophysics,
wie von uns postuliert, ein kontinuierlicher zu breiten Strömen vereinigen, erzeugt die Geosystems 3(11), 6. November
Prozess ist, warum tritt dann nicht fortwäh­ chemische Erosion im tieferen Erdmantel ein 2002.
rend geschmolzenes Gestein am Meeresboden Netz, in dem viele schmale Schmelzrinnen Kelemen, P. B. et al.: Extraction of
aus, sondern nur von Zeit zu Zeit in Form sich zu größeren Kanälen zusammenschlie­ Mid-Ocean Ridge Basalt from
heftiger Vulkanausbrüche? ßen. Beim Auskristallisieren im oberen Man­ Upwelling Mantle by Focused Flow
of Melt in Dunite Channels. In:
Wiederum entwickelten wir auf der Basis tel bildet das Magma »Dämme«, die es um­ Nature 375, S. 747–753, 29. Juni
von Beobachtungen im Gelände eine Theorie. lenken – ähnlich den natürlichen Dämmen, 1995.
An den Ophiolithen des Oman hatten Nico­ die ein schlammiger Fluss an der Mündung
Spiegelman, M. W. et al.: Causes
las und seine Kollegin Françoise Boudier in ins Meer ablagert. Beide brechen von Zeit zu and Consequences of Flow Organi­
Montpellier Mitte der 1990er Jahre gezeigt, Zeit. Dann treten vorübergehend aus einem zation during Melt Transport: The
dass sich die Schmelze im obersten Mantel, einzigen Kanal große Mengen an Flüssigkeit Reaction Infiltration Instability. In:
dicht unter der ozeanischen Kruste, in linsen­ aus. Forschungsarbeiten über die physikali- Journal of Geophysical Research
förmigen Taschen sammelt, die einige bis dut­ schen Gesetzmäßigkeiten, die der Bildung 106(82), S. 2061–2077, 2001.
zende Meter hoch und dutzende bis hunderte von Gewässer- und Magmatransportnetzen zu
Meter breit sind. Meine Kollegen und ich Grunde liegen, könnten also zu einer einheit­ Weblinks zu diesem Thema
konnten das damit erklären, dass sich Mantel­ lichen Theorie führen, die das Verhalten von finden Sie unter www.spektrum.de/
gesteine in einer bis zu zwei Kilometer dicken beiden erklärt. artikel/1014875.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 87


WISSENSCHAFT IM ALLTAG
käserei
können. Es entsteht eine gallertartige Masse, Dickete oder Gallerte

Fleißige Mikroben genannt. Sollen Quark, Frischkäse oder Sauermilchkäse wie Hand-,
Koch- und Harzer Käse produziert werden, liefern Mikroorganismen
die benötigten Enzyme; diese so genannten Säuerungskulturen sor-
Dass aus Milch ein leckerer Brotbelag wird, verdanken gen später auch durch ihren Stoffwechsel für die Reifung des Le-
bensmittels. Sind dagegen Hart-, Schnitt- oder Weichkäse das Ziel,
wir Bakterien und Schimmelpilzen. kommt Lab zum Einsatz. Dieses Enzymgemisch entnahm man früher
dem Labmagen von Kälbern – es dient zum Verdauen der Mutter-
milch – oder gewann es aus Pflanzen wie dem Labkraut. Heute wird
Von Stefanie Reinberger es meist biotechnologisch hergestellt.
Die Dickete wird in kleine Stücke geschnitten, den Käsebruch.

E ine appetitlich angerichtete Käseplatte bildet oft den Abschluss


eines Festtagsmenüs. Die reiche Auswahl an Sorten verdanken
wir einem der ältesten biotechnologischen Verfahren. Ausgewählte
Das traditionelle Schneidewerkzeug dazu ist die Käseharfe, heute
ein Edelstahlrahmen mit parallel gespannten Drähten. Je feiner der
Bruch, desto fester wird das Endprodukt. Weichkäse wie Camem-
Mikroorganismen erzeugen sie aus Milch, einer wässrigen Emulsion bert oder Brie entstehen deshalb aus walnussgroßen Stücken, für
von Fetten, Proteinen, Kohlenhydraten, Mineralstoffen und Vitami- mittelweichen Käse, etwa Gouda und Butterkäse, müssen sie hasel-
nen. Freilich erst nach bestandener Qualitätskontrolle : Rückstände nussgroß sein, und für Hartkäse dürfen sie gerade mal die Größe
von Medikamenten wären Ausschlusskriterien, ebenso Mikroorga- eines Reiskorns haben. Den richtigen Zeitpunkt zum Schneiden er-
nismen, die das anschließende Pasteurisieren durch Sporenbildung mitteln Käser übrigens auch heute noch überwiegend manuell.
überleben könnten. Dazu gehören Clostridien, die den Käse gären
und dadurch sauer bis bitter schmecken lassen würden. Wird die Masse nun langsam auf bis zu 55 Grad Celsius erhitzt,
Durch Hinzufügen oder Abtrennen von Rahm, dem Milchfett, zieht sie sich zusammen, und überschüssige Flüssigkeit, die Molke,
stellt der Käser nun den gewünschten Fettgehalt ein. Anschließend tritt aus. Bei der Produktion festerer Käse wird der Bruch dann
pasteurisiert er den Rohstoff, zerstört also Krankheitskeime und an- mit einem Tuch aus dem Kessel gehoben – auch in der Großproduk-
dere unerwünschte Mikroorganismen durch Erhitzen auf 72 bis 75 tion – und in eine Form gebracht, während man etwa für den wei-
Grad Celsius, bis 90 Grad für Quark. cheren Gouda die Molke ablaufen lässt. Bei Camembert und Brie
Im nächsten Schritt erfolgt die »Dicklegung«. Vom Kasein, das wird der Bruch per Schöpfkelle umgefüllt.
rund 80 Prozent der Eiweißmenge ausmacht und in der Milch in ku- Schnittkäse muss nun gepresst werden – je nach Sorte zwischen
geligen Mizellen vorliegt, spalten Enzyme Seitengruppen ab, so dass 2 und 24 Stunden. Darauf folgt meist für eine halbe Stunde bis zu
die Kaseinmoleküle lange Ketten bilden und miteinander vernetzen mehreren Tagen ein Bad in einer hochprozentigen Natriumchlorid-

Wussten Sie schon?


r  Der älteste erhaltene Käse wurde in einem ägyptischen als laktosefrei erfordert dann nur eine spezielle Prüfung des
Steingefäß gefunden und ist rund 4200 Jahre alt. Forscher ge- Milchzuckergehalts. Bei Quark, Frisch- oder Weichkäse ist aller-
hen aber davon aus, dass das Prinzip der Käserei bereits in der dings eine gezielte enzymatische Spaltung vonnöten: Das En-
Jungsteinzeit entdeckt wurde: In Tiermägen, die man zum Trans- zym Laktase kommt dazu entweder direkt in die Milch, oder die
port von Milch genutzt hat, entstand gelegentlich Käse auf Grund Laktose wird herausgefiltert, dann behandelt und ein Teil der
von Labresten. Spaltprodukte zurückgegeben.
r  Löcher im Käse sind Resultat des Stoffwechsels der Milch- r  Niedriger Fettgehalt und trotzdem der gewünschte Ge-
säurebakterien – beim Umsetzen der Laktose wird unter ande- schmack und das käsetypische Mundgefühl? Zeitgemäße Light-
rem Kohlendioxid frei, das nach der Rindenbildung nicht mehr Produkte fordern die Kunst der Käsemeister heraus. So verstär-
entweichen kann und Blasen bildet. Besonders große Löcher, ken diese durch speziell zusammengesetzte Reifungskulturen
etwa im Emmentaler, stammen von Propionibakterien, die eben- das Aroma. Durch gröberes Schneiden der Dickete behält der
falls CO2 produzieren sowie Propionsäure, die einen wichtigen Käse einen höheren Wassergehalt und wirkt kremiger.
Beitrag zum Aroma leistet. Die kleinen Löcher des Tilsiters ent- r  Rohmilchkäse ist heute eine eher seltene Spezialität meist
stehen schon vor der Reifung, weil der Käsebruch, nur locker ge- kleinerer Käsereien, denn er wird aus unpasteurisierter Milch
schüttet, nicht gepresst wird. hergestellt: Nach dem Melken rührt der Käser Milchsäurebakte-
r  Wer den Milchzucker Laktose nicht verdauen kann, darf ge- rien und gegebenenfalls Schimmelpilzkulturen ein, dann reines
reiften Hartkäse in der Regel bedenkenlos essen: Mikroorganis- Labextrakt, damit die Milch gerinnt. Rohmilchkäse ist deshalb
men bauen den Zucker fast vollständig ab; eine Kennzeichnung kennzeichnungspflichtig.

88  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · januar 2010


Technik TECHNIK
& Computer
& Computer

Spektrum der Wissenschaft / Meganim


Mikroben Lab

Abtrennen
von
Milchfett
Qualitäts-
kontrolle Pasteurisieren
Milchannahme Dicklegung

Erhitzen
im Kessel
Schneiden der Gallerte Ausheben mitTuch Pressen Salzbad
äse
Rohk

Bürsten und Einschmieren Reifen im Keller

lösung. Das Salz entzieht dem Laib weitere Flüssigkeit und bildet Ob Großbetrieb, mittelständische Käserei oder Almdirektvertrieb,
eine Rinde. Einige Sorten wie der Roquefort werden damit eingerie- ob Hart- oder Weichkäse, stets sind es dieselben grundlegenden
ben (Trockensalzen), bei anderen wie dem Cheddar wird es dem er- Prozessschritte, in denen das Lebensmittel Käse entsteht. Ausnah-
neut klein gehackten Rohkäse untergemischt. me: Das Pasteurisieren entfällt beim Rohmilchkäse.
Rohkäselaibe sind bröckelig, blass und geschmacksarm. Das än-
dert sich während der Reifung, die Tage, Wochen oder Monate dau-
ern kann. Mikroorganismen setzen dabei vor allem Milchzucker
(Laktose) um, aber auch Fett und Proteine. Dabei entstehen jene Romadur, Limburger oder Munster verantwortlich sind. Bei Weich-
Stoffe, die für Aroma, Farbe und Konsistenz sorgen – sofern im Kä­ käsesorten à la Camembert gibt der Käsemeister die Kulturen für
sekeller das richtige, der Sorte entsprechende Klima herrscht. Die die typische Weißschimmelrinde sogar schon vor der Dicklegung in
Laibe werden während des Reifens regelmäßig gewendet und mit die Milch. Blauer Edelschimmel, der Roquefort und Gorgonzola ver-
Salzlösung gebürstet. Dabei entsteht die »Käseschmiere«. In dieser feinert, wird mit langen Nadeln in den Rohkäse geimpft. Nicht ge-
äußeren Schicht herrscht das für die jeweils erwünschten Mikro­ schmiert wird Emmentaler, der heute meist eine ölige Schutzschicht
organismen erforderliche biochemische Milieu, während andere bekommt, die den Käse atmen und Flüssigkeit verdunsten lässt.
Mikroben sich nicht ansiedeln können. Sie geben Enzyme ab, die Wachsschichten hingegen schließen ihn luftdicht ab, was einige
das Kaseinnetzwerk zum Teil abbauen und zu geschmacksrelevan- Aroma bildende Reaktionen stört und den Geschmack weniger in-
ten Verbindungen umwandeln. Obwohl diese Prozesse nur an der tensiv werden lässt. Bis zu 600 Käsesorten soll es in Deutschland
Oberfläche ablaufen, beeinflussen sie doch das Aroma des gesam­ laut Internetquellen geben. Da dürfte für jeden Geschmack etwas
ten Lebensmittels. dabei sein.
Diese Helfershelfer sind mitunter Bakterien und Pilze, die natür-
licherweise in der Luft vorkommen. Andere werden zugesetzt wie Die Biologin Stefanie Reinberger arbeitet als Wissenschaftsjournalis-
die Rotschmierekulturen, die für die rötlich-bräunliche Rinde von tin in Heidelberg.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · januar 2010 89


Phishing Diesen Artikel können Sie als Audiodatei beziehen; siehe www.spektrum.de/audio

Computer
an der Angel
Um sensible Daten wie Passwörter und Bankverbindungen im Internet
auszuspähen, setzen Kriminelle auf raffinierte Techniken –
und auf einen naiven Umgang der Nutzer mit elektronischer Post.

Von Lorrie Faith Cranor Nachrichten stammten dem Absender wie

W
dem Erscheinungsbild der Mail nach von
er würde da nicht erschre- namhaften Unternehmen und Organisatio­
cken? Innerhalb weniger Wo- nen. Aber mit Ausnahme der Aufforderung
chen warnten mich E-Mails, von E-Bay stammten sie ausnahmslos von
dass meine Onlinebankdiens­ Kriminellen.
te Gefahr liefen, deaktiviert zu werden, mein So genannte Phishing-E-Mails fischen nach
E-Bay-Passwort geändert werden müsse und Informationen, die sich zu Geld machen las-
Rechnungen für Musik-Downloads noch of- sen: Zugangsdaten zu Bankkonten, Kreditkar-
fenstünden. Zudem enthielt das elektronische tennummern, Benutzernamen und Passwörter
Postfach noch die Information, die Zugangs- zu Onlineshops. Diese elektronischen Briefe
daten zu meinem Mailservice würden sich sehen unverdächtig aus, stammen oft schein-
ändern, das Angebot einer Fluggesellschaft, bar von bekannten Firmen und fordern stets
gegen einen ansehnlichen Betrag an einer zu einer dringlichen Aktion auf, um entweder
Onlineumfrage teilzunehmen sowie einen negative Konsequenzen zu vermeiden oder
Spendenaufruf anlässlich drohender Hun- eine Belohnung zu erhalten. Der Empfänger
gersnöte in der Dritten Welt. Alle diese soll typischerweise vertrauliche Informationen
in ein Formular eintragen, einen Weblink an-
klicken oder einen Anhang öffnen. Nicht sel-
ten werden in den letzten beiden Fällen unbe-
merkt Trojaner genannte Schadprogramme
auf dem Computer des Empfängers installiert,
die einen Zugriff auf die erwünschten Daten
verschaffen oder den Rechner bei künftigen
Angriffen im Netz mit einspannen.
Die Anti-Phishing Working Group, ein in-
ternationales Konsortium aus Organisationen,
die dem Internetbetrug den Kampf angesagt
haben, behält solche Aktivitäten im Auge, ein-
schließlich der Zahl der in jedem Monat ent-
deckten Phishing-Webadressen. Im April 2007
erreichten diese einen Spitzenwert von 55 643,
im Juni 2009 wurde der zweithöchste Wert

90  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Technik & Computer

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Co

von 49 084 gemessen. Wurden 2007 noch 92 entweder nicht aktiviert oder ihre Warnungen
bis 178 Firmennamen und -logos pro Monat
missbraucht, um Opfer zu täuschen, waren es
missachtet. Deshalb untersucht meine For-
schungsgruppe an der Carnegie Mellon Uni- In Kürze
in der ersten Hälfte 2009 259 bis 310. Nach versity die Möglichkeiten, Internetnutzer zu
r  Als Phishing bezeichnet
Angaben der Forschungs- und Beratungsfirma schulen. Umgekehrt hilft diese Forschung,
man das Ausspähen sicher­
Gartner fielen 2007 geschätzte 3,6 Millionen Anti-Phishing-Software zu entwickeln, die
heitsrelevanter Informa­
Amerikaner Phishing-Attacken zum Opfer, mit höherer Wahrscheinlichkeit korrekt be-
tionen wie Passwörter oder
ihr Verlust belief sich auf mehr als 3,2 Milliar- nutzt wird.
Bankverbindungen.
den US-Dollar; im Jahr darauf war die Opfer- Als wir 2004 mit unserem Projekt began-
zahl auf mehr als fünf Millionen gestiegen, nen, rekrutierten wir Personen auf den Stra- r  Phisher verleiten ihre
aktuelle Zahlen liegen noch nicht vor (Stand ßen von Pittsburgh. Die meisten hatten keine Opfer durch fingierte Mails
November 2009; zur Situation in Deutsch- Ahnung, wovon wir sprachen, und nahmen dazu, sensible Daten in
land siehe Kasten S. 94). an, dass der Begriff Phishing etwas mit der Ab­fragemasken einzugeben.
US-amerikanischen Rockband Phish zu tun Alternativ versuchen sie,
Phish? Eine Rockband? habe. Die wenigsten wussten eine Betrugsmail deren Computer mit
Spezielle E-Mail-Filter und Webbrowser war- zu erkennen. Selbst die von einem Web- Spionagesoftware zu
nen vor Phishing-Attacken, doch leider ge- browser angezeigten Sicherheitswarnungen infizieren.
lingt es kriminellen Softwareentwicklern im- wurden nur selten verstanden. r  Da Phishing menschliche
mer wieder, kommerziellen Sicherheitspro- Das irritierte, denn Firmen, Behörden und Schwächen ausnutzt,
grammen einen Schritt voraus zu sein. Zudem Industrieverbände widmeten damals bereits verspricht eine Kombination
ist ein Teil des Problems nicht technischer Na- Websites diesem Thema, um die Bevölkerung von Schulung und aner-
tur: Phishing hat nur dann Erfolg, wenn der aufzuklären. Wir recherchierten und kamen kannter Sicherheitssoftware
E-Mail-Empfänger sich täuschen lässt bezie- zu dem Schluss: Viele waren in zu techni­ den besten Schutz.
hungsweise entsprechende Schutzprogramme schem Jargon verfasst und überforderten

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 91


Phishing

Computernutzer mit einem Überangebot an namens Anti-Phishing Phil, das nicht nur das
suspekte seiten Informationen, andere lieferten zu wenig Rüstzeug dafür liefert, verdächtige Webadres-
konkrete Ratschläge, wie man sich schützen sen zu erkennen, sondern auch die Erfahrung
Misstrauen Sie Webseiten könne. vermittelt, wie es ist, einem Phisher ins Netz
mit folgenden Eigenheiten: Bei Untersuchungen unter Laborbedin- zu gehen (siehe Bild S. 95). In Labor- und
➤  Alter der Domain gungen zeigte sich auch bald, dass ein eher Feldstudien konnten wir die Wirksamkeit die-
kleiner gleich zwölf Monate theoretisches Bewusstsein dieser Bedrohung ser Software nachweisen. Die Zahl falsch-ne-
➤  bekannte Logos nicht genügt, um auch ein adäquates Verhal- gativer Erkennung, also irrtümlich für seriös
Die Seite gehört zu keiner ten zu motivieren. Nicht selten werden Warn- gehaltener Webseiten, nahm ebenso deutlich
Domain des Logoeigners. hinweise, wie sie Firmen an ihre Mitarbeiter ab wie falsch-positive Identifizierungen, die
➤  verdächtige Adresse und Kunden verschicken, schlicht ignoriert. irrtümliche Ablehnung harmloser Seiten. Wer
URL beinhaltet das @-Zei- Probanden ließen sich sogar leichter verleiten, Anti-Phishing Phil erlebt hatte, schnitt im
chen, einen Bindestrich, fingierte Mails zu lesen als offenkundig sicher- Durchschnitt auch besser ab als Teilnehmer
eine IP-Adresse oder mehr heitsrelevante Nachrichten. anderer Trainingsprogramme.
als fünf Punkte.
Mein Team entwickelte ein Trainingssys­ Da die Entwickler von Schadsoftware da-
➤  verdächtige Links tem, das Cartoons einsetzt. Die Figur Phish- zulernen und ihre Strategien ändern, genügt
Der Link auf der Seite
Guru unterrichtet mögliche Opfer darin, wie eine einmalige Fortbildung leider nicht. Selbst
enthält ein @, einen Binde-
sie sich selbst schützen können. Als besonders professionelle Computeranwender müssen
strich oder einen Schreib-
fehler. effektiv erwies es sich, unsere Probanden vor sich immer wieder auf den aktuellen Stand
dem Training mit simulierten Phishing-Mails bringen. Die Anti-Phishing Working Group
➤  lexikalische Signatur
zu überrumpeln: Auch eine Woche nach der (APWG) berichtet, dass beispielsweise die In-
Die URL stimmt nicht mit der
Adresse der durch Google Unterweisung erinnerten sie sich an ihre Lek- fektion von Computern mit Trojaner genann-
hoch bewerteten gleichna- tionen und ließen sich nicht täuschen. ten Schadprogrammen, die Passworte und an-
migen Webseite überein. Darauf aufbauend entwickelte mein Dok- dere persönliche Daten ausspähen, dramatisch
torand Steve Sheng ein Onlinetrainingsspiel zunimmt. Attacken, die auf ihre Opfer hin

Wie Phishing funktioniert


Um Zugangskodes zu erfahren, verschicken Verbrecher Mails, son stammen. Wer der darin enthaltenen Aufforderung folgt,
die anscheinend von einer vertrauenswürdigen Firma oder Per- riskiert hohen finanziellen Schaden.

Der Köder Variationen:


• Nachrichten in sozialen ●
2  Das Anklicken des
Links öffnet ein Browser-
● 1  Eine E-Mail Phishing-E-Mail Netzwerken
fenster, in dem der Nut-
mit einem als • »Instant-Messenger-
vertrauenswürdig Phisher ●
1
Nachrichten« zer gebeten wird, sich
geltenden Absen- einzuloggen oder ein
der fordert das Formblatt auszufüllen.
Opfer zu einer ei-
ligen Aktion auf, ●
3
etwa auf eine in
der Mail hinter-
legte Webseite zu
vertrauliche
Daten ●
2 Opfer
gehen oder einen
Anhang zu öffnen. Malware ●
3  Die Infor-
Phishing-Website mation wird an
den Phisher
●4
weitergeleitet.
Der Gewinn vertrauliche
Daten
●6  Phisher greifen auf
Onlinekonten zu, stehlen
und verkaufen Regierungs-

6

und Firmen­geheimnisse.

5
Malware

4  Das Öffnen der Webseite oder
eines E-Mail-Anhangs hat das
Botnet Herunterladen von Schadsoftware

5  Malware kann infizierte Rechner ansteuern, (Malware) ausgelöst. Diese spio-
Phishing-Mails zu versenden, oder sie in ein niert Informationen aus und sendet
George Retseck

Netzwerk (Botnet) integrieren, das als Server sie dem Phisher.


für Betrugswebseiten dient.

92  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Technik & Computer

maßgeschneidert sind, sind ebenfalls ein Trend; ignoriert. Die von uns getesteten Werkzeuge
man spricht anschaulich vom Speer-Phishing. kombinieren verschiedene Methoden, um Be-
Beispielsweise werden E-Mails an Firmenan- trugsnachrichten und kriminelle Websites zu
gehörige verschickt, als deren Absender ein identifizieren. So gibt es Listen erkannter
Manager des Unternehmens firmiert. Wie Web­adressen (Blacklists), die ständig aktuali-
leicht lässt man sich täuschen und öffnet den siert werden, beziehungsweise Tabellen seri-
Anhang oder klickt auf den Weblink. öser Seiten (Whitelists).
Einige Filter analysieren besuchte Internet-
Gute Seiten, seiten anhand von Heuristiken (siehe auch die
schlechte Seiten Randspalte links). So sind Webadressen ver-
In vielen Browsern sind bereits Sicherheitsfil- dächtig, die denen wohl bekannter Marken
ter eingebaut, andere entdecken verdächtige ähneln wie etwa »www.annazon.com« (ein
Websites mit Hilfe von Add-ons, also kleinen Kriterium, das wir auch in unseren Schu-
Zusatzprogrammen. Doch alle Raffinesse der lungen lehren). Da Betrugsseiten typischer-
Entwickler ist vergebens, wenn deren War- weise nur Stunden bis Wochen aktiv sind,
nungen nicht verstanden werden. Solche Pro- überprüfen die Programme auch das Alter ei-
bleme melden Gruppen wie die unsere an die ner Seite. Dieses Kriterium kann die Erken-
Hersteller. Schon deshalb empfiehlt es sich, nungsrate drastisch verbessern. So testeten wir
Internetsoftware immer auf dem neuesten 2008 acht Anti-Phishing-Programme mit
Stand zu halten. neuen Betrugsseiten. Programme, die sich
Zusätzlich zur Erkennbarkeit beeinflusst ausschließlich auf Blacklists stützten, er-
auch die Verlässlichkeit das Nutzerverhalten. kannten zunächst nur 20 Prozent davon, und
Eine hohe Rate falsch-positiver Entschei- erst nach fünf Stunden erreichten die meisten
dungen erschüttert die Glaubwürdigkeit eines eine Quote von immerhin 60 Prozent. Solche
Filters, und seine Warnungen werden leicht aber, die zudem Heuristiken nutzten, identifi-

Erkennen phishiger E-Mails


Ein Markenname, einer Institution oder gar der Name eines Merkmale können Computernutzer und spezielle Programme fin-
Mitarbeiters suggerieren Vertrauenswürdigkeit. Anhand diverser gierte Nachrichten aber dennoch als solche erkennen.

Typische Kriterien für


Merkmale Softwarefilter
Betreff: Musterbank Eilige E-Mail-Verifikation
Von: »Musterbank« Kreditkarten@Musterbank.de HTML- oder Java­Script-
Datum: Mon, 06. Juli 2009, 15.12.43 Kode – der auch in
An: Mustermann@provider.de seriösen E-Mails
Priorität: Normal vorkommt – ermöglicht
es, verlinkte Internet-
professionelles Optionen: View Full Header | View Printable Version
adressen zu verbergen.
Layout, bekanntes
Firmenlogo
MusterBank
Sehr geehrte(r) Musterbankkunde,
eilige Angelegenheit,
die eine Aktion fordert Diese E-Mail wurde Ihnen vom Musterbank-Server gesandt, um Ihre E-Mail-
Webadressen von
Adresse zu verifizieren. Sie müssen diesen Vorgang abschließen, indem Sie
Firmen vermitteln
hier oder auf den Link weiter unten klicken und sich mit Ihrem Musterbank- Authentizität, der Link
Warnung, falls Aktion Nutzernamen und Passwort anmelden. Dies dient Ihrem eigenen Schutz – weil aber leitet zu einer
nicht erfolgt einige unserer Kunden keinen Zugang mehr zu ihren E-Mail-Adressen haben anderen Seite.
und wir dies verifizieren müssen. Aus Gründen der Sicherheit sind wir
gezwungen, Ihren Kontozugang einzuschränken, falls Ihre Zugangsdaten nicht
innerhalb der nächsten 72 Stunden verifiziert werden.
Um Ihre E-Mail-Adresse zu bestätigen und Zugang zu Ihrem Bankkonto zu
Hinweis erhalten, klicken Sie auf den Link weiter unten. Falls nach Anklicken des Links
auf Phishing-Mails nichts geschieht, kopieren Sie den Link und fügen Sie ihn in die Adressleiste Phishing-Domains
Wird der Cursor über Ihres Webbrowsers ein. sind meist kurzlebig;
den Link geführt, ent- ein Filter kann ent-
spricht die in einer http://www.MusterBank.de/EMailVerifikation sprechende Listen
Browserzeile er­ Vielen Dank befragen, ob die in der
scheinende Adresse Mail verlinkte Web­
nicht der im Text Ihr Kontomanagement
seite schon länger
angezeigten. http://musterbank-OnlineKonto.de/KontoZusammenfassung.htm?verify=email existiert.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 93


Phishing

zierten von Anfang an fast 90 Prozent der nächst einen gängigen Algorithmus, um auf
Phishing-Attacken. dieser Seite fünf Begriffe zu identifizieren, die
Erfolg versprechen auch Analysetechniken offenbar wichtig, im Internet insgesamt aber
des Maschinenlernens. Mein Mitarbeiter Nor­- vergleichsweise ungebräuchlich sind. Eine sol-
man Sadeh versucht mit diesen Verfahren che lexikalische Signatur der Login-Seite von
Merkmale auszumachen, die bezeichnend für E-Bay ergäbe vielleicht »E-Bay, Mitglieds­
Phishing sein können. Zum Beispiel gibt es in name, einloggen, Hilfe, vergessen«. Würde
solchen Mails oft Weblinks, die im lesbaren man umgekehrt diese fünf Ausdrücke in die
Text wie die Adresse einer bekannten und se- Google-Suchmaschine eintragen, sollte die
riösen Website aussehen – tatsächlich aber Login-Seite von E-Bay unter den obersten
durch den hinterlegten Computerkode auf die Suchergebnissen erscheinen. Phishing-Web-
Seite des Angreifers führen. Andere Adressen sites, die sich den Anschein dieser Seite geben,
enthalten oft fünf und mehr Punkte und ver- dürften eher nicht auftauchen. Denn eines
weisen auf Domainnamen, die erst kürzlich der Kriterien, das Googles proprietärer Algo-
den internationalen Domainservern gemeldet rithmus zum Ranking von Seiten nutzt, ist die
wurden. Doch diese beiden Kriterien sind Anzahl der von anderen Adressen dorthin
nicht hundertprozentig scharf, denn es gibt führenden Links. Allerdings ist das keine un-
Betrugs-E-Mails ohne diese Merkmale, und fehlbare Methode, besonders dann, wenn eine
mitunter treffen sie auch auf seriöse E-Mails seriöse Website erst kürzlich kreiert wurde;
zu. Deshalb trainieren meine Mitarbeiter un- folglich ist es nur eines von mehreren Merk-
ser Programm PhishPatrol anhand einer gro­ malen, das Cantina berücksichtigt.
ßen Sammlung seriöser und betrügerischer
­E-Mails. Es analysiert sie und lernt selbststän- Täuschend echt –
dig, welche Merkmalkombination höchst- simulierte Internetportale
wahrscheinlich korrekt auf Phishing hinweist. Im Kampf gegen diese Form der Online­
Inzwischen erkennt PhishPatrol mehr als 95 kriminalität entdeckt auch die Gegenseite im-
Prozent der kriminellen E-Mails und liefert mer neue Angriffsmöglichkeiten: Phishing-
nur bei etwa 0,1 Prozent der seriösen Nach- Nachrichten werden via Instant Messenger
richten fälschlicherweise Warnungen. und Handy-SMS versandt; Teilnehmer des
Wir haben auch einige der dort genutzten beliebten Onlinespiels »World of Warcraft«
Strategien mit anderen Ansätzen kombiniert. erhielten fingierte E-Mails des Betreibers. Über
Jason Hong leitete in unserer Gruppe die die Kurznachrichtendienste sozialer Netz-
­Entwicklung der Software Cantina, die den werke wie Facebook wurden »klassische« Porno­
Inhalt einer Internetseite und verschiedene lockangebote verbreitet – etwa mit Betreffzei-
andere Merkmale bewertet. Cantina nutzt zu- len wie »Wurden diese Fotos wirklich ins Netz

Phishing in der Bundesrepublik


Nach Angaben des Bundeskriminalamts stieg die Zahl der net verbundenen Rechner bereits von Schadsoftware befallen
­registrierten Fälle in den Jahren 2005 bis 2007 von 2500 auf sein, schätzen Hersteller von Anti-Virus-Programmen und Si-
4200, sank aber 2008 zunächst auf 1778, vermutlich auf Grund cherheitsdienstleister.
der flächendeckenden Einführung des iTAN-Systems beim On­
linebanking. Entwarnung gibt die Behörde aber nicht: Seit Ende Das BKA empfiehlt deshalb:
2008 klettern die Zahlen wieder nach oben, und vermehrt wurde ➤ nie ohne Firewall und Virenschutz ins Internet
das iTAN-System überwunden. ➤ Virenschutz-, Browser- und E-Mail-Software aktuell halten
Auch die Schadenssummen wachsen, sie erreichten 2008 ➤ Vorsicht beim Öffnen von Mail-Anhängen
häufig Beträge von 10 000 Euro. Neben Bankdaten hätten es ➤ keinen Links folgen, die per Mail einer angeblichen Bank
Kriminelle laut BKA zunehmend auf die digitale Identität der kommen
Bürger abgesehen. Der Diebstahl von Kreditkartennummern, Zu- ➤ keine TANs eingeben, wenn keine Überweisung vorgenom-
gangsdaten bei Auktionshäusern oder Passwörtern für soziale men wird
Netzwerke und Aktiendepots nahm 2008 um rund zehn Prozent ➤ ungewöhnliche Fehlermeldungen beim Onlinebanking so-
auf mehr als 37 000 Fälle zu. fort der Bank melden und den eigenen Zugang sperren lassen
Laut BKA kommen in Europa inzwischen hauptsächlich Troja- ➤ regelmäßig Kontoauszüge prüfen
ner zum Einsatz, die unbemerkt die Eingaben des Nutzers proto- ➤ für alle sicherheitsrelevanten Internetaktivitäten wie das
kollieren. Sie gelangen als Anhang einer Mail auf den Computer, Onlinebanking einen extra Rechner verwenden
via Download oder als Drive-by-Infection, einer unbemerkten ➤ Vorsicht bei Jobangeboten im Internet: Wer sich als mule
»Ansteckung« beim Besuch einer infizierten Webseite. Insge- anwerben lässt, macht sich mindestens der Geldwäsche
samt sollen 25 bis 30 Prozent der in Deutschland mit dem Inter- schuldig.

94  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Technik & Computer

CMU usable privacy and security laboratory & wombat security technologies inc.
gestellt?« –, die einen Link enthielten, der zu lionen Rechnern weltweit Mitte 2009 54 Pro- Onlinetraining gegen Online­
einer simulierten Facebook-Login-Seite führ­ zent mit Schadsoftware aller Art infiziert, kriminalität: Bei »Anti-Phishing
te. Raffinierterweise leiteten die Phishing-Sei- während es Ende 2008 noch 35 Prozent ge- Phil« schlüpfen Spieler in die
ten nach Eingabe der Zugangsdaten tatsäch- wesen waren. Rolle des Fisches Phil, der sich
lich an die richtige Adresse weiter. In eine Befallene Computer versenden Betrugs- entscheiden muss, ob er einen
ähnliche Falle kann die Einwahl in ein öffent- mails und maskieren so die Internetadresse mit einer URL verbundenen
liches WLAN führen. der eigentlichen Phishing-Website. Eine an­ Wurm frisst oder ihn zurück­
Eine Variante des Phishing erlebt derzeit dere von diesen Banden genutzte Taktik, um weist (links). Während und nach
ein exponentielles Wachstum: betrügerische den Ausgangspunkt eines netzweiten Angriffs jeder Runde wird das Verhalten
Schutzsoftware. So wurden Besucher der Web­ zu verschleiern, ist die von Sicherheitsexper- kommentiert, und es werden
seite der »New York Times« im vergan­genen ten Fast-Flux genannte Methode: Den Krimi- Tipps gegeben (rechts). In
September nach dem Anklicken eines Werbe- nellen gelingt es, die Domainname-Server zu Laborstudien erkannten derart
banners vor einer möglichen Infektion ihres manipulieren, also die Knotenrechner, die geschulte Probanden infizierte
Rechners gewarnt und der Erwerb eines Anti-­ eine Adresse wie »www.spektrum.de« in eine Webseiten sehr viel besser als
Virus-Programms empfohlen. Wer dem nach- aus Zahlen bestehende Adresse umsetzen. Die solche, die mit Standardmaterial
gab, war sein Geld los, denn was sich dann in- Banden sorgen durch ihren Eingriff dafür, trainiert wurden.
stallierte, gab nur vor, ein Schutzprogramm dass die Server ständig die zum Domain­
zu sein. Tatsächlich richtete die Malware eher namen der Betrugsseite korrespondierende
Schaden an, da sie die Sicherheitsstufe des In- numerische Adresse ändern.
ternet Explorers und Windows-Systemeinstel- Überraschenderweise werden Phishing-
lungen veränderte. Nach Auskunft der APWG E-Mails nicht unbedingt von dubiosen Ser-
hatte sich die Zahl solcher Fälle betrügerischer vern schwer kontrollierbarer Inselstaaten ver-
(rogue) Anti-Malware-Programme internatio- schickt. Nach Auskunft von Avira, einem
nal von etwa 22 000 im Januar auf mehr als deutschen Hersteller von Sicherheitssoftware,
152 000 im Juni 2009 erhöht. Der besondere stammen mehr als 14 Prozent der deutschen
Reiz für die Phisher: Solche Software ist für Phishing-E-Mails auch von deutschen Ser-
echte Schutzprogramme schwer zu erkennen, vern. Im internationalen Vergleich allerdings
solange sie nicht zusätzlich Trojaner und kommen sie nur auf zwei bis drei Prozent, den
dergleichen installiert. Denn letztlich gibt sie Spitzenplatz infizierter Webseiten belegt in-
nur vor, etwas anderes zu sein, als sie ist. Gut zwischen China mit 36 Prozent im Juni 2009
200 Gangs weltweit folgen diesem »Geschäfts- vor den USA mit »nur« 29 Prozent.
modell«. Bei aller technischen Raffinesse sind Phi­ Lorrie Faith Cranor lehrt Informatik
Längst sind keine Kleinkriminellen mehr sher mitunter doch auf menschliche Hilfe an- an der Carnegie Mellon University in
am Werk, sondern Profis. Organisierte Phisher- gewiesen, und hier kommen wieder arglose Pittsburgh (Pennsylvania) und leitet
dort ein Labor zum Themenbereich
Banden wie die vermutlich von Osteuropa aus Gutgläubigkeit oder Gier ins Spiel. Um ihre »Schutz persönlicher und sicher-
agierende »Rock Phish Gang« setzen Tausen- Identität beim Zugriff auf ein fremdes Konto heitsrelevanter Daten«. Mit Wombat
de von mit Trojanern infizierte Computern zu verdecken, rekrutieren sie mules (Maul­esel) Security Technologies Inc. will sie
ahnungsloser Nutzer für ihre Attacken ein. für angebliche Heimarbeitsplätze oder schein- die entwickelten Anti-Phishing-Ver-
Dass es sich nicht um ein marginales Pro­- bare Gefälligkeiten. Deren Tätigkeit besteht fahren vermarkten.
blem handelt, verdeutlicht die Statistik. Laut im Transferieren von Geld. Kommen Ermitt-
der jüngsten Erhebung von Panda Labs, ler diesen oft ahnungslosen Personen auf die Weblinks zu diesem Thema
einem Forschungsnetzwerk und Anbieter von Spur, gilt der Grundsatz: Unwissenheit schützt finden Sie unter www.spektrum.de/
Schutzsoftware, waren von mehr als 20 Mil­ nicht vor Strafe. artikel/1014874.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010 95


REZENSIONEN
Technik Wirtschaftskrise. Als hätte er es geahnt,
kriegen auch Spitzfindigkeiten wie »Tech­
Technologien im Zeitgewand nologiekonzern«, »globales Unternehmen«
oder »Shareholder Value« ihr Fett weg.
Joachim Radkau zeigt uns die deutsche Technikgeschichte Erstmals hatte der Autor das Ergebnis
in einer überwältigenden Vielfalt der überraschends­ten seiner langjährigen Studien 1989 unter
Zusammenhänge. gleichem Titel als Taschenbuch vorgelegt.
Die Öffnung des Eisernen Vorhangs bescher-

G ibt es einen typisch deutschen Weg in


der Entwicklung der Technik? Joachim
Radkau, Professor für Neuere Geschichte,
und Handeln; sie brauchen ihre Regelmäßig-
keit, ihre gewohnte Umgebung, ihren vorge-
zeichneten Weg. Aber sie haben eine uner-
te Radkau über Nacht ein neues Studien-
feld, das der jüngsten Ausgabe zu einem zu-
sätzlichen Kapitel »Deutsche Wege und
insbesondere Technikgeschichte, an der Uni- reichte Fähigkeit darin, den richtigen Weg Sackgassen in der Technikgeschichte der
versität Bielefeld, antwortet mit einem kla- herauszufinden und ihn unbeirrt zu verfol- DDR« verholfen hat. Mit einer überwälti-
ren Ja. Typisch deutsch sei, dass es hier zu gen.« Tugenden, die man heute den Japa- genden Materialfülle, zwei zusätzlichen Ka-
Lande Technisierung um jeden Preis nie ge- nern, Koreanern oder Chinesen zuschreibt. piteln, in denen der Historiker seine eigene
geben habe. Nicht der so genannte »First Mover« setze Rolle reflektiert, sowie Register und Litera-
»Nie« ist vielleicht ein bisschen über- eine neue Technologie durch; zum Sieger im turhinweisen, die rund ein Fünftel des
trieben. Auch in Deutschland sehen viele Wettbewerb würden die »Fast Followers«, Bands ausmachen, ist »Technik in Deutsch-
Leute Anlass, über die »Technikverliebtheit Unternehmen, die aus den Rückschlägen der land« zu einem wahren Monumentalwerk
der Ingenieure« oder »Überingenieurisie- Erstentwicklung lernen und das Produkt herangewachsen. Obwohl der Text flüssig
rung« zu klagen, ganz zu schweigen von der ohne Geburtsfehler und Kinderkrankheiten ist und sich spannend liest, erschlägt einen
Hilflosigkeit, die Otto Normalverbraucher in Serie bringen. Auf diese Art ist Deutsch- die schiere Fülle an Information.
bei der Programmierung elektronischer land Exportweltmeister geworden. Nach einer Einführung und einigen
Konsumgüter, auch deutscher Markenpro- Dass die heutige Krise diesen Status re- grundsätzlichen Dingen behandelt das zwei-
dukte, überfällt. Gleichwohl hat Radkau da- lativiert, konnte Radkau natürlich nicht vo- te Kapitel die Periode vom Beginn des 18.
mit einen entscheidenden Wesenszug der raussehen. Aber dass zu viel Euphorie und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Weil
deutschen Technik herausgearbeitet. »Hypes« genauso wie zu starker Pessimis- Energie und Rohstoffe weit über den Bedarf
In seinem Buch tritt er für die »vernünf- mus (»Technikfeindlichkeit«) dem Fort- hinaus zur Verfügung stehen, werden die
tige Langsamkeit« des technischen Fort- schritt nicht zuträglich sind, daran lässt er erstbesten Quellen genutzt, und das sind
schritts ein, wodurch auch die Bedürfnisse keinen Zweifel. Am Beispiel der geplatzten Wasser und Holz – regenerative Quellen.
von Mensch und Umwelt besser berücksich- Dotcom-Spekulationsblase vom März 2000 Deswegen bezeichnet Radkau diese Periode
tigt würden. Voller Zustimmung zitiert er den kritisiert er die unreflektierte Übernahme als »hölzernes Zeitalter«. Sie wird dann all-
britischen Historiker Arthur Shadwell, der »modischer« Technologien, die von Ma- mählich verdrängt durch »Schnellfabrika­
1908 beim Vergleich der industriellen Leis- nagement-Theoretikern und -Praktikern her- tion«, die einhergeht mit »Ersparnis des
tungsfähigkeit von England, Deutschland beigeredet und von ganzen Herden wieder- Holzes und der Zeit (und der Löhne)«.
und Amerika resümierte: »Die Deutschen holt werden. Indem er sich eine ganze Reihe Die bisher durch die Textilbranche ge-
sind langsam, zielbewusst, sorgfältig, me- berühmt-berüchtigter Konzernlenker vor- prägte Industrielandschaft mit ihren Han­
thodisch gründlich in ihrer Arbeit … Sie sind knöpft, darunter die Daimler-Bosse Reuter dels­unternehmen profitiert gewaltig von den
kein unternehmendes und abenteuerliches und Schrempp, avanciert er unbeabsichtigt 1848er Reformen in Preußen, die beispiels-
Volk, … sie brauchen Zeit zum Nachdenken zum Propheten der aktuellen Finanz- und weise das Aktienrecht und die Eisenbahn be-
treffen. Zum Ende des Jahrhunderts entste-
hen ganz neue Branchen: Maschinenbau,
Chemie und Elektrotechnik, die von Techni-
ker-Unternehmern geleitet werden: Borsig,
Siemens, Duisberg oder Bosch. Dass Deutsch-
land in dieser Zeit den Vorsprung Englands
ein- und überholt, liegt in der typisch deut-
schen Verquickung von Banken und Indust­
rie­unternehmen; Beispiele sind Siemens und

»Ikarus«: Gemälde von Bernhard Heisig für


den 1975 eingeweihten Palast der Republik
der DDR. Früher erkannte man in dem Bild
einen sozialistischen Ikarus, dem es entge-
gen der antiken Sage gelingt, sich bei seinem
Sonnen- (oder auch Sputnik-)Flug in der
Luft zu halten. Mittlerweile wird er eher mit
dem – von Heisig ebenfalls mehrfach gemal-
ten – Christus am Kreuz assoziiert.

98 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


Rathenau. Die City of London interessierte desrepublik führt der Ausbau der Straßen- dächtig die Mitte hält, bleibt oben, kommt
sich nicht für Industrie und Technik. infrastruktur zu einem Aufschwung der Au- voran und überlebt.« Diese These kann man
Die Gründerjahre des national erstarkten toindustrie par excellence – Sinnbild für teilen oder nicht, eine fulminante Hinfüh-
Deutschlands mit seinen aufkeimenden Si- das technologisch untermauerte deutsche rung zu ihr ist das Werk allemal.
cherheitsinteressen sind auch die Geburts- Wirtschaftswunder. Selbstverständlich un- Radkau verbindet Einzelpersönlichkei-
stunde der modernen Umweltpolitik. Die terlässt der Verfasser es nicht, über Atom- ten mit Gesetzen, Politik mit Bildung, Erfin-
Dampfkesselüberwachungsvereine (DÜV) und Kernenergiepolitik sowie Aufstieg, Ent- dungen mit Banken und Finanzierung, un-
als Keimzellen des TÜV, Kläranlagen sowie wicklung, aber auch den Untergang ganzer tersucht die (innovationsfeindliche!) Rolle
Luft- und Wasserreinhaltung, Hygiene mit Branchen zu schreiben. von Patenten, hat ein Auge auf die Arbeiter-
Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit sind Schließlich stellt Radkau in diesem Kapi- bewegung, verknüpft Nationales mit geopo-
nur einige Antworten auf das von Behörden, tel die Frage, wie es zur Humanisierung der litischem Geschehen, bemüht Erfolge, Un-
Ingenieuren, Verbänden und Arbeiterklasse Technik kommen kann. Ist sie Folge- oder fälle, Ereignisse aus Zeitung, Kultur, Kunst
empfundene Umweltrisiko, das mit der tech- Nebenprodukt des beständigen technischen und Literatur. Das ist wahre Multidisziplina-
nischen Entwicklung einherging. Wandels oder notwendiger, radikaler Bruch rität! Es wäre nur zu wünschen, dass Radkau
Die nächste Periode wird durch die mit der Hightech-Euphorie? Er sieht den Wi- uns eine weitere Fortsetzung seiner hoch-
Weltkriege dominiert. Radkau macht die derspruch zwischen Umweltschutz und be- spannenden Techniklektüre schenkt.
Besonderheiten der Vor-, Kriegs- und Nach- triebswirtschaftlicher Gewinnmaximierung, Reinhard Löser
kriegszeiten an Phänomenen wie Massen- ist aber überzeugt, dass in der deutschen Der Rezensent ist promovierter Physiker und ha-
produktion und Technisierung in allen Be- »Tugend der Langsamkeit« riesiges Potenzi- bilitierter Volkswirt; er arbeitet als freier Journa-
reichen des Lebens fest, nicht ohne den al steckt, um mit Hilfe von Politik und Öf- list in Ebenhausen bei München.
großen Einfluss staatlicher Interessen zu fentlichkeit diesen Widerspruch auszuglei-
thematisieren. Besonderes Augenmerk wid- chen. Dass Deutschland auf diese Weise zum
Joachim Radkau
met er der damals im Weltmaßstab führen- Pionier und führenden Umwelttechnikex-
Technik in Deutschland
den deutschen Elektro- und Chemieindus- porteur geworden ist, hätte Radkau ruhig als
Vom 18. Jahrhundert bis heute
trie sowie dem Automobilbau, der anfangs Argument ins Feld führen können.
Campus, Frankfurt am Main 2008.
gar nicht die heute gewohnte übermächtige »Gerade zur erfolgreichen Innovation 533 Seiten, € 29,90
Stellung hatte. In der neu gegründeten Bun- braucht es Vorsicht und Erfahrung. Wer be-

Mathematik Diese Leidenschaft, der die Freude am


Tüfteln über den eventuell zu erlangenden
Der Rätselklub Ruhm geht, spricht auf geradezu rührende
Weise aus jeder Seite des Buchs. Bis auf
als Helfer der Polizei zwei, drei Ausnahmen sind dann auch alle
Rätsel echte Rätsel und keinesfalls »kin-
Diese historische Rätselsammlung verbindet auf charmante dische Idiotie«, wie Dudeney in seiner
Weise harte Kopfnüsse mit gepflegter Unterhaltung. Einleitung solche Aufgaben nennt, deren
Lösung keinen interessanten Gedanken be-

H enry Ernest Dudeney (1857 – 1930) ist


in der englischsprachigen Welt als Rät-
selerfinder bekannt und beliebt. Mit über
schlossene Türen, die es zu knacken gilt.
Später werden uns Einblicke in die Arbeit
eines Londoner Rätselklubs gewährt, der
inhaltet. Im Gegenteil, Dudeney sieht sich
einer Rätselkultur verpflichtet, bei der in-
haltlicher Tiefgang das entscheidende Kri-
100 Jahren Verspätung sind seine »Canter- der Polizei bei schwierigen Fällen schon terium ist, so dass der Leser über das un-
bury Puzzles« von 1907 nun auf Deutsch er- einmal auf die Sprünge hilft. Aber Dudeney mittelbare Vergnügen hinaus noch etwas
schienen. Heinrich Hemme, der Aachener hält sich fern von profanem Mord und Tot- mitnimmt.
Physiker und unermüdliche Rätselsammler, schlag: Beschattete Ehemänner entpuppen
hat die Herausgabe übernommen. sich im Zuge der Aufklärung stets als vollen-
Die Rätsel sind von ganz unterschiedli- dete Gentlemen, und kein entlarvter Übeltä-
chem Schwierigkeitsgrad und in verschie- ter wird allzu hart bestraft. Schließlich be-
dene Rahmenhandlungen eingebettet. Bei- fasst sich der Klub mit den Rätseln in erster
spielsweise verkürzen sich die Pilger auf Linie um ihrer selbst willen und weniger aus
dem Weg zu dem titelgebenden Ort Canter- kriminalistischem Ehrgeiz.
bury die Zeit mit Rätselraten.
Dudeney erzählt jede der Rahmenhand-
lungen auf eine reizvoll altmodische Weise, Wie findet der Schneck Romeo zu seiner ge-
die für den heutigen Leser oft schon ins liebten Julia, wenn er – waagerecht, senk-
Amüsante umschlagen mag. So begleiten recht oder diagonal von Feld zu Feld krie-
wir etwa den beim König in Ungnade gefal- chend – jedes Feld genau einmal besucht und
lenen und ins Verlies gesperrten Hofnarren dabei die geringstmögliche Anzahl an Rich-
auf seiner Flucht durch Labyrinthe und ver- tungsänderungen vollzieht?

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010  99


Tatsächlich wird ein Mathematiker in te Dudeney seinerzeit sogar feierlich der
REZENSIONEN

manchen Rätseln einfache, aber wichtige Royal Society.


Prinzipien aus Graphen- und Zahlentheorie Sehr empfehlenswert für alle, die Spaß
wiedererkennen. Das Buch kommt ganz an mathematischen Knobeleien und ein
ohne die mathematische Fachsprache aus – Faible für die feine englische Art haben.
Dudeney selbst besuchte niemals eine Uni- Annika Günther
versität, sondern war seit seinem 13. Le- Die Rezensentin ist promovierte Mathematikerin
bensjahr im öffentlichen Dienst beschäftigt. und wissenschaftliche Angestellte an der RWTH
Doch die große Mehrheit der Rätsel ist ma- Aachen.
thematischer Natur. Viele befassen sich mit
Zahlenspielen, Wiegeproblemen oder der
Henry Ernest Dudeney
Geometrie, wie das berühmte Problem des
Die Canterbury Rätsel
Kurzwarenhändlers: Man zerschneide ein
Klassische Denk- und Knobelspiele
Die Lösung dieses recht schwierigen Rätsels dreieckiges Tuch mit gleichlangen Seiten in
Aus dem Englischen von Jens Knipp.
benötigt 14 Richtungswechsel und ist bis auf vier Teile und ordne diese Teile so um, dass Anaconda, Köln 2009. 287 Seiten, € 7,95
eine Spiegelung eindeutig. sich ein Quadrat ergibt. Dieses Rätsel stell-

Religion den Gegner von Vernunft und Wissenschaft


erblicken, sondern vielmehr einen Ursprung
Die Idee von moralischer Gebote und herrlicher Kathe-
dralen.
Gott als Kulturleistung Dennett legt keine antireligiöse Streit-
schrift vor wie die Briten Richard Dawkins
Aus aktuellem Anlass greift der Philosoph Daniel Dennett (»Der Gotteswahn«, siehe Spektrum der
eine skeptische Grundidee der Aufklärung wieder auf. Wissenschaft 11/2007, S. 118) und Christo-
pher Hitchens (»Der Herr ist kein Hirte«). Er

V iele Menschen sind religiös, und viele


Menschen haben beruflich mit Natur-
wissenschaft zu tun. Da bleibt es schon aus
damalige Verhältnisse so gewagt, dass er sie
zu Lebzeiten nicht publizierte, und die ka-
tholische Kirche setzte die postume Schrift
sucht den Dialog und präsentiert zu diesem
Zweck Argumente, die jeder, ob religiös
oder nicht, nachvollziehen kann. Eigentlich
statistischen Gründen nicht aus, dass es auch prompt auf den Index der verbotenen betreibt er das Handwerk eines verglei-
viele Wissenschaftler gibt, die religiös sind. Bücher. chenden Religionswissenschaftlers, ange-
Die Frage ist, wie beides sich verträgt. Humes Sakrileg bestand darin, dass er reichert um einen evolutionären Blick auf
Eine verbreitete Antwort beruft sich da- religiöse Phänomene nicht als übernatür- Kulturphänomene. Da Menschen von An-
rauf, dass die Wissenschaft vieles erklären liche Erscheinungen betrachtete, sondern fang an in Gruppen (über-)lebten, waren
kann, sogar immer mehr, aber niemals alles. als etwas ganz Natürliches. Er fragte: Was sie auf Kooperation angewiesen. Anderer-
Es gibt nun einmal Bereiche, die sich empi- bringt Menschen eigentlich auf die Idee, es seits ist jeder von Natur aus sich selbst der
rischem Faktensammeln und logischem gebe einen Schöpfer der Welt, der Gebete Nächste; darum braucht die Gruppe, um zu
Schließen entziehen, und dafür fühlt sich erhört, Wunder wirkt und Gebote offenbart? bestehen, starke Gründe für ihren Zusam-
traditionell die Religion zuständig. Insbe- Und: Brauchen wir Religion, damit wir uns menhalt. Wer nicht kooperiert, muss be-
sondere sind moralische Werturteile nicht moralisch verhalten? straft werden, Altruismus wird belohnt –
einfach aus bloßen Fakten abzuleiten. Al- Diese Fragen stellt nun der US-amerika- auch wenn keiner zusieht? Allwissende
lein aus der Tatsache, dass in einer Löwen- nische Philosoph Daniel Dennett erneut. Augen, selbst unsichtbar, die imaginär Stra-
herde das männliche Oberhaupt seine Aktuellen Anlass bieten ihm die Attacken fe und Belohnung verteilen, garantieren sta-
Machtstellung einschließlich des sexuellen religiöser Gruppen gegen ihnen nicht ge- bile Gruppen.
Verfügungsrechts über alle weiblichen Mit- nehme naturwissenschaftliche Resultate, Solche natürlichen Erklärungen für Got-
glieder durch Gewaltanwendung oder Dro- insbesondere der Schulkampf von Anhän- tesvorstellungen sind plausibel und müssen
hung mit derselben aufrechterhält, folgt gern des »Intelligent Design« gegen die Gläubige nicht vor den Kopf stoßen. Denn
noch nicht, dass ich diese natürliche Ord- Evolutionslehre. Aber Dennetts breit ange- die können achselzuckend sagen: Das mag
nung der Dinge in meiner eigenen Umge- legte Untersuchung kann auch uns tolerante so sein, aber ich glaube dennoch an einen
bung praktizieren soll. Europäer interessieren, die in der Religion Gott, der das Zusammenleben der Men-
Solche Fehlschlüsse vom Sein zum Sollen des christlichen Abendlands kaum mehr schen entsprechend eingerichtet hat. Da-
hat der schottische Philosoph David Hume rauf würde Dennett – wie vor ihm Hume –
(1711 – 1776) schon im 18. Jahrhundert kriti- Alle rezensierten Bücher können Sie in erwidern: Das kannst du halten, wie du
siert – doch von der Vorstellung, das Sollen unserem Science-Shop bestellen willst, aber frage dich, wozu dein Gott nötig
werde dem Menschen durch übernatürliche direkt bei: www.science-shop.de ist. Was erklärt er?
Offenbarung mitgeteilt, hielt dieser skep- per E-Mail: shop@wissenschaft-online.de So ist das ganze Buch gebaut. Dennett
tische Aufklärer noch viel weniger. Humes telefonisch: 06221 9126-841 behandelt ein religiöses Argument nach
per Fax: 06221 9126-869
»Dialoge über natürliche Religion« waren für dem anderen und verschmälert die Basis

100 SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010


des Glaubens, bis nur noch ein Gott übrig evolutionäre Religionstheorie ist wohl, Gottesidee als dem Menschen nützliche Kul-
bleibt, der sich restlos natürlich erklären dass Dennett den von Richard Dawkins ge- turleistung entstand, sich verselbststän­
lässt. Das wäre allerdings, wenn es ihn prägten Begriff des Mems aufgreift, um da- digte, sich dogmatisch gegen Kritik pan-
dennoch gäbe, ein recht perfider Gott, der mit die ideelle Widerstandsfähigkeit von zerte und nun auf unserer modernen Kultur
sich in der Natur versteckt, um den Men- Religionen zu erklären. Das Mem als kultu- aufsitzt wie ein Schmuck – oder ein Alb.
schen die größtmögliche Anstrengung abzu- relles Analogon zum biologischen Gen mag Michael Springer
verlangen – einen wirklich reinen Glauben, für naturwissenschaftlich Geschulte ein Der Rezensent ist ständiger Mitarbeiter bei
für den kein vernünftiger Grund spricht. Ge- passables Sprungbrett ins Reich der Ideen »Spektrum der Wissenschaft«.
gen einen solchen Glauben um jeden Preis und Ideologien sein. Es erfordert aber viel
gibt es freilich auch kein vernünftiges Argu- Überzeugungsarbeit – die Dennett in einem
ment mehr. langen Anhang fleißig zu leisten versucht –, Daniel C. Dennett
Dennetts Schrift ist stets anregend und den Verdacht auszuräumen, das Mem sei Den Bann brechen
Religion als natürliches Phänomen
unterhaltsam, oft sehr erhellend, gelegent- mehr, nämlich eine biologistische Theorie
lich weitschweifig, aber er arbeitet niemals der Kultur. Aus dem Amerikanischen von Frank Born.
Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag,
mit unsauberen Tricks. Die verwundbarste Ob Religion nun ein Mem ist oder nicht: Frankfurt am Main 2008. 531 Seiten, € 28,80
Stelle seines langen Arguments für eine Dennett beschreibt überzeugend, wie die

Mathematik Dissens. Gegen Ende seines Lebens widmet


er sich religiösen Themen, während Cardano
Ein folgenreicher mit seinen Überlegungen zum Würfelspiel
schlicht seine Gewinnchancen und damit
Briefwechsel seine Einkünfte verbessern wollte.
In weiteren, meist biografisch unter-
Keith Devlin rollt die Geschichte der Wahrscheinlichkeits­ legten Abschnitten schildert Devlin An­
theorie an einer Korrespondenz aus dem 17. Jahrhundert auf. wendung und Weiterentwicklung der Ideen
Pascals und Fermats. So entwickelte John

A m 24. August 1654 schrieb Blaise Pas-


cal (1623 – 1662) an Pierre de Fermat
(1607 – 1665) einen Brief zu der Frage, wie
de ludo aleae«) die Gesetze zur Addition von
Wahrscheinlichkeiten (für einander aus-
schließende Ereignisse) und zu deren Multi-
Graunt (1620 – 1674) mit der Schaffung von
Sterbetafeln und deren Auswertung die Ba-
sis der Versicherungsmathematik. Die Fami-
die Spieleinsätze eines Würfelspiels zu ver- plikation (für voneinander unabhängige Er- lie Bernoulli und ihre Beiträge finden sich
teilen sind, wenn dieses vorzeitig abgebro- eignisse). Galileo Galilei (1564 – 1642) weist gleich in zwei Kapiteln, und die Glocken­
chen wird. Dieses Schreiben gilt als die erstmals in empirischen Untersuchungen kurve von Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855)
Geburts­stunde der Wahrscheinlichkeits- nach, dass verschiedene Augensummen un- darf natürlich nicht fehlen. Der Pfarrer Tho-
rechnung. Der Schriftverkehr der beiden terschiedlich häufig vorkommen – die Neun mas Bayes (um 1702 – 1761) fand Sätze zu
französischen Mathematiker aus dem Som- zum Beispiel häufiger als die Zehn. bedingten Wahrscheinlichkeiten; und wenn
mer 1654, der leider nicht vollständig erhal- Für das Problem mit dem vorzeitig abge- die amerikanischen Sicherheitsbehörden
ten geblieben ist, bildet auch den Rahmen brochenen Würfelspiel – jedes Buchkapitel die Ergebnisse eines Programms, das die
für die vorliegende historische Darstellung greift einen Teil des genannten Briefwech- bayessche Analyse anwandte, für voll ge-
durch den britischen Mathematiker und sels auf – muss man in die Zählung der mög- nommen hätten, dann hätten sie vielleicht
Wissenschaftsjournalisten Keith Devlin. lichen Ausgänge auch jene Runden einbezie- die Anschläge vom 11. September 2001 ver-
Das Glücksspiel bewegt die Menschen hen, die man beim echten Spiel nicht mehr hindern können – so der Autor.
schon seit Jahrtausenden. Bereits 550 v. spielen würde, weil das Endergebnis bereits Keith Devlin gelingt es, der häufig unbe-
Chr. finden sich erste Darstellungen auf feststeht. Nur dann kann man die Gesamt­ liebten Mathematik neben einem histori-
griechischen Vasen. Aber die Erfassung von ereignismenge und damit auch die Wahr- schen Rahmen auch ein »Gesicht« zu geben.
Häufigkeiten der einzelnen Wurfergebnisse scheinlichkeiten aller Spielausgänge korrekt Ein von der ersten bis zur letzten Seite
gelang den ansonsten so gebildeten Grie- erfassen. Dieser Argumentation konnten spannendes und angenehm zu lesendes
chen nicht. Ausgerechnet ein Bischof, Wi- nicht alle Zeitgenossen folgen. Am Ende hat- Werk, das jedem zum Lesen empfohlen sei.
bold von Cambrai, legt im ausgehenden te Fermat die elegantere Lösung gefunden, Swen Neumann
1. Jahrtausend die ersten heute noch be- während Pascals Werk eine größere Allge- Der Rezensent ist freier Publizist in Bremen.
kannten Untersuchungen zu diesem Thema meinheit für sich in Anspruch nehmen kann.
vor. In der weiteren Entwicklung be­ginnt Angenehm entspinnen sich die Gedan-
man sich dann auch mit Kartenspielen aus- kenspiele der Protagonisten vor dem Hinter- Keith Devlin
einanderzusetzen. Luca Pacioli (1445 – 1514) grund ihrer geschilderten Biografien. So er- Pascal, Fermat und die Berechnung des
formuliert erstmals schriftlich das Problem, fahren wir, dass Pascal sich auch mit Physik Glücks
Eine Reise in die Geschichte der Mathematik
das Pascal und Fermat 160 Jahre später in befasste und unter anderem zu dem (kor-
ihren Briefen angehen und lösen. rekten) Schluss kam, dass der Luftdruck mit Aus dem Englischen von Enrico Heinemann.
C.H.Beck, München 2009.
Girolamo Cardano (1501 – 1576) notiert zunehmender Höhe absinkt – bis zum Vaku- 204 Seiten, € 17,90
in seinem »Buch vom Würfelspiel« (»Liber um. Hierüber geriet er mit René Descartes in

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · Januar 2010  101


Wissenschaft & Karriere

»Biostatistik
ist mehr als ein Spiel
mit Zahlen«
Mathematik, Medizin, Musik, Film und Theater – Burkhard
­Haastert ist ein vielseitiger Mensch. Seine Interessen haben
ihm die Entscheidung über seinen Berufsweg nicht immer
leicht gemacht. Nach einer Pilgerreise auf dem Jakobsweg tat
er vor wenigen Jahren den kühnsten Schritt: Er gab seine feste
Stelle am Deutschen Diabetes-Zentrum auf und bringt jetzt im
Kundenauftrag Ordnung ins Dickicht medizinischer und gesund-
Marion Kälke
heitsökonomischer Daten.

Burkhard Haastert studierte Mathematik Spektrum der Wissenschaft: Herr Dr. Spektrum: Nur der Mediziner kann wis­
in Freiburg und Bonn und promovierte in Haastert, Sie haben Kurzfilme gedreht sen, welche Daten relevant sein können,
Hamburg. Sein Schwerpunkt war die und Theaterstücke inszeniert, und Sie nur der Statistiker kann sie methodisch
Algebra. Der reinen Mathematik blieb er spielen Posaune in einer Big Band. Wie sauber auswerten. Klappt da immer die
auch danach noch als wissenschaftlicher passt die Mathematik in dieses Bild? Verständigung?
Assistent in Hamburg und Basel treu. Am Dr. Burkhard Haastert: Mathematik ist Haastert: In der klassischen Humanme­
Institut für Statistik in der Medizin der für mich das Spiel der Gedanken, da dizin gibt es die Biostatistik schon seit
Universität Düsseldorf wandte er sich dann geht es um abstrakte Strukturen. Als Re­ den 1970er Jahren. Daher habe ich meist
der angewandten Mathematik zu. Anschlie- gisseur habe ich zusammen mit den Dar­ mit Wissenschaftlern zu tun, die verste­
ßend arbeitete er 15 Jahre lang am Institut stellern Strukturen aus Textvorlagen in hen, wie komplex statistische Methoden
für Biometrie und Epidemiologie im ein Spiel zwischen Menschen übertra­ sein müssen, um aussagekräftige Ergeb­
Deutschen Diabetes-Zentrum in Düsseldorf gen. Und die Jazzmusik ist das Spiel der nisse zu bekommen. Gemeinsam disku­
(Leibniz-Zentrum für Diabetes-Forschung). Töne und Gefühle um vorgegebene Har­ tieren wir dann, was sich aus den Daten
2005 gründete er seine Firma mediStatis­ moniestrukturen herum. schließen lässt und was nicht.
tica, die er zunächst nebenberuflich führte. Spektrum: Seit einigen Jahren befassen Spektrum: Woher rührt überhaupt Ihr
Seit 2007 lebt und arbeitet er als selbst- Sie sich mit Biostatistik. Was versteht Interesse an der Medizin?
ständiger Unternehmer in einem Dorf man darunter? Haastert: Mein Vater ist Internist und
bei Neuenrade im Sauerland. mediStatis­ Haastert: Ich beschäftige mich häufig hat vieles aus der Praxis in die Familie
tica bietet Wissenschaftlern, Unternehmen, mit epidemiologischen Studien, werte hinein­getragen. Mich haben diese Ge­
Versicherungen und Verbänden des Ge- also Faktoren aus, die für Gesundheit, spräche so beeindruckt, dass ich fast in
sundheitswesens statistische Unterstüt- Krankheit und Therapie in der Bevöl­ seine Fußstapfen getreten wäre. Aber die
zung bei der Analyse medizinischer und kerung entscheidend sind. So habe ich Aussicht auf das arbeitsintensive Auswen­
pharmazeutischer Daten an. Haastert 1990 in Düsseldorf am Institut für Sta­ diglernen schreckte mich ab, und so fiel
bildet zudem Studenten oder andere tistik in der Medizin die Lebensdauer die Entscheidung für die Mathematik,
Interessierte in der Biostatistik aus. In von neuartigen Klebebrücken der Zahn­ die mich schon in der Schule am meisten
seiner Freizeit macht er gern Jazzmusik medizin ermittelt. Am Deutschen Diabe­ faszinierte. Am Ende habe ich über die
und interessiert sich für Film und Theater. tes-Zentrum war ich unter anderem an Biostatistik doch noch zur Medizin ge­
der ersten KORA-Studie beteiligt, bei der funden. Das Gespräch mit Ärzten, das
es darum ging, zu erfassen, wie häufig Interdisziplinäre, die Möglichkeit, in an­
Diabetes Typ II in der älteren Bevölke­ dere Fachgebiete hineinzuschauen, sind
rung im Augsburger Raum auftritt. für mich starke Reize.

102  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAr 2010


Klarheit über seine Lebensziele suchte Burk-
hard Haastert auf dem Jakobsweg. Durch-
blick im Dickicht medizinisch relevanter Da-
ten verschafft er seitdem mit seiner Firma
mediStatistica Kunden wie MBR Optical Sys-
tems. Ihr Produkt haemospect nutzt mathe-
matische Verfahren, um aus der Absorption
und Reflexion von Licht, das auf die Haut fällt,
den Hämoglobingehalt des Bluts zu mes-
sen – ohne eine Tropfen Blut zu entnehmen.

Burkhard Haastert MBR Optical Systems, Wuppertal

Spektrum: Haben Sie sich deshalb von Haastert: Die Stelle gefiel mir sehr, bot Spektrum: Wie setzen Sie sich auf dem
der reinen Mathematik verabschiedet? mir aber nicht mehr viele Entwicklungs­ Markt durch?
Haastert: Nicht allein, ich bin auch Rea­ möglichkeiten. Um Abstand zu bekom­ Haastert: Inzwischen habe ich mir ein
list. An der Universität schlagen sich Ma­ men, bin ich den Jakobsweg gegangen. solides Kundennetzwerk aufgebaut. In
thematiker meist mit Assistentenstellen Das war ein sehr intensives Erlebnis. Ich meiner Branche halten die Beziehungen
oder Stipendien durch. Als sich für mich habe ein Jahr gebraucht, um es aufzu­ lange: Wenn man einmal gut zusammen­
keine gute Perspektive abzeichnete, habe arbeiten, und dann wusste ich, dass ich gearbeitet hat, kommen die Kunden wie­
ich einen anderen Weg gewählt. in meinem Leben durch eine Selbststän­ der. Und ich führe mit Forschergruppen
Spektrum: Vermissen Sie nicht die digkeit am meisten bewegen könnte. vor allem epidemiologische Projekte
schöngeistige reine Mathematik? Spektrum: Wie haben Sie diesen Schritt durch, die drittmittelgefördert sind. Da­
Haastert: Das war eine ideale und ästhe­ vorbereitet? mit stoße ich auf große Nachfrage.
tische Welt, in der es um Wahrheiten Haastert: Praktischen Rat holte ich mir Spektrum: Geht es heute im Gesund­
geht. In der Realität der Biostatistik ist beim Amt für Wirtschaftsförderung in heitswesen nicht oft primär ums Geld?
selbst ein signifikantes Ergebnis nur mit Düsseldorf und von einer Unterneh­ Haastert: Ich mache auch Analysen zu fi­
einer gewissen Wahrscheinlichkeit rich­ mensberaterin; die Leibniz-Gemeinschaft nanziellen Aspekten, und da ist immer
tig. Dafür aber gewinne ich Lebensnähe, hat mich mit ihrem Programm für Grün­ die Frage, wie viel Gesundheit wir uns
erhalte einen Einblick in gesellschaftliche der, Leibniz X, unterstützt. Glücklicher­ leisten können. Eine Diskussion auf der
Vorgänge und die Gesundheitspolitik. weise brauchte ich nicht viel Startkapi- Basis objektiver Daten ist von Vorteil.
Spektrum: Doch wohnen zwei Seelen in tal – ein Notebook und die notwendige Spektrum: Sehen Sie sich in fünf Jahren
Ihrer Brust, denn zu Gunsten von Kame­ Software haben als Investition gereicht. immer noch als Einzelkämpfer?
ra und Bühne hatten Sie Ihre Tätigkeit Spektrum: Worin unterscheidet sich Haastert: Ich mag die Einsamkeit. Frü­
am Deutschen Diabetes-Zentrum eine Ihre heutige Tätigkeit von der am Dia­ her war ich sie gewohnt, als ich über
Zeit lang auf eine halbe Stelle reduziert. betes-Zentrum? Dinge nachdachte, die weltweit höchs-
Haastert: Ein Intermezzo, als Statist und Haastert: Auch dort verstand ich mich tens 50 Menschen verstanden. Aber ich
Regisseur verdiente ich einfach nicht ge­ als Dienstleister und war auf Anwen­ würde meine Erfahrungen gerne an jün­
nug. Seitdem widme ich mich wieder dungen konzentriert. Schöner ist jetzt al­ gere Kollegen weitergeben, neue Impulse
mehr der Musik – in meiner Freizeit. lerdings, dass ich mir neue Forschungs­ und Ideen gemeinsam mit anderen auf­
Spektrum: Was hat Sie bewogen, einen felder erschließen kann. Ich verfolge greifen.
sicheren Posten nach 15 Jahren gegen zahnmedizinische Projekte, beschäftige
das Wagnis der Selbstständigkeit ein­ mich mit HIV und Aids, habe Aufträge Das Gespräch führte Marion Kälke, Wissenschafts­
zutauschen? auf dem Gebiet der Altenpflege. journalistin in Düsseldorf.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAr 2010 103


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Weitere Themen im Februar Roboter mit Eigenleben


Heutige Roboter tun nur, wozu sie
Haben schöne Eltern explizit programmiert wurden. Ein
mehr Töchter? neuartiger Ansatz verhilft Kunstwesen
Sex sells, auch in den Sozialwissen- nun zu autonomem Verhalten –
schaften. Dabei ignorieren Forscher spontane Ringkämpfe eingeschlossen
wie Medien oft die Grundregeln der
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Ralf Der und Nihat Ay,
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