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Ausgabe 04 | 2022

Max Planck
Forschung

Rechtswissenschaft Chemie Physik


Emojis vor Gericht Treibhausgas unter Strom Brennpunkte der Kernfusion

dRAHT ZUR wELT


F o t o: A d obe S t o c k / Che pko Da n i l
2

U nsere Sinne sind unser


Draht zur Welt. Durch sie
erhält das Gehirn lebens-
notwendige Informationen
über unsere Umwelt. Kinder
üben spielerisch, damit
umzugehen, und machen
dabei essenzielle Erfah-
rungen fürs Leben.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

Nach Aristoteles besitzt der Mensch fünf Sinne. Andere sprechen von sechs oder sieben,
Rudolf Steiner und seiner anthroposophischen Sinneslehre zufolge besitzen wir sogar
zwölf. Wie viele Sinne wir haben, ist also auch Geschmackssache.

Wie wichtig unsere Sinne für unser Leben sind, zeigt sich, wenn einer fehlt. Menschen mit
Hörstörungen zum Beispiel fällt es schwer, Kontakte zu Mitmenschen zu knüpfen. Eine
neue Technik soll Betroffenen, denen ein Hörgerät nicht helfen kann, das Hören erleichtern.
Ein entscheidendes Element dabei ist ein lichtempfindliches Protein, das ursprünglich
aus Algen stammt.
3
Hören ist das eine – wie wir das Gehörte wahrnehmen, das andere. Das gilt insbesondere
für Musik. So bestimmen Kultur und Hörgewohnheiten, wie wir Rhythmen empfinden.
Ob indigene Völker im Amazonas, Menschen in Korea oder den Vereinigten Staaten – jede
Kulturgruppe hat ihre eigene musikalische Welt im Kopf. Ein beliebtes Kinderspiel hilft
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die unterschiedlichen Wahrnehmungen von
Rhythmen zu untersuchen.

Andere Sinne sind uns dagegen eher fremd. Der Sinn für Magnetfelder zum Beispiel.
Vögel besitzen ihn, Amphibien, Fische und Fledermäuse auch. Und Graumulle. Die Nage-
tiere mit den monströsen Schneidezähnen nehmen das Magnetfeld der Erde wahr und
können auf diese Weise in ihren unterirdischen Kolonien navigieren. In einem Labyrinth
stellen die Tiere ihre Orientierungskünste für die Wissenschaft unter Beweis.

Viel Spaß beim Lesen wünscht Ihnen

Ihr Redaktionsteam

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Bi l der : S c i e nc e Pho t o L i brary / F ur n ess , Dr . Dav i d ( l i n ks obe n ); A n na Z i egler f ü r M PG ( rec hts obe n ); A d obe S t o c k / V i lmo s ( l i n ks u n te n );
Ja n Ho sa n / M PI f ü r Plasma ph ysi k ( rec hts u n te n )
30 42

50 62

30 Sensibilisiert 42 Engagiert 50 interpretiert 62 Isoliert

Die Sinneszellen der Krishna Gummadi will Gerichte müssen entscheiden, Die Wand einer Fusionskammer
Cochlea leiten Schallsignale Algorithmen transparenter was Emojis in der Online- soll möglichst nicht von einem
an den Hörnerv weiter. und fairer machen. kommunikation ausdrücken. Plasma berührt werden.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Inhalt

03 | Editorial 42 | besuch bei


Krishna Gummadi
06 | orte der forschung

Asteroid Ryugu 48 | Zweiter Blick

08 | Nobelpreis 2022 wissen aus

50 | „Emojis stellen das Recht


10 | kurz notiert auf die Probe“
Smileys, gehobene und gesenkte Daumen,
18 | ZUR SACHE aber auch manch unflätiges Symbol
gehören heute zur Onlinekommunikation
Zurückhaltung zahlt sich aus – mit teilweise überraschenden juristi-
In der Eurozone herrscht eine so hohe schen Konsequenzen.
Inflation wie lange nicht mehr. Die
Gewerkschaften reagieren bislang 54 | Treibhausgas unter Strom
mit besonnenen Lohnforderungen, nun CO2 lässt sich als Rohstoff für wichtige
ist auch eine kluge Zinspolitik nötig. Chemikalien und Treibstoffe nutzen. 5
Der Schlüssel dazu sind geeignete
Katalysatoren.
22 | Infografik
Schriften im Wandel 62 | Brennpunkte der Kernfusion
Die Kernfusion könnte praktisch unbe-
iM FOKUS grenzt saubere Energie liefern. For-
schungseinrichtungen und Start-ups techmax
Draht zur Welt müssen auf dem Weg zu Fusionskraft-
werken aber noch viele Hürden nehmen. Digitale Zwillinge
24 | Hört sich anders an der Erde – wie Forschung
physikalische Klima-
In verschiedenen Kulturen nehmen
70 | Post aus ... modelle entwickelt
Menschen Musik unterschiedlich
wahr. Wie sie auf Rhythmen und Töne Kangiqsujuaq, Kanada
reagieren, liefert nicht nur Erkenntnisse
über Musik.
72 | neu erschienen
30 | Licht geht ins Ohr
Menschen mit Hörproblemen sind in 74 | fünf fragen
ihrem Alltag sehr eingeschränkt, nicht
zu neuen digitalen Kompetenzen
nur beim Genuss eines Konzerts.
Künftige Hörhilfen sollen ihnen differen-
zierteres Hören ermöglichen. 75 | impressum

36 | Nager mit innerem Kompass


Graumulle navigieren mithilfe des
Erdmagnetfelds durch ihre dunklen
Höhlen. Wie ihr Magnetsinn funktioniert,
wird nun klarer.

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Wanderer zwischen
den Welten

S eine Form ähnelt der eines Diamanten, und tatsächlich ist er


für die Wissenschaft so etwas wie ein Schatz: Ryugu, ein
rund einen Kilometer großer Asteroid, der in 475 Tagen einmal
die Sonne umläuft und dabei die Erdbahn kreuzt. Aber keine
Sorge, gefährlich wird uns der kosmische Brocken nicht. Seit
ein paar Jahren steht er im Fokus der Forschung – und hat auch
6
schon Besuch bekommen. So schickte die japanische Raum-
fahrtbehörde 2014 eine Sonde namens Hayabusa 2 zu dem
Himmelskörper. Nach der Entnahme von Bodenproben flog der
Kundschafter zurück und setzte seine Flaschenpost mit der
wertvollen Fracht im Dezember 2020 nahe der australischen
Stadt Woomera ab.

Insgesamt fünf Gramm aus dem „Drachenpalast“, so die Über-


setzung für „Ryugu“ aus dem Japanischen, landeten in irdischen
Labors und wurden nach allen Regeln der Messkunst analysiert.
Das Material zeigt eine lockere, körnige Struktur und hat offen-
bar über einen langen Zeitraum mit Wasser reagiert. Außerdem
fanden sich Aminosäuren und andere komplexe organische
Moleküle.

Wo aber ist Ryugu entstanden? Er bewegt sich zwar vergleichs-


weise nahe an der Sonne, dürfte aber von weiter draußen stam-
men. Dies jedenfalls zeigen Studien, an denen das Max-Planck-
Institut für Sonnensystemforschung und die Universität Göttingen
beteiligt sind. Demnach liegt die Geburtsstätte des Drachen-
palasts am äußeren Rand des Planetensystems. Dort sind vor
mehr als 4,5 Milliarden Jahren die Mutterkörper von kohlenstoff-
reichen Asteroiden und Kometen entstanden – unter anderem
von Ryugu. Als die Gas- und Eisriesen Jupiter, Saturn,
Uranus und Neptun heranwuchsen, wirbelte ihn dann das Spiel
der Kräfte auf eine turbulente Reise in Richtung Sonne.
Die Rotation von Ryugu
https://de.wikipedia.org/wiki/(162173)_Ryugu#/media/Datei:Ryugu_rotation.gif

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Max Planck Forschung · 4 | 2022
forschung
orte
der

Bi l d: JA X A , U n i v ersi t y of T ok yo & c ollab orat ors


7
„Entscheidend für unseren Erfolg
war die langfristige und groß-
zügige Unterstützung durch die
Max-Planck-Gesellschaft.“

F o t o: A n na S c hroll f ü r M PG
8

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Nobelpreis
für Medizin

Svante
Pääbo
Die ringförmigen DNA-Mole-
küle in den Mitochondrien
sind sehr viel kleiner als die
DNA im Zellkern und daher
leichter zu analysieren. Nach
dem Tod eines Organismus Svante Pääbos eigene Forschung am nander gemischt. Da Menschen
zerfällt das Erbgut in unter- Max-Planck-Institut für evolutio- häufig unterschiedliche Neander-
schiedlich lange Fragmente.
Die allermeiste DNA stammt näre Anthropologie in Leipzig kon- taler-DNA-Abschnitte besitzen, ist
jedoch von Mikroorganismen. zentriert sich auf ausgestorbene mindestens die Hälfte des Neander-
Formen des Menschen. 1997 ent- taler-Genoms bis zum heutigen
schlüsselten er und sein Team das Tag im Menschen vorhanden.
mitochondriale Genom eines Ne-
andertalers und damit die ersten Bei der Sequenzierung von DNA aus 9
Die Frage, ob DNA in den Knochen DNA-Sequenzen dieser vor rund alten menschlichen Überresten hat
vor langer Zeit verstorbener Tiere 40 000 Jahren ausgestorbenen Men- Pääbos Forschungsgruppe darüber
und Menschen überdauern und de- schenform. Da das mitochondriale hinaus eine zuvor unbekannte Form
ren Abstammung und Verwandt- Genom in vielen Kopien in den des Menschen entdeckt. Die nach
schaft verraten kann, hat Svante Zellen vorkommt, ist es leichter zu dem Fundort der Knochen – einer
Pääbo viele Jahre beschäftigt. Für sequenzieren. Die Analysen erga- Höhle im südlichen Sibirien – be-
seine Forschungsergebnisse ist der ben, dass sich die Neandertaler nannten „Denisovaner“ waren ent-
Wissenschaftler nun mit dem No- deutlich vom modernen Menschen fernte Verwandte der Neandertaler.
belpreis für Physiologie oder Medi- unterschieden. Für einen umfas- Sie steuerten ihrerseits Erbgut zu
Illustrat ion: H e n n i ng B ruer ; Bi l d: pic ture all i a nc e / SZ Pho t o

zin ausgezeichnet worden. senden Überblick über die geneti- den heute in Asien lebenden Men-
sche Geschichte der Neandertaler schen bei.
Aus alten Knochen Erbgut zu isolieren, mussten die Forschenden jedoch
ist wahrlich eine Herausforderung, das gesamte Erbgut untersuchen. Svante Pääbo und sein Team erfor-
denn alte DNA zerfällt in kleine schen nun die wichtigsten Unter-
Fragmente und wird mit der Zeit Angeregt durch die Entwicklung schiede zwischen heutigen Men-
chemisch verändert. Außerdem ist neuer Sequenzierungstechnologien schen, Neandertalern und Deniso-
sie nach vielen Jahren nur noch in initiierte Pääbo 2006 ein ehrgeizi- vanern. Darüber hinaus wollen sie
winzigen Mengen vorhanden, ver­ ges, von der Max-Planck-Stiftung herausfinden, welche Auswirkun-
glichen mit der DNA von Bakterien unterstütztes Gemeinschaftspro- gen die Neandertaler- und Deniso-
und Pilzen, welche die Knochen im jekt zur Entschlüsselung des Nean- vaner-Genvarianten haben, die im
Boden besiedelt haben. Daher hat dertaler-Genoms. Im Jahr 2010 Erbgut heutiger Menschen vor-
Pääbos Gruppe Techniken entwi- veröffentlichten die Forschenden kommen. Einige Varianten von Ne-
ckelt, mit denen diese Probleme einen ersten Entwurf. Die Daten andertalern erhöhen beispielsweise
ausgeräumt werden können. Dar- zeigten, dass heute lebende Men- die Schmerzempfindlichkeit von
aus ist ein neues Forschungs­gebiet schen, deren genetische Wurzeln uns Menschen, andere verringern
entstanden: die Paläogenomik. For- außerhalb Afrikas liegen, etwa zwei die Gefahr von Fehlgeburten wäh-
schende wollen dabei aus Funden Prozent Neandertaler-DNA in sich rend der Schwangerschaft. Wieder
die evolutionären Beziehungen von tragen. Neandertaler und moderne andere erhöhen das Risiko, bei einer
Tieren, Pflanzen oder Krankheits- Menschen haben sich folglich in ih- Infektion mit Sars-CoV-2 schwer
erregern rekonstruieren. rer evolutionären Geschichte mitei- zu erkranken.

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Impuls für die Industrie
Eine Ausgründung aus dem Max-­ Computational Life Sciences nutzt, schleunigen, die das Potenzial haben,
Planck-Institut für molekulare Pflan- soll dem Chemie- und Pharmakon- die landwirtschaftliche Produktion
zenphysiologie stärkt seit Kurzem die zern wichtige Impulse bei der Suche trotz Herausforderungen wie dem
Pflanzenschutzforschung der Firma nach neuen Wirkmechanismen für Klimawandel nachhaltiger zu gestal-
Bayer. Das deutsche Biotech-­Start- Pflanzenschutzmittel geben. Mit dem ten und die Unkraut-, Krankheits-
up Targenomix, das neuartige Me- Kauf will Bayer die Entdeckung und und Insektenresistenz von Pflanzen
thoden der Systembiologie und der die Entwicklung von Molekülen be- zu erhöhen. www.mpg.de/19476657
F o t o: sha i i th /A d obe S t o c k

Zentrum
für grüne
Chemie
Aus der Forschung in Im Wettbewerb um den Aufbau von
die Anwendung: Forschungszentren in bisherigen
Das Biotech-Start-up
Kohleregionen hat sich ein Konzept
Targenomix soll die
Fähigkeiten von Bayer von Max-Planck-Wissenschaftlern
im Bereich Pflanzen- durchsetzen können. Das Bundesfor-
schutz erweitern. schungsministerium, der Freistaat
Sachsen und das Land Sachsen-An-
10 halt haben aus knapp hundert Vor-
schlägen unter anderem das Konzept
für das Center for the Transforma-
tion of Chemistry (CTC) ausgewählt.
Ziel des neuen Zentrums ist es, die
Chemiewirtschaft durch die Ent-
wicklung nachhaltiger Produktions-
prozesse auf Basis nachwachsender
Rohstoffe und recycelter Materialien
in eine nachhaltige Kreislaufwirt-
schaft zu transformieren. Die Idee
dafür stammt von Peter H. Seeberger
und Matthew Plutschack vom Max-
Planck-Institut für Kolloid- und
ausgezeichnet Grenzflächenforschung. Das CTC
soll mit jährlich bis zu 170 Millionen
Euro institutionell gefördert werden.
 www.mpg.de/19306911
SARAH O’CONNOR

Für ihre grundlegenden


F o t o: Sebast i a n R euter

Entdeckungen zur
pflanzlichen
Naturstoffbiosynthese
F o t o: H DR Germa n y

erhält Sarah Ellen Neues Forschungs-


O’Connor, Direktorin gelände: Die Visuali-
am Max-Planck-Institut sierung zeigt das
für Chemische Ökologie, Center for the Trans-
den Leibniz-Preis der formation of
Deutschen Forschungsge- Chemistry auf dem
meinschaft. Die Chemikerin Grundstück der
erforscht Biosynthesewege in Pflanzen mit dem ehemaligen Zucker-
Ziel, die Synthese komplexer Naturstoffe wie fabrik in Delitzsch
etwa krebshemmender oder neuroaktiver Stoffe bei Leipzig.
zu entschlüsseln.

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Kurz
notiert
F o t o: J é r é m i e B oi ssi er / I R A M

Für Freiheit
Im iran 11

Die Max-Planck-Gesellschaft erklärt


sich solidarisch mit den Studieren-
den sowie den Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern im Iran in ih-
rem Wunsch nach mehr Freiheits-
rechten. Sie verurteilt das brutale
Vorgehen der Sicherheitskräfte und
fordert die sofortige Freilassung aller
im Zuge der Proteste Verhafteten.
Freiheitsrechte sind ein hohes Gut.
Die Meinungs-, Presse- und Wissen-
Ohr ins All: Das NOEMA-Observatorium mustert mit seinen schaftsfreiheit sind zudem Voraus-
Antennen das Universum im Radiobereich. setzung für erfolgreiche internatio-
nale wissenschaftliche Kooperatio-
nen. Die Max-Planck-Gesellschaft
möchte die über Jahrzehnte aufge-
Erweiterte Horizonte bauten Beziehungen mit ihren irani-
schen Wissenschaftspartnern erhal-
Das NOEMA-Radioteleskop auf ein einzigartiges Instrument für die ten und die Zusammenarbeit auch
dem Plateau de Bure in den franzö­ astronomische Forschung. Bei Beob- unter diesen sehr schwierigen Bedin-
sischen Alpen ist jetzt mit zwölf An- achtungen agieren die zwölf Anten- gungen fortsetzen.
tennen ausgestattet und damit das nen wie ein einziges Teleskop. Die www.mpg.de/19436297
leistungsstärkste Radioteleskop sei- maximale räumliche Auflösung von
ner Art auf der nördlichen Halbkugel. NOEMA ist so hoch, dass das Obser-
Acht Jahre nach der Einweihung der vatorium in der Lage wäre, ein Mo-
ersten NOEMA-Antenne ist das eu- biltelefon aus mehr als 500 Kilo­
ropäische Großprojekt nun vollendet. metern Entfernung zu erkennen. Be-
Dank seiner zwölf Antennen, die sich trieben wird das Teleskop vom
auf einem speziellen Schienensystem internationalen Institut IRAM, an
von bis zu 1,7 Kilometern Länge hin dem die Max-Planck-Gesellschaft
und her bewegen lassen, ist NOEMA beteiligt ist. www.mpg.de/19315178

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Kurz notiert

Genetik der
Legasthenie
Es ist bekannt, dass Legasthenie –
zum Teil aufgrund genetischer Fak-
toren – in manchen Familien gehäuft
auftritt. Bislang wusste man aber nur
wenig über die beteiligten Gene. Ein Antrieb für den
internationales Forschungsteam, da-
runter Mitarbeitende des Max- Sonnenwind
Planck-Instituts für Psycholinguistik
in Nijmegen, hat nun 42 Gene identi- Unsere Sonne bläst ständig einen mithilfe des amerikanischen Satelli-
fiziert, die eindeutig mit Legasthenie Strom unterschiedlich schneller, ge- ten GOES in der mittleren Sonnen-
in Verbindung stehen. Etwa ein Drit- ladener Teilchen in den Weltraum. korona ein dynamisches Netz lang
tel der genetischen Varianten wurden Ein besonders starker Sonnenwind gezogener, verwobener Plasmastruk-
zuvor schon mit allgemeinen kogni­ kann Polarlichter erzeugen oder die turen sichtbar gemacht. Das Ultra­
tiven Fähigkeiten und dem Bildungs- Satellitenkommunikation stören. Die violett-Teleskop blickte in eine Re-
erfolg assoziiert.  schnellen Sonnenwinde mit Ge- gion, die bisher noch nicht erforscht
 www.mpg.de/19388671 schwindigkeiten von mehr als 500 war. In Verbindung mit den Messda-
Kilometern pro Sekunde stammen ten anderer Raumsonden sowie Com-
aus dem Innern der koronalen Löcher. putersimulationen zeigt sich ein kla-
Das sind Regionen, die in der ultra­ res Bild: Das heiße Sonnenplasma
violetten Strahlung der solaren äuße- fließt in der mittleren Korona ent-
ren Gasatmosphäre (Korona) dunkel lang der offenen Magnetfeldlinien
erscheinen. Der Ursprung langsamer des koronalen Netzes. Da, wo sich die
Sonnenwinde, die auch mit Über- Feldlinien kreuzen und miteinander
schallgeschwindigkeiten von 300 bis wechselwirken, wird Energie freige-
500 Kilometern pro Sekunde wehen, setzt – und dadurch werden die Teil-
war bisher weniger klar. Jetzt hat ein chen der langsamen Sonnenwinde
12
Team unter Leitung des Max-Planck- beschleunigt. 
Instituts für Sonnensystemforschung  www.mpg.de/19550503

Bi l d: Nature A stronom y, Ch i tta et al .


Die Atmosphäre der
Sonne: Strahlenartige
Strukturen in diesem
Schnappschuss aus
einer Computersimu-
lation zeigen die
Architektur des
beobachteten
koronalen Netzes.

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Kurz notiert

Energieschub für Akkus


Eine Erfindung von Forschenden des den herkömmlichen Stromkollekto-
Max-Planck-Instituts für medizini- ren eine deutlich größere Oberfläche
sche Forschung könnte Batterien aufweisen, lassen sich Akkus mit sol-
künftig deutlich leichter, effizienter chen Stromkollektoren wesentlich
und sicherer machen. Das Team hat schneller be- und entladen. Zudem
einen Weg gefunden, sehr feine Me- reduziert das Metallgewebe den elek-
tallvliese zu erzeugen, die als Strom- trischen Widerstand der Elektroden Neandertaler-Vater mit
sammler in den Elektroden von Ak- und erhöht deren mechanische Stabi- seiner Tochter.
kus dienen und die bislang verwende- lität, was die Batterien sicherer macht.
ten Aluminium- und Kupferfolien Die Batene GmbH, eine Ausgründung
ablösen könnten. Die Metallvliese er- des Instituts, hat die Erfindung lizen-
möglichen es, die Dicke der Batterie- ziert und vermarktet sie nun. Dafür
zellen auf das Zehnfache heute übli- hat das Start-up von Investoren zehn
cher Zellen zu erhöhen und damit Millio­nen Euro Anschubfinanzierung
Material und Gewicht einzusparen. erhalten.

Bi l d: T om Bjorklu n d
Da die Metallvliese im Vergleich zu  www.mpg.de/19462373/

Familie aus
der Urzeit 13
F o t o: H a n nah Row la n d

Das Tagpfauen- Das südliche Sibirien war vor 54 000


auge (Aglais Jahren die Heimat einer Gruppe von
io) hat auf jedem Neandertalern aus mindestens acht
Vorder- und Erwachsenen und fünf Jugendlichen.
Hinterflügel In der Sippe lebten ein Vater mit seiner
Augenflecken – Tochter und ein kleiner Junge sowie
es scheint, dessen Cousine, Tante oder Groß-
als ob diese mutter. Die Frühmenschen jagten in
Betrachtende
Flusstälern Steinböcke, Pferde, Bisons
ansehen.
und sammelten das Material für ihre
Steinwerkzeuge. Forschende des Max-
Falterflügel mit Planck-Instituts für evolutionäre An-
thropologie in Leipzig sind auf diese
Mona-Lisa-Effekt Großfamilie durch die Analyse von
DNA in Knochen gestoßen, die in
Einige Schmetterlinge tragen auffäl- Beute dann zögerlicher angriffen, zwei Höhlen des Altai-Gebirges in
lige Markierungen auf ihren Flügeln. wenn sie sich aus der vermeintlichen Zentralasien gefunden worden waren.
Solche Augenflecken sollen Räuber Blickrichtung der Augenflecken nä- Die extrem geringe genetische Vielfalt
von einem Angriff abhalten. For- herten. Faltern mit konzentrischen legt nahe, dass die Sippe nur aus zehn
schende des Max-Planck-Instituts für Kreisaugen näherten sich die Küken bis zwanzig Individuen bestand, die
chemische Ökologie in Jena haben die aus allen Richtungen mit großer Vor- wenig genetischen Austausch mit an-
abschreckende Wirkung der Flecken sicht. Der Grund dafür ist offenbar deren Gruppen hatte. Bindeglieder
untersucht und frisch geschlüpfte der sogenannte Mona-Lisa-Effekt – zwischen verschiedenen Großfami-
Küken dabei beobachtet, wie sie benannt nach dem Porträt von Leo- lien waren in erster Linie Frauen – sie
künstliche Falter mit Augenflecken nardo da Vinci, dessen Pupillen sym- wechselten offenbar häufiger als Män-
auf den Flügeln attackierten. Die In- metrisch in der Iris liegen und die den ner von ihrer Geburtsgruppe in eine
nenkreise der Flecken waren so ausge- Betrachter dadurch überallhin zu ver- andere.  www.mpg.de/19369849
richtet, dass die Scheinaugen nach folgen scheinen. Ebenso scheinen die
vorne, nach links oder nach rechts zu Augen auf den Falterflügeln Räuber in
blicken schienen. Die Forschenden alle Richtungen anzustarren.
stellten fest, dass die Küken ihre www.mpg.de/19376368

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Kurz notiert

Deutschl and
Tschechien

Österrecih

Fr ankreich
Bulgarien

Schweden

Norwegen
Slowakei

Estl and

Schweiz
Spanien

Belgien
Ungarn
Litauen

Italien
Polen
USA

Graf i k : G CO nac h S c höley, J., A burt o, J.M., K ash n i tsk y, I. et al . L i fe ex pec ta nc y c ha nges si nc e COVID -19. Nat H um B ehav (2 022)
-0

-6
Die Lebenserwartung
wurde durch die
- 12
Coronapandemie in
einigen Ländern zwei
- 18 Jahre in Folge redu-
ziert, in anderen stieg
- 24 sie 2021 wieder.

- 30

Abnahme / Zunahme der lebenserwartung


- 36
2020 2021

- 42
Ver änderung der Lebenserwartung
seit 2019
Ver änderung der Lebenserwartung in monaten

Corona verkürzt Lebenszeit


Wegen der Coronapandemie ist stärker an als 2020. Insgesamt zuführen. Bulgarien hatte bis
die Perioden-Lebenserwartung fiel jedoch der Rückgang für Herbst 2021 die geringste Impf-
2021 in vielen westlichen Län- beide Pandemiejahre zusammen quote aller untersuchten Länder.
dern das zweite Jahr in Folge ge- mit 5,7 Monaten vergleichsweise Zusätzlich dürften dort – ebenso
14 sunken. Das ergab eine Studie moderat aus. In Teilen Osteuro- wie in anderen osteuropäischen
unter Beteiligung des Max- pas ist die Sterblichkeitskrise Ländern – die schlechtere Ge-
Planck-Instituts für demografi- ­dagegen noch einmal erheblich sundheitsversorgung und deut-
sche Forschung in 27 europäi- schlimmer geworden. So verrin- lich schwierigere Lebensbedin-
schen Ländern, in den USA und gerte sich in Bulgarien die gungen eine Rolle spielen. Nur
Chile. Die Perioden-Lebens­ Perioden-Lebenserwartung 2021 in Frankreich, Belgien, Schwe-
erwartung ist ein Maß für das um 2,1 Jahre. Im Vergleich zum den und der Schweiz stieg die
Sterberisiko, dem eine Bevölke- Vor-Pandemie-Niveau ist sie da- Perioden-Lebenserwartung 2021
rung innerhalb eines Jahres aus- mit um 3,6 Jahre gesunken. Mehr wieder auf das Vor-Pandemie-Ni-
gesetzt ist. In Deutschland stieg als ein Viertel der Verluste ist auf veau. In Norwegen erhöhte sie
der Verlust der Perioden-Lebens- eine erhöhte Sterblichkeit bei sich trotz Pandemie sogar leicht.
erwartung 2021 mit 3,1 Monaten den 40- bis 60-Jährigen zurück-  www.mpg.de/19357068

Energiesparen beginnt im Kopf


Im Winter hat es der Europäi-
sche Maulwurf nicht leicht: Sein
Stoffwechsel – einer der schnells-
ten unter den Säugetieren – for-
dert ständig große Mengen an
Futter, mehr, als in den kalten
Wintermonaten zur Verfügung
steht. Da er keinen Winterschlaf
halten oder wegziehen kann, löst
in Konstanz haben entdeckt,
dass der Europäische Maulwurf
im ersten Lebensjahr seinen
Schädel und damit sein Gehirn
im Winter um elf Prozent ver-
kleinert und dann bis zum Som-
mer wieder um vier Prozent ver-
größert. In den darauffolgenden
Jahren halten sich die Zu- und
nen Sommer in ihrer Heimat
ebenfalls nur wenig Nahrung
finden. Die Forschenden schlie-
ßen daraus, dass nicht nur die
knappe Nahrung, sondern auch
die kalte Witterung die Verklei-
nerung des Gehirns antreibt.
Neben dem Europäischen Maul-
wurf können auch Spitzmäuse,
11Prozent schrumpft das
Gehirn des Maulwurfs im
ersten Winter.

er dieses Problem auf ungewöhn- Abnahme vermutlich die Waage. Hermeline und Wiesel ihr Ge-
liche Art: Er schrumpft sein Hirn. Iberische Maulwürfe verändern hirn im Winter schrumpfen
Forschende des Max-Planck- die Größe ihres Gehirns dage- lassen.
Instituts für Verhaltensbiologie gen nicht, obwohl sie im trocke-  www.mpg.de/19237818

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Kurz notiert

Aufmunterndes
Gezwitscher
Ein Forschungsteam des Max-Planck-
Instituts für Bildungsforschung
wird die Aufmerksamkeit von psychi-
schen Belastungen abgelenkt, und es für Chemie
und des Universitätsklinikums Ham-
burg-Eppendorf hat untersucht, wie
stellt sich ein Gefühl von Sicherheit
und Geborgenheit ein. Auf manifeste und Life Sciences
sich Verkehrslärm und Vogelgesang depressive Zustände scheint Vogel-
auf die Psyche auswirken. In einem gesang dagegen kaum Einfluss zu
Onlineexperiment bekamen knapp haben.  www.mpg.de/19363444
dreihundert gesunde Testpersonen Von Chemikern für Chemiker –
entweder Verkehrsgeräusche oder Nutzen Sie das Netzwerk
Vogelgezwitscher zu hören. Vor und
nach den Hörproben wurde die men- der GDCh:
tale Gesundheit erfasst. Auch Ge-
sunde können beispielsweise Angst-  Stellenmarkt – Online und in
gedanken oder zeitweise paranoide den Nachrichten aus der Chemie
Wahrnehmungen haben. Das Hören  CheMento – das Mentoring
von Verkehrslärm verschlimmerte in

F o t o: A xel Gr i es c h
der Studie depressive Tendenzen. Programm der GDCh für chemische
Der Klang von Vogelstimmen hinge- Nachwuchskräfte
gen verringerte Ängstlichkeit und  Publikationen rund um die Karriere
Paranoia bei den Teilnehmenden.
 Bewerbungsseminare und
Eine mögliche Erklärung für diese
positiven Effekte ist, dass Vogelstim- -workshops
men unterschwellig mit einer intak-  Jobbörsen und Vorträge
ten natürlichen Umgebung in Ver-
bindung gebracht werden. Dadurch

A nze ige

Tirili tut gut: Wer Vogelgesang hört, baut


Ängste und paranoide Wahrnehmungen ab.

Rätsel um das Erdnächste


Schwarze Loch
In unserer Milchstraße gibt es schät- nannte System gibt dem Team um
zungsweise hundert Millionen Kareem El-Badry vom Max-Planck-
schwarze Löcher. Bisher haben For- Institut für Astronomie allerdings ei-
schende aber nur das Massemonster nige Rätsel auf. So ist etwa unklar,
im galaktischen Zentrum direkt be- wie es überhaupt entstehen konnte.
obachtet, einige andere, viel kleinere Der Vorgängerstern, der später zum
hingegen nur mit indirekten Metho- schwarzen Loch mutierte, müsste
den. Kürzlich war auch der Astrome- eine Masse von mindestens zwanzig
triesatellit Gaia erfolgreich: Er be- Sonnenmassen und eine sehr kurze
merkte winzige Positionsänderungen Lebensdauer besessen haben. Er
eines Sterns – so, als ob ein unsicht- hätte sich in einen Überriesen ver-
bares Begleitobjekt an ihm zerren wandelt, ehe sein masseärmerer Part-
würde. Offenbar handelt es sich um ner überhaupt Zeit gehabt hätte, ein
ein Doppelsystem, bestehend aus richtiger Stern zu werden. Wie hat
dem sichtbaren, sonnenähnlichen der Begleiter diese Episode überlebt?
Stern und dem unsichtbaren schwar- Und hätte er nicht auf einer viel enge-
zen Loch mit etwa zehn Sonnenmas- ren Umlaufbahn landen müssen, als
sen. Bei einer Entfernung von 1560 man dies heute beobachtet? Jetzt sind
Lichtjahren ist es das der Erde am die Theoretiker gefordert, das Szena-
nächsten gelegene. Das Gaia BH1 ge- rio zu erklären. www.mpg.de/19439207
Gesellschaft Deutscher Chemiker

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www.gdch.de/karriere
Kurz notiert

GMVA+ALMA λ3mm HSA λ2cm HST sichtbar


Quasar im
HSA HST
Fokus
x20 Zoom x2160 Zoom

Quasare sind die hellen Kerne von


Galaxien, in denen jeweils ein su-
Zoom ins permassereiches schwarzes Loch
Zentrum: Das sitzt. Die meisten dieser Masse-

Bi l d: H i rok i Ok i no u n d K azu nor i A k i yama ; GM VA+A L M A u n d H SA- Bi l der : Ok i no et al .; H S T- Bi l d: E SA / H ubble & NA SA


linke Bild zeigt
monster stoßen sogenannte Jets
den bisher besten 2 Lichtjahre 40 Lichtjahre 86 Lichtjahre

Blick auf den


220 Mikrobogensekunden 4,5 Millibogensekunden 9,7 Bogensekunden
aus, energiereiche Ströme, in de-
Plasmastrahl des
Quasars 3C 273.
3c 273 nen Materie nahezu mit Lichtge-
schwindigkeit ins All schießt. Eine
Gruppe, der auch Forschende des
Max-Planck-Instituts für Radioas-
tronomie angehören, haben nun
den Quasar 3C 273 unter die Lupe
genommen, der etwa 1,9 Milliarden
Lichtjahre von uns entfernt ist. Für
ihre Beobachtungen nutzten die
Treiber für Populismus Astronominnen und Astronomen
ein weltumspannendes Netz von
und Polarisierung Radioteleskopen, die sie miteinan-
der kombinierten. Diese Very Long
Die einen halten digitale Medien für kammern sozialer Netzwerke das Ver- Baseline Interferometry (VLBI)
demokratiegefährdend, andere beto- trauen in die Politik und in demokrati- lieferte Bilder vom Ursprungsort
nen die Chancen für mehr Partizipa- sche Institutionen beschädigen. Auch des Jets nahe dem schwarzen Loch
tion. Ob und wie sich digitale Medien das Vertrauen in klassische Medien – dort, wo der Hunderttausende
wirklich auf politische Verhaltenswei- wie Zeitungen und Fernsehsender Lichtjahre lange Plasmastrom zu
sen auswirken, war das Thema einer sinkt. Zusätzlich fördern digitale Me- einem schmalen Strahl gebündelt
Metastudie, an der das Max-Planck- dien Populismus und Polarisierung in wird. Der Blick in den Maschinen-
Institut für Bildungsforschung betei- der Bevölkerung. Allerdings unter- raum des Quasars zeigt, dass sich
16 ligt war. Dabei fanden die Forschen- scheiden sich die Auswirkungen von der Öffnungswinkel des Plasma­
den positive wie negative Effekte: Ei- Land zu Land: Was in etablierten De- stroms langsam verengt. Der Strahl
nerseits fördern Onlinemedien die mokratien potenziell destabilisierend verengt sich sogar außerhalb des
Möglichkeit politischer Teilhabe und wirkt, kann für aufstrebende Demo- Bereichs, in welchem die Schwer-
die Mobilisierung von Wählerinnen kratien förderlich sein und in autoritä- kraft des schwarzen Lochs domi-
und Wählern, was die demokratische ren Regimen die Opposition stärken. niert. Dieses Verhalten wurde auch
Legitimation von Regierungen und Der positive Einfluss digitaler Medien bei weniger aktiven schwarzen Lö-
Parlamenten stärkt. Sie können außer- ist in aufstrebenden Demokratien in chern beobachtet. Jetzt stellen sich
dem politisches Wissen vermitteln Südamerika, Afrika und Asien am die Forschenden die Frage, warum
und für ein vielfältigeres Nachrichten- deutlichsten ausgeprägt. Die negati- die Bündelung der Jets in unter-
angebot sorgen. Andererseits kann be- ven Auswirkungen sind dagegen schiedlichen Systemen derart ähn-
sonders die Kommunikation unter stärker in Europa und in den USA zu lich verläuft. 
Gleichgesinnten in sogenannten Echo- beobachten. www.mpg.de/19474069 www.mpg.de/19550449

Musik mit begrenztem Covidrisiko


Blasmusik stand lange im Verdacht, wenn man sich jeweils gleich lange in die besonders infektiösen größeren
die Ansteckung mit Corona zu fördern. ihrer Nähe aufhält. Zu diesem Schluss Atemtröpfchen in den Blasinstrumen-
Tatsächlich können beim Klarinette- kommt eine umfassende Studie des ten hängen. Trotzdem gelangt beim
spielen relativ viele Krankheitserreger Göttinger Max-Planck-Instituts für Musizieren mit Blasinstrumenten fünf-
wie Sars-CoV-2 freigesetzt werden – Dynamik und Selbstorganisation und bis fünfzigmal mehr Aerosol in die
deutlich mehr als etwa beim Flötespie- der Universitätsmedizin Göttingen. Umgebung als beim Atmen. Die Er-
len. Ansonsten ist das Ansteckungsri- Die Forschenden haben den Partikel­ gebnisse liefern Anhaltspunkte, wie
siko, das von einer infizierten Person ausstoß und das damit verbundene Konzerte oder Proben auch während
an einem Blasinstrument ausgeht, je- maximale Infektionsrisiko beim Spie- der Pandemie mit möglichst geringem
doch deutlich geringer als das von sin- len von zwanzig Blasinstrumenten be- Ansteckungsrisiko organisiert werden
genden oder sprechenden Menschen – stimmt. Demnach bleiben vor allem können.  www.mpg.de/19293534

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Kurz notiert

Flucht vor der


Knallerei
Zwei Jahre lang herrschte in gungen der Vögel acht Jahre lang
Deutschland an Neujahr weitge- in den Wochen vor und nach den
hend Stille. Dieses Jahr darf zum Jahreswechseln erfasst. Die GPS-
Viele Menschen freuen Jahreswechsel wieder fast überall Daten zeigen, dass die Wildgänse
sich auf das Feuerwerk geböllert werden. Dass nicht nur ihre Schlafstellen in den Neu-
an Silvester, Vögel Menschen unter der immensen jahrsnächten häufiger als sonst
reagieren darauf jedoch
mit Angst und Flucht.
Lärm- und Schadstoffbelastung verlassen und manchmal bis zu
durch Feuerwerkskörper leiden, 500 Kilometer weit fliegen.
zeigt eine Studie des Max- Diese Flucht hat ihren Preis: Um
Planck-Instituts für Verhaltens- wieder zu Kräften zu kommen,
biologie in Konstanz. Die For- müssen sich die Gänse mehrere
schenden haben mehr als 300 Wochen länger ausruhen und
F o t o: H elmut K ruc ke n berg

Bläss-, Weißwangen-, Kurz- mehr fressen. Für Vögel, denen es


schnabel- und Saatgänse in nicht gelingt, ihre Energiereser-
Deutschland, Dänemark und den ven wieder aufzufüllen, kann die
Niederlanden mit GPS-Sendern Knallerei also tödlich enden.
ausgestattet und die Flugbewe-  www.mpg.de/19522040

Fruchtfliegen können die Netzhäute in ihren


Augen mithilfe zweier Muskeln bewegen.
So können sie Entfernungen besser einschätzen 17

Bewegung
im Auge
Die Augen von Insekten und ande-

F o t o: M PI f ü r biol o gi s c he I n tell ige nz ( i.G.)/A n ja F r i e dr ic h


ren Gliedertieren sind fest mit dem
Kopf verbunden. Forschende des
Max-Planck-Instituts für biologi-
sche Intelligenz haben entdeckt,
dass Fruchtfliegen Bewegungen
trotz ihrer starren Augen folgen
können, ohne den Kopf oder Kör-
per drehen zu müssen. Sie verschie-
ben lediglich die Netzhäute mit den
Sehsinneszellen und verändern da-
durch den Bildausschnitt, welcher
auf der Netzhaut abgebildet wird.
Die Forschenden stellten darüber
hinaus fest, dass Fliegen mit weni-
ger beweglichen Netzhäuten die
Breite von Spalten im Untergrund
schlechter abschätzen können. Die
Bewegungen der Netzhäute schei-
nen folglich auch für das räumliche
Sehen wichtig zu sein. 
 www.mpg.de/19400320

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Zurückhaltung
zahlt sich aus

Alles wird teurer. Die Preise für Energie, Lebensmittel


und vieles andere steigen deutlich. Seit Juni 2022 versucht
die Europäische Zentralbank gegenzusteuern: Viermal hat
sie schon an der Zinsschraube gedreht und kündigt
weitere Leitzinserhöhungen an. Doch ist das die richtige
18 Strategie? Der Politikwissenschaftler Martin Höpner
warnt vor geldpolitischem Übereifer und empfiehlt, die
Lohnentwicklung im Blick zu behalten.

Die Inflation schien verschwunden. Nicht Inflations-, sondern Deflations-


druck plagte die entwickelten Volkswirtschaften in den letzten beiden
Dekaden. Wenig deutete darauf hin, dass sich das bald ändern würde.
Innerhalb von gerade einmal anderthalb Jahren sind wir in einer anderen
Welt angekommen. Zweistellige Anstiege der Verbraucherpreise, das
gab es in Deutschland zuletzt während der Koreakrise im Jahr 1951 – und
selbst da nur in zwei von vier Quartalen des Jahres.

Bis zur Jahresmitte 2022 verzichtete die Europäische Zentralbank (EZB)


darauf, den steigenden Preisen mit Zinserhöhungen entgegenzuwirken.
Harsche Kritik daran kam besonders aus Deutschland, denn bereits in der
zweiten Jahreshälfte 2021 hatte die Inflationsrate mit fünf Prozent deutlich
über der Zielmarke von zwei Prozent gelegen. Die EZB reagierte also, wie
auch die Notenbanker einräumen, ziemlich spät – dann aber energisch.
Seit Juli 2022 hat sie den Zinssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte, den
wichtigsten Leitzins, viermal erhöht, und sie stellt weitere Zinsschritte in
Aussicht. Nun, so meine ich, besteht die Gefahr, dass die EZB im Übereifer
zu viel tut. Genauer gesagt: Mich irritiert, dass die europäische Noten-
bank ihre Ankündigungen nicht im Hinblick auf die Lohnpolitik konditioniert.
Lassen Sie mich erklären, was ich damit meine.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


ZUR
Sache

Martin
Höpner
Illustrat ion: S oph i e K etterer f ü r m pg

19

Martin Höpner wurde im Jahr


2002 an der Fernuniversität
Hagen promoviert. Die
Habilitation an der Universität
zu Köln folgte fünf Jahre später.
Seit 2008 leitet er eine unab-
hängige Forschungsgruppe zur
politischen Ökonomie der
europäischen Integration am
Max-Planck-Institut für
Gesellschaftsforschung in Köln,
seit 2012 ist er zudem außer-
planmäßiger Professor an der
Universität zu Köln. Zu seinen
Forschungsgebieten zählen die
Heterogenität des europäischen
Wirtschafts- und Währungs-
raums, die europäischen
Binnenmarktfreiheiten und
das exportorientierte deutsche
Wirtschaftsmodell.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Bisher sind die Ursachen der Inflation vor allem auf der Angebotsseite
angesiedelt. Bereits während der Pandemie haben gestörte Lieferketten
die Vorprodukte verteuert. Hinzu kamen deutliche Steigerungen der
notorisch schwankenden Energiepreise. Waren diese im Jahr 2020 noch
gefallen, zogen sie 2021 deutlich an. Wie wir heute wissen, war das nur
der Anfang. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine und der
daraufhin verhängten Sanktionen sollten die Energiepreise, besonders
die für Erdgas, förmlich explodieren. Das führt bis heute zu Preissteigerun-
gen auf der ganzen Linie, weil Energie in allen Produkten und praktisch
allen Dienstleistungen steckt. Alles, was man kaufen kann, wird teurer.

Etwas anderes sind Inflationen mit Zweitrundeneffekten, die man auch Lohn-
Preis-Spiralen nennt. Damit werden Dynamiken bezeichnet, in denen sich
Preise und Löhne gegenseitig hochschaukeln. Gewerkschaften wollen den
Kaufkraftverlusten ihrer Mitglieder entgegenwirken und reagieren auf
steigende Preise mit steigenden Lohnforderungen, harten
Arbeitskämpfen und schließlich hohen Lohnabschlüssen. Damit
Die Gewerk- erhöhen sie den Kostendruck auf die Unternehmen zusätzlich, die
wiederum die Preise erhöhen müssen, was die Gewerkschaften
schaften haben erneut zu hohen Lohnforderungen ermuntert – und so fort. Selbst
20
bisher sehr wenn die anfänglichen Ursachen der Preisschübe beseitigt sind,
kann sich die Inflation auf diesem Wege verfestigen. Dass Noten-
stabilitäts- banken solche Spiralen mit deutlichen Zinserhöhungen stoppen
müssen, ist unstrittig.
bewusst auf
Entscheidend ist nun, dass wir solche Zweitrundeneffekte weder
die steigenden in Deutschland noch in der Eurozone insgesamt beobachten.
Preise reagiert Die Gewerkschaften haben bisher äußerst stabilitätsbewusst auf
die steigenden Preise reagiert. Denken Sie etwa an den Tarifab-
schluss im Chemiesektor vom Oktober 2022 oder den im Metall-
bereich vom November. Das waren, stellt man die langen Laufzeiten der
Tarifverträge in Rechnung, niedrige Abschlüsse (der ersten Tariferhöhung
im Metallbereich ist zudem eine achtmonatige Nullrunde vorgeschaltet).
Die Gewerkschaften muten ihren Mitgliedern mit derartigen Lohnverein-
barungen viel zu. Lohn-Preis-Spiralen sind derzeit nicht zu erkennen. Ich
würde noch weiter gehen: Das Ausmaß an stabilitätsorientierter Lohn-
politik, das wir derzeit in Deutschland und bisher auch in den anderen
Eurozonenländern erleben, ist sensationell. Wir haben es nicht so erwartet.
Meines Erachtens sollte die EZB darauf reagieren und ankündigen, ihre
Leitzinsen weiter und durchaus auch deutlich zu erhöhen, wenn es An-
zeichen für Zweitrundeneffekte gibt – aber eben nur dann. Besonders in
Deutschland ermuntern Beobachter die EZB derzeit dazu, die Zinsen so
oder so zu erhöhen. Das begründen sie mit der Notwendigkeit, die Nach-
frage nach Gütern und Dienstleistungen zu dämpfen. Genau das bewirkt
die vorsichtige Lohnpolitik aber ohnehin: Die Diskrepanz zwischen Inflation
und Lohnerhöhungen senkt die Reallöhne und damit die Nachfrage.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Zur
Sache

Leider wird die Inflation auch ohne Zweitrundeneffekte nicht so schnell


verschwinden. Das lässt sich an der Kluft zwischen den Anstiegen der
Erzeugerpreise einerseits und der Verbraucherpreise andererseits ablesen.
Die Erzeugerpreise, die die Herstellungskosten inklusive Vorprodukte
erfassen, sind im Jahr 2022 nicht nur um rund zehn Prozent, sondern um
dreißig bis vierzig Prozent gestiegen. Das bedeutet, dass noch viel
Kostendruck in den Unternehmen schlummert, der erst nach und nach an
die Verbraucher weitergegeben wird. Die Produktpreise dürften daher
auch dann noch steigen, wenn die Erzeugerpreise schon wieder zu sinken
beginnen. Daran ändern allerdings auch Zinserhöhungen nichts, im
Gegenteil: Die dann erhöhten Finanzierungskosten kommen vielmehr auf
den Kostendruck für die Unternehmen obendrauf.

Wenn die EZB sich ohne Beachtung der lohnpolitischen Reaktionen auf
mittelfristig steigende Leitzinsen festlegt, könnte das die Gefahr von
Zweitrundeneffekten sogar erhöhen. Dann geht von der Notenbankpolitik
kein Disziplinierungseffekt aus. Die Gewerkschaften müssen stattdessen
schlussfolgern: Es macht für die Höhe der Leitzinsen offenbar keinen
Unterschied, wie wir auf die Preisschübe reagieren. Aber das ist noch
nicht alles. Mit Zinserhöhungen verschlechtert die Notenbank die Refinan-
zierungsfähigkeit der Staaten, die es dann schwerer haben, ärmere
Haushalte zu entlasten. Ohne staatliche Entlastungen bleibt den 21
Gewerkschaften nichts anderes übrig, als auf dem Wege der
Die Inflation Lohnpolitik für Entlastungen zu sorgen – dann aber mit direkten
Wirkungen auf den Kostendruck für die Unternehmen.
stellt
Wie sich die Inflation mittelfristig entwickelt, hängt also von der
die Eurozone Lohnpolitik ab. Das ist einer der Gründe, warum wir am Max-
auf eine Planck-Institut für Gesellschaftsforschung der Lohnpolitik beson-
dere Aufmerksamkeit widmen. In naher Zukunft könnte sich
enorme ein Problem daraus ergeben, dass es in der Eurozone in Wahr-
heit nicht „die“ Lohnpolitik gibt – sondern neunzehn unterschied-
Belastungs- liche mit unterschiedlichen Institutionen, Kräfteverhältnissen,
probe Problemwahrnehmungen und Reaktionsmustern auf ökonomi-
sche Schocks. Auf einheitliche Reaktionen der Lohnpolitik
kann die EZB stimmig reagieren – wenn auch zum Nachteil von
Wachstum und Beschäftigung –, aber nicht auf neunzehn unterschied-
liche. Bislang sehen wir auch in anderen Ländern der Eurozone kaum An-
zeichen für Lohn-Preis-Spiralen. Wir wissen aber nicht, ob das so bleibt.
Kommt es zu keinem Gleichklang der lohnpolitischen Reaktionen, könnten
sich im Euroraum unterschiedliche Inflationsraten verstetigen, so wie
bereits in den ersten zehn Eurojahren: Die Wettbewerbsfähigkeit der Län-
der mit höheren Inflationsraten verschlechterte sich, die Refinanzierbarkeit
ihrer Staatsschulden ging in den Keller. Genau so entstand die Eurokrise.
Die Inflation stellt die Eurozone daher auf eine enorme Belastungsprobe.
Der Euro ist noch lange nicht über den Berg.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


infografik

Schriften im Wandel
Im Laufe der Geschichte haben Menschen unterschiedliche da die Entwicklung meist seit Jahrtausenden abgeschlossen ist.
Zeichensysteme geschaffen, die den Besonderheiten der jeweiligen Anders bei der westafrikanischen Vai-Schrift, die erst in den
Sprache entsprechen. Die Schriften haben sich dabei weiterent- 1830er-Jahren entstand. Ihre gut dokumentierte Entwicklung
wickelt. Wie genau, das lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen, ermöglicht der Forschung Einblicke in die Evolution von Schriften.

Schriftsysteme Buchstabenschrift
Die Schriften der Welt lassen sich grob

Graf i k : G CO nac h K elly, P., W i n ter , J., M i t on, H ., Mor i n, O.: T he pre dic table evolut ion of letter sha pes. Curre n t A n throp ol o gy (2 022); W i k i pe di a . de; T he B r i t i sh L i brary (CC 0)
Arabisch Griechisch
in drei Systeme aufteilen – wobei es auch
Mischsysteme gibt.

Bei den Buchstabenschriften unterscheidet [kalima] [ˈlɔɣɔs]


man zwischen Alphabetschriften, etwa Wort, Rede Wort, Vernunft
Griechisch, Lateinisch oder Kyrillisch, und
Konsonantenschriften wie dem Arabischen,
in denen Vokale nicht dargestellt werden.
Silbenschrift
Bei Silbenschriften stehen die einzelnen
Zeichen (Grapheme) in der Regel für Japanisch (Hiragana) Vai
mehrere Buchstaben, zum Beispiel für eine
Verbindung aus Konsonant und Vokal.

In Logografien hat jedes Zeichen eine [ko-n-ni-chi-ha] [ɓɛ-ɛ-na]


Bedeutung, gibt aber in der Regel keinen Guten Tag gut
ganzen Begriff wieder. Um Begriffe
darzustellen, werden Zeichen kombiniert.
Im Chinesischen gibt es häufig Kombi- Logografie
22 nationen zwischen einem oder mehreren
Bedeutungszeichen (Piktogrammen) Chinesisch
und einem Zeichen, das auch die
Aussprache beinhaltet (Phonogramm).

[rì] [qīng] [qíng]


Sonne blaugrün in Kombination:
klar, heiter

Mischung aus Piktogramm (links)


und Phonogramm (rechts)

Entwicklung des Alphabets Protosinaitisch Phönizisch Griechisch


Protosinaitisch, die älteste bekannte ab 1700 v. C. ab 1100 v. C. ab 800 v. C.
Alphabetschrift, lässt sich auf die Hiero-
glyphen zurückführen. Die phönizische
Schrift stellt einen weiteren Entwicklungs-
schritt dar, daraus entstand unter anderem A
die griechische Schrift. Allerdings ist alp (Ochse) ʔalf alpha
nicht mehr genau nachvollziehbar, welche

M
Veränderungen die einzelnen Buchstaben
durchlaufen haben. Vermutlich wurden
Schriftzeichen im Lauf der Zeit zum
leichteren Schreiben vereinfacht, aber maym (Wasser) mēm my
nur so weit, dass man sie beim Lesen noch

K
gut unterscheiden kann.

kap (Handfläche) kaf kappa

Max Planck Forschung · 4 | 2022


infografik

Die Entwicklung des Zeichens <ga>


in der Vai-Schrift

1834

Die Vai-Schrift
Die Silbenschrift mit rund 200 Graphemen (Schriftelementen)
1845 wurde ab den 1830er-Jahren von Analphabeten in Liberia
entwickelt. Dank zahlreicher Dokumente ist die Schriftentwick-
lung von den Anfängen bis zur Standardisierung als Unicode
im Jahr 2005 gut dokumentiert. Ein internationales Forschungs-
team unter Beteiligung von Olivier Morin, Forschungs-
1849 gruppenleiter am Max-Planck-Institut für Geoanthropologie,
hat die Veränderungen der Zeichen mit mathematischen Modellen
analysiert. Daraus lässt sich folgern, dass die einzelnen Schrift-
elemente tatsächlich, wie bereits seit Längerem vermutet, mit der
Zeit einfacher werden.
1868

1898

Veränderung der Komplexität des Zeichens <ga>


23
1899
BYTES

700

1906
600

1909
500
Jahreszahl

1860 1900 1950 2000


1933
Die deskriptive Komplexität, die sich an der Größe der
Bilddatei im Zipformat bemisst, hat über die Zeit deutlich
abgenommen
1958

1962

1981

2005

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

IM FOKUS
DRAHT ZUR WELT
24 | Hört sich anders an
30 | Licht geht ins Ohr
36 | Nager mit innerem Kompass

24

Musikalische
Vielfalt: Fidel
Canchi Cuata aus
dem indigenen
Volk der Chimane
spielt eine Art
Geige. Lokale
Musikinstrumen-
te zu dokumen­
tieren, war Teil
der Studien des
Wissenschaftlers
Nori Jacoby in
Bolivien.
F o t o: E duar d o A . U n durraga

Max Planck Forschung · 43 | 2022


IM FOKUS

Hört sich
anders an
Text: Nor a Lessing

25

Trommeln und Gesang, Rhythmus und Klang – Musik berührt


und verbindet. Doch was genau wir wahrnehmen, wenn uns
ein Lied entgegenschallt, wissen die meisten von uns kaum
zu sagen. Zufriedengeben kann sich Nori Jacoby mit dieser
Situation nicht: Am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik
in Frankfurt am Main untersucht der Kognitionsforscher
mit seinem Team unter anderem, wie Menschen weltweit
Rhythmen und Tonhöhen wahrnehmen. Dabei generieren die
Forschenden nicht nur Erkenntnisse über Musik.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

F o t o: Joaqu í n Val dé s

Singen für die Forschung:


Die Probandin aus dem
Volk der Chimane hört
Intervalle über Kopfhörer
und singt das Gehörte nach.
Der Kognitionsforscher
Nori Jacoby (rechts) steuert
per Laptop Aufzeichnung
und Wiedergabe, ein lokaler
Übersetzer steht zur
Unterstützung bereit.

26

Von den Chimane, die am Amazonas leben, hört Nori Forscher. „Aber in Hinblick auf die auditive Wahrneh-
­Jacoby erstmals 2016 als Postdoc am Massachusetts In- mung war sofort klar: Diese Menschen machen voll-
stitute of Technology (MIT). Hier, in der Forschungs- kommen andere Erfahrungen als Testpersonen, die in
gruppe von Josh McDermott, wollen er und seine Mit- der westlichen Welt sozialisiert worden sind.“
streitenden herausfinden, wie Menschen aus Klängen
Informationen gewinnen. „Eines Tages sprach mich
Josh an“, erinnert sich Jacoby. „Er sagte: Ich reise mit Ohne Worte verstehen,

F o t o: Nor i Jac oby / M PI f ü r em pi r i s c he Ästhet i k


dem Kulturanthropologen Ricardo Godoy ins Ama­
zonasgebiet, um mit den Chimane zu arbeiten. Du in-
was im Kopf passiert
teressierst dich für Musik, du reist gerne – hast du
Lust mitzukommen?“ Ein paar Jahre zuvor hatte Nori Jacoby, der mehrere In­
strumente spielt und auch für längere Zeit als Kompo-
Binnen weniger Wochen tauscht der junge Wissenschaft- nist gearbeitet hat, schon einmal etwas Ähnliches er-
ler so den Straßenlärm und die urbane Geschäftigkeit lebt. Da war er in Indien unterwegs, auf einer Konzert­
Bostons gegen die Feuchtigkeit und das schrille Zirpen reise, und arbeitete mit einem indischen Tontechniker
des Amazonasregenwalds ein. Hier, im Nordosten Bo- zusammen. „Dieser Mann hatte einen völlig anderen
liviens, lebt das indigene Volk der Chimane in kleinen, Zugang zu Klängen und Musik als ich. Die Art und
dörflichen Gemeinschaften, jagt und fischt, baut Ma- Weise, wie er mit Klängen umging, war für mich abso-
niok und Bananen an. Handys oder Zugang zum Inter- lut rätselhaft, das konnte ich einfach nicht nachvollzie-
net haben die meisten hier nicht. Die Forschenden hen.“ Diese Erfahrung habe sich eingebrannt und sei
führen ihre Experimente in den Dorfgemeinschaften am Amazonas bei den Chimane wieder hochgekom-
durch, in denen die Chimane leben. Mit der Hilfe von men. „Ich fragte mich: Ist es woanders genauso? Hören
Übersetzern verständigt sich Nori Jacoby mit seinen Menschen überall auf der Welt die gleichen Klänge,
Gastgebern, bittet diese, Rhythmen für ihn nachzu- nehmen diese aber ganz unterschiedlich wahr?“ Um
klopfen und Töne nachzusingen. „In Bezug auf das Antworten zu finden, reiste der Wissenschaftler für
Soziale war es nicht groß anders, als Testreihen in New Studien unter anderem nach Mali und Uruguay, be-
York oder Boston durchzuführen“, erinnert sich der gann Kooperationen mit Forschenden auf der ganzen

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

Welt aufzubauen. Seit 2018 leitet er eine Arbeitsgruppe Die Antwort, die der Forscher gefunden hat, ist überaus
am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in kreativ: Er macht sich die menschliche Fähigkeit zur
Frankfurt am Main. Eines der Ziele: die menschliche Imitation zunutze. „Wie reagieren Menschen weltweit
Wahrnehmung von Musik systematisch und kultur­ auf Musik? Sie beginnen mitzusingen, stampfen den
übergreifend zu erforschen. Rhythmus, bewegen sich dazu“, sagt Jacoby. „Dazu
braucht es keine Worte – nur den Klang. Also haben
Konkret treibt Nori Jacoby um, welche Ideen Menschen wir Probandinnen und Probanden gebeten, sich Dinge
von musikalischen Elementen haben – von Rhythmen, anzuhören und das Gehörte zu imitieren.“ In einem
Tonhöhen, Intervallen. Er untersucht, wie unter- Experiment spielte der Forscher Testpersonen compu-
schiedliche Gehirne solche musikalischen Elemente tergenerierte Rhythmen vor, die nachgeklopft werden
repräsentieren. „Was ich mit meinen Experimenten sollten. Was die Testpersonen nicht ahnten: Sie spiel-
aus den Köpfen der Menschen herausholen will, sind ten gerade eine Variante von „Stille Post“ – und zwar
die mentalen Repräsentationen der Bausteine, aus de- mit sich selbst. Bei „Stille Post“ flüstert eine Person
nen Musik besteht“, erläutert der Wissenschaftler. In- einer anderen ein kompliziertes Wort zu. Diese gibt
teressant zu untersuchen ist das auch deshalb, weil die das Verstandene flüsternd einer dritten Person weiter.
musikalische Welt im Kopf keineswegs eine exakte Zuletzt wird das Wort, das sich im Laufe des Spiels
Kopie der musikalischen Welt „da draußen“ ist: Über immer mehr verändert, laut ausgesprochen. Analog
welche mentalen Repräsentationen ein Mensch ver- dazu hörten Versuchspersonen einen Rhythmus, den
fügt, was er wahrnehmen und wiedergeben kann, das sie nachklopfen sollten. Danach wurde ihnen erneut
hängt mit seinen Vorerfahrungen zusammen. Zudem ein Rhythmus vorgespielt – eine gemittelte Audio­
sind solche Repräsentationen nicht statisch, sondern kopie dessen, was sie zuvor selbst geklopft hatten.
verändern sich mit jeder neuen auditiven Erfahrung. Über mehrere Runden klopften die Versuchspersonen
Eine knifflige Situation für Forschende, die noch so immer wieder ihre eigenen Rhythmen nach, die
durch den Umstand verschärft wird, dass die meisten sich dabei stetig ein wenig veränderten. Was genau
Menschen keine Sprache für das haben, was sie beim hofften Nori Jacoby und sein Team, auf diese Weise
Hören wahrnehmen. „Die Frage, die ich mir unabläs- herauszufinden?
sig stelle, lautet also: Wie kann ich ohne direkten Zu-
gang zum Gehirn und möglichst ohne Worte verstehen, 27
was im Kopf passiert, wenn jemand etwas hört? Wie Die Erwartung bestimmt
schaffe ich es, Gedanken zu lesen?“
die Wahrnehmung
„Das Interessante an ,Stille Post‘ ist, dass man mit einem
obskuren Wort startet, das Spiel am Ende aber meis-
tens mit einem banalen Wort endet“, erklärt der Wis-
senschaftler. „Menschen geben also regelhaft nicht
das Wort weiter, das sie tatsächlich gehört haben, son-
dern ein Wort, von dem sie glauben, es gehört zu ha-
ben.“ Mithilfe von Experimenten, die nach diesem
Schema konzipiert sind, können Forschende also et-
was über die Hörerwartungen von Menschen lernen,
genauer: herausfinden, welche Wörter Testpersonen
so vertraut sind, dass sie mit ihnen rechnen – und auf
welche Wörter das eher nicht zutrifft. Genau diesen
Mechanismus machten sich Nori Jacoby und sein
Team zunutze, um etwas über die Rhythmuserwar-
tungen der Versuchspersonen herauszubekommen.
Sie spielten ihnen einen computergenerierten, „obsku-
ren“ Startrhythmus vor und bekamen „banale“ Ziel-
rhythmen zurück: Entsprechungen der mentalen Re-
präsentationen der Teilnehmenden.

„Es ist tatsächlich wie Magie: Wir spielen einen zufälligen,


computergenerierten Rhythmus vor, und ohne dass
sie uns explizit etwas dazu sagen müssen, nähert sich
Entlegener Forschungsort: Das Dorf Emeya liegt am Ufer des das, was die Leute imitierend klopfen, nach und nach
Maniqui-Flusses mitten im bolivianischen Regenwald. Wer dort hinwill, ihren musikalischen Wahrnehmungskategorien an“,
fährt drei Tage lang mit einem motorisierten Kanu flussaufwärts. freut sich Nori Jacoby. Unzählige Male und in mittler-

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

Zufallsgenerierter Dreier-Rhythmus Nachgeklopfter Dreier-Rhythmus

Runde 1 Runde 5
(1:1:2)
500 ms 500 ms

it
it

2.

2.
ze
ze

Sc

Sc
666 ms 666 ms

ag
ag

hl

hl
1000 ms 1000 ms

hl
hl

ag

ag
Sc

Sc
ze

ze
500 ms

it
3.

3.

it
1000 ms 1000 ms
666 ms 666 ms

it
ze
500 ms 500 ms 666 ms

ag
hl
Sc
1000 ms

3.
1000 ms 666 ms 500 ms 1000 ms 666 ms 500 ms

1./4. Schlagzeit 1./4. Schlagzeit

2.
Runde 2

Sc
1000 ms

hl
ag
ze
666 ms

it
500 ms
it

2.
666 ms
ze

Sc
ag

500 ms

hl
1000 ms
hl

ag
Sc

ze
it
3.

1000 ms
666 ms

500 ms

1000 ms 666 ms 500 ms

1000 ms 666 ms 500 ms 1./4. Schlagzeit

1./4. Schlagzeit

niedrig hoch
Runde 3 (...)

500 ms Darstellung, in welchem Maß die nachgeklopften Rhythmen


zwischen verschiedenen Testpersonen übereinstimmen
2.
it

Sc

666 ms
ze

hl
ag

1000 ms
ag
hl

ze
Sc

it
3.

1000 ms
666 ms
Testpersonen aus den USA bekamen die Aufgabe, einen
28 500 ms
zufallsgenerierten Dreier-Rhythmus nachzuklopfen. Die
Forschenden erfassten dabei genau die Zeitpunkte der Schläge
1000 ms 666 ms 500 ms
(Schlagzeiten). Das Ergebnis wurde aufgezeichnet und den
1./4. Schlagzeit
Teilnehmenden erneut als Muster vorgespielt. Die meisten von
ihnen fielen im Laufe der fünf Runden in einen vertrauten
Rhythmus, wie die Cluster in den Schwarz-Weiß-Grafiken und
die Auswertung in der Heatmap zeigen.

weile fünfzehn Ländern haben er und seine Mitstrei- liche Sprachen sprachen, klopften sie in unserem Ex-
tenden das Experiment wiederholt – in Korea etwa, in periment am Ende häufig ganz ähnliche Rhythmen.“
Uruguay und in den Vereinigten Staaten. Heat- Woran genau das liegt, können die Forschenden nicht
map-Darstellungen der kumulierten Ergebnisse ma- sicher sagen. Sie vermuten jedoch, dass ähnliche Hör-
chen deutlich: Was die Menschen da klopfen, ist hoch- gewohnheiten auf ähnliche Erfahrungen schließen las-
gradig geordnet und folgt klaren Prinzipien. „Als wir sen – dass Studierende weltweit also ähnlichen Ein-
die Verteilungen zum ersten Mal sahen, waren wir tief flüssen ausgesetzt sind und vielfach wohl auch ähnliche
beeindruckt: Die mentalen, musikalischen Repräsen- Musik hören. Im Kontrast zu den recht gleichförmi-
tationen von Menschen mit demselben kulturellen gen Ergebnissen der Studierenden waren die Rhyth-
Hintergrund gleichen sich aufs Haar. Viele der Ver- men, die Bewohnerinnen und Bewohner von Groß-
suchspersonen können nichts über die Rhythmen sa- städten wie Bamako in Mali oder La Paz in Bolivien
gen, die sie da klopfen – und doch sitzen diese in ihren klopften, enorm vielfältig. „Unsere Analysen lassen
Köpfen und bestimmen, was diese Menschen wahr- vermuten, dass unter anderem sozioökonomische Fak-
nehmen, wenn sie etwas hören, und was sie dann ent- toren und die Art der Bildung, die ein Mensch durch-
sprechend im Experiment wiedergeben.“ laufen hat, Einfluss darauf haben, welche Rhythmen er
oder sie klopft.“
Nicht zwangsläufig ließ sich dabei vom Wohnort und der
Muttersprache der Teilnehmenden auf die Rhythmen Die Studie zeigt: Ob am Amazonas, in Seoul oder auf der
schließen, die sie klopfen würden. „Unter unseren Ver- Hochebene von La Paz – Menschen auf der ganzen
suchspersonen waren zum Beispiel viele Studierende. Welt haben ein Rhythmusempfinden. Welche Rhyth-
Und obwohl diese aus so unterschiedlichen Ländern men sie jedoch konkret wahrnehmen, ist unterschied-
wie Korea und den USA kamen und sehr unterschied- lich. So kann selbst der musikalisch umfassend gebil-

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

dete Nori Jacoby keine rhythmische Struktur heraus- thematischen Verhältnissen bestimmt? „Wenn hier
hören, wo Schlagzeuger aus Mali unmittelbar den tatsächlich ein biologischer Mechanismus am Werk
Grundrhythmus des örtlichen Tanzes Maraka ausma- wäre, müsste dieser sich überall auf der Welt nachwei-
Graf i k : Jac oby, J. H . Mc Dermo tt, I n teger R at io Pr iors on M usic al R h y thm R ev eale d Cro ss - c ulturally

chen – 2, 3, 7 Schläge. Und das, so berichtet der For- sen lassen“, kommentiert Nori Jacoby.
scher, ist nur eines von zahlreichen Beispielen, die die
Experimente zutage gefördert haben und die den gro- Um zu testen, ob das der Fall ist, entwarf der Forscher ein
by Iterate d R e produc t ion, Curre n t Biol o gy, Volume 27, Issue 3, 2 017, Pages 359 -370

ßen Reichtum an Hörgewohnheiten und musikali- weiteres Experiment, das auf Nachahmung beruht. Er
schen Traditionen auf der Welt erahnen lassen. Dass spielte Versuchspersonen vom Volk der Chimane und
Rhythmen so unterschiedlich gehört werden, legt die aus den USA zwei hohe Töne außerhalb ihres Gesangs-
Vermutung nahe, dass die Musikwahrnehmung ent- bereichs vor und bat sie, das Gehörte nachzusingen.
scheidend von kulturellen Prägungen abhängt. Zu- „Die Teilnehmenden ahmten den Abstand zwischen
gleich zeichnen sich Rhythmen und andere musikali- den beiden Tönen sehr genau nach“, erinnert sich der
sche Elemente oft durch einfache mathematische Be- Forscher. In Hinblick auf die Frequenz der nachgesun-
ziehungen aus. Spricht das nicht im Gegenzug dafür, genen Töne zeigten sich jedoch beträchtliche Unter-
dass die Musikwahrnehmung auf einer allgemeineren schiede: „Wenn wir das Experiment mit Musikerinnen
Ebene universell ist, dass in ihr eine Art mathemati- und Musikern aus der westlichen Welt durchführen,
sches Gespür zum Ausdruck kommt? dann singen sie uns dieselben Töne drei oder vier
Oktaven tiefer vor – ein Ausdruck der Oktavenäquiva-
lenz.“ Menschen aus den USA, die nicht Musik ma-
Oktaven klingen nicht chen, taten das jedoch nur in etwa der Hälfte der Fälle.
für alle gleich Und im Amazonasgebiet war von der Oktavenäquiva-
lenz nichts mehr zu merken. „Auch die Chimane san-
gen das Intervall zwischen den beiden Tönen sehr ge-
„Tatsächlich ist das westliche Denken tief geprägt von die- nau nach. Auf welcher Höhe der Tonleiter sie die Töne
ser Idee, die auf Pythagoras zurückgeht“, kommentiert im Verhältnis zum Klangbeispiel platzierten, war un-
Nori Jacoby. Diesem seien mathematische Beziehun- abhängig vom ursprünglichen Beispiel“, erzählt Nori
gen als grundlegend für die Welt und somit auch für Jacoby. In einem Folgeexperiment konnte er zeigen,
die Musikwahrnehmung erschienen. „Viele physikali- dass auch in der Wahrnehmung der Chimane zwei 29
sche Phänomene zeichnen sich in der Tat dadurch aus, Töne im Oktavverhältnis klanglich gut miteinander
dass sie sich durch einfache mathematische Beziehun- verschmelzen. „Das bedeutet für diese Testpersonen
gen beschreiben lassen – schwingende Saiten etwa. aber nicht, dass die beiden Töne äquivalent sind. Sie
Die Annahme ist weit verbreitet, dass auch die Funk- bewerten das Phänomen anders als Musikerinnen und
tionsweise des menschlichen Geistes pythagoreische Musiker aus der westlichen Welt.“
Ideen widerspiegelt.“ Ein prominentes Beispiel für ein
physikalisches Phänomen, das ganzzahlige Verhält- Mit seiner Forschung will Nori Jacoby der Klangwahr-
nisse mit einem oft als harmonisch empfundenen nehmung auf die Spur kommen. Doch seine Ergeb-
Klang verbindet, ist die Oktave. Viele nisse sagen nicht nur etwas über unser Hörerleben aus.
Menschen in der westlichen Welt be- Vielmehr wird hier die menschliche Wahrnehmung im
schreiben das Intervall als gleich klingend Allgemeinen untersucht, zeigt sich empirisch als Pro-
Auf den Punkt – sie hören die beiden Töne so, als ob der- dukt eines Interpretationsprozesses, den unser Gehirn
gebracht selbe Ton zweimal angeschlagen würde, immer wieder neu auf Basis bisheriger Erfahrungen
nur einmal mit einer tieferen und einmal und aktueller Sinneseindrücke vornimmt. „Was das
Anders als oft behauptet ist mit einer höheren Frequenz. Dies spiegelt Ganze noch spannender macht, ist, dass diese Prozesse
Musik keine universelle sich in unserem Notationssystem wider, simultan in uns allen ablaufen und ungeheuer dyna-
Sprache – das zeigen Studien das für Noten, die eine Oktave auseinan- misch sind: Im größeren Maßstab ist das die Basis der
mit Menschen in unter- derliegen, die gleichen Buchstaben ver- Kulturentwicklung“, zeigt sich Nori Jacoby überzeugt.
schiedlichen Ländern.
wendet – zum Beispiel g und g’. Physika- Für Menschen, die die Tradition hochhalten, ist das
Wie eine Person musikalische lisch zeichnet sich die Oktave dabei da- vielleicht nicht die allerbeste Nachricht. „Selbst wenn
Elemente, etwa Rhythmen oder durch aus, dass die höhere Note genau ich mich als traditionellen Musiker begreife und immer
Intervalle, wahrnimmt, ist unter doppelt so schnell schwingt wie die tiefere. wieder dasselbe Stück spiele: Mein Gehirn und somit
anderem von ihrer Kultur und Ein weiteres Phänomen, das die Ideen des meine Wahrnehmung dieses Stückes verändern sich
ihren Hörgewohnheiten geprägt. Pythagoras zu bestätigen scheint: Mit je- stetig“, sagt der Kognitionsforscher. So habe man etwa
Die Verarbeitung von Musik
dem angeschlagenen Ton schwingen die den frühen Bebop zu der Zeit, in der er aufkam, als sehr
im Gehirn wird von jeder ganzzahligen Vielfachen seiner Frequenz innovativ wahrgenommen und Elvis Presleys Rock ’n’
neuen Erfahrung beeinflusst mit, was die Obertonreihe ergibt. Wird Roll als Skandal empfunden. „Heute finden viele Be-
und ändert sich auf diese die menschliche Klangwahrnehmung bei bop und Rock altmodisch. Das zeigt: Unsere Wahrneh-
Weise ständig. aller rhythmischen und klanglichen Viel- mung ist immer im Fluss – und mit ihr unsere Kultur.“
falt am Ende also von ganzzahligen, ma- www.mpg.de/podcasts/sinne

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

Die elektronenmikro-
skopische Aufnahme
zeigt, warum die Cochlea
auch als Hörschnecke
bezeichnet wird. In ihren
Windungen sitzen die
Hörsinneszellen (orange;
infolge des Präparations-
verfahrens für diese
Aufnahme sind die Mem-
branen, welche die
Cochlea-Gänge umgeben,
teilweise zerrissen).

30

Bi l d: S c i e nc e Pho t o L i brary / F ur n ess , Dr . Dav i d

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

Licht geht
ins Ohr
Text:
Catarina Pietschm ann

31

Im Freundeskreis diskutieren, ein Konzert genießen,


bei Straßenlärm telefonieren – Menschen mit
Hörproblemen bleiben alltägliche Höreindrücke
oft verwehrt. Tobias Moser will den Betroffenen mit
einer neuen Generation von Hörhilfen neue
Klangwelten zugänglich machen. Die sogenannten
optischen Cochlea-Implantate sind
ein Beispiel für Therapien, die auf Erkenntnissen aus
der Grundlagenforschung beruhen.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

In Deutschland leben rund 16 Millionen schwerhörige Information als Nervenimpuls ans Gehirn leiten. Jeder
und 80 000 gehörlose Menschen. Etwa zwei von tau- Mensch wird mit einer bestimmten Anzahl von Haar-
send Kindern werden mit einer bislang noch unheil­ sinnes- und Hörnervenzellen geboren. Diese müssen
baren Hörstörung geboren, weitere werden in den ers- ein Leben lang halten, denn es bilden sich keine nach.
ten Lebensjahren schwerhörig. Wer von Geburt an „Wahrscheinlich lassen Lärm und Alter zunächst die
wenig oder nichts hört, lernt nur mit Mühe oder über- Haar-, dann auch die Hörnervenzellen absterben“, er-
haupt nicht sprechen und kann sich schlechter mit sei- klärt Moser. Wird eine Haarsinneszelle beispielsweise
nen Mitmenschen austauschen. Weniger soziale Kon- in einer Diskothek mit 100 Dezibel oder mehr be-
takte sind die Folge. schallt, geht sie in der Regel zugrunde. Auch manche
Antibiotika oder Krebsmedikamente können vorüber-
Tobias Moser, Neurowissenschaftler und Hals-Nasen- gehende oder bleibende Hörschäden verursachen.
Ohren-Arzt, leitet eine Forschungsgruppe am Max-­
Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissen- Cochlea-Implantate werden nicht nur taub geborenen
schaften in Göttingen und das Institut für Audito­ Kindern, sondern zunehmend auch schwersthörigen
rische Neurowissenschaften der Universitätsmedizin Erwachsenen eingesetzt. Die Implan-
Göttingen. Er ist Spezialist für die sogenannte Synap- tate übernehmen die Funktion der
sen-Schwerhörigkeit, also für Hörstörungen im Innen­ Hörschnecke und umgehen die Sinnes-
ohr, bei denen ein Hörgerät in der Regel wirkungslos zellen. Sie reizen die Nervenzellen des
ist. Wird bei einem Säugling eine solche Synapsen-­ Hörnervs also direkt. Bei der Implanta- Auf den Punkt
Schwerhörigkeit festgestellt, kann ihm derzeit nur ein tion werden ein Elektrodenträger mit – gebracht
sogenanntes Cochlea-Implantat späteres Hören und je nach Modell – 12 bis 24 Elektroden in
Sprechen ermöglichen. Im Idealfall wird das Implantat die Hörschnecke geschoben und ein Hörstörungen im Innen-
im ersten Lebensjahr eingesetzt, noch bevor das Kind elektrischer Stimulator nebst Emp- ohr sind durch ein Cochlea-
Implantat teils zu korrigie­­-
zu sprechen beginnt. „In den ersten Lebensjahren fangsspule und Magnetkopplung hin- ren. Forschende entwickeln
werden im Gehirn viele synaptische Verbindungen aus- ter der Ohrmuschel im Schädelkno- zurzeit optogenetische Im-
und umgebaut“, erläutert Moser. „Wenn während die- chen platziert. Ein daran gekoppelter plantate, die einen besseren
ser Phase im Gehirn zu wenige Hörreize aus den Oh- Sprachprozessor zerlegt Schall in seine Höreindruck erzeugen
ren ankommen, werden viele Verbindungen nicht kor- Frequenzen und überträgt die Fre- sollen als heute eingesetzte
32 rekt geknüpft. Später lässt sich dies kaum mehr kom- quenz-, Zeit- und Lautstärkeinforma- elektrische Implantate.
pensieren.“ tion an den Stimulator. Nach dem Ein- Eine neue Generation
setzen elektrischer Cochlea-Implantate optischer Cochlea-Implan-
Hören ist kompliziert: Schallwellen werden von der Ohr- müssen die Patientinnen und Patienten tate kann mehr Frequenzen
muschel in den äußeren Gehörgang bis zum Trommel- das Hören wieder neu lernen, denn die übertragen und verspricht
fell geleitet, wo sie von den Gehörknöchelchen Ham- geringe Anzahl an Elektroden schränkt einen besseren Höreindruck.
mer, Amboss und Steigbügel des Mittelohrs aufge- die Wahrnehmung unterschiedlicher Die erste Studie am
Menschen soll 2026 starten.
nommen und an das Innenohr weitergegeben werden Tonhöhen stark ein. „Am Anfang spre-
– an die wie eine Spirale aufgewickelte Hörschnecke. chen viele Patienten von einem rauschi-
„Bis hier können Störungen oft chirurgisch so gut be- gen und metallischen Klang. Sprache
handelt werden, dass man noch nicht einmal ein Hör- ist häufig schwer oder gar nicht zu ver-
gerät braucht“, sagt Moser. Die Ursache von Schwer- stehen“, beschreibt Moser die ersten Eindrücke nach
hörigkeit liegt jedoch in 70 Prozent aller Fälle im Innen­ einer Operation. „Es hört sich zum Beispiel an, wie
ohr oder am Hörnerv. wenn jemand hinter einer Wand spricht: Man hört,
dass jemand etwas sagt, kann es aber nicht verstehen.
Auch nach Monaten der Übung ist oft schwer zu erken-
Übertragung ans Innenohr nen, ob eine Frage gestellt oder eine Aussage gemacht
wird, weil die Patienten die Sprachmelodie nicht erfas-
Die spiralförmige Hörschnecke des Innenohrs – auch sen können.“
Cochlea genannt – trägt vier Reihen von Haarsinnes-
zellen, die mit ihren Haarbündeln in den flüssigkeits- Vor der Operation gibt es deshalb stets intensive Gesprä-
gefüllten Innenraum der Cochlea ragen. Von den Ge- che zwischen Patienten und Angehörigen sowie den
hörknöchelchen auf die Cochlea übertragene mecha­ Ärztinnen, Ingenieuren und Logopädinnen. „Wenn
nische Schwingungen versetzen das Sinnesgewebe in sich jemand nicht vorstellen kann, über ein Jahr inten-
Bewegung. Dies verbiegt die Haarbündel der Sinnes- siv zu üben, sollte er auf ein Implantat verzichten“, sagt
zellen um winzigste Bruchteile von Millimetern. Das Moser. Aber selbst nach intensivem Hörtraining wird
reicht aus, um die Haarsinneszellen zu aktivieren. Die es nicht wieder so sein wie früher. „Die Betroffenen
äußeren drei Reihen der Haarsinneszellen verstärken werden immer Schwierigkeiten haben, Sprache in All-
diese mechanischen Schwingungen bei leisen Tönen. tagssituationen mit Hintergrundgeräuschen oder mit
Die innere Reihe überträgt die Schallinformation von mehreren Gesprächspartnern zu verstehen. Auch Me-
ihren Synapsen an die Zellen des Hörnervs, welche die lodien lassen sich nur schwer erkennen.“ Vom Klang­

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

Ein optogenetisches
Cochlea-Implantat
übersetzt akustische Reize
in Lichtpulse. Feine
Licht
lichtleitende Fasern (blau)
leiten die Pulse ins
Innenohr: hohe Töne an die
Basis, tiefere Töne weiter an
die Spitze der Hörschnecke.
Mit molekularen Licht-
sensoren ausgestattete
Nervenzellen des Hörnervs
wandeln die Lichtpulse in
elektrische Signale um und
leiten sie zur weiteren
Verarbeitung ins Gehirn.

elektrisches Signal

33

erlebnis eines Klavierkonzerts von Sergei Rachma- mann von der Universität Regensburg (heute: Hum-
ninow oder eines Whitney-Houston-Songs bleibt nach boldt-Universität zu Berlin) gemeinsam mit G ­ eorg
dem Einsetzen eines Cochlea-Implantats also nicht Nagel (jetzt: Universität Würzburg) und Ernst Bam-
mehr viel übrig. berg am Max-Planck-Institut für Biophysik in Frank-
furt lichtempfindliche Ionenkanäle in Grünalgen.
Graf i k : G CO nac h Mo ser / I nst i tute f or Au di t ory Neuro s c i e nc e

In seiner Sprechstunde in der Universitätsmedizin Göt- Diese Kanäle bilden die Basis für das neue For-
tingen spricht Tobias Moser immer wieder mit Patien- schungsfeld der Optogenetik, das Wissenschaftlern
tinnen und Patienten, die mit dem „elektrischen Hö- dabei hilft, die Funktionsweise von Zellen und Orga-
ren“ nicht zufrieden sind. Besonders Berufsmusiker nen zu entschlüsseln. Insbesondere die Neurowissen-
verzweifeln an der Situation. Die Hoffnung des Wis- schaften nutzen die Optogenetik. Nervenzellen sind ja
senschaftlers ruht deshalb auf sogenannten optischen außerhalb des Auges lichtunempfindlich. Damit man
Cochlea-Implantaten, an denen Mosers Team seit sie mit Licht aktivieren kann, müssen die Zellen also
2007 forscht. Die Idee: Die Schallinformation wird erst einmal mit einem entsprechenden Sensor ausge-
nicht elektrisch, sondern durch Licht übertragen. stattet werden. Dazu dienen die ursprünglich aus Algen­
Wenn es funktioniert, wäre das ein Meilenstein. Der zellen stammenden, lichtempfindlichen Ionen­kanäle.
Klang von Sprache und Musik könnte dadurch sehr Zunächst bringen die Forschenden den genetischen
viel natürlicher und nuancenreicher werden. Bauplan dieser Proteine mittels Gentherapie in die
Nervenzellen des Hörnervs ein. Als Genfähre dienen
Den Grundstein dieser Technik haben Forschende in harmlose, vermehrungsunfähige Viren, welche aus-
den 1970er-Jahren am Max-Planck-Institut für Bio- schließlich an die Nervenzellen im Hörnerv binden
chemie in Martinsried gelegt. Dieter Oesterhelt und und das Gen für das Kanalprotein im Zellkern der
sein Team haben damals in der Zellmembran von Bak- Nervenzelle platzieren. Die Nervenzellen bauen den
terien Ionenpumpen entdeckt, die von Licht aktiviert Lichtsensor dann in ihre Membran ein. Sobald er
werden. Um die Jahrtausendwende fanden Peter Hege- Licht erhält, öffnet er seine Schleusen, Ionen strömen

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

ein, und die Zelle wird elektrisch aktiv. Wie beim her- das Implantat ausschalte, hab ich keine Chance mehr,
kömmlichen elektrischen Cochlea-Implantat wird der dem Gespräch einer Gruppe zu folgen“, erzählt El
Schall in Frequenzbänder zerlegt, nun aber in viel May, der in Lausanne und Boston Ingenieurwesen stu-
mehr und feinere: 64 den Frequenzbändern zugeord- diert hat. Obwohl er inzwischen auch Diskussionen in
nete Lichtleiter leiten Licht ins Innenohr – hohe Fre- größeren Runden folgen kann, sind ihm Eins-zu-eins-

Graf i k : G CO nac h Mo ser / I nst i tute f or Au di t ory Neuro s c i e nc e


quenzen an die Basis der Cochlea, niedrige immer wei- Gespräche lieber. „Es ist anstrengend für mich, wenn
ter die Windungen der Schnecke entlang bis zu deren mehrere Menschen durcheinanderreden. Da steige ich
Spitze. „Das Gehirn weiß, dass aktive Nervenzellen an dann manchmal einfach aus.“
der Basis der Cochlea hohe Töne bedeuten, aktive Zel-
len am Ende für ein tiefes Brummen stehen. Wir müs- Ein Cochlea-Implantat für das andere Ohr möchte er
sen also nur dafür sorgen, dass die Lichtleiter zu den nicht. „Mit dem Hörgerät in diesem Ohr höre ich zwar
richtigen Stellen an der Cochlea führen und die zum schlechter als mit Implantat, dafür kann ich den rei-
Ton passenden Nervenzellen aktivieren“, erklärt Mo- chen Klang und die hohen Frequenzen beim Musik-
ser. Die Implantate vermitteln so selbst dann einen hören genießen. Das will ich nicht missen!“ Inzwi-
Höreindruck, wenn keine Sinneszellen mehr intakt schen hat El May mit Klavierunterricht angefangen.
sind. Einziges Manko: Akkorde kann er schlecht korrigieren,
weil er den Unterschied zum Einzelton nicht hört.
Trotz aller Abstriche – einen zumindest kleinen Vorteil
Tonhöhen lassen sich hat ein Cochlea-Implantat gegenüber dem natürlichen
gut unterscheiden Hören dann doch: El May kann es als Kopfhörer be-
nutzen. Das Implantat verbindet sich via Bluetooth
automatisch mit dem Smartphone. So kann er ohne
Erste Tests mit Computersimulationen und Nagetieren Störgeräusche telefonieren, denn den „Earpod“ hat er
zeigen, dass die Technik funktioniert. Für schwache ja schon im Ohr. www.mpg.de/podcasts/sinne
und mittlere Lautstärken ist die Unterscheidung von
Tonhöhen vom normalen Hören kaum zu unterschei-
den. Mosers Team will die neuen Implantate nun am
Göttinger Primatenzentrum an Weißbüschelaffen tes-
34 ten. Die Tiere sind echte Plaudertaschen und in dieser
Hinsicht dem Menschen sehr ähnlich. Die Forschen- Durch Licht
angeregte
den machen sich das zunutze, indem sie den Affen aus Nervenzelle
einem Lautsprecher derzeit Rufe vorspielen, die nur so
viele Frequenzen besitzen wie ein optisches Coch-
lea-Implantat. „Die Tiere erkennen die Rufe trotz der Damit eine Zelle des
wenigen Frequenzen und antworten darauf. Das lässt Hörnervs Lichtpulse
darauf schließen, dass die neuen Implantate auch un- Licht wahrnehmen und die darin
sere Sprache verständlich transportieren könnten“, so steckende Information
über einen Höreindruck
Moser. Als Nächstes wollen die Forschenden um den weitergeben kann, wird sie
Göttinger Nachwuchsgruppenleiter Marcus Jeschke gentechnisch so verändert,
den Affen optische Cochlea-Implantate einsetzen und dass sie lichtempfindliche
herausfinden, ob sie die Rufe ihrer Artgenossen dann lichtempfindlicher Ionenkanäle produziert
immer noch erkennen. Ionenkanal und in ihre Zellmembran
einbaut. Die Kanäle lassen
elektrisch geladene Atome
Bevor 2026 die erste klinische Studie am Menschen be- hindurchströmen, wenn
ginnen kann, müssen Moser und sein Team noch an sie belichtet werden.
Ionen
der Technik feilen. Der Energieverbrauch der Implan- Die einfließenden Ionen
tate darf nicht zu hoch sein, und die Zeit- und Fre- führen zur Bildung eines
quenzauflösung sollen optimiert werden. Einen wird elektrisches Signal elektrischen Signals,
das die Nervenzelle ins
der Start der Studie besonders freuen, auch wenn er Gehirn weiterleitet.
selbst nicht daran teilnehmen kann: Fadhel El May ist
Doktorand bei Tobias Moser. Von Geburt an schwer-
hörig, trug er als Kind zunächst klassische Hörgeräte.
Im Alter von sechzehn Jahren bekam er dann ein elek-
trisches Cochlea-Implantat in ein Ohr.

Wie hat sich sein Leben durch dieses Implantat verän-


dert? „Anfangs war ich erschrocken, wie wenig ich ver-
stand. Es dauerte sechs Monate, bis mein Gehirn es
geschafft hat, Sprache zu verstehen. Wenn ich heute

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Forschung
leicht gemacht
Das Magazin der Max-Planck-Gesellschaft als ePaper:
www.mpg.de/mpf-mobil
www.mpg.de/mpforschung

n lo s
Ko s t e a d e n !
lo
down
IM FOKUS

Unübersehbar ein Nagetier:


Ansells Graumull (Fuko-
mys anselli) ist eine von etwa
36 einem Dutzend Graumull-
Arten. Mit seinen mächtigen,
ständig nachwachsenden
Schneidezähnen reißt das
Tier die Erde beim Graben
seiner Tunnel los und tritt sie
mit den Vorder- und
Hinterbeinen nach hinten.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

Nager
mit innerem
Kompass
Text: Andreas Lorenz-Meyer

37
F o t o: Chr i st of Seelbac h f ü r M PG

Magnetfelder riechen und schmecken


nach nichts, sie sind unsichtbar, und
sie machen auch keine Geräusche: Für
sie fehlt uns Menschen also der Sinn.
Der Graumull hingegen besitzt einen
Magnetsinn, mit dem er sich in der
Dunkelheit zurechtfindet. Wie der
unterirdisch lebende Nager Magnet-
felder wahrnimmt, das untersuchen
Pascal Malkemper und sein Team am
Max-Planck-Institut für Neurobio-
logie des Verhaltens – caesar in Bonn.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM fokus
im FOKUS

Kaum geht im Raum mit den Graumullen das Licht an, ren ist bisher nur wenig bekannt, aber der Mechanis-
beginnt es zu rascheln. Hier und da taucht aus den mus scheint sich fundamental von jenem der Vögel zu
Tunneln und Kammern in den Käfigen ein länglicher unterscheiden. Graumulle besitzen einen Polaritäts-
Körper mit hellbraunem Fell auf und verschwindet kompass, der sich wie eine Kompassnadel an den bei-
wieder. Plötzlich Klopfzeichen: „Das sind Warnsig- den magnetischen Polen der Erde ausrichtet. Während
nale“, flüstert Pascal Malkemper. „Sehen Sie hier, die- der Magnetkompass der Vögel ohne Licht aussetzt,
ses Tier in der Röhre! Es führt mit seinem Körper wel- funktioniert jener der Graumulle auch in völliger
lenförmige Bewegungen aus und erzeugt so Vibratio- Dunkelheit.
nen.“ Die Nachricht bleibt nicht unbeantwortet: Ein
Artgenosse erscheint am anderen Ende der Röhre und Die Graumulle hat sich Pascal Malkemper ausgesucht,
antwortet mit Klopfen. weil sie die einzigen bekannten Nagetiere sind, die sich
am Erdmagnetfeld orientieren. Ob ihre Verwandten,
Der Raum für die Graumulle ist voller Käfige, von denen die Nacktmulle, die in manchen Labors gehalten wer-
immer zwei durch Plexiglasröhren miteinander ver- den, Magnetfelder ebenfalls wahrnehmen können, ist
bunden sind. Die Temperatur beträgt 26 Grad, die dagegen noch unklar. Zudem ist die Haltung der
Luftfeuchtigkeit liegt bei über 60 Prozent. Das ent- Graumulle etwas einfacher als die der Nacktmulle,
spricht den Verhältnissen unter der Erde in Sambia. weil sie dank ihres Fells die Körpertemperatur besser
Die Art kommt nirgends sonst auf der Welt vor. Auch halten können und ihre Kolonien aus zwei bis zwölf
die Käfige berücksichtigen die Ansprüche der Nager ­Individuen deutlich kleiner sind als jene der Nackt-
an ihren Lebensraum. Die Röhren imitieren die Tun- mulle, die aus bis zu 300 Tieren bestehen.
nelgänge, in denen die in Familienverbänden lebenden
Tiere ihr Leben lang unterwegs sind. Die Käfige bie-
ten eine Latrinen-, eine Schlaf- und eine Futterkam-
mer. Zu fressen gibt es Kartoffel- oder Karottenstücke,
manchmal auch Äpfel. Wasserspender braucht es hin-
gegen nicht: Graumulle trinken nicht, sondern neh-
„Der Magnetsinn scheint
38
men alle Flüssigkeit über die Nahrung auf. eine untergeordnete
In der Natur bewohnen sie unterirdische, teilweise meh-
rere Kilometer lange Tunnelsysteme. Die Tiere leben
Stellung in der Hierarchie
also in permanenter Dunkelheit. Und doch kommen
sie in diesem Gewirr aus schmalen Gängen bestens zu-
der Sinne einzunehmen.“
recht. Mit traumwandlerischer Sicherheit steuern sie
die verschiedenen Kammern an - so kennen sie die Pascal M alkemper
Lage der Futterkammer, in der sie Wurzeln und Knol-
len bunkern, ganz genau.

Augen, Nasen und Ohren helfen den Graumullen in ih-


Optischer Längsschnitt durch das Graumullgehirn.
rem unterirdischen Gangsystem bei der Orientierung
In der Großhirnrinde sind die Forschenden
nur bedingt weiter. Um ihr Ziel zu finden, nutzen die auf Nervenzellen gestoßen (Pfeile), welche an der
Tiere einen besonderen Sinn: den Magnetsinn. Seit Verarbeitung von Informationen aus dem
einiger Zeit weiß man, dass die Tiere das Magnetfeld Magnetsinn beteiligt sind.
der Erde wahrnehmen können. Einzigartig sind sie im
Tierreich damit nicht. Fische, Schildkröten, Amphi-
bien und Fledermäuse besitzen diese Fähigkeit eben-
falls. Auch Zugvögel orientieren sich am Erdmagnet-
f ü r Neurobiol o gi e des Verhalte ns

feld. Ihr Magnetsinn ist gut erforscht, er sitzt wahr-


Bi l d: Pas c al M alkem per / M PI

scheinlich im Auge.

Vögel besitzen einen sogenannten Inklinationskompass,


das heißt, sie nehmen ausschließlich den Neigungs-
winkel wahr, in dem die Magnetfeldlinien auf die Erd-
oberfläche treffen. Am Äquator ist dieser Winkel
gleich null, je weiter ein Vogel nach Norden oder Sü-
den fliegt, desto größer wird dieser Winkel. Vögel kön-
nen folglich nicht zwischen magnetischem Süd- und
Nordpol unterscheiden, sie fliegen entweder Richtung
Pole oder Äquator. Über den Magnetsinn bei Säugetie-

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

F o t o: Chr i st of Seelbac h f ü r M P G

39
Pascal Malkemper untersucht das Orientierungsvermögen der
Graumulle in einem Labyrinth. Das Gangsystem befindet sich in einem
künstlichen Magnetfeld, welches die Tiere zur Orientierung nutzen.

Pascal Malkemper öffnet eine schwere Stahltür und be- Raum orientieren können. Auch gegenüber Geräu-
tritt einen kleinen Raum. Darin auf einem Tisch ein schen und Vibrationen ist das Labyrinth abgeschottet,
Labyrinth, dessen Gänge die Forschenden mit Klap- die Nager sollen durch nichts abgelenkt werden. Da
pen öffnen und schließen können. Der Raum ist aus- selbst Gerüche stören, wird die Kammer nach jedem
gefüllt mit einem Konstrukt aus Stangen und Streben, Durchlauf penibel geputzt. „Eine reizarme Umge-
welches den Tisch umgibt. „In diesem Spulensystem bung also, bis auf das künstliche Magnetfeld. So stel-
sind viele Kilometer Kupferdraht aufgewickelt. Fließt len wir sicher, dass unsere Messwerte ausschließlich
Strom durch diese Drähte, entsteht ein Magnetfeld im auf den Magnetsinn der Tiere zurückzuführen sind“,
Inneren der Spule, das wir genau kontrollieren können. erklärt Malkemper.
Auf diese Weise können wir künstliche Magnetfelder
jeglicher Art erzeugen“, erklärt Malkemper. Graumulle nutzen wie die meisten Tiere immer alle ihre
Sinne. Wenn sie etwas hören oder riechen, orientieren
sie sich häufig lieber daran als an den magnetischen Si-
Virtual Reality für Graumulle gnalen. „Der Magnetsinn scheint generell eher eine
untergeordnete Stellung in der Hierarchie der Sinne
Während der Versuche kompensieren die Forschenden einzunehmen. Ein Grund dafür könnte sein, dass das
das echte Erdmagnetfeld mit den Magnetspulen und Signal-Rausch-Verhältnis aufgrund der geringen In-
simulieren gleichzeitig ein neues Erdmagnetfeld. Zu- tensität des Erdmagnetfeldes gering ist.“
sätzlich schirmen schwarze Vorhänge das Miniatur-
labyrinth ab und verhindern so, dass sich die Tiere Dass die Graumulle ihren Magnetsinn zur Orientierung
während eines Experiments an visuellen Reizen im nutzen, konnte Malkempers Team mit einem einfachen

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM fokus
im FOKUS

F o t o: Chr i st of Seelbac h f ü r M PG
40

Gut aufgestellt: die


Forschungsgruppe,
bestehend aus Runita
Shirdhankar, Alessia
Atzori, Pascal
Malkemper, Georgina
Fenton, Li Zhang und
Sybille Wolf-Kümmeth.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


IM FOKUS

Experiment im Labyrinth zeigen. deren Punkt aktiv werden, wenn wir lediglich das Ma-
Auf den Punkt Tiere, die einmal gelernt haben, im gnetfeld ändern. Dann wüssten wir, dass die Ortsge-
gebracht Labyrinth eine Kammer mit Futter dächtniszellen Informationen von einem anderen Zell-
zu lokalisieren, brauchen sehr viel typ im Gehirn erhalten, der die Richtung des Magnet-
Die Forschenden möchten
verstehen, wo und wie länger, um den Weg zum Futter zu feldes verarbeitet. Nach diesen Zellen suchen wir“, er-
magnetische Informationen finden, wenn das künstliche Magnet- klärt Malkemper. Bei der Suche nach diesen Zellen in
im Gehirn des Grau- feld um das Labyrinth verändert und anderen Gehirnregionen helfen Malkemper und sei-
mulls verarbeitet werden. damit ihre Orientierung durchein­ nem Team Proteine, die immer dann gebildet werden,
andergebracht wird. Aber nicht nur wenn eine Nervenzelle aktiv ist. Um diese sichtbar zu
Erste Befunde deuten darauf hin,
dass die Sinneszellen für den
die Richtung des Erdmagnetfeldes machen, markieren die Forschenden sie mit fluoreszie-
Magnetsinn in den Augen liegen. könnte den Graumullen in der Natur renden Farbstoffen und machen das Gehirn anschlie-
als Orientierunghilfe dienen. Eine ßend durchsichtig. Unter dem Mikroskop verraten
noch offene Frage ist, welche Rolle sich durch das Magnetfeld aktivierte Nervenzellen
lokale magnetische Anomalien spie- dann durch ihr Leuchten. „Erste Ergebnisse deuten
len, die in der Natur etwa durch Eisenerze hervorge­ darauf hin, dass mehrere Regionen an der Verarbei-
rufen werden. Sie könnten den Tieren als magnetische tung des Magnetsinns beteiligt sind, unter anderem
Landmarken dienen. In der Magnetfeldkammer am der Hippocampus und der vordere Teil der Vierhügel-
Max-Planck-Institut in Bonn lassen sich auch solche platte im Mittelhirn. Dort werden bei anderen Säugern
magnetischen Anomalien erzeugen. „Wir wollen testen, die Informationen verschiedener Sinne integriert“,
ob derartige Anomalien den Tieren das Navigieren im sagt Malkemper.
Labyrinth erleichtern. So wie Markierungen oder
Schilder an den Wänden eines Labyrinths einem Men-
schen bei der Orientierung helfen würden. Dafür kön- Zellen mit Eisenpartikeln
nen wir das Magnetfeld in Echtzeit verändern, abhän-
gig von der Position des Tieres im Labyrinth – sozusa- Von diesen Arealen ausgehend, wollen Malkemper und
gen Virtual Reality für Graumulle“, sagt Malkemper. sein Team die Sinneszellen – also das eigentliche Kom-
passorgan – finden, mit denen die Graumulle ein Ma-
Pascal Malkemper und sein Team wollen herausfinden, gnetfeld wahrnehmen können. Gesucht sind Zellen, 41
wie die Graumulle das Magnetfeld wahrnehmen und die winzige magnetische Eisenpartikel enthalten.
welche Gehirnregionen die Signale verarbeiten. Dazu Diese Magnetnadeln aus Eisenoxid sind jedoch nur
messen die Forschenden die Aktivität von Nervenzel- wenige millionstel Millimeter groß. Statt sie direkt zu
len in einer Gehirnregion, die als Hippocampus be- suchen, wollen sich die Forschenden daher von den
kannt ist und große Bedeutung für die räumliche Ori- Gehirn­ arealen zu den Sinneszellen leiten lassen.
entierung hat. Hier werden Informationen vom Kurz- Farbstoffe markieren die Nervenzellen und ihre Fort-
ins Langzeitgedächtnis überführt – der Hippocampus sätze. An diesen Fortsätzen wollen sich die Forschen-
ist also sozusagen der Arbeitsspeicher des Gehirns. den von Nervenzelle zu Nervenzelle entlanghangeln,
bis hin zum Ursprung des Magnetsignals: den Magnet-
Die Doktorandin Runita Shirdhankar sucht im Hippo­ sinneszellen. Einen ersten Hinweis auf den Sitz des
campus nach sogenannten Ortsgedächtniszellen und Magnetsinns hat das Team bereits: Durch die vorüber-
analysiert sie. Jede dieser auch place cells genannten gehende Betäubung der Augen lässt sich auch der Ma-
Nervenzellen ist an einer bestimmten Stelle im Laby- gnetsinn abschalten. „Die Augen müssen also in ir-
rinth aktiv. „Die Frage ist, ob die Zellen an einem an- gendeiner Form an der Wahrnehmung von Magnet­
feldern beteiligt sein“, sagt Pascal Malkemper.

Sind die Sinneszellen für die Magnetinformationen erst


einmal gefunden, wollen die Forschenden ihre Funkti-
onsweise untersuchen und die Gene identifizieren, die
die Wahrnehmung von Magnetfeldern ermöglichen.
„Die Augen sind wahr- Diese würden den Forschenden auch verraten, wie sich
der Magnetsinn bei Säugetieren entwickelt hat. Darü-
scheinlich an der ber ließe sich besser abschätzen, ob und wie sich die
elektromagnetischen Felder in der modernen, vom
Wahrnehmung von Menschen geprägten Natur auf Tiere auswirken. Und
schließlich könnten die Graumulle in Malkempers
Magnetfeldern beteiligt.“ Labor Antworten auf die Frage liefern: Haben auch
Primaten, zu denen ja wir Menschen gehören, einen
unbewussten Magnetsinn?
Pascal M alkemper www.mpg.de/podcasts/sinne

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Als Grundschüler lernte Krishna Gummadi, neben
der Schule, Musikinstrumente zu spielen und
zu programmieren. Die Musik gab er bald auf, das
Programmieren wurde seine Berufung. Heute
erforscht er als Direktor am Saarbrücker Max-
Planck-Institut für Softwaresysteme unter ande- Krishna Gummadi ist Direktor am Max-Planck-
rem, warum künstliche Intelligenz oftmals ge- Institut für Softwaresysteme in Saarbrücken. Er
hat sich lange Zeit mit verteilten Rechennetzen,
nauso diskriminierende Entscheidungen trifft wie
dem Cloud-Computing oder dem sicheren Daten-
Menschen und wie sich das verhindern lässt. verkehr im Internet beschäftigt. Seit einiger Zeit
interessiert ihn vor allem die Verschmelzung von
Gesellschaft und Technik. Er nennt das Social
Text: Tim Schröder Computing. Immer häufiger wird – auch in der
42 Öffentlichkeit und den Medien – diskutiert, in-
wieweit die Entscheidungen der „soziotechni-
schen Systeme“ ungerecht sind und Menschen
­benachteiligen können. Krishna Gummadi geht
Als Anfang der 1990er-Jahre die ersten Algorithmen diesen Algorithmen auf den Grund.
auf den Markt kamen, die an die Intelligenz des
Menschen heranreichten, war die Begeisterung Bekannt wurde vor wenigen Jahren die KI-Software
groß. In Banken übernahmen sie die zeitraubende Compas (Correctional Offender Management
Aufgabe, die Handschrift auf Schecks zu entzif- Profiling for Alternative Sanctions) aus den USA,
fern. Andere Algorithmen erkannten erstmals Ge- die das Rückfallrisiko von Straftätern verlässlich
genstände auf Bildern – Fußbälle auf dem Rasen berechnen sollte. Für die Risikobewertung nutzte
zum Beispiel. Computer waren damit nicht mehr die Software nicht nur Angaben über die Schwere
nur ausführende Organe, mathematische Roboter, der Straftat und über Vorstrafen, sondern auch
die wie der Schachcomputer einfach in Sekunden- persönliche Daten wie das Alter. Und obwohl die
schnelle Tausende von Varianten durchspielen. Softwaredesigner dies bestritten, griff das Pro-
Jetzt konnten sie sogar Dinge erkennen und inter- gramm auch auf das Vorstrafenregister naher Ver-
pretieren. Inzwischen nehmen Algorithmen dem wandter zu sowie auf Informationen über Alkohol-
Menschen längst viele Entscheidungen ab, und oft oder Drogenmissbrauch in der Familie, soziale
genug ist das umstritten: Algorithmen filtern aus Bindungen, Freunde oder die finanzielle Situa-
Bewerbungen die besten Kandidaten für eine tion. Auch verarbeitete die Software Charakter-
Stelle heraus. Andere erspüren die Vorlieben von merkmale wie die Tendenz zu Wut und Aggres-
Internetkäufern, um gezielt Werbung zu schalten. sion. In vielen Bundesstaaten fällten Gerichte auf
Damit greift die künstliche Intelligenz (KI) tiefer Basis schlechter Compas-Bewertungen besonders
denn je in unseren Alltag, in unsere Gesellschaft harte Urteile. Experten des Recherchenetzwerks
ein. „Die künstliche Intelligenz hat sozio­technische ProPublica untersuchten die Compas-Ergebnisse
Systeme hervorgebracht, die einen ganz erhebli- genauer – und veröffentlichten schließlich eine
chen Einfluss auf unser Zusammenleben haben“, Studie, die Schlagzeilen machte. Sie zeigte, dass
sagt Krishna Gummadi. „Mich interessiert, wel- die Compas-Algorithmen farbigen Angeklagten
che Probleme das mit sich bringt und wie man ein höheres Risiko attestierten, erneut straffällig
diese lösen kann.“ zu werden, als dies tatsächlich der Fall ist. Bei wei-

Max Planck Forschung · 4 | 2022


besuch
bei

Krishna
Gummadi

43
F o t o: A n na Z i egler f ü r M PG

Grenzgänger: Krishna Gummadi forscht an der Schnittstelle von Informatik und


Sozialwissenschaften. Er untersucht etwa die gesellschaftlichen Auswirkungen künstlicher Intelligenz.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Besuch bei

F o t o: A n na Z i egler f ü r M PG

44

Auf Fairness programmiert:


Manchmal treffen künst-
liche neuronale Netze
diskriminierende Entschei-
dungen. Krishna Gummadi
erweitert die Algorithmen,
um das künftig zu verhindern.
F o t o: A n na Z i egler f ü r M P G

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Besuch bei

ßen Angeklagten war es umgekehrt: Compas gab wir möglichst breit ausgebildet werden“, erzählt er.
häufiger zu positive Prognosen. KI-Algorithmen „Unser Vater hat uns schon im Grundschulalter zu
wie die von Compas basieren auf Verfahren des ma- diversen Kursen angemeldet – zu einem Gitarren-
schinellen Lernens. kurs zum Beispiel, einem Querflötenkurs und auch
zu einem Informatikkurs, in dem wir schon erste
Sie werden stets mit Daten aus der Realität gefüttert kleine Sachen programmierten.“ Querflöte und Gi-
und trainiert, um dann selbstständig Entscheidun- tarre gab Krishna schnell auf. Die Informatik aber
gen zu treffen. Diese Entscheidungen sind aber nur packte ihn. Nach der Schule machte er – wie etwa
so gut und richtig wie die Daten, mit denen man die 200 000 andere indische Jugendliche seines Jahr-
Algorithmen trainiert. Ein bekanntes Beispiel ist ein gangs – den Eignungstest für die Universität, in
Algorithmus, der gelernt hat, auf Bildern Fußbälle dem verschiedene Fächer abgefragt wurden. Er lan-
zu erkennen. Eine Analyse der Software zeigte, dass dete auf Platz 18. „Das war das große Los, weil die
der Algorithmus die Fußbälle an den Kriterien ersten 20 das Studienfach frei wählen dürfen.“ Er
„schwarz-weiss“, „sechseckig“ und „grün“ identi­ entschied sich für Computer Science and Enginee-
fizierte, weil auf vielen Fotos Rasen zu sehen war – ring und zog nach Chennai, wo er am Indian Insti-
eine Korrelation, die mit den Eigenschaften von tute of Technology den Bachelor machte. Es folgten
Fußbällen nichts zu tun hat. Der Fußball-Algorith- der Master und die Promotion an der University of
mus taugt für eine Anekdote. Der Compas-Algo- Washington in Seattle, wo er mehrere Jahre lang als
rithmus aber hatte schlimme Folgen, weil er farbige wissenschaftlicher Angestellter arbeitete.
Menschen diskriminierte. Letztlich war Compas
mit Daten trainiert worden, die Menschen erhoben Dass er schließlich in Saarbrücken landete, war ein Zu-
hatten – und ganz offensichtlich waren diese Daten fall. „Ich habe mich 2005 bei verschiedenen Univer-
so tendenziös, dass sie Farbige benachteiligten. „Wir sitäten um eine Festanstellung beworben – unter an-
nennen so etwas einen Bias, eine Verzerrung der derem an der Rice University in Houston. Meine
Daten“, sagt Krishna Gummadi. „Im Grunde hat- Unterlagen bekam Peter Druschel in die Finger, der
ten es die Entwickler von Compas ja gut gemeint. damals dort arbeitete.“ Druschel ist Gründungs­
Sie wollten die Risikoeinschätzung objektiver ge- direktor des Max-Planck-Instituts für Software­
stalten, indem sie den Computer die Arbeit machen systeme. Er war von Gummadis Arbeiten begeistert 45
ließen.“ Menschen können voreingenommen sein. und fragte diesen, ob er sich vorstellen könne, nach
Der Computer ist es nicht, so dachte man. Saarbrücken zu ziehen. Erst zögerte Gummadi,
nach Deutschland zu wechseln. Schließlich sagte er
Ähnlich war es vor einigen Jahren bei einer US-Soft- zu: Peter Druschel hatte ihm eine Tenure-Track-
ware, die aus vielen Bewerbungen automatisch die Stelle angeboten – eine Festanstellung, die in eine
geeigneten Personen herausfiltern sollte. Es zeigte Professur münden kann. Dass Krishna Gummadi
sich, dass sie Frauen deutlich seltener als geeignet einmal Direktor am Institut sein würde, war damals
vorschlug. „Wir wollen verstehen, wie die Algorith- nicht abzusehen – und auch nicht, dass er so lange in
men arbeiten, damit solche Schwächen ausgebügelt Saarbrücken bleiben würde. „Doch die Stadt ist er-
werden“, sagt Krishna Gummadi. Auf die Frage, ob staunlich international, vielleicht wegen der Nähe
er sich mit Benachteiligung beschäftigt, weil er viel- zu Frankreich. Und dank der anderen Informatik-
leicht selbst schon einmal Opfer von Diskriminie- institute auf dem Campus gibt es hier eine hohe
rung war, schüttelt er den Kopf. „Nein, ich interes- Dichte an Fachkollegen.“ Zusammen mit seiner
siere mich einfach für viele verschiedene Themen – Frau wohnt er an der Saar in einem Dörfchen, des-
die Verbindung von gesellschaftlichen Aspekten sen größerer Teil in Frankreich liegt. Und noch ei-
und Informatik macht mir großen Spaß.“ Krishna nes gefällt ihm besonders – die cuisine in der Region.
Gummadi lächelt, während er von seiner Arbeit er- Wie es derzeit aussieht, ist Krishna Gummadi ge-
zählt. „Ich arbeite wirklich gern, und tatsächlich kommen, um zu bleiben.
habe ich ansonsten nicht allzu viele Hobbys.“
Und das, obwohl er längere Gespräche nach so vielen
Krishna Gummadi ist in der indischen Großstadt Hy- Jahren in Deutschland noch immer lieber auf Eng-
derabad aufgewachsen. Seinem Vater war es wichtig, lisch führt. „Das Institut ist so international, dass
dass die beiden Söhne eine gute Ausbildung beka- hier alle Englisch sprechen. Da bekommt man im
men. Er selbst war der Erste in der Familie gewesen, Alltag nur wenige Chancen zum Üben.“ Natürlich
der studierte; er hatte seinen Bachelor als Ingenieur spricht er beim Einkaufen Deutsch. Aber da seine
gemacht. Mehr war damals nicht drin - nach dem Frau ebenfalls aus Indien kommt, gibt es zu Hause
Bachelor musste er Geld verdienen. Krishna und keinen Grund, Deutsch zu sprechen. Als vor Kur-
sein Bruder sollten es im Leben weiterbringen. zem eine neue Doktorandin fragte, ob man in
„Unsere Eltern haben sich darum gekümmert, dass Deutschland auch ohne Deutsch überleben könne,

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Besuch bei

lachten die Mitarbeitenden in Krishna Gumma- denen sie angehören oder als denen zugehörig sie
dis Arbeitsgruppe. „Dafür sei ich ja das beste Bei- wahrgenommen werden.“ Die Informatik muss
spiel, meinten sie.“ Bezüge wie „auf Grundlage von Gruppen“ oder
„zugehörig“ in Algorithmen gießen – eine Abstrak-
Seit etwa fünf Jahren beschäftigt sich Krishna Gum- tionsaufgabe, die zunächst nichts mit Bits, Einsen
madi mehr und mehr mit dem Social Computing. und Nullen zu tun hat. „Wir haben lange überlegt,
Bei der Entwicklung von KI-Algorithmen, die mit wie man Diskriminierung abstrahieren könnte,
maschinellem Lernen arbeiten, gibt man dem um in Zukunft diskriminierungsfreie Algorith-
Computer ein Ziel vor und lässt die Algorithmen men zu entwickeln. Dabei sind wir schließlich auf
dann einfach machen. „Wir nennen das den dekla- den Aspekt der Neidfreiheit gestoßen“, erzählt
rativen Ansatz, bei dem ich nur das Ziel definiere Krishna Gummadi. Die Zugehörigkeit zu Grup-
– zum Beispiel ,Suche die beste Bewerbung aus‘. pen werde unter anderem dann problematisch,
Der Weg über einzelne Entwicklungsschritte inte- wenn die eine Gruppe bevorzugt und die andere
ressiert nicht“, sagt Krishna Gummadi. Zu den benachteiligt werde – so etwas könne Neid erzeu-
Werkzeugen, die dabei zum Einsatz kommen, ge- gen. Und das lasse sich durchaus mathematisch
hören unter anderem die sogenannten tiefen neu- ausdrücken.

„Inzwischen ist klar, dass wir bei


soziotechnischen Systemen Probleme auch
informatisch lösen müssen.“
46

ronalen Netze. Zwar liefern diese Algorithmen Krishna Gummadis Social Computing geht über das
und neuronalen Netze Ergebnisse, aber man kann Thema Diskriminierung hinaus. Ihn interessiert,
nicht mehr nachvollziehen, auf welche Weise der wie Algorithmen in „digitalen öffentlichen Räu-
Computer seine Entscheidung getroffen hat. Das men“ arbeiten – auf Plattformen wie Facebook
Verfahren gleicht einer Black Box. Das wird unter und Tiktok oder bei Onlineversandhäusern wie
anderem dann problematisch, wenn Frauen selte- Amazon. In einer aktuellen Studie hat er zusam-
ner zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden, men mit Forschenden des Indian Institute of
weil der Computer sie vorher aussortiert. Technology untersucht, inwieweit die Algorith-
men der Amazon-Website Firmen benachteiligen.
„Noch vor wenigen Jahren bezweifelten Informatik-­ So ist Amazon längst nicht mehr nur Versand-
Fachleute, dass es sich in solchen Fällen um ein händler. Das Unternehmen stellt auch eigene Pro-
computertechnisches Problem handelt“, erklärt dukte her – und die bietet es in Konkurrenz zu eta-
Krishna Gummadi. „Inzwischen ist klar, dass wir blierten Herstellern an. Gummadis Team unter-
bei soziotechnischen Systemen Probleme auch in- suchte, wie oft auf der Amazon-Seite in dem Fens-
formatisch lösen müssen.“ Statt wie bisher „utili- ter „Andere Kunden kauften auch ...“ Amazon-­
taristisch“ nur ein Ziel zu verfolgen – ein Ergebnis eigene Produkte oder die Ware fremder Hersteller
mit möglichst geringer Fehlerrate anzustreben –, angezeigt wurden. Sie konzentrierten sich dabei
müsse man künftig zusätzliche Ziele definieren; auf Batterien und Rucksäcke. Die Ergebnisse sind
zum Beispiel Ungleichbehandlung und Diskrimi- ernüchternd. Bei den Rucksäcken zeigte Amazon
nierung zu verhindern. Die Herausforderung be- doppelt so häufig eigene Produkte an, was aller-
stehe heute auch darin, dem Computer den sozia- dings nicht illegal ist. Doch hat Amazon einen
len Kontext beizubringen. weiteren großen Wettbewerbsvorteil: Die Firma
gewinnt zugleich unzählige Kunden- und Markt-
Der Begriff Diskriminierung wird unter anderem so daten, die den anderen Anbietenden nicht zur
definiert: „Diskriminierung ist der Akt der Unter- Verfügung stehen. „Das kann auf lange Sicht die
scheidung zwischen Menschen auf der Grundlage Marktposition der anderen schwächen und ist im
der Gruppen, Klassen oder anderer Kategorien, Grunde ein Fall für die Regulierungsbehörden“,

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Besuch bei

sagt Krishna Gummadi. „Amazon kann nicht mand Videos anklickt oder Suchbegriffe eingibt,
gleichzeitig Spieler und der Schiedsrichter sein, lernt die Plattform in kurzer Zeit die Vorlieben ei-
der die Regeln festlegt.“ Er sehe seine Aufgabe ner Person kennen. Wie schnell scrollt jemand
auch darin, solche Missstände wissenschaftlich weiter? Wie lange schaut jemand ein Video an? Be-
fundiert aufzuzeigen. Aktiv werden müssten dann reits nach etwa einer halben Stunde liefert der Al-
allerdings andere. gorithmus passgenaue Videos – und hält die Men-
schen damit auf der Plattform. „Das führt uns zu
Bereits im Jahr 2015 hatte er in einem Projekt zusam- noch ganz anderen Aspekten von Social Compu-
men mit Emilio Zagheni, Direktor am Max- ting“, sagt Krishna Gummadi: „zu der Frage, in-
Planck-Institut für Demografische Forschung in wieweit die direkte, oft emotionale Ansprache zu
Rostock, untersucht, welche Daten Facebook in Suchtverhalten führt, zu Depressionen oder zu
der sogenannten API verwaltet, einer Program- Vereinsamung.“ Das Schöne an der Arbeit im
mierschnittstelle. Über die API können Firmen Saarbrücker Institut sei die Freiheit zu forschen,
Werbung schalten und das Surfverhalten der Nut- ohne gleich Ergebnisse liefern zu müssen, sagt der
zer und potenzieller Interessenten beeinflussen. Wissenschaftler. „Meine Neugierde hat hier alle
Den Forschenden eröffnete sich ein ganzes Uni- Freiheiten – da kann ich fachlich schon auch mal
versum an privaten Daten für sozialwissenschaft­ einen Abstecher machen.“
liche und vor allem demografische Untersuchun-
gen. So konnten die Forschenden Migrationsmus-
ter erkennen und die Wege von Flüchtenden im
Krisenfall nachvollziehen. Sie zeigten zudem,
dass ein böswilliger Werbekunde eine brisante
Menge privater Daten abrufen könnte, einschließ-
lich der Adresse, Telefonnummer und all der per- Vom Algorithmus gefesselt:
sönlichen Angaben aus den Datenbanken, mit de- Soziale Medien wie das
nen Facebook verknüpft ist. „Die Menge an priva- Videoportal Tiktok sind oft
darauf programmiert,
ten Daten, die hier offenlagen, war erschreckend Nutzerinnen und Nutzer
groß“, sagt Krishna Gummadi. „Über die API völlig in den Bann zu ziehen 47
hatten wir Zugriff auf mehrere Tausend Attri- – mit bislang unklaren
bute.“ Gummadi und seine Kooperationspartner psychologischen Folgen.
brachten dazu einen Fachartikel heraus. Mittler-
weile hat Facebook die API-Schnittstelle über­
arbeitet.

„Es ist schon witzig“, sagt er. „Social Computing ist


heute ein heißes Thema – aber im Grunde ist es
ein alter Hut, soziale und technische Aspekte zu-
sammenzuführen.“ So hätten viele große Infor-
matiker der ersten Stunde einen sozialwissen-
schaftlichen Hintergrund – und sich erst später
F o t o: A d obe S t o c k / Nattakor n

mit Themen wie Kognition oder Entscheidungs-


findung beschäftigt und damit den Weg zur
künstlichen Intelligenz geebnet. Insofern schließe
sich heute mit Social Computing der Kreis. Vor
zwei Jahren hat Krishna Gummadi für die Max-
Planck-Gesellschaft ein Symposium zur Schnitt-
menge von Gesellschaft und Computerwissen-
schaften veranstaltet. Das Interesse war riesig. In
kurzer Zeit meldeten sich 270 Teilnehmende aus
verschiedenen Max-Planck-Instituten an.

Auch die Menge an Themen ist riesig. Krishna Gum-


madi und seine Mitarbeitenden stoßen permanent
auf neue Aspekte. Momentan interessiert er sich
dafür, wie der Algorithmus der Social-Media-
Plattform Tiktok arbeitet. Tiktok liefert einen
endlosen Strom an Kurzvideos. Ohne dass je-

Max Planck Forschung · 4 | 2022


48

Bi l d: M PI f ü r M ar i n e M i krobiol o gi e / B e n e di kt Ge i er / M ax i m i l i a n F ra n ke

Max Planck Forschung · 4 | 2022


zweiter
blick
Max-Planck-Institut
für marine Mikrobiologie

Die Tiefseemuschel Bathymodiolus


azoricus ist eine Verwandte der
essbaren Miesmuschel. Sie besiedelt
sogenannte Schwarze Raucher –
hoch aufragende Schlote auf dem
Meeresboden, aus denen bis zu
400 °C heißes, mineralreiches
Wasser ausströmt. Um unter solch
extremen Bedingungen überleben
zu können, ist Teamgeist gefragt:
Die Muschel beherbergt in ihrem
Innern symbiotische Bakterien, die
in der Lage sind, Methan oder
Schwefelwasserstoff aus den heißen
Quellen zur Energiegewinnung zu
nutzen. Die mikroskopisch kleinen
Untermieter treten einen Teil der
Energie an ihren Wirt ab und
bekommen im Gegenzug Logis in
49
einem geschützten Raum, wo sie
von schwefel- und methan-
haltigem Wasser umspült werden.
Das linke Bild gewährt einen Blick
unter die Muschelschale. Rechts
haben Forschende am Bremer
Max-Planck-Institut für Marine
Mikrobiologie die Mikroben
sichtbar gemacht. Diese bilden im
Muschelinnern ausgedehnte
Kolonien, die hier im Fluoreszenz-
licht leuchten.

Bi l d: M PI f ü r M ar i n e M i krobiol o gi e / B e n e di kt Ge i er / M ax i m i l i a n F ra n ke

Max Planck Forschung · 4 | 2022


„Emojis stellen das
recht auf die Probe“
Interview: Barbar a Abrell

Digitale Kommunikation ist anfällig


für Missverständnisse. Das gilt be-
sonders dann, wenn Emojis zum
Einsatz kommen. Denn die beliebten
Piktogramme werden – abhängig
50 von Alter, Geschlecht und kulturellem ehemaligen Chef, der, immer wenn ich Könnten Sie vielleicht ein
Hintergrund – oft völlig unterschied- eine Arbeit gut gemacht hatte, in seinen paar Beispiele für typische Miss-
E-Mails ein verwendete, bis zu den verständnisse nennen?
lich verstanden. Daher beschäftigen Erfahrungen, die ich während der Auf-
sie zunehmend auch die Gerichte – lösung meines Hausstandes sammelte, Ich habe jüngere Brüder. Einer von ih-
etwa wenn Verträge per Mail oder bevor ich von Wien nach Hamburg um- nen hat mir vor Kurzem erklärt, dass das
Messenger zustande kommen oder zog. Viele meiner Inserate im Kleinan- Tränen lachende Emoji von seiner
zeigen-Portal Willhaben, das in Öster- Generation – der Generation Z – gar
Postings als ehrverletzend emp-
reich sehr beliebt ist, wurden mit Emojis nicht mehr genutzt wird. Wenn er sich
funden werden. Matthias Pendl hat wie oder mit diversen Emoji-Gesich- über etwas amüsiert, dann verschickt er
am Max-Planck-Institut für aus- tern kommentiert. Als Jurist habe ich als Reaktion neuerdings einen Toten­
ländisches und internationales Privat- mich gefragt: Waren dies bindende Ver- kopf . Das soll bedeuten: Man lacht
recht in Hamburg die Rolle träge? Dann kam der Lockdown, und ich sich tot über das, was der andere gesagt

Bi l d: A d obe S t o c k / V i lmo s
hatte plötzlich Zeit, an etwas Neuem zu hat. Ich habe ihm geraten, damit in
von Emojis im Recht erforscht.
forschen. Whatsapp vorsichtig zu sein – besonders
wenn er Nachrichten an die Groß­eltern
Als Kommunikationsmittel erset- verschickt ... Die Kommunikation zwi-
zen Emojis oft Intonation, Gestik, schen den Geschlechtern wird häufig
Mimik und andere körpersprach- arbeitsrechtlich relevant. Oft wird bei
Sich mit Emojis zu beschäftigen, liche Elemente. Worin liegen ihre Frauen eine Grenze erreicht, wo es nicht
ist für einen Juristen nicht nahe- Stärken und Schwächen? mehr lustig ist, zum Beispiel wenn sie
liegend. Herr Pendl, was hat von Kollegen das vermeintlich harmlose
Sie motiviert, sich diesem For- Emojis werden so gerne genutzt, weil sie Emoji der Aubergine als Phallussym-
schungsthema zu widmen? die Kommunikation mit emotionalen bol geschickt bekommen oder das Pfir-
Aspekten anreichern. Die Schwierigkeit sich-Emoji als anzügliche Anspielung
Matthias Pendl Tatsächlich wa- liegt allerdings darin – und da kommen auf den menschlichen Po. Im E-­Mail-
ren meine Bedenken zu Beginn: Wird wir auch gleich zum juristischen Prob- Austausch mit einem Gastwissenschaft-
mein etwas eigentümliches Forschungs- lem –, dass die Interpretation nicht ganz ler aus China ist mir kürzlich aufgefallen,
interesse in Fachkreisen gut aufgenom- einfach ist. In unterschiedlichen Kon- dass Emojis, die ich ihm geschickt habe,
men? Anregungen gab es jedoch er- texten kann ein und dasselbe Emoji so bei ihm gar nicht angezeigt wurden. Ne-
staunlich viele. Angefangen bei meinem oder so verstanden werden. ben den Missverständnissen, zu denen

Max Planck Forschung · 4 | 2022


wissen
Aus
Kultur & Gesellschaft

51

Facettenreiches Emoji:
Ist hier jemand in Ge-
danken versunken, denkt
er über Gesagtes nach,
hinterfragt er es, oder hält
er es gar für fragwürdig?
Je nach Kontext wird
ein und dasselbe Pikto-
gramm ganz unterschied-
lich interpretiert.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


wissen aus

Ob Verträge per E-Mail oder


Messenger-App zustande kommen,
dafür kann die Interpretation von Emojis,
Emojis zur Schlüsselfrage werden. Emoticons & Co.

Emojis und Emoticons sind


nur auf den ersten Blick
ähnlich. Emoticons bestehen
aus Punkten, Strichen, Klam-
Was sagen Sie zu diesem Angebot? mern, Buchstaben und Zahlen
und ergeben – seitwärts
Bi l d: G CO nac h M P G

gelesen – ein Symbol, das eine


bestimmte Mimik wider-
spiegelt. Der Begriff setzt sich
aus den englischen Wörtern
emotion für „Gefühl“ und icon
für „Symbol“ zusammen.
Perfekt Bekannte Beispiele sind neben
dem lachenden Gesicht :-)
etwa das traurige :-(, das
zwinkernde ;-) oder auch das
erstaunte :-O. In anderen
Kulturkreisen werden häufig
ganz andere Emoticons
Ist hier ein Vertrag zustande gekommen? verwendet, zum Beispiel in
Japan Kaomojis, die auch ganz
anders aussehen. Für einen
glücklichen Gesichtsausdruck
steht beispielsweise .

Emojis hingegen sind bunte


es sehr oft kommt, wenn Menschen aus Dass die Gerichte in diesen Piktogramme oder Ideo-
unterschiedlichen Kulturkreisen kom- Bereichen mit Emojis konfrontiert gramme – wie beispiels-
52 munizieren, stößt man bei der Verwen- werden, ist nachvollziehbar. weise und . Sie werden
dung von Emojis auch noch auf techni- Aber spielen Emojis auch im
durch eine einheitliche
Codierung, den Unicode,
sche Hürden – besonders wenn unter- Strafrecht eine Rolle?
bestimmt. Dieser bildet die
schiedliche E-Mail-Programme genutzt technische Grundlage für
werden. Ja, eine große Rolle sogar. In den Verei- Text und Symbole in moder-
nigten Staaten gibt es eine traurige An- ner Software und regelt
Welche Relevanz haben Emojis in zahl an Berichten darüber, wie über die die Verwendung in digitalen
Medien. Inzwischen gibt
der Rechtsprechung? Gibt es digitale Kommunikation mit Emojis an
es viele animierte Emojis,
einen Trend, den Sie beobachten? Schulen Gewalt angedroht wurde. In ei- die sich bewegen – die zum
nem Fall des kalifor­nischen Court of Beispiel die Augen rollen
Emojis stellen das Zivilrecht auf die Appeal beispielsweise hatte eine Minder- oder einem aktiv zuzwinkern.
Probe: Gerichtsentscheidungen, in de- jährige in ihren Tweets suggeriert, an ih-
nen Emojis eine wichtige Rolle spielen, rer Schule einen Amoklauf begehen zu
nehmen quantitativ zu. Auch in wollen. Ihrer Verteidigung, die zahlrei-
Deutschland ist diese Tendenz nicht zu chen benutzten lachenden Emojis seien
übersehen, wenngleich hierzulande die doch das Zeichen, dass es sich lediglich
meisten veröffentlichten Urteile Verlet- um einen Scherz gehandelt habe, folgte hatte: „You have 12 hours to find me, be-
zungen des Persönlichkeitsrechts betref- das Gericht nicht und ging stattdessen fore I find you.“ Zusätzlich hatte er die
fen oder aus dem Arbeitsrecht stammen. von bewusst ausgesprochenen Drohun- Nachricht mit verschiedenen Emojis
Ein Beispiel ist ein Verfahren vor dem gen aus. Ihr Bedrohungspotenzial ent- versehen, die unter anderem Bomben ,
Landesarbeitsgericht Baden-Württem- falten Emojis auch sehr häufig nach ge- Pistolen , Messer und Nadeln
berg. Dabei ging es um eine außeror- scheiterten Beziehungen. Ein Franzose zeigten.
dentliche Kündigung, die wegen öffent- soll beispielsweise zu einer Haftstrafe
lich einsehbarer Kommentare auf Face- verurteilt worden sein, weil er seiner Die Gerichtsurteile bilden die
book ausgesprochen wurde. Unter Ex-Freundin ein Pistolen-Emoji ge- farbigen Piktogramme nur selten
anderem stand dort in Anspielung auf schickt hatte, welches das Gericht als ab; sie verwenden lediglich das
einen Vorgesetzten: „Das fette dreht Todesdrohung wertete. In Kalifornien Wort „Emoji“– häufig in eckigen
durch!!! “ Das Gericht wertete wurde ein Mann verurteilt, der seine Klammern geschrieben – oder
dies als grobe Beleidigung. Die Kündi- ehemalige Lebensgefährtin zunächst „[lachendes Emoji]“, „[trauriges
gung musste allerdings wegen fehlender körperlich misshandelt und ihr anschlie- Emoji]“ oder „[erstaunte Emojis]“.
Abmahnung aufgehoben werden. ßend folgende Textnachricht geschickt Woran liegt dies?

Max Planck Forschung · 4 | 2022


KULTUR & GESELLSCHAFT

Das ist eine wichtige Frage, auf die ich in Großbritannien, Australien, riert dargestellt werden. Leidet
keine eindeutige Antwort habe. Ich war Deutschland, Österreich und dadurch unsere Kommunikation?
selbst nie Richter. Deshalb weiß ich es Israel. Gibt es gravierende
schlicht nicht und kann nur Vermutun- Ich persönlich habe mittlerweile eine
Unterschiede im nationalen Ver-
gen anstellen. Wahrscheinlich ist es zu gleich? sehr positive Einstellung zu Emojis.
aufwendig, die farbigen Piktogramme Indem man die Schriftsprache mit
einzubinden – ich kenne nur einen Fall, Für einen direkten Vergleich ist die Da- emotionalen Elementen anreichert, ge-
in dem ein Screenshot verwendet wurde tenlage noch zu dünn. In Deutschland winnt unsere Kommunikation mehr,
–, zumal die Urteile meist schwarz-weiß beispielsweise gab es bislang auch kaum als dass sie darunter leidet. Aber je
sind, wenn sie ausgedruckt werden. Untersuchungen dazu. Deshalb habe ich nachdem, wen Sie fragen, werden Sie
versucht, diese Lücke zu schließen. Ge- wahrscheinlich unterschiedliche Ant-
Oder das Urteil selbst wirkt nerell ist der Diskurs unterschiedlich worten erhalten.
weniger seriös … weit fortgeschritten: Vor allem in den
USA, aber auch in Kanada existiert ein Wie beurteilen Sie die mini-
Ja, diese Befürchtung könnte auch beste- deutlich größeres Bewusstsein für die malistische Tendenz, auf eine
hen. Emojis werden bisweilen als nicht Bedeutung von Emojis in der Kommu- Mitteilung lediglich mit
formell genug für den juristischen nikation. Hier wird – ähnlich wie in Aus- einem Emoji zu reagieren?
Sprachgebrauch eingeschätzt. Das halte tralien – die Literatur auch in den Urtei-
ich jedoch für problematisch. Wenn len rezipiert und genauer auf das Phäno- Hier sehe ich keinen umfassenden Trend.
Emojis in einem Fall entscheidend sind, men eingegangen. Allerdings gibt es durchaus Lingu­isten,
ist es wichtig zu wissen, wie sie tatsäch- die Emojis das Potenzial zuschreiben,
lich aussehen, sonst gehen wesentliche Social-Media-Plattformen, eine alternative Sprache auszuformen.
Informationen verloren. Messengerdienste aber auch Doch das ist – soweit ich verstanden
Videoplattformen propagieren habe – ein sehr umstrittenes Feld.
Sie haben die Rechtsprechung in den Einsatz von Emojis, manche
sieben verschiedenen Ländern belohnen ihn sogar, indem Bei- Herzlichen Dank für das
untersucht – in den USA, Kanada, träge, die Emojis enthalten, präfe- Gespräch!

53

Verwendung von Emojis in Deutschland

weiSS nicht / keine ANgabe Mehrmals Täglich


70 % 47 %
5% 22 % In Messenger- In sozialen
diensten Netzwerken
Bi l d: G CO nac h Bi tkom R esearc h 2 021

Nie
30 % 17 %
17 % Täglich
In von Hand ge-
schriebenen Brie- In SMS
fen / Postkarten
19 %
Seltener
17 % 13 %
15 % In Chats,
Foren, Blogs
In E-Mails

Einmal pro Woche Mehrmals pro Woche


7%
Sonstiges, z.B.
11 % 12 % Post-its / Notizzettel

Befragt wurden 1004 Personen in Deutschland ab 16 Jahren. Befragt wurden 788 Personen in Deutschland,
Quelle: Bitkom Research 2021 die Emojis nutzen; Mehrfachnennungen möglich.
Quelle: Bitkom Research 2021

Der Interessenverband Bitkom, der mehr als 2000 Unternehmen der


Informations- und Telekommunikationsbranche vertritt, führt regelmäßig
Umfragen zu digitalen Themen durch. Die beiden Erhebungen aus dem
letzten Jahr zeigen, wie häufig die Deutschen Emojis einsetzen - nicht nur in
elektronischen Medien, sondern auch handschriftlich.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


wissen aus

F o t o: F r i tz - H aber- I nst i tut der M P G


54

Vielseitige Forschungsstation:
In dieser Vakuumapparatur
kann das Berliner Max-Planck-
Team Experimente mit
verschiedenen Instrumenten
verfolgen. Die stählerne
Halbkugel oben enthält den
Analysator, der die Energie von
Fotoelektronen bestimmt.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Material & Technik

Treibhausgas
unter Strom
Text: K arl Hübner

Aus dem Treibhausgas Kohlendioxid


sollen künftig wichtige Chemikalien
und Kraftstoffe entstehen. Die 55
Chemie würde damit einen großen
Schritt hin zu einer nachhaltigen
Kreislaufwirtschaft machen. Die
Gruppe von Beatriz Roldán Cuenya CO2 dann nicht unmittelbar entwei- merkomponente üblicherweise ge-
am Berliner Fritz-Haber-Institut der chen, und zweitens ließen sich fossile wonnen wird. CO2 chemisch zu nut-
Max-Planck-Gesellschaft erforscht, Rohstoffe sparen. zen ist allerdings nicht trivial, weil es
ein sehr stabiles Molekül ist. Man
wie sich das bewerkstelligen lässt.
Weltweit und auch in der Max-Planck- muss einiges an Energie zuführen,
Gesellschaft arbeiten Forschungs- um es in Reaktionslaune zu versetzen.
gruppen daran, Kohlendioxid als So findet die genannte Methanol­
Rohstoff für nützliche Chemikalien synthese bei hohem Druck und hoher
Die CO2-Konzentration in der Atmo- zu verwenden (siehe MaxPlanckFor- Temperatur statt. Es gibt jedoch auch
sphäre steigt unaufhaltsam – mit den schung 3/2021). Industriell wird das den Ansatz, CO2 nicht mit thermi-
bekannten Folgen fürs Klima. Diesen Gas bereits zusammen mit Wasser- scher Energie, sondern durch elektri-
Trend zu stoppen, ist eine Mammut- stoff zu Methanol umgewandelt, ei- sche Energie zur Reaktion zu bringen.
aufgabe. In einigen Bereichen wie nem wichtigen Grundstoff der che- Dieser elektrokatalytische Weg ist
etwa der Müllverbrennung oder der mischen Industrie. Im Einsatz ist da- vergleichbar mit der elektrolytischen
Zementproduktion lässt sich aller- rüber hinaus ein Verfahren, das eine Wasserstofferzeugung aus Wasser.
dings kaum vermeiden, dass Kohlen- Gruppe um Walter Leitner, Direktor Idealerweise sollte der benötigte
dioxid entsteht. Immerhin könnte am Max-Planck-Institut für Chemi- Strom natürlich jeweils „grün“ sein,
man das Gas aber dort einfangen, wo sche Energiekonversion, gemeinsam also aus Solar- oder Windenergie
es frei wird. Und dann etwa in unter- mit einem Team der heutigen Coves- stammen.
irdischen Lagerstätten entsorgen. tro AG entwickelt hat. Damit wird
Oder es könnte als Rohstoff für die schon seit einigen Jahren ein Polymer Ein mögliches Produkt der CO2-Elekt-
Synthese von Kraftstoffen und Che- für die Herstellung von Schaumstof- rolyse ist Kohlenmonoxid (CO). Zu-
mikalien dienen – eine Art Kohlen- fen für Matratzen teilweise aus CO2 sammen mit Wasserstoff, der auch re-
stoffrecycling also. Eine solche CO2- gewonnen (siehe MaxPlanckForschung generativ erzeugt sein sollte, lassen
neutrale Produktion hätte gleich zwei 2/2019). Das spart einen Teil des Erd- sich aus diesem Gas zahlreiche wich-
positive Effekte: Erstens würde das öls, aus dem die entsprechende Poly- tige Grundstoffe der Chemie gewin-

Max Planck Forschung · 4 | 2022


wissen aus

CO2
Abscheidung
und
Speicherung

CO2
CO2 Wassergas-Shift
+
Elektrolyse
Fischer-Tropsch
Pfade des CO2-Recyclings:
CO2 lässt sich entweder
direkt aus Verbrennungsab-
gasen oder aus der Luft
abscheiden. Mit Wasser-
stoff, der mit regene-
rativem Strom erzeugt
werden sollte, lässt sichC H OH
2 5 C x Hy
CO2 über die Wasser- Ethanol Kohlenwasserstoffe
gas-Shift- und Fischer-
Tropsch-Reaktion oder
elektrochemisch in CO2
Chemikalien für die
Industrie und Treibstoffe
56 umwandeln.

Verbrennungs-
Industrie motoren

nen – und das in einer bereits existie- ausschließlich aus fossilen Rohstoffen stoff und Sauerstoff gespalten wird.
renden industriellen Infrastruktur. hergestellt. Ethanol wiederum eignet Für die Wasserspaltung sucht Beatriz
Doch daneben gibt es auch die Idee, sich aufgrund seiner guten Verbren- Roldán Cuenyas Team aktuell nach
manche dieser Grundstoffe direkt nungseigenschaften als Kraftstoff Kataly­satoren, welche das für die
elektrokatalytisch aus CO2 (und Was- und wird bereits heute Superbenzin Sauerstoff­bildung gängige, jedoch
Graf i k : G CO nac h B eatr i z Rol da n / F H I , i st o c k

ser) zu erzeugen. Daran forscht auch beigemischt. Für Roldán Cuenya teure Iridium ersetzen könnten. Das
das Team von Beatriz Roldán Cuenya, sind Ethanol und Ethylen auch auf Ziel: die gesamte Elektrolyse und da-
Direktorin am Berliner Fritz-Haber- lange Sicht „unverzichtbare moleku- mit auch die Wasserstoffsynthese
Institut der Max-Planck-Gesellschaft. lare Bausteine der Chemie“. Sie fos- wirtschaftlicher zu machen. Grüner
Die Forscherinnen und Forscher ha- silfrei aus CO2 und grünem Wasser- Wasserstoff ist ein großer Hoffnungs-
ben dabei insbesondere Ethylen (auch stoff zu erzeugen, hält die Physikerin träger, der einmal in sehr vielen Be-
als Ethen bekannt) und Ethanol im aus diesem Grund für eine „vorran- reichen fossile Rohstoffe ersetzen soll
Blick. „Gerade die sind sehr interes- gige Aufgabe im Rahmen der chemi- – zum Beispiel in der Stahl- oder der
sant, weil sie einen hohen Energie­ schen Energiekonversion“. Chemieindustrie. Auch grünes Am-
gehalt haben und sich leicht lagern moniak ließe sich damit synthetisie-
lassen“, erklärt Roldán Cuenya. Ethy- Aus wissenschaftlicher Sicht geht es vor ren und könnte auf diese Weise als
len sei zudem die Ausgangssubstanz allem darum, für die Erzeugung von Speicher für (grünen) Wasserstoff
für den mengenmäßig bedeutendsten Ethylen und Ethanol passende Kata- und dessen Transport mit Tankern
Kunststoff Polyethylen (PE) und lysatoren zu entwickeln. Das machen und durch Pipelines fungieren. Da-
auch ein wichtiger Baustein für viele die Berliner nicht nur für die Elektro­ neben ist Ammoniak der zentrale
Chemikalien in völlig unterschiedli- lyse von CO2, sondern etwa auch für Ausgangsstoff für die Herstellung
chen Branchen. Bislang wird Ethylen die von Wasser, das dabei in Wasser- von Kunstdünger.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Material & Technik

chen Katalysatoren seien viel kleiner deln. Nur an Kupfer kommt es im


und für das menschliche Auge un- Laufe der Elektrolyse zu der nötigen
sichtbar. Kohlenstoff-Kohlenstoff-Kopplung.
Ganz offenbar sind die Abstände der
An einem Computer neben der Appara- Kupferatome im Kupfermetallgitter
tur ruft die Chemikerin mit ein paar sowie die Stärke der Bindungen zwi-
Klicks Messkurven auf, die Auskunft schen Kupfer- und Kohlenstoffato-
über die entstandenen Produkte ge- men dafür optimal.
ben. „Hier, das ist Ethylen“, sagt
Clara Rettenmaier und zeigt auf ei- Anders als in der Vorführapparatur fin-
nen Peak. Dann wandert ihr Finger den die eigentlichen Versuche nicht
weiter. „Das ist Methan, dort Koh- mit einer Kupfermünze, sondern mit
Grüne elektrische lenmonoxid und hier vorne Wasser- winzig kleinen Kupferwürfelchen
Energie
stoff“, benennt sie einige der weiteren statt. Diese sogenannten Nanocubes
Ausschläge. stellt das Berliner Team selbst her.
H2 Von den Würfeln müsste man etwa
tausend aneinanderreihen, um auf
Suche nach dem den Durchmesser eines Haares zu
Wasser-
elektrolyse
selektiven Prozess kommen. Daher hat das Kupfer in
dieser Form pro Gramm eine viel
größere Oberfläche als die Cent-
Damit ist das Problem umrissen, mit münze. An der gleichen Menge Kup-
dem die Gruppe noch kämpft. „Prin- fer kann damit viel mehr CO2 reagie-
zipiell können aus CO2 eine ganze ren. Die Forschenden fixieren die
Reihe von Verbindungen entstehen, Katalysatorwürfelchen direkt auf der
leider oft gleichzeitig“, erklärt Beatriz Elektrode, die sie dann in CO2-durch-
H2O Roldán Cuenya. Dass die angelegte strömtes Wasser halten, dessen Elek- 57
Spannung auch Wasser in Wasser- trolyseeigenschaften durch gelöstes
stoff und Sauerstoff spaltet, ist ein Kaliumsalz verbessert werden.
weiteres Problem. Weil Produktge­
mische die Weiterverarbeitung auf-
wendig und teuer machen, sei es für
ein ökonomisch lohnendes Verfahren
wichtig, eine einzige gewünschte Sub-
stanz in möglichst hoher Ausbeute zu
Doch zurück zur CO2-Elektrolyse. Die erhalten, erklärt Roldán Cuenya.
gute Nachricht: Es gelingt bereits,
Auf den Punkt
die beiden Wunschsubstanzen Ethy- Die Frage für ihre Forschungsabteilung
gebracht
len und Ethanol elektrolytisch aus ist also: Wie kann man die Elektrolyse
CO2 zu gewinnen. Wie das im kleinen steuern, sodass möglichst viel Ethy- Weltweit arbeiten zahlreiche
Maßstab aussieht, führt Clara Retten- len oder Ethanol entsteht? Klar ist, Forschungsgruppen daran,
maier, Mitarbeiterin in Roldán Cue- das geht nur mit dem richtigen Kata- aus Kohlendioxid Kraftstoffe
nyas Abteilung, in einem der Labore lysator. Dieser hat grundsätzlich die oder Substanzen für die
am Fritz-Haber-Institut vor. Man Aufgabe, die Bindungen in CO2 zu Chemieproduktion zu gewinnen.
sieht ein zylindrisches Glasgefäß mit brechen, bestimmte Zwischenpro- Die Gruppe von Beatriz Roldán
einer farblosen Flüssigkeit, durch die dukte zu stabilisieren und so neue Cuenya versucht, mithilfe der
Gasblasen blubbern. In diese Flüssig- Bindungen zu ermöglichen. Was ge- Elektrolyse gezielt und mit hoher
keit ragt eine Art Stift, an dessen un- nau sich während der Reaktion auf Ausbeute Chemikalien für
terem Ende eine Centmünze mon- der Oberfläche des Katalysators ab- die Industrie und Treibstoffe zu
tiert ist. „Der Stift ist die Elektrode, spielt – das untersucht das Team von erzeugen.
an die wir eine Spannung an­legen, Beatriz Roldán Cuenya. Experimente haben ergeben,
um das CO2, das sich aus den Gasbla- dass sich die Reaktion durch die
sen im Wasser löst, zu reduzieren. Bislang ist Kupfer das einzige bekannte Form und die chemischen Eigen-
Die Kupfermünze ist unser Kataly­ Katalysatormaterial, mit dem es schaften des nötigen Kupfer-
sator“, erklärt die Chemikerin. Die überhaupt gelingt, CO2 elektroche- katalysators bevorzugt zu Ethylen
oder Ethanol steuern lässt.
Münze diene als plakatives Vorführ- misch in Verbindungen mit zwei oder
objekt für Besucher. Die tatsächli- mehr Kohlenstoffatomen umzuwan-

Max Planck Forschung · 4 | 2022


wissen aus

Nanoskopischer
Tastsinn: Felix
Landwehr und Claudia
Khanh-Ly Nguyen
justieren ein Raster-
kraftmikroskop,
mit dem sich Profile
von Oberflächen
erstellen lassen.

F o t o: F H I / J ü rge n L ösel
58

Zwar passt die Elektrolysezelle in eine können, verfügt die Abteilung über Beispiel erkennen, dass die eigentlich
Kaffeetasse, dennoch füllen die Ap- einen enormen Gerätepark, der sich aktiven Zentren des Katalysatorma-
paraturen der Berliner Gruppe ganze über etliche große Labors und sogar terials sich nur unter Reaktionsbe-
Räume. Das liegt daran, dass manche mehrere Gebäude verteilt. Manche dingungen ausbilden und sich dabei
Messmethoden umso mehr Platz be- Methoden, wie etwa die Elektronen- auch noch ständig verändern. Mit-
nötigen, je kleiner die Struktur ist, mikroskopie, haben Beatriz Roldán hilfe der Flüssigphasen-Elektronen-
die man betrachten möchte. Die For- Cuenya und ihr Team eigens so wei- mikroskopie hat das Team inzwi-
scherinnen und Forscher interessiert terentwickelt, dass sie auch in der schen auch andere Veränderungen
schließlich, was mit dem Katalysator wässrigen Umgebung der Elektrolyse des Katalysators während der CO2-
während der Elektrolyse auf atomarer anwendbar sind. Elektrolyse sichtbar gemacht. „Wir
Ebene passiert – also im Bereich von haben beobachtet, dass die Katalysa-
einem millionstel Millimeter. Um Mitunter müssen mehrere Messtechni- torwürfel im Laufe einer Elektrolyse
dies in allen chemischen und physi- ken in einem Experiment kombiniert ihre Form und Größe verändern“, er-
kalischen Details sichtbar machen zu werden. Erst dadurch ließ sich zum klärt Beatriz Roldán Cuenya. Es ist

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Material & Technik

klar, dass derlei morphologische Ver- lysator verändere sich im Laufe einer rungen auf dem Katalysator rückgän-
änderungen auch die katalytischen Reaktion nicht, stimmt also so pau- gig zu machen. Beatriz Roldán Cue-
Eigenschaften beeinflussen. An ei- schal nicht. Anfangs lag der chemi- nya spricht von einem Anti-Aging.
nen möglichen industriellen Routine- sche Kuppler aufgrund des Herstell- Der regelmäßige Vorzeichenwechsel
betrieb wäre daher erst zu denken, prozesses in oxidierter Form vor, bei der Spannung hatte aber noch ei-
wenn man weiß, wie sich die aktiven doch dann wurde er nach und nach nen anderen Effekt: Er wirkte als
Phasen dieser Katalysatoren stabili- bis zu einem gewissen Anteil zu ele- Selektivitätshebel, denn über die
sieren lassen. mentarem Kupfer reduziert. Das Dauer der jeweiligen Pulse lässt sich
Problem: Dieses steuert die Reaktion die Bildung bestimmter Produkte
Eine andere wichtige Sache, die das in eine andere Richtung als das Oxid. fördern. Lange Reduktionspulse etwa
Team herausgefunden hat: Die akti- führen bevorzugt zu Ethylen, lange
ven Zentren des Katalysators für die Oxidationspulse zu mehr Kohlenmo-
unerwünschte Nebenreaktion, bei Anti-Aging für noxid. Kombiniert man wiederum
der aus Wasser Wasserstoff abgespal-
ten wird, sind andere als jene für die
den Katalysator kurze Oxidationspulse mit langen
Reduktionspulsen von mehreren Se-
elektrokatalytische Reduktion von kunden, erhöht dies deutlich die Aus-
CO2. Und die Forschenden haben Doch die Wissenschaftler hatten eine beute an Ethanol.
auch herausgefunden, dass es offen- pfiffige Idee, wie sich die Umwand-
bar eine ideale Würfelgröße gibt. lung zu reinem Kupfer im Reaktions- Was dabei genau geschieht, hat das
„Sind die Würfel zu klein, lösen sie geschehen kontrollieren lässt: Der Team inzwischen dank seiner um-
sich einfach ab und lagern sich an an- Prozess müsste sich nach einer Weile fangreichen Analytik ganz gut sicht-
derer Stelle an“, so Roldán Cuenya. einfach umkehren lassen, indem man bar machen können. So beobachteten
Dies sei ein Nachteil, denn durch die eine Spannung mit umgekehrter Po- die Forschenden, dass dann vermehrt
Zusammenballungen gehe katalytisch lung anlegt. Das sollte die metalli- Ethanol synthetisiert wird, wenn sich
aktive Oberfläche verloren. schen Kupferatome wieder oxidieren dünne, ungeordnete Kupferoxid-An-
und eine Art Regenerierung des Kata- häufungen auf der Oberfläche des
Aber auch chemisch verändert sich der lysators bewirken. Die Gruppe star- elementaren Kupfers bilden. Ethylen 59
Katalysator im Verlaufe der Reaktion, tete Versuche, in denen sie die Span- entsteht hingegen offenbar eher an
wie eine Untersuchung mit der Rönt- nung pulsweise und mit wechselnden elementarem Kupfer als an oxidier-
genphotoelektronenspektroskopie Vorzeichen anlegte. In der Tat gelingt tem. Damit ist plausibel, warum un-
zeigte. Die Lehrbuchregel, ein Kata- es mit diesem Vorgehen, Verände- ter anderem lange Reduktionspulse

Kontrollierte Reaktion:
An Nanowürfeln mit viel
CO2 CO CH4 C2H5OH C2H4
Kohlenmonoxid Methan Ethanol Ethylen
Kupferoxid auf der Ober-
fläche entstehen bei der
elektrolytischen Reduk- Cu+
tion von CO2 hauptsächlich
Kohlenmonoxid und Methan Cu0
(linker Würfel). In diese
Richtung läuft die Reaktion,
wenn die reduzierende
Spannung regelmäßig für
längere Zeit umgepolt
wird (linker eckiger Graph),
sodass die Oberfläche
oxidiert wird. Mit kürzeren
Oxidations­pulsen bildet
sich weniger Oxid an der
Oberfläche, es entsteht
vor allem Ethanol (mittlerer
Zeitintervall
Würfel). Lange Reduktions-
pulse halten die Ober- Spannung
fläche oxidfrei, sodass
CO2 zu Ethylen reduziert
Graf i k : G CO nac h T i mo she n ko, J., B ergma n n, A ., R ette n ma i er , C . et al . S teer i ng the struc ture a n d selec t i v i t y of CO 2
wird (rechter Würfel). elec trore duc t ion c atalysts by p o te n t i al pulses. Nat Catal 5, 259 –2 67 (2 022)

Max Planck Forschung · 4 | 2022


wissen aus

F o t o: F H I / Chr i st i a n T essmar
Tiefgang an der Oberfläche: Lara Celeste Chaves, Rosa Maria Arán-Ais, Clara
Rettenmaier, Antonia Herzog und Beatriz Roldán Cuenya (von links) untersuchen,
wie sich die elektrokatalytische Umwandlung von CO2 kontrollieren lässt.

60
GLOSSAR

Elektrolyse
Mithilfe einer Spannung zwischen zwei
Elektroden werden Substanzen in einem
gerade die Ethylensynthese fördern. sein wird, den für eine bestimmte Elektrolyten chemisch umgewandelt.
Das Team am Berliner Fritz-Ha- Wunschreaktion optimalen Katalysa- Die eine Elektrode (Anode) nimmt dabei
ber-Institut erkennt mit seinen Me- tor gezielt designen zu können und in Elektronen von einer Substanz im
thoden auch, welchen Einfluss bei- die großtechnische Anwendung zu Elektrolyten auf, die andere (Kathode) gibt
spielsweise Fehlstellen oder Fremd­ bringen. Elektronen an eine andere Substanz ab.
metallatome im Kupferatomgitter auf
Flüssigphasen-
die Elektrolyse haben. So stellte sich Auch wenn die industrielle Anwendung Elektronenmikroskopie
heraus, dass ein Zusatz von fünf Pro- noch in einiger Ferne liegen mag, so Die Elektronenmikroskopie bildet mit einem
zent Silber die Ethanolsynthese be- ist es der Max-Planck-Direktorin Elektronenstrahl atomare Strukturen ab.
flügelt. wichtig, „Grundlagenforschung mit Sie erfordert ein sehr gutes Vakuum; Beatriz
gesellschaftlicher Relevanz“ zu be- Roldán Cuenya hat einen Weg gefunden,
Proben dennoch auch in Flüssigkeiten zu
treiben. In ihren Visionen stellt sich
Ein Beitrag gegen Roldán Cuenya vor, dass solche elekt-
untersuchen, die normalerweise sofort
verdampfen würden.
den Klimawandel rochemischen Prozesse eines Tages
direkt mit CO2 aus der Luft stattfin- Katalysator
den werden. Auch an den dafür benö- Ein Stoff, der die energetische Hürde für
Noch sind all das erste Erkenntnisse zu tigten Direct-Air-Capture-Tech­nolo- eine Reaktion senkt und dabei die Bildung
bestimmter Produkte erleichtert oder
möglichen Stellschrauben für die gien wird bereits vielerorts geforscht. überhaupt erst ermöglicht.
Selektivität. „Aktuell geht es vor al- Dem Klimawandel zu begegnen und
lem darum, die Mechanismen besser Energiewirtschaft und Chemie voll- RöntgenPhoto­elektronen­
zu verstehen“, betont Beatriz Roldán kommen neu, nämlich nachhaltig spektroskopie
Cuenya. Und fügt erklärend hinzu: auszurichten – das hält Beatriz Ein Röntgenstrahl katapultiert aus der
„Man kann einfach keine Sprünge ma- Roldán Cuenya für eine der größten Oberfläche einer Probe Elektronen,
welche Aufschluss über die chemischen
chen, bevor man nicht laufen gelernt gesellschaftlichen Aufgaben. Und sie Eigenschaften der Oberfläche geben.
hat.“ Will heißen: Noch gibt es eini- möchte dazu beitragen, diese Auf-
ges zu lernen, bevor man in der Lage gabe zu lösen.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


FORWARD.
VISION.
FUTURE.
€ 25,000

Apply until
February 15th, 2023

The Hermann Neuhaus Prize recognizes


excellent postdocs and group leaders in
the Biology & Medicine Section (BMS)
and the Chemistry, Physics & Technology
Section (CPTS). The prize enables the
successful applicant to develop her or his
research’s potential for application.

For more information visit


www.mpg.de/hermann-neuhaus-prize

Max Planck Forschung · 4 | 2022


wissen aus

Ausgeklügelte Windungen:
Die Plasmakammer von
Wendelstein 7-X ist wie
eine in sich verdrehte
Teigschlange gebaut. Ihre
Wand ist mit besonders
robusten Grafitkacheln
ausgekleidet.

F o t o: Ja n Ho sa n / M PI f ü r Plasma ph ysi k
62

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Physik & Astronomie

Brennpunkte der
Kernfusion
Text: Andreas Merian

Im Dezember 2022 hat die National


Ignition Facility in den USA einen
Durchbruch in der Fusionsforschung
verkündet. Die Kernfusion verspricht
eine saubere und praktisch uner-
schöpfliche Energiequelle. Diese anzu-
zapfen, daran arbeitet auch das 63
Max-Planck-Institut für Plasmaphysik. Fusionsenergie entsteht, wenn leichte starten. Doch Strom wird Iter nicht
Seine wissenschaftliche Direktorin Atomkerne verschmelzen. Das pas- erzeugen. Das soll erst in einem De-
siert natürlicherweise jedoch nur bei monstrationskraftwerk geschehen, das
Sibylle Günter und der emeritierte Bedingungen, wie sie etwa in der unter dem schlichten Namen Demo
Direktor Karl Lackner ordnen ein, wo Sonne herrschen. Die Voraussetzun- geplant wird und das Zusammenspiel
einige der staatlichen und privaten gen versuchen Wissenschaftlerinnen sämtlicher Kraftwerkskomponenten
Fusionsprojekte stehen – auch im und Ingenieure seit Jahrzehnten auch erproben soll. Es soll gebaut werden,
Vergleich zu den Konzepten, an denen technisch zu erreichen. Weil die Fusi- sobald die Experimente an Iter abge-
onsforschung aber immer noch ziem- schlossen sind. Doch das kann noch
ihr Institut forscht. lich weit weg ist von einem Strom dauern.
produzierenden Kraftwerk, sprechen
manche sarkastisch von der Fusions- Ursprünglich sollte Iter bereits 2016 den
konstante: Die Stromerzeugung Betrieb aufnehmen. Dann hieß es, der
In einem Glas Meerwasser steckt so viel durch einen Fusionsreaktor liege im- Reaktor stehe 2025 und könne 2035
Energie wie in einem Barrel Öl. Doch mer dreißig oder gar fünfzig Jahre in Energie erzeugen. Doch vor Kurzem
während beim Verbrennen der 159 der Zukunft. wurde öffentlich, dass auch dieser
Liter Öl mehr als 300 Kilogramm CO2 Zeitplan nicht zu halten ist. „Iter ist
frei werden, entsteht keinerlei Treib- Derzeit ist Iter das größte und mit aktu- nicht nur ein wissenschaftliches Pro-
hausgas, wenn die Energie aus dem ell geschätzten Kosten von 18 bis 22 jekt, sondern hat auch eine politische
Wasser herausgeholt wird. Um sie Milliarden Euro teuerste Fusionspro- Komponente“, sagt Sibylle Günter,
überhaupt nutzen zu können, muss jekt weltweit. Der Name steht für In- Direktorin am Max-Planck-Institut
allerdings zunächst die Kernfusion ternational Thermonuclear Experi- für Plasmaphysik in Garching. Die
gemeistert werden. Deren Verspre- mental Reactor und ist ein For- politischen Randbedingungen führen
chen sind groß: praktisch unbe- schungsprojekt von EU, USA, China, auch zu technischen Schwierigkeiten.
grenzte Energie, und das sauber; das Indien, Südkorea, Japan und Russ- Denn die Partnerländer teilen sich
heißt: auch ohne langlebigen radio­ land. Auch das Max-Planck-Institut nicht nur die Finanzierung, sondern
aktiven Abfall. Die Kernfusion für Plasmaphysik ist daran beteiligt. auch die Entwicklung und Fertigung.
könnte erneuerbare Energiequellen in Iter soll etwa zehnmal so viel Fusions- „Die Einzelkomponenten des Reak-
Zeiten und Gegenden mit wenig energie freisetzen, wie direkt in die tors werden also in den verschiedenen
Wind und Sonne ideal ergänzen. Fusionsreaktion fließt, um diese zu Ländern hergestellt, mit dem Ergeb-

Max Planck Forschung · 4 | 2022


wissen aus

nis, dass am Ende nicht alles wie ge- liegt die Materie als Plasma vor, das Das Max-Planck-Institut für Plasma-
plant zusammenpasst“, sagt Sibylle heißt, Elektronen und positiv gela- physik erforscht zwei der ältesten
Günter. Auch in einer Pressemittei- dene Atomkerne sind nicht mehr an- Konzepte eines Fusionsreaktors. Am
lung von Iter ist von „umfänglichen einander gebunden. Die hohe Tempe- Standort in Garching experimentie-
Reparaturen“ die Rede. ratur gibt den positiv geladenen Ker- ren Forschende mit dem Asdex
nen die nötige Geschwindigkeit, um Upgrade, der wie Iter ein Tokamak ist.
Trotz oder gerade wegen des mühsamen die abstoßende elektrostatische Kraft Ein Tokamak ist ein donutförmiges
Fortschritts bei diesem staatlich ge- untereinander zu überwinden. Der Gefäß, in dem ein starkes Magnetfeld
förderten Großprojekt arbeiten in- Druck in der Sonne verdichtet die die elektrisch geladenen Teilchen des
zwischen auch zahlreiche Unterneh- Materie außerdem so stark, dass das Plasmas einschließt. Am Standort in
men an der Kernfusion. Denn die Aufeinandertreffen zweier Atomkerne Greifswald wird hingegen am Reak-
Aussicht auf unbegrenzte saubere wahrscheinlicher wird. Technisch tor Wendelstein 7-X getüftelt, einem
Energie ist zu verlockend. So versu- kann dieser Druck auf der Erde nicht Stellarator. Auch der Stellarator bän-
chen sich laut der Fusion Industry digt das Plasma in einem ringförmi-
Association weltweit 33 Firmen an gen Gefäß per Magnetfeld. Allerdings
diesem Vorhaben. Dabei verfolgen sie ähneln sein Plasmagefäß und sein
teilweise grundlegend andere techni- Magnetfeld eher einer mehrfach in
sche Ansätze der Kernfusion und ver- sich verdrehten Teigschlange als ei-
Auf den Punkt
sprechen – ihren Investoren wie auch gebracht nem glatten Donut.
der Allgemeinheit – die baldige kom-
merzielle Nutzung der Fusionsener- Die Kernfusion könnte praktisch In beiden Reaktortypen geht es zunächst
gie. Zu diesem Zweck haben die Un- unendlich saubere Energie darum, ein Wasserstoffplasma mit
ternehmen bislang mehr als 4,7 Milli- liefern und wird daher in einigen dem Magnetfeld so einzufangen, dass
arden US-Dollar an Investitionen staatlichen Großforschungs- die geladenen Teilchen die Wand
eingeworben. Doch während die Start- projekten wie Iter, Asdex Upgrade möglichst nicht berühren. Kommt
und Wendelstein 7-X sowie
ups sicherlich agiler sind als staatliche zahlreichen Start-up-Unter- das Plasma zu stark in Kontakt mit
Projekte wie Iter, stehen sie in puncto nehmen erforscht. dem Gefäß, kühlt es zu sehr aus und
64 wissenschaftlich-technischer Mach- eine sich selbst erhaltende Fusionsre-
barkeit oftmals auf weitaus wacklige- Iter soll mehr Energie liefern, als aktion wird unmöglich. Zwar ist die
ren Füßen. „Die Ansätze, die der direkt in den Start der Kernfusion Geometrie des Magnetfeldes im To-
fließt, verzögert sich aber immer
Forschungsmainstream aktuell ver- kamak einfacher als im Stellarator, im
wieder. Für den Betrieb benötigt
folgt, sind Kompromisse“, sagt Karl aber auch Iter mehr Energie, Tokamak muss aber Strom durch den
Lackner. Der emeritierte Direktor als die Kernfusion erzeugt, und Plasmaring fließen, was einige prakti-
am Max-Planck-Institut für Plasma- produziert keinen Strom. Das soll sche Probleme für einen effizienten
physik in Garching forschte selbst erst das Kraftwerk Demo schaffen. Kraftwerksbetrieb schafft. Die gäbe
jahrzehntelang zur Kernfusion und es im Stellarator nicht. „Vom Konzept
Die privaten Initiativen verkünden
erlebte sowohl Fortschritte als auch teilweise sehr ambitionierte Zeit-
her ist der Stellarator für ein Fusions-
unerwartete Hindernisse bei dem pläne, die mit Skepsis betrachtet kraftwerk besser geeignet“, erklärt
Verfahren, auf dem auch Iter beruht. werden müssen. Oft bieten sie Günter. „Allerdings muss das Mag-
„Ein Reaktor wie Iter bietet eine Lö- für ein Problem der Kernfusion netfeld eines Stellarators optimiert
sung für alle Probleme, die wir bisher eine sehr gute Lösung, für andere werden, was nur mit ausreichender
erkannt haben – für keines die opti- jedoch keine ausreichende. physikalischer Kenntnis und Rechen-
male, aber für alle zumindest eine leistung möglich ist. Daher hat die
ausreichende Lösung. Einige der al- Fusionsforschung zunächst den ein-
ternativen Ansätze lösen ein Problem facheren Tokamakansatz verfolgt.“
hervorragend und sind daher span- Auch Demo ist momentan als Toka-
nend. Doch für die anderen Probleme erreicht werden, weshalb in den Fusi- mak geplant. Sollte sich bis zum Bau-
gestaltet sich die Lösung schwieriger onsreaktoren weitaus höhere Tempe- beginn allerdings herausstellen, dass
oder ist eventuell sogar unmöglich.“ raturen nötig sind, um Atomkerne das Stellaratorkonzept überlegen ist,
zur Fusion zu bewegen. Zudem fusio- könnten diese Pläne noch umgewor-
Allen Ansätzen gemeinsam ist, dass sie nieren gewöhnliche Wasserstoff- fen werden. Dass am Max-Planck-In-
sich den Prozess zum Vorbild neh- atome viel zu langsam für eine techni- stitut für Plasmaphysik sowohl Stella-
men, mit dem die Sonne Energie er- sche Nutzung. Doch bereits vor mehr rator als auch Tokamak erforscht wer-
zeugt: In ihr fusionieren die Kerne als siebzig Jahren fand die Physik eine den, ist weltweit einzigartig für eine
von Wasserstoffatomen bei einem prinzipiell technisch machbare Lö- Forschungseinrichtung. Das ermög-
Druck von rund 200 Milliarden Bar sung: die Fusion von schwerem und licht die in der Grundlagenforschung
und gut 15 Millionen Grad Celsius zu überschwerem Wasserstoff – auch be- wichtige Objektivität, so Sibylle Gün-
Helium. Unter diesen Bedingungen kannt als Deuterium und Tritium. ter: „Wir sind nicht festgelegt und

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Physik & Astronomie

Illustrat ion: P. Ball , T he R ac e t o F usion E n ergy, Nature , Volume 59 9 Issue 78 8 6 , 25 Nov ember 2 021; T r ägeh E i tsfus on: G CO

Tokamak stellArator
Die Plasmakammer Ein gewundenes Magnet-
von Asdex Upgrade, Iter feld schließt das Plasma im
und möglicherweise ebenso geformten Plasmagefäß
Demo hat die Form eines etwa von Wendelstein 7-X ein.
Donuts.

65

Linearer Reaktor
In der Anlage von TAE
werden zwei Plasma-
pakete aufeinander-
geschossen und erzeugen
ein rotierendes
zylindrisches Plasma.

Modifizierter Tokamak Trägheitsfusion


General Fusion erzeugt Die NIF und einige Start-ups
ein Plasma in einem Behält- nutzen die Trägheit von Masse aus,
nis aus rotierendem flüssigem die ein Plasma zusammenhält,
Metall, das zur Zündung nachdem dieses mit starken Lasern
mit Kolben komprimiert wird. verdichtet und erhitzt wurde.

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wissen aus

können die Vor- und Nachteile ver- Prinzip ist lange erprobt. Allerdings zu beschaffendes Tritium gebraucht,
gleichen und offen diskutieren. Zu- lehrt uns die Erfahrung, beim ange- und es bliebe keine radioaktive Reak-
dem befruchtet sich die Forschung an kündigten Zeitplan skeptisch zu sein.“ torwand zurück. „Allerdings ist die
beiden Anlagentypen gegenseitig.“ Immerhin konnte Commonwealth Fusion von Bor und Proton wesent-
Fusion Systems auch private Investo- lich schwerer zu erreichen, und auch
ren von seiner Idee überzeugen: Im die Ausbeute ist geringer“, sagt Karl
Kleiner Tokamak mit vergangenen Jahr warb das Start-up Lackner.
starken Magneten mehr als 1,8 Milliarden US-Dollar
ein. Während für TAE theoretische Berech-
nungen den Fortschritt brachten, soll
Um in beiden Reaktortypen die nötige Mit Google hat auch das Fusions-Start- bei General Fusion präzise Ingenieurs­
Temperatur für die Fusion zu errei- up TAE Technologies starke Unter- kunst zum Durchbruch führen. Im
chen, wird das Wasserstoffplasma stützung im Rücken, und das nicht herkömmlichen Tokamak und im Stel­
durch den Einschuss schneller Was- nur finanziell. Denn Google hilft larator ist die Wechselwirkung zwi-
serstoffatome, durch elektromagneti- auch mit Rechenleistung und Fach- schen Reaktorwand und Plasma prob-
sche Strahlung und, im Fall des Toka- wissen auf dem Gebiet der künstli- lematisch. So sucht die Fusionsfor-
mak, durch Strom geheizt. Stimmen chen Intelligenz. „TAE verfolgt einen schung seit Jahren intensiv nach den
die Bedingungen schließlich, ver- alten Ansatz, der erst durch die Nut- richtigen Materialien für die Reaktor-
schmelzen die Kerne von Deuterium zung fortgeschrittener Feedbacktech-
und Tritium, und es entstehen ein niken wieder attraktiv geworden ist“,
Heliumkern und ein Neutron, beide erklärt Karl Lackner. TAE erzeugt
mit beträchtlicher Bewegungsenergie. durch eine Kombination aus Teilchen-
Für das ungeladene Neutron ist der beschleunigern und Magnetspulen
Magnetkäfig durchlässig, sodass das einen Plasmazylinder, der etwa die
Typisch Großbaustelle:
Teilchen mit voller Wucht in die Ge- Form einer Blechdose ohne Deckel
Im französischen
fäßwand eindringt. Die dabei entste- und Boden hat. Der Zylinder dreht Forschungszentrum
hende Wärme soll wie in einem kon- sich wie eine Walze, wodurch er stabi- Cadarache entsteht der
66 ventionellen Kraftwerk zur Strom­ lisiert wird – allerdings nur vorüber- Fusionsreaktor Iter
erzeugung genutzt werden. Allerdings gehend. Ohne weiteres Zutun würde – dabei kommt es
bleibt das Wandmaterial dabei als die Rotation immer langsamer und immer wieder zu Ver-
zögerungen. Durch
leicht radioaktiver Abfall zurück. der Plasmazylinder letztlich kollabie- die schleifenförmigen
ren. Erst dank aufwendiger Berech- Elemente wird am
Unter den Start-ups setzt auch Com- nungen mit der Unterstützung von Ende die Plasmakam-
monwealth Fusion Systems auf das Google konnte TAE die Instabilitäten mer laufen.
Tokamakdesign. Das Unternehmen verstehen und in Feedbackschleifen
kündigte sogar an, dass der Prototyp kontrollieren. Dieser Fortschritt be-
Sparc bereits in fünf Jahren funktions- eindruckt Karl Lackner, doch er ist
tüchtig sein soll. Gelingen soll das mit auch kritisch: „TAE steht beim Tri-
einem im Vergleich zu Iter viel kleine- pelprodukt, also der Kombination aus
ren Tokamak, an dem sich schneller Temperatur, Teilchendichte und Ein-
und kostengünstiger die nötigen Än- schlusszeit, heute da, wo die For-
derungen für einen marktreifen Re- schung an Tokamaks in den 1970er-
aktor vornehmen lassen. Um darin und 1980er-Jahren stand, hat aber
das Plasma einzuschließen, sind viel vor allem noch eine viel zu geringe
stärkere Magnetfelder nötig. Herz- Teilchendichte.“ Das Tripelprodukt
stück von Sparc sind daher neuartige ist ein Maßstab dafür, wie nah das
Magnetspulen aus Hochtemperatur- Plasma den Bedingungen für eine
Supraleitern, die leistungsfähiger als sich selbst erhaltende Kernfusion
die supraleitenden Spulen von Iter kommt. TAE erreichte dabei im Jahr
sind und weniger stark gekühlt wer- 2019 noch nicht den Wert, welchen
den müssen. Die Technik wurde lange der Vorgänger von Asdex Upgrade
Zeit am MIT in Cambridge, Massa- am Max-Planck-Institut für Plasma-
chusetts, erforscht, woraus das Start- physik bereits 1989 erzielte. Zudem
up hervorging. „Ich bin froh, dass strebt TAE wie einige wenige andere
Commonwealth Fusion Systems den Unternehmen die Verschmelzung
Hochfeldansatz weiterverfolgt“, sagt nicht von Tritium und Deuterium an,
Karl Lackner: „Die Erfolgsaussichten sondern von Bor und Protonen. So
sind gut, denn das grundlegende würde kein radioaktives und schwer

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Physik & Astronomie

wand. General Fusion geht hier einen In diesen Hohlraum soll das Plasma monstrationskraftwerk im englischen
anderen Weg als die Mainstream- aus Deuterium und Tritium einge- Culham bauen wird. Dieses soll schon
Forschung: Das Plasma soll durch bracht werden. Um das Plasma zu 2025 fertiggestellt sein und den Weg
flüssiges Metall eingeschlossen wer- zünden, das heißt: die Kernfusion zu zu ersten kommerziellen Fusions-
den. Dieses wird durch die Wechsel- starten, muss es allerdings weiter kraftwerken Ende der 2020er- oder
wirkung mit dem Plasma nicht zer- komprimiert werden. Dafür will Ge- Anfang der 2030er-Jahre ebnen.
stört und muss daher nicht immer neral Fusion genau gesteuerte Kolben
wieder ausgetauscht werden. Zudem nutzen, die rundherum in der Reak- Allen bisher genannten Projekten ist ge-
erleichtert es die Wand aus flüssigem torwand angebracht sind und das meinsam, dass bei ihnen ein Magnet-
Metall, die Fusionsenergie in Form flüssige Metall mit seinem Plasma- feld das Plasma einschließt. Einen
von Wärme abzuführen. Beim Reak- kern zusammenpressen. Doch hier völlig anderen Weg verfolgen etwa die
tordesign setzt General Fusion auf ei- sieht Lackner auch eine der größten staatliche Forschungseinrichtung
nen modifizierten Tokamak. Das Herausforderungen: „Das kompri- National Ignition Facility (NIF) der
flüssige Metall wird dazu im Reaktor mierte Plasma wird voraussichtlich USA sowie die deutschen Start-ups
zum Rotieren gebracht. Wie Wäsche instabil sein.“ Trotzdem gab General Marvel Fusion und Focused Energy.
beim Schleudern wird es dabei an die Fusion bekannt, dass es in Zusam- Sie setzen auf die laserbasierte Träg-
Wand des Gefäßes gedrückt, sodass menarbeit mit der United Kingdom heitsfusion. Dabei werden die Bedin-
in der Mitte ein Hohlraum entsteht. Atomic Energy Authority ein De- gungen für die Kernfusion nur für

67

F o t o: I T E R Orga n i zat ion, htt p:// w w w.i ter .org/

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wissen aus

Mit Lichtleistung zur


Trägheitsfusion: An der
National Ignition Facility
in den USA wird der
aktuell stärkste Laser der
Welt in mehrere Strah-
len geteilt, welche in der
Reaktorkammer Röntgen-
strahlung erzeugen.
Diese bringt eine Kapsel
mit Deuterium und
Tritium zur Explosion,
sodass ein Plasma
entsteht und es zur
Kernfusion kommt.

68

sehr kurze Zeit erreicht, üblicher- serstoffbombe passiert. Die dortige Team in der Vergangenheit allerdings
weise für einige Nanosekunden. Das Anlage ist trotzdem – oder gerade nur mit Mühe reproduzieren, da un-
Plasma hält für diese kurze Zeit schon deswegen – das am weitesten entwi- ter anderem kleinste Abweichungen
alleine aufgrund der Masseträgheit ckelte System zur Trägheitsfusion. So in der Geometrie des Experiments
zusammen und muss nicht aufwendig kann die NIF den derzeit stärksten bereits zu großen Unterschieden im
in einen Magnetkäfig gesperrt wer- Laser der Welt nutzen. Seine Energie Ergebnis führen. Von einem Kraft-
den. Um die hohe Temperatur und erzeugt indirekt, also über mehrere werk ist der Ansatz ohnehin weit ent-
die nötige Dichte für die Kernfusion Zwischenschritte, die Kombination fernt: Die Anlage des NIF kann aktu-
innerhalb kürzester Zeit zu erreichen, von hoher Temperatur und Dichte, ell nur vier bis sechs Schüsse pro Tag
setzen die Forschenden auf leistungs- die ein Plasma zündet. Im Dezember abfeuern, für ein Kraftwerk müssten
starke Laser. Die NIF am Lawrence 2022 gelang den Forschenden der es mehrere pro Sekunde sein.
Livermore National Laboratory ist vor NIF ein Rekordschuss: Die Kernfu-
allem eine militärische Forschungs- sion setzte etwa 50 Prozent mehr Im Unterschied zur NIF zielen die bei-
einrichtung, denn an der laserbasier- Energie frei, als der Laser einbrachte, den deutschen Start-ups mit ultra-
ten Trägheitsfusion lässt sich studie- um das Plasma zu erzeugen und zu kurzen Laserpulsen direkt auf eine
ren, was bei der Zündung einer Was- zünden. Ähnliche Erfolge konnte das Kapsel mit dem Brennstoff. Focused

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Physik & Astronomie

GLOSSAR

Kernfusion
heißt die Verschmelzung von
siv nennt. Bei der lasergestützten Atomkernen. Handelt es sich um
Trägheitsfusion von Marvel Fusion leichte Kerne wie Protonen, wird
soll der besondere Kniff sein, dass die dabei Energie frei; Sterne
Kapseln mit dem Brennstoff eine be- erzeugen auf diese Weise Energie.
sondere Nanostruktur aufweisen. Al-
Magneteinschluss
lerdings sind nur wenige wissen- heißt ein Ansatz der Kernfusion,
schaftliche Details des Ansatzes öf- bei dem ein Plasma in einem
fentlich, entsprechend skeptisch zei- Magnetfeld eingeschlossen wird.
gen sich Günter und Lackner. „An- Dies geschieht vor allem in
hand der öffentlich zugänglichen In- Tokamak- und Stellarator-
F o t o: L aw re nc e L i v ermore Nat ional L ab orat ory
formationen ist nicht ersichtlich, wie anlagen, die sich in der
Erzeugung des Magnetfelds
der Ansatz von Marvel Fusion funkti- unterscheiden.
onieren soll“, konstatiert Lackner.
Trägheitsfusion
bedeutet, dass das Fusionsplasma
Probleme macht die aufgrund der Masseträgheit die
nötige Dichte kurzzeitig behält.
Energiebilanz Laser können das Plasma erzeu-
gen, verdichten und heizen.

Ein Problem plagt alle derzeit verfolgten


Ansätze: Bisher sind die Fusionsreak-
toren weit davon entfernt, mehr Ener-
gie zu erzeugen, als für den gesamten
Betrieb notwendig ist. Für die Nut-
zung der Kernfusion in Kraftwerken Das Pilotkraftwerk Demo soll jedoch
ist schließlich nicht die Energiebilanz beweisen, dass zumindest die Kernfu-
der Fusionsreaktion entscheidend, sion per Magneteinschluss auch alles 69
sondern die Nettoenergieausbeute in allem Energie produzieren kann,
des ganzen Kraftwerks. Selbst Iter wenn die Anlage nur groß genug ist.
wird da keine schwarzen Zahlen errei- Doch selbst wenn Forschungsgrup-
chen. Zwar soll er mehr Energie er- pen irgendwann eine sich selbst er-
zeugen, als direkt in das Plasma fließt. haltende Fusionsreaktion mit positi-
Trotzdem würde Iter als Kraftwerk ver Energiebilanz bewerkstelligen,
insgesamt mehr Energie verbrauchen, wird sich noch zeigen müssen, ob
als er erzeugt. Denn vor allem die diese Art der Stromerzeugung wirt-
Kühlung der großen Magnetspulen schaftlich ist.
sowie die Heizung des Plasmas ver-
schlingen enorme Energiemengen. Trotz aller Schwierigkeiten bleibt ein
Zudem lässt sich die durch die Kern- Fusionskraftwerk ein erstrebenswer-
fusion generierte Wärme nicht ver- tes Ziel. Denn die Probleme fossiler
lustfrei in Strom umwandeln. Ver- Brennstoffe sind hinlänglich bekannt,
Energy, eine Ausgründung der TU mutlich könnte Iter theoretisch circa und ob erneuerbare Quellen wie Wind
Darmstadt, erzeugt und verdichtet die Hälfte des eigenen Energiebedarfs und Sonne in der Praxis den wach-
ein Plasma zunächst, indem ein mit decken. Bei der Trägheitsfusion ist senden Energiebedarf der Mensch­
Deuterium und Tritium gefülltes Kü- der Unterschied noch gewaltiger: heit decken können, ist noch offen.
gelchen mit einem Laserstrahl be- Beim jüngsten und bisher besten Ver- Welcher der zahlreichen Ansätze zur
schossen wird. Ein Ionenstrahl zün- such der laserbasierten Trägheitsfu- Kernfusion am Ende erfolgreich sein
det das Plasma dann. Dadurch lässt sion in der NIF wurden 150 Prozent wird, ist schwer abzusehen. Klar ist
sich der Aufwand für einen extrem der Laserenergie durch Kernfusion allerdings, dass die Konkurrenz den
leistungsfähigen Laser vermeiden, wieder frei. Doch für die Erzeugung wissenschaftlichen Austausch nicht
was Kosten spart. „Ein spannender der Laserenergie war etwa 150-mal unterdrücken sollte: „Ob nun durch
Ansatz – wenn er funktioniert“, sagt mehr Energie notwendig, als in der staatliche Forschung oder privatwirt-
Sibylle Günter. „Und beim Zeitplan Reaktorkammer ankam. Somit setzte schaftliche Initiative – wichtig ist,
bin ich kritisch.“ Denn schon Mitte die Kernfusion etwa ein Prozent der dass die Ergebnisse offen kommuni-
der 2030er-Jahre sollen erste Kraft- eingesetzten Energie als Wärme frei. ziert werden“, sagt Karl Lackner.
werke Strom produzieren, ein Plan, Davon könnten allenfalls etwa 50 Pro- „Auf diese Weise kommen wir auf je-
den selbst das Unternehmen aggres- zent in Strom umgewandelt werden. den Fall schneller ans Ziel.“

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F o t o: L kovac / CC BY- SA 3.0

Am Rande der Welt:


Der 800-Seelen-Ort
Kangiqsujuaq liegt
abgeschieden im
äußersten Norden
Quebecs. Für die Inuit,
die dort leben, sind
die Jagd und das Teilen
von Lebensmitteln
auch heute noch wichtig.

70
Max-Planck-Forschende ko-
operieren mit Partnern in mehr duld mitbringen und flexibel sein, oder Zelten geboren und lebten auf
als 120 Ländern. Hier schrei- denn oft werden Flüge wegen schlech- dem Land, bis sie in den 1960er-Jah-
ten Wetters verschoben – manchmal ren von der Regierung aufgefordert
ben sie über ihre persönlichen
um mehrere Tage. wurden, ins Dorf zu ziehen. Heute
Erfahrungen und Eindrücke. wohnen die Inuit in festen Häusern
Elspeth Ready vom Max-Planck- Im Jahr 2011 war ich zum ersten Mal in und kaufen Lebensmittel und Dinge
Institut für evolutionäre Anthro- Kangiqsujuaq, gemeinsam mit einem des täglichen Bedarfs in Geschäften.
pologie in Leipzig reist für Team von Archäologen. Wir arbeite- Die eigene Sprache und kulturelle
ten damals an der Dokumentation Praktiken wie die Jagd und das Teilen
ihre Studien regelmäßig in die von halb unterirdischen Häusern, we- von Lebensmitteln haben noch im-
kanadische Arktis. Sie erzählt nige Kilometer vom heutigen Dorf mer einen hohen Stellenwert. Trotz-
von grandioser Weite, beson- entfernt. Sie waren jahrhundertelang dem war der Umbruch nicht leicht. In
deren kulinarischen Genüssen sowohl von Inuit bewohnt worden als einem meiner aktuellen Projekte geht
auch von Tuniit – einer Bevölkerungs­ es um Stress und um Strategien zur
und von einer eisigen Fahrt
gruppe, die vor der Ankunft der Inuit Stressbewältigung. Dabei arbeite ich
auf dem Hundeschlitten. in der Region lebte. Nach diesem ers- mit dem Gemeinderat vor Ort zusam-
ten Sommer kehrte ich immer wieder men.
nach Kangiqsujuaq zurück. Motiviert
durch meine Erfahrungen und die Bei meinem letzten Aufenthalt in Kan-
Das Dorf Kangiqsujuaq hat 800 Ein- Gespräche mit Jägern, entwickelte ich giqsujuaq konnte ich eine kleine Leh-
wohner und liegt in der Region Nuna- ein Forschungsprojekt, um herauszu- rerwohnung nutzen, die in den Schul-
vik im äußersten Norden Quebecs. finden, welche Rolle die Jagd und die ferien frei war. Vormittags schreibe
Von Montreal aus fliegt man zuerst gemeinsame Nutzung von Lebens- ich normalerweise Feldnotizen, am
nach Kuujjuaq. Dort steigt man in ein mitteln für die Ernährungssicherheit Nachmittag führe ich Interviews. Am
kleineres Flugzeug um, das verschie- in Inuit-Gemeinschaften spielen. Abend besuche ich oft meine Freunde
dene Küstenorte entlang der Hudson im Dorf. Die Inuit servieren Besu-
Strait ansteuert. Die Reise von Kuuj- In den vergangenen hundert Jahren ha- chern gerne lokale Spezialitäten wie
juaq aus dauert normalerweise einen ben die Inuit extreme Veränderungen Karibu, Robbe, Belugawal, Gans oder
halben Tag. Man muss allerdings Ge- erlebt: Viele Ältere wurden in Iglus Schneehuhn. Mein persönlicher Fa-

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post
Aus

Kangiqsujuaq , Kanada

71

vorit ist der Seesaibling. Er schmeckt mich ein erhebendes Gefühl. Die
so ähnlich wie Lachs, aber viel besser! Weite und Freiheit sind unbeschreib-
Getrocknet und mit Montreal- lich. In Deutschland werde ich oft ge-
Steakgewürz mag ich ihn ganz beson- fragt, wie ich mit der Dunkelheit des
ders. arktischen Winters zurechtkomme,
F o t o: pr i vat

aber ich bin in Kanada aufgewachsen


Traditionelle Lebensmittel sind für die und war daher schon als Kind ge-
Inuit heute eine wichtige Quelle für wöhnt, im Dunkeln zur Schule zu ge-
Nährstoffe und Vitamine. Frische hen und nach Hause zu kommen.
Lebensmittel gibt es nur selten in den Den deutschen Winter empfinde ich
Supermärkten in Kangiqsujuaq. Reis, oft als viel bedrückender – grau in
Nudeln und andere nicht verderbli- grau und wolkenverhangen. In der
che Waren werden im Sommer per Arktis ist der Himmel meist klar, und
Frachtschiff angeliefert. Eine Aus- man sieht den Mond und die Sterne.
Elspeth Ready
wahl von frischem Obst und Gemüse Der Schnee macht alles hell.
kommt wöchentlich mit dem Flug- 36, ist Kanadierin und studierte
zeug, ist aber schnell vergriffen und Einmal habe ich mit Freunden eine Anthropologie an der University
sehr teuer. Traditionelle Lebensmit- Hundeschlittentour unternommen. of Alberta und der Trent
tel werden weithin geteilt, und dieses Sieben Stunden lang fuhren wir über University. Nach ihrer Promo-
Teilen bringt die Familien und die die verschneite Tundra und das Meer­ tion an der Stanford University
wechselte sie Anfang 2019 ans
Gemeinschaft näher zusammen. Um eis bis zu einer kleinen Hütte, wo wir Leipziger Max-Planck-Institut
so viel wie möglich über den Nahrungs­ die Nacht verbrachten. Am nächsten für evolutionäre Anthropologie.
­erwerb zu lernen, nehme ich an Jagd- Tag ging es wieder zurück. Während Gemeinsam mit ihrem Team
und Angelausflügen teil, sooft sich der mehrstündigen Schlittenfahrt bei untersucht sie, wie traditionelle
die Gelegenheit bietet. Ich bin in der minus 25 Grad Celsius habe ich mir Lebensmittel in Inuit-Gemein-
Lage, ein Schneemobil zu steuern, eine Erfrierung an der Nase zugezo- schaften die Ernährungs-
sicherheit, das Wohlbefinden
und helfe, wo ich kann – etwa beim gen. Meine Inuit-Begleiter haben es und auch die Widerstandsfähig-
Zerlegen eines Wals. In der arktischen zum Glück rechtzeitig bemerkt, und keit gegenüber dem Klima-
Landschaft unterwegs zu sein, ist für daher ist alles wieder gut verheilt! wandel fördern.

Max Planck Forschung · 4 | 2022


Genial und geächtet
Was verbindet Giordano ter, Philosoph und Astronom perten Alan Turing, dem es
Bruno, Emmy Noether, Al- Giordano Bruno etwa hatte gelang, die Verschlüsselungs-
bert Einstein und Alan Tu- unter anderem postuliert, das maschine Enigma zu knacken.
ring? Alle waren sie heraus­ Universum sei unendlich und Er musste sich wegen seiner
ragende Forscherinnen und die Sterne am Firmament Homosexualität einer Hor-
Forscher – und alle ereilte sie seien fremde Sonnen, um- monbehandlung unterziehen
ein ähnliches Schicksal: Sie kreist von unzähligen Plane- und nahm sich 1954 das Le-
wurden diffamiert, verfolgt, ten. Bruno starb im Jahr 1600 ben. In seinem lesenswerten
vertrieben oder gar ermordet. auf dem Scheiterhaufen. Um Buch beleuchtet Thomas
Diesen Genialen und Geäch- ihr Leben fürchten mussten Bührke die Biografien all die-
teten widmet der Autor und mehr als 330 Jahre später die ser Verfolgten – ebenso wie
Journalist Thomas Bührke Mathematikerin Emmy Noe­- Wahn und Wahnsinn ihrer
sein neuestes Buch. Darin t­her und der damals schon be- Verfolger.
zeichnet er die Lebenswege rühmte Physiker Albert Ein- Helmut Hornung
von sechs Wissenschaftlern stein, die beide letztlich dem
und zwei Wissenschaftlerin- Naziregime entfliehen konn-
nen nach, entwirft aber auch ten. Und auch nach dieser
ein erhellendes Bild der jewei- finsteren Zeit geschah bedeu- Thomas Bührke
ligen gesellschaftlichen und tenden Forschern noch großes Die Verfolgten
politischen Umstände ihrer Unrecht. Tragisch ist der Fall 311 Seiten, Klett-Cotta
Zeit. Der 1548 geborene Pries- des britischen Computerex- 22,00 Euro

72

Steinzeit-Kult
Ein Grab mit einer toten Frau und zialisten im Dritten Reich bis zur ak-
einem Kind. Dazu Rehgehörn, tuellen Deutung als Schamanin. Die
Schildkrötenpanzer, Igelknochen Autoren stellen ausführlich dar, wie
sowie Zähne von Auerochse, Eber wenig die Realität der Schamanen in
und Wisent – der Fund im Kurpark der Steinzeit mit unseren heutigen
einer Kleinstadt in Sachsen-Anhalt Vorstellungen davon gemein hat.
bietet reichlich Stoff für einen gru- Geschickt verweben sie das Wissen
seligen Sonntagabendkrimi im Ers- über das Leben in der Steinzeit mit
ten. Nach der Himmelsscheibe von neuen Erkenntnissen aus einer
Nebra haben sich der Journalist Kai Nachgrabung an der Fundstelle und
Michel und der Archäologe Harald archäogenetischen Analysen von
Meller einen weiteren Fall aus der Forschenden des Max-Planck-Insti-
Frühgeschichte Europas vorgenom- tuts für evolutionäre Anthropologie.
men: die Schamanin von Bad Dür- Wie schon in ihren Büchern über die
renberg. Dabei erzählen die beiden Himmelsscheibe von Nebra erzählen
Autoren viel über die Lebensum- die beiden Autoren so packend, dass
stände der Frau in der Mittelstein- man das Buch kaum weglegen
zeit vor 9000 Jahren. Der spannende möchte. Ein Archäologiekrimi,
Erzählstil, die abwechslungsreiche der sich das Spannendste bis zum
Komposition des Buches und die be- Schluss aufhebt.
eindruckenden Illustrationen lassen Harald Rösch
die Schamanin beim Lesen vor dem
inneren Auge lebendig werden. Zu
Beginn des Buches beschäftigen sich
Meller und Michel mit der bewegten Harald Meller, Kai Michel
Geschichte der außergewöhnlichen Das Rätsel der Schamanin
Frau nach ihrem Tod: von der Ver- 368 Seiten, Rowohlt
einnahmung durch die Nationalso- 28,00 Euro

Max Planck Forschung · 4 | 2022


neu
erschienen

Safari in der
Zeitmaschine
Hier ein Schädel, ein Zahn oder Kno-
chen, dort ein Abdruck im Sediment –
von Tieren und Pflanzen, die vor Jahr-
millionen gelebt haben, ist heute meist
nicht mehr viel übrig. Umso erstaun­
licher ist es, dass wir uns anhand solcher
Relikte ein Bild von längst vergangenen
Ökosystemen machen können. Der Palä­ Die finstere
ontologe und Evolutionsbiologe Thomas
Halliday hat sich vorgenommen, dieses Seite der
Bild mit Leben zu füllen: In sechzehn
Kapiteln nimmt er seine Leserinnen Bäume
und Leser mit auf eine Zeitreise durch 73
mehr als fünfhundert Millionen Jahre Sonderbare, düstere, abseitige oder
Erdgeschichte und geht mit ihnen auf gar kriminelle Naturphänomene,
Safari: Vor rund 32 Millionen Jahren Skurriles aus der Tier- und Pflan-
etwa streiften bodenbewohnende Faul- zenwelt: Das ist das Terrain, auf dem
tiere durch die weiten Grasebenen Süd- sich der Wiesbadener Autor, Journa-
amerikas. Einige Vertreter dieser einst list, Krimischreiber und Wissen-
artenreichen Tiergruppe eroberten in schaftsredakteur Markus Benne-
ihrer späteren Blütezeit sogar das Meer: mann besonders wohlfühlt. Jetzt ist
Mit erhöht liegenden Nasenöffnungen sein Band Böse Bäume erschienen, in
und biberartigen Schwänzen wanderten dem er sich mit der hinterhältigen,
sie im Flachwasser und ernährten sich grausamen Seite der Natur befasst. kurrenten vom Hals zu schaffen.
dort von Seetang. Diese und andere er- Der Band ist ein Mix aus Wissen- Oder der Australische Weihnachts-
staunliche Lebewesen beschreibt Halli- schaftsbuch und Unterhaltungslite- baum: Er kappt anderen Bäumen die
day wissenschaftlich fundiert und lässt ratur und ermöglicht dank eines um- Wurzeln. Auch wenn Bäume böse
neben plastischen Schilderungen Infor- fassenden Quellenverzeichnisses sein können: Bennemann liebt die
mationen zu Evolution, Ökologie oder auch einen wissenschaftlich weiter- Natur, das spürt man auf jeder Seite.
Geologie einfließen. Im Epilog schafft führenden Weg in das Thema. Eine Wenn er ein Baum sein müsste, sagt
er eine Verbindung zur Gegenwart, die spannende Lektüre ist das Ganze der Autor, dann wäre er gerne die
weitgehend vom Menschen geprägt ist. obendrein. Besonders die Kapitel obere, die „gute“ Seite des Australi-
Darin zeigt er, dass der Blick auf die über exotische Gewächse. Aber auch schen Weihnachtsbaums: Wunder-
Vergangenheit keineswegs nur rück- die heimischen Bäume sind nicht schöne Blüten wachsen da; und den
wärtsgewandt ist; vielmehr ermöglicht ohne, wie etwa der Walnussbaum, Aborigines gilt dieser Ort als eine Art
er es auch, sich mit der eigenen Zukunft der ein Herbizid produziert, das an- Rastplatz für die Seelen ihrer
auseinanderzusetzen. dere Pflanzen töten kann. Oder Bu- Ahnen.
Elke Maier chen, die ein dichtes Dach bilden, Marc Peschke
unter dem fast nichts gedeiht. Unter
den Exoten ist die Würgefeige der
auffälligste Übeltäter: Diese Baum­
Thomas Halliday art würgt mit ihren Luftwurzeln ih- Markus Bennemann
Urwelten ren Wirtsbaum gleichsam zu Tode. Böse Bäume
464 Seiten, Carl Hanser Verlag Eukalyptusbäume wiederum entfa- 272 Seiten, Goldmann Verlag
28,00 Euro chen Brände, um sich lästige Kon- 18,00 Euro

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fünf
fragen

Illustrat ion: S oph i e K etterer f ü r M PG


zu neuen digitalen
Kompetenzen
an Anastasia Kozyreva

Forschende aus Berlin, Stanford und lieren kann, worauf ich mich wirklich ein- Ein großes Problem in Chats oder
Bristol haben „kritisches Ignorieren“ lasse. Wir können und sollten aktiv entschei- sozialen Medien ist hate speech.
als neue Methode erarbeitet, mit der den, wie viel Zeit wir mit den Smartphones, Sollte ich eingreifen, wenn ich Belei-
man mehr Kontrolle über die eigene Tablets oder am Computer verbringen wol- digungen, rassistische oder sexisti-
Online-Mediennutzung gewinnen len. Das lässt sich umsetzen, indem man auf sche Kommentare lese?
kann. den Geräten zum Beispiel Zeitlimits ein-
74
richtet oder sich erinnern lässt, das Handy Nein, auf keinen Fall! Denn genau das wol-
Frau Kozyreva, Sie waren Teil des abends ab einem bestimmten Zeitpunkt len die Leute erreichen, die so etwas verbrei-
Teams. Warum verbringen wir wegzu­legen. So bleibt mehr Zeit für Off- ten: Sie wollen provozieren und fühlen sich
überhaupt so viel Zeit mit Online- lineaktivitäten, die das Leben wirklich le- bestätigt, wenn sie darauf eine Reaktion
nachrichten? benswert machen – zum Beispiel Zeit mit kriegen. Es geht hier darum, uns selbst zu
Familie und Freunden. schützen: Wenn man sich auf Diskussionen
Anastasia Kozyreva Für uns Men- mit solchen Leuten einlässt, kann das wirk-
schen ist es seit jeher lebenswichtig, Infor- In der Zeit, in der ich online bin, er- lich schädlich sein für die Psyche und für
mationen aus unserer Gemeinschaft zu be- reichen mich allerdings schon ziem- die Beziehungen zu anderen Menschen. Es
kommen und weiterzugeben. Negative oder lich viele Nachrichten. Wie kann ist besser, die Provokateure zu ignorieren,
auch sehr emotionale Neuigkeiten wecken ich herausfinden, welche davon Fake sie wenn möglich zu blocken und den Be-
unsere Aufmerksamkeit besonders, weil sie News sind? treibern der Plattform zu melden.
uns zum Beispiel vor potenziellen Gefahren
warnen. Das hat jahrtausendelang gut funk- Auch da gibt es eine Strategie, nämlich late- Für wen haben Sie Ihre Empfehlun-
tioniert. Aber seit wenigen Jahren überflu- ral reading, seitwärts lesen. Wir haben in der gen entwickelt?
ten uns Onlinemedien geradezu mit Nach- Schule gelernt, einen Text kritisch zu prü-
richten. Sie sind so gestaltet, dass wir mög- fen, indem man ihn von oben bis unten ge- Das Thema geht uns wirklich alle an, egal
lichst viel Zeit dort verbringen, damit die nau durchgeht. Faktenchecker machen das ob jung oder alt. Besonders wichtig wäre,
Anbieter möglichst viel Werbung schalten anders: Sie öffnen im Browser einen weite- diese Strategien an Schulen zu vermitteln.
können. Wir hatten keine Möglichkeit, uns ren Tab – also seitwärts – und googeln, wer Sie sind einfach zu lernen und sehr wir-
daran anzupassen. Deswegen brauchen wir hinter einer Webseite steckt. Es gibt er- kungsvoll. Mit dem kritischen Ignorieren
neue digitale Kompetenzen. Meine Kolle- staunlich viele Seiten, die sehr seriös wirken, gibt man den jungen Leuten die Möglich-
gen und ich halten kritisches Ignorieren im aber von Interessengruppen zum Beispiel keit, ihre Aufmerksamkeit für Onlineinhalte
Umgang mit Onlinemedien für genauso aus der Wirtschaft stammen, die so die öf- bewusst und gezielt einzusetzen.
wichtig wie kritisches Denken. fentliche Meinung beeinflussen wollen. Bei
Quellen, die wir nicht zuordnen können – Interview: Mechthild Zimmermann
Wie funktioniert kritisches egal ob Webseiten, Videos oder weitergelei-
Ignorieren? tete Posts –, sollten wir grundsätzlich
misstrauisch sein. Mit lateral reading findet
Dazu kann man drei Strategien anwenden. man häufig schon nach wenigen Minuten Anastasia Kozyreva arbeitet am
Die erste ist self nudging. Das heißt, ich ge- heraus, ob eine Information vertrauenswür- Max-Planck-Institut für Bildungsforschung
stalte meine Umgebung so, dass ich kontrol- dig ist. im Forschungsbereich Adaptive Rationalität.

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Institut / Forschungsstelle Rostock
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Max Planck Forschung wird herausgegeben von Bildredaktion Max Planck Forschung berichtet über aktuelle Forschungsarbeiten an den
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Zur besseren Lesbarkeit haben wir in den Texten teilweise nur die männliche Sprachform verwendet. Mit den gewählten Formulierungen sind jedoch alle
Geschlechter gleichermaßen angesprochen.

Max Planck Forschung · 4 | 2022

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