Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
23
Spektrum.de 6.23
Das Universum
im Labor
Atomwolken simulieren
den Kosmos nach
dem Urknall
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
D6179E
9,80 € (D/A/L) · 14,– sFr.
Hier bestellen:
E-Mail: service@spektrum.de
Spektrum.de/aktion/kompakt
EDITORIAL
Unterschätzte Pilze
R
egelmäßige Leserinnen und erstaunlichsten Tiere und Pflanzen
Leser von »Spektrum.de« dürften hervor. Und auch Pilze gedeihen hier
wissen, dass Regenwälder mein natürlich prächtig.
liebstes Ökosystem sind: Die Vielzahl Besonders beeindruckend finde
an Arten und Interaktionen, der ich bei den tropischen Pilzen jedoch Daniel Lingenhöhl
intensive Wettbewerb und der ewige nicht die großen Schirmträger, die Chefredakteur
Kampf um Leben und Überleben vergleichbar mit unseren Steinpilzen, lingenhoehl@spektrum.de
faszinieren mich seit meiner Kindheit. Saftlingen oder Rotkappen wären,
Schließlich bringen Regenwälder die sondern die Kernkeulen: parasitäre
Pilze, die Ameisen befallen, von innen
her langsam aufzehren und ihre Wirte
vor deren Ende noch fernsteuern,
damit diese vom Waldboden bis in mittel recht kurz. Wir sollten unser
In dieser Ausgabe bestimmte Höhen aufsteigen, wo sie
dann sterben – und neue Pilzsporen
Augenmerk zukünftig wohl doch
auch stärker auf das Reich der Pilze
freisetzen. als Quelle pathogener Krankheits
Celia Viermann
simuliert mit ultrakalten Pilze wie diese lieferten die Inspira erreger richten.
Atomen das Verhalten des tion für die Fernsehserie »The Last of Ebenfalls in Zukunft interessant
Kosmos kurz nach dem Us«, in der Menschen durch Pilzbefall werden dürfte die Einlagerung von
Urknall. Ab S. 12 erklärt sie, zu Zombies werden und unsere Kohlendioxid im Untergrund, um das
wie das funktioniert. Zivilisation untergeht. Noch gibt es Klima zu schützen. Die Technik dazu
keinen Pilz aus der realen Welt, der wurde bereits in Deutschland er
Jeremy DeSilva so etwas bewirken könnte. Dennoch forscht und probeweise eingesetzt,
Auf welchen verschlunge- stellen diese Lebewesen für uns eine doch durchsetzen ließ sie sich unter
nen Evolutionspfaden der
unterschätzte Gefahr dar, wie unsere anderem wegen politischer und
Mensch zum Zweibeiner
wurde, schildert der Anthro-
beiden Experten Oliver Kurzai und gesellschaftlicher Widerstände nicht.
pologe ab S. 32. Martin Väth in dem spannenden Da die Risiken und Folgen des Klima
Interview ab S. 42 erläutern. In den wandels aber immer offensichtlicher
USA beispielsweise breitet sich werden, könnte diese Maßnahme
Candida auris stark aus: ein Hefepilz, allerdings schneller kommen als
HYGIENE UND MIKROBIOLOGIE,
DANIEL PETER, INSTITUT FÜR
UNIVERSITÄT WÜRZBURG
Thomas Frölicher
erforscht Extremereignisse
in den Ozeanen. Im Interview
ab S. 50 spricht er über das
Zusammenspiel von marinen
Hitzewellen, Sauerstoffman-
gel und anderen Klimastress-
faktoren.
3 EDITORIAL KLIMAGAS-DEBATTE
6 SPEKTROGRAMM 54 Ein Endlager für Kohlenstoffdioxid
Deutschland will der unterirdischen CO2-Speicherung
eine neue Chance geben.
TITELTHEMA Von Ralf Nestler
TOPOLOGIE
FORSCHUNG AKTUELL
22 Ratten verändern Revierverhalten von Fischen 66 Donuts im Gehirn
Invasive Nager fressen Seevögel und unterbrechen Mit topologischen Methoden konnten Fachleute
dadurch den Nährstoffkreislauf von Korallenriffen. verborgene Vorgänge im Gehirn aufdecken.
Von Kelsey Houston-Edwards
24 Immunsystem treibt Nervenzellen in den Tod
Bei Alzheimerpatienten scheint die Körperabwehr
FREISTETTERS FORMELWELT
das Gehirn anzugreifen.
73 »In einem Glas Wein findet man das Universum«
27 Mit Mathematik die Welt verstehen Und in Bier sehr viel Mathematik.
Der diesjährige Abelpreis geht an Luis Caffarelli.
ARCHÄOLOGIE
29 IMPRESSUM
74 Menschenopfer in der Wüste
SPRINGERS EINWÜRFE
Die Chimú opferten ihren Göttern nicht nur hunderte
30 Heilsame Panik Lamas, sondern auch massenhaft Kinder. Vermutlich,
Wer sich zur Flucht anstecken lässt, ist im Vorteil. um El Niño zu besänftigen.
Von Hubert Filser
PALÄOANTHROPOLOGIE
81 LESERBRIEFE
32 Als die Menschen laufen lernten
Für die Vorfahren von Homo sapiens führte der 82 VORSCHAU
Weg zum Zweibeiner über verschlungene Pfade.
Von Jeremy DeSilva
MEDIZIN
42 »Jeden Monat ein neuer Erreger« Weitere Beiträge
Oliver Kurzai und Martin Väth im Gespräch über
Bedrohungen durch Pilzinfektionen. Im PDF der Digitalausgabe sowie unter
spektrum.de/aktion/zusatzinhalte finden
49 IM BILD Sie die folgenden zusätzlichen Artikel:
INTERVIEW SCHLICHTING!
50 »Eine permanente Extremsituation« Wie Waben in der Wüste wachsen
SERIE: OZEANE (TEIL 4) Thomas Frölicher erklärt,
warum marine Hitzewellen und andere Extreme REZENSIONEN
zunehmend gehäuft auftreten.
TOPOLOGISCHE QUANTENANALYSE
Ein Job für Quantencomputer
FUTUR III
TITELBILD:
SAKKMESTERKE / GETTY IMAGES / ISTOCK;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
32 Als die
BARANOZDEMIR / GETTY IMAGES / ISTOCK
Menschen
laufen lernten 54 Endlager für Kohlendioxid
JEREMY DESILVA
66 Topologische 74 Massenopfer
NEURONE: EVGENII KOVALEV / GETTY IMAGES / ISTOCK; DONUTS: CAGKANSAYIN / GETTY IMAGES / ISTOCK;
Blitze in flagranti
erwischt
Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera
haben Wissenschaftler um den Physiker
Marcelo Saba vom brasilianischen For-
schungsinstitut INPE diesen Blitzeinschlag
fotografiert. Mit einem Tempo von dut-
zenden Kilometern pro Sekunde rasen
hier die negativen Entladungsäste auf den
Boden zu. Ihnen recken sich von mehre-
ren Gebäuden positiv geladene Leitblitze
entgegen. Das Foto zeigt feine Details des
Vorgangs: etwa die büschelartige Korona
der aufsteigenden Leitblitze sowie die
faserigen Strukturen rund um die Spitzen
der herabschießenden Äste.
Fotos wie dieses belegen, dass Blitzab-
leiter keineswegs immer schützen. Der
absteigende Entladungsast rechts im Bild
hielt zunächst auf den Blitzableiter des
Gebäudes zu, schlug dann aber überra-
schend einen Bogen und traf einen
Schornstein wenige Meter daneben.
Dabei riss er einen faustgroßen Brocken
aus dem Beton.
Geophysical Research Letters
10.1029/2022GL101482, 2022
zunehmende Rotverschiebung
1
z = 13,20
Intensität
0,5
–0,5
2 3 4 5
Wellenlänge (in Mikrometer)
0,8
z = 12,63 0,6
Intensität
0,4
0,2
0
S. TACCHELLA (CAMBRIDGE), E. CURTIS-LAKE (UOH), S. CARNIANI (SCUOLA NORMALE SUPERIORE), JADES COLLABORATION
–0,2
–0,4
NASA, ESA, CSA, M. ZAMANI (ESA/WEBB), LEAH HUSTAK (STSCI); SCIENCE: BRANT ROBERTSON (UC SANTA CRUZ),
2 3 4 5
Wellenlänge (in Mikrometer)
1,5
z = 11,58
abnehmende Rotverschiebung
Intensität
1
0,5
0
–0,5
2 3 4 5
Wellenlänge (in Mikrometer)
1,5
z = 10,38
Intensität
1
0,5
lang
lauschte das Team gesunde sowie
gestresste Tomaten- und Tabakpflan-
e, fl
zen – in einer schallisolierten Kammer
ach
und im Gewächshaus. Pflanzen, die
Ma e
unter Wassermangel litten oder
uer
beschnitten worden waren, machten
n
sich akustisch häufiger bemerkbar.
Sie gaben 30 bis 50 plopp- oder
klickähnliche Laute pro Stunde von
sich, die in unregelmäßigen Abstän-
den erklangen. Diese bestanden aus
Wellenpaketen mit einer Frequenz Innenhof
von mehreren zehn Kilohertz, was
Menschen ohne technische Hilfsmit-
tel nicht wahrnehmen können. Durf-
ten die Gewächse ungestört gedei-
hen und hatten genug Wasser zur
Verfügung, waren sie relativ still.
KENNEDY, M. ET AL.: CULT, HERDING, AND ‘PILGRIMAGE’ IN THE LATE NEOLITHIC OF NORTH-WEST ARABIA: EXCAVATIONS AT A MUSTATIL EAST OF ALULA.
PLOS ONE 18, E0281904, 2023, FIG. 2 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0281904) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
Die Geräusche erwiesen sich als
dermaßen charakteristisch, dass die
Arbeitsgruppe einen Algorithmus
erfolgreich darauf trainierte, anhand
der Tonaufnahmen zwischen unge-
stressten, durstigen und beschnitte-
nen Pflanzen zu unterscheiden. In
weiteren Versuchen entdeckten Eingang
Hadany & Co., dass auch andere
Gewächse unter Stress ploppen und Plattform
klicken – etwa Mais und Weizen.
Welcher Mechanismus die Töne
erzeugt, ist unklar. Das Team vermu-
tet, dass dabei kleine Luftbläschen im
Gefäßsystem der Pflanzen entstehen
und wieder kollabieren. Jenen Vor-
gang nennen Fachleute »Kavitation«. GEVIERT Ein typisches
Ob das Ganze irgendeine biologi- Mustatil mit zwei Plattformen
sche Funktion erfüllt, ist ebenso und Verbindungsmauern.
rätselhaft. Denkbar scheint, dass
benachbarte Pflanzen oder Insekten
aus den Lauten nützliche Informatio-
nen gewinnen. Es gibt bereits Belege
dafür, dass Pflanzen auf das Sum- ARCHÄOLOGIE die größte der Anlagen misst zirka
men von Bestäubern reagieren und 600 Meter in der Länge. Welchem
dann zum Beispiel mehr Nektar
produzieren.
Riesige Rechtecke Zweck sie dienten, war bislang
unklar. Nun haben Ausgrabungen
Als nützlich erweisen könnten sich für steinzeitlichen den Verdacht erhärtet, dass es sich
die Plopp- und Klicktöne im Pflanzen-
anbau. Gelänge es, sie mit techni-
Schädelkult bei den riesigen Bauten um Ritual-
stätten handelte.
schen Geräten zu erfassen und aus- Ein Archäologenteam um Melissa
zuwerten, könnten Landwirte bei-
spielsweise herausfinden, welche
Gewächse mehr Feuchtigkeit benö
Vor rund 7000 Jahren errichteten
Menschen, dort wo sich heute der
Norden Saudi-Arabiens befindet,
Kennedy von der University of Wes-
tern Australia hat ein 140 Meter
langes Mustatil nahe der saudi-ara
tigen. Damit ließen sich Plantagen hunderte rechteckige Steinformatio- bischen Oasenstadt Al-Ula frei ge-
effizienter bewässern. nen. Diese »Mustatil« bestehen aus je legt. Dabei deckten die Wissen-
zwei steinernen Plattformen, welche schaftler eine Kammer auf, in der drei
Cell 10.1016/j.cell.2023.03.009, 2023 mit flachen Mauern verbunden sind; steinerne Stelen aufrecht im Boden
sagen abzugleichen.
Inflation
Das Universum dehnte
sich in Sekundenbruch-
teilen um viele
Größenordnungen aus,
von subatmaren auf
makroskopische Skalen.
Die Lichtgeschwindigkeit
liefert den ultimativen
Vergleich: Sie bleibt
konstant, unabhängig von
der Geometrie des Raums.
Maßstab im Labor
Licht
Wenn man geschickt die Schallgeschwindig-
keit verändert, dann gibt es mathematisch
keinen Unterschied zu einem expandierenden
Raum – obwohl das System eigentlich gar
nicht größer wird.
Schall
expandierender Raum,
gleich bleibende Skala
(entspricht konstanter
Lichtgeschwindigkeit)
20 Mikrometer
einzelne Messungen
Dichte Kontrast
Kollektiver Quantenzustand
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ
aus zigtausend Atomen
Ein Bose-Einstein-Kondensat ist ein besonderer quanten
mechanischer Aggregatzustand. Aus dem Alltag kennen
wir die drei Erscheinungsformen der Materie fest, flüssig
und gasförmig. Sie unterscheiden sich darin, wie die
Atome oder Moleküle zusammenspielen. In einem Fest
körper sitzen sie in einem starren Kristallgitter, in einem
Gas schwirren sie wild durcheinander. Es gibt aber noch MAGNETO-OPTISCHE FALLE Mehrere
weitere Zustände. Im eingangs erwähnten Plasma wer gegenläufige Laserstrahlen und zwei horizontale
den bei extremer Hitze die Atomkerne und Elektronen Magnetspulen halten die Kaliumatome
voneinander getrennt. Bei sehr niedrigen Temperaturen im Vakuum an Ort und Stelle und kühlen sie.
wiederum gibt es das Bose-Einstein-Kondensat. Hier
kommt das schon angeführte quantenmechanische
Phänomen zum Tragen, dass sich manche Eigenschaften eine Maschine konstruiert, die automatisiert alle 20 Se
von Teilchen nur durch eine Welle beschreiben lassen. kunden ein Bose-Einstein-Kondensat erzeugt. Anschlie
Bei tiefen Temperaturen wird das ebenso für gesamte ßend geht sie ein Szenario für die Expansion durch und
Atome wichtig. Sie werden dann durch Wellen charakteri zeichnet das Ergebnis auf. Dafür brauchen wir eine Kam
siert, die sich umso weiter in den Raum ausdehnen, je mer mit Hochvakuum, Laser, optische Bauteile zu deren
kälter das Gas ist. Kühlt man eine Wolke aus Atomen fast Kontrolle und schnell veränderbare Magnetfelder.
auf den absoluten Temperaturnullpunkt ab, auf knapp Will man eine Wolke aus Atomen derart stark abküh
100 Nanokelvin, beginnen sich die Wellenfunktionen len, dass ein Bose-Einstein-Kondensat entsteht, muss
der Atome zu überlappen. Daraufhin formen sie einen man den Atomen fast jegliche Bewegungsenergie ent
kollektiven Quantenzustand, bei dem die individuellen ziehen. Das heißt, sie stehen beinahe still. Kommt die
Atome nicht mehr unterscheidbar sind. Das ist das Bose- Wolke in Kontakt mit warmer Materie aus der Umgebung,
Einstein-Kondensat. beschleunigt das die Atome sofort wieder. Ein Bose-
An der Universität Heidelberg haben wir ein mathema Einstein-Kondensat kann also nur in einem extremen
tisches Modell gefunden, das gleichzeitig ein Quantenfeld Vakuum existieren und muss dort von Lasern und Mag
in einer expandierenden Raumzeit beschreibt sowie netfeldern in der Schwebe gehalten werden.
Schallwellen in dem Bose-Einstein-Kondensat. Es basiert Der Kühlprozess selbst erfolgt ebenfalls durch Laser
auf einer Grundidee des kanadischen theoretischen licht und im letzten Schritt durch »evaporatives Kühlen«.
Physikers William Unruh aus den 1980er Jahren und Dabei werden die schnellsten Atome gezielt entfernt. Das
vielen seither erfolgten Weiterentwicklungen. Das lieferte nimmt den zurückgebliebenen im Mittel etwas Bewe
die prinzipielle Voraussetzung dafür, ein Kondensat als gungsenergie und somit Temperatur. Sobald sich die
Quantenfeldsimulator einzusetzen. Energie umverteilt hat, entnimmt man abermals die
Für die tatsächliche experimentelle Umsetzung haben schnellsten Atome. Das geht Schritt für Schritt so lange,
wir in der Arbeitsgruppe Synthetische Quantensysteme bis sich das Bose-Einstein-Kondensat formt. Bei unseren
ÖKOLOGIE
RACHEL GUNN
ihren Eiern. Dadurch haben sie deren
Populationen drastisch dezimiert:
Wie Forscher um Nicholas Graham
von der britischen Lancaster Univer- ABGELEGENES INSELPARADIES Das etwa 500 Kilometer
sity 2018 herausfanden, liegt die südlich der Malediven liegende Chagos-Archipel besteht aus
Seevogeldichte auf rattenverseuch- zahlreichen Atollen mit vorgelagerten Korallenriffen.
ten Inseln um bis zu 760-mal niedri-
ger als auf rattenfreien.
Seevögel stellen jedoch ein wichti- Artgenossen in den Riffen der Ratten- besitzern in der Überzahl auftreten
ges Bindeglied des Nährstoffkreis- inseln. und sich die begehrten Algen si-
laufs dar. Sie jagen auf See und Die zusätzlichen Nährstoffe aus chern. Wie die beiden Biologen Ingrid
kehren zum Schlafen und Brüten auf Seevogelkot steigern den Wert der Morgan und Donald Kramer von der
die Inseln zurück, wo sie große Fischreviere, so dass es sich für die McGill University in Montreal 2005
Mengen an Kot absetzen. Als nähr- Revierhalter eher lohnt, sich ent- beobachteten, bilden Doktorfische in
stoffreicher Guano werden die Exkre- schlossen für sie einzusetzen. Der Gebieten mit niedriger Riffbarsch
mente zurück ins Meer gespült und Nutzen aus einem solch wertvollen revierdichte dagegen nur selten
versorgen die nahe gelegenen Koral- Gebiet übertrifft dann die Energiekos Schwärme.
lenriffe mit zusätzlichen Nährstoffen. ten, die bei Revierkämpfen anfallen. Die Algenproduktivität kann eben-
Der Rattenbefall hat diesen Kreislauf Anders sieht es bei rattenverseuch- falls durch territoriale Riffbarsche
gestört und den Korallenökosyste- ten Inseln für die Juwelenriffbarsche beeinflusst werden: In den Fischre-
men den wertvollen Vogeldünger aus. Hier führt der unterbrochene vieren liegt die Algenbiomasse pro
entzogen. Nährstoffkreislauf zu qualitativ min- Quadratmeter um bis 3,4-mal höher
Wie wir nun herausfanden, derwertigen Revieren, die es kaum als außerhalb.
enthielten die Algen in den Juwelen- wert sind, verteidigt zu werden. Territoriale Riffbarsche wirken sich
riffbarschrevieren bei rattenfreien auch auf die Korallendichte und da-
Inseln mehr Nährstoffe als bei den Einfluss auf die mit auf die Struktur eines Riffs aus.
von den invasiven Nagern befallenen. Schwarmbildung Wie Studien aus dem Watamu-
Die Gesamtmenge der Algen blieb Somit verringerten die invasiven Rat- Meeres-Nationalpark vor der Küste
allerdings in beiden Fällen gleich. ten, indem sie den Nährstoffkreislauf Kenias 2015 ergaben, gibt es inner-
Demnach hat sich nur die Qualität, unterbrochen haben, die Aggressivi- halb der Reviere weniger junge
nicht aber die Quantität der Nah- tät der Riffbarsche. Eine solche Ver- Korallen als in den angrenzenden Are-
rungsressourcen für die Riffbarsche haltensänderung bleibt nicht ohne alen, vermutlich weil die Fische die
verändert. In den Gewässern um Folgen für das Korallenökosystem. kleinen Stöcke entfernen. Invasive
rattenfreie Inseln sorgt die hochwerti- So kann das Territorialverhalten Ratten könnten daher die Korallenre-
gere Nahrung dafür, dass die Fische der Riffbarsche die soziale Organisa genration beeinflussen, was wieder-
mit kleineren Revieren auskommen, tion von Blauen Doktorfischen (Acan- um die Funktionsfähigkeit des ge-
um genügend zu fressen zu finden. thurus coeruleus) beeinflussen. Die in samten Ökosystems stört.
Das wirkt sich wiederum auf das Korallenriffen des Indopazifiks leben- Der durch unsere Studie nachge-
Verhalten aus. Wie wir beobachteten, den Fische sammeln sich oft zu wiesene Zusammenhang zwischen
verfünffachte sich die Wahrschein- Schwärmen, wo Riffbarschreviere in dem Verhalten von Fischen und dem
lichkeit für aggressives Auftreten bei hoher Dichte vorkommen. Damit Nährstoffkreislauf von Seevögeln
den Juwelenriffbarschen der ratten- können wohl die Doktorfische beim unterstreicht, welche Bedeutung
freien Gebiete. Dafür besaßen die Tie- Wettbewerb um knappe Nahrungs- Ratten für das marine Ökosystem
re meist kleinere Reviere als ihre ressourcen gegenüber den Revier haben. In den vergangenen 16 Jahren
wurden invasive Ratten auf einigen schung über ökologische Reaktionen QUELLE
Inseln des Indischen Ozean ausgerot- auf Umweltveränderungen dar.
Gunn, R. L. et al.: Terrestrial invasive
tet. Wie wir 2021 belegen konnten, Dieser sollte einen Schwerpunkt für species alter marine vertebrate behaviour.
tragen solche Maßnahmen dazu bei, künftige Studien bilden. Nature Ecology & Evolution 7, 2023
dass Seevögel wieder mehr Nähr
Sally Keith ist promovierte Meeresbiologin
stoffe auf tropische Inseln und deren ©
an der Lancaster University (Großbritan
Korallenriffen eintragen.
nien). Rachel Gunn hat bei Keith promoviert theconversation.com/invasive-rats-are-chan
Damit stellt das Verhalten von und erforscht nun als Postdoc an der ging-fish-behaviour-on-coral-reefs-new-stu
Tieren einen wichtigen, aber wenig Universität Tübingen, wie Fische auf Um dy-197215 / CC BY-ND 4.0 (creativecommons.
untersuchten Aspekt bei der For- weltveränderungen reagieren. org/licenses/by-nd/4.0/legalcode)
ALZHEIMERFORSCHUNG
Immunsystem treibt
Nervenzellen in den Tod
Laut Tierversuchen könnten Hirnschäden, die für die Alzheimerkrankheit
typisch sind, von Immunzellen verursacht werden. Und das lässt sich mög
licherweise mit Arzneistoffen verhindern.
NATURE; GULDNER, I.H., WYSS-CORAY, T.: ACTIVATED IMMUNE CELLS DRIVE NEURODEGENERATION IN AN ALZHEIMER’S
Tau-Proteine Aktivierung von Aktivierung und
Mikrogliazellen Vermehrung von
Bei der Alzheimerkrankheit verklum- T-Lymphozyten
pen im Gehirn massenhaft Tau-Pro Rezeptor MODEL. NATURE 615, 2023, FIG. 1; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
JA H R G A N G 2 0 2 2
CD-ROM
Die SpektrumCDROM enthält den kompletten
Inhalt (inklusive Bildern) des Jahrgangs 2022
von Spektrum der Wissenschaft als PDFVersion.
Die Artikel sind im Volltext recherchierbar und
lassen sich ausdrucken.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
befindet. Chen und ihr Team stellten die Hirnschäden verursachen, die prüfen kann. Dennoch erlauben diese
fest: Bei Mäusen mit Tau-Aggregaten sich bei krankhafter Tau-Verklum- Ergebnisse einen Einblick darin, wie
war ein Typ übermäßig vertreten, pung einstellen. Um das zu prüfen, CD8+-Effektor-T-Zellen und regulatori-
nämlich aktivierte CD8+-Effektor-T- verabreichten sie Mäusen mit derarti- sche T-Zellen bei neurodegenerativen
Lymphozyten, die pathologisch ver- gen Tau-Aggregaten bestimmte Wirk- Erkrankungen zusammenwirken.
änderte Körperzellen erkennen und stoffe, die entweder die Mikroglia Es bleiben aber Fragen offen. So ist
abtöten. Mit zunehmender Menge an oder die T-Zellen abtöteten. Geschah es wichtig zu untersuchen, ob sich
Tau-Verklumpungen im Gehirn zeig- das, während die Nervenschädigung T-Zellen so manipulieren lassen, dass
ten diese Immunzellen immer mehr voranschritt, führten beide Behand- sie Krankheitssymptomen entgegen-
Anzeichen eines Erschöpfungszu- lungsmethoden zu deutlich weniger wirken und zugleich ihre nützlichen
Zerstörungen im Gehirn sowie zu Funktionen im Gehirn weiter ausüben.
einer offenbar reduzierten schädli- Generell ist ungeklärt, auf welche
wenn das abstrakt klingt, sind es Kontaktfläche ist, an der das Hinder-
diese Art von Gleichungen, die alle nis und die Seifenhaut aufeinander
Geschehnisse um uns herum be- liegen – und wie sie aussieht. Rein
schreiben. Denn sie erklären, wie sich intuitiv würde man vermuten, dass
gewisse Größen zeitlich und räumlich die Kontaktfläche einen glatten Rand
verändern. Damit erlauben sie es uns, besitzt, man erwartet keine Ecken
einen Blick in die Zukunft zu werfen. oder Kanten, sofern das Hindernis
Angenommen, man wirft einen Ball auch glatt ist. Doch das mathema-
in die Höhe: Die parabelförmige tisch zu beweisen ist schwierig. Man
Bahnkurve, die er zurücklegt, ist die könnte für allerlei Hindernisse die
Lösung einer zu Grunde liegenden sich ergebende Minimalfläche be-
Differenzialgleichung. rechnen – also extrem viele kompli-
zierte Differenzialgleichungen lösen.
Die Mathematik von Indem Caffarelli in den 1970er Jahren
Seifenblasen aber die Eigenschaften der zu Grunde
Viele spannende Phänomene wie die liegenden Gleichungen untersuchte,
Fließgeschwindigkeit eines Flusses konnte er zeigen, dass die Kontaktflä-
oder die Windrichtung hängen von che immer dann glatt ist (also keine
dem Ort ab, an dem man das System Sprünge oder Ecken hat), wenn es
betrachtet, sowie von der Zeit. Das das Hindernis ebenfalls ist.
Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744 Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien
Übersetzung: An diesem Heft wirkte mit: Dr. Sebastian GmbH & Co. KG, Marktweg 42–50, 47608 Geldern
Vogel
Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk
liegen bei der Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesell
Leser- und Bestellservice: Estefanny Espinosa de Rojas, schaft mbH. Jegliche Nutzung des Werks, insbesondere
Chefredaktion: Dr. Daniel Lingenhöhl (v.i.S.d.P.) Helga Emmerich, Sabine Häusser, Tel.: 06221 9126-743, die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche Wieder-
Redaktionsleitung: Dr. Hartwig Hanser E-Mail: service@spektrum.de gabe oder öffentliche Zugänglichmachung, ist ohne die
Redaktion: Manon Bischoff, Dr. Andreas Jahn, Vertrieb und Abonnementverwaltung: Spektrum vorherige schriftliche Einwilligung des Verlags unzulässig.
Dr. Karin Schlott, Dr. Frank Schubert, Verena Tang, der Wissenschaft V erlagsgesellschaft mbH, Jegliche unautorisierte Nutzung des Werks ohne die
Mike Zeitz (stellv. Redaktionsleiter); c/o ZENIT Pressevertrieb GmbH, Postfach 81 06 80, 70523 Quellenangabe in der nachstehenden Form berechtigt
E-Mail: redaktion@spektrum.de Stuttgart, Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366, den Verlag zum Schadensersatz gegen den oder die
E-Mail: spektrum@zenit-presse.de, jeweiligen Nutzer. Bei jeder autorisierten (oder gesetzlich
Art Direction: Karsten Kramarczik Vertretungsberechtigter: Uwe Bronn gestatteten) Nutzung des Werks ist die folgende
Layout: Claus Schäfer, Oliver Gabriel, Quellenangabe an branchenüblicher Stelle vorzunehmen:
Anke Heinzelmann, Natalie Schäfer © 2023 (Autor), Spektrum der Wissenschaft Verlagsge
Bezugspreise: Einzelheft € 9,80 (D/A/L), CHF 14,–; im
sellschaft mbH, Heidelberg.
Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Abonnement (12 Ausgaben inkl. Versandkosten Inland)
Sigrid Spies, Katharina Werle € 105,60; für Schüler und Studenten gegen Nachweis € 82,10.
PDF-Abonnement € 63,–, ermäßigt € 48,–. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher
Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg,
übernimmt die Redaktion keine Haftung; sie behält sich
Gabriela Rabe Zahlung sofort nach Rechnungserhalt. Konto:
vor, Leserbriefe zu kürzen. Auslassungen in Zitaten
Postbank Stuttgart, IBAN: DE52 6001 0070 0022 7067 08,
Redaktionsassistenz: Andrea Roth werden generell nicht kenntlich gemacht.
BIC: PBNKDEFF
Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesell
Die Mitglieder von ABSOLVENTUM MANNHEIM e. V.,
schaft mbH, Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, ISSN 0170-2971
des Verbands Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin
Hausanschrift: Tiergartenstraße 15–17, in Deutschland (VBio), des VCBG und von Mensa e. V.
69121 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-600, erhalten Spektrum der Wissenschaft zum Vorzugspreis. SCIENTIFIC AMERICAN
Fax: 06221 9126-751, 1 New York Plaza, Suite 4500, New York, NY 10004-1562
Amtsgericht Mannheim, HRB 338114 Editor in Chief: Laura Helmuth
Anzeigen: E-Mail: anzeigen@spektrum.de, President: Kimberly Lau
Geschäftsleitung: Markus Bossle
Tel.: 06221 9126-600
Assistenz Geschäftsleitung: Stefanie Lacher
Druckunterlagen an: Natalie Schäfer, Erhältlich im Zeitschriften-
Herstellung: Natalie Schäfer E-Mail: schaefer@spektrum.de und Bahnhofsbuchhandel
Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 44 vom und beim Pressefachhändler
Tel.: 06221 9126-741, E-Mail: service@spektrum.de 1. 1. 2023. mit diesem Zeichen.
Heilsame Panik
Ist es schon Empathie, wenn sich Tiere von der Furcht
der Artgenossen anstecken lassen?
spektrum.de/artikel/2128539
Ü
berall in den Weiten des Tierreichs stößt die Empathie, also Einfühlung,
moderne Forschung auf komplexe Verhal zu diagnostizieren. Geht es Michael Springer ist
tensformen und vermutet dahinter ein nicht auch ohne unterstell Schriftsteller und
Innenleben, wie man es früher eigentlich nur te Gefühle? Tatsächlich Wissenschaftspublizist. Eine
Sammlung seiner Einwürfe
uns Menschen zugetraut hätte. So konnte ich hier sondern verletzte Zebra
ist 2019 als Buch unter dem
bereits von depressiven Taufliegen berichten (Okto bärblinge eine Substanz Titel »Lauter Überraschungen.
ber 2021) und um die schonende Zubereitung ab, die ihr Entdecker, der Was die Wissenschaft weiter-
schmerzempfindlicher Hummer bitten (Juni 2022). für seine Erforschung des treibt« erschienen.
Nicht nur die uns evolutionär näherstehenden Bienentanzes berühmte
Verwandten wie Menschenaffen, Elefanten oder Verhaltensbiologe Karl von
Delfine bilden gern stabile Gruppen, deren Mitglie Frisch, in den 1930er Jah-
der über einander Bescheid wissen und sich gegen ren als »Schreckstoff« be-
seitig unterstützen. So etwas setzt Einfühlung in zeichnete. Wenn Artgenossen das Alarmsignal im
den Zustand des anderen voraus. Auch simplere Wasser aufspüren, verfallen sie in Panik: Sie irren
Lebewesen tun sich zusammen. Tritt eine derartige umher und stellen sich anschließend tot.
Empathie schon bei ihnen auf? Um diesen rein chemischen Außenreiz aus
Als Modellorganismus für genetische und etho zuschließen, platzierten die portugiesischen For
logische Studien erfreut sich seit einigen Jahrzehn scher die Fische in separaten Aquarien oder
ten der Zebrabärbling großer Beliebtheit. Das kleine spielten ihnen Fluchtreaktionen per Video vor.
Wirbeltier ist anspruchslos, leicht zu züchten und Zudem demonstrierten sie, dass die Furchtanste
hat viele Gene mit Säugetieren wie unsereinem ckung bei Mutanten, deren Oxytozin-Produktion
gemein. An ihm lassen sich nicht nur Feinheiten der genetisch lahmgelegt worden war, ausblieb, aber
embryonalen Entwicklung erforschen, sondern bei künstlicher Zugabe des Wirkstoffs wieder
außerdem die evolutionären Wurzeln von sozialem ansprang.
Verhalten.
F
Den Nachweis für das mitfühlende Benehmen ür echte Empathie spricht obendrein, dass
der Zebrabärblinge führten die Verhaltensbiologen einzelne Fische nach Abklingen der akuten
Ibukun Akinrinade und Kyriacos Kareklas vom Panikphase auf die noch immer vor Furcht
Instituto Gulbenkian de Ciência in Oeiras, Portugal, erstarrten Artgenossen zuschwammen und sie
zusammen mit Forschern aus Israel und Italien. Sie zu beruhigen schienen.
zeigten nicht nur, dass die Tierchen von der Furcht Vorderhand besteht dennoch kein Konsens
eines Artgenossen angesteckt werden, sondern darüber, ob man Fischen und Wirbellosen ein
überdies die wesentliche Rolle des Neurotransmit Innenleben zubilligen soll. Müssen sie als empfin
ters Oxytozin in ihrem Gehirn. Das ist bemerkens dungsfähig gelten, können sie Lust und Schmerz
wert, weil man Oxytozin von höheren Tieren als empfinden? Und selbst wenn man unter ihnen so
»Kuschelhormon« kennt, das einfühlsames oder etwas wie emotionale Ansteckung beobachtet –
ansteckendes Sozialverhalten fördert. Die Gegen heißt das, dass sie sich tatsächlich in ihresgleichen
wart dieses sozialen Wirkstoffs über weite Bereiche einzufühlen vermögen?
der Fauna hinweg scheint anzuzeigen, dass emotio Jedenfalls scheinen Verhaltensbiologen für
nale Ansteckung ein frühes Erfolgsprinzip der tierisches Gefühlsleben zunehmend offen zu sein.
Artenentwicklung gewesen ist (Science 379, Das ist ein auffälliger Kontrast zur Debatte über
S. 1232–1237, 2023). künstliche Intelligenz: Da beeilen sich fast alle
Skeptiker könnten freilich einwenden, es sei Diskussionsteilnehmer, sofort zu betonen, eine
doch ein bisschen weit hergeholt, bei der Flucht Maschine könne niemals Gefühle oder gar Empa
reaktion eines Schwarms kleiner Fische gleich thie haben. Aber wer weiß, wie lange noch?
JEREMY DESILVA
Beinen einherschreitet. Diese in den 1960er Jahren erst-
mals aufgetauchte Zeichnung »March of Progress« wur-
den zunehmend beliebt und ziert seither in seinen Ab-
wandlungen unzählige Bücher, T-Shirts, Autoaufkleber
und Kaffeebecher.
Paläoanthropologische Entdeckungen aus den letzten
beiden Jahrzehnten brachten die Fachleute aber inzwi-
schen dazu, das traditionelle Bild einer linearen Abfolge
neu zu zeichnen. Unser heutige Fortbewegungsart war
nicht vorherbestimmt, die einzelnen aufeinander folgen-
den Vorfahren marschierten keineswegs immer weiter auf
ein Ziel zu – schließlich verfolgt die Evolution keinen Plan.
Vielmehr probierten die frühen Homininen viele Formen
des Aufrechtgehens aus, von denen sich schließlich eine
durchsetzen sollte.
machen, weil sie dabei auf Grund der anatomischen lien stammt kein einziges von einem Bären. Offensichtlich
Verhältnisse von Hüfte und Knien hin- und herwanken. sollte man die Zweibeinerspuren am Fundort A in einem
Von nun an hatten wir an der Bärenhypothese unsere neuen Licht betrachten. Allerdings verfügen die gleichen
Zweifel. saisonalen Regenfälle, die uns fossile Knochen und Fuß-
Inzwischen liegt die Entdeckung der Fußspuren von abdrücke schenkten, auch über die Kraft, sie durch Ero
der Fundstätte A fast 50 Jahre zurück. Während dieser sion wieder zu zerstören. Wir hatten daher befürchtet,
Zeit haben die jahreszeitlichen Niederschläge das Sedi- dass die Abdrücke längst verschwunden waren. Glück
ment von den kargen Hügeln bei Laetoli weiter ausgewa- licherweise hatten wir uns geirrt.
schen und Zehntausende von Fossilien frei gelegt. Et- 2019 reisten Musiba und ich nach Laetoli. Mary
liche davon haben Arbeitsgruppen unter der Leitung von Leakeys detaillierte Zeichnungen führten uns wie eine
Charles Musiba von der University of Colorado, Terry Schatzkarte genau zu dem Ort, an dem sich die rätselhaf-
Harrison von der New York University und Denise Su von ten Zweibeinerabdrücke befinden sollten. Dort begannen
der Arizona State University geborgen. Von anderen wir zu graben. Nach wenigen Tagen rief unser tansani-
Fundorten wissen wir, dass Bären der ausgestorbenen scher Mitarbeiter Kallisti Fabian: »Mtu« – das Swahili-
Gattung Agriotherium während des Pliozäns durch Afrika Wort für »Mensch«. Er hatte die Fußabdrücke gefunden.
streiften, aber unter den in Laetoli gefundenen Tierfossi Der Regen hatte sie nicht zerstört, sondern alle fünf mit
Schimpanse
Laetoli
Little Foot AUSTRALOPITHECUS A. sediba H. floresiensis
A. africanus H. sapiens
A. afarensis H. naledi
H. erectus
Burtele-Fuß
H. habilis
P. robustus
GRAFIK: JEN CHRISTIANSEN; FUSSKNOCHEN: DINO PULERÀ / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2022; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
P. boisei
P. aethiopicus PARANTHROPUS
einer Schicht aus feinem Sediment zugedeckt und so Körperbau und Größe, und das Gleiche gilt auch für unse-
konserviert. Mit Zungenspateln und Borstenpinseln re Füße. Mit ziemlicher Sicherheit war das bei Australo
reinigten wir die Spuren, legten nie zuvor gesehene pithecus afarensis genauso. Vielleicht repräsentieren die
Details der Zehenabdrücke frei und zeichneten sie mit Fußabdrücke an den Fundstätten A und G die normale Va-
hochauflösenden 3-D-Laserscannern auf, die unseren Kol- riationsbreite innerhalb einer einzigen Spezies. Wenn das
legen in den 1970er Jahren noch nicht zur Verfügung stimmt, könnten die kleinen Abdrücke von Laetoli A quasi
gestanden hatten. Die Fersenabdrücke am Fundort A sind von Lucys Kind stammen. Diese Hypothese hatte ich
breit, und wie beim Menschen und seinen Vettern, den anfangs ohnehin schon aufgestellt.
Menschenaffen, dominiert der große Zeh. Das war kein Gemeinsam mit Kevin Hatala von der Chatham Univer-
Bär. Ein Hominine hatte die Fährte hinterlassen. Aber sity, einem Experten für Fußspuren, der an der Entde-
welcher? ckung und Analyse der 1,55 Millionen Jahre alten Spuren
Wenn Sie an einem Sandstrand entlangspazieren, von Homo erectus im kenianischen Ileret beteiligt war,
dürften Sie die unterschiedlichsten Fußstapfen von Homo verglichen wir die Form der Abdrücke von Laetoli A mit
sapiens sehen – beispielsweise kleine, flache Abdrücke den am besten erhaltenen vom Fundort G und mit einer
von einem Kleinkind neben den großen, gebogenen der weiteren Fährte, die man 2015 an der Stätte S entdeckt
Mutter. Heutige Menschen unterscheiden sich stark in hatte, sowie mit hunderten Fußabdrücken von Menschen
SHIRLEY RUBIN
schiedlichen Gang von der Olduvai-Schlucht nach Nor- den Sedimentschicht noch gut erhalten waren.
den, vielleicht auf der Suche nach Wasser. Da die Ab-
druckschicht nach heutiger Kenntnis höchstens wenige
Tage repräsentiert, ist das der beste Beleg dafür, dass
verschiedene Homininenspezies im Pliozän zur gleichen
Zeit sowie am selben Ort lebten. Ob zwischen ihnen
irgendwelche Interaktionen stattfanden – und wenn ja,
welche –, bleibt spekulativ.
Die Wiederentdeckung der Fußspuren von Laetoli A
und unsere Schlussfolgerung, dass sie von einer zweiten
Spezies stammen, stellen die bislang letzten Beiträge zu
einer wachsenden Zahl an Indizien dar, wonach die Evolu-
tion des aufrechten Gangs weit weniger geradlinig, son-
dern viel komplizierter und interessanter verlief, als man
früher geglaubt hatte. Ein weiterer Anhaltspunkt stammt
von Fossilien der Homininen selbst. Einzelne Fußknochen
gibt es bei menschlichen Überresten nur selten, noch
seltener entdeckt man ganze Fußskelette. Umso spannen-
der sind die Funde aus dem Großen Afrikanischen Gra-
benbruch sowie aus Höhlen in Südafrika, mit denen
Paläoanthropologen in den letzten zwei Jahrzehnten die
Zahl der Fossilien des einzigen Körperteils, der in unmit-
telbarem Kontakt zum Untergrund steht, vervierfacht
haben. Viele dieser Neuentdeckungen stammen aus einer
entscheidenden Phase der menschlichen Evolution, als
gen müssten, wenn sie auf diese Weise laufen. Mit ande-
ren Worten: Nach unserer Überzeugung war die Spezies
an Hyperpronation adaptiert. Warum? Schultern und
Arme von A. sediba lassen erkennen, dass er auf Bäume
kletterte, und in seinen Zähnen fanden sich mikrosko-
pisch kleine Spuren von Pflanzenzellen, die von Blättern,
Früchten und Baumrinde stammten – Anhaltspunkte,
dass diese Spezies ihre Mahlzeiten häufig im Geäst ein-
nahm. Ihre Art zu gehen war der Kompromiss eines
Homininen, der an das Leben in zwei Welten angepasst
war: Er kam sowohl oben in den Baumkronen als unten
auch am Erdboden zurecht – und das lange nachdem
andere Homininenarten sich vollständig auf ein Dasein
am Boden eingestellt hatten (siehe »Multifunktionell«).
A. sediba war nicht der einzige Hominine, der sich vor
zwei Millionen Jahren im südlichen Afrika herumtrieb.
Eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Andy Herries von
der La Trobe University in Australien berichtete 2020 über
neu entdeckte Fossilien aus dem Höhlensystem von
Drimolen, das sich ebenfalls in der Region der »Wiege der
Menschheit« befindet. Die Fossilien gehören zu zwei
anderen Homininenarten: einerseits zu Paranthropus
robustus, der durch seine großen Zähne auffällt, und
andererseits zu Homo erectus, dem mutmaßlichen Urahn
unserer eigenen Spezies. Mit anderen Worten: Hier lebten
»Jeden Monat
taucht ein neuer
Pilzerreger auf«
In der Fernsehserie »The Last of Us« dezimiert
ANLASS ZUR
SORGE Der
krank machende
Pilz Candida
auris, hier auf
einem Nährbo
den wachsend,
verbreitet sich
weltweit in
rasantem Tempo.
Ein ansteckender Pilz taucht auf und verursacht eine
tödliche Pandemie; Infizierte verwandeln sich in
Zombies und die Welt geht unter. So jedenfalls der Sie spielen darauf an, dass es Pilze gibt, die Ameisen
Plot der Fernsehserie »The Last of Us«. Ist das bloße befallen und sie gewissermaßen fremdsteuern. Was
Spinnerei oder beruht es auf einem wahren Kern? Wie passiert da?
gefährlich können Pilzinfektionen sein? »Spektrum« Kurzai: Von diesen Pilzen, im Deutschen nennen wir
sprach darüber mit dem Mediziner Oliver Kurzai und dem sie Kernkeulen, leben manche als Insektenparasiten. Ihre
Biochemiker Martin Väth von der Universität Würzburg. Sporen liegen am Waldboden, wo sich Ameisen bewe-
Beide sind Fachleute für Pilzerkrankungen und die damit gen. Wenn die Sporen an einer Ameise kleben bleiben,
verbundenen Immunmechanismen. wächst der Pilz in sie hinein und vermehrt sich in ihr,
auch im Gehirn. Und das führt zu einem veränderten
Herr Kurzai, Herr Väth, in der Fernsehserie »The Last Verhalten. Die Tiere laufen an Pflanzen hoch bis in eine
of Us« verwandelt sich ein Pilz wegen des Klimawandels bestimmte Höhe, wo die Luftfeuchtigkeit für den Pilz
in einen tödlichen Erreger. Er befällt Menschen und ideal ist. Dort beißen sie sich fest. Der Pilz frisst sie dann
macht sie zu Zombies. Kann das wirklich passieren? von innen auf, wächst und bildet neue Sporen. Die fallen
Oliver Kurzai: Realistisch ist das nicht. Wir brauchen auf den Boden runter, wo sich wieder Ameisen damit
keine Angst zu haben, dass ein Killerpilz auftaucht, bei infizieren.
seinen Opfern komplexe Verhaltensänderungen auslöst
und in kurzer Zeit die Menschheit ausrottet. Andererseits Wie macht der Pilz das?
beruht die Fernsehserie auf biologischen Fakten, die real Kurzai: Gute Frage. Er muss die Ameisen ja nicht nur
sind und hier überspitzt weitergedacht wurden. Es dazu bringen, nach oben zu klettern. Sie müssen das in
stimmt, dass Pilze Menschen infizieren, und es ist richtig, einer bestimmten Region des Waldbodens tun und sich in
dass der Klimawandel großen Einfluss darauf hat. Und wir einer bestimmten Höhe verbeißen, damit der Pilz ideale
kennen Erreger aus dieser Gruppe, die das Verhalten ihrer Wachstumsbedingungen antrifft. Wie das genau funktio-
Wirte auf erstaunliche Weise manipulieren. niert, weiß kein Mensch. Es hat etwas damit zu tun, dass
Pilzen rufen beim Menschen standardisiert behandeln lassen, sind Pilzkrankheiten fast
immer eine Herausforderung – sowohl diagnostisch als
manchmal komplexe auch therapeutisch. Und die Meldezahlen ans Nationale
Referenzzentrum nehmen seit Langem zu. Mittlerweile
Wesensveränderungen hervor beraten wir Kliniker in Deutschland in deutlich über 1000
Fällen pro Jahr. Darum können wir dankbar sein für eine
Fernsehserie wie »The Last of Us«, die ein Licht auf diese
manchmal vergessene Erregergruppe wirft.
Machen Pilze das gezielt?
Kurzai: Sie haben einen konkreten Nutzen davon. Aber Das heißt, die Zahl der Pilzinfektionen steigt?
dass sie sich dessen bewusst sind, davon kann man nicht Väth: Ich denke schon. Die Covid-19-Pandemie hat uns
ausgehen. Und was den Komplexitätsgrad der Wirte vor Augen geführt, wie bedrohlich Infektionskrankheiten
betrifft: Es gibt einen Parasiten – allerdings keinen Pilz –, sind. Das schließt nicht nur virale, sondern alle Erreger
der Mäuse und andere kleine Nager befällt und ihnen die ein, einschließlich der Pilze. Strukturierte Forschungs
Angst vor Raubtieren nimmt. Sie werden dann häufiger programme wie das FungiNet-Konsortium, in dem Oliver
gefressen, wodurch sich der Parasit besser verbreitet. Das Kurzai und ich mitarbeiten, haben das Thema stärker ins
ist eine umfassende Verhaltensänderung, und zwar bei Bewusstsein gerückt.
Tieren, die definitiv komplexer aufgebaut sind als Amei- Kurzai: Die Weltgesundheitsorganisation hat 2023
sen. Wenn das mit Mäusehirnen funktioniert, fallen einem erstmals eine Liste krank machender Pilze veröffentlicht,
nicht mehr viele Gründe ein, warum es mit menschlichen welche ihrer Einschätzung nach vorrangig erforscht
Gehirnen nicht gehen sollte. Allerdings kennen wir keinen werden sollten. Das hat sicher zusätzlich geholfen, diese
einzigen Fall, der auch nur annähernd so extrem wäre wie Erregergruppe sichtbarer zu machen.
in »The Last of Us« dargestellt.
Welche Pilze werden uns denn besonders gefährlich?
Weltweit gibt es mehrere Millionen Pilzarten. Nur etwa Kurzai: Nach Einschätzung der WHO sind das vier
300 davon verursachen Krankheiten beim Menschen. Arten. Dazu gehören die Hefepilze Candida albicans, eine
Tun Pilze sich schwer damit, uns zu infizieren? altbekannte Spezies, und Candida auris, ein ganz neuer
Kurzai: Die meisten kommen mit hohen Temperaturen Erreger, der sich quasi erst seit den 2000er Jahren ver-
nicht gut zurecht. 37 Grad ist für viele von ihnen keine breitet und von dem keiner so richtig weiß, wo er her-
geeignete Wachstumstemperatur mehr, weshalb sie im kommt. Candida auris kann alle möglichen Organe befal-
menschlichen Körper nicht gedeihen und uns folglich len und tödliche Erkrankungen auslösen. Er verursacht ak-
nicht infizieren. Am Nationalen Referenzzentrum für tuell tatsächlich eine Pandemie, die aber viel langsamer
Invasive Pilzinfektionen bekommen wir es ungefähr voranschreitet als Viruspandemien wie Covid-19. Dann
einmal im Monat mit einem Pilzerreger zu tun, den wir gibt es Cryptococcus neoformans, ebenfalls einen Hefe-
Hautkrebs weltweit
Manche Länder trifft es viel stärker als andere.
Text: Clara Moskowitz, Grafik: MSJONESNYC
Hautkrebs gehört zu den häufigsten Tumorleiden. Die Zahl der Betroffenen nimmt seit Jahren zu – unter ande
rem, weil ältere Menschen vielerorts einen wachsenden Anteil der Bevölkerung stellen und das Krebsrisiko mit
den Lebensjahren steigt. Ob man an Hautkrebs erkrankt oder nicht, hängt vor allem davon ab, wie viel ultra
violette Strahlung der Sonne man lebenslang abbekommt. Das Risiko kann von Land zu Land stark differieren, da
Einwohner verschiedener Regionen oft eine unterschiedlich ausgeprägte Hautpigmentierung besitzen, die vor ent
sprechenden Tumoren schützt, und auch die Menge des direkt einfallenden Sonnenlichts variiert. »Bösartige Tumoren
der Haut treten bei hellhäutigen Menschen fast 30-mal häufiger auf als bei dunkelhäutigen«, sagt Ahmedin Jemal,
Krebsepidemiologe der American Cancer Society. »Und selbst innerhalb der Hellhäutigen gibt es Unterschiede: Jene
mit besonders blassem Teint, blauen Augen und blonden Haaren tragen ein erhöhtes Risiko.«
Neue Behandlungsmethoden einschließlich der Krebsimmuntherapie haben dazu beigetragen, die Überlebensraten
zu erhöhen. Wer heute in Deutschland ein malignes Melanom (»schwarzen Hautkrebs«) diagnostiziert bekommt, kann
meist mit einer günstigen Prognose rechnen: Die Wahrscheinlichkeit, fünf Jahre später noch zu leben, beträgt etwa
93 Prozent, verglichen mit einer durchschnittlichen Person gleichen Alters und Geschlechts, die keinen Krebs hat.
Montenegro Norwegen
3
Slowakei
Slowenien Dänemark Australien
Serbien Kroatien
Polen Schweden Niederlande
2 Österreich Irland
Namibia
»Eine permanente
Extremsituation«
Nicht nur an Land spielt das Wetter immer öfter verrückt: In den Ozeanen
häufen sich Ereignisse wie Warmwasserblasen oder Säureextreme.
Treten mehrere solcher Bedingungen gleichzeitig auf, geraten Meerestiere
besonders unter Druck. Der Klimawissenschaftler Thomas Frölicher ist
einer der Ersten, die das noch kaum untersuchte Phänomen erforschen.
spektrum.de/artikel/2128554
Spektrum: Herr Frölicher, wir wollten ursprünglich über peratur. Die steigende Lufttemperatur auf Grund der men-
Hitzewellen im Ozean sprechen, aber Sie sagten mir, so schengemachten Treibhausgasemissionen führt dazu, dass
genannte »compound events« seien viel spannender. sich das Meer von oben nach unten erwärmt. Tatsächlich
Worum handelt es sich dabei? nimmt der Ozean etwa 90 Prozent der Wärme auf, die im
Thomas Frölicher: Ich forsche schon eine Weile an Erdsystem durch den Anstieg der Treibhausgase gespei-
Warmwasserextremen, also an marinen Hitzewellen. chert wird.
Unsere aktuellsten Forschungsergebnisse haben gezeigt, Wegen der zusätzlichen CO2-Emissionen erhöht sich die
dass diese marinen Hitzewellen meist nicht allein auf atmosphärische CO2-Konzentration kontinuierlich. Der
treten, sondern oft zusammen mit anderen Extrem Anstieg wäre noch viel größer, als er eigentlich ist, wenn
ereignissen. Man spricht dann von kombinierten Extrem nicht das Land und der Ozean jeweils 20 bis 30 Prozent der
ereignissen, so genannten »compound events«. Das ist derzeitigen Emissionen aufnähmen. Die restlichen 40 bis
relativ neu. 50 Prozent bleiben in der Atmosphäre, weshalb der CO2-
Gehalt dort steigt. Wird Kohlenstoffdioxid im Ozean gelöst,
Wie sind Sie darauf gestoßen, dass diese kombinierten kommt es zu chemischen Reaktionen, bei denen Bikarbo-
Ereignisse wichtig sind? nat entsteht und Protonen freigesetzt werden. Der pH-
Im Nordostpazifik ereignete sich zwischen 2013 und 2015 Wert sinkt. Die Freisetzung von Protonen führt also zur
eine riesige Warmwasserblase – der »Blob«. Seine Aus- Ozeanversauerung, was eine Bedrohung für Organismen
wirkungen waren verheerend, da er unter anderem schäd- darstellt, die Schalen aus Kalk bilden.
liche Algenblüten und Massensterben von gewissen Tier-
arten verursachte. Die extrem hohe Wassertemperatur Die Kalkschalen lösen sich im sauren Wasser auf, richtig?
war durch Satellitenmessungen bekannt. Mit Hilfe eines Wenn man eine Muschelschale in ein Glas Essig legt, löst
hochaufgelösten Ozeanmodells haben wir untersucht, sich die Muschel allmählich auf. Denn der Essig hat einen
was während solch einer Warmwasserblase mit anderen niedrigen pH-Wert, und das schadet den Kalkschalen.
Stressfaktoren passiert. Dabei stellten wir fest, dass die Einen ähnlichen Effekt findet man im Ozean: Steigt der
beobachteten Auswirkungen – darunter gestrandete tote Säuregehalt über einen gewissen Schwellenwert, dann
Fische und Algenblüten – möglicherweise nicht nur eine führt das bei Kalkschalen bildenden Organismen und
Folge von warmem Wasser waren, sondern eine Kon Korallen zu Problemen. Das ist der zweite Stressfaktor.
sequenz verschiedener Stressfaktoren. Und so haben wir
unseren Fokus auf compound events gelegt. Und drittens?
Drittens verliert der Ozean auf Grund der globalen Erwär-
Von welchen Stressfaktoren sprechen wir? mung Sauerstoff. Das hat verschiedene Gründe: Erstens ist
Einer der Faktoren, denen marine Organismen oft nicht Sauerstoff in wärmerem Wasser weniger löslich, es ge-
gewachsen sind, ist die starke Erhöhung der Wassertem- langt demnach weniger davon aus der Atmosphäre in die
Wir haben also Hitzewellen, Versauerung und Sauer Das Geheimnis des Meeresleuchtens
stoffmangel. Werden die einzelnen Extreme für sich Michelle Nijhuis
genommen häufiger? Verborgene Wanderungen
Ja. Die Anzahl der marinen Hitzewellen hat sich seit Katherine Harmon Courage
(spektrum.de/artikel/2117967)
Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1982 etwa
verdoppelt. Versauerungsextreme wiederum nehmen so TEIL 4: JUNI 2023
stark zu, dass heute im Vergleich zur vorindustriellen Zeit »Eine permanente Extremsituation«
quasi eine permanente Extremsituation herrscht. Die Interview mit Thomas Frölicher
Sauerstoffextreme schließlich haben sich über die letzten
150 Jahre gemäß Modellstudien etwa verfünffacht.
Ein Endlager
für Treibhausgas
Die Lagerung von Kohlenstoffdioxid
tief in der Erde galt in Deutschland lange
als nicht umsetzbar. Nun wagt die
Bundesregierung einen neuen Anlauf für
das Verfahren. Ein Überblick über die
Technologie, ihre Chancen und Grenzen.
spektrum.de/artikel/2128557
TREIBHAUSGASE
wie von diesem
Kohlekraftwerk gelan-
gen bisher unge-
bremst in die Luft.
Ändert sich das bald?
BARANOZDEMIR / GETTY IMAGES / ISTOCK
–2 –1,8 –1,6 –1,4 –1,2 –1 –0,8 –0,6 –0,4 –0,2 0 Gt CO2 pro Jahr
BECCS
Biokohle
andere neuartige Technologien
Dabei gewinnt man, vereinfacht gesagt, Energie aus Projekte umgesetzt würden, die derzeit in Entwicklung
pflanzlicher Biomasse und lagert das frei werdende CO2 sind, käme man im Jahr 2025 auf rund 11,75 Milliarden
ein. 1,8 Millionen Tonnen atmosphärischen Kohlenstoff Tonnen CO2-Entnahme, rechnen die Autoren vor.
dioxids haben solche Verfahren 2022 gebunden. Bei der Das reicht jedoch nicht. Wenn die Welt bis 2050
Herstellung von Biokohle nutzt man ebenfalls aus, dass Netto-null-Emissionen erreichen soll – ab dann also
Pflanzen CO2 verstoffwechseln; die Pflanzenreste werden unterm Strich keine Treibhausgase mehr ausstoßen
pyrolysiert und können als Kohle beispielsweise in den soll –, müssen wir bereits im Jahr 2030 etwa 30-mal so
Boden eingebracht werden. Auf diese Weise wurden im viel CO2 entnehmen wie heute, bis 2050 gar 1300-mal
Jahr 2022 etwa 0,5 Millionen Tonnen Klimagas aus der so viel.
Luft entfernt. Alle anderen neuartigen CDR-Methoden Daher müssen die dazu nötigen Technologien bis 2030
zusammen kommen nur auf rund 20 000 Tonnen. weltweit stark ausgebaut werden, fordern die Verfasser
Das Problem: Die Techniken sind noch nicht in des Berichts. Schon in den nächsten Jahren brauche es
großem Maßstab verfügbar. Ein erstes Beispiel für ein Anlagen im industriellen Maßstab, erklärte Jan Minx,
funktionierendes Unterfangen ist eine Anlage der einer der vier federführenden Autoren, bei der virtuellen
Schweizer Firma Climeworks in Island. Sie scheidet Vorstellung der Studie vor Journalisten und warnte:
Kohlenstoffdioxid aus der Luft ab und verpresst es in »Wenn wir das nicht hinbekommen, wird die Aufskalie-
Basaltformationen tief unter der Erde. Solche Verfahren rung in Zukunft sehr schwierig werden. Wir laufen Ge-
nennt man »direct air carbon capture and storage« fahr, die CO2-Entnahmeziele für die Mitte des Jahrhun-
(DACCS). Andere Technologien sind bislang nicht viel derts nicht zu erreichen.«
mehr als theoretische Konzepte. Dazu zählen etwa die Das Klimagas aus der Atmosphäre zu entfernen
Düngung der Ozeane mit Eisen, damit dort lebende bedeutet aber nicht, dass sich die Welt in Sachen Treib
Organismen mehr CO2 aufnehmen, welches sie dann hausgas-Reduktion zurücklehnen kann, machten die
beim Absterben in Form von organisch gebundenem Autoren klar. Es sei essenziell, die Emissionen gleichzeitig
Kohlenstoff mit auf den Meeresgrund nehmen. Oder massiv zu drosseln. »Es geht nicht mehr um Entweder-
auch die Entsauerung der Ozeane durch Silikate oder oder, wir brauchen beides«, konstatierte Mitautor Oliver
Karbonate. Geden.
Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu
CDR-Technologien wächst seit den 1990er Jahren expo- WEBLINK
nenziell, ebenso werden immer mehr Patente angemel-
www.stateofcdr.org
det. Dazu kommen international und national geförderte
Forschungsprogramme. Wenn alle neuartigen CDR- Der aktuelle Bericht inklusive aller zu Grunde liegenden Daten
Die Entdeckung
der Gase
In der Antike galt Luft als eines der vier Grundelemente.
Wohl auch deshalb begann die systematische Erforschung
gasförmiger Stoffe erst im 18. Jahrhundert.
spektrum.de/artikel/2128560
Vermutlich wissen Sie, welche Elemente die Luft 2 Kohlenstoffmonoxid-Moleküle + 1 Sauerstoff-Molekül
–› 2 Kohlenstoffdioxid-Moleküle
enthält, die Sie gerade atmen: eine Mischung aus
Sauerstoff und Stickstoff, ein paar Edelgase, viel
leicht kennen Sie sogar den aktuellen Gehalt an CO2 Außerdem kannte van Helmont »Schwefelgas«
(derzeit rund 419 millionstel Teile) und einige Stickoxide. (Schwefeldioxid, SO2), das bei der Verbrennung von
Dass wir Gase und deren unterschiedliche Eigen Schwefel entsteht, sowie einige andere Gase. Hierzu
schaften überhaupt so gut kennen, verdanken wir nicht zählte ein ganz besonderes, das er durch Einwirken von
zuletzt einigen hartnäckigen Wissenschaftlern, die im Salpetersäure (HNO3) auf Metalle wie Silber oder Kupfer
17. und 18. Jahrhundert bahnbrechende Experimente erhielt. Er beobachtete, dass sich dieses Gas an der Luft
durchgeführt haben. Bis dahin waren gasförmige Elemen braun färbte (»Auf der Spur der Gase«, b).
te und Verbindungen nämlich noch weitgehend unent Chemisch kann man das Auflösen der Metalle auf
deckt. diese Weise beschreiben (»s«, »aq« und »l« stehen für
Der flämische Naturforscher und Arzt Johan Baptista »fest«, »in Wasser gelöst« und »flüssig«):
van Helmont (1580–1644) bereitete den Weg für die Unter
suchung »luftartiger Substanzen«. Er bezeichnete sie als 3 Cu (s) + 2 NO3– (aq) + 8 H+ (aq)
»Gase« und erkannte, dass es mehrere von ihnen –› 3 Cu2+ (aq) + 2 NO (g) + 4 H2O (l)
gibt, die sich von der Luft unterscheiden. Nach damaliger 3 Kupfer-Atome + 2 Nitrat-Ionen + 8 Wasserstoff-Ionen
–› 3 Kupfer-Ionen + 2 Stickstoffmonoxid-Moleküle + 4 Wasser-Moleküle
Lehrmeinung nahm Luft an keiner chemischen Reak
tion teil.
Ein ihm bekanntes Gas war »Kohlengas«, das bei der Das farblose Stickstoffmonoxid reagiert an der Luft mit
Verbrennung von Holz entsteht. Es bildet sich etwa unter Sauerstoff zu braunem Stickstoffdioxid:
folgenden Bedingungen: Ein großes Reagenzglas wird mit
Holz halb voll gefüllt. Anschließend wird es mit einem 2 NO (g) + O2 (g) –› 2 NO2 (g)
durchbohrten Stopfen, in dem ein Glasrohr steckt, ver 2 Stickstoffmonoxid-Moleküle + 1 Sauerstoff-Molekül
–› 2 Stickstoffdioxid-Moleküle
schlossen und kräftig erhitzt. Die Dämpfe, die am Ende
MATTHIAS DUCCI
MATTHIAS DUCCI
a b c
AUF DER SPUR DER GASE Beim Verschwelen von Holz entstehen Kohlenstoffmonoxid und weitere
brennbare Gase a . Taucht man Kupfer in konzentrierte Salpetersäure, entsteht ein Gas, das sich an der Luft
braun färbt b . Unedle Metalle reagieren mit Salzsäure zu brennbarem Wasserstoff c .
Van Helmont untersuchte die Gase nicht genauer, mit verschiedenen Teilchen beladene Luft. Unter anderem
dennoch kann man ihn als Begründer der so genannten deshalb gilt ein anderer englischer Wissenschaftler als der
pneumatischen Chemie ansehen. Entdecker des Wasserstoffs: Henry Cavendish (1731–
Als der englische Naturforscher Robert Boyle (1627– 1810). Er fand heraus, dass die so entstehende »brennbare
1692) in einer Phiole – einem Glasgefäß mit engem Hals – Luft« sich auch mit Zink und Zinn in Kombination mit
Stahlspäne mit konzentrierter Salzsäure übergoss, be konzentrierter Säure bildet (»Auf der Spur der Gase«, c).
merkte er, wie ein weiteres Gas entstand. Es ließ sich mit Cavendish deutete seinen Fund ebenfalls entsprechend
einer Kerzenflamme entzünden. Noch ganz in der alche der seinerzeit gängigen Vorstellungen. So war er über
mistischen Denkweise verhaftet, deutete er die Gase als zeugt, endlich einen von der Wissenschaft lange gesuch
GRUNDLEGENDE ERKENNTNISSE Gase besitzen eine Masse, wie die Waage zeigt a . In einer Sauerstoffatmo-
sphäre brennt eine Kerze heller als an Luft b und ein glimmender Holzspan entzündet sich c .
a b c
MATTHIAS DUCCI
MATTHIAS DUCCI
MATTHIAS DUCCI
Bedingungen) stets
dieselbe Anzahl
Moleküle vorhan-
den b .
MATTHIAS DUCCI
eines mit Wasserstoff gefüllten Ballons ist die
Schultafel feucht beschlagen (oben). Wasser lässt
sich in einer Kunststoffpipette wieder zerlegen
(rechts). Am Pluspol (linker Draht) entsteht dabei
Sauerstoff, am Minuspol (rechter Draht) doppelt so
viel Wasserstoff.
Seit
2010
Sie möchten Lehrstühle oder Gremien Finden Sie die passende Kandidatin in Renommierte europäische
mit Frauen besetzen? Sie suchen unserer Datenbank mit über 3.600 Wissenschaftsorganisationen
Expertinnen, Gutachterinnen oder Profilen herausragender Forscherinnen nominieren Wissenschaftlerinnen
Rednerinnen? aller Disziplinen. für AcademiaNet
Donuts
im Gehirn
Um unsere Welt besser zu verstehen, müssen wir
die darüber verfügbaren Daten ordnen und darin
befindliche Muster erkennen. Mit topologischen
Methoden konnten Fachleute nun zuvor verborgene
elementare Vorgänge des Gehirns aufdecken.
spektrum.de/artikel/2128563
Kelsey Houston-Edwards
ist Mathematikerin und
Journalistin in Tübingen.
2
NEURONE: EVGENII KOVALEV / GETTY IMAGES / ISTOCK; DONUTS: CAGKANSAYIN /
TORUS Die ty of Pennsylvania. »Also muss man eine Art der Mathe-
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
Oberfläche eines matik verwenden, die die Dinge nicht zu genau nimmt.«
Donuts wird Torus Daher greifen inzwischen viele Wissenschaftlerinnen
genannt und ist und Wissenschaftler auf die TDA zurück, um robuste
eines der grundle- Eigenschaften in allen möglichen Arten von Daten aufzu-
genden Elemente spüren: von zirkadianen Rhythmen über den Aufbau von
der Topologie. Molekülen bis hin zur Funktionsweise des Gehirns.
Löcher eine entscheidende Rolle: Zum Beispiel sind alle kann mit einem
geschlossenen Oberflächen, die kein Loch enthalten, Dreieck verbun-
topologisch gesehen identisch zur Kugeloberfläche. Ein den sein, an dem
mathematischer Witz besagt, dass Topologen einen ein anderes
Donut nicht von einer Kaffeetasse unterscheiden können, Dreieck hängt.
weil beide Objekte genau ein Loch haben.
Dennoch sind selbst in der Topologie nicht alle Löcher
gleich, denn sie können in verschiedenen Dimensionen
auftreten. Ein geschlossener Ring wie die Zahl 0 hat ein Das Ergebnis ist ein wirres Durcheinander: Milliarden
eindimensionales Loch, weil es durch das Zusammenkle- von Neuronen, die kreuz und quer miteinander verwoben
ben der Enden einer eindimensionalen Linie entsteht. sind. Die Mathematikerin Kathryn Hess von der Eidgenös-
Verbindet man hingegen die Kanten einer zweidimensio- sischen Technischen Hochschule in Lausanne nahm sich
nalen Ebene, etwa eines Blatts Papier, erhält man einen 2017 der Schwierigkeit an, die chaotischen Aufnahmen
hohlen Ball, der ein zweidimensionales Loch in seinem besser zu verstehen. Dafür analysierte sie Daten des
Inneren einschließt (siehe »Löcher«). Höherdimensionale Blue-Brain-Projekts, eines groß angelegten Forschungs-
Formen können entsprechend Löcher mit mehr Dimensio- programms, das Computermodelle der Aktivitäten im
nen beherbergen. Man bildet etwa ein dreidimensionales Neokortex von Nagern erstellt. Jener Teil des Gehirns ist
Loch, wenn man ein dreidimensionales Objekt wie einen an höheren kognitiven Funktionen wie Sinneswahrneh-
Würfel »verschließt«. Das lässt sich jedoch nur aus einer mung und Handlungsplanung beteiligt. Das Modell bildet
vierdimensionalen Perspektive betrachten, die das einzelne Neurone ab, die über Synapsen mit anderen
menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt. simulierten Nervenzellen zusammenhängen. Diese Ver-
Manche Strukturen besitzen sogar mehrere Löcher knüpfungen und ihre Aktivitätswahrscheinlichkeiten
unterschiedlicher Dimension, etwa ein aufblasbarer basieren auf bestimmten biologischen Grundsätzen und
Hüpfball mit einem angebrachten Griff zum Festhalten: experimentellen Daten von Versuchstieren.
Die hohle Mitte des Balls ist zweidimensional, während
der Griff ein eindimensionales Loch umfasst. In der Topo- Eine Karte des Gehirns
logie gibt es viele Methoden, um Löcher in allerlei Objek- Die Simulationen können aufzeigen, welche Neurone als
ten zu zählen. Das erweist sich bei der Untersuchung von Reaktion auf einen äußeren Reiz feuern. Im Gegensatz zu
neuronalen Aktivitäten als hilfreich. echten Hirnaufnahmen kann man das Modell jederzeit
Vereinfacht und schematisch lässt sich das Gehirn anhalten. Damit können die Wissenschaftler in Standbil-
durch eine Sammlung von Punkten darstellen, die für dern untersuchen, welche Synapsen auf ein bestimmtes
Neurone stehen. Einige davon sind dabei durch Linien ver- Signal reagieren. Die Bilder lassen sich in einen Graphen
bunden, was auf eine Synapse zwischen den Nervenzel- umwandeln, da sie sowohl die Datenpunkte als auch die
len hinweist. In der Mathematik werden solche Netzwer- dazwischenliegenden Linien anzeigen. Zwei Neurone sind
ke als Graph bezeichnet: eine Menge von Knoten, die miteinander verbunden, wenn die Synapse zwischen
durch Kanten zusammenhängen. Damit lässt sich die ihnen aktiv ist. Von dieser Ausgangslage aus machte Hess
biologische Komplexität des Gehirns auf eine Ebene den Graphen in einem ersten Schritt zunächst einmal
reduzieren. noch komplizierter: Aus dem Datenwirrwarr konstruierte
sie einen so genannten Simplizialkomplex, der dem Netz-
werk eine dreidimensionale Gestalt verleiht.
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
nach einem Reiz ansteigt. Auf ihrem Höhepunkt
enthalten die Datenpunkte überraschend viele
zwei- und dreidimensionale Löcher – deutlich mehr,
als in einem zufälligen Simplizialkomplex oder durch
einen anderen biologischen Prozess entstehen
würden. Die spezifische Anordnung der Löcher
offenbart zudem ein hohes Maß an Organisation in der
neuronalen Reaktion – was auf ein grundlegendes Merk-
mal von Denkprozessen hinweisen könnte.
Abseits der Neurowissenschaft stellt man Daten meist
durch isolierte Punkte in einem abstrakten mathemati-
schen Raum dar, ohne vorher festgelegte Verbindung
zwischen ihnen. Um TDA anwenden zu können, muss PERIODISCHE RANDBEDIN-
man herausfinden, wie diese Punkte zusammenhängen. GUNGEN Indem man die
Allerdings gibt es unzählige Varianten, sie miteinander zu gegenüberliegenden Kanten
verknüpfen. Damit aus den vielen Möglichkeiten die eines Blatts miteinander
passendsten gefunden werden, nutzen Topologen eine verklebt, entsteht ein Torus.
nen hätte, Algorithmen sich die Muster der aktivierten Gitterzellen zeitlich ent
wickeln.
für die topologische Daten Die Fachleute vereinfachten zunächst die Daten mit
einigen Standardtechniken und berechneten anschlie-
analyse zu entwickeln« ßend die persistente Homologie des Systems. Dafür
erstellten sie mehrere Graphen, indem sie die Datenpunk-
Vidit Nanda te über verschiedene Distanzen hinweg miteinander
verbanden und die daraus entstehenden Simplizialkom-
plexe untersuchten. Auf diese Weise ließ sich erkennen,
folge von Comicfiguren erzeugt, führt auch die torusför- dass die Daten wie bei den einzelnen Gitterzellen einen
mige Abbildung zu einem periodischen Muster. Torus bilden, wenn die Ratte in einem rechteckigen Käfig
Doch wie sieht es in komplizierteren Umgebungen als herumläuft. Doch eigentlich wollten die Forscher heraus-
einer viereckigen Box aus? Laufen die Tiere in ringförmi- finden, was in der komplizierten ringförmigen Umgebung
gen Käfigen umher, mit zwei sich kreuzenden, diagonalen passiert, die bei der Betrachtung einzelner Neurone kein
Durchgängen, feuert jede Gitterzelle zwar immer noch eindeutiges Ergebnis zuließ. Tatsächlich konnten sie
mehrmals, aber aus den Daten kann man nicht mehr so durch die bessere Datenlage nun eine Aussage treffen:
einfach die zu Grunde liegende Form der Karte bestim- Hier lassen sich die Datenpunkte ebenfalls auf einen
men (siehe »Verschiedene Umgebungen«). Torus abbilden.
Im Februar 2022 überprüfte ein interdisziplinäres Team, Das Team war sogar in der Lage, die kollektive neuro-
zu dem der eingangs erwähnte Benjamin Adric Dunn nale Aktivität einer schlafenden (möglicherweise träu-
gehörte, mit Hilfe von topologischen Methoden eine menden) Ratte zu sammeln. Auch hier fand sich eine
neurowissenschaftliche Theorie namens kontinuierliche donutförmige Oberfläche. Offenbar hängt diese Form
Attraktornetzwerke. Ihr zufolge gibt es Gruppen von weder von der Umgebung noch dem Zustand des Tiers
Neuronen, die fest miteinander verdrahtet sind und deren ab. Das Ergebnis unterstützt die Theorie der kontinuierli-
Verbindungen sich über die Zeit nicht ändern. Um zu chen Attraktornetzwerke. Der Torus scheint fest mit der
testen, ob solche Strukturen im Gehirn von Säugetieren Art und Weise verbunden zu sein, wie die Gitterzellen den
existieren, untersuchten die Fachleute Gitterzellen. Insbe- Raum darstellen.
sondere wollten sie herausfinden, ob diese immer einen »All diese Anwendungen wären nicht möglich gewe-
sen, wenn man nicht ernsthaft damit begonnen hätte,
Algorithmen für die topologische Datenanalyse zu entwi-
ckeln«, erklärt der Mathematiker Vidit Nanda von der
University of Oxford. »Wenn die Programme nicht effektiv
sind, nicht gut skalieren, dann will sie niemand nutzen –
Mehr Wissen auf egal wie schön die zu Grunde liegende Theorie ist.« Dank
Spektrum.de der technologischen Fortschritte werden die Anwendun-
gen der Topologie, die bis vor Kurzem nur als abstrakter
Unser Online-Dossier zum
Zweig der Mathematik galt, immer zahlreicher.
MATJAZ SLANIC / GETTY IMAGES
/ ISTOCK
Thema finden Sie unter
spektrum.de/t/topologie
QUELLEN
Guanella, A. et al.: A model of grid cells based on a twisted
torus topology. International Journal of Neural Systems 17, 2007
Torus bilden, unabhängig von der Umgebung, in der sich
eine Ratte befindet. Sie suchten also nach ringförmigen Kanari, L.: A topological representation of branching neuronal
morphologies. Neuroinformatics 16, 2018
Oberflächen in unübersichtlichen neurobiologischen
Daten – die perfekte Aufgabe für TDA. Moser, I. E. et al.: Toroidal topology of population activity in grid
Dafür markierten die Forscher nicht die Positionen, an cells. Nature 602, 2022
denen eine einzelne Gitterzelle feuert, vielmehr untersuch- Perea, J. A., Polanco, L.: Coordinatizing data with lens spaces
ten sie die kollektive Aktivität eines ganzen Netzwerks and persistent cohomology. Proceedings of the 31st Canadian
solcher Zellen. In regelmäßigen Abständen zeichneten sie Conference on Computational Geometry (CCCG), 2019
den Zustand des Netzwerks durch eine Folge von Nullen Wei, G., Xia, K.: A review of geometric, topological and graph
und Einsen auf, die jeweils angaben, ob ein Neuron aktiv theory apparatuses for the modeling and analysis of biomolecu-
war oder nicht. Aus mathematischer Sicht entspricht die lar data. ArXiv 1612.01735, 2016
R
ichard Feynmans Erläuterungen zur Verbin Schaumkrone sorgt dafür, Wissenschaftskabarettist
bei den »Science Busters«.
dung zwischen Physik, Astronomie, Geologie, dass nicht zu schnell das
Chemie und Wein haben durchaus ihren Reiz. restliche CO2 frei wird und
Ich bin eher Biertrinker, aus Sicht der Wissen das Bier frisch schmeckt.
schaft macht das aber keinen großen Unterschied. Wie lange sie stabil bleibt,
Denn auch ein Glas Bier ist voll Physik – und überra hängt von der Chemie ab – und hier vor allem von
schend viel Mathematik. den Stoffen, die abseits von Wasser und Alkohol
Eine im Februar 2023 erschienene Forschungs den Geschmack des Biers ausmachen. Zudem spielt
arbeit hat sich mit dem Phänomen des Bierschaums die Physik eine wichtige Rolle: in Form der Tempera
beschäftigt. Und beginnt mit der viel versprechen tur und des Drucks, mit dem es gezapft wird. Diese
den Aussage: »Es ist unbestreitbar, dass Bier Zusammenhänge herauszufinden, war das Ziel der
schaum ein wichtiges Qualitätsmerkmal ist.« Zuge neuen Forschungsarbeit. Hier haben die Fachleute
geben, um das zu erkennen, braucht es keine inten unterschiedliche Kombinationen von Druck und
siven Studien. Doch wenn man den Schaum Temperatur untersucht, um die bestmöglichen
tatsächlich verstehen will, kommt man ohne Mathe Voraussetzungen für stabilen Schaum zu finden.
matik nicht aus. Der Text des Artikels ist voller Die meisten Leserinnen und Leser werden wohl
Formeln, und die erste davon lautet so: ihr Bier kühl genießen. Aber, so die Forschungser
gebnisse, leider sind niedrige Tempe
raturen hinderlich für den Schaum.
Bei 5 Grad Celsius schnitt die Qualität
am schlechtesten ab. 10 oder 15 Grad
lieferten deutlich bessere Werte. Man
Sie im Detail zu erklären, käme einer Einführung hat jedoch nicht nur die Wahl zwischen lauwarmem
in die Mechanik turbulenter Strömungen gleich, und abgestandenem Bier. Denn der Druck ist eben
mit einer Prise numerischer Mathematik und Chaos falls wichtig. Wird das Getränk mit niedrigem Druck
theorie. Wir wissen immer noch nicht, wie sich gezapft, bleibt der Schaum auch bei 5 Grad ausrei
das Verhalten von strömenden Flüssigkeiten exakt chend stabil.
beschreiben lässt oder ob man ihre chaotische Durch die umfassende mathematische Analyse
Bewegung überhaupt in klar definierte Formeln konnten die Forscher erklären, warum das so ist: Es
fassen kann. Deswegen muss man sich mit Nähe kommt auf die Größe der Gasbläschen an. Wenn es
rungslösungen behelfen und diese Phänomene am unterschiedliche Größen gibt, was bei niedrigen
Computer simulieren. Die obige Gleichung ist eine Temperaturen und hohen Drücken der Fall ist,
von mehreren, die nötig sind, um das zu tun; sie drängen sich die kleinen zwischen die großen und
basiert auf einem Erhaltungssatz, der bei viskosen, geben ihr Gas durch Diffusion an sie ab. Das Ergeb
aus unterschiedlichen Anteilen bestehenden Fluiden nis: Der Schaum löst sich schnell auf. Sind die
gilt. Damit und mit noch sehr viel mehr Mathematik, Bläschen dagegen gleich groß, bleibt die Schaum
mit Computersimulationen und auch mit realen krone länger stabil.
Experimenten sind die Forscher dem Phänomen des Ich finde es faszinierend, wie viele wissenschaft
Bierschaums nachgegangen. liche Werkzeuge man einsetzen muss, um etwas so
Wie der Schaum entsteht, ist schon lange klar: Alltägliches wie Bier wirklich gut zu verstehen.
CO2, das im Getränk gelöst ist, wird gasförmig, und Glücklicherweise kann man es aber auch ohne all
die entstehenden Bläschen bilden den Schaum. Die dieses mathematische Hintergrundwissen trinken.
Menschenopfer
in der Wüste
Die Chimú brachten ihren Göttern nicht
nur Lamas dar, sondern opferten ihnen
sogar Dutzende von Kindern. Archäologen
entdeckten die rund 900 Jahre alten Über-
reste der Menschen und Tiere auf Dünen
im Norden Perus, wo diese einst begraben
worden waren. Warum kam es zu dem
grauenvollen Ritual?
spektrum.de/artikel/2128569
Der Wissenschaftsjournalist
Hubert Filser ist studierter
Physiker und Autor zahlrei-
cher Sachbücher und Artikel
über Archäologie.
PRIETO, G. ET AL.: A MASS SACRIFICE OF CHILDREN AND CAMELIDS AT THE HUANCHAQUITO-LAS LLAMAS
El Niño besänftigen
1 An zwei Fundplätzen in Peru haben Archäologen
Massenopferstätten frei gelegt: Hunderte getötete
Kinder und Lamas waren dort vor fast 900 Jahren
oder später niedergelegt worden.
AN PERUS KÜSTE
In Pampa la Cruz und ECUADOR
Huanchaquito-Las
Llamas töteten die
Chimú einst dutzende Am
A
azzoonn
ma
Kinder und Lamas. aass
Unweit der Fundorte
befand sich ihre Haupt-
P EE RRUU
Río
heutige Stadt
ón
Fundplatz BRASILIEN
RíRoío
UUcacya
Pampa la Cruz
aylaili
Huanchaquito-
Las Llamas
AN
Trujillo
DE
Chan Chan
N
Lima
N
200 km
he
oc
2 km M
o
Rí
PRIETO, G. ET AL.: A MASS SACRIFICE OF CHILDREN AND CAMELIDS AT THE HUANCHAQUITO-LAS LLAMAS SITE, MOCHE VALLEY, PERU.
lang gestreckten Düne nahe dem Pazifik zu finden, unter
scheidet sich in einem wichtigen Punkt von Pampa la
Cruz. Es scheint dort keine regelmäßigen Massenopfer
gegeben zu haben; vielmehr ist ein einziges großes Ritual
aus der Zeit zwischen 1400 und 1450 überliefert, wie die
Radiokarbondaten ergaben. 137 Kinder, 3 Erwachsene
und 200 Lamas kamen damals in kurzer Zeit zu Tode.
Wie in Pampa la Cruz waren die Körper der Kinder
gleich ausgerichtet: Die Köpfe lagen mit Blick gen Wes
ten. Bei den Lamas verhielt es sich genau umgekehrt, sie
waren nach Osten zu den Anden ausgerichtet. Fachleute
mutmaßen, dass die Kinder und die Tiere unterschied
lichen Göttern geopfert wurden: einer Gottheit, die mit
dem Meer in Verbindung stand, und einer, die mit den
Bergen verknüpft war.
Rätselhaft bleibt, warum die Chimú in Huanchaquito-
Las Llamas ihre gängigen Opferpraktiken änderten und
ein einziges Mal ein derart umfangreiches Ritual durch
führten. Daher haben Prieto und seine Kollegen die toten
Kinder und Lamas in den vergangenen Jahren intensiv
untersucht. DNA-Analysen ergaben zunächst, dass es DURCHGESCHNITTEN Die beiden durch
keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern der trennten Brustbeine stammen von Skeletten aus
Getöteten gab. Es waren gleichermaßen Mädchen wie Huanchaquito-Las Llamas. Bei allen Toten lagen
Jungen, ihr Alter bestimmten die Archäologen auf 4 bis 15 die Schnitte an nahezu derselben Stelle. Laut
Jahre. Eine Isotopenauswertung der Knochen lieferte den Ausgräbern zeugen die Spuren davon, dass
zudem Hinweise auf die Herkunftsregion der Toten. eine geübte Hand das Messer führte.
Offenbar stammten sie aus dem ganzen Reich der Chimú,
sowohl aus den Andenregionen als auch aus den Gebie
ten entlang des 1000 Kilometer langen Küstenstreifens. spezielle Mahlzeit, die sie sonst nie fraßen: gekochte
Die unterschiedliche Herkunft der Kinder deutet Bohnen, Maniok und Chilischoten. Das fanden 2021
Goepfert als Indiz dafür, dass diese als Tribute an den Hof Archäozoologen des CNRS in Paris heraus. »Diese beson
der Chimú-Herrscher gelangten. Sie dienten demnach als dere Mahlzeit war für uns unerwartet«, sagt Goepfert.
grausame Zwangsabgabe. »Als das Reich größer wurde, »Sowohl die Tiere als auch die Menschen erfuhren eine
gab es vielleicht einen höheren Bedarf an solchen Pflicht spezielle Behandlung, ehe sie geopfert wurden.«
maßnahmen«, sagt Goepfert. Das Opferritual hätte zudem Was aber war der Grund für das rituelle Massaker? Die
vor aller Augen gezeigt, über welch große Macht die Elite Archäologen vermuten als Auslöser eine klimatische
verfügte. Zugleich hätte es deren hohen Status gestärkt – Sondersituation. Die Opferung könnte während einer
in einer Gesellschaft, die zweifelsohne hierarchisch aufge El-Niño-Episode stattgefunden haben. Das Klimaphäno
baut war. men sucht noch heute die Nordküste Perus heim. Es
entsteht in unregelmäßigen Abständen um die Weih
Bohnen, Maniok und Chilischoten nachtszeit – daher der Name El Niño, das Christkind: Sind
als Henkersmahlzeit die Passatwinde zu schwach, um warmes Oberflächen
Goepfert, Prieto und ihre Kollegen führten auch an den wasser im Pazifik nach Westen zu schieben, versiegt der
Überresten der Lamas eine Isotopenuntersuchung durch. Aufstrom kühlen Wassers vor Südamerika. Durch die
Wie sich zeigte, stammten die Tiere allesamt aus küsten Wärme verdunstet mehr Wasser als sonst, es kommt zu
nahen Regionen. Überdies hatten die Chimú gezielt Tiere massiven Regenfällen und Überschwemmungen in der
mit beigem oder braunem Fell ausgewählt, nie weiße, normalerweise extrem trockenen Küstenregion Perus.
graue oder schwarze Lamas. Goepfert schließt daraus, El Niño verheerte den Küstenstreifen sicher schon zur
dass die Farben eine symbolische Bedeutung hatten. Zeit der Chimú. Für ein Volk, das von der Bewässerung
Außerdem futterten die Tiere vor ihrer Opferung eine abhängig war, dürften solche Ereignisse gravierend
THE METROPOLITAN MUSEUM OF ART, NEW YORK / BEQUEST OF JANE COSTELLO GOLDBERG, FROM THE COLLECTION OF ARNOLD I. GOLDBERG, 1986
falls stieß Prietos Team auf eine dicke Schicht getrockne
QUELLEN
Cagnato, C. et al.: Eat and die: The last meal of sacrificed Chimú
camelids at Huanchaquito-Las Llamas, Peru, as revealed by
starch grain analysis. Latin American Antiquity 32, 2021
Klimaschonender Stahl
Die Stahlindustrie ist einer der größten
NEWSLETTER
Möchten Sie über Themen und Autoren
des neuen Hefts informiert sein?
Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
per E-Mail – und natürlich kostenlos.
Registrierung unter:
spektrum.de/newsletter
Jetzt Spektrum der Wissenschaft abonnieren
und keine Ausgabe mehr verpassen!
Jetzt bestellen:
Telefon: 06221 9126-743
E-Mail: service@spektrum.de
Spektrum.de/aktion/sdwabo
SCHLICHTING!
Wüste wachsen
An der Oberfläche ausgetrockneter Seen bilden
sich polygonförmige Strukturen. Sie sind das
Ergebnis von Konvektionsvorgängen, die
von der Sonne angetrieben werden und Salz H. Joachim Schlichting war
auf organisierte Weise ausfällen. Direktor des Instituts für
Didaktik der Physik an der
Universität Münster.
Seit 2009 schreibt er für
»Spektrum« über physikali-
»Aus Vor- und Rückwärts bildet sich der Kreislauf« sche Alltagsphänomene.
Franz Grillparzer
Wüsten sind als raue Schönheiten bei Touristen Niederschlägen in den umgebenden Bergen gespeist
beliebt, gelten aber zu Unrecht als tote Landschaften. wird.
Tatsächlich sind sie ständig im Fluss, wenn auch Zu den ebenso beeindruckenden wie rätselhaften
manchmal auf subtile Art. In den weltweit vorkommen- Merkmalen dieser trockengefallenen Seen gehören
den Salzwüsten beispielsweise wachsen erstaunliche ästhetische polygonale Muster kristallisierten Salzes. Sie
Wabenmuster am Boden. Deren Zustandekommen hat überziehen die Wüsten auf großen Flächen. Rein von der
sich lange einer einheitlichen und konsistenten wissen- Struktur her erinnern sie zunächst vielleicht an überdi-
schaftlichen Beschreibung entzogen. mensionale Trockenrisse, die man von Pfützen oder
Salzwüsten – ob im Death Valley in Kalifornien, im lehmigen Flusssedimenten in der Sommerhitze kennt. In
Chott el Djerid in Tunesien oder in der Salar de Uyuni in solchen Fällen richtet sich die Größe der auseinanderklaf-
Bolivien – gehen aus austrocknenden Seen hervor, in fenden Bodenabschnitte nach der Dicke der Schlamm-
denen mehr Wasser verdunstet, als der Regen nachliefert. schicht. Im Gegensatz dazu weisen die Vielecke aus
Der Zufluss erfolgt meist durch Grundwasser, das aus Salzkristallen einen einheitlichen Durchmesser von ein bis
zwei Metern auf, unabhängig von der Stärke der verkrus-
teten Schichten. Daran scheitern auch weitere Hypothe-
SALZPOLYGONE Schmale Wülste aus Salz sen zur Entstehung, etwa dass an die Oberfläche gelan-
teilen die Salzebene des Salar de Uyuni in Bolivien gendes Salz zu einer horizontalen Ausdehnung führen
in regelmäßig anmutende Parzellen auf.
SARA_WINTER / GETTY IMAGES / ISTOCK (AUSSCHNITT)
SCHLICHTING!
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ, NACH LASSER, J. ET AL.: SALT POLYGONS AND POROUS
MEDIA CONVECTION. PHYSICAL REVIEW X 13, 2023, FIG. 2 (DOI.ORG/10.1103/PHYSREVX.13.011025) /
Als ich derlei Polygone zum ersten Mal vor Jahren in
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
erstarrter Rayleigh-Bénard-Konvektionszellen. Solche
Formen sieht man manchmal auf Milchkaffee, erwärm-
tem Fett in der Pfanne oder sogar Eisschichten. Allerdings
gab ich den Vergleich schnell wieder auf, weil die Gebilde
aus Salz bestehen und in den meisten Fällen weit davon
entfernt scheinen, flüssig zu sein.
Nun liegt genau diese Vorstellung einem Modell zu
Grunde, das im Februar 2023 von einer internationalen
Forschungsgruppe um Jana Lasser von der Universität KONVEKTIONSBEWEGUNGEN
Graz veröffentlicht wurde. Das Team erklärt die polygon- Pfeile kennzeichnen die Strömungen in
artigen Strukturen durch eine Wechselwirkung von einer Zelle, kräftigere Farben entsprechen
Salzwasser-Konvektionsbewegungen mit den kristallisier- höheren Salzkonzentrationen.
ten Krusten. Die bisherigen Ansätze haben meist überse-
hen, dass es unterhalb des festen Wüstenbodens im
Allgemeinen nicht trocken ist, sondern Kontakt zu stark Flüssigkeit die Oberfläche und breitet sich radial nach den
salzhaltigem Grundwasser gibt. Dieses reicht oft bis Seiten aus, während ihre Temperatur abnimmt. Dort trifft
knapp unter die Oberfläche. Die Hypothese wurde durch sie auf die entsprechenden Strömungen der Nachbarge-
Computersimulationen untermauert: Die Resultate geben biete, und alle sinken gemeinsam – durch die Abkühlung
das natürliche Phänomen erstaunlich gut wieder und dichter geworden – wieder nach unten. Dort erwärmen
erlauben verifizierbare Vorhersagen. sie sich und durchlaufen eine neue Runde.
Für eine Vorstellung von der Dynamik des Vorgangs Wenn man dieses überschaubare Geschehen vor
hilft zunächst ein Blick auf die normale Rayleigh-Bénard- Augen hat, ist es einfacher, die Vorgänge unter- und
Konvektion, auch wenn sich die Ergebnisse nicht eins zu oberhalb der Wüstenebene anschaulich zu erfassen. In
eins übertragen lassen. Dabei hat man es mit einer Flüs- dem porösen Bodenmaterial steigt Salzwasser auf, nach-
sigkeitsschicht zu tun, die typischerweise von unten dem es seine Dichte durch Kontakt mit dem Grundwasser
geheizt und dadurch instabil wird. Die erwärmte und verringert hat. Das passiert jeweils in der Mitte jedes
damit leichter gewordene untere Lage drückt die darüber- Polygons. Oben angekommen, breitet sich die Flüssigkeit
liegende nach oben. Das kann nicht im Stück über die radial nach allen Seiten aus. Dabei wird sie von der Sonne
gesamte Fläche gelingen, sondern geschieht an vielen aufgeheizt, und ein Teil des Wassers verdunstet. Dadurch
Stellen, indem sich ein Austausch zwischen kalten und steigen dessen Salzgehalt und Dichte. Das hat einen
warmen Partien einstellt. Das führt zu einem stationären doppelten Effekt. Einerseits wird Salz ausgefällt, das in
Muster von charakteristischen Konvektionszellen. In der zunehmend konzentrierten Sole nicht mehr löslich ist.
deren Zentren erreicht die nach oben strömende warme Andererseits nimmt die Dichte zu, woraufhin die übrige
Lake am Übergang zu den Nachbarzellen absinkt. Entlang
der Ränder der einzelnen Polygone wachsen dann Kristal-
SIMULIERTE DYNAMIK Eine Visualisierung le in die Höhe.
der Vorgänge entlang und unter der Kruste eines Im Prinzip ist diese Konvektionsdynamik rotationssym-
Salzsees zeigt an der Oberfläche die aufsteigen- metrisch. Es würden sich also kreisförmige Zellen erge-
den (blau) und absteigenden (rot) Ströme sowie ben. Wenn allerdings solche runden Gebilde gegeneinan-
darunter die Salzkonzentration (in Brauntönen; der wirken und eine gemeinsame Grenze bilden, kommt
je dunkler, desto höher). es im Idealfall zu Sechsecken. Das kennt man von Bienen-
waben. Bei den Wüsten läuft es nicht ganz so perfekt ab.
LASSER, J. ET AL.: SALT POLYGONS AND POROUS MEDIA CONVECTION. PHYSICAL
QUELLE
Lasser, J. et al.: Salt polygons and porous media convec-
tion, Physical Review X 13, 2023
REZENSIONEN
So konnte die US-Regierung 2021 Lebensversicherung nur die Hälfte, Die Herausgeberinnen Amiri und
einen Entführungsversuch der in New gleiches gilt beim Erbrecht und so Tekkal äußern sich selbst bloß in
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
York lebenden Aktivistin Masih weiter. Gegen diese Ungerechtigkei- einem kurzen Vorwort. Schade
Alinejad vereiteln, den der iranische ten kämpfen die 15 Autorinnen – für eigentlich, denn die zwei Journalistin-
Geheimdienst geplant hatte. »Wir im diese Bemühungen wurde eine von nen haben sicherlich auch vieles zu
Exil lebenden Iranerinnen müssen ihnen, die Menschenrechtsanwältin erzählen: Zum Beispiel war Amiri vier
sehr wachsam sein, denn wir wissen Shirin Ebadi, 2003 als erste muslimi- Jahre lang als Auslandskorrespon-
nie, wer uns Böses wünscht«, sche Frau mit dem Friedensnobel- dentin für die ARD in Teheran tätig.
schreibt Alinejad. preis ausgezeichnet. Dennoch sah sie Außerdem wäre es für Leserinnen
Andere Verfasserinnen, etwa die sich angesichts der Morddrohungen und Leser ohne viel Vorwissen zur
Journalistin Narges Mohammadi, und drohenden Gefängnisstrafen Geschichte Irans hilfreich, eine kurze
befinden sich aktuell im berüchtigten gezwungen, ihre Arbeit von London Einleitung und Einordnung der Ge-
Evin-Gefängnis im Iran. Ihr Beitrag für aus fortzusetzen. schehnisse zu erhalten. Auf der
das Buch wurde heimlich aus ihrer Die beiden Journalistinnen Natalie letzten Seite hat der Verlag zwar eine
Zelle geschmuggelt: Sie schrieb ihre Amiri und Düzen Tekkal lassen aber einseitige »Zusammenfassung«
Worte auf Toilettenpapier und gab sie auch unbekannte Personen zu Wort gegeben, die erklärt, dass 1979 der
Mitgefangenen mit, die entweder auf kommen, die für ihre eigene Sicher- damals herrschende Schah gestürzt
Hafturlaub entlassen oder im Kran- heit teilweise anonymisiert wurden. und die Islamische Republik durch
kenhaus behandelt wurden. Mo- So schildert eine junge Frau unter den geistlichen Führer Ruhollah
hammadi beschreibt darin sowohl dem Pseudonym »Leyli«, was sie Chomenei gegründet wurde. Doch
ihre friedlichen Kampagnen für dazu bewegt hat, sich den Protesten auf diese Erklärung stößt man erst
Menschenrechte, die sie ins Gefäng- anzuschließen: »Wir wissen, dass wir, nach der Lektüre und sie fällt zu kurz
nis gebracht haben, als auch die wenn alles so weitergeht, keine aus. Dennoch lohnt sich die Lektüre
furchtbaren Haftbedingungen: die Zukunft haben«, schreibt sie. Für dieses spannenden Buchs voller
sexuellen Übergriffe durch Wärter, ihren Widerstand hat sie alles geop- inspirierender Persönlichkeiten durch
die »technischen Verhöre« oder aber fert: ihre Arbeit, viele Beziehungen zu und durch.
das mangelnde Trinkwasser im Menschen, deren politische Einstel-
abgelegenen Qarchak-Gefängnis. lung sie ablehnt, Geld sowie ihre Manon Bischoff ist Redakteurin bei
»Ruhe und mein gesunder Geist«. »Spektrum der Wissenschaft«, vorrangig
Ihre Erzählung geht unter die Haut, für die Bereiche Mathematik und Informa-
sie schildert ihre Bedenken, ihre tik, und Autorin der Kolumne »Die fabel-
Ängste, spricht von den Diskussionen hafte Welt der Mathematik«.
»Das iranische Volk mit ihren Eltern – die sie, trotz aller
Gefahren, bei ihrem Widerstand
sucht niemanden, der unterstützen.
Schach liefert auch die Stichwör- feld? Selbst knifflige Ratespiele Beide Bücher sind gut geschrieben
ter für Themen wie exponentielles lassen sich in Schachgeschichten und sehr unterhaltsam. Da schadet
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
Wachstum: Wie kann man sich die einkleiden: Zwei Leute, die über es nicht, dass sie zusammengebun-
Zahl aller vernünftigerweise mögli- verschiedene Teilinformationen den ausgeliefert werden.
chen Schachpartien (Größenordnung verfügen, bekommen dieselbe Frage
1080) vorstellen? Wie viele Reiskörner gestellt. A sagt »Ich weiß die Antwort Christoph Pöppe war Redakteur bei
ergibt es, wenn man ein Korn auf das nicht«, B sagt »Ich weiß die Antwort »Spektrum der Wissenschaft«, zuständig
erste Feld eines Schachbretts legt nicht«, darauf sagt A »Jetzt weiß ich vorrangig für Mathematik und Informatik.
und auf jedes weitere doppelt so sie« und B »Jetzt weiß ich sie auch«.
viele Körner wie auf das Vorgänger- Wie lautet die Antwort?
Pandemie europaweit in den Medien damals von dem Blatt als »Impfreni- Erfahrung einfließen und unter-
war, eine besondere Rolle spielte. Da tente« bezeichnet. streicht Ausführungen zu beispiels-
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
das heutige österreichische Bundes- Diese beeindruckende Recherche weise der Entwicklung der mRNA-
land damals zu Bayern gehörte, galt historischer Daten zeichnet das Buch Impfung mit seiner Expertise oder
auch dort die Impfpflicht, zu der sich aus. Allgemein liegt der Fokus der auch zum Aufbau von klinischen
die österreichischen Herrscher aus beiden Autoren sehr auf ihrem Hei- Studien in drei Phasen.
Angst vor Aufständen allerdings nicht matland Österreich, insbesondere bei Das Buch ist nicht nur für medizin-
durchringen konnten. So kursierten den politischen Vorgängen und den historisch Interessierte lesenswert,
beispielsweise in Tirol Theorien, dass Corona-Demonstrationen. Ein Bei- sondern auch für all jene, die sich
Katholiken mit der Impfung »ketzeri- spiel ist die frühere Bundessprecherin fragen, woher die Wissenschafts-
sches Denken« eingepflanzt werden der österreichischen Grünen Made- skepsis im deutschsprachigen Raum,
sollte – eine weitere erschreckende leine Petrovic, die nicht erst seit der ganz besonders in Österreich,
Parallele zu den Ängsten der Impf- Corona-Pandemie mit einer medizin- kommt. Und so wie wir uns im Klaren
gegner vor dem Einimpfen von Chips kritischen Meinung auffiel und wäh- sein müssen, wie sehr eine Pandemie
durch Bill Gates. rend der Pandemie auf zahlreichen die Gesellschaft verändert, so müs-
Der Erfolg der Impfung war da- Demonstrationen als Sprecherin sen wir uns auch vergegenwärtigen,
mals wie heute mit statistischen auftrat. dass die Corona-Pandemie nicht die
Zahlen unwiderlegbar; in Graz waren Natürlich darf in diesem Kontext in erste Pandemie für die Menschheit
in den Jahren 1861–1863 beispiels- Österreich die Rolle der FPÖ in einem war und vermutlich nicht die letzte.
weise 638 Ungeimpfte und 105 solchen Buch nicht unbeleuchtet
Geimpfte an Pocken erkrankt, davon bleiben, ebenso wenig die österrei- Victoria Lunz ist Molekularbiologin und
starben 124 Ungeimpfte, aber nur 4 chische »Impfgegner-Partei« MFG. Wissenschaftsjournalistin in Linz.
Geimpfte, wie die Grazer Zeitung Christoph Zielinski lässt als Arzt an
berichtete. Die Impfgegner wurden verschiedenen Stellen die eigene
Die Landwirtschaft
neu erfinden
Der Journalist und Zoologe George Monbiot liefert eine
schonungslose Analyse des globalen Ernährungssystems
und eine fundierte Anleitung, es besser zu machen.
Landverbrauchs bei nur wenigen Der Autor begibt sich vor Ort, um wirtschaft und insbesondere die
Tieren pro Hektar würde das den zu sehen, wie neue Ansätze in der Tierhaltung vorwerfen und seine Ana-
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
Fleischkonsum schnell zu einem Praxis funktionieren. So lässt er sich lysen und Schlussfolgerungen als zu
Privileg superreicher Eliten machen, einen aus Bakterienprotein gebacke- radikal oder abwegig verwerfen.
wie er vorrechnet. nen Pfannkuchen schmecken, be- Gerade die Radikalität und die Konse-
Monbiot analysiert die Probleme sucht einen Gemüsebauern und quenz seines Denkens sind aber die
auf dem Planeten sehr genau und mit »Bodenflüsterer« und ist auf Äckern, Stärke des Buches. Seine Vision:
viel Tiefe. Besonders hoch anzurech- an Flüssen und in Laboren unter- Durch moderne Methoden kann der
nen ist ihm die Unvoreingenommen- wegs. Etliche der anvisierten Lösun- landwirtschaftliche Flächenverbrauch
heit, mit der er zu Werke geht. So gen stecken noch in den Kinderschu- massiv reduziert werden, große
lehnt er weder Gentechnik noch hen, mögliche Fallstricke kommen Gebiete werden renaturiert und wir
Pestizide kategorisch ab, noch steht zur Sprache, und es wird auch klar, schaffen es, endlich die Welt zu
er der biologischen Landwirtschaft dass kulturell tief verankerte Traditio- ernähren, ohne dabei den Planeten zu
unkritisch gegenüber, denn auch sie nen und Gewohnheiten unsere zerstören. Eine Aussicht, für die es
erhöht global betrachtet den Land- Nahrung betreffend nicht so einfach sich definitiv zu streiten lohnt.
verbrauch. zu ändern sind – trotzdem schafft es Anmerkung zur deutschen Über-
Für die meisten Leser und Leserin- Monbiot, Aufbruchstimmung zu setzung: Wer das Buch im englischen
nen dürfte der erste Teil des Buches verbreiten. Original lesen kann, der sollte das
starker Tobak sein, zeigt er doch, in »Neuland« ist ein provokantes tun. Dafür spricht allein schon die
welch katastrophalem Zustand sich Buch im besten Sinne, denn es gibt Ausstattung, denn in der deutschen
unser Ernährungssystem (und damit wichtige Denkanstöße und bietet mit Fassung sucht man leider vergeblich
unsere Welt) befindet – zum Glück 80 Seiten ausführlichen Quellenver- nach den erläuternden Fußnoten oder
bleibt Monbiot aber nicht bei Analyse weisen eine gute Diskussionsgrundla- dem ausführlichen Stichwortver-
und Kritik stehen. Die zweite Hälfte ge (wenn nur jedes Sachbuch so zeichnis am Schluss.
des Buches beschäftigt sich mit genau seine Quellen aufführen wür-
aktuellen Forschungsergebnissen de). Trotzdem werden viele Zeitge- Gunther Willinger ist Biologe und Wis-
und vielen praktischen Ansätzen, die nossen Monbiot Hass auf die Land- senschaftsjournalist in Tübingen.
Mut machen. Dazu gehören neue
Erkenntnisse der Bodenökologie, die
Züchtung mehrjähriger Getreide-
pflanzen, pfluglose Landwirtschaft,
biologische Schädlingsbekämpfung
und nicht zuletzt das weite Feld Ausflug an
alternativer Tierprodukte.
Obwohl wir längst mehr als genug die Grenzen
pflanzliche Proteine produzieren, um
zehn Milliarden Menschen zu ernäh- des Kosmos
ren, nimmt der Hunger auf der Welt
Die preisgekrönte Wissen-
seit einigen Jahren wieder drama-
schaftskommunikatorin
tisch zu, auch weil wir einen großen
erzählt die Geschichte
Teil der produzierten Nahrung an
des Universums in einem
Tiere verfüttern. Monbiot ist realis-
tisch genug, um anzuerkennen, dass wunderschönen,
der moralisch begründete Veganis- bildgewaltigen Werk.
mus sich nicht schnell genug verbrei-
ten wird, um diesen Trend umzukeh-
ren. Hier kommen die Fleisch-, Ei-
bzw. Milchersatzprodukte ins Spiel. »Dürfte ich das Buch einmal
sehen?« Es kommt nicht häufig Felicitas Mokler
Sie werden auf Basis pflanzlicher vor, dass man in der Öffentlichkeit Die Evolution
Proteine, aus Pilzmyzel, aus tieri- auf ein Buch angesprochen wird, das des Universums
schen Stammzellen oder auch mit man gerade liest. So ist es mir aber
Kosmos, Stuttgart 2022
Hilfe von Mikroben hergestellt. Die während der Lektüre des Buches von
€ 34,–
Gasfermentation, also die Produktion Felicitas Mokler geschehen, was
von Proteinen durch Mikroben, die dann direkt meinen Eindruck bekräf-
zum Beispiel Wasserstoff verstoff- tigt hat: »Die Evolution des Univer-
wechseln, erscheint Monbiot dabei sums« ist ein ausgesprochen schö-
momentan als vielversprechendste nes Buch, voller fantastischer astro-
Methode. nomischer Farbfotos, in hoher
REZENSIONEN
Qualität gedruckt. Und auch wenn es Zu kritisieren gibt es nur wenig an Doch das sind wirklich nur kleine
mit einem Gewicht von über einem Moklers Buch: So hätte es gut in den Makel. Das Buch ist eine tolle und
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
Kilogramm nicht gerade leicht in der Abschnitt über die zeitliche Entwick- hochaktuelle Einführung in die mo-
Hand liegt, weglegen möchte man es lung der Geometrie des Universums derne Kosmologie, die ich wärmstens
trotzdem nicht. Zu sehr ziehen einen gepasst, die Tatsache zu erklären, empfehlen möchte. Und um nochmal
die Bilder in den Bann – offensichtlich dass Objekte ab einem gewissen auf die Bilder zurückzukommen: Sie
auch über mehrere Meter. Abstand nicht mehr kleiner erschei- sind nicht nur ausgesprochen schön,
Die Autorin präsentiert in neun nen, je weiter sie weg sind. Das sondern geben oftmals auch unge-
Kapiteln einen Abriss der modernen Kapitel über Galaxienentwicklung wohnte Perspektiven – beispielswei-
Kosmologie – von der Entdeckung vernachlässigt den Weg der norma- se der Vergleich einer Aufnahme des
der Ausdehnung des Universums vor len Materie in die Galaxien, die sich Cepheiden-Sterns in der Andromeda-
gut 100 Jahren bis hin zur aktuellen entlang des kosmischen Netzes aus galaxie von Edwin Hubble (1889–
Debatte um die Diskrepanz zwischen Dunkler Materie schon früh zu rotie- 1953), der die extragalaktische Natur
den verschiedenen Werten für die renden Scheiben anordnete. Nach des Nebels bewies, mit einer moder-
Ausdehnungsgeschwindigkeit des einem Fehler klingt es, wenn die nen Aufnahme. Ebenfalls ungewöhn-
Universums. Die so genannte Hubb- Autorin behauptet, dass das Radio- lich und lehrreich ist es, die Ringe der
le-Konstante kann auf verschiedene bild von Sgr A* schwerer zu erhalten Supernova 1987A in einem größeren
Weise gemessen werden, und in den gewesen wäre als das von M87, weil Sternfeld zu sehen. Lassen Sie sich
letzten Jahren haben die Astronomen sich in Sgr A* das Material schnell, also ruhig von Moklers Werk in
die Genauigkeit immer weiter verbes- nämlich fast mit Lichtgeschwindig- Erstaunen versetzen, wenn nicht
sern können, so dass heute klar keit bewege. Denn Letzteres trifft sogar verzaubern.
scheint: Der Wert, den man aus der natürlich auch auf M87 zu; aber ein
kosmischen Hintergrundstrahlung be- Umlauf dauert bei M87 auf Grund Stefan Gillessen ist promovierter Physiker
kommt, stimmt nicht mit dem über- des 1500-mal größeren Radius auch und wissenschaftlicher Mitarbeiter am
ein, der sich über die klassischen entsprechend länger, so dass diese Max-Planck-Institut für extraterrestrische
Methoden der astronomischen Quelle langsamer ihr Aussehen Physik.
Entfernungsleiter ergibt. Der Unter- ändert als Sgr A*.
schied ist inzwischen so eklatant,
dass sogar darüber spekuliert wird,
ob nicht grundsätzlich etwas falsch
ist am etablierten Bild des Kosmos.
Natürlich führt Mokler die Leser
sachte in die Thematik ein. Der Text
Radikal ins Klima eingreifen?
ist eine gelungene Mischung, denn Der Klimaökonom Gernot Wagner diskutiert solares
sie erklärt über weite Strecken paral- Geoengineering und seine möglichen Folgen.
lel, wie sich unser Weltbild im letzten
Jahrhundert entwickelt hat und wie
die Evolution des Universums ablief.
Den roten Faden liefert dabei die
Entwicklung unseres Wissens, das
Geoengineering stand in den
vergangenen Monaten stark im
Fokus der Öffentlichkeit: So will das
Partikel, in die Stratosphäre bringen
– in der Hoffnung, dass diese einen
Teil des Sonnenlichts zurück ins All
wie zu erwarten zu den großen Weiße Haus laut Medienberichten die werfen und dadurch die Erderwär-
Rätseln der Kosmologie führt: Was Potenziale und Risiken der Technolo- mung verringern.
könnte die in vielfältigen, ganz ver- gie besser erforschen lassen. Mexiko Die Voraussetzungen, Risiken und
schiedenen Beobachtungen sichtbare dagegen ließ alle Experimente mit Potenziale dieser Idee diskutiert der
Dunkle Materie sein? Ist die Dunkle solarem Geoengineering stoppen, Klimaökonom Gernot Wagner in
Energie tatsächlich die kosmologi- nachdem ein Start-up offenbar ohne seinem neuen Buch »Und wenn wir
sche Konstante, die in der allgemei- vorherige Absprachen in Baja Califor- einfach die Sonne verdunkeln?«. Trotz
nen Relativitätstheorie auftaucht, nia mit Schwefeldioxid gefüllte des komplexen Themas bleibt er
aber der dort kein natürlicher Wert Wetterballons in die Luft steigen ließ. dabei durchweg verständlich.
zugewiesen werden kann? Wie sieht Tatsächlich kreisen die derzeitigen
die ganz langfristige Zukunft des Debatten häufig um solares Geoengi- Ein radikales Konzept
Universums aus? Wird es zu einem neering, das oft auch als »Solar mit vielen Unsicherheiten
Big Bounce kommen, oder wird die Radiation Management« (SRM) Wagner hält sich nicht lange mit den
Dunkle Energie sogar wieder so bezeichnet wird und mehrere Maß- chemischen oder meteorologischen
dominant werden, dass ähnlich wie nahmen umfasst. Eine davon lautet: Grundlagen des solaren Geoenginee-
während der Inflationsphase des Die Wetterballons oder andere tech- rings auf. Nach einer kurzen Einlei-
Urknalls neue Teilchen-Antiteilchen- nische Hilfsmittel wie spezielle Flug- tung zur Geschichte und Definition
Paare entstehen können? zeuge sollen Aerosole, also kleine kommt er schnell auf die Rolle der
REZENSIONEN
spräch zusammenkratzen; Filme gab heit rekonstruieren. SchülerVZ- und anschalten konnte, ohne dass die
es nicht bei Netflix, sondern im StudiVZ-Profile gingen mit der Ab- Sicherung rausflog. Und wie Wikipe-
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
linearen Fernsehen oder beim örtli- schaltung dieser Dienste ebenso dia-Gründer Jimmy Wales mehrfach
chen Videoverleih; und das Internet verloren wie zahlreiche alte Chatver- versuchte, in seinem eigenen Eintrag
bot kaum mehr als der damals noch läufe. zu verbergen, dass er seine Online-
verbreitete Videotext und war zudem, Doch trotz lückenhafter Aufzeich- Enzyklopädie ursprünglich mit einer
wie der Autor schreibt, teurer als die nungen hat Lobe zahlreiche interes- Softpornoseite querfinanziert hatte.
Sexhotline. sante, oft unterhaltsame Fakten Leider enthalten manche Informa-
Den Begriff »digitale Steinzeit« ausgegraben, etwa zur Anfangszeit tionen kleine Fehler – etwa falsch
nutzt Lobe jedoch nicht nur, um großer Tech-Konzerne. Er schildert, angegebene Platzierungen der Kandi-
auszudrücken, wie urtümlich uns wie Amazon-Gründer Jeff Bezos daten bei Deutschland sucht den
heute der technische Stand der seine ersten Server in der heimischen Superstar, aber auch ungünstige
1990er scheinen mag. Im Vorwort Garage betrieb und dabei so viel Jahreszahlenverwechslungen. So
des Buches schreibt der Autor, dass Strom verbrauchte, dass man im gab es laut dem Buch angeblich
er sich bei den Recherchen zur Haus nicht mehr den Staubsauger schon im Oktober 2000 rund hundert
Frühzeit des Internets oft tat- Wikipedia-Einträge zu den Terroran-
sächlich wie ein Hobby-Archäo- schlägen vom 11. September 2001.
loge fühlte, der Fragmente aus Dem Lesevergnügen tut das aller-
der Altsteinzeit zusammenträgt dings kaum Abbruch. Ein ausführli-
– denn entgegen der Mahnung ches Quellenverzeichnis ermöglicht
»Das Internet vergisst nichts« zudem, alle Informationen genau
ist erstaunlich wenig aus den nachzuvollziehen.
ersten Jahren des World Wide
Web erhalten geblieben. Von Elena Bernard ist Wissenschafts-
der ersten Webseite, die 1991 journalistin in Dänemark.
online ging, existieren nur noch
zwei Jahre später aufgenom-
mene Screenshots, und was
der erste Wikipedia-Artikel war,
lässt sich nicht mehr mit Sicher-
Adrian Lobe
Mach das Internet aus,
ich muss telefonieren
C.H. Beck, München 2022
€ 12,95
TOPOLOGISCHE DATENANALYSE
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
Allison Parshall
ist Journalistin in
New York City.
MATEJMO / GETTY IMAGES / ISTOCK (AUSSCHNITT)
COMPUTERCHIP Sind
gewöhnliche Rechner
oder Quantencomputer
besser geeignet, um
Probleme von »Big
Data« zu begegnen?
Um Quantencomputer wird viel Wirbel gemacht. In
Wahrheit wissen wir aber immer noch nicht, wozu sie »Das ist eine dieser
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
Wann lohnt sich der Einsatz Disziplinen, die alles durchdringt«, so der Quanteninfor-
matiker Vedran Dunjko von der Universität Leiden, »Topo-
von Quantenrechnern? logie ist einfach überall.« Eine der zentralen Größen des
Bereichs ist die Anzahl der Löcher in einem Objekt, die so
3 Einen deutlichen Vorteil bringen selbst hier die Gegenwärtig sind klassische Computer häufig nur dazu in
Quantenalgorithmen jedoch offenbar nur dann, der Lage, Betti-Zahlen in bis zu vier Dimensionen zu
wenn man es mit unrealistisch großen Datensät- bestimmen. Auf der Terrasse ihres Hotels in den Pyrenäen
zen zu tun hat. versuchten Lloyd und Zanardi, diese Grenze zu durchbre-
chen. Nach etwa einer Woche intensiver Diskussionen
hatten sie das Grundgerüst eines Quantenalgorithmus
»Ich würde weder TDA ein quantenmechanisches Problem, auch wenn es
nicht so aussieht.«
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
mein Auto oder die möglichen Szenarien, in denen der Quantenvorteil von
TDA am offensichtlichsten ist, allerdings erheblich einge-
Die ultimative
glückliche virtuelle Beziehung vorgaukelte. Dabei schien
mir eine Fake-Trennung weitaus überschaubarer und
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
Ex-Erfahrung
die man wesentlich mehr Arbeit stecken musste, wie ich
annahm.
Am Anfang lief alles so wie erhofft: störendes Signal-
ton-Stakkato eingehender Messages im Büro, etwas zu
Die realen Folgen laute und hitzige Privatgespräche während der Arbeitszeit
einer virtuellen Trennung. und verschämt weggewischte Tränen, die echt waren,
weil mir manche Nachrichten und Anrufe – KI hin oder
Eine Kurzgeschichte von Christian Endres her – nahegingen. Einmal bekam ich in der Kantine keinen
Bissen herunter, da mich die Vorwürfe der App, die sie an-
hand meines Profils auf mich abschoss, so schwer trafen.
I
m Bus hörte ich das erste Mal davon, auf dem Nach- Die anderen im Büro schienen sich dadurch für mich
hauseweg vom Büro. Ein paar Leute, die vor mir saßen zu erwärmen, mich zum ersten Mal als menschliches
und mich nicht beachteten, unterhielten sich angeregt Wesen wahrzunehmen. Und wenn da bei einigen statt
darüber. Mitleid Häme vorherrschte – na und, was kümmerte es
»Ex-Erfahrung nennen die das«, schnappte ich auf. mich? Wenigstens war ich endlich mehr als ein Möbel-
»Total irre. Klar, ich weiß, es gibt Sex-Bots, Beziehungssi- stück.
mulations-Apps und den ganzen Scheiß … aber eine App, Die Woche, in der die Trennungssimulation von ExPeri-
die eine Trennung nachspielt? Wer sollte so was wollen? ence mein Leben bestimmte und bereicherte, im Büro
Wozu? Warum?« und selbst zu Hause, war die aufregendste Zeit seit Lan-
Sie lachten abfällig. gem. Nie hatte ich mich lebendiger gefühlt.
Ich dagegen fand die Idee bereits gut, bevor ich anfing, Auf der Arbeit wurde ich in jenen Tagen oft angespro-
auf meinem Smartphone zu recherchieren. chen; alle wollten wissen, wie denn der Stand der Dinge,
Als der Bus meine Haltestelle erreichte, die ich vor was die neueste Entwicklung sei. Ich gab bereitwillig
lauter Faszination beinahe verpasste, hatte ich die App Auskunft, erhielt Aufmerksamkeit, Unterstützung und
der Firma ExPerience heruntergeladen, das Kleingedruck- Tipps. Man lud mich sogar zu einer Party ein.
te in der Nutzungsvereinbarung per Klick bestätigt, die Dann hörte es einfach auf. Von einem Tag auf den
Gebühr für eine Ex-Erfahrung bezahlt und damit begon- anderen.
nen, Profildaten einzugeben. Ich hätte es kommen sehen müssen, hatte diesen
Wieso, werden Sie jetzt fragen, wollte ich unbedingt unausweichlichen Teil der Sache jedoch verdrängt.
eine solche App haben? Es war der letzte Schritt der Erfahrung, das nüchterne
Ich war nun einmal das, was meine Mutter als »unauf- Lebewohl, der getrennte Gang in die Kälte, das Ende.
fällig-wohlgelitten« bezeichnete, hatte weder Freunde Das Ghosten.
noch Feinde. In der Firma begegnete man mir mit Gleich-
D
mut, wenn man mich überhaupt wahrnahm; ich war ein ie KI ignorierte mich und ließ sich zu keiner Reakti-
stilles Rädchen im Getriebe. Ich hatte keine spannenden on mehr provozieren. Selbst das kostete ich noch
Hobbys, mit denen ich mich hätte hervortun, kein aufre- ein, zwei Tage im Büro aus, zelebrierte diese neuer-
gendes Liebesleben, in das ich anderen hätte Einblick liche Wendung. Allerdings verlor der Rest der
gewähren können – etwa durch private Telefonate voller Belegschaft an diesem Drama ohne Höhepunkte schnell
Gekicher auf der Arbeit, meinen nach Feierabend vor der das Interesse. Ich versuchte, die App zu weiteren Atta-
Firma wartenden Schatz oder was auch immer. In der cken und Scheinduellen zu animieren, noch irgendeine
Kantine oder in der Büroküche erzählte ich niemanden hasserfüllte Ehrenrunde herauszukitzeln – aber nichts da,
von schrecklichen Dates, magischen Wochenenden, die Spitze der Erfahrung, der tiefste Punkt des falschen
verkorksten Beziehungen, nervigen Schwiegereltern oder Trennungstals, war allem Anschein nach erreicht.
eben hässlichen Trennungen. Auch ExPerience zeigte sich nicht bereit, mir entgegen-
Die App von ExPerience könnte das ändern. zukommen; die Firma ghostete und ignorierte mich
Nur ich wüsste, dass es sich um eine künstliche Intelli- genauso, wie ihre KI das tat.
genz handelte – die anderen im Büro müssten davon Was blieb mir daher anderes übrig, als zur nächsten
ausgehen, einen Blick in mein Privatleben samt einer Firmenniederlassung zu fahren, deren Adresse ich im
schweren, grässlichen Trennung zu erhaschen: abgelenkt Netz problemlos fand? Von wegen Stalking!
und aufgewühlt durch Message-Terror, wütende Anrufe, Ein Wachmann, der mir zu erklären versuchte, dass es
Emotionen … hier lediglich Server und keine Mitarbeiter gab, kam mir
Das alles selbst und allein vorzutäuschen, wäre mir ver- irgendwann blöd. Vielleicht war ich auch bloß sauer.
rückt vorgekommen. Doch mittels einer App und einer Jedenfalls schlug ich ihn nieder – mir war nicht klar
digitalen Intelligenz als Spielpartner? Das war wirklich gewesen, dass ich das in mir hatte. Ein schockierendes,
genauso wie ein Sex-Bot oder eine App, die einem eine wenngleich berauschendes Gefühl. Ich schnappte mir
FUTUR III
seinen Sicherheitsausweis, öffnete Tür um Tür und haste- »Ich will damit sagen, dass Sie für die Nutzung der Diens-
te durch die labyrinthischen Gänge. Aber da gab es te von ExPerience nicht genug entrichtet haben. Im rein
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte
wirklich nichts als summende Server in langen Reihen monetären Sinn. Sie schulden der Firma noch eine größe-
und gekühlten Räumen. re Summe.«
Vor lauter Wut und Enttäuschung legte ich Feuer. Fast »Was?« Ich erwiderte es so laut, dass einer der Wärter
wäre ich nicht mehr rechtzeitig aus dem Gebäude heraus- grimmig in meine Richtung blickte. »Wollen Sie mich
gekommen. verarschen? Ich hab die App bezahlt, damit ging der
Es war bereits zu spät, als mir der bewusstlose Wach- ganze Ärger los! Mein Leben ist im Eimer! Der Wach-
mann wieder einfiel; längst loderten die Flammen in den mann. Das Feuer. Der Prozess. Das Mediengewitter. Die
Himmel und verschlangen das ganze Haus. Ich floh vor Verurteilung. Der Knast.«
dem krachenden Toben des Feuers und vor den näher »Es freut mich, dass Sie das so sehen«, sagte Heinz
kommenden Sirenen. glatt. »Denn genau darum geht es. Haben Sie die Nut-
Am nächsten Tag wurde ich verhaftet – Sicherheitska- zungsbedingungen gelesen oder etwa einfach nur bestä-
meras. tigt? Ich habe sie hier. Die markierten Stellen. Schauen Sie
Der Prozess war äußerst öffentlichkeitswirksam, da die selbst.«
Medien ihn nutzten, um das Sommerloch bis zur nächs-
B
ten Eruption der Klimakatastrophe zu überbrücken. Politi- evor ich mehr als ein paar verschachtelte Sätze
ker und Experten besprachen meinen Fall und diskutier- gelesen hatte, erklärte Heinz: »Das, was Sie gerade
ten über die Gefahren durch die verführerische Verzer- eben beschrieben haben … das, was Sie erlebt
rung der Realität auf Grund der Interaktion mit künstlicher haben …, ist das Paket der ultimativen Ex-Erfah-
Intelligenz. rung. Mehr geht nicht.« Er deutete auf ein anderes Blatt.
Mehrere Leute aus dem Büro wurden interviewt und »Wie Sie sehen, haben Sie das volle derzeit mögliche
sagten, dass sie mir das nie und nimmer zugetraut hätten. Programm ausgereizt und damit die Voraussetzungen der
Obwohl – ein bisschen merkwürdig sei ich ja schon variablen Eskalation erfüllt, die bei Nutzung automatisch
immer gewesen, wenn sie es recht bedachten. Meine als gebucht betrachtet wird. Die Begleichung durch Sie
Mutter entschuldigte sich, in Tränen aufgelöst, bei der steht allerdings noch aus.«
Familie des Wachmanns. Ein Nachbar, den ich noch nie »Na, dann viel Glück dabei«, sagte ich, lehnte mich
im Leben gesehen hatte, meinte, meine stille Art sei ihm zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin
immer verdächtig vorgekommen. pleite. Der Prozess … der Anwalt hat meine letzten Er-
Mein Anwalt kostete viel Geld und konnte dennoch sparnisse gefressen.«
nicht verhindern, dass ich ins Gefängnis musste. Dort »Dessen sind wir uns bewusst. Deshalb haben wir
machte ich ganz reale Erfahrungen, auf die ich gern einen Vorschlag für Sie, um Ihre Schulden bei ExPerience
verzichtet hätte. zu tilgen. Mit der Gefängnisleitung ist schon alles abge-
Als ich dachte, dass mich nichts mehr überraschen sprochen. Sehen Sie, wir arbeiten an einer neuen App,
könnte, erhielt ich eines Tages unerwarteten Besuch. Der diesmal im Bereich Virtual Reality. Die Menschen verlangt
Mann, der vom Scheitel bis zur Sohle nach einem Anwalt es nicht mehr nur nach Freiheit, sondern nach extremen
aussah, begrüßte mich an einem der festgeschraubten Erfahrungen, die anders sind als ihr Alltag. Etwa der,
Alutische im Besuchsraum. Ein dünner Aktenordner aus hinter Gittern zu sitzen. Wir würden gerne Ihre Erfahrun-
Pappe lag vor ihm. gen hier drinnen aufzeichnen und auswerten und in die
Entwicklung eines neuen VR-Produkts einfließen lassen.
»I
ch habe keinen neuen Anwalt verlangt«, brummel- Dafür würden wir Sie bezahlen, und wenn Sie eines
te ich, sowie ich Platz genommen hatte. »Es fernen Tages hier rauskommen, wären Sie nicht nur frei,
würde nichts bringen, in Berufung zu gehen. sondern auch schuldenfrei, und … he, gehen Sie runter
Außerdem bin ich pleite. Wenn Sie also nicht auf von mir!«
hoffnungslose Fälle stehen und pro bono arbeiten …« Es waren drei Wärter nötig, um mich von Heinz fortzu-
»Nein«, wiegelte er mit einem schmalen Lächeln ab. zerren – mit meinen Fingern um den Hals hatte er bereits
»Deshalb bin ich nicht hier. Mein Name ist Heinz.« Womit das Bewusstsein verloren.
er offen ließ, ob das sein Vor- oder Nachname war. »Ich Keine Ahnung, was mich diese Erfahrung kosten
vertrete die Interessen von ExPerience.« wird.
Ich stöhnte. »Haben Sie mir nicht genug eingebrockt?«
»Genug ist das Stichwort«, antwortete Heinz, zeigte DER AUTOR
mir wieder sein dünnes Lächeln und klappte effektvoll die
Akte auf, in der mehrere Schriftstücke lagen. »Sie haben Christian Endres schreibt für zahlreiche Medien wie »Tages-
nicht genug bezahlt«, eröffnete er mir sachlich. spiegel«, »diezukunft«, »c‘t« oder »phantastisch!«. Im April
»Für meine Verbrechen?«, fragte ich erstaunt. »Haben 2023 erschien sein Fantasy-Roman »Die Prinzessinnen –
Sie vergessen, wo Sie mich hier treffen? Ich würde schon Fünf gegen die Finsternis«. Für seine Arbeit wurde der Würz-
sagen, dass ich bezahlt habe. Jeden Tag bezahle.« burger mit dem Deutschen-Phantastik-Preis und dem
»Darüber müssen andere entscheiden«, versetzte er. Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.
DIE WOCHE
Das wöchentliche digitale
Wissenschaftsmagazin
IM
Jeden Donnerstag neu! Mit News, Hintergründen, Kommentaren und Bildern aus
NEUEN
der Forschung sowie exklusiven Artikeln aus »nature« in deutscher Übersetzung.
LOOK!
Im monatlich kündbaren Abonnement € 0,92 je Ausgabe; ermäßigt sogar nur € 0,69.