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Spektrum.de 6.23

Das Universum
im Labor
Atomwolken simulieren
den Kosmos nach
dem Urknall
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
D6179E
9,80 € (D/A/L) · 14,– sFr.

PILZINFEKTIONENWie groß ist die Gefahr?


ÖKOLOGIE Extremereignisse in den Ozeanen
KOHLENDIOXID Ein Endlager für das Treibhausgas?
Spektrum der Wissenschaft KOMPAKT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie:
Unsere Spektrum KOMPAKT-Digitalpublikationen
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Spektrum.de/aktion/kompakt
EDITORIAL

Unterschätzte Pilze
R
egelmäßige Leserinnen und erstaunlichsten Tiere und Pflanzen
Leser von »Spektrum.de« dürften hervor. Und auch Pilze gedeihen hier
wissen, dass Regenwälder mein natürlich prächtig.
liebstes Ökosystem sind: Die Vielzahl Besonders beeindruckend finde
an Arten und Interaktionen, der ich bei den tropischen Pilzen jedoch Daniel Lingenhöhl
intensive Wettbewerb und der ewige nicht die großen Schirmträger, die Chefredakteur
Kampf um Leben und Überleben vergleichbar mit unseren Steinpilzen, lingenhoehl@spektrum.de
faszinieren mich seit meiner Kindheit. Saftlingen oder Rotkappen wären,
Schließlich bringen Regenwälder die sondern die Kernkeulen: parasitäre
Pilze, die Ameisen befallen, von innen
her langsam aufzehren und ihre Wirte
vor deren Ende noch fernsteuern,
damit diese vom Waldboden bis in mittel recht kurz. Wir sollten unser
In dieser Ausgabe bestimmte Höhen aufsteigen, wo sie
dann sterben – und neue Pilzsporen
Augenmerk zukünftig wohl doch
auch stärker auf das Reich der Pilze
freisetzen. als Quelle pathogener Krankheits­
Celia Viermann
simuliert mit ultrakalten Pilze wie diese lieferten die Inspira­ erreger richten.
Atomen das Verhalten des tion für die Fernsehserie »The Last of Ebenfalls in Zukunft interessant
Kosmos kurz nach dem Us«, in der Menschen durch Pilz­befall werden dürfte die Einlagerung von
Urknall. Ab S. 12 erklärt sie, zu Zombies werden und unsere Kohlendioxid im Untergrund, um das
wie das funktioniert. Zivilisation untergeht. Noch gibt es Klima zu schützen. Die Technik dazu
keinen Pilz aus der realen Welt, der wurde bereits in Deutschland er­
Jeremy DeSilva so etwas bewirken könnte. Dennoch forscht und probeweise eingesetzt,
Auf welchen verschlunge- stellen diese Lebewesen für uns eine doch durchsetzen ließ sie sich unter
nen Evolutionspfaden der
unterschätzte Gefahr dar, wie unsere anderem wegen politischer und
Mensch zum Zweibeiner
wurde, schildert der Anthro-
beiden Experten Oliver Kurzai und gesellschaftlicher Widerstände nicht.
pologe ab S. 32. Martin Väth in dem spannenden Da die Risiken und Folgen des Klima­
Interview ab S. 42 erläutern. In den wandels aber immer offensichtlicher
USA beispielsweise breitet sich werden, könnte diese Maßnahme
Candida auris stark aus: ein Hefepilz, allerdings schneller kommen als
HYGIENE UND MIKROBIOLOGIE,
DANIEL PETER, INSTITUT FÜR

UNIVERSITÄT WÜRZBURG

der alle möglichen Organe befallen gedacht. Ab S. 54 erfahren Sie den


kann und von dem noch niemand Stand der Dinge – und welche
weiß, woher er stammt. Zu allem ­Probleme und Chancen hier auf uns
Übel ist die Liste potenzieller Gegen­ zukommen.
Oliver Kurzai, Martin Väth
Krank machende Pilze sind in der Eine spannende Lektüre wünscht
Medizin eher ein Rand­thema.
Welche Gefahr von ihnen ausgeht,
diskutieren die beiden Experten ab
S. 42.

Thomas Frölicher
erforscht Extremereignisse
in den Ozeanen. Im Interview
ab S. 50 spricht er über das
Zusammenspiel von marinen
Hitzewellen, Sauerstoffman-
gel und anderen Klimastress-
faktoren.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 3


INHALT

3 EDITORIAL KLIMAGAS-DEBATTE
6 SPEKTROGRAMM 54 Ein Endlager für Kohlenstoffdioxid
Deutschland will der unterirdischen CO2-Speicherung
eine neue Chance geben.
TITELTHEMA Von Ralf Nestler

12 Der frühe Kosmos im Labor CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN


Atomwolken simulieren die Dynamik von
Quantenfeldern unmittelbar nach dem Urknall. 60 Entdeckung der Gase
Von Celia Viermann Auf der Spur von »Feuerluft« und Co.
Von Matthias Ducci und Marco Oetken

TOPOLOGIE
FORSCHUNG AKTUELL
22 Ratten verändern Revierverhalten von Fischen 66 Donuts im Gehirn
Invasive Nager fressen Seevögel und unterbrechen Mit topologischen Methoden konnten Fachleute
dadurch den Nährstoffkreislauf von Korallenriffen. verborgene Vorgänge im Gehirn aufdecken.
Von Kelsey Houston-Edwards
24 Immunsystem treibt Nervenzellen in den Tod
Bei Alzheimerpatienten scheint die Körperabwehr
FREISTETTERS FORMELWELT
das Gehirn anzugreifen.
73 »In einem Glas Wein findet man das Universum«
27 Mit Mathematik die Welt verstehen Und in Bier sehr viel Mathematik.
Der diesjährige Abelpreis geht an Luis Caffarelli.
ARCHÄOLOGIE
29 IMPRESSUM
74 Menschenopfer in der Wüste
SPRINGERS EINWÜRFE
Die Chimú opferten ihren Göttern nicht nur hunderte
30 Heilsame Panik Lamas, sondern auch massenhaft Kinder. Vermutlich,
Wer sich zur Flucht anstecken lässt, ist im Vorteil. um El Niño zu besänftigen.
Von Hubert Filser
PALÄOANTHROPOLOGIE
81 LESERBRIEFE
32 Als die Menschen laufen lernten
Für die Vorfahren von Homo sapiens führte der 82 VORSCHAU
Weg zum Zweibeiner über verschlungene Pfade.
Von Jeremy DeSilva

MEDIZIN
42 »Jeden Monat ein neuer Erreger« Weitere Beiträge
Oliver Kurzai und Martin Väth im Gespräch über
Bedrohungen durch Pilzinfektionen. Im PDF der Digitalausgabe sowie unter
spektrum.de/aktion/zusatzinhalte finden
49 IM BILD Sie die folgenden zusätzlichen Artikel:

INTERVIEW SCHLICHTING!
50 »Eine permanente Extremsituation« Wie Waben in der Wüste wachsen
SERIE: OZEANE (TEIL 4) Thomas Frölicher erklärt,
warum marine Hitzewellen und andere Extreme REZENSIONEN
zunehmend gehäuft auftreten.
TOPOLOGISCHE QUANTENANALYSE
Ein Job für Quantencomputer
FUTUR III
TITELBILD:
SAKKMESTERKE / GETTY IMAGES / ISTOCK;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft 6.23


SAKKMESTERKE / GETTY IMAGES / ISTOCK
12 Der frühe Kosmos im Labor

32 Als die
BARANOZDEMIR / GETTY IMAGES / ISTOCK

Menschen
laufen lernten 54 Endlager für Kohlendioxid
JEREMY DESILVA

HERITAGE ART / HERITAGE IMAGES / PICTURE ALLIANCE

66 Topologische 74 Massenopfer
NEURONE: EVGENII KOVALEV / GETTY IMAGES / ISTOCK; DONUTS: CAGKANSAYIN / GETTY IMAGES / ISTOCK;

Datenanalyse der Chimú

Alle Artikel auch digital


auf Spektrum.de
COMPOSING: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Auf Spektrum.de berichtet


unsere Redaktion täglich
aus der Wissenschaft:
fundiert, aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 5


6
Spektrum der Wissenschaft 6.23
SPEKTROGRAMM

DIEGO RHAMON / INSTITUTO NACIONAL DE PESQUISAS ESPACIAIS (INPE)


DIEGO RHAMON / INSTITUTO NACIONAL DE PESQUISAS ESPACIAIS (INPE)

Blitze in flagranti
erwischt
Mit einer Hochgeschwindigkeitskamera
haben Wissenschaftler um den Physiker
Marcelo Saba vom brasilianischen For-
schungsinstitut INPE diesen Blitzeinschlag
fotografiert. Mit einem Tempo von dut-
zenden Kilometern pro Sekunde rasen
hier die negativen Entladungsäste auf den
Boden zu. Ihnen recken sich von mehre-
ren Gebäuden positiv geladene Leitblitze
entgegen. Das Foto zeigt feine Details des
Vorgangs: etwa die büschelartige Korona
der aufsteigenden Leitblitze sowie die
faserigen Strukturen rund um die Spitzen
der herabschießenden Äste.
Fotos wie dieses belegen, dass Blitzab-
leiter keineswegs immer schützen. Der
absteigende Entladungsast rechts im Bild
hielt zunächst auf den Blitzableiter des
Gebäudes zu, schlug dann aber überra-
schend einen Bogen und traf einen
Schornstein wenige Meter daneben.
Dabei riss er einen faustgroßen Brocken
aus dem Beton.
Geophysical Research Letters
10.1029/2022GL101482, 2022

Spektrum der Wissenschaft 6.23 7


SPEKTROGRAMM

BIOLOGIE anderen Tiefseegebieten, etwa dem MATERIALWISSENSCHAFT


Marianengraben, habe man Vertreter
Fisch in Rekordtiefe dieser Familie entdeckt, erläutert
Jamieson. Sie würden jedoch immer
Ein biologisch
gefilmt seltener, je weiter hinunter man abbaubares Glas
komme.

 In den Gewässern vor Japan hat


ein Tauchroboter einen Fisch
gefilmt, der 8336 Meter unter der
Dauerhaft deutlich unterhalb von
8000 Meter zu leben, sei vermutlich
ausgeschlossen, erklärt der Meeres-
 Ob im Boden, im Wasser oder an
der Luft: Glas bleibt über Jahrtau-
sende hinweg stabil. Alternativen aus
Wasseroberfläche seine Runden zog. biologe. Um dem enormen Druck Kunststoffen hingegen zerfallen zu
Das dürfte der maximalen Tiefe zu widerstehen, müssten die Fische Mikroplastikpartikeln, wenn sie in die
nahekommen, in der Fische über- dort osmotisch aktive Substanzen in Umwelt gelangen. Beides ist unter
haupt noch leben können. Das Tier ihrem Körper haben, deren erfor­ den Gesichtspunkten des Umwelt-
einer unbekannten Art gehörte zur derliche Konzentration mit der Tiefe schutzes nicht gerade ideal. Nun soll
Familie der Scheibenbäuche (Lipari- zunehme. Zwischen 8200 und ein biologisch abbaubares Glas den
dae). Man weiß schon länger, dass 8400 Meter erreiche die Konzentrati- ökologischen Fußabdruck des Mate-
sich deren Vertreter extrem weit on einen Wert, der sich nicht mehr rials verkleinern. Xuehai Yan von der
hinunterwagen. Die neue Beobach- weiter steigern lasse. Wo genau die Chinesischen Akademie der Wissen-
tung markiert allerdings einen Welt- Grenze liege, hänge von der Umge- schaften und seine Arbeitsgruppe
rekord, wie ein Team um den Mee- bungstemperatur ab: Je kälter das haben einen Ansatz hierfür vorge-
resbiologen Alan Jamieson von der Wasser, umso weiter oben müssen stellt.
University of Western Australia die Fische bleiben. Im Boningraben Die Fachleute verwenden Amino-
schreibt. sei das Wasser um Bruchteile eines säuren sowie kurze Ketten daraus, so
Bei dem noch sehr kleinen Fisch Grads wärmer, darum könnten die genannte Peptide. Diese erhitzen sie
dürfte es sich um ein Jungtier gehan- Tiere dort weiter hinabschwimmen. zunächst und lassen sie anschließend
delt haben, so die Wissenschaftler. Der vorherige Rekordhalter wurde derart schnell abkühlen, dass dabei
Vermutlich weicht der Nachwuchs 2017 im Marianengraben auf knapp keine Kristallstrukturen entstehen.
dieser Spezies in einsame Tiefen aus, 8200 Meter gefilmt. Stattdessen bildet sich ein amorpher
um Beutegreifern zu entkommen, die Der Tauchbootpionier Jacques Zustand heraus – das wesentliche
weiter oben jagen. Entdeckt wurde Piccard (1922–2008) meinte, im Jahr Kennzeichen eines Glases. Die größte
das Tier im Boningraben, auch 1960 bei einer Entdeckungsfahrt im Hürde, die das Team dabei zu über-
Izu-Ogasawara-Graben genannt, der Marianengraben einen Fisch in knapp winden hatte, war die Hitzebestän-
mancherorts mehr als 10 000 Meter 11 000 Meter Tiefe gesehen zu haben. digkeit der Ausgangsmoleküle.
hinabreicht. Der Tauchroboter lockte Das wurde jedoch schon kurz darauf Normalerweise degenerieren diese
den Fisch mit einem Köder vor die bezweifelt. Wahrscheinlich habe es bei den hohen Temperaturen, die für
Kamera. sich um eine flache Seegurke gehan- das Verfahren erforderlich sind. Yan
Auf der zweimonatigen Expedi­ delt, mutmaßten Experten. Autono- & Co. konnten das mit Hilfe chemi-
tionsfahrt des zugehörigen For- me Tauchroboter konnten trotz scher Modifikationen verhindern,
schungsschiffs »DSSV Pressure stundenlanger Anwesenheit in dem indem sie beispielsweise Azetyl- oder
Drop« im Jahr 2022 filmten und Gebiet die Beobachtung des Pioniers Benzyloxycarbonylgruppen an die
fingen die Fachleute noch weitere nicht wiederholen. Moleküle hefteten.
Tiefseeorganismen. Zwei Scheiben- Die entstehenden Gläser – bislang
bäuche gingen ihnen zusätzlich bei Mitteilung der University of Western Aus­ Materialproben von einigen Millime-
8022 Meter in die Falle. Auch in tralia vom 3. 4. 2023 tern Durchmesser – seien in ihren
Eigenschaften mit herkömmlichem
Glas vergleichbar, schreibt das Team.
UNIVERSITY OF WESTERN AUSTRALIA / TOKYO UNIVERSITY OF MARINE SCIENCE AND TECHNOLOGY

Sie ließen sich zudem mit 3-D-Dru-


ckern verarbeiten. Tests hätten
UNTER DRUCK Fische aus der Familie der gezeigt, dass kleine Stücke dieser
Scheibenbäuche in etwa 8000 Meter Tiefe. Gläser, in den Kompost gegeben,
binnen eines dreiviertel Jahres
zerfallen. Sie dienen Mikroorganis-
men als Nahrung und werden daher
biologisch recycelt.

Science Advances 10.1126/sciadv.add8105,


2023

8 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Aufnahme des Himmelsausschnitts mit den Galaxien Strahlungsspektren

Lyman-Linie (Maß für die Rotverschiebung)


Rotverschiebung

zunehmende Rotverschiebung
1
z = 13,20

Intensität
0,5

–0,5

2 3 4 5
Wellenlänge (in Mikrometer)

0,8
z = 12,63 0,6

Intensität
0,4
0,2
0
S. TACCHELLA (CAMBRIDGE), E. CURTIS-LAKE (UOH), S. CARNIANI (SCUOLA NORMALE SUPERIORE), JADES COLLABORATION

–0,2
–0,4
NASA, ESA, CSA, M. ZAMANI (ESA/WEBB), LEAH HUSTAK (STSCI); SCIENCE: BRANT ROBERTSON (UC SANTA CRUZ),

2 3 4 5
Wellenlänge (in Mikrometer)

1,5
z = 11,58

abnehmende Rotverschiebung
Intensität
1
0,5
0
–0,5

2 3 4 5
Wellenlänge (in Mikrometer)

1,5
z = 10,38
Intensität
1

0,5

BLASSE PUNKTE Die vier 2 3 4 5


Wellenlänge (in Mikrometer)
rekordalten Galaxien (links) und ihre
Strahlungsspektren (rechts).

ASTRONOMIE vier Galaxien einst ausgesendet Zusammengenommen belegen die


haben, während ihrer Reise stark Daten, dass die Bildung massereicher
Die ältesten bekannten auseinandergezogen worden. Das
Licht der Sterninseln erscheint uns
Galaxien überraschend zeitig einsetz-
te – möglicherweise früher, als es das
Galaxien deshalb deutlich ins Rote verscho- bisherige Standardmodell der Stern-
ben, was Fachleute mit dem Zahlen- entstehung zulässt.

 Das James Webb Space Telescope


(JWST) hat tiefer ins All geblickt
als je ein Teleskop zuvor und dabei
wert der so genannten Rotverschie-
bung beziffern.
Forschungsteams um Emma
Nature Astronomy 10.1038/s41550-023-
01921-1 und 10.1038/s41550-023-01918-w,
2023
vier Galaxien gesichtet, die relativ Curtis-Lake von der University of
kurz nach dem Urknall entstanden. Hertfordshire und um Brant Robert-
Es handelt sich um die ältesten je son von der University of California
beobachteten Sterninseln. Die vier in in Santa Cruz berichten über die PHYSIOLOGIE
Galaxien haben rekordverdächtige Entdeckung. Sie haben die Sternent-
Rotverschiebungen zwischen z = stehungsraten der Galaxien sowie Gestresste Pflanzen
10,38 und z = 13,2 und formierten
sich, als das Universum gerade
deren Größen, Massen und andere
Eigenschaften bestimmt. Alles
machen Geräusche
einmal 300 bis 400 Millionen Jahre deutet darauf hin, dass jede dieser
alt war. Zum Vergleich: Das ist eine
kürzere Zeitspanne als die, seit der es
Haie auf der Erde gibt.
Sterninseln einige zehn Millionen
Sonnenmassen in sich vereinte. Ihre
Strahlungsspektren zeigen keine
 Sind Pflanzen gestresst, weil sie
verletzt wurden oder es ihnen an
Wasser mangelt, geben sie Geräu-
Die hochempfindlichen Geräte an Hinweise auf schwerere Elemente sche von sich. Diese sind etwa so
Bord des JWST erlauben es, extrem wie Kohlenstoff, Sauerstoff oder laut wie ein menschliches Gespräch.
weit entfernte Objekte zu untersu- Stickstoff. Anscheinend gab es Hören können wir sie trotzdem nicht,
chen, deren Licht sehr lange zu uns solche Atome damals noch nicht in weil sie im Ultraschallbereich erklin-
unterwegs war. Weil sich das Univer- messbaren Mengen, da sie im Innern gen. Das berichtet eine Arbeitsgrup-
sum permanent ausdehnt, sind die der frühesten Sterne erst erbrütet pe um die Evolutionsbiologin Lilach
elektromagnetischen Wellen, die jene werden mussten. Hadany von der Tel Aviv University.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 9


SPEKTROGRAMM Plattform

Mit Hilfe von Mikrofonen be-

lang
lauschte das Team gesunde sowie
gestresste Tomaten- und Tabakpflan-

e, fl
zen – in einer schallisolierten Kammer

ach
und im Gewächshaus. Pflanzen, die

Ma e
unter Wassermangel litten oder

uer
beschnitten worden waren, machten

n
sich akustisch häufiger bemerkbar.
Sie gaben 30 bis 50 plopp- oder
klickähnliche Laute pro Stunde von
sich, die in unregelmäßigen Abstän-
den erklangen. Diese bestanden aus
Wellenpaketen mit einer Frequenz Innenhof
von mehreren zehn Kilohertz, was
Menschen ohne technische Hilfsmit-
tel nicht wahrnehmen können. Durf-
ten die Gewächse ungestört gedei-
hen und hatten genug Wasser zur
Verfügung, waren sie relativ still.

KENNEDY, M. ET AL.: CULT, HERDING, AND ‘PILGRIMAGE’ IN THE LATE NEOLITHIC OF NORTH-WEST ARABIA: EXCAVATIONS AT A MUSTATIL EAST OF ALULA.
PLOS ONE 18, E0281904, 2023, FIG. 2 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0281904) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
Die Geräusche erwiesen sich als
dermaßen charakteristisch, dass die
Arbeitsgruppe einen Algorithmus
erfolgreich darauf trainierte, anhand
der Tonaufnahmen zwischen unge-
stressten, durstigen und beschnitte-
nen Pflanzen zu unterscheiden. In
weiteren Versuchen entdeckten Eingang
Hadany & Co., dass auch andere
Gewächse unter Stress ploppen und Plattform
klicken – etwa Mais und Weizen.
Welcher Mechanismus die Töne
erzeugt, ist unklar. Das Team vermu-
tet, dass dabei kleine Luftbläschen im
Gefäßsystem der Pflanzen entstehen
und wieder kollabieren. Jenen Vor-
gang nennen Fachleute »Kavitation«. GEVIERT Ein typisches
Ob das Ganze irgendeine biologi- Mustatil mit zwei Plattformen
sche Funktion erfüllt, ist ebenso und Verbindungsmauern.
rätselhaft. Denkbar scheint, dass
benachbarte Pflanzen oder Insekten
aus den Lauten nützliche Informatio-
nen gewinnen. Es gibt bereits Belege
dafür, dass Pflanzen auf das Sum- ARCHÄOLOGIE die größte der Anlagen misst zirka
men von Bestäubern reagieren und 600 Meter in der Länge. Welchem
dann zum Beispiel mehr Nektar
produzieren.
Riesige Rechtecke Zweck sie dienten, war bislang
unklar. Nun haben Ausgrabungen
Als nützlich erweisen könnten sich für steinzeitlichen den Verdacht erhärtet, dass es sich
die Plopp- und Klicktöne im Pflanzen-
anbau. Gelänge es, sie mit techni-
Schädelkult bei den riesigen Bauten um Ritual-
stätten handelte.
schen Geräten zu erfassen und aus- Ein Archäologenteam um Melissa
zuwerten, könnten Landwirte bei-
spielsweise herausfinden, welche
Gewächse mehr Feuchtigkeit benö­
 Vor rund 7000 Jahren errichteten
Menschen, dort wo sich heute der
Norden Saudi-Arabiens befindet,
Kennedy von der University of Wes-
tern Australia hat ein 140 Meter
langes Mustatil nahe der saudi-ara­
tigen. Damit ließen sich Plantagen hunderte rechteckige Steinformatio- bischen Oasenstadt Al-Ula frei ge-
effizienter bewässern. nen. Diese »Mustatil« bestehen aus je legt. Dabei deckten die Wissen-
zwei steinernen Plattformen, welche schaftler eine Kammer auf, in der drei
Cell 10.1016/j.cell.2023.03.009, 2023 mit flachen Mauern verbunden sind; steinerne Stelen aufrecht im Boden

10 Spektrum der Wissenschaft 6.23


stecken. Hunderte Überreste von die Region allmählich trocken. Die Schwimmende Sargassum-Teppi-
Hörnern, Zähnen und Schädeln Mustatils könnten als Reaktion auf che gehören zu den natürlichen
bezeugen, dass dort immer wieder diese klimatische Entwicklung erbaut Ökosystemen des Atlantischen
Tierköpfe abgelegt worden waren. worden sein, postulieren Kennedy Ozeans. Sie bieten auf hoher See
Die meisten stammen von Rindern. und ihr Team. In den Ritualstätten vielen Tieren sowohl Nahrung als
Weil es sich vor allem um die Gebei- opferten die Menschen möglicher- auch Zuflucht. Seit 2011 breiten sie
ne männlicher Individuen handelt und weise den Göttern, um diese günstig sich jedoch enorm aus und reichen
lediglich deren Köpfe deponiert zu stimmen und weiterhin genug mittlerweile regelmäßig über tau-
wurden, liegt die Vermutung nahe, Wasser für sich und ihre Tiere zu sende Kilometer hinweg von der
dass hier Ri­tuale stattgefunden bekommen. westafrikanischen Küste bis nach
haben. Die steinernen Stelen deuten PLOS One 10.1371/journal.pone.0281904,
Brasilien, Venezuela und weiter in
die Archäologen als Kultbilder von 2023 die Karibik und den Golf von Mexiko.
Gottheiten. 2023 könnte ein neuer Rekordwert
Anscheinend war das Mustatil bei erreicht werden: Bereits im Februar
Al-Ula nicht lange in Gebrauch. Der erstreckten sich die Algenmatten
Datierung der Schädelreste zufolge ÖKOLOGIE über rund 6000 Kilometer.
wurden in der Stelenkammer ein oder Auf hoher See sorgen einge-
zwei Generationen lang Opfer darge- Algenteppiche im schlossene Luftblasen dafür, dass
bracht. Das Bauwerk geriet anschlie-
ßend aber nicht in Vergessenheit:
Atlantik nehmen zu der Tang schwimmt. An Land verrot-
tet er schnell, wobei er große Men-
Nahebei entdeckten die Forscher gen an Schwefelwasserstoff frei-
eine mit Steinen ausgelegte Grube, in
der die Knochen eines Mannes lagen.
Er war dort einige Jahrhunderte
 Im Jahr 2023 dürfte die Atlantik­
region erneut mit heftigen Algen-
blüten konfrontiert werden, mahnen
setzt: ein nach faulen Eiern stinken-
des, giftiges Gas. Braunalgenblüten
sind jahreszeitlichen Rhythmen
später bestattet worden – vielleicht Wissenschaftler um Chuanmin Hu unterworfen; allerdings schwimmen
um mit der Zeit der Ahnen in Verbin- von der University of South Florida. inzwischen selbst an deren Tief-
dung zu bleiben. Schon im März trieben etliche Millio- punkten mehr Algen im Wasser als
Laut paläoklimatischen Studien nen Tonnen Braunalgen auf die während der Höhepunkte in den
fielen im nördlichen Saudi-Arabien Küsten Amerikas zu, wie Satellitenbil- Jahren vor 2011.
während des 7. und 6. Jahrtausends der zeigten. Ihre Teppiche erstreckten Worauf die explosionsartige
v. Chr. reichlich Niederschläge, und sich mehr als 8000 Kilometer weit Vermehrung zurückgeht, ist Gegen-
vielerorts erstreckte sich Grasland. durch den Atlantik. Sargassum- stand der Forschung. Einige Ursa-
Damals gab es dort vermutlich Hir- Braunalgen waren bereits massen- chen zeichnen sich aber bereits
tenkulturen mit großen Herden. Doch haft an Land gespült worden – außer- deutlich ab. So legen Studien einen
im 5. vorchristlichen Jahrtausend fiel gewöhnlich früh im Jahr. Zusammenhang mit der großflächi-
gen Abholzung im Amazonasgebiet
und der intensiveren Landwirtschaft
dort nahe. Düngemittel, die auf den
JAMINWELL / GETTY IMAGES / ISTOCK

entwaldeten Flächen für den Soja-


GETRÜBTE BADEFREUDE Eine dicke Anbau ausgebracht werden, gelan-
Schicht Sargassum-Braunalgen bedeckt gen über den Amazonas massenhaft
den Strand einer Karibikinsel. ins Meer. Dort fördern sie das Algen-
wachstum und bringen regelmäßig
neue Blüten hervor.
Für karibische Staaten, die stark
vom Tourismus abhängen, sind das
schlechte Nachrichten. Sie müssen
viel Geld investieren, um die ange-
schwemmten, stinkenden Algenber-
ge zu entsorgen, und verlieren
trotzdem zahlreiche Besucherinnen
und Besucher, die von dem uner-
freulichen Phänomen abgeschreckt
werden.

Mitteilung der University of South Carolina


vom 1. 3. 2023

Spektrum der Wissenschaft 6.23 11


QUANTENSIMULATION

Der frühe Kosmos


im Labor
Weil sich der Raum kurz nach dem Urknall dramatisch ausgedehnt
hat, konnte aus Fluktuationen im Vakuum reale Materie hervor-
gehen. Sie bestimmt heute die Struktur des Universums. Manche
Aspekte jener Expansion lassen sich experimentell nachstellen, indem
man ultrakalte Atomwolken geschickt manipuliert.
 spektrum.de/artikel/2128536

Celia Viermann untersucht am


Kirchhoff-Institut für Physik an der
Universität Heidelberg, wie sich
mit Hilfe ultrakalter Atome die
Dynamik von Quantenfeldern
simulieren lässt.

AUF EINEN BLICK

Ein winziges Stück All


1 Eine Expansionsphase kurz nach dem Urknall hat
den Raum mitsamt kleinster Quantenfluktuatio­
nen auseinandergerissen. So entstanden Teilchen
und größere Strukturen aus dem Nichts.

2 Für gewisse Abläufe in einer speziell manipulier­


ten Atomwolke gelten die gleichen mathe­
matischen Regeln wie für die Raumzeit in der
Anfangsphase des Universums.

3 Damit wird es möglich, im Labor verschiedene


Entwicklungsszenarien für den jungen Kosmos
durchzuspielen und mit theoretischen Vorher­
SAKKMESTERKE / GETTY IMAGES / ISTOCK

sagen abzugleichen.

12 Spektrum der Wissenschaft 6.23


INFLATION Vom Punkt
des Urknalls aus soll sich der
Weltraum enorm ausge­
breitet haben. Welche Form
die Raumzeit dabei genau
SAKKMESTERKE / GETTY IMAGES / ISTOCK

hatte, ist allerdings unklar.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 13



Die Beobachtung von Galaxien zeigt, dass die Mate­
rie im Universum nicht gleichmäßig verteilt ist,
sondern eine komplizierte Struktur hat. Der Großteil
von ihr befindet sich in Filamenten, die wie Fäden durch
einen sonst fast leeren Raum gespannt sind. Diese Mate­
rieverteilung geht auf winzige Dichteschwankungen im
frühen Universum zurück. Sie sind durch ihre eigene
Schwerkraft im Lauf von Jahrmilliarden zu einem kosmi­
schen Netz herangewachsen.
Laut der am weitesten verbreiteten Theorie sind die
ursprünglichen Dichteunterschiede in einem sehr frühen
Stadium des Universums entstanden, während der »kos­
mologischen Inflation«. In dieser Epoche expandierte das
Universum schlagartig. Die Ausdehnung verlief so rapide,
dass aus kleinsten quantenmechanischen Energie­
schwankungen im Vakuum plötzlich reale Paare von
Teilchen hervorgingen.
Die Materie wurde zwar auf zufällige Weise aus dem
Nichts erzeugt, dennoch folgt ihre Verteilung statistischen
Regeln, die mit den mathematischen Eigenschaften des
frühen Universums verknüpft sind. Wenn wir diese Ge­
setzmäßigkeiten testen und besser verstehen könnten,
ergäben sich vielleicht neue Einsichten in die Geschichte
des Weltalls.
Deswegen haben wir an der Universität Heidelberg
einen Simulator entwickelt, der es erlaubt, einen kleinen
Ausschnitt aus dem Prozess der Inflation experimentell
nachzustellen und zu untersuchen. Er besteht aus einer
50 Mikrometer großen und nur einen Mikrometer dicken

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ


Wolke von 20 000 Kaliumatomen. Sie werden schwebend
im Vakuum gehalten, bis fast auf den absoluten Tempera­ GEFÜHRTES LICHT Präzise justierte
turnullpunkt gekühlt und mit Hilfe von Laserlicht und Laserstrahlen manipulieren die Atomwolke.
Magnetfeldern manipuliert.
Auf den ersten Blick erscheint dieses Unterfangen
seltsam: Wie soll eine winzige Wolke aus Atomen die einem so genannten Plasma alle Teilchen voneinander
Dynamik des jungen Universums simulieren? Für eine getrennt. Wegen seiner Wärme leuchtete es, wie wir es
Antwort muss ich etwas ausholen und erläutern, wie zum Beispiel von rot glühendem Eisen kennen. Das Licht
expandierende Strukturen von Raum und Zeit funktionie­ kam aber nicht weit – Plasma ist undurchsichtig. Vielmehr
ren und wie deren Aufbau mit der Ausbreitung von Licht entstand eine regelrechte Suppe aus Photonen, Atomker­
verknüpft ist. Außerdem benötigen wir ein paar grund­ nen und Elektronen.
legende Informationen zu Vakuum und Teilchen in der Das Universum dehnte sich aus, und mit der Expansion
Quantenfeldtheorie sowie zu den Eigenschaften von kühlte die Materie stetig ab. Rund 400 000 Jahre nach
ultrakalten Quantengasen. Dann wird hoffentlich klar, wie dem Urknall unterschritt sie schließlich eine Temperatur
wir Letztere gezielt einsetzen, um ein stark vereinfachtes von etwa 3000 Kelvin. Nun konnten sich die Elektronen
Modell des Universums ins Labor zu holen. und Kerne zu Atomen vereinigen. Dabei wurde das Uni­
versum schlagartig durchsichtig, und das Licht, das
Ursprung von Raum und Zeit unmittelbar zuvor ausgesendet wurde, breitete sich frei
Die Erklärung beginnt dort, wo alles angefangen hat: aus. Ihm ist die Information über den letzten Moment des
beim Urknall vor etwa 13,8 Milliarden Jahren. Niemand Plasmas aufgeprägt, und es bewegt sich heute immer
weiß, was dabei geschehen ist oder wie man ihn über­ noch durch den Weltraum. Wir können es im Mikrowel­
haupt physikalisch begreifen kann. Die physikalischen lenbereich beobachten.
Gesetze, wie wir sie kennen, existierten zu diesem Zeit­ Seit seiner Entdeckung 1964 haben mehrere For­
punkt noch nicht. Deshalb starten kosmologische Model­ schungssatelliten den kosmischen Mikrowellenhinter­
le immer ein klein wenig später. Hier lässt sich bereits grund analysiert. Ein Befund: Zwar war die Materie zu
beschreiben, was Raum und Zeit sind und woraus die jenem frühen Zeitpunkt des Universums fast gleichmäßig
Materie besteht. verteilt – aber eben nur fast. Manche Regionen waren ein
Kurz nach dem Urknall war alles unvorstellbar dicht wenig dichter als der Durchschnitt, anderorts fehlte etwas
und heiß. Es gab noch keine Atome, vielmehr waren in Material.

14 Spektrum der Wissenschaft 6.23


ein kugel- oder punktförmiges Teilchen erklären. Stattdes­
sen entsprechen einige Eigenschaften eher denen einer
Welle. Solche Erkenntnisse wurden erst in der Quanten­
physik aufgegriffen und später in deren Weiterentwick­
lung, der Quantenfeldtheorie. Laut ihr ist der Raum durch­
zogen von verschiedenen Quantenfeldern, die miteinan­
der interagieren können (siehe »Spektrum« Januar 2022,
S. 62). Dabei braucht es eines für Elektronen, gleich drei
verschiedene für Protonen und so weiter.

Teilchenpaare aus dem Nichts


Für unsere Zwecke reicht ein stark vereinfachtes Modell
mit einem einzigen Quantenfeld. Außerdem reduzieren
wir die gewohnten drei Dimensionen des Raums auf zwei.
Hier können wir uns nun ein solches Feld vorstellen wie
die Oberfläche eines Sees. Ist sie absolut glatt, ist das
Quantenfeld im Vakuum, das heißt, es existiert noch keine
Materie. Um Teilchen hinzuzufügen, muss es angeregt
werden; die Oberfläche des Wassers kräuselt sich. Die
Wellen entsprechen dem Vorhandensein von Materie.
Dafür benötigt man Energie, die bei einem See zum
Beispiel von Wind übertragen wird, der über das Wasser
streicht. In der Quantenfeldtheorie gibt es allerdings keine
Möglichkeit, das Feld anzuregen – ist es einmal im Vaku­
um, bleibt es so. Das gilt jedoch nur für einen statischen
Raum. Dehnt er sich aus wie beim Weltall, liefert die
Expansion selbst die Energie zur An­regung. Der Prozess
trägt den Namen Teilchenpaar­produktion und ist einer der
besten Kandidaten für den Ursprung der Dichteschwan­
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ

kungen im jungen Kosmos.


Eine weit verbreitete Theorie des frühen Universums
Diese winzigen Dichteschwankungen verstärkten sich besagt, dass kurz nach dem Urknall eine Phase exponen­
durch ihre entsprechend unterschiedliche Schwerkraft tieller Expansion folgte, die Inflation. Sie wurde durch ein
selbst, indem konzentriertere Bereiche benachbarte besonderes Quantenfeld mit dem Namen Inflatonfeld
Materie allmählich zu sich zogen. Schließlich kollabierten angetrieben. Die dabei erzeugte Materie wuchs zu den
die Ansammlungen unter ihrer eigenen Gravitation und Strukturen im kosmologischen Mikrowellenhintergrund
flossen zu einer netzartigen Struktur zusammen. Riesige, an. Dabei haben die Über- und Unterdichten gewisse
fast leere Raumvolumina wurden von Filamenten durch­ statistische Eigenschaften, die mit der Geschwindigkeit
spannt. An ihnen entlang formten sich die Galaxien, die und Art der Ausdehnung verknüpft sind. Wenn wir also
wir im heutigen Universum erblicken. die mathematischen Zusammenhänge im Mikrowellen­
So lassen sich die Entstehung der Galaxien und deren hintergrund untersuchen, kann uns das Aufschluss über
Verteilung im Raum seit der Epoche des kosmologischen die kosmische Entwicklung und die Inflation geben.
Mikrowellenhintergrunds verstehen. Eine Frage jedoch Für nähere Einblicke in den Prozess der Teilchen­
bleibt: Woher kamen die initialen Dichteschwankungen paarproduktion bei der Inflation müssten wir eigentlich
überhaupt? Auf der Suche nach ihrem Ursprung müssen verschiedene Szenarien für die Expansion experimentell
wir die Kosmologie zunächst verlassen und einen Blick testen. Das ist im wirklichen Universum nicht möglich –
darauf werfen, wie die moderne Physik Materie be­ wir können bloß das eine beobachten, in dem wir leben.
schreibt. Daher benötigen wir ein stellvertretendes System, das die
Die Bausteine der alltäglichen Stoffe, so haben wir es entsprechenden Eigenschaften abbilden kann und das wir
in der Schule gelernt, sind die Atome. Die meisten Men­ manipulieren können. Wir brauchen einen Quantenfeld­
schen kennen die Darstellung von einem Atomkern, der simulator.
aus Protonen und Neutronen besteht und von ein paar Der wird zwar niemals die gesamte Komplexität des
Elektronen umkreist wird, die sich wie Planeten auf frühen Universums darstellen. Aber das ist für ein besse­
Bahnen bewegen. Dabei sind Protonen, Neutronen und res Verständnis der Teilchenpaarproduktion überhaupt
Elektronen als Kugeln gezeichnet. Das ist einprägsam und nicht nötig. Stattdessen arbeiten wir mit einem Simulator,
oft nützlich, aus physikalischer Sicht aber genau genom­ der möglichst einfach ist und an dem sich trotzdem etwas
men falsch. Denn beispielsweise lassen sich manche über den eigentlichen Vorgang ablesen lässt. Es genügt
experimentell gemessenen Verhaltensweisen nicht durch das einzelne Quantenfeld in zwei Raumdimensionen.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 15


Kosmische Inflation mit kalten Atomen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ


Bei der Entstehung des Weltraums blähten sich winzige Vakuumfluktuationen enorm auf.
Die Schwankungen der Materiedichte wuchsen zu jenen Strukturen heran, die wir heute
beobachten. Experimente mit einem Quantensimulator sollen Details aus der Inflationsphase
abbilden und verschiedene Szenarien dafür durchspielen.

Die Über- und Unterdichten brachten allmählich


Sterne und Galaxien hervor.

Inflation
Das Universum dehnte
sich in Sekundenbruch-
teilen um viele
Größenordnungen aus,
von subatmaren auf
makroskopische Skalen.

400 000 Jahre


Die Dichteunterschiede aus der Frühphase prägten sich
dem kosmischen Mikrowellenhintergrund auf.

Maßstab im All 13,8 Milliarden Jahre (heute)

Die Lichtgeschwindigkeit
liefert den ultimativen
Vergleich: Sie bleibt
konstant, unabhängig von
der Geometrie des Raums.
Maßstab im Labor
Licht
Wenn man geschickt die Schallgeschwindig-
keit verändert, dann gibt es mathematisch
keinen Unterschied zu einem expandierenden
Raum – obwohl das System eigentlich gar
nicht größer wird.

Schall

expandierender Raum,
gleich bleibende Skala
(entspricht konstanter
Lichtgeschwindigkeit)

gleich bleibender Raum,


schrumpfende Skala (entspricht
sinkender Schallgeschwindigkeit)

16 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Bose-Einstein-Kondensate ...
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ, MIT DATEN VON CELIA VIERMANN

In diesem besonderen Aggregatzustand verhalten sich viele Teilchen, wenn sie


extrem stark abgekühlt sind, wie ein gemeinsames quantenmechanisches Objekt.

Unter alltäglichen Bedingungen fliegen


Atome wie kompakte Kugeln umher.

Laut Quantenmechanik haben alle Teilchen


Temperatur

auch Welleneigenschaften. Dieser Charak-


ter wird umso bedeutender, je kälter es ist.

Bei sinkenden Temperaturen wächst die


Wellenlänge, und individuelle Wellen
überlappen sich.

Schließlich nehmen alle Atome einen


gemeinsamen Zustand ein. Die Wolke
verhält sich wie ein einziges Quanten-
objekt − ein Bose-Einstein-Kondensat.

... als zweidimensionale Mini-Universen


seitlich begrenzende Laser

Beim Experiment bilden Zehntausende von Kaliumatomen


ein Bose-Einstein-Kondensat. Laser und Magnetfelder
Horizontale Ebenen aus halten es in der Schwebe und bringen es in die Form einer
Laserlicht schließen eine
Scheibe Kondensat ein. dünnen Scheibe.

Im angeregten Kondensat breiten sich Wellen aus und


erzeugen Dichteschwankungen.

Wenn die Scheibe von oben


beleuchtet wird, wirft sie einen
Schatten auf eine Kamera.

20 Mikrometer

einzelne Messungen
Dichte Kontrast

Jeder Messvorgang zerstört das Kondensat. An den


individuellen Bildern lassen sich die Materieverteilung
und deren statistische Eigenschaften ablesen.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 17


Dieses minimalistische System lässt sich durch ein ma­ die Raumzeit in Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie
thematisches Modell beschreiben. Für den Simulator verwendet wird.
suchen wir dann ein anderes physikalisches Konstrukt, Dazu markieren wir in einem Gedankenexperiment auf
das nach den gleichen Regeln funktioniert. Es kann dabei einem Karopapier einige Knotenpunkte. Beim echten
vordergründig vollkommen anders aussehen. Relevant ist Universum könnten hier Galaxien sitzen. Eine Expansion
nur, dass seine Eigenschaften denselben Gleichungen des Raums zieht das Papier in sämtliche Richtungen
gehorchen. Indem wir dann das Ersatzsystem experimen­ auseinander, so dass alle Kästchen gleichmäßig größer
tell untersuchen, lernen wir mehr über das Modell – und werden (siehe »Kosmische Inflation mit kalten Atomen«).
damit über den Prozess der Teilchenpaarproduktion. Die Damit wachsen die Abstände zwischen den Knotenpunk­
große Herausforderung ist es, einen geeigneten Stellver­ ten. Die neuen Distanzen sind dann proportional größer,
treter zu identifizieren und für die Tests verschiedener zum Beispiel haben sie sich verdoppelt.
Szenarien präzise genug zu kontrollieren. In dieser Veranschaulichung nehmen wir implizit an,
Als Veranschaulichung für ein Quantenfeld in zwei dass wir an die markierten Punkte eine Art Lineal anlegen
Dimensionen und dessen Anregungen dienten hier die können, das von der Ausdehnung nicht beeinflusst wird.
Oberfläche von Wasser und die Wellen darauf. In der Tat So einen Maßstab in einem realen physikalischen Raum
ist so ein System schon sehr nah an dem gewünschten zu definieren, ist jedoch gar nicht so einfach. Es gibt
Quantensimulator. Es hat jedoch nicht ganz die korrekte Einstein zufolge eine einzige Größe, die von der Expansion
mathematische Struktur für ein Quantenfeld in einem nicht betroffen ist: die Lichtgeschwindigkeit. Somit ist sie
expandierenden Raum. Statt Oberflächen- brauchen wir der natürliche Maßstab für Abstände.
dafür Schallwellen. Deren Fehlen entspricht ebenfalls In unserem Bild bestimmt also die Zeit, die das Licht
einem Quantenfeld im Vakuum. Mit ihnen wiederum ist von einem Knotenpunkt zum nächsten benötigt, die
das Quantenfeld angeregt, das heißt, es ist Materie vor­ Distanz zwischen beiden. Verdoppeln sich im expandie­
handen. renden Raum alle Abstände, braucht auch das Licht
Warum ermöglichen es gerade Schallwellen in einer zweimal so lang. Wir könnten allerdings den exakt glei­
Flüssigkeit, das Konzept einer expandierenden Raumzeit chen Effekt erreichen, ohne das Karopapier zu strecken,
zu untersuchen? Um zu sehen, wie das funktioniert, wenn stattdessen die Lichtgeschwindigkeit abnähme, so­
benötigen wir eine detailliertere Vorstellung davon, wie fern dies möglich wäre. Halbiert sie sich, benötigt das
Licht ebenfalls doppelt so lang für die Reise zwischen
zwei Punkten. Beide Vorstellungen – konstante Lichtge­

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ


ATOMQUELLE In Vakuumröhren und schwindigkeit und expandierender Raum oder unverän­
eingewickelt in Alufolie befindet sich ein derter Raum und langsamer werdendes Licht – sind aus
Stück Kalium. Wird es erhitzt, verdampfen mathematischer Sicht nicht unterscheidbar. Das Prinzip
Atome – das Baumaterial für das Bose- nutzt der Quantensimulator.
Einstein-Kondensat.

18 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Wenn wir ein Quantenfeld mittels Schallwellen in
einem Fluid nachstellen wollen, dann übernimmt die
Schallgeschwindigkeit die Rolle der Lichtgeschwindigkeit.
Verringern wir sie, entspricht das einer expandierenden
Raumzeit. Je nachdem, wie schnell wir den Schall verän­
dern, können wir unterschiedliche Szenarien für die
Expansion durchspielen.
Um den Prozess der Teilchenpaarproduktion zu imitie­
ren, brauchen wir daher einerseits ein Medium mit kont­
rollierbarer Schallgeschwindigkeit. Andererseits müssen
wir es vor der Expansion sozusagen ins Vakuum bringen,
es also anfangs komplett frei von Schall halten. Während
des Experiments selbst dürfen keine unvorhergesehenen
äußeren Einflüsse stören. Nur dann können wir sicher
sein, dass die Schwingungen durch die simulierte Expan­
sion erzeugt werden. Und schließlich müssen wir die so
hervorgerufenen Wellen vermessen, um die Versuche
auszuwerten. Es gibt ein System, das all diese Kriterien
erfüllen kann: ein so genanntes Bose-Einstein-Kondensat
aus einem ultrakalten Quantengas von Kaliumatomen.

Kollektiver Quantenzustand
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ
aus zigtausend Atomen
Ein Bose-Einstein-Kondensat ist ein besonderer quanten­
mechanischer Aggregatzustand. Aus dem Alltag kennen
wir die drei Erscheinungsformen der Materie fest, flüssig
und gasförmig. Sie unterscheiden sich darin, wie die
Atome oder Moleküle zusammenspielen. In einem Fest­
körper sitzen sie in einem starren Kristallgitter, in einem
Gas schwirren sie wild durcheinander. Es gibt aber noch MAGNETO-OPTISCHE FALLE Mehrere
weitere Zustände. Im eingangs erwähnten Plasma wer­ ­gegenläufige Laserstrahlen und zwei horizontale
den bei extremer Hitze die Atomkerne und Elektronen Magnetspulen halten die Kaliumatome
voneinander getrennt. Bei sehr niedrigen Temperaturen im Vakuum an Ort und Stelle und kühlen sie.
wiederum gibt es das Bose-Einstein-Kondensat. Hier
kommt das schon angeführte quantenmechanische
Phänomen zum Tragen, dass sich manche Eigenschaften eine Maschine konstruiert, die automatisiert alle 20 Se­
von Teilchen nur durch eine Welle beschreiben lassen. kunden ein Bose-Einstein-Kondensat erzeugt. Anschlie­
Bei tiefen Temperaturen wird das ebenso für gesamte ßend geht sie ein Szenario für die Expansion durch und
Atome wichtig. Sie werden dann durch Wellen charakteri­ zeichnet das Ergebnis auf. Dafür brauchen wir eine Kam­
siert, die sich umso weiter in den Raum ausdehnen, je mer mit Hochvakuum, Laser, optische Bauteile zu deren
kälter das Gas ist. Kühlt man eine Wolke aus Atomen fast Kontrolle und schnell veränderbare Magnetfelder.
auf den absoluten Temperaturnullpunkt ab, auf knapp Will man eine Wolke aus Atomen derart stark abküh­
100 Nanokelvin, beginnen sich die Wellenfunktionen len, dass ein Bose-Einstein-­Kondensat entsteht, muss
der Atome zu überlappen. Daraufhin formen sie einen man den Atomen fast jegliche Bewegungsenergie ent­
kol­lektiven Quantenzustand, bei dem die individuellen ziehen. Das heißt, sie stehen beinahe still. Kommt die
Atome nicht mehr unterscheidbar sind. Das ist das Bose- Wolke in Kontakt mit warmer Materie aus der Umgebung,
Einstein-Kondensat. beschleunigt das die Atome sofort wieder. Ein Bose-­
An der Universität Heidelberg haben wir ein mathema­ Einstein-Kondensat kann also nur in einem extremen
tisches Modell gefunden, das gleichzeitig ein Quantenfeld Vakuum existieren und muss dort von Lasern und Mag­
in einer expandierenden Raumzeit beschreibt sowie netfeldern in der Schwebe gehalten werden.
Schallwellen in dem Bose-Einstein-Kondensat. Es basiert Der Kühlprozess selbst erfolgt ebenfalls durch Laser­
auf einer Grundidee des kanadischen theoretischen licht und im letzten Schritt durch »evaporatives Kühlen«.
Physikers William Unruh aus den 1980er Jahren und Dabei werden die schnellsten Atome gezielt entfernt. Das
vielen seither erfolgten Weiterentwicklungen. Das lieferte nimmt den zurückgebliebenen im Mittel etwas Bewe­
die prinzipielle Voraussetzung dafür, ein Kondensat als gungsenergie und somit Temperatur. Sobald sich die
Quantenfeldsimulator einzusetzen. Energie umverteilt hat, entnimmt man abermals die
Für die tatsächliche experimentelle Umsetzung haben schnellsten Atome. Das geht Schritt für Schritt so lange,
wir in der Arbeitsgruppe Synthetische Quantensysteme bis sich das Bose-Einstein-Kondensat formt. Bei unseren

Spektrum der Wissenschaft 6.23 19


Experimenten verlieren wir so mehr als 99,9 Prozent der reduzieren. Das entspricht der Streckung des simulierten
ursprünglichen Kaliumatome. Übrig bleibt eine winzige, Raums auf sein Dreifaches.
aber äußerst kalte Wolke aus mehreren zehntausend Die Ausdehnung löst im Quantenfeld den Prozess der
Atomen. Mit Lasern bringen wir das Kondensat in die Teilchenpaarproduktion aus. In unserem Simulator ent­
Form einer flachen Scheibe. Das ist unser Quantensimula­ spricht das dem Auftreten von Schallwellen. Die Störun­
tor für einen zweidimensionalen expandierenden Raum. gen in der Dichteverteilung messen wir, indem wir das
Dessen Ausdehnung müssen wir mit einer sinkenden Kondensat mit Lasern beleuchten. Es wirft dabei eine Art
Schallgeschwindigkeit modellieren. Diese hängt von zwei Schatten, den wir vergrößern und mit einer Kamera
Faktoren ab: der Dichte von Atomen im Kondensat und detektieren. An dichteren Stellen ist er dunkler. Der Mess­
der Interaktion zwischen ihnen. Um das zu veranschauli­ vorgang zerstört das Kondensat, so dass wir für jedes
chen, vergessen wir kurz, dass wir die Atome eigentlich Experiment und jedes Bild ein neues erzeugen müssen.
als Wellen beschreiben sollten. Wir stellen sie uns als Wie genau diese Dichtestörungen angeordnet sind,
Kugeln vor, ordnen mehrere in einer Reihe an und verbin­ ist zufällig – jeder Versuchsdurchlauf bringt ein etwas
den jeweils benachbarte durch elastische Federn. Wird anderes Ergebnis. Um die Dichteschwankungen mit dem
die erste Kugel angestoßen, überträgt sie den Impuls auf Prozess der Teilchenpaarproduktion in Verbindung zu
die zweite, die wiederum die dritte Kugel beschleunigt bringen, haben wir sie statistisch analysiert und mit
und so weiter. Vorhersagen aus der Quantenfeldtheorie verglichen.
Das Tempo, mit dem sich der Impuls durch die Kette Dabei fanden wir jene Unterschiede, die für verschiedene
bewegt, ist die Schallgeschwindigkeit. Ist die Atomdichte Szenarien der Expansion prognostiziert wurden. Das
höher, sprich, liegen die Kugeln näher zusammen, läuft er bedeutet: Unser Bose-Einstein-Kondensat eignet sich
schneller. Das ist ebenso der Fall, wenn die Wechselwir­ tatsächlich als Quantensimulator für den Prozess der
kung zwischen den Atomen stärker ist, die Federn also Teilchenpaarproduktion!
steifer sind. Die hindurchlaufende Welle wird durch
dichtere Stellen in der Kette sichtbar. Das Phänomen Verbogener Weltraum
nutzen wir zur Messung. Darüber hinaus konnten wir nicht nur expandierende,
Für unser Kondensat verwenden wir Kaliumatome. sondern auch gekrümmte Räume nachstellen. Denn laut
Bei ihnen lässt sich die Interaktion zwischen den Atomen der allgemeinen Relativitätstheorie ist die Raumzeit nicht
mit Hilfe von Magnetfeldern sehr präzise und schnell völlig flach wie ein plattes Karopapier. Das Gefüge von
verändern. So können wir die Schallgeschwindigkeit Raum und Zeit wird beispielsweise von Massen und
innerhalb weniger Millisekunden um etwa den Faktor drei Energie verformt. Womöglich verbiegt sich die Raumzeit
innerhalb des Universums sogar nicht bloß lokal, etwa im
Umfeld von Galaxienhaufen oder Schwarzen Löchern,
sondern die gesamte Geometrie des Kosmos hat eine
Krümmung. Das kann insbesondere beim frühen Univer­
sum eine Rolle spielen.
Ein Vertreter eines wie beim Karopapier ebenfalls
zweidimensionalen, aber im Gegensatz zu diesem ge­
krümmten Raums wäre die Oberfläche einer Kugel. So
einen Raum können wir unterschiedlich zeichnen. Von der
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ

Erde sind wir das gewohnt. Wenn wir ihre Oberfläche


nicht auf einem Globus betrachten können, gibt es ver­
schiedene mögliche Projektionen. Dabei werden jedoch
immer Abstände unterschiedlich gestreckt, das heißt, wir
können nicht mehr problemlos mit einem Lineal messen.
Das ist bei den üblichen Weltkarten der Grund dafür, dass
Grönland so riesig erscheint und Flugzeuge scheinbar
Kurven fliegen, obwohl sie dem kürzesten Weg folgen.
In der allgemeinen Relativitätstheorie lassen sich Ab­
stände über die Laufzeit von Licht definieren. Sind die Dis­
0 Millisekunden 4 Millisekunden 8 Millisekunden
tanzen in einer eingeebneten Karte verzerrt, ist das gleich­
bedeutend mit einer Lichtgeschwindigkeit, die nicht mehr
KRÜMMUNG IM KONDENSAT Eine gezielt an allen Punkten gleich groß ist, sondern örtlich variiert.
erzeugte Welle breitet sich im Bose-Einstein- Für jede Darstellung einer Kugel­oberfläche braucht es
Kondensat aus und wird dabei auf eine Weise eine bestimmte Struktur der Lichtgeschwindigkeit, je
verzerrt, die von der Geometrie des simulier- nach Raumkrümmung eine andere. Um das in unserem
ten Raums abhängt. So lassen sich Varianten Quantensimulator nachzustellen, müssen wir die Schall­
des Kosmos mit sphärischer oder hyperboli- geschwindigkeit im Kondensat passend modifizieren.
scher Raumzeit nachstellen. Dazu verteilen wir seine Dichte mit Laserlicht um.

20 Spektrum der Wissenschaft 6.23


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ

SCHWEBENDE ATOMWOLKE Rötlich leuchten


inmitten der Laserstrahlen und Magnetfelder Dennoch liefern solche Experimente in Zukunft viel­
eingefangene Kaliumatome. Aus ihnen entsteht leicht Antworten auf zahlreiche Fragen. Wir könnten
das Bose-Einstein-Kondensat. Expansion und Krümmung kombinieren und damit Ent­
wicklungen simulieren, die für eine rechnerische Lösung
zu kompliziert sind. Verschiedenartige Szenarien für das
Aus kosmologischer Sicht sind Räume interessant, Universum lassen sich nun auf ein echtes physikalisches
die an jedem Punkt die gleiche Krümmung haben, denn System übertragen und direkt überprüfen. Zum Beispiel
möglicherweise war das im frühen Universum so. Für möchten wir lokale Störungen in einem sich ausdehnen­
einen zweidimensionalen Raum ist das entweder die den Raum erzeugen, ähnlich der Raumzeitkrümmung, die
Oberfläche einer Kugel oder ein hyperbolischer Raum, ein Schwarzes Loch hervorrufen würde, und dann beob­
den wir jedoch aus dem Alltag nicht kennen. Beide Arten achten, wie dies die Teilchenpaarproduktion beeinflusst.
können wir im Quantensimulator nachbauen. Um die Oder wir überführen einen positiv gekrümmten Raum –
simulierten Räume zu vermessen, erzeugen wir dann die Kugeloberfläche – langsam in einen hyperbolischen,
gezielt eine Schallwelle, indem wir mit einem Laser ein also negativ gekrümmten, und untersuchen, ob und wie
Loch ins Kondensat schießen. Das ist ungefähr so, als ob das die Dichtefluktuationen beeinflusst.
wir einen Stein in einen See werfen. Von dort aus breitet Eine andere Fragestellung führt tiefer in die Quanten­
sich eine Welle aus (siehe »Krümmung im Kondensat«). In physik. Die durch die Expansion erzeugten Dichteschwan­
einem flachen Raum ist sie kreisförmig, in einem ge­ kungen sind verschränkt, das heißt quantenmechanisch
krümmten wird sie auf eine spezifische Art verbogen. verknüpft. Wenn wir das Phänomen im Labor nachwei­
Unsere Messungen zur Ausbreitung der Schallwellen sen, lernen wir eventuell, wie wir es im realen Kosmos
haben gezeigt, dass wir die korrekte Struktur der Schall­ identifizieren können. So hoffen wir, die Prozesse im
geschwindigkeit einstellen und sowohl sphärische als frühen Universum eingehender zu verstehen und besser
auch hyperbolische Räume simulieren können. zu begreifen, wie die Quantenfeldtheorie und gekrümmte
So faszinierend und lehrreich die Arbeit mit unserem Raumzeiten zusammenspielen. Wir sind gespannt darauf,
Quantenfeldsimulator ist, er kann nichts darüber aussa­ welche Phänomene wir dabei noch finden werden. 
gen, ob es im jungen All wirklich eine Inflationsphase gab
und ob das Universum zu jener Zeit gekrümmt war. Er
QUELLEN
basiert schließlich auf den gleichen mathematischen
Konstrukten und stellt so lediglich die Verhältnisse nach, Tolosa-Simeón, M. et al.: Curved and expanding spacetime
geometries in Bose-Einstein condensates. Physical Review A
die geherrscht hätten, wenn man eine Inflation voraus­
106, 2022
setzt. Außerdem gelingt bisher nur eine Ausdehnung um
das Dreifache, und das entspricht nur einem winzigen Unruh, W. G.: Experimental black-hole evaporation? Physical
Ausschnitt der realen Inflation. Letztere blähte das Univer­ ­Review Letters 46, 1981
sum um dutzende Größenordnungen von subatomaren Viermann, C. et al.: Quantum field simulator for dynamics in
auf makroskopische Skalen auf. curved spacetime. Nature 611, 2022

Spektrum der Wissenschaft 6.23 21


FORSCHUNG AKTUELL

ÖKOLOGIE

Eingeschleppte Ratten verändern


Revierverhalten von Fischen
Invasive Arten bedrohen zahlreiche Ökosysteme der Erde. So vertilgen Ratten, die einst per
Schiff auf indopazifische Inseln gelangten, die hier heimische Vogelwelt und unterbrechen
damit den Nährstoffzufluss für die vorgelagerten Korallenriffe. Das beeinträchtigt das Territo­
rialverhalten von Riffbarschen und damit das gesamte ökologische Gleichgewicht.

 Korallenriffe gelten als stark be-


drohte Ökosysteme. Deren Um-
weltbedingungen verschlechtern
sich derart rapide, dass ihren Bewoh-
nern oft nur zwei Alternativen blei-
ben: sich anpassen oder aussterben.
Als eine der ersten Anpassungsreak-
tionen lässt sich bei etlichen Tieren
wie Riffbarschen ein verändertes
Verhalten beobachten. Dieses hilft
wohlmöglich vorherzusagen, welche
Überlebenschancen den hier heimi-
schen Arten zukünftig bleiben. Daher
studieren Fachleute, wie, warum
und wann sich das Verhalten gewan-
delt hat.
Im Mittelpunkt der bisherigen
Forschung zu veränderten Umwelt-
bedingungen bei Korallenriffen stand
meist die Frage, wie sich hier die
ansteigenden Wassertemperaturen
oder die zunehmende Versauerung
der Ozeane auswirken. Doch es
lauern noch andere Gefahren: So hat
die Hausratte (Rattus rattus) als
invasive Art viele Inseln des abgele-
genen Chagos-Archipels im Indi-
schen Ozean überrannt und damit die
Funktionsweise der umliegenden
Meeresökosysteme maßgeblich
beeinträchtigt.
Zusammen mit Kollegen von der
kanadischen Lakehead University
untersuchten wir, wie invasive Ratten
das Revierverhalten des Juwelenriff-
barschs (Plectroglyphidodon lacry-
matus) beeinflusst. Als »Farmer­
fische« hegen die kleinen Riffbarsche
RACHEL GUNN

den Algenbewuchs auf abgestorbe- PLECTROGLYPHIDODON LACRYMATUS Der Juwelenriffbarsch


nen Korallenästen und verteidigen kommt in tropischen Gewässern des Indopazifiks vor und betätigt
diese etwa einen halben Quadrat­ sich in Korallenriffen als »Kleingärtner«, der seine Algenbeete
meter großen Flächen, indem sie aggressiv gegen Eindringlinge verteidigt.

22 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Eindringlinge energisch verscheu-
chen. Als wir fünf durch Ratten
besiedelte Inseln mit fünf nagerfreien
verglichen, offenbarte sich, dass sich
die Juwelenriffbarsche bei Ersteren
weniger aggressiv verhielten und
größere Reviere besaßen als bei
Letzteren. Was steckt dahinter?
Die Ratten, deren Vorfahren
bereits zu Beginn des 18. Jahrhun-
derts als blinde Passagiere per Segel-
schiff zum Chagos-Archipel gelang-
ten, fressen kleine Seevögel samt

RACHEL GUNN
ihren Eiern. Dadurch haben sie deren
Populationen drastisch dezimiert:
Wie Forscher um Nicholas Graham
von der britischen Lancaster Univer- ABGELEGENES INSELPARADIES Das etwa 500 Kilometer
sity 2018 herausfanden, liegt die südlich der Malediven liegende Chagos-Archipel besteht aus
Seevogeldichte auf rattenverseuch- zahlreichen Atollen mit vorgelagerten Korallenriffen.
ten Inseln um bis zu 760-mal niedri-
ger als auf rattenfreien.
Seevögel stellen jedoch ein wichti- Artgenossen in den Riffen der Ratten- besitzern in der Überzahl auftreten
ges Bindeglied des Nährstoffkreis- inseln. und sich die begehrten Algen si-
laufs dar. Sie jagen auf See und Die zusätzlichen Nährstoffe aus chern. Wie die beiden Biologen Ingrid
kehren zum Schlafen und Brüten auf Seevogelkot steigern den Wert der Morgan und Donald Kramer von der
die Inseln zurück, wo sie große Fischreviere, so dass es sich für die McGill University in Montreal 2005
Mengen an Kot absetzen. Als nähr- Revierhalter eher lohnt, sich ent- beobachteten, bilden Doktorfische in
stoffreicher Guano werden die Exkre- schlossen für sie einzusetzen. Der Gebieten mit niedriger Riffbarsch­
mente zurück ins Meer gespült und Nutzen aus einem solch wertvollen revierdichte dagegen nur selten
versorgen die nahe gelegenen Koral- Gebiet übertrifft dann die Energiekos­ Schwärme.
lenriffe mit zusätzlichen Nährstoffen. ten, die bei Revierkämpfen anfallen. Die Algenproduktivität kann eben-
Der Rattenbefall hat diesen Kreislauf Anders sieht es bei rattenverseuch- falls durch territoriale Riffbarsche
gestört und den Korallenökosyste- ten Inseln für die Juwelenriffbarsche be­einflusst werden: In den Fischre-
men den wertvollen Vogeldünger aus. Hier führt der unterbrochene vieren liegt die Algenbio­masse pro
entzogen. Nährstoffkreislauf zu qualitativ min- Quadratmeter um bis 3,4-mal höher
Wie wir nun herausfanden, derwertigen Revieren, die es kaum als außerhalb.
enthielten die Algen in den Juwelen- wert sind, verteidigt zu werden. Territoriale Riffbarsche wirken sich
riffbarschrevieren bei rattenfreien auch auf die Korallendichte und da-
Inseln mehr Nährstoffe als bei den Einfluss auf die mit auf die Struktur eines Riffs aus.
von den invasiven Nagern befallenen. Schwarmbildung Wie Studien aus dem Watamu-­
Die Gesamtmenge der Algen blieb Somit verringerten die invasiven Rat- Meeres-Nationalpark vor der Küste
allerdings in beiden Fällen gleich. ten, indem sie den Nährstoffkreislauf Kenias 2015 ergaben, gibt es inner-
Demnach hat sich nur die Qualität, unterbrochen haben, die Aggressivi- halb der Reviere weniger junge
nicht aber die Quantität der Nah- tät der Riffbarsche. Eine solche Ver- Korallen als in den angrenzenden Are-
rungsressourcen für die Riffbarsche haltensänderung bleibt nicht ohne alen, vermutlich weil die Fische die
verändert. In den Gewässern um Folgen für das Korallenökosystem. kleinen Stöcke entfernen. Invasive
rattenfreie Inseln sorgt die hochwerti- So kann das Territorialverhalten Ratten könnten daher die Korallenre-
gere Nahrung dafür, dass die Fische der Riffbarsche die soziale Organisa­ genration beeinflussen, was wieder-
mit kleineren Revieren auskommen, tion von Blauen Doktorfischen (Acan- um die Funktionsfähigkeit des ge-
um genügend zu fressen zu finden. thurus coeruleus) beeinflussen. Die in samten Ökosystems stört.
Das wirkt sich wiederum auf das Korallenriffen des Indopazifiks leben- Der durch unsere Studie nachge-
Verhalten aus. Wie wir beobachteten, den Fische sammeln sich oft zu wiesene Zusammenhang zwischen
verfünffachte sich die Wahrschein- Schwärmen, wo Riffbarschreviere in dem Verhalten von Fischen und dem
lichkeit für aggressives Auftreten bei hoher Dichte vorkommen. Damit Nährstoffkreislauf von Seevögeln
den Juwelenriffbarschen der ratten- können wohl die Doktorfische beim unterstreicht, welche Bedeutung
freien Gebiete. Dafür besaßen die Tie- Wettbewerb um knappe Nahrungs- Ratten für das marine Ökosystem
re meist kleinere Reviere als ihre ressourcen gegenüber den Revier­ haben. In den vergangenen 16 Jahren

Spektrum der Wissenschaft 6.23 23


FORSCHUNG AKTUELL

wurden invasive Ratten auf einigen schung über ökologische Reaktionen QUELLE
Inseln des Indischen Ozean ausgerot- auf Umweltveränderungen dar.
Gunn, R. L. et al.: Terrestrial invasive
tet. Wie wir 2021 belegen konnten, Dieser sollte einen Schwerpunkt für species alter marine vertebrate behaviour.
tragen solche Maßnahmen dazu bei, künftige Studien bilden.  Nature Ecology & Evolution 7, 2023
dass Seevögel wieder mehr Nähr­
Sally Keith ist promovierte Meeresbiologin
stoffe auf tropische Inseln und deren ©
an der Lancaster University (Großbritan­
Korallenriffen eintragen.
nien). Rachel Gunn hat bei Keith promoviert theconversation.com/invasive-rats-are-chan­
Damit stellt das Verhalten von und erforscht nun als Postdoc an der ging-fish-behaviour-on-coral-reefs-new-stu­
Tieren einen wichtigen, aber wenig Universität Tübingen, wie Fische auf Um­ dy-197215 / CC BY-ND 4.0 (creativecommons.
untersuchten Aspekt bei der For- weltveränderungen reagieren. org/licenses/by-nd/4.0/legalcode)

ALZHEIMERFORSCHUNG

Immunsystem treibt
Nervenzellen in den Tod
Laut Tierversuchen könnten Hirnschäden, die für die Alzheimerkrankheit
typisch sind, von Immunzellen verursacht werden. Und das lässt sich mög­
licherweise mit Arzneistoffen verhindern.

 T-Lymphozyten gehören zu den


Zellen des Immunsystems. Sie
galten bislang als weitgehend unbe-
Schranke nicht durchdringen. Seit
etwa zwei Jahrzehnten verdichten
sich jedoch die Hinweise darauf, dass
Gehirn durchaus aktiv ist. Ein For-
schungsteam um Xiaoying Chen von
der Washington University (St. Louis,
teiligt an der Immunabwehr des die adaptive Immunabwehr – zu USA) kommt jetzt nach umfang­
Gehirns, da allgemein angenommen deren wichtigsten Akteuren die reichen Untersuchungen zu dem
wurde, sie könnten die Blut-Hirn- T-Zellen zählen – im menschlichen Schluss: T-Lymphozyten tragen bei

Angriff der Körperabwehr

NATURE; GULDNER, I.H., WYSS-CORAY, T.: ACTIVATED IMMUNE CELLS DRIVE NEURODEGENERATION IN AN ALZHEIMER’S
Tau-Proteine Aktivierung von Aktivierung und
Mikrogliazellen Vermehrung von
Bei der Alzheimerkrankheit verklum- T-Lymphozyten
pen im Gehirn massenhaft Tau-Pro­ Rezeptor MODEL. NATURE 615, 2023, FIG. 1; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

teine. Das geht einher mit der Akti­ auf T-Zelle


vierung von Mikrogliazellen des
Zentralnervensystems, die an der
Immunabwehr mitwirken. Die Mikro­
Antigen
glia präsentieren Immunzellen namens
CD8+-T-
CD8+-T-Lymphozyten offenbar ein Lymphozyt
Mikrogliazelle
bisher nicht identifiziertes Antigen.
Das schaltet die T-Lymphozyten neuro-
toxische
scharf und führt dazu, dass sie sich Faktoren
enorm vermehren. Vermutlich setzt
das Zusammenspiel der beiden Zellar- Absterben von
Nervenzellen und
ten neurotoxische Faktoren frei, die Hirnschädigung
Nervenzellen abtöten und so zu Hirn-
schäden führen.

24 Spektrum der Wissenschaft 6.23


neurodegenerativen Erkrankungen aktionen mitwirken. Und zwar bei von T-Zellen in verschiedenen Hirnre-
zum Absterben von Nervenzellen bei. Mausmodellen, an denen Wissen- gionen: Bei den Mäusen im Hippo-
Falls sich das bestätigt, wirft es ein schaftler solche Krankheiten erfor- campus und im entorhinalen Kortex;
neues Licht auf die immunologischen schen, ebenso wie bei menschlichen bei den menschlichen Patienten im
Prozesse im Gehirn. Alzheimerpatienten. Die Forschungs- Gyrus frontalis superior des Stirnlap-
Bei der Alzheimerkrankheit ver- gruppe isolierte daher Immunzellen pens. Diese Hirnareale sind an Lern-
klumpen Moleküle im Gehirn: Sowohl aus dem Gehirn von Labormäusen, und Gedächtnisvorgängen beteiligt
Proteinbruchstücke des Typs Beta- die entweder A - oder Tau-Aggregate und weisen besonders oft Tau-Zu-
Amyloid (A ) als auch Tau-Proteine ausprägen. Anschließend untersuch- sammenballungen auf. Zusammen-
lagern sich zu großen Aggregaten te sie diese Zellen mit Hilfe der Einzel- genommen heißt das: T-Lymphozy-
zusammen. Obwohl beide Vorgänge zell-RNA-Sequenzierung, um Zellty- ten reagieren auf Tau-Proteine und
als typische Krankheitszeichen gel- pen anhand ihrer jeweils aktiven verursachen Nervenschäden, die zu
ten, hängt der Grad der Hirnschädi- Gene zu identifizieren. Die Analyse den kognitiven Einbußen der Alzhei-
gung nur mit der Tau-Anhäufung zu- deutete bei beiden Mausmodellen auf merkrankheit beitragen.
sammen, nicht aber mit der von A . zwölf verschiedene Populationen von
Lösen Tau-Proteine eine spezifische Abwehrzellen hin, allerdings waren Entfesselte Reaktion
Reaktion in den umgebenden Hirnzel- T-Lymphozyten bei Nagern mit Es gibt viele verschiedene Typen von
len aus, die zum Untergang von Tau-Aggregaten wesentlich zahlrei- T-Lymphozyten – angefangen von
Neuronen führt? Chen und ihr Team cher vertreten als bei Tieren mit CD8+-Zellen, die Körperzellen abtö-
sind dieser Frage nachgegangen, A -Verklumpungen. ten, welche das Immunsystem mar-
indem sie mit Mäusen experimentiert Chen und ihre Kollegen bestätig- kiert hat, bis hin zu regulatorischen
haben, bei denen entweder Beta- ten diese Befunde, indem sie Hirnge- T-Zellen, die Immunreaktionen unter-
Amyloid im Gehirn verklumpt oder webeschnitte von Labormäusen mit drücken. Um zu verstehen, wie genau
Tau, aber nicht beide gleichzeitig. A - oder Tau-Aggregaten untersuch- sie an der Hirnschädigung mitwirken,
Seit einiger Zeit mehren sich die ten sowie von Menschen, die an der ist es wichtig zu wissen, mit welchem
Indizien, dass an neurodegenerativen Alzheimerkrankheit gestorben waren. Zelltyp man es jeweils zu tun hat und
Erkrankungen entzündliche Immunre- Dabei fanden sie eine Ansammlung in welchem Zustand er sich dabei

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befindet. Chen und ihr Team stellten die Hirnschäden verursachen, die prüfen kann. Dennoch erlauben diese
fest: Bei Mäusen mit Tau-Aggregaten sich bei krankhafter Tau-Verklum- Ergebnisse einen Einblick darin, wie
war ein Typ übermäßig vertreten, pung einstellen. Um das zu prüfen, CD8+-Effektor-T-Zellen und regulatori-
nämlich aktivierte CD8+-Effektor-T- verabreichten sie Mäusen mit derarti- sche T-Zellen bei neurodegenerativen
Lymphozyten, die pathologisch ver- gen Tau-Aggregaten bestimmte Wirk- Erkrankungen zusammenwirken.
änderte Körperzellen erkennen und stoffe, die entweder die Mikroglia Es bleiben aber Fragen offen. So ist
abtöten. Mit zunehmender Menge an oder die T-Zellen abtöteten. Geschah es wichtig zu untersuchen, ob sich
Tau-Verklumpungen im Gehirn zeig- das, während die Nervenschädigung T-Zellen so manipulieren lassen, dass
ten diese Immunzellen immer mehr voranschritt, führten beide Behand- sie Krankheitssymptomen entgegen-
Anzeichen eines Erschöpfungszu- lungsmethoden zu deutlich weniger wirken und zugleich ihre nützlichen
Zerstörungen im Gehirn sowie zu Funktionen im Gehirn weiter ausüben.
einer offenbar reduzierten schädli- Generell ist ungeklärt, auf welche

Antikörper halfen chen Wirkung der Tau-Aggregate.


Darüber hinaus schnitten Tiere, bei
Antigene die T-Zellen bei krankhafter
Tau-Aggregation – sowie allgemein bei

Hirnschäden denen die T-Lymphozyten ausge-


schaltet worden waren, in Gedächt-
Alterung und Neurodegeneration – an-
sprechen. Es könnten Virusbestandtei-

zu vermeiden nis- und Lerntests nahezu normal ab.


Dass T-Zellen und Mikroglia mitei­
le sein, denn T-Lymphozyten reagieren
nachweislich auf virale Antigene in der
nander interagieren, ging noch aus Hirn-Rückenmarks-Flüssigkeit von
weiteren Befunden hervor: So verrin- Alzheimerpatienten. Zudem haben
stands, der sich bei dauerhafter gerte sich bei Inaktivierung der große epidemiologische Studien
Aktivierung einstellt und in dem sie Mikroglia die Zahl der T-Zellen im Hinweise darauf geliefert, dass virale
ihre normalen Fähigkeiten verlieren. Gehirn; umgekehrt versetzte das Antigene an neurodegenerativen
Darüber hinaus ging aus den Daten Ausschalten der T-Lymphozyten die Prozessen mitwirken. Von T-Zellen ist
hervor, dass die CD8+-Effektor-T-Zel- Mikroglia in einen Zustand zurück, überdies bekannt, dass sie ein krank-
len allesamt von einer einzigen Vor- der dem im gesunden Hirn glich. heitsförderndes Protein namens
gängerzelle abstammten. Offenbar -Synuclein erkennen, das im Gehirn
hatte sich dieser Vorläufer stark Die Immunantwort von Parkinsonpatienten verklumpt;
vermehrt, ausgelöst von einem beeinflussen möglicherweise detektieren sie auch
spezifischen Faktor. Es ist nicht praktikabel, in menschli- Tau. Das sich rasch weiterentwickeln-
T-Lymphozyten werden aktiviert, chen Patienten ganze Immunzell-Po- de Methodenspektrum, einschließlich
wenn sich ihr Rezeptor an ein Anti- pulationen stillzulegen. Doch beein- neuer Verfahren zum Identifizieren von
gen (ein körperfremdes Proteinbruch- flussen lässt sich die Immunantwort Antigenen, wird helfen, die verschie-
stück) bindet, das eine andere Kör- durchaus. Die Forschungsgruppe um denen immunologischen Prozesse im
perzelle auf ihrer Oberfläche präsen- Chen hat Mäusen mit Tau-Aggrega- Gehirn detaillierter aufzuklären und die
tiert. Welche Zellen könnten bei ten im Gehirn so genannte Anti-PD- Vorgänge der Hirnalterung und Neuro-
Mäusen mit Tau-Aggregaten diese 1-Antikörper verabreicht. Diese die- degeneration besser zu verstehen. 
Vorzeigefunktion ausüben? Untersu- nen in der Krebsimmuntherapie als
chungen an solchen Tieren haben Arzneistoffe (siehe »Spektrum« Au- Ian H. Guldner und Tony Wyss-Coray
ergeben, dass deren Mikroglia – das gust 2014, S. 30), da sich mit ihnen arbeiten als Neurowissenschaftler an der
Stanford University in Kalifornien, USA.
»Immunsystem des Gehirns« – be- das Immunsystem beeinflussen lässt.
stimmte Signalwege ankurbelt, die Eine kurzfristige Behandlung mit An-
QUELLEN
Immunreaktionen auslösen. Insbe- ti-PD-1-Antikörpern erhöhte im Na-
sondere stellen die Mikrogliazellen so gerversuch den Anteil regulatorischer Carson M. J. et al.: CNS immune privile­
genannte MHC-II-Moleküle her, die T-Zellen, die aktivierte T-Lymphozy- ge: Hiding in plain sight. Immunological
Reviews 213, 2006
eine zentrale Rolle beim Präsentieren ten hemmen. Eine langfristige Thera-
von Antigenen spielen, und begeben pie damit wirkte sowohl dem Unter- Chen, X. et al.: Microglia-mediated T cell
sich in unmittelbare Nähe zu CD8+-T- gang von Nervenzellen als auch der infiltration drives neurodegeneration in
tauopathy. Nature 615, 2023
Lymphozyten. Darüber hinaus haben Tau-Akkumulation entgegen – ein Be-
Experimente in der Petrischale ge- fund, den andere Studien bestätigen. Rustenhoven J., Kipnis J.: Brain borders
zeigt: Kultiviert man Mikroglia zusam- Chen und ihr Team haben allerdings at the central stage of neuroimmunology.
men mit einem körperfremden Anti- nicht untersucht, wie sich Anti-PD- Nature 612, 2022
gen und T-Zellen, dann vermehren 1-Behandlungen auf die kognitiven
sich Letztere. Fähigkeiten der Mäuse auswirken.
All das veranlasst Chen und ihr Das muss erst am Tiermodell geklärt © Springer Nature Limited
Team zu der Hypothese, dass Mikro­ werden, bevor man ähnliche Ansätze www.nature.com
glia und T-Lymphozyten gemeinsam in klinischen Studien am Menschen Nature 615, S. 588–589, 2023

26 Spektrum der Wissenschaft 6.23


ABELPREIS 2023

Mit Mathematik die


Welt besser verstehen
Luis Caffarelli beschreibt natürliche Phänomene wie das Fließen von Wasser
oder das Schmelzen von Eiswürfeln mit passenden Formeln. Für seine Arbeit
erhielt er nun den Abelpreis als höchste Auszeichnung seines Fachs.

 Mathematik ist die Sprache, mit


der wir das Universum beschrei-
ben können – davon war schon
während seiner Forscherkarriere
genau solchen Problemen zu wid-
men. Für seine herausragenden
schäftigt – Ausdrücken wie zum
Beispiel: 3 x5 + ⅔ x3 + x. Als er 1973,
nach seiner Promotion an der Univer-
Galileo Galilei im 16. Jahrhundert Arbeiten hat ihn nun die Norwegi- sidad de Buenos Aires, eine Stelle als
überzeugt. Doch selbst alltägliche sche Akademie der Wissenschaften wissenschaftlicher Mitarbeiter an der
Phänomene wie das Schmelzen eines mit dem diesjährigen Abelpreis University of Minnesota antrat,
Eiswürfels in einem Wasserglas geehrt, der höchsten Auszeichnung entdeckte er ein anderes Fachgebiet
führen zu Gleichungen, die so kom- der Mathematik. der Mathematik für sich: das breit
plex sind, dass sie sogar viele Fach- Der 1948 in Buenos Aires gebore- gefächerte Feld der Differenzialglei-
leute überfordern. Das hat den argen- ne Caffarelli hatte sich am Anfang chungen.
tinischen Mathematiker Luis Caffarelli seiner Laufbahn vorrangig mit den Dabei handelt es sich um Formeln,
aber nicht davon abgehalten, sich Eigenschaften von Polynomen be- die Ableitungen enthalten. Auch

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Spektrum der Wissenschaft 6.23 27
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wenn das abstrakt klingt, sind es Kontaktfläche ist, an der das Hinder-
diese Art von Gleichungen, die alle nis und die Seifenhaut aufeinander­
Geschehnisse um uns herum be- liegen – und wie sie aussieht. Rein
schreiben. Denn sie erklären, wie sich intuitiv würde man vermuten, dass
gewisse Größen zeitlich und räumlich die Kontaktfläche einen glatten Rand
verändern. Damit erlauben sie es uns, besitzt, man erwartet keine Ecken
einen Blick in die Zukunft zu werfen. oder Kanten, sofern das Hindernis
Angenommen, man wirft einen Ball auch glatt ist. Doch das mathema-
in die Höhe: Die parabelförmige tisch zu beweisen ist schwierig. Man
Bahnkurve, die er zurücklegt, ist die könnte für allerlei Hindernisse die
Lösung einer zu Grunde liegenden sich ergebende Minimalfläche be-
Differenzialgleichung. rechnen – also extrem viele kompli-
zierte Differenzialgleichungen lösen.
Die Mathematik von Indem Caffarelli in den 1970er Jahren
Seifenblasen aber die Eigenschaften der zu Grunde
Viele spannende Phänomene wie die liegenden Gleichungen untersuchte,
Fließgeschwindigkeit eines Flusses konnte er zeigen, dass die Kontaktflä-
oder die Windrichtung hängen von che immer dann glatt ist (also keine
dem Ort ab, an dem man das System Sprünge oder Ecken hat), wenn es
betrachtet, sowie von der Zeit. Das das Hindernis ebenfalls ist.

NOLAN ZUNK / UNIVERSITY OF TEXAS AT AUSTIN


macht es schwer, Differenzialglei- Das ermöglichte ihm, sich kompli- LUIS CAFFARELLI forscht nicht
chungen zu lösen, da sie sowohl zierteren Phänomenen zuzuwenden, nur leidenschaftlich gerne, son­
zeitliche als auch räumliche Ableitun- etwa dem Schmelzen eines Eiswür- dern hat auch Spaß an der Lehre.
gen enthalten. Zunächst nahm sich fels in einer Flüssigkeit. Bereits 1889
Caffarelli statische Probleme vor – hatte sich der slowenisch-österrei­
also solche, die sich zeitlich nicht chische Physiker Josef Stefan diesem
ändern. Ein Beispiel dafür sind Mini- Problem angenommen. Ihm gelang Ecken und Kanten auftauchen kön-
malflächen, wie sie bei einer Seifen- es damals, zwei Formeln dafür aufzu- nen – selbst wenn der ursprüngliche
haut entsteht, wenn man sie über stellen. Die erste beschreibt den Eiswürfel glatt war. Dazu brauchen
einen Rahmen spannt. Die Fläche der Wärmefluss vom Wasser zum Eis, Sie sich nur die Form einer Sanduhr
Seife nimmt dabei die kleinstmögli- wodurch Letzteres erhitzt wird und vorzustellen. Sobald das Verbin-
che Form an. Um diese vorherzusa- schließlich zu schmelzen beginnt. Die dungsstück schmilzt, entstehen
gen, braucht man Differenzialglei- zweite widmet sich der schwinden- zumindest kurzzeitig zwei Objekte
den Grenzfläche zwischen der Flüs- mit einer ausgeprägten Spitze.
sigkeit und dem Eis. Beide Gleichun- Wieder einmal nahm Caffarelli die
gen beeinflussen sich gegenseitig. zu Grunde liegenden Differenzialglei-
Nach all seinen Von der Größe des Eises hängt die
Stärke des Wärmeübertrags ab,
chungen unter die Lupe – und wies
1977 nach, dass in der schmelzenden
Erfolgen widmete während der Wärmefluss bestimmt, Eisfläche tatsächlich Singularitäten

sich Caffarelli einem wie schnell die Oberfläche ver-


schwindet.
entstehen können: Orte, an denen
gewisse Größen unendliche Werte
der hartnäckigsten Die Stefan-Formeln schienen das
Problem gut zu beschreiben. Aller-
annehmen. Wie er gezeigt hat, bilden
sich in bestimmten Situationen
Probleme der Physik dings war bis zu den 1970er Jahren isolierte Eisspitzen (die Ableitung der
unklar, ob die Gleichungen immer die Ortskoordinate wird an diesen Punk-
Realität widerspiegeln. Könnten sie ten unendlich groß). Doch nicht nur
zum Beispiel zu Lösungen führen, bei das, Caffarelli fand heraus, dass die
chungen. Caffarelli interessierte sich der sich ein glatter Eiswürfel zu einer Temperatur mit zunehmendem
vor allem dafür, wie Minimalflächen fraktalen Form entwickelt (ein Vor- Abstand zu den Spitzen quadratisch
aussehen, wenn sie auf ein Hindernis gang, der noch nie beobachtet wur- anwächst. Das erlaubt es, gezielt
stoßen: etwa wenn man einen Ge- de)? Das Stefan-Problem war deutlich nach solchen Singularitäten zu su-
genstand auf eine Seifenhaut drückt schwerer zu untersuchen als die chen, man muss nur dem Tempera-
oder einen Luftballon (ebenfalls eine Seifenhäute: zum einen, weil das turprofil des Wassers folgen.
Minimalfläche) gegen eine Wand Schmelzen des Eises sowohl räumli- Die Ergebnisse warfen viele Fra-
presst. che als auch zeitliche Komponenten gen auf, denn sie widersprechen
Eine der wichtigsten Fragen ist enthält, zum anderen, weil beim unserer Erfahrung. Schließlich
dabei, wie groß die so genannte Schmelzvorgang durchaus Spitzen, schneidet man sich nicht an der

28 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Oberfläche von Eiswürfeln – im die Fließgeschwindigkeit von einem matik natürlicher Phänomene besser
Gegenteil: Sie scheinen fast immer Ort (oder einem Zeitpunkt) zum zu verstehen. Er veröffentlicht noch
sehr glatt. 2021 konnte der Mathema- anderen plötzlich ruckartig ansteigen immer jährlich mehrere Fachaufsätze,
tiker Alessio Figalli zusammen mit kann – oder sogar unendlich große deren Gesamtzahl inzwischen 320
zwei Kollegen das Rätsel lösen. Die Werte annimmt. Diese Frage ist eines beträgt. Dennoch kam die Lehre nie
Forscher haben aufbauend auf Caffa- der sieben Millennium-Probleme, für zu kurz: Weil Caffarelli die Zusam-
rellis Arbeiten gezeigt, dass die deren Lösung das Clay Mathematics menarbeit mit jüngeren Studierenden
Singularitäten nur extrem selten Institute im Jahr 2000 ein Preisgeld vermisste, verließ er nach einem
auftauchen – tatsächlich beträgt die von einer Million US-Dollar ausge- zehnjährigen Aufenthalt die prestige-
Wahrscheinlichkeit, eine solche setzt hat. trächtige Princeton University, um am
Eisspitze zufällig zu treffen, null. Bereits zwei Jahre nach ihrem Courant Institute of Mathematical
gemeinsamen Spaziergang erzielten Sciences der New York University
Millennium-Probleme die Forscher ein Ergebnis, das bis wieder vermehrt Doktoranden be-
Nach all diesen Erfolgen machte sich heute den größten Durchbruch auf treuen zu können. 
Caffarelli an eines der hartnäckigsten dem Gebiet darstellt: Falls die Navier-
Probleme der Physik. Als er mit Stokes-Gleichungen wirklich singulä- Manon Bischoff ist theoretische Physikerin
seinen Kollegen Robert Kohn und re Lösungen haben sollten (also und Redakteurin bei »Spektrum der Wissen­
schaft«.
Louis Nirenberg im Jahr 1980 durch ruckartige Änderungen oder unendli-
Chinatown in New York spazierte, che Geschwindigkeitswerte enthal-
beschlossen die drei Wissenschaftler, ten), dürften diese nur wenige Au- QUELLEN
sich mit den Navier-Stokes-Gleichun- genblicke existieren. Damit ist das Caffarelli, L. A.: The regularity of free
gen zu beschäftigen. Dabei handelt Millennium-Problem zwar nicht boundaries in higher dimensions. Acta
es sich um Differenzialgleichungen, gelöst, aber es garantiert, dass sich Mathematica 139, 1977
die die Strömung von Flüssigkeiten Flüssigkeiten gemäß der Theorie – Caffarelli, L. A., et al.: Partial regularity
beschreiben. Die Formeln werfen seit wenn überhaupt – nur kurzfristig of suitable weak solutions of the Navier-
Jahrhunderten viele Fragen auf. Es ist seltsam verhalten. Stokes equations. Communications on
noch nicht einmal bekannt, ob sie Bis zum heutigen Tag arbeitet der pure and applied mathematics 35, 1982
stets eine endliche und glatte Lösung mittlerweile 74-jährige Caffarelli Figali, A., et al.: The singular set in the
liefern. Das bedeutet: Es ist unklar, ob unermüdlich weiter daran, die Mathe- Stefan problem. ArXiv 2103.13379, 2021

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Spektrum der Wissenschaft 6.23 29


SPRINGERS EINWÜRFE

Heilsame Panik
Ist es schon Empathie, wenn sich Tiere von der Furcht
der Artgenossen anstecken lassen?
 spektrum.de/artikel/2128539

Ü
berall in den Weiten des Tierreichs stößt die Empathie, also Einfühlung,
moderne Forschung auf komplexe Verhal­ zu diagnostizieren. Geht es Michael Springer ist
tensformen und vermutet dahinter ein nicht auch ohne unterstell­ Schriftsteller und
Innenleben, wie man es früher eigentlich nur te Gefühle? Tatsächlich Wissenschafts­publizist. Eine
Sammlung seiner Einwürfe
uns Menschen zugetraut hätte. So konnte ich hier sondern verletzte Zebra­
ist 2019 als Buch unter dem
bereits von depressiven Taufliegen berichten (Okto­ bärblinge eine Substanz Titel »Lauter Überraschungen.
ber 2021) und um die schonende Zubereitung ab, die ihr Entdecker, der Was die Wissenschaft weiter-
schmerzempfindlicher Hummer bitten (Juni 2022). für seine Erforschung des treibt« erschienen.
Nicht nur die uns evolutionär näherstehenden Bienentanzes berühmte
Verwandten wie Menschenaffen, Elefanten oder Verhaltensbiologe Karl von
Delfine bilden gern stabile Gruppen, deren Mitglie­ Frisch, in den 1930er Jah­-
der über einander Bescheid wissen und sich gegen­ ren als »Schreckstoff« be­-
seitig unterstützen. So etwas setzt Einfühlung in zeichnete. Wenn Artgenossen das Alarmsignal im
den Zustand des anderen voraus. Auch simplere Wasser aufspüren, verfallen sie in Panik: Sie irren
Lebewesen tun sich zusammen. Tritt eine derartige umher und stellen sich anschließend tot.
Empathie schon bei ihnen auf? Um diesen rein chemischen Außenreiz aus­
Als Modellorganismus für genetische und etho­ zuschließen, platzierten die portugiesischen For­
logische Studien erfreut sich seit einigen Jahrzehn­ scher die Fische in separaten Aquarien oder
ten der Zebrabärbling großer Beliebtheit. Das kleine spielten ihnen Fluchtreaktionen per Video vor.
Wirbeltier ist anspruchslos, leicht zu züchten und Zudem demonstrierten sie, dass die Furchtanste­
hat viele Gene mit Säugetieren wie unsereinem ckung bei Mutanten, deren Oxytozin-Produktion
gemein. An ihm lassen sich nicht nur Feinheiten der genetisch lahmgelegt worden war, ausblieb, aber
embryonalen Entwicklung erforschen, sondern bei künst­licher Zugabe des Wirkstoffs wieder
außerdem die evolutionären Wurzeln von sozialem ansprang.
Verhalten.

F
Den Nachweis für das mitfühlende Benehmen ür echte Empathie spricht obendrein, dass
der Zebrabärblinge führten die Verhaltensbiologen einzelne Fische nach Abklingen der akuten
Ibukun Akinrinade und Kyriacos Kareklas vom Panikphase auf die noch immer vor Furcht
Instituto Gulbenkian de Ciência in Oeiras, Portugal, erstarrten Artgenossen zuschwammen und sie
zusammen mit Forschern aus Israel und Italien. Sie zu beruhigen schienen.
zeigten nicht nur, dass die Tierchen von der Furcht Vorderhand besteht dennoch kein Konsens
eines Artgenossen angesteckt werden, sondern darüber, ob man Fischen und Wirbellosen ein
überdies die wesentliche Rolle des Neurotransmit­ Innenleben zubilligen soll. Müssen sie als empfin­
ters Oxytozin in ihrem Gehirn. Das ist bemerkens­ dungsfähig gelten, können sie Lust und Schmerz
wert, weil man Oxytozin von höheren Tieren als empfinden? Und selbst wenn man unter ihnen so
»Kuschelhormon« kennt, das einfühl­sames oder etwas wie emotionale Ansteckung beobachtet –
ansteckendes Sozialverhalten fördert. Die Gegen­ heißt das, dass sie sich tatsächlich in ihresgleichen
wart dieses sozialen Wirkstoffs über weite Bereiche einzufühlen vermögen?
der Fauna hinweg scheint anzuzeigen, dass emotio­ Jedenfalls scheinen Verhaltensbiologen für
nale Ansteckung ein frühes Erfolgs­prinzip der tierisches Gefühlsleben zunehmend offen zu sein.
Artenentwicklung gewesen ist (Science 379, Das ist ein auffälliger Kontrast zur Debatte über
S. 1232–1237, 2023). künstliche Intelligenz: Da beeilen sich fast alle
Skeptiker könnten freilich einwenden, es sei Diskussionsteilnehmer, sofort zu betonen, eine
doch ein bisschen weit hergeholt, bei der Flucht­ Maschine könne niemals Gefühle oder gar Empa­
reaktion eines Schwarms kleiner Fische gleich thie haben. Aber wer weiß, wie lange noch?

30 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Unsere Neuerscheinungen
Ob Naturwissenschaften, Raumfahrt oder Psychologie:
Mit unseren Magazinen behalten Sie stets den Überblick
über den aktuellen Stand der Forschung
UNSPLASH / HANS ISAACSON (unsplash.com/photos/4O_PTF9WHvI)

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PALÄOANTHROPOLOGIE

Als die Menschen


laufen lernten
Lange galt als unstrittig: Nachdem unsere
Vorfahren von den Bäumen herunter­
kamen, liefen sie Schritt für Schritt immer
besser auf zwei Beinen. Doch dieses Bild
erweist sich als zu simpel.
 spektrum.de/artikel/2128542

Jeremy DeSilva ist Professor für


Anthropologie am Dartmouth College
in Hanover (US-Bundesstaat New
Hampshire). Im Mittelpunkt seiner
Forschungsarbeiten steht die Evolu­
tion des aufrechten Gangs.

AUF EINEN BLICK

Der verschlungene Weg


zum aufrechten Gang
1 Die 1976 entdeckten Fußspuren von Laetoli (Tan-
sania) stammen vermutlich von verschiedenen
Vormenschenspezies: Australopithecus afarensis
sowie einer noch rätselhaften zweiten Art.

2 Fußfossilien zeigen je nach Spezies unterschied­


liche Formen. Verschiedene Homininengattun-
gen, die sich jeweils anders fortbewegten, lebten
mitunter gleichzeitig am selben Ort.

3 Die Extremitäten mancher Homininen eigneten


sich sowohl für das Leben in den Bäumen als
auch am Erdboden. Die Evolution des aufrechten
Gangs verlief somit nicht geradlinig.
JEREMY DESILVA

32 Spektrum der Wissenschaft 6.23


MCNUTT, E.J. ET AL.: FOOTPRINT EVIDENCE OF EARLY HOMININ LOCOMOTOR DIVERSITY AT LAETOLI, TANZANIA. NATURE 600,
2021, FIG. 2C (DOI.ORG/10.1038/S41586-021-04187-7) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

UNTERSCHIEDLICH UNTERWEGS Im Vergleich


zum mutmaßlich von Australopithecus afarensis
stammenden Fußabdruck von Laetoli G (links),
erscheint die Spur an der Fundstätte A (großes Bild)
kürzer und breiter; der große Zeh ragt seitlich heraus.
JEREMY DESILVA

Spektrum der Wissenschaft 6.23 33



Schon lange bevor sich bei unseren Vorfahren ein fossile Fußabdrücke kostbare Momentaufnahmen aus
großes Gehirn und eine Sprache entwickelten, noch einer längst vergangenen Zeit.
bevor sie das Feuer zähmten und Steinwerkzeuge Als Leakey und ihr Team während der folgenden
herstellten, erwarben sie eine Fähigkeit, die vor ihnen Wochen das nun Fundstätte A genannte Gebiet von
noch kein Säugetier beherrscht hatte: den aufrechten aufgelagerten Sedimenten befreiten, kamen Tausende
Gang. Anpassungen daran zeigen sich schon in Skelett- von Fährten zu Tage. Die meisten stammten von kleinen
fossilien der frühesten Homininen, also jener Mitglieder Antilopen und Hasen, manche aber auch von vorzeitli-
der Menschenfamilie, die vor fünf bis sieben Millionen chen Elefanten, Nashörnern, Giraffen, Großkatzen, Vögeln
Jahren lebten. Die Fortbewegung auf zwei statt vier und sogar von einem Käfer. Da Leakey hoffte, in der
Beinen entfesselte in unserer Abstammungslinie eine Melange ebenso auf Homininen zu stoßen, wies sie die
lange Phase weiterer evolutionärer Veränderungen. Gruppe an, Ausschau nach Fußabdrücken von Zweibei-
Unsere Ahnen konnten ihre Heimatreviere erweitern und nern zu halten. Im September 1976 hatten die Forscher
sich vielseitiger ernähren; ebenso veränderte sich die Art Glück: Fünf hintereinanderliegende Spuren, die Peter
und Weise, Nachwuchs zur Welt zu bringen und großzu- Jones und Mary Leakeys Sohn Philip entdeckten, stamm-
ziehen. Diese besondere Form der Fortbewegung avan- ten von einem Lebewesen, das sich nicht auf vier, son-
cierte zur Grundlage für praktisch alle anderen Merkmale, dern auf zwei Beinen fortbewegt hatte. Ein Hominine?
die den heutigen Menschen zu etwas Einzigartigem Vielleicht, aber die Abdrücke sahen irgendwie seltsam
machen. aus, und wer sie auch erzeugt hatte, war wohl im Kreuz-
Eine bekannte Darstellung der menschlichen Evolution schritt gegangen, indem er wie ein Model auf dem Lauf-
stellt eine Prozession unserer Vorfahren dar: Sie beginnt steg den linken Fuß über den rechten setzte. Die Zweibei-
mit einem schimpansenähnlichen Wesen, das auf allen nerspur der Fundstätte A blieb rätselhaft.
vieren trottet, und setzt sich in einer Reihe immer höher Zwei Jahre später entdeckten Paul Abell (1923–2004)
aufgerichteter Urahnen fort, bis schließlich ein vollständig und Ndibo Mbuika aus Leakeys Team zwei Kilometer
aufgerichteter Homo sapiens triumphierend auf zwei westlich an einer als Fundstätte G bezeichneten Stelle

JEREMY DESILVA
Beinen einherschreitet. Diese in den 1960er Jahren erst-
mals aufgetauchte Zeichnung »March of Progress« wur-
den zunehmend beliebt und ziert seither in seinen Ab-
wandlungen unzählige Bücher, T-Shirts, Autoaufkleber
und Kaffeebecher.
Paläoanthropologische Entdeckungen aus den letzten
beiden Jahrzehnten brachten die Fachleute aber inzwi-
schen dazu, das traditionelle Bild einer linearen Abfolge
neu zu zeichnen. Unser heutige Fortbewegungsart war
nicht vorherbestimmt, die einzelnen aufeinander folgen-
den Vorfahren marschierten keineswegs immer weiter auf
ein Ziel zu – schließlich verfolgt die Evolution keinen Plan.
Vielmehr probierten die frühen Homininen viele Formen
des Aufrechtgehens aus, von denen sich schließlich eine
durchsetzen sollte.

Ein Spiel mit Folgen


Wer möchte schon von einem fliegenden Klumpen Ele-
fantenkot getroffen werden? Niemand! Also duckten sich
die Paläontologen Anna Behrensmeyer und Andrew Hill
(1946–2015) während ihres Besuchs bei Mary Leakey
(1913–1996) an der Fossilienfundstätte im tansanischen
Laetoli in einem Graben und sammelten weitere Munition
für das spontan ausgebrochene Elefantendung-Völkerball-
spiel. Es ist der 24. Juli 1976; an diesem Tag ereignete sich
einer der glücklichsten Zufallsentdeckungen in der Ge-
schichte der Paläoanthropologie.
Statt auf Dung stießen Hill und Behrensmeyer nämlich
auf andere Hinterlassenschaften von Elefanten: Fußspu-
ren sowie Abdrücke von Regentropfen, die in einer frei
liegenden, vor 3,66 Millionen Jahren niedergegangenen
Vulkanascheschicht ausgehärtet waren. Nach einem
rasch ausgerufenen Waffenstillstand im Elefantenkot-
Wettstreit bestaunten alle den Fund; schließlich sind

34 Spektrum der Wissenschaft 6.23


eine weitere Spur von Zweibeinern (siehe »Die Spuren von
Laetoli«). Hier waren zwei, drei oder gar vier Individuen
durch die schlammige Asche gelaufen und hatten 69 ver-
blüffend menschenähnliche Fußabdrücke hinterlassen.
Nach Ansicht der meisten Fachleute stammten sie von
Australopithecus afarensis – der Spezies, die unter dem
Spitznamen Lucy berühmt wurde und von der man in
Laetoli ebenfalls Fossilien gefunden hatte. Die Spuren an
der Fundstätte G unterschieden sich deutlich von denen
der Stätte A. Wenn ein Hominine die Fußabdrücke am
Fundort G hinterlassen hatte, von was für einem Lebewe-
sen stammte dann die Spur an der Stelle A?
Einen ersten Versuch zur Lösung des Rätsels unter-
nahm der Anthropologe Ross Tuttle von der University of
Chicago Mitte der 1980er Jahre. Er verglich die Form der
Abdrücke von der Fundstätte A mit denen barfuß gehen-
der Menschen, Schimpansen sowie von Zirkusbären,
denen man beigebracht hatte, auf zwei Beinen zu laufen.
Damit gelangte er zu dem Schluss, die Spuren müssten
entweder von einer zweiten Homininenspezies aus der
Epoche des Pliozäns oder aber von einem aufrecht gehen-
den Bären stammen. Vielleicht lag es daran, dass die
herrschende Lehrmeinung damals von einer linearen
Evolution des aufrechten Gangs beim Menschen ausging,
jedenfalls machten sich andere Wissenschaftler die
Bärenhypothese zu eigen. Die Folge: Während die Fuß-
spuren von Laetoli G ausgiebig studiert wurden und zu
Weltruhm gelangten, gerieten die Abdrücke der Stätte A
in Vergessenheit. Drei Jahrzehnte mussten vergehen,
bevor sich wieder jemand mit ihnen beschäftigte.

Ein aufschlussreiches Experiment


Das Dartmouth College, an dem ich Anthropologie unter-
richte, ist eine schnucklig kleine, geisteswissenschaftliche
Hochschule in New Hampshire, die versteckt in einem Tal
zwischen den White Mountains des Bundesstaats und
den Green Mountains im benachbarten Vermont liegt.
Nur zwei Autostunden von der Metropole Boston entfernt
trägt sie den Wahlspruch »vox clamantis in deserto«, was
so viel bedeutet wie »Stimme des Rufers in der Wüste«.
Große Zuckerahornbestände liefern üppige Mengen an
Sirup, an dem Universitätsgelände läuft der Fernwander-
weg Appalachian Trail vorüber, und in den umgebenden
Wäldern leben Bären – viele Bären.
2017 taten sich meine damalige Doktorandin Ellison
McNutt – sie lehrt heute Anatomie an der Ohio Universi-
ty – und ich mit dem einheimischen Schwarzbärenexper-
ten Ben Kilham zusammen, um Tatzenspuren von Bären-
jungen zu sammeln, die ungefähr zu den Abdrücken der
JOHN READER / SCIENCE PHOTO LIBRARY

Laetoli-Fundstätte A passten. Mit Ahornsirup und Apfel-


DIE SPUREN VON LAETOLI Vor 3,66 Millionen mus brachten wir die Jungtiere dazu, sich auf die Hinter-
Jahren waren im heutigen Tansania offensichtlich beine aufzurichten und über eine mit Schlamm bedeckte
zwei verschiedene Homininenspezies auf zwei Versuchsstrecke zu zotteln. Zu unserer Überraschung
Beinen unterwegs. Die Spur an der Fundstätte G passten ihre Tatzenspuren sowie die Mechanik ihres
(rechts) stammt nach heutiger Kenntnis von Austra- Gangs in keiner Weise zu denen vom Fundort A (siehe
lopithecus afarensis. Die Abdrücke an der Fundstät­ »Bärendienst für die Wissenschaft«, S. 41). Die Fersen
te A (links) hinterließ vermutlich ein anderer, bisher eines Bären hinterlassen schmale Abdrücke, und die Tiere
nicht identifizierter Hominine. müssen beim Laufen auf zwei Beinen große Schritte

Spektrum der Wissenschaft 6.23 35


7 Millionen Jahre vor heute 6 5
Wege zum Gehen
Lange vermutete man bei der Evolution des 7 Millionen Jahre vor heute
aufrechten 6 5
Gangs einen geradlinigen Verlauf, bei dem unsere
Vorfahren uns allmählich in Körperhaltung und Gang
immer ähnlicher wurden. Entdeckungen aus den letzten
zwei Jahrzehnten revidierten jedoch diese Ansicht. Wie L
wir heute wissen, existierten während des größten Teils
der Menschenevolution mehrere Homininenarten mit
unterschiedlichen Laufweisen nebeneinander. So streif-
ten vor zwei Millionen Jahren in der südafrikani- A. anamensis
schen Region der »Wiege der Menschheit«
drei Homininen aus unterschiedlichen ARDIPITHECUS
A. anamensisAr. ramidus
Gattungen – Paranthropus,
Ar. kadabba
ARDIPITHECUS Ar. Gona-Fuß
ramidus
Australopithecus und
Homo – auf jeweils eigene
GRAFIK: JEN CHRISTIANSEN; FUSSKNOCHEN: DINO PULERÀ / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2022; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Ar. kadabba Gona-Fuß


Weise umher. Manche wie Orrorin tugenensis
Australopithecus sediba oder
Sahelanthropus
Orrorin tugenensis tchadensis
Homo naledi waren sogar
noch an das Klettern in Sahelanthropus tchadensis
Bäumen angepasst, als sich
andere Homininen schon längst
auf das Leben am Erdboden
eingestellt hatten.

Millionen Jahre vor heute


12 11 10 Fossile Homininenfüße
12 11 10 ließen sich beidseitig
Danuvius guggenmosi rekonstruieren; zu
Danuvius guggenmosi Vergleichszwecken ist
hier immer der rechte
Fuß gezeigt.
Der Menschenaffe Danuvius guggenmosi, der
vor ungefähr 11,6 Millionen Jahren im heutigen
Deutschland lebte, dürfte sich in Baumkronen
aufrecht fortbewegt haben. Seine Verwandtschaft
zu den Homi­ninen bleibt allerdings unklar.

machen, weil sie dabei auf Grund der anatomischen lien stammt kein einziges von einem Bären. Offensichtlich
Verhältnisse von Hüfte und Knien hin- und herwanken. sollte man die Zweibeinerspuren am Fundort A in einem
Von nun an hatten wir an der Bärenhypothese unsere neuen Licht betrachten. Allerdings verfügen die gleichen
Zweifel. saisonalen Regenfälle, die uns fossile Knochen und Fuß-
Inzwischen liegt die Entdeckung der Fußspuren von abdrücke schenkten, auch über die Kraft, sie durch Ero­
der Fundstätte A fast 50 Jahre zurück. Während dieser sion wieder zu zerstören. Wir hatten daher befürchtet,
Zeit haben die jahreszeitlichen Niederschläge das Sedi- dass die Abdrücke längst verschwunden waren. Glück­
ment von den kargen Hügeln bei Laetoli weiter ausgewa- licherweise hatten wir uns geirrt.
schen und Zehntausende von Fossilien frei gelegt. Et- 2019 reisten Musiba und ich nach Laetoli. Mary
liche davon haben Arbeitsgruppen unter der Leitung von Leakeys detaillierte Zeichnungen führten uns wie eine
Charles Musiba von der University of Colorado, Terry Schatzkarte genau zu dem Ort, an dem sich die rätselhaf-
Harrison von der New York University und Denise Su von ten Zweibeinerabdrücke befinden sollten. Dort begannen
der Arizona State University geborgen. Von anderen wir zu graben. Nach wenigen Tagen rief unser tansani-
Fundorten wissen wir, dass Bären der ausgestorbenen scher Mitarbeiter Kallisti Fabian: »Mtu« – das Swahili-
Gattung Agriotherium während des Pliozäns durch Afrika Wort für »Mensch«. Er hatte die Fußabdrücke gefunden.
streiften, aber unter den in Laetoli gefundenen Tierfossi­ Der Regen hatte sie nicht zerstört, sondern alle fünf mit

36 Spektrum der Wissenschaft 6.23


3 2 1 heute

Schimpanse
Laetoli
Little Foot AUSTRALOPITHECUS A. sediba H. floresiensis

A. africanus H. sapiens

A. afarensis H. naledi

A. deyiremeda HOMO Neandertaler

H. erectus
Burtele-Fuß
H. habilis

P. robustus

GRAFIK: JEN CHRISTIANSEN; FUSSKNOCHEN: DINO PULERÀ / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2022; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
P. boisei

P. aethiopicus PARANTHROPUS

einer Schicht aus feinem Sediment zugedeckt und so Körperbau und Größe, und das Gleiche gilt auch für unse-
konserviert. Mit Zungenspateln und Borstenpinseln re Füße. Mit ziemlicher Sicherheit war das bei Australo­
reinigten wir die Spuren, legten nie zuvor gesehene pithecus afarensis genauso. Vielleicht repräsentieren die
Details der Zehenabdrücke frei und zeichneten sie mit Fußabdrücke an den Fundstätten A und G die normale Va-
hochauflösenden 3-D-Laserscannern auf, die unseren Kol- riationsbreite innerhalb einer einzigen Spezies. Wenn das
legen in den 1970er Jahren noch nicht zur Verfügung stimmt, könnten die kleinen Abdrücke von Laetoli A quasi
gestanden hatten. Die Fersenabdrücke am Fundort A sind von Lucys Kind stammen. Diese Hypothese hatte ich
breit, und wie beim Menschen und seinen Vettern, den anfangs ohnehin schon aufgestellt.
Menschenaffen, dominiert der große Zeh. Das war kein Gemeinsam mit Kevin Hatala von der Chatham Univer-
Bär. Ein Hominine hatte die Fährte hinterlassen. Aber sity, einem Experten für Fußspuren, der an der Entde-
welcher? ckung und Analyse der 1,55 Millionen Jahre alten Spuren
Wenn Sie an einem Sandstrand entlangspazieren, von Homo erectus im kenianischen Ileret beteiligt war,
dürften Sie die unterschiedlichsten Fußstapfen von Homo verglichen wir die Form der Abdrücke von Laetoli A mit
sapiens sehen – beispielsweise kleine, flache Abdrücke den am besten erhaltenen vom Fundort G und mit einer
von einem Kleinkind neben den großen, gebogenen der weiteren Fährte, die man 2015 an der Stätte S entdeckt
Mutter. Heutige Menschen unterscheiden sich stark in hatte, sowie mit hunderten Fußabdrücken von Menschen

Spektrum der Wissenschaft 6.23 37


und Schimpansen. Die beobachteten Unterschiede pass- unsere Vorfahren vor drei bis fünf Millionen Jahren lern-
ten jedoch nicht in das Variationsspektrum heutiger ten, aufrecht zu gehen. Um solche Funde genauer erklä-
Menschen aller Altersgruppen. ren zu können, arbeiteten McNutt und ich 2017 mit Bern-
Wie wir feststellten, divergierten die Abdrücke von hard Zipfel zusammen, einem ehemaligen Podologen, der
Laetoli A in ihrer Form ebenso stark von denen der Stät- heute als Paläoanthropologe an der südafrikanischen
ten G und S wie Schimpansenfährten von Ihren oder University of the Witwatersrand forscht.
meinen Fußstapfen. Damit will ich nicht sagen, dass die Insbesondere wollten wir die gängige Lehrbuchweis-
Abdrücke vom Fundort A wie die eines Schimpansen heit über die Evolution des aufrechten Gangs im Licht der
aussehen, aber sie sind deutlich anders geformt als die aktuellen Fossilfunde neu bewerten. Nach herkömmlicher
von Lucy. Im Vergleich zu den mutmaßlichen Fußab­ Auffassung besaßen die Homininen anfangs schimpan-
drücken von A. afarensis an den Fundstätten G und S senähnliche Extremitäten, die dazu geeignet waren, nach
erschienen die von Laetoli A kürzer und breiter, der große Baumästen zu greifen. Daraus soll sich dann eine Über-
Zeh ragte ein wenig zur Seite, und einiges deutete darauf gangsform entwickelt haben, die ihnen erlaubte, sowohl
hin, dass der mittlere Teil des Fußes beim Gehen biegsa- zu greifen als auch zu laufen, wie es sich beim Fossil
mer war (siehe »Unterschiedlich unterwegs«, S. 32/33). namens Ardi, einem rund 4,4 Millionen Jahre alten Ange-
hörigen der Spezies Ardipithecus ramidus aus der äthiopi-
Zur gleichen Zeit am selben Ort schen Region Aramis, erkennen lässt. Weiter ginge es mit
Die Befunde veröffentlichten wir im Dezember 2021 in der Australopithecus afarensis, also mit Lucy, die sich vor etwa
Fachzeitschrift »Nature«, wo wir erklären, dass die Abdrü- 3,2 Millionen Jahren im äthiopischen Hadar auf Füßen mit
cke von der Fundstätte A nicht nur von einem Homininen hoher Ferse und steifem Mittelteil schon um einiges
hinterlassen worden waren, sondern auch eine zweite besser auf dem Erdboden fortbewegen konnte. Als rund
Spezies in Laetoli belegen. Wie man es in der Wissen- eine Million Jahre später unsere eigene Gattung Homo
schaft nicht anders erwartet, übernahmen nicht alle unse- mit kürzeren Zehen und einem hohen Fußgewölbe auf-
re Kollegen diese Interpretation. Manche glauben, wir tauchte, wäre schließlich der aufrechte Gang optimiert
hätten nur eine weitere Fährte von A. afarensis gefunden. gewesen.
Allerdings unterscheiden sich die Abdrücke vom Fundort Nachdem wir alle Fossilien von Fußknochen, die ver-
A von den Australopithecus-Spuren an der Stätte G so streut in afrikanischen Museen lagern, sorgfältig unter-
stark, dass in unserem Fachgebiet jahrzehntelang die An- sucht hatten, kristallisierte sich allerdings ein ganz ande-
sicht herrschte, sie stammten von einem Bären!
Meiner Überzeugung nach marschierten vor 3,66 Milli-
onen Jahren, kurz nachdem die Asche vom Himmel FÄHRTENLESER Jahrzehnte nach dem Fund der
gefallen war, zwei verschiedene Arten von Homininen auf Spuren von Laetoli A studierten Fachleute erneut die
unterschiedlich gebauten Füßen und mit einem unter- Abdrücke, die zum Glück auf Grund einer schützen­

SHIRLEY RUBIN
schiedlichen Gang von der Olduvai-Schlucht nach Nor- den Sedimentschicht noch gut erhalten waren.
den, vielleicht auf der Suche nach Wasser. Da die Ab-
druckschicht nach heutiger Kenntnis höchstens wenige
Tage repräsentiert, ist das der beste Beleg dafür, dass
verschiedene Homininenspezies im Pliozän zur gleichen
Zeit sowie am selben Ort lebten. Ob zwischen ihnen
irgendwelche Interaktionen stattfanden – und wenn ja,
welche –, bleibt spekulativ.
Die Wiederentdeckung der Fußspuren von Laetoli A
und unsere Schlussfolgerung, dass sie von einer zweiten
Spezies stammen, stellen die bislang letzten Beiträge zu
einer wachsenden Zahl an Indizien dar, wonach die Evolu-
tion des aufrechten Gangs weit weniger geradlinig, son-
dern viel komplizierter und interessanter verlief, als man
früher geglaubt hatte. Ein weiterer Anhaltspunkt stammt
von Fossilien der Homininen selbst. Einzelne Fußknochen
gibt es bei menschlichen Überresten nur selten, noch
seltener entdeckt man ganze Fußskelette. Umso spannen-
der sind die Funde aus dem Großen Afrikanischen Gra-
benbruch sowie aus Höhlen in Südafrika, mit denen
Paläoanthropologen in den letzten zwei Jahrzehnten die
Zahl der Fossilien des einzigen Körperteils, der in unmit-
telbarem Kontakt zum Untergrund steht, vervierfacht
haben. Viele dieser Neuentdeckungen stammen aus einer
entscheidenden Phase der menschlichen Evolution, als

38 Spektrum der Wissenschaft 6.23


res Muster heraus: Die Entwicklung des aufrechten Gangs Kapitel der menschlichen Evolution. Ein weiteres Beispiel
bei unseren frühesten Vorfahren löste einen Schub an liefert ein zwei Millionen Jahre alter Hominine, dessen
Evolutionsexperimenten aus – mit der Folge, dass die Entdeckungsgeschichte, was glückliche paläoanthropolo-
verschiedenen Homininen ganz unterschiedlich geformte gische Zufallsfunde angeht, durchaus mit der Legende
Füße besaßen (siehe »Wege zum Gehen«). In dem von vom Elefantenkotkampf konkurrieren kann: 2008 stolperte
uns untersuchten Zeitraum von zwei Millionen Jahren der damals neunjährige Matthew Berger buchstäblich
konnten wir fünf derartige Formen identifizieren, die über ein Schlüsselbein- und Unterkieferfragment, als er
möglicherweise fünf unterschiedliche Arten des aufrech- mit seinem Vater, dem Paläoanthropologen Lee Berger
ten Gangs repräsentieren. Zwischen den zeitlichen End- von der University of the Witwatersrand, die Malapa-­
punkten von Ardi und Lucy liegen noch drei weitere Höhle im Gebiet des südafrikanischen Welterbes »Wiege
einzigartig geformte Füße. Der erste gehört zu einem der Menschheit« (Cradle of Humankind) erkundete. In den
Lebewesen aus Gona in Äthiopien, das ähnlich gebaut folgenden Monaten gruben Berger und sein Team die
und ungefähr so alt ist wie Ardi; der zweite stammt von fossilhaltigen Höhlenwände aus und entdeckten zwei
einem 3,67 Millionen Jahre alten, »Little Foot« genannten Teilskelette einer neuen Spezies, die sie Australopithecus
Homininen aus den südafrikanischen Sterkfontein-Höh- sediba tauften. Kurz nachdem ich meinen Doktor ge-
len; und der dritte ist der auffallend primitive Burtele-Fuß macht hatte, lud Berger mich ein, die Fuß- und Beinfossi­
aus dem äthiopischen Woranso-Mille-Grabungsgebiet, lien zu untersuchen.
der auf ein Alter von 3,4 Millionen Jahren datiert wurde.
Obwohl alle fünf sowohl affen- als auch menschenartige Angepasst an das Leben in zwei Welten
Merkmale aufweisen, treten diese Eigenschaften bei Was ich dort zu sehen bekam, schockierte mich: Alle
jedem Einzelnen ganz unterschiedlich kombiniert auf und Knochen hatten die falsche Form. Für einen Homininen
folgen nicht der erwarteten Reihe, wonach sie im Lauf der aus dieser Epoche war das Fersenbein viel zu affenähn-
Zeit immer weniger affen- und immer stärker menschen- lich, und die Knochen von Mittelfuß, Fußgelenk, Knie,
ähnlich aussehen sollten. Hüfte und unterem Rücken wiesen bei beiden Skeletten
Das Ganze ähnelt einer vorzeitlichen Version des seltsame Züge auf. Isoliert betrachtet wirkten die Kno-
Märchens vom Aschenputtel. Vielleicht passt einer der chen geradezu grotesk. Gemeinsam jedoch erzählten sie
kürzlich entdeckten Füße zu den rätselhaften Homininen- die Geschichte eines Homininen, der auf eine besondere
spuren von Laetoli A und enthüllt damit die Identität des Art aufrecht ging – allerdings wie ein Patient, der übermä-
Fährtenlegers. Das werden wir erfahren, wenn wir das ßig viel Gewicht auf die Fußinnenkanten verlagert und
Frühstadium unserer Evolutionsvergangenheit weiter somit an Hyperpronation leidet. Aber statt als krankhafte
erforschen. Veränderungen der Gelenke interpretierten wir die beson-
Faszinierenderweise beschränkt sich dieses Prinzip der dere Knochenform bei A. sediba als anatomische Lösung
vielfältigen Fortbewegungsarten nicht auf die frühen für die Probleme, mit denen sich Menschen herumschla-
SHIRLEY RUBIN

gen müssten, wenn sie auf diese Weise laufen. Mit ande-
ren Worten: Nach unserer Überzeugung war die Spezies
an Hyperpronation adaptiert. Warum? Schultern und
Arme von A. sediba lassen erkennen, dass er auf Bäume
kletterte, und in seinen Zähnen fanden sich mikrosko-
pisch kleine Spuren von Pflanzenzellen, die von Blättern,
Früchten und Baumrinde stammten – Anhaltspunkte,
dass diese Spezies ihre Mahlzeiten häufig im Geäst ein-
nahm. Ihre Art zu gehen war der Kompromiss eines
Homininen, der an das Leben in zwei Welten angepasst
war: Er kam sowohl oben in den Baumkronen als unten
auch am Erdboden zurecht – und das lange nachdem
andere Homininenarten sich vollständig auf ein Dasein
am Boden eingestellt hatten (siehe »Multifunktionell«).
A. sediba war nicht der einzige Hominine, der sich vor
zwei Millionen Jahren im südlichen Afrika herumtrieb.
Eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Andy Herries von
der La Trobe University in Australien berichtete 2020 über
neu entdeckte Fossilien aus dem Höhlensystem von
Drimolen, das sich ebenfalls in der Region der »Wiege der
Menschheit« befindet. Die Fossilien gehören zu zwei
anderen Homininenarten: einerseits zu Paranthropus
robustus, der durch seine großen Zähne auffällt, und
andererseits zu Homo erectus, dem mutmaßlichen Urahn
unserer eigenen Spezies. Mit anderen Worten: Hier lebten

Spektrum der Wissenschaft 6.23 39


mindestens drei verschiedene Homininenarten neben­
einander, die zu drei verschiedenen Gattungen gehörten:
Homo, Paranthropus und Australopithecus.
Wie wir von einem Teilskelett wissen, das in den
1980er Jahren am Westufer des Turkana-Sees in Kenia
entdeckt wurde, wies Homo erectus (der »aufgerichtete
Mensch«) nahezu den gleichen Körperbau auf wie heutige
Menschen. Fußabdrücke vom Ostufer des Sees bestäti-
gen, dass dieser Hominine ging wie wir. H. erectus konnte
in seinem Revier auf Zweibeiner der beiden anderen
Gattungen Australopithecus und Paranthropus treffen.
Angesichts der unterschiedlich geformten Fuß- und
Beinknochen besaßen all jene Homininen meiner Ansicht
nach einen ganz unterschiedlichen Gang.
Unterschiedliche Gangarten gab es sogar, nachdem
Australopithecus und Paranthropus längst ausgestorben
waren. Noch vor 60 000 Jahren, als sich Homo sapiens
bereits durchgesetzt hatte, liefen die kleinen, manchmal
Hobbits genannten Menschen der Spezies Homo floresi­
ensis auf relativ großen, flachen Füßen und kurzen Bein-
chen auf der Insel Flores im heutigen Indonesien herum
(siehe »Spektrum« März 2005, S. 30). Möglicherweise
ähnelte ihr Gang durch die kurzen Schritte und die hoch-
gehobenen Knie einem Marsch mit Schneeschuhen.
Vielleicht konnten Menschen am unterschiedlichen
Gang feststellen, ob eine Gruppe, die in der Ferne zu
sehen war, zu ihrer eigenen oder einer anderen Spezies
gehörte. Und falls sich die fernen Wanderer tatsächlich
als Artgenossen herausstellten, wussten die Beobachter
dann auch, ob es sich bei den anderen um Freunde,
Verwandte oder Fremde handelte? Die Antwort konnte
darüber bestimmen, ob man Konflikte vermied oder

LEE BERGER / DPA / PICTURE ALLIANCE


heraufbeschwor. Somit scheint der Gang mehr zu sein, als
nur ein Mittel, um von A nach B zu gelangen.

Menschenaffen aus Europa


Bei der Evolution des aufrechten Gangs bleiben noch viele
Fragen offen. So wissen wir bis heute nicht, warum diese
Fortbewegungsart für unsere frühesten Vorfahren und MULTIFUNKTIONELL In der menschlichen
ausgestorbenen Verwandten einen Selektionsvorteil Evolution entstanden mehrere Weisen des
darstellte. Hypothesen gibt es in Hülle und Fülle. Bereits aufrechten Gangs. Australopithecus sediba
1809 spekulierte der französische Naturforscher Jean- war an die Fortbewegung am Erdboden wie
Baptiste Lamarck (1744–1829), der aufrechte Gang habe auch in den Bäumen angepasst.
sich beim Menschen durchgesetzt, um im hohen Gras
den Überblick zu behalten. Sechs Jahrzehnte später
vermutete Charles Darwin (1809–1882), das Gehen auf schiedlichen Regionen Afrikas – mehrmals entwickelt hat.
zwei Beinen mache die Hände für den Werkzeuggebrauch Für ein solches Szenario sprechen die vielfältigen Fußfor-
frei. Andere Fachleute schlugen vor, unsere Vorfahren men, die man quer über den Kontinent an Fossilien aus
könnten so besser Nahrung sammeln oder durch seichtes dem Pliozän findet.
Wasser waten. Wieder andere sehen hier ein energieeffi- Ein weiteres Licht auf ungelöste Fragen werfen Fossil­
zientes Mittel, um die Entfernungen zwischen weit ver- funde von Menschenaffen aus der Epoche des Miozäns
streuten Ressourcen zu überwinden. Mir erscheinen aber von vor 23 bis vor 5,3 Millionen Jahren. Paläoanthropolo-
alle Versuche, einen einzigen, entscheidenden Vorteil des gen fahndeten in Afrika nahezu vergeblich nach Fossilien
aufrechten Gangs zu finden, als vergebliche Liebesmüh. aus dieser wichtigen Phase, in der sich die Homininen von
Vielmehr halte ich es für möglich oder sogar wahrschein- den anderen Menschenaffen abspalteten. Doch ihre
lich, dass sich das Laufen auf zwei Beinen im unteren Teil Kollegen aus Südeuropa konnten inzwischen eine beein-
des Homininenstammbaums – vielleicht aus unterschied- druckende Sammlung an Knochen von Menschenaffen
lichen Gründen und bei verschiedenen Spezies aus unter- vorlegen, die einst im heutigen Spanien, Frankreich,

40 Spektrum der Wissenschaft 6.23


BÄRENDIENST FÜR DIE WISSENSCHAFT Um die
»Bärenthese« zu überprüfen, lockte Ellison McNutt
junge Schwarzbären über ein kurzes Stück Schlamm
(links). Die hinterlassenen Trittsiegel (rechts) sehen
ganz anders aus als die Spur A von Laetoli (siehe »Un­
terschiedlich unterwegs«, S. 32/33).

wenn weitere Fossilien rund um das Mittelmeer und in


Afrika auftauchen, bleibt abzuwarten. Derzeit stecken die

LINKS: JEREMY DESILVA; RECHTS: ELLISON MCNUTT


allerersten Anfänge des aufrechten Gangs noch voller
Rätsel.
Nachdem unsere Vorfahren sich erst einmal aufgerich-
tet haben, liefen sie immer weiter, und diese Wanderung
setzte sich bis heute fort. Ein Mensch macht im Lauf
seines Lebens durchschnittlich 150 Millionen Schritte –
genug, um die Erde dreimal zu umrunden. Aber nur in den
seltensten Fällen denken wir über das Gehen nach. Es ist
uns gewissermaßen in Fleisch und Blut übergegangen.
Deutschland, Griechenland, Italien, Ungarn oder in der Die Fossilien zeigen uns aber etwas ganz anderes: Gehen
Türkei lebten. Wie sich an deren Händen, Armen, Wirbel- ist alles andere als einfach. Es handelt sich vielmehr um
knochen, Hüften und Beinen ablesen lässt, liefen diese ein komplexes Evolutionsexperiment, das mit den ersten
europäischen Affen – etwa der 11,6 Millionen Jahre alte, Schritten von Menschenaffen in den Wäldern des Mio-
2019 beschriebene Danuvius guggenmosi aus Deutsch- zäns begann und schließlich die Homininen auf einen
land – nicht wie Schimpansen auf den Fingerknöcheln. Weg rund um die Welt führte. 
Manche von ihnen konnten sich vielleicht sogar häufiger
und effizienter auf zwei Beinen fortbewegen als heutige
afrikanische Vertreter. Je nach Stellung solcher fossilen
Menschenaffen im Stammbaum wäre es denkbar, dass
jener Affe, von dem sich die Vorfahren von Mensch,
Schimpanse und Gorilla abspalteten, statt auf Knöcheln
eher aufrecht auf zwei Beinen mit Hilfe der Hände durch
Mehr Wissen auf
die Bäume »ging« (siehe »Spektrum« Januar 2020, S. 26). Spektrum.de
In dem Fall wäre nicht der aufrechte Gang an sich die Unser Online-Dossier zum
einzigartige Anpassung der Homininen, sondern der Thema finden Sie unter BILDNACHWEIS

aufrechte Gang am Erdboden. Wenn irgendwann weitere


spektrum.de/t/menschwerdung
Fossilien diese Hypothese stützen, könnte sich herausstel-
len, dass die Ansätze der zweibeinigen Fortbewegung
überhaupt keine neue Form darstellten. Vielleicht bestand
sie schon lange und wurde lediglich für eine andere
Umwelt zweckentfremdet, als unsere Ahnen von einem
Leben auf den Bäumen zum Erdboden wechselten.

Ein verblasstes Bild QUELLEN


Dieser Gedanke ist umstritten und bedarf weiterer Über- DeSilva, J. et al.: One small step: A review of Plio-Pleistocene
prüfung. Die Schwierigkeit dabei: In Afrika müsste man hominin foot evolution. American Journal of Physical Anthropo-
neue Fuß- oder Beinknochen aus dem entscheidenden logy 168, 2019
Zeitraum von vor zwölf bis vor sieben Millionen Jahren Herries, A. I. R. et al.: Contemporaneity of Australopithecus,
ausgraben, in dem sich die Abstammungslinien trennten, Paranthropus, and early Homo erectus in South Africa. Science
die schließlich zu Mensch, Schimpanse und Gorilla führ- 368, 2020
ten. Bisher lässt sich die Lücke nur durch die Anatomie McNutt, E. J. et al.: Footprint evidence of early hominin locomo-
der urzeitlichen Affen aus Südeuropa schließen. In gewis- tor diversity at Laetoli, Tanzania. Nature 600, 2021
ser Weise ist das so, als wollten wir herausfinden, wie
unsere Urgroßmutter aussah, indem wir verblasste LITERATURTIPP
Schwarz-Weiß-Fotos unserer Vettern dritten Grades aus
dem 19. Jahrhundert anschauten. Sie liefern zwar einige Die Evolution des Menschen. Spektrum Spezial Biologie – Medi-
zin – Hirnforschung 4/2022
Hinweise, aber nicht das vollständige Bild. Ob unsere
Hypothese in den kommenden Jahrzehnten Bestand hat, Die wichtigsten »Spektrum«-Artikel zu unserer Vergangenheit

Spektrum der Wissenschaft 6.23 41


MEDIZIN

»Jeden Monat
taucht ein neuer
Pilzerreger auf«
In der Fernsehserie »The Last of Us« dezimiert

NATIONALES REFERENZZENTRUM FÜR INVASIVE PILZINFEKTIONEN (NRZMYK)


ein krank machender Pilz die Menschheit.
Ob das ein realistisches Szenario ist
und welche Gefahr von krank machenden
Pilzen ausgeht, erklären die
Experten Oliver Kurzai
und Martin Väth.
 spektrum.de/artikel/2128548

ANLASS ZUR
SORGE Der
krank machende
Pilz Candida
auris, hier auf
einem Nährbo­
den wachsend,
verbreitet sich
weltweit in
rasantem Tempo.

42 Spektrum der Wissenschaft 6.23


DANIEL PETER, INSTITUT FÜR HYGIENE UND MIKROBIOLOGIE, UNIVERSITÄT WÜRZBURG

ZENTRUM FÜR INFEKTIONSFORSCHUNG (ZINF), UNIVERSITÄT WÜRZBURG


OLIVER KURZAI leitet das Nationale MARTIN VÄTH arbeitet an der Universität
­Referenzzentrum für invasive Pilzinfektionen. Würzburg und ist Nachwuchsgruppenleiter
Zudem ist er Professor für Medizinische in der Max-Planck-Forschungsgruppe für
­Mikrobiologie und Vorstand des Instituts für Systemimmunologie. Er erforscht den Stoff­
Hygiene und Mikrobiologie am Universitäts­ wechsel von Immunzellen und wie dieser die
klinikum Würzburg. Schwerpunktmäßig Abwehr von Pilzerregern steuert. Gemeinsam
befasst er sich mit der Infektionsbiologie von mit Oliver Kurzai gehört Väth zu den Wissen­
humanpathogenen Pilzen und Bakterien. schaftlern des Sonderforschungsbereichs
»FungiNet«, der darauf abzielt, Mechanismen
von Pilzinfektionen aufzuklären.


Ein ansteckender Pilz taucht auf und verursacht eine
tödliche Pandemie; Infizierte verwandeln sich in
Zombies und die Welt geht unter. So jedenfalls der Sie spielen darauf an, dass es Pilze gibt, die Ameisen
Plot der Fernsehserie »The Last of Us«. Ist das bloße befallen und sie gewissermaßen fremdsteuern. Was
Spinnerei oder beruht es auf einem wahren Kern? Wie passiert da?
gefährlich können Pilzinfektionen sein? »Spektrum« Kurzai: Von diesen Pilzen, im Deutschen nennen wir
sprach darüber mit dem Mediziner Oliver Kurzai und dem sie Kernkeulen, leben manche als Insektenparasiten. Ihre
Biochemiker Martin Väth von der Universität Würzburg. Sporen liegen am Waldboden, wo sich Ameisen bewe-
Beide sind Fachleute für Pilzerkrankungen und die damit gen. Wenn die Sporen an einer Ameise kleben bleiben,
verbundenen Immunmechanismen. wächst der Pilz in sie hinein und vermehrt sich in ihr,
auch im Gehirn. Und das führt zu einem veränderten
Herr Kurzai, Herr Väth, in der Fernsehserie »The Last Verhalten. Die Tiere laufen an Pflanzen hoch bis in eine
of Us« verwandelt sich ein Pilz wegen des Klima­wandels bestimmte Höhe, wo die Luftfeuchtigkeit für den Pilz
in einen tödlichen Erreger. Er befällt Menschen und ideal ist. Dort beißen sie sich fest. Der Pilz frisst sie dann
macht sie zu Zombies. Kann das wirklich pas­sieren? von innen auf, wächst und bildet neue Sporen. Die fallen
Oliver Kurzai: Realistisch ist das nicht. Wir brauchen auf den Boden runter, wo sich wieder Ameisen damit
keine Angst zu haben, dass ein Killerpilz auftaucht, bei infizieren.
seinen Opfern komplexe Verhaltensänderungen auslöst
und in kurzer Zeit die Menschheit ausrottet. Andererseits Wie macht der Pilz das?
beruht die Fernsehserie auf biologischen Fakten, die real Kurzai: Gute Frage. Er muss die Ameisen ja nicht nur
sind und hier überspitzt weitergedacht wurden. Es dazu bringen, nach oben zu klettern. Sie müssen das in
stimmt, dass Pilze Menschen infizieren, und es ist richtig, einer bestimmten Region des Waldbodens tun und sich in
dass der Klimawandel großen Einfluss darauf hat. Und wir einer bestimmten Höhe verbeißen, damit der Pilz ideale
kennen Erreger aus dieser Gruppe, die das Verhalten ihrer Wachstumsbedingungen antrifft. Wie das genau funktio-
Wirte auf erstaunliche Weise manipulieren. niert, weiß kein Mensch. Es hat etwas damit zu tun, dass

Spektrum der Wissenschaft 6.23 43


der Pilz in großer Masse im Gehirn wächst und dabei vorher noch nie gesehen haben. Doch meist werden nur
Hirnsubstanz kaputt macht. Zusätzlich produziert er viele einzelne Personen infiziert. Die Pilze, die mehr als 10 000
Chemikalien, mit denen er die Nervenzellen der Ameise invasive Infektionen pro Jahr verursachen, stammen aus
beeinträchtigt. All das führt wohl zu dieser Verhaltens­ einem relativ schmalen Spektrum von fünf bis zehn
änderung. Gattungen.
Väth: Außerdem schützt unser Immunsystem uns sehr
Ist dem Erreger das möglich, weil Insekten ein e ­ infaches gut vor Pilzinfektionen, jedenfalls bei gesunden Men-
Nervensystem haben? schen. Genetische Untersuchungen an Patienten, die
Martin Väth: Man sollte das Nervensystem der Amei- wegen solcher Infektionen dauerhaft behandelt werden
sen nicht unterschätzen. Es ist zwar klein, besteht jedoch müssen, haben gezeigt, dass es ganz bestimmte Immun-
aus komplizierten neuronalen Netzwerken. Und es gibt reaktionen braucht, um Pilze abzuwehren. Dazu gehört
auch Fälle, wo Stoffwechselprodukte von Pilzen komplexe die so genannte Typ-3-Immunantwort, die über T-Helfer-
Wesensveränderungen beim Menschen hervorrufen. Ein 17-Zellen und über neutrophile Granulozyten vermittelt
simples Beispiel dafür ist Alkohol. Oder nehmen Sie die wird. Die darf nicht gestört sein. Bei den meisten Leuten
halluzinogene Substanz LSD. Diese Stoffe manipulieren funktioniert sie aber problemlos.
das menschliche Verhalten auf vielschichtige Weise,
wenn auch nur vorübergehend und nicht so umfassend Also sind Pilzinfektionen eher ein Randthema in der
wie bei den Ameisen. Die biochemische Kommunikation medizinischen Forschung?
zwischen Pilzen und den Zellen ihrer Wirte, einschließlich Kurzai: Momentan leider ja. Wenn wir in die medizini-
menschlicher Neurone, existiert. sche Mikrobiologie schauen, finden wir in Deutschland
exakt einen einzigen Lehrstuhl, der sich mit Pilzen be-
schäftigt. Das ist meiner in Würzburg. Alle anderen
befassen sich mit Parasiten oder Bakterien. Gut ist das
Stoffwechselprodukte von nicht, denn während sich bakterielle Infektionen oft

Pilzen rufen beim Menschen standardisiert behandeln lassen, sind Pilzkrankheiten fast
immer eine Herausforderung – sowohl diagnostisch als
manchmal komplexe auch therapeutisch. Und die Meldezahlen ans Nationale
Referenzzentrum nehmen seit Langem zu. Mittlerweile
Wesensveränderungen hervor beraten wir Kliniker in Deutschland in deutlich über 1000
Fällen pro Jahr. Darum können wir dankbar sein für eine
Fernseh­serie wie »The Last of Us«, die ein Licht auf diese
manchmal vergessene Erregergruppe wirft.
Machen Pilze das gezielt?
Kurzai: Sie haben einen konkreten Nutzen davon. Aber Das heißt, die Zahl der Pilzinfektionen steigt?
dass sie sich dessen bewusst sind, davon kann man nicht Väth: Ich denke schon. Die Covid-19-Pandemie hat uns
ausgehen. Und was den Komplexitätsgrad der Wirte vor Augen geführt, wie bedrohlich Infektionskrankheiten
betrifft: Es gibt einen Parasiten – allerdings keinen Pilz –, sind. Das schließt nicht nur virale, sondern alle Erreger
der Mäuse und andere kleine Nager befällt und ihnen die ein, einschließlich der Pilze. Strukturierte Forschungs­
Angst vor Raubtieren nimmt. Sie werden dann häufiger programme wie das FungiNet-Konsortium, in dem Oliver
gefressen, wodurch sich der Parasit besser verbreitet. Das Kurzai und ich mitarbeiten, haben das Thema stärker ins
ist eine umfassende Verhaltensänderung, und zwar bei Bewusstsein gerückt.
Tieren, die definitiv komplexer aufgebaut sind als Amei- Kurzai: Die Weltgesundheitsorganisation hat 2023
sen. Wenn das mit Mäusehirnen funktioniert, fallen einem erstmals eine Liste krank machender Pilze veröffentlicht,
nicht mehr viele Gründe ein, warum es mit menschlichen welche ihrer Einschätzung nach vorrangig erforscht
Gehirnen nicht gehen sollte. Allerdings kennen wir keinen werden sollten. Das hat sicher zusätzlich geholfen, diese
einzigen Fall, der auch nur annähernd so extrem wäre wie Erregergruppe sichtbarer zu machen.
in »The Last of Us« dargestellt.
Welche Pilze werden uns denn besonders gefährlich?
Weltweit gibt es mehrere Millionen Pilzarten. Nur etwa Kurzai: Nach Einschätzung der WHO sind das vier
300 davon verursachen Krankheiten beim Menschen. Arten. Dazu gehören die Hefepilze Candida albicans, eine
Tun Pilze sich schwer damit, uns zu infizieren? altbekannte Spezies, und Candida auris, ein ganz neuer
Kurzai: Die meisten kommen mit hohen Temperaturen Erreger, der sich quasi erst seit den 2000er Jahren ver-
nicht gut zurecht. 37 Grad ist für viele von ihnen keine breitet und von dem keiner so richtig weiß, wo er her-
geeignete Wachstumstemperatur mehr, weshalb sie im kommt. Candida auris kann alle möglichen Organe befal-
menschlichen Körper nicht gedeihen und uns folglich len und tödliche Erkrankungen auslösen. Er verursacht ak-
nicht infizieren. Am Nationalen Referenzzentrum für tuell tatsächlich eine Pandemie, die aber viel langsamer
Invasive Pilzinfektionen bekommen wir es ungefähr voranschreitet als Viruspandemien wie Covid-19. Dann
einmal im Monat mit einem Pilzerreger zu tun, den wir gibt es Cryptococcus neoformans, ebenfalls einen Hefe-

44 Spektrum der Wissenschaft 6.23


pilz, der das Zentralnervensystem infiziert und schwere Kurzai: Die zunehmende Ausbreitung dieses Pilzes ist
Entzündungen der Hirnhäute und das Hirngewebes nach weltweit zu beobachten. Aktuelle Daten aus Europa
sich zieht, vor allem bei HIV-Patienten. Er kommt in Euro- besagen, dass der Erreger in einigen Regionen Spaniens
pa nicht so oft vor, macht jedoch in Afrika ganz erhebliche bereits heimisch geworden ist. Wir müssen davon aus­
Probleme und ist global betrachtet wohl für die meisten gehen, dass es über kurz oder lang auch in Deutschland
invasiven Pilzinfektionen verantwortlich. Und schließlich zu erhöhten Fallzahlen kommen wird. Schon jetzt sehen
Aspergillus fumigatus, einen weltweit auftretenden wir einen Anstieg in unseren Daten, allerdings noch auf
Schimmelpilz, der vor allem schwere Lungeninfektionen sehr niedrigem Niveau. Insgesamt sind seit 2015 etwa
verursacht. 40 Fälle dokumentiert, in denen Candida auris Menschen
befallen hat.
Candida auris besitzt aus medizinischer Sicht sehr
ungünstige Eigenschaften. Er ist häufig unempfindlich Worauf führen Sie die galoppierende Verbreitung dieses
gegenüber Medikamenten, trotzt vielen Desinfektions­ Pilzes in den USA zurück? Wird der Erreger gefährlicher,
mitteln und gedeiht auf kalten, glatten Oberflächen. lässt er sich jetzt besser nachweisen, oder hängt das mit
Kurzai: Diese Merkmale sind typisch für eine ganze dem dortigen Gesundheitssystem zusammen?
Gruppe von Pilzen, zu der außer Candida auris noch Kurzai: Bei einem solch starken Anstieg spielen immer
einige verwandte Arten zählen. Das Problem an Candida mehrere Faktoren eine Rolle. Generell müssen wir bei der
auris ist, dass er Menschen infiziert und sich von Person Ausbreitung von Infektionskrankheiten von einem expo-
zu Person verbreitet. Aus irgendwelchen Gründen, die wir nentiellen Geschehen ausgehen. Eine Entwicklung wie
noch nicht ganz verstehen, machen das seine nahen jetzt in USA kommt deshalb nicht völlig unerwartet. Für
Verwandten nicht. Er verursacht deshalb immer wieder Deutschland muss das Ziel lauten, die Verbreitung des
Krankenhausausbrüche, die schwer zu kontrollieren sind Erregers so weit wie möglich zu verzögern. Dafür ist eine
und manchmal noch Monate später neu aufflammen. Da gute Information der diagnostischen Labors notwendig,
ist es schon zu dramatischen Situationen gekommen, was hier zu Lande gegeben ist. Aus meiner Sicht wäre
zum Glück bisher nicht in Deutschland. Aber in Großbri- auch eine gesetzliche Labormeldepflicht jetzt angezeigt.
tannien, Spanien und – teils völlig unkontrolliert – in Wir haben dem Robert Koch-Institut empfohlen, sie
Ländern wie Indien oder Südafrika. einzuführen; momentan ist keine einzige Pilzinfektion
meldepflichtig. Und systematische Genomuntersuchun-
Laut US-Gesundheitsministerium breitet sich Candida gen, wie wir sie bei Sars-CoV-2 hatten, sind bei Pilzen
auris in den USA rasant aus. Die Fallzahlen steigen derzeit völlig utopisch. Besorgnis erregend an den Daten
immer schneller, von 2020 auf 2021 kam es zu einer aus den USA ist, dass die Kollegen dort auch eine Zunah-
Verdopplung. Könnte uns das auch in Deutschland me der Resistenzentwicklung bei diesem neuen Erreger
bevorstehen? beobachten. Der Pilz wird also nicht nur häufiger, sondern
spricht zudem schlechter auf die Behandlung an. Aber in
Deutschland müssen sich die Patienten momentan keine
LICHTFLECKE Dieses mit Tusche kontrastierte Sorgen machen, dass sie sich in der Klinik mit Candida
Mikroskopbild zeigt Cryptococcus-Pilzzellen als auris infizieren könnten.
helle Höfe, da die Tusche in sie nicht eindringt.
NATIONALES REFERENZZENTRUM FÜR INVASIVE PILZINFEKTIONEN (NRZMYK)

Spektrum der Wissenschaft 6.23 45


Wer ist von Pilzinfektionen in erster Linie gefährdet?
Väth: Die am stärksten bedrohte Gruppe sind Men-
schen mit eingeschränkter Immunfunktion. Dazu zählen
Personen, die Mutationen in bestimmten Genen tragen
und darum keine funktionierende Körperabwehr haben.
Doch letztlich umfasst das alle Patienten, bei denen es im
Zuge von Krankheit oder Therapie zu einer Dämpfung des
Immunsystems kommt.

Haben Sie Beispiele?


Väth: Manche Tumorerkrankungen beeinträchtigen die
Körperabwehr, etwa Leukämien und Lymphome. HIV-­
Infektionen tun das ebenfalls. Frühgeborene haben noch
kein voll funktionsfähiges Immunsystem, ältere Men-
schen verlieren ihre schützende Immunität allmählich.
Mangelernährung kann gleichfalls zu solchen Funktions-
verlusten führen – ein Problem, das wir zum Glück nicht
so sehr in Europa haben, aber in anderen Weltregionen.
Alles, was die Immunabwehr stört, ist gut für pathogene
Erreger.

Wenn Pilzerkrankungen um sich greifen, etwa bei einem


Krankenhausausbruch, sterben oft sehr viele Infizierte.
Warum?

NATIONALES REFERENZZENTRUM FÜR INVASIVE PILZINFEKTIONEN (NRZMYK)


Kurzai: Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen
haben wir es hier oft mit Patienten zu tun, die schon vor AUSSAAT Fruchtkörper von Aspergillus fumigatus,
der Pilzinfektion ein erhöhtes Sterblichkeitsrisiko tragen, ­betrachtet durch ein Mikroskop. Es sind zahlreiche
weil sie schwer krank sind. Bei Virusinfekten der Atem­ Sporen zu sehen, mit denen sich der Pilz verbreitet.
wege sieht das anders aus: Sie betreffen im Regelfall
Menschen, die vorher gesund gewesen sind. Schon
deshalb unterscheiden sich die Überlebenschancen Immunsystem und alle möglichen weiteren Zellen stören,
beider Gruppen. Zum anderen sind Pilzinfektionen schwer sondern ganz spezifische Mechanismen im Tumor aus-
zu erkennen. Sie zählen im Krankenhaus zu den am schalten, die nur dort vorkommen. Oder man versucht die
häufigsten übersehenen Komplikationen. Unsere diagnos- Immunabwehr zu stärken, um sie als Waffe gegen den
tischen Tests hierfür sind nicht besonders gut. Tumor einzusetzen und gleichzeitig den Infektionsschutz
aufrechtzuerhalten.
Spielen auch die Behandlungsmöglichkeiten eine Rolle? Kurzai: Wir haben jedoch Bereiche in der Medizin, wo
Kurzai: In der Tat sind unsere Optionen hier einge- das Problem tatsächlich existiert. Die moderne Intensiv-
schränkt. Pilzzellen sind menschlichen Zellen in gewissen medizin etwa erlaubt es, Patienten am Leben zu erhalten,
Punkten recht ähnlich. Deswegen haben wir viel weniger die früher gestorben wären. Ein gutes Beispiel ist die
Medikamente gegen sie als beispielsweise gegen Bakteri- Covid-19-Pandemie: Manche Patienten mit schweren
en. Und die Medikamente, über die wir verfügen, verursa- Krankheitsverläufen mussten wochenlang invasiv beat-
chen teils schwere Nebenwirkungen oder Wechselwir- met werden, was ihre Anfälligkeit für Pilzinfektionen
kungen mit diversen anderen Arzneimitteln. Das führt zu deutlich erhöhte. Früher hätten sie ohne Intensivbehand-
Problemen. lung wohl nicht überlebt; heute kann man ihnen helfen,
muss dafür aber solche Ansteckungen riskieren.
Krebstherapien gehen oft mit einer Schwächung des Im­
munsystems einher, ebenso Organtransplantationen. Arzneistoffe gegen Pilze, so genannte Antimykotika,
Erhöhen heutige medizinische Behandlungen das Risiko verlieren zunehmend an Wirkung. Wieso?
von Pilzbefall? Kurzai: Krankheitserreger entwickeln gegen jeden
Väth: Jede Medikation, die das Abwehrsystem unter- Arzneistoff irgendwann Resistenzen. Pilze tun das meist
drückt, macht uns anfälliger für Infektionen, ob mit Pilzen, langsamer als Bakterien, weil sie ein komplexeres Genom
Viren oder Bakterien. Früher musste man bei Krebs­ haben. Allerdings gibt es weniger Wirkstoffe gegen Pilze
erkrankungen sehr unspezifisch wirkende Chemothera- als gegen Bakterien, und das bedeutet, wenn ein Erreger
peutika einsetzen, weil man keine anderen Optionen wie Candida auris gegen zwei Substanzklassen unemp-
hatte. Die treffen alle teilungsaktiven Zellen des Körpers, findlich wird, haben wir bereits ein echtes Problem. Denn
einschließlich der Abwehrzellen. Heute versucht man, es existieren nur drei bis vier Substanzklassen von Anti-
andere Wege zu gehen. Man will eben nicht mehr das mykotika – deutlich weniger als bei den Antibiotika.

46 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Also ist die Situation unterm Strich ähnlich schlimm wie Klimawandel führt zu Ernährungs- und Versorgungs­
bei den Antibiotika? krisen, die Infektionskrankheiten den Weg ebnen – vor
Kurzai: So würde ich das nicht sagen. Bei den Bakteri- allem dort, wo die Versorgungslage ohnehin angespannt
en ist es dramatischer – aber wir sollten verhindern, dass ist. Zudem verändert er Biotope und damit die Verbrei-
wir bei den Pilzen ein ähnlich großes Problem bekommen. tungsgebiete von Erregern.
Deswegen ist es sinnvoll, schon jetzt nach alternativen Kurzai: In Amerika kursiert eine Pilzerkrankung namens
Antimykotika zu suchen. Wir rechnen damit, dass in den Talfieber. Der Erreger kommt in staubigen, trockenen
nächsten Jahren einige neue Wirkstoffe auf den Markt Böden vor. Wird er eingeatmet, verursacht er häufig
kommen, die sich zurzeit in der klinischen Testphase Lungeninfektionen, selbst bei gesunden Menschen. Die
befinden. Trockengebiete, in denen der aufgewirbelte Staub diese
Keime enthält, sind in den letzten Jahren größer gewor-
Antibiotika-Resistenzen werden maßgeblich durch die den. Denn wegen des Klimawandels fällt dort weniger
Massentierhaltung vorangetrieben. Gilt das Gleiche für Niederschlag. Früher galt der Pilz als endemischer Erre-
Antimykotika-Resistenzen und die intensive Landwirt­ ger, der nur in bestimmten Regionen vorkommt. Mittler-
schaft? Schließlich werden dort massenhaft Fungizide weile schlagen manche Fachleute vor, man solle den
eingesetzt. Begriff »endemisch« für ihn nicht mehr verwenden.
Väth: Die bakteriellen Erreger in der Tierzucht sind
denen, die uns Menschen infizieren, sehr ähnlich. Auch Verbreiten sich Pilzerreger mit dem weltweiten
die Resistenzmechanismen ähneln sich. Pilze hingegen, ­Personen- und Güterverkehr?
die man im Pflanzenanbau bekämpft, unterscheiden sich Kurzai: Das kommt vor. Fusarium musae zum Beispiel
meist stark von solchen, die uns krank machen. Eher ist ein Pilz, der typischerweise Bananen befällt. Irgend-
führt der Klimawandel dazu, dass Pilzerreger, die Pflanzen wann hat er angefangen, Menschen zu infizieren – zu-
befallen, sich stärker verbreiten und resistenter werden. nächst nur selten und lediglich in der Nähe von Bananen-
Durch die klimatischen Veränderungen geraten Acker- plantagen. Seit einigen Jahren finden wir ihn regel­mäßig
pflanzen unter Druck und werden anfälliger für Infektio- in Europa, wo er jährlich mehrere Infektionsfälle ver­
nen, was dann einen vermehrten Einsatz von Fungiziden ursacht. Wahrscheinlich ist er mit den Bananen hierher­
erfordert. gekommen. Bei Pilzen ist das aber nicht so dramatisch
Kurzai: Es stimmt: Fungizide, die im Feld eingesetzt wie etwa bei der Influenza. Die breitet sich mit dem
werden, im Weinbau oder im Obstbau, richten sich Flugverkehr binnen Tagen um den ganzen Planeten aus
gegen Pilze, die aus medizinischer Sicht eher uninteres- und verursacht viel höhere Fallzahlen.
sant sind. Allerdings erwischt man damit unbeabsichtigt
auch bodenbewohnende Pilze wie Aspergillus fumigatus,
der Lungeninfektionen bei immungeschwächten
­Patienten verursacht. Wir gehen deshalb davon aus, dass Landwirtschaftliche Praktiken
die A
­ ntimykotika-Resistenzen dieses Erregers teils auf
Fungizideinsatz in der Landwirtschaft zurückgehen. Wir fördern die Resistenzbildung bei
haben eine große Studie dazu durchgeführt mit dem
Ergebnis: Wo viele Fungizide zum Einsatz kommen und
krank machenden Pilzen
zugleich günstige Wachstumsbedingungen für Pilze
herrschen, nimmt auch die Resistenz zu.
Wie lassen sich Pilzerkrankungen des Menschen noch
Können Sie ein Beispiel hierfür nennen? behandeln, außer mit Antimykotika?
Kurzai: Blumenzüchter tauchen Tulpenzwiebeln in Väth: Große Hoffnungen liegen auf der Immunthera-
Anti-Pilz-Mittel, damit die Zwiebeln im Verkauf nicht pie. Im Sonderforschungsbereich FungiNet arbeiten
schimmeln. Die Tulpen, die daraus sprießen, sind voll mit einige Gruppen an neuen Verfahren, Pilzinfektionen mit
diesen Wirkstoffen. Wenn sie verwelken, werden sie gentechnisch veränderten Immunzellen zu bekämpfen.
weggeworfen und landen im Komposthaufen. Darin Ein Ansatz dabei lautet, T-Lymphozyten des Immunsys-
herrschen oft über 40 Grad, was vielen Pilzen zu warm ist, tems gezielt gegen Pilzerreger scharfzuschalten und in
doch Aspergillus-Pilze gedeihen unter diesen Bedingun- den Organismus infizierter Personen einzubringen, damit
gen noch. Wenn man dort sucht, findet man oft resistente sie dort eine starke Abwehrreaktion entfachen. Pilze sind
Stämme. Und das, obwohl sich die Anti-Pilz-Behandlung körperfremd und somit im Prinzip ein gutes Ziel für
gar nicht gegen Aspergillus gerichtet hat, sondern gegen Immunzellen. Wenn man das Immunsystem auf sie
ganz andere Spezies. aufmerksam macht, etwa mit Hilfe künstlich veränderter
T-Lymphozyten, greift es die Erreger an und eliminiert
Herr Väth, Sie haben den Klimawandel erwähnt. sie. Das ist noch kein klinisch erprobtes Konzept, könnte
­Begünstigt er Pilzerkrankungen des Menschen? jedoch bald Anwendung finden – vor allem bei Hochrisiko­
Väth: Ja, aber nicht unbedingt, weil es wärmer wird. patienten, bei denen man nicht viele andere medizinische
Sondern weil sich die Situation insgesamt verschärft. Der Optionen hat.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 47


In »The Last of Us« ist ein Mädchen zu sehen, das Im­ relevant, wie Studien zeigen. Verändert sich das Spekt-
munität gegenüber dem Pilz besitzt und den ­Menschen rum der Pilzarten, die uns besiedeln, kann uns das ver-
damit Hoffnung auf ein Gegenmittel macht. Ein realisti­ mutlich krank machen – ähnlich wie bei den Bakterien
sches Szenario? des Mikrobioms. Vieles hierbei ist aber noch unbekannt.
Väth: Das Mädchen wird infiziert, entwickelt sich aber
nicht zum Zombie, sondern erholt sich wieder. Wegen Können die Pilze, die zu unserer Mikroflora gehören,
dieser Resistenz soll sie in eine Forschungseinrichtung gefährlich werden, wenn das Immunsystem sie nicht
gebracht werden, um aus ihrem Blut einen möglichen mehr kontrolliert?
Impfstoff zu gewinnen. In einer Szene versucht sie sogar Väth: Ja. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Hefepilze
selbst, eine Bluttransfusion an einem infizierten Jungen aus der Gattung Candida. Man bezeichnet sie als Patho­
vorzunehmen, um ihn zu heilen. Doch der Junge wird bionten. Sie sind Teil des Mikrobioms und bereiten gesun-
trotzdem zum Zombie. Die Story ist schon ein bisschen den Personen meist keine Probleme. Doch wenn die
absurd – vor allem, wie die Transfusion erfolgt, nämlich Bedingungen günstig werden für einen solchen Pilz, etwa
mit einem Schnitt in der Hand auf die Wunde gepresst. durch eine immununterdrückende Therapie, kann er sich
So funktioniert das natürlich nicht. vermehren, überhandnehmen und Komplikationen ver­
ursachen. Unsere Mikroflora sollte aus einem breiten, gut
ausbalancierten Artenspektrum zusammengesetzt sein –
nicht nur, um Krankheiten zu verhindern, sondern auch,
Ausgerechnet Personen, die von um unser Immunsystem zu programmieren. Ohne das

Pilzerregern besonders gefährdet Zusammenleben mit diversen Mikroorganismen droht


unsere Körperabwehr orientierungslos zu werden und sich
sind, lassen sich schlecht impfen die falschen Ziele zu suchen, was Autoimmunerkrankun-
gen und Entzündungen auslösen kann.

Wie können wir uns vor Pilzinfektionen schützen?


Aber Impfstoffe gegen Pilzerkrankungen, die gibt es? Väth: Zunächst einmal, indem wir offensichtliche
Väth: Soweit mir bekannt, noch nicht. Aus verschiede- Risikofaktoren minimieren. Rauchen ist sicher nicht
nen Gründen funktionieren Vakzine gegen Pilze nicht so optimal. Auch Übergewicht ist von Nachteil, weil es
gut wie gegen Viren. Doch man kann sich schon vorstel- häufig mit Durchblutungsstörungen einhergeht, die das
len, dass es möglich ist, Menschen einen passiven Im- Erkrankungsrisiko erhöhen. Gewisse Hygienestandards,
munschutz zu verleihen mit Antikörpern, die Pilzerreger eine gesunde Ernährung und körperliche Bewegung
neutralisieren. Es spricht theoretisch auch nichts dage- beugen Pilzinfektionen vor.
gen, mittels Biotechnologie gezielt Antikörper zu erzeu- Kurzai: Ich möchte hier die Impfung nennen, und zwar
gen, die sich gegen Strukturen auf Pilzzellen richten. nicht die gegen Pilze, sondern gegen Viruserkrankungen
Damit lassen sich Infizierte dann vielleicht erfolgreich der Atemwege, gegen Grippe und Covid-19. Sowohl
behandeln. Grippe- als auch Covidpatienten, die einen schweren
Krankheitsverlauf haben und auf Intensivstationen behan-
Könnten Impfstoffe einmal wichtig werden? delt werden müssen, tragen ein erhebliches Risiko, Pilz­
Kurzai: Das ist ein schwieriges Feld. Ausgerechnet infektionen quasi obendrauf zu kriegen. Deshalb war die
Personen mit beeinträchtigter Körperabwehr, die von Covid-19-Pandemie von einer Pilzepidemie überlagert,
Pilzinfektionen besonders gefährdet sind, lassen sich verursacht von Candida- und Aspergillus-Erregern, die auf
schlecht immunisieren. Das haben wir bei Covid gesehen, immungeschwächte Patienten trafen. Das bedeutet, wenn
da wirkten die Impfungen nicht richtig, wenn die Immun- man sich per Impfung vor schweren Virusinfektionen
funktion stark eingeschränkt war. Gegen das Talfieber schützt, dann schützt man sich in gewisser Weise auch
sind Vakzine in der Erprobung, hauptsächlich solche für vor Pilzerkrankungen. 
Tiere, denn der Erreger befällt unter anderem Hunde. Es
könnte sein, dass man irgendwann auch Risikopatienten Die Fragen stellte Frank Schubert, Redakteur bei »Spektrum«.
damit behandelt. Darüber hinaus existieren einige Impf-
stoffe gegen pilzbedingte Hautinfektionen bei Tieren.
QUELLEN
Pilze leben täglich auf und in uns – als Teil unserer Hochrein, S. M. et al.: The glucose transporter GLUT3 controls
Mikroflora. In welchen Mengen? T helper 17 cell responses through glycolytic-epigenetic repro-
gramming. Cell Metabolism 34, 2022
Kurzai: Anteilsmäßig stellen sie nur einen kleinen Teil
der Mikroflora, grob gesagt weniger als ein Prozent. Doch Seif, M. et al.: CAR T cells targeting Aspergillus fumigatus are
sie haben eine viel größere Oberfläche als Bakterien und effective at treating invasive pulmonary aspergillosis in preclini-
aktivieren manche Immunmechanismen deutlich stärker cal models. Science Translational Medicine 14, 2022
als diese. Auch wenn Pilze lediglich einen kleinen Teil des Von Lilienfeld-Toal, M. et al.: Invasive fungal infection. Deut-
menschlichen Mikrobioms ausmachen, sind sie trotzdem sches Ärzteblatt International 116, 2019

48 Spektrum der Wissenschaft 6.23


IM BILD

Hautkrebs weltweit
Manche Länder trifft es viel stärker als andere.
Text: Clara Moskowitz, Grafik: MSJONESNYC


Hautkrebs gehört zu den häufigsten Tumorleiden. Die Zahl der Betroffenen nimmt seit Jahren zu – unter ande­
rem, weil ältere Menschen vielerorts einen wachsenden Anteil der Bevölkerung stellen und das Krebsrisiko mit
den Lebensjahren steigt. Ob man an Hautkrebs erkrankt oder nicht, hängt vor allem davon ab, wie viel ultra­
violette Strahlung der Sonne man lebenslang abbekommt. Das Risiko kann von Land zu Land stark differieren, da
Einwohner verschiedener Regionen oft eine unterschiedlich ausgeprägte Hautpigmentierung besitzen, die vor ent­
sprechenden Tumoren schützt, und auch die Menge des direkt einfallenden Sonnenlichts variiert. »Bösartige Tumoren
der Haut treten bei hellhäutigen Menschen fast 30-mal häufiger auf als bei dunkelhäutigen«, sagt Ahmedin Jemal,
Krebsepidemiologe der American Cancer Society. »Und selbst innerhalb der Hellhäutigen gibt es Unterschiede: Jene
mit besonders blassem Teint, blauen Augen und blonden Haaren tragen ein erhöhtes Risiko.«
Neue Behandlungsmethoden einschließlich der Krebsimmuntherapie haben dazu beigetragen, die Überlebens­raten
zu erhöhen. Wer heute in Deutschland ein malignes Melanom (»schwarzen Hautkrebs«) diagnostiziert bekommt, kann
meist mit einer günstigen Prognose rechnen: Die Wahrscheinlichkeit, fünf Jahre später noch zu leben, beträgt etwa
93 Prozent, verglichen mit einer durchschnittlichen Person gleichen Alters und Geschlechts, die keinen Krebs hat.

Malignes Melanom der Haut In Neuseeland fällt die solare UV-Strah­


lung deutlich stärker aus als in entspre­
MSJONESNYC, NACH: GLOBOCAN 2020, GLOBAL CANCER OBSERVATORY (GCO); INTERNATIONAL AGENCY FOR RESEARCH ON CANCER (IARC) 2022 (INZIDENZ- UND MORTALITÄTSRATEN)

chenden Breitengraden der nördlichen


Neuerkrankungs- und Sterberaten je nach Land (unter Erdhalbkugel. Denn wegen der Eigen­
schaften der Erdumlaufbahn befindet
Berücksichtigung der jeweiligen Alterszusammensetzung, sich die südliche Hemisphäre während
um die Länder vergleichbar zu machen) der dortigen Sommermonate näher an
der Sonne als die nördliche Hemisphä­
Malignes Melanom der Haut: Neuerkrankungs- und Sterberaten je nach Land re während des hiesigen Sommers.
(unter Berücksichtigung der jeweiligen Alterszusammensetzung, um die Länder vergleichbar zu machen)
Namibier sind statistisch anfälliger für
/ SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2023; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

5 Hautkrebs als andere Afrikaner – unter


Afrika anderem, weil Namibia den weltweit höchs­
ten Anteil an Albinos hat. Albinismus, der Neuseeland
Asien
Sterbefälle pro Jahr auf je 100 000 Einwohner

durch einen Mangel an Haut-, Haar- und


Europa Augenpigmenten gekennzeichnet ist, geht
4 Lateinamerika mit einem erhöhten Hautkrebsrisiko einher.
Nordamerika
Ozeanien

Montenegro Norwegen
3
Slowakei
Slowenien Dänemark Australien
Serbien Kroatien
Polen Schweden Niederlande
2 Österreich Irland
Namibia

Samoa Israel Kanada Deutschland


Uruguay
1 Skandinavische Länder sind
USA relativ stark von Hautkrebs­
Französisch-Polynesien erkrankungen betroffen. Das
liegt einerseits am meist hellen
Martinique Neukaledonien Hautton ihrer Einwohner und
0 andererseits daran, dass
0 5 10 15 20 25 Skandinavier
30 gern Urlaub in35
Mittelmeerländern machen.
Neuerkrankungen pro Jahr auf je 100 000 Einwohner

Spektrum der Wissenschaft 6.23 49


INTERVIEW

»Eine permanente
Extremsituation«
Nicht nur an Land spielt das Wetter immer öfter verrückt: In den Ozeanen
häufen sich Ereignisse wie Warmwasserblasen oder Säureextreme.
Treten mehrere solcher Bedingungen gleichzeitig auf, geraten Meerestiere
besonders unter Druck. Der Klimawissenschaftler Thomas Frölicher ist
einer der Ersten, die das noch kaum untersuchte Phänomen erforschen.
 spektrum.de/artikel/2128554

Spektrum: Herr Frölicher, wir wollten ursprünglich über peratur. Die steigende Lufttemperatur auf Grund der men-
Hitzewellen im Ozean sprechen, aber Sie sagten mir, so schengemachten Treibhausgasemissionen führt dazu, dass
genannte »compound events« seien viel spannender. sich das Meer von oben nach unten erwärmt. Tatsächlich
Worum handelt es sich dabei? nimmt der Ozean etwa 90 Prozent der Wärme auf, die im
Thomas Frölicher: Ich forsche schon eine Weile an Erdsystem durch den Anstieg der Treibhausgase gespei-
Warmwasserextremen, also an marinen Hitzewellen. chert wird.
Unsere aktuellsten Forschungsergebnisse haben gezeigt, Wegen der zusätzlichen CO2-Emissionen er­höht sich die
dass diese marinen Hitzewellen meist nicht allein auf­ atmosphärische CO2-Konzentration kontinuierlich. Der
treten, sondern oft zusammen mit anderen Extrem­ Anstieg wäre noch viel größer, als er eigent­lich ist, wenn
ereignissen. Man spricht dann von kombinierten Extrem­ nicht das Land und der Ozean jeweils 20 bis 30 Prozent der
ereignissen, so genannten »compound events«. Das ist derzeitigen Emissionen aufnähmen. Die restlichen 40 bis
relativ neu. 50 Prozent bleiben in der Atmosphäre, weshalb der CO2-
Gehalt dort steigt. Wird Kohlenstoff­dioxid im Ozean gelöst,
Wie sind Sie darauf gestoßen, dass diese kombinierten kommt es zu chemischen Reak­tionen, bei denen Bikarbo-
Ereignisse wichtig sind? nat entsteht und Protonen freigesetzt werden. Der pH-
Im Nordostpazifik ereignete sich zwischen 2013 und 2015 Wert sinkt. Die Freisetzung von Protonen führt also zur
eine riesige Warmwasserblase – der »Blob«. Seine Aus- Ozeanversauerung, was eine Bedro­hung für Organismen
wirkungen waren verheerend, da er unter anderem schäd- darstellt, die Schalen aus Kalk bilden.
liche Algenblüten und Massensterben von gewissen Tier­-
arten verursachte. Die extrem hohe Wassertem­peratur Die Kalkschalen lösen sich im sauren Wasser auf, richtig?
war durch Satellitenmessungen bekannt. Mit Hilfe eines Wenn man eine Muschelschale in ein Glas Essig legt, löst
hochaufgelösten Ozeanmodells haben wir untersucht, sich die Muschel allmählich auf. Denn der Essig hat einen
was während solch einer Warmwasserblase mit anderen niedrigen pH-Wert, und das schadet den Kalkschalen.
Stressfaktoren passiert. Dabei stellten wir fest, dass die Einen ähnlichen Effekt findet man im Ozean: Steigt der
beobachteten Auswirkungen – darunter gestrandete tote Säuregehalt über einen gewissen Schwellenwert, dann
Fische und Algenblüten – möglicher­weise nicht nur eine führt das bei Kalkschalen bildenden Organismen und
Folge von warmem Wasser waren, sondern eine Kon­ Korallen zu Problemen. Das ist der zweite Stressfaktor.
sequenz verschiedener Stressfaktoren. Und so haben wir
unseren Fokus auf compound events gelegt. Und drittens?
Drittens verliert der Ozean auf Grund der globalen Erwär-
Von welchen Stressfaktoren sprechen wir? mung Sauerstoff. Das hat verschiedene Gründe: Erstens ist
Einer der Faktoren, denen marine Organismen oft nicht Sauerstoff in wärmerem Wasser weniger löslich, es ge-
gewachsen sind, ist die starke Erhöhung der Wassertem- langt demnach weniger davon aus der Atmosphäre in die

50 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Nach Ihren Erkenntnissen treten solche Extreme jedoch
nicht zufällig gehäuft gemeinsam auf, sondern sie hän­
gen zusammen …
Weil die Extremereignisse in allen drei Stressfaktoren
häufiger werden, steigt auch die Wahrscheinlichkeit stark,
dass sie räumlich und zeitlich zusammenfallen. Wir konn-
ten zeigen, dass Säureextreme und marine Hitzewellen
beispielsweise in den Subtropen häufiger als zufällig
gekoppelt auftreten, während das im tropischen Pazifik
und im Südpolarmeer seltener der Fall ist als erwartet.

MIT FRDL. GEN. VON THOMAS FRÖLICHER


Haben Sie herausgefunden, warum?
Mit höherer Temperatur steigt der Säuregehalt des Oze-
ans. Das ist chemisch bedingt. In den subtropischen
Ozeanen ist das der Hauptgrund dafür, dass Hitzewellen
und Säureextreme häufig gemeinsam auftreten. Wenn der
Temperaturanstieg aber noch andere Effekte hervorruft,
wie etwa eine geringere Durchmischung von relativ sau-
THOMAS FRÖLICHER studierte Umweltnatur­ rem Tiefenwasser mit Oberflächenwasser, kann eine
wissenschaften an der ETH Zürich und promovierte Hitzewelle ebenso den Säuregehalt reduzieren und somit
2009 an der Universität Bern im Fach Physik. Nach die Häufigkeit von compound events herabsetzen, wie im
Forschungsaufenthalten an der Princeton Uni­- Südpolarmeer oder im tropischen Pazifik. Um die relative
ver­sity (USA) und der ETH Zürich ist er seit 2017 Häufigkeit von kombinierten Extremereignissen zu bestim-
Assistenzprofessor an der Universität Bern, wo er men, ist es daher entscheidend zu verstehen, wie sich
die Forschungsgruppe Ozeanmodellierung leitet. Hitzewellen auf die Zirkulation, Biologie und Chemie der
Frölicher war einer der Leitautoren des IPCC- zu untersuchenden Ozeanregion auswirken.
Sonderberichts zu Ozean und Kryosphäre und ist
Mitautor im fünften und sechsten Sachstands­ Ihren Berechnungen zufolge herrschen heute global
bericht des IPCC. gesehen an zwölf Tagen im Jahr kombinierte Säure- und
Warmwasserextreme. Für eine um zwei Grad wärmere
Welt kommen Sie auf 265 Tage …
Ja, wir haben mit Modellrechnungen gezeigt, dass als
Meere. Zweitens wird der Ozean durch die Erwärmung an Folge des Klimawandels und der anhaltenden CO2-Emis­
der Oberfläche stärker stratifiziert, also geschichtet. Das sionen die kombinierten Säureextreme und Hitzewellen in
bedeutet, dass die Dichteunterschiede zwischen dem
Oberflächen- und Tiefenwasser zunehmen. Dadurch
werden die Wassermassen weniger stark umgewälzt.
Vom sauerstoffreichen Oberflächenwasser gelangt des-
halb weniger in die Tiefe – wo in der Folge der Sauerstoff SERIE OZEANE
fehlt, den die dort lebenden Organismen zum Leben
TEIL 1: MÄRZ 2023
brauchen.
Durch diese zwei wichtigen Prozesse hat der Ozean in Heilkraft aus dem Meer
den letzten 40 bis 50 Jahren etwa ein bis drei Prozent Stephanie Stone
seines Sauerstoffgehalts verloren. Der Verlust hat ins­ TEIL 2: APRIL 2023
besondere auf die Fische einen großen Einfluss, aber Der neue Klang der Ozeane
auch auf andere Organismen, die dann teilweise zu wenig Tim Kalvelage
Sauerstoff haben und unter Stress geraten können.
TEIL 3: MAI 2023

Wir haben also Hitzewellen, Versauerung und Sauer­ Das Geheimnis des Meeresleuchtens
stoffmangel. Werden die einzelnen Extreme für sich Michelle Nijhuis
genommen häufiger? Verborgene Wanderungen
Ja. Die Anzahl der marinen Hitzewellen hat sich seit Katherine Harmon Courage
(spektrum.de/artikel/2117967)
Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1982 etwa
verdoppelt. Versauerungsextreme wiederum nehmen so  TEIL 4: JUNI 2023
stark zu, dass heute im Vergleich zur vorindustriellen Zeit »Eine permanente Extremsituation«
quasi eine permanente Extremsituation herrscht. Die Interview mit Thomas Frölicher
Sauerstoffextreme schließlich haben sich über die letzten
150 Jahre gemäß Modellstudien etwa verfünffacht.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 51


der Zukunft stark zunehmen werden. Bei einer globalen wir zeitlich hochaufgelöste Satellitendaten, und erst jetzt
Erwärmung von zwei Grad Celsius im Vergleich zu vor­ kann man über diese Extremereignisse wirklich etwas
industriellen Bedingungen werden diese kombinierten sagen.
Extremereignisse global gesehen um das 22-Fache zu- Die Satelliten messen die Temperatur an der Oberfläche
nehmen. der Ozeane, und seit etwa 20 Jahren bestimmen sie außer-
dem die Chlorophyllkonzentration. Für die Säureextreme
Spricht man denn noch von Extremereignissen, wenn wiederum braucht man CO2-Konzentrationen – die misst
die Extreme von heute künftig der Normalzustand sind? man meist von Schiffen aus. Seit zirka 20 Jahren gibt es
Genau, man könnte sich fragen, ob eine Situation, die sich zudem autonome Argo floats im Ozean. Das sind so ge-
ständig wiederholt, immer noch als Extremereignis be- nannte Treibbojen, die auf 1000 Meter Wassertiefe geparkt
zeichnet werden kann. Die Bedingungen im Ozean ändern sind. Alle zehn Tage erstellen sie ein vertikales Profil von
sich so stark, dass beispielsweise die Versauerung fast 2000 Metern Tiefe bis zur Oberfläche. Während sie aufstei-
das ganze Jahr hindurch als Extremereignis betrachtet gen, ermitteln sie Temperatur, Salzgehalt, Druck und seit
werden kann. Es entsteht ein neues Regime, das für Kurzem den Säuregehalt sowie andere biologische Para-
viele Organismen eine ungewohnte Herausforderung meter. Sobald die Bojen an die Oberfläche kommen, schi-
darstellt. cken sie die Daten an Satelliten, und wir können sie in
Die Hitzewellen werden vor allem deshalb häufiger, Echtzeit abrufen. Die Treibbojen haben eine große Bedeu-
weil sich die mittlere Temperatur verschiebt. Bei den tung, da sie es uns ermöglichen, in Echtzeit Daten von
Versauerungsextremen kommt noch ein anderer Effekt unterhalb der Oberfläche des Ozeans zu erhalten.
hinzu: Der Säuregehalt schwankt immer stärker zwischen
Sommer und Winter. Zum einen verschiebt sich also der
Mittelwert, zum anderen wird die Verteilung breiter. Auch
bezogen auf einen neuen »Normalzustand« wird es dem-
nach mehr Säureextreme geben. Warmwasserblasen können
An Land lässt sich heute in Echtzeit aufschlüsseln, ob Monate oder Jahre in der Tiefe
der Klimawandel ein Extremereignis wahrscheinlicher
gemacht hat. Wie geht man im Ozean vor?
verweilen und dann wieder
Die Methode ist die gleiche wie bei der Attributionsfor- an die Oberfläche kommen
schung an Land. Wir haben mit meiner Gruppe für die
sieben folgenreichsten marinen Hitzewellen ermittelt, wie
viel wahrscheinlicher sie der menschengemachte Klima-
wandel gemacht hat. Der Warmwasser-Blob im Nordost- Wie viele gibt es davon?
pazifik beispielsweise – die bekannteste marine Hitze­ Etwa 4000. Für Extremereignisforschung ist das noch nicht
welle – wäre ohne ihn nicht aufgetreten. perfekt. Denn 4000 Punkte im gesamten Ozean sind ver-
gleichsweise sehr wenig. Es gibt aber noch andere Mög-
Hat Sie das überrascht? lichkeiten. Zum Beispiel stattet man verschiedene Tiere mit
Eigentlich nicht. Wasser hat eine größere Wärmekapazität Sensoren aus, um die Temperatur zu messen, während sie
als etwa der Boden oder die Luft – man muss also mehr sich im Ozean bewegen. Unter dem Meereis beispielswei-
Energie aufwenden, bis das Wasser sich erwärmt. Des- se spielt das eine wesentliche Rolle, wo Treibbojen nicht
halb variiert die Temperatur im Ozean nicht so stark wie auftauchen können.
über dem Land, wo sie sich von Sommer zu Winter, von
Tag zu Nacht stark ändern kann. Verschiebt man die Um noch einmal den Vergleich zum Land zu ziehen: Dort
Temperaturverteilung über dem Land ein wenig, dann dauern Extremereignisse Tage, vielleicht mal Wochen. Im
nehmen die Extreme geringfügig zu. Im Ozean hingegen Ozean dauern sie oft Monate, teils Jahre. Warum?
gibt es keine so starken Temperaturabweichungen. Daher Das liegt vor allem an der unterschiedlichen Wärmekapa­
kann schon eine kleine Änderung der Temperatur zu einer zität. Die Warmwasserblasen im Ozean können teils sogar
extrem großen Zunahme von Extremereignissen im mehrere Monate oder Jahre in der Tiefe verweilen und
Ozean führen. Deswegen ist eine Attribution im Ozean dann wieder an die Oberfläche kommen.
klarer, das heißt, man kann solche Ereignisse belastbarer
auf den Klimawandel zurückführen. Wie kann man sich das vorstellen?
Der Ozean ist ein dreidimensionales Medium. Der Blob im
An Land spürt man außergewöhnliches Wetter sofort. Nordostpazifik etwa verschwand irgendwann zwischen
Wie erfährt man von einem Extremwetterereignis im 2015 und 2016, aber in den tiefen Schichten des Ozeans
Ozean? war es immer noch extrem warm.
Die Extremereignisforschung im Ozean ist vergleichswei-
se neu. Auf Grund der Seltenheit von Extremereignissen Die Warmwasserblase sinkt also ab und kommt eines
benötigt man lange Zeitreihen von Daten. Seit 1982 haben Tages wieder hoch?

52 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Zum Teil kommt sie wieder hoch oder sie diffundiert; Ihre Prognosen sind relativ düster. Können wir diese
dann verteilt sich die Wärme, so dass keine Extreme mehr Zukunft verhindern?
herrschen. Oder die Wärme an der Oberfläche wird Einer der größten Stressfaktoren ist der menschengemach-
wieder an die Atmosphäre abgegeben. Aber wir wissen te Klimawandel. Und wir haben gezeigt, dass die Änderun-
noch wenig darüber, wie lange Warmwasserblasen in der gen in den kombinierten Extremereignissen, jedoch auch in
Tiefe des Ozeans verweilen können und wie sie wieder den Hitzewellen, viel weniger gravierend sind, wenn die
hinaufkommen. Ziele des Pariser Klimaabkommens eingehalten werden als
wenn wir sie nicht einhalten. Das ist klar. Man muss die
Hängen alle compound events mit der Temperaturände­ Ziele des Pariser Klimaabkommens anvisieren, sonst wer-
rung zusammen oder beobachten Sie auch extreme den die Auswirkungen extrem sein.
Bedingungen unabhängig davon?
Es gibt ebenso biologische Prozesse, die zu compound Hilft es, weitere Stressoren zu vermeiden – etwa Stör­
events führen können. An der Oberfläche des Ozeans quellen wie Schiffslärm und Umweltverschmutzung?
wird ge­löstes CO2 durch Fotosynthese in organisches Natürlich gibt es andere Faktoren, etwa die Fischerei.
Material überführt. Das organische Material sinkt an- Wenn man Extremereignisse wie eine Hitzewelle vorhersa-
schließend ab und wird durch Bakterien zersetzt. Dabei gen könnte – das kann man zum Teil bis zu einem Jahr im
wird es wieder in gelöstes CO2 überführt. Gelöstes CO2 Voraus –, dann könnte man in den entsprechenden Gebie-
bedeutet einen höheren Säuregehalt. Gleichzeitig braucht ten die Fischerei einschränken oder verbieten. Weil man
der Zer­setzungsprozess viel Sauerstoff. Der Sauerstoff­ weiß, dass die Ökosysteme schon durch die Hitze gestresst
gehalt nimmt daher ab, zur gleichen Zeit nimmt die Säure- werden, könnte man dadurch einen Schutz vor den zusätz-
konzentration zu. Biologische Prozesse können also ge­- lichen anthropogenen Stressoren bieten. Das wird teils
nauso kombinierte Säure- und Sauerstoffextreme verur­ bereits gemacht.
sachen. Und ebenso kann eine Änderung der Ozeanzirku-
lation zu compound events führen. Eine Art Frühwarnsystem …
Genau, ein Frühwarnsystem gibt es zum Beispiel schon für
Wie reagieren die unterschiedlichen Organismen auf die Korallenbleichen. Wenn aber die Hitzewellen häufiger
neuen Bedingungen? werden, sind gewisse Maßnahmen schwierig umzusetzen.
Wie Warmwasserkorallen auf die Wärme reagieren, weiß Dann kann man irgendwann gar nicht mehr fischen, was
man sehr gut. 2016/2017 etwa herrschte in den Tropen zu einem Interessenkonflikt führen kann. Das Wichtigste ist
fast durchgehend eine Hitzewelle. Sie hat zu einer Koral- und bleibt, den CO2-Ausstoß zu verringern.
lenbleiche geführt, die etwa 75 Prozent aller Korallenriffe
weltweit betroffen hat. Manche Fischarten wiederum Es macht also durchaus einen Unterschied, ob wir zwei
wandern, wenn es möglich ist, in kältere Gewässer – in oder drei Grad Erwärmung haben. Können Sie das kon­
der Nordhemisphäre nordwärts, in der Südhemisphäre kretisieren?
südwärts. Oder sie weichen in die Tiefe aus. Je tiefer sie Ja. Ich habe in einer Modellstudie im Jahr 2018 gezeigt,
sich aber bewegen, desto niedrigere Sauerstoffkonzentra- dass Hitzewellen bei 1,5 Grad Erwärmung global um das
tionen treffen sie an. 16-Fache häufiger werden im Vergleich zur vorindustriellen
Da das Wissen über andere, kleinere Organismen wie Zeit. Wenn sich die Erde hingegen um dreieinhalb Grad
Phytoplankton und Zooplankton noch nicht vollständig aufheizte, würden sie um das 41-Fache zunehmen. Und
vorhanden ist, fehlt für diese Organismen sogar der auch bei 2 Grad wäre das der Faktor 23. Man sieht: Jedes
Bezugswert für die Normalsituation. Deswegen ist es hier Zehntelgrad an Erwärmung hat einen Einfluss auf die
sehr schwierig, Aussagen zu treffen. Es ist noch viel mehr Häufigkeit der Hitzewellen. Das gleiche Prinzip gilt ebenso
Forschung nötig, um überhaupt zu wissen, welche Arten für die Sauerstoffextreme, die Säureextreme sowie die
vorhanden sind und ob und wie sie auf diese Stressfak­ kombinierten Ereignisse. 
toren reagieren. Das Interview führte »Spektrum«-Redakteurin Verena Tang.

Macht es für die Tiere einen Unterschied, ob sich die


Bedingungen langsam ändern oder ob Extreme schlag­
artig auftreten? QUELLEN
Man kann davon ausgehen, dass Extremereignisse die
Burger, F. A. et al.: Compound marine heatwaves and ocean
negativen Auswirkungen des Klimawandels noch ver­ acidity extremes. Nature Communications 13, 2022
stärken. Es ist wie ein zusätzlicher Stress. Vergleichen Sie
Frölicher, T. et al.: Marine heatwaves under global warming.
es mit Covid-19: Das Gesundheitssystem war bereits am
Nature 560, 2018
Anschlag, dann kam dieser weitere Stressfaktor dazu.
Ähnlich kann man es sich im Ozean vorstellen: Der Gruber, N. et al.: Biogeochemical extremes and compound
Sauerstoffgehalt nimmt ab, die Wärme nimmt zu, der events in the oean. Nature 600, 2021
pH-Wert sinkt – und hinzu kommen noch die Extrem­ Laufkötter, C. et al.: High-impact marine heatwaves attributable
ereignisse. to human-induced global warming. Science 369, 2020

Spektrum der Wissenschaft 6.23 53


CO2-ENTSORGUNG

Ein Endlager
für Treibhausgas
Die Lagerung von Kohlenstoffdioxid
tief in der Erde galt in Deutschland lange
als nicht umsetzbar. Nun wagt die
Bundesregierung einen neuen Anlauf für
das ­Verfahren. Ein Überblick über die
­Technologie, ihre Chancen und Grenzen.
 spektrum.de/artikel/2128557

Ralf Nestler ist Geologe


und arbeitet als
­Wissenschaftsjournalist
nahe Berlin.

TREIBHAUSGASE
wie von diesem
Kohlekraftwerk gelan-
gen bisher unge-
bremst in die Luft.
Ändert sich das bald?
BARANOZDEMIR / GETTY IMAGES / ISTOCK

54 Spektrum der Wissenschaft 6.23


AUF EINEN BLICK

Notwendig oder übel?


1 Die Abscheidung von Kohlenstoffdioxid aus
Industrieanlagen und dessen anschließende
unterirdische Lagerung ist in Deutschland derzeit
verboten.

2 Solche Verfahren sind nach Ansicht vieler


Fachleute jedoch nötig, um die Klimaziele zu
erreichen.

3 Aus technischer Sicht ist das Verpressen von CO2


in den Untergrund hier zu Lande möglich und si-
cher. Fraglich ist der Rückhalt in der Bevölkerung.
BARANOZDEMIR / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft 6.23 55



Seit die Bundesregierung laut einem 2022 veröffent- Schon Anfang der 2010er Jahre gab es in Deutschland
lichten Evaluierungsbericht das Einfangen und Ent- eine breite Debatte über CCS. Damals drehte es sich
sorgen von Kohlenstoffdioxid (carbon capture and vorrangig darum, Kohleverstromung »sauber« zu machen:
storage, CCS) »im Megatonnen-Maßstab« als notwendig Das bei der Verbrennung frei werdende CO2 sollte abge-
erachtet, um die Klimaziele zu erreichen, ist die Debatte trennt und unterirdisch verpresst werden, damit es gar
um die Technik zurück. Unter Fachleuten sowie in weiten nicht erst in die Atmosphäre gelangt. Es gab viel Wider-
Teilen der Gesellschaft ist zwar unstrittig, dass der Aus- spruch, der sich um mögliche Leckagen und deren Folgen
stoß von Kohlenstoffdioxid (CO2) drastisch gesenkt drehte, um hohe Kosten und Konkurrenz für die Energie-
­werden muss, doch das dürfte nicht genügen, um den wende – schließlich würde diese Form von CCS die Kohle
Temperaturanstieg unter zwei Grad Celsius zu halten. als langfristige Energiequelle festschreiben. Das Vorhaben
Darum erfordern viele Szenarien, die der Weltklimarat erschien aussichtslos, die Pläne wurden gestoppt, CCS
IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) be- wurde verboten.
rücksichtigt, das Gas zusätzlich einzufangen und langfris- Bei der aktuellen Diskussion geht es vor allem um CO2-
tig zu speichern. Auch eine aktuelle Veröffentlichung, initi- Quellen der Industrie, etwa aus den Bereichen Zement,
iert von vier IPCC-Autoren, zeigt, wie dringend Lösungen Glas, Kalk, Abfall und Chemie. Grundsätzlich kann das
zur Entnahme des Klimagases aus der Atmosphäre nötig Verfahren auch für abgetrenntes Kohlenstoffdioxid aus
sind (siehe »CO2-Beseitigung muss Fahrt aufnehmen«). der Verbrennung von Biomasse genutzt werden und für

CO2-Beseitigung muss Fahrt aufnehmen


Egal, wie stark wir den CO2-Ausstoß in den kommenden drei Maßnahmen kommen in allen Szenarien zum Tra-
Jahren und Jahrzehnten drosseln: Wir werden nicht gen, jedoch unterschiedlich stark. Klar ist: Ohne die
darum herumkommen, Kohlenstoffdioxid aktiv aus der Entnahme erreicht man in keinem der drei Szenarien
Atmosphäre zu entfernen und dauerhaft unschädlich zu Netto-null-Emissionen. Das schlussfolgerte der IPCC
machen. Sonst verfehlen wir das Ziel, die Erwärmung schon im 2018 erschienenen Sonderbericht zu 1,5 Grad
der Erde auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen. Erwärmung.
Die nötigen Technologien gilt es rasch auszubauen. Zu Im Jahr 2019 hat die Menschheit bereits 2 Milliarden
diesem Schluss kommt eine Gruppe von Klimawissen- Tonnen CO2 aus der Luft entnommen und gebunden.
schaftlern um die vier IPCC-Autoren Stephen M. Smith, Das klingt nach einem Anfang, doch speist sich diese
Oliver Geden, Jan C. Minx und Gregory F. Nemet. Ihre Reduktion fast vollständig aus »konventionellen« Me­
Ergebnisse haben sie unter dem Titel »The state of thoden. Dazu zählen die Autoren des CDR-Berichts von
carbon dioxide removal« Mitte Januar 2023 vorgestellt. Anfang 2023 vor allem verschiedene Arten der Land­
45 Milliarden Tonnen CO2 haben die Menschen im nutzung, derzeit vor allem Wald- und Forstmanagement.
Jahr 2022 in die Luft geblasen. Rechnet man die ande- Allein deshalb, weil nicht unendlich viel Land zur Ver­
ren Treibhausgase hinzu und in CO2-Äquivalente um, fügung steht, sind solche Methoden aber nur bedingt
sind es 59 Milliarden Tonnen. Seit dem Jahr 1970 steigen ausbaufähig.
die globalen Emissionen stetig (ausgenommen im Bloß ein Promille des aus der Luft entnommenen
Pandemie-Jahr 2020). Um die Erwärmung der Atmo- Kohlenstoffdioxids – 2,3 Millionen Tonnen – fängt man
sphäre auf ein erträgliches Maß zu begrenzen, sollen die bisher mit neuen Technologien ein. Sie entziehen das
Emissionskurven jedoch schon in Kürze eine Kehrtwen- Gas aktiv der Luft und verstauen es anschließend unter
de machen und steil nach unten zeigen, möglichst ab der Erde, im Ozean oder speichern es in langlebigen
2050 bei null bleiben. Das klingt erst einmal utopisch. Produkten. Bei ihrer Rechnung berücksichtigten die
Die vom Weltklimarat IPCC veröffentlichten Szenarien Fachleute nur solche Methoden, die CO2 tatsächlich aus
zeigen, ob und wie man dieses Ziel dennoch erreichen der Luft entfernen und langfristig einlagern; die Abschei-
kann. Grob ausgedrückt, berücksichtigen die Fachleute dung etwa aus Industrieanlagen oder die Weiterverar-
dabei drei Möglichkeiten, den Klimagasausstoß zu beitung zu Treibstoffen zählen nicht dazu, weil diese
verringern: durch weniger Nachfrage nach klimaschäd­ Vorgehensweisen die Menge an Klimagas unterm Strich
lichen Produkten, durch Energie aus erneuerbaren nicht mindern.
Quellen sowie durch Entnahme von Kohlenstoffdioxid Eine der »neuen CDR-Technologien« ist die Nutzung
aus der Luft (carbon dioxide removal, CDR; siehe »Das von Biomasse mit anschließender CO2-Einlagerung, kurz
Klimagas vergraben«, »Spektrum« Juli 2019, S. 62). Alle BECCS (»bioenergy with carbon capture and storage«).

56 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Neue Technologien tragen derzeit noch wenig zur gesamten Kohlenstoffdioxid-Entnahme bei.
THE STATE OF CARBON DIOXIDE REMOVAL, 2023 (WWW.STATEOFCDR.ORG); BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

–2 –1,8 –1,6 –1,4 –1,2 –1 –0,8 –0,6 –0,4 –0,2 0 Gt CO2 pro Jahr

Durch konventionelle Techniken


(grau) wurden im Jahr 2022 zirka
2 Milliarden Tonnen (Gigatonnen,
Gt) CO2 aus der Luft entzogen.
Neue Methoden (gelb) schafften
nur rund ein Tausendstel davon.

BECCS
Biokohle
andere neuartige Technologien

–0,003 –0,002 –0,001 –0 GtCO2 pro Jahr

Dabei gewinnt man, vereinfacht gesagt, Energie aus Projekte umgesetzt würden, die derzeit in Entwicklung
pflanzlicher Biomasse und lagert das frei werdende CO2 sind, käme man im Jahr 2025 auf rund 11,75 Milliarden
ein. 1,8 Millionen Tonnen atmosphärischen Kohlenstoff­ Tonnen CO2-Entnahme, rechnen die Autoren vor.
dioxids haben solche Verfahren 2022 gebunden. Bei der Das reicht jedoch nicht. Wenn die Welt bis 2050
Herstellung von Biokohle nutzt man ebenfalls aus, dass Netto-null-Emissionen erreichen soll – ab dann also
Pflanzen CO2 verstoffwechseln; die Pflanzenreste werden unterm Strich keine Treibhausgase mehr ausstoßen
pyrolysiert und können als Kohle beispielsweise in den soll –, müssen wir bereits im Jahr 2030 etwa 30-mal so
Boden eingebracht werden. Auf diese Weise wurden im viel CO2 entnehmen wie heute, bis 2050 gar 1300-mal
Jahr 2022 etwa 0,5 Millionen Tonnen Klimagas aus der so viel.
Luft entfernt. Alle anderen neuartigen CDR-Methoden Daher müssen die dazu nötigen Technologien bis 2030
zusammen kommen nur auf rund 20 000 Tonnen. weltweit stark ausgebaut werden, fordern die Verfasser
Das Problem: Die Techniken sind noch nicht in des Berichts. Schon in den nächsten Jahren brauche es
­großem Maßstab verfügbar. Ein erstes Beispiel für ein Anlagen im industriellen Maßstab, erklärte Jan Minx,
funktionierendes Unterfangen ist eine Anlage der einer der vier federführenden Autoren, bei der virtuellen
Schweizer Firma Climeworks in Island. Sie scheidet Vorstellung der Studie vor Journalisten und warnte:
Kohlenstoffdioxid aus der Luft ab und verpresst es in »Wenn wir das nicht hinbekommen, wird die Aufskalie-
Basaltformationen tief unter der Erde. Solche Verfahren rung in Zukunft sehr schwierig werden. Wir laufen Ge-
nennt man »direct air carbon capture and storage« fahr, die CO2-Entnahmeziele für die Mitte des Jahrhun-
(DACCS). Andere Technologien sind bislang nicht viel derts nicht zu erreichen.«
mehr als theoretische Konzepte. Dazu zählen etwa die Das Klimagas aus der Atmosphäre zu entfernen
Düngung der Ozeane mit Eisen, damit dort lebende bedeutet aber nicht, dass sich die Welt in Sachen Treib­
Organismen mehr CO2 aufnehmen, welches sie dann hausgas-Reduktion zurücklehnen kann, machten die
beim Absterben in Form von organisch gebundenem Autoren klar. Es sei essenziell, die Emissionen gleichzeitig
Kohlenstoff mit auf den Meeresgrund nehmen. Oder massiv zu drosseln. »Es geht nicht mehr um Entweder-
auch die Entsauerung der Ozeane durch Silikate oder oder, wir brauchen beides«, konstatierte Mitautor Oliver
Karbonate. Geden.
Die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu
CDR-Technologien wächst seit den 1990er Jahren expo- WEBLINK
nenziell, ebenso werden immer mehr Patente angemel-
www.stateofcdr.org
det. Dazu kommen international und national geförderte
Forschungsprogramme. Wenn alle neuartigen CDR-­ Der aktuelle Bericht inklusive aller zu Grunde liegenden Daten

Spektrum der Wissenschaft 6.23 57


solches, das mit speziellen Anlagen aus der Umgebungs- vom GFZ geleiteten Forschungsprojekts. Von 2008 bis
luft entfernt wird (»BECCS« und »DACCS«, siehe »CO2-­ 2013 wurden nahe Ketzin, westlich von Berlin, rund
Beseitigung muss Fahrt aufnehmen«). Diese Optionen 67 000 Tonnen CO2 verpresst. Das Gas wurde mit Tanklas-
sind noch nicht so weit entwickelt, aber oft in CCS-Szena- tern herangeschafft und in einen porösen Sandstein in
rien enthalten, was die Diskussion manchmal erschwert. rund 630 Meter Tiefe gepumpt, der früher als Gasspeicher
Hier soll es darum gehen, ob sich Kohlenstoffdioxid aus diente und deshalb geologisch bereits gut bekannt ist.
so genannten Punktquellen der Industrie – unmittelbar vor Das CO2 löst sich dort unten im salzigen Wasser wie
dem Schornstein – abtrennen und in tiefen Schichten bei einer Sprudelflasche, teilweise wandelt es sich auch in
­dauerhaft wegsperren lässt. feste Minerale um. Wie rasch die Prozesse ablaufen,
Genutzt wird die Technik bereits seit 1996 im Sleipner- hängt von Druck und Temperatur ab sowie der chemi-
Gasfeld vor der norwegischen Küste. Rund eine Million
Tonnen CO2 werden dort jährlich in den Grund der Nord-
see gebracht. Inzwischen gibt es etliche weitere Projekte,
darunter in Australien, Kanada und Dänemark.
Deutschland könnte sich an CCS-Projekten seiner Insgesamt ­können rund
Nachbarn beteiligen und unerwünschtes Treibhausgas
dort loswerden. »Norwegen hat bereits signalisiert, große neun Milliarden Tonnen
CO2 unter dem
Mengen abzunehmen und unter der Nordsee zu spei-
chern«, sagt Susanne Buiter, wissenschaftliche Vorstän-
din des Helmholtz-Zentrums Potsdam – Deutsches Geo-
forschungszentrum (GFZ). Es sei jedoch zu bedenken,
dass der Transport Infrastruktur erfordere und Energie ­deutschen Festland
koste. »Warum speichern wir das entstehende CO2 nicht
bei uns?«, fragt die Forscherin und macht klar: Aus ihrer
Sicht wäre das möglich.
versenkt werden
Welche geologischen Formationen in Deutschland
dafür in Frage kämen, hat die Bundesanstalt für Geowis-
senschaften und Rohstoffe (BGR) analysiert. Neben schen Zusammensetzung der Gesteine. In Island bei-
erschöpften Erdöl- und Erdgaslagerstätten sind es vor spielsweise haben Forscher Kohlenstoffdioxid in Basalt
allem Wasser führende Sandsteinschichten in vielen gepumpt. Binnen zwei Jahren habe sich nahezu die
hundert Metern Tiefe. Diese »salinaren Aquifere« sind so gesamte Menge in Minerale verwandelt, berichtete das
weit von der Oberfläche entfernt und so salzhaltig, dass Team um Juerg Matter 2016 in der Fachzeitschrift »Sci-
sie für die Trinkwassergewinnung ausscheiden. Sie finden ence« (siehe »Für immer gebunden«, »Spektrum« Novem-
sich vor allem in Norddeutschland, entlang des Ober- ber 2021, S. 56).
rheingrabens und im Alpenvorland. Die BGR schätzt, dass Das zeigt die Grenzen des Begriffs »Speicherung« auf:
insgesamt rund neun Milliarden Tonnen CO2 unter dem Der Wortsinn umfasst die Möglichkeit, das Gas zurück­
Festland versenkt werden können. Außerdem wird derzeit zuholen. Nur: Wer wollte das tun, ein Treibhausgas mit
untersucht, wie groß das Potenzial im Untergrund der viel Aufwand aus der Erde holen, wo es hier oben leicht
deutschen Nordsee ist. Die Ergebnisse sind für 2024 verfügbar ist? Verfechter des CCS argumentieren, dass
angekündigt. Schon jetzt weisen Fachleute allerdings auf man sich wenigstens die Option erhalten wolle, das
Nutzungskonflikte mit Offshore-Windkraftanlagen hin, die versenkte CO2 einmal als Rohstoff zu nutzen. Kritiker
massiv ausgebaut werden sollen. sehen einen anderen Punkt: Einen »Speicher« bekomme
man einfach schneller genehmigt als eine »Deponie«.
Technisch machbar und sicher Während des Projekts in Ketzin wurden an der Ober­
Solche Konflikte sind auch bei der Speicherung an Land fläche sowie in Überwachungsbohrungen Gasflüsse
möglich. »Zur oberflächennahen Geothermie, die die und weitere Parameter erfasst. Resultat: Es ist nichts
Erdwärme bis in maximal 400 Meter Tiefe nutzt, oder zu entwichen, wie aus dem Schlussbericht hervorgeht.
Kavernen besteht keine Konkurrenz«, erklärt Buiter. An- Die Bohrlöcher wurden 2017 fachgerecht verschlossen
ders könnte das bei Bergbau sein sowie bei künftigen und die Überwachung endete. Zu früh, kritisiert Karsten
Speichern für »grünes« Methan oder Wasserstoff. »Wich- Smid, Klimaexperte bei Greenpeace. »Vier Jahre Beob-
tig wäre es daher, dass die Politik die Nutzung regelt, achtung sind ein extrem kurzer Zeitraum, um auf eine
etwa mit Raumordnungsplänen für den Untergrund.« Ob Dichtigkeit zu schließen, die über 10 000 Jahre gegeben
am Ende das geschätzte Neun-Milliarden-Tonnen-Potenzi- sein soll.«
al wirklich nutzbar ist, bleibt also offen. Zumal der Unter- Dazu schreibt das GFZ auf »Spektrum«-Anfrage: »Das
grund nicht überall gleich gut erkundet ist und die Fach- Ketzin-Pilotprojekt war in Absprache mit dem Bergamt
leute noch manche Überraschung erleben dürften. mit einem Enddatum terminiert und wurde nach dem
Technisch ist die Speicherung des Treibhausgases Durchlaufen aller Phasen des Lebenszyklus eines CO2-
machbar und sicher – so lautet jedenfalls das Fazit eines Speichers planmäßig beendet. Wichtig ist hier ein Skalen-

58 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Vergleich: Aus unserer Sicht sind die vier Jahre Post-­ Andreas Bolte zu, Leiter des Thünen-Instituts für Wald-
Injektion-Monitoring für die 67 Kilotonnen eingespeicher- ökosysteme in Eberswalde. Aktuell laufe die Bundeswal-
tes CO2 eine angemessene Zeit verglichen mit den laut dinventur für die kritischen Jahre 2017 bis 2022, ein
Regulative angesetzten 40 Jahren für industrielle Mengen Ergebnis werde erst 2024 vorliegen. Doch schon jetzt sei
im Megatonnen-Bereich.« klar: Auf 400 000 Hektar ist der Bestand weggebrochen,
Hier deutet sich an, welche großen Schritte noch nötig vor allem durch Käferschäden, und damit die Speicherfä-
wären, um von einem kleinen Projekt im »Ketzin-Format« higkeit für vier Millionen Tonnen CO2 im Jahr. Zwar werde
zu einer wirksamen Entlastung der Klimabilanz zu kom- neu gepflanzt, doch es brauche mindestens 20 Jahre, ehe
men. Der gesamtdeutsche Ausstoß im Jahr 2022 betrug Bäume groß genug sind, um viel Kohlenstoff zu binden.
laut Umweltbundesamt schätzungsweise 746 Millionen Unterm Strich deute sich an, so Bolte, »dass die Speicher-
Tonnen CO2-Äquivalente. Auf die Industrie entfielen dabei leistung der Wälder eher abgenommen hat«.
zirka 164 Millionen Tonnen – rund zwei Drittel davon In puncto CCS bleiben ebenfalls etliche Unsicherhei-
stammten aus großen Industrieanlagen, die als Punkt- ten. Die großen Erwartungen zum Klimaschutz werde das
quellen prinzipiell für CCS geeignet wären. Allerdings Verfahren im globalen Maßstab nur ansatzweise erfüllen,
kostet die CO2-Abscheidung zusätzliche Energie und schrieben Joe Lane und Chris Greig von der Princeton
erfordert weitere Anlagen, bis hin zum Transport zu einem University sowie Andrew Garnett von der University of
geologischen Tiefenlager. Diese können also allenfalls Queensland in Brisbane 2021 im der Fachzeitschrift
einen Bruchteil der Gesamtmenge aufnehmen. »Nature Climate Change«. Bisherige Versuche, die Indust-
rie zu stimulieren, blieben hinter den Erwartungen zu-
Billiger Ausweg für die Industrie? rück – auch für die Zukunft sind die Autoren skeptisch. Da
Umweltverbände wie Greenpeace oder der BUND sind sei zum einen die Geologie, die potenzielle Speicher nur in
weiterhin gegen CCS. Sie warnen vor Gefahren für die bestimmten Regionen biete. Hinzu kämen eine nicht
Umwelt durch Lecks und hervorgerufene Erdbeben, immer vorhandene wissenschaftlich-technische Experti-
kritisieren zudem Belastungen durch den Bau von Pipe- se, fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft und die Frage,
lines sowie erhöhten Schiffsverkehr, zumindest bei den wie die hohen Kosten gestemmt werden sollen. Das
Offshore-Speichern. »Die Industrie erspart sich damit eine bremse die Entwicklung. Besonders große Verzögerun-
echte Dekarbonisierung«, urteilt Kerstin Meyer, Leiterin gen sehen die Autoren in Asien. Sie fordern, die genann-
Wirtschaft und Finanzen beim BUND. Es würden bereits ten Probleme dringend anzugehen, um die Unsicherhei-
große CO2-Netze geplant, an die sich die großen Emitten- ten bei CCS abzubauen. Das Verfahren sei unbedingt
ten wie Zement-, Stahl- und Chemiewerke anschlössen, nötig, um ein Übersteigen des Emissionsbudgets im
um das Klimagas loszuwerden. »Statt jetzt zu vermeiden Sinne des Klimaabkommens von Paris zu vermeiden. 
und zu reduzieren, wird es weiter viele Emissionen ge-
ben – das läuft der internationalen Klimaschutzarchitektur
zuwider.«
Ähnlich tönt es aus der Politik. In Schleswig-Holstein
etwa haben noch im Sommer 2022 alle fünf Fraktionen
im Landtag ihr Nein zu CCS bekräftigt. Und auch jetzt,
nach dem Bekanntwerden der Pläne der Bundesregie- Mehr Wissen auf
rung, bestehe kein Anlass, sich davon zu verabschieden, Spektrum.de
erklärt Silke Backsen, Stellvertretende Fraktionsvorsitzen-
Unser Online-Dossier zum
de der Grünen und Sprecherin für Natur- und Umwelt-
Thema finden Sie unter SEPPFRIEDHUBER / GETTY IMAGES
/ ISTOCK

schutz, auf Anfrage. »Anstatt sich jetzt, inmitten einer


Energie- und Klimakrise, um Technologien für Restemissi- spektrum.de/t/klimawandel
onen zu kümmern, sollte viel eher der Blick und die politi-
sche Kraft darauf gerichtet werden, wie Emissionen
endlich gesenkt und vermieden werden können.«
Dem Argument, der Untergrund müsse als CO2-Depo-
nie her, um die Atmosphäre schnell zu entlasten, begeg-
nen Kritiker unter anderem mit der »Rescue«-Studie des QUELLEN
Umweltbundesamts von 2019. Demnach kann es in Lane, J. et al.: Uncertain storage prospects create a conundrum
Deutschland gelingen, »durch die natürlichen Senken – for carbon capture and storage ambitions. Nature Climate
etwa Wälder – und nachhaltige Holzwirtschaft so viel Koh- Change 11, 2021
lenstoff zu binden, dass CCS für die Erreichung der Treib­ Matter, J. M.: Rapid carbon mineralization for permanent
hausgasneutralität in Deutschland nicht erforderlich ist«. disposal of anthropogenic carbon dioxide emissions. Science
Nach mehreren Jahren mit Dürresommern, Waldbrän- 352, 2016
den und massiven Schäden durch Borkenkäfer ist jedoch Purr, K. et al.: Wege in eine ressourcenschonende Treibhaus-
fraglich, ob die hiesigen Wälder die großen Erwartungen gasneutralität: RESCUE-Studie. Umweltbundesamt, 2. Auflage,
überhaupt noch erfüllen können. »Ich bin skeptisch«, gibt 2021

Spektrum der Wissenschaft 6.23 59


CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN

Die Entdeckung
der Gase
In der Antike galt Luft als eines der vier Grundelemente.
Wohl auch deshalb begann die systematische Erforschung
gasförmiger Stoffe erst im 18. Jahrhundert.
 spektrum.de/artikel/2128560

des Röhrchens austreten, lassen sich entzünden (siehe


»Auf der Spur der Gase«, a).
Da die Dämpfe brennen, muss beim Verschwelen
von Holz – also der unvollständigen Verbrennung infolge
ungenügender Sauerstoffzufuhr – unter anderem ein
Gas entstehen, das noch mit Sauerstoff reagieren kann.
Matthias Ducci (links) ist Professor für Chemie und ihre Hierbei handelt es sich vorwiegend um Kohlenstoff­
Didaktik am Institut für Chemie an der Pädago­gischen monoxid (CO). Daneben sind Methan, Ethen sowie wei­
Hochschule Karlsruhe. Marco Oetken ist Abteilungsleiter tere Stoffe enthalten. Die Verbrennung von CO lässt
und Lehrstuhlinhaber in der Abteilung Chemie der
sich chemisch wie folgt formulieren (»g« steht für »gas­
­Pädagogischen Hochschule Freiburg.
förmig«):

2 CO (g) + O2 (g) –› 2 CO2 (g)


Vermutlich wissen Sie, welche Elemente die Luft 2 Kohlenstoffmonoxid-Moleküle + 1 Sauerstoff-Molekül
–› 2 Kohlenstoffdioxid-Moleküle
enthält, die Sie gerade atmen: eine Mischung aus
Sauerstoff und Stickstoff, ein paar Edelgase, viel­
leicht kennen Sie sogar den aktuellen Gehalt an CO2 Außerdem kannte van Helmont »Schwefelgas«
(derzeit rund 419 millionstel Teile) und einige Stickoxide. (Schwefeldioxid, SO2), das bei der Verbrennung von
Dass wir Gase und deren unterschiedliche Eigen­ Schwefel entsteht, sowie einige andere Gase. Hierzu
schaften überhaupt so gut kennen, verdanken wir nicht zählte ein ganz besonderes, das er durch Einwirken von
zuletzt einigen hartnäckigen Wissenschaftlern, die im Salpetersäure (HNO3) auf Metalle wie Silber oder Kupfer
17. und 18. Jahrhundert bahnbrechende Experimente erhielt. Er beobachtete, dass sich dieses Gas an der Luft
durchgeführt haben. Bis dahin waren gasförmige Elemen­ braun färbte (»Auf der Spur der Gase«, b).
te und Verbindungen nämlich noch weitgehend unent­ Chemisch kann man das Auflösen der Metalle auf
deckt. diese Weise beschreiben (»s«, »aq« und »l« stehen für
Der flämische Naturforscher und Arzt Johan Baptista »fest«, »in Wasser gelöst« und »flüssig«):
van Helmont (1580–1644) bereitete den Weg für die Unter­
suchung »luftartiger Substanzen«. Er bezeichnete sie als 3 Cu (s) + 2 NO3– (aq) + 8 H+ (aq)
»Gase« und erkannte, dass es mehrere von ihnen –› 3 Cu2+ (aq) + 2 NO (g) + 4 H2O (l)
gibt, die sich von der Luft unterscheiden. Nach damaliger 3 Kupfer-Atome + 2 Nitrat-Ionen + 8 Wasserstoff-Ionen
–› 3 Kupfer-Ionen + 2 Stickstoffmonoxid-Moleküle + 4 Wasser-Moleküle
Lehrmeinung nahm Luft an keiner chemischen Reak­
tion teil.
Ein ihm bekanntes Gas war »Kohlengas«, das bei der Das farblose Stickstoffmonoxid reagiert an der Luft mit
Verbrennung von Holz entsteht. Es bildet sich etwa unter Sauerstoff zu braunem Stickstoffdioxid:
folgenden Bedingungen: Ein großes Reagenzglas wird mit
Holz halb voll gefüllt. Anschließend wird es mit einem 2 NO (g) + O2 (g) –› 2 NO2 (g)
durchbohrten Stopfen, in dem ein Glasrohr steckt, ver­ 2 Stickstoffmonoxid-Moleküle + 1 Sauerstoff-Molekül
–› 2 Stickstoffdioxid-Moleküle
schlossen und kräftig erhitzt. Die Dämpfe, die am Ende

60 Spektrum der Wissenschaft 6.23


MATTHIAS DUCCI

MATTHIAS DUCCI

MATTHIAS DUCCI
a b c

AUF DER SPUR DER GASE Beim Verschwelen von Holz entstehen Kohlenstoffmonoxid und weitere
brennbare Gase a . Taucht man Kupfer in konzentrierte Salpetersäure, entsteht ein Gas, das sich an der Luft
braun färbt b . Unedle Metalle reagieren mit Salzsäure zu brennbarem Wasserstoff c .

Van Helmont untersuchte die Gase nicht genauer, mit verschiedenen Teilchen beladene Luft. Unter anderem
dennoch kann man ihn als Begründer der so genannten deshalb gilt ein anderer englischer Wissenschaftler als der
pneumatischen Chemie ansehen. Entdecker des Wasserstoffs: Henry Cavendish (1731–
Als der englische Naturforscher Robert Boyle (1627– 1810). Er fand heraus, dass die so entstehende »brennbare
1692) in einer Phiole – einem Glasgefäß mit engem Hals – Luft« sich auch mit Zink und Zinn in Kombination mit
Stahlspäne mit konzentrierter Salzsäure übergoss, be­ konzentrierter Säure bildet (»Auf der Spur der Gase«, c).
merkte er, wie ein weiteres Gas entstand. Es ließ sich mit Cavendish deutete seinen Fund ebenfalls entsprechend
einer Kerzenflamme entzünden. Noch ganz in der alche­ der seinerzeit gängigen Vorstellungen. So war er über­
mistischen Denkweise verhaftet, deutete er die Gase als zeugt, endlich einen von der Wissenschaft lange gesuch­

GRUNDLEGENDE ERKENNTNISSE Gase besitzen eine Masse, wie die Waage zeigt a . In einer Sauerstoffatmo-
sphäre brennt eine Kerze heller als an Luft b und ein glimmender Holzspan entzündet sich c .

a b c
MATTHIAS DUCCI

MATTHIAS DUCCI

MATTHIAS DUCCI

Spektrum der Wissenschaft 6.23 61


ten Stoff erhalten zu haben: die hypothetische Substanz Waage ein immer geringeres Gewicht anzeigt, steigt der
Phlogiston. Dieser »Feuerstoff« sollte nach der Phlogis­ Wert auf der zweiten. Damit ist offenkundig, dass Gase
tontheorie in allen brennbaren Substanzen enthalten sein eine Masse haben. Außerdem muss Kohlenstoffdioxid
und beim Verbrennen aus ihnen entweichen. »schwerer« als Luft sein, da es sich in der zweiten Flasche
Tatsächlich entsteht bei der Reaktion von Metallen mit sammelt, statt nach oben zu entweichen.
Salzsäure Wasserstoff: In einer wässrigen Salzsäure­ Schon Cavendish vermutete, dass sich brennbare und
lösung (HCl(aq)) liegen H3O+-Ionen (vereinfacht: H+-Ionen) »fixe« Luft, wie Kohlenstoffdioxid damals genannt wurde,
und Chlorid-Ionen vor. Je zwei H+-Ionen oxidieren ein in ihrem Raumgewicht erheblich von der normalen Luft
Zink-Atom und werden dabei zu elementarem Wasser­ unterscheiden. Daraufhin bestimmte er als Erster das
stoff reduziert: relative Gewicht von Gasen. Wie er herausfand, war fixe
Luft um die Hälfte schwerer als normale. Brennbare Luft
Zn (s) + 2 H+ (aq) –› Zn2+ (aq) + H2 (g) dagegen war zehnmal leichter.
1 Zink-Atom + 2 Wasserstoff-Ionen Diese Untersuchungen lassen sich ebenfalls verein­
–› 1 Zink-Ion + 1 Wasserstoff-Molekül
facht nachvollziehen. Man verschließt dazu eine leere
1-Liter-PE-Flasche mit einem durchbohrten Stopfen, in
Cavendish fing das Gas in einer Schweinsblase auf, dem ein Glasrohr mit Hahn steckt, und wiegt das Ganze
woraufhin sie – prall gefüllt – an die Zimmerdecke stieg. (Genauigkeit der Waage: 0,001 Gramm). In einem Kolben­
Das veranlasste ihn, noch mehr Untersuchungen mit den prober (oder einer Spritze) saugt man 100 Milliliter Luft
»künstlichen Lüften« anzustellen. Er bemerkte, dass eine auf. Der Kolbenprober wird über einen Schlauch mit der
Schweinsblase mit Kohlenstoffdioxid, welches der Schot­ PE-Flasche verbunden, der Hahn geöffnet und die
te Joseph Black (1728–1799) entdeckt hatte (siehe Spekt­ 100 Milliliter Luft in die Flasche gedrückt. Anschließend
rum Juni 2019), schnell zu Boden sinkt. schließt man den Hahn, entfernt den Schlauch und wiegt
Dass Gase überhaupt eine Masse besitzen, lässt sich erneut. Das Ganze wiederholt man mit 100 Milliliter Koh­
durch ein einfaches Experiment zeigen. Dazu füllt man lenstoffdioxid.
100 Milliliter Wasser in eine leere 0,5-Liter-PE-Flasche und Die Differenz zwischen Ein- und Auswaage gibt die
stellt sie auf eine Waage (Genauigkeit: mindestens Masse von 100 Milliliter des jeweiligen Gases an. Und
0,01 Gramm). Daneben stellt man auf eine zweite Waage tatsächlich unterscheiden sich die Werte für Luft und
ebenfalls eine leere, trockene 0,5-Liter-PE-Flasche. Die Kohlenstoffdioxid voneinander: Für Luft erhält man zirka
zweite Waage wird – wenn möglich – auf null tariert. In 0,110 Gramm und für Kohlendioxid 0,170 Gramm. Somit
die erste Flasche wirft man rasch drei bis vier halbierte ergeben sich für die Dichte – den Quotienten aus Masse
Vitamintabletten und setzt einen durchbohrten Stopfen und Volumen – 1,10 sowie 1,70 Gramm pro Liter. Vergli­
darauf, durch den ein Glasrohr ragt (alternativ befestigt chen mit den Literaturwerten bei 20 °C (1,20 sowie
man mit Knete einen knickbaren Strohhalm auf der Fla­ 1,84 Gramm pro Liter) sind die gemessenen Werte er­
sche). Das andere Ende des Glasrohrs (oder Strohhalms) staunlich genau!
ragt in die zweite Flasche, ohne diese zu berühren Joseph Priestly (1733–1804), ein Zeitgenosse Caven­
(»Grundlegende Erkenntnisse«, a). dishs, forschte ebenfalls an Gasen. Im August 1774 mach­
Die Tabletten lösen sich auf und setzen dabei ein Gas te er sein wichtigstes Experiment: Er erhitzte mittels eines
frei: Kohlenstoffdioxid. Während die Anzeige der ersten Brennglases rotes Quecksilberoxid (HgO) und registrierte,

a VOLUMENGESETZE Nach damali-


ger Ansicht sollten gleich viele Atome
stets gleich viel Gasvolumen einneh-
men a . Doch das passte nicht zu den
Beobachtungen – denn aus zwei
Volumeneinheiten Wasserstoff und
einer Volumeneinheit Sauerstoff ent-
standen stets zwei Volumeneinheiten
Wasser. Erst die
Avogadro-Theorie
b löste das Problem:
In einem bestimm-
ten Gasvolumen ist
(unter den­selben
MATTHIAS DUCCI

Bedingungen) stets
dieselbe Anzahl
Moleküle vorhan-
den b .

62 Spektrum der Wissenschaft 6.23


MATTHIAS DUCCI
1 2 3

AUS FEUER MACH WASSER Nach Verbrennen

MATTHIAS DUCCI
eines mit Wasserstoff gefüllten Ballons ist die
Schultafel feucht beschlagen (oben). Wasser lässt
sich in einer Kunststoffpipette wieder zerlegen
(rechts). Am Pluspol (linker Draht) entsteht dabei
Sauerstoff, am Minuspol (rechter Draht) doppelt so
viel Wasserstoff.

wie ein bislang unbekanntes Gas entstand. So schön


dieses Experiment ist: Man sollte es nicht nachahmen, da
neben Sauerstoff giftiges Quecksilber entsteht. Den
Sauerstoff hatte der deutsch-schwedische Apotheker und
Chemiker Carl Wilhelm Scheele (1742–1786) beim Erhitzen
eines Gemisches aus Kalksalpeter (Kalziumnitrat) und
Vitriolöl (Schwefelsäure) eigentlich schon zuvor entdeckt.
Scheele hatte jedoch Pech, da seine »Chemische Abhand­
lung von der Luft und dem Feuer« mit jahrelanger Verzö­
gerung erst 1777 erschien. Da hatten Priestly und Antoine
Laurent de Lavoisier (1743–1794) die Entdeckung des
Sauerstoffs bereits für sich beansprucht. Scheele stellte
etliche Untersuchungen damit an. Als er eine Kerze darin
entzündete, machte er eine interessante Beobachtung: Sie
brannte mit sehr heller Flamme (»Grundlegende Erkennt­
nisse«, b). Daraufhin nannte der Forscher das neue Gas
»Feuerluft«.
Dieses Experiment kann man in ähnlicher Form leicht
nachahmen, indem man Salpeter (Kaliumnitrat, erhältlich
im Gewürzhandel) in einem großen Reagenzglas erhitzt.
Auch hierbei entsteht Sauerstoff. Hält man einen glühen­
den Holzspan in das Reagenzglas, entzündet er sich. Wie
Lavoisier erkannte, ist die Feuerluft ein Bestandteil der
Atemluft – und bei der Verbrennung von Stoffen wie Eisen
oder Schwefel entweicht kein hypothetisches Phlogiston,
sondern die Elemente verbinden sich mit Sauerstoff
(Oxidationstheorie der Verbrennung).
Als Cavendish von der Feuerluft Scheeles hörte, stellte
er eine größere Menge davon her und mischte sie mit
seiner brennbaren Luft. So löste er explosionsartige
Reaktionen mitunter gewaltigen Ausmaßes aus. Ein
weiteres Phänomen ließ ihn stutzen: Die Glasgefäße, in
denen er seine »Knallgasreaktionen« durchführte, waren
anschließend feucht beschlagen. Das Gleiche sieht man
beim Verbrennen eines mit Wasserstoff gefüllten Ballons,
der sich unmittelbar vor einer grünen Schultafel befindet.
Diese ist nach der Reaktion kurzzeitig feucht (siehe »Aus
Feuer mach Wasser«).
Bei größeren Versuchsansätzen erhielt Cavendish these hat folgenden Wortlaut: In gleichen Volumen gas­
sogar einige Milliliter einer klaren, farblosen Flüssigkeit, förmiger Stoffe sind bei gleichem Druck und gleicher
die er als Wasser identifizierte. Somit wurde ihm klar, Temperatur gleich viel Molekeln [Moleküle] enthalten.«
dass Wasser kein chemisches Element sein kann. Aller­ Damit war die Volumenverteilung bei der Wassersynthese
dings deutete er die Synthese im Licht der Phlogiston­ erklärt.
theorie: Danach sollte Sauerstoff dephlogistiertes und Zu Avogadros Lebzeiten konnte sich seine Theorie
Wasserstoff phlogistiertes Wasser sein und sich bei der nicht durchsetzen. Das geschah erst 1860 auf dem Karls­
Reaktion der Phlogiston umverteilen, wodurch Wasser ruher Kongress, dem ersten internationalen Symposium
entstehen sollte. Die richtige Deutung gelang schließlich der modernen Chemie.
de Lavoisier mit seiner Oxidationstheorie. Die Reaktion Das erhaltene Wasser lässt sich leicht wieder in Was­
lautet: serstoff und Sauerstoff zerlegen. Hierzu sticht man in das
Reservoir einer 1-Milliliter-Kunststoffpipette zwei jeweils
2 H2 (g) + O2 (g) –› 2 H2O (l) zu einem länglichen Draht gebogene Büroklammern und
2 Wasserstoff-Moleküle + 1 Sauerstoff-Molekül –› 2 Wasser-Moleküle verschließt die Einstichstellen mit einer Heißklebepistole.
Die Pipette wird mit Essigessenz gefüllt und in ein kleines
Aus zwei Gasen entsteht eine Flüssigkeit – das war zu Glasgefäß gestellt. Anschließend verbindet man mit
jener Zeit eine wissenschaftliche Sensation! Krokodilklemmen und zwei Kabeln den einen Draht mit
Die Synthese von Wasser untersuchten im Jahr 1805 dem Pluspol, den anderen mit dem Minuspol einer 9-Volt-
auch der berühmte deutsche Naturwissenschaftler Alex­ Batterie. Die Drähte dürfen sich in der Kunststoffpipette
ander von Humboldt (1769–1859) und sein junger Assis­ nicht berühren. An beiden Drähten bilden sich nun Gase,
tent, der französische Chemiker Joseph Louis Gay-Lussac jedoch unterschiedlich stark.
(1778–1850). Eigentlich hatten die beiden vor, den Sauer­ Am Pluspol entsteht Sauerstoff, am Minuspol doppelt
stoffgehalt der Luft exakt zu bestimmen. Dazu wollten sie so viel Wasserstoff:
den Sauerstoffanteil einer Luftportion in einem so ge­
nannten voltaischen Eudiometer durch einen elektrisch Pluspol: 2 H2O (l) –› O2 (g) + 4 H+ (aq) + 4 e –
ausgelösten Zündfunken mit Wasserstoff reagieren lassen 2 Wasser-Moleküle
–› 1 Sauerstoff-Molekül + 4 Wasserstoff-Ionen + 4 Elektronen
und den Restluftanteil messen. Um sich Klarheit über
diese Reaktion zu verschaffen, arbeiteten sie zunächst mit
den reinen Gasen. Minuspol: 4 H+ (aq) + 4 e – –› 2 H2 (g)
Dabei erkannten sie etwas Verblüffendes: Wasserstoff 4 Wasserstoff-Ionen + 4 Elektronen –› 2 Wasserstoff-Moleküle
und Sauerstoff verbanden sich genau im Volumenverhält­
nis 2 : 1 zu Wasser. »Durch diese Gründe scheint es uns Zusammengefasst ergibt sich:
genügend dargethan zu sein, dass 100 Theile Sauerstoff­
gas sehr nahe 200 Theile Wasserstoffgas zu ihrer Sätti­ 2 H2O (l) –› 2 H2 (g) + O2 (g)
gung erfordern«, schrieben sie. 2 Wasser-Moleküle –› 2 Wasserstoff-Moleküle + 1 Sauerstoff-Molekül
Gay-Lussac bestimmte daraufhin die Gasvolumina bei
weiteren chemischen Reaktionen, an denen Gase beteiligt Nach zirka 45 Minuten ist das Reservoir mit den Gasen
sind. Wie er herausfand, stehen sie immer in einem gefüllt. Deutlich schneller geht es mit Schwefelsäure
ganzzahligen Verhältnis zueinander. So reagieren genau (Konzentration: 0,5 mol/Liter), da diese leitfähiger ist als
100 Raumteile Sauerstoff mit genau 100 Raumteilen Essigessenz.
Stickstoff zu »Salpetergas« (Stickstoffmonoxid). Man Das Gasgemisch besteht aus Wasserstoff und Sauer­
versuchte dieses Volumengesetz von Gay-Lussac mit der stoff im Volumenverhältnis 2 : 1 (siehe Reaktionsglei­
damals aktuellen Atomtheorie von Dalton in Verbindung chung). Die Wirkung dieses idealen Knallgasgemisches
zu bringen. Der wichtigste Aspekt jener Theorie war kann man demonstrieren, wenn man den Versuch fort­
Daltons Vermutung, dass in chemischen Verbindungen setzt: Das Gasgemisch wird in zirka 20 Milliliter Wasser
die Atome der beteiligten Elemente in einem bestimmten, eingeleitet, das einen Tropfen Spülmittel enthält. Die sich
einfachen Zahlenverhältnis vorliegen. dabei bildenden Gasblasen werden mit einem Stabfeuer­
Verknüpft man das gay-lussacsche Volumengesetz mit zeug gezündet. Ein lauter Knall bezeugt die explosionsarti­
der daltonschen Atomtheorie, müssten gleiche Volumina ge Reaktion zu Wasser. 
verschiedener Gase gleich viele Atome enthalten. Das
widersprach jedoch den experimentellen Befunden: QUELLEN
Demnach hätte beispielsweise ein Raumteil Sauerstoff
Jansen, W. et al.: Die Dalton’sche Atomtheorie und die Ent-
mit zwei Raumteilen Wasserstoff zu einem Raumteil
wicklung der chemischen Formel. Chimica didactica 16, 1990
gasförmigen Wassers reagieren müssen (siehe »Volumen­
gesetze«). Es entstanden aber zwei Raumteile gasförmi­ Schwenk, E. F.: Sternstunden der frühen Chemie. Beck’sche
gen Wassers! Dieser Widerspruch schien lange unüber­ Verlagsbuchhandlung 998
windbar, bis der italienische Forscher Amedeo Avogadro Weyer, J.: Geschichte der Chemie. Bd. 1. Springer Spektrum,
(1776–1856) die entscheidende Idee hatte: »Meine Hypo­ 2018

64 Spektrum der Wissenschaft 6.23


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Ein Projekt von


TOPOLOGIE

Donuts
im Gehirn
Um unsere Welt besser zu verstehen, müssen wir
die darüber verfügbaren Daten ordnen und darin
befindliche Muster erkennen. Mit topologischen
Methoden konnten Fachleute nun zuvor verborgene
elementare Vorgänge des Gehirns aufdecken.
 spektrum.de/artikel/2128563

Kelsey Houston-Edwards
ist Mathematikerin und
Journalistin in Tübingen.

AUF EINEN BLICK

Auf der Suche nach Schleifen


1 In vielen Bereichen tauchen komplexe Datensätze
auf. Die meisten Analyseprogramme sind darauf
ausgelegt, ebene Strukturen zu erkennen.

2
NEURONE: EVGENII KOVALEV / GETTY IMAGES / ISTOCK; DONUTS: CAGKANSAYIN /

Möchte man allerdings sich wiederholende Prozes-


GETTY IMAGES / ISTOCK; COMPOSING: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

se ausmachen, eignet sich das abstrakte Gebiet


der Topologie, das kreisförmige Muster offenbart.

3 Dank verbesserter Soft- und Hardware hat die


topologische Datenanalyse in den letzten Jahren
zu erstaunlichen neurowissenschaftlichen Erkennt-
nissen geführt.

66 Spektrum der Wissenschaft 6.23


NEURONE: EVGENII KOVALEV / GETTY IMAGES / ISTOCK; DONUTS: CAGKANSAYIN /
GETTY IMAGES / ISTOCK; COMPOSING: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Spektrum der Wissenschaft 6.23


67

Der Datenwissenschaftler Benjamin Adric Dunn zeigt

JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022;


auf ein Bild mit ungleichmäßig verteilten Punkten, die Gerade Kreis

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


in ihrer Anordnung an die Felsen von Stonehenge
erinnern. Die grobe Struktur ist klar erkennbar – zumin-
dest für Menschen. »Die Daten bilden offensichtlich einen
Kreis«, sagt Dunn, der an der Technisch-Naturwissen-
schaftlichen Universität Norwegens in Trondheim forscht.
Aber ein Algorithmus würde wahrscheinlich Schwierig­ ein Stück
Hohlkugel
keiten haben, diese einfache Form auszumachen. »Com- Papier
putern entgeht oft das große Ganze.«
Viele wissenschaftliche Prozesse enthalten Schleifen
oder Wiederholungen. Dass Computerprogramme solche
Beziehungen häufig nicht erkennen, stellt Fachleute, die LÖCHER Wenn man die Enden einer eindimen­
an periodischen Mustern in Datenmengen interessiert sionalen Linie zusammenführt, entsteht ein Kreis
sind, vor ein Problem. Daten werden oft als Punkte visua- mit einem eindimensionalen Loch in der Mitte
lisiert, die in einem mathematischen Raum angeordnet (oben). Klebt man hingegen die Kanten einer
sind, wie Sterne am Nachthimmel. Ein Punkt kann dabei zweidimensionalen Fläche zusammen, umhüllt sie
tatsächlich eine physische Position darstellen, zum Bei- ein zweidimensionales Loch (unten).
spiel, wenn die Eingabe dem Längen- und Breitengrad
eines Orts entspricht. Datenpunkte können aber auch
ganz andere Dinge repräsentieren: etwa Gene, die sich in Vektoren und Matrizen bereits in der Schule begegnet,
einem abstrakten Raum mit vielen Dimensionen (manch- basiert die TDA auf Topologie. Dieser abstrakte Zweig der
mal sogar hunderten) befinden, wobei Gene mit ähnlichen Mathematik beschäftigt sich mit den charakteristischen
DNA-Sequenzen nahe beieinanderliegen. Die Bedeutung Merkmalen geometrischer Objekte. Da Topologen alle
eines kreisförmigen Musters in den Daten hängt immer Figuren als gleich betrachten, wenn sie sich ineinander
vom Kontext ab. Falls die Punkte der Position eines verformen lassen, wird die Disziplin auch als Knetgeomet-
Schiffs auf hoher See entsprechen, kann das ein Zeichen rie bezeichnet.
dafür sein, dass es die Orientierung verloren hat. Ring­ Wie bei der Deutung von Sternbildern hilft die topolo-
förmige Strukturen in genetischen Informationen können gische Datenanalyse dabei, aufschlussreiche Muster in
hingegen eine evolutionäre Beziehung aufzeigen. Datensätzen auszumachen. Dazu errichten die Fachleute
Oft sind die verstreuten Datenpunkte zu komplex, um um die Punkte herum eine Art hochdimensionales Gerüst,
sie mit dem bloßen Auge zu untersuchen. Deshalb lässt das viele Eigenschaften der ursprünglichen Daten besitzt,
man in der Regel Computer die Arbeit erledigen. Möchte jedoch in greifbarer Form. Indem man diese Strukturen
man eine kreisförmige Anordnung identifizieren, muss aus einer topologischen Perspektive untersucht, lassen
man dem Rechner eine Reihe von präzisen Anweisungen sich Merkmale identifizieren, die sogar dann erhalten
geben. Die meisten Standardtechniken zur Analyse von bleiben, wenn man das Gerüst staucht oder verbiegt.
Daten beruhen allerdings auf linearer Algebra, die sich
geraden Linien und flachen Ebenen widmet. Um ringför- Geometrie ohne lästige Details
mige Muster in komplizierten Räumen aufzuspüren, Hierbei kommt die Besonderheit der Topologie zum
wenden sich Forscherinnen und Forscher deshalb der Tragen, die sie von den restlichen mathematischen Gebie-
topologischen Datenanalyse (TDA) zu, die eine völlig ten unterscheidet: Statt sich auf Details zu fokussieren,
andere Perspektive bietet. Dank leistungsfähiger Compu- liefert sie qualitative Zusammenhänge. So kann die Diszi-
teralgorithmen, die aufwändige Berechnungen zulassen, plin in vielen Fällen keinen exakten Abstand zwischen
haben sich die Anwendungsgebiete der TDA in den zwei Objekten bestimmen, wohl aber aussagen, ob diese
letzten Jahren stark ausgedehnt – und haben erstaunliche sich in der näheren Umgebung voneinander befinden. Die
Ergebnisse hervorgebracht. Topologie deckt jene Aspekte in Messungen auf, die trotz
Im Gegensatz zu den relativ einfachen und starren zufällig auftretender Fehler oder Rauschen erhalten
Strukturen der linearen Algebra, denen man in Form von bleiben. Wenn die topologische Struktur gleich bleibt,
deutet das auf charakteristische Merkmale eines Systems
hin. »In der realen Welt sind Daten fast immer ver-
rauscht«, so der Topologe Robert Ghrist von der Universi-
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022;

TORUS Die ty of Pennsylvania. »Also muss man eine Art der Mathe-
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Oberfläche eines matik verwenden, die die Dinge nicht zu genau nimmt.«
Donuts wird Torus Daher greifen inzwischen viele Wissenschaftlerinnen
genannt und ist und Wissenschaftler auf die TDA zurück, um robuste
eines der grundle- Eigenschaften in allen möglichen Arten von Daten aufzu-
genden Elemente spüren: von zirkadianen Rhythmen über den Aufbau von
der Topologie. Molekülen bis hin zur Funktionsweise des Gehirns.

68 Spektrum der Wissenschaft 6.23


JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022;
In der Topologie geht es darum, geometrische Figuren MULTIDIMEN-

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


nach ihren groben Eigenschaften zu sortieren. Dabei ist SIONALE
es erlaubt, sie zu verformen, solange man sie nicht zer- STRUKTUREN
reißt oder zusammenklebt. Somit spielt die Anzahl der Ein Tetraeder Tetraeder

Löcher eine entscheidende Rolle: Zum Beispiel sind alle kann mit einem
geschlossenen Oberflächen, die kein Loch enthalten, Dreieck verbun-
topologisch gesehen identisch zur Kugeloberfläche. Ein den sein, an dem
mathematischer Witz besagt, dass Topologen einen ein anderes
Donut nicht von einer Kaffeetasse unterscheiden können, Dreieck hängt.
weil beide Objekte genau ein Loch haben.
Dennoch sind selbst in der Topologie nicht alle Löcher
gleich, denn sie können in verschiedenen Dimensionen
auftreten. Ein geschlossener Ring wie die Zahl 0 hat ein Das Ergebnis ist ein wirres Durcheinander: Milliarden
eindimensionales Loch, weil es durch das Zusammenkle- von Neuronen, die kreuz und quer miteinander verwoben
ben der Enden einer eindimensionalen Linie entsteht. sind. Die Mathematikerin Kathryn Hess von der Eidgenös-
Verbindet man hingegen die Kanten einer zweidimensio- sischen Technischen Hochschule in Lausanne nahm sich
nalen Ebene, etwa eines Blatts Papier, erhält man einen 2017 der Schwierigkeit an, die chaotischen Aufnahmen
hohlen Ball, der ein zweidimensionales Loch in seinem besser zu verstehen. Dafür analysierte sie Daten des
Inneren einschließt (siehe »Löcher«). Höherdimensionale Blue-Brain-Projekts, eines groß angelegten Forschungs-
Formen können entsprechend Löcher mit mehr Dimensio- programms, das Computermodelle der Aktivitäten im
nen beherbergen. Man bildet etwa ein dreidimensionales Neokortex von Nagern erstellt. Jener Teil des Gehirns ist
Loch, wenn man ein dreidimensionales Objekt wie einen an höheren kognitiven Funktionen wie Sinneswahrneh-
Würfel »verschließt«. Das lässt sich jedoch nur aus einer mung und Handlungsplanung beteiligt. Das Modell bildet
vierdimensionalen Perspektive betrachten, die das einzelne Neurone ab, die über Synapsen mit anderen
menschliche Vorstellungsvermögen übersteigt. simulierten Nervenzellen zusammenhängen. Diese Ver-
Manche Strukturen besitzen sogar mehrere Löcher knüpfungen und ihre Aktivitätswahrscheinlichkeiten
unterschiedlicher Dimension, etwa ein aufblasbarer basieren auf bestimmten biologischen Grundsätzen und
Hüpfball mit einem angebrachten Griff zum Festhalten: experimentellen Daten von Versuchstieren.
Die hohle Mitte des Balls ist zweidimensional, während
der Griff ein eindimensionales Loch umfasst. In der Topo- Eine Karte des Gehirns
logie gibt es viele Methoden, um Löcher in allerlei Objek- Die Simulationen können aufzeigen, welche Neurone als
ten zu zählen. Das erweist sich bei der Untersuchung von Reaktion auf einen äußeren Reiz feuern. Im Gegensatz zu
neuronalen Aktivitäten als hilfreich. echten Hirnaufnahmen kann man das Modell jederzeit
Vereinfacht und schematisch lässt sich das Gehirn anhalten. Damit können die Wissenschaftler in Standbil-
durch eine Sammlung von Punkten darstellen, die für dern untersuchen, welche Synapsen auf ein bestimmtes
Neurone stehen. Einige davon sind dabei durch Linien ver- Signal reagieren. Die Bilder lassen sich in einen Graphen
bunden, was auf eine Synapse zwischen den Nervenzel- umwandeln, da sie sowohl die Datenpunkte als auch die
len hinweist. In der Mathematik werden solche Netzwer- dazwischenliegenden Linien anzeigen. Zwei Neurone sind
ke als Graph bezeichnet: eine Menge von Knoten, die miteinander verbunden, wenn die Synapse zwischen
durch Kanten zusammenhängen. Damit lässt sich die ihnen aktiv ist. Von dieser Ausgangslage aus machte Hess
biologische Komplexität des Gehirns auf eine Ebene den Graphen in einem ersten Schritt zunächst einmal
reduzieren. noch komplizierter: Aus dem Datenwirrwarr konstruierte
sie einen so genannten Simplizialkomplex, der dem Netz-
werk eine dreidimensionale Gestalt verleiht.
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Ein Simplizialkomplex ist wie eine Art Gerüst, das aus


Dreiecken verschiedener Dimensionen aufgebaut ist
Knoten
(siehe »Multidimensionale Strukturen«). Drei durch aktive
Synapsen verbundene Neurone bilden etwa ein solches
GEHIRN Das Dreieck. In ähnlicher Weise erzeugen größere Gruppen
Netzwerk unseres miteinander verbundener Neurone höherdimensionale
Denkorgans ist Analogien von Dreiecken: Ein Tetraeder (eine Pyramide
wie ein Graph mit vier dreieckigen Flächen) entspricht vier Nervenzellen,
Kante
aufgebaut: Die die gemeinsam feuern. Wenn fünf Punkte im Graph
Neurone entspre- zusammenhängen, bilden sie eine vierdimensionale Figur
chen den Knoten im Simplizialkomplex und so weiter.
und die Synapsen Die maximale Anzahl von Neuronen, die Hess und ihre
den verbindenden Kollegen gleichzeitig feuern sahen, war acht. Damit
Kanten. entsprach die größte Struktur in ihren Daten einem sie-

Spektrum der Wissenschaft 6.23 69


GITTERZELLEN Technik namens persistente Homologie: Dabei untersu-

JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022;


Punkte einer Farbe chen sie eine Reihe von Simplizialkomplexen auf unter-

BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


markieren die Aktivi- schiedlichen Größenordnungen, also mit verschiedenen
tät einer Gitterzelle Auflösungen, so dass sie die wesentlichen Merkmale
im Raum. Dabei fällt eines Datensatzes ausmachen – also jene Strukturen iden-
auf, dass jede Gitter- tifizieren, die auf allen Ebenen existieren.
zelle ein gleiches Den ersten Simplizialkomplex erzeugen Topologen,
Muster erzeugt. indem sie mit der höchstmöglichen Auflösung starten
und jeden Punkt mit jedem anderen verbinden. Das
Ergebnis ist ein extrem dichtes Netzwerk. Markiert man
die vernetzten Strukturen wie im Blue-Brain-Projekt zu
Dreiecken verschiedener Dimensionen, entsteht daraus
ein Simplizialkomplex mit wenigen erkennbaren Merkma-
bendimensionalen Dreieck. Weil sich viele der Gebilde len. Um etwas damit anfangen zu können, vergleichen es
überschneiden, ergeben sich zudem mehrdimensionale Mathematiker mit weiteren Graphen, die sich aus niedri-
Skulpturen: Aus einem dreidimensionalen Tetraeder kann geren Auflösungen ergeben. Dafür verbindet man in
etwa ein zweidimensionales Dreieck herausragen und in einem zweiten Schritt nur noch jene Datenpunkte, die
einem Punkt auf ein anderes Dreieck treffen. höchstens einen bestimmten Abstand d voneinander
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ließen haben. Dadurch entsteht ein nicht ganz so dichtes Netz,
das Computermodell die Hirnaktivitäten eines Nagers das man zur Konstruktion eines zweiten Simplizialkomple-
simulieren, dem man sanft über die Schnurrhaare xes verwendet. Dieser enthält Formen mit geringeren
streicht. Die entstehenden Standbilder wandelten sie Dimensionen als zuvor. Den Vorgang wiederholt man mit
jeweils in einen Graphen und anschließend einen Simpli­ einer Reihe von kleiner werdenden Abständen d, so dass
zialkomplex um, den sie dann mit topologischen Metho- immer weniger Verbindungen auftauchen.
den analysierten. So entstanden komplizierte Formen, die
sich im Lauf der Zeit veränderten. Von kurzlebigen zu langlebigen Löchern
Unmittelbar nach dem Reiz wuchsen die dreieckigen Jeder Simplizialkomplex verkörpert eine mögliche Kons-
Strukturen wie eine riesige Legokonstruktion an, es tellation, die aus denselben Datenpunkten besteht. Topo-
fügten sich Teile mit immer höheren Dimensionen hinzu, logen untersuchen die Strukturen und erfassen dabei vor
abhängig von der Art des Reizes. Dann verschwand das allem die Anzahl der Löcher. Besonders interessant sind
Ganze schnell wieder. »Man hat diese immer komplexeren jene Exemplare, die über viele Größenordnungen beste-
Strukturen, die sich aufbauen, bis alles zusammenbricht«, hen bleiben. Während einige nur kurz vorkommen und im
so Hess. nächsten Komplex wieder verschwinden, gibt es auch
Simplizialkomplexe spielen in der Topologie eine wich- länger existierende Löcher, die in zahlreichen Maßstäben
tige Rolle. Aus topologischer Sicht ist ein Dreieck das­ erscheinen. Diese weisen auf wichtige Merkmale in den
selbe wie ein Kreis, denn beide Figuren lassen sich inein- Daten hin. Mit Hilfe der TDA lässt sich demnach eine
ander verformen. Da die Strukturen, die Hess und ihre scheinbar chaotische Sammlung von Datenpunkten zu
Mitarbeiter aus den simulierten Nagetiergehirnen erstellt einer simplen Liste von beständigen Löchern vereinfa-
haben, bis zu sieben Dimensionen besitzen, können die chen. Der Vorgang erinnert an den der Datenkomprimie-
Daten siebendimensionale Löcher aufweisen. Die Unter-
suchung hat gezeigt, dass die Anzahl der Löcher

JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
nach einem Reiz ansteigt. Auf ihrem Höhepunkt
enthalten die Datenpunkte überraschend viele
zwei- und dreidimensionale Löcher – deutlich mehr,
als in einem zufälligen Simplizialkomplex oder durch
einen anderen biologischen Prozess entstehen
würden. Die spezifische Anordnung der Löcher
offenbart zudem ein hohes Maß an Organisation in der
neuronalen Reaktion – was auf ein grundlegendes Merk-
mal von Denkprozessen hinweisen könnte.
Abseits der Neurowissenschaft stellt man Daten meist
durch isolierte Punkte in einem abstrakten mathemati-
schen Raum dar, ohne vorher festgelegte Verbindung
zwischen ihnen. Um TDA anwenden zu können, muss PERIODISCHE RANDBEDIN-
man herausfinden, wie diese Punkte zusammenhängen. GUNGEN Indem man die
Allerdings gibt es unzählige Varianten, sie miteinander zu gegenüberliegenden Kanten
verknüpfen. Damit aus den vielen Möglichkeiten die eines Blatts miteinander
passendsten gefunden werden, nutzen Topologen eine verklebt, entsteht ein Torus.

70 Spektrum der Wissenschaft 6.23


JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2022; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
VERSCHIEDENE ges und sich wiederholendes Muster von Punkten, ein
UMGEBUNGEN hexagonales Gitter aus lauter Sechsecken. Die Fachleute
Je nach Form des wiederholten den Versuch mit weiteren Gitterzellen und
Rattenkäfigs lässt markierten die dazugehörigen Positionen der Ratte in
sich das Muster einer anderen Farbe auf der Karte. Auch diese Punkte
der feuernden Neu- bildeten das gleiche geometrische Muster, nur jeweils
rone mehr oder leicht versetzt.
weniger gut erken- Die Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissen-
nen. Aber sie schaftler wollten herausfinden, wie das hexagonale Gitter
lassen sich stets entsteht. Im Wesentlichen suchten sie nach der Vorlage,
auf einem Torus die das Sechseckmuster erzeugt. Stellen Sie sich einen
abbilden. zylinderförmigen Stempel vor, auf dem verschiedene
Zeichentrickfiguren aufgedruckt sind. Wenn Sie den
Stempel auf einem Blatt Papier ausrollen, erscheint eine
Abfolge dieser Figuren. In regelmäßigen Abständen
taucht beispielsweise das Bild von Micky Maus auf. Jedes
Abbild stammt aber ursprünglich von der gleichen Stelle
des Stempels. Man kann sich leicht vorstellen, welches
rung, wie bei einer JPEG-Datei. »TDA bietet eine Möglich- Muster ein vorgegebener Stempel liefern wird. Die umge-
keit, die Daten auf das Wesentliche zu reduzieren«, sagt kehrte Frage ist hingegen komplizierter: Wie kann man
Robert Ghrist. auf die Form eines Stempels schließen, wenn bloß das
Manchmal kann man die langlebigen Löcher sogar erzeugte Muster bekannt ist? Vor dieser Aufgabe standen
direkt interpretieren. Der Mathematiker Jose Perea von die Fachleute, die die Gitterzellen der Ratte untersucht
der Northeastern University und ein Team von Bioinfor- hatten.
matikern haben die persistente Homologie in den 2010er
Jahren beispielsweise genutzt, um biologische Prozesse Wie kartieren wir unsere Umgebung?
zu identifizieren, die sich in regelmäßigen Abständen Je vier gleichfarbige Punkte bildeten die Ecken eines
wiederholen – denn nichts anderes stellt eine geschlosse- Parallelogramms. Genau wie die wiederholten Micky-
ne Schleife dar. Beispiele dafür sind der Stoffwechselzyk- Maus-Bilder entspringen alle Punkte derselben Farbe
lus von Hefe oder die zirkadiane Uhr der Maus. einer einzigen Gitterzelle. Die Topologen haben also
TDA hat Forscherinnen und Forschern außerdem ge- gleichfarbige Punkte identifiziert und die jeweiligen Paral-
holfen, neue Medikamente zu entwickeln. Nicht selten lelogramme zu einer Donutform zusammengeklebt:
findet man Wirkstoffe, indem man bestehende Mittel Zunächst verbanden sie zwei gegenüberliegende Seiten
verändert. Allerdings ist die Struktur der genutzten Mole- zu einem Zylinder, der nur noch zwei Punkte enthielt. Um
küle äußerst komplex und selbst für künstliche Intelligenz diese ebenfalls aufeinander abzubilden, muss man den
schwer zu analysieren. Deshalb arbeiten Computer oft mit Zylinder langziehen und zu einem Ring biegen. Dann
vereinfachten Darstellungen der vorhandenen Substan- lassen sich die beiden offenen Enden zusammenkleben,
zen. Ein Team unter der Leitung von Guo-wei Wei von der und es entsteht ein Torus. Die ursprünglichen vier gleich-
Michigan State University hat die Chemikalien dafür auf farbigen Punkte in der Ebene entstehen folglich durch
ihre topologischen Merkmale (etwa die Anzahl der hartnä- einen einzigen Punkt auf einer donutförmigen Ober-
ckigen Löcher) reduziert, indem es die persistente Homo- fläche.
logie nutzte. Gleiches kann man mit den anderen Farben wieder­
Die faszinierendste Anwendung der TDA liegt wahr- holen – mit demselben Ergebnis. Anstatt die Umgebung
scheinlich in einem weiteren Bereich der Neurowissen- auf eine Ebene oder eine Kugel abzubilden, projizieren die
schaft, der sich mit einzelnen Neuronen beschäftigt. 2014 Gitterzellen der Ratte ihre Position auf einen Torus. Und
erhielten John O’Keefe, May-Britt Moser und Edvard wie ein zylinderförmiger Stempel eine regelmäßige Ab­
Moser den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für die
Entdeckung von Orts- und Gitterzellen im Gehirn: zwei
Arten von Neuronen, die aktiviert werden, wenn sich ein
Lebewesen an einem bestimmten Ort befindet. Im Denk-
organ einer Ratte leuchtet jede Gitterzelle irgendwann
auf, während sich das Tier in seiner Umgebung bewegt.
Anstatt die Umgebung auf
Um das zu verstehen, haben Neurowissenschaftler eine eine ebene Karte abzubil­
einzelne Gitterzelle im Hirn einer Ratte genauer unter-
sucht. Jedes Mal, wenn die Zelle aktiv war, markierten die
den, projizieren Gitterzellen
Forscherinnen und Forscher die Position des Tiers auf
einer Karte (siehe »Gitterzellen«). Als es sich in einer
von Ratten ihre Position auf
quadratischen Box frei bewegte, entstand ein regelmäßi- einen Torus
Spektrum der Wissenschaft 6.23 71
»All die Anwendungen Zahlenfolge einem Punkt in einem hochdimensionalen
Raum (die Länge der Zahlenkette bestimmt die Anzahl der
wären nicht möglich, wenn Dimensionen). Indem die Forscher das System zu ver-
schiedenen Zeitpunkten aufzeichneten, sammelten sie
man nicht ernsthaft begon­ hochdimensionale Datenpunkte. Diese beschreiben, wie

nen hätte, Algorithmen sich die Muster der aktivierten Gitterzellen zeitlich ent­
wickeln.
für die topologische Daten­ Die Fachleute vereinfachten zunächst die Daten mit
einigen Standardtechniken und berechneten anschlie-
analyse zu entwickeln« ßend die persistente Homologie des Systems. Dafür
erstellten sie mehrere Graphen, indem sie die Datenpunk-
Vidit Nanda te über verschiedene Distanzen hinweg miteinander
verbanden und die daraus entstehenden Simplizialkom-
plexe untersuchten. Auf diese Weise ließ sich erkennen,
folge von Comicfiguren erzeugt, führt auch die torusför- dass die Daten wie bei den einzelnen Gitterzellen einen
mige Abbildung zu einem periodischen Muster. Torus bilden, wenn die Ratte in einem rechteckigen Käfig
Doch wie sieht es in komplizierteren Umgebungen als herumläuft. Doch eigentlich wollten die Forscher heraus-
einer viereckigen Box aus? Laufen die Tiere in ringförmi- finden, was in der komplizierten ringförmigen Umgebung
gen Käfigen umher, mit zwei sich kreuzenden, diagonalen passiert, die bei der Betrachtung einzelner Neurone kein
Durchgängen, feuert jede Gitterzelle zwar immer noch eindeutiges Ergebnis zuließ. Tatsächlich konnten sie
mehrmals, aber aus den Daten kann man nicht mehr so durch die bessere Datenlage nun eine Aussage treffen:
einfach die zu Grunde liegende Form der Karte bestim- Hier lassen sich die Datenpunkte ebenfalls auf einen
men (siehe »Verschiedene Umgebungen«). Torus abbilden.
Im Februar 2022 überprüfte ein interdisziplinäres Team, Das Team war sogar in der Lage, die kollektive neuro-
zu dem der eingangs erwähnte Benjamin Adric Dunn nale Aktivität einer schlafenden (möglicherweise träu-
gehörte, mit Hilfe von topologischen Methoden eine menden) Ratte zu sammeln. Auch hier fand sich eine
neurowissenschaftliche Theorie namens kontinuierliche donutförmige Oberfläche. Offenbar hängt diese Form
Attraktornetzwerke. Ihr zufolge gibt es Gruppen von weder von der Umgebung noch dem Zustand des Tiers
Neuronen, die fest miteinander verdrahtet sind und deren ab. Das Ergebnis unterstützt die Theorie der kontinuierli-
Verbindungen sich über die Zeit nicht ändern. Um zu chen Attraktornetzwerke. Der Torus scheint fest mit der
testen, ob solche Strukturen im Gehirn von Säugetieren Art und Weise verbunden zu sein, wie die Gitterzellen den
existieren, untersuchten die Fachleute Gitterzellen. Insbe- Raum darstellen.
sondere wollten sie herausfinden, ob diese immer einen »All diese Anwendungen wären nicht möglich gewe-
sen, wenn man nicht ernsthaft damit begonnen hätte,
Algorithmen für die topologische Datenanalyse zu entwi-
ckeln«, erklärt der Mathematiker Vidit Nanda von der
University of Oxford. »Wenn die Programme nicht effektiv
sind, nicht gut skalieren, dann will sie niemand nutzen –
Mehr Wissen auf egal wie schön die zu Grunde liegende Theorie ist.« Dank
Spektrum.de der technologischen Fortschritte werden die Anwendun-
gen der Topologie, die bis vor Kurzem nur als abstrakter
Unser Online-Dossier zum
Zweig der Mathematik galt, immer zahlreicher. 
MATJAZ SLANIC / GETTY IMAGES
/ ISTOCK
Thema finden Sie unter
spektrum.de/t/topologie
QUELLEN
Guanella, A. et al.: A model of grid cells based on a twisted
torus topology. International Journal of Neural Systems 17, 2007
Torus bilden, unabhängig von der Umgebung, in der sich
eine Ratte befindet. Sie suchten also nach ringförmigen Kanari, L.: A topological representation of branching neuronal
morphologies. Neuroinformatics 16, 2018
Oberflächen in unübersichtlichen neurobiologischen
Daten – die perfekte Aufgabe für TDA. Moser, I. E. et al.: Toroidal topology of population activity in grid
Dafür markierten die Forscher nicht die Positionen, an cells. Nature 602, 2022
denen eine einzelne Gitterzelle feuert, vielmehr untersuch- Perea, J. A., Polanco, L.: Coordinatizing data with lens spaces
ten sie die kollektive Aktivität eines ganzen Netzwerks and persistent cohomology. Proceedings of the 31st Canadian
solcher Zellen. In regelmäßigen Abständen zeichneten sie Conference on Computational Geometry (CCCG), 2019
den Zustand des Netzwerks durch eine Folge von Nullen Wei, G., Xia, K.: A review of geometric, topological and graph
und Einsen auf, die jeweils angaben, ob ein Neuron aktiv theory apparatuses for the modeling and analysis of biomolecu-
war oder nicht. Aus mathematischer Sicht entspricht die lar data. ArXiv 1612.01735, 2016

72 Spektrum der Wissenschaft 6.23


FREISTETTERS FORMELWELT

»In einem Glas Wein findet


man das ganze Universum«
Das hat zumindest der Physik-Nobelpreisträger Richard
Feynman einmal gesagt. Was man dort – und in Biergläsern –
auf jeden Fall auch findet, ist sehr viel Mathematik.

FRANZI SCHÄDEL (WWW.FLORIAN-FREISTETTER.AT/SHOW_CONTENT.PHP?HID=8) /


CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)
 spektrum.de/artikel/2128566
Florian Freistetter
ist Astronom, Autor und

R
ichard Feynmans Erläuterungen zur Verbin­ Schaumkrone sorgt dafür, Wissenschaftskabarettist
bei den »Science Busters«.
dung zwischen Physik, Astronomie, Geologie, dass nicht zu schnell das
Chemie und Wein haben durchaus ihren Reiz. restliche CO2 frei wird und
Ich bin eher Biertrinker, aus Sicht der Wissen­ das Bier frisch schmeckt.
schaft macht das aber keinen großen Unterschied. Wie lange sie stabil bleibt,
Denn auch ein Glas Bier ist voll Physik – und überra­ hängt von der Chemie ab – und hier vor allem von
schend viel Mathematik. den Stoffen, die abseits von Wasser und Alkohol
Eine im Februar 2023 erschienene Forschungs­ den Geschmack des Biers ausmachen. Zudem spielt
arbeit hat sich mit dem Phänomen des Bierschaums die Physik eine wichtige Rolle: in Form der Tempera­
beschäftigt. Und beginnt mit der viel versprechen­ tur und des Drucks, mit dem es gezapft wird. Diese
den Aussage: »Es ist unbestreitbar, dass Bier­ Zusammenhänge herauszufinden, war das Ziel der
schaum ein wichtiges Qualitätsmerkmal ist.« Zuge­ neuen Forschungsarbeit. Hier haben die Fachleute
geben, um das zu erkennen, braucht es keine inten­ unterschiedliche Kombinationen von Druck und
siven Studien. Doch wenn man den Schaum Temperatur untersucht, um die bestmöglichen
tatsächlich verstehen will, kommt man ohne Mathe­ Voraussetzungen für stabilen Schaum zu finden.
matik nicht aus. Der Text des Artikels ist voller Die meisten Leserinnen und Leser werden wohl
Formeln, und die erste davon lautet so: ihr Bier kühl genießen. Aber, so die Forschungser­
gebnisse, leider sind niedrige Tempe­
raturen hinderlich für den Schaum.
Bei 5 Grad Celsius schnitt die Qualität
am schlechtesten ab. 10 oder 15 Grad
lieferten deutlich bessere Werte. Man
Sie im Detail zu erklären, käme einer Einführung hat jedoch nicht nur die Wahl zwischen lauwarmem
in die Mechanik turbulenter Strömungen gleich, und abgestandenem Bier. Denn der Druck ist eben­
mit einer Prise numerischer Mathematik und Chaos­ falls wichtig. Wird das Getränk mit niedrigem Druck
theorie. Wir wissen immer noch nicht, wie sich gezapft, bleibt der Schaum auch bei 5 Grad ausrei­
das Verhalten von strömenden Flüssigkeiten exakt chend stabil.
beschreiben lässt oder ob man ihre chaotische Durch die umfassende mathematische Analyse
Bewegung überhaupt in klar definierte Formeln konnten die Forscher erklären, warum das so ist: Es
fassen kann. Deswegen muss man sich mit Nähe­ kommt auf die Größe der Gasbläschen an. Wenn es
rungslösungen behelfen und diese Phänomene am unterschiedliche Größen gibt, was bei niedrigen
Computer simulieren. Die obige Gleichung ist eine Temperaturen und hohen Drücken der Fall ist,
von mehreren, die nötig sind, um das zu tun; sie drängen sich die kleinen zwischen die großen und
basiert auf einem Erhaltungssatz, der bei viskosen, geben ihr Gas durch Diffusion an sie ab. Das Ergeb­
aus unterschiedlichen Anteilen bestehenden Fluiden nis: Der Schaum löst sich schnell auf. Sind die
gilt. Damit und mit noch sehr viel mehr Mathematik, Bläschen dagegen gleich groß, bleibt die Schaum­
mit Computersimulationen und auch mit realen krone länger stabil.
Experimenten sind die Forscher dem Phänomen des Ich finde es faszinierend, wie viele wissenschaft­
Bierschaums nachgegangen. liche Werkzeuge man einsetzen muss, um etwas so
Wie der Schaum entsteht, ist schon lange klar: Alltägliches wie Bier wirklich gut zu verstehen.
CO2, das im Getränk gelöst ist, wird gasförmig, und Glücklicherweise kann man es aber auch ohne all
die entstehenden Bläschen bilden den Schaum. Die dieses mathematische Hintergrundwissen trinken.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 73


ARCHÄOLOGIE

Menschenopfer
in der Wüste
Die Chimú brachten ihren Göttern nicht
nur Lamas dar, sondern opferten ihnen
sogar Dutzende von Kindern. Archäologen
entdeckten die rund 900 Jahre alten Über-
reste der Menschen und Tiere auf Dünen
im Norden Perus, wo diese einst begraben
worden waren. Warum kam es zu dem
grauenvollen Ritual?
 spektrum.de/artikel/2128569

Der Wissenschaftsjournalist
Hubert Filser ist studierter
Physiker und Autor zahlrei-
cher Sachbücher und Artikel
über Archäologie.

PRIETO, G. ET AL.: A MASS SACRIFICE OF CHILDREN AND CAMELIDS AT THE HUANCHAQUITO-LAS LLAMAS

PONE.0211691) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE) BILDNACHWEIS


SITE, MOCHE VALLEY, PERU. PLOS ONE 14, E0211691, 2019, FIG. 2 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.

DÜNE DER TOTEN Am Fundplatz


Huanchaquito-Las Llamas entdeck-
ten Archäologen zahlreiche Skelette.
Es waren die Überreste von Mäd-
chen und Jungen sowie Lamas, die
um 1450 getötet worden waren,
vermutlich bei einem Ritual.

74 Spektrum der Wissenschaft 6.23


AUF EINEN BLICK

El Niño besänftigen
1 An zwei Fundplätzen in Peru haben Archäologen
Massenopferstätten frei gelegt: Hunderte getötete
Kinder und Lamas waren dort vor fast 900 Jahren
oder später niedergelegt worden.

2 Womöglich gab eine klimatische Ausnahmesitua­


tion auf Grund des El-Niño-Phänomens den Anlass
für das grausame Ritual, das Fachleute der Kultur
der Chimú zuordnen.

3 Die Herrscher der Chimú nutzten die Massenopfe­


rungen vermutlich auch als Machtdemonstration.
PRIETO, G. ET AL.: A MASS SACRIFICE OF CHILDREN AND CAMELIDS AT THE HUANCHAQUITO-LAS LLAMAS
SITE, MOCHE VALLEY, PERU. PLOS ONE 14, E0211691, 2019, FIG. 2 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.
PONE.0211691) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

Spektrum der Wissenschaft 6.23 75



Die Priester trieben die Kinder auf eine Düne an der Archäologen wissen mittlerweile, dass im Zeitraum
Pazifikküste – manche der Kleinen waren gerade zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert auch im zwei
einmal vier Jahre alt. Gleichzeitig waren auf einem Kilometer entfernten Küstenort Huanchaquito-Las Llamas
nahe gelegenen Hügel die Vorbereitungen zur großen Opfer dargebracht wurden. Insgesamt haben die Forscher
Zeremonie im Gange. Mehrere dutzend Kinder sollten an beiden Orten 428 Kinderskelette entdeckt, dazu hun­
dort den Göttern geopfert, ihre Herzen bei lebendigem derte Überreste junger Lamas, die ebenfalls rituell getötet
Leib herausgeschnitten werden. Die Ritualmeister des wurden. »So verrückt es klingt«, sagt Prieto, »wir könnten
Volkes der Chimú hatten dafür scharfe Messer bereitge­ auf dem Grabhügel bis zu 1000 Opfer finden.« Die zwei
legt. Mit einem glatten Schnitt wollten sie das Brustbein Fundplätze gelten momentan als die größten Massen­
durchtrennen, den Knochen anschließend aufstemmen, opferstätten weltweit, an denen man Kinder und Tiere
um an das Leben spendende Organ zu gelangen. umgebracht hatte.
Ungefähr so könnte sich vor rund 900 Jahren ein
grausames Ritual abgespielt haben, erzählt Gabriel Prieto. Die Chimú von Chan Chan
Zusammen mit seinem Team hat er in Nordperu die Die Fundorte liegen wenige Kilometer außerhalb der alten
Überreste der geopferten Kinder entdeckt. Sie gehörten Hauptstadt der Chimú-Kultur Chan Chan. Im 14. Jahrhun­
der geheimnisvollen Chimú-Kultur an. Der Anthropo­loge dert war sie mit etwa 50 000 bis 100 000 Einwohnern eine
von der University of Florida in Gainesville stammt selbst Siedlung von beachtlicher Größe für die damalige Welt.
aus der Region. Erst 2022 legten er und seine Kollegen in Dieses mysteriöse Volk, berühmt für seine Gold- und
Pampa la Cruz nahe der Küstenstadt Trujillo 67 Skelette Silberschmiedearbeiten, siedelte in einem Gebiet zwi­
von Kindern frei. Insgesamt hat die Forschergruppe in den schen der heutigen Südgrenze Ecuadors bis etwa nach
vergangenen Jahren dort 291 Tote aufgespürt. »Alle Lima, der Hauptstadt Perus. Regiert von den Königen in
Skelette wiesen einen sauberen Schnitt quer über das Chan Chan, beherrschten die Chimú ab 900 n. Chr. eine
Brustbein auf«, sagt Prieto. Zusätzlich fehlten bei man­ rund 1000 Kilometer lange, schmale Küstenregion an den
chen Überresten einzelne Rippen. Über den geöffneten Ausläufern der Anden. Die Menschen lebten in einer
Brustkorb entnahmen die Priester wohl das Herz der wüstenartigen Umgebung, die von mehreren fruchtbaren
Kinder. Ob es tatsächlich entfernt wurde, ist aber nicht Flusstälern durchzogen war. Erst um 1470 wurden die
ganz sicher, weil sich an den Toten kaum Weichteilgewe­ Chimú von den Inka besiegt, und ihr einst mächtiges
be erhalten hat. Reich ging in deren Herrschaftsgebiet auf.
Das sind allerdings nicht die einzigen Spuren ritueller Die Chimú waren Spezialisten darin, die trockenen
Tötungen von Kindern und Jugendlichen in Nordperu. Die Küstenregionen zwischen den Anden und dem Meer

AN PERUS KÜSTE
In Pampa la Cruz und ECUADOR
Huanchaquito-Las
Llamas töteten die
Chimú einst dutzende Am
A
azzoonn
ma
Kinder und Lamas. aass
Unweit der Fundorte
befand sich ihre Haupt-
P EE RRUU
Río

stadt Chan Chan. P


Ma
rañ

heutige Stadt
ón

Fundplatz BRASILIEN
RíRoío
UUcacya

Pampa la Cruz
aylaili

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT (OPENSTREETMAP CONTRIBUTORS)

Huanchaquito-
Las Llamas
AN

Trujillo
DE

Chan Chan
N

Lima
N
200 km
he
oc
2 km M
o

76 Spektrum der Wissenschaft 6.23


ERNESTO ARIAS / EPA-EFE / PICTURE ALLIANCE

PAMPA LA CRUZ An dem Fundplatz, der an


der Pazifikküste liegt, haben Archäologen die Pampa la Cruz ist schon länger als archäologische Stät­
Über­reste von 291 Menschen frei gelegt. Diese te bekannt, allerdings mehr für Kulturen aus Zeiten vor
waren zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert den Chimú. Erst Prieto entdeckte dort 2016 eine Chimú-
getötet und begraben worden. Siedlung und die Überreste von 224 Menschen sowie
400 Lamas. Bei ihnen fanden die Fachleute ebenso wie an
den neu entdeckten Skeletten jeweils Schnittspuren am
urbar zu machen. Quer zu den fruchtbaren Oasentälern, in Brustbein oder an den Rippen – ein Indiz dafür, dass auch
denen sich die Flüsse den Weg aus den Bergen bahnten, ihnen das Herz entnommen worden war.
legten sie kilometerlange, mehrere Meter breite Kanäle Die Tiere und die Kinder bestatteten die Chimú in
zur Bewässerung an. Geschickt nutzten sie dafür das Pampa la Cruz getrennt voneinander, in kleinen Gruppen.
Gefälle der Landschaft. Zudem kleideten sie die bis zu Radiokarbondatierungen der Knochen ergaben, dass die
zwei Meter tiefen Kanäle mit gebranntem Lehm aus, um Opferungen offenbar zu bestimmten Zeiten stattgefunden
möglichst wenig Wasser zu verlieren. hatten. Die Archäologen ordneten die Massentötungen
So gelang es den Chimú, Felder mit Mais, Kürbis, mindestens vier Zeiträumen zu. Dies spricht für eine
Bohnen, Avocados oder anderen Gemüsearten und gewisse Regelmäßigkeit – vielleicht um eine Gottheit
Früchten zu bewirtschaften. Mit Mais als Futtermittel gnädig zu stimmen? »Die Opfer waren möglicherweise
züchteten sie in großem Stil Alpakas und Lamas. Die mit einem zyklischen Kalenderereignis verbunden«, sagt
domestizierten Andentiere waren für die Chimú beson­ der französische Archäologe Nicolas Goepfert vom Centre
ders wichtig – als Nahrungsmittel und als Lastenträger. national de la recherche scientifique (CNRS) in Paris, der
Mehrere Archäologen nehmen an, dass die Kameltiere zusammen mit Prieto an den Fundstätten forscht. In
Fernhandelsbeziehungen mit anderen Andenreichen und jedem Fall handelte es sich um ein etabliertes, für die
sogar mit Amazonien jenseits der Berge ermöglichten. Chimú wichtiges Ritual.
Die Chimú hatten so Zugang zu Rohstoffen, wertvollen
Objekten und Naturalien aus Gegenden weit entfernt von Auch die Moche töteten
der Pazifikküste. Menschen rituell
Warum aber tötete eine derart fortgeschrittene Kultur Welcher Gottheit die Opfer galten, ist unklar. Die Chimú
so viele ihrer Kinder? Prieto hält es für möglich, dass haben keine Schriftquellen hinterlassen; auch eindeutige
manche Rituale dazu dienten, neu angelegte Bewässe­ Darstellungen von Göttern kamen bislang keine ans Licht.
rungsanlagen und Felder, die man der Wüste entrissen Allerdings gibt es eine Spur, die zu den Vorgängern der
hatte, zu weihen. Denn es fällt auf, dass die Opferungen Chimú führt: den Mochica oder Moche. Diese lebten
nicht in Chan Chan stattfanden – in der Stadt der »strah­ zwischen 100 und 800 n. Chr. in der Region. Nicolas
lenden Sonne«, dem Zentrum des Reichs, wo die Herr­ Goepfert erklärt, dass die Kultur an der Nordküste Perus
scher und die führende Elite lebten. Vielmehr opferten die als wichtigstes Ritual ihrer Religion Menschenopfer
Chimú ihre Kinder außerhalb ihrer Kapitale im ländli­ darbrachte. Ihre Hauptgottheit stellten sie mit Opfermes­
chen Raum. ser in der einen Hand und einem abgeschnittenen Kopf in

Spektrum der Wissenschaft 6.23 77


PLOS ONE 14, E0211691, 2019, FIG. 4 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0211691) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
PRIETO, G. ET AL.: A MASS SACRIFICE OF CHILDREN AND CAMELIDS AT THE HUANCHAQUITO-LAS LLAMAS SITE, MOCHE VALLEY, PERU.

SKELETT EINES KINDES Die Toten waren


in einfache Wolltücher gewickelt worden; der anderen dar. Aus den Kultpraktiken der Mochica, die
vor allem die älteren Kinder trugen zusätzlich für ihre Götter erwachsene Menschen töteten, könnten
ein Tuch über dem Kopf. Weshalb, wissen die Massenrituale der Chimú hervorgegangen sein. »Bei
die Archäologen nicht. den Chimú hat sich die Opferung aber mehr auf Kinder
konzentriert, die von Lamas begleitet wurden«, sagt
Goepfert.
LAMA UND KIND Das hellbraun gefärbte Die Entnahme des Herzens war im Andenraum durch­
Fell des Tiers ist stellenweise noch erhalten. aus verbreitet, betont der französische Archäologe. Noch
Bei der Niederlegung hatte man das Lama heute werden dort Lamas auf diese Weise geschlachtet.
über dem Leichnam eines Kindes deponiert, Doch damals wendeten die Priester die Praxis ebenso bei
dessen Schädel rechts zu erkennen ist.
PRIETO, G. ET AL.: A MASS SACRIFICE OF CHILDREN AND CAMELIDS AT THE HUANCHAQUITO-LAS LLAMAS SITE, MOCHE VALLEY, PERU.
PLOS ONE 14, E0211691, 2019, FIG. 5 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0211691) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

78 Spektrum der Wissenschaft 6.23


Menschen an. »Das Herz zu entfernen, könnte eine sym­
bolische Bedeutung gehabt haben«, erklärt Goepfert.
»Vielleicht sahen es die Chimú als Sitz der Seele, als
Ursprung des Lebens.« Ob die Kinder aber tatsächlich
noch lebten, als ihnen die Herzen herausgetrennt wurden,
lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen.

PLOS ONE 14, E0211691, 2019, FIG. 9 (DOI.ORG/10.1371/JOURNAL.PONE.0211691) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)


Womöglich hatte man sie zuvor auch mit Drogen betäubt.
Die zweite Stätte, Huanchaquito-Las Llamas, auf einer

PRIETO, G. ET AL.: A MASS SACRIFICE OF CHILDREN AND CAMELIDS AT THE HUANCHAQUITO-LAS LLAMAS SITE, MOCHE VALLEY, PERU.
lang gestreckten Düne nahe dem Pazifik zu finden, unter­
scheidet sich in einem wichtigen Punkt von Pampa la
Cruz. Es scheint dort keine regelmäßigen Massenopfer
gegeben zu haben; vielmehr ist ein einziges großes Ritual
aus der Zeit zwischen 1400 und 1450 überliefert, wie die
Radiokarbondaten ergaben. 137 Kinder, 3 Er­wachsene
und 200 Lamas kamen damals in kurzer Zeit zu Tode.
Wie in Pampa la Cruz waren die Körper der Kinder
gleich ausgerichtet: Die Köpfe lagen mit Blick gen Wes­
ten. Bei den Lamas verhielt es sich genau umgekehrt, sie
waren nach Osten zu den Anden ausgerichtet. Fachleute
mutmaßen, dass die Kinder und die Tiere unterschied­
lichen Göttern geopfert wurden: einer Gottheit, die mit
dem Meer in Verbindung stand, und einer, die mit den
Bergen verknüpft war.
Rätselhaft bleibt, warum die Chimú in Huanchaquito-
Las Llamas ihre gängigen Opferpraktiken änderten und
ein einziges Mal ein derart umfangreiches Ritual durch­
führten. Daher haben Prieto und seine Kollegen die toten
Kinder und Lamas in den vergangenen Jahren intensiv
­untersucht. DNA-Analysen ergaben zunächst, dass es DURCHGESCHNITTEN Die beiden durch­
keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern der trennten Brustbeine stammen von Skeletten aus
Getöteten gab. Es waren gleichermaßen Mädchen wie Huanchaquito-Las Llamas. Bei allen Toten lagen
Jungen, ihr Alter bestimmten die Archäologen auf 4 bis 15 die Schnitte an nahezu derselben Stelle. Laut
Jahre. Eine Isotopenauswertung der Knochen lieferte den Ausgräbern zeugen die Spuren davon, dass
zudem Hinweise auf die Herkunftsregion der Toten. eine geübte Hand das Messer führte.
Offenbar stammten sie aus dem ganzen Reich der Chimú,
sowohl aus den Andenregionen als auch aus den Gebie­
ten entlang des 1000 Kilometer langen Küstenstreifens. spezielle Mahlzeit, die sie sonst nie fraßen: gekochte
Die unterschiedliche Herkunft der Kinder deutet Bohnen, Maniok und Chilischoten. Das fanden 2021
Goepfert als Indiz dafür, dass diese als Tribute an den Hof Archäozoologen des CNRS in Paris heraus. »Diese beson­
der Chimú-Herrscher gelangten. Sie dienten demnach als dere Mahlzeit war für uns unerwartet«, sagt Goepfert.
grausame Zwangsabgabe. »Als das Reich größer wurde, »Sowohl die Tiere als auch die Menschen erfuhren eine
gab es vielleicht einen höheren Bedarf an solchen Pflicht­ spezielle Behandlung, ehe sie geopfert wurden.«
maßnahmen«, sagt Goepfert. Das Opferritual hätte zudem Was aber war der Grund für das rituelle Massaker? Die
vor aller Augen gezeigt, über welch große Macht die Elite Archäologen vermuten als Auslöser eine klimatische
verfügte. Zugleich hätte es deren hohen Status gestärkt – Sondersituation. Die Opferung könnte während einer
in einer Gesellschaft, die zweifelsohne hierarchisch aufge­ El-Niño-Episode stattgefunden haben. Das Klimaphäno­
baut war. men sucht noch heute die Nordküste Perus heim. Es
entsteht in unregelmäßigen Abständen um die Weih­
Bohnen, Maniok und Chilischoten nachtszeit – daher der Name El Niño, das Christkind: Sind
als Henkersmahlzeit die Passatwinde zu schwach, um warmes Oberflächen­
Goepfert, Prieto und ihre Kollegen führten auch an den wasser im Pazifik nach Westen zu schieben, versiegt der
Überresten der Lamas eine Isotopenuntersuchung durch. Aufstrom kühlen Wassers vor Südamerika. Durch die
Wie sich zeigte, stammten die Tiere allesamt aus küsten­ Wärme verdunstet mehr Wasser als sonst, es kommt zu
nahen Regionen. Überdies hatten die Chimú gezielt Tiere massiven Regenfällen und Überschwemmungen in der
mit beigem oder braunem Fell ausgewählt, nie weiße, normalerweise extrem trockenen Küstenregion Perus.
graue oder schwarze Lamas. Goepfert schließt daraus, El Niño verheerte den Küstenstreifen sicher schon zur
dass die Farben eine symbolische Bedeutung hatten. Zeit der Chimú. Für ein Volk, das von der Bewässerung
Außerdem futterten die Tiere vor ihrer Opferung eine abhängig war, dürften solche Ereignisse gravierend

Spektrum der Wissenschaft 6.23 79


gewesen sein. Der Wechsel von Dürre zu Fluten, die von
den Anden herabstürzten, stellte die Chimú vor große
Probleme. Möglicherweise kam es auch im 15. Jahrhun­
dert zu einer besonders heftigen Klimakatastrophe, mit
Überschwemmungen und massiven Erdrutschen. Jeden­

THE METROPOLITAN MUSEUM OF ART, NEW YORK / BEQUEST OF JANE COSTELLO GOLDBERG, FROM THE COLLECTION OF ARNOLD I. GOLDBERG, 1986
falls stieß Prietos Team auf eine dicke Schicht getrockne­

(WWW.METMUSEUM.ORG/ART/COLLECTION/SEARCH/315678) / CC0 1.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/PUBLICDOMAIN/ZERO/1.0/LEGALCODE)


ten Schlamms an der Opferstelle. Mehr noch: Im
Schlamm hatten sich Fußspuren erhalten, von Menschen,
Lamas und Hunden.
Vermutlich dauerten die Rituale damals mehrere Tage,
vielleicht sogar Wochen, sagt Nicolas Goepfert. Deshalb
halten es die Archäologen für sehr wahrscheinlich, dass

OPFERMESSER Die Figur mit imposantem


Kopfputz stellt vermutlich eine Mythengestalt der
Chimú dar. Sie dient als Griff für dieses Tumi
(Opfermesser) aus Gold. Das Ritualgerät entstand
wohl in den königlichen Werkstätten der Chimú.
HERITAGE ART / HERITAGE IMAGES / PICTURE ALLIANCE

KULTGEFÄSS Ein Gott mit Opfermesser in der


einen und einem Tierkopf in der anderen Hand
steht über dem Leichnam eines Geköpften. Das
Tongefäß ist typisch für die Moche-Kultur, die den
Chimú vorausging.

Klimaveränderungen der Grund für das grausame Mas­


senopfer waren. Es sollte höhere Mächte gnädig stim­
men, die Katastrophe von den Chimú abzuwenden. Und
gleichzeitig sollte es allen Lebenden zeigen, dass ihre
Herrscher über enorme Macht verfügten und sich Men­
schenopfer leisten konnten – so brutal sie auch waren. 

QUELLEN
Cagnato, C. et al.: Eat and die: The last meal of sacrificed Chimú
camelids at Huanchaquito-Las Llamas, Peru, as revealed by
starch grain analysis. Latin American Antiquity 32, 2021

Dufour, E. et al.: Life history and origin of the camelids provisio-


ning a mass killing sacrifice during the Chimú period: Insight
from stable isotopes. Environmental Archaeology 25, 2020

Goepfert, N.: New zooarchaeological and funerary perspectives


on Mochica culture (a.d. 100–800), Peru. Journal of Field
Archaeology 37, 2012

Goepfert, N. et al.: Herds for the gods? Selection criteria and


herd management at the mass sacrifice site of Huanchaquito-
Las Llamas during the Chimú period, northern coast of Peru.
Environmental Archaeology 25, 2020

Prieto, G. et al.: A mass sacrifice of children and camelids at the


Huanchaquito-Las Llamas site, Moche Valley, Peru. PLOS ONE
14, 2019

80 Spektrum der Wissenschaft 6.23


LESERBRIEFE

Passendere dass sie erst nach und nach eigene


Spezialisierungen und damit eigene
Stoffe den empfindlichen Spiegel und
die Instrumente verschmutzen wür-
Bezeichnungen ökologische Nischen entwickeln den. Für so ein Manöver ist es aber
konnten, analog zu solchen der nicht konstruiert, und selbst wenn,
Der Paläontologe Stephen Bru-
ausgestorbenen Arten. Aber es hat ja müsste danach die gesamte Abküh-
satte beschrieb, wie die Säuger, offenbar kein Säugetier zum Beispiel lung und Kalibrierung erneut erfol-
die den Asteroideneinschlag den Beruf des T. rex ergriffen. gen, da ohne den Schutz des Strah-
überlebt haben, nach den Di- Zweitens: »Manche tauschten lungsschilds die falsche Seite durch
nosauriern ein neues Zeitalter Arme gegen Flossen« – Lamarck die Sonne wieder aufgeheizt würde.
einläuteten. lässt grüßen! Die Evolution hat kein Abgesehen davon würde der Treib-
(»Wie die Säugetiere die Welt eroberten«, vorgegebenes Ziel, sondern Varianten stoffverbrauch die Lebensdauer des
»Spektrum« Januar 2023, S. 34) im Genpool von Populationen werden JWST stark vermindern.
über die selektive Wirkung von Die Pfeile suggerieren, dass es
Hans-Jürgen Ellenberger, Markgrön- Umweltfaktoren bevorzugt oder eine Anziehungskraft tangential hin
ningen: Zum Artikel sind drei Punkte verdrängt. »Hufe vergrößerten sich« zum L2 gäbe. Das stimmt nicht, da
zu kritisieren. Erstens ist eine »ökolo- nicht einfach, sondern Tiere mit am L2 keine Masse existiert. Tatsäch-
gische Nische« kein Ort, der einfach größeren Hufen überlebten eher. lich ist es der Mond, der je nach
da ist wie eine Mauernische. Viel- Drittens liest oder hört man oft seiner aktuellen Position das JWST
mehr entsteht sie erst parallel zu der »Erderwärmung«. Die weltweite tangential einmal in die eine und
Anpassung einer Art an eine speziali- Erwärmung des Klimas beziehungs- einmal in die andere Richtung ab-
sierte Lebensweise – also dem »Be- weise der Atmosphäre ist in Relation lenkt. Den L2 in seiner theoretischen
ruf« der Art, was eine viel passendere zum Planeten mit einem glutflüssigen Reinform als Punkt gibt es gar nicht,
Bezeichnung ist. Insofern gab es für Inneren ein bescheidener Anteil. Es da er sich durch die Störmasse des
die frühen Säuger keinerlei »verwais- gibt keine Erd-, sondern eine Klima­ Mondes laufend verschiebt. Daher
te« Berufe, die sie hätten einfach so erwärmung! musste der Startzeitpunkt der Ariane
übernehmen können, allenfalls kon- 5 auf der Erde mit hoher Genauigkeit
kurrenzlose Umweltbedingungen, so eingehalten werden.
Vor dem Mit der Position des JWST vor

­Lagrange-Punkt dem L2 in Richtung Erde ist verbun-


den, dass die Anziehung aus Sonne,
Eine Infografik stellte die Beson- Erde und Mond leicht größer ist als
Leserbriefe sind derheiten jenes Orts im All dar, die Zentrifugalkraft aus dem Orbit um
die Sonne. Deswegen muss eben
an den das Weltraumteleskop
willkommen! JWST gereist ist. Treibstoff vorgehalten werden, um
mit möglichst kleinen Korrekturen
Schicken Sie uns Ihren (»Stiller Ort zum Sternegucken«, das JWST wieder näher zu dem Orbit
»Spektrum« Januar 2023, S. 59)
Kommentar unter Angabe, vor dem L2 zu transportieren und die
auf welches Heft und welchen langsame Verschiebung zur Sonne
Artikel Sie sich beziehen, Peter Klamser, Egeln: Das JWST hin regelmäßig zu kompensieren.
einfach per E-Mail an wurde nicht am, sondern vor dem Die Grafik ist etwas ungünstig,
leserbriefe@spektrum.de. Lagrange-Punkt 2 (L2) positioniert. weil schwer zu erkennen ist, dass die
Oder kommen­tieren Sie im Das ist aus dem folgenden Grund Trajektorie des JWST am L2 senk-
Internet auf Spektrum.de direkt extrem wichtig. recht auf der Ekliptik steht, und nicht
unter dem zugehörigen Artikel. Wie Sie schreiben, ist der L2 wie dargestellt der Eindruck entste-
Die indi­viduelle Webadresse metastabil. Wenn sich das JWST für hen darf, dass sich das JWST jemals
finden Sie im Heft jeweils auf den Fall einer Bahnstörung zum raumwärts vom L2-Orbit entfernt.
der ersten Artikelseite abge- Beispiel durch den Mond jenseits des
druckt. Kürzungen innerhalb der L2 befände, würde die überschüssige
Leserbriefe werden nicht kennt- Zertifugalbeschleunigung dazu Erratum
lich gemacht. Leserbriefe wer- führen, dass es sich in die Weiten des
den in unserer gedruckten und Weltraums verabschiedet. »Neubau der Mathematik«, »Spektrum«
digitalen Heftausgabe veröffent- Um es wieder einzufangen und Januar 2023, S. 12
licht und können so möglicher- einen Gegenschub in Richtung Erde
weise auch anderweitig im zu erzeugen, müsste das JWST um Im Kasten »0,999… = 1« auf S. 16
Internet auffindbar werden. 180 Grad gedreht werden. Denn auf wird der Exponent n beziehungs­
der Beobachtungsseite hat es keine weise danach n  – 1 gesetzt. Richtig
Steuerdüsen, da die ausgestoßenen wäre –n und 1  –   n.

Spektrum der Wissenschaft 6.23 81


VORSCHAU Das Juliheft ist ab 17. 6. 2023 im Handel.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT (ERSTELLT MIT DALL·E)

BROOKHAVEN NATIONAL LABORATORY


Ein Löffelchen Ursuppe
Der frühe Kosmos war ein heißes und dichtes
Gemisch aus fundamentalen Materiebestand­
teilen. Neue Experimente an Teilchenbeschleuni-
gern sollen die extremen Bedingungen präziser
nachbilden als je zuvor.

PANKSVATOUNY / GETTY IMAGES / ISTOCK

Der Ursprung des Lebens


Die präbiotische Evolution gibt Rätsel auf. Wie gingen
aus Salzlösungen, organischen Molekülen und Ge-
stein die ersten Zellen hervor? Fachleute suchen nach
dem Bindeglied zwischen Geo- und Biologie.

Klimaschonender Stahl
Die Stahlindustrie ist einer der größten

Auftragskiller der Körperabwehr Treibhausgas-Emittenten. Mit innovativen


Technologien ließe sich der Ausstoß um bis
CAR-T-Zellen sind künstlich scharfgeschaltete Immun- zu 90 Prozent reduzieren.
zellen. Sie bewähren sich in der Krebstherapie – und
bald wohl auch in weiteren Bereichen der Medizin.
MELETIOS VERRAS / GETTY IMAGES / ISTOCK

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Wie Waben in der


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Wüste wachsen
An der Oberfläche ausgetrockneter Seen bilden
sich polygonförmige Strukturen. Sie sind das
Ergebnis von Konvektionsvorgängen, die
von der Sonne angetrieben werden und Salz H. Joachim Schlichting war
auf organisierte Weise ausfällen. Direktor des Instituts für
Didaktik der Physik an der
Universität Münster.
Seit 2009 schreibt er für
»Spektrum« über physikali-
»Aus Vor- und Rückwärts bildet sich der Kreislauf« sche Alltagsphänomene.
Franz Grillparzer


Wüsten sind als raue Schönheiten bei Touristen Niederschlägen in den umgebenden Bergen gespeist
beliebt, gelten aber zu Unrecht als tote Landschaften. wird.
Tatsächlich sind sie ständig im Fluss, wenn auch Zu den ebenso beeindruckenden wie rätselhaften
manchmal auf subtile Art. In den weltweit vorkommen- Merkmalen dieser trockengefallenen Seen gehören
den Salzwüsten beispielsweise wachsen erstaunliche ästhetische polygonale Muster kristallisierten Salzes. Sie
Wabenmuster am Boden. Deren Zustandekommen hat überziehen die Wüsten auf großen Flächen. Rein von der
sich lange einer einheitlichen und konsistenten wissen- Struktur her erinnern sie zunächst vielleicht an überdi-
schaftlichen Beschreibung entzogen. mensionale Trockenrisse, die man von Pfützen oder
Salzwüsten – ob im Death Valley in Kalifornien, im lehmigen Flusssedimenten in der Sommerhitze kennt. In
Chott el Djerid in Tunesien oder in der Salar de Uyuni in solchen Fällen richtet sich die Größe der auseinanderklaf-
Bolivien – gehen aus austrocknenden Seen hervor, in fenden Bodenabschnitte nach der Dicke der Schlamm-
denen mehr Wasser verdunstet, als der Regen nachliefert. schicht. Im Gegensatz dazu weisen die Vielecke aus
Der Zufluss erfolgt meist durch Grundwasser, das aus Salzkristallen einen einheitlichen Durchmesser von ein bis
zwei Metern auf, unabhängig von der Stärke der verkrus-
teten Schichten. Daran scheitern auch weitere Hypothe-
SALZPOLYGONE Schmale Wülste aus Salz sen zur Entstehung, etwa dass an die Oberfläche gelan-
teilen die Salzebene des Salar de Uyuni in Bolivien gendes Salz zu einer horizontalen Ausdehnung führen
in regelmäßig anmutende Parzellen auf.
SARA_WINTER / GETTY IMAGES / ISTOCK (AUSSCHNITT)
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würde und damit zu einer Art Faltenbildung.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE ZEITZ, NACH LASSER, J. ET AL.: SALT POLYGONS AND POROUS
MEDIA CONVECTION. PHYSICAL REVIEW X 13, 2023, FIG. 2 (DOI.ORG/10.1103/PHYSREVX.13.011025) /
Als ich derlei Polygone zum ersten Mal vor Jahren in
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte

Tunesien gesehen habe, erinnerten sie mich an eine Art

CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
erstarrter Rayleigh-Bénard-Konvektionszellen. Solche
Formen sieht man manchmal auf Milchkaffee, erwärm-
tem Fett in der Pfanne oder sogar Eisschichten. Allerdings
gab ich den Vergleich schnell wieder auf, weil die Gebilde
aus Salz bestehen und in den meisten Fällen weit davon
entfernt scheinen, flüssig zu sein.
Nun liegt genau diese Vorstellung einem Modell zu
Grunde, das im Februar 2023 von einer internationalen
Forschungsgruppe um Jana Lasser von der Universität KONVEKTIONSBEWEGUNGEN
Graz veröffentlicht wurde. Das Team erklärt die polygon- Pfeile kennzeichnen die Strömungen in
artigen Strukturen durch eine Wechselwirkung von einer Zelle, kräftigere Farben entsprechen
Salzwasser-Konvektionsbewegungen mit den kristallisier- höheren Salzkonzentrationen.
ten Krusten. Die bisherigen Ansätze haben meist überse-
hen, dass es unterhalb des festen Wüstenbodens im
Allgemeinen nicht trocken ist, sondern Kontakt zu stark Flüssigkeit die Oberfläche und breitet sich radial nach den
salzhaltigem Grundwasser gibt. Dieses reicht oft bis Seiten aus, während ihre Temperatur abnimmt. Dort trifft
knapp unter die Oberfläche. Die Hypothese wurde durch sie auf die entsprechenden Strömungen der Nachbarge-
Computersimulationen untermauert: Die Resultate geben biete, und alle sinken gemeinsam – durch die Abkühlung
das natürliche Phänomen erstaunlich gut wieder und dichter geworden – wieder nach unten. Dort erwärmen
erlauben verifizierbare Vorhersagen. sie sich und durchlaufen eine neue Runde.
Für eine Vorstellung von der Dynamik des Vorgangs Wenn man dieses überschaubare Geschehen vor
hilft zunächst ein Blick auf die normale Rayleigh-Bénard- Augen hat, ist es einfacher, die Vorgänge unter- und
Konvektion, auch wenn sich die Ergebnisse nicht eins zu oberhalb der Wüstenebene anschaulich zu erfassen. In
eins übertragen lassen. Dabei hat man es mit einer Flüs- dem porösen Bodenmaterial steigt Salzwasser auf, nach-
sigkeitsschicht zu tun, die typischerweise von unten dem es seine Dichte durch Kontakt mit dem Grundwasser
geheizt und dadurch instabil wird. Die erwärmte und verringert hat. Das passiert jeweils in der Mitte jedes
damit leichter gewordene untere Lage drückt die darüber- Polygons. Oben angekommen, breitet sich die Flüssigkeit
liegende nach oben. Das kann nicht im Stück über die radial nach allen Seiten aus. Dabei wird sie von der Sonne
gesamte Fläche gelingen, sondern geschieht an vielen aufgeheizt, und ein Teil des Wassers verdunstet. Dadurch
Stellen, indem sich ein Austausch zwischen kalten und steigen dessen Salzgehalt und Dichte. Das hat einen
warmen Partien einstellt. Das führt zu einem stationären doppelten Effekt. Einerseits wird Salz ausgefällt, das in
Muster von charakteristischen Konvektionszellen. In der zunehmend konzentrierten Sole nicht mehr löslich ist.
deren Zentren erreicht die nach oben strömende warme Andererseits nimmt die Dichte zu, woraufhin die übrige
Lake am Übergang zu den Nachbarzellen absinkt. Entlang
der Ränder der einzelnen Polygone wachsen dann Kristal-
SIMULIERTE DYNAMIK Eine Visualisierung le in die Höhe.
der Vorgänge entlang und unter der Kruste eines Im Prinzip ist diese Konvektionsdynamik rotationssym-
Salzsees zeigt an der Oberfläche die aufsteigen- metrisch. Es würden sich also kreisförmige Zellen erge-
den (blau) und absteigenden (rot) Ströme sowie ben. Wenn allerdings solche runden Gebilde gegeneinan-
darunter die Salzkonzentration (in Brauntönen; der wirken und eine gemeinsame Grenze bilden, kommt
je dunkler, desto höher). es im Idealfall zu Sechsecken. Das kennt man von Bienen-
waben. Bei den Wüsten läuft es nicht ganz so perfekt ab.
LASSER, J. ET AL.: SALT POLYGONS AND POROUS MEDIA CONVECTION. PHYSICAL

Hier stören unterschiedliche Bodenbeschaffenheiten an


REVIEW X 13, 2023, FIG. 3E (DOI.ORG/10.1103/PHYSREVX.13.011025) /
CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

vielen Stellen den freien Fluss. Deswegen sind zwar die


Zellen mit sechs Ecken in der Überzahl, aber meistens
sind die Seiten nicht gleich lang. Dennoch ist die Muste-
rung wunderschön. Sie beeindruckt umso mehr, wenn
man sich bewusst macht, dass man gerade eine Moment-
aufnahme eines hochkomplexen dynamischen Gesche-
hens vor Augen hat. 

QUELLE
Lasser, J. et al.: Salt polygons and porous media convec-
tion, Physical Review X 13, 2023
REZENSIONEN

ALLISON BAILEY / NURPHOTO / PICTURE ALLIANCE


exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte

EINE FRAU MIT GASMASKE IM MÄRZ


2023 Sie nimmt an einer Demonstration in
Washington, D. C., gegen das iranische
Regime teil. Die Menschen forderten ein
Ende der mutmaßlichen Vergiftungen von
Schülerinnen in Iran.

Wie weit würden Sie gehen,


um Ihre Freiheit zu verteidigen?
15 iranischstämmige Frauen erheben die Stimme
gegen die Islamische Republik. Sie schildern
eindrucksvoll ihre Erlebnisse und erklären, was
der Westen tun kann, um sie zu unterstützen.

 »Wie weit würde ich gehen, um


meine Rechte zu verteidigen?«
Diese Frage habe ich mir beim Lesen
Der Titel spiegelt den Inhalt tref-
fend wider: Das Werk besteht aus 15
Kapiteln, die von je einer Iranerin
des beeindruckenden Buchs häufig (oder einer iranischstämmigen Frau)
gestellt. Ich bin in Deutschland verfasst wurde. Auch wenn die
geboren: Mich frei bewegen zu ausgewählten Frauen vieles eint,
können, selbst zu entscheiden, wie haben sie teilweise vollkommen
ich mich kleide oder mit wem ich verschiedene Hintergründe: Man
mich treffe – all das ist für mich findet berühmte Schauspielerinnen
selbstverständlich. Doch nicht alle (Nazanin Boniadi), Nobelpreisträge-
Menschen haben dieses Privileg. rinnen (Shirin Ebadi), aber auch
Auch wenn das keine neue Erkennt- Angehörige ethnischer Minderheiten,
nis ist, verleitet die Lektüre des Buchs die im Iran diskriminiert werden, wie
Natalie Amiri, Düzen Tekkal
»Die mutigen Frauen Irans« dennoch »Ani« (eine Kurdin, die anonym
zum Nachdenken. Dieses ist wegen bleiben möchte) oder die Belutschin Die mutigen
der landesweiten Proteste entstan- Fariba Balouch. Frauen Irans
den, die im September 2022 began- Die Autorinnen haben für das Elisabeth Sandmann Verlag,
nen, nachdem eine junge Frau, Jina Buch viel riskiert: Selbst jene, die im München 2023
Mahsa Amini, von der iranischen Exil leben, wurden für ihren Wider- € 25,–
Sittenpolizei aufgegriffen und mut- stand in der Vergangenheit bereits
maßlich zu Tode geschlagen wurde. von iranischen Kräften angegriffen.
REZENSIONEN

So konnte die US-Regierung 2021 Lebensversicherung nur die Hälfte, Die Herausgeberinnen Amiri und
einen Entführungsversuch der in New gleiches gilt beim Erbrecht und so Tekkal äußern sich selbst bloß in
exklusiver Zusatzinhalt spektrum.de/aktion/zusatzinhalte

York lebenden Aktivistin Masih weiter. Gegen diese Ungerechtigkei- einem kurzen Vorwort. Schade
Alinejad vereiteln, den der iranische ten kämpfen die 15 Autorinnen – für eigentlich, denn die zwei Journalistin-
Geheimdienst geplant hatte. »Wir im diese Bemühungen wurde eine von nen haben sicherlich auch vieles zu
Exil lebenden Iranerinnen müssen ihnen, die Menschenrechtsanwältin erzählen: Zum Beispiel war Amiri vier
sehr wachsam sein, denn wir wissen Shirin Ebadi, 2003 als erste muslimi- Jahre lang als Auslandskorrespon-
nie, wer uns Böses wünscht«, sche Frau mit dem Friedensnobel- dentin für die ARD in Teheran tätig.
schreibt Alinejad. preis ausgezeichnet. Dennoch sah sie Außerdem wäre es für Leserinnen
Andere Verfasserinnen, etwa die sich angesichts der Morddrohungen und Leser ohne viel Vorwissen zur
Journalistin Narges Mohammadi, und drohenden Gefängnisstrafen Geschichte Irans hilfreich, eine kurze
befinden sich aktuell im berüchtigten gezwungen, ihre Arbeit von London Einleitung und Einordnung der Ge-
Evin-Gefängnis im Iran. Ihr Beitrag für aus fortzusetzen. schehnisse zu erhalten. Auf der
das Buch wurde heimlich aus ihrer Die beiden Journalistinnen Natalie letzten Seite hat der Verlag zwar eine
Zelle geschmuggelt: Sie schrieb ihre Amiri und Düzen Tekkal lassen aber einseitige »Zusammenfassung«
Worte auf Toilettenpapier und gab sie auch unbekannte Personen zu Wort gegeben, die erklärt, dass 1979 der
Mitgefangenen mit, die entweder auf kommen, die für ihre eigene Sicher- damals herrschende Schah gestürzt
Hafturlaub entlassen oder im Kran- heit teilweise anonymisiert wurden. und die Islamische Republik durch
kenhaus behandelt wurden. Mo- So schildert eine junge Frau unter den geistlichen Führer Ruhollah
hammadi beschreibt darin sowohl dem Pseudonym »Leyli«, was sie Chomenei gegründet wurde. Doch
ihre friedlichen Kampagnen für dazu bewegt hat, sich den Protesten auf diese Erklärung stößt man erst
Menschenrechte, die sie ins Gefäng- anzuschließen: »Wir wissen, dass wir, nach der Lektüre und sie fällt zu kurz
nis gebracht haben, als auch die wenn alles so weitergeht, keine aus. Dennoch lohnt sich die Lektüre
furchtbaren Haftbedingungen: die Zukunft haben«, schreibt sie. Für dieses spannenden Buchs voller
sexuellen Übergriffe durch Wärter, ihren Widerstand hat sie alles geop- inspirierender Persönlichkeiten durch
die »technischen Verhöre« oder aber fert: ihre Arbeit, viele Beziehungen zu und durch.
das mangelnde Trinkwasser im Menschen, deren politische Einstel-
abgelegenen Qarchak-Gefängnis. lung sie ablehnt, Geld sowie ihre Manon Bischoff ist Redakteurin bei
»Ruhe und mein gesunder Geist«. »Spektrum der Wissenschaft«, vorrangig
Ihre Erzählung geht unter die Haut, für die Bereiche Mathematik und Informa-
sie schildert ihre Bedenken, ihre tik, und Autorin der Kolumne »Die fabel-
Ängste, spricht von den Diskussionen hafte Welt der Mathematik«.
»Das iranische Volk mit ihren Eltern – die sie, trotz aller
Gefahren, bei ihrem Widerstand
sucht niemanden, der unterstützen.

es rettet. Es will nur, Auch wenn die Geschichten der


mutigen Frauen voller Schicksals-
dass die internationale schläge stecken, voller Gräueltaten,
die ihnen oder anderen angetan
Gemeinschaft aufhört, wurden – sie alle eint die Hoffnung.

das Regime zu retten« Jede der Frauen hofft und glaubt an


ein baldiges Ende der Schreckens-
herrschaft, an einen freien Iran, in
Nazanin Boniadi dem alle Menschen gleichberechtigt
und ohne Angst leben können. Und
der Westen kann dabei helfen, erklä-
ren die Autorinnen. Nicht, indem er
Das Buch listet einige Gräueltaten aktiv vor Ort eingreift. Aber indem er
des iranischen Regimes auf, das seit sich vermehrt für Menschenrechte
1979 an der Macht ist: die Verfolgung einsetzt, die Revolutionsgarde auf die
und Ermordung politischer Gegner, Terrorliste setzt oder Staatsoberhäup-
die Überwachung von Bürgerinnen ter und Regimebeamte sanktioniert.
und Bürger sowie die gesetzliche »Das iranische Volk sucht nieman-
Herabwürdigung von Frauen. Laut den, der es rettet. Es will nur, dass die
Gesetz ist eine Frau im Iran nur halb internationale Gemeinschaft aufhört,
so viel Wert wie ein Mann. Vor Ge- das Regime zu retten«, schreibt die
richt zählt ihre Stimme nur halb so Schauspielerin und Aktivistin Nazanin
viel, wenn eine Frau stirbt, zahlt die Boniadi.
REZENSIONEN

Schach und Mathematik im Doppelpack


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Anekdoten aus der Schachwelt und mathematische


Knobeleien ergeben zusammen eine unterhaltsame Lektüre

 Die Autoren sind befreundet und


haben am selben Tag Geburtstag –
für sie Anlass genug, ihre beiden
meister (1948–1957, 1958–1960,
1961–1963) und berühmt geworden
als »Patriarch der sowjetischen
schaft entwickelte. Der Knabe war
der spätere langjährige Weltmeister
Garri Kasparow. Gemeinsam mit
Bücher zusammenzumischen. Schachschule«, hatte gemeinsam mit Friedel hat er die Entwicklung der
Das ist so etwas wie der Lebenst- sowjetischen Programmierern einen Datenbank ChessBase maßgeblich
raum des Fachjournalisten: nicht nur Schachcomputer entwickelt und vorangetrieben und damit zur »De-
von der Sache allerlei zu verstehen, wollte 1982 dessen Kräfte mit denen mokratisierung« des Schachspiels
sondern auch mit den Großen des des amerikanischen Gegenstücks beigetragen. Heute hat auch Zugang
Fachs gut Freund zu sein und am Belle messen. Vergeblich! Die ameri- zu einer Spiele-Bibliothek, wer keine
Ende selbst noch etwas beizutragen. kanischen Behörden hatten die Schar von Assistenten bezahlen
Es sieht ganz so aus, als sei dieser Ausfuhr des Geräts kurzfristig unter- kann.
Traum für Frederic Friedel in Erfüllung bunden. Immerhin handelte es sich Fast tragisch mutet es an, dass
gegangen. Sein Buch ist voll von um einen Hochleistungscomputer, Kasparow der letzte Mensch war, der
Anekdoten über berühmte Persön- und eine militärische Verwendung in einem öffentlichen Wettkampf mit
lichkeiten des Schachspiels. wäre bei diesem spezialisierten Gerät Aussicht auf Erfolg gegen einen
Friedel, Jahrgang 1945 und Computer antrat – und am Ende
studierter Sprachwissenschaft- verlor. Friedel, damals Assistent
ler, hat nicht nur über das Kasparows, beschreibt ausführlich
königliche Spiel geschrieben. Er das entscheidende Turnier 1997 in
produzierte Fernsehfilme zu den New York. Für mich überraschend
Themen Computer, Schach und war, dass die Gegenseite sich nicht
Computerschach und gründete darauf beschränkte, den Computer
eine Zeitschrift zum Thema, die Deep Blue von IBM möglichst effizi-
»Computerschach und Spiele«. ent arbeiten zu lassen, sondern
Gemeinsam mit dem Physiker versuchte, Kasparow durch allerlei
Matthias Wüllenweber rief er Psychotricks zu verunsichern, insbe-
1987 die Firma ChessBase ins sondere verwirrende und nicht
Leben, die bis heute zu den nachvollziehbare Antwortzeiten der
wichtigsten Herstellern von Maschine.
Schach-Software zählt. Und was hat der zweite Autor, der
Angefangen hat ChessBase Stuttgarter Mathematikprofessor
als schlichte Datenbank. Sie Christian Hesse, zu dem Gesamtwerk
verzeichnete große Mengen beigetragen? Ein weiteres Buch, und
bereits gespielter Partien auf zwar über sein Lieblingsthema Ma-
Weltklasseniveau und ermög- thematik, das er bereits in zahlrei-
Frederic Friedel, Christian
lichte es dadurch ihren professi- Hesse chen Werken appetitlich vor seinen
onellen Benutzern auch, sich Lesern ausgebreitet hat. Seine Kapitel
auf die Vorlieben – und Schwä-
Schachgeschichten sind in bunter Mischung zwischen die
chen – des nächsten Gegners Droemer, München 2022 Geschichten Friedels eingestreut.
vorzubereiten. Friedel lässt € 20,– Und der Zusammenhang zwischen
seine Leser sogar mit ausge- den beiden Büchern? Ist bestenfalls
wählten Appetithäppchen – via lose. Beide Autoren sind nicht nur
QR-Code – an seinen Schätzen miteinander befreundet, sondern
teilhaben. haben auch am selben Tag Geburts-
Der Beginn seiner Journalisten- zwar abwegig gewesen, aber mitten tag, was Hesse Anlass gibt, etwas
laufbahn 1979 fällt in die Zeit, als die im Kalten Krieg wollte man kein zum bekannten Geburtstagsparadox
Computer lernten, Schachpartien Risiko eingehen. zu erzählen – Koinzidenzen wie
nicht nur aufzuzeichnen, sondern Bei der Juniorenweltmeisterschaft gleiche Geburtstage sind wesentlich
auch selbst zu spielen – auf Groß- 1980 in Dortmund begegnete Friedel häufiger, als man denkt – und Bei-
meisterniveau. Michail Botwinnik einem 17-jährigen Hochbegabten, spiele dafür in der Schachwelt zu
(1911–1995), dreimaliger Schachwelt- woraus sich eine langjährige Freund- finden.
REZENSIONEN

Schach liefert auch die Stichwör- feld? Selbst knifflige Ratespiele Beide Bücher sind gut geschrieben
ter für Themen wie exponentielles lassen sich in Schachgeschichten und sehr unterhaltsam. Da schadet
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Wachstum: Wie kann man sich die einkleiden: Zwei Leute, die über es nicht, dass sie zusammengebun-
Zahl aller vernünftigerweise mögli- verschiedene Teilinformationen den ausgeliefert werden. 
chen Schachpartien (Größenordnung verfügen, bekommen dieselbe Frage
1080) vorstellen? Wie viele Reiskörner gestellt. A sagt »Ich weiß die Antwort Christoph Pöppe war Redakteur bei
ergibt es, wenn man ein Korn auf das nicht«, B sagt »Ich weiß die Antwort »Spektrum der Wissenschaft«, zuständig
erste Feld eines Schachbretts legt nicht«, darauf sagt A »Jetzt weiß ich vorrangig für Mathematik und Informatik.
und auf jedes weitere doppelt so sie« und B »Jetzt weiß ich sie auch«.
viele Körner wie auf das Vorgänger- Wie lautet die Antwort?

Die Geschichte von


Wissenschaftsskepsis
und Impfangst
Impfskepsis ist nicht neu, auch der Pockenimpfung
begegneten die Menschen mit Ablehnung. Eine medizin-
historische Spurensuche nach den Gründen.

 Die beiden Autoren haben es sich


mit diesem Buch zur Aufgabe
gemacht, die Entwicklung und Ge-
Und auch in anderen Aspekten
ähneln sich die Bedenken der Men-
schen in den letzten drei Jahrhunder-
schichte der Wissenschaftsskepsis zu ten. Als Leser bekommt man immer
thematisieren. Anlass waren die wieder das beklemmende Gefühl, Herbert Lackner,
Demonstrationen gegen die Covid- dass die Menschheit in all dieser Zeit Christoph Zielinski
Impfungen, die ab Herbst 2021 im nicht aus der Geschichte gelernt hat Die Medizin
deutschsprachigen Raum Fahrt und sich das Verständnis und der und ihre Feinde
aufnahmen. »Glauben« an die Wissenschaft kaum
Carl Ueberreuter Verlag,
Zu Beginn des Buches erfährt der geändert haben.
Berlin 2022
Leser zunächst, dass es die medizini- Die Geschichten zur Pockenimp-
€ 25,–
sche Forschung an Menschen schon fung lesen sich wie ein Abriss der
in der Antike schwer gehabt hat. Vor Diskussionen zur Covid-Impfung. Die
allem die Macht der Religionen ersten »Impfungen«, damals »Inocu-
spielte eine große Rolle, zum Beispiel lationen« genannt, gab es schon zu
beim Verbot von Leichenöffnungen. Beginn des 18. Jahrhunderts. Diese
Aber ohne diese hatten die antiken waren allerdings um einiges brachia- weckt. Auch die Eröffnung eines
Gelehrten nicht die Einblicke in den ler und gefährlicher als das, was uns Inoculationshauses und das Nach-
menschlichen Körper, die notwendig heute zur Verfügung steht. So wurde denken über Prämien für impfende
waren, um die Behandlung von bei den Inoculationen Wundsekret Ärzte und Impfwillige erinnern nur zu
Krankheiten auf wissenschaftliche von Erkrankten in die Haut von gut an die Diskussionen 250 Jahre
Erkenntnisse zu bauen. So wurden Gesunden geritzt, wobei die Todesra- später.
alle Durchbrüche in der Medizin, die te bei dieser Impfung bei 3 Prozent Im Zusammenhang mit den Po-
heute wissenschaftlich unbestritten lag, was im Vergleich zur Todesrate cken wurde auch erstmals eine
sind, wie Impfungen, Hygienemaß- bei einer Pockenerkrankung von 30 Impfpflicht in einigen europäischen
nahmen oder auch die Einführung der Prozent jedoch eine enorme Verbes- Ländern eingeführt, wie beispielswei-
Anästhesie, zu ihrer Zeit bekämpft. serung darstellt. Kaiserin Maria se 1807 in Bayern. Wobei hier bereits
Ein Grund dafür, der auch in den Theresia ließ 1768 nicht nur ihre die verbesserte Impfung des briti-
aktuellen Diskussionen immer wieder eigenen Kinder zur Vorbildwirkung schen Arztes Edward Jenner zum
angeführt wird, ist die Skepsis gegen- impfen, was Erinnerungen an sich Einsatz kam. Interessant ist, dass
über dem Staat. öffentlich impfen lassende Politiker Tirol, das auch im Zuge der Corona-
REZENSIONEN

Pandemie europaweit in den Medien damals von dem Blatt als »Impfreni- Erfahrung einfließen und unter-
war, eine besondere Rolle spielte. Da tente« bezeichnet. streicht Ausführungen zu beispiels-
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das heutige österreichische Bundes- Diese beeindruckende Recherche weise der Entwicklung der mRNA-
land damals zu Bayern gehörte, galt historischer Daten zeichnet das Buch Impfung mit seiner Expertise oder
auch dort die Impfpflicht, zu der sich aus. Allgemein liegt der Fokus der auch zum Aufbau von klinischen
die österreichischen Herrscher aus beiden Autoren sehr auf ihrem Hei- Studien in drei Phasen.
Angst vor Aufständen allerdings nicht matland Österreich, insbesondere bei Das Buch ist nicht nur für medizin-
durchringen konnten. So kursierten den politischen Vorgängen und den historisch Interessierte lesenswert,
beispielsweise in Tirol Theorien, dass Corona-Demonstrationen. Ein Bei- sondern auch für all jene, die sich
Katholiken mit der Impfung »ketzeri- spiel ist die frühere Bundessprecherin fragen, woher die Wissenschafts-
sches Denken« eingepflanzt werden der österreichischen Grünen Made- skepsis im deutschsprachigen Raum,
sollte – eine weitere erschreckende leine Petrovic, die nicht erst seit der ganz besonders in Österreich,
Parallele zu den Ängsten der Impf- Corona-Pandemie mit einer medizin- kommt. Und so wie wir uns im Klaren
gegner vor dem Einimpfen von Chips kritischen Meinung auffiel und wäh- sein müssen, wie sehr eine Pandemie
durch Bill Gates. rend der Pandemie auf zahlreichen die Gesellschaft verändert, so müs-
Der Erfolg der Impfung war da- Demonstrationen als Sprecherin sen wir uns auch vergegenwärtigen,
mals wie heute mit statistischen auftrat. dass die Corona-Pandemie nicht die
Zahlen unwiderlegbar; in Graz waren Natürlich darf in diesem Kontext in erste Pandemie für die Menschheit
in den Jahren 1861–1863 beispiels- Österreich die Rolle der FPÖ in einem war und vermutlich nicht die letzte.
weise 638 Ungeimpfte und 105 solchen Buch nicht unbeleuchtet
Geimpfte an Pocken erkrankt, davon bleiben, ebenso wenig die österrei- Victoria Lunz ist Molekularbiologin und
starben 124 Ungeimpfte, aber nur 4 chische »Impfgegner-Partei« MFG. Wissenschaftsjournalistin in Linz.
Geimpfte, wie die Grazer Zeitung Christoph Zielinski lässt als Arzt an
berichtete. Die Impfgegner wurden verschiedenen Stellen die eigene

Die Landwirtschaft
neu erfinden
Der Journalist und Zoologe George Monbiot liefert eine
schonungslose Analyse des globalen Ernährungssystems
und eine fundierte Anleitung, es besser zu machen.

 Der britische Journalist George


Monbiot ist Zoologe, Umweltakti-
vist und Kommentator beim »Guardi-
Monbiot beschreibt die Zerstörung
der Böden, die Verschmutzung der
Gewässer und vor allem den immen-
an«. Mit »Neuland« (englisch: »Rege- sen Flächenverbrauch der Landwirt-
nesis«) will er nichts weniger als die schaft; sie sei der »weltweit größte
Landwirtschaft neu erfinden. Das Faktor für die Zerstörung natürlicher
Buch beginnt auf einer Obstwiese im Lebensräume«. Im Gegensatz zu
englischen Oxford. Monbiot unter- anderen Industriezweigen würde das
George Monbiot sucht den Boden und seine vielfälti- bei der Landwirtschaft aber oft nicht
gen Bewohner und leitet von diesem so wahrgenommen, führt Monbiot
Neuland aus, und räumt mit einer ganzen
– noch wenig erforschten – Ökosys-
Karl Blessing, München 2022 tem zum global vernetzten Ernäh- Reihe moderner Mythen auf: von der
€ 24,– rungssystem über. Er legt dar, wie Verklärung ländlicher Idylle durch
komplexe Systeme aufgebaut sind, Städter bis hin zum Glauben, dass
was sie angreifbar macht und wann lokal und regional produzierte Le-
sie kippen können. Und er zeigt auf, bensmittel grundsätzlich besser für
wie die Vereinheitlichung in der Umwelt und Klima seien. Auch den
Ernährung und in der globalen Nah- Traum einer ökologisch tragbaren,
rungsmittelproduktion das System weidebasierten Tierhaltung lässt er
immer anfälliger machen. platzen. Denn wegen des immensen
REZENSIONEN

Landverbrauchs bei nur wenigen Der Autor begibt sich vor Ort, um wirtschaft und insbesondere die
Tieren pro Hektar würde das den zu sehen, wie neue Ansätze in der Tierhaltung vorwerfen und seine Ana-
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Fleischkonsum schnell zu einem Praxis funktionieren. So lässt er sich lysen und Schlussfolgerungen als zu
Privileg superreicher Eliten machen, einen aus Bakterienprotein gebacke- radikal oder abwegig verwerfen.
wie er vorrechnet. nen Pfannkuchen schmecken, be- Gerade die Radikalität und die Konse-
Monbiot analysiert die Probleme sucht einen Gemüsebauern und quenz seines Denkens sind aber die
auf dem Planeten sehr genau und mit »Bodenflüsterer« und ist auf Äckern, Stärke des Buches. Seine Vision:
viel Tiefe. Besonders hoch anzurech- an Flüssen und in Laboren unter- Durch moderne Methoden kann der
nen ist ihm die Unvoreingenommen- wegs. Etliche der anvisierten Lösun- landwirtschaftliche Flächenverbrauch
heit, mit der er zu Werke geht. So gen stecken noch in den Kinderschu- massiv reduziert werden, große
lehnt er weder Gentechnik noch hen, mögliche Fallstricke kommen Gebiete werden renaturiert und wir
Pestizide kategorisch ab, noch steht zur Sprache, und es wird auch klar, schaffen es, endlich die Welt zu
er der biologischen Landwirtschaft dass kulturell tief verankerte Traditio- ernähren, ohne dabei den Planeten zu
unkritisch gegenüber, denn auch sie nen und Gewohnheiten unsere zerstören. Eine Aussicht, für die es
erhöht global betrachtet den Land- Nahrung betreffend nicht so einfach sich definitiv zu streiten lohnt.
verbrauch. zu ändern sind – trotzdem schafft es Anmerkung zur deutschen Über-
Für die meisten Leser und Leserin- Monbiot, Aufbruchstimmung zu setzung: Wer das Buch im englischen
nen dürfte der erste Teil des Buches verbreiten. Original lesen kann, der sollte das
starker Tobak sein, zeigt er doch, in »Neuland« ist ein provokantes tun. Dafür spricht allein schon die
welch katastrophalem Zustand sich Buch im besten Sinne, denn es gibt Ausstattung, denn in der deutschen
unser Ernährungssystem (und damit wichtige Denkanstöße und bietet mit Fassung sucht man leider vergeblich
unsere Welt) befindet – zum Glück 80 Seiten ausführlichen Quellenver- nach den erläuternden Fußnoten oder
bleibt Monbiot aber nicht bei Analyse weisen eine gute Diskussionsgrundla- dem ausführlichen Stichwortver-
und Kritik stehen. Die zweite Hälfte ge (wenn nur jedes Sachbuch so zeichnis am Schluss.
des Buches beschäftigt sich mit genau seine Quellen aufführen wür-
aktuellen Forschungsergebnissen de). Trotzdem werden viele Zeitge- Gunther Willinger ist Biologe und Wis-
und vielen praktischen Ansätzen, die nossen Monbiot Hass auf die Land- senschaftsjournalist in Tübingen.
Mut machen. Dazu gehören neue
Erkenntnisse der Bodenökologie, die
Züchtung mehrjähriger Getreide-
pflanzen, pfluglose Landwirtschaft,
biologische Schädlingsbekämpfung
und nicht zuletzt das weite Feld Ausflug an
alternativer Tierprodukte.
Obwohl wir längst mehr als genug die Grenzen
pflanzliche Proteine produzieren, um
zehn Milliarden Menschen zu ernäh- des Kosmos
ren, nimmt der Hunger auf der Welt
Die preisgekrönte Wissen-
seit einigen Jahren wieder drama-
schaftskommunikatorin
tisch zu, auch weil wir einen großen
erzählt die Geschichte
Teil der produzierten Nahrung an
des Universums in einem
Tiere verfüttern. Monbiot ist realis-
tisch genug, um anzuerkennen, dass wunderschönen,
der moralisch begründete Veganis- bildgewaltigen Werk.
mus sich nicht schnell genug verbrei-
ten wird, um diesen Trend umzukeh-
ren. Hier kommen die Fleisch-, Ei-
bzw. Milchersatzprodukte ins Spiel.  »Dürfte ich das Buch einmal
sehen?« Es kommt nicht häufig Felicitas Mokler
Sie werden auf Basis pflanzlicher vor, dass man in der Öffentlichkeit Die Evolution
Proteine, aus Pilzmyzel, aus tieri- auf ein Buch angesprochen wird, das des Universums
schen Stammzellen oder auch mit man gerade liest. So ist es mir aber
Kosmos, Stuttgart 2022
Hilfe von Mikroben hergestellt. Die während der Lektüre des Buches von
€ 34,–
Gasfermentation, also die Produktion Felicitas Mokler geschehen, was
von Proteinen durch Mikroben, die dann direkt meinen Eindruck bekräf-
zum Beispiel Wasserstoff verstoff- tigt hat: »Die Evolution des Univer-
wechseln, erscheint Monbiot dabei sums« ist ein ausgesprochen schö-
momentan als vielversprechendste nes Buch, voller fantastischer astro-
Methode. nomischer Farbfotos, in hoher
REZENSIONEN

Qualität gedruckt. Und auch wenn es Zu kritisieren gibt es nur wenig an Doch das sind wirklich nur kleine
mit einem Gewicht von über einem Moklers Buch: So hätte es gut in den Makel. Das Buch ist eine tolle und
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Kilogramm nicht gerade leicht in der Abschnitt über die zeitliche Entwick- hochaktuelle Einführung in die mo-
Hand liegt, weglegen möchte man es lung der Geometrie des Universums derne Kosmologie, die ich wärmstens
trotzdem nicht. Zu sehr ziehen einen gepasst, die Tatsache zu erklären, empfehlen möchte. Und um nochmal
die Bilder in den Bann – offensichtlich dass Objekte ab einem gewissen auf die Bilder zurückzukommen: Sie
auch über mehrere Meter. Abstand nicht mehr kleiner erschei- sind nicht nur ausgesprochen schön,
Die Autorin präsentiert in neun nen, je weiter sie weg sind. Das sondern geben oftmals auch unge-
Kapiteln einen Abriss der modernen Kapitel über Galaxienentwicklung wohnte Perspektiven – beispielswei-
Kosmologie – von der Entdeckung vernachlässigt den Weg der norma- se der Vergleich einer Aufnahme des
der Ausdehnung des Universums vor len Materie in die Galaxien, die sich Cepheiden-Sterns in der Andromeda-
gut 100 Jahren bis hin zur aktuellen entlang des kosmischen Netzes aus galaxie von Edwin Hubble (1889–
Debatte um die Diskrepanz zwischen Dunkler Materie schon früh zu rotie- 1953), der die extragalaktische Natur
den verschiedenen Werten für die renden Scheiben anordnete. Nach des Nebels bewies, mit einer moder-
Ausdehnungsgeschwindigkeit des einem Fehler klingt es, wenn die nen Aufnahme. Ebenfalls ungewöhn-
Universums. Die so genannte Hubb- Autorin behauptet, dass das Radio- lich und lehrreich ist es, die Ringe der
le-Konstante kann auf verschiedene bild von Sgr A* schwerer zu erhalten Supernova 1987A in einem größeren
Weise gemessen werden, und in den gewesen wäre als das von M87, weil Sternfeld zu sehen. Lassen Sie sich
letzten Jahren haben die Astronomen sich in Sgr A* das Material schnell, also ruhig von Moklers Werk in
die Genauigkeit immer weiter verbes- nämlich fast mit Lichtgeschwindig- Erstaunen versetzen, wenn nicht
sern können, so dass heute klar keit bewege. Denn Letzteres trifft sogar verzaubern.
scheint: Der Wert, den man aus der natürlich auch auf M87 zu; aber ein
kosmischen Hintergrundstrahlung be- Umlauf dauert bei M87 auf Grund Stefan Gillessen ist promovierter Physiker
kommt, stimmt nicht mit dem über- des 1500-mal größeren Radius auch und wissenschaftlicher Mitarbeiter am
ein, der sich über die klassischen entsprechend länger, so dass diese Max-Planck-Institut für extraterrestrische
Methoden der astronomischen Quelle langsamer ihr Aussehen Physik.
Entfernungsleiter ergibt. Der Unter- ändert als Sgr A*.
schied ist inzwischen so eklatant,
dass sogar darüber spekuliert wird,
ob nicht grundsätzlich etwas falsch
ist am etablierten Bild des Kosmos.
Natürlich führt Mokler die Leser
sachte in die Thematik ein. Der Text
Radikal ins Klima eingreifen?
ist eine gelungene Mischung, denn Der Klimaökonom Gernot Wagner diskutiert solares
sie erklärt über weite Strecken paral- Geoengineering und seine möglichen Folgen.
lel, wie sich unser Weltbild im letzten
Jahrhundert entwickelt hat und wie
die Evolution des Universums ablief.
Den roten Faden liefert dabei die
Entwicklung unseres Wissens, das
 Geoengineering stand in den
vergangenen Monaten stark im
Fokus der Öffentlichkeit: So will das
Partikel, in die Stratosphäre bringen
– in der Hoffnung, dass diese einen
Teil des Sonnenlichts zurück ins All
wie zu erwarten zu den großen Weiße Haus laut Medienberichten die werfen und dadurch die Erderwär-
Rätseln der Kosmologie führt: Was Potenziale und Risiken der Technolo- mung verringern.
könnte die in vielfältigen, ganz ver- gie besser erforschen lassen. Mexiko Die Voraussetzungen, Risiken und
schiedenen Beobachtungen sichtbare dagegen ließ alle Experimente mit Potenziale dieser Idee diskutiert der
Dunkle Materie sein? Ist die Dunkle solarem Geoengineering stoppen, Klimaökonom Gernot Wagner in
Energie tatsächlich die kosmologi- nachdem ein Start-up offenbar ohne seinem neuen Buch »Und wenn wir
sche Konstante, die in der allgemei- vorherige Absprachen in Baja Califor- einfach die Sonne verdunkeln?«. Trotz
nen Relativitätstheorie auftaucht, nia mit Schwefeldioxid gefüllte des komplexen Themas bleibt er
aber der dort kein natürlicher Wert Wetterballons in die Luft steigen ließ. dabei durchweg verständlich.
zugewiesen werden kann? Wie sieht Tatsächlich kreisen die derzeitigen
die ganz langfristige Zukunft des Debatten häufig um solares Geoengi- Ein radikales Konzept
Universums aus? Wird es zu einem neering, das oft auch als »Solar mit vielen Unsicherheiten
Big Bounce kommen, oder wird die Radiation Management« (SRM) Wagner hält sich nicht lange mit den
Dunkle Energie sogar wieder so bezeichnet wird und mehrere Maß- chemischen oder meteorologischen
dominant werden, dass ähnlich wie nahmen umfasst. Eine davon lautet: Grundlagen des solaren Geoenginee-
während der Inflationsphase des Die Wetterballons oder andere tech- rings auf. Nach einer kurzen Einlei-
Urknalls neue Teilchen-Antiteilchen- nische Hilfsmittel wie spezielle Flug- tung zur Geschichte und Definition
Paare entstehen können? zeuge sollen Aerosole, also kleine kommt er schnell auf die Rolle der
REZENSIONEN

neering schneller eine Wirkung verlangsamen. Und schließlich stellt


entfalten. Die weltweite Durch- sich die Frage, wer bei der bislang
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schnittstemperatur würde innerhalb nicht per Gesetz oder Abkommen


von Wochen oder Monaten sinken, regulierten Technologie über ihren
während dies bei einer Senkung der Einsatz bestimmen sollte.
Emissionen erst nach Jahren oder Weil solares Geoengineering aber,
sogar Jahrzehnten eintreten würde. wie oben erwähnt, »schnell und
Auch lägen die Kosten für die Ver- billig« ist und der Klimawandel voran-
wendung stratosphärischer Aerosole schreitet, ist ein Einsatz der Technolo-
Schätzungen zufolge jährlich im gie nach Wagners Einschätzung in
einstelligen Milliarden-Dollar-Bereich. Zukunft sehr wahrscheinlich. Die
Das macht die Methode Wagner Frage sei nicht, ob solares Geoengi-
zufolge billiger als eine Kohlendioxid- neering angewandt wird, sondern
reduktion oder eine nachträgliche wann. Wagner plädiert deshalb dafür,
Entfernung von Kohlendioxid aus der schnell mehr über das Thema zu
Atmosphäre. forschen, um besser auf dieses
Trotz dieser Potenziale warnt der Szenario vorbereitet zu sein. Andere,
Autor vor einem vorschnellen, un- dringende Maßnahmen zum Klima-
Gernot Wagner überlegten Einsatz des solaren Geo- schutz sollten dabei aber nicht zu
Und wenn wir einfach engineerings. Denn dieser ginge mit kurz kommen.
die Sonne verdunkeln? vielen Unsicherheiten und denkbaren Einige seiner zentralen Aussagen
Gefahren einher. So packt solares wiederholt Wagner in dem 208
oekom, München 2023
Geoengineering den eigentlichen Seiten dünnen Buch. Nötig wäre das
€ 22,–
Grund für den Klimawandel – den zu nicht gewesen. Denn dass er sich als
hohen Kohlendioxidausstoß – nicht Wissenschaftler eingehend mit dem
bei der Wurzel und könnte im Thema befasst hat und zu differen-
schlimmsten Fall als Ausrede benutzt zierten, wohlüberlegten Ansichten
werden, andere Klimaschutzmaßnah- gelangt ist, wird bei dieser zum
Technologie in der Klimapolitik zu men spät oder gar nicht erst umzu- Weiterdenken anregenden Lektüre
sprechen. setzen. Darüber hinaus könnte der ohnehin klar.
Diese sei nämlich besonders, wie Eingriff in die Natur unerwünschte
der Autor erklärt. Im Vergleich zu Folgen nach sich ziehen: etwa, dass Christina Mikalo hat Kultur- und Nachhal-
einer Kohlendioxidreduktion könnte die stratosphärischen Aerosole den tigkeitsnaturwissenschaften in Lüneburg
ein voll entwickeltes solares Geoengi- Heilungsprozess des Ozonlochs studiert und ist Journalistin.

Humorvolle Nostalgietour in die 1990er


Eine amüsante Lektüre von den ersten Zeiten des Internets und den 1990er Jahren –
von Modems über Tamagotchis bis zu den Anfängen der Tech-Konzerne.

 Das Piepsen und Knarzen des


56K-Modems, der Benachrichti-
gungston von ICQ, die Melodie von
ber diskutierte, ob »Datenautobah-
nen« nicht Ländersache sein müss-
ten, und wie frühe Messenger-Diens-
star mitverfolgt hat und noch die
Stimme des jungen Boris Becker im
Ohr hat, der in einem AOL-Werbespot
Tetris: Für viele Kinder der 1990er te nicht nur die Sprache, sondern verkündet »Ich bin drin«, der kann mit
werden allein beim Gedanken an auch das Lebensgefühl einer Gene- Hilfe des Buches in Kindheits- und
diese Geräusche Erinnerungen ration prägten. Jugenderinnerungen schwelgen.
wach. Der Journalist und Politikwis- Immer wieder streut Lobe dabei Auch bei älteren Generationen wird
senschaftler Adrian Lobe versetzt Referenzen zu Alltagsroutinen, Fern- das Buch Erinnerungen wecken.
seine Leserschaft mit seinem Buch sehsendungen und Prominenten der Für Digital Natives dagegen muss
zurück in die Anfangszeit des World 90er ein. Wer ebenso wie der 1988 vieles tatsächlich steinzeitlich wirken.
Wide Web. Humorvoll und fachkun- geborene Autor mit 4YOU-Rucksack Wer unterwegs telefonieren wollte,
dig erzählt er, wie das Internet und Tamagotchi aufgewachsen ist, musste vor einer Telefonzelle Schlan-
langsam Einzug in die deutschen die ersten Staffeln von Big Brother ge stehen und seine Pfennige und
Haushalte hielt, wie die Politik darü- und Deutschland sucht den Super- D-Mark für ein Orts- oder Fernge-
REZENSIONEN

spräch zusammenkratzen; Filme gab heit rekonstruieren. SchülerVZ- und anschalten konnte, ohne dass die
es nicht bei Netflix, sondern im StudiVZ-Profile gingen mit der Ab- Sicherung rausflog. Und wie Wikipe-
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linearen Fernsehen oder beim örtli- schaltung dieser Dienste ebenso dia-Gründer Jimmy Wales mehrfach
chen Videoverleih; und das Internet verloren wie zahlreiche alte Chatver- versuchte, in seinem eigenen Eintrag
bot kaum mehr als der damals noch läufe. zu verbergen, dass er seine Online-
verbreitete Videotext und war zudem, Doch trotz lückenhafter Aufzeich- Enzyklopädie ursprünglich mit einer
wie der Autor schreibt, teurer als die nungen hat Lobe zahlreiche interes- Softpornoseite querfinanziert hatte.
Sexhotline. sante, oft unterhaltsame Fakten Leider enthalten manche Informa-
Den Begriff »digitale Steinzeit« ausgegraben, etwa zur Anfangszeit tionen kleine Fehler – etwa falsch
nutzt Lobe jedoch nicht nur, um großer Tech-Konzerne. Er schildert, angegebene Platzierungen der Kandi-
auszudrücken, wie urtümlich uns wie Amazon-Gründer Jeff Bezos daten bei Deutschland sucht den
heute der technische Stand der seine ersten Server in der heimischen Superstar, aber auch ungünstige
1990er scheinen mag. Im Vorwort Garage betrieb und dabei so viel Jahreszahlenverwechslungen. So
des Buches schreibt der Autor, dass Strom verbrauchte, dass man im gab es laut dem Buch angeblich
er sich bei den Recherchen zur Haus nicht mehr den Staubsauger schon im Oktober 2000 rund hundert
Frühzeit des Internets oft tat- Wikipedia-Einträge zu den Terroran-
sächlich wie ein Hobby-Archäo- schlägen vom 11. September 2001.
loge fühlte, der Fragmente aus Dem Lesevergnügen tut das aller-
der Altsteinzeit zusammenträgt dings kaum Abbruch. Ein ausführli-
– denn entgegen der Mahnung ches Quellenverzeichnis ermöglicht
»Das Internet vergisst nichts« zudem, alle Informationen genau
ist erstaunlich wenig aus den nachzuvollziehen.
ersten Jahren des World Wide
Web erhalten geblieben. Von Elena Bernard ist Wissenschafts-
der ersten Webseite, die 1991 journalistin in Dänemark.
online ging, existieren nur noch
zwei Jahre später aufgenom-
mene Screenshots, und was
der erste Wikipedia-Artikel war,
lässt sich nicht mehr mit Sicher-

Adrian Lobe
Mach das Internet aus,
ich muss telefonieren
C.H. Beck, München 2022
€ 12,95
TOPOLOGISCHE DATENANALYSE
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(K)ein Job für


Quantencomputer
Durch eine bisher verborgene Verbindung zur
Quantenmechanik könnte die topologische
Datenanalyse ein perfektes Anwendungsgebiet
für Quantenalgorithmen sein – mit einer
wesentlichen Einschränkung.

Allison Parshall
ist Journalistin in
New York City.
MATEJMO / GETTY IMAGES / ISTOCK (AUSSCHNITT)

COMPUTERCHIP Sind
gewöhnliche Rechner
oder Quantencomputer
besser geeignet, um
Probleme von »Big
Data« zu begegnen?
 Um Quantencomputer wird viel Wirbel gemacht. In
Wahrheit wissen wir aber immer noch nicht, wozu sie »Das ist eine dieser
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gut sein werden. Die neuartigen Geräte nutzen die kuriose


Physik der subatomaren Welt und haben das Potenzial, mathematischen
Berechnungen durchzuführen, die gewöhnliche Computer
nicht bewältigen können. Allerdings ist es schwierig, Disziplinen, die alles
durchdringt. Topologie
konkrete Algorithmen zu finden, die einen eindeutigen
»Quantenvorteil« besitzen – die also die Fähigkeiten
klassischer Maschinen weit übersteigen.
In den 2010er Jahren glaubten Computerwissenschaft-
ler, eine Gruppe von Anwendungen ausgemacht zu
ist einfach überall«
haben, die diesen Vorteil belegt: Bestimmte Verfahren zur Vedran Dunjko, Quanteninformatiker
Datenanalyse schienen exponentiell schneller zu laufen,
wenn ein Quantencomputer sie ausführte. Doch 2018
fand die damals 18-jährige Hochschulabsolventin Ewin
Tang einen Weg, der es auch klassischen Computern
ermöglicht, jene Aufgaben effizient zu lösen. Damit ver- nun davon überzeugt, dass sich diese Art von Berechnun-
schwand der Vorteil, den Quantenalgorithmen verspro- gen gewöhnlichen Rechnern entzieht – vielleicht wegen
chen hatten. »Eine Anwendung nach der anderen wurde einer verborgenen Verbindung zur Quantenphysik. Jener
einfach aus dem Weg geräumt«, erinnert sich der theore- Quantenvorteil scheint jedoch nur unter ganz bestimmten
tische Informatiker Chris Cade bei QuSoft, einem nieder- Bedingungen aufzutreten, was die praktische Anwendbar-
ländischen Forschungszentrum für Quantencomputer. keit wieder in Frage stellt.
Der Informatiker Seth Lloyd vom Massachusetts
Eine 18-Jährige räumt unter den viel Institute of Technology, der den TDA-Quantenalgorithmus
versprechenden Quantenalgorithmen auf mitentwickelt hat, erinnert sich noch lebhaft an dessen
Ein Hoffnungsträger überstand jedoch Tangs Methode Entstehung im Jahr 2015. Damals hatten er und sein
unbeschadet: Ein Quantenalgorithmus zur topologischen Kollege Paolo Zanardi einen Workshop in einem idylli-
Datenanalyse (TDA), mit dem sich die »Form« von Daten schen Ort in den Pyrenäen besucht. Ein paar Tage nach
untersuchen lässt, scheint erheblich effizienter zu sein als Beginn der Veranstaltung schwänzten sie einige Vorträge
seine klassischen Varianten. Nach mehreren im Septem- und unterhielten sich stattdessen auf der Hotelterrasse
ber 2022 veröffentlichten Arbeiten sind einige Fachleute angeregt über ein »extrem abstraktes« Datenanalyse-Ver-
fahren, von dem sie gehört hatten.
Zanardi hatte sich sofort in das Gebiet der Topologie
verliebt, das der TDA zu Grunde liegt. Es befasst sich mit
den Eigenschaften geometrischer Objekte, die erhalten
AUF EINEN BLICK bleiben, wenn man sie zusammendrückt, auseinander-
zieht oder verdreht. »Das ist eine dieser mathematischen

Wann lohnt sich der Einsatz Disziplinen, die alles durchdringt«, so der Quanteninfor-
matiker Vedran Dunjko von der Universität Leiden, »Topo-
von Quantenrechnern? logie ist einfach überall.« Eine der zentralen Größen des
Bereichs ist die Anzahl der Löcher in einem Objekt, die so

1 Quantencomputer versprechen einige Aufgaben genannte Betti-Zahl.


deutlich schneller zu bewältigen als herkömmli- Topologen gehen dabei oft über unsere gewohnten
che Rechner. Welche Anwendungen das genau drei Raumdimensionen hinaus und bestimmen die Betti-
sind, ist aber unklar. Viele der ursprünglichen Zahlen in 4-, 10- oder sogar 1054-dimensionalen Struktu-
Kandidaten dafür sind inzwischen wieder aussor- ren. Das macht die Disziplin zu einem nützlichen Werk-
tiert. zeug, um große Datensätze zu untersuchen, die komplexe
Korrelationen und Verbindungen in hunderten Dimensio-

2 Nur die topologische Datenanalyse scheint noch


viel versprechend zu sein: Die Suche nach ring-
förmigen Mustern in Daten ist für gewöhnliche
nen umfassen können.

Ein Ausflug in den Pyrenäen


Computer sehr aufwändig.
dient als Inspiration

3 Einen deutlichen Vorteil bringen selbst hier die Gegenwärtig sind klassische Computer häufig nur dazu in
Quantenalgorithmen jedoch offenbar nur dann, der Lage, Betti-Zahlen in bis zu vier Dimensionen zu
wenn man es mit unrealistisch großen Datensät- bestimmen. Auf der Terrasse ihres Hotels in den Pyrenäen
zen zu tun hat. versuchten Lloyd und Zanardi, diese Grenze zu durchbre-
chen. Nach etwa einer Woche intensiver Diskussionen
hatten sie das Grundgerüst eines Quantenalgorithmus
»Ich würde weder TDA ein quantenmechanisches Problem, auch wenn es
nicht so aussieht.«
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mein Haus noch Inzwischen haben Forschungsarbeiten von Amazon


Web Services (AWS), Google und Lloyds Labor am MIT

mein Auto oder die möglichen Szenarien, in denen der Quantenvorteil von
TDA am offensichtlichsten ist, allerdings erheblich einge-

meine Katze darauf


grenzt. Damit der Quantenalgorithmus exponentiell
schneller läuft als klassische Verfahren (was der üblichen
Messlatte für einen Quantenvorteil entspricht), muss die
verwetten« Anzahl hochdimensionaler Löcher in den Datensätzen
unvorstellbar groß sein – in der Größenordnung von
Vedran Dunjko, Quanteninformatiker Billionen.
»Solche Bedingungen sind in der realen Welt nur
schwer zu finden«, sagt Cade. Es sei unklar, ob derartige
Daten überhaupt existieren, so Ryan Babbush, einer der
Hauptautoren der Google-Studie. Ewin Tang, die jetzt an
entworfen, der Betti-Zahlen selbst für hochdimensionale der University of Washington promoviert, hält die TDA
Datensätze schätzen kann. Ihr Verfahren wurde kurz nicht für jene praktische Quantenanwendung, nach der
darauf in eine Gruppe von Kandidaten für Datenanalyse- die Informatiker suchen. Sie geht davon aus, dass Quan-
Methoden aufgenommen, die einen eindeutigen Quanten- tencomputer am ehesten nützlich sein werden, um etwas
vorteil haben könnten. über Quantensysteme zu lernen – und nicht, um klassi-
Inzwischen ist die TDA die einzige Anwendung der sche Daten zu analysieren. Ein neuer kreativer Ansatz
Gruppe, für die sich durch Tangs Arbeit kein effizienter könnte jederzeit das schaffen, was Tang und ihren Kolle-
klassischer Algorithmus finden ließ. Vedran Dunjko und gen bisher nicht gelang: ein effizientes TDA-Verfahren zu
seine Kolleginnen und Kollegen bewiesen 2020, dass sich entwerfen, das auf gewöhnlichen Rechnern läuft. »Ich
die TDA durch Tangs Methode nicht beschleunigen lässt. würde weder mein Haus noch mein Auto oder meine
Wenn überhaupt, bräuchte man dafür einen völlig ande- Katze darauf verwetten, dass das nicht passieren wird«,
ren Ansatz. Damit ist zwar noch nicht ausgeschlossen, sagt Dunjko. 
dass es klassische TDA-Verfahren gibt, die mit der Quan-
tenversion mithalten können – aber es erscheint zuneh-
mend unwahrscheinlich. Einen weiteren Hinweis darauf
lieferte der theoretische Physiker Marcos Crichigno vom
kalifornischen Start-up QC Ware zusammen mit Cade im
Jahr 2021. Die zwei Wissenschaftler haben eine der TDA Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
Fassung des Artikels »After a Quantum Clobbering, One Approach
extrem ähnliche Aufgabe (jedoch ohne praktischen
Survives Unscathed« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich
Bezug) ausgemacht, die klassische Computer nachweis- unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die
lich nicht effizient lösen können. Crichigno versucht nun, Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den
das Ergebnis auf die TDA zu übertragen. Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.

Die Supersymmetrie als Schlüssel


Der Physiker hat auch eine Vermutung, weshalb Quanten-
computer diese Art von Aufgaben besser meistern. Es
könnte eine bisher unerwartete Verbindung zwischen der
Quantenmechanik und der TDA geben: die Supersymmet-
rie. Sie bildet verschiedene physikalische Systeme aufein-
ander ab. In ihrer quantenmechanischen Version kommt
diese Symmetrie ohne hypothetische Extrateilchen aus
und erweist sich bei einigen Berechnungen als besonders
hilfreich, zum Beispiel wenn man die Energieniveaus in
Wasserstoffatomen bestimmen möchte. In den 1980er
Jahren hatte der theoretische Physiker Edward Witten
bewiesen, dass sich supersymmetrische Systeme leicht
beschreiben lassen, wenn man die mathematischen
Werkzeuge der Topologie verwendet. Davon inspiriert,
nutzt Crichigno die Supersymmetrie, um topologische
Größen zu bestimmen. Dieser Zusammenhang zur Quan-
tenwelt könnte das sein, was die TDA von anderen An-
wendungen unterscheidet, glaubt Cade: »Im Grunde ist
FUTUR III

Die ultimative
glückliche virtuelle Beziehung vorgaukelte. Dabei schien
mir eine Fake-Trennung weitaus überschaubarer und
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weniger anstrengend zu sein als eine Fake-Beziehung, in

Ex-Erfahrung
die man wesentlich mehr Arbeit stecken musste, wie ich
annahm.
Am Anfang lief alles so wie erhofft: störendes Signal-
ton-Stakkato eingehender Messages im Büro, etwas zu
Die realen Folgen laute und hitzige Privatgespräche während der Arbeitszeit
einer virtuellen Trennung. und verschämt weggewischte Tränen, die echt waren,
weil mir manche Nachrichten und Anrufe – KI hin oder
Eine Kurzgeschichte von Christian Endres her – nahegingen. Einmal bekam ich in der Kantine keinen
Bissen herunter, da mich die Vorwürfe der App, die sie an-
hand meines Profils auf mich abschoss, so schwer trafen.

I
m Bus hörte ich das erste Mal davon, auf dem Nach- Die anderen im Büro schienen sich dadurch für mich
hauseweg vom Büro. Ein paar Leute, die vor mir saßen zu erwärmen, mich zum ersten Mal als menschliches
und mich nicht beachteten, unterhielten sich angeregt Wesen wahrzunehmen. Und wenn da bei einigen statt
darüber. Mitleid Häme vorherrschte – na und, was kümmerte es
»Ex-Erfahrung nennen die das«, schnappte ich auf. mich? Wenigstens war ich endlich mehr als ein Möbel-
»Total irre. Klar, ich weiß, es gibt Sex-Bots, Beziehungssi- stück.
mulations-Apps und den ganzen Scheiß … aber eine App, Die Woche, in der die Trennungssimulation von ExPeri-
die eine Trennung nachspielt? Wer sollte so was wollen? ence mein Leben bestimmte und bereicherte, im Büro
Wozu? Warum?« und selbst zu Hause, war die aufregendste Zeit seit Lan-
Sie lachten abfällig. gem. Nie hatte ich mich lebendiger gefühlt.
Ich dagegen fand die Idee bereits gut, bevor ich anfing, Auf der Arbeit wurde ich in jenen Tagen oft angespro-
auf meinem Smartphone zu recherchieren. chen; alle wollten wissen, wie denn der Stand der Dinge,
Als der Bus meine Haltestelle erreichte, die ich vor was die neueste Entwicklung sei. Ich gab bereitwillig
lauter Faszination beinahe verpasste, hatte ich die App Auskunft, erhielt Aufmerksamkeit, Unterstützung und
der Firma ExPerience heruntergeladen, das Kleingedruck- Tipps. Man lud mich sogar zu einer Party ein.
te in der Nutzungsvereinbarung per Klick bestätigt, die Dann hörte es einfach auf. Von einem Tag auf den
Gebühr für eine Ex-Erfahrung bezahlt und damit begon- anderen.
nen, Profildaten einzugeben. Ich hätte es kommen sehen müssen, hatte diesen
Wieso, werden Sie jetzt fragen, wollte ich unbedingt unausweichlichen Teil der Sache jedoch verdrängt.
eine solche App haben? Es war der letzte Schritt der Erfahrung, das nüchterne
Ich war nun einmal das, was meine Mutter als »unauf- Lebewohl, der getrennte Gang in die Kälte, das Ende.
fällig-wohlgelitten« bezeichnete, hatte weder Freunde Das Ghosten.
noch Feinde. In der Firma begegnete man mir mit Gleich-

D
mut, wenn man mich überhaupt wahrnahm; ich war ein ie KI ignorierte mich und ließ sich zu keiner Reakti-
stilles Rädchen im Getriebe. Ich hatte keine spannenden on mehr provozieren. Selbst das kostete ich noch
Hobbys, mit denen ich mich hätte hervortun, kein aufre- ein, zwei Tage im Büro aus, zelebrierte diese neuer-
gendes Liebesleben, in das ich anderen hätte Einblick liche Wendung. Allerdings verlor der Rest der
gewähren können – etwa durch private Telefonate voller Belegschaft an diesem Drama ohne Höhepunkte schnell
Gekicher auf der Arbeit, meinen nach Feierabend vor der das Interesse. Ich versuchte, die App zu weiteren Atta-
Firma wartenden Schatz oder was auch immer. In der cken und Scheinduellen zu animieren, noch irgendeine
Kantine oder in der Büroküche erzählte ich niemanden hasserfüllte Ehrenrunde herauszukitzeln – aber nichts da,
von schrecklichen Dates, magischen Wochenenden, die Spitze der Erfahrung, der tiefste Punkt des falschen
verkorksten Beziehungen, nervigen Schwiegereltern oder Trennungstals, war allem Anschein nach erreicht.
eben hässlichen Trennungen. Auch ExPerience zeigte sich nicht bereit, mir entgegen-
Die App von ExPerience könnte das ändern. zukommen; die Firma ghostete und ignorierte mich
Nur ich wüsste, dass es sich um eine künstliche Intelli- genauso, wie ihre KI das tat.
genz handelte – die anderen im Büro müssten davon Was blieb mir daher anderes übrig, als zur nächsten
ausgehen, einen Blick in mein Privatleben samt einer Firmenniederlassung zu fahren, deren Adresse ich im
schweren, grässlichen Trennung zu erhaschen: abgelenkt Netz problemlos fand? Von wegen Stalking!
und aufgewühlt durch Message-Terror, wütende Anrufe, Ein Wachmann, der mir zu erklären versuchte, dass es
Emotionen … hier lediglich Server und keine Mitarbeiter gab, kam mir
Das alles selbst und allein vorzutäuschen, wäre mir ver- irgendwann blöd. Vielleicht war ich auch bloß sauer.
rückt vorgekommen. Doch mittels einer App und einer Jedenfalls schlug ich ihn nieder – mir war nicht klar
digitalen Intelligenz als Spielpartner? Das war wirklich gewesen, dass ich das in mir hatte. Ein schockierendes,
genauso wie ein Sex-Bot oder eine App, die einem eine wenngleich berauschendes Gefühl. Ich schnappte mir
FUTUR III

seinen Sicherheitsausweis, öffnete Tür um Tür und haste- »Ich will damit sagen, dass Sie für die Nutzung der Diens-
te durch die labyrinthischen Gänge. Aber da gab es te von ExPerience nicht genug entrichtet haben. Im rein
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wirklich nichts als summende Server in langen Reihen monetären Sinn. Sie schulden der Firma noch eine größe-
und gekühlten Räumen. re Summe.«
Vor lauter Wut und Enttäuschung legte ich Feuer. Fast »Was?« Ich erwiderte es so laut, dass einer der Wärter
wäre ich nicht mehr rechtzeitig aus dem Gebäude heraus- grimmig in meine Richtung blickte. »Wollen Sie mich
gekommen. verarschen? Ich hab die App bezahlt, damit ging der
Es war bereits zu spät, als mir der bewusstlose Wach- ganze Ärger los! Mein Leben ist im Eimer! Der Wach-
mann wieder einfiel; längst loderten die Flammen in den mann. Das Feuer. Der Prozess. Das Mediengewitter. Die
Himmel und verschlangen das ganze Haus. Ich floh vor Verurteilung. Der Knast.«
dem krachenden Toben des Feuers und vor den näher »Es freut mich, dass Sie das so sehen«, sagte Heinz
kommenden Sirenen. glatt. »Denn genau darum geht es. Haben Sie die Nut-
Am nächsten Tag wurde ich verhaftet – Sicherheitska- zungsbedingungen gelesen oder etwa einfach nur bestä-
meras. tigt? Ich habe sie hier. Die markierten Stellen. Schauen Sie
Der Prozess war äußerst öffentlichkeitswirksam, da die selbst.«
Medien ihn nutzten, um das Sommerloch bis zur nächs-

B
ten Eruption der Klimakatastrophe zu überbrücken. Politi- evor ich mehr als ein paar verschachtelte Sätze
ker und Experten besprachen meinen Fall und diskutier- gelesen hatte, erklärte Heinz: »Das, was Sie gerade
ten über die Gefahren durch die verführerische Verzer- eben beschrieben haben … das, was Sie erlebt
rung der Realität auf Grund der Interaktion mit künstlicher haben …, ist das Paket der ultimativen Ex-Erfah-
Intelligenz. rung. Mehr geht nicht.« Er deutete auf ein anderes Blatt.
Mehrere Leute aus dem Büro wurden interviewt und »Wie Sie sehen, haben Sie das volle derzeit mögliche
sagten, dass sie mir das nie und nimmer zugetraut hätten. Programm ausgereizt und damit die Voraussetzungen der
Obwohl – ein bisschen merkwürdig sei ich ja schon variablen Eskalation erfüllt, die bei Nutzung automatisch
immer gewesen, wenn sie es recht bedachten. Meine als gebucht betrachtet wird. Die Begleichung durch Sie
Mutter entschuldigte sich, in Tränen aufgelöst, bei der steht allerdings noch aus.«
Familie des Wachmanns. Ein Nachbar, den ich noch nie »Na, dann viel Glück dabei«, sagte ich, lehnte mich
im Leben gesehen hatte, meinte, meine stille Art sei ihm zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin
immer verdächtig vorgekommen. pleite. Der Prozess … der Anwalt hat meine letzten Er-
Mein Anwalt kostete viel Geld und konnte dennoch sparnisse gefressen.«
nicht verhindern, dass ich ins Gefängnis musste. Dort »Dessen sind wir uns bewusst. Deshalb haben wir
machte ich ganz reale Erfahrungen, auf die ich gern einen Vorschlag für Sie, um Ihre Schulden bei ExPerience
verzichtet hätte. zu tilgen. Mit der Gefängnisleitung ist schon alles abge-
Als ich dachte, dass mich nichts mehr überraschen sprochen. Sehen Sie, wir arbeiten an einer neuen App,
könnte, erhielt ich eines Tages unerwarteten Besuch. Der diesmal im Bereich Virtual Reality. Die Menschen verlangt
Mann, der vom Scheitel bis zur Sohle nach einem Anwalt es nicht mehr nur nach Freiheit, sondern nach extremen
aussah, begrüßte mich an einem der festgeschraubten Erfahrungen, die anders sind als ihr Alltag. Etwa der,
Alutische im Besuchsraum. Ein dünner Aktenordner aus hinter Gittern zu sitzen. Wir würden gerne Ihre Erfahrun-
Pappe lag vor ihm. gen hier drinnen aufzeichnen und auswerten und in die
Entwicklung eines neuen VR-Produkts einfließen lassen.

»I
ch habe keinen neuen Anwalt verlangt«, brummel- Dafür würden wir Sie bezahlen, und wenn Sie eines
te ich, sowie ich Platz genommen hatte. »Es fernen Tages hier rauskommen, wären Sie nicht nur frei,
würde nichts bringen, in Berufung zu gehen. sondern auch schuldenfrei, und … he, gehen Sie runter
Außerdem bin ich pleite. Wenn Sie also nicht auf von mir!«
hoffnungslose Fälle stehen und pro bono arbeiten …« Es waren drei Wärter nötig, um mich von Heinz fortzu-
»Nein«, wiegelte er mit einem schmalen Lächeln ab. zerren – mit meinen Fingern um den Hals hatte er bereits
»Deshalb bin ich nicht hier. Mein Name ist Heinz.« Womit das Bewusstsein verloren.
er offen ließ, ob das sein Vor- oder Nachname war. »Ich Keine Ahnung, was mich diese Erfahrung kosten
vertrete die Interessen von ExPerience.« wird. 
Ich stöhnte. »Haben Sie mir nicht genug eingebrockt?«
»Genug ist das Stichwort«, antwortete Heinz, zeigte DER AUTOR
mir wieder sein dünnes Lächeln und klappte effektvoll die
Akte auf, in der mehrere Schriftstücke lagen. »Sie haben Christian Endres schreibt für zahlreiche Medien wie »Tages-
nicht genug bezahlt«, eröffnete er mir sachlich. spiegel«, »diezukunft«, »c‘t« oder »phantastisch!«. Im April
»Für meine Verbrechen?«, fragte ich erstaunt. »Haben 2023 erschien sein Fantasy-Roman »Die Prinzessinnen –
Sie vergessen, wo Sie mich hier treffen? Ich würde schon Fünf gegen die Finsternis«. Für seine Arbeit wurde der Würz-
sagen, dass ich bezahlt habe. Jeden Tag bezahle.« burger mit dem Deutschen-Phantastik-Preis und dem
»Darüber müssen andere entscheiden«, versetzte er. Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet.
DIE WOCHE
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