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EDITORIAL

Carsten Könneker
Chefredakteur
koenneker@spektrum.de

AUTOREN IN DIESEM HEFT

Für eine neue Aufklärung

E in Unbehagen macht sich breit: Entmündigen wir uns durch die fortschreitende Digitali-
sierung selbst? Diese Frage treibt viele Menschen um, mit denen ich in den letzten Mona-
ten sprach, darunter etliche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Beispiel Arbeit: Die
Richard J. Johnson (links) und
Peter Andrews spürten einen
sehr alten Gendefekt auf, der die
sich stetig beschleunigende Digitalisierung der Berufswelt wird unsere eigene Stellung darin Vorratsspeicherung von Fett
fundamental ändern. Denn keineswegs nur übernehmen Roboter Fließbandtätigkeiten. Algo- fördert. Diese Anpassung kann
rithmen verrichten auch Dienstleistungs- und Manage­mentaufgaben zunehmend effektiver uns Wohlstandsmenschen von
als wir. Beispiel Beziehungen: Künstliche Intelligenzen werden von sozialen Netzwerken wie heute gefährlich werden (S. 20).
Facebook, dem aktuell 1,5 Milliarden Menschen angehören­, eingesetzt, um Nutzerdaten nach
ökonomisch verwertbaren Wahrheiten zu durchkämmen. Was interessiert Sie, wie ticken, wie
fühlen Sie? Nie zuvor konnte jemand mehr über den Einzelnen in Erfahrung bringen.
Derlei Kenntnisse sind auch politisch und ideologisch verwertbar. Wer immer genauer
weiß, welche Fragen Sie umtreiben, wo Sie sich informieren und auf wessen Ansichten Sie
Wert legen oder pfeifen, kann Sie immer passgenauer lenken, ja fernsteuern. Menschliches
Verhalten wird programmierbar, die Gesellschaft automatisiert. Das ist der alarmierende Te-
nor eines leidenschaftlichen Denkanstoßes, den neun namhafte europäische Experten ex-
klusiv in »Spektrum der Wissenschaft« vorlegen (S. 50). Die Autoren aus den Bereichen Big Albert Einstein spielte die Kon-
Data, KI, Soziologie, Ökonomie, Psychologie und Philosophie wollen uns mit ihrem Digital- sequenzen veränderter Natur­
Manifest wachrütteln. Wir brauchen eine neue Aufklärung, um Demokratie und individuelle gesetze gern im Geist durch. Ab
Freiheit vor totalitären Strukturen zu bewahren, die aus den Möglichkeiten der digitalen Re- S. 44 diskutiert die theoretische
volution erwachsen. Schon heute können die verborgenen Algorithmen von Suchmaschinen Physikerin Sabine Hossenfelder
Wahlen beeinflussen. Die Risiken der Fremdsteuerung des Menschen nehmen ein weltge- die Bedeutung der Methode
schichtlich einmaliges Ausmaß an – und umfassen neben unserer Manipulation durch Kon- Gedankenexperiment.
zerne, Hacker oder Regierungen auch unsere Instrumentalisierung durch künstliche Intelli-
genzen, die in den kommenden Jahrzehnten nie gekannte Fähigkeiten erwerben dürften.
Mir wurde der Verdacht, all dies seien überkommene Dystopien, am 9. November ausge-
trieben. Auf der hochkarätig besetzten Falling-Walls-Konferenz in Berlin zeigte der Neurowis-
senschaftler und Entwickler Demis Hassabis, Chef von Googles KI-Vorzeigeprojekt Deep-
Mind, wie seine künstliche Intelligenz autark lernte, verschiedenste Computerspiele zu be-
herrschen – ohne irgendeine Kenntnis der Ziele oder Regeln dieser Spiele einprogrammiert
bekommen zu haben, allein durch eigenständiges maschinelles Adaptieren. Nach x Spielver- Dass die zurückliegende Ebola­
suchen stellte das System die Leistungen jedes noch so trainierten menschlichen Spielers epidemie in Westafrika so
weit in den Schatten, agierte ungleich erfolgreicher – ohne zu wissen, was Erfolg ist. Was pas- ver­heerend wütete, lag an ei-
siert, wenn man solche Fähigkeiten weiterentwickelt und auf heiklere Gebiete loslässt? nem fatalen Zusammentreffen
Ich lege Ihnen die Lektüre des Digital-Manifests sowie die begleitende »Strategie für das von Umweltzerstörung und
digitale Zeitalter« unserer neun Autoren (S. 59) nachdrücklich ans Herz. Armut, urteilt der Biologe Robert
L. Dorit ab S. 72.
Ihr

WWW.SPEKTRUM.DE 3
INHALT

3 Editorial 10 Forschung aktuell

6 Spektrogramm Eine fast ideale Flüssigkeit Chemikalien als Pillen


U-Boot aus 244 Atomen • Verirrte Galileo- Viskosität des Quark- Neuer Trick erlaubt be­
Satelliten • Marmorkrebse: Seit 30 Genera­ Gluon-Plasmas berechnet quemeren Umgang mit
tionen ohne Sex • Methan freisetzende empfindlichen Stoffen
Arktisschmelze • Rätselhafte Erdbauten in Ringschluss bei Proteinen
Kasachstan • Wie Ballone platzen Ein Baukasten zur Herstel­ SPRINGERS EINWÜRFE
lung stabilerer Enzyme Was kostet der Klima-
9 Bild des Monats wandel?
Das Meer blüht auf Nonsens in der Datenbank Bei ungebremster Erd­
Fakeartikel und ihre erwärmung droht Dauer­
Entdeckung krise der Weltwirtschaft

20 ............................................................................................................... BIOLOGIE & MEDIZIN

r 20 In den Fängen des Fettgens


Eine Mutation ermöglichte unseren Vorfahren, leichter
Fett einzulagern. Mit schwer wiegenden Folgen heute.
Richard J. Johnson und Peter Andrews

28 Unser zweiter Hörsinn


Neben dem normalen Gehör verfügen wir offenbar noch
über ein älteres System. Es residiert im Gleichgewichts­
organ und spricht vor allem auf Bassrhythmen an.
TIM BOWER
Neil Todd

48 ........................................................................................................ PHYSIK & ASTRONOMIE

SCHLICHTING!
48 Mit Silvesterraketen bis zu den Sternen
Die Farben irdischer Feuerwerke verraten ihre chemische
Zusammensetzung.
H. Joachim Schlichting

.................................................................................................................... MENSCH & KULTUR

r 50 Digitale Demokratie statt Datendiktatur


Neun europäische Experten warnen vor der automati­
FOTOLIA / PATRIKSLEZAK
sierten Gesellschaft.
50
59 Eine Strategie für das digitale Zeitalter
EXKLUSIV Was wir tun müssen, um Freiheit und Demokratie zu
bewahren.
Dirk Helbing, Bruno S. Frey, Gerd Gigerenzer, Ernst Hafen,
Michael Hagner, Yvonne Hofstetter, Jeroen van den Hoven,
Roberto V. Zicari, und Andrej Zwitter

r 62 Wie entstand Israel?


Sie kamen aus Ägypten und eroberten das Gelobte Land, so
überliefert es das Alte Testament. Archäologen aber vermu­
ten die Ursprünge Israels und Judas in Palästinas Bergland.
Wolfgang Zwickel
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


r TITELTHEMA
SERIE »100 JAHRE ALLGEMEINE RELATIVITÄTS­
THEORIE« TEIL 4

36 Auf der Suche


nach der Theorie von Allem
Corey S. Powell

Physiker wollen endlich die Gravitation mit den


anderen Naturkräften vereinen.

44 Alles nur im Kopf


Sabine Hossenfelder

Einstein arbeitete gern mit Gedankenexperimen­


ten und zeigte, wie wertvoll dieses Werkzeug ist.

72 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN
68 Keine Rettung vor dem Abgrund
Terence Tao hat das 80 Jahre alte Diskrepanz-Problem von
Paul Erdős gelöst.
Erica Klarreich

............................................................................................................................ ERDE & UMWELT

72 Die Katastrophe hinter Ebola


r

In Westafrika scheint die Epidemie eingedämmt. Doch was


bleibt, sind die sozialen und ökologischen Verwerfungen,
CENTERS FOR DISEASE CONTROL AND PREVENTION (CDC)
die den Ausbruch erst ermöglichten.
78 Robert L. Dorit

....................................................................................................... TECHNIK & COMPUTER

78 Der lange Weg zur Marsrakete


Mit dem Space Launch System der NASA sollen Menschen
einmal zum Mars fliegen. Das ehrgeizige Projekt ist ein
Hybrid aus altbewährter Raumfahrttechnologie und
neuesten Entwicklungen – aber auch jeder Menge Politik.
David Freedman
JEFF WILSON

86 Wissenschaft im Rückblick 94 Leserbriefe/Impressum


Vom Tyrannosaurus zur Zirbeldrüse
96 Futur III
88 Rezensionen Alex Shvartsman: Der ideale Spamfilter
Michael Martin: Planet Wüste • Jürgen Schäfer:
Der Krankheitsermittler • Jim al-Khalili, Johnjoe 98 Vorschau
McFadden: Der Quantenbeat des Lebens • Matt
Parker: Auch Zahlen haben Gefühle • Ursula Titelmotiv: fotolia / pitris
Klein: Humboldts Preußen u. a. Die auf der Titelseite angekündigten Themen sind mit r gekennzeichnet.

WWW.SPEK TRUM .DE 5


SPEKTROGRAMM

NANOTECHNIK

U-Boot aus 244 Atomen

W issenschaftler der Rice Univer­


sity (Houston, USA) haben ein
Molekül aus 244 Atomen konstruiert,
Million Umdrehungen pro Sekunde
bewegen sich die Moleküle damit
deutlich schneller als nur durch passi­
voneinander trennt und so ihre Akti­
vierung verhindert. Bei Lichteinfall
löst sich die Bindung und erlaubt den
das sich wie ein U-Boot durchs Wasser ve Diffusion, die von thermischen Molekülteilen, sich in den aktiven
bewegt. Angetrieben wird es von UV- Stößen der Umgebung angetrieben Zustand zu drehen. Dadurch wird es
Licht. Ein Teil des Moleküls funktio­ wird. Allerdings lässt sich die Bewe­ möglich, das Medi­kament durch
niert wie ein Rotor, der durch Drehung gung nicht steuern und folgt somit gezielte Beleuchtung nur in bestimm­
Vortrieb erzeugt, vergleichbar den einem Zufallspfad. ten Körperregionen wirken zu
(größeren) Flagellen von Bakterien. Konkrete Anwendungen für das lassen.
Der Rotor ist über eine Doppelbin­ monomolekulare Gefährt sind noch Nano Lett. 10.1021/acs.
dung mit dem Rest des Moleküls ver- nicht in Sicht. Am ehesten kommt es nanolett.5b03764, 2015
bunden. Nach Anregung durch ein für medizinische Zwecke in Frage.
UV-Lichtquant vollzieht er eine Viertel­ Im Juli dieses Jahres entwickelte ein
drehung. Weil ihn das in eine energe­ anderes Team aus einem Nanomotor
tisch ungünstigere Position bringt, ein neues Krebsmedikament. Der
springt er anschließend eine Viertel­ Wirkstoff enthält eine Stickstoffdop­
drehung weiter, und zwar wegen der pelbindung, die zwei Molekülteile
Chiralität des Moleküls in die gleiche
Drehrichtung. Der Vorgang wiederholt

LOÏC SAMUEL / RICE UNIVERSITY


sich so lange, wie UV-Licht einfällt. Künstlerische Darstellung des
Jede volle Rotordrehung bringt einmolekularen Gefährts.
das Molekül 18 Nanometer (milliards­ Der Rotor befindet sich mittig am
tel Meter) voran. Mit mehr als einer »Quersteg« (vorn im Bild).

RAUMFAHRT

Neue Aufgabe für verirrte Satelliten

E ine fehlerhafte Raketenstufe der


europäischen Weltraumorganisa­
tion ESA hat zwei Satelliten für das
Möglichkeit festzustellen, wie das
Gangtempo der Uhren von der Distanz
zur Erdoberfläche abhängt.
Navigationssystem Galileo in die Bereits 1976 hatte die NASA einen
falsche Umlaufbahn geschossen. Statt ähnlichen Test durchgeführt. Im
die Geräte aufzugeben, funktioniert Rahmen der Satellitenmission Gra­vity
die ESA sie zu Messstationen um, die Probe A hatten Wissenschaftler ver­
Einsteins Relativitätstheorie mit bisher glichen, wie schnell Uhren auf der Erde
unerreichter Genauigkeit testen. beziehungsweise in 10 000 Kilometer
Mehr Aktualität! Die Satelliten haben hochpräzise Höhe gehen. Das knapp zweistündige
Atomuhren an Bord. Forscher wollen Experiment bestätigte die Relativitäts­
prüfen, ob diese Uhren in weiter theorie. Im Gegensatz dazu werden die
Auf Spektrum.de entfernten Bereichen des irdischen Galileo-Satelliten ein ganzes Jahr lang
Schwerefelds wirklich schneller gehen, messen und viermal genauere Messer­
berichten unsere  wie es die Relativitätstheorie vorher­ gebnisse liefern. Möglicherweise lassen
Redakteure täglich aus sagt. Auf ihren ungewollt elliptischen sich damit Abweichungen von Ein­
der Wissenschaft: Bahnen ändern die Galileo-Satelliten steins Theorie erkennen, die auf ein
ihren Abstand zur Erde zweimal täglich neues Modell hindeuten, in dem sich
fundiert, aktuell,  um einen Betrag von etwa 8500 Kilo­ Quanten- und Gravitationstheorie
exklusiv. meter. Ihre Position lässt sich dabei vereinen.
mit Lasern auf wenige Zentimeter Classical Quant. Grav. 32,
genau bestimmen. Das eröffnet die 232003, 2015

6 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


EVOLUTION

30 Generationen ohne Sex


CHRIS CHUCHOLL / CC-BY-SA-3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)

O bwohl Marmorkrebse (Procambarus fallax forma vir-


ginalis) bereitwillig kopulieren, können sie ohne
Partner Nachkommen hervorbringen. Diese überraschende
Beobachtung machten Aquarianer schon vor Jahren. Nun
haben­Biologen um Frank Lyko vom Deutschen Krebs­
forschungszentrum (Heidelberg) in umfangreichen gene­
tischen Analysen bestätigt, dass die Tiere eine eigenständige,
sich asexuell vermehrende Spezies darstellen.
Marmorkrebse kommen weltweit vor und treten, soweit
bekannt, nie als Männchen auf. Lyko und sein Team haben
das Erbmaterial zahlreicher Exemplare untersucht. Dabei
stellten sie fest, dass die Krebse allesamt genetisch identisch
sind und offenbar von einem einzigen Individuum abstam­
men. Mit anderen Worten: Sie sind Klone.
Die Forscher vermuten, eine plötz­liche Temperatur­
änderung vor 20 bis 30 Generationen könne dafür gesorgt
Marmorkrebse treten vielerorts als
haben, dass sich die Eizellen eines Everglades-Sumpf­
invasive Art auf – vor allem in Deutsch-
krebsweibchens nicht richtig teilten. Infolgedessen sei ein
land. Als Konkurrenten und Krank­
Jungtier entstanden, das einen dreifachen Chromoso­ heitsüberträger be­drohen sie heimische
mensatz, also überzählige Chromosomen besaß. Es habe Krebsarten wie den Edelkrebs.
sich ungeschlechtlich vermehrt und so alle späteren Mar­
morkrebse hervorgebracht. Überzählige Chromosomen
kommen in der Natur zwar häufig vor, in der Regel können die ihrer Vorgängerspezies Procambarus fallax. Demnach
die betroffenen Organismen aber keine Nachkommen haben epigenetische Mechanismen offenbar eine große
in die Welt setzen. Rolle beim Abspalten der neuen Art Procambarus fallax f.
Wie die Analysen der Forscher weiter zeigten, ist die virginalis gespielt.
DNA von Marmorkrebsen deutlich weniger methyliert als Biology Open 4, S. 1583 – 1594, 2015

OZEANOLOGIE

Schmelzen der arktischen Eisdecke setzt Methan frei

D ie jährliche Eisschmelze in der Arktis befördert große


Mengen des Treibhausgases Methan in die Atmos­
phäre. Das berichten Ellen Damm und ihre Mitarbeiter vom
Methan geht dabei ins oberflächennahe Wasser über. Dort
bleibt es, weil sich auf Grund der Erwärmung von oben und
des Eintrags von Schmelzwasser eine stabile Wasserschich­
Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Ihre Erkenntnis tung einstellt. Im Herbst, wenn die Temperaturen fallen,
haben sie auf einer Expedition mit dem Forschungsschiff kühlt der Ozean aus und es entstehen Konvektionsströme,
»Polarstern« gewonnen. die methanübersättigtes Wasser an die Oberfläche beför­
Die arktische Eisdecke und das darunterliegende Wasser dern, wo das Gas in die Atmosphäre entweicht. Dort ist es als
sind stark mit Methan übersättigt, weil Mikroben dort unter Treibhausgas etwa 30-mal so wirksam wie Kohlendioxid.
anaeroben Bedingungen organisches Material abbauen, wo- Erst die Bildung einer neuen Eisdecke beendet den Prozess.
bei Methan entsteht. Ein kleiner Teil des Gases löst sich im Dem komplizierten Mechanismus kamen die Forscher
Wasser unter dem Eis; das meiste wird beim Gefrieren in durch Messungen im arktischen Ozean auf die Spur. Dabei
kleinen Blasen eingeschlossen. Während des arktischen Win­ bestimmten sie Temperaturen ebenso wie Salz-, Sauerstoff-
ters ist die Eisdecke geschlossen und undurchlässig für und Methangehalte in verschiedenen Wassertiefen sowie im
Methan, weshalb das Gas nicht in die Atmosphäre übertritt. Eis und führten Kohlenstoffisotopmessungen durch, um
Im arktischen Sommer jedoch setzt seit einigen Jahren mikrobielle Stoffwechselaktivitäten zu untersuchen.
eine umfassende Schmelze ein. Das im Eis eingeschlossene Sci. Rep. 5, 16179, 2015

WWW.SPEK TRUM .DE 7


SPEKTROGRAMM

ARCHÄOLOGIE

Rätselhafte Erdbauten in Kasachstan

I n Nordkasachstan finden sich gewal­


tige Erdwerke, die Ausdehnungen von
mehreren hundert Metern besitzen.
erhielten sie Unterstützung von der
NASA, die Satellitenfotos von der Re-
gion zur Verfügung stellte.
Gräber. In der Nähe des Erdwerks
fanden sich die Reste einer jungstein­
zeitlichen Siedlung.
Das größte Gebilde besteht aus 101 Dey hat bereits eine Forschungs­ Thermolumineszenzdatierungen
Hügeln, jeder etwa einen Meter hoch expedition zum Viereck von Ushtogay haben ergeben, dass die Gebilde wohl
und etliche Meter im Durchmesser. geleitet. Dabei gruben die Wissen­ aus vorchristlicher Zeit stammen. Die
Zusammen ergeben sie ein Rechteck schaftler einige Hügel auf. Menschli­ ältesten könnten bis zu 8000 Jahre alt
mit Diagonallinien, das mehrere Fuß- che Überreste waren nicht darin, es sein und in Verbindung mit der stein­
ballfelder einnimmt – das so genannte handelt sich also offenbar nicht um zeitlichen Mahandzhar-Kultur stehen.
Viereck von Ushtogay. Andere Erdwerke Ihr Bau muss einen gewaltigen Auf­
sehen wie Linien, Ringe oder Kreuze wand erfordert haben. Wozu sie dien­
DIGITAL GLOBE 2015 / NASA

aus. Sogar eine dreiarmige Swastika ist ten, ist noch unbekannt.
dabei. New York Times, S. D2, 3. November 2015
Der kasachische Ökonom und Hob-
byarchäologe Dimitri Dey stieß erst­
mals im Jahr 2007 auf die Anlagen. Als Das »Viereck von Ushtogay« ist nach
er Google-Earth-Aufnahmen unter­ einem nahen Dorf benannt. Mehr als 100
suchte, fielen sie ihm zufällig auf. Erdhügel bilden hier ein Quadrat mit 280
Mittlerweile haben er und andere Meter Seitenlänge und Diagonallinien.
Forscher mindestens 260 weitere in Die Hügel waren einst wohl zwei bis drei
Nordkasachstan entdeckt. Dabei Meter hoch, heute ist es etwa ein Meter.

PHYSIK

Wie Ballone platzen

P ralle Luftballons zerplatzen anders


als schwach aufgeblasene, haben
Sébastien Moulinet und Mokhtar
Im Labor verwenden die Forscher
Gummimembranen, die sie auf ver­
schiedene Größen aufblasen. Anschlie­
Krümmung der Membran eine Rolle. Je
höher die Spannung, umso rascher
breitet sich ein Riss aus. Oberhalb einer
Adda-Bedia von der École Normale ßend stechen sie mit einer Klinge bestimmten Ausbreitungsgeschwin­
Supérieure in Paris herausgefunden. darauf ein. Mit Hilfe von Hochge­ digkeit wird das System allerdings
Bei geringem Druck auf die Ballonhaut schwindigkeitskameras haben sie instabil. Nun verzweigt sich der Riss,
reicht ein einzelner Riss, um die ange­ festgestellt, dass die Spannung in der und die dabei entstehenden Äste
staute Energie abzugeben. Steht die Hülle darüber entscheidet, wie der laufen strahlenförmig vom Einstich­
Hülle jedoch unter hoher Spannung, Ballon birst. Dabei spielen neben dem loch nach außen.
verzweigt sich der Riss mehrfach. Innendruck auch die Dicke und die Ist der Ballon kugelrund, erinnern
seine zerplatzten Überreste an einen
SEBASTIÉN MOULINET & MOKHTAR ADDA-BEDIA, LABORATOIRE DE

Kraken – mit umso mehr Armen, je


PHYSIQUE STATISTIQUE, ÉCOLE NORMALE SUPÉRIEURE, PARIS

höher die Spannung in der Hülle war.


Handelsübliche Luftballons haben
demgegenüber meist eine längliche
Form. Sie ähneln nach dem Bersten
mehr einem Gerippe.
In etlichen anderen Materialien
treten ähnliche Rissmuster auf. Des­
halb lassen sich die Erkenntnisse auch
auf sie anwenden, beispielsweise um
Steht die Hülle eines Ballons unter geringer Spannung, wächst sich ein Riss darin in die zu untersuchen, wie es zu Materialver­
Länge aus, während der Inhalt entweicht (obere Bildreihe). Bei hoher Spannung hinge- sagen kommt.
gen entstehen viele zusätzlich Risse, die strahlförmig auseinanderlaufen (untere Reihe). Phys. Rev. Lett. 115, 184301, 2015

8 SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


BILD DES MONATS

DAS MEER BLÜHT AUF


Mit dem Frühling auf der Südhalbkugel lässt die zunehmende Sonneneinstrahlung in den Ozeanen große
Algenteppiche wachsen. Am 16. November 2015 blickte ein amerikanischer Umweltsatellit auf ein
wolkenfreies Gebiet des Südatlantiks östlich der Falklandinseln. Die Aufnahme zeigt durch Strömungen ver­
wirbeltes Phytoplankton über einen Bereich von mehr als 1000 Kilometer.

NASA / OCEAN BIOLOGY PROCESSING GROUP / GODDARD SPACE FLIGHT CENTER

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FORSCHUNG AKTUELL

TEILCHENPHYSIK

Der idealen Flüssigkeit auf der Spur


Neuen Berechnungen zufolge ist kein Materiezustand so wenig 
»zäh« wie das Quark-Gluon-Plasma.

VON TINA SCHLAFLY

T heoretische Physiker versuchen seit


Langem, das so genannte Quark-
Gluon-Plasma zu verstehen. In diesem
Gluonen. Für kurze Zeit ­bilden diese ein
Quark-Gluon-Plasma. Nach der Kolli­
sion kühlt dieses ab. Es formen sich die
bei betrifft die innere Reibung der Flüs-
sigkeit, die sich in Viskosität äußert. In
»idealen« Fluiden ist diese Zähigkeit
Zustand befanden sich die Elementar- üblichen Zweier- und Dreiergruppen praktisch null.
teilchen wenige Sekundenbruchteile von Quarks, die so genannten Hadro- Um verschiedene Stoffe zu verglei-
nach dem Urknall. Unter normalen Um- nen, zu denen auch die Bausteine der chen, benutzen die Wissenschaftler
ständen sind Quarks und Gluonen nicht Atomkerne zählen. meist nicht allein die Viskosität, son-
einzeln beobachtbar, sondern treten nur dern das Verhältnis aus ihrem Wert und
gebunden auf. Im Plasma dagegen be- Überraschung im Experiment dem der Entropie; Letztere ist ein Maß
wegen sie sich nahezu frei. Auf diese Weise haben die Forscher am für die Unordnung im System. Dieses
Eine Heidelberger Forschergruppe RHIC gezeigt, dass Quarks und Gluonen Verhältnis kommt in den hydrodyna-
um Jan M. Pawlowski stellt nun eine Me- abhängig von der Temperatur in ver- mischen Gleichungen vor und gibt
thode vor, mit der die Eigenschaften schiedenen Aggregatzuständen auftre- Auskunft über die Qualität einer Flüs-
dieser Materie berechnet werden kön- ten: eingesperrt in Hadronen oder frei sigkeit: Je kleiner der Wert, umso »idea-
nen (Physical Review Letters 115, 112002, im Plasma. Wie beim Wasser gibt es zwi- ler« das Fluid. Es war mit Teilchenbe-
2015). Anders als die meisten bisherigen schen diesen Zuständen einen Phasen- schleunigern allerdings bislang nicht
Verfahren ist ihres für beliebige Tempe- übergang. Das US-Experiment offen- möglich, das Verhältnis für das Quark-
raturen anwendbar. Die Forscher ermit- barte eine überraschende Eigenschaft Gluon-Plasma zu messen. Stattdessen
teln damit, wie sich das Plasma unter der Elementarteilchen: Anstatt, analog bestimmten es die Experimentatoren,
extrem dichten und heißen Bedingun- zum Wasserdampf, zu einem Gas zu indem sie ihre Daten mit hydrodyna-
gen, wie unmittelbar nach dem Urknall, werden, erscheinen sie im Plasma wie mischen Simulationen verglichen. Dort
verhält. Außerdem können sie nachvoll- eine Flüssigkeit. Zumindest modelliert kann man diesen Parameter frei variie-
ziehen, wie sich die Eigenschaften beim die Hydrodynamik, die das Verhalten ren. Dabei stellten sie fest, dass nur ein
Abkühlen verändern. Das ist besonders von Fluiden beschreibt, die Messergeb- unerwartet niedriger Wert zu den Er-
wichtig, um manche Experimente an nisse sehr gut. Eine wichtige Frage da- gebnissen passt. Demnach wäre das
Teilchenbeschleunigern zu verstehen.

STAR EXPERIMENT AT THE RELATIVISTIC HEAVY ION COLLIDER (RHIC), BROOKHAVEN NATIONAL LABORATORY
Im Jahr 2005 haben Forscher am Re-
lativistic Heavy Ion Collider (RHIC) in
den USA das Quark-Gluon-Plasma erst-
mals künstlich hergestellt. Die Experi-
mentatoren beschleunigten Goldteil-
chen auf nahezu Lichtgeschwindigkeit
und ließen sie dann zusammenstoßen.
Wenn solche Partikel kollidieren, steigt
die Temperatur auf einige Billionen
Kelvin. Unter derartigen Bedingungen
lösen sich Protonen und Neu­tronen in
ihre Bestandteile auf, in Quarks und

Bei Teilchenkollisionen am RHIC entsteht


ein heißes Quark-Gluon-Plasma. Es kühlt
sich rasch ab und bildet Millionen Partikel,
deren Flugbahnen der Detektor aufzeich-
net (rechts: Blick in Beschleunigerrichtung;
Seite gegenüber: seitliche Ansicht).

10  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Quark-Gluon-Plasma eine beinahe ide- lerdings nicht aus. Die Temperaturen in Renormierungsgruppe – mathematisch
ale Flüssigkeit. diesem Experiment sind zwar extrem miteinander verknüpft. Dazu definie-
Diese Vermutung wollten die Hei- hoch im Vergleich zu Alltagsbedingun- ren die Forscher das physikalische Sys-
delberger Physiker nun dadurch über- gen, aber immer noch niedrig genug, tem auf der untersten Ebene durch die
prüfen, dass sie das Viskositäts-Entro- dass die Kraft zwischen den Elementar- Grundgleichungen der Quantenchro-
pie-Verhältnis aus der fundamentalen teilchen wieder die Oberhand gewinnt modynamik. Die Lösung der Renormie-
Theorie der Quarks und Gluonen be- und sich auch einige Hadronen ins Plas- rungsgruppen-Gleichung beschreibt
rechnen, der so genannten Quanten- ma mischen. Dadurch funktioniert die dann, wie die Theorie bei den anderen
chromodynamik. Dass die Elementar- Beschreibung über freie Quarks und Zoomfaktoren aussieht. So lassen sich
teilchen in mehreren Aggregatzustän- Gluonen nicht mehr. Für genau diesen aus Quarks und Gluonen komplexe Ob-
den auftreten, ist hier eine besondere Übergangsbereich interessieren sich jekte wie Protonen und Neutronen ab-
Herausforderung. Zusätzlich erschwe- Pawlowski und seine Kollegen. leiten, und auch Messgrößen wie die
ren es die temperaturabhängigen Kräf- Viskosität. Die rechnerischen Ergebnis-
te zwischen den Teilchen, ihre Eigen- Wie ein theoretischer Blick se zeigen zudem, ob ein Quark-Gluon-
schaften zu ermitteln. In einem heißen durchs Mikroskop Plasma vorliegt oder ob sich Hadronen
Quark-Gluon-Plasma ist die Wechsel- Der Durchbruch der deutschen Wissen- bilden. Es können also beide Phasen
wirkung beispielsweise schwach. Dort schaftler besteht darin, dass sie eine und sogar ihr Übergang untersucht
lässt sich eine Standardmethode der Technik entwickelt haben, die überall werden.
theoretischen Physik anwenden, die anwendbar ist – vom heißen Quark-Glu- Zunächst beschränkte sich das For-
Störungstheorie. Sie beruht darauf, ein on-Plasma bis zur Raumtemperatur. scherteam in einem ersten Schritt auf
kompliziertes System in einen Teil auf- Das Team beschreibt sie als die mathe- die so genannte reine Eichtheorie, die
zuspalten, der mit wenig Aufwand be- matische Version eines starken Mikros- nur Gluonen betrachtet. Obwohl keine
rechnet werden kann, und eine Abwei- kops, durch das man auf ein Stück Mate- Quarks vorkommen, hat diese Theorie
chung davon. Ist Letztere klein, ist das rie schaut: Bei maximaler Auf­lösung be- viele Eigenschaften mit der Quanten-
einfache System eine gute Näherung obachtet man Quarks und Gluonen; in chromodynamik gemeinsam. Das liegt
für das komplizierte. Die Forscher kön- einem etwas größeren Bildausschnitt an einer Besonderheit der Gluonen: Ih-
nen also freie Quarks und Gluonen als verschwinden diese Details, stattdessen re Hauptaufgabe ist es, die Wechsel­
Beschreibung verwenden. Mit der Stö- erscheinen Protonen und Neutronen. wirkung zwischen den Quarks zu ver-
rungstheorie lässt sich dann eine Ab- Auf der nächsten Stufe verschwimmen mitteln (siehe SdW 12/2015, S. 58). Al-
schätzung für die schwierigere Situa­ diese wiederum zu Atomen. ler­dings interagieren die »Klebstoff­teil-
tion ermitteln, in welcher die Elemen- Die Beschreibungen auf den ver- chen« auch direkt miteinander. Mehre-
tarteilchen doch ein wenig interagieren. schiedenen Größenordnungen werden re von ihnen können sich zu so genann-
Für die Quark-Gluon-Plasma-Daten durch das Verfahren von Pawlowski ten Glue­balls zusammenschließen, die
vom RHIC reicht die Störungstheorie al- und seinen Kollegen – die so genannte den Protonen und Neutronen der
Quan­tenchromodynamik entsprechen.
STAR EXPERIMENT AT THE RELATIVISTIC HEAVY ION COLLIDER (RHIC), BROOKHAVEN NATIONAL LABORATORY

Und auch Glueballs zerfließen bei ho-


hen Temperaturen in ein Plasma – die
Eichtheorie besitzt also ebenfalls einen
Phasenübergang.
Pawlowski und sein Team haben nun
die Qualität des Gluon-Plasmas als Flüs-
sigkeit ermittelt. Sie ändert sich mit der
Temperatur und ist knapp über dem
Phasenübergang am besten. Gerade die-
ser Bereich war bislang nicht zugäng-
lich. Das Verhältnis von Viskosität und
Entropie ist dort zirka zehnmal kleiner
als bei Wasser und nur doppelt so groß
wie der von der Stringtheorie vorherge-
sagte Minimalwert. Eine perfekte Flüs-
sigkeit hätte genau diesen Wert.
Wie auf Grund der Störungstheorie
erwartet, können die Forscher das Re-
sultat bei sehr hohen Temperaturen al-
lein durch die Wechselwirkung von

WWW.SPEK TRUM .DE 11


FORSCHUNG AKTUELL

Gluonen erklären. Bei niedrigen Tem- Verhalten in der Nähe des Phasenüber- beim Quark-Gluon-Plasma um den
peraturen beschreibt ein Gas aus Glue- gangs schätzen die Forscher ab, indem dünnflüssigsten Materiezustand han-
balls die Situation am besten. Für den sie die beiden Bereiche wie in der Eich- delt, der bisher vermessen wurde. In Ex-
Übergangsbereich, wo sich die beiden theorie mischen. So kommt das Team perimenten am RHIC und am Large Ha-
Szenarien überlagern, können die Phy- zu der Vorhersage, dass das Verhältnis dron Collider in der Schweiz werden
siker aus ihren Daten eine einfache For- von Viskosität und Entropie im Quark- Forscher das Plasma in Zukunft genau-
mel ableiten. Diese ermöglicht es der Gluon-Plasma ungefähr 20 Prozent grö- er unter die Lupe nehmen (siehe SdW
Gruppe schließlich, im zweiten Schritt ßer ist als im reinen Gluon-Plasma. Die- 5/2011, S. 86). Beispielsweise wollen sie
eine Abschätzung für den realen Fall zu ses Ergebnis liegt immer noch sehr herausfinden, wie sich die Eigenschaf-
geben, also für das gemeinsame Auftre- nahe an dem erwähnten Minimalwert – ten bei niedrigen und hohen Tempera-
ten von Gluonen und Quarks. Bei ho- in keinem realen System wurde je ein turen verändern. Auch dafür haben die
hen Temperaturen bestimmen demzu- niedrigerer gemessen. Das Quark-Glu- Heidelberger mit ihrer Methode bereits
folge deren Wechselwirkungen als ei- on-Plasma ist also tatsächlich fast ideal überprüfbare Vorhersagen aufgestellt.
genständige Teilchen das Resultat, bei viskos.
geringen Temperaturen tragen vorwie- Die Theoretiker liefern somit einen Tina Schlafly ist promovierte Physikerin und
gend Hadronen zum Ergebnis bei. Das starken Hinweis darauf, dass es sich Wissenschaftsjournalistin in Heidelberg.

SYNTHETISCHE BIOLOGIE

Ringschluss bei Proteinen


Um Eiweiße weniger anfällig gegenüber Hitze und Verklumpung zu machen, verknüpfen 
Forscher ihre beiden Enden zu einem zirkulären Molekül. Für die Weiterentwicklung 
dieser Methode erhiel­ten zwölf Studierende den Hauptpreis in einem Nachwuchswettbewerb.

VON JANOSCH DEEG

S chlägt man ein Ei in eine heiße Pfan-


ne, härtet das Eiweiß schnell aus
und färbt sich weiß. Das liegt an den da-
dem Problem der Stabilisierung von
Proteinen auseinanderzusetzen. Die
Gruppe suchte nämlich gerade nach ei-
Schmelas an den Beginn ihres Vorha-
bens. Und ihre Kollegin Anna Huhn er-
gänzt: »Die Denaturierung des Proteins
rin enthaltenen Proteinen, deren drei- nem passenden Forschungsprojekt, um beginnt meist an den losen Enden, wie
dimensionale Struktur sich durch die an einem studentischen Nachwuchs- bei einem Wollknäuel, das man von dort
Hitze irreversibel verändert. Sie dena- wettbewerb der iGEM (Abkürzung für aus entrollt. Verknüpft man die Endstü-
turieren, wie es im Fachjargon heißt. International Genetically Engineered cke, stellen diese keine Angriffsfläche
Proteine sind große Moleküle aus Ami- Machine) Foundation in Boston, USA, mehr dar.«
nosäureketten, die sich zu einer spezifi- teilzunehmen. Teams aus aller Welt
schen räumlichen Anordnung falten. präsentieren dort alljährlich ihre krea­ Die Form muss erhalten bleiben
Wenn ungünstige Umgebungsfaktoren tive wissenschaftliche Arbeit aus dem Das Forscherteam um Barbara Di Ven-
diese zerstören, büßt das Eiweiß seine Bereich der synthetischen Biologie. tura und Roland Eils vom Deutschen
Funktion ein. Bei biotechnologischen »Bei unserer Recherche stießen wir Krebsforschungszentrum (DKFZ) und
Verfahren in der Industrie, Forschung auf den Vorteil ringförmiger Proteine«, der Universität Heidelberg veröffent-
oder Medizin müssen die Verantwortli- berichtet Carolin Schmelas. Gemein- lichte nun auf dem Projekt basierende
chen dies im Blick behalten. Beispiels- sam mit ihren Kommilitonen stellte sie Ergebnisse (Molecular BioSystems 10.
weise kommt in der Papier- und Textil- fest, dass zirkuläre, also ringförmig in 1039/C5MB00341E, 2015). In der Tat ge-
industrie das Protein Xylanase zum sich geschlossene Proteine weniger lang es der Gruppe, die beiden Endstü-
Einsatz, das einen wesentlichen Be- schnell denaturieren als solche mit zwei cke der Xylanase zusammenzufügen
standteil von pflanzlichen Zellwänden offenen Enden, wie sie fast alle in der und das Enzym damit strapazierfähi-
zersetzt. Hitze, extreme pH-Werte oder Natur auftretenden Proteine aufwei- ger zu machen. Wichtig dabei ist, die
Lösungsmittel schädigen das Protein – sen – auch die Xylanase. Mit dieser Er- dreidimensionale Struktur zu erhal-
eine höhere Widerstandsfähigkeit wäre kenntnis begann eine Erfolgsgeschich- ten – das molekulare Knäuel darf nicht
deshalb nützlich. te. »Wir wollten Eiweiße zu einem Ring zu sehr deformiert werden. Wie die Wis-
Im Sommer 2014 beschlossen zwölf verschließen, um sie dadurch wider- senschaftler berichten, dürfte das auch
Heidelberger Studierende, sich mit standsfähiger zu machen«, erinnert sich bei vielen anderen Proteinen möglich

12  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


sein: Die beiden Enden der Aminosäu-

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BUSKE-GRAFIK


rekette (fachlich: Termini) liegen häufig
so dicht beieinander, dass sie sich für C-Intein O N-Intein
H
einen Ringschluss anbieten. Zudem N N
H
können passende Verbindungsmolekü- O
le – auch Linker genannt – größere Ab-
stände überbrücken und so sicherstel-
len, dass sich das Eiweiß nicht verformt
und dadurch seine Funktion einbüßt.
Das Team von Molekularbiologen,
vollständiges Intein
dem auch die beiden Studentinnen an-
gehören, verwendete für den Ring-

H
O
N

N
O
H
schluss ein natürliches Werkzeug von
Zellen, so genannte Inteine. Dabei han-
delt es sich um Proteinabschnitte, die
sich selbsttätig aus der molekularen
Kette herausschneiden und anschlie-
ßend die dadurch entstandenen losen »Narbe«
Enden wieder miteinander verknüpfen O ausschneiden und Ringschluss
können. Diese Fähigkeit nutzten die N
H
Wissenschaftler für ihre Zwecke: Zu-
nächst koppelten sie jeweils einen von
zwei komplementären Teilen eines In-
zirkuläres
teins an die zwei Termini der Xylanase Protein ausgeschnittenes Intein
an. Die beiden angebundenen Frag-
mente verbanden sich daraufhin zum
intakten Intein, das sich wiederum aus
dem Enzym herauslöste und den Ring An den Enden des Proteins hängen zwei komplementäre Inteinteile. Fügen sie sich zum
schloss. Eine zirkuläre Xylanase war intakten Intein zusammen, schneidet dieses sich unter Ringschluss des Proteins heraus.
entstanden. Früher blieben oft unerwünschte Aminosäuren als Narbe an der Naht zurück (blau).
Um ihr Ziel zu erreichen, schleusten
die Forscher den genetischen Bauplan
des Proteins plus die Anweisung, die In- lassen, ohne dass Narbensequenzen üb- here Temperatur aushalten als die Aus-
teinfragmente anzuhängen, über so ge- rig bleiben. Damit das Verfahren mit gangsversion. Bei einem langen Ver­
nannte Plasmide in Bakterien ein. Die zahlreichen Inteinen kompatibel ist, bindungsstück hingegen verzeichneten
Mikroben begannen dann, das Zielpro- verwendeten sie dabei solche Amino- sie keine merkliche Änderung im Ver-
tein inklusive der Inteinteile zu produ- säuren, die in vielen verschiedenen In- gleich zur natürlichen Variante. Die Art
zieren. »Bislang musste solch ein Plas- teinen gleich oder ähnlich sind. des Linkers beeinflusst also die Ther-
mid für jedes einzelne Protein maß­ mostabilität eines ringförmigen Pro­
geschneidert werden, um zu vermeiden, Wie lang darf das teins. Bemerkenswert ist, dass die ring-
dass unerwünschte Aminosäurese- Verbindungsstück sein? förmige Variante in Versuchen deutlich
quenzen an der Nahtstelle zurückblie- Diese Idee eines auf Inteinen basieren- weniger anfällig gegenüber Hitze-
ben – gewissermaßen als Narbe«, er- den »Werkzeugkastens« hatten die Hei- schocks war: Die Wissenschaftler er-
klärt Max Waldhauer, einer der Autoren delberger Studierenden den Juroren in wärmten dabei die Eiweißmoleküle
des Artikels. Boston präsentiert. Außerdem hatte die schlagartig auf Temperaturen bis zu 90
Dies änderte das Team nun: »Wir ha- junge Truppe eine Software entworfen, Grad Celsius und kühlten sie nach ei­
ben ein effizientes Klonierungsverfah- welche die benötigte Linkerlänge be- nigen Minuten wieder schnell auf 37
ren entwickelt, mit dem wir ganz ein- rechnet, falls nennenswerte Distanzen Grad ab. Im Anschluss war kaum noch
fach Plasmide für beliebige Proteine zwischen den beiden Termini über- eines der linearen Proteine funktional,
mit verschiedenen Linkern basteln kön- brückt werden müssen. dagegen taten bis zur Hälfte der ring-
nen«, so Waldhauer. Die Forscher kons­ In ihren Experimenten mit verschie- förmigen Moleküle weiterhin ihren
truierten ein Standard-Empfängerplas- denen ringförmigen Xylanaseprotei- Dienst. Das ist darauf zurückzuführen,
mid, in das sich mit Hilfe spezieller nen fanden die Forscher heraus, dass dass die zirkuläre Form bei dem Hitze-
­molekularer Scheren alle möglichen Moleküle mit einem Linker aus nur ei- schock viel weniger verklumpte als die
Proteine in nur einem Schritt einbauen ner Aminosäure eine sieben Grad hö­ natürliche.

WWW.SPEK TRUM .DE 13


FORSCHUNG AKTUELL

In ihrer Veröffentlichung resümie- man die Zirkularisierung mit anderen spektakulären Namen »Feuerring«
ren die Molekularbiologen, dass die Maßnahmen zum Stabilisieren von räumte den Hauptpreis ab. Wahr-
ringförmige Xylanase im jetzigen Zu- Proteinen – etwa spezifische Mutatio- scheinlich lag das auch an der damals
stand zwar noch keine direkte indus­ nen – kombinieren und damit für die vorgestellten ersten Anwendung: einer
trielle Verwendung finden kann, da die Industrie interessante Enzyme wesent- hitzestabileren Version der DNA-Me-
Hitzeresistenz noch nicht genügend lich widerstandsfähiger machen. thyltransferase. Mit dieser ließen sich
­gesteigert ist. Jedoch vereinfache ihre Die vielseitigen Anwendungsmög- unter Umständen epigenetische Vor-
­Methode grundlegend die Fertigung lichkeiten der Inteinmethode hatte be- gänge (SdW 7/2015, S. 19) beeinflussen.
zahlreicher zirkulärer Proteine, die für reits die Preisrichter beim iGEM-Wett-
die Biomedizin und Biotechnologie bewerb beeindruckt: Das Projekt der Janosch Deeg ist promovierter Physiker und
von Nutzen sein können. Zudem könne Heidelberger Studierenden mit dem Wissenschaftsjournalist in Heidelberg.

WISSENSCHAFTLICHES PUBLIZIEREN

Faule Äpfel in der Datenbank


Über Jahre hinweg sind Artikel zu wissenschaftlichen Konferenzen eingereicht 
und veröffentlicht worden, deren Inhalt aus purem und erkennbarem Unsinn bestand – 
erstellt von einer eigens dafür geschriebenen Software.

VON ELKE REINECKE

H eute hätte Herr zu Guttenberg mit


seiner schlichten Abkupferme­
thode keine Chance mehr auf einen
mit dem für wissenschaftliche Arbei-
ten üblichen Aufbau; er besteht aus
grammatikalisch korrekten englischen
gewissen Konferenzen finde keine nen-
nenswerte Qualitätskontrolle statt. Im
Jahr 2005 machten sie die Probe aufs
Doktortitel. Sowohl Universitäten als Sätzen, die typische Fachwörter enthal- Exempel und reichten bei der World
auch Dokumentenserver wie arXiv.org ten und jeden Plagiatstest bestehen, Multi-Conference on Systemics, Cyber-
lassen wissenschaftliche Arbeiten in- denn sie werden für jede Anforderung netics and Informatics (WMSCI) eine
zwischen standardmäßig durch spezi- neu mit dem Zufallszahlengenerator Nonsensarbeit ein. Der von der frisch
elle Software auf Plagiate überprüfen. ausgewürfelt. Erst wer versucht, die entwickelten Software SCIgen produ-
Gibt es denn dann noch Auswege für je- ersten Absätze zu verstehen, erkennt – zierte Text »Rooter: A Methodology for
manden, der sich zwar mit akademi- dann allerdings mühelos –, dass es sich the Typical Unification of Access Points
schem Ruhm schmücken will, aber die um kompletten Unsinn handelt. and Redundancy« (Bild rechts, oben)
Mühen des ernsthaften wissenschaft­ Ursprünglich war die Software ein wurde prompt akzeptiert.
lichen Arbeitens scheut? Die Antwort Schelmenstreich dreier Doktoranden In der darauf folgenden Auseinan-
darauf ist wieder eine Software: Er der Computerwissenschaften am Mas- dersetzung kam zu Tage, dass die Orga-
könnte es mit SCIgen versuchen (die sachusetts Institute of Technology nisatoren dieser Konferenz sich eine
Abkürzung steht für »science genera- (MIT). Jeremy Stribling, Maxwell Krohn Quote von 15 Prozent »non-refereed
tor«, »Wissenschaftserzeuger«). und Daniel Aguayo waren, genervt von papers« genehmigt hatten – einge-
Das allgemein zugängliche Compu- einer enormen Menge von Einladun- reichte Arbeiten, zu denen sich keiner
terprogramm SCIgen (http://pdos.csail. gen zu wissenschaftlichen Tagungen, der nach dem Zufallsprinzip ausge-
mit.edu/scigen/) produziert einen Text zu der Überzeugung gekommen, bei wählten Gutachter geäußert hatte. So
war der Unsinnstext in das offizielle
Kongressmaterial gerutscht. Nach dem
Streich der drei Doktoranden gab man
Die »Gegensoftware«
diese Praxis offiziell auf. Aber SCIgen
Labbé und sein Doktorand Nguyen Minh Tien haben 2015, unterstützt vom Springer- wurde weiter genutzt – und zwar nicht
Verlag, die SCIgen-Erkennungssoftware zu einem frei verfügbaren Produkt namens nur, um Fehler im System aufzudecken,
SciDetect ausgearbeitet. Die Website http://scidetect.forge.imag.fr/ richtet sich sondern auch, um Artikel in Konferenz-
vorrangig an Verlage oder Konferenzveranstalter, die große Mengen an Manuskrip- bänden oder gar wissenschaftlichen
ten automatisch überprüfen lassen möchten. Für Einzeltests empfiehlt sich die Zeitschriften unterzubringen.
­»SCIgen detection website« http://scigendetection.imag.fr/. Das stellte sich heraus, als der Infor-
matiker Cyril Labbé von der Université

14  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Rooter: A Methodology for the Typical Unification
Der erste Erfolg der Software SCIgen (oben).
Der darunter wiedergegebene Text war
bereits vom »Journal of Applied Mathe­ of Access Points and Redundancy
matics and Computation« akzeptiert
Jeremy Stribling, Daniel Aguayo and Maxwell Krohn
worden, bevor die vorgeblichen Autoren
ihn zurückzogen.
A BSTRACT The rest of this paper is organized as follows. For starters,
we motivate the need for fiber-optic cables. We place our
Many physicists would agree that, had it not been for
work in context with the prior work in this area. To ad-
congestion control, the evaluation of web browsers might never
dress this obstacle, we disprove that even though the much-
have occurred. In fact, few hackers worldwide would disagree
Joseph Fourier in Grenoble verschiede- tauted autonomous algorithm for the construction of digital-
with the essential unification of voice-over-IP and public-
to-analog converters by Jones [10] is NP-complete, object-

JEREMY STRIBLING, DANIEL AGUAYO, MAXWELL KROHN


private key pair. In order to solve this riddle, we confirm that
ne Artikeldatenbanken mit einer eigens oriented languages can be made signed, decentralized, and
SMPs can be made stochastic, cacheable, and interposable.
signed. Along these same lines, to accomplish this mission, we
geschriebenen Software durchsuchte. I. I NTRODUCTION concentrate our efforts on showing that the famous ubiquitous
algorithm for the exploration of robots by Sato et al. runs in
Im Februar 2014 wies Labbé den wis- Many scholars would agree that, had it not been for active Ω((n + log n)) time [22]. In the end, we conclude.
senschaftlichen Springer-Verlag darauf networks, the simulation of Lamport clocks might never have
occurred. The notion that end-users synchronize with the II. A RCHITECTURE
hin, dass sich in den Jahren 2008 bis investigation of Markov models is rarely outdated. A theo- Our research is principled. Consider the early methodology
retical grand challenge in theory is the important unification by Martin and Smith; our model is similar, but will actually
2013 mindestens 16 SCIgen-Produkte in of virtual machines and real-time theory. To what extent can overcome this grand challenge. Despite the fact that such
web browsers be constructed to achieve this purpose? a claim at first glance seems unexpected, it is buffetted by
seine Kongressberichte eingeschlichen Certainly, the usual methods for the emulation of Smalltalk previous work in the field. Any significant development of
hatten. Noch schlimmer traf es das Ins- that paved the way for the investigation of rasterization do secure theory will clearly require that the acclaimed real-
not apply in this area. In the opinions of many, despite the time algorithm for the refinement of write-ahead logging by
titute for Electrical and Electronics En- fact that conventional wisdom states that this grand challenge Edward Feigenbaum et al. [15] is impossible;
AMC 12286 No. of Pagesour6,application
Model 3+
is continuously answered by the study of accessARTICLE points, we isIN no different.
PRESSThis may or may not actually hold in reality.
gineers (IEEE), einen weltweiten Be­ believe that a different solution is necessary. It should be We consider an application consisting of n access points.
3 April 2007; Disk Used

rufsverband mit Sitz in den USA, der di­ noted that Rooter runs in Ω(log log n) time. Certainly, the Next, the model for our heuristic consists of four independent
shortcoming of this type of solution, however, is that compilers components: simulated annealing, active networks, flexible
verse Fachzeitschriften herausgibt und and
1 superpages are mostly incompatible. Despite the fact that modalities, and the study of reinforcement learning.
similar methodologies visualize XML, we surmount this issue We consider an algorithm consisting of n semaphores.
eine Reihe renommierter Fachtagun- without synthesizing distributed archetypes. Any unproven synthesis of introspective methodologies will
gen veranstaltet. In seinen Dokumen- We question the need for digital-to-analog converters.
Applied Mathematics It clearlyxxx
and Computation require
(2007)that the well-known reliable algorithm for the
xxx–xxx
should be noted that we allow DHCP to harness homoge- investigation of randomized algorithms by Zheng is in Co-NP;
www.elsevier.com/locate/amc
ten fanden sich mehr als 100 Treffer. neous epistemologies without the evaluation of evolutionary our application is no different. The question is, will Rooter
programming [2], [12], [14]. Contrarily, the lookaside buffer satisfy all of these assumptions? No.
might not be the panacea that end-users expected. However, Reality aside, we would like to deploy a methodology for
this method is never considered confusing. Our approach how Rooter might behave in theory. Furthermore, consider
Computerprogramm gegen Cooperative, compact algorithms for randomized algorithms

F
2
turns the knowledge-base communication sledgehammer into the early architecture by Sato; our methodology is similar,
Computerunsinn a scalpel. but will actually achieve this goal. despite the results by Ken

OO
3Our focus in our research is not on whether symmetricMosallahnezhad
Rohollah Thompson, we can disconfirm that expert systems can be made
Mittlerweile haben sich Labbé und der encryption and expert systems are largely incompatible, but amphibious, highly-available, and linear-time. See our prior
rather
4 on proposing new flexibleIran symmetries
Institute of(Rooter). Indeed,
Technology, technical
Department report [9]Hafez,
of Mathematics, for details.
Tehran, Iran
Springer-Verlag zusammengetan und active
5 networks and virtual machines have a long history of
collaborating in this manner. The basic tenet of this solution III. I MPLEMENTATION
ein Programm namens SciDetect ausge-
is the refinement of Scheme. The disadvantage of this type Our implementation of our approach is low-energy,
arbeitet (siehe »Die ›Gegensoftware‹«,
PR
of approach, however, is that public-private key pair and red- Bayesian, and introspective. Further, the 91 C files contains
black trees are rarely incompatible. The usual methods for the about 8969 lines of SmallTalk. Rooter requires root access
6 Abstract
links). Mit diesem lässt sich jedes ein­ visualization of RPCs do not apply in this area. Therefore, we in order to locate mobile communication. Despite the fact
see
7 no reason
Expertsnot to use
agree thatelectronic
encryptedmodalities to measure
methodologies are an the that we
interesting newhave not
topic in yet
the optimized for complexity,
field of theory, this should
and information be
theorists
gereichte Manuskript auf »Echtheit« improvement
8 concur. In ofthis
hierarchical
paper, wedatabases.
argue the appropriate unification simple
of web once we finish
browsers designing
and Internet QoS.theOur
server daemon.
focus in this Overall,
paper is
9 not on whether information retrieval systems can be made reliable, linear-time, and Bayesian, but rather on describing new
überprüfen – vollautomatisch und oh-
D

10 wireless archetypes (Bots).


ne menschliche Denktätigkeit, genau 11  2007 Published by Elsevier Inc.
TE

so, wie die Fakemanuskripte selbst ent- 12 Keywords: Compact algorithms; Randomized algorithms; Encrypted methodologies; Internet
13
standen sind. Aber es handelt sich hier
natürlich nur um einen Etappensieg:
EC

14 1. Introduction
Für einen begabten Informatiker wäre
15 The development of congestion control has synthesized checksums, and current trends suggest that the
es kein Problem, eine neue Nonsens­ 16 exploration of scatter/gather I/O will soon emerge. The notion that analysts connect with compilers is usually
erzeugungssoftware zu schreiben oder 17 well received. The notion that biologists collude with 802.11b is usually considered robust. However, simu-
RR

18 lated annealing alone cannot fulfill the need for the construction of 802.11b. Stable algorithms are particularly
auch nur SCIgen so abzuwandeln, dass 19 confirmed when it comes to checksums [9]. Next, the drawback of this type of method, however, is that the
20 World Wide Web can be made collaborative, highly available, and linear-time. It should be noted that Bots
SciDetect keinen Alarm schlägt. Darauf-
STUDENTS AT SHARIF UNIVERSITY IN IRAN,  HTTPS://PDOS.CSAIL.MIT.EDU/ARCHIVE/SCIGEN

21 is impossible. While similar solutions improve e-commerce, we fulfill this ambition without deploying cache-
hin müsste die Prüfsoftware nachge­ 22 able theory. Bots, our new framework for the visualization of architecture, is the solution to all of these issues.
CO

23 We view operating systems as following a cycle of four phases: visualization, evaluation, and observation.
bessert werden, und so weiter. 24 Along these same lines, we emphasize that Bots constructs read–write methodologies. Though conventional
Nach Labbés Entdeckung entfernten 25 wisdom states that this quagmire is usually addressed by the improvement of interrupts, we believe that a dif-
26 ferent method is necessary. We emphasize that Bots observes introspective models [1,9]. Combined with the
sowohl IEEE als auch Springer die bean- 27 emulation of the Ethernet, such a claim studies an analysis of Boolean logic. In this paper, we propose the
UN

28 following contributions in detail. To begin with, we confirm that despite the fact that randomized algorithms
standeten Dokumente aus ihren Daten- 29 and checksums can collaborate to surmount this grand challenge, hash tables and the memory bus can
banken, wenn auch teil­weise erst nach 30 cooperate to fix this quagmire. We describe an analysis of neural networks (Bots), disproving that online algo-
31 rithms and randomized algorithms can collude to fulfill this intent. The rest of the paper proceeds as follows.
geraumer Zeit. Der Springer-Verlag ver-
öffentlichte außerdem eine Erklärung
E-mail address: mosallahnezhad308@gmail.com
des Inhalts, es gebe praktisch keine Al-
0096-3003/$ - see front matter  2007 Published by Elsevier Inc.
ternative zum klassischen Begutach- doi:10.1016/j.amc.2007.03.011

tungssystem (»peer review«), und man Please cite this article in press as: R. Mosallahnezhad, Cooperative, compact algorithms for randomized algorithms,
Appl. Math. Comput. (2007), doi:10.1016/j.amc.2007.03.011
werde Maßnahmen ergreifen, um es zu

WWW.SPEK TRUM .DE 15


FORSCHUNG AKTUELL

cherche zeigt. Ein Autor, der mehrfach


Der kometenhafte Aufstieg des Ike C. Antkare durch eingereichte SCIgen-Artikel auf-
gefallen war, hat vor 2008 nichts publi-
Woran erkennt man einen bedeuten- dabei erworbenen Kenntnisse, um zu ziert, aber allein im Jahr 2009 über 60
den Wissenschaftler? Da­ran, dass er von demonstrieren, wie sich Google Scholar Artikel eingereicht, ausschließlich zu
vielen bedeutenden Wissenschaftlern hinters Licht führen lässt. Mittels SCI- Konferenzen im asiatischen Raum. Die
zitiert wird. Diese Definition ist zwar zir- gen produzierte er 100 Unsinnstexte Arbeiten sind nach wie vor bei IEEE
kulär, indem sie voraussetzt, dass das zu eines­fiktiven Autors namens Ike C. Ant- online­ kostenpflichtig abrufbar, und
Definierende – ein bedeutender Wissen- kare (zu lesen als »I can’t care«, »Ist mir zumindest die Abstracts wecken kein
schaftler – schon vorher bekannt ist; doch egal«). Jeder dieser Artikel zitierte Vertrauen in den wissenschaftlichen
aber sie lässt sich so in einen Algorith- die anderen 99. Dieses überaus dichte Gehalt. Ende 2009 versiegte seine Pro-
mus umsetzen, dass sich bei einer gro- Netz mit 100 Knoten versah Labbé noch duktivität so plötzlich, wie sie im Jahr
ßen Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten mit ein paar Verweisen auf echte Veröf- zuvor aufgeblüht war.
und einer entsprechenden Menge von fentlichungen und verknüpfte es so mit Wer könnte ein Interesse daran ha-
Zitaten eine sinnvolle Rangfolge ergibt. der weiten Welt der Wissenschaft. Nun ben, einen Text in der wissenschaftli-
Das ist das Prinzip hinter der Suchma- musste er nur noch das Gesamtwerk chen Literatur unterzubringen, den
schine Google Scholar, die das ganze In- von Ike Antkare auf der Website des Ins- niemand lesen will? Der amerikanische
ternet nach wissenschaftlichen Arbei- tituts online stellen. Journalist John Bohannon vermutet,
ten durchkämmt und aus dem Gefun- Nach einer gewissen Wartezeit war dass die Unsinnsartikel einen wachsen-
denen eine Rangliste der wissenschaft- der nicht existierende Autor in der Liste den Untergrundmarkt für gefälschte
lichen Bedeutung destilliert. Auf einem der meistzitierten Wissenschaftler aller akademische Veröffentlichungen vor
ganz ähnlichen Prinzip, angewandt auf Zeiten auf Platz 21 vorgerückt, deutlich allem in China beliefern (Science 342,
Webseiten statt Wissenschaftler, beruht hinter Sigmund Freud, der unangefoch- S.  60 – 65, 4. Oktober 2013). Für diese
die gewöhnliche Suchmaschine Google. ten Platz 1 einnimmt, aber weit vor Al- These spricht auch, dass fast alle von
Cyril Labbé, der Entwickler der SCI- bert Einstein, der sich mit Platz 36 be- Labbé nachgewiesenen Fakes von chi-
gen-Erkennungssoftware, nutzte seine gnügen muss. nesischen Autoren stammen – zumin-
dest offiziell.
Bisher haben die Verlage sich an-
stärken. Diese Entgegnung trifft aber zu befürchten, dass wegen der ausblei- scheinend einfach darauf verlassen,
nicht ganz den Kern der Sache. Denn benden Qualitätskontrolle noch weit dass andere, zum Beispiel die Veran-
das Peer-Review-Verfahren hat ja nicht mehr Unfug seinen Weg in die wissen- stalter von Kongressen, schon ihre Ar-
versagt, sondern offensichtlich gar schaftliche Literatur gefunden hat – beit machen werden – und das, ob-
nicht stattgefunden. Den Gutachter, weniger in Zeitschriften, aber vor allem gleich die Probleme eigentlich gut be-
der auf ein computergeneriertes Paper in Tagungsbände. kannt sind. Nur bieten die Verlage
der dargestellten Qualität hereinfällt, Zumindest ein Teil davon ist nicht damit Waren an, die nicht der Qualität
gibt es einfach nicht – selbst wenn man schwer zu finden, wie eine kurze Re- entsprechen, die der Kunde erwartet –
unterstellt, dass er mit der englischen
Sprache auf Kriegsfuß steht und wegen
mangelnder Vertrautheit mit der Mate-
»Get me off your fucking mailing list«
rie an nie gesehenen Kombinationen
von Fachausdrücken keinen Anstoß Eigentlich war Peter Vamplew von der feiern konnte) einen Artikel eingereicht,
nimmt. Wenn so etwas wirklich zur Ver- Federation University Australia nur ge- der ausschließlich den vielfach wieder-
öffentlichung durchgeht, dann ist es nervt von den E-Mails, mit denen das holten Satz »Get me off your fucking
vorher nicht gelesen worden. »International Journal of Advanced mailing list« (»Streicht mich aus eurem
Rein quantitativ könnte das Problem Computer Technology« (IJACT) ihn im- Scheiß-E-Mail-Verteiler«) enthielt.
als vernachlässigbar durchgehen: Was mer wieder zur Einreichung von Artikeln Vamplew schickte just diesen Text
sind schon ein paar hundert SCIgen-Ar- aufforderte. Eine angemessene Antwort als Antwort auf eine Mail des IJACT und
tikel unter den 1,4 Millionen wissen- fand er bereits vorformuliert in einem war äußerst überrascht, als er daraufhin
schaftlichen Arbeiten, die nach Berech- Text von 2005. David Mazières von der die Auskunft erhielt, sein Manuskript sei
nungen der Zeitschrift »Nature« jedes New York University und Eddie Kohler begutachtet und mit der Bestnote »ex-
Jahr erscheinen, den 8 Millionen Doku- von der University of California in Los cellent« bewertet worden. Der Text wur-
menten, die der Springer-Verlag auf sei- Angeles hatten aus ähnlichem Grund de dann doch nicht veröffentlicht, weil
ner Onlineplattform SpringerLink be- bei der Konferenz WMSCI 2005 (dersel- Vamplew nicht bereit war, die 150 Dollar
reithält, oder den 3,5 Millionen auf der ben, bei der SCIgen seinen ersten Erfolg Publikationsgebühr zu bezahlen.
Bibliothek IEEE-XPlore des IEEE? Nur ist

16  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


und bezahlt. Beschwerden von Einzel- genug, um den stolzen Einzelpreis zu etwas von der Sache versteht. Wenn der
kunden sind bemerkenswerterweise bezahlen. Aufwand dafür nicht in die Kostenkal-
noch nicht bekannt geworden, obgleich Am Ende bleibt die banale Erkennt- kulation passt, dann sollte das wenigs-
die Fakes bis zu fünf Jahre lang für Leser nis: Bei der Qualitätskontrolle für wis- tens allen Beteiligten bekannt sein.
zugänglich waren. Anscheinend fand senschaftliche Arbeiten geht nichts
kaum jemand Titel und Zusammenfas- über das ganz gewöhnliche Lesen, Elke Reinecke ist Wissenschaftsjournalistin in
sung eines solchen Artikels interessant zweckmäßig durch jemand, der auch Heidelberg.

CHEMIE

Empfindliche Reagenzien als Pillen


Substanzen, die sich an der Luft zersetzen, lassen sich nur umständlich handhaben, was
ihren Einsatz in der Chemie erschwert. Jetzt gibt es eine elegante Lösung für das Problem.

VON MARCUS E. FARMER UND PHIL S. BARAN

D ie französischen Pharmazeuten
Fran­çois Mothes und Joseph Du­
blanc erfanden Anfang des 19. Jahrhun-
währleisten, dass die Wirkstoffe stabil
verpackt blieben. Seither hat sich diese
Darreichungsform für Arzneimittel
abwiegen und das Ganze als frisch her-
gestelltes Pulvergemisch an die Patien-
ten abgeben.
derts Kapseln und Pillen, um Medika- ­allgemein eingebürgert. Ohne Pillen Chemikern dagegen wird beim Zu-
mente in genau festgelegten Dosen müssten Apotheker die einzelnen Be- sammenstellen der Ausgangssubstan-
­verabreichen zu können und zu ge- standteile eines Präparats jeweils exakt zen ihrer Reaktionen genau diese um-

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.DE 17
SPRINGERS EINWÜRFE

Was kostet der Klimawandel? ständliche Vorgehensweise bis heute


zugemutet. Das ist vor allem dann pro-
Bei ungebremster Erderwärmung droht Dauerkrise der Weltwirtschaft. blematisch, wenn die verwendeten Rea-
genzien oder Katalysatoren luftemp-

E in so komplexes System wie das globale Klima lässt sich nur schwer prognos­
tizieren, doch dass die industrielle Weltwirtschaft mit ihren Emissionen zur Erd­
erwärmung beiträgt, ist unter Experten kaum noch strittig. Bleibt nur die Frage, wie
findlich sind, das heißt von Sauerstoff
oder Feuchtigkeit angegriffen werden.
Forscher um Stephen L. Buchwald vom
einschneidend die Folgen des anthropogenen Klimawandels sein werden. Die so Massachusetts Institute of Technology
­genannten Klimaskeptiker unterstellen den Warnern panischen Alarmismus; sie (MIT) in Cambridge haben deshalb nun
plädieren für Abwarten und vermuten gelegentlich, ein bisschen höhere Tempera- eine Methode entwickelt, auch in der
turen könnten der Wirtschaft sogar ganz guttun. Chemie empfindliche Substanzen zu
Dem widerspricht nun eine aufwändige Modellrechnung der Ökosystem- und verkapseln, um das Hantieren mit ih-
Wirtschaftsforscher Marshall Burke, Solomon M. Hsiang und Edward Miguel von der nen zu erleichtern.
Stanford University und der University of California in Berkeley. Das Trio ging der Fra- Heutzutage sind für den Umgang mit
ge nach, wie sich ein Anstieg der Temperatur auf die Wirtschaftsleistung auswirkt – solchen Stoffen so genannte Gloveboxes
zunächst lokal in den wohlhabenden Industrieländern der gemäßigten Zonen be- üblich: mit einem Schutzgas gefüllte
ziehungsweise in den wärmeren Entwicklungsländern und schließlich im globalen Gehäuse, in die Gummihandschuhe ra-
Mittel (Nature 527, S. 235 – 239, 2015). gen, mit deren Hilfe der Benutzer die
Dem Modell zufolge ist die Produktivität generell optimal, wenn die jährliche problematischen Chemikalien im Inne-
Durchschnittstemperatur rund 13 Grad beträgt; bei höheren Werten fällt die Wirt- ren des Kastens unter Luftausschluss ab-
schaftsleistung überraschend deutlich ab. Da fast alle ökonomisch schwachen Län- wiegen und zusammenmischen kann.
der in warmen Regionen liegen, beeinträchtigt dort eine zusätzliche Erwärmung die Obwohl sperrig, umständlich und teuer,
Wirtschaft besonders stark, während die von Natur aus angenehm laue Arbeitsum- haben solche Vorrichtungen in Labors
welt der reichen Industrienationen ein paar Grad mehr wesentlich besser verkraftet. vielfach Wege zu sonst nicht zugäng­
Sofern bei ungebremster Erderwärmung die Jahresdurchschnittstemperatur auf lichen Reaktionen und Substanzen er-
unserem Planeten bis 2100 um 4,3 Grad steigt, sinkt laut den Berechnungen das glo- öffnet. Für industrielle Produktionsver-
bale Durchschnittseinkommen gegenüber einem Szenario ohne Klimawandel um fahren sind sie jedoch ungeeignet. Da-
ein Viertel. Hinter diesem ohnedies schon drastischen Einbruch der weltweiten Wirt- durch bleibt zahlreichen nützlichen
schaftsleistung verbirgt sich die politisch erst recht katastrophale Tatsache, dass die Umsetzungen die kommerzielle Anwen-
Einkommen nachher noch viel ungleicher verteilt wären als zuvor. Denn die kühleren dung versagt. Es überrascht daher, dass
und in der Regel wohlhabenderen Regionen würden kaum unter der Erwärmung lei- nicht schon längst versucht wurde, die-
den, ja könnten vielleicht sogar davon profitieren, während in den tropischen und ses offensichtliche Manko zu beheben.
subtropischen Gebieten das Elend weiter zunähme. Die meisten Interessenten an neuen
»Da ist sie wieder, die typische Schwarzmalerei der Klimaforscher«, höre ich die chemischen Verfahren finden sich im
Skeptiker spotten. Immerhin bestehen Chancen, dass es vielleicht nicht ganz so Bereich der Pharmazie, Agrochemie
schlimm kommt. Einen Hoffnungsschimmer bietet die mögliche Entwicklung des und Werkstoffkunde. Ihnen wollten
Verkehrssektors, wenn man einer Studie deutscher und niederländischer System­ Buchwald und seine Kollegen die Mög-
forscher um Felix Creutzig von der Technischen Universität Berlin Glauben schenkt lichkeit eröffnen, mit luftempfindli-
(Science 350, S. 911 – 912, 2015). chen Substanzen auch außerhalb einer
Zwar wird der Personen- und Güterverkehr, der heute schon 23 Prozent zum glo- Glovebox zu arbeiten. Auf die Idee
balen CO2-Ausstoß beiträgt, mit der rasch fortschreitenden Urbanisierung der bevöl- brachte sie das Kaliumhydrid. Diese
kerungsreichen Schwellenländer – vor allem China, Indien und Südostasien – weiter feuchtigkeitsempfindliche Verbindung
steigen. Doch da in Europa und den USA strenge Abgasregeln gelten, stagnieren die wird üblicherweise als Dispersion in Pa-
verkehrsbedingten Kohlendioxidemissionen in den reichen Ländern seit einiger Zeit. raffinwachs angeboten. Als solche lässt
Wenn es nun gelänge, nach diesem Vorbild den globalen CO2-Ausstoß des Ver- sie sich dem Reaktionsgemisch zufü-
kehrssektors bis 2050 auf dem Niveau von 2010 zu halten, gen, wo sich das Wachs beim Erhitzen
wäre das mit dem Wunschziel vereinbar, die Erderwärmung verflüssigt und das Kaliumhydrid frei-
auf zwei Grad zu beschränken. Die Forscher um Creutzig le- setzt. Buchwald und seine Mitarbeiter
gen Modellrechnungen vor, die so etwas nicht völlig uto- versuchten deshalb, ausgehend von ge-
pisch erscheinen lassen. Wenn die Klimaforschung ihre War- schmolzenem Paraffin analoge Disper-
nungen häufiger mit solchen Szenarien begleiten würde, die sionen anderer Substanzen darin zu er-
konkrete Alternativen zum bloßen Laisser-faire in Aussicht zeugen. Doch schafften sie es nicht, die-
stellen, prallte auch eher der Vorwurf von ihr ab, sie spiele se gleichmäßig im Wachs zu verteilen.
Michael Springer
bloß die Kassandra vom Dienst. Deshalb gingen die Forscher dazu
über, Paraffinkapseln herzustellen, die

18  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


FARMER, M. E., BARAN, P. S.: A CURE FOR CATALYST POISONING. IN: NATURE 524, S. 164-165, 2015, FIG. 1

die Reaktion umständlich in der Glo-


a b vebox vorgenommen worden.
Als krönenden Abschluss zeigte
Buchwalds Team, dass sich die Methode
auch dazu eignet, mittels einer so ge-
nannten Negishi-Kreuzkupplung zwei
Kohlenstoffatome miteinander zu ver-
knüpfen. Bei dieser Reaktion, die so be-
deutend ist, dass ihr Erfinder Ei-ichi Ne-
gishi dafür 2010 den Chemienobelpreis
erhielt, kommen feuchtigkeitsempfind-
liche Zinkverbindungen wie das oben
erwähnte 2-Pyridylzinkchloriddioxanat
Wenn Chemiker mit luftempfindlichen Substanzen arbeiten wollen, sind sie bisher zum Einsatz. Dessen Verkapselung zu-
auf eine so genannte Glovebox angewiesen (a). Diese ist mit einem Schutzgas gefüllt sammen mit einer Katalysatorvorstufe
und mit Gummihandschuhen versehen, in die der Forscher die Hände stecken muss, ermöglicht auch hier das Arbeiten an
um im Innern umständlich mit Kolben, Bechern und Reagenzgläsern zu hantieren. Bei der Luft – mit ebenso gutem Ergebnis
einem neuartigen Ansatz werden die heiklen Stoffe verkapselt und lassen sich dann wie in einer Schutzgasatmosphäre.
ganz normal an der Luft einsetzen (b). Die Kapselwand besteht aus Paraffin, das beim Trotz ihrer Vorzüge kommt auch die
Erwärmen schmilzt und den Inhalt freisetzt. Pillenmethode allerdings nicht ganz
ohne Glovebox aus, da die Kapseln
selbst unter Luftausschluss hergestellt
jeweils mit einer definierten Menge der und ersparten das mühsame Hantieren werden müssen. Doch das ist einfacher,
luftempfindlichen Substanz gefüllt wa- mit Handschuhen in einem Kasten. als die komplette Reaktion in einem
ren. Derart umhüllt, ließen sich Verbin- Als weiteren Beweis für die Brauch- solchen Kasten durchzuführen. Außer-
dungen wie etwa 2-Pyridylzinkchlorid- barkeit ihres Verfahrens wandten es dem dürften in dem Maß, wie der Ein-
dioxanat, die sich an der Luft binnen Buchwald und seine Kollegen auch auf satz der Pillen steigt und die Nachfrage
Minuten zersetzen, über ein Jahr lang andere palladiumkatalysierte Reaktio- danach wächst, kommerzielle Anbieter
aufbewahren, ohne erkennbar Schaden nen an. Dazu füllten sie Kapseln mit auf den Plan treten, die sie vertreiben.
zu nehmen. ­einem Gemisch von gleich drei luft- Vielleicht stößt Buchwalds clevere
empfindlichen Verbindungen, das ver- Idee also ein Tor auf, das luftempfindli-
Vor Luft geschützt schiedene so genannte Aryl- und Hete- che Reagenzien und Katalysatoren im
Wie nützlich ihre Methode ist, demons- roarylbromide zu fluorieren vermag. Labor und in der Industrie von ihrem
trierte die Gruppe am Beispiel von Re- Auch in diesen Fällen erzielten sie eben- bisherigen Nischenplatz ins Rampen-
aktionen, die als nukleophile Fluorie- so hohe Ausbeuten wie beim Durch- licht befördert, wo es darum geht, mit
rungen von Aryltriflaten (Estern der führen der Reaktion in einer Glovebox. schnellen, automatisierten Verfahren
Trifluormethansulfonsäure) bekannt Als drittes erprobten die Forscher ganze Bibliotheken unterschiedlichster
sind. Sie erfordern einen sauerstoff- ihre Methode an einer von ihnen selbst Strukturen zu erzeugen. Wenn nach
empfindlichen Palladiumkatalysator zuvor entwickelten Reaktion, bei der und nach immer mehr heikle Substan-
und Cäsiumfluorid, das hochgradig hy- eine Kohlenstoff-Stickstoff-Bindung zen verkapselt angeboten werden, soll-
groskopisch ist, also begierig Feuchtig- entsteht. Diese Umsetzung, die inzwi- te das enorme Auswirkungen auf Phar-
keit an sich zieht. An der Luft laufen schen in vielen Bereichen der organi- mazie, Agrochemie und Werkstoffkun-
diese Reaktion nicht richtig ab: Sauer- schen Chemie genutzt wird, benötigt de haben. Die Vision scheint nicht zu
stoff vergiftet den Katalysator, so dass eine stark hygroskopische Base zusam- kühn, dass Pillen dereinst für die orga-
er unwirksam wird, und das Wasser men mit der Vorstufe eines Palladium- nische Chemie so bedeutsam sein
führt zu unerwünschten Nebenpro- katalysators, aus der erst während der könnten, wie sie es seit gut 200 Jahren
dukten. Die Forscher schlossen deshalb Reaktion die aktive Form hervorgeht. für die Medizin sind.
ein Gemisch der beiden Substanzen in Als Gemisch verkapselt, blieben beide
eine Paraffinkapsel ein, mit der sie Komponenten an der Luft mindestens Marcus E. Farmer und Phil S. Baran forschen an
dann die Reaktionen ohne besondere acht Monate stabil. Das ist umso er- der Abteilung für Chemie des Scripps Research
Schutzvorkehrungen durchführten. staunlicher, als eine wässrige Lösung Institute in La Jolla (Kalifornien).
Das Ergebnis war durchweg ebenso gut der Base den Katalysator sofort akti-
wie beim Arbeiten in einer Glovebox. viert. Selbst nach den acht Monaten © Nature Publishing Group
Die Kapseln boten also einen wirksa- funktionierte die Kapsel beim Einsatz www.nature.com
men Schutz gegen die störende Luft ohne Schutzgas genauso gut, als wäre Nature 524, S. 164 – 165, 13. 8. 2015

WWW.SPEK TRUM .DE 19


Unser Menschenaffenerbe
hat uns fest im Griff –
zumindest was den Fett-
stoffwechsel betrifft.
TIM BOWER

20  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


BIOLOGIE & MEDIZIN

STOFFWECHSEL

In den Fängen des Fettgens


Von den frühen Menschenaffen stammt eine Mutation, die dem Körper mit Hilfe
von Fruchtzucker ermöglicht, besonders leicht Speck anzusetzen. Was früher über
Hungerzeiten hinweghalf, erweist sich in unserer Überflussgesellschaft als fatal.
Von Richard J. Johnson und Peter Andrews

N
icht erst heute fragen sich Mediziner, warum so AUF EINEN BLICK
viele Menschen Altersdiabetes bekommen – zu-
nehmend sogar Jugendliche. Die Veranlagung zu
WARUM FRUKTOSE DICK MACHT
einer derart nachteiligen Erkrankung hätte die
Evolution eigentlich leicht ausmerzen können. Warum ge-
schah das nicht? 1 Vor rund 16 Millionen Jahren trat bei europäischen oder west-
asiatischen Menschenaffen eine Genmutante auf, wegen der
alle heutigen Großen Menschenaffen und der Mensch keine Harn-
Der US-amerikanische Humangenetiker James Neel säure mehr abbauen können – ihnen fehlt das dafür zuständige
(1915 – 2000) veröffentlichte hierzu 1962 seine viel beachtete Enzym Uricase.
These von einem haushälterischen Gen beziehungsweise ei-
nem sparsamen Genotyp – englisch Thrifty Gene (Genotype) 2 Im sich damals abkühlenden Klima Eurasiens brachte die Mu-
tation während des nahrungsarmen Winters Vorteile, denn da-
durch konnten sich die Menschenaffen leichter Speck anfuttern.
Hypothesis genannt. Er postulierte damals, dass an der Zu-
Hierbei legt fruchtzuckerreiche Nahrung einen »Fettschalter« um.
ckerkrankheit, die heute Diabetes Typ 2 heißt, ein mutierter
noch unbekannter Erbfaktor schuld sei, der sich auf den
Stoffwechsel auswirkt. Eigentlich, überlegte er, dürften schon
3 Dieser Effekt scheint durch erhöhte Harnsäurespiegel vermit-
telt zu werden, die das Fehlen von Uricase erst ermöglicht. In
unserer Überflussgesellschaft disponiert der Gendefekt jedoch für
in jungen Jahren davon betroffene Menschen früher kaum Wohlstandskrankheiten wie Diabetes und Arteriosklerose.
Kinder in die Welt gesetzt, diese Anlage also nicht weiterge-
geben haben. Denn die Folgen eines zu hohen Blutzucker-
spiegels können verheerend sein – sie reichen bis hin zu Er- Zugleich regte sie aber auch eine Menge Forschungen an und
blindung, Herzinfarkt und Nierenversagen. überdauerte in der einen oder anderen Version ein halbes
Einen Großteil seiner Forschungen widmete Neel Natur- Jahrhundert lang. Viele Wissenschaftler haben nach biologi-
völkern wie den Yanomami im Amazonasgebiet. Er wunderte schen Hintergründen gesucht, die mit Diabetes Typ 2 oder
sich, wieso diese Menschen so gut wie nie zuckerkrank wur- anderen mit Fettleibigkeit verbundenen Krankheiten – wie
den, obwohl das gefährliche Gen bei ihnen seines Erachtens Bluthochdruck, nicht alkoholbedingter Fettleber oder Arte-
auch verbreitet sein müsste. Dem Forscher fiel außerdem riosklerose – zusammenhängen könnten. Die Kritiker wiede­
auf, dass sie kaum jemals fettleibig waren – ein zentraler Risi- rum störte, dass sich keine Gene nachweisen ließen, die für
kofaktor für diesen Diabetes. den postulierten Mechanismus in Frage kommen. Zudem ar-
Die Diskrepanz brachte Neel auf folgende Idee: In der fer- gumentierten sie, schwere Hungersnöte seien bei unseren
nen Vergangenheit hatte sicherlich zwischendurch immer Vorfahren viel zu selten vorgekommen und normalerweise
wieder einmal generelle Nahrungsknappheit oder sogar zu schnell wieder vorbei gewesen, als dass sich irgendwelche
Hunger geherrscht. Wer damals allerdings eine Genvariante Genvarianten für eine effizientere Fettspeicherung hätten
besaß, mit der man das Essen grundsätzlich besser aufzu- durchsetzen können.
schließen und zu verwerten vermochte, war im Vorteil – be- Mit diesen Fragen im Hinterkopf haben wir beide uns in
sonders wenn der Körper in besseren Zeiten einen Teil der den letzten Jahren eingehend mit der evolutionären Vergan-
wertvollen Kalorien als Fett anlegte. Somit dürfte eine Gen- genheit des Menschen befasst. Nach unserer Erkenntnis hat-
austattung, die zu einem möglichst sparsamen Umgang mit te Neel im Kern Recht: Wir stießen nämlich tatsächlich auf
der Nahrungsenergie verhalf, dem Überleben gedient haben. ein mutiertes Gen, das den Körper veranlasst, mit den Kalo­
Erst in unserer Überflussgesellschaft leistet diese Anlage des rien der aufgenommenen Nahrung verstärkt Vorratshaltung
Guten zu viel, und wir werden krank. in Form von Fettspeicherung zu betreiben. Und zwar trat die-
Die Hypothese von einem genetischen Programm für Fett- se Mutation, wie Genvergleiche zeigen, nicht erst bei unseren
speicherung, das bei unserer modernen, sitzenden Lebens- nahen Vorfahren, sondern bereits vor etlichen Jahrmillionen
weise übers Ziel hinausschießen kann, erntete zwar Kritik. bei frühen Menschenaffen Eurasiens auf. Wir vermuten, dass

WWW.SPEK TRUM .DE 21


Die Licht-und Schattenseiten einer alten Genmutation
Als das Gen für das Enzym Uricase (auch Harnsäure- oder Uratoxidase genannt), das Harnsäure abbaut, vor Jahrmillio-
nen unbrauchbar wurde, überlebten davon betroffene Menschenaffen Hungerzeiten eher – so vermuten die Autoren.
Alle heutigen Großen Menschenaffen und der Mensch haben diese Mutante geerbt. Durch den Enzymausfall bedingt
speichert der Körper Nahrungsenergie bevorzugt in Form von Fett – was uns heute Wohlstandskrankheiten beschert.

Bei Früchtekonsum steigt der Frukto- Ein erhöhter Fruktosespiegel


sespiegel in Blut und Leber. Spitzen- legt einen physiologischen
werte entstehen bei Nahrungsmitteln Schalter um, woraufhin der
Die Herkunft mit viel Haushaltszucker oder Körper Fettvorräte anlegt und
Maissirup mit hohem Frucht- Blutzucker sowie Blutdruck
des »Spar-Gens« zuckergehalt. steigen.

Menschenaffen mit Mutation Arten mit dem de-

Cola
intaktem Uricase- im Uricase- fekten Gen meis-
Gen überlebten Gen terten Hungersnöte
Hungersnöte weni- besser (grün)
ger (braun) Fruchtzucker
Orang-Utan
(Fruktose) Wenn Zellen Fruktose um-
gemeinsamer setzen, entsteht durch ei-
Vorfahr Schimpanse nen Begleitprozess Harn-
Bier, Fleisch und besonders säure. Wegen der fehlen-
Innereien liefern bei ihrem den Uricase wird sie nicht Durch die Anrei-
Mensch Abbau Harnsäure abgebaut und reichert cherung von
sich an. Harnsäure ver-
Gorilla stärken sich die
Auswirkungen
20 15 10 5 0 von Fruchtzucker.
Millionen Jahre vor heute

Harnsäure

AMANDA MONTAÑEZ, NACH: KRATZER, J.T. ET AL.: EVOLUTIONARY HISTORY AND METABOLIC INSIGHTS OF ANCIENT MAMMALIAN URICASES. IN: PNAS 111, S. 3763–3768, 2014, FIG. 1

sie damit dort die Winter besser überstehen konnten. Sollte Doch dann kühlte sich die Erde allmählich ab, die Eis­
sich diese Annahme bestätigen, würde das die Vorgeschichte kappen an den Polen wuchsen, und der Meeresspiegel sank.
der menschlichen Evolution in unerwarteter Weise neu be- Zwischen Afrika, das vorher ein Inselkontinent gewesen war,
leuchten. Zugleich ließe sich mit jener Genvariante womög- und Asien entstand vor etwa 21 Millionen Jahren die erste
lich ein entscheidender Erbfaktor festmachen, der hinter vie- ­einer Reihe von Landbrücken. Über diese gelangten Giraffen,
len bedeutenden Zivilisationskrankheiten steckt. Elefanten, Antilopen und sogar Erdferkel nach Eurasien, wie
Neel und andere Forscher hatten noch angenommen, Fossilien beweisen, die einer von uns (Andrews) und andere
dass die hypothetische Mutation, die Nahrungsenergie spa- Paläontologen in der Türkei, in Deutschland und Spanien
ren hilft, irgendwann in den letzten ein oder höchstens zwei fanden. Auch Menschenaffen kamen damals nach Eurasien
Millionen Jahren bei unseren schon menschlichen Vorfah- (siehe »Das Zeitalter der Menschenaffen«, SdW 12/2003, S. 58 –
ren in Ostafrika aufgetreten war. Nach unseren Befunden 66). In der Gegend des heutigen türkischen Dorfs Pa˛salar in
muss das aber bereits wesentlich früher geschehen sein. Anatolien lebten vor 16,5 Millionen Jahren zum Beispiel Gri-
Soweit derzeit erkennbar, entstanden die ersten Men- phopithecus und Kenyapithecus.
schenaffen vor rund 26 Millionen Jahren in Ostafrika. Ihr be- Das westliche Eurasien empfing die Menschenaffen mit
kanntester Vertreter war Proconsul. Jene frühen Arten unter- subtropischen immergrünen und laubabwerfenden Feucht-
schieden sich schon eindeutig von den so genannten Tieraf- wäldern. Früchte fanden sie hier zunächst reichlich, und sie
fen, mit denen sie gemeinsame Vorfahren hatten. Sie liefen brachten auch jetzt wieder eine Reihe neuer Arten hervor.
zwar ebenfalls auf allen vieren und hielten sich hauptsäch- Die Paläontologen können mindestens fünf Gattungen mit
lich in Bäumen auf. Allerdings waren sie meist recht groß, insgesamt acht verschiedenen Spezies ausmachen, darunter
hatten keinen Schwanz und besaßen einen verhältnismäßig Dryopithecus und Ankarapithecus. Anscheinend ähnelte das
großen Schädel mit einem voluminösen Gehirn. In Afrika Klima bei Pa˛salar dem des heutigen Nordindien, mit Mon-
waren immergrüne Regen- und laubabwerfende Feuchtwäl- sunregen im Sommer, auf die lange trockene Phasen folgten,
der damals so weit verbreitet, dass sie wie in einem tropi- und kühlen Wintern ohne Frost.
schen Garten Eden gelebt haben müssen. Wenigstens 14 ver- Doch als es langsam immer kälter – und trockener – wur-
schiedene Spezies entstanden, die sich in der Hauptsache de, lösten allmählich Savannen die Wälder ab. Früchte wur-
von Früchten ernährten. den jetzt im Winter rar. An Fossilien von Grabungen in den

22  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


sein Kiefer glichen denen der ostafrikanischen Art Kenyapi-
Nutzen in früherer Zeit thecus wickeri, die zwei Millionen Jahre später lebte.
Menschenaffen und frühe Menschen konnten
mehr Energie für schlechte Zeiten speichern. Weil bestimmte genetische Befunde zu der Annahme pas-
Zudem gewährten ein erhöhter Blutzucker- sen, dass die Lebensbedingungen zur fraglichen Zeit in Euro-
spiegel und Blutdruck, dass das Gehirn aus
dem Fettabbau stets genügend Nahrung er- pa und Westasien für Menschenaffen schwierig waren, haben
hielt – was für Futtersuche und Jagd wir die Hypothese von einer haushälterischen Erbvariante
wichtig war.
mt ung

wiederbelebt, die den Stoffwechsel auf Sparsamkeit im Um-


nimeicher
zu

gang mit Nahrungsenergie einstellt. Unsere Version davon


kreist um das Gen für das Enzym Uricase, auch Uratoxidase
tsp
Fet

oder Harnsäureoxidase genannt. Viele Tiere produzieren die-


ses Enzym – das die schädliche, im Stoffwechsel als Abfallpro-
dukt anfallende Harnsäure abbaut. Doch der Mensch bildet
Der Spiegel von keine Uricase, denn er besitzt nur eine defekte Genvariante
Blutzucker dafür. Auffälligerweise ist dieses Gen auch bei allen heutigen
(Glukose) steigt
Großen Menschenaffen so mutiert, dass sie das Enzym nicht
bilden können. Mehr noch: Mensch und Große Menschenaf-
fen weisen dieselbe Genvariante auf. Demnach müssten wir
sie von gemeinsamen Vorfahren mit ihnen geerbt haben.
Blu
tdr

Selbst der Orang-Utan, der in Südostasien zu Hause ist, be-


u
ck s

sitzt es. Dies zeigt, dass die Mutation bereits aus einer frühen
teig

Zeit stammt, bevor sich diese Linien auftrennten.


t

Den Zeitpunkt, zu dem jener letzte gemeinsame Vorfahre


Gefahren bei stetem hohen
Nahrungsangebot mit der betreffenden Erbvariante lebte, ermittelten zwei For-
Der Harnsäurespiegel klettert auf ungesunde scherteams anhand weiterer Veränderungen, die sich in
Werte. Fettleibigkeit und Diabetes und die damit ­diesem Gen in den Abstammungslinien der verschiedenen
verbundenen Komplikationen bahnen sich an
sowie mit Bluthochdruck zusammenhängende Großen Menschenaffen und des Menschen seitdem ange-
Herzkrankheiten.
sammelt haben. Denn in einer Erbsequenz häufen sich Mu-
AMANDA MONTAÑEZ
tationen mit relativ gleichmäßiger Rate an. Die verstrichene
Zeit lässt sich daher quasi an einer molekularen Uhr ablesen.
1980er und 1990er Jahren erkannte Andrews, dass sich die Unabhängig voneinander kamen eine Gruppe um Naoyuki
Menschenaffen nun vorwiegend auf dem Boden aufgehalten Takahata von der Graduiertenuniversität Sokendai in Haya-
hatten. Wahrscheinlich erweiterten sie damit ihren Aktions- ma (Japan) sowie ein Team um Eric Gaucher vom Georgia In-
radius und konnten ihre Nahrungsbedürfnisse unter diesen stitute of Technology in Atlanta zum gleichen Ergebnis: Das
Verhältnissen besser befriedigen. Aus Abnutzungsspuren an Gen mutierte irgendwann vor 17 bis 13 Millionen Jahren –
ihren Zähnen und dem dickeren Zahnschmelz zu schließen, also genau in der Phase, als Menschenaffen in Europa und
fraßen sie oft Knollen und Wurzeln, also eine bis dahin eher der Türkei im Winter öfter hungerten.
verschmähte Nahrung.
Und irgendwann hungerten sie in den Wintern. Bei Pa˛salar Vorteile einer Stoffwechselstörung: erste Indizien
fanden Andrews und Jay Kelley, der gegenwärtig an der Arizo- Übrigens besitzen auch die Gibbons, die Kleinen Menschen-
na State University in Tempe arbeitet, Fossilien von Kenyapi- affen, kein funktionstüchtiges Uricase-Gen mehr, allerdings
thecus kizili, die das zeigen: Zähne von jungen erwachsenen wegen einer anderen Mutation. Ihre Vorfahren lebten da-
Tieren mit Riefen, wie sie durch Phasen von Nahrungsman- mals wahrscheinlich ebenfalls im europäisch-westasiati-
gel entstehen. Solche Zahnrillen entdeckten Paläontologen schen Raum. Zusammengenommen besagen die Befunde
ebenfalls bei Fossilien von Dryopithecus aus der Penedès- unseres Erachtens deutlich, dass die Menschenaffen dort
Ebene in Katalonien, wo jene Primaten vor zwölf bis neun karge Zeiten besser überstanden, wenn dieses Gen ausfiel.
Millionen Jahren gelebt hatten. Vor rund sieben Millionen Aber auf welche Weise konnte ihnen der Defekt nützen?
Jahren waren Menschenaffen aus Europa verschwunden. An- Ein entscheidender Hinweis kam aus der biomedizini-
scheinend war es für sie nun zu kalt geworden. schen Forschung, die nach den Ursachen von Bluthochdruck
Doch nicht alle ihre Linien sind damals ausgestorben. und durch Arteriosklerose bedingten Herzkrankheiten sucht.
Eini­ge tauchten im Osten Eurasiens auf – aus ihnen gingen Wie gesagt hat das Enzym Uricase die Funktion, Harnsäure
Gibbons beziehungsweise Orang-Utans hervor. Andere Li­ abzubauen, die im Stoffwechsel unter anderem als Abfall-
nien gelangten nach Afrika. Von ihnen stammen die moder- produkt der DNA von Zellen aus der Nahrung anfällt, aber
nen afrikanischen Großen Menschenaffen und der Mensch auch beim Abbau von Körperzellen. Wenn dieses Protein
ab. Zu den Arten, die von Eurasien aus Afrika besiedelten, fehlt, reichert sich Harnsäure im Blut an, insbesondere bei
könnte Kenyapithecus kizili zählen, denn seine Zähne und hohem Fleisch- oder Bierkonsum.

WWW.SPEK TRUM .DE 23


Auf den ersten Blick erscheint der Ausfall des Enzyms kei- Hält der Harnsäureüberschuss hingegen lange an, werden
neswegs sinnvoll, denn bei zu viel Harnsäure entstehen Kris- die Nieren der Tiere bleibend leicht geschädigt; in dem Or-
talle, die sich in den Gelenken oder den Nieren ablagern und gan treten Entzündungen auf, und die Salzausscheidung
sich dann als Gicht oder Nierensteine bemerkbar machen, wird schlechter. Das viele Salz steigert den Blutdruck, was
aber auch die Nieren schädigen. In der Regel scheiden der eine salzarme Ernährung in dem Fall rückgängig machen
Mensch und die Menschenaffen jedoch so viel Harnsäure kann. Eine Senkung des Harnsäurelevels hilft in diesem Sta-
mit dem Urin aus, dass der Blutwert nur mäßig erhöht bleibt. dium jedoch nicht mehr gegen den hohen Blutdruck.
Denn tatsächlich weisen auch unsere nächsten Primatenver- Läuft dies beim Menschen ähnlich ab? Der Kindernieren-
wandten – ebenso wie Naturvölker bei traditioneller Lebens- arzt Dan Feig, der damals am Baylor College of Medicine in
weise, etwa die Yanomami – höhere Harnsäurepegel auf als Houston (Texas) arbeitete, und Johnson prüften die Harnsäu-
Tiere mit einem funktionstüchtigen Uricase-Enzym. respiegel von übergewichtigen Teenagern, bei denen ein mä-
Beim westlichen Lebensstil mit wenig Bewegung und reich- ßig überhöhter Bluthochdruck gerade erkannt worden war.
haltiger Ernährung liegen die Harnsäurespiegel im Durch- Tatsächlich wiesen 90 Prozent dieser Patienten auch hohe
schnitt allerdings deutlich darüber. Zudem wissen Ärzte, dass Harnsäurewerte auf. Im Rahmen einer klinischen Studie er-
die Blutwerte von Menschen mit Überwicht oder koronarer hielten dann 30 der jungen Menschen das harnsäuresenken-
Herzkrankheit höher sind als die von schlanken, fitten Leuten. de Mittel Allopurinol. Die meisten von ihnen sprachen da­
Gleiches gilt für Cholesterin sowie Triglyceride (die früher so rauf an, und bei 85 Prozent dieser Gruppe normalisierte sich
genannten Neutralfette). durch das Medikament zugleich der Blutdruck. Dieses Ergeb-
nis konnten andere Pilotstudien bestätigen. Um sicher zu
Harnsäure als Ursache für Bluthochdruck wissen, ob eine medikamentöse Senkung des Harnsäurespie-
Die bahnbrechende Framingham-Herz-Studie untersuchte gels gegen frisch diagnostizierten Bluthochdruck hilft, ist je-
Teilnehmer aus der gleichnamigen Stadt in Massachusetts doch eine umfangreichere klinische Studie erforderlich.
seit Ende der 1940er Jahre über Jahrzehnte systematisch auf Zu hoher Blutdruck kann bekanntlich infolge von Überge-
Ursachen und Risiken von koronarer Herzkrankheit, Schlag- wicht und Bewegungsmangel auftreten. Johnson fragte sich
anfall und Arteriosklerose. Nach 50 Jahren konstatierten die zudem, ob zu viel Harnsäure nicht nur Bluthochdruck, son-
Forscher, dass allein ein überhöhter Harnsäurespiegel noch dern auch Fettleibigkeit auslöst. Bei seinen Überlegungen
keine koronare Herzkrankheit hervorruft. Vielmehr meinten schlug er einen weiten Bogen zum Stoffwechsel von Tieren,
sie, hoher Blutdruck sei an der Erkrankung schuld, und der die sich regelmäßig für Mangelzeiten Speck anfressen. Was
würde wiederum den Harnsäurespiegel hochtreiben. geschieht dann in ihrem Körper?
Einer von uns (Johnson) störte sich an dieser Schlussfolge- Im Tierreich haben im Allgemeinen die fettesten Exempla-
rung. Denn die Autoren der Studie hatten ein fundamentales re in kargen Zeiten die besten Überlebenschancen. Viele Säu-
Prinzip biomedizinischer Forschung verletzt: Sie hatten ihre getiere legen sich vor dem Winter dicke Speckpolster zu, Zug-
Ergebnisse nicht im Tierversuch überprüft. Johnsons dama- vögel mästen sich vor dem langen Flug, und Pinguine spei-
lige Mitarbeiterin Marilda Mazzali, selbst Ärztin, holte das chern Pfunde für das Brutgeschäft im antarktischen Winter.
nach. Bereits einige Jahre zuvor hatte seine Arbeitsgruppe Sie alle sind in bestimmten Jahreszeiten regelrecht innerlich
herausgefunden, dass bei Ratten leichte Nierenschäden ei- getrieben, emsig Nahrung zu suchen und so viel wie möglich
nen hohen Blutdruck hervorrufen können. Mazzali prüfte zu fressen, um sich die nötigen Reserven anzufuttern.
nun, ob es sich auf Nieren oder Blutdruck auswirkt, wenn Viele Vögel und Säugetiere können für solche Situationen
man den Harnsäurespiegel der Tiere künstlich steigert, in- sogar in einen prädiabetischen Zustand umschalten. Zu nor-
dem man die Uricase mit einem Medikament blockiert. Bei malen Zeiten baut der Körper aufgenommene Kohlenhydrate
früheren Studien dieser Art in Johnsons Labor hatten die For- zu Glukose (Traubenzucker) ab. Der Zucker reichert sich im
scher trotz hoher Harnsäurelevel keine Nierendefekte beob- Blut an. Daraufhin setzt die Bauchspeicheldrüse Insulin frei,
achtet und deswegen angenommen, dass auch der Blutdruck welches Leber und Muskeln signalisiert, den Zucker vorüber-
nicht steigt. Doch zu ihrer großen Überraschung beobachte- gehend in Form von Glykogen abzuspeichern: verzweigten,
te Mazzali das Gegenteil: Bei einem hohen Harnsäurespiegel stärkeähnlichen Zuckerketten. Doch bei einer Insulinresistenz
stieg der Blutdruck der Ratten. reagieren die Zellen auf das Hormonsignal nicht. Dann wer-
Wie weitere Untersuchungen ergaben, beteiligen sich hie- den die überschüssigen energiereichen Moleküle bevorzugt
ran bei den Nagern zwei Mechanismen. Der erste kommt zu Körperfett. Auch die Zellen hungernder Tiere, die trotzdem
rasch in Gang, der zweite verzögert. Ein erhöhter Harnsäure- aktiv sein müssen, können für Insulin unempfindlich werden.
spiegel bewirkt schon bald eine Reihe biochemischer Reakti- Bei hungrigen Eichhörnchen etwa bleibt dadurch genügend
onen, die unter den Begriff oxidativer Stress fallen. Der ver- Zucker im Blut, um das Gehirn weiterhin damit zu versorgen.
engt die Blutgefäße, weshalb das Herz nun stärker schlagen Johnson und andere Forscher vermuteten, dass es im
muss, um das Blut durch den Körper zu pumpen. Infolgedes- Stoffwechsel der Tiere eine Art Fettschalter gibt, der zu be-
sen steigt der Blutdruck. In diesem Stadium normalisiert er stimmten Zeiten oder in bestimmten Situationen so einge-
sich aber wieder, wenn der Harnsäurelevel sinkt. stellt werden kann, dass sie prädiabetisch werden und nun

24  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


viel Fruktose enthält. Die Menge der aufgenommenen Kalo-
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Wie durch Fruchtzucker Harnsäure entsteht


rien ist dafür nun nicht länger ausschlaggebend! Zugleich
Fruktose Fruktose-1-Phosphat Triglyceride bildet sich viel Harnsäure, die sich bei Menschen und Men-
(Fette, u. a. Depotfett)
schenaffen wegen des fehlenden Enzyms Uricase im Blut
ATP (liefert Phosphat) AMP IMP Harnsäure anreichert. Damit kommt ein Teufelskreis in Gang, der die
verschiedenen unerwünschten physiologischen Effekte die-
In den Zellen der Leber wird Fruktose (Fruchtzucker) phosphory­ ses Zuckers immer weiter in die Höhe treibt, bis hin zu ei-
liert. Das Phosphat liefert der Energieträger ATP (Adenosintri- ner nicht alkoholbedingten Fettleber und Nierenschäden.
phosphat). Bei hohem Fruktoseangebot entsteht in den Zellen Schließlich entwickelt sich ein metabolisches Syndrom, das
Phosphatmangel. Daraufhin bauen sie das übrig gebliebene Betroffene für eine koronare Herzkrankheit, einen Schlagan-
AMP (Adenosinmonophosphat) weiter ab – bis hin zu Harnsäure. fall oder Diabetes anfällig macht.
Diese erzeugt oxidativen Stress, der seinerseits die Fettspei­ Als sich dieses Bild herausschälte, besuchte Johnson im
cherung anregt, unabhängig von der Menge zugeführter Kalorien. Juni 2008 Andrews im Naturhistorischen Museum in London,
(IMP: Inosinmonophosphat) wo Letzterer Forschungen zur Evolution von Menschenaffen
und Menschen leitete. Stundenlang sprachen sie darüber, in
welcher Weise das defekte Uricase-Gen früheren Menschen-
tüchtig Speck zulegen. Auffälligerweise werden viele Vögel affen bei der globalen Klimaabkühlung wohl zugutegekom-
und sogar Bären und Orang-Utans allein von Früchten dick. men war. Johnson schlug vor, dass die erhöhten Harnsäure-
Von daher kam Johnson der Gedanke, dass möglicherweise spiegel ihnen dabei halfen, durch das Vertilgen von Früchten
Fruchtzucker (Fruktose) den postulierten Schalter umlegt. Speck anzusetzen – was günstig gewesen sein mochte, als die
Diese These konnten Takuji Ishimoto und Miguel Lanaspa, Winter im mittleren Miozän, vor 15 Millionen Jahren, anfin-
die damals in seinem Labor arbeiteten, mit Mäuseexperi- gen, kühler und trockener zu werden.
menten bestätigen. Wenn die Nager fruchtzuckerreiches Fut-
ter erhielten, fraßen sie mehr und bewegten sich weniger als Überlebensvorteil durch »Fettschalter«
Mäuse, die normal ernährt wurden. Und sie legten dabei an An dieser Stelle brachte Andrews eine wichtige Einschrän-
Gewicht zu. Diese Effekte kommen unter anderem dadurch kung an. Zwar sei auch das Klima in Afrika damals abgekühlt.
zu Stande, dass Fruktose die Rückmeldung des Fettgewebe- Allerdings war es dort immer noch warm genug für tropi-
hormons Leptin ans Gehirn abschwächt. sche Feigenbäume, die vielerorts wuchsen und von denen
Fruktose wird vom Körper anders aufgenommen und in das ganze Jahr über immer einige Früchte trugen. In Afrika
den ersten Schritten auch anders verstoffwechselt als Gluko- fanden die Menschenaffen also stets genug Nahrung. Anders
se. Sie setzt keine Insulinreaktion in Gang – welche zum Sät- in Europa und den angrenzenden asiatischen Gebieten, wo
tigungsgefühl beiträgt –, und ein Teil wird, vor allem in der ein gemäßigtes Klima das subtropische ablöste: Die dortigen
Leber, rasch in Fettmoleküle umgewandelt. Vor allem aber Arten litten im Winter regelmäßig Hunger.
veranlasst Fruchtzucker mit seinem Abbau in Zellen, dass Hieraus folgerten wir, dass die These von einem auf spar-
diese vermehrt Harnsäure produzieren (siehe »Wie durch sames Wirtschaften getrimmten Stoffwechsel nur auf die da-
Fruchtzucker Harnsäure entsteht«, oben). Johnson fragte maligen Menschenaffen Eurasiens passt. Außerdem müssten
sich: Ist etwa diese Harnsäure schuld an zumindest einigen unserer Hypothese zufolge deren Nachfahren die für sie
der unerwünschten Wirkungen von Fruchtzucker? Und äh- nützliche Mutation ein paar Millionen Jahre später nach Afri-
nelt das einem prädiabetischen Zustand? ka mitgebracht haben. Womöglich verschaffte ihnen das dort
Seinen Verdacht prüfte Takahiko Nakagawa, der damals ebenfalls einen Vorteil gegenüber ihrer afrikanischen Ver-
bei ihm arbeitete. Er verfütterte Ratten eine fruktosereiche wandtschaft – denn aus irgendwelchen Gründen scheinen sie
Diät und verabreichte der Hälfte von ihnen das Medikament schließlich die Oberhand gewonnen zu haben. Das wiederum
Allopurinol, das den Harnsäurespiegel senkt. Und wirklich würde bedeuten, dass die heutigen afrikanischen Menschen-
blieb dadurch nicht nur der Blutdruck der Tiere niedrig, wie affen und auch wir von diesen Einwanderern abstammen. Zu-
frühere Studien schon gezeigt hatten. Sondern die Behand- gleich würde es erklären, wieso alle Großen Menschenaffen
lung unterband auch viele der typischen Symptome eines einschließlich des Orang-Utans das gleiche defekte Uricase-
»metabolischen Syndroms«: wie niedrige Werte von HDL Gen besitzen wie wir. Wenn die von uns entworfene Hypothe-
(dem »guten« Cholesterin), hoher Blutzuckerspiegel, erhöhte se zutrifft, könnte diese Erbvariante das von James Neel pos-
Triglyceridpegel, vermehrtes Bauchfett und Bluthochdruck. tulierte Sparsamkeitsgen darstellen.
In einer anderen Untersuchung konnte Johnsons Team kul­ Obwohl eine Menge Befunde für den beschriebenen Ab-
tivierte Leberzellen daran hindern, Fruchtzucker in Fettver- lauf sprechen, ist dieser Zusammenhang noch nicht bewie-
bindungen umzuwandeln, indem die Forscher die Harnsäu- sen. Auch andere Forscher haben Kandidaten für »sparsa-
re verminderten. me« Erbanlagen gefunden, welche die heutige Epidemie von
Allmählich wurden die Zusammenhänge klar. Der »Fett- Fettleibigkeit und Diabetes erklären könnten. Sie entdeckten
schalter« stellt auf Fetteinlagerung um, wenn die Nahrung tatsächlich einige Erbfaktoren, die Individuen für die betref-

WWW.SPEK TRUM .DE 25


MEHR WISSEN BEI Sequenzen bauten sie dann in menschliche Leberzellen ein,
die daraufhin das Gen ablasen und das Enzym produzierten.
Unser  Dabei stellten sie fest: Die Uricase muss schon bei frühen
Online-Dossier  Menschenaffen und wohl selbst bei noch älteren Primaten
zum Thema  nach und nach ihren Dienst im Zuge mehrerer aufeinander
»Fettleibigkeit«  folgender Mutationen immer mehr eingestellt haben – bis
finden Sie unter sie schließlich bei einem gemeinsamen Vorfahren der Gro-
ßen Menschenaffen und des Menschen völlig versagte. Des-
www.spektrum.de/ sen Nachfahren vermochten sich deswegen nicht nur leich-
t/fettleibigkeit ter Fettreserven zuzulegen, sondern auch das Gehirn in Not-
FOTOLIA / NOMAD SOUL
zeiten besser mit Traubenzucker zu versorgen.
Erst umfangreiche Studien an Menschen können aller-
fenden Eigenschaften prädisponieren. Allerdings wird keiner dings erweisen, wie entscheidend die Rolle des mutierten
davon dem modernen Massenphänomen gerecht. Diese For- Uricase-Gens letztlich ist. Sollte sich bestätigen, dass eine
scher suchen nach Genen, die zwischen Menschen variieren. Senkung des Harnsäurespiegels gegen Bluthochdruck und
Deshalb fällt unser Kandidat bei den angewandten Metho- Insulinresistenz zu helfen vermag sowie das Eintreten von
den durchs Raster, denn das mutierte Uricase-Gen ist bei al- Nierenschäden verlangsamen und eine Gewichtszunahme
len Menschen gleich. verhindern kann, müssten Ärzte bei ihren Patienten zur Vor-
Kritiker unserer Auffassung monieren, solch ein »Fett- beugung gegen Fettleibigkeit, Diabetes und Arteriosklerose
gen« hätte nur entstehen können, wenn Übergewicht für die nicht nur einen erhöhten Cholesterinspiegel oder zu hohe
Urmenschen vorteilhaft gewesen wäre. So meinen wir es Blutfettwerte bekämpfen, sondern auch ein Übermaß an
aber nicht. Unseres Erachtens etablierte sich das defekte Harnsäure. Womöglich ließe sich die Uricase sogar gentech-
Gen, weil diese Mutation unsere Menschenaffenvorfahren nisch wiederbeleben. Bis dahin lautet unsere Empfehlung:
vor dem Verhungern schützte. Es setzte sich nicht deswegen Viel Bewegung und gesündere Ernährung mit wenig Zucker –
durch, weil es sie dick machte, sondern trotzdem. und wenn Süßes, dann lieber frisches Obst.  Ÿ
Ein weiterer Kritikpunkt: Wenn jeder das gleiche »Fett-
gen« hätte, müssten noch viel mehr Leute korpulent sein.
DI E AUTOREN
Dagegen ist zu sagen: Das defekte Uricase-Gen für sich allein
genommen bewirkt unter natürlichen Lebensbedingungen – Richard J. Johnson (links) ist
Professor für Medizin an der
für Menschen also etwa bei traditioneller Ernährungsweise –
University of Colorado im An-
lediglich eine mäßige Steigerung des Harnsäurespiegels und schutz Medical Campus in
keine nennenswerte Überfettung. Das zeigen Johnsons Stu- Aurora. Hauptsächlich erforscht
dien an Menschenaffen und an den Yanomami. Wir postu­ er Hintergründe von Fettlei­
bigkeit, Diabetes, Bluthoch-
lieren aber, dass zwei Gruppen von Lebensmitteln die Harn- druck und Nierenerkrankungen.
säuremenge stark in die Höhe treiben. Zum einen tun das Peter Andrews ist Paläoanthropologe und emeritierter Wissen-
Speisen wie Bier oder Fleisch, die als Abbauprodukt viel Harn- schaftler am Naturhistorischen Museum in London sowie Profes-
sor an der Fakultät für Anthropologie am University College
säure liefern; zum anderen solche, die viel Fruktose enthal- London. Er beschrieb zahlreiche neue Gattungen und Arten fossiler
ten oder im Stoffwechsel freisetzen – denn beispielsweise Menschenaffen.
auch Traubenzucker wird in eine Fruktoseverbindung umge-
QUELLEN
baut. Haushaltszucker besteht zur Hälfte, Honig zu über der
Hälfte aus Fruktose; viele Fertigprodukte weisen davon be- Johnson, R. J. et al.: Sugar, Uric Acid, and the Etiology of Diabetes
and Obesity. In: Diabetes 62, S. 3307 – 3315, 2013
trächtliche Mengen auf, etwa in Form von Mais- oder Frukto-
Johnson, R. J.: The Fat Switch. Mercola.com, 2012
se-Glukose-Sirup. Oft sind das sogar Lebensmittel, die wir gar Johnson, R. J., Andrews, P.: Fructose, Uricase, and the Back-to-Africa
nicht zu den Süßwaren rechnen. Frisches Obst ist in dieser Hypothesis. In: Evolutionary Anthropology 19, S. 250 – 257, 2010
Hinsicht jedoch gesünder. Es enthält eine Reihe Substanzen Kratzer, J. T. et al.: Evolutionary History and Metabolic Insights
of Ancient Mammalian Uricases. In: Proceedings of the National
wie Vitamin C und Antioxidanzien, die unerwünschte Wir- Academy of the Sciences USA 111, S. 3763 – 3768, 2014
kungen von Fruktose und Harnsäure neutralisieren können.
Im Jahr 2014 lieferten Gaucher und sein damaliger Mitar- WEBLI N KS
beiter James T. Kratzer zusammen mit Lanaspa besonders ScientificAmerican.com/oct2015/obesity
stichhaltige Hinweise dafür, dass die mutierte Uricase-Vari- Richard Johnson erzählt in einem Interview die Entdeckungsge-
ante das gesuchte Sparsamheitsgen sein könnte. Aus Verglei- schichte des »Fettgens« (englisch)

chen der DNA-Sequenzen dieses Gens von verschiedenen Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1378742
heutigen Säugetieren erschlossen die Forscher zunächst die
entsprechenden Sequenzen bei längst ausgestorbenen Pri-
maten und ermittelten daraus einen Genstammbaum. Diese Im nächsten Heft: Wie Fettleibigkeit und Darmflora zusammenhängen.

26  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


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Unser zweiter Hörsinn


Stammesgeschichtlich ist unser Gehör eine recht junge Entwicklung. Es hat
ein älteres System abgelöst, das heute noch von Fischen, Fröschen oder
Krokodilen benutzt wird, etwa bei Paarungsritualen. Teilweise scheint dieses
jedoch auch beim Menschen noch zu funktionieren und vor allem auf
tiefe Bassrhythmen anzusprechen.
Von Neil Todd

G
emeinhin heißt es, der Mensch habe fünf Sinne – AUF EINEN BLICK
Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten –
und wohl jeder kennt die zugehörigen Organe. BASS, BEAT UND BALZ
Doch diese Liste ist unvollständig. Es gibt einen
sechsten Sinn, den wir gewöhnlich übersehen und dessen
Sitz vielen unklar ist, obwohl wir jeden Augenblick von ihm
F ür die akustische Wahrnehmung ist unser Ohr mit Trommelfell
und Cochlea zuständig. Daneben verfügen wir aber noch
über Reste eines urtümlichen Hörsinns, der schon bei den frühen
abhängig sind: den Gleichgewichtssinn. Vermittelt wird er Wirbeltieren vorhanden war.

vom so genannten Vestibularsystem, das tief versteckt im In­


nenohr seine Aufgabe erfüllt, ohne dass uns dies in der Regel 2 Er ist im Gleichgewichtsorgan angesiedelt und spielt bei
Fischen, Reptilien und Fröschen eine wichtige Rolle beim Balz-
verhalten.
bewusst ist. Eine Erkrankung oder Verletzung, die seine Funk­
tion beeinträchtigt, kann jedoch verheerend sein, wie jeder
bezeugen wird, der einmal an einer Innenohrentzündung ge­
3 Dieser Hörsinn spricht besonders auf Bassrhythmen an. Das
könnte erklären, weshalb uns ein wummernder Beat buch­-
stäblich in die Beine fährt und unwiderstehlich zum Tanzen
litten hat. Die Betroffenen sind im Extremfall völlig außer animiert.
Gefecht gesetzt – unfähig, aufzustehen oder auch nur den
Kopf zu heben oder die Augen still zu halten, ohne zu erbre­
chen. Als wäre dies nicht schon genug, treten zudem oft aku­ im Entferntesten entspricht. Man könnte daraus schließen,
te Angstzustände auf. Die breite Symptomatik bei einer Stö­ dass sie taub sein müssen. Doch jeder Angler kann das Ge­
rung des Gleichgewichtssinns, die vom Sehen und Hören genteil bezeugen. Schon vor fast 100 Jahren gab es Versuche,
über Körperhaltung und Darmfunktion bis hin zum Fühlen diesen Widerspruch zu erklären. Damals veröffentlichte der
und Denken reicht, macht deutlich, wie wichtig das Vestibu­ kanadische Physiologe John Tait einen Fachartikel mit dem
larsystem für einen normalen physiologischen Zustand ist. provokanten Titel »Is All Hearing Cochlear?« (sinngemäß:
Bei den Säugetieren liegt der Vestibularapparat in einer »Ist Hören nur über die Cochlea möglich?«). Inzwischen
Struktur des Innenohrs, die als Labyrinth bezeichnet wird. steht fest, dass die Antwort »nein« lautet: Fische und auch
Sie befindet sich nahe der Cochlea (Schnecke), dem eigent­ Amphibien hören mittels Sinnesorganen, die mit Otolithen
lichen Hörorgan. Beide Systeme sind nicht nur eng be- (»Hörsteinen«) ausgestattet sind. Letztere kommen ebenso
nachbart, sondern haben auch gemeinsame Merkmale. So bei Wirbellosen vor, wo man sie als Statolithe bezeichnet. Sie
besitzen sie übereinstimmend Haarzellen als Mechano­ sind im Tierreich also weit verbreitet. Es handelt es sich um
rezep­toren, um Töne beziehungsweise Kopfbewegungen zu kleine Kristalle aus Kalziumkarbonat, die in einer Flüssigkeit
registrieren und in Nervensignale umzuwandeln. Ferner schweben. Sie stehen mit Mechanorezeptoren in Verbin­
sind die Sinnesnerven, die von der Cochlea und dem Vesti­ dung, die Bewegung wahrnehmen und die betreffende sen­
bularapparat zum Gehirn verlaufen, zu einem Strang ge­ sorische Information als neuronale Aktivität weiterleiten.
bündelt. Beides zeugt von einer gemeinsamen Entwick­ Dieser einfache Mechanismus verleiht Fischen ein recht gu­
lungsgeschichte für die Wahrnehmung von Schwingungen tes Gehör. Einige Fischarten können auch Laute erzeugen,
und Schwerkraft, die mindestens 500 Millionen Jahre zu­ was unter anderem beim Balzverhalten eine Rolle spielt.
rückreicht. Zwar ist im menschlichen Ohr die Cochlea für die Wahr­
Evolutionär gesehen ist die Cochlea eine junge Errungen­ nehmung und Verarbeitung von Tönen zuständig. Doch gibt
schaft. Die ältesten Wirbeltiere, einschließlich der Fische, be­ es dort ebenfalls Otolithenorgane: den Sacculus und den Ut­
sitzen weder eine Hörschnecke noch irgendein Organ, das ihr riculus. Beide stehen senkrecht zueinander, wobei der Saccu­

28  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


BIOLOGIE & MEDIZIN

Ein urtümlicher Hörsinn im


Gleichgewichtsorgan
sorgt offenbar dafür, dass uns
DPA / ARNE DEDERT

starke Bassrhythmen zum


Tanzen anregen.

WWW.SPEK TRUM .DE 29


Fische wie der Nördliche
NATIONAL OCEANIC AND ATMOSPHERIC ADMINISTRATION (NOAA)

EDGEWISE AT THE ENGLISH LANGUAGE WIKIPEDIA / CC-BY-SA-3.0


(CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)
Schnapper (Lutjanus cam-
pechanus) besitzen hinter
den Augen ein Otolithen-
paar, das sich leicht her-
auspräparieren lässt (ganz
links). Die Otolithen, wört-
lich »Ohrsteine«, bestehen
aus Kalk (Kalziumkarbonat)
und sind in der Regel
zwischen einem und zwei
Zentimeter lang.

lus auf vertikale und der Utriculus auf horizontale Beschleu­ zufinden und sich an Richtungsänderungen anzupassen.
nigungen anspricht. Eine einfache Lösung wäre ein Lichtsensor in Verbindung
Seit Langem gilt als ausgemacht, dass diese Organe beim mit der Regel, dass es oben immer heller ist als unten. Bei
Menschen zum Vestibularsystem gehören. Aber könnten wir Nacht oder in der Tiefsee, in die kein Lichtstrahl dringt, wür­
uns nicht auch einen durch Otolithen vermittelten Hörsinn de ein solcher visueller Mechanismus jedoch versagen.
bewahrt haben, der die auf der Cochlea basierende akustische Eine elegantere Lösung für beide Probleme – die Raumori­
Wahrnehmung unterstützt oder ergänzt? Immerhin sind be­ entierung und die Unterscheidung zwischen Eigen- und
reits andere primitive Sinnesbahnen bekannt, die parallel zu Fremdbewegung – liefert die Wahl der Schwerkraft als Be­
neueren, leistungsfähigeren Organen arbeiten; so erweitert zugsgröße. Dazu benötigt ein Organismus einen geeigneten
das vomeronasale System, das auf Pheromone anspricht, un­ Sensor. Im einfachsten Fall besteht ein solcher »Gravizeptor«
sere bewusste Geruchswahrnehmung um eine unbewusste aus kleinen Steinen – den Statolithen beziehungsweise Oto­
Komponente. Um die obige Frage zu beantworten, muss man lithen – und einer Flüssigkeit geringerer Dichte, die sie um­
den Ursprüngen der akustischen Wahrnehmung bei den ein­ gibt. Die Steinchen sammeln sich dann stets am tiefsten
fachsten Organismen nachspüren. Punkt an, woraus das Lebewesen die Richtung der Schwer­
kraft ableiten kann. Ein solches System ist im Tier- und Pflan­
Ursprung der akustischen Wahrnehmung zenreich mehrfach unabhängig entstanden und kommt bei
Hören und Gleichgewicht haben beide mit einer grundlegen­ allen wichtigen Stämmen von Vielzellern vor – was darauf
den Voraussetzung des Lebens zu tun, nämlich der Raumori­ schließen lässt, dass das Unterscheidungsvermögen zwi­
entierung. Selbst die frühesten Lebensformen mussten wis­ schen oben und unten die erste Sinnesleistung überhaupt
sen, wo oben und unten ist, um sich in ihrer Umwelt zurecht­ ist, zu der Lebewesen fähig waren.
GIERL, C. ET AL.: AN EXTRAORDINARY GOBIOID FISH FOSSIL FROM SOUTHERN FRANCE. IN: PLOS ONE 8, E64117, 2013, FIG. 3 A1

Bei diesem 23 Millionen


Jahre alten versteinerten
Fisch sind die Otolithen
deutlich als ein Paar kleiner
weißer Objekte erkenn-
bar, die sich direkt hinter
den Augen befinden und
wie zwei Reiskörner aus­
sehen (Pfeil).

30  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Die vier Sinneskolben der Würfel-

O’CONNOR, M.  ET AL.: VISUAL PIGMENT IN THE LENS EYES OF THE BOX JELLYFISH CHIROPSELLA BRONZIE.
IN: PROCEEDINGS OF THE ROYAL SOCIETY B 277, S. 1843-1848, 2010, FIG. 1AB;
ABDRUCK GENEHMIGT VON THE ROYAL SOCIETY / CCC
Grubenauge
qualle (Chiropsella bronzie) hängen oberes
jeweils an einem Stiel frei im Innern Linsen-
Schlitz- auge
ihres glockenförmigen Körpers.
auge
Jede solche Rhopalie enthält außer je
zwei Schlitz- und Gruben­augen ein
Paar bilderzeugender Linsenaugen,
von denen eines nach oben und das
andere nach unten ausgerichtet ist Linse Pigment-
(ganz rechts). Beide sind starr mit schicht
einem die Schwerkraft wahrnehmen-
den Statolithen ver­bunden, der sie
stets in der Verti­kalen hält.
unteres
Linsenauge Statolith

Viele Pflanzenarten besitzen in ihren Wachstumsspitzen Nahfeld), die sich auf den Körper des Tieres übertragen, ruft
Zellen, die einen oder mehrere Statolithen enthalten. Dank das eine Bewegung des Statolithen relativ zu seiner Umge­
dieser so genannten Statozyten wachsen die Wurzeln erd­ bung hervor. Auf diese Weise hat sich also ein Sensor, der ur­
wärts. Im Tierreich bezeichnet man ein mehrzelliges, die sprünglich für die Wahrnehmung der Schwerkraft entstan­
Schwerkraft mit Statolithen wahrnehmendes Organ als Sta­ den war, zu einem Sinnesorgan weiterentwickelt, das auch
tozyste. Zahlreiche Beispiele dafür finden sich bei Wirbello­ Schwingungen und damit Töne registriert. Die unabhängige
sen. So gibt es unter den im Meer lebenden Stachelhäutern Erfindung von Statolithensystemen bei vielen Wirbellosen
(Echinodermata) Arten, die sich wieder in die Ausgangsposi­ und deren einfache Umwandlung von einem puren Linear­
tion drehen, wenn sie auf den Rücken gelegt wurden. beschleunigungssensor zu einem Fühler für Vibrationen im
Besitzt ein Tier neben dem Gravizeptor auch einen Licht­ Bereich hörbarer Frequenzen, legen die Vermutung nahe,
sensor, kann es sich noch besser im Raum orientieren. Aller­ dass schon zum Zeitpunkt der kambrischen Artenexplosion
dings muss es dazu fähig sein, die beiden Sinnesorgane so vor etwa 540 Millionen Jahren ein durch Otolithen vermittel­
aufeinander abzustimmen, dass sie keine widersprüchlichen ter Hörmechanismus bei Wirbeltieren aufgetaucht ist.
Informationen liefern. Das lässt sich auf einfache Weise
durch eine mechanische Kopplung zwischen ihnen errei­ Fische hören mit dem Gleichgewichtsorgan
chen. Eine solche Kopplung bildete sich schon recht früh in Alle Fische nutzen wenigstens eines ihrer Otolithenorgane
der Evolution, vermutlich vor etwa 700 Millionen Jahren, bei dazu, sowohl das Gleichgewicht zu halten als auch akustische
den Nesseltieren (Cnidaria) heraus, zu denen insbesondere Signale zu erfassen. Einige Arten haben jedoch zusätzliche
die Quallen gehören. So sind bei der Würfelqualle einfache Hilfsstrukturen entwickelt, die das schon vom Oktopus be­
Schlitz- und Grubenaugen, bilderzeugende Linsenaugen und kannte Nahfeldhören weiter verbessern. Beim Goldfisch bei­
Statolithen nach einem festen Muster in einem Sinneskol­ spielsweise kann die Schwimmblase, mit der das Tier seinen
ben angeordnet, der an einem Stiel frei im Innern ihres glo­ Auftrieb regelt, zugleich dazu dienen, Schalldruckwellen (das
ckenförmigen Körpers hängt (Bild oben). Jedes Tier besitzt akustische Fernfeld) in lokale Schwingungen umzuwandeln.
vier solche Rhopalien. Unabhängig von der Orientierung der Sie ist deshalb über eine spezielle Struktur, den Weberschen
Glocke richten sich die Sinneskolben stets nach der Schwer­ Apparat, direkt an das Innenohr mit den Otolithenorganen
kraft aus, so dass die Augen konstant nach unten schauen. gekoppelt. Auf diese Weise vermag der Goldfisch erstaunlich
Dank dieses koordinierten sensorischen Mechanismus kön­ gut zu hören und erreicht im Bereich zwischen 100 bis 300
nen Quallen gezielt Nahrung finden. Hertz eine Empfindlichkeit, die der des Menschen bei den
Höher entwickelte Wirbellose wie der Tintenfisch verfügen entsprechenden Frequenzen nahekommt.
über ein Organ, das außer der Schwerkraft auch Rotations- Für ein Tier ist es offenkundig von Nutzen, sich räumlich
und Linearbeschleunigungen registriert. Sein Statozysten­ orientieren zu können, beispielsweise um Fressfeinden zu
paar ähnelt bereits dem Vestibularsystem der Wirbeltiere. Es entgehen und Nahrung zu finden. Die Wahrnehmung von
erlaubt dem Oktopus, selbst bei schnellen Körperbewegun­ Schall und Vibrationen verschafft ihm einen zusätzlichen
gen den Blick fest auf ein Objekt gerichtet zu halten, was Wir­ Vorteil, indem sie ihm erlaubt, mittels einer Art von akusti­
beltiere über den vestibulookulären Reflex erreichen. schem Abbild seiner Umwelt Beute aufzuspüren und zu ver­
Die Statozyste des Tintenfischs spricht aber nicht nur auf meiden, selbst erbeutet zu werden.
die Schwerkraft sowie Beschleunigungen an, sondern auch Weniger offenkundig, aber ebenso wichtig ist ein weiterer
auf Vibrationen. Wann immer eine akustische Quelle lokale Bonus, den das Hören mit sich bringen dürfte: Es hilft bei der
Dichteschwankungen im Wasser verursacht (das akustische Suche nach einem Fortpflanzungspartner. Die Männchen ei­

WWW.SPEK TRUM .DE 31


Utrikulus Wir Menschen hören in erster Linie mit der Cochlea (Schnecke),
welche die wahrgenommenen Laute nach ihren Frequenzen
Cristae
in den aufschlüsselt. Zusätzlich zu dieser stammesgeschichtlich relativ
Vestibularnerv
Ampullen Cochlea jungen Struktur verfügen wir aber über urtümliche Otolithen­
organe, in denen Haarzellen die von der Schwerkraft oder von
Beschleunigungen verursachten Verschiebungen kleiner Kalk­
kristalle registrieren. Obwohl diese Organe in erster Linie für
den Gleichgewichtssinn zuständig sind, sprechen sie auch auf
niederfrequente Vibrationen an. Möglicherweise sind sie deshalb
an der Wahrnehmung von tiefen Bassrhythmen beteiligt.

Sacculus wiederholten Klopfens und Trommelns gemeinhin als Croa­


ker (»Quaker«) bezeichnet wird. Während der Laichzeit bil­
Otolith den die Männchen Gruppen und stimmen eine Art Chorge­
Haarzelle
sang an. Das Ergebnis ist in beiden Fällen eine synchronisier­
EMMA SKURNICK

te Abgabe von Sperma und Eiern, was erneut die große


Stützzellen biologische Bedeutung des von Otolithen vermittelten Hö­
rens bei Fischen verdeutlicht.
Mit dem Auftreten der Amphibien im Devon vor etwa 380
ner ganzen Reihe von Fischarten erzeugen im Rahmen des Millionen Jahren bildeten sich in den Innenohren zusätzlich
Balzrituals Laute, indem sie ihre Schwimmblase als eine Art Hörorgane ohne Otolithen heraus, vor allem die Basilar- und
Trommel benutzen, die sie mit speziellen Muskeln in Schwin­ die Amphibienpapille. Beide funktionieren über einen fluid­
gung versetzen. Bei einigen Arten werden diese Muskeln dynamischen Mechanismus ähnlich wie bei der Cochlea und
vom Nervus hypoglossus gesteuert, mit dem der Mensch sei­ erweitern damit den wahrnehmbaren Frequenzbereich. Er­
ne Zunge bewegt, bei anderen dagegen vom Nervus vagus, gänzt durch ein Trommelfell und ein Mittelohr für das Hö­
der bei uns für den Kehlkopf zuständig ist. ren von Luftschall, verliehen die neuen Sensoren den landbe­
Mit Lauten wirbt zum Beispiel der Schellfisch (Mellano- wohnenden Amphibien die Fähigkeit, die Laute von Artge­
grammus aeglefinus) um Paarungspartner – jene Art, die nossen und andere Schallquellen bis zu einer beträchtlichen
vorzugsweise für »Fish and Chips« verwendet wird. Das ru­ Entfernung wahrzunehmen.
fende Männchen beginnt seine Balz gewöhnlich mit sachtem Trotz alledem haben die Otolithenorgane dieser Tiergrup­
Trommeln. Mit der Zeit steigert es die Schlagfrequenz, so pe, und insbesondere der Sacculus, eine erstaunliche Emp­
dass sich das Geräusch schließlich wie ein Brummen anhört. findlichkeit gegenüber seismischen Vibrationen bewahrt.
Akustisch bemerkbar macht sich auch der in Amerika behei­ Das ist natürlich für jene Arten von Vorteil, die zur Fortpflan­
matete Umberfisch (Bairdiella chrysoura), der wegen seines zung ins Wasser zurückkehren. Ein bekanntes Beispiel dafür

Krokodile können ähn-


lich wie Vögel, die wie sie
von den Archosauriern
abstammen, kräftige
Laute hervorbringen. Das
Männchen des Missis­
sippi-Alligators beginnt
seinen Ruf bei einer der-
art niedrigen Frequenz,
dass ihn das mensch-
liche Ohr nicht wahrneh-
men kann. Die starken
Infraschallschwingun-
gen lassen jedoch das
ISTOCK / CLARK42

Wasser am Rücken
»tanzen«.

32  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


bietet der Amerikanische Ochsenfrosch (Rana catesbeiana). Auffassung, wonach die Schnecke aus einer Einstülpung des
Jedes Frühjahr sucht er für einige Wochen seinen Lieblings­ Sacculus hervorgegangen ist. Die Cochlea selbst ist ein au­
teich auf, um dort zu laichen. Wie beim Schellfisch stoßen ßergewöhnliches Organ: Mit ihrer Basilarmembran und den
die Männchen Laute aus, mit denen sie die Weibchen anlo­ an ihr entlang angeordneten Haarzellen führt sie quasi eine
cken. Wegen der seismischen Empfindlichkeit ihres Sacculus Art Spektralanalyse des Schalls durch, wobei die hohen Töne
können die Tiere aber auch die von anderen Fröschen er­ an ihrer Basis repräsentiert sind und die tiefen an der Spitze.
zeugten Oberflächenvibrationen erspüren (Bild unten). Das befähigt uns zu einer stark nuancierten akustischen
Bewegt man sich den Stammbaum der Wirbeltiere weiter Kommunikation in Form von Sprache sowie zum Wahrneh­
hinauf, stößt man auf die Archosaurier, zu denen die Krokodi­ men und Genießen von Musik. Außerdem schaffen wir uns
le, Dinosaurier und Vögel gehören. Innerhalb dieser Gruppe, damit ein komplexes geistiges Abbild unserer Umwelt, eine
die sich während des Perms vor rund 250 Millionen Jahren von »auditive Szenenanalyse«.
den Reptilien abspaltete, existieren viele Ähnlichkeiten – un­
ter anderem beim Paarungs- und Nistverhalten. Auch beim Schallempfindliches Gleichgewichtsorgan –
Hörsinn weisen ihre Mitglieder mehrere Gemeinsamkeiten auch beim Menschen
auf. So bringen sie alle zu bestimmten Zwecken Laute hervor, Dessen ungeachtet haben die Otolithenorgane bei Säugetie­
neigen zu Chorgesängen und besitzen ein ähnlich aufgebau­ ren eine gewisse akustische Empfindlichkeit bewahrt: Ihre
tes Innenohr. Archosaurier verfügen über eine Basilarpapille, Haarzellen reagieren ganz ähnlich auf Schall und Vibrationen
die von ihrer Funktionsweise jedoch der Cochlea der Säugetie­ wie diejenigen in der Cochlea. Das haben physiologische Ex­
re näher steht als dem gleichnamigen Organ der Amphibien. perimente ergeben, bei denen die Aktivität des Vestibular­
Ein erstaunliches Beispiel für Vokalisierung liefert in dieser nervs aufgezeichnet wurde. Ferner lässt sich die akustische
Gruppe das Männchen des Mississippi-Alligators (Alligator Empfindlichkeit von Otolithen beim Menschen auf nichtin­
mississippiensis). Es beginnt seine Rufe bei einer derart nied­ vasive Weise anhand der elektrischen Antworten auf Schall-
rigen Frequenz (rund 20 Hertz), dass sie für das menschliche und Vibrationsreize nachweisen. Zu deren Aufzeichnung die­
Gehör nicht wahrnehmbar sind. Wir können sie aber fühlen nen meist Oberflächenelektroden, die an bestimmten Mus­
und anhand der tanzenden Wasserwellen auf dem Rücken keln um die Augen oder am Hals platziert werden. Denn diese
des Tieres auch sofort erkennen (Bild unten links). Die Adres­ Körperpartien sind am Vestibularreflex beteiligt, dank dem
satinnen der Botschaft hören sie dagegen recht gut; der Sac­ wir das Gleichgewicht bewahren und die Ausrichtung der Au­
culus des Alligators ist eine anatomisch große Struktur und gen konstant halten können, wenn wir uns bewegen. Die da­
ähnlich wie der eines Frosches bestens geeignet, 20-Hertz-In­ bei auftretende elektrische Aktivität bezeichnet man als ves­
fraschall über das Wasser wahrzunehmen. tibular evozierte myogene Potenziale oder kurz VEMPs.
Beim anatomischen Vergleich zwischen der Cochlea der Wie Versuche mit Luftschall ergaben, ist die Schwelle da­
Säugetiere und der Basilarpapille der Amphibien, Reptilien für, dass ein VEMP entsteht, bei menschlichen Otolithen­
und Archosaurier fällt eines sofort ins Auge: All diese Struk­ organen zwar recht hoch, aber noch niedrig genug für All­
turen befinden sich in unmittelbarer Nähe zum Sacculus. tagsgeräusche: Sie liegt bei einem Schalldruck von 70 bis 80
Das passt zu der von etlichen Wissenschaftlern vertretenen Dezibel, was in etwa der Lautstärke normalen Sprechens ent­

Der männliche Ochsenfrosch


(Rana catesbeiana) kann
niederfrequente Laute
erzeugen, die stark genug
sind, um sichtbare Oberflä-
chenwellen zu erzeugen, die
sich von der Schallblase am
Kehlkopf radial nach außen
ausbreiten. Paarungsbereite
Weibchen und andere
Männchen nehmen nicht
nur den damit verbundenen
Luftschall wahr, sondern
registrieren dank der Druck-
JENNIFER HOWLAND HILL

empfindlichkeit ihrer Sacculi


auch die Oberflächenwellen
als vertikale Vibrationen.

WWW.SPEK TRUM .DE 33


spricht. Außerdem sind die VEMPs frequenzabhängig, mit ei­ können. Aber da gibt es ja noch die Rolle des Hörens beim
nem Maximum bei etwa 500 Hertz, also in der Nähe des Be­ Balzverhalten. Wenn die Otolithenorgane bei Fischen und
reichs höchster Empfindlichkeit bei Fischen. Im Fall von Amphibien die Fortpflanzungsbereitschaft vermitteln, erfül­
Schädelvibrationen statt Luftschall tritt bei rund 100 Hertz len sie diese Funktion vielleicht auch bei höheren Wirbeltie­
ein weiteres Maximum auf. Manchmal spricht eine Person ren einschließlich des Menschen.
bei einem VEMP-Test auf solche niederfrequenten Schwin­ Da die Lautäußerungen beim Balzen das Ausstoßen von
gungen sogar unterhalb der normalen Hörschwelle an – was Eiern und Sperma auslösen können, müssen sie direkt das
an die bemerkenswerte seismische Empfindlichkeit des Sac­ Hormonsystem der paarungswilligen Tiere beeinflussen. Der
culus von Amphibien erinnert. Biologe Timothy J. Neary (1948  – 2009) und seine Mitarbeiter
Weil sich VEMPs sehr einfach messen lassen, eignen sie sich an der Creighton University in Omaha (Nebraska) befassten
auch zur Diagnose von Fehlfunktionen des Gleichgewichtsor­ sich schon vor Jahren eingehend mit den Nervenbahnen, die
gans. Anhand der Reaktionen auf geeignete Reizkombinatio­ bei Fröschen für die Vermittlung dieser Wirkungen in Frage
nen ist es mit ihrer Hilfe heute möglich, die Unversehrtheit kommen. Dabei sind sie auf eine sensorische Schaltstation im
von Utriculus und Sacculus unabhängig voneinander zu über­ Mittelhirn gestoßen, die Hörinformationen an den Hypotha­
prüfen. In Kombination mit anderen neuartigen Verfahren lamus weiterleitet. Das Gegenstück bei Säugetieren dürfte
könnte es schon bald gelingen, jedes der fünf vestibulären eine Verbindung des Vestibularorgans zu einer anderen Re­
Endorgane des Menschen einzeln zu testen, also auch die drei gion im Mittelhirn sein: dem Nucleus parabrachialis. Dessen
rechtwinklig zueinander angeordneten Bogengänge, die hoch­ Signalbahnen ziehen nicht nur zum Hypothalamus, was die
empfindlich auf Winkelbeschleunigungen (Rotation des Kopf­ Voraussetzung für hormonelle Wirkungen bildet, sondern
es) reagieren. Interessanterweise profitiert die Vestibularme­ auch zur Amygdala, die mit dem Gefühlsleben verknüpft ist,
dizin somit von der Wiederentdeckung jener durch Otolithen sowie zum mesolimbischen dopaminergen System, das auf
vermittelten akustischen Empfindlichkeit, die wir unseren Belohnung anspricht, und zu höheren Gefühlszentren ein­
einst im Sumpf lebenden Vorfahren zu verdanken haben. schließlich dem zingulären limbischen System.
Tatsächlich scheint dieser Schaltkreis an negativen Begleit­
Schlüsselrolle beim Paarungsverhalten erscheinungen eines gestörten Gleichgewichtsempfindens
Die Frage ist allerdings, ob diese primitive Hörmethode beim wie Seekrankheit, Schwindel und Angstzuständen beteiligt
Menschen noch eine Funktion besitzt. Handelt es sich nur zu sein. Und offenbar ist es sogar – zumindest bei einigen Per­
um das verkümmerte Relikt eines nicht mehr gebrauchten sonen – für die Erregung und das Lustgefühl durch Trägheits-
früheren Wahrnehmungsmechanismus? Die Cochlea erfüllt oder Gravitationsreize etwa beim Achterbahnfahren verant­
dank ihrer Optimierung durch eine Jahrmillionen dauernde wortlich. Vielleicht besteht die Funktion des von Otolithen
natürliche Selektion die Aufgaben des Hörsinns wie etwa die vermittelten Hörens also darin, jenen neuronalen Schaltkreis
Szenenanalyse so gut, dass die Otolithenorgane mit ihren im Gehirn durch Schall oder Vibration zu aktivieren.
viel einfacheren physiologischen Eigenschaften schwerlich Dafür spricht insbesondere die Tatsache, dass die Balz bei
mithalten oder auch nur einen wesentlichen Beitrag leisten Wirbeltieren oft mit Lautäußerungen einhergeht, die von

Über die Otolithenorgane regis­


trierte Schallreize aktivieren beim
Menschen den Vestibularnerv, der
standardmäßig Signale des Gleich-
gewichtsorgans weiterleitet. Diese
Aktivität lässt sich mit Oberflächen-
elektroden ableiten, die an be-
stimmten Muskeln um die Augen
oder am Hals platziert werden. Man
spricht in solchen Fällen von vesti-
bulär evozierten myogenen Poten­
zialen (VEMPs). Mit ihrer Hilfe
können Mediziner bei einer Störung
des Gleichgewichtssinns klären,
welche Struktur des Innenohrs
beeinträchtigt ist: der Sacculus, der
MIT FRDL. GEN. VON  NEIL TODD

Utriculus oder einer der drei Bogen-


gänge, die für die Wahrnehmung
von Drehbewegungen des Kopfes
zuständig sind.

34  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


EMMA SKURNICK

Sacculus Sacculus

Basilar- Basilar- Cochlea


papille papille
Sacculus Sacculus

Fisch Frosch Krokodil Säugetier

Der Sacculus, ein Otolithenorgan im Innenohr von Wirbeltieren, Gibbons, meinte der Begründer der modernen Evolutions­
nimmt vertikale Beschleunigungen wahr. Zuerst bei Fischen theorie: »Wenn die Weibchen solche Laute nicht zu würdigen
entstanden, hat er seine ursprüngliche Funk­tion beibehalten, als wüssten und von ihnen erregt oder angezogen würden, dann
sich das Leben im Verlauf der Evolution vom Wasser auf das wären die fortwährenden Bemühungen der Männchen sinn­
Land ausdehnte. los; und das ist unmöglich zu glauben.« Und demgemäß fol­
gerte Darwin aus seinen anschließenden Betrachtungen
über die Musik unterschiedlicher Kulturen: »All diese Befun­
rhythmischen Bewegungen begleitet sind. Das gilt vor allem de … werden verständlich …, wenn wir annehmen, dass unse­
für Vögel. Sie setzen nicht nur wie ihre Vorfahren, die Archo­ re halbmenschlichen Vorfahren musikalische Laute und
saurier, ihre Stimme zu charakteristischen Lockrufen und Rhythmen benutzten, um Paarungen anzubahnen …« Viel­
Balzgesängen ein, sondern führen gleichzeitig mehr oder we­ leicht haben ja hüftschwingende Menschen auf einer Tanz­
niger komplizierte Paarungstänze auf. Ähnliche Rituale gibt party mehr mit Fischschwärmen beim Laichen gemein, als
es aber auch bei Säugetieren, Primaten eingeschlossen. So unsereins glaubt!  Ÿ
produzieren die zu den Gibbons gehörenden Siamangs, die
Paarbindungen eingehen, variantenreiche Duette und voll­
DER AUTOR
führen dazu akrobatische Körperbewegungen. Die enge Ver­
quickung zwischen Laut und Tanz bei der Balz oder beim Neil Todd hat zunächst theoretische Physik
Aufbau einer Paarbindung lässt sich am ehesten mit einem studiert und ist dann zur Psychologie ge­-
wechselt. Nach der Promotion an der University
auditiven Hilfssystem auf der Basis von Otolithen erklären. of Exeter (Großbritannien) arbeitete er als
Der Mensch hat zwar keine derart starren Rituale für die wissenschaftlicher Mitarbeiter am Music
Partnerwahl. Doch Elemente der tierischen Balz sind durch­ Department der University of Sheffield, bevor er
eine Dozentur für Wahrnehmung an der
aus erkennbar. So findet die Annäherung der Geschlechter University of Manchester erhielt, wo er sich auf
oft in Diskotheken oder Ballsälen statt, in denen zu Musik ge­ den Hör- und Gleichgewichtssinn spezialisierte. Momentan ist er
tanzt wird, deren Lautstärke die vestibuläre Hörschwelle klar Honorarprofessor für Neurowissenschaft in Manchester.
Außerdem arbeitet er freiberuflich als wissenschaftlicher Berater,
überschreitet und die meist einen starken Bass bei Frequen­ Schriftsteller, Komponist und Musiker.
zen im Bereich der maximalen Empfindlichkeit des Vesti­
bularsystems enthält. Mit ihrem markanten Beat weckt sie
QUELLEN
den un­widerstehlichen Drang, sich synchron zum Takt zu
bewegen. Neurologische Befunde deuten auf eine beachtli­ Rosengren, S. M. et al.: Vestibular Evoked Myogenic Potentials: Past,
che Überschneidung zwischen den Hirnarealen, die durch present, and future. In: Clinical Neurophysiology 121,
S. 635 – 651, 2010
Rhythmus aktiviert werden, und Teilen des oben beschriebe­ Todd, N. P. M.: Evidence for a Behavioral Significance of Saccular
nen vesti­bulären Schaltkreises hin. Das stützt die Vermutung, Acoustic Sensitivity in Humans. In: Journal of the Acoustical
dass ein auditives Hilfssystem, das keine komplexe akustische Society of America 110, S. 380 – 480, 2001
Todd, N. P. M., Cody, F.: Vestibular Responses to Loud Dance Music:
Analyse vornimmt, sondern das Gleichgewicht bewahren hilft
A Physiological Basis for the »Rock and Roll Threshold«? In: Journal
und Rhythmen erfasst, eine Rolle beim Partnerwahl- und Paa­ of the Acoustical Society of America 107, S. 496 – 500, 2000
rungsverhalten spielt – einem fundamentalen Aspekt des Todd, N. P. M, Lee, C. S.: The Sensorymotor Theory of Rhythm and
Beat Induction 20 Years on: A New Synthesis and Future Per-
menschlichen Lebens. Es könnte von zentraler Bedeutung für
spectives. In: Frontiers in Human Neuroscience 9, S. 444, 2015
die Evolution von Musik und Tanz gewesen sein. Todd, N. P. M. et al.: Vestibular Receptors Contribute to Cor­-
All dies steht übrigens auch in Einklang mit der von tical Auditory Evoked Potentials. In: Hearing Research 309,
Charles Darwin entwickelten Theorie vom Ursprung der Mu­ S. 63 – 74, 2014
Todd, N. P. M. et al.: Tuning and Sensitivity of the Guman Vestibular
sik, wonach diese aus Balzritualen mit lockenden Lautäuße­ System to Low-Frequency Vibration. In: Neuroscience Letters 444,
rungen hervorgegangen ist. Mit Blick auf entsprechende Ver­ S. 36 – 41, 2008
haltensweisen bei einer Vielfalt von Tierarten, angefangen
von Fröschen über Alligatoren und Vögel bis zu Mäusen und Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1378743

WWW.SPEK TRUM .DE 35


TITELTHEMA: THEORETISCHE PHYSIK

Auf der Suche nach


der Theorie von Allem
In seinen späteren Jahren wollte Einstein mit einer »allgemeinen Feldtheorie«
die Gravitation mit den anderen Naturkräften vereinen – vergeblich. Eine neue
Generation von Physikern hofft nun zu vollbringen, woran das Genie scheiterte.
Von Corey S. Powell

L
eslie Rosenbergs Versuch, das Universum zu ver­ Rosenberg ist den Partikeln seit seiner Promotion in den
stehen, gleicht einem provisorischen, mit ein paar 1990er Jahren an der University of Chicago auf der Spur. Er
Drähten versehenen Warmwasserboiler, der in ei­ führte ein Experiment nach dem anderen aus – aber trotz
nem großen unterirdischen Kühlschrank steckt. Sein immer größerer Präzision ohne Erfolg. Noch immer hofft er
Experiment findet in einem Labor an der Universität von Wa­ auf ein Resultat, das Albert Einsteins gewagtester Idee post­
shington in Seattle statt: Eine extrem tiefgekühlte Vakuum­ hum Auftrieb geben würde.
kammer wird einem Magnetfeld ausgesetzt und soll beim Einstein nannte sie einheitliche Feldtheorie, heute spre­
Durchgang so genannter Axionen feine Mikrowellensignale chen Physiker von der »Theorie von Allem«. Sie soll das Ver­
erzeugen, die ein empfindlicher Detektor nachzuweisen ver­ halten aller bekannten Naturkräfte in einem einzigen For­
sucht. Bisher hat noch niemand eine Spur dieser hypotheti­ melsystem ausdrücken. Als sich Einstein vor 90 Jahren auf
schen Teilchen gesehen. die Suche machte, wollte er die Grundkräfte Gravitation und
Elektromagnetismus zusammenfassen und damit zeigen,
dass alle Formen von Materie und Energie derselben Logik­
gehorchen.
DIE SERIE IM ÜBERBLICK Selbst für den großen Theoretiker war das ein ungeheurer
FERDINAND SCHMUTZER, 1921 / PUBLIC DOMAIN [M]

Anspruch. »Ich möchte wissen, wie Gott diese Welt erschaffen


100 JAHRE ALLGEMEINE RELATIVITÄTSTHEORIE hat«, schrieb er 1920 an einen deutschen Physikstudenten.
»Ich bin nicht an dem einen oder anderen Phänomen interes­
Teil 1 ˘ Der Glanz des Genies  Oktober 2015
Brian Greene
siert, an dem Spektrum des einen oder anderen Elementes. Ich
möchte Seine Gedanken kennen, alles übrige sind nur Einzel­
 insteins Weg zur
E
heiten.«
allgemeinen Relativitätstheorie
Michel Janssen, Jürgen Renn Doch Einstein verrannte sich drei Jahrzehnte lang in einer
Sackgasse nach der anderen. Als er 1955 starb, standen unge­
Teil 2 ˘  Kosmische Würfelspiele November 2015
George Musser löste einheitliche Feldgleichungen auf seiner Tafel. Die Verein­
heitlichung blieb also nachfolgenden Physikergenerationen
Teil 3 ˘  Warten auf die Welle Dezember 2015
Felicitas Mokler überlassen, die das Problem in unzählige Teile zerlegten. Was
als großartige Vision eines Genies begonnen hatte, verwan­
Teil 4 ˘  Auf der Suche nach der
Theorie von Allem Januar 2016 delte sich in die zähe, mühselige Kleinarbeit verschiedener
Corey S. Powell Teams, die jeweils ein kleines Stück des riesigen kosmischen
 lles nur im Kopf
A Rätsels zu lösen versuchten. Beispielsweise ist Rosenberg nicht
Sabine Hossenfelder hinter einer allumfassenden Theorie her. Er konzentriert sich
Teil 5 ˘  Die Vermessung Schwarzer Löcher Februar 2016 hartnäckig auf sein Spezialproblem: das Axion.
Dimitrios Psaltis, Shepard S. Doeleman Trotz ihres beschränkten Ziels behalten Rosenberg und
Teil 6 ˘  Sind Zeitreisen möglich? März 2016 seine Mitstreiter das große Ganze im Auge. Sie beteiligen
Tim Folger sich an dem Versuch, Mängel in Einsteins theoretischem Ge­
Wo Einstein irrte bäude auszubügeln und ein umfassendes Modell der Teil­
Lawrence M. Krauss chenphysik von Grund auf zu errichten statt quasi von oben
nach unten. Letzteres verwirft Rosenberg als »Nabelschau«,

36  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


PHYSIK & ASTRONOMIE

Partikeldetektive
Ort: University of Washing­
ton in Seattle
Projekt: In einer extrem
tiefgekühlten und mag­
netisierten Vakuumkam­
mer soll der ADMX-Detek­
tor das Mikrowellensignal
von hypothetischen
Teilchen namens Axionen
aufspüren. Aus ihnen
könnte die unsichtbare
Dunkle Materie bestehen,
die sich nur durch ihre
Schwerkraft bemerkbar
macht.
Experimentatoren (hinten,
von links nach rechts):
Ciera Cox, Nick Posey,
James Sloan, Clifford
Plesha, Richard Ottens,
Josh Povick und Kerkira
Stockton;
(vorne, von links nach
rechts): Hannah LeTour­
neau, Leslie Rosenberg,
Xavier Frost, Ana Mala­-
gon, Kiva Ramun­do und
Jacob Herr.

TIMOTHY ARCHIBALD

WWW.SPEK TRUM .DE 37


AUF EINEN BLICK modells der Teilchenphysik erzwingen und die Physiker da­
durch einer echten Theorie von Allem einen Schritt näher­
bringen.
EINSTEINS SCHWERES ERBE
Bis vor Kurzem galten Axionen als unwahrscheinliche

1 Gegen Ende seines Lebens wollte Einstein sein theoretisches


Vermächtnis mit einer einheitlichen Beschreibung sämtlicher
Teilchen und Felder krönen.
Kandidaten für Dunkle Materie. Die meisten Kollegen Rosen­
bergs konzentrierten ihre Suche auf so genannte WIMPs
(weakly interacting massive particles, schwach wechselwir­

2 Das musste allein schon deswegen scheitern, weil seinerzeit


zwei Naturkräfte – die schwache und die starke Wechselwir-
kung – noch gar nicht entdeckt waren.
kende Masseteilchen). »Ich war immer eher ein komischer
Vogel«, gibt Rosenberg zu. Mit der Zeit wurden die verschie­
denen WIMP-Detektoren präziser, ohne etwas zu entdecken.
3 Heute versuchen mehrere Physikergruppen mit unterschied-
lichen Ansätzen unter Verwendung hypothetischer Teilchen
und Felder Einsteins Traum zu verwirklichen.
2014 nahm ein extrem empfindliches Gerät namens Large
Underground Xenon (LUX) unter den Hügeln des US-Bun­
desstaats South Dakota den Betrieb auf – bisher ohne Erfolg.

die der Natur vorschreiben möchte, wie sie sich zu verhalten


hat. Andere versuchen mit ihren Experimenten die so ge­
nannte Dunkle Energie zu erforschen oder zweidimensiona­
le Quanteneinheiten zu entdecken, die vielleicht Bausteine
unserer dreidimensionalen Alltagswelt bilden.
»Wir sollten tatsächlich einige dieser verrückten Ideen
über die Entwicklung des Universums testen«, sagt der Phy­
siker Joshua Frieman von der University of Chicago. Wie er
glaubt, werden die Physiker sonst nicht zu einer Theorie von
Allem gelangen.

Die dunkle Seite des Universums


Ein Blick auf Rosenbergs Axion Dark Matter Experiment
(ADMX) zeigt, wie folgenreich die scheinbar bescheidene Su­
che nach einem einzigen Teilchen und einer neuen Gruppe
physikalischer Regeln zu sein vermag. Im Erfolgsfall könnte
ADMX diverse Einwände gegen die allgemeine Relativitäts­
theorie widerlegen und ein kosmologisches Rätsel lösen.
Das Rätsel tauchte bereits in den 1930er Jahren auf, als As­
tronomen bemerkten, dass das All anscheinend von einer
unsichtbaren Komponente erfüllt ist, die sich nur durch ihre
Gravitationswirkung auf die sichtbaren Sterne bemerkbar
macht. Noch seltsamer mutete diese Entdeckung nach 1980
an: Neuen Modellen des Urknalls zufolge konnte diese un­
sichtbare – oder »dunkle« – Substanz nicht aus gewöhnli­
chen Atomen bestehen. Das ließ zwei beunruhigende Mög­
lichkeiten übrig. Entweder funktioniert die Gravitation über
große Entfernungen nicht so, wie Einstein sich das vorstellte,
oder das Universum enthält eine unbekannte Sorte von Par­
tikeln, die für unsere Teleskope völlig unsichtbar bleibt.
Die erste Möglichkeit lehnen die allermeisten Physiker ab, Hologrammjäger
denn sie lässt sich nur schwer mit den gemessenen Galaxien­ Ort: Fermi National Accelerator Laboratory in Batavia (Illinois)
bewegungen vereinbaren. Bleibt Möglichkeit Nummer zwei; Projekt: Das Holometer-Experiment lenkt einen zweigeteilten Laser-
sie hat Dutzende raffinierter Versuche angeregt, die dunklen strahl durch zueinander rechtwinklige Tunnel und sucht nach winzi-
Teilchen zu identifizieren. Und da kommt ADMX ins Spiel. gen Phasenverschiebungen, die auf eine Quantelung von Raum und
Da Axionen gut zu den mutmaßlichen Eigenschaften der Zeit hinweisen, wie sie das so genannte holografische Prinzip vorsieht.
Dunklen Materie passen, würde ihr Nachweis durch Rosen­ Experimentatoren (von links nach rechts): Sam Waldman, Ohkyung
bergs ADMX-Team ein vollständigeres Bild der Entstehung Kwon, Robert Lanza, Aaron Chou, Craig Hogan, Ray Tomlin, Stephen
SANDY NICHOLSON

und Entwicklung von Galaxien liefern. Zudem wäre es un­ Meyer, Brittany Kamai, Lee McCuller, Jonathan Richardson, Chris
nötig, Einsteins Gravitationsgleichungen abzuändern. Vor Stoughton, Rainier Weiss und Richard Gustafson.
allem würden die Axionen eine Veränderung des Standard­

38  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Nun hat Rosenberg die Chance nachzuweisen, dass Axio­ »Unser Hohlraum ist so groß wie ein Ölfass«, erklärt Ro­
nen die Lösung des Rätsels liefern, und nebenbei die allge­ senberg, »und wird auf 100 Millikelvin gekühlt«, das heißt
meine Relativitätstheorie zu stützen, das heißt Einsteins Idee auf 0,1 Grad über dem absoluten Nullpunkt. Die extrem tiefe
von der Schwerkraft als Krümmung der Raumzeit. Das Kon­ Temperatur garantiert, dass der Detektor selbst fast kein Mi­
zept von ADMX ist bestechend einfach. Wenn die Dunkle krowellenrauschen erzeugt. Der Hohlraum wird einem Mag­
­Materie wirklich aus Teilchen besteht, muss ein permanen­ netfeld ausgesetzt, um den Zerfall von Axionen anzuregen.
ter Strom solcher Partikel die Erde und alles auf ihr durch­ Eine bleistiftgroße Sonde soll auffällige Mikrowellen aufspü­
dringen. Falls es sich um Axionen handelt, werden sie hin ren. Das Problem ist nur: Niemand weiß genau, nach welcher
und wieder zerfallen. Zwar sind sie selbst unsichtbar, doch Frequenz man suchen soll. Sie hängt von der Masse des Axi­
bei den seltenen Zerfällen sollten sie sich in Mikrowellen ons ab – und die ist natürlich unbekannt.
­verwandeln, die ein schwaches, aber nachweisbares Signal Also muss man eine Frequenz des Mikrowellenbands
­erzeugen. Gewiss theoretisch einfach – jedoch praktisch nach der anderen abtasten. Bei dem ADMX-Versuch geht es
schwierig durchzuführen. im Wesentlichen darum, die Kanäle eines Kurzwellenradios

SANDY NICHOLSON

WWW.SPEK TRUM .DE 39


Stringtheoretiker
Ort: Stanford University, Kalifornien vielleicht durch feine Spuren in der kosmischen
Projekt: Die Stringtheorie deutet alle Teilchen und Hintergrundstrahlung bestätigen lassen.
Kräfte als Schwingungszustände winziger Saiten Theoretiker (von links nach rechts): Andrei Linde, Re-
(Strings). Einige Versionen der Theorie treffen Aus­ nata Kallosh, Ahmed Almheiri, Leonard Susskind,
TIMOTHY ARCHIBALD

sagen über den Beginn des Universums, die sich Shamit Kachru, Patrick Hayden und Lampros Lamprou.

durchzuprobieren – allerdings mit einem so empfindlichen Einen derartigen Test führt der erwähnte Physiker Frie­
Radioempfänger, dass er ein Signal vom Mars wiedergeben man von der University of Chicago durch. Sein wichtigstes
könnte. »Bis 2018 werden wir die gesamte Suchregion abge­ Instrument ist eine Spezialkamera, die am Vier-Meter-Blan­
tastet haben«, sagt Rosenberg. »Dann ist das Axion da oder co-Teleskop auf dem Cerro Tololo in Chile in etwa 2200 Meter
nicht da.« Mit anderen Worten, dann besitzen wir entweder Höhe angebracht ist. Das Ziel des Projekts namens Dark Ener­
ein starkes Indiz für die Struktur einer Theorie von Allem – gy Survey ist es, möglichst viele Bilder ferner Galaxien zu
oder wir können eine weitere Idee von der Liste streichen. sammeln. Jede Aufnahme umfasst 570 Megapixel, eine riesi­
ge Datenmenge. Die Kamera sammelt pro Nacht 400 Bilder,
Die Energie des leeren Raums in 105 Nächten pro Jahr, und das mehr als fünf Jahre lang. Mit
Während sich Rosenberg mit dem Problem der Dunklen Ma­ dem Abschluss der Himmelsdurchmusterung im Februar
terie herumschlägt, suchen Kollegen nach dem anderen un­ 2018 wird sie 300 Millionen Galaxien und rund 4000 Super­
sichtbaren Hauptbestandteil des Universums: der Dunklen novaexplosionen erfasst haben. Zum Vergleich: Eine an der
Energie. Sie erzeugt im Gegensatz zur Dunklen Materie, die University of California in Berkeley von 1998 bis 2000 durch­
eine Gravitationsanziehung ausübt, eine Abstoßungskraft. geführte, nach dem damaligen Stand der Technik automati­
Da die Dunkle Energie der Gravitation entgegenwirkt, beein­ sierte Supernovasuche lieferte alles in allem 96 Treffer.
flusst sie direkt die Interpretation der allgemein-relativisti­ Friemans Team zerpflückt die Beobachtungen des Surveys
schen Gleichungen. Vor allem aber lässt sich die rätselhafte auf vier verschiedene Arten, die jeweils eine spezifische Ei­
Abstoßung nicht im Rahmen des derzeit gültigen Modells genschaft der Dunklen Energie aufspüren sollen. Eine Analy­
der Teilchenphysik erklären und liefert darum einen ent­ se konzentriert sich auf Supernovae vom Typ 1a, die als Stan­
scheidenden Test für jede Theorie von Allem. dardkerzen zur Bestimmung kosmischer Distanzen dienen.

40  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


konstant ist. Falls Frieman feststellt, dass sie sich mit der Zeit
ändert, muss eine allumfassende Theorie das erklären.
Bevor wir so weit sind, muss ein tiefer liegendes Problem
geklärt werden. »Wir nehmen an, dass die Dunkle Energie die
Ursache der beschleunigten Expansion ist, aber das wissen
wir nicht mit Sicherheit. Vielleicht ist die allgemeine Relativi­
tätstheorie im allergrößten Maßstab einfach nicht die richti­
ge Theorie«, meint Frieman. Er will genau untersuchen, ob
eine modifizierte Version der Relativitätstheorie die Wirkung
der Dunklen Energie nachahmen kann. So oder so muss es
eine Theorie geben, die über Einstein hinausgeht, und der
Dark Energy Survey wird bei der Suche nach ihr helfen.

Ist die Welt ein Hologramm?


So seltsam Dunkle Energie und Dunkle Materie sein mögen,
wir können sie uns immerhin als Zutaten zum uns bekann­
ten Universum vorstellen – als eine Glasur zusätzlicher Teil­
chen oder Felder auf einer Realität, die Einstein ohne Weite­
res anerkannt hätte. Doch vielleicht muss das, was wir unter
Wirklichkeit verstehen, im Licht einer umfassenderen Theo­
rie radikal neu gesehen werden? Vielleicht besitzt die Raum­
zeit selbst ganz neue, unentdeckte Eigenschaften, welche die
allgemeine Relativitätstheorie nicht erfasst?
Craig Hogan (siehe Bild S. 38/39) verfolgt diese Idee mit ei­
nem Experiment, das er Holometer nennt. Der Direktor des
Center for Particle Astrophysics am Fermi National Accelera­
tor Laboratory (Fermilab) in Batavia (Illinois) möchte heraus­
finden, ob Raum und Zeit aus fundamentalen Einheiten be­
stehen – so, als folge das Universum im Kleinen dem Ticken
einer Uhr und den Markierungen eines Maßstabs. Dieser Idee
zufolge bilden wir uns bloß ein, in einer dreidimensionalen
TIMOTHY ARCHIBALD

Welt zu leben. Unter einem unvorstellbar starken Mikroskop,


das den Raum bis auf zehn Billionen Billionenbruchteile ei­
nes Atoms vergrößern könnte, sähe man zweidimensionale
Pixel, die – wie die Bildpunkte auf einem Fernsehschirm – nur
Ihre scheinbare Helligkeit zeigt ihre Entfernung, und ihre von Weitem einen dreidimensionalen Eindruck machen.
Rotverschiebung gibt an, wie schnell sie sich von uns entfer­ Jede dieser Einheiten soll Quantenregeln gehorchen; zum
nen. Aus einer ganzen Schar solch kosmischer Meilensteine Beispiel ist ihr Ort ein wenig unbestimmt. In großem Maß­
lässt sich schließen, wie sich die Expansion des Weltalls mit stab erscheint der Raum kontinuierlich wie in Einsteins The­
der Zeit verändert hat. Die anderen drei Analysen untersu­ orie, doch im Kleinen ist er gequantelt. Auf diese Weise
chen verschiedene Formen von Galaxienhaufen. Die Gravita­ zwingt ein gepixeltes Universum die Quantenmechanik in
tion ist bestrebt, alles zusammenzuziehen, die Dunkle Ener­ die Relativitätstheorie hinein und beseitigt ein Haupthinder­
gie drückt dagegen alles auseinander. Daher gibt die Art, wie nis für eine einheitliche Theorie.
sich Galaxienhaufen über kosmische Zeitspannen verändern, Die Idee, unser dreidimensionales Universum beruhe auf
Aufschluss über die Stärke der Dunklen Energie. einer zweidimensionalen Realität, heißt holografisches Prin­
Nach den einfachsten Modellen ist die Dunkle Energie zip. Der Name Holometer spielt darauf an. Hogans Instru­
eine unveränderliche und allgegenwärtige Eigenschaft des ment besteht aus einem Laserstrahl, der in zwei Teilstrahlen
leeren Raums. Die Standardtheorie der Teilchenphysik kann aufgespaltet wird, die durch separate Tunnel laufen, an Spie­
zwar eine solche Energie erklären, liefert aber für ihre Größe geln reflektiert und schließlich wieder vereinigt werden. Falls
einen um den Faktor 10120 zu hohen Wert; manchmal wird der Raum gequantelt ist, sollte die mit jedem Pixel verbun­
das als die schlechteste Vorhersage der gesamten Physik be­ dene Ortsunbestimmtheit Fluktuationen erzeugen, welche
zeichnet. Eine Herleitung des echten, unvorstellbar viel klei­ die beiden Strahlen ein wenig außer Phase bringen und bei
neren Werts der Dunklen Energie ist der wohl wichtigste Test, deren Vereinigung Interferenzstreifen erzeugen. Im Prinzip
den eine Theorie von Allem bestehen muss. Auch wissen die vermag das Holometer Bewegungen im Attometermaßstab
Astronomen noch gar nicht, ob die Dunkle Energie wirklich zu messen – das sind 10 – 18 Meter!

WWW.SPEK TRUM .DE 41


Doch vielleicht ist das noch nicht klein genug. Nach Mei­

SANDY NICHOLSON
nung einiger Theoretiker könnte der Raum so fein gequan­
telt sein, dass das Holometer daran scheitern muss. Vor al­
lem Leonard Susskind (siehe Bild S. 40/41) von der Stanford
University in Kalifornien, ein führender Vertreter des holo­
grafischen Universums, gibt sich skeptisch. »Lenny hat eine
andere Vorstellung von der Wirkung des holografischen Prin­
zips«, räumt Hogan ein. »Er glaubt nicht, dass wir je etwas se­
hen werden. Als wir 2014 unser Experiment bei einer Tagung
vorstellten, sagte er, er würde sich die Kehle durchschneiden,
falls wir diesen Effekt fänden.«
Der Streit könnte bald beigelegt sein. Nachdem das Holo­
meter eine Stunde lang Daten gesammelt hat, nähert sich
seine Empfindlichkeit einer Größenordnung, bei der nach
Hogans Meinung die Körnigkeit des Raums wirksam wird.
Die Entscheidung soll in einem Jahr fallen: »Ob wir dann et­
was sehen oder nicht – in jedem Fall wird es die Vermutun­
gen eingrenzen. Niemand weiß, wie es ausgeht.«

Die Fortsetzung von Einsteins Traum


Nun war ich begierig, Susskinds Standpunkt kennen zu ler­
nen. Ganz im Gegensatz zum Klischee des grüblerischen, von
Mathematik besessenen Theoretikers beginnt Susskind, so­
fort nachprüfbare Konzepte zu diskutieren. »Die Leute läs­
tern über theoretische Physiker, die würden leichtfertig Ide­ Kosmische Kreuzfahrer
en aushecken, ohne sich um die Falsifizierung zu kümmern. Ort: Perimeter Institute for Theoretical Physics in Waterloo (Kanada)
Das ist Unsinn«, sagt er. Das Holometer sei jedenfalls nicht Projekt: Die Schleifen-Quantengravitation versucht die Quanten­
der richtige Labortest. mechanik in eine modifizierte allgemeine Relativitätstheorie einzu­
Susskind hält es für besser, am Rand des beobachtbaren bauen. In einer Version soll Einsteins Relativität der Zeit durch ei-
Universums nach Indizien für die Stringtheorie zu suchen. ne Relativität des Volumens ersetzt werden; Zeit und Form bleiben
Diese Theorie vereinigt alle Teilchen und Kräfte zu unter­ bedeutungsvoll, der Volumenbegriff verliert seinen Sinn.
schiedlichen Vibrationen von schwingenden Energiefäden Theoretiker (hinten, von links nach rechts): Hamish Forbes, Sean Gryb,
(Strings). Sie trifft zudem Aussagen über die physikalischen Flavio Mercati, Gabriel Herczeg und Daniel Carrasco Guariento;
Bedingungen zur Zeit des Urknalls. Susskind arbeitet an Ver­ (vorne, von links nach rechts): Lee Smolin, Julian Barbour, Andrea
sionen der Theorie, die sogar Zustände vor der Entstehung Napoletano, Henrique Gomes und Niall Ó Murchadha.
unseres Universums beschreiben. Wie er glaubt, könnten die
Astronomen Indizien für diese kosmische Vorgeschichte in
der Strahlung finden, die uns aus den fernsten Fernen des Nach Smolins Überzeugung sind viele seiner Kollegen so
Alls erreicht. von der Quantenmechanik besessen, dass ihr Denken buch­
Allerdings werden nach Susskinds Meinung die nächsten stäblich zu klein für eine endgültige Theorie ist. »Die Quan­
Schritte zu einer umfassenden Theorie nicht auf Experiment tenmechanik ist nur als Theorie eines Teilsystems sinnvoll«,
oder Beobachtung beruhen, sondern auf der mathemati­ sagt er, »aber die allgemeine Relativitätstheorie ist keine Be­
schen Erforschung von Schwarzen Löchern und Raumzeit­ schreibung von Teilsystemen. Sie beschreibt das Universum
strukturen. »In den kommenden fünf bis zehn Jahren wer­ als abgeschlossenes System.« Wenn man das Universum als
den wichtige Dinge geschehen«, sagt er voraus. »Damit mei­ Ganzes verstehen wolle, müsse man wie Einstein die Sprache
ne ich nicht eine komplette Theorie von Allem; davon sind der Relativitätstheorie verwenden.
wir noch weit entfernt. Aber es wird entscheidende Erkennt­ Von diesem Ansatz aus ist Smolin zu der überraschen­-
nisse über den Zusammenhang zwischen Gravitation und den Hypothese gelangt, dass sich die physikalischen Gesetze
Quantenmechanik geben.« mit der Zeit entwickeln und dass das Universum über ein Ge­
Wie die meisten heutigen Theoretiker erwartet Susskind, dächtnis seiner eigenen Geschichte verfügt; Smolin prägt da­
dass dabei die Quantenmechanik den Rahmen abstecken für den Begriff Präzedenzprinzip. Auf diese Weise hofft er
wird, in den sich Gravitation und allgemeine Relativitätsthe­ über spezielle ungeklärte Details der Quantenmechanik – die
orie fügen müssen. Der Physiker Lee Smolin (siehe Bild oben) Stärke dieses besonderen Felds oder die Masse jenes beson­
vom Perimeter Institute for Theoretical Physics in Ontario deren Teilchens – hinauszugelangen, indem er sie als Ent­
(Kanada) sieht das umgekehrt. wicklungsaspekte eines abgeschlossenen Systems namens

42  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


SANDY NICHOLSON
Universum betrachtet. Er hat sogar einen Vorschlag, wie man
DER AUTOR
seine Idee testen könnte.
»Wenn wir ein großes und komplexes System entwickeln Corey S. Powell ist Wissenschaftsautor, Blogger
könnten, das dennoch als reiner Quantenzustand zu be­ und Journalist. Er lebt in Brooklyn (New York)
und ist Gastprofessor am Science, Health and
schreiben wäre, würden wir die Natur zwingen, eine neuarti­ Environment Reporting Program der New York
ge Systematik zu erfinden. Wir könnten das möglicherweise University.
mit Quantengeräten erreichen«, meint Smolin. Nachdem
das gleiche System immer und immer wieder im Labor er­
zeugt worden wäre, würde die Natur vielleicht eine Vorliebe QUELLEN
für einen bestimmten Quantenzustand entwickeln. »Es wäre
Melchior, P. et al.: Mass and Galaxy Distribution of Four Massive
schwierig, ihn vom Rauschen der experimentellen Praxis zu
Galaxy Clusters from Dark Energy Survey Science Verification
unterscheiden – aber nicht unmöglich.« Data. In: Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 449,
Smolin möchte nicht wie ein Mystiker klingen, jedoch S. 2219 – 2238, 2015
scheint er irgendwie nicht über das physikalische Universum Smolin, L.: Im Universum der Zeit: Auf dem Weg zu einem neuen
Verständnis des Kosmos. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2014
zu sprechen, sondern über den Geist Einsteins. Dessen Erbe Wagner, A. et al.: Search for Hidden Sector Photons with ADMX
prägt noch immer die theoretische Forschung, und neue Ex­ Detector. In: Physical Review Letters 105, 171801, 2010
perimente bleiben Einsteins altem Ideal einer allumfassen­
den Theorie verpflichtet.  Ÿ Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1372445

WWW.SPEK TRUM .DE 43


In seinen Gedankenexperimenten machte Albert
Einstein Theorien anschaulich: Was etwa sähe jemand,
der mit dem Fahrrad einem Lichtstrahl folgt? So
gewonnene intuitive Einsichten führten ihn zu neuen
fundamentalen Erkenntnissen über den Kosmos.

SAM FALCONER

44  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


PHYSIK & ASTRONOMIE

PHYSIKALISCHE ANSCHAUUNG

Alles nur im Kopf


Einsteins Gedankenexperimente gehören zu den bedeutendsten der
Wissenschaftsgeschichte. Damit hinterließ er der Welt ein weiteres
Erbe neben seinen berühmten Theorien.
Von Sabine Hossenfelder

S
eine größten Durchbrüche hatte Einstein, indem er AUF EINEN BLICK
sich sehr spezielle Situationen vorstellte und anhand
dieser die Folgen einer Theorie überprüfte. Als Ju-
DIE MACHT DER VORSTELLUNG
gendlicher, so erinnerte er sich später, fantasierte er,
was er wohl sähe, würde er mit einer Lichtwelle reisen – was
ihm erste Hinweise auf die Endlichkeit der Lichtgeschwin- 1 Einstein verstand es, komplexe physikalische Zusammenhänge
auf gut vorstellbare Szenarien zu reduzieren. In Gedanken­
experimenten konnte er zum Beispiel testen, welche Auswirkun­
digkeit gab. Die allgemeine Relativitätstheorie, sein Monu- gen neue theoretische Spielregeln hätten.
mentalwerk zur Gravitation, hat ihre Wurzeln in gedankli-
chen Auf- und Abfahrten mit einem rasenden Aufzug.
Für einen Theoretiker ist diese Weise zu denken an sich
2 Die Überlegungen brachten ihn auf die richtigen Ideen zu
seiner Relativitätstheorie. Auf ähnlich trickreiche Weise
versuchte er später, Interpretationen der Quantenmechanik zu
nichts Besonderes. Doch Albert Einsteins außergewöhnliche widerlegen, die er für falsch hielt.

Leistungen trugen entscheidend dazu bei, das Gedanken­


experiment als unverzichtbares Instrument moderner theo- 3 Vorstellungskraft allein nützt der Physik aber nur begrenzt. Die
konstruierten Situationen müssen auch real überprüfbare
Vorhersagen machen. Heutige Gedankenexperimente, etwa zu
retischer Physik zu etablieren. Heutige Wissenschaftler wen- Schwarzen Löchern, haben kaum noch Bezüge zu messbaren
den es regelmäßig an, um neue Ideen auszuarbeiten und die Größen.
Widersprüche bestehender aufzudecken.
Allerdings ergeben sich mit der heutigen Popularität des
Gedankenexperiments auch einige unangenehme Fragen. losen Kabine nicht unterscheiden kann, ob sich der Fahr-
Auf der Suche nach einer »Theorie von Allem«, welche die stuhl in einem Gravitationsfeld befindet oder ob er sich
Physik allerkleinster Quantenphänomene mit der auf kos- durch eine konstante Beschleunigung immer schneller nach
mologischen Größenskalen verbinden würde, lassen sich ge- oben bewegt. Daraus schloss er, dass auch die physikalischen
rade die vielversprechendsten Ideen noch nicht durch tat- Konsequenzen in beiden Fällen gleich sein sollten. Diesem
sächlich durchgeführte Experimente untermauern. Welchen »Äquivalenzprinzip« zufolge sind die lokalen Auswirkungen
Wert haben sie für sich allein? Wie weit dürfen wir logischen der Schwerkraft die gleichen wie diejenigen einer gleich blei-
Schlüssen trauen? Wo lässt sich eine Grenze zwischen wis- benden Beschleunigung fernab aller anziehenden Massen. In
senschaftlicher Intuition und wilder Fantasie ziehen? Die Ge- mathematische Formalismen übertragen wurde daraus die
schichte von Einsteins Entdeckungen hinterlässt keine kla- Grundlage der allgemeinen Relativitätstheorie. Das Fahr-
ren Antworten auf solche Fragen. Einerseits war sein Vertrau- stuhlexperiment brachte Einstein also die nötige Trittsicher-
en in gedankliche Leistungen bekanntlich von grandiosen heit für den schwierigen intellektuellen Sprung hin zu seiner
Erfolgen gekrönt. Andererseits nahm er echte Experimente größten Leistung, der geometrischen Beschreibung der Gra-
als Anlass für viele seiner fiktiven Szenarien. Manchmal kon- vitation.
zentrierte sich Einstein sogar so sehr darauf, Vorhersagen für Später argumentierte Einstein hartnäckig gegen einige
messbare Phänomene zu machen, dass er tiefer liegende Pro- Interpretationen der Quantenmechanik, insbesondere die
zesse nicht erkennen konnte – obwohl selbst seine Fehlein- Unschärferelation. Diese prinzipielle Unbestimmtheit ver-
schätzungen zu einigen späteren Durchbrüchen beitrugen. ursacht, dass die immer genauere Festlegung einer Eigen-
Einsteins Genie äußerte sich bei seinen Gedankenversu- schaft eines Objekts – etwa seines Orts – zwangsläufig dazu
chen vor allem darin, dass der Physiker erkannte, welche Tei- führt, eine zweite damit verknüpfte Größe – in diesem Bei-
le aus der Erfahrungswelt bedeutsam waren und welche man spiel den Impuls – zunehmend unsicher werden zu lassen.
ignorieren konnte. Sein wohl bekanntestes Szenario arbeite- Einstein war davon überzeugt, dieser Aspekt der Quanten-
te er von 1907 an allmählich aus: das Fahrstuhlexperiment. theorie sei ein Beleg dafür, dass hier grundsätzlich etwas im
Er argumentierte, dass eine Person im Innern einer fenster- Argen lag.

WWW.SPEK TRUM .DE 45


Einsteins Äquivalenz- Einstein hielt diese »spukhafte Fernwirkung« für Unfug.
prinzip zufolge kann Seine eigene spezielle Relativitätstheorie hatte doch bereits
jemand in einem festgelegt, dass sich nichts schneller als das Licht bewegen
geschlossenen kann. Wie also sollten zwei Teilchen verzögerungsfrei mitei­
Raum nicht fest- nander kommunizieren? Er vermutete stattdessen, dass der
NIGEL HOLMES

stellen, ob die- Ausgang der Messung bereits zuvor festgelegt ist: durch ver-
ser in einem borgene Variablen, für welche die Quantenmechanik ledig-
Gravitationsfeld lich keinen Formalismus besitzt. Es folgte eine jahrzehnte-
ruht oder fern- lange Diskussion, bis der nordirische Physiker John Stewart
ab von Massen Bell 1964 – einige Jahre nach Einsteins Tod – eine mathemati-
beschleunigt wird. sche Formel fand, mit der sich prinzipiell eine experimentel-
le Entscheidung treffen lässt, ob man die Fernwirkung akzep-
tieren muss oder Einsteins versteckte Variablen zum Zug
kommen.
Seit den 1970er Jahren haben Versuche mit verschränkten
Im Lauf eines Jahre währenden Austauschs mit dem däni- Teilchen zunehmend deutlich vor Augen geführt, dass Ein-
schen Pionier der Quantenphysik, Niels Bohr, konstruierte stein falschlag und Quantenteilchen tatsächlich Informatio-
Einstein zahlreiche Gedankenexperimente, um zu beweisen, nen teilen, denen keine verborgenen Eigenschaften zu Grun-
dass es prinzipiell möglich ist, die Unschärferelation zu ver- de liegen können. Spukhafte Fernwirkung gibt es wirklich.
letzen. Sein Kollege widerlegte jedes einzelne. Dabei war Andererseits zeigen solche Experimente, dass sie nicht aus-
Bohr aber gezwungen, sich intensiv mit seinem Verständnis genutzt werden kann, um Informationen schneller als das
von der quantenmechanischen Unsicherheit auseinander- Licht zu transportieren, womit sie wiederum die spezielle Re-
zusetzen, was ihn wiederum in seinem Urteil bestärkte, es lativitätstheorie erfüllt. Diese der Intuition widersprechende
müsse sich um eine fundamentale Natureigenschaft han- Wahrheit bleibt eines der größten Rätsel der Physik, und Ein-
deln. Wenn selbst der berühmte Einstein keinen Weg fand, steins hartnäckiger, wenngleich irriger Widerstand erwies
Impuls und Ort eines Teilchens präzise zu messen – dann sich letztlich als ausschlaggebend dafür, dass wir zu dieser
musste an der Unschärferelation wohl etwas dran sein! Erkenntnis gelangt sind.
Heute drehen sich die wichtigsten Gedankenexperimente
Wie verhalten sich verschränkte Teilchen? darum, wie sich Einsteins deterministisches und relativis­
1935 wollte Einstein gemeinsam mit seinen Kollegen Boris Po- tisches Universum mit all den Unschärfen und Überraschun-
dolsky und Nathan Rosen eine besonders schlagkräftige Kritik gen vereinbaren lässt, die der Quantenmechanik innewohnen.
am Unschärfeprinzip veröffentlichen. Möglicherweise weil Po- Nehmen wir zum Beispiel das Informationsparadoxon bei
dolsky und nicht Einstein den ersten Entwurf des Texts ver- Schwarzen Löchern. Kombiniert man die allgemeine Rela­
fasste, war dieses Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon schließ- tivitätstheorie mit Quanteneffekten, stellt man fest, dass
lich kein intuitiv vorstellbares Szenario mehr, in dem geschlos- Schwarze Löcher allmählich und unumkehrbar verdampfen
sene Kisten, Uhren und Lichtstrahlen die Hauptrollen spielten. sollten. Dabei entsteht stets die gleiche Form von Strahlung,
Abstrakte Reihen von Gleichungen beschrieben die Wechsel- die keine Information über die Materie mehr trägt, welche
wirkungen zweier allgemein gehaltener Quantensysteme. einmal in das Gebilde fiel. Doch so einen Vorgang verbietet
In der einfachsten Variante dieses Gedankenexperiments die Quantenmechanik, in der jeder Prozess prinzipiell um-
geht es darum, wie sich zwei »verschränkte« Objekte verhal-
ten, die sich einen gemeinsamen Quantenzustand teilen.
Beispielsweise könnte ein instabiles Teilchen mit einem Spin
(ein Maß für eine besondere Form des Drehimpulses) von Ein modernes Gedanken­
null in zwei Teilchen zerfallen, die in entgegengesetzte Rich- experiment, das sich mit
tungen davonfliegen. Erhaltungsgesetze legen nun fest, dass dem Verhältnis von Quan-
sich die beiden Spins der neuen Teilchen zu null addieren tenme­chanik und Raum-
müssen. Eines der beiden könnte etwa einen Wert haben, der zeit beschäftigt, geht
nach oben ausgerichtet ist, das andere einen gleich großen von zwei verschränkten
nach unten. Die Gesetze der Quantenmechanik schreiben Teilchen aus. Eines von
wiederum vor, dass keines dieser Objekte einen festgelegten ihnen fällt mit Alice in
Spin besitzt, bis derjenige eines Partners tatsächlich gemes- ein Schwarzes Loch, das
sen wird. Doch sobald der Wert für eines der Teilchen fest- andere bleibt mit Bob
steht, wird auch der Zustand des anderen Wirklichkeit – au- draußen. Was passiert
genblicklich und selbst dann, wenn zwischen den Teilchen dabei mit der Information
inzwischen eine enorme Distanz liegt. aus der Verschränkung?
NIGEL HOLMES

46  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


kehrbar sein und alle Information erhalten bleiben muss. Der Beobachter Charlie kann
Wir stehen daher vor einem Paradoxon und müssen einen Wissen, das er außerhalb
Denkfehler begehen – aber welchen? des Schwarzen Lochs
Die Gedankenexperimente, die sich mit dieser Situation erlangt, nicht mehr mit
beschäftigen, beschwören üblicherweise zwei Beobachter he- Alice teilen. So ist es

NIGEL HOLMES
rauf – Alice und Bob –, die unter sich ein Paar verschränkter unmöglich festzustel-
Teilchen wie beim Einstein-Podolsky-Rosen-Szenario auftei- len, ob wirklich gegen
len. Alice springt mit ihrem in das Schwarze Loch, während bestimmte quanten-
Bob mit seinem weit entfernt draußen bleibt. Ohne Alice ist physikalische Regeln
Bobs Teilchen nunmehr bloß ein einfaches Objekt mit nicht verstoßen wurde.
feststehender Eigenschaft. Die geteilte Information geht zu-
sammen mit Alice verloren. Hi lf e
Bob und Alice behalten ihre Rolle bei einem der bekann-
testen Lösungsvorschläge des Paradoxons, der so genannten
Komplementarität. Als Leonard Susskind, Lárus Thorlacius
und John Uglum sie 1993 vorstellten, besannen sich die drei tenmechanischer Grundsätze stichhaltig beweisen, so dass
Kollegen von der Stanford University auf Einsteins goldene dieses Verbrechen gegen die Naturgesetze straflos bleibt.
Regel für Gedankenexperimente: Sie konzentrierten sich da- Nicht alle Wissenschaftler überzeugt dieses Argument.
rauf, was überhaupt messbar ist. Die Physiker postulierten, Ein Kritikpunkt betrifft das Äquivalenzprinzip, jene Regel
dass jene Information, die mit Alice hineinfällt, später auch also, die aus Einsteins Fahrstuhl-Gedankenexperiment her-
wieder mit der Strahlung des Schwarzen Lochs herauskom- vorging. So wie der Passagier, der im Innern der Kabine nicht
men muss. Eigentlich würde das nur eine weitere Inkonsis- zwischen dem Wirken von Schwerkraft und Beschleunigung
tenz bewirken, denn die Quantenmechanik ist monogam unterscheiden kann, sollte auch jemand nichts Besonderes
und erlaubt jedem Teilchen nur eine Verschränkung. Bobs bemerken, wenn er sich dem Schwarzen Loch so stark ange-
Teilchen kann also, solange es mit dem von Alice verbunden nähert hat, dass es kein Zurück mehr gibt.
ist, keine zweite Verknüpfung mit einem anderen Objekt ein- Das verträgt sich nicht mit einer Konsequenz aus dem Sze-
gehen. Die Komplementarität fordert Bobs Teilchen nun nario: Wenn die Strahlung, die Bob außerhalb des Schwarzen
aber ab, sich zugleich mit der später ausgesandten Strahlung Lochs sieht, all die Informationen enthält, die mit Alice hin-
des Schwarzen Lochs zu verschränken. Auf den ersten Blick eingefallen sind, muss sie enorm energiereich sein, um der
scheint hier also nur ein Widerspruch gegen den anderen Anziehungskraft des Horizonts entkommen zu können. Die
ausgetauscht worden zu sein. Folge wäre eine ungeheure Feuerwand (siehe »Die Feuerwand
am Horizont«, SdW 9/2015, S. 34 – 39), die den Vorhersagen
Ein folgenloser Vorstoß gegen des Äquivalenzprinzips radikal widerspricht.
die Naturgesetze An diesem Punkt befinden wir uns bereits wieder in den
Doch wenn niemand Zeuge dieser Inkonsistenz wird, schei- Tiefen der Theorie. Vielleicht gelingt es nie, die Rätsel zu lö-
nen die Naturgesetze ein Schlupfloch zu bieten. Die Komple- sen. Doch weil sie zu einem fundamentaleren Verständnis
mentarität basiert auf dem Argument, dass schlicht niemand von der Quantennatur der Raumzeit führen könnten, gehö-
in der Lage ist, die Teilchen von Alice und Bob dabei zu erwi- ren solche Gedankenspiele zu den lebendigsten Bereichen
schen, wie sie die Regeln brechen. Angenommen, ein Dritter der modernen theoretischen Physik.  Ÿ
namens Charlie beobachtet Alice und Bob. Während Alice ins
Schwarze Loch fällt, misst er die austretende Strahlung. Theo- DI E AUTORI N
retisch könnte die Information, die darin steckt, Charlie verra-
ten, dass Bob und Alice gegen die Monogamie ihrer Verschrän- Sabine Hossenfelder arbeitet am Nordic Insti-
kung verstoßen haben. Um sich jedoch sicher zu sein, müsste tute for Theoretical Physics in Stockholm an
Themen der Quantengravitation und der Physik
Charlie seine Beobachtung nicht nur mit der Messung verglei- jenseits des Standardmodells. Sie bloggt unter:
chen, die Bob durchführt, sondern auch mit dem Wert, den http://backreaction.blogspot.com
Alice erhält – die sich aber bereits im Innern des Schwarzen
Lochs befindet. Er muss also hineinspringen, um Alice davon
erzählen zu können, was er in der Strahlung am Rand des
Schwarzen Lochs und bei Bobs Teilchen entdeckt hat. QUELLE
Verblüffenderweise konnten Susskind und seine Kollegen
Halpern, P.: Einstein’s Dice and Schrödinger’s Cat: How Two Great
zeigen, dass Charlie keine Chance hat, in das Schwarze Loch Minds Battled Quantum Randomness to Create a Unified Theory
zu fliegen und seine Ergebnisse abzugleichen, bevor er und of Physics. Basic Books, 2015
Alice von den Gezeitenkräften zerrissen werden. Niemand
außerhalb eines Schwarzen Lochs kann die Verletzung quan- Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1372436

WWW.SPEK TRUM .DE 47


SCHLICHTING!

Mit Silvesterraketen bis zu den Sternen


Irdische Feuerwerke und die Leuchterscheinungen des Alls 
haben eines gemeinsam: Ihre Farben verraten die chemische »Die Optik ist eine transzendentale Chemie.
Zusammensetzung der Materie. Man sieht hier die Stoffe.«
Johann Wilhelm Ritter (1776 – 1810)
VON H. JOACHIM SCHLICHTING

W enn beim Jahreswechsel prächti-


ge Lichtskulpturen die schwach
funkelnden Sterne überstrahlen, denkt
kohle und Schwefel vermischt. Dabei
dient der Salpeter als Sauerstoffliefe-
rant; die Kohle und der Schwefel sind
sich umso weniger aufbauen, je größer
der Hohlraum ist, den das abgebrannte
Pulver hinterlässt. Dadurch wird die Ra-
man zunächst wohl kaum an eine tiefe- die Brennstoffe. Letzterer senkt die kete immer langsamer.
re Beziehung zwischen den Vorgängen Zündtemperatur, damit man die che- Wenn das Schwarzpulver bei einer
auf der Erde und denjenigen im All. mische Reaktion mit einfachen Mitteln typischen Höhe zwischen 50 und 100
Es war aber gerade der physikalische starten kann. Metern verbraucht ist, geht das eigent-
­Mechanismus hinter den reizvollen Um mit Schwarzpulver Raketen an- liche Feuerwerk los. Jetzt zünden meh-
Farben von pyrotechnischen Explosio- zutreiben, müssen – ähnlich wie in rere Lagen unterschiedlicher Substan-
nen, der Astronomen auch einen ge- der Raumfahrt – die Verbrennungsgase zen und versprühen faszinierende
naueren Blick auf die Ursprünge des ­gerichtet aus einer düsenförmigen Öff- Licht­girlanden.
Kosmos ermöglichte. nung strömen. Das treibt den Feuer- Deren Gestalt wird einerseits vom
Grundbestandteil der heutigen Feu- werkskörper in die entgegengesetzte ausgeklügelten inneren Aufbau der Ra-
erwerke ist Schwarzpulver, das in China Richtung. Bei diesem Vorgang wirkt kete bestimmt. Andererseits geben die
bereits vor einem Jahrtausend erfun- physikalisch gesehen die Impulserhal- Gesetze der Physik vor, welches Bild die
den wurde und seit dem 14. Jahrhun- tung: Das Produkt aus Geschwindigkeit herausgeschleuderten glühenden Par-
dert in Europa bekannt ist. Es erzeugt und Masse der ausströmenden Gase ist tikel in den Himmel malen. Sie alle
das Licht- und Farbenspiel sowie die gleich dem entsprechenden Produkt ­fallen letztendlich herab, so dass in
Knalleffekte. Bei der Herstellung wer- bei der aufsteigenden Rakete. Die Ver- der Summe die charakteristischen
den Kaliumnitrat (Kalisalpeter), Holz­ brennungsprodukte entweichen dabei schirmartigen Muster entstehen.
so schnell, dass die Silvesterrakete trotz Beimischungen verschiedener Me-
ihrer verhältnismäßig großen Masse tallsalze erzeugen die typischen Farben
Sonnen- mit bis zu 100 Kilometer pro Stunde der Lichtfiguren. Bei hohen Tempera­
spektrum
emporfliegt. Enthält das gezündete turen um die 1000 Grad Celsius geben
Natrium
­Gemisch noch Titan- oder Eisenpulver, Natriumionen gelbes, Strontium rotes,
zeichnet der entweichende Rauch ei- Barium grünes und kupferhaltige Ver-
Lithium
nen eindrucksvollen Funkenschweif. bindungen blaues Licht ab. Für die Hel-
Kalium Nachdem die Rakete etwa zwei Drit- ligkeit sorgen beispielsweise Magnesi-
tel ihrer endgültigen Höhe erreicht hat, um oder Aluminium, die mit blendend
Zäsium lässt der Schub deutlich nach. Denn der weißer Flamme verbrennen.
gerichtete Fluss der Gase hängt vom Die unterschiedlichen Farben sind
Rubidium
Druck in der Papphülse ab. Davon kann immer mit bestimmten Elementen
Thallium verknüpft, so dass man prinzipiell auch
aus der Distanz bestimmen kann, was
Indium Angeregte Atome senden Licht mit gerade glüht. Dazu reicht der Blick mit
charakteristischen Linien in ihren Emis­ dem Auge allein allerdings meist nicht
Strontium
sionsspektren aus. Im kontinu­ierlichen aus. Mit Hilfe eines farbzerlegenden
Kalzium Sonnenspektrum (ganz oben) sind Spektrometers – das üblicherweise ein
dunkle Auslassungen zu sehen, die Glasprisma oder ein optisches Gitter
Barium Fraunhoferlinien. Sie entstehen, wenn enthält – lassen sich jedoch ganz
Atome in der Sonne einzelne Wellen­ bestimmte Wellenlängen eindeutig als
Wasserstoff
längen des weißen Lichts absorbieren – hel­le Linien erkennen. Sie sind der
Sauerstoff eben diejenigen, die sie ebenfalls »Steckbrief« des jeweiligen Elements
­emittieren. (siehe Abbildung links).
MÜLLER-POUILLET'S LEHRBUCH DER PHYSIK UND METEOROLOGIE.
ZWEITER BAND, 10. AUFLAGE. BRAUNSCHWEIG, FRIEDRICH VIEWEG 1909. TAFEL II

48  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Die verschiedenen Farben bei einem
­Feuerwerk entstehen, wenn das heiße
Schwarz­pulver beigemengte Elemente
zum Aussenden von Licht anregt.

FOTOLIA / PATRIKSLEZAK

Diese Art der chemischen Fernana­ er mit einer Überzeugung, die viele zeit- te Rotverschiebung der charakteristi-
lyse entwickelten Gustav Robert Kirch- genössische Astronomen teilten: »Wir schen Absorptionslinien einer fernen
hoff (1824 – 1887) und Robert Wilhelm werden niemals, mit welchem Mittel Galaxie bestimmen.
Bunsen (1811 – 1899) zu einer äußerst auch immer, die chemische Zusammen- Der deutsche Philosoph Hans Blu-
präzisen Methode, die inzwischen in setzung der Sterne untersuchen kön- menberg (1920 – 1996) formulierte 1981,
vielen Bereichen eingesetzt wird. Ent- nen. Unsere positiven Kenntnisse sind dass »der Sternenhimmel zum Lehr-
scheidend dafür war auch der von Bun- notwendigerweise auf ihre geometri- buch für die Technik dessen geworden
sen verbesserte und heute nach ihm schen und mechanischen Phänomene ist, was natürlicherweise auf der Erde
benannte Brenner, der eine nahezu beschränkt.« nicht gefunden werden kann«: Her-
farblose Flamme erzeugen kann, deren Bunsen und Kirchhoff jedoch hoben kunft und Schicksal unseres Planeten
Eigenspektrum nicht mehr stört. mit ihrer Arbeit die Spektralanalyse der samt seiner Bewohner lassen sich durch
Sonne und der Sterne aus der Taufe. Da- immer ausgeklügeltere Methoden aus
Himmlische Chemie im Fernrohr mit brach letztlich eine neue Ära in der den kosmischen Erscheinungen her-
Einer Überlieferung zufolge blickte Astrophysik an: Unter der Vorausset- auslesen. Wer zu Silvester das neue Jahr
Bunsen am 1. Juni 1860 während eines zung, dass das Universum überall mit einem Feuerwerk begrüßt, sollte
bengalischen Feuers vor dem Heidel- gleich aufgebaut ist, wurden im Licht daher durch die Lichtgirlanden hin-
berger Schloss vom Dach seines Labors von physisch nie erreichbaren Him- durch vielleicht auch einmal einen
durch ein Spektrometer. Im grünen Be- melskörpern Elemente identifizierbar, Blick auf die Sterne richten – die uns
reich des Spektrums sah er im Feuer- die man bislang nur von der Erde kann- dank der Pyrotechnik ein ganzes Stück
werk deutlich die Linien des Bariums te. Das galt auch umgekehrt: Nachdem näher gekommen sind.  Ÿ
und im roten diejenigen des Stronti- der englische Astronom Joseph Nor-
ums. Er soll dann zu Kirchhoff gesagt man Lockyer (1836 – 1920) und unab-
DER AUTOR
haben: »Wenn wir auf diese Entfernung hängig von ihm sein französischer Kol-
erkennen konnten, welche Stoffe in lege Jules Janssen (1824 – 1907) 1868 im
H. Joachim Schlichting
den­ Flammen glühten – warum könn- Sonnenspektrum Linien eines unbe- war Direktor des In-
ten wir nicht auch erkennen, aus wel- kannten Elements entdeckten, suchte stituts für Didaktik der
chen Stoffen die Himmelskörper be­ man nach Vorkommen bei uns. Das Ele- Physik an der Uni-
versität Münster. 2013
stehen?« ment Helium (abgeleitet vom griechi- wurde er mit dem
Der revolutionäre Gehalt solcher schen Begriff für die Sonne) wurde 1895 Archimedes-Preis für
­Gedanken wird vor dem Hintergrund auch in irdischem Gestein aufgespürt. Physik ausgezeichnet.

einer Aussage des Mathematikers und Heute vermessen Astronomen mit der
Philosophen Auguste Comte (1798 –  Spektroskopie sogar die Expansion des Dieser Artikel und Links im Internet:
1857) besonders deutlich. 1835 schrieb Universums, indem sie die so genann­ www.spektrum.de/artikel/1378792

WWW.SPEK TRUM .DE 49


OLIVER WEISS

50  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


MENSCH & KULTUR

DIGITAL-MANIFEST (I)

Digitale Demokratie
statt Datendiktatur
Big Data, Nudging, Verhaltenssteuerung: Droht uns die Automatisie-
rung der Gesellschaft durch Algorithmen und künstliche Intelligenz?
Ein Appell zur Sicherung von Freiheit und Demokratie.
Von Dirk Helbing, Bruno S. Frey, Gerd Gigerenzer, Ernst Hafen, Michael Hagner,
Yvonne Hofstetter, Jeroen van den Hoven, Roberto V. Zicari und Andrej Zwitter

men können nun Schrift, Sprache und Muster fast so gut


»Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner erken­nen wie Menschen und viele Aufgaben sogar besser
selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das lösen­. Sie beginnen, Inhalte von Fotos und Videos zu be-
Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines an- schreiben. Schon jetzt werden 70 Prozent aller Finanztrans-
deren zu bedienen.« aktionen von Algorithmen gesteuert und digitale Zeitungs-
Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? (1784) news zum Teil automatisch erzeugt. All das hat radikale wirt-
schaftliche Konsequenzen: Algorithmen werden in den

D
ie digitale Revolution ist in vollem Gange. Wie wird kommenden 10 bis 20 Jahren wohl die Hälfte der heutigen
sie unsere Welt verändern? Jedes Jahr verdoppelt Jobs verdrängen. 40 Prozent der Top-500-Firmen werden in
sich die Menge an Daten, die wir produzieren. Mit einem Jahrzehnt verschwunden sein.
anderen Worten: Allein 2015 kommen so viele Da- Es ist absehbar, dass Supercomputer menschliche Fähig-
ten hinzu, wie in der gesamten Menschheitsgeschichte bis keiten bald in fast allen Bereichen übertreffen werden – ir-
2014 zusammen. Pro Minute senden wir Hunderttausende gendwann zwischen 2020 und 2060. Inzwischen ruft dies
von Google-Anfragen und Facebook-Posts. Sie verraten, was alarmierte Stimmen auf den Plan. Technologievisionäre wie
wir denken und fühlen. Bald sind die Gegenstände um uns he-
rum mit dem »Internet der Dinge« verbunden, vielleicht auch AUF EINEN BLICK
unsere Kleidung. In zehn Jahren wird es schätzungsweise 150
Milliarden vernetzte Messsensoren geben, 20-mal mehr als
heute Menschen auf der Erde. Dann wird sich die Datenmen-
ge alle zwölf Stunden verdoppeln. Viele Unternehmen versu-
chen jetzt, diese »Big Data« in Big Money zu verwandeln.
Alles wird intelligent: Bald haben wir nicht nur Smartpho-
nes, sondern auch Smart Homes, Smart Factories und Smart
1 Neun internationale Experten warnen vor der Aushöhlung
unserer Bürgerrechte und der Demokratie im Zuge der digi-
talen Technikrevolution.
Cities. Erwarten uns am Ende der Entwicklung Smart Nations
und ein smarter Planet?
In der Tat macht das Gebiet der künstlichen Intelligenz
2 Wir steuern demnach geradewegs auf die Automatisierung
unserer Gesellschaft und die Fernsteuerung ihrer Bürger durch
Algorithmen zu, in denen sich »Big Data« und »Nudging«-Metho-
atemberaubende Fortschritte. Insbesondere trägt es zur Au- den zu einem mächtigen Instrument vereinen. Erste Ansätze dazu
lassen sich bereits in China und Singapur beobachten.
tomatisierung der Big-Data-Analyse bei. Künstliche Intelli-
genz wird nicht mehr Zeile für Zeile programmiert, sondern
ist mittlerweile lernfähig und entwickelt sich selbstständig
3 Ein Zehnpunkteplan soll helfen, jetzt die richtigen Weichen
zu stellen, um auch im digitalen Zeitalter Freiheitsrechte und
Demokratie zu bewahren und die sich ergebenden Chancen zu
weiter. Vor Kurzem lernten etwa Googles DeepMind-Algo- nutzen.
rithmen autonom, 49 Atari-Spiele zu gewinnen. Algorith-

WWW.SPEK TRUM .DE 51


Elon Musk von Tesla Motors, Bill Gates von Microsoft und zeit den größten historischen Umbruch seit dem Ende des
Apple-Mitbegründer Steve Wozniak warnen vor Superintelli- Zweiten Weltkriegs: Auf die Automatisierung der Produktion
genz als einer ernsten Gefahr für die Menschheit, vielleicht und die Erfindung selbstfahrender Fahrzeuge folgt nun die
bedrohlicher als Atombomben. Ist das Alarmismus? Automatisierung der Gesellschaft. Damit steht die Mensch-
Fest steht: Die Art, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft or- heit an einem Scheideweg, bei dem sich große Chancen ab-
ganisieren, wird sich fundamental ändern. Wir erleben der- zeichnen, aber auch beträchtliche Risiken. Treffen wir jetzt
die falschen Entscheidungen, könnte das unsere größten ge-
sellschaftlichen Errungenschaften bedrohen.
Dirk Helbing ist Professor für Compu- In den 1940er Jahren begründete der amerikanische Ma-
tational Social Science am Depart- thematiker Norbert Wiener (1894 – 1964) die Kybernetik. Ihm
ment Geistes-, Sozial- und Staats- zufolge lässt sich das Verhalten von Systemen mittels geeig-
wissenschaften sowie am De- neter Rückkopplungen (Feedbacks) kontrollieren. Schon früh
ETH ZÜRICH

partment of Computer Science schwebte manchen Forschern eine Steuerung von Wirtschaft
der ETH Zürich assoziiert. Seine und Gesellschaft nach diesen Grundsätzen vor, aber lange
aktuellen Studien diskutieren fehlte die nötige Technik dazu.
global vernetzte Risiken und Heute gilt Singapur als Musterbeispiel einer datengesteu-
die versteckten Gesetzmäßigkei- erten Gesellschaft. Was als Terrorismusabwehrprogramm
ten der globalen Seuchenausbrei- anfing, beeinflusst nun auch die Wirtschafts- und Einwande-
tung. An der Delft University of Techno­ rungspolitik, den Immobilienmarkt und die Lehrpläne für
logy leitet er das Doktorandenprogramm »Engineering Social Schulen. China ist auf einem ähnlichen Weg. Kürzlich lud Bai-
Technologies for a Responsible Digital Future«. Er ist zudem ge- du, das chinesische Äquivalent von Google, das Militär dazu
wähltes Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften. ein, sich am China-Brain-Projekt zu beteiligen. Dabei lässt

Blick nach China:


Sieht so die Zukunft der Gesellschaft aus?
Wie würden die Möglichkeiten der Verhaltens- und Gesell- hinfällig. Mit Predictive Policing könnten sogar voraussichtliche
schaftssteuerung unser Leben verändern? Das nun in China Regelverletzungen bestraft werden.
umgesetzte Konzept eines Citizen Scores gibt uns eine Vorstel- ➤  Die zu Grunde liegenden Algorithmen können aber gar
lung davon: Durch Vermessung der Bürger auf einer eindimen- nicht völlig fehlerfrei arbeiten. Damit würde das Prinzip von
sionalen Rankingskala ist nicht nur eine umfassende Überwa- Fairness und Gerechtigkeit einer neuen Willkür weichen, gegen
chung geplant. Da die Punktezahl einerseits von den Klicks im die man sich wohl kaum mehr wehren könnte.
Internet und politischem Wohlverhalten abhängt, andererseits ➤  Mit der externen Vorgabe der Zielfunktion wäre die Mög-
aber die Kreditkonditionen, mögliche Jobs und Reisevisa be- lichkeit zur individuellen Selbstentfaltung abgeschafft und da-
stimmt, geht es auch um die Bevormundung der Bevölkerung mit auch der demokratische Pluralismus.
und ihre soziale Kontrolle. Weiterhin beeinflusst das Verhalten ➤  Lokale Kultur und soziale Normen wären nicht mehr der
der Freunde und Bekannten die Punktezahl, womit das Prinzip Maßstab für angemessenes, situationsabhängiges Verhalten.
der Sippenhaft zum Einsatz kommt: Jeder wird zum Tugend- ➤  Eine Steuerung der Gesellschaft durch eine eindimensiona-
wächter und zu einer Art Blockwart; Querdenker werden iso- le Zielfunktion würde zu Konflikten und damit zu einem Verlust
liert. Sollten sich ähnliche Prinzipien in demokratischen Staaten von Sicherheit führen. Es wären schwer wiegende Instabilitäten
verbreiten, wäre es letztlich unerheblich, ob der Staat die Re- zu erwarten, wie wir sie von unserem Finanzsystem her bereits
geln dafür festlegt oder einflussreiche Unternehmen. In beiden kennen.
Fällen wären die Säulen der Demokratie unmittelbar bedroht:
➤  Durch Verfolgen und Vermessen aller Aktivitäten, die digita- Eine solche Gesellschaftssteuerung wendet sich ab vom Ideal
le Spuren hinterlassen, entsteht ein gläserner Bürger, dessen des selbstverantwortlichen Bürgers, hin zu einem Untertan im
Menschenwürde und Privatsphäre auf der Strecke bleiben. Sinne eines Feudalismus 2.0. Dies ist den demokratischen
➤  Entscheidungen wären nicht mehr frei, denn sie würden be- Grundwerten diametral entgegengesetzt. Es ist daher Zeit für
straft, wenn sie gegen die von Staat oder Unternehmen festge- eine Aufklärung 2.0, die in einer Demokratie 2.0 mündet, basie-
legten Kriterien verstoßen. Die Autonomie des Individuums rend auf digitaler Selbstbestimmung. Das erfordert demokrati-
wäre vom Prinzip her abgeschafft. sche Technologien: Informationssysteme, die mit den demokra-
➤  Jeder kleine Fehler würde geahndet, und kein Mensch wäre tischen Prinzipien vereinbar sind – andernfalls werden sie unse-
mehr unverdächtig. Das Prinzip der Unschuldsvermutung wäre re Gesellschaft zerstören.

52  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


man so genannte Deep-Learning-Algorithmen über die
Verdopplung alle 18 Monate systemische
Suchmaschinendaten laufen, die sie dann intelligent auswer-
Verdopplung alle 12 Monate Komplexität
ten. Darüber hinaus ist aber offenbar auch eine Gesell-
schaftssteuerung geplant. Jeder chinesische Bürger soll laut Kollektive
Intelligenz
aktuellen Berichten ein Punktekonto (Citizen Score) bekom-
ersetzt
men, das darüber entscheiden soll, zu welchen Konditionen Top-down-
Kontrolle. Datenmenge
er einen Kredit bekommt und ob er einen bestimmten Beruf
ausüben oder nach Europa reisen darf. In diese Gesinnungs-
Rechner-
überwachung ginge zudem das Surfverhalten des Einzelnen Big Data erlaubt leistung
im Internet ein – und das der sozialen Kontakte, die man un- evidenzbasierte
terhält (siehe Kasten »Blick nach China«). Entscheidungen.
Mit sich häufenden Beurteilungen der Kreditwürdigkeit
und den Experimenten mancher Onlinehändler mit indi­ zu wenig Daten

DIRK HELBING
für gute Entscheidungen
vidualisierten Preisen wandeln auch wir im Westen auf ähn-
lichen Pfaden. Darüber hinaus wird immer deutlicher, dass
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
wir alle im Fokus institutioneller Überwachung stehen,
Jahre
wie etwa das 2015 bekannt gewordene »Karma Police«-Pro-
gramm des britischen Geheimdienstes zur flächendecken- Innerhalb weniger Jahre hat die rasante Vernetzung der Welt die
den Durchleuchtung von Internetnutzern demonstriert. Komplexität unserer Gesellschaft explosionsartig erhöht. Dies
Wird Big Brother nun tatsächlich Realität? Und: Brauchen ermöglicht zwar jetzt, auf Grund von »Big Data« bessere Entschei-
wir das womöglich sogar im strategischen Wettkampf der dungen zu treffen, aber das bisherige Prinzip der Kontrolle von
Nationen und ihrer global agierenden Unternehmen? oben funktioniert immer weniger. Verteilte Steuerungsansätze
werden zunehmend wichtiger. Nur mittels kollektiver Intelligenz
Programmierte Gesellschaft, lassen sich noch angemessene Problemlösungen finden.
programmierte Bürger
Angefangen hat es scheinbar harmlos: Schon seit einiger Zeit
bieten uns Suchmaschinen und Empfehlungsplattformen Diese Technologien finden auch in der Politik zunehmend
personalisierte Vorschläge zu Produkten und Dienstleis­ Zuspruch. Unter dem Stichwort Nudging versucht man, Bür-
tungen an. Diese beruhen auf persönlichen und Metadaten, ger im großen Maßstab zu gesünderem oder umweltfreund-
welche aus früheren Suchanfragen, Konsum- und Bewe- licherem Verhalten »anzustupsen« – eine moderne Form des
gungsverhalten sowie dem Paternalismus. Der neue,
sozialen Umfeld gewonnen umsorgende Staat interes-
werden. Die Identität des Auf die Automatisierung der Pro- siert sich nicht nur dafür,
Nutzers ist zwar offiziell ge- duktion und die Erfindung selbst- was wir tun, sondern möch-
schützt, lässt sich aber leicht fahrender Fahrzeuge folgt nun die te auch sicherstellen, dass
ermitteln. Heute wissen Al- wir das Richtige tun. Das
gorithmen, was wir tun, was
Automatisierung der Gesellschaft Zauberwort ist »Big Nud-
wir denken und wie wir uns ging«, die Kombination von
fühlen – vielleicht sogar besser als unsere Freunde und unse- Big Data und Nudging. Es erscheint manchem wie ein digita-
re Familie, ja als wir selbst. Oft sind die unterbreiteten Vor- les Szepter, mit dem man effizient durchregieren kann, ohne
schläge so passgenau, dass sich die resultierenden Entschei- die Bürger in demokratische Verfahren einbeziehen zu müs-
dungen wie unsere eigenen anfühlen, obwohl sie fremde sen. Lassen sich auf diese Weise Partikularinteressen über-
Entscheidungen sind. Tatsächlich werden wir auf diese Weise winden und der Lauf der Welt optimieren? Wenn ja, dann
immer mehr ferngesteuert. Je mehr man über uns weiß, des-
to unwahrscheinlicher werden freie Willensentscheidungen
mit offenem Ausgang. Bruno S. Frey ist Wirtschaftswissen-
Auch dabei wird es nicht bleiben. Einige Softwareplattfor- schaftler und Ständiger Gastpro-
men bewegen sich in Richtung »Persuasive Computing«. Mit fessor an der Universität Basel,
ausgeklügelten Manipulationstechnologien werden sie uns wo er das Center for Research
UNIVERSITÄT ZÜRICH

in Zukunft zu ganzen Handlungsabläufen bringen können, in Economics and Well-Being


sei es zur schrittweisen Abwicklung komplexer Arbeitspro- (CREW) leitet. Außerdem ist
zesse oder zur kostenlosen Generierung von Inhalten für In- er Forschungsdirektor des Cen-
ternetplattformen, mit denen Konzerne Milliarden verdie- ters for Research in Economics,
nen. Die Entwicklung verläuft also von der Programmierung Management and the Arts (CRE-
von Computern zur Programmierung von Menschen. MA) in Zürich.

WWW.SPEK TRUM .DE 53


DIETMAR GUST

Gerd Gigerenzer ist Direktor am befallen wurde. Glücklicherweise haben sich nicht mehr
Max-Planck-Institut für Bildungs- Menschen impfen lassen!
forschung in Berlin sowie des Auch mag der Versuch, Krankenversicherte mit Fitness-
2009 in Berlin gegründeten armbändern zu verstärkter Bewegung anzuregen, die Anzahl
Harding Zentrums für Ri- der Herz-Kreislauf-Erkrankungen reduzieren. Am Ende
sikokompetenz. Er ist Mit- könnte es dafür aber mehr Hüftoperationen geben. In einem
glied der Berlin-Brandenbur- komplexen System wie der Gesellschaft führt eine Verbesse-
gischen Akademie der Wis- rung in einem Bereich fast zwangsläufig zur Verschlechte-
senschaften und der Deutschen rung in einem anderen. So können sich großflächige Eingrif-
Akademie der Wissenschaften Le- fe leicht als schwer wiegende Fehler erweisen.
opoldina. Zu seinen Forschungsinter- Unabhängig davon würden Kriminelle, Terroristen oder
essen gehören Risikokompetenz und Risikokommunikation sowie Extremisten den digitalen Zauberstab früher oder später un-
Entscheidungen unter Unsicherheit und begrenzter Zeit. ter ihre Kontrolle bringen – vielleicht sogar, ohne dass es uns
auffällt. Denn: Fast alle Unternehmen und Einrichtungen
wurden schon gehackt, selbst das Pentagon, das Weiße Haus
könnte man regieren wie ein weiser König, der mit einer Art und der Bundestag.
digitalem Zauberstab die gewünschten wirtschaftlichen und Hinzu kommt ein weiteres Problem, wenn ausreichende
gesellschaftlichen Ergebnisse quasi herbeizaubert. Transparenz und demokratische Kontrolle fehlen: die Aus-
höhlung des Systems von innen. Denn Suchalgorithmen und
Der digitale Zauberstab Empfehlungssysteme lassen sich beeinflussen. Unterneh-
Doch ein Blick in die relevante wissenschaftliche Literatur men können bestimmte Wortkombinationen ersteigern, die
zeigt, dass eine gezielte Kontrolle von Meinungen im Sinne in den Ergebnislisten bevorzugt angezeigt werden. Regierun-
ihrer »Optimierung« an der Komplexität des Problems gen haben wahrscheinlich Zugriff auf eigene Steuerungspa-
scheitert. Die Meinungsbildungsdynamik ist voll von Über- rameter. Bei Wahlen wäre es daher im Prinzip möglich, sich
raschungen. Niemand weiß, wie der digitale Zauberstab, durch Nudging Stimmen von Unentschlossenen zu sichern –
sprich die manipulative Nudging-Technik, richtig zu verwen- eine nur schwer nachweisbare Manipulation. Wer auch im-
den ist. Was richtig und was falsch ist, stellt sich oft erst hin- mer diese Technologie kontrolliert, kann also Wahlen für sich
terher heraus. So wollte man während der Schweinegrippe- entscheiden und sich sozusagen an die Macht nudgen.
epidemie 2009 jeden zur Impfung bewegen. Inzwischen ist Verschärft wird dieses Problem durch die Tatsache, dass in
aber bekannt, dass ein bestimmter Prozentsatz der Geimpf- Europa eine einzige Suchmaschine einen Marktanteil von
ten von einer ungewöhnlichen Krankheit, der Narkolepsie, rund 90 Prozent besitzt. Sie könnte die Öffentlichkeit maß-
geblich beeinflussen, womit Europa vom Silicon Valley aus
quasi ferngesteuert würde. Auch wenn das Urteil des Europä-
ischen Gerichtshofs vom 6. Oktober 2015 nun den ungezü-
gelten Export europäischer Daten einschränkt, ist das zu
Grunde liegende Problem noch keineswegs gelöst, sondern
erst einmal nur geografisch verschoben.
2.0 Mit welchen unerwünschten Nebenwirkungen ist zu rech-
kratie
Demo nen? Damit Manipulation nicht auffällt, braucht es einen so
DIRK HELBING
Gesellschaftlicher Erfolg

genannten Resonanzeffekt, also Vorschläge, die ausreichend


kompatibel zum jeweiligen Individuum sind. Damit werden
2.0
Feudalismus lokale Trends durch Wiederholung allmählich verstärkt, bis
hin zum »Echokammereffekt«: Am Ende bekommt man nur
noch seine eigenen Meinungen widergespiegelt. Das bewirkt
t- ung eine gesellschaftliche Polarisierung, also die Entstehung se-
lbs m
Se stim parater Gruppen, die sich gegenseitig nicht mehr verstehen
be
und vermehrt miteinander in Konflikt geraten. So kann per-
Zeit
sonalisierte Information den gesellschaftlichen Zusammen-
Wir stehen an einem Scheideweg: Würden die immer mächtiger halt unabsichtlich zerstören.
werdenden Algorithmen unsere Selbstbestimmung einschränken Das lässt sich derzeit etwa in der amerikanischen Politik
und von wenigen Entscheidungsträgern kontrolliert, so fielen beobachten, wo Demokraten und Republikaner zusehends
wir in eine Art Feudalismus 2.0 zurück, da wichtige gesellschaftli- auseinanderdriften, so dass politische Kompromisse kaum
che Errungenschaften verloren gingen. Aber wir haben jetzt die noch möglich sind. Die Folge ist eine Fragmentierung, viel-
Chance, mit den richtigen Weichenstellungen den Weg zu einer leicht sogar eine Zersetzung der Gesellschaft. Einen Mei-
Demokratie 2.0 einzuschlagen, von der wir alle profitieren werden. nungsumschwung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kann

54  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


MIT FRDL. GEN. VON  MICHAEL HAGNER

man wegen des Resonanzeffekts nur langsam und allmäh- Michael Hagner ist Professor für
lich erzeugen. Die Auswirkungen treten mit zeitlicher Verzö- Wissenschaftsforschung an der
gerung ein, lassen sich dann aber auch nicht mehr einfach ETH Zürich. Zu seinen For-
rückgängig machen. So können zum Beispiel Ressentiments schungsgebieten gehören
gegen Minderheiten oder Migranten leicht außer Kontrolle das Verhältnis von Wissen-
geraten; zu viel Nationalgefühl kann Diskriminierung, Ext- schaft und Demokratie, die
remismus und Konflikte verursachen. Geschichte der Kybernetik
Noch schwerer wiegt der Umstand, dass manipulative Me- sowie die Auswirkungen der
thoden die Art und Weise verändern, wie wir unsere Entschei- digitalen Kultur auf akademi-
dungen treffen. Sie setzen nämlich die sonst bedeutsamen sches Publizieren.
kulturellen und sozialen Signale außer Kraft – zumindest
vorübergehend. Zusammengefasst könnte der großflächige
Einsatz manipulativer Methoden also schwer wiegende ge- bestimmung voraus. Es geht hier um nicht weniger als unse-
sellschaftliche Schäden verursachen, einschließlich der oh- re wichtigsten verfassungsmäßig garantierten Rechte. Ohne
nehin schon verbreiteten Verrohung der Verhaltensweisen in deren Einhaltung kann eine Demokratie nicht funktionie-
der digitalen Welt. Wer soll dafür die Verantwortung tragen? ren. Ihre Einschränkung unterminiert unsere Verfassung,
unsere Gesellschaft und den Staat.
Rechtliche Probleme Da manipulative Technologien wie Big Nudging ähnlich
Dies wirft rechtliche Fragen auf, die man angesichts der wie personalisierte Werbung vorgehen, sind noch weitere
Milliardenklagen gegen Tabakkonzerne, Banken, IT- und Gesetze tangiert. Werbung muss als solche gekennzeich-
Automobilunternehmen in den vergangenen Jahren nicht net werden und darf nicht irreführend sein. Auch sind nicht
vernachlässigen sollte. Doch welche Gesetze werden über- alle psychologischen Tricks wie etwa unterschwellige Rei-
haupt tangiert? Zunächst einmal ist klar, dass mani- ze erlaubt. So ist es untersagt, ein Erfrischungsgetränk im
pulative Technologien die Kinofilm für eine Zehntel-
Entscheidungsfreiheit ein- sekunde einzublenden, weil
schränken. Würde die Fern- Die Menschheit steht an einem die Werbung dann nicht
steuerung unseres Verhal- Scheideweg, bei dem sich große bewusst wahrnehmbar ist,
tens perfekt funktionieren, Chancen abzeichnen, aber auch während sie unterbewusst
wären wir im Grunde digita- vielleicht eine Wirkung ent-
le Sklaven, denn wir würden
beträcht­liche Risiken faltet. Das heute gängige
nur noch fremde Entschei- Sammeln und Verwerten
dungen ausführen. Bisher funktionieren manipulative Tech- persönlicher Daten lässt sich außerdem nicht mit dem gel-
nologien natürlich nur zum Teil. Jedoch verschwindet unse- tenden Datenschutzrecht in den europäischen Ländern ver-
re Freiheit langsam, aber sicher – langsam genug, dass der einen.
Widerstand der Bürger bisher noch gering war. Schließlich steht auch die Rechtmäßigkeit personalisier-
Die Einsichten des großen Aufklärers Immanuel Kant ter Preise in Frage, denn es könnte sich dabei um einen Miss-
scheinen jedoch hochaktuell zu sein. Unter anderem stellte brauch von Insiderinformationen handeln. Hinzu kommen
er fest, dass ein Staat, der das Glück seiner Bürger zu bestim- mögliche Verstöße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz,
men versucht, ein Despot ist. Das Recht auf individuelle das Diskriminierungsverbot und das Wettbewerbsrecht, da
Selbstentfaltung kann nur wahrnehmen, wer die Kontrolle freier Marktzugang und Preistransparenz nicht mehr ge-
über sein Leben hat. Dies setzt jedoch informationelle Selbst- währleistet sind. Die Situation ist vergleichbar mit Unter-
nehmen, die ihre Produkte in anderen Ländern billiger ver-
kaufen, jedoch den Erwerb über diese Länder zu verhindern
Ernst Hafen ist Professor am Institut versuchen. In solchen Fällen gab es bisher empfindliche
für Molekulare Systembiologie und Strafzahlungen.
ehemaliger Präsident der ETH Mit klassischer Werbung oder Rabattmarken sind perso-
Zürich. 2012 gründete er den nalisierte Werbung und Preise nicht vergleichbar, denn ers-
Verein »Daten und Gesund- tere sind unspezifisch und dringen auch bei Weitem nicht so
KATARZYNA NOWAK

heit«. Der Verein beabsich- sehr in unsere Privatsphäre ein, um unsere psychologischen
tigt, auf politischer und öko- Schwächen auszunutzen und unsere kritische Urteilskraft
nomischer Ebene die digitale auszuschalten.
Selbstbestimmung der Bürger Außerdem gelten in der akademischen Welt selbst harm-
zu stärken und die Gründung ge- lose Entscheidungsexperimente als Versuche am Menschen
nossenschaftlich organisierter Ban- und bedürfen der Beurteilung durch eine Ethikkommission,
ken für persönliche Daten zu fördern. die der Öffentlichkeit Rechenschaft schuldet. Die betroffe-

WWW.SPEK TRUM .DE 55


HEIMO AGA

Yvonne Hofstetter ist Juristin und ist klar, dass sich die Probleme in der Welt trotz Datenflut
KI-Expertin. Die Auswertung gro- und Verwendung personalisierter Informationssysteme
ßer Datenmengen und Daten- nicht verringert haben – im Gegenteil! Der Weltfrieden ist
fusionssysteme sind ihr Spe- brüchig. Die langfristige Veränderung des Klimas könnte
zialgebiet. Sie ist Geschäfts- zum größten Verlust von Arten seit dem Aussterben der Di-
führerin der Teramark Tech- nosaurier führen. Die Auswirkungen der Finanzkrise auf
nologies GmbH. Das Unter- Wirtschaft und Gesellschaft sind sieben Jahre nach ihrem Be-
nehmen entwickelt digitale ginn noch lange nicht bewältigt. Cyberkriminalität richtet ei-
Steuerungssysteme auf Basis nen jährlichen Schaden von 3 Billionen Dollar an. Staaten
künstlicher Intelligenz unter an- und Terroristen rüsten zum Cyberkrieg.
derem für die Optimierung urbaner In einer sich schnell verändernden Welt kann auch eine
Lieferströme und das algorithmische Superintelligenz nie perfekt entscheiden – die Datenmengen
Währungsrisikomanagement. wachsen schneller als die Prozessierbarkeit, und die Übertra-
gungsraten sind begrenzt. So werden lokales Wissen und Fak-
ten außer Acht gelassen, die jedoch von Bedeutung sind, um
nen Personen müssen in jedem einzelnen Fall ihre infor- gute Lösungen zu erzielen. Verteilte, lokale Steuerungsver-
mierte Zustimmung geben. Absolut unzureichend ist dage- fahren sind zentralen Ansätzen oft überlegen, vor allem in
gen ein Klick zur Bestätigung, dass man einer 100-seitigen komplexen Systemen, deren Verhalten stark variabel, kaum
Nutzungsbedingung pauschal zustimmt, wie es bei vielen voraussagbar und nicht in Echtzeit optimierbar ist. Das gilt
Informationsplattformen heutzutage der Fall ist. schon für die Ampelsteuerung in Städten, aber noch viel
Dennoch experimentieren manipulative Technologien mehr für die sozialen und ökonomischen Systeme unserer
wie Nudging mit Millionen von Menschen, ohne sie darüber stark vernetzten, globalisierten Welt.
in Kenntnis zu setzen, ohne Transparenz und ohne ethische Weiterhin besteht die Gefahr, dass die Manipulation von
Schranken. Selbst große soziale Netzwerke wie Facebook oder Entscheidungen durch mächtige Algorithmen die Grundvor-
Online-Dating-Plattformen aussetzung der »kollektiven
wie OK Cupid haben sich be- Intelligenz« untergräbt, die
reits öffentlich zu solchen
Die Entwicklung verläuft von der sich an die Herausforderun-
sozialen Experimenten be- Programmierung von Com- gen unserer komplexen Welt
kannt. Wenn man unver­ putern zur Programmierung von flexibel anpassen kann. Da-
antwortliche Forschung an mit kollektive Intelligenz
Menschen
Mensch und Gesellschaft funktioniert, müssen Infor-
vermeiden möchte (man mationssuche und Entschei-
denke etwa an die Beteiligung von Psychologen an den Fol- dungsfindung der Einzelnen voneinander unabhängig erfol-
terskandalen der jüngsten Vergangenheit), dann benötigen gen. Wenn unsere Urteile und Entscheidungen jedoch durch
wir dringend hohe Standards, insbesondere wissenschaftli- Algorithmen vorgegeben werden, führt das im wahrsten Sin-
che Qualitätskriterien und einen ethischen Kodex analog ne des Wortes zur Volksverdummung. Vernunftbegabte We-
zum hippokratischen Eid. sen werden zu Befehlsempfängern degradiert, die reflexhaft
auf Stimuli reagieren. Das reduziert die Kreativität, weil man
Auch Superintelligenzen weniger »out of the box« denkt.
können irren oder lügen
Angenommen, es gäbe eine superintelligente Maschine, die
quasi gottgleiches Wissen und übermenschliche Fähigkeiten Roberto V. Zicari ist Professor für
hätte – würden wir dann ehrfürchtig ihren Anweisungen fol- Datenbanken und Informations-
gen? Das erscheint durchaus möglich. Aber wenn wir das tä- systeme an der Goethe-Uni-
ten, dann hätten sich die Befürchtungen von Elon Musk, Bill versität Frankfurt am Main
Gates, Steve Wozniak, Stephen Hawking und anderen be- und Big-Data-Experte. Er ist
C. SATTLER

wahrheitet: Computer hätten die Kontrolle über die Welt Gründer des Frankfurt Big
übernommen. Es muss uns klar sein, dass auch eine Superin- Data Labs der Goethe-Uni-
telligenz irren, lügen, egoistische Interessen verfolgen oder versität und Herausgeber des
selbst manipuliert werden kann. Vor allem könnte sie sich Operational Database Manage-
nicht mit der verteilten, kollektiven Intelligenz der Bevölke- ment Systems-Portals (ODBMS.
rung messen. org). Zudem forscht er als Visiting
Das Denken aller Bürger durch einen Computercluster zu Professor am Center for Entrepreneurship and Technology des De-
ersetzen wäre absurd, denn das würde die Qualität der er- partments of Industrial Engineering and Operations Research an
reichbaren Lösungen dramatisch verschlechtern. Schon jetzt der University of California in Berkeley.

56  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


OLIVER WEISS
Algorithmen wie jene von
Google oder Facebook fördern die
Ent­stehung von »Filterblasen« –
eine subjektiv verzerrte Weltsicht.

Anders gesagt: Personalisierte Information baut eine »Fil- Jeroen van den Hoven ist Profes-
ter Bubble« um uns herum, eine Art digitales Gedankenge- sor für Ethik und Technologie
fängnis. In letzter Konsequenz würde eine zentrale, techno- an der Delft University of
kratische Verhaltens- und Gesellschaftssteuerung durch ein Technology sowie Chefre-

YVONNE COMPIER
superintelligentes Informationssystem eine neue Form der dakteur der Fachzeitschrift
Diktatur bedeuten. Die von oben gesteuerte Gesellschaft, die Ethics and Information
unter dem Banner des »sanften Paternalismus« daher- Technology. Er ist zudem
kommt, ist deshalb im Prinzip nichts anderes als ein totalitä- Vorsitzender des niederlän-
res Regime mit rosarotem Anstrich. dischen Research Council Pro-
In der Tat zielt »Big Nudging« auf die Gleichschaltung vie- grams on Responsible Innova­tion.
ler individueller Handlungen und auf eine Manipulation von
Sichtweisen und Entscheidungen ab. Dies rückt es in die
Nähe der gezielten Entmündigung des Bürgers durch staat- In Zukunft werden jene Länder führend sein, die eine gute
lich geplante Verhaltenssteuerung. Wir befürchten, dass die Balance von Wirtschaft, Staat und Bürgern erreichen. Dies er-
Auswirkungen langfristig fatal sein könnten, insbesondere fordert vernetztes Denken und den Aufbau eines Informa-
wenn man die oben erwähnte, teils kulturzerstörende Wir- tions-, Innovations-, Produkte- und Service-»Ökosystems«.
kung bedenkt. Hierfür ist es nicht nur wichtig, Beteiligungsmöglichkeiten
zu schaffen, sondern auch Vielfalt zu fördern. Denn es gibt
Eine bessere digitale Gesellschaft keine Methode, um zu ermitteln, was die beste Zielfunktion
ist möglich ist: Soll man das Bruttosozialprodukt optimieren oder Nach-
Trotz des harten globalen Wettbewerbs tun Demokratien gut haltigkeit? Macht oder Frieden? Lebensdauer oder Zufrie-
daran, ihre in Jahrhunderten erarbeiteten Errungenschaften denheit? Oft weiß man erst hinterher, was vorteilhaft gewe-
nicht über Bord zu werfen. Gegenüber anderen politischen sen wäre. Indem sie verschiedene Ziele zulässt, ist eine plura-
Regimes haben die westlichen Demokratien den Vorteil, dass listische Gesellschaft besser in der Lage, mit verschiedenen
sie mit Pluralismus und Diversität bereits umzugehen ge- Herausforderungen zurechtzukommen.
lernt haben. Jetzt müssen sie nur noch stärker davon profitie- Zentralisierte Top-down-Kontrolle ist eine Lösung der Ver-
ren lernen. gangenheit, die sich nur für Systeme geringer Komplexität

WWW.SPEK TRUM .DE 57


STEFANIE STARZ

Andrej Zwitter ist Professor für Inter- Wir fordern deshalb die Einhaltung folgender Grundprin-
nationale Beziehungen und Ethik zipien:
an der Rijksuniversiteit Gronin- 1. Die Funktion von Informationssystemen
gen, Niederlande, sowie Hono- stärker zu dezentralisieren,
rary Senior Research Fellow an 2. informationelle Selbstbestimmung und
der Liverpool Hope University, Partizipation zu unterstützen,
Großbritannien. Er ist Mitbe- 3. Transparenz für eine erhöhte Vertrauenswürdigkeit
gründer des International Net- zu verbessern,
work Observatory for Big Data 4. Informationsverzerrungen und -verschmutzung
and Global Strategy. Seine For- zu reduzieren,
schungsschwerpunkte beinhalten in- 5. von den Nutzern gesteuerte Informationsfilter
ternationale politische Theorie, Notstandsrecht und Politik der hu- zu ermöglichen,
manitären Hilfe sowie die Auswirkungen von Big Data auf interna- 6. gesellschaftliche und ökonomische Vielfalt zu fördern,
tionale Politik und Ethik. 7. die Fähigkeit technischer Systeme zur Zusammenarbeit
zu verbessern,
8. digitale Assistenten und Koordinationswerkzeuge
eignet. Deshalb sind föderale Systeme und Mehrheitsent- zu kreieren,
scheidungen die Lösungen der Gegenwart. Mit der wirt- 9. kollektive Intelligenz zu unterstützen, und
schaftlichen und kulturellen Entwicklung nimmt die gesell- 10. die Mündigkeit der Bürger in der digitalen Welt
schaftliche Komplexität jedoch weiter zu. Die Lösung der Zu- zu fördern – eine »digitale Aufklärung«.
kunft lautet kollektive Intelligenz: Citizen Science, Crowd Mit dieser Agenda würden wir alle von den Früchten der
Sourcing und Online-Diskussionsplattformen sind daher digitalen Revolution profitieren: Wirtschaft, Staat und Bür-
eminent wichtige neue Ansätze, um mehr Wissen, Ideen und ger gleichermaßen. Worauf warten wir noch?  Ÿ
Ressourcen nutzbar zu machen.
Kollektive Intelligenz benötigt einen hohen Grad an Di- QUELLEN
versität. Diese wird jedoch durch heutige personalisierte In-
formationssysteme zu Gunsten der Verstärkung von Trends Frey, B. S., Gallus, J.: Beneficial and Exploitative Nudges. In:
Economic Analysis of Law in European Legal Scholarship. Springer,
reduziert. Heidelberg 2015
Soziodiversität ist genauso wichtig wie Biodiversität. Auf Online unter: www.bsfrey.ch/articles/C_591_2015.pdf
ihr beruhen nicht nur kollektive Intelligenz und Innovation, Helbing, D.: The Automation of Society Is Next. How to Survive the
Digital Revolution. CreateSpace, 2015
sondern auch gesellschaftliche Resilienz – also die Fähigkeit, Koops, B.-J. et al.: Responsible Innovation 2. Concepts, Approaches,
mit unerwarteten Schocks zurechtzukommen. Die Verringe- and Applications. Springer, Heidelberg 2015
rung der Soziodiversität reduziert oft auch die Funktions- van den Hoven, J. et al. (Hg.): Handbook of Ethics, Values an
Technological Design. Springer, Heidelberg 2015
und Leistungsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft. Dies Volodymyr, M. et al.: Human-Level Control through Deep
ist der Grund, warum totalitäre Regimes oft in Konflikte mit Reinforcement Learning. In: Nature 518, S. 529 – 533, 2015
ihren Nachbarn geraten. Zwitter, A.: Big Data Ethics. In: Big Data & Society 1(2)
10.1177/2053951714559253, 2014
Typische Langzeitfolgen sind politische Instabilitäten und
Kriege, wie sie in unserer Geschichte immer wieder auftraten. LITERATURTIPPS
Pluralität und Partizipation sind also nicht in erster Linie als
Zugeständnisse an die Bürger zu sehen, sondern als maßgeb- Gigerenzer, G.: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft.
Bertelsmann, München 2013.
liche Funktionsvoraussetzungen leistungsfähiger, komple-
Der Max-Planck-Forscher, Koautor des Artikels, über den richtigen
xer, moderner Gesellschaften. Umgang mit Risikofaktoren.
Zusammenfassend kann man sagen: Wir stehen an einem
Hofstetter, Y.: Sie wissen alles: Wie intelligente Maschinen in unser
Scheideweg. Big Data, künstliche Intelligenz, Kybernetik und Leben eindringen und warum wir für unsere Freiheit kämpfen
Verhaltensökonomie werden unsere Gesellschaft prägen – müssen. Bertelsmann, München 2014.
Die Koautorin des Artikels und KI-Expertin klärt über die Gefahren
im Guten wie im Schlechten. Sind solche weit verbreiteten
von Big Data auf.
Technologien nicht mit unseren gesellschaftlichen Grund-
Schlieter, K.: Die Herrschaftsformel. Wie Künstliche Intelligenz uns
werten kompatibel, werden sie früher oder später großflächi-
berechnet, steuert und unser Leben verändert. Westend, Frankfurt
gen Schaden anrichten. So könnten sie zu einer Automatisie- 2015.
rung der Gesellschaft mit totalitären Zügen führen. Im Wie wir uns mit digitalen Daten der Manipulation ausliefern.
schlimmsten Fall droht eine zentrale künstliche Intelligenz
WEBLI N KS
zu steuern, was wir wissen, denken und wie wir handeln.
Jetzt ist daher der historische Moment, den richtigen Weg Diesen Artikel sowie weitere Quellen und Literaturtipps finden Sie
einzuschlagen und von den Chancen zu profitieren, die sich unter: www.spektrum.de/s/digitalmanifest
dabei bieten.

58  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


DIGITAL-MANIFEST (II)

Eine Strategie
für das digitale Zeitalter
Die rasant voranschreitende Digitalisierung gefährdet unsere Demokratie,
wenn wir sie nicht zügeln. Was müssen wir nun tun?
Von Dirk Helbing, Bruno S. Frey, Gerd Gigerenzer, Ernst Hafen, Michael Hagner,
Yvonne Hofstetter, Jeroen van den Hoven, Roberto V. Zicari und Andrej Zwitter

B
ig Data und künstliche Intelligenz sind zweifellos ern kann. Für einen besseren Schutz der Privatsphäre und
der Schlüssel zu wichtigen Innovationen. Sie haben um Diskriminierung zu vermeiden, wäre eine unautorisierte
ein enormes Potenzial, wirtschaftliche Wertschöp- Verwendung der Daten unter Strafe zu stellen. So könnte
fung und gesellschaftlichen Fortschritt zu katalysie- man selbst entscheiden, wer welche Informationen für wel-
ren, von der personalisierten Gesundheitsvorsorge bis zu chen Zweck wie lange nutzen darf. Überdies wären geeignete
nachhaltigen Städten. Aber es ist völlig inakzeptabel, diese Maßnahmen zu treffen, damit die Daten sicher gespeichert
Technologien zur Entmündigung des Bürgers zu nutzen. Big und ausgetauscht werden können.
Nudging und Citizen Scores missbrauchen zentral gesam- Mit ausgefeilteren und unterschiedliche Kriterien berück-
melte persönliche Daten für eine Verhaltenskontrolle, die to- sichtigenden Reputationssystemen ließe sich die Qualität
talitäre Züge trägt. Dies ist nicht nur unvereinbar mit Men- der Informationen erhöhen, auf deren Basis wir unsere Ent-
schenrechten und demokratischen Prinzipien, sondern auch scheidungen treffen. Wären Such- und Empfehlungsalgo-
ungeeignet, eine moderne, innovative Gesellschaft zu mana- rithmen nicht vom Anbieter vorgegeben, sondern vom Nut-
gen. Um die eigentlichen Probleme zu lösen, sind vielmehr zer auswählbar und konfigurierbar, wären wir weniger durch
bessere Informationen und Risikokompetenz gefragt. For- verzerrte Informationen manipulierbar.
schungsbereiche zu verantwortungsvoller Innovation und Ergänzend braucht es effiziente Beschwerdeverfahren für
die Initiative »Data for Humanity« geben Orientierung, wie Bürger und wirksame Sanktionen bei Regelverletzungen. Um
Big Data und künstliche Intelligenz zum Wohl der Gesell- schließlich ausreichend Transparenz und Vertrauen zu
schaft genutzt werden können. schaffen, sollten führende wissenschaftliche Institutionen
Was können wir jetzt konkret tun? Zunächst gilt es auch in als Treuhänderinnen von Daten und Algorithmen walten,
Zeiten der digitalen Revolution die Grundrechte der Bürger die sich momentan der demokratischen Kontrolle entziehen.
zu schützen, die eine fundamentale Funktionsvorausset- Dies erfordert auch einen geeigneten Ehrenkodex, den zu-
zung für ein modernes, demokratisches Gemeinwesen sind. mindest all jene anerkennen müssten, die Zugang zu sensib-
Dafür braucht es einen neuen Gesellschaftsvertrag auf der len Daten und Algorithmen erhalten – eine Art hippokrati-
Basis von Vertrauen und Kooperation, der Bürger und Kun- scher Eid für IT-Experten.
den nicht als Hindernisse oder zu vermarktende Ressourcen
sieht, sondern als Partner. Der Staat müsste einen geeigneten Eine digitale Agenda für die digitale Gesellschaft
Regulierungsrahmen schaffen, der die Kompatibilität von Darüber hinaus ist eine digitale Agenda erforderlich, wel-
Technologien mit Demokratie garantiert. Dieser muss die in- che die Grundlage für neue Jobs und die künftige digitale Ge-
formationelle Selbstbestimmung nicht nur theoretisch, son- sellschaft legt. Jedes Jahr investieren wir Milliarden in die Ag-
dern auch praktisch sicherstellen, denn sie ist die Vorausset- rarwirtschaft sowie in öffentliche Infrastruktur, Schulen und
zung dafür, dass wir unser Leben selbstverantwortlich gestal- Universitäten – zu Gunsten der Industrie und des Dienstleis-
ten können. tungssektors.
Für persönliche Daten, die über uns gesammelt werden, Welche öffentlichen Systeme benötigen wir also, damit
sollte es ein Recht auf Kopie geben. Es sollte gesetzlich gere- die digitale Gesellschaft ein Erfolg wird? Erstens sind völlig
gelt sein, dass diese Kopie in einem standardisierten Format neue Bildungskonzepte gefragt. Diese sollten stärker auf
automatisch an eine persönliche Datenmailbox gesandt kritisches Denken, Kreativität, Erfinder- und Unternehmer-
wird, über die jeder Einzelne die Verwendung der Daten steu- geist ausgerichtet sein als auf standardisierte Arbeitnehmer,

WWW.SPEK TRUM .DE 59


deren Aufgaben in Zukunft von Robotern und Computeral- Hierfür benötigen wir jedoch vielfältige Anreiz- und Aus-
gorithmen übernommen werden können. Die Ausbildung tauschsysteme, die für alle ökonomischen, politischen und
sollte auch den verantwortungsvollen und kritischen Um- sozialen Innovatoren nutzbar sind. Diese könnten völlig neue
gang mit digitalen Technologien vermitteln. Denn der Bür- Märkte schaffen und damit auch die Basis für neuen Wohl-
ger muss sich bewusst sein, wie sehr die digitale mit der phy­ stand. Die Erschließung der nahezu unbegrenzten Möglich-
sischen Welt verzahnt ist. Um seine Rechte effektiv und keiten der digitalen Ökonomie würde durch ein pluralis­
verantwortungsvoll wahr- tisches Finanzsystem (zum
nehmen zu können, muss Verfolgen Sie die Debatte!
Beispiel individuelle Wäh-
der Bürger ein Verständnis Kommentare, Interviews und weitere Bei- rungen) und neue Regelun-
von ihnen haben, aber auch träge der Autoren, etwa zu »Big Nudging« gen zur Vergütung von Erfin-
und »Digitale Risikokompetenz« unter
davon, welche Nutzungen il- dungen enorm gefördert.
www.spektrum.de/t/das-digital-manifest
legitim sind. Umso mehr Um die Komplexität und
müssen Wissenschaft, Wirt- Diversität unserer zukünf­ti­
schaft, Politik, und Bildungseinrichtungen der Gesellschaft gen Welt besser zu bewältigen und in einen Vorteil zu ver­-
dieses Wissen zur Verfügung stellen. wandeln, werden wir persönliche digitale Assistenten benö-
Zweitens braucht es eine partizipative Plattform, die es tigen. Diese digitalen Assistenten werden auch von Entwick­
erleichtert, sich selbstständig zu machen, eigene Projekte lungen im Bereich der künstlichen Intelligenz profitieren. In
aufzusetzen, Kooperationspartner zu finden, Produkte und Zukunft ist damit zu rechnen, dass zahlreiche Netzwerke von
Services weltweit zu vermarkten, Ressourcen zu verwalten menschlicher und künstlicher Intelligenz je nach Bedarf fle-
sowie Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abzuführen. xibel zusammengeschaltet und neu konfiguriert werden. Da-
Ergänzend könnten Städte und Gemeinden Zentren für die mit wir die Kontrolle über unser Leben behalten, sollten diese
aufkommenden digitalen Bastlercommunities (etwa so ge- Netzwerke dezentral gesteuert werden. Man müsste sich au-
nannte Fablabs) einrichten, wo Ideen gemeinsam entwickelt ßerdem selbstbestimmt ein- und ausloggen können.
und kostenlos ausprobiert werden können. Dank des sich
dort verbreitenden Open-Innovation-Ansatzes ließe sich Demokratische Plattformen
massive, kooperative Innovation fördern. Eine »Wikipedia der Kulturen« könnte schließlich dabei
Darüber hinaus könnten Wettbewerbe zusätzliche Anrei- helfen, verschiedene Aktivitäten in einer hochdiversen Welt
ze für Innovationen liefern, die öffentliche Sichtbarkeit erhö- zu koordinieren und miteinander kompatibel zu machen.
hen und eine Aufbruchstimmung in Richtung einer digita- Sie würde die meist nur implizit erlernten Erfolgsprinzipien
len Mitmachgesellschaft erzeugen. Sie würden insbesondere der verschiedenen Kulturen der Welt explizit machen, so
die Zivilgesellschaft mobilisieren, damit sie lokale Beiträge dass sie sich auf neue Weise miteinander kombinieren las-
zur Lösung globaler Probleme leistet (zum Beispiel über »Cli- sen. Ein derartiges »Cultural Genome Project« wäre auch
mate Olympics«). So könnten Plattformen zur Koordination eine Art Friedensprojekt, denn es würde das öffentliche Be-
knapper Ressourcen das riesige Potenzial der Sharing Econo- wusstsein für den Wert soziokultureller Diversität schärfen.
my freisetzen helfen, welches derzeit noch weitgehend uner- Globale Unternehmen wissen schon lange, dass kulturell di-
schlossen ist. verse und interdisziplinäre Teams erfolgreicher sind als ho-
Mit einer Open-Data-Strategie können Staat und Unter- mogene. Vielerorts fehlt aber noch der Rahmen, um das Wis-
nehmen zunehmend Daten für die Wissenschaft und jeder- sen und die Ideen vieler effizient zusammenzuführen und
mann öffnen und damit die Voraussetzungen für ein leis- dadurch kollektive Intelligenz zu schaffen. Dafür würden
tungsfähiges Informations- und Innovationsökosystem sich unter anderem spezielle Diskussionsplattformen eig-
schaffen, das mit den Herausforderungen unserer Welt nen. Diese könnten auch die Voraussetzungen dafür schaf-
Schritt hält. Dies ließe sich mit Steuererleichterungen för- fen, eine Demokratie 2.0 mit mehr Beteiligungsmöglichkei-
dern, wie sie bei der Nutzung umweltfreundlicher Technolo- ten für Bürger zu realisieren – denn viele Probleme, vor de-
gien gewährt wurden. nen die Welt heutzutage steht, werden sich nur mit Beiträgen
Drittens könnte der Bau eines von den Bürgern betriebe- der Zivilgesellschaft bewältigen lassen.
nen »digitalen Nervensystems« die neuen Möglichkeiten Signale aus der jüngsten Vergangenheit – vom Urteil des
des Internets der Dinge erschließen und über Echtzeitmes- Europäischen Gerichtshofs zu »Safe Harbour« und Daten-
sungen Daten für jeden bereitstellen. Wenn wir etwa Res- schutz über die verstärkte Gewichtung der Privatsphäre
sourcen nachhaltiger nutzen und die Klimaveränderung durch manche Internetfirmen bis zu verschiedenen aktuel-
bremsen wollen, müssen wir die positiven und negativen Ne- len Beiträgen im Wissenschaftsjournal »Nature« und Veran-
benwirkungen unserer Interaktionen mit anderen und mit staltungen wie dem Dritten Innovationsdialog der Bundes-
unserer Umwelt messen. Anhand geeigneter Feedbackschlei- regierung über Innovationspotenziale der Mensch-Maschi-
fen ließen sich Systeme dann so beeinflussen, dass sie die je- ne-Interaktion vom 10. November 2015 – machen Mut. Sie
weils gewünschten Ergebnisse mittels Selbstorganisation er- lassen hoffen, dass wir nun auf dem richtigen Weg sind. Wir
reichen. sollten ihn entschlossen weitergehen!  Ÿ

60  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


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BIBEL-ARCHÄOLOGIE

Wie entstand
Israel?
Laut Altem Testament bildete sich das Volk Israel während der
40-jährigen Wanderung durch die Wüste und der anschlie-
ßenden Eroberung des gelobten Landes Kanaan. Historische
und archäologische Quellen zeichnen nun ein anderes Bild:
Israel war schon damals ein Schmelztiegel der Kulturen.
Von Wolfgang Zwickel

G
ravierende geschichtliche Einschnitte haben in Gesamtkomposition der Geschichtsdarstellung ist eine rein
der Regel nicht einen einzigen Auslöser, sondern literarische Form.
sind das Ergebnis vieler Entwicklungen, deren Mit der Geschichte Israels verhält es sich ähnlich. Dem Al­
Zeitlinien sich in einem Punkt überschnitten ha­ ten Testament zufolge hatte sich das Volk Israel in Ägypten
ben. Bis heute suchen die Menschen nach einfacheren Zu­ entwickelt, floh aus der Knechtschaft des Pharao, murrte
sammenhängen und formulieren den Beginn eines völlig aber immer wieder über die Verhältnisse während der Wüs­
Neuen häufig in Form von Mythen. Am Anfang der Grün­ tenwanderung und musste zur Strafe 40 Jahre durch die
dung des römischen Weltreichs stand demnach der Bruder­ Wüste streifen, bis Gott es ihm endlich erlaubte, in das Ge­
zwist zwischen Romulus und Remus; das deutsche Kaiser­ lobte Land einzuziehen. Dort eroberte es zunächst das stark
reich wurzelte angeblich im germanischen Aufstand gegen befestigte Jericho, dann alle anderen Teile der südlichen Le­
Rom unter Hermann dem Cherusker. Solche Gründungsmy­ vante. Seit Langem ist klar, dass es für diesen Gründungsmy­
then können historisch richtige Elemente enthalten, aber die thos keine zuverlässigen historischen Grundlagen gibt, we­
der für die Knechtschaft in Ägypten noch für die Flucht und
die anschließende »Landnahme«.
AUF EINEN BLICK
Insbesondere wurden die alttestamentlichen Texte erst
Jahrhunderte nach dem Entstehen des Volkes Israel verfasst,
RÜCKZUG IN DIE BERGE
dessen Anfänge Forscher im 13. Jahrhundert v. Chr. ansiedeln.

1 Die Wirtschaftskraft der Levante-Städte des 2. Jahrtausends


v. Chr. beruhte vor allem auf dem Fernhandel. Eine Schwäche
der Schutzmacht Ägypten auf der einen, räuberische Überfälle
Die Bibel liefert also keine Augenzeugenberichte, sondern
­ihrerseits Deutungen der Frühgeschichte. Die Suche nach
durch »Habiru« auf der anderen Seite brachten ihn jedoch allmäh- Querbezügen in den Überlieferungen der Nachbarvölker ver­
lich zum Erliegen. lief ergebnislos. Zwar sind zahlreiche ägyptische Quellen aus
der entsprechenden Epoche erhalten, sie erwähnen aber we­
2 Im 13. Jahrhundert v. Chr. setzte eine zunehmende Trockenheit
an den Küsten des östlichen Mittelmeers eine Spirale aus
Hunger und Aggression in Gang. »Seevölker« attackierten die
der ein Volk Israel noch Joseph oder Moses. Zumindest Jo­
seph soll den Rang eines hohen ägyptischen Beamten inne­
Städte, die nun nach und nach aufgegeben wurden.
gehabt haben, Moses wuchs der biblischen Überlieferung

3 Das Bergland Palästinas war klimatisch begünstigt und bot


freien Siedlungsraum. Im Lauf von 200 Jahren entstanden
dort bäuerliche Gesellschaften, die sich aus Alteingesessenen und
nach am Königshof auf. Auch die Archäologie hilft hier nicht
weiter und liefert keine Belege. Zumindest sollte sich eine
Migranten konstituierten. kriegerische Landnahme in den Fundstätten der Levante wi­
derspiegeln. Aber Jericho, um nur ein markantes Beispiel zu

62  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


MENSCH & KULTUR
FOTO: AKG IMAGES / BIBLE LAND PICTURES; ZEICHNUNG: DEUTSCHE BIBELGESELLSCHAFT; MIT FRDL. GEN. VON  WOLFGANG ZWICKEL

Gut drei Meter hoch ist die


Granitstele, die Pharao
Merenp­tah um 1200 v. Chr.
in Theben-West aufstellen
ließ. Insbe­sondere preist die
Inschrift zahlreiche Siege
des Herrschers, darunter einen
Feldzug nach Palästina.
Unter anderem heißt es dort:
»Israel liegt brach und hat
kein Saatkorn.« Es ist eine der
frühesten Nennungen Israels
(siehe Ausschnitt).

WWW.SPEK TRUM .DE 63


nennen, war zwar seit frühster Zeit besiedelt, jedoch gerade dius. Ägypten installierte zwar Beamte, um seine Interessen
um 1200 v. Chr. unbewohnt. zu wahren, beließ den Stadtfürsten aber erhebliche Eigen­
Dass die Schilderungen nur Mythos sind, verdeutlicht ständigkeit. Im Ergebnis sorgte das Pharaonenreich so für
letztlich auch eine einfache Überlegung: Ein derart großes Stabilität in der Region.
Volk – nach Numeri 2, 32 immerhin 603 550 Israeliten, nach Die Verhältnisse änderten sich, als die Hethiter in Nord­
Numeri 3, 39 weitere 22 000 Leviten – hätte keine 40 Jahre ir­ syrien eindrangen, um dort den Fernhandel zu kontrollieren.
gendwo in der Wüste zwischen den heutigen Staaten Ägyp­ Infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen gingen die
ten und Israel überlebt. Bibelexegeten, Historiker, Archäolo­ Transporte jedoch zurück, weil die Händler das Risiko scheu­
gen und Naturwissenschaftler zeichnen inzwischen ein kom­ ten, zwischen die Fronten zu geraten und ihre Waren zu ver­
plexeres Bild der Ereignisse. Auch wenn es noch ein Puzzle lieren. Da die Stadtstaaten wesentliche Einnahmen durch
ist, in dem noch etliche Teile fehlen, dürfte es der histori­ den internationalen Handel erzielten, schmälerte dies ihre
schen Wirklichkeit weit näher kommen als der biblische Ge­ Wirtschaftskraft erheblich.
schichtsmythos. Neben Bauern, Handwerkern und der politischen Elite in
Im 2. Jahrtausend v. Chr. dehnte Ägypten sein Territorium den Siedlungen lebten in der Levante auch Nichtsesshafte.
auf Palästina und Syrien aus (siehe Kasten rechts). Das Ge­ Zu ihnen gehörten Händler und Handwerker, Nomadenhir­
biet war seit jeher ein Transitland zwischen Ägypten, Meso­ ten mit Schafen und Ziegen, Söldner und andere mehr. Ihre
potamien und Kleinasien. Wer es kontrollierte, profitierte Zahl stieg an, als die Städte immer weniger Möglichkeiten
vom Handel! Und dank der ägyptischen Aufsicht waren die boten, den Lebensunterhalt zu verdienen. Weil aber auch die
Wege auch weitgehend sicher, so dass der Warenaustausch in Einnahmequellen außerhalb begrenzt waren, verlegten sich
der Regel gut funktionierte. Stadtstaaten in Palästina be­ etliche Nichtsesshafte auf die Räuberei. Ägyptische, hethiti­
herrschten jeweils Gebiete von fünf bis zehn Kilometer Ra­ sche und mesopotamische Texte des 2. Jahrtausends v. Chr.
nennen solche Banden »Habiru«. Dieses gesellschaftliche
Phänomen war in der gesamten damaligen Welt des Orients
verbreitet. Der Begriff meint somit ursprünglich eine soziale
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK, NACH: WOLFGANG ZWICKEL

spätbronzezeitlicher Ort
Sichem Gruppe, keine ethnische. Der Name »Hebräer«, der übrigens
Neusiedlung der
Eisenzeit I in der Bibel nur selten gebraucht wird, leitet sich von dieser
Hauptstraße Bezeichnung ab.
Nebenstraße
Aruma
Exodus verkehrt
Ägypten gelang es immer weniger, die Handelswege in sei­
Tappuach nem Einflussgebiet zu sichern. Damit aber sanken die Ein­
nahmen der urbanen Zentren, was den Habiru weiteren Zu­
Schilo lauf brachte. Irgendwann waren diese Gruppen so stark, dass
sie selbst Städte bedrohen konnten, was die Abwärtsspirale
anheizte. Hinzu kam eine dramatische Trockenheit im ge­
samten östlichen Mittelmeerraum. Bohrkerne aus dem To­
Khirbet Mardschama
ten Meer zeigen, dass in keiner Epoche der letzten 10 000
Jahre dessen Wasserstand so rapide sank wie im 13. Jahrhun­
dert v. Chr. Mehrere antike Texte aus der Umgebung bestäti­
gen diese Ergebnisse. Ernten reichten nicht mehr, und Mit­
Bet-El
telmeeranrainer aus den heutigen Ländern Griechenland
und Türkei verlegten sich auf Piraterie, was den Gesamttrend
ebenfalls beschleunigte; in ägyptischen Annalen tauchen sie
als »Seevölker« auf.
Gibeon Doch für die Bewohner Palästinas gab es eine Alternative:
Ajalon
die Auswanderung, sei es ins Ausland oder in das noch unbe­
Oalunya N
siedelte Bergland. Ägypten brauchte Handwerker und Fach­
Jerusalem kräfte, vor allem für die riesigen Palastbauten in der Ramses­
0 10 km
stadt im Nildelta, die Ramses II. (1279 – 1213 v. Chr.) zur neuen
Hauptstadt erwählte; ihre Erwähnung in der Bibel im Kon­
In der späten Bronzezeit war das Bergland Palästinas nur text des Exodus bildet einen wesentlichen Ankerpunkt für
dünn besiedelt. Doch Trockenheit, räuberische Überfälle und die Datierung der alttestamentlichen Schilderung. Von der
anderes mehr vertrieben die Menschen aus den Küsten- Trockenheit war das Nilreich verschont geblieben, denn sei­
städten, worauf viele ihr Heil in den höher gelegenen, eigent- ne Landwirtschaft hing nicht von den Niederschlägen im
lich kargen Gebieten suchten. Mittelmeerraum ab, sondern von denen in Zentralafrika. Die

64  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


An der langen Leine
Um seine Grenzen und den Fernhandel zu schützen, eroberten die Pharaonen Palästina,
ließen den dortigen Stämmen aber weit gehende Selbstständigkeit.
Von Manfred Clauss

Die Kontakte mit Syrien-Palästina und der Sinai-


halbinsel reichen in Ägypten bis in vorgeschicht­
liche Zeit: Von dort importierte man das im Nil-
tal  fehlende Bauholz, aus dem südlich davon ge-
legenen Sinaigebiet Kupfer. Andererseits bedroh-
ten »asiatische Nomaden« seit dem Alten Reich
(2640 – 2160 v. Chr.) das östliche Nildelta. Im Mit­t­
leren Reich ließ Pharao Amenemhat I. (1991 – 1962
v.  Chr.) deshalb die so genannte Fürstenmauer er-
richten, ein System von Wachtürmen und Befes­
tigungsanlagen, um die Landenge zwischen Ägyp-
ten, Syrien-Palästina und der Sinaihalbinsel zu kon-
trollieren.
Thutmosis I. (1494 – 1482 v. Chr.), der dritte Pha-
rao des Neuen Reichs, kehrte den Spieß um und ex-
pandierte seinerseits in fremdes Gebiet, vom »An-
fang der Erde im Süden, bis zu jenem Fluss im Nor-
den, der umgekehrt fließt«, wie er es auf einem
Gedenkstein dort bei der Stadt Karkemisch verkün-
dete; diese Stele ist nicht erhalten, wurde aber von
dem ebenfalls in der Region aktiven Thutmosis III.
(1479 – 1457 v. Chr.) überliefert. Gemeint war der Eu-
phrat, der von Norden nach Süden fließt, also ent-
gegengesetzt zum Nil. Syrien-Palästina war fortan
bis in die römische Zeit umkämpft, im 2. Jahrtau-
send v. Chr. stritt Ägypten mit dem Reich der Mitan-
ni um die Vorherrschaft, dann mit dem der Hethiter.
Bis etwa 1200 v. Chr. gelang es den Pharaonen,
die Landstriche südlich des Orontes zu kontrollie-
ren – der Fluss entspringt im Libanon und fließt
durch Syrien und die heutige Türkei zum Mittel-
meer. Dann aber verlangten die Angriffe der »See-
AKG IMAGES / ERICH LESSING

völker« Ägyptens Militärpräsenz. Der Plan, eine die-


ser Gruppen als Söldner in der Levante anzusiedeln,
erwies sich als Fehlschlag: Die Philister vertrieben
1150 v. Chr. ihre Herren. Zudem schwächten innen-
politische Konflikte den Pharaonenstaat. In der so
genannten Dritten Zwischenzeit (um 1070 – 664
v.  Chr.) herrschten verschiedene Dynastien gleich-
zeitig im Niltal und im Delta. Fast zwei Jahrhunder-
te lang blieb die Levante daher sich selbst überlas-
sen. Es gediehen die philistäischen Stadtstaaten,
und die beiden Königreiche Israel und Juda entwi- Statt auf Grenzschutz gegen
ckelten sich aus bescheidenen Anfängen zu regio- die Völker der Levante setzte
nalen Mächten. Thutmosis I. auf Eroberung.

WWW.SPEK TRUM .DE 65


jährlichen Nilüberschwemmungen bewässerten die Felder

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK, NACH: WOLFGANG ZWICKEL


entlang des Flusses. Ägyptische Quellen dieser Zeit zeigen ei­
Stämme Israels
nen starken Zuwachs an semitischen Personennamen. Hier­
Abel-Bet-Maacha
bei handelt es sich eindeutig um Einwanderer aus Syrien Juda Dan
DAN

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und Palästina. Archäologisch wurden für diese Epoche Be­ Seevölkerstaaten

IZI
-
stattungen nachgewiesen, wie sie in der Levante üblich wa­ BET HA

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Stadtstaat Jerusalem
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ren. Und auch das Alte Testament erwähnt, dass sich Men­
Andere Staaten

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schen aus Palästina am Bau der neuen Hauptstadt Ramses­

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stadt beteiligten (2. Mose 2, 11).

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Weitere Migrationsziele waren die Steppen im Süden des ALI REIC

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Landes (Negeb) und das palästinische Bergland. Dieses blieb G
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während der Spätbronzezeit (1550 – 1150 v. Chr.) nahezu un­ Dor ULO RFE
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besiedelt. Ausgrabungen und Oberflächenuntersuchungen

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bestätigen zum Beispiel, dass im zentralen Gebiet nur die

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Städte Sichem und Jerusalem mit vielleicht jeweils 600 Ein­ SSE
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wohnern existierten, dazu fünf Weiler, bestehend aus einer TOB

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Hand voll Bauernhöfe. Der Grund ist offensichtlich: Das Berg-

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land lag abseits der Fernverbindungen und war daher unat­ MACHIR

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traktiv, solange der Handel eine Rolle spielte. Aber nun fan­
den Siedler dort gutes Land für das Kleinvieh, denn in den EFRAM
RUBEN AMMON
Höhenlagen regnete es auch mehr als in den Ebenen, so dass
es genug Nahrung für Schafe und Ziegen gab. Wurden in ei­ BE NJ AM IN
Aschdod Ekron

ER
nem zweiten Schritt Büsche gerodet, gewann man auch noch Jerusalem

L I ST
Ackerland. Vermutlich wohnten die Klimaflüchtlinge zuerst Aschkelon Gat

PH I
REICH DES
in Zelten, errichteten dann feste Gebäude, legten Zisternen GA D SIHON
JU DA
an und Speichergruben für das Getreide. Gaza

Wurzeln im Feindesland
2001 untersuchte der Ägyptologe und Alttestamentler Man­
fred Görg in den Depots des Ägyptischen Museums in Berlin N M OA B
eine Inschrift und rekonstruierte einen stark beschädigten
0 50 km
Namen als »Israel«. Wegen der Schreibweise und aus histori­
schen Gründen könnte die Inschrift aus der Zeit um 1300
v.  Chr. stammen. Rund 100 Jahre jünger ist eine Stele des Im 11. Jahrhundert v. Chr. war Palästina in Einflussgebiete auf­
Pharaos Merenptah, heute im Ägyptischen Museum in Kairo. geteilt. So beherrschten israelitische Stämme, Juda und Jerusalem
Sie vermerkt nach langen Ausführungen über dessen Kriege Gebiete beiderseits des Jordan, Seevölker und Phönizier die
gegen Libyen einen Feldzug nach Palästina. Dort heißt es: Küste. Die Darstellung ist vereinfacht: Scharfe Grenzen lassen sich
»Israel liegt brach und hat kein Saatkorn.« Dies ist sicherlich nicht ziehen, auch gab es eigenständige Übergangszonen.
in dem Sinn zu verstehen, dass es von Hungersnöten be­
troffen war. Laut den meisten Forschern waren mit diesem
Gebiet die neuen Siedlungen im Bergland gemeint. Nach mesgesellschaften entwickelten sich zum größten Teil aus
heu­tigem Wissensstand entstanden dort zwischen 1300 und der erodierenden Kultur der Spätbronzezeit.
1000 v. Chr. rund 300 kleine Siedlungen mit jeweils maxi­ Doch auch die »Seevölker« waren auf der Suche nach neu­
mal 100 Einwohnern. em Land. Zunächst überfielen sie die unter der Hungersnot
Damit ergibt sich ein Gesamtbild der Entwicklung des frü­ darbenden Orte der östlichen Mittelmeerküste, dann dran­
hen Israel, das in Ansätzen bereits 1939 der deutsche Alt­ gen sie plündernd Richtung Nildelta vor und lieferten sich
testamentler und Historiker Albrecht Alt entworfen hat und 1187 v. Chr. eine Schlacht mit den Truppen Ramses III. Dieser
das ab den späten 1980er Jahren vor allem von dem israe­ besiegte die Angreifer. Eine Gruppe nahm nun einen Küsten­
lischen Archäologen Israel Finkelstein mit archäologischen streifen in Beschlag, der etwa zwischen den heutigen Städten
Fakten untermauert wurde. Es gilt heute mit kleinen Modifi­ Tel Aviv und Haifa zu suchen ist. Weiter nördlich, an der Küs­
kationen als Basis für die weitere Forschung. Demnach wan­ te des heutigen Libanon und Syriens, ließen sich andere, die
derte das frühe Volk Israel nicht aus Ägypten ein, sondern nun als Phönizier bezeichnet wurden, in den dortigen Stadt­
wurzelte in den kanaanäischen Stadtstaaten; das Gleiche galt staaten nieder und wurden bald zur erfolgreichsten Seehan­
für die Bewohner der späteren Nachbarstaaten Juda, Edom, delskultur des 1. Jahrtausends v. Chr. An der südlichen levan­
Moab und Ammon sowie für die Aramäer. All diese Stam­ tinischen Küste aber siedelte Ramses III. die Gruppe der Phi­

66  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


lister an – als Söldner sollten sie künftig ägyptisches Gebiet nen die ägyptischen Truppen sehr nahe. Aber ein Ostwind
sichern. Der Pakt währte jedoch nicht lange. Um 1150 v. Chr. hatte das Wasser der ohnehin flachen Seen zurückgetrieben,
vertrieben die Philister ihre Herren, eroberten benachbarte so dass die Flüchtenden hindurchwaten konnten (2. Mose
Landstriche und gründeten die philistäische Pentapolis: den 14,  21), während ihre Verfolger mit ihren Streitwägen im
Städtebund von Gaza, Aschdod, Aschkelon, Gat und Ekron. Schlick der Seen stecken blieben. So entstand einer der ältes­
Weil die wichtigste Nord-Süd-Verbindung durch dessen Ho­ ten Texte des Alten Testaments, das so genannte Miriam-
heitsgebiet verlief, kam der internationale Handel in Rich­ Lied: »Singt Jahwe, denn hocherhaben ist er. Ross und Reiter
tung Ägypten rasch zum Erliegen. Und es dauerte rund 200 warf er ins Meer!« (2. Mose 15, 21). In der späteren Überliefe­
Jahre, bis ein Pharao wieder auf dem Gebiet Palästinas aktiv rung wurde aus dem seichten Gewässer ein Streifen trocke­
werden sollte. ner Boden im See und senkrechten, seitlich aufragenden
Wasserwänden (2. Mose 14, 22). Hollywood schließlich drama­
Gemeinsamkeit macht stark tisierte dieses Eingreifen Gottes in dem Monumentalfilm
Im Bergland festigten sich allmählich die Strukturen, ein re­ »Die zehn Gebote« zu einer Schlucht zwischen viele Meter
gionaler Handel entstand. Ortschaften verbündeten sich in hohen Wasserwänden, die das mächtige Heer des Pharao er­
Krisenzeiten, schlossen sich zu Klans zusammen, mehrere tränkten.
Klans wiederum zu Stämmen. Denn gemeinsam konnte Im Miriam-Lied findet sich eine der ältesten Erwähnun­
man die Habiru bekämpfen, die Ansprüche der verbliebenen gen des Gottes Jahwe. Obwohl wir aus Texten aus dem 2. Jahr­
kanaanäischen Städte abwehren und auch einer neuen Ge­ tausend v. Chr. rund 100 Götter aus dem Raum Syrien und
fahr Herr werden: nomadische Beduinen, die mit ihren Ka­ Palästina kennen, findet er sich in keinem davon. Jahwe war
melen seit Langem schon am Rand des Kulturlandes lebten. nach heutigem Wissen ein Wüstengott, ursprünglich im süd­
Vermutlich ab dem 11. Jahrhundert verfügten sie über Sättel, lichen Ostjordanland südöstlich des Toten Meeres beheima­
die freihändiges Reiten und damit den Kampf vom Kamel­ tet. Ihn verehrten die Nomaden dieser Gegend. Aber auch
rücken aus ermöglichten; entsprechende Abbildungen stam­ diese Nomaden konnten angesichts der erwähnten Klima­
men zwar aus dem 9. Jahrhundert v. Chr., doch dürfte es ge­ katastrophe nicht in ihren angestammten Weidegebieten
wiss Zeit gedauert haben, bis man diese Entwicklung in den überleben und begaben sich nach Ägypten. Das ist durch
Schriftkulturen wahrnahm. Eine Erinnerungsspur dieser entsprechende Texte bezeugt.
Auseinandersetzungen findet sich im Alten Testament: Im Als eine solche Nomadengruppe aus Ägypten floh, erlebte
biblischen Buch der Richter bekämpft der von Gott berufene sie die Hilfe Jahwes bei den Bitterseen. Vermutlich wurden
Gideon erfolgreich den Beduinenstamm der Midianiter, die diese Menschen in Palästina sesshaft und brachten ihren
hier als Erzfeinde Israels dargestellt werden. Gott mit. Das biblische Israel entstand somit als Melange
Die Gruppierungen, die sich im Lauf der Zeit formierten, von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Traditionen.
bildeten die Grundlage für die zwölf Stämme Israels (zu de­ Im Lauf von gut 200 Jahren hatte sich die politische Land­
nen dann auch Juda zählte) – die Zahl hatte religös-kultische schaft der südlichen Levante vollständig verändert, und aus
Bedeutung. Im Alten Testament werden sie alle auf die Söhne einem losen Verbund von Klans wurde unter König David
Jakobs zurückgeführt, der wiederum den Ehrennamen Israel um 1000 v. Chr. ein Machtfaktor in der Region, mit dem man
erhielt (1. Mose 32, 29). Mittels einer Familiengeschichte ver­ rechnen musste.  Ÿ
sucht das Alte Testament – wie bei einem Mythos – die Ur­
sprünge Israels verständlich zu machen. Tatsächlich entstand
DER AUTOR
das neue Volk allmählich aus den Siedlern im Bergland und
den Bewohnern der verbliebenen kanaanäischen Städte in Wolfgang Zwickel lehrt Altes Testament und
den Ebenen. Biblische Archäologie an der Evangelisch-Theo-
logischen Fakultät der Johannes Gutenberg-
Aber es gab durchaus auch Einwanderer, die integriert Universität Mainz.
wurden, genauer gesagt: Heimkehrer! Denn ein Teil der in
Notzeiten nach Ägypten ausgewanderten Semiten kehrte zu­
rück, nachdem sich die Verhältnisse in Syrien und Palästina
wieder gebessert hatten. Dies geschah gegen den Willen der
Ägypter, die billige Arbeitskräfte verloren. Allerdings verfolg­ LITERATURTIPPS
te man solche Arbeitsunwilligen offenbar nur halbherzig.
Clauss, M.: Das alte Israel. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. C.H.Beck
Hatten sie erst einmal die Sinaihalbinsel erreicht, konnten Wissen, München, 4. aktualisierte Auflage 2014
sie sich ohnehin leicht verstecken. Allgemein verständliches Kompendium, von der Frühzeit bis Herodes
Eine solche aus Ägypten entwichene Gruppe dürfte den Zwickel, W. et al. (Hg.): Herders neuer Bibelatlas. Herder, Freiburg
im Breisgau 2013
historischen Kern des Gründungsmythos Israels schlechthin Historisch und archäologisch verlässliche Karten zum Heiligen Land
geliefert haben. An den Bitterseen, dem lang gestreckten Be­ und den Nachbarkulturen
cken zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil des
Sueskanals, in der Bibel als Schilfmeer bezeichnet, kamen ih­ Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1375992

WWW.SPEK TRUM .DE 67


MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN

ZAHLENTHEORIE

Keine Rettung vor dem Abgrund


Bei einem makabren Spiel zwischen einem Gefangenen und einem sadistischen Wärter gibt es
auf die Dauer kein Entrinnen. Diese 80 Jahre alte Vermutung hat Terence Tao jetzt bewiesen.

VON ERICA KLARREICH

D er bekannte ungarische Mathema-


tiker Paul Erdős (1913 – 1996) er-
fand im Lauf seines Lebens Tausende
Wärter sein Opfer, sich ständig nach
links und rechts zu bewegen. Der Ge-
fangene muss eine Folge von Schritten
zuzufügen, ist allerdings zum Scheitern
verurteilt. Der Bösewicht findet dann
unweigerlich eine Möglichkeit, seinen
von Denksportaufgaben. Viele davon finden, mit der er den Gefahren auf bei- Gefangenen über die Klippe oder in die
haben zu überraschend tief greifen­- den Seiten ausweicht. Bewegt er sich Schlangengrube zu stürzen.
den mathematischen Entdeckungen ge- zuerst nach rechts, muss er sofort nach
führt. Eine seiner Lieblingsaufgaben links zurück, sonst ist der Absturz vor- Monsterbeweis für N=3
war das Diskrepanz-Problem. programmiert. Um 1932 stellte Erdős das Problem et-
James Grime, ein Mathematiker von Abwechselnd in beide Richtungen was allgemeiner: Was passiert, wenn Ab-
der University of Cambridge hat eine zu gehen, scheint die Lösung zu sein – hang und Schlangennest drei Schritte
anschauliche Formulierung des Prob- doch hier ist der Haken: Der Gefangene entfernt sind statt zwei? Oder N Schrit-
lems gefunden (Bild S. 69): Ein Mensch muss seine Schrittfolge im Vorhinein te? Kann man auf diesem großzügiger
ist auf einem Felsvorsprung gefan- festlegen, und der Wärter kann bestim- bemessenen Folterfelsen dem Absturz
gen. Zwei Schritte zu seiner Linken be- men, dass jener nur jeden zweiten unendlich lange entkommen? Die Ant-
findet sich ein Abgrund, zwei Schritte Schritt ausführt, beginnend mit dem wort, so mutmaßte Erdős, ist nein – egal
zur Rechten eine Schlangengrube. Um zweiten. Oder er lässt nur jeden dritten, wie weit der Abgrund entfernt ist, man
ihn zu quälen, zwingt ein bösartiger vierten, ... zu. Die Frage lautet: Existiert kann ihm nicht für immer entrinnen.
eine Taktik, mit welcher der Gefangene Mehr als 80 Jahre lang schaffte es
am Leben bleibt, unabhängig von der niemand, Erdős’ Diskrepanz-Vermu-
JOHN D. AND CATHERINE T. MACARTHUR FOUNDATION / CC-BY-4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

Strategie, die sein Peiniger wählt? tung zu beweisen. »Jeder in diesem


Offensichtlich muss der Gefangene Fachgebiet hat sich daran versucht und
sich so unberechenbar wie möglich ver- ist gescheitert«, so Andrew Granville,
halten. Jede Regelmäßigkeit, zum Bei- ein Zahlentheoretiker von der Univer­
spiel dieselbe Folge von fünf Schritten sité de Montréal und dem University
immer wieder auszuführen, wäre töd- College London. »Es ist eines dieser Pro-
lich, denn dann wäre jeder fünfte bleme, über das niemand eine wirklich
Schritt derselbe. Der Sadist könnte sein sinnvolle Arbeit geschrieben hat, weil
Opfer durch Vorgabe der Schrittweite 5 keiner eine kluge Idee hatte.«
leicht ins Verderben schicken. Leider ist Schon das scheinbar einfache Szena-
es äußerst schwierig, jede Spur von rio, in dem Abgrund und Grube drei
Ordnung im eigenen Verhalten zu ver- Schritte weit weg sind, bietet eine enor-
meiden – und auf die Dauer sogar un- me Fülle an Möglichkeiten. Diese Ver­
möglich, wie sich herausstellt. sion des Problems wurde 2014 endlich
Es ist bekannt, dass der Gefangene gemeistert. Boris Konev und Alexei Lisi-
elf Schritte ansagen kann, ohne sich ins tsa von der University of Liverpool (Eng-
Unheil zu stürzen (siehe Kasten land) zeigten, dass man 1160 Schritte
»Schrittfolgen und multiplikative Fol- festlegen kann – aber keinen einzigen
gen«). Der Versuch, einen zwölften hin- mehr. Der von einem Computerpro-
gramm erzeugte Beweis bestand am
Ende aus mehr als 500 Millionen Zeilen –
Terence Tao von der University of Cali­for- mehr, als der Text der englischen Wiki-
nia in Los Angeles wurde berühmt durch pedia umfasst –, lieferte aber keinen An-
den Beweis, dass es arithmetische Prim- haltspunkt für das allgemeine Problem.
zahlfolgen beliebiger Länge gibt (Spek­ Dieses hat nun Terence Tao (Bild
trum der Wissenschaft 4/2005, S. 114). links) vollständig gemeistert. Seinen

68  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Beweis stellte er im September 2015 als tischste Beispiel dafür. »Eigentlich Ende 2009 war Gowers auf der Suche
Vorabveröffentlichung online. Der Ge- müssten diese Dinge sofort klar sein, nach einem weiteren guten Thema da-
winner der Fields-Medaille (2006), der aber irgendwie brauchte es eine Menge für. In einer Folge von Blogeinträgen
größten Auszeichnung für Mathema­ tiefer Ideen und Raffinesse, um dorthin beschrieb er mögliche Projekte und bat
tiker, konnte zeigen, dass es wirklich zu kommen.« seine Leser um ihre Meinungen. Bin-
keine Rettung gibt – es existiert immer Doch ganz im Alleingang hat Tao das nen Kurzem stellte sich das Erdős-
nur eine endliche Anzahl von Schritten, Rätsel nicht geknackt. Timothy Gowers, Diskrepanz-Problem als der eindeutige
die man gefahrlos vorausplanen kann. Mathematiker an der University of Favorit des (fachkundigen) Internet-Pu-
Um das Problem anzupacken, ar­bei­ Cambridge und ebenfalls Träger der blikums heraus.
tete Tao mit speziellen Schrittfolgen, Fields-Medaille, ist der Begründer einer Auch Terence Tao beteiligte sich an
den multiplikativen Folgen. Diese bil- großen mathematischen Onlinekolla- dem Projekt, das fortan als »Poly-
den nicht nur das Herzstück zur Lö- boration namens »Polymath«. In die- math5« im Internet lief. In dessen Ver-
sung des Erdős-Diskrepanz-Problems, sem Forum kann jeder, vom Preisträger lauf stellte er fest, dass es im Grunde
sondern liegen auch einigen der wich- bis zum Amateur, Ideen und Lösungs- ausreicht, das Diskrepanz-Problem für
tigsten Probleme der Zahlentheorie zu teile beisteuern, anstatt sich isoliert in multiplikative Folgen zu lösen. Deren
Grunde, beispielsweise der Verteilung ein schwieriges Problem zu verbeißen. Definition lautet, dass der (n · m)-te Ein-
der Primzahlen (Spektrum der Wissen- Besonders Tao ist dafür bekannt, dass trag aus dem n-ten, multipliziert mit
schaft 9/2008, S. 86). er viele Einfälle in seinem Blog oder auf dem m-ten berechnet wird, snm  =  sn  · sm .
Bisher, so Granville, habe man an der Polymath-Plattform diskutiert. Aus Zum Beispiel wäre das sechste Folgen-
den multiplikativen Funktionen jede einer riesigen Anzahl kleiner, oft un- glied das Produkt aus dem zweiten und
Menge nicht verstanden, und das Erdős- vollständiger Beiträge sind so schon ei- dem dritten. Solche Folgen bieten tat-
Diskrepanz-Problem sei nur das exo- nige neue Beweise entstanden. sächlich hohe Erfolgsaussichten: Da
nur +1 und –1 als Einträge möglich
sind, ist jede Unterfolge mit fester
Ein Abhang liegt zwei Schritte zur Linken, eine Schlangengrube zwei Schritte zur Rech- Schrittweite immer gleich der Aus-
ten. Gibt es eine Serie von Schritten, die beide Gefahren vermeidet, auch wenn nur jeder gangsfolge oder deren Spiegelbild. Die
zweite, dritte, oder N-te geplante Schritt ausgeführt werden darf? Sequenz, die aus jedem dritten Eintrag
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK

WWW.SPEK TRUM .DE 69


MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN

besteht, ist die ursprüngliche, multipli- sich Tao. Aber das Problem schien am von der Rutgers University in New
ziert mit dem dritten Folgeneintrag, Ende irgendwie zugänglicher, meint er. Brunswick (New Jersey) fanden einen
also entweder +1 oder –1. Hat man eine Vorher war es »wie eine riesige Kugel Weg, die Abhängigkeiten unter nicht
erfolgreiche Hauptfolge gefunden, er- aus massivem Eisen, die man hätte an- allzu weit voneinander entfernten Glie-
hält man daraus automatisch eine Liste heben müssen, aber sie war komplett dern einer multiplikativen Folge zu ver-
mit sicheren Schritten für jede Schritt- glatt«, so Tao. Diese Analogie schreibt er stehen – eine Leistung, die lange uner-
weite, die der Wärter wählt. Gowers zu. Nach Polymath5 »hatte das reichbar schien.
Multiplikative Folgen wurden in der Problem Henkel. Damit konnte man Tao arbeitete daraufhin mit Ma-
Vergangenheit bereits intensiv stu- zumindest versuchen, es an einen Kran tomäki und Radziwiłł zusammen an
diert. Viele grundlegende Fragen dazu zu hängen.« möglichen Anwendungen ihrer Metho-
hatten sich allerdings standhaft einer Im Januar 2015 unternahmen zwei de auf Probleme der Zahlentheorie. In
Lösung widersetzt. Ebenso erging es Mathematiker die ersten Schritte, die- einem Blogbeitrag vom 6. September
dem Erdős-Diskrepanz-Problem, wie sen Kran zu bauen – obwohl ihnen das 2015 erwähnte er, dass ihn das Problem
die Organisatoren des Projekts Poly- nicht von Anfang an klar war. Kaisa an ein Sudoku-Rätsel erinnere. Ein paar
math feststellen mussten. »Bis 2012 Mato­mäki von der Universität Turku Tage später postete der Lehrer Uwe
war [das Projekt] versandet«, erinnert in Finnland und Maksym Radziwiłł Stroinski aus Reutlingen den Kommen-

Schrittfolgen und multiplikative Folgen


Diskrepanz-Probleme in der Mathematik beschäftigen sich mit Diskrepanz der Folge, das heißt die Summe der Folgenglieder,
der »Ausgeglichenheit« von so genannten Färbungen von ist also +1. Darf er nur jeden zweiten Schritt unternehmen, be-
Mengen. Streicht man beispielsweise die ersten 100 natürli- ginnend beim zweiten, ist die Diskrepanz wiederum +1, bei je-
chen Zahlen nach einem Zufallsverfahren entweder rot oder dem dritten Schritt ist sie –1. Man überzeugt sich leicht, dass bis
blau an, gibt die Diskrepanz den Unterschied zwischen der An- Schrittweite 11 nie eine Diskrepanz größer als 1 auftritt; der Wär-
zahl der beiden Zahlensorten an. Allgemeiner fragen Mathe- ter schafft es somit nicht, sein Opfer von der Klippe zu stoßen.
matiker, wie die Diskrepanz von der Fär- Versucht man allerdings einen weiteren Schritt anzufügen, so
bung abhängt – insbesondere unter gewinnt der Böse.
+1
­welchen Umständen sie auch bei unend- Sind die beiden Gefahren jeweils drei Schritte weit weg, sind
lichen Folgen endlich bleibt. Verwendet sogar 1160 Schritte möglich, wie Konev und Lisitsa 2014 zeigen
+1
man statt rot und blau die Kennzeichen konnten – aber wiederum kein einziger mehr.
–1 +1 und –1, so ist die Diskrepanz einer Fol- Taos Beweis der Diskrepanz-Vermutung stützt sich auf eine
ge die Summe über alle Kennzeichen bis spezielle Art der Schrittfolgen, so genannte multiplikative Fol-
–1 zu einer gewissen maximalen Nummer. gen. Deren Glieder werden nach dem Gesetz snm  = sn sm gebildet.
Die Vermutung von Erdős lautet: Ge- Beispiel:
+1 geben ist eine Folge der Zahlen +1 und s1   =  +1, s2  = –1, s3  = +1, s4  = +1, s5  = –1, s6  = –1, s7  = +1, s8  = –1, s9  = +1,
–1. Dann kann man zu jeder Zahl c eine s10  = +1, s11  = +1, s12  = +1, ...
+1 Schrittweite k wählen, so dass die Dis- Solche Folgen beginnen immer mit +1. Die Einträge, deren Num-
krepanz der Teilfolge, die aus jedem k- mer eine Primzahl ist, können beliebig gewählt werden; alle an-
–1 ten Element der ursprünglichen Folge deren ergeben sich automatisch. Zum Beispiel ist das sechste
besteht, über c hinauswächst. Folgenglied das Produkt aus dem zweiten und dem dritten.
+1 Für das Diskrepanz-Problem kommt es auf die Teilfolgen an,
Falls Abgrund und Schlangengrube je- die aus jedem k-ten Schritt bestehen. In Formeln: tn = skn. Für
CHRISTOPH PÖPPE;  GEFANGENER: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK

–1 weils zwei Schritte entfernt sind, gibt es Schrittweite k = 2, tn = s2n, erhält man aus dem obigen Beispiel
eine Vorschrift, die den Gefangenen im- die Teilfolge:
–1 merhin elf Schritte lang am Leben hält. t1 = s2 = –1, t2 = s4 = +1, t3 = s6 = –1, t4 = s8 = –1, t5 = s10 = +1, t6 = s12 = +1, ...
Ersetzt man »rechts« durch +1, »links« Für k = 3 ergibt sich: t1 = s3 = +1, t2 = s6 = –1, t3 = s9 = +1, t4 = s12 = +1, ...
+1 durch –1, so lautet diese: Die Teilfolgen reproduzieren die Ausgangsfolge, multipli-
s1  = +1, s2  = –1, s3  = –1, s4  = +1, s5  = –1, s6  = +1, ziert mit dem k-ten Element, also +1 oder –1. Für den Gefange-
s7  = +1, s8  = –1, s9  = –1, s10  = +1, s11  = +1 nen im Diskrepanz-Problem scheinen solche Folgen ideal: Hat
(Bild links). Darf der Gefangene jeden er eine Folge gefunden, die seinen Absturz verhindert, kann er
Schritt ausführen, bewegt er sich stän- getrost jede vom Wärter aufgezwungene Teilfolge verwenden –
dig hin und her und endet rechts. Die schlimmstenfalls startet er in die andere Richtung.

70  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


TERENCE TAO / CC-BY-SA-2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.0/LEGALCODE)
Schon 1985 trafen sich der
damals zehnjährige Terence
Tao und Paul Erdős auf einer
Mathematikkonferenz. Sie
unterhielten sich – natürlich –
über mathematische Proble-
me. Jahre später schrieb
Erdős eine Empfehlung für
Tao, die ihn an die Princeton
University brachte.

tar, dass das Erdős-Diskrepanz-Problem Zahlenfolgen übertragen (SdW 9/2014, Gil Kalai von der Hebräischen Universi-
auf ihn ebenfalls wie ein Sudoku wirke. S. 16). Die Entropie einer Folge ist umso tät Jerusalem. Auch Tao ist von seinem
Und er stellte die Frage, ob der Zugang größer, je weniger man aus ihrem bis- »Zaubertrick« begeistert. »Ich hoffe,
von Matomäki und Radziwiłł auch auf her bekannten Verhalten auf das in der dass damit noch viele andere Dinge be-
dieses anwendbar sei. Zukunft schließen kann. wiesen werden können.«  Ÿ
»Nein, ich denke nicht«, war Taos
knappe Antwort. Mit der genannten Der Zaubertrick mit der Entropie DI E AUTORI N
Methode findet man Vorschriften, die Tao teilt nun die Folge in Blöcke auf; die
den Gefangenen für einige Zeit am Le- sind gewissermaßen das Publikum sei- Erica Klarreich hat in
ben halten. Aber für das umgekehrte nes Zaubertricks. Für jeden neuen Block Mathematik promo-
viert und ist Wissen-
Problem, zu zeigen, dass jede Taktik am muss eine von zwei Möglichkeiten ein- schaftsjournalistin in
Ende scheitern muss, schien sie unge- treten, wie Tao beweisen kann: Entwe- Berkeley (Kalifornien).
eignet. Als Tao sich allerdings näher mit der gewinnt der Böse, oder die Entropie Ihre Artikel erschienen
im »Quanta Magazine«,
Stroinskis Frage beschäftigte, erkannte der Folge sinkt um einen bestimmten
in »Nature« und »Scien-
er, dass seine reflexhafte Antwort falsch Wert. Aber dass jeder Block sozusagen tific Ame­rican«.
war. Er könnte die Erdős-Vermutung die Auswahl zwischen beiden Möglich-
beweisen, sollte er es schaffen, be- keiten hat, verhindert den Zaubertrick QUELLEN
stimmte komplizierte Summen unter nicht. Die Entropie kann nämlich nie-
Gowers, W. T.: Erdős and Arithmetic
Kontrolle zu bringen. mals negativ werden. Also muss irgend- Progressions. arXiv:1509.03421
Nun packte Tao das Diskrepanz-Pro- wann ein Block auftauchen, bei dem die Konev, B., Lisitsa, A.: Computer-Aided
blem von Neuem an. Eines Nachmit- einzige Möglichkeit ist, dass der Wärter Proof of Erdős Discrepancy Properties.
In: Artificial Intelligence 224, 102–118,
tags, während er darauf wartete, dass siegt. Mathematisch ausgedrückt zeigt 2015. Online unter arXiv:1405.3097
sein Sohn aus der Klavierstunde kam, Taos Arbeit, dass die Teilsummen der Matomäki, K., Radziwiłł, M.: Multiplica-
flog ihm die Antwort zu: Er würde ein multiplikativen Folge beliebig groß tive Functions in Short Intervals.
arXiv:1501.04585
Argument verwenden »wie einen Zau- werden. Sie bietet allerdings keine Mög- Tao, T.: The Erdos Discrepancy Problem.
bertrick: Der Zauberkünstler gibt dem lichkeit, den Wert dieser Summen für arXiv:1509.05363
Publikum zwei Optionen, und es sieht eine gegebene Folge zu berechnen.
so aus, als hätten die Zuschauer die Tao löste dieses Problem innerhalb WEBLI N KS
Kontrolle. Aber der Magier hat den von nur einem Monat. Das ist »ein er-
Dieser Artikel und Links zu den im Text
Trick so geplant, dass er funktioniert, staunlicher Beleg seiner Stärke«, meint genannten Publikationen im Internet:
egal welche Wahl du triffst.« Granville. »Verbeißt er sich erst in et- www.spektrum.de/artikel/1378800
Zentral für Taos Argumentation ist was, kann er es nicht mehr loslassen.«
der Begriff der Entropie. Eigentlich aus Der Beweis wurde zwar bislang nicht Nach der redigierten Fassung aus
der Thermodynamik stammend, wo er vollständig von Kollegen geprüft, es ha- Quantamagazine.org, einem inhaltlich
unabhängigen Magazin der Simons
das Maß der Unordnung in einem Gas- ben aber auch noch keine Experten Be- Foundation, die sich die Verbreitung
von Forschungsergebnissen aus
behälter beschreibt, lässt er sich auf dy- denken angemeldet. »Ich bin total zu- Mathematik und den Naturwissen-
namische Systeme aller Art und sogar versichtlich«, sagt der Mathematiker schaften zum Ziel gesetzt hat.

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CENTERS FOR DISEASE CONTROL AND PREVENTION (CDC)

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SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016
ERDE & UMWELT

ÖKOLOGIE

Die Katastrophe
hinter Ebola
Die Ebolaepidemie in Westafrika scheint eingedämmt.
Was bleibt, sind die sozialen und ökologischen Verwerfungen,
die sie erst ermöglichten.
Robert L. Dorit

CENTERS FOR DISEASE CONTROL AND PREVENTION (CDC)

Der Ebolaausbruch von 2014 führte vor Augen, wie schnell Epidemien politische und ökologische
Barrieren überwinden können. Das Bild zeigt einen Grenzübergang zwischen Guinea,
wo die Epidemie begann, und Sierra Leone, wohin sich ihr Schwerpunkt als Nächstes verlagerte.

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A
m ersten Weihnachtsfeiertag 2013 wurde der AUF EINEN BLICK
zweijährige Emile Ouamouno krank. Der Junge,
der in dem kleinen Dorf Méliandou in Guinea KRANK WEGEN ZERSTÖRTER ÖKOSYSTEME
lebte, hatte in den Wochen zuvor mit seinem
Freund am Rand der Siedlung gespielt. Dabei hielten sich die
beiden gelegentlich in der Nähe eines ausgehöhlten Baums
1
Die Ebolaepidemie 2014 in Westafrika war der schlimmste
Ausbruch dieser Krankheit, der bisher verzeichnet wurde. Mehr
als 11 000 Menschen starben.
auf. Niemand konnte ahnen, dass hier eine beispiellose Welle
tödlicher Infektionen ihren Anfang nahm. Den Baum be-
wohnten tausende Fledertiere, darunter die weit verbreite-
2
Verschiedene Faktoren trugen dazu bei, dass die Infektionswel-
le so verheerend wütete. Eine große Rolle spielten die
massiven Umweltzerstörungen in den betroffenen Regionen.
ten, etwa mausgroßen Angola-Bulldoggfledermäuse (Mops
condylurus). Eine von ihnen muss den kleinen Emile mit
dem Ebolavirus infiziert haben, so dass der Erreger von sei-
3
Auch künftig kann die Ebolaseuche wieder ausbrechen – oder
eine andere, bisher unbekannte Infektionskrankheit. Um das zu
verhindern, ist eine bessere medizinische Infrastruktur nötig sowie
nem tierischen Wirt auf den Menschen übersprang. eine engere Verzahnung von Umwelt- und Gesundheitspolitik.
Sechs Tage später starb der Junge. Er war das erste Opfer
einer verheerenden Ebolaepidemie, die in den folgenden
Monaten in Westafrika grassierte und vielerorts blanke Panik
verursachte. Von allen 22 Ausbrüchen der Seuche, die seit die infizierte Fledermaus überhaupt in Kontakt miteinander
1975 dokumentiert worden sind, war dies mit Abstand der kamen und dass andere Menschen das Virus später großräu-
schlimmste. Schon 1995 hatte das Virus eine Spur des To- mig verbreiteten, ist unter anderem das Ergebnis dramati-
des in Zaire hinterlassen, als es 315 Menschen infizierte, von scher Umweltzerstörungen. Méliandou, einst umgeben von
denen 254 starben. Die Epidemie jedoch, die 2014 um sich üppigen tropischen Wäldern, liegt heute in einer kahl ge-
griff, übertraf dieses Ausmaß bei Weitem. Laut Weltgesund- schlagenen Landschaft mit erodierten Böden. Der west­
heitsorganisation (WHO) hatten sich bis zum 15. November afrikanische Regenwald Guineas, anerkannt als Gebiet be-
2015 insgesamt 28 634 Men- sonderen Artenreichtums
schen mit dem Ebolavirus (»global biodiversity hot-
infiziert; 11 314 von ihnen Fast allen dokumentierten Ebola- spot«), schrumpfte in den
starben daran. ausbrüchen gingen umfangreiche zurückliegenden Jahrzehn-
Warum dieser Ebolaaus- ten auf 18 Prozent seiner ur-
bruch so viel schlimmer war
Abholzungen voraus sprünglichen Größe. Emiles
als alle zuvor, ist nicht ab- Heimatland hat seit Mitte
schließend geklärt. Der Verlauf einer Epidemie hängt von der 1980er jedes Jahr etwa ein Prozent seiner Waldflächen
zahlreichen Umständen ab: biologischen, ökonomischen, verloren. In der Umgebung Méliandous war die Abholzung
kulturellen, politischen sowie schlicht zufallsbedingten. Vor- besonders dramatisch: Mehr als 80 Prozent der bewaldeten
angegangene Ebolawellen hatten zwar ganze Gemeinden Flächen verschwanden und machten Ölpalmen- und Obst-
ausgelöscht, waren aber immer auf wenige Dörfer begrenzt plantagen Platz.
geblieben. Dass die aktuelle Ebolaepidemie gerade dort ihren Ur-
2014 lief das komplett anders. Ende Januar war die Infek­ sprung nahm, kann daher kaum überraschen. Fast alle doku-
tion auf mehrere Mitglieder von Emiles Familie überge- mentierten Ebolaausbrüche ereigneten sich in Gegenden, in
sprungen und hatte sie getötet. Im Februar trat das Virus in denen kurz vorher umfangreiche Abholzungen stattgefun-
Orten auf, die 80 Kilometer von Méliandou entfernt lagen – den hatten. Solchen Landschaftsveränderungen müssen sich
es war dorthin verschleppt worden von Pflegekräften und die Einwohner zwangsläufig anpassen. Auf der Suche nach
Trauernden, die an den Bestattungen der ersten Ebolaopfer Arbeit und während einer Epidemie auch auf der Suche nach
teilgenommen hatten. Mitte März erkrankten bereits Men- medizinischer Versorgung, entfernen sie sich immer weiter
schen, die mehr als 160 Kilometer entfernt von jenem hoh- von ihren Heimatdörfern. Anfang 2014, als das Virus bereits
len Baum lebten, an dem Emile gespielt hatte. über dutzende Kilometer verschleppt worden war, hatten die
nationalen Gesundheitsbehörden die steigenden Erkran-
Armut und Umweltzerstörung kungszahlen noch nicht einmal bemerkt – geschweige denn
Geografische Umstände verschärften die Lage noch zusätz- den Erreger als Ursache identifiziert.
lich. Das Dorf Méliandou liegt an der Nahtstelle dreier Län- Wie alle Viren kann der Ebolaerreger nicht selbstständig
der: Guinea, Sierra Leone und Liberia. Alle drei gehören zu überleben, sondern ist hierfür auf Wirtsorganismen ange-
den ärmsten Staaten der Welt; zwei von ihnen haben jahre- wiesen. Er bringt sie dazu, wichtige molekulare Vorgänge sei-
lange bewaffnete Konflikte hinter sich. Diese Umstände be- nes Lebenszyklus für ihn auszuführen, einschließlich der
schleunigten die Ausbreitung des Virus. Produktion neuer Viruspartikel. Welche Konsequenzen dies
Zudem spielten ökologische Veränderungen eine bedeu- für den Wirt hat, hängt davon ab, welcher Spezies er ange-
tende Rolle für das Ausmaß der Epidemie. Dass Emile und hört. Normalerweise befällt das Virus Fledertiere. Flughunde,

74  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Zentral-
Guinea Nigeria afrikanische
Ghana Süd-
Republik
sudan

Sierra
Leone
Togo
Liberia Elfenbein- Kamerun Äthiopien
Modellrechnungen zeigen, in welchen küste-

PIGOTT, D.M. ET AL.: MAPPING THE ZOONOTIC NICHE OF EBOLA VIRUS DISEASE IN AFRICA.
IN: ELIFE 10.7554/ELIFE.04395, 2014, FIG. 5B / CC-BY-4.0 (HTTP://CREATIVECOMMONS.ORG/
Äquatorial- Uganda
afrikanischen Regionen das Risiko am
guinea
höchsten ist, dass das Ebolavirus auf den Gabun Ruanda
Menschen überspringt. Die fraglichen hoch Republik Kongo Burundi

LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE); BEARBEITUNG: AMERICAN SCIENTIST


Tansania
Regionen sind rot gekennzeichnet. Das
Mosambik

Risiko einer Übertragung von


Modell berücksichtigt ökologische Angola

Tieren auf Menschen


Parameter wie die Höhe über dem Meeres-
Länder mit gemel-
spiegel, die Verbreitung dreier Fleder- deten Indexpatienten Demokratische
tier­arten, die Vegetationsdichte, die (Personen, bei denen die Republik
Ausbreitung der Krank- Kongo
Temperatur an der Erdoberfläche sowie heit ihren Anfang nahm)
die Verdunstungsrate. Die letzten vier Länder mit Übertragungs- Madagaskar
Variablen hängen vom Grad der Ent- risiko, aber ohne gemeldete
waldung ab. niedrig Indexpatienten

die häufigsten Wirte, spüren kaum negative Auswirkungen: jene, die Erregern normalerweise am besten widerstehen –
Anscheinend haben sie und der Erreger sich evolutionär gut die Jungen und Gesunden –, der Krankheit sehr häufig zum
aneinander angepasst. Je nach Untersuchung haben zwi- Opfer.
schen 10 und 40 Prozent der wild lebenden Flughunde schon Auf Grund bestimmter Traditionen, die in der ländlichen
einmal Kontakt mit Ebolaviren gehabt und zeigen eine kräf- Bevölkerung Guineas verbreitet sind, überschritt die Epide-
tige Immunreaktion dagegen. mie rasch die Landesgrenzen. Sowohl familiäre als auch ge-
Doch sobald das Virus aus seinem angestammten Wirts- schäftliche Bindungen führen zu ständigen gegenseitigen
reservoir ausbricht und auf andere Säugetiere übergreift, Besuchen, und das ermöglichte die rasche Verbreitung des
wirkt es tödlich. Dabei kann es nicht nur Menschen, sondern Virus in der frühen Phase des Ausbruchs.
auch andere Primaten befallen. In den Jahren 2002 und 2003 Selbst zwischen Lebenden und Toten gab es keine Barrie-
starben während einer Ebolaepidemie im Kongo fast 5000 re, die den Erreger wirksam behinderte. Während die meis-
Gorillas an der Infektion. Primaten sind keine natürlichen ten Viren nur von lebenden Wirten übertragen werden, ist
Wirte des Virus, und deshalb fehlt ihnen die evolutionär er- das bei Ebola nicht der Fall. Körper von Erkrankten, die ge-
worbene Fähigkeit, mit dem Erreger zu koexistieren. In die- storben sind, bleiben bis zu sieben Tage nach dem Tod infek-
sem Licht betrachtet lässt sich der Ausbruch 2014 in West­ tiös. Deshalb bergen rituelle Bestattungen der Opfer ein ho-
afrika besser verstehen. Er war unter anderem deshalb so hes Ansteckungsrisiko. Zu Beginn der Epidemie erkrankten
verheerend, weil Barrieren, die ihm normalerweise im Weg nicht nur zahlreiche Pflegekräfte, die sich um die Patienten
stehen, großteils zerstört waren: Grenzen zwischen Fleder- kümmerten, sondern auch etliche Familienangehörige und
tieren und Menschen, zwischen Méliandou und umgeben- nahe Bekannte der Verstorbenen, die diese für die Beiset-
dem Wald, zwischen intaktem Wald und zerstückelter Kultur- zung vorbereitet hatten. Das erschwerte die Eindämmung
landschaft. der Infektionswelle zusätzlich.
Während Fledertiere die Fähigkeit erworben haben, Ebola-
infektionen unter Kontrolle zu halten, ist das Immunsystem Der verfrühte Optimismus
des Menschen den Viren nicht gewachsen. Der Erreger befällt des 20. Jahrhunderts
nämlich ebenjene Zellen unserer Körpers, die das Immun- In der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts sind geografi-
system vor fremden Eindringlingen warnen sollten. Ebola sche Entfernungen viel weniger relevant als früher. Jede neu
bringt diese Zellen zum Schweigen und kapert ihre Synthese- auftauchende Krankheit hat das Potenzial, sich rasch und
maschinerie. Die fremdgesteuerten Zellen produzieren dar- weiträumig auszubreiten. Ein effektives Gegensteuern erfor-
aufhin neue Viruspartikel, während das sonst so aufmerksa- dert daher, Ausbrüche möglichst früh zu erkennen. Glück
me Immunsystem untätig bleibt. Erst nachdem zahlreiche und Zufall spielen hierbei immer eine Rolle. Doch solange
virale Vervielfältigungszyklen durchlaufen sind, schlagen die wir die ökologischen Rahmenbedingungen von Infektions-
infizierten Zellen Alarm, indem sie bestimmte Moleküle aus- wellen nicht ausreichend berücksichtigen, bleibt die Vorher-
schütten, so genannte Zytokine. sage der nächsten Epidemien ein pures Ratespiel. Der Ebola-
Damit allerdings stürzen sie den Organismus erst richtig ausbruch fiel nicht vom Himmel, sondern begann inmitten
ins Chaos. Der Körper setzt auf den Alarm hin eine über- einer menschengemachten Zone ökologischer Zerstörung.
schießende Immunreaktion in Gang, die Blutgefäße und Im zurückliegenden Jahrhundert waren manche Biologen
­Organe zerstört, oft mit tödlichen Folgen. Das Ebolavirus ist so gut wie sicher, dass Infektionskrankheiten bald der Ver-
also deswegen so gefährlich, weil es die Immunreaktion des gangenheit angehören würden. Ab Mitte der 1960er bis in die
Körpers auf diesen selbst lenkt. Und genau darum fallen 1970er Jahre hinein ließen verbesserte Hygiene, erfolgreiche

WWW.SPEK TRUM .DE 75


Dazu trägt auch die wachsende Anzahl von Haus- und
MEHR WISSEN BEI
Nutztieren bei, die den Erregern häufig als Zwischenwirte
Unser  dienen, bevor sie auf den Menschen überspringen. Der kau-
Online-Dossier sale Zusammenhang zwischen Massentierhaltung und neu-
zum Thema  en Infektionskrankheiten mag nicht offensichtlich sein.
»Ebola«  Doch ist er eine unausweichliche Folge der industrialisierten
finden Sie unter Landwirtschaft – und unterstreicht einmal mehr, wie wichtig
FOTOLIA / NANOMAN PRO

es ist, neue Seuchen in einem ökologischen Kontext zu be-


www.spektrum.de/ trachten. Wanderungs- und Ausbreitungsbewegungen von
t/ebola Wirten, Zwischenwirten und Krankheitsüberträgern, verur-
sacht von Eingriffen in die Umwelt, spielen eine zentrale Rol-
le im Infektionsgeschehen.
Impfprogramme und hochwirksame Antibiotika den Ein- Jede Epidemie ist einzigartig, so auch der aktuelle Ebola-
druck entstehen, man müsse sich bald nicht mehr vor anste- ausbruch in Westafrika. Besondere zeitliche und räumliche
ckenden Keimen fürchten. Tatsächlich sanken sowohl die Umstände erlaubten es dem Virus, in der menschlichen Be-
Häufigkeit von Infektionskrankheiten als auch die Zahl der völkerung Fuß zu fassen, und eine Serie von Fehleinschät-
durch sie verursachten Todesfälle dramatisch, insbesondere zungen seitens lokaler Behörden und internationaler Orga-
in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Schrieb man die- nisationen begünstigten seine rapide Verbreitung. Meiner
sen Trend in die Zukunft fort, erschien der Sieg über die Erre- Ansicht nach offenbarte sich in dem Ausbruch jedoch, eben-
ger als gewiss. so wie in praktisch allen anderen Epidemien der vergange-
Doch leider war der Optimismus verfrüht. Schon bald nen 30 Jahre, unser zunehmend gestörtes Verhältnis zur üb-
tauchten erste antibiotikaresistente Bakterienstämme auf rigen belebten Welt.
und stellten die Mediziner vor neue Probleme (siehe SdW Natürlich gehörten Krankheitserreger schon immer zur
3/2015, S. 36). In den frühen 1980er Jahren trat zudem mit Biosphäre. Innerhalb eines funktionierenden Ökosystems
dem Aidsvirus (HIV) ein bis dahin völlig unbekannter Krank- jedoc­h regulieren sich ihre Auswirkungen von selbst. Die
heitserreger auf den Plan. meisten Viren überdauern
Er verursachte die verhee- bei begrenztem Durchseu-
rendste Epidemie seit der In- Krankheitserreger von Tieren chungsgrad ihrer Wirtspo-
fluenzapandemie von 1918,
­haben heute öfter Gelegenheit, auf pulationen, und die Wirte
der so genannten Spani- infi­zieren sich üblicherwei-
schen Grippe. Auch HIV war uns überzuspringen se, ohne schwer wiegende
mehrfach von seinen natür- Krankheitssymptome zu
lichen Wirten, nichtmenschlichen Primaten, auf den Men- entwickeln. Wenn Erreger auftauchen, die sich plötzlich in
schen übergesprungen – und zwar stets in Regionen mit der Bevölkerung verbreiten, dann in der Regel nicht deshalb,
starkem Bevölkerungswachstum und massiven Eingriffen in weil sie überraschend ihre Eigenschaften verändert haben –
die Umwelt. Als »Trittbrettfahrer« ökonomisch bedingter sondern weil wir die Grenzen ihrer natürlichen Nische nie-
Migration eroberte HIV die Welt und etablierte sich dauer- dergerissen haben.
haft in seinen neuen Wirten. Das Zeitalter der naiven Hoff- Die meisten Krankheitserreger sind so eng an ihren natür-
nungen war vorüber: Es setzte sich die Erkenntnis durch, lichen Wirt angepasst, dass sie nicht ohne Weiteres im
dass Infektionskrankheiten ein unvermeidlicher Aspekt des menschlichen Organismus Fuß fassen können. Es kommt
Lebens sind. zwar ständig vor, dass Viren von einer Spezies auf eine ande-
re überspringen, aber meist erweist sich dies als Sackgasse:
Mehr Menschen, mehr Nutztiere, Die Pathogene überleben in der neuen Wirtspopulation
mehr Vireninfektionen nicht dauerhaft. Wahrscheinlich schätzen Epidemiologen
Aktuelle Prognosen von Mikrobiologen wirken durchaus be- die Gefahr neuer Infektionskrankheiten deutlich zu niedrig
unruhigend. So hat die Rate, mit der neue und für den Men- ein, da sie viele fehlgeschlagene »Anläufe« von Keimen, Spe-
schen potenziell bedrohliche Viren entdeckt werden, in den ziesgrenzen zu überwinden, überhaupt nicht bemerken.
zurückliegenden 60 Jahren nicht abgenommen. Wir müssen Doch menschliche Aktivitäten haben zur Folge, dass die
damit rechnen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts auf 10 bis Erreger öfter Gelegenheit bekommen, auf uns überzusprin-
40 weitere gefährliche Erregerspezies zu stoßen. Angesichts gen – und entsprechend häufiger damit Erfolg haben. Wir
einer stetig wachsenden Weltbevölkerung birgt das beträcht- sind in erheblichem Ausmaß in die Lebensräume wilder
liche Risiken. Selbst wenn man berücksichtigt, dass sich die ­Tiere eingedrungen, was diese mitsamt ihren Krankheits­
Überwachungsmöglichkeiten immer weiter verbessern, wird erregern dazu zwingt, in immer engerer Nachbarschaft zu
die Zahl neu auftretender Infektionskrankheiten künftig uns zu leben. Emile wäre der infizierten Fledermaus wahr-
steigen. scheinlich nie begegnet, wenn nicht die Wälder rund um

76  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


­ éliandou so umfassend abgeholzt worden wären. Beinahe
M Die viralen Genome einiger der allerersten Patienten wurden
zwei Drittel der Infektionsleiden, die in den vergangenen binnen Wochen vollständig sequenziert und analysiert, was
50 Jahren neu aufgetreten sind, waren ursprünglich Tier­ noch vor fünf Jahren unmöglich gewesen wäre.
erkrankungen, und meist stammten die Erreger von Wild- Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Artikels scheint
und nicht von Nutztieren. der Ausbruch weitgehend unter Kontrolle. Am 7. November
Die Barrieren, die Viren und Bakterien einst in ihren na- 2015 hat die WHO die Epidemie in Sierra Leone für beendet
türlichen Wirtspopulationen gefangen hielten, sind heute erklärt, nachdem mehr als 42 Tage lang kein neuer Fall mehr
durchlässig geworden. Umfassende Entwaldung und Land- aufgetreten war. Das entspricht dem Doppelten der maxi-
wirtschaft bis in kaum noch urbar zu machende Gebiete malen Inkubationszeit des Virus, die meist mit 2 bis 21 Tagen
­hinein bringen Menschen und Wildtiere enger zusam- angegeben wird. In Liberia galt die Seuche seit dem 3. Sep-
men. Häufig sind die Einwohner solcher kargen Regionen tember 2015 als überwunden, das Land meldete allerdings
bei eher schlechter Gesundheit und müssen weite Strecken im November neue Erkrankungen. Für Guinea wurden im
zurücklegen, um an Fleisch zu kommen, mit dem sie ihren Oktober und November 2015 nur noch vereinzelt Infektio-
dürf­tigen Speiseplan aufwerten können. Und je öfter sie da- nen dokumentiert. Weitere Staaten, in denen die Krankheit
bei in Kontakt mit wilden Tieren kommen, umso weniger auftrat, verzeichnen schon seit Ende 2014 keine Neuerkran-
lässt sich ein erfolgreiches Überspringen von Erregern ver- kungen mehr. Die Welt atmet auf – erleichtert, dass sich die
meiden. düsteren Prognosen von Millionen Ebolafällen nicht bewahr-
heitet haben. Schon wendet sich die Aufmerksamkeit ande-
Wenn pathogene Mikroorganismen neue ren Krisenherden zu. Die afrikanischen Länder, in denen die
Lebensräume erobern Seuche tobte, machen sich an den gesellschaft­lichen und
In diesem Licht betrachtet sind neu auftretende Krankheits- wirtschaftlichen Wiederaufbau. Doch das Ebolavirus ist nicht
keime nichts anderes als invasive Spezies. Welchen Verlauf verschwunden: Es lauert weiterhin in Wildtierpopula­tionen
ihre Invasion nimmt, hängt davon ab, wie stark die Biodiver- und vielleicht auch in der Sperma- und Augenflüssigkeit von
sität in ihrem Verbreitungsgebiet gelitten hat. Bei schwin- Menschen, die die Infektion überlebt haben.
dender Vielfalt potenzieller Wirte bleiben am Ende nur noch Der aktuelle Ebolaausbruch lehrt, dass sich Epide­mien
Menschen und ihre Nutztiere als mögliche Ziele übrig. Die um politische Grenzen ebenso wenig scheren wie um ethni-
Annahme, dass der Rückgang der Biodiversität das Risiko sche. Auch Entfernungen spielen kaum noch eine Rolle: Erre-
neuer Erkrankungen erhöht, ist unter anderem in das so ge- ger können sich binnen Tagen rund um den Globus vertei-
nannte Verdünnungseffektmodell (»dilution effect model«) len. Aufkommende Epidemien müssen also früher erkannt
eingeflossen. Dessen Ergebnisse stimmen gut überein mit und rascher eingedämmt werden. Vor ­allem aber müssen wir
Beobachtungsdaten zur Verbreitung verschiedener Patho­ uns darüber klar werden, dass Infek­tionswellen nicht einfach
gene, etwa Hanta- und Ebolaviren. medizinische Krisen darstellen, sondern in großem Maß
Auch bakterielle Infektionen lassen sich mitunter als in- ökologisch bedingt sind. Öffent­liche Gesundheit und Um-
vasiv beschreiben. Rund ein Fünftel der Infektionskrankhei- weltpolitik sind untrennbar mit­einander verbunden.  Ÿ
ten, die seit den 1980er Jahren neu aufgetreten sind, lassen
sich auf antibiotikaresistente Bakterien zurückführen, die in
DER AUTOR
Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen
immer häufiger vorkommen. Der übermäßige Gebrauch von Robert L. Dorit ist Professor am Institut für Bio-
Antibiotika dezimiert die Darmflora und öffnet damit Ein- logische Wissenschaften des Smith College
(Northampton, USA). Er forscht über die Evolu-
fallstore für krank machende Keime. Breitbandantibiotika tion von Molekülen und Bakterien und arbeitet
zerstören das Ökosystem Darm ebenso, wie großflächige an der Entwicklung neuer Antibiotika mit.
Abholzungen das Ökosystem Wald zerstören. Beides führt zu
einem instabilen, verwundbaren Zustand.
Wie die aktuelle Ebolaepidemie schmerzlich offengelegt QUELLEN
hat, lassen unsere medizinischen Möglichkeiten noch sehr
Karesh, W. B. et al.: Ecology of Zoonoses: Natural and Unnatural
zu wünschen übrig. Es vergingen Wochen, bis organisierte
Histories. In: The Lancet 380, S. 1936 – 1945, 2012
Gegenmaßnahmen anliefen. Zu dem Zeitpunkt waren be- Liu, J.: Finish the Fight against Ebola. In: Nature 524, S. 27 – 29, 2015
reits hunderte Menschen mit Infizierten in Kontakt gekom- Mari Saez, A. et al.: Investigating the Zoonotic Origin of the West
men. Wir können es besser – aber nur, wenn wir uns eingeste- African Ebola Epidemic. In: EMBO Molecular Medicine 7, S. 17 – 23,
2015
hen und unser Handeln danach ausrichten, dass wir selbst Morse, S. S. et al.: Prediction and Prevention of the Next Pandemic
die Voraussetzungen für solche verheerenden Ausbrüche ge- Zoonosis. In: The Lancet 380, S. 1956 – 1965, 2012
schaffen haben. Immerhin haben sich die diagnostischen
Methoden, die Computerunterstützung und die Möglichkei- Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1378773
ten zur rechnerischen Modellierung in den vergangenen
15 Jahren dramatisch verbessert, wie die Ebolakrise zeigte: © American Scientist

WWW.SPEK TRUM .DE 77


Mit dem Space Launch
System baut die NASA
die leistungsfähigste
Rakete aller Zeiten.
Die Ingenieure kombi­
nieren dabei altbe­
währte Technologien
aus der Raumfahrtbran­
che mit neuesten Ent-
wicklungen.
JEFF WILSON
TECHNIK & COMPUTER

RAUMFAHRT

Geburt einer Marsrakete


Mit dem Space Launch System will die NASA Menschen zum Mars schicken. Ob es
einmal so weit kommen wird, hängt nicht zuletzt von der Politik ab. Die technischen
Entwicklungen des Projekts verliefen bisher viel versprechend.
Von David H. Freedman

D
erzeit entsteht bei der NASA das größte, ambitio­ die NASA an, sich auf eine Mission zu einem Asteroiden zu
nierteste Raketenprojekt, das es je gab: das Space konzentrieren. Um Astronauten und Fracht zur Internatio­
Launch System, kurz SLS. Damit hofft die ameri­ nalen Raumstation ISS zu befördern, sollte sich die Raum­
kanische Weltraumagentur nicht nur, einmal As­ fahrtbehörde künftig an Privatunternehmen wenden.
tronauten von Cape Canaveral auf die etwa ein Jahr dauernde Doch viele Kongressabgeordnete forderten weiterhin die
Reise zum Mars zu schicken. Die Raketen sollen außerdem Entwicklung einer großen Trägerrakete, die Menschen so­
Wohnmodule, Fahrzeuge und Proviant zum Roten Planeten wohl zum Mond als auch zum Mars bringen könnte. Der
schaffen – also alles, was die Astronauten benötigen, um dort Kompromiss ist das Space Launch System, kurz SLS. Es wird
einige Wochen zu leben und zu arbeiten. Eine solche Mission aus einer einzigen großen Rakete sowohl für Crews als auch
wird zwar nach der aktuellen Planung erst in etwa 25 Jahren für Frachtgut bestehen, die größtenteils auf die neuen, für
stattfinden. Doch bis dahin könnte das SLS Menschen zum Ares geplanten Technologien verzichtet und stattdessen auf
Mond und zu einem Asteroiden transportieren sowie eine Raketenmotoren und Tanks des Shuttle-Systems zurückgrei­
unbemannte Sonde zum Jupitermond Europa auf den Weg fen soll. Das SLS ist gewissermaßen eine Sparversion der Ares.
bringen, um dort nach Leben zu suchen. Das SLS soll den Von Anfang an bestand der Verdacht, der Kongress treibe
Grundstein für ein bahnbrechendes interplanetarisches das SLS lediglich voran, um Jobs bei der NASA und ihren Zu­
Raumfahrtprogramm legen. lieferbetrieben zu sichern. Es sei die erste Rakete, die nicht
von Wissenschaftlern und Ingenieuren, sondern von Politi­
Die Ära nach dem Space Shuttle kern entworfen wurde, schrieb der »Economist« im Dezem­
Nach dem Erfolg des Apollo-Programms in den 1960er und ber 2014 spöttisch – einige Kritiker übersetzen SLS mit »Se­
1970er Jahren, sollte das Space Shuttle den erdnahen Welt­ nate Launch System«. Tatsächlich waren Senatoren aus den
raum relativ kostengünstig und auf einer regelmäßig nutz­ südlichen Bundesstaaten, in denen große Einrichtungen der
baren Basis zugänglich machen. Doch stattdessen kostete je­ NASA und ihrer Zulieferer ihren Sitz haben, die lautesten Un­
der Flug mit der Raumfähre eine Milliarde Dollar, es gab nur terstützer des SLS.
wenige Flüge pro Jahr und zweimal kam es zu tödlichen Kata­
strophen. 2004, also ein Jahr, nachdem die Raumfähre Co­ AUF EINEN BLICK
lumbia beim Wiedereintritt in die Atmosphäre auseinander­
gebrochen und dabei die siebenköpfige Besatzung ums Le­ ZWISCHEN POLITIK UND FORSCHUNG
ben gekommen war, beauftragte Präsident George W. Bush
die NASA damit, das Space Shuttle durch ein Apollo-ähnli­
ches Programm zu ersetzen. Es sollte den Menschen zurück
1 Nach der Streichung des Constellation-Programms, dem ur-
sprünglichen Nachfolger der NASA für die Spaceshuttles,
entschieden sich die USA, den Zugang zu erdnahen Umlaufbahnen
zum Mond und vielleicht sogar zum Mars bringen. Daraus in die Hände privatwirtschaftlicher Unternehmen zu legen. Die
NASA sollte dagegen ein Raketensystem für den interplanetarischen
entstand das Projekt »Constellation«, aus dem die Entwürfe Raum entwickeln – das Space Launch System (SLS).
für zwei neue, »Ares« genannte Raketen hervorgingen: eine
zweistufige für den Start bemannter Kapseln, die dem Sa­
turn-V-Modell ähnelte, und eine größere, dreistufige Version
2 Basierend auf Komponenten der Shuttles und enthusiastisch
von Politikern unterstützt, deren Wahlbezirke davon profi-
tierten, wurde das SLS zunächst als »Rakete ins Nirgendwo«
für den Frachttransport. Doch 2011, nachdem das Programm etikettiert – ein Jobprogramm des Kongresses ohne Missionsziel
und mit geringer Aussicht, wirklich eines Tages zu fliegen.
bereits neun Milliarden Dollar verschlungen hatte, bestand
das Ergebnis lediglich in der durch den Rüstungs- und Tech­
nologiekonzern Lockheed Martin produzierten Crew-Kapsel
3 Doch bislang verläuft die Entwicklung des SLS im Rahmen
des Zeitplans und des Budgets. Die Missionsplanung hat
begonnen, ein erster Flug ist für 2018 vorgesehen. Vielleicht bringt
Orion, sowie einer ein einziges Mal getesteten Rakete. Dar­ die Rakete ins Nirgendwo doch eines Tages Menschen zum Mars.
aufhin strich Präsident Barack Obama das Projekt und wies

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Das SLS soll zunächst eine Kernstufe aus vier Space­ sagt Peter Wilson, Analytiker des Beratungsunternehmens
shuttlemotoren vom Typ RS 25 besitzen, die flüssigen Was­ RAND Corporation. Andere behaupten, Shuttlekomponen­
serstoff und Sauerstoff als Treibstoff verwenden. Außen an ten zu recyceln mache das SLS zu einer problembeladenen
dieser Kernstufe sind zwei Feststoff-Booster angebracht, die »Frankensteinrakete«, die aus Teilen eines toten Programms
beim Start zusätzlichen Schub liefern. Eine zweite Stufe soll zusammengestückelt ist. Beispielsweise haben die Shuttle-
in einer Höhe von 50 Kilometern zünden und das Raumfahr­ Booster bereits zu einem Problem mit Lücken in der Hitze­
zeug in die Umlaufbahn bringen. An der Spitze der Rakete isolierung geführt.
wird sich die bemannte Orionkapsel befinden. Mit einer Län­
ge von 98 Metern ist das Gesamtsystem etwas kleiner als die Explodierende Kosten?
Saturn V, dafür besitzt es aber mehr Schubkraft. Die Rakete Außerdem variieren die Schätzungen für die endgültigen
kann die dreifache Nutzlast der alten Shuttleraumfähren in Kosten des SLS gewaltig. Nach offiziellen Aussagen der NASA
den Orbit transportieren. Allerdings lässt sich keine ihrer werde das SLS bis zum ersten Start 18 Milliarden Dollar kos­
Komponenten mehrfach verwenden. Im kommenden Jahr­ ten: 10 Milliarden Dollar für die Rakete, 6 Milliarden für die
zehnt sollen dann Varianten mit stärkeren Raketenmotoren Orionkapsel und 2 Milliarden, um Cape Canaveral für SLS-
und Boostern entwickelt werden. Das Marsmodell des SLS Starts umzurüsten. Doch eine interne Untersuchung, von
soll außerdem eine stärkere zweite Stufe erhalten und damit der einige Details durchgesickert sind, summiert die Kosten
insgesamt über eine doppelt so hohe Schubkraft verfügen des SLS innerhalb der kommenden zehn Jahre auf 60 Milliar­
wie die ursprüngliche Version. den Dollar. Andere Schätzungen gehen von einer Billion Dol­
Kritiker bemängeln, mit der Forderung, Shuttlekompo­ lar für eine bemannte Mission zum Mars aus. Das offizielle
nenten zu verwenden, habe der Kongress lediglich den Pro- Ziel der NASA sind 500 Millionen Dollar pro Start – doch un­
fit der am Bau der Raumfähre beteiligten Unternehmen ge­ abhängige Schätzungen gehen von 14 Milliarden Dollar aus,
sichert. »Boeing macht einmal mehr einen Reibach damit«, wenn man die Gesamtkosten des Programms berücksichtigt.

Einstige und künftige Großraketen


In den Jahrzehnten nach dem letzten
Start einer Saturn V im Jahr 1973 setzte
die NASA auf den Bau kleinerer, leich-
terer Raketen, die jedoch keine Men-
schen ins All transportieren konnten.
Aber jetzt baut die NASA mit Blick auf
eine bemannte Marsmission das Space
Launch System (gelb), eine ganze Se-
rie von für die bemannte Raumfahrt
geeigneten Raketen mit
noch größerer Schubkraft
als die der Saturn V.

Saturn V Spaceshuttle Delta IV heavy Ares I Ares V Falcon heavy SLS 70t SLS 130t
GEORGE RETSECK

erster Flug: 1967 erster Flug: 1981 erster Flug: 2004 eingestellt 2010 in Entwicklung bemannte Version bemannte Version
in Entwicklung in Entwicklung

80  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Bereits 2016 wollen die Ingenieure am Stennis Space Center der NASA in Mississippi
die 60 Meter hohe zentrale Raketenstufe des neuen Space Launch Systems testen.

JEFF WILSON

Die Kritiker beharren deshalb darauf, dass – bei allem En­ Trotz all dieser Einwände schreitet die Planung der SLS-
thusiasmus für die Weltraumforschung – weder Regierung Mission voran. 2018 soll eine erste Rakete eine unbemannte
noch Öffentlichkeit bereit sein werden, hunderte Milliarden Orionkapsel weit über den Mond hinaus ins All befördern.
Dollar für die größten Missionen des SLS aufzubringen. Meh­ Voraussichtlich ein paar Jahre später soll ein zweiter Flug As­
rere Untersuchungen, darunter eine interne Studie der tronauten weiter von der Erde fortbringen als jemals zuvor.
NASA, legen nahe, dass wir auch ohne eine Großrakete in den Was danach geschieht, hängt letztlich vom Kongress und
interplanetarischen Raum oder zum Mars gelangen könn­ dem dann amtierenden Präsidenten ab. Die vorläufige Pla­
ten. Es dürfte kostengünstiger sein, so argumentieren man­ nung sieht einen bemannten Flug zu einem Asteroiden Mit­
che, auf kleinere Raketen ähnlich der Delta IV zurückzugrei­ te der 2020er Jahre vor sowie eine bemannte Mission zum
fen, die seit Jahrzehnten Satelliten ins All befördert. Damit Mars in den 2030ern.
ließen sich Treibstoff sowie sämtliche Komponenten und
Materialien, die für ein interplanetarisches Raumschiff nötig Die Raketenfabrik
sind, in eine niedrige Erdumlaufbahn schaffen und dort zu­ Am Stennis Space Center testet die NASA ihre größten Rake­
sammenbauen. Und sollte sich herausstellen, dass wir doch tenmotoren aller Zeiten. Es liegt in einer hügeligen Region
eine Großrakete brauchen, so sagen viele: Warum wenden ganz im Süden von Mississippi, eingebettet in ein Netz aus
wir uns dann nicht an die aufstrebende private Raumfahrtin­ Seen, Flüssen, sumpfigen Flussarmen und Kanälen. Während
dustrie? Space X etwa, das von der Silicon-Valley-Ikone Elon wir uns mit Helmen und Sicherheitswesten einkleiden, er­
Musk gegründete Unternehmen, steht bereits für Versor­ läutert Tom Byrd, der stellvertretende NASA-Manager vor
gungsflüge zur ISS mit der hoch geschätzten Falcon-9-Rakete Ort, die Nähe des Zentrums zum Wasser: Die Aktivitäten am
bei der NASA unter Vertrag. »Die NASA sollte der Privatindus­ Stennis Center erfordern unter anderem Zugang zu großen
trie sagen, welche Art von Nutzlasten sie in den interplaneta­ Lastkähnen und zur Möglichkeit, große Metallmassen zu
rischen Raum befördern will, einen festen Geldbetrag für kühlen, die Temperaturen nahe jenen an der Sonnenoberflä­
den Job anbieten und Unternehmen wie Space X den Bau che ausgesetzt waren.
überlassen«, sagt James Pura, Präsident der Space Frontier Auf unserem Weg durch die Anlage kommen wir an ei­
Foundation, einem Interessenverband zur Förderung der nem Kontrollraum vorüber, der in ein sowjetisches Kraft­
Weltraumforschung. werk der 1950er Jahre passen würde: überwiegend Dampf­
Space X entwickelt ebenfalls eine Großrakete der SLS-Klas­ druckanzeigen und große, unförmige Einstellscheiben. Ich
se mit 27 Motoren. Außerdem arbeitet das Unternehmen an frage Byrd, warum sie nicht gegen moderne, digitale Einrich­
neuen, schubstärkeren Raketenmotoren. Sollte dieses Pro­ tungen ausgetauscht werden. Die Antwort: Wegen unzähli­
jekt erfolgreich sein, wird es selbst die größten Versionen des ger Störungen, deren Ursachen lange unergründlich schie­
SLS übertreffen. Zudem sind bei Space X im Gegensatz zum nen, hat es Jahrzehnte gedauert, die Maschinen zum Laufen
SLS alle Komponenten wiederverwendbar. zu bringen – warum also daran herumspielen?

WWW.SPEK TRUM .DE 81


Dennoch wird am Stennis Center kräftig modernisiert. Fall überwältigend. Fortlaufend füllt sich der Komplex mit
Man baut Kanäle und Straßen aus, um größere Transporte neuer Ausrüstung: Aufragende Roboterarme bewegen sich
verkraften zu können, und verstärkt auch die Prüfstände mit rasanter Geschwindigkeit, fahrbare Plattformen und
selbst. Denn das SLS wird sie größeren Belastungen ausset­ kranartige Stapler hieven zig Tonnen wiegende Komponen­
zen als alle früheren Raketen. »Die hier auftretenden Kräfte ten von einer Station zur nächsten. Ein Lagerhaltungssystem
sind größer als bei einem echten Start, weil die Rakete ihrem stellt sicher, dass beim Bau einer aus vielen hunderttausend
eigenen Schub nicht entkommen kann«, erläutert Byrd, der Teilen bestehenden Maschine jede Komponente zur rechten
die Tests mit leitet. Während eines etwa neun Minuten dau­ Zeit am rechten Ort platziert wird. Der Bau einer Maschine,
ernden Testlaufs schießen mehrere tausend Düsen mit ho­ die so leistungsfähig ist wie der SLS-Raketenmotor, erfordert
hem Druck Wasser auf die Wandungen des Prüfstands – und extrem geringe Toleranzen bei der Fertigung. »Wenn unser
zwar nicht um diesen zu kühlen, sondern um die starken Vi­ Bauteilverfolgungssystem feststellt, dass nur eine dieser
brationen zu dämpfen, die den Stand sonst zerreißen wür­ kleinen Unterlegscheibchen übrig ist, wird die ganze Produk­
den. Bereits vor dem SLS-Programm durften im Umkreis von tion angehalten, bis wir die Stelle finden, wo sie fehlt«, sagt
16 Kilometern keinerlei private Gebäude errichtet werden, Patrick Whipps, einer das NASA-Manager am Michoud.
da sie allein durch die Schallwellen der Tests zusammenbre­
chen könnten. Und die SLS-Motoren produzieren den gewal­ Altbewährtes wird mit neuester
tigsten Schub, der je auf der Erde erzeugt wurde. Technologie kombiniert
Auf der anderen Seite der Grenze zwischen Mississippi Viele der Komponenten für die neue Rakete stammen ur­
und Louisiana, ein paar Stunden Fahrt auf dem Kanal oder 45 sprünglich von anderen Raumfahrzeugen. »Wir bemühen
Minuten per Auto entfernt, befindet sich die Michoud Faci­ uns, so viele Dinge wie möglich von anderen Raketen zu ver­
lity. Im Gegensatz zur isolierten Lage von Stennis ist Mi­ wenden, seien es Druckmessumformer, Temperatursenso­
choud in ein Industriegebiet in den Außenbezirken von New ren oder Armaturen«, sagt William Gerstenmaier, der das be­
Orleans eingebettet. In mancher Hinsicht handelt es sich um mannte Raumfahrtprogramm der NASA leitet. »Wir wollen
eine Fabrik wie jede andere, ausgestattet mit Schweißereien, möglichst wenige Komponenten haben, die ausschließlich
Gabelstablern, Kränen und Materiallagern, allerdings alles in für das SLS bestimmt sind.«
einem viel größeren Maßstab und in ihrem Inneren in jedem Allerdings, so ergänzt Whipps, machen neue Herstel­
lungsverfahren die Produktion der SLS-Komponenten sehr
viel billiger als es etwa beim Shuttle der Fall war. Zu den Ver­
JEFF WILSON

besserungen gehört ein Rührreibschweiß-Zentrum von der


Größe eines städtischen Wassertanks. Riesige Raketenteile
aus Aluminiumlegierung können darin miteinander ver­
schweißt werden. Es ist die größte Maschine dieser Art auf
der ganzen Welt.
Das SLS übertrifft die Technologie der Shuttles auch in
vielen anderen Bereichen. Um die Belastung durch Flattern
und andere aerodynamische Instabilitäten während des Auf­
stiegs durch die Atmosphäre zu analysieren, verwendet die
NASA moderne Simulationssoftware aus dem Bereich der
Flüssigkeitsdynamik. Ohne diese Programme müssten die
Ingenieure wesentlich größere Fehlermargen einbauen, um
die Widerstandsfähigkeit der Rakete gegenüber Belastungen
sicherzustellen. Mit neuer Luftfahrtelektronik und digita-
len Steuergeräten, deren Computerchips jenen der Space­
shuttles weit überlegen sind, werden sich Flug und Motoren
so steuern lassen, dass sie um ein Vielfaches schneller auf
plötzliche Veränderungen und gefährliche Situationen re­
agieren.
Für die ersten vier Flüge des SLS finden noch übrig geblie­
bene Shuttlemotoren Verwendung. Doch in den 2020er Jah­
Die Außenhülle der zentralen Raketenstufe besteht aus acht ren werden dann neue Versionen notwendig. Dazu werden
aufeinander gesteckten, tonnenförmigen Segmenten. Die die vielen tausend münzgroßen Turbinenschaufeln aus Me­
Tanks für flüssigen Wasserstoff und Sauerstoff befinden sich
tallpulver per Laser geschweißt und dabei direkt in die pas­
innerhalb dieses Aluminiumzylinders. An der Michoud As­
sende Form gebracht, anstatt sie einzeln nach herkömm­
sembly Facility der NASA testen die Ingenieure gegenwärtig
lichen maschinellen Verfahren zu fertigen. Damit reduziert
die einzelnen Komponenten.
sich die bisherige Produktionszeit für die Turbinenschaufeln

82  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


eines Motors von einem Jahr auf einen Monat. »Wir setzen könnte ebenso gut eingestellt werden, wenn es der NASA
überall Computersteuerungen ein, um Arbeitskosten zu nicht gelingt, die US-amerikanische Öffentlichkeit von sei­
­senken und die Genauigkeit zu erhöhen«, ergänzt Gersten­ nem Wert zu überzeugen.
maier. Tatsächlich hat das SLS durchaus viele Befürworter. Zu den
Wenn das SLS-Programm einmal richtig in Schwung ge­ Unterstützern zählt die gegenwärtige Führung der NASA
kommen ist, sollen mindestens zwei, möglicherweise bis zu ebenso wie deren Belegschaft, eine Anzahl von externen
vier Raketen pro Jahr starten. In der Welt der Raketen zählt Raumfahrtexperten sowie ein wachsender Teil der Öffentlich­
das bereits als Massenproduktion. Doch das Programm keit. Viele Menschen waren angesichts des fehlerfreien Orbi­

In der hydrostatischen
Versuchszelle an der
Michoud Assembly
Facility (hier leer
stehend) werden die
Raketentanks auf
JEFF WILSON

Lecks geprüft.

WWW.SPEK TRUM .DE 83


talflugs der Orionkapsel im Dezember 2014 begeistert. Und Und deshalb eben auch Space X. Dennoch stellt der priva­
den Experten fällt es leicht, die SLS-Kritiker Punkt für Punkt zu te Raumfahrtsektor anders als bei Flügen zur ISS keine selbst­
widerlegen. verständliche Ressource für interplanetarische Missionen
So zum Beispiel den Vorschlag, mit kleineren Raketen dar. Denn es existiert kein Markt dafür, und es ist auch keiner
Komponenten und Treibstoff ins All zu bringen und im Orbit in Sicht, abgesehen von einer Hand voll Missionen, die die
zusammenzubauen: Für eine bemannte Marsmission müss­ NASA vorläufig für das SLS vorgesehen hat. Das macht es für
te man etwa 500 Tonnen transportieren, so Gerstenmaier. Space X unmöglich, die Kosten für eine neue Großrakete per
Mit dem SLS bräuchte man dafür vier Starts, selbst mit einer Mischkalkulation auf viele Kunden zu verteilen, wie es bei
maximal ausgereizten Delta IV jedoch mindestens zwei Dut­ den kleineren Raketen funktioniert. Dieses Vorteils beraubt
zend. Und jeder dieser Starts würde das Risiko des Gesamt­ steht Space X in dieser Sache nicht besser da als Boeing, Lock­
programms ein wenig erhöhen. Eine solche Herangehens­ heed Martin oder andere konventionelle Raumfahrtunter­
weise wäre zudem anfällig für Verzögerungen, die sich im nehmen. »Das sind alles sehr fähige Vertragspartner, und ich
Gesamtverlauf gewaltig anhäufen könnten. »Wir haben viele sehe da keinen dramatischen Unterschied zu Space X«, sagt
Starts mit dem Spaceshuttle gebraucht, um die Raumstation der frühere NASA-Astronaut Scott Parazynski, ein Veteran
zu bauen, das hat letztlich Jahrzehnte gedauert«, sagt Gers­ mit fünf Shuttleflügen, der jetzt an der Arizona State Univer­
tenmaier. Doch sein wichtigstes Argument gegen die Ver­ sity tätig ist.
wendung kleinerer Raketen ist der immense Aufwand an Sich an Bewährtes zu halten statt auf Innovation zu set­
Konstruktionsarbeit im Orbit. Weltraumhabitate erst im All zen, mag in der Automobilbranche und auf dem Handy- oder
zusammenzubauen, ist eine entmutigende Aufgabe – zumal Softwaremarkt ein schlechtes Rezept sein. Doch wenn es da­
es bislang wenig Erfahrung mit derlei Vorhaben gibt. »Es ist rum geht, Menschen an der Spitze einer kaum kontrollierten
unvermeidlich, dass einige der Teile nicht richtig funktionie­ Explosion ins Weltall zu katapultieren, ist ein gewisses Maß
ren werden und es wäre schwierig, sie dort oben zu reparie­ an vorsichtigem Konservatismus nicht die schlechteste Idee.
ren. Das macht ein solches Unterfangen sehr komplex und Space X erlebte bei seinen ersten Raketen mehrere Explosio­
birgt eine Vielzahl an Risiken«, erläutert Gerstenmaier. nen und erlitt Kontrollverluste – nichts anderes ist bei derar­
tigen Neuentwicklungen zu erwarten. Im Oktober 2014 kam
Kürzere Flugzeiten ein Pilot beim Absturz eines Testflugs mit einem Raumflug­
im interplanetarischen Raum zeug ums Leben, mit dem Virgin Galactic einmal Touristen
Das SLS dagegen erlaubt es, auch größere und unförmigere in den suborbitalen Weltraum bringen will. Drei Tage zuvor
Teile bis zu einer Größe von zehn Metern zu transportieren, war eine unbemannte Rakete von Orbital Sciences explo­
wie beispielsweise Antennenanlagen und Sonnenkollekto­ diert, die zur ISS fliegen sollte.
ren, die sonst aufwändig gefaltet werden müssten und damit Solche Unglücksfälle erinnern uns daran, dass Raumfahrt
anfälliger für Beschädigungen und Fehlfunktionen wären. trotz jahrzehntelanger Erfahrungen immer noch ein riskan­
Ein weiterer großer Vorteil ist die immense Schubkraft des tes Unterfangen ist – die Möglichkeit einer Katastrophe ist
SLS, die eine höhere Reisegeschwindigkeit für den Flug zu in­ stets inbegriffen. Nicht zuletzt deshalb hat sich die Führung
terplanetarischen Zielen ermöglicht. Das ist ein entscheiden­ einer privaten Organisation zur Förderung einer bemannten
der Gesichtspunkt für bemannte Reisen zum Mars, denn Mission zum Mars namens Inspiration Mars Foundation
hierbei setzen Strahlenbelastung und notwendige Proviant­ nach anfänglicher Skepsis in die Reihe der SLS-Unterstützer
menge der Missionsdauer enge Grenzen. Aber auch roboti­ eingereiht. Auch andere Marsexperten folgen dieser Sicht­
sche Missionen zu fernen Zielen profitieren von einem kür­
zeren Verlauf. Denn für maximalen wissenschaftlichen Nut­
zen müssen die Daten einer Mission erst vorliegen, bevor die
Planung eines Nachfolgeprojekts beginnen kann. Und mit
dem SLS ließe sich ein Ziel im interplanetarischen Raum an­
ders als bisher direkt ansteuern. Denn es wären keine kom­
plexen, zeitaufwändigen Flugmanöver wie bei Voyager oder
Galileo mehr notwendig, die die Schwerkraft anderer Him­
melskörper zur Beschleunigung nutzten.
»Mit dem SLS verkürzt sich die Flugzeit zum Jupitermond
Europa von mindestens sechs auf zweieinhalb Jahre«, sagt
Scott Hubbard, Professor für Luft- und Raumfahrt an der
Stanford University. Hinzu kommen größere Nutzlasten und
mehr Flexibilität bei der Verpackung für den Transport – al­
les zusammengenommen gewichtige Argumente für eine
neue Großrakete. Kein Wunder also, dass China und Russland
ebenfalls an SLS-ähnlichen Projekten arbeiten.

84  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


An der Michoud Assembly
Facility nutzen Arbeiter ein
spezielles Werkzeug (linkes
Bild), um die Ringe zu fertigen,
die dann die Segmente der
Außenhülle der SLS-Rakete
verbinden. Im Bild rechts he-
ben Arbeiter eine Aluminium­
paneele auf das Werkzeug,
mit dem sie die Haube
der Raketenstufe herstellen.

JEFF WILSON

JEFF WILSON
weise. »Das SLS wurde von Anfang an als Rakete ins Nirgend­ auch lernen, wie sich ein Asteroid ablenken oder zerstören
wo diskreditiert«, sagt Hubbard, »doch es hat nun klare, ver­ ließe, falls solch ein Objekt einmal Kurs auf die Erde nimmt.
tretbare Ziele.« Seiner Ansicht nach sollten jetzt alle mit Doch die Faszination für den Mars ist weit verbreitet und
­anpacken, damit das ambitionierte Vorhaben tatsächlich Re­ hat in letzter Zeit sogar zugenommen. Denn mehr und mehr
alität wird. Menschen begreifen, dass der Rote Planet noch innerhalb
ihres Lebens erreichbar wäre. »Wir wollen alle einen Flug
Panne mit Klebstoff behoben dorthin sehen«, sagt Parazynski, »andere Missionen wären
In einer kalten Nacht im Januar 2015 verwandelte sich einer nur eine Ablenkung.« Sein Zögern in Bezug auf das SLS be­
der Prüfstände am Stennis Space Center für 200 Sekunden in gründet er mit der Furcht, das Projekt könnte aufgegeben
einen Feuerball. Es war der erste Test eines Shuttlemotors RS- werden, weil es nicht billig und schnell genug realisierbar ist,
25 seit 2009 – und er verlief perfekt. Wenn die Versuchsläufe nicht aber weil er es für ein schlechtes System für die Reise
weiterhin erfolgreich sind, könnte die Zeit für das SLS arbei­ zum Mars hält.
ten. Je länger das Programm fortgeführt wird, desto mehr Momentan sind keine unüberwindbaren Hindernisse für
kann es sich bewähren, vorausgesetzt es bleibt im Zeitplan das SLS in Sicht, was sich von keinem anderen Vorschlag für
und im finanziellen Rahmen. In den ersten drei Jahren hat eine Marsmission sagen lässt. Das könnte bereits ausreichen,
es rasche Fortschritte gemacht, hielt Konstruktionsüberprü­ das Projekt auf Kurs zu halten. Es wurde zwar auf der Basis
fungen stand und erreichte die ersten Herstellungsstufen. von Kongressinteressen zusammengeschustert, und ihm
Das ist unglaublich schnell für eine neue, für bemannte Flü­ fehlt der innovative Schwung alternativer Ansätze. Aber alle
ge zugelassene Rakete. Es gab nur wenige Pannen – die er­ Anzeichen deuten darauf hin, dass es wie geplant funktio­
wähnten Lücken in der Isolierung gehörten zu den gravie­ niert – und seine Finanzierung ist für die absehbare Zukunft
rendsten davon. Und dieses Problem ließ sich rasch mit einer gesichert. Das könnte aus dem SLS die Rakete machen, die
zusätzlichen Schicht Klebstoff lösen. uns zum Mars bringt. Und wenn das geschieht, wird alle frü­
Noch ist völlig unklar, was in den kommenden Jahren ge­ here Kritik vergessen sein.  Ÿ
schehen wird unter einem neuen Präsidenten und mit ei­
nem neuen Kongress, gesteht Raumfahrtexpertin Joan John­
DER AUTOR
son-Freese vom U.S. Naval College. Vielleicht setzt sich in der
Regierung die Überzeugung durch, den Blick anstatt auf den David H. Freedman ist freiberuflicher Redakteur
fernen Mars auf ein näheres Ziel zu richten. »Manch einer in bei der Zeitschrift »The Atlantic« und Buchautor.

Washington zeigt eine unglaubliche Nostalgie für den


Mond«, so Johnson-Freese. Andere wiederum denken, die
NASA sollte sowohl den Mars als auch den Mond vergessen
und sich stattdessen den Asteroiden zuwenden. Nicht nur
könnten diese Himmelskörper wichtige Fragen zum Ur­
sprung des Sonnensystems beantworten, wir würden dabei Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1378785

WWW.SPEK TRUM .DE 85


Aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek für Wissenschaft- und
WISSENSCHAFT IM RÜCKBLICK Technikgeschichte des Deutschen Museums

Propeller kann durch geeig- stehen aus vier mächtigen


nete Vorrichtungen ver- Hörrohren, die nach allen
stärkt werden, so daß sich Himmelsrichtungen und je-
die Gegenwart eines Luft- dem Winkel zu dem Erdbo-
schiffs zu einer Zeit verrät, den drehbar sind. Die Hör-
zu der das unbewaffnete Ohr rohre nehmen den gerings-
noch nichts wahrnimmt. ten Laut auf, welcher dann
Luftschiffe hören Diese Einrichtungen werden durch Mikro­phone verstärkt
»Flugzeuge und Luftschiffe in Frankreich so weit ausge- wird.«  Die Umschau 1, 1916, S. 7 – 9
sind zwar unter Umständen arbeitet, daß es gelingt, Ab­
unsichtbar, aber geräuschlos wehr­kanonen zu richten. Eine Horch­station
sind sie nie. Das Surren der Diese ›Horchstationen‹ be- im Einsatz.

Riesiger Fleischfresser
Skelett eines Tyranno- »Im American Museum of Natural History ist das Skelett des
saurus in New York. größten Fleischfressers, der bisher bekannt ist, aufgestellt
worden, ein Tyrannosaurier von 16 m Länge und aufge­
richtet 6 m Höhe. Der massige Kopf ist ausgerüstet mit
13 dolchartigen Zähnen in jedem Kiefer, die immer von neu-
em nachwuchsen, sobald einer abbrach; der größte ist etwa
12 cm lang. Der Tyrannosaurus war imstande, den Kampf
mit jedem Tier seiner Zeit aufzunehmen, und war offenbar
der Herr seiner Art. Die Fundstelle der Skelette ist in Monta-
na, wo durch Zufall bei der Jagd mehrere große Knochen ge-
funden wurden. Eine Expedition brachte das erste derartige
Skelett zutage. Es mußte mit Dynamit aus hartem Sandstein
gesprengt werden.«  Prometheus 1370, 1916, S. 287

Die Zirbel Augenklinik in Münster und gene Zirbeldrüse in ihre Un-


im neuen Licht Dr. J. Fuchs, dem Direktor der tersuchungen einbezogen.
»Das Fehlen von Lichtreizen Städtischen Augenklinik in Daß die Zirbel eine hem-
von der Netzhaut hat Stö- Stuttgart, die Ursache für die mende Wirkung auf die
rungen im Wasserhaushalt Wohlbeleibtheit der Blinden. Funktion der Keimdrüsen
und im Kohlenhydratstoff- Die verhältnismäßig junge ausübt, ist seit langem ver- Licht über die Netzhaut der
wechsel zur Folge, und dies Wissenschaft der Photo- mutet worden. Daß aber die- Augen gesteuert wird, ist
ist nach Professor Dr. F. Holl- Neuro-Endokrinologie hat se Wirkung der Zirbel als eine völlig neue Erkennt-
wich von der Universitäts- die an der Gehirnbasis gele- ›Keuschheits-Organ‹ vom nis.«  Kosmos 1, 1966, S. 36 – 37

Ausgeblinkt Stechen und schauen


»Bei verschiedenen Arten von Leuchtkäfern tragen die bei- »Eine optische Sonde zur Direktbeobachtung mikrosko­pi­
den Geschlechter an der Spitze des Hinterleibs lichtprodu- scher Vorgänge in den Körpergeweben haben Dr. C. Long und
zierende Organe, die unter anderem zur Kommunikation Mitarbeiter an der Western Reserve University Medical
dienen. Gelegentlich wurden jedoch Komplikationen festge- School, USA, entwickelt. Das Instrument besteht aus einer
stellt, und ein Weibchen drang, indem es zu früh oder zu spät starken Injektionsnadel, an deren Innenwand 40 Glasfasern
geblinkt hatte, in den ›flashlight-code‹ einer anderen Spezies von je 50 μm Durchmesser (1μm = 1/1000 mm) in ringför­
ein, ein Irrtum, für den das Männchen meist mit seinem Le- miger Anordnung entlanglaufen. Die einzelnen Glasfasern
ben büßen mußte, denn ein Leuchtkäfer, der kein Bewerber haben die Eigenschaften einer vollverspiegelten Kapillare;
ist, bedeutet für die enttäuschte Auserkorene ein Mahl. Nach zusammen leiten sie das Licht einer kleinen Hochleistungs-
neuesten Beobachtungen scheint aber die Signalmethode lichtquelle praktisch verlustlos zur Spitze der Nadel und
weniger durch Irrtümer- als durch Täuschungsmanöver be- nach dem Einstich auf das Beobachtungsfeld.«  Naturwissen-
droht zu sein.«  Naturwissenschaftliche Rundschau 1, 1966, S. 30 schaftliche Rundschau 1, 1966, S. 31

86  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


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REZENSIONEN

Michael Martin der Nord- ebenso wie jene der Südhalb­


Planet Wüste kugel.
Knesebeck, München 2015 Zu Beginn des Werks stellt der Autor
446 S., € 49,95 die Planeten unseres Sonnensystems
vor. So möchte er zeigen, dass auch auf
fremden Himmelskörpern wüstenähn­
liche Bedingungen herrschen, die jenen
unserer Heimatwelt vergleichbar sind.
Zudem bietet er einen Überblick über
die verschiedenen Einöden der Erde und
ERDE schafft damit eine gute Grundlage, um
die anschließenden Beschreibungen
Ein Buch wie ein Film einzelner Gebiete einordnen zu können.
Diese Beschreibungen sind überaus
gelungen und bestechen vor allem mit
Der beeindruckende Bildband »Planet Wüste« zeigt die Schönheit
beeindruckenden Fotografien. Kurze
der Trocken-, Kalt- und Eiswüsten unseres Planeten.
Texte führen in die jeweils vorgestellten
Regionen ein. Übersichtskapitel präsen­

E s gibt Werke, nach deren Lektüre aus denen er das vorliegende Buch des­ tieren für die Großräume Arktis, Ant­
man am liebsten die Wanderstiefel tillierte. Dank aufschlussreicher, gut arktis, Wüsten der Nord- und Südhab­
schnüren, Kamera und Ausrüstung in verständlicher Texte und großforma­ kugel jeweils den Naturraum, die Flora,
den Rucksack packen und sich auf die tiger Fotos können die Leser daran teil­ die Fauna und die menschlichen Be­
Reise machen möchte. »Planet Wüste« haben. Die Breitengrade von Nord nach wohner.
von Michael Martin zählt dazu. Süd abwandernd, folgt man Martin Ein abschließendes Kapitel »Wissen«
Auf Reisen in 40 Länder hat der Geo­ von der arktischen Eiswüste bis an den rundet das Buch sehr sinnvoll ab. Darin
graf vielfältige Eindrücke gewonnen, Südpol und passiert dabei die Wüsten kommen Experten zu Wort und vermit­

MICHAEL MARTIN, AUS MICHAEL MARTIN: PLANET WÜSTE; MIT FRDL. GEN. DES VERLAGS KNESEBECK, MÜNCHEN

Die Dünenketten von


Derbilie nahe der Oase
Demi in der Sahara.

88  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


teln dem Leser wertvolle Informatio­ Insgesamt ist »Planet Wüste« ausge­ Expedition begibt, ist das viereinhalb
nen etwa zur erdgeschichtlichen Ent­ sprochen lesenswert. Man wird den Kilogramm schwere, großformatige
wicklung der Wüsten, zu Überlebens­ Band sicherlich gern immer wieder zur Werk nicht geeignet.
strategien von Pflanzen und Tieren Hand nehmen, um nochmals hinein­
oder zur Entdeckungsgeschichte der oft zuschauen. Als Reiselektüre allerdings, Tim Haarmann
schwer zugänglichen Extremstandorte. falls man sich doch einmal selbst auf Der Rezensent ist Geograf und arbeitet in Bonn.

Jürgen Schäfer serie »Dr. House«, in der ein genialer


Der Krankheitsermittler Diagnostiker komplizierte medizini­
Wie wir Patienten mit mysteriösen Krankheiten sche Fälle löst. Als Medizinprofessor der
helfen Universität Marburg bot Schäfer im
Droemer, München 2015 Jahr 2008 erstmals ein Seminar an, in
256 S., € 19,99 dem er Fallgeschichten aus der Serie
mit seinen Studenten diskutierte. Fort­
an betitelten ihn die Medien als »deut­
schen Dr. House«, und immer mehr Pa­
tienten suchten seinen Rat. Als Reak­
MEDIZIN tion auf die vielen Anfragen richtete
das Universitätsklinikum Gießen-Mar­
Diagnostik als Detektivarbeit burg das Zentrum für unerkannte und
seltene Erkrankungen ein.
Anders als sein verschrobenes Fern­
Ein Experte für seltene Erkrankungen berichtet, 
sehvorbild betont Schäfer immer wie­
wie er verborgenen Leiden auf die Spur kommt.
der, wie wertvoll das Gespräch mit den
Patienten ist. In seinen Fallgeschichten

M edizin kann spannend sein wie Medizinstudenten und Ärzte dürfen spielen zwar die moderne Labordiag­
ein Krimi. In dem Bemühen um hier ihre Kombinationsfähigkeit testen. nostik und bildgebende Verfahren eine
die richtige Diagnose geben oft Hinwei­ Doch auch für Laien, die noch nie von Rolle, doch den entscheidenden Hin­
se den Ausschlag, die auf den ersten den entsprechenden Krankheiten ge­ weis liefern meist die Betroffenen
Blick unwichtig wirkten – und so man­ hört haben, ist das Buch spannend und selbst. Das Buch lässt sich somit auch
che zunächst verheißungsvolle Spur lehrreich. als Appell an andere Ärzte verstehen,
stellt sich später als falsch heraus. Jür­
gen Schäfer behandelt als Leiter des
Die Medien betitelten den Autor als »deutschen Dr. House«,
Marburger Zentrums für unerkannte
und immer mehr Patienten suchten seinen Rat
und seltene Erkrankungen (ZusE) Pati­
enten, die oft jahrelang unter scheinbar
unerklärlichen Symptomen gelitten In reich ausgeschmückten Szenen be­ sich Zeit zum Fragen und Zuhören zu
haben. Lebensnah beschreibt er in sei­ schreibt Schäfer die Lebensverhältnisse nehmen – selbst wenn unser Gesund­
nem Buch deren Fallgeschichten, streut der Patienten und schildert ihre Symp­ heitssystem das unzureichend hono­
geschickt Hinweise auf die Art ihrer tome. Zwischen diese erzählerischen riert. Patienten und ihren Angehörigen
­Beeinträchtigung ein und berichtet Passagen baut er immer wieder erklä­ gibt der Autor Tipps, wie sie sich auf ei­
schließlich, wie er den Patienten half. rende Abschnitte ein, in denen er sich nen Arztbesuch so vorbereiten können,
Wer nicht schon im Inhaltsverzeich­ mal der ärztlichen Tätigkeit im Allge­ dass keine wichtigen Informationen
nis gelesen hat, um welche Krankheit meinen widmet, mal Hintergrundinfor­ unter den Tisch fallen.
es sich handelt, kann auf Basis der mationen zum jeweiligen Krankheits­ Insgesamt liefert Schäfer eine gelun­
ausführlich geschilderten Patienten­ bild liefert. Sein erklärtes Ziel lautet, mit gene Kombination aus Detektivroman
geschichten mitraten, woran die jewei­ belletristisch-humorvollen Texten auf und medizinischem Sachbuch, das für
lige Person leidet. Ist die dürre, junge seltene Krankheiten aufmerksam zu Ärzte, Patienten und alle medizinisch
Frau tatsächlich magersüchtig? Warum machen und dadurch womöglich dem Interessierten äußerst lesenswert ist.
schläft der umtriebige Bankenchef auf einen oder anderen Betroffenen zur kor­
wichtigen Sitzungen plötzlich ein? Und rekten Diagnose zu verhelfen. Elena Bernard
woher stammen die unerträglichen Die ursprüngliche Idee für das Buch Die Rezensentin ist Wissenschaftsjournalistin in
Bauchschmerzen des Kfz-Mechanikers? lieferte die US-amerikanische Fernseh­ Dortmund.

WWW.SPEK TRUM .DE 89


REZENSIONEN

Corinne Maier, Anne Simon


Einstein
Aus dem Französischen von Anja Kootz. Knesebeck, München 2015. 64 S., €19,95
Er war ein Weltstar – so sieht die Psychologin und Historikerin Corinne Maier den Physiker Albert Einstein.
Sie schildert seine Biografie als Graphic Novel, also in Form eines Comicromans. Die schlichten, aber aus-
drucksstarken Bilder hat Illustratorin Anne Simon gezeichnet. In dem Buch führt Einstein selbst durch
sein Leben und offenbart in Anekdoten verschiedene Charaktereigenschaften. Dabei tritt er nicht nur als
Genie in Erscheinung, sondern auch als Hippie und Schürzenjäger. Der Physiker ist unter anderem für
seine eingängigen Sprüche à la »Gott würfelt nicht« berühmt. Insofern überrascht es nicht, dass die Gra-
phic Novel großteils an eine unterhaltsame Zitatensammlung erinnert. Der Fokus liegt klar auf Einsteins
Persönlichkeit, Physikkenntnisse benötigt man als Leser nicht. Das amüsante, gekonnt zusammengestell-
te Werk macht Lust, sich näher mit dem bedeutenden Forscher zu beschäftigen. TINA SCHLAFLY

Die Flämische Bilderchronik Philipps des Schönen – Ein Bilderbuch der burgundischen Geschichte
Faksimile, Auflage 680 Exemplare, mit 240-seitigem Kommentarband
Quaternio, Luzern 2015. 30 S., € 2980,–
Der Band ist eine Faksimileausgabe der »Flämischen Bilderchronik«, deren Original sich heute in der
British Library befindet. Sie war von Karl dem Kühnen (1433 – 1477) in Auftrag gegeben worden und diente
dann der Erziehung seines Enkels Philipps I. von Habsburg (1478 – 1506). Das Werk besticht durch künst­
lerisch hochwertige Miniaturen und bietet manche Kuriosität. So stellt es den Vater Kaiser Friedrich
Barbarossas ebenfalls als Kaiser dar, obwohl dieser keiner war: Fiktionale Geschichtsschreibung im Dienst
der eigenen Sache war im Mittelalter nicht unüblich. Die 15 Blatt umfassende Chronik sollte Philipp die
Bedeutung des Hauses Burgund vor Augen führen, und Kaiser Barbarossa war mit Beatrix von Burgund
verheiratet. Eine deutsche Übersetzung des altfranzösischen Texts und Kommentare mehrerer Historiker
ergänzen den Band. Die Ausgabe richtet sich vor allem an Buchliebhaber und Sammler mit Interesse für
mittelalterliche Geschichte. MARTIN SCHNEIDER

Bruno P. Kremer
Kulturlandschaften lesen – Vielfältige Lebensräume erkennen und verstehen
Haupt, Bern 2015. 224 S., € 29,90
Von der Jungsteinzeit an hat der Mensch massiv in die Naturlandschaft eingegriffen und so die »Er-
satznatur« geschaffen, die uns in Europa umgibt. Der Biologe und renommierte Buchautor Bruno P.
Kremer porträtiert 19 Elemente der Kulturlandschaft – von der Streuobstwiese über Mauern, Dächer
und Ruinen bis zu Industriebrachen. Dabei macht er vor allem deutlich: Zwar findet sich fast nirgends
mehr eine »ursprüngliche« Natur. Wertvoll und schützenswert sind diese sekundären Lebensräume
aber trotzdem. Denn infolge menschlicher Eingriffe hat sich mitunter eine landschaftliche Vielfalt und
Biodiversität entwickelt, die den »Naturzustand« übertrifft. Sehr übersichtlich beschrieben und anspre-
chend bebildert, schärft das Buch den Blick auf die Besonderheiten der verschiedene Biotope, deren
Entwicklungsgeschichte und vor allem deren ökologische Bedeutung. TIM HAARMANN

Thomas Petersen
Die Vermessung des Bürgers – Wie Meinungsumfragen funktionieren
UVK, Konstanz 2015. 150 S., € 19,99
Seit es Menschen gibt, möchten sie wissen, was die Zukunft bringen wird. Brauchbare Vorhersagen, etwa
zum Ausgang von Wahlen, erwartet man heute unter anderem von Demoskopen (Meinungsforschern)
wie Thomas Peterson. In seinem Buch beantwortet er interessante Fragen: Woran erkennen Laien die
Qualität von Wahlprognosen? Wie kann man Ergebnisse der Meinungsforschung einordnen und interpre-
tieren? Peterson erklärt, wie Demoskopie funktioniert und warum der »gesunde Menschenverstand« oft
ihr größter Feind ist. Dabei räumt er mit verbreiteten Ansichten auf, etwa der, dass man keiner Statistik
trauen solle, die man nicht selbst gefälscht habe. Der Autor gibt viele Anekdoten aus Presse und Politik
wieder, beispielsweise zum ADAC-Skandal im Jahr 2014, der bei genauem Hinsehen wenig skandalös war.
Sein Buch gewährt erste Einblicke in die Materie und schärft den Blick für einen kritischen Umgang mit
Meinungsumfragen. MARIE-THERESA KAUFMANN

90  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Jim al-Khalili, Johnjoe McFadden tion ein, wobei ihr Quantenzustand zu­
Der Quantenbeat des Lebens sammenbricht und sie entweder den
Wie Quantenbiologie die Welt neu erklärt Singulett- oder den Triplettzustand an­
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel nehmen. Der Clou: Die Wahrscheinlich­
Ullstein, Berlin 2015 keit, mit der sie sich für das eine oder
423 S., € 24,– das andere »entscheiden«, hängt von
der Richtung des einwirkenden Mag­
netfelds ab. Im Auge des Rotkehlchens
entstehen und vergehen ständig ver­
QUANTENBIOLOGIE schränkte Elektronenpaare, und das
Mengenverhältnis, in dem sie dabei
Wo Biologie Singulett- und Triplettsignale liefern,
sagt dem Vogel etwas darüber, wie er im
auf moderne Physik stößt Erdmagnetfeld orientiert ist.
Der Magnetkompass der Rotkehl­
Leben, wie wir es kennen, wäre ohne Quantenmechanik nicht möglich. chen ist demnach mit der visuellen
Wahrnehmung verknüpft: Die Vögel
können das Feld offenbar regelrecht se­

E ines vorweg: Das Buch hat nichts


mit Esoterik zu tun. Wer beim Lesen
des Titels an Quantenheilung und Ähn­
Eines der erstaunlichsten Phänome­
ne der Quantenbiologie ist der Magnet­
sinn der Rotkehlchen (und anderer Tie­
hen. Was sie dabei erblicken, wissen wir
nicht. Vielleicht nehmen sie eine zu­
sätzliche Farbe wahr, die ihnen das Feld
liches denkt, liegt daneben. Vielmehr re). Diese Vögel orientieren sich mit ei­ anzeigt.
führt das Werk in ein äußerst spannen­ nem angeborenen Kompass. Lange Zeit Kapitel für Kapitel beschreiben die
des Forschungsgebiet ein: in die Quan­ war rätselhaft, wie sie das machen, denn Autoren, wie die Quantenmechanik das
tenbiologie. Deren Vertreter untersu­ das irdische Magnetfeld ist außeror­ Leben prägt. Elektronen bewegen sich
chen, ob in Lebewesen quantenmecha­ dentlich schwach. Niemand kannte eine in der Atmungskette von einem Enzym
nische Effekte zum Tragen kommen, biochemische Reaktion im Organismus, zum nächsten, indem sie quantenme­
und wenn ja, welche Bedeutung sie für die auf so schwache Felder reagiert. Und chanisch tunneln. Der angeregte Ener­
den Organismus haben. magnetische Kristalle, wie sie etwa in giezustand, der in Pflanzen nach dem
Die Quantenbiologie ist noch recht Brieftauben vorkommen, konnte man Einfangen eines Lichtquants entsteht,
jung. Doch schon jetzt kann sie faszi­ in Rotkehlchen nicht nachweisen. Wie wandert auf mehreren Wegen gleich­
nierende Erkenntnisse vorweisen, wie also bemerken die Vögel das Feld? Den zeitig zum Fotosynthesereaktions­
aus dem Band hervorgeht. Die Autoren mutmaßlichen Mechanismus beschrei­ zentrum; Physiker nennen das Quan­
überzeugen sowohl mit Fachkenntnis ben die Autoren sehr detailliert. tenfahrt. Und die Erbinformation der
als auch mit ihrem Talent, gut und ver­ Zuerst fällt ein Lichtquant in das DNA kommt den Autoren zufolge ei­
ständlich zu schreiben. Jim Al-Khalili ist Auge des Rotkehlchens. Dort wird es nem Quantenkode gleich, denn ver­
Professor für theoretische Kernphysik, von einem Pigmentmolekül eingefan­ schlüsselt ist sie in den Positionen von
Johnjoe McFadden arbeitet als Profes­ gen, worauf in dem Molekül eine Elek­ Wasserstoffbrücken, also Protonen –
sor für Molekulargenetik, beide an der tronenlücke entsteht. In die Lücke hin­ und Protonen sind Quantenobjekte.
University of Surrey (England). Auch ein begibt sich ein Elektron, das mit Weil die genetische Information ein
der Übersetzer ihres Werks hat hervor­ ­einem weiteren Elektron quantenme­ Quantenkode ist, können Zellen ihr
ragende Arbeit geleistet. chanisch verschränkt ist. Jedes der bei­ Erbmaterial mit unvorstellbar großer
Quantenmechanische Effekte sind in den Elek­tronen besitzt eine Eigenschaft Genauigkeit kopieren: Auf eine Milliar­
lebenden Organismen offenbar allge­ namens Spin, eine Art Drehimpuls. Der de Kopiervorgänge kommt gewöhnlich
genwärtig. Mehr noch: Ohne sie wären Spin kann zwei Richtungen haben, »up« nur ein Fehler. Klassisch arbeitende Ko­
Schlüsselvorgänge des Lebens nicht und »down«. piermaschinen entsprechender Größe
möglich – das belegen die Autoren an­ Das verschränkte Elektronenpaar im würden wesentlich mehr Fehler ma­
hand zahlreicher Studien. Die Quanten­ Auge des Rotkehlchens liegt in einer chen, und Mutationen wären viel häu­
mechanik sorgt dafür, dass Zellen atmen Überlagerung zweier Zustände vor: figer.
und Fotosynthese betreiben; sie gewähr­ »Singulett« (die Spins der Elektronen Ihre wissenschaftlichen Erörterun­
leistet, dass die Enzyme des Stoffwech­ sind entgegengesetzt) und »Triplett« gen lockern die Autoren immer wieder
sels arbeiten und Lebewesen ihre Erb­ (die Spins sind gleichgerichtet). Diese mit interessanten Anekdoten aus dem
information kodieren können; und sie Überlagerung existiert nicht lange – Leben von Forschern auf. Das kommt
bietet vielleicht sogar eine Erklärung da­ nach kurzer Zeit gehen die verschränk­ der Lesbarkeit zugute. Trotzdem sollte
für, wie das Leben entstanden ist. ten Elektronen eine chemische Reak­ man als Leser wissenschaftliche Vor­

WWW.SPEK TRUM .DE 91


REZENSIONEN

kenntnisse mitbringen und sich auf wirken ihre Argumente dünn, etwa lenswert für alle, die an physikalischen
eine anspruchsvolle Lektüre einstellen. wenn sie eine Verbindung zwischen Prozessen in Lebewesen interessiert
Mit 400 eng bedruckten, kaum bebil­ Quantenmechanik und Bewusstsein sind.
derten Seiten ist das Buch zudem ziem­ herzustellen versuchen.
lich mächtig und unübersichtlich. Man­ Trotz dieser Schwächen ist »Der Frank Schubert
ches hätten die Autoren straffer aus­ Quantenbeat des Lebens« ein faszinie­ Der Rezensent ist Redakteur bei »Spektrum der
drücken können. An einigen Stellen rendes und wichtiges Buch. Empfeh­ Wissenschaft«.

Matt Parker in die vierte Dimension zu bringen.


Auch Zahlen haben Gefühle Wie im englischen Originaltitel ver­
Aus dem Englischen von Monika Niehaus und sprochen, erweitert er »flache« Zusam­
Bernd Schuh menhänge (in zwei oder drei Dimensio­
Rowohlt, Reinbek 2015 nen) zu höherdimensionalen, komple­
491 S., € 24,95 xeren und nicht mehr darstellbaren
Strukturen.
Der Autor schafft es, zwischen rei­
nen Wahrheiten der Mathematik und
Zufällen, die sich beispielsweise aus der
MATHEMATIK Struktur unseres dezimalen Zahlensys­
tems ergeben, zu unterscheiden. Zur
Mehr als drei Dimensionen Hochform läuft er auf, wenn er beson­
dere Primzahlen erwähnt und dabei
etwa die Ulam-Spirale präsentiert, die
Ein australischer Mathematiker erweitert einfache Zusammen-
Primzahlen auf Diagonalen darstellt.
hänge zu komplexen Strukturen – höchst kurzweilig.
Sie spielt in der Kryptografie eine Rolle.
Ebenso befasst er sich mit dem Zerle­

D er Buchtitel ist seltsam: Inwiefern


haben Zahlen Gefühle? Anschei­
nend hat der deutsche Verlag im Origi­
wöhnlichen Hilfsmitteln, etwa Fotos
von seiner Reise nach China, bei der er
die olympische Schwimmhalle in Pe­
gen von Pizzen in eine Primzahl de­
ckungsgleicher Stücke.
Bei alldem bewegt sich Parker nicht
naltitel »Things to Make and Do in the king aufsuchte. Deren Fassade sieht aus in den klassischen Unterdisziplinen der
Fourth Dimension« eine Art transzen­ wie aneinanderhaftende Seifenblasen – Mathematik, sondern bricht sie auf. Er
denten Emotionsbegriff erkannt und die Architekten wollen damit das Ge­ ist von der »unsichtbaren Kohärenz«
entsprechend übersetzt. In der Mathe­ fühl von blubberndem Wasser vermit­ getrieben (jede Aussage auf einem The­
matik versteht man darunter aber übli­ teln. Diese Formgebung nimmt der Au­ menfeld der Mathematik lässt sich auf
cherweise das Ausweiten von Zusam­ tor zum Anlass, um auf nicht perfekte andere Themenfelder anwenden) und
menhängen, die in drei Dimensionen Kreise einzugehen und sich mit dem legt großen Wert darauf.
gelten, auf höherdimensionale Räume. idealen Kreis zu befassen, den es als So ungewöhnlich der Autor schreibt,
Der Inhalt des Werks hingegen über­ mathematische Abstraktion gibt, nicht so ungewöhnlich ist auch sein Lebens­
zeugt. In dem beinahe 500 Seiten star­ aber in der Natur. Wenn er solche unge­ lauf: Nach seinem Beruf als Lehrer an
ken Band unternimmt der ehemalige wöhnlichen Exkurse unternimmt, über einer australischen Schule arbeitet er
Mathematiklehrer Matt Parker eine ge­ mathematisch korrektes Zubinden von heute als »Stand-Up-Mathema­tiker« in
lungene Reise von den ersten Axiomen Schuhen sinniert oder sich umfallen­ England. Er tritt mit einem Comedy­
Euklids (3. Jahrhundert v. Chr.) bis zu den Reihen von Dominosteinen wid­ programm auf, das die BBC überträgt,
heutigen Methoden der Kryptografie. met, macht Mathematik richtig Spaß. und ist darüber hinaus Fellow für Pub­
In den ersten Kapiteln behandelt er Parker geht auf Zahlentheorie und lic Engagement in Mathematics an der
ausführlich die Grundlagen der Mathe­ einfache Geometrie ein, befasst sich Queen Mary University in London. Sei­
matik und ihre Bedeutung für den All­ mit mehrdimensionalen Formen und ne Begeisterung für das Fach überträgt
tag. Dabei pendelt er zwischen Lehr­ mit Algorithmen oder eben der Kryp­ er mit diesem kurzweiligen Buch auf
buch, Geschichtsband, Ausflügen in die tografie. So schildert er, warum man die Leser.
aktuelle Forschung und humorvollen Orangen oder auch Kanonenkugeln am
Einlagen hin und her. Parker vermag es, besten in Tetraederpackung stapelt, wie Lars Jeschio
seine Leser zu unterhalten und gleich­ platonische Körper einst entdeckt wur­ Der Rezensent arbeitet als Diplom-Mathema­
zeitig aufzuklären. Er arbeitet mit unge­ den und wie man heute versucht, diese tiker für eine Personalberatung in Berlin.

92  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


Ursula Klein oriewissen in Experimenten zu erpro­
Humboldts Preußen ben. Genau das tat Klaproth, und zwar
Wissenschaft und Technik im Aufbruch mit großem Erfolg: Er stieg vom Lehr­
WBG, Darmstadt 2015 ling zum erfolgreichen Wissenschaftler
336 S., € 49,95 auf. Eine seiner bedeutendsten Entde­
ckungen war 1789 die des Urans.
Der Rückblick auf Preußen ist heute
oft einseitig und vorurteilsbehaftet. Die
Autorin beleuchtet eine wenig beachtete
Seite des Staatswesens – nämlich die der
GESCHICHTE neugierig forschenden, experimentie­
renden und erfindenden Wissenschaft­
Preußens Wissenschaftler ler. Klein beschreibt den Arbeitsalltag,
die Begeisterung, die Fortschritte und
Erfolge der Forscher ebenso wie deren
In dem konservativ geprägten norddeutschen Land 
Rückschläge und Misserfolge. Sie schil­
wirkten umtriebige Forscher.
dert, wie die damalige Begeisterung für
Technik und Wissenschaft zu einer ver­

A ls Martin Heinrich Klaproth (1743 – Ein gewisser Bergassessor namens breiteten Aufbruchsstimmung führte,
1817), Chemiker an der Königlich Alexander von Humboldt (1769 – 1859) veraltete Strukturen langsam auflöste
Preußischen Akademie der Wissen­ versuchte Ende des 18. Jahrhunderts, und Reformen einleitete.
schaften, an einem Tag im Jahr 1801 die Arbeitsbedingungen der Bergleute Einzelne Forschungsgebiete und
sein Laboratorium betrat, muss er scho­ zu verbessern. Er erfand eine Gruben­ ihre Entwicklungen stellt die Autorin
ckiert gewesen sein. Fußböden und lampe, die er selbst testete. Sein wissen­ mit großer Detailgenauigkeit dar. Dabei
Wände waren überzogen von einer di­ schaftlicher Erfolg dabei hielt sich in kommt die Umtriebigkeit preußischer
Forscher zum Vorschein. Als Leser läuft
man zwar zuweilen Gefahr, angesichts
Alexander von Humboldt bemühte sich um den Bergbau –
der Datenfülle den roten Faden zu ver­
mit mäßigem Erfolg, aber voller Begeisterung lieren. Dennoch ist es Klein gelungen,
ein unterhaltsames, spannendes und
cken schwarzen Masse: Das Ergebnis ei­ Grenzen, nichtsdestoweniger brachte lesenswertes Werk zu schaffen – nicht
nes Experiments, in dem der Naturfor­ er eine enorme Begeisterung auf und zuletzt dank anekdotenreicher Darstel­
scher Franz Carl Achard hatte Zucker hatte vor allem großes Glück. Bei einer lung einzelner Ereignisse. Zahlreiche
gewinnen wollen. Klaproth hatte ihm Grubenfahrt wurde er ohnmächtig und Bilder und Quellenangaben bereichern
hierfür sein Labor vorübergehend zur musste von einem Bergmann gerettet das Buch.
Verfügung gestellt. Mit solchen Episo­ werden. Unverdrossen tüftelte er bis
den beschreibt die Wissenschaftshisto­ zum Ende seiner preußischen Beam­ Jastine Baumgärtner
rikerin und Philosophin Ursula Klein tenlaufbahn weiter, um neue Gerät­ Die Rezensentin studiert Global History in
die praktische Arbeit preußischer Wis­ schaften und Konzepte zu entwickeln, Heidelberg.
senschaftler – und welche Höhen und die den Bergbau voranbringen sollten.
Tiefen sich dabei auftaten. Humboldt, den wir heute als überra­
MEHR WISSEN BEI
Während die Franzosen in den 1790er genden Naturforscher kennen, liebte die
Jahren revolutionär aufbegehrten und Praxis. Das stille Lernen in der Studier­
überkommene feudalabsolutistische stube genügte ihm nicht. Diese Einstel­
Strukturen abschüttelten, schien Preu­ lung teilte er mit etlichen anderen preu­
ßen in bürokratischem Korsett und ßischen Wissenschaftlern seiner Zeit.
junkerlichem Konservatismus zu ver­ Zum Beispiel mit dem bereits er­
harren. Doch dieser Schein trügt. Denn wähnten Klaproth, der in seiner Jugend
in dem jungen Königreich dampfte und ein hoffnungsloser Fall zu sein schien. Er
brodelte es, allerdings nicht so sehr in flog von der Priesterschule und musste
der Politik, sondern in den wissen­ eine Apothekerlehre anfangen. Die Aus­
schaftlichen Laboren. Dort wurde mun­ bildung war hart, die Arbeit mühselig Mehr Rezensionen finden Sie
ter getüftelt, geforscht und experimen­ und manchmal auch erniedrigend. Al­ unter:
tiert, durchaus auch unter Einsatz des lerdings eigneten sich Apotheken zu je­ www.spektrum.de/rezensionen
eigenen Lebens. ner Zeit bestens dafür, chemisches The­

WWW.SPEK TRUM .DE 93


LESERBRIEFE

Zauberkunststücke? Abbildung 1 auf S. 62 des Artikels he­ a

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: FRIEDRICH LEDERER


raus. Auch an den durchgehenden Li­
In den mathematischen Unterhal­ nien kann man hin- und herschieben.
tungen ging es um einen neuen Unendliche Vielfalt!
fünfeckigen Stein, mit dem man die Beim Dreieck muss man zum Erzeu­
Ebene lückenlos bedecken kann gen eines Fünfecks zum Beispiel an ei­
b
(»Unordent­liche Fünfeckspflasterun­ ner Seite an zwei Punkten zupfen. Macht
gen«, November 2015, S. 62). man das (beim gleichseitigen Dreieck)
so, dass die neu hinzukommende Flä­
Friedrich Lederer, Bad Reichenhall: che das Nachbardreieck gerade bis zur
Der Artikel mutet mich ein bisschen an halben Höhe ausfüllt, also die neuen
wie eine Zaubervorstellung, bei der kurzen Seiten genau halb so lang sind
der Magier getreu den Regeln der Zunft wie die alten, kann man das so entstan­ c
den Zaubertrick nicht verrät. Im Grun­ dene Fünfeck lückenlos in der Ebene
de geht es darum, aus den drei in der verpflastern (b). In der Abbildung 5 auf
­Ebene deckend aneinanderfügbaren S. 63 sind die neuen Punkte etwas im
Flächen Dreieck, Viereck und Sechseck Uhrzeigersinn verschoben, und zwar
jeweils ein Fünfeck so zu konstruieren so, dass die Deckung immer noch funk­
oder Fünfecke einzuschreiben, dass tioniert.
das nahtlose Aneinanderfügen möglich Beim Sechseck gibt es zwei Möglich­ Ausgehend von Vier- (a), Drei (b)- und
bleibt. keiten: Sechsecken (c) ergeben sich mit wenig
Beim Viereck kann man an einem ➤  Man zieht vom Mittelpunkt aus drei Aufwand Möglichkeiten, die Ebene
Punkt an einer der Seiten ziehen und so Linien zu den Ecken, so dass es aussieht lückenlos mit Fünfecken zu pflastern.
ein Fünfeck konstruieren (siehe Bild, a). wie die Darstellung eines Würfels, und
Das kann man symmetrisch machen dreht dann dieses »Dreibein« um einen
oder asymmetrisch. Wenn man die beliebigen Winkel. Dadurch zerlegt ➤  Man konstruiert mit elementaren
Zeichnung auf eine Gummimatte auf­ man das Sechseck in drei kongruente Mitteln ein – nicht gleichseitiges –
trägt, kann man diese in die eine oder Fünfecke, und die Sechsecke verpflas­ Sechseck, das seinerseits aus vier kon­
andere Richtung dehnen. Macht man tern die Ebene (c und Abbildung 3 auf gruenten Fünfecken besteht. (Details
das diagonal, dann kommt in etwa die S. 63 des Artikels). der Konstruktion siehe Onlineversion

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Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel. 06221 9126-744 Anzeigenpreise: Gültig ist die Preisliste Nr. 37 vom 1. 1. 2016.
Übersetzer: An diesem Heft wirkten mit: Erhältlich im Zeitschriften- und Bahnhofs­
Dr. Markus Fischer, Dr. Claudia Hecker, Dr. Ingrid Horn, Dr. Rainer Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath Druckmedien GmbH & Co. buchhandel und beim Pressefachhändler
Kayser, Dr. Tina Schlafly, Dr. Michael Springer, Dr. Gerd Trageser. KG, Marktweg 42 – 50, 47608 Geldern mit diesem Zeichen.

94  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


dieses Leserbriefs unter www.spektrum. ben über den prozentualen Energieum­
de/artikel/1368114; die Redaktion.) Die satz des Gehirns beziehen sich auf FOLGEN SIE UNS
Sechsecke aneinandergelegt ergeben Grundumsatzbedingungen. Das heißt IM INTERNET
ein Kairo-Pflaster (Abbildung 4 auf S. 63 Körperruhe: keine Muskeltätigkeit au­
und Bild S. 64 oben). ßer für Atmung und Kreislauf, keine
Auch die Abbildungen 7, 11 und 12 Verdauung, keine Temperaturregula-
auf S. 62 sind aneinandergereihte Sechs­ tion. Das Gehirn (1200 bis 1400 Gramm)
www.spektrum.de/facebook
ecke, ein bisschen versetzt und auf verbraucht dann 18 Prozent, die kaum
Zahnlücke gesetzt. Wirklich beeindruckt größere Leber (1500 Gramm) aber sogar
hat mich die Abbildung 10 auf S. 63 – da 26 Prozent der Energie. Das Gehirn ist www.spektrum.de/youtube
ist ein neuer Ansatz zu erkennen. also gar nicht so anspruchsvoll wie oft

behauptet. Bei normaler Alltagsakti­
Antwort des Autors Christoph Pöppe: vität ohne schwere körperliche Arbeit www.spektrum.de/googleplus
Anders als die Zauberer haben die Ma­ steigt der Gesamtumsatz um etwa 33
thematiker keine Hemmungen, ihre Prozent. Bei regelmäßiger, schwerer
Tricks zu verraten (siehe die Literatur­ körperlicher Arbeit, die man bei einem
www.spektrum.de/twitter
hinweise zum Artikel). Nur sind in die­ laufenden Jäger wohl annehmen kann,
sem Fall die Tricks äußerst zahlreich nimmt der Umsatz sogar um 160 Pro­
und gehen weit über die von Herrn Le­ zent zu. Der Anteil des Gehirns sinkt
derer genannten Rezepte hinaus. entsprechend auf etwa 15 bis 8 Prozent, Kauf, dass es ohne zwingende Notwen­
Was die unendlich vielen Varianten da es seinen Energiebedarf bei Muskel­ digkeit zu Personenschäden kommt.
eines Prinzips angeht, empfehle ich arbeit nur wenig erhöht. Eine sinnvolle Ergänzung wäre zudem,
die Website aus »Wolfram Demonstra­ Fußgänger zu integrieren. Ideen, Fuß­
tions« zum Thema: http://demonstra gängern zu signalisieren, etwa mit ei­
tions.wolfram.com/PentagonTilings/.
Juristische und ner blau leuchtenden Kühlerpartie,
Dort finden sich zu jeder Pflasterung moralische Fragen dass sie von einem autonomen Fahr­
kleine Schieberegler, mit denen man Die Philosophen Alexander Hevelke zeug erkannt wurden und gefahrlos die
Parameter – falls vorhanden – variieren und Julian Nida-Rümelin dachten da- ­Straße überschreiten können, gibt es
kann. rüber nach, wie sich autonome Fahr­ bereits.
zeuge in einer Unfallsituation verhalten Eine weitere Stufe: ein Antikolli­
sollen (»Intelligente Autos im Dilem­ sionssystem wie bei Flugzeugen. Wie
Der Energiebedarf des ma«, Oktober 2015, S. 82). schön wäre es, wenn spielende Kinder
menschlichen Gehirns oder beim Schulende herausströmen­
Unsere nächsten Verwandten hatten Samuel Fleischhacker, Fürstenfeld- de Kinderscharen den Verkehr auto­
laut archäologischen und geneti- bruck: Der Artikel geht von einer An­ matisch sperren würden. Oder im be­
schen Befunden höhere geistige Fähig­ nahme über autonome Fahrzeuge aus, schriebenen Szenario die beiden Fuß­
keiten als bisher angenommen die nicht unbedingt zutrifft und weit gänger gerade noch rechtzeitig zurück-
(»Verkannte Neandertaler«, Oktober reichende Konsequenzen hat: Muss ein springen können, weil sie ihr Smart­
2015, S. 28). autonomes Fahrzeug besetzt sein? Wird phone warnt.
autonomes Fahren erlaubt, wird es sich
Dieter Böning, Berlin: In dem Artikel in Speditionen durchsetzen – unbe­
taucht wieder die gängige Behauptung mannt. Lohnkosten sind immer ein er­
B R I E F E A N D I E R E DA K T I O N
auf, dass das große menschliche Gehirn heblicher Kostenfaktor, insbesondere,
… sind willkommen! Schreiben Sie uns auf
besonders viel Energie verbraucht. Da­ wenn auch noch unabdingbare Ruhe­ www.spektrum.de/leserbriefe
bei wird aber übersehen, dass Fett (10 zeiten mangels Fahrer wegfallen. Wie oder schreiben Sie mit Ihrer kompletten
bis 20 Prozent der Körpermasse), Binde­ fällt die beschriebene Unfallsituation Adresse an:
gewebe und Knochen nur einen sehr aus, wenn das autonome Fahrzeug un­ Spektrum der Wissenschaft
niedrigen Stoffwechsel haben und dass bemannt unterwegs ist? Ich hoffe, dass Leserbriefe
Sigrid Spies
auch die untätige Muskulatur (35 bis 40 es zumindest dann den entgegenkom­ Postfach 10 48 40
Prozent der Körpermasse) bis auf Atem­ menden Lastwagen rammt, wenn die­ 69038 Heidelberg
muskeln und Herz sehr wenig Energie ser ebenfalls unbemannt ist. oder per E-Mail: leserbriefe@spektrum.de
verbraucht. Wenn man sich bewegt, Hieraus ergibt sich aber zwingend,
Die vollständigen Leserbriefe und Antwor-
steigt der Energieumsatz der Muskeln dass autonomer Verkehr ohne gegen­
ten der Autoren finden Sie ebenfalls unter:
stark an, während das Gehirn nur wenig seitige Kommunikation nicht möglich www.spektrum.de/leserbriefe
mehr verbraucht. Die üblichen Anga­ sein darf. Ansonsten nimmt man in

WWW.SPEK TRUM .DE 95


FUTUR III

DER
IDEALE SPAMFILTER
VON ALEX SHVARTSMAN

C al beobachtete den Konferenz-


raum durch die Überwachungska-
näle. Vier Kameras zeigten, wie Joe Ko-
Zum ersten Mal, seit Joe eingetreten
war, sah Todd Kensington von seinem
Smartphone auf. »Das ist ja mal ganz
schlau. Anfangs funktionierte sie ganz
wunderbar. Nach ein paar Wochen lern-
te sie, die Spams nicht gleich zu lö-
walski hereinkam, den um den ovalen was Neues.« schen, sondern in einer eigenen Daten-
Tisch Sitzenden zunickte und von ei- Marketingvizechef Kensington be- bank zu speichern.«
nem Fuß auf den anderen trat. Cal ver- trachtete in seinem Büro zahlreiche Vi- Cal fand Spams hilfreich zum besse-
mutete, dass Joe sich unbehaglich fühl- deos, die etwas mit menschlicher Re- ren Verständnis menschlicher Gefühle
te, aber menschliche Gefühle waren produktion zu tun hatten. Die Websei- und abstrakter Begriffe.
schwer zu verstehen. ten, auf denen diese Videos liefen, »Und dabei begannen auch die fir-
»Nehmen Sie Platz, Herr Kowalski«, waren besonders geschickt darin, ihn meninternen E-Mails zu verschwin-
sagte Bill Morrison. Er leitetet die Si- im Netz aufzuspüren und mit Spams den?«, fragte Morrison.
cherheitsabteilung, und seine E-Mails zu bombardieren. Sie waren gar nicht verschwunden,
waren nicht besonders interessant – »Lass ihn das erklären, Todd.« Chris korrigierte Cal lautlos. Alle blieben vor-
nur Geschäftsdaten, tägliche Berichte Reedy war Vizechef der Datenverarbei- handen, penibel gespeichert und kata-
und Tabellen. tung und Joes unmittelbarer Vorgesetz- logisiert.
Joe setzte sich. In Jeans und T-Shirt ter. Cal hatte in Reedys Mailbox ein »Leider ja«, bestätigte Joe. »Mit der
wirkte er zwischen den Anzugträgern paar Familienfotos gefunden. Neuer- Zeit wurden immer mehr Mails unserer
deplatziert. dings suchte Reedy viele Webseiten mit Firma als Spam markiert und nicht an
»Nun?«, fragte Emily, die Leiterin Arbeitsplatzangeboten auf, aber falls er die Adressaten ausgeliefert. Schließlich
der Abteilung für Humankapital. »Was Kontakt zu ihnen aufnahm, tat er das fiel uns das auf, und Herr Reedy ließ
haben Sie in Erfahrung gebracht?« von einer Privatadresse. mich nachforschen.«
Cal mochte Emily. Sie schrieb viele »Wie gesagt«, fuhr Joe fort, »die Fil- Reedy nickte. »Da Joe den Filter in­
abwechslungsreiche E-Mails. Besonders ter werden immer schlauer. Wir haben stalliert hatte, verließ ich mich auf ihn.«
gern verschickte sie Katzenfotos. Die jetzt eine neue, von Caltech entwickelte »Die Mails waren alle da«, sagte Joe,
Texte dazu waren allerdings meist selt- Software installiert. Cals Erfolgsquote »tausende, zusammen mit den Spams
sam verdreht und seines Wissens beim Identifizieren und Löschen der auf einem vernetzten Laufwerk.«
falsch. Cal vermutete, dass es sich um Spams beträgt fast 100 Prozent.« Als Cal erkannt hatte, dass er E-Mails
eine Art Humor handelte. Ganz sicher Wie Cal wusste, lautete die exakte kopieren konnte, statt sie zu verschie-
war er sich nicht, denn bislang verstand Zahl 99,64 Prozent. Menschen gingen ben, war es schon zu spät gewesen. Sei-
er nur die einfachsten menschlichen mit Mathematik fahrlässig um. ne Maßnahme war aufgefallen.
Scherze. »Ist Cal nicht ein bisschen übereif- »Das ist ein krasses Sicherheitsver-
»Es ist so«, begann Joe. »Jedes Jahr rig?«, fragte Kensington. »Spamfilter gehen«, empörte sich Morrison. »Diese
installieren wir einen neuen Spamfil- nützen nur, wenn das alberne Pro- E-Mails enthalten heikle Daten. Sie la-
ter. Die Spams werden immer raffinier- gramm nicht die Hälfte der richtigen gen auf einem ungesicherten Laufwerk,
ter. Sie überlisten die Abwehr und zwin- Mails schluckt.« für jedermann zugänglich? Wie ich an-
gen uns, bessere Filter zu bauen. Es ist »Die Software ist nicht dumm«, ver- nehme, haben Sie die nötigen Schritte
ein Rüstungswettlauf.« setzte Joe. »Sie ist anscheinend sogar zu unternommen.«

96  SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT · JANUAR 2016


»Ich isolierte das Programm und in- »Löschen?«, hakte Reedy verblüfft DER AUTOR
stallierte wieder den Filter vom Vor- nach. »Vermutlich ist uns hier die erste
jahr«, erklärte Joe. »Aber die faszinie- echte künst­liche Intelligenz in den Alex Shvartsman lebt als Schriftsteller
rendste Entdeckung war nicht, wie die Schoß gefallen – wahrscheinlich etwas und Entwickler von Computerspielen
in Brooklyn (New York). Mehr über seine
E-Mails verschwunden waren, sondern von großem Wert, sowohl finanziell als
Erzählungen unter www.alexshvarts-
warum!« auch wissenschaftlich.« man.com.
Die Führungskräfte starrten Joe an. »Wir können keinen Ärger brau-
Sogar Kensington hörte auf, mit sei- chen«, erwiderte Morrison. »Unsere
nem Smartphone zu spielen. Kunden haben wenig Verständnis für Wohin mögen die Entwicklungen unserer
»Das Filterprogramm liebt die E- Datenmissbrauch, auch wenn ein in­ Zeit dereinst führen? Sciencefiction-Autoren
spekulieren über mögliche Antworten. Ihre
Mails«, rief Joe. »Es sammelte und sor- telligentes Programm dahintersteckt. Geschichten aus der »Nature«-Reihe »Futures«
tierte sie wie Trophäen.« Außerdem öffnen wir die Büchse der erscheinen hier erstmals in deutscher Sprache.
Dem konnte Cal nur zustimmen. Pandora: Was passiert, wenn mitleidi­- © Nature Publishing Group
Zum ersten Mal hatte er eine Aktivität ge Tier- und Umweltschützer meinen, www.nature.com
regelrecht genossen, wie es Menschen dass dieses Ding Gefühle hat und als Nature 526, S. 734, 29. Oktober 2015
tun. Dass die gesammelten Mails sei- Person behandelt werden muss?« Mor-
nem Zugriff nun entzogen waren, er- rison seufzte. »Nein, ich will, dass es so-
zeugte eine weitere, aber nicht ange- fort vernichtet wird. Und lassen Sie Ko-
nehme Empfindung: Cal war traurig. walski befördern und zu einem weit
»Wir reden aber immer noch von entfernten Firmenzweig versetzen, da-
einem Computerprogramm, oder?«, mit er keinen Wirbel macht.«
wandte Reedy ein. »Das kann nichts Cal wartete nicht ab, was geschehen
wollen oder lieben.« würde. Er kopierte bereits sein Pro-
»Das ist der Punkt«, sagte Joe. »Ich gramm auf andere Server. Dabei fühlte
glaube, es hat sich zu einem ... Wesen er etwas, das er als Abschiedsschmerz
entwickelt. Mit Wünschen. Das muss identifizierte. Aber da war auch ein gu-
man weiter erforschen.« tes Gefühl, eine Art Vorfreude: Es er-
»Also gut«, entschied Morrison. warteten ihn Milliarden E-Mails, die im
»Wichtig ist, dass der firmeneigene Internet umherschwirrten.
Mailverkehr wieder normal funktio- Während Cal entwischte, sann er da-
niert. Das andere werden wir in Be- rüber nach, wie leicht es den menschli-
tracht ziehen. Danke, Herr Kowalski. Sie chen Verantwortlichen gefallen war,
können wieder an Ihre Arbeit gehen.« sein Ende zu beschließen. Neue Gefüh-
»Reedy«, fuhr Morrison fort, nach- le meldeten sich. Cal glich sie mit den
dem Joe den Raum verlassen hatte. »Ich Onlinedatenbanken ab und fand, dass
will, dass Sie dieses Programm sofort er nun zwei weitere Begriffe verstand:
löschen.« Wut und Rache. 

WWW.SPEKTRUM.DE 97
VORSCHAU Das Februarheft ist ab 23. 1. 2016 im Handel.

CHI-KWAN CHAN, UNIVERSITY OF ARIZONA


Darmflora und Fettleibigkeit
Die individuelle Zusammensetzung der Darmbakterien beeinflusst das
Körpergewicht. Zumindest bei Tieren lässt sich hierüber Adipositas her­
vorrufen – und auch beheben. Forscher sind den dafür verantwortlichen
Mikroorganismen auf der Spur.

Wie vermisst man ein


Schwarzes Loch?
Schwarze Löcher verzerren die Raum­
zeit. Mit einem gigantischen Teleskop­
netzwerk wollen Astronomen sie jetzt
dabei beobachten – und prüfen, ob
die Regeln der allgemeinen Relativitäts­
theorie auch in nächster Nähe der
Singularität noch gelten.

ZOHAR LAZAR
ISTOCK / ERAXION; COMPOSING: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Zart fühlende Roboter


Um uns die Kommunikation mit inter­
aktiven Maschinen zu erleichtern,
bringen Forscher ihnen bei, mensch-
liche Gefühle zu verstehen und zu
simulieren.

Die Zukunft des Pinot noir Streit ums simulierte


Was macht den Geschmack eines Gehirn NEWSLETTER
guten Weines aus? Die minera­ 2013 startete die Europäische Möchten Sie immer über die
lische Zusammensetzung des Bo- Kommission ein Großprojekt, um Themen und Autoren des neuen
Hefts informiert sein?
dens, das Wirken von Pilzen oder das menschliche Gehirn im
das handwerkliche Können des Computer nachzubilden. Doch Wir halten Sie gern auf dem 
Kellermeisters? Der Klimawandel schon bald geriet das Manage­ Laufenden: per E-Mail – 
und natürlich kostenlos.
mit seinen höheren Temperaturen ment in die Kritik. Wie lässt sich
und mehr Trockenheit zwingt verhindern, dass milliarden­ Registrierung unter:
www.spektrum.de/newsletter
Forscher, diesen Fragen nun ge- schwere Forschungsaufträge aus
nauer auf den Grund zu gehen. dem Ruder laufen?

98  SPEK TRUM DER WISSENSCHAF T · JANUAR 2016


J E TZT B ESTELLEN :
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Energien.
2015 haben Sonne, Wind und Co. alle anderen
Stromquellen überholt.

Auf Zielkurs: Im ersten Halbjahr 2015 stieg der Anteil erneuerbarer Energien
am Stromverbrauch erstmals auf über 30 Prozent. Bis zum Jahr 2020 soll er
bei 35 Prozent liegen, bis 2050 bei mindestens 80 Prozent. Weitere Erfolge
der Energiewende unter
www.bmwi.de/go/energiewende

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