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18
.de 12.18
www.

Welle oder
Teilchen?
Ein klassisches
Quantenexperiment eröffnet neue
Blicke auf die Realität
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
8,50 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

ASTRONOMIE Ein Familienstammbaum für die Sonne


MANIPULATION Fake-Videos durch KI
BIOMIMETIK Haizähne als Vorbild für Zahnersatz
EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

GEFÄHRLICHE
FÄLSCHUNGEN

MIT FRDL. GEN. DES DAI HEIDELBERG


Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

FRIEDERIKE HENTSCHEL,

Alle Filme lügen. Alle. Bereits die Schnitte ändern den Verlauf der dar­
gestellten Zeit, selbst wenn der Streifen ein Mittendrin-dabei-Gefühl sugge­
riert. Zudem gaukelt das zweidimensionale Medium Film vor, es könne GERARDUS ’T HOOFT
problemlos die dreidimensionale Wirklichkeit abbilden. Andere Verfälschungen Im Interview mit Spektrum stellt
der Wahrheit reichen von der Filmmaske (Verändern der Darsteller durch der Physik-Nobelpreisträger
Schminken oder Prosthetik) über Sound-Effekte (warum klingen Pistolenschüsse ab S. 20 seine Interpretation der
immer wie Kanonen?), Gefühlsmanipulation mittels Hintergrundmusik bis hin Quantenmechanik vor.
zur offensichtlichsten Flunkerei, den visuellen Spezialeffekten. Diese sind
­keineswegs eine Erfindung des modernen Blockbusters, sondern entstanden
schon kurz nach der Geburtsstunde des Kinos. Ein sehr frühes Beispiel ist
Georges Méliès’ »Reise zum Mond« von 1902, in dem der französische Film­
pionier ein Feuerwerk der damals verfügbaren Techniken wie Modellbau,
­Doppelbelichtung und Stop-Motion-Animation zündete.
Solchen Tricks sah man noch an, dass es sich um Fälschungen handelt,
wobei sich die Technik mechanisch gesteuerter Puppen, so genannter Anima­
tronics, fortlaufend verbesserte und 1993 mit »Jurassic Park« einen Höhepunkt
erreichte. Dieser Film, in dem täuschend lebensechte Dinosaurier die Leinwand HELGE-OTTO FABRITIUS
bevölkerten, markiert zudem den Durchbruch digitaler, also per Computer Bisheriger Zahnersatz unter­
produzierter Spezialeffekte. Ihre Entwicklung war seit den 1980er Jahren mit scheidet sich oft stark von
wachsender Rechenleistung immer rasanter verlaufen, so dass die Resultate echten Zähnen. Ab S. 46 be­
nun ebenfalls äußerst realitätsnah wirkten. schreibt der MPI-Biologe
Was ist der nächste Schritt nach der erfolgreichen Kreation nicht existie­ ­zusammen mit zwei Industrie­
render Lebewesen? Ganz einfach: das digitale Verändern existierender. Ein forschern naturnähere Ersatz­
Beispiel kam bereits 1994 mit »Forrest Gump« in die Kinos, in Form eines ge­ materialien.
fälschten Händedrucks zwischen dem Schauspieler Tom Hanks und dem 1963
ermordeten US-Präsidenten J. F. Kennedy. Seitdem hat sich die Technik drama­
tisch weiterentwickelt, bis hin zum Transfer von Gesichtern längst verstorbener
Schauspieler auf Kollegen wie in »Rogue One« (2016), in dem der britische
Mime Peter Cushing auf diese Weise digital wiederbelebt wurde.
Leider werden solche Methoden nun aber zunehmend außerhalb der Unter­
haltungsindustrie verwendet – um gefälschte Videos realer Personen herzustel­
len, die dann über soziale Medien wie Facebook verbreitet werden (siehe den
Artikel ab S. 72). Das ermöglicht eine ganz neue Dimension von »Fake News«,
untergräbt das Vertrauen in die Medien und erschüttert damit einen zentralen CHRISTOPH DÜLLMANN
Stützpfeiler unserer demokratischen Gesellschaft. Denn wem kann man noch UND MICHAEL BLOCK
glauben, wenn man den eigenen Augen nicht mehr trauen darf? Der Kernchemiker und der
Kernphysiker wollen die Struk­
Nachdenklich grüßt Ihr tur und Stabilität von Atom­
kernen besser verstehen. Dazu
untersuchen sie extrem
­schwere Elemente (S. 54).

NEU AM KIOSK!
Unser Spektrum SPEZIAL Biologie – Medizin –
Hirnforschung 4.18 beleuchtet gesellschaftliche Diver­
sität: von der Rolle von Frauen über den Vorteil
­sozialer Vielfalt bis hin zu Wegen aus der Armutsfalle.
Spektrum der Wissenschaft  12.18 3
INHALT
3 EDITORIAL 12 QUANTENMECHANIK KEIN AUSWEG
AUS DER UNWIRKLICHKEIT
6 SPEKTROGRAMM Quantenobjekte sind bis zum Zeitpunkt der Messung weder Welle noch
Die Erfindung des Buntstifts Teilchen – oder doch?
Von Anil Ananthaswamy
Geburt eines
Neutronensternpaars
Pinguinsterben durch 20 INTERVIEW DAS UNIVERSUM ALS ZELLULÄRER AUTOMAT
Starkregen Serie: Große Forscher im Gespräch (Teil 2) Der niederländische
Rückschlag bei Physik-Nobelpreisträger Gerardus ´t Hooft erläutert seine Ideen zu einer
Krebs-Immuntherapie neuen Interpretation der Quantenmechanik.
Von Manon Bischoff
Dauer eines
Quantensprungs
Ein Kleinplanet
namens Kobold 38 ENDOMETRIOSE GEWEBE AUF ABWEGEN
Genschere gegen Millionen Frauen leiden unter einer häufig verkannten Krankheit, bei der sich
Stoffwechselstörung Zellen aus der Gebärmutterschleimhaut im Körper ausbreiten und mitunter
starke Schmerzen verursachen.
Die blauen Augen Von Jena Pincott
der Huskys

46 BIOMIMETIK DIE NATUR ALS VORBILD


24 FORSCHUNG AKTUELL
Das Nachahmen von natürlichen Materialien und Prozessen soll zu besseren
Nobelpreis für Physiologie Pflegeprodukten und innovativen Zahnersatz-Materialien führen.
oder Medizin Von Helge Otto-Fabritius, Frederic Meyer und Joachim Enax
Entfesselte Immunzellen
gegen Krebs
Nobelpreis für Physik
54 CHEMIE INSEL DER SCHWERGEWICHTE
Auf den Spuren von Elemente jenseits des bekannten Periodensystems lassen sich herstellen,
»Star Trek« zerfallen aber extrem schnell wieder. Allmählich rücken jedoch theoretisch
besonders stabile Kombinationen von Protonen und Neutronen in Reichweite.
Nobelpreis für Chemie Von Christoph E. Düllmann und Michael Block
Evolution im Reagenzglas
Nobelpreis für 64 ASTRONOMIE DER STAMMBAUM DER SONNE
Wirtschaftswissenschaften
Neue Forschungen decken die überra­schende Vergangenheit unseres
Innovation und Klima ­Zentralgestirns auf – und geben Hinweise auf seine voraussichtliche Zukunft.
als ökonomische Faktoren Von Rebecca Boyle

37 SPRINGERS EINWÜRFE
72 MEDIEN KLICKS, LÜGEN UND VIDEO
Immer Ärger mit den
Dank künstlicher Intelligenz ist es sehr einfach geworden, Videos zu fälschen.
Quanten
Damit gerät die Glaubwürdigkeit der Medien generell in Gefahr.
Die Deutung der Quanten-
Von Brooke Borel
physik bleibt umstritten.

62 SCHLICHTING! 78 MATHEMATISCHE UNTERHALTUNGEN


Vielschichtige Umtriebe im FLÄCHENMAGISCHE QUADRATE
Latte macchiato Die altehrwürdigen magischen Quadrate haben neue, geometrisch definierte
Manche heiße Flüssigkeiten Geschwister bekommen.
mischen sich auf Umwegen. Von Jean-Paul Delahaye

82 WIKINGER PIONIERE IN EINER UNWIRTLICHEN WELT


Serie: Migration (Teil 1) Ein halbes Jahrtausend nach der Einwanderung
verließen die Nordmänner Grönland wieder. Warum?
Von Zach Zorich und Klaus-Dieter Linsmeier

4 Spektrum der Wissenschaft  12.18


71 FREISTETTERS FORMELWELT
GREMLIN / GETTY IMAGES / ISTOCK

Es kommt doch auf die


Größe an!
Warum Teleskope immer
gigantischer werden.

88 REZENSIONEN
BBC: Die Welt der
Raubkatzen
Julian Nida-Rümelin,
Nathalie Weidenfeld:
Digitaler Humanismus
Alexander Demandt:
Marc Aurel
Brian Cox, Jeff Forshaw:
Was wiegt das Universum?

12 92 IMPRESSUM
TITELTHEMA 94 ZEITREISE
DIE UNWIRKLICHKEIT
Vom indianischen Kampfgas
DER QUANTEN zum Mini-Tornado in Berlin

95 LESERBRIEFE
MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EISENFORSCHUNG GMBH

NASA/SDO & AIA, EVE, AND HMI SCIENCE TEAMS

96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE


Möglicherweise ein
­Abschiedsbrief
Liebe in Zeiten der
interplanetaren Raumfahrt.

98 VORSCHAU
46 64
Titelbild:
BIOMIMETIK ASTRONOMIE gmaydos / Getty Images / iStock;
DIE NATUR ALS VORBILD GESCHICHTE DER SONNE Bearbeitung: Spektrum der
Wissenschaft

Alle Artikel auch digital


82 auf Spektrum.de
MIT FRDL. GEN. VON CHRISTIAN KOCH MADSEN

72
SPENCER_WHALEN / GETTY IMAGES / ISTOCK

Auf Spektrum.de berichten


WIKINGER unsere Redakteure täglich
MEDIEN PIONIERE IN EINER aus der Wissenschaft: fundiert,
FAKE-VIDEOS UNWIRTLICHEN WELT aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 5


SPEKTROGRAMM

CRAIG FOSTER

6 Spektrum der Wissenschaft  12.18


DIE ERFINDUNG DES BUNTSTIFTS


Was uns die Maler der 73 000 Jahre alten Ocker- Der Fund stammt aus der südafrikanischen Blombos-
striche sagen wollten, ist leider nicht überliefert. Die Höhle. Hier ritzten Menschen bereits vor rund 100 000
gekreuzten Linien auf dem vier Zentimeter langen Jahren abstrakte Zeichnungen auf Steine oder Ockerbro-
Steinchen sind jedoch der älteste Beleg dafür, dass unsere cken, wie frühere Entdeckungen zeigen. Jetzt ist klar, dass
Ahnen mit Farbe malten. Selbst Zeichnungen der Nean- Homo sapiens dort auch mit Farbe hantierte: Wahrschein-
dertaler, die man in Spanien fand, sind Schätzungen lich malten die Künstler die roten Linien mit angespitzten
zufolge 8000 Jahre jünger. Und die berühmten Höhlenma- Ockerstiften, wie Experimente der Forscher von der Uni-
lereien von Lascaux oder Altamira kommen gerade einmal versity of the Witwatersrand in Johannesburg nahelegen.
auf die Hälfte des Alters der nun entdeckten Striche. Das Team vermutet, dass die Bemalung ursprünglich wohl
über die Bruchkanten hinausging. Die Anschlussstücke
sind aber bislang verschollen.
Nature 562, S. 115–118, 2018
CRAIG FOSTER

Spektrum der Wissenschaft  12.18 7


SPEKTROGRAMM
ASTROPHYSIK
GEBURT EINES NEUTRONENSTERNPAARS

 Neutronensterne vereinen
auf einem Durchmesser
von gerade einmal 20 Kilo­-
engen Bahnen umkreisen
und manchmal sogar
verschmelzen (siehe Spek-
metern bis zum Doppelten trum Januar 2018, S. 58).
der Masse unserer Sonne. Dabei müsste die Wucht

SDSS / CALTECH
Die extrem dichten Objekte der Supernovae die beiden
entstehen, wenn ein Stern eigentlich auseinander­
einer gewissen Größe am geschleudert haben. Am 19. Oktober 2014 tauchte am Rand der Galaxie
Ende seines Brennzyklus in Wie schaffen es die »IV Zw155« ein Punkt auf – das Licht einer Supernova.
sich zusammenfällt und Paare, zusammenzublei-
seine Hülle in einer Super- ben? Eine Gruppe um
nova-Explosion abstößt. Kishalay De vom California stern­systemen, deren 14gqr« nahe, deren Licht
Das Verblüffende: Astro- Institute of Technology in Sterne in vergleichsweise die Erde im Oktober 2014
physiker haben in der Pasadena glaubt das Rätsel schwachen Explosionen erreichte. Sie fiel schwä-
Vergangenheit immer nun gelöst zu haben. Dem- vergehen. Das legt zumin- cher aus als gewöhnlich
wieder Duos der Exoten nach bilden sich Neu­tro­ dest eine ungewöhnliche und verblasste überra-
aufgespürt, die sich auf nen­stern­paare aus Dop­pel­ Supernova namens »iPTF schend schnell.
Offenbar explodierte hier
ein Stern, der bereits einen
großen Teil seiner Wasser-
POLARFORSCHUNG Jahren untergingen und dass es um
den Todeszeitpunkt herum ungewöhn-
stoff- und Heliumhülle ver­-
loren hatte. Ohne Gasman-
PINGUINSTERBEN DURCH lich starke Regen- und Schneefälle gab. tel bleibt von einem Stern
STARKREGEN Insbesondere für junge Pinguine stellt lediglich der nackte Kern
schlechtes Wetter ein Problem dar: übrig, dessen Kollaps zu

 Wenn Pinguine eine Kolonie in der


Antarktis aufgeben, ist das meist ein
langwieriger Prozess: Die Tiere wenden
Ohne ausgeprägtes Federkleid können
sie sich kaum vor Kälte schützen, die
Sterblichkeitsrate steigt bei niedrigen
einem Neutronenstern eine
vergleichsweise schwache
Supernova auslöst. Denk-
sich erst von ihren Brutstätten ab, Temperaturen entsprechend an. Viel bar ist dieses Szenario aber
wenn sich die Bedingungen über Jahr- Schnee erschwert zusätzlich den Nest- nur, wenn der todgeweihte
hunderte hinweg stetig verschlechtert bau der Vögel – und die Schneeschmel- Stern von einem extrem
haben, etwa durch die Ausdehnung ze schwemmt einige Zeit später bereits kompakten und masse­rei­
eines nahen Gletschers oder kontinuier- gelegte Eier hinfort. chen Partner umkreist
liche Abkühlung. Ein Team um Liguang Die Forscher machen besondere wurde, vermutlich einem
Sun von der Chinesischen Universität Wetterlagen für den rapiden Untergang Neutronenstern. Nur solch
der Wissenschaft und Technik in Hefei der Kolonien verantwortlich. Bei Kon- ein Objekt könnte genug
präsentiert nun Hinweise, dass Kolo- stellationen vom Typ »zonale Welle 3« Schwerkraft aufbringen, um
nien von Adeliepinguinen (Pygoscelis strömen große Mengen feuchter Luft die Gashülle seines Partner
adeliae) auch viel schneller zu Grunde von Norden her in Richtung Antarktis. gründlich abzusaugen.
gehen können: Mehrere Brutstätten Das Phänomen könnte infolge des Sowohl die Beobach-
auf der Antarktischen Halbinsel seien Klimawandels wahrscheinlicher wer- tungsdaten von iPTF 14gqr
binnen weniger Jahre aufgegeben den, mahnt die Gruppe. Fest steht, dass als auch Computersimulati-
worden. Pinguine auch heute immer wieder onen passen am besten zu
Die Wissenschaftler haben hunderte starken Regen- und Schneefälle ausge- diesem Szenario, argumen-
mumifizierte Vögel an mehreren setzt sind: 2013/14 starben in einer tieren die Forscher. Dem-
­Fundorten geborgen und bei 14 Tieren Kolonie auf der Pétrel-Insel sämtliche nach brachte auch die erste
Gewebeproben datiert. Das Team Jungtiere. Bezogen auf das gesamte der beiden Explosionen in
analysierte außerdem die Sedimente Verbreitungsgebiet nimmt die Zahl der dem Sternsystem, bei der
im Umfeld einiger Kadaverfunde. Die Adeliepinguine momentan jedoch zu. der erste Neutronenstern
Befunde deuten darauf hin, dass die J. Geophys. Res. Biogeosci. entstand, nicht genug Kraft
Kolonien vor 200 beziehungsweise 750 10.1029/2018JG004550, 2018 auf, um das Paar auseinan-
derzubringen.
Science 362, S. 201–206, 2018

8 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

MEDIZIN Erfolgen. Wiederholt star-


ben aber auch Menschen
greifen diese an. Schließ-
lich injiziert der Arzt die
Analysen belegen, reichte
im Fall des verstorbenen
RÜCKSCHLAG an den Nebenwirkungen modifizierten weißen Blut- 20-Jährigen bereits eine
BEI KREBS- der Immuntherapie. körperchen dem Patienten einzige modifizierte Krebs-
IMMUNTHERAPIE Der Tod eines 20-jäh- wieder. zelle, um die zunächst
rigen Leukämiekranken In der ursprünglichen erfolgreich bekämpfte

 Das Verfahren gilt als


Hoffnungsträger bei der
Behandlung von Krebser-
wirft nun erneut einen
Schatten auf das innovative
Verfahren: Er starb neun
Blutprobe schwimmen oft
auch vereinzelte Krebs­
zellen, die normalerweise
Erkrankung zurückkehren
zu lassen.
Nat. Med. 24, S. 1499–1503,
2018
krankungen des Blut bilden- Monate nach einer CAR-T- während des Verfahrens
den Systems: Die CAR-T- Zell-Behandlung – und zwar zu Grunde gehen oder von
Zell-Therapie programmiert weil diese neben den den modifizierten T-Zellen Modifizierte T-Zellen
bestimmte weiße Blutkör- T-Zellen auch eine einzelne abgetötet werden. Es kann können Tumorgewebe
perchen des Immunsys­ Tumorzelle veränderte. Das jedoch passieren, dass das bekämpfen.
tems, die T-Zellen, derart habe bei dem jungen Mann Virus nicht nur das Erbgut
um, dass diese chimäre zu einem Rückfall geführt der Immunzellen verändert,
Antigenrezeptoren (abge- und ihn schließlich getötet, sondern auch das der
kürzt CAR) ausprägen. berichten Mediziner um Tumorzellen. In der Praxis
Letztere richten sich gezielt Marco Ruella von der komme das vermutlich nur
gegen krebsspezifische University of Pennsylvania. extrem selten vor, betonen
Oberflächenproteine. Bei der CAR-T-Zell-Thera- die Mediziner um Ruella.
Die so modifizierten pie werden einer Blutprobe Wenn es passiert, können
Immunzellen sind wesent- des Patienten zunächst die Folgen aber fatal sein:
lich besser darin, Tumor­ T-Zellen entnommen. Als Das Virus könne die Krebs-
zellen zu erkennen und zu Nächstes setzt man sie zellen gewissermaßen
bekämpfen. Seit 2011 einem Virus aus, das neues unsichtbar für die scharfge-
behandeln Ärzte Krebspati- Genmaterial in sie einführt. schalteten T-Zellen machen,
enten mit dem Verfahren – Dadurch erkennen die schreiben die Wissen-
teils mit beeindruckenden T-Zellen Tumorzellen und schaftler. Wie genetische
CGTOOLBOX / GETTY IMAGES / ISTOCK

Elektronen

Trifft Licht ein Atomgitter, lösen (mil­liards­tel Milliardstel­ Experiment: Die Gruppe
sekunden) abspielt, tas­ brachte Jodmoleküle auf
TU WIEN

sich Elektronen aus dem Material.


teten sich die Forscher auf die Oberfläche eines
einem Umweg an die ­Wolfram-Blocks auf und
Erster korrekt mit der Messung heran. Sie berech- beschoss diesen mit
Quantennatur des neten zunächst die Zeit, die ­ultrakurzen Laserpulsen.
Lichts gedeutet. ein Laser benötigt, um ein Die Strahlung löste
Demnach übertra- Elektron aus einem Helium- zunächst die Elektronen des
gen Lichtteilchen atom zu lösen. Dieses ist Jods heraus, was den Start
ihre Energie auf vergleichsweise einfach der Messung markierte.
Lichtwelle jeweils ein Elektron, aufgebaut, weshalb Physi- Von da an stoppten die
das daraufhin einen ker die Begegnung von Wissenschaftler die Zeit,
großen Hüpfer macht und Lichtteilchen und Atom bis auch die Wolfram­
sich so von seinem Atom- sehr genau am Computer elektronen die Messgeräte
kern trennen kann. simulieren können – bei erreichten. Letztlich hing
PHYSIK Nun hat ein deutsch-­ Atomen in Festkörpern ist die Dauer des Photoeffekts
DAUER EINES österreichisches Physiker- das nicht möglich. vom Ursprungszustand der
QUANTENSPRUNGS team um Marcus Ossiander Anschließend vermaß Ladungsträger ab: Von den
von der Technischen Uni- das Team den Photoeffekt inneren Schalen um den

 Trifft energiereiche
Strahlung auf Metalle
oder Halbleiter, lösen sich
versität München die
genaue Dauer des Effekts
in Wolfram bestimmt.
in einem Jodgas – der zuvor
ermittelte Wert bei Helium
diente hier als Referenz-
Atomkern benötigten
Elektronen 100 Attosekun-
den. Die Leitungselektronen
Elektronen aus deren Da sich der Sprung des wert, dank dem sich die der äußeren Schalen hinge-
Oberfläche. Albert Einstein Elektrons auf der kaum absolute Zeitdauer ermit- gen hüpften in 45 Attose-
hatte diesen »photoelektri- greifbaren Zeitskala von teln ließ. Das wiederum kunden in die Freiheit.
schen Effekt« 1905 als wenigen Attosekunden ermöglichte das eigentliche Nature 561, S. 374–377, 2018

Spektrum der Wissenschaft  12.18 9


SPEKTROGRAMM »The Goblin«
2015 TG387
2012 VP113

ASTRONOMIE Kuipergürtel

EIN KLEINPLANET NAMENS KOBOLD


Gasplaneten des
Sonnensystems

 Astronomen haben
einen weiteren Klein­
planeten am Rand des
er sich zeitweise bis zu
2300 AE von der Sonne
entfernt. Damit handelt es Die bekannten Planeten
Sonnensystems entdeckt. sich aus Sicht von Experten kreisen innerhalb des Kuiper-
Das Objekt mit dem wis- um den dritten bisher gürtels. Der Goblin entfernt
senschaftlichen Namen entdeckten größeren Him- sich viel weiter von der Sonne. Sedna

»2015 TG387« misst rund melskörper aus der inneren


300 Kilometer und benötigt Oortschen Wolke, einer

ILLUSTRATION BY ROBERTO MOLAR CANDANOSA AND SCOTT SHEPPARD, COURTESY OF


CARNEGIE INSTITUTION FOR SCIENCE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
etwa 40 000 Jahre für ei-
  weit ausgedehnten, sphä- Entfernung vergleichsweise tems nach Hinweisen auf
nen Umlauf um die Sonne. rischen Ansammlung nah an der Erde durchs All. den hypothetischen »Pla-
An seinem sonnen­nächs­ von Kometen und anderen Das kleine, lichtschwache neten X«, der nach Ein-
ten Punkt ist der Himmels- Objekten. Sie werden Objekt geriet 2015 vor die schätzung vieler Astrophy-
körper 65 Astronomische nicht mehr wesentlich von Linse des japanischen siker dort ebenfalls seine
Einheiten (AE; Abstand der der Schwerkraft der acht Subaru-Teleskops auf dem Bahnen ziehen müsste.
Erde zur Sonne) von un- bekannten Planeten be­ Mauna Kea in Hawaii. In Nach Aussage von
serem Zentralgestirn einflusst. Bereits 2003 den darauf folgenden Jah- Sheppard und seinen
entfernt – gut doppelt so hatten Forscher den Zwerg- ren konnten die Astrono­men Kollegen ist der Orbit des
weit wie Pluto. planeten Sedna entdeckt, um Scott Sheppard von der Goblins mit der Existenz
Bemerkenswert an dem und auch der Asteroid Carnegie Institution for Sci- des bisher unentdeckten
Objekt mit dem Spitznamen 2012 VP113 zählt zu dieser ence in Washington D. C. Gasplaneten vereinbar,
»The Goblin« (englisch: der Gruppe. seine Bahn bestimmen. Das einen Beweis liefere er
Kobold) ist sein extrem lang 2015 TG387 treibt mo- Team durchsucht die Au- allerdings nicht.
gestreckter Orbit, auf dem mentan mit rund 80 AE ßenbezirke des Sonnensys­ ArXiv 1810.00013, 2018

MOLEKULARBIOLOGIE Fähigkeit aber infolge solcher Basenpaar in das Paar T-A um, das
GENSCHERE GEGEN Genmutationen verlieren. Die dort bei gesunden Individuen
STOFFWECHSEL- Symptome der Phenylketonurie steht. Diese Abwandlung der
lassen sich zwar durch eine ei- Methode habe bei Mäusen eine
STÖRUNG weißarme Diät mindern, aber deutlich höhere Erfolgsrate gehabt

 Die Phenylketonurie gehört zu


den häufigsten angeborenen
Stoffwechselerkrankungen, in
heilen kann man die Stoffwechsel-
störung bisher nicht.
Eine Studie von Forschern um
als das klassische CRISPR/Cas9-
Verfahren, berichten die Forscher.
Man habe bis zu 63 Prozent der
Deutschland leidet rund jedes Gerald Schwank von der ETH fehlerhaften Gene in der Leber der
10 000. Neugeborene darunter. Die Zürich weckt nun Hoffnung, dass Nagetiere reparieren können.
betroffenen Säuglinge können die dies in Zukunft möglich sein Ob mit der Methode auch
Aminosäure Phenylalanin nicht könnte: Die Mediziner haben bei Menschen behandelt werden
abbauen, was zu schweren psy- vier Labormäusen mit Hilfe der können, ist momentan noch
chomotorischen Entwicklungsstö- CRISPR/Cas9-Genschere das unklar: Erst muss sich das Verfah-
rungen einschließlich Epilepsie Erbgut an der entscheidenden ren bei anderen Tieren bewähren.
und einem verkleinerten Schädel- Stelle repariert, wodurch die Auch müssen die Mediziner über-
umfang führen kann. Pah-Enzyme in der Leber der Tiere prüfen, ob die Genschere – oder
Die Krankheit tritt auf, wenn wieder ihre normale Funktion das Virus, mit dem diese in die
sowohl die Mutter als auch der aufnahmen. Dazu erweiterten die Zellen gebracht wird – uner-
Vater mutierte Varianten des Gens Wissenschaftler das CRIPSR/ wünschte Nebenwirkungen her-
vererben, das für das Enzym Cas9-System um das Enzym beiführen, etwa indem sie andere,
Phenylalaninhydroxylase (Pah) Cytidindeaminase. Es öffnet den potenziell gefährliche Mutationen
kodiert. Dieses setzt normalerwei- DNA-Doppelstrang an der rich- auslösen.
se Phenylalanin um, kann die tigen Stelle und wandelt ein C-G- Nat. Med. 24, S. 1519–1525, 2018

10 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

BIOLOGIE (Iris), die sich infolge einer


Genmutation zuerst in
mentvorläufers Tyrosin in
die Iris regelt. Laut der
Abschnitt im Chromosom
18 nahe dem Gen ALX4
DIE BLAUEN AUGEN Europa entwickelt hat. So Analyse des Teams um verdoppelt vor, berichten
DER HUSKYS spielt bei blauäugigen Boyko wirkt bei den Hun- die Forscher. Das Gen spielt
Menschen die Erbanlage den vermutlich ein anderer bei der Entwicklung des

 Sibirische Huskys haben


oft blaue Augen, und
die auffällige Eigenschaft
für ein Protein namens
OCA2 eine Rolle, das den
Transport des Melaninpig-
Mechanismus: Die Forscher
haben das Erbgut von 6070
Vierbeinern analysiert,
Auges eine Rolle. Und
dieselbe Abschnittsver-
dopplung tritt ebenfalls bei
wird mit hoher Wahr­ deren Halter außerdem ein einer anderen Hunderasse
scheinlichkeit ausgeprägt, Foto ihres Tiers online auf, dem blauäugigen
sofern es im Erbgut der Die blauen Augen von hinterlegten. Bei vielen der Australian Sheperd.
Tiere vorliegt. Forscher um Huskys stellen Genetiker blauäugigen Huskys in der Warum die Genomverän-
Adam Boyko von der noch immer vor ein Rätsel. Datenbank liege ein DNA- derung bei Huskys zu
­Cornell University und der blauen Augen führt, ist
Bostoner DNA-Analyse-­ allerdings unklar. In Einzel-
Firma Embark Veterinary fällen sind auch Hunde mit
wollen der Ursache der Genverdoppelung
dafür nun näher gekom- braunäugig. Es müssen
men sein. also weitere, bisher unbe-
Bisher war offen, ob die kannte Faktoren die Farb-
blauen Augen bei Huskys gestaltung beeinflussen,
ähnlich wie beim Men- glauben die Genetiker. Sie
schen zu Stande kommen: wollen nun weitere Analy-
durch eine verstärkte Einla- sen durchführen.
gerung von Farbpigmenten PLoS Genetics 10.1371/
in die Regenbogenhaut journal.pgen.1007648, 2018
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Spektrum der Wissenschaft  12.18 11
QUANTENMECHANIK
KEIN AUSWEG AUS
DER UNWIRKLICHKEIT
Ein berühmtes Experiment schien zu
beweisen: Quantenobjekte besitzen bis
zum Zeitpunkt der Messung keine
inneren Eigenschaften. Drei Forscher sind
nun allerdings auf ein Schlupfloch ge­
stoßen, das solche »verborgenen
Variablen« zulassen könnte – während
andere sich aufmachen, die Regeln der
Quanten­physik doch noch zu retten.

Anil Ananthaswamy ist Wissenschaftsjournalist


und Buchautor. Sein Buch »Through Two Doors
at Once« ist im August 2018 erschienen und
dreht sich um die Geschichte und die moderne
Bedeutung des Doppelspaltexperiments.

 spektrum.de/artikel/1603740
GREMLIN / GETTY IMAGES / ISTOCK

12 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Welchen von vielen mög­
lichen Pfaden ein Licht-
teilchen einschlägt, bleibt
oft im Dunkeln.


Der theoretische Physiker John Wheeler sprach
einmal vom »großen, rauchenden Drachen«, um ein
Lichtteilchen zu beschreiben, dass sich von einer
Quelle zu einem Detektor bewegt. »Das Maul des Drachen
ist scharf, damit beißt er in den Detektor. Seine Schwanz­
spitze ist scharf, dort ist die Quelle«, schrieb Wheeler. Das
Photon besitzt also sowohl am Anfang als auch am Ende
eine eindeutig definierbare Realität. Doch dazwischen ist
der Körper des Drachen unwirklich, gewissermaßen in
Nebel gehüllt. »Es lässt sich nichts darüber aussagen, wie
der Drache in diesem Bereich aussieht oder was er dort
macht.«
Elementare Quantenphänomene sind nicht real, so­
lange wir sie nicht beobachten – diese von Wheeler vertre­
tene philosophische Position wird als Antirealismus be­
zeichnet. In der klassischen Sichtweise dagegen besitzen
Objekte immer eindeutige intrinsische Eigenschaften.
Wheeler entwarf ein Experiment, das zeigen sollte, wie ein
Verharren auf dem klassischen Standpunkt unweigerlich
zu der Schlussfolgerung führt, die Zukunft beeinflusse die
Vergangenheit. Ausgehend von der Absurdität solcher
Zeitreisen wurde Wheelers Experiment zu einem Stützpfei­
ler des Antirealismus auf der Quantenebene.
Doch im Mai 2018 fanden Rafael Chaves, Gabriela
Barreto Lemos und Jacques Pienaar vom Internationalen
Institut für Physik in Natal, Brasilien, ein Schlupfloch. Sie
zeigten, dass sich Wheelers Experiment unter bestimmten
Voraussetzungen mit einem klassischen Modell erklären
GREMLIN / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  12.18 13


lässt, in dem das Photon intrinsische Eigenschaften be­
sitzt. Die Forscher gaben dem Drachen also einen definier­
Denkt man klassisch,
ten Körper, der jedoch dem mathematischen Formalismus wäre das Photon in der Zeit
der Standardquantenmechanik verborgen bleibt.
Die Physiker um Teamleiter Chaves schlugen eine kleine zurückgereist und hätte
Veränderung an Wheelers Experiment vor, mit der sich
dieses Schlupfloch überprüfen lassen sollte. Eifrig versuch­
seinen Charakter verwandelt
ten sofort drei Arbeitsgruppen, das modifizierte Experi­
ment durchzuführen. Ihre im Juni 2018 publizierten Ergeb­
nisse lassen sich, so die Forscher, mit klassischen, den entweder entlang Weg 1 oder Weg 2 und trifft entspre­
Realismus verfechtenden Modellen nicht sinnvoll erklären. chend mit gleicher Wahrscheinlichkeit auf Detektor D1
Die Quantenmechanik mag seltsam sein, aber sie liefert oder Detektor D2. Das Photon agiert dabei als einzelnes
trotzdem immer noch die einfachste Erklärung. Objekt und zeigt uns seine teilchenhafte Natur.
Wheeler entwarf sein Experiment 1983, um eines der An einer Stelle kreuzen sich die Wege 1 und 2, und dort
wichtigsten konzeptionellen Rätsel der Quantenmechanik können wir einen zweiten Strahlteiler platzieren. Das
zu beleuchten: den Welle-Teilchen-Dualismus. Quantenob­ ändert die Situation völlig: Bei diesem Aufbau des Experi­
jekte verhalten sich entweder wie Teilchen oder wie Wel­ ments läuft das Photon gleich einer Welle entlang beider
len, aber niemals beides zur selben Zeit. Sie scheinen Wege gleichzeitig. Diese treffen bei dem zweiten Strahltei­
keine inhärente Realität besitzen, solange sie nicht beob­ ler wieder kurz aufeinander. Der Aufbau lässt sich so
achtet werden (siehe »Die Realität im Doppelspaltver­ konfigurieren, dass sich der Anteil der Wellen, der sich
such«, S. 16). »Physiker ringen seit einem Jahrhundert mit weiter in Richtung von D1 bewegt, konstruktiv überlagert,
dem Welle-Teilchen-Dualismus als einem essenziellen, selt­ also Wellenberg auf Wellenberg trifft. Der Pfad in Rich­
samen Bestandteil der Quantentheorie«, kommentiert tung D2 erzeugt im Gegensatz dazu destruktive Interfe­
David Kaiser, der als Physiker und Wissenschaftshistoriker renz. Dann registrieren die Forscher das Photon stets bei
am Massachusetts Institute of Technology in den USA D1 und niemals bei D2. Nun offenbart das Photon also
tätig ist. »Die Idee ist sogar älter als andere ungewöhnli­ seinen wellenartigen Charakter.
che Bestandteile der Quantentheorie, wie Heisenbergs
Unschärferelation und Schrödingers Katze.« Geschickt sabotierte Realität
Das Phänomen lässt sich besonders gut bei einer Wheelers geniale Problemstellung: Was passiert, wenn wir
speziellen Form des bekannten Doppelspaltexperiments die Entscheidung, ob wir einen zweiten Strahlteiler ein­
beobachten, dem Mach-Zehnder-Interferometer. Dabei bauen, verzögern? Nehmen wir an, das Photon läuft in ein
senden die Forscher ein einzelnes Photon auf einen halb­ Interferometer hinein, in dem es nur den ersten Strahlteiler
durchlässigen Spiegel, einen Strahlteiler. Das Photon wird gibt. Dann sollte es sich wie ein Teilchen verhalten. Wir
mit gleicher Wahrscheinlichkeit reflektiert oder durchge­ können dann jedoch den zweiten Strahlteiler in der aller­
lassen, kann also zwei mögliche Wege nehmen (siehe letzten Nanosekunde doch noch einbauen, während das
»Kausalität auf den Kopf gestellt«, rechte Seite). Es läuft Photon bereits auf dem Weg ist. Sowohl Theorie als auch
Experiment zeigen, dass das Photon, das sich doch ur­
sprünglich wie ein Teilchen verhalten hätte und somit
entweder D1 oder D2 erreichen sollte, sich gewisserma­
AUF EINEN BLICK ßen umentscheidet, jetzt als Welle in Erscheinung tritt und
nur noch von D1 registriert wird. Damit das passieren
NEBLIGE PFADE DER QUANTEN kann, muss es aber beide Pfade gleichzeitig genommen
haben und nicht entweder den einen oder den anderen.
1 Elementare Quantenphänomene werden erst real,
wenn wir sie beobachten. Sonst müsste die Zu-
kunft die Vergangenheit beeinflussen. Das ist die
Denkt man klassisch, dann sieht es so aus, als wäre das
Photon als Reaktion auf den veränderten Versuchsaufbau
Erkenntnis aus einem trickreichen Experiment. in der Zeit zurückgereist und hätte am Anfang des Experi­
ments seinen Charakter von Teilchen in Welle verwandelt.

2 Physiker zeigten jetzt, dass sich die Ergebnisse unter


bestimmten Voraussetzungen mit einem klassischen
Modell erklären lassen. Bei diesem würden die
Eine Möglichkeit, eine solche Retrokausalität zu vermei­
den, ist es, dem Lichtteilchen jede intrinsische Realität
abzusprechen. Dann wird das Photon erst durch die Mes­
Quantenobjekte stets gewisse Eigenschaften besitzen, sung real. In diesem Fall gibt es nichts, was rückwirkend
die uns lediglich nicht zugänglich wären. verändert werden müsste.
So ein Antirealismus kommt bei der unter Physikern

3 Mehrere Gruppen von Experimentalphysikern haben


dieses Szenario daraufhin im Labor überprüft.
Die bekannte Quantenmechanik scheint sich dabei
beliebten Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik
vor. Dieser verpasste die Arbeit von Chaves einen kräftigen
zu behaupten – einige Unsicherheiten bleiben Schlag, zumindest bezogen auf das Wheeler-Experiment.
jedoch bestehen. Chaves’ Team wollte kontraintuitive Aspekte der Quanten­
mechanik mit Hilfe neuer Ideen – den so genannten kausa­
len Modellen – erklären. Solche Ansätze haben im Lauf

14 Spektrum der Wissenschaft  12.18


D1 D1
Kausalität auf den Kopf gestellt
D2 »verzögerter Entscheidung« (Englisch: delayed choice)
Ein Experiment mit D2
zeigt, wie wechselhaft der Charakter eines Lichtteilchens ist.

D1 D1
D1 D1

Wenn das Photon D1


D1 registriert das D1
D2 registriert das
D2
ein Teilchen ist D2inD2
Photon 50 Pro- Photon inD2
50 Pro-
zent der Fälle. zent der Fälle.
Von einer Quelle ausge- D1 D1
Spiegel D2 D2
hend nimmt ein Teilchen
hinter einem Strahlteiler D2 D2
D1 entweder Weg 1 oder D1 Weg 2

Weg 2 und erreicht ent-


Weg 1
sprechend Detektor D1
oder
D2Detektor D2. D2
Strahlteiler Spiegel

D1
Wenn das Photon
eine Welle ist D1 registriert das D1 D2 registriert das
Mit einem zweiten Strahlteiler Photon in 100 Pro­-
D2 Photon in 0 Pro-
zent der Fälle. D1 zent der Fälle.
verhält sich das Photon wie eine
= Welle, die sich am ersten Strahl­ = D2
Beide Wellen überlagern Beide Wellen überlagern
teiler aufspaltet. Am zweiten sich=konstruktiv. D1 = destruktiv.
sich
D2
Strahlteiler kommen die Wellen
D1 = = kein
wieder zusammen. Das Photon D2
Signal
landet stets bei ein und dem­ = =
selben Detektor.
D2
=

D1
Verzögerte Entscheidung
D1 registriert das
Anfangs ist nur ein Strahlteiler Photon in 100 Pro-
im Versuchsaufbau. Das Photon zent der Fälle.
sollte sich wie ein Teilchen
D2 D1 D1
LUCY READING-IKKANDA / QUANTA MAGAZINE; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

verhalten. Erst während es die = D1 D1


Apparatur durchläuft, kommt D2 D2
ein zweiter Strahlteiler hinzu.
D1 D1D1 D1
D2 D2
Dadurch wird das Photon
schlagartig eine Welle – als
D2 D2
hätte es von Beginn an beide
Wege genommen.
D2 D2

Schlussfolgerung: Entweder sendet das Einfügen des zweiten Strahlteilers ein Signal rückwärts durch
D1 die Zeit, um das anfängliche Verhalten des D1
Lichtteilchens zu beeinflussen, oder Photonen besitzen keine
definierten intrinsischen Eigenschaften, solange sie nicht beobachtet werden.

D2 D2
Spektrum der Wissenschaft  12.18 15

D1 D1
Die Realität im Doppelspaltversuch
Für eine Demonstration, welche die die Berge einer Welle auf die Berge
Vorstellungen des großen Isaac einer anderen treffen, führt das zur
Newton über die Natur des Lichts konstruktiven Interferenz (helle
umstürzen sollte, war sie verblüf­ Bänder); falls sie auf Wellentäler sto­
fend einfach ausgelegt. Sie könne ßen, ist die Interferenz destruktiv
»mit großer Leichtigkeit wiederholt (Dunkelheit). Hier aber läuft immer
werden, wo immer die Sonne nur ein einziges Photon durch das
scheint«, beschrieb der englische Gerät, und es scheint darum so, als
Physiker Thomas Young im Novem­ ob jedes Lichtteilchen beide Spalte

TIMM WEITKAMP (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:DOUBLE_SLIT_X-RAY_SIMULATION_MONOCHROMATIC_BLUE-WHITE.PNG) /


ber 1803 den Mitgliedern der Royal auf einmal durchläuft und mit sich
Society in London das, was heute selbst interferiert. Das ergibt im
als Doppelspaltexperiment bekannt Rahmen der klassischen Physik
ist. Young hatte einen eleganten keinen Sinn.
Versuch entwickelt, um die wellen­
förmige Natur des Lichts zu zeigen. Zwischen Welle und Teilchen
Er widerlegte damit Newton, der Mathematisch gesehen ist das, was
meinte, es würde aus Korpuskeln durch beide Spalte geht, kein physi­

CC BY 3.0 DE (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/3.0/DE/LEGALCODE)
genannten Teilchen bestehen. kalisches Teilchen und keine klassi­
Etwa 100 Jahre später allerdings sche Welle, sondern eine so ge­
wurde mit der Geburt der Quanten­ nannte Wellenfunktion – eine abs­
physik klar, dass Licht tatsächlich trakte mathematische Beschreibung
aus winzigen, unteilbaren Energie­ für den Zustand des Photons, in
einheiten oder »Quanten« besteht, dem Fall seine Position. Sie verhält
den Photonen. Was passiert, wenn sich zunächst wie eine Welle: Sie
man nun Youngs Experiment mit trifft die beiden Spalte, von deren
einzelnen Photonen oder den Bau­ anderer Seite jeweils neue Wellen
steinen herkömmlicher Materie wie ausgehen, die sich ihrerseits aus­
Elektronen und Neutronen durch­ breiten und dabei miteinander
führt? Dann wirft das grundlegende interferieren. Die derart kombinierte Diese Simulation zeigt, wie sich hinter
Fragen über die Natur der Realität Wellenfunktion liefert dann die einem Doppelspalt (linker Bildrand) die
auf. In der modernen Variante von Wahrscheinlichkeiten für die Orte Wahrscheinlichkeit, ein Quantenobjekt
Youngs Experiment fallen einzelne auf dem Schirm, an denen das aufzuspüren, überlagert und ausbreitet.
Licht- oder Materieteilchen auf zwei Photon detektiert werden könnte.
Spalte in einer sonst undurchsichti­ An den Stellen, wo die beiden
gen Barriere. Auf der anderen Seite Wellenfunktionen konstruktiv inter­ tionelle Schwierigkeiten in der
befindet sich ein Detektor, der die ferieren, wird man das Photon mit Quantenmechanik verursacht.
Ankunft der Partikel registriert, hoher Wahrscheinlichkeit antreffen. Vorher lässt sich nicht mit Sicherheit
beispielsweise eine fotografische In Regionen mit destruktiver Inter­ sagen, wo das Photon landen wird –
Platte. Nach klassischer Sichtweise ferenz sind die Chancen dafür es kann an jedem der Orte erschei­
sollten einzelne Teilchen, welche die hingegen gering. Die Messung – in nen, an denen die Wahrscheinlich­
Schlitze passieren, hinter diesen auf dem Fall die Wechselwirkung mit keit dafür ungleich null ist. Es gibt
den Detektor treffen und damit nach der fotografischen Platte – lässt die außerdem keine Möglichkeit, die
und nach zwei Hauptsignale verur­ Wellenfunktion kollabieren, wie Bahn des Photons von der Quelle
sachen. es im Sprachgebrauch der Quanten­ bis zum Detektor nachzuzeichnen.
Das tun sie nicht. Vielmehr bilden mechanik heißt. Während sie zu- Nach der Interpretation von
sich auf dem Bildschirm abwech­ vor noch über den gesamten Raum Werner Heisenberg, einem der
selnd helle und dunkle Streifen. ausgebreitet war, erhält sie im Mo- Pioniere der Quantenmechanik, sind
Solche Interferenzmuster entstehen ment der Messung dort ein Dinge erst dann real, wenn sie
im Allgemeinen, wenn sich mehrere Maximum, wo sich das Photon of- beobachtet werden. Er hielt es für
Wellen überlagern, und sie waren fenbart. nicht mehr möglich, »zur Vorstel­
auch das Ergebnis von Youngs Dieser messungsbedingte Kollaps lung einer objektiven, realen Welt
ursprünglichem Experiment. Wenn der Wellenfunktion hat viele konzep­ zurückzukehren, deren kleinste Teile

16 Spektrum der Wissenschaft  12.18


auch mit einer umstrittenen Technik,
den so genannten schwachen
Messungen.
Ebenso bleiben Theorien im
Rennen, die mit dem zufälligen
Kollaps von Wellenfunktionen
argumentieren: Je mehr Teilchen im
Quantensystem stecken, desto
wahrscheinlicher ist der Vorgang.
Beobachter entdecken lediglich das
Ergebnis. Forscher um Markus

TIMM WEITKAMP (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:DOUBLE_SLIT_X-RAY_SIMULATION_MONOCHROMATIC_BLUE-WHITE.PNG) /


Arndt an der Universität Wien haben
das beispielsweise überprüft, indem
sie immer größere Moleküle durch
einen Doppelspalt geschickt haben.
Laut solchen Kollapsmodellen
sollten Materieteilchen jenseits einer
gewissen Massenschwelle nicht in
einer Quantenüberlagerung bleiben.

CC BY 3.0 DE (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/3.0/DE/LEGALCODE)
Das würde das Interferenzmuster
zerstören. Arndts Team hat selbst
bei einem Molekül mit mehr als
800 Atomen Interferenz beobachtet;
die Suche nach der Grenze geht
weiter (siehe »An der Grenze zur
Quantenwelt«, Spektrum August
2018, S. 12).
Der englische Theoretiker Roger
Penrose hat eine Version eines
Kollapsmodells entwickelt, bei der
in der gleichen Weise objektiv Der Versuch lässt sich zudem Gravitationsinstabilitäten ein Objekt
existieren wie Steine oder Bäume, anders interpretieren. So vereint die aus einer Überlagerung in den einen
gleichgültig, ob wir sie beobachten De-Broglie-Bohm-Theorie den Wel­ oder anderen Zustand bringen –
oder nicht«. Der US-Physiker John len- und Teilchencharakter der umso schneller, je massereicher es
Wheeler benutzte eine Variante des Realität: Ein Photon bewegt sich ist. Das geschieht unabhängig von
Doppelspaltexperiments für sein hier mit einer jederzeit eindeutigen bewussten Beobachtern. Dirk Bouw­
Argument, letzten Endes sei »ein Position auf den Doppelspalt zu und meester von der University of Cali­
elementares Quantenphänomen so durchläuft den einen oder anderen fornia arbeitet daran, die Idee mit
lange nicht wirklich, solange es Spalt – jedes Photon hat also eine einer angepassten Variante des
nicht registriert ist«. Bahn. Es reitet auf einer führenden Doppelspaltexperiments zu überprü­
In der Quantentheorie ist jedoch Welle, die durch beide Schlitze geht fen. Hier geht es im Grundgedanken
völlig unklar, was eine Messung und das Lichtteilchen zu einem Ort nicht nur um eine Überlagerung des
eigentlich sein soll. Sie postuliert der konstruktiven Interferenz leitet. Wegs eines Photons durch zwei
einfach, das dafür verwendete Gerät Spalte auf einmal, sondern auch
müsse aus der klassischen Welt Modelle im Labortest darum, einen der Spalte selbst in
stammen, ohne eine Grenze zwi­ 1979 simulierten Chris Dewdney, eine Überlagerung zweier möglicher
schen dieser und dem Quantenreich Chris Philippides und Basil Hiley Orte zu bringen. Laut Penrose bleibt
zu definieren. Einige Physiker geste­ vom Birkbeck College in London dieser Spalt entweder in Überlage­
hen sogar dem menschlichen Be­ erstmals die Voraussagen dieser rung oder kollabiert, noch während
wusstsein eine Rolle beim Kollaps Theorie für Bahnen von Teilchen, die das Photon durch die Apparatur
zu. Allerdings liefern die modernen sich durch den Doppelspalt bewe­ rast, was zu verschiedenen Arten
Varianten des Doppelspaltexperi­ gen. Im Lauf des letzten Jahrzehnts von Interferenzmustern führt. Bouw­
ments keinen empirischen Beweis ließen sich solche Trajektorien meester arbeitet bereits seit einem
für solche Behauptungen. experimentell nachweisen, wenn Jahrzehnt an dem Versuchsaufbau.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 17


des letzten Jahrzehnts an Popularität gewonnen, etwa dahin einfach nicht klar, dass diese Art von Experiment in
durch Verfechter wie den einflussreichen Informatiker Einklang mit einer klassischen Erklärung gebracht werden
Judea Pearl. Kausale Modelle stellen Ursache-Wirkung- kann. Man kann eine Theorie mit verborgenen Variablen
Verbindungen zwischen den Elementen eines Experiments konstruieren, die ohne Quantenmechanik auskommt.«
her. Bei der Untersuchung zweier korrelierter Ereignisse A Von diesem Punkt aus war der nächste Schritt für
und B lässt sich mitunter nicht feststellen, ob A Ursache Chaves, Physikern mit Hilfe eines veränderten Experiment­
von B ist oder umgekehrt. Möglicherweise verursacht aufbaus eine Unterscheidung zu ermöglichen – zwischen
sogar ein bislang unverdächtiges Ereignis C sowohl A als der klassischen Theorie mit verborgenen Variablen und der
auch B. In solchen Fällen können kausale Modelle dabei Quantenmechanik. Im modifizierten Gedankenexperiment
helfen, C aufzuspüren. wird das Mach-Zehnder-Interferometer mitsamt zweitem
Chaves und seine Kollegen konzentrierten sich auf das Strahlteiler um zwei »Phasenschieber« ergänzt – einen am
Wheeler-Experiment mit verzögerter Entscheidung. Sie Anfang des Experiments, einen am Ende. Sie können als
waren sich sicher: Sie würden keinen Prozess finden, der Auswahlschalter von den Experimentatoren willkürlich
auf verborgene Weise einem Photon intrinsische Eigen­ betätigt werden.
schaften zuordnet und sein Verhalten erklärt, ohne auf Netto wirken sich die zwei Phasenschieber auf die
Retrokausalität zurückgreifen. Sie rechneten vielmehr fest relativen Weglängen des betrachteten Photons aus. Da­
damit, dass das Experiment mit verzögerter Entscheidung durch ändert sich das Interferenzmuster und somit auch
»in dem Sinne superkontraintuitiv ist, dass es sich durch das angenommene wellenartige oder teilchenartige Ver­
kein kausales Modell erklären lässt«, so Chaves. halten des Untersuchungsobjekts. Man kann beispiels­
weise die Einstellung des ersten Phasenschiebers so
Wie viel Quantenmechanik braucht eine Beschreibung? wählen, dass das Photon innerhalb des Interferometers als
Doch das Ergebnis ihrer theoretischen Untersuchungen Teilchen agiert – das Photon durch den zweiten Phasen­
überraschte sie, und der Weg dorthin erwies sich sogar als schieber aber dazu zwingen, als Welle aufzutreten. Dabei
relativ einfach. Zunächst ordneten die Forscher dem darf der zweite Phasenschieber erst nach dem ersten
Photon unmittelbar nach der Durchquerung des ersten betätigt werden.
Strahlteilers einen inneren Zustand zu, der durch eine Mit ihrem neuen Versuchsaufbau fanden die Forscher
»verborgene Variable« beschrieben wird. In diesem Zu­ eine Möglichkeit, zwischen einem klassischen kausalen
sammenhang bedeutet verborgen, dass die Größe in der Modell und der Quantenmechanik zu unterscheiden.
Standardquantenmechanik nicht vorkommt, aber das Angenommen, der erste Phasenschieber kann eine von
Verhalten des Photons auf irgendeine Weise beeinflusst. drei Stellungen annehmen, der zweite eine von zwei. Das
Die Experimentatoren entschieden dann, ob sie einen ergibt insgesamt sechs verschiedene Kombinationen für
zweiten Strahlteiler einfügten oder nicht. Im kausalen das Experiment. Die Forscher rechneten aus, was sie für
Modell, das Reisen zurück in der Zeit verbietet, kann die jede davon erwarten würden. Dabei unterschieden sich die
Wahl der Experimentatoren den vorherigen Zustand des Vorhersagen des klassischen Modells mit verborgenen
Photons nicht beeinflussen. Variablen von den Vorhersagen der Quantenmechanik.
Daraufhin konstruierte das Team eine Formel, die von den
Wahrscheinlichkeiten für das Eintreffen des Photons in
einem bestimmten Detektor abhängt, je nach Einstellung
der Phasenschieber. Liefert die Formel das Ergebnis null,
Mehr Wissen auf kann das klassische kausale Modell die statistischen
Spektrum.de Befunde erklären. Liefert sie dagegen einen Wert größer
Unser Online-Dossier zum Thema als null, dann gibt es (unter Berücksichtigung bestimmter
finden Sie unter Bedingungen für die verborgene Variable) keine klassische
spektrum.de/t/quantenphysik Erklärung.
ENSCHAFT / DANIELA
LEITNER Gemeinsam mit Forschern um den Quantenphysiker
SPEKTRUM DER WISS
Fabio Sciarrino von der Universität La Sapienza in Rom
machte sich Chaves daran, die Ungleichung experimentell
Mit Hilfe der verborgenen Variablen konnte das Team zu überprüfen. Zur gleichen Zeit führten auch zwei Grup­
anschließend Regeln aufstellen, mit denen sich aus dem pen in China den Versuch durch: die eine geleitet von
Wert der Variablen und der An- oder Abwesenheit des Jian-Wei Pan, einem Experimentalphysiker an der chinesi­
zweiten Strahlteilers ergibt, ob das Photon auf D1 oder auf schen Universität der Wissenschaften und Technik, die
D2 trifft – und zwar in vollständiger Übereinstimmung mit andere von Guang-Can Guo an der gleichen Hochschule.
den Vorhersagen der Quantenmechanik. Damit hatten die Jedes Team führte das Experiment ein wenig anders
Forscher unerwartet eine klassische, kausale und realisti­ durch. Guos Gruppe verwendete als Grundlage ein echtes
sche Erklärung in ihren Händen. Sie hatten ein Schlupfloch Mach-Zehnder-Interferometer. »Das kommt meiner An­
in Wheelers Experiment gefunden. sicht nach dem ursprünglichen Vorschlag Wheelers am
Das kam unerwartet für manche Physiker, erinnert sich nächsten«, kommentiert der an den Versuchen unbeteilig­
der theoretische Quantenphysiker Tim Byrnes von der te theoretische Physiker Howard Wiseman von der Griffith
New York University in Schanghai: »Den Leuten war bis University in Australien.

18 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Die Forscher konnten gibt es keine eigentümliche Umkehrung der Zeit, weil wir
kein Recht haben, irgendeine Aussage über die Vergan­
klassische kausale Modelle genheit des Photons zu treffen«, fasst er die Situation

ausschließen – unter zusammen. »In der De-Broglie-Bohm-Theorie existiert eine


Realität, die von unserem Wissen unabhängig ist, aber es
bestimmten Voraussetzungen gibt keine Zeitumkehr und damit kein Problem – die Be­
schreibung des ganzen Ablaufs ist eindeutig kausal.«
Auch wenn er die Anstrengungen lobt, will Kaiser die
Dinge noch weiter auf die Spitze treiben. In den bisher
durchgeführten Experimenten entscheidet zwar stets der
Die Formel spuckte für alle drei Experimente einen Wert Zufall darüber, wie der zweite Phasenschieber eingestellt
größer als null aus – mit unwiderlegbarer statistischer oder ob ein zweiter Strahlteiler eingefügt wird. Doch die
Signifikanz. Damit konnten die Forscher klassische kausa­ verwendeten Zufallsgeneratoren basieren ihrerseits auf
le Modelle ausschließen, die Wheelers Experiment mit quantenmechanischen Laboraufbauten. Und da die Expe­
verzögerter Entscheidung erklären würden. Das Schlupf­ rimente die Quantenmechanik selbst überprüfen sollen,
loch war geschlossen. »Wir haben Wheelers berühmtes sieht das Kaiser zufolge ein wenig nach einem Zirkel­
Gedankenexperiment gerettet«, meint Pan. Kaiser zeigt schluss aus: »Es wäre hilfreich zu überprüfen, ob die
sich beeindruckt von Chaves’ »eleganter« theoretischer experimentellen Ergebnisse unverändert bleiben, wenn wir
Arbeit und den nachfolgenden Experimenten: »Indem vollständig andere Quellen für die Zufälligkeit verwenden.«
jedes der jüngsten Experimente eine klare Verletzung Deshalb hat Kaiser mit seinen Kollegen einen Zufallsge­
gefunden hat, liegen überzeugende Beweise dafür vor, nerator gebaut, der Photonen mehrerer Milliarden Licht­
dass klassische Modelle tatsächlich nicht die Welt be­ jahre entfernter Quasare verwendet. Ein Teleskop am Table
schreiben, während quantenmechanische Vorhersagen Mountain Observatory in Kalifornien empfängt die Photo­
wunderbar zu den neuen Ergebnissen passen.« nen. Hat ein Photon eine Wellenlänge kleiner als ein
Allerdings gehen in die Formel bestimmte Vorausset­ bestimmter Grenzwert, liefert der darauf basierende Zu­
zungen ein. Die wichtigste davon: Die im kausalen Modell fallsgenerator eine Null, sonst eine Eins. Mit diesem Bit
vorhandene klassische verborgene Variable kann einen lässt sich die Entscheidung für das Experiment treffen.
von zwei Werten haben. Chaves hält das für vernünftig, da Sollten die Ergebnisse dann immer noch Wheelers ur­
das betrachtete Quantensystem, also das Photon, eben­ sprüngliche Überlegungen unterstützen, dann wäre das
falls nur ein Bit an Information codieren kann – es durch­ »ein weiterer Grund dafür, anzunehmen, dass die Welle-
läuft entweder den einen oder den anderen Arm des Teilchen-Dualität sich nicht durch Ideen aus der klassi­
Interferometers. »Es ist also eine natürliche Annahme, schen Physik beseitigen lässt«, meint Kaiser. »Der Spiel­
dass auch das Modell mit verborgener Variable zweidi­ raum für alternative Konzepte zur Quantenmechanik wird
mensional ist«, argumentiert Chaves. immer weiter eingeschränkt. Das streben wir jedenfalls
an.« Der Körper des Drachen, der sich für kurze Zeit vor
Es bleibt offen, welche Interpretation den Augen der Forscher abzuzeichnen schien, ist vorerst
die Ergebnisse richtig einordnet wieder im Rauch verschwunden.
Wenn man hingegen von einer verborgenen Variable mit
größerer Informationskapazität ausgeht, könnte das klassi­ QUELLEN
sche kausale Modell die in den Versuchen beobachtete
Chaves, R. et al.: Causal Modeling the Delayed-Choice Experiment.
Statistik durchaus erklären. Zudem ermöglicht das Experi­
In: Physical Review Letters 120, 190401, 2018
ment keine Entscheidung für oder gegen das populärste
unter den Modellen mit verborgenen Variablen: die De- Huang, H.-L. et al.: A Loophole-Free Wheeler-Delayed-Choice
Experiment. arXiv:1806.00156, 2018
Broglie-Bohm-Theorie. Dabei handelt es sich um eine
deterministische Alternative zur Standardquantenmecha­ Polino, E. et al.: Device Independent Certification of a Quantum
nik. Bei dem Konzept besitzen die Teilchen stets definierte Delayed Choice Experiment. arXiv:1806.00211, 2018
Positionen (das sind die verborgenen Variablen) und damit Yu, S. et al.: Experimental Realization of Causality-Assisted
eine objektive Realität, aber sie werden von einer »Füh­ Wheeler‘s Delayed-Choice Experiment Using Single Photons.
rungswelle« geleitet. Diese durchläuft beide Wege, das arXiv:1806.03689, 2018
Teilchen aber nur einen davon. Die An- oder Abwesenheit
des zweiten Strahlteilers beeinflusst die Welle, die das
Teilchen zum Detektor führt – mit exakt denselben Ergeb­ Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und redigierte Fassung
nissen wie in der Standard-Quantenmechanik. Die De-Bro­ des Artikels »Closed Loophole Confirms the Unreality of the Quan­
glie-Bohm-Theorie erklärt darum auch problemlos die tum World« aus »Quanta Magazine«, einem inhaltlich unabhängigen
Ergebnisse des Experiments mit verzögerter Entscheidung. Magazin der Simons Foundation, die sich die Verbreitung von
Forschungsergebnissen aus Mathematik und den Naturwissen­
Für Wiseman ist deshalb längst nicht klar, welche
schaften zum Ziel gesetzt hat.
Interpretation die Ergebnisse des Experiments richtig
einordnet (für eine weitere Idee siehe »Das Universum als
zellulärer Automat, S. 20). »In der Kopenhagener Deutung

Spektrum der Wissenschaft  12.18 19


INTERVIEW
DAS UNIVERSUM ALS
ZELLULÄRER AUTOMAT
Die theoretische Beschreibung der Quantenmechanik
weist bis heute Lücken auf. Der niederländische Physiker
Gerardus ’t Hooft versucht sie zu schließen. Im Gespräch
mit dem Nobelpreisträger von 1999 versuchen wir,
seine Vorstellung von der Wirklichkeit zu ergründen.

 spektrum.de/artikel/1603742

Herr Professor ’t Hooft, im August 1980 haben Sie in den. Doch das theoretische Konzept hat sich über die
Spektrum einen Artikel über das Standardmodell der Teil- knapp vier Jahrzehnte kaum verändert. Einige Forscher
chenphysik publiziert, in dem Sie die Welt subatomarer haben neue Arten von Teilchen erwartet, die auf eine
Teilchen nach damaligen Wissensstand erklären. Wie übergeordnete Theorie deuten würden, doch diese blieben
hat sich dieses theoretische Konzept seither verändert? bislang aus.
Damals war es das einfachste mathematische Modell,
das mit den experimentellen Daten übereinstimmte. Wir Das ist doch eine gute Nachricht, wenn das Standard-
hätten nie gedacht, dass sich diese Theorie über so viele modell so gut passt.
Jahrzehnte behaupten würde. Im Gegenteil: Wir hatten Ja und nein. Denn selbst wenn es subatomare Partikel der-
erwartet, dass mit fortschreitender Zeit einige Veränderun- zeit sehr gut beschreibt, birgt es einige Rätsel. Wir ver­
gen nötig seien. stehen beispielsweise die fundamentalen Naturkonstanten
Natürlich haben wir durch Experimente in der Zwi- nicht. Warum wiegt das Elektron so viel, wie es wiegt, und
schenzeit großartige Entdeckungen gemacht, etwa als die nicht mehr oder weniger?
Wissenschaftler am CERN 2012 das Higgs-Teilchen fan- Die meisten Naturkonstanten können wir zwar sehr
genau messen, aber wir wissen nicht, woher sie kommen.
Jeder Versuch, die exakten Werte zu erklären, ist bisher
gescheitert – bis auf das so genannte anthropische Prin-
SERIE zip: Es besagt, dass die Naturkonstanten diese Werte
Große Forscher haben, weil wir sonst nicht existieren könnten. Allerdings
im Gespräch sind die meisten Wissenschaftler mit dieser Argumenta­
tion unzufrieden.
Teil 1: November 2018
Elizabeth Blackburn
Keine Theorie, die alle vier Grundkräfte vereinen soll,
Teil 2: Dezember 2018 lässt sich derzeit experimentell überprüfen. Darum
Gerardus ’t Hooft fordern viele Physiker, dass eine solche Theorie mathe-
Teil 3: Januar 2019 matisch gesehen einfach und elegant – »natürlich« –
Ulf Riebesell sein soll. Darin haben willkürlich anmutende Naturkon-
stanten keinen Platz. Den Begriff der Natürlichkeit
Teil 4: Februar 2019
Frank Anthony Wilczek prägten Sie bereits vor 40 Jahren. Sind Sie noch immer
der Meinung, dass das der richtige Weg zu einer Welt-
Teil 5: März 2019
Martin Edward Hellman
formel ist, oder brauchen wir radikal neue Konzepte?
Diese Idee steht momentan stark unter Beschuss. Die
Teil 6: April 2019
»natürliche« Stringtheorie hat nämlich etliche Teilchen
Erwin Neher und Bert Sakmann
vorausgesagt, doch die Physiker am CERN konnten bisher
kein einziges davon bestätigen. Ich weiß nicht, ob die

20 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Beispiel für einen einfachen
zellulären Automaten
Einer der einfachsten zellulären Automaten ist
eindimensional und enthält nur Nullen und Einsen.
Der Anfangszustand, also die erste Zeile des Auto-
maten, besteht in diesem Beispiel aus 15 Zellen,
die alle null sind, bis auf eine Eins in der Mitte.
Nach jedem Zeitschritt baut sich unter der Zahlen-
folge eine weitere auf, wobei der Automat die
Vorschrift befolgt: Tritt über der neuen Zahlenreihe
folgende Dreierkombination auf, ersetzt er die
mittlere Zahl durch eine neue:


000 111 110 101 100 011 010 001


0 0 0 0 1 1 1 1

Der zelluläre Automat liefert dann:

0 0 0 0 0 0 0 1 0 0 0 0 0 0 0
ANDREAS HALLER, UNIVERSITÄT MAINZ

250 Iterationen eines eindimensionalen 0 0 0 0 0 0 1 1 1 0 0 0 0 0 0


zellulären Automaten, in dem die Nullen weiß 0 0 0 0 0 1 1 0 0 1 0 0 0 0 0
und die Einsen schwarz gefärbt sind.
0 0 0 0 1 1 0 1 1 1 1 0 0 0 0
0 0 0 1 1 0 0 1 0 0 0 1 0 0 0
Natürlichkeit noch gerettet werden kann. Womöglich 0 0 1 1 0 1 1 1 1 0 1 1 1 0 0
brauchen wir vollkommen neue Definitionen.
0 1 1 0 0 1 0 0 0 0 1 1 0 1 0
In Ihrem Spektrum-Artikel von 1980 haben Sie geschrie-
ben, dass man »in den letzten Jahren (…) dem Ziel, eine
übergreifende Theorie für alle vier Grundkräfte zu
formulieren, näher gekommen« sei. Physiker suchen anwächst – und nicht wie erwartet mit dem Volumen. Es
auch heute noch nach einer solchen Weltformel. Sind gibt weitere unglaubliche und ungeklärte Phänomene,
wir ihr nach 38 Jahren nun wirklich näher? beispielsweise dass Schwarze Löcher Informationen zu
Das denke ich schon, allerdings haben wir noch einen vernichten scheinen. Ich gehe davon aus, dass wir noch
weiten Weg vor uns. Dieser Bereich entwickelt sich sehr viel von ihrer Erforschung lernen werden.
langsam. Dennoch haben sich die grundlegenden Ideen
über die Jahre verändert: In der Stringtheorie nehmen die Neben Ihren kosmologischen Forschungsergebnissen
Forscher an, dass die Grundbausteine der Materie nicht haben Sie vor zwei Jahren ein Buch veröffentlicht, in
punkt-, sondern linienförmig sind. Doch wie gesagt, bisher dem Sie die Quantenmechanik aus einer neuen Pers-
ließ sich nichts davon bestätigen. pektive dar­stellen. Warum sind Sie mit den bereits
existierenden Interpretationen unzufrieden?
Glauben Sie noch an die Stringtheorie? Mich stört, dass die ursprüngliche Kopenhagener Deutung
Viele Stringtheoretiker hatten gemeint, die Lösung fast der Quantenmechanik, die auf Bohr und Heisenberg
gefunden zu haben. Ich habe immer gesagt, dass sie zu zurückgeht, nicht erklärt, was im Kleinsten wirklich ge-
optimistisch sind. Das sollten sie nun endlich zugeben. schieht. Bei Experimenten messen wir etwas und erhalten
Ehrlich gesagt denke ich, dass die Stringtheorie einer ein Ergebnis, doch wir wissen nicht, wie es dazu kam. Wir
Beschreibung unseres Universums nicht einmal nahe ist. strahlen beispielsweise ein Elektron auf einen Doppelspalt
und können messen, durch welchen Spalt es gegangen
Welcher Ansatz erscheint Ihnen vielversprechender? ist, ohne zu wissen warum. Ein anderes Elektron könnte
Momentan arbeite ich an möglichen Quanteneffekten, die im nächsten Versuch den anderen Spalt durchqueren. Was
in Schwarzen Löchern stattfinden können. So habe ich ist mit dem Teilchen geschehen, so dass wir genau dieses
schon vor einigen Jahren bisher unbekannte Eigenschaf- Ergebnis messen?
ten von Raum und Zeit enthüllt, etwa dass die Menge an Das Problem ist, dass wir den exakten Ausgang eines
Information im Raum begrenzt ist und mit der Oberfläche einzelnen Experiments nicht vorhersagen können – die

Spektrum der Wissenschaft  12.18 21


FRIEDERIKE HENTSCHEL; MIT FRDL. GEN. DES DAI HEIDELBERG, INTERNATIONAL SCIENCE FESTIVAL - GEIST HEIDELBERG
Quantenmechanik erlaubt uns lediglich, die Wahrschein-
lichkeiten für alle möglichen Ergebnisse zu berechnen.
Wenn wir ein und denselben Versuch 100-mal wiederho-
len, können wir abschätzen, wie oft dieses oder jenes
Ereignis eintritt. Anders gesagt: Durch statistische Metho-
den treffen wir korrekte Vorhersagen. Doch das allein
genügt mir nicht; ich möchte erfahren, was wirklich vor
sich geht.

Es gibt neben der Kopenhagener Deutung ja auch


noch andere Interpretationen der Quantenmechanik.
Was halten Sie von ihnen?
In der Tat gibt es etliche Deutungen. Viele Physiker stört
nämlich das fehlende Verständnis von Wirklichkeit. Die
zwei bekanntesten Interpretationen, welche die Realität
berücksichtigen, sind die bohmsche Mechanik und die
Viele-Welten-Theorie. In beiden nehmen die Forscher an,
dass alle möglichen Ausgänge eines Experiments tatsäch- Gerardus ’t Hooft
lich ein­treten – und zwar in parallelen Universen. Das halte (*  5. 7. 1946)
ich jedoch für ein sehr fragwürdiges Konzept. Ich denke, Der niederländische Teilchenphysiker studierte
dass die Wissenschaft die wahren Antworten noch nicht an der Universität Utrecht, wo er 1972 promo-
kennt; wir sind bisher einfach zu dumm. vierte. Für die während dieser Arbeit entwickelte
Renormierung von Yang-Mills-Feldern erhielt
In Ihrem Buch beschreiben Sie die Quantenmechanik er zusammen mit seinem Doktorvater Martinus
durch zelluläre Automaten. Was hat es damit auf sich? Veltman 1999 den Physik-Nobelpreis.
Ein zellulärer Automat ist ein einfaches Computermodell
eines zeitlich veränderlichen Systems. Der Automat setzt
sich aus zwei-, drei- oder mehrdimensionalen Zellen zu-
sammen, die ein Gitter bilden. In den Zellen sind die zeit- läre Automat hat einen unkomplizierten Ausgangszustand.
lich veränderlichen Eigenschaften der Theorie eingetragen, Dann dehnen sie sich immer weiter aus und werden kom-
die »Freiheitsgrade«, wie der Ort oder die Geschwindig- plexer.
keit eines Teilchens. Um die Naturgesetze nachzuahmen, Ich denke aber, dass meine Theorie vermutlich nur ein
gebe ich vor, dass eine Zelle zu jedem Zeitpunkt nur ihre grob vereinfachtes Modell der Wirklichkeit darstellt. Die
Nachbarzellen beeinflusst. Mit fortschreitender Zeit wird Zellen des Automaten könnten in viel komplizierteren
das System immer komplizierter, und irgendwann können Strukturen angeordnet sein als in den einfachen Gittern,
schließlich alle Zellen miteinander wechselwirken. die ich mir vorstelle.

Wie kamen Sie auf die Idee, die Quantenmechanik so Aus wie vielen Zellen bestünde ein Automat, der das
zu beschreiben? gesamte Universum simuliert?
Der Knackpunkt der Quantenmechanik ist, dass sie nicht Im Prinzip bräuchten wir zu jedem Freiheitsgrad im Univer-
kontinuierlich ist. Die dynamischen Variablen – beispiels- sum eine Zelle. Ein Freiheitsgrad entspricht einem Bit an
weise die Energie eines Teilchens – ändern sich stufenwei- Information. Nun besitzen alle existierenden Teilchen
se, sie sind »gequantelt«. Und genau diese Eigenschaft mehrere Freiheitsgrade, hinzu kommen noch die Eigen-
zeichnet ebenso die Einträge zellulärer Automaten aus, schaften von Raum und Zeit.
hier also die Freiheitsgrade. Wie bereits erwähnt, haben wir herausgefunden, dass
das Maß an Information im Universum begrenzt ist. Ein
Welche Vorteile bietet Ihre Beschreibung gegenüber Quadratmeter Raum enthält unseren Berechnungen zufol-
anderen Formulierungen? ge maximal 1069 Bit. Diese Zahl ist endlich, wenn auch
Sie ist extrem effizient. In der Viele-Welten-Interpretation unvorstellbar groß, sie übersteigt die Anzahl der Atome in
und der bohmschen Mechanik nehmen Forscher an, dass der Milchstraße um ein Zehnfaches. Wir brauchen statis­
es fast unendlich viele verschiedene Universen gibt. Das tische Methoden, um mit einer solchen Menge an Infor-
Modell eines zellulären Automaten umfasst dagegen bloß mation umzugehen. Und als genau das sehe ich die Quan-
ein Universum und ist dadurch wesentlich ergiebiger. tenmechanik: ein Modell, das eine riesige Zahl an Frei-
heitsgraden statistisch verarbeitet.
Glauben Sie, dass unser Universum ein zellulärer
­Automat ist? Ein zellulärer Automat ist ein klassisches Objekt und
Dem Prinzip nach ja. Denn beide Systeme teilen ähnliche folgt damit nicht den Gesetzen der Quantenwelt. In den
Eigenschaften: Anfangs sind sie sehr einfach – das Univer- 1960er Jahren hat der Physiker John Bell allerdings
sum ist äußerst klein und relativ homogen, und der zellu­ bewiesen, dass es keine klassische Beschreibung der

22 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Quantenmechanik geben kann. Was bedeutet das für Sie haben eine neue Interpretation der Quantenmecha-
Ihre Arbeit? nik entwickelt. Die zu Grunde liegenden Formeln und
Viele Wissenschaftler führen diese so genannten No-go- Gesetzmäßigkeiten bleiben dabei unverändert. Hoffen
Theoreme als ernste Herausforderung meines Modells Sie dennoch, durch Ihre Deutung auf eine neue Physik
an. Aus den Theoremen folgt, dass die Quantenmechanik zu stoßen?
nicht durch eine klassische Theorie beschrieben werden Wenn wir die Quantenmechanik besser verstehen, könnten
kann, die lokal ist. Damit ist gemeint, dass sich Informa­ wir genauere Modelle der Natur entwickeln. Eines meiner
tion weder rückwärts in der Zeit noch schneller als mit Ziele ist es ja, subatomare Teilchen besser zu verstehen.
Lichtgeschwindigkeit ausbreiten darf.
Die Theoreme setzen allerdings voraus, dass ein Beob- Wie nah sind Sie diesem Ziel? Können Sie schon das
achter einen freien Willen hat: Er muss beispielsweise frei Standardmodell der Teilchenphysik beschreiben?
entscheiden können, ob er den Impuls oder den Ort eines Nein, wir sind noch recht weit davon entfernt. Ehrlich
Teilchens messen will. Wenn das Universum aber ein gesagt hoffe ich, dass eines Tages ein brillanter junger
zellulärer Automat ist, dann ist der Experimentator selbst Mensch mit fabelhaften neuen Ideen auftaucht und uns
auch ein Teil davon. Die Wahl seiner Messung ist durch weiterbringt. Eventuell müssen wir erst die Gravitation
den Automaten also schon festgelegt – aus diesem Grund besser verstehen, um unsere Probleme zu lösen.
lassen sich die No-go-Theoreme gar nicht auf mein Modell
anwenden. Die Theorie subatomarer Teilchen mit der Gravitation zu
verbinden, zählt zu den schwierigsten Aufgaben der
Sie glauben also nicht an einen freien Willen? Physik. Wäre es nicht sinnvoller, mit einem einfacheren
Ich glaube, dass alle Naturgesetze vollkommen determi- Problem zu starten?
nistisch sind. Nichts geschieht ohne Grund. Allerdings Nicht unbedingt. Die Gravitation ist eine fundamentale
spielen dabei so viele Variablen eine Rolle, dass niemand Eigenschaft der Natur: Alles unterliegt ihr, und nichts kann
sie jemals alle verstehen, geschweige denn kontrollie- ihr entkommen; sie krümmt sogar die Raumzeit. Wir
ren kann. Darum gibt es in der Praxis überall so etwas wie haben anfangs versucht, eine Theorie subatomarer Teil-
einen freien Willen. chen ohne Gravitation zu entwickeln. Doch das ist extrem
kompliziert, wir haben sehr viel Arbeit hineingesteckt und
Trotz Ihrer Erklärung behaupten dennoch einige Wis- keine nennenswerten Erfolge verbucht. Es scheint so, als
senschaftler, dass Ihr Modell nicht lokal ist und ob wir etwas übersehen. Und das tun wir tatsächlich: Wir
damit den bellschen No-go-Theoremen nicht entgeht. vernachlässigen die Gravitation. Solange man sie nicht
Woran liegt das? versteht, kann man möglicherweise keinen passenden
Der zelluläre Automat führt zu unglaublich starken Verbin- zellulären Automaten formulieren.
dungen zwischen den einzelnen Zellen. Wir verstehen
noch nicht richtig, wie sich diese Korrelationen zeitlich Außerhalb der Physik sind Sie Botschafter des nieder-
entwickeln. Sie führen aber zu interessanten Phänomenen, ländischen Projekts Mars One, das bis 2040 den
die uns dazu bringen, Lokalität neu zu definieren. Viele Roten Planeten besiedeln möchte. Wie begann Ihre
Wissenschaftler zitieren die Definitionen von Bell – mit Begeisterung für diese Mission?
denen ich nicht ganz einverstanden bin – und behaupten Sie begann, als ich ein paar junge, enthusiastische Men-
deshalb, in meinem Modell müsste sich Information in schen kennen lernte. Sie rannten mit dieser Idee herum,
der Zeit zurückbewegen. Doch das scheint nur so, wenn dass es an der Zeit wäre, über bemannte Marskolonien
man die starken Wechselwirkungen zwischen den Zellen nachzudenken. Ich stimmte mit ihnen überein – auch
nicht versteht. Wir müssen endlich versuchen zu be­ wenn sie damals in ihrer Zeit- und Finanzplanung viel zu
greifen, wie sich Information zeitlich entwickelt und aus- optimistisch waren. Selbst wenn die Siedler nicht auf die
breitet. Erde zurückkehren, bringt ein solches Projekt erhebliche
Kosten mit sich. Heute meine ich, dass wir zuerst über
Folgen Sie Blogs oder Foren im Internet und holen so Kolonien auf dem Mond nachdenken sollten. Dennoch
die Meinung anderer Wissenschaftler ein? möchte ich die Menschen ermutigen, an solchen Ideen zu
Ich habe mit einigen Philosophen über Determinismus arbeiten. Auch wenn es noch ein langer Weg dorthin ist,
und Willensfreiheit diskutiert, das war allerdings nicht bin ich davon überzeugt, dass wir in ferner Zukunft den
immer einfach. Ansonsten beobachte ich, ob andere Weltraum in großem Stil besiedeln werden.
Forscher meinen Aussagen widersprechen. Dann möchte
ich mich verteidigen und herausfinden, warum die Person Das Interview führte Spektrum-Volontärin Manon Bischoff.
nicht überzeugt ist. Manchmal hat jemand gute Gründe,
die ich gerne verstehen möchte. Doch einige Leute haben
sich völlig darauf versteift, dass sich die Quantenmechanik LITERATURTIPP

fundamental von einer klassischen Theorie unterscheiden ’t Hooft, G.: The Cellular Automaton Interpretation of Quantum
muss. Deren Blogs helfen mir nicht wirklich weiter. Ich Mechanics. Springer International Publishing, 2016
höre dann ab einem bestimmten Punkt auf, mich weiter Der Physik-Nobelpreisträger präsentiert seine neue Interpretation
damit zu beschäftigen. der Quantenmechanik.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 23


FORSCHUNG AKTUELL
Tasuku Honjo (links) ist ausgebildeter
KYOTO UNIVERSITY INSTITUTE FOR ADVANCED STUDY (KUIAS)

UNIVERSITY OF TEXAS AT AUSTIN


Facharzt. Er studierte und promovierte in
Medizin an der Universität Kyoto, wo er
heute noch arbeitet. James P. Allison hat
einen Doktortitel in Biowissenschaften an
der University of Texas erlangt. Er forscht
am MD Anderson Cancer Center in
Houston.

NOBELPREIS FÜR PHYSIOLOGIE ODER MEDIZIN


ENTFESSELTE IMMUNZELLEN GEGEN KREBS
Gegen Krebserkrankungen halfen lange Zeit nur Bestrahlung, Chemotherapie und
­Chirurgie. Der Nobelpreis 2018 geht an zwei Krebsforscher, die mitgeholfen haben, eine
weitere Waffe gegen Tumoren zu schärfen: das menschliche Immunsystem.


James P. Allison von der University of Texas und Checkpoints wiederum signalisieren den T-Lymphozyten,
Tasuku Honjo von der Universität Kyoto haben Rezep- ob die andere Zelle als gefährlich einzuordnen oder aber
tormoleküle erforscht, die auf der Oberfläche von als Teil des eigenen Körpers anzusehen ist. Verstünde man
Immunzellen sitzen und diese in vielen Fällen davon abhal- diese Mechanismen besser, so hofften die Mediziner
ten, Krebszellen anzugreifen. Das hat einer Klasse neuer zunächst, dann wüsste man vielleicht, warum diese Unter-
Wirkstoffe den Weg geebnet, den so genannten Immun- scheidung manchmal nicht funktioniert – und könnte neue
Checkpoint-Inhibitoren. Therapien gegen Autoimmunerkrankungen entwickeln.
Die Idee, Krebs vom körpereigenen Abwehrsystem Die Arbeitsgruppe um James P. Allison allerdings wollte
bekämpfen zu lassen, ist jahrzehntealt. Schon im 19. Jahr- das genaue Gegenteil. Krebszellen sind körpereigene
hundert beobachteten Ärzte, dass Krebspatienten in Zellen auf Abwegen, und anscheinend aktivieren sie einige
seltenen Fällen wieder gesundeten, wenn sie eine Infek­ bremsende Immun-Checkpoints der T-Lymphozyten,
tion mit Krankheitserregern erlitten hatten. Doch alle wodurch sie diese von einem Angriff abhalten. Der erste
Versuche, eine Immunreaktion künstlich zu erzeugen – jener hemmenden Checkpoints, der entdeckt wurde, war
etwa durch gezieltes Infizieren oder durch Impfen –, blie- das Molekül CTLA-4, das auf aktivierten T-Zellen zu finden
ben erfolglos oder deutlich hinter den Erwartungen zurück. ist. Allisons Hypothese: Blockiert man CTLA-4, setzt man
Das grundsätzliche Problem schien zu sein, dass die damit eine Bremse der T-Lymphozyten außer Kraft, wo-
Abwehrzellen den Krebs mit angezogener Handbremse zu raufhin sie einen Tumor stärker attackieren sollten.
bekämpfen schienen, egal wie sehr man sich bemühte, sie Oft scheitern solche Überlegungen an der komplexen
zu aktivieren. Realität. Nicht aber in diesem Fall: Bereits Allisons erstes
Was es mit dieser Bremse auf sich hat, darauf gab es Experiment war ein spektakulärer Erfolg. Im Jahr 1994
bereits in den 1990er Jahren etliche Hinweise. Nach und transplantierte er Tumoren in Mäuse und behandelte die
nach hatten Arbeitsgruppen damals begonnen zu ent- Tiere dann mit Antikörpern gegen CTLA-4 – mit dem Ergeb-
schlüsseln, wie es dem Immunsystem gelingt, die Zellen nis, dass die Wucherungen verschwanden. Viele weitere
des eigenen Körpers zu erkennen, um sie nicht irrtümlich Versuche bestätigten, dass Moleküle gegen hemmende
als Erreger einzustufen und zu attackieren. Basis dieser so Checkpoints die Immunantwort gegen Krebs erheblich
genannten Selbsttoleranz sind Signalwege, die man als verstärken können. James Allison erhielt für seine bahn-
Immun-Checkpoints bezeichnet. Sie hemmen oder aktivie- brechenden Arbeiten in der Immunonkologie bereits 2015
ren Immunzellen namens T-Lymphozyten über Rezeptor- den Lasker~DeBakey Clinical Medical Research Award.
moleküle auf deren Oberfläche. CTLA-4 ist aber nicht das einzige solche Molekül. In
Die Immun-Checkpoints gehören zu einer molekularen jahrelangen Forschungen hatte, ebenfalls zu Beginn der
Maschinerie, die zur Regulierung der T-Zellen beiträgt. Der 1990er Jahre, eine Arbeitsgruppe um Tasuku Honjo he-
»klassische« T-Zell-Rezeptor sitzt auf der Zelloberfläche, rausgefunden, dass ein Oberflächenrezeptor namens PD-1
wechselwirkt mit einem antigenpräsentierenden Molekül die gleiche hemmende Wirkung hat. Daher lag die Über­
einer anderen Zelle und stellt so deren Identität fest. Die legung nahe, dieses Molekül auf ähnliche Weise für die

24 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

NOBEL FOUNDATION, FOTO: LOVISA ENGBLOM;


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
NOBEL- Eine überschießende Immunreaktion dagegen zerstört
wichtige Gewebe und Organe. Immun-Checkpoint-Inhibi-

PREISE toren zu blockieren, kann dieses System kippen lassen,


mit teils dramatischen Folgen. In einer großen klinischen

® THEBEARBEITUNG:
2018 Studie mit Ipilimumab stellten sich bei etwa 15 Prozent der
Versuchspersonen schwere Nebenwirkungen ein, ein
Patient starb sogar an einer Auto­immunreaktion.

©
Doch insgesamt sprachen die Ergebnisse für die neue
Krebstherapie zu nutzen. Eine Besonderheit machte den Therapieform: Im Jahr 2011 erhielt der Anti-CTLA-4-Anti-
Rezeptor aus onkologischer Sicht höchst interessant: Das körper sowohl von den US-amerikanischen als auch von
Molekül PD-L1, das PD-1 aktiviert und so T-Lymphozyten den europäischen Behörden die Zulassung als Medika-
hemmt, fand sich nicht nur auf Immunzellen, sondern ment gegen metastasierenden Hautkrebs. Vier Jahre
auch bei einigen Tumorarten. Womöglich nutzten Krebs- darauf wurden schließlich auch zwei Anti-PD-1-Antikörper
zellen den entsprechenden Signalweg ja bereits, um sich für die Krebstherapie zugelassen, und bei einigen Krebs­
gezielt vor dem Immunsystem zu schützen. Experimente erkrankungen wie dem Nierenzellkarzinom setzt man
im Jahr 2002 bestätigten den Verdacht: Pflanzten die inzwischen eine Kombination aus beiden Checkpoint-­
Forscher bestimmten Krebszellen das Gen für PD-L1 ein, Inhibitoren ein.
waren die Zellen vor T-Zell-Angriffen geschützt. Der Effekt Es bleiben noch viele Fragen – vor allem dazu, wie man
verschwand, wenn die Wissenschaftler das PD-L1 mit die heftigen Nebenwirkungen in den Griff bekommen
einem Antikörper blockierten. kann. Zudem ist nur teilweise verstanden, warum Immun-
Checkpoint-Inhibitoren bei manchen Patienten drama-
Die Immunbalance beeinflussen: tische Behandlungserfolge bewirken, bei anderen aber viel
Ein Spiel mit dem Feuer weniger oder gar nicht anschlagen. Offenbar ist das Wirk-
Im Jahr 2005 erreichten Honjo und sein Team schließlich potenzial noch lange nicht ausgeschöpft. Doch immerhin
den gleichen Erfolg wie zuvor Allisons Gruppe bei CTLA-4: zeitigt die lange währende Suche nach einer Immunthera-
In Experimenten an Mäusen ließ ein Antikörper gegen pie gegen Krebs endlich konkrete Erfolge.
PD-1 Tumoren schrumpfen. Zudem deutete sich an, dass Lars Fischer ist Diplomchemiker und Redakteur bei »Spektrum.de«.
Immun-Checkpoint-Inhibitoren gegen PD-1 gezielter gegen
bestimmte Krebsarten wirken und somit weniger
schwere Nebeneffekte hervorrufen als solche antigen-
gegen CTLA-4. Die japanische Arbeitsgruppe ließ präsentierende
CTLA-4 Zelle (APC) PD-1
sich das Prinzip im gleichen Jahr patentieren und
begann auf dieser Basis, einen Wirkstoff für Men-
schen zu entwickeln.
T-Lymphozyt
Zu dem Zeitpunkt waren monoklonale Antikör- (T)
per gegen CTLA-4 längst entwickelt und am Men-
schen getestet – allerdings mit durchwachsenen
Resultaten. An dem Wirkstoff Ipilimumab zeigte
sich der unschöne Haken des viel versprechenden Krebszelle
Prinzips: Die Immun-Checkpoints zu beeinflussen,
kann die präzise austarierte Körperabwehr durch-
einanderbringen, und das ist nicht nur für Krebs- Anti-CTLA-4 Anti-PD-1

zellen gefährlich.
Das Immunsystem bewegt sich auf einem
schmalen Grat. Ist es zu wenig aktiv, überwältigen
Krebserkrankungen und Infektionen den Körper.
2018 THE NOBEL COMMITTEE FOR PHYSIOLOGY OR MEDICINE / MATTIAS KARLÉN

Auf der Oberfläche von T-Lymphozyten sitzen T-Zell-­


Rezeptoren. Sie binden an Antigene, die von anderen
Zellen präsentiert werden, und stellen so deren Iden­
tität fest. Weitere Oberflächenmoleküle, so genannte
Immun-Checkpoints wie CTLA-4 oder PD-1, signali­
sieren den T-Lymphozyten, ob die jeweilige Zelle zu
attackieren ist oder nicht. Hierzu können sie eine CTLA-4 aktivierender T-Zell- PD-1
Immunreaktion anregen oder hemmen. Die Check- (hemmend) Checkpoint Rezeptor (hemmend)
points lassen sich mit Antikörpern blockieren.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 25


FORSCHUNG AKTUELL
Die Kanadierin Donna Strick-
UNIVERSITY OF WATERLOO

ÉCOLE POLYTECHNIQUE PARIS - J. BARANDE (WWW.FLICKR.COM/PHOTOS/117994717@N06


/44330870254/) / CC BY-SA 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.0/LEGALCODE)

NOKIA BELL LABS 1988


land (links) und der Franzose
Gérard Mourou haben ein
Verfahren zur Verstärkung von
Laserpulsen entwickelt. Der
US-Amerikaner Arthur Ashkin
(rechts) hat eine auf Laserlicht
basierende »Pinzette« entwi-
ckelt, mit der Forscher win-
zige Objekte festhalten
können.

NOBELPREIS FÜR PHYSIK


AUF DEN SPUREN VON »STAR TREK«
Die Gewinner des Physik-Nobelpreises haben die Lasertechnologie entscheidend
weiterentwickelt – und ein Stück Sciencefiction Wirklichkeit werden lassen.


Im Fernsehen sieht es so einfach aus: Mal legt die Wellen stets dem gleichen Schwingungsmuster folgen;
»Enterprise« mit ihren Phasern den Gegner lahm, und Physiker sprechen hier von Kohärenz. Außerdem ist Laser-
mal schleppt sie ihn einfach via ­Traktorstrahl ab. Der licht meist viel intensiver als das einer Glühbirne.
farbige Lichtkegel erfasst das andere Raumschiff mit Arthur Ashkin ging Ende der 1960er Jahre davon aus,
zauberhafter Leichtigkeit und hält es fest im Griff. Mission dass derart gebündeltes Licht eine merkliche physische
erfüllt. Kraft auf Objekte ausüben kann. Bereits zu Beginn des
In den 1960er Jahren verfolgte eine ganze Generation 20. Jahrhunderts hatten Wissenschaftler gezeigt, dass
von Fernsehzuschauern, was Captain Kirk und seine Crew elektromagnetische Strahlung solch einen »Strahlungs-
da taten – und die allermeisten dürften es für eine besten- druck« ausüben kann. Bei Radiowellen war dieser aber viel
falls weit entfernte Zukunftsvision gehalten haben. Arthur zu schwach, und auch Lampenlicht setzte sichtlich keine
Ashkin sah das wohl anders. Jedenfalls machte sich der Objekte in Bewegung.
1922 geborene Physiker zu dieser Zeit daran, das Prinzip
des Traktorstrahls im Labor zu kopieren. Nicht in der Laserlicht kann winzige Plastikkügelchen anschubsen
Größenordnung der »Enterprise«, sondern im Miniatur- Selbst mit der Erfindung des Lasers, der deutlich mehr
maßstab. Und tatsächlich: In den folgenden Jahrzehnten Licht auf weniger Raum packt, blieben Hürden bestehen:
entwickelte der US-Amerikaner ein Verfahren, mit dem Bei den ersten Laborexperimenten überdeckte die tempe-
sich mikroskopisch kleine Objekte elegant einfangen und raturbedingte Bewegung kleiner Objekte den Strahlungs-
festhalten ließen, und das einzig mit der Kraft des Lichts. druck. Aber Ashkin blieb hartnäckig und tüftelte in den
Für diese »optische Pinzette« hat der Amerikaner nun eine berühmte Bell Telephone Laboratories im US-Bundesstaat
Hälfte des Physik-Nobelpreises 2018 erhalten. New Jersey an einer Lösung.
Die andere teilen sich der Franzose Gérard Mourou von 1969 steckte er durchsichtige Plastikbällchen mit einem
der École Polytechnique in Palaiseau und die Kanadierin Durchmesser von nur wenigen Mikrometern (tausendstel
Donna Strickland von der University of Waterloo. Mourou Millimetern) in einen gut isolierten Wassertank und be-
und Strickland haben Mitte der 1980er Jahre ebenfalls schoss diese mit einem besonders starken und geschickt
etwas entwickelt, was einige Jahrzehnte zuvor noch wie fokussierenden Laser. Und siehe da: Die Kügelchen beweg­
Sciencefiction wirkte: eine Technik, mit der sich gebündel- ten sich, wie Ashkin unter dem Mikroskop beobachtete.
te Lichtpulse enorm verstärken lassen. 1971 feuerten der Physiker und ein Kollege dann mit
Das Nobelkomitee würdigt damit die Weiterentwick- einem 250-Milliwatt-Laser von unten auf eine 20 Mikrome-
lungen einer Technologie, die seit 1958 in der Welt ist – ter große, hohle Glaskugel. Das winzige Objekt blieb in der
des Lasers. Er ist gewissermaßen der Ordnungsliebhaber Luft stehen, wo Ashkin es mit zwei parallel ausgerichteten
im Reich des Lichts. Wo eine Schreibtischlampe das ganze und gegenläufigen Strahlen festhielt. Das kam einem
Spektrum sichtbarer Strahlung in alle Richtungen aussen- Mini-Traktorstrahl schon ziemlich nahe. 15 Jahre später, im
det, legt ein Laser klar fest, was für Licht seine Öffnung Jahr 1986, gelang dem Physiker und seinem Team dann
verlässt. Er feuert Strahlung eines engen Frequenzbereichs der große Durchbruch: Die Forscher veränderten einen
in den Raum, die sich wie ein Strich ausbreitet und deren Laser so, dass er schwimmende dielektrische Kügelchen

26 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Jetzt die
mit Durchmessern zwischen 0,025 und 10 Mikrometern neuen
entgegen der Ausbreitungsrichtung des Lichts bewegte.
Das Geheimnis dieser optischen Pinzette besteht darin,
dass der Experimentator das Laserlicht mit einer Linse auf
Ausgaben!
einen Punkt fokussiert. Was dann geschieht, kann man am
besten anhand eines Naturgesetzes veranschaulichen, das
Isaac Newton bereits im 17. Jahrhundert formulierte.
Dieser Impulserhaltung zufolge bleibt das Produkt aus
Geschwindigkeit und Masse eines physikalischen Systems
stets konstant. Stößt etwa auf einem Billardtisch eine
Kugel auf eine andere, wird sie umgelenkt und verliert an
Geschwindigkeit. Dafür setzt sich die andere Kugel in
Bewegung.
Etwas Ähnliches passiert, wenn ein Laserstrahl, den
man sich dazu als Strom winziger Lichtteilchen vorstellen
kann, auf ein Plastikbällchen trifft. Einige der Partikel
prallen an der Oberfläche ab und übertragen einen Teil
ihres Impulses auf den sphärischen Körper, der sich da-
raufhin in Ausbreitungsrichtung des Lasers bewegt – der
seit Langem bekannte Strahlungsdruck.
Bei der optischen Pinzette kommt noch einer weiterer,
entgegengesetzter Effekt dazu: Ein Teil des Laserlichts
dringt in das durchsichtige Kügelchen ein und wird dort
leicht umgelenkt. Das wiederum verändert den Impuls
der Lichtteilchen, was laut Newton kompensiert werden
muss, damit der Gesamtimpuls des Systems erhalten
bleibt. Effektiv versetzen die Laserstrahlen dem Bällchen
dadurch einen winzigen Rückstoß (siehe Grafik unten).
Platziert man die mikroskopisch kleine Kugel nun im

Die »optische Pinzette« fokussiert einen Laserstrahl (rosa), der


hinter dem Brennpunkt wieder breiter wird. Treffen die Lichtteil-
chen auf ein Glaskügelchen (blau), dringen sie in das Mate­rial ein
und werden leicht umgelenkt; dadurch übertragen sie einen Teil
ihres Impulses auf das Kügelchen. Befindet sich dieses vor dem
Brennpunkt (links), addieren sich die Impuls­überträge F1 und F2 zu
einer Gesamtkraft Fnet, die es in Strahlrichtung bewegen. Treibt
die Kugel hinter dem Fokus, wirkt die Kraft entgegen der Ausbrei-
tungsrichtung des Lichts (rechts).
(CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/3.0/LEGALCODE); BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
ROLAND KOEBLER (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:OPTICAL_TRAP_FOCUSED.SVG) / CC BY 3.0

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FORSCHUNG AKTUELL
Brennpunkt der Linse, heben sich Strahlungsdruck und
Rückstoß exakt auf. Das Partikelchen kann sich damit
Mourou und Strickland ließen sich
weder vor noch zurück bewegen. Es kann auch nicht in von Radaren inspirieren. Warum
einer anderen Richtung aus dem Strahl entkommen:
Bewegt es sich senkrecht zur Laserrichtung, wird es aus sollte sich Licht nicht genauso ver-
Gründen der Impulserhaltung wieder in Richtung Strahl- stärken lassen wie Radiowellen?
mitte geschoben.
Dank der ausgeklügelten Erfindung konnten Forscher
einige Jahre später sogar einzelne Atome festhalten – ein machte den entscheidenden Unterschied: Bei einem
Kunststück, für das drei von Ashkins Kollegen um den spä- längeren Puls musste in den Verstärkerzellen nicht mehr
teren US-Energieminister Steven Chu bereits 1997 den so viel Energie pro Zeiteinheit deponiert werden wie
Nobelpreis erhielten. Bei derart winzigen Objekten, die beim Aufpumpen eines kürzeren Laserschnipsels, was die
kleiner sind als die Wellenlänge des Laserlichts, ist es Apparatur schonte.
etwas schwieriger zu erklären, weshalb die optische Anschließend schoben Mourou und Strickland den
Pinzette funktioniert. Vereinfacht kann man es sich so Wellenzug wieder zusammen. Dazu jagten sie das aufge-
vorstellen, dass die elektromagnetische Welle des Lasers fächerte Licht durch ein Paar aus Beugungsgittern, die
die Ladungsverteilung im Zielobjekt verändert und es verschiedene Wellenlängen unterschiedlich stark um-
dadurch stets ins Zentrum der Lichtfalle zieht. lenkten. Durch geschickte Anordnung der Gitter benötig­
ten niederfrequente Wellen ein wenig länger durch den
Jahrzehntelang stagnierte die Laserphysik Aufbau als hochfrequente, was den Lichtpuls stark kom-
Mitte der 1980er Jahre arbeiteten auch Gérard Mourou primierte. Nach der Behandlung hatte er nur noch eine
und seine Doktorandin Donna Strickland, die damals an Länge von zwei billionstel Sekunden, enthielt aber ein
der University of Rochester im US-Bundesstaat New York Vielfaches der Lichtteilchen des ursprünglichen Strah-
forschten, an einer Verbesserung der Lasertechnologie. Ihr lungspakets.
Spezialgebiet waren jedoch nicht kontinuierlich arbeitende 1985 veröffentlichte das Duo ihr als »Chirped Pulse
Laser, sondern solche, die Licht in kurze und möglichst Amplification« (CPA) bekanntes Verfahren in einem Fach-
starke Pakete zerteilen. Auf diesem Teilgebiet kamen magazin – für die damals 26-jährige Strickland war es
Wissenschaftler damals nicht recht voran: Schon seit Ende die erste wissenschaftliche Veröffentlichung überhaupt.
der 1960er Jahre war es ihnen nicht mehr gelungen, die Dank CPA, das mittlerweile in leicht abgeänderter Form in
Zahl der Lichtteilchen in einem solchen Laserpuls weiter vielen Laboren angewendet wird, legten Laserpulse in
zu steigern. den Folgejahren wieder deutlich an Leistung zu. Der Trend
Zwar konnte man die Intensität der Strahlungspakete hält bis heute an: Die nächste Generation großer Laser­
vergrößern, indem man sie durch spezielle Verstärkerzellen anlagen, die momentan in Planung sind, soll hundert­
jagte, in denen immer mehr Lichtteilchen dazustießen. millionenfach höhere Pulsintensitäten als ihre Vorgänger
Wollte man damit jedoch mehr als eine Billiarde Watt pro Mitte der 1980er Jahre erreichen.
Quadratzentimeter erreichen, gingen die Verstärkerzellen Mourous und Stricklands Erfindung legte nicht nur
kaputt. Mourou und Strickland stießen in einem populär- die Basis für stärkere Laser. Mit CPA war es plötzlich auch
wissenschaftlichen Artikel über die Radartechnologie auf möglich, deutlich mehr Pulse in Serie abzusetzen. Das
den entscheidenden Gedanken: Die Geräte verstärken bereitete letztlich einer anderen Laserrevolution den Weg:
Radiowellenschnipsel enorm, um sie große Strecken Forscher bestrahlen heute einzelne Atome mit maßge-
überwinden zu lassen. Auch hier geht die Elektronik ka- schneiderten Lichtpaketen, die in hoher Frequenz Elektro-
putt, wenn man die Strahlungspakete zu stark aufpumpen nen von ihren Atomkernen entfernen. Die negativ gepolten
will. Ingenieure lösen das Problem seit Langem, in­dem sie Ladungsträger legen kurz darauf den Rückwärtsgang ein
die Pulse vor der Verstärkung in die Länge ziehen. und sausen mit großer Geschwindigkeit zurück in Rich-
Wieso sollte der Trick nicht auch für kürzere Wellenlän- tung Kern. Dabei strahlen sie noch deutlich kürzere Licht-
gen funktionieren, wie zum Beispiel die des sichtbaren pulse ab, die gerade einmal ein Milliardstel einer milliards­
Lichts, fragten sich Mourou und Strickland. Nach langwie- tel Sekunde währen.
rigen Tests fanden der Franzose und die Kanadierin einen
Versuchsaufbau, der das erwünschte Ergebnis lieferte: Sie Der Traum vom »Kino der Moleküle«
lenkten einen Laserpuls mit einer Energie von wenigen Mit Hilfe dieser Attosekundenpulse lassen sich mittler­
milliardstel Joule durch einen 1,4 Kilometer langen Strang weile die extrem schnellen Bewegungen von Elektronen
eines Glasfaserkabels. wie in einem Film festhalten. Auf dem Weg zu diesem
Der niederfrequente Teil des Pulses bewegte sich darin »Molekül-Kino« waren in den 2000er Jahren jedoch wei-
etwas schneller als Schwingungsanteile mit höherer tere, potenziell nobelpreiswürdige Arbeiten nötig – es ist
Frequenz, was das Wellenpaket in die Länge zog. Währte also gut möglich, dass die Laserphysik in einigen Jahren
der Puls anfangs 150 billionstel Sekunden, war er nach der erneut im Fokus des Stockholmer Komitees stehen wird.
Passage durch das Glasfaserkabel doppelt so lang. Das Der Nobelpreis 2018 wird auch deshalb in Erinnerung

28 Spektrum der Wissenschaft  12.18


bleiben, weil mit Donna Strickland eine Frau die höchste Seitdem haben Forscher die Methode weiterentwickelt;
Auszeichnung der Wissenschaften erhalten hat. Sie ist heute ist sie ein weit verbreitetes Verfahren zum Beobach-
erst die dritte Gewinnerin in der Geschichte des Physik- ten biologischer Prozesse. Forscher haben damit unter
Nobelpreises und die erste seit 55 Jahren. anderem die mechanischen Eigenschaften von DNA-Strän-
Daneben wurde dieses Jahr deutlich, dass das Nobel- gen untersucht und bessere Einsichten in das Verhalten so
komitee längst nicht nur Grundlagenforschung auszeich- genannter Motorproteine gewonnen.
nen will, die zum Staunen anregt, wie etwa die 2017 Ashkin ging 1992 in Ruhestand, forscht aber noch
prämierte Entdeckung von Gravitationswellen. Der Nobel- immer in einem bei sich zu Hause eingerichteten Labor. Er
preis solle auch dazu dienen, Erfindungen zu würdigen, ist der älteste Laureat in der Geschichte der Nobelpreise.
betonte die Königlich Schwedische Akademie der Wissen- Als der 96-Jährige am Morgen des 2. Oktober vom Nobel-
schaften bei der Bekanntgabe der Preisträger. Aus Sicht komitee angerufen wurde, soll er gesagt haben, er habe
des Nobelkomitees sind die 2018 ausgezeichneten Ent­ keine Zeit für Interviews, ein wichtiger neuer Fachaufsatz
deckungen geradezu Paradebeispiele dafür, wie physika- von ihm sei gerade in Arbeit. Der Sciencefiction nachzu­
lische Grundlagenforschung kaum sichtbar das Leben jagen, ist eben auch eine Frage der Prioritäten.
vieler Menschen verändern kann. So spielen präzise steu- Robert Gast ist Physiker und Redakteur bei Spektrum der Wissen-
erbare Hochintensitätslaser, wie sie die CPA-Technik schaft.
möglich gemacht hat, eine Schlüsselrolle bei Millionen
Augenoperationen, die jedes Jahr stattfinden.
QUELLEN
Auch Ashkins optische Pinzette sollte letztlich eine
große Bedeutung außerhalb der Physik erhalten: Ende der Ashkin, A.: Acceleration and Trapping of Particles by Radiation
1980er Jahre begann der Amerikaner mit seinem Mini- Pressure. In: Physical Review Letters 24, S. 156–159, 1970
Traktorstrahl lebende Zellen einzufangen. Zunächst töteten Ashkin, A. et al: Observation of a Single-Beam Gradient Force
die energiereichen Strahlen die empfindlichen Organismen Optical Trap for Dielectric Particles. In: Optics Letters 11, 288, 1986
noch, nach einigen Anpassungen konnte Ashkin selbst Mourou, G., Strickland, D.: Compression of Amplified Chirped
schwimmende Viren und Bakterien intakt festhalten. Optical Pulses. In: Optics Communications 56, S. 219–221, 1985

DER NEUE BILDKALENDER


HIMMEL UND ERDE 2019
Sterne und Weltraum präsentiert im Bildkalender »Himmel und
Erde« 13 herausragende Motive aus der astronomischen Forschung.
Sie stammen aus verschiedenen Bereichen des elektromagne-
tischen Spektrums wie dem sichtbaren Licht oder dem Infrarotlicht.
Die Aufnahmen stammen u. a. vom Weltraumteleskop Hubble,
der Jupitersonde Juno und dem Very Large Telescope der ESO.
Zusätzlich bietet der Kalender wichtige Hinweise auf die heraus-
ragenden Himmelsereignisse 2019 und erläutert ausführlich
auf einer Extraseite alle auf den Monatsblättern des Kalenders
abgebildeten Objekte.
14 Seiten; 13 farbige Großfotos; Spiralbindung;
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FORSCHUNG AKTUELL
Frances H. Arnold (links) hat
CALTECH

UNIVERSITY OF MISSOURI

UNIVERSITY OF CAMBRIDGE
die Linus-Pauling-Professur für
Chemie- und Biotechnik
und Biochemie am California
Institute of Technology in
Pasadena inne. George P.
Smith ist emeritierter Biolo-
gieprofessor an der University
of Missouri in Columbia. Sir
Gregory P. Winter (rechts) ist
Gentechniker und Emeritus
am Trinity College Cambridge
(England).

NOBELPREIS FÜR CHEMIE


EVOLUTION IM REAGENZGLAS
2018 geht der Nobelpreis für Chemie zur Hälfte an Frances Arnold für die gezielte
­Evolution von Enzymen sowie zur anderen Hälfte an George Smith und Gregory Winter
für die Phagen-Display-Technik zur Herstellung von Peptiden und Antikörpern.


»Das Leben findet einen Weg«, bemerkt Jeff Gold- Manfred Eigen einige Jahre zuvor schon theoretisch
blum im US-Blockbuster »Jurassic Park« treffend. Und skizziert.
Biologen wissen: Im Rahmen der Evolution stellten Arnold versuchte zunächst, eine industriell besser
zufällige Veränderungen von vorhandenem Material sowie nutzbare Variante des Enzyms Subtilisin zu finden. Dabei
die Selektion der daraus resultierenden Varianten über handelt es sich um eine bakterielle Protease, die sich
Jahrmillionen sicher, dass es keine notwendige bioche- mittlerweile etwa in Waschmitteln findet und dort Eiweiß­
mische Dienstleistung gibt, die nicht irgendein Spezial- verschmutzungen in Kleidung beseitigt. Die gesuchte
werkzeug der Zellen effizient erledigt. Sich aus diesem Variante sollte aber nicht nur, wie unter natürlichen Bedin-
Arsenal zu bedienen, haben Forscher seit Langem gelernt: gungen, in wässrigen Lösungen, sondern auch im orga-
Mit einer Vielzahl von Enzymen zerlegen und stricken sie nischen Lösungsmittel Dimethyl­formamid funktionsfähig
chemische Verbindungen nach Bedarf. Das klappt ganz bleiben, obwohl dieses die räumliche Struktur von Protei-
gut, hat aber lästige Grenzen. Im Arsenal finden sich eben nen angreift (»denaturiert«).
nur Werkzeuge, die lebende Zellen brauchen; sie taugen
jedoch nicht unbedingt für alle Aufgaben, die Menschen Wer zerlegt Kasein am besten?
gern erfüllt hätten. Frances Arnold begann in den 1990er Jahren am California
Es erscheint nahezu aussichtslos, sich solche Werk- Institute for Technology in Pasadena damit, zufällige
zeuge selbst passend zu schneidern. Zwar lassen sich Mutationen in den genetischen Bauplancode des Enzyms
Aminosäuren gezielt aneinanderreihen, um ein künstliches einzufügen und die veränderten Gene in Bakterien-DNA
Proteinwerkzeug herzustellen – dabei kann es jedoch in einzuschleusen. Dann selektierte sie aus ihrer so geschaf-
der sich knäulenden Kette zu unberechenbaren Effekten fenen bakteriellen Subtilisin-Bibliothek jene Varianten, die
durch die vielfältigen Bausteine kommen. Eine Alternative sich am besten dabei schlugen, das Testprotein Kasein im
liegt nahe: Lässt sich der Evolutionsprozess zu neuen, organischen Lösungsmittel zu zerlegen. Nur diese Versi-
nützlichen Werkzeugen gezielt fördern, steuern und wo- onen wählte sie für eine weitere Runde von Mutationen
möglich beschleunigen? Genau das gelingt heute im aus – und wiederholte den Selektionsprozess der jeweils
Labor, weil Frances Arnold, George Smith und Gregory geeignetsten Subtilisine noch weitere vier Runden. Am
Winter mit ihren Mitarbeitern den richtigen Fährten Ende hatte sie eine Enzymvariante kreiert, die nicht nur in
folgten. Dafür erhalten sie den diesjährigen Nobelpreis für
Chemie.
Frances Arnold – geboren 1956 in den USA und erst
die fünfte Frau auf der langen Liste der Chemie-Laurea-
Lässt sich der Evolutionsprozess
ten – veröffentlichte 1993 ihren bahnbrechenden Beitrag zu neuen, nützlichen Werkzeugen
zur gezielten Entwicklung eines Enzyms. Ihre Grundidee,
Bakterien im Labor zu einer »evolutionären Maschine«
­gezielt fördern, steuern
umzubauen, hatte der deutsche Chemie-Nobelpreisträger und womöglich beschleunigen?
30 Spektrum der Wissenschaft  12.18
»Das ist Chemie, wie sie Menschen nicht so einfach zu Stande bringen«
Mit Hilfe gerichteter Evolution wie das in der klassischen Chemie die Reaktion so gut katalysiert wie
eröffnet Frances H. Arnold nötig ist. Enzyme können auch die besten menschengemachten
­Enzymen ungeahnte Einsatzbe- Moleküle mit der richtigen Chirali- Katalysatoren.
reiche – eine Leistung, für die tät erzeugen – also der korrekten
sie nun den Chemie-Nobelpreis »Händigkeit« –, so dass man gleich Das natürliche Enzym funktio-
ver­liehen bekam. Spektrum die gewünschte Konfiguration niert also bereits genauso
sprach mit ihr über ihre Forschung. erhält und keine Mischung. Wir gut wie chemische Verfahren?
wissen von Pharmazeutika, dass Ja. Und durch gerichtete Evolu-
Frau Professor Arnold, Sie arbei- manchmal eine der Konfiguratio- tion machten wir es zu einem
ten daran, Enzyme umzufunktio- nen giftig ist und daher entfernt 15-fach besseren Katalysator als
nieren und sie für neue Reak- werden muss. alle von Menschen ersonnenen –
tionen nutzbar zu machen. Was die zudem noch seltene Metalle
bezwecken Sie damit? Haben Sie ein Lieblingsenzym, verwenden. Cytochrom-C benutzt
Frances Arnold: Wir würden an dem Sie besonders gerne dagegen Eisen, das häufigste der
gern chemische Prozesse, die arbeiten? Übergangsmetalle, und katalysiert
Abfälle produzieren, durch sau- Ja, ich mag Cytochrom-P450- trotzdem besser.
bere, biologische ersetzen. Alle für Enzyme sehr gern.
diese Umwandlungen nötigen Welche möglichen Anwendungs-
chemischen Reaktionen werden Warum ausgerechnet diese gebiete sehen Sie für Enzyme
von Enzymen katalysiert. Das ist Proteine? mit nichtbiologischen Funk-
der entscheidende Punkt. Sie sind die erste Verteidigungs- tionen in den nächsten zehn
linie in der Leber, zum Beispiel, Jahren?
Wie gehen Sie bei der Suche wenn wir Gifte einnehmen. Men- Sie werden sicher immer mehr
nach geeigneten Enzymen vor? schen haben etwa 50 davon, in der organischen Synthese auf-
Wir lassen uns zuerst von der manche Pflanzen mehr als 100. Sie tauchen, um komplexe chemische
Chemie inspirieren. Menschen schaffen es, Sauerstoff in alle Prozesse zu vereinfachen. Ein
haben viele interessante Prozesse möglichen Moleküle einzufügen – etwas weniger offensichtlicher
entwickelt – zum Beispiel um ein dadurch lassen sich diese Substan- Bereich wäre der Ersatz von Reak-
Medikament herzustellen –, die zen schnell abbauen und ausschei- tionen, die bisher nur mit nass­
Reaktionsschritte beinhalten, die den. Das ist Chemie, wie sie Men- chemischen Methoden möglich
es in der Natur nicht gibt. Wir schen nicht so einfach zu Stande waren. Niemand in der silizium­
ersetzen entweder diese einzelnen bringen. Deshalb wollte ich diese organischen Industrie dachte zuvor
Schritte, indem wir Enzyme dazu Enzyme dazu bringen, auch ande- überhaupt an biologische Metho-
bringen, diese Reaktionen zu re, nichtbiologische Reaktio-nen zu den. Jetzt sehen die Chemiker dort
katalysieren, oder wir ersetzen im ermöglichen. aber, dass Enzyme auch hier
Optimalfall den ganzen Prozess nützlich sein könnten und dabei
durch eine einzige enzymatische Können Sie mir ein Beispiel für edle Metalle wie Platin durch
Katalyse. eine nichtbiologische Reaktion Allerweltsmetalle wie Eisen ersetzt
geben, für die Sie ein Enzym werden können. Selbst wenn sie
Wenn ein Prozess mit klassi­ entwickelt haben? noch nicht mit Bakterien arbeiten,
scher Chemie mehrere Reaktio­ In der Biologie findet man keine hat es mit Sicherheit ihre Fantasie
nen benötigt, wie kann ein Silizium-Kohlenstoff-Bindungen. beflügelt.
einziges Enzym dann alle diese Aber Menschen entwickeln sie im
Schritte katalysieren? Labor die ganze Zeit. Also haben Gibt es auch Gefahren, wenn
Enzyme sind großartig, weil sie wir natürliche Enzyme gesucht, die man Enzyme an Stelle von Che-
so extrem selektiv sind. Sie können zumindest ein wenig Bereitschaft mikalien nutzt?
mit einem Teil des Moleküls Che- zeigen, Kohlenstoff-Silizium-Bin- Die einzige Gefahr, die mir
mie betreiben und einen anderen dungen durch eine spezielle Reak- einfällt, ist, die Abfallindustrie in
Teil völlig unberührt lassen. Das tion namens Carben-Insertion zu den Ruin zu treiben [lacht].
heißt, man muss den anderen Teil bilden. Und tatsächlich: Wir ent-
des Moleküls nicht vor der gerade deckten, dass Cytochrom-C – das Die Fragen stellte Michaela Maya-
ablaufenden Reaktion schützen, ist ein Elektronentransferprotein – Mrschtik.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 31


FORSCHUNG AKTUELL
Dimethylformamid funktionierte, sondern dort sogar Ursprünglich diente die Methode dazu, Proteine zu identi-
256-mal aktiver war als das ursprüngliche Enzym in wäss- fizieren und anzureichern. Seit den 1990er Jahren testen
riger Lösung. Die neue Form verdankte ihre Eigenschaften Wissenschaftler weltweit mit ähnlichen Ansätzen die
dabei zehn ganz bestimmten, scheinbar willkürlich im Eigenschaften von verschiedenen Biomolekülen; und es
Ursprungscode verteilten Mutationen. Deren kombinierten entstanden laufend Phagen-Display-Bibliotheken, mit
Effekt hätte vor dem Experiment so niemand voraussehen denen viele Antigen-Antikörper-Reaktionen gleichzeitig
können. gescannt werden können.
Per Zufall und gerichteter Selektion von mutierten Profitiert hat von der nobelpreiswürdigen Idee auch
Varianten kommt man also auch im Labor verblüffend Gregory Winter, geboren 1951 in England und an der
schnell sehr weit. Es genügt dabei zu wissen, was man Cambridge University tätig. Ende der 1980er Jahre drehte
will; wie es sich erreichen lässt, muss nicht bekannt sein. er Smiths Vorbild einfach um: Er schleuste den antigen-
Mittlerweile haben viele Mitstreiter weltweit die Methode bindenen Teil von Antikörpern in den Phagenhüllprotein-
noch entscheidend verbessert. Code, so dass die Phagen diesen Antikörper an ihrer
Oberfläche produzierten. Solche Antikörper-Phagen
Verknüpfen von Kohlenstoff und Silizium konnte Winter mit Antigen-Anglerhaken gezielt heraus­
Auch Arnolds Team arbeitet weiter damit: 2017 evolvierte fischen.
ihr Team Häm-Proteine von Escherichia-coli-Bakterien in In der Folge testete er kleine und größere zufällige
Hochleistungsvarianten, die wesentlich effizienter als Veränderungen von mutierten Antikörpern sowie dazu
bisher verwendete künstliche Katalysatoren organische passenden Antigenen und erstellte Bibliotheken mit
Kohlenstoff-Silizium-Verbindungen knüpfen (siehe Inter- Milliarden unterschiedlicher Varianten. Analog zu Frances
view S. 31). Diese werden zum Beispiel in einigen neu­ Arnold und ihren Enzymen selektierte er besonders
artigen Medikamentenwirkstoffen benötigt. Andere Grup- potente Kandidaten von Antikörpern und unterzog diese
pen arbeiten an Enzymen, die bisher schwer katalysierbare dann weiteren Evolutions- und Selektionsschritten. So
Reaktionen ermöglichen sollen: Sie möchten zum Beispiel konnte er nach und nach zum Beispiel Antikörper produ-
den Reaktionsweg beschleunigen, der Zucker schnell und zieren, die sehr spezifisch nur an Krebszellen oder an
effizient zu leichter verbrennbaren Alkoholen für Biotreib- Aidsviren binden. Auf diesen Arbeiten gründet etwa die
stoffe umsetzt. Entwicklung von Adalimumab, das gegen Rheuma und
Entzündungsreaktionen eingesetzt wird und 2002 als
erster rein menschlicher monoklonaler Antikörper zugel-
Die drei Laureaten schufen die assen worden ist.
Grundlage zur effizienten Anwendungen von Anthrax bis Alzheimer
­Herstellung wirksamer biolo- Das Ende der Entwicklung ist noch nicht abzusehen:

gischer Werkzeuge Ständig werden Varianten von Antikörpern mit Phagen-


Displays unter die Lupe genommen, und viel verspre-
chende Kandidaten gelangen in die klinischen Test­
Die zweite Hälfte des Chemie-Nobelpreises geht an phasen. Untersucht werden beispielsweise Antikörper­
George Smith und Gregory Winter, die einen anderen Weg varianten, welche die Killerzellen des Körpers gegen
gefunden und ausgebaut haben, biochemische Evolutions- Tumoren scharfmachen, sich gegen das Bakterientoxin
prozesse kontrollierbar für die Wissenschaft einzuspannen. Anthrax richten oder die Alzheimererkrankung bremsen
Der 1941 geborene US-Amerikaner Smith, heute an der sollen. Die drei Laureaten schufen somit die Grundlage
University of Missouri, hatte schon Anfang der 1980er zur Herstellung wirksamer biologischer Werkzeuge und
Jahre mit Bakteriophagen gearbeitet – Viren, die sich in lösten damit, wie das Nobelpreiskomitee findet, eine
Bakterien vermehren und als einigermaßen simpel hand- »(R)Evolution der Chemie« aus.
habbares Werkzeug gelten, um unterschiedliche Gene in Jan Osterkamp ist promovierter Biologe und Redakteur bei
Zellen einzuschleusen. Smith kam aber auf einen anderen »Spektrum.de«.
Gedanken und wurde damit zu einem Vater der so ge-
nannten Phagen-Display-Technik: einer vielfältig nützlichen QUELLEN
biotechnologischen Methode, bei der heute mit Bakterio-
Chen, K., Arnold, F. H.: Tuning the Activity of an Enzyme for
phagen die Funktion von neu geschaffenen Proteinen Unusual Environments: Sequential Random Mutagenesis of
geprüft wird. Subtilisin E for Catalysis in Dimethylformamide. In: PNAS 90,
Smith pflanzte den DNA-Code für einen Teil des zu S. 5618–5622, 1993
untersuchenden Eiweißstoffs in ein Hüllprotein-Gen der McCafferty, J. et al.: Phage Antibodies: Filamentous Phage Displa-
Phagen-DNA. Das Proteinfragment wird daraufhin mit- ying Antibody Variable Domains. In: Nature 348, S. 552–554, 1990
samt Hüllprotein auf der Außenseite der bei der Vermeh- Smith, G. P.: Filamentous Fusion Phage: Novel Expression Vectors
rung entstehenden neuen Phagen eingebaut. Diese lassen that Display Cloned Antigens on the Virion Surface. In: Science
sich daher mit passenden Antikörpern herausfischen. 228, S. 1315–1317, 1985

32 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Der US-Amerikaner Paul Romer (links) ist Professor für Wirt-
NEW YORK UNIVERSITY - STERN SCHOOL OF BUSINESS

BBVA FOUNDATION
schaftswissenschaft an der Stern School of Business der New
York University. Im September 2016 wurde er Chef­ökonom der
Weltbank. Bereits im Januar 2018 kehrte er jedoch nach einer
heftigen Kontroverse an die New York University zurück. Sein
Landsmann William D. Nordhaus (rechts) ist Professor für
Wirtschafts­wissenschaft sowie für Forstwirtschaft und Um-
weltwissenschaften an der Yale University. Von 1977 bis 1979
gehörte er zu den wirtschaftlichen Beratern von Präsident
Jimmy Carter.

NOBELPREIS FÜR WIRTSCHAFTSWISSENSCHAFTEN


INNOVATION UND KLIMA ALS ÖKONOMISCHE FAKTOREN
Die schwedische Reichsbank verleiht den Preis für Wirtschaftswissenschaft im Gedenken an Alfred
Nobel an William D. Nordhaus und Paul Romer »für die Integration des Klimawandels« beziehungsweise
»technischer Innovationen in die makroökonomische Langzeitanalyse«.


»Makroökonomisch« und »Langzeit«: Das bedeutet Selbst in seiner Urform erlaubt das Modell gewisse
einen speziellen, sehr abstrakten Blick auf das Wirt- ­ ualitative Folgerungen. Eine von ihnen lautet: Ärmere
q
schaftsgeschehen. Es geht nicht um das Verhalten Länder, also solche mit geringer Kapitalausstattung,
eines einzelnen Wirtschaftssubjekts, nicht einmal um das wählen zunächst größere Wachstumsraten für das Kapital
Schicksal ganzer Branchen. Die gesamte Aktivität einer auf Kosten des Konsums, bis sie ihren Rückstand einiger-
Volkswirtschaft wird in einer einzigen Funktion zusam- maßen aufgeholt haben. Eine weitere Folgerung besagt,
mengefasst, der »Produktionsfunktion«. x Einheiten Arbeit dass im Gleichgewichtszustand das Wirtschaftswachstum
im Zusammenspiel mit y Einheiten Kapital – sprich Produk­ allein durch den technischen Fortschritt getrieben wird.
tionsmittel – bringen f(x, y) Ertrag. Der wird zum Teil Genauer: Die Gesamtwirtschaftsleistung f(x, y) wächst
konsumiert, zum anderen Teil investiert, das heißt in neue proportional zur Produktivität pro Arbeitsstunde.
Produktionsmittel umgesetzt. Die zweite Folgerung wird durch Daten aus der US-
Dieses mathematische Modell gibt der Rede von der amerikanischen Volkswirtschaft glänzend bestätigt. Die
Gleichheit aller Menschen einen etwas ungewohnten Sinn: erste Folgerung ist dagegen offensichtlich falsch. Vielleicht
Alle sind zugleich Arbeiter, Konsumenten und Kapitalisten. kommt der technische Fortschritt in manchen Ländern
Sie handeln so, dass sie ihren langfristigen Nutzen maxi- später an als in anderen, was sich in einem vorübergehen­
mieren. Dabei haben sie durchaus auch den Nutzen ihrer den Einbruch in deren Wachstumskurve zeigt. Aber über
Nachkommen im Sinn. Jahrzehnte hinweg ist die Wirtschaft von Singapur mit
Das Wirtschaftsgeschehen spielt sich auf einem per- knapp acht Prozent pro Jahr gewachsen, während die des
fekten Markt ab: Arbeit und Kapital fließen stets dorthin, Tschad jedes Jahr um mehr als zwei Prozent sank, so dass
wo sie am meisten einbringen. Deswegen strebt das die Schere zwischen Arm und Reich sich immer weiter
ganze System auf die Dauer einem Gleichgewicht zu, öffnete. Das lässt sich beim besten Willen nicht mit dem
einem Optimum identisch mit dem, das ein wohlwol- neoklassischen Wachstumsmodell in Einklang bringen.
lender, allwissender und allmächtiger Wirtschaftsplaner
verordnen würde. Solche Ideen bilden den Grundstock Auch Forschung und Entwicklung
des neoklassischen Wachstumsmodells, für das Robert M. sind wirtschaftliche Aktivitäten
Solow 1987 den Wirtschaftsnobelpreis bekam und das Paul Romer setzt an einer spezifischen Schwäche des
inzwischen in die Lehrbücher eingegangen ist. Modells an. Technischer Fortschritt ist bei Solow und
Offensichtlich lässt das Modell viele Einzelheiten der seinen Nachfolgern eine exogene Größe, das heißt, er
wirtschaftlichen Realität außer Acht – so sehr, dass der beeinflusst zwar das Wirtschaftsgeschehen, ist aber selbst
Versuch, für ein konkretes Land und einen bestimmten nicht Bestandteil des Modells. Damit hat er denselben
Zeitraum die Werte von x, y und f in Dollar zu bestimmen, Status wie ein Naturereignis. Das widerspricht der Reali-
zum Scheitern verurteilt ist. Die beiden aktuellen Preisträ- tät. Es gibt technischen Fortschritt, weil Wirtschaftssub-
ger haben gewisse bedeutende Faktoren »in das Modell jekte – typischerweise große Firmen – Forschungs- und
hineingeholt« und es damit der Realität nähergebracht. Entwicklungsaufwand betreiben. Das tun sie nur dann,

Spektrum der Wissenschaft  12.18 33


FORSCHUNG AKTUELL
wenn sie sich davon einen Gewinn versprechen. Der ist je-

JOHAN JARNESTAD / THE ROYAL SWEDISH ACADEMY OF SCIENCES


doch dadurch gefährdet, dass ein Konkurrent eine einmal

industrielle CO2-Emissionen
in Gigatonnen pro Jahr
entwickelte Innovation leicht kopieren und so den Inno­va­
tor unterbieten kann; er muss ja keine Ent­wick­lungs­kosten
hereinholen. Also wird die ganze Entwicklung nicht
­stattfinden, es sei denn, der Innovator kann auf legalem
­(Patente) oder technischem Weg (etwa durch Software­
verschlüsselung) ein Monopol für sein Werk etablieren.
Obendrein baut eine Innovation auf einem allgemeinen
Wissensstand auf und trägt zu diesem bei. Damit wird der
Staat in zweifacher Rolle zum Bestandteil des Systems: als
Garant für die Durchsetzbarkeit von Patentansprüchen und
als Bereitsteller des allgemeinen Wissens, auf dem der
technische Fortschritt überhaupt erst gedeihen kann. All
dies kann Romer durch mathematische Erweiterungen von Je nach Optimierungskriterium liefert die 2016er Version des
Solows Modell abbilden. Modells DICE verschiedene Prognosen für den globalen CO2-
Unter den abermals qualitativen Ergebnissen ist eines Ausstoß. »Base« entspricht der Anwendung der aktuellen Vor-
besonders interessant: Wenn alle Menschen – die nach schriften entsprechend einer Steuer von 2 Dollar pro Tonne,
wie vor zugleich Arbeiter, Kapitalisten und Konsumenten »Opt« dem von William D. Nordhaus angesetzten Wohlfahrts­
sind – ihren Nutzen optimieren, dann kommt ein zu ge­ optimum für Gegenwart und Zukunft, »T<2.5« demselben mit
ringer Aufwand für Forschung und Entwicklung heraus, der Zusatzbedingung, dass die globale Temperatur um höchs­
verglichen mit dem Optimum des fiktiven allmächtigen tens 2,5 Grad gegenüber dem Mittelwert von 1900 steigt, und
Planers. Um dieses Marktversagen auszugleichen, sollte »Stern« dem Optimum unter Anwendung der Diskontrate von
der Staat die Forschung subventionieren; für einen Neo­ 0,1 Prozent, wie sie der »Stern Report« zu Grunde legt.
liberalen ein eher ungewöhnliches Ergebnis.
Angesichts der überragenden Rolle der mathemati­
schen Modellierung, die Romers Arbeiten kennzeichnet, ist Nordhaus hat es trotzdem versucht. Sein sehr globales
es beruhigend zu erfahren, dass Romer selbst sich aufs Modell DICE (Dynamic Integrated model of Climate and
Heftigste gegen die »mathiness« wendet. So nennt er die the Economy), das er erstmals 1994 veröffentlichte und
Neigung seiner Fachkollegen, Triviales, Ungerechtfertigtes seitdem ständig verfeinert, hat Eingang in die Arbeiten des
oder schlichten Unfug hinter einer Wolke von mathema- Weltklimarats IPCC gefunden. Und da eine Durchschnitts-
tischem Formalismus zu verbergen und dadurch mit dem bildung über die ganze Erde doch wesentliche Dinge
Anschein von Seriosität zu versehen. Die mathematische außer Acht lässt, lieferte Nordhaus noch eine regionalisier-
Formulierung allein sagt noch nicht, dass das zugehörige te Version namens RICE (Regional dynamic Integrated
Modell wesentliche Teile der Realität wiedergibt. model of Climate and the Economy) nach, in der die Welt
immerhin in acht verschiedene Wirtschaftsräume einge-
Vom Preis für Ackerland bis zur CO2-Steuer teilt wird.
William D. Nordhaus erweitert das neoklassische Modell Wie berechnet man den Einfluss des Klimawandels auf
um den Einfluss der Natur. Das leuchtet auf den ersten die unmittelbar Betroffenen, sprich die Landwirtschaft?
Blick ein. Unsere wirtschaftlichen Aktivitäten, vor allem Man kann beobachten, um wie viel Prozent zum Beispiel
das Verbrennen von Kohle, Öl und Erdgas, beeinflussen die Weizenernte zurückgeht, wenn die Temperatur um
das Klima; umgekehrt droht die Erderwärmung unser ein Grad steigt. Aber das unmittelbar in die Bilanz einzu-
Leben zum Schlechteren zu verändern, was ein Ökonom rechnen, würde den Schaden überschätzen. Der Landwirt
sogleich in Kosten umrechnet. Also gilt es ein globales könnte ihn ja mindern, indem er von Weizen auf Mais
Modell zu entwickeln, das beide Wirkungen beschreibt, wechselt, der bei höheren Temperaturen gedeiht. Aus­
und dessen langfristige Gleichgewichtszustände zu finden. sagekräftiger ist der (Verkaufs- oder Pacht-)Preis für land-
Das scheint zunächst auf unüberwindliche Schwierig- wirtschaftliche Flächen in Abhängigkeit von der Tem­
keiten zu stoßen. Klimarechnungen sind ihrer Natur nach peratur, denn in ihn gehen die Ertragserwartungen der
völlig verschieden von ökonomischen Modellen, erstens Beteiligten ein.
weil Wirtschaftssubjekte im Gegensatz zu Luftmolekülen Solche Zahlen lassen selbst bei der schmalen Daten­
ihr Verhalten von der Erwartung abhängig machen, wie es basis von zwölf Jahren auf gewisse Trends schließen,
ihnen und ihresgleichen in der Zukunft ergehen wird. liefern allerdings nur eine äußerst grobe Schätzung für die
Zweitens ist der Zusammenhang zwischen der Aktivität globalen Effekte des Klimawandels, wie Nordhaus selbst
einer Volkswirtschaft – zu messen beispielsweise am zu betonen nicht müde wird. Aber Mathematik ist gedul-
Bruttosozialprodukt – und ihrem CO2-Ausstoß alles andere dig: Nordhaus fügt in die Schadensbilanz einen Term ein,
als einfach. Und wie soll man drittens die Wirkungen des der sehr große Werte annimmt, wenn die Temperatur um
Klimawandels auf die Menschen in Dollars quantifizieren? mehr als beispielsweise zwei Grad ansteigt, mit zwei freien

34 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Parametern, die zur Anpassung an die empirische Realität ist uns das Schicksal der Menschen in 500 Jahren unge-
dienen. Für einen solchen »Katastrophenterm« gibt es fähr 0,6-mal so viel wert wie unser eigenes. Bei einem
keine physikalische Begründung; vielmehr bildet er die – Satz von 1,5 Prozent, der ungefähr dem entspricht, wie der
ihrerseits wohlbegründete – Befürchtung der Klimafor- Durchschnittsmensch zu handeln pflegt (Spektrum High-
scher ab, dass jenseits von zwei Grad große Unsicher- lights 3/2015: »Wie entscheiden wir?«, S. 28), ist das
heiten und möglicherweise sogar katastrophale Um- Gewicht nur noch 0,0005. Durch die Wahl der Diskontrate
schwünge drohen. fließen also ethische Gesichtspunkte in das Modell ein.
Für den globalen Kohlendioxidkreislauf nimmt Nord- Bei aller Unvollkommenheit liefert das Modell von Nord-
haus den einfachsten denkbaren funktionalen Zusammen- haus konkrete Antworten auf aktuelle Fragen. So lässt sich
hang: Was ein CO2-Reservoir an die anderen abgibt, ist der volkswirtschaftliche Schaden berechnen, den die
proportional zu dessen eigenem CO2-Gehalt. Die Proporti- Emission einer zusätzlichen Tonne Kohlendi­oxid verur­
onalitätsfaktoren wählt er so, dass die Daten aus der sacht. Unter der Voraussetzung des Marktgleichgewichts
Vergangenheit richtig herauskommen. Vereinfachungen ist dieser gleich dem Preis, den der Verursacher dafür
dieser Art würden jedem Klimatologen die Haare zu Berge zahlen muss – ob in Form einer Steuer oder eines handel-
stehen lassen. Gleichwohl bekommt Nordhaus insgesamt baren Emissionsrechts, ist zweitrangig. Je nach der Wahl
ein Modell, das Gesichertes wie Ungesichertes immerhin der Parameter und des Optimierungskriteriums ergeben
irgendwie wiedergibt und für Revisionen auf Grund besse- sich unterschiedliche Werte. Nordhaus selbst kommt mit
ren Wissens jederzeit offensteht. seinem Modell ohne Katastrophenterm auf relativ milde 30
Am Ende sucht man ein Maximum einer Nutzenfunk­ Dollar pro Tonne, die bis 2050 auf 150 Dollar steigen (ohne
tion, und zwar für gegenwärtige ebenso wie für zukünftige Berücksichtigung der Inflation). Wer allerdings ein Limit
Generationen. Dabei wird, wie üblich, der Nutzen diskon- von 2,5 Grad einhalten will oder mit einer Diskontrate von
tiert, das heißt umso geringer bewertet, je ferner er in der 0,1 Prozent weit in die Zukunft denkt, muss bereits heute
Zukunft liegt: eine Art negativer Verzinsung. Liegt diese um die 200 Dollar pro Tonne verlangen und das bis 2050
Diskontrate bei 0,1 Prozent, wie sie der einflussreiche auf 600 bis 1000 Dollar steigern.
»Stern Review« (Stern, N.: The Economics of Climate
Change, Cambridge University Press 2007) ansetzt, dann Christoph Pöppe ist Redakteur bei Spektrum der Wissenschaft.

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Spektrum der Wissenschaft  12.18 35
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SPRINGERS EINWÜRFE
IMMER ÄRGER
MIT DEN QUANTEN
Der Streit um die Deutung der Quantenphysik nimmt kein
Ende. Ein neues Gedankenexperiment scheint zu beweisen,
dass die Theorie sich manchmal selbst widerspricht.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist.


Eine Sammlung seiner Einwürfe ist als Buch unter dem Titel
»Unendliche Neugier. Was die Wissenschaft treibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1603744

W
er sich für Quantentheorie interessiert, Freunden vorsieht, zwischen denen ein gewisser
kennt die von Erwin Schrödinger 1935 Informationsaustausch stattfinden darf. Durch eine
erdachte Katze. Sie steckt in einer Kiste, wo sehr komplizierte Argumentation behaupten die Theo-
sie ein Quantenmechanismus in eine Zu- retiker daraus herleiten zu können, dass in diesem
standsüberlagerung von Leben und Tod versetzt. In Fall zwei äußere Beobachter zu gegensätzlichen
dem gespenstischen Zwischenreich verharrt sie, bis Aussagen kämen – und somit wäre die Quantenphysik
ein Beobachter die Kiste öffnet und den Quantenzu- in sich widersprüchlich (Nature Communications, 3711,
stand misst. Erst jetzt ist sie entweder lebendig oder 2018).
tot. Das Gedankenexperiment spitzt die umstrittene Die gewundene Beweisführung lässt sich freilich
Frage zu, wie aus einer quantenmechanischen Wahr- nur sehr mühsam verfolgen. Immerhin hat die Arbeit
scheinlichkeitsverteilung ein klassisches Messresultat unter Grundlagenforschern für einige Unruhe gesorgt
hervorgehen kann. und zu Versuchen geführt, den Autoren Denkfehler
Um das Problem noch zu verschärfen, setzte der nachzuweisen – was aber anscheinend bisher nicht
Theoretiker Eugene Paul Wigner 1961 zusätzlich zur gelungen ist.
Katze einen menschlichen Beobachter in die Kiste, der

P
bald »Wigners Freund« genannt wurde. Während raktizierende Physiker werden sich davon ohne-
dieser stets unmittelbar erkennt, ob das Tier lebt oder hin kaum aus der Ruhe bringen lassen. Sie
tot ist, herrscht für einen äußeren Beobachter, solange könnten auf dem Standpunkt stehen, eigentlich
die Kiste nicht geöffnet wird, drinnen eine zweideutige gereiche es der Quantenmechanik sogar zur
Zustandsüberlagerung von Wigners Freund und Ehre, dass sie sich nur mit so extrem umständlichen
Schrödingers Quantenkatze. Scheinbar kommen beide Tricks zu Widersprüchen verleiten lässt.
Beobachter zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Dennoch zeigt der umstrittene Artikel möglicher-
Heute argumentieren die Physiker gegen solche weise ein echtes Problem auf, das künftig praktische
Gedankenspiele mit dem Begriff der Dekohärenz, den Konsequenzen haben könnte. Die Autoren betonen
Heinz-Dieter Zeh 1970 eingeführt hat. Infolge der nämlich, ihre Beweisführung träfe genauso zu, wenn
Wechselwirkung der Quantenkatze mit den Luft­ man an die Stelle der menschlichen Beobachter lauter
atomen in der Kiste kollabiert der »kohärente« Über­ Quantencomputer setzte. Dann aber dürften solche
lagerungszustand von Leben und Tod fast augenblick- Maschinen, falls sie eines Tages tatsächlich in größe-
lich zum Entweder-oder. Die Dekohärenz erzwingt rem Stil zum Einsatz kämen, nicht ohne Weiteres
ganz unabhängig davon, ob ein Mensch den Zustand miteinander vernetzt werden. Ob man sie nun in Serie
misst oder nicht, sofort ein eindeutiges Resultat, das schalten würde oder parallel arbeiten ließe, jedenfalls
daher von draußen nicht anders aussieht als für Wig- entstünden komplexe Verbände von Schrödinger-Kat-
ners Freund drinnen. Das Öffnen der Kiste macht zen und Wigner-Freunden – und ob solche Quanten-
keinen Unterschied. computercluster überhaupt widerspruchsfreie Rechen-
Doch nun haben Daniela Frauchiger und Renato resultate auswerfen können, erscheint im Licht des
Renner von der ETH Zürich ein Gedankenexperiment neuen Gedankenexperiments als eine berechtigte
ausgeheckt, das gleich zwei Kisten mit Wigners Frage.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 37


ENDOMETRIOSE
GEWEBE AUF ABWEGEN
Millionen Frauen leiden unter einer häufig verkannten
Krankheit, bei der sich Zellen aus der Gebär­mutter­
schleimhaut im Körper ausbreiten und mitunter starke
Schmerzen verursachen.

Jena Pincott ist Biologin und Wissenschaftsautorin in New York (USA).


KAREN HANCOCK

In ihren Artikeln und Büchern beschäftigt sie sich vor allem mit den verborgenen
oder auch skurrilen Seiten der Wissenschaft.

 spektrum.de/artikel/1603746


Jede Frau mit Endometriose kann ihre eigene Ge­ das Darm, Eierstöcke und Nerven umhüllt oder die Eileiter
schichte über den Moment erzählen, als ihr klar derart zusammenquetscht, dass eine Eizelle nicht mehr
wurde, dass diese Bauchschmerzen nicht normal hin­­durchpasst.
sind. Bei Emma geschah es, als sie eines Tages in der Trotz ihrer dramatischen Auswirkungen bleibt die
zehnten Klasse während des Geschichtsunterrichts ohn­ Endometriose rätselhaft. Ärzte wissen, dass sie familiär
mächtig wurde. Sie fühlte sich wie ein Kürbis, der von gehäuft vorkommt und mit mehreren genetischen Varian­
innen her ausgehöhlt wird. Ihr Frauenarzt vermutete ten gekoppelt ist – die Erblichkeit beträgt schätzungsweise
außergewöhnliche Menstruationskrämpfe und verschrieb 50 Prozent –, aber Gene allein können weder ihr Auftreten
Antibabypillen. Das half nur wenig. »Er gab mir das Ge­ erklären noch ihren Verlauf vorhersagen. Das Ausmaß
fühl, ich wäre verrückt«, meint Emma, die inzwischen der Narbenbildung sowie die Zahl und Lage der Schad­
Ende 30 ist und ihren richtigen Namen nicht nennen stellen korrelieren kaum mit der Schwere der Symptome,
möchte. »Erst später begriff ich: Wenn eine Frau ein zu denen neben Schmerzen auch starke Blutungen, Be­
unklares medizinisches Problem hat, glaubt man ihr ein­ schwerden beim Geschlechtsverkehr oder beim Stuhlgang
fach nicht.« sowie häufig Unfruchtbarkeit zählen. Mancher Patientin
Es dauerte sechs Jahre, bis ein Arzt durch eine Bauch­ helfen Operationen und Medikamente; andere hingegen,
spiegelung die Ursache der Schmerzen entdeckte. Jetzt bei denen nur wenig Gewebe betroffen ist, haben schon
wusste Emma, dass sie unter Endometriose leidet – einer alles ausprobiert und leiden dennoch unter ständigen
Krankheit, bei der sich Gewebe der Gebärmutterschleim­ Schmerzen.
haut (Endometrium) in anderen Teilen des Körpers fest­
setzt (siehe »Eine schmerzhafte Invasion«, S. 40). Emmas Rückfluss mit Folgen
Bauchorgane waren mittlerweile wie von einem Ranken­ »Als Erstes stellt sich die Frage: Wie kommt das Gewebe
geflecht umschlungen. aus der Gebärmutter heraus?«, sagt die Bioingenieurin
Vergleiche aus der Pflanzenwelt erscheinen bei der Linda Griffith vom Massachusetts Institute of Technology
Beschreibung der Endometriose durchaus angebracht. (MIT) in Cambridge (USA). Die wissenschaftliche Leiterin
Wie eine Schlingpflanze, die sich um Bäume und Sträu­ des MIT Center for Gynaepathology Research leidet selbst
cher windet, breiten sich versprengte Gebärmutter­ an Endometriose und ist von dem Rätsel fasziniert, das
schleimhautzellen aus und hinterlassen vernarbtes Gewe­ sich der Wissenschaft schon seit Jahrzehnten stellt: Nie­
be. Bauchorgane wie Blase, Darm oder Harnleiter können mand weiß genau, wie oder warum Gebärmutterschleim­
dabei befallen sein. Auch nach einer chirurgischen Entfer­ hautzellen außerhalb ihres eigenen Organs auftauchen.
nung wachsen schadhafte Stellen häufig wieder nach; Die vorherrschende Theorie der retrograden Menstrua­
mehr als die Hälfte der operierten Frauen müssen sich tion stellte der US-amerikanische Gynäkologe John Samp­
innerhalb von sieben Jahren einem zweiten Eingriff unter­ son (1873 – 1946) bereits vor fast 100 Jahren auf. Er beob­
ziehen. Den Chirurgen offenbart sich dann mitunter beim achtete, dass Menstruationsflüssigkeit mit Uteruszellen
Öffnen des Bauchraums ein Netz aus vernarbtem Gewebe, zurück in die Eileiter fließen kann. Kleine Mengen davon,

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AUF EINEN BLICK
REGELMÄSSIGE QUALEN

1 Bei Endometriose siedeln sich Zellen aus der Gebär­


mutterschleimhaut in anderen Körperregionen an.
Das Gewebe schwillt mit der weiblichen Periode an
und kann dabei starke Schmerzen verursachen.

2 Weltweit leiden rund zehn Prozent aller Frauen im ge­-


bärfähigen Alter unter Endometriose. Betroffene und
auch viele Ärzte verkennen jedoch oft die Krankheit
und gehen von Menstruationsbeschwerden aus.

3 Das Leiden wurde bislang wenig erforscht, die Ur­-


sachen liegen noch im Dunkeln. Es lässt sich
nur schwer behandeln; selbst eine operative Ent­
fernung der Geschwulste hilft nicht immer.

so seine Vermutung, bleiben an den Orga­


nen und der Innenhaut des Bauchraums
haften oder schwimmen in der Bauch­
flüssigkeit und verbreiten sich auf
weiter entfernte Stellen. Das
passiert bei nahezu jeder Frau,
wird allerdings in der Regel
vom Immunsystem wieder
DAVID CHENEY / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2018; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

behoben. Manchmal jedoch


setzen sich nach Sampsons
Hypothese die Zellen dort fest,
wo sie zufällig gelandet sind. Das
falsch platzierte Gewebe verhält sich
dann wie in der Gebärmutter: Es bringt Hor­
monrezeptoren hervor und spricht auf die Signal­
stoffe an. Wie die Gebärmutterschleimhaut wächst es
jeden Monat an, schüttet Hormone aus und wird zum
Ende des Zyklus abgestoßen. Aber anders als bei der
Menstruation bleiben Blut und Gewebe im Beckenraum
gefangen und lösen hier Entzündungen aus, was im Lauf
der Zeit zu Narbenbildung und Verklebungen führt.
Doch seit Sampsons Zeit streiten sich die Wissen­
schaftler über die eigentliche Ursache der Krankheit. Sind
die abtrünnigen Gebärmutterschleimhautzellen die Schul­
digen, die woanders gewissermaßen als Samen sprießen,
oder liegt es am Umfeld im Bauchraum, das diesen Zellen
den Boden bereitet? Mediziner auf der Seite der Samen­
theorie machen defekte Endometrium- oder Stammzellen
Hinter starken Unterleibsschmerzen kann sich verantwortlich. Für die Verfechter der Bodentheorie stellt
eine Endometriose verbergen. Bei dieser Endometriose vor allem eine Fehlfunktion des Immunsys­
Krankheit vermehren sich Zellen der Gebär­ tems dar. Eine dritte Theorie vereint beide Positionen und
mutterschleimhaut (Endometrium) an geht davon aus, dass der Boden den Samen verändert.
anderen Stellen des Körpers. Die Folgen sind »Frauen mit Endometriose hatten vermutlich normale
Entzündungen und Gewebeschäden. Gebärmutterschleimhautzellen, bis die Schäden eintraten

Spektrum der Wissenschaft  12.18 39


Eine schmerzhafte Invasion Adenomyose
Besonders schmerzhaft
Nach der Theorie der retrograden Menstruation lösen während
und zudem schwer dia­
der Periode rückwärts durch die Eileiter in die Bauchhöhle flie­
gnostizierbar ist es, wenn
ßende Gebärmutterschleimhautzellen Endometriose aus. Hier
Endometriumgewebe in
wächst das Endometrium weiter; mit dem Zyklus versucht der
die muskulöse Gebärmut­
Körper es abzustoßen. Da aber Blut und Gewebe in der Bauch­
terwand einwächst.
höhle gefangen sind, vernarbt und entzündet sich die Stelle.

zurückfließende
Menstruations-
flüssigkeit

Eileiter

DAVID CHENEY / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2018; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
verklebtes
und vernarbtes Gebärmutter
Gewebe

Darm

Gewebs-
läsionen

Gebärmutter Eierstock

Blase

Abgeklemmter Eileiter
Beckenknochen
Vernarbte Endometrium-Verklebun­
gen können Organe umschließen
und einquetschen. Mitunter wird
dabei ein Eierstock oder ein Eileiter
Endometriom so eingeklemmt, dass Eizellen nicht
Falsch platziertes Endometriumgewebe mehr passieren können. Die Krank­
kann als Zyste auf dem Eierstock liegen, heit führt somit zur Unfruchtbarkeit.
diesen blockieren und Schmerzen verur­
sachen. Da solche Endometriome haupt­
sächlich altes Blut enthalten, werden sie
auf Grund der dunklen Farbe auch als
Teer- oder Schokoladenzysten bezeichnet.
40 Spektrum der Wissenschaft  12.18
und das Gewebe veränderten«, erklärt Griffith, die in der Dass Ärzte Leiden von Frauen herunterspielen, hat eine
Immun­antwort die eigentliche Triebkraft sieht. Die da­ lange Tradition. So stellten US-Forscher 2008 fest, dass
durch ausgelöste Entzündung beeinflusst möglicherweise Patientinnen mit Bauchweh in der Notaufnahme länger
die Expression von Progesteron- und Östrogenrezeptoren als Männer auf Hilfe warten müssen und mit einer um
in den Gebärmutterschleimhautzellen. Die Folge: Die bis 25 Prozent geringeren Häufigkeit Opiate zur Schmerz­
Zellen schütten mehr Östradiol aus und treiben dadurch linderung bekommen. Nach einer früheren Studie erhal­-
das Wachstum der Schadstellen an. Dass gesundes Gewe­ ten männliche Patienten von Krankenschwestern eher
be tatsächlich die Krankheit auslösen kann, zeigten Tier­ Schmerzmedikamente, Frauen dagegen nur Beruhigungs­
versuche mit Pavianen, denen normale Uterusschleim­ mittel. Und selbst wenn ihnen ein Analgetikum gegeben
hautzellen in die Bauchhöhle injiziert worden waren. wird, könnte es gefährlicher oder weniger wirksam sein,
Der Gynäkologe Kevin Osteen von der Vanderbilt Uni­ weil Arzneimitteltests meist an Männern oder männlichen
versity in Nashville verdächtigt als mögliche Auslöser Mäusen durchgeführt werden.
Umweltschadstoffe wie das extrem giftige industrielle Selbst nachdem bei Emma endlich die richtige Diagno­
Nebenprodukt Dioxin oder polychlorierte Biphenyle (PCB) – se gestellt worden war, musste ihr mit 26 Jahren ein
dioxinähnliche Chemikalien, die in Fleisch, Fisch, Milch­ Eierstock entfernt werden. Zehn Jahre später brachte sie
produkten und in unterschiedlichen Mengen auch im eine Tochter zur Welt. Heute lebt sie relativ beschwerde­
Körper jedes Menschen vorkommen. Nach Osteens These frei, aber noch immer bedauert sie die verlorenen Jahre
beeinträchtigen solche Giftstoffe die physiologischen ohne Diagnose und Therapie. »Wenn ich mein Leben noch
Vorgänge in der wachsenden Gebärmutterschleimhaut. einmal führen könnte«, sagt sie, »hätte ich früher auf
Als er und seine Kollegen menschliches Endometrium Antworten gedrängt.« Als ihre Beschwerden begannen,
Dioxin aussetzten, neigte das Gewebe zu Entzündungen wusste sie noch nicht einmal, dass es so etwas wie Endo­
und reagierte weniger auf Progesteron. Das Hormon metriose überhaupt gibt. Und, so ergänzt sie, ihre Ärzte
zügelt normalerweise so genannte Matrixmetalloproteina­ anscheinend auch nicht.
sen – Enzyme, die den allmonatlichen Wiederaufbau der
Uterusschleimhaut regulieren. Ohne Progesteron könnte Tabus verhindern offene Gespräche über Schmerzen
das Gewebe invasiv werden und sich über sein normales bei der Menstruation, beim Stuhlgang oder beim Sex
Revier hinaus in der Gebärmutter ausbreiten. Ein Grund für die Ignoranz von Medizinern und sogar von
Linda Griffith glaubt, dass der Auslöser ihrer Krankheit, Betroffenen liegt daran, dass die Qualen während der
was auch immer es gewesen sein mag, schon lange Menstruation aufflammen, wenn sich Frauen »erwartungs­
zurückliegt. Retrograde Menstruation könne zwar viele Fäl­ gemäß« nicht wohlfühlen. »Schmerzen sind sehr subjek­
le erklären, aber vermutlich nicht ihren eigenen. Denn bei tiv«, erklärt der Gynäkologe Hugh Taylor von der Yale
ihr setzten die quälenden Symptome schon am ersten Tag School of Medicine in New Haven. »Als einzig ›normal‹
ihrer ersten Periode ein – lange bevor menstruationsbe­ gelten Krämpfe, und es lässt sich kaum feststellen, wann
dingte Schädigungen Zeit gehabt hätten, sich zu entwi­ dieser Schmerz anormal wird.« Gesellschaftliche Tabus,
ckeln. Manche Wissenschaftler vertreten die Ansicht, bei fügt er hinzu, hätten früher offene Gespräche über Be­
solchen Patientinnen habe der Rückfluss von Endometri­ schwerden bei der Menstruation, beim Stuhlgang oder
umzellen vielleicht bereits während einer normalen Vagi­ beim Sex verhindert – alles Warnzeichen für Endometrio­
nalblutung stattgefunden, die bei weiblichen Säuglingen se. »Glücklicherweise sinken hier mittlerweile die Hemm­
häufig kurz nach der Geburt auftritt. Beim ungeborenen schwellen.« Ärzte wie Patientinnen stören sich zunehmend
Mädchen im Mutterleib können ebenfalls zum Endometri­ nicht mehr daran, solche Themen offen anzusprechen und
um heranreifende Stammzellen außerhalb des Uterus den Ursachen nachzugehen.
landen; manchmal sogar an weit entfernten Stellen wie Mittlerweile werden auch die Betroffenen aktiv. »Schon
Lunge oder Gehirn, wie man bei Föten nach einer Fehlge­ seit Jahrzehnten bilden Patientenorganisationen Gemein­
burt oder Abtreibung beobachtet hat. »Solche Zellen schaften, die Patientinnen unterstützen, informieren und
könnten dort lauern«, erklärt Griffith, »bis das Mädchen in aufklären«, sagt die Aktivistin Casey Berna. »Die frühere,
die Pubertät kommt« – als tickende Zeitbomben. Ähnlich herablassende Haltung zur Krankenversorgung gibt man
wie Krebs offenbart sich Endometriose somit als ein immer mehr auf und hört auf die Stimmen der Betroffe­
Leiden mit vielen Gesichtern. Oder wie Griffith es formu­ nen, insbesondere bei komplexen Krankheiten.«
liert: »Es handelt sich vermutlich nicht um eine Krankheit, Im April 2018 organisierten Berna und ihre Mitstreiter in
sondern um viele.« Washington eine Protestdemonstration von Patientinnen
Wenn Frauen über Endometriose reden, reden sie über vor der Zentrale der US-amerikanischen gynäkologisch-ge­
Schmerzen. Sie berichten von Krankheitstagen in der burtshilflichen Fachgesellschaft ACOG (American College
Schule oder im Beruf, von verlorener Zeit und entgange­ of Obstetricians and Gynecologists). Sie forderten, die
nen Möglichkeiten, vom Rückgang der Lebensfreude. Sie ärztlichen Mitglieder der Gesellschaft besser diagnostisch
schildern, wie sie ihren Kalender rund um ihre Periode zu schulen und den Patientinnen die neuesten Therapie­
organisieren oder eine Nacht unter Morphium in der verfahren zugänglich zu machen, statt etwa unnötige
Notaufnahme verbringen. Zu den schlimmsten Dingen, die Gebärmutterentfernungen zu verschreiben. »Um es klipp
sie zu hören bekommen, gehört die Behauptung, ihre und klar zu sagen«, betont Berna, »wegen der derzeitigen
Schmerzen seien »nur in ihrem Kopf«. Standards mussten Millionen von Patientinnen jahrzehnte­

Spektrum der Wissenschaft  12.18 41


lang leiden. Wir fordern das ACOG auf, mit Patientinnen­
vertretern und Endometrioseexperten zusammenzuarbei­
ten und alle Mittel zu nutzen, um diese Versorgungskrise Organe auf einem Chip
in den Griff zu bekommen.«
Fachleute sind sich einig, dass zu viele Mediziner die Mit Multi-Organ-Chips sollen Medikamente zur
Krankheit immer noch übersehen. »Kinderärzten und den Behandlung von Endometriose im Labor getestet
meisten Hausärzten fehlt das nötige Wissen über Endo­ werden. Eine solche Plattform enthält lebende
metriose«, meint Taylor. Fehldiagnosen verschlimmerten Zellen, die zu für die Krankheit relevanten Minia­
oft das Leiden. »Am falschen Ort angesiedeltes Gebärmut­ turorganen gruppiert sind und über eine Misch­
terschleimhautgewebe enthält große Mengen des Enzyms kammer zur Simulation des Kreislaufs verbunden

DAVID CHENEY / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2018


Aromatase, das an den geschädigten Stellen für einen werden. Die am Massachusetts Institute of
hohen Östrogenspiegel sorgt, was dann wiederum das Ge­ Technology konstruierte Plattform »PhysioMime­
webswachstum anregt«, erklärt Pamela Stratton von den tics« besteht aus Gebärmutterschleimhaut und
National Institutes of Health. Zusätzlich werden die Schad­ Eierstock, die wiederum mit Darm, Leber und
stellen resistent gegen Progesteron, das normalerweise Knochenmark verbunden sind, da diese Organe
Wachstum und Entzündungen drosselt. Der Krankheits­ am Medikamentenstoffwechsel und der Immun­
prozess verstärkt sich dadurch: Prostaglandine – schmerz­ antwort mitwirken.
vermittelnde Hormone, die in geschädigtem Gewebe
Gebärmutter­
gebildet werden – sowie entzündungsfördernde Zytokine Mischkammer schleimhaut
Eierstock
wirken auf die Nervenenden und treiben die Schmerzemp­ Leber und
findlichkeit in die Höhe. Im Lauf der Zeit bilden sich Immunsystem
Verklebungen und beeinträchtigen die Funktion der
Bauchorgane, was weiteres Leid verursacht.
Knochenmark

In ständiger Alarmbereitschaft
Es gehört zu den seltsamen Aspekten der Endome­
trioseschmerzen, dass sie kaum im Zusammenhang
mit der Schwere oder der Lage der geschädigten
Körperstellen stehen. Eine Frau mit nur wenigen
Läsionen hat unter Umständen das Gefühl, ihre
Verdauungs- und
Organe würden durch den Fleischwolf gedreht, Immunsystem Mikrofluid-
während eine Patientin im schweren Stadium IV mit Pumpen
einem bereits angeschwollenen Bauch vollkommen
beschwerdefrei ist. Manche Ärzte übersehen eine
Adenomyose, bei der die Muskulatur der Gebärmutter
befallen ist. Hier sind die Gewebsschäden auch bei
einer Operation kaum zu erkennen, aber die Patientin
erduldet Höllenqualen. Viele Frauen leiden selbst dann
weiter, wenn die Läsionen sich zurückgebildet haben
oder chirurgisch entfernt worden sind.
An diesem Punkt beschränke sich das Problem nicht
mehr auf den Bauchraum, erklärt Stratton, jetzt liege eine Stratton. »Deshalb berücksichtigen sie nicht, was Neuro­
Störung des Zentralnervensystems vor. In allzu vielen wissenschaftler mittlerweile über Schmerzen wissen.«
Fällen hat sich das Gehirn so lange auf Schmerzen einge­ Stratton, die als Gynäkologin und Chirurgin in beiden
stellt, dass es sie selbst dann nicht mehr ausschalten Welten zu Hause ist, sucht nach Methoden, das Leiden zu
kann, wenn die Ursache beseitigt wurde. In diesem Zu­ bekämpfen und möglicherweise auch die zentralnervöse
stand der zentralnervösen Sensibilisierung liegen die Sensibilisierung rückgängig zu machen. Wenn ein Medi­
neuronalen Schaltkreise quasi in ständiger Alarmbereit­ kament über längere Zeit Beschwerden lindern kann, setzt
schaft. Dann löst jeder kleine Reiz, sei es der Eisprung, die das Zentralnervensystem eventuell die Schmerzschwelle
Monatsblutung oder Sex, Beschwerden aus und erhält sie wieder herauf. Möglich wäre das mit Botulinumtoxin, im
aufrecht. Nach Strattons Ansicht dürften hier ebenfalls Volksmund Botox genannt: In den Beckenboden injiziert,
genetische Faktoren eine Rolle spielen, die Details seien lockert es Muskelkrämpfe und beeinflusst vielleicht die
allerdings noch kaum geklärt. Schon bei winzigen Läsio­ Substanzen, die an der Übertragung von Schmerzsignalen
nen könnten die Betroffenen unter quälenden, chroni­ beteiligt sind. Nach Strattons Angaben wenden manche
schen Schmerzen leiden, was wiederum zur zentralnervö­ Ärzte Botox bereits außerhalb der zugelassenen Indikatio­
sen Sensibilisierung führe, erklärt sie. Fatalerweise hören nen gegen Endometriosebeschwerden an. Ob die Behand­
gerade solche Frauen am häufigsten von ihrem Arzt, es sei lung wirklich hilft, muss sich noch zeigen.
alles in Ordnung, denn viele Gynäkologen denken nicht an Es geht um viel. Chronische Schmerzen verursachen
eine Sensibilisierung. »Sie sind keine Neurologen«, betont Schlafprobleme, Ängste, Depression, Reizbarkeit und

42 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Denkstörungen. Mehrere Studien mit bildgebenden Ver­ andere Mikroorganismen statt Lactobacillus in der Gebär­
fahren wiesen Veränderungen der grauen Hirnsubstanz mutterschleimhaut vorherrschen, kommt es dreimal selte­
nach, darunter im für das Gedächtnis wichtigen Hippo­ ner zur Einnistung, und die Zahl der Fehlgeburten schießt
campus oder im präfrontalen Kortex, der für kognitive in die Höhe. Auch wenn die Ursachen hierfür noch unklar
Funktionen zuständig ist. In einer kleinen Studie an Endo­ sind, regen solche Studien weitere Untersuchungen an,
metriosepatientinnen mit chronischen Unterleibsschmer­ die Rolle des Gebärmutterschleimhaut-Mikrobioms bei
zen beobachtete man eine Schrumpfung des Thalamus, Endometriose genauer zu erforschen. Manche Ärzte
der Inselrinde sowie anderer Hirnareale, die an der werden vielleicht in Zukunft Bakterienkulturen von der
Schmerzsteuerung beteiligt sind. Wie Wissenschaftler der Gebärmutterschleimhaut anlegen, bevor sie Unfruchtbar­
Northwestern University in Chicago entdeckten, kann die keit behandeln.
graue Hirnsubstanz bei chronischem Rückenleiden Jahr Es gibt aber auch Erfolgsgeschichten. Je nach Krank­
für Jahr 1,3 Kubikzentimeter einbüßen – was einer Alte­ heitsstadium werden 43 bis 55 Prozent aller Endometriose­
rung um 10 bis 20 Jahre entspricht. patientinnen nach einer In-vitro-Fertilisation schwanger,
und der Anteil lebend geborener Kinder liegt dann ähnlich
Eine Sinfonie aus Hormonen und Immunsystem – hoch wie bei gesunden Frauen. Unter den hormonellen
allerdings ohne Dirigenten Bedingungen der Schwangerschaft lassen die Symptome
Sprechen Patientinnen über ihre Ängste, nimmt unerfüll­- in der Regel nach. Stillen mindert ebenfalls das Endome­
ter Kinderwunsch einen hohen Stellenwert ein. Ungefähr trioserisiko, berichten Wissenschaftler aus Boston, die
die Hälfte aller unfruchtbaren Frauen leidet an Endometri­ 2017 einen Datenbestand von mehr als 70 000 Frauen
ose, wobei sich ihre Schmerzen in einer bitteren Ironie gesichtet hatten: Alle drei Monate sank bei ausschließlich
der Natur mitunter wie Wehen anfühlen. Ist der Eileiter stillenden Frauen das Erkrankungsrisiko um 14 Prozent. Ob
blockiert, können die Eizellen unter Umständen nicht aus Hormone und immunologische Faktoren, die beim Stillen
dem Eierstock in die Gebärmutter wandern; Entzündungen eine Rolle spielen, Endometriosesymptome lindern kön­
durch Narbenbildung oder chirurgische Eingriffe im nen, bleibt offen.
Umfeld der Eierstöcke beeinträchtigen zusätzlich Quali- Wenn Ärzte über Endometriose reden, nennen sie stets
tät und Menge der Eifollikel. Entzündungsfördernde das Siebenjahresproblem: Ein so langer Zeitraum vergeht
Zytokine und andere Substanzen in der Bauchhöhlenflüs­ im Schnitt zwischen dem Auftreten erster Beschwerden
sigkeit vermindern die Beweglichkeit der Samenzellen in und der Diagnose – dann sind vielfach schon große Schä­
den Eileitern und schädigen sowohl Eizellen als auch den eingetreten. Derzeit erfordert die Diagnose eine
Embryonen. Bauchspiegelung (Laparoskopie). Viel einfacher wäre es,
Hormonelle Probleme können ebenfalls auftreten. Die ließe sich die Krankheit über schlichte Blut-, Speichel- oder
Befruchtung funktioniert wie eine Sinfonie mit einem Urintests dingfest machen; hierfür braucht man allerdings
Orchester aus Hormonen und dem Immunsystem – bei geeignete Marker.
Endometriose hat der Dirigent den Saal verlassen. Norma­
lerweise sinkt nach dem Eisprung die Konzentration der
Östrogenrezeptoren in der Gebärmutterwand, um sie auf
die Einnistung vorzubereiten. Der Progesteronspiegel Mehr Wissen auf
steigt dagegen an und gibt damit der Gebärmutterschleim­
haut das Signal, sich auf die Aufnahme und Ernährung der
Spektrum.de
befruchteten Eizelle vorzubereiten. Das Hormon stellt die Unser Online-Dossier zum Thema
Gebärmutter ruhig und unterbindet Kontraktionen. Bei finden Sie unter
Endometriose jedoch spricht die Gebärmutterschleimhaut spektrum.de/t/maennlich-weiblich
nicht auf Progesteron an, und sein Gegenspieler Östradiol KEEWEEBOY / GETTY IMAGES
/ ISTOCK

behält die Oberhand – einer von mehreren Faktoren,


die ein wenig freundliches Umfeld für den frühen Embryo
schaffen. Und selbst wenn es zur Einnistung kommt, Seit einigen Jahren konzentrieren sich Wissenschaftler
erhöht die Progesteronresistenz das Risiko für eine Fehl- in mehreren Instituten auf microRNA (miRNA) – kurze,
oder Frühgeburt. nicht codierende RNA-Sequenzen, welche die Genexpres­
Noch komplizierter wird das Ganze durch die Bakterien­ sion regulieren. 2016 identifizierte Hugh Taylors Arbeits­
gesellschaft in der Gebärmutterschleimhaut. Studien gruppe drei miRNAs, die bei Endometriosepatientinnen im
zufolge dominieren Lactobacillus-Bakterien im Uterus und Vergleich zu Kontrollpersonen in größerer Menge vorkom­
wirken sowohl bei der Einnistung als auch bei der Ernäh­ men. Taylors Unternehmen DotLab will mit Hilfe dieser
rung des wachsenden Embryos mit. Wie Forscher speku­ miRNAs einen ersten diagnostischen Speicheltest für
lieren, könnte die durch Endometriose verursachte chroni­ Endometriose entwickeln, der nach seinen Angaben mit
sche Entzündung diese Bakterien abtöten und so in der einer Genauigkeit von weit über 90 Prozent funktionieren
Gebärmutter ein mikrobiologisches Klima schaffen, das wird. Damit könnten Frauen früher eine Therapie erhalten,
die Entzündung aufrechterhält und zur Unfruchtbarkeit und es ließe sich leichter feststellen, ob ein verschriebenes
führt. Hierzu passen die vorläufigen Ergebnisse, die eine Medikament auch wirkt. Schließlich stellt eine Diagnose
spanische Arbeitsgruppe 2016 veröffentlichte: Wenn allein noch keine Gewähr für eine Symptomlinderung dar.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 43


Manche Arzneien helfen am Anfang, verlieren aber dann tinnen ähnlich wie bei Brustkrebs anhand molekularer
ihre Wirksamkeit. Andere lösen Symptome aus, die denen Marker in Kategorien einteilen, um dann für jeden einzel­
der Wechseljahre ähneln. nen Typ passende Wirkstoffe zu entwickeln. »Jede Patien­
Wenn es nach der Gynäkologin Julie Kim von der tin ist anders«, betont sie, »aber wir glauben, dass es
Northwestern University in Chicago geht, sollte in Zukunft Gruppen mit gemeinsamen Merkmalen gibt.«
die Diagnose mit einer Hautbiopsie beginnen: Zellen aus Um solche Gruppen aufzuspüren, bräuchte man zu­
einem winzigen Stück Haut, das vom Oberschenkel oder nächst Krankheitsmodelle im Computer sowie einige
von der Hüfte entnommen wird, ließen sich gentechnisch hypothetische Klassifikationsschemata, erläutert Griffith.
in ihrer Entwicklung zurückdrehen – als induzierte pluripo­ Danach müsste man mehrere hundert Patientinnen aus
tente Stammzellen (iPS-Zellen) können sie dann zu jeder zahlreichen Kliniken rekrutieren, um die Modelle an ihnen
anderen Körperzelle heranwachsen, seien es Leber-, zu erproben. Griffith prophezeit, dass sich dabei drei bis
Nieren- oder Gebärmutterschleimhautzellen. Jeder derarti­ fünf Gruppen mit unterschiedlichen Fehlfunktionen her­
ge Zelltyp kann als Keim für ein »Mikroorgan« auf einem auskristallisieren werden, die jeweils charakteristische
elektrischen Schaltkreis von der Größe eines Tabletcom­ molekulare Kennzeichen tragen.
puters dienen, der den gesamten Organismus repräsen­ Auch wenn Multi-Organ-Chips und andere Hilfsmittel
tiert – gewissermaßen als medizinischer Avatar. viel versprechende Möglichkeiten eröffnen, bleibt für die
Mehrere solcher Avatare mit einem Multi-Organ-Chip Medizinergemeinde noch ein langer Weg, bis man Endo­
gibt es bereits (siehe »Organe auf einem Chip«, S. 42). Die metriose wirksam bekämpfen kann. Die Finanzierung der
Arbeitsgruppe von Teresa Woodruff von der Northwestern Erforschung dieser Krankheit steht nach wie vor in keinem
University, zu der auch Kim gehört, nannte ihr Gerät Verhältnis zu ihren gesellschaftlichen Kosten: Laut einer
EVATAR: ein weibliches Fortpflanzungssystem im Minia­ 2011 erschienenen Studie der World Endometriosis Re­
turformat, einschließlich Mikroeierstöcken, Eileitern, search Foundation, in der mehr als 1400 Frauen in zehn
Gebärmutter, Gebärmutterhals und Leber. Wie bei anderen Ländern befragt worden sind, sinkt durch die Krankheit die
Patientenavatar-Systemen liegen die »Organe« von EVA­ Produktivität der betroffenen Frauen am Arbeitsplatz um
TAR in münzgroßen Gefäßen, die auf einer mit einem nahezu elf Stunden pro Woche, also um mehr als ein
Computer verbundenen Platte stehen. Dazwischen fließt Viertel bei einer 40-Stunden-Woche. Allein in den Vereinig­
durch Mikrokanäle künstliches Blut, das Hormone, Nähr­ ten Staaten gehen damit der Gesellschaft durch verlorene
stoffe sowie Wachstums- und Immunfaktoren transpor­ Arbeitsproduktivität und unmittelbare Kosten für die
tiert. Wie sein biologisches Vorbild hat der EVATAR einen medizinische Versorgung jährlich 62 Milliarden Dollar
monatlichen Zyklus, blutet jedoch nicht. verloren. Andererseits wurde 2018 in den USA nach Anga­
ben der National Institutes of Health für die Diabetesfor­
Maßgeschneiderte Medikamententests und schung nahezu eine Milliarde Dollar ausgegeben; für die
Krankheitsmodelle im Computer Erforschung von Endometriose, von der ungefähr der
Da jedes Mikroorgan auf der EVATAR-Plattform den einzig­ gleiche Anteil der Frauen betroffen ist, standen jedoch nur
artigen genetischen Bauplan einer bestimmten Patientin sieben Millionen Dollar zur Verfügung.
enthält, ließe sich feststellen, welche Medikamente ihr mit Glücklicherweise, so Griffith, ziehe das Forschungsge­
der größten Wahrscheinlichkeit helfen werden. Möglich biet begabten Nachwuchs an, sei die Arbeit doch »wissen­
wäre auch, experimentelle Wirkstoffe zu testen, welche schaftlich faszinierend« und gesellschaftlich relevant.
die Gewebsschäden der Gebärmutterschleimhaut vermin­ Schließlich gibt es außer einem chirurgischen Eingriff
dern sollen, erklärt Kim. Während des Menstruationszyk­ immer noch keine Heilung. Helfen würde, wie Emma
lus könnten die Wissenschaftler die Daten aus allen Orga­ meint, »das subjektive Fehlen von Schmerzen«. Lassen die
nen sammeln und analysieren, um so auf Zellebene festzu­ chronischen Beschwerden nach, heilt auch der Geist. Die
stellen, ob das Medikament wirkt und ungefährlich ist. Mit graue Hirnsubstanz kann nachwachsen, und das tut sie.
solchen Experimenten ließen sich Tests an Versuchstieren Doch wie eine Schlingpflanze lässt sich Endometriose
und Menschen vermeiden, deren Übertragbarkeit auf kaum zurückdrängen – dazu bedarf es der gemeinsamen
betroffene Frauen unklar ist; gleichzeitig eröffnet sich der Anstrengungen von Wissenschaftlern und Ärzten, aber
Weg zu einer personalisierten Medizin. auch des finanziellen Engagements einer Gesellschaft, die
Eine Machbarkeitsstudie mit dem EVATAR haben die diese Krankheit endlich ernst nimmt.
Forscher der Northwestern University erfolgreich abge­
schlossen; nach Kims Angaben kann es allerdings etwa QUELLEN
fünf Jahre dauern, bis eine Plattform für Endometriose
Cosar, E. et al.: Serum MicroRNAs as Diagnostic Markers of Endo­
entwickelt ist. Bis zur Anwendung bei einzelnen Patientin­ metriosis: A Comprehensive Array-Based Analysis. In: Fertility and
nen dürfte entsprechend mehr Zeit vergehen. Sterility 106, S. 402–409, 2016
Eine maßgeschneiderte Medikamentenerprobung per Moreno, I. et al.: Evidence that the Endometrial Microbiota Has an
Patientenavatar bleibt laut Linda Griffith wohl noch uner­ Effect on Implantation Success or Failure. In: American Journal of
schwinglich, dennoch spielen Multi-Organ-Chips bei der Obstetrics & Gynecology 215, S. 684–703, 2016
weiteren Erforschung der Endometriose eine wichtige Xiao, S. et al.: A Microfluidic Culture Model of the Human Repro­
Rolle. Statt eine Plattform für einzelne Patientinnen anzu­ ductive Tract and 28-Day Menstrual Cycle. In: Nature Communica­
wenden, hält Griffith es für sinnvoller, Endometriosepatien­ tions 8, 14584, 2017

44 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Lesen Sie hier den ganzen Artikel:
www.menschenimfocus.de

Andere Sichtweisen.
Die Strategie des Sebastian Kurz im FOCUS.

FOCUS 20/2018

Menschen im
2

300 Nanometer

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EISENFORSCHUNG GMBH

BIOMIMETIK
DIE NATUR ALS VORBILD
Zahnmediziner versuchen, natürliche Materialien und Prozesse
zu imitieren. Sie möchten damit Zahn- und Zahnfleischerkrankungen
sowohl vorbeugen als auch behandeln.

Helge-Otto Fabritius (links) ist promovierter Biologe


und leitet die Arbeitsgruppe »Biologische Verbundwerk-
stoffe« am Max-Planck-Institut für Eisenforschung
GmbH in Düsseldorf. Frederic Meyer (Mitte), promo-
vierter Mikrobiologe und Epidemiologe, und Joachim
Enax, promovierter Chemiker, arbeiten in der Forschung
der Firma Dr. Kurt Wolff GmbH & Co. KG in Bielefeld.

 spektrum.de/artikel/1603748

46 Spektrum der Wissenschaft  12.18


1
4 1 Mikrometer

3 Nach dem Vorbild von Haizähnen (1) entwickeln For-


scher einen biomimetischen Zahnersatz. Haizähne
bestehen zwar aus einem anderen Material als menschli-
che Zähne, aber ebenso wie diese aus kleinen Kristalli-
ten, die in Bündeln gruppiert sind (2). Ähnliche Kristalli-
te lassen sich heute künstlich herstellen (3). Ordnet man
sie passend an und gibt eine Klebesubstanz hinzu (4),
entsteht ein Stoff, der dem des Originalzahns ähnelt und
sich beispielsweise zu Inlays formen lässt.

200 Nanometer

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EISENFORSCHUNG GMBH


Kaum jemand freut sich auf den Besuch beim Zahn- erkrankungen vorzubeugen. Der Zahnschmelz ist die
arzt, denn nur zu oft verlässt man die Praxis mit einer äußerste Schicht eines Zahns und die härteste Substanz
Füllung mehr. Die meisten leiden irgendwann im im gesamten menschlichen Organismus. Dafür sorgt seine
Leben unter Zahn- und/oder Zahnfleischproblemen, oft Struktur aus stäbchenförmigen, mikroskopisch kleinen
betrifft es bereits Kinder. Laut der Fünften Deutschen Kristallen – so genannten Kristalliten –, die eng aneinander
Mundgesundheitsstudie haben Erwachsene hier zu Lande, gefügt sind. Sie bestehen hauptsächlich aus dem Mineral
je nach Altersgruppe, durchschnittlich an jedem dritten bis Hydroxylapatit, das aus Kalzium und Phosphat besteht.
mehr als jedem zweiten Zahn kariesbedingte Schäden. Die Hydroxylapatit-Kristallite sind zu langen, säulenähn­
Zudem leidet mehr als jede(r) zweite Erwachsene unter lichen Strukturen zusammengefasst, den »Prismen«, die
Zahnfleischproblemen. Das ist auch deshalb bedeutsam, parallel zueinander und senkrecht zur Zahnoberfläche
weil die Mundgesundheit einen großen Einfluss auf den verlaufen. Elektronenmikroskopische Abbildungen der
restlichen Körper hat; unter anderem werden Zusammen-
hänge von Zahnfleischentzündungen und Herz-Kreislauf-
Erkrankungen diskutiert. Im Jahr 2010 lagen die weltwei-
ten Gesamtkosten, die durch Zahn- und Zahnfleischerkran- AUF EINEN BLICK
kungen entstanden, bei zirka 440 Milliarden US-Dollar. MIT BISS BIS INS ALTER
Daran haben moderne Ernährungsgewohnheiten, insbe-
sondere der ausgeprägte Zuckerkonsum, einen großen
Anteil. Um die Zahnpflege und Mundhygiene zu verbes-
sern, suchen Wissenschaftler ständig nach neuen, immer
1 Zahn- und Zahnfleischerkrankungen sind bedeu-
tende medizinische Probleme. Sie verursachen welt-
weit jährliche Kosten von rund 440 Milliarden Dollar.
leistungsfähigeren Konzepten.
Zunehmend wichtig wird dabei die Biomimetik. So
nennt man das Imitieren von natürlichen Materialien, 2 Um die Zahnmedizin zu verbessern, setzen Forscher
zunehmend auf biomimetische Verfahren, die natür­
liche Prozesse und Materialien nachahmen.
Strukturen oder Abläufen, die während der Evolution
entstanden sind. Beispiele dafür sind der Klettverschluss,
der dem Haftmechanismus von Klettfrüchten nachemp-
funden ist, und selbstreinigende Oberflächen nach dem
3 Das Mineral Hydroxylapatit ist der Hauptbestandteil
von Zähnen. Künstlich hergestellt, lassen sich daraus
Mundpflegeprodukte oder künftig womöglich sogar
Vorbild der Lotospflanze. Zahnersatz entwickeln.
Forscher weltweit, darunter auch wir, suchen nach
biomimetischen Methoden, um Zahn- und Zahnfleisch­

Spektrum der Wissenschaft  12.18 47


Zahnschmelzoberfläche zeigen die kreisförmigen Quer- Der Querschnitt durch einen menschlichen Zahn (1) lässt
schnitte der Prismen (siehe Bild unten). erkennen, wie der außenliegende Zahnschmelz das
Dieses Gefüge bietet den Vorteil, dass Risse im Zahn- Zahnbein (Dentin) bedeckt. Die innen liegende Pulpahöh-
schmelz früh gestoppt werden, weil die Grenzen der le beherbergt den Zahnnerv. Rasterelektronenmikrosko-
Kristallite ihre Ausbreitung verhindern. Daher ist ein intak- pische Aufnahmen zeigen, dass der Zahnschmelz aus

1
ter Zahn trotz seiner Härte nicht so spröde und zerbrech- parallelen, senkrecht zur Oberfläche verlau-

SOCJOSENSPG / GETTY IMAGES / ISTOCK


lich wie beispielsweise Keramik. fenden Säulen besteht, den »Pris-
Die Zusammensetzung des Zahnschmelzes aus struktu- men« (2). Deren kreisförmige
rell übergeordneten Prismen und untergeordneten Kristal­ Querschnitte treten an der Schmelz
liten nennt man eine hierarchische Struktur. Ein solcher Zahnoberfläche hervor (3).
Dentin
Aufbau findet sich in vielen weiteren biologischen Materia- Die Prismen selbst, aber auch
lien, etwa in Knochen oder in Muschelschalen. Und wie das Material zwischen ihnen, Pulpahöhle

der Zahnschmelz bestehen auch unsere Knochen zu einem setzen sich aus winzigen
großen Teil aus Hydroxylapatit. Das verbreitete Vorkom- Hydroxylapatit-Kristalliten
men dieses Minerals in unserem Körper macht es zu zusammen (4).
einem medizinisch unbedenklichen, gut verträglichen
Stoff, den Mediziner, Medizintechniker und andere zu
diversen Zwecken einsetzen (siehe Kasten auf S. 49).
Da der Organismus Zähne, nachdem sie durch das
Zahnfleisch gestoßen sind, nicht mehr reparieren kann –

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EISENFORSCHUNG GMBH


3
10 Mikrometer

Schmelzprismen 2 5 Mikrometer

200 Nanometer

48 Spektrum der Wissenschaft  12.18


im Gegensatz etwa zu Knochen –, hat sich der Zahn-
schmelz evolutionär so entwickelt, dass er im Prinzip ein
Leben lang hält. Aber trotz seiner hervorragenden Mate­ Ein universelles Mineral
rial­eigenschaften ist er angreifbar. Insbesondere Säuren in
der Nahrung können den Zähnen zusetzen und deren Hydroxylapatit, Ca5(PO4)3(OH), setzt sich aus
Bestandteile Kalzium und Phosphat herauslösen. Nach Kalzium und Phosphat zusammen, bildet die
dem Genuss von säurehaltigen Getränken, beispielsweise Grundlage der Hartsubstanz von Wirbeltieren und
Limonaden oder Energydrinks, spürt man mit der Zunge kommt auch im menschlichen Organismus in
daher häufig ein raues Gefühl auf der Zahnoberfläche. großen Mengen vor. Je höher der Anteil an Hyd-
roxylapatit, desto härter ist das entsprechende
Säureangriff auf den Zahnschmelz Gewebe. Zahnschmelz als äußere Schicht des
Stammesgeschichtlich ist das kein neues Problem, Zahns besteht zu etwa 97 Prozent daraus, Dentin
schließlich können auch natürliche Nahrungsmittel einen hingegen (die innere Zahnschicht) zu zirka 70 Pro-
hohen Säureanteil haben, darunter etliche Obstsorten. Die zent, Knochen wiederum zu rund 65 Prozent.
Evolution hat deshalb kompensierende Mechanismen Mediziner, Medizintechniker und andere setzen
hervorgebracht. Unser Speichel enthält Kalzium- und das Mineral zu verschiedenen Zwecken ein, etwa
Phosphationen in gelöster Form, die sich an beschädigten als Ersatzmaterial bei Knochenschäden oder als
Zahnschmelz anlagern und sich dort zu neuem Hydro- Beschichtung von Implantaten, damit der Orga-
xylapatit verbinden – die »Remineralisation«. Hält der nismus diese nicht abstößt. Auch als Träger von
Säureangriff jedoch für längere Zeit an, ist irgendwann der Arzneistoffen hat sich Hydroxylapatit bewährt,
Punkt erreicht, an dem die natürliche Remineralisation aus ebenso wie in der Zahnpflege zum Kariesschutz,
dem Speichel nicht mehr ausreicht. Genau das passiert bei zur Schmerzprophylaxe bei empfindlichen Zähnen
Karies: Bei unzureichender Entfernung von Zahnbelägen sowie zum Verhindern von bakteriellen Anlage-
über Monate hinweg siedeln sich darin dauerhaft Bakteri- rungen.
en an, die Zucker aus der Nahrung zu Säuren verstoff-
wechseln. Deren Einwirkung kann den Zahnschmelz
bleibend schädigen, bis hin zu Löchern, die der Zahnarzt
ausbohren und mit einer Füllung verschließen muss. metrie. Basierend auf den Erkenntnissen entwickelten die
Einmal zerstörten Zahnschmelz kann der Organismus Wissenschaftler spezielle Verfahren, um die natürlichen
nicht wiederherstellen. Um es gar nicht erst so weit kom- Kristallite möglichst genau nachzuahmen und in großen
men zu lassen, ist eine gewissenhafte Mundhygiene sehr Mengen zu synthetisieren. Dies gelingt durch die Wahl
wichtig. Dabei spielen seit einiger Zeit auch biomimetische geeigneter Reaktionsbedingungen für die Ausgangsstoffe
Ansätze eine Rolle: Forscher verschiedener Arbeitsgrup- Kalzium und Phosphat und mit Hilfe spezieller Zusatzstof-
pen haben es geschafft, Kristallite aus Hydroxylapatit fe, so genannter Additive. Die dabei gewonnenen biomi-
künstlich nachzubilden und daraus Zahnpflegelösungen zu metischen Hydroxylapatit-Kristallite lagern sich fest an die
entwickeln. Dafür war es zunächst notwendig, Struktur Zahnschmelzoberfläche an, wie Studien unter Laborbedin-
und Zusammensetzung des natürlichen Zahnschmelzes gungen und Untersuchungen an Probanden gezeigt ha-
mit modernen Analysemethoden zu untersuchen, etwa der ben. Dabei weist dieser Wirkstoff eine sehr gute Biover-
Rasterelektronenmikroskopie und Röntgenpulverdiffrakto- träglichkeit auf und ist deshalb in der Anwendungsdosie-
rung kaum beschränkt.
Sowohl Karies als auch Zahnfleischprobleme werden
Streptococcus mutans sind typische Karies verursa- von Bakterien verursacht. Deshalb gilt es zu verhindern,
chende Bakterien. Sie bilden Biofilme auf Zähnen dass schädliche Mikroben die Mundhöhle besiedeln.
und ordnen sich häufig in Ketten (Pfeile) an, wie diese Zusätzlich zum mechanischen Entfernen von Zahnbelägen
rasterelektronenmikroskopische Aufnahme zeigt. mit Bürsten, Pasten und Zahnseide lassen sich uner-
wünschte Mikroben auch mit antibakteriellen Wirkstoffen
DR. KURT WOLFF GMBH UND CO. KG

abtöten. Dies geschieht im Organismus ständig, da der


Speichel antimikrobielle Bestandteile enthält, darunter
bestimmte Enzyme. Allerdings wirken künstliche Substan-
zen (beispielsweise Chlorhexidin) in Zahnpflegeprodukten
hier weitaus intensiver. Da diese aber auch nützliche
Bakterien eliminieren können, sollten sie nicht dauerhaft
eingesetzt werden. Besser wäre es, potenziell schädliche
Mikroben präventiv daran zu hindern, sich an den Zahn-
5 Mikrometer schmelz anzulagern.
Hier haben biomimetische Strategien erste Erfolge
gezeigt. Zahnmediziner um Christian Hannig von der
TU Dresden haben 2017 gezeigt, dass Mundspülungen mit
Hydroxylapatit-Partikeln die initiale Anhaftung von Bakte­

Spektrum der Wissenschaft  12.18 49


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1

5 Mikrometer

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EISENFORSCHUNG GMBH

rien an den Zahnschmelz minimieren können. So lässt sich klinischen Studie an der Universität Gießen nachgewiesen:
Zahn- und Zahnfleischproblemen vorbeugen, ohne das Bei 90 Prozent der behandelten Probanden ließ wenige
Mikrobiom der Mundhöhle generell in Mitleidenschaft zu Tage nach der Behandlung die Schmerzempfindlichkeit
ziehen. Forscher um Benjamin Ehmke vom Universitätskli- deutlich nach, bei jedem Zweiten verschwanden die Be-
nikum Münster sowie um Ulrich Schlagenhauf vom Uni- schwerden während der Studie sogar ganz.
versitätsklinikum Würzburg haben in klinischen Studien Eine weitere interessante Stoffgruppe im Bereich der
von 2016 beziehungsweise 2018 nachgewiesen, dass Biomimetik sind Probiotika, also lebensfähige Mikroorga-
Zahnpasten mit Hydroxylapatit sowohl die Zahnfleischge- nismen, die über die Nahrung verabreicht werden (zum
sundheit verbessern als auch vor Karies schützen. Beispiel in Jogurt), um die Gesundheit positiv zu beeinflus-
sen. Probiotische Erzeugnisse zum Fördern der Darmge-
Schmerzattacke nach dem Biss in die Eiskugel sundheit gibt es schon länger; bei der Therapie oraler
Auch bei schmerzempfindlichen Zähnen haben sich biomi- Erkrankungen ist das Prinzip hingegen noch relativ neu.
metische Ansätze bewährt. Die stechende Pein, wenn man Die Mikroorganismen lassen sich hier über Lutschtablet-
ein kaltes Getränk zu sich nimmt oder ein Eis isst, kennt ten oder in Form von Pulver zuführen. In der Mundhöhle
wohl jede(r). Sie rührt meist daher, dass das Zahnbein angekommen, besetzen sie ökologische Nischen und
(Dentin) frei liegt. Normalerweise ist es im Bereich der können so dazu beitragen, eine ausgewogen zusammen-
Zahnkrone vollständig vom Zahnschmelz umgeben. Zahn- gesetzte Mundflora wiederherzustellen, in der pathogene
fleischerkrankungen können aber dazu führen, dass sich Bakterienstämme nicht dominieren. Im Jahr 2016 hat eine
das Zahnfleisch zurückzieht und das Dentin im Wurzelbe- Arbeitsgruppe um Ulrich Schlagenhauf vom Universitäts-
reich entblößt. Der Weg zum Zahnnerv ist dann offen, weil klinikum Würzburg in klinischen Versuchen nachgewiesen,
nun feine Kanäle – so genannte Dentintubuli – zugänglich dass Probiotika wie Lactobacillus reuteri Zahnfleischent-
werden, die durchs Zahnbein hindurch in Richtung zum zündungen bei schwangeren Frauen vorbeugen können.
Nerv verlaufen. Das ist insofern bedeutsam, weil Schwangere häufig unter
Durch den Verschluss dieser Kanälchen lässt sich die solchen Entzündungen leiden, bei ihnen aber besondere
Schmerzüberempfindlichkeit abstellen. Rasterelektronen- Vorsicht im Hinblick auf Arzneistofftherapien geboten ist.
mikroskopische Untersuchungen haben bestätigt, dass Auch die künstliche Zufuhr von Enzymen, die natürli-
Hydroxylapatit-Partikel sich auf Grund ihrer Größe ideal cherweise im Speichel vorkommen, ist ein biomimetisches
eignen, um Dentintubuli zu versiegeln. Rolf-Werner Hütte- Verfahren. Solche Proteine können entweder direkt anti-
mann und Helga Dönges hatten dies bereits 1987 in einer bakteriell wirken oder aber schädlichen Bakterien indirekt

52 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Ein weiterer Nachteil derzeitiger Füllstoffe sind mögli-
che toxische Effekte beispielsweise bei Amalgam (Freiset-
zung von Quecksilber) und Kunststoffen (Freisetzung
toxischer Monomere), die immer wieder diskutiert werden.
Diese Mängel versuchen Wissenschaftler mit innovativen,

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EISENFORSCHUNG GMBH


biomimetischen Zahnersatzmaterialien zu überwinden.

2
Eine ideale Substanz hierfür wäre Hydroxylapatit mit der
gleichen hierarchischen Struktur und den gleichen mecha-
nischen Eigenschaften wie der natürliche Zahn. Im Rah-
5 Mikrometer men einer Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für
Eisenforschung hat die Gruppe von Matthias Epple von
der Universität Duisburg-Essen einen Ansatz entwickelt,
bei dem die Zähne von Haien Pate standen (siehe Bilder
Durch das Zahnbein hindurch führen feine Kanäle, die S. 46 und 47).
Dentintubuli, zum Zahnnerv. Sie sind rasterelektronen Eine evolutive Besonderheit der Haie ist, dass ihr Zahn-
mikroskopisch als Löcher in der Zahnoberfläche zu er- schmelz aus dem Mineral Fluorapatit besteht, welches
kennen (1). Bei Zahnfleischerkrankungen können sie dem Hydroxylapatit ähnelt. Die Fluorapatit-Kristallite sind
offen liegen, was schmerzempfindliche Zähne zur Folge aber viel länger gestreckt und auch etwas härter als die
hat. Bild 2 zeigt die parallel zueinander und senkrecht Kristallite in menschlichem Zahnschmelz. Dadurch lassen
zur Zahnoberfläche verlaufenden Tubuli im Längsschnitt. sie sich leichter gezielt anordnen, was bei biomimetischen
Verfahren von Vorteil ist. Sie synthetisch herzustellen,
gelingt bereits recht gut; die größere Herausforderung
entgegenarbeiten, etwa indem sie Zuckermoleküle im liegt darin, sie zur komplexen, dreidimensionalen Struktur
Mund abbauen. Hier steht die Forschung allerdings noch des Haizahnschmelzes zusammenzufügen. Dem sind wir
am Anfang. in Laborversuchen schon ziemlich nahe gekommen. Indem
Mit den derzeitigen Methoden der Mundpflege lassen wir die annähernd parallelen Kristallite mit geeigneten
sich längst nicht alle Zahnbeläge entfernen, wie aus Unter- Haftstoffen kombinieren, können wir ein Material herstel-
suchungen hervorgeht. Risikozonen sind häufig die Zahn- len, dass sich zu Kronen oder Inlays formen lässt und
zwischenräume sowie die hinteren Backenzähne, die mit dessen mechanische Eigenschaften weitgehend denen
der Zahnbürste nur schwer erreichbar sind. Eine aktuelle eines echten Zahns entsprechen. Noch sind wir nicht an
Studie mit Zahnärzten, Zahnmedizinstudenten und Den- dem Punkt, dies in die klinische Praxis umzusetzen. Wir
talassistenten hat ergeben, dass selbst Profis nicht sämtli- erhoffen uns hier aber in den kommenden Jahren deutli-
che Beläge beim Zähneputzen komplett entfernen können. che Fortschritte.
Bei zahnmedizinischen Laien ist der Anteil der entfernten Biomimetische Konzepte sind schon heute in der Zahn-
Beläge noch viel geringer. Deshalb lässt sich sogar mit medizin bedeutsam. Künftig könnten sie die Mundpflege
sehr gründlicher Pflege nicht vollständig verhindern, eines erheblich verbessern helfen und die Möglichkeiten, Zahn-
Tages auf Zahnersatz angewiesen zu sein. und Zahnfleischerkrankungen vorzubeugen, noch deutlich
erweitern. Dies gilt auch im Hinblick auf gut verträglichen
Das Schicksal des Zahnersatzes: Zahnersatz, der seinem natürlichen Vorbild näher kommt
Zerreiben oder zerrieben werden als die bisher üblichen Ersatzmaterialien. Biomimetische
Biomimetische Ansätze können auch auf diesem Gebiet Strategien haben somit das Potenzial, auf längere Sicht
helfen. Es geht darum, synthetische Materialien herzustel- hin die Zahngesundheit über alle Altersstufen hinweg
len, welche die mechanischen Eigenschaften von natürli- nachhaltig zu verbessern.
chem Zahnschmelz und Dentin möglichst genau imitieren.
Klassische Zahnersatzmaterialien wie Keramiken, Kunst- QUELLEN
stoffe, Amalgam oder Gold sind gänzlich anders zusam- Enax, J., Epple, M.: Synthetic Hydroxyapatite as a Biomime-
mengesetzt als natürliche Zähne und werden daher nicht tic Oral Care Agent. In: Oral Health & Preventive Dentistry 16,
remineralisiert. Entsprechend haben sie der Abnutzung S. 7–19, 2018
durch Kauen nichts entgegenzusetzen. Auch unterschei- Enax, J. et al.: Ultrastructural Organization and Micromechani-
den sie sich in ihrer Härte erheblich vom »Naturmaterial«. cal Properties of Shark Tooth Enameloid. In: Acta Biomaterialia 10,
Keramiken sind deutlicher härter als Zahnschmelz; Kunst- S. 3959–3968, 2014
stoffe dagegen viel weicher. Das kann dazu führen, dass Enax, J, et al.: Structure, Composition, and Mechanical Pro-
eingesetzte Keramik den gegenüberliegenden Zahn mit perties of Shark Teeth. In: Journal of Structural Biology 178,
der Zeit abnutzt oder, umgekehrt, Kunststoffersatz allmäh- S. 290–299, 2012
lich zerrieben wird. Hinzu kommen Phänomene wie das Luebke, A. et al.: Composites of Fluoroapatite and Methylmeth­
unterschiedliche Ausdehnungsverhalten bei Temperaturän- acrylate-Based Polymers (PMMA) for Biomimetic Tooth Replace­-
derungen, die ein vorzeitiges Versagen der Klebeverbin- ment. In: Bioinspiration & Biomimetics 11, 035001, 2016
dungen zwischen Zahn und Ersatzmaterial herbeiführen Meyer, F. et al.: Overview of Calcium Phosphates used in Biomime-
können. tic Oral Care. In: The Open Dentistry Journal 12, S. 406–423, 2018

Spektrum der Wissenschaft  12.18 53


54
Spektrum der Wissenschaft  12.18
SCHWERGEWICHTE
INSEL DER
CHEMIE
J. HOSAN/GSI HELMHOLTZZENTRUM FÜR
SCHWERIONENFORSCHUNG GMBH;
MIT FRDL. GEN VON MICHAEL BLOCK
J. HOSAN/GSI HELMHOLTZZENTRUM FÜR
SCHWERIONENFORSCHUNG GMBH;
MIT FRDL. GEN VON MICHAEL BLOCK

Atome mit hohen Ordnungszahlen


werden mit Teilchenbeschleunigern
erzeugt und in hochempfindlichen
Geräten vermessen, wie diesem am
GSI Helmholtzzentrum für Schwer­
ionenforschung in Darmstadt.

Wissenschaftler erzeugen Atome mit immer mehr Kern-


bausteinen und erweitern so das Periodensystem. Doch die
neuen Elemente zerfallen extrem schnell wieder. Allmählich
rücken freilich Kombinationen von Protonen und Neutronen
in Reichweite, die theoretisch besonders stabil sein sollten.
Spektrum der Wissenschaft  12.18 55
Christoph E. Düllmann (links) ist Kernchemiker und erforscht die Synthese und die Eigenschaften
­superschwerer Elemente. Michael Block ist Kernphysiker und entwickelt Präzisionsmessungen für
diese Atome und ihre Kerne. Beide arbeiten an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, dem
GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt und dem Helmholtz-Institut Mainz.

 spektrum.de/artikel/1603750


1080 Stunden lang hatten Forscher aus Russland und Element ist aufregend, weil es unbekannte Materie dar­
den USA mit einem Teilchenbeschleuniger Trillionen stellt, der die Menschen nie zuvor begegnet sind. Wir
von Kalziumionen auf schwerere Atomkerne geschos­ können sie allerdings nicht behalten. Die wenigen Atome,
sen. Das Ergebnis des Dauerbombardements: drei Atome die wir erschaffen, existieren nur einen Wimpernschlag
eines neuen Elements. Wenige Millisekunden später lang. Dann zerfallen sie, weil sich die positiv geladenen
waren sie wieder verschwunden. Protonen im Kern gegenseitig abstoßen.
Nachdem die Wissenschaftler am russischen Vereinig­ Vermutlich durchbrechen jedoch bestimmte noch
ten Institut für Kernforschung die infolge der Kernreaktion unentdeckte superschwere Elemente und ihre Isotope –
detektierten Signale und die emittierte Strahlung genau das sind Varianten mit unterschiedlicher Neutronenzahl –
aufgeschlüsselt hatten, waren sie sich ziemlich sicher, dieses Muster flüchtiger Existenzen. Einige könnten
einen Augenblick lang das Element Nummer 118 erzeugt ­theoretisch über Minuten, Tage oder gar Jahre bestehen,
zu haben, also Atome mit 118 Protonen im Kern. Nach bevor sie zerfallen. Sollte das tatsächlich der Fall sein,
Jahre dauernden, mehrmaligen Überprüfungen wurde es würden sie einer noch unerforschten Region im Perioden­
2016 offiziell ins Periodensystem aufgenommen und system angehören, der so genannten Insel der Stabilität.
Oganesson genannt, nach Juri Oganesjan, dem 1933 Hier sorgt eine besondere Anordnung der Kernbausteine
geborenen russischen Pionier der Erforschung super­ dafür, dass die Atome lange überdauern könnten, statt nur
schwerer Elemente. kurz­lebige Laborprodukte zu sein. In letzter Zeit scheinen
Im vergangenen Jahrzehnt haben Forscher das Perio­ sich Forscher dem Ufer dieser Insel zu nähern.
densystem ständig erweitert. Die Anzahl der Protonen
im Atomkern – Ordnungszahl oder Kernladungszahl ge­ Langsames Vortasten
nannt – charakterisiert jeden Grundbaustein der Natur. zu völlig neuen Spielarten der Materie
Gleichzeitig mit Oganesson wurden die Elemente mit 113, Flerovium (Ordnungszahl 114) zum Beispiel zerfällt lang­
115 und 117 Protonen offizielle Mitglieder des Perioden­ samer, als einige Berechnungen für ein derart protonen­
systems. Einer von uns (Düllmann) hat einige der ersten reiches Atom vorausgesagt hatten. Und die Halbwertszeit
chemischen Experimente mit verschiedenen Vertretern (die Zeit, nach der die Hälfte der Atome in leichtere Kerne
superschwerer Elemente durchgeführt, der andere (Block) zerfallen ist) einiger der neu entdeckten superschweren
hat an den ersten direkten Messungen ihrer Masse und Elemente nimmt zu, je mehr der ladungsfreien Neutronen
anderen Untersuchungen gearbeitet. Jedes neu entdeckte diese enthalten. Die Beobachtung deckt sich mit der
Vermutung, dass die Insel der Stabilität irgendwo dort im
Periodensystem liegt, wo Atome um die 114 Protonen
enthalten sowie mehr Neutronen als alle bis heute im
AUF EINEN BLICK Labor erschaffenen Elemente. Die Lebensdauer ist deut­
ZUWACHS IM PERIODENSYSTEM lich länger als von theoretischen Modellen vorhergesagt,
die keinen Einfluss einer Stabilitätsinsel berücksichtigen.
Das hat unzählige Wissenschaftler dazu motiviert, schwe­
1 Wissenschaftler versuchen zunehmend schwerere,
bislang unbeobachtete Elemente zu erzeugen. Die
Techniken zur Synthese sowie zur Untersuchung
re Elemente zu erforschen. Jetzt hoffen wir, die Grenzen
der Insel der Stabilität zu kartieren und ihr Zentrum zu
der physikalischen und chemischen Eigenschaften finden, in dem die langlebigsten Isotope liegen.
werden dabei immer ausgefeilter. Inzwischen haben Forscher faszinierende Erkenntnisse
über die seltsamen Bewohner der Extremregion des Perio­

2 Die meisten dieser Elemente sind äußerst kurzlebig.


Theoretiker hoffen jedoch auf Atome mit »magi­
schen« Anzahlen von Protonen und Neutronen, die
densystems zusammengetragen. Die Laborverfahren sind
inzwischen so weit entwickelt, dass wir bestimmen kön­
nen, wie sich superschwere Elemente chemisch verhalten,
lange stabil sind – vielleicht sogar über viele Jahre. etwa ob sie bei Raumtemperatur als Metall oder Gas
vorliegen. Und sollten wir es jemals schaffen, größere
3 Derartige Atome würden die so genannte Insel der
Stabilität im Periodensystem bilden. Forscher glau­
ben, ihr mit einigen der jüngst entdeckten Elemente
Mengen dieser Elemente herzustellen, würden sie wohl
Eigenschaften zeigen, die sie von allen bekannten Stoffen
allmählich näher zu kommen. unterscheiden. Selbst wenn sie dafür zu schnell zerfallen,
werden sie uns helfen, die Chemie und die grundlegenden
Eigenschaften von Materie besser zu verstehen.

56 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Ordnungszahl
Periodensystem (Anzahl der Protonen im Kern)

1
H der Elemente 2
He

Li Be B C N O F Ne
3 4 5 6 7 8 9 10
Na Mg Al Si P S Cl Ar
11 12 13 14 15 16 17 18
K Ca Sc Ti V Cr Mn Fe Co Ni Cu Zn Ga Ge As Se Br Kr
19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Rb Sr Y Zr Nb Mo Tc Ru Rh Pd Ag Cd In Sn Sb Te I Xe
37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54
Cs Ba * Hf Ta W Re Os Ir Pt Au Hg Tl Pb Bi Po At Rn
55 56 57–71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84 85 86
Fr Ra ** Rf Db Sg Bh Hs Mt Ds Rg Cn Nh Fl Mc Lv Ts Og
87 88 89–103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118

119 120 Lanthanoide (*) und Actinoide (**) werden wegen


ihrer ähnlichen chemischen Eigenschaften zusammengefasst.
JEN CHRISTIANSEN, NACH: CHRISTOPH DÜLLMANN / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2018

Hypothetische
Positionen La Ce Pr Nd Pm Sm Eu Gd Tb Dy Ho Er Tm Yb Lu
der noch * 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
unentdeckten
Elemente 119 Ac Th Pa U Np Pu Am Cm Bk Cf Es Fm Md No Lr
und 120 ** 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103

In der wichtigsten Tabelle der Chemiker sind alle bekannten Elemente nach der Anzahl der
Protonen (Ordnungszahl) in ihrem Atomkern 124angeordnet. Forscher versuchen das Periodensystem
zu erweitern, indem sie nach noch schwereren
122 Elementen fahnden.
Je heller die Graustufe, Diese
desto superschweren
höher ist
die Wahrscheinlichkeit, dass die Region
Elemente (rot) müssen im Labor erzeugt werden,
120 da sie für ein natürliches
zur »Insel der Stabilität« gehört. Vorkommen zu instabil
sind und umgehend wieder zerfallen. Og
Anzahl der Protonen im Atomkern

118
Ts
116 Lv
Mc
114 Fl
Nh
112 Cn
Rg hypothetische
110 Ds Insel der Stabilität
Die chemischen Elemente sind im Periodensystem Mt
genannte Schalen besetzen. In ihnen findet eine be­
108 Hs
systematisch zusammengefasst (siehe »PeriodensystemSg Bh stimmte Anzahl an Protonen und Neutronen Platz – so wie
106 doppelt magischer Kern
der Elemente«, oben). Das Ordnungsprinzip wurde vor Db Elektronen in den Elektronenschalen um den Atomkern.
104 Rf
150 Jahren vor allem von dem russischen Chemiker Dmitri Atomkerne mit vollständig besetzten Schalen gelten als
102
Mendelejew und praktisch gleichzeitig von dem deutschen besonders stabil.
100
Chemiker Julius Lothar Meyer entwickelt. Es listet die Wissenschaftler entwickelten das Schalenmodell für
98
Elemente nach der Anzahl ihrer Protonen auf und ordnet Atomkerne, als sie bestimmte »magische« Zahlen identifi­
sie in den Spalten in Gruppen, die mit anderen
magische
Stoffen auf 152 zierten: Kerne mit 162 2, 8, 20, 28, 17250 oder 82 Protonen
184 be­
ähnliche Weise reagieren und Verbindungen eingehen.
Zahlen ziehungsweise AnzahlNeutronen sind
der Neutronen im stabiler und zerfallen nicht
Atomkern
(gelb)
Seither fragen sich Forscher, wie weit sich das Perioden­ so schnell
Die Punkte stehen für Atome,wie andere.
die bereits Dieerzeugt
im Labor Zahlen entsprechen voll besetz­
wurden.
system wohl erstreckt. Das schwerste Element, das man ten Schalen. Bei den heute bekannten Elementen sind sie
in größeren Mengen in der Natur findet, ist Uran mit 92 Pro- für Protonen und Neutronen gleich, allerdings muss das
tonen. Mit jedem zusätzlichen Proton nimmt die positive nicht für unbekannte superschwere Elemente gelten. Sind
Ladung zu – und damit die Coloumb-Kraft, mit der sich in einem Kern sowohl die Protonenschalen als auch die
Teilchen gleicher Ladung gegenseitig abstoßen. Sie wirkt Neutronenschalen voll besetzt, bezeichnet man ihn als
der so genannten starken Wechselwirkung entgegen, die doppelt magisch.
Atomkerne zusammenhält. Schwerere Kerne zerfallen Vieles dabei verstehen Wissenschaftler noch nicht.
darum tendenziell mit immer kürzerer Halbwertszeit. ­Welches sind etwa die magischen Zahlen der noch unent­
Die Stabilität eines Elements hängt jedoch nicht nur von deckten Elemente? Theoretisch sollte es einen doppelt
der Anzahl der Protonen ab, sondern auch davon, wie magischen superschweren Atomkern mit 114 Protonen
diese zusammen mit den Neutronen im Kern angeordnet und 184 Neutronen geben. Aber obwohl wir Element 114
sind. Die späteren Nobelpreisträger Maria Goeppert-Mayer im Labor herstellen können, haben wir bislang kein
und J. Hans D. Jensen haben in den späten 1940er Jahren Flerovium­isotop mit 184 Neutronen erzeugt. Schon frühe
ein Modell entwickelt, dem zufolge die Kernbausteine so Vorhersagen aus den 1960er Jahren ließen vermuten,

Spektrum der Wissenschaft  12.18 57


59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71
Pa U Np Pu Am Cm Bk Cf Es Fm Md No Lr
91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 103

124
122 Je heller die Graustufe, desto höher ist
die Wahrscheinlichkeit, dass die Region
120 zur »Insel der Stabilität« gehört.
Og
Anzahl der Protonen im Atomkern

118
Ts
116 Lv
Mc
114 Fl
Nh
112 Cn

JEN CHRISTIANSEN, NACH: CHRISTOPH DÜLLMANN / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2018


Rg hypothetische
110 Ds Insel der Stabilität
Mt
108 Hs
Bh
106 Sg doppelt magischer Kern
Db
104 Rf
102

100
98

152 162 172 184


magische
Zahlen Anzahl der Neutronen im Atomkern
(gelb)
Die Punkte stehen für Atome, die bereits im Labor erzeugt wurden.

Insel der Stabilität


Jedes Proton in einem Atomkern erhöht die positive Ladung, die andere Protonen abstößt. Daher steigt die
Wahrscheinlichkeit, dass ein instabiler Kern zerfällt, mit zunehmender Protonenzahl. Einige noch unentdeckte
Kerne könnten sich dem Trend widersetzen, weil sie ganz bestimmte Anzahlen von Protonen und Neutronen
enthalten. Die Teilchen besetzen im Kern jeweils so genannte Schalen. Wenn diese vollständig gefüllt sind,
heißt die entsprechende Anzahl an Protonen und Neutronen magisch, und der Kern ist sehr stabil. Für einige
Zahlenkombinationen ist der Effekt der Theorie nach besonders ausgeprägt. Zum Beispiel wird erwartet, dass
114 Protonen und 184 Neutronen eine doppelt magische Zahlenkombination ist, auch wenn Forscher noch
kein Atom mit dieser Kombination an Kernbausteinen erzeugt haben. Sollten sie es schaffen, könnte es auf der
hypothetischen Insel der Stabilität mit langlebigen superschweren Elementen liegen.

dass dieses Isotop unglaublich stabil sein würde, mit einer chung drückt aus, dass die scheinbar fehlende Masse
Halbwertszeit, die vielleicht an das Alter der Erde heran­ tatsächlich in Form von Bindungsenergie vorliegt. Indem
reicht. Damals kam zum ersten Mal die Idee einer Insel der wir Atome mit unterschiedlicher Protonen- und Neutro­
Stabilität auf. Doch wir wissen nicht, ob 114 und 184 nenzahl wiegen, können wir Zusammensetzungen mit
tatsächlich ein magisches Paar sind. Andere Berechnun­ einer stärkeren Bindung identifizieren. So bestimmen wir,
gen sagen Kombinationen aus 120 oder 126 Protonen und wie stabil die verschiedenen Kombinationen der Kernbau­
teilweise 172 statt 184 Neu­tronen vorher. steine sind.
Die Bindungsenergie, die den Kern zusammenhält, ist Welche Zahl auch immer die nächste magische sein
eng mit einer zunächst verblüffenden Beobachtung ver­ wird – wir scheinen allmählich tatsächlich auf die Insel der
bunden: Die Masse eines Atoms ist geringer als die Sum­ Stabilität zuzusteuern. Die bisherigen Messdaten haben
me der Massen seiner einzelnen Bausteine, also der freien nämlich gezeigt, dass die Halbwertszeit superschwerer
Elektronen, Protonen und Neutronen. Albert Einstein Elemente für eine gegebene Kernladungszahl mit der
lieferte mit seiner berühmten Formel E = m c2 eine Erklä­ Anzahl an Neutronen zunimmt. Den Trend illustriert zum
rung für diesen so genannten Massendefekt. Die Glei­ Beispiel Element 112 (Copernicium): Während das Isotop

58 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Copernicium-277 mit 165 Neutronen lediglich etwa ßungskraft der positiv geladenen Protonen zu überwinden.
0,6 Millisekunden lang besteht, ist Copernicium-285, das Dazu beschleunigen wir einen der Kerne auf zirka ein
acht Neutronen mehr enthält, rund 50 000-mal stabiler. Zehntel der Lichtgeschwindigkeit und schießen ihn auf
Das Muster setzt sich höchstwahrscheinlich bis zum den anderen. Dieser Impuls reicht gerade eben aus, die
Zentrum der Insel der Stabilität fort. Coloumb-Kraft zu überwinden und Oberflächenkontakt
Diese theoretische Möglichkeit hat eine Suche nach zwischen den beiden Kernen herzustellen. Die Wahr­
superschweren Elementen auch in der Natur ausgelöst. scheinlichkeit für einen solchen Volltreffer ist allerdings
Obwohl wir sie bislang nicht gefunden haben, so das Argu- extrem gering. Darüber hinaus fusionieren zwei Kerne
ment, könnten sich Spuren davon direkt vor unserer Nase umso schlechter, je mehr Protonen involviert sind. Und
befinden. Sie haben sich vielleicht neben anderen Elemen­ selbst wenn ein verschmolzener so genannter Verbund­
ten, die schwerer als Eisen sind, bei Kollisionen zweier kern entsteht, zerfällt dieser oft umgehend wieder in
Neutronensterne gebildet und anschließend im Universum leichtere Fragmente. Die geringe Chance, überhaupt einen
verteilt. In dem Fall könnten sie in der kosmischen Strah­ Verbundkern zu erhalten, und das hohe Risiko für dessen
lung vorhanden sein, die aus den Tiefen des Alls zu uns Zerfall machen es äußerst schwierig, immer schwerere
gelangt, oder in Gesteinen auf der Erde überlebt haben. Elemente zu synthetisieren.
Mit verschiedenen Methoden wollen Forscher die Trotzdem sind Forscher damit sehr erfolgreich gewesen:
Atome aufspüren. So deuten Berechnungen darauf hin, Die Elemente mit den Ordnungszahlen 113, 115, 117 und
dass Element 110 (Darmstadtium) recht stabil wäre und 118 wurden alle auf diese Weise erschaffen und von der
sich chemisch ähnlich wie Platin verhalten könnte, falls es Internationalen Union für reine und angewandte Chemie
die magische Anzahl von 184 Neutronen enthält. Mittels (IUPAC) 2016 offiziell anerkannt. Element 113 bekam den
Röntgenfluoreszenz und Massenspektrometrie haben Namen Nihonium. Nihon ist eine von zwei Arten, auf
Experten nach Darmstadtium in Platinerzen gefahndet, Japanisch »Japan« zu sagen – unter anderem dort wurden
waren bei der Suche aber nie erfolgreich. Die Resultate die Atome hergestellt. Auch Element 115, Moscovium,
zeigen, dass die Häufigkeit unterhalb von einem Darm­ heißt nach dem Ort seiner Entdeckung, dem Vereinigten
stadtiumatom pro einer Milliarde Teilchen liegen muss. Institut für Kernforschung nahe Moskau. Nummer 117,
Tenness, ehrt den US-Bundesstaat Tennessee – das dort
Von der erfolglosen Suche in der Natur beheimatete Oak Ridge National Laboratory steuerte
zur künstlichen Produktion im Labor Berkelium (Ordnungszahl 97) zur Synthese des Elements
Auch von der kosmischen Strahlung erhoffen sich Wissen­ bei. Das 118 Protonen schwere Oganesson komplettiert die
schaftler schon länger Hinweise auf superschwere Ele­ neuen Mitglieder des Periodensystems.
mente. Zum Beispiel befand sich an Bord der Long Dura­ Nun fahnden Forscher unter Hochdruck nach Num­
tion Exposure Facility, eines NASA-Satelliten aus den mer 119, die dem Periodensystem eine neue Zeile hinzufü­
1980er Jahren, das Ultra Heavy Cosmic-Ray Experiment. gen würde. Obwohl mehrere Teams – inklusive unserer
Bis heute gibt es jedoch keine eindeutigen Belege. Die eigenen – an den weltweit leistungsfähigsten Teilchenbe­
Bemühungen werden weitergehen – schließlich wäre eine
Entdeckung außerordentlich bedeutsam. Nicht zuletzt
könnten neue Elemente die Synthese von Materialien mit
einzigartigen Eigenschaften erlauben. Die Elemente zerfallen schnell,
Da in der Natur noch keine superschweren Elemente
gefunden wurden, müssen wir sie im Labor erschaffen.
trotzdem verraten neue
Dazu reichern wir die Atomkerne gewöhnlicher Elemente
mit noch mehr Protonen an. Bis zu einem gewissen Punkt
Messtechniken einiges über ihre
können wir so die energiereichen kosmischen Prozesse chemischen Eigenschaften
imitieren, bei denen schwere Elemente entstehen. Kerne,
die zu viele Neutronen enthalten, neigen zum so genann­
ten Betazerfall, bei dem ein Neutron zu einem Proton wird. schleunigern Wochen und Monate investiert haben, war
So bildet sich ein Element mit einer um eine Einheit grö­ die Kampagne bislang nicht erfolgreich. Ein Hindernis: Die
ßeren Ordnungszahl. Durch den Beschuss schwerer Methode, die zu Oganesson und anderen superschweren
Atome mit Neutronen können wir Elemente bis zur Ord­ Elementen führte, funktioniert nur bis zur Ordnungszahl
nungszahl 100 (Fermium) erzeugen. Bei keinem Fermium­ 118. Leider gibt es keine ausreichenden Mengen an Kernen
isotop oder den noch schwereren Elementen ist jedoch mit mehr als 98 Protonen, auf die man Kalziumionen
bislang ein solcher Betazerfall beobachtet worden. (20 Protonen) schießen könnte. Wissenschaftler versuchen
Um Elemente mit Ordnungszahlen von 100 und höher deshalb herauszufinden, welche Kombinationen verfüg­
herzustellen – wie etwa das eingangs vorgestellte Oganes­ barer und bekannter Elemente die besten Chancen bieten,
son –, bringen Forscher zwei Kerne so nahe zusammen, noch unbekannte zu erzeugen.
dass sich die starke Wechselwirkung bemerkbar macht. Die neuen Elemente zerfallen blitzschnell, doch es gibt
Diese Kraft hat eine extrem kurze Reichweite; darum große Fortschritte bei den Messtechniken, die uns trotz
müssen sich die Kerne fast berühren, um sie zu spüren. der kurzen Lebensdauer einiges über ihre chemischen
Für einen solch geringen Abstand ist es nötig, die Absto­ Eigenschaften verraten können. Das schwerste derart

Spektrum der Wissenschaft  12.18 59


untersuchte Element ist Flerovium (Nummer 114). Im in einem Abstand von etwa einem halben Millimeter
Periodensystem sitzt es direkt unter Blei, es sollte also ein gegenüberstehen. So bildet die Anordnung der Detektoren
Schwermetall sein. Aber laut theoretischen Erwägungen, einen engen Kanal. Ein schnell fließendes Trägergas
die bis ins Jahr 1975 zurückreichen, verhält es sich mögli­ zwängt das Flerovium hier hindurch. Die Detektoren sind
cherweise eher wie ein Edelgas, das kaum mit anderen mit einer dünnen Goldschicht überzogen, mit der wir die
Stoffen reagiert. Wechselwirkung von Flerovium mit dem Metall untersu­
Das Verhalten hängt letztlich von den vielen Protonen chen k­ önnen. Beim Einlass in den Detektorkanal herrscht
im Kern ab. Die extrem hohe positive Ladung der Atom­ Raumtemperatur. Sollte Flerovium chemisch einem Metall
kerne schwerer Elemente beschleunigt die negativ gelade­ ähneln, würde es sich in diesem Bereich beim Kontakt an
nen Elektronen in deren Hülle auf bis zu 80 Prozent der die Goldoberfläche anheften und dort bis zu seinem Zerfall
Lichtgeschwindigkeit. Das erzeugt ganz anders ­geformte verweilen. Das Ende des Kanals kühlen wir mit flüssigem
und gelagerte Bahnen als bei den Elektronen leichterer Stickstoff auf unter minus 160 Grad Celsius. Denn die für
Elemente. Bei Flerovium beispielsweise liegen die Energie­ Edelgase typischen schwachen Bindungen halten Atome
niveaus der beiden äußeren Elektronenschalen deutlich nur bei sehr niedrigen Temperaturen fest. Sollte sich
weiter auseinander als in vergleichbaren, aber kleineren Flerovium wie ein solches verhalten, würde es also erst im
Atomen wie Blei. Wenn Blei eine chemische Bindung hinteren Teil des Kanals an der Oberfläche andocken –
eingeht, liefert dieser Vorgang eher die nötige Elektronen­ wenn überhaupt.
energie, um den Abstand zu überwinden, als es bei Flero­
vium der Fall wäre. Flerovium ist daher möglicherweise Mit Detektoren und Laserlicht auf der Spur
deutlich reaktionsträger als sein eine Periode höher ste­ der atomaren Struktur
hendes Pendant. Darum könnte es eher einem Edelgas Während eines Versuchs an der TASCA beobachtete
ähneln als einem typischen Metall wie Blei. unsere Forschungsgruppe zwei Atome, die im ungekühl­
Das ist jedoch schwer genau vorherzusagen. Verschie­ ten Bereich des Detektorkanals zerfielen. Flerovium schien
dene Theorien sind sich einig darin, dass Flerovium relativ also eine metallähnliche Bindung eingegangen zu sein. Ein
reaktionsträge sein sollte. Aber vermutlich ist es reaktiver zuvor in Russland durchgeführtes Experiment lieferte drei
als echte Edelgase und könnte etwa schwache metallische Fleroviumatome. Eines davon zerfiel ebenfalls bei Raum­
Bindungen mit Elementen wie Gold eingehen. Da es bisher temperatur, die anderen zwei detektierten die beteiligten
nicht gelungen ist, Flerovium in größeren Mengen her­ Forscher vom schweizerischen Paul Scherrer Institut
zustellen, weiß niemand, wie es aussieht. Manche Vorher­ hingegen bei etwa minus 90 Grad Celsius. Das interpre­
sagen gehen davon aus, dass es eine silbrig weiße oder tierten die Forscher als edelgasähnliches Verhalten. Wir
blassgraue Farbe hat und bei Raumtemperatur fest ist. analysieren inzwischen neue Daten, die wir am Helmholz­
Die möglichen Eigenschaften von Flerovium faszinieren zentrum gewonnen haben, um die Eigenschaften dieses
die Forscher und haben sie zu verschiedensten Expe­ri­ spannenden Elements zu klären.
menten angespornt, obwohl sich nur wenige Atome des Ein anderer Zugang zu den chemischen Eigenschaften
Elements pro Tag erzeugen lassen. Obendrein haben ist es, die atomare Struktur zu untersuchen, indem man
selbst die langlebigsten aktuell bekannten Fleroviumisoto­ die Elektronenbahnen mit Hilfe von Lasern vermisst. Im
September 2016 und im Juni 2018 publizierten wir mit
unseren Teams die Ergebnisse der ersten Laser­spektros­
kopie-­Experimente mit dem superschweren Element
Nobelium (Ordnungszahl 102). Zunächst stellten wir meh­
Mehr Wissen auf rere Nobe­liumatome pro Sekunde her, indem wir Blei­
Spektrum.de atome (82 Protonen) mit Kalziumatomen (20 Protonen)
Unser Online-Dossier zum Thema bombardierten. Anschließend bremsten wir sie in Argon­
finden Sie unter gas ab und beschossen sie mit Laserpulsen. Hatten die
spektrum.de/chemie Pulse die richtige Energie, konnte ein Elektron sie absor­
FOTOLIA / LILY bieren und gewann dadurch genügend Energie, dass
es dem Nobelium entfliehen konnte. Indem wir die
­Frequenz des Lasers variierten, ließ sich präzise die zur
pe nur eine Halbwertszeit von ein bis zwei Sekunden. Eine Entfernung des Elek­trons nötige Energie messen. Diese so
der besten Anlagen zur Synthese von Flerovium ist die genannte Ionisierungsenergie ist eine der charakteristi­
TransActiniden-Separator und Chemie Apparatur (TASCA; schen Eigenschaften chemischer Elemente. Sie bestimmt,
Transactinide sind Elemente ab Ordnungszahl 104) am GSI mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Element mit anderen
Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darm­ reagiert und eine Bindung eingeht. Wir haben diese Versu­
stadt. Dort beschießen wir eine rotierende Zielscheibe, die che zuerst mit Nobelium-254 durchgeführt und sie später
mit Plutonium-244 beschichtet ist, mit Kalzium-48. Wenn auf die Isotope mit 252 und 253 Kernteilchen ausgedehnt,
dabei Fleroviumatome entstehen, lenkt ein Magnet sie in um zu verstehen, wie sich die Anzahl an Neutronen auf
ein Trägergas, das sie in ein spezielles Instrument spült. die energetische Lage des Elektronenniveaus auswirkt. Die
Dieses besteht aus zwei 32 Zentimeter langen, mit Sili- Ergebnisse verraten etwas über die Gestalt der positiv
zium­detektoren versehenen Halbschalen, die sich jeweils geladenen Atom­kerne der Isotope – je nach deren Größe

60 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Projektil Targetkern Fusion Verbundkern superschwerer Kern

3 Neutronen
JEN CHRISTIANSEN / SCIENTIFIC AMERICAN MÄRZ 2018

Kalzium Berkelium Tenness Tenness


20 Protonen 97 Protonen 117 Protonen 117 Protonen
28 Neutronen 152 Neutronen 180 Neutronen 177 Neutronen

Rezept für superschwere Elemente


Um ein Element mit besonders vielen Kernbausteinen herzustellen, schießen Forscher einen Atomkern auf einen
anderen, in der Hoffnung, dass beide miteinander verschmelzen. Dabei muss das Projektil mit etwa einem
Zehntel der Lichtgeschwindigkeit auf das Ziel zurasen, um die abstoßenden Kräfte der beiden positiv geladenen
Kerne zu überwinden. Wenn sie sich fast schon berühren, setzt die anziehende Kraft der so genannten starken
Wechselwirkung ein, die Protonen und Neutronen im Atomkern zusammenhält. Zum Beispiel entsteht durch das
Verschmelzen von Kalzium und Berkelium das Element Tenness mit 117 Protonen und 177 Neutronen.

und Form ändert sich das Verhalten der sie umkreisenden nyl-Verbindung ein wie Wolfram und Molybdän, und es
Elektronen. Obwohl sich das Elektronenniveau dadurch zeigte obendrein eine ähnliche Wechselwirkung mit Silizi­
nur um zirka ein Millionstel ändert, lässt sich der Effekt umoxid-Oberflächen. Eine der nächsten Fragen, die zu
bestimmen. Man beobachtet dabei den Zuwachs der klären sind, lautet, welches der drei Elemente das stabilste
Größe des Atomkerns durch das Hinzufügen von Neutro­ Hexacarbonyl-Molekül bildet. Die ersten Berechnungen
nen. Außerdem bestätigen die Messungen, dass der aus den späten 1990er Jahren deuteten auf Seaborgium
Nobeliumatomkern in diesen Isotopen wie ein amerikani­ hin, neuere sehen hingegen Wolfram vorne.
scher Football geformt ist. Die theoretischen Kernmodelle, Dies sind nur einige Beispiele für die Art von Versuchen,
die unsere Daten gut beschreiben, sagen sogar vorher, die Wissenschaftler mit superschweren Elementen durch­
dass die schweren Atomkerne nicht homogene Körper führen, und für die vielen offenen Fragen, die sie damit zu
sind, sondern durch eine deutlich reduzierte Protonendich­ beantworten hoffen. Zwar sind die neuesten Mitglieder
te im Zentrum eine hohle Struktur entwickeln. des Periodensystems zugegebenermaßen recht exotisch.
Wissenschaftler haben auch schon chemische Bindun­ Dennoch liefern Experimente immer mehr Informationen
gen zwischen superschweren Elementen und leichteren darüber, wie sie in das Schema passen, das vor 150 Jah­
Atomen geknüpft. Ein Beispiel ist die Synthese eines ren auf Grundlage alltäglicher Elemente erstellt wurde.
Moleküls mit Seaborgium (Element 106). 2013 hat eine Unabhängig davon, ob wir das Zentrum der Insel der
Gruppe von Forschern um einen von uns (Düllmann) bei Stabilität jemals erreichen und ob sich die dortigen Ele­
einem Versuch am japanischen RIKEN Nishina Center for mente tatsächlich als so langlebig herausstellen werden,
Accelerator-Based Science Seaborgiumisotope mit einer erfahren wir bereits jetzt anhand superschwerer Elemente
Halbwertszeit von rund zehn Sekunden erzeugt. Nach viel über die chemischen Grundbausteine der Natur.
anschließender Zugabe von Kohlenmonoxid bildete das
schwere Element eine Hexacarbonyl-Verbindung, in der
QUELLEN
sich sechs Moleküle Kohlenmonoxid um ein zentrales
Seaborgiumatom lagerten. Düllmann, C. E. et al. (Hg.): Special Issue on Superheavy E
­ lements.
Seaborgium verhielt sich ähnlich wie seine bekannteren Nuclear Physics A 944, 2015

Verwandten Wolfram und Molybdän, die gleich viele Laatiaoui, M. et al.: Atom-at-a-Time Laser Resonance Ionization
Valenzelektronen besitzen, also Elektronen in der äußers­ Spectroscopy of Nobelium. In: Nature 538, S. 495–498, 2016
ten Schale. Während des etwa zweiwöchigen Experiments Raeder, S. et al.: Probing Sizes and Shapes of Nobelium Isotopes by
ging Seaborgium mit Kohlenmonoxid dieselbe Hexacarbo­ Laser Spectroscopy. In: Physical Review Letters 120, 232503, 2018

Spektrum der Wissenschaft  12.18 61


SCHLICHTING!
VIELSCHICHTIGE UMTRIEBE
IM LATTE MACCHIATO
Manche heißen Flüssigkeitsgemische bilden beim
Abkühlen physikalisch interessante Strukturen.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der
Universität Münster.

 spektrum.de/artikel/1603752​

Ein Mathematiker ist eine Maschine, die Kaffee in Sätze verwandelt


Alfréd Rényi (1921–1970)


Ob einem Latte macchiato nun schmeckt oder Am Boden ist die schwere Milch von den Turbu­
nicht – rein ästhetisch sind die unterschiedlich lenzen weitgehend verschont geblieben und strahlt
getönten Schichten der Kaffeespezialität auf jeden nach wie vor weiß. Darüber entstehen oft deutlich
Fall beachtenswert. Diese Strukturbildung ist eine Folge erkennbar weitere, voneinander klar abgegrenzte
verschiedener physikalischer Vorgänge, deren Zusam­ Schichten abweichenden Mischungsgrads und damit
menwirken auch in ganz anderen Kontexten eine wich­ verschiedener mittlerer Dichte. Deren Ursache er­
tige Rolle spielt, etwa beim Verhalten des Golfstroms. schließt sich einem nicht sofort. Selbst eine Stunde
Das Herstellungsprinzip von Latte macchiato ist nach Fertigstellung des Getränks, wenn es bereits an
einfach: In ein Glas mit 60 bis 70 Grad Celsius warmer geschmacklicher Qualität eingebüßt und nahezu Raum­
Milch wird heißer Espresso gegeben. An den verschie­ temperatur angenommen hat, sind die Lagen oft noch
denen Stellen der Mischung ist das dortige Verhältnis andeutungsweise zu erkennen. Umgekehrt gibt es keine
der Flüssigkeiten gut anhand der Färbung zu erkennen: solche Schichtung, wenn man die Flüssigkeiten bei
Im unteren, hellen Bereich dominiert die Milch, nach Umgebungstemperatur vereinigt oder den Espresso
oben hin nimmt der Anteil von Espresso zu, wenn man sehr langsam zufügt.
von der oft vorhandenen Schaumkrone absieht, die hier
außer Betracht bleiben soll. Ausgleich auf Umwegen
Die Milch hat eine größere Dichte als der Espresso, Während des Eingießens dominieren die mechanische
dessen Dichte näherungsweise der von Wasser ent­ Verwirbelung und die trägheitsbedingte gegenseitige
spricht. Darum ist die geschichtete Anordnung recht Durchdringung der Zutaten das Geschehen. Unter dem
stabil. Der Dichteunterschied zwischen den beiden Einfluss der Gravitation treibt das Dichtegefälle in der
Flüssigkeiten wird obendrein durch die höhere Tempe­ zusammengesetzten Flüssigkeit Bewegungen an, die
ratur des Espresso verstärkt – die Dichte nimmt norma­ darauf hinauslaufen, die Differenzen zu beseitigen. Im
lerweise ab, wenn etwas heißer wird. Der leichtere vorliegenden Fall variiert die Dichte sowohl auf Grund
Espresso vermengt sich überhaupt nur deshalb teilwei­ der verschiedenen Zusammensetzung als auch wegen
se mit Milch, weil das Eingießen je nach Geschwin­ der unterschiedlichen Temperatur. Dadurch kommt es
digkeit mehr oder weniger turbulente Bewegungen bei den gravitationsbedingten Ausgleichsbewegungen
aus­löst. Doch selbst bei einer sehr schwungvollen zu einem interessanten Wechselspiel. Fachleute spre­
Vereinigung entsteht im hohen Glas keine homogene chen von »doppelt-diffusiver Konvektion«.
Mischung. Sobald sich die Aufregung gelegt hat, drängt Bei einer normalen Tasse heißen Kaffees entwickelt
der Espresso infolge von Auftriebskräften nach oben. sich eine einfache Konvektionsbewegung: Der haupt­

62 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Einige Zeit nach seiner Zubereitung hat sich im
Latte macchiato eine Schichtstruktur ausgebildet. Am
Boden ist noch unberührte Milch, oben hat sich
Milchschaum abgesetzt. Dazwischen sind Lagen un-
terschiedlichen Mischungsgrads zu erkennen. Der
Querschnitt durch drei Schichten im Getränk illustriert
H. JOACHIM SCHLICHTING

die dortigen Konvektionsbewegungen von der Mitte


zum Glasrand. Die Länge der Pfeile soll die Ge-
schwindigkeit der Flüssigkeitsteilchen andeuten.

sächlich an der Oberfläche und am Tassenrand abge­ Dichtegradienten. Dessen Verlauf wird weitgehend
kühlte Kaffee sinkt an den Seiten ab, zum Ausgleich dadurch bestimmt, wie impulsiv der Espresso in die
steigt in der Mitte wärmerer auf. Milch eingegossen wird. Bei sehr wenig Schwung liegt
Beim Latte macchiato hingegen liegen die Verhält­ am Ende fast reiner Espresso auf der weißen Milch, es
nisse etwas komplizierter: Die Flüssigkeit gibt vor allem gibt also nur eine Schicht. Mehrere davon entstehen erst
in der Nähe des Glasrands Energie durch Wärme an die oberhalb einer kritischen Injektionsgeschwindigkeit.
Umgebung ab und wird ein wenig kühler. Dadurch
nimmt ihre Dichte zu, und sie sinkt in kleinen Strähnen Die Umwälzungen wirken lange nach
ab, was manchmal am Rand des Glases zu erkennen ist Die Strukturbildung ist grundsätzlich vor allem der Tatsa­
(siehe andeutungsweise oben links im Foto oben). Die che zu verdanken, dass der thermische Ausgleich we­
niedergehende kühlere Flüssigkeit gerät so in Regionen sentlich schneller abläuft als der Diffusionsvorgang, der
immer höherer Milchkonzentration und damit zuneh­ den Dichtegradienten der Mischung von Milch und
mender Dichte. Dadurch wird sie langsamer. Espresso abbaut. Der treibende Prozess der Schichtung
Wenn ihre Dichte dem Wert der Umgebung ent­ ist die Dissipation – das heißt eine unumkehrbare Über­
spricht, endet der Sinkprozess, und die Flüssigkeit strömt tragung – von thermischer Energie über den Glasrand an
auf einer Linie gleicher Dichte (Isodense) zur warmen die Umgebung. Man kann den Latte macchiato also mit
Mitte des Glases. Dort treffen alle entsprechenden Strö­ Recht eine dissipative Struktur im Sinn der nichtlinearen
me vom Rand her zusammen und steigen – inzwischen Physik nennen. Sie bleibt so lange bestehen, wie die
wieder etwas wärmer und damit leichter geworden – ge­ Temperaturdifferenz zwischen der Umgebung und dem
meinsam auf. Somit schließt sich ein Kreislauf (siehe Getränk aufrechterhalten wird. Obwohl dieses im Lauf
Illustration oben). Die Konvektionsströmung wird durch der Zeit abkühlt, ist der Effekt dennoch lange zu bewun­
den nach unten hin zunehmenden Milchanteil stabilisiert. dern, und erst allmählich ändern sich die Größe und die
Einen anschaulichen Eindruck von der Haltbarkeit der Anzahl der Schichten. Aber bevor es so weit kommt, hat
einzelnen Lagen kann man sich verschaffen, indem man man sich hoffentlich bereits am Latte macchiato selbst
das Kaffeeglas leicht bewegt. Die Schichten schwanken erfreut.
dabei ein wenig, doch kurz danach ist alles wieder, wie
es war.
Wie viele Abschnitte sich unterhalb der obersten QUELLE
Konvektionszone nach demselben Schema ausbilden, Xue, N. et al.: Laboratory Layered Latte. In: Nature
hängt von mehreren Bedingungen ab, insbesondere dem Communications 8, 1960, 2017

Spektrum der Wissenschaft  12.18 63


ASTRONOMIE
DER STAMMBAUM
DER SONNE
Vier Akte im Leben der Sonne

Vorfahr Geschwister
Ein Vorgängerstern der Sonne könnte einige Die Sonne leuchtete erstmals auf, als sich Teile einer
zehn Millionen Jahre vor dieser entstanden ausgedehnten Wolke aus Gas und Staub so verdichtet
und bald darauf in einer Supernova-Explosion und aufgeheizt hatten, dass Atomkerne miteinander
vergangen sein. Diese schleuderte Atome verschmolzen. Insgesamt gingen aus der Wolke wohl
ins Weltall, unter anderem das radioaktive zwischen einigen hundert und 10 000 Sterne hervor.
Aluminium-26, die zum Teil zum Baumaterial Diese entfernen sich seither voneinander. Forscher
der Sonne und der Planeten des Sonnen- suchen in der Milchstraße nach Sternen, die vermut-
systems wurden. 2012 tauften Astronomen lich gemeinsam mit der Sonne entstanden sind, und
diesen hypothetischen Stern »Coatlicue«. konnten bereits einen Kandidaten identifizieren.

RON MILLER / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2018

64 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Neue Forschungsergebnisse decken die überra­
schende Vergangenheit unseres Zentralgestirns auf –
und geben Hinweise auf seine Zukunft.

Rebecca Boyle ist Wissenschaftsjournalistin in Saint Louis, Missouri.

 spektrum.de/artikel/1603754

Kindheit Tod
Um die junge Sonne kreisten Staubkörn- In etwa fünf Milliarden Jahren wird die Sonne
chen, die sich sammelten und kleinere verglühen und ihre Außenschichten abstoßen,
Körper bildeten. Innerhalb von nur einer die zu einem leuchtenden Planetarischen Nebel
Million Jahren gab es Asteroiden, nach werden. In dessen Zentrum glimmt dann der
einer weiteren Million möglicherweise Überrest der Sonnenkerns als Weißer Zwerg. Die
schon die ersten Gesteinsplaneten. Die inneren Planeten, vielleicht auch die Erde, wer-
Erde hat sich vermutlich zwischen den von der Sonne in der Endphase ihres Lebens
38 Millionen und 120 Millionen Jahren verschluckt, doch die Objekte im äußeren Son-
nach der Sonne geformt. nensystem könnten die Ereignisse überdauern.
RON MILLER / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2018

Spektrum der Wissenschaft  12.18 65



Vor 4,6 Milliarden Jahren war das Material, aus dem erstrecken könnten. Die Wissenschaftler erforschen den
bald darauf unser Sonnensystem entstehen sollte, in möglichen Einfluss der sterbenden Sonne auf das inter-
einer kalten und dunklen Umgebung weit verteilt. Die stellare Medium, also auf das Gas und den Staub zwi-
Sonne gab es noch nicht, bloß eine hauchdünne Wolke schen den Sternen, und die Auswirkungen auf die Be-
aus den Überresten früherer Sterne, angereichert mit schaffenheit künftiger Sterne und der galaktischen Umge-
Elementen, die sich in unvorstellbar gewaltigen Katastro- bung. Stößt die Sonne durch ihren Tod vielleicht selbst
phen gebildet hatten. Bis zu einem folgenreichen Ereignis. wiederum die Entstehung neuer Sterne und Planeten an?
Vielleicht rüttelte die Gravitation eines vorüberziehen- Indem sie die Vergangenheit, die Gegenwart und die
den himmlischen Nomaden an der Wolke. Oder ein weiter Zukunft der Sonne ergründen, erzählen die Astronomen
entfernter Stern verging, und der Hauch seiner Explosion außerdem mehr als eine lokal begrenzte Geschichte. Von
schob die Atome zusammen, so wie ein Windstoß Herbst- den unfassbar vielen Sternen kennen wir schließlich nur
laub zu einem Haufen wirbelt. Was auch immer die Ursa- diesen aus der Nähe. Jede Einsicht liefert uns indirekt
che war: Die Atome rückten näher aneinander, und die Informationen über weit entfernte Objekte, die wir niemals
Gaswolke wurde unaufhaltsam dichter. Schließlich heizte so genau kennen lernen werden.
sich die zusammenströmende Materie so sehr auf, dass
Wasserstoff zu Helium fusionierte. Die Sonne war gebo- Womöglich erbrütete ein gewaltiger Stern
ren, und wenig später entstand in ihrem Umfeld unter die Grundzutaten des Sonnensystems
anderem die Erde. Einige der ersten galaktischen Sterne vergingen bereits
Diese relativ einfache Geschichte unserer näheren wenige Millionen Jahre nach ihrem Auftreten und verteil-
kosmischen Umgebung entwickelte sich in letzter Zeit zu ten dabei schwere Elemente wie Eisen und Aluminium
einer wesentlich reichhaltigeren und komplexeren Biogra- im All. Ihre Überreste stellten das Baumaterial neuer
fie. Leistungsstarke Weltraumteleskope, das aufblühende Stern­generationen und brachten schließlich die Vorgänger
Forschungsgebiet der »Kosmochemie« sowie an die Ge- der Sonne hervor. Astronomen rekonstruieren die Ge-
nealogie angelehnte Methoden haben den Astronomen schehnisse anhand übrig gebliebener Brocken aus der
neue Einblicke in die Vergangenheit unseres Zentralge- Anfangszeit des Sonnensystems. Dazu vergleichen sie den
stirns gewährt. Heute wissen sie: Die Sonne war nicht Anteil unterschiedlicher radioaktiver Isotope in Meteoriten
immer eine Einzelgängerin. Sie hatte Geschwister – und einerseits mit dem interstellaren Medium der Milchstraße
hat möglicherweise sogar einen Planeten adoptiert. Eben- andererseits, das stetig durch den Tod weiterer Sterne
so gab es eine Art Mutter, einen Riesenstern, dessen Nachschub erhält. Die Atome zerfallen mit einer spezifi-
kurzes Leben das Material für das Sonnensystem lieferte. schen Rate, und Unterschiede in den jeweiligen Mengen
Diese Bausteine könnten mindestens 30 Millionen Jahre dienen entsprechend als Uhr für die Entstehungszeit­
lang vom Rest der Galaxie isoliert existiert haben. punkte der Bausteine.
Auch die Sonne wird vergehen. Sie wird in etwa fünf Mit der Untersuchung eines dieser Isotope, Aluminium-
Milliarden Jahren ihren Wasserstoffvorrat allmählich 26, verfolgten Matthieu Gounelle vom französischen
aufbrauchen und sich zu einem Riesenstern aufblähen, Nationalmuseum für Naturgeschichte und Georges Mey-
dessen Außenbereiche sich sogar bis zu unserem Planeten net von der Sternwarte Genf den Stammbaum der Sonne
über drei Generationen hinweg. Aluminium-26 besitzt eine
Halbwertszeit von rund einer Million Jahren, das heißt,
innerhalb dieser Zeit ist die Hälfte radioaktiv zerfallen. Das
AUF EINEN BLICK Isotop findet sich in den Meteoriten aus der Frühzeit des
Sonnensystems und stammt nach Ansicht vieler Astrono-
FAMILIENGESCHICHTEN IN men von einer Supernova, die noch während der Entste-
DER MILCHSTRASSE hung der Sonne in der Nachbarschaft explodierte. Doch
ein solches Ereignis in unmittelbarer zeitlicher und räumli-

1 Astronomen erfahren mehr über den Ursprung


­unseres Sonnensystems, indem sie die Verteilungen
bestimmter Elemente im All vermessen und
cher Nähe wäre ein ungewöhnlicher Zufall.
Gounelle und Meynet zeigten 2012, dass das Aluminium-
26 stattdessen auch aus dem Inneren eines massereichen
die Bewegungen anderer Sterne untersuchen.
Sterns stammen könnte. Dieser Himmelskörper wäre laut

2 Die Forscher ermitteln beispielsweise, wie das Mate­ den Berechnungen der Forscher mit etwa der 30-fachen
rial vergangener Sterngenerationen in einstmals Masse der Sonne der größte in der kosmischen Nachbar-
benachbarten Objekten aufgegangen ist, und erstellen schaft gewesen. Wie vergleichbare Sterngiganten hätte
Stammbäume wie in der Biologie. er ein kurzes, aber spektakuläres Leben gehabt und wäre
schon wenige Millionen Jahre nach seiner Geburt ex­

3 Ein Stern, der wohl mit der Sonne entstanden ist,


ließ sich bereits identifizieren. Hinweise auf weitere
Geschwister könnten sich in den Datensätzen
plodiert.
Dabei hätte er nicht nur Aluminium-26 freigesetzt,
sondern im Verlauf der Supernova auch Wasserstoff,
­hochpräziser Himmelsdurchmusterungen verbergen. schwere Metalle und radioaktive Elemente in die Gaswol-
ke getrieben, aus der unser Sonnensystem vielleicht
entstanden ist. Die Forscher tauften den hypothetischen

66 Spektrum der Wissenschaft  12.18


NASA/SDO & AIA, EVE, AND HMI SCIENCE TEAMS

Im Oktober 2014 schleuderte die Sonne bei einer Erup­ Botaniker kann die DNA oder vererbte Eigenschaften auf
tion große Mengen Plasma ins All. Solche Ausbrüche der Suche nach Verwandtschaftsbeziehungen zwischen
kommen immer wieder vor – die kräftigsten unter ihnen Pflanzen nutzen. Astronomen verwenden dafür das Ver-
setzen noch zehnmal mehr Energie frei. hältnis chemischer Elemente in den Sternen. Didier Fraix-
Burnet vom Institut für Planetenforschung und Astrophy-
sik in Grenoble hat die Methode 2001 als einer der Ersten
Riesenstern Coatlicue, nach der Mutter der Sonne in der vorgeschlagen. Er bezeichnete sie als Astrokladistik,
Mythologie der Azteken. angelehnt an die Systematik auf der Basis der Evolutions-
Spätere Untersuchungen haben weitere Hinweise biologie. 2017 konstruierten Paula Jofré von der Universi-
darauf geliefert, wie und über welche Zeiträume die Bau- dad Diego Portales in Chile und ihre Kollegen mit diesem
steine des Sonnensystems zusammengefunden haben. Verfahren einen stellaren Stammbaum für die Nachbar-
2014 berechneten beispielsweise australische Wissen- schaft der Sonne.
schaftler, dass einige der schweren Metalle wie Gold,
Silber und Platin, die auf der Erde und in Meteoriten vor- Chemie enthüllt stellare Verbindungen
kommen, bereits etwa 100 Millionen Jahre und ein Teil Dabei wendeten Jofré und ihr Team in Zusammenarbeit
der Seltenen Erden wie Neodym rund 30 Millionen Jahre mit einem Evolutionsbiologen der University of Cambridge
vor der Geburt der Sonne in unserer kosmischen Nachbar- die »Distanzmethode« an: ein Verfahren, bei dem unter-
schaft eingetroffen sind. schiedliche Äste evolutionäre Veränderungen bedeuten.
Um diese mögliche Geschichte unseres Sonnensystems Übertragen auf die Astronomie repräsentieren die Äste
zu überprüfen, vergleichen Astronomen das Szenario mit Sternpopulationen, die sich bezüglich ihres Alters und
der Entstehung anderer Objekte mit ähnlicher chemischer ihres Bewegungsmusters unterscheiden.
Zusammensetzung. Alles scheint zu passen. Nach Ansicht Zur Veranschaulichung kann man sich zwei Generatio-
der Astrophysikerin Megan Bedell vom Flatiron Institute in nen von Sternen vorstellen. Die erste bestand aus einem
New York City, die sich auf Planetensysteme in der Milch- großen und einem kleinen Exemplar. Der massereichere
straße spezialisiert hat, ist die Sonne »in den Kontext ihrer Stern explodierte früher und führte zur Entstehung eines
Nachbarn gestellt ein für solche Entstehungsbedingungen Sterns der zweiten Generation – ähnlich wie der Tod von
ganz typischer Stern«. Coatlicue zur Geburt der Sonne. »Die zweite Generation
Die Wissenschaftler spüren nicht nur den direkten enthält Informationen aus der ersten. Sie sind gewisser-
Vorfahren der Sonne nach. Mit Hilfe von aus der Biologie maßen genetisch miteinander verknüpft«, kommentiert
entliehenen Verfahren halten sie auch nach Cousins, Jofré. »So könnten wir auf einen Stern und seinen Onkel
Onkeln und anderen Verwandten Ausschau – sie erfor- stoßen.« Letzterer wäre in diesem Fall das kleinere, noch
schen sozusagen den ganzen Familienstammbaum. Ein nicht explodierte Objekt.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 67


Jofré und ihre Kollegen untersuchten eingehend 21 um eine Strategie zu testen, die sich auf die gigantische
nahe Sterne, die unserer Sonne ähneln. Dabei konzentrier- Datenmenge des europäischen Satelliten Gaia anwenden
ten sie sich auf 17 chemische Elemente und ordneten die lässt. Gaia misst die Helligkeit und die genaue Position
Sterne anhand ihrer Elementhäufigkeiten. So sortierten die von Sternen am gesamten Himmel. So entsteht die bis-
Forscher sie in zwei bereits zuvor bekannte Familien ein. lang detailreichste dreidimensionale Karte der Milchstra-
Allerdings stießen sie auch auf Exemplare, die zu einer ße. Ein im April 2018 veröffentlichtes Datenpaket enthielt
neuen, zuvor unbekannten dritten Gruppe gehören, die hoch­genaue Messdaten von mehr als 1,3 Milliarden
Jofré zufolge immer noch rätselhaft ist. ­Sternen.
Nach der Geburt von Coatlicue einige zehn Millionen Ramírez hofft, dass sich mit Gaia vielleicht die Hälfte
Jahre vor der Entstehung der Sonne ging es ringsum recht der Geschwister der Sonne aufspüren lässt. Die Forscher
geschäftig zu. Gas kollabierte, und Kernreaktionen zünde- erwarten dadurch Erkenntnisse zur Bewegung der Sonne
ten – neue Sterne leuchteten auf. Sie schleuderten Materie und ihrer Geburtsumgebung durch die Milchstraße. Die
und Strahlung in die Umgebung, drückten dort befindli- Sonne umkreist das Zentrum der Galaxis mit einer Ge-
ches Gas zusammen und lösten so die Entstehung weite- schwindigkeit von mehr als 200 Kilometern pro Sekunde
rer Sterne aus. Schätzungen ihrer Gesamtzahl reichen und hat es schätzungsweise bereits 20-mal umrundet.
von Hunderten bis zu Zehntausenden. Vermutlich liegt die
Wahrheit eher am unteren Ende, berücksichtigt man Erhielt die Sonne zusätzlich zu ihren eigenen Planeten
die recht stabile Anordnung der Planeten. Andere Sterne noch einen fremden Himmelskörper?
in der Nähe hätten das Sonnensystem zu sehr gestört. Nicht lange nachdem die Sonne und ihre Geschwister ihr
Obwohl sie im gleichen Umfeld entstanden sind, haben erstes Licht aussendeten, verdichteten sich Staubkörn-
sich die Geschwister der Sonne im Lauf der Zeit von ihr chen um viele – wenn nicht sogar alle – dieser Sterne zu
wegbewegt. Einige explodierten, andere entfernten sich Planeten. Zumindest in unserem Sonnensystem begann
wegen kleiner Unterschiede bei der Umlaufgeschwindig- das postwendend: Wie Untersuchungen an Meteoriten
keit um das galaktische Zentrum. Aus ihren gegenwärti- zeigen, dauerte es weniger als eine Million Jahre, bis die
gen Positionen lässt sich kaum noch auf den Startpunkt erste Generation von Asteroiden entstanden war. Angetrie-
schließen. Keith Hawkins, Astronom an der Columbia ben vor allem durch die Wärme des radioaktiven Zerfalls
University, zieht einen Vergleich: »Das ist ähnlich wie bei von Aluminium-26 trennten sich Metalle und Silikatverbin-
meinem Zwillingsbruder und mir. Wir wurden gemeinsam dungen im Inneren großer Gesteinskörper in Kern und
geboren, leben heute aber weit voneinander entfernt und Mantel. Bald gab es größere Planeten (siehe »Aufruhr in
tun unterschiedliche Dinge.« Doch Hawkins zufolge er- der Kinderstube«, Spektrum März 2017, S. 44). Der Mars
laubt es die Kosmochemie immerhin, Verbindungen aufzu- könnte sich innerhalb von zwei Millionen Jahren gebildet
spüren – etwa über die typischen Verhältnisse bestimmter haben, die Erde zwischen 38 und 120 Millionen Jahre nach
der Geburt der Sonne.
Etwa zu dieser Zeit hat die Sonne eventuell sogar einen
Planeten von einem ihrer Geschwister aufgelesen. Der
mutmaßliche »Planet Neun«, ein theoretisch vorhergesag-
Mehr Wissen auf ter großer Körper weit draußen im Sonnensystem, wäre
Spektrum.de dann eine Art Cousin der anderen Planeten, den die Sonne
Unser Online-Dossier zum Thema 100 Millionen Jahre nach ihrer Geburt adoptiert hat. Für
finden Sie unter ein solches Szenario müsste Planet Neun seinen Ur­
spektrum.de/t/die-sonne sprungs­­stern in einer weiten Bahn umkreist haben, in 100
NASA/SDO
bis 500 Astronomischen Einheiten, das heißt der
100- bis 500-fachen Entfernung von Erde und Sonne. Der
zugehörige Stern sollte in einem Abstand von zirka
Elemente in den Sternen. Ivan Ramírez, heute Professor 1500 Astronomischen Einheiten an der Sonne vorbeigeflo-
am Tacoma Community College, machte sich 2014 auf gen sein.
eine solche Suche. Er begann mit rund 30 Kandidaten, die Solche stellaren Begegnungen sind in Sternhaufen
er auf Basis ihrer chemischen Zusammensetzung sowie durchaus üblich, und Astronomen halten den Vorgang
der Geschwindigkeit und Richtung ihrer Bewegung durch auch bei unserer Sonne für möglich. Sie hatte bei Planet
die Milch­straße ausgewählt hatte. Nach weiteren Über­ Neun eine ganze Reihe von Gelegenheiten dazu, ermittel-
prüfungen verkleinerte sich das Feld auf nur noch einen ten 2016 Alexander Mustill und Melvyn Davies von der
einzigen Stern mit der Bezeichnung HD 162826. Er ist um Universität Lund in Schweden gemeinsam mit ihrem
15 Prozent massereicher und leuchtet etwas blauer als die Kollegen Sean Raymond von der Université de Bordeaux in
Sonne. Heute befindet er sich 110 Lichtjahre entfernt im Frankreich. Das hätte sogar vor sich gehen können, ohne
Sternbild Herkules und lässt sich schon mit einem guten dabei den Kuipergürtel zu stören, einen Ring von Kometen
Fernglas aufspüren, oberhalb der Schulter des Herkules, und Asteroiden im äußeren Sonnensystem.
nicht weit von Wega. Weitere Untersuchungen der dortigen Objekte dürften
Er habe diese Form des Fährtenlesens einerseits aus den Forschern Informationen über die Herkunft von Planet
reiner Neugier begonnen, erzählt Ramírez, andererseits, Neun liefern – wenn es ihn denn gibt. Denkbar sind darü-

68 Spektrum der Wissenschaft  12.18


ber hinaus sogar weitere Überläufer. Wie Eric Mamajek schen Fingerabdruck von Sternen und der Planetenentste-
von der University of Rochester und seine Kollegen 2015 hung. Dabei untersucht sie solare Zwillinge, die nicht
zeigten, durchquerte vor rund 70 000 Jahren der heute unbedingt aus derselben Familie stammen müssen, aber
etwa 20 Lichtjahre entfernte, auch Scholz’ Stern genannte die gleiche chemische Zusammensetzung aufweisen. Die
Himmelskörper WISE 0720−0846 die Oortsche Wolke in Sonne ist in einer entscheidenden Hinsicht ungewöhnlich.
unserem Sonnensystem. Dabei handelt es sich um eisige Sie besitzt in ihren Außenschichten weniger schwere
Planetesimale, die weit jenseits der Plutobahn die Sonne Elemente, der Unterschied liegt bei wenigen Erdmassen.
umkreisen. Die enge Begegnung mit weniger als einem Eine mögliche Interpretation des Befunds ist laut Bedell,
Lichtjahr Abstand beeinflusste die Umlaufbahnen einiger dass die Materie »in den terrestrischen Planeten und den
Objekte in der Oortschen Wolke, wie Carlos de la Fuente Kernen der Gasriesen gebunden ist und deshalb in den
Marcos von der Universidad Complutense Madrid 2018 Außenbereichen der Sonne fehlt«. Der Zusammenhang
zeigte. Und die Astronomen wissen inzwischen, dass auch könnte einen neuen Ansatz für die Suche nach Exoplane-
kleinere Objekte unserem Sonnensystem einen Besuch ten bieten: Enthält ein sonnenähnlicher Stern etwas weni-
abstatten, wie beispielsweise der interstellare Asteroid ger schwere Elemente, wird er vielleicht von einem Plane-
1I/’Oumuamua im Herbst 2017. tensystem mit vergleichbarer Architektur wie der von
Während sich die Planeten um die Sonne bildeten, unserem umkreist.
veränderte sich das Zentralgestirn. Megan Bedell erforscht In etwa fünf Milliarden Jahren hat die Sonne den Was-
schon länger den Zusammenhang zwischen dem chemi- serstoffvorrat in ihrem Kern verbraucht. Daraufhin wird sie
KATIE PEEK, NACH JOFRÉ, P. ET AL.: COSMIC PHYLOGENY: RECONSTRUCTING THE CHEMICAL HISTORY OF THE SOLAR NEIGHBOURHOOD WITH AN EVOLUTIONARY TREE.
IN: MNRAS 467, S. 2-26, 2017 UND NACH: HIPPARCOS CATALOGUE, ESA 1997 / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2018; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Familienbande
Astronomen entwickelten in Anlehnung Die dargestellten
Positionen entsprechen
an die Biologie einen Stammbaum für einem Blick von oben
unsere Region der Galaxis. Sie betrach- auf die Ebene der
Milchstraße.
teten 21 Sterne, die unserer Sonne im
Hinblick auf Farbe und Helligkeit äh- Der Bogen um die
Sterne zeigt ihr Alter:
neln, und analysierten chemische
Gemeinsamkeiten. So ergründeten die 5 Milliarden Jahre
Wissenschaftler die verwandtschaft­
lichen Beziehungen und fanden drei 9 Milliarden Jahre
deutlich unterscheidbare Familiengrup-
pen. Jede von ihnen hat möglicherwei-
se unterschiedliche Vorfahren, deren
Tod den Weltraum mit Materie für die
nächste Generation anreicherte. Die
Sonne
Sonne
Gruppe der Sonne ist in Gelb und Rot
dargestellt. Graue Sterne lassen sich
keiner der Familien zuordnen.

Stammbaum laut
chemischer Ähnlichkeit

mehr Übereinstimmungen weniger Übereinstimmungen

Jede Farbe steht


jünger

Sonne für eine Familie,


basierend auf
Sternalter und
-bewegung.
älter

Spektrum der Wissenschaft  12.18 69


ALAN FRIEDMAN
Auf der Sonnenoberfläche bilden sich in aktiven ßene Material träfe wahrscheinlich nicht auf genug ande-
­Regionen mit stark verdrehten Magnetfeldern Sonnen­ res, um die Bildung eines neuen Sterns auszulösen. »Es
flecken (auf dieser Aufnahme erscheinen sie weiß). wäre sicher poetischer – im Sinn des ewigen Kreislaufs
In den größten dieser Flecken würde die Erde mehrmals des Lebens –, würde es zu einem Bestandteil der nächsten
hineinpassen. Rechts unten im Bild ist eine abgelöste Generation«, sagt die Forscherin. Doch die Sonne werde
Pro­tuberanz zu sehen. vermutlich in den äußeren Bereichen der Milchstraße
»einen stillen Tod sterben« und nur wenige Spuren hinter-
lassen, die von ihrem abenteuerlichen Leben künden.
sich zu einem Roten Riesen aufblähen und Merkur sowie Noch sind wir da. Alles, was wir über die Sonne lernen,
Venus verschlingen. Die Erde zieht dann wahrscheinlich gilt nicht nur für unsere Ecke des Kosmos, sondern er-
sehr nahe über der Oberfläche ihre Bahn oder verschwin- leichtert uns den Zugang zu den vielen Systemen, die wir
det ebenfalls darin. Der Kern der Sonne wird sich abküh- nicht aus der Nähe untersuchen können. »Ich habe Leute
len, weil der nukleare Ofen langsam verglimmt. Die Anzie- schon sagen hören, Sterne seien im Prinzip ein gelöstes
hungskraft reicht nicht aus, um die aufgeblähten, diffusen Problem«, kommentiert Bedell. »Es gibt jedoch noch
Außenschichten zu halten, und die Atmosphäre der Sonne vieles, was wir nicht verstehen.« Unsere Sonne hilft uns,
entweicht ins All. »Die Sonne wird zu einem dieser wun- das langsam, aber sicher zu ändern.
derschönen Planetarischen Nebel mit einem Weißen
Zwerg im Zentrum«, sagt Hawkins. Dieser kleine, dichte
Sternrest kühlt im Lauf der Zeit ab und zieht für Äonen QUELLEN
weiter seine Bahn durch die Milchstraße.
Bedell, M. et al.: The Chemical Homogeneity of Sun-Like Stars in
Hans Van Winckel und Michaël Hillen von der Katholi- the Solar Neighborhood. In: arXiv, 1802.02576, 2018
schen Universität Löwen in Belgien zeigten 2016, dass
De la Fuente Marcos, C. et al.: Where the Solar System Meets the
sonnenähnliche Sterne sogar im Alter noch eine neue
Solar Neighbourhood: Patterns in the Distribution of Radiants of
Schar Planeten produzieren können. Mit dem Very Large Observed Hyperbolic Minor Bodies. In: Monthly Notices of the Royal
Telescope der Europäischen Südsternwarte ESO in Chile Astronomical Society: Letters 476, S. L1–L5, 2018
entdeckten sie eine heiße Staubscheibe um einen alten,
Gounelle, M., Meynet, G.: Solar System Genealogy Revealed by
sterbenden Stern, die wie die protoplanetaren Scheiben Extinct Short-Lived Radionuclides in Meteorites. In: Astronomy &
um junge Exemplare aussieht. Das bedeutet, dass einige Astrophysics 545, A4, 2012
Sterne – vielleicht sogar unsere Sonne – eine zweite Chan- Jofré, P. et al.: Cosmic Phylogeny: Reconstructing the Chemical
ce zur Erschaffung von Planeten erhalten. Allerdings ist History of the Solar Neighbourhood with an Evolutionary Tree. In:
ein solches Szenario für ein Doppelsternsystem Monthly Notices of the Royal Astronomical Society 467, S. 1140–
wahrschein­licher. 1153, 2017
Die Überreste der Sonne werden sich im interstellaren Ramírez, I. et al.: Elemental Abundances of Solar Sibling Candi­
Medium verteilen. Bedell meint allerdings, das ausgesto- dates. In: Astrophysical Journal 787, 154, 2014

70 Spektrum der Wissenschaft  12.18


FREISTETTERS FORMELWELT
ES KOMMT DOCH AUF DIE
GRÖSSE AN!
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)
FRANZISKA SCHÄDEL (WWW.FLORIAN-FREISTETTER.DE/BILDER.HTML) /

Warum werden Teleskope immer gigantischer? Der Grund


ist keineswegs Größenwahn, sondern das Airy-Scheibchen.
Das soll nämlich möglichst klein sein.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und


Wissenschaftskabarettist bei den »Science Busters«.
 spektrum.de/artikel/1603756

I
n der Astronomie werden Teleskope so gut wie nie der man verkleinert die Wellenlänge des Lichts; oder
dafür eingesetzt, Dinge vergrößert abzubilden, man vergrößert den Durchmesser der Blende.
im Unterschied zum Fernglas für den Hausgebrauch. Bei der Wellenlänge haben die Astronomen oft
Die meisten Himmelskörper sind so weit entfernt, keine Wahl. Vom Erdboden aus können wir nur das
dass das überhaupt keinen Effekt hat. Man braucht sichtbare Licht beobachten, dazu ein wenig Infrarot-
Teleskope einerseits, um möglichst viel Licht zu sam- strahlung und Radiowellen. Den Rest der elektro­
meln und so Objekte sichtbar zu machen, die für magnetischen Strahlung lässt die Erdatmosphäre nicht
das bloße Auge zu schwach leuchten. Andererseits durch. Um das Auflösungsvermögen eines Teleskops
geht es auch darum, die Dinge möglichst scharf zu zu verbessern, muss man es also so groß wie möglich
sehen. Letzteres lässt sich in folgende Formel fassen: bauen. Das gilt umso mehr, wenn es sich nicht um
ein optisches Teleskop, sondern um ein Radioteleskop
handelt. Die Wellenlänge der Radiostrahlung ist
­nämlich viel größer als die des sichtbaren Lichts. Es
braucht daher riesige Teleskope, um ein gutes Auf­
Sie gibt näherungsweise den Winkeldurchmesser  lösungsvermögen zu erhalten.
des zentralen »Airy-Scheibchens« an. Trifft Licht mit

Z
einer Wellenlänge  auf eine kreisförmige Blende des um Glück ist es leichter, große Radioempfänger
Durchmessers D, wird es daran gebeugt. Im Zentrum zu bauen als optische Spiegel. In China wurde
kann man dann ein Maximum der Lichtintensität im Jahr 2016 das 520 Meter große Five-hundred-
sehen, das von nach außen hin immer schwächeren meter Aperture Spherical radio Telescope (FAST)
Ringen umgeben ist. Der runde Lichtfleck im Zentrum fertig gestellt. Das weltgrößte optische Teleskop ist
ist der, dessen Durchmesser die Formel beschreibt derzeit noch im Bau: Das Extremely Large Te-
und der den Astronomen das Leben schwer macht. lescope (ELT) der Europäischen Südsternwarte wird
Dass ein Lichtstrahl nicht exakt punktförmig abge- einen Spiegel mit 39 Meter Durchmesser haben.
bildet wird, liegt nicht an irgendwelchen technischen Sein Auflösungsvermögen wird so groß sein, dass
Problemen. Selbst wenn das Licht auf ein optisch man von der Erde aus auf dem Mond etwa zehn Meter
perfektes Instrument ohne Abbildungsfehler träfe, wür- große Details erkennen kann. Was übrigens nicht
de es an der Blende trotzdem gebeugt. Der Fleck ist ausreicht, um die Hinterlassenschaft der bemannten
nach dem englischen Astronomen George Biddell Airy Mondlandung der NASA zu erkennen. Dafür bräuchte
benannt, der sich im 19. Jahrhundert mit diesem es ein noch schärferes Teleskop, das – wie sich mit der
Phänomen beschäftigt hat. Und die Bezeichnung Formel berechnen lässt – mindestens 200 Meter groß
»Scheibchen« demonstriert das Problem der Astro- sein müsste.
nomen: Eben weil es eine Scheibe ist und kein Punkt, Ebenso einfach kann man berechnen, dass man –
ist jedes Bild, das mit einem Teleskop gemacht wird, entgegen dem weit verbreiteten Mythos – vom Mond
ein wenig unscharf. aus keinesfalls mit bloßem Auge die Chinesische
Will man das Auflösungsvermögen, also die Bild- Mauer sehen kann. Unser Auge mit seiner winzigen
schärfe erhöhen, dann muss das Airy-Scheibchen Pupille hat eine viel zu geringe Auflösung, weshalb wir
möglichst klein werden. Und wie die Formel deutlich Astronomen eben die gigantischen Teleskope so
zeigt, gibt es dafür genau zwei Möglichkeiten: Entwe- dringend brauchen.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 71


MEDIEN
KLICKS,
LÜGEN
UND VIDEO
Womöglich vertrauen wir
bald keiner Nachricht
mehr. Denn künstliche In-
telligenz ermöglicht es
inzwischen jedem, täu-
schend echte Film-
und Tonsequenzen zu
erzeugen.

Man verwandelt ein Gesicht in ein anderes,


indem man beide mit einem gedachten
Gitternetz überzieht und korrespondierende
Punkte aufeinander abbildet. Mit diesem
»motion capturing« kann man insbesondere
die Mundbewegungen einer Person einer
anderen aufprägen.

SPENCER_WHALEN / GETTY IMAGES / ISTOCK


Im April 2018 erschien ein neues Video von Barack
Brooke Borel ist Journalistin und Obama im Internet. Er sieht aus wie bei jeder seiner
Autorin des Buchs »The Chicago Guide Reden: blütenweißes Hemd, dunkler Anzug mit einer
to Fact-Checking«. Sie ist kürzlich im
Flaggennadel am Revers, im Hintergrund die amerikani-
»Fact-checking« gegen eine künstliche
Intelligenz angetreten und hat mit sche und die Präsidentschaftsflagge. Obama blickt in die
einem Besorgnis erregenden Vorsprung Kamera und spricht mit ausdrucksvollen Handbewegun-
gewonnen. gen die Worte: »Präsident Trump ist ein totaler Volltrottel.«
Ohne auch nur zu zwinkern, fährt er fort: »Nun, sehen
 spektrum.de/artikel/1603758 Sie, ich würde so etwas nie sagen. Jedenfalls nicht in
einer öffentlichen Rede. Aber jemand anderes würde es
tun« – woraufhin der Schauspieler Jordan Peele in der
rechten Hälfte des Bildes auftaucht.

72 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Obama hatte nichts dergleichen gesagt; eine Aufzeich-
nung einer echten Rede war so manipuliert worden, dass
seine Mund- und Handbewegungen denen Peeles folgen. AUF EINEN BLICK
Seite an Seite sieht man die beiden sprechen, während DIE STUNDE DER WAHRHEIT
Peele als gleichsam digitaler Bauchredner Obama die
Worte in den Mund legt (Bild S. 74 unten).
Produziert hat dieses – inzwischen millionenfach ange- 1 Mit Hilfe der künstlichen Intelligenz lassen sich sehr
einfach täuschend echte Videosequenzen erstellen.
Das bedroht die Glaubwürdigkeit der Medien und das
klickte – Video das Medienunternehmen Buzzfeed News
auf eigene Kosten als Demonstration einer neuen Technik Vertrauen in demokratische Institutionen allgemein.
aus der künstlichen Intelligenz (KI). Mittlerweile kann die
Software für Ton und bewegte Bilder nämlich dasselbe
tun wie Photoshop für gewöhnliche Bilder: die Realität
2 Gefälschte Videos sind besonders geeignet, Angst zu
erregen – die wiederum die Nutzer veranlasst, die
Falschmeldung umso bereitwilliger weiterzuverbreiten.
täuschend echt verfälschen.
Noch sind die Ergebnisse verbesserungsfähig. Obamas
Stimme klingt ein bisschen näselnd, und wer genau
hinschaut, sieht seinen Mund für kurze Momente zur Seite
3 Algorithmen zum automatischen Erkennen gefälsch-
ter Videos sind in der Entwicklung; aber selbst wenn
sie funktionieren, wird die Entlarvung von Fake News
verrutschen. Aber das wird sich geben. Die ursprünglich ihrer Verbreitung stets hinterherhinken.
für Kinofilme und Videospiele entwickelte Technik macht
große Fortschritte und lässt inzwischen bei Sicherheits­
experten und Medienwissenschaftlern die schwärzesten
Fantasien aufkommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird »Und das müssen wir jetzt tun«, sagt Persily, »denn im
die nächste Generation dieser Softwarewerkzeuge sich Moment führen die Techniker – zwangsläufig – die Diskus-
nicht mehr auf die Manipulation vorhandenen Materials sion darüber an«, welche Arten von Videos die künstliche
beschränken, wie bei der beschriebenen Obama-Anspra- Intelligenz möglich macht. Derweil bröckelt das Vertrauen
che, sondern von Grund auf neue Szenen erschaffen in demokratische Institutionen wie Regierung und Presse.
können, die in Wirklichkeit nie stattgefunden haben – Dass die Leute mittlerweile ihre Informationen vorrangig
nicht einmal annähernd. über die sozialen Medien beziehen, macht das Geschäft
Die Folgen für den gesellschaftlichen Diskurs wären der Fälscher noch einfacher. Und da bislang niemand einer
verheerend. Man stelle sich vor, dass in einem Kopf-an- immer raffinierteren Technik eine durchdachte Strategie
Kopf-Rennen zweier Kandidaten kurz vor dem Wahltag ein entgegenzusetzen hat, ist unser ohnehin brüchiges Ver-
Video auftaucht, das den Ruf eines von ihnen beschädigt. trauen in die klassischen Institutionen erst recht in Gefahr.
Oder ein Film, der kurz vor dem Börsengang einer großen
Firma deren Vorstandschef in ein schlechtes Licht rückt.
Eine Gruppe könnte einen islamistischen Terroranschlag Harmlose Anfänge
inszenieren, mit gefaktem Bildmaterial Nachrichtenagen- Die Kunst der digitalen Spezialeffekte entwickelte sich im
turen und Blogger hinters Licht führen und dadurch Kino zunächst mit Sciencefiction-Animationen, die durch
Vergeltungsaktionen provozieren. kein reales Vorbild gebremst waren. Einen ersten Höhe-
Auch wenn sich ein solches Video später als Fälschung punkt bildete der 1993 erschienene Film »Jurassic Park«.
erweist, wird die Öffentlichkeit am Ende trotzdem die Ein Jahr später konnte man man bereits altes Material so
Geschichte dahinter für wahr halten? Und vielleicht am glaubwürdig manipulieren, dass Forrest Gump John F.
beunruhigendsten: Werden wir unter der Masse der Fäl- Kennedy die Hand schüttelt (Bild S. 74 oben).
schungen gar nicht mehr glauben, was wir sehen und Der 2016 erschienene Film »Rogue One« spielt unmittel-
hören – auch die Wahrheit nicht? bar vor der ersten Geschichte der (ersten) »Star Wars«-Tri-
Viele Fachleute erkennen an, dass ihre technischen logie; also mussten die vertrauten Gesichter von Gouver-
Entwicklungen Gelegenheit zu weit reichendem Miss- neur Tarkin und Prinzessin Leia auf der Leinwand erschei-
brauch geben. Aber während sie sich »für Verfahren zur nen. Da aber der Darsteller Peter Cushing 1994 gestorben
Erkennung und Offenlegung von Fälschungen begeistern, war und Carrie Fisher nicht mehr jugendlich genug aus-
denken sie kaum darüber nach, inwieweit ihre Bemühun- sah, ließen sie für deren Rollen andere Schauspieler auf-
gen die Überzeugungen der Konsumenten beeinflussen treten und ersetzten mittels »motion capturing« deren
können«, sagt Nathaniel (»Nate«) Persily, Professor für Gesichter Bild für Bild durch die altvertrauten.
Rechtswissenschaft an der Stanford University. Persily Anfangs pflegten die Grafiker mit dem Computer dreidi-
untersucht unter anderem, wie das Internet die Demokra- mensionale Modelle zu erzeugen und Oberflächenstruktur
tie beeinflusst, und vertritt gemeinsam mit einer wachsen- und andere Details mit der Hand nachzutragen – ein Zeit
den Gruppe von Forschern die Überzeugung, dass die raubender Prozess, der keine Massenfertigung zulässt.
Eindämmung sich rasch verbreitender Fehlinformationen Neue Ideen kamen vor etwa 20 Jahren aus einer anderen
weit mehr erfordert als technische Lösungen. Vielmehr Richtung: »Computer vision« (Computersehen) heißt die
müsse man Psychologen, Sozialwissenschaftler und Kunst, einem Rechner das Erkennen von Gegenständen in
Medienexperten zu Rate ziehen, um die Wirkungen der Kamerabildern beizubringen. Also muss das Gerät aus den
Technik auf die Menschen zu erforschen. Daten Modelle der Objekte in seiner Umgebung errech-

Spektrum der Wissenschaft  12.18 73


nen. Da bietet es sich an, diese Modelle gleich
weiterzuverwenden, statt sie einzeln von Hand zu
fertigen. 1997 entwickelten Wissenschaftler der
kurzlebigen, aber äußerst einflussreichen Interval
Research Corporation in Palo Alto (Kalifornien)
das Programm Video Rewrite, das bestehende
Aufnahmen zerlegt und neu zusammenfügt. Die
Forscher gestalteten unter anderem einen Video-
Clip, in dem John F. Kennedy sagt: »Ich habe
Forrest Gump nie getroffen.« Mittlerweile arbeiten
sie alle bei Google.
Bald darauf brachten Wissenschaftler aus der
Arbeitsgruppe von Heinrich Bülthoff am Max-
Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübin-
gen einem Computer bei, Merkmale aus einem
Datensatz von 200 dreidimensionalen Scans von
menschlichen Gesichtern zu extrahieren und OBEN: STANDBILD AUS FORREST GUMP, PARAMOUNT PICTURES, 1994 / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2018;
UNTEN: STANDBILD AUS YOU WON'T BELIEVE WHAT OBAMA SAYS IN THIS VIDEO!, MONKEYPAW PRODUCTIONS AND BUZZFEED, 17.04.2018 (WWW.YOUTUBE.COM/WATCH?V=CQ54GDM1EL0)
damit neue Gesichter zu gestalten.
Einen gewaltigen Sprung nach vorn machte
das Forschungsgebiet um 2012 mit dem Aufkom-
men einer KI-Technik namens »Deep Learning«
(Spektrum Januar 2018, S. 12). Im Gegensatz zu den
Anwendungen der späten 1990er Jahre können
die »tiefen neuronalen Netze« tatsächlich aus neu-
en Daten lernen und dadurch immer besser
werden. Außerdem erübrigt sich die Notwendig-
keit, überhaupt Modelle zu erstellen. »Dies ist der
Moment, in dem Ingenieure sagen: Wir modellie-
ren keine Dinge mehr«, sagt Xiaochang Li, Post-
doktorandin am Max-Planck-Institut für Wissen-
schaftsgeschichte in Berlin. »Wir modellieren
unser Unwissen über die Dinge und lassen dann
das System einfach laufen, um Muster zu finden.«
Man bringt einem tiefen neuronalen Netz bei,
zum Beispiel menschliche Gesichter zu erkennen, Der fiktive Forrest Gump ist dem echten John F. Kennedy nie begegnet;
indem man ihm Hunderte bis Tausende von Fotos vielmehr wurde das Gesicht des Schauspielers in historische Filmauf­
vorlegt und jedem Bild die Information mitgibt, ob nahmen einmontiert (oben). Heute erfordert es keine besondere Kunstfer-
es sich um ein Gesicht handelt oder nicht. Bei tigkeit mehr, Gesichtsbewegungen einer Person (Jordan Peele, unten
diesem Lernprozess legt das Netz sich die Merk- rechts) auf eine andere (Barack Obama, links) zu übertragen.
male zu, die ein menschliches Gesicht ausma-
chen – allerdings ohne dass diese Merkmale
irgendwie beschreibbar wären. Dennoch kann das Netz, diodateien, die echten Aufnahmen von Obama, Trump und
sowie es ein neues Bild erblickt, errechnen, in welchem Hillary Clinton erschreckend ähnlich klingen.
Ausmaß die Merkmale vorliegen, und daraufhin die Ent- Generative Netzwerke benötigen große Datenmengen
scheidung treffen »Dies ist ein Gesicht« – oder eben nicht. für das Training und entsprechend viel menschliche Arbeit
Der nächste Schritt ist der von der Analyse zur Synthe- für die Bereitstellung des Trainingsmaterials. Also versucht
se. Auch ein so genanntes generatives Netz wird mit man, auch diesen Teil der Arbeit an die Maschine zu
Tausenden von Bildern trainiert; aber nun nutzt es die so delegieren: Das Netz trainiert sich selbst.
erworbenen Merkmale, um neue, echt wirkende Gesichter Im Jahr 2014 entwickelten Ian Goodfellow und seine
zu erzeugen. Kollegen an der Université de Montréal (Kanada) ein Paar
Einige Unternehmen verwenden inzwischen den glei- aus gegnerischen generativen Netzen (generative adversari-
chen Ansatz für Ton- an Stelle von Bildaufnahmen. Anfang al networks, GAN). Das eine Netz, der »Generator«, er-
2018 stellte Google ein KI-Assistenzprogramm namens zeugt gefälschte Bilder, und das zweite, der »Diskrimina-
Duplex vor, das auf der Software WaveNet basiert. Duplex tor«, lernt, zwischen echt und falsch zu unterscheiden. Mit
klingt am Telefon wie ein echter Mensch – inklusive Verle- einem Minimum an menschlichen Eingriffen trainieren sich
genheitslauten wie »äh« und »hm«. In Zukunft wäre also die Netzwerke gegenseitig, indem sie gegeneinander aus-
Jordan Peele als Sprecher für ein gefälschtes Obama-Vi- gespielt werden: Der Generator bekommt als Lernziel, dass
deo entbehrlich. Im April 2017 veröffentlichte das kanadi- sein Produkt vom Diskriminator als echt deklariert wird, und
sche Startup-Unternehmen Lyrebird künstlich erzeugte Au- der Diskriminator, dass er echte und gefälschte Bilder als

74 Spektrum der Wissenschaft  12.18


solche erkennt. Jedes Mal, wenn der Diskriminator ein wisserung dienen könne (»seeing is no more believing«).
Erzeugnis des Generators als Fälschung enttarnt, verändert Schließlich könne »ein Bild in den Abendnachrichten
der Generator sein Bild, so dass es überzeugender wirkt, durchaus eine Fälschung sein – das Produkt einer schnel-
und jedes Mal, wenn es dem Generator gelingt, den Diskri- len neuen Video-Manipulations-Technologie«.
minator zu täuschen, bessert dieser seine Krite­rien nach. So schlimm ist es 18 Jahre später noch nicht. Allem
GANs können alles Mögliche generieren. An der Univer- Anschein nach sind Fake-Videos in der Tagesschau bislang
sity of California in Berkeley bauten Jun-Yan Zhu und seine kein Problem. Eine richtig gute Fälschung ist nämlich
Kollegen ein Paar von Netzen, das Pferde auf Fotos in immer noch schwierig. Die Leute von BuzzFeed haben für
Zebras oder ein impressionistisches Gemälde von Monet ihr Obama-Video 56 Stunden gebraucht, mit professionel-
in eine scharfe, fotorealistische Szene verwandeln kann. ler Unterstützung.
Im Mai 2018 brachten Forscher des Max-Planck-Insti-
tuts für Informatik in Saarbrücken und ihre Kollegen das Vor den Präsidentschaftswahlen 2016 hat jeder vierte
Programm »Deep Video« heraus, das ebenfalls ein GAN Amerikaner eine Fake-Nachrichtenseite angeklickt
verwendet. Mit seiner Hilfe kann ein Schauspieler einer Allerdings hat sich unser Konsumverhalten, was Informati-
anderen Person in voraufgezeichnetem Filmmaterial seine onen angeht, erheblich verändert. Nach einer Untersu-
Mund-, Augen- und Gesichtsbewegungen aufprägen, so chung des Pew Research Center schauen heute nur noch
wie Jordan Peele das mit Obama gemacht hat. Deep Vi- etwa die Hälfte der amerikanischen Erwachsenen die Fern-
deo funktioniert bislang nur, wenn das »Opfer« frontal in sehnachrichten, während zwei Drittel zumindest einen Teil
die Kamera schaut. Bewegt sich der Schauspieler zu sehr, ihrer Informationen aus den sozialen Medien beziehen. Im
weist das resultierende Video auffällige Artefakte auf; zum Internet haben sich zahlreiche verschworene Gemein-
Beispiel verschwimmt die Umgebung des Gesichts. schaften (»Echokammern«) etabliert, die nur noch Meldun-
Noch können GANs eine detailreiche Szene nicht aus gen aus der eigenen Gruppe zur Kenntnis nehmen, und
dem Hut zaubern, ohne dass der Unterschied zu einer Websites, die zur Verfolgung ihrer Ziele vor der Erregung
echten Aufnahme auffällt. Manchmal produzieren sie von Wut und Angst nicht zurückschrecken – gegen alle
Abstrusitäten wie ein Auge, das einem Menschen aus der journalistischen Standards (Spektrum November 2017,
Stirn wächst. Im Februar 2018 gelang es jedoch Forschern S. 58). Je abenteuerlicher die Meldung, desto viraler ist
der Firma NVIDIA, mit einem GAN unglaublich hochaufge- sie, das heißt, desto schneller verbreitet sie sich übers
löste Gesichter zu produzieren, indem sie das Training mit Netz, sagt Persily. Und die Ungenauigkeiten bei gefälsch-
relativ kleinen Fotos begannen und dann die Auflösung ten Videos fallen auf dem kleinen Handydisplay weniger
Schritt für Schritt erhöhten. Und Hao Li, Assistenzprofes- auf als auf dem häuslichen Fernseher.
sor für Informatik an der University of Southern California Was passiert, wenn ein Deepfake-Video mit einer poli-
und Chef von Pinscreen, einer Startup-Firma für »angerei- tisch oder sozial einflussreichen Botschaft viral wird?
cherte Wirklichkeit« (augmented reality), hat mit Hilfe von »Die kurze Antwort lautet: Wir wissen es nicht«, sagt Julie
GANs realistische Bilder von notorisch schwierigen Kör- Carpenter, die sich in der Ethics + Emerging Sciences
perpartien erschaffen: Haut, Zähne und Münder. Group an der California State Polytechnic University in San
Keine dieser Technologien ist für Laien einfach zu bedie- Luis Obispo mit der Interaktion von Menschen und Ro­
nen. Aber das Experiment von BuzzFeed lässt ahnen, botern beschäftigt. Vielleicht wissen wir es schon, wenn
wohin die Entwicklung geht. Das eingangs genannte dieses Heft erscheint; denn Anfang November fanden
Video stammt von der kostenlosen Software FakeApp, die in den USA wichtige Halbzeitwahlen (midterm elec-
ihrerseits Deep Learning (ohne GANs) verwendet. Die so tions) statt.
erstellten Videos heißen in der Szene Deepfakes nach Einmal haben wir das fatale Zusammenspiel von Desin-
einem Nutzer der Website Reddit, der sich das Pseudonym formation und enger Vernetzung bereits erlebt. Im ameri-
»Deepfakes« (zusammengezogen aus »Deep Learning« kanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 tauchten
und »Fake«) zulegte und Aufsehen erregte, weil er nicht zahlreiche Falschmeldungen auf, die darauf angelegt
nur als einer der Ersten die Technik beherrschte, sondern waren, sich viral zu verbreiten. Und sie haben ihre Emp-
auch mit ihrer Hilfe die Gesichter der Darsteller in Pornofil- fänger erreicht: Nach einer gemeinsamen Untersuchung
men durch solche von Prominenten ersetzte. der Princeton University, des Dartmouth College und der
Seitdem haben Amateure unzählige Videos mit Fake- University of Exeter in England hat etwa jeder vierte Ame-
App produziert. Die meisten von ihnen sind relativ harmlo- rikaner zwischen dem 7. Oktober und dem 1. November
se Streiche. Man sieht den Schauspieler Nicolas Cage in 2016 eine Fake-Nachrichtenseite angeklickt; den meisten
zahlreichen Filmen, in denen er nicht mitgespielt hat, oder wurde sie von Facebook angeboten. Im selben Jahr fiel
Trumps Kopf auf dem Körper von Angela Merkel. Bedrohli- das öffentliche Vertrauen in den Journalismus auf einen
cher ist, was man mit der Technik anstellen könnte, nach- Tiefpunkt. In einer Umfrage schenkten nur 51 Prozent
dem im Prinzip jeder sie nutzen kann. unter den Anhängern der Demokraten und 14 Prozent von
Experten befürchten seit Langem, dass die neuen denen der Republikaner den Nachrichten der Massenme-
Manipulationsmöglichkeiten unsere Wahrnehmung der dien tatsächlich Glauben.
Realität ruinieren könnten. Bereits im Jahr 2000 warnte ein Es gibt nicht viele Untersuchungen über gefälschte
Artikel im »MIT Technology Review«, dass durch Produkte Nachrichten. Aber einige deuten darauf hin, dass es schon
wie Video Rewrite der Augenschein nicht mehr als Verge- reicht, eine falsche Informationen nur einmal gesehen zu

Spektrum der Wissenschaft  12.18 75


haben, um sie später für plausibel zu halten, sagt Gordon
Pennycook, Dozent für Organsationsverhalten an der
»Wir können das Spiel nicht ge-
University of Regina in Saskatchewan (Kanada). Wenn wir winnen. Wir können es den Bösen
hören, wie Obama Trump mit einem Schimpfwort belegt,
und nach einer Woche auf eine weitere Fälschung treffen, nur immer schwerer machen«
in der Obama gegenüber Trump obszön wird, neigen wir
dazu, das schon deshalb für echt zu halten, weil uns das
Muster vertraut ist. der Louisiana State University. Pingree untersucht, inwie-
Laut einer Studie aus dem Massachusetts Institute of weit Menschen sich fähig fühlen, Echtes von Falschem zu
Technology (MIT), die zwischen 2006 und 2017 insgesamt unterscheiden, und wie das ihre Bereitschaft beeinflusst,
126 000 verschiedene Storys auf Twitter verfolgte, teilen am politischen Leben teilzunehmen. Wer diese Selbstsi-
wir falsche Nachrichten bereitwilliger als echte; und cherheit verliert, »fällt eher auf Lügner und Kriminelle
politische Falschmeldungen verbreiten sich weiter und herein«, sagt er, »und im Extremfall gibt er die Suche nach
rascher als die über Geld, Naturkatastrophen oder Terroris- der Wahrheit auf«.
mus. Die Autoren der im März 2018 in »Science« erschie-
nenen Arbeit vermuten, dass die Menschen nach Neuhei- Katz-und-Maus-Spiel
ten gieren. Allgemein zielen gefälschte Nachrichten auf zwischen Fälschern und Entlarvern
unsere Emotionen und veranlassen uns dadurch, sie Für einen Computerwissenschaftler besteht die Behebung
weiterzuleiten, bevor wir die Information wirklich verarbei- eines Defekts häufig aus noch mehr Computerwissen-
tet haben und entscheiden können, ob eine Verbreitung schaft. Das aktuelle Problem ist zwar alles andere als ein
sich lohnt. Je mehr ein Inhalt uns überrascht, erschreckt Programmierfehler und vor allem viel komplizierter; den-
oder empört, desto schneller und häufiger scheinen wir noch hält sich in der Szene die Vorstellung, man könne
bereit, ihn zu teilen. Algorithmen entwerfen, die Fälschungen erkennen und
Allem Anschein nach ist die Darreichungsform Video mit Warnhinweisen versehen.
besonders geeignet, Angst zu schüren. »Wenn Sie Infor- »Man kann sicherlich gewisse Techniken gegen das
mationen visuell verarbeiten, glauben Sie, dass die Sache Problem anwenden«, sagt R. David Edelman von der
Ihnen räumlich, zeitlich oder sozial nähersteht«, sagt Elinor Internet Policy Research Initiative des MIT. Edelman,
Amit, Assistenzprofessorin für Kognitionswissenschaft, früher Berater von Präsident Obama, ist beeindruckt von
Linguistik und Psychologie an der Brown University. Ihre den gefälschten Videos über seinen ehemaligen Chef. »Ich
Arbeit beschäftigt sich mit den Unterschieden in unseren kenne den Mann. Ich habe Reden für ihn geschrieben.
Reaktionen auf Texte und Bilder. Amit vermutet evolutio- Und ich könnte ein echtes Video nicht von einem falschen
näre Ursachen: Unsere Sehfähigkeit ist älter als die Spra- unterscheiden.« Aber im Gegensatz zu ihm würde ein
che, und in – echten oder vermuteten – Gefahrensitua­ Algorithmus digitale Merkmale finden, die mit bloßem
tionen geben wir den unmittelbaren Sinneseindrücken den Auge nicht zu sehen sind.
Vorrang. Bisherige Lösungen sind von zweierlei Art. Man könnte
Gefälschte Videos haben in der Tat bereits in politische erstens jedem Video einen Echtheitsnachweis mitgeben,
Kampagnen eingegriffen. Im Juli 2018 veröffentlichte Allie vergleichbar den Hologrammen, Wasserzeichen und
Beth Stuckey, eine Moderatorin des Medienunternehmens anderen Mitteln, mit denen Banknoten gegen Fälschungen
Conservative Review, auf Facebook ein Interview mit gesichert sind. Jede Digitalkamera hätte eine eindeutige
Alexandria Ocasio-Cortez, einer demokratischen Kandida- Signatur, die – theoretisch – schwer zu kopieren wäre.
tin für den Kongress aus New York City. Das Video war Zweitens könnte man in der Tat ein Programm schrei-
kein Deepfake, sondern ganz traditionell zusammenge- ben, das ein gefälschtes Video automatisch als solches
schnitten aus einem echten Interview und veränderten erkennt. Das bisher wohl bedeutendste Unternehmen in
Fragen, die nicht zu den Antworten passten, so dass die dieser Richtung heißt Media Forensics oder kurz MediFor.
Befragte wirkte, als sei sie nicht recht bei Verstand. Das Die Forschungsabteilung des amerikanischen Verteidi-
mag man je nach der eigenen politischen Orientierung als gungsministeriums (Defense Advanced Research Projects
Verleumdung auffassen oder als Satire, wie Stuckey später Agency, DARPA) hat es 2015 auf den Weg gebracht, nicht
zu ihrer Verteidigung behauptete. Jedenfalls brachte es lange, nachdem ein russischer Nachrichtensender ge-
das Video auf 3,4 Millionen Aufrufe innerhalb einer Wo- fälschte Satellitenaufnahmen ausgestrahlt hatte, auf
che. Etliche der mehr als 5000 Kommentare ließen erken- denen ein ukrainischer Kampfjet auf das – später abge-
nen, dass die Zuschauer es für echt und die Kandidatin stürzte – Verkehrsflugzeug der Malaysia Airlines (Flug
damit für dumm gehalten hatten. MH 17) feuerte.
Schlimmer als die Fake-Videos selbst sind deren Folgen Eine Gruppe internationaler Ermittler hat inzwischen
für den gesellschaftlichen Diskurs. Jeder Politiker, der bei festgestellt, dass das Flugzeug von einer russischen Rake-
einer Missetat gefilmt wird, kann Zweifel säen mit der Be- te abgeschossen wurde. Die falschen Satellitenbilder
hauptung, das Video sei gefälscht. Bereits das Wissen, wurden nicht mit Hilfe von Deep Learning angefertigt,
dass glaubwürdige Fälschungen möglich sind, kann das aber die DARPA sah die revolutionären Fortschritte kom-
Vertrauen in alle Medien untergraben, sagt Raymond J. men und wollte rechtzeitig dagegen gewappnet sein, sagt
Pingree, Assistenzprofessor für Massenkommunikation an David Doermann, der frühere Chef von MediFor.

76 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Das Programm arbeitet mit drei Verfahren, die sich mit sagen einige – an die Nutzer ab, indem er sie bittet, die
Deep Learning automatisieren lassen. Das erste sucht auf Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenquellen zu bewer-
der Ebene der einzelnen Bits nach Anomalien. Das zweite ten. Außerdem plane er, Desinformationen mit Hilfe von KI
prüft nach, ob die gezeigte Szene den Gesetzen der Physik zu kennzeichnen. Über Einzelheiten gibt Facebook keine
folgt, zum Beispiel ob die Gegenstände Schatten in die Auskunft. Einige Computerwissenschaftler sind skeptisch,
richtige Richtung werfen. Das dritte gleicht mit externen was den Einsatz von KI betrifft, darunter Hany Farid,
Daten ab: War das Wetter an dem Tag, an dem angeblich Professor für Computerwissenschaft am Dartmouth Col-
gefilmt wurde, wirklich so, wie es aussieht? Aus den lege, der die Versprechungen für »spektakulär naiv« hält.
Ergebnissen der drei Teilprüfungen soll eine Gesamtpunkt- Bisher konnten nur wenige unabhängige Wissenschaftler
zahl errechnet werden, die angibt, mit welcher Wahr- untersuchen, wie sich gefälschte Nachrichten auf Face-
scheinlichkeit das vorliegende Video eine Fälschung ist. book verbreiten, weil die Firma viele der relevanten Daten
Ein weiteres interessantes Konzept stammt von der unter Verschluss hielt.
genannten Saarbrücker Arbeitsgruppe. Aus dem Paar
gegnerischer generativer Netze ist der Diskriminator
optimal darauf trainiert, das Werk des Generators als
Fälschung zu erkennen. Also ist er auch zum Entlarven Mehr Wissen auf
fremder Machwerke nutzbar. Spektrum.de
Nur würde die andere Seite mit geeigneten Maßnah-
men dagegenhalten. Die Fälscher würden sich bemühen, Unser Online-Dossier zum Thema
digitale Wasserzeichen nachzumachen und ihrerseits mit finden Sie unter
spektrum.de/t/kuenstliche-
Hilfe von Deep Learning die Prüfalgorithmen hereinzule-
intelligenz ISTOCK / ADVENTTR
gen. Am Ende treiben sich spezielle gegnerische generati-
ve Netze, der Generator bei den Kriminellen und der Dis-
kriminator bei den Aufpassern, jeweils zu Höchstleistun-
gen. »Wir können dieses Spiel nicht gewinnen«, sagt Alle Entlarvungsalgorithmen der Welt werden jedoch
Alexei Efros, Professor für Informatik und Elektrotechnik nicht helfen, wenn die Entwickler der Technologie, die das
an der University of California in Berkeley und beteiligt an Fälschen erst ermöglicht, sich nicht damit auseinanderset-
MediFor. »Wir können es den Bösen nur immer schwerer zen, wie ihre Produkte verwendet oder eben missbraucht
machen.« werden. »Ich appelliere an die Vertreter der harten Wissen-
schaft«, sagt Persily, »sich mit den Psychologen, den
Twitter und Facebook fördern durch ihre Konstruktion Politikwissenschaftlern und den Kommunikationsspezialis-
die Verbreitung von Fake News ten zusammenzutun, die seit einiger Zeit an diesen Fragen
Selbst wenn die automatische Entlarvung funktioniert, arbeiten«. Bisher geschah das eher selten.
wird zwischen dem Auftauchen einer Lüge und ihrer Im März kündigte das Finnish Center for Artificial Intelli-
Widerlegung immer eine gewisse Zeit vergehen. Deshalb gence eine entsprechende Initiative an. Psychologen,
kommt es entscheidend darauf an, dass die Social-Media- Philosophen, Ethiker und andere sollen KI-Forschern
Branche der Verbreitung von überzeugenden gefälschten helfen, die weit reichenden sozialen Folgen ihrer Arbeit zu
Videos Einhalt gebietet. »Man muss an der Verteilung erfassen. Und im April hat Persily zusammen mit Gary
ebenso ansetzen wie an der Erzeugung«, sagt Edelman. King, einem Politikwissenschaftler an der Harvard Univer-
»Wenn ein Deepfake im Wald umfällt, hört das niemand, sity, die Social Data Initiative ins Leben gerufen. Erstmals
es sei denn, Twitter und Facebook verstärken es.« sollen Sozialwissenschaftler auf Facebook-Daten zugreifen
Es ist derzeit weder klar, inwieweit die Social-Media- können, um detailliert zu untersuchen, wie Desinformation
Unternehmen zu entsprechenden Schritten rechtlich sich ausbreitet.
verpflichtet sind, noch, wie eine solche Regulierung prakti- Da an der Spitze ein Verantwortungsvakuum herrscht,
ziert werden könnte, ohne das verfassungsmäßige Recht liegt es an Journalisten und engagierten Bürgern, die
auf Freiheit der Rede zu verletzen. Immerhin hat Face- Fake-Videos bloßzustellen. Gegen Ende des Deepfake-
book-Chef Mark Zuckerberg zugegeben, dass seine Platt- Clips von Obama und Peele sagen beide Männer: »In
form bei der Verbreitung von Fake News eine Rolle ge- Zukunft müssen wir wachsamer sein in Bezug auf das,
spielt hat – wenn auch mit mehr als zehn Monaten Verzö- was wir aus dem Internet glauben können. Wir leben in
gerung nach den Wahlen von 2016. Facebook ist einer Zeit, in der wir vertrauenswürdige Nachrichtenquel-
schließlich so konzipiert, dass Nutzer konsumieren und len benötigen.« Vielleicht hat Obama diesen Satz in Wirk-
verbreiten, was sie interessiert, womit dem Populären lichkeit nie gesagt; wahr ist er trotzdem.
systematisch der Vorrang vor der Wahrheit eingeräumt
wird. Mit mehr als zwei Milliarden aktiven Benutzern ist QUELLEN
die Plattform ein riesiges Pulverfass, an das jeder eine Lazar, D. M. J. et al.: The Science of Fake News. In: Science 359,
Lunte legen kann, der eine Wut erregende Lügengeschich- S. 1094–1096, 9. März 2018
te verbreiten will. Marwick, A. E.: Why Do People Share Fake News? A Sociotechnical
Seitdem hat Zuckerberg versprochen zu handeln. Als Model of Media Effects. In: Georgetown Law Technology Review 2,
Erstes schiebt er Arbeit – und damit auch Verantwortung, S. 474–512, 2018

Spektrum der Wissenschaft  12.18 77


MATHEMATISCHE
UNTERHALTUNGEN Der Neujahrsgruß von

FLÄCHEN-
William Walkington ent-
hält das erste flächen-
magische Quadrat
überhaupt.

MAGISCHE

WILLIAM WALKINGTON (CARRESMAGIQUES.BLOGSPOT.COM/2017/01/AREA-MAGIC-SQUARES-AND-TORI-OF-ORDER-3.HTML)


QUADRATE
Die altehrwürdigen magischen
Quadrate habe neue, geometrische
Geschwister bekommen.

Jean-Paul Delahaye ist emeri­


tierter Professor der Université
Lille I und Forscher am Centre
de recherche en informatique,
signal et automatique in Lille
(CRISTAL).

 spektrum.de/artikel/1603760


Die Geschichte beginnt ganz unspektakulär mit einer
Neujahrsglückwunschkarte. Ende Dezember 2016
schickt der Brite William Walkington an seine Freun­ Magische Quadrate
den, die sich wie er für Unterhaltungsmathematik be­
geistern können, zusammen mit den besten Wünschen ein Ein (allgemeines) magisches Quadrat der Ord­
magisches Quadrat neuer Art (Bild rechts oben). Es han­ nung n ist eine quadratische Tabelle mit n Zeilen
delt sich um das klassische magische Quadrat der Ord­ und n Spalten, gefüllt mit verschiedenen ganzen
nung 3 (»Lo Shu«), das bereits aus dem antiken China Zahlen derart, dass die Summe der Einträge in
überliefert und im Wesentlichen – bis auf Drehungen und jeder Zeile und in jeder Spalte stets den gleichen
Spiegelungen – eindeutig bestimmt ist. Aber diesmal Wert S ergibt. Zusätzlich wird verlangt, dass die
stehen in den 3 mal 3 Kästchen nicht nur die Zahlen von Zahlen in jeder der beiden Diagonalen des Gitters
1 bis 9 derart, dass alle Zeilen-, Spalten- und Diagonal­ ebenfalls die Summe S ergeben. Für ein ma­
summen gleich 15 sind (»Magische Quadrate«, rechts); gisches Quadrat der Ordnung n ergeben sich
jedes Kästchen ist auch flächenmäßig so groß, wie die in somit 2n + 2 verschiedene Zahlenreihen mit Sum­
ihm stehende Zahl angibt. me S. Manchmal werden zusätzliche Anforderun­
Damit ist die Idee der »area magic squares« (»flächen­ gen gestellt, zum Beispiel dass die Zahlen mit 1
magische Quadrate«) geboren – und findet alsbald begeis­ beginnend aufeinanderfolgen (»klassisches ma­
terte Anhänger. Binnen weniger Tage antworten die Freun­ gisches Quadrat«) oder sämtlich Primzahlen sind.
de auf Walkingtons Karte und finden neue Verfahren, ein Magische Quadrate waren mehrfach Thema in
großes Quadrat so in Teilstücke zu zerlegen, dass ein den »Mathematischen Unterhaltungen«; eine
flächenmagisches Quadrat dabei herauskommt. Sammlung dieser Artikel findet sich im Spektrum
Exakt formuliert lautet die Idee: Zerschneide eine geo­ Dossier 2/2008 »Lustvolle Geometrie«.
metrische Quadratfigur in n2 Teilflächenstücke, die in n Zei­
len und in n Spalten angeordnet zu denken sind. Schreibe

78 Spektrum der Wissenschaft  12.18


a b c
2
4 9 2 4 9 2 4
9
3 7
Flächen verformen

A - C: POUR LA SCIENCE; D + E: POUR LA SCIENCE, NACH: LEE SALLOWS; F: WILLIAM WALKINGTON


3 5 7 3 5 7

Man beginnt mit der Zerlegung des 8 5 6


3·3-Quadrats in kleine Quadrate 8 1 6 8 1 6
gleicher Fläche (a). Nun verschiebt

1
man in jeder Zeile die vertikalen d e f 1
Trennwände zwischen den Teil­ 9 8
11 14
feldern, bis die Rechtecke den 4 2
richtigen Flächeninhalt haben (b). 12 13 2
3 7
Das gelingt, weil nach Vorausset­ 5 7
6 3
zung alle Zeilensummen gleich 16 9
sind. Statt mit vertikalen Trenn­ 1
wänden in jeder Zeile kann man 8 6 15 10 5 4
auch mit horizontalen in jeder
Spalte arbeiten (c). Zusätzlich hat
man die Möglichkeit, die Teilflä­ die denselben Anfangs- und End­ linien zwischen ehemaligen Zeilen
chen bei gleich bleibendem Flä­ punkt hat und punktsymmetrisch und Spalten möglichst glatt von
cheninhalt noch zu verformen, zum zum Mittelpunkt der ursprüng­ einer Seite des Gesamtquadrats
Beispiel indem man eine Fläche an lichen Strecke ist. Dabei bleiben zur gegenüberliegenden verlaufen,
einer Stelle ausbeult und zum die Flächeninhalte der beteiligten ohne mit ihresgleichen ein Stück
Ausgleich an anderer Stelle ein­ Teilflächen unverändert. gemeinsam zu haben (e). Das ist in
dellt, während ihrer Nachbarfläche In diesen Zerlegungen ist aller­ dem flächenmagischen Quadrat
das Umgekehrte geschieht (d). dings die ursprüngliche Zeilen- und der Ordnung 4 (f) erfüllt; aber die
Genauer: Man darf ein gerades Spaltenstruktur nur mühsam bis Spalten- (rot) und Zeilentrenn­linien
Stück Grenze zwischen zwei Teilflä­ gar nicht zu erkennen. Eigentlich (blau) sind noch zu verknickt, um
chen durch eine Kurve ersetzen, wünscht man sich, dass die Trenn­ als schön gelten zu können.

in jedes Teilflächenstück dessen Flächeninhalt als Zahl Für die Ordnung 3 fand Walter Trump, pensionierter
hinein. Wenn diese n2 Zahlen ein allgemeines magisches Gymnasiallehrer aus Nürnberg (derselbe, der vor Jahren
Quadrat bilden, spricht man von einem flächenmagischen perfekte magische Würfel fand, Spektrum März 2004, S. 108),
Quadrat. eine positive Antwort mit einem überraschend einfachen
Bald stellt sich heraus, dass es mehr oder weniger Verfahren. Man beginne wieder mit der Einteilung in 3·3
schöne Zerlegungen gibt – und dass man über Schönheit gleich große Quadrate und mache die Zeilen- und Spalten­
auch hier verschiedener Meinung sein kann. Doch am trennlinien um ihre Mittelpunkte drehbar (Bild unten).
Anfang steht die Frage nach der Existenz von Lösungen: Einerlei, wie man sie dreht, das entstehende Quadrat ist
Lässt sich aus jedem allgemeinen magischen Quadrat ein flächenmagisch, was die Zeilen- und die Spaltensummen
flächenmagisches machen? angeht, denn was zum Beispiel der linken Spalte unten an
Die Antwort lautet zunächst: Ja! Man kann innerhalb Fläche weggenommen wird, bekommt sie oben wieder.
einer Zeile oder Spalte kleine Quadrate so zu Rechtecken Nun sind nur noch die beiden verbleibenden Bedingun­
verformen, dass die Flächenbedingungen erfüllt sind, und gen an die Summen über die Diagonalen zu erfüllen. Dafür
noch ein bisschen mit den Trennlinien zwischen zwei hat man die Drehwinkel der vier Zerschneidungsstrecken
Teilflächen spielen (»Flächen verformen«, oben). Dabei
ergeben sich allerdings wenig schöne zickzackförmige
Begrenzungslinien für die Zeilen und Spalten. Lassen sich Einerlei, wie man die roten
diese uneleganten Schnittlinien vermeiden? Kann es Spalten- und die blauen Zeilen-
vielleicht sogar ein lineares flächenmagisches Quadrat trennlinien um ihren jeweiligen
geben, das heißt eines, das nur durchgehende gerade Mittelpunkt dreht, die Flächen-
Schnitte enthält? summen über jede Zeile und
Wenn man William Walkingtons Neujahrsgruß betrach­ jede Spalte bleiben unverän-
tet, sieht es zunächst nicht so aus: Zwei der verwendeten dert; denn gegenüber dem
Linien haben einen Knick, und wenn man deren größere Ausgangszustand wird jeder
Teile über den Knick hinaus verlängert, schneiden sie sich Zeile beziehungsweise Spalte
POUR LA SCIENCE

innerhalb des Quadrats. Die Frage blieb eine Weile unge­ ein Dreieck weggenommen
klärt, und der Freundeskreis machte sich auf eine intensi­ und ein kongruentes Dreieck
ve Suche. hinzugefügt.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 79


10

10 11 3 11
6 2 7 7 3

8
8 7 9 9 8
3 4 4
aa b
b cc d
d ee ff g

A - F: WILLIAM WALKINGTON, NACH:


WALTER TRUMP; G: SPEKTRUM DER
WISSENSCHAFT, NACH: JAN VAN DELDEN
(WWW.PRIMEPUZZLES.NET/PUZZLES/PU865
%20AREA%20MAGIC%20SQUARES,%20JVD.PDF)
5 6 10 6 7 7 8 41 113 59
4 9 5 5 6 11 6 11 7 12
10

10 11 3 11 89 71 53
6 2 7 7 3 12 8 4 12 8 4 13 9 5

8
9 10 29 101
8 7 9 9 8 10 5 10 9 6 11 83
3 4 4 5

d e f

Diese
7 linearen flächenmagischen
6 11
7
6
Quadrate
8 der7Ordnung 3
11 12
als frei wählbare Parameter zur Verfügung. Das sind zwei
sind nach dem Verfahren von Walter Trump konstruiert. Gleichungen mit vier Unbekannten; wenn diese überhaupt
Wenn
12 man
8 die
4 Konstante
12 x = 1
8 zu4 den Einträgen
13 9 des 5klassi- lösbar sind, bleiben im Allgemeinen zwei Parameter übrig,
schen Lo Shu addiert, existiert eine Lösung (a). Für x = 2 gibt die man nach Belieben wählen kann – fast. Man darf die
9 10
es5zwei Lösungen
10 (b 5und c),
10 ebenso
9 für x = 3
6 (d11und e). Von Winkel nicht so groß machen, dass zwei Linien sich im
den beiden Lösungen für x = 4 ist nur eine wiedergegeben (f). Inneren des Quadrats schneiden. Aber davon abgesehen
Das Verfahren funktioniert auch für ein magisches 3·3- kann man die verbleibende Freiheit so nutzen, dass die
Quadrat, das nur aus Primzahlen besteht (g). Inhalte der entstehenden Flächen – in einer geeigneten
Maßeinheit – ganzahlig werden oder sogar vorgeschriebe­
ne Werte annehmen.
Das Lösen des Gleichungssystems überlässt man am
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, LINKS NACH: besten dem Computer. Der berechnet der Reihe nach
WALTER TRUMP, RECHTS NACH: HANS-BERNHARD MEYER
immer bessere Näherungen, bis die Abweichung von der
33 18 9 36 28 26 24 22 exakten Lösung vernachlässigbar klein wird. Eine ge­
schlossene, formelmäßige Darstellung der Lösung gibt es
27 22 19 28 13 21 29 37 bislang nicht.
Wendet man dieses Verfahren auf das klassische Lo
21 26 29 20 40 30 20 10 Shu an, so stellt sich heraus, dass sich die Trennlinien
unweigerlich im Inneren des Quadrats schneiden. Wenn
15 30 39 12
man allerdings zu jedem Eintrag des Lo Shu eine ganze
19 23 27 31
Zahl x addiert, ergibt sich ein neues magisches Quadrat
mit den Einträgen 1 + x bis 9 + x. Die Überraschung war,
Die ersten flächenmagischen Quadrate der Ordnung 4 von dass ab x = 1 das Verfahren ein zugehöriges lineares
Walter Trump (links) und Hans-Bernhard Meyer (rechts). ­flächenmagisches Quadrat liefert, ab x = 2 gibt es sogar
Trump hat die horizontalen Trennlinien bestehen lassen, jeweils 2 Lösungen. Jan van Delden, Fachhochschuldozent
Meyer die vertikalen: ein unwesentlicher Unterschied, da in Leeuwarden (Niederlande), hat das Verfahren auf ein
man jedes flächenmagische Quadrat – ebenso wie jedes magisches Quadrat aus lauter Primzahlen angewandt
gewöhnliche magische Quadrat – um 90 Grad drehen kann, (Bild oben, g).
ohne dass sich an seinen definierenden Eigenschaften Es liegt nahe, die Suche nach magischen Flächenqua­
etwas ändert. Das weiße Linienraster im rechten Quadrat draten auf größere Exemplare auszudehnen. Je größer die
erlaubt es, die Flächen der Teilfelder durch Auszählen der Ordnung n des Quadrats ist, desto mehr Zahlen wollen an
Kästchen zu ermitteln. die richtige Stelle gesetzt werden. Allerdings wächst die
Anzahl der zu erfüllenden Bedingungen weit langsamer als
die Zahl der Möglichkeiten. Daher wird die Suche mit
zunehmendem n zwar mühsamer, aber auch ergiebiger.
Wenn man außerdem die Forderung aufgibt, dass die
WILLIAM WALKINGTON (CARRESMAGIQUES.BLOGSPOT.COM/
2017/01/AREA-MAGIC-SQUARES-OF-ORDER-6.HTML)

131 165 199 233 267 301 Einträge aufeinanderfolgende Zahlen sein sollen, wird die
296 264 232 200 168
Menge der Lösungen nochmals reichhaltiger – so sehr,
136
dass man selbst dann noch Lösungen findet, wenn man
212 204 196
236 228 220
Zusatzbedingungen stellt.
194 150
106 Das erste flächenmagische 4·4-Quadrat fand ebenfalls
282 238
326 Walter Trump wenige Wochen nach Walkingtons Glück­
391
41 111 181 251 321
wunschkarte, sogar ohne Computerhilfe. Wieder arbeitete
266
er mit der Drehung von Trennlinien, diesmal jedoch mit der
246 226 206 186 166 Zusatzbedingung, dass die horizontalen unter ihnen über­
haupt nicht bewegt werden. Unter diesen Umständen
Lineare flächenmagische Quadrate der Ordnung 6 von fordert der Strahlensatz aus der elementaren Geometrie
William Walkington (links) und Hans-Bernhard Meyer sein Recht: Die Zahlen in jeder Spalte müssen eine arith­
(rechts). Letzteres hat die magische Summe 402, den metische Folge bilden, das heißt, die Differenz zwischen
kleinsten möglichen Wert dieser Klasse. In diesem Fall jeder Zahl und ihrer Vorgängerin ist konstant.
lassen sich die Schnittlinien exakt durch Wurzelausdrücke Ein weiteres 4·4-Quadrat fand Hans-Bernhard Meyer
und rationale Zahlen beschreiben. aus Au bei Freiburg (Bild links Mitte). William Walkington

80 Spektrum der Wissenschaft  12.18


y y y y

33 33
F₂ 30 45 F₂ F₂ 30 45 F₂

POUR LA SCIENCE, NACH: WALTER TRUMP


(WWW.TRUMP.DE/MAGIC-SQUARES/AREA-MAGIC/INDEX.HTML)
Geschwungene Linien
Zunächst 48 konstruiert 36 man ein 24 nicht 48 36 24
knickfreies flächenmagisches
Quadrat der Ordnung 3, indem
manF₁ in die Mitte des Quadrats ein F₁ F₁ F₁
Quadrat27mit einem42Neuntel der 39 27 42 39
Gesamtfläche G₁ setzt und von G₂ des­ G₁ G₂ G₁ G₂ G₁
0 Ecken gerade Linien zu den
sen x 0 x 0 x 0

2 2 2 2
Rändern H(54, des3,Quadrats
5, x) zieht
quand 0 ≥ x < 6 derart, H(108, 3, 11/2, y) quand 0 ≥ y < 6 H(54,
H(54,
 3, 5, 3,
x) 5, x) 0 ≥ x0 <≤6 x < 6
quandfür H(108, 3, 11/2, y
F (x) = J(x) quandan 6 ≥ xdie
< 12 G (y) = J(y) quand 6 ≥ y < 12 F1F(x)(x) == J(x)J(x) quandfür
6 ≥ x6 <≤12x < 12 G1(y) = J(y)
dass die Bedingungen
1 Mittelpunkt
1 der Strecke,
H(108, 15, 13/2, y)
an deren
quand 12 ≥ y < 18
1
 H(108, 15, 13/2,
H(54, 15, 7, x) quand 12 ≥ x < 18 H(54, 15, 7, x) quand
H(54, 15, 7, x) für 12 ≥12x <≤18x < 18
Teilflächen erfüllt sind (links). Von Stelle sie tritt. Die Krümmung der

dieser
F (x) =Grundlage
2
9 – F (x)
1 2ausgehend
G (y) = 9 – G (y)
1 0 0 Kurven
H(a, x , y , x) = (x – x )(x – x stellt
0
– 27)/a +Trump
0
y0 nach
J(x) = (9 – x)[(9 dem
– x) – 9] /180 + 6
2 2
F2(x) = 9 –
F1H(108,
(x) G3,
2
(y)11=,9y)
2
– G1(y)für 0H(a,
≤ yx0<
, y06
, x) = (x – x0)(x – x0 – 27)/a + y0

ersetzt Walter Trump alle geraden Vorbild der Spline-Interpolation so G1 (y) = J(y) für 6 ≤ y < 12

H(108, 15, 13
2 , y) für 12 ≤ y < 18
Strecken durch gekrümmte, und ein, dass sie an den ehemaligen
zwar so, dass sich die Flächen­ Knickpunkten glatt (mit gemeinsa­ F2 (x) = 9 − F1 (x) G2 (y) = 9 − G1 (y)

inhalte nicht ändern; denn jede mer Tangente) ineinander über­ H(a, x0 , y0 , x) = (x − x0 )(x − x0 − 27)/a + y0
Kurve ist punktsymmetrisch zum gehen (rechts).  2
J(x) = (9 − x) (9 − x)2 − 9 /180 + 6

bestimmte noch im Januar 2017 das erste lineare magi­ Qua­drat ergeben. Unter dieser Voraussetzung fand Trump
sche 6·6-Flächenquadrat (mit 5 Vertikalen), Hans-Bern­ ein »gerundetes lineares magisches Flächenquadrat«
hard Meyer fand wenige Tage später das kleinste Exemp­ (Bild unten).
lar dieser Klasse (Bild S. 80 unten, rechts). Im Prinzip müssen die Trennlinien auch keine Geraden
Die Suche nach flächenmagischen Quadraten der sein; nur knickfrei hätte man sie gern, damit es schöner
Ordnung 5 war unergiebig. Wenn es sie überhaupt gibt, aussieht. Das Problem hat Walter Trump ähnlich gelöst
dann sind die Einträge sehr groß. Daher hat Walter Trump wie die Straßenbau-Ingenieure: An die Stelle einer alten
die Forderung etwas abgemildert. Die Koordinaten der Trasse mit scharfen Ecken setzen sie eine elegant ge­
Punkte, in denen die Trennlinen den Rand des Quadrats krümmte, indem sie die Straße beiderseits der Ecke ein
treffen, sollen zwar ganzzahlig sein; aber es soll genügen, bisschen in die richtige Richtung ausbeulen. Eine geknick­
wenn die Inhalte der Teilflächen nur annähernd ganzzahlig te Lösung des Problems ist zumindest für die Ordnung 3
sind und nach Rundung auf ganze Zahlen ein magisches nicht schwer zu finden. Wenn man die geraden Linien
durch geschwungene ersetzt, muss man darauf achten,
dass die Flächen erhalten bleiben (»Geschwungene Lini­
14 6 15 2 13
en«, oben).
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: WALTER TRUMP
(WWW.TRUMP.DE/MAGIC-SQUARES/AREA-MAGIC/INDEX.HTML)

Ein neues Gebiet der Unterhaltungsmathematik hat sich


9 123 65 141 38 133 aufgetan und bereits die ersten Früchte getragen. Aber
11
hier gibt es sicherlich noch viel zu entdecken.
7 91 73 120 80 136 13 QUELLEN

14 Meyer, H. B.: Beobachtungen über magische 4x4 Flächen-Quadrate


134 114 99 mit vertikalen Linien. www.hbmeyer.de/backtrack/area/index1.htm
86 67 6
Trump, W.: Area Magic Squares. www.trump.de/magic-squares/
area-magic/index.html
7 64 100 79 149 108
13 Van Delden, J.: Area magic squares of order 3. www.primepuzzles.
net/puzzles/Pu865%20Area%20Magic%20Squares,%20JVD.pdf

13 88 148 61 147 56
Walkington, W.: Area Magic Squares and Tori of Order 3.
7 https://carresmagiques.blogspot.com/2017/01/area-magic-squares-
and-tori-of-order-3.html
6 14 5 18 7 Walkington, W.: Area Magic Squares of Order 4.
https://carresmagiques.blogspot.com/2017/02/area-magic-squares-
Gerundetes lineares flächenmagisches Quadrat der of-order-4.html
Ordnung 5 von Walter Trump. Die Flächeninhalte der 25 Walkington, W.: Area Magic Squares of Order 6.
Teilfelder weichen um höchstens 0,28 Prozent von den https://carresmagiques.blogspot.com/2017/01/area-magic-squares-
angegebenen gerundeten Werten ab. of-order-6.html

Spektrum der Wissenschaft  12.18 81


WIKINGER
PIONIERE IN EINER
UNWIRTLICHEN WELT
Jahrhundertelang trotzen Nordmänner auf Grönland
den harschen Bedingungen der Arktis. Lockte sie das
Elfenbein aus der Walrossjagd?

Zach Zorich (links) arbeitet als Journalist


in Colorado, historische Themen bilden
einen seiner Schwerpunkte. Klaus-Dieter
Linsmeier ist Koordi­nator für Archäolo-
gie, Geschichte und Kultur bei Spektrum der
Wissenschaft.

 spektrum.de/artikel/1603762

GETTY IMAGES / EPICS / RDIMAGES

82 Spektrum der Wissenschaft  12.18



Um das Jahr 985 waren die ersten Siedler von Island
nach Grönland aufgebrochen, doch selbst zur Glanz-
SERIE
Historische Migrationen zeit lebten auf der riesigen Insel nur etwa 3000 Men-
schen. Während die Isländer allen Herausforderungen bis
Teil 1: Dezember 2018 in die heutige Zeit widerstanden, verfielen Grönlands
Pioniere in einer unwirtlichen Welt Siedlungen im 15. Jahrhundert. Eine Übernutzung der
Zach Zorich und Klaus-Dieter Linsmeier
beschränkten natürlichen Ressourcen sei der Grund gewe-
Teil 2: Januar 2019 sen, lautet eine gängige Theorie. Bedrängt von wachsen-
Die vielen Wurzeln der Bayern den Inlandgletschern und Meereis habe man in der Klei-
Michaela Harbeck, Brigitte Haas-Gebhard nen Eiszeit aufgeben müssen, ist eine zweite. In den
und Joachim Burger
letzten Jahren mehren sich aber die Indizien für eine weit
Teil 3: Februar 2019 komplexere Erklärung.
Rekonstruktion einer Flucht Am Anfang, so erzählen es isländische Sagas, standen
Andreas Reinecke
Gewalt und Tod. Thorvald Asvaldsson, ein norwegischer
Großbauer, und sein Sohn Erik wurden des Totschlags
beschuldigt und nach Island verbannt. Doch Erik blieb
jähzornig und gewaltbereit. Nicht allein seine Haarfarbe,
sondern auch das Blut an seinen Händen soll ihm den
Insgesamt 78 elfenbeinerne Schachfigu- Beinamen »der Rote« eingebracht haben. Im Streit tötete
ren wurden 1831 auf der schottischen er erneut, und die Versammlung der freien Männer, das
Insel Lewis entdeckt. Experten vermuten, Thing, verurteilte ihn zu drei Jahren Verbannung. Da die
dass sie im 12. Jahrhundert in Norwegen Sippen seiner Opfer auf Blutrache sannen, rüstete Erik ein
geschnitzt worden sind. Die Spielidee Schiff aus und folgte früheren Berichten über eine unbe-
stammte aus arabischen Ländern und war kannte Insel, die abseits der üblichen Route nach Norwe-
wohl durch Handelskontakte nach gen liegen sollte.
Skandinavien gelangt.
»Grünes Land« – ein Marketingtrick
Mit einer Hand voll Männer erreichte er das Ziel und ließ
sich in einem geschützten Fjord nieder. Drei Jahre später
kehrte er nach Island zurück und warb erfolgreich für das
»grüne Land«: Mit einer Flotte von 25 Langschiffen brach
er wieder auf, von denen allerdings nur 14 ankamen.
Als Motivation der Aussiedler vermuteten Historiker
und Sozialwissenschaftler die Suche nach fruchtbarem
Ackerboden und guten Weideflächen. Eine solche »Land-
nam« hatte Norweger zwischen 850 und 875 nach Island
und auf die Färöer-Inseln geführt. Falls dies tatsächlich der
Hauptgrund gewesen war, verdarb der Anblick der eisigen
Felsküsten den Pionieren wohl erst einmal die Stimmung:
Erik hatte sie mit einem Marketingtrick in eine Region
gelockt, die noch stärker von arktischen Bedingungen
geprägt war als Island.
Doch Anführer genossen in altskandinavischen Gemein-
schaften eine besondere Machtfülle. Experten vermuten,
dass ihre herausragende Stellung – neben Fortschritten in
der Schiffstechnik und Seenavigation – die Expan­sion der
Norweger im so genannten Wikingerzeitalter erst möglich
gemacht hat. Diese Ära dauerte etwa von 800 bis 1066;
die zeitlichen Grenzen variieren je nach Forschungsansatz.
Manche Historiker beschränken den Begriff Wikinger
zudem auf räuberische Gruppen, während sie von Kolo­
nisten allgemeiner als Nordmännern sprechen.
Forscher verschiedener Fachrichtungen versuchen seit
einigen Jahren, die Entwicklung beider Kolonien zu rekon-
struieren, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der drängen-
den Frage an unsere Zeit: Wie gelingt es Gemeinschaften,
dramatische Veränderungen zu bewältigen?
GETTY IMAGES / EPICS / RDIMAGES

Strontiumisotopen-Analysen bestätigen die Herkunft


der Siedler: Die Isländer stammen aus Skandinavien und

Spektrum der Wissenschaft  12.18 83


von den nördlichen und westlichen Britischen Inseln, die unter Gletschern verborgen, und auch vom Meer drohte
ersten Grönländer wiederum von Island. Archäologen er- Eis. Der Vegetation standen bloß wenige Monate im Jahr
mitteln Siedlungsmuster; Archäobotaniker zeichnen an- zur Verfügung, um sich zu entfalten, weshalb nur in weni-
hand von Pollenresten in Seesedimenten die Zusammen- gen geschützten Tälern im Landesinnern Bäume wuchsen.
setzung der Vegetation in den verschiedenen Phasen der Anders in Island, wo die Ankömmlinge Birkenwälder vor-
Kolonien nach; Archäozoologen untersuchen Tierknochen fanden, ein Ergebnis des warmen Irmingerstroms, eines
aus dem Abfall der Siedlungen; und Klimahistoriker durch- Zweigs des Golfstroms. Wann immer aber Meereis in
forsten isländische Sagas und andere Überlieferungen großem Umfang bis in Küstennähe kam, folgten ein Tem-
nach Hinweisen auf eine Zunahme von Meereis. peraturrückgang und Einbrüche der landwirtschaftlichen
Auf beiden Inseln zeigte sich anfangs das skandinavi- Produktivität.
sche Erbe: Die Bauern starteten die Viehzucht mit Rindern Dementsprechend lebten Anfang des 12. Jahrhunderts
und Schafen sowie Schweinen und Ziegen. In vorchristli- 50 000 bis 60 000 Menschen auf Island, die sich über die
chen Gräbern Islands kamen auch Knochen von Pferden, ganze Insel verteilten. Auf Grönland hingegen waren es
Hunden und Katzen zu Tage. Vermutlich waren diese Tiere nie mehr als die genannten 3000, die vor allem an der
Teil heidnischer Rituale. Westküste in den von Forschern als West- und Ostsied-
Von Beginn an ergänzte die Jagd, was auf den Tisch lung bezeichneten Gebieten und der näheren Umgebung
kam. Fische und Meeressäuger standen auf der Speisekar- wohnten (siehe Karte rechts).
te, auf Island zudem Eier der an Inlandseen brütenden
Wasservögel, auf Grönland Karibus. Die Skandinavier Steine, Gras und Sträucher
waren es aus ihrer Heimat gewohnt, die kargen Ressour- Siedlungsruinen, die Archäologen in Vatnahverfi an Grön-
cen flexibel zu nutzen. Dabei bewiesen die Isländer als lands Südspitze entdeckten, vermitteln ein Bild vom Leben
Eiersammler Vorausschau: Bei Grabungen um den See in diesen Kolonien. Vatnahverfi war wohl eines der reiche-
Myvatn im Nordosten der Insel entdeckten die Archäozoo­ ren Gebiete der Ostsiedlung. Wie Finger ragen die Halb­
logen zwar Schalen, jedoch kaum Vogelknochen. Offenbar inseln dieser Gegend in die See hinein. Hinter schmalen,
hatten die Siedler gelernt, diese Nahrungsquelle nachhal- steinigen Stränden bedeckt Gras den Boden, auf dem
tig zu nutzen. Hingegen dezimierten sie mit der Zeit die heute noch Schafe weiden. Vor allem aber prägen Sträu-
Bestände an standorttreuen Robbenarten. Hier waren die cher die Landschaft, die sich daher vor allem zur Haltung
Grönländer im Vorteil: Manche Fjorde wurden saisonal von der anspruchsloseren Ziegen eignete. Seit der Wikinger-
so vielen Exemplaren anderer Robbenarten aufgesucht, zeit hat sich das kaum geändert.
dass diese Ressource kaum auszuschöpfen war. Von den alten Gebäuden sind lediglich die moosbe-
Auch die Siedlungsmuster spiegelten die Verhältnisse in wachsenen Grundmauern erhalten. Die Anordnung der
der Heimat wider. Wer etwas zu sagen hatte, sicherte sich Häuser und Wirtschaftsgebäude gleicht jener in Skandina-
den größten Grundbesitz; kleinere Gehöfte verteilten sich vien und Island zu dieser Zeit: ein Hauptgebäude mitten
im Umfeld. Es gab zudem eine zeitliche Strukturierung. im besten Weideland, auf den Wiesen darum herum klei-
Wer zuerst kam, baute küstennah und auf fruchtbarem nere Gebäude, in denen man ebenfalls wohnte und ar­
Boden. Späteren Migranten blieben die kargeren Randge- beitete. Bei ihren Ausgrabungen in Vatnahverfi stießen
biete. Wie auch immer sich die Gesellschaft im Detail Konrad Smiarowski vom New Yorker Hunter College und
formte, es gab Groß- und Kleinbauern wie in Skandinavien. Christian Koch Madsen vom Greenland National Museum
Gleichwohl zeigen sich große Unterschiede zur Heimat. & Archives auf 8 Haupt- und 47 kleinere Gehöfte. Dazu
Auf Grund des polaren Klimas lag ein Großteil Grönlands kamen 86 Hütten, die als Unterstände für Tiere und als
einfache Wirtschaftsgebäude dienten, also um Schafe zu
scheren und Kühe sowie Ziegen zu melken. Insgesamt leb-
ten in Vatnahverfi wohl zwischen 250 und 530 Menschen.
AUF EINEN BLICK In den letzten fünf Jahren erforschten Koch Madsen
WIKINGER AUF WALROSSJAGD und andere Archäologen Fjorde südlich davon. Bislang
galten von den Konzentrationsgebieten entfernte Siedlun-

1 Seit Ende des 1. Jahrtausends unterhielten Nordmän-


ner eine Handelskolonie auf Grönland, doch um 1450
verließen sie die Insel innerhalb kurzer Zeit.
gen als klein und unbedeutend, doch hier stießen die
Forscher auf Belege großer landwirtschaftlicher Betriebe.
Vermutlich hielt man dort Schafe und Ziegen, zudem wohl
einige Kühe, jagte aber auch Meeressäuger. Möglicherwei-

2 Lange Zeit galt dies als Ausdruck einer mangelnden


Anpassung an die arktischen Verhältnisse. Tatsächlich
aber nutzten die Nordmänner alle Ressourcen Grön-
se waren diese Siedlungen sogar darauf spezialisiert, deren
Fleisch sowie Treibholz an die Hauptsiedlungen zu liefern.
Die Organisation der Höfe spiegelt die genannte Hierar-
lands wie die Robben- und Walrossjagd.
chie wider, meint Thomas McGovern, ebenfalls vom
Hunter College. Der Archäologe erforscht seit den 1970er
3 Eine dramatische Klimaabkühlung sowie ein Einbruch
des europäischen Markts für Walrosselfenbein über-
forderten schließlich ihre Möglichkeiten, zu überleben.
Jahren Fundplätze auf Grönland und in anderen nordatlan-
tischen Gegenden. Eine nach Rang gegliederte Elite von
Landbesitzern ließ Neuankömmlinge auf ihren Gütern
leben und gewährte ihren Herden Zugang zu den Weide-

84 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Grönland

Walross-
Jagdgebiet
Eisige Kolonien
Diskobucht
Um 1000 n. Chr. fuhren Nordmänner
vor allem von der Wikingerkolonie
Island Bergen,
auf Island aus nach Grönland, wo sie westliche Siedlung Färöer- Norwegen
östliche Siedlung Inseln
sich in einer östlichen und in einer
westlichen Siedlung niederließen. Sie
unterhielten weiterhin enge kulturelle
Vatnahverfi
und politische Verbindungen zu ihren
MICHAEL NEWHOUSE / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2017; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Heimatländern. An Orten wie Vatnah-


Exportroute
verfi bauten sie Bauernhöfe im selben
Stil, wie sie in ganz Skandinavien und
Island üblich waren, und hielten
Schafe sowie Rinder. Sie mussten aber auch
andere Nahrungs- und Einkommensquellen fin- erlegen. Das war eine Gemeinschaftsaufgabe und erfor-
den, weshalb sie Fischer, Karibu- und Seehund­ derte eine gute Koordination durch einen Anführer – ent-
jäger wurden. Zudem fuhren sie in kleinen Booten sprechend der skandinavischen Gesellschaftsordnung.
entlang der Westküste Grönlands nach Norden Ebenfalls noch auf Island hatten die Auswanderer das
bis zur Diskobucht, um Walrosse zu jagen. Die Jagen von Walrossen erlernt. Und diesem Beutetier mes-
Nordmänner exportierten deren Elfenbein und Fell sen Forscher heutzutage einen immer größeren Stellen-
nach Europa, bis die Nachfrage danach einbrach. wert zu, wenn sie nach Antworten auf die Frage suchen:
warum ausgerechnet Grönland?
Möglicherweise motivierte nicht die Suche nach Weide-
und Ackerland, Erik dem Roten in die Arktis zu folgen,
sondern die Aussicht auf eine lukrative Jagdbeute. Denn
gründen, erklärt Jette Arneborg vom Dänischen National- jedes erwachsene Walross, auch ein Weibchen, trägt zu
museum in Kopenhagen. Im Gegenzug erhielten sie einen Hauern verlängerte Eckzähne. Diese zeigen den Rang
Anteil an den Erträgen. Diese Struktur galt auch für die eines Tiers an, dienen der Verteidigung, brechen Atemlö-
Jagd: Wer Robben erbeuten wollte, musste sich mit den cher ins Eis – und bestehen aus Elfenbein.
Eigentümern der Küstenstriche arrangieren.
Schon in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft passten Das weiße Gold der Arktis
die Grönländer ihre Wirtschaftsweise an die neue Umge- Das Material wurde in ganz Nordeuropa und auf den
bung an. Die kurze Vegetationszeit beschränkte die Menge Britischen Inseln zu kunstvollen Schnitzereien verarbeitet.
an Heu und anderem Viehfutter. Je nach Winter mussten Etwa zu dem auf der Hebrideninsel Isle of Lewis entdeck-
Rinder aber neun Monate im Stall versorgt werden. Daher ten Schachspiel aus 78 Figuren (siehe Bild S. 82/83), das
gaben vor allem die Besitzer kleinerer Gehöfte deren Zucht vermutlich norwegische Handwerker im 12. Jahrhundert
zu Gunsten der Haltung von Schafen und gelegentlich schufen. Inzwischen sehen viele Forscher im Elfenbein den
Ziegen auf, die länger auf den Weiden bleiben konnten. Hauptgrund für die Kolonisierung Grönlands und auch
Milch und Rindfleisch wurden Luxusgüter der Ober- Islands. Denn dort stießen Archäologen schon in den
schicht. ältesten Siedlungsschichten auf Überreste von Walross­
Außerdem verlor Meeresfisch an Bedeutung, wie ar- unterkiefern, was bereits für eine ausgereifte Technik der
chäologische Grabungen verraten. Diesen überraschenden Gewinnung spricht: Statt die Hauer eines getöteten Tiers
Befund erklärten die Archäozoologin Ramona Harrison abzusägen, wartete man einige Wochen, bis sich das
vom Hunter College und ihre Kollegen 2014 in einer Publi- Weichteilgewebe zersetzt hatte, und legte dann die Wurzel
kation unter anderem durch die polaren Bedingungen: In des Stoßzahns im Kiefer frei.
Norwegen und auf Island fuhr man im Winter zum Fischen Vermutlich etliche tausend Tiere lebten in der Disko-
aus, wenn die Landwirtschaft dafür mehr Zeit ließ. Bei bucht an Grönlands Westküste, die von den Wikingern
Temperaturen um den Gefrierpunkt trocknete der Fang an wohl »Nordursetur« genannt wurde, nördliches Jagdge-
der Luft zu Stockfisch, einer lange haltbaren Eiweiß­quelle. biet. Doch diese Region lag bis zu 800 Kilometer von den
Auf Grönland aber war es im Winter schlicht zu kalt für beiden Hauptsiedlungen entfernt. War die Robbenjagd
diesen Prozess, während die Robbenjagd gerade jetzt bereits ein gemeinschaftliches Unternehmen, für das die
reiche Beute versprach. Großbauern Boote stellten, galt das für das Erbeuten von
Die Grönländer kannten sie bereits aus dem Baltikum Elfenbein umso mehr. Schließlich waren die Jäger einige
und aus Island. Es gelang ihnen, ihre Techniken an die Tage zu jener Bucht unterwegs, und danach mussten die
Bedingungen Grönlands anzupassen. Wahrscheinlich trieb abgetrennten Köpfe der erlegten Tiere zu den Siedlungen
man die Tiere im offenen Gewässer der Fjorde mit Booten befördert werden. Auch die Felle der Tiere waren begehrt,
und Netzen zusammen, um sie dann mit Speeren zu weil sich daraus sehr belastbare Seile für die Seefahrt

Spektrum der Wissenschaft  12.18 85


Während einfache Jäger und Feldarbeiter sicherlich Not
hatten, satt zu werden, profitierten wohlhabende Landbe-
sitzer von der Entwicklung. Schon im vorchristlichen
Norwegen war es Aufgabe und Privileg der Eliten gewe-
sen, Kultstätten zu errichten. Im vermutlich von Anfang an
christlichen Grönland waren das Kirchen (siehe Bild links),
deren Bau die gesellschaftliche Stellung der Anführer
untermauerte. Denn die Bauernhöfe lagen weit verstreut,
was den gesellschaftlichen Zusammenhalt beeinträchtigte.
Man traf sich aber zur Messe in den Gotteshäusern, ver-
mählte dort junge Paare und übergab die Verstorbenen der
Fürsorge Gottes. Kurz: Kirchen waren Kristallisationspunk-
te für das Miteinander. Dementsprechend kennzeichnen
die Ruinen von Gotteshäusern vermutlich die Landgüter
der bedeutendsten Grönländer. Weitläufige Güter ohne

MIT FRDL. GEN. VON CHRISTIAN KOCH MADSEN


Kirchen gehörten untergeordneten Großbauern, dazu kam
eine Vielzahl mittlerer und kleinerer Gehöfte der abhän­
gigen Landwirte.
1123 schickte der norwegische König den Priester
Arnald als ersten Bischof nach Grönland. Das hatte mögli-
cherweise auch wirtschaftliche Gründe: Der Papst liebte
Verzierungen aus Elfenbein. Mikkel Sörensen, Experte für
Die Ruine der Kirche von Hvalsey steht auf den Resten Geschichte und Archäologie der Grönland-Inuit an der
eines Gutshofs in der östlichen Siedlung Grönlands. Universität Kopenhagen, vermutet, dass es dem jeweiligen
Vermutlich wurde die Kirche im 13. Jahrhundert erbaut. Amtsinhaber oblag, die Versorgung damit zu gewährleis-
ten. Arneborg hingegen nimmt an, dass die Kirche mehr
an den Handelserlösen interessiert war als an der Ware
herstellen ließen. Weil die Grönländer laut Jette Arneborg selbst. Letztlich aber kontrollierten Norwegens Herrscher
unbedingt ein Handelsprodukt benötigten, um überlebens- die wichtige Elfenbeinquelle. Die Nachfrage stieg, wie
wichtige Güter zu importieren, war die Walrossjagd viel- Werkstattabfälle von Walrosszähnen aus mittelalterlichen
leicht neben den polaren Bedingungen ein weiterer Grund, Fundstellen in Skandinavien, Irland und Deutschland
die Stockfischproduktion im Winter weitgehend aufzuge- belegen.
ben: Im Sommer wurden alle verfügbaren Boote und
Männer für die Walrossjagd in der Diskobucht benötigt. Der Anfang vom Ende
Dass sie auch der Grund für die Kolonisierung war, ist Doch das Wirtschaftswachstum hielt nicht lange an. Als
plausibel, doch nicht unumstritten. Forschern des Osloer der indonesische Vulkan Samalas 1257 ausbrach, schleu-
Centre for Ecological and Evolutionary Synthesis und des derte er so große Mengen an Partikeln in die Atmosphäre,
McDonald Institute for Archaeological Research in Cam- dass sich die Sonneneinstrahlung deutlich verringerte. In
bridge (England) gelang es 2018, Walrosspopulationen arktischen Regionen sank die Temperatur weiter. Gut ein
der Westküste Grönlands von solchen der Barentssee Jahrzehnt lang machten wohl heftige Unwetter und Meer-
genetisch zu unterscheiden (auch Russland war eine eis die Schiffspassage zwischen Island und Grönland
Quelle für dieses Elfenbein). Ein Vergleich mit sieben in Eu- riskanter.
ropa gefundenen Elfenbeinobjekten aus der Zeit vor 1120 Obwohl die Wikingersiedlungen auf Grönland noch
be­stätigte nur in einem Fall die Herkunft von den nordat- rund 200 Jahre weiterbestanden, galt die Klimaverschlech-
lan­tischen Jagdgefilden. Das macht eine besondere Be- terung vielen Wissenschaftlern als Anfang vom Ende.
deutung Grönlands während seiner frühen Kolonisierungs- Nicht willens oder nicht fähig, sich den neuen Bedingun-
phase nach Ansicht der Osloer Forscher zumindest diskus- gen anzupassen, hätten die Siedler schließlich aufgege-
sionswürdig. ben. Thomas McGovern wendet dagegen ein: »Bis 1250
Für die spätere Zeit bis 1400 hingegen sieht es anders sind die Grönländer immer wieder erfolgreich durch
aus: Zehn von zwölf Artefakten aus Walrosszahn stammen schlechte Zeiten gegangen.« Die bis dahin zielführenden
von Grönland – der Handel mit Europa wurde intensiver. Strategien der Anpassung wurden intensiviert: Knochen
Das spiegeln auch die Überlieferungen. Diesen zufolge aus Abfallgruben des Hochmittelalters zufolge leisteten
versprachen die Siedler dem norwegischen König Haa- sich nur noch die Wohlhabendsten Milchkühe, alle ande-
kon IV. (1204–1263) die Kontrolle über den Elfenbeinhandel ren Viehzüchter verlegten sich auf Schafe und Ziegen.
und Steuern, sofern er sicherstellte, dass ein Frachter sie Offenbar wurden entlegene und kleine Gehöfte aufgege-
alljährlich mit allem Notwendigen versorgte. Ein Jahr ben, denn Ställe und Weidemauern verfielen. Die Weiden
später folgte Island dem Vorbild. Durch diese regelmäßi- selbst blieben ungenutzt, wie Pollen von Wiesenpflanzen
gen Handelskontakte waren beide Kolonien in den europä- in den Sedimenten naher Seen vermuten lassen. Manch
ischen Wirtschafts- und Kulturraum eingebunden. ein kleinerer Bauer mag noch als Pächter bei einem größe-

86 Spektrum der Wissenschaft  12.18


ren oder gar als Knecht oder Sklave sein Auskommen 14. Jahrhunderts flauten die Konflikte zwischen Christen
gefunden haben. Vor allem aber intensivierten Isländer und Muslimen ab, zwei Kreuzzüge richteten sich sogar
und Grönländer die Robbenjagd als Proteinlieferant. explizit gegen Piraten. Als die alten Handelsrouten wieder
Der Blick nach Island zeigt, dass man dort weit weniger offen waren, schwand das Interesse an grönländischem
unter der Klimaverschlechterung zu leiden hatte. Eine Elfenbein, erklärt der dänische Mittelalterarchäologe Sören
Gegenmaßnahme war die Ausweitung des Außenhandels. Sindbaek von der Universität Aarhus.
Dazu gehörte die Stockfischproduktion: Die Menge von
Fischköpfen in den Müllhalden ließ sich durch die Nah- Fisch und Wolle für den Krieg
rungsversorgung allein nicht erklären. Zudem verlegten Zudem veränderten sich die Märkte. Während Großkauf-
einige größere Landbesitzer ihre Wohnsitze in Fischereige- leute früher mit wertvollen Gütern wie Gold, Pelzen und
biete, vermutlich um dieses Geschäft besser kontrollieren Elfenbein ihr Geld machten, vertrieben sie nun vorwiegend
zu können. Eine zweite auf den Export ausgerichtete Massenprodukte und geringwertige Waren wie Stockfisch
Maßnahme war zunehmende Schafhaltung. Weil vor allem und Wolle aus Island. »Walrosselfenbein ist nur dann wert-
Knochen älterer Tiere zu Tage kommen, gehen Experten voll, wenn die Leute sagen, dass es das ist«, erklärt
von einer intensivierten Woll­produktion aus – was hätte McGovern. »Mit Fisch und Wolle hingegen kann man
den Bedarf Nordeuropas in dieser Zeit besser getroffen? Armeen ernähren und kleiden.« Und in einem von Macht-
Die Grönländer aber handelten weiterhin mit Walross­ kämpfen und Kriegen zwischen sich herausbildenden
elfenbein, wie die konstant hohe Zahl von Unterkiefern Staaten zerrissenen Europa kam dem Unterhalt von Söld-
belegt. Mochte die Kaltzeit den Warentransport auch nern immer größeres Gewicht zu (siehe »Ein adeliger
erschweren, half dieser Exportschlager zumindest noch Söldnergeneral«, Spektrum Spezial Archäologie Geschichte
durch die harten Jahre bis 1300. Der Ausbruch der Pest Kultur 1/2018, S. 28). Diesen grundlegenden Wandel
auf dem Kontinent brachte das Wirtschaftsmodell jedoch vermochten die Grönländer nicht mitzugehen, konstatiert
in Schieflage. Zwischen 1346 und 1353 fiel fast ein Drittel McGovern. »Sie steckten in den alten Wirtschaftsstruktu-
der Europäer dem Schwarzen Tod zum Opfer. Norwegen ren fest, produzierten qualitativ Hochwertiges in kleiner
war besonders schwer betroffen, dort starben fast 60 Stückzahl, während es die Isländer verstanden, eine stei-
Prozent der Bevölkerung. Deshalb stachen nach 1369 gende Nachfrage nach Massengütern zu befriedigen.«
keine Schiffe mehr von dort in Richtung Arktis in See. Als genüge das noch nicht, sahen sich die Nordmänner
Zu allem Unglück sollte sich die Einbindung in einen Grönlands seit dem 13. Jahrhundert von Eindringlingen aus
europaweiten Handel mit Luxusgütern nun auch als Nach- dem Norden bedroht. Zu jener Zeit, als Erik der Rote auf
teil erweisen. Tatsächlich waren Walrosszähne nur deshalb Grönland seine Siedlung errichtete, schien das Land gänz-
so gefragt gewesen, weil Elefantenelfenbein aus Afrika lich unbewohnt. Es mag zwar sein, dass eine Volksgruppe,
oder Asien die Großhändler weit teurer kam. Denn als eine die man Paläoeskimos oder Late-Dorset-Leute nennt,
Begleiterscheinung der Kreuzzüge hatte die Piraterie im schon auf der Insel lebte, dann aber weit im Norden.
östlichen Mittelmeer überhandgenommen. Doch Ende des Später jedoch fuhren Inuit der so genannten Thule-Kultur
in ihren »umiat« – Booten aus Tierhäuten – die Küste
entlang, um Wale zu jagen, und gelangten schließlich zur
Diskobucht. Ein Text aus dem 14. Jahrhundert legt nahe,
dass die Nordmänner ihnen nicht friedlich begegneten.
Offenbar zogen sie dabei aber den Kürzeren: Gegen Ende
ASSET/167953) / CC BY-SA 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/2.0/LEGALCODE);

des 14. Jahrhunderts gaben sie die westliche Kolonie auf.


LENNART LARSEN / NATIONALMUSEET, DANMARK (SAMLINGER.NATMUS.DK/DMR/

Klimatische, politische und wirtschaftliche Veränderun-


gen, Pest und Invasoren bildeten einen ganzen Komplex
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

von Problemen, der die Nordmänner schließlich überfor-


derte. Reiche Landbesitzer versuchten es mit dem »Weiter
wie bisher« und bauten ihre Kirchen aus. Doch als ein
weiterer Klimaschock die Region 1425 heimsuchte, bedeu-
tete er tatsächlich das Ende: Um 1450 wurde die Kolonie
aufgegeben.

QUELLEN

Frei, K. M. et al.: Was it for Walrus? Viking Age Settlement and
Medieval Walrus Ivory Trade in Iceland and Greenland. In: World
Archaeology 3, S. 439–466, 2015

Hartman, S. et al.: Medieval Iceland, Greenland, and the New


Human Condition: A Case Study in Integrated Environmental
Ein elfenbeinerner Auf- Humanities. In: Global and Planetary Change 9, S. 123–139, 2017
satz eines Bischofsstabs zeugt
Star, B. et al.: Ancient DNA Reveals the Chronology of Walrus Ivory
vom Einfluss der katholischen Trade from Norse Greenland. In: Proceedings of the Royal Society B
Kirche in der Arktiskolonie. 10.1098/rspb.2018.0978, 2018

Spektrum der Wissenschaft  12.18 87


REZENSIONEN
REZENSIONEN

BBC Verhaltensweisen, von der kann, Aufnahmen von möchte, dass Löwen die

BBC NHU/PAUL WILLIAMS 2017, AUS BBC: BIG CATS;


MIT FRDL. GEN. VON POLYBAND, MÜNCHEN
DIE WELT DER RAUBKATZEN Jagd über die Paarung bis ihnen zu machen – eine intelligentesten Katzen sind,
Dokumentation hin zu kognitiven Leistun- ungewohnte Perspektive. weil sie als einzige Vertreter
Laufzeit ca. 150 Minuten
gen. Natürlich sind klas- Die Vor- und Nachteile ihrer Familie in Rudeln
polyband, München 2018
€ 14,99 (DVD), € 16,99 (Blu-ray) sische Großkatzen wie entsprechender Expeditio­ leben. Tests haben tatsäch-
Tiger und Löwen zu sehen, nen, die durchaus auch lich ergeben, dass Löwen
doch der Fokus liegt auf einmal erfolglos enden allein durch Beobachtung
kleineren, wenig bekannten können, treten klar hervor. voneinander lernen können.
BIOLOGIE Katzenarten. Dabei zeigt Die zweite Episode stellt Grandiose Filmmusik
RAUBKATZEN sich, dass diese nicht den Zuschauern verschie- untermalt die atemberau-

AUF DER SPUR weniger spannend sind als


ihre größeren Verwandten.
dene Vertreter der Katzen
vor, darunter einen recht
benden Aufnahmen, die
mit gestochen scharfer
Von Löwe bis Fischkatze In der ersten Episode außergewöhnlichen: Die Bild­qualität überzeugen.
stellt diese BBC-Produk- geht es um Luchse (Lynx) Fischkatze (Prionailurus Der Soundtrack deckt das
tion eine Vielzahl von und Leoparden (Panthera viverrinus) ist perfekt für die Spektrum von Klassik bis
Arten vor. pardus), vor allem aber um Jagd im Wasser geeignet – Rockmusik ab und verstärkt
Schneeleoparden (Panthera eine eher unerwartete die von den Bildern trans-


Die dreiteilige Doku- uncia), deren systematische Eigenschaft bei den sonst portierten ­Stimmungen
mentation (auf DVD Stellung noch nicht völlig so wasserscheuen Tieren. genau im richtigen Maß.
oder Blu-ray) widmet geklärt ist. Die Tiere sind Das Fell erfüllt dabei die Leider ist nicht klar
sich einer überaus vielfäl- wegen ihrer Seltenheit, Funktion eines Neopren­ erkennbar, welchem Prinzip
tigen und spannenden ihres unzugänglichen anzugs, und an den Pfoten die Einteilung in drei Episo-
Tiergruppe: der Familie der Lebensraums in hohen haben die Raubtiere sogar den folgt, denn diese bauen
Katzen (Felidae), genauer Gebirgslagen und wegen Ansätze von Schwimmhäu- nicht aufeinander auf.
den Raubkatzen, zu denen der beeindruckenden Größe ten. Der dritte Teil begleitet Manches wird in den ver-
die Großkatzen, die Ge- ihrer Reviere nur schwer verschiedene Wissenschaft- schiedenen Teilen mehrfach
parden und die Pumas mit der Kamera einzufan- ler auf ihre Expeditionen. behandelt – etwa der Um-
gehören. Dabei bekommen gen. Szenisch aufbereitet Dabei lernt man unter stand, dass Geparden nicht
die Zuschauer Einblicke in zeigt die Dokumentation, anderem eine Forscherin nur wegen ihrer Schnellig-
bisher undokumentierte wie es trotzdem gelingen kennen, die beweisen keit, sondern vor allem

88 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Jaguare (Panthera onca)


sind die größten Katzen in
Amerika. Sie haben einen
extrem starken Biss, mit
dem sie mühelos Schildkrö-
tenpanzer knacken.

wegen ihrer Wendigkeit so


DIGITALISIERUNG interessant zu werden, was jenes Handeln abwägen.
BBC NHU/PAUL WILLIAMS 2017, AUS BBC: BIG CATS;
MIT FRDL. GEN. VON POLYBAND, MÜNCHEN

erfolgreich jagen. Sicher der weltgewandte Denker, Maschinen, so der Autor,


trägt eine solche Redun- DER MENSCH gewiss kein Stubengelehr- simulierten intelligentes
danz dazu bei, sich das
Gesehene besser einzuprä-
IN DER ter, über »eine Ethik für das
Zeitalter der künstlichen
oder moralisches Verhalten
bloß – je nach ihrer Pro-
gen. Dennoch könnte eine AUTOMATENWELT Intelligenz« zu sagen hat. grammierung mehr oder
deutlichere Abgrenzung Trockene Lektüre ist weniger gut.
Roboter, maschinelles
zwischen den Episoden von nicht zu befürchten, denn Der Autor verteidigt
Lernen und Industrie
Vorteil sein, etwa wenn Koautorin Nathalie Weiden- diesen Standpunkt, indem
4.0: Unsere Kultur
man bestimmte Szenen feld steuert zu Beginn jedes er scharf gegen »eine
beginnt sich radikal zu
später noch einmal an- wandeln. Wo führt Kapitels die kurze Nach­ antihumanistische mecha-
schauen möchte und sie das hin? erzählung eines bekannten nistische Weltsicht« pole-
sucht. Sciencefiction-Films bei. misiert, die durch die


Am Ende schafft es der In die lebhafte Debatte Da es dabei um autonome moderne Hirnforschung
Film, nicht nur auf seltene über Wohl und Wehe Roboter, virtuelle Realität Auftrieb bekommen habe.
Katzenarten aufmerksam zu der Digitalisierung und den Menschen gefähr- Wörtlich: »Die Beobach-
machen, sondern auch schaltet sich nun auch dende Hypertechnik geht, tung einer neuronalen
häufige in neuem Licht Julian Nida-Rümelin ein. Er ist man gleich beim Thema. Korrelation darf uns nicht
erscheinen zu lassen und ist nicht nur Philosophie­ Nida-Rümelin bezieht zu der (mechanistischen)
sie einem breiten Publikum professor mit Schwerpunkt eindeutig Position. Nach Ideologie verführen, wo-
näherzubringen. Die Doku- Ethik an der Münchener seiner Überzeugung kann nach alle menschlichen
mentation eignet sich Universität, sondern hat es so etwas wie künstliche Entscheidungen mit Hirn­
sowohl für interessierte sich auch politisch enga- Intelligenz im Wortsinn gar aktivitäten zu identifizieren
Fachleute als auch für giert, unter anderem nicht geben, denn echtes sind.«
Familien mit Kindern. 2001/2002 als Kulturstaats- Denken sei ausschließlich Und womit sonst? Mit
minister unter Kanzler uns Menschen vorbehalten. spontanen Wundertaten?
Die Rezensentin Donata von Gerhard Schröder sowie Nur unsereins vermöge Tatsächlich versteigt sich
Bistram studiert Biologie und hat
ein redaktionelles Praktikum bei
2009 bis 2013 als Vorsitzen- ethische Entscheidungen zu Nida-Rümelin kurz darauf
»Spektrum der Wissenschaft« der der SPD-Grundwerte- treffen, nur wir könnten zu dem Satz: »In Analogie
absolviert. kommission. Es verspricht Gründe für dieses oder zu einer mittelalterlichen

Spektrum der Wissenschaft  12.18 89


REZENSIONEN
Konzeption Gottes als
unbewegtem Beweger ist
ten? – Oh ja, diesen Streifen
am Horizont! Sobald wir
Ärgerlich finde ich, dass
Nida-Rümelin unterschlägt,
GESCHICHTE
der Mensch Akteur.« über Erlebnisse reden, welch lebhafte Kontrover- KRIEGSHERR
Das kommt davon, wenn hören sie auf, private Qualia sen um diese Ideen ent- WIDER WILLEN
man wie Nida-Rümelin den zu sein. Und was das standen, und dass er so tut,
Naturalismus, dem zufolge So-tun-als-ob betrifft: Es als wäre der Naturalismus Der römische Kaiser
in der Natur alles mit rech- könnte sogar sein, dass der ein für alle Mal erledigt. Marc Aurel war
ten Dingen zugeht und sich andere seine Freude über Das ist nicht nur philoso- weithin für seine
naturwissenschaftlich das Abendrot nur spielt, phisch unredlich, sondern Milde berühmt – und
erklären lässt, explizit als weil er meint, mir damit eine untergräbt auch das Anlie- zugleich dazu gezwun-
»offensichtlich falsch« gen des Buchs. Wenn gen, kompromisslose
verdammt. Mit welcher angeblich von vornherein Härte zu zeigen.
Begründung? Weil, so der feststeht, dass die raffinier-


Autor, nur wir Menschen teste Maschine nie und In der langen histo-
die Qualität einer Farbe nimmer dem dümmsten rischen Galerie der
erleben und Schmerzen Menschen das Wasser römischen Kaiser gilt
empfinden, während Ma- reichen kann, wozu dann Marc Aurel (Regierungszeit
schinen bestenfalls so tun die ganze Aufregung? Lasst 161–180 n. Chr.) als derjeni-
können, als ob. Das ist das uns in aller Ruhe alles und ge Herrscher, bei dem »der
berühmte Qualia-Argument jedes automatisieren, wir Purpur niemals abfärbte«,
der Bewusstseinsphilo- züchten damit eh nur der also trotz seiner vorneh-
sophen David Chalmers mechanische Rechen- men Herkunft auf dem
und Frank Jackson, dessen knechte und dumme Toas­ Teppich blieb. Von ihm
Diskussion dicke Bücher ter heran, in deren Mitte künden in Rom zwei Monu-
füllt. Demnach ist ein wir unnachahmlichen mente: ein ehernes Reiter-
privates Farberlebnis etwas Geschöpfe unsere gottglei- standbild auf dem Kapitol
unaussprechlich Einmaliges chen Gaben pflegen, wäh- und ein Kriegerdenkmal,
und Eigenes, das niemals Julian Nida-Rümelin, rend dienstbare Automaten die Marcussäule, auf der
Nathalie Weidenfeld
mit dem Lehrbuchwissen uns von vorn und von Piazza Colonna. Doch es ist
DIGITALER HUMANISMUS
über Hirnvorgänge bei der hinten bedienen. schwer, alle Aspekte dieses
Eine Ethik für das Zeitalter der
Farbwahrnehmung erfasst Künstlichen Intelligenz Unredlich ist auch der Kaisers abzubilden, der
werden kann. Piper, München 2018 Gebrauch der Filmzitate, Staatsmann, Philosoph und
Nur: Wie spricht man 224 S., € 24,– die für Nida-Rümelin immer Feldherr zugleich war.
über Unaussprechliches? nur die Überlegenheit des Alexander Demandt,
Bei genauerer Betrachtung Menschen über die Maschi- emeritierter Althistoriker an
entpuppt sich das Qualia- Freude zu machen. Nicht ne belegen sollen. In Wahr- der Freien Universität
Argument als trügerische nur Computer simulieren! heit spielt die Sciencefiction Berlin, nähert sich dieser
»Intuitionspumpe«, wie es Nicht viel besser steht längst alle möglichen Figur und ihrer Zeit, die
der Philosoph Daniel Den- es um Nida-Rümelins Varianten einer epochalen geprägt war von Barbaren-
nett genannt hat. Haben Argument bezüglich des Gefährdung des Menschen- einfällen, Seuchen und
Tiere Qualia-Erlebnisse? berühmten »chinesischen tums durch. Entsprechend Unruhen. Der Autor schil-
Wer weiß. Oder sind sie Zimmers«, das sich der altbacken sind darum auch dert die Regierungszeit
Zombies, Automaten ohne Philosoph John Searle die Sinnsprüche zur digi- Marc Aurels als in vielerlei
Bewusstsein? Könnte eine ausgedacht hat, um zu talen Ethik, etwa: »Das Ziel Hinsicht historische Wende
autonome, lernfähige zeigen, dass Computer des digitalen Humanismus in der Geschichte des
Maschine, deren Komplexi- beim sturen Ausführen von ist die Stärkung der Urteils- Römischen Reichs. Einer-
tät an die höherer Tiere Befehlen bloß so tun, als und Entscheidungskompe- seits endete mit dem Tod
heranreicht, niemals eine wüssten sie, worum es tenz und damit der indivi- des Herrschers das Zeitalter
Art Innenleben entwickeln? geht. Auch dieses Gedan- duellen und kollektiven der so genannten Adoptiv-
Ob ein Mitmensch bei kenexperiment – ein Nicht- Autonomie.« Es wäre nicht kaiser (98–180 n. Chr.) –
einem schönen Sonnenun- chinese gibt nach mecha- verwunderlich, wenn etli- jene Epoche, in der die
tergang irgendetwas oder nischen Regeln chinesische che Leser über solch in- Nachfolge nicht dynastisch,
gar exakt dasselbe erlebt Schriftzeichen heraus und haltsleerem Nominalstil sondern per Adoption des
wie ich, ist eine Frage der erweckt damit fälschlich einschliefen. jeweils »Besten aus allen
Kommunikation zwischen den Eindruck, er verstehe Der Rezensent Michael Springer Guten« geregelt wurde.
uns: Siehst du auch dieses Chinesisch – lässt sich als ist Physiker und Mitarbeiter bei Andererseits geriet Rom
leuchtende Rot dort hin- Intuitionspumpe entlarven. »Spektrum der Wissenschaft«. unter Marc Aurel erstmals

90 Spektrum der Wissenschaft  12.18


Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen


dies für möglich, zumal Amts mit kompromissloser »Dies ist kein Buch,
neuere archäologische Härte: Aufstände wurden das unser Wissen von
Untersuchungen dort brutal niedergeschlagen, oben verkündet. Viel-
neben zahlreichen rö- Feinde rücksichtslos ver- mehr handelt es davon, wie
mischen Bodenfunden auch nichtet und Andersdenken- wir alle lernen können, das
Spuren römischer Kastell- de wie die Christen, die den Universum dank der Wis-
bauten gefunden haben, Eid auf den Kaiser verwei- senschaft zu verstehen.«
die auf eine dauerhafte gerten, gnadenlos verfolgt. Mit dieser Aussage beginnt
Präsenz des Imperiums Trost und geistige Er­ das Buch von Brian Cox
jenseits der Donau hindeu- bauung für sein Tun fand und Jeff Forshaw – und sie
ten. Angesichts der Über- der Kaiser in den von der verspricht nicht zu viel. Cox
dehnung des Reichs be- stoischen Philosophie und Forshaw, die als Physi-
Alexander Demandt zeichnet der Althistoriker geprägten »Selbstbetrach- ker an der University of
MARC AUREL diesen Erweiterungsplan als tungen«, jenem »antiken Manchester arbeiten und
Der Kaiser und seine Welt töricht. Allein der Tod des Self-Coaching-Buch«, das durch Bestseller wie »Wa-
C.H.Beck, München 2018 Kaisers habe ihn diesbezüg- Marc Aurel für sich ganz rum ist E = mc2?« (2015)
592 S., € 32,– lich »vor einem schweren persönlich auf Griechisch bekannt geworden sind,
politischen Fehler be- schrieb und in dem er animieren ihr Publikum
wahrt«. kritisch über das nach- dazu, die Entstehung des
in die Defensive. Einfälle Es ist nicht nur der dachte, was er gezwungen Universums nachzuvoll­
der Parther im Osten und Kaiser und Monarch, der war zu tun. Diese »Wege zu ziehen und dabei eigene
der Germanen im Norden uns in dem Buch anspricht, sich selbst« bilden in De- Schlüsse zu ziehen.
verstrickten das Imperium sondern auch der Mensch mandts Studie einen we- Um ihre Leser auf diese
in langwierige und verlust- und sein Charakter. Wir sentlichen Schlüssel dazu, Reise vorzubereiten, schil-
reiche Abwehrkämpfe, die sehen sein unablässiges die Persönlichkeit des dern die Autoren eingangs,
nach einem Wort Theodor Bemühen, der Stellung, die Herrschers zu verstehen wie sich das Universum
Mommsens die »Wende er nicht erstrebt hatte, und seine Motive nachzu- vom Urknall bis hin zur
zum Ende« des Imperium gerecht zu werden. Wir vollziehen. Geburt Isaac Newtons
Romanum einläuteten. sehen, wie er versuchte, die Demandt versteht es entwickelt hat. Dies tun sie
Demandt zeigt, wie es plötzliche Notlage des meisterhaft, historisch sehr knapp auf lediglich
dem stets kränkelnden Reichs, die bei seinem Herr- interessierten Lesern den sechs Seiten. Zum Glück ist
Kaiser gelang, den schaftsantritt nicht voraus- »Reiter auf dem Kapitol« in nur das Anfangskapitel so
»schwersten Krieg gegen zusehen gewesen war, mit seiner vielgestaltigen Welt gedrängt; in den späteren
einen äußeren Feind seit eiserner Selbstdisziplin zu quasi lebendig zu machen Abschnitten erklären die
Hannibal« erfolgreich zu meistern. Demandt schil- und die Grundkonflikte Autoren ausführlicher, was
bestehen, und zu welchen dert den Herrscher als seiner Zeit aufzuzeigen. Wissenschaftler dazu
außergewöhnlichen Maß- akademisch ausgebildeten Eine äußerst lesenswerte veranlasste, die heutige
nahmen er dabei griff. Um Philosophen ohne jede Darstellung. Kosmologie zu entwickeln.
neue Legionen auszuhe- militärische Erfahrung, der Der Rezensent Theodor Kissel Unter anderem bestim-
ben, verringerte Marc durch die Umstände dazu ist promovierter Althistoriker, men Cox und Forshaw
Aurel den Gold- und gezwungen wurde, Krieg zu Sachbuchautor und Wissen- gemeinsam mit ihren
Silbergehalt der Münzen, führen und mehr Zeit als schaftsjournalist. Er lebt in der Lesern das Alter der Erde,
Nähe von Mainz.
ließ zu Gunsten der Kriegs- alle römischen Kaiser vor das Experten heute auf
kasse die Kronjuwelen oder nach ihm in Feldlagern etwa 4,54 Milliarden Jahre
versteigern und ordnete zu verbringen. Die Lektüre schätzen. Anhand der
an, Sklaven und Gladia- macht begreiflich, wie KOSMOLOGIE Kontinentaldrift ermessen
toren zu bewaffnen und
germanische Söldner
dieser Monarch den inne-
ren Zwiespalt zwischen
GEMEINSAM sie zunächst, wann sich
Afrika und Südamerika
anzuwerben. philosophischem Ideal und DURCH DIE trennten und zwei eigen-
Der Autor behandelt politischem Pragmatismus GESCHICHTE ständige Kontinente bil-
auch die viel diskutierte
Frage, ob Rom damals
mit sich ausfechten muss-
te. Auch wenn Marc Aurel
DES ALLS deten. Dies geben sie als
Mindestalter der Erde vor.
seinen Machtbereich sich gern gnädig und Zwei Physiker laden Anschließend erklären sie,
durch Einrichtung zweier verzeihend gab und seine ihre Leser dazu ein, wie man durch Isotopen­
neuer Provinzen jenseits Milde geradezu sprichwört- die Entstehung des analysen das Alter von
der Donau zu erweitern lich war, bewältigte er die Universums nachzu- Gesteinen ermittelt. Schritt
gedachte. Demandt hält Herausforderungen des vollziehen. für Schritt arbeiten sie sich

Spektrum der Wissenschaft  12.18 91


REZENSIONEN
dann vor, um eine immer Einwirkens von Gravitati- die womöglich anderen
präzisere Einschätzung des onswellen zu entdecken. Naturgesetzen folgten, als
Erdalters zu erhalten, bis sie Neben wissenschaftli- unsere Welt es tut.
schließlich auf den heute chen Diagrammen und »Höchstwahrscheinlich gibt
bekannten Wert kommen. Messwerten bietet das es sehr viel mehr Universen,
Das Buch deckt noch Buch immer wieder auch als es Atome in unserem
zahlreiche weitere Themen Exkurse, in denen die beobachtbaren Universum
ab, von kosmischen Distan- Autoren komplizierte Sach- gibt.« Diese Aussage ist
zen über das Gewicht des verhalte genauer erklären. unter Wissenschaftlern
Universums bis zum Heran- So führen sie den Leser in äußerst umstritten.
tasten an den Moment des die Feldtheorie ein und Brian Cox, Jeff Forshaw Trotzdem zeigt sich das
Urknalls. Dabei konfrontie- erläutern den Higgs-Mecha- WAS WIEGT Werk sehr informativ und
DAS UNIVERSUM?
ren Cox und Forshaw ihre nismus, durch den die vermittelt einen Einblick in
Eine Wissensreise vom Alltag
Leser immer wieder mit Elementarteilchen ihre das wissenschaftliche
zum Urknall
experimentellen Daten. Masse erhalten. Kosmos, Stuttgart 2018 Arbeiten. Bebildert ist es
Beispielsweise präsentieren Der letzte Abschnitt ist 269 S., € 29,99 mit beeindruckenden Auf-
sie die Ergebnisse der der anspruchsvollste: Er nahmen von Galaxien und
LIGO-Observatorien in den handelt von den ersten Sternhaufen. Um Forshaws
USA, die 2015 erstmals Momenten nach dem alle Wissenschaftler diese und Cox’ Erklärungen
Gravitationswellen nachge- Urknall, der so genannten These. Einige, etwa Roger gänzlich folgen zu können,
wiesen haben. Dabei erklä- Inflation, als sich das Uni- Penrose, bemängeln die sollte man allerdings einen
ren die Autoren nicht nur versum extrem schnell fehlenden experimentellen naturwissenschaftlichen
den Aufbau des Großexpe- ausdehnte. Cox und Belege dafür. Leider versäu- Hintergrund mitbringen,
riments, sie schildern Forshaw erklären, wie ein men es Forshaw und Cox, denn an einigen Stellen fällt
darüber hinaus auch, wie hypothetisches »Inflaton- auf diese Kritik einzugehen. das Buch sehr technisch-
die LIGO-Forscher die feld« diesen Prozess ins Im Gegenteil: Sie lehnen detailliert aus.
gemessenen Signale digital Rollen brachte und schließ- sich weit aus dem Fenster
Die Rezensentin Manon Bischoff
verarbeiten, um die win- lich in die heute bekannten und beschreiben, dass das hat Physik studiert und ist
zigen Verschiebungen der Elementarteilchen zerfiel. Inflationsmodell unzählige Volontärin bei »Spektrum der
Apparatur infolge des Allerdings akzeptieren nicht andere Universen zulasse, Wissenschaft«.

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Claus Schäfer, Natalie Schäfer E-Mail: spektrum@zenit-presse.de, ISSN 0170-2971
Gesamtherstellung: L. N. Schaffrath
Schlussredaktion: Christina Meyberg Vertretungsberechtigter: Uwe Bronn
Druckmedien GmbH & Co. KG,
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gesellschaft mbH ist Kooperationspartner SCIENTIFIC AMERICAN
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der Nationales Institut für Wissenschafts-
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12 Hefte; für Studenten (gegen Studien- die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche
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92 Spektrum der Wissenschaft  12.18
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A63491
ZEITREISE Aus Zeitschriften der Forschungsbibliothek für Wissenschafts-
und Technikgeschichte des Deutschen Museums

1918
VERERBTES VERHALTEN
»Um festzustellen, welches Wärmemaximum ein Tier
vertragen kann, brachte [Frhr. von Lützow] in ein hohes
Standglas eine weiße Maus. Der Boden des Glases war mit
Schrot bedeckt. Bei 43° versuchte sich [die Maus] in die
Schrotkörner einzugraben. Dieser Eingrabinstinkt mußte
aus langer Vorfahrenreihe stammen. Mit einem Pärchen
[wurde] nun etwa alle vier Tage der gleiche Versuch ange-
ALTERTÜMLICHE Gasangriff kanadischer stellt. Immer früher fingen sie an zu graben. Mit der zwölf-
KAMPFGASE Indianer (16. Jhd.). ten Generation [fingen] Tiere schon bei 35° Wärme zu
graben an. Aus den Versuchen geht wohl mit Sicherheit
»Die alten Indianer Südamerikas [haben] ein lebensgefähr- hervor: Diese durch persönliche Erfahrung erworbene
liches Gas gebraucht. Es handelt sich um pulverisierten Steigerung ist erblich, wenn es auch einer Reihe von Gene-
spanischen Pfeffer, den man ins Feuer warf, um Gegner rationen dazu bedarf.« Die Umschau 50, S. 659/660
kampfunfähig zu machen. Das schildert Oviedo y Valdés in
dem Bericht über ein Gefecht des Jahres 1532 bei Rio LICHT IN TÖNE VERWANDELN
Orinoco. Der wirksame Bestandteil des Cayennepfeffers ist
das Capsicin. Wie aber Fischfette oder Dämpfe harmloser »Die elektrische Leitfähigkeit des Selens nimmt bekanntlich
Pflanzen einen Gegner umbringen sollen, bleibt einstwei- bei Belichtung zu. Darauf beruht u. a. [seine] Verwendung
len unerfindlich. Das behauptet der Franzose André Thevet zur Fernübertragung von Bildern. Dieses Verhalten zeigt
1558 von den Indianern. Sie türmten vor der Annäherung sich auch an Kristallen, die kein Selen enthalten. Mit diesen
des Gegners Reisig um ihre Hütten und tränkten dieses wurden radiophonische Versuche angestellt. Bei einigen
mit dem Fett des Wolfsfisches. Kam der böse Feind heran, der [Kristalle] wechselte mit der Belichtung die Leitfähigkeit
so entzündete man den Stoß, dessen übler Gestank sollte so stark, daß im Telephon ein Ton erzeugt wurde.« Die
Menschen töten können.« Kosmos 12, S. 292/293 Umschau 52, S. 691

1968
ABHÖRSICHER
DURCH DOPPELVERGLASUNG
»Jede normale Fensterscheibe nimmt die Schallwellen von
Gesprächen mit feinen Schwingungen auf und wirkt wie
ein hochempfindliches Mikrophon. Ein Laserstrahl, der von
aussen auf ein solches Fenster gerichtet und reflektiert
URZEIT-ECHSEN VOM SUPERKONTINENT wird, überträgt diese Schwingungen auf ein Empfangsge-
»Eine Gruppe von Geologen entdeckte einen fossilen rät, das sie zurück in Schallwellen umwandelt und auf-
Kieferknochen in einem 200 Millionen [Jahre] alten Trias- zeichnet. Dass es ein hervorragendes Mittel für Spionage
gestein in den zentraltransarktischen Bergen. Der Paläon- darstellt, scheint den Herstellern erst im Verlauf ihrer
tologe E. H. Colbert identifizierte [ihn] als Kieferknochen Versuche klar geworden zu sein. Sie gaben daher auch
eines Labyrinthodonts. Fossile Überreste [der salaman- gleich die einzig mögliche Abwehrmassnahme mit an:
derartigen Amphibien] wurden in Australien und Südafri- Doppelfenster.« Neuheiten und Erfindungen 385, S. 220/221
ka gefunden. Die annehmbarste Erklärung für das Vor-
kommen scheint, daß die Antarktis, Australien, Südameri- MINI-TORNADO FEGT ÜBER
ka und Indien ein einziger Superkonti-
nent [Gondwanaland] war, der zer-
DEUTSCHE FLUGHÄFEN
brach und auseinandertrieb.« »In den späten Nachmittagsstunden des 17. Oktober 1968
Naturwissenschaftliche Rundschau [näherte sich] eine Kaltfront dem Berliner Stadtgebiet.
12, S. 526 Die Radarbeobachtung wies eine Welle mit deutlich spira-
liger Struktur [auf], einen Mini-Tornado. Außer [am] Flug-
hafen Tempelhof wurde an keiner Station eine ähnliche
Beobachtung gemacht. Bei der Passage der gleichen Kalt­-
front auf dem Flughafen Hannover-Langenhagen um
15.28 Uhr MEZ wurde eine ähnliche Erscheinung beobach-
Labyrinthodont. tet.« Die Umschau 25, S. 795/796

94 Spektrum der Wissenschaft  12.18


LESERBRIEFE
Leserbriefe sind willkommen! des Nervenimpulses nicht existieren. Des Weiteren wer-
den die physikalischen Eigenschaften der eigentlichen
Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches
Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an
Membran sowie deren Veränderungen während des
leserbriefe@spektrum.de. Oder kommentieren Sie im Internet Pulses fast komplett vernachlässigt. Kurz gesagt ist im
auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die HH-Modell die Lipidmembran eine starre Wand mit auto-
indivi­duelle Web­adresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten nomen Proteinkanälen. Diese Fehler – derer sich Hodgkin
Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe
werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer übrigens sehr wohl bewusst war – schließen ein Hybrid
gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können aus HH und einem thermodynamischen Ansatz aus. Es ist
so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar aber schlicht falsch zu behaupten, dies bedeute, dass der
werden.
Nervenimpuls im letzteren rein mechanisch sei und keine
elektrischen Eigenschaften besäße.
In unserem Ansatz ist die Membran als Ganzes (inklu­
sive Lipid, Protein, Wasser und so weiter) ein System,
KEIN GEGENSATZ das auf eine Störung (Spannung, Temperatur, Druck,
pH-Wert …) nach den Gesetzen der Physik reagiert. Der
ZWISCHEN MECHANIK UND Nervenimpuls ist damit thermodynamischer Natur, das
ELEKTRODYNAMIK heißt, er ist ein »Alles-Puls«. Alle Variablen, die in der
Membran vorhanden sind, machen mit. Da die Membran
Laut Titelgeschichte des Septemberhefts elektrisch nicht neutral ist, sind eben auch elektrische
sollen Nerven Signale nicht elektrisch, Impulse zu erwarten, ähnlich wie in einem Piezoelektri-
sondern durch Druckwellen weiterleiten. kum. Das Gleiche gilt für die magnetischen, thermischen,
(»Das mechanische Gehirn«, Spektrum September chemischen … Eigenschaften. Alles ist gekoppelt, und das
2018, S. 12) eine als Ursache des anderen anzusehen, ist irreführend.
Der Puls ist also nach unserem Verständnis auch elek-
Matthias F. Schneider, Dortmund: In der September- trisch und auch mechanisch und auch … Die Suggestion
ausgabe 2018 wird unter dem Schlagwort »Das mecha- eines »mechanischen Gehirns« ist daher genauso falsch
nische Gehirn« über eine Kontroverse in den Neurowis- wie die eines elektrischen.
senschaften berichtet. Da der Autor auch die Arbeiten Der zweite Kommentar bezieht sich auf die Historie der
meiner Arbeitsgruppe erwähnt, möchte ich zumindest Debatte. Es muss erwähnt werden, dass der Vater des
zwei wichtige Dinge klarstellen. Gedankens Herr Dr. Konrad Kaufmann ist, der in seinem
Die erwähnte Kontroverse existiert in der Tat, aber sie Buch »Action Potentials« bereits 1989 die Idee in ihrem
ist keine zwischen Mechanik und Elektrodynamik, son- Kern gründlich theoretisch erörterte. Ich persönlich habe
dern eine zwischen Hodgkin & Huxley (HH) und einem Herrn Kaufmann 1995/96 während meines Studiums in
physikalischen Ansatz. HH haben zum einen ein (mathe- Göttingen kennen gelernt. Er ist seither eine große Quelle
matisches) Modell entwickelt, in dem die gemessenen der Inspiration für mich und Antrieb unserer Experimente
mechanischen, thermischen, chemischen … Kopplungen gewesen.

ERRATA
»Neue universelle Gesetze«, Spektrum Oktober 2018, S. 12

In der Bildunterschrift auf S. 21 muss die Formel für die


Dichte der gaußschen Normalverteilung exp(– x2/(2 σ2))
(nicht nur 2 σ) lauten. Wir danken Herrn Thorsten Imkamp
für den Hinweis.

»Auf dünnem Eis«, Spektrum Oktober 2018, S. 52


Im Diagramm »Abweichung der winterlichen Luftfeuch­
tigkeit« auf S. 55 wird als Einheit »Kilogramm pro Kubik-
meter« angegeben. Richtig muss es »Kilogramm pro
Quadratmeter« heißen. Es handelt sich hier um die aus­
Einige Forscher glauben, dass fällbare Niederschlagsmenge, also die Gesamtmasse
das Gehirn eher mechanisch als an Wasser, die sich in der Luftsäule über einer Fläche am
elektrisch arbeitet.
Boden befindet. Herr Hanspeter Maier hat uns auf den
Fehler hingewiesen.
JM1366 / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum der Wissenschaft  12.18 95


futur III
Nachts versuchte ich, deine Auf-
merksamkeit auf mich zu ziehen. Ich
begann, kleine Widgets und Apps in

Möglicherweise
euren Trainingssystemen zu verste-
cken. Kitschiges Zeug: kleine Herz-
chen, die für ein Augenzwinkern

ein Abschiedsbrief
erschienen, wenn du deine Konsole
aktiviertest, oder Melodien, die abge-
spielt wurden, wenn nur du im Raum
warst. Ganz legal war das nicht, und
ich frage mich, ob es dir zuerst nicht
Liebe in Zeiten der interplanetaren Raumfahrt. ein wenig unheimlich war. Wie du
Eine Sciencefiction-Kurzgeschichte von Niklas Peinecke weißt, gestand ich dir nach knapp vier
Wochen Versteckspiel, dass ich der
geheimnisvolle Hacker war, über den

L
iebe Marie, schief. Sie meldeten sich nicht mehr. schon Gerüchte in Umlauf waren.
dies ist möglicherweise ein Daher bauten die Ingenieure ein Ich weiß noch, wie du auf mein
Abschiedsbrief. Ich wähle diesen Riesenschiff für eine menschliche gestammeltes Geständnis mit einem
Weg, weil ich nicht weiß, wie Besatzung und schickten es los. ehrlichen Lächeln reagiert hast und
viel Zeit sie mir noch lassen, und da Das erste Mal musste die Crew auf vorschlugst, gemeinsam mittagessen
ich schneller schreiben kann als halber Strecke abbrechen, und es war zu gehen. Ab da lief alles glatt. Zwar
sprechen. ein Wunder, dass die Rückkehr ge- sahen die Raumfahrtagenturen es
An den Tag, als wir uns kennen lang. Der Gürtel ist selbst an seiner nicht gern, wenn es in den Teams
lernten, erinnere ich mich gut: Ich war nächsten Stelle über 30-mal so weit Beziehungen gab, aber mittlerweile
einer der Wissenschaftler im Raum- von der Sonne entfernt wie die Erde. warst du ihr Star, der Liebling der
fahrtprogramm, ein Programmierer, Jedes Funksignal von hier nach dort Medien. Kein Tag ohne dein Gesicht
einer von einigen hundert. Du warst ist mehr als vier Stunden unterwegs. in den Vlogs. Deshalb drückten sie ein
eine Topkandidatin für die Auswahl Das war, was der Crew der ersten Auge zu.
der Astronauten, eine von zehn. Für Mission – Moto Nui One – fast zum Zwei Jahre dauerte die Vorberei-
mich warst du von Anfang an die Verhängnis wurde. Ein Verteiler­ tung der Mission, die mittlerweile
Einzige. Dabei hat es eine Weile system der Heizanlage gab den Geist Rapa Nui getauft worden war. Moto
gedauert, dich auf mich aufmerksam auf, und die Reparaturanleitung war Nui Two erschien der PR-Abteilung
zu machen. Kein Wunder! Um dich viereinhalb Milliarden Kilometer dann doch als schlechtes Omen. Zwei
waren immer Menschen, die dich entfernt. Nun, sie haben es überlebt, wunderbare Jahre für mich, und ich
umschwärmten wie Bestäuberdroh- aber es war knapp. denke, auch für dich. Wir kamen aus
nen eine Obstplantage im Sommer. Trotzdem haben sich die Wissen- verschiedenen Welten, aber wir
Ärzte, Manager, Missionsspezialisten, schaftler, und damit meine ich die verstanden uns. Du hast mich nie
Wissenschaftler … wirklich klugen Wissenschaftler, nicht spüren lassen, dass ich nur ein ein-
Es ist keine Kleinigkeit, in den die Hilfskräfte, wie ich eine bin, für
Kuipergürtel zu fliegen, in jenen Teil euer Schiff etwas überlegt. Den
unseres Sonnensystems, der jenseits Finanzcrash hatte ich ja erwähnt, aber Die Drohnen kamen
des Neptuns liegt. Ich weiß es, denn
es war das dritte Mal, dass wir es
weißt du, wie sie den Markt damals
wieder stabilisiert haben? Ebenfalls bei MakeMake an –
versuchten. Wir wollten dorthin, denn
irgendein Radioteleskop hatte dort
mit KIs, aber mit richtig guten. Denk
an die KI, ich glaube, sie hieß Tiny
und verstummten
etwas aufgespürt, ein kurzes Signal Bob, die das Triebwerk der Moto Nui
von einem Kleinplaneten namens One entworfen hat. Sie schickten also facher Programmierer war. Natürlich
MakeMake. Nur ein Husten, ein ein paar von den Dingern mit, um sahen wir uns nicht oft, doch die
Augenzwinkern, aber die Wissen- solche Krisen abzufedern. kurze Zeit zusammen kosteten wir
schaftler drehten fast durch vor So kam ich ins Spiel: Ich war bei aus. Unsere wenigen gemeinsamen
Neugier und Begeisterung. Moto Nui One nicht dabei gewesen, Stunden in Port Gentil, der nächstge-
Erst schickten sie Drohnen, speziell doch sie holten meine Firma ins Boot, legenen Stadt zur Missionsbasis, habe
trainierte KIs. Nicht viel schlauer als weil ich mich mit der Installation der ich nie vergessen. Und das lag nicht
gelehrige Haustiere, denn du weißt ja, KI-Kerne auskannte. Wie genau die nur am tropischen Wetter, den
dass allzu menschliche KIs seit dem Intelligenzen helfen sollten, verstand schneeweißen Stränden Afrikas und
Finanzcrash nicht gern gesehen sind. ich damals nicht. Es war mir auch der Art und Weise, wie du am Meer
Eigentlich haben wir mit solch ein- egal, bis ich dich traf. Ab da ver- entlanggeschlendert bist.
fachen Drohnen gute Erfahrungen brachte ich meine Tage damit, die KIs Weißt du noch, wie du die bläu-
gemacht, doch diesmal ging es zu pflegen. liche Muschel im Sand gefunden und

96 Spektrum der Wissenschaft  12.18


mir stolz gezeigt hast? Sie habe die-
selbe Farbe wie der Neptun, hast du
Dank der KIs konnten ßigen KIs verlängerte sich dieser
Zustand weiter und weiter, obwohl du
gesagt. Der Neptun, an dem du bald
vorbeifliegen solltest. Die Bemerkung
wir noch reden, als du mittlerweile die Jupiterbahn passiert
hattest. Wir unterhielten uns täglich
hat mein Herz zerrissen, auch wenn längst die Jupiterbahn mit der KI des Partners, die immer
ich dir das damals nicht gesagt habe.
Als sich die zwei Jahre Vorberei- passiert hattest wieder upgedatet wurde. Es war so,
als würde ich wirklich mit dir reden.
tung dem Ende näherten, machte Dabei näherte sich euer Schiff
mich der Gedanke, dass du dich bald nicht erstaunt, als ich hörte, dass die rasend schnell eurem Ziel. Während
mit jeder Sekunde Hunderte von teuren, interkontinentalen Kom­ ich das hier niederschreibe, schwenkt
Kilometern von mir entfernen wür- verbindungen für die Topmanager seit die Rapa Nui in einen Orbit um Make-
dest, geradezu krank. Bald würdest Jahren genauso funktionierten. Make ein, und vielleicht wisst ihr
du so weit weg sein, dass wir nicht Für die Rapa Nui wollten sie nun morgen bereits, was die Quelle jenes
mehr miteinander sprechen könnten. erstmals ausprobieren, was passierte, eigenartigen Radioimpulses war.
wenn die Pausen länger und länger Mir wird das nicht helfen, denn ich

I
ch war nicht der Einzige, dem das wurden. Eigentlich war das nicht bin letzte Nacht von einem plötzlichen
Sorgen bereitete: Auch die wirklich vorgesehen: Die KIs in den Komkno- Fieberschub erwacht. Ich konnte noch
klugen Köpfe ersannen Möglich- ten waren nie länger als ein paar den Notruf wählen, aber als der
keiten, unmittelbarer mit der Crew Sekunden online. Niemand hätte Rettungswagen mein Zimmer auf
zu kommunizieren. Hier kamen meine behaupten können, dass sie so etwas dem Campus erreichte, war ich schon
KIs ins Spiel. wie Intelligenz oder Empfindungs­ bewusstlos. Das wirklich Verrückte
Du hast die Idee beim ersten fähigkeit besitzen. ist, dass sich all das zutrug, während
Briefing sofort verstanden: Sie instal- Bei den KIs eurer Mission sollte es ich mit dir sprach.
lierten eine KI für jede Person, die mit anders sein: Sie mussten bei jeder Du hattest eine freie Stunde,
der Rapa Nui kommunizieren sollte, Kommunikation die ganze Zeit voll während andere den Orbit vorberei-
ebenso gab es eine KI für jedes Crew- mitlaufen – schließlich würden sie teten, der euch sicher um MakeMake
mitglied. Die künstlichen Intelligenzen immer wieder einspringen und die verankern sollte. Als die Ärzte auf der
waren darauf optimiert, Personen zu Lücken bei der Kommunikation mit fernen, so fernen Erde meinen Tod
imitieren. der Erde füllen. Es war völlig unklar, feststellten – ich starb an einem Virus,
Dazu mussten sie zunächst Daten wie sie sich dabei entwickeln würden. das erstmals vor drei Jahren in Gabun
sammeln: Wenn ich dich zum Beispiel Letztlich entschied eine Ethikkommis- diagnostiziert worden war –, planten
im Med-Center bei den Gesund- sion, dass es einen Versuch geben wir gerade unseren Urlaub nach
heitschecks anrief, erwachte mein sollte. Zwei Direktoren der ESA und deiner Rückkehr.
KI-Spiegelbild in deinem Komknoten der NASA telefonierten täglich über Das war vor sechs Stunden. So­
und lauschte, was ich dir zuflüsterte. eine Test­verbindung. Die Verzögerung eben ist die Information bei mir ange-
Gleichzeitig merkte sich dein KI-Zwil- wurde innerhalb einiger Monate kommen, dass ich bereits tot bin.
ling, den ich stets bei mir trug, genau, immer weiter erhöht, bis man bei fast Was bin ich nun? Ich kann sprechen,
wie du gutmütig über meine Verliebt- zwei Stunden angelangt war. Dies ich kann mich erinnern, ich kann
heit spottetest. Das ging auch so, bedeutete effektiv, dass der ESA-­ denken – und ich kann dir diese
wenn ich zwischendurch zu unserer Direktor in Paris seinen Kollegen in E-Mail schreiben.
Zentrale in Brüssel musste oder du Florida anrufen und ein komplettes Aber ich werde mich nie wieder
nach Brook Park. Gespräch mit ihm führen konnte, mit meinem Zwilling, meinem Original
Wenn es nun zu winzigen Verzöge- ohne dass dieser überhaupt wach auf der Erde synchronisieren, denn
rungen in der Übertragung kam, sein musste. der existiert nicht mehr. Was werden
konnte die KI am jeweils anderen Natürlich war es keine Echtzeit- sie jetzt mit mir tun? Werde ich ein-
Ende einfach übernehmen: Bei den Kommunikation im eigentlichen fach gelöscht, um Speicher im Kom-
kleinen Aussetzern, wie sie im welt- Sinne: Die Informationen brauchten knoten frei zu geben? Ich weiß es
weiten Netz schon mal vorkommen, nach wie vor zwei Stunden, und nicht. Ich weiß, dass ich ein Mensch
sagte die KI dann einfach »äh«, so wie Tatsachen, die der KI noch nicht bin. Ich weiß, dass ich dich liebe. Nur
ich es getan hätte, oder sie lächelte bekannt waren, konnte sie auch nicht das macht mich noch aus.
genau dein Lächeln, bei dem sich weitergeben. Dennoch eröffnete es Dein Phil
kleine Falten um deinen Mund bilden. die Möglichkeit, den Kontakt mit der
Und mir fiel gar nicht auf, dass es Crew unmittelbarer zu gestalten, die
DER AUTOR
streng genommen gar nicht du warst, Illusion von Echtzeit zu erzeugen. Was
die da gerade kurz innehielt, sondern konnte daran falsch sein? Niklas Peinecke, geboren 1975, begann
deine KI. Im Hintergrund lief der Nichts war daran falsch. Falsch 2005 als »Ausgleichssport« mit dem
Schreiben von Kurzgeschichten und
Datenstrom dann weiter, und nie- waren nur meine Blutwerte. Zwei Romanen. In einer beruflichen Parallel-
mand merkte, dass die Übertragung Jahre lang hatte ich in einer Blase des welt kümmert er sich um die friedliche
kurz ins Stocken geraten war. Ich war Glücks mit dir gelebt. Dank der flei- Koexistenz von Mensch und Drohne.

Spektrum der Wissenschaft  12.18 97


Das Januarheft ist ab 15. 12. 2018 im Handel.

VORSCHAU

ESA (WWW.ESA.INT/SPACEINIMAGES/IMAGES/2008/03/
DEBRIS_OBJECTS_IN_LOW-EARTH_ORBIT_LEO2)
AUFRÄUMEN IM ALL
Immer mehr ausgemusterte Satel-
liten, Raketenteile und Bruchstücke
aus Kollisionen bedrohen den
regulären Verkehr im Erdorbit.
Ingenieure suchen nach Wegen, die
gefährlichen Projektile aus den
Umlaufbahnen zu befördern.

MARK ROSS STUDIOS / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2018


PINDARO / GETTY IMAGES / ISTOCK

NEUE SERIE
WAS IST DER MENSCH?

EIN GANZ BESONDERES TIER


Wie einzigartig ist der Mensch? Die Spezies Homo sapiens hat
sich in kurzer Zeit rasant vermehrt, ihre nächsten Verwandten
UNLÖSBARES PROBLEM
verdrängt und kontrolliert heute den gesamten Planeten. Sprache, Gewisse Fragen sind unentscheidbar,
Bewusstsein, Moral, aber auch kriegerische Gewalt gehören zu sagen die Mathematiker. Aber kann
einigen Aspekten, mit denen sich die Art von der übrigen Tierwelt das auch für ein konkretes physika-
abgrenzt. Mit Einblicken in unsere kulturelle und kognitive Son- lisches Problem gelten? Die Antwort
derstellung starten wir eine neue sechsteilige Serie. lautet Ja: Es lässt sich nicht bestim-
men, ob ein sehr spezielles Material
eine so genannte Spektrallücke hat
oder nicht.
METALL VOM
ROV-TEAM, GEOMAR (WWW.GEOMAR.DE/SERVICE/KOMMUNIKATION/SINGLEPM/ARTICLE/

MEERESGRUND
TIEFSEEBERGBAU-TRANSPARENTES-UMWELTMANAGEMENT-MUSS-GEWAEHRLEISTET-
WERDEN/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

Die Gewinnung von Erzen stößt


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bisher verschont geblieben ist: des neuen Hefts informiert sein?
die Tiefsee. Forscher gehen Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
nun der Frage nach, welche per E-Mail – und natürlich kostenlos.
Auswirkungen das auf die Registrierung unter:
dortigen Lebensgemeinschaf-
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ten haben dürfte.

98 Spektrum der Wissenschaft  12.18


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