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Cordula Reisch
So einfach ist
Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen
für Anwender
So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender
Dirk Langemann · Cordula Reisch
So einfach ist
Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen
für Anwender
Dirk Langemann Cordula Reisch
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Vorwort
V
VI Vorwort
∇ · D = ρ, ∇ · B = 0,
∂ ∂
∇ × E = − B, ∇ × H = j + D,
∂t ∂t
die zusammen mit weiteren Gleichungen alle elektromagnetischen Phänomene
und damit auch Licht beschreiben. Die Maxwell’schen Gleichungen erinnern mit
ihren Zeichen und mit ihrer Symmetrie an Ornamente. Hinter den Gleichungen
verstecken sich noch weitere Symmetrien. So sind die elektrische Flussdichte D
und die elektrische Feldstärke E durch D = εE und die magnetische Flussdichte
B und die magnetische Feldstärke H durch B = µH verknüpft. Zu allem Über-
fluss gibt es noch die Verbindung c2 εµ = 1 zur Lichtgeschwindigkeit c.
Tatsächlich waren die Maxwell’schen Gleichungen oder vielmehr ihr unver-
ändertes Aussehen in allen Inertialsystemen ein wesentlicher Schritt zur deut-
lich später von Albert Einstein (1879 in Ulm bis 1955 in Princeton) entwickelten
Speziellen Relativitätstheorie. Sofern wir überhaupt daran glauben, dass Glei-
chungen ein Stück der Wirklichkeit wiedergeben, weisen uns die Symmetrien
in den Gleichungen und ihre Universalität in unterschiedlichsten Theorien und
Beschreibungen auf Symmetrien und Strukturen in den Erscheinungen der Wirk-
lichkeit hin. Und man darf sich – wenigstens im Scherz – fragen, was bei der
Schöpfung des Lichts erschaffen wurde, wenn nicht die Grundlagen, nach denen
es funktioniert.
Das Buch, das Sie zu lesen beginnen, zeigt Ihnen, wie Sie die mathematischen
Zeichen und Zusammenhänge deuten und anschaulich machen, wie Sie partielle
Differentialgleichungen verwenden, um über realistische Phänomene und Vorgänge
nachzudenken, und vor allem, wie Sie einen anwendungsorientierten Zugang zur –
und lassen Sie sich bitte nicht von dem spröden Namen abschrecken – Theorie der
partiellen Differentialgleichungen finden.
Für die ersten Schritte konzentriert sich dieses Buch auf die grundlegenden
Begriffe und die wichtigsten Gleichungen. Es zeigt, aus welchen Anwendungen
die Gleichungen stammen und was wir aus ihnen über die Anwendungen ler-
nen. Das Buch vermittelt zentrale Arbeitstechniken und Konzepte. Dabei wollen
wir den mathematischen Formalismus so einfach wie möglich halten. Deshalb
beschäftigen wir uns nur dort mit innermathematischen Fragen wie Funktionen-
räumen und Glattheitsanforderungen, wo dies zwingend erforderlich ist, um
Eigenschaften der beschriebenen Anwendung oder in den Gleichungen auftretende
Schwierigkeiten zu verstehen.
Zu den innermathematischen Fragen der Theorie der partiellen Differential-
gleichungen, zu numerischen Verfahren für die Bestimmung von Lösungen, zu
weiteren Abstraktionen oder auch zu einzelnen Gleichungen und bestimmten
Anwendungsgebieten gibt es unvorstellbar viele Bücher, die Sie in den Biblio-
theken Ihrer Hochschule finden. Einige dieser Bücher setzen voraus, dass die
Leserschaft die zugehörigen Gleichungen akzeptiert hat, sie lesen und deuten kann
und vor allem, dass sie die zugehörigen Fragen kennt und für sinnvoll erachtet.
Vorwort VII
Nach unseren Erfahrungen eröffnet jedoch gerade der Einstieg in die partiel-
len Differentialgleichungen neue und ungewohnte Betrachtungsweisen und wirft
an einigen Stellen neuartige Fragen auf. Das Buch, das sie in den Händen halten,
soll Ihnen diese Betrachtungsweisen näherbringen und Sie dabei unterstützen, die
gewiss auftretenden Schwierigkeiten kraft Ihrer anschaulichen Vorstellung und
Ihres mathematischen Handwerkzeugs zu meistern.
Dabei bleiben wir dem Prinzip der beiden schon erschienenen So einfach ist
Mathematik-Bände bei dem anspruchsvollen Thema der partiellen Differential-
gleichungen treu. Wir stellen Verbindungen zu alltäglichen Beobachtungen
her und schlagen Veranschaulichungen vor, selbst dann, wenn die Veranschau-
lichungen nicht alle Aspekte einer mathematisch exakten Darstellung wieder-
geben. Wir werden dem Verständnis der Begriffe und der auftauchenden Größen
sowie den Anfängen der besprochenen Themen viel Raum geben, denn nur eine
belastbare anschauliche Vorstellung ermöglicht es Ihnen, die weiterführenden
Sachverhalte mit ihren manchmal etwas technisch aussehenden Herleitungen zu
verstehen.
Sie brauchen einige Vorkenntnisse, die typischerweise im ersten und zweiten
Semester vermittelt werden. Dazu gehören die Grundbegriffe der Differentiation
und Integration in mehreren Dimensionen sowie das Verständnis von gewöhn-
lichen Differentialgleichungen. Da Sie kurz davor stehen, sich mit partiellen
Differentialgleichungen zu beschäftigen, gehen wir davon aus, dass Sie die wich-
tigsten gewöhnlichen Differentialgleichungen lösen können und dass Sie dazu nur
einige kurze Erinnerungen brauchen. Im Anhang A werden Werkzeuge aus der
mehrdimensionalen Analysis und allen voran der Gauß'sche Integralsatz, den wir
an vielen Stellen verwenden, kurz erklärt. Dort steht auch eine kleine Auffrischung
zum Nabla-Operator. Anhang B enthält eine kurze Liste der verwendeten
Bezeichnungen. Durchgehend verwenden wir fett gedruckte Variablen wie den Ort
x und den Fluss I für vektorielle Größen. Dagegen bezeichnen dünne Zeichen wie
die Zeit t oder die unbekannte Größe u skalare Variablen.
Wir nehmen uns drei Kapitel Zeit, die Begriffe und Bezeichnungen zu erläutern
und die wichtigsten partiellen Differentialgleichungen vorzustellen. Dazu
betrachten wir die Orts- und Zeitabhängigkeit der Temperatur in einem Studenten-
zimmer mit Kachelofen und undichtem Fenster, erklären die Rolle der Randbe-
dingungen und motivieren die Wärmeleitungsgleichung. Wir diskutieren die
Energiebilanz und kommen in Kap. 3 zu Schwingungen und deren Beschreibung
durch partielle Differentialgleichungen. Bei der Untersuchung von elastischen Ver-
formungen und von Schwingungen wird uns ein gedachtes Trampolin durch das
Buch begleiten.
Die darauf folgenden Kap. 4 und 5 sammeln weitere Gleichungen und brin-
gen Ordnung in den Zoo der partiellen Differentialgleichungen. Insbesondere
erläutern wir, warum nur eine recht spezielle Auswahl aller theoretisch denkbaren
partiellen Differentialgleichungen eine umfassendere praktische Anwendung hat.
In Abschn. 5.2 reißen wir einige sehr große Fragen an. Seien Sie vorgewarnt. In
diesem Abschnitt kann die Erklärung leider nicht so einfach sein, wie wir sonst
anstreben. Wir werden uns den großen Fragen der Existenz und Eindeutigkeit von
VIII Vorwort
Tab. 1 Wenn’s denn nötig sein sollte: Namenstabelle ausgewählter griechischen Buchstaben.
Sie brauchen die Namen, um über mathematische Zusammenhänge zu sprechen
alpha α zeta ζ mü µ tau τ
ϑ, Θ
beta β eta η nü ν phi ϕ, Φ
ϱ, ρ
gamma γ, Γ theta xi ξ, Ξ chi χ
delta δ, ∆ kappa κ rho psi ψ, Ψ
epsilon ε lambda λ, Λ sigma σ, Σ o-mega ω, Ω
Inhaltsverzeichnis
IX
X Inhaltsverzeichnis
11 Green-Funktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
11.1 Selbstadjungiertheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
11.2 Umkehrung des Randwertproblems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
11.3 Poisson-Formel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
12 Variationsformulierung und schwache Lösungen. . . . . . . . . . . . . . . 209
12.1 Variationsformulierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210
12.2 Schwache Formulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
12.2.1 Schwache Lösung der Membranverformung. . . . . . . . . 220
12.2.2 Schwache Formulierung bei
Neumann-Randbedingungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224
13 Ausblick auf finite Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
13.1 Stationäre Probleme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228
13.2 Zeitabhängige Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Studentenbude, Badezusatz und
Trampolin 1
Wir benutzen Rolfs Studentenbude, um uns die Begriffe, mit denen wir die
Wärmeleitung beschreiben werden, zu veranschaulichen. Möglicherweise werden
einige einwenden, dass sie niemals die Temperatur in einer verwohnten Studenten-
bude berechnen wollen. Das stimmt nur teilweise. Einerseits ist die Wärmeleitung und
die daraus resultierende Temperaturverteilung beim Entwurf von Fenstern und bei
der Planung von Gebäuden gerade vor dem Hintergrund des Energiesparens aktuell.
Andererseits hilft Ihnen Ihre Fantasie, die besprochenen Begriffe auf eine gewalzte
Stahlschiene, das Innere einer Biogasanlage oder das professionelle Einkochen von
Obstsaft zu übertragen.
Also beginnen wir und beschreiben die Temperatur im Zimmer durch die Größe u.
Die unbekannte Größe in einer Gleichung heißt in der Theorie der partiellen Diffe-
rentialgleichungen häufig u, unabhängig davon, was sie in der speziellen Anwen-
dung bezeichnet. Wir werden sie nur in den seltensten Fällen tatsächlich ausrechnen
können. Oft untersuchen wir vielmehr ihre Eigenschaften und machen qualitative
Aussagen über sie.
An dieser Stelle haben wir noch keine Gleichung und damit keine unbekannte
Größe, sondern wir stellen uns vor, wir würden die Temperatur u in Rolfs Studen-
tenbude kennen. Die Temperatur ist von dem Punkt x im Raum abhängig, an dem wir
messen. Nach dem Anheizen war es in der Nähe des Kachelofens zu heiß, während
die Eisblumen am Fenster gerade abschmolzen. Außerdem ist die Temperatur von
der Zeit t abhängig. Bei der nachmittäglichen Ankunft war es im ganzen Zimmer
kalt, nach dem Anheizen stieg die Temperatur, und nach dem Erlöschen des Feuers
klang sie wieder ab. Die Temperatur ist also eine orts- und zeitabhängige Größe.
Streng genommen ist die Temperatur eines kleinen Stücks Materie durch die
mittlere Bewegungsenergie der Teilchen bestimmt. Ein Stück Materie hat eine Tem-
peratur, aber nicht ein einzelner Punkt im mathematischen Sinne. Trotzdem erlauben
wir uns, jedem Punkt eine mittlere Bewegungsenergie seiner Umgebung zuzuordnen.
1.1 Ein Studentenzimmer 3
Bemerken Sie bitte, dass Gl. 1.1 die Temperatur einmal in Abhängigkeit von zwei
Argumenten, nämlich der Zeit t und dem Ortsvektor x, und einmal in Abhängigkeit
von vier Argumenten, nämlich der Zeit und den drei Ortskoordinaten, notiert. For-
mell ist dies nicht perfekt, führt jedoch kaum zu Verwechslungen. Außerdem steht
in Gl. 1.1, dass die Temperatur u eine reelle Größe ist, was die Temperatur nicht
einschränkt, und dass sie für alle Zeitpunkte inklusive des Startzeitpunkts unserer
Beschreibung, den wir mit t = 0 bezeichnen, bestimmt sein soll.
Wir idealisieren Rolfs Studentenbude für einen Moment und nehmen an, die
Luft im Zimmer sei unbewegt. Im Innern des Gebiets strömt die Wärme – und
dank unserer Idealisierung nicht die Luft – von warmen Gegenden in kühlere, in
der Studentenbude meistens vom Ofen in Richtung des Fensters. Die Wärme wird
weitergegeben, aber das Material Luft bleibt, wo es ist. Durch dieses Phänomen,
Wärmeleitung genannt, ändert sich die Temperatur im Zimmer. Die Wärmeleitung
erklären wir uns auf der mikroskopischen Skala damit, dass die sich bewegenden
Teilchen aneinanderstoßen oder sich durch die unterschiedlichen Wechselwirkungen
beeinflussen und ihre Bewegungsenergie weitergeben. Wir werden den Mechanismus
im folgenden Kap. 2 formeller beschreiben.
Unsere Idealisierung ist für Rolfs Bude unrealistisch. Vielmehr gab es einen be-
ständigen Luftaustausch mit der Außenwelt. Es zog also. Der Luftzug transportiert
mit dem bewegten Material ebenfalls Wärmeenergie. Diesen Effekt nennen wir Kon-
vektion, und er unterscheidet sich grundlegend von der Wärmeleitung.
1.1 Ein Studentenzimmer 5
Wir sprechen jetzt eine weitere Beobachtung an. Am Morgen ist das Zimmer
gleichmäßig überschlagen, und wir können von einer fast ortskonstanten Tempera-
tur sprechen. Wenn Rolf eine Kerze anzündet, so wird es nahe der Flamme einige
Grad wärmer. In alle Richtungen weg von der Kerze ist es kälter, und dank der Wär-
meleitung verbreitet sich die Wärme der Kerze ins ganze Zimmer hinein. So verteilt,
wird es im ganzen Zimmer geringfügig wärmer. Pustet Rolf die Kerze aus, ist es im
Moment des Auspustens in der Nähe der Kerze wärmer als weiter entfernt. Die Tem-
peratur u hat also in der Flamme der Kerze ein Maximum. Dort wird die Temperatur,
während sich die Wärme im Zimmer verteilt, fallen, bis das gesamte Zimmer einige
Gradbruchteile wärmer geworden ist.
Und hier noch eine Kuriosität: An der Wand rechts von der Tür, also ganz inner-
halb von , stand in Rolfs Bude ein altes schweres Klavier, was sich nur noch mit
viel Mühe und nur sehr ungenau stimmen ließ. Es eignete sich jedoch als Aufbewah-
rungsort für Bier, denn im Klavier blieb es wegen des dicken Holzes auch nach dem
Anheizen kühl. Rolf konnte sich nach getaner Arbeit aus dem unteren Klavierkasten
eine Flasche herausangeln und diese mit warmen Füßen und kühlerem Kopf kalt
genießen. Die Temperatur im Zimmer ist also eine tatsächlich ortsabhängige Größe.
Natürlich hängt sie auch von der Zeit ab, denn während des Heizens wurde es im
Zimmer wärmer, außerhalb des Klaviers schneller als im Klavier.
Mathematisch formuliert, ist die Temperatur u eine Funktion der Zeit t und des
Orts x. Ihr Definitionsbereich ist die Menge aller Paare (t, x) von Zeitpunkt und
Ort mit t ≥ 0 und x ∈ ∪ ∂. Wir können also u : [0, ∞) × ( ∪ ∂) → R
schreiben.
viel Wärme dadurch nach draußen transportiert, dass erwärmte Luft durch die
Ritzen ins Freie gelangt. Die Wärmeenergie reist also mit der transportierten
Materie. In unserer Idealisierung haben wir aber angenommen, dass das Fenster
zwar ein Hindernis für die Materie, also für die Luft, nicht aber für die Wärme ist.
In Abschn. 4.4 und in Kap. 9 werden wir auf Transportphänomene eingehen, aber
hier wollen wir uns auf die Wärmeleitung beschränken.
Mit diesen Idealisierungen sind wir dazu gekommen, dass die Temperatur an
der Innenseite des Fensters Fenster ⊆ ∂, also auf einem Teilstück des Randes
des betrachteten Gebietes, der Außentemperatur q entspricht. Wir formulieren die
Randbedingung
Die Außentemperatur hängt wieder von der Zeit t und vom genauen Ort am Fenster
ab, und deshalb schreiben wir q = q(t, x). Beispielsweise ändert sich die Tempe-
ratur im Tagesverlauf, und die Sonne könnte ein Teilstück des Fensters besonders
erwärmen. Randbedingungen, bei denen die unbekannte Größe u auf einem Rand-
stück oder dem ganzen Rand vorgegeben wird, heißen Dirichlet-Randbedingungen.
Sie sind nach dem Mathematiker Johann Peter Gustav Lejeune Dirichlet (1805 in
Düren bis 1859 in Göttingen) benannt, dessen Nachnamen man mit k und langem e
französisch ausspricht.
Ganz anders stellt sich die Situation an der Oberfläche des Ofens dar. Im
Ofen liefert die Verbrennung der Kohlebriketts Wärmeenergie, welche über die
Oberfläche des Kachelofens ins Zimmer abgegeben wird. Über jedes Oberflächen-
stück wird also eine bestimmte Wärmeenergie pro Zeit ins Zimmer hinein abgegeben.
Wir nennen dies einen Wärmestrom. Wir stellen uns vor, dass wir den Wärmestrom
in eine Komponente senkrecht zur Oberfläche des Ofens und eine Komponente pa-
rallel zur Oberfläche des Ofens aufteilen. Die parallele Komponente nennen wir die
tangentielle Komponente, und die senkrechte Komponente ist die normale Kompo-
nente. Sie hat ihren Namen von der Außennormalen n, also dem Vektor, der in einem
Randpunkt x ∈ ∂ senkrecht auf dem Rand steht.
Nur die normale Komponente des Wärmestroms wird wirklich ins Zimmer abge-
geben, und die tangentielle Komponente beschreibt die Wärmeleitung innerhalb der
Kacheln. Diese Aufteilung versteht man nach der Beschäftigung mit dem Gauß’schen
Integralsatz, siehe Anhang A, besser. Der Gauß’sche Integralsatz ist ein Werkzeug,
das wir immer wieder verwenden werden.
Durch die Verbrennung und die entstehende Wärmeenergie ist also an der Ober-
fläche Ofen ⊆ ∂ des Ofens die Normalkomponente p(t, x) des Wärmestroms
vorgegeben.
Allgemeiner beschreiben wir den Wärmestrom auch innerhalb des Zimmers durch
einen zeit- und ortsabhängigen Vektor I = I(t, x) ∈ R3 . Die Richtung des Vektors I
gibt die Richtung des Wärmestroms an, und die Länge I des Vektors enthält die
Intensität des Wärmestroms. Genauer beschrieben heißt das, dass über eine gedachte
Schnittebene mit dem Normalenvektor m ∈ R3 pro Flächenstück in der Schnittebene
die Wärme I(t, x) · m ∈ R geleitet wird.
1.1 Ein Studentenzimmer 7
Auf dem Randstück Ofen des Zimmers, das der Oberfläche des Kachelofens
entspricht, finden wir die Neumann-Randbedingungen
Hier ist n die Außennormale des Zimmers und damit des Gebiets . Sie zeigt aus
dem Innern des Zimmers nach außen, also in den Ofen. Der Wärmestrom p ist
beim Heizen des Ofens ins Zimmer hinein gerichtet. Der Wärmestrom I zeigt dann
vom Ofen ins Zimmer hinein. Dies motiviert das Minuszeichen in Gl. 1.3. Diese
Randbedingungen sind nach Carl Gottfried Neumann (1832 in Königsberg bis 1925
in Leipzig) benannt.
Durch die Neumann-Randbedingungen wird der Wärmestrom ins Gebiet hinein
bzw. für p < 0 aus dem Gebiet hinaus festgelegt. Die Temperatur auf einem solchen
Randstück ergibt sich als Konsequenz aus der mit dem Wärmestrom transportierten
Wärmeenergie, so wie wir dies für die Oberfläche des Kachelofens diskutiert haben.
Umgekehrt legen die Dirichlet-Randbedingungen in Gl. 1.2 die Temperatur u = q
auf dem zugehörigen Randstück fest. Daraus ergibt sich am Fenster ein Wärmeab-
fluss, der gerade so groß ist, dass die geforderte Temperatur erreicht wird.
Es gibt noch weitere Möglichkeiten für Bedingungen am Rand. Beispielsweise
ist es vorstellbar, dass die Mauern hinter den Wänden von Rolfs Studentenzimmer,
der Fußboden und auch die Zimmerdecke eine gewisse Wärmedämmung haben. Der
durch die Wand fließende Wärmestrom ist dann proportional zur Temperaturdifferenz
zwischen der Innen- und Außenseite der Mauern. Mit der Temperatur q = q(t, x)
an der Außenseite der Mauern ergeben sich die Robin-Randbedingungen
ist schwierig. Denken Sie nur an den Versuch, einen Ausschnitt des Randes unabhän-
gig von der sonstigen Temperaturverteilung auf eine vorgegebene Temperatur q zu fi-
xieren. Trotzdem werden wir häufig mit Dirichlet- oder Neumann-Randbedingungen
arbeiten, weil sie mathematisch einfacher zu handhaben sind als beispielsweise
Robin-Randbedingungen. Außerdem gibt es viele Anwendungen, bei denen rea-
listische Vorgänge am Rand durch Dirichlet- und Neumann-Randbedingungen sehr
gut beschrieben werden. Sie werden sie z. B. bei der Besprechung von elastischen
Verformungen und Schwingungen kennenlernen.
Wir fassen unsere Überlegungen zur Wärmeleitung in Rolfs Studentenzimmer zu-
sammen. Im Inneren des Zimmers liegt die Wärmeleitung von wärmeren Regionen
in kühlere vor. Die Wärmeleitung ist dabei ortsabhängig, denn beispielsweise das di-
cke Holz des alten Klaviers, das innerhalb von steht, leitet die Wärme schlechter
als die Luft. Der Rand des Gebiets wurde in drei Teilabschnitte
zerlegt, wobei wir die Tür mit zu den Wänden gezählt haben. Die Teilabschnitte
überschneiden sich nicht, sodass wir an jedem Randpunkt eine Randbedingung ha-
ben. Am Fenster ist die Außentemperatur vorgegeben, am Ofen der Wärmestrom,
und an den Wänden ist mit dem Wärmeübergangskoeffizienten β = β(x) eine Pro-
portionalität zwischen dem Wärmestrom und der Temperaturdifferenz definiert. Wir
halten informell fest, dass wir an jedem Punkt des Studentenzimmers einschließlich
seines Randes eine Aussage über die zeit- und ortsabhängige Temperatur u = u(t, x)
erhalten haben.
1.2 Badezusatz
Als nächstes Anschauungsbeispiel stellen wir uns eine mit Wasser gefüllte Bade-
wanne vor, und diesmal geht es nicht um die Temperatur, denn die Temperatur des
Wassers sei gegeben und unveränderlich. Der Wasserhahn ist also abgestellt, und das
Wasser hat sich beruhigt. In der Idealisierung nehmen wir an, dass das Wasser in
der Wanne auch weiterhin unbewegt ist. Wir geben einen kräftigen Schuss grünen
Badezusatz ins Wasser. An dieser Stelle wird sich das Wasser deutlich grün färben.
Nun schauen wir dem Wasser oder vielmehr seiner Färbung zu, fassen aber nicht
ins Wasser oder rühren es gar um. Der grüne Farbton wird sich langsam ausbreiten.
Anfangs wird die Stelle, an der wir den Badezusatz hineingegeben haben, noch
deutlich erkennbar sein, während der Badezusatz sich ausbreitet. Wir erkennen die
Ausbreitung daran, dass sich immer größere Gebiete um die dunkelgrüne Stelle leicht
grün färben. Nach längerer Zeit wird das ganze Wasser gleichmäßig hellgrün sein.
Der Badezusatz hat sich ohne unser Zutun verteilt.
Dieser Effekt heißt Diffusion. Der Badezusatz löst sich im Wasser, und durch die
Bewegung der Wasserteilchen und der Badezusatzteilchen im Wasser verteilt sich
der Badezusatz in der Wanne. Etwas Ähnliches beobachten wir, wenn wir Milch
1.2 Badezusatz 9
in einen Kaffee geben, aber nicht umrühren. Die Milch verteilt sich bei genügend
langer Wartezeit gleichmäßig im Kaffee. Auch Salz in einer Suppe verteilt sich von
selbst, wenn wir nur lange genug warten.
Wir verwenden wieder die Größe u = u(t, x). Diesmal beschreibt sie die Konzen-
tration des gelösten Badezusatzes zum Zeitpunkt t ≥ 0 am Ort x. Natürlich kommen
nur Punkte im Wasser der Wanne infrage, und ist das mit Wasser gefüllte Gebiet
in der Wanne. Der Rand ∂ des Gebietes ist der mit Wasser benetzte Badewannen-
innenrand zusammen mit der ebenen Wasseroberfläche, bei der sich Wasser und Luft
berühren.
Die vektorielle Größe I = I(t, x) ∈ R3 beschreibt den Strom der grünen Bade-
zusatzteilchen. Auch diese Größe ist nicht auf der mikroskopischen Skala definiert,
sondern beschreibt die gemittelte Bewegung sehr vieler Badezusatzteilchen, die wir
einem Punkt x zuordnen. Der Badezusatz diffundiert von Regionen mit höherer
Konzentration in Regionen mit niedrigerer Konzentration, weil sich bei einer unge-
richteten Bewegung der einzelnen Teilchen mehr Badezusatzteilchen aus der Gegend
mit höhere Konzentration hinaus als hinein bewegen. Der Strom I zeigt also von Re-
gionen mit größerem u in Richtung von Regionen mit niedrigerer Konzentration u.
Wieder beobachten wir das Phänomen, dass die Konzentration u an einer Stelle,
wo sie ein örtliches Maximum hat, bezüglich der Zeit sinkt, bis die Konzentration
im gesamten Gebiet ausgeglichen ist.
Da der Badezusatz nur im Wasser gelöst ist, kann er den Rand nicht überwinden.
Es findet kein Transport von Badezusatz über den Rand ∂ statt. Natürlicherweise
finden wir hier homogene Neumann-Randbedingungen I · n = 0 auf ganz ∂ vor.
Das Wort homogen sagt, dass der Zu- oder Abfluss p über den Rand null ist.
Beim Nachdenken über dieses Gedankenexperiment fällt auf, dass am Anfang die
Zugabe des Schusses Badezusatz steht. Ohne diese Zugabe wäre die Konzentration
für alle Zeiten und an allen Stellen konstant null. Die Zugabe können wir auf zwei
unterschiedliche Arten beschreiben.
Einerseits können wir mit reinem Wasser beginnen und die Badezusatzzugabe als
eine von außen vorgegebene – also eine exogene – Zufuhr beschreiben. Andererseits
können wir unsere Beobachtung kurz nach der Zugabe von Badezusatz beginnen. In
diesem Fall würden wir den Beobachtungsbeginn t = 0 auf den Zeitpunkt setzen,
zu dem sich ein dunkelgrüner Fleck an einer Stelle des Badewassers zu verteilen
beginnt. Wir beschreiben dann die Anfangskonzentrationsverteilung durch eine An-
fangsbedingung der Form
Hier haben wir auf der linken Seite das zeitliche Argument der Konzentration
u = u(t, x) mit t = 0 fixiert und die örtliche Konzentrationsverteilung u 0 = u 0 (x)
zu Beginn unseres Experiments vorgegeben. Dieses u 0 hängt nicht von der Zeit
ab, weil es die Badezusatzkonzentration zu genau diesem einen Anfangszeitpunkt
beschreibt.
Selbst wenn wir noch keine Methoden haben, um die zeit- und ortsabhängige
Badezusatzkonzentration u zu berechnen, entwickeln wir eine Idee davon, dass es
10 1 Studentenbude, Badezusatz und Trampolin
einen Zusammenhang gibt, demgemäß sich der Zustand u = u(t, x) zu einem Zeit-
punkt t und an einem Ort x ändert. Wir können damit die Entwicklung von u
beschreiben, wenn wir den Zustand u zu einem Zeitpunkt an allen Orten kennen.
Da die Änderung u ,t = u̇ = ∂t∂ u von u durch den Zusammenhang bestimmt
ist, kennen wir den infinitesimal nächsten Zustand, und gedanklich schreiben
wir den zeitabhängigen Zustand immer weiter fort. Dieses Fortschreiben wird auch
Evolution des Anfangszustands u 0 = u 0 (x) mit der Zeit genannt.
Diese Evolution enthält den Diffusionsprozess des Badezusatzes, bis er in der gan-
zen Wanne verteilt ist. Streng genommen ist der Badezusatz nie ganz gleichmäßig
verteilt. Je besser sich nämlich der Badezusatz verteilt, d. h., je kleiner die Konzentra-
tionsunterschiede sind, umso kleiner ist die Ursache der Diffusion und umso kleiner
wird der Strom I. Für t → ∞ strebt die Konzentration u(t, x) gegen eine ausgegli-
chene Konzentration u fin . Gleichzeitig bleibt die Gesamtmenge des Badezusatzes
konstant, denn wegen der Neumann-Randbedingungen kann kein Badezusatz über
den Badewannenrand hinaus. Es gilt also
E= u(t, x) dx = u 0 (x) dx für alle t ≥ 0, (1.6)
d. h., es gilt die Erhaltung der Masse, genauer die Erhaltung der Gesamtmasse des
Badezusatzes. Natürlich hat auch die konstante ausgeglichene Konzentration u fin
dieselbe Gesamtmasse E. Wir multiplizieren u fin mit der Größe || des Gebiets
und finden
E = u fin dx = || · u fin .
Damit rechnen wir leicht die gleichmäßige Verteilung
1
lim u(t, x) = u fin = u 0 (x) dx
t→∞ ||
aus, gegen die unser betrachteter Diffusionsprozess strebt. Wollten wir hingegen um-
gekehrt von der Konzentrationsverteilung u(t, x) zu einem späteren Zeitpunkt auf die
Anfangsverteilung u 0 (x) schließen, so entspricht dies der Idee, aus fast gleichmäßig
hellgrün eingefärbtem Badewasser auf die Stelle zu schließen, an der der Badezusatz
hinzugegeben wurde. Solange noch ein etwas intensiver eingefärbter Fleck erkenn-
bar ist, also kurz nach der Zugabe des Badezusatzes oder für kleine t, wird dies
wenigstens ungefähr möglich sein. Wir können aber nicht unterscheiden, ob diesel-
be Menge Badezusatz sehr konzentriert an einer kleinen Stelle hinzugefügt oder ob
der Badezusatz in einem größeren Fleck verteilt wurde. Nach genügend langer Zeit,
wenn alles Wasser gleichmäßig hellgrün eingefärbt ist, wird es selbst mit den feins-
ten Messmethoden kaum möglich sein, überhaupt auf die Stelle zurückzuschließen,
an der lange zuvor der Badezusatz ins Wasser gegossen wurde.
1.3 Das Trampolin 11
Die Verfolgung der Evolution mit der Zeit t erscheint uns nach diesem Gedanken-
experiment möglich, aber die umgekehrte Richtung ist weitgehend sinnlos. Wir
nennen das Zurückrechnen entgegen der Zeit auch ein schlecht gestelltes
inverses Problem. Die Überlegung, dass dessen Behandlung in diesem Anschau-
ungsbeispiel viel schwieriger ist, können wir mit der Unumkehrbarkeit der Zeit
assoziieren. Sie zeigt uns aber auch, dass nicht alle Gleichungen, die wir theoretisch
aufschreiben können, einen sinnvollen oder realistischen Anwendungshintergrund
haben. In Abschn. 6.1.2 werden wir ein recht einfaches Argument für die unterschied-
liche Schwierigkeit, das Diffusionsproblem zeitlich vorwärts oder zeitlich rückwärts
zu lösen, finden.
Das Trampolin – oder genauer ein gedachtes Trampolin – wird uns über viele Ka-
pitel des Buchs begleiten. Es besteht aus einem stabilen undeformierbaren Rahmen
auf Stützen, und in dem Rahmen ist eine elastische Membran eingespannt. Es äh-
nelt damit einem realistischen Trampolin, wie Sie es in Gymnastikräumen, Gärten
und mutigen Kindertagesstätten sehen. Gegen Gebühr können Sie auf Jahrmärkten
gesichert auf einem großen Trampolin springen.
Im Gegensatz zu jedem realistischen Trampolin ist die Membran bei unserem
Trampolin auf geheimnisvolle Weise an jeder Stelle unverwüstlich am undeformier-
baren Rahmen befestigt. Dies ist wieder eine Idealisierung, denn weder gibt es in der
Realität eine solche Verbindung, noch gibt es einen tatsächlich undeformierbaren
Rahmen oder eine ideale Membran. Eine Membran steht für ein zweidimensionales
Material, welches ausschließlich einer Längendehnung einen Widerstand entgegen-
setzt, nicht jedoch einer Verformung bezüglich der dritten Dimension. Eine ideale
Membran kann man ohne jeden Kraftaufwand einrollen.
Wenn Sie auf die Membran des Trampolins steigen, verformt sich diese nach
unten. Dort, wo Ihre Füße sind, bilden sich lokale Minima der Höhe der Membran
über dem Boden. Beginnen Sie nun auf dem Trampolin zu hüpfen, so bewegt sich die
Membran auf und ab. Sie reagiert auf die Krafteinwirkung aus dem Gewicht Ihres
hüpfenden Körpers.
Wieder beschreiben wir die vertikale Verformung der Membran aus ihrer Ruhe-
lage durch eine Größe u = u(t, x), wobei wir eine Deformation der Membran nach
unten als eine negative Verformung und eine nach oben als eine positive Verfor-
mung betrachten. Bei Ihren Hüpfversuchen bewegt sich eine realistische Membran
tatsächlich ein wenig nach oben, und eine ideale Membran, die unbelastet perfekt
waagerecht ist, bewegt sich etwa so weit nach oben, wie sie zum Zeitpunkt ihres
Abhebens von der Membran unterhalb der Waagerechten war. Die Verformung u ist
also zeitabhängig. Natürlich hängt sie auch vom Ort ab, denn in der Mitte verformt
sich die Membran stärker als in der Nähe des Randes.
Direkt am Rand verformt sich die ideale Membran nicht, weil sie im undefor-
mierbaren Rahmen eingespannt ist. Wir haben also homogene Dirichlet-
Randbedingungen u(t, x) = 0 für x ∈ ∂, wobei das Gebiet diesmal das Innere
12 1 Studentenbude, Badezusatz und Trampolin
der Membran ist. Nur dort sind vertikale Verformungen der Membran möglich, und
von seitlichen Verformungen sehen wir in unserem idealisierten Versuchsaufbau ab.
Dies werden wir in Kap. 3 und besonders in Abschn. 3.2 genauer besprechen.
Da die Membran schwingt, erwarten wir eine Differentialgleichung, die Verwandt-
schaft mit der gewöhnlichen Differentialgleichung eines Federschwingers hat. Wir
erinnern uns, dass der ungedämpfte Einmassenschwinger mit der Masse m, der Fe-
derkonstanten k und der äußeren Anregung durch die Kraft f = f (t) die Bewe-
gungsgleichung m ÿ = −ky + f (t) für die zeitabhängige Auslenkung y = y(t) ∈ R
des Einmassenschwingers hat. Dies ist eine gewöhnliche Differentialgleichung mit
der rücktreibenden Kraft −ky und dem Trägheitsterm m ÿ, wobei die beiden Punkte
für die zweite Ableitung nach der Zeit stehen. In Vorwegnahme unserer Überlegun-
gen aus Kap. 3 erwähnen wir die Bewegungsgleichung der schwingenden Membran
u ,tt = Pu + f mit der Flächendichte , der Vorspannung P der Membran und
der äußeren Kraft f , die genau genommen eine Kraftdichte ist. Hier bezeichnet
u = u(t, x) die vertikale Auslenkung der Membran, vgl. Abb. 3.1 zur eingespann-
ten Saite, und u ,tt die Beschleunigung der Membran in diese Richtung.
Die Bewegungsgleichung der Membran ist eine partielle Differentialgleichung
und heißt Schwingungsgleichung. Wir verstehen sie hier noch nicht ganz, aber be-
achten Sie bitte die Ähnlichkeit der beiden Bewegungsgleichungen. Der Trägheits-
term besteht jeweils aus dem Produkt der Beschleunigung mit der Masse bzw. der
Dichte, die ebenfalls eine Masse pro Fläche ist. Auf der rechten Seite steht neben
der Anregung f jeweils eine der Auslenkung entgegenwirkende, also eine rücktrei-
bende Kraft. Bei der Membran entsteht die rücktreibende Kraft dadurch, dass die
Längendehnung, die mit der vertikalen Verformung der Membran einhergeht, eine
Gegenkraft erzeugt, und diese resultiert in einer Kraft, die der Verformung entge-
genwirkt. Ihr Hüpfen bringt eine exogene Kraftdichte f in dieses Wechselspiel ein.
Sollten Sie auf der unbewegten Membran still herumstehen, so befinden sich
die exogene Kraftdichte und die rücktreibende Kraft aus der Membranverformung
im Gleichgewicht. Eine zeitunabhängige Verformung der Membran stellt sich ein.
Es entsteht ein stationäres Deformationsproblem für die stationäre Verformung der
Membran. Das Wort stationär bedeutet zeitlich unveränderlich. Eine Eselsbrücke
ist der stationär aufgenommene Patient, der im Gegensatz zu einem ambulanten
Patienten seine Station nicht verlässt.
Wir denken noch kurz über die Dirichlet-Randbedingungen nach. Die Idealisie-
rung, dass der Rahmen undeformierbar sei, bedeutet, dass er bei beliebigen wirken-
den Kräften seine Form behält. Kein realistisches Material hält beliebigen Kräften
stand, und jedes Material beantwortet wirkende Kräfte mit einer wenigstens kleinen
Verformung. Dennoch ist ein realer Trampolinrahmen stabil genug, um die Annahme
u = 0 am Rand ∂ zu rechtfertigen.
Sollten Sie auf die Idee kommen, sich das Trampolin mit Ihrem Bruder zu teilen
und es dafür mittig durchzuschneiden, so verändern Sie unser Experiment. An der
Schnittkante ist die Membran nicht mehr eingespannt. Spätestens, wenn Sie sich auf
das halbe Resttrampolin stellen, verformt sich der Schnittrand der Membran nach
unten. Auf diesem Randstück sind Dirichlet-Randbedingungen keine realitätsnahe
Annahme mehr. Vielmehr ist die Verformung auf diesem Randstück nun frei, und
1.3 Das Trampolin 13
die Randbedingung besteht darin, dass auf den Schnittrand keine Kräfte wirken. Sie
erkennen dies auch daran, dass Sie Ihre kleineren Geschwister bitten könnten, den
Rand festzuhalten, damit Sie wie gewohnt hüpfen können. Die Geschwister würden
eine zeit- und ortsabhängige Kraftdichte an dem aufgeschnittenen Rand anwenden.
Solche Kräfte werden wir später durch Neumann-Randbedingungen beschreiben.
Sollten Sie Ihre Geschwister bitten, den Rand an genau eine vorgegebene Po-
sition zu bringen, während Sie hüpfen, werden Sie erkennen, dass es selbst in ei-
nem Gedankenexperiment fast unmöglich ist, durch geschickt aufgebrachte Kräfte
Dirichlet-Randbedingungen zu simulieren.
Die Membran unseres Trampolins ist der Prototyp eines elastischen Materials,
und die vergleichsweise einfache Bewegungsgleichung des Trampolins steht exem-
plarisch für Bewegungsgleichungen von elastischen Materialien. An unserem ge-
dachten Trampolin lernen wir vieles, was wir auf die Verformung und die Bewegung
von elastischen Materialien verallgemeinern können. Behalten Sie das Trampolin im
Blick, denn wir kommen immer wieder darauf zurück.
Diffusion und Wärmeleitung
2
In diesem Kapitel werden wir die Vorüberlegungen aus Kap. 1 formalisieren und par-
tielle Differentialgleichungen zur Wärmeleitung, die wir in Abschn. 1.1 am Beispiel
der Studentenbude besprochen haben, und zur Diffusion, die wir in Abschn. 1.2 am
Beispiel des sich ausbreitenden Badezusatzes illustriert haben, herleiten. Wir werden
sehen, dass die unterschiedlichen physikalischen Phänomene der Wärmeleitung und
der Diffusion durch dieselbe Differentialgleichung mit unterschiedlichen Interpre-
tationen der auftretenden Größen beschrieben werden.
Wir beginnen mit einem Gebiet und bezeichnen die Punkte oder Positionen mit
x ∈ ⊂ Rd . Die Dimension des Gebietes ist d ∈ N. In realistischen Anwendungen
ist d = 1, d = 2 oder d = 3, obwohl die Gleichungen, die wir herleiten werden,
unter Umständen auch für höhere Dimensionen sinnvolle Interpretationen haben.
Im Fall d = 1 beschreibt einen schmalen Kanal, einen langen Stab, einen
dünnen Draht und alle Strukturen, die eine dominante Richtung haben. Eine sol-
che Struktur können wir durch eine Koordinate x = (x1 ) ∈ R1 als Vektor der Län-
ge d = 1 oder schlicht durch ein eindimensionales x = x1 ∈ R parametrisieren.
Natürlich gibt es kein eindimensionales Material, denn auch ein Kanal, eine Lei-
tung oder ein Draht haben eine Querausdehnung. Die Beschreibung als eindimen-
sionale Struktur vernachlässigt alle Mechanismen in Richtung der Querausdehnung,
und diese Vernachlässigung sollte vor dem Hintergrund der Anwendung sinnvoll
erscheinen.
Betrachten wir das Auskühlen einer gewalzten Stahlschiene, die im Vergleich zu
ihrer Querausdehnung lang ist, so ist die Beschreibung als eindimensionale Struk-
tur eine Näherung, die für eine grobe Beschreibung des technischen Abkühlungs-
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 15
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_2
16 2 Diffusion und Wärmeleitung
vorgangs sinnvoll erscheint. Sie ist jedoch nicht geeignet, um Aussagen über innere
Spannungen der Schiene zu machen, die durch unterschiedlich schnelles Abkühlen
im Inneren und am Rand entstehen.
Für d = 2 beschreiben wir mit ⊂ R2 eine zweidimensionale Struktur wie
eine Schale oder eine Platte, für deren Beschreibung wir zwei Dimensionen
brauchen und bei der wir von der Dicke absehen. Auch eine Membran ist eine
zweidimensionale Struktur, allerdings betrachten wir die Membran als Prototyp
eines elastischen Bauteils und wollen sie mit Deformationen und Schwingungen in
Verbindung bringen, weshalb wir sie in diesem Kapitel nur an dieser Stelle erwähnen.
Übrigens kann auch ein Meer wie die Ostsee näherungsweise als zweidimensionale
Struktur beschrieben werden, denn ihre Tiefe von maximal etwas mehr als 400 m
ist klein im Vergleich zur Nord-Süd-Ausdehnung von beachtlichen 1000 km bzw.
ihrer Ost-West-Ausdehnung von immer noch einigen hundert Kilometern. Die
mittlere Tiefe der Ostsee beträgt übrigens nur 52 m.
Reale Materialien sind dreidimensional, und damit liefert d = 3 die wirk-
lichkeitsnächste Beschreibung. Allerdings wird die Diskussion der Gleichungen mit
wachsender Dimension d tendenziell komplizierter, und vor allem die numerische
Behandlung, vgl. Kap. 13, wird sehr viel aufwendiger. Deshalb sucht man gerade für
realistische Anwendungen oft nach einfacheren niedrigdimensionalen Beschreibun-
gen, selbst wenn sie nur näherungsweise zutreffen.
Mit t ≥ 0 bezeichnen wir wie im ganzen Buch die Zeit. Wir einigen uns darauf,
dass all unsere Beschreibungen beim Zeitpunkt t = 0 beginnen. Sollten wir – aus wel-
chen Gründen immer – eine Startzeit t0 = 0 festlegen wollen, so transformieren wir
die Zeitachse durch die Verschiebung t − t0 und betrachten dies als neue Zeitskala,
auf der der Startzeitpunkt t − t0 = 0 ist. Wir legen unseren Anfangszeitpunkt also oh-
ne Beschränkung der Allgemeinheit auf t = 0 fest.
Jetzt diskutieren wir die zeit- und ortsabhängige Größe u = u(t, x) ∈ R1 und brau-
chen dazu etwas Mut, denn wir werden zwei unterschiedliche Phänomene zugleich
beschreiben, nämlich die Diffusion und die Wärmeleitung.
Im Falle der Diffusion ist u wie in Abschn. 1.2 die Konzentration eines gelösten
Stoffes am Ort x zum Zeitpunkt t. Die Konzentration u ist die Dichte des gelösten Stof-
fes innerhalb des Lösungsmittels. Sinnvolle Einheiten sind die Stoffmenge pro Volu-
men, also [mol/md ], oder auch die Masse pro Volumen [g/md ]. Als eine Idealisierung
gehen wir davon aus, dass sich das Volumen oder die Dichte des Lösungsmittels durch
denhinzugefügtengelöstenStoffnurinvernachlässigbaremMaßeverändert.Diestrifft
für kleine Konzentrationen sicher zu.
Im Fall der Wärmeleitung ist u wie im Abschn. 1.1 die Temperatur oder die Dichte
der thermischen Energie. Sinnvolle Einheiten sind Grad Kelvin [K] und jede andere
Temperaturskala.
In beiden Fällen haben wir einen Fluss I(t, x) ∈ Rd betrachtet, der ebenfalls von der
Zeit und vom Ort abhängt. Für die Diffusion ist dies der Fluss oder Strom des gelösten
Stoffs, den wir in [m/s · mol/md ] bzw. [m/s · g/md ] messen. Auch die Einheiten zeigen
an, dass der Strom die Geschwindigkeit und die Menge des im Fluss transportierten
gelösten Stoffs enthält.
2.1 Physikalische Größen und konstitutive Gleichungen 17
kurz als das Newton’sche Gesetz. Es ist übrigens ein Gesetz und keine konstitutive
Gleichung, denn es fügt nicht bestehende unabhängige Begriffe zusammen, sondern
es führt Beschreibungsgrößen definierend ein, nämlich die Trägheitskräfte und die trä-
ge Masse.
Die Zweisamkeit zwischen einer Gesetzmäßigkeit und einer konstitutiven Glei-
chung steckt in der Herleitung vieler Gleichungen zur Beschreibung realistischer Phä-
nomene, auch wenn sie bei besonders einfachen Zusammenhängen in der Einfachheit
versteckt ist.
In dieser Weise werden wir bei der Diffusion und der Wärmeleitung die Zustands-
größe u mit dem Fluss I auf zwei Arten in Verbindung bringen. Einmal mittels der der
Begriffswahl innewohnenden gesetzmäßigen Kontinuitätsgleichung im kommenden
Abschn. 2.2 und einmal als konstitutive Gleichung gleich jetzt.
Konstitutive Gleichung Die konstitutive Gleichung konkretisiert den Zusam-
menhang zwischen der Zustandsgröße u, also der Konzentration oder der Temperatur,
und dem Fluss I. Damit enthält sie Aussagen über das Material, in dem sich die Wärme
ausbreitet, oder über das Lösungsmittel, in dem die Diffusion stattfindet. Die konsti-
tutiven Gleichungen heißen deshalb auch Materialgleichungen.
Zuerst betrachten wir ein isotropes, homogenes und lineares Material. Isotrop
bedeutet, dass das Materialverhalten unabhängig von der gewählten Richtung ist. Ho-
mogen heißt, dass sich das Material in allen Punkten x ∈ im Gebiet, also nicht not-
wendigerweise auch am Rand, gleich verhält. Das Material heißt linear, wenn das
Materialgesetz mit der Bildung der Linearkombination vertauschbar ist. Führt also
der Zustand u 1 zum Fluss I1 und der Zustand u 2 zum Fluss I2 , so führt der
Zustand λu 1 + μu 2 für alle Skalare λ, μ ∈ R bei linearem Material zum Fluss
λI1 + μI2 .
In einem isotropen Material wird die Bewegung und die Interaktion der Teilchen
des Trägermaterials, also des Stoffes, in dem die Wärmeleitung stattfindet, bzw. des
Lösungsmittels, in dem sich der gelöste Stoff ausbreitet, dafür sorgen, dass die Wär-
meenergie bzw. der gelöste Stoff von einer Stelle aus in alle Richtungen gleichmä-
ßig weitergegeben wird. Dadurch entsteht – wie wir schon in Kap. 1 am Beispiel von
Rolfs Kerze in der Studentenbude besprochen haben – insgesamt ein Wärmefluss oder
ein Transport des gelösten Stoffes von Stellen hoher Temperatur oder hoher Konzen-
tration in Richtung von Stellen niedriger Temperatur bzw. Konzentration. Der Fluss
ist damit proportional zum Gefälle von u, also zum negativen Gradienten −∇u, vgl.
Anhang A. Wir sagen, dass der gelöste Stoff oder die thermische Energie in Richtung
des größten Konzentrations- bzw. Temperaturgefälles fließt.
Schauen Sie zur Handhabung des Nabla-Operators ∇ gern in Anhang A. Neben
der Frage, ob er eine Spalte, eine Zeile oder etwas anderes sei, finden Sie dort einige
nützliche und notwendige Werkzeuge aus der mehrdimensionalen Analysis.
In homogenem Material ist der Proportionalitätsfaktor a > 0, den wir als Wär-
meleitkoeffizient bzw. als Diffusionskoeffizient ansprechen, eine ortsunabhängige
Konstante. Für isotropes homogenes lineares Material erhalten wir die konstitutive
Gleichung
In Gl. 2.1 wird der Gradient bezüglich des Orts gebildet, denn das Temperatur- oder
Konzentrationsgefälle bezüglich des Ortes ist der Antrieb für den Wärme- oder
Materialfluss I. Ausführlicher würden wir I(t, x) = −a∇x u(t, x) schreiben. Aller-
dings besteht wegen I ∈ Rd und x ∈ Rd wenig Verwechslungsgefahr, und oft findet
man nur I = −a∇u. Die zeitliche Ableitung von u hat zudem eine andere Einheit als
die örtliche, und sie beschreibt einen qualitativ anderen physikalischen Begriff.
Im Fall von isotropem, aber inhomogenem linearem Material hängt der Proportio-
nalitätsfaktor a = a(x) vom Ort ab, und es entsteht die konstitutive Gleichung
a b
Abb. 2.1 Anisotrope Wärmeleitung bzw. Diffusion in gefasertem Material mit bevorzugter Rich-
tung (dünne Linien), Gefälle −∇u (gestrichelt) und Fluss I (fett), a Gefälle ungefähr in der Vorzugs-
richtung, b betragsgleiches Gefälle in abweichender Richtung
auch wenn wir die Schöpfkelle im Suppentopf stecken lassen. Bei der Diffusion ist eine
Ortsabhängigkeit schwerer vorstellbar, aber Sie könnten an eine unterschiedlich zähe
Flüssigkeit oder an Flüssigkeiten mit einem Schwamm darin denken. Gl. 2.2 enthält
also die Ortsabhängigkeit an ihrer physikalisch bedingt richtigen Stelle. Wir werden
uns hoffentlich daran erinnern.
Ein anisotropes, also richtungsabhängiges Material leitet die Wärme bzw. die
Konzentration in unterschiedliche Richtungen unterschiedlich gut. Beispielsweise
könnten wir an ein gefasertes Material wie Holz oder glasfaserverstärkten Kunststoff
denken. Bei der Diffusion stellen wir uns beispielsweise eine Flüssigkeit um einen
Schwamm mit länglichen Waben vor. Abb. 2.1 zeigt ein gefasertes Material mit
einer bevorzugten Ausbreitungsrichtung sowie Flüsse I für unterschiedliche,
betragsgleiche Gradienten −∇u. Interpretieren Sie die Abbildungen jeweils für die
Wärmeleitung und für die Diffusion.
Für das mittlerweile recht allgemeine Material bringt uns die verbleibende Forde-
rung der Linearität zu dem Zusammenhang
d×d
I = −A(x)∇u mit A(x) ∈ Rspd , spec A(x) ≥ ε > 0 ∀x ∈ (2.3)
wird vieles einfacher. Wir bleiben hier bei der Annahme symmetrischer Matrizen und
2.2 Kontinuitätsgleichung 21
bewahren uns hinsichtlich der Symmetrie von A = A(x) für inhomogene Materialien
einen leisen Zweifel.
Ohne allen Zweifel allerdings strömt der Fluss dem Temperatur- oder dem Kon-
zentrationsgefälle nicht entgegen und steht auch nicht senkrecht darauf, denn das
Temperatur- oder Konzentrationsgefälle ist die Ursache für den Fluss, der als Wär-
mestrom von wärmeren Teilen in kältere fließt. Zwischen I und ∇u besteht also ein
stumpfer Winkel, und es gilt I · ∇u < 0 ∀∇u. Dies führt uns auf die Forderung der
positiven Definitheit von A, d. h. auf vT Av > 0 ∀v ∈ Rd \{0}. Die positive Definitheit
von A sichert
2.2 Kontinuitätsgleichung
Wir denken uns einen Diffusionsprozess oder einen Wärmeleitungsprozess und be-
trachten ein kleines Teilgebiet mit ⊂ , in dem kein gelöster Stoff bzw. keine
thermische Energie entsteht oder verschwindet. Die gesamte Stoffmenge bzw. die ge-
samte thermische Energie E(t) im Teilgebiet ist das Integral der Zustandsgröße u.
Sie hängt von der Zeit ab, und wir notieren sie für den zweidimensionalen Fall d = 2
als
E(t) = u(t, x) da, (2.4)
22 2 Diffusion und Wärmeleitung
wobei wir über alle Positionen x ∈ integrieren. Damit ist die Änderung der Stoff-
menge bzw. der thermischen Energie
d ∂
E (t) = u(t, x) da = u(t, x) da. (2.5)
dt ∂t
Die Vertauschung der Integration bezüglich des Ortes und der Differentiation bezüg-
lich der Zeit ist immer dann möglich, wenn alle Terme auf beiden Seiten sinnvoll aus-
gewertet werden können. Hier folgt dies bereits aus dem physikalischen Hintergrund,
denn auf der linken Seite steht die Ableitung der Gesamtstoffmenge oder Gesamtener-
gie in , und rechts integrieren wir über die Änderung der Zustandsgröße.
Die Änderung E (t) der summierten Zustandsgröße in entspricht dem Gesamt-
transport über den Rand ∂, denn ein Fallen der thermischen Gesamtenergie bedeutet
einen Abfluss von thermischer Energie über den Rand. Entsprechend ist ein Wachsen
der Gesamtstoffmenge des gelösten Stoffs nur möglich, wenn über den Rand ein wenig
des gelösten Stoffes in das betrachtete Teilgebiet hineinfließt. Der Transport über ∂
ist somit
E (t) = − I(t, x) · n(t, x) ds = − ∇x · I(t, x) da, (2.6)
∂
wobei der Gauß’sche Integralsatz, s. Gl. A.13, angewandt wird, um das Integral über
den Rand ∂ in ein Integral über die Fläche von umzuformen. Der Integralsatz wird
im Anhang A.3 hergeleitet. Dort wird auch der Transport über den Rand genauer be-
sprochen.
Da das Gebiet ⊂ nicht weiter eingeschränkt ist, gilt nach dem Gleichsetzen
von Gl. 2.5 und 2.6 in jedem Gebiet die Beziehung
∂
u(t, x) da = − ∇x · I(t, x) da. (2.7)
∂t
Da Gl. 2.7 für jedes Gebiet gilt, gilt diese Beziehung auch für ganz kleine Gebiete. Wir
stellen uns eine Folge von Gebieten vor, die sich auf einen Punkt x ∈ zusammenzie-
hen, und entwickeln die intuitive Vorstellung, dass aus der Gleichheit der Integrale
in Gl. 2.7 für alle Teilgebiete die Gleichheit der Integranden folgen könnte. Das
stimmt in dieser Allgemeinheit nicht. Wenn wir jedoch von physikalisch motivier-
ten Zustandsgrößen u ausgehen, die wenigstens stückweise stetig sind, dann folgt aus
Gl. 2.7 die Kontinuitätsgleichung
∂
u(t, x) = −∇x · I(t, x) oder kurz u ,t + ∇ · I = 0. (2.8)
∂t
2.3 Diffusions- und Wärmeleitungsgleichung 23
Wir betrachten zusätzlich eine Zufuhr oder einen Abfluss des gelösten Stoffes oder der
Wärmeenergie im Term f (t, x). Beispielsweise führt die in Abschn. 1.1.1 beschrie-
bene Kerze dem Studentenzimmer Wärme zu. Auch die Zugabe von Badezusatz kann
durch einen Quellterm f (t, x) beschrieben werden.
Die Quellen und Senken f (t, x) gehen in das in der Kontinuitätsgleichung
beschriebene Gleichgewicht ein. Aus u ,t = −∇ · I + f entsteht durch Einsetzen des
kompliziertesten besprochenen Materialgesetzes aus Gl. 2.3 die Diffusions- und
Wärmeleitungsgleichung
∂
u(t, x) = ∇x · [A(x)∇x u(t, x)] + f (t, x) mit x ∈ , t > 0, (2.9)
∂t
die wir kurz als u ,t = ∇ · [A∇u] + f notieren. Wir haben die allgemeinste konstituti-
ve Gleichung verwendet, denn mit A(x) = a(x)I mit der Einheitsmatrix I ∈ Rd×d
enthält sie Gl. 2.2 für isotropes inhomogenes Material und mit der ortskonstanten
Diagonalmatrix A(x) = a I auch Gl. 2.1 als Spezialfälle.
Wie in Kap. 1 angesprochen, brauchen wir zur Beschreibung eines Diffusions- oder
Wärmeleitprozesses Aussagen über die Vorgänge am Rand. Dazu nutzen wir Rand-
bedingungen, die den Prozess am Rand = ∂ beschreiben. Innerhalb des Gebiets
ist aus dem Zusammenspiel der konstitutiven Gleichung, die das Materialverhal-
ten enthält, und der Kontinuitätsgleichung in Gl. 2.8 die Diffusions- oder Wärmelei-
tungsgleichung in Gl. 2.9 entstanden. Diese enthält den Zusammenhang zwischen den
örtlichen Ableitungen des Zustands u am Punkt x ∈ mit der zeitlichen Änderung
u̇ = u ,t . Gl. 2.9 sagt uns also für jeden inneren Punkt x ∈ , wie sich der Zustand
u(t, x) entwickelt. Da die Ortsableitungen in den Zusammenhang eingehen, benöti-
gen wir den Zustand u in einer kleinen Umgebung von x ∈ . Somit können wir den
Zusammenhang nur für innere Punkte formulieren.
Die Randbedingungen stellen den Anschluss unseres Modells für die Diffusion
bzw. Wärmeleitung im Innern an die nicht modellierte äußere Welt dar. Aus diesem
Grund werden die Randbedingungen häufig als exogen gegeben betrachtet.
Sind auf dem Rand Werte der Zustandsgröße durch die Funktion q = q(t, x) gege-
ben, so haben wir wie in Gl. 1.2 Dirichlet-Randbedingungen
Ein Beispiel ist das Fenster in Rolfs Studentenbude, an dessen Innenseite die Außen-
temperatur anlag. In Gl. 2.10 sind sogar auf dem ganzen Rand Dirichlet-Randbedin-
gungen, also die Werte für u, gegeben.
24 2 Diffusion und Wärmeleitung
Überlegen Sie sich, dass Neumann-Randwerte p > 0 einen Zufluss ins Gebiet
hinein und Werte p < 0 einen Abfluss aus dem Gebiet heraus beschreiben.
Obwohl sie auf den ersten Blick komplizierter erscheinen, heißen die Neumann-
Randbedingungen aus Gl. 2.11 auch natürliche Randbedingungen. Diese Namensge-
bung werden wir später würdigen können. Vielleicht denken Sie hier an den Ofen,
den Rolf geheizt hat, und der dann in natürlicher Weise Wärme in den Raum abgeben
konnte. Die Wärmemenge entstand ohne Regelung oder Steuerung aus der Verbren-
nung der Kohlebriketts.
Wir wollen an dieser Stelle noch einmal die realistischsten uns bis hierhin bekann-
ten Robin-Randbedingungen in Gl. 1.4 erwähnen, die eine Proportionalität zwischen
dem Transport über den Rand und der Differenz des Zustands zu einer Referenz-
größe beschreiben. Zu diesen realistischen Randbedingungen können wir erst nach
der Beschäftigung mit den Grundlagen der partiellen Differentialgleichungen sinn-
volle Überlegungen anstellen, sodass wir uns im Folgenden auf die Dirichlet-
und Neumann-Randbedingungen in Gl. 2.10 und 2.11 beschränken.
Da wir dank Gl. 2.9 wissen, wie sich ein Zustand u entwickelt und welche Bedin-
gungen am Rand vorgegeben werden können, brauchen wir noch Aussagen darüber,
welcher Zustand zum Zeitpunkt t vorliegt. Wir nennen diese Aussagen Anfangs-
bedingungen, und wir haben sie in Gl. 1.5 schon allgemein als u(0, x) = u 0 (x) mit
dem gegebenen Anfangszustand u 0 = u 0 (x) aufgeschrieben.
Zum Ende dieses Abschnitts notieren wir das Gesamtsystem, das aus der Wärme-
oder Diffusionsgleichung, also der eigentlichen partiellen Differentialgleichung, den
zugehörigen Randbedingungen und Anfangsbedingungen besteht. Um beide Rand-
bedingungen aus Gl. 2.10 und 2.11 formell aufnehmen zu können, zerlegen wir den
Rand = 1 ∪ 2 in die Teilstücke 1 , auf dem Dirichlet-Randbedingungen gege-
ben sein mögen, und 2 , wo Neumann-Randbedingungen vorliegen. Die Randstücke
müssen nicht zusammenhängend sein, und 1 = ∅ oder 2 = ∅ ist möglich, falls nur
Randbedingungen von einem Typ bestehen. Da der Rand in die Stücke 1 und 2
zerlegt wurde, sollen sich die Randstücke nicht überlappen. Es gilt also 1 ∩ 2 = ∅.
Das entstehende Anfangsrandwertproblem lautet
In der ersten Zeile von Gl. 2.12 finden Sie die partielle Differentialgleichung für den
zeit- und ortsabhängigen Zustand u = u(t, x). Die Ortsabhängigkeit der Materialkon-
stanten A = A(x) haben wir ausdrücklich notiert. Aber beim Zustand u gehen wir
meistens davon aus, dass wir und Sie wissen und mitdenken, dass der Zustand u eine
2.4 Eigenschaften von Diffusion und Wärmeleitung 25
Funktion der Zeit t und des Ortes x ist. Zukünftig schreiben wir den Nabla-Operator
nur noch dann mit einer tiefgestellten Ortsvariablen, wenn unklar ist, auf welche
Variable er sich bezieht. In Gl. 2.12 beziehen sich der Gradient und die Divergenz
natürlich auf den Ort x.
Die Randbedingungen finden Sie in der zweiten und dritten Zeile von Gl. 2.12, und
wieder wird, wie in der Literatur üblich, vorausgesetzt, dass Sie erkennen, dass die ge-
gebenen Werte q = q(x), der gegebene Zustrom p = p(x) sowie die
Normale n = n(x) vom Ort x ∈ = ∂ abhängen. Schließlich steht in der letzten
Zeile die Anfangsbedingung.
Beachten Sie bitte, dass zu jeder Zeile die Zeitpunkte und die Orte angegeben sind,
an denen sie gelten sollen. Es wirkt an dieser Stelle formell, weil wir uns gerade eben
mit der Motivation der einzelnen Zusammenhänge befasst haben. Die Angaben zu zu-
lässigen Orten und Zeiten gehören jedoch zu Anfangsrandwertproblemen für partielle
Differentialgleichungen dazu und helfen uns, die notierten Zusammenhänge zu lesen
und zu deuten. Sie sollten sie nie aus Bequemlichkeit weglassen.
Schließlich erinnern wir uns daran, dass auf dem Randstück 1 der Zustand u
gegeben ist. Dadurch, dass der Zustand fixiert ist, sind wir dem dort fließenden Wär-
mestrom oder Materialtransport ausgeliefert, denn dieser stellt sich als Konsequenz
unseres Festhaltens an u = q ein. Andererseits ist der Fluss I auf dem Randstück 2
als natürliche Randbedingung gegeben, und der sich einstellende Zustand ist eine Kon-
sequenz aus dem vorgegebenen Fluss.
Der Versuch, den Zustand u und den Fluss I auf einem gemeinsamen Randstück
vorzugeben, führt zu einer vollständig anderen Problemklasse. Stellen Sie sich vor,
Rolf würde von seinem Ofen verlangen, mit einer vorgegebenen Anzahl Briketts ei-
ne gleichzeitig vorgegebene Temperatur zu erreichen. Entweder die Temperatur passt
zur Brikettanzahl, oder er würde damit vom Ofen etwas Unmögliches verlangen. Es
müssten sehr seltsame Bedingungen im Rest des Raums vorliegen, damit nicht zusam-
menpassende Randbedingungen erfüllt werden können.
Aus den Gleichungen leiten wir – lange, bevor wir für einige Spezialfälle Lösungen
ausrechnen – Eigenschaften ab. Wir beginnen mit der Masseerhaltung für die Diffusion
und der Energieerhaltung für die Wärmeleitung.
Die Diffusion ist ein Mechanismus der Verteilung eines gelösten Stoffs in einem Lö-
sungsmittel. Dabei kommt zunächst kein gelöster Stoff hinzu, und es geht keiner ver-
loren. Im Anfangsrandwertproblem in Gl. 2.12 wird jedoch ein System beschrieben,
dem einerseits über die Quellen und Senken in f und andererseits über die Randbedin-
gungen gelöster Stoff hinzugefügt bzw. entzogen wird. Ebenso führen wir im Fall der
Wärmeleitung dem beschriebenen System in über den Rand und über Quellterme
26 2 Diffusion und Wärmeleitung
in f > 0 Wärmeenergie zu, und wir entziehen dem System Wärme in den ebenfalls in
f < 0 beschriebenen Senken oder über den Rand.
Diese Bilanz der Stoffmenge bzw. der thermischen Energie möchten wir im An-
fangsrandwertproblem in Gl. 2.12 wiederfinden.
Da wir auf dem Dirichlet-Rand 1 keine expliziten Aussagen über den Fluss I,
also den Transport über das Randstück 1 , haben, beschränken wir uns auf den Fall
2 = = ∂, bei dem 1 = ∅ gilt.
Bereits in Gl. 2.4 haben wir die Gesamtenergie bzw. die gesamte Stoffmenge des
gelösten Stoffes in einem Teilgebiet notiert. Ebenso erhalten wir im ganzen Gebiet
die Gesamtenergie bzw. die gesamte Stoffmenge
E(t) = u(t, x) da.
Die Änderung der Gesamtenergie bzw. der gesamten Stoffmenge in ist nach dem
Einsetzen von Gl. 2.9 oder der ersten Zeile des Systems in Gl. 2.12
d ∂
E(t) = u(t, x) da = ∇ · [A∇u] da + f (t, x) da,
dt ∂t
woraus sich mit dem Gauß’schen Integralsatz aus Gl. A.13 und der Neumann-
Randbedingung in Gl. 2.11
E (t) = nT [A∇u] ds + f (t, x) da = p(t, x) ds + f (t, x) da (2.13)
ergibt. In Gl. 2.13 steht also, dass sich die Änderung der Gesamtstoffmenge bzw.
die Änderung E (t) der Gesamtenergie aus dem integrierten Zufluss und Abfluss p
über den Rand = ∂ und dem integrierten Zufluss und Abfluss f aus den Quel-
len und Senken in zusammensetzt. Dieser Zusammenhang heißt Energie- oder
Masseerhaltung, weil sich aus p = 0 und f = 0 mit E (t) = 0 die Konstanz der
Energie bzw. der Stoffmenge E(t) = E(0) für alle Zeitpunkte t > 0 ergibt.
Wir nennen einen Zustand stationär, wenn er sich bezüglich der Zeit nicht ändert.
Alle zeitlichen Veränderungen sind also ausgeglichen, und alle zeitlichen
Ableitungen werden null. Eine notwendige Voraussetzung für die Existenz eines
zeitlich unveränderlichen Zustands besteht darin, dass die äußeren Einflüsse
f (t, x) = f (x), q(t, x) = q(x) und p(t, x) = p(x) von der Zeit unabhängig sind.
Da der Zustand zeitlich konstant ist, ist die Angabe einer Anfangsbedingung sinnlos.
Denn diese könnte nur den gesuchten zeitkonstanten Zustand vorgeben.
2.4 Eigenschaften von Diffusion und Wärmeleitung 27
Das Gesamtsystem in Gl. 2.12 wird zu einem reinen Randwertproblem für den zeit-
lich konstanten Zustand u = u(x), nämlich
In der ersten Zeile haben wir u̇ = u ,t = 0 verwendet und die erste Zeile aus Gl. 2.12
ein wenig umgestellt. Gl. 2.14 zeigt uns ein sehr typisches Randwertproblem, das wir
in anderen Anwendungen wiederfinden werden. Hier beschreibt es den zeitkonstan-
ten Zustand, der sich aus zeitkonstanten Dirichlet-Randbedingungen q auf dem Rand-
stück 1 , zeitkonstanten Neumann-Randbedingungen p auf dem Randstück 2 und
zeitkonstanten Quellen und Senken f im Innern ergibt.
Stellen wir uns vor, Rolf hätte seine Studentenbude sorgfältig geheizt und einen
Zustand erreicht, bei dem sich die Temperatur im Zimmer nicht mehr merklich ändert.
Falls nun am Fenster eine konstante Außentemperatur anliegt und das Feuer immer
mit derselben Intensität brennt, sodass der Ofen fortwährend die gleiche Wärmemenge
abgibt, so ändert sich die Temperaturverteilung im Zimmer nicht. Sie ist stationär.
Zusätzliche Wärmequellen wie die Kerze oder Rolf selbst würden in die rechte Seite
f der partiellen Differentialgleichung eingehen und müssten ebenfalls konstant sein.
Eine solche stationäre Situation ist näherungsweise denkbar, wenn Rolf bei kaltem
Winterwetter vor seinem Schreibtisch sitzt und gelegentlich kleine Mengen Kohle
nachlegt. Er erzeugt damit eine Temperaturverteilung u = u(x) in seinem Zimmer,
die vom Ofen zum Fenster abnimmt und sich zeitlich kaum ändert.
Im stationären Fall ändert sich natürlich auch die Gesamtenergie E = E(t) nicht,
und in Gl. 2.13 gilt E (t) = 0. Also haben wir im Falle 2 = die notwendige
Bedingung
f (x) da = − ∇ · [A∇u] da = − nT [A∇u] ds = − p ds (2.15)
für die Existenz einer stationären Lösung. Wir nennen Gl. 2.15 deshalb die Lösbar-
keitsbedingung für ein stationäres reines Neumann-Problem und schreiben sie kurz
als
f da + p ds = 0, (2.16)
woraus auch E (t) = 0 bzw. E(t) = const. in Gl. 2.13 folgt. Bei einem reinen
Neumann-Problem, also beispielsweise einer Diffusionsgleichung mit Neumann-
Randbedingungen auf dem ganzen Rand, sind die Zuflüsse und Abflüsse p über den
Rand vorgegeben. Gl. 2.15 oder die Kurzform in Gl. 2.16 sagen nun, dass der Trans-
port des gelösten Stoffs über den Rand durch Quellen und Senken im Inneren aus-
geglichen werden muss, weil sonst die Gesamtstoffmenge E(t) steigt oder fällt und
28 2 Diffusion und Wärmeleitung
damit nicht konstant bleibt. Die Lösbarkeitsbedingung enthält in all ihrer formellen
Abstraktheit – wie viele andere Aussagen, die wir noch herleiten werden – einen ein-
leuchtenden Zusammenhang. Diesen können Sie auch Kommilitonen erklären, die
sich nicht mit partiellen Differentialgleichungen beschäftigen.
Schließlich bemerken wir, dass beim stationären reinen Neumann-Problem mit je-
dem u(x) auch u(x) + c für jedes c ∈ R eine Lösung ist, denn sowohl die partiel-
le Differentialgleichung selbst als auch die Neumann-Randbedingungen verwenden
nur Ableitungen des Zustands u und bemerken deshalb die Addition eines konstanten
Summanden nicht. Wenn Sie also eine stationäre Lösung eines Randwertproblems be-
trachten, bei dem Sie nur die Flüsse p am Rand und f im Innern vorgegeben haben, so
gibt es keine Aussage zum absoluten Wert von u. Verdeutlichen Sie sich dies an einem
See, bei dem sich Zu- und Abfluss im Gleichgewicht befinden. Dieses Wissen um das
Gleichgewicht sagt nichts darüber aus, ob der See voll oder leer ist.
Zum Abschluss dieses Abschnitts notieren Sie bitte für sich selbst ein reines
Neumann-Problem inklusive der Gültigkeitsbereiche und der Abhängigkeiten.
Schwingungen
3
Schwingungen findet man fast überall. Bauteile schwingen. Brücken schwingen. Erd-
beben breiten sich als Schwingungen in der Erdkruste aus. Auch die Größe von Po-
pulationen in Ökosystemen oder Konzentrationen mancher chemischer Reaktionen
oszillieren. Schwingungen und ihre Eigenschaften zu verstehen, bedeutet deshalb,
Aussagen über eine große Vielfalt praktischer Anwendungen machen zu können.
Wir beginnen mit einer schwingenden Saite. Die Saite besteht aus einem eindi-
mensional beschriebenen, rein elastischen Material mit linearem Materialverhalten,
und wir kennen sie von der Gitarre, dem Klavier oder auch dem Kontrabass. Einigen
tief klingenden Saiten, die dicker oder länger als die hoch klingenden Saiten sind,
kann man beim Schwingen mit bloßem Auge zusehen.
Musikinstrumente werden mit großer Sorgfalt so hergestellt, dass begabte Men-
schen auf ihnen schöne Klänge erzeugen können. Doch ihre Saiten oder Klangkörper
schwingen wie Brücken, Maschinen und Fahrzeuge. Das Schwingungsverhalten ei-
ner Saite ist jedoch viel einfacher und übersichtlicher als das Schwingungsverhalten
eines Eisenbahnrads, eines Flugzeugflügels oder eines räumlich verteilten Räuber-
Beute-Systems.
Schwingungen können Bauteile zerstören. Die Tacoma-Narrows-Brücke im US-
Bundesstaat Washington, die am 1. Juli 1940 als damals drittlängste Hängebrücke
der Welt eröffnet worden war, stürzte am 7. November desselben Jahres zusammen,
nachdem ein vergleichsweise mäßiger Wind mit Geschwindigkeiten bis 68 km/h
die Brücke samt Fahrbahn in Torsionsschwingungen versetzt hatte. Da bereits eine
Untersuchung des Schwingungsverhaltens der Brücke in Auftrag gegeben worden
war, finden Sie im Internet eindrucksvolle Filmaufnahmen von ihrem Einsturz.
Falls Sie jetzt sagen, dass das Wissen über Schwingungen vor über siebzig Jah-
ren nicht so weit entwickelt war wie heute und dass es noch keine Computersimu-
lationen gab, dann schauen Sie bitte nach der Millennium Bridge in London, die
im Jahr 2000 nur zwei Tage nach ihrer Eröffnung für einen anderthalbjährigen Um-
bau geschlossen werden musste, weil ihre erste Eigenfrequenz mit den Schritten der
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 29
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_3
30 3 Schwingungen
Fußgänger angeregt wurde. In dem Film Harry Potter und der Halbblutprinz wird
die Idee dieser Wackelbrücke eindrucksvoll übertrieben.
Schließlich wurde im Jahr 2010 in Wolgograd eine über zwei Kilometer lange
Brücke eröffnet, deren Schwingungsverhalten verdächtig an das der Tacoma Nar-
rows Bridge erinnert. Das sei Grund genug, uns mit Schwingungen zu beschäftigen.
Abb. 3.1 Eingespannte Saite über dem Intervall [a, b] mit Auslenkung u = u(x). Die
Kräfte F(x) und F(x + dx) an den Enden des infinitesimalen Saitenabschnitts über dem Intervall
[x, x + dx] resultieren näherungsweise in einer senkrechten rücktreibenden Kraftkomponente dFu
Mit einer Auslenkung u = u(x) am Ort x ∈ R, die relativ klein zur Länge der Sai-
te ist und deren Ableitung auch klein im Verhältnis zur Länge ist, ist die Näherung
tan α = u (x) ≈ α ≈ sin α akzeptabel. Wir sehen dies, wenn wir die Taylor-Reihe
von sin α und tan α an der Entwicklungsstelle α = 0 anschauen. Die Fehler der Nä-
herung wie z. B. α − sin α verhalten sich für α → 0 wie O(α 3 ). Sie werden also
mit der dritten Potenz von α klein. Zeichnen Sie zur Erinnerung einen Einheitskreis
mit einem kleinen Winkel α und den zugehörigen Gegenkatheten der Längen sin α
und tan α.
Wir müssen mit unserer Argumentation vorsichtig sein, denn daraus, dass
u = u(x) klein ist, folgt nicht, dass die Ortsableitung u (x) von u ebenfalls klein
ist. Denken Sie an eine bezüglich der Ortskoordinate x sehr schnell veränderliche
Funktion mit kleinen Funktionswerten, also an eine Funktion mit sehr steilen kurzen
Abschnitten. Ihre Ableitung u (x) kann trotz der Beschränktheit von u beliebig
groß sein. Es wird uns jedoch kaum gelingen, eine realistische Saite derart zu zer-
knittern oder auch nur einen Abschnitt so schräg zu verformen, dass die Annahme
einer kleinen Ableitung u (x) nicht gerechtfertigt wäre.
Nun endlich schreiben wir die resultierende orthogonale Komponente der Ge-
samtkraft aus F(x) und F(x + dx) auf das infinitesimale Stück der Saite auf. Da dx
als Null mit Vergangenheit einen Grenzübergang bezeichnet, ist auch die wirkende
Kraft dFu ein Differential, und wir erhalten die Gesamtkraft in u-Richtung
u (x + dx) − u (x)
dFu = P · dx = Pu (x) · dx. (3.1)
dx
Damit wissen wir, dass die Kraftkomponente dFu proportional zur Länge dx des be-
trachteten Saitenstücks, proportional zur Vorspannung P und proportional zur zwei-
ten örtlichen Ableitung u (x) ist. Aus der letzten Proportionalität entnehmen wir,
dass die Kraft dFu negativ ist, wenn die Auslenkung u ein Maximum bezüglich x
ist, und umgekehrt, dass dFu positiv ist, wenn u ein Minimum annimmt. Die Kraft
dFu strebt somit nach einem Ausgleich der Auslenkung der Saite und wirkt rück-
treibend.
Nun schreiben wir die Zeitabhängigkeit der Auslenkung u = u(t, x) wieder mit
und verdeutlichen uns, dass das Saitenstück der Länge dx die Masse dx mit der
Längendichte des elastischen Materials hat. Die Längendichte ist die Masse des
Materials pro Längeneinheit der Saite.
3.1 Schwingende Saite 33
∂2
ü =u = u ,tt
∂t 2
für die zweite zeitliche Ableitung verwendet, und die Punkte über u zeigen uns im-
mer zeitliche Ableitungen an. Zusammen mit Gl. 3.1 entsteht die Gleichung
∂2 ∂2
dx · u(t, x) = P 2 u(t, x) · dx.
∂t 2 ∂x
Nach dem Kürzen des Differentials dx erhalten wir die Schwingungsgleichung
u ,tt = Pu ,x x , die auch Wellengleichung genannt wird. Die Bedingung, dass die
Saite an den Enden bei x = a und x = b eingespannt ist, und somit die Auslenkung
u(t, a) = 0 und u(t, b) = 0 erfüllt, dient als Randbedingung. Außerdem brauchen
wir zwei Anfangsbedingungen für die Auslenkung u und für ihre Geschwindigkeit
u̇ = u ,t . Beide zusammen beschreiben den mechanischen Zustand der Saite zum
Zeitpunkt t = 0, und die Schwingungsgleichung beschreibt mit der Beschleunigung
ü = u ,tt die Änderung des mechanischen Zustands zum jeweiligen Zeitpunkt.
Insgesamt entsteht das Anfangsrandwertproblem
Die durch die Längenänderung des infinitesimalen Saitenstück diesem Stück Sai-
te zugefügte potentielle Energie ist das Produkt aus der aufgebrachten und damit
überwundenen Kraft P und der Längenänderung, über die diese Kraft aufgebracht
werden musste. Im idealisierten Versuchsaufbau wurde das Saitenstück am linken
Ende um u(x) und am rechten um u(x + dx) = u(x) + du ausgelenkt. Da das infi-
nitesimale Saitenelement bis auf Terme höherer Ordnung eine Gerade ist, entsteht
mit dem Satz des Pythagoras das Differential der potentiellen Energie
dE pot = P dx 2 + du 2 − dx = P 1 + u 2,x − 1 dx.
Das sieht gefährlich aus. Zeichnen Sie bitte eine ausgelenkte Saite, die nicht parallel
zur x-Achse liegt. Wie in Abb. 3.1 finden Sie zwischen x und x + dx eine Kathete
des infinitesimalen Steigungsdreiecks. Seine andere Kathete ist du. Da wir eine rein
vertikale Auslenkung
√ annehmen, ist das infinitesimale Saitenstück der Länge dx ge-
nau zur Länge dx 2 + du 2 der Hypotenuse des Steigungsdreiecks gedehnt worden.
Die potentielle Energie, die es dabei aufgenommen hat, ist proportional zur Längen-
änderung, also zur Differenz der Längen der infinitesimalen Hypotenuse und der
Kathete.
Die Taylor-Entwicklung
1
1 + u 2,x = 1 + u 2,x + O(u 4,x )
2
des Wurzelterms erlaubt uns nach der erneuten Vernachlässigung von Termen höher
Ordnung, das Differential der potentiellen Energie
P 2
dE pot = u dx (3.3)
2 ,x
sehr einfach auszudrücken. Es erinnert in dieser Form an die in einer gespannten
Feder gespeicherte Energie, und wir können uns eine ausgelenkte Saite als gespannte
Feder vorstellen.
Durch die Integration von Gl. 3.3 bezüglich x entsteht die gesamte potentielle
Energie, die in der Auslenkung der Saite steckt, und wir notieren die Gesamtenergie
der schwingenden Saite
b b
P
E(t) = u 2,t dx + u 2,x dx (3.4)
2 2
a a
als Summe der kinetischen und potentiellen Energie.
Die Energiebilanz entsteht aus der Betrachtung der zeitlichen Ableitung der Ge-
samtenergie, die nach der Vertauschung der Integration bezüglich x und der
Ableitung bezüglich t zusammen mit den Anwendungen der Kettenregel
(u 2,t ),t = 2u ,t u ,tt und (u 2,x ),t = 2u ,x u ,xt den Ausdruck
3.1 Schwingende Saite 35
b b
d
E(t) = u ,t u ,tt dx + P u ,x u ,xt dx
dt
a a
ergibt. Auf den hinteren Term mit der gemischten Ableitung wenden wir die
partielle Integration bezüglich x an, d. h., wir nutzen die aus der Produktregel
(u ,x u ,t ),x = u ,x x u ,t + u ,x u ,xt entstehende Integrationsvorschrift. Wir erhalten
⎛ ⎞
b b
b
E (t) = u ,t u ,tt dx + P ⎝u ,x u ,t − u ,x x u ,t dx ⎠
a
a a
und erkennen einige Terme aus der Schwingungsgleichung wieder, die wir in Gl. 3.4
möglicherweise nicht vermutet haben. Wenn wir die Randterme ausführlich aus-
schreiben und die Terme unter dem Integral zusammenfassen, entsteht
b
E (t) = u ,t (u ,tt − Pu ,x x )dx + P[u ,x (t, b)u ,t (t, b) − u ,x (t, a)u ,t (t, a)].
a
(3.5)
In dieser Form erkennen wir als Integranden die Differenz zwischen der linken und
rechten Seite der Schwingungsgleichung, die gemäß Gl. 3.2 null ist, und die Randter-
me. Bei diesen sind wegen u(t, a) = u(t, b) = 0 die zeitlichen Ableitungen u ,t (t, a)
und u ,t (t, b) ebenfalls null. Schließlich ergibt sich E (t) = 0, und die Gesamtener-
gie der durch das Anfangsrandwertproblem in Gl. 3.2 beschriebenen schwingenden
Saite ist konstant. Dies ist erwartungsgemäß, denn unsere idealisierte schwingen-
de Saite ist reibungsfrei, und nach dem Anfangszeitpunkt t = 0 erfährt sie keine
externe Energiezufuhr.
Die Anregung durch die externe Kraft f = f (t, x) hängt wie die meisten anderen
Größen von der Zeit t und der Position x ab. Beispielsweise regt der Daumen eines
Gitarrenspielers die tiefe Saite zu ausgewählten Zeiten und nur in einem kleinen
Bereich durch Ausübung einer Kraftdichte f während des Anschlags der Saite an.
Genau wie in Gl. 3.2 wird die partielle Differentialgleichung 3.6 durch die An-
gabe von Randbedingungen und Anfangsbedingungen zu einem Anfangsrandwert-
problem vervollständigt. Versuchen Sie sich daran, das gesamte Problem, ohne
nachzuschlagen, zusammen mit den jeweiligen Gültigkeitsbereichen aufzuschrei-
ben.
Lassen Sie uns kurz über die Namensgebung nachsinnen. Die partielle Differen-
tialgleichung in Gl. 3.2 haben wir ebenso als Schwingungsgleichung beschrieben
wie Gl. 3.6. Bei der letztgenannten Gleichung haben wir hinzugefügt, dass sie eine
Schwingungsgleichung mit äußerer Anregung f oder mit einer externen Kraft f
ist. Ergänzungen der Schwingungsgleichung durch zusätzliche Einflüsse wie eine
externe Kraft oder auch Dämpfungsterme haben keinen streng festgelegten Namen,
sondern sie konkretisieren die gerade verwendete Variante der Schwingungsglei-
chung.
Eine Schwingungsgleichung ist dadurch gekennzeichnet, dass ein Trägheitsterm,
der wegen des Newton’schen Gesetzes zwingend die zweite zeitliche Ableitung ent-
hält, mit einer ortsabhängigen rücktreibenden Kraft oder vielmehr Kraftdichte ver-
knüpft ist. Meistens taucht als dominierender Term der rücktreibenden Kraft eine
zweite örtliche Ableitung auf. Allerdings kommen, wie wir in Abschn. 4.2 am Bei-
spiel der Plattenbiegung sehen werden, auch höhere örtliche Ableitungen vor.
Verwenden wir nun Gl. 3.6 in der Form u ,tt − Pu ,x x = f zur Vereinfachung
des Integranden in der Energiebilanz in Gl. 3.5, so erhalten wir den übersichtlichen
Ausdruck
b
E (t) = u ,t f dx
a
für die Änderung der Gesamtenergie. Wir lesen daraus ab, dass wir der schwin-
genden Saite Energie zuführen, falls die Anregung f und die Geschwindigkeit u ,t
dasselbe Vorzeichen haben, wenn also u ,t f > 0 ist. In diesem Fall verstärkt die An-
regung die Bewegung der Saite, und die Amplitude der Oszillationen wird größer.
Haben hingegen f und u ,t unterschiedliche Vorzeichen, so bremst die externe Kraft,
die weiterhin Anregung genannt wird, die Saite, und ihre Gesamtenergie sinkt. Soll-
te sich das Vorzeichen von u ,t f zu einem Zeitpunkt t in Abhängigkeit von x ändern,
so gibt es gleichzeitig Stellen x, an denen der schwingenden Saite Energie zugeführt
und an denen ihr Energie entzogen wird.
Ein ganz ähnliches Verhalten können Sie auf einem Spielplatz beobachten. Ei-
ne Kinderschaukel ist ein schwingendes Pendel. Es nimmt Energie auf, wenn die
Eltern das schaukelnde Kind in Richtung seiner aktuellen Bewegung anstoßen. Die
Schaukel fliegt höher, und das Kind freut sich hoffentlich darüber. Wenn die Eltern
die Schaukel bremsen wollen, bringen sie eine Kraft entgegen der Bewegungsrich-
tung auf.
3.2 Schwingende Membran 37
Schließlich betrachten wir den stationären Fall, also eine Saite, die sich nicht
bewegt. Dann ist u ,t = 0 und damit auch u ,tt = 0. Ohne eine externe Kraft, also für
f = 0, finden wir in Gl. 3.2 wegen der Randbedingungen nur die stationäre Lösung
u(t, x) = 0 für alle t > 0 und x ∈ (a, b). Die Vorgabe von Anfangsbedingungen
ist sinnlos, denn u = 0 wird nur für u 0 (x) = 0 und v0 (x) = 0 für alle x ∈ (a, b)
eine Lösung des Problems in Gl. 3.2. Wenn wir eine nicht verschwindende äußere
Kraft f vorgeben und eine stationäre, also von der Zeit unabhängige, Lösung
u = u(x) erwarten, so muss auch die Kraft zeitlich konstant sein. Wir schreiben
also f = f (x).
Mit denselben Randbedingungen erhalten wir im stationären Fall das Randwert-
problem
Eine Membran ist das zweidimensionale Analogon zu einer Saite. Sie besteht aus
einem elastischen Material im R2 , genauer in einem Gebiet ⊂ R2 . Wir haben die
Membran im Trampolin in Abschn. 1.3 kennengelernt. Dort haben wir schon bespro-
chen, dass die Membran als idealisiertes Material einer Biegung keinen Widerstand
entgegensetzt.
38 3 Schwingungen
Die Auslenkung der Membran u = u(t, x) = u(t, x1 , x2 ), die orthogonal zur Ru-
helage der Membran gemessen wird, hängt nun vom Ortsvektor x ∈ , bzw. von
seinen beiden Koordinaten x = (x1 , x2 )T und der Zeit t ab.
Wir stellen uns die Membran als ein Gewebe aus eindimensionalen Saiten vor.
Nun setzt jede der Saiten der Auslenkung einen Widerstand entgegen, und diese
rücktreibenden Kräfte addieren sich. Wenn wir uns die Membran als Gewebe aus
Saiten in x1 -Richtung und in x2 -Richtung vorstellen und für beide Richtungen die-
selbe Vorspannung P annehmen, erhalten wir aus Gl. 3.6 jeweils die rücktreibenden
Kräfte Pu ,x1 x1 und Pu ,x2 x2 der Saiten in x1 -Richtung und in x2 -Richtung. Die bei-
den Kräfte addierenden wir, und die Bewegungsgleichung der Saite in Gl. 3.6 wird
zur Schwingungsgleichung der Membran
∂2 ∂2 ∂2
u(t, x1 , x2 ) = P u(t, x1 , x2 ) + 2 u(t, x1 , x2 ) + f (t, x1 , x2 )
∂t 2 ∂ x1
2 ∂ x2
verallgemeinert. Da das Material unabhängig vom Ort reagiert und sich in alle Rich-
tungen gleich verhält, handelt es sich bei der Membran um isotropes homogenes
Material. Die Isotropie müssten wir eigentlich beweisen, indem wir zeigen, dass
die Summe der zweiten Ortsableitungen, also der Laplace-Operator, bei Drehun-
gen des Koordinatensystems unverändert bleibt. Wir können aber auch argumentie-
ren, dass im Ausdruck u = ∇ · ∇u der Gradient ∇u koordinatenunabhängig in die
geometrisch bestimmte Richtung des größten Anstiegs von u zeigt und die Diver-
genz ∇ · ∇u die geometrisch bestimmten Quellen und Senken des Gradientenfelds
∇u beschreibt. Beide Operatoren sind also als rein geometrische Größen definiert,
die wir auch ohne Wahl bestimmter Koordinaten beschreiben können.
In Kurzform lautet die Schwingungsgleichung der Membran für isotropes homo-
genes Material
3.3 Longitudinalwellen
Jetzt betrachten wir eine andere Schwingungsform. Bisher beschreibt u eine Aus-
lenkung quer, also orthogonal, zur Saite oder orthogonal zur Membran. Jetzt geht es
3.3 Longitudinalwellen 39
Abb. 3.2 Longitudinale Verformung eines eindimensionalen Materials in [a, b] ⊂ R1 mit der De-
formation χ : [a, b] → R1 . Die Referenzkonfiguration mit äquidistant ausgewählten Partikeln X
wird durch χ auf die deformierte Konfiguration mit den Positionen x der Partikel abgebildet
als Koordinaten auf einer Skala gleich verwenden werden. Für die Namensgebung ist
es nicht notwendig, dass der Körper unverformt oder spannungsfrei im Intervall [a, b]
liegt. Trotzdem erleichtert uns die Vorstellung eines zunächst unverformten und span-
nungsfreien Körpers in [a, b] die kommenden Überlegungen. Betrachten Sie für die
Bezeichnungen X und x bitte auch Abb. 3.2. Dort sehen Sie eine Referenzkonfigurati-
on [a, b], in der ausgewählte Partikel X markiert sind. Die markierten Partikel wurden
so ausgewählt, dass sie das Intervall [a, b] gleichmäßig unterteilen. Solch eine Unter-
teilung nennen wir äquidistant, weil Markierungen alle denselben Abstand voneinan-
der haben. Bei einer Deformation bleiben die Abstände der Partikel im Allgemeinen
nicht gleich.
Wir beschreiben nun die Deformation des Körpers mit der Referenzkonfiguration
[a, b]. Er sei durch eine vorerst nicht genauer genannte Einwirkung verformt. Nach der
Verformung befindet sich ein Partikel mit dem Namen X am Ort x. Eine Verformung
ist also eine Zuordnung, die das Partikel X ∈ [a, b] einem Ort x ∈ R zuordnet. Diese
Zuordnung bezeichnen wir als die Deformation χ des eindimensionalen Körpers, und
es gilt χ : [a, b] → R mit χ : X → x. Abb. 3.2 skizziert die Deformation und die
deformierte Konfiguration, in der die Verformung des Körpers durch eine ungleich-
mäßige Lage der markierten Partikel mit ehemals gleichen Abständen zueinander an-
gedeutet wird.
Unter der Deformation befindet sich der Körper in der deformierten Konfiguration
χ ([a, b]). Da der Körper nicht zerreißt und gedacht nebeneinanderliegende Partikel
auch in der deformierten Konfiguration nebeneinanderliegen, ist die Abbildung χ ste-
tig, und da keine zwei Partikel an derselben Position x sein können, ist χ auch bijektiv.
Wir erlauben uns einen kurzen Einschub: Die Deformation χ bezeichnet die
Verformung, die die Referenzkonfiguration in die deformierte Konfiguration über-
führt. Das heißt aber nicht, dass wir die Referenzkonfiguration als undeformierte
Konfiguration bezeichnen sollten. Die Referenzkonfiguration ist die Lage des
Körpers und damit der Partikel zueinander, auf die sich die aktuell betrachtete
3.3 Longitudinalwellen 41
Deformation χ bezieht. Sie dient als Referenz für die aktuelle Verformung, und die-
se Referenz kann das Ergebnis einer Vorgeschichte von Verformungen sein. Denken
Sie beispielsweise an ein tiefgezogenes Werkstück, welches keineswegs undefor-
miert ist und welches oft innere Spannungen aufweist. Trotzdem könnten wir seine
aktuelle Form als Referenz für weitere Deformationen unter äußeren Krafteinwir-
kungen verwenden. Wenn Sie der Einschub zu verwirren droht, dann stellen Sie sich
bitte in der Referenzkonfiguration ein undeformiertes und unverspanntes Material
vor und denken später noch einmal über den Einschub nach.
Häufig verwendet man beim Nachdenken über verformte Körper den Begriff der
Verschiebung u = u(t, X ). Die Verschiebung u drückt aus, um welchen Wert u das
Partikel mit dem Namen oder der Referenzkoordinate X zum Zeitpunkt t verscho-
ben wurde. Die Verschiebung ist bei realistischen, mehrdimensionalen Körpern ein
Vektor, aber im Falle des hier betrachteten eindimensionalen Körpers einfach ein
Skalar, für den
gilt. Wir drücken die Verschiebung und damit die Deformation des Körpers in den
Referenzkoordinaten X aus. Eine Verschiebung der Größe null bedeutet einen Kör-
per, der sich in den Positionen seiner Referenzkonfiguration befindet. Es ist übrigens
Absicht, dass das Partikel X , die Position des Partikels x und die Deformation χ mit
sehr ähnlichen Variablen bezeichnet werden. Man drückt damit den engen Zusam-
menhang zwischen diesen drei Begriffen aus, denn das Partikel X wird durch die
Deformationsabbildung χ um die Verschiebung u an die Position x verschoben.
Der nächste wichtige Begriff ist die Verzerrung, die die lokale Änderung der
Verschiebung beschreibt. Sie gibt an, wie sich die Lage der Partikel zueinander än-
dert. Bleibt diese unverändert, beispielsweise weil der Körper als Ganzes unverformt
verschoben wurde, werden keine Kräfte zur Verformung innerhalb des Körpers be-
nötigt. Eine Verschiebung des Körpers als Ganzes heißt Starrkörpertransformation,
und, wie der Name sagt, der Körper wird dabei nicht elastisch verformt. Drücken
wir hingegen zwei als benachbart gedachte Perlen der Perlenkette zusammen oder
ziehen wir sie auseinander, so wirken in dem eindimensionalen elastischen Material
Kräfte wie an einer Feder. Betrachten Sie noch einmal Abb. 3.2, und überlegen Sie,
in welchen Abschnitten das Material zusammengedrückt und an welchen es ausein-
andergezogen wurde.
Betrachten wir also die beiden benachbarten Partikel bei X und X + dX . Wir
wissen, dass der Vergleich mit den benachbarten Perlenketten hinkt. Da aber das
infinitesimale Stück dX eine Null mit Vergangenheit ist, ist die Vorstellung, dass
X + dX das Nachbarpartikel zu X auf der reellen Achse ist, keineswegs irrefüh-
rend. Wir schreiben auf, wohin die beiden Partikel abgebildet werden, nämlich auf
X → X + u(t, X ) und
mit der externen Kraftdichte f , die ebenfalls in Längsrichtung wirkt. Ist das Material
homogen, dann ist die Proportionalitätskonstante a(x) = P örtlich konstant, und
Gl. 3.11 geht in Gl. 3.6 über. Gl. 3.6 ist also ein Spezialfall von Gl. 3.11.
Zum Abschluss dieses Abschnitts, in dem wir viele neue Begriffen eingeführt
haben, machen wir Sie auf eine weitere Unterscheidung aufmerksam. Wir haben al-
le Zusammenhänge auf die Partikel X der Referenzkonfiguration bezogen. Ebenso
3.3 Longitudinalwellen 43
Auf den ersten Blick sieht Gl. 3.11 für die Beschreibung der Longitudinalwellen
anders aus als Gl. 3.6 für die schwingende Saite. Mit a(X ) = P geht Gl. 3.11 in
Gl. 3.6 über. Damit ist die Gleichung für die schwingende Saite ein Spezialfall der
Gleichung für die Longitudinalwellen in einem eindimensionalen Material, näm-
lich der Spezialfall für ein homogenes Material. Das homogene eindimensionale
Material hat eine konstante Steifigkeit a, die wir mit der Vorspannung P identifi-
ziert haben. Beachten Sie bitte, dass die Vorspannung P und die Steifigkeit a zwei
physikalisch unterschiedlich motivierte Größen für zwei unterschiedliche Szenari-
en sind, die erst auf der Beschreibungsebene durch partielle Differentialgleichungen
ineinander übergehen. Wir erhalten also für zunächst unterschiedliche physikalische
Phänomene verwandte Bewegungsgleichungen.
Nun erinnern wir uns an die Bewegungsgleichung der homogenen isotropen
Membran in Gl. 3.8. Die Isotropie kommt im Mehrdimensionalen als weitere Ei-
genschaft hinzu, denn ein eindimensionales Material hat nur eine Richtung, und die
Eigenschaft der Isotropie, also der Richtungsunabhängigkeit, fällt in sich zusam-
men. Wir fragen uns, ob Gl. 3.8 auch der homogene Spezialfall einer Gleichung für
ein – wenigstens hypothetisches – inhomoges Material sein kann. Dazu schauen wir
zunächst noch weiter zurück.
In der Wärmeleitungsgleichung in Gl. 2.9 taucht der Term ∇ · [A(x)∇u] auf, der
im homogenen Fall A(x) = P I für alle x ∈ mit P ∈ R und der Einheitsmatrix I
in ∇ · [P I ∇u] = ∇ · [P∇u] = Pu übergeht. Nebenbei bemerkt, können wir eine
ortsabhängige Materialkonstante nicht am Divergenzoperator vorbeiziehen. Rech-
nen Sie zur Übung in einer ausführlichen Notation, in der Sie die Vektoren kom-
ponentenweise aufschreiben, nach, welche unhandlichen Terme die Anwendung
der Produktregel auf ∇ · [A(x)∇u] ergibt, und versuchen Sie, das Ergebnis wieder
44 3 Schwingungen
kompakt zu schreiben. Dieses Vorhaben ist so sperrig, dass die als Divergenzform
bezeichnetet Darstellung ∇ · [A(x)∇u] Ihnen danach sicher elegant erscheint.
Den Term ∇ · [A(x)∇u] können wir als mehrdimensionale Variante des Terms
[a(X )u ,X ],X in Gl. 3.11 betrachten. Allerdings bezeichnet der Vektor x raumfes-
te Koordinaten, passt also eher zur Bezeichnung X der Partikel. Wir formulieren
das Anfangsrandwertproblem zur Schwingungsgleichung einer verallgemeinerten
Membran aus anisotropem linearem Material als
Die partielle Differentialgleichung in der ersten Zeile erhalten wir auch dann, wenn
wir die Membran des Trampolins mit der vertikalen Auslenkung u = u(x) am Punkt
x als ein Gewebe von gespannten Saiten interpretieren, die nicht notwendigerweise
längs der Koordinatenrichtungen liegen. Die verwobenen Saiten könnten in der Ko-
ordinatenebene gedreht sein. Zusätzlich erlaubt Gl. 3.12 richtungs- und ortsabhän-
gige Vorspannungen, was in einem Gewebe aus unterschiedlichen Saiten durchaus
vorstellbar ist.
Die Schwingung der Membran findet als physikalische Realität auch dann statt,
wenn keine Koordinaten vorliegen. Sie ist koordinatenunabhängig. Deshalb muss
Gl. 3.12 auch in anderen Koordinaten dieselbe Realität beschreiben.
Eine Koordinatentransformation x = V x von x-Koordinaten zu neuen x -Koor-
dinaten ist eine gute Übung, bei der man jedoch leicht durcheinanderkommt. Wenn
Sie für V die Matrix der Eigenvektoren von A an einer ausgewählten Stelle x ver-
wenden, so erhalten Sie in den neuen Koordinaten eine Diagonalmatrix anstelle
von A. Probieren Sie, aber verzweifeln Sie nicht. Vielleicht heben Sie sich diese
Übung auf, bis wir in Abschn. 6.3.2 und in Kap. 8 über Koordinatentransformationen
gesprochen haben werden.
Das System in Gl. 3.12 enthält zwei unterschiedliche Randbedingungen. Auf dem
Randstück 1 ist die Membran mit u = q eingespannt, und wir haben Dirichlet-
Randbedingungen. Dagegen liegen auf dem Randstück 2 die Kräfte p, oder genau-
er die Linienkraftdichte p, in vertikaler Richtung an. Auf 2 sind also Neumann-
Randbedingungen gegeben, und die Auslenkung u stellt sich dort als Lösung des
Anfangsrandwertproblems ein.
Würden wir das Problem in Gl. 3.12 für ein Gebiet ⊂ Rd in höheren Dimensio-
nen d > 2 betrachten, so wäre das Randstück 2 ein (d − 1)-dimensionales Ober-
flächenstück und entsprechend p eine (d − 1)-dimensionale Kraftdichte. Die Kraft-
dichte f wäre weiterhin eine d-dimensionale Kraftdichte in . Überlegen Sie sich
die Einheiten der beteiligten Größen in Abhängigkeit von der Dimension d.
Die Kraftdichte f ist eine äußere Anregung des durch Gl. 3.12 beschriebenen
Anfangsrandwertproblems für die verallgemeinerte Membranschwingung. In Ab-
grenzung zur Kraftdichte p auf dem Randstück 2 wirkt f im Innern der Membran
3.3 Longitudinalwellen 45
und wird deshalb manchmal als innere Kraftdichte bezeichnet. Somit ist f eine äu-
ßere Anregung des schwingenden Systems, aber gleichzeitig eine Kraftdichte im
Innern der Membran. Manchmal wird f nur kurz als äußere Kraft angesprochen.
Zurück zur Membran mit d = 2 ist die Kraftdichte f eine Kraft pro Fläche und
damit eine Flächenkraftdichte. Die Flächenkraftdichte f , die Linienkraftdichte p
und auch die Höhe der Einspannung q der Membran können zeitabhängig sein.
Wenn Sie auf dem Trampolin hüpfen, üben Sie eine zeitabhängige Kraft f aus,
je nachdem, ob Sie gerade auf der Membran Schwung holen oder fliegen. Auch
die Einspannung könnte sich bewegen. Etwas weniger leicht fällt die Vorstellung
von zeitabhängigen Materialparametern in der Matrix A. Aber auch hier könnte
man sich eine schwächer werdende Einspannung oder ein Nachjustieren der Vor-
spannung während der Sprünge vorstellen. Speziell beim Trampolin braucht man
jedoch etwas Fantasie, um sich eine zeitliche Veränderung der Randstücke 1 und
2 oder gar des Gebietes vorzustellen. Tatsächlich führt eine Zeitabhängigkeit des
Gebiets oder der Aufteilung des Rands auf erhebliche mathematische und physika-
lische Schwierigkeiten, weshalb in fast allen Lehrbüchern und so auch hier ange-
nommen wird, dass mit 1 und 2 zeitlich konstant sind.
Im stationären Fall sind wie in Abschn. 2.4.2 alle zeitlichen Ableitungen und da-
mit auch u ,tt null. Wir erhalten also eine Membran oder eine Saite in Ruhe, die
unter dem Einfluss der Kraftdichten f und p unbeweglich verformt ist. Und sie-
he da, es entsteht dasselbe Problem wie bei der stationären Wärmeleitungs- oder
Diffusionsgleichung in Abschn. 2.4.2. Da wir das Randwertproblem im stationären
Fall in Gl. 2.14 schon einmal aufgeschrieben haben, empfehlen wir Ihnen hier zur
Übung, das stationäre Problem noch einmal aus eigener Kraft, also ohne Vorlage,
aufzuschreiben und die Lösbarkeitsbedingung des reinen Neumann-Problems her-
zuleiten. Ihre Lösung können Sie – ja genau – in Abschn. 2.4.2 überprüfen.
Wie in Abschn. 3.1.1 können wir auch für das System in Gl. 3.12 die Energiebilanz
aufstellen und nachweisen, dass die beschriebene Membranschwingung unseren Er-
wartungen an die Energieerhaltung entspricht.
Wieder ist die Gesamtenergie
1
E(t) = u 2,t da + ∇u T A∇u da. (3.13)
2 2
Verdeutlichen Sie sich die Analogie zu Gl. 3.4, wo die Gesamtenergie der schwin-
genden Saite beschrieben wird. Gl. 3.4 ist der Spezialfall von Gl. 3.13 für ein ho-
mogenes eindimensionales Material mit P = A(x) ∈ R1×1 . Die Ausdrücke für die
kinetische Energie unterscheiden sich nur im Integrationsgebiet, denn die kinetische
Energie aller bewegten Partikel wird aufsummiert.
46 3 Schwingungen
Nun beginnt die Umformung der Ableitung E (t), und diese Umformung ent-
spricht haargenau der Überlegung in Abschn. 3.1.1, nur dass sie in mehreren Dimen-
sionen aufgeschrieben ist. Vergewissern Sie sich darüber, indem Sie die
eindimensionale und die jetzt besprochene mehrdimensionale Betrachtung parallel
verfolgen. Auf geht’s.
Die Ableitung der Gesamtenergie ist
d
E (t) = E(t) = u ,t u ,tt da + ∇u T,t A∇u da.
dt
Im ersten Summanden, also bei der Ableitung der kinetischen Energie, finden wir
die Überlegungen aus Abschn. 3.1.1 genau wieder. Beim Ableiten der potentiellen
Energie liefert die Produktregel zwei Summanden, weil jeder der beiden Ortsgra-
dienten ∇u abgeleitet wird. Schreiben Sie sich dies komponentenweise auf, und
Sie sehen, dass erst die Symmetrie der Matrix A die Zusammenfassung
(∇u T A∇u),t = 2∇u T,t A∇u = 2∇u T A∇u ,t ermöglicht.
Damit haben wir uns genau wie beim eindimensionalen Problem die gemischte
Ableitung ∇u ,t eingehandelt. Wir wenden den Gauß’schen Integralsatz auf
an, und erinnern uns, dass der Kontraktionspunkt · nicht verloren geht, sondern so-
wohl im Skalarprodukt als auch in der Divergenz Entfaltungsrichtungen kontrahiert,
vgl. Abschn. A.1. So finden wir
E (t) = u ,t u ,tt da − u ,t ∇ · [A∇u] da. + u ,t nT [A∇u] ds.
∂
Hier erkennen wir die enge Verbindung des Integralsatzes von Gauß mit der parti-
ellen Integration, denn wir verwenden den Integralsatz von Gauß, um die Ortsablei-
tung, die hier als Gradient ∇ vor u ,t steht, an den anderen Faktor, nämlich an A∇u
zu ziehen, wo die Ortsableitung als Divergenz wieder auftaucht.
Im nächsten Schritt sortieren wir die Terme, unterteilen den Rand ∂ = 1 ∪ 2
in die Stücke, auf denen wir Dirichlet- bzw. Neumann-Randbedingungen gegeben
haben, und ersetzen dort die jeweils gegebenen Größen q und p. Es entsteht
E (t) = u ,t [u ,tt − ∇ · (A∇u)] da + u ,t nT [A∇u] ds + u ,t nT [A∇u] ds,
1 2
was schließlich wie in Gl. 3.5 die zeitliche Ableitung der Gesamtenergie durch
E (t) = u ,t f da + q,t n [A∇u] ds +
T
u ,t p ds
1 2
3.4 Harmonische Schwingungen 47
ergibt. Die Interpretation dieses Ausdrucks ist genau dieselbe wie die aus Ab-
schn. 3.1.1. Der einzige Unterschied besteht darin, dass mehr als eine Dimension
auftritt, denn eine Membran ist ein zweidimensionales Gebilde. Wir überlassen Ih-
nen diese Wiederholung der Interpretation der Terme zur Übung.
Jetzt werden wir zum ersten Mal in diesem Buch einen Schritt in Richtung der Lö-
sung einer partiellen Differentialgleichung wagen. Dies ist nur ein erster Schritt,
und wir suchen zunächst nur harmonische Schwingungen. Dabei muten wir Ihnen
einiges zu, denn wir beginnen mit dem allgemeineren Fall einer mehrdimensionalen
Schwingungsgleichung aus Gl. 3.12 und suchen ganz bestimmte Lösungen, nämlich
frequenzreine Schwingungen.
Durch Vorblättern finden Sie ab Gl. 3.19 den eindimensionalen Fall einer schwin-
genden Saite. Wenn Sie die folgenden Ausführungen zu abstrakt finden, lesen Sie
bitte beide Ausführungen parallel. Wenn Sie aber die abstrakteren Ausführungen
nicht erschrecken, so versuchen Sie es mit diesen und genießen einen kurzen Ab-
schnitt lang die zutiefst mathematische Technik, von einem Problem das Konkre-
te und Spezifische wegzunehmen und das allgemeinere und weniger detailreiche
Problem zu diskutieren. Die so deutlicherer werdenden Ergebnisse werden danach
wieder auf konkretere Fragen angewandt.
Wir schauen also, ob es Lösungen der Schwingungsgleichung mit verschwinden-
der rechter Seite f = 0 gibt, die die Form
Mit diesem Abkürzungen sieht das Randwertproblem für die homogene Schwin-
gungsgleichung
u ,tt = Du für x ∈ , t > 0,
(3.17)
Bu = 0 für x ∈ ∂, t > 0
mit homogenen Randbedingungen sehr abstrakt aus. Vergleichen Sie solche ver-
kürzten Notationen immer mit ausführlicheren Schreibweisen wie hier in Gl. 3.12.
Der Ansatz in Gl. 3.14 liefert nach dem Kürzen des Terms cos(ωt) das Eigenwert-
problem
−ω2 U = DU für x ∈ ,
(3.18)
BU = 0 für x ∈ ∂
mit homogenen Randbedingungen zum Randoperator B. Diese schränken die mög-
lichen Lösungen stark ein. Tatsächlich hat Gl. 3.18 – ähnlich wie das Eigenwertpro-
blem aus der linearen Algebra – nur für diskrete Werte von ω, die wir
Eigenfrequenzen nennen, Lösungen U = U (x), die nicht überall null sind. Diese
besonderen Lösungen heißen Eigenformen, und eingesetzt in den Ansatz in Gl. 3.14
bilden sie Eigenschwingungen. Diese sind die frequenzreinen Schwingungen, mit
denen ein Bauteil bei Abwesenheit äußerer Kräfte und dämpfender Einflüsse, bei
homogenen Randbedingungen harmonisch schwingt.
Da dieses Buch nur eine kleine Auswahl der mathematischen Aussagen zu Ei-
genschwingungen beweisen oder wenigstens herleiten kann, verraten wir Ihnen an
dieser Stelle einige ihrer zauberhaften Eigenschaften ohne Beweis:
Jedes realistische Bauteil hat abzählbar unendlich viele Eigenfrequenzen. Das be-
deutet, dass wir die Eigenfrequenzen mit den natürlichen Zahlen indizieren können.
Wir erinnern daran, dass es abzählbar viele natürliche Zahlen, aber überabzählbar
viele reelle Zahlen gibt.
Wir können die Eigenfrequenzen ω1 , ω2 , . . . also abzählen, auch wenn wir kein
Ende dabei finden, und bezeichnen sie deshalb mit ωk mit k ∈ N. Zu diesen Frequen-
zen gehören die Eigenformen Uk = Uk (x) und die Eigenschwingungen
u k (t, x) = cos(ωk t)Uk (x). Insbesondere bedeutet dies, dass das Spektrum der Fre-
quenzen {ωk : k ∈ N} aus einzelnen Punkten auf der Zahlengerade besteht, dass
also kein ausgefülltes Intervall voller möglicher Schwingungsfrequenzen auftreten
kann. Nebenbei hat Gl. 3.18 tatsächlich nur Lösungen mit ω2 ≥ 0, sodass die Fre-
quenzen alle reell sind.
Weiter lassen sich aus den Eigenschwingungen alle möglichen Schwingungen,
also alle Lösungen der Schwingungsgleichung, als unendliche Linearkombination
zusammensetzen. Diese Eigenschaft passt dazu, dass die Eigenvektoren einer sym-
metrischen Matrix eine Basis des euklidischen Raumes bilden, und sie ist die Grund-
lage dafür, dass wir jede Schwingung eines Bauteils durch ihr Spektrum, also die
auftretenden Frequenzen der Eigenschwingungen, und die zugehörigen Amplituden
beschreiben können. Diese Darstellung ist sogar eindeutig, weil die Eigenformen zu
unterschiedlichen Frequenzen linear unabhängig voneinander sind und in gewisser
Weise senkrecht aufeinander stehen, vgl. Abschn. 5.2.4. Die Eigenformen erzeugen
50 3 Schwingungen
den Raum aller möglichen Verformungen mit endlicher Energie, so wie die Eigen-
vektoren einer symmetrischen Matrix den gesamten euklidischen Raum erzeugen.
Der Beweis dieser Aussagen ist Gegenstand der Funktionalanalysis und würde
den Rahmen dieses Buches sprengen. Wir merken uns aber die Analogie zwischen
den Eigenformen und den Eigenvektoren.
Hier versuchen wir es mit der eingespannten Saite, und wir machen uns die Arbeit
leicht, indem wir die Saite im Intervall [0, π ] einspannen. Das abstrakte Problem in
Gl. 3.17 wird in diesem Fall zu
Der Ansatz u = u(t, x) = cos(ωt)U (x) führt uns auf das Eigenwertproblem
In Gl. 3.20 suchen wir also Funktionen U = U (x), die proportional zu ihrer zweiten
Ableitung sind und die Randbedingungen U (0) = U (π ) = 0 erfüllen. Aus den ge-
wöhnlichen Differentialgleichungen wissen wir, dass für die Proportionalität nur Ex-
ponentialfunktionen und die Sinus- und Kosinusfunktionen infrage kommen. Prüfen
Sie dies mittels des Ansatzes U (x) = eλx für lineare gewöhnliche Differentialglei-
chungen, und achten Sie auf die Randbedingungen. Es bleiben nur die Funktionen
Uk (x) = sin kx mit k = 1, 2, 3, . . . und ihre Vielfachen cUk (x) mit einem reellen
Faktor c ∈ R übrig. Wir werden dies in Abschn. 6.1.1 noch einmal ausführlicher
vorrechnen. Probieren Sie den Nachweis schon hier selbst aus.
Für die eingespannte Saite im Intervall [0, π ] können wir nachrechnen, welche
Eigenfrequenzen und Eigenformen sie hat und wie viele es sind. Diese Saite hat die
Eigenformen
Uk (x) = sin kx mit k = 1, 2, . . . (3.21)
und die zugehörigen Eigenfrequenzen
P
ωk = k mit k = 1, 2, . . . . (3.22)
Der tiefste Ton, mit dem die Saite schwingen kann, hat die Kreisfrequenz ω1 . Die
zugehörige Eigenform hat einen Sinusbogen. Dieser Ton steht im Notentext. Wir
3.4 Harmonische Schwingungen 51
benennen beispielsweise die Gitarrensaiten nach ihren Grundtönen. Wir hören aber
eine Überlagerung von Tönen mehrerer Frequenzen, nämlich die sogenannten Ober-
töne. Je nachdem, mit welchen Amplituden welche Obertöne auftreten, färben sie
die Klänge ein. Das ist der Grund, warum Ihr Ohr eine Gitarre, ein Cello und eine
Posaune unterscheiden kann, selbst wenn sie denselben Ton im Notentext spielen.
Da ein einzelner Ton, den eine Künstlerin oder ein Amateur auf einem Instrument
spielt, aus Tönen unterschiedlicher Frequenzen mit unterschiedlichen Amplituden
besteht, klingen gleich notierte Töne nicht nur laut und leise, sondern auch scharf
oder sanft, bestimmt oder verträumt. Die große Kunst eines Gitarristen oder einer
Pianistin besteht nun darin, den Ausdruck der Töne und Klänge genau so zu färben,
wie es ihrer musikalischen Vorstellung entspricht. Nach viel Übung verbinden sich
unterschiedliche Klangfärbungen mit den dafür benötigten Bewegungen der Finger,
also mit den mechanischen Eigenschaften des Anschlags einer Gitarrensaite oder
einer Taste auf dem Klavier.
An Gl. 3.22 erkennen wir, dass der Grundton für k = 1 höher wird, wenn wir die
Vorspannung P der Saite erhöhen. In der Tat erhöhen wir beim Stimmen den Ton
einer Gitarrensaite, wenn wir sie mittels der Wirbel stärker spannen. Andererseits
wird eine höhere Längendichte bei gleicher Spannung einen tieferen Grundton
ergeben, und tatsächlich sind die tiefen Saiten auf allen Instrumenten dicker.
Der nächsthöhere Ton hat die Kreisfrequenz ω2 = 2ω1 , also die doppelte Fre-
quenz der Grundfrequenz ω1 . Die zugehörige Eigenform zum Ton mit der Kreis-
frequenz ω2 besteht aus zwei Sinusbögen. Durch die stärkere Krümmung entsteht
eine größere rücktreibende Kraft bei gleicher Amplitude, und die Saite schwingt
schneller, nämlich genau mit der nächsthöheren Oktave. Die dritte Eigenfrequenz
erfüllt ω3 = 3ω1 wegen k = 3, und in der Eigenform erkennt man drei Bögen. Zur
dreifachen Frequenz gehört ein höherer Ton, nämlich die Quinte über dem Ton zur
zweiten Eigenfrequenz. Durch die unterschiedlichen k ergibt sich die Naturtonreihe,
also die Reihe der Töne, die Sie auf einem Rohr oder einem Blasinstrument ohne
Ventile, wie beispielsweise einem Jagdhorn, erzeugen können.
Abb. 3.3 zeigt die ersten sechs Naturtöne im Notentext. Dort ist die
Grundfrequenz der A-Saite einer Gitarre als Grundton gewählt. Sie klingt zwei Ok-
taven tiefer als der Kammerton a , und ihre Frequenz ist 110 Hz. Die Saite schwingt
also pro Sekunde 110-mal hin und her. Ihre Kreisfrequenz ist daher
ω1 = 2π · 110 Hz ≈ 691 s−1 . Zu k = 2 gehört die Frequenz des Tons a in der nächs-
ten Oktave. Zu k = 4 gehört wieder der Ton a , der zwei Oktaven über der Grund-
frequenz liegt. Außerdem zeigt Abb. 3.3 einige Eigenformen einer Saite der
hypothetischen Länge π . Wiederholen Sie zur Übung die Überlegungen bis hier-
hin mit einer variablen Saitenlänge . Wenn Sie realistische Werte für die Länge
und die Längendichte wählen, können Sie abschätzen, welche Zugspannungen
zwischen dem Kopf und dem Steg der Gitarre anliegen und wie viel größer die Span-
nung ist, wenn Stahlsaiten statt Nylonsaiten verwendet werden.
Wir erkennen, dass die Eigenfrequenzen der Saite Vielfache der Grundfrequenz
sind. Das Spektrum der möglichen Töne einer Saite sind also die Frequenzen der
Naturtöne {ω1 , 2ω1 , 3ω1 , . . .} zum Grundton ω1 . Alle realistischen Bauteile haben
ein vergleichbares diskretes Spektrum, auch wenn es nicht so ordentlich wie das der
52 3 Schwingungen
a b
Abb. 3.3 a Die ersten sechs Naturtöne, beginnend bei der A-Saite einer Gitarre mit der Kreis-
frequenz ω1 = (2π ) · 110 Hz. Die 8 unter dem Violinschlüssel bedeutet, dass die Gitarre eine
Oktave tiefer als notiert klingt, b die ersten vier Eigenformen U1 (fett), U2 (fett gestrichelt), U3
(dünn) und U4 (dünn gestrichelt) der eingespannten Saite
Saite aufgebaut ist. Die gespannte Saite ist also ein sehr spezielles Bauteil, mit dem
man z. B. in einer Gitarre oder einem Klavier Musik machen kann, weil die Überla-
gerung der Eigenschwingungen zu den Naturtönen für unsere Ohren Wohlklänge er-
geben können. Die Klänge von großen Stahlplatten, Topfdeckeln oder vibrierenden
Werfthallen empfinden die meisten Menschen dagegen als weniger harmonisch, ob-
gleich sich auch sie aus Eigenschwingungen zusammensetzen, die wir harmonisch
nennen.
Die Eigenschwingungen sind wie die Eigenvektoren von Matrizen nur bis auf
multiplikative Konstanten bestimmt. Vielfache von Eigenschwingungen sind also
wieder Eigenschwingungen. Das passt dazu, dass Sie auf einer gespannten Saite
gleiche Töne in unterschiedlicher Lautstärke spielen können.
Weitere Gleichungen und ihre
Gemeinsamkeiten 4
4.1 Transportgleichung
u ,t + ∇ · I(u) = 0, (4.1)
die sich für x ∈ Rd und damit I(u) = (I1 (u), . . . , Id (u))T ∈ Rd als
∂u ∂ I1 (u) ∂ Id (u) ∂u ∂u ∂u
+ + ... + = + I1 (u) + . . . + Id (u) =0 (4.2)
∂t ∂ x1 ∂ xd ∂t ∂ x1 ∂ xd
liest, nur erste Ableitungen bezüglich der Ortskomponenten auf. Wir nennen
Gleichungen von der Form in Gl. 4.1 Transportgleichungen. Die Kettenregel
(Ik (u)),xk = Ik (u)u ,xk können wir in Gl. 4.2 nur verwenden, wenn u nach allen xk
und die Komponenten Ik (u) nach u differenzierbar sind.
Transportgleichungen findet man dort, wo eine durch einen Fluss beschriebene
Größe nicht von der örtlichen Änderung ∇u der Zustandsgröße abhängt, sondern
von der Zustandsgröße u selbst. Beispielsweise nimmt man bei der Beschreibung
der Bewegung von Gasen in einfachen Modellen an, dass die Gaspartikel so weit
voneinander entfernt sind, dass nur der Zustand des Gases in der nächsten Umgebung
Auswirkungen auf die zeitliche Änderung des Zustands hat, weil die Interaktion mit
den weiter entfernten Gaspartikeln zu schwach ist.
Ähnlich argumentiert man bei der Beschreibung der Staubildung im Straßenver-
kehr. Ein Autofahrer nimmt die Verkehrsdichte, die in diesem Fall u ist, in seiner
direkten Umgebung wahr und reagiert durch Anpassung seiner Geschwindigkeit auf
diese Verkehrsdichte. Normalerweise kann der Autofahrer nicht sehen, ob sich die
Verkehrsdichte auf einer für die Staubildung relevanten Längenskala von mehreren
hundert Metern ändert. Er kann also den Gradienten von u nicht wahrnehmen, und
wir erhalten eine Transportgleichung wie in Gl. 4.1.
Transportgleichungen sehen nur auf den ersten Blick einfacher aus als die Wär-
meleitungsgleichung oder die Schwingungsgleichung. Tatsächlich sind sie jedoch
vielfältig, und ihr Lösungsverhalten steckt voller Überraschungen. Deshalb werden
wir sie erst in Kap. 9 besprechen. Dort beschäftigen wir uns auch mit einer Model-
lierung des Straßenverkehrs und mit dem Stau aus dem Nichts.
4.2 Plattenbiegung
Sie erinnern sich vielleicht an die Balkentheorie. In der einfachsten Form, die auch als
linearisierte Variante der Balkenbiegung bezeichnet wird, beschreibt die gewöhnliche
Differentialgleichung vierter Ordnung
beschrieben. Auf der linken Seite steht die Trägheit, und wie in Gl. 3.11 stehen die
Materialkonstanten zwischen den Ableitungen. Nur im Fall eines ortskonstanten
Flächenträgheitsmoments I (x) = I ∈ R, also einer ortsunabhängigen Querschnitts-
geometrie und eines homogenen Materials, gilt [E I u ,x x (x)],x x = E I u ,x x x x . Selbst-
verständlich steht in Gl. 4.4 nur die eigentliche partielle Differentialgleichung, die
4.2 Plattenbiegung 55
N
E ≈ 2 · 1011 und ν ≈ 0.27
m2
betragen. Natürlich sind die Materialkonstanten von der Stahlsorte abhängig. Sie
sind hier zur Veranschaulichung der Größenordnungen angegeben. In realistischen
Zugexperimenten zur Messung des Elastizitätsmoduls und der Querkontraktion wird
das Probewerkstück um weniger als 1 % seiner Länge auseinandergezogen. Bei ei-
nem Stahlstab mit einer Querschnittsfläche von einem Quadratmillimeter braucht
man für 1 % Längenänderung also etwa 2000 N.
Die Bewegungsgleichung einer biegesteifen Platte mit konstanter Dicke h, der
Dichte und der äußeren Kraftdichte f lautet
Eh 3
u ,tt = − u + f. (4.5)
12(1 − ν 2 )
Wir könnten uns – etwa, weil wir die Gleichung nachgeschlagen haben und die
Erklärung etwas dürftig ist – die Frage stellen, ob die Materialdichte in Gl. 4.5 eine
echte Materialdichte oder eine Flächendichte ist. Dabei hilft bereits die Betrachtung
der Einheiten. In Gl. 4.5 wird rechts vom Gleichheitszeichen der Elastizitätsmodul
E in der Einheit [N/m2 ] mit der dritten Potenz der Höhe h 3 mit der Einheit [m3 ]
und der vierten Ableitung der Auslenkung u mit der Einheit [m] multipliziert. Durch
das viermalige Ableiten erhalten wir [m/m4 ] = [1/m3 ] als Einheit von u. Die
Querkontraktionszahl ν ist als Verhältnis einheitenlos, und sie muss es auch sein,
weil sie von der einheitenlosen 1 im Nenner abgezogen wird. Insgesamt ergibt sich
ein Term der Einheit
N 1 N
2
· m3 · 1 · 3 = 2
m m m
einer Flächenkraftdichte, so dass wir diesen Term zur Flächenkraftdichte f addieren
können. Auf der linken Seite wird mit der Beschleunigung u ,tt mit der Einheit
[m/s2 ] multipliziert. Damit auch dabei eine Flächenkraftdichte entsteht, muss die
Einheit [kg/m2 ] haben, denn nur so ergibt sich in Gl. 4.5 dieselbe Einheit
kg m N
2
· 2 = 2
m s m
wie rechts vom Gleichheitszeichen. Also haben wir uns nebenbei vergewissert, dass
eine Flächendichte ist, was zur Beschreibung der Auslenkung einer Platte passt.
Weiterhin könnte die Frage auftauchen, was genau der biharmonische Operator
in Gl. 4.5 ist. Dies klären wir, indem wir die partiellen Ableitungen ausschrei-
ben. Wir verwenden, dass der Laplace-Operator in kartesischen Koordinaten die
Summe der zweiten Ortsableitungen ist. Der biharmonische Operator beschreibt
also die doppelte Anwendung des Laplace-Operators , und das ist nicht – wie man
auf die Schnelle meinen könnte – allein die Summe der vierten Ableitungen. Schauen
Sie auf
∂2 ∂2 ∂ 2u ∂ 2u ∂4 ∂4 ∂4
u = + 2 + 2 = + 2 2 2 + 4 u.
∂ x12 ∂ x2 ∂ x12 ∂ x2 ∂ x14 ∂ x1 ∂ x2 ∂ x2
Wir finden auch bei diesem Ausmultiplizieren eine gewisse Analogie zur binomi-
schen Formel.
Schon in der Einleitung haben wir die Maxwell-Gleichungen als ein besonders se-
henswertes Beispiel partieller Differentialgleichungen aufgeschrieben. Im statio-
nären, also zeitlich unveränderlichen Fall gilt für die dielektrische Verschiebung
∇ · D = ρ mit der Ladungsdichte ρ, aber wegen B,t = 0 für die elektrische Feldstär-
ke ∇ × E = 0 ∈ R3 . Das stationäre elektrische Feld E ist also rotationsfrei und erfüllt
4.4 Navier-Stokes-Gleichungen 57
4.4 Navier-Stokes-Gleichungen
In diesem Abschnitt stellen wir Ihnen das Phänomen vor, dass der Wechsel des
Beobachtungsstandpunkts das Aussehen und den Typ der Differentialgleichungen
entscheidend beeinflussen kann. Es geht dabei um Strömungen von Flüssigkeiten
oder Gasen. Wir beschreiben sie durch ein Vektorfeld v : → R3 von Geschwin-
digkeiten v = v(t, x) ∈ R3 , die jedem Punkt x ∈ des betrachteten Gebiets und
jedem Zeitpunkt t zugeordnet sind.
In der hiesigen Kürze präsentieren wir zwei Kräfte oder vielmehr Kraftdichten,
die auf die Partikel einer Strömung wirken. Zum einen resultieren Kräfte aus Druck-
unterschied −∇ p zum Druck p. Zum anderen stammen innere Reibungskräfte in
viskosen Strömungen aus dem Term ηv mit der Viskosität η. Die Viskosität gleicht
die Geschwindigkeiten von nahe beieinander befindlichen Partikeln an. In Flüssig-
keiten mit sehr großen Viskositäten, wie beispielsweise Honig, bewegen sich die
Teilchen relativ zueinander nur langsam. In wenig viskosen Flüssigkeiten oder gar
Gasen sind sehr große Geschwindigkeitsunterschiede benachbarter Partikel mög-
lich. Sie bemerken den Unterschied, wenn Sie versuchen, eine Tasse Kaffee oder
vergleichsweise ein Glas Nougatcreme umzurühren.
Wenn nur die beiden genannten Kräfte auf die Partikel der Flüssigkeit oder des
Gases wirken, entsteht nach dem Newton’schen Gesetz die Bewegungsgleichung
d
v = ηv − ∇ p. (4.7)
dt
58 4 Weitere Gleichungen und ihre Gemeinsamkeiten
Diese Gleichung ähnelt den Bewegungsgleichungen, die Sie aus der Mechanik der
Punktsysteme kennen. Links steht der Trägheitsterm mit der Beschleunigung dtd v so-
wie der Dichte und rechts die Summe der äußeren Kräfte. Wie bei den Punktmassen
gilt Gl. 4.7 für die bewegten Partikel. Auf der linken Seite steht die Änderung der
Geschwindigkeit für mitbewegte Partikel. Etwas ausführlicher notiert, stände dort
v = v(t, x(t)), weil der Ort x = x(t) sich während der Bewegung und damit während
der Beschleunigung ändert.
Die Ableitung nach der Zeit in Gl. 4.7 bezieht sich also auf den Geschwindig-
keitsvektor in seiner gesamten Abhängigkeit von der Zeit t, einmal direkt von t im
ersten Argument und einmal mittelbar über den zeitabhängigen Ort x = x(t). Nun
rechnen wir mittels der Kettenregel diese substantielle Ableitung, die wir so nennen,
weil sie sich auf die materielle Substanz des bewegten Partikels bezieht, in einen
lokalen und einen konvektiven Anteil um und erhalten
d ∂ dx
v(t, x(t)) = v(t, x) + ∇x v(t, x) · .
dt ∂t dt
Der erste Summand enthält also die rein zeitliche Änderung der Geschwindigkeit
an einem raumfesten Punkt x. Dies ist der lokale oder ortsfeste Term. Der zweite
Summand, den wir konvektiv nennen, ergibt sich daraus, dass sich jedes Partikel
entlang seiner Bahn x = x(t) bewegt, also aus der Konvektion.
Da die Ableitung des Orts bezüglich der Zeit wieder die Geschwindigkeit ist,
schreiben wir auch
d
v(t, x(t)) = v,t + ∇v · v = v,t + (v · ∇)v.
dt
Die letzte, etwas seltsam anmutende Umformung rechnen wir leicht nach, indem wir
zu den Komponenten von v übergehen und (v · ∇)v = (v1 ∂1 + v2 ∂2 + v3 ∂3 )v aus-
werten. Wir erhalten denselben Ausdruck wie beim Ausmultiplizieren des kompo-
nentenweise aufgeschriebenen Produkts ∇v · v. Probieren Sie es zu Übungszwecken
aus.
Die partielle Differentialgleichung, die entsteht, indem wir die substantielle
Ableitung bezüglich der Zeit durch die Zerlegung in einen lokalen und einen
konvektiven Anteil ersetzen, ist die Navier-Stokes-Gleichung
v,t + (v · ∇)v = ηv − ∇ p. (4.8)
Sie ist nach Claude Louis Marie Henri Navier (1785 in Dijon bis 1836 in Paris) und
Georg Gabriel Stokes (1819 in Skreen bis 1903 in Cambridge) benannt und ist die
Grundgleichung für Strömungen in Flüssigkeiten und Gasen. Für inkompressible
Flüssigkeiten gilt zudem die Nebenbedingung ∇ · v = 0, weil sich die Dichte des
Materials in diesem Fall nicht ändert. Der Druck p ist der Lagrange-Multiplikator zu
dieser Nebenbedingung. Dagegen gibt es im Falle kompressibler Flüssigkeiten eine
konstitutive Beziehung zwischen dem Druck p und der Divergenz der Geschwin-
digkeit v.
4.5 Elastische Verformungen 59
Gl. 4.8 offenbart die Tücken, die in der Beschreibung einer strömenden Flüssig-
keit oder eines strömenden Gases liegen, denn sie enthält lineare und nichtlineare
Terme. Bei einer Verdopplung der Geschwindigkeiten wird nämlich der konvektive
Term (v · ∇)v um den Faktor 4 größer und die anderen Terme, in denen v auf-
taucht, nur um den Faktor 2. Für große Geschwindigkeiten wird also der konvektive
Term schneller größer als die anderen Terme in Gl. 4.8. Wir sagen, er dominiert bei
größeren Strömungsgeschwindigkeiten das Strömungsverhalten. Wie Sie aus dem
Gedankenexperiment zum Umrühren von Kaffee und Nougatcreme wissen, wird
dies insbesondere für wenig viskose Flüssigkeiten und Gase wichtig.
Gl. 4.8 ähnelt für kleine Geschwindigkeiten der Wärmeleitungsgleichung, bei der
der Laplace-Operator angewandt auf die gesuchte Größe die zeitliche Änderung die-
ser Größe bestimmt. Für große Geschwindigkeiten hat Gl. 4.8 Verbringungen zur
Transportgleichung, in der nur erste Ortsableitungen auftauchen, weil der konvekti-
ve Term, der ebenfalls nur erste Ableitungen enthält, dominant wird. Unter anderem
diese Eigenschaften führen dazu, dass die Navier-Stokes-Gleichung analytisch wie
numerisch noch immer weit weniger gut verstanden ist als die anderen hier bespro-
chenen partiellen Differentialgleichungen.
Natürlich wäre es ausgesprochen wünschenswert, auf Grundlage der Navier-
Stokes-Gleichungen und geeigneter Materialgesetze die Flugeigenschaften von
Flugzeugen, den Luftwiderstand von Fahrzeugen oder den Landabtrag durch
Meeresströmungen berechnen zu können. Bislang ist die Strömungsmechanik trotz
aller Fortschritte und Näherungslösungen eher ein breites Forschungsfeld als eine
abgeschlossene Theorie.
Wir blicken auf die harmlos aussehende Gl. 4.7 zurück, aus der durch Anwen-
dung der Kettenregel die Navier-Stokes-Gleichung in Gl. 4.8 mit dem für größere
Geschwindigkeiten schnell dominant werdenden konvektiven Term geworden ist.
Dies haben wir uns eingebrockt, weil wir von der Beschreibung in mitbewegten
Koordinaten x = x(t) in Gl. 4.7 zu einer Beschreibung in raumfesten Koordinaten
x übergegangen sind. Umso erstaunlicher ist es, wie sehr sich das Aussehen der
Gleichungen durch diesen bloßen Wechsel des Beobachtungspunkts geändert hat.
Trotz der komplizierteren Differentialgleichung sind raumfeste Koordinaten für
viele Anwendungen sinnvoller als mitbewegte Koordinaten. Soll beispielsweise eine
komplizierte Be- und Entlüftungsanlage designt werden, interessiert man sich typi-
scherweise viel stärker für die Luftströmungen, die raumfest an den Ventilatoren in
den Lüftern vorliegen, als für den Weg, den die einzelnen Luftpartikel nehmen. Noch
deutlicher ist dies bei einer Flugzeugturbine. Dort ist der einströmende und ausge-
blasene Luftstrom wichtig, der relativ zur Turbine ortsfest ist. Ein einzelnes Partikel
wird dagegen in Bruchteilen von Sekunden durch die Turbine hindurchgezogen.
Hier stellen wir Ihnen in aller nur möglichen Kürze die Grundgleichungen der linea-
ren Elastizitätstheorie vor. Achten Sie auf die Struktur der Differentialgleichungen,
60 4 Weitere Gleichungen und ihre Gemeinsamkeiten
schauen Sie nach Ähnlichkeiten mit anderen besprochenen Gleichungen und sei-
en Sie vom technischen Aufwand dieses kurzen Abschnitts nicht verschreckt. In der
Elastizitätstheorie beschreibt man die im Allgemeinen dreidimensionale Verformung
von dreidimensionalen elastischen Körpern. Allein dadurch erhalten wir vektorielle
und vergleichsweise kompliziert aussehende Gleichungen.
Außerdem benutzen wir das Konzept von Tensoren, ohne allerdings genau zu
erklären, was Tensoren sind. Wir bitten Sie, dies auszuhalten und sich trotzdem am
vorgestellten Gedankengang zu erfreuen. Wenn Sie glauben, dass solch eine vage
Beschreibung zu verwirrend ist, fahren Sie bitte mit dem nachfolgenden Kap. 5 fort.
Ähnlich wie in Abschn. 3.3.1, wo wir ein eindimensionales Material durch eine
kontinuierliche Perlenschnur infinitesimaler Partikel beschrieben haben, sehen wir
auch hier das elastische Material als aus beliebig dicht beieinander liegenden infi-
nitesimalen Partikeln bestehend an, die wir mit den Positionen X ∈ ¯ = ∪ ∂ in
der Referenzkonfiguration adressieren. Da der Körper einschließlich seines Randes
deformiert wird, ist der Definitionsbereich der meisten im Folgenden vorgestellten
Größen der Abschluss ¯ = ∪ ∂ von .
Bei einer elastischen Verformung werden diese Partikel in den Ort x verscho-
ben. Wir beschreiben dies durch die Abbildung χ : X → x = X + u(t, X) mit der
Verschiebung u : ¯ → R3 . Die Verschiebung ist also ein zunächst ortsabhängiger,
aber prinzipiell auch zeitabhängiger Vektor u = u(t, X), welcher angibt, um wel-
chen Vektor u = (u 1 , u 2 , u 3 )T ∈ R3 das Partikel X = (X 1 , X 2 , X 3 ) zum Zeitpunkt t
verschoben ist.
Wir wollen in diesem kurzen Abschnitt nur die einfachste Form der Elastizi-
tätstheorie, nämlich die lineare Elastizitätstheorie, vorstellen. Dazu denken wir uns
die Verschiebungen als sehr, sehr klein. Genau genommen gilt die lineare Elasti-
zitätstheorie nur für infinitesimale Verschiebungen. Deshalb heißt sie Theorie infi-
nitesimaler Verschiebungen, womit sie sich von der Theorie kleiner, also endlicher
Verschiebungen abgrenzt. Wir werden aufmerksam beobachten, an welchen Stellen
der Herleitung die Beschränkung auf sehr, sehr kleine Deformationen benötigt wird.
4.5.1 Verzerrungstensor
Machen Sie sich für das, was jetzt kommt, bitte unbedingt eine eigene Skizze. Wir
werden für einen kurzen Abschnitt mit vielen Bezeichnungen hantieren, die ohne
Skizze leicht durcheinander geraten. Um die Darstellung trotzdem übersichtlich zu
halten, notieren wir diesen kurzen Gedankengang, ohne die Abhängigkeit von der
Zeit t explizit aufzuschreiben.
Beginnen wir mit zwei Partikeln X und X in der Referenzkonfiguration , die
wir uns als nahe beieinander liegend vorstellen. Sie zeichnen also ein Gebiet und
darin zwei Partikel mit den Namen X und X . Außerdem zeichnen Sie den Vektor
A = X − X vom Partikel X zum Partikel X ein.
Die Deformation χ bildet nun die Partikel X und X auf die Positionen x = χ (X)
und x = χ (X ) ab. Sie zeichnen ein leicht deformiertes Gebiet χ (), wozu wir eine
andere Farbe empfehlen, und dort hinein die beiden Positionen x und x , die immer
4.5 Elastische Verformungen 61
noch nahe beieinander, aber etwas verändert zueinander liegen. Wir haben den Strich
in X bzw. x verwendet, um anzudeuten, dass es sich um ein nahe benachbartes
Partikel handelt. Natürlich bezeichnet dieser Strich keine Ableitung, sondern das
benachbarte Partikel.
Wir bestimmen jetzt die Länge der Differenz a = x − x in der deformierten Kon-
figuration. Wir werden also wie in Abschn. 3.3.1 berechnen, wie sich das Materi-
al dehnt oder staucht. Weil es sich einfacher schreibt, betrachten wir das Quadrat
a 2 = aT a der euklidischen Norm des Differenzvektors in der deformierten Kon-
figuration und drücken diesen durch den Vektor A in der Referenzkonfiguration und
durch die Deformation χ aus. Wir finden
a 2
= χ (X ) − χ (X) 2
= χ (X + A) − χ (X) 2
(4.9)
1
χ (X + A) = χ (X) + ∇χ (X)A + AT ∇∇χ (X)A + . . .
2
an. Der quadratische Term wird bei festem Partikel X und damit fester Hesse-Matrix
∇∇χ (X) mit dem Differenzvektor A quadratisch klein, d. h.
1 T
A ∇∇χ (X)A = O( A 2 )
2
mit dem Landau’schen Ordnungssymbol O, welches hier besagt, dass der linke Aus-
druck mit dem Quadrat der Norm des Differenzvektors A klein wird. Mit der Taylor-
Entwicklung wird also aus Gl. 4.9 der Ausdruck
notiert werden. Genau genommen hängt ∇u = ∇u(t, X) auch von der Zeit ab.
Rechnen Sie bitte nach, dass Sie den quadratisch kleinen Vektor innerhalb der
Norm in Gl. 4.10 als einen anderen quadratisch kleinen Term auch außerhalb der
62 4 Weitere Gleichungen und ihre Gemeinsamkeiten
Norm wiederfinden. Dies gelingt Ihnen, indem Sie wie im nächsten Ausdruck das
Normquadrat wieder als
a 2
= AT ∇χ (X)T ∇χ (X)A + O( A 3 ) (4.11)
schreiben. Für sehr, sehr kleine Abweichungen A können wir den kubisch kleinen
Term O( A 3 ) vernachlässigen.
Gl. 4.11 enthält eine echte Besonderheit, denn sie gibt an, wie lang der zum Vektor
A in der Referenzkonfiguration gehörende Differenzenvektor a in der deformierten
Konfiguration ist. Diese Gleichung beschreibt also in Abhängigkeit von der Rich-
tung, in die A zeigt, ob und wie sehr der Vektor A unter der Deformation χ gestreckt
oder gestaucht wird. Sie enthält damit einen Zusammenhang, der allein aus der
tatsächlichen Deformation bestimmbar ist und der unabhängig von den gewählten
Koordinaten eine physikalische Größe beschreibt. Wir könnten sagen, dass dieser
Zusammenhang schon vor unserer Koordinatenwahl vorhanden ist, dass er also ko-
ordinatenunabhängig ist. Zusätzlich hängt a 2 bis auf den kubisch kleinen Term
im Landau’schen Ordnungssymbol als ein Paraboloid vom Vektor A ab. Diese bei-
den Gründe machen – mathematisch etwas unsauber formuliert – die symmetrische
Matrix
E (X) = ∇χ (X)T ∇χ (X) ∈ Rsym
3×3
(4.12)
zu einem Tensor, den wir den Cauchy-Green-Verzerrungstensor nennen. Er enthält
alle Informationen über die lokale Geometrieänderung unter der Deformation χ ,
also über die Verzerrung. Mathematisch unsauber ist daran, dass ein Tensor keine
Matrix ist, sondern nur als ein ähnlicher Ausdruck geschrieben werden kann, wenn
die Koordinaten festgelegt sind. Wir merken uns, dass ein Tensor eine koordinaten-
unabhängige Zuordnung einer physikalischen Größe zu den jeweiligen Partikeln
oder Positionen realisiert, weshalb die Einträge des notierten Tensors bei Koordina-
tentransformationen ganz bestimmten Transformationsregeln unterliegen. Im Falle
von Gl. 4.12 sehen wir einen Tensor zweiter Stufe, weil die skalare physikalische
Größe, d. h. hier die Länge in der deformierten Konfiguration, als quadratische Form
vom Argument A abhängt. Entsprechend werden Tensoren erster Stufe als Vektoren
notiert, und Tensoren dritter Stufe können wir als Würfel voller Zahlen aufschreiben.
In Abschn. A.1 haben wir sehr ähnliche Überlegungen zum Nabla-Operator ange-
stellt. Analog dazu erübrigt sich die Frage, ob Tensoren erster Stufe als Zeilen- oder
Spaltenvektoren geschrieben werden.
Der Cauchy-Green-Verzerrungstensor E in Gl. 4.12 hat einen entscheidenden
Nachteil. Er ist nichtlinear in χ , und die Nichtlinearität taucht in der Beschreibung
der lokalen Geometrieänderung auf, also lange bevor wir über Kräftegleichgewichte
und Materialgesetze sprechen können. Wir haben in Abschn. 4.4 diskutiert, welche
Schwierigkeiten der nichtlineare konvektive Term bei den Navier-Stokes Gleichun-
gen aufwirft. Deshalb bevorzugen wir, wo immer dies im Rahmen der angestrebten
4.5 Elastische Verformungen 63
zu ersetzen. Sie sehen, dass wir der Übersichtlichkeit halber auch auf die ausführliche
Notation der Abhängigkeit vom Partikel X verzichtet haben. Selbstverständlich sind
alle auftretenden Größen vom Partikel und von der Zeit abhängig. Der linearisierte
Verzerrungstensor ε enthält nun bis auf den in den Ableitungen ∇u der Verschie-
bung u quadratisch kleinen Term ∇uT ∇u dieselben Informationen wie der Cauchy-
Green-Verzerrungstensor E . Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied.
Eine Starrkörpertransformation x = W X + w, die aus einer Drehung mit der or-
thogonalen Matrix W ∈ R3×3 , d. h., es gilt W T W = I , und einer Translation w ∈ R3
besteht, enthält keine lokale Geometrieänderung, denn der Körper in wird als Gan-
zes undeformiert gedreht und verschoben. Eine Starrkörpertransformation generiert
also keine Verzerrung.
Für eine Starrkörpertransformation χ : X → W X + w, die formal eine Defor-
mation ist, aber den Körper nicht tatsächlich deformiert, gilt ∇χ = W und damit
E = W T W = I . Der Cauchy-Green-Verzerrungstensor einer Starrkörpertransfor-
mation ist also derselbe wie der der Identität I : X → x = I X = X, bei der der
Körper unverformt in der Referenzkonfiguration liegen bleibt. Dies ist beim linea-
risierten Verzerrungstensor ε nicht der Fall. Für die Identität ist ε = 0 ∈ R3×3 , aber
Drehungen mit W = I , also echte Drehungen um einen nicht verschwindenden Win-
kel, ergeben nichtverschwindende linearisierte Verzerrungstensoren. Diesbreak passt
dazu, dass wir die Näherung E ≈ I + 2ε wirklich nur in der Nähe der Entwicklungs-
stelle der Taylor-Entwicklung, die in Gl. 4.13 die Identität I ist, verwenden dürfen,
also nur dann, wenn der quadratisch kleine Term ∇uT ∇u in Gl. 4.13 tatsächlich klein
ist.
Da der linearisierte Verzerrungstensor nur für Translationen X → x = X + w mit
einer festen Translation w ∈ R3 tatsächlich verschwindet, entsteht bei jeder realis-
tischen Deformation, die immer auch Rotationsanteile enthält, ein kleiner ortsab-
hängiger Unterschied zwischen E und I + 2ε. Dieser Unterschied wirkt wie eine
künstliche Verzerrung, die wir uns durch unsere Vorliebe für den in u linearen Term
ε eingebrockt haben. Diese künstliche Verzerrung wird auch geometrische Steifigkeit
genannt, weil sie nicht aus einer tatsächlichen Deformation, sondern allein aus der
geometrischen Beschreibung stammt. Natürlich versucht man bei der Berechnung
von elastischen Verformungen, Koordinaten zu wählen, in denen der Rotationsanteil
und damit die geometrische Steifigkeit klein bleiben.
Der linearierte Verzerrungstensor, der selbst kein Tensor ist, weil er keine koordi-
natenunabhängige physikalische Realität beschreibt, hat aber auch eine sehr schöne
Eigenschaft.
64 4 Weitere Gleichungen und ihre Gemeinsamkeiten
√ 1
y+h = y + √ · h + O(h 2 )
2 y
den Zusammenhang
1 T
a − A = A ε(X)A + O( ε 2 ) + O( ∇u 2 ). (4.15)
A
Der Ausdruck in Gl. 4.15 ist mindestens in zweierlei Hinsicht interessant. Zuerst
besprechen wir den ersten Summanden. Im nächsten Absatz folgen die beiden Feh-
lerterme.
Der erste Summand in Gl. 4.15 wächst für positive Faktoren κ > 0 an einem festen
Vektor A proportional zu diesem Faktor κ. Dies sehen wir an
Wenn wir den Abstand A = X − X als Länge einer Feder interpretieren, die bei der
Deformation χ gestaucht oder gestreckt wird, erwarten wir dieses lineare Verhalten
in κ. Die Verzerrung ε(X) beschreibt nun, wie die Streckung oder Stauchung von A
vom Partikel X und von der Richtung des Vektors A abhängt.
Die beiden Fehlerterme werden wegen ε = 21 (∇uT + ∇u) zwar beide klein, wenn
die Einträge des Verschiebungsgradienten ∇u klein sind, aber wir können noch mehr
zeigen. Zusätzlich zu der fast banalen Aussage von eben, dass sich ε durch O( ∇u )
abschätzen lässt, besagt nämlich die nach Arthur Korn (1870 in Breslau bis 1945
in Jersey City) benannte Korn’sche Ungleichung, dass auch ∇u = O( ε ) gilt,
dass also die drei Mittelwerte εi j = 21 (u i, j + u j,i ) außerhalb der Diagonalen der
Verzerrung auch die einzelnen partiellen Ableitungen u j,i der Komponenten von
u = (u 1 , u 2 , u 3 )T bis auf einen Faktor dominieren. Mit der Korn’schen Ungleichung,
deren Beweis leider etwas zu lang für dieses Buch ist, können wir in Gl. 4.15 den
Fehlerterm einfacher durch O( ε 2 ) + O( ∇u 2 ) = O( ε 2 ) abschätzen. Daraus
folgern wir, dass Gl. 4.15 für infinitesimale Verzerrungen – und nicht nur unter der
strengeren Bedingung eines infinitesimalen Verschiebungsgradienten – die Längen-
änderung des Vektors A beschreibt.
4.5 Elastische Verformungen 65
Nachdem wir besprochen haben, unter welchen Bedingungen wir die Verzerrung
ε = ε(t, X) als Beschreibung der lokalen Geometrieänderung ansehen können, nut-
zen wir eine allgemeinere Version des Hooke’schen Gesetzes, um den Zusammen-
hang zwischen der Verzerrung und der Spannung in dem deformierten Material zu
beschreiben. Zuerst verdeutlichen wir uns, dass die symmetrische Matrix ε ∈ Rsym3×3
sechs voneinander unabhängige Einträge hat. Betrachten Sie die Matrix ε in Gl. 4.14,
und zählen Sie die Einträge. Da ε symmetrisch ist, tauchen oberhalb und unterhalb
der Diagonalen von ε jeweils gespiegelt dieselben Einträge auf.
Nun unterstellen wir, dass die Spannung durch einen symmetrischen Tensor
σ = σ (t, X) ∈ Rsym
3×3 beschrieben wird, der ebenfalls sechs unabhängige Einträge
hat. Die Diagonaleinträge lassen sich als Schub- bzw. Zugspannungen und die Nicht-
diagonaleinträge als Scherspannungen beschreiben. Jede Komponente der Spannung
σ kann theoretisch von allen Komponenten der Verzerrung ε abhängen. Damit er-
geben sich in einem linearen Materialgesetz 36 = 6 · 6 Materialkonstanten, und das
Hooke’sche Gesetz proklamiert, wie schon in Abschn. 3.3.1 angesprochen, einen
linearen Zusammenhang zwischen Spannung und Verzerrung. Etwas kompakter
schreiben wir das Hooke’sche Gesetz als
scher invertierbarer Tensor vierter Stufe ist, der eine lineare Abbildung
3×3 → R3×3 realisiert. Selbst wenn Sie eine Tensorkontraktion wie in
S(X) : Rsym sym
Gl. 4.16 nicht rechnerisch durchführen mögen, so erkennen Sie doch, dass Gl. 4.16
eine lineare Abbildung beschreibt, aber eben eine lineare Abbildung zwischen Vek-
torräumen, die Tensoren zweiter Stufe als Elemente enthalten.
Gabriel Lamé (1795 in Tours bis 1870 in Paris) hat nachgewiesen, dass sich
die 36 Materialkonstanten für isotropes Material auf zwei Konstanten reduzieren,
die seitdem Lamé-Konstanten genannt und typischerweise mit λ und μ bezeichnet
werden.
Für homogenes lineares Material gilt mit den ggf. orts- oder partikelabhängigen
Lamé-Konstanten
σ = λI tr ε + 2με. (4.17)
An dieser Gleichung müssen wir einiges erklären. Die Spur der Verzerrung ε, al-
so die Summe der Diagonalelemente tr ε = ε11 + ε22 + ε33 = ∇ · u ist, wie man
durch komponentenweise Rechnung leicht nachprüft, gleich der Divergenz der Ver-
schiebung, und sie beschreibt die Volumendilatation, d. h. die Volumenänderung
des Materials unter der Deformation χ . Der erste Summand in Gl. 4.17 beschreibt
nun, welche Spannung durch die Volumenänderung, also das Zusammendrücken
oder Auseinanderziehen des Materials in alle Richtungen, hervorgerufen wird. Das
Material wehrt sich gegen die Volumenänderung durch eine Spannung, die in alle
Richtungen gleich wirkt, was wir an der Einheitsmatrix I in Gl. 4.17 erkennen.
66 4 Weitere Gleichungen und ihre Gemeinsamkeiten
Der zweite Summand beschreibt, dass zusätzlich eine Spannung proportional zur
Verzerrung entsteht. Eine Verzerrung, zu der nicht notwendigerweise eine Volumen-
änderung gehört, wird beispielsweise durch eine Scherung hervorgerufen. Deshalb
heißt die zweite Lamé-Konstante μ auch Schermodul. Wenn Sie einen Körper aus
einem elastischen Material, beispielsweise ein Schaumgummistück oder einen wei-
chen Radiergummi, in die Hände nehmen, können Sie versuchen, diesen zu scheren.
Lassen Sie ihn wieder los, werden die durch die Scherung erzeugten Spannungen
eine Rückbewegung des Körpers in seine Ausgangslage hervorrufen. Ebenso, aber
meist wesentlich schwerer, können Sie einen Körper zusammendrücken und erleben
so, wie sich der Körper gegen die Volumendilatation wehrt.
Der Zusammenhang zwischen den Lamé-Konstanten, dem Elastizitätsmodul E
und der Querkontraktionszahl ν lautet für isotropes Material übrigens
νE E
λ= und μ = .
(1 + ν)(1 − 2ν) 2(1 + ν)
Mit diesen beiden Gleichungen können wir die Lamé-Konstanten λ und μ, deren
Bedeutung auf den ersten Blick etwas weniger eingängig als die des Elastizitätsmo-
duls E und der Querkontraktionszahl ν erscheint, aus E und ν ausrechnen. Natürlich
können Sie die Zusammenhänge auch so umstellen, dass Sie E und ν aus λ und μ
bestimmen. Ähnliche Beziehungen gibt es auch mit anderen Materialkonstanten,
die bei der Behandlung von elastischen Deformationen von den unterschiedlichen
Fachdisziplinen verwendet werden. Auf Webseiten zur Elastizitätstheorie findet man
deshalb verwirrend große Kreuztabellen mit allen Umrechnungen zwischen den Ma-
terialkonstanten.
Nun haben wir alles zusammengetragen, um die Spannung σ mit Gl. 4.17 aus-
zurechnen. Durch die Fokussierung auf das Ausrechnen der Spannung σ ist dieser
Abschnitt kurz und übersichtlich geworden. Aber gleichzeitig haben wir – im Ge-
gensatz zu unseren Überlegungen aus den vorigen Kapiteln – eine entscheidende
Unterlassung begangen: Wir haben nämlich die Spannung σ ∈ Rsym 3×3 in Gl. 4.17 aus-
gerechnet, ohne ernsthaft zu sagen, wie die Spannung als physikalische Größe defi-
niert ist. Die Spannung ist aber eine eigenständige Größe, die zumindest theoretisch
unabhängig von den anderen Begriffen messbar ist.
Hätten wir die Spannung unabhängig von den anderen Größen definiert, so hätten
wir bemerkt, dass das Hooke’sche Gesetz in Gl. 4.16 und seine Spezifizierung in
Gl. 4.17 wiederum konstitutive Gleichungen sind, die zwei unabhängig voneinander
definierte Größen, nämlich die Verzerrung und die Spannung, zusammenbringen.
Wir holen jetzt die Beschreibung der Spannung erzählerisch nach und machen
Sie dabei auf die durchaus tief liegenden physikalischen Probleme aufmerksam, die
uns vor der Definition der Spannung haben zurückschrecken lassen.
Wir stellen uns einen Körper in der deformierten Konfiguration vor, in dessen
Inneren durch eine Deformation Kräfte hervorgerufen wurden. Wenn wir diesen
Körper längs einer Ebene aufschneiden, so springt er auseinander. Er verformt sich
dabei, weil der innere Zusammenhalt des Körpers durch den Schnitt aufgelöst wurde
und die übrigen Kräfte beide Teile deformieren.
4.5 Elastische Verformungen 67
Sie beobachten diesen Effekt an einer nicht mehr ganz frischen rohen Kartoffel,
auf die Sie mit Ihren Fingern eine äußere Kraftdichte aufbringen. Die Kartoffel
verformt sich, und im Inneren werden Spannungen hervorgerufen. Wenn Sie die
deformierte Kartoffel nun vorsichtig anschneiden, klafft der Schnitt auseinander.
Gelegentlich findet man Spannungen in Gemüse, das nicht durch äußere Kräfte
verformt ist. Beim Anschneiden eines knackigen Champignons oder einer prallen
Wassermelone kann es passieren, dass sie mit einem sanften Ruck auseinandersprin-
gen, und manchmal passen beiden Teile nicht mehr perfekt zusammen.
Längs der Schnittebene bräuchte es nun eine Flächenkraftdichte, um die beiden
Teile des Körpers wieder in der ursprünglichen Form zusammenzuhalten. Diese
Flächenkraftdichte greift – lax gesprochen – an den Partikeln an, die vor dem Zer-
schneiden benachbart waren, und zieht sie wieder zusammen. Wir nennen die Flä-
chenkraftdichte p und verdeutlichen uns, dass p für jeden Punkt der Schnittebene eine
vektorielle Größe ist, denn zum Zusammenhalt der benachbarten Partikel benötigen
wir Kraftkomponenten, die senkrecht, also normal, zur Schnittebene stehen, und
Kraftkomponenten, die innerhalb der zweidimensionalen Schnittebene verlaufen.
Nach dieser Erklärung haben wir schon in die schönsten Probleme, über die man
sich bei der Behandlung elastischer Verformungen Klarheit verschaffen sollte. Bei-
spielsweise bleibt die Schnittebene nach dem Zerschneiden nicht eben, aber wir
erwarten auch nicht, dass sie einen Knick bekommt, an dem nicht klar wäre, in wel-
che Richtung die Normale zeigt und welches die tangentiellen Richtungen sind. Wir
bräuchten also Aussagen darüber, unter welchen Umständen die Schnittebene durch
die danach erfolgende Verformung wirklich keinen Knick bekommt. Glücklicher-
weise entsteht in den meisten praktisch relevanten Fällen kein Knick.
Einschneidender ist die Beobachtung, dass nach unserer Beschreibung die Flä-
chenkraftdichten p an den Punkten x der deformierten Konfiguration anliegt und
nicht, wie Gl. 4.16 suggeriert, an den Partikeln X, die für die Positionen in der Re-
ferenzkonfiguration stehen. Selbst wenn die Deformation klein ist, ist dieser Unter-
schied wichtig. Denken Sie beispielsweise an ein Eisenbahnrad. Unverformt berührt
dieses die unverformte Schiene in einzelnen Punkten, meistens sogar nur in einem
einzigen Punkt. Aber natürlich stehen mehrere Tonnen, die eine Lokomotive pro
Rad wiegt, nicht auf einem Punkt, sondern auf einer Kontaktfläche, die etwa so groß
wie ein Eurogeldstück ist. In der deformierten Konfiguration des Rades wirken die
Kräfte also in einer Kontaktfläche, was physikalisch sinnvoll erscheint, und in der
Referenzkonfiguration hätten die Kräfte nur einzelne Punkte, in denen der Druck
dann unendlich groß wäre. An dieser Stelle braucht man also Überlegungen, warum
und wie die Kraftdichte p den Partikeln X ∈ zugeordnet werden kann.
Schließlich haben wir die Flächenkraftdichte p in Abhängigkeit von der Schnitt-
ebene beschrieben. Die Normale zur Schnittebene vor dem Auseinanderspringen der
Teile des verformten Körpers sei n. Wir brauchen uns hier nicht zu entscheiden, in
welche Richtung die Normale zeigt, denn auf den beiden Teilen des zerschnittenen
Körpers benötigen wir genau entgegengesetzte Kraftdichten, um den Körper wieder
zusammenzuhalten. Da es unendlich viele mögliche Schnittebenen durch jeden Punkt
gibt und die Flächenkraftdichte p von der Schnittebene mit dem Normalenvektor
68 4 Weitere Gleichungen und ihre Gemeinsamkeiten
n abhängt, erhalten wir also zu jedem Punkt x und zu jedem Normalenvektor n eine
Kraftdichte p = p(x, n).
Wir zeigen nun mit einem Argument von Augustin-Louis Cauchy (1789 in Paris
bis 1857 in Sceaux), dass diese unendlich vielen Kraftdichten durch einen Tensor,
den wir hier kurzfristig mit (x) ∈ Rsym3×3 bezeichnen, also bei einem festen kar-
ausgedrückt werden kann. Die Symmetrie von (x) folgt daraus, dass sich die auf
jedes kleine Stück des Körpers wirkenden Drehmomente ausgleichen, dass also im
Innern des Körpers keine ständige Rotation stattfindet. Dann fehlen immer noch
Gedanken zur Zulässigkeit der Näherung σ (t, X) ≈ (t, x). In den vorigen Absätzen
haben wir die Zeitabhängigkeit der Übersichtlichkeit halber nicht mitgeschrieben,
aber alle auftauchenden Größen hängen bei einer zeitveränderlichen Verformung
natürlich von der Zeit ab.
Insgesamt sehen Sie, dass man sich mit den Begriffen der Elastizitätstheorie meh-
rere Vorlesungen lang auseinandersetzen kann und dass wesentliche Fragen in diesen
Begriffen lauern.
Nun bestimmen wir die Gesamtkraft auf ein Teilstück , die aus den an der
Oberfläche ∂ des Teilstücks anliegenden Flächenkraftdichten p resultiert. Wie an
der Oberfläche des Teilstücks in Abschn. 2.2 zur Kontinuitätsgleichung hat das kleine
Teilgebiet ⊂ die Außennormale n, und an jedem Punkt des Rands wirkt die
Kraftdichte · n. Der Integralsatz von Gauß liefert mit dem Oberflächenelement da
auf ∂ bei zeilen- oder spaltenweiser Anwendung
Gl. 4.19 zeigt uns in Analogie zur Argumentation in Abschn. 2.2 für ein kleiner
werdendes Gebiet, das sich schließlich auf den Punkt x zusammenzieht, dass die
Volumenkraftdichte ∇x · (t, x) die resultierende Kraftdichte enthält.
Damit stehen wir wieder vor dem Problem, dass wir die resultierende Kraftdich-
te lieber in den Koordinaten der Referenzkonfiguration ausdrücken wollen. Dazu
kommt ein weiteres Problem, denn selbst wenn wir die Näherung σ (t, X) ≈ (t, x)
mit x = χ (t, X) als zulässig betrachten, gilt allein deshalb noch nicht
∇x · ≈ ∇X · σ (X). Die Ableitungen zweier nahe beieinanderliegender Funktio-
nen können sich nämlich stark unterscheiden, beispielsweise wenn Sie an zwei un-
terschiedlich schnell oszillierende Funktionen mit kleiner und ähnlicher Amplitude
denken. Sie erahnen hier, dass die Interpretation des Zeichens ≈ bei den Funktionen
Diskussionsbedarf beschert. Es geht dabei um die Frage, welcher Abstandsbegriff
zwischen Funktionen der Näherung ≈ zugrunde liegt. Dieser Diskussionsbedarf ist
ein Grund dafür, dass manches mathematische Fachbuch über partielle Differential-
gleichungen lange Ausführungen zu Funktionenräumen, Normen und allgemeine
Differentialoperatoren enthält, bevor das erste Mal eine partielle Differential-
gleichung auftaucht.
Nachdem wir die vielfältigen Begriffe der Elastizitätstheorie betrachtet haben,
verwenden wir die aus der Spannung resultierende Volumenkraftdichte ∇ · σ in Ab-
schn. 4.5.3 in einem Anfangsrandwertproblem zur Elastizitätstheorie infinitesimaler
Verschiebungen.
für das Verschiebungsfeld u(t, X) = (u 1 (t, X), u 2 (t, X), u 3 (t, X))T ∈ R3 . Gl. 4.20
ist genau genommen ein gekoppeltes System von drei partiellen Differentialglei-
chungen für die drei Komponenten des Verschiebungsvektors u = (u 1 , u 2 , u 3 )T . Als
rechte Seite taucht die Volumenkraftdichte f auf. Eine typische Volumenkraftdichte
ist die Schwerkraft, die sich mit ∇ · σ und dem Trägheitsterm im Kräftegleich-
gewicht befindet. Außerdem enthält Gl. 4.20 die Oberflächenkraftdichte p, die die
Kräfte enthält, die auf die Oberfläche des elastischen Körpers einwirken. An der
70 4 Weitere Gleichungen und ihre Gemeinsamkeiten
Oberfläche ∂ finden wir ein Kräftegleichgewicht, wie wir es bei der Diskussion
der Spannung an den inneren Schnittebenen vorgefunden haben. Anders als bei den
Schnittebenen im Innern befindet sich an der Oberfläche ∂ die aus der Spannung
im Innern resultierende Flächenkraftdichte mit den von außen aufgebrachten Kräften
im Gleichgewicht.
Durch die anderen Bezeichnungen sieht die partielle Differentialgleichung in
Gl. 4.20 gefährlich aus, aber beachten Sie bitte die Ähnlichkeit zur allgemeinen
Wellengleichung in Gl. 3.12. Dort wurde der Gradient ∇u ∈ Rd mit den Material-
konstanten in der Matrix A multipliziert, worauf dann der Divergenzoperator wirkte.
Hier ist die Verzerrung ε = 21 (∇uT + ∇u) ∈ Rsym
3×3 eine vom Gradienten dominierte
Größe, die mit den Materialkonstanten im Tensor S(X) ∈ Rsym 3×3×3×3 multipliziert
wird, worauf wieder der Divergenzoperator wirkt, so dass insgesamt ein Differen-
tialoperator in Divergenzform entsteht.
Das System in Gl. 4.20 haben wir konsequent in Referenzkoordinaten aufgeschrie-
ben. Wir wiederholen die bereits in Abschn. 3.3.1 angesprochene Unterscheidung
zwischen den Lagrange-Koordinaten X und den Euler-Koordinaten x. Entsprechend
heißt Gl. 4.20 auch eine Lagrange-Formulierung eines zeitabhängigen Deformations-
problems. Würden wir die Koordinaten x der deformierten Konfiguration verwenden,
so würden wir das entstehende Problem, welches im Allgemeinen unhandlicher ist,
eine Euler-Formulierung nennen.
Zum Abschluss dieses Kapitels schreiben wir den Lamé-Operator, der die Abbil-
dung u → ∇ · σ ausführt, etwas anders auf, um weitere Beziehungen zu den schon
besprochenen Deformationsproblemen der Membran und der Platte aufzudecken.
Mit Gl. 4.17 und der Definition der Verzerrung ε in Gl. 4.14 belegen Sie durch kom-
ponentenweise Rechnung für homogenes isotropes Material leicht
u → ∇ · σ = μu + (μ + λ)∇∇ · u.
Nun folgen einige Beobachtungen über stationäre Lösungen von Gl. 4.20, und zwar
speziell über solche stationären Lösungen, in denen keine Volumenkräfte f wirken.
Eine stationäre Lösung ohne Volumenkräfte, d. h. für f = 0, erfüllt ∇ · σ = 0 und
damit
0 = μu + (μ + λ)∇∇ · u. (4.21)
Wendet man auf beiden Seiten von Gl. 4.21 die Divergenz an, so entsteht
was wegen ∇ · u = tr ε auch heißt, dass die Spur der Divergenz tr ε = 0 erfüllt.
Funktionen wie tr ε, bei denen die Anwendungen des Laplace-Operators null liefert,
nennt man übrigens auch harmonische Funktionen. Interessanterweise erfüllt die
Spur der Verzerrung tr ε also die Gleichung der stationären Membranverformung.
4.5 Elastische Verformungen 71
Bildet man in Gl. 4.17 auf beiden Seiten die Spur und beachtet korrekterweise,
dass die Spur tr I der Einheitsmatrix I ∈ R3×3 wegen der drei Einsen auf der
Diagonalen gleich 3 ist, so findet man tr σ = (3λ + 2μ) tr ε. Damit erfüllt auch die
Spur tr σ der Spannung bei einer stationären Verformung eines homogenen isotropen
Materials die Gleichung der stationären Membranverformung.
Durch Anwendung des Laplace-Operators auf beide Seiten von Gl. 4.21 entsteht
was man sich leicht verdeutlicht, weil man nach dem Satz von Schwarz die Rei-
henfolge von Ableitungen genügend glatter, also genügend oft differenzierbarer,
Funktionen vertauschen kann. Hier treffen wir wieder auf ein mathematisches Pro-
blem, denn, bevor wir diese Umformungen machen, müssten wir eigentlich wissen,
ob die Verschiebung u wirklich, wie in Gl. 4.22 benötigt, viermal bezüglich der
Ortskoordinaten abgeleitet werden kann. Wir sind also über das Problem gestol-
pert, dass wir für Aussagen über Lösungen von Differentialgleichungen Vorausset-
zungen über die Differenzierbarkeit der auftretenden Funktionen brauchen. Damit
Gl. 4.22 eine sinnvolle Aussage enthält, müssen wir voraussetzen, dass u viermal
differenzierbar ist. Deshalb sollten wir besser formulieren, dass für eine genügend
glatte Lösung u = u(X) des stationären volumenkräftefreien Deformationsproblems
die Eigenschaft in Gl. 4.22 gilt. Wir werden die Fragen zur Differenzierbarkeit in
Abschn. 5.2.5 des folgenden Kapitels allgemeiner ansprechen.
Jetzt nutzen wir die schon gezeigte Eigenschaft tr ε = ∇ · u = 0 und finden
heraus, dass die Verschiebung und jede ihrer Komponenten die Gleichung
u = 0
der stationären Biegung einer homogenen Platte aus Abschn. 4.2 erfüllt.
Diese letztgenannten Zusammenhänge gelten, wie schon betont, nur unter recht
strengen Voraussetzungen, nämlich eines homogenen, isotropen Materials ohne Vo-
lumenkräfte und der im Rahmen unserer Einführung nicht bewiesenen Annahme,
dass die auftretenden Funktionen jeweils genügend glatt sind. Trotzdem ist das Wie-
derauftauchen der immer gleichen Terme hoffentlich auch aus Ihrer Sicht erstaunlich.
Ordnung in den partiellen
Differentialgleichungen 5
5.1.1 Grundbegriffe
Alle unsere Differentialgleichungen enthalten einen Ausdruck, der aus der gesuchten
Größe u, den Ableitungen von u und aus Materialkonstanten aufgebaut ist. Dieser
Ausdruck wird gleich einer äußeren Einwirkung gesetzt, die eine Kraft, ein Zufluss,
eine Ladungsdichte oder je nach Anwendung auch vieles andere sein kann. Wir
nennen die Abbildung der gesuchten Größe u auf den beschriebenen Ausdruck einen
Differentialoperator. Der Name kommt daher, dass der Differentialoperator auf den
Funktionen u operiert, womit gemeint ist, dass er die Funktion u in eine andere
Funktion überführt.
Beispielsweise können wir die Schwingungsgleichung einer Saite mit einer äu-
ßeren Kraft in Gl. 3.6 auch als
Du = u ,tt − Pu ,x x = f
Urbild von f bei der Anwendung von D. Die Aufgabe Du = f, also die Aufgabe,
das Urbild der rechten Seite f unter dem Differentialoperator D zu bestimmen, wird
erst durch eine geeignete Wahl von Rand- oder Anfangsbedingungen und durch
die Festlegung, welche Sorte Funktionen man als Lösungen anerkennen will, zu
einem gut gestellten Problem mit einer eindeutigen Lösung. Mehr dazu sagen wir in
Abschn. 5.2.1 und 5.2.2.
Wir definieren nun die wichtige Eigenschaft der Linearität einer Differential-
gleichung. Diese Eigenschaft wird bei den späteren Untersuchungen und bei der
Entwicklung von Rechenverfahren sehr nützlich sein, denn eine lineare Differential-
gleichung hat einige grundlegende Eigenschaften mit einem linearen Gleichungs-
system gemeinsam.
Lesen Sie bitte die jetzt folgenden Zeilen auf zwei Arten. Einmal interpretieren Sie
D als Differentialoperator und u und f als Funktionen, und das andere Mal stellen
Sie sich unter D eine Matrix, also eine lineare Abbildung zwischen euklidischen
Räumen und u und f als Vektoren im Urbildraum und im Bildraum vor. Sie werden
die Parallelität beider Problemstellungen erleben.
Definition 5.1 Eine partielle Differentialgleichung heißt linear, wenn sie in der Form
Du = f mit einem linearen Differentialoperator D und der von u unabhängigen
rechten Seite f geschrieben werden kann.
Die Linearität des Differentialoperators D bedeutet, dass durch diesen eine lineare
Abbildung mit D : u → f beschrieben wird, auch wenn wir hier noch nicht genau
festlegen, zwischen welchen Vektorräumen diese Abbildung wirkt. Wir erinnern uns
aber an die definierende Eigenschaft der Linearität
und für alle Funktionen u 1 und u 2 , auf die der Differentialoperator D angewen-
det werden kann. Gl. 5.1 besagt, dass die Anwendung des Differentialoperators D
mit der Bildung der Linearkombination α1 u 1 + α2 u 2 vertauschbar ist, dass also der
Differentialoperator einer Linearkombination von u 1 und u 2 die Linearkombination
der Bilder von u 1 und u 2 unter dem Differentialoperator ist. Wenn somit u 1 eine
Lösung von Du 1 = f 1 und u 2 eine Lösung von Du 2 = f 2 ist, dann ist bei einem
linearen Differentialoperator D die Linearkombination u = α1 u 1 + α2 u 2 eine Lö-
sung von Du = α1 f 1 + α2 f 2 . Wir sprechen davon, dass sich die Lösungen u 1 und
u 2 überlagern.
Wir erkennen oft auch ohne Beweise und Rechnungen, ob eine partielle Diffe-
rentialgleichung linear ist, nämlich dann, wenn nur skalare Vielfache der Funktion
u und skalare Vielfache der Ableitungen von u additiv verknüpft sind. Die Skalare
dürfen allerdings in beliebiger Art vom Ort und von der Zeit abhängen.
Nachdem wir den Begriff der Linearität eines Differentialoperators, den Sie aus
der linearen Algebra oder aus der Beschäftigung mit gewöhnlichen Differential-
gleichungen kennen, wiederholt haben, definieren wir in ähnlich unüberraschender
Weise die Ordnung einer partiellen Differentialgleichung.
5.1 Klassifikation von partiellen Differentialgleichungen 75
Definition 5.2 Die höchste auftretende Ableitungsordnung heißt Ordnung einer par-
tiellen Differentialgleichung.
Wir werden sehen, dass die Ordnung einer partiellen Differentialgleichung für das
Verhalten der Lösung wichtig ist. Dies haben partielle Differentialgleichungen mit
gewöhnlichen Differentialgleichungen gemeinsam. Autonome gewöhnliche Diffe-
rentialgleichungen erster Ordnung beschreiben monotone Wachstums- oder Zer-
fallsprozesse. Schwingende mechanische Systeme werden schon wegen des
Newton’schen Gesetzes durch Gleichungen zweiter Ordnung beschrieben. In Kap. 2
und in Kap. 3 haben wir die Diffusions- oder Wärmeleitungsgleichung mit einem
ausgleichenden Lösungsverhalten und die Schwingungs- oder Wellengleichung mit
einem oszillierenden Lösungsverhalten eingeführt. Sie sehen, dass wir einige Eigen-
schaften der gewöhnlichen Differentialgleichungen bei den partiellen Differential-
gleichungen wiederfinden.
Wie bei linearen Gleichungssystemen nennen wir eine partielle Differentialglei-
chung homogen, wenn f = 0 gilt, und inhomogen für f = 0. Wieder in Analogie
gilt im homogenen Fall, dass mit einer Lösung u von Du = 0 wegen der Linearität
von D auch jedes Vielfache αu mit α ∈ R eine Lösung ist, denn D(αu) = α Du = 0.
Hierbei handelt es sich nur um Lösungen der Differentialgleichung, denn die Rand-
bedingungen können alles wieder verändern. Überlegen Sie, warum die angespro-
chene Analogie für homogene lineare Randbedingungen erhalten bleibt.
Laut Definition 5.2 haben die Wärmeleitungsgleichung und die Schwingungsglei-
chung der Membran beide die Ordnung 2, weil im ortsabhängigen Term in Diver-
genzform zweite Ableitungen bezüglich des Orts x ∈ Rd auftauchen. Die Ordnung
der zeitlichen Ableitungen beeinflusst das qualitative Lösungsverhalten, also ob die
Lösung ausgleichend abklingt oder ob sie schwingt. Wegen dieser Wichtigkeit der
zeitlichen Ableitung ist es gelegentlich nützlich, von der Ordnung einer Differential-
gleichung bezüglich einer unabhängigen Komponente, meistens bezüglich der Zeit,
zu sprechen. Dann ist die Wärmeleitungsgleichung immer noch eine Differential-
gleichung der Ordnung 2, die aber bezüglich der Zeit t von der Ordnung 1 ist.
[1.] In Gl. 2.9 steht die Diffusions- oder Wärmeleitungsgleichung für anisotropes,
inhomogenes, aber lineares Material. Die Quellen und Senken finden wir in
76 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
der rechten Seite f . Diese partielle Differentialgleichung ist linear, weil der Dif-
ferentialoperator D : u → u ,t − ∇ · [A(x)∇u] linear ist. Die Linearität ist unab-
hängig davon, wie der Zusammenhang A = A(x) beschaffen ist, denn die Linearität
des Differentialoperators bezieht sich auf die Funktion u. Bezüglich anderer Grö-
ßen können nichtlineare Zusammenhänge auftreten, und die Ortsabhängigkeit A(x)
der Materialkonstanten hat nicht nur keinen Grund, linear zu sein, eine eventuelle
Linearität in Abhängigkeit von x würde unter einer Koordinatentransformation mit
der Verschiebung des Nullpunkts auch wieder zerstört.
Die Wärmeleitungsgleichung in Gl. 2.9 hat wegen der zweiten Ortsableitungen in
die Ordnung 2, selbst wenn die Ableitungsordnung bezüglich der Zeit nur 1 ist.
Unser physikalisches Verständnis gibt uns die Gewissheit, dass sich die Wärme
verteilt und dass sich mit der Zeit innerhalb des Gebiets eine ausgeglichene Tem-
peratur einstellt. Ebenso wird sich ein gelöster Stoff bei der Diffusion verteilen,
bis die Konzentration im betrachteten Gebiet ausgeglichen ist. Wir schreiben hier
absichtlich ausgeglichen und nicht gleich, denn durch die Randbedingungen kann
auch ein stationäres Konzentrationsgefälle ein ausgeglichener Zustand sein, was wir
in Abschn. 6.1.3 gründlicher besprechen.
[2.] Die Schwingungsgleichung für die Saite im Randwertproblem in Gl. 3.2 ist li-
near, homogen und von zweiter Ordnung. In Gl. 3.6 finden Sie dieselbe Gleichung
im inhomogenen Fall mit einer äußeren Kraftdichte f. Genauso ist Gl. 3.8 für die ge-
spannte Membran eine lineare homogene Differentialgleichung zweiter Ordnung,
und auch Gl. 3.11 für Longitudinalwellen oder Gl. 3.12 für eine verallgemeiner-
te Membranschwingung sind lineare, inhomogene partielle Differentialgleichungen
zweiter Ordnung.
Bei der Bewegungsgleichung von elastischem linearem Material im Randwert-
problem Gl. 4.20 muss man etwas genauer hinschauen, aber auch sie ist linear, inho-
mogen und von zweiter Ordnung sowohl in der zeitlichen als auch in der räumlichen
Dimension. Wir verdeutlichen uns damit, dass alle diese Gleichungen den Namen
Schwingungsgleichung verdienen und das oszillierende Verhalten elastischer Defor-
mationen beschreiben.
Ein wenig anders ergeht es der Schwingungsgleichung für den elastischen Bal-
ken in Gl. 4.4. Diese partielle Differentialgleichung hat die Ordnung 4, weil die
rücktreibenden Effekte des biegesteifen Materials durch einen Term vierter Ablei-
tungsordnung beschrieben wird. Zeitlich enthält auch diese Schwingungsgleichung
zweite Ableitungen.
Allen Varianten der Schwingungsgleichung ist gemeinsam, dass sie
oszillierende Auslenkungen eines elastischen Materials, also Schwingungen
beschreiben.
[3.] Die stationäre Deformation einer Saite oder einer Membran stammt aus dem
Gleichgewichtszustand der Schwingungsgleichung. Die stationäre Gleichung ist, wie
bereits mehrfach betont, dieselbe wie die der stationären Wärmeleitung in Gl. 2.14
5.1 Klassifikation von partiellen Differentialgleichungen 77
[4.] Die Plattenbiegung in Gl. 4.5 enthält vierte Ortsableitungen und ist damit von
der Ordnung 4. Sie ist das mehrdimensionale Analogon zur Schwingungsgleichung
des biegesteifen Balkens, und sie ist linear.
[5.] Die Navier-Stokes-Gleichung in Gl. 4.8 ist nichtlinear, und wir haben schon
diskutiert, dass der konvektive Term für wachsende Strömungsgeschwindigkeiten
schnell dominant wird und damit erhebliche numerische und analytische Schwierig-
keiten verursacht. In der aufgeschriebenen Form für viskose Materialien, also zähe
Flüssigkeiten oder Gase, ist die Navier-Stokes-Gleichung von der Ordnung 2. Wir
hadern ein wenig mit dieser Einschätzung, weil der entscheidende, dominante Term
v,t + ∇v · v = v,t + (v · ∇)v ein nichtlinearer Term erster Ordnung ist, der zumin-
dest für kleine Viskositäten η das Lösungsverhalten dieser Gleichung beherrscht.
Für idealisierte nichtviskose Materialien, also für η = 0, ist die Navier-Stokes-
Gleichung eine partielle Differentialgleichung erster Ordnung. Da sie nichtlinear ist,
und somit das Vielfache αv einer Lösung v im Allgemeinen keine Lösung ist, ist der
Begriff der Homogenität einer Differentialgleichung hier nicht anwendbar.
[6.] Bei der Transportgleichung in Gl. 4.1 erkennen wir, mittlerweile geübt, dass sie
von erster Ordnung ist, denn es gibt nur eine erste zeitliche und eine erste örtliche
Ableitung. Diese Gleichung ist linear, wenn der Fluss I = I(u) linear von u abhängt,
und nichtlinear, wenn dieser Zusammenhang nicht linear ist. Wie wir in Kap. 9 sehen
werden, schenken uns nur nichtlineare Transportgleichungen wirklich interessante
mathematische Fragestellungen.
Maximumprinzip
Für elliptische Differentialgleichungen haben wir kein so einprägsames Lösungs-
verhalten wie für parabolische und hyperbolische Differentialgleichungen. Wenn wir
allerdings ein Randwertproblem zur Laplace-Gleichung mit Dirichlet-
Randbedingungen betrachten, durch das eine eingespannte Membran beschrieben
wird, so können wir das Maximumprinzip herleiten. Es besagt, dass die Lösung
u = u(x) von
−u = 0 für x ∈ ,
(5.5)
u = q für x ∈ ∂ =
ihr Maximum auf dem Rand annimmt. Anschaulich wird dies für den zweidimen-
sionalen Fall d = 2 klar, wenn wir uns die Funktion q : → R als eine
Höhe über dem Rand vorstellen, beispielsweise als Rahmen, in dem die Mem-
bran eingespannt ist. Die rechte Seite in Gl. 5.5 ist f = 0, und das bedeutet, dass
keine Kräfte auf das Innere der Membran wirken. Insbesondere vernachlässigen wir
damit die Schwerkraft aus dem Gewicht jeder realistischen Membran. Es entsteht ein
5.1 Klassifikation von partiellen Differentialgleichungen 79
verbogenes Trampolin, und die gewichtslose Membran hängt so zwischen dem Rah-
men, dass ihre Verformungsenergie minimal ist. Läge nun der größte Wert von u im
Inneren des Gebiets und nicht auf dem Rand, so müsste die Lösung u an dieser Stel-
le ein lokales Maximum haben. Die Membran wäre also nach oben ausgedellt. Dies
würde aber zu einer rücktreibenden Kraft führen, und die Membran müsste sich im
Widerspruch zur Annahme ihrer Stationarität bewegen. Folglich kann es solch eine
Delle oder Ausbeulung im Innern des Gebiets nicht geben.
Eine andere Deutung der Funktion u ist eine Seifenblase, die in einer Schlei-
fe eines Drahts hängt. Sie kennen diese Versuchsanordnung aus Kindertagen. In
einem kleinen Fläschchen voller Seifenlauge steckte ein Plastiklöffel mit einem
großen Loch, mit dem Sie die Seifenlauge aus dem Fläschchen geholt haben. Wenn
Sie vorsichtig genug in das Loch gepustet haben, entstand eine Seifenblase. Stellen
Sie sich nun vor, dass solch ein Seifenfilm in einem Draht hängt, und der Draht liegt
auf der Höhe q = q(x). Wenn Sie nicht pusten und keine andere Kraft, also auch
nicht die Schwerkraft, auf den Seifenfilm wirkt, so wird sich keine Ausdellung über
q hinaus bilden. Erst Ihr Pusten, also eine äußere Kraft f = 0, formt eine Delle, aus
der kurz danach eine Seifenblase entsteht.
Mathematisch formulieren wir diese Überlegung durch einen indirekten Beweis.
Wir nehmen an, die Funktion u hätte in x ∈ , also nicht auf dem Rand = ∂, ein
Maximum. Dann sind die zweiten Ableitungen an der Maximumstelle u ,x1 x1 (x) ≤ 0
und u ,x2 x2 (x) ≤ 0 beide nicht positiv, denn an einer Maximumstelle hat auch jeder
Schnitt durch die multivariate Funktion ein Maximum. Alle diese eindimensionalen
Schnitte haben an der Maximumstelle eine waagerechte Tangente und krümmen sich
nicht nach oben.
Wegen u(x) = u ,x1 x1 (x) + u ,x2 x2 (x) = 0 gilt dann u ,x1 x1 (x) = 0 und
u ,x2 x2 (x) = 0. Da x laut unserer Annahme ein Maximum ist, muss die Tangential-
ebene an u parallel zur (x1 , x2 )-Ebene verlaufen, also gilt auch u ,x1 (x) = 0 und
u ,x2 (x) = 0. An dieser Stelle merken wir, dass unsere physikalische Argumentati-
on bei der Übersetzung in mathematische Ausdrücke ein wenig ins Stocken gerät.
Wir können aus u ,x1 (x) = 0 und u ,x2 (x) = 0 nicht ohne Weiteres schließen, dass u
eine zur (x1 , x2 )-Ebene parallele Ebene beschreibt, denn wir wissen nicht, was kurz
neben der angenommenen Maximumstelle passiert. Außerdem gibt es Funktionen,
deren partielle Ableitungen null sind, die sich also an der betrachteten Stelle in
Richtung der Koordinaten lokal nicht verändern, die aber in andere Richtungen ein
überraschendes Verhalten zeigen.
Wir könnten nun einen Taylor-Ansatz für u um die Maximumstelle x machen. Die-
ses zweidimensionale Taylor-Polynom beginnt wegen der herausgearbeiteten Bedin-
gungen erst bei den Termen vierter Potenz und enthält nur gerade Potenzen, weil bei
x sonst kein Maximum wäre. Die etwas technische Argumentation besteht darin, u
auszurechnen und nachzuweisen, dass dieses nicht überall in der Nachbarschaft von
x null sein kann, wenn u keine Konstante ist. Allerdings würden wir bei dieser Argu-
mentation verwenden, dass wir die Funktion u in der Nachbarschaft von einer Stelle
x auch tatsächlich durch eine Taylor-Reihe annähern können, die gegen u konver-
giert. Und dass dies so ist, wissen wir noch nicht. Wir erahnen an dieser Stelle einige
Tücken in den partiellen Differentialgleichungen.
80 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
Passende Randbedingungen
In diesem Abschnitt geht es um die Frage, welche Anfangsbedingungen und wel-
che Randbedingungen zu welchen Differentialgleichungen passen und warum. Auf
dem jetzigen Wissensstand können wir den physikalischen Hintergrund der jeweili-
gen Differentialgleichung benutzen, um uns zu verdeutlichen, welche Anfangs- und
Randbedingungen wir sinnvollerweise stellen können und welche wir besser nicht
einfordern. Für die sinnvolle Auswahl von Randbedingungen gibt es unterschied-
liche Gründe. Beispielsweise könnte ein Problem ohne Lösung oder mit viel zu vie-
len Lösungen entstehen. Theoretisch formulierbare Randbedingungen könnten aber
auch zu physikalisch sinnlosen Fragestellungen führen oder zu solchen, von denen
wir schon vorher abschätzen können, dass wir sie bestenfalls in einem sehr theore-
tischen Kontext lösen können. Natürlich treten in Spezialfällen oder bei besonderen
Anwendungen auch Randwertprobleme auf, die auf den ersten Blick physikalisch
nicht sinnvoll erscheinen. Aber hier beschäftigen wir uns zunächst mit den Grund-
lagen der partiellen Differentialgleichungen und in diesem Abschnitt nur mit linea-
ren partiellen Differentialgleichungen zweiter Ordnung. In Kap. 9 werden wir sehen,
dass die Frage nach Randbedingungen für partielle Differentialgleichungen erster
Ordnung komplizierter ist.
Wir gehen die Typen von linearen partiellen Differentialgleichungen zweiter Ord-
nung durch und diskutieren die passenden Anfangs- und Randbedingungen. Schauen
Sie begleitend in Abb. 5.1, wo wir die Ergebnisse der Diskussion schematisch zu-
sammenfassen. Zur Wärmeleitungsgleichung in Gl. 2.12 oder allgemeiner zu einer
parabolischen partiellen Differentialgleichung zweiter Ordnung ist neben den Rand-
bedingungen auf dem ganzen Rand eine Anfangsbedingung für die Werte u(0, x)
der gesuchten Größe u zum Zeitpunkt t = 0 gegeben.
Über die Randbedingungen haben wir schon bei Rolfs Studentenzimmer nachge-
dacht. Der Rand ∂ des Gebiets , also Wände, Fenster, Türen, Decke und Fußboden
des Studentenzimmers, ist die Schnittstelle unserer Beschreibung der Temperatur-
entwicklung im Zimmer zur Außenwelt. Die Randbedingungen enthalten also die
Verbindung unserer Modellierung der Temperaturevolution im Innern mit den von
uns als gegebenen akzeptierten Einflüssen von außerhalb. Sollten wir einen Abschnitt
des Rands vergessen haben, so haben wir auf diesem keine Beschreibung des äußeren
Einflusses, d. h., wir wissen nicht, ob an diesem Randstück jemand heizt, kühlt oder
sich vorgenommen hat, die Temperatur um jeden Preis auf einem bestimmten Wert
5.1 Klassifikation von partiellen Differentialgleichungen 81
a b c
Abb. 5.1 Anfangs- und Randbedingungen für partielle Differentialgleichungen zweiter Ordnung,
a parabolisch: Eine Anfangsbedingung (AB) und im Allgemeinen Randbedingungen (RB) auf
dem ganzen Rand, b hyperbolisch: Zur zweiten Ableitung bezüglich der Zeit gehören zwei An-
fangsbedingungen für die Auslenkung u und für die Geschwindigkeit u ,t sowie im Allgemeinen
Randbedingungen auf dem ganzen Rand, c elliptisch: Für stationäre Probleme braucht man im
Allgemeinen Randbedingungen auf dem ganzen Rand
zu halten. Es erscheint klar, dass wir bei diesem Unwissen keine eindeutige Lösung
des Anfangsrandwertproblems erwarten können.
Wir brauchen also – am besten überall – eine Verbindung der durch die partielle
Differentialgleichung im Innern des Gebiets beschriebenen Vorgänge mit der äu-
ßeren, nicht modellierten Welt. Und diese Verbindung stellen die Randbedingungen
her.
Es sei nicht verschwiegen, dass es durchaus Anwendungen gibt, bei denen die
entstehenden Probleme nicht überall eine Vorgabe für die Randwerte haben. Bei-
spielsweise könnte man fragen, welche Temperatur und welcher Wärmestrom am
Fenster anliegen muss, damit am Ofen gleichzeitig eine gegebene Temperatur und
ein gegebener Wärmestrom herrschen können. Solche Anwendungen führen jedoch
häufig auf sehr schwierige mathematische Fragestellungen und wesentlich seltener
zu praktisch verwertbaren Lösungen.
Die Wärmeleitungsgleichung beschreibt als einzige Eigenschaft des modellierten
Systems seine Temperatur, und sie enthält die erste zeitliche Ableitung. Die Glei-
chung stellt also eine Verbindung zwischen der Temperaturverteilung u und ihrer
Änderung u ,t her. Die ortsabhängige Temperatur zum Zeitpunkt t ist u = u(t, ·), und
der Punkt zeigt an, dass u hier kein skalarer Wert, sondern eine vom Ort x abhän-
gige Funktion ist. Diese ortsabhängige Funktion u = u(t, ·) beschreibt den Zustand
des modellierten Systems zum Zeitpunkt t, und mehr wissen wir über das System
an dieser Stelle nicht. Dank u ,t = ∇ · [A(x)∇u] + f ergibt sich aus dem Zustand u
zum Zeitpunkt t die Änderung des Zustands u ,t . Durch das Verfolgen der Zeitachse
in infinitesimalen Schritten hangeln wir uns wie bei den gewöhnlichen Differential-
gleichungen durch die Evolution dieses Zustands in der Zeit, vgl. Abb. 5.1a.
Parabolische Differentialgleichungen mit ihrer ersten Zeitableitung beschreiben
ausgleichende Phänomene wie die Verteilung der Wärme oder des gelösten Stoffs.
Sie ähneln damit gewöhnlichen linearen Differentialgleichungen erster Ordnung der
Form y = −ay + p mit einem rücktreibenden Term −ay mit a < 0. Kehren wir
82 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
die Zeitachse um und versuchen, die Evolution des Zustands rückwärts zu verfol-
gen, so erhalten wir deshalb ein aufschwingendes Verhalten. Wir haben dies schon in
Abschn. 1.2 diskutiert, als wir uns gefragt haben, ob wir aus der aktuellen Verteilung
des Badezusatzes dessen Anfangsverteilung zurückrechnen können.
Die hyperbolische Differentialgleichung in Gl. 3.12 verhält sich hinsichtlich der
Randbedingungen ähnlich. Um zu wissen, wie die schwingende Membran mit der
Außenwelt verbunden ist, brauchen wir Randbedingungen auf dem ganzen Rand .
Allerdings haben wir jetzt die zweite zeitliche Ableitung. Der mechanische Zustand
der schwingenden Membran besteht aus ihrer Auslenkung und ihrer Geschwindig-
keit, also aus dem Paar (u, u ,t ) = (u(t, ·), u ,t (t, ·)). Da wir nun die zweite Ableitung
u ,tt aus der Deformation u berechnen können, steht uns die Änderung des Zustands,
also das Paar (u ,t , u ,tt ) zur Verfügung, denn u ,t kennen wir bereits aus dem Zustand
zum Zeitpunkt t. Um den Anfangszustand der schwingenden Membran zu beschrei-
ben, brauchen wir also zwei Anfangsbedingungen, vgl. Abb. 5.1b. Dies ist analog
zur gewöhnlichen Differentialgleichung des Ein- oder Mehrmassenschwingers, und
genauso zeigt die Schwingungsgleichung ein oszillierendes Lösungsverhalten.
Schließlich zeigt Abb. 5.1c, dass wir für eine elliptische Differentialgleichung wie
in Gl. 2.14 Randbedingungen auf dem ganzen Rand brauchen. Denken Sie einen
Moment lang über die Idee nach, bei der stationären elastischen Verformung in
Gl. 4.20 Dirichlet- und Neumann-Randbedingungen auf demselben Randstück
vorzugeben. Sie würden damit die Deformation vorgeben und gleichzeitig die Kraft,
die Sie zur Aufrechterhaltung dieser Deformation brauchen wollen. Das wäre so, als
wollten Sie einen länglichen quaderförmigen Radiergummi zu einem Halbbogen for-
men, aber dafür nur eine kleine vorgegebene Kraft an der Oberseite aufbringen, die
möglicherweise überhaupt nicht zum angestrebten Halbbogen passt. Stellen Sie sich
vor, welche Kräfte jemand anders an den verbleibenden Seiten des Radiergummis an-
legen müsste, um das Ziel dennoch zu erreichen. Möglicherweise geht es gar nicht.
Wir merken uns also, dass wir vorerst im Allgemeinen eine Randbedingung für
jeden Randpunkt oder eigentlich nur für fast jeden Randpunkt vorsehen wollen, so
wie wir schon in Rolfs Studentenbude für jeden Randpunkt eine Randbedingung vor-
gegeben haben.
Hier reißen wir einige große Fragen an, mit denen sich die Theorie der partiellen Diffe-
rentialgleichungen auseinandersetzen muss. Bereits im Vorwort wurden Sie gewarnt,
dass die Erklärungen in diesem Abschnitt leider nicht einfach sein können. Wir wol-
len Ihnen trotzdem zeigen, was hinter den großen Fragen steckt und warum die großen
Fragen so kompliziert sind, wie sie sind. Nehmen Sie die Herausforderung an.
Zu den großen Fragen gehören die Untersuchungen, ob es zu einem gegebenen
Randwertproblem oder einem gegebenen Anfangsrandwertproblem Lösungen gibt,
und, falls es überhaupt eine Lösung gibt, ob diese Lösung eindeutig ist.
5.2 Große Fragen 83
Würden wir ganz allgemein fragen, ob es eine Lösung eines gegebenen Problems
gibt, so wäre es so, als würden wir fragen, ob es ein Drei-Sterne-Restaurant gibt.
Ganz allgemein ist die Antwort Ja. Die Frage, ob es in Deutschland ein Drei-Sterne-
Restaurant gibt, hat ebenfalls die korrekte Antwort Ja. Schränken wir die Gegend
geografisch weiter ein, so erhalten wir Fragen wie die, ob es in Mecklenburg ein Drei-
Sterne-Restaurant gibt, und die Antwort darauf ist im Jahr 2018 Nein. Ähnlich verhält
es sich mit der Eindeutigkeit. Die Aufgabe, in Europa ein Drei-Sterne-Restaurant zu
finden, hat keine eindeutige Lösung. Wir würden aber sagen, dass diese Aufgabe eine
Lösung hat, dass also eine Lösung existiert, und gemeint ist damit, dass es mindestens
eine Lösung gibt. Die Aufgabe, in Hamburg ein Drei-Sterne-Restaurant zu finden, hat
im Jahr 2018 sogar genau eine Lösung. Damit ist diese Aufgabe innerhalb Hamburgs
eindeutig lösbar. Wir haben für unsere Illustration teure Gourmet-Tempel gewählt,
weil ihre Auftreten so wunderbar selten ist, dass man die Antworten und Lösungen
leicht nachprüfen kann.
5.2.1 Eindeutigkeit
Wir beginnen die Besprechung der Eindeutigkeit mit dem Randwertproblem der sta-
tionären Verformung u einer auf dem gesamten Rand eingespannten Membran unter
der äußeren Kraft f . Wir konkretisieren dazu Gl. 2.14 durch A(x) = I für homo-
genes isotropes Material mit Dirichlet-Randbedingungen auf dem ganzen Rand ∂
zum Randwertproblem
−u = f in ,
(5.6)
u = q auf ∂
für die gesuchte Auslenkung u = u(x), deren Ortsabhängigkeit wir nicht ausdrück-
lich notiert haben. Wir haben das Randwertproblem in Gl. 5.6 vielmehr in einer sehr
kompakten Form geschrieben, die man als kürzest mögliche Variante ansehen kann,
ein Randwertproblem für eine partielle Differentialgleichung aufzuschreiben.
Wenn wir nun unterstellen, es gäbe zwei Lösungen u 1 und u 2 von Gl. 5.6, so würde
−u 1 = f und −u 2 = f in sowie u 1 = q und u 2 = q auf dem Rand ∂ gelten,
und damit müsste die Differenz u 1 − u 2 das Randwertproblem
−(u 1 − u 2 ) = 0 in ,
(5.7)
u 1 − u 2 = 0 auf ∂
erfüllen. Gl. 5.7 ist ein homogenes Randwertproblem, d. h., die rechte Seite, also die
Kraft, ist null. Zudem hat es homogene Dirichlet-Randwerte, also q = 0. Beachten
Sie bitte, dass wir für die Formulierung von Gl. 5.7 die Linearität des Randwertpro-
blems in Gl. 5.6 benutzt haben.
Um nachzuweisen, dass Gl. 5.6 nur eine Lösung hat, argumentieren wir im Folgen-
den, dass die beiden Lösungen u 1 und u 2 nicht verschieden sind, sondern
dass sie ein und dieselbe Lösung u 1 = u 2 sind. Wir haben damit
die Eindeutigkeit der Lösung von Gl. 5.6 nachgewiesen, wenn wir zeigen können,
84 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
dass nur die konstante Funktion u 1 − u 2 = 0 eine Lösung des homogenen Problems
in Gl. 5.7 ist.
Dafür haben wir mehrere Argumentationsmöglichkeiten. Zum einen können wir
sagen, dass die Differenz u 1 − u 2 mit Gl. 5.7 der Differentialgleichung einer auf
der Höhe 0 eingespannten Membran genügt, auf die keine äußeren Kräfte wirken.
Solch eine Membran wird nicht ausgelenkt, liegt also genau auf der Höhe ihrer Ein-
spannung. Mit diesem physikalischen Argument gilt u 1 − u 2 = 0. Wir haben damit
gezeigt, dass eine physikalisch sinnvolle Lösung, wenn sie denn existiert, auch ein-
deutig ist, dass es also höchstens eine physikalisch sinnvolle Lösung des Problems
in Gl. 5.6 gibt.
Eine andere Argumentation können wir über das Maximumprinzip aus
Abschn. 5.1.2 führen. Es besagt, dass die Lösung einer elliptischen partiellenbreak
Differentialgleichung und speziell der Gl. 5.5 ihr Maximum und auch ihr Mini-
mum auf dem Rand ∂ des Gebiets annimmt. In Gl. 5.7 sind die Randwerte aber
überall auf dem Rand null, sodass das Maximum und das Minimum von u 1 − u 2 null
sind. Damit ist die Funktion u 1 − u 2 = 0, und die beiden Lösungen u 1 und u 2 sind
dieselbe eindeutige Lösung.
Eine dritte Argumentation führt uns über die Energie einer eingespannten
Membran, die wir schon bei der Diskussion der Energieerhaltung der ungedämpft
schwingenden Membran in Gl. 3.13 verwendet haben. Für eine stationäre Membran-
verformung ist die kinetische Energie null, und in unserem Fall A = I ist die poten-
tielle Energie aus der Auslenkung in zwei Raumdimensionen
1 1
E pot = ∇u ∇u da =
T
u 2,x1 + u 2,x2 da ≥ 0.
2 2
Das Randwertproblem in Gl. 5.7 hat die Lösung u = u 1 − u 2 = 0, und diese Lösung
hat die potentielle Energie E pot = 0. Dies ist – zumindest, falls die Ableitungen u ,x1
und u ,x2 stetig sind – dann und nur dann möglich, wenn auch u ,x1 (x) und u ,x2 (x) an
allen Punkten x ∈ gleich null ist, denn die Summe der Quadrate im Integranden ist
niemals negativ. Wir wissen mit diesem Argument, dass die Lösung von Gl. 5.6 unter
all den Funktionen eindeutig ist, die stetig differenzierbar sind und in irgendeinem
Sinne als Lösung dieses Randwertproblems infrage kommen.
Und schließlich eröffnen wir die folgende, eher innermathematische Argumenta-
tion. Wenn Ihnen dabei schwindlig wird, lesen Sie bitte im nächsten Abschn. 5.2.2
weiter. Aber wir hoffen, dass Sie den Grundgedanken folgen können.
Wir denken uns einen Vektorraum V von Funktionen. Dieser Vektorraum soll,
ohne hier genauer beschrieben zu werden, zwei Anforderungen erfüllen. Als ers-
te Anforderung soll der negative Laplace-Operator auf Funktionen aus V anwend-
bar sein, d. h., wir haben eine lineare Abbildung − : V → W in einen anderen
Vektorraum W von Funktionen. Möglicherweise werden Sie sagen, dass man den
Laplace-Operator nur auf zweimal differenzierbare Funktionen anwenden kann, weil
wir ja die zweiten Ableitungen berechnen. Aber ganz so leicht ist es nicht. Denken
Sie an die nach Oliver Heaviside (1850 in London bis 1925 in Torquay) benannte
5.2 Große Fragen 85
Funktion
0 für x < 0,
H : R → R mit H (x) =
1 für x ≥ 0,
die an der Stelle x = 0 keine Ableitung besitzt, also dort nicht differenzierbar ist.
Trotzdem akzeptieren wir – zumindest in einem gewissen Sinn, den wir in Kap. 12 als
schwache Ableitung genauer charakterisieren werden – als Ableitung der Heaviside-
Funktion die Dirac’sche δ-Distribution. Sie wurde von dem Physiker Paul Dirac
(1902 in Bristol bis 1984 in Tallahassee) um 1930 vorgeschlagen, um quantenme-
chanische Zusammenhänge einfach zu formulieren, und er tat dies wahrscheinlich,
ohne dass er zu diesem Zeitpunkt geahnt hat, welch langwierige mathematische Dis-
kussion er damit ins Rollen bringen würde.
Wenn H (x) = δ(x) gelten soll, muss also δ(x) = 0 für alle x = 0 sein, und
gleichzeitig muss das Integral der δ-Distribution über jedem Intervall, in dessen
Innern die Null liegt, wegen des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung
eins sein, denn für a < 0 < b gilt
b b
δ(x) dx = H (x) dx = H (b) − H (a) = 1. (5.8)
a a
An der einzigen Stelle x = 0, an der δ(x) nicht null ist, liegt also so viel Gewicht,
dass das Integral über δ(x) weiter eins ist. Wir können uns die δ-Distribution als
die Druckverteilung zu einer Punktlast mit der Gesamtkraft 1 an der Stelle x = 0
vorstellen. Keine Funktion kann erfüllen, was von der δ-Distribution verlangt wird,
denn das Integral aus Gl. 5.8 wäre für jede Funktion, die außerhalb von x = 0 null
ist, null. Egal, welchen Funktionswert wir bei x = 0 unterstellen, hätte die Fläche
unter einem Punkt die Größe null und wäre also nicht eins. In der Tat ist δ = δ(x)
keine Funktion, sondern ein anderes Objekt, das eine Distribution oder manchmal
eine verallgemeinerte Funktion genannt wird. Die Heaviside-Funktion ist an der Stel-
le x = 0 trotzdem nicht differenzierbar, und die Dirac’sche δ-Distribution, die wir als
Ableitung ansehen können, nimmt an der Stelle x = 0 keinen reellen Wert an.
Da es nicht-differenzierbare Funktionen gibt, denen wir mit gewisser Sinnhaftig-
keit eine Ableitung zuordnen können, gibt es auch viele Funktionen, auf die wir in
einem ähnlichen Sinne den Laplace-Operator anwenden können.
Die zweite Anforderung an die Funktionen v ∈ V aus dem Vektorraum besteht
darin, dass die Funktionen v Werte auf dem Rand ∂ haben, die wir mit den Rand-
werten q vergleichen können. Das erscheint auf den ersten Blick nicht besonders
schwierig, erweist sich aber angesichts solcher Seltsamkeiten wie der Dirac’schen
δ-Distribution, die keinen Wert bei x = 0 hat und für die es gleichzeitig falsch wäre
zu behaupten, sie wäre bei x = 0 nicht definiert, als diskussionswürdig.
Nachdem wir diese Überlegungen angerissen haben, betrachten wir die Menge M
aller der Funktionen aus V , die die Randwerte q haben. Mit der Bezeichnung v|∂ ,
die die Werte von v auf dem Rand ∂ auswählt, ist
M = {v ∈ V : v|∂ = q}.
86 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
im M = {−v : v ∈ M}.
Nun fragen wir uns wie in der linearen Algebra, ob zur rechten Seite f ein Urbild
des Operators − gehört und ob dieses Urbild eindeutig ist. Natürlich gibt es kein
Urbild und damit keine Lösung u ∈ V von Gl. 5.6, wenn f nicht Element des Bilds
im M ist.
Wenn aber die rechte Seite f ein tatsächlich vorkommendes Bild ist, wenn also
f ∈ im M gilt, dann ist die Eindeutigkeit des Urbilds von f gleichbedeutend mit
der Injektivität von −. Nach nicht allzu langem Überlegen stellt man fest, dass die
lineare Abbildung − wie in der linearen Algebra genau dann injektiv ist, wenn der
Kern
ker(−) = {v ∈ V : −v = 0} = {0 ∈ V } (5.9)
nur die Nullfunktion 0 ∈ V enthält. Als Abbildung − : M → im M von der
Menge M in ihr Bild im M, die per Definition des Bilds im M ⊆ W auf den gesam-
ten Wertebereich im M abbildet, folgt aus der Injektivität von − : M → im M
sofort die Bijektivität.
Hier erkennen wir eine Problemklasse, mit der sich viele Untersuchungen aus dem
Gebiet der Funktionalanalysis und der Theorie der partiellen Differentialgleichungen
beschäftigen, und diese Problemklasse ist in ihrem Wesen mit der Suche nach einem
Gourmet-Tempel verwandt. Betrachten wir ein zu kleines Gebiet, z. B. Mecklenburg,
so existiert keine Lösung. Suchen wir hingegen in einem sehr großen Gebiet, so ist
die Lösung nicht eindeutig. Ebenso ergeht es uns auch mit dem Vektorraum V .
Wählen wir den Vektorraum V der Funktionen zu klein, d. h., fordern wir zu viele
oder zu strenge Eigenschaften von diesen Funktionen, so wird auch die Menge M
und damit ihr Bild im M klein. Wir laufen Gefahr, dass praktisch relevante rechte
Seiten f nicht im Bild im M liegen und wir somit für diese Kräfte nicht belastbar
von einer Lösung u des Randwertproblems in Gl. 5.6 sprechen können.
Lassen wir hingegen zu viele Objekte wie verallgemeinerte Funktionen und noch
seltsamere Gebilde im Vektorraum V zu, so wird es für die lineare Abbildung −
immer schwerer, einen Kern zu haben, der die Bedingung in Gl. 5.9 erfüllt.
Die Eindeutigkeit der Lösung von Gl. 5.6 hängt also an einer geschickten Bal-
ance, mit der der Vektorraum V gewählt wird, um einerseits auch Kraftdichten f mit
Knicken, Sprüngen oder gar Punktlasten zuzulassen und andererseits die Bijektivität
des Differentialoperators − zu sichern. Viele Bücher beschäftigen sich mit dieser
Balance. Aber wir belassen es bei diesem ersten Einblick.
Versuchen Sie, die ersten oben beschriebenen Zugänge auf die Wärmeleitungs-
gleichung zu übertragen und nachzuvollziehen und so die Eindeutigkeit der physi-
kalisch sinnvollen Lösungen der Wärmeleitungsgleichung zu zeigen. Wenn Sie wie-
der annehmen, es gäbe zwei Lösungen, so erfüllt ihre Differenz die Wärmeleitungs-
gleichung ohne exogene Wärmezufuhr und ohne Abfluss für Anfangswerte, die im
ganzen Gebiet null sind. Es herrscht also schon eine ausgeglichene Temperatur, und
es gibt keine Ursache für einen Wärmestrom.
5.2 Große Fragen 87
Sie bemerken, dass auch bei der Wärmeleitungsgleichung die Linearität des Dif-
ferentialoperators die entscheidende Voraussetzung dafür ist, ein Anfangsrandwert-
problem für die Differenz zweier Lösungen zu finden.
Falls wir nichtlineare Differentialoperatoren wie in der Navier-Stokes-Gleichung
in Gl. 4.8 haben, so entfällt dieses Argument. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist
die Diskussion der Eindeutigkeit der Lösungen nichtlinearer partieller Differential-
gleichungen fast immer deutlich schwieriger. Übrigens hat das Clay Mathematics
Institute die Frage nach der Existenz von Lösungen der Navier-Stokes-Gleichung in
bestimmten Vektorräumen, z. B. in dem relativ kleinen Vektorraum der beliebig oft
differenzierbaren Funktionen, in die Reihe der sogenannten Millennium-Probleme
aufgenommen und ein erhebliches Preisgeld für ihre Lösung ausgesetzt.
Man findet leicht eine nichtlineare partielle Differentialgleichung mit mehreren
Lösungen, also eine nicht eindeutig lösbare Differentialgleichung. Die Verformung
eines Gummiballs genügt geeigneten Gleichungen der Elastizitätstheorie. Schneiden
Sie gedanklich eine nicht zu kleine Kappe des Gummiballs ab. Das entstehende trau-
rig wabbelnde Gebilde löst offenbar diese Gleichungen für verschwindende äußere
Kräfte. Genau genommen müsste es dazu im schwerelosen Raum herumfliegen, denn
die Schwerkraft wirkt auf jeden irdischen Gummiball. Mit etwas Geschick drücken
Sie dann die restliche Haut des Gummiballs durch das Loch, das durch das Abschnei-
den der Kappe entstanden ist, sodass Sie das Innere nach außen kehren. Nun sollte ein
ähnlich trauriges Etwas entstanden sein, bei dem aber die vormals äußere Seite des
Balls innen liegt. Auch dieses Etwas ist eine Lösung des stationären Problems mit
verschwindenden Kräften. Natürlich ist das Durchdrücken der Resthülle mit großen
Verschiebungen verbunden, und wie in Abschn. 4.5.1 angesprochen, bauen die zuge-
hörigen Gleichungen auf den Cauchy-Green-Verzerrungstensor E auf, der nichtlinear
von den Verschiebungen abhängt.
5.2.2 Existenz
Bei der Besprechung der Frage, ob die Lösung einer partiellen Differentialgleichung
oder vielmehr eines Randwert- oder Anfangsrandwertproblems eindeutig ist, haben
wir festgestellt, dass die Antwort davon abhängt, welche Objekte wir als Lösung
ansehen und in welchem Raum V wir die Lösung suchen.
Ein ähnliches Phänomen kennen wir bereits von der Frage, ob die Gleichung
y 2 = b für ein gegebenes b eine Lösung y hat und ob diese Lösung eindeutig ist.
Innerhalb der natürlichen Zahlen N finden wir nur für Quadratzahlen
b ∈ {0, 1, 4, 9, 16, . . .} eine Lösung y ∈ N. Wenn in N eine√Lösung existiert, dann
ist sie auch eindeutig, denn dann gibt es genau eine Wurzel b ∈ N aus einer natür-
lichen Zahl b ∈ N.
Lassen wir hingegen reelle b ∈ R zu und suchen Lösungen y ∈ R, so wissen
wir, dass für √jedes b ≥ 0 eine √ Lösung existiert, dass diese Lösung aber für b > 0
wegen y1 = b und y2 = − b nicht eindeutig ist. Innerhalb der komplexen
Zahlen hat die Gleichung y 2 = b sogar für alle b ∈ C Lösungen, und zwar für
b = 0 immer genau zwei Lösungen.
88 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
Wir schauen kurz auf drei Beispiele. Die Gleichung y 2 = 4 hat in N genau die ei-
ne Lösung y = 2 und in allen anderen Zahlbereichen die zwei Lösungen 2 und −2.
Dagegen hat die Gleichung y 2 = 5 in N, Z und Q keine, aber in R und C zwei Lö-
sungen. Schließlich hat die Gleichung y 2 = −4 in N, Z, Q und R keine Lösung und
in C die zwei Lösungen 2i und −2i.
Ganz ähnlich verhält sich die Frage nach der Existenz von Lösungen von partiellen
Differentialgleichungen. Einerseits haben wir bei der Gleichung y 2 = b in Abhän-
gigkeit von b und in Abhängigkeit vom Zahlbereich unterschiedliche Antworten auf
die Frage nach der Lösbarkeit erhalten. Andererseits können wir auch argumentie-
ren, dass wir die Zahlbereiche so erweitert haben, dass wir für immer mehr Werte b
Lösungen der Gleichungen y 2 = b angeben konnten. Der Preis dafür besteht darin,
dass sich der Lösungsbegriff immer weiter verkompliziert, denn für Quadratzahlen
b erhalten wir natürliche y, für nichtnegative reelle b die komplizierteren reellen Lö-
sungen y1 und y2 , und schließlich führen negative b auf komplexe Lösungen.
Wir illustrieren diesen Prozess am Beispiel des elliptischen Randwertproblems
aus Gl. 2.14 im eindimensionalen Fall d = 1. Dies entspricht dem stationären Rand-
wertproblem zur Schwingungsgleichung in Gl. 3.13, wobei wir auf die feine Unter-
scheidung der Referenzkoordinaten und deformierten Koordinaten hier verzichten.
Unser Gebiet sei das Intervall = (−2, 2), und sein Rand besteht nur aus den bei-
den Endpunkten, d. h. = ∂ = {−2, 2}. Da für d = 1 der Vektor x = (x) ∈ R1
nur eine Komponente hat, der Nabla-Operator der herkömmlichen Ableitung ent-
spricht und die Materialmatrix A zu einem Skalar wird, lautet das Randwertproblem
für stationäre eindimensionale Phänomene mit Dirichlet-Randbedingungen
mit der rechten Seite f, welches vorerst eine nicht näher eingeschränkte Funktion
f : (−2, 2) → R ist, und zwei Randwerten qlinks , qrechts ∈ R.
Beispiel Zunächst sei das Material homogen mit a(x) = 1, und die Differentialglei-
chung vereinfacht sich zu −u (x) = f (x). Dies ist eine Integrationsaufgabe, bei der
wir durch die zweimalige Integration von f zwei Integrationskonstanten erhalten.
Diese wählen wir so, dass die beiden Randbedingungen erfüllt sind.
Wir sehen nebenbei, dass wir passende Randbedingungen in dem Sinne gewählt
haben, dass eine eindeutige Lösung existiert. Hätten wir mehr Integrationskonstanten
als Bedingungen, wäre die Lösung mehrdeutig. Hätten wir hingegen weniger Inte-
grationskonstanten als Randbedingungen, so könnten wir im Allgemeinen nicht alle
Bedingungen durch die Wahl der Konstanten erfüllen.
Im konkreten Fall führt ein konstantes f (x) = 2 für alle x ∈ (−2, 2) mit
homogenen Randwerten qlinks = qrechts = 0 auf die Lösung u(x) = 4 − x 2 , was Sie
bitte einmal als Probe und einmal als Integrationsaufgabe samt Bestimmung der Inte-
grationskonstanten nachrechnen. Eine Plausibilitätsprüfung ergibt, dass eine überall
senkrecht nach oben wirkende Kraft f die eingespannte Seite in Form einer Para-
bel deformiert. Erinnern Sie sich an die Golden-Gate-Bridge, die vermutlich auch in
Ihrem Schulbuch das Kapitel zu quadratischen Funktionen illustriert hat.
5.2 Große Fragen 89
In diesem Beispiel haben wir eine stetige Funktion f zweimal integriert. Doch das
haben wir genau genommen nur innerhalb des offenen Intervalls (−2, 2)
getan. Wir haben also eine in (−2, 2) zweimal stetig differenzierbare Funktion u er-
halten, die in den Randpunkten die Randwerte trifft und dort sinnvollerweise stetig
ist. Dürfte die Funktion an den Rändern springen, wäre die Zuordnung von Rand-
werten von der restlichen Aufgabenstellung entkoppelt, und das Randwertproblem
würde in Teile zerfallen. Wir konstatieren also, dass stetige rechte Seiten und kon-
stante Koeffizienten in Gl. 5.10 zu Lösungen u ∈ C 2 ((−2, 2)) ∪ C([−2, 2]) führen.
Diese Bezeichnung besagt, dass die Funktion u im Raum der zweimal stetig differen-
zierbaren Funktionen C 2 über dem Innern = (−2, 2) und gleichzeitig im Raum
der stetigen Funktionen C über dem Abschluss ¯ = ∪ ∂ = [−2, 2] liegt.
Tatsächlich sind diese beiden Forderungen gerade die, die zur Auswertung aller
auftretenden Terme in Gl. 5.10 gebraucht werden, denn in der Differentialgleichung
selbst tauchen zweite Ableitungen auf, und zur Erfüllung der Randwerte werden ste-
tige Lösungen gesucht. Lösungen, die alle zur Auswertung der auftretenden Terme
notwendigen Glattheitsanforderungen erfüllen, heißen klassische Lösungen. Klassi-
sche Lösungen von elliptischen Randwertproblemen zweiter Ordnung mit Dirichlet-
Randbedingungen sind also Lösungen u mit u ∈ C 2 () ∪ C(). ¯ Für Neumann-
Randbedingungen braucht man hingegen Differenzierbarkeit am Rand, und der zwei-
¯ statt C().
ten Raum ist C 1 () ¯
Das nächste Beispiel zeigt uns, dass die klassische Lösung ein sehr strenger
Lösungsbegriff ist, der die Menge der lösbaren Differentialgleichungen sehr über-
sichtlich hält und viele praktisch interessante Probleme ausschließt. Seien Sie
gespannt.
Beispiel Wir betrachten das Randwertproblem aus Gl. 5.10, und Sie verfolgen den
Gang der Überlegungen, indem Sie alle auftretenden Funktionen und Lösungen in
einem Koordinatensystem skizzieren. Wir nehmen die Randwerte qlinks = −3 und
qrechts = 3, sodass Sie wegen des Maximumprinzips eine x-Achse von −2 bis 2 und
eine u-Achse von −3 bis 3 brauchen. Weiterhin setzen wir die rechte Seite auf f = 0
für alle x ∈ (−2, 2) und die Materialkonstante abschnittsweise auf
⎧
⎨ 1 für x ∈ (−2, −1),
a(x) = 2 für x ∈ (−1, 1), (5.11)
⎩
1 für x ∈ (1, 2).
Die Materialkonstante a = a(x) ist also unstetig, aber von null weg nach unten
beschränkt, z. B. durch a(x) ≥ ε > 0 mit ε = 1. Wenn Gl. 5.10 eine stationäre Tem-
peraturverteilung beschreibt, ist a der Wärmeleitkoeffizient, und das Material ist in
der Mitte (−1, 1) des Intervalls = (−2, 2) besser leitfähig als an den Enden in
(−2, −1) und (1, 2). Beschreibt hingegen Gl. 5.10 eine stationäre longitudinale De-
formation, so haben wir mit Gl. 5.11 ein Material beschrieben, das in der Mitte steifer
ist als an den Enden. An den Enden braucht man also geringere Spannungen, um die
gleiche Verzerrung zu erzeugen.
Eventuell stören Sie sich daran, dass wir in Gl. 5.11 der Materialkonstanten an
den Sprungstellen x = −1 und x = 1 keinen Wert zugeordnet haben. Das werden
90 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
wir gleich genauer besprechen. Sie können sich aber schon hier verdeutlichen, dass
beispielsweise ein Wärmeleitkoeffizient an einem einzelnen Punkt, also über einen
Abschnitt der Länge 0, keinen Einfluss auf die mögliche Lösung hat, solange er nicht
null oder essentiell unendlich ist. Der punktuell veränderte Wärmestrom würde den
Abschnitt der Länge 0 in der Zeit 0 überwinden.
Wir betrachten unsere Differentialgleichung [a(x)u (x)] = 0 und schließen,
dass – wenn es in irgendeinem Sinne eine Lösung geben soll – diese Lösung
a(x)u (x) = c mit einer Konstanten c ∈ R erfüllen muss. Damit ist
⎧
⎨ c für x ∈ (−2, −1),
u (x) = 2c für x ∈ (−1, 1),
⎩
c für x ∈ (1, 2),
und die Ableitung u (x) hat für alle Konstanten c = 0 Sprünge bei x = 1 und
x = −1. Andererseits liefert
2
6 = qrechts − qlinks = u(2) − u(−2) = u (x) dx = 3c
−2
die Gewissheit, dass die Konstante nur c = 2 sein kann. Damit springt die Ableitung
u (x) der gesuchten Funktion u = u(x) an den Stellen x = −1 und x = 1.
Wenn es also in irgendeinem Sinne eine Lösung u gibt, so ist ihre Ableitung u
unstetig. Trotzdem soll die Funktion u selbst weiterhin stetig sein, und zwar aus fol-
gendem Grund: Interpretieren wir u als eine longitudinale Verschiebung in einem
elastischen Material, so würde ein Sprung in u bedeuten, dass das Material an die-
ser Stelle zerschnitten ist. Zwei infinitesimal benachbarte Partikel rechts und links
vom Sprung wären um zwei Verschiebungen versetzt, die sich um ein endliches Stück
unterscheiden. Damit wären die verschobenen Partikel nicht mehr benachbart.
Auch in der Interpretation als stationäre Temperaturverteilung macht ein Sprung
in u Schwierigkeiten, denn dort wäre der Temperaturgradient, also im Fall d = 1
die Ableitung der Temperatur, unendlich groß und der Wärmefluss wäre bei einem
endlichen Wärmeleitkoeffizient ebenfalls unendlich groß. Unendlich große Flüsse
und überhaupt unendliche Größen erscheinen uns hoffentlich unrealistisch, sodass
wir an stetigen Lösungen u festhalten.
Wir finden schnell die einzige stetige Funktion u = u(x), die die Randwerte erfüllt
und die die obige springende Ableitung hat. Es ist die Funktion
⎧
⎨ 2x + 1 für x ∈ (−2, −1),
u(x) = x für x ∈ (−1, 1), (5.12)
⎩
2x − 1 für x ∈ (1, 2).
Betrachten Sie Ihre Skizze, und untersuchen Sie die Lösung in Gl. 5.12 auf Plausi-
bilität. Sie stellen fest, dass sich die Temperatur in den Abschnitten mit großer Wär-
meleitfähigkeit langsamer ändert als in den Abschnitten an den Intervallenden. Dies
5.2 Große Fragen 91
erscheint plausibel, denn ein gut leitendes Material wie eine Suppenkelle aus Me-
tall wird schnell überall vergleichbar heiß, während sich ein Holzgriff nur langsam
erwärmt. Interpretieren Sie die Lösung auch für ein elastisches Material.
Übrigens hat die Funktion u als elastische Verschiebung eine endliche potentielle
Energie, vgl. Gl. 3.13, denn es gilt
2 2
1 1
E pot = u (x)a(x)u (x) dx = ε(x)σ (x) dx = 3c2 = 12, (5.13)
2 2
−2 −2
wobei wir ε(x) = u (x) als Verzerrung und σ (x) = a(x)u (x) als Spannung der lon-
gitudinalen Deformation kennengelernt haben, vgl. Abschn. 3.3.
Damit wissen wir also, dass die einzig denkbare Lösung von Gl. 5.10 in diesem
Beispiel die stetige Funktion u aus Gl. 5.12 ist, die Knicke hat, also nicht im gesam-
ten Intervall = (−2, 2) differenzierbar und schon gar nicht im ganzen Intervall
zweimal differenzierbar ist. Diese einzig denkbare Lösung ist also keine klassische
Lösung. Aber sie beschreibt eine Verschiebung mit einer endlichen elastischen Ener-
gie. Es existiert also nur dann eine Lösung des Randwertproblems aus Gl. 5.10, wenn
wir den Vektorraum der zulässigen Funktionen V genügend groß wählen, sodass zu-
mindest Funktionen wie u aus Gl. 5.12 darin enthalten sind.
Man kann sich auf die mindestens seit Aristoteles diskutierte Grundannahme be-
rufen, dass die Natur keine Sprünge macht. Von dieser Grundannahme ausgehend, ist
eine springende Materialkonstante unrealistisch, und wir müssten ihre örtliche Ver-
änderung eher durch einen sehr steilen, aber glatten Übergang beschreiben. Wenn
wir an eine Schöpfkelle aus Metall mit einem Holzgriff denken, so geschieht dieser
Übergang auf einem sehr kurzen Abschnitt, dort wo sich das Metall der eigentlichen
Kelle und das Holz des Griffs berühren. Bei der Modellierung des Übergangs haben
wir diesen kurzen Abschnitt zu einem scharfen Sprung vereinfacht. Diese Idealisie-
rung im Rahmen der Modellierung, also der Beschreibung der Wirklichkeit, hat uns
zu einem Beispielproblem geführt, das einerseits vergleichsweise einfach als Rand-
wertproblem einer gewöhnlichen Differentialgleichung behandelbar ist, das aber an-
dererseits nach einem relativ komplizierten Lösungsbegriff verlangt.
Vektorräume V von Funktionen Hier besprechen wir sehr kurz die Grund-
ideen der einfachsten Funktionenräume. Manche Mathematiker beharren darauf,
dass man eine Differentialgleichung erst lösen könne, wenn man geklärt hat, was
für ein mathematisches Objekt die Lösung sein soll, also in welchem Vektorraum V
man nach einer Lösung sucht. Deshalb beginnen manche Bücher zu partiellen Dif-
ferentialgleichungen mit hundert oder mehr Seiten zu Funktionenräumen und ihren
Eigenschaften. Verglichen damit sind wir hier außerordentlich kurz angebunden und
bleiben bewusst an der Oberfläche, aber Sie bekommen dennoch einen Einblick von
der Wichtigkeit dieser Überlegungen.
92 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
ausgewertet werden kann und eine reelle Zahl als Wert annimmt, mithin kleiner als
unendlich ist. Der Betrag steht in Gl. 5.14, damit der Ausdruck auch für komplex-
wertige Funktionen f : → C verwendet werden kann, und das Differential dx
soll den Ausdruck für beliebige Dimensionen verwendbar machen.
Die Forderung, dass das Integral ausgewertet werden kann, ist übrigens deut-
lich schwieriger zu fassen, als die Forderung, dass es kleiner als unendlich ist. Die
Auswertbarkeit des Integrals hängt davon ab, wie der Begriff des Integrals definiert
ist, und zieht eine recht umfangreiche mathematische Theoriebildung, nämlich die
Maß- und Integrationstheorie, nach sich. Natürlich beschreibt das bestimmte Integral
gemäß allen Definitionen das Volumen unter der Funktion f , solange die Funktion
gutartig, z. B. stetig, ist. Spannender wird es, das Integral einer nicht glatten und even-
tuell sehr ausgefransten Funktion zu definieren.
Uns fällt auf, dass einzelne Funktionswerte von f für das Integral in Gl. 5.14 kei-
ne Rolle spielen, denn wenn wir den Ausdruck für zwei Funktionen auswerten, die
in allen Punkten von bis auf einen gleich sind, so sind deren Integrale gleich. Ver-
deutlichen Sie sich dies, indem Sie eine Funktion vom R1 in den R1 zeichnen und die
Fläche unter f über einem Intervall betrachten. Wenn Sie nur einzelne Funktions-
werte von f nach oben oder unten verschieben, so ändert sich die Fläche unter der
nun löchrigen Kurve nicht. Damit gewinnen Sie einen Eindruck davon, dass Sie den
Ausdruck in Gl. 5.14 auch dann auswerten können, wenn die Funktion f gar nicht
an allen Punkten x ∈ Werte annimmt. Sie sehen, es wird kompliziert.
Aus einem ähnlichen Grund kommen wir mit der Beschreibung eines Funktionen-
raums ein wenig in Schwierigkeiten. Wir könnten eine Menge L definieren, die alle
Funktionen enthält, für die der Ausdruck in Gl. 5.14 endlich ist, und dann beweisen,
dass diese Menge L ein Vektorraum ist. Nun ja, das ist sie. Allerdings ist der Aus-
druck f L 2 () ohne das Quadrat aus Gl. 5.14 – und wir haben es bisher vermieden,
ihn anders denn als Ausdruck anzusprechen – keine Norm in diesem Vektorraum, ob-
wohl er wie die kontinuierliche Verwandte der euklidischen Norm im Rn mit endlich
vielen Dimensionen aussieht. Neben der konstanten Funktion f = 0 für alle x ∈
liefert Gl. 5.14 nämlich auch für all die Funktionen null, die an endlich vielen Punk-
ten beliebige Funktionswerte annehmen und sonst null sind.
Jetzt folgt ein großer Kunstgriff: Wir fassen all die Funktionen in einer Menge K
zusammen, für die der Ausdruck in Gl. 5.14 null ist, und wir fassen alle Funktionen
jeweils in einer Klasse zusammen, die sich höchstens um Funktionen aus der Menge
K unterscheiden. Natürlich müssten wir beweisen, dass dabei wirklich eine Klassen-
einteilung entsteht und nicht ein sich überlappendes Kurssystem wie in einer deut-
schen Abiturstufe. Solche ähnlichen Kunstgriffe haben Sie schon bei der Definition
der Zahlbereiche angewandt. Beispielsweise kann man die reellen Zahlen definieren,
indem man konvergente Folgen rationaler Zahlen zu einer Klasse zusammenfasst,
5.2 Große Fragen 93
wenn ihre Differenz gegen null konvergiert. Die entstehenden Klassen interpretiert
man als reelle Zahlen, und ein unendlich langer Dezimalbruch r ∈ R beschreibt einen
Repräsentanten aus der jeweiligen Klasse, nämlich die Folge rk ∈ Q der jeweils nach
k Ziffern abgebrochenen Dezimalbrüche, sodass rk → r für k → ∞ gilt. Natürlich
gibt es noch viele andere Folgen, die gegen r konvergieren. Aber wir haben uns daran
gewöhnt, die reellen Zahlen mit den Klassen dieser Folgen zu identifizieren. Wir tun
so, als wären die reellen Zahlen schon immer da. Denken Sie darüber nach, wie Sie
mit diesem Argument die reellen Zahlen definieren oder erklären würden, wenn Sie
nur die rationalen Zahlen zur Verfügung hätten.
Wir kommen zu den Funktionen oder vielmehr zu deren Klassen zurück. Wir neh-
men jetzt alle Funktionen f, die ein Gebiet, das aus durch das Auslassen von end-
lich vielen Punkten entstanden ist, in die reellen Zahlen abbilden, und definieren die
Mengen
L= f ∈ ? : f 2L 2 () < ∞ und K = f ∈ ? : f 2L 2 () = 0 ,
wobei wir hier ganz bewusst offenlassen, aus welchem Funktionen-Pool wir die Ele-
mente von L und K wählen. Wir begnügen uns damit, dass der Ausdruck in Gl. 5.14
in irgendeinem Sinne auswertbar sein möge. Im nächsten Schritt bilden wir Klassen
von Funktionen, indem wir festlegen, dass zwei Funktionen f 1 und f 2 genau dann in
einer Klasse sind, wenn sie sich höchstens um eine Funktion aus K unterscheiden.
Wir schreiben
f 1 ∼ f 2 ⇔ f 1 − f 2 ∈ K oder auch f 2 ∈ f 1 = f 1 + K ⇔ f 1 − f 2 ∈ K .
Damit liefert der Ausdruck in Gl. 5.14 in jeder Klasse nur ein Ergebnis. Da pro Klasse
bei der Auswertung von Gl. 5.14 nur ein Wert des Ausdrucks herauskommt, können
wir auch sagen, dass sich für die ganze Klasse dieser eine Wert ergibt, und nicht nur
für einzelne Funktionen aus der Klasse.
Im Vektorraum der so definierten Klassen gibt es nur noch eine Klasse, für die
der Ausdruck in Gl. 5.14 null ist, denn wir haben ja all die Funktionen, die dies
erfüllten, in einer Klasse zusammengefasst. Dieser Vektorraum heißt nach Henri
Léon Lebesgue (1875 in Beauvais bis 1941 in Paris) Lebesgue-Raum L 2 (). Wir
können ihn formal als Menge der Klassen f¯ mit den Vertretern f der Klassen
schreiben. Die zweite Notation erinnert Sie möglicherweise an die Restklassen aus
der Division ganzer Zahlen. In der Tat enthält der Raum L 2 () die Klassen f modulo
der Menge K .
Bei der Modulo-Rechnung in den ganzen Zahlen werden die Restklassen
k̄ = {. . . , k − m, k, k + m, k + 2m, . . .} ⊂ Z modulo m von den Vertretern k ∈ Z,
welches ganze Zahlen sind, zunächst streng unterschieden. Aber gleich danach stellt
sich heraus, dass wir mit den Restklassen, welches eigentlich Mengen sind, so rech-
nen können, als wären es ganze Zahlen mit etwas modifizierten Rechenregeln.
94 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
Genau wie bei der Modulo-Rechnung sprechen Anwender und Mathematiker trotz
des theoretischen Aufmarschs auch bei den Lebesgue-Räumen von Funktionen aus
dem Raum L 2 () und meinen damit Vertreter, also repräsentierende Funktionen f
aus den Klassen f¯.
Schließlich ist
· L 2 () : L 2 () → R mit f L 2 () = | f (x)|2 dx (5.16)
auf dem Lebesgue-Raum L 2 () der Klassen tatsächlich eine Norm, weshalb sie
L 2 -Norm genannt wird. Natürlich kann man die Norm auf Funktionen anwenden,
weil jede Funktion f ihre Klasse f repräsentiert, aber auf L selbst ist · L 2 () kei-
ne Norm. Dieser Unterschied wird sprachlich oft übergangen. Er ist aber insofern
bedeutend, als eine eindeutige Lösung in L 2 () nur eindeutig bis auf Funktionen
aus K ist. Sie ist in L also keineswegs eindeutig.
Unsere Lösung u aus Gl. 5.12 des vorherigen Beispiels hat also eine Ableitung
u ∈ L 2 ((−2, 2)). Wir sagen auch, dass die Ableitung u quadratisch integrierbar ist.
In der Tat hatten wir uns auf einzelne Werte von u , insbesondere an den Stellen
x = −1 und x = 1, nicht festgelegt, denn dort knickt die Funktion u. Die stetige
Funktion u selbst erfüllt auch u ∈ L 2 ((−2, 2)).
Viele Funktionen erfüllen wie die Lösung aus Gl. 5.12 die Bedingung, dass der
Gradient ∇u einer gesuchten Funktion u bzw. seine Komponenten quadratisch inte-
grierbar sind. Deshalb führen wir hier den Raum
Lösung sind also keine Selbstläufer. Denken Sie beispielsweise an den Gummiball
aus Abschn. 5.2.1.
In diesem Abschnitt besprechen wir die Idee der Fourier-Reihe und verallgemeinern
das Wissen, das Sie vielleicht schon mitbringen, ein wenig. Die nach Jean Baptiste
Joseph Fourier (1768 bei Auxerre bis 1830 in Paris) benannte Fourier-Reihe und die
darin enthaltene Zerlegung von Funktionen in ihre Frequenzanteile sind seit Langem
ein beliebtes Werkzeug der Ingenieur- und Naturwissenschaften und gleichzeitig bis
heute Gegenstand der mathematischen Forschung.
Wir beginnen damit, uns eine Analogie zwischen Funktionen f : → R und
Vektoren y ∈ Rn des euklidischen Raums zu verdeutlichen. Eine Funktion f ord-
net jedem Punkt x ∈ ⊂ Rd einen Funktionswert f (x) zu, vom dem wir hier for-
dern, dass er reell ist, dass also f (x) ∈ R gilt. Ganz ähnlich ordnet der Vektor
y = (yk )nk=1 ∈ Rn jedem Index k die Komponente yk ∈ R zu. Wir können den Vek-
tor y etwas ungewohnt als Abbildung y : k → yk schreiben. Tragen wir die Indizes
k auf einer horizontalen Achse auf und die Komponenten yk senkrecht darüber, so
ähnelt unsere Darstellung einem Kamm. Analog wäre f ein Kamm mit unendlich
vielen Zinken an den einzelnen Punkten x.
Wir schreiben beide Abbildungen zum Vergleich nebeneinander. Wir finden
vermöge
f : x → f (x) und y : k → yk .
In diesem Licht ähnelt die L 2 ()-Norm von f , vgl. Gl. 5.16, der euklidischen Vek-
tornorm, denn in
n
f L 2 () = f (x)2 dx und y2 = yk2
k=1
summieren wir in beiden Fällen über die Quadrate der Zinkenlängen des jeweiligen
Kamms. In der Tat hat das Integral seinen berühmten Fleischerhaken von einem lang-
gezogenen S für das Wort Summe. Bemerken Sie bitte, dass der Index 2 in beiden
Fällen für die Quadrate in den Summen und die dazugehörige Quadratwurzel steht
und dass wir uns in diesem Abschnitt wie im ganzen Buch auf reellwertige Funktio-
nen f beschränken, sodass der Betrag aus Gl. 5.16 entfallen kann. Übrigens haben
wir den Index 2 für die euklidische Norm in allen anderen Abschnitten des Buchs
der Übersichtlichkeit halber weggelassen. Hier notieren wir ihn zur Verdeutlichung
der Unterscheidung.
96 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
Wahrscheinlich sehen Sie sofort die Ähnlichkeit. Wir nennen f, g L 2 () das
L 2 ()-Skalarprodukt der reellwertigen Funktionen f, g : → R. Es ist nicht
schwierig nachzuweisen, dass es die definierenden Eigenschaften eines Skalarpro-
dukts für den Raum L 2 () erfüllt.
Mit dem Skalarprodukt haben wir insbesondere eine Beschreibung dafür, dass
Vektoren und auch Funktionen, die ja ebenfalls Elemente eines geeigneten Vektor-
raums sind, aufeinander senkrecht stehen. Die Funktionen f und g heißen orthogo-
nal, wenn ihr Skalarprodukt null wird, d. h., wenn f, g L 2 () = 0 gilt.
Die Verallgemeinerung der Orthogonalität von Vektoren auf Funktionen geschieht
zunächst über die sehr formelle Festlegung, dass zwei Funktionen senkrecht aufein-
ander stehen, wenn ihr Skalarprodukt null ist. Natürlich kann man im Funktionen-
raum keinen Winkelmesser anlegen, und eine geometrische Vorstellung, wann zwei
Funktionen orthogonal zueinander sind, ist fast nicht möglich. Man kann aber aus
einem anderen Blickwinkel schauen: Ein Vektor x steht dann auf dem Vektor y senk-
recht, wenn die Projektion von x auf y der Nullvektor ist, d. h., wenn x keine Anteile
von y enthält. Eine Funktion f , die auf der Funktion g senkrecht steht, enthält ebenso
keine Anteile von dieser Funktion g. Die Projektion von f auf g ergibt die Nullfunk-
tion. Wir werden die Projektionsidee bei der Einführung der Fourier-Reihe in diesem
Abschnitt ausgiebig verwenden.
Jetzt weisen wir nach, dass die Eigenformen Uk und U aus Gl. 3.16 zu unter-
schiedlichen Eigenwerten −ωk2 = −ω2 aufeinander senkrecht stehen. Wir schrei-
ben dies sofort unter Verwendung der Skalarprodukte parallel im L 2 () und im Rn
auf. Sie sollten besonders die L 2 ()-Skalarprodukte in die dahinter liegenden Inte-
gralausdrücke zurück übersetzen.
Beide Eigenformen Uk und U haben, wie in Gl. 3.16 festgelegt, homogene
Dirichlet-Randbedingungen. Außerdem sei K ∈ Rn×n sym eine symmetrische Matrix
mit den reellen Eigenvektoren vk und v sowie den zugehörigen unterschiedlichen
reellen Eigenwerten λk = λ . Es gilt also
Und nun halten Sie sich fest. Wir bilden in der ersten Zeile von Gl. 5.19 auf jeweils
beiden Seiten das Skalarprodukt mit U bzw. v und in der zweiten Zeile mit Uk bzw.
vk . Wir erhalten
5.2 Große Fragen 97
sodass die Matrix K an den anderen Faktor wandert. Das ist keine Selbstverständ-
lichkeit. Achten Sie auf das dritte Gleichheitszeichen in Gl. 5.21, denn genau dort
verwenden wir die Symmetrie der Matrix K ∈ Rn×n sym .
Auf ganz ähnliche Weise liefert uns die partielle Integration
− ωk2 Uk , U L 2 () = −ω2 Uk , U L 2 () und λk vk , v Rn = λ vk , v Rn .
(5.23)
Nebenbei merken wir an, dass wir den Differentialoperator in Gl. 5.22 unverän-
dert an den anderen Faktor im Skalarprodukt transportieren konnten. Das gelingt
nicht für jeden Differentialoperator, sondern nur für die selbstadjungierten. Wir be-
sprechen diese Eigenschaft in Abschn. 11.1 ein bisschen genauer. Die Gültigkeit
von Gl. 5.22 verdanken wir also der Selbstadjungiertheit des Differentialoperators
D : u → ∇ · [A(x)∇u]. Sie entspricht der Symmetrie der Matrix K : Rn → Rn .
98 5 Ordnung in den partiellen Differentialgleichungen
Da wir ωk2 = ω2 und λk = λ vorausgesetzt haben, kann Gl. 5.23 nur wahr sein,
wenn wie behauptet
gilt. Wir haben also gezeigt, dass das Skalarprodukt der Eigenformen Uk und U
zu unterschiedlichen Eigenwerten null ist und die Eigenformen Uk und U ortho-
gonal zueinander sind. Gleichzeitig haben wir bemerkt, dass die Argumentation im
Funktionenraum L 2 () in schöner Parallelität zur Diskussion der Eigenvektoren im
euklidischen Raum Rn abläuft.
Da also die Eigenformen Uk wie die Eigenvektoren vk zu unterschiedlichen Eigen-
werten paarweise senkrecht aufeinander stehen, sind sie auch linear unabhängig. Sie
wissen, dass eine symmetrische Matrix K ∈ Rn×n sym ein reelles Spektrum, also n reelle
Eigenwerte λ1 , . . . , λn ∈ R mit n zugehörigen Eigenvektoren v1 , . . . , vn ∈ Rn hat.
Wir finden sogar dann n linear unabhängige Eigenvektoren, wenn einige Eigenwerte
doppelt auftreten. Damit bilden die Eigenvektoren eine Basis {v1 , . . . , vn } des gan-
zen Raums Rn . All diese schönen und nützlichen Eigenschaften verdanken wir der
Symmetrie der Matrix. Leider können wir noch nicht begründen, ob und in welchem
Sinne diese Eigenschaften auf selbstadjungierte Differentialoperatoren übertragbar
sind. Aber Sie werden einige Eigenschaften wiedererkennen.
An dieser Stelle gehen wir von einer Menge {Uk = Uk (x) : k = 1, 2, . . .}
paarweise orthogonaler Eigenformen aus. Eine famose Eigenschaft selbstad-
jungierter Differentialoperatoren, die wir hier leider nicht beweisen können, besteht
darin, dass sie nur so viele Eigenwerte haben, dass wir diese mit den natürlichen Zah-
len k = 1, 2, . . . induzieren können. Praktisch äußert sich dies darin, dass Bauteile
aus realistischen Materialien immer ein diskretes Spektrum von Eigenfrequenzen
ω1 , ω2 , . . . haben. Es ist ausgeschlossen, dass ein ganzes Intervall voller Eigen-
frequenzen auftritt. Wäre dies nicht ausgeschlossen, so wäre von der Sonografie bis
zum Symphoniekonzert vieles sehr, sehr anders, wenn nicht unmöglich.
Schließlich betrachten wir ein f ∈ L 2 (), das wir als unendliche Linearkombi-
nation der Eigenformen Uk , k = 1, 2, . . . schreiben können. Wir wissen noch nicht,
mit welchen und mit wie vielen f ∈ L 2 () dies möglich ist. Trotzdem notieren wir
f wieder neben die Zerlegung eines Vektors y ∈ Rn in der Basis der Eigenvektoren.
Wir bewundern wieder die Ähnlichkeit von
∞
n
f = γk Uk und y= αk vk . (5.24)
k=1 k=1
Die Reihe für f heißt Fourier-Reihe, und die Koeffizienten γk vor den Eigenfor-
men heißen Fourier-Koeffizienten. Diese Namensgebung ist daran gebunden, dass
Uk wirklich Eigenformen sind. Andere Reihen, deren Gestalt zufällig der in Gl. 5.24
ähnelt, haben den Namen nicht verdient. Der Fourier-Koeffizient γk gibt an, mit wel-
chem Anteil die k-te Eigenform Uk in f vorkommt.
5.2 Große Fragen 99
Da U auf allen Uk mit k = und analog v auf allen vk mit k = senkrecht steht,
bleiben von den Summanden nur jeweils die -ten Summanden übrig. Alle anderen
sind null, und wir gelangen zu
woraus wir γ für = 1, 2, . . . wie auch α leicht ausrechnen können. Sie sehen,
dass die Summanden γk Uk die Projektionen von f auf die Eigenformen Uk sind
und dass die Fourier-Koeffizienten γk die Intensität des Auftretens der Eigenform
Uk enthalten.
Bisher haben wir unsere Überlegungen zur Fourier-Reihe für allgemeine Gebiete
⊂ Rd dargelegt. Jetzt wollen wir zwei prominente Sonderfälle angeben.
Für die Eigenformen Uk (x) = sin kx auf dem Gebiet (0, π ) ⊂ R1 aus Gl. 3.21
entsteht die Fourier-Reihe
∞
π
f, Uk L 2 () 2
f (x) = γk sin kx mit γk = = f (x) sin kx dx.
Uk L 2 ()
2 π
k=1 0
Der nach Ernst Sigismund Fischer (1875 in Wien bis 1954 in Köln) und Frigyes Riesz
(1880 in Györ bis 1956 in Budapest) benannte Satz von Fischer-Riesz ist ein funda-
mentales Resultat der Funktionalanalysis oder eines sehr ausgeprägten Ingenieur-
gefühls. Dieser Satz besagt, dass man tatsächlich jede Funktion f ∈ L 2 () über
einem beschränkten Gebiet durch eine ggf. unendliche Linearkombination von
Eigenformen Uk = Uk (x), also Eigenlösungen der Gl. 3.16 oder allgemeiner der
Gl. 3.18 mit passenden Randbedingungen, annähern kann und dass diese Annähe-
rung im Sinne des Lebesgue-Raums L 2 () perfekt ist. Mit anderen Worten konver-
giert die Fourier-Reihe für jedes f ∈ L 2 ().
Wir finden also zu jedem f ∈ L 2 () Koeffizienten γk , k = 1, 2, . . ., so dass
∞
n
L2
f =
γk Uk bzw. lim f − γk Uk =0 (5.25)
n→∞
k=1 k=1 L 2 ()
gilt. Diese Notation ist erklärungsbedürftig. Links steht, dass die Funktion f und
die unendliche Linearkombination der Eigenformen Uk im Sinne des Raums L 2 ()
gleich sind. Ihre Differenz liegt also in der Menge K . Man kann auch sagen, dass
sich beide Funktionen höchstens um eine Funktion mit der L 2 ()-Norm 0 unter-
scheiden. Die beiden Funktionen sind also keineswegs punktweise, also für jedes
x ∈ , gleich, weshalb wir es vermeiden, in Gl. 5.25 die Argumente aufzuschreiben.
Im rechten Ausdruck haben wir dies etwas aufgelöst, indem wir die L 2 -Gleichheit
von f und der Reihe so formuliert haben, dass die L 2 -Norm der Differenz zwischen
f und der n-ten Partialsumme der Reihe gegen null konvergiert. Wir erkennen hier
den Annäherungsgedanken, denn mit wachsendem n nähern sich die Partialsummen
der Funktion f.
Der Satz von Fischer-Riesz sagt uns, dass wir jedes Element von L 2 () durch
die Folge (γk )∞
k=1 der Koeffizienten adressieren können, wenn wir uns auf bestimm-
te Eigenformen Uk festgelegt haben. Der eben noch so umfangreich erscheinende
Funktionenraum L 2 () wird dadurch gezähmt, denn wir können seine Elemente so-
zusagen durch die unendlich langen Vektoren (γ1 , γ2 , . . .), also die Folgen (γk )∞
k=1
beschreiben. Da wir wissen, dass die Reihe konvergiert, weil f eine endliche Energie
hat, und dass die Eigenformen aufeinander senkrecht stehen, wissen wir zusätzlich
sogar, dass
∞
|γk |2 = |γ1 |2 + |γ2 |2 + |γ3 |2 + . . . < ∞
k=1
gilt, was Sie unbedingt nachrechnen sollten, indem Sie die Reihenentwicklung aus
Gl. 5.25 für f einsetzen und dann das Quadrat f 2L 2 () = f, f L 2 () ausrechnen,
indem Sie die Fourier-Reihe aus Gl. 5.25 für f einsetzen und mithilfe des Distribu-
tivgesetzes ausklammern.
Man kann sich vorstellen, dass Monsieur Fourier gespürt hat, dass eine solche
Reihe allen realistischen Funktionen, also insbesondere allen mit einer endlichen
5.2 Große Fragen 101
Energie, beliebig nahekommt, ohne dass er dies im strengen Sinn beweisen konn-
te. Es gilt auch heute noch als eine Grundweisheit des Ingenieurwesens, dass man
jede Deformation in Eigenformen zerlegen kann. Der mathematische Weg dorthin
war jedoch lang und dornenreich, und hier fehlt leider der Platz, den schönen Satz
von Fischer-Riesz zu beweisen. Wir verweisen wiederum auf die Funktionalanalysis.
Für viele Anwendungsprobleme erweist es sich als ausgesprochen zielführend, die
gesuchte Funktion oder die rechte Seite als Fourier-Reihe der Eigenformen
darzustellen, weil man mit diesen Reihen sehr freundlich und fast wie in den euklidi-
schen Räumen rechnen kann. Die Zerlegung einer Funktion als Reihe über Eigenfor-
men heißt Spektralzerlegung. Wir werden sie in Kap. 7 besprechen. Sie werden diese
Zerlegung auch an vielen anderen Stellen entdecken. Bei solchen Ansätzen wie in
Gl. 5.25 denke man jedoch daran, dass man die Ergebnisse vorbehaltlich der Gültig-
keit des Satzes von Fischer-Riesz für die gerade betrachteten Gebiete und im Falle
weiterer Umformungen, insbesondere Differentiationen, vorbehaltlich der Konver-
genz der Fourier-Reihe erlangt.
Tangentialebene an das Gebiet . Oft es ist gar nicht nötig, dass der Rand über-
all differenzierbar ist. Einzelne Ecken des Gebiets werden uns nicht stören. Wir
schließen jedoch ausdrücklich aus, dass sich die Ecken und Spitzen eines Gebiets zu-
sammenballen, wie dies beispielsweise bei einer fraktalen Struktur vorkommt. Der
Rand ∂ sei also fortan auch genügend glatt, und nicht etwa fraktal zerfurcht.
So sei die Welt also im Folgenden genügend glatt.
Produktansatz
6
In diesem Kapitel widmen wir uns der expliziten Berechnung von Lösungen der
Wärmeleitungsgleichung, der Schwingungsgleichung und der Laplace-Gleichung in
jeweils einfachen Fällen. Einfach bedeutet hier, dass wir die Lösungen von partiellen
Differentialgleichungen im homogenen Fall, also ohne externe Kräfte oder Zu- und
Abflüsse, und für einfache Gebiete bestimmen wollen. Ausschließlich für solch
ausgewählte Randwertprobleme und Anfangsrandwertprobleme, die nur einen klei-
nen Teil der denkbaren Problemstellungen ausmachen, ist die explizite Berechnung
von Lösungen möglich. Explizit bedeutet dabei, dass wir am Ende der Rechnung
tatsächlich eine analytische Angabe der Lösung für jeden Ort x ∈ im Gültigkeits-
bereich der Differentialgleichung und für genügend lange Zeiten t erhalten.
Viele partielle Differentialgleichungen, die ihren Ursprung in der Modellierung
von technischen, chemischen oder biologischen Anwendungen haben, lassen sich
nicht explizit lösen. Da die Gleichungen die zugrunde liegenden Zusammenhänge
häufig nur näherungsweise beschreiben, ist es oft gar nicht notwendig, die explizite
Lösung zu kennen. In Kap. 10 und 11 lernen Sie Möglichkeiten kennen, auch ohne
Kenntnis der expliziten Lösung Wissen über das Lösungsverhalten einer partiellen
Differentialgleichung zu generieren. Zudem stellen wir in Kap. 13 eine Möglichkeit
zur numerischen Berechnung von Lösungen vor.
Sie fragen sich vielleicht, wozu wir uns die Mühe machen, explizite Lösungen
zu berechnen, wenn numerische Simulationen auf Knopfdruck bunte, hübsche Lö-
sungen liefern. Gründe hierfür gibt es zahlreiche. Beim Betrachten von numerischen
Simulationen entwickelt man für die jeweiligen speziellen Probleme Vorstellungen
von der Gestalt der Lösung. Das ist gut und wichtig, jedoch lassen sich diese Beob-
achtungen nicht immer verallgemeinern. Kennen wir aber die analytische, also die
explizit berechnete Lösung einer Differentialgleichung, so können wir Zusammen-
hänge in der Gestalt der Lösung erkennen und analysieren. Wir lernen, wie die Lö-
sung aufgebaut ist und woher charakteristische Eigenschaften der Lösung kommen.
Ein weiterer Grund für die explizite Berechnung von Lösungen in einfachen Fäl-
len ist die Befähigung, beispielsweise technische Zusammenhänge zu modellieren.
Häufig stellt man Beobachtungen über ein komplexes System an, führt Messungen
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 103
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_6
104 6 Produktansatz
durch und möchte mittels der anschließenden Modellierung die Möglichkeit haben,
die Beobachtungen in eine mathematische Form zu bringen und so Vorhersagen zu
treffen.
Wir beschäftigen uns in diesem Kapitel also mit der expliziten Berechnung –
oder genauer einem wichtigen Ansatz zur expliziten Berechnung – von Lösungen.
Wir beginnen mit der Wärmeleitungs- oder Diffusionsgleichung, lernen dabei die
wesentlichen Schritte kennen und übertragen sie dann auf die Wellengleichung und
die Laplace-Gleichung.
In Kap. 1 haben wir von Rolfs Studentenzimmer mit seinem Kachelofen und dem
luftigem Fenster gesprochen. Wir haben auch vom Baden und der Verteilung des Ba-
dezusatzes erzählt, bei dem wir nach einiger Zeit nicht zurückverfolgen konnten, wo
genau er ins Wasser gegeben wurde. In Kap. 2 haben wir diese beiden Beobachtungen
mit einer Gleichung verknüpft. Mathematisch ist es demnach irrelevant, ob wir die
Wärmeverteilung in Rolfs energetisch zweifelhaftem Studentenzimmer betrachten
oder die Verteilung von Badezusatz in einer Wanne beobachten. An dieser Stelle
wird das wunderbare Bestreben der Mathematik zur Abstraktion von Zusammen-
hängen sichtbar. Wenn wir in diesem Abschnitt ein Verständnis für die Lösung der
Wärmeleitungs- oder Diffusionsgleichung entwickeln, entsteht berechtigt die Hoff-
nung, dass sich dieses Wissen auf weitere, andersartige Zusammenhänge übertragen
lässt. Wir entwickeln also eine Vorstellung von einem Prototyp zur Lösung, der in
ähnlicher Form in vielen technischen, biologischen und natürlich auch chemischen
Zusammenhängen auftaucht.
Als allgemeine Form eines Anfangsrandwertproblems zur Wärmeleitung haben
wir Gl. 2.12 kennengelernt. Für die Berechnung einer ersten expliziten Lösung
einer parabolischen Differentialgleichung lösen wir uns von der allgemeinen Form
und betrachten zunächst ein eindimensionales Material der Länge π . Es sei also
x ∈ = (0, π ) ⊂ R1 . Der Laplace-Operator u geht daher in die zweite
Ableitung nach der einzigen Ortsvariable u(t, x) = ∂∂x 2 u(t, x) = u ,x x (t, x) über.
2
Des Weiteren sei unser Material homogen, sodass der matrixwertige, ortsabhängige
Materialparameter A(x) ∈ R1×1 in eine skalare Konstante A(x) = a ∈ R übergeht.
Für den Anfang nehmen wir homogene Dirichlet-Randwerte auf dem gesamten
Rand an, und der Rand = ∂ des Gebiets = (0, π ) besteht aus den bei-
den Randpunkten x = 0 und x = π . Die allgemeine Anfangsbedingung aus Gl. 2.12
übernehmen wir ohne Einschränkung.
Die Gleichung, deren Lösung wir berechnen werden, ist somit
geschrieben werden können. Die gesuchte Lösung soll also das Produkt aus einer
zeitabhängigen Funktion V (t) und einer ortsabhängigen Funktion W (x) sein. Wir
werden sehen, dass dieser Ansatz Lösungen liefert und dass zwischen der zeit- und
der ortsabhängigen Funktion eine Verbindung besteht. Hierbei gilt wie bei den Ei-
genlösungen in Kap. 3, dass unser Ansatz offenbar gut gewählt war, wenn wir eine
Lösung der Form in Gl. 6.2 finden. Aber natürlich wissen wir nicht, ob wirklich alle
Lösungen von dieser Form sind.
Unseren Ansatz aus Gl. 6.2 setzen wir in das Anfangsrandwertproblem in Gl. 6.1
ein, um Bedingungen an die Funktionen V (t) und W (x) zu ermitteln.
Dazu benötigen wir die erste zeitliche Ableitung sowie die zweite örtliche
Ableitung von u(t, x). Für die Ableitung nach der Zeit ergibt sich
u ,t (t, x) = dtd V (t) W (x), da nur die Funktion V (t) von der Zeit t abhängt. Die
ortsabhängige Funktion W (x) verhält sich bei der Ableitung nach der Zeit wie eine
Konstante. Die zeitliche Ableitung von V (t) bezeichnen wir durch dtd V (t) = V (t),
da die Funktion V (t) nur von der Zeit abhängt und die Bezeichnung der Ableitung
durch den Strich damit eindeutig ist. Analog ergibt sich die erste örtliche Ableitung
u ,x (t, x) = V (t) dx
d
W (x). Da W nur vom Ort x abhängt und die Ableitung durch
einen Strich eindeutig bezeichnet wird, schreiben wir analog zur obigen Überlegung
dx W (x) = W (x).
d
An dieser Stelle ist Obacht geboten. Wir schreiben für die erste zeitliche Ableitung
von V (t) den Ausdruck V (t), ebenso schreiben wir für die erste örtliche Ableitung
von W (x) den Ausdruck W (x). Der Strich zur Markierung der Ableitung bezeichnet
also in den beiden Fällen eine Ableitung, aber nach den unterschiedlichen Variablen
t und x.
106 6 Produktansatz
in den Funktionen V (t) und W (x) geworden. Gl. 6.3 enthält die zwei Funktionen V
und W , die von je einer Variable abhängen. Außerdem enthält Gl. 6.3 die Ableitungen
V und W und nicht wie die ursprüngliche partielle Differentialgleichung eine
multivariate Funktion u = u(t, x) und ihre partiellen Ableitungen. Wir könnten dies
als einfacher empfinden, sehen aber noch nicht, warum.
Und jetzt kommt der Trick oder die Grundidee des Produktansatzes: Wir trennen
die Variablen, d. h., wir bringen alle Terme in V und t auf die eine und alle Terme
in W und x auf die andere Seite der Gleichung. Dazu dividieren wir die gesamte
Gleichung durch die Funktion u(t, x) = V (t)W (x). Dies ist erlaubt, da wir davon
ausgehen dürfen, dass u nicht die konstante Nullfunktion ist. Überlegen Sie sich,
warum dieses Argument gilt.
Nach dieser Division erhalten wir
V (t) W (x)
=a . (6.4)
V (t) W (x)
In Gl. 6.4 hängt die linke Seite nur von der Zeit t ab und die rechte Seite nur vom Ort
x. Variieren wir nun den Ort x, so ist die linke Seite der Gleichung konstant, da sie nur
von der Zeit t abhängt. Wenn jedoch die linke Seite der Gleichung bei Veränderung
von x konstant ist, so muss die gesamte Gleichung in diesem Fall konstant sein.
Verändern wir analog die Zeit t, so ist die rechte Seite von Gl. 6.4 konstant, da sie
nur vom Ort x abhängt. Somit ist bei Veränderung von t die gesamte Gleichung
ebenfalls konstant. Es gilt also
V (t) W (x)
=a = c = const. (6.5)
V (t) W (x)
mit einer reellen Konstanten c ∈ R, die wir aber noch nicht kennen.
Diese Gleichung ermöglicht es, zwei gewöhnliche Differentialgleichungen auf-
zustellen. Für die ortsabhängige Funktion W (x) erhalten wir
W (x)
a = c,
W (x)
Die partielle Differentialgleichung aus Gl. 6.1 wurde also durch den Produktansatz
u(t, x) = V (t)W (x) in zwei gewöhnliche Differentialgleichungen entkoppelt. Die
beiden gewöhnlichen Differentialgleichungen hängen jeweils nur von einer Variablen
t bzw. x ab und sind über die Konstante c aus Gl. 6.5 miteinander verbunden. Und
zu unserer großen Freude kennen wir die gewöhnlichen Differentialgleichungen 6.6
und 6.7. Sie sind so einfach, dass wir sie leicht lösen können, und wir können sie
sogar in Abhängigkeit von der Unbekannten c lösen.
An dieser Stelle kann man sich fragen, welche der beiden Differentialgleichungen
in Gl. 6.6 und 6.7 zuerst diskutiert werden sollte. Achten Sie darauf, wie wir für die
ortsabhängige Funktion W (x) aufgrund der Randwerte mehr Informationen verfüg-
bar machen. Glücklicherweise ist uns gerade so viel Information zugänglich, wie wir
für die zielführende Bestimmung von W (x) brauchen werden. Deshalb ist es ratsam,
mit der Bestimmung von W (x) zu beginnen. Dies ist aber weniger eine willentliche
Entscheidung als vielmehr die Konsequenz aus den verfügbaren Informationen. Um
schließlich u(t, x) = V (t)W (x) zu ermitteln, müssen die beiden Funktionen V (t)
und W (x) bestimmt werden.
Neben der parabolischen Differentialgleichung selbst enthält das Anfangsrand-
wertproblem in Gl. 6.1, wie der Name bereits sagt, auch Anfangswerte und Rand-
werte. Die Randwerte, im obigen Fall die Vorgabe einer festen Temperatur an den
beiden Enden des Metallstabs, gelten für alle Zeiten t. Aus Gl. 6.1 erhalten wir
u(t, 0) = V (t)W (0) = 0 für alle Zeiten t > 0 und ebenso u(t, π ) = V (t)W (π ) = 0
für alle Zeiten t > 0. Damit das Produkt zweier Funktionen null ist, muss ei-
ner der Faktoren null sein. Die Annahme, dass die zeitabhängige Funktion V (t)
für alle Zeiten t > 0 null ist, also V (t) = 0 gilt, liefert nur die triviale Lösung
u(t, x) = V (t)W (x) = 0 · W (x) = 0. Die Lösung wäre also zu allen Zeiten t und
an allen Orten x ∈ (0, π ) null. Die Nullfunktion erfüllt jedoch im Allgemeinen nicht
die Anfangsbedingung u(0, x) = u 0 (x), die die Wärmeverteilung zum Anfangszeit-
punkt t = 0 beschreibt.
Also muss die ortsabhängige Funktion W an den Rändern bei x = 0 und x = π
null sein. Aus der Randbedingung von Gl. 6.1 folgt somit W (0) = W (π ) = 0.
Wir erhalten zusammen mit Gl. 6.6 das Randwertproblem für die gewöhnliche
Differentialgleichung
c
W (x) = W (x) und W (0) = W (π ) = 0. (6.8)
a
Gl. 6.8 kennen wir als Eigenwertproblem aus Gl. 3.20. Man kann alle Lösungen
dieses Problems zielgerichtet raten, aber wir hatten in Kap. 3 versprochen, dass wir
die Lösung von Gl. 6.8 vorrechnen. Also auf ans Werk.
Gl. 6.8 ist eine lineare Differentialgleichung zweiter Ordnung mit den konstanten
Koeffizienten 1 vor W , 0 vor W und − ac vor W , auch wenn der letztgenannte
108 6 Produktansatz
Koeffizient noch unbekannt ist. Wir erwarten also zwei linear unabhängige Lösungen,
und wir finden mithilfe des eλx -Ansatzes W (x) = eλx die Beziehung λ2 = ac . Wenn
dieser Ausdruck nicht gerade null ist, sind eλ1 x und eλ2 x mit den passenden λ1 = −λ2
die zwei linear unabhängigen Lösungen.
Wir könnten nun alle denkbaren Fälle diskutieren, um die Lösungen zu ermitteln,
die auch die Randbedingungen W (0) = W (π ) = 0 erfüllen. Wir können aber auch
umgekehrt argumentieren, indem wir unterschiedliche Vorzeichen der Unbekannten
c unterscheiden: Wenn nämlich c > 0 ist, so gilt wegen des positiven Wärmeleit-
koeffizienten λ2 > 0, und damit sind λ1 und λ2 = −λ1 reell. Die Lösung ist eine
Linearkombination der Form W (x) = c1 eλ1 x + c2 e−λ1 x . Aus der Randbedingung
W (0) = c1 + c2 = 0 folgt c2 = −c1 , d. h., c2 ist in Abhängigkeit von c1 bestimmt.
Es bleibt die Bestimmung von c1 aus der Randbedingung W (π ) = 0 am anderen
Rand. Dort ist W (π ) = c1 eλ1 π − c1 e−λ1 π = c1 eλ1 π − e−λ1 π . Da λ1 π = 0 eine
reelle Zahl ist, ist einer der Ausdrücke eλ1 π und e−λ1 π größer als eins und der andere
kleiner als eins. Damit gilt eλ1 π = e−λ1 π , und es gibt kein c1 , mit dem W auch die
zweite Randbedingung erfüllt. Also gibt es für c > 0 keine Lösung der Differential-
gleichung in Gl. 6.8.
Ähnlich ergeht es uns für c = 0. Wir haben die doppelte Nullstelle λ1 = λ2 = 0
von λ2 = 0, und W (x) = c1 + c2 x beschreibt eine Gerade, die nur für c1 = c2 = 0
an den beiden Stellen x = 0 und x = π null ist.
Es bleibt nur die Möglichkeit c < 0, und λ1 und λ2 sind echt komplex. Da ihr
Quadrat die negative Zahl ac < 0 ist, sind λ1 und λ2 = −λ1 sogar rein imaginär,
und es gilt λ1 = iμ und λ2 = −iμ mit einem μ ∈ R. Mit der Euler’schen Identität
eiμx = cos μx + i sin μx finden wir die beiden reellen linear unabhängigen Lösun-
gen cos μx und sin μx der Differentialgleichung in Gl. 6.8 für negative c. Dabei ist
μ mit μ2 = − ac > 0 eine frequenzartige Größe.
Die Linearkombination W (x) = c1 cos μx + c2 sin μx der beiden Lösungen er-
füllt W (0) = c1 = 0 nur für c1 = 0. Damit bleibt nur W (x) = c2 sin μx, und folglich
ist W (π ) = c2 sin μπ . Dies hat genau dann den Wert W (π ) = 0, wenn μπ eine Null-
stelle der Sinusfunktion ist. Also muss μ eine ganze Zahl sein, d. h. μ = k ∈ Z. Der
Wert von c2 dagegen bleibt völlig beliebig.
Damit haben wir für c < 0 und nur für diesen Fall Lösungen von Gl. 6.8 gefunden.
Es sind sehr viele Lösungen. Wir können die Ortsfrequenzen k ∈ Z und den Vorfaktor
c2 ∈ R frei wählen. Wir ändern unsere Bezeichnung ein wenig. Die Lösung W und
ihr Vorfaktor werden der Frequenz k zugeordnet: Mit
Wk (x) = γk sin kx
berücksichtigen wir alle Funktionen, die als Lösung von Gl. 6.8 infrage kommen.
Unterschiedliche Lösungen Wk entstehen für k = 1, 2, . . ., da der Sinus punktsym-
metrisch zum Ursprung ist und somit negative Werte keinen neuen Beitrag liefern.
Die Menge {Uk (x) = sin kx, k = 1, 2, . . .} haben wir bereits in Abschn. 3.4 und
5.2.3 als Eigenformen Uk (x) = sin kx zum Gebiet (0, π ) kennengelernt. Wir halten
kurz inne und bestaunen, dass uns der Produktansatz für die Wärmeleitungsgleichung
gerade auf die Eigenformen gebracht hat, die wir aus der Schwingungsgleichung
6.1 Produktansatz für die homogene Wärmeleitungsgleichung 109
berechnet haben. Hier begegnen sie uns wieder, denn die Eigenformen sind nur
bis auf einen Faktor bestimmt, und die Funktionen Wk (x) = γk Uk (x) sind auch
Eigenformen.
Mit dem allgemeinen Ansatz für Wk bestimmen wir die bislang unbekannte Kon-
stante c, die sich aus den Überlegungen zu Gl. 6.5 ergeben hat. Die erste Ableitung
von Wk (x) ergibt sich aus der Kettenregel als Wk (x) = γk k cos kx, und die zweite
Ableitung ist Wk (x) = −γk k 2 sin kx. Dies setzen wir in Gl. 6.8 ein, sodass wir in
c
−γk k 2 sin kx = γk sin kx
a
6.1.2 Reihenentwicklung
∂ ∂2 ∂ ∂ ∂2 ∂2
[u n + u m ] − a 2 [u n + u m ] = u n + u m − a 2 u n − a 2 u m = . . .
∂t ∂x ∂t ∂t ∂x ∂x
∂ ∂2 ∂ ∂2
. . . = u n − a 2 u n + u m − a 2 u m = 0,
∂t ∂x ∂t ∂x
110 6 Produktansatz
wobei die erste Umformung auf der Linearität des Ableitungsoperators und die zweite
Umformung auf der Tatsache, dass u n und u m die partielle Differentialgleichung
lösen, beruhen. Beliebige Summen von Lösungen sind also wieder Lösungen der
partiellen Differentialgleichung. Ebenso ist ein skalares Vielfaches einer Lösung
u n (t, x) wieder eine Lösung der partiellen Differentialgleichung, da für κ ∈ R die
Beziehung
∂ ∂2 ∂ ∂2
[κu n ] − a 2 [κu n ] = κ un − a 2 un = 0
∂t ∂x ∂t ∂x
gilt. Der skalare Faktor kann ausgeklammert werden, und κu n (t, x) löst ebenfalls die
partielle Differentialgleichung. Man sieht ganz entsprechend, dass die Randbedin-
gungen für u n (t, x) + u m (t, x) sowie für κu n (t, x) erfüllt sind. Probieren Sie es aus.
Mit diesen Überlegungen haben wir die Linearität des Differentialoperators noch
einmal nachgerechnet. Linearkombinationen von Lösungen sind somit wieder Lö-
sungen des Randwertproblems, und wir können eine Lösung des Randwertproblems
mit etwas Mut sogar als Summe von unendlich vielen u k , nämlich als Reihe
∞
βk e−ak t sin kx mit βk ∈ R
2
u(t, x) = (6.9)
k=1
schreiben. Natürlich sind die Lösungen u aus Gl. 6.9 im Allgemeinen nicht mehr von
der reinen Produktgestalt aus Gl. 6.2.
Wir haben mit Gl. 6.9 eine Darstellung der Lösung der partiellen Differentialglei-
chung mit noch unbekannten Koeffizienten βk gefunden. Die Koeffizienten bestim-
men wir jetzt aus den Anfangsbedingungen.
Hierzu rufen wir uns in Erinnerung, dass wir jede stetige Funktion wenigstens
im L 2 -Sinn als Fourier-Reihe darstellen können. Wir wissen bereits, dass die Eigen-
funktionen voneinander linear unabhängig sind. Zudem ist es möglich, wie wir es
aus der Fourier-Reihe aus Abschn. 5.2.3 kennen, jede beliebige Funktion durch eine
Linearkombination mit bis zu unendlich vielen Summanden darzustellen. Wir schrei-
ben deshalb die Anfangsbedingung u 0 (x) als Fourier-Reihe über den Eigenformen
{Uk (x) = sin kx, k = 1, 2, . . .}
∞
π
2
u 0 (x) = βk sin kx d. h. βk = u 0 (x) sin kx dx. (6.10)
π
k=1 0
und die Lösung strebt für alle Anfangsbedingungen gegen die stationäre Lösung,
d. h. gegen die Lösung u(x) = 0 der elliptischen Gleichung
welche wir bereits in Gl. 2.14 kennengelernt haben. Dies entspricht bei homogenen
Dirichlet-Randbedingungen der Beobachtung, dass sich die Wärmeunterschiede im
Metallstab ausgleichen und sich die Temperatur mit fortschreitender Zeit an jedem
Ort x der Randtemperatur von 0 ◦ C annähert.
Beispiel Betrachten wir erneut das System aus Gl. 6.1, jetzt jedoch mit der kon-
kreten Anfangsbedingung u 0 (x) = 4 sin x + 2 sin 6x und dem konkreten Parameter
a = 1. Aus Gl. 6.9 erhalten wir
∞
βk e−k t sin kx
2
u(t, x) =
k=1
als Grundform der Lösung, bei der die Anfangsbedingung noch nicht berücksichtigt
ist.
Im nächsten Schritt stellen wir die Anfangsbedingung als Fourier-Reihe dar. Aus
Gl. 6.10 entnehmen wir die Darstellung
∞
u 0 (x) = βk sin kx
k=1
folgt, dass β1 dem Vorfaktor von sin x und β6 dem Vorfaktor von sin 6x entsprechen
muss. Somit sind fast alle βk gleich null, ausgenommen β1 = 4 und β6 = 2. In der
Fourier-Reihe von u 0 tauchen also nur die beiden Funktionen sin x und sin 6x auf.
Die berechneten Koeffizienten βk setzen wir in die Grundform der Lösung ein
und erhalten
u(t, x) = 2e−t sin x + 3e−36t sin 6x
als Lösung des Anfangsrandwertproblems mit der gegebenen Anfangsbedingung u 0 .
In Abb. 6.1 erkennt man, dass sich die Unterschiede in u, die aus der hohen Fre-
quenz in U6 (x) = sin 6x stammen, schneller ausgleichen als die Differenzen aus dem
Lösungsanteil zu U1 (x) = sin x. Dies passt zu der Überlegung, dass Temperaturun-
terschiede auf kleinen Distanzen, also mit hohen Frequenzen, schneller ausgeglichen
werden als Temperaturunterschiede, die großflächig herrschen. Mit fortschreitender
Zeit t nähert sich die Lösung u(t, x), wie nach Gl. 6.11 zu erwarten, der Nullfunktion
an.
In Kap. 1 haben wir über die Diffusion von Badezusatz nachgedacht und in dem
Zusammenhang die Schwierigkeit der zeitlichen Zurückverfolgung einer Lösung be-
leuchtet. In Abb. 6.1 können wir dieses Phänomen insofern wiedererkennen, als dass
zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Einfluss von sin 6x kaum noch zu erkennen
ist. Der Rückschluss von einer Lösung zu einem späteren Zeitpunkt auf die Anfangs-
bedingung ist in praktischen Anwendungen, in denen wir die Temperaturverteilung
zum Zeitpunkt t nur fehlerbehaftet kennen, kaum möglich.
Abb. 6.1 Abklingen der Anfangsbedingung u 0 (x) = 4 sin x + 2 sin 6x. Temperaturunterschiede
auf kleinen Distanzen gleichen sich schneller aus. Zur Verdeutlichung des Abklingverhaltens ist
4 sin x am Anfang und am Ende des Beobachtungszeitraums gepunktet eingezeichnet
6.1 Produktansatz für die homogene Wärmeleitungsgleichung 113
Diese qualitative Beobachtung finden wir durch Gl. 6.9 bestätigt. Wenn die k-te
Eigenform Uk in der Anfangsbedingung bei t = 0 mit dem Faktor βk enthalten ist,
so ist sie in der Temperaturverteilung zu einem Zeitpunkt t = T > 0 nur noch mit
dem Faktor βk e−ak T enthalten. Je größer also die Ortsfrequenz k ist, desto schnel-
2
ler klingt der Anteil der k-ten Eigenform ab. Für große k sinkt der Anteil βk e−ak T
2
schon für realistische Zeiten T unter die praktische Nachweisgrenze. Würden wir
also die Temperaturverteilung u(T, x) zum Zeitpunkt T > 0 messen, so würden wir
einige Eigenformen mit sehr, sehr kleinen Anteilen β̃k = βk e−ak T antreffen und die
2
sehr kleinen Koeffizienten β̃k bestenfalls mit einem großen relativen Fehler messen
oder beobachten. Beim Versuch, auf die Temperaturverteilung zum Anfangszeit-
punkt t = 0 zurückzurechnen, müssten wir diese ungenauen Koeffizienten wegen
βk = β̃k e+ak T mit sehr großen Faktoren multiplizieren und könnten die Anfangs-
2
bedingung u 0 nur sehr ungenau rekonstruieren. Für noch größere k könnten wir
praktisch nicht einmal entscheiden, ob der Anteil β̃k der k-ten Eigenform zum Zeit-
punkt T verschwindet oder ungleich null ist. Obwohl wir also formell von β̃k auf
βk zurückrechnen können, ist es aus praktischer Sicht unmöglich, die Vergangenheit
des Temperaturausgleichs zu rekonstruieren.
Übertragen Sie diese Argumentation zur Übung auf den Diffusionsprozess der
Verteilung des Badezusatzes aus Abschn. 1.2. Wenn Sie eine Badewanne mit bis auf
Messgenauigkeit gleichmäßig hellgrünem Wasser vorfinden, ist es unentscheidbar,
ob das Wasser schon immer hellgrün war oder ob sich ein vor längerer Zeit an einer
bestimmten Stelle hinzugefügter tiefgrüner Badezusatz seitdem diffusiv verteilt hat.
Bisher haben wir uns mit der Wärmeleitungsgleichung mit homogenen Dirichlet-
Randbedingungen beschäftigt. Die homogenen Dirichlet-Randbedingungen konnten
als eine auf 0 ◦ C festgelegte Temperatur an den Rändern des Metallstabs interpretiert
werden. Natürlich möchten wir auch Wärmeleitungsvorgänge beschreiben können,
die andere Randbedingungen haben. Gibt man dem Stab aus Gl. 6.1 eine feste Tem-
peratur q0 am linken und eine feste Temperatur q1 am rechten Rand vor, so sind dies
inhomogene Dirichlet-Randbedingungen.
Das um inhomogene Randbedingungen erweiterte Anfangsrandwertproblem aus
Gl. 6.1 ist
u ,t (t, x) = au ,x x (t, x) für x ∈ (0, π ), t > 0,
u(t, 0) = q0 für t > 0,
(6.12)
u(t, π ) = q1 für t > 0,
u(0, x) = u 0 (x) für x ∈ (0, π ).
Bevor wir dieses Problem mit einem mathematischen Ansatz lösen, überlegen wir,
was wir von der Lösung erwarten. Nehmen wir an, dass die beiden Enden des Stabs
unterschiedliche Temperaturen q0 und q1 besitzen. Zusätzlich sei eine Anfangsbe-
dingung u 0 = u(0, x) gegeben, die mit den Randbedingungen kompatibel ist, d. h.
u 0 (0) = q0 und u 0 (π ) = q1 . Unabhängig von der genauen Form der Anfangsbe-
dingung erwarten wir, dass sich Temperaturunterschiede mit der Zeit ausgleichen,
114 6 Produktansatz
eben so, wie wir es bisher kennengelernt haben. Im Beispiel in Abb. 6.1 ist der Aus-
gleichsprozess des homogenen Problems bei fortschreitender Zeit zu erkennen. Die
Temperatur im gesamten Metallstab nähert sich dort der Randbedingung von 0 ◦ C
an, was gerade der stationären Lösung entspricht. Dieses Prinzip greifen wir jetzt
wieder auf. Mit fortschreitender Zeit t wird sich die Lösung immer weiter an die
Lösung des stationären, also zeitlich konstanten, Problems annähern. Wir nennen
die stationäre Lösung q̃ = q̃(x) und formulieren das stationäre Problem als
Die Lösung q̃ von Gl. 6.13 lässt sich durch zweimalige Integration ermitteln. Die
zweite Ableitung der gesuchten Lösung q̃(x) ist null, sodass die erste Ableitung
konstant sein muss. Für q̃(x) kommt daher nur eine Gerade q̃(x) = c1 x + c2 infra-
ge. Die stationäre Lösung muss zudem die Randbedingungen erfüllen. Somit gilt
q0 = q̃(0) = c2 und q1 = q̃(π ) = c1 π + q0 . Daraus ergibt sich der lineare Tempe-
raturverlauf
q1 − q0
q̃(x) = q0 + x
π
als Lösung des stationären Problems in Gl. 6.13.
Der Grundgedanke zur Berechnung der zeitabhängigen Lösung besteht in der
Zerlegung der Lösung von Gl. 6.12 in die Lösung q̃(x) des stationären Problems und
eine zeitabhängige Funktion w(t, x). Die Funktion w(t, x) soll dabei die Lösung des
Anfangsrandwertproblems sein, das durch Einsetzen von u(t, x) = q̃(x) + w(t, x)
entsteht. Also beschreibt w = w(t, x) die Abweichung von der stationären Tempe-
raturverteilung q̃ = q̃(x).
Es gilt u ,t = w,t und wegen q̃ (x) = 0 auch u ,x x = w,x x . Bei x = 0 lautet die
Randbedingungen q0 = u(t, 0) = q̃(0) + w(t, 0). Da bereits q̃(0) = q0 gilt, folgt
w(t, 0) = 0. Analog folgt w(t, π ) = 0. Wir erhalten für w(t, x) also wieder ein An-
fangsrandwertproblem mit homogenen Randbedingungen. Die Anfangsbedingung
ergibt sich ebenfalls als Differenz der ursprünglichen Anfangsbedingung und der
stationären Lösung.
Somit ist das Anfangsrandwertproblem für w(t, x)
und hat damit genau die Form aus Gl. 6.1. Dieses Problem können wir mit den
bereits vorgestellten Mitteln lösen. Wir haben das neue Problem in Gl. 6.12 also
in ein stationäres Problem in Gl. 6.13 für q̃, welches einfach zu lösen ist, und
ein Anfangsrandwertproblem mit homogenen Randbedingungen für w zerlegt. Die
Addition u(t, x) = w(t, x) + q̃(x) liefert die Gesamtlösung des Anfangsrandwert-
problems mit inhomogenen Randbedingungen.
6.2 Produktansatz für die Wellengleichung 115
V (t) P W (x)
= . (6.15)
V (t) W (x)
An dieser Stelle argumentieren wir wieder, dass die gesamte Gleichung konstant sein
muss. Probieren Sie es aus, am besten, ohne die Argumentation aus Abschn. 6.1.1
nachzulesen. Überprüfen Sie anschließend Ihre Argumentation durch das Nachschla-
gen ebendieses Abschnitts. Wir erhalten
116 6 Produktansatz
V (t) P W (x)
= =c (6.16)
V (t) W (x)
mit einer Konstanten c. Ebenso wie in Abschn. 6.1.1 können wir zwei gewöhnliche
Differentialgleichungen ausmachen, nämlich eine, deren Funktion nur ortsabhängig
ist, und eine zeitabhängige Gleichung. Durch den Produktansatz überführen wir
die Schwingungsgleichung als partielle Differentialgleichung zweiter Ordnung in
zwei gewöhnliche Differentialgleichungen zweiter Ordnung. Für die ortsabhängige
Funktion W (x) erhalten wir, wie wir es bereits bei der Wärmeleitung und im Fall
der harmonischen Schwingungen in Abschn. 3.4 gesehen haben, die gewöhnliche
Differentialgleichung
Wiederholen Sie, wie die Randbedingungen für u(t, x) aus Gl. 6.14 in Rand-
bedingungen für W (x) überführt werden. Lesen Sie, falls Sie unsicher sind, in
Abschn. 6.1.1 nach. Vergleichen Sie das System aus Gl. 6.17 und 6.18 mit Gl. 3.20
aus dem Ansatz der harmonischen Schwingungen, und vergleichen Sie es auch mit
Gl. 6.8. Die Argumentation, dass ein solches System nur Sinusfunktionen als Lösun-
gen hat, ist immer wieder dieselbe wie in Abschn. 6.1.1. Auch in Abschn. 3.4 haben
wir die Sinusfunktionen als Eigenformen Uk des Dirichlet-Problems auf (0, π ) ken-
nengelernt.
Wir finden wieder Wk (x) = γk sin kx für alle k ∈ N und alle γk ∈ R als Lösungen
des Randwertproblems in Gl. 6.17 und 6.18. Wegen Wk (x) = −k 2 Wk (x) ist die
bisher unbekannte Konstante c = − P k 2 . Damit ist c = −ωk2 mit den Frequenzen
ωk aus Gl. 3.22.
Aus Gl. 6.16 erhalten wir mit diesem c die gewöhnlichen Differentialgleichung
P
V (t) = − k 2 V (t) bzw. V (t) = −ωk2 V (t). (6.19)
Gesucht sind Funktionen V (t), die sich beim zweimaligen Differenzieren mit
negativem Vorzeichen und quadratischem Vorfaktor reproduzieren. Dafür kommen
nur
Vk (t) = αk cos ωk t + βk sin ωk t mit αk , βk ∈ R
infrage. Somit liefert der Produktansatz die Lösungen
Abschn. 6.1.2 übertragen lässt, sind Linearkombinationen der u k (t, x) wieder Lö-
sungen von Gl. 6.14, und das Randwertproblem in Gl. 6.14 wird von
∞
u(t, x) = ak cos(ωk t) sin kx + bk sin(ωk t) sin kx (6.20)
k=1
mit beliebigen ak , bk ∈ R gelöst. Die Anfangsbedingungen haben wir bis jetzt noch
nicht berücksichtigt.
An dieser Stelle wollen wir kurz innehalten und zurückblicken. Wir haben mit
einem hyperbolischen Anfangsrandwertproblem in Gl. 6.14 begonnen, das beispiels-
weise eine schwingende Saite beschreibt. Für dieses Problem haben wir angenom-
men, dass die Lösung als Produkt einer orts- und einer zeitabhängigen Funktion
darstellbar ist. Diesen Produktansatz haben wir in die partielle Differentialgleichung
und die Randbedingung eingesetzt und so zwei gewöhnliche Differentialgleichungen
erhalten, die über eine Konstante c miteinander verbunden waren. Die gewöhnliche
Differentialgleichung für die örtliche Funktion W (x) führte uns wieder zu dem Ei-
genwertproblem, das wir schon in Kap. 3 kennengelernt haben. Über diesen Weg
sind wir zu den bereits bekannten Eigenformen Uk (x) gelangt und konnten die Kon-
stante c bestimmen, die die beiden gewöhnlichen Differentialgleichungen für W (x)
und V (t) miteinander koppelt. Mit dem so bestimmten c haben wir die gewöhnliche
Differentialgleichung für die zeitabhängige Funktion V (t) gelöst. Das Produkt aus
der zeitabhängigen und der ortsabhängigen Funktion löst das Randwertproblem aus
Gl. 6.14 für jede natürliche Zahl k. Jede Linearkombination aus all diesen möglichen
Lösungen ist eine Lösung des Randwertproblems, vgl. Gl. 6.20.
Wir kümmern uns jetzt um die Anfangsbedingungen und greifen dabei erneut
die Eigenschaften der Eigenformen aus Abschn. 3.4 und 5.2.3 auf. Wir
stellen die Anfangsbedingung u(0, x) = u 0 (x) als Fourier-Reihe in den Eigenformen
Uk (x) = sin kx dar. Diese Darstellung entspricht, wie wir im vorangegangenen
Abschn. 6.1.2 gesehen haben, der Lösung zum Zeitpunkt t = 0, da
∞
∞
u(0, x) = ak cos 0 sin kx + bk sin 0 sin kx = ak sin kx (6.21)
k=1 k=1
gilt. Ebenso lässt sich die Anfangsgeschwindigkeit u ,t (0, x) = v0 (x) darstellen. Wir
erhalten
∞
∞
u ,t (0, x) = −kak sin 0 sin kx + kbk cos 0 sin kx = kbk sin kx. (6.22)
k=1 k=1
Im Vergleich zum Ansatz aus Abschn. 3.4 haben wir in der Lösung in Gl. 6.20 zu-
sätzliche Sinusschwingungen in der Zeit, die zuvor nicht berücksichtigt waren. Die
harmonischen Schwingungen aus Abschn. 3.4 sind ein Spezialfall der Lösung, die
wir über den Produktansatz gefunden haben Ist die Anfangsgeschwindigkeit v0 (x)
gleich null, so sind alle Vorfaktoren bk gleich null, und nur die Kosinusschwingun-
gen bleiben übrig. Der Produktansatz umfasst also mehr Lösungen als der bisherige
Ansatz in Gl. 3.14, wo eine spezielle Zeitabhängigkeit angesetzt wurde.
Beispiel Betrachten wir erneut das System aus Gl. 6.14, jetzt jedoch mit den kon-
kreten Anfangsbedingungen
Die Anfangsbedingungen werden durch Gl. 6.21 und 6.22 berücksichtigt. Beginnen
wir mit der Anfangsbedingung u 0 (x). Eingesetzt in Gl. 6.21 ist
∞
u(0, x) = ak sin kx = 4 sin x + 2 sin 6x.
k=1
Da wir spätestens seit Abschn. 5.2.3 wissen, dass die Eigenformen sin kx für un-
terschiedliche k ∈ N linear unabhängig voneinander sind, können wir einen Koef-
fizientenvergleich vornehmen. Dies haben wir auch im Beispiel zum Produktansatz
6.2 Produktansatz für die Wellengleichung 119
bei der Wärmeleitungsgleichung gemacht, und wir brauchen vor dem langen Wort
keine Angst zu haben. Beim Koeffizientenvergleich vergleichen wir, wie der Name
schon sagt, Koeffizienten, und zwar genau die Koeffizienten, die vor gleichen Sinus-
termen stehen. In diesem Fall erhalten wir also a1 = 4 als Koeffizient von sin x und
a6 = 2 als Koeffizient von sin 6x. Alle anderen Koeffizienten ak , für k ∈ N \ {1, 6},
sind null.
Nach der Berücksichtigung der ersten Anfangsbedingung wird aus Gl. 6.23 die
vorläufige Lösung
∞
u(t, x) = 4 cos t sin x + 2 cos 6t sin 6x + bk sin kt sin kx.
k=1
Zur Bestimmung der bislang unbekannten Koeffizienten bk nutzen wir die Anfangs-
bedingung für die Geschwindigkeit gemäß Gl. 6.22. Wir erhalten
∞
u ,t (0, x) = kbk sin kx = 0,
k=1
und somit sind alle Koeffizienten bk gleich null. Die Lösung des Anfangsrandwert-
problems in diesem Beispiel ist also
In Abb. 6.2 ist die Lösung dargestellt. Wir erkennen kleine örtliche Schwingungen,
die sich zeitlich schnell verändern. Diese werden durch den Term 2 cos 6t sin 6x
in der Lösung dargestellt. Zudem erkennen wir großflächige örtliche Perioden der
Schwingungen, die in dem betrachteten Zeitraum nur etwa eineinhalb Schwingungen
vollführen. Diese sind insbesondere entlang der eingezeichneten schwarzen Linien
zu sehen und werden durch den Term 4 cos t sin x in der Lösung beschrieben. Die
schwarzen Linien können als zeitliche Beobachtung eines Punktes auf der Seite
aufgefasst werden. Des Weiteren ist zu erkennen, dass sich die gesamte Schwingung,
bestehend aus örtlich kleinen und dementsprechend zeitlich schnellen sowie örtlich
größeren und zeitlich langsameren Schwingungen nach einer gewissen Zeit, nämlich
nach einer Periode der Länge 2π , wiederholt. Diese Wiederholung wird unendlich
lange andauern, da in der Lösung kein abklingender Term enthalten ist. Dies ist
darauf zurückzuführen, dass das Modell keine Reibung enthält.
Probieren Sie zur Übung den Produktansatz für eine reibungsbehaftete Schwin-
gung wie in u ,tt + ηu ,t = Pu ,x x , und wählen Sie passende Anfangs- und
Randbedingungen, damit die Rechnung nicht zu technisch wird.
120 6 Produktansatz
Abb. 6.2 Überlagerte Schwingungen als Lösung der Schwingungsgleichung mit den Anfangs-
bedingungen u 0 (x) = 4 sin x + 2 sin 6x und v0 (x) = 0. Zu der kleinen und großen Ortsfrequenz
gehören unterschiedliche zeitliche Frequenzen
−u(x) = 0 für x ∈ ,
(6.24)
u(x) = q(x) für x ∈ ∂,
und setzen den Ansatz in die Laplace-Gleichung ein. Aus Gl. 6.24 folgt
und durch eine Trennung der Veränderlichen sowie nach Division durch
u(t, x) = V (x1 )W (x2 ) entsteht
V (x1 ) W (x2 )
=− .
V (x1 ) W (x2 )
In dieser Gleichung ist der Term auf der linken Seite nur von x1 abhängig und der
Term auf der rechten Seite nur von x2 . Mit der Argumentation, die wir schon in
Abschn. 6.1.1 verwendet haben, ist die gesamte Gleichung konstant in x1 und x2 .
Versuchen Sie, die Argumentation zu wiederholen. Wir erhalten mit einem noch
nicht bekannten c ∈ R die Gleichung
V (x1 ) W (x2 )
=− =c
V (x1 ) W (x2 )
Die Randbedingung lässt sich in Randbedingungen für die vier Kanten aufteilen,
sodass wir
erhalten. Gl. 6.27 und 6.28 bilden ein System gewöhnlicher Differentialgleichungen
mit Randbedingungen. Allerdings führt der Produktansatz in unentwirrbare Wider-
sprüche, wenn Sie eine Lösung u(t, x) als Produkt der beiden Lösungen V (x1 ) und
W (x2 ) von Gl. 6.27 suchen, die auf mehreren Seiten des Rechtecks nichtver-
schwindende Randbedingungen q erfüllen soll. Probieren Sie es aus. Sie erkennen
an den Widersprüchen, dass der jeweilige Ansatz nicht zum Ziel führt.
Ein Ausweg besteht darin, die gesuchte Lösung in vier Summanden zu zerlegen.
Jeder der Summanden hat auf drei Kanten des Rechtecks verschwindende Dirichlet-
Randbedingungen und erfüllt auf der vierten Seite die gegebenen Randwerte aus
Gl. 6.28. Wir werden dies im folgenden Beispiel nachrechnen, und Sie sind mitt-
lerweile geübt darin, die Linearität des Differentialoperators auszunutzen und die
Summanden wieder zu einer Lösung zusammenzusetzen.
An Gl. 6.27 ist bereits zu erkennen, dass V (x1 ) und W (x2 ) unterschiedliche Lö-
sungseigenschaften besitzen. Im Fall der Schwingungsgleichung haben wir ebenfalls
zwei gewöhnliche Differentialgleichungen zweiter Ordnung erhalten, jedoch unter-
schieden diese sich, anders als in Gl. 6.27, nicht im Vorzeichen. Die Lösung der
Schwingungsgleichung besteht aus Eigenformen bezüglich des Orts und aus zeit-
lichen Schwingungsfunktionen. Erwarten wir bei der Laplace-Gleichung beispiels-
weise Eigenformen in x1 , so kann W (x2 ) keine trigonometrische Funktion sein.
122 6 Produktansatz
wobei c ∈ R die Konstante aus Gl. 6.27 ist. Es handelt sich bei Gl. 6.30 um eine
gewöhnliche Differentialgleichung zweiter Ordnung mit homogenen Randbedin-
gungen. Genau diese Differentialgleichung ist uns schon des Öfteren über den Weg
gelaufen, beispielsweise als Gl. 6.8 oder als Gl. 3.20 in Abschn. 3.4. Wir kennen daher
bereits die Lösungen
mit k ∈ N. Mithilfe dieser Gleichung lässt sich, wie wir es auch beim Produkt-
ansatz für die Wärmeleitungs- und die Schwingungsgleichung gesehen haben, die
bislang unbekannte Konstante aus Gl. 6.27 bestimmen, die die beiden gewöhnlichen
Differentialgleichungen für V (x1 ) und W (x2 ) miteinander koppelt. Wir leiten dazu
Vk (x1 ) zweimal ab und setzen diese Ableitung in Gl. 6.30 ein. So erhalten wir, nach
der Konstanten c umgestellt, die Beziehung
c = −k 2 .
6.3 Produktansatz für die Laplace-Gleichung 123
Die Differentialgleichung W (x2 ) = −cW (x2 ) für W (x2 ) aus Gl. 6.27 wird durch
Einsetzen der Konstanten c sowie der Randbedingungen zu
löst die gewöhnliche Differentialgleichung für W (x2 ), wobei wir bis jetzt die Randbe-
dingungen nicht berücksichtigt haben. Diese nutzen wir, um die bislang unbekannten
Faktoren c1 und c2 zu bestimmen.
Aus W (0) = 0 folgt Wk (0) = c1 + c2 = 0, und somit ist c1 = −c2 . Die zweite
Randbedingung ist dann
und erlaubt somit einen Koeffizientenvergleich der Sinusfunktionen. Dies ist nach
Abschn. 5.2.3 möglich, da die Eigenformen orthogonal zueinander sind. Wir erhalten
daher nur für den festen Wert k = 2 tatsächlich eine Lösung des Randwertproblems.
Der Lösungsansatz reduziert sich zu V (x1 ) = V2 (x1 ) und W (x2 ) = W2 (x2 ). Der
Index stammt dabei aus der allgemeinen Form Wk bzw. Vk . Mit dieser Überlegung
ergibt sich für den inhomogenen Teil der Randbedingung
und somit
1 1
W (1) = c1 (e2 − e−2 ) = mit c1 = .
γ2 γ2 (e2 − e−2 )
An dieser Stelle nutzen wir die Darstellung des Sinus hyperbolicus durch Exponen-
tialfunktionen sinh x = 21 (e x − e−x ) aus und schreiben
1
c1 = .
2γ2 sinh 2
1
W (x2 ) = (e2x2 − e−2x2 )
2γ2 sinh 2
1
W (x2 ) = · 2 sinh 2x2 .
2γ2 sinh 2
124 6 Produktansatz
Abb. 6.3 Membranverformung aus dem Beispiel in Abschn. 6.3.1. Am hinteren Rand erkennt man
die Randbedingung u(x1 , 1) = sin 2x1
1
u(x1 , x2 ) = sin 2x1 sinh 2x2 . (6.32)
sinh 2
Hieran erkennen wir die verschiedenen Funktionen, die wir bereits in den allge-
meineren Betrachtungen zur Lösung vorhergesagt haben. Für die Funktion V (x1 )
erhalten wir die wohlbekannten Eigenformen. Aufgrund der unterschiedlichen Vor-
zeichen der Vorfaktoren in den Differentialgleichungen in Gl. 6.27 für V (x1 ) und
W (x2 ) kann W (x2 ) nicht ebenfalls aus Sinustermen aufgebaut sein. Stattdessen ha-
ben wir über den Ansatz allgemeiner Exponentialfunktionen den Sinus hyperbolicus
gefunden, der beim zweimaligen Ableiten im Gegensatz zum Sinus und Kosinus
keinen Vorzeichenwechsel erfährt.
In Abb. 6.3 ist die Lösung der Laplace-Gleichung dargestellt. Wir erkennen die
an drei Seiten auf null eingespannte Membran sowie die Einspannung auf sin 2x1 an
der hinteren Kante. Die Membran bildet von dieser inhomogenen Randbedingung
aus eine Verformung, die sich gemäß der Sinus hyperbolicus-Funktion nach vorne
hin der Null nähert.
6.3.2 In Polarkoordinaten
Wir haben bisher die Laplace-Gleichung auf Gebieten betrachtet, die durch kartesi-
sche Koordinaten beschrieben sind. Im letzten Beispiel war dies ein Rechteck. Die
Beschreibung dieses rechteckigen Gebiets in kartesischen Koordinaten ist mit dem
Teilen eines rechteckigen Kuchens in rechteckige Stücke vergleichbar. Das erscheint
natürlich. Man teilt einen Blechkuchen intuitiv in rechteckige Stücke.
6.3 Produktansatz für die Laplace-Gleichung 125
Jetzt wollen wir uns kreisförmige Gebiete vornehmen. Ebenso, wie es verwun-
derlich erscheint, einen runden Kuchen in eckige Stücke zu teilen, so ist es aus
einem mathematischen Blickwinkel sonderbar, und es wirkt nur in wenigen Fällen
natürlich, ein kreisförmiges Gebiet durch kartesische Koordinaten zu beschreiben.
In Abschn. A.2 finden Sie den Transformationssatz für Integrale. Dieser gibt die
Veränderungen eines Integrals bei Veränderung der beschreibenden Koordinaten an.
Das Integral kann man als einen Operator
¯ → R mit
: C() : f → f (x) da
auffassen. Als Operator bildet das Integral die Funktion f auf den Wert des Inte-
grals ab. Aus diesem Blickwinkel beschreibt der Transformationssatz in Gl. A.7 die
Veränderung des Operators bei Änderung der Koordinaten, also unter einer Koor-
dinatentransformation. Damit ist der Gedanke nicht verwunderlich, dass sich ein
Differentialoperator bei Änderung der Koordinaten ebenfalls verändert, denn die
Membranverformung als physikalische Realität bleibt in anderen Koordinaten die-
selbe. Wir betrachten jetzt die Veränderung des Laplace-Operators beim Wechsel zu
Polarkoordinaten, um anschließend mit dem Produktansatz in Polarkoordinaten die
Lösung der Laplace-Gleichung auf kreisförmigen Gebieten anzugeben.
∂u ∂u ∂ x1 ∂u ∂ x2
= + .
∂r ∂ x1 ∂r ∂ x2 ∂r
126 6 Produktansatz
Mit
∂ x1 ∂ ∂ x2 ∂
= (r cos ϕ) = cos ϕ sowie = (r sin ϕ) = sin ϕ
∂r ∂r ∂r ∂r
folgt
∂u ∂u ∂u
= cos ϕ + sin ϕ .
∂r ∂ x1 ∂ x2
Wir können damit die Ableitung nach r in kartesischen Koordinaten als Differen-
tialoperator
∂ ∂ ∂
u = cos ϕ + sin ϕ u
∂r ∂ x1 ∂ x2
darstellen. Die so entwickelte Darstellung verwendet nur Ableitungen nach den kar-
tesischen Koordinaten. Wir werden weitere Ableitungen bestimmen, die zweiten
örtlichen Ableitungen als Differentialoperator zusammenstellen und durch Ablei-
tungen nach dem Radius r und dem Winkel ϕ ausdrücken. Behalten Sie dieses Ziel
bei den folgenden technisch wirkenden Rechnungen im Blick. Wir machen uns auf
die Suche nach partiellen Ableitungen von u nach den Polarkoordinaten, sodass
wir eine Kombination von Ableitungen finden, die zusammen gerade wieder den
Laplace-Operator in kartesischen Koordinaten liefert.
Wir schreiben die zweite Ableitung als die zweifache Anwendung der ersten und
erhalten den Ausdruck
∂ 2u ∂ ∂u ∂ ∂ ∂ ∂
= = cos ϕ + sin ϕ cos ϕ + sin ϕ u.
∂r 2 ∂r ∂r ∂ x1 ∂ x2 ∂ x1 ∂ x2
Durch das Hintereinanderausführen der beiden partiellen Ableitungen – beachten
Sie bitte die Ähnlichkeit mit der ersten binomischen Formel – erhalten wir
∂ 2u ∂ 2u ∂ 2u ∂ 2u
= cos2 ϕ 2 + 2 sin ϕ cos ϕ + sin2 ϕ 2 . (6.33)
∂r 2 ∂ x1 ∂ x1 ∂ x2 ∂ x2
Wir schreiben die zweite Ableitung nach dem Radius r also als Summe zweiter
Ableitungen nach den kartesischen Koordinaten x1 und x2 mit von ϕ abhängigen
Vorfaktoren sowie einem Term mit gemischten Ableitungen.
Da die Darstellung der kartesischen Koordinaten in Polarkoordinaten den Radius
r und den Winkel ϕ enthält, erscheint es zielführend, die Ableitung von u nach dem
Winkel ϕ näher zu betrachten und in Ableitungen nach den kartesischen Koordina-
ten darzustellen. Wir erhalten erneut mit der Kettenregel und durch Verwenden der
partiellen Ableitungen
∂ x1 ∂ ∂ x2 ∂
= (r cos ϕ) = −r sin ϕ sowie = (r sin ϕ) = r cos ϕ
∂ϕ ∂ϕ ∂ϕ ∂ϕ
den Ausdruck
∂u ∂u ∂ x1 ∂u ∂ x2 ∂u ∂u
= + = −r sin ϕ + r cos ϕ .
∂ϕ ∂ x1 ∂ϕ ∂ x2 ∂ϕ ∂ x1 ∂ x2
6.3 Produktansatz für die Laplace-Gleichung 127
Die erste Ableitung nach dem Winkel ϕ entspricht also in kartesischen Koordinaten
der Summe
∂ ∂ ∂
u = −r sin ϕ + r cos ϕ u. (6.34)
∂ϕ ∂ x1 ∂ x2
Durch Einsetzen dieses Ausdrucks für die erste Ableitung nach dem Winkel und
unter Verwendung der Produktregel finden wir
∂ 2u ∂ ∂u ∂u
= −r sin ϕ + r cos ϕ
∂ϕ 2 ∂ϕ ∂ x1 ∂ x2
∂u ∂ ∂u ∂u ∂ ∂u
= −r cos ϕ − r sin ϕ − r sin ϕ + r cos ϕ .
∂ x1 ∂ϕ ∂ x1 ∂ x2 ∂ϕ ∂ x2
Gemäß unserer Generalamnestie aus Abschn. 5.2.5 ist die Funktion u(r, ϕ) zweimal
stetig differenzierbar, sodass wir die partiellen Ableitungen nach dem Winkel ϕ und
x1 bzw. nach dem Winkel ϕ und x2 vertauschen dürfen. Somit ist
∂ 2u ∂u ∂ ∂u ∂u ∂ ∂u
= −r cos ϕ − r sin ϕ − r sin ϕ + r cos ϕ ,
∂ϕ 2 ∂ x1 ∂ x1 ∂ϕ ∂ x2 ∂ x2 ∂ϕ
∂u
und für die Ableitung ∂ϕ setzen wir den Ausdruck aus Gl. 6.34 ein. Es entsteht
∂ 2u ∂u ∂ 2u ∂ 2u
= −r cos ϕ − r sin ϕ −r sin ϕ + r cos ϕ − ...
∂ϕ 2 ∂ x1 ∂ x12 ∂ x1 ∂ x2
∂u ∂ 2u ∂ 2u
. . . − r sin ϕ + r cos ϕ −r sin ϕ + r cos ϕ 2 ,
∂ x2 ∂ x1 ∂ x2 ∂ x2
was wir zu
∂ 2u ∂ 2u ∂ 2u ∂ 2u
= r 2 sin2 ϕ 2 − 2r 2 sin ϕ cos ϕ + r 2 cos2 ϕ 2 − . . .
∂ϕ 2 ∂ x1 ∂ x1 ∂ x2 ∂ x2
∂u ∂u
. . . − r cos ϕ − r sin ϕ (6.35)
∂ x1 ∂ x2
zusammenfassen. Die zweite Ableitung von u nach dem Winkel ϕ enthält ebenso wie
die zweite Ableitung von u nach dem Radius r zweite Ableitungen von u nach den
kartesischen Koordinaten. Wir halten kurz inne und betrachten, welche Terme wir
in den bisher berechneten Ableitungen finden. In Gl. 6.33 haben wir unter anderem
die Terme
∂u ∂u
cos2 ϕ + sin2 ϕ ,
∂ x1 ∂ x2
128 6 Produktansatz
Die Vorfaktoren vor den zweiten Ableitungen nach den kartesischen Koordinaten
addieren sich nach dem Satz des Pythagoras zu eins, wenn vorher die Ableitung in
Gl. 6.35 durch den Faktor r 2 dividiert wird. Wir erinnern uns: Unser Ziel ist es, eine
Ausdruck in den Ableitungen nach dem Radius r und dem Winkel ϕ zu finden, der
gerade dem Laplace-Operator in kartesischen Koordinaten entspricht. Wenn wir also
eine Kombination aus der zweiten Ableitung nach dem Radius r und der zweiten
Ableitung nach dem Winkel ϕ finden, die zusammen dem Laplace-Operator in kar-
tesischen Koordinaten mit zusätzlichen Termen entspricht, so brauchen wir nur noch
Ausdrücke in den Ableitungen nach r und ϕ zu finden, die die zusätzlichen Terme
aufheben. Mit unseren bisherigen Überlegungen haben wir
∂ 2u 1 ∂ 2u ∂ 2u ∂ 2u ∂ 2u
+ 2 2 = cos2 ϕ 2 + 2 sin ϕ cos ϕ + sin2 ϕ 2 + . . .
∂r 2 r ∂ϕ ∂ x1 ∂ x1 ∂ x2 ∂ x2
∂ 2u ∂ 2u 2 ∂ u
2
. . . + sin2 ϕ − 2 sin ϕ cos ϕ + cos ϕ − ...
∂ x12 ∂ x1 ∂ x2 ∂ x22
1 ∂u 1 ∂u
. . . − cos ϕ − sin ϕ .
r ∂ x1 r ∂ x2
Mit dem Satz des Pythagoras cos2 ϕ + sin2 ϕ = 1 ergänzen sich die Vorfaktoren
vor den zweiten Ableitungen nach den kartesischen Koordinaten zu 1. Genau so
haben wir den Ausdruck zusammengestellt. Des Weiteren bemerken wir, dass sich
die Terme mit den gemischten Ableitungen gegenseitig aufheben. Es bleibt
∂ 2u 1 ∂ 2u ∂ 2u ∂ 2u 1 ∂u ∂u
+ = + − cos ϕ + sin ϕ (6.36)
∂r 2 r 2 ∂ϕ 2 ∂ x12 ∂ x22 r ∂ x1 ∂ x2
übrig. Im Rückblick auf die bisher berechneten Ableitungen erkennen wir, dass
der Term in der Klammer gerade der ersten Ableitung von u nach dem Radius r
entspricht. Eine Addition von r1 ∂u
∂r auf beiden Seiten von Gl. 6.36 bewirkt demnach,
dass auf der rechten Seite nur der Laplace-Operator in kartesischen Koordinaten und
auf der linken Seite eine Kombination von partiellen Ableitungen nach dem Radius
r und dem Winkel ϕ stehen. Genau solch einen Ausdruck haben wir gesucht und
schließlich mit
∂ 2u 1 ∂u 1 ∂ 2u ∂ 2u ∂ 2u
+ + = + = u
∂r 2 r ∂r r 2 ∂ϕ 2 ∂ x12 ∂ x22
gefunden. Der Laplace-Operator in Polarkoordinaten ist also
∂2 1 ∂ 1 ∂2
= + + 2 2. (6.37)
∂r 2 r ∂r r ∂ϕ
6.3 Produktansatz für die Laplace-Gleichung 129
Wir haben mit den zugegebenermaßen technisch und behäbig wirkenden Rechnun-
gen die Umrechnung des Differentialoperators von kartesischen Koordinaten in
Polarkoordinaten gefunden. Dabei haben wir gemerkt, dass Koordinatentransforma-
tionen kniffelig sein können. Dies ist kein Sonderfall, sondern meistens so. Lassen
Sie sich bei der Durchführung von Koordinatentransformationen nicht entmutigen.
Als Orientierungshilfe auf dem Weg dient eine Kontrolle der Einheiten. In Gl. 6.37
finden wir für alle Terme die gleiche Einheit. Wird die Auslenkung u in Metern
gemessen, so finden wir als gemeinsame Einheit aller Terme m1 .
Mit der Darstellung unseres Laplace-Operators in Polarkoordinaten beschreiben
wir nun die Laplace-Gleichung auf kreisförmigen Gebieten, ohne den runden Ku-
chen in rechteckige Stücke zu teilen. Legen wir los.
beschreiben. Auf betrachten wir eine isotrope homogene Membran, die wir am
Rand ∂ auf der Höhe q(ϕ) einspannen. Die Verformung der Membran ist die
Lösung des Randwertproblems
Bei der Diskussion des Maximumprinzips für Gl. 5.5, welches ganz am Ende dieses
Kapitels als ein Teilergebnis unserer Überlegungen für ein kreisförmiges Gebiet
spezifiziert wird, haben wir q als Position eines Drahts vorgestellt, in dessen Inne-
ren sich eine Seifenblase befindet. Die Seifenblasenschicht können wir, unter einer
Einschränkung, als Lösung der Laplace-Gleichung ansehen. Die Einschränkung ist
unsere Beschreibung der idealisierten Welt, in der wir nur allzu gerne die Schwer-
kraft vernachlässigen. Die Berücksichtigung der Schwerkraft in obiger Gleichung
führt zu einer rechten Seite f , die aus der Laplace-Gleichung die Poisson-Gleichung
macht. Die Auswirkung exogener Kräfte betrachten wir erst im Kap. 7. Jetzt stellen
wir uns lieber die idealisierte Seifenwasserschicht in einer idealisierten Welt ohne
Schwerkraft vor.
Den Laplace-Operator stellen wir natürlich gemäß Gl. 6.37 als Ausdruck der Ab-
leitungen nach dem Radius r und dem Winkel ϕ dar. Die Laplace-Gleichung ist
von beiden Variablen r und ϕ abhängig. Die Randbedingung ist nur vom Winkel
abhängig, da der Radius r am Rand ∂ dem Radius R des Gebiets entspricht.
Der Produktansatz für dieses Problem in Polarkoordinaten ist
u(r, ϕ) = W (r )V (ϕ).
Wir wählen also den Ansatz, dass unsere Lösung u, die die Verformung der kreisför-
migen Membran beschreibt, als Produkt aus einer vom Radius abhängigen Funktion
130 6 Produktansatz
W (r ) und einer vom Winkel abhängigen Funktion V (ϕ) darstellbar ist. Die Laplace-
Gleichung wird mit dem Laplace-Operator in Polarkoordinaten und Einsetzen des
Produktansatzes zu
∂ 2u 1 ∂u 1 ∂ 2u 1 1
+ + = W (r )V (ϕ) + W (r )V (ϕ) + 2 W (r )V (ϕ) = 0.
∂r 2 r ∂r r ∂ϕ
2 2 r r
Wie zuvor möchten wir die Variablen voneinander trennen, d. h., wir möchten einen
Ausdruck erhalten, bei dem auf einer Seite des Gleichheitszeichens nur vom Radius
abhängige Ausdrücke und auf der anderen Seite nur vom Winkel abhängige Aus-
drücke stehen. Dazu multiplizieren wir zunächst mit dem Faktor r 2 und teilen die
Ableitungen nach verschiedenen Variablen auf die beiden Seiten der Gleichung auf.
So erhalten wir
Die Trennung der Veränderlichen schließen wir mittels Division durch die Lösung
W (r )V (ϕ) ab, sodass
r 2 W (r ) + r W (r ) V (ϕ)
=− = c = const. (6.38)
W (r ) V (ϕ)
gilt. Erinnern Sie sich an die Begründung, weshalb diese Gleichung konstant ist.
Blättern Sie notfalls zurück, und lesen Sie die Argumentation bei einer der vorhe-
rigen Gleichungen nach. Wir erhalten durch die Trennung der Veränderlichen zwei
gewöhnliche Differentialgleichungen, eine für die radiusabhängige Funktion W (r )
und eine für die vom Winkel abhängige Funktion V (ϕ). Die Differentialgleichung
für die winkelabhängige Funktion V (ϕ) erscheint einfacher, weshalb wir mit deren
Bearbeitung beginnen.
Wir erhalten die Differentialgleichung V (ϕ) = −cV (ϕ). Die Funktion V (ϕ) be-
schreibt die Änderung der Lösung u(r, ϕ) bei Änderung des Winkels ϕ. Anschaulich
laufen wir bei einer Winkeländerung und gleichbleibendem Radius auf einem Kreis
mit festem Radius um den Mittelpunkt der Membran herum. Wir starten bei ϕ = 0
und gelangen nach einem Winkelumlauf von 2π zurück zum Ausgangspunkt. Dies
haben wir jedoch noch an keiner Stelle aufgeschrieben. Tun wir dies, erhalten wir die
Forderung V (2π ) = V (0), die nichts anderes sagt, als dass wir bei obigem Umlauf
auf der Membran nach einem zurückgelegten Winkel von 2π den Ausgangspunkt
wieder erreichen. Wäre diese Bedingung nicht erfüllt, so hätten wir einen Schnitt
in der Membran und die Ränder des Schnitts wären auf unterschiedlichen Höhen.
Am Beispiel der Seifenblase merken wir schnell, dass dies keine gute Beschreibung
wäre. Außerdem hat die Membran beim Winkel 0, was derselbe Winkel ist wie der
Winkel 2π , keinen Knick.
Insgesamt lösen wir
womit gefordert wird, dass V (ϕ) eine differenzierbare periodische Funktion ist.
Wir kennen Gl. 6.39 aus dem Ende von Abschn. 5.2.3 als das Randwertproblem
zur klassischen Fourier-Reihe 2π -periodischer Funktionen. Die winkelabhängige
Funktion ist also
Vk (ϕ) = c1 cos kϕ + c2 sin kϕ
mit beliebigen c1 , c2 ∈ R und k = 0, 1, 2, . . ..
Nun widmen wir uns der Differentialgleichung der radiusabhängigen Funktion
W (r ). Mit c = k 2 erhalten wir aus Gl. 6.38
r 2 W (r ) + r W (r )
= k 2 bzw. r 2 W (r ) + r W (r ) − k 2 W (r ) = 0.
W (r )
α(α − 1) + α − k 2 = 0.
Lösungen der Laplace-Gleichung in Polarkoordinaten. Hierbei ist der Term a20 in An-
lehnung an die klassische Fourier-Darstellung einer Funktion gewählt. Er beschreibt
die Höhenverschiebung der Membran als Ganzes.
132 6 Produktansatz
∞
ã0 k ãk b̃k
u(r, ϕ) = + r k
cos kϕ + k sin kϕ (6.42)
2 R R
k=1
des Randwertproblems.
Gl. 6.42 liefert auch für unstetige Randbedingungen q Lösungen der Laplace-
Gleichung, die im Gebiet stetig und nur auf dem Rand ∂ unstetig sind, denn
die Fourier-Reihe der Randbedingung in Gl. 6.41 konvergiert im L 2 -Sinne auch für
unstetige Funktionen. Damit erhalten wir passende Koeffizienten für die Angabe
der Lösung. Unstetige Randbedingungen treten z. B. bei der Beschreibung elektro-
statischer Felder auf, wenn der Rand von zwei voneinander getrennten elektrischen
Leitern gebildet wird, auf denen unterschiedliche Potentiale gegeben sind. Dort, wo
die beiden Leiter sich sehr nahe kommen, haben die Dirichlet-Randwerte Sprünge.
Übrigens ist die Lösung u auch für unstetige Randwerte q im Innern von , also
auch kurz neben dem Rand, nicht nur stetig, sondern sogar beliebig oft differenzier-
bar. Aber das zu beweisen, ist eine längere Geschichte.
Da die Laplace-Gleichung wie in Abschn. 4.3 besprochen auch ein stationäres elek-
trisches Potential in einem Material mit konstanter Dielektrizität und ohne Ladungen
beschreibt, heißen die Lösungen der Laplace-Gleichung Potentialfunktionen.
der Mitte ist folglich durch den Mittelwert über die Auslenkung am Rand gegeben,
was durch
1
u(0) = u(x) ds (6.43)
|∂|
∂
mit der Länge des Randes |∂| beschrieben wird. Für das zweidimensionale Gebiet
ist die Länge des Randes |∂| = 2π R. Das Randintegral in Gl. 6.43 wird durch
die Transformation in Polarkoordinaten zu einem Integral über ϕ, wobei die Funk-
tionaldeterminante wegen ds = R dϕ dem festen Radius R auf dem Rand entspricht.
Die Lösung auf dem Rand ist gerade durch die Randbedingungen q(ϕ) vorgegeben.
Somit wird Gl. 6.43 zur Mittelpunkteigenschaft
2π
1
u(0) = q(ϕ) dϕ. (6.44)
2π
ϕ=0
Diesen Gedanken führen wir jetzt weiter und bemerken, dass auf charmante Art und
Weise eine sehr ähnliche Beziehung für jeden Punkt auf der Membran gilt. Prüfen Sie,
dass wir die Mittelpunkteigenschaft mit Gl. 6.41 und 6.42 auch schlicht nachrechnen
können.
Wir beginnen damit, dass wir um jeden Punkt x ∈ auf der Membran einen Kreis
ziehen, sodass alle Punkte auf dem Kreis immer noch auf der Membran liegen. Je
weiter wir vom Rand entfernt sind, desto größer darf der Kreis sein, und für Punkte
in der Nähe des Randes müssen wir dementsprechend etwas aufpassen und kleinere
Kreise wählen.
Wir nehmen uns einen beliebigen Punkt x0 ∈ und einen passenden Kreis mit
Radius R̃, der den gewählten Punkt x0 als Mittelpunkt hat und komplett innerhalb
der Membran liegt. Wir fordern also
= {x ∈ R2 : x − x0 < R̃} ⊂ .
Wir nehmen an, dass wir die Verformung u(x) der Membran bereits kennen. Jetzt
folgern wir, dass die obige Mittelpunktseigenschaft für jeden beliebigen Punkt x0
mit einem zugehörigen Kreis gilt. Hierzu interpretieren wir die Auslenkungen
u(x) auf dem Rand ∂ unseres kleineren Kreises um den ausgewählten Punkt
x0 = (r0 cos ϕ0 , r0 sin ϕ0 )T als neue Randbedingungen einer Laplace-Gleichung, die
auf gilt. Somit ist x0 der Mittelpunkt des verkleinerten Membranausschnitts. Die
Mittelpunktseigenschaft gilt auch für x0 , d. h., der Wert der Auslenkung u(x0 ) ergibt
sich als Mittelwert der Auslenkungen über den Rand ∂. Dies ist
1
u(x0 ) = u(x) ds. (6.45)
2π R̃
∂
134 6 Produktansatz
Wir nennen Gl. 6.45 als allgemeinere Form von Gl. 6.44 Mittelwerteigenschaft, um
zu verdeutlichen, dass diese Beziehung für jeden beliebigen Punkt auf der Membran
mit einem passenden Kreis gilt.
Dieser Eigenschaft der Laplace-Gleichung werden wir in Kap. 11 erneut begeg-
nen, und zwar bei der Besprechung der Poisson-Formel, mit der wir – zumindest
theoretisch – eine Rechenvorschrift haben, um u(x) an einer Stelle x ∈ direkt aus
q zu berechnen.
Beispiel Wir betrachten eine homogene isotrope Membran mit der Materialkon-
stanten a = 1 und mit dem Radius 2, sodass
die Fläche der Membran beschreibt. Auf dem Rand ∂ ist die Membran fest einge-
spannt, und die Einspannung ist durch q(ϕ) = 1 + sin 3ϕ gegeben. Wir erhalten die
Laplace-Gleichung
1
23 b3 = 1 und damit b3 = sowie bk = 0 ∀k = 3.
8
Somit ist die Lösung des Randwertproblems
r3
u(r, ϕ) = 1 + sin(3ϕ).
8
In Abb. 6.4 ist die Lösung dargestellt. Der kleine Kreis hat den Mittelpunkt x0 mit
der Verformung u(x0 ), die gerade der Mittelwert der Auslenkung am Rand ∂ ist.
Zudem erkennen wir u(0) = 1 sowie mit Gl. 6.45
2π 2π
1 1 1
q(ϕ) ds = q(ϕ) dϕ = 1 + sin 3ϕ dϕ = 1.
4π ∂ 2π 2π
ϕ=0 ϕ=0
Die Mittelwerteigenschaft aus Gl. 6.44 können wir also für diesen konkreten Fall
nachrechnen. Des Weiteren ist zu erkennen, dass das Maximum der Lösung auf
dem Rand ∂ angenommen wird. Diese Eigenschaft von Lösungen der Laplace-
Gleichung haben wir bereits in Abschn. 5.1.2 als Maximumprinzip kennengelernt.
Spektralzerlegung
7
Mit dem Produktansatz haben wir in Kap. 6 die Lösung homogener partieller Diffe-
rentialgleichungen bestimmt. Hierbei haben wir nach dem Einsetzen des Produkt-
ansatzes zwei gewöhnliche Differentialgleichungen, eine für die ortsabhängige
und eine für die zeitabhängige Funktion, gelöst. Wir haben dabei zunächst mit
Differentialgleichungen mit homogenen Randbedingungen begonnen und unsere
Überlegungen in Abschn. 6.1.3 auf Differentialgleichungen mit inhomogenen Rand-
bedingungen übertragen.
Jetzt starten wir wieder mit Differentialgleichungen mit homogenen Randbedin-
gungen, erlauben jedoch Inhomogenitäten in der Differentialgleichung. Dies sind
Funktionen f (t, x), die wir als exogene Wärmezufuhr oder Wärmeabfuhr oder exo-
gene Kraft auffassen. Die Grundidee ist dabei, dass wir die Lösung in Ortsfrequenzan-
teile Uk (x) mit zeitlich veränderlichen Koeffizientenfunktionen γk (t) zerlegen. Wir
verwenden also den Ansatz
∞
u(t, x) = γk (t)Uk (x), (7.1)
k=1
der eine Reihenentwicklung wie aus dem Produktansatz ist, nur dass wir hier die
zeitabhängigen Anteile γk (t) noch nicht festgelegt haben. Der Ansatz in Gl. 7.1
heißt Spektralzerlegung, weil die Funktion u = u(t, x) zu jedem Zeitpunkt in die
Anteile zu den einzelnen Eigenformen zerlegt wird. Da zu jeder Eigenform eine
Eigenfrequenz gehört und alle Eigenfrequenzen das Spektrum bilden, zerlegen wir
die Funktion u gemäß ihrer Frequenzanteile bzw. gemäß ihres Spektrums. Sie ken-
nen diese Zerlegung bereits aus Gl. 5.25, nur dass Gl. 7.1 die Zerlegung für eine
zeitabhängige Funktion formuliert, deren Frequenzanteile sich mit der Zeit ändern.
In den folgenden Abschn. 7.1 und 7.2 diskutieren wir die Spektralzerlegung zuerst
für die Wärmeleitungsgleichung und anschließend anhand einer Poisson-Gleichung.
Die Ortsfrequenzanteile Uk (x) sind wieder die Eigenformen, die wir hier für einen
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 137
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_7
138 7 Spektralzerlegung
Die Differentialgleichung haben wir in Gl. 5.2 als Prototyp der Wärmeleitungs-
gleichung vorgestellt. Das Anfangsrandwertproblem beschreibt beispielsweise die
Wärmeverteilung in einem dünnen homogenen Stab der Länge π , der an beiden En-
den auf der Temperatur 0 ◦ C gehalten wird. Zudem bewirkt die Funktion f (t, x) eine
exogene Wärmezufuhr bzw. Wärmeabfuhr im Stab. Die Wärmeverteilung zu Beginn
der Beobachtung ist u 0 (x).
In Abschn. 6.1 haben wir bereits darüber gestaunt, dass die Eigenformen aus der
Schwingungsgleichung beim Produktansatz für die Wärmeleitungsgleichung wieder
auftauchen. Aber wir kennen die Eigenformen Uk (x) = sin kx der Schwingung einer
Saite mit homogenen Dirichlet-Randbedingungen auf dem Gebiet (0, π ) schon aus
Abschn. 3.4. Mit diesen Eigenformen wird aus Gl. 7.1 der Ansatz
∞
u(t, x) = γk (t) sin kx. (7.2)
k=1
Wir benötigen wieder die erste Ableitung nach der Zeit und die zweite Ableitung
nach dem Ort von u(t, x), und das sind
∞
∞
u ,t (t, x) = γk (t) sin kx und u ,x x (t, x) = − γk (t)k 2 sin kx.
k=1 k=1
dar. Dabei kann die Fourier-Reihe von f = f (t, x) für jeden Zeitpunkt t andere Ko-
effizienten haben. Dies zeigt sich an der Zeitabhängigkeit der Fourier-Koeffizienten
αk = αk (t). Eingesetzt in die inhomogene Wärmeleitungsgleichung liefert Gl. 7.2
∞
∞
∞
γk (t) sin kx = − γk (t)k 2 sin kx + αk (t) sin kx,
k=1 k=1 k=1
Wir haben also wieder Gleichungen, in denen alle Summanden die linear unab-
hängigen Eigenformen enthalten. Der Koeffizientenvergleich liefert für jedes k ein
Anfangswertproblem
Die gegebene rechte Seite f (t, x) besitzt die wunderbare Eigenschaft, dass sie
bereits als ihre Fourier-Reihe in den Eigenformen dargestellt ist. Außerdem hat diese
Fourier-Reihe nur zwei Summanden, und die Koeffizienten αk (t) aus Gl. 7.3 sind
α2 (t) = 5e−4t und α6 (t) = 3e−2t , und für alle anderen k ∈ N \ {2, 6} gilt αk (t) = 0.
In dieser Schreibweise drücken wir auch die Koeffizienten βk aus Gl. 7.3 als β1 = 4
und β6 = 2 sowie βk = 0 für alle anderen k ∈ N \ {1, 6} aus.
Wir können also Gl. 7.4 für alle k ∈ N spezifizieren. Wir erhalten
Die letzte Gleichung liefert direkt γk (t) = 0 für k ∈ N \ {1, 2, 6}. So bleiben also die
interessanteren Fälle mit k = 1, k = 2 und k = 6 übrig. Die Inhomogenität f (t, x)
enthält Terme zu den Eigenformen U2 (x) = sin 2x und U6 (x) = sin 6x. Folglich
erwarten wir keine Veränderung des Frequenzanteils γ1 (t) im Vergleich zur Lösung
des homogenen Problems. Wir finden γ1 (t) = 4e−t , was genau V1 (t) aus dem Pro-
duktansatz entspricht.
Für k = 2 haben wir eine inhomogene lineare gewöhnliche Differentialgleichung
erster Ordnung. Aus der Beschäftigung mit gewöhnlichen Differentialgleichungen,
auf die Sie jetzt, da Sie ein Buch über partielle Differentialgleichungen in den Händen
halten, hoffentlich zurückblicken, wissen wir, wie solche Gleichungen gelöst werden.
Wir beginnen mit der homogenen Differentialgleichung und lösen anschließend die
inhomogene Gleichung durch Variation der Konstanten.
Achten Sie bitte auf die Dopplung der Namen: Die homogene gewöhnliche Dif-
ferentialgleichung lautet
γ2,hom (t) = −4γ2,hom (t).
Ihre Lösung hat das Abklingverhalten γ2,hom (t) = ce−4t der zweiten Eigenform in
der homogenen Wärmeleitungsgleichung. Die Variation der Konstanten
γ2 (t) = c(t)e−4t führt uns auf die Lösung der inhomogenen gewöhnlichen Diffe-
rentialgleichung, und deren Inhomogenität 5e−4t stammt aus der rechten Seite f der
inhomogenen Wärmeleitungsgleichung.
Indem wir γ2 (t) = c(t)e−4t mit γ2 (t) = c (t)e−4t − 4c(t)e−4t in die inhomogene
Differentialgleichung für γ2 (t) einsetzen, ergibt sich
Das Aufräumen dieser Terme führt auf die Integrationsaufgabe c (t) = 5 mit
c(0) = 0, deren Lösung c(t) = 5t ist. Somit erhalten wir den Koeffizienten
γ2 (t) = 5t · e−4t .
Zuletzt lösen wir die inhomogene gewöhnliche Differentialgleichung für γ6 (t).
Wir beginnen erneut mit der homogenen Differentialgleichung
und erhalten γ6 (t) = ce−36t . Die Variation der Konstanten, das Ableiten der entstan-
denen Funktion und das Einsetzen in die inhomogene Differentialgleichung führt zur
Integrationsaufgabe
c (t) = 3e34t mit c(0) = 2.
Rechnen Sie diesen Schritt langsam nach. Durch die Integration
t t
c(τ )d τ = c(t) − c(0) = 3e34t d τ
0 0
die beispielsweise die Auslenkung u(x) einer eingespannten Membran unter einer
wirkenden Kraft f (x) beschreibt.
Wir erinnern uns an das Eigenwertproblem aus Gl. 3.18 und übertragen es auf
den negativen Laplace-Operator mit homogenen Dirichlet-Randbedingungen. Wir
erhalten das Eigenwertproblem
dar. Die skalaren Koeffizienten αk ∈ R sind von keiner weiteren Variablen abhängig
und als Fourier-Koeffizienten einer bekannten Funktion f (x) ebenfalls als bekannt
anzusehen. Zumindest theoretisch kann man sie mit den Methoden aus Abschn. 5.2.3
berechnen.
Die Spektralzerlegung der gesuchten Funktion u ist die Reihenentwicklung aus
dem Satz von Fischer-Riesz, nämlich
∞
u(x) = γk Uk (x), (7.9)
k=1
wobei die Koeffizienten γk ∈ R im Vergleich zu Gl. 7.2 jetzt von keiner weiteren
Variablen abhängen. Unser Ziel ist es, die Koeffizienten γk zu bestimmen.
Hierzu setzen wir den Ansatz aus Gl. 7.9 in die Poisson-Gleichung aus Gl. 7.6 ein
und erhalten wegen Gl. 7.8
∞
∞
∞
− u(x) = − γk Uk (x) = λk γk Uk (x) = αk Uk (x). (7.10)
k=1 k=1 k=1
Wir machen einen kurzen Ausflug in die lineare Algebra, denn die Eigenfor-
men separieren wie die Eigenvektoren einer regulären, diagonalisierbaren Matrix
K ∈ Rn×n im linearen Gleichungssystem K y = b. Die Lösung y ∈ R lässt sich als
endliche Linearkombination der Eigenvektoren v1 , . . . , vn darstellen. Wir schreiben
y = γ1 v1 + . . . + γn vn mit γk ∈ R für k = 1, . . . , n.
b = α1 v1 + . . . + αn vn
7.2 Spektralzerlegung für die Poisson-Gleichung 143
K y = λ1 γ1 v1 + . . . + λn γn vn = α1 v1 + . . . + αn vn = b
k1 π 2 k2 π 2
=− − Uk1 ,k2 (x1 , x2 ) − Uk1 ,k2 (x1 , x2 )
a b
k12 k22
= π2 + Uk1 ,k2 (x1 , x2 ) = λk1 ,k2 Uk1 ,k2 (x1 , x2 ).
a2 b2
144 7 Spektralzerlegung
Somit ist λk1 ,k2 der Eigenwert zur Eigenform Uk1 ,k2 des negativen Laplace-Operators.
Des Weiteren erfüllt Uk1 ,k2 die homogenen Dirichlet-Randbedingungen
Uk1 ,k2 (0, x2 ) = Uk1 ,k2 (x1 , 0) = Uk1 ,k2 (a, x2 ) = Uk1 ,k2 (x1 , b) = 0.
π x1 π x2 3π x1 2π x2
f (x) = f (x1 , x2 ) = 3 sin · sin + 2 sin · sin
a b a b
berechnen wir nun die Lösung der Poisson-Gleichung. Wir erkennen, dass f bereits
als eine Linearkombination der Eigenformen Uk1 ,k2 vorliegt. Wir lesen die Koeffi-
zienten αk1 ,k2 aus Gl. 7.8 ab und finden zugehörig zur Eigenform U1,1 den Koeffizi-
enten α1,1 = 3 sowie zur Eigenform U3,2 den Koeffizienten α3,2 = 2. Alle anderen
Koeffizienten αk1 ,k2 sind null.
Die Eigenwerte der auftretenden Eigenformen sind
1 1 a 2 + b2
λ1,1 = π 2 2
+ 2 = π2 und
a b a 2 b2
9 4 4a 2 + 9b2
λ3,2 = π 2 + 2 = π2 .
a2 b a 2 b2
Wir erhalten als Koeffizienten γk1 ,k2 aus Gl. 7.9 die Werte
3a 2 b2 2a 2 b2
γ1,1 = und γ3,2 = .
π 2 (a 2 + b2 ) π 2 (4a 2 + 9b2 )
Die Lösung u(x1 , x2 ) ist somit u(x1 , x2 ) = γ1,1 U1,1 (x1 , x2 ) + γ3,2 U3,2 (x1 , x2 ) mit
den eben gefundenen Koeffizienten und Eigenformen. Also ist
3a 2 b2 π x1 π x2
u(x1 , x2 ) = sin · sin + ...
π 2 (a 2+b )2 a b
2a 2 b2 3π x1 2π x2
... sin · sin .
π (4a 2 + 9b2 )
2 a b
In Abb. 7.1 ist die Auslenkung u der Membran dargestellt. Die erste Eigenform U1,1
ist deutlicher wiedererkennbar als die Eigenform U3,2 .
Auch an der Lösung u erkennen wir, dass die exogenen Kräfte zur höherfre-
quenten Eigenform U3,2 relativ zu ihrer nominellen Größe kleinere Auslenkungen
hervorrufen als die exogenen Kräfte zur niederfrequenten Eigenform U1,1 . Denken
Sie darüber nach, warum das so ist. Beginnen Sie mit einer Saite. Wenn Sie diese mit
einer örtlich stark um 0 oszillierenden exogenen Längenkraftdichte belasten, werden
die Auslenkungen kleiner sein, als in dem Fall, dass Sie die gespannte Saite in der
linken Hälfte in die eine Richtung und in der rechten Hälfte mit genau der entgegen-
gesetzten Kraftdichte in die andere Richtung belasten. Auch in Gl. 7.11 sehen wir,
7.2 Spektralzerlegung für die Poisson-Gleichung 145
Abb. 7.1 Verformung einer rechteckigen Membran unter einer exogenen Kraft f (x), vgl. Beispiel
aus Abschn. 7.2
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir uns mehrfach mit der Beschreibung
einer schwingenden Saite, einer schwingenden Membran oder einer allgemeineren
Schwingung beschäftigt. Dort haben wir angenommen, dass wir das schwingende
Objekt auf einem begrenzten Gebiet, welches wir genannt haben, beschreiben. Für
den Rand ∂ des Gebiets haben wir verschiedene Bedingungen diskutiert. Ein häufig
verwendetes Beispiel ist die eingespannte Saite, der wir aufgrund der Einspannung
Dirichlet-Randbedingungen, also die Vorgabe fester Werte an den Enden, zugeordnet
haben. In diesem Abschnitt wollen wir unsere Erfahrungen mit Schwingungen erwei-
tern und die Wellenausbreitung auf einem räumlich unbegrenzten Gebiet, nämlich
der gesamten reellen Achse, betrachten.
Wenn wir an die schwingende Saite zurückdenken, so waren die Lösungen durch
das Produkt von den Eigenfunktionen auf dem Gebiet mit einem Frequenzanteil
gegeben. Denken wir uns eine unendlich lange Saite, über deren Randverhalten wir
keine Aussagen haben, so wird deutlich, dass wir neue Betrachtungen benötigen.
Legen wir los.
Stellen Sie sich vor, wir lassen einen Stein in einen schmalen, aber unendlich
langen Kanal fallen. Durch diesen Stein entsteht eine Welle, welche sich in beide
Richtungen des Kanals ausbreitet. Hierbei kann man an eine Variation der bekannten
Bilder denken, die sich ergeben, wenn man einen Stein in einen ruhigen See wirft.
Läuft, fährt oder reitet man nun mit einer passenden Geschwindigkeit am Kanal
entlang, kann man die sich ausbreitende Wellenfront so lange beobachten, wie man
möchte, oder so lange, wie das Transportmittel die Geschwindigkeit der Wellen-
ausbreitung beibehalten kann. Dieses Phänomen einer sich ungestört ausbreitenden
Welle mit gleichbleibender Ausbreitungsgeschwindigkeit betrachten wir nun näher
und insbesondere mathematisch.
Unseren Kanal beschreiben wir durch eine Raumdimension, da uns die Ausbrei-
tung der Welle in dessen Längsrichtung interessiert. Die Ausbreitung quer
zum Kanal nehmen wir, da er sehr, sehr schmal ist, als nicht störend an. Die
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D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_8
148 8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung
Wasseroberfläche beschreiben wir durch eine Funktion u = u(t, x), wobei unsere
Ortskoordinate x ∈ R die Längenkoordinate des Kanals ist. Wir werden sehen, dass
sich die Welle in Richtung des Kanals in beide Richtungen jeweils mit einer bestimm-
ten Geschwindigkeit ausbreitet. Diese Ausbreitungsgeschwindigkeit nennen wir in
Anlehnung an die Licht- oder Schallgeschwindigkeit c, weil auch der Schall eine me-
chanische Welle ist. Die Schallwellen breiten sich übrigens wie die in Abschn. 3.3
besprochenen Longitudinalwellen aus.
Im einleitenden Beispiel haben wir die Ausbreitung der Welle, die durch einen
Steinwurf verursacht wurde, beschrieben. Im allgemeinen Fall nennen wir die Aus-
lenkung zu Beginn unserer Beobachtung u 0 (x). Je nach Entstehungsart hat die Welle
eine von null verschiedene vertikale Anfangsgeschwindigkeit, die wir an jedem Ort
x durch v0 (x) beschreiben. Die Anfangsgeschwindigkeit ist wie bei der schwingen-
den Saite die zeitliche Ableitung der Auslenkung, also die momentane Änderung der
Auslenkung. Eine Anfangsbedingung v0 (x) = 0 verformt das Aussehen der Welle.
Wir werden jedoch sehen, dass sie nicht zu einer schnelleren oder langsameren Aus-
breitung in Richtung des Kanals führt.
Wir nehmen weiter an, dass das Medium, in dem wir die Welle betrachten, homo-
gen ist. Seine Struktur soll sich örtlich also nicht ändern. Außerdem soll die rechte
Seite f der Schwingungsgleichung null sein.
Wir erhalten das homogene Anfangswertproblem
Beachten Sie, dass wir keine Randwerte haben, da wir uns im unendlich ausgedehn-
ten eindimensionalen Raum befinden.
Die Differentialgleichung u ,tt = c2 u ,x x aus diesem Anfangswertproblem kennen
wir bereits als Schwingungs- oder Wellengleichung. Wenn wir sie mit Gl. 3.2 verglei-
chen, erkennen wir c2 = P/ > 0. Die Überlegung einer Wasserwelle liefert keine
Interpretation der beiden Größen P und . Wir können uns mit etwas Fantasie aber
eine unendlich lange Saite der Längendichte und der Vorspannung P vorstellen.
Es bleibt unklar, woher die Spannung P in der unendlich langen Saite kommt, wo sie
doch an keinen Rändern eingespannt ist. Vielleicht denken Sie an zwei fantastische
Wesen, die in unendlicher Ferne sitzen und an der Saite ziehen.
Ein schwererwiegendes Problem besteht darin, dass wir von einer festen Ausbrei-
tungsgeschwindigkeit c gesprochen und damit c definiert haben. Kurz danach haben
wir das c in der Schwingungsgleichung wieder verwendet, als sei bereits klar, dass
die Ausbreitungsgeschwindigkeit an genau dieser Stelle in u ,tt = c2 u ,x x steht. Ver-
folgen Sie bitte die kommenden Betrachtungen, und halten Sie danach Ausschau,
wie wir nachweisen, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit gerade c ist.
In den vorherigen Abschnitten haben wir Lösungen für ähnlich aussehende
Anfangsrandwertprobleme gefunden, indem wir von einer Produktform der Lösung
ausgegangen sind. Für das Anfangswertproblem auf einem Gebiet, das alle reellen
Zahlen umfasst, liefert der Produktansatz keine Lösung. Wenn Sie ihn ausprobieren,
8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung 149
stellen Sie fest, dass Sie stecken bleiben, weil die Randbedingungen fehlen. Statt-
dessen denken wir uns zwei Beobachter.
Der erste Beobachter verfolgt die Welle in eine Richtung, beispielsweise nach
rechts, und der zweite Beobachter verfolgt die Welle in die andere Richtung. Bei-
de Beobachter erstatten einander Bericht, wie die Welle zu einem festen Zeitpunkt
aussieht.
Der erste Beobachter bewegt sich mit der Geschwindigkeit c > 0. Damit bleibt die
Größe ξ = x − ct für ihn konstant. Der zweite Beobachter bewegt sich mit −c < 0,
und für ihn bleibt η = x + ct konstant.
Ist also der Beobachter Nr. 1 zum Zeitpunkt t = 0 am Ort x = 0 gestartet, so be-
findet er sich zum Zeitpunkt t am Ort x = ct. Der Wert ξ bleibt aber über die ganze
Zeit null. Genauso bleibt der Punkt, der um eine Längeneinheit vor ihm ist, immer
bei ξ = 1, auch wenn seine Ortskoordinate ct + 1 ist. Das ξ liefert also eine
mitbewegte Längenskala, d. h. eine Ortskoordinate, die die Abweichung von der
Position des ersten Beobachters angibt.
Zeichnen Sie ein (t, x)-Diagramm mit einer waagerechten x-Achse und
einer senkrechten t-Achse. Der erste Beobachter bewegt sich auf dem Strahl
S1 = {(t, ct) : t ≥ 0}. Auf diesem Strahl ist ξ = 0. Der zweite Beobachter bewegt
sich auf S2 = {(t, −ct) : t ≥ 0} in die entgegengesetzte Richtung. Auf S2 ist η = 0.
Die beiden Strahlen taugen als Koordinatenachsen. Während Beobachter Nr. 1 auf
S1 unterwegs ist, ändert sich seine Position aus Sicht des zweiten Beobachters. Er
ist bezüglich der Richtung der x-Achse vor Beobachter Nr. 2, und sein η wird mit
der Zeit immer größer. Der Strahl S1 ist also die η-Achse. Entsprechend ist S2 die
ξ -Achse. Falls Sie im Moment glauben, wir hätten S1 und S2 vertauscht, sagen wir
nein, das haben wir nicht. Denken Sie über Ihre Skizze nach.
Nun können wir jeden Punkt des (t, x)-Koordinatensystems auch durch die Anga-
be der (ξ, η)-Koordinaten festlegen. Zeichnen Sie einen Punkt außerhalb der Achsen
in Ihre Skizze, und schauen Sie sich die achsenparallelen Projektionen auf die jeweils
andere Achse an. Glückwunsch zu Ihrer Koordinatentransformation!
Die (t, x)-Koordinaten und die (ξ, η)-Koordinaten können wir umkehrbar in-
einander überführen, denn aus ξ = x − ct und η = x + ct folgt 2x = ξ + η und
2ct = η − ξ .
Nun bezeichnen wir die Auslenkung am Punkt (ξ, η) mit w(ξ, η) und erwarten
natürlich, dass sich die physikalische Auslenkung durch die Koordinatentransfor-
mation nicht ändert, dass also w(ξ, η) = u(t, x) gilt. Gelegentlich findet man wie
in Abschn. 6.3.2 sogar die Notation u(ξ, η) = u(t, x), die von dem Standpunkt aus
gerechtfertigt ist, dass u immer noch dieselbe Auslenkung beschreibt. Aber das ist
gefährlich. Deshalb schreiben wir w(ξ, η) = u(t, x).
Der Wechsel vom System in x und t zum System in ξ und η ist eine Koordina-
tentransformation, und diese wirkt sich auf die partielle Differentialgleichung aus.
Unser Ziel ist eine Umformung der Differentialgleichung u ,tt = c2 u ,x x in eine Glei-
chung für w(ξ, η). Hierbei gehen wir ähnlich wie in Abschn. 6.3.2 über den Laplace-
Operator in Polarkoordinaten vor und suchen eine Darstellung der Ableitungen von
u nach der Zeit und dem Ort in Termen und Ableitungen von w nach ξ und η.
150 8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung
Wir wenden die Kettenregel für u(t, x) = w(ξ(t, x), η(t, x)) an und erhalten
∂u ∂w ∂ξ ∂w ∂η
= + .
∂x ∂ξ ∂ x ∂η ∂ x
Die zweite Ableitung nach x erhalten wir durch zweimaliges Differenzieren. Dafür
nutzen wir den Differentialoperator für die erste Ableitung und gelangen zu
2
∂ 2u ∂ ∂ ∂ 2w ∂ 2w ∂ 2w
= + w= + 2 + .
∂x2 ∂ξ ∂η ∂ξ 2 ∂ξ ∂η ∂η2
Zu schnell? Sie glauben nicht, dass das wirklich so einfach funktioniert? Rechnen
wir es in kleinen Schritten nach. Wirbeginnenbei der ersten partiellen Ableitung, für
die wir den Zusammenhang ∂∂ux = ∂ξ ∂ ∂
+ ∂η w kennen, und differenzieren diesen
Ausdruck ein weiteres Mal nach der Ortsvariablen x zu
∂ 2u ∂ ∂u ∂ ∂w ∂w
= = + .
∂x2 ∂x ∂x ∂ x ∂ξ ∂η
Jetzt nutzen wir die Vertauschbarkeit der Ableitungsreihenfolge für genügend oft
differenzierbare Funktionen. Auf die genügende Glattheit der Funktionen haben wir
uns in der Generalamnestie aus Abschn. 5.2.5 geeinigt. Wir erhalten
∂ ∂w ∂w ∂ ∂w ∂ ∂w
+ = +
∂ x ∂ξ ∂η ∂ξ ∂ x ∂η ∂ x
und verwenden für die Ableitung von w nach x die Kettenregel, denn w(ξ, η) hängt
implizit über ξ = x − ct und η = x + ct von x ab. Wir finden
∂ ∂w ∂ ∂w ∂ ∂w ∂ξ ∂w ∂η ∂ ∂w ∂ξ ∂w ∂η
+ = + + + .
∂ξ ∂ x ∂η ∂ x ∂ξ ∂ξ ∂ x ∂η ∂ x ∂η ∂ξ ∂ x ∂η ∂ x
∂w ∂w
Die partiellen Ableitungen ∂ξ und ∂η haben wir bereits als 1 berechnet. Zusammen-
gefasst entsteht mit
∂ ∂w ∂ξ ∂w ∂η ∂ ∂w ∂ξ ∂w ∂η ∂ 2w ∂ 2w ∂ 2w
+ + + = + +
∂ξ ∂ξ ∂ x ∂η ∂ x ∂η ∂ξ ∂ x ∂η ∂ x ∂ξ 2 ∂ξ ∂η ∂η2
8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung 151
derselbe
Ausdruck wie oben über die zweimalige Anwendung des Differentialope-
∂ ∂
rators ∂ξ + ∂η .
Die erste zeitliche Ableitung ergibt in den neuen Koordinaten, also aus Sicht der
beiden Beobachter, als
∂u ∂w ∂ξ ∂w ∂η ∂w ∂w
= + = −c +c
∂t ∂ξ ∂t ∂η ∂t ∂ξ ∂η
∂ξ ∂(x−ct) ∂η
mit ∂t = ∂t = −c und ∂t = c. Die zweite zeitliche Ableitung ist
∂ 2u ∂ ∂ 2 ∂ 2w ∂ 2w ∂ 2w
= −c + c w = c2 2 − 2c2 + c2 2 .
∂t 2 ∂ξ ∂η ∂ξ ∂ξ ∂η ∂η
Probieren Sie, die obigen Schritte für die zweite örtliche Ableitung auch für die zwei-
te zeitliche Ableitung durchzuführen.
Mit diesen Transformationen wird aus u ,tt = c2 u ,x x eine veränderte partielle Dif-
ferentialgleichung in ξ und η. Sie lautet
c2 w,ξ ξ − 2c2 w,ξ η + c2 w,ηη = c2 w,ξ ξ + 2w,ξ η + w,ηη .
Durch Abziehen der gleichlautenden Terme auf der rechten und linken Seite kommen
wir zu
∂ 2w
−2c2 w,ξ η = 2c2 w,ξ η bzw. = 0. (8.1)
∂ξ ∂η
Es ist eine eher philosophische Frage, ob Gl. 8.1 eine andere Differentialgleichung ist
als die Wellengleichung, von der wir ausgegangen sind. Beide Gleichungen beschrei-
ben dasselbe Phänomen in unterschiedlichen Koordinaten, und sie sehen recht unter-
schiedlich aus. Sowohl die Formulierung, Gl. 8.1 und die Wellengleichung
u ,tt = c2 u ,x x seien identisch, als auch die Aussage, Gl. 8.1 sei eine neue, andere Glei-
chung, enthalten richtig und falsch klingende Anteile. Deshalb würde man vorsich-
tigerweise sagen, dass Gl. 8.1 die Wellengleichung in transformierten Koordinaten
ist.
Auf der Ebene der rechnerischen Behandlung ist Gl. 8.1 zweifellos ein neues Pro-
blem. Um eine Lösung für unser Ausgangsproblem zu erhalten, können wir das
äquivalente Problem in ξ und η aus Gl. 8.1 lösen. Dieses neue Problem sieht völlig
anders aus als die partielle Differentialgleichung für u(t, x). Aus der uns wohlbe-
kannten Schwingungsgleichung ist durch die Koordinatentransformation eine anders
aussehende, in dieser Form unbekannte partielle Differentialgleichung in ξ und η
entstanden. An dieser Stelle darf und soll man die Frage stellen, was wir durch die
aufwendige Transformation gewonnen haben. Wir haben mit einer partiellen Diffe-
rentialgleichung, deren Lösung wir nicht kennen, begonnen und sind nach zahlrei-
chen Umformungen bei einer neuen partiellen Differentialgleichung gelandet, deren
Lösung wir ebenfalls nicht kennen. Das klingt nicht sofort sinnvoll, aber wir sehen
gleich, dass die Transformation ein brauchbarer Trick ist.
152 8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung
∂ 2w
=0
∂ξ ∂η
fällt die Einfachheit der rechten Seite der Gleichung auf. Wir suchen eine Funktion
w, deren gemischte zweite Ableitung null ist. Dies erinnert an die mögliche Beschrei-
bung einer konstanten Funktion durch das Verschwinden ihrer Ableitung. Für eine
beliebige Funktion h(x) mit ∂∂hx = 0 gilt, dass h(x) = c mit c ∈ R ist. Genau diesen
einfachen Fakt nutzen wir jetzt.
Hierzu integrieren wir Gl. 8.1 nach einer der beiden Variablen, beispielsweise nach
η. Wir finden
2
∂ w
dη = 0 dη = f (ξ ),
∂ξ ∂η
wobei f (ξ ) eine Integrationskonstante bezüglich η ist und daher von ξ abhängen
kann. Erneutes Integrieren, diesmal nach der anderen Variablen, ξ , ergibt
∂w
dξ = f (ξ ) dξ = F(ξ ) + G(η),
∂ξ
Nehmen wir für einen Moment an, dass die Welle zum Beobachtungsbeginn
t = 0 räumlich begrenzt ist. Außerhalb eines Intervalls [−a, a] hatte die Wasser-
oberfläche also keine von null verschiedene Auslenkung u oder Geschwindigkeit
u ,t . Dies lässt sich durch die mathematische Schreibweise supp u(0, x) =
{x : u 0 (x) = 0} ⊆ [−a, a] sowie supp u ,t (0, x) = {x : v0 (x) = 0} ⊆ [−a, a] aus-
drücken, wobei supp eine Abkürzung des englischen Worts support für Träger ist.
Der Träger einer Funktion ist die Menge aller Argumente, für die die Funktion von
null verschiedene Werte annimmt, zusammen mit dem Rand dieser Menge. Des-
halb schreiben wir den Strich über diese Menge und nennen {x : u 0 (x) = 0} auch
den Abschluss von {x : u 0 (x) = 0}. Sie kennen diese Notation aus dem Abschluss
= ∪ ∂ eines Gebiets .
Die Lösung der Wellengleichung besteht nun aus den beiden Funktionen,
F(x − ct) und G(x + ct). Dabei beschreibt F die Ausbreitung mit der Geschwin-
digkeit c nach rechts, G die Ausbreitung mit c nach links. Wenn der Träger der
Anfangswerte u 0 (x) und v0 (x) im Intervall [−a, a] liegt, haben auch F und G Träger
im Intervall [−a, a]. Also ist die Lösung u(t, x) nur in dem Gebiet [−ct − a, ct + a]
ungleich null. Der Träger von u(t, ·), also der Welle zum Zeitpunkt t, ist maximal
der Bereich, zwischen dem linken Wert des Trägers von u 0 und v0 , der nach links
gelaufen ist, und dem rechten Wert des Trägers von u 0 und v0 , der nach rechts
gelaufen ist.
Sehen wir uns an, wie sich die nach rechts und nach links laufende Welle aus den
Anfangsbedingungen u 0 (x) für die Anfangsauslenkung und v0 (x) für die zugehörige
Anfangsgeschwindigkeit ergibt. Gesucht sind jetzt F und G, d.h. eine Zerlegung der
Anfangsbedingung in einen Wellenanteil, der nach rechts, und einen Wellenanteil,
der nach links läuft. Aus den Anfangsbedingungen ergeben sich durch Einsetzen von
u(t, x) = F(x − ct) + G(x + ct) die Gleichungen
Wir erhalten ein Gleichungssystem für die Funktionen F(x) und G(x) und deren Ab-
leitungen F (x) und G (x). Die Integration der zweiten Gleichung nach der einzigen
auftretenden Variablen x liefert eine zweite Gleichung in F und G anstelle von F
und G , nämlich
1
−F(x) + G(x) = V0 (x) + C,
c
wobei V0 (x) eine Stammfunktion von v0 (x) und C ∈ R eine Integrationskonstante
sind. Durch Addition der beiden Gleichungen in F und G sowie Division durch 2
erhalten wir
1 1
G(x) = u 0 (x) + V0 (x) + C . (8.3)
2 c
Die Subtraktion der beiden Gleichungen in F und G liefert nach Division durch 2
entsprechend
1 1
F(x) = u 0 (x) − V0 (x) − C . (8.4)
2 c
154 8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung
Die Zerlegung in die beiden durch F und G beschriebenen Teilwellen ist also nicht
eindeutig. Sie hängt von der Integrationskonstanten C ab. Das physikalische Phä-
nomen der Wellenausbreitung kann nicht von unserer Wahl einer Integrationskon-
stanten abhängen, und tatsächlich entfällt die Mehrdeutigkeit, wenn wir die gesamte
Lösung
1 1
u(t, x) = u 0 (x − ct) + u 0 (x + ct) + [V0 (x + ct) − V0 (x − ct)]
2 c
aufschreiben. Da V0 (x) die Stammfunktion von v0 (x) ist, entsteht mit dem Hauptsatz
der Differential- und Integralrechnung
⎛ ⎞
x+ct
1⎝ 1
u(t, x) = u 0 (x − ct) + u 0 (x + ct) + v0 (ζ ) dζ ⎠ . (8.5)
2 c
x−ct
Die Integrationskonstante C hat daher keinen Einfluss auf die Lösung u = u(t, x).
Bei der Darstellung der nach rechts und links laufenden Wellenanteilen in Gl. 8.3
und Gl. 8.4 kann die Integrationskonstante C als eine Höhenverschiebung des je-
weiligen Wellenanteils aufgefasst werden. Eine Höhenverschiebung von F(x − ct)
um C nach oben wird bei der Addition von F und G durch eine Verschiebung von
G(x + ct) nach unten ausgeglichen.
Die Form der Lösung u(t, x) = F(x − ct) + G(x + ct) führt dazu, dass wir die
Quelle der Information, die wir in u(t, x) an einem festen Ort x und zu einer fes-
ten Zeit t beobachten, zurückverfolgen können. Der Wert u(t, x) hängt von u 0 (ζ )
und v0 (ζ ) für ζ ∈ [x − ct, x + ct] ab. In Abb. 8.1a ist der Abhängigkeitsbereich der
a b
Abb. 8.1 a Abhängigkeitsbereich: Darstellung des Bereichs, von dem die Lösung zu einem Zeit-
punkt t am Ort x abhängt. Die Anfangsbedingungen im Bereich ζ ∈ [x − ct, c + ct] haben Aus-
wirkung auf die Lösung u(t, x), b Einflusskegel: Gleichzeitig beeinflusst die Lösung u(t, x) die
Lösung zu späteren Zeitpunkten an Orten im Einflusskegel
8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung 155
Lösung u an einem bestimmten Ort x zu einem festen Zeitpunkt t dargestellt. Die An-
fangsbedingungen in dem eingefärbten Bereich beeinflussen die Lösung zum Zeit-
punkt t am Ort x. Dieser Zusammenhang ist auch in Gl. 8.5 zu erkennen. Das Integral
über die Anfangsgeschwindigkeit v0 (ζ ) reicht vom linken Rand des Abhängigkeits-
bereichs x − ct bis zum linken Rand des Abhängigkeitsbereichs x + ct. Die Ränder
des Einflussgebiets werden uns in Kap. 9 bei den Transportgleichungen als Charak-
teristiken wieder begegnen.
Gleichzeitig beeinflusst der Wert u(t, x) zu einem fest gewählten Zeitpunkt t und
an einem festen Ort x die Werte im Einflusskegel, also im Bereich zwischen den
Geraden mit den Steigungen c und −c, die von dem fest gewählten Punkt weggehen.
Dieser Kegel ist in Abb. 8.1b dargestellt.
Um uns die Form der Lösung und deren Eigenschaften zu verdeutlichen, betrach-
ten wir zwei kurze Beispiele. Sie werden sehen, dass wir in den einfachsten Fällen
nicht einmal zu rechnen brauchen, um die Lösung zu skizzieren.
für die Funktionen F und G. Eine Integration der zweiten Gleichung liefert
F(x) = G(x) + C mit einer Integrationskonstanten C ∈ R. Reines Einsetzen in die
erste der beiden Gleichungen führt zu
1 −x 2 1
− C) und G(x) = (e−x + C).
2
F(x) = (e
2 2
Wir haben weiter oben bereits begründet, dass die Integrationskonstante C unerheb-
lich ist. Also setzen wir sie zu C = 0. In jedem Fall ergibt sich die zeitabhängige
Lösung
1 −(x−4t)2
+ e−(x+4t) .
2
u(t, x) = e
2
Der Anteil F(x − 4t) = 21 e−(x−4t) beschreibt die nach rechts laufende Welle mit
2
der maximalen Auslenkung 21 , und analog beschreibt G(x + 4t) = 21 e−(x+4t) die
2
nach links laufende Welle. Wie in Abb. 8.2 zu sehen ist, besitzen beide Wellen die
156 8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung
Abb. 8.2 Lösung von Gl. 8.6. Die Anfangsbedingung u(0, x) teilt sich in zwei Wellen mit halber
Auslenkung auf. Ein Anteil läuft nach links und wird durch G(x + 4t) beschrieben, der andere
läuft nach rechts und wird durch F(x − 4t) beschrieben
gleiche Form und bilden zusammen die vollständige Lösung. Anhand von Gl. 8.5
lässt sich diese Eigenschaft für das Anfangsrandwertproblem direkt ablesen. Die An-
fangsgeschwindigkeit u ,t (0, x) ist null, somit fällt der Integralterm in Gl. 8.5 weg,
und die Lösung der Wellengleichung setzt sich nur aus den gleichmäßig in beide
Richtungen laufenden Wellenanteilen zusammen.
Ändert sich die Anfangsbedingung u ,t (0, x) = v0 (x), so beeinflusst diese An-
fangsbedingung die Lösung im jeweiligen Einflussbereich. Die Lösung ist im Allge-
meinen nicht mehr symmetrisch. Probieren Sie es aus.
mit
cos x für x ∈ [− π2 , π2 ],
u 0 (x) =
0 sonst
√
finden wir die Ausbreitungsgeschwindigkeit c = 4 = 2 und somit den Ansatz
u(t, x) = F(x − 2t) + G(x + 2t). Die
Anfangsbedingung
u 0 hat in diesem Fall mit
supp u(0, x) = {x : u 0 (x) = 0} ⊆ − π2 , π2 einen beschränkten Träger. Wie oben
folgt aus der zweiten Anfangsbedingung F(x) = G(x) + C und schließlich
1
cos(x − 2t) für x ∈ [2t − π2 , 2t + π2 ],
F(x − 2t) = 2
0 sonst
8 Schallgeschwindigkeit in der Wellengleichung 157
Abb. 8.3 Lösung von Gl. 8.7. Die Anfangsbedingung u(0, x) teilt sich in zwei Wellen mit halber
Amplitude auf. Eine Welle läuft nach links und wird durch G(x + 2t) beschrieben, die andere
läuft nach rechts und wird durch F(x − 2t) beschrieben
sowie
cos(x + 2t) für x ∈ [−2t − π2 , −2t + π2 ],
1
G(x + 2t) = 2
0 sonst.
Die Lösung setzt sich aus den beiden Anteilen u(t, x) = F(x − 2t) + G(x + 2t)
zusammen. Der beschränkte Träger aus der Anfangsbedingung setzt sich mit
π π π π
supp u(t, x) = 2t − , 2t + ∪ −2t − , −2t +
2 2 2 2
fort. In Abb. 8.3 ist die Lösung u(t, x) dargestellt. Die Welle aus Gl. 8.6, die in
Abb. 8.2 gezeigt ist, hat eine doppelt so große Ausbreitungsgeschwindigkeit.
Sowohl die Anfangsbedingung als auch die berechnete Lösung haben eine offen-
sichtliche und kritische Eigenschaft. Bei x = π2 bzw. x = − π2 ist u 0 zwar stetig, je-
doch nicht differenzierbar. Dies ist in Abb. 8.3 an den Knicken an den Rändern der
Wellen zu erkennen. Die Differenzierbarkeit möchten wir jedoch von einer Lösung
der Wellengleichung u ,tt = c2 u ,x x als partieller Differentialgleichung zweiter Ord-
nung verlangen, denn in der Wellengleichungen kommen zweite Ableitungen vor,
die an den Knicken nicht definiert sind. Zudem setzen sich die Knicke in u in Raum
und Zeit fort. Somit ist die Differenzierbarkeit nach beiden Variablen x und t in den
Bereichen der Knicke – milde ausgedrückt – beeinträchtigt.
Der Ansatz aus Gl. 8.2 hat uns eine einleuchtende Funktion als Lösung der Wel-
lengleichung geliefert, die jedoch keine Lösung ist, da sie die partielle Differential-
gleichung nicht erfüllt. Genau genommen würden wir die berechnete Lösung daher
nicht als eine klassische Lösung der Wellengleichung akzeptieren. Da sie jedoch ge-
nau die anschauliche Lösung des Anfangswertproblems in Gl. 8.7 ist, nehmen wir
diese Lösung als richtig an und verweisen für eine Abschwächung des Lösungsbe-
griffs auf Kap. 12.
Transportgleichung und
Charakteristiken 9
Auf einer langen einspurigen Straße sei die eine Fahrspur so mit Fahrzeugen belegt,
dass der Verkehr fließt, dass aber die Fahrer ihre Geschwindigkeit der der vorausfah-
renden Fahrzeuge anpassen müssen. Nach einem kurzen Moment freier Fahrt stellen
sich die Fahrzeuge am Ende einer losen Schlange von vorausfahrenden Fahrzeugen
an, fahren einige Zeit langsamer, ehe sie – vielleicht nach einem Überholmanöver –
für kurze Zeit wieder freie Fahrt haben. Sehr langsame Fahrzeuge wie z. B. Traktoren
können leicht überholt werden.
Indem wir von vielen realistischen Hindernissen absehen, idealisieren wir diese
einspurige Straße. Wir denken uns gleichartige Fahrzeuge, die alle mit der erlaubten
Höchstgeschwindigkeit fahren wollen, sich gegenseitig nicht überholen, aber ihre
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Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_9
160 9 Transportgleichung und Charakteristiken
Der Fahrzeugfluss I () ergibt sich als Produkt aus der Fahrzeugdichte und der
zugehörigen Geschwindigkeit I () = v() und misst sich in Fahrzeugen pro Stun-
de. Anschaulich ist dies als eine Verkehrszählung an einer Stelle erklärbar. Wäre der
Verkehr von konstanter Dichte, so würden in einer Stunde alle Autos die Zählstelle
passieren, die weniger als v · 1 h davon entfernt sind. Damit ist der Fluss proportional
zur Geschwindigkeit und proportional zur Verkehrsdichte.
Mit diesen Größen und der Annahme, dass sich entlang der beobachteten Strecke
keine Auffahrt, keine Abfahrt und kein Parkplatz befindet, liefert die Kontinuitäts-
gleichung ,t + ∇ · I = 0 hier mit dem Fluss I = I () und in nur einer Ortsdimen-
sion x die Gleichung der Verkehrsdynamik
,t = − v() ,x für x ∈ R, t > 0, (9.1)
Beispiel Wir betrachten zuerst den Fall einer konstanten Geschwindigkeit v() = c,
die unabhängig von der Verkehrsdichte ist. Wir beschreiben also Fahrer, die mit einer
gewissen Entschlossenheit eine feste Geschwindigkeit c halten. Es ist anschaulich
klar, dass sich die Abstände der Fahrzeuge zueinander in diesem Fall nicht ändern
und dass die Fahrzeugdichte mit den Fahrzeugen mitbewegt wird. Damit ist der Fluss
I () = v() = c, und die Gleichung der Verkehrsdynamik ist unter Verwendung
von u = die homogene lineare Differentialgleichung
u ,t + cu ,x = 0, (9.2)
erster Ordnung mit konstanten Koeffizienten. Gl. 9.2 ist auf den ersten Blick eine
recht langweilige Differentialgleichung. Wir besprechen sie trotzdem ausführlich,
weil wir bereits an dieser einfachsten Variante einer Transportgleichung einige
Eigenschaften kennenlernen, die wir bei komplizierten nichtlinearen Transport-
gleichungen wiederfinden werden.
Wir bemerken, dass alle Funktionen (t, x) = f (ct − x) mit einer beliebigen
glatten Funktion f Lösungen sind, denn es gilt ,t = c f (ct − x) und
,x = − f (ct − x). Mit den beiden Ableitungen ist Gl. 9.2, also die lineare Glei-
chung der Verkehrsdynamik, erfüllt.
162 9 Transportgleichung und Charakteristiken
30
0 (x) = 50 +
1 + x2
gegeben. Sie beschreibt, abgesehen von einem Bereich um x = 0, eine sehr hohe
Verkehrsdichte von etwa 50 Fahrzeugen pro Kilometer. Die maximale Verkehrsdichte
beträgt sogar 80 Fahrzeuge pro Kilometer und befindet sich zu Beginn der Messung
am Ort x = 0. Eine solche Verkehrsdichte ist sehr hoch, und die Autoschlange würde
sich realistischerweise nur mit etwa dreißig Kilometern pro Stunde bewegen.
Nach den obigen Überlegungen gilt
30
f (−x) = 50 + = f (x),
1 + x2
wobei wir beim zweiten Gleichheitszeichen die Symmetrie dieser Funktion ausge-
nutzt haben. Die Anfangsbedingung wird entlang der Geraden x = ξ(t) = x0 + ct
transportiert. Da wir aus dem Ort x zum Zeitpunkt x0 die Stelle x0 = x − ct bestim-
men können, an der die Charakteristik durch (t, x) gestartet ist, lautet die zeitabhän-
gige Lösung
30
(t, x) = 50 + .
1 + (x − ct)2
In Abb. 9.1 sind die Charakteristiken dargestellt. Beachten Sie, dass in dieser Darstel-
lung größere Geschwindigkeiten als stärker liegende Geraden erscheinen. Abb. 9.2
9.1 Verkehrsdynamik einer einspurigen Straße 163
zeigt Ihnen die Lösung = (t, x). Insbesondere erkennen Sie, dass das Maximum
der Verkehrsdichte pro Zeitschritt um c im Ort nach rechts transportiert wird.
Bei diesem Beispiel haben wir eine Anfangsbedingung auf der gesamten reel-
len Achse, x ∈ R, gegeben. Die Anfangsbedingung wird mit der Zeit nach rechts
transportiert, und das Anfangswertproblem besitzt eine eindeutige Lösung.
Bei der Beobachtung einer Transportgleichung auf einem örtlich begrenzten In-
tervall ergeben sich aufwendigere Beziehungen. Um eine vollständige Beschreibung
des Transportprozesses zu erhalten, genügt die reine Angabe der Anfangsbedingun-
gen auf dem betrachteten Intervall nicht. Anschaulich stellt man sich einen Stre-
ckenabschnitt der einspurigen Straße vor, auf dem sich eine gewisse Fahrzeugdichte
befindet. Die Fahrzeuge verlassen irgendwann diesen Streckenabschnitt, und ohne
eine Angabe über den nachfolgenden Verkehr lassen sich keine Aussagen über die
dortige Verkehrsdichte zu späteren Zeitpunkten machen.
Besitzen wir jedoch in einer Randbedingung Angaben darüber, welche Fahrzeug-
dichte zu jedem Zeitpunkt t in den beobachteten Streckenabschnitt hineinfährt, so
haben wir zusammen mit der Anfangsbedingung ausreichend viele Informationen
für eine eindeutige Lösung. Sollten wir dagegen auch Angaben darüber machen,
wie viele Fahrzeuge den Streckenabschnitt verlassen, so laufen wir Gefahr, dass die-
se Randbedingungen mit den Angaben über hineinfahrende oder schon vorhandene
Fahrzeuge im Widerspruch stehen. Bei einer solchen Kombination ist Vorsicht ge-
boten. Eine sinnvolle Auswahl von Randbedingungen für Transportgleichungen ist
eine technisch schwierige Aufgabenstellung und gibt zudem vergleichsweise we-
nig Aufschluss über das Lösungsverhalten von Transportgleichungen. Von nun an
erschweren wir uns die Betrachtungen nicht durch eine Kombination aus Anfangs-
164 9 Transportgleichung und Charakteristiken
Jetzt bezeichnen wir die gesuchte Größe wieder allgemeiner und wie gewohnt mit
u = u(t, x). Dafür nennt man bei den Erhaltungsgleichungen den Fluss typischer-
weise F. In diesem Abschnitt lassen wir zu, dass der Fluss F = F(u) nichtlinear
von u abhängt, und beschäftigen uns mit Transportgleichungen der Form
u ,t + F(u),x = 0. (9.3)
Zuerst stellen wir fest, dass Gl. 9.3 eine Erhaltungsgleichung ist. Das bedeutet, dass es
eine Größe gibt, für die ein Erhaltungssatz gilt, wie wir ihn aus der Impulserhaltung
oder der Masseerhaltung kennen. Im Fall von Gl. 9.3 ist die Erhaltungsgröße die
Gesamtmenge von u in einem Intervall [a, b], denn es gilt
b b b
d
u(t, x) dx = u ,t (t, x) dx = −F(u(t, x)),x dx = F(u(t, a)) − F(u(t, b)),
dt
a a a
d. h., die Änderung der Gesamtmenge von u in [a, b] ist allein durch den Zu- und
Abfluss am Rand bestimmt.
Wir haben im Eingangsbeispiel bemerkt, dass sich die Lösung im Fall der Ver-
kehrsdynamik mit konstanter Geschwindigkeit durch einen Transport der Anfangs-
bedingung entlang von Geraden im Raum-Zeit-Diagramm ergibt. Diese Geraden
haben wir vorsichtig als charakteristisch für die Gleichung und somit als Charakte-
ristiken bezeichnet. Diesen Gedanken führen wir nun fort und präzisieren, was wir
von Charakteristiken erwarten. Wir werden sehen, dass unsere Definition der Cha-
rakteristiken dazu führt, dass die partielle Differentialgleichung für u = u(t, x) in
gewöhnliche Differentialgleichungen für die Charakteristiken zerfällt.
Für einen kurzen Abschnitt wollen wir die mathematische Darstellungskultur mit
Definitionen und Sätzen verwenden.
d
ξ (t) = ξ(t) = F (u(t, ξ(t))). (9.4)
dt
Diese Definition erklärt die Charakteristiken also rein technisch dadurch, wie wir
ihre Steigung ξ (t) im Ort-Zeit-Diagramm durch die von u abhängige Änderung des
9.2 Charakteristiken der Erhaltungsgleichung 165
Flusses ausrechnen können. Eine etwas weniger technische Aussage über ihr Wesen
liefert der folgende Satz.
Satz 9.1 Die Lösung u der Transportgleichung u ,t + F(u),x = 0 ist längs jeder
Charakteristik konstant, d. h. u(t, ξ(t)) = const.
Beweis 9.1 Diesen Satz beweisen wir durch schlichtes Nachrechnen, dass die zeit-
liche Änderung der Lösung u entlang der Charakteristiken null ist. Wir beginnen mit
der zeitlichen Ableitung und beachten die Kettenregel, sodass
d ∂ ∂
u(t, ξ(t)) = u(t, ξ(t)) + u(t, ξ(t)) · ξ (t)
dt ∂t ∂x
gilt. Die Ableitung ξ (t) ist nun durch die definierende Gl. 9.4 als Ableitung des
Flusses nach der Lösung u gegeben. Somit gilt
d ∂ ∂
u(t, ξ(t)) = u(t, ξ(t)) + u(t, ξ(t)) · F (u(t, ξ(t))).
dt ∂t ∂x
Wenn wir die Abhängigkeit der Lösung u von der Zeit und entlang der Charakteristik
nicht mitschreiben, finden wir die Kurzform
d
u(t, ξ(t)) = u ,t + F (u)u ,x = 0,
dt
bei der der zweite Summand gerade F(u),x = F (u)u ,x entspricht und die Gleichheit
zur Null aus Gl. 9.3 folgt. Wir haben damit gezeigt, dass die Lösung entlang einer
Charakteristik zeitlich unverändert, also konstant ist.
Beweis 9.2 Diese Behauptung beweisen wir, indem wir zeigen, dass die Steigung
der Charakteristiken konstant ist. Die Steigung der Charakteristiken ist durch Gl. 9.4
als Ableitung des Flusses nach der Lösung u gegeben. Wir haben bemerkt, dass die
Lösung entlang der Charakteristiken konstant ist, dass also u(t, ξ(t)) = c̃ mit einem
konstanten Wert c̃ ∈ R gilt. Somit ist auch der Fluss entlang der Charakteristiken
konstant, nämlich F(c̃). Für ein festes Argument c̃ ist damit auch die Ableitung F (c̃)
ein fester Wert, und es folgt
Die Steigung der Charakteristiken ist also konstant, und somit sind es Geraden.
166 9 Transportgleichung und Charakteristiken
Beispiel Wir betrachten die allgemeinen Überlegungen nun erneut am Beispiel der
Verkehrsdynamik. Jetzt vergleichen wir jedoch unterschiedliche Ansätze zur Wahl
der Geschwindigkeit eines Fahrzeugs.
In der Fahrschule lernen die meisten, dass der Abstand zum vorausfahrenden
Fahrzeug in Metern gemessen mindestens die halbe Geschwindigkeit in Kilometern
pro Stunde sein soll. Die Fahrschulempfehlung besagt also, dass die Fahrgeschwin-
digkeit proportional zum Abstand sein möge. Niemand fragt pedantisch nach, von
wo bis wo der Abstand geht, aber wir unterscheiden zwei unterschiedliche Interpre-
tationen.
In der ersten Interpretation betrachten wir den Abstand der Fahrzeuge als Ent-
fernung zwischen den vorderen Stoßstangen der Fahrzeuge. Damit ist der mittlere
Abstand zwischen zwei Fahrzeugen der Kehrwert der Verkehrsdichte . Es wäre so,
als würden wir punktförmige Fahrzeuge annehmen und von der Länge der Fahrzeuge
absehen.
Mit dieser idealisierten Fahrschulempfehlung und einem Proportionalitätsfaktor
k, der in sinnvollen Einheiten natürlich nicht 21 ist, ist der Zusammenhang zwischen
der Fahrzeugdichte und der Geschwindigkeit v() = k . Der Fluss in Gl. 9.1 wird
zu I () = F() = v() = k, und von der Gleichung der Verkehrsdynamik bleibt
nur ,t = 0 übrig. Folglich verändert sich eine gegebene Anfangsdichte mit der Zeit
nicht. Passend dazu ist die Steigung der Charakteristiken ξ (t) = F (u) = 0, und
die Charakteristiken sind konstante Funktionen ξ(t) = ξ0 . Anschaulich bedeutet
dieses Verhalten, dass örtliche Bereiche mit dichterem Verkehr immer an dersel-
ben Stelle bleiben. Auch wenn sich die einzelnen Fahrzeuge mit der Geschwin-
digkeit v() = k fortbewegen, bleiben die Verkehrsdichten für jeden Ort zeitlich
konstant.
In der nächsten Interpretation gehen wir von realistischeren ausgedehnten Fahr-
zeugen der Länge aus. Wir präzisieren die Fahrschulempfehlung, indem wir die
Geschwindigkeit proportional zum tatsächlichen Abstand zwischen zwei Fahrzeu-
gen, also zum Abstand zwischen der vorderen Stoßstange des eigenen Fahrzeugs
zur hinteren Stoßstange des vorausfahrenden Fahrzeugs, wählen. Den mittleren Ab-
stand zweier Fahrzeuge in dieser vernünftigeren Interpretation erhalten wir aus dem
9.2 Charakteristiken der Erhaltungsgleichung 167
Kehrwert der Verkehrsdichte wie oben, von dem wir aber die Fahrzeuglänge abzie-
hen. Somit ist die Geschwindigkeit durch
1
v() = k −
beschrieben. Der Fluss in der Gl. 9.1 wird damit zu F() = k − k und ist nun
abhängig von der Fahrzeugdichte. Die Steigung der Charakteristiken ist
ξ (t) = F () = −k und, wie in Satz 9.2 allgemein bewiesen, konstant. Die Cha-
rakteristiken sind zueinander parallele Geraden. Höhere Verkehrsdichten pflanzen
sich, aufgrund der negativen Steigung der Charakteristiken, entgegen der Fahrtrich-
tung fort. Wir beobachten das Phänomen des wandernden Staus oder des Staus aus
dem Nichts.
Im konkreten Beispiel betrachten wir 5 m lange Fahrzeuge, die gemäß der Fahr-
schulempfehlung einen Abstand der halben Tachoanzeige halten. Die Länge der
Fahrzeuge ist = 0.005 km. Der Proportionalitätsfaktor k = 2000 h−1 sichert die
Einhaltung der Fahrschulempfehlung. Denn für eine Verkehrsdichte = 40 km−1
schreibt diese einen Abstand von (0.025 − 0.005) km = 20 m vor. Rechnen Sie nach,
dass der gewählte Proportionalitätsfaktor k auch für größere Geschwindigkeiten rea-
listische Ergebnisse liefert.
Der Stau aus dem Nichts wandert mit einer Geschwindigkeit von
ξ (t) = F () = −10 km/h rückwärts und dies unabhängig von der Geschwindigkeit
v und von der Verkehrsdichte . Damit trifft unser Beispiel die Filmaufnahmen aus
echten Polizeihubschraubern erstaunlich gut, denn ein echter Stau aus dem Nichts
wandert typischerweise mit 10 km/h bis 15 km/h entgegen der Fahrtrichtung.
Als drittes Beispiel betrachten wir einen linearen Zusammenhang zwischen Ver-
kehrsdichte und Geschwindigkeit v() = max − mit einer maximalen Dichte
max . Die Geschwindigkeit fällt mit wachsender Verkehrsdichte. Sie ist maximal für
= 0 und minimal für = max . Der Verkehrsfluss ist F() = max − 2 , und
dementsprechend ist die Steigung der Charakteristiken ξ (t) = F () = max − 2.
Einerseits erscheint die Modifikation des monoton fallenden Zusammenhangs
v = v() durch eine lineare Funktion angesichts der Ungenauigkeiten, die in der
Modellierung der individuellen Fahrstile stecken, nicht besonders bedeutsam. An-
dererseits hat die Berücksichtigung der Fahrzeuglänge in den obigen Interpretationen
der Fahrschulempfehlung erstaunliche Unterschiede bewirkt. So überrascht es viel-
leicht nicht, dass sich mit dieser dritten Flussfunktion wiederum alles verändert.
Wir unterscheiden zwei Fälle. Ist die Verkehrsdichte kleiner als die Hälfte der
maximalen Verkehrsdichte, gilt also < max /2, so ist F () > 0, und die Charak-
teristiken wandern nach vorn. Ist hingegen > max /2, so wandern die Charakte-
ristiken zurück.
Bei einer Anfangsbedingung, die sowohl Verkehrsdichten enthält, die kleiner
als die halbe Maximaldichte sind, als auch solche, die größer sind, kommt es un-
weigerlich dazu, dass sich die Charakteristiken schneiden. Dies ist eine echte Selt-
samkeit. Auf den beiden Charakteristiken sind die Verkehrsdichten jeweils konstant.
Da aber die Anfangswerte konserviert und transportiert werden, sind die Verkehrs-
dichten unterschiedlich. Es entstehen Widersprüche, und am Schnittpunkt können
168 9 Transportgleichung und Charakteristiken
wir aus dem Verfolgen der Charakteristiken keine eindeutige Verkehrsdichte be-
stimmen. Dieses Phänomen betrachten wir bei der Diskussion einer äußerlich sehr
übersichtlich aussehenden Transportgleichung, nämlich der Burgers-Gleichung, in
Abschn. 9.3 näher.
9.3 Burgers-Gleichung
Die nach Johannes Martinus Burgers (1895 in Arnheim bis 1981 in Washington
D.C.) benannte Burgers-Gleichung
1 2
u ,t + u ,x = 0, x ∈ R, t > 0 (9.5)
2
beschreibt die Dynamik einer idealisierten, reibungsfreien Flüssigkeit oder eines sol-
chen Gases. Sie gilt als Standardbeispiel einer nichtlinearen Transportgleichung. Die
Burgers-Gleichung hat Ähnlichkeit mit der Navier-Stokes-Gleichung, vgl. Gl. 4.8.
Wir erkennen den konvektiven Term ∇v · v nach der Anwendung der Kettenregel
auf Gl. 9.5 im zweiten Summanden von
u ,t + uu ,x = 0
Beispiel An diesem Beispiel erproben wir unser Konzept der Charakteristiken, bei
dem wir die Lösung der partiellen Differentialgleichung entlang von Charakteristiken
betrachten.
Der Fluss der Burgers-Gleichung ist F(u) = 21 u 2 mit der Ableitung F (u) = u.
Der Fluss ist offenbar nicht direkt vom Ort abhängig. Die Steigung der Charak-
teristiken ist nach Gl. 9.4 durch die Ableitung von F nach der gesuchten Lösung
u gegeben und lässt sich entlang der Charakteristiken bis zur Anfangsbedingung
zurückverfolgen.
Wir betrachten die in x stetige Anfangsbedingung
⎧
⎨1 für x ≤ 0,
u 0 (x) = 1 − x für x ∈ [0, 1],
⎩
0 für x ≥ 1
und stellen uns vor, dass links von x = 0 Gaspartikel mit der Geschwindigkeit u 0 = 1
in positiver Richtung der x-Achse unterwegs sind. Rechts von der Stelle x = 1 lie-
gen dagegen Gaspartikel unbewegt herum. Im Bereich [0, 1] dagegen liegen immer
9.3 Burgers-Gleichung 169
langsamere Partikel, deren Geschwindigkeit von u 0 (0) = 1 linear auf u 0 (1) = 0 fällt.
Zum Zeitpunkt t = 0 können sich alle Partikel mit den vorgegebenen Geschwindig-
keiten bewegen. Aber wir ahnen schon, dass das nicht lange so bleiben wird.
Die Anfangsbedingung gibt wegen Gl. 9.4 die Steigung der Charakteristiken mit
ξ (t) = F (u) = u an, und wir erhalten durch Integration die Charakteristiken
⎧
⎨ ξ0 + t für ξ0 ≤ 0,
ξ(t) = ξ0 + t (1 − ξ0 ) für ξ0 ∈ [0, 1],
⎩
ξ0 für ξ0 ≥ 1
erinnern uns, dass t = 1 gerade der Zeitpunkt ist, zu dem sich die Charakteristiken
schneiden. Die Singularität der Lösung und der Schnittpunkt der Charakteristiken
sind Indizien für dasselbe Phänomen. Vom Schnittpunkt der Charakteristiken aus
lässt sich nicht zurückverfolgen, welchen Wert die Lösung am Schnittpunkt besitzt.
Dies führt dazu, dass die Werte von u nicht mehr eindeutig bestimmt sind. Wir
sprechen von einer Singularität der Lösung, auch wenn für t ≥ 1 genau genommen
keine Lösung im herkömmlichen Sinn existiert. Mit diesem Phänomen beschäftigen
wir uns jetzt genauer.
Zum Zeitpunkt t = 1 haben die schnellen Gaspartikel, die sich zum Zeitpunkt
t = 0 links von x = 0 befanden, die ruhenden Gaspartikel bei x ≥ 1 eingeholt. Die
Gaspartikel stoßen mit der Geschwindigkeit 1 zusammen. Wir können uns vorstellen,
dass die schnellen Gaspartikel die ruhenden Partikel wie bei einem plastischen Stoß
anstoßen und vor sich herschieben. Wir deuten dieses Phänomen als Stoßwelle, bei
dem Partikel unterschiedlicher Geschwindigkeiten ungebremst aufeinanderprallen.
Es entsteht eine Unstetigkeit, denn vor der Wellenfront der Stoßwelle liegen ruhende
Partikel, und dahinter kommen Gaspartikel mit der Geschwindigkeit 1 an. Auch bei
einem realen Überschallknall ändern sich die Zustandsgrößen nahezu sprunghaft.
Die Wellenfront der Stoßwelle beschreiben wir durch xs (t). An dieser Stelle kön-
nen wir nicht beweisen, sondern Ihnen nur mitteilen, dass die Stoßwelle durch
dxs (t)
(u − − u + ) = F(u − ) − F(u + )
dt
beschrieben wird. Dabei bezeichnet u − die Lösung, die von links in den Stoß läuft,
und u + dementsprechend die rechts vom Stoß. F(u − ) und F(u + ) bezeichnen die
Abb. 9.4 Lösung der Burgers-Gleichung, vgl. Gl. 9.6. Die Charakteristiken aus Abb. 9.3 sind in
der (t, x)-Ebene eingezeichnet. Bei t = 1 und x = 1 beginnt die Stoßwelle
9.4 Verallgemeinerte Lösungen 171
zugehörigen Flüsse. Die Steigung der Stoßwelle kann somit für u − = u + über
Erstellen Sie eine Skizze der Charakteristiken. Überlegen Sie dazu, welche Stei-
gung die Charakteristiken in Abhängigkeit von ihrem Startwert haben. Stoppen Sie
vorläufig Ihre Zeichnung, sobald sich zwei Charakteristiken schneiden. Wir haben
bereits gesehen, dass ab diesem Zeitpunkt neue Phänomene auftreten. Sie können
Ihre Zeichnung im Laufe des Beispiels nach und nach vervollständigen und erhalten
über die Rechnungen wertvolle Informationen, wie sich die Anfangsbedingungen
weiterschreiben lassen.
Wir berechnen für die einzelnen Abschnitte die Lösung und daraus die Steigung
der Stoßwelle. Wir werden sehen, dass die Lösung jeweils nur für Intervalle bis zum
Stoß gültig ist.
Beginnen wir mit dem Bereich ξ0 < 0, also mit der Lösung, die aus der Anfangs-
bedingung u 0 (x) = 2 für x < 0 hervorgeht. Die Charakteristiken in diesem Bereich
sind durch ξ(t) = ξ0 + 2t gegeben. Die Lösung ist entlang der Charakteristiken kon-
stant 2 und so lange definiert, bis die jeweilige Charakteristik in den Stoß läuft. Wir
geben die Lösung mit ebendieser Einschränkung durch
ξ(t) − 2t 2ξ(t) − 4t
ξ0 = =
1− 2 t 2−t
erhalten. Da wir für jeden Ort x und jeden Zeitpunkt t eine Charakteristik finden,
die durch den Punkt (t, x) läuft, setzen wir x = ξ(t) und die Gleichung für ξ0 in die
Lösung ein. So folgt
1 2x − 4t 4 − 2t − x + 2t 4−x
u(t, x) = 2 − = =
2 2−t 2−t 2−t
und unter Berücksichtigung des Bereichs, in dem die Lösung gültig ist,
x −4
u(t, x) = für 2t ≤ x < min{2 + t, xs (t)}.
t −2
Für den dritten Bereich mit ξ0 ∈ [2, 3] geht man ganz genauso vor. Probieren Sie
es aus. Stellen Sie die Gleichung für die Lösung entlang der Charakteristiken in
Abhängigkeit von ξ0 auf, nutzen Sie die Gleichung der Charakteristiken in diesem
Bereich, um für jedes ξ0 eine Beziehung zu den Orten x und den zugehörigen Zei-
ten t aufzustellen. Setzen Sie die erhaltene Gleichung in die Lösung ein, um eine
Lösungsdarstellung unabhängig von ξ0 zu erhalten. Trauen Sie sich, es funktioniert
genau wie oben. Sie erhalten die Lösung
x −3
u(t, x) = für 2 + t ≤ x ≤ 3,
t −1
deren Gültigkeitsbereich durch den Schnitt der Charakteristiken in (t, x) = (1, 3)
beschränkt wird. In diesem Punkt treffen sich das erste Mal verschiedene Charakte-
ristiken. Nachdem wir uns um den letzten Bereich der Anfangsbedingung geküm-
mert haben, werden wir die Steigung der Stoßwelle in diesem Punkt berechnen. Wir
bemerken jedoch jetzt bereits, was wir längst in der angefertigten Skizze der Charak-
teristiken gesehen haben. Alle, wirklich alle, Charakteristiken mit Anfangswerten ξ0
aus dem Bereich [2, 3] treffen sich im Punkt (t, x) = (1, 3). Dies sehen Sie leicht,
wenn Sie in die Gleichung der Charakteristiken t = 1 einsetzen. Sie bekommen
ξ(1) = ξ0 + (3 − ξ0 )1 = 3, unabhängig von der Wahl von ξ0 .
Der vierte Bereich gibt die Lösung für die Bereiche an, in denen für die Charak-
teristik ξ0 > 3 gilt. Die Lösung ist in diesem Bereich konstant 0, und wir erhalten
Für t > 1 treffen bei (t, xs ) in der Stoßwelle u − mit ξ0 ∈ [0, 2] und
u + mit ξ0 > 3 aufeinander. Somit sind u + = 0 und folglich F(u + ) = 0. Für die von
s −4
links in den Stoß laufende Lösung haben wir u − = xt−2 berechnet und finden somit
2
−4
F(u − ) = 2 t−2
1 x s
. Damit ist die Steigung der Stoßwelle
Ergänzen Sie Ihre Skizze der Charakteristik um die fortgeführte Stoßwelle. Beachten
Sie hierbei auch, dass Charakteristiken in den Stoß hinein- aber niemals hinauslaufen.
Schauen Sie sich an, dass die Charakteristiken mit ξ0 ∈ [0, 2] im Punkt
(t, x) = (2, 4) zusammenlaufen würden, aber nicht mehr dazu kommen, weil sie
vorher in die Stoßwelle hineinlaufen.
Beispiel Ein weiteres Phänomen, das wir an der Burgers-Gleichung studieren kön-
nen, tritt bei der Anfangsbedingung
0 für x ≤ 0,
u 0 (x) =
1 für x > 0
und sie laufen auseinander. Für x ∈ (0, t] ist durch die Charakteristiken keine Lösung
beschrieben, da die Charakteristik mit ξ0 = 0 senkrecht verläuft, eine Charakteristik
174 9 Transportgleichung und Charakteristiken
Abb. 9.5 Charakteristiken zur Burgers-Gleichung mit unstetiger fallender Anfangsbedingung. Die
Charakteristiken laufen in einer Verdünnungswelle auseinander. Im Bereich [0, t] ist durch die
Charakteristiken keine Lösung beschrieben
mit ξ0 > 0 jedoch bereits die Steigung 1 besitzt. Zwischen den Charakteristiken mit
ξ0 > 0, die rechts von der Null starten, und der Charakteristik zu ξ0 = 0 entsteht
somit eine leere Fläche. Diese Eigenschaft ist in Abb. 9.5 zu erkennen. Es sieht so
aus, als würden jetzt die schnellen Gaspartikel rechts von x = 0 vor den ruhenden
Gaspartikeln links von der Null weglaufen und dabei ein Vakuum hinterlassen. Da
sich realistische Gase und Flüssigkeiten nicht so auseinanderziehen lassen, dass
ein Vakuum zurückbleibt, entsteht bei einer solchen Versuchsanordnung eher eine
Verdünnung. Das zugehörige Phänomen heißt Verdünnungswelle.
Da es einen Bereich gibt, in dem keine Lösung durch die Charakteristiken gegeben
ist, erhalten wir auch keine Lösung im herkömmlichen Sinn. Als verallgemeinerte,
nicht überall differenzierbare Lösung erhalten wir
⎧
⎨ 0 für x ≤ 0,
u(t, x) = xt für x ∈ [0, t],
⎩
1 für x ≥ t.
Prüfen Sie durch Nachrechnen, dass diese Lösung sowohl die Transportgleichung
u ,t + uu ,x = 0 als auch im Grenzwert für t gegen null obige Anfangsbedingung
erfüllt. In Abb. 9.6 ist die Lösung dargestellt. Insbesondere ist der für größere t immer
flachere schräge Anteil durch xt zu erkennen, der die beiden konstanten Anteile der
Lösung miteinander verbindet.
9.6 Charakteristiken allgemeinerer Gleichungen 175
u ,t + uu ,x = ηu ,x x (9.7)
enthält im Vergleich zu Gl. 9.5 einen Diffusionsterm. Sie ist damit von zweiter Ord-
nung. für große Viskositäten η verhält sich Gl. 9.7 wie eine parabolische Gleichung
mit einem nichtlinearen Störterm uu ,x . Wir sagen, dass die Viskosität in diesem Fall
das Lösungsverhalten dominiert. Es treten keine Stöße auf, und Sprünge in der Lö-
sung von Gl. 9.5 gehen in steile Anstiege und für noch größere η in immer weniger
steile Anstiege über.
Für η → 0 dagegen nähert sich das Verhalten der viskosen Burgers-Gleichung
in Gl. 9.7 dem Lösungsverhalten der Burgers-Gleichung in Gl. 9.5, und der Viskosi-
tätsterm kann als eine immer kleinere Störung der Burgers-Gleichung interpretiert
werden. Für η → 0 dominiert also der konvektive Term das Lösungsverhalten.
Die viskose Burgers-Gleichung in Gl. 9.7 ist also eine Gleichung mit zwei Gesich-
tern. Für Honig mit einem großen η ist sie eine gutmütige Gleichung, deren Lösung
einem recht ausgeglichen Geschwindigkeitsfeld entgegenstrebt. Für Wasser oder gar
Luft mit einer kleinen Viskosität η hält sie alle Gemeinheiten bereit, die auch die
Behandlung der Navier-Stokes-Gleichung zu einer Herausforderung machen.
Bislang haben wir Transportgleichungen betrachtet, bei denen der Fluss nur von der
Lösung selbst abhängig ist. Jetzt widmen wir uns allgemeineren Gleichungen, bei de-
nen der Fluss auch vom Ort direkt abhängig sein darf. In der Verkehrsdynamik kann
ein ortsabhängiger Fluss z. B. mit dem Einfluss der Fahrbahnbeschaffenheit auf die
Geschwindigkeit assoziiert werden. Beispielsweise werden auf verschneitem Kopf-
steinpflaster andere Geschwindigkeiten gefahren als auf geräumten Asphaltstraßen.
Die Geschwindigkeit v ist also nicht nur von der Verkehrsdichte , sondern zusätzlich
direkt vom Ort x abhängig.
176 9 Transportgleichung und Charakteristiken
Wir lassen eine direkte Ortsabhängigkeit im Fluss F = F(x, u) zu, und die zu-
gehörige Transportgleichung ist
d
u ,t + F(x, u) = 0 bzw. u ,t + F,u · u ,x = −F,x . (9.8)
dx
Die zweite Formulierung erhalten wir durch die Kettenregel
d d
F(x, u) = F(x, u(t, x)) = F,x + F,u · u ,x .
dx dx
Im Vergleich zu Gl. 9.3 finden wir in Gl. 9.8 den zusätzlichen Term F,x vor.
Eine inhomogene Gleichung mit ortsunabhängigem Fluss u ,t + F̃(u),x = f (x)
ist ein Spezialfall von Gl. 9.8. Durch die Wahl eines F = F(x, u) mit F,u = F̃ (u)
und F,x = f (x) erhalten wir aus der inhomogenen Gleichung eine Transportglei-
chung in der Form aus Gl. 9.8. Wir finden für alle F̃ und f = f (x) eine solche
Funktion F, z. B. indem wir eine Stammfunktion von f zu F̃ addieren. Rechnen Sie
dies bitte nach.
Damit beschreibt Gl. 9.8 für geeignete Flüsse F = F(x, u) sowohl einen direkt
ortsabhängigen Fluss als auch externe Zu- und Abflüsse in der inhomogenen rechten
Seite f .
Wir werden nun das Konzept der Charakteristiken auf Transportgleichungen wie
in Gl. 9.8 übertragen. Weiterhin soll die Transportgleichung entlang der Charak-
teristiken separieren. Wie in Gl. 9.4 ist die Steigung der Charakteristik gleich der
Ableitung des Flusses F nach u. Allerdings taucht jetzt die partielle Ableitung auf,
weil F von den beiden Argumenten x und u abhängt. Die Charakteristiken erfüllen
nämlich
d ∂
ξ(t) = F ( ξ(t) , u(t, ξ(t)) ) . (9.9)
dt ∂u
Wir haben die Argumente etwas luftiger geschrieben, damit Sie beim Entziffern der
vielen Klammern nicht verzweifeln. Nach dem Einsetzen von Gl. 9.9 in die zweite
Formulierung von Gl. 9.8 ergibt sich −F,x = u ,t + F,u u ,x = u ,t + ξ (t)u ,x , und dies
ist die substantielle Ableitung von u nach t. Für die Änderung der Größe u entlang
der Charakteristik haben wir also die gewöhnliche Differentialgleichung
d
u(t, ξ(t)) = −F,x ( ξ(t) , u(t, ξ(t)) ) . (9.10)
dt
Diesmal kann sich die Lösung u entlang der Charakteristik ξ = ξ(t) ändern, und sie
tut es im Allgemeinen auch.
Bei einer Transportgleichung mit F = F(u) sind Lösungen u entlang der Cha-
rakteristiken konstant. Damit ist auch der Fluss F(u) längs der Charakteristiken kon-
stant. Der folgende Satz zeigt, dass die zweite Eigenschaft für Transportgleichungen
mit einer ortsabhängigen Flussfunktion erhalten bleibt.
9.6 Charakteristiken allgemeinerer Gleichungen 177
Satz 9.3 Der Fluss F = F(x, u) bleibt entlang jeder Charakteristik ξ = ξ(t) der
Transportgleichung u ,t + F,u · u ,x = −F,x konstant.
d d
F(ξ, u) = F( ξ(t) , u(t, ξ(t)) ) = 0
dt dt
rechnen wir durch unermüdliche Anwendung der Kettenregel nach. Es gilt nämlich
d du
F( ξ(t) , u(t, ξ(t)) ) = F,x (ξ(t), u) · ξ (t) + F,u (ξ, u) ·
dt dt
und
d
u(t, ξ(t)) = u ,t (t, ξ ) + u ,x (t, ξ(t)) · ξ (t).
dt
Dabei haben wir aus Gründen der Übersichtlichkeit die Zeitabhängigkeiten nur dort
notiert, wo sie für die Kettenregel beachtet werden müssen. In Kurzschreibweise
ergibt sich mit Gl. 9.9, d. h. mit ξ = F,u , jetzt
d
F(ξ, u) = F,x F,u + F,u (u ,t + u ,x F,u )
dt
und wegen Gl. 9.8 auch
d
F(ξ, u) = F,x F,u + F,u (−F,x ) = 0.
dt
Die zeitliche Änderung des Flusses ist, wie behauptet, entlang der Charakteristik
null und somit der Fluss entlang der Charakteristik konstant.
Die Aussage von Satz 9.3 gilt natürlich auch entlang der Charakteristiken von
Transportgleichungen mit F = F(u). Dies wussten wir schon vorher, denn dort ist
die Lösung u entlang der Charakteristiken konstant, und der Fluss hängt in Gl. 9.3
nur von der Lösung u ab, die selbst entlang ξ = ξ(t) konstant ist. Trotzdem können
wir uns an dieser Stelle freuen, dass sich die Überlegungen aus den vorangegangenen
Abschnitten als Spezialfall der allgemeineren Gleichungen erweisen.
Beim Lösen einer ortsabhängigen Erhaltungsgleichung gehen wir im Grunde ge-
nauso vor wie in Abschn. 9.3. Allerdings ist das System aus den beiden gewöhnlichen
Differentialgleichungen in Gl. 9.9 für die Charakteristik ξ(t) und in Gl. 9.10 für die
Lösung u entlang der Charakteristik gekoppelt. Für die Auswertung der rechten Sei-
ten brauchen wir im Allgemeinen sowohl ξ aus auch u und können deshalb die beiden
Differentialgleichungen nicht getrennt voneinander behandeln.
Für manche Flussfunktionen F kann es gelingen, dass Gl. 9.9 eine Differenti-
algleichung für die Charakteristiken enthält, die unabhängig von u ist. In diesem
178 9 Transportgleichung und Charakteristiken
bequemen Fall bestimmen wir wie im nachfolgenden Beispiel zuerst die Charakteris-
tiken ξ = ξ(t) unter Ausnutzung von Gl. 9.9. Anschließend bestimmen wir u(t, ξ(t))
längs ξ(t). Dafür nutzen wir die gewöhnliche Differentialgleichung in Gl. 9.10.
Wir lösen also wieder eine partielle Differentialgleichung, indem wir sie auf ge-
wöhnliche Differentialgleichungen zurückführen. Hier erhalten wir die zwei im All-
gemeinen gekoppelten gewöhnlichen Differentialgleichungen 9.9 und 9.10 für die
Charakteristiken ξ(t) und die Lösung u(t, ξ(t)) entlang der Charakteristiken.
Wir probieren das Vorgehen an einem Beispiel aus.
d
u(t, ξ(t)) = λ ( ξ(t) ) · u( t , ξ(t) )
dt
d du
[−λ(ξ(t))u(t, ξ(t))] = −λ (ξ )ξ (t)u − λ = −λ (ξ )ξ (t)u − λ · λ (ξ )u.
dt dt
Die auf den ersten Blick etwas technisch erscheinenden Umformungen beruhen wie
in der allgemeinen Betrachtung auf dem Einsetzen von Beziehungen aus vorigen
9.6 Charakteristiken allgemeinerer Gleichungen 179
Gleichungen und immer wieder aus der Kettenregel. Das Zusammenspiel aus der
Kettenregel und dem Einsetzen erleben Sie am besten, wenn Sie die Umformungen
auf einem Zettel kleinteilig aufschreiben und nacherfinden.
Die letzte Gleichung wird mit ξ = −λ(ξ ) zu
d
[−λu] = λ (ξ )λ (ξ )u − λ · λ (ξ )u = 0,
dt
und erwartungsgemäß ist der Fluss F(ξ, u) = λ(ξ )u(t, ξ ) entlang der Charakteris-
tiken konstant. Es gilt
und damit
λ(ξ0 )
u(t, ξ ) = · u 0 (ξ0 ). (9.11)
λ(ξ )
Mit dieser Beziehung können wir aus den Anfangswerten u 0 (ξ0 ) die Füllstände
u(t, ξ ) zu jedem Zeitpunkt t und an jeder Stelle x in der Lieferkette angeben. Ande-
rerseits können wir auch zurückverfolgen, aus welchem Anfangswert ein bestimmter
Wert u(t, x) stammt.
Für den Fall, dass die Lieferkette zum Zeitpunkt t = 0 einen gleichmäßigen
Fluss mit einer kleinen Störung, also abweichenden Werten des Flusses
F(ξ0 , u 0 (ξ0 )) = −λ(ξ0 )u 0 (ξ0 ) auf einem Teilstück, hat, breitet sich diese Störung
wegen ξ (t) < 0 entgegen der Transportrichtung der Waren aus.
Viele Lieferketten aus der Logistik legen nahe, dass λ = λ(x) monoton wachsend
ist, weil die Endverbraucher relativ zum Bedarf, also der Differenz zwischen dem
Füllstand und dem Sollwert, eine stärkere Nachfrage als die Zwischen- und Groß-
händler entwickeln. In diesem Fall werden die Beträge der Störungen, während die
Störungen entlang (t, ξ(t)) rückwärts laufen, gemäß Gl. 9.11 größer, weil λ(ξ ) für
kleiner werdende ξ kleiner wird. Dieser Effekt fordert in jedem Jahr Logistikmanager
aus der Getränkebranche, wenn die Nachfrage nach alkoholfreien und alkoholarmen
Getränken im Frühjahr erwartet, aber dennoch plötzlich ansteigt.
Schließlich setzen wir die konkrete Funktion λ(x) = x ein. Jetzt beschreibt
die Transportgleichung nur für x > 0 eine On-Demand-Lieferkette. Aus
ξ (t) = −ξ(t) mit ξ(0) = ξ0 erhalten wir die rückwärts laufenden Charakteristiken
ξ(t) = ξ0 e−t . Gl. 9.10 wird damit zu dtd u(t, ξ(t)) = u(t, ξ(t)) und hat die Lösung
u(t, ξ(t)) = et u 0 (ξ0 ). Ausgedrückt in x = ξ(t) = ξ0 e−t gilt also u(t, x) = et u 0 (xet ),
und dieser Formel sieht man gar nicht an, was alles in ihr steckt. Machen Sie eine
Probe, und überprüfen Sie auch, dass der Fluss F = −xu in diesem konkreten Fall
entlang der Charakteristiken konstant ist.
Fundamentallösung
10
In diesem Kapitel sowie in Kap. 11 und Kap. 12 stellen wir Ihnen wichtige Kon-
zepte vor, die über das konkrete Ausrechnen von Lösungen hinausgehen. Dazu be-
trachten wir zunächst die Wirkung punktueller Einflüsse, also punktuell wirkender
Kräfte oder punktueller Wärmezufuhren auf die Lösung der partiellen Differential-
gleichungen für unendlich große Gebiete. Später werden wir die rechten Seiten und
die Anfangsbedingungen aus punktuellen Einflüssen zusammensetzen und passend
dazu die Wirkungen addieren, was natürlich nur für lineare Differentialgleichungen
gut funktioniert.
aus. Die δ-Distribution ist also in der Lage, vermittels Gl. 10.2 aus jeder stetigen
Funktion f ihren Funktionswert f (0) an der Stelle x = 0 herauszupicken. Denken
Sie kurz darüber nach, dass die δ-Distribution in Gl. 10.2 durch keine herkömmliche
Funktion ersetzt werden kann, ohne dass das Herauspicken genau eines Funktions-
werts verloren geht.
Mathematisch sauberer ist es übrigens, die Eigenschaft in Gl. 10.2 als definierende
Eigenschaft für das Objekt δ zu verwenden. Wir definieren die δ-Distribution als
Abbildung δ : C() → R aus der Menge der stetigen Funktionen C() über einem
Gebiet mit 0 ∈ in die reellen Zahlen R vermöge der Zuordnung δ : f → f (0).
Wir schreiben, dass die Funktion f , und nicht etwa ihre Funktionswerte f (x), auf
den einen Funktionswert f (0) an der Stelle x = 0 abgebildet wird. Den Ausdruck
in Gl. 10.2 erkennen wir als L 2 -Skalarprodukt und notieren
f, δ L 2 () = f (x)δ(x) dx = f (0). (10.3)
10.1 Fundamentallösung elliptischer Gleichungen 183
Abbildungen von einem Funktionenraum in die reellen Zahlen werden auch Funk-
tionale genannt. Folglich ist δ für jedes Gebiet ein lineares Funktional auf
dem Funktionenraum C(). An dieser Stelle können wir abbiegen und in einigen
Kapiteln Funktionalanalysis die Eigenschaften von Funktionalen studieren. Aller-
dings beschränken wir uns auf das bis jetzt gesammelte Wissen über die Dirac’sche
δ-Distribution. Damit wissen wir genug, um die Definition der Fundamentallösung
g zu verstehen.
Wir überlegen, was in der Definition 10.1 steckt. Die partielle Differentialgleichung
Dg = δ ist auf dem ganzen Raum Rd definiert und beschreibt die Verformung eines
elastischen Materials unter Einwirkung der Kraftdichte δ. Modelliert beispielsweise
D = − für d = 2 eine gespannte Membran, so ist g die vertikale Auslenkung einer
unendlich ausgedehnten, aber gleichzeitig gespannten Membran unter der Wirkung
einer konzentrierten Last im Ursprung. Wir könnten uns vorstellen, dass Engelchen
eine unendlich ausgedehnte Membran im ganzen R2 für uns aufspannen und wir diese
Membran am Punkt x = 0 und nur an diesem Punkt belasten, indem wir auf dem ideal
angespitzten Absatz eines Stöckelschuhs dort unser auf 1 normiertes Körpergewicht
balancieren.
Diese Vorstellung hat einige Tücken. Die Engelchen sorgen nur für die Spannung,
spannen aber die Membran nicht im Unendlichen ein, sodass wir nichtverschwinden-
de Lösungen u im Kern von D = − finden. Überprüfen Sie, dass u(x1 , x2 ) = x1
und u(x1 , x2 ) = x12 − x22 im Kern liegen. Durch die Auswahl einer Fundamental-
lösung wollen wir dafür sorgen, dass die Engelchen im Unendlichen zumindest alle
auf der gleichen Höhe an der Membran ziehen, am besten natürlich auf der Höhe
0. Eine andere Tücke besteht darin, dass jedes realistische Material unter dem Ein-
fluss einer unendlichen Kraftdichte, die Sie durch das Aufbringen Ihres normierten
Gewichts genau über der idealen Spitze des Absatzes erzeugen, zerstört, hier also
durchstochen, würde. Davon sehen wir bei den weiteren Betrachtungen ab, d. h., wir
denken uns ein ideales Material, das beliebig große Kraftdichten mit einer elastischen
Deformation beantwortet. Auch diese Idealisierung ist nur eine Veranschaulichung,
und wir werden sehen, warum wir in Definition 10.1 die Fundamentallösung ab-
sichtlich nur außerhalb des Koordinatenursprungs definiert haben. Weniger tückisch
ist vielleicht die Vorstellung des ideal angespitzten Absatzes. Sie können sich einen
Prozess vorstellen, bei dem Sie zuerst mit einem Schneeschuh, später mit einem
normalen Straßenschuh, dann nur mit dem Absatz usw. über dem Nullpunkt auf
der Membran stehen. Sie stellen also Ihr gleichbleibendes Gewicht auf eine immer
kleinere Fläche, sodass die Gesamtkraft gleich bleibt, aber der Druck innerhalb der
immer kleineren Andruckfläche immer größer wird.
Nebenbei bemerken wir, dass die Fundamentallösung nur bis auf eine additi-
ve Funktion u aus dem Kern von D bestimmt ist. Ist nämlich u ∈ ker D, d. h.
Du = 0, so gilt auch D(g + u) = δ. Wir haben somit bei der Entscheidung für eine
184 10 Fundamentallösung
Fundamentallösung etwas Auswahl und wählen eine mit einem schönen Verhalten
im Unendlichen, beispielsweise mit g(x) → 0 für x → ∞.
Mithilfe der Fundamentallösung g konstruieren wir eine Lösungsformel für die
partielle Differentialgleichung Du = f. Diese Differentialgleichung verbindet die
Auslenkung u : Rd → R, beispielsweise der unendlich ausgedehnten Membran,
mit der Kraftdichte f : Rd → R auf der rechten Seite. Eine Lösungsformel gibt u
in Abhängigkeit von f an. In den vorigen Kapiteln haben wir gesehen, wie aufwen-
dig die Lösung einer partiellen Differentialgleichung im Allgemeinen ist. Deshalb
erwarten wir hier auch keinen Zaubertrick, sondern eine formale Lösungsformel.
Wir nennen diese Lösungsformel formal, weil sie nur in den seltensten Fällen da-
zu verwendet werden kann, die gesuchte Größe u tatsächlich auszurechnen. Ihren
Nutzen besprechen wir später. Hier freuen wir uns daran, dass
u(x) = f (y)g(x − y) dy (10.4)
Rd
mit der Fundamentallösung g von D eine Lösung von Du = f angibt. In Gl. 10.4
entsteht die Auslenkung am Punkt x, indem über alle einzelnen Kraftwirkungen
an den Punkten y mittels des Integrals summiert wird, wobei jedes f (y) mit dem
Einfluss gewichtet wird, den es auf die u(x) hat. Dieser Einfluss ist mit g(x − y) die
Auslenkung, die eine konzentrierte Kraft im Punkt y an der Stelle x bewirkt.
Trotz dieser Veranschaulichung rechnen wir nach, dass Gl. 10.4 wirklich eine
Lösung von Du = f ist, indem wir Du bestimmen. Dabei beachten wir, dass der
Differentialoperator D bezüglich x und nicht bezüglich y wirkt, was wir durch die
Schreibweise Dx ausdrücken, und wir erhalten
Du(x) = f (y)Dx g(x − y) dy = f (y)δ(x − y) dy = f (x), (10.5)
Rd Rd
wobei wir unter dem Integral die definierende Eigenschaft Dg = δ und schließlich
Gl. 10.2 genutzt haben, nur einmal um −y und einmal um x verschoben. Beachten
Sie beim Nachrechnen bitte, dass δ(x − y) bezüglich y die Druckverteilung zu einer
konzentrierten Kraft am Punkt x ist und dass δ(z) = δ(−z) gilt. Die eine Zeile in
Gl. 10.5 reichte also zum Nachweis, dass Gl. 10.4 die Differentialgleichung Du = f
wenigstens formal löst. Wir betonen den formalen Charakter der Lösungsformel,
denn die Auswertung von Gl. 10.4 kann technisch sehr schwierig sein.
Das Besondere an Gl. 10.4 ist, dass die Lösung von Du = f aus Lösungen zu
konzentrierten Kräften an den einzelnen Punkten, also verschobenen Fundamental-
lösungen g(x − y), zusammengesetzt ist. Wir können uns vorstellen, dass wir die
Kraftdichte f in unendlich viele, konzentrierte Einzelkräfte zerlegen. Die Einzel-
kräfte stellen wir uns als winzige Kräfte auf so vielen spitzen Schuhabsätzen vor,
dass die Absätze wie ein Nadelkissen aussehen. Statt der Kraftdichte f lassen wir
nun das Nadelkissen auf die Membran wirken. Für immer zahlreichere und immer
10.1 Fundamentallösung elliptischer Gleichungen 185
feinere Nadeln nähert sich die Wirkung des Nadelkissens der Wirkung einer kontinu-
ierlichen Kraftdichte. Jede Nadel führt zu einer kleinen Verformung, und in Gl. 10.4
werden diese Verformungen summiert.
Wir erläutern das Prinzip noch einmal, indem wir parallel die Differentialglei-
chung Du = f und das lineare n × n-Gleichungssystem K z = b lösen. In beiden
Fällen haben wir lineare Operatoren, nämlich
mit den Einheitsvektoren e j ∈ Rn . In beiden Fällen stellen wir die rechten Seiten
f bzw. b durch Linearkombinationen dar. Die einzelnen Summanden f (y)δ(x − y)
bzw. b j e j greifen jeweils einzelne Werte oder Komponenten der rechten Seiten
heraus. Das Herausgreifen einer Komponente durch die Einheitsvektoren
b, e j Rn = bT e j = b j zeigt eine enge Verwandtschaft mit Gl. 10.3. Wir können
beide Zerlegungen als Kämme zeichnen, einmal mit unendlich vielen infinitesimal
dünnen Zinken der Länge f (y) in Abhängigkeit von y und einmal mit genau n Zinken
der Längen b j in Abhängigkeit vom Index j = 1, . . . , n.
Analog zur Fundamentallösung, die Dg(x − y) = δ(x − y) erfüllt, führen wir
die Lösungen z j der Gleichungssysteme K z j = e j zu jeweils einzelnen normierten
Komponenten auf der rechten Seite ein. Nun setzen wir die Lösung u von Du = f
ebenso zusammen wie die Lösung z von K z = b, nämlich als
u(x) = f (y)g(x − y) dy und z = b1 z1 + . . . + bn zn .
Rd
∂2 d −1 ∂
= + + ...,
∂ 2r r ∂r
vgl. Abschn. 6.3.2. Die Punkte ersetzen Ableitungen bezüglich der Winkelkoordina-
ten, welche angesichts einer radialsymmetrischen Funktion g = g(r ), die nur von r
abhängt, alle null werden.
Wegen g(x) = 0 für alle x = 0 lösen wir z. B. mittels Trennung der Variablen
die gewöhnliche Differentialgleichung
d −1
g (r ) + g (r ) = 0 (10.6)
r
erster Ordnung in g (r ) für r > 0, integrieren das Ergebnis zu g = g(r ) und finden
c1 + c2 r 2−d für d ≥ 3,
g(r ) =
c1 + c2 ln r für d = 2
mit den beiden Integrationskonstanten c1 und c2 . Die Konstante c1 liegt im Kern von
−, und wir können sie bei Bedarf frei wählen.
Interessanter ist die Wahl von c2 . Bisher haben wir Funktionen g(x) = g(r )
bestimmt, die auf Rd \{0} definiert sind und die dort −g(x) = 0 für alle x = 0
erfüllen. Nun verwenden wir die Forderung, dass −g = δ sein soll. Es geht also
um das Verhalten von g im Ursprung. Wir integrieren dazu über die Einheits-
kugel Bd = {x ∈ Rd : x < 1}, benutzen Gl. 10.1 und wenden für δ = −∇ · ∇g
den Gauß’schen Integralsatz aus Abschn. A.3 an. Es entsteht
∂
1 = δ(x) dx = − ∇ · ∇g(x) dx = − g(x) da, (10.7)
∂n
Bd Bd ∂ Bd
wobei wir zur Verdeutlichung, dass es sich beim letzten Integral um ein Integral über
die Oberfläche bzw. den Rand ∂ Bd der Einheitskugel handelt, das Differential da
geschrieben haben. Für d = 2 ist ds die prägnantere Wahl.
Die Außennormale an die Einheitskugel Bd ist n = x, und für alle Randpunkte
x ∈ ∂ Bd gilt r = 1. Somit ist
∂ c2 (2 − d) für d ≥ 3,
g(x) = g (1) =
∂n c2 für d = 2.
10.1 Fundamentallösung elliptischer Gleichungen 187
Da die Normalenableitung auf der gesamten Oberfläche von Bd dieselbe ist, erhalten
wir mit dem Oberflächeninhalt Sd = |∂ Bd | der d-dimensionalen Einheitskugel die
gesuchten Konstanten
1 1
c2 = für d ≥ 3 und c2 = für d = 2.
(2 − d)Sd S2
1 1 1
g(x) = − ln r für d = 2 und g(x) = · für d = 3 (10.8)
2π 4π r
sowie allgemein als
√ d
1 1 2 π
g(x) = · für d > 2 mit Sd = d
(d − 2)Sd r d−2 2
an. Das war zugegeben eine recht aufwendige Rechnung. Blicken Sie vor allem auf
die beiden Schritte zurück, zuerst eine radialsymmetrische Lösung g(x) = g(r ) zu
finden, die außerhalb des Ursprungs −g = 0 erfüllt, und dann deren Singularität
im Ursprung mittels des Gauß’schen Integralsatzes daraufhin zu untersuchen, ob
−g wirklich die Dirac’sche δ-Distribution ist. Der Gauß’sche Integralsatz war
auch deshalb wichtig, weil das Oberflächenintegral in Gl. 10.7 nur dort Werte von
g braucht, wo g auch Werte hat, nämlich auf der Oberfläche der Einheitskugel und
damit fern des Ursprungs. Im Ursprung ist g nämlich, wie in Definition 10.1 schon
eingeräumt, nicht definiert, weil die Fundamentallösung dort eine Polstelle hat.
Unsere Vorstellung von der Verformung einer ideal stabilen Membran wird durch
die Polstelle auf eine harte Probe gestellt. Die konzentrierte Kraftdichte δ wirkt im
Ursprung nach oben, und Gl. 10.8 zeigt uns, dass die Auslenkung dort eine nach oben
geöffnete Polstelle hat. Die Auslenkung am Ursprung ist also unendlich groß, und
wir finden die Überlegung wieder, dass eine unendliche Kraftdichte jedes Material
durchsticht. Abb. 10.1 zeigt die Fundamentallösung g im zweidimensionalen Fall.
Eventuell erinnert Sie Gl. 10.8 an das Potential zu einer Elementarladung,
vgl. Gl. 4.6. Das ist nicht verwunderlich, denn eine Elementarladung im Ursprung
188 10 Fundamentallösung
erfüllt. Die Dirac’sche δ-Distribution in der Anfangsbedingung sagt, dass wir zum
Zeitpunkt t = 0 eine in dem Punkt x = 0 konzentrierte Wärmeenergie der Größe 1
haben. Dort und nur in diesem einen Punkt ist es also unendlich heiß, und in allen
anderen Punkten ist die Temperatur 0. Die Fundamentallösung g enthält nun die
zeitabhängige Temperatur zur Ausbreitung der konzentrierten Wärmeenergie. Da
wir auf der gesamten reellen Achse R rechnen, haben wir keine Randbedingungen.
Die Haupteigenschaft der Fundamentallösung besteht in Analogie zu Gl. 10.4
darin, dass die inhomogene Wärmeleitungsgleichung
t
u(t, x) = g(t, x − y)u 0 (y) dy + g(t − τ, x − y) f (τ, y) dy dτ (10.10)
R 0 R
hat. Wir erkennen in Gl. 10.10 wieder das Prinzip, dass die Einflüsse der einzelnen
Werte u 0 der Anfangsbedingung, die sich im Zeitintervall [0, t] ausgebreitet haben,
mit der Fundamentallösung gewichtet werden und dass zusätzlich die Quellen und
Senken f (τ, y) jeweils zum Zeitpunkt τ Wärme von außen zuführen bzw. entzie-
hen. Diese Einflüsse haben folglich nur ein Zeitintervall der Länge t − τ , um sich
auszubreiten.
Wir rechnen nach, dass die Funktion u aus Gl. 10.10 tatsächlich das Anfangswert-
problem in Gl. 10.9 löst. Die Anfangsbedingung ist wegen
u(0, x) = g(0, x − y)u 0 (y) dy + 0 = δ(x − y)u 0 (y) dy = u 0 (x)
R R
erfüllt. Außerdem berechnen wir die zeitliche Ableitung u ,t und verwenden, da die
obere Integrationsgrenze in Gl. 10.10 von der Zeit abhängt, die Leibniz-Regel für
190 10 Fundamentallösung
Wir benutzen g,t = g,x x für alle t > 0 und g(0, x − y) = δ(x − y), um zu
u ,t = g,x x (t, x − y)u 0 (y) dy + . . .
R
t
... + g,x x (t − τ, x − y) f (τ, y) dy dτ + f (t, x)
0 R
= u ,x x + f (t, x)
zu gelangen, und schon haben wir Gl. 10.10 als formale Lösungsformel nachgerech-
net.
Die tatsächliche Berechnung der Fundamentallösung ist oft trickreich. Zuerst
behaupten wir, dass die Wärmeleitungsgleichung
hat. Sie rechnen dies leicht nach, indem Sie u ,t und u ,x x durch Differentiation bestim-
men und gleichsetzen, sowie die Grenzwerte u(t, x) für t → 0 für unterschiedliche
x betrachten, um die Werte u(0, x) zu bestimmen. Dabei ist hilfreich√ zu wissen, dass
in Gl. 10.12 die Verteilungsfunktion der Normalverteilung mit σ = 2 steht.
Wegen δ(x) = H (x) ist die Fundamentallösung g(t, x) = u ,x (t, x) der Wärme-
leitungsgleichung auch die örtliche Ableitung der eben bestimmten Lösung. Also
gilt
1 x2
g(t, x) = √ e− 4t . (10.13)
2 πt
Versuchen Sie sich daran,
die Lösung von Gl. 10.11 selbst zu finden, indem Sie den
Ansatz u(t, x) = v √x t mit einer noch unbekannten eindimensionalen Funktion
10.2 Fundamentallösung der Wärmeleitungsgleichung 191
v verwenden. Indem Sie alle Anteile von Gl. 10.11 nutzen, kommen Sie wieder zu
einer gewöhnlichen Differentialgleichung erster Ordnung in v , die beispielsweise
mit Trennung der Variablen lösbar ist. Mit Gl. 10.12 haben Sie die Möglichkeit, Ihre
Überlegungen zu kontrollieren. Nebenbei bemerkt ist der Ansatz wahrscheinlich erst
entstanden, nachdem jemand die Fundamentallösung kreativ und zielführend geraten
hatte.
Wir beschließen diesen Abschnitt mit einer allgemeineren Betrachtung zur Wär-
meleitungsgleichung und ihrer Fundamentallösung in Gl. 10.13. Die zum Zeitpunkt
t = 0 konzentrierte Wärmeenergie läuft unter Erhaltung der Gesamtenergie aus-
einander, und zwar so, dass zu jedem Zeitpunkt t eine immer breiter und flacher
werdende Gauß-Glocke beobachtet werden kann. Ihre Varianz ist σ 2 = 2t. Dieses
Auseinanderlaufen der Wärmeenergie zusammen mit dem Ausgleich der Tempera-
turen entspricht unseren Erwartungen an die Wärmeleitung. Abb. 10.2 zeigt Ihnen
die Fundamentallösung aus Gl. 10.13.
Weniger entspricht es unseren Erwartungen, dass die zum Zeitpunkt t = 0 im
Ursprung x = 0 konzentrierte Wärmeenergie, oder zumindest ein Teil von ihr, in
minimaler Zeit beliebig große Distanzen überwindet, denn g(t, x) > 0 gilt für alle
t > 0 und für alle x ∈ R. Wir können also ein beliebig kleines t > 0 und ein beliebig
weit entferntes x einsetzen, und Gl. 10.13 sagt dennoch, dass ein Anteil der anfangs
ausschließlich bei x = 0 konzentrierten Wärmeenergie die Distanz x innerhalb der
Zeitspanne t überwunden haben muss, notfalls auch mit Überlichtgeschwindigkeit,
und das widerspricht der Relativitätstheorie.
Dieser wunderschöne Widerspruch zur Relativitätstheorie ist für die meisten
irdischen Anwendungen natürlich unerheblich. Auch sind die Wärmemengen, die
so schnell transportiert werden müssten, winzig klein. Der Widerspruch sollte uns
daher keineswegs dazu verleiten, die Wärmeleitungsgleichung prinzipiell für falsch
oder ungeeignet zu halten, sondern uns in Erinnerung bringen, dass sie für einen
kleinen irdischen Gültigkeitsbereich und auch dort nur zur näherungsweisen Be-
schreibung verwendet wird.
192 10 Fundamentallösung
Wir wissen, dass sich jede Anregung mit der Schallgeschwindigkeit c = 1 in beide
Richtungen ausbreitet. Das betrifft die Einflüsse aus beiden Anfangsbedingungen u 0
und v0 sowie aus der externen Kraft f. Jede Anregung zum Zeitpunkt t am Ort x
beeinflusst also die Auslenkung innerhalb des von (t, x) ausgehenden Einflusskegels,
vgl. Abb. 8.1. Wir erwarten, dass auch die Fundamentallösung nur im Einflusskegel
ungleich null ist.
Tatsächlich ist die Fundamentallösung der eindimensionalen Wellengleichung
1 1
für |x| ≤ t,
g(t, x) = [H (x + t) − H (x − t)] = 2 (10.15)
2 0 für |x| > t
mit der Heaviside-Funktion H . Die erste Form in Gl. 10.15 eignet sich, sobald man
H (x) = δ(x) akzeptiert, besser für die Rechnungen. Die zweite Form mit der Fall-
unterscheidung vermittelt hoffentlich ein anschaulicheres Bild, denn diese Funda-
mentallösung füllt den Einflusskegel mit einem Plateau der Höhe 21 aus.
Übrigens ist die Fundamentallösung mit F(x) = − 21 H (x) und G(x) = 21 H (x)
eine Lösung der Wellengleichung wie in Gl. 8.2. Sie erfüllt damit die Anfangsbedin-
gungen g(0, x) = 0 und g,t (0, x) = δ(x). Die Fundamentallösung ist die Lösung
der Wellengleichung zu einem konzentrierten Anfangsimpuls mit einer nichtver-
schwindenden Anfangsenergie. Deshalb läuft die Welle als negativer und als positiver
Sprung nach rechts und links.
Wir behaupten nun, dass die formale Lösungsformel zum Anfangswertproblem
in Gl. 10.14 die Form
u(t, x) = g,t (t, x − y)u 0 (y) dy + g(t, x − y)v0 (y) dy + . . .
R R
t
... + g(t − τ, x − y) f (τ, y) dy dτ (10.16)
0 R
hat. Vergleichen Sie diese Fundamentallösung bitte mit Gl. 10.10, denn sie ist ähnlich
aufgebaut. Neu ist, dass der Einfluss der Anfangsauslenkung u 0 über die Ableitung
10.3 Fundamentallösung der Wellengleichung 193
g,t vermittelt wird. Ein Blick auf Gl. 10.15 offenbart, dass g,t aus einem geteilten
δ-Impuls besteht, dessen eine Hälfte mit der Geschwindigkeit c = 1 nach rechts, also
in Richtung der positiven x-Achse, und dessen andere Hälfte mit der Geschwindigkeit
c = −1 nach links, also in negative Richtung, läuft. Die Anfangsauslenkungen u 0
verbreiten sich also, wie schon in Gl. 8.5 herausgearbeitet, nur entlang des Rands
des Einflusskegels, während die Anfangsgeschwindigkeiten v0 sich im gesamten
Einflusskegel wiederfinden.
Ihre Aufgabe ist es nachzurechnen, dass die Funktion u aus der Lösungsformel in
Gl. 10.16 tatsächlich die inhomogene Wellengleichung in Gl. 10.14 löst. Gehen Sie
dazu analog zum Abschn. 10.2 vor, d. h., bestimmen Sie u ,tt und u ,x x und vergleichen
Sie beide. Vergessen Sie nicht, dass die obere Intervallgrenze von t abhängt und
Sie bei der Vertauschung der Reihenfolge von Differentiation und Integration die
Leibniz-Regel brauchen.
Bei dieser Rechnung werden Sie g,tt = g,x x verwenden, obwohl die Fundamen-
tallösung g als unstetige Funktion Sprünge auf den Rändern x = t und x = −t des
Einflusskegels hat. Mit Blick auf H (x) = δ(x) haben wir mittlerweile ein gewis-
ses Gefühl dafür entwickelt, was wir als Ableitung einer Funktion mit einem Sprung
ansehen können, und in Kap. 12 werden wir dieses Gefühl noch ein wenig systemati-
sieren. Jedoch ist die Vorstellung von einer zweiten Ableitung einer Sprungfunktion
immer noch schwierig. Versuchen Sie, mittels der partiellen Integration das Pro-
dukt f (x)δ (x) über R zu integrieren. Sie finden eine ähnliche Beziehung wie die in
Gl. 10.2. Trauen Sie sich, ein wenig kühn mit Distributionen wie δ und δ zu rechnen,
aber seien Sie vorsichtig, denn nicht alles, was man sich wünschen kann, gilt auch
wirklich. Wie so oft hilft auch hier ein Blick auf die physikalische Anwendung.
Prüfen Sie schließlich, dass Gl. 10.16 für f = 0 der Formel in Gl. 8.5 entspricht.
Green-Funktion
11
11.1 Selbstadjungiertheit
Wir werfen einen Blick auf die zweite Green’sche Formel in Gl. A.14, deren Herlei-
tung Sie im Anhang A nachlesen können. Sie lautet
∂w ∂u
uw − wu dx = u −w ds.
∂n ∂n
∂
Wenn wir die Integrale der Produkte auf der linken Seite als L 2 -Skalarprodukte
schreiben, lautet die zweite Green’sche Formel
∂w ∂u
u, w L 2 () − u, w L 2 () = u −w ds. (11.1)
∂n ∂n
∂
Auf der linken Seite steht die Differenz zweier Skalarprodukte, einmal steht der Dif-
ferentialoperator an der Funktion w und einmal an der Funktion u. Aus Gl. 11.1
lesen wir ab, dass sich die Differenz dieser beiden Skalarprodukte durch Terme auf
dem Rand ∂ ausdrücken lässt. Wenn wir die beiden Funktionen u und w auf dem
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 195
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_11
196 11 Green-Funktion
Rand und einem schmalen Streifen am Rand festhalten, sodass neben den Funkti-
onswerten von u und w auch ihre Normalenableitungen unverändert bleiben, können
wir beide Funktionen im verbleibenden Inneren des Gebiets beliebig variieren,
ohne dass sich die linke Seite von Gl. 11.1 verändert.
Die Eigenschaft, dass die Wanderung des Differentialoperators von einem
an den anderen Faktor das Skalarprodukt nur um Randterme ändert, gehört zum
Differentialoperator . Ein Differentialoperator mit dieser Eigenschaft heißt selbst-
adjungiert. In der Green’schen Formel handelt es sich bei dem betrachteten Diffe-
rentialoperator um den Laplace-Operator, aber ähnliche Ausdrücke wie in Gl. 11.1
gelten auch für andere Differentialoperatoren, wie wir in Abschn. 5.2.3 gesehen und
genutzt haben. Suchen Sie beispielsweise nach einem analogen Ausdruck für den
Lamé-Operator. Auch dieser ist, wie viele andere Differentialoperatoren für statio-
näre Probleme, selbstadjungiert. Im Moment bleibt uns der tiefere Gewinn aus die-
ser Eigenschaft noch verschlossen. Wir werden die Selbstadjungiertheit in diesem
Kapitel ausnutzen, aber vorher zeigen wir Ihnen die Parallelität zur Symmetrie von
Matrizen.
Matrizen sind, wie Sie wissen, lineare Abbildungen. Wir betrachten den eukli-
dischen Raum Rn und eine Matrix K ∈ Rn×n . Diese Matrix realisiert eine lineare
Abbildung K : Rn → Rn . Wir vergleichen die euklidischen Skalarprodukte
miteinander. Die beiden Skalarprodukte x, K yRn und K x, yRn sind somit genau
dann für alle x, y ∈ Rn gleich, wenn K = K T gilt, wenn also K symmetrisch ist.
Symmetrische Matrizen haben viele Eigenschaften, die uns den Umgang mit ih-
nen erleichtern. Symmetrische Matrizen haben reelle Eigenwerte. Symmetrische
Matrizen sind diagonalisierbar, d. h. in der Form K = QQ T mit einer Diagonal-
matrix von Eigenwerten und einer orthogonalen Matrix Q, die die normierten
Eigenvektoren enthält, darstellbar. Glücklicherweise treffen wir in vielen physikali-
schen Anwendungen auf symmetrische Matrizen. Denken Sie beispielsweise an den
Verzerrungs- und Spannungstensor, und suchen Sie nach weiteren Beispielen.
Die Selbstadjungiertheit des linearen Differentialoperators in Gl. 11.1 ist die
große Schwester der Symmetrie von Matrizen. Allerdings bleibt das Skalarprodukt
in Gl. 11.1 bei der Wanderung des Differentialoperators von einem an den anderen
Faktor nicht wirklich gleich. Um die Terme auf dem Rand kommt man nicht herum,
aber es sind nur Terme auf dem Rand.
Selbstadjungierte Differentialoperatoren sind hilfreiche Freunde in der Wildnis
der partiellen Differentialgleichungen. Also stürzen wir uns ins Abenteuer.
So wie wir in Kap. 10 eine konzentrierte Kraft auf die unendlich ausgedehnte ge-
spannte Membran haben einwirken lassen, betrachten wir nun eine konzentrierte
Kraft auf eine im Gebiet eingespannte Membran. Bei der unendlich ausgedehnten
11.2 Umkehrung des Randwertproblems 197
Membran war es egal, welchen der Punkte wir für die Wirkung der konzentrierten
Kraft wählen, und deshalb haben wir die Kraft ohne Beschränkung der Allgemein-
heit in den Koordinatenursprung gelegt. Eine am Rand ∂ eingespannte Membran
verformt sich dagegen unterschiedlich stark, wenn wir sie eher in der Mitte oder nahe
am Rand belasten. Deshalb benennen wir die Stelle, an der die konzentrierte Kraft
wirkt, mit y ∈ . Diese Stelle liegt im Gebiet , das wir als offen festgelegt haben.
Der Rand ∂ selbst gehört nicht zum Gebiet. Eine Kraft am Rand würde auch keine
Deformation hervorrufen, denn die Membran ist am Rand in dem starren Rahmen
eingespannt.
Wir definieren die nach dem britischen Mathematiker und Physiker George Green
(1793 in Sneinton bis 1841 in Nottingham) benannte Green-Funktion G(x, y) zum
Randwertproblem
−u(x) = f (x) für x ∈ ,
(11.2)
u(x) = 0 für x ∈ ∂
als Lösung von
In Gl. 11.3 haben wir wieder hervorgehoben, dass der Laplace-Operator bezüglich
des Arguments x wirkt. Die Stelle y hat eher die Rolle eines Parameters.
Die Green-Funktion G(x, y) beschreibt als Funktion von x die Auslenkung der
Membran zu einer punktuellen Kraft an einem Punkt y ∈ . Da wir für jeden Punkt
y ∈ eine andere Deformation erhalten, ist die Green-Funktion G(x, y) eine Funk-
tion in Abhängigkeit von den beiden Argumenten x und y, von denen x ∈ ∪ ∂
auch auf dem Rand liegen darf, der Punkt y ∈ zunächst aber nicht.
Abb. 11.1 zeigt Ihnen die Green-Funktion zum Randwertproblem in Gl. 11.2 für
einen Kreis mit zwei unterschiedlichen Stellen y ∈ . Achten Sie darauf, dass
die Green-Funktion G(x, y) für Punkte x ∈ ∂ tatsächlich null ist, dass G also die
homogene Dirichlet-Randbedingung in Gl. 11.3 erfüllt. Sie erkennen außerdem, dass
sich die Membran bei einer konzentrierten Kraft, die näher am Rand liegt, weniger
stark verformt. Sie erkennen aber auch, dass beide Verformungen sehr ähnliche
Trichter in der Nähe des Wirkorts y der konzentrierten Kraft erzeugen.
Diese Beobachtung formulieren wir mathematisch dadurch, dass die Singulari-
tät der Fundamentallösung g und die der Green-Funktion eng verwandt sind. Wir
schreiben die Green-Funktion als Summe der in den Punkt y verschobenen Funda-
mentallösung und einer noch nicht bekannten Funktion w, also als
Abb. 11.1 Green-Funktionen G(x, y) aus Gl. 11.3 für ein Kreisgebiet zu zwei unterschiedlichen
Punkten y (Pfeil), an denen die konzentrierte Kraft δ(x − y) wirkt. Am Rand (fett) gilt G(x, y) = 0
für x ∈ ∂. Die Koordinatenebene ist grau angedeutet
zwei gleich große, aber entgegengesetzte konzentrierte Kräfte aufheben. Schon des-
halb können wir darauf vertrauen, dass δ(x − y) − δ(x − y) = 0 für alle x und y gilt.
Versuchen Sie sich mithilfe der definierenden Gl. 10.2 an einer innermathematischen
Begründung dafür.
In Randpunkten x ∈ ∂ ist die Green-Funktion G gleich null. Aber die Funda-
mentallösung g(x − y) nimmt für x ∈ ∂ und damit x = y ∈ endliche Werte an,
weil sich ihre Singularität an der Stelle y befindet. Gerade die Werte von g am Rand
∂ werden durch die Subtraktion von w zu null gemacht. So kommen wir zum
Randwertproblem
für die bislang unbestimmte Funktion w. Wir sehen, dass w für jedes y ∈ eine
herkömmliche Verformung einer bei den Werten −g(x − y) eingespannten Mem-
bran beschreibt. Die Funktion w gehorcht dem Maximumprinzip und wird für kein
x größer oder kleiner als das Maximum bzw. Minimum der Werte −g(x − y) der
Fundamentallösung auf dem Rand ∂. In der Zerlegung aus Gl. 11.4 beschreibt so-
mit die Fundamentallösung die Singularität an der Stelle y, die Sie in Abb. 11.1 als
Trichter sehen, und die Funktion w einen vergleichsweise kleinen Korrekturterm.
Wir sagen, dass die Fundamentallösung g die Singularität der Green-Funktion G
dominiert. Nahe bei y, also relativ weit entfernt vom Rand, verformt sich die einge-
spannte Membran fast so, als wäre sie eine unendlich ausgedehnte Membran.
Der wichtigste Gewinn, den wir aus der Green-Funktion ziehen, besteht in ei-
ner formalen Lösungsformel zum Randwertproblem aus Gl. 11.2. Eine ähnliche
Lösungsformel haben wir in Gl. 10.4 für die Deformation u der unendlich ausge-
dehnten Membran bei einer gegebenen externen Kraft f besprochen. Genau wie
dort beschreiben wir auch hier die Deformation u(x) an der Stelle x durch die Sum-
me der Wirkungen der konzentrierten Kräfte an allen Punkten y im Gebiet . Die
11.2 Umkehrung des Randwertproblems 199
formale Lösungsformel, die ebensowenig wie Gl. 10.4 als Rechenvorschrift verstan-
den werden sollte und die nur in sehr wenigen Fällen zur analytischen Bestimmung
einer Lösung genutzt wird, lautet
u(x) = G(x, y) f (y) dy. (11.5)
Wir rechnen nach, dass die Funktion u aus Gl. 11.5 bezüglich x tatsächlich die Dif-
ferentialgleichung −u = f aus Gl. 11.2 erfüllt, indem wir den negativen Laplace-
Operator −x bezüglich x anwenden. Wir erhalten wie gewünscht
−u(x) = − x G(x, y) f (y) dy = δ(x − y) f (y) dy = f (x)
für alle Punkte x ∈ und jede Stelle y ∈ . Dann überprüfen wir, dass u auch
den Randbedingungen aus Gl. 11.2 genügt. Wegen G(x, y) = 0 für alle Randpunkte
x ∈ ∂ ist auch das Integral in Gl. 11.5 null, und es gilt u(x) = 0 für x ∈ ∂.
Gl. 11.5 beschreibt einen formalen Umkehroperator zum Laplace-Operator. Wäh-
rend wir dies erklären, betrachten wir genügend glatte Funktionen u, die die ho-
mogenen Randbedingungen erfüllen. Die Randbedingungen schreiben wir hier als
u|∂ = 0. Diese Schreibweise bedeutet, dass aus der Funktion u, die auf dem Gebiet
und dem Rand ∂ definiert ist, nur die Werte auf dem Rand ∂ herausgeschnitten
werden. Wir sagen dazu, dass die Funktion u auf den Rand ∂ eingeschränkt wird.
Also ist der Definitionsbereich der eingeschränkten Funktion u|∂ : ∂ → R der
Rand ∂. Der Ausdruck u|∂ = 0 bedeutet also, dass u auf dem ganzen Rand ∂
mit der Nullfunktion identisch ist.
Der negative Laplace-Operator
− : u → f = −u,
der jede genügend glatte Funktion u mit u|∂ = 0 auf −u abbildet, hat die Um-
kehrung oder den Umkehroperator
G : f → u vermöge u(x) = G(x, y) f (y) dy, (11.6)
der die rechte Seite f des Randwertproblems in Gl. 11.2 auf die Lösung u mit
u|∂ = 0 zurück abbildet. Während G die wirkende Kraft f der Auslenkung u
zuordnet, zieht − die Verbindung von der Auslenkung u zur Kraft f .
In Gl. 11.6 haben wir etwas lax den Umkehroperator G : f → u genauso
bezeichnet wie die Green-Funktion, die unter dem Integral steht. Da ein Integral
ausgewertet wird, heißt die Abbildung G : f → u auch Integraloperator, und die
Green-Funktion G(x, y) wird als Integralkern bezeichnet. Auf den ersten Blick wun-
dert man sich, dass man die zweiten Ableitungen im Laplace-Operator mit einer
200 11 Green-Funktion
Integration umkehren kann. Wir können hier nur so viel sagen, dass sich die Ablei-
tungsordnung darin widerspiegelt, wie die Singularität des Integralkerns, also wie
der Trichter aus Abb. 11.1, geformt ist.
An dieser Stelle wäre es angebracht, über die Funktionenräume nachzudenken,
die als Definitions- und Wertebereich der beiden Operatoren taugen. Wir könnten
einen kleinen Funktionenraum, vgl. Abschn. 5.2.1, wählen, z. B. den Raum V der
zweimal stetig differenzierbaren Funktionen über , die auch auf dem Rand ∂
noch stetig sind und dort die Randbedingungen erfüllen. Mathematisch kurz notiert,
¯ wobei die hochgestellte 2 für die zweimalige
liest sich das als V = C 2 () ∩ C0 (),
stetige Differenzierbarkeit steht, und die Null anzeigt, dass die Werte am Rand null
sind. Damit ist f ∈ V sicher eine stetige Funktion, und wir haben − : V → C()
sowie G : C() → V .
In Abschn. 5.2.2 haben wir aber auch besprochen, dass die Materialparameter und
die Kräfte nicht zwingend stetige Funktionen sein müssen. Wir haben dort, wenn auch
nur sehr kurz, den größeren Funktionenraum V = H 1 (), vgl. Gl. 5.17, vorgestellt.
Der Raum H 1 () ist ein sehr angemessener Funktionenraum für Deformationen.
Dies haben tiefgehende und langwierige mathematische und physikalische Über-
legungen ergeben, die wir im nachfolgenden Kap. 12 nur kurz anreißen können.
Allerdings darf man sich fragen, und man muss sich tatsächlich fragen, was der
Laplace-Operator angewandt auf eine Funktion u ∈ H 1 () sein soll, wenn wir von
einer solchen Funktion noch nicht einmal fordern, dass sie wirklich in allen Punkten
eine erste Ableitung hat. Solche Fragen sind der Grund, warum viele Bücher über
partielle Differentialgleichungen anspruchsvolle Überlegungen zu Funktionenräu-
men, Differentialoperatoren und ihren Eigenschaften vor den Differentialgleichun-
gen selbst besprechen.
Aber wir kehren zu etwas handfesteren und irdischeren Überlegungen zurück
und beschränken uns auf unsere Generalamnestie genügend glatter Funktionen. Da
−u = f ist, folgt nach dem Einsetzen in Gl. 11.5 der Zusammenhang
u(x) = − G(x, y)u(y) dy (11.7)
für alle genügend glatten Funktionen u mit u|∂ = 0. Gl. 11.7 zeigt uns noch einmal,
dass der Integraloperator mit dem Integralkern G = G(x, y) den negativen Laplace-
Operator umkehrt, denn nach der Anwendung von − macht der Integraloperator
diese Anwendung rückgängig.
Wieder verwenden wir die zweite Green’sche Formel aus Gl. 11.1, um den
Laplace-Operator in Gl. 11.7 von u an den anderen Faktor G zu schieben. Dies-
mal wirkt der Laplace-Operator auf u bezüglich y, und damit bezieht sich auch der
Laplace-Operator nach seiner Wanderung auf das Argument y. Bei der Wanderung
des Laplace-Operators fallen Terme am Rand an, und es entsteht
∂ ∂
u(x) = − u(y)y G(x, y) dy − G(x, y) u(y) + u(y) G(x, y) dsy .
∂n ∂ny
∂
11.2 Umkehrung des Randwertproblems 201
Hier haben wir durch die Indizes angezeigt, dass sich die Integration und die Nor-
malenableitung auf das Argument y bezieht, denn in Gl. 11.7 haben wir sowohl den
Laplace-Operator als auch das Integral bezüglich y verwendet. Der letzte Term ist ein
Integral über den Rand y ∈ ∂, und dank der Beschränkung u|∂ = 0 gilt u(y) = 0
für alle y ∈ ∂. Der letzte Summand ist also null, und wir haben
∂
u(x) = − u(y)y G(x, y) dy − G(x, y) u(y) dsy (11.8)
∂n
∂
erfüllt. In diesem Randwertproblem hat x die Rolle eines Parameters, und y ist
die unabhängige Variable. Ansonsten stimmt Gl. 11.9 mit dem definierenden Rand-
wertproblem der Green-Funktion in Gl. 11.3 überein. Diese Übereinstimmung liegt
an der Selbstadjungiertheit des negativen Laplace-Operators − und der einfachen
Wahl der Randbedingungen. Führen wir die entsprechende Überlegung für allgemei-
nere Differentialoperatoren oder kompliziertere Randbedingungen durch, so kann
sich das entstehende Randwertproblem in y sehr wohl von dem ursprünglichen in x
unterscheiden.
Mit der Erkenntnis, dass Gl. 11.9 gilt, können wir eine noch allgemeinere formale
Lösungsformel konstruieren. Dazu verzichten wir jetzt auf die Einschränkung, dass
die Funktion u am Rand null sein soll, und betrachten Funktionen u mit nichthomo-
genen Randwerten. Da −y G = δ(x − y) ist, gilt
u(x) = − u(y)y G(x, y) dy.
202 11 Green-Funktion
Wieder ist es die zweite Green’sche Formel, die bei Beachtung von G(x, y) = 0 für
y ∈ ∂ die Umstellung
∂
u(x) = − G(x, y)u(y) dy − u(y) G(x, y) dsy (11.10)
∂ny
∂
hat, denn wir haben nur die gegebene rechte Seite f und die Dirichlet-
Randbedingungen in Gl. 11.10 eingesetzt. Es sei angemerkt, dass Gl. 11.12 im
Allgemeinen nicht für Punkte x ∈ ∂ zutrifft. Einerseits ist das nicht schlimm,
denn die Dirichlet-Randbedingungen q sind gegeben. Andererseits zeigt uns
diese Anmerkung, dass die Fortsetzung von Funktionen auf den Rand keine
Selbstverständlichkeit ist.
Wir überlegen uns, dass die Green-Funktion G(x, y) für alle x ∈ und für alle
y ∈ positiv ist, da wir eine eingespannte Membran durch die konzentrierte Kraft
δ(x − y) nach oben verschoben haben. Vom Trichter um y fällt die Green-Funktion
bezüglich x in Richtung des Randes, sodass die Normalenableitung in Gl. 11.12
immer negativ ist. Sowohl eine positive Kraft f als auch eine positive Dirichlet-
Randbedingung verschieben die Membran aus der Nulllage nach oben, und die Vor-
zeichen in Gl. 11.12 werden durch diese Plausibilitätsüberlegung gestützt.
Wenn Sie sehr mutig sind, versuchen Sie sich daran, die Überlegungen dieses
Abschnitts für ein Randwertproblem nachzuvollziehen, das Neumann-
Randbedingungen hat. Beginnen Sie, indem Sie ein Gl. 11.2 entsprechendes Rand-
wertproblem mit Neumann-Randbedingungen notieren, und machen Sie von der
zweiten Green’schen Formel ausgiebig Gebrauch.
11.3 Poisson-Formel
Die Green-Funktion ist nur für einige einfache Gebiete und einfache Differential-
gleichungen als analytischer Ausdruck verfügbar, und natürlich ist ein analytischer
Ausdruck nur dann verwendbar, wenn er selbst nicht zu kompliziert ist. In diesem
Abschnitt bestimmen wir eine solche Green-Funktion. Dazu benötigen wir einen
raffinierten Trick.
11.3 Poisson-Formel 203
R2
ȳ = · y mit ȳ · y = R 2 für y = 0. (11.13)
y 2
204 11 Green-Funktion
Abb. 11.2 Reflektierte Punkte außerhalb des Kreises zu fünf äquidistanten Punkten innerhalb
auf einem Strahl. Die Einflüsse der konzentrierten Kraft in y und einer entgegengesetzt orien-
tierten anderen konzentrierten Kraft am gespiegelten Punkt ȳ auf eine hypothetische, unendlich
ausgedehnte Membran überlagern sich an der Stelle x
Zum Punkt 0, also zum Mittelpunkt des Kreises bzw. der Kugel, gehört kein ge-
spiegelter Punkt. Überlegen Sie sich bitte, warum nicht. Abb. 11.2 zeigt Ihnen fünf
Punkte auf einem Strahl innerhalb von und ihre Spiegelbilder im gekrümmten
Spiegel entlang des Rands ∂. Die Spiegelbilder liegen außerhalb von . Die zweite
Ladung wird deshalb in der Elektrostatik auch Spiegelladung genannt.
Wenn y = 0 nicht gerade der Mittelpunkt des Kreises ist, so lautet die gesuchte
Green-Funktion
y
G(x, y) = g(x − y) − g (α(x − ȳ)) mit α = für y = 0 (11.14)
R
mit der Fundamentallösung g. Gl. 11.14 formalisiert, was wir eben beschrieben ha-
ben. Die Fundamentallösung beschreibt die Verformung der unendlich ausgedehnten
Membran. Der erste Term beschreibt die Auswirkung der konzentrierten Kraft im
Punkt y, und der zweite Term enthält die Wirkung der konzentrierten Kraft in die an-
dere Richtung im reflektierten Punkt ȳ. In Gl. 10.8 lesen wir die Fundamentallösung
des Laplace-Operators noch einmal nach und stellen fest, dass die Fundamental-
lösung g(x − y) gar nicht vom Differenzvektor x − y selbst, sondern nur von dessen
Länge x − y , abhängt. Wir schreiben g = g( x − y ).
Für y = 0 gibt es keinen reflektierten Punkt, und wir definieren G(x, 0) =
g(x) − g(R), wobei wir gleich verwenden, dass g nur vom Abstand abhängig ist. Wir
überprüfen leicht, dass dies die Green-Funktion zum Punkt y = 0 ist, denn g(R) ist
eine feste Zahl, sodass −x G(x, 0) = −x g(x) − 0 = δ(x) gilt. Für Randpunkte
x ∈ ∂ ist x = R und G(x, 0) = g( x ) − g(R) = 0.
Vergleichen Sie Gl. 11.14 bitte mit Gl. 11.4. Der zweite Term
−g (α(x − ȳ)) = w(x, y) entspricht der Korrektur w, die in Gl. 11.4 die
Fundamentallösung g zur Green-Funktion korrigiert. In der Tat ist die Größe
−g (α(x − ȳ)) für alle x ∈ definiert und endlich, denn ȳ ∈ / liegt außerhalb des
Gebiets . Damit beschreibt der Korrekturterm im Gebiet die Verformung einer
eingespannten Membran ohne Singularität.
Eine Seltsamkeit in Gl. 11.14 ist der Vorfaktor α im Argument des Subtrahenden,
also im zweiten Term. Wir würden lieber βg (x − ȳ) schreiben und die Größe der
11.3 Poisson-Formel 205
Spiegelladung bzw. der Kraft, die der Besenstiel bei ȳ ausübt, mit β ∈ R direkt ange-
ben. Da die Größe β von der Dimension d abhängt, verwenden wir die Schreibweise
mit dem inneren Faktor α.
Dies verdeutlichen wir uns unter Verwendung der ausgerechneten Fundamental-
lösungen aus Gl. 10.8. Für d ≥ 3 entsteht durch Einsetzen
1 1
g(αx) = g(x), also β = für d ≥ 3.
α d−2 α d−2
Setzen Sie bitte auch für den zweidimensionalen Fall αx in die Fundamentallösung
aus Gl. 10.8 ein, und überlegen Sie, wie Sie mit dem Logarithmusterm umgehen.
Wie schon gesagt, führt die zweidimensionale Idealisierung auf etwas esoterisch
anmutende Formeln. Probieren Sie es aus.
Andererseits liefern die Kettenregel oder der innere Faktor α wegen des zweima-
ligen Ableitens −g(αx) = α 2 δ(αx). Bei der Integration dieses Ausdrucks über die
d-dimensionale Einheitskugel Bd findet man mit der Substitution z = αx und dem
zugehörigen Volumenelement dz = α d dx den entsprechenden Vorfaktor wegen
α2 1
α 2 δ(αx) dx = δ(z) dz = = β.
αd α d−2
Bd α Bd
In dieser Rechnung haben wir verkürzt mit α Bd die d-dimensionale Kugel mit dem
Radius α bezeichnet. Denken Sie darüber nach, was dies für d = 2 bedeutet. Da die
δ-Distribution überall außerhalb des Ursprungs null ist, ist es unerheblich, wie groß
die Kugel ist, über die integriert wird. Sowohl in Bd als auch in α Bd erwischen wir
die konzentrierte Kraft.
Jetzt wollen wir endlich nachweisen, dass für Randpunkte x ∈ ∂ die Bedin-
gung G(x, y) = 0 aus Gl. 11.3 gilt. Dazu notieren wir Gl. 11.14 in dem Bewusst-
sein, dass die Fundamentallösung nur von der Norm des Arguments abhängt. Mit
x − y 2 = x 2 + y 2 − 2xT y und entsprechend für ȳ gilt
G(x, y) = g x 2 + y 2 − 2xT y − g α2 ( x 2 + ȳ 2 − 2xT ȳ) .
(11.15)
Ein scharfer Blick auf Gl. 11.14 und Gl. 11.13 ergibt für Punkte x ∈ ∂ auf dem
Rand, die x = R erfüllen, die Beziehung α 2 x 2 = y 2 . Nun verwendet man
α 2 ȳ = y und α 2 ȳ 2 = R 2 und formt Gl. 11.15 so lange um, bis nur noch Sum-
manden in y 2 , xT ȳ und R 2 übrig sind. Die gesuchte Eigenschaft G(x, y) = 0 für
alle Randpunkte x ∈ ∂ entsteht dadurch, dass schließlich alle Terme in Gl. 11.15
wegfallen. Probieren Sie es aus.
Jetzt brauchen wir nur noch zu zeigen, dass die Green-Funktion tatsächlich
−x G(x, y) = δ(x − y) erfüllt. Dies erkennt man an Gl. 11.14, weil die Fundamen-
tallösung −x g(x − y) = δ(x − y) erfüllt. Damit ist −x [βg(x − ȳ)] = βδ(x − ȳ),
und dieser Ausdruck ist für alle Punkte x ∈ innerhalb des Gebiets null, weil
ȳ ∈
/ außerhalb des Gebiets liegt.
206 11 Green-Funktion
Wir haben es geschafft. Die Funktion G(x, y) aus Gl. 11.14 ist tatsächlich eine
Green-Funktion zur Poisson-Gleichung auf dem Kreis oder der Kugel . Sie ha-
ben die Funktion für zwei unterschiedliche Stellen y schon in Abb. 11.1 bewundert.
Schauen Sie jetzt noch einmal darauf.
Wir verschnaufen kurz und rechnen dann aus Gl. 10.8 für die unterschiedlichen
Dimensionen d die Normalenableitung
∂ R2 − x 2
G(x, y) = −
∂ny Sd R · x − y d
−u(x) = 0 für x ∈ ,
(11.16)
u(x) = q(x) für x ∈ ∂
die Poisson-Formel
R2 − x 2 q(y)
u(x) = dsy . (11.17)
Sd R x−y d
∂
Die Poisson-Formel erlaubt es, aus der Höhe q der Einspannung am Rand ∂ die
Lösung des Randwertproblems in Gl. 11.16 direkt anzugeben. Die Auswertung des
Integrals mag technisch schwierig sein, aber Gl. 11.16 ist eine der wenigen direkten
Lösungsformeln und damit eine Besonderheit.
Die Namensgebung erscheint ein wenig kurios, weil Gl. 11.16 eine Laplace-
Gleichung ist. Allerdings kennen Sie die Green-Funktion für diesen Fall explizit.
Dies erlaubt Ihnen, auch eine Lösungsformel für die Poisson-Gleichung in Gl. 11.11
anzugeben.
Da das Integral in Gl. 11.17 nur über Randpunkte y ∈ ∂ ausgewertet wird, finden
wir für x = 0 die Mittelwerteigenschaft
R2 q(y) 1
u(0) = d
dsy = d−1 q(y) dsy (11.18)
Sd R R R Sd
∂ ∂
wieder, die wir schon aus Abschn. 6.3.2 kennen. In Gl. 11.18 wird das Integral über
die Randwerte durch die Größe |∂| = R d−1 Sd der Oberfläche einer
d-dimensionalen Kugel mit dem Radius R dividiert. Dort steht also der Mittelwert
der Randwerte q.
Die Kugel kann aus dem Ursprung heraus verschoben werden. Außerdem ist
ihr Radius R variabel. Wir drehen die Überlegung jetzt um und gehen von einer
Funktion u mit u = 0 aus. Solche Funktionen heißen Potentialfunktionen. Auf
dem Rand der Kugel sind die Funktionswerte u|∂ = q und damit genau die, die wir
in Gl. 11.16 als Dirichlet-Randwerte verwenden.
11.3 Poisson-Formel 207
Gl. 11.18 besagt, dass jede Potentialfunktion u an der Stelle 0 gleich dem Mit-
telwert der Funktionswerte von u auf dem Rand einer Kugel mit einem beliebigen
Radius R um den Ursprung ist. Da wir den Mittelpunkt der Kugel in jeden Punkt
x verschieben können, ist jede Potentialfunktion u an der Stelle x gleich dem Mit-
telwert der Funktionswerte von u auf dem Rand jeder Kugel um x. Dies wiederholt
und bekräftigt unsere Überlegungen aus Abschn. 6.3.2 zur Mittelwerteigenschaft.
Die erstaunliche Mittelwerteigenschaft kann man auch als Ausgangspunkt für
Überlegungen zu Potentialfunktion verwenden. Denken Sie ein wenig darüber nach,
was sie aussagt. Da ebenso eine Seifenblase wie auch eine gespannte Membran in
recht guter Näherung durch das Randwertproblem in Gl. 11.16 beschrieben werden,
haben Sie Anschauungsbeispiele.
Die Idee der Spiegelladung wird nicht nur zur Herleitung der Poisson-Formel
eingesetzt. Verwenden Sie als Gebiet beispielsweise die Halbebene
= {x = (x1 , x2 )T ∈ R2 : x2 > 0}, und denken Sie über die Lage der Spiegel-
ladung nach. Wegen des ebenen Spiegels ist diese Aufgabe recht einfach. Etwas
schwieriger wird die Wahl der Spiegelladungen für einen Quadranten, einen Strei-
fen oder ein Rechteck. Ziehen Sie in Betracht, dass es mehrere Spiegelladungen sein
können, und versuchen Sie sich daran.
Variationsformulierung und schwache
Lösungen 12
In diesem Kapitel werden wir eine Formulierung vorstellen, in der wir die Lösung
einer elliptischen Differentialgleichung beispielsweise für ein stationäres Deformati-
onsproblem als Ergebnis eines Optimierungsproblems beschreiben. Die Idee erinnert
ein wenig daran, dass mechanische Systeme in einem energetischen Minimum ver-
harren. Deshalb wird der Zugang, den wir in diesem Kapitel besprechen, auch als
energetische Betrachtung bezeichnet.
Wir beginnen mit einem sehr einfachen mechanischen System, nämlich einem
Massepunkt, der über eine Feder mit der Federkonstanten k an einer starren Wand
befestigt ist. Skizzieren Sie diese Anordnung, kennzeichnen Sie die x-Achse, und
tragen Sie auch die auftretenden Kräfte ein. Der Nullpunkt der x-Achse bezeichne die
Stelle, an der sich der Massepunkt in Abwesenheit äußerer Kräfte in Ruhe befindet.
Dort ist die Feder entspannt und speichert keine potentielle Energie. Jede Auslenkung
des Massepunkts aus dieser Lage verlängert oder verkürzt die Feder und vergrößert
so die potentielle Energie. Also ist die Lage x = 0 ein energetisches Minimum.
Jetzt beschreiben wir sehr detailverliebt, wie eine äußere Kraft Fexo auf dieses
einfache System wirkt. Natürlich bewirkt sie eine Auslenkung des Massepunkts an
der Feder. Der Massepunkt befindet sich nach der Krafteinwirkung an der Stelle
x, und die Feder mit der Federkonstanten k zieht den Massepunkt mit der Kraft
Fsys = −kx zurück. Wir nennen die Kraft Fsys nach dem System, das sie aufbringt.
Das System befindet sich in Ruhe, wenn sich die äußere Kraft Fexo und die vom Sys-
tem aufgebrachte Kraft Fsys ausgleichen, wenn also Fsys + Fexo = −kx + Fexo = 0
gilt. Die Auslenkung x, die kx = Fexo erfüllt, können wir sehr leicht ausrechnen.
Wir wissen aber auch, dass in einer Feder, die um x aus ihrer Ruhelage ausge-
lenkt ist, die potentielle Energie E pot (x) = k2 x 2 steckt. Wenn Sie das überrascht,
so integrieren Sie bitte −Fsys bezüglich der Auslenkung bis zur Stelle x, und Sie
erhalten die Arbeit, die Sie beim Spannen der Feder aufbringen. Hier rechnen Sie
(x) gilt. Dies ist eine Konkretisierung des Prinzips, dass
nach, dass Fsys (x) = −E pot
zu konservativen Kräften ein Potential E pot gehört.
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D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_12
210 12 Variationsformulierung und schwache Lösungen
Sie stellen also fest, dass das Minimum der nach oben geöffneten Parabel
k 2
J (x) = x − Fexo x mit J (x) = kx − Fexo (12.1)
2
tatsächlich die gesuchte Auslenkung x beschreibt, die von der äußeren Kraft Fexo
hervorgerufen wird. Wir resümieren, dass das Funktional J genau für die stationäre
Auslenkung x minimal ist.
Das war eine umfangreiche Berechnung der Auslenkung x, die wir einfach aus
der Division von Fexo durch k hätten bestimmen können. Versuchen Sie die entspre-
chende Argumentation für ein System von n > 1 Massepunkten, deren Lage in den
je d Raumdimensionen durch einen Vektor x ∈ Rdn beschrieben wird. Der Vektor x
enthält also die d Koordinaten jedes der n Punkte.
Die potentielle Energie eines solchen Feder-Masse-Systems ist E pot = 21 xT K x mit
einer symmetrischen positiv definiten Matrix K . Wenn f den Vektor der äußeren Kräf-
te beschreibt, der natürlich genauso sortiert sein muss wie der Koordinatenvektor,
ist das Funktional J : Rdn → R
1 T
J (x) = x K x − f T x mit ∇ J (x) = K x − f (12.2)
2
genau dann minimal, wenn sich die inneren und äußeren Kräfte K x = f ausgleichen.
Wenn wir die stationäre Lage des Feder-Masse-Systems, in dem das Funktional J
minimal ist, variieren, also ändern oder stören, dann wächst J . Es ist entscheidend,
dass wirklich jede Variation des Systems, also jede Störung der Gleichgewichtslage,
zu einer Vergrößerung von J führt.
Die eben beschriebene Idee werden wir auf partielle Differentialgleichungen für
stationäre Deformationsprobleme übertragen, denn auch dort gibt es äußere Kräfte,
die das elastische Material verformen und damit seine potentielle Energie erhöhen.
Und auch für das elastische Material werden wir ein Funktional finden, das genau
bei der stationären Verformung minimal wird.
12.1 Variationsformulierungen
Auf geht’s. Wir erklären das obige Vorgehen an dem einfachsten elastischen Ver-
formungsproblem, nämlich an der am Rand von eingespannten Membran. Ihre
stationäre vertikale Verschiebung u unter einer äußeren Kraftdichte f löst das Rand-
wertproblem
Du = −∇ · [A(x)∇u] = f (x) für x ∈ ,
(12.3)
u(x) = 0 für x ∈ ∂
mit homogenen Dirichlet-Randbedingungen. Verfolgen Sie, was wir ändern müss-
ten, wenn wir andere Dirichlet-Randwerte hätten. Wie die linearen Abbildungen
k : R → R mit k : x → kx in Gl. 12.1 und K : Rdn → Rdn mit K : x → K x in
Gl. 12.2 ist der Differentialoperator D : u → f in Gl. 12.3 eine lineare Abbildung
zwischen Vektorräumen. Wir haben uns in Abschn. 5.2.2 deutlich gemacht, dass es
12.1 Variationsformulierungen 211
mit den Funktionalen in Gl. 12.1 und 12.2. Wie dort ist auch das Funktional J die
Differenz zweier Skalarprodukte, diesmal von zwei L 2 ()-Skalarprodukten. Das
erste Integral ist das halbe Skalarprodukt der Verzerrung ε = ∇u und der Spannung
σ = A∇u, und Sie kennen es als potentielle Energie der Verformung der Membran,
z. B. aus Gl. 3.13. Schließlich heißt J das Energiefunktional. Es hängt von u als
Funktion ab und nicht von einem einzelnen Wert von u, was man der Schreibung
J = J (u) ∈ R nicht sofort ansieht, was man aber im Folgenden mitdenken sollte.
Das Funktional J bildet Funktionen u in die reellen Zahlen R und ist schon wegen des
quadratischen Terms in u nicht linear. Wir können uns J als nach oben geöffnetes
Paraboloid über dem Raum der Funktionen u vorstellen. Verdeutlichen Sie sich,
dass das Paraboloid wegen der positiven Definitheit der Materialmatrix A nach oben
geöffnet ist.
Nun weisen wir nach, dass das Funktional J aus Gl. 12.4 genau dann unter allen
genügend glatten Funktionen u, die den homogenen Dirichlet-Randbedingungen in
Gl. 12.3 genügen, minimal wird, wenn u eine stationäre Membranverformung ist.
Dazu zeigen wir, dass jede Abweichung von der stationären Lösung u, also jede
Variation, das Funktional J vergrößert.
Eine Variation einer Funktion u, die am Rand null ist, also u|∂ = 0 erfüllt, ist
jede Funktion u + hϕ = u(x) + hϕ(x), bei der zu u ein h-Faches einer Funktion
ϕ mit ϕ|∂ = 0 addiert wird. Dabei ist h ∈ R eine reelle Zahl und die Funktion ϕ
erstmal nur eine genügend glatte Funktion, deren Werte am Rand ∂ null sind. Da die
Funktion ϕ ansonsten völlig frei ist, variieren wir so die Funktion u in eine beliebige
Richtung im Funktionenraum. Der Skalar h ∈ R steuert die Größe der Störung.
Zeichnen Sie für den eindimensionalen Fall eine Funktion u : [a, b] → R über
einem Intervall [a, b], die an den Rändern null ist, und dazu eine glatte Funktion
ϕ, die auch homogene Dirichlet-Randwerte ϕ(a) = ϕ(b) = 0 hat. Die Funktion ϕ
könnte in großen Teilintervallen null sein, aber auf dem verbleibenden Stück einen
Buckel haben. Für kleine h finden Sie nun eine kleine Variante des Buckels in u + hϕ
wieder. Wird h größer, so wird der Buckel größer.
Im Term u + hϕ stecken zwei Funktionen, nämlich u und ϕ, und die reelle Zahl h.
Um dies zu betonen, könnten wir u(x) + hϕ(x) schreiben, aber wir werden gleich auf
so längliche Ausdrücke stoßen, dass wir für jede Abkürzung der Notation dankbar
sein werden.
212 12 Variationsformulierung und schwache Lösungen
Sei nun u mit u|∂ = 0 eine Funktion, für die das Funktional J (u) minimal wird.
Wir sagen in einem solchen Fall, dass u ein Minimierer von J ist. Wir wählen eine
stetig differenzierbare Funktion ϕ, die am Rand null ist. Der Vektorraum dieser
¯ bezeichnet, wobei die 0 für die homogenen Dirichlet-
Funktionen wird mit C01 ()
Randwerte und die 1 für die einmalige stetige Differenzierbarkeit steht.
Reines Einsetzen von u + hϕ in J liefert
1
J (u + hϕ) = ∇(u + hϕ) A∇(u + hϕ) da −
T
f · (u + hϕ) da,
2
was unter Beachtung der Symmetrie der Matrix A nach dem Ausmultiplizieren
1
J (u + hϕ) = ∇u T A∇u da + h ∇ϕ T A∇u da + . . .
2
h2
... + ∇ϕ T A∇ϕ da − f u da − h f ϕ da
2
ergibt. Da nun u das Funktional J minimiert, wird J bei jeder Variation von u größer.
Also wird J auch größer, wenn wir zu u die Funktion hϕ addieren.
Für einen Moment halten wir ϕ fest und ändern nur den Skalar h. Wir wählen
also aus allen Möglichkeiten, u zu variieren, nur die in Richtung der Funktion ϕ im
Funktionenraum aus. Da u das Funktional J unter allen Störungen minimiert, wird J
unter den eingeschränkten Änderungen u + hϕ für festes ϕ genau für h = 0 minimal.
Wir können uns vorstellen, dass wir die Richtungsableitung von J in Richtung ϕ an
der Stelle u bilden. Allerdings ist die Richtung ϕ keine herkömmliche Richtung,
sondern eine Richtung im Funktionenraum.
Die Richtungsableitung von J in Richtung ϕ erhalten wir, wenn wir J nach h
ableiten, und mit h = 0 wählen wir gerade die Minimumstelle u. Wir beginnen mit
dem Ableiten, und da J eine quadratische Funktion in h ist, finden wir
d
J (u + hϕ) = ∇ϕ T A∇u da + h ∇ϕ T A∇ϕ da − f ϕ da.
dh
An der Stelle u, also für h = 0, wird der lineare Term null, und es gilt
d
J (u + hϕ) = ∇ϕ A∇u da −
T
f ϕ da.
dh h=0
Wie in Kap. 11, wo wir ausgiebig von der partiellen Integration und den
Green’schen Formeln Gebrauch gemacht haben, schieben wir den Gradienten ∇
12.1 Variationsformulierungen 213
vor der Funktion ϕ an den anderen Faktor A∇u. Damit handeln wir uns ein Integral
über dem Rand ∂ ein, denn es entsteht
d
J (u + hϕ) = − ϕ∇ · (A∇u) da + nT (ϕ A∇u) ds − f ϕ da.
dh h=0
∂
Zum Glück verschwindet ϕ auf ∂, sodass das Randintegral null ist. Außerdem
haben wir ein paar Zeilen weiter oben ausgeführt, dass J für h = 0 minimal
bezüglich h wird. Also ist
d
0= J (u + hϕ) = − [∇ · (A∇u) + f ] ϕ da, (12.5)
dh h=0
¯
∇ · (A∇u) + f, ϕ L 2 () = 0 für alle ϕ ∈ C01 (). (12.6)
Bei der Fourier-Zerlegung projizieren wir eine Funktion auf die durch die Ei-
genformen definierten Richtungen, indem wir das L 2 -Skalarprodukt der Funktion
mit den Eigenformen Uk bilden. Entsprechend haben wir in Gl. 12.6 die Funktion
∇ · (A∇u) + f auf die durch ϕ definierte Richtung projiziert. Damit bestimmen wir
den Anteil, zu dem ϕ in ∇ · (A∇u) + f steckt, und dieser Anteil ist null.
Das Skalarprodukt in Gl. 12.3 lesen wir auch so, dass die durch den Ausdruck
∇ · (A∇u) + f beschriebene Funktion auf allen ϕ ∈ C01 () ¯ senkrecht steht. Und
damit taucht die interessante Frage auf, was es für die Funktion ∇ · (A∇u) + f
bedeutet, dass sie auf allen ϕ ∈ C01 ()¯ senkrecht steht. Wir denken einen Moment
über diese Frage nach und beginnen unseren Ausflug im endlich-dimensionalen
euklidischen Raum.
Ein Vektor x ∈ Rn des n-dimensionalen euklidischen Raums Rn , der auf jedem
Vektor y ∈ Rn senkrecht steht, steht natürlich auch auf den Einheitsvektoren ek ,
k = 1, . . . , n senkrecht. Wegen ekT x = xk ist damit jede Komponente xk von x null,
und es gilt x = 0 ∈ Rn . Damit wissen wir, was es im Rn bedeutet, wenn ein Vektor
x auf allen Vektoren y ∈ Rn senkrecht steht. Dann ist nämlich x der Nullvektor.
Andererseits beschreibt die Skalarmultiplikation mit y eine lineare Abbildung
der unter yT auch das Bild 0 hat. Dabei kommt es auf die Länge der Vektoren y nicht
an, weil es nur darum geht, ob ihr Skalarprodukt null ist oder nicht. Unterschiedlich
lange Vektoren, die in dieselbe Richtung zeigen, ergeben keine neuen Informatio-
nen. Mit Vektoren y der Länge y 2 = 1, werden die Funktionale in Gl. 12.7 zu
Projektionen des Vektors x auf die durch y definierten Richtungen.
Jetzt formulieren wir: Wenn ein Vektor x ∈ Rn des n-dimensionalen Raums
unter allen Funktionalen yT so aussieht, als wäre er der Nullvektor, dann ist x der
Nullvektor 0. Ebenso gilt: Wenn ein Vektor x ∈ Rn des n-dimensionalen Raums
unter allen Projektionen so aussieht, als wäre er der Nullvektor, dann ist x der
Nullvektor 0.
Diese Formulierung wirkt kompliziert, aber sie passt zu unserer Frage zu Gl. 12.6,
denn die Funktion ∇ · (A∇u) + f steht auf allen ϕ ∈ C01 () ¯ senkrecht. Ist damit
∇ · (A∇u) + f gleich null? Diese Frage ist allerdings viel schwieriger zu beantwor-
ten, weil wir einerseits einen unendlich-dimensionalen Vektorraum der Funktionen
betrachten, den wir noch nicht einmal näher festgelegt haben, und andererseits die
Funktionen ϕ nur aus einem kleinen Vektorraum mit strengen Anforderungen, näm-
¯ wählen. Zur Beantwortung solcher Fragen brauchen wir Methoden
lich aus C01 (),
der Funktionalanalysis, die über die in diesem Buch beschriebenen Grundideen hin-
ausgehen. Aber wir wollen uns die Frage trotzdem veranschaulichen.
Eine Kugel hinterlässt bei allen parallelen Projektionen auf eine Ebene, die senk-
recht auf der Projektionsrichtung steht, einen kreisförmigen Schatten. Sie sieht also
aus allen Richtungen wie eine Kugel aus. Wir fragen uns zuerst, ob wir daraus,
dass alle solche Projektionen eines Körper auf eine Ebene einen Kreis ergeben, auch
schließen können, dass dieser Körper eine Kugel ist. Und die Antwort ist Ja, denn
dieser Körper passt in allen Lagen in ein Rohr mit demselben Durchmesser wie der
Schatten.
Dann fragen wir uns, ob wir wirklich fordern müssen, dass alle solche Projek-
tionen einen Kreis ergeben müssen, um sicher zu sein, dass es sich um eine Kugel
handelt. Wir finden schnell heraus, dass eine endliche Anzahl nicht reicht. Denken
wir uns dazu eine Lochsäge, mit der wir um eine gegebene Achse – wie immer wir
dies auch praktisch realisieren – ein zylinderförmiges Loch aussägen, ohne das aus-
gesägte Stück zu zerstören. Beim ersten Versuch, schneiden wir aus einem Holzblock
ein zylinderförmiges Stück heraus. Dieses Stück hinterlässt genau bei der parallelen
Projektion auf eine Ebene, die senkrecht zu seiner Achse ist, einen Kreis und bei
allen anderen Projektionen etwas anderes. Setzen wir die Lochsäge an dem zylin-
derförmigen Stück noch einmal an, was praktisch schwierig ist, so schneiden wir ein
Stück heraus, was aus zwei Richtungen einen kreisförmigen Schatten hinterlässt.
Dieses Stück hat aber Kanten und ist keine Kugel. So ergeht es uns auch nach dem
dritten oder vierten Schnitt mit der Lochsäge.
Trotzdem müssen wir die Lochsäge nicht aus wirklich allen Richtungen ansetzen,
um eine Kugel zu erhalten. Es reicht, wenn die Richtungen, in die wir die Lochsäge
angesetzt haben, so nahe beieinander liegen, dass keine Kanten an dem Körper übrig
bleiben. Wir sagen, die Richtungen liegen dicht, so wie die rationalen Zahlen Q dicht
in den reellen Zahlen R liegen.
Die rationalen Zahlen Q haben die famose Eigenschaft, dass es zwar viel weniger
sind als die reellen Zahlen, dass wir aber trotzdem zwischen zwei reellen Zahlen
immer eine rationale Zahl finden. Es gibt kein noch so kleines Intervall auf der reellen
12.1 Variationsformulierungen 215
Achse, in dem nicht unendlich viele rationale Zahlen liegen. Diese Eigenschaften
meinen wir mit der Formulierung, dass die rationalen Zahlen dicht in den reellen
Zahlen liegen. Wenn wir nun eine Menge von Richtungen wählen, die in der Menge
aller Richtungen dicht liegt, und wenn der Körper aus all diesen Richtungen wie eine
Kugel aussieht, dann ist er auch eine Kugel.
Da die Funktionen aus C01 () ¯ dicht in der Menge aller zulässigen Funktionen
ϕ liegen, für die wir das Skalarprodukt in Gl. 12.6 auswerten können, folgt daraus,
dass ∇ · (A∇u) + f bei der Skalarproduktbildung mit allen ϕ so aussieht, als sei
es die Nullfunktion, tatsächlich, dass es die Nullfunktion ist. Natürlich bleibt dies
nur eine Veranschaulichung und kein Beweis. Tatsächlich ist der Funktionenraum
¯ beispielsweise in H 1 (), vgl. Abschn. 5.2.2, dicht, und aus Gl. 12.6 folgt
C01 ()
∇ · (A∇u) + f = 0. Bis zu Gl. 12.5 und 12.6 haben wir Terme umgeformt, aber die
Schlussfolgerungen aus Gl. 12.6, die wir hier skizziert haben, haben die Mathematik
über Jahrzehnte beschäftigt und in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts
das Teilgebiet der Funktionalanalysis begründet. Unsere Veranschaulichung verhält
sich zu einem echten Beweis wie ein Wanderausflug an den Hängen eines Tals zu
einer Gipfelbesteigung. Wir haben trotzdem gesehen, warum Fragen, die im eukli-
dischen Vektorraum Rn einfach zu beantworten sind, in unendlich-dimensionalen
Vektorräumen viel schwieriger sein können.
Wir fassen die Überlegungen unseres Ausflugs zusammen. Wenn eine Funktion
u, die zweimal stetig differenzierbar ist und die homogene Dirichlet-Randwerte hat,
das Funktional J in Gl. 12.4 minimiert, dann erfüllt sie wegen Gl. 12.6 auch das
Randwertproblem in Gl. 12.3. Wenn eine solche Funktion aber das Randwertproblem
löst, dann ist ∇ · (A∇u) + f = 0, und Gl. 12.6 ist trivialerweise für alle Funktionen
ϕ erfüllt. Das Rückwärtsverfolgen der Termumformung liefert, dass eine solche
Funktion ein lokales Optimum von J sein muss, denn alle Richtungsableitungen im
Funktionenraum sind null. Da J ein Paraboloid ist, ist dieses Optimum auch sicher
ein Minimum.
In der Zusammenfassung unseres Ausflugs haben wir von zweimal stetig dif-
ferenzierbaren Funktionen u gesprochen, weil wir nur für diese den Ausdruck
∇ · (A∇u) + f auswerten können und dies streng genommen auch nur für diffe-
renzierbare Materialkonstanten A. Eine solche Lösung nennen wir eine klassische
Lösung und grenzen sie damit von Funktionen u ab, die das Energiefunktional J mini-
mieren, aber vielleicht nicht zweimal stetig differenzierbar sind. Erstaunlicherweise
kann man das Funktional J in Gl. 12.4 nämlich für alle einmal stetigen Funktionen
und sogar für alle Funktionen aus dem Raum H 1 () auswerten. Es kann uns also
passieren, dass wir einen Minimierer von J finden, der keine klassische Lösung des
Randwertproblems ist.
Tatsächlich haben wir solch eine Funktion schon gefunden, und zwar in
Abschn. 5.2.2, als wir in Gl. 5.12 eine Lösung eines elliptischen Randwertproblems
mit unstetigen Materialkonstanten bestimmt haben, bzw. die einzige Funktion, die
als eine Lösung infrage kommt. Gleich werden wir in Abschn. 12.2 einen neuen Lö-
sungsbegriff, nämlich den der schwachen Lösung, vorstellen. Doch bevor wir dies
tun, schauen wir uns ein Beispiel an.
216 12 Variationsformulierung und schwache Lösungen
Beispiel Ein echtes Beispiel für die Minimierung des Energiefunktionals J ist
schwierig, weil J unter allen denkbaren Funktionen u minimal wird und wir dafür
nur die obigen Überlegungen haben und nicht – wie im Fall endlich-dimensionaler
Räume – mathematische Techniken wie das Nullsetzen des Gradienten. Wir bedie-
nen uns des Satzes von Fischer-Riesz, den wir in Abschn. 5.2.4 besprochen haben,
und schreiben sowohl die gesuchte Funktion u als auch die rechte Seite f im eindi-
mensionalen Randwertproblem
als Fourier-Reihen in den Eigenformen Uk (x) = sin kx, vgl. Abschn. 5.2.3. Für eine
gegebene Funktion
∞
∞
∞
f (x) = βk sin kx ist u(x) = αk sin kx mit u (x) = kαk cos kx
k=1 k=1 k=1
π π
1
J (u) = u (x) dx −
2
f (x)u(x) dx,
2
0 0
Bei der Auswertung von J haben wir Produkte von Reihen gebildet und zunächst alle
Produkte von Summanden der Reihen aufgeschrieben. In der zweiten Zeile haben
wir benutzt, dass die Eigenformen aufeinander senkrecht stehen und wir die Integrale
auswerten können, vgl. Abschn. 5.2.3.
Am letzten Ausdruck erkennen wir wieder, dass das Energiefunktional für jeden
Fourier-Koeffizienten αk eine nach oben geöffnete Parabel, also insgesamt ein nach
oben geöffnetes Paraboloid ist. Allerdings sind die Argumente von J die Folgen
(α1 , α2 , . . .) der Fourier-Koeffizienten der gesuchten Funktion u. Die Summanden
der Reihe für J enthalten jeder nur die k-ten Fourier-Koeffizienten αk und βk von
u bzw. f . Wir stellen wieder fest, dass die Eigenformen separieren und wir jeden
Summanden der Reihe für J unabhängig von den anderen Summanden so klein wie
möglich machen können.
12.2 Schwache Formulierung 217
Da jeder Summand eine nach oben geöffnete Parabel in αk beschreibt, wird diese
am Scheitelpunkt minimal. Dieser liegt mittig zwischen den Nullstellen der Parabel,
und es gilt αk = βk /k 2 . Für eine gegebene Funktion f minimiert also
∞
βk
u(x) = sin kx
k2
k=1
Viele Begriffe in diesem Abschnitt werden mit dem Adjektiv oder Adverb schwach
bezeichnet. Scherzhaft könnte man diesen Abschnitt deshalb einen schwachen Ab-
schnitt nennen. Wir erläutern die Idee am Begriff der schwachen Ableitung, und
wir werden sehen, dass auch Funktionen, die nicht überall differenzierbar sind, eine
schwache Ableitung haben können.
Zuerst betrachten wir eine stetig differenzierbare Funktion u : [a, b] → R, die
das abgeschlossene Intervall [a, b] in die reellen Zahlen abbildet. Wir schrei-
ben u ∈ C 1 ([a, b]). Außerdem nehmen wir eine stetig differenzierbare Funktion
ϕ ∈ C01 ([a, b]). Die Null zeigt an, dass zusätzlich die Werte ϕ(a) und ϕ(b) am Rand
null sind. Die partielle Integration liefert uns
b b b b
u (x)ϕ(x) dx = u(x)ϕ(x) − u(x)ϕ (x) dx = − u(x)ϕ (x) dx. (12.8)
a
a a a
Die zweite Gleichheit gilt wegen ϕ ∈ C01 ([a, b]), d. h., weil wir ϕ(a) = ϕ(b) = 0
angesetzt haben. Unter Verwendung des L 2 ([a, b])-Skalarprodukts liest sich Gl. 12.8
als
u , ϕ L 2 ([a,b]) = −u, ϕ L 2 ([a,b]) . (12.9)
Nebenbei hat das Verschieben des Ableitungsoperators von u an den anderen Faktor
ϕ das Skalarprodukt nicht nur um Terme auf dem Rand verändert, sondern das Minus-
d
zeichen verursacht. Der Ableitungsoperator dx , der eine differenzierbare Funktion
auf ihre erste Ableitung abbildet, ist also ein Beispiel für einen nicht selbstadjun-
gierten Operator.
Wenn wir nun eine Funktion u betrachten, die nicht überall differenzierbar ist,
aber für die es eine Funktion v gibt, mit der
v, ϕ L 2 ([a,b]) = −u, ϕ L 2 ([a,b]) für alle ϕ ∈ C01 ([a, b]) (12.10)
gilt, so verhält sich v so, als wäre es die Ableitung von u. Solch eine Funktion v sieht
unter allen stetig differenzierbaren Funktionen ϕ ∈ C01 ([a, b]) mit ϕ(a) = ϕ(b) = 0
in Gl. 12.10 so aus, als sei sie die Ableitung von u. Wir nennen eine solche Funktion
v eine schwache Ableitung von u.
Wir testen die Funktion v mit den Funktionen ϕ ∈ C01 ([a, b]) darauf, ob sie als
schwache Ableitung von u taugt. Wir prüfen also, ob v unter der Anwendung von ϕ
so aussieht, als sei sie eine Ableitung von u. Deshalb heißen die Funktionen ϕ Test-
funktionen. Und wie in Abschn. 12.1 brauchen wir genügend viele Testfunktionen,
damit v wirklich aus allen Richtungen aussieht, als wäre es eine Ableitung von u.
Wenn die Funktion u eine Ableitung u hat, wie Sie sie kennen, so ist u auch
eine schwache Ableitung. Wegen Gl. 12.9 gilt Gl. 12.10, die die schwache Ableitung
definiert, für v = u . Es gibt aber auch schwache Ableitungen v, die keine Ablei-
tungen im herkömmlichen Sinne sind. Beispielsweise ist die Funktion u(x) = |x|
an der Stelle x = 0 nicht differenzierbar, denn dort hat die Betragsfunktion einen
12.2 Schwache Formulierung 219
Knick, und im Nullpunkt gibt es keine Tangente an u(x) = |x|. Die Betragsfunktion
hat aber die schwache Ableitung
⎧
⎨ 1 für x > 0,
v(x) = z für x = 0,
⎩
−1 für x < 0
mit einer beliebigen reellen Zahl z ∈ R. Dieser eine Wert beeinflusst die Integrale,
die in den Skalarprodukten versteckt sind, nicht. Skizzieren Sie u und v, und denken
Sie darüber nach, ob Sie v als Ableitungsersatz von u akzeptieren würden. Dabei
fällt Ihnen sicher auf, dass x = 0 die einzige Stelle ist, an der es fraglich ist, ob v als
Ableitung von u brauchbar ist.
Wir rechnen kurz nach, dass v Gl. 12.10 wirklich für jede Testfunktion
ϕ ∈ C01 ([a, b]) erfüllt. Dazu wählen wir ein Intervall [a, b], das die interessante
Stelle x = 0 enthält, für das also a ≤ 0 ≤ b gilt. Für andere Intervalle auch gilt
Gl. 12.10 ohnehin, weil u(x) = |x| für x = 0 stetig differenzierbar ist.
Einerseits gilt nun
b 0 b
v, ϕ L 2 ([a,b]) = v(x)ϕ(x) dx = −ϕ(x) dx + ϕ(x) dx.
a a 0
Andererseits ist wegen |x| = −x für x < 0 und |x| = x für x > 0 die rechte Seite
von Gl. 12.10 nach der abschnittsweisen Auswertung des Integrals
0 b
−u, ϕ L 2 ([a,b]) = xϕ (x) dx − xϕ (x) dx.
a 0
Die Integrale sind dieselben wie die, mit denen wir die linke Seite von Gl. 12.10 aus-
gedrückt haben, und die Randterme aϕ(a) bei a und bϕ(b) sind wegen
ϕ(a) = ϕ(b) = 0 null. Passend zur Stelle x = 0, die der obere Rand des Teilin-
tervalls [a, 0] und gleichzeitig der untere Rand von [0, b] ist, addieren wir 0 · ϕ(0)
und ziehen es gleich wieder ab. Und egal, was ϕ(0) ist, gilt zudem 0ϕ(0) = 0.
Sicher ist Ihnen aufgefallen, dass wir den Wert v(0) = z an keiner Stelle gebraucht
haben, und trotzdem haben wir nachgewiesen, dass beide Seiten von Gl. 12.10 für
die beiden Funktionen v und u unabhängig von der konkreten Wahl der Testfunktion
ϕ ∈ C01 ([a, b]) gleich sind. Also ist v die schwache Ableitung der Betragsfunktion
u, die keine klassische Ableitung hat.
220 12 Variationsformulierung und schwache Lösungen
So wie wir eine schwache Ableitung als eine Funktion definiert haben, die unter
allen Testfunktionen so aussieht, als sei sie eine Ableitung, definieren wir jetzt eine
schwache Lösung eines Randwertproblems als eine Lösung, die aus allen Richtun-
gen so aussieht, als sei sie eine Lösung. Und ähnlich wie wir der Betragsfunktion
eine schwache Ableitung zuweisen konnten, können wir auch manchen Randwert-
problemen, die keine klassische Lösung haben, eine schwache Lösung zusprechen.
Wir betrachten wieder das Randwertproblem in Gl. 12.3 und multiplizieren
die partielle Differentialgleichung −∇ · [A(x)∇u] = f (x) mit einer Testfunktion
¯ die ansonsten beliebig ist. Wir können sogar einen noch kleineren
ϕ ∈ C01 (),
Vektorraum für den Raum der Testfunktionen wählen, z. B. C0∞ (). ¯ Wir müssen
nur dafür sorgen, dass die Testfunktionen dicht in allen denkbaren Funktionen
für ϕ liegen.
Wir multiplizieren die Differentialgleichung mit einer beliebigen Testfunktion ϕ.
Wenn u die Differentialgleichung erfüllt, so gilt auch
−∇ · [A(x)∇u]ϕ(x) = f (x)ϕ(x)
und nach Integration beider Seiten über ebenso
− ∇ · [A(x)∇u]ϕ(x) da = f (x)ϕ(x) da. (12.11)
Mittels partieller Integration, die in der ersten Green’schen Formel in Gl. A.14
steckt, formen wir das Integral auf der linken Seite um. Der Nabla-Operator ∇
wandert dabei an die Testfunktion ϕ. Die zusätzlich entstehenden Randterme in
− n (A∇u · ϕ) ds + ∇ϕ A∇u da =
T T
f ϕ da
∂
erfüllt. Beachten Sie bitte, dass die schwache Formulierung eine Aufgabenstellung
ist und dass Gl. 12.12 genau genommen noch nicht die schwache Formulierung ist.
Häufig wird der Formelausdruck allein als Aufgabenstellung akzeptiert, solange die
Forderung, dass Gl. 12.12 wirklich für alle Testfunktionen aus einem zugehörigen
Raum gelten möge, nicht vergessen wird. Wir verdeutlichen uns die Wichtigkeit
der Forderung, dass Gl. 12.12 für alle Testfunktionen gilt, indem wir uns die letzten
Umformungen noch einmal von einem anderen Standpunkt aus ansehen.
12.2 Schwache Formulierung 221
Wir starten beim Randwertproblem in Gl. 12.3. Die Umformung zu Gl. 12.11
entspricht der Bildung des L 2 ()-Skalarprodukts beider Seiten mit der Testfunktion
ϕ. In dieser Schreibweise lautet Gl. 12.11
¯
A(x)∇u, ∇ϕ L 2 () = f, ϕ L 2 () für alle ! ϕ ∈ C01 (). (12.14)
Der Schritt von Gl. 12.13 zu Gl. 12.14 ist eine technische Umformung, die wir für
genügend glatte Funktionen u jederzeit wieder rückgängig machen können, denn die
Ausdrücke in Gl. 12.13, insbesondere die zweiten Ableitungen, müssen in irgend-
einem Sinne sinnvoll definiert sein.
Der Schritt vom Randwertproblem in Gl. 12.3 zu Gl. 12.13 ist von anderer Natur.
Durch die Bildung des L 2 ()-Skalarprodukts mit der Testfunktion ϕ haben wir eine
Projektion beider Seiten der partiellen Differentialgleichung in Richtung ϕ vorge-
nommen. Dadurch sind wir auf die Gleichheit in Gl. 12.13 gekommen, welche genau
Gl. 12.6 entspricht, die wir aber aus der Variationsformulierung hergeleitet haben.
Das wiederholte Ansetzen der Lochsäge zur Veranschaulichung der Forderung in
Gl. 12.6, dass die Funktion ∇ · [A∇u] − f bei allen Projektion auf durch ϕ definierte
Richtungen null ergibt, greifen wir durch eine nah verwandte Illustration auf. Diesmal
stellen wir uns die Projektionen nicht als Bohrungen, sondern als Fotos vor.
Wir picken nämlich die Anteile von −∇ · [A(x)∇u] und von f in Richtung ϕ
heraus und vergleichen in Gl. 12.13 diese beiden Anteile. Es ist so, als ob wir zwei
Fotos von der rechten und von der linken Seite der partiellen Differentialgleichung
gemacht haben und nun diese Fotos vergleichen.
Wenn die beiden Seiten der Differentialgleichung −∇ · [A(x)∇u] und f über-
einstimmen, so stimmen auch die Projektionen in Gl. 12.13 für jede Testfunktion ϕ
überein. Dies ist so einleuchtend wie die Überlegung, dass zwei Fotos von ein und
derselben Person aus den gleichen Richtungen und unter denselben sonstigen Ver-
hältnissen dasselbe Bild zeigen. Viel schwieriger ist allerdings die Frage, ob Fotos,
auf denen scheinbar dasselbe ist, auch dieselbe Person zeigen. Sicher reicht nicht eine
begrenzte Anzahl von Fotos, auf denen Sie, möglicherweise nach einiger Kostümie-
rung, wie Alain Delon oder Romy Schneider am Pool sitzen, um zu behaupten, Sie
seien Alain Delon oder Romy Schneider. Ebensowenig kann man aus der Gültigkeit
von Gl. 12.13 oder Gl. 12.14 für einige wenige Funktionen ϕ darauf schließen, dass
die beiden Ausdrücke −∇ · [A(x)∇u] und f gleich sind. Man braucht mindestens
eine so große Auswahl der Testfunktionen, dass man die Gültigkeit von Gl. 12.13
oder Gl. 12.14 für alle denkbaren Testfunktionen aus dieser Auswahl herleiten kann.
Dies gelingt mit der Wahl des Raums C01 (), ¯ der dicht im Raum aller denkbaren
Testfunktionen liegt. Ohne weiteren Beweis wollen wir hier auf den Raum H01 ()
verweisen, den wir in Abschn. 5.2.2 ein wenig kennengelernt haben. Die Null steht
wieder dafür, dass die Dirichlet-Randwerte 0 sind. Wie der Raum L 2 () bestehen
222 12 Variationsformulierung und schwache Lösungen
auch H 1 () und H01 () aus Klassen von Funktionen, und die passenden Normen
sind
f H 1 () = f 2L 2 () + ∇ f 2L 2 () und auch f H 1 () = ∇ f L 2 () .
0
In beiden Fällen sind für ∇ f schwache Ableitungen zugelassen, und beide Normen
beschreiben einen Abstandsbegriff, der die Ableitungen der Funktion berücksichtigt.
Zwei Funktionen, deren Differenz in einer dieser Normen klein ist, haben also nicht
nur nahe beieinanderliegende Funktionswerte, sondern unterscheiden sich auch nur
wenig in den ersten schwachen Ableitungen.
¯ im H 1 () dicht liegt, bedeutet nun, dass jedes v ∈ H 1 ()
Dass der Raum C01 () 0 0
bezüglich der H01 ()-Norm beliebig gut durch ein Element ϕ ∈ C01 () ¯ angenähert
werden kann. Mathematisch formuliert gilt also
¯ : v−ϕ
∀v ∈ H01 () ∀ε > 0 ∃ϕ ∈ C01 () < ε.
H01 ()
Selbst wenn wir nachweisen würden, was wir hier nicht tun wollen, dass ebendies
¯ wirklich einen genügend großen Raum der Testfunk-
gilt und dass wir mit C01 ()
tionen gewählt haben, um alle Richtungen abzudecken, so bleibt noch ein weiteres
Problem übrig. Manche eineiige Zwillinge sind, zumindest wenn sie es nicht darauf
anlegen, auf Fotos ununterscheidbar. Sie sind nicht identisch, sehen aber auf allen
Bildern gleich aus. So ist es auch hier. Selbst, wenn wir Gl. 12.13 oder Gl. 12.14
wirklich für – in welchem Sinne auch immer – alle Testfunktionen sichern kön-
nen, so folgt daraus noch nicht die Gleichheit der beiden Ausdrücke −∇ · [A(x)∇u]
und f . Vielmehr folgt nur, dass die L 2 ()-Norm ihrer Differenz null wird, dass al-
so − ∇ · [A(x)∇u] − f L 2 () = 0 gilt. Ebenso wie wir in Abschn. 5.2.2 darüber
gesprochen haben, dass die L 2 -Norm wegen der Integralbildung einzelne Funktions-
werte nicht sieht, sehen auch die Projektionen in Gl. 12.13 einzelne Funktionswerte
auf beiden Seiten nicht. Dies ist auch der Grund, warum wir den Raum L 2 () in
Gl. 5.15 als eine Menge von Klassen von Funktionen definiert haben, die sich inner-
halb der Klassen bezüglich der L 2 -Norm nicht unterscheiden.
Sie sehen, dass die schwache Formulierung schwächere Forderungen an die Dif-
ferenzierbarkeit stellt als die Gleichheit in der partiellen Differentialgleichung im
Randwertproblem in Gl. 12.3. Von diesen schwächeren Forderungen hat die schwa-
che Formulierung ihren Namen. Wenn wir aber weniger von einer Funktion u verlan-
gen, so erhalten wir eine größere Menge möglicher Lösungen u. Diese Lösungen, die
die schwache Formulierung in Gl. 12.14 erfüllen, nennen wir schwache Lösungen
des Randwertproblems in Gl. 12.3.
Jede klassische Lösung erfüllt das Randwertproblem in Gl. 12.3 als echte Gleich-
heit. Insbesondere ist jede klassische Lösung auch oft genug differenzierbar, um alle
auftretenden Ableitungen in einem strengen Sinne angeben zu können. Damit ist
jede klassische Lösung auch eine schwache Lösung, denn an diese werden weniger
Anforderungen gestellt. Umgekehrt ist eine schwache Lösung aber nicht notwendi-
gerweise eine klassische Lösung. Wenn Sie einen Blick auf Gl. 12.14 oder Gl. 12.12
werfen, erkennen Sie, dass die Skalarprodukte für Funktionen u, die eine schwache
12.2 Schwache Formulierung 223
erste Ableitung haben, bereits sinnvoll definiert und auswertbar sind. Es kann also
vorkommen, dass eine Funktion u der schwachen Formulierung genügt, aber schon
wegen ihrer fehlenden zweimaligen Differenzierbarkeit keine klassische Lösung sein
kann.
Übrigens ist die schwache Formulierung für ein Randwertproblem
Beispiel Im Beispiel in Abschn. 5.2.2 haben wir in Gl. 5.12 die einzig denkbare Lö-
sung u des Randwertproblems in Gl. 5.10 mit einer springenden Materialkonstanten
a = a(x) aus Gl. 5.11 bestimmt. Da die Materialkonstante unstetig war, kann es
keine Funktion geben, für die die auftretenden Ableitungen in Gl. 5.10 tatsächlich
existieren. Die nicht überall differenzierbare Funktion u mit ihren Knicken ist die
Funktion, die als Lösung infrage kommt. Wir zeigen nun, dass die Funktion u eine
schwache Lösung des Randwertproblems in Gl. 5.10 ist.
Wegen a(x)u (x) = 2 für alle x ∈ (−2, 2)\{−1, 1}, an denen nicht gerade die
Knicke von u liegen, liefert die linke Seite von Gl. 12.14 das Integral
2 2
ϕ (x)a(x)u (x) dx = 2 ϕ (x) dx = 2 (ϕ(2) − ϕ(−2)) = 0.
−2 −2
224 12 Variationsformulierung und schwache Lösungen
In unserem Beispiel gilt f = 0 ist, und die rechte Seite von Gl. 12.14 ergibt auch
null. Da u die Randbedingungen erfüllt, ist u tatsächlich eine schwache Lösung des
Randwertproblems, welches wir als stationäre Wärmeverteilung in einem Werkstück
aus unterschiedlichen Materialien interpretieren können.
Die schwache Lösung u ist sicher keine klassische Lösung, denn die Ableitungen,
die in der Differentialgleichung in Gl. 5.10 gebraucht werden, existieren für die Funk-
tion u an den Knickstellen nicht. Trotzdem waren wir überzeugt, dass u die einzig
denkbare Lösung ist und gleichzeitig eine realistische stationäre Temperaturvertei-
lung beschreibt. Insofern haben wir mit der schwachen Lösung den aus praktischer
Sicht sinnvolleren Lösungsbegriff eines Randwertproblems beschrieben, auch wenn
sich einige angewandte Forscher des Unterschieds zwischen schwacher und star-
ker Lösung nicht besonders bewusst zu sein scheinen. Dass dies überhaupt möglich
ist, zeigt die Stärke und die Natürlichkeit des Begriffs der schwachen Lösung, selbst
wenn die Besprechung bis hierhin etwas sperrig war und viele mathematische Fragen
angerissen hat.
Tatsächlich sind viele dieser mathematischen Fragen erst dadurch aufgeworfen
worden, dass in der Physik und in den Ingenieurwissenschaften mit Lösungen von
Randwertproblemen gerechnet wurde, die aus Sicht der Mathematik gar keine Lö-
sungen sein konnten. Viele dieser Fragen sind mittlerweile so gut verstanden, dass
einige Anwendungen im Vertrauen auf die Tragkraft der Mathematik etwas hemds-
ärmelig mit partiellen Differentialgleichungen umgehen.
Wir wiederholen die Überlegungen, die uns zur schwachen Formulierung geführt
haben, für das Randwertproblem
−∇ · [A∇u] = f für x ∈ ,
(12.15)
nT [A∇u] = p für x ∈ ∂
und schauen, was sich durch die Verwendung der Neumann-Randbedingungen än-
dert. Natürlich dürfen die Materialkonstanten A = A(x) weiterhin ortsabhängig sein,
aber wir schreiben den Formalismus immer kürzer und kürzer auf.
Wir multiplizieren die partielle Differentialgleichung mit einer Testfunktion ϕ,
integrieren über das Gebiet und erhalten
− ∇ · [A∇u]ϕ da = f ϕ da.
Wenn wir wie bereits bei der Betrachtung in Gl. 12.11 partiell integrieren, treffen wir
auf den Randterm nT (A∇u · ϕ) = nT [A∇u]ϕ = pϕ. Diesmal haben wir Neumann-
Randwerte p gegeben, die wir einsetzen. Führen Sie die partielle Integration bitte
selbst aus, und freuen Sie sich daran, wie die Terme einfacher werden.
12.2 Schwache Formulierung 225
¯ ohne
erfüllt. Diesmal sind die Testfunktionen – anders als in Gl. 12.12 – aus C 1 ()
den unscheinbaren Zusatz der tiefgestellten 0. Die Randwerte von ϕ sind also nicht
eingeschränkt.
Die schwache Formulierung für Randwertprobleme mit Neumann-Randbedin-
gungen, die auch natürliche Randbedingungen genannt werden, enthält also bereits
die Randwerte. Insofern ist Gl. 12.16 elegant. Schreiben Sie sie wieder als Gleichheit
von L 2 -Skalarprodukten.
Übrigens kann man auch aus Gl. 12.16 die Lösbarkeitsbedingung für ein reines
Neumann-Problem folgern. Für die Spezifizierung ϕ = 1 entsteht nämlich
0= f da + p ds, (12.17)
∂
was wir schon aus Gl. 2.16 kennen. Für eine Membran bzw. für jede elastische Verfor-
mung existiert der stationäre Zustand nur dann, wenn sich die Kräfte f im Innern des
Gebiets und die Kräfte p auf dem Rand ∂ ausgleichen. Im Fall einer Membran,
also für d = 2, ist f dabei eine Flächenkraftdichte, und p ist eine Linienkraftdichte.
Überzeugen Sie sich, dass mit diesen Festlegungen die Einheiten passen.
Im Falle eines Diffusionsproblems sind f die Quellen und Senken im Innern des
Gebiets, die sich mit dem Zu- und Abfluss am Rand ausgleichen müssen. Suchen
Sie nach den Interpretationen für die stationäre Wärmeleitungsgleichung.
Wenn die Lösbarkeitsbedingung in Gl. 12.17 erfüllt ist, so existiert nicht nur eine
Lösung u = u(x) des reinen Neumann-Problems, sondern zugleich ist jede Funktion
u(x) + c für alle c ∈ R eine Lösung des Randwertproblems.
Wir fassen diese Beobachtung etwas allgemeiner zusammen. Das Randwertpro-
blem in Gl. 12.3 mit Dirirchlet-Randbedingungen hat im Rahmen der obigen Über-
legungen zur Gleichheit im L 2 -Sinne für jede zulässige rechte Seite f eine eindeutige
Lösung u. Im Gegensatz dazu hat das Randwertproblem in Gl. 12.15 mit Neumann-
Randbedingungen nur dann Lösungen, wenn die Lösbarkeitsbedingung in Gl. 12.17
erfüllt ist, und in diesem Fall hat es gleich unendlich viele Lösungen.
Diese Fallunterscheidung heißt nach Ivar Fredholm (1866 in Stockholm bis
1927 in Mörby) Fredholm’sche Alternative. Wir finden sie an vielen Stellen für
unterschiedlichste lineare Operatoren. Das lineare Gleichungssystem K y = b mit
K ∈ Rn×n liefert die einfachste Version. Ist der lineare Operator K : Rn → Rn in-
vertierbar, d. h., ist die Matrix K regulär, dann existiert zu jeder rechten Seite b ∈ Rn
226 12 Variationsformulierung und schwache Lösungen
eine eindeutige Lösung y ∈ Rn . Ist dagegen die Matrix K singulär, so ist die Forde-
rung b ∈ im B, also dass die rechte Seite im Bild der linearen Abbildung ist, eine
Lösbarkeitsbedingung. Ohne sie gibt es keine Lösung y. Ist diese Lösbarkeitsbedin-
gung aber erfüllt, so ist mit jeder Lösung y auch y + c mit c ∈ ker K = {0} eine
Lösung. Also gibt es dann unendlich viele Lösungen. Sortieren Sie diese drei Fälle
bitte in einer Tabelle mit einer Spalte für die linearen Gleichungssysteme und parallel
dazu mit einer Spalte für Randwertprobleme zu linearen partiellen Differentialglei-
chungen.
Wenn Sie sehr mutig sind, versuchen Sie sich daran nachzuweisen, dass die
Lösungen der Burgers-Gleichung aus Abb. 9.4 mit der Stoßwelle und aus Abb. 9.6 mit
der Verdünnungswelle schwache Lösungen der jeweiligen Anfangswert-
probleme sind. Integrieren Sie dazu über ein genügend großes Rechteck in der
(t, x)-Ebene, und verwenden Sie Testfunktionen ϕ, die an den drei Seiten des
Rechtecks für t > 0, aber nicht notwendigerweise bei t = 0 verschwindende Rand-
werte haben. Die Rechnung wird durch die Fallunterscheidung in der Angabe
der Funktion u = u(t, x) etwas technisch, aber schließlich muss herauskommen,
dass beide Seiten der Burgers-Gleichung bei der Skalarproduktbildung mit allen
Testfunktionen denselben Wert ergeben.
Tatsächlich haben Sie in diesem Buch neben den beiden schwachen Lösungen
der Burgers-Gleichung in Abb. 9.4 und 9.6 auch schon in Abb. 8.3 eine schwache
Lösung der Wellengleichung gesehen. Es erschien bei der Wellengleichung etwas
pedantisch, die Knicke anzusprechen und zu fragen, ob wir von einer Funktion u mit
Knicken die zeitliche und örtliche zweite Ableitung überhaupt bilden können. Umso
natürlicher erscheint Ihnen hoffentlich das Konzept der schwachen Lösung.
Ausblick auf finite Elemente
13
Auf den ersten Blick eignet sich die schwache Formulierung, bei der wir mittels un-
endlich vieler Testfunktionen ϕ unendlich viele, kompliziert aussehende Bedingun-
gen an die gesuchte Funktion u stellen, kaum, um ein numerisches Rechenverfahren
zu entwerfen. Schließlich kann ein Computer nur endlich viele Rechenoperationen
ausführen, und diese Rechenoperationen sind jeweils sehr einfache Additionen und
Multiplikationen. So schnell ein Computer auch sein mag, sind endlich viele Rechen-
operationen immer zu wenige, um unendlich viele Bedingungen zu berücksichtigen.
Trotzdem ist die schwache Formulierung der Schlüssel zu dem wahrscheinlich
meistgenutzten Verfahren, um Lösungen von partiellen Differentialgleichungen tat-
sächlich auszurechnen, nämlich zur Finite-Elemente-Methode. Für die meisten prak-
tischen Fragestellungen wie die Verformung einer Autokarosserie, die Erwärmung
eines Motorblocks, die Migration von Insektenpopulationen oder das Herunterrinnen
von Fruchtsaft über eine Verdampferplatte gibt es keine analytisch geschlossene Lö-
sung der zugehörigen Differentialgleichungen, wie wir sie in Kap. 6 bis 9 für einfache
Fälle bestimmt haben. Dies liegt schon daran, dass wir in den Anwendungen häu-
fig auf kompliziert geformte Gebiete und mit ortsabhängigen Materialkonstanten
treffen, die nicht als analytische Ausdrücke, sondern nur numerisch als Funktions-
aufrufe, z. B. aus einer Datenbank mit Geoinformationen, gegeben sind.
Die Finite-Elemente-Methode ist ein numerisches Verfahren, das die Berechnung
von Lösungen partieller Differentialgleichungen geschickt auf die vielfache Nach-
einanderausführung einfacher Additionen und Multiplikationen zurückführt. Übri-
gens wurde sie lange vor der Verfügbarkeit der ersten Computer, auf denen man
sie implementieren konnte, entwickelt. Zwei leicht unterschiedliche Varianten ge-
hen auf Walter Ritz (1878 in Sion bis 1909 in Göttingen) und Boris Grigorjewitsch
Galerkin (1871 in Polozk bis 1945 in Leningrad) zurück. Walter Ritz hat in Zürich
Ingenieurwissenschaften studiert und wandte sich dann Fragestellungen der Physik
und auch der Mathematik zu. Aber Boris Galerkin war ein sehr praktisch tätiger
Bauingenieur, der beim Entwurf und der Planung komplizierterer Bauwerke die Lö-
sungen von partiellen Differentialgleichungen, beispielsweise der Elastizitätstheorie,
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 227
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4_13
228 13 Ausblick auf finite Elemente
Die Idee der Finite-Elemente-Methode, die oft mit FEM abgekürzt wird, besteht
darin, nur endlich viele Testfunktionen zu verwenden und mit den so entstehenden,
endlich vielen Bedingungen auch nur endlich viele Aussagen über die gesuchte Funk-
tion u zu erfüllen. Wir nennen die Beschreibung einer kontinuierlichen Funktion, die
unendlich viele Informationen enthält, durch endlich viele Informationen eine Dis-
kretisierung. Im einfachsten Fall sind die endlich vielen Informationen endlich vie-
le Funktionswerte an ausgewählten, voneinander getrennten Stellen. Solche Stellen
werden im Gegensatz zu den kontinuierlich liegenden Argumenten x ∈ Rd diskre-
te Stützstellen genannt. Wir wollen bei der Darstellung der Grundidee der Finite-
Elemente-Methode nicht zu sehr an der Vorstellung von diskreten Funktionswerten
festhalten, sondern denken eher an eine endliche Anzahl von Informationen über die
gesuchte Funktion u.
Wir kehren zur Veranschaulichung kurz zu den Fotos von Personen zurück. Die
schwache Formulierung besteht darin, mittels unendlich vieler Fotos aus allen Rich-
tungen und in allen Lebenslagen – abgesehen von eineiigen Zwillingen – genau
eine Person aus beliebig vielen und sogar unendlich vielen zu identifizieren. Die
Finite-Elemente-Methode versucht nun, aus endlich vielen Fotos, die aus möglichst
vielen und möglichst variablen Richtungen aufgenommen wurden, eine Person aus
einer enger eingegrenzten Menge zu identifizieren. Es ist einleuchtend, dass weniger
Fotos eine geringere Aussagekraft haben und dass wir mit mehr Fotos eine Person
aus einer größeren Menge eindeutig identifizieren können, wenn die Fotos genügend
viele Facetten abbilden.
Wir betrachten wieder das elliptische Randwertproblem
für die gesuchte Funktion u = u(x), das exemplarisch für ein elastisches Verfor-
mungsproblem steht. In Gl. 13.1 ist die Auslenkung einer auf der Höhe q eingespann-
ten Membran beschrieben. Verfolgen Sie die nachfolgenden Überlegungen bitte par-
allel für die Gleichungen der Elastizitätstheorie aus Abschn. 4.5. Diese Gleichungen
sehen komplizierter aus, haben aber dieselbe Struktur. Beachten Sie dabei insbeson-
dere den Nutzen aus der Divergenzform in Gl. 13.1.
13.1 Stationäre Probleme 229
Die schwache Formulierung von Gl. 13.1 lautet: Man finde eine Funktion
u ∈ H 1 () mit u|∂ = q, sodass
∇ϕ T A∇u da = ¯
f ϕ da für alle ϕ ∈ C01 () (13.2)
gilt. In Kap. 12 haben wir diskutiert, dass wir uns jede Projektion entlang der Rich-
tung ϕ als ein Foto vorstellen können. Da der Raum C01 () ¯ unendlich viele Dimen-
sionen hat und damit natürlich unendlich viele Elemente enthält, formuliert Gl. 13.2
unendlich viele Forderungen an die gesuchte Funktion u. Und wir wiederholen noch
einmal, dass eine Funktion u : → R unendlich viele Informationen enthält, denn
selbst wenn sehr viele diskrete Funktionswerte gegeben sind, kann die Funktion zwi-
schen den Stützstellen auf engstem Raum noch aberwitzige Schlenker haben. Okay,
aber die meisten praktischen Funktionen zeigen kein allzu verrücktes Verhalten, und
auf dieser Beobachtung beruht die Idee der Finite-Elemente-Methode.
Wir nehmen anstelle der unendlich vielen Testfunktionen, die die schwache
Formulierung in Gl. 12.12 verlangt, nun nur eine Auswahl von endlich vielen Test-
funktionen ϕ1 , . . . , ϕn , von denen wir fordern, dass sie am Rand die Werte ϕ j |∂ = 0
haben. Eine endliche Auswahl ist nur eine vergleichsweise sehr kleine Auswahl von
Testfunktionen ϕ j ∈ C01 (), ¯ und natürlich können wir mit ihnen nicht unendlich vie-
le Bestimmungsstücke der gesuchten Funktion u festlegen. Im Moment machen wir
noch keine Aussagen darüber, welche Testfunktionen wir auswählen. Wichtig ist zu-
nächst nur, dass es endlich viele sind.
Durch die Auswahl der n Testfunktionen sind wir also gezwungen, uns auf n For-
derungen an die gesuchte Funktion u zu beschränken. Deshalb setzen wir eine Funk-
tion u an, die wir durch n Bestimmungsstücke beschreiben können, und wir hoffen,
dass dieser Ansatz eine brauchbare Näherung der gesuchten Funktion u liefert. Dazu
wählen wir endlich viele, und zwar genau n Ansatzfunktionen ψ1 , . . . , ψn ∈ C01 () ¯
¯
und zusätzlich eine Funktion q̃ : → R, von der wir nichts weiter verlangen, als
dass sie die Randwerte q̃|∂ = q aus dem Randwertproblem in Gl. 13.2 erfüllt. In
dem Ansatz
n
u(x) ≈ αk ψk (x) + q̃(x), αk ∈ R (13.3)
k=1
mit den Koeffizienten αk liefert der erste Summand eine stetige Funktion, deren Wer-
te am Rand ∂ null sind. Der zweite Summand sorgt dafür, dass die Näherung die
gegebenen Randwerte q hat. Die n Koeffizienten αk sind die n Bestimmungsstücke
der Näherung an die gesuchte Funktion u. Man spricht auch vom n-dimensionalen
Ansatzraum, der alle Wahlen der Koeffizienten und damit alle möglichen Näherun-
gen enthält.
Wir setzen den Ansatz aus Gl. 13.3 in die schwache Formulierung aus Gl. 13.2 ein,
notieren die ortsabhängigen Funktionen ψk = ψk (x) und q̃ = q̃(x) als ψk und q̃ und
erhalten mit
n
∇ϕ j A
T
αk ∇ψk + ∇ q̃ da = f ϕ j da für j = 1, . . . , n
k=1
230 13 Ausblick auf finite Elemente
ein System von n Gleichungen zur Bestimmung der n Koeffizienten αk . Wir räu-
men dieses Gleichungssystem unter Ausnutzung der Linearität des Integrals auf und
gelangen zu
n
αk ∇ϕ Tj A∇ψk da = f ϕ j da − ∇ϕ Tj A∇ q̃ da (13.4)
k=1
n
K jk αk = b j für j = 1, . . . , n. (13.5)
k=1
An dieser Form erkennen wir noch deutlicher, dass Gl. 13.4 ein lineares Gleichungs-
system für die Koeffizienten αk , k = 1, . . . , n ist. Zu jeder Ansatzfunktion ψk gehört
ein Koeffizient αk , der bestimmt wird. Jede Testfunktion ϕ j wird zu einer Bedingung,
einer Forderung oder eben einer Gleichung im linearen Gleichungssystem 13.5. Aus
dieser Betrachtung ergibt sich der erste Wunsch an die Wahl der Test- und Ansatz-
funktionen, denn Gl. 13.5 soll eine eindeutige Lösung haben. Allgemeiner wünschen
wir uns, dass das diskretisierte System in Gl. 13.5 ein Lösungsverhalten zeigen soll,
das mit dem Lösungsverhalten des kontinuierlichen Randwertproblems in Gl. 13.1
vergleichbar ist.
Das Gleichungssystem in Gl. 13.5 schreiben wir noch kürzer als K α = b
mit der Steifigkeitsmatrix K = (K jk )nj,k=1 ∈ Rn×n und der rechten Seite
b = (b j )nj=1 ∈ Rn . Gesucht ist der Vektor der Komponenten α = (αk )nk=1 ∈ Rn .
Der Name Steifigkeitsmatrix kommt daher, dass die Frage nach dem Kräftegleich-
gewicht eines Systems verbundener Federn im einfachsten Fall auf ein lineares Glei-
chungssystem führt, in dem die Federkonstanten in der entsprechenden Matrix auf-
tauchen würden. Schauen Sie es sich an einem Federzugsystem Ihrer Wahl an.
Damit haben wir die Grundidee der Finite-Elemente-Methode vorgestellt. Durch
die Verwendung endlich vieler Test- und endlich vieler Ansatzfunktionen wurde das
Randwertproblem in Gl. 13.1 oder vielmehr dessen schwache Formulierung in das li-
neare Gleichungssystem K α = b für die Koeffizienten α = (αk )nk=1 aus dem Ansatz
13.1 Stationäre Probleme 231
in Gl. 13.3 zur Näherung der gesuchten Funktion u überführt. Aus dem Randwertpro-
blem zu einer linearen Differentialgleichung ist also ein lineares Gleichungssystem
geworden. Wir sagen, dass das diskretisierte System Eigenschaften des kontinuierli-
chen Problems erbt. Beispielsweise ist die Selbstadjungiertheit des Differentialope-
rators −, vgl. Abschn. 11.1, der Grund, dass im Fall ϕ j = ψ j , j = 1, . . . , n eine
symmetrische Steifigkeitsmatrix K entsteht. Auch hier passt die Selbstadjungiertheit
des Differentialoperators zur Symmetrie der Systemmatrix.
Die Analogie geht aber noch weiter, denn die Lösung des linearen Gleichungs-
systems K α = b entspricht der Minimierung des nach oben geöffneten Paraboloids
J (α) = 21 α T K α − α T b, was Sie durch die Bildung des Gradienten und Nullsetzen
∇α J (α) = 0 bitte nachrechnen. Das Funktional J (α) erinnert Sie hoffentlich an die
Variationsformulierung aus Kap. 12. Blättern Sie zurück, und vergleichen Sie.
Manchmal wird die Lösung des linearen Gleichungssystems K α = b als Galerkin-
Verfahren – bitte in richtiger Aussprache mit betontem russischen jo in der zwei-
ten Silbe – und die Minimierung des Funktionals J (α) als Ritz-Verfahren bezeich-
net. Beide Ansätze sind aber so nahe verwandt und in ihrer genauen Ausprägung
schwer zu unterscheiden, dass viele den Namen Ritz-Galerkin-Verfahren vorziehen.
In der wissenschaftlichen Umgangssprache werden die Namen der Verfahren und
die Finite-Elemente-Methode fast synonym gebraucht. Besonders in den Ingenieur-
wissenschaften ist oft einfach von finiten Elementen die Rede. Man bezeichnet damit
eine ganze Sammlung von Verfahren, denn die Wahl der Test- und Ansatzfunktionen
und die Entscheidung für einen Algorithmus zur Lösung des diskretisierten Problems
enthalten ernst zu nehmende Fragen, die in weiterführenden Vorlesungen zur Nume-
rik oder zur Kontinuumsmechanik besprochen werden.
1 1
u (x)ϕ (x) dx = f (x)ϕ(x) dx für alle ϕ ∈ C01 ([0, 1]).
0 0
Wir haben über die Forderung der Differenzierbarkeit der Testfunktionen, also hier
über ϕ ∈ C01 ([0, 1]) gesprochen. Zur Auswertung der Ausdrücke in der schwachen
Formulierung reicht es streng genommen, wenn die Testfunktionen ϕ ∈ H01 ([0, 1])
erfüllen. Im Rückgriff auf dieses hier unbewiesene Wissen, erlauben wir uns, die
Hütchenfunktionen als Ansatz- und Testfunktionen zu verwenden. Sie sehen diese
232 13 Ausblick auf finite Elemente
Damit erfüllen die Testfunktionen, die wir hier gleichzeitig als Ansatzfunktionen
ψ j = ϕ j verwenden wollen, die Randwerte ϕ j |{0,1} = 0. Da die Testfunktionen je-
weils an genau einer Stützstelle eins sind und an den anderen Stützstellen null,
ist jedes ϕ j für eine Stützstelle oder einen Gitterpunkt x j zuständig. Denn es gilt
ϕ j (x j ) = 1 und ϕ j (x j ) = 0 für i = j. Der Ansatz aus Gl. 13.3, hier mit q̃ = 0, ent-
hält also die Näherung u(x j ) ≈ α j , und wir haben eine sehr direkte Verbindung zwi-
schen der Lösung des linearen Gleichungssystems und der Lösung des Randwertpro-
blems.
Wir rechnen jetzt
⎧2
1 ⎨ h für j = k,
K jk = ϕk (x)ϕ j (x) dx = − h1 für | j − k| = 1,
⎩
0 0 für | j − k| ≥ 2
nach. Jedes Hütchen interagiert nur mit seinen Nachbarn. Weiter voneinander ent-
fernte Hütchen haben wie beim Federzugsystem keine direkte Verbindung, und die
Einträge in der Steifigkeitsmatrix sind null. Diese Beobachtung unterstreicht die
a b
Abb. 13.2 a Ausschnitt aus Triangulierung eines Schnittes durch einen auf einer Unterlage lie-
genden Tropfen. Die Übergänge zwischen den Materialien sind im Netz als durchgehende Linien
erkennbar. Die Triangulierung wird in der Nähe der Materialübergänge feiner, b Hütchenfunktion
über zweidimensionaler Triangulierung
Dreiecke Triangulierungen genannt. Außerdem zeigt Ihnen Abb. 13.2 eine zweidi-
mensionale Hütchenfunktion auf einem Ausschnitt einer Triangulierung.
Selbst wenn es anschaulich ist, wie die Triangulierung aussehen soll, ist ihre Er-
zeugung ein nichttrivialer Schritt. Man wünscht sich typischerweise eine im Wesent-
lichen gleichmäßige Triangulierung, die aber nicht zu regelmäßig sein soll, damit
sich die numerischen Fehler ausgleichen. Natürlich soll sie auch keine größeren Lö-
cher haben. Falls es besonders problematische Stellen wie Ecken und Einschnitte
gibt, wünscht man sich in deren Nähe eine feinere Unterteilung, sodass der numeri-
sche Fehler auch dort vergleichbar klein bleibt. Eine solche Triangulierung, die sich
dem erwarteten numerischen Fehler anpasst, wird adaptive Triangulierung genannt.
Als Nächstes brauchen die Stützstellen der Triangulierung Nummern. Idealerwei-
se haben benachbarte Stützstellen nahe beieinander liegende Nummern, damit die
Einträge der Steifigkeitsmatrix K , die nicht null sind, möglichst nahe an der Diago-
nale stehen. An einer Skizze mit einem kleinen Dreiecksnetz erkennen Sie schnell,
dass es schon in einer zweidimensionalen Triangulierung nicht gelingen kann, die-
sen Wunsch perfekt zu erfüllen. Auch hier werden wieder Algorithmen benötigt, um
die Nummern möglichst nachbarschaftlich zu vergeben.
Und zu guter Letzt möchten wir Sie darauf aufmerksam machen, dass die
Hütchenfunktionen nur die einfachsten Ansatzfunktionen sind. In Abb. 13.1 finden
Sie neben den Hütchenfunktionen, die stetig, aber nicht überall differenzierbar sind,
auch eine Variante von differenzierbaren Ansatzfunktionen. Eine daraus zusam-
mengebaute Funktion u ist also immer differenzierbar. Solche Ansatzfunktionen
brauchen Sie beispielsweise, wenn Sie nicht nur mit den Werten u, sondern auch
mit den Ableitungen in ∇u weiterrechnen wollen. Glattere Ansatz- und Testfunk-
tionen werden breiter, und die Steifigkeitsmatrix K hat mehr von null verschiedene
Einträge. Zudem ist die Konstruktion von glatteren Ansatzfunktionen, die zu unter-
schiedlichen Ansätzen passen, immer noch ein Gegenstand aktueller Forschung.
13.2 Zeitabhängige Probleme 235
In diesem letzten Abschnitt des Buchs wenden wir die Finite-Elemente-Methode auf
ein zeitabhängiges Problem, nämlich die uns mittlerweile vertraute Schwingungs-
gleichung, an. Zwar handelt es sich um ein zeitabhängiges Problem, aber die Grund-
ideen sind genau dieselben wie im stationären Fall. Nach all den Teilproblemen, die
wir am Ende des vorigen Abschnitts aufgezählt haben, tun wir nun wieder so, als hät-
ten wir schon eine Auswahl von Test- und Ansatzfunktionen getroffen, und wenden
die Methode an.
Die Schwingungsgleichung für die zeit- und ortsabhängige Auslenkung
u = u(t, x) einer am Rand des Gebiets ⊂ Rd eingespannten Membran mit den
Materialkonstanten in A = A(x) ∈ Rsym d×d , der konstanten Massendichte und der
Sie bemerken hoffentlich, dass die Fachbegriffe und Bezeichnungen Sie nicht mehr
erschrecken, sondern dass Sie schon lange einen Blick dafür entwickelt haben, dass
dies ein Anfangsrandwertproblem für eine hyperbolische Differentialgleichung mit
Dirichlet-Randbedingungen ist. Sie hat die Ordnung 2, und da auch die zweite zeit-
liche Ableitung auftritt, braucht die Schwingungsgleichung Anfangsbedingungen für
die Auslenkung u 0 (x) und für deren zeitliche Änderung v0 (x).
Nach der Multiplikation der Differentialgleichung mit einer Testfunktion
ϕ = ϕ(x) mit ϕ|∂ = 0 und der partiellen Integration bezüglich des Ortes entsteht
die schwache Formulierung
u ,tt ϕ da + ∇ϕ A∇u da =
T ¯
f ϕ da für alle ϕ ∈ C01 ().
Eine Anpassung an die Zeitabhängigkeit des Problems entsteht dadurch, dass wir
für die Koeffizienten αk , mit denen die Ansatzfunktionen in die Näherungslösung
u = u(t, x) eingehen, nun zeitabhängige Funktionen αk = αk (t) zulassen. Der Über-
gang zu zeitabhängigen Koeffizienten ist uns aus der Spektralzerlegung für die Wär-
meleitungsgleichung und die Schwingungsgleichung mittlerweile vertraut.
Mit Ansatzfunktionen ψk = ψk (x), k = 1, . . . , n, die den Randbedingungen
ψk (x) = 0 für x ∈ ∂ genügen, erfüllt auch der Ansatz
n
u(t, x) = αk (t)ψk (x)
k=1
n
n
αk (t) ψk (x)ϕ j (x) da + αk (t) ∇ϕ j (x)T A(x)∇ψk (x) da = . . .
k=1 k=1
... = f (t, x)ϕ j (x) da für alle ϕ j , j = 1, . . . , n,
was zugegeben sehr länglich aussieht, aber die zeitlichen und örtlichen Anteile trennt.
Unter den Integralen stehen nämlich nur ortsabhängige Terme, und für einmal ge-
wählte Test- und Ansatzfunktionen können die Integrale ausgewertet werden. Die
Integrale im zweiten Summanden kennen wir als die Einträge der Steifigkeitsmatrix
K . Ganz ähnlich vergeben wir nun die Bezeichnungen
M jk = ψk (x)ϕ j (x) da sowie b j (t) = f (t, x)ϕ j (x) da,
n
n
M jk αk (t) + K jk αk (t) = b j (t). (13.7)
k=1 k=1
unterstützt die Vorstellung, dass die schwingende Membran in kleine Stücke, eben
in die finiten Elemente, zerlegt wird, die als bewegliche Massepunkte durch Federn
verbunden sind. Allerdings führt der Versuch, die Vorstellung einer derart mecha-
nisch diskretisierten Membran direkt in eine Bewegungsgleichung zu übersetzen,
nur mit einigen Mogeleien auf dieselben Differentialgleichungen.
Es ist übrigens nicht genau festgelegt, ob die Massematrix nur M ist oder die Ma-
trix M. Schauen Sie noch einmal auf die Herleitung zurück, und beachten Sie, dass
die Dichte nur deshalb als Konstante vor der Matrix M stehen kann, weil wir sie
als konstanten Faktor aus dem Integral und der Summe herausziehen konnten. Ist
die Massendichte dagegen ortsabhängig = (x), so würde sie unter dem Integral
bleiben, und wir könnten die Massendichte nicht von der Matrix M trennen.
13.2 Zeitabhängige Probleme 237
In jedem Fall können die Einträge M jk der Massematrix unabhängig von der Lö-
sung der Differentialgleichung in Gl. 13.7 ebenso wie die Einträge der Steifigkeits-
matrix und der rechten Seite in einem Preprocessing-Schritt, also vor der eigentlichen
Simulation der Schwingung durch die numerische Lösung von Gl. 13.7, bestimmt
werden. Dieser Preprocessing-Schritt ist oft numerisch aufwendiger als die numeri-
sche Behandlung von Gl. 13.7. Man kann zeigen, dass die Massematrix positiv definit
und damit invertierbar ist, und für den häufigen Fall, dass die Test- und Ansatzfunk-
tionen identisch gewählt sind, ist die Massematrix auch symmetrisch.
In kürzerer Matrixschreibweise lautet Gl. 13.7
und, wenn wir nicht wüssten, dass die Großbuchstaben Matrizen bezeichnen, würden
wir diese Differentialgleichung für die des ungedämpften Federschwingers mit einer
rechten Seite halten. Die beiden benötigten Anfangsbedingungen für α(0) und α (0)
gewinnen wir, indem wir die Anfangsbedingungen des Problems in Gl. 13.6 ebenfalls
in Ansatzfunktionen ausdrücken. Es entstehen die Beziehungen
n
n
u(0, x) = αk (0)ψk (x) = u 0 (x) und u ,t (0, x) = αk (0)ψk (x) = v0 (x).
k=1 k=1
Es bleibt nur noch, die Koeffizienten αk (0) und ihre zeitlichen Ableitungen αk (0) aus
diesen Beziehungen auszurechnen. Dies gelingt für gegebene Anfangsbedingungen
u 0 (x) und v0 (x), indem man mindestens n diskrete Punkte xi wählt und so lineare
Gleichungssysteme für (αk (0))nk=1 und (αk (0))nk=1 erhält. Für Hütchenfunktionen ist
es leicht, denn dann gilt αk (0) = u 0 (xk ) und αk (0) = v0 (xk ) an den Stützstellen xk
der Triangulierung.
Die vielen Rechenschritte zu den einzelnen Teilproblemen entziehen sich in fast
allen praktischen Fällen jeder Rechnung von Hand. Diese funktioniert nur in sehr
konstruierten Beispielproblemen mit sehr kleinem, aber auf jeden Fall einstelligem n.
Für sämtliche Anwendungsprobleme werden die Arbeitsschritte der Finite-
Elemente-Methode ausschließlich auf Computern durchgeführt. Der Versuch, selbst
ein FEM-Computerprogramm zu schreiben, ist eine sehr umfangreiche Program-
mierübung. Trotzdem empfehlen wir Ihnen, die Finite-Elemente-Methode
wenigstens für den Fall einer eindimensionalen Schwingungsgleichung mit Hütchen-
funktionen ϕ j und ψk auf einem äquidistanten Gitter selbst zu implementieren. Sie
werden viel daran lernen, sich über Ihren Erfolg freuen und professionelle FEM-
Programme besser einsetzen können.
Der sinnvolle Einsatz der unterschiedlichen verfügbaren Programmpakete
erfordert neben einem fundierten Verständnis der Finite-Elemente-Methode
mehrere bewusste Entscheidungen zur Generierung der Triangulierung, zur Auswahl
der Test- und Ansatzfunktionen und eines passenden numerischen Verfahrens zur Be-
handlung des diskretisierten Problems und natürlich zur sinnhaften Auswertung der
Näherungslösung.
238 13 Ausblick auf finite Elemente
In diesem Anhang sammeln wir sehr knapp Grundlagen und Werkzeuge, die eher
in die mehrdimensionale Analysis als in die Theorie der partiellen Differentialglei-
chungen gehören. Ihre Beherrschung und sichere Anwendung sind notwendige Vor-
aussetzungen, um mit Genuss und Erfolg über physikalische Phänomene und ihre
Beschreibung durch partielle Differentialgleichungen nachzudenken.
A.1 Nabla-Operator
Der Nabla-Operator ∇ ordnet einer genügend glatten Funktion ihre partiellen Ablei-
tungen nach allen Komponenten zu. Genügend glatt bedeutet, dass die betrachteten
Funktionen so oft differenzierbar sind, wie zur sicheren Verwendung der Ableitun-
gen benötigt. Da wir mit der Generalamnestie, vgl. Abschn. 5.2.5, in diesem Buch
nur genügend glatte Funktionen betrachten, kümmern wir uns bei dieser Zusammen-
fassung der Begriffe nicht um die konkreten Differenzierbarkeitseigenschaften.
Der Nabla-Operator heißt übrigens nach dem griechischen Wort ν άβλα bzw. nach
dem lateinischen Wort nablium für die Harfe. Das Zeichen ∇ ähnelt entfernt einer
Harfe. Oft wird er als
∂ ∂ (T)
∇= ,...,
∂ x1 ∂ xd
angegeben. Das Transponiertzeichen haben wir eingeklammert, denn der Nabla-
Operator ist kein Zeilenvektor und kein Spaltenvektor. Genau genommen ist er gar
kein Vektor. Er bildet die Funktion u : Rd → R auf den Vektor ihrer partiellen
Ableitungen, also auf
T
∂ ∂ ∂u ∂u T
∇u = ,..., u= ,..., = (u ,1 , . . . , u ,d )T (A.1)
∂ x1 ∂ xd ∂ x1 ∂ xd
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 239
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4
240 Anhang A Der Integralsatz von Gauß und andere Werkzeuge
⎛ ⎞ ⎛ ⎞
v1 v1,1 v1,2 . . . v1,d
⎜ ⎟ ∂ ∂ ⎜ .. ⎟ ,
v = ⎝ ... ⎠ , ∇v = ,..., v = ⎝ ... ..
. . ⎠ (A.2)
∂ x1 ∂ xd
vm vm,1 vm,2 . . . vm,d
wobei vi, j die partielle Ableitung der i-ten Komponente bezüglich x j bezeichnet.
Bis hierhin ist die Anwendung des Nabla-Operators eine reine Rechenvorschrift.
Doch schon entsteht die Schwierigkeit, dass der Nabla-Operator aus der skalarwer-
tigen Funktion u mit Funktionswerten u(x) ∈ R1 einen Spaltenvektor ∇u(x) ∈ Rd
gemacht hat, aber im Falle der vektorwertigen Funktion v den Spaltenvektor hori-
zontal zu einer Matrix ∇v(x) ∈ Rm×d erweitert. Deshalb steht in Gl. A.1 das Trans-
poniertzeichen am Nabla-Operator und in Gl. A.2 nicht. Würden wir den Nabla-
Operator auf eine matrixwertige Funktion anwenden, so entstände ein dreidimensio-
naler Quader voller partieller Ableitungen.
Die Hesse-Matrix ∇∇u ∈ Rd×d enthält eine Entfaltung von u zum Spaltenvektor
∇u und eine weitere zu einer quadratischen Matrix. Die entsprechende Anwendung
auf die vektorwertige Funktion v liefert den Quader ∇∇v ∈ Rm×d×d . Da sich kei-
ne Einheitlichkeit bezüglich der Wirkung des Nabla-Operators als Spalten- oder
Zeilenvektor erreichen lässt, sprechen wir lieber davon, dass die Anwendung des
Nabla-Operators der Funktion u oder v ∈ Rm eine neue Entfaltungsrichtung hinzu-
fügt. In Gl. A.1 ist diese neue Entfaltungsrichtung vertikal, in Gl. A.2 horizontal, und
bei der Anwendung auf eine matrixwertige Funktion ist die neue Entfaltungsrichtung
die Tiefe.
Genügende Glattheit vorausgesetzt, nennen wir ∇u den Gradienten von u. Er
zeigt innerhalb des Definitionsbereichs in Rd in die Richtung des steilsten Anstiegs
von u. Die Richtungsableitung einer genügend glatten Funktion u : Rd → R oder
v : Rd → Rm ist
∂u ∂v
= ∇u · n bzw. = ∇v · n. (A.3)
∂n ∂n
In Gl. A.3 erkennen wir die wunderbare Vereinfachung, die uns der Begriff der Entfal-
tungsrichtung beschert. Das Skalarprodukt ∇u · n kontrahiert den d-dimensionalen
Vektor ∇u mit dem d-dimensionalen Richtungsvektor n ∈ Rd , und es entsteht
ein Skalar. Im Falle ∇v · n steht dort ein Matrix-Vektor-Produkt aus der Matrix
∇v ∈ Rm×d und dem Vektor n ∈ Rd . Dieses besteht aus Skalarprodukten der Zeilen
von ∇v, also längs der Entfaltungsrichtung, und dem Vektor n. Es kontrahiert die
Entfaltungsrichtung, und schließlich entsteht ein Vektor ∇v · n ∈ Rm . Wir sehen,
dass wir die Interpretation des Punktes aus dem Skalarprodukt als Kontraktion an
weiteren Stellen verwenden können.
Anhang A Der Integralsatz von Gauß und andere Werkzeuge 241
Wir finden das Skalarprodukt zwischen dem Nabla-Operator und dem Vektorfeld
in der eindimensionalen Größe ∇ · v = v1,1 + . . . + vd,d ∈ R1 wieder. Für Skalar-
felder, also skalarwertige Funktionen u : Rd → R mit d > 1, ist der Begriff der
Divergenz nicht sinnvoll.
Die Divergenz beschreibt für ∇ · v das Auseinanderlaufen des durch v beschrie-
benen Stroms, und von dem Auseinanderlaufen, also dem Divergieren, des Stroms
hat sie ihren Namen. Zwei Dinge sollten wir dieser Divergenz nicht antun: Erstens
sollten wir sie niemals mit der Konvergenz von Folgen näher zusammenbringen,
als die Ähnlichkeit der Wörter des Zusammenlaufens und des Auseinanderlaufens
besagt. Zweitens sollten wir uns nicht die Arroganz anmaßen, den Punkt · in Gl. A.4
wegzulassen, der die Kontraktion der Richtungen beschreibt, denn die Divergenz
∇ · v ∈ R1 und der Gradient ∇v ∈ Rd×d sind zwei sehr verschiedene Konstrukte.
Schließlich nutzen wir den Laplace-Operator
∂2 ∂2
=∇ ·∇ = + . . . + , (A.5)
∂ x12 ∂ xd2
welcher nach Pierre-Simon Marquis de Laplace (1749 bis 1825 in Paris) be-
nannt ist und dessen Anwendung die Summe der zweiten partiellen Ableitungen
bildet. Wir haben also u = u ,11 + . . . + u ,dd . In dieser einfachen Weise wirkt
der Laplace-Operator komponentenweise auf vektorwertige Funktionen, sodass
die j-te Komponente von v gerade v j ist. Verdeutlichen Sie dies, indem Sie
v = ∇ · ∇v als Nacheinanderausführung von Gradient und Divergenz komponen-
tenweise aufschreiben.
Dann bleibt noch, die Rotation rot v = ∇ × v als Anwendung des Nabla-Operators
auf ein dreidimensionales Vektorfeld v : R3 → R3 im Sinne des Kreuz- oder
Vektorprodukts zu erwähnen. Die Rotation beschreibt die Drehachsen und die Stärke
der Verwirbelung des Vektorfelds.
A.2 Transformationssatz
ψ(b) b
f (y) dy = f (ψ(x))ψ (x) dx und f (y) dy = f (ψ(x))ψ (x) dx
ψ(a) a
(A.6)
242 Anhang A Der Integralsatz von Gauß und andere Werkzeuge
für unbestimmte bzw. bestimmte Integrale. Dabei ist ψ eine monoton wachsende
Funktion, und unter der Voraussetzung genügender Glattheit gilt dy = ψ (x) dx.
Die mehrdimensionale Analogie zur Integration mittels Substitution liefert der
Transformationssatz, der manchmal auch als Transformationsformel bezeichnet
wird. Wir verwenden dazu eine Koordinatentransformation ψ mit y = ψ(x), die
das d-dimensionale Gebiet ⊂ Rd genügend glatt und bijektiv auf ein anderes
d-dimensionales Gebiet abbildet, d. h., die Koordinatentransformation ψ : → Rd
−1
und ihre Umkehrabbildung ψ : ψ( ) → sollen stetig differenzierbar sein. Un-
ter diesen Voraussetzungen nennen wir ψ einen Diffeomorphismus.
In großer Ähnlichkeit zu Gl. A.6 besagt die Transformationsformel
wobei die letzte Notation sehr kühn ist und in ihrer Verwendung große Disziplin und
Tapferkeit erfordert. Davon sei abgeraten. Häufig sind die ausführlicheren Schreib-
weisen bei mehrdimensionalen Rechnungen nachvollziehbarer.
Das infinitesimale Flächenelement dax = dx1 dx2 ist in den x-Koordinaten recht-
eckig. Unter der Koordinatentransformation ψ wird es – gemessen in x-Koordinaten –
zu einem Parallelogramm, das von (ψ1,1 , ψ2,1 )T dx1 und (ψ1,2 , ψ2,2 )T dx2
aufgespannt ist, vgl. Gl. A.8 und Ihre selbst angefertigte Skizze. Damit ist der Inhalt
des infinitesimalen Flächenelements in x-Koordinaten
mit | det ∇ψ| = r cos2 ϕ + r sin2 ϕ = r und dy1 dy2 = day = r dax = r dr dϕ.
Damit berechnen wir beispielsweise
∞
⎛ ∞
⎞2 ∞ ∞
√
−z 2
dz = π mit ⎝ −z 2
dz ⎠ = e−(y1 +y2 ) dy1 dy2 ,
2 2
e e
−∞ −∞ −∞ −∞
indem wir in Polarkoordinaten über die Ebene = {(r, ϕ) : r ∈ [0, ∞), ϕ ∈ [0, 2π)}
integrieren. Wir nutzen ψ( ) = R2 und erhalten
∞ 2π ∞
−(y12 +y22 ) −r 2
r e−r dr = π,
2
e da = e r dϕdr = 2π
R2 0 0 0
wobei wir das letzte Integral mittels der Substitution z = r 2 leicht ausrechnen.
Bemerkung Schließlich erwähnen wir die Verallgemeinerung, dass eine Abbildung
ψ : → Rm mit m > d, die ⊂ Rd auf eine im Allgemeinen d-dimensionale
Mannigfaltigkeit im Rm abbildet, das infinitesimale Flächenelement der Größe
Abb. A.1 zeigt ein konvexes zweidimensionales Gebiet und exemplarisch Außen-
normalen an unterschiedlichen Punkten. Wir besprechen die partielle Integration hier
an dem zweidimensionalen konvexen Gebiet
= (x1 , x2 )T ∈ R2 : x1 ∈ (x 1 , x 1 ), x2 ∈ (x 2 (x1 ), x 2 (x1 ))
mit dem oberen Randstück , das durch die konkave Randkurve x2 = x 2 (x1 ) be-
schrieben ist, und dem unteren Randstück , das durch die konvexe Randkurve
x2 = x 2 (x1 ) beschrieben ist.
Am oberer Rand notieren wir den Tangentialvektor t aus seinem Steigungs-
dreieck und bestimmen dann die Außennormale n an das Gebiet . Dazu nutzen wir
t · n = 0, weil die Normale senkrecht auf der Tangente steht. Außerdem zeigt sie
nach außen, am oberen Rand also nach oben. Schließlich normieren wir sie auf die
Länge 1 und erhalten
1 n1 −x 2 (x1 ) 1
t= und n = = (A.9)
x 2 (x1 ) n2 1
1 + x 2 (x1 )2
in Abhängigkeit von x1 und damit vom Punkt x = (x1 , x 2 (x1 ))T . Da wir einen genü-
gend glatten Rand vorausgesetzt hatten, ist die Funktion x 2 = x 2 (x1 ) differenzier-
bar. Die Wurzel unter dem Bruchstrich entsteht aus der Normierung der Normalen
n. Entsprechend finden wir am unteren Rand die Ausdrücke
1 x 2 (x1 ) 1
t= und n = . (A.10)
x 2 (x1 ) −1
1 + x 2 (x1 )2
Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung liefert für die Integration der
partiellen Ableitung u ,2 bezüglich x2 über einen senkrechten Schnitt, wie er in
Abb. A.1 gepunktet dargestellt ist, längs einer festen x1 -Koordinate
Anhang A Der Integralsatz von Gauß und andere Werkzeuge 245
x 2 (x1 )
und damit
x 1 x 2 (x1 ) x1 x1
Ganz rechts stehen hier Integrale, die u entlang des oberen und entlang des unteren
Randes auswerten, in denen aber bezüglich dx1 integriert wird.
Wir ersetzen sie durch Kurvenintegrale entlang und . Das Linienelement auf
ist ds = 1 + x 2 (x1 )2 dx1 , und auf gilt ds = 1 + x 2 (x1 )2 dx1 . Wir finden die
Normierungsterme aus Gl. A.9 und A.10 wieder. Das ist kein Zufall, denn das Stei-
gungsdreieck des Tangentialvektors ist ähnlich zum rechtwinkligen Dreieck mit den
Katheten n 1 und n 2 am Normalenvektor. Nach der Überführung in Kurvenintegrale
und Nutzung von n 2 aus Gl. A.9 und A.10 entsteht
u ds u ds
u ,2 da = − = un 2 ds − u · (−n 2 ) ds.
1 + x 2 (x1 )2 1 + x 2 (x1 )2
u ,2 da = un 2 ds (A.11)
für jedes j = 1, . . . , d, die in dieser Form eher dem Hauptsatz der Differential- und
Integralrechnung ähnelt. Ihren Namen als partielle Integration hat sie sich erst mit
246 Anhang A Der Integralsatz von Gauß und andere Werkzeuge
d
d
d
∇ · v da = v j, j da = v j, j da = v j n j ds = v · n ds
j=1 j=1 j=1∂ ∂
∇ · v da = v · n ds, (A.13)
∂
der an vielen Stellen sehr nützlich ist. In Gl. A.13 steht links das Integral über die
Quellen und Senken des Flusses v. Es beinhaltet die Gesamtproduktion an Material
im Innern, die sich aus dem gegebenen Fluss v ergibt. Rechts steht das Integral des
Transports über den Rand ∂ , den der Fluss v realisiert, denn v · n = nT v ist die
Komponente des Flusses, die senkrecht auf dem Rand steht, sodass der Fluss gemäß
dieser Normalkomponente Material über den Rand transportiert.
Der Gauß’sche Integralsatz stellt für jeden genügend glatten Fluss – und hier
reicht Differenzierbarkeit – einen Zusammenhang zwischen dem Flächen- bzw. in
Dimensionen d > 2 Volumenintegral über dem Gebiet und dem Linien- oder
Oberflächenintegral über ∂ her. Er verbindet das Integral der Divergenz, die Ablei-
tungen der Komponenten des Flusses v enthält, über dem d-dimensionalen Gebiet
mit dem Integral der Normalkomponente von v, die keine Ableitungen von v enthält,
über der (d − 1)-dimensionalen Mannigfaltigkeit ∂ . Die Ableitung ist im übertra-
genen Sinne vom linken Integranden als ∂ an das Integrationsgebiet der rechten Seite
gewandert. Dies motiviert zu Teilen die Bezeichnung ∂ für den Rand.
Da sich die Produktion im Innern und der Gesamttransport über den Rand ∂
die Waage halten, können wir davon sprechen, dass der Gauß’sche Integralsatz in
Gl. A.13 die Masseerhaltung des im Fluss v transportierten Materials enthält. Wenn
es sich um einen Energiestrom wie beispielsweise bei der Wärmeleitung handelt, so
enthält Gl. A.13 entsprechend die Energieerhaltung.
Diese physikalische Erhaltungseigenschaft eines Flusses im Gebiet ergibt sich
aus den rein mathematischen Überlegungen zur partiellen Integration und verwendet
keine eigentlich physikalischen Betrachtungen. Der schöne und wichtige Integralsatz
in Gl. A.13 ist nach Johann Carl Friedrich Gauß (1777 in Braunschweig bis 1855 in
Göttingen) benannt.
Beispiel Wir rechnen an einem theoretischen Beispiel die beiden Seiten
des Gauß’schen Integralsatzes nach. Gegeben sei der Fluss v : R2 → R2 mit
Anhang A Der Integralsatz von Gauß und andere Werkzeuge 247
v(x) = (2x1 , x2 )T . Der Fluss fließt also vom Ursprung weg auseinander. Seine Rich-
tungsvektoren sind zur x1 -Achse abgelenkt. Zeichnen Sie das Richtungsfeld im
(x1 , x2 )-Diagramm. Wenn wir die Pfeile als Geschwindigkeiten interpretieren, hat
v die physikalische Einheit [ms−1 ].
Die Divergenz des Vektorfelds v ist ∇ · v = 3 mit der Einheit [ms−1 /m] = [s−1 ],
weil wir in der Divergenzbildung die Geschwindigkeiten nach einer Ortskomponente
ableiten.
Das Gebiet = {x ∈ R2 : x < 1} sei eine Kreisscheibe mit dem Rand
∂ = {x ∈ R : x = 1}. Ergänzen Sie Ihre Skizze um das Gebiet . Die Außen-
2
normale an das Kreisgebiet zeigt genau in Richtung der Ortsvektoren des Rands. Sie
ist n = x = (x1 , x2 )T und erfüllt wegen x ∈ ∂ die Normierung n = 1. Während
die Orte x die Einheit [m] haben, ist die Normale n als normierte Größe einheitenlos.
Die Normalkomponente des Flusses auf ∂ ist v · n = (2x1 , x2 )T · (x1 , x2 )T =
2x1 + x22 in der Einheit [ms−1 · 1] = [ms−1 ]. Da auf dem Rand x 2 = x12 + x22 = 1
2
2π
und zwar auf beiden Seiten in der Einheit [m2 s−1 ], denn auf der linken Seite wird
∇ · v mit der Einheit [s−1 ] bezüglich des Flächenelements da mit der Einheit [m2 ]
integriert, und auf der rechten Seiten wird v · n mit der Einheit [ms−1 ] bezüglich des
Längenelements ds mit der Einheit [m] integriert.
d
∂
d
∇ · v = ∇ · (u∇w) = (uw, j ) = u , j w, j + uw, j j = ∇u · ∇w + uw,
∂x j
j=1 j=1
∂w
v · n = u∇w · n = u .
∂n
248 Anhang B Symbole
Das Einsetzen in den Gauß’schen Integralsatz in Gl. A.13 liefert die erste Green’sche
Formel
∂w
∇u · ∇w da + uw da = u ds. (A.14)
∂n
∂
Die Vertauschung der beiden skalaren Funktionen u und w macht aus Gl. A.14 die
Gleichung
∂u
∇u · ∇w da + wu da = w ds,
∂n
∂
die wir von Gl. A.14 abziehen, um zur zweiten Green’schen Formel
∂w ∂u
uw − wu da = u −w ds (A.15)
∂n ∂n
∂
zu gelangen.
Die zweite Green’sche Formel enthält eine Symmetrieeigenschaft, denn der
Laplace-Operator steht auf der linken Seite einmal an u und einmal an w. Eine
Aussage, die wir aus Gl. A.15 ablesen können, besteht darin, dass sich das Integral
der Differenz uw − wu durch ein Integral über den Rand ausdrücken lässt, das
folglich nur Werte der Funktionen u und w und ihrer Normalenableitungen auf dem
Rand enthält.
Natürlich ist die Differenz uw − wu im Allgemeinen im Innern von keines-
wegs null, und es ist etwas Besonderes, dass sie sich durch Randterme ausdrücken
lässt. Für andere Differentialoperatoren als den Laplace-Operator gelten ähnliche
Eigenschaften nicht zwangsläufig. Differentialoperatoren wie , die eine Symme-
trieeigenschaft wie in Gl. A.15 haben, heißen selbstadjungiert. Glücklicherweise sind
viele in realistischen Anwendungen auftretende Differentialoperatoren selbstadjun-
giert, sodass wir die Betrachtungen aus Kap. 13 analog für den Lamé-Operator, der
elastische Verformungen beschreibt, und viele andere Differentialoperatoren anwen-
den können.
Anhang B Symbole
• u, x, t, λ, γk , …
skalare Größen, hier: gesuchte Größe, Ort, Zeit, Eigenwert, Fourier-Koeffizient,
• x, v, I, u, …
vektorielle Größen, hier: Ort, Geschwindigkeit, Fluss, Verschiebung,
• A ∈ Rd×d , K ∈ Rn×n , …
Matrizen, hier: Materialparameter, Beispielmatrix,
• spec A
Spektrum von A, Menge der Eigenwerte spec A = {λ : ∃v = 0 : Av = λv},
• d
Raumdimension, ⊂ Rd , x ∈ Rd ,
• d
Differential,
• D
Differentialoperator,
• J
Funktional, d. h. Abbildung von einem Vektorraum in R,
• ωk ∈ R, Uk = Uk (x)
k-te Eigenfrequenz, k-te Eigenform, vgl. Abschn. 3.4 und 5.2.3,
• , ∂ = , ¯ = ∪∂
Gebiet, d. h. offen, beschränkt und zusammenhängend, Rand, Abschluss,
• | |, | |
Inhalt des Gebiets , bzw. des Rands, für d = 2 Länge des Rands,
• n
Außennormale,
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 249
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4
250 Anhang B Symbole
• Bd = {x ∈ Rd : x < 1} ⊂ Rd , Sd = |∂ Bd |
d-dimensionale Einheitskugel, Oberflächeninhalt von Bd , vgl. Abschn. 10.1.
Sachverzeichnis
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2018 251
D. Langemann und C. Reisch, So einfach ist Mathematik – Partielle
Differenzialgleichungen für Anwender, https://doi.org/10.1007/978-3-662-57502-4
252 Sachverzeichnis
I P
inkompressible Flüssigkeit, 58 Partikel, 39
Integration, partielle, 245 Plattenbiegung, 55
Poisson-Gleichung, 78, 141, 206
K Polarkoordinaten, 124, 243
klassische Lösung, 89, 215 Potential, 57
Koeffizientenvergleich, 132 Potentialfunktion, 132, 207
konstitutive Gleichung, 18 potentielle Energie, 34, 211
Kontinuitätsgleichung, 22 Produktansatz, 105
Konvektion, 6, 58
konzentrierte Kraft, 181, 197 Q
Koordinatentransformation, 124, 242 Querkontraktionszahl, 55, 66
Koordinatenunabhängigkeit, 38, 62
Kraftdichte, 35 R
Rand, 3
L Randbedingung, 23
Lagrange-Koordinaten, 43, 70 homogene, 9
Lamé-Konstanten, 65 inhomogene, 113
Lamé-Operator, 70 natürliche, 24
Längendichte, 32 Randwertproblem, 27, 69
Langzeitverhalten, 111 Referenzkonfiguration, 60
Laplace-Gleichung, 78, 120, 129, 186 Referenzkoordinaten, 39
Laplace-Operator, 38, 241 Richtungsableitung, 240
Lebesgue-Raum L 2 ( ), 93 Ritz-Galerkin-Verfahren, 231
L 2 -Norm, 94 Robin-Randbedingung, 7
Lokalität, 188 Rotation, 241
Longitudinalwellen, 39
Lösbarkeitsbedingung, 27, 225 S
Saite, 30
M eingespannte, 33
Masseerhaltung, 10, 25, 246 stationäre, 37
Massematrix, 236 Satz von Fischer-Riesz, 100, 217
Material Schallgeschwindigkeit, 147
anisotropes, 20 schwache Ableitung, 218
Sachverzeichnis 253