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Psychologie. Hirnforschung. Medizin.

Nr. 04/2019 € 7,90 · 15,40 sFr. · www.gehirn-und-geist.de

Serienstart
Neue Methoden
der Hirnforschung

Intelligenz
Ein Maß für den Lebenserfolg?
D 575 25

Berufswahl Wissensillusion Antidepressiva


Herausfinden, Wir halten uns für schlauer, Machen sie
was einem wirklich liegt als wir sind Patienten abhängig?
THEMEN AUF DEN PUNKT GEBRACHT
Ob A wie Astronomie oder Z wie Zellbiologie: Unsere Spektrum KOMPAKT-Digitalpublikationen stellen Ihnen alle
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EDITORIAL

Wegweiser des Erfolgs I N D I E S E R AU S G A B E

m letzten Jahr stellten wir Ihnen in einer Titelgeschichte das

I Grit-Konzept der Amerikanerin Angela Duckworth vor


(Gehirn&Geist 6/2018, S. 12). Ihm zufolge entscheidet unser
Durchhaltevermögen – so die deutsche Umschreibung von

CHRISTIAN WIND
»grit« – wesentlich mit über den Lebenserfolg. Aus eigenen
Studienergebnissen folgert die Psychologin von der University
of Pennsylvania, dass sogar der Intelligenzquotient – immerhin
unsere bestuntersuchte Persönlichkeitseigenschaft überhaupt –
Leistungen in Schule und Beruf möglicherweise weniger gut
Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer
vorhersagt als die Hartnäckigkeit und Leidenschaft, über die ein
erläutern ab S. 12, was Intelligenz ist
Mensch verfügt. So schnitten 7- bis und warum sie mehr über uns aussagt als
15-Jährige in einem Sprachwettbewerb andere Persönlichkeitsmerkmale.
umso besser ab, je höhere Grit-Werte
sie erzielten. Ihr IQ ebenso wie ihre
Selbstkontrolle erlaubten laut dieser
Studie nur schwächere Vorhersagen.
Kurz nachdem das Heft erschienen
war, erhielt ich eine nette E-Mail von
der renommierten Lernforscherin
Elsbeth Stern, die auch dem wissen-
schaftlichen Beirat von »Gehirn&Geist«
Carsten Könneker Andrew Murray
angehört. Mit Interesse habe sie den
Chefredakteur vom Sainsbury Wellcome Centre for Neural
koenneker@spektrum.de ausgewogenen Beitrag gelesen, wolle
Circuits and Behaviour in London kartiert
aber anmerken, dass auf Grundlage
Hirnschaltkreise, indem er veränderte
sämtlicher Studien zur Frage der Vor- Tollwutviren in Neurone einschleust. Ab S. 40
hersagbarkeit von Leistung und Lebenserfolg Grit die allgemei- erklärt er die ausgefallene Methode.
ne Intelligenz keineswegs ausstechen könne. Unsere individuelle
Beharrlichkeit trete lediglich dann hervor, wenn Psychologen
Personen mit ähnlichen Intelligenzwerten betrachteten. Es
bedurfte keiner langen Diskussion: Umgehend luden wir die
Expertin von der ETH Zürich ein, das ganze Bild für uns zu
zeichnen. Sie finden ihren gemeinsam mit dem Grazer Psycho-
logen Aljoscha Neubauer verfassten Beitrag ab S. 12.
Egal wie gut die Leistungen und wie hoch der IQ – jedem
stellt sich einmal die Frage nach dem richtigen Einstieg in ein
erfolgreiches Berufsleben. Aktuell stehen wieder hunderttausen- Larissa Arning-Bünder
de Schulabgänger vor dieser Entscheidung. Die Bologna-Reform von der Ruhr-Universität Bochum
berichtet ab S. 72 von einem neuartigen
bescherte uns einen Reichtum von sage und schreibe rund
Huntington-Medikament, das ihre
10 000 Bachelor-Studiengängen allein in Deutschland; hinzu Kollegen am Huntington Zentrum NRW
kommen mehr als 300 verschiedene Ausbildungsberufe. Unser erstmals an Patienten getestet haben.
Autor Joachim Retzbach sprach mit Menschen, die mehr als eine
Karriere wagten, und sichtete die Literatur. Ab S. 22 erläutert er,
wie man eigene Neigungen erkennen und mit Jobanforderungen
sowie persönlichen Werten in Einklang bringen kann.

Eine erhellende Lektüre wünscht


Ihr

GEHIRN&GEIST 3 04_2019
IN DIESER AUSGABE

LINKS: SOUTH_AGENCY / GETTY IMAGES / ISTOCK;


MITTE: ZUCKERMAN INSTITUTE, COLUMBIA UNIVERSITY,
MIT FRDL. GEN. VON ANDREW MURRAY;
RECHTS: BLUECLUE / GETTY IMAGES / ISTOCK
Psychologie Hirnforschung Medizin
Serie »Neue Methoden der
Hirnforschung« Teil 1

Schulabschluss – Per Tollwut Die dunkle Seite der


und dann? ins Gehirn Stimmungsaufheller
22 Soll man einen Beruf lernen,
der einem Spaß macht?
Oder einen, der ein stabiles Ein-
40 Tollwutviren arbeiten sich
von einer Bisswunde bis
in das Gehirn ihres Opfers vor,
64 Viele Menschen, die ein
Antidepressivum einnehmen,
berichten von starken Entzugser-
kommen sichert? Die Frage ist für indem sie von Neuron zu Neuron scheinungen wie Unruhe oder einem
viele junge Menschen belastend – wandern. Forscher nutzen jetzt Kribbeln am ganzen Körper, wenn
Selbsttests und psychologische gentechnisch veränderte Erreger, sie versuchen, das Mittel abzusetzen.
Beratung können bei der Entschei- um damit Hirnschaltkreise zu Machen die Substanzen abhängig?
dung helfen. kartieren. Wie kann man Betroffenen helfen?
Von Joachim Retzbach Von Andrew J. Murray Und was sind die Behandlungs-
alternativen?
30 Wir wissen viel weniger, 48 Der neuronale Von Janosch Deeg
als wir glauben Gefühlscode
Menschen überschätzen ihre Per Bildgebung können Neurowis- 72 Biomoleküle gegen
Kenntnisse in praktisch allen senschaftler unsere Emotionen Huntington
Bereichen systematisch. Diese inzwischen direkt aus dem Gehirn Eine Person, die an Morbus Hun-
Wissensillusion ist für den mensch- ablesen – und so vorhersagen, ob tington erkrankt, hat nur wenige
lichen Fortschritt unerlässlich, jemand glücklich, ängstlich, traurig Therapieoptionen, und keiner der
denn sie spornt uns an. oder wütend ist. erhältlichen Wirkstoffe bekämpft die
Von Steven Sloman und Philip Fernbach Von Serge Stoléru neurodegenerative Krankheit an
ihrer Wurzel. Ein neues Medikament,
36 Die größten 52 Die Ästhetik des das gerade an Menschen getestet
Experimente Gehirns wird, könnte dies leisten – denn es
Im Bann der Gefühle Forscher und Künstler rücken das verhindert, dass sich toxisches
Die Mimik verrät, was unser Nervensystem in ein außergewöhn- Huntingtin-Protein im Gehirn von
Gegenüber im Innersten bewegt. liches Licht: eine spektakuläre Patienten ansammelt.
Doch woran genau machen wir das Auswahl von Kunstwerken zum Von Larissa Arning-Bünder
fest? Der US-amerikanische Thema »Neurowissenschaft«.
Psychologe Paul Ekman vermaß in Von Daniel Ackerman und Liz Tormes
den 1960er Jahren die nonverbale
Sprache der Emotionen.
Von Daniela Ovadia

GEHIRN&GEIST 4 04_2019
Editorial 3
Geistesblitze
u. a. mit diesen Themen: Wie wir
unter Druck die Nerven behalten /
Zu wenig Schlaf macht schmerz-
empfindlich / Alte Vorurteile
schwinden – mit einer Ausnah-
me / »Sporthormon« bremst
Alzheimersymptome 6
Therapie kompakt
Die fünf Arten der Schlafosig-
keit / Länger behandeln
bringt oft keinen Vorteil /
Cholesterinsenker helfen gegen
Schizophrenie 62
Bücher und mehr
u. a. mit: Julia F. Christensen,
Dong-Seon Chang: Tanzen ist
die beste Medizin / Daniel C.
Dennett: Von den Bakterien zu
Bach – und zurück 78
Impressum 85
TV- & Radiotipps 86
Vorschau 89
PHOTOCASE / ANDREAFLEISCHER

STEFFEN JÄNICKE; MIT FRDL. GEN. VON


ECKART VON HIRSCHHAUSEN

Titelthema
Hirschhausens Hirnschmalz
Eine Frage der Intelligenz Sei kein Vorbild! 90

12 Um den IQ ranken sich viele Mythen und Halbwahrheiten. Lesen


Sie, warum sich die Intelligenz des Menschen verlässlich messen
lässt und tatsächlich viel über unseren Lebensweg aussagt – und wes-
halb sie umso stärker genetisch bedingt ist, je gerechter es in der Gesell-
schaft zugeht.
Von Elsbeth Stern und Aljoscha Neubauer

20 Gute Frage
Werden wir immer klüger?
Der Psychologe Jakob Pietschnig erklärt, warum der Durchschnitts-IQ
Gehirn&Geist
Verpassen Sie keine Ausgabe!
der Weltbevölkerung seit Jahrzehnten stetig zunimmt.
www.gehirn-und-geist.de/abo
TITELBILD: YURII ZASIMOV / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: GEHIRN&GEIST

GEHIRN&GEIST 5 04_2019
GEISTESBLITZE
PIXFLY / GETTY IMAGES / ISTOCK

Sozialverhalten
Wie wir unter Druck die Nerven behalten

O
b wir nun den entscheidenden Elfmeter auf Um die Gefahr des »choking« abzumildern, gaben
dem Fußballfeld verschießen oder bei einem Dunne und seine Kollegen ihren Teilnehmern deshalb
wichtigen Vortrag ins Stottern geraten – oft in einem zweiten Durchlauf eine neue Strategie an die
versagen wir gerade dann, wenn besonders viel auf Hand: Statt ständig daran zu denken, dass sie die
dem Spiel steht. Fähigkeiten, die wir eigentlich Aufgabe meistern müssen, um eine hohe Belohnung zu
beherrschen, sind unter Druck plötzlich wie weg­ erhalten, sollten die Probanden sich vorstellen, sie
geblasen – ein Phänomen, das Forscher als »choking« wären bereits im Besitz der hohen Belohnung und
bezeichnen. würden nun dafür arbeiten, sie auch behalten zu
Einen interessanten Trick, wie sich solche Situatio­ dürfen. Diese umgekehrte Psychologie sorgte dafür,
nen in Zukunft vermeiden lassen, haben nun Wissen­ dass die Versuchspersonen im Anschluss tatsächlich
schaftler um Simon Dunne vom California Institute of weniger oft scheiterten.
Technology in Pasadena vorgestellt. Die Forscher Das spiegelte sich im Gehirn in der Aktivität des
ließen ihre Versuchspersonen im Hirnscanner eine ventralen Striatums wider, einer Region, die Forscher
Aufgabe erledigen, die einiges an motorischem Ge­ in früheren Untersuchungen bereits mit dem »cho­
schick und Koordinationsfähigkeit erforderte. Waren king« in Verbindung gebracht hatten. Zudem offenbar­
die Teilnehmer erfolgreich, winkte ihnen nach und ten Messungen der Hautleitfähigkeit, dass die Proban­
nach immer mehr Geld als Belohnung. Je höher der den im zweiten Durchlauf weniger Stress empfanden,
Betrag ausfiel, desto höher war allerdings die Wahr­ wenn sie doch einmal versagten. Offenbar half die
scheinlichkeit, dass die Probanden plötzlich dem neue Herangehensweise, den Druck aus der Situation
»choking« zum Opfer fielen und nichts mehr ging. Das zu nehmen.
war aus ähnlichen Untersuchungen bereits bekannt. Soc. Cogn. Affect. Neurosci. 14, S. 13–22, 2019

GEHIRN&GEIST 6 04_2019
Kommunikation
Algorithmus übersetzt Hirnaktivität in Sprache

F
orscher um Hassan Akbari von der Columbia konnten neue Versuchspersonen die Aussagen des
University in New York haben ein System entwi- Vocoders in 75 Prozent der Fälle korrekt wiederholen.
ckelt, das die Hirnaktivität einer Person ausliest Demnächst wollen Akbari und seine Kollegen
und in verständliche gesprochene Worte umwandelt. überprüfen, ob ihr Vocoder auch komplexere Wörter
Dafür spielten sie zunächst Epilepsiepatienten, denen und womöglich sogar ganze Sätze aus der Hirnaktivität
bereits Elektroden ins Gehirn eingepflanzt worden einer Person ableiten und in gesprochene Worte
waren, Sätze vor, die unterschiedliche Personen ge­ übersetzen kann. Außerdem wollen sie ihr System mit
sprochen hatten. Währenddessen maßen sie die Hirn­ jenen Aktivitätsmustern testen, die im Gehirn entste­
aktivität der Teilnehmer und nutzten diese Daten, um hen, wenn jemand selbst spricht oder sich lediglich
einen Vocoder zu trainieren: einen Computeralgorith­ vorstellt, etwas Bestimmtes zu sagen. Das Ziel der
mus, der gesprochene Sprache synthetisieren kann. Forscher ist es, auf diesem Weg irgendwann einmal
Im zweiten Schritt wiederholten die Forscher die Gedanken mit Hilfe eines technischen Geräts direkt in
Übung mit Zahlen von null bis neun. Ein künstliches Sprache umzuwandeln – und so vielleicht all jenen
neuronales Netz verbesserte den Output des Pro­ Menschen ihre Stimme zurückzugeben, die auf Grund
gramms dann noch einmal, so dass es am Ende von schweren Erkrankungen weder sprechen noch sich
tatsächlich Zahlenwörter ausspuckte, die einigermaßen bewegen können.
gut zu verstehen waren. In einem separaten Test Sci. Rep. 9, 874, 2019

Nachtruhe
Zu wenig Schlaf macht schmerzempfindlich

W
er nachts nicht genügend Schlaf bekommt, ger Bestandteil des neuronalen Belohnungssystems ist,
ist am nächsten Tag in der Regel nicht nur das über die Ausschüttung von Neurotransmittern
müder, sondern reagiert auch intensiver auf Schmerzen dämpfen kann. »Schlafmangel verstärkt
Schmerzreize. Das berichtet ein Team um Adam J. also nicht nur die Aktivität von Hirnregionen, die
Krause von der University of California in Berkeley. Schmerzen wahrnehmen, er blockiert gleichzeitig auch
Die Forscher untersuchten das Schmerzempfinden von jene Zentren, die für die Schmerzlinderung zuständig
25 gesunden Versuchsteilnehmern, während diese im sind«, schlussfolgert Studienautor Matthew P. Walker.
Hirnscanner lagen. Dazu verabreichten sie ihnen am Eine Onlineuntersuchung mit 230 Erwachsenen, die
Bein immer stärker werdende Hitzereize, welche die mehrere Tage lang über ihr Schlafpensum und ihre
Probanden im Schnitt ab einer Temperatur von knapp Schmerzempfindlichkeit Buch führten, zeigt zudem,
44 Grad Celsius als unangenehm empfanden. dass der Effekt im Alltag ebenfalls aufzutreten scheint:
Anschließend hielten die Wissenschaftler die Ver­ Schon geringfügige Verschiebungen in unserem Schlaf­
suchspersonen im Schlaflabor eine Nacht lang wach wach­Rhythmus beeinflussen offenbar, wie gut wir
und wiederholten am nächsten Tag das Hitzeexperi­ physisches Leid wegstecken.
ment. Nun begannen die Teilnehmer im Mittel bereits Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen damit,
ab einer Temperatur von 41,6 Grad Celsius von was unter anderem Versuche an Mäusen bereits
leichten Schmerzen zu berichten. erahnen ließen. Die Wechselwirkung von Schlaf und
Die Ursache dafür meinen Krause und seine Kol­ Schmerz könnte vor allem für Patienten mit chroni­
legen im Gehirn der Probanden ausgemacht zu haben: schen Schmerzen in einen Teufelskreis münden: Min­
Bei Schlafmangel reagierte der somatosensorische destens ein Viertel der Betroffenen leidet gleichzeitig
Kortex, der eine zentrale Rolle bei der Schmerzwahr­ an einer ausgewiesenen Schlafstörung, wie Daten der
nehmung spielt, heftiger auf die Hitzereize als im US­amerikanischen National Sleep Foundation nahe­
ausgeschlafenen Zustand. Gleichzeitig nahm die legen. Guter Schlaf, argumentieren die Forscher, sollte
Aktivität in der Inselrinde und im Nucleus accumbens deshalb auf allen Ebenen noch stärker in das Zentrum
ab. Die Insula ist an der Bewertung von Schmerzen medizinischer Bemühungen gerückt werden.
beteiligt, während der Nucleus accumbens ein wichti­ J. Neurosci. 10.1523/JNEUROSCI.2408-18.2018, 2019

GEHIRN&GEIST 7 04_2019
Nervensystem
Signalverarbeitung bei Mensch und Makak

I
n Aufbau und Funktionsweise ähneln sich die Bei Menschen hingegen schien die Abfolge des
Gehirne von Menschen und Rhesusaffen stark. Wie Feuerns eher durch die Kombination mehrerer Muster
kommt es also, dass Menschen viel intelligenter zu entstehen. Im Vergleich zum Makakenhirn operiere
sind als Makaken? Eine Antwort haben Wissenschaft­ das Menschenhirn weniger synchron und dadurch
ler nun in der »neuronalen Software« beider Spezies effizienter, so Paz und Kollegen. Schneller zwischen
gesucht – und dabei einen aufschlussreichen Unter­ Mustern umschalten oder gar mehrere gleichzeitig
schied entdeckt. verarbeiten zu können, mache das Gehirn des Men­
Um das Verhalten der Nervenzellen zu beobachten, schen flexibler und erlaube eine differenziertere Reak­
zeichnete das Team um Rony Paz vom Weizmann tion auf Reize. Der Preis dafür sei jedoch eine höhere
Institute of Science im israelischen Rehovot bei fünf Störanfälligkeit. Wie Paz erklärt, könnten bei Men­
Affen und sieben Menschen die elektrische Aktivität schen psychische Störungen zu den Folgen unserer
einzelner Nervenzellen auf; insgesamt 750 Neurone »effizienteren«, also flexiblen Signalverarbeitung
flossen in die Auswertung ein. Bei beiden Spezies zählen.
feuerten die Nervenzellen immer mehr oder weniger Offen bleibt dabei, ob sich die beobachteten
stark im Gleichschritt. Im Detail offenbarten sich Unterschiede auch in anderen Hirnregionen zeigen –
allerdings Unterschiede: Bei den Makaken war dieser die Forscher zeichneten Nervenzellen nur in der
Gleichklang ausgeprägter; die Muster, in denen die Amygdala und im Zingulum auf. Zudem ist unklar,
Zellen feuerten, wiederholten sich häufiger als bei den wie genau die Nervenzellverbände das Gleichgewicht
Menschen. Das mache die Signalverarbeitung der zwischen Robustheit und Effizienz einstellen.
Makaken »robust«, wie es die Forscher nennen. Cell 176, S. 597–609, 2019

Verhaltensforschung
Nervöses Vollblut, gelassenes Kaltblut

E
ine Studie von Jill Sackman von der Tierklinik Schnitt am meisten Neugier und Kontaktfreude, die
in Southfield, Michigan, und Katherine Houpt verbreiteten American Quarter Horses und so genann­
von der Cornell University untersuchte Verhal­ ten Kaltblüter hingegen am wenigsten. Am nervöses­
tensweisen von Pferden. Rund 850 Pferdehalterinnen ten waren demnach Vollblüter und Araber, außerdem
und ­halter hatten online 25 Fragen zu ihrem Huftier Saddlebreds und Walking Horses. Die Autorinnen
beantwortet, darunter, wie gern es mit Artgenossen vermuten hinter Neugier und Nervosität gemeinsame
spiele, wie es auf fremde Menschen zugehe, wie Erbanlagen: Bei Vollblütern habe man schon einen
bereitwillig es sich bürsten lasse und wie es neue Zusammenhang mit dem Dopaminrezeptor­D4­Gen
Gegenstände im Stall erkunde. gefunden. Jahrhunderte organisierter Zucht hätten die
Die Antworten ließen sich statistisch auf drei Erbanlagen für das Temperament moderner Pferde­
Eigenschaften reduzieren: Neugier, Nervosität und rassen tief greifend beeinflusst.
Bedrohlichkeit, schreiben Sackman und Houpt. »Diese J. Equine Vet. Sci. 72, S. 47–55, 2019
drei Komponenten liegen der individuellen Persönlich­
KONDAKOV / GETTY IMAGES / ISTOCK

keit eines Pferds zu Grunde.« Die Begriffe führen


allerdings ein wenig in die Irre. So verbirgt sich hinter
dem Label Neugier zudem freundliches und verspieltes
Verhalten; Bedrohlichkeit umfasst neben Drohgebaren
stures Verhalten, und zu Nervosität ge­
hört neben Ängstlichkeit und Erregbarkeit auch die
Schwierigkeit, sich an Neues zu gewöhnen.
»Ponys waren unter den Pferden mit der am wenigs­
ten nervösen Persönlichkeit«, stellten die Tierme­
dizinerinnen fest. In den Augen ihrer Halterinnen und
Halter zeigten außerdem Araber und Vollblüter im

GEHIRN&GEIST 8 04_2019
GEISTESBLITZE

UNSPLASH / STANLEY DAI (UNSPLASH.COM/PHOTOS/IFGFTNPTVAW)

Stereotype
Alte Vorurteile schwinden – mit einer Ausnahme

M
ögen Sie Heterosexuelle lieber als Homo- und das galt für Befragte aller Generationen. Auch
sexuelle? Die Zahl derer, die diese Frage explizite und implizite rassistische Einstellungen
bejahen würden, nimmt in den USA seit nahmen ab. Rückläufig waren ebenfalls offen geäußerte,
Jahren ab. Ebenso ist es bei Fragen, die die Einstellung nicht aber unbewusste negative Einstellungen gegen­
gegenüber Menschen mit Behinderung oder mit über Älteren oder Menschen mit Behinderung. Beim
dunkler Hautfarbe, gegenüber Älteren oder Überge- Thema Übergewicht entwickelten sich offene und
wichtigen erfassen. Doch bei den unbewussten versteckte Vorlieben sogar gegenläufig: Unbewusste
Vorurteilen sieht es anders aus, wie Tessa Charlesworth negative Assoziationen mit Übergewicht, vor allem
und Mahzarin Banaji von der Harvard University rundlichen Gesichtern, nahmen mit den Jahren zu,
entdeckten. und das unabhängig vom eigenen Körpergewicht.
Die Psychologinnen analysierten Online-Umfrage- Besonders deutlich war der Effekt bei den jüngsten
daten und Testergebnisse von mehr als vier Millionen Befragten.
Menschen aus den Jahren 2004 bis 2016. Diese wurden Dass viele Menschen Personen mit Übergewicht,
teils explizit befragt, ob sie beispielsweise Jüngere oder Behinderung oder einem fortgeschrittenen Alter
Ältere lieber mögen; teils wurden ihre unbewussten unbewusst negativer gegenüberstehen, könne daran
Assoziationen anhand von Reaktionszeiten getestet. liegen, dass diese mit nachweislichen körperlichen
Die stärkste Veränderung in Richtung neutraler Einschränkungen assoziiert würden, vermuten die
Bewertung beobachteten die Wissenschaftlerinnen bei Psychologinnen von der Harvard University.
den expliziten Vorurteilen gegenüber Homosexuellen, Psychol. Sci. 10.1177/0956797618813087, 2019

Ernährung Wer im Job wenig Freiräume hat, also zum Beispiel


nur selten über seine Arbeit bestimmen darf und wenig Neues
lernt, nimmt eher zu. Bei Frauen schlägt sich zudem auch Stress am
Arbeitsplatz auf der Waage nieder.
Int. Arch. Occup. Environ. Health 10.1007/s00420-018-1392-6, 2018

GEHIRN&GEIST 9 04_2019
UNSPLASH / ANH NGUYEN (UNSPLASH.COM/PHOTOS/V-NBXJ3YV5O)
Mikrobiom
Wie Darmbakterien
Depressionen fördern

D
ie Bakterien in unserem Darm beeinflussen
auch unsere Psyche – diese Erkenntnis ist unter
Forschern nichts Neues mehr. Doch wie
könnte eine mögliche Darm­Hirn­Achse funktionie­
ren? Um der Antwort auf diese Frage ein Stück näher
zu kommen, analysierten Jeroen Raes von der Katholi­
schen Universität Löwen und seine Kollegen die Daten
von gut 1000 Patienten, die eine Depression diagnos­
tiziert bekommen und zugleich am Flemish Gut Flora
Project (FGFP) teilgenommen hatten, bei dem das
Mikrobiom von Freiwilligen untersucht wird.
Dabei entdeckten die Forscher, dass die Bakterien­
gattungen Coprococcus und Dialister im Verdauungs­
trakt von depressiven Patienten seltener vorkamen als
in einer Vergleichsgruppe – unabhängig von der Er­
nährung der Betroffenen oder davon, ob sie Antide­
pressiva einnahmen. Zumindest im Fall von Coprococ-
cus könnte das Folgen für das Gehirn haben, meinen
die Wissenschaftler, und zwar über deren typischen sigsäure, eine Vorstufe des Neurotransmitters Dopa­
Stoffwechsel: Die Bakterien scheiden die kurzkettige min. Womöglich liefern die Bakterien den Darmzellen
Fettsäure Butyrat aus, die Darmzellen unter anderem also nicht bloß Energie, sondern dem Körper dringend
als Energiequelle dient und Studien zufolge positive benötigte Moleküle zur Produktion von Transmittern,
Effekte auf den Organismus zu haben scheint. Außer­ spekulieren die Wissenschaftler um Raes.
dem erzeugen die Mikroben 3,4­Dihydroxyphenyles­ Nat. Microbiol. 10.1038/s41564-018-0337-x, 2019

Demenz
»Sporthormon« bremst Alzheimersymptome

Z
ahlreiche Studien deuten darauf hin, dass kör­ Gedächtnisleistungen von Versuchstieren mit einer
perliche Aktivität das Alzheimerrisiko senken Nager­Alzheimervariante stabilisieren sich wieder.
kann. Hinweise auf eine molekulare Ursache Blockierten die Wissenschaftler FNDC5 und Irisin im
für diesen Zusammenhang haben Forscher nun zumin­ Gehirn hingegen, hatte der Sport keine positive
dest bei Mäusen gefunden: Das Hormon Irisin, das Wirkung mehr auf das Gedächtnis der Mäuse.
bei Sport in den Muskeln ausgeschüttet wird, bremst Ob das Hormon bei Menschen einen ähnlichen
offenbar im Hirn tatsächlich neurodegenerative Pro­ Effekt hat, werden weitere Untersuchungen erst noch
zesse, wie Ottavio Arancio von der Columbia Univer­ zeigen müssen. Forschern war aber bereits aufgefallen,
sity und seine Kollegen berichten. dass Irisin und FNDC5 im Gehirn von Alzheimer­
Das Team um Arancio konnte zeigen, dass Irisin in patienten in geringeren Mengen ausgeschüttet werden.
Mäusen, denen die Forscher ein regelmäßiges Fitness­ Auch Neurone produzieren FNDC5, das an Zell­
programm verordnet hatten, vermehrt aus Muskeln rezeptoren andockt und so die Langzeitpotenzierung
über den Kreislauf ins Hirn wandert. Dort entfaltet das beeinflusst, die eine zentrale Rolle beim Lernen und
Hormon, beziehungsweise eine kürzere Version des Vergessen spielt. Sport könnte dafür sorgen, dass das
Proteins namens FNDC5, eine Schutzwirkung gegen Hormonsignal im Hirn vermehrt Nachschub aus dem
alzheimerbedingte Schäden: Die Menge der alzheimer­ Körper bekommt.
typischen Beta­Amyloid­Proteine sinkt, und die Nat. Med. 25, S. 165–175, 2019

GEHIRN&GEIST 10 0 4 _ 2 0 1 9
GEISTESBLITZE

Persönlichkeit
So gut kennen wir uns selbst

O
b wir eher gesellig oder zurückhaltend, eher zutrafen: »In dieser Stunde schien der Teilnehmer
faul oder verlässlich sind, darüber wissen wir ruhig.« Die meisten Versuchspersonen konnten gut
ganz gut Bescheid. Doch in einem Punkt einschätzen, wann sie sich extravertiert oder gewissen­
kennen wir uns offenbar schlecht, stellten Jessie Sun haft verhielten; Selbst­ und Fremdurteile stimmten
und Simine Vazire von der University of California in darin häufig überein. Das galt aber nicht für Verträg­
Davis fest: »Menschen können nicht gut beurteilen, lichkeit und emotionale Stabilität.
wie umgänglich sie sind.« Die Unterschiede in der Innen­ und Beobachter­
Um Selbst­ und Fremdurteile zu vergleichen, baten perspektive auf die emotionale Stabilität erklären die
die Psychologinnen mehr als 400 Studierende eine Psychologinnen durch einen Schwachpunkt im
Woche lang regelmäßig per SMS, sich selbst in diesem Studiendesign: »Man fühlt sich manchmal besorgt oder
Moment zu beschreiben. Außerdem trugen die Ver­ niedergeschlagen, ohne das verbal auszudrücken.«
suchspersonen während dieser Zeit Aufnahmegeräte Anhand der Tonaufnahmen allein könne ein Beobach­
mit Mikrofon am Körper, die täglich zwischen sieben ter diese Eigenschaft daher kaum beurteilen. Hingegen
Uhr morgens und zwei Uhr nachts alle zehn Minuten würden sich Freundlichkeit oder Unhöflichkeit stärker
30 Sekunden lang das akustische Geschehen aufzeich­ im Verhalten äußern; deshalb könnten sich die Beob­
neten. Rund 150 000 halbminütige Sequenzen kamen achter hierüber ein besseres Urteil bilden. »Unsere
so zu Stande. Befunde lassen daran zweifeln, dass Menschen wissen,
Anhand dieser Sequenzen beurteilten dann je sechs wann sie sich liebenswürdig und wann sie sich ruppig
Forschungsassistenten das Verhalten der Teilnehmer, verhalten.«
zum Beispiel inwieweit Aussagen wie die folgende Psychol. Sci. 10.1177/0956797618818476, 2019

LIEFERBARE »GEHIRN&GEIST«-AUSGABEN

THEMENHEFTE

Gehirn&Geist 3/2019: Gehirn&Geist 2/2019: Gehirn&Geist 1/2019: Gehirn&Geist 12/2018:


Immunsystem und Gehirn: Mindset: Die Kraft der Das Chaos im Gehirn verrät Wie uns Bildung tolerant und
Der siebte Sinn • Wege Gedan ken • Scham: Wunde viel über das Bewusstsein • stark macht • Algorithmen:
zur Selbstdisziplin: Mühelose am Selbst • Schlaue Schleim- Gewaltfreie Kommunikation: Die Filterblase im Kopf •
Strategien für den Alltag • pilze: Primitive Form der Auf die Beziehung kommt es »Dark Tourism«: Reise ins
Bewegungskontrolle: Das Kognition? • Alzheimer: Ver- an • Emotionen: Neurofor- Grauen • Werkzeuggebrauch
Gefühl, eine Marionette zu hängnisvolle Entzündung • scher knacken den Gefühls- in der Tierwelt: Geistreich
sein • € 7,90 € 7,90 code • € 7,90 ohne Geist? • € 7,90

A L L E L I E F E R BA R E N AU S G A B E N VON
» G E H I R N & G E I ST « F I N DE N SI E I M I N T E R N E T:
www.gehirn-und-geist.de/archiv
TITELTHEMA

PHOTOCASE / DAVID-W-

GEHIRN&GEIST 12 0 4 _ 2 0 1 9
KOGNITION Das aussagekräftigste Persönlichkeitsmaß, das wir
kennen, ist die Intelligenz. Ohne sie helfen auch Motivation, Ausdauer
und Einfühlungsvermögen nur begrenzt im Leben weiter.

Eine Frage
der Intelligenz
VO N E L S B E T H S T E R N U N D A L J O S C HA N E U BAU E R
PHOTOCASE / DAVID-W-

GEHIRN&GEIST 13 0 4 _ 2 0 1 9
Beginnen wir diesen Beitrag mit den folgenden drei Aufgaben:

Wald zu Baum = Wiese zu ?


Wählen Sie: Gras, Heu, Futter, Grün, Weide 12 zu 3 = 20 zu ?
Wählen Sie: 5, 4, 11, 3, 9
zu = zu ?
Wählen Sie: , , , ,

D
ie oben stehenden Beispiele enthalten tenz von Bäumen definiert ist, so wie die Wiese durch
unterschiedliche Elemente – eines ist die Existenz von Gras. Die Herausforderung bei dieser
sprachlicher Art, ein anderes nume- Aufgabe besteht also darin, gewisse Assoziationen zu
risch, das dritte visuell-räumlich. Ih- hemmen und die abstrakte Beziehung »wird definiert
nen gemeinsam ist jedoch, dass hier durch« zu aktivieren.
aus Bekanntem logische Schlüsse ge- Wie gut jemand bei so unterschiedlichen Aufgaben
zogen werden müssen. Schlussfolgerndes Denken, also abschneidet, hängt statistisch eng zusammen. Das heißt,
die Generierung von neuem aus bestehendem Wissen, es macht keinen großen Unterschied, ob schlussfolgern­
gilt als Kern menschlicher Intelligenz. Daher ist »Ana- des Denken auf numerischer, sprachlicher oder räum­
logien finden« eine typische Aufgabe in IQ­Tests. lich­visueller Basis erfasst wird. Bereits vor mehr als
Das stellt hohe Anforderungen an unser Arbeitsge­ 100  Jahren hat der US-amerikanische Psychologe und
dächtnis. Denn die gesamten Informationen müssen Intelligenzforscher Charles Spearman die Gemeinsam-
zunächst gespeichert, ihre Elemente miteinander vergli­ keit unterschiedlicher Intelligenzaufgaben auf einen g-
chen und irrelevante Aspekte außer Acht gelassen wer­ Faktor zurückgeführt: die generelle kognitive Leistungs-
den. Parallel dazu muss man mögliche Lösungen erwä­ fähigkeit (siehe »Eine kurze Geschichte des IQ«, S. 16).
gen und auf ihre Richtigkeit prüfen. Dieses Maß beschreibt, wie ähnlich eine Person über
Zum Beispiel: Zwischen den Wörtern Wald und verschiedene Aufgabenbereiche hinweg abschneidet.
Baum besteht eine Beziehung, die auf ein weiteres Wort­
paar übertragen werden soll. Dabei ist der erste Begriff Nadelöhr Arbeitsgedächtnis
(Wiese) vorgegeben. Hat man nun die Wahl zwischen In den letzten Jahren machten Forscher große Fort-
Gras, Heu, Futter, Grün, Weide, so könnte man denken: schritte dabei, die Intelligenz im Drei-Speicher-Modell
Die gemeinsame Farbe von Wald, Baum und Wiese ist der menschlichen Informationsverarbeitung zu veror-
grün! Diese Wahl wäre jedoch falsch, da es nicht um ten. Das Arbeitsgedächtnis – jene Instanz, die zwischen
die Gemeinsamkeit der drei Wörter geht, sondern um der eingehenden Information und dem im Langzeitge-
die Gemeinsamkeit der Beziehung zwischen den Wort­ dächtnis gespeicherten Wissen vermittelt – ist am ziel-
paaren. Das zu erkennen, erfordert eine zusätzliche Ab­ gerichteten Handeln und schlussfolgernden Denken
straktionsstufe. entscheidend beteiligt. Es hat hierbei vier Funktionen
Wiese steht allerdings auch zu den anderen Begriffen zu erfüllen: Es muss eingehende Informationen verfüg-
in enger Beziehung. Solche Überlegungen gehen aber bar halten, vorhandenes Wissen aus dem Langzeitge-
ebenso in die falsche Richtung, da sie nichts mit der Be­ dächtnis aktivieren, nicht Benötigtes hemmen und das
ziehung zwischen Wald und Baum zu tun haben. Intel­ Ziel im Blick behalten. Bei allen Aufgaben, die diese
ligente Menschen erkennen, dass Wald durch die Exis­ Funktionen erfassen, schneidet eine Person ähnlich gut
ab wie in einem IQ-Test. Obwohl es zu kurz gegriffen
wäre, die Intelligenz eines Menschen allein auf sein Ar-
beitsgedächtnis zurückzuführen, hat Letzteres großen
UNSERE EXPERTEN
Einfluss auf die Lern- und Denkfähigkeit.
Elsbeth Stern ist Psychologin und Ähnliche Anforderungen wie bei Intelligenztests stel-
Professorin für Lehr-Lern-
Forschung an der ETH Zürich.
len sich beim schulischen Lernen. Um einen Text zu
CHRISTIAN WIND

Aljoscha Neubauer ist Professor verstehen, muss man die übergeordnete Frage präsent
für Differentielle Psychologie an haben, sonst verliert man den roten Faden. Wer etwa
der Universität Graz (Österreich). eine mathematische Textaufgabe lösen soll, muss von

GEHIRN&GEIST 14 0 4 _ 2 0 1 9
TITELTHEMA / INTELLIGENZ

der Situation abstrahieren können und die Beziehungen Auf einen Blick:
zwischen den einzelnen Elementen begreifen. Natur-
wissenschaftliche Kompetenzen fußen ebenso auf abs­ Und sie zählt doch!
trakten Konzepten, die man auf verschiedene Fälle an­

1
wenden muss, etwa um die Gemeinsamkeit von Begrif­ Intelligente Leistungen zeigen sich auf verschiedenen
fen wie Batterie und Stausee einzusehen (beide Gebieten, etwa im Umgang mit Zahlen, Sprache
speichern Energie). Gleiches gilt für das abwägende oder Formen. Ein gemeinsamer Nenner, der generelle
Denken: Was spricht für und was gegen eine bestimmte IQ­Faktor, gründet in der Kapazität des Arbeitsgedächt­
Erklärung? Welche Variablen muss man bei einem Ex­ nisses.
periment variieren und welche konstant halten? Auch

2
hier geht es darum, bestimmte Informationen im Hin­ Laien, aber auch Forscher halten mitunter andere
terkopf zu behalten, zu vergleichen, zu deaktivieren Eigenschaften wie die Motivation oder die Willens­
und immer wieder zu prüfen, ob man auf der richtigen kraft eines Menschen für wichtiger im Leben als
Spur ist. Nicht anders beim Fremdsprachenlernen: den IQ. Doch kein anderes Maß hängt enger mit dem
Grammatikregeln und Vokabeln müssen beim Lesen Bildungs­ oder Berufserfolg zusammen als die Intelligenz.
oder Sprechen integriert werden, während man die do­

3
minante Erstsprache gleichzeitig ausblendet – sonst Auch nichtkognitive Faktoren wie etwa das Einfüh­
funken »falsche Freunde« dazwischen wie in dem Satz: lungsvermögen werden manchmal als »Intelligenz«
»When will I become my lasagne?« bezeichnet. Allerdings ist der IQ das am besten
Intelligenztests erfassen geistige Fähigkeiten, die im erforschte Persönlichkeitsmerkmal, das die Psychologie
Alltag selten so isoliert zu betrachten sind. Dennoch kennt.
hängt der IQ eng mit den Leistungen in Schule, Berufs­
ausbildung oder Studium zusammen. Zudem gestalten
Menschen mit hoher Intelligenz meist ihr Leben besser:
Sie ernähren sich zum Beispiel gesünder, schätzen Risi­ dien, dass auch das Vorwissen von Menschen gewisse
ken realistischer ein und lassen sich von einer Krise Leistungsunterschiede erklären kann. Eine weniger in­
nicht so leicht aus der Bahn werfen. telligente Person mit viel Vorwissen oder praktischen
Dass Intelligenzunterschiede oft in den Genen wur­ Erfahrungen erzielt daher häufig eine bessere Leistung
zeln, belegen viele Zwillingsuntersuchungen. Bei der In­ als jemand mit dem umgekehrten Profil. Das wurde
telligenz handelt es sich um ein polygenetisch, also etwa fürs Schachspielen gezeigt, das zwar anspruchsvoll
durch viele Gene vererbtes Merkmal mit einer großen ist, aber nicht so abstrakt, dass nur sehr intelligente
so genannten Reaktionsnorm. Das bedeutet, dass Um­ Menschen es sich erschließen könnten. Solche Befunde
weltfaktoren bei der Entwicklung der Intelligenz eine lassen sich dennoch nicht einfach auf andere Gebiete
beträchtliche Rolle spielen. Dabei gilt: Je ähnlicher die übertragen: Einen unterdurchschnittlich intelligenten
Umwelt, desto stärker schlagen genetische Einflüsse theoretischen Physiker wird man schwerlich finden.
durch. Würde unsere Gesellschaft allen Mitgliedern op­ Wenn es darum geht, Neues zu lernen oder bestehen­
timale Bedingungen zur Intelligenzentwicklung bieten, des Wissen auf andere Gebiete zu übertragen, haben
wären nahezu 100 Prozent der Unterschiede in diesem intelligente Menschen gegenüber weniger intelligenten
Merkmal durch Genvariationen erklärbar. So zeigte ein Vorteile. Der Einfluss von spezifischem Vorwissen stellt
Forscherteam um Eric Turkheimer in einer Studie, dass also nicht die Rolle der Intelligenz in Frage. Er macht
Umweltfaktoren rund 60 Prozent der Intelligenzunter- vielmehr deutlich, dass sie ihre Wirkung nur über den
schiede zwischen ökonomisch sehr unterschiedlich auf- Erwerb und das Nutzen von Wissen entfaltet.
gestellten Familien bedingten, während die genetischen
Einflüsse nahezu gleich null waren. Betrachtete man je- Die Inflation der Intelligenzen
doch nur wohlhabende Familien, war es fast umgekehrt: Manche versuchen auch, den Einfluss der Intelligenz zu
Die Umwelteffekte waren hier minimal, und beinahe relativieren, indem sie die Bedeutung anderer nichtkog-
alle IQ-Unterschiede gingen auf Genvariationen zurück. nitiver Eigenschaften hervorheben. So wird der Intelli­
Obwohl diese zentralen Befunde der Intelligenzfor- genzbegriff häufig erweitert auf sportliche, soziale oder
schung über Jahrzehnte immer wieder bestätigt wurden, musische Fähigkeiten, selbst von spiritueller oder sexu­
fällt es vielen Menschen – teils auch ausgebildeten Psy- eller Intelligenz hört man bisweilen. Besonders verbrei­
chologen – schwer, sie zu akzeptieren. Eine beliebte Ab- tet ist das Konzept der emotionalen Intelligenz, die ana­
wehrstrategie besteht darin, nach Eigenschaften zu su­ log zum IQ das Label »EQ« trägt. Wissenschaftlich frag­
chen, die für den schulischen oder beruflichen Erfolg würdig ist daran nicht die Suche nach zusätzlichen
ebenso wichtig oder sogar wichtiger sind als der IQ. Einflüssen auf den schulischen und sonstigen Erfolg
Das ist an sich legitim und zeugt von einem lebendigen von Menschen. Niemand stellt in Frage, dass intelligen-
wissenschaftlichen Diskurs. Beispielsweise ergaben Stu­ te Personen unterschiedlich empathisch oder sozial ge-

GEHIRN&GEIST 15 0 4 _ 2 0 1 9
Eine kurze Geschichte des IQ
Laut einem beliebten Bonmot ist meist auch mit hohen (oder niedri­ Da die Intelligenz ab dem frü­
Intelligenz, was ein Intelligenztest gen) Werten beispielsweise beim hen Erwachsenenalter mehr oder
misst. Darin kommt zum Aus­ logischen Schlussfolgern oder beim weniger konstant bleibt, erschien
druck, dass sich Psychologen lange Rechnen einhergehen. Isolierte der Bezug zum Lebensalter hier
uneinig waren, wie man Intelligenz Inselbegabungen sind also selten. wenig sinnvoll. Der Intelligenzfor­
wissenschaftlich am besten be­ Der Intelligenzquotient (kurz: scher David Wechsler (1896–1981)
schreiben sollte – während entspre­ IQ) ist eine Erfindung des frühen nahm daher 1932 die individuelle
chende Tests schon früh zum 20. Jahrhunderts. Er entwickelte Abweichung einer Person vom
Einsatz kamen. Fest steht, dass die sich aus der Annahme, es gebe ein Durchschnitt seiner Altersgruppe
Intelligenz des Menschen ver­ Intelligenzalter von Kindern, das zum Maßstab. Wechsler setzte per
schiedene Facetten umfasst: ange­ vom Lebensalter abweichen könne. Definition einen Mittelwert von
fangen beim Gedächtnis und Im Jahr 1905 stellte der französi­ 100 sowie eine Standardabwei­
dem logischen Denken über den sche Psychologe Alfred Binet (1857– chung von 15 Punkten voraus (siehe
sprachlichen Ausdruck und das 1911) einen Test vor, der Schülern Grafik rechts). Dies gilt noch heute.
mathematische Verständnis bis hin anhand unterschiedlich schwieriger Allerdings muss man die IQ­Test­
zum räumlichen Vorstellungsver­ Aufgaben ein individuelles Intelli­ Aufgaben an großen, repräsenta­
mögen. genzalter attestierte – wonach man tiven Stichproben immer wieder
Zwar vertreten Forscher bis entschied, auf welche weiterfüh­ nachjustieren, da sich die Intelli­
heute durchaus unterschiedliche rende Schule die Kinder kamen. genz in der Bevölkerung kontinu­
Ansichten darüber, welche Kompo­ Der an der Stanford University in ierlich wandelt (siehe »Werden wir
nenten im Einzelnen dazuzählen Kalifornien tätige Psychologe Lewis immer klüger?« ab S. 20).
und wie sie sich zusammensetzen. M. Terman (1877–1956) erweiterte Ein globaler Intelligenzwert je
Unstrittig ist jedoch, dass es einen dieses Verfahren, so dass es als Person setzt außerdem voraus, dass
generellen Intelligenzfaktor gibt, Stanford­Binet­Test in die Ge­ man bei dessen Erhebung die
der die Leistungen einer Person auf schichte einging. einzelnen Intelligenzbereiche
diversen Feldern beeinflusst. Der Als Erfinder des IQ gilt hingegen (verbal, numerisch, räumlich­kons­
wichtigste gemeinsame Nenner ist der Deutsche William Stern (1871– truktiv und so weiter) ausgewogen
die Kapazität des Arbeitsgedächt­ 1938). Der Psychologe, der bis zu berücksichtigt. Bereits 1904 hatte
nisses, das wir bei allen Arten von seiner Flucht vor den Nazis an der der britische Psychologe Charles
geistigen Herausforderungen Universität Hamburg forschte, Spearman (1863–1945) ein Zwei­
benötigen – ob wir kopfrechnen, setzte das Intelligenzalter erstmals Faktoren­Modell postuliert, das
einen Text lesen oder im Geist ins Verhältnis zum jeweiligen neben spezialisierten sprachlichen,
geometrische Figuren bewegen. Lebensalter (daher »Quotient«) mathematischen und sonstigen
Studien zur Intelligenzverteilung und multiplizierte das Resultat mit Komponenten einen so genannten
zeigten zudem, dass gute (oder 100. Dies ergab einen IQ, der um Generalfaktor (g­Faktor) vorsah.
schlechte) Leistungen auf einem einen Mittelwert von 100 variierte, Allgemein unterscheidet man
Gebiet – etwa beim Wortschatz – wie wir es bis heute kennen. fluide und kristalline Anteile der
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Alfred Binet William Stern Howard Gardner

GEHIRN&GEIST 16 0 4 _ 2 0 1 9
TITELTHEMA / INTELLIGENZ

Intelligenz. Erstere beschreiben Das Idealmodell der IQ­Verteilung


beispielsweise das flexible, schnelle
Umschalten zwischen verschiede­
nen Anforderungen, der zweite
Begriff bezieht sich auf feste Wis­

Häufigkeit in der Bevölkerung


sensbestände und Fähigkeiten.
Während die fluide Intelligenz
intelligenz-
schon ab dem frühen Erwachse­ hochbegabt
gemindert
nenalter allmählich nachlässt,
können kristalline Anteile wie der zirka 68% der
Gesamt-
Wortschatz oder motorische bevölkerung
Fertigkeiten bis ins hohe Alter
wachsen.

GEHIRN&GEIST
Intelligenz ist heute als stabiles 2,1% 13,6 % 13,6 % 2,1%
Persönlichkeitsmerkmal wissen­
schaftlich anerkannt und lässt sich 55 70 85 100 115 130 145
mit gut erprobten, geeichten Ver­ Intelligenzquotient
fahren verlässlich messen. Die
meisten gebräuchlichen IQ­Tests Der IQ gilt als normalverteilt über die Gesamtbevölkerung. Die meisten
wie der Wechsler­Intelligenztest Menschen liegen nah der Mitte von 100, sehr hohe und sehr niedrige
(WI) erfüllen fünf Kriterien: Werte sind selten. Innerhalb plus/minus einer Standardabweichung, also
• Reliabilität (Messgenauigkeit): zwischen 85 und 115, liegen gut 68 Prozent aller IQ-Werte.
Zwei unabhängige Testungen
stimmen im Ergebnis gut mitein­
ander überein. den Testszenarien wirken sich Seines wissenschaftlichen Klan­
• Intervallskalenniveau: IQ­Wer­ ebenfalls günstig auf den IQ aus. ges wegen wird das Label »IQ«
te lassen sich arithmetisch berech­ Ein Großteil der Skepsis, die immer wieder auf eine Vielzahl
nen und in Standardabweichungen IQ­Tests oft ernten, beruht auf der anderer Eigenschaften und Persön­
vom Mittelwert darstellen. Vorstellung, sie würden dazu be­ lichkeitsmerkmale übertragen,
• Stabilität ab dem Alter von nutzt, um Menschen auf Basis eines etwa auf die emotionale, soziale
zehn Jahren: IQ­Tests derselben genetisch fixierten Merkmals zu oder musische Intelligenz. Diese
Person zeigen selbst im Abstand selektieren, etwa für bestimmte sind allerdings weit weniger gut
von mehreren Jahrzehnten eine Schultypen oder Berufe. Einerseits erforscht und messbar als die
hohe Übereinstimmung. ist es zwar richtig, dass der IQ eine kognitive Intelligenz eines Men­
• Konstruktvalidität: Oberfläch­ ausgeprägte erbliche Komponente schen. In den 1990er Jahren machte
lich unterschiedliche Aufgaben, besitzt – was umso mehr in Gesell­ beispielsweise der US­amerikani­
etwa auf Basis von Zahlen, Formen, schaften gilt, in denen fast alle sche Pädagoge und Psychologe
oder Begriffen, hängen statistisch Bürger Zugang zu Bildung, gesun­ Howard Gardner (* 1943) mit
eng zusammen. der Nahrung und medizinischer seiner Theorie der »multiplen
• Kriteriumsvalidität: Der IQ Versorgung haben. Und natürlich Intelligenzen« von sich reden. Er
eines Menschen sagt den Schul­, dient der IQ teils auch dazu, behauptete, auch künstlerische,
Berufs­ und Lebenserfolg besser geeignete von weniger geeigneten kommunikative, spirituelle oder
vorher als andere psychologische Bewerbern etwa auf Studien­ andere Gaben ließen sich analog
Merkmale. oder Arbeitsplätze auszuwählen. zum IQ bestimmen. Ein solch infla­
Auch wenn die Intelligenz als Das bedeutet jedoch weder, dass tionärer Gebrauch des Intelligenz­
relativ feste, kognitive Grundaus­ Intelligenz allein genetisch bedingt begriffs erscheint zwar vielen
stattung gilt, ist sie durchaus erfah­ ist noch dass andere Talente keiner­ attraktiv, weil er jedem Menschen
rungsabhängig. Bereits Kinder und lei Rolle spielen. Kreativität, »seine individuelle Intelligenz«
Jugendliche haben eine Vielzahl Empathie und Überzeugungskraft verheißt. In der Forschung erwies
von Anregungen erhalten, die ihre schlagen sich kaum im IQ nieder – sich bislang jedoch kein anderes
geistigen Anlagen mehr oder weni­ sind aber für unser Zusammen­ Persönlichkeitsmaß als ebenso
ger gut zu entfalten halfen. Vorwis­ leben und das persönliche Glück stabil und aussagekräftig wie die
sen und Übung mit entsprechen­ ebenfalls wichtig. kognitive Intelligenz.

GEHIRN&GEIST 17 0 4 _ 2 0 1 9
KURZ ERKL ÄRT: zudem durch eher einfache Kompetenzen wie Bruch-
rechnen oder Buchstabieren erfasst – Dinge, die für die
A R B E I T S G E DÄC H T N I S Teilnehmer nicht übermäßig anspruchsvoll waren.
Speicher von eng begrenzter Kapazität, der Informa­ Folglich können hier weniger intelligente Probanden,
tionen vorübergehend mental präsent hält. Gilt die jedoch fleißig üben, mit den intelligenteren gleich-
als wichtige Basis des generellen Intelligenzfaktors. ziehen. Daraus lässt sich nicht ableiten, Fleiß und
Durchhaltevermögen seien wichtiger als Intelligenz,
ERBLICHKEIT wenn es darum geht, größere Hürden in Ausbildung
Fast jede psychologische Eigenschaft ist sowohl und Studium zu nehmen. Sobald schwierigere, abstrak-
genetisch als auch durch Umweltfaktoren bedingt. te Konzepte ins Spiel kommen, machen sich Intelligenz-
Hält man Letztere konstant, etwa indem man Pro­ unterschiede stärker bemerkbar.
banden aus derselben Umwelt vergleicht, gewinnen Selbst unter Höchstbegabten mit einem IQ weit jen-
die Gene automatisch an Bedeutung. Wie erblich seits von 140 zeigte sich, dass IQ-Unterschiede den be-
Intelligenz ist, hängt also von der Stichprobe ab. ruflichen Erfolg bestimmen. Das oberste Viertel dieser
sehr intelligenten Probanden stand in einer Studie von
KO R R E L AT I O N Matthew Makel und Kollegen von der Duke University
Statistisches Maß zwischen –1 und 1, das angibt, wie in Durham (USA) besser da als das unterste: Die Betref-
sehr zwei Variablen miteinander variieren. Bei 0 fenden hatten eher einen Doktortitel, hielten mehr Pa-
besteht kein Zusammenhang, bei (–)1 ein perfekter. tente oder bekleideten häufiger Führungspositionen.
Die IQ-Werte einer Person bei wiederholter Mes- Bei Studierenden der Fächer Physik, Mathematik
sung korrelieren mit zirka 0,7 – was für die hohe und Maschinenbau an der (als anspruchsvoll bekann-
Güte der Tests spricht. ten) Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zü-
rich beeinflusste der IQ ebenfalls stark die Prüfungs-
ergebnisse nach dem ersten Studienjahr. Dies berichtete
eine von uns (Stern) zusammen mit Michal Berkowitz
schickt sein können oder sich manche vielleicht durch 2018. Etwa ein Viertel der Untersuchten konnte als

eine mangelnde Impulskontrolle auszeichnen. Und na- hochbegabt gelten, kaum ein Student hatte einen IQ un-
türlich gibt es auch im Sport oder in der Kunst bewun- ter 120. Die Botschaft aus beiden Studien lautet: Selbst
dernswürdige Leistungen, die Intelligenztests nicht gut bei eingeschränkter Varianz erklärt die Intelligenz Leis­
erfassen. Wer jedoch den Eindruck erweckt, die ge- tungsunterschiede auf anspruchsvollen Gebieten.
nannten Eigenschaften ließen sich mit der gleichen
Güte und Verlässlichkeit messen und erlaubten ebenso Motivation allein genügt nicht
gute oder sogar bessere Vorhersagen wie die Intelligenz, Dies stellt die Bedeutung von Motivation und Ausdauer
der betreibt Etikettenschwindel. nicht grundsätzlich in Frage. Anspruchsvolle Inhalte
Kein anderes psychologisches Persönlichkeitsmerk­ können sich auch intelligente Menschen kaum neben­
mal steht annähernd auf so seriösen Grundlagen wie bei aneignen. Diszipliniertes Arbeiten, das oft mit dem
die Intelligenz. Es ist nicht verboten, weitere »Intelligen­ Verzicht auf kurzfristige Belohnung einhergeht, ist da­
zen« auszurufen – allerdings sollten wir uns vor Tritt­ für unabdingbar. Nur lässt sich mit Motivation allein
brettfahrern innerhalb und außerhalb der Psychologie eben nicht alles erreichen. Mit einem unterdurch­
hüten, die die kognitive Intelligenz als Deckmantel nut­ schnittlichen IQ ist ein Physik­ oder Mathematikstudi­
zen, um eigene, teils mit kommerziellen Interessen ver­ um kaum zu bewältigen – Ansporn hin oder her. Idea­
bundene Ideen zu verbreiten. lerweise sollte daher jeder vor einer Ausbildungs­ und
Unter Laien wie Psychologen beliebt ist auch die Vor­ Berufswahl wissen, welches Maß an Anstrengungsbe­
stellung, die Motivation von Menschen könne Leis­ reitschaft nötig ist, um das jeweilige Ziel zu erreichen.
tungsunterschiede besser erklären als deren Intelligenz. Tatsächlich ist es weder sinnvoll noch wissenschaft­
Angela Duckworth von der University of Pennsylvania lich haltbar, Motivation und Intelligenz als Konkurren­
in Philadelphia betont beispielsweise, dass Ausdauer ten zu betrachten. Es handelt sich um zwei Faktoren,
und Leidenschaft, englisch: »grit«, für den Lebenserfolg die auf unterschiedliche Weise zu einer Leistung beitra­
oft ausschlaggebender seien (siehe Gehirn&Geist gen. Während die Intelligenz ein stabiles, situations­
6/2018, S. 12). Ohne die Ergebnisse ihrer Studien anzu- unabhängiges Merkmal darstellt, ist Motivation eher an
zweifeln, muss man deren Geltungsbereich jedoch ein- den momentanen Zustand der Person und an die äuße­
schränken. An Duckworths Untersuchungen nahmen ren Umstände gebunden. Die oft zitierte Unterschei­
überdurchschnittlich intelligente Schülerinnen und dung zwischen intrinsischer und extrinsischer Motiva­
Schüler teil; die dadurch bedingte geringe Varianz der tion – ob man etwas aus Liebe zur Sache oder für Beloh­
IQ-Unterschiede reduzierte naturgemäß auch den Ein- nungen wie Geld oder Lob tut – stellt ein Kontinuum
fluss der Intelligenz auf die Schulleistung. Diese wurde dar: Wer etwa eine Doktorarbeit um ihrer selbst willen

GEHIRN&GEIST 18 0 4 _ 2 0 1 9
TITELTHEMA / INTELLIGENZ

schreibt, muss dennoch über weite Strecken Dinge tun, netztes Wissen als weniger intelligente. Und selbst wenn
die wenig motivierend sind. Sich trotzdem »aufzuraf­ man kein detailliertes Wissen auf einem Gebiet hat, hilft
fen«, ist eine Kompetenz, die man erwerben kann und Intelligenz dabei, Beziehungen herzustellen, die ande­
zu der Eltern sowie Lehrer beitragen können. Laut der ren entgehen.
Selbstbestimmungstheorie der Psychologen Edward Wer auf Grund fehlenden Wissens und niedriger In­
Deci und Richard Ryan motiviert es Menschen, wenn telligenz nicht in der Lage ist, neues (wie auch immer es
sie ihre eigene Kompetenz, ihre Autonomie und soziale präsentiert wird) in vorhandenes Wissen zu integrieren,
Anbindung erleben. Gelingt es Lehrern, dies bei der Ge­ der wird kaum die nötige Motivation dafür aufbringen.
staltung von Lerngelegenheiten zu berücksichtigen, Der Betreffende erlebt weder Kompetenzzuwachs noch
steigt die Anstrengungsbereitschaft auch unter jenen Autonomie und fühlt sich im Lernkontext fremd. Um
Schülern, die »von sich aus« nicht übermäßig für ein Menschen solche Erfahrungen zu ersparen, gilt es bei
Thema brennen. der Berufs­ und Ausbildungswahl im Zweifel stärker
Ein großer Irrtum mancher Lehrer besteht darin zu die eigenen Fähigkeiten als die Interessen zu gewichten
glauben, ihre Schülerinnen und Schüler seien nur dann (siehe Literaturtipp unten).
zum Lernen bereit, wenn sie bereits mit hoher intrinsi- Inzwischen erklären zahlreiche große Schul­ und
scher Motivation in den Unterricht kommen. Umge- Unterrichtsstudien, wann und warum sich Schüler im
kehrt können Lehrer durch schlechten Unterricht viele Lernerfolg unterscheiden. Wichtig ist dabei die Qualität
positive Erwartungen zunichtemachen und Schüler mit der Rückmeldung durch die Lehrenden sowie der Ein­
hoher Lernbereitschaft vergraulen. Die Botschaft lautet satz von geistig aktivierenden Lernformen, die die
also: Anders als Intelligenz ist Motivation kein über­ Schülerinnen und Schüler wirklich zum Nachdenken
dauerndes Persönlichkeitsmerkmal, sondern beschreibt anregen. Doch gerade bei hoher Unterrichtsqualität
die kurzfristig beeinflussbare Handlungs- und Anstren- zeigt sich konsistent: Individuelle Voraussetzungen wie
gungsbereitschaft. Mehr oder weniger motiviert ist man Intelligenz und Vorwissen erklären die Unterschiede im
nicht generell, sondern immer auf ein bestimmtes Ziel Lerngewinn besser als der jeweilige Unterricht selbst.
bezogen. Der Satz »Eva ist überdurchschnittlich intelli­ Das heißt, auch bei sehr gutem Unterricht wird ein
gent« ist ohne weiteren Kontext sinnvoll, »Eva ist über­ Schüler mit ungünstigen Voraussetzungen sich zwar
durchschnittlich motiviert« dagegen nicht. verbessern, jedoch nicht mehr dazulernen als ein Schü­
Motivation und Anstrengungsbereitschaft beeinflus- ler mit besseren Voraussetzungen, aber schlechtem Un­
sen unsere Ziele, unsere Entscheidungen und unser terricht. Die pädagogische Qualität bestimmt mit darü­
Verhalten. Dabei ist jede Entscheidung für etwas zu- ber, wie gewinnbringend Lernende ihre Intelligenz in
gleich eine Entscheidung gegen etwas anderes. Hört den Erwerb von Kompetenzen investieren können. Leh­
man in der Vorlesung aufmerksam zu oder tippt auf rende haben ihren Job also gut gemacht, wenn alle et­
dem Smartphone unter dem Tisch? Das hängt stark da- was dazulernen. Nur sind gerade dann Leistungsunter­
von ab, ob man aus dem Vortrag für sich Gewinn ziehen schiede vor allem eine Frage der Intelligenz. H
kann. Natürlich spielt dabei die Qualität des Vortrags
eine Rolle, aber auch die kognitiven Voraussetzungen
des Zuhörers sind wichtig. Lässt sich das Gehörte an be- Lesen Sie ab S. 22 in diesem Heft, warum
stehendes Wissen anknüpfen, erweitert oder korrigiert wir bei der alltäglichen Lebensgestaltung
es dieses? Hier machen sich unweigerlich Intelligenz- mehr auf unsere Gaben und Talente achten
unterschiede bemerkbar, denn intelligentere Menschen sollten als auf kurzlebige Interessen.
verfügen im Schnitt über mehr und über besser ver-

L I T E R AT U RT I P P

Neubauer, A.: Mach, was du kannst. DVA, München 2018


Wissenschaftlich fundiertes Plädoyer dafür, bei der Berufs- und Studienwahl kognitive Fähigkeiten stärker zu gewichten als Interessen
QUELLEN

Berkowitz, M., Stern, E.: Which Cognitive Abilities Make the Difference? Predicting Academic Achievements in Advanced STEM
Studies. In: Journal of Intelligence 6, 48, 2018
Makel, M. et al.: When Lightning Strikes twice: Profoundly Gifted, Profoundly Accomplished.
In: Psychological Science 27, S. 1004–1018, 2016
WEBLINK

Mehr zum Institut für Lehr- und Lernforschung: www.ifvll.ethz.ch


Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1623830

GEHIRN&GEIST 19 0 4 _ 2 0 1 9
GU TE FRAGE

Werden wir immer klüger?

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Haben Sie auch eine Frage an unsere Experten?


Dann schreiben Sie mit dem Betreff »Gute Frage« an:
gehirn-und-geist@spektrum.de

GEHIRN&GEIST 20 0 4 _ 2 0 1 9
UNSER EXPERTE KENNT DIE ANT WORT:

Jakob Pietschnig lehrt pädagogisch-psychologische Diagnostik an der


Universität Duisburg-Essen. Er beschäftigt sich unter anderem mit der Frage,
wie sich die Intelligenz in der Allgemeinbevölkerung entwickelt.

Z
wei Dinge sind unendlich: das Universum und Auch die wachsende Bedeutung und Belohnung von in-
die menschliche Dummheit.« Diese Weisheit, telligentem Verhalten im Alltag dürfte eine Rolle spie­
die Albert Einstein zugeschrieben wird, scheint len. Allerdings werfen diese Erkenntnisse die Frage auf,
sich im Alltag manches Mal zu bestätigen. Wie aber ha- ob der Aufwärtstrend beliebig lange fortdauert.
ben sich die geistigen Fähigkeiten der Menschen in den Forschern zufolge haben sich die Intelligenzzu­
vergangenen Jahrzehnten tatsächlich entwickelt? wächse in den hoch industrialisierten Staaten bereits
Zahlreiche Untersuchungen lassen aufatmen: Über seit den 1980er Jahren verlangsamt. Neueste Untersu-
die letzten gut 100 Jahre hinweg zeigte sich weltweit ein chungen legen nahe, dass der Flynn-Effekt in etlichen
positiver Trend. Von 1909 bis 2013 nahmen die kogni- Ländern stagniert oder sich sogar umkehrt. Tatsächlich
tiven Fähigkeiten der Weltbevölkerung pro Jahrzehnt gibt es Hinweise auf einen Stillstand in Norwegen und
um geschätzte vier IQ-Punkte zu – jedenfalls in Bezug Schweden sowie auf eine Abnahme des Durchschnitts-
auf die so genannte fluide Intelligenz, die das logische IQ unter Dänen, Deutschen, Finnen, Franzosen und
Schlussfolgern einschließt. Beim erlernten Wissen über Österreichern. Das liegt wohl zum einen daran, dass
die Welt, das Fachleute als kristalline Intelligenz kennen, weite Teile der Bevölkerung bereits optimal mit Nah-
belief sich der Anstieg immerhin noch auf zwei Punkte. rung und Bildung versorgt sind, so dass hier schlicht
Dieses Phänomen wird auch als »Flynn-Effekt« bezeich- keine Luft nach oben mehr bleibt. Zum anderen kehrt
net, benannt nach dem US-amerikanischen Politik- sich der Flynn-Effekt anscheinend um, wenn wir auf be-
wissenschaftler James Flynn, der es erstmals beschrieb. stimmten Feldern nichts mehr dazulernen, sondern un-
Ein durchschnittlich intelligenter Mensch Anfang sere Fähigkeiten etwa auf Grund des digitalen Wandels
des 21. Jahrhunderts würde somit wohl höhere Test- zum Beispiel in Bereichen wie der räumlichen Orientie-
werte erzielen als sein Vorfahr zu Beginn des 20. Jahr- rung vernachlässigen.
hunderts. Auf der IQ-Skala schneiden wir laut einigen Ist also das Ende der Fahnenstange erreicht? Die vor-
Studien heute sogar um ganze zwei Standardabweichun- liegenden Daten lassen diesen Schluss kaum zu. Sie zei-
gen besser ab als frühere Generationen. Das entspräche gen jedoch, dass die IQ-Entwicklung von den Anforde-
in etwa dem Unterschied zwischen einem durchschnitt- rungen abhängt, die die Umwelt an unseren Geist stellt.
lich Intelligenten und einem Hochbegabten. Hoch spezialisierte Kompetenzen gewinnen vermutlich
Doch heißt das, beinahe jeder mittelmäßig Begabte weiter an Bedeutung, während das Generalistentum
von heute wäre Anfang des 20. Jahrhunderts als hoch- ausstirbt. Oder um es mit dem Bonmot des US-Öko-
begabt durchgegangen? Vermutlich nicht. Vielmehr nomen Herbert Stein zu sagen: »Wenn etwas nicht ewig
dürften wir uns im Lauf der Zeit geistig stärker spezia- weitergehen kann, hört es irgendwann auf.« H
lisiert haben. Offenbar betrifft die kollektive Verbesse-
rung nämlich nicht so sehr jene globalen kognitiven
Fähigkeiten, die man für jede Art von Intelligenzleis- QUELLEN
tung benötigt – den so genannten g-Faktor –, sondern
hat eher auf spezifischen Domänen wie zum Beispiel Pietschnig, J., Gittler, G.: A Reversal of the Flynn Effect for
Spatial Perception in German-Speaking Countries:
dem Sprachverständnis oder der Wortflüssigkeit stattge- Evidence from a Cross-Temporal IRT-Based Meta-Analy-
funden. sis (1977–2014). In: Intelligence 53, S. 145–153, 2015
Empirische Arbeiten offenbarten zudem, dass die
Pietschnig, J., Voracek, M.: One Century of Global IQ
verbesserte Ernährungssituation und die medizinische Gains: A Formal Meta-Analysis of the Flynn Effect
Versorgung vor allem von Kindern sowie eine deutlich (1909–2013). In: Perspectives on Psychological Science 10,
längere Schulzeit hinter dem Flynn-Effekt stecken. S. 282–306, 2015

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PSYCHOLO GIE

BERUFSWAHL In Deutschland gibt es rund 10 000 Bachelor-


Studiengänge und mehr als 300 Ausbildungsberufe. Wie kann
man herausfinden, was zu einem passt?

Schulabschluss –
und dann? VON JOACHIM RETZBACH

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EXTREME-PHOTOGRAPHER / GETTY IMAGES / ISTOCK

GEHIRN&GEIST
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Auf einen Blick: Was will ich, was kann ich – und was ist mir wichtig?

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Bei der Berufswahl gilt es Die Forschung zeigt, dass Karrieren folgen heutzutage
zwischen Interessen oder Nei- Selbsttests im Internet die oft verschlungenen Pfaden.
gungen, den eigenen Stärken persönliche Beratung nicht Daher muss man sich mit der
und den persönlichen Werten ersetzen. Sie liefern aber Hin- Entscheidung für eine Ausbildung
abzuwägen – sie alle sind wichtig weise für die Suche nach weiteren oder ein Studium nicht fürs Leben
für die Orientierung. Informationen. festlegen.

W
enn seine Frau unterwegs zur scheidung danebenliegen: Einer von drei Studenten, die
Arbeit ist und für die drei Kinder ein Bachelor-Studium beginnen, bringt es nicht zu Ende.
Schule und Kindergarten be- Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage: Wie
gonnen haben, macht sich Felix können Schulabgänger erkennen, was das Richtige für
Bohne erst mal einen Kaffee. sie ist? Haben sie überhaupt schon genug Einsicht, um
Dann sucht er im Internet nach ihre Fähigkeiten korrekt einzuschätzen? Und woran
ausgedienten Industrie- und Werkstattmöbeln: Lam- merken sie, ob sie die falsche Wahl getroffen haben?
pen, Hockern, Stühlen und Schränken. Oder er geht Felix Bohne hat nach dem Abitur zwischen Jura und
direkt in seine Werkstatt unter der Wohnung und fängt Biologie geschwankt und sich für beides beworben.
an, eines der alten Stücke aus Holz und Metall mit Stahl- Weil er noch Wartesemester sammeln musste, begann
bürste, Schleifer und Pinsel zu bearbeiten. Um 16 Uhr er eine Ausbildung zum Schreiner, die er jedoch ab-
kommen die Kinder nach Hause. So geht das drei Tage brach, als er einen Studienplatz in Biologie in Konstanz
die Woche. Von Donnerstag bis Samstag verkauft er die bekam. »Ich wusste nicht wirklich, was mich im Studi-
aufgearbeiteten Raritäten in seinem Laden »Dr. Bohne« um erwartet«, sagt Bohne. Aber das Fach liegt ihm.
im Stuttgarter Lehenviertel, während seine Frau die Sein Diplom und die anschließende Promotion über
Kinderbetreuung übernimmt. Hepatitis-B-Viren gehen reibungslos vonstatten. Als
Was wohl nur wenige Käufer ahnen: Der Name des Postdoc arbeitet er anschließend mit einem Stipendium
Geschäfts ist kein Scherz – Bohne ist promovierter Bio- der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Barcelona,
loge. Nach seiner Doktorarbeit und einigen Jahren als wo er in einer internationalen Arbeitsgruppe die Ver-
Laborleiter kehrte er 2015 der Wissenschaft den Rücken. träglichkeit von Lebertransplantationen untersucht.
»Heute weiß ich, dass das für mich genau die richtige »Diese Zeit war phänomenal«, erinnert sich Bohne.
Art ist, um zu leben und zu arbeiten«, sagt Bohne.
Die Metamorphose vom Naturwissenschaftler zum Verunsicherung ist ganz normal
Möbelrestaurator wirkt ungewöhnlich. Dass Erwach- Die Berufsfindung ist immer ein komplexer Prozess, der
sene ihren einmal gelernten Beruf wechseln, ist jedoch sich über die ganze Kindheit und Jugend erstreckt. Vor-
in Deutschland weit verbreitet. So ergab eine Studie des bilder, Informationen aus den Medien und aus dem
Bundesinstituts für Berufsbildung und der Bundesan- Schulunterricht fließen ebenso ein wie Ratschläge und
stalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, dass nur die Erwartungen von Freunden, Eltern und Verwandten.
Hälfte der Menschen, die eine Berufsausbildung ge- Neben der Unübersichtlichkeit der Entscheidung ist
macht haben, vier Jahre später noch ihrer gelernten Tä- dabei oft die Vorstellung belastend, eine grundlegende
tigkeit nachgehen. Während die Mehrheit der Umsteiger Weichenstellung fürs restliche Leben vorzunehmen.
eine verwandte Arbeit sucht, ergreift ein Drittel sogar Die Forschung zeigt: Es gibt dabei verschiedene Ar-
einen komplett neuen Beruf. Die Bundesagentur für ten von Unsicherheit. Eine ist die »entwicklungsbeding-
Arbeit begleitet jedes Jahr rund 45 000 Umschulungen – te Unentschlossenheit«, erklärt der Psychologe Andreas
vom Zimmermann zum Kaufmann, von der Küchenhil- Hirschi von der Universität Bern. Sie befalle häufig
fe zur Buchhalterin, vom Tontechniker zum Erzieher. Schüler, die bis zum Schulabgang noch ein wenig Zeit
Und auch wer ein Studium beginnt, kann mit der Ent- haben, und wachse sich üblicherweise von selbst aus.
Etwas anderes ist Hirschi zufolge die »chronische Un-
entschlossenheit«. Wer davon betroffen ist, denkt zwar
viel über sich selbst nach und informiert sich, kommt
U N S E R AU TO R aber trotzdem zu keinem Ergebnis. Laut einer Studie
von Hirschi und seinen Kollegen aus dem Jahr 2015 geht
Joachim Retzbach ist promovierter
Psychologe und Wissenschaftsjournalist.
diese hartnäckige Entscheidungsschwäche tendenziell
Er arbeitet als freier Autor und als mit Persönlichkeitseigenschaften wie einer geringen
Forschungsredakteur für das Portal Selbstachtung sowie mit Stimmungsschwankungen ein-
»Wissenschaftskommunikation.de«. her; sie macht auf lange Sicht unglücklich.

GEHIRN&GEIST 24 0 4 _ 2 0 1 9
PSYCHOLO GIE / BERUFSWAHL

Was also tun, wenn man an den Punkt kommt, über auch hart erarbeitet sein. »Meist ist es eine Kombination
den weiteren Berufsweg nachdenken zu müssen? von beidem«, erläutert Hirschi. »Manche Dinge fallen
Grundsätzlich kommt es Hirschi zufolge auf zwei Dinge uns von Natur aus leichter. Und das sind oft auch die
an: eine ausführliche Selbstreflexion – die durch psy- Fähigkeiten, die wir im Lauf des Lebens immer weiter-
chologische Tests unterstützt werden kann – und das entwickeln.«
Wissen darum, welche Berufs- und Studienangebote es Vor allem wenn es um berufliche Neigungen und In-
überhaupt gibt. »Zentral sind dabei Interessen, also die teressen geht, sollen Fragebogen bei der Selbstfindung
Frage: ›Womit beschäftige ich mich gerne?‹, sowie per- helfen. Das Angebot dazu ist schwer überschaubar. Hir-
sönliche Stärken, also: ›Was fällt mir leicht?‹« Daneben schi rät, stets zu fragen: Ist ein Test wissenschaftlich un-
spielten Werte und Bedürfnisse eine Rolle, so Hirschi. tersucht? Erfüllt er die grundlegenden psychologischen
Den Begriff »Talent« dagegen versucht der Psycholo- Gütekriterien? Schaut man genauer hin, offenbaren sich
ge zu vermeiden. Denn dabei schwinge die Idee mit, die Grenzen nahezu aller Verfahren. Bei der Reliabilität,
dass unsere Fähigkeiten zum Großteil angeboren seien. einem der wichtigsten Gütekriterien, schneiden viele
Stärken können dagegen sowohl in die Wiege gelegt als Tests noch gut ab. Sie bedeutet, grob gesagt, dass bei
zweimaliger Bearbeitung durch dieselbe Person dassel-
be Ergebnis herauskommen muss. Ein Fragebogen, der
montags einem Schüler das Bäckerhandwerk nahelegt,
ihm donnerstags aber eine Banklehre als Berufsziel vor-
schlägt, wäre offensichtlich unbrauchbar.
Schwieriger wird es hingegen bei der Validität. Mit
»prognostischer Validität« etwa bezeichnen Forscher
die Vorhersagekraft eines Tests, also wie treffsicher er
Resultate in der Zukunft voraussagt. Nur für wenige
Fragebogen existieren jedoch echte Langzeitstudien, die
prüfen, ob ein Berufswahltest auch auf lange Sicht rich-
tiglag. Und wenn, umfassen solche Studien meist ledig-
lich einen Zeitraum von wenigen Jahren – für eine Wahl,
die das gesamte Berufsleben prägen kann, ein eher
SILICYA ROTH; MIT FRDL. GEN. VON FELIX BOHNE

überschaubarer Rahmen.

Felix Bohne arbeitet alte Industriemöbel


auf und verkauft sie in seinem Stuttgarter Laden.
Dafür hat der promovierte Biologe seinen
Job in der Forschung aufgegeben, bei dem er
ein Labor leitete.
FRANK GÜNTHER; MIT FRDL. GEN. VON FELIX BOHNE

GEHIRN&GEIST 25 0 4 _ 2 0 1 9
Einer der bekanntesten in Deutschland eingesetzten gen, dass die Passung von Interessen- und Tätigkeits-
Fragebogen ist der »Berufs-Interessen-Test II« (abge- profil zumindest teilweise voraussagt, wie zufrieden
kürzt »BIT-II«). Die Teilnehmer wählen wiederholt aus Menschen mit einem aufgenommenen Studium oder
einer Reihe von beruflichen Tätigkeiten aus, welche da- Job sind. Doch an dem ubiquitären Modell gibt es auch
von sie am liebsten ausführen würden. So wird ihre Nei- Kritik: So ist die Vorstellung, dass bestimmte Interessen
gung zu einer von neun Interessengruppen festgestellt – miteinander verwandt sind, andere sich aber eher wi-
etwa »technisches Handwerk«, »gestaltendes Hand- dersprechen, wohl nicht haltbar. Das zeigt ein Blick auf
werk« oder »kaufmännische Berufe«. Die erste Version Berufe, die scheinbar Widersprüchliches vereinen –
des Tests entwickelte der Sozialpsychologe Martin Irle etwa Kulturmanagement.
(1927–2013) bereits in den 1950er Jahren. Gemeinsam Andreas Hirschi stört am RIASEC-Modell, genau wie
mit seinem Doktoranden, dem heutigen Unternehmens- an vielen anderen Betrachtungen der beruflichen Inter-
berater Wolfgang Allehoff, stellte er 1984 die überarbei- essen, vor allem der statische Ansatz. Neigungen und
tete Fassung vor. Vorlieben bleiben, zumindest laut der ursprünglichen
Theorie von Holland, ein Leben lang gleich. »Das ist
Langfristige Evaluation ist selten natürlich unwahrscheinlich – unsere Interessen entwi-
Als im Jahr 2016 ein Team von Psychologen, dem auch ckeln sich über das ganze Berufsleben weiter«, meint
Allehoff angehörte, den BIT-II einer leichten sprachli- Hirschi.
chen Überarbeitung unterzog und die neue Version Der Psychologe Aljoscha Neubauer von der Univer-
(»BIT-II-A«) rund 370 Schülern vorlegte, fanden sie sität Graz bricht in seinem Buch »Mach, was du kannst«
deutliche Übereinstimmungen zwischen den ermittel- eine Lanze dafür, Interessen bei der Berufswahl ohne-
ten Interessengruppen und den beliebtesten Schulfä- hin nicht zu wichtig zu nehmen. Viel zu oft werde nicht
chern sowie Freizeitbeschäftigungen der Probanden. danach gefragt, wo die eigenen Kompetenzen liegen,
Die Forscher wiesen aber auch darauf hin, dass Berufe, was zu Frustration führe, so Neubauer. Vor allem wer
die erst in den vergangenen 30 Jahren entstanden sind, ambitionierte Karriereziele hegt, solle unbedingt her-
derzeit keinen Platz im Kategoriensystem hätten, wes- ausfinden, worin er wirklich gut ist – und sich einen Be-
halb weitere Überarbeitungen nötig seien. Langfristig ruf suchen, in dem er diese Stärken ausspielen kann.
angelegte Evaluationsstudien fehlen ebenfalls. Der Haken ist allerdings: Unsere Fähigkeiten können
Noch bekannter ist das international weit verbreitete wir nicht so zuverlässig einschätzen wie das, was uns
RIASEC-Modell, das der Psychologe John Holland Spaß macht. Das gilt vor allem für Jugendliche, wie eine
(1919–2008) im Lauf seiner Karriere über einen Zeit- Studie von Neubauer aus dem Jahr 2018 zeigt. Beson-
raum von vier Jahrzehnten entwickelte. Es besteht aus ders schlecht konnten Schüler ihre sprachlichen Fertig-
sechs Interessensdimensionen, die Holland zufolge zu keiten und ihr räumliches Denken beurteilen, bei der
dem Profil eines Jobs passen müssen, das wiederum auf Kreativität und den sozialen Fähigkeiten sah es schon
denselben Dimensionen angegeben wird (siehe »Das etwas besser aus. Für die Berufswahl ist das ein Prob-
RIASEC-Modell«, unten). lem: Menschen, die keine Erfahrung mit der Arbeits-
Das RIASEC-Modell wurde in Hunderten von Studi- welt haben, wissen meist nicht, was sie gut können und
en eingesetzt und ist damit die am besten untersuchte was nicht. Das ist einer der Gründe, warum Schulen
Theorie über berufliche Interessen. Viele Ergebnisse zei- Berufspraktika anbieten. Wichtig sei dabei aber, nicht

Das RIASEC­Modell
Nach einem in den 1970er Jahren von dem US-ame- Verkauf. »Conventional«: Interesse an traditionellen,
rikanischen Psychologen John Holland vorge- strukturierten Tätigkeiten wie beispielsweise Buch-
schlagenen Modell lassen sich berufliche Neigungen haltung, Bankwesen oder Statistik.
auf sechs Dimensionen darstellen. »Realistic«: Für Personen und auch für Berufe lassen sich
Interesse an konkreter, physischer Aktivität, zum jeweils die drei vorherrschenden Typen ermitteln.
Beispiel handwerkliche oder technische Berufe. Eine hohe Passung zwischen Persönlichkeit und
»Investigative«: Interesse am Lösen von Problem und beruflichen Anforderungen liefert Hinweise auf die
Forschen. »Artistic«: Interesse an künstlerischen, spätere Studien- oder Jobzufriedenheit. Gegen das
kreativen und wenig strukturierten Tätigkeiten. Modell wird vorgebracht, dass die Interessen eines
»Social«: Interesse an Berufen mit sozialer Verant- Menschen nicht ein Leben lang stabil sein müssen
wortung wie Pädagoge, Psychologe oder Berater. und bei manchen sehr breit gefächert sind. Zudem sei
»Enterprising«: Interesse an Unternehmertum und die Zuordnung vieler Berufe zu den Dimensionen
Führung von Mitarbeitern, etwa in Handel und oft nicht trennscharf möglich.

GEHIRN&GEIST 26 0 4 _ 2 0 1 9
PSYCHOLO GIE / BERUFSWAHL

von der Erfahrung in einem speziellen Betrieb auf den M E H R W I S S E N AU F


»SPEKTRUM.DE«
Beruf allgemein zu schließen, sagt Andreas Hirschi.
Auf die Frage, ob nun Interessen oder Stärken wichti- Wie sich die Ernährung auf Psyche
ger sind, gibt es dem Psychologen zufolge keine klare und Gesundheit auswirkt, lesen
Antwort. Nur auf die eigenen Fähigkeiten zu schielen, Sie in unserem digitalen Spektrum
Kompakt »Beruf und Karriere«:
greife jedoch in jedem Fall zu kurz. »Vielleicht kann je-
mand gut mit Zahlen umgehen und hat einen genauen www.spektrum.de/shop
Blick, möchte aber trotzdem nicht Buchhalter werden.
Das ist dann auch okay«, so Hirschi.
Eine naheliegende Anlaufstelle, wenn es um die be-
rufliche Orientierung geht, sind die Arbeitsagenturen, sei aber nicht mit harten Zahlen belegbar, sagt Andreas
die vor Kurzem ihr digitales Angebot modernisiert ha- Hirschi. Es gab demnach immer schon Leute, die »et-
ben. Herzstück ist das »Selbsterkundungstool«, das die was Sinnvolles« tun möchten, und andere, die eher die
Bundesagentur seit Mitte 2018 auf ihrer Website an- finanzielle Absicherung im Blick haben. Häufig sei je-
bietet – die vollständige Bearbeitung dauert rund zwei doch im Leben des Einzelnen eine Entwicklung zu be-
Stunden. Für berufliche Interessen kommt hier eben- obachten: Wenn Menschen älter werden, wird es ihnen
falls das RIASEC-Modell zum Einsatz. In weiteren Mo- oft wichtiger, etwas zu tun, was ihren Wertvorstellungen
dulen werden zudem Fähigkeiten getestet wie mathema- entspricht. »Die Jüngeren dagegen wollen sich meist
tisches Verständnis, räumliche Vorstellungskraft oder erst einmal etwas aufbauen, an ihren Referenzen und
logisches Denken. Hinzu kommen Fragen, die soziale der Karriere arbeiten. Dafür stellen sie auch mal per-
Kompetenzen erfassen, etwa Stressresistenz, Einfüh- sönliche Wünsche hintan«, so Hirschi.
lungsvermögen und Konfliktfähigkeit, sowie die berufli- Davon abgesehen zeigt die Forschung jedoch, dass es
che Motivation. Am Ende steht eine Liste von Jobs oder dem Lebensglück nicht zwangsläufig zuträglich ist, Er-
Studiengängen, die zum Profil des Teilnehmers passen. füllung in der beruflichen Tätigkeit zu suchen. Stattdes-
sen überhöht man dadurch womöglich die Ansprüche
Onlinetests geben nur Hinweise an die eigene Jobwahl. »Es ist natürlich schön, wenn
Selbsttests – und seien sie noch so umfangreich und man etwas macht, was einem sinnvoll vorkommt«, sagt
wissenschaftlich fundiert – können Menschen die Ent- Hirschi. »Aber das Leben besteht ja nicht nur aus Arbeit.
scheidung jedoch nie abnehmen. Die Bundesagentur Man kann auch in anderen Lebensbereichen erfüllen-
für Arbeit etwa empfiehlt, das Selbsterkundungstool mit den Beschäftigungen nachgehen.«
der kostenlosen Berufsberatung vor Ort zu verknüpfen. Gibt es allerdings eine Tätigkeit, zu der sich ein Ju-
Das Ergebnis des Tests liefere lediglich Hinweise darauf, gendlicher berufen fühlt, hat das unbestreitbar Vorteile:
mit welchen Studiengängen oder Ausbildungen es sich Er ist dann entschiedener in seiner Berufswahl und hat
näher auseinanderzusetzen lohnt. Das lässt sich wieder- größeres Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten. Der Zu-
um in die persönliche Beratung integrieren. sammenhang mit der Lebenszufriedenheit ist dagegen
Aktuelle Forschungsergebnisse sprechen ebenfalls nicht so eindeutig, wie eine Untersuchung zeigt, die
dafür, sich nicht nur auf digitale Entscheidungshilfen zu Hirschi und seine Kollegin Anne Herrmann von der
verlassen. Ein Team um die Psychologin Susan Whiston Hochschule für Angewandte Psychologie in Olten
von der Indiana University wertete 2017 in einer Meta- (Schweiz) 2012 vorgestellt haben. Nur wenn aus der Be-
analyse die Effektivität verschiedener Verfahren zur Be- rufung eine stärkere »berufliche Identität« erwächst, so
rufsfindung aus. Die persönliche Unterstützung durch die Erkenntnis, steigt mit ihr das Lebensglück. Darunter
einen Berater stellte sich dabei als der wichtigste Faktor verstehen die Forscher, wie gut man sich über seine
dafür heraus, ob die Untersuchten mit ihrer Entschei- beruflichen Präferenzen, Interessen und Fähigkeiten im
dung und ihrem Karriereweg zufrieden waren. Klaren ist. Zudem, das zeigt eine Studie von Hirschi aus
Auf Platz zwei in Whistons Übersichtsarbeit folgte dem Jahr 2018, entscheiden die Möglichkeiten und Res-
die Klärung persönlicher Werte. Das heißt, Schulabgän- sourcen am jeweiligen Arbeitsplatz darüber, ob man
ger sollten sich die Frage stellen, an welchen grundle- das Gefühl hat, seine Berufung wirklich ausleben zu
genden Leitsätzen und Zielen sie ihr Leben ausrichten können.
wollen. Darunter fallen zum Beispiel die viel beschwo- Doch selbst wenn es gelingt, die Leidenschaft zum
rene Work-Life-Balance oder der Wunsch, etwas Be- Beruf zu machen, muss keineswegs alles rosig sein. Un-
deutsames für die Gesellschaft zu leisten. tersuchungen belegen: Menschen, die ihre Tätigkeit als
Ob es wirklich stimmt, dass Arbeitnehmer immer Berufung erleben, sind eher bereit, schlechtere Rahmen-
häufiger die Sinnfrage stellen – wie es den nach 1980 bedingungen wie ein niedriges Gehalt und viele Über-
Geborenen, auch als Generationen Y und Z bezeichnet, stunden in Kauf zu nehmen, als Menschen, die eine
nachgesagt wird –, ist dagegen umstritten. Ein solcher nüchterne Beziehung zu ihrer Arbeit haben. Ganz un-
Generationeneffekt werde zwar oft herbeigeschrieben, günstig ist es Studien zufolge schließlich, wenn man

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PSYCHOLO GIE / BERUFSWAHL

»Eine Ausbildung oder auch gebracht, und vielleicht wäre alles anders gekommen,
wenn ich hier oder da eine andere Entscheidung getrof-
ein Studium ist erst fen hätte.« Am Ende sei es jedoch genau das Richtige für
mal nur der erste Schritt ins ihn gewesen, zu wechseln.
»Lebenswege verändern sich, berufliche Ziele verän-
Berufsleben« dern sich, und Umwege müssen erlaubt sein«, meint die
Psychologin Mechthild Treziak-König von der Bundes-
Saskia Köhler, Berufsberaterin
agentur für Arbeit. Wenn jemand sagt: »Ich bin im fal-
schen Beruf«, liege es häufig aber nur an der konkreten
glaubt, eine berufliche Bestimmung zu haben, diese aber Konstellation, in der jemand tätig sei. Also etwa, dass
erst noch finden zu müssen: Das geht mit Zaudern und der Arbeitgeber, die Kollegen, die konkreten Herausfor-
Unzufriedenheit mit der Berufswahl einher. derungen oder Entwicklungsmöglichkeiten nicht den
Und wie steht es mit einem Jobwechsel? Wann merkt eigenen Vorstellungen entsprächen. Mit Fortbildungen
man, dass man wirklich etwas anderes machen muss? und Jobwechseln könne man oft schon die Lebenssitua-
»Bei mir ging das am Ende sehr schnell«, erinnert sich tion verändern, ohne ganz von vorn anfangen zu müs-
Felix Bohne. Zurück in Deutschland, leitet er als Senior sen, so Treziak-König.
Postdoc eine eigene Arbeitsgruppe. Je weiter man auf- Für den radikalen Neuanfang – ob Studium, Ausbil-
steigt, desto eher muss man aber Management betrei- dung oder Job – gibt es theoretisch keine Altersgrenze.
ben, statt inhaltlich zu arbeiten: Drittmittel einwerben, Praktisch hat man ab einem gewissen Alter mehr Mühe,
Verträge aushandeln, Mitarbeiter führen. »Das war ein- umzusatteln. »Wer mit 50 etwas Neues anfängt, wird
fach nicht, was ich machen wollte«, sagt Bohne. Mit ei- komisch angeschaut – leider«, sagt Hirschi. »Da gibt es
ner Professur – dem nächsten logischen Karriereschritt – noch starke Normvorstellungen.« Allerdings geht der
hätte sich all das noch verschlimmert. Psychologe davon aus, dass sich das demnächst ändern
wird, da die Menschen immer länger arbeiten. Wer mit
»Dann dachte ich plötzlich: Das war’s« 45 eine Umschulung macht, kann bald davon ausgehen,
Zeit für sein Privatleben und die mittlerweile drei Kin- im neuen Beruf 20 weitere Arbeitsjahre zu verbringen.
der bleibt noch weniger als vorher. Wenn er abends Prinzipiell laufe der Entscheidungsprozess ähnlich ab
nach Hause kommt, ist er oft genervt von der Arbeit. wie bei der Berufswahl in jungen Jahren, erklärt Hirschi.
2014 verbringt er dann einen Urlaub – den ersten seit Es geht also darum, sich zu überlegen: Was interessiert
langer Zeit – fast komplett vor dem Computer, weil es mich, was kann ich, was ist mir wichtig – und welche
bei einem Projekt brennt. Zwischen ihm und einfluss- Möglichkeiten gibt es überhaupt?
reichen Kollegen knirscht es bei einem gemeinsamen Berufliche Veränderungen passieren und sind ein
Antrag, eine wichtige Sitzung kurz vor Weihnachten es- Stück weit Normalität. Das versuchen auch die Berufs-
kaliert. »Dann dachte ich plötzlich: Das war’s.« berater in den Arbeitsagenturen den Jugendlichen zu
Es folgten der Umzug ins heimische Stuttgart und vermitteln, die Angst vor dieser wichtigen Entschei-
verschiedene Ideen für den Neustart. Dass er mit dem dung haben. »Eine Ausbildung oder ein Studium ist erst
Tischlern wieder begonnen hat, ergab sich dabei eher mal nur der erste Schritt ins Berufsleben«, sagt Saskia
zufällig. »Ich hatte angefangen, ein paar alte Werkstatt- Köhler von der Agentur für Arbeit in Oldenburg-Wil-
möbel aufzuarbeiten, und wollte sie im Internet verkau- helmshaven. Tatsächlich seien sogar viele ihrer Kolle-
fen. Da wurde das Ladengeschäft unten im Haus frei – gen, die als Berufsberater in den Arbeitsagenturen tätig
früher war das mal der Elektroladen meiner Oma«, er- sind, dafür die perfekten Beispiele: Viele von ihnen ha-
zählt Bohne. So kam eins zum anderen. Mittlerweile ist ben etwas ganz anderes gearbeitet, bevor sie in ihrem
das Geschäft profitabel. jetzigen Beruf landeten. »Klar ist es eine wichtige
Den Schritt habe er nie bereut, sagt Bohne. »Ich habe Entscheidung, die das ganze Leben beeinflusst«, sagt
auch glückliche Jahre in der biologischen Forschung zu- Köhler. »Aber danach kommt noch ganz, ganz viel.« H

QUELLEN

Hirschi, A. et al.: Living one’s Calling: Job Resources as a Link between


Having and Living a Calling. In: Journal of Vocational Behavior 106, S. 1–10, 2018
Neubauer, A. C. et al.: The Self–Other Knowledge Asymmetry in Cognitive Intelligence, Emotional Intelligence,
and Creativity. In: Heliyon 4, e01061, 2018
Whiston, S. C. et al.: Effectiveness of Career Choice Interventions: A Meta-Analytic Replication and Extension.
In: Journal of Vocational Behavior 100, S. 175–184, 2017
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1623832

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SELBSTTÄUSCHUNG Wir überschätzen unser Wissen systematisch –


eine Illusion mit vielen guten Seiten, die uns Selbstvertrauen und
Wagemut schenkt.

Wir wissen
viel weniger, als
wir glaubenVON STEVEN SLOMAN UND PHILIP FERNBACH
MIT FRDL. GEN. VOM LOS ALAMOS NATIONAL LABORATORY

1946 führte Louis Slotin ein Experiment mit zwei


Halbkugelschalen aus Beryllium und einem Pluto­
niumkern durch, in dessen Folge der junge Physiker
starb. Er hatte leichtsinnig auf wichtige Sicherheits­
vorkehrungen verzichtet. Das Bild ist eine Rekons­
truktion des verhängnisvollen Versuchs.

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Bei diesem Beitrag handelt es im Krankenhaus. Die übrigen Anwesenden konnte sich
sich um einen gekürzten und zunächst von der Strahlenkrankheit wieder erholen,
bearbeiteten Auszug aus dem
doch einige starben recht jung an Krebs oder anderen
neuen Buch von Steven Sloman
und Philip Fernbach »Wir Krankheiten, die vermutlich durch die Strahlenver­
denken, also bin ich: Über seuchung ausgelöst wurden. Wie konnten so kluge und
Wissen und Wissensillusionen«, erfahrene Leute sich so dämlich anstellen?
das im Februar bei Beltz er­ Natürlich kommt es immer wieder zu Unfällen, das
schienen ist.
ist der Lauf der Welt. Jeder hat sich schon einmal aus
Versehen in den Finger geschnitten oder die Hand in
der Autotür eingeklemmt. Aber man würde doch an­
nehmen, dass eine Gruppe von erfahrenen Experimen­
talphysikern über geeignetere Vorsichtsmaßnahmen
verfügt als einen Schraubenzieher in der Hand, um sich
vor tödlicher nuklearer Strahlung zu schützen. Slotins
Kollegen sagten hinterher aus, dass es im Labor geeig­
nete Sicherheitsvorkehrungen gab, die Slotin durchaus
kannte. So wurden normalerweise Distanzstücke ange­

A
cht Männer befanden sich im Werk­ bracht, die die Berührung der Halbkugeln verhindern,
raum des Laboratoriums des damals und es gab eine Mechanik auf Schienen, mit der man
hochgeheimen Kernforschungszent­ das Beryllium langsam an das Plutonium heranschob.
rums Los Alamos, als ein junger Physi­ Warum war Slotin so leichtsinnig?
ker namens Louis Slotin dort 1946 ein Wir nehmen an, dass er bei seinem Experiment der­
riskantes Experiment durchführte, das selben Illusion erlag wie wir alle, wenn wir glauben, wir
der später weltberühmte Physiker Richard Feynman als hätten eine Sache im Griff und verstehen genug davon,
»den Drachen am Schwanz kitzeln« bezeichnete. Slotin obwohl das in Wirklichkeit gar nicht der Fall ist. Die
hatte im Jahr zuvor den Kern der ersten Atombombe, Überraschung, die der junge Physiker erlebt hat, unter­
der Hiroshima­Bombe, montiert. Nun wollte er seinen scheidet sich kaum von der Überraschung, die wir erle­
Kollegen zeigen, wie sich Plutonium verhält, wenn man ben, wenn wir einen tropfenden Wasserhahn reparieren
es mit dem Leichtmetall Beryllium zusammenbringt. wollen und das Ganze mit einer Überschwemmung im
Plutonium ist die wichtigste radioaktive Substanz in Bad endet. Oder wenn Sie Ihrer Tochter bei den Mathe­
Atombomben. Slotin hatte vor, zwei Halbkugelschalen hausaufgaben helfen wollen, bei Quadratgleichungen
aus Beryllium, die um einen Plutoniumkern angeord­ allerdings schnell mit Ihrem Latein am Ende sind. So
net waren, so dicht zusammenzubringen, dass eine Ket­ kommt es ziemlich oft vor, dass wir voller Selbstvertrau­
tenreaktion ausgelöst würde. Beryllium reflektiert die en eine Sache anpacken und Bescheid zu wissen glau­
Neutronen und verstärkt so die Kettenreaktion. ben, »wie die Dinge laufen«; oft ist dieses Selbstvertrau­
Es handelte sich allerdings um ein gewagtes Experi­ en am Ende einigermaßen erschüttert.
ment. Falls die beiden Halbkugelschalen einander zu Neigen wir Menschen generell dazu, unsere Kennt­
nahe kämen, konnte es zu einer unkontrollierten Ket­ nisse zu überschätzen? Ist unser Wissen viel oberfläch­
tenreaktion und damit zum Austritt von Strahlung
kommen. Der damals 36­jährige Slotin war zwar ein er­
fahrener Experimentator, aber zum Auseinanderhalten
der beiden Berylliumschalen verwendete er nur seine
linke Hand, welche die eine Halbschale mittels eines
Daumenlochs im Griff hatte, und einen Schraubenzie­
her in der rechten Hand, mit dessen Hilfe er die beiden
THAD RUSSELL

EMILY SACCO

Schalen noch auf Abstand hielt. Dabei rutschte der


Schraubenzieher aus Versehen aus dem Spalt, die
beiden Halbschalen krachten aufeinander, wodurch
prompt eine überkritische Reaktion ausgelöst wurde. D I E AU TO R E N
Die acht Physiker im Raum wurden mit einer gefähr­
lich hohen Strahlendosis verseucht. Slotin hatte zwar Steven Sloman (links) ist Professor für Kognitions-
wissenschaften, Linguistik und Psychologie an der
auf Grund eines Hitzestoßes die linke Hand unwillkür­
Brown University im US­amerikanischen Bundesstaat
lich nach oben gerissen und die beiden Berylliumscha­ Rhode Island und Herausgeber der Zeitschrift »Cog­
len wieder getrennt und dadurch auch die Kettenreak­ nition«. Philip Fernbach ist Kognitionswissenschaftler
tion beendet. Aber er hatte die mit Abstand höchste und Professor für Marketing an der Leeds School
Strahlendosis abbekommen und starb neun Tage später of Business an der University of Colorado Boulder.

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Es ist wirklich verblüffend, Mechanismus funktioniert. Dann beantworten Sie die
dritte Frage:
wie lückenhaft und vage 3. Geben Sie noch einmal auf einer Skala von 1 bis 7 an,
unser Wissen über vertraute wie genau Sie wissen, wie ein Reißverschluss funktioniert.
Jetzt werden Sie bei der Angabe vermutlich etwas be­
Alltagsgegenstände ist scheidener sein. Nachdem sie aufgefordert wurden, die
Funktionsweise eines Reißverschlusses genau zu erklä­
ren, werden die meisten Menschen einsehen, dass sie
licher und ungenauer, als wir selbst meinen? Das fragte davon wenig bis keine Ahnung haben, und begnügen
sich der Kognitionswissenschaftler Frank Keil von der sich mit einer Angabe von eins oder zwei.
Yale University in Connecticut. Schon lange hatte er Dieses Beispiel zeigt sehr schön, wie wir alle im Hin­
sich intensiv mit den Mutmaßungen beschäftigt, die blick auf unser Wissen in einer Illusionsblase leben. Bei
Menschen anstellen, wenn sie sich erklären wollen, wa­ der ersten Selbsteinschätzung gaben die Probanden an,
rum etwas funktioniert hat und warum nicht. Es zeigte besser zu wissen, wie ein Reißverschluss funktioniert,
sich bald, dass diese Auffassungen ziemlich oberfläch­ als sie es tatsächlich taten. Wenn sie ihre Kenntnisse
lich und unzulänglich waren. beim zweiten Mal niedriger bewerteten, gaben sie da­
Doch zunächst kam Keil nicht weiter. Denn es gelang mit implizit zu verstehen: »Ich weiß darüber weniger,
ihm nicht, eine wissenschaftlich zuverlässige Methode als ich dachte.«
zu entwickeln, mit der sich messen lässt, was die Men­ Es ist erstaunlich, wie leicht es ist, die Menschen über
schen tatsächlich wissen und was sie nur zu wissen mei­ ihre diesbezügliche Wissensillusion aufzuklären: Man
nen. Die verschiedenen Verfahren, die er zunächst an­ muss nur nachhaken und um eine konkrete Erklärung
wandte, nahmen entweder zu viel Zeit in Anspruch, er­ bitten. Das gilt natürlich noch für sehr viele andere Din­
wiesen sich als zu unsicher in der Bewertung oder ge, nicht nur für Reißverschlüsse. Die gleichen Resulta­
führten dazu, dass die Teilnehmer ihre Angaben schön­ te erzielten Rozenblit und Keil, wenn sie nach der Funk­
ten. Aber dann hatte er eine Erleuchtung und entwickel­ tionsweise von Tachometern, Klaviertasten, Klospülun­
te die so genannte Illusion of Explanatory Depth, kurz gen, Zylinderschlössern, Hubschraubern, Quarzuhren
IoED (Selbsttäuschung über das Erklärungsvermögen). und Nähmaschinen fragten – egal ob sie Studienanfän­
Bei dieser Methode traten die bisherigen Probleme ger oder Studenten im höheren Semestern befragten,
nicht mehr auf: »Ich erinnere mich noch genau, wie ich sowohl an Eliteuniversitäten wie Yale als auch an durch­
zu Hause unter der Dusche stand und mir dabei die ge­ schnittlichen regionalen Unis. Wir selbst fanden den
samte Versuchsanordnung der IoED einfiel, während Befund viele, viele Male bei weiteren Tests, etwa eben­
mir das Wasser – zugegeben – länger als sonst über den falls bei Studienanfängern oder bei Zufallsbefragungen
Rücken lief. Ohne Frühstück raste ich sofort mit dem von Amerikanern über das Internet. Wir haben zudem
Wagen in die Uni und schnappte mir meinen Mitarbei­ festgestellt, dass sich die Wissensillusion nicht nur auf
ter Leon Rozenblit, mit dem ich schon seit Längerem Alltagsobjekte bezieht, sondern auf praktisch alle denk­
über Arbeitsteilung beim Erkenntnisgewinn forschte; baren Themen: Die Menschen überschätzen ihre Kennt­
wir fingen sogleich damit an, die Eckpunkte meiner nisse ebenso in Bezug auf Steuer­, Finanz­ oder Außen­
neuen Methode festzuhalten, und dann ging es an die
Ausarbeitung der Einzelheiten.«
Damit war ein Verfahren erfunden, wie sich der
Grad von Nichtwissen messen lässt, indem man die
Teilnehmer einfach bittet, etwas Beliebiges zu erklären, Auf einen Blick:
und bewertet, wie diese Erklärung die Beurteilung des Maßlose Selbstüberschätzung
eigenen Verständnisses beeinflusst. Wenn Sie einer der

1
vielen Menschen wären, die Keil und Rozenblit an­ Die meisten von uns glauben zu wissen, wie etwa ein
schließend getestet haben, dann wären Ihnen unter an­ Reißverschluss funktioniert, können es aber auf Rückfra­
derem folgende Fragen gestellt worden: ge nicht erklären. Sie sind einer Wissensillusion erlegen.
1. Geben Sie auf einer Skala von 1 bis 7 an, wie genau Sie

2
wissen, wie ein Reißverschluss funktioniert. Menschen überschätzen nicht nur ihre Kenntnisse über
2. Wie funktioniert ein Reißverschluss? Beschreiben Sie so die Funktionsweise von Alltagsgegenständen. Unser
detailliert wie möglich, wie ein Reißverschluss schließt. Wissen ist allgemein viel oberflächlicher und ungenau­
Wenn Sie, wie die meisten von Rozenblits und Keils er, als wir selbst meinen.
Probanden, nicht gerade zufällig in einer Reißver­

3
schlussfabrik arbeiten, dann haben Sie aller Wahr­ Die Wissensillusion gibt uns das Selbstvertrauen,
scheinlichkeit nach keine zufrieden stellende Antwort uns auch in neue Gebiete zu wagen. Daher ist sie für
auf die zweite Frage. Sie wissen einfach nicht, wie der den menschlichen Fortschritt unerlässlich.

GEHIRN&GEIST 32 0 4 _ 2 0 1 9
PSYCHOLO GIE / SELBST TÄUSCHUNG

AUS SLOMAN, S., FERNBACH, P.: WIR DENKEN, ALSO BIN ICH. MIT FRDL. GEN.
DES BELTZ VERLAGS IN DER VERLAGSGRUPPE BELTZ, WEINHEIM BASEL 2019

Welche wichtigen Teile eines Fahrrads fehlen bei der Skizze links? Könnten Sie zum Beispiel Kette
und Pedale richtig einzeichnen? Die Psychologin Rebecca Lawson bat Studenten in einem ihrer
Experimente darum. Überraschenderweise bereitete die Aufgabe vielen Probleme; etwa die Hälfte
der Teilnehmer waren nicht in der Lage, die fehlenden Teile richtig zu ergänzen (rechts).

politik, auf gentechnisch veränderte Lebensmittel und te die Psychologin Rebecca Lawson von der University
Klimawandel, selbst im Hinblick auf ihre eigenen Fi- of Liverpool Studienanfängern die schematische Zeich­
nanzen. Wir haben im Lauf der Jahre viele verschiedene nung eines Fahrrads, bei dem einige wesentliche Bautei­
psychologische Phänomene wissenschaftlich unter­ le fehlten (sowohl am Rahmen als auch die Kette und
sucht, aber bei keinem trifft man so zuverlässig auf die­ Pedale). Dann forderte sie ihre Studenten auf, die ent­
se gravierenden Fehleinschätzungen. sprechenden Teile zu ergänzen. Versuchen Sie es selbst
einmal. Welche Teile des Rahmens fehlen? Wo gehören
Ein Erklärungsversuch hilft, die eigene Kette und Pedale hin? (siehe oben)
Unzulänglichkeit zu erkennen Die Aufgabe bereitet erstaunlich große Schwierigkei­
Eine der wesentlichen Erkenntnisse, die wir aus diesen ten. Bei Lawsons Untersuchung war die Hälfte der Stu­
Befragungen ziehen, lautet: Wenn die Probanden auf­ denten nicht in der Lage, die Skizze richtig zu vervoll­
gefordert werden, konkrete Erklärungen abzuliefern, ständigen – einige Lösungsversuche sehen Sie oben
dann ändert sich offenbar der Sinn dessen, was sie unter rechts. Die Resultate waren selbst dann nicht besser, als
Wissen verstehen; so interpretieren wir das jedenfalls. die Probanden unter vier Zeichnungen lediglich die
Wenn sie gebeten werden, ihr Wissen auf einer Skala korrekte heraussuchen mussten. Viele tippten auf
einzuordnen, dann beantworten sie beim ersten Mal Zeichnungen, bei denen die Kette sowohl um das Vor­
vermutlich eine ganz andere Frage als beim zweiten Mal. derrad als auch um das Hinterrad gelegt war; damit
Vielleicht interpretieren sie die Frage zunächst im Sinn wäre Lenken unmöglich. Sogar selbst ernannte Fahrrad­
von »Wie effektiv kann ich über Reißverschlüsse nach­ experten waren nicht immer im Stande, diese anschei­
denken?«. Nachdem sie aufgefordert wurden, die Funk­ nend einfache Aufgabe zufrieden stellend zu lösen. Es
tionsweise tatsächlich zu erklären, überlegen sie wohl
eher, wie viele konkrete Kenntnisse sie darüber zum
Ausdruck bringen können. (…)
M E H R W I S S E N AU F
Vor dem Erklärungsversuch haben die Probanden »SPEKTRUM.DE«
das Gefühl, sie verstünden im Prinzip genug von einer
Sache oder einem Thema; anschließend haben sie er­ Wissenswertes über das menschliche
Denken und seine Besonderheiten
kannt, dass sie eigentlich ziemlich wenig bis gar nichts lesen Sie im Gehirn&Geist­Dossier
über den jeweiligen Gegenstand wissen. Rozenblit und »Das Geheimnis des Denkens«:
Keil gaben abschließend zu Protokoll, dass die meisten
www.spektrum.de/shop
Teilnehmer offen gestanden, sehr überrascht zu sein,
dass sie viel weniger Ahnung hatten, als sie ursprüng­
lich dachten.
Diese Wissensillusion findet sich ebenfalls sehr deut­
lich im so genannten Fahrrad­Kenntnistest. Dabei zeig­

GEHIRN&GEIST 33 0 4 _ 2 0 1 9
suchte er dann die gesamte »Wissenskapazität« eines
PICTURE ALLIANCE / MEDIAPUNCH / CNP / ARNIE SACHS

Erwachsenen hochzurechnen und kam auf ein halbes


Gigabyte. Zum Vergleich: Heute verfügt ein handels­
üblicher Laptop über eine Speicherkapazität von etwa
250 bis 1000 Gigabyte.
Landauer versuchte die Frage aber noch mit ganz an­
deren Methoden zu beantworten, etwa mit Gedächtnis­
tests. (…) Waren die Probanden in der Lage, einen Sin­
neseindruck (ein Bild, ein Wort oder ein kurzes
Musikstück), den man ihnen bereits einmal präsentiert
hatte, wiederzuerkennen? (…) Anhand der erfassten
Daten entdeckte er, dass Menschen Informationen im
Schnitt immer ungefähr innerhalb der gleichen Zeit­
spanne aufnehmen, unabhängig davon, um welche Art
von Sinneseindruck es sich handelt. Zudem versuchte
Landauer zu bestimmen, über wie viel abrufbereites
Wissen Menschen verfügen – unter der Voraussetzung,
dass sie im Lauf eines 70­jährigen Lebens in der glei­
chen Weise und Geschwindigkeit dazulernen. Von wel­
cher Seite und mit welchen Methoden er es auch an­
packte, es lief immer auf ungefähr das gleiche Ergebnis
hinaus: 1 Gigabyte. Doch selbst wenn man Abweichun­
gen mit dem Faktor 10 einkalkuliert, selbst wenn es
demnach Menschen gibt, die zehnmal mehr oder zehn­
Der damalige US­amerikanische Präsident John F. mal weniger als 1 GB Wissen speichern, dann handelt es
Kennedy kündigt 1961 an, seine Nation werde sich immer noch um kümmerliche Mengen von gespei­
noch bis zum Ende des Jahrzehnts einen Menschen cherter Information verglichen mit einem modernen
zum Mond schicken. Die Fakten sprechen nicht Durchschnittscomputer. Menschliche Gehirne sind
dafür, doch er behält mit seiner kühnen These recht. also wahrlich keine bemerkenswerten Datenspeicher.

Wir nutzen das Wissen in den


ist wirklich verblüffend, wie lückenhaft und vage unsere Köpfen anderer
Kenntnis von ganz vertrauten Alltagsgegenständen ist, Mit unserer Denkfähigkeit würden wir Menschen nicht
selbst von solchen, die wir täglich sehen und benutzen sehr weit kommen, wenn sie sich nur auf das bisschen
und deren Funktionsmechanismen mit bloßem Auge Wissen beschränken würde, das wir als Individuen spei­
leicht zu erkennen sind. chern. Das Erfolgsgeheimnis des menschlichen Den­
Wir sind also unwissender, als wir meinen. Aber wie kens liegt allerdings darin begründet, dass wir in der
unwissend sind wir eigentlich? Lässt sich das quantifi­ Welt, in der wir leben, von Wissen umgeben sind. So ha­
zieren oder abschätzen? Thomas Landauer hat versucht, ben wir leichten Zugang zu den enormen Wissens­
diese Frage zu beantworten. mengen in den Köpfen anderer Leute. Jeder von unseren
Landauer war ein Pionier der Kognitionswissen­ Freunden und Familienangehörigen verfügt über zuver­
schaft, der unter anderem an renommierten Universitä­ lässiges Spezialwissen in verschiedenen Bereichen. Wir
ten wie Harvard, Stanford und Princeton lehrte. Er be­ können einen Fachmann anrufen, der weiß, wie man
gann seine wissenschaftliche Laufbahn in den 1960er den Geschirrspüler repariert. Wir können auf Professo­
Jahren, als die Kognitionswissenschaftler noch ernsthaft ren, Experten und sonstige kluge Köpfe hören oder in
dachten, das menschliche Gehirn funktioniere so ähn­ Büchern oder im Internet nachlesen.
lich wie ein Computer. (…) Man stellte sich das Denken Daher ist es keineswegs überraschend, wenn es uns
wie ein Computerprogramm vor, das definiert, was im schwerfällt, das, was in unseren eigenen Köpfen ist, von
menschlichen Gehirn abläuft. (…) dem, was sich in anderen Köpfen befindet, zu unter­
In den 1980er Jahren wollte Landauer die Gedächt­ scheiden. Denn im Allgemeinen – möglicherweise so­
nisleistung des menschlichen Gehirns auf ähnliche gar immer – verwenden wir beides, indem wir uns ein­
Weise messen, wie man die Speicherkapazität eines fach dessen bedienen, was sich in den Köpfen anderer
Computers misst. Zum Beispiel versuchte er, den Wort­ befindet, um unsere eigenen Defizite zu ergänzen; das
schatz von Erwachsenen abzuschätzen, und rechnete geschieht meist ganz unbewusst. Wenn wir Geschirr
aus, wie viel Byte Speicherkapazität man dafür auf ei­ spülen wollen, gab es zum Glück bereits jemanden, der
nem Computer benötigt. Auf dieser Grundlage ver­ weiß, wie man Spülmittel herstellt, und jemand anderen,

GEHIRN&GEIST 34 0 4 _ 2 0 1 9
PSYCHOLO GIE / SELBST TÄUSCHUNG

der eine Ahnung davon hat, wie man warmes Wasser Die Wissensillusion verleiht den Menschen genü­
durch eine Leitung schickt. Ohne solche »Mitarbeiter« gend Selbstvertrauen, um in neue und unerforschte
wären wir verloren. Gebiete vorzustoßen. (…) Viele große Fortschritte und
Dass wir glauben, mehr zu wissen, als tatsächlich der Entdeckungen entstanden aus einer Fehleinschätzung
Fall ist, hat durchaus Vorteile. 1961 hatte John F. Ken­ des eigenen Horizonts. Daher ist diese Art der Selbst­
nedy bei seiner Amtseinführung keine faktische Grund­ überschätzung für das Vorankommen der Menschheit
lage für die Voraussage, dass die Amerikaner es schaffen unerlässlich – und auch für das jedes einzelnen von
würden, bis zum Ende des Jahrzehnts einen Menschen uns. Sie gibt uns zum Beispiel den nötigen Ansporn,
auf den Mond zu bringen. Seine Ankündigung war rei­ unser Fahrrad selbst zu reparieren oder die Garten­
ner Übermut. Aber er lag richtig. Und es ist unwahr­ laube eigenhändig zu bauen. Wir wagen uns nur des­
scheinlich, dass die Amerikaner zu solcher Zielstrebig­ halb an solche Unternehmungen, weil wir nicht rich­
keit gefunden hätten, wenn Kennedy nicht so kühn ge­ tig einschätzen können, worauf wir uns da gerade ein­
wesen wäre. lassen. H

QUELLEN

Landauer, T. K.: How Much Do People Remember? Some Estimates of the Quantity
of Learned Information in Long-Term Memory. In: Cognitive Science 10, S. 477–493, 1986
Lawson, R.: The Science of Cycology: Failures to Understand how Everyday Objects Work.
In: Memory & Cognition 34, S. 1667–1675, 2006
Rozenblit, L., Keil, F.: The Misunderstood Limits of Folk Science. An Illusion of Explanatory Depth.
In: Cognitive Science 26, S. 521–562, 2002
Der Buchauszug im Internet: www.spektrum.de/artikel/1623834

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GEHIRN&GEIST 35 0 4 _ 2 0 1 9
PSYCHOLO GIE

DRAFTER123 / GETTY
IMAGES / ISTOCK
DIE GRÖSSTEN EXPERIMENTE

MIMIKEmotionen am Gesicht abzulesen, ist nicht immer leicht.


Woran wir erkennen, ob unser Gegenüber erstaunt, wütend oder
angeekelt ist, analysierte der Psychologe Paul Ekman.

Im Bann
der Gefühle
V O N D A N I E L A O VA D I A

W
as wäre unser Leben ohne Emo­ Ekman promovierte 1958 an der New Yorker Adelphi
tionen? Sie begleiten uns auf University in Klinischer Psychologie. Ursprünglich
Schritt und Tritt, leiten häufig wollte er sich der Erforschung psychischer Störungen
sogar unsere Entscheidungen widmen, was auch mit seiner eigenen Familiengeschich-
und unser Handeln. Allerdings te zu tun hatte. Ekmans Mutter, die viele Jahre an De-
fanden sie in der psychologi­ pression litt, nahm sich das Leben, als er noch ein Kind
schen Forschung lange Zeit eher wenig Widerhall. Zu war. Im Umgang mit Patienten merkte der jungen Mann
flüchtig, subjektiv und schwer fassbar erschienen die rasch, wie wichtig es nicht zuletzt für Therapeuten ist,
Gefühle des Menschen vielen Wissenschaftlern. Einer, Emotionen schnell und sicher einzuordnen. Besonders
der dieses Bild grundlegend verändert hat, ist der US- faszinierte ihn die Frage, ob der mimische Ausdruck
Amerikaner Paul Ekman. von Gefühlen erlernt und kulturell weitergegeben wird
Seit mehr als 50 Jahren erforscht der Psychologe, der oder ob er allen Menschen gemeinsam ist.
1934 in Washington D. C. zur Welt kam, emotionale Ge- Ein Vorläufer Ekmans war Charles Darwin (1809–
sichtsausdrücke. Die äußerlich sichtbare Sprache der 1882). In seiner Abhandlung »Der Ausdruck der Ge-
Gefühle entpuppte sich als höchst komplex: Mehr als mütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren«
10 000 verschiedene mimische Varianten kann unsere von 1872 schrieb der Begründer der Evolutionslehre,
Gesichtsmuskulatur durch teils minimale Kontraktio- dass es bei verschiedenen Spezies eng verwandte Aus-
nen hervorbringen. drucksweisen für Wut, Angst, Ekel und andere Emotio-
nen gebe. Darwin widersprach damit der zu seiner Zeit
vorherrschenden Theorie, wonach Gesichtsausdrücke je
nach Volkszugehörigkeit stark variierten. Ähnlich wie
die Muttersprache hielt man auch das Mienenspiel für
U N S E R E AU TO R I N erworben. Laut Darwin jedoch hat es stammesgeschicht-
Daniela Ovadia ist Neuroethikerin liche Wurzeln, wie er durch Vergleiche zwischen Affen
und Wissenschaftsjournalistin in Pavia und Homo sapiens belegte. Verfügten Mensch und Tier
(Italien). womöglich sogar über universelle Grundemotionen?

GEHIRN&GEIST 36 0 4 _ 2 0 1 9
Paul Ekman gilt als einer der wichtigsten Experten
auf dem Gebiet der Gefühlserkennung. Anhand

GEHIRN&GEIST / MARTIN BURKHARDT


des von ihm und Wallace Friesen entwickelten
Facial Action Coding System (FACS) lässt sich das
emotionale Ausdrucksverhalten als Kombination
der jeweils beteiligten Muskelpartien beschreiben.
Eine ängstliche Mimik zum Beispiel ist an den
Merkmalen im Bild unten abzulesen.

GEHIRN&GEIST / MARTIN BURKHARDT

GEHIRN&GEIST 37 0 4 _ 2 0 1 9
Auf einen Blick: Mister Emotionsmimik

1 2 3
Seit den 1950er Jahren erforscht Indem sie die an einem Aus- Manche Menschen sind beson-
Paul Ekman den mimischen druck beteiligten Gesichtsmus- ders talentiert darin, selbst
Gefühlsausdruck in verschiede- keln detailliert beschrieben, verborgene Regungen im
nen Kulturen. Ihm zufolge sind entwarfen Ekman und sein Kollege Gesicht ihres Gegenübers zu lesen.
Freude, Angst, Wut, Verachtung, Wallace Friesen das bis heute Wie sehr sich diese Fähigkeit
Trauer, Überraschung und Ekel gebräuchliche Facial Action Coding trainieren lässt, ist allerdings um-
universelle Grundemotionen. System. stritten.

Ende der 1940er Jahre griff der Philosoph und Psy- möglichen Kontraktionen, die das menschliche Gesicht
chologe Silvan Tomkins (1911–1991) diese Frage erneut zulässt, setzten Ekman und Friesen die emotionale Mi-
auf. Tomkins hielt Gefühle für die elementaren Baustei- mik zusammen.
ne unserer Motivation. Zu Tomkins’ Schülern zählen Nebenbei stießen die Forscher auf ein erstaunliches
unter anderem Ekman und Carroll Izard, die erste eth- Phänomen: Wenn jemand eine traurige Miene nach-
nologische Studien über Gesichtsausdrücke und Kör- ahmt, wird er selbst auch tendenziell trauriger. Imitiert
persprache in Angriff nahmen. man dagegen ein fröhliches Gesicht, so hebt dies die ei-
1966 führte Ekman seine »Universalitätsstudie« gene Stimmung. Emotionen haben ihren Ursprung of-
durch. Er machte tausende Fotos von der emotionalen fenbar nicht nur in einer zentralnervösen Erregung, die
Mimik US-amerikanischer Studenten und reiste damit in physiologischen Reaktionen zum Ausdruck kommt.
nach Brasilien. Die dortigen Studenten hatten keinerlei Schon die Aktivierung entsprechender Muskeln kann
Probleme, die dargestellten Emotionen zu erkennen. vielmehr umgekehrt auch Gefühlsprozesse in Gang set-
Auch in Argentinien, Chile und Japan machte Ekman zen. Auf dieser Idee beruhte das damals verbreitete
diese Beobachtung. Doch hatten sich die Standards der »Method Acting« des Schauspiellehrers Lee Strasberg.
westlichen Kulturen vielleicht durch den globalen In- Mehr als 30 Folgestudien bestätigten Ekmans Ent-
formationsaustausch nur in andere Teile der Welt ver- deckungen, wie David Matsumoto von der San Fran-
breitet? Ende 1967 legte Ekman seine Bilder den Mit- cisco State University in einem Übersichtsartikel 2001
gliedern eines isoliert lebenden Volksstammes im Ur- beschrieb. Im Jahr darauf führten Hillary Elfenbein und
wald von Papua-Neuguinea vor. Viele der Indigenen Nalini Ambady eine Metaanalyse über 168 Arbeiten
hatten nie zuvor einen Weißen gesehen, aber das Ergeb- zur Wahrnehmung von Gesichtsausdrücken durch.
nis war dasselbe. Hier zeigte sich, dass Menschen fremde Gesichtsaus-
drücke tatsächlich universell erkennen, wobei wir für
Eine universelle Formensprache die Mimik von Angehörigen der eigenen Kultur – ver-
In einer weiteren Studie zeigte der Forscher, dass Men- mutlich aus Gewohnheit – etwas leichter empfänglich
schen aus unterschiedlichen Kulturen ein sehr ähnli- sind. Dutzenden weiteren Untersuchungen zufolge
ches Mienenspiel beim Betrachten von emotionsgelade- rufen emotionale Reize auf der ganzen Welt jeweils die-
nen Filmen offenbaren. So schien sich Darwins klassi- selben Mienen hervor.
sche Aufteilung der Grundemotionen Wut, Angst, In neuerer Zeit entschlüsselten Forscher vor allem die
Verachtung, Freude, Trauer, Überraschung und Ekel er- biologischen und genetischen Grundlagen dieses Phä-
neut zu bestätigen. nomens. So ähnelt das individuelle Mienenspiel von Ge-
Fortan bemühte sich Ekman, diese universelle For- burt an blinder Menschen stärker dem ihrer Familien-
mensprache der Gesichtsausdrücke genauer zu ent- angehörigen als dem von Fremden. Selbst Neugeborene
schlüsseln. War es möglich, die Gefühle eines Gegen- zeigen Gesichtsausdrücke, die bereits denen von Er-
übers zu lesen, wenn man deren Einzelelemente kann- wachsenen gleichen. Laut dem niederländischen Verhal-
te? Der Psychologe sichtete eine Fülle von Porträtfotos tensforscher Frans de Waal setzen sogar Affen Mienen
akribisch und begann sie zu katalogisieren. »Wenn ich
geahnt hätte, wie viel Zeit es mich kosten würde, so ein
Lexikon der Gesichtsausdrücke zusammenzustellen,
hätte ich nie damit angefangen«, gestand er anlässlich
seiner Emeritierung 2004. MEHR ZUM THEMA
Sechs Jahre lang arbeiteten Ekman und sein enger Wie reich der Fundus menschlicher
Kollege Wallace Friesen am Facial Action Coding Sys- Emotionen ist und warum wir ihn
tem (FACS), das sie 1978 veröffentlichten. Es erlaubt ausschöpfen sollten, erklärt Spektrum
nahezu jeden Ausdruck auf der Basis von 44 verschie- Psychologie 1/2019 »Fühl viel!«:
denen Muskeln zu klassifizieren. Wie ein Puzzle aller www.spektrum.de/shop

GEHIRN&GEIST 38 0 4 _ 2 0 1 9
PSYCHOLO GIE / MIMIK

auf, die denen des Menschen recht stark gleichen. Auch Ekman selbst betonte immer wieder, dass es eines sei,
in diesem Punkt lag Darwin also anscheinend richtig. Emotionen zu erkennen, doch etwas anderes, die dahin-
In den frühen 1980er Jahren begannen sich Psycho- terstehenden Motive zu verstehen: Jemand kann unter-
therapeuten und Psychiater zunehmend für Ekmans schwellig ängstlich sein, weil er lügt oder weil er einfach
Forschung zu interessieren. Sie sahen darin eine Chan- angespannt ist. Die falsche Zuordnung zwischen Motiv
ce, zu den verborgenen, nicht verbal geäußerten Emo- und Ausdruck nannte Ekman »Othellos Irrtum« – nach
tionen ihrer Patienten vorzudringen. Bekannt wurde dem tragischen Shakespeare-Helden, der das Zögern
Ekmans Analyse des Videos einer schwer depressiven seiner Frau Desdemona für das Zeichen eines Seiten-
Patientin namens Mary. Sie hatte ihren Psychiater um sprungs hielt, den die Gattin aber nie begangen hatte.
Erlaubnis gebeten, übers Wochenende nach Hause fah- In einer Studie von Hyi Sung Hwang und David
ren zu dürfen, da sie sich angeblich besser fühlte. Wie Matsumoto konnten Probanden lediglich knapp die
eine Momentaufnahme kurz vor Verlassen der Praxis Hälfte aller ihnen präsentierten Mikroausdrücke richtig
jedoch offenbarte, hatte sie diese Besserung der Symp- interpretieren. Zog man hiervon die eher leicht zu er-
tome nur vorgespielt. Denn als sich Ekman das Ge- kennenden Signale von Freude und Überraschung ab,
spräch in extremer Zeitlupe ansah, entdeckte er in einer sank die Quote sogar auf 35 Prozent. Ein Training wie
Einzelsequenz einen Ausdruck großer Verzweiflung in das von Ekman entwickelte kann diese Trefferrate ver-
Marys Gesicht. Dieser war so kurz, dass er selbst dem bessern. Allerdings bringt das nicht immer nur Vortei-
erfahrenen Arzt entgangen war. le: Nach verborgenen Signalen zu forschen, kann auch
der Offenheit in zwischenmenschlichen Beziehungen
Wenn verborgene Gefühle aufblitzen schaden oder dazu verleiten, dass man manchen Anflü-
Ekman beschrieb dies als flüchtige Mikroexpressionen, gen von Zorn oder Angst zu große Bedeutung beimisst.
die nur 50 bis 100 Millisekunden lang dauern. Sie Über die 2004 gegründete Paul Ekman Group ver-
»schmuggeln« sich oft unter den Gesichtsausdruck, den treibt der Forscher inzwischen ein ganzes Portfolio an
ein Mensch vorsätzlich aufsetzt, um zu verbergen, was er Programmen, die dabei helfen sollen, die Gefühle von
wirklich empfindet. Allerdings war Ekman längst nicht anderen besser zu entziffern. Sie sind vor allem in den
der Erste, der das erkannte. Die Psychologen Ernest USA erfolgreich, wo Ekman schon Polizisten trainierte,
Haggard und Kenneth Isaacs hatten bereits 1966 bei der um Lügen etwa bei Zeugenaussagen zu erkennen. Die
Auswertung von Therapievideos »mikromomentane meisten dieser Angebote sind wissenschaftlich jedoch
Ausdrücke« ausfindig gemacht. Diese rührten wohl da- kaum evaluiert. Darunter etwa das online erhältliche
her, dass die Patienten ihre wahren Gefühle unterdrück- »Micro Expressions Training Tool« (METT), das die
ten, so die beiden Forscher damals. Wahrnehmung von Mikroexpressionen in weniger als
Die Mikromimik nehmen wir im Alltag kaum wahr. einer Stunde zu schulen verspricht. Das soll Paaren oder
Doch wie Ekman und Friesen einige Jahre später zeig- auch Eltern pubertierender Kinder helfen, mit Streitig-
ten, hilft ein spezielles Training, solche blitzartigen Aus- keiten und anderen kritischen Situationen zurechtzu-
drücke und damit beispielsweise Lügner besser zu er- kommen. Im Alltag lässt uns freilich ein ganzes Konglo-
kennen. Zudem lassen sich bestimmte authentische merat von Signalen – von den mündlichen Äußerungen
Gefühlsregungen wie Freude nur schwer willentlich si- über die Körpersprache bis hin zur Mimik – auf die Ge-
mulieren. Offenbar unterliegt die Mimik nicht allein fühle anderer schließen.
unserem Willen, sondern wird von unwillkürlichen, Die Psychologie verdankt Paul Ekman vor allem zwei
unkontrollierbaren Prozessen mitbestimmt. wichtige Erkenntnisse: Der emotionale Gesichtsaus-
Das spricht dafür, dass verschiedene Nervenbahnen druck des Menschen ist über verschiedene Kulturen
für die Steuerung von Gesichtsausdrücken zuständig hinweg gleich, und unterdrückte Gefühle brechen sich
sind. Einerseits lenkt die motorische Großhirnrinde die manchmal in blitzschnellen Mikromimiken Bahn. Ob
willentlichen Bewegungen der Gesichtsmuskeln, ande- es wirklich erfolgreicher im Leben macht, wenn man
rerseits kontrollieren subkortikale, also unterhalb der diese besser erkennt, bleibt dahingestellt. H
Großhirnrinde (des Kortex) gelegene Areale Regungen,
die nicht völlig dem Willen unterworfen sind. Diese
sind eng an die Gefühlsverarbeitung gekoppelt. QUELLEN
Vor allem wenn wir Gefühle zu unterdrücken versu-
chen (sei es in einer Prüfung oder im Vorstellungsge- Ekman, P., Friesen, W. V.: Constants across Cultures in
the Face and Emotion. In: Journal of Personality and Social
spräch), treten die Mikroexpressionen vermehrt auf. Psychology 17, S. 124–129, 1971
Wer die Mikromimik gut erkennt und richtig deutet,
Ekman, P., Friesen, W. V.: Facial Action Coding System
verfügt laut Ekman über eine hohe emotionale Intelli- (FACS): A Technique for the Measurement of Facial Actions.
genz und ist geschickter im sozialen Umgang. Manche Consulting Press, Palo Alto 1978
Menschen seien ganz intuitiv in der Lage, Mikroausdrü- Dieser Artikel im Internet:
cke zu lesen. Man könne das aber durchaus auch lernen. www.spektrum.de/artikel/1623836

GEHIRN&GEIST 39 0 4 _ 2 0 1 9
GEHIRN&GEIST
40 0 4 _ 2 0 1 9
HIRNFOSCHUNG

ZUCKERMAN INSTITUTE, COLUMBIA UNIVERSITY; MIT FRDL. GEN. VON ANDREW MURRAY
HIRNFORSCHUNG

KONNEKTOMIK Gentechnisch veränderte Tollwuterreger


helfen Wissenschaftlern dabei, neuronale Verknüpfungen
zu untersuchen – mit bisher unerreichter Präzision.

Per Tollwut
ins Gehirn V O N A N D R E W J. M U R R AY
ZUCKERMAN INSTITUTE, COLUMBIA UNIVERSITY; MIT FRDL. GEN. VON ANDREW MURRAY

Das Bild zeigt den lateralen vestibulären Nukleus


im Hirnstamm einer Maus. Die grün
leuchtenden Neurone sind mit einem gentechnisch
veränderten Tollwutvirus infiziert.

GEHIRN&GEIST 41 0 4 _ 2 0 1 9
Auf einen Blick: Vom tödlichen Keim zum nützlichen Werkzeug

1 2 3
Das Tollwutvirus hat die be­ Virologen und Neurowissen­ Dabei manipulieren sie das
sondere Fähigkeit, in Neuronen­ schaftler nutzen diese Eigen­ Tollwutvirus so, dass es nur
netzen von Zelle zu Zelle zu schaft, um herauszufinden, wie bestimmte Zellen infiziert,
springen. Auf diese Weise arbeitet Nervenzellen untereinander ver­ diese aufleuchten lässt und ledig­
es sich von einer Bisswunde aus bis knüpft sind. lich streng kontrolliert auf benach­
ins Gehirn eines Tiers vor. barte Neurone weiterspringt.

I
m fahlen Licht der Mondnacht, das über dem eng- manipuliert die Hirnfunktionen des Wirts, wodurch es
lischen Moor lag, erstarrten die drei Reisenden sehr effektiv weitere Tiere infizieren kann.
vor Grauen darüber, was sie vor sich sahen: ein Heute noch sterben jährlich weltweit rund 60 000
widerliches Wesen, eine große schwarze Bestie Menschen an Tollwut. Dank wirksamer Impfstoffe und
von der Gestalt eines Hundes, nur viel größer als der frühzeitigen Quarantäne infizierter Tiere hat die Er­
irgendein Hund, den je ein sterbliches Auge er- krankung jedoch in der entwickelten Welt ihren Schre­
blickt hatte. Vor ihren entsetzten Augen riss das Tier cken großteils verloren. Neurowissenschaftler haben
Hugo Baskerville die Kehle heraus. Dann sah es mit glü- dem tödlichen Erreger sogar durchaus etwas Positives
henden Augen und triefenden Lefzen auf die drei, und sie abgewinnen können: Sie verwenden ihn inzwischen als
schrien vor Angst und ritten um ihr Leben. modernes Forschungswerkzeug, mit dem sie Hirn­
»Der Hund von Baskerville«, einer der bekanntesten strukturen aufklären.
Romane Arthur Conan Doyles, ist noch heute eine Das Virus arbeitet sich nämlich von der Bisswunde
schaurige Lektüre. Glaubt man Medizinhistorikern, bis ins Gehirn vor, indem es von Neuron zu Neuron
wirkte er auf Doyles Zeitgenossen aber weitaus beklem- springt. Verschiedene Forscher, darunter meine Grup­
mender als auf uns – und zwar, weil die Tollwut damals, pe am Sainsbury Wellcome Centre for Neural Circuits
zu Beginn des 20. Jahrhunderts, viel präsenter war und and Behaviour in London, nutzen diese Eigenschaft des
die Angst davor viel verbreiteter. Mit seiner Fähigkeit, Erregers, um Verbindungen zwischen Nervenzellen
ein zahmes Haustier in eine wütende, schäumende Bes- sichtbar zu machen.
tie zu verwandeln, deren Biss den nahezu sicheren Tod
bedeutete, war das Tollwutvirus eine der gefürchtetsten Stromaufwärts zum Gehirn
Geißeln der Menschheitsgeschichte. Wie ist das möglich? Die Viren ähneln äußerlich Pisto­
Bereits im Jahr 1804 belegten Experimente des deut­ lenkugeln und enthalten so genannte Ribonukleinsäure
schen Arztes Georg Gottfried Zinke, dass der Speichel (RNA) als Träger der Erbinformation. Sie sind umhüllt
tollwutkranker Tiere das Virus in großen Mengen ent­ von einer Schicht aus Glykoproteinen: Eiweißen, die
hält. Der Befall mit diesem Erreger führt zu erhöhter Zuckergruppen tragen. Die Hülle besitzt winzige Aus­
Aktivität der Speicheldrüsen, zu Schluckstörungen und stülpungen, die Motoneurone nahe der Bissstelle dazu
somit zu dem typischen Geifern tollwütiger Hunde. veranlassen, die Viren in sich aufzunehmen. Diese be­
Louis Pasteur, der Mitbegründer der medizinischen Mi­ sondere Form von Nervenzellen überträgt normaler­
krobiologie, bewies zudem in den 1880er Jahren, dass weise elektrische Signale über Synapsen auf Muskelzel­
das Virus das Gehirn der infizierten Tiere befällt. Beide len. Die viralen Glykoproteine binden an spezifische
Eigenschaften treten nicht zufällig gemeinsam auf. Of­ Rezeptormoleküle auf der Oberfläche der Motoneurone.
fenbar kombiniert der Erreger die besondere Befähi­ Ähnlich wie die Tür zum Sicherheitsbereich eines
gung dafür, über den Speichel des Wirts übertragen zu Flughafens, durch die man nur in eine Richtung gehen
werden, mit dem Vermögen, diesen zu aggressivem kann, leiten auch die Synapsen die Signale in der Regel
Beißverhalten anzustacheln. Anders gesagt: Das Virus nur in eine Richtung, nämlich von der Nerven­ zur
Muskelzelle. Generell bewegen sich Nervenimpulse, die
das Gehirn an den Bewegungsapparat sendet, stets
UNSER EXPERTE »stromabwärts«, das heißt von Neuron zu Neuron kon­
tinuierlich zu den Muskeln hin. Das Tollwutvirus muss
Andrew J. Murray ist Neurowissen­ jedoch »stromaufwärts« wandern, um das Gehirn zu er­
schaftler am Sainsbury Wellcome Centre
for Neural Circuits and Behaviour in
reichen, und das gelingt ihm auf raffinierte Weise.
London. Seine Arbeitsgruppe untersucht, Sobald der Erreger in eine Nervenzelle eingedrungen
wie neuronale Netzwerke Bewegungen ist, streift er seinen Glykoprotein­Mantel ab. Die Zelle
steuern. beginnt Kopien der viralen RNA und sämtlicher Virus­

GEHIRN&GEIST 42 0 4 _ 2 0 1 9
HIRNFORSCHUNG / KONNEKTOMIK

Nervenzellnetze Manipulation 2 :
und Tollwutviren Austausch der Glykoprotein-Hülle
Das Tollwutvirus arbeitet sich von einer Bisswunde Um die anfängliche Infektion mit dem Tollwutvirus
bis ins Gehirn vor, indem es von Neuron zu auf ausgesuchte Neurone zu beschränken, nutzen
Neuron wandert. Neurowissenschaftler verwenden die Wissenschaftler den Umstand, dass es ver-
die Erreger daher als Sonde, um fluoreszierende schiedene Typen viraler Glykoproteine gibt. Um-
Farbstoffe in die Zellen einzubringen. So können manteln sie den Tollwuterreger mit Glykoproteinen,
sie herausfinden, wie diese untereinander ver- die von Vogelviren stammen, kann er keine Säuge-
knüpft sind. tierzellen mehr befallen. Statten sie allerdings
ausgewählte Neurone der Versuchstiere mit Rezep-
tormolekülen aus, die Glykoproteine von Vogelviren
erkennen, kann der veränderte Erreger in die Zellen
eindringen. Er infiziert dann zunächst nur sie, bis er
über Synapsen hinweg in benachbarte Zellen des
neuronalen Netzwerks eindringt.

Der normale Ablauf einer Ansatzpunkt von Manipula-


Tollwutinfektion tion 2 :Beschränkung der
Infektion auf ausgesuchte
Tollwutviren besitzen eine Hülle aus zuckerhaltigen Zellen
Virus verbreitet sich
Eiweißen. Diese Glykoproteine binden an spezielle im Gehirn von
Rezeptoren auf der Außenseite von Motoneu- 6 Nervenzelle zu
ronen, woraufhin die Zellen das Virus in sich Nervenzelle weiter.

aufnehmen 1 . Der Erreger tritt dabei über


eine Synapse – eine Verknüpfung zu einer
anderen Zelle – in das Neuron ein. Sobald
er im Inneren angekommen ist, streift er
seine Hülle ab und setzt sein Genom frei, Tollwutvirus
das aus RNA besteht 2 . Die virale springt
RNA nutzt den Syntheseapparat der Tollwutvirus »stromauf-
wärts« auf
Zelle, um zahlreiche Kopien von sich das nächste
selbst sowie von den Virusproteinen Neuron
anzufertigen 3 . Jene Proteine über – und
immer so Neuron
und die neu gebildeten RNA- weiter, bis

KELLY MURPHY / SCIENTIFIC AMERICAN OKTOBER 2018


Glykoprotein
Stränge fügen sich dann zu ins Gehirn. Infektion
5 eines
Tochterviren zusammen 4 . Virusauf- Glykoprotein
benachbarten,
Diese dringen über Zellverbindun- 1 nahme in verknüpften
die Zelle Motoneuron Neurons
gen hinweg in benachbarte
Neurone ein 5 , womit der Zyklus
von Neuem beginnt. Der Erreger Glykoprotein-
Rezeptor des
bewegt sich auf diese Weise »stromauf- Motoneurons Zusammen-
Ansatzpunkt fügen zu
wärts« (entgegen der üblichen Richtung der von Manipula- 4 neuen
Nervensignale) von Neuron zu Neuron weiter, tion 1 : (Tochter-)
RNA
bis er im Gehirn angekommen ist, wo er zahlrei- Viren
che Nervenzellen befällt 6 .

2 Abstreifen
der Virus-
hülle Herstellung
3 von Virus-
bestandteilen

Manipulation 1 : Gezielter Umbau der viralen RNA


Um den Weg nachverfolgen zu können, den das Virus zum Gehirn nimmt, ersetzen die Forscher das Glykoprotein-
Gen in der Virus-RNA durch eine Erbanlage, die den Bauplan für ein fluoreszierendes Protein enthält. Werden
Neurone mit dem so veränderten Virus infiziert, stellen sie das Protein her und leuchten (bei geeignetem Anre-
gungslicht) auf, sie erzeugen jedoch kein virales Glykoprotein. Das Virus kann daher nicht in benachbarte Zellen
weiterwandern. Um ihm das zu ermöglichen, geben die Forscher zusätzlich einen weiteren Erreger, ein Adeno-
assoziiertes Virus, hinzu, das die Erbanlage für das Glykoprotein trägt. Adeno-assoziierte Viren infizieren die
Zielneurone und lassen sie das Glykoprotein produzieren. Mit dessen Hilfe kann der Tollwuterreger sodann auf die
unmittelbar benachbarten Zellen weiterspringen, aber nur auf diese.

GEHIRN&GEIST 43 0 4 _ 2 0 1 9
proteine herzustellen, die sich dann zu neuen Erregern Bewegungssteuerung. Doch er hatte Nachteile, denn
zusammenfügen. Allerdings vermehrt sich das Tollwut- nicht alle Verbindungen zwischen Neuronen sind gleich.
virus nicht massenhaft. Es bringt die Wirtszelle dazu, Eine Synapse kann stark oder schwach sein – davon
nur gerade so viele neue Partikel zu produzieren, dass hängt ab, ob ein eintreffender Nervenimpuls sich im
diese in das nächste »stromaufwärts« gelegene Neuron nachfolgenden Neuron fortpflanzt. Sie kann entweder
eindringen können. Dort wiederholt sich der Prozess: dicht am Zellkörper sitzen oder weit entfernt am Ende
Hülle abwerfen, einige Tochterviren hervorbringen, eines Zellfortsatzes. Überdies besitzen manche Neurone
zum nächsten Neuron weiterwandern. Auf diese Weise nur eine einzige Verbindung zu ihren stromabwärts ge­
arbeitet sich der Erreger allmählich durchs Nervensys- legenen Nachbarn, andere dagegen haben Hunderte da­
tem vor – vom anfänglich infizierten Motoneuron zum von. Folglich kann es unterschiedlich lange dauern, bis
Rückenmark und weiter ins Gehirn. der Erreger von einem Neuron zum nächsten gelangt.
Während viele andere Virusarten sich dermaßen
schnell vermehren, dass die von ihnen infizierten Zel­ Trittbrettfahren ins Gehirn
len aufbrechen und die Tochterviren in die Umgebung Um das Problem zu lösen, mussten die Wissenschaftler
freisetzen, lässt der Tollwuterreger die Nervenzellen in­ das Virus verändern, genauer gesagt sein Erbgut. Wie
takt. So richtet er nie genug Schaden an, um die Immun­ sich herausstellte, ist eines der Virusgene unverzichtbar
abwehr auf sich aufmerksam zu machen. Dieses heim­ dafür, dass der Erreger von Neuron zu Neuron springen
liche Voranschreiten erklärt, warum nach der anfängli­ kann: jenes nämlich, das für das Glykoprotein codiert.
chen Infektion eine lange Zeit verstreicht, bis die ersten Ein Tollwutvirus ohne dieses Gen kann Zellen zwar
Symptome der Krankheit auftreten: beim Menschen ty­ noch infizieren, bleibt dann aber in ihnen gefangen.
pischerweise ein bis drei Monate. Im Jahr 2007 tauschten die Neurowissenschaftler Ian
In den frühen 2000er Jahren funktionierten mehrere Wickersham und Edward Callaway, damals am Salk
Forscherteams das Tollwutvirus zu einer Sonde um und Institute for Biological Studies in La Jolla (Kalifornien),
untersuchten damit neuronale Netze. Zu ihnen gehören zusammen mit Forschern vom Friedrich­Löffler­Insti­
die Arbeitsgruppe von Gabriella Ugolini, mittlerweile tut in Greifswald das Glykoprotein­Gen gegen eines aus,
an der Université Paris Saclay, und das Team um Peter das für ein fluoreszierendes Protein codiert. Das ver­
Strick, der heute an der University of Pittsburgh tätig ist. änderte Virus konnte die befallenen Zellen nun nicht
Den Weg des Virus von den Muskeln ins Gehirn nach­ mehr verlassen, ließ sie dafür aber bei geeignetem An­
zuverfolgen, ist jedoch ziemlich schwierig. Wie kann regungslicht hell aufleuchten.
man unterscheiden, welche Nervenzelle der Erreger zu­ Der zweite Schritt bestand darin, den infizierten
erst, welche als zweite, als dritte und so weiter befällt? Neuronen das Glykoprotein auf anderem Weg zur Ver­
Die Forscher gingen das Problem zunächst an, in­ fügung zu stellen. Dazu nahmen die Forscher einfach
dem sie Versuchstiere mit Tollwut infizierten und kurz einen zweiten Virustyp, so genannte Adeno­assoziierte
darauf töteten, so dass der Erreger bis dahin gerade erst Viren. Sie fügten den Bauplan für das Glykoprotein dort
ein oder zwei Synapsen überwunden hatte. Dieser An­ ein und infizierten anschließend die von den Tollwutvi­
satz lieferte einen ersten Einblick in die Signalwege der ren befallenen Zellen zusätzlich mit den manipulierten
Hilfsviren, so dass die Neurone auch das Glykoprotein
produzierten. Damit hatten die Tollwuterreger schließ­
lich wieder die nötige Ausstattung, um auf die benach­
Die Gehirn&Geist-Serie barten Neurone übergehen zu können.
»Neue Methoden der Hirnforschung« Sie waren jedoch nicht in der Lage, das Glykoprotein­
Gen in die Nachbarzellen mitzunehmen, weil dieses als
im Überblick: DNA vorlag: Adeno­assoziierte Viren speichern ihre
Das Handwerkszeug von Neurowissenschaftlern hat sich in Erbinformationen in Form von DNA, Tollwutviren hin­
den letzten Jahrzehnten drastisch gewandelt. In einer gegen als RNA. Daher saßen die Erreger nun im nächs­
6­teiligen Serie stellen wir die innovativsten Methoden vor. ten Neuron fest. So war es möglich, immer nur solche
Zellen mit dem fluoreszierenden Protein anzufärben,
Teil 1: Per Tollwut ins Gehirn (dieses Heft) die mit dem zuerst befallenen Neuron direkt verbunden
Teil 2: Ein Strichcode für Neurone (Gehirn&Geist 5/2019) waren.
Teil 3: Winzige Spannungsmesser für das Gehirn Allerdings gab es noch einen Haken: Wenn die For­
(Gehirn&Geist 6/2019) scher eine Lösung mit veränderten Tollwutviren in den
Teil 4: Superstarke Hirnscanner (Gehirn&Geist 7/2019) zu untersuchenden Organismus injizierten, infizierten
Teil 5: Erhellender Blick zwischen die Hirnzellen sich sämtliche Nervenzellen rund um die Einstichstelle.
(Gehirn&Geist 8/2019) Folglich konnten die Wissenschaftler nicht unterschei­
Teil 6: Tiermodelle in den Neurowissenschaften – an der den, in welche Neurone die Erreger direkt und in wel­
Realität vorbei? (Gehirn&Geist 9/2019) che sie erst über Umwege eingedrungen waren. Die

GEHIRN&GEIST 44 0 4 _ 2 0 1 9
HIRNFORSCHUNG / KONNEKTOMIK

CNRI / SCIENCE PHOTO LIBRARY

Das Tollwutvirus hat die Form einer Pistolenkugel, ist rund 180 Nanometer lang
und löst tödliche Gehirnentzündungen aus.

Lösung dieses Problems brachten Untersuchungen zu erreger nun in ihren Zielneuronen angekommen,
Vogelviren. streiften sie ihre EnvA­Hülle ab, legten ihren natürli­
Das Aviäre Leukosevirus (ALV), das bestimmte chen Glykoprotein­Mantel an und wanderten »strom­
Krebserkrankungen bei Hühnern auslöst, befällt aus- aufwärts« weiter ins nächste Neuron.
schließlich Vögel, nicht aber Säugetiere. Wie das Toll-
wutvirus hat auch ALV eine Glykoprotein-Hülle, die in Neuroforschung im Sturm erobert
verschiedenen Varianten vorliegen kann. Jeder Typ bin- Auf die Weise konnten Wickersham und Callaway die
det nur an bestimmte Rezeptoren auf den Wirtszellen. Viren in eine definierte Gruppe von Startneuronen ein­
Das Glykoprotein EnvA beispielsweise koppelt an ein schleusen und anschließend exakt einmal – nämlich auf
Molekül namens TVA, kurz für »avian tumor virus re- die jeweils benachbarten Zellen – weiterspringen lassen.
ceptor A«. Zellen ohne den Rezeptor können von EnvA- Dann sahen sich die Forscher die fluoreszierenden Neu­
umhüllten Viren nicht eingenommen werden. Dieser rone unter dem Mikroskop an und erkannten, wie die
Mechanismus ermöglicht es, die Erstinfektion mit ver- Nervenzellen miteinander verknüpft waren.
änderten Tollwutviren auf einen bestimmten Neuro- Die raffinierte Methode, von ihren Erfindern »Delta­
nentyp zu beschränken. G­Rabies­System« genannt, eroberte die Neurowissen­
Wickersham und seine Kollegen ersetzten die natür- schaften im Sturm. Sie verschaffte den Forschern ganz
liche Glykoprotein-Hülle des Virus durch eine aus neue Einblicke darein, welche Hirnzellen untereinander
EnvA, indem sie das Gen für EnvA in eine mit Tollwut- Signale austauschen. Doch wie alle neuen Techniken
erregern beimpfte Zellkultur einführten. Derart »ver- war sie nicht perfekt: Mitunter spürte sie nicht alle Zell­
kleidet«, waren die Erreger nicht mehr in der Lage, Säu- verbindungen auf.
gerzellen zu befallen. Statteten die Forscher jedoch aus- 2015 untersuchten meine Kollegen Thomas Reardon,
gewählte Zielneurone im Mäusegehirn mit dem Thomas Jessell, Attila Losonczy und ich, damals alle an
TVA-Rezeptor aus, drang der Erreger in diese ein. Zu- der Columbia University, mit Hilfe des Delta­G­Rabies­
sätzlich infizierten sie die Nervenzellen mit Adeno­as­ Systems neuronale Netzwerke, die an der Bewegungs­
soziierten Viren, die das Glykoprotein­Gen des Toll­ steuerung beteiligt sind. Da wir dabei nur relativ we­
wuterregers enthielten. Waren die veränderten Tollwut­ nige Kontaktstellen zu Motoneuronen in Rückenmark

GEHIRN&GEIST 45 0 4 _ 2 0 1 9
KURZ ERKL ÄRT: Protein öffnet einen Membrankanal, sobald es durch
blaues Licht angeregt wird. Daraufhin strömen positiv
G LY KO P R O T E I N E geladene Ionen in das betreffende Neuron ein, und es
sind Hauptbestandteil vieler Virenhüllen, so entsteht ein elektrisches Signal.
auch des Tollwutvirus. Sie dienen der Anheftung Die von uns genutzte Variante des ChR enthielt dar­
an Rezeptoren der Wirtszelle. Erreger, über hinaus noch fluoreszierende Abschnitte, so dass
denen das Gen für das zuckerhaltige Eiweiß die infizierten Zellen aufleuchteten. Mit der auf diese
fehlt, können sich nicht mehr im Wirtskörper Weise verfeinerten Untersuchungsmethode konnten
ausbreiten. wir nun ganze neuronale Netzwerke dabei beobachten,
wie sie bei bestimmten Aktivitäten der Maus feuerten.
CHANNELRHOD OPSIN Außerdem konnten wir sie an­ und ausschalten – und
(ChR) ist ein Protein aus Grünalgen, das das auch noch einen Monat nach der Infektion.
Ionenkanäle in Zellmembranen bildet. Bestrahlt Mittlerweile haben Forscher mit Hilfe des Delta­G­
man es mit blauem Licht, öffnet sich der Rabies­Systems zahlreiche neuronale Netzwerke im Ge­
Kanal, und Ionen strömen in die Zelle ein. hirn von Versuchstieren kartiert. Die Ergebnisse helfen
Neuroforscher können das zugehörige Gen in etwa zu verstehen, wie Nervenzellen die Wahrnehmung
das Erbmaterial bestimmter Nervenzellen und das Verhalten der Tiere steuern. Ein Beispiel ist das
einfügen, woraufhin diese ChR in ihre Membran visuelle System. Wenn Licht ins Auge fällt, senden Neu­
einbauen. Die Neurone lassen sich fortan rone auf der Rückseite der Netzhaut, die retinalen Gan­
mittels Licht aktivieren. glienzellen, Signale ans Gehirn. Neurowissenschaftler
nahmen lange Zeit an, dass diese Signale über Zwi­
schenstationen zur Hirnrinde gelangen. Ein Team um
und Gehirn entdeckten, kam uns der Verdacht, die Me- Botond Roska vom Friedrich Miescher Institut für bio­
thode liefere ein unvollständiges Abbild der Wirklich- medizinische Forschung in Basel verfolgte daher den
keit. Ein weiteres Problem, mit dem wir uns konfron- Weg der Impulse von den retinalen Ganglienzellen bis
tiert sahen, war der Schaden, den die veränderten Toll- zum Corpus geniculatum laterale (CGL), einer Hirnre­
wuterreger anrichteten. Sobald diese ein Neuron gion, die bisher als eine solche Zwischenstation galt.
befallen hatten, starb es binnen weniger Wochen ab. Die Forscher fanden heraus, dass das CGL drei ver­
Unsere Sonden veränderten somit das Verhalten der schiedene Typen von Neuronen enthält, die visuelle In­
Nervenzellen, was die Interpretation der Ergebnisse er- formationen offenbar unterschiedlich verarbeiten. We­
heblich erschwerte. niger als ein Drittel der dort befindlichen Nervenzellen
Matthias Schnell und sein Kollege Christoph dienen tatsächlich als reine Zwischenstation: Sie leiten
Wirblich, heute beide an der Thomas Jefferson Universi­ die eintreffenden Signale direkt an die Hirnrinde weiter.
ty in Philadelphia, hatten Pionierarbeit zur Biologie des
Tollwutvirus geleistet, also fragten wir sie um Rat. Die
beiden erkannten sofort, dass unsere Probleme mit dem
speziellen Virusstamm zusammenhingen, den wir ver­
Es ist gelungen, einen der
wendeten. Er war ursprünglich für Impfstoffe gezüchtet gefährlichsten Krankheits­
worden. Hierfür benötigt man Viren, die sich unge­
wöhnlich rasch vermehren. Schnell und Wirblich schlu­
erreger in etwas Nützliches
gen vor, auf andere Erreger zu wechseln. Da wir unsere zu verwandeln
Studien an Mäusen durchführten, empfahlen sie einen
Virusstamm, der auf die Infektion von Nagern hin opti­
miert worden war. Rund ein weiteres Drittel empfängt jedoch Kombinatio­
Und tatsächlich: Mit Hilfe dieses Erregerstamms nen verschiedener Signale von einem Auge, die restli­
konnten wir viel mehr neuronale Verknüpfungen auf­ chen registrieren Impulse aus beiden Augen. Obwohl
spüren als zuvor. Da er zudem daran angepasst war, das CGL also eine frühe Verarbeitungsstufe im visuel­
dem Immunsystem der Maus zu entgehen, brachte er in len System darstellt, verrechnen die meisten seiner Neu­
den befallenen Zellen nur relativ kleine Mengen der vi­ rone bereits Informationen aus unterschiedlichen Quel­
ralen Proteine hervor, weshalb die Neurone weitgehend len. Diese Erkenntnis erlaubt ganz neue Schlüsse darauf,
intakt blieben. wie das Gehirn Seheindrücke von der Netzhaut inter­
Wir optimierten die Viren weiter, indem wir ihr Gen pretiert.
für das fluoreszierende Protein durch eine andere Erb- An der Columbia University haben meine Kollegen
anlage ersetzten, die für ein lichtempfindliches Eiweiß und ich Neurone des Nucleus vestibularis lateralis
codiert: das Channelrhodopsin (ChR), das ursprüng­ (NVL) untersucht, einer Hirnregion, die für das Gleich­
lich aus Grünalgen stammt. Dieses bemerkenswerte gewichtsempfinden bedeutsam ist. Stellen Sie sich vor,

GEHIRN&GEIST 46 0 4 _ 2 0 1 9
HIRNFORSCHUNG / KONNEKTOMIK

Sie stehen in einer fahrenden U-Bahn, die unerwartet M E H R W I S S E N AU F


stoppt. Noch bevor Sie die Situation gedanklich erfasst »SPEKTRUM.DE«
haben, machen Sie einen schnellen Schritt in Fahrtrich- Mehr über die Entschlüsselung des
tung, spannen Ihre Beinmuskeln an und greifen reflex- neuronalen Schaltplans lesen
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Gehirn, dermaßen schnell genau die richtigen Muskel-
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Wir bemerkten, dass der NVL von Mäusen zwei
Neuronentypen aufweist, die beide stromabwärts mit
verschiedenen Regionen des Nervensystems verbunden
sind. Der eine Typ reagiert sehr rasch, wenn das Gehirn SNc erhalten Informationen über die Bedeutung eines
einen drohenden Sturz registriert; er veranlasst die Bei- Reizes – also etwa darüber, ob das Knistern der Verpa­
ne, in eine Spreizstellung zu gehen. Etwas später werden ckung einen Schokoriegel ankündigt. Die Nervenzellen
die anderen Neurone aktiv und bewirken, dass sich die in der ATV hingegen bekommen Informationen über
Muskeln rund um die Beingelenke versteifen. Bei Mäu- die Qualität einer Belohnung, beispielsweise darüber,
sen konnten wir Zellen beider Gruppen aktivieren, in- wie gut der Schokoriegel schmeckt.
dem wir sie mit veränderten Tollwutviren infizierten Bei Parkinsonpatienten gehen dopaminerge Neuro­
und dann über ein Glasfaserkabel blaues Licht in den ne in der SNc zu Grunde. Interessanterweise haben
NVL einstrahlten. So gingen die Nager, sobald wir das Uchida und seine Kollegen entdeckt, dass wichtige
Licht einschalteten, beispielsweise sofort in einen Eingangssignale dieser Zellen aus dem Nucleus subtha­
Spreizschritt, als wollten sie einen Sturz verhindern – lamicus stammen, einer kleinen linsenförmigen Hirn­
obwohl sie stabil standen. region, die an der Steuerung von Körperbewegungen
mitwirkt. Bei der so genannten Tiefenhirnstimulation
Neue Erkenntnisse zum Belohnungssystem reizt man den Nucleus subthalamicus mit Elektroden,
Ein Team um Naoshige Uchida von der Harvard Uni­ was die Symptome der Parkinsonkrankheit abmildern
versity nutzte die Tollwuterreger, um eine andere wich­ kann. Außerdem gibt es noch andere Hirnbereiche, die
tige Frage der Hirnforschung zu beantworten: Welche Signale in die SNc senden, wie die Gruppe um Uchida
Funktion haben die zahlreichen Zellen, die den Neuro­ gezeigt hat; möglicherweise verschafft auch deren elek­
transmitter Dopamin ausschütten? Solche dopami­ trische Stimulation manchem Parkinsonpatienten Lin­
nergen Neurone in zwei Hirnregionen, der Substantia derung.
nigra pars compacta (SNc) und der Area tegmentalis Obwohl Forscher mit dem Delta­G­Rabies­System
ventralis (ATV), helfen beim Verarbeiten von Beloh­ bereits beeindruckende Erkenntnisse gewinnen konn­
nungsreizen. Sie spielen zum Beispiel bei Suchtverhal­ ten, lässt sich das Werkzeug natürlich noch weiter
ten eine entscheidende Rolle und werden unter ande­ verbessern. So erscheint es denkbar, ein Virus zu
rem aktiv, wenn ein Versuchstier eine Leckerei be­ konstruieren, das stromabwärts wandert. Auf die Weise
kommt oder wenn ein sensorischer Reiz anzeigt, dass es könnten wir herausfinden, in welche Zielneurone ein
gleich eines bekommen wird. Das entspräche beim Nervenimpuls aus dem Gehirn wandert. Oder eines,
Menschen etwa dem Verzehr eines Schokoriegels bezie­ das nur aktive Verbindungen zwischen Nervenzellen
hungsweise dem Knistern der Verpackung, wenn man aufspürt und selektiv jene Netzwerke markiert, die an
den Riegel auswickelt. Um herauszufinden, welche Art ganz bestimmten Verhaltensweisen mitwirken. Jeden­
von Information diese Neurone empfangen, ermittelten falls ist es schon jetzt gelungen, einen Krankheitserre­
die Wissenschaftler, wie jene Zellen mit anderen Hirn­ ger, der die Menschheit über Jahrtausende in Angst
regionen vernetzt sind. Mit Hilfe des Delta­G­Rabies­ und Schrecken versetzt hat, in etwas Nützliches zu ver­
Systems stellten sie fest: Dopaminerge Neurone in der wandeln. H

QUELLEN

Ghanem, A., Conzelmann, K. K.: G Gene­Deficient Single­Round Rabies Viruses


for Neuronal Circuit Analysis. In: Virus Research 216, S. 41–54, 2016
Watabe­Uchida, M. et al.: Whole­Brain Mapping of Direct Inputs to Midbrain Dopamine Neurons.
In: Neuron 74, S. 858–873, 2012
Wickersham, I. R. et al.: Monosynaptic Restriction of Transsynaptic Tracing from Single, Genetically
Targeted Neurons. In: Neuron 53, S. 639–647, 2007
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1623838

GEHIRN&GEIST 47 0 4 _ 2 0 1 9
HIRNFORSCHUNG

EMOTIONEN Ob Freude, Trauer, Angst oder Wut:


Per Bildgebung können Wissenschaftler unsere Gefühle
inzwischen direkt aus dem Gehirn ablesen.

Der neuronale
Gefühlscode VON SERGE STOLÉRU

A
uf dieses Meeting haben Sie sich lange Schon lange fahnden Forscher nach den neuronalen
vorbereitet. Sie lächeln leicht, Ihre Korrelaten von Emotionen. Dabei setzen sie vor allem
Miene ist kontrolliert, Ihr Auftreten si- auf die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT)
cher. Aufrecht sitzen Sie auf Ihrem und die Positronenemissionstomografie (PET) (siehe
Stuhl, sprechen mit ruhiger, gefasster »Kurz erklärt«, S. 50). Mit deren Hilfe konnten sie jene
Stimme. Nach außen wirken Sie voll- Hirnareale identifizieren, die beim Erleben von Gefüh­
kommen gelassen, aber in ihrem Inneren brodelt es. Sie len eine Schlüsselrolle spielen, wie zum Beispiel die
freuen sich über die Gelegenheit, Ihre Arbeitsergebnis- Mandelkerne (Amygdalae) tief im Inneren des Gehirns.
se vor dem gesamten Team präsentieren zu dürfen. Lange fiel es ihnen aber schwer, Emotionen scharf
Doch die Verspätung eines Kollegen kostet Sie Nerven, voneinander zu unterscheiden. So betrachtete man die
und das Verhalten Ihres Chefs, der ganz anderes re- Amygdala etwa zunächst als reines Angstzentrum, bevor
agiert, als Sie es erwartet haben, macht Sie nervös. Gut, Wissenschaftler entdeckten, dass sie auch an einer Reihe
dass sich all das für andere unsichtbar in Ihrem Kopf von anderen Gemütsregungen beteiligt ist. Nur ein ein­
abspielt. zelnes Areal zu untersuchen, reicht also nicht aus, um
Schon bald könnten Neurowissenschaftler allerdings die Grundlagen unseres Gemütslebens zu entschlüsseln.
dazu in der Lage sein, solche Vorgänge aufzudecken. Der Durchbruch kam schließlich mit einem neuen
Denn was auch immer wir unternehmen, um unsere Analyseverfahren für die Daten, die mittels funktio­
Gefühle zu verbergen, unser Gehirn wird bei Empfin- neller Bildgebung gewonnen werden: der »multi­voxel
dungen wie Freude, Trauer und Wut auf ganz spezifi- pattern analysis«, kurz MVPA. Bei Standardbildgebungs­
sche Art und Weise aktiv – und diese Hirnaktivität lässt verfahren konzentrieren sich die Forscher üblicher­
sich mit modernen Methoden der Bildgebung erfassen. weise auf bestimmte Voxel (dreidimensionale Pixel),
deren Aktivierung und Deaktivierung sie gesondert
analysieren. Bei der MVPA wird hingegen die Reaktion
des gesamten Gehirns betrachtet. Dabei dient typischer­
UNSER EXPERTE weise ein Teil der Daten dazu, während einer Lern­
phase einen Algorithmus zu »kalibrieren«, also für den
Serge Stoléru ist promovierter Psychologe
und Mediziner sowie Gruppenleiter am
betreffenden Zweck zu eichen. Der Algorithmus geht
Centre de recherche en Épidémiologie et sämtliche Voxel durch, sucht nach übergreifenden Mus­
Santé des Populations (CESP) im franzö- tern in der Hirnaktivität und verfeinert dann seine Pa­
sischen Villejuif. rameter, damit er die Muster in Zukunft besser erken­

GEHIRN&GEIST 48 0 4 _ 2 0 1 9
Unsere Emotionen sind
uns ins Gesicht geschrieben –
doch auch die neuronalen
Aktivitätsmuster verraten,
was jemand gerade fühlt.

UNSPLASH / JAMIE BROWN (UNSPLASH.COM/PHOTOS/WM4DUVIPLJ8)


nen kann. Dies erlaubt schließlich eine besonders de- ihren Versuchspersonen Gefühle durch Kurzfilme, an­
taillierte Analyse. schließend mussten die Teilnehmer sich selbst in ver­
Doch reicht das aus, um unter Milliarden neuronaler schiedene Gemütsregungen versetzen.
Signale genau jene zu identifizieren, die mit unseren Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen, dass
Gefühlen einhergehen? Offenbar schon. 2016 fahndeten jede der Basisemotionen eine eigene neuronale Signatur
Heini Saarimäki und ihr Team von der Universität Aal­ zu besitzen scheint. So konnte ein Algorithmus anhand
to in Finnland nach typischen Mustern für die sechs der Hirnaktivität der Teilnehmer in allen drei Versu­
Basisemotionen Ekel, Traurigkeit, Freude, Angst, Wut chen oftmals korrekt vorhersagen, was diese gerade
und Überraschung. Dazu spielten sie Versuchspersonen empfanden. Dabei tippte der Computer zwar nicht im­
während einer fMRT kurze Filme vor. Manche davon mer richtig, doch seine Trefferquote lag deutlich über
hatten neutrale Inhalte, andere waren dazu gedacht, jener, die sich mit zufälligem Raten hätte erzielen lassen.
verschiedene Emotionen bei den Zuschauern zu we­ Das zeigte etwa das Experiment, in dem sich die Pro­
cken. Anschließend fragten die Forscher die Probanden, banden verschiedene Gefühle vorstellen und diese emp­
was sie während der einzelnen Szenen empfunden hat­ finden sollten: Würde der Algorithmus nach dem Zu­
ten. In einem weiteren Experiment wurden die Teilneh­ fallsprinzip arbeiten, läge er hier nur in ungefähr 17 Pro­
mer – ebenfalls im Hirnscanner liegend – dazu aufge­ zent aller Fälle richtig – er hätte eine Chance von eins zu
fordert, sich in 36 verschiedene emotionale Zustände sechs, da er aus sechs Basisemotionen eine auswählen
hineinzubegeben und die entsprechenden Gefühle zu muss. Tatsächlich traf die Prognose des Programms in
empfinden. Seelische Verfassungen wie »nervös«, 55 Prozent aller Fälle zu; es gelang ihm also offenbar, im
»ängstlich« oder »erschrocken« repräsentierten dabei Gehirn der Teilnehmer für jede Emotion ein spezifi­
etwa die Emotion Angst. In einem dritten und letzten sches Aktivitätsmuster aufzuspüren.
Experiment kombinierten die Wissenschaftler schließ­ Ein eigenes Areal für einzelne Gefühle wie Freude
lich beide Ansätze miteinander: Zuerst weckten sie bei oder Trauer gibt es allerdings nicht: Vielmehr gingen

GEHIRN&GEIST 49 0 4 _ 2 0 1 9
Auf einen Blick: Ich sehe was, was du grad fühlst!

1 2 3
Die so genannte »multi­voxel Dabei lassen sich bei Test­ Wissenschaftler hoffen, damit
pattern analysis« (MVPA) personen im Hirnscanner mit künftig die Diagnostik und
ermöglicht es Forschern erst­ Hilfe von lernfähigen Algo­ Behandlung verschiedenster
mals, anhand der Hirnaktivität rithmen spontane Gemütsregungen Störungen bis hin zum Koma
eines Probanden direkt auf seine erfassen. verbessern zu können.
Gefühle zu schließen.

die Muster, die der Algorithmus zu Tage förderte, mit Die Erkenntnisse von Saarimäki und ihren Kollegen
der kombinierten Aktivität in mehreren Hirnregionen haben auch Auswirkungen auf unsere Vorstellung da­
einher. Unterschiede diesbezüglich ließen sich vor al- von, wie Emotionen im Gehirn codiert werden. Früher
lem in medianen kortikalen Strukturen beobachten, die gingen Wissenschaftler von einer einfachen Loka­
sich also auf der Innenseite der beiden Hemisphären lisationstheorie aus: Die Aktivität in einigen Schlüssel­
befinden, aber auch in Arealen, die Forscher schon lan- arealen wie der Amygdala schuf demnach eine breite
ge mit Emotionen in Verbindung bringen, wie etwa der Palette affektiver Zustände. Auch laut moderneren Auf­
Inselrinde und der Amygdala. fassungen gibt es lokale Muster für Gefühle, aber sie
Wie die Emotionen ausgelöst werden, scheint dabei umfassen eine Vielzahl von Arealen, und das »Schwei­
nicht von Bedeutung zu sein. Das konnten Saarimäki gen« bestimmter Regionen ist dabei ebenso wichtig. So
und ihre Kollegen zeigen, indem sie ihren Algorithmus gilt es zum Beispiel unter Fachleuten nicht mehr als so
speziell anhand jener Aktivitätsmuster kalibrierten, die zentral, welche Aktivität die Amygdala selbst zeigt. Inte­
ihre Versuchsteilnehmer beim Imaginieren von Emoti- ressant ist stattdessen, wie sie dabei mit anderen Hirn­
onen zeigten. Anschließend setzten sie das Programm regionen zusammenwirkt.
auf die Muster an, die beim Anschauen von Filmen ent-
stehen – und umgekehrt. Dabei erzielte es immerhin Spontane Gemütsregungen
eine Trefferquote von 29 Prozent, was ebenfalls deutlich Saarimäki und ihr Team lösten die Gefühle ihrer Pro­
über dem Zufall liegt. banden in ihren Experimenten mehr oder weniger
Die Signaturen für die einzelnen Emotionen ähnel­ künstlich aus. Aber wie verhält es sich mit spontanen
ten sich zudem bei allen Probanden. Entsprechend Gemütsregungen: Kann man sogar unvermittelt auftre­
konnte der Algorithmus die Gefühle einer Person selbst tende Emotionen durch die dabei messbare Hirnaktivi­
dann noch erkennen, wenn er mit Hilfe der Daten eines tät eindeutig identifizieren?
anderen Versuchsteilnehmers geeicht worden war. Je Dieser Frage gingen Forscher um Philip Kragel von
mehr sich zwei neuronale Signaturen glichen, desto der Duke University in North Carolina 2016 nach. Sie
ähnlicher waren die emotionalen Zustände, von denen hatten bereits im Vorjahr anhand von Testpersonen, die
die Probanden berichteten. So stimmten etwa die Akti­ im Scanner Filme schauten oder Musikstücke hörten,
vitätsmuster bei verwandten Empfindungen wie Ängst­ ebenfalls einen Algorithmus entwickelt, der die neuro­
lichkeit und Erschrockenheit relativ gut überein. nalen Signaturen von Emotionen identifizieren kann.
Die Muster, auf die Kragel und Kollegen dabei stießen,
ähneln denen, die auch Saarimäki und ihr Team ent­
KURZ ERKL ÄRT: deckten – eine Metaanalyse dazu steht jedoch noch aus.
In ihrem aktuellen Experiment befragten die Wis­
FUNKTIONELLE senschaftler ihre Probanden in regelmäßigen Abstän­
MAGNETRESONANZTOMO GR AFIE den zu ihrer Gemütslage, während diese ruhig im
Die funktionelle Magnetresonanztomografie Hirnscanner lagen. Auch hier gelang es ihnen, die Emo­
(fMRT) erfasst mittels Magnetfeldern, in welchen tionen der Versuchsteilnehmer mittels der Hirnaktivität
Regionen des Gehirns besonders viel sauerstoff­ in vielen Fällen korrekt zu identifizieren. Zudem verän­
reiches Blut fließt. So lässt sich ermitteln, welche derte sich der Zustand der Probanden mit der Zeit:
Areale gerade aktiv sind. Angstgefühle nahmen allmählich ab, die Gefühlslage
wurde zunehmend neutraler. Das passt zu den Befun­
POSITRONEN­ den früherer Untersuchungen, die zeigen konnten, dass
EMISSIONSTOMOGRAFIE sich Versuchspersonen in einem fMRT­Gerät oft zu­
Bei der Positronenemissionstomografie (PET) nächst ängstlich fühlen, diese Empfindung aber nach
werden Stoffwechselvorgänge im Körper und nach verschwindet.
mit Hilfe von schwach radioaktiven Substanzen Außerdem mussten die Versuchsteilnehmer per
sichtbar gemacht. Fragebogen Auskunft über ihre allgemeine emotionale

GEHIRN&GEIST 50 0 4 _ 2 0 1 9
HIRNFORSCHUNG / EMOTIONEN

Ins Gehirn geschrieben


KRAGEL, P.A. ET AL.: DECODING SPONTANEOUS EMOTIONAL STATES IN THE HUMAN BRAIN. IN: PLOS BIOLOGY 14: E2000106, 2016, FIG. 1 (JOURNALS.

Jede Emotion geht mit einer speziellen neuronalen Signatur einher, die sich aus der
Aktivität mehrerer Hirnregionen zusammensetzt.
PLOS.ORG/PLOSBIOLOGY/ARTICLE?ID=10.1371/JOURNAL.PBIO.2000106) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

Freude Belustigung Überraschung

Angst Wut Traurigkeit

Kragel, P. A. et al.: Decoding Spontaneous Emotional States in the Human Brain.


In: PLoS Biology 14, e2000106, 2016

Verfassung geben. Die Idee dahinter: Menschen, die spontaner Traurigkeit seltener auf, könnte das etwa ein
hohe Werte auf einer Depressionsskala erzielen, sind Zeichen dafür sein, dass eine Behandlung anschlägt.
im Schnitt auch häufiger traurig als andere Personen, Besonders interessant wäre dieser Ansatz vor allem für
Menschen mit einer Neigung zu Ängsten fürchten sich Patienten, die an Alexithymie oder auch »Gefühlsblind-
hingegen schneller. Und tatsächlich identifizierte der heit« leiden. Die Betroffenen können ihre eigenen Emp-
Algorithmus während der Zeit im Scanner bei den de- findungen weder identifizieren noch beschreiben.
pressiven oder ängstlichen Probanden mehrfach die Schätzungen zufolge tritt das Phänomen etwa bei 10 bis
entsprechenden Gemütsregungen. 15 Prozent aller Menschen auf.
Die Wissenschaftler glauben, dass Bildgebungsver- Und selbst Komapatienten, die zwar wach sind, aber
fahren Menschen damit künftig helfen könnten, besser nicht mehr kommunizieren können, würden vielleicht
mit emotionalen Schwierigkeiten umzugehen. Zum davon profitieren, wenn Forscher ihre Emotionen di­
Beispiel, weil sie damit eine Depression leichter diag- rekt aus dem Gehirn ablesen: Womöglich öffnet die
nostizieren oder die Wirksamkeit von Therapiemetho- Technik ein Fenster zu ihrem inneren Erleben und bie­
den besser bewerten können: Treten Aktivitätsmuster tet ihnen so einen Weg aus ihrer Isolation. H

QUELLEN

Kragel, P. A. et al.: Decoding Spontaneous Emotional States


in the Human Brain. In: PLoS Biology 14, e2000106, 2016
Saarimäki, H. et al.: Discrete Neural Signatures of Basic Emotions.
In: Cerebral Cortex 26, S. 2563–2573, 2016
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1623840

GEHIRN&GEIST 51 0 4 _ 2 0 1 9
HIRNFORSCHUNG

ART OF NEUROSCIENCE COMPETITION Jedes Jahr zeichnet das


Netherlands Institute for Neuroscience in Amsterdam Kunstwerke zum
Thema »Neurowissenschaft« aus. Eine Auswahl der besten Werke.

Die Ästhetik
des Gehirns
VON DANIEL ACKERMAN UND LIZ TORMES

Hirnforschung ist eine nüchterne Angelegenheit. Meistens. Dass es auch


anders sein kann, zeigt der Wettbewerb »Art of Neuroscience«, den das
Netherlands Institute for Neuroscience jährlich durchführt. Die Idee dahinter:
Forscher und Künstler rücken das Gehirn in ein außergewöhnliches Licht.
Die Teilnehmer von 2018 erstellten aus Farbe, Klang, Licht und – in einem Fall –
menschlichem Blut originelle Installationen und Bilder.
CLARENCE KLINGEBIEL
SARAH NALVEN

U N S E R E AU TO R E N

Daniel Ackerman ist Wissenschaftsjournalist in


Minneapolis in Minnesota. Liz Tormes ist
Bildredakteurin bei »Scientific American«. 2018 war sie
Teil der Jury der Art of Neuroscience Competition.

GEHIRN&GEIST 52 0 4 _ 2 0 1 9
LINKE REIHE VON OBEN NACH UNTEN: YISHUL WEI, NETHERLANDS INSTITUTE FOR NEUROSCIENCE; LYNN LU; ALWIN KAMERMANS, VU UNIVERSITY MEDICAL CENTER; SARAH EZEKIEL; JENNY WALSH,
KATE JEFFERY, JEREMY KEENAN / FOTO: KIP LOADES / RECHTE REIHE VON OBEN NACH UNTEN: CARLES BOSCH PIÑOL, THE FRANCIS CRICK INSTITUTE, LONDON UND FRANCESCA PIÑOL TORRENT,
ESCOLA MASSANA; DAN JAGGER, UCL EAR INSTITUTE, UNIVERSITY COLLEGE LONDON; KAROLINE HOVDE, KAVLI INSTITUTE FOR SYSTEMS NEUROSCIENCE, CENTRE FOR NEURAL COMPUTATION / EGIL
AND PAULINE BRAATHEN AND FRED KAVLI, CENTRE FOR CORTICAL MICROCIRCUITS; ALEX GOMEZ-MARIN, INSTITUTO DE NEUROCIENCIAS ALICANTE; REBECCA MCDONALD, UNIVERSITY OF GUELPH
LYNN LU
GEWINNER-
BEITRAG
VESTAL MCINTYRE

VESTAL MCINTYRE

LYNN LU

Metaphorischer Blutaustausch
Als Gewinner des Wettbewerbs ging eine Installation Bei der Performance bat Lu die Besucher zu erzäh­
der Künstlerin Lynn Lu und der Neurowissenschaftlerin len, was sie in ihrem Leben am meisten bereuten. Die
Carmine Pariante hervor. Das Thema: Blut als Verbin­ Künstlerin schrieb die Äußerungen mit roter Tinte auf
dung zwischen Psyche und Körper. Pariante erforscht ein Pergament und entnahm den Teilnehmern einen
am King’s College London, wie Stress Entzündungs­ Tropfen Blut aus dem Finger. Im Gegenzug bot sie
reaktionen im Blut anstößt und wie diese die Bildung ihnen einen Schluck »entzündungshemmenden« Rote­
neuer Nervenzellen im Gehirn hemmen. Die Forscherin Bete­Saft an. Mit der Zeit stapelten sich die leeren
fand eine Erklärung dafür, wie psychische Überlastung Saftflaschen, und die Wand füllte sich mit den Ausdrü­
Depressionen begünstigen kann. cken der Reue.

GEHIRN&GEIST 54 0 4 _ 2 0 1 9
HIRNFORSCHUNG / NEURO-KUNST

CARLES BOSCH PIÑOL, THE FRANCIS CRICK INSTITUTE, LONDON UND


FRANCESCA PIÑOL TORRENT, ESCOLA MASSANA, BARCELONA

Geruchslandschaften
Diese Wandteppiche erinnern an Luftaufnahmen von Inseln im Meer oder von
Wasserstraßen, die sich durch Marschland schlängeln. Aber stattdessen zeigen
die Stoffe winzige »neuronale Landschaften« im Riechkolben des Gehirns. Der
Neurowissenschaftler Carles Bosch Piñol vom Francis Crick Institute in London
hatte zuvor mikroskopische Aufnahmen dieser Hirnstruktur erstellt, welche die
Künstlerin Francesca Piñol Torrent von der Escola Massana in Barcelona dann
als Vorlage für ihre großformatigen Webstücke nahm.
CARLES BOSCH PIÑOL, THE FRANCIS CRICK INSTITUTE, LONDON UND FRANCESCA PIÑOL TORRENT, ESCOLA MASSANA, BARCELONA

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GEHIRN&GEIST
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YISHUL WEI, NETHERLANDS INSTITUTE FOR NEUROSCIENCE JENNY WALSH, KATE JEFFERY, JEREMY KEENAN / FOTO: KIP LOADES
ALWIN KAMERMANS, VU UNIVERSITY MEDICAL CENTER


Klangvolles Navigationssystem Aggressive Farbkleckse

Für diese Glas­Draht­Installation ließen sich die Künst­ Alwin Kamermans vom VU University Medical Center
ler Jenny Walsh und Jeremy Keenan von Forschungs­ in Amsterdam hat die Zellen eines menschlichen Hirn­
arbeiten zum Orientierungssinn inspirieren. Die Neuro­ tumors, eines so genannten Astrozytoms, verfremdet.
wissenschaftlerin Kate Jeffery vom University College Das Werk besteht aus 64 übereinandergelegten Einzel­
London untersucht neuronale Netzwerke im Gehirn bildern, die er mit dem Mikroskop in unterschiedlichen
von Ratten, die auf ganz unterschiedliche Ausrichtun­ Brennweiten aufgenommen und verschiedenfarbig
gen ansprechen. Jedes Mal, wenn die Tiere den Kopf eingefärbt hat. Blaue Strukturen sind am weitesten vom
drehen, werden die passenden Nervenzellen aktiv. Die Betrachter entfernt, rote am nächsten.
Künstler symbolisierten diese Eigenschaft, indem sie
mehrere Glühbirnen – die Neurone – nacheinander
aufleuchten ließen. Je nach Blickrichtung der imaginä­
ren Ratte flackerte eine andere neuronale Kette, was sie
zusätzlich durch unterschiedliche Musikakkorde unter­
malten.

Der Rhythmus des Lebens


Das autonome Nervensystem hält unser Herz Tag und Nacht in Schwung. Aber perfekt gleichmäßig
schlägt es nicht, auch nicht im Schlaf. Yishul Wei vom Netherlands Institute for Neuroscience hat die
Kurven mehrerer 15­minütiger EKG­Messungen eines schlafenden Probanden überlagert. Dabei
entstand ein aus der Nähe betrachtet filigranes, aus der Ferne eher verwaschen anmutendes Linien­
muster. Bei einem absolut regelmäßigen Herzschlag würden die Kurven exakt aufeinanderliegen.

GEHIRN&GEIST 57 0 4 _ 2 0 1 9
KAROLINE HOVDE, KAVLI INSTITUTE FOR SYSTEMS NEUROSCIENCE, CENTRE FOR NEURALCOMPUTATION; EGIL AND PAULINE BRAATHEN AND FRED KAVLI, CENTRE FOR CORTICAL MICROCIRCUITS
Neuronale Milchstraße
Diese Aufnahme entstand nicht mit einem Fernrohr,
sondern mit einem Mikroskop. Ein dichtes Bündel
von blau und orange gefärbten Axonen – den dünnen
Leitungsbahnen der Neurone – durchquert den kas­
tanienbraunen Schleier des Striatums im Zentrum des
Gehirns. Die Neurowissenschaftlerin Karoline Hovde
von der Technisch­Naturwissenschaftlichen Universität
Norwegens hat die galaktisch anmutende Szene einge­
fangen.

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HIRNFORSCHUNG / NEURO-KUNST

Flammende Stammzellen
Anders als bei den meisten Tieren wachsen beim Leopardgecko verlorene Gliedmaßen wieder
nach. Doch das ist nicht alles: Die Echsen sind zudem in der Lage, Teile ihres Gehirns zu regene­
rieren, wenn dieses verletzt wurde. Das fand Rebecca McDonald von der University of Guelph in
Ontario heraus. Sie entdeckte im Gehirn der Tiere neuronale Stammzellen, die für diese Eigen­
schaft verantwortlich sein könnten. Auf der leuchtenden Mikroskopaufnahme sind sie zu sehen –
die Kerne der Zellen fluoreszieren in Violett, ihre Ausläufer in Orange.
REBECCA MCDONALD, UNIVERSITY OF GUELPH

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GEHIRN&GEIST
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SARAH EZEKIEL ALEX GOMEZ-MARIN, INSTITUTO DE NEUROCIENCIAS ALICANTE
DAN JAGGER, UCL EAR INSTITUTE, UNIVERSITY COLLEGE LONDON


Tanz der Fadenwürmer Goldener Hörnerv

Alex Gomez­Marin vom Neurowissenschaftlichen Die fluoreszenzmikroskopische Aufnahme zeigt den


Institut von Alicante in Spanien untersucht die Hörnerv einer Maus. Der Audiologe Dan Jagger vom
Bewegungen von Fadenwürmern. Die winzigen Tiere University College London hatte die Neurone zuvor
können dabei rund 90 charakteristische Körperhal­ orange­gold eingefärbt und die Zellkerne azurblau.
tungen einnehmen. Der Forscher beobachtete die So entstand ein Bild, das von Weitem aussieht wie ein
Tierchen und protokollierte die Ergebnisse in Form goldenes Flussbett, durch das blaues Wasser strömt.
dieser bunten Matrix: Jede Spalte zeigt die Regungen
eines bestimmten Wurms, wobei jeder Farbton eine
andere Körperhaltung codiert.

Im Auge des Betrachters


Dieser Artikel im Internet:


www.spektrum.de/artikel/1623842
Mit der Brainbow­Technik können Neurowissen­
schaftler einzelne Nervenzellen jeweils in einem
bestimmten Farbton sichtbar machen. Die Künstle­
rin Sarah Ezekiel nutzte eine Apparatur, die ihre
WEBTIPP
eigenen Augenbewegungen aufzeichnete, während
sie eine Brainbow­Aufnahme betrachtete. Eine Alle eingereichten Werke der Art of Neuroscience
Software übertrug die Spuren ihrer Blicksprünge in Competition 2018 sind online zu finden unter
das Bild. So entstand dieses bunte Werk aus ver­ https://aon.nin.knaw.nl/index.php/portfolio/2018/
schlungenen Linien und Punkten.

GEHIRN&GEIST 61 0 4 _ 2 0 1 9
THERAPIE KOMPAKT

UNSPLASH / KINGA CICHEWICZ (UNSPLASH.COM/PHOTOS/FVRTLKGQ700)


Insomnie
Die fünf Arten der Schlaflosigkeit

S
ich stundenlang herumwälzen, bevor einem die positive Gefühle, sind extrem erschöpft und vor dem
Augen endlich zufallen, häufig nachts und früh Zubettgehen sehr nervös.
am Morgen aufwachen: Wer solche Symptome an Betroffene der 2. und 3. Kategorie sind dagegen
mindestens drei Tagen pro Woche erlebt und auch mittelschwer beeinträchtigt. Gruppe 2 missglückt dabei
tagsüber davon beeinträchtigt wird, leidet mit hoher das Einschlafen vor allem nach stressigen Erlebnissen.
Wahrscheinlichkeit an einer Insomnie – wie Schätzun- Gruppe 3 ist zwar ebenfalls häufig vor dem Schlafenge­
gen zufolge rund zehn Prozent der Erwachsenen. hen aufgewühlt, erlebt aber – ähnlich wie Gruppe 1 –
Die Schlaflosigkeit kann viele Ursachen haben, insgesamt nur wenig positive Gefühle und Gedanken.
unter anderem organische Beschwerden wie Atemaus­ Die Kategorien 4 und 5 umfassen vergleichsweise
setzer oder psychische Erkrankungen, etwa Depres­ »leichtere« Fälle. Betroffene der 4. Gruppe leben schon
sion. Für rund ein Viertel der Fälle findet sich jedoch lange mit ihrer Schlaflosigkeit und hatten oft eine
keine schlüssige Erklärung – dann spricht man schwere Kindheit. Die 5. Gruppe schließlich zeichnet
von einer »insomnischen Störung«. Schlafforscher um sich durch Ermüdung und depressive Symptome aus.
Tessa Blanken vom Niederländischen Institut für Der Psychologe Michael Schredl vom Zentralinstitut
Neurowissenschaft haben nun verschiedene Typen für Seelische Gesundheit in Mannheim, der an der
dieser Krankheit identifiziert. Studie nicht beteiligt war, hält diese Klassifizierung der
Die Wissenschaftler befragten 4322 Probanden, Insomnie grundsätzlich für sinnvoll, denn so könne die
von denen ungefähr die Hälfte an einer insomnischen Therapie womöglich besser auf die verschiedenen
Störung litten, zu ihrer Lebensgeschichte, ihrer Typen angepasst werden. Die Forscher um Blanken
Persönlichkeit und ihrem aktuellen Befinden. Die fanden bereits Hinweise darauf, dass die einzelnen
Muster in den Antworten der Teilnehmer wurden in Typen anders auf Behandlungen wie Beruhigungsmit­
fünf Klassen zusammengefasst. Diese unterscheiden tel oder verhaltenstherapeutische Maßnahmen
sich etwa danach, wie stark die Betroffenen im Alltag ansprechen – diese hatten den Betroffenen in den fünf
beeinträchtigt sind und welche Symptome bei ihnen Gruppen laut eigener Aussage bisher nämlich unter­
vorherrschen. Probanden der 1. Kategorie leiden am schiedlich gut geholfen.
stärksten unter der Insomnie. Sie erleben kaum noch Lancet Psychiatry 6, S. 151–163, 2019

GEHIRN&GEIST 62 0 4 _ 2 0 1 9
Autor dieser Rubrik: Joachim Retzbach

Psychotherapie
Länger behandeln bringt oft keinen Vorteil

W
ie lange sollte eine Psychotherapie dauern? 4 und 24 Sitzungen lag. Nach dieser Zeit war bei
Eine für jeden Patienten gültige Antwort mindestens der Hälfte der Patienten eine deutliche
kann es offenkundig nicht geben. Psycholo­ Verbesserung der Symptome eingetreten. Darüber
gen um Louisa Robinson von der University of hinausgehende Therapiesitzungen führten dagegen
Sheffield untersuchten nun aber die Frage, nach kaum noch zu relevanten Fortschritten.
welcher Dauer im Durchschnitt der Punkt erreicht ist, Die Spanne ergebe sich daraus, dass Menschen
an dem eine längere Behandlung keinen nennenswer- unterschiedlich gut auf Psychotherapie ansprechen,
ten zusätzlichen Nutzen mehr bringt. schreiben die Forscher: Manchen Betroffenen gehe es
Für ihre Übersichtsarbeit werteten die Forscher schon nach vier Sitzungen spürbar besser. Patienten
26 bereits erschienene Studien neu aus. Diese hatten mit so genannter »allmählicher Reaktion« bräuchten
jeweils die Dosis­Wirkungs­Beziehung für verschie­ dagegen eher mehr Stunden. Es gebe aber insgesamt
dene Arten von Psychotherapie untersucht, darunter nur »geringe Evidenz« dafür, dass Langzeittherapien
psychodynamische Therapie, kognitive Verhaltensthe­ von über 30 Sitzungen sinnvoll seien, so Robinson und
rapie und integrative Verfahren. Die Behandlungen ihre Kollegen. Das gelte jedoch ausdrücklich nicht für
fanden in Einrichtungen wie Ambulanzen, Tagesklini­ besonders schwere oder chronisch bestehende
ken und Hausarztpraxen statt. seelische Probleme wie beispielsweise Persönlichkeits­
Über alle Einzelstudien hinweg zeichnete sich ab, störungen.
dass die optimale Dauer einer Psychotherapie zwischen Psychother. Res. 10.1080/10503307.2019.1566676, 2019

Medikamente
Cholesterinsenker helfen gegen Schizophrenie

H
andelsübliche Medikamente gegen internisti­ drei häufig verabreichten Arzneien erhalten hatten:
sche Leiden wie Bluthochdruck, Diabetes oder Statine, die als Cholesterinsenker eingesetzt werden,
erhöhtes Cholesterin könnten die Symptome Herzmedikamente wie Verapamil sowie Metformin,
psychischer Störungen reduzieren. Das ergab eine das bei Typ­2­Diabetes zum Einsatz kommt. In
Studie, die ein Forscherteam um Joseph Hayes vom Quartalen, in denen die Versuchspersonen eines dieser
University College London veröffentlicht hat. Medikamente eingenommen hatten, wurden sie
Die Wissenschaftler durchpflügten das nationale seltener in einer Psychiatrie aufgenommen – das
Gesundheitsregister Schwedens, in dem für die Risiko dafür sank um ein Viertel bis ein Fünftel. Auch
gesamte Bevölkerung des Landes unter anderem wurde für diese Zeiträume weniger selbstverletzendes
ärztliche Diagnosen und Rezepte sowie Krankenhaus­ Verhalten dokumentiert.
aufenthalte festgehalten sind. Dabei interessierten sie Statine wirken den Forschern zufolge entzündungs­
jene Personen, die zwischen 2005 und 2016 Medika­ hemmend, was bei psychischen Erkrankungen eine
mente gegen eine bipolare Störung, eine Schizophrenie Rolle spielt, und sie könnten die Wirkung von Antipsy­
oder eine psychotische Störung erhalten hatten. chotika verstärken. Herzmedikamente wiederum
Als Nächstes wollten die Forscher wissen, ob diese hätten oft einen emotional stabilisierenden Effekt.
142 691 Patienten im Untersuchungszeitraum eine von JAMA Psychiatry 10.1001/jamapsychiatry.2018.3907, 2019

Sucht Kinder von alkoholkranken Eltern haben eine


um 50 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit,
einen alkoholabhängigen Partner zu heiraten.
Addiction 114, S. 81–91, 2019

GEHIRN&GEIST 63 0 4 _ 2 0 1 9
MEDIZIN

PSYCHOPHARMAKA
Viele Menschen berichten von starken Beschwerden
wie Ängsten, Unruhe und Missempfindungen, wenn sie
Antidepressiva absetzen. Immer mehr spricht dafür,
dass Ärzte solche Entzugserscheinungen lange
unterschätzt haben.

Die dunkle Seite


der Stimmungs-
aufheller
VON JANOSCH DEEG

LIIA GALIMZIANOVA / GETTY IMAGES / ISTOCK

GEHIRN&GEIST 64 0 4 _ 2 0 1 9
LIIA GALIMZIANOVA / GETTY IMAGES / ISTOCK

GEHIRN&GEIST
65 0 4 _ 2 0 1 9
Auf einen Blick: Machen Antidepressiva abhängig?

1 2 3
Etwa jeder 20. in Deutschland Demgegenüber berichten viele Initiativen wie das Projekt
nimmt Antidepressiva ein. Die Patienten von starken Entzugs- Tapering Strips scheinen
Medikamente gelten als gut erscheinungen wie Kopf- Menschen dabei zu helfen, die
verträglich. In Leitlinien ist zwar schmerzen oder Kribbeln am Dosis systematisch und vorsichtig
von möglichen Absetzsymptomen ganzen Körper, wenn sie versuchen, zu reduzieren. Zudem sollten
die Rede, diese seien aber in der die Mittel abzusetzen. Die Be- Patienten besser über die Erfolgs-
Regel leicht und würden spontan schwerden halten mitunter Monate chancen, Risiken und Alternativen
zurückgehen. oder gar Jahre an. aufgeklärt werden.

K
opf- und Rückenschmerzen, Verdau- tiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehem-
ungsprobleme, Sehstörungen, Tremor, mer (SSNRI oder SNRI), den er drei Jahre lang ein-
Muskelzuckungen, Tinnitus, Nervosität, nahm. Im Gegensatz zu SSRI erhöhen SNRI nicht nur
Panikattacken und vieles mehr: Die Lis- den Serotonin-, sondern auch den Noradrenalinspiegel.
te an Symptomen, die Tim* plagten und Noradrenalin gilt als Stresshormon und aktiviert nor-
unter denen er teilweise noch immer malerweise den Organismus. Doch Tims Depression
leidet, ist erstaunlich lang. Die diffusen Beschwerden blieb. Obendrein bekam er nächtliche Schweißausbrü-
begannen im Frühling 2017, als der heute 27-Jährige in che und Albträume. Aus diesen Gründen wechselte er
Absprache mit seinem Arzt anfing, die Medikamente 2015 zum SNRI Venlafaxin, das er besser vertrug.
gegen seine Depression zu reduzieren. In einer Befragung von mehr als 1700 Menschen mit
Der Psychiater und Psychotherapeut Uwe Gonther Depressionen zu ihren Erfahrungen mit Antidepressiva
kennt solche Fälle nur zu gut. »Es gibt immer wieder bewerteten mehr als die Hälfte die Medikamente als po-
Patienten, die massive Probleme haben, wenn sie ihre sitiv. Sie sahen diese als notwendige Behandlung an und
Antidepressiva absetzen«, sagt der Chefarzt des AMEOS beschrieben zum Beispiel, dass sie dadurch erst wieder
Klinikums Dr. Heines in Bremen. Meistens haben die in der Lage gewesen seien, sozialen Verpflichtungen
Betroffenen die Mittel zuvor über mehrere Jahre hinweg nachzukommen. Manche Patienten bezeichneten die
eingenommen. Er ist der Meinung, dass man solche Mittel als Sprungbrett aus der Depression oder als Le-
Symptome lange zu wenig beachtet hat: »Der Großteil bensretter. Dagegen berichteten knapp 30 Prozent der
des Wissens darüber basiert auf der Erfahrung von Pa- Befragten von gemischten und 16 Prozent von durchweg
tienten und Ärzten und nicht auf evidenzbasierter Me- negativen Erfahrungen mit Antidepressiva. Als Gründe
dizin.« Es fehle an systematischer Forschung. nannten sie Unwirksamkeit, unerträgliche Nebenwir-
Tim nahm sein erstes Antidepressivum im Alter von kungen, Maskierung echter Probleme oder eine redu-
20 Jahren ein. Die Psychiaterin, die ihn damals behan- zierte Kontrolle über sich selbst. Patienten mit gemisch-
delte, verschrieb ihm Citalopram, einen selektiven Sero- ten Einstellungen wogen in der Regel den Nutzen gegen
tonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Diese Arznei- die unangenehmen Nebenwirkungen ab. Sie fühlten
mittel blockieren den Abtransport von Serotonin, wo- sich beispielsweise ruhiger, aber weniger als sie selbst.
durch sich die Konzentration des Botenstoffs im Anfang 2017 entschied Tim in Absprache mit seinem
synaptischen Spalt erhöht, der Verbindungsstelle zwi- Psychiater, das Antidepressivum abzusetzen. Er fühlte
schen den Nervenzellen (siehe »Wie wirken Antide- sich gesund und stabil. Gemäß der von der Arbeits-
pressiva?«, S. 68). gemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen
Das Medikament half Tim nicht wirklich. Zudem Fachgesellschaften (AWMF) erstellten S3-Leitlinie zur
rief es sexuelle Funktionsstörungen hervor, eine relativ unipolaren Depression sollen Antidepressiva in der Re-
häufige Nebenwirkung von Citalopram. Daraufhin er- gel schrittweise über einen Zeitraum von vier Wochen
hielt Tim das Antidepressivum Duloxetin, einen selek- reduziert werden. Daher begann Tim im Februar, die
Dosis von ursprünglich 150 Milligramm unter ärztlicher
Aufsicht zunächst auf 110 Milligramm zu verringern.
Bereits nach drei Tagen fingen die Symptome an, erin-
nert er sich. Anfangs war ihm sehr schwindelig, nach
ein paar Tagen kribbelte es im linken Bein und bald da-
U N S E R AU TO R rauf im ganzen Körper. Sein Psychiater versuchte, ihn
Janosch Deeg ist promovierter zu beruhigen: Es gebe durchaus Menschen, bei denen
Physiker und Wissenschaftsjournalist. vorübergehende Beschwerden auftreten würden; inner-
Er lebt in Heidelberg. halb weniger Wochen würden diese jedoch verschwin-
*Name von der Redaktion geändert

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MEDIZIN / PSYCHOPHARMAKA

den. Bei Tim war dem aber nicht so – vielmehr kamen Gonther. In einer Befragung von 1800 Menschen, die
immer mehr Symptome hinzu. Als besonders unange- Antidepressiva einnahmen, erinnerte sich allerdings
nehm empfand er ein Kribbeln, das sich im ganzen Kör- nur jeder 100. daran, vom Arzt über mögliche Entzugs-
per ausbreitete und sich wie leichte Stromschläge an- erscheinungen informiert worden zu sein. Die Hälfte
fühlte. Von solchen Empfindungen, die man »brain gab an, unter Symptomen zu leiden, wenn sie ihr Medi-
zaps« nennt, berichten erstaunlich viele Menschen, die kament nicht einnehme. Und etwa jeder dritte fühlte
Antidepressiva absetzen. Ausgelöst werden sie oft durch sich von ihm abhängig.
schnelle Augenbewegung zur Seite. Auch Tims Psychia- Dass Nebenwirkungen beim Absetzen von Antide-
ter kannte dieses Phänomen. Auf Grund der massiven pressiva auftreten können, steht erst seit 2014 im DSM-
Beschwerden beschloss er gemeinsam mit Tim, die Do- 5, dem international anerkannten Klassifikationssystem
sis deutlich langsamer als gewöhnlich zu verringern. für psychische Störungen der American Psychiatric
Association. Es beschreibt das Absetzsyndrom bei Anti-
Schwindel, Lichtblitze, unspezifische Angst depressiva als Gruppe von Beschwerden, die nach einer
Der Bremer Psychiater Uwe Gonther rät, die Wirkstoff- abrupten Unterbrechung oder nach einer deutlichen
menge bei starken Symptomen sehr vorsichtig zu redu- Reduzierung der Dosis auftreten können, sofern das
zieren. Manche Betroffenengruppen empfehlen, sie nur Medikament mindestens einen Monat lang eingenom-
alle paar Wochen um zehn Prozent herabzusetzen. Da- men wurde. Üblicherweise begännen die Symptome
durch kann sich der Prozess jedoch über mehrere Jahre (etwa Schwindel, Lichtblitze, unspezifische Angst oder
hinziehen. In Einzelfällen sei das tatsächlich notwendig, eine übersteigerte Reaktion auf Geräusche) in den ers-
glaubt auch Gonther. Es gebe jedoch kein allgemein gül- ten zwei bis vier Tagen. Sie ließen sich durch die erneu-
tiges Rezept. Stattdessen sei es wichtig, die Patienten te Gabe des Medikaments oder eines ähnlichen Mittels
und ihre Beschwerden ernst zu nehmen und individuel- jedoch abmildern. Offenbar gewöhnt sich der Körper
le Lösungen zu finden. Viel zu häufig wäre das nicht der also an den Wirkstoff und reagiert, wenn dieser fehlt.
Fall. Der Psychiater würde sich wünschen, dass die Pati- Nach bisherigen Erkenntnissen treten die Beschwerden
enten im Vorfeld der Behandlung über mögliche Ne- vor allem bei neueren Antidepressiva auf, wozu SSRI
benwirkungen und das Absetzsyndrom aufgeklärt wer- und SNRI gehören.
den. Ebenso dürfte man die teilweise geringe Erfolgs- Laut DSM-5 verschwinden solche Symptome in der
wahrscheinlichkeit der Mittel nicht verschweigen (siehe Regel nach ein bis zwei Wochen wieder. Die wenigen
»Wie gut helfen Antidepressiva?«, S.  70). »Es ist eben wissenschaftlichen Untersuchungen, die zu dem Thema
nicht so, dass man ein Medikament gegen ein psychi- existieren, zeichnen aber ein ganz anderes Bild. 2012
sches Problem gibt und dieses damit beseitigt ist«, sagt analysierten Forscher um Carlotta Belaise von der Uni-

Stimmungsaufheller auf dem Vormarsch


Die Einnahme von Antidepressiva stieg in Deutsch- Anstieg der psychischen Störung nahe. Die Weltge-
land zuletzt rapide an. Einer OECD-Studie zufolge sundheitsorganisation schätzt die Zahl der Betroffe-
erhöhte sich die Anzahl der Verschreibungen hier zu nen in Deutschland auf rund vier Millionen. Mögli-
Lande von 21 Tagesdosen je 1000 Einwohner im Jahr cherweise erkennen Allgemeinärzte eine depressive
2000 auf 53 Tagesdosen 2013 – was bedeutet, dass Erkrankung inzwischen besser als früher.
fünf Prozent der Bevölkerung sie täglich einnahmen. Gesundheit auf einen Blick 2015, Gesundheitsreport 2018
Laut einer Analyse der Techniker Krankenkasse
haben sich die Verordnungen zwischen 2007 und
2017 verdoppelt. Ähnlich sieht es in anderen Ländern
wie etwa Großbritannien aus. In Australien schluckt Anzahl der Tagesdosen Antidepressiva
inzwischen jeder Zehnte täglich ein Antidepressivum, je 1000 Einwohner in Deutschland
in den USA konsumierte 2012 jeder Achte so ein
Mittel, Tendenz steigend. Mögliche Gründe für den
Anstieg sind laut Robert Koch-Institut, dass Ärzte
Antidepressiva mittlerweile auch bei Angst- und
Zwangsstörungen und Schmerzsyndromen verord- 21 53
nen sowie der Rückgang von Benzodiazepinver-
schreibungen bei Depressionen. Obwohl zum Bei-
spiel die Zahl der Krankschreibungen auf Grund
einer Depression in den letzten Jahrzehnten gestiegen
ist, legen epidemiologische Studien keinen generellen Jahr 2000 Jahr 2013

GEHIRN&GEIST 67 0 4 _ 2 0 1 9
MEDIZIN / PSYCHOPHARMAKA

Absetzsymptome können Besonders häufig berichten Patienten, die wie Tim das
SNRI Venlafaxin eingenommen haben, von Proble-
einer Depression ähneln men – je nach Erhebung zwischen 23 und 78 Prozent.
und leicht mit einem Rück­ Die Erkenntnisse stellen die Verwendung von SNRI
bei affektiven Störungen und Angststörungen in Frage,
fall verwechselt werden schlussfolgern Fava und seine Kollegen. Außerdem for-
dern die Autoren, dass Ärzte SSRI und SNRI genauso
wie beispielsweise Benzodiazepine in die Liste der Me-
versität Bologna Einträge in Internetforen, in denen Be- dikamente aufnehmen, die nach Behandlungsende Ent-
troffene von Entzugserscheinungen beim Absetzen von zugserscheinungen hervorrufen können. Darüber hin-
SSRI berichteten. Ihren Ergebnissen zufolge lässt sich aus verharmlose der im Englischen verwendete Begriff
der SSRI-Entzug in zwei Phasen unterteilen: die Ent- »discontinuation syndrome« (im Deutschen: Absetz-
zugsphase, die bis zu sechs Wochen anhält und durch syndrom) die möglichen Symptome und solle durch
verschiedene neue Beschwerden und so genannte Re- »withdrawal syndrome«, also Entzugssyndrom, ersetzt
bound-Symptome gekennzeichnet ist. Letzteres sind werden. Uwe Gonther hält Diskussionen über die Be-
Symptome wie Freud- und Antriebslosigkeit, die auch griffsbezeichnung dagegen für zweitrangig: »Es wäre
im Rahmen einer Depression auftreten und nach dem schon viel gewonnen, wenn man akzeptiert, dass teil-
Absetzen der Medikamente noch stärker sein können. weise schwere und lang anhaltende Symptome nach
Dann beginne der Langzeitentzug, der mitunter Mona- dem Absetzen auftreten.«
te bis Jahre andauert. In dieser Phase können sich etwa
Schlaflosigkeit, Konzentrationsprobleme, Stimmungs- Der Entzug ähnelt dem von Benzodiazepinen
schwankungen und viele andere Beschwerden zeigen. Auch Wissenschaftler vom Nordic Cochrane Centre in
Forscher um den italienischen Psychologen Giovan- Kopenhagen kamen 2011 zu dem Schluss, dass die Ent-
ni Fava, ebenfalls an der Universität Bologna, sichteten zugsreaktion auf SSRI der auf Benzodiazepine ähnele.
in zwei 2015 und 2018 veröffentlichten Übersichtsarbei- Es erscheine sinnvoll, die Beschwerden bei SSRI (wie
ten alle Studien und Fallberichte, die sie zu Absetzsym- bei den Benzodiazepinen) als Teil eines Abhängigkeits-
ptomen bei SSRI sowie SNRI finden konnten. Das Er- syndroms zu betrachten. Den Grund für die Ungleich-
gebnis: Die Beschwerden treten bei beiden Arten von behandlung sehen die dänischen Forscher darin, dass
Antidepressiva typischerweise in den ersten Tagen nach die Definition der Abhängigkeit in den Klassifikations-
dem Absetzen auf und halten mehrere Wochen an. Sie systemen für psychische Störungen geändert worden
können einer Depression ähneln und daher leicht mit sei. Seit einer Überarbeitung der DSM-III-Revision
einem Rückfall verwechselt werden. Und zwischen ein- 1987, die kurz vor der Markteinführung der SSRI statt-
zelnen Personen gibt es große Unterschiede darin, wann fand, müssen für diese Diagnose mehrere Kriterien er-
die Beschwerden beginnen und wie lange sie dauern. füllt sein, zum Beispiel ein starkes Verlangen nach der

Wie wirken Antidepressiva?


Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) wiederum beeinflussen den Serotoninspiegel gar
erhöhen die Konzentration von Serotonin im synapti- nicht – die verschiedenen Mittel beruhen also nicht
schen Spalt zwischen Nervenzellen. Der vermutete auf demselben biochemischen Mechanismus. Des
Wirkmechanismus basiert auf der Hypothese, dass Weiteren senkt eine tryptophanarme Ernährung zwar
ein Mangel an Serotonin im Gehirn für die Entste- die Serotoninkonzentration, bei gesunden Menschen
hung einer Depression verantwortlich ist. Der löst das jedoch keine Depression aus. Auch hilft eine
Mensch brauche also eine bestimmte Dosis dieses tryptophanreiche Ernährung Depressiven nicht.
Neurotransmitters, um guter Stimmung zu sein. Zu Tryptophan ist in vielen Lebensmitteln enthalten,
der Ansicht kamen Forscher Ende der 1960er Jahre, und der Körper stellt daraus Serotonin her. Auf
als sie bei depressiven Patienten eine niedrigere Grund solcher widersprüchlichen Befunde scheint
Konzentration eines Abbauprodukts von Serotonin die Serotonin-Hypothese der Komplexität der Stö-
fanden. Bisher ist der Zusammenhang zwischen rung nicht gerecht zu werden. Daher steht in den
dieser Substanz und dem Schweregrad einer Depres- aktuellen deutschen Leitlinien: Ȇber die Mechanis-
sion jedoch unklar. Außerdem reduziert etwa der men, durch welche die Wirkung der Antidepressiva
Wirkstoff Tianeptin die Serotoninkonzentration im zu Stande kommt, besteht weiterhin Unklarheit. Da-
synaptischen Spalt und ist dennoch seit 2012 bei her ist es bis heute nicht möglich, verlässlich voraus-
Depressionen zugelassen, weil klinische Studien seine zusagen, ob und wann ein bestimmter Patient auf ein
Wirksamkeit zeigen konnten. Andere Antidepressiva bestimmtes Antidepressivum ansprechen wird.«

GEHIRN&GEIST 68 0 4 _ 2 0 1 9
Substanz oder die Vernachlässigung von Interessen. Zu-
vor reichten eine Toleranzentwicklung oder das Vorlie-
gen von Entzugserscheinungen aus.
Dass die aktuellen Richtlinien die Schwere und Dau- M E H R W I S S E N AU F
er des Entzugs von Antidepressiva unterschätzen, fin- »SPEKTRUM.DE«
den auch James Davies von der University of Roehamp- Das Gehirn&Geist­Dossier
ton in London und John Read von der University of »Psychotherapie« stellt
East London. Die beiden hatten für ihre 2018 erschiene- bewährte Behandlungsverfahren
ne Übersichtsarbeit die bisherige Literatur zu Absetz- und neue Ansätze vor:
symptomen bei Antidepressiva analysiert. Mehr als die www.spektrum.de/shop
Hälfte der Patienten berichteten von solchen Beschwer-
den. Und fast jeder zweite mit Entzugserscheinungen
bezeichnete sie als schwer wiegend. Zudem bestanden Tim war über die vielfältigen Beschwerden scho-
sie oft über mehrere Wochen oder gar Monate fort. ckiert, von denen er dort las. Die Symptome können
Dass es dabei Unterschiede zwischen den einzelnen alle möglichen Bereiche treffen, etwa die Wahrneh-
Antidepressiva gibt, wird zwar vermutet, Daten dazu mung, das Befinden, die Kognition, das Herz-Kreislauf-,
existieren jedoch kaum. Tom Stockmann vom Universi- Verdauungs- oder Immunsystem. Das Spektrum reicht
ty College London und seine Kollegen verglichen im von Schwindel und Übelkeit bis hin zu Berührungs-
Jahr 2018 den Entzug von SSRI mit dem von SNRI. empfindlichkeit, Verspannungen, plötzlichem Brennen,
Dazu analysierten sie über 170 Beiträge einer US-ameri- Kribbeln oder Jucken der Haut, ein Gefühl von Watte
kanischen Internetplattform für Betroffene. Die Absetz- im Kopf und mehr. »Viele berichten auch von Angst,
symptome hielten bei SSRI mit durchschnittlich 90 Wo- Unruhe oder Verzweiflung«, erklärt Heffmann. Ihren
chen deutlich länger an als bei SNRI mit 50 Wochen Erfahrungen nach treten die Symptome meist schub-
(fast ein Jahr). Auch urogenitale oder psychosexuelle weise auf. Dazwischen gebe es immer wieder Phasen
Beschwerden wie Schwierigkeiten beim Wasserlassen mit weniger oder keinen Beschwerden. Während man-
oder Erektionsstörungen kamen bei SSRI öfter vor als che Menschen die Medikamente ohne größere Proble-
bei SNRI. Dagegen scheinen neurologische Probleme me absetzen könnten, würden andere monate- oder
wie die »brain zaps« bei SNRIs häufiger aufzutreten. Da jahrelang unter den Folgen leiden. Insbesondere letzte-
die Webseite Menschen bei einem Antidepressiva-Ent- re Gruppe werde von den behandelnden Ärzten nur un-
zug helfen soll, zieht sie allerdings in erster Linie jene an, zureichend erkannt, so Heffmanns Einschätzung.
die stark darunter leiden. Daher lässt sich die dort er-
mittelte Dauer der Symptome nicht auf alle Nutzer von Über unerwünschte Wirkungen aufklären
Antidepressiva übertragen. Ein ähnliches Problem der Wie lange sich der Absetzprozess hinziehen kann, hat
Vorselektion besteht möglicherweise auch bei anderen Markus Kaufmann als Angehöriger erfahren. Ein Fami-
erwähnten Studien. Wenn Forscher etwa einen Frage- lienmitglied von ihm versucht seit nunmehr sieben Jah-
bogen über die Erfahrungen mit Antidepressiva ins ren, die Dosis eines Antidepressivums zu reduzieren.
Netz stellen, kann es durchaus sein, dass sich in erster Als Sozialarbeiter begleitet Kaufmann zudem Men-
Linie Menschen beteiligen, die Probleme mit dem Mit- schen mit psychischen Störungen und unterstützt sie
tel haben oder hatten. Daher sind placebokontrollierte unter anderem beim Absetzen von Medikamenten. Seit
klinische Studie dringend nötig, bei denen weder der einigen Jahren engagiert er sich im Fachausschuss für
Versuchsleiter noch der Proband weiß, ob Letzterer den Psychopharmaka bei der Deutschen Gesellschaft für So-
Wirkstoff erhält. Nur so lässt sich abschätzen, wie häufig ziale Psychiatrie. Er möchte vor allem über die Entzugs-
Antidepressiva tatsächlich Entzugserscheinungen ver- erscheinungen von Antidepressiva aufklären und Alter-
ursachen. nativen aufzeigen. Bei seiner Arbeit gerate er oft an Ärz-
Bei Tim verschwanden die diffusen Symptome nicht te, die die Symptome ihre Patienten nicht ernst nähmen
nach ein paar Wochen. Wie offenbar viele seiner Lei- oder sie einer psychischen Störung zuschrieben, erzählt
densgenossen machte er sich auf die Suche nach weite- er. »Immer wieder reden Mediziner den Patienten sogar
ren Informationen. Im Internet stieß er auf jede Menge aus, dass es Entzugserscheinungen geben kann«, sagt
Erfahrungsberichte – insbesondere im deutschsprachi- Kaufmann. Auch in der S3-Leitlinie zur unipolaren De-
gen ADFD-Forum. »Die Abkürzung beruht auf dem pression taucht der Begriff »Entzugserscheinungen«
ehemaligen Namen Antidepressiva Forum Deutsch- nicht auf. Es ist lediglich die Rede davon, dass Antide-
land«, erklärt Iris Heffmann, ein Teammitglied der pri- pressiva Absetzsymptome verursachen können, die in
vaten Initiative. Inzwischen tauschen sich auf dieser der Regel leicht seien und spontan zurückgehen wür-
Plattform aber auch Betroffene und Angehörige über den. Deswegen hat Kaufmann gemeinsam mit Experten
die Nebenwirkungen und Entzugserscheinungen ande- und Fachkliniken einen Aufklärungsbogen über Anti-
rer Psychopharmaka wie Benzodiazepine aus. depressiva erstellt, der auf unerwünschte Wirkungen

GEHIRN&GEIST 69 0 4 _ 2 0 1 9
Wie gut helfen Antidepressiva?
Ältere Metaanalysen haben gezeigt, dass Antidepres- 6000 psychologische Gesundheitstherapeuten ausge-
siva Patienten mit leichten Depressionen höchstens bildet. Auch die deutschen Leitlinien empfehlen,
minimal und nicht besser als ein Placebo helfen. Antidepressiva nicht generell als Erstbehandlung bei
Ende der 1990er Jahre war der mittlerweile emeri- leichten depressiven Episoden einzusetzen, sondern
tierte US-amerikanische Psychologieprofessor Irving Nutzen und Risiken abzuwägen.
Kirsch einer der Ersten, der dies im Detail untersuch- 2018 veröffentlichte ein internationales Forscher-
te. Ursprünglich wollte er dem Placeboeffekt auf den team die bisher größte Metaanalyse zur Wirksamkeit
Grund gehen. Dabei entdeckten er und sein Student von Antidepressiva mit mehr als 100 000 Patienten-
Guy Sapirstein, dass die Medikamente nur bei einem daten. Die Wissenschaftler hatten 21 gängige Anti-
Viertel der mehr als 2300 Patienten mit Depressionen depressiva untersucht – und alle waren bei der kurz-
eine Wirkung zeigten, die über die eines Placebos fristigen Behandlung von Erwachsenen wirksamer
hinausging. In nachfolgenden Studien konnte er seine als ein Placebo. Allerdings profitierten nur zwei von
Ergebnisse bestätigen. Die Wirksamkeit von Antide- drei Patienten von den Arzneimitteln. Auch in den
pressiva nehme mit dem Schweregrad der Depression deutschen Leitlinien ist die Rede davon, dass Antide-
zwar zu, aber sie sei selbst bei Menschen mit starken pressiva bei rund zwei Dritteln der Patienten wirken.
Depressionen noch relativ klein, erklärte der Psycho- Bei etwa jedem Zweiten, der auf die Medikamente
loge etwa 2008. Kirschs Befunde sorgten für Aufse- anspricht, führen sie jedoch nur zu einer teilweisen
hen und haben zum Beispiel die offiziellen Behand- Verbesserung. Ärzte und Patienten sollten daher
lungsrichtlinien in Großbritannien beeinflusst. Dort andere Behandlungsverfahren wie die Psychotherapie
erhalten Betroffene mit leichter und mittelschwerer ebenfalls erwägen.
Depression nun zuerst eine Psychotherapie, bevor sie Prev. & Treat. 1, 0002a, 1998; PLoS Med. 5, S. 260–268, 2008;
mit Antidepressiva behandelt werden dürfen. Aus Z. Psychol. 222, S. 128–134, 2014; The Lancet 391, S. 1357–1366,
diesem Grund hat die britische Regierung mehr als 2018

und alternative Behandlungsmöglichkeiten eingeht so- ein Drittel der ursprünglichen Menge ein. Andere wie-
wie Ratschläge liefert, die das Absetzen erleichtern sol- derum lösen die Tabletten in Wasser auf und trinken
len (siehe oberen Weblink rechts). nur einen Teil aus. Doch so ein Vorgehen ist sowohl auf-
Tim versucht nun seit fast zwei Jahren, die Wirkstoff- wändig als auch fehleranfällig.
menge zu verringern. Eine neurologische Ursache Eine Lösung für die Dosierungsproblematik bietet
konnte seine Fachärztin relativ schnell ausschließen. Sie das niederländische Projekt Tapering Strips des Maast-
war zwar der Meinung, dass seine Beschwerden nicht richt University Medical Centre. In durchsichtigen
von der Dosisreduktion herrühren könnten, umfang- Streifen sind die Medikamente als Tagesdosen verpackt.
reiche Untersuchungen ergaben jedoch keine Anhalts- Jede ist nummeriert und ihre Menge genau angegeben.
punkte für eine anderweitige Ursache. Die Diagnose Ein Streifen deckt 28 Tage ab, wobei die jeweils enthal-
lautete daher: psychosomatische Beschwerden. Gonther tene Arzneistoffmenge ganz langsam abnimmt. Das er-
sieht solche Einstufungen mit Unbehagen: »Es ist wich- möglicht es, die Dosis präzise zu reduzieren. Eine 2018
tig, die Beschwerden nicht als Symptome einer wieder- veröffentlichte Studie von Peter Groot und Jim van Os
kehrenden Depression oder als psychosomatische Stö- weist darauf hin, dass ein solches Vorgehen Entzugs-
rungen zu klassifizieren und diese schlimmstenfalls erscheinungen minimieren oder sogar verhindern kann.
wieder mit Medikamenten zu behandeln.« Uwe Gonther plädiert dafür, ein Antidepressivum
nur in schweren Fällen und nach ausführlicher Diag-
Psychotherapie als Alternative nostik zu verschreiben. Man könne die Medikation in
Obwohl einiges dafür spricht, dass ein langsameres vielen Fällen vermeiden, meint er. Denn es gibt durch-
Ausschleichen von Antidepressiva sinnvoll ist, sind in aus Alternativen: Verschiedene Übersichtsarbeiten be-
der Apotheke in der Regel nur bestimmte Dosen erhält- scheinigen der Psychotherapie bei Depressionen eine
lich. Daher helfen sich die Betroffenen selbst. So gibt es vergleichbare Wirksamkeit wie Antidepressiva – mit
im Internet präzise Anleitungen dafür, wie man die Me- deutlich weniger Risiken und Nebenwirkungen. Aller-
dikamente auf die gewünschte Menge bringt. Nach den dings sind die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sehr
anfangs starken Nebenwirkungen reduzierte Tim die lang. 2017 warteten Patienten nach einer Analyse der
Dosis, indem er die Hartkapsel öffnete und die Anzahl Bundestherapeutenkammer im Schnitt sechs Wochen
der darin befindlichen Kügelchen reduzierte, bevor er auf ein erstes Gespräch und fünf Monate auf eine so ge-
die Kapsel schluckte. Inzwischen nimmt er weniger als nannte Richtlinientherapie, die von den Krankenkassen

GEHIRN&GEIST 70 0 4 _ 2 0 1 9
MEDIZIN / PSYCHOPHARMAKA

GEHIRN&GEIST

Das Projekt Tapering Strips hilft Patienten, Arzneimittel langsam und präzise zu reduzieren.
Ein Streifen reicht für 28 Tage. Die enthaltene Wirkstoffmenge nimmt schrittweise ab.

erstattet wird. Dazu zählen die analytische Psychothera- ale Situation des Betroffenen genau zu analysieren. Oft-
pie, die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mals helfe das dem Patienten bereits.
und die Verhaltenstherapie. Eine Kombination der Wichtig ist auch eine angemessene Aufklärungs-
Pharmako- und der Psychotherapie hat sich in verschie- arbeit, die den Betroffenen Sorgen und Ängste nimmt
denen Studien als am wirksamsten erwiesen und ist da- und ihnen zeigt, dass sie mit ihren Symptomen nicht al-
her vor allem bei schweren Depressionen sinnvoll. lein sind. Tim hätte das immens entlastet. »Immer wie-
Doch auch dann seien die Medikamente nur eine der habe ich mich gefragt, ob ich nicht doch eine ernst-
temporäre und keine dauerhafte Lösung, sagt Gonther. hafte Erkrankung habe«, erzählt er. Daher ist es ihm
Zunächst sollten die Behandler sorgfältig nach den Ur- wichtig, über seine Erfahrungen zu berichten. Er leidet
sachen für die Erkrankung suchen. »Eine Depression nach wie vor an Symptomen wie einem Tremor der lin-
kann zum Beispiel durch andere Medikamente ausge- ken Hand und Muskelzuckungen. Zwar kann niemand
löst werden«, so der Psychiater. Kann man solche Grün- sagen, wie lange seine Beschwerden noch andauern
de ausschließen, sei es sinnvoll, die psychische und sozi- werden, aber immerhin kennt er nun ihren Grund. H

QUELLEN

Cipriani, A. et al.: Comparative Efficacy and Acceptability of 21 Antidepressant Drugs for the Acute Treatment of Adults
with Major Depressive Disorder: A Systematic Review and Network Meta-analysis. In: The Lancet 391, S. 1357–1366, 2018
Gibson, K. et al.: In my Life Antidepressants have been …: A Qualitative Analysis
of Users’ Diverse Experiences with Antidepressants. In: BMC Psychiatry 16, 10.1186, 2016
Read, J. et al.: How Many of 1829 Antidepressant Users Report Withdrawal Effects or Addiction?
In: International Journal of Mental Health Nursing 27, S. 1805–1815, 2018
Weitere Quellen im Internet: www.spektrum.de/artikel/1623844
WEBLINKS

Landesnetzwerk Selbsthilfe seelische Gesundheit Rheinland-Pfalz e. V.: Aufklärungsbogen Antidepressiva.


PDF kostenfrei abrufbar unter:
https://bit.ly/2RMTDnw
Auf der Homepage der Stiftung Deutsche Depressionshilfe finden
Betroffene und Angehörige Informationen über die Erkrankung und Hilfsangebote:
www.deutsche-depressionshilfe.de

GEHIRN&GEIST 71 0 4 _ 2 0 1 9
MEDIZIN

PHARMAKOLOGIE Mit Hilfe eines neuen Wirkstoffs


könnte es erstmals gelingen, Morbus Huntington an
der Wurzel zu bekämpfen: Das Mittel soll die Herstellung
des krank machenden Proteins Huntingtin hemmen.

Biomoleküle
gegen Huntington
VON LARISSA ARNING-BÜNDER

I
m Jahr 1993 verkündeten Forscher der nismen ein, die der Erkrankung zu Grunde liegen. So
Huntington’s Disease Collaborative Research könnte das Mittel Huntington im Ansatz bekämpfen –
Group, sie hätten die genetische Ursache von und zwar schon bevor Symptome entstehen.
Morbus Huntington entdeckt: Ein einzelnes, Die Huntingtonkrankheit beruht auf einer erblichen
fehlerhaftes Gen, das für das Protein Huntingtin Mutation im Huntingtin-Gen (HTT). An einer Stelle
codiert, bedingt demnach die neurodegenera- wiederholen sich immer wieder die drei DNA-Bausteine
tive Erkrankung. In vielen weckte diese Nachricht die Cytosin, Adenin und Guanin. Jedes dieser so genannten
Hoffnung, dass bald eine wirksame Behandlung folgen Basentripletts übersetzt die Zelle in ein Exemplar der
könnte. Heute, ein Vierteljahrhundert später, gibt es Aminosäure Glutamin. Bei den meisten Menschen ent-
aber weiterhin keine Therapie, die den Verlauf von hält das Gen um die 17 Wiederholungen (entsprechend
Huntington bremsen oder die durch verändertes Hun- 17 Glutaminmolekülen im Huntingtin-Protein), doch
tingtin bewirkten Zerstörungen im Gehirn rückgängig bei Trägern der Huntingtin-Mutation folgen oft mehre-
machen kann. Die Krankheit ist nach wie vor unheilbar re Dutzend dieser Tripletts aufeinander. Je mehr Wie-
und führt unweigerlich zum Tod. Betroffene erhalten derholungen, desto länger ist auch die Glutaminkette
zwar Medikamente, jedoch zielen diese vor allem dar- im Protein und desto früher entwickelt der Betroffene
auf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität Symptome. Bei mehr als 40 Wiederholungen erkrankt
so lange wie möglich zu bewahren. eine Person unweigerlich an Huntington.
Resultate einer klinischen Studie sorgen nun für ei- Die auffälligsten Symptome sind dabei Bewegungs-
nen kleinen Hoffnungsschimmer: Ein experimentelles störungen. Meist beginnt die neurodegenerative Er-
Medikament, das meine Kollegen erstmals an Patienten krankung mit einer »Bewegungsunruhe«, die normale
getestet haben, greift direkt in die molekularen Mecha- Bewegungen etwas übertrieben wirken lässt. Später

UNSERE EXPERTIN

Larissa Arning-Bünder ist Fachhumangenetikerin und Molekulargenetikerin


an der Ruhr-Universität Bochum. Dort forscht sie an genetischen Faktoren, die
das Erkrankungsalter von Huntingtonpatienten beeinflussen. An der
Medikamentenstudie, die sie hier beschreibt, war sie selbst nicht beteiligt.

GEHIRN&GEIST 72 0 4 _ 2 0 1 9
YOUSUN KOH

Huntingtin-Gen
(DNA)

Huntingtin-Boten-RNA

RG6042

RNase

So wirkt RG6042
Bei Huntingtonpatienten löst eine Ansammlung
von krankhaftem Huntingtin in Nervenzellen etwa ab
der Lebensmitte Symptome aus. Ein neues Medika-
ment, das Antisense-Oligonukleotid (ASO) RG6042,
greift in die Produktion dieses Proteins ein. Es bindet
Boten-RNAs an sich, die eine Kopie der Bauanleitung
für Huntingtin aus der DNA zu den zellulären Protein-
fabriken bringen. Aber noch bevor sie ihr Ziel errei-
chen, klebt sich RG6042 an sie und blockiert sie so. In
der Folge wird das Protein RNase auf den ASO-RNA-
Komplex aufmerksam und zerschneidet die Boten-
RNA. Die Menge an Huntingtin sinkt, weil der Zelle Huntingtin-Protein
weniger Anleitungen zur Verfügung stehen, um es
herzustellen.

GEHIRN&GEIST 73 0 4 _ 2 0 1 9
Auf einen Blick: Molekulare Bremse

1 2 3
Ein künstliches Nukleinsäure- Der Wirkstoff bindet sich an In einer ersten Studie hat sich
molekül könnte in Zukunft bei die Boten-RNA von Hunting- der Ansatz bewährt. Ob sich
von Huntington Betroffenen tin und blockiert diese; so mit der Reduktion der Protein-
verhindern, dass ihre Neurone verhindert er, dass mehr von dem menge auch das Fortschreiten von
große Mengen des krank machen- Protein hergestellt wird. Huntington verzögern lässt, soll die
den Proteins Huntingtin herstellen. aktuelle Testphase zeigen.

kommt ein unkontrolliertes Schütteln der Extremitäten rungen an der Molekülstruktur. Das neue Huntington-
und des Rumpfes dazu. Verhaltensauffälligkeiten und medikament durchlief mehrere Jahre einen solchen
nachlassende geistige Fähigkeiten folgen und gehen in Verfeinerungsprozess, bevor es ab 2015 erstmals an
vielen Fällen mit psychischen Problemen einher. Der Menschen getestet werden konnte.
Patient verliert immer weiter die Kontrolle über seine An der klinischen Studie, die Wissenschaftler bei uns
Bewegungen, bis schließlich Sprech- und Schluckappa- am Huntington Zentrum NRW (Ruhr-Universität Bo-
rat betroffen sind. Die Symptome beginnen typischer- chum) sowie am Universitätsklinikum Ulm und später
weise in der Lebensmitte. Belastend ist für Betroffene auch an der Charité Berlin und in Kliniken in Großbri-
dabei auch die Furcht, die Krankheit an ihre Kinder ver- tannien und Kanada durchführten, nahmen insgesamt
erbt zu haben: Diese haben nämlich unweigerlich ein 46 Huntingtonpatienten teil. Ziel war es vor allem, die
50-prozentiges Risiko, später ebenfalls an Huntington Sicherheit und Verträglichkeit von RG6042 zu untersu-
zu erkranken. chen. Da ASOs die Blut-Hirn-Schranke nicht überwin-
Patienten wissen manchmal schon Jahrzehnte vor den können, wählten meine Kollegen einen Umweg,
dem Auftreten der ersten Symptome von ihrem Erkran- um das Medikament an seinen Wirkort im Gehirn zu
kungsrisiko, denn ein genetischer Test schafft bei Ver- bringen: Sie injizierten eine Lösung mit dem Wirkstoff
dacht Klarheit. Das gibt Ärzten einen sehr langen Hand- direkt ins Nervenwasser im Rückenmark der Patienten.
lungszeitraum, in dem sie Medikamente einsetzen So verteilte sich das Medikament im gesamten zentra-
könnten, die die Herstellung des Huntingtin-Proteins len Nervensystem und erreichte auch die anvisierten
drosseln und so Symptome hinauszögern oder die Gehirnzellen, welche die ASOs dann aufnehmen konn-
Krankheit gar nicht entstehen lassen. ten. Die Ärzte spritzten die Lösung im Abstand von je-
weils vier Wochen viermal in den Wirbelkanal der Pro-
Andocken, blockieren, zerstören banden ein. Die 46 Patienten teilten sie in fünf Gruppen
Ein neuartiges Medikament, RG6042, soll nun genau ein, die sie mit unterschiedlicher Wirkstoffmenge zwi-
das leisten. Es gehört zur Klasse der so genannten Anti- schen 10 und 120 Milligramm pro Injektion behandel-
sense-Oligonukleotide (kurz ASOs). Bei dem Wirkstoff ten, sowie in eine, die nur eine Scheinbehandlung (Pla-
handelt es sich um ein kleines, künstlich hergestelltes cebo) erhielt. Alle Patienten wurden bis vier Monate
Molekül, das aus Nukleotiden – denselben chemischen nach der letzten Behandlung regelmäßig untersucht.
Bausteinen wie unsere DNA und RNA – besteht. ASOs Keiner der Probanden brach die Studie frühzeitig ab,
enthalten etwa 15 bis 25 Nukleotide, die zu ausgewählten trotz der monatlichen Lumbalpunktionen. Die Menge
Boten-RNAs komplementär sind und diese deshalb an an Huntingtin in der Rückenmarksflüssigkeit von be-
sich binden. Boten-RNAs übermitteln Information, die handelten Patienten ging derweil um bis zu 60 Prozent
in der DNA im Zellkern gespeichert ist, in das Zytoplas- zurück. »Die Huntingtin-Reduktion im Nervenwasser
ma der Zelle. Dort dienen die Moleküle als Bauanlei- ist dosisabhängig – das zeigt, dass wir an der richtigen
tung für ein Protein – in diesem Fall Huntingtin. Der Stelle behandeln«, bestätigt mein Kollege Carsten Saft,
Komplex, den die RNA und das ASO zusammen bilden, der die Studie in Bochum geleitet hat. Seiner Meinung
aktiviert spezielle Enzyme, die dann die Boten-RNA
zerschneiden. Die Menge dieser RNA verringert sich in 3.18
HIGHLIGHTS Biologie Medizin Hirnforschung
Unsere besten Themenhefte im Nachdruck

der Folge innerhalb der Zelle deutlich, wodurch ent-


HIGHLIGHTS Biologie Medizin Hirnforschung

sprechend weniger Zielprotein entsteht (siehe »So wirkt M E H R W I S S E N AU F


RG6042«, S. 73). »SPEKTRUM.DE«
Doch in den Zellen gibt es auch Enzyme, die ASOs Wie sich Gene auf unser Wesen und
verdauen und unwirksam machen können. Forscher unsere Gesundheit auswirken, lesen
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haben daher in den letzten Jahren nach Wegen gesucht, Grenzfragen der Genetik Sie in unserem Spektrum Highlights
Wie Evolution und Entwicklung zusammenwirken

um die Moleküle stabiler und damit effizienter zu ma- 3.18 »Grenzfragen der Genetik«:
GENTECHNIK Revolution mit CRISPR/Cas
EPIGENETIK So vererben sich Umwelteinflüsse

chen. Dazu nutzten sie vor allem chemische Verände-


ERBKRANKHEITEN Irrwege der Evolution

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GEHIRN&GEIST 74 0 4 _ 2 0 1 9
MEDIZIN / PHARMAKOLO GIE

nach ist das Ergebnis ein wichtiger Schritt zu einer wirk- KURZ ERKL ÄRT:
samen Huntingtontherapie; er warnt aber vor voreiliger VON DER DNA ZUM PROTEIN
Euphorie: »Dass das Medikament in dieser ersten klei-
nen Studie so gut verträglich war, ist fantastisch. Ob es In der DNA speichert die menschliche Zelle die
allerdings nun tatsächlich hilft, den Krankheitsverlauf Bauanleitung für alle im Körper hergestellten Prote-
zu beeinflussen oder gar Beschwerden zu lindern, muss ine, und zwar in Einheiten, die wir Gene nennen.
erst noch gezeigt werden. Daran arbeiten wir interna- Die genetische Information ist als Code hinterlegt,
tional mit Hochdruck.« der sich aus Grundbausteinen – den Nukleotiden –
Frühere Studien lassen vermuten, dass weniger Pro- mit vier verschiedenen Basen (Adenin, Guanin,
tein in der Rückenmarksflüssigkeit auch mit einer nied- Cytosin und Thymin) zusammensetzt. Eine Abfolge
rigeren Konzentration im Gehirn einhergeht – und dass aus drei dieser Nukleotide bildet dabei jeweils ein
Veränderungen in dem Ausmaß, wie sie Wissenschaft- so genanntes Basentriplett, die Grundeinheit des
ler bei RG6042 gemessen haben, sich positiv auf Symp- genetischen Codes. Die drei Nukleotide übersetzt
tome auswirken könnten. Noch größere Effekte als die die Zelle in je eine der 20 Aminosäuren, die in
in der klinischen Studie erzielten wären womöglich gar verschiedenen Sequenzen aneinandergekettet alle
nicht wünschenswert, denn RG6042 beeinträchtigt so- zellulären Proteine hervorbringen. Doch damit
wohl mutiertes als auch unverändertes Huntingtin, das der Code ins Protein übersetzt werden kann, muss
Zellen von Huntingtonpatienten weiterhin auch herstel- die Zelle ihn erst aus dem Zellkern heraus-
len. Da wir noch gar nicht genau wissen, welche Rolle transportieren. Dafür verwenden Zellen ein eigenes
das Protein im Gehirn von Erwachsenen spielt, wäre es Molekül, die Boten­RNA. Sie ist eine »Arbeitskopie«
zu gefährlich, die gesamte Huntingtin-Produktion zu eines Gens, die genau dann entsteht, wenn die
unterbinden. Zelle die Produktion eines bestimmten Proteins
Die nächste Phase der klinischen Studie hat Anfang ankurbeln will.
2019 begonnen. Jetzt wollen die Forscher prüfen, ob
RG6042 tatsächlich den Krankheitsverlauf von Hun-
tington verlangsamen kann. Untersuchungen an Ver-
suchstieren deuten darauf hin. Michael Hayden und
sein Team von der University of British Columbia in TO
CK
/ / IS
Kanada konnten nachweisen, dass eine ASO-Behand- CK
3D ES
JA AG
lung, die Huntingtin im Nervenwasser der Tiere redu- CK I
A TY
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zierte, auch deren Krankheitssymptome linderte. Fällt G

die aktuelle Studie positiv aus, könnte das Medikament


wohl kurz danach als Arzneimittel zugelassen werden.

Noch gezieltere Eingriffe


Es gibt aber auch kritische Stimmen. Einige Forscher Mensch zu Mensch unterscheiden. Allerdings gibt es
bemängeln, dass die getestete Therapie die Menge an SNPs, die häufig gemeinsam mit einem mutierten Gen
normalem Huntingtin ebenfalls mindert. Es könnte auftreten. Diese Veränderungen bieten dann eine Chan-
Jahre dauern, bis ausreichend belegt ist, ob ein Mensch ce zur Entwicklung selektiver ASOs.
mit wenig oder gar ohne Huntingtin im Gehirn aus- Das Biotech-Unternehmen Wave Life Sciences aus
kommen kann. Insbesondere vor einer langfristigen Cambridge in Massachusetts, USA, hat bereits zwei sol-
Therapie von Betroffenen, die noch keine Krankheits- che ASOs entwickelt, die jeweils auf einen SNP im HTT-
symptome entwickelt haben, muss gewährleistet sein, Gen abzielen. Diese beiden Polymorphismen werden
dass sie mit der Behandlung besser und ohne schwere oft zusammen mit einer Huntingtin-Mutation vererbt.
Nebenwirkungen leben können. Somit stellen sie ein gutes Unterscheidungsmerkmal
Aus diesem Grund suchen Wissenschaftler nach zwischen mutierter und normaler Genkopie dar. Etwa
Möglichkeiten, gezielt nur die Boten-RNA von mutier- die Hälfte aller Huntingtonbetroffenen tragen einen
tem HTT anzusteuern. Gelingt das, würde das normale dieser SNPs, etwa 40 Prozent den zweiten. In Kombina-
Huntingtin-Protein nämlich unbeeinträchtigt bleiben. tion lässt sich mit den beiden ASOs bei knapp zwei
Einen Ansatzpunkt hierfür bilden so genannte Einzel- Dritteln der Träger der Huntingtin-Mutation in Europa
nukleotidpolymorphismen, kurz SNPs (englisch für nur die Menge des fehlerhaften Proteins verringern.
single nucleotide polymorphisms). Sie sind natürlich Weitere SNPs könnten diese Zahl noch erhöhen. Mo-
vorkommende Variationen in der DNA, bei denen ein mentan untersuchen Wissenschaftler in einer ersten kli-
einzelner Baustein im DNA-Molekül gegen einen ande- nischen Studie, ob diese ASOs sicher sind und tatsäch-
ren ausgetauscht ist. Jeder von uns trägt Tausende dieser lich nur die Menge an mutiertem Huntingtin drosseln.
SNPs in seinem Erbgut, wobei sich die Muster von Ergebnisse sollen bis Ende 2019 vorliegen.

GEHIRN&GEIST 75 0 4 _ 2 0 1 9
Heilung dank Genscheren?
Mehr als 5000 menschlichen Er- ansätze. Die von einer der CRISPR- Die Firma Editas, ins Leben
krankungen liegt eine DNA-Muta- Entdeckerinnen, Emmanuelle gerufen vom CRISPR-Mitentdecker
tion zu Grunde, typischerweise in Charpentier, mitbegründete Firma Feng Zheng, hat eine Genschere
einem proteincodierenden Gen. Bis Crispr Therapeutics testet bereits entwickelt, die eine bestimmte
vor wenigen Jahren gab es kaum einen auf dieser Technologie basie- Form von angeborener Blindheit
Möglichkeiten, solche Krankheiten renden Wirkstoff: CTX001 reak- heilen soll. In der ersten Studien-
an der Wurzel zu behandeln. Seit tiviert ein von Föten im Mutterleib phase wird der Wirkstoff EDIT-101
der Entdeckung von CRISPR/Cas genutztes Protein, das es den Blut- an 10 bis 20 Patienten erprobt wer-
wächst allerdings die Hoffnung, körperchen erlaubt, mehr Sauer- den. CRISPR-basierte Therapien
dass sich solche Erbleiden bald stoff an sich zu binden und im für Huntington testen Forscher
durch einen direkten Eingriff in die Körper zu transportieren. Die bislang nur an Versuchstieren. Bis
DNA »korrigieren« lassen. Therapie wird aktuell an Menschen sie für Studien an Menschen zu-
Mehrere Firmen verfolgen mit den Krankheiten Sichelzellanä- gelassen werden, könnten noch ein
mittlerweile solche Behandlungs- mie und Beta-Thalassämie getestet. paar Jahre vergehen.

ASOs sind nicht die einzigen Moleküle, die die Pro- tingtonpatienten bekommen. Die Firma will die Bauan-
teinherstellung beeinflussen können. 1998 entdeckten leitung des Wirkstoffs mit Hilfe eines Virus in Neurone
Andrew Fire und Craig Mello in Fadenwürmern der einschleusen. Nachdem dieses eine Zielzelle infiziert
Spezies Caenorhabditis elegans RNA-Moleküle, die an- hat, liest sie sein Erbgut ab und kopiert die Bauanlei-
visierte Boten-RNA viel wirkungsvoller unterdrückten, tung für die siRNA in die eigene DNA. So ist der Wirk-
als Antisense-RNA es vermocht hatte. Im Jahr 2006 er- stoff schließlich dauerhaft im Genom der Zelle veran-
hielten die US-Forscher für diese Entdeckung den No- kert. Die Viren sind zudem gentechnisch so verändert,
belpreis für Physiologie oder Medizin. Den von ihnen dass sie sich in den Zellen nicht vermehren können.
beschriebenen Vorgang nannten sie RNA-Interferenz Das soll verhindern, dass sie zur Gesundheitsgefahr
(RNAi), in Anlehnung an die physikalische Interferenz, werden.
bei der sich Wellen überlagern und auslöschen. Ein großer Nachteil eines solchen Eingriffs ist jedoch,
RNAi dient manchen Organismen wie Würmern dass er nicht rückgängig gemacht werden kann – auch
oder Pflanzen vermutlich als natürliche Abwehr gegen dann nicht, wenn zum Beispiel schwere Nebenwirkun-
Viren sowie als zusätzliches Mittel, um in die Protein- gen auftreten. Zudem können die Viren nicht wie ASOs
herstellung ihrer Zellen einzugreifen. Der Vorgang ver- über die Rückenmarksflüssigkeit verabreicht werden,
läuft in zwei Phasen: Zunächst entsteht aus dem Erbgut sondern müssen so nahe wie möglich an das Zielgewe-
eine als siRNA bezeichnete kurze doppelsträngige RNA. be gelangen. Das bedeutet, Ärzte müssten solche Wirk-
Diese verlässt den Zellkern und wird von Proteinen im stoffe direkt ins Gehirn injizieren, damit diese Wirkung
Zellplasma zu einer einzelsträngigen Nukleotidkette zeigen können. Sollte der Ansatz sich als sicher und
zurechtgeschnitten, die sich dann an komplementäre wirksam herausstellen, wäre das trotz solcher Ein-
Boten-RNA haftet und deren Zerstörung einleitet. schränkungen aber ein großer Erfolg.
Unternehmen und Institute forschen nicht nur an
Die Alternativen: Therapeutische Viren und Medikamenten, die Huntingtin-RNA blockieren. In
präzise Genscheren den vergangenen Jahren rückte das Genome Editing zu-
SiRNAs bieten somit wie ASOs die Möglichkeit, die nehmend in den Fokus (siehe »Heilung dank Gensche-
Proteinherstellung gezielt zu hemmen. Sie bedienen ren?«, oben). Der Begriff fasst verschiedene molekular-
sich nur eben anderer Wege innerhalb der Zelle. SiRNAs biologische Methoden zusammen, die zielgerichtete
sind allerdings nicht besonders stabil und müssen sehr Eingriffe im Genom einer Zelle ermöglichen. Mit ihrer
nahe an ihre Zielzellen gebracht werden, um wirken zu Hilfe lassen sich einzelne Nukleotide oder kurze DNA-
können. Dennoch verfolgen manche Unternehmen Sequenzen in einem Zielgewebe entfernen, austauschen
RNAi-Ansätze zur Behandlung der Huntingtonkrank- oder einfügen. Die weit über die Forscherwelt hinaus
heit, unter ihnen uniQure in den Niederlanden und Vo- bekannte CRISPR/Cas-Technik, aber auch die schon
yager Therapeutics in den USA. Ihre Wirkstoffkandida- länger verwendeten Zinkfinger-Nukleasen bieten sol-
ten sind noch in frühen Entwicklungsstadien und ha- che Möglichkeiten. Mit ihnen haben Forscher bereits
ben bisher keine Tests an Menschen durchlaufen. mutiertes Huntingtin in einzelnen Zellen und sogar im
UniQure hat im Januar 2019 grünes Licht für eine Nervensystem von Mäusen ausgeschaltet. Trotz einiger
erste klinische Studie ihrer siRNA AMT-130 an Hun- Euphorie um Genscheren wird hier allerdings noch viel

GEHIRN&GEIST 76 0 4 _ 2 0 1 9
MEDIZIN / PHARMAKOLO GIE

Arbeit nötig sein, bis die Wirkstoffe an menschlichen reich klinische Studien durchlaufen. So hat sich gezeigt,
Patienten getestet werden können. dass ASOs auch in den Verlauf anderer genetischer Er-
Die Antisense-Therapie hat diesen schweren ersten krankungen wie der spinalen Muskelatrophie und der
Schritt bereits geschafft. Der Ansatz, bei erblichen Er- familiär gehäuften amyotrophen Lateralsklerose (ALS)
krankungen schädliche Produkte abzufangen, birgt gro- eingreifen können. Darüber hinaus werden die RNAs
ßes Potenzial für die Zukunft. Antisense-Wirkstoffe derzeit für die Behandlung der Alzheimererkrankung,
maßzuschneidern und so anzupassen, dass sie im Kör- von bestimmten Tumorerkrankungen und familiärer
per wirken können, ist heute relativ einfach. Forscher Cholesterinerhöhung untersucht. Es bleibt zu hoffen,
nutzen die Wirkstoffe deshalb auch für andere neuro- dass sich auch RG6042 in der nächsten Studienphase
degenerative Erkrankungen. Einige haben schon erfolg- bewähren wird. H

QUELLEN

Ly, C. V., Miller, T. M.: Emerging Antisense Oligonucleotide and Viral Therapies for Amyotrophic Lateral Sclerosis.
In: Current Opinion in Neurology 31, S. 648–654, 2018
Tabrizi, S. et al.: Effects of IONIS-HTTRx in Patients with Early Huntington’s Disease,
Results of the First HTT-Lowering Drug Trial (CT.002). In: Neurology 90, 15 Supplement, 2018
Wild, E. J., Tabrizi, S.: Therapies Targeting DNA and RNA in Huntington’s Disease.
In: Lancet Neurology 16, S. 837–847, 2017
Wood, M. J. A. et al.: Spinal Muscular Atrophy: Antisense Oligonucleotide Therapy Opens the Door
to an Integrated Therapeutic Landscape. In: Human Molecular Genetics 26, S. 151–159, 2017
Dieser Artikel im Internet: www.spektrum.de/artikel/1623846

Veranstaltungen des Verlags


Spektrum der Wissenschaft

1/2 SdW
PHYSIK IN THEORIE UND PRAXIS

Pasta, Pomodore, Parmigiano: Physik pur


15. März 2019
Frankfurt

LIVE
In einem Vortrag geht es um die molekulare Welt des Geschmacks am Main
und Fragen wie: Was ist al dente, und woran bemisst sich die Kochzeit?
Warum müssen Soßen lange köcheln, und verhindert Fett das Zu-
sammenkleben der Pasta? In der Praxis werden unter professioneller
Anleitung Pastagerichte aus zwei verschiedenen Teigen für ein
gemeinsames Abendessen zubereitet.

WEITERE VERANSTALTUNGEN:
10. 5. Schreibwerkstatt, Heidelberg
UNSPLASH / SEB M (https://unsplash.com/photos/CGSSIgwkWzc)

Infos und Anmeldung:

Spektrum.de/live

GEHIRN&GEIST 77 0 4 _ 2 0 1 9
BÜCHER UND MEHR

KRIMZOYA / GETTY IMAGES / ISTOCK


Die Evolution der Kultur
Philosophische Überlegungen zur Entwicklung des menschlichen Geistes

W
ie zeigt sich das Bewusstsein? Die Antwort wie Viren, die in das Gehirn des Wirts wandern und
des US-amerikanischen Philosophen diesen beeinflussen.
Daniel Dennett lautet: im Selbstgespräch Dabei handelt es sich zunächst nicht um geplante
als Bewusstseinsstrom, was allerdings erst die kulturelle Prozesse. Wenn jemand sein Kanu verbes-
Sprache ermöglicht hat. Denn sie erlaubt, auf sert, wird er selbst vermutlich nicht mehr miterleben,
Informationen und Kompetenzen anderer Menschen wenn sich diese Technik kulturell durchsetzt. Dass er
zurückzugreifen. Sie sei auch der Grund, weshalb damit ein Mem prägt, das andere motiviert, ist nicht
sich die kognitiven Fähigkeiten des Menschen im seine Intention.
Vergleich zu denen von Tieren so exorbitant verbes- Vielmehr handelt es sich um so genannte Bottom-
sert haben, erklärt der Professor für Philosophie von up-Prozesse, die nicht nur bei kulturellen Entwick-
der Tufts University in Boston. lungen stattfinden, sondern auch bei der biologischen
Die Kultur entwickelt sich dank diverser Techni- Evolution. Wenn Termiten beispielsweise kunstvoll
ken, die Dennett im Anschluss an Richard Dawkins erscheinende Behausungen bauen, folgen sie keinem
Meme nennt – ein Begriff, der in der angelsächsi- Plan eines Baumeisters, sondern wenden einfach ihre
schen Kulturtheorie besonders verbreitet ist. Meme natürlichen Kompetenzen an. Dennett vergleicht
sind alle tradierten Wissensformen, die den Umgang Meme mit Genen: So wie unsere Gene uns beeinflus-
mit der Natur oder anderen Menschen verbessern, sen, ohne dass uns dies bewusst ist, prägen Meme uns
etwa Sprache, Sitten und Gebräuche, Melodien, als Kulturmensch weitgehend hintergründig. Im Lauf
Handwerkstechniken, aber auch Kleidermoden. Sie der Entwicklung bieten sich Dennett zufolge aller-
werden von Generation zu Generation weitergegeben, dings Chancen, dies umzukehren. Zunehmend
erweitert und optimiert. Für Dennett agieren Meme breiteten sich geplante Top-down-Aktivitäten aus, bei

GEHIRN&GEIST 78 0 4 _ 2 0 1 9
BÜCHER UND MEHR

denen die Leitenden bewusst bestimmte Zwecke HHHHH


verfolgen und dementsprechende Kompetenzen und
Julia F. Christensen, Dong-Seon
Mittel einsetzen – man denke an die Forschung oder Chang
politische Institutionen.
In seinem Werk überträgt der inzwischen 76-jährige TANZEN IST DIE BESTE
Philosophieprofessor die Evolutionstheorie auf die MEDIZIN
Kultur. Beide beruhen laut Dennett auf vergleichbaren Warum es uns gesünder, klüger
Mechanismen, nämlich Genen und Memen, welche die und glücklicher macht
(überwiegend unbewussten) Prozesse prägen. Der Rowohlt, Reinbek 2018, 320 S., € 14,99
Geist besteht dann nicht nur aus dem Bewusstsein des
Menschen, sondern auch aus den Memen, die seine
Kultur prägen. So gibt es einen Weg von den Bakterien
Tusch auf den Tanz
bis zu Bach, den die Memen als das alles verbindende Zwei Neurowissenschaftler erklären, warum
Element ebneten. Natur und Kultur bilden daher eine wir öfter tanzen sollten
Einheit.

N
Das Buch fasst Dennetts 50-jähriges Engagement für eun Kapitel, um eine ganze Nation zum
eine materialistische Kulturtheorie sowie die Debatte Tanzen zu bringen. Das ist das Ziel von Julia
über die Herkunft des Menschen und die Entstehung Christensen und Dong-Seon Chang, beide
der Kultur zusammen. Mit seinem Opus magnum will Neurowissenschaftler und begeisterte Tänzer. Die Idee
der Autor Geist und Bewusstsein auf natürliche materi- zu diesem Buch kam ihnen auf einer Konferenz in
elle Grundlagen zurückführen und rein geistige oder Griechenland. Acht Tage lang tauschten sie sich dort
religiöse Interpretationen widerlegen. Dabei ist seine mit anderen Forschern über ihre gemeinsame Leiden-
Argumentation nicht zuletzt durch Beispiele nachvoll- schaft, das Tanzen, und die wissenschaftliche Sicht
ziehbar und sein Werk auf einem hohen Niveau darauf aus. Diese Tagung zieht sich wie ein roter Faden
unterhaltsam, obgleich es auf Grund der Komplexität durch das Werk.
und Vielfalt des Stoffs eine gründliche Lektüre verlangt. Die Autoren betrachten das Phänomen Tanz aus
Hans-Martin Schönherr-Mann ist Professor für politische Philosophie verschiedenen Blickwinkeln: aus der Sicht aktueller
an der Ludwig-Maximilians-Universität München. (teils eigener) neurowissenschaftlicher und medizini-
scher Forschung, aber auch aus ihren Erfahrungen und
ihrem Wissen als aktive Tänzer. Immer wieder lockern
persönliche Anekdoten die Forschungserkenntnisse
auf. Neben den Fragen, warum wir überhaupt tanzen

TIPP
DES MONATS
und welche Prozesse dabei in unserem Körper und
Gehirn ablaufen, widmen sie sich seiner sozialen und
emotionalen Bedeutung. Insbesondere geht es ihnen
HHHHH darum, ob und wie Tanzen die physische und psychi-
sche Fitness steigert und inwiefern es verschiedene
Daniel C. Dennett
Krankheiten wie Depressionen, Rückenschmerzen,
VON DEN BAKTERIEN ZU Demenz und Parkinson vorbeugen oder lindern kann.
BACH – UND ZURÜCK Eine umfangreiche, nach Kapiteln unterteilte Literatur-
Die Evolution des Geistes liste belegt die Argumentation, die zahlreichen
Beispiele und Metaphern machen sie anschaulich. So
Aus dem Amerikanischen von
Jan-Erik Strasser. vergleichen die Autoren das Gehirn eines Neugebore-
Suhrkamp, Berlin 2018, 512 S., nen etwa mit einem noch nicht zusammengebauten
€ 34,– Ikea-Regal: »Es liegt schon alles ganz nah beieinander,
muss aber noch an seinen richtigen Platz und in seine
spätere Funktion gerückt werden.« Auch wenn man
nur hoffen kann, dass in unserem Gehirn so manches
Spektrum der Wissenschaft und Springer Science+Business besser funktioniert.
Media gehören beide zur Verlagsgruppe Springer Nature. Darüber hinaus erfahren wir reichlich Kurioses und
Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Auswahl der bespro- Nützliches, etwa dass es in Korea spezielle Diskotheken
chenen Bücher oder die Inhalte der Rezensionen. Wir
behandeln Titel aus dem Springer-Verlag mit demselben
für Senioren gibt oder welcher Song sich am besten als
Anspruch und nach denselben Kriterien wie Titel aus Taktgeber für eine Herzdruckmassage eignet (an sich
anderen Verlagen. ist es »Highway to Hell«, aber angesichts der Umstände

GEHIRN&GEIST 79 0 4 _ 2 0 1 9
BÜCHER UND MEHR

Bestseller empfiehlt sich eher »Stayin’ Alive«). Auch Flirttipps


Die aktuellen Spitzentitel aus den Bereichen gibt es: Frauen sollten beim Tanzen für einen großen
Psychologie, Hirnforschung und Gesellschaft Hüftschwung sorgen, Männer auf ihr rechtes (!) Knie
achten. Den Abschluss des Buchs bildet ein »Tanztest«,
um den richtigen Tanzstil für sich zu finden.

1 ANNE FLECK
Ran an das Fett
Wunderlich, Reinbek 2019, 432 S., € 24,99
Die Begeisterung der beiden Wissenschaftler fürs
Tanzen ist stets spürbar und kann ansteckend wirken
und zum Ausprobieren anregen. Was das Buch auf der
einen Seite bereichert, ist gleichzeitig seine größte

2 YAEL ADLER
Darüber spricht man nicht: Dr. med. Yael Adler
erklärt fast alles, was uns peinlich ist
Schwäche. Hin und wieder wäre ein kritischerer Blick
wünschenswert gewesen. Nur zweimal lassen die
Autoren anklingen, dass Tanzen allein kein Wunder-
Droemer, München 2018, 368 S., € 16,99 mittel gegen Krankheiten ist und die Erforschung
seiner Effekte auf unseren Körper noch in den Kinder-

3 LEON WINDSCHEID
Hey Hirn! Warum wir ticken, wie wir ticken
Heyne, München 2018, 288 S., € 9,99
schuhen steckt. Natürlich haben sie Recht, wenn sie
sagen: »Schaden kann Tanzen auf gar keinen Fall.«
Und wer sich dafür begeistert oder auf der Suche nach
einem neuen ganzheitlichen Training ist, dem ist
JOE NAVARRO dieses Buch zu empfehlen. Allerdings schadet es wohl
4 Menschen lesen. Ein FBI-Agent erklärt,
wie man Körpersprache entschlüsselt
auch nicht, nicht zu tanzen, wenn man sich dafür nicht
begeistern kann. Es gibt sicher viele andere Möglich-
MVG, München 2010, 272 S., € 16,95 keiten, sich zu bewegen, mit anderen in Kontakt zu
kommen und Spaß zu haben, die ebenso unserem
BRONNIE WARE Wohlbefinden und unserer Gesundheit guttun.
5 Leben ohne Reue: 52 Impulse, die uns daran
erinnern, was wirklich wichtig ist
Maike Hege ist promovierte Neurowissenschaftlerin und lebt in
Darmstadt.
Arkana, München 2014, 221 S., € 18,99

DIETRICH GRÖNEMEYER
6 Weltmedizin: Auf dem Weg zu einer
ganzheitlichen Heilkunst
S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, 287 S., € 20,–
HHHHH
Bruno Müller-Oerlinghausen,
YAEL ADLER Gabriele Mariell Kiebgis
7 Haut nah. Alles über unser größtes Organ
Droemer Knaur, München 2016, 336 S., € 16,99
BERÜHRUNG
Warum wir sie brauchen, und wie
sie uns heilt
THOMAS BAUER
8 Die Vereindeutigung der Welt – Über den
Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt
Ullstein, Berlin 2018, 288 S., € 18,–

Reclam, Ditzingen 2018, 104 S., € 6,– Streicheleinheiten für die Seele
Ein chaotisch geratener Appell für den Wert der
NOVA MEIERHENRICH
9 Wenn Liebe nicht reicht: Wie die Depression
Berührung

V
mir den Vater stahl ersucht man, das Buch wiederzugeben, steht
Edel, Hamburg 2018, 240 S., € 17,95 man vor einem Problem: Es mangelt sowohl
beim Inhalt als auch beim Aufbau an einem
MANFRED SPITZER roten Faden. Stattdessen reißen Bruno Müller-Oerling-
10 Die Smartphone-Epidemie
Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 368 S., € 20,–
hausen, emeritierter Professor an der Freien Universi-
tät Berlin, und Gabriele Mariell Kiebgis, Massage- und
Körpertherapeutin, zahlreiche Themen nur kurz an.
Los geht es mit einem Kapitel zur Geschichte der
Nach Verkaufszahlen von media control Körpertherapie und der Erkenntnis der Autoren, es
gelistet (Zeitraum: 10. 1. 2019–6. 2. 2019) gäbe eine Berührungsarmut in der heutigen Zeit. Das

GEHIRN&GEIST 80 0 4 _ 2 0 1 9
Alice Crames, M.Sc.
Heilpraktikerin für Psychotherapie
Dipl.-Sozialarbeiterin
Praxis für Psychotherapie, Coaching
und Gesundheitsförderung
In der Haag 15, 54298 Welschbillig
Selbst werde allerdings von Berührungserfahrungen www.praxis-alice-crames.de
geprägt – so sei es etwa wichtig, dass ein Neugeborenes
gestreichelt wird. Auch Hauterkrankungen wie Akne
und psychiatrische Diagnosen treten laut Müller-
Oerlinghausen und Kiebgis oftmals gemeinsam auf.
Darüber hinaus erläutern die Autoren die neuronale
Verarbeitung taktiler Reize, den Aufbau der Haut und
stellen verschiedene Massagegriffe und -arten vor,
darunter zwei, die sie selbst mitentwickelt haben.
Ich bin
Besonders wichtig sei die »Klarheit und Eindeutigkeit
der Berührung«, um positive Effekte zu erzeugen, zum
Beispiel bei Menschen mit einer Depression.
Zur Wirkung der Massage gebe es viel versprechen-
Mitglied
de Einzelergebnisse, doch es mangle noch an aussage-
kräftigen Studien. Das Argument der Autoren, dies läge
an den schwer herzustellenden Kontrollbedingungen,
überzeugt allerdings wenig. Gelegentlich stolpert man
auch über fragwürdige Bemerkungen. In einer Meta-
im VFP weil
analyse fand ein Psychologe eine ähnlich positive
Wirkung von Massagen und Psychotherapie bei ... ich den engagierten Einsatz für
Depressionen. Für Müller-Oerlinghausen und Kiebgis
stellt das »für einen Psychologen eine bemerkenswerte ein breites Spektrum an Behand-
Aussage« dar. Soll demnach der akademische Abschluss
das statistische Ergebnis beeinflussen? Bei dieser
lungsmöglichkeiten sehr schätze
Einstellung muss man sich nicht wundern, wenn eine
Masseurin von den Effekten der Berührung schwärmt. ... ich dort hilfreiche Antworten
Die wechselnden Formate – von Übungen über ein
Interview bis zu fachwortlastigen Fließtexten – halten auf konkrete Fragen der Praxis-
auf Trab. Zudem begleitet einen das Paar Noah und
Maria durch das Buch. Er kämpft gegen Burnout an, führung und Kostenübernahme
sie scheint zu sich finden zu wollen. Ihre Geschichte ist
interessant, wirkt aber stellenweise konstruiert. bekomme
Im Praxiskapitel gibt es dann zahlreiche Übungen
wie das Gehen über verschiedenartige Oberflächen.
Warum die Autoren genau diese ausgewählt haben und
... das Verbandsmagazin
in welcher Reihenfolge man sie am besten anwendet,
bleibt offen. Sie sollen »Spaß und Lust bereiten«. Zum
„Freie Psychotherapie” mir viele
Thema Lust findet sich gen Ende noch ein Interview hilfreiche Anregungen für
mit einer ehemaligen Masseurin. Sie berichtet von
ihren Erfahrungen mit Kunden bei erotischen Massa- die Weiterentwicklung meiner
gen und geht darauf ein, inwiefern sich ihr Beruf auf
ihr Privatleben ausgewirkt hat – das ist nicht uninteres- Praxisangebote gibt
sant, doch der Mehrwert bleibt unklar. Erwähnens-
wert ist der Anhang, der ein Sechstel des Buchumfangs
ausmacht und neben Literaturhinweisen auch ein Informationen über den VFP erhalten Sie hier:
Glossar enthält.
Wer über den chaotischen, wenig durchdachten Verband Freier Psychotherapeuten,
Aufbau des Werks hinwegsehen kann, darf sich auf Heilpraktiker für Psychotherapie
einen abwechslungsreichen Impulsgeber mit dem
Schwerpunkt Massagen freuen, der einlädt, dem und Psychologischer Berater e.V.
eigenen Körperempfinden und zwischenmenschlichen
Lister Str. 7, 30163 Hannover
Berührungen mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Marie-Theresa Kaufmann hat einen Bachelorabschlusss in Psychologie Telefon 05 11 / 3 88 64 24
und arbeitet als Wissenschaftsjournalistin in Würzburg.
www.vfp.de
info@vfp.de VFP
und machen tendenziell unglücklich.« Der Autor
stellt Theorie und Praxis der Achtsamkeit vor und
referiert viele Studien von Hirnforschern sowie
Psychologen, etwa über die Rolle des »default mode
network« (Ruhemodus-Netzwerk) beim Tagträumen.
Zudem macht Scobel zahlreiche Anleihen bei fern-
östlichen Meditationslehrern. So verknüpft er
buddhistisches Gedankengut, Lebensphilosophie
und Wissenschaft.
Wie die meisten Vertreter solcher »Besinnungslite-
ratur« lässt der Essay jedoch offen, worin genau der
andere, hellsichtige Zugang zur Realität bestehen soll,
HHHHH
den einen die Achtsamkeit lehrt. Was ist dieser »klare,
Gert Scobel strahlend blaue Himmel« der »wahren Wirklichkeit«?
NICHTDENKEN Eine mystische Erfahrung? Eine Selbstentgrenzung, ja
Auflösung des Ichs? Und kann es eine solche reine
Erkenntnis jenseits des denkenden Subjekts überhaupt
HHHHH geben?
Philipp Hübl Scobel geht es um das »einfache Bewusstsein des
BULLSHIT-RESISTENZ gegenwärtigen Augenblicks, ohne Extras oder Hinzu-
gedachtes«. An einer Stelle im Buch erklärt er, es sei
längst noch nicht ausgemacht, dass alle mentalen
HHHHH
Zustände auf Hirnaktivität gründen. Doch was wäre
Heiko Roehl ein geistiger Zustand ohne neuronale Basis? Hier
ICH ANDERER schimmert eine transzendete Weltsicht durch, die für
manche Leser sicherlich eine Spur zu spirituell ist.
Nicolai Publishing & Intelligence, Berlin 2018 Allerdings weist der Autor auch auf mögliche negative
je zirka 100 S., € 20,– (Sammelbox mit allen sieben Nebeneffekte der Achtsamkeit hin wie beispielsweise
Bänden: € 100,–) das exzessive Wälzen der eigenen Befindlichkeit.
Zudem betont er, dass Meditation keinen besseren
Menschen aus einem macht. Jene neumodische
Vom Guten und Wahren »McMindfulness«, die zur raschen Selbstoptimierung
Eine neue Essayreihe soll uns fürs moderne anleiten soll, bewertet er kritisch.
Leben wappnen Während der Fernsehmann Scobel sich in bewusst-
seinstheoretische Höhen aufschwingt, bleibt der

D
as leuchtende Grün der Buchrücken, auf dem Stuttgarter Philosoph Philipp Hübl in seinem Band
Cover in Blaugrau übergehend, springt sofort »Bullshit-Resistenz« sprachlich und argumentativ
ins Auge. Und die schmalen Bändchen wecken bodenständig. Gerade so, als wollten sich die Autoren
zudem die Erwartung, hier werde man kurz und ihrer jeweils eigenen professionellen Prägung ent-
bündig mit dem Rüstzeug für das moderne Leben gegenstemmen, vermeidet der eine den Boulevard-
versorgt. Schließlich will uns diese neue Buchreihe des Sound, der andere hingegen den Fachjargon.
Berliner Verlags Nicolai Publishing die »Tugenden für Hübl legt in fünf Schritten anschaulich dar, was
das 21. Jahrhundert« nahebringen. Insgesamt sieben Wahrheit ist, warum wir sie vor dem grassierenden
Bände behandeln hochaktuelle Themen, darunter Unsinn schützen sollten und welche Kompetenzen
Achtsamkeit, Fake News und die Konstruktion des dafür erforderlich sind. Der Autor sieht nicht im
Selbst im digitalen Zeitalter. bewussten, von Interessen geleiteten Streuen von
Der 3sat-Moderator Gert Scobel, studierter Philo- Lügen und Legenden das Hauptproblem, sondern in
soph und Autor umfangreicher Werke über Weisheit einem um sich greifenden Relativismus: in der Ansicht
und Meditation, plädiert für mehr »NichtDenken«. also, man könne so gut wie alles behaupten, wenn man
Diese unterscheide sich vom bloßen »nicht Denken«, es nur ansprechend genug verpackt. Eben nicht, erklärt
das ein Abschalten, eine mentale Auszeit beschreibe. Hübl. Das Streben nach Wahrhaftigkeit und die
»NichtDenken« sei vielmehr eine Art Selbstdistanzie- Einsicht, dass gründliche Überlegung nötig ist, hält er
rung, die die Automatik des Denkens erhelle. Denn, für zentral – in Zeiten von Filterblasen und Fake News
so Scobel: »Gedankenschwaden vernebeln die Sicht mehr denn je.

GEHIRN&GEIST 82 0 4 _ 2 0 1 9
BÜCHER UND MEHR

Das Streben nach Wahrhaftigkeit und die Einsicht,


dass gründliche Überlegung nötig ist, hält Hübl für zentral

Der Psychologe und Soziologe Heiko Roehl Begriffe wie »Hyperdifferenzierung« oder »radikale
wiederum behandelt das durch die Digitalisierung Reflexivität«, angereichert mit Wortschöpfungen wie
zunehmend gefährdete Selbst. Wie Kuratoren unseres »Komplexitätsadäquanz«, klingen zwar toll, sagen
eigenen Ichs stellten wir im Alltag, insbesondere in den allein aber wenig aus.
sozialen Medien, viele verschiedene, schnell wechseln- Manche von Roehls Sätzen kreuzen sogar hart am
de Identitäten aus – und häufig zur Schau. Dies führe Rand der Sinnleere, etwa wenn er schreibt: »Mit dem
dazu, dass Rollenbilder immer stärker ausdifferenzier- Fokus auf Konvergenz, einem Bemühen um das
ten und die damit verbundenen Erwartungen immer Gemeinsame und einem wachsenden Verständnis für
unverbindlicher würden. Ein und dieselbe Person die systemische Bedingtheit der Themen gelingt die
inszeniere sich hier als cooler Rockertyp, dort als treu notwendige Wiederanreicherung komplexitätsverarm-
sorgender Daddy, hier als taffe Business-Frau, dort als ter Fragestellungen mit den ausgeblendeten Kontex-
beste Freundin. ten.« Das ein oder andere Beispiel wäre hilfreich
Roehls Diagnose klingt dabei so aufgeregt, als dulde gewesen.
unser unüberschaubares digitales Leben keinen Die Forderung, Identität heute als »iterativ, tentativ
Aufschub hinsichtlich der zu ergreifenden Gegenmaß- und zunehmend sozial konstruiert« zu betrachten,
nahmen. Nur worin die bestehen, bleibt unklar. besagt ja zunächst einmal nur, was wir laut Roehl

UNSERE SONDERHEFTE

Warum träumen wir? • Info- Dissoziative Amnesie: Der mys- Organoide: Minigehirne aus Neuronale Netze: Vorbild
grafik: Besser schlafen! • Zir- teriöse Fall Agatha Christie • dem Labor • Drainage: Nächt- Gehirn • Intelligente Maschi-
kadiane Rhythmen: Wer hat Erinnern: Ein erstaunliches liche Gehirnwäsche • Plasti- nen: Lernen wie ein Kind •
an der Uhr gedreht? • Luzide Talent • Kindheitsamnesie: zität: Das Gehirn neu verdrah- Informatik: Quantencomputer
Träume • Medizin: Risiko Warum vergessen wir die ers- ten • Schlaf: Warum träumen könnten künstliche Intelligenz
Schlafmangel • Wachtherapie ten Lebensjahre? • Sprache: wir? • Bewusstsein: Wie frei ist voranbringen • Vorurteile: Wo
gegen Depression • € 8,90 Der Wortrestaurator • € 8,90 der Mensch? • € 8,90 hat sie das nur gelernt? • € 5,90

Weitere Hefte und Bestellmöglichkeit: www.spektrum.de/shop


BÜCHER UND MEHR

ohnehin alle tun: immer wieder wechselnde »Iche« Werke sind auf eine jeweils eigene Art ungewöhnlich.
ausprobieren, ohne uns festzulegen, stets nach den Ihre Gemeinsamkeit: Sie handeln von Frauen, die
anderen schielen und uns mit ihnen vergleichen. unsere Gesellschaft mit ihren Theorien geprägt haben.
Welchen neuen Umgang mit uns selbst und miteinan- Seifen, Wäsche und Nachthemden bringt Karl
der empfiehlt der Autor? Schwer zu sagen. Liebknecht seiner Mandantin Rosa Luxemburg im Feb-
Irritierend ist, dass sich Roehl selbst offenbar nicht ruar 1915 ins Weibergefängnis. Doch noch mehr freut
festlegen will, sondern lieber ins Abstrakte flüchtet. sie sich über die Mitbringsel ihrer Freundin Clara
Einerseits sei es nötig, Komplexität zu reduzieren; Zetkin: Flugblätter, Stift und Papier. Die Zeit in der
andererseits seien eindimensionale Sichtweisen und Haft nimmt Luxemburg fast mit heiterer Ruhe auf,
einfache Antworten natürlich blöd. Einerseits sei jeder endlich Zeit, um zu schreiben. Als sich die Haftbedin-
viele, andererseits wirken klare Selbsturteile (»So bin gungen verschärfen, übersteht sie die Zeit, indem sie
ich eben«) heilsam. Was also tun? Eine Tugend, die so Amseln oder Spatzen beobachtet und Kraft und
wichtig ist wie eh und je, lassen die Essays teils Ablenkung aus den Büchern von Eduard Mörike und
vermissen – die, sich klar auszudrücken. Johann Wolfgang von Goethe schöpft.
Steve Ayan ist Diplompsychologe und Redakteur bei »Gehirn&Geist«. Die Autorin Simone Frieling beschreibt mit viel
Fingerspitzengefühl ausgewählte Stationen aus dem
Leben der Philosophinnen. Bei Luxemburg ist es die
Zeit als Gefangene, bei Hannah Arendt das Leben nach
ihrer Flucht aus Nazideutschland, als eine Art Shit-
storm wegen ihres Buchs »Eichmann in Jerusalem«
HHHHH über sie hereinbricht. In ihrem Werk hatte sie den
Simone Frieling Prozess gegen den ehemaligen SS-Obersturmbannfüh-
rer Adolf Eichmann und die administrativen Massen-
REBELLINNEN morde im Nationalsozialismus thematisiert.
Hannah Arendt, Rosa Luxemburg Auch wenn Luxemburgs Ermordung nun 100 Jahre
und Simone Weil zurückliegt und Arendts Buch bereits 1963 erschien,
Ebersbach & Simon, Berlin 2018, 144 S., haben weder die Worte der Philosophinnen noch die
€ 18,– damaligen Ereignisse an Aktualität eingebüßt. Zwei
Beispiele: 1918 wurde eine Frau von einer ultranationa-
listischen Meute durch die Stadt gehetzt und miss-
handelt, weil diese sie fälschlicherweise für die
HHHHH Kriegsgegnerin Luxemburg hielt. Ähnliche Meldungen
Stefan Knischek (Hg.) von Angriffen und Hetzjagden lesen wir täglich in den
Nachrichten. Und die 1933 geflüchtete Hannah Arendt
DIE WAHRHEIT MUSS
spricht mit ihren Gedanken über das Gefühl, fremd zu
HERAUS
sein, auch heute noch vielen Menschen aus der Seele:
Worte genialer Philosophinnen »Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit
Marix, Wiesbaden 2018, 232 S., € 14,– des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren
und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt
irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere
Starke Vordenkerinnen Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer
Zwei Bücher widmen sich dem Leben und den Reaktionen, die Einfachheit unserer Gefühle.«
Ideen außergewöhnlicher Frauen Insgesamt ist das Buch aber nicht so kämpferisch,
wie es der Titel vorgibt. Stattdessen enthält es einfühl-

M
anchmal faszinieren uns Menschen so sehr, same Porträts der drei Frauen, bei denen sie selbst
dass ihre Gedanken uns noch 100 Jahre als Person und weniger ihr politisches oder philosophi-
später in den Bann ziehen. Zwei Bücher sches Wirken im Vordergrund stehen. Es lohnt
widmen sich aktuell dem Leben von Philosophinnen sich, das Büchlein mit dem hochwertigen Einband und
und Politikerinnen, die ganze Generationen beein- den 144 Seiten immer mal wieder in die Hand zu
druckten. »Rebellinnen« stellt drei von ihnen in nehmen.
gefühlvollen Porträts vor: Rosa Luxemburg, Hannah Auch bei »Die Wahrheit muss heraus« stehen
Arendt und Simone Weil. »Die Wahrheit muss Vordenkerinnen im Mittelpunkt; insgesamt sind es 38.
heraus« ist dagegen eine Sammlung von Sprüchen Wer also weibliche Vorbilder in den Geisteswissen-
von insgesamt 38 Geisteswissenschaftlerinnen. Beide schaften vermisst: Hier sind sie. Die Aussprüche und

GEHIRN&GEIST 84 0 4 _ 2 0 1 9
Gehirn&Geist
Weisheiten der Frauen, die der Band vorstellt, sind Chefredakteur: Prof. Dr. phil. Dipl.-Phys. Carsten Könneker M. A.
(verantwortlich)
heute nach wie vor relevant. Olympe de Gouges hatte Artdirector: Karsten Kramarczik
Redaktionsleitung: Dr. Hartwig Hanser
schon vor Hunderten von Jahren die Benachteiligung Redaktion: Dipl.-Psych. Steve Ayan (stv. Redaktionsleitung, Ressortleitung
von Frauen angeprangert und sich gegen diese Psychologie), Dipl.-Psych. Liesa Bauer, Dr. Katja Gaschler (Koordination
Sonderhefte), Dr. Anna von Hopffgarten (Ressortleitung Hirnforschung),
eingesetzt, Katharina von Siena bereits im 14. Jahrhun- Dr. Michaela Maya-Mrschtik (komm. Ressortleitung Medizin), B. A. Wiss.-
Journ. Daniela Zeibig
dert gegen soziale Missstände protestiert. Die meisten Freie Mitarbeit: Dr. Joachim Retzbach
der in diesem Buch versammelten Frauen lebten Assistentin des Chefredakteurs, Redaktionsassistenz: Lena Baunacke
Schlussredaktion: Christina Meyberg (Ltg.), Sigrid Spies, Katharina Werle
allerdings wie Edith Stein, Simone de Beauvoir oder Bildredaktion: Alice Krüßmann (Ltg.), Anke Lingg, Gabriela Rabe
Layout: Karsten Kramarczik, Oliver Gabriel, Anke Heinzelmann,
Helene Stöcker im 20. Jahrhundert. Auch sie haben mit Claus Schäfer, Natalie Schäfer
ihren Schriften Missstände entlarvt, Doppelmoral
Wissenschaftlicher Beirat: Prof. Dr. Angela D. Friederici, Max-Planck-
demaskiert und vor Totalitarismus gewarnt. Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften, Leipzig; Prof. Dr. Jürgen
Margraf, Arbeitseinheit für klinische Psychologie und Psychotherapie,
Der Herausgeber Stefan Knischek hat diese starken Ruhr-Universität Bochum; Prof. Dr. Michael Pauen, Institut für
Frauen auf besondere Art in den Mittelpunkt gestellt. Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin; Prof. Dr. Frank Rösler,
Institut für Psychologie, Universität Hamburg; Prof. Dr. Gerhard Roth,
Denn anders als in den meisten anderen Sprüche- Institut für Hirnforschung, Universität Bremen; Prof. Dr. Henning Scheich,
Leibniz-Institut für Neurobiologie, Magdeburg; Prof. Dr. Wolf Singer,
sammlungen hat er sich komplett zurückgenommen. Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt am Main; Prof. Dr.
Kein ausschweifendes Vorwort, keine langatmige Elsbeth Stern, Institut für Lehr- und Lernforschung, ETH Zürich

Erklärung und kein Schlusswort. Das Buch beginnt mit Übersetzung: Dr. Markus Fischer, Esther Hansen, Anja Nattefort
Herstellung: Natalie Schäfer
einem Satz der ungarischen Philosophin Agnes Heller: Marketing: Annette Baumbusch (Ltg.), Tel.: 06221 9126-741,
»Niemand kann frei sein, wenn es die anderen nicht E-Mail: service@spektrum.de
Einzelverkauf: Anke Walter (Ltg.), Tel.: 06221 9126-744
sind.« Sie ist eine von fünf der im Buch behandelten Verlag: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH,
Frauen, die heute noch leben. Geboren 1929, hatte sie Postfach 10 48 40, 69038 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-712,
E-Mail: gehirn-und-geist@spektrum.de; Hausanschrift: Tiergartenstraße
als Marxistin und Mitglied der Budapester Schule mit 15–17, 69121 Heidelberg, Tel.: 06221 9126-600, Fax: 06221 9126-751,
Amtsgericht Mannheim, HRB 338114
dem real existierenden Sozialismus gebrochen; als
Jüdin entging sie 1944 mehrmals dem Tod; gejagt von Geschäftsleitung: Markus Bossle
Leser- und Bestellservice: Helga Emmerich, Sabine Häusser, Ilona Keith,
ungarischen Faschisten wies sie jede Philosophie Tel.: 06221 9126-743, E-Mail: service@spektrum.de
Vertrieb und Abonnementsverwaltung: Spektrum der Wissenschaft
zurück, die nicht auf einer Individualität des Menschen Verlagsgesellschaft mbH, c/o ZENIT Pressevertrieb GmbH,
basierte. Postfach 81 06 80, 70523 Stuttgart, Tel.: 0711 7252-192, Fax: 0711 7252-366,
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Knischek präsentiert die mehr als 1500 Sprüche in
Die Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH ist Kooperations-
seinem Werk nach Themen geordnet: Sein, Natur, partner der Nationales Institut für Wissenschaftskommunikation gGmbH
Mensch und Arbeit, Liebe und Partnerschaft oder (NaWik).

Frauenfragen sind einige davon. Am Ende der Samm- Bezugspreise: Einzelheft: € 7,90, sFr. 15,40, Jahresabonnement
Inland (12 Ausgaben): € 85,20, Jahresabonnement Ausland: € 93,60,
lung stellt Knischek mit knappen und gut lesbaren Jahresabonnement Studenten Inland (gegen Nachweis): € 68,40,
einseitigen Kurzporträts die Frauen vor. Die pointier- Jahresabonnement Studenten Ausland (gegen Nachweis): € 76,80.
Zahlung sofort nach Rechnungserhalt. Postbank Stuttgart,
ten Biografien sind trotz aller Kürze sehr treffend und IBAN: DE52 6001 0070 0022 7067 08, BIC: PBNKDEFF
verschweigen nicht die Widersprüchlichkeiten der Die Mitglieder der DGPPN, des VBio, der GNP, der DGNC, der GfG,
Frauen. Ebenso zeigt der Band, wie unterschiedlich der DGPs, der DPG, des DPTV, des BDP, der GkeV, der DGPT, der DGSL,
der DGKJP, der Turm der Sinne gGmbH, der NOS (Neurofeedback Orga-
und vielfältig die Sicht der Geisteswissenschaftlerinnen nisation Schweiz) sowie von Mensa in Deutschland erhalten die Zeitschrift
»Gehirn&Geist« zum gesonderten Mitgliedsbezugspreis.
auf das Leben ist.
Wer Lebensweisheiten mag oder keine vollständige Anzeigen: Karin Schmidt, Markus Bossle, E-Mail: anzeigen@spektrum.de,
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Biografie erwartet, dem wird das Werk gefallen. Beide Druckunterlagen an: Natalie Schäfer, Tel.: 06221 9126-733,
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Bücher machen deutlich, wie wichtig die Themen, mit Anzeigenpreise: Zurzeit gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 18 vom 2. 11. 2018.
denen sich die Philosophinnen damals auseinander-
Gesamtherstellung: Vogel Druck und Medienservice GmbH, Höchberg
gesetzt haben, heute noch sind, und regen zum Nach-
Sämtliche Nutzungsrechte an dem vorliegenden Werk liegen bei der
denken an, zum Beispiel mit Hannah Arendts Aussage: Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH. Jegliche Nutzung des
»Um die Wahrheit in der Politik ist es schlecht be- Werks, insbesondere die Vervielfältigung, Verbreitung, öffentliche
Wiedergabe oder öffentliche Zugänglichmachung, ist ohne die vorherige
stellt.« Die Werke lassen ein Gefühl dafür zurück, wie schriftliche Einwilligung der Spektrum der Wissenschaft Verlags-
leidenschaftlich und couragiert diese Frauen für ihre gesellschaft mbH unzulässig. Jegliche unautorisierte Nutzung des Werks
ohne die Quellenangabe in der nachstehenden Form berechtigt den Verlag
Ideen gekämpft haben – und es zum Teil heute noch zum Schadensersatz gegen den oder die jeweiligen Nutzer. Bei jeder
autorisierten (oder gesetzlich gestatteten) Nutzung des Werks ist die
tun. Denn die Sozialwissenschaftlerin Christina folgende Quellenangabe an branchenüblicher Stelle vorzunehmen:
Thürmer-Rohr und die Psychoanalytikerin Luce © 2019 (Autor), Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH,
Heidelberg. Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher
Irigaray, beide inzwischen schon über 80 Jahre alt, sind übernimmt die Redaktion keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu
kürzen.
zum Beispiel immer noch aktiv.
Katja Engel ist promovierte Ingenieurin und Wissenschaftsjournalistin
in Dortmund. ISSN 1618-8519
T V- & RADIOTIPPS

TIPP
DES MONATS
CASARSAGURU / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

Tiere helfen heilen


Freitag, 22. März
Stolperstein, Dokumentation, 3sat, 12.30 Uhr

In der Forensischen Psychiatrie im niederbayerischen Mainkofen kümmern sich psychisch kranke


Straftäter um Bienenstöcke – so lernen sie, Verantwortung zu übernehmen. Dagegen setzen Neurologen
einer Klinik nahe München bei Kindern im Wachkoma auf Hunde. Die Vierbeiner kommunizieren
unbefangen mit den kleinen Patienten: Sie stupsen sie an, lecken ihnen die Hände – und spinnen dabei
offenbar einen Faden zu deren Bewusstsein. Auch bei körperlich behinderten oder seelisch erkrankten
Kindern sowie dementen Menschen werden Tiere immer häufiger als Kotherapeuten eingesetzt. Das
Problem: Die Krankenkassen zahlen die Behandlung in der Regel nicht.

TV Mythos Geschlecht
Leschs Kosmos, Wissens­
Im Prinzip wissen wir,
was gut ist für unsere
Heute euphorisch,
morgen depressiv
Mittwoch, 13. März magazin, ZDFinfo, Gesundheit, für die Dokumentation, WDR,
Mahlzeit! Die Macht 17.45 Uhr Gesellschaft und das 22.40 Uhr
der Manipulation Typisch Mann, typisch Überleben der Mensch- Arno leidet an einer
Leschs Kosmos, Wissens- Frau! Wieso halten sich heit. Trotzdem handeln bipolaren Störung. In
magazin, ZDFinfo, Geschlechterklischees so wir oft nicht danach. manischen Phasen wirkt
17.15 Uhr hartnäckig? Hirnforscher, Warum ist das so? Über er wie ein leicht über-
Bei der Entscheidung, was Pädagogen, Psychologen die Ursachen diskutiert drehter Künstler. Immer
wir essen, wann und wie und Anthropologen Gert Scobel mit der wieder aber stürzt der
oft, lassen sich viele von fahnden nach den »echten Psychologin Susann 40­Jährige so tief in eine
aktuellen Ernährungsmo- Unterschieden«. Fiedler von der Univer- seelische Krise, dass er
den oder von Konventio- sität Erfurt, der Züricher sogar schon versucht hat,
nen lenken. Das Hunger- Donnerstag, 14. März Evolutionsbiologin sich das Leben zu
gefühl dagegen spielt Selbstsabotage Barbara König und dem nehmen. Die Dokumen­
meist nur noch eine Scobel, Gespräch, 3sat, Frankfurter Psychiater tarfilmer begleiteten Arno
Nebenrolle. 21 Uhr Wolfgang Merkle. eineinhalb Jahre lang.

GEHIRN&GEIST 86 0 4 _ 2 0 1 9
Samstag, 16. März Sonntag, 17. März Ist ein hoher IQ ein Ga­ Henry Markram kam
Angst vor dem Fremden Das Krieger-Gen: rant für ein erfolgreiches durch seinen erkrankten
Dokumentation, ZDFinfo, Der DNA-Code der und glückliches Leben? Sohn zur Autismusfor­
9.45 Uhr Gewalt Die Suche nach Antwor­ schung. »Seit 60 Jahren
Die Furcht vor dem An- ZDFinfo, 10.30 Uhr ten führt in ein Talent­ wird behauptet, Autisten
dersartigen wurzelt tief. Wo hört der Einfluss der check­Zentrum in Öster­ hätten keine Gefühle«,
Die Psychologin Beate Gene auf, wo fängt der reich. Dort erzählen sagt der bekannte Hirn­
Küpper belegte experi- freie Wille an? Sollte ein Hochbegabte von sich. forscher. Markram ist sich
mentell, dass sich Vorur- Gewalttäter mildernde dagegen sicher, dass die
teile gegenüber fremden Umstände bekommen, Betroffenen von ihren
Kulturen trotz rationaler
Argumente halten.
wenn sein Erbgut ent­
sprechende Mutationen
Radio Emotionen geradezu
überwältigt werden. Aus
aufweist? Die Genfor­ Dienstag, 12. März diesem Grund würden sie
KI als neues schung wirft brisante Essstörungen sich in ihre eigene Welt
Machtinstrument? Fragen auf. Sprechstunde, Deutsch­ zurückziehen.
Geopolitisches Magazin, landfunk, 10.10 Uhr
arte, 18.10 Uhr Mittwoch, 20. März Fragen rund um die Mittwoch, 27. März
Alan Turing wirkte nicht Der kluge Bauch, Themen Magersucht, Körpersprache,
nur im Zweiten Weltkrieg unser zweites Gehirn Bulimie und Binge Eating Körperwissen
an der Entschlüsselung Dokumentation, 3sat, beantwortet Franziska radioWissen, Bayern2,
deutscher Funksprüche 20.15 Uhr Geiser, Professorin für 9.05 Uhr
mit, sondern legte auch Eine gestörte Darmflora Psychosomatische Es steckt uns in den
den Grundstein für die wirkt sich aufs Gehirn Medizin und Psycho­ Knochen, schnürt einem
künstliche Intelligenz. aus. So beginnt auch die therapie an der Univer­ die Kehle zu oder lastet
Heute liefern sich Parkinsonkrankheit sität Bonn. Hörertelefon: auf den Schultern. Psy­
verschiedene Nationen möglicherweise im 00800 446444464, chotherapeuten und
einen KI-Wettlauf. Magen­Darm­Trakt, als E­Mail: sprechstunde@ Hirnforscher ergründen,
Folge einer Besiedlung deutschlandfunk.de wie der Körper Erinne­
Das Rätsel unserer mit den »falschen« rungen und traumatische
Intelligenz Bakterien. Mittwoch, 13. März Erlebnisse speichert.
Dokumentation, arte, Sinnsuche – gibt es
21.35 Uhr Wunderwaffe Balsam für die Seele? Reue: Mehr als nur ein
Seit mehr als einem Mikrobiom Gesundheitsgespräch, »Tut mir leid!«
Jahrhundert versuchen Dokumentation, 3sat, Bayern2, 10.05 Uhr radioWissen am Nachmit­
Wissenschaftler die 21.05 Uhr Die meisten Menschen tag, Bayern2, 15.05 Uhr
Grundlagen der Intelli- Die in und auf uns wünschen sich ein er­ Die Justiz kennt den
genz zu ergründen. lebenden Mikroorganis­ fülltes Leben und inneren Begriff der Reue ebenso
Inzwischen geben sie zu: men sind wichtig für Frieden. Wie lässt sich wie die Psychologie und
Es ist bisher noch nicht die Immunabwehr; sie dieses Ziel erreichen? Mit die großen Weltreli­
einmal gelungen, sie kommunizieren mit Reinhart Schüppel, Arzt gionen. Welche Bedeu­
zweifelsfrei zu definieren. dem Gehirn und ermög­ für Psychosomatik und tung hat das Konzept
lichen einen gesunden Psychotherapie von der für das gesellschaftliche
Das Rätsel unseres Stoffwechsel. Zurzeit Johannesbad Fachklinik Zusammenleben?
Bewusstseins wird erforscht, wie Furth im Wald. Hörer­
Dokumentation, arte, depressiven Menschen telefon: 00800 2462469, Kurzfristige Programm­
22.30 Uhr eine Stärkung der E­Mail: gesundheits änderungen der Sender
Forscher der Coma Darmflora helfen kann. gespraech@bayern2.de sind möglich. Zum
Science Group von der Zeitpunkt der Drucklegung
Université de Liège unter- Montag, 25. März Dienstag, 26. März lagen uns keine späteren
suchen Phänomene wie Intelligenz: Neue Erkenntnisse über Sendetermine vor.
Schlaf, Traum oder Koma. So beeinflusst sie unser Autismus Diese können Sie ab dem
Dabei gewannen sie Leben IQ Wissenschaft und 5. 4. 2019 kostenlos abrufen
spektakuläre Erkenntnisse Xenius, Magazin, arte, Forschung, Bayern2, unter: www.spektrum.de/
über das Bewusstsein. 16.50 Uhr 18.05 Uhr magazin/gehirn­und­geist/

GEHIRN&GEIST 87 0 4 _ 2 0 1 9
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des Verlags Spektrum der Wissenschaft
Steve Ayan

Gehirn&Geist-Redakteur
ICH
UN D AN DE RE
Steve Ayan liest aus: IRR TÜ ME R

HARDY MÜLLER Die Psychologie


der Selbsterkenntnis

Kostenfreie Exkursionen und Begegnungen


22. 3. 2019 Leserexkursion zum Fraunhofer-Institut für Hochfrequenzphysik und Radar-
technik FHR und seinem Weltraumbeobachtungsradar TIRA, Wachtberg
3. 6. 2019 Redaktionsbesuch bei Spektrum.de, Heidelberg
5. 7. 2019 Leserexkursion zu EUMETSAT, Darmstadt

Eigene Veranstaltungen und ausgewählte Veranstaltungen von


Partnern zum Vorteilspreis
bis 22. 3. 2019 Live-Fotoreportage »Grenzenloses Skandinavien«, diverse Städte in der
Schweiz
15. 3. 2019 Spektrum LIVE Veranstaltung »Pasta, Pomodore, Parmigiano: Physik pur«,
Frankfurt a. M.
12.–14. 4. 2019 Symposium Kortizes »Hirn im Glück«, Nürnberg
2. 5. 2019 Vortrag von Steve Ayan »Ich und andere Irrtümer«, Urania Berlin
8. 5. 2019 Vortrag von Steve Ayan »Ich und andere Irrtümer«, DAI Heidelberg
10. 5. 2019 Schreibwerkstatt bei Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg
23. 5. 2019 Vortrag von Steve Ayan »Ich und andere Irrtümer«, Hospitalhof Stuttgart
25.– 28. 6. 2019 Konferenz »The Science of Consciousness (TSC) 2019«, Interlaken

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VORSCHAU

Heft 5/2019 erscheint am 5. April

Eindruck in
Millisekunden
Wir beurteilen andere
Menschen blitzschnell.
Dazu verarbeitet unser
Gehirn diverse Merkmale
des Gegenübers, etwa die
Höhe der Augenbrauen.
Richtig sind die daraus
gezogenen Schlüsse
selten – unser Verhalten
beeinflussen sie dennoch.
UNSPLASH / BRUCE MARS (UNSPLASH.COM/PHOTOS/ANDE50AAHN4)

Die Angst
im Bauch
Schätzungsweise eine von
sieben werdenden Müt-
tern leidet unter extremen
Ängsten vor Schwanger-
schaft und Geburt.
Psychiater nennen dieses
Störungsbild Tokophobie.
Die Furcht beeinflusst
nicht nur, wie die Frauen
Das Glücksparadox ihre Schwangerschaft
erleben – sie wirkt sich
Erfüllende Arbeit, gesunde Umwelt, persönliche Freiheit: Allen Unkenrufen
auch über die Geburt
zum Trotz geht es uns heute im Schnitt viel besser als früheren Generationen.
hinaus auf Mutter und
Und das gilt nicht nur für das Leben in Deutschland, sondern weltweit, wie
Kind aus.
der Marburger Sozialforscher Martin Schröder mit empirischen Daten belegt.
Warum sehen viele Menschen dennoch so schwarz? Und gibt es objektive Krite-
rien, an denen jeder sein Glück messen kann?

Neuropädagogik 4.0
UNSPLASH / JANKO FERLIČ (UNSPLASH.COM/PHOTOS/IVRTLCELSZS)

Jedes Gehirn ist anders, und zwar schon


von Beginn an, sagen Neurowissenschaft- Newsletter
ler. Deshalb tun sich manche Schüler Lassen Sie sich jeden
in der Grundschule einfach schwerer Monat über Themen
beim Lesen oder bei Aufgaben, die der und Autoren des neuen
Intuition widersprechen. Lehrer sollten Hefts informieren! Wir
die naturgegebenen Unterschiede halten Sie gern per E-Mail
akzeptieren und den Unterricht entspre- auf dem Laufenden –
chend anpassen. natürlich kostenlos.
Registrierung unter:
www.spektrum.de/
gug-newsletter

GEHIRN&GEIST 89 0 4 _ 2 0 1 9
HIRSCHHAUSENS HIRNSCHMALZ
STEFFEN JÄNICKE; MIT FRDL. GEN. VON ECKART VON HIRSCHHAUSEN

Psychotest:
Ein Arzt ist für mich ein …
A) Halbgott in Weiß.
B) Schreckgespenst.
C) Vorbild.
D) Abziehbild.

Sei kein Vorbild!


D R . E C K A RT VO N H I R S C H HAU S E N rollte von seinem Schreibtisch zur Untersuchungsliege
und kam dort zum Stehen. Also der Sessel, nicht er.
ist Arzt, Moderator und Bühnenkünstler – und hat
Dann schaute er zwei Sekunden auf unsere versammel-
auf Tour immer eine Tischtennisplatte dabei, um
ten Füße, murmelte: »MüssenwanochmawasmitEinla-
beweglich zu bleiben, ohne viel rennen zu müssen.
gen…« und glitt mitten im Satz zurück zum Schreib-
tisch, ohne einen Muskel oberhalb des Unterschenkels

S ei die Veränderung, die du selbst in der Welt sehen


möchtest«, empfahl Mahatma Gandhi als Mantra ge-
gen den inneren Schweinehund, der lieber nach den an-
dafür unnötig belastet zu haben. Und obwohl ich als
Kind noch nichts davon wusste, ahnte ich intuitiv, dass
der Mann im Rollsessel unmöglich ein Fachmann für
deren schielt, als sich selbst am Schweinsohr zu packen. den Bewegungsapparat sein konnte.
Müssen Ärzte ein Vorbild sein für andere? Oder eher 40 Jahre später: Einlagen sind out, aber Bewegung
Kumpel auf Augenhöhe, wie die beste Freundin, der bleibt ein Lebenselixir. Nur wie kommt man dahin, sei­
man alles erzählt und die auch über ihre eigenen Schwä- nen Lebensstil zu ändern? Wie schwierig das sein kann,
chen spricht? Es ist verblüffend, wie wenig Mediziner zeigt eine Studie der Psychologen Lauren Howe und Be­
von Motivationspsychologie verstehen, wo doch die noît Monin: Demnach meiden wir den Umgang mit
meisten Erkrankungen durch drei simple Weisheiten zu Menschen, deren tadellose Disziplin uns verunsichern
verhindern wären: nicht rauchen, bewegen, Gemüse. könnte. Diesen Effekt demonstrierten die Forscherin­
Doch eben nur, wenn man sich auch dran hält. Die Ge- nen am Beispiel von Arzt­Patient­Beziehungen, bei de­
genposition zu Gandhi formulierte Ödön von Horváth: nen es um gesünderen Lebensstil, Übergewicht und
»Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so sel- Bluthochdruck ging. Waren die Ärzte selbst schlank
ten dazu.« Das kenne ich bestens von mir. Ich bin sehr und sportlich, brachen übergewichtige Patienten die
sportlich, komme nur so selten dazu, Sport zu treiben. Therapie schneller ab und suchten sich einen neuen Doc.
Streng genommen in den letzten 20 Jahren eigentlich Offenbar haben die wenigsten von uns Lust, sich von
gar nicht. War einfach keine Zeit dafür. Aber im Kern einem Gesundheitsapostel ein schlechtes Gewissen ma­
bin ich immer noch die Sportskanone, die ich schon da- chen zu lassen. Vielleicht hat mein Orthopäde unbe­
mals nicht war. wusst mehr richtig gemacht, als er und ich damals
Dabei hatte ich als Kind die optimale Voraussetzung ahnten. Er war für mich ein Vorbild, wie ich nie werden
zum Bewegungskünstler. Ich bekam jahrelang orthopä- wollte. Danke, Dr. G.! H
disches Turnen und Einlagen verschrieben, denn ich litt
unter Plattfüßen wie alle meine Geschwister. Das mein-
te jedenfalls der Orthopäde per Blickdiagnose zu erken- QUELLE
nen. Ich erinnere mich, wie fasziniert ich von dem klei-
Howe, L.C., Monin, B.: Healthier than thou?
nen dicken Mann war, der eingeklemmt in einem Sessel »Practising what you Preach« Backfires by Increasing
mit Rollen saß. Mit einem Geschick, das jahrelange Anticipated Devaluation. In: Journal of
Übung verriet, stieß er sich mit dem Fuß am Boden ab, Personality and Social Psychology 112, S. 718–735, 2017

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AUSSCHREIBUNG 2019
Der Preis wurde von der Verlagsgruppe von Holtzbrinck Die Auswahl erfolgt jährlich durch eine hochkarätige
1995 anlässlich des 150-jährigen Jubiläums von Scientific Jury. Eine Shortlist mit den Nominierten wird vor der
American, einer der ältesten Wissenschaftszeitschriften Bekanntgabe der Preisträgerinnen und Preisträger
der Welt, ins Leben gerufen. auf der Webpage veröffentlicht. Der Rechtsweg ist
ausgeschlossen.
Teilnahmeberechtigt sind alle in deutschsprachigen Medien
veröffentlichenden Journalistinnen und Journalisten. Die Mitglieder der Jury sind:
Die eingereichten Arbeiten sollen allgemeinverständlich
sein und zur Popularisierung von Wissenschaft und DR. STEFAN VON HOLTZBRINCK (VORSITZ)
Forschung, insbesondere in den Bereichen Naturwissen- Vorsitzender der Geschäftsführung,
schaften, Technologie und Medizin, beitragen. Holtzbrinck Publishing Group
Entscheidend ist die originelle journalistische Bearbeitung PROF. DR. DR. ANDREAS BARNER
aktueller wissenschaftlicher Themen. Mitglied des Gesellschafterausschusses,
Es wird jeweils ein Preis in der Kategorie Text (Wortbei- Boehringer Ingelheim
träge Print und Online) und ein Preis in der Kategorie
ULRICH BLUMENTHAL
Elektronische Medien (TV, Hörfunk und Multimedia)
Redakteur „Forschung aktuell“, Deutschlandfunk
sowie ein Nachwuchspreis (Jahrgang 1990 oder jünger)
vergeben. PROF. DR. ANTJE BOETIUS
Direktorin, Alfred-Wegener-Institut,
Der Preis in den Kategorien Text und Elektronische Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI)
Medien ist mit je 5.000 Euro dotiert. Der Nachwuchspreis
ist mit 2.500 Euro dotiert. Bewerben Sie sich bis zum PROF. DR. MARTINA BROCKMEIER
1. April 2019 mit 3 Beiträgen (Text) bzw. 2 – 3 Beiträgen Vorsitzende, Wissenschaftsrat
(Elektronische Medien) aus den letzten zwei Jahren und
PROF. DR.-ING. MATTHIAS KLEINER
einem Kurzlebenslauf. Präsident, Leibniz-Gemeinschaft e.V.
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Chefredakteur, Spektrum der Wissenschaft

JOACHIM MÜLLER-JUNG
KONTAKT Leiter des Ressorts Natur und Wissenschaft,
Veranstaltungsforum Frankfurter Allgemeine Zeitung
Holtzbrinck Publishing Group ANDREAS SENTKER
Taubenstraße 23, 10117 Berlin Leiter Redaktion Wissen, DIE ZEIT und Herausgeber, ZEIT Wissen

Telefon +49/30/27 87 18 20 PROF. DR. PETER STROHSCHNEIDER


Telefax +49/30/27 87 18 18 Präsident, Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V.

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