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ERFINDER-
Das deutsche Nachrichten-Magazin WETTBEWERB
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Handball, SPIEGEL BIOGRAFIE

W
ürzburg, Reutlingen, Ansbach … Ist Ihnen Deutsch-
land nun bunt genug?“, schrieb die AfD-Chefin Frau-
WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL

ke Petry nach den Terrortaten der vergangenen Tage. Der


bayerische CSU-Innenminister Joachim Herrmann forder-
te, die „Abschiebung in Krisengebiete“ dürfe künftig „kein Macht euch
Tabu sein“. Wenn Angst eine Gesellschaft umtreibt, gibt
es immer auch diejenigen, die sie für ihre Sache nutzen
Gedanken
wollen. Dieser Befund ist SPIEGEL-Redakteur Jörg Schind-
ler schon länger vertraut; für sein Buch „Panikmache“, das
über die Welt
Schindler demnächst erscheint, hat er sich mit solchen Fragen be- von morgen!
schäftigt. In der Titelgeschichte dieses Heftes beschreibt er
zusammen mit Kollegen die Folgen der Angst in Deutschland; oft wird sie befeu- Wie sieht die Welt von morgen aus?
ert von den sozialen Netzwerken, die live am Terror teilhaben lassen – und auch Wie könnte sie aussehen?
an dem, was gar kein Terror, sondern Fehlalarm ist. Besonders viel davon gab es am Jetzt ist eure Fantasie gefragt: Welche Erfindung
vorvergangenen Freitag nach einem Attentat im Münchner Olympia-Einkaufszen- wäre nötig, um das Leben für die Menschen in Zu-
trum, das die ganze Stadt in Aufruhr versetzt hat. Soll man deswegen nun Einkaufs- kunft besser und sicherer zu machen?
zentren meiden? Oder aus Angst vor einem Anschlag nicht mehr mit dem Regional- Der Wettbewerb wird in zwei
zug, sondern mit dem Auto fahren? Schindler: „Wer das tut, erhöht sein Risiko, statt Altersgruppen veranstaltet.
es zu senken: Ein Autounfall ist um ein Vielfaches wahrscheinlicher.“ Seite 12 Teilnehmen können alle Kinder, die in der 3. bis 5.
Klasse sind (8 – 11 Jahre) oder Kinder der Klassen
6 bis 8 (12 – 14 Jahre). Ihr könnt als Schulklasse,
D ass in Island Menschen zu finden
sind, die mit dem Ball umgehen
können (Huh!), hat sich herumgespro-
Arbeitsgruppe oder als Team eines Vereins
mitmachen.
chen. Und auch, dass es dort nicht nur Und darum geht es:
ERIK EGGERS / DER SPIEGEL

gute Fuß-, sondern auch gute Handbal- Welche Erfindung braucht die Welt noch? Das
ler gibt. Einer von ihnen trainiert die könnte beispielsweise eine Wassersparmaschine,
deutsche Nationalmannschaft und hat ein Konzept zur Müllvermeidung oder auch etwas
dafür gesorgt, dass diese nicht nur den ganz anderes sein! Prämiert werden die besten
EM-Titel geholt hat, sondern auch als Ideen und Konzepte. Eure Ideen können in einem
Olympiafavorit gilt. Dagur Sigurdsson Sigurdsson, Hacke, Eggers in Island Film, Fotobuch, in Textform oder als Präsentation
wirkte sehr entspannt, als SPIEGEL-Mit- vorgestellt werden. Ihr müsst eure Erfindungen
arbeiter Erik Eggers und Redakteur Detlef Hacke ihn und seine Frau in seiner also nicht bauen.
isländischen Heimat besuchten – in einer Hütte ohne Stromanschluss, fünf Stun- Und das sind die Preise:
den nördlich von Reykjavík. Sigurdsson, der sonst in Berlin lebt, mag dieses Der erste Platz in jeder Altersgruppe gewinnt
schlichte Leben. Er war dort, um Fensterrahmen zu streichen, Dielen zu schleifen 1 500 Euro. Die Gewinner des zweiten Preises
und Ruhe zu suchen vor Olympia, als er den Besuch aus Deutschland bekam. können sich bei „WIRmachenDRUCK“ einen selbst
Den Reiz des Kargen und des Dielenschleifens kann Hacke durchaus nachvoll- gestalteten Kalender im Wert von 300 Euro
ziehen. Nicht aber, was Sigurdsson und seine Frau Ingibjörg außerdem noch herstellen lassen. Der Preis für die beiden Dritt-
tun: ins eiskalte Atlantikwasser springen. Hackes Ansicht: „Das ist ein Meer für platzierten: je drei „Dein SPIEGEL“ Jahres-Abos.
Lachse.“ Für ihn selbst sei das eher nichts. Seite 96 Wie kann man sich bewerben?
Alle Informationen zum Wettbewerb
und den Teilnahmebedingungen
A
GRAFIE
m 13. August wird er 90 Jahre alt: Fidel Castro,
Thema der neuen Ausgabe von SPIEGEL BIO-
. Er war der Schöpfer der tropischen Varian-
findet ihr unter:
www.wasunsmorgenerwartet.de
te des Sozialismus, galt einstmals als Hoffnungsträ- Einsendeschluss ist der
1. September 2016.
ger und hat auch einiges für Kuba erreicht – ein funk-
tionierendes Gesundheitssystem, Alphabetisierung
für das Volk. Auf der Strecke blieben die bürgerli-
chen Freiheiten, aber vielleicht kommen die ja bald.
Was sicherlich kommen wird, ist mehr Kapitalismus.
SPIEGEL-Redakteure widmen sich Castros Leben,
der Frage, wie er sein Land verändert hat – und wie In Kooperation mit
sich sein Land wohl verändern wird in der Zeit nach
ihm. Das Heft erscheint am kommenden Dienstag.

DER SPIEGEL 31 / 2016 5


Rezepte gegen die Gewalt
Titel Während das Profil der Täter von Ansbach,
München und Würzburg deutlicher wird, sucht
Deutschland eine Antwort auf die Gewalt. Gibt es

ANDREAS GEBERT / DPA


Wege, potenzielle Amokläufer und Attentäter
rechtzeitig zu stoppen – und Waffengeschäfte im
Darknet zu verhindern? Seiten 12 bis 25
Polizisten in Münchner U-Bahn-Station am 22. Juli

WILMA LESKOWITSCH / DER SPIEGEL


LUIZ MAXIMIANO / DER SPIEGEL
MAURICE WEISS / DER SPIEGEL

Der Höllenjob Keine Lust auf Olympia Heilung für Schwerkranke


Bundeswehr Flugzeuge, die nicht fliegen, Brasilien Als Rio de Janeiro den Zuschlag Medizin Ein niederländischer Pharma-
Hubschrauber, die nicht abheben, Gewehre, für die Olympischen Spiele erhielt, galt unternehmer vermittelt über das Internet
die nicht gerade schießen – die Wehr- dies als Krönung einer Erfolgsgeschichte. noch nicht zugelassene Medikamente. Für
beschaffung ist ein Debakel. Seit zwei Jah- Doch eine Woche vor der Eröffnung steckt viele Patienten wie Miguel (Foto) sind die
ren versucht die Ex-McKinsey-Beraterin das Land in einer tiefen Krise. Ein neuen Wirkstoffe die letzte Hoffnung. Hier-
Katrin Suder, das Rüstungschaos in den Griff Besuch bei der suspendierten Präsidentin zulande ist es jedoch nur schwer möglich,
zu bekommen. Seite 40 Dilma Rousseff. Seite 80 an solche Mittel heranzukommen. Seite 106

6 Titelbild Montage: DER SPIEGEL; Fotos: Getty Images, Mauritius


In diesem Heft

Titel Sportindustrie Adidas und Puma


machen sich von Musikstars wie Kanye West
Sicherheit Deutschland sucht nach Antworten
und Rihanna abhängig 72
auf die Gewaltserie der vergangenen Tage 12
Haushalte Die Bundesländer legen Hunderte
Verbrechen Der Amokschütze von München
Millionen Euro für Beamtenpensionen in
war in psychiatrischer Behandlung
fragwürdige Unternehmen an 74
und handelte mit grausamer Berechnung 20
Nachhaltigkeit Eine Kampagne will beweisen,

SIPA PRESS / ACTION PRESS


Ein Bekannter des Münchner Täters, ein
Gymnasiast aus Baden-Württemberg, plante dass Bioprodukte billiger sind als
womöglich ebenfalls einen Amoklauf 23
konventionell hergestellte Lebensmittel 76
Islamisten Wie eng waren die IS-Verbindungen
der Attentäter von Ansbach und Würzburg? 24 Ausland
Kriminalität Wie der Amokläufer seine Pistole Die Katalanen nutzen das Machtvakuum
im Darknet beschaffen konnte 25 in Madrid / Schöner wohnen in Fukushima 78
Brasilien Kurz vor den Olympischen Melissa McCarthy
Deutschland Spielen befindet sich das Land in der Krise 80
Leitartikel Gelassen gegen Angst und Türkei Erdoğans Jagd auf die Gülen- Sie ist einer der höchstbezahl-
Misstrauen 8 Bewegung 86 ten Hollywoodstars und
Meinung Kolumne: Der gesunde USA Russland greift zugunsten Donald spielt in der Neuauflage des
Menschenverstand / So gesehen: Michelle Trumps in den Wahlkampf ein 90
Filmhits „Ghostbusters“, der
Obama muss Präsidentin werden 10 Südafrika Die vielen Skandale des Präsidenten
Jacob Zuma gefährden den ANC 92 fast nur mit Frauen besetzt
Cyberattacke auf Gabriel, Altmaier, Maas und ist – und sich über Männer lus-
Seibert? / Mütterrente begünstigt Westfrauen /
Umstrittene Zahlungen an DAK-Mitglieder 28 Sport tig macht. Die Folge: ein
Emanzipation Alice Schwarzer im SPIEGEL- Der Mexikaner Ortiz über sein gescheitertes Shitstorm im Internet. Seite 120
Gespräch über den Aufstieg der Projekt, im Kajak die Niagarafälle hinunter-
Frauen und ihre eigene Kinderlosigkeit 32 zustürzen / Die Renaissance des DDR-

ALEXANDER SCHEUBER / BONGARTS / GETTY IMAGES


Parteien Die Linke Sahra Wagenknecht bringt Dopingmittels Oral-Turinabol in Russland 95
die eigenen Leute gegen sich auf 38 Handball Wie der isländische Trainer Sigurdsson
Medien Regierungssprecher – ein Job mit das deutsche Nationalteam wiederbelebte 96
fragwürdigem Rückfahrticket 39 Olympia Der Chefzyniker – IOC-Präsident
Bundeswehr Staatssekretärin Suder will den Thomas Bach 99
Filz bei der Rüstungsbeschaffung beenden 40 Turnen Fabian Hambüchen über seinen
Umwelt Eine Wohnungsbaugesellschaft testete geschundenen Körper vor seinen vierten
Passivhäuser – mit ernüchterndem Ergebnis 45 Olympischen Spielen 100
SPD NRW-Ministerpräsidentin Kraft
wünscht sich mehr Engagement vom Bund Wissenschaft
bei der Abschiebung von Flüchtlingen 46
Hightech in der Steinzeit / Die Menschen
Antisemitismus Viele Übergriffe gegen werden immer größer / Kommentar: Solarflug-
Juden finden sich nicht in der polizeilichen zeuge sind nicht die Zukunft der Fliegerei 104
Kriminalstatistik 47
Medizin Noch nicht zugelassene Medikamente Fabian Hambüchen
Hochschulen Rektoren klagen über Finanznot, – die letzte Hoffnung für Schwerkranke 106
obwohl die Unis genug Geld bekommen 48 Er fährt mit angerissener
Geschichte Provinzposse um den Geburtstag Sehne in der Schulter nach
Hauptstadt Die fragwürdige Rolle der des mittelalterlichen Kaisers Heinrich III. 110
Polizei im Konflikt um das Autonomenhaus
Internet Wohnhäuser lassen sich mit
Rio de Janeiro, zu seinen
Rigaer Straße 94 50 vierten Olympischen Spielen.
der Abwärme von Rechenzentren heizen 112
Glücksspiel Anbieter von Lotterien mit Postleit- 13 Jahre Hochleistungs-
zahlen drängen auf den deutschen Markt 51 Forensik Hunde am Tatort können die
Aufklärung von Verbrechen behindern 113 sport haben dem Körper des
Turners zugesetzt: „Eine
Gesellschaft Kultur brutal lange Zeit.“ Seite 100
Früher war alles schlechter: Dicke Luft im
eigenen Zuhause /Unsterbliche Videokassette 52 Britische Mathematiker rekonstruieren
500 Jahre alte Buchmalerei / Erscheinen
Eine Meldung und ihre Geschichte Ein Mann
eines islamkritischen Buches in
kauft einem Jungen sechs Donuts – und legt
Frankreich abgesagt / Kolumne: Zur Zeit 114
damit den Grundstein für ein neues Leben 53
Ideen SPIEGEL-Gespräch mit dem
Karrieren Ein Forscher findet ein verheißungs-
belgischen Historiker David Van Reybrouck
volles Mittel gegen Viren, scheitert aber
über die Krise der Demokratie 116
an den Spielregeln des Forschungsbetriebs 54
Kino Hollywoods feministisches
Big Data Was passiert weltweit
Remake des „Ghostbusters“-Klassikers
während einer Minute im Netz? 58
aus den Achtzigerjahren 120
Kolumne Leitkultur 60
ULLSTEIN BILD

Essay Der Psychologe Martin Altmeyer


über Terroristen und Amokläufer 122
Wirtschaft Literatur Die Liebesbriefe des Hamburger
Oettinger wollte Geldbuße für Kultschriftstellers Hubert Fichte 128
Portugal und Spanien / Karstadt kauft Showkritik Wie Republikaner und Demokraten Alice Schwarzer
Online-Modediscounter 62 in den USA ihre Kandidaten kürten 131
Geldpolitik Die EZB steuert Europa in Sie ist umstritten, aber immer
eine neue Planwirtschaft 64 Bestseller 125 noch wichtig im Feminismus.
Lufthansa Warum sich die Fluglinie aus Glaubt sie, dass die Welt besser
Impressum, Leserservice 132
Asien zurückzieht 67 wird, wenn Frauen regieren?
Nachrufe 133
Brexit Der Banker David Marsh über die Nein, sagt sie im SPIEGEL-
Chancen eines EU-Ausstiegs Personalien 134
und Extrawürste für Großbritannien 68 Briefe 136 Gespräch. „Ich hatte noch nie
Lobbyismus Wie Bahn-Vorstand Ronald Pofalla Hohlspiegel / Rückspiegel 138 die Illusion, dass Frauen
ein Gesetz aushebelte, das die die Welt gerechter oder mora-
Macht des Konzerns beschränken sollte 70 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ lischer machen.“ Seite 32

DER SPIEGEL 31 / 2016 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Im Deutschen Sommer
Der Kampf gegen den Terror ist kein Krieg, aber eine große Herausforderung für den Staat.

E
s war eine Meldung, die zu schnell wieder unterging Die sozialliberale Koalition unter Helmut Schmidt re-
im Albtraum der letzten Tage: Am Mittwoch jagte agierte hart. Sie verschärfte Gesetze, beschränkte die
ein Selbstmordattentäter des „Islamischen Staates“ Rechte von Anwälten und Verdächtigen, führte die Ras-
(IS) einen Lastwagen voller Sprengstoff in Kamischli in terfahndung ein. Die Republik wurde eine andere.
die Luft, der De-facto-Hauptstadt des kurdischen Teils So weit wird die Regierung Angela Merkels in diesem
von Syrien. Dutzende Menschen starben, weit mehr als Deutschen Sommer nicht gehen, muss sie auch nicht. Ge-
hundert wurden verletzt. Wahrscheinlich waren fast alle lassenheit hilft – unter der Überschrift „Reine Vernunft“
Muslime. Niemand kämpft so entschlossen gegen den IS lobte der britische „Economist“ die Gelassenheit der Deut-
wie Muslime, niemand bringt so viele Opfer. schen. Die „dunkle Geschichte hat das Land gelehrt, nicht
Deshalb hilft der Anschlag von Kamischli, Perspektiven überzureagieren“.
geradezurücken. Denn wer die furchtbaren Nachrichten Auf jeden Fall gilt das für die Kanzlerin. Am Donnerstag
aus Deutschland und Frankreich liest, kann denken, isla- verkündete Merkel in Berlin einen Neun-Punkte-Plan ge-
mistische Kämpfer hätten eine Großoffensive gegen den gen den Terror, maßvoll und kompiliert aus bereits be-
Westen gestartet. Und manch einer glaubt, Muslime ge- kannten oder beschlossenen Elementen. Die Sicherheits-
nerell wären eine Gefahr. behörden sollen mehr Leute
Die Rechtspopulisten in bekommen und sich besser mit
Europa schüren diesen Ver- ausländischen Geheimdiensten
dacht: „Jeder einzelne Migrant abstimmen. Eine neue Behörde
stellt ein Terrorrisiko dar“, sagte soll die Internetkommunika-
Ungarns Premier Viktor Orbán. tion überwachen, ein Register
Der niederländische Islamhas- soll erfassen, wer ein- oder aus-
ser Geert Wilders bedankte sich reist. Das europäische Waffen-
zynisch bei Angela Merkel „fürs recht soll verschärft werden.
Reinlassen dieser Terroristen“. Doch folgen die Anschläge
Zumindest unklug war auch, des IS nicht einem wiederkeh-
dass der französische Präsident renden Muster. Die Attentate
François Hollande sein Wort von Paris, im Januar und No-
vom „Krieg“ wiederholte, in vember 2015, wie auch der An-
dem sich sein Land nun befin- griff auf den Flughafen von
de. Denn solche Sätze wollen Brüssel im März dieses Jahres
die Islamisten hören, sie wollen waren organisiert. Es gab Ter-
JOHN MACDOUGALL / AFP

einen Krieg auf Augenhöhe. rorzellen, Absprachen, interna-


Deshalb nennen sie ihre Grup- tionale Verbindungen. Spuren
pe „Staat“ und ihre Terroristen also. Gut für Ermittler, gut für
„Soldaten“. den Neun-Punkte-Plan.
Sie sehen sich als Elite in ei- Deutschland sollte mehr
nem apokalyptischen Endzeit- Staat wagen, denn der muss
kampf der Muslime gegen die Kreuzritter – der Mythos die Bürger schützen, so gut das geht, sonst gibt er sich
lockte manche Kämpfer unter die schwarze Flagge. Aber auf. Nur: Gegen die sogenannten einsamen Wölfe, Ein-
dies ist kein Krieg. Die Menschen in Ansbach oder Würz- zeltäter also, hilft Fahndung selten. Jene, die man bislang
burg, in Nizza oder bei Rouen sind auch keine Kreuzritter. kennt, sind der dunklen Faszination der IS-Ideologie er-
Und IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi ist nicht Saladin, Feld- legen, der Propaganda, dem Todeskult, dem Irrationalen.
herr der muslimischen Heere, sondern ein Terrorist, der Man muss versuchen, sie früh zu erreichen, bevor es so
erkannt hat, wie effizient Anschläge gerade freie Gesell- weit ist.
schaften destabilisieren können. Vor allem Helfer, die sich um minderjährige Flüchtlinge
Attentate schüren Angst und Misstrauen. Sie spalten, in Deutschland kümmern, klagen: Es brauchte dafür mehr
sie schwächen die Mitte, stärken die Ränder. In Zeiten Betreuer, Sozialarbeiter, Psychotherapeuten, mehr Ver-
von Wahlen können rechte Parteien den Wettlauf um die lässlichkeit. Junge Männer aus Kriegsgebieten würden he-
radikalsten Antworten gewinnen. rumgeschubst, von einem Heim ins nächste, mit Unsicher-
Eine in Ansätzen ähnliche Situation gab es schon ein- heit im Bauch, ohne eine Perspektive vor Augen.
mal in der Geschichte, 1977 im sogenannten Deutschen Und selbst wenn sich deren Lage verbessern würde,
Herbst. Die Rote Armee Fraktion mordete, die Republik muss allen klar sein: Es wird Angela Merkel kaum anders
geriet an den Rand des Ausnahmezustands, die Mehr- ergehen als einst Helmut Schmidt. Seine Regierung
heit der Deutschen forderte die Einführung der Todes- verschärfte Gesetze, die Terroristen bombten trotzdem
strafe. weiter. Clemens Höges

8 DER SPIEGEL 31 / 2016


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Meinung
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand

Unter Gartenzwergen
Die AfD kämpft nach dern offenbar ein rechtsextremer Anhän-
eigenem Bekunden ger der AfD war – was kein allzu gutes Ar- Michelle
für den Erhalt
der „Kulturnation“
gument ist, AfD zu wählen. Der AfD-Chef
von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg,
for President!
Deutschland. Zur erklärte dennoch gleich, wer verantwort- So gesehen Die beste
Kultur eines Landes lich war: „Deutsche verblendete Gutmen- Wahl fürs Weiße Haus tritt
zählt aber nicht nur schen – Ihr habt Mitschuld“, twitterte er. leider nicht an.
der Verweis auf die „Unser Abscheu den Merklern und Links-
alten „Dichter und Den- idioten die Mitverantwortung tragen.“ Es ist ein Wahlkampf des
ker“. Es zählt auch der Umgang mitein- Ohne Klarheit in der Sprache, das wuss- Missvergnügens. Auf der ei-
ander. Der politische Diskurs. Der Grad te schon die Band Element of Crime, ist nen Seite der Selbstdarsteller
der Zivilisation. der Mensch nur ein Gartenzwerg. Dass es Donald Trump, dessen Sieg
Zu den kulturlosen Zügen des Menschen gar keine Merkler gibt und hinter Links- die Welt einen großen Schritt
gehört es, Tod und Tragödien zu missbrau- idioten, wenn schon keine Entschuldigung, voranbringen würde in Rich-
chen, um zu zeigen, dass man recht hatte. dann mindestens ein Komma gehört, ist im tung Abgrund. Auf der an-
Spätestens seit den jüngsten Attentaten wis- Vergleich zum Inhalt des Tweets verzeih- deren Seite die ehemalige
sen wir, dass diese Eigenschaft unter Poli- lich, zeigt aber, dass die einzige Konstante First Lady, Senatorin und Au-
tikern der AfD besonders ausgeprägt ist – in den Posts von AfD-Funktionären und ßenministerin Hillary Clinton,
und bei Horst Seehofer natürlich, der, ihren Anhängern neben einer ausgepräg- eine abgeklärte Routinistin,
wenn er nicht schon CSU-Chef wäre, auch ten Fremdenfeindlichkeit ein ausgeprägtes für die vor allem spricht, nicht
einen prima AfD-Chef abgäbe. Seehofer Desinteresse an deutscher Grammatik ist. Trump zu sein, keine Irre,
stellte nach den Terrorakten jedenfalls um- Die Alternative für Deutschland, die laut und – höchst historisch! – die
gehend fest: „Wir haben in all unseren Pro- Programm gegen „eine Verunstaltung der erste Frau an der Spitze der
phezeiungen recht bekommen.“ deutschen Sprache“ kämpft, scheint auch USA. Klingt nicht begeistert?
Noch peinlicher als der Missbrauch von eine alternative Zeichensetzung für Tja. Ist halt vernünftig.
Tod und Tragödien für die eigene Recht- Deutschland anzustreben. Auf dem Parteitag der De-
haberei ist nur, wenn man dabei nicht mal Ich bin mir nicht sicher, ob die Kultur- mokraten machte die aktuelle
recht hat. „Der Terror ist zurück. Wann nation Deutschland bei der AfD in guten First Lady Michelle Obama
macht Frau Merkel endlich die Grenzen Händen ist. Unsere großen Dichter und in einer bemerkenswerten
dicht?“, twitterte die sächsische AfD, kurz Denker hätten ohnehin ihr Problem mit Rede klar, worum es geht bei
nachdem in München neun Menschen er- Petry und Poggenburg. Der große Denker dieser Wahl. Nicht darum,
schossen wurden. Und Parteichefin Petry Arthur Schopenhauer jedenfalls wusste: welche Seite gewinnt. Sondern
wusste sofort, welche Konsequenz jetzt zu „Die billigste Art des Stolzes ist der Natio- darum, wem man die Zukunft
ziehen sei: „#afdwählen“, lautete ihr nalstolz. Denn er verrät in dem damit Be- unserer Kinder anvertrauen
Hashtag zu einem Foto vom Tatort. Es hafteten den Mangel an individuellen Ei- möchte? Gute Frage.
wirkte, als wäre endlich geschehen, worauf genschaften, auf die er stolz sein könnte.“ Jetzt mal ganz praktisch:
man in der AfD sehnlichst gewartet hatte. Wenn wir morgen ausgehen
Inzwischen wissen wir aber, dass der At- An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, wollten und jemanden brauch-
tentäter von München kein Islamist, son- Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. ten, der auf den Nachwuchs
aufpasst, wen würden wir an-
rufen? Trump? Wir sind doch
nicht verrückt. Clinton? Kann
Kittihawk die überhaupt mit Kindern?
Könnten die schlafen, wenn
bei ihr ständig das Handy
klingelt, weil sie dringend und
in scharfem Ton mit ihren
Anwälten zu konferieren hat?
Hm.
Wenn doch nur Michelle
Obama Zeit hätte! Dann
müssten wir uns keine Sorgen
machen, höchstens die eine,
dass die Kleinen gar nicht
mehr wegwollten von dieser
fabelhaften, herzensklugen
und grundsympathischen
Frau. Leider strebt sie kein
Amt an. Wir werden die
nächsten Jahre wohl selbst
gut aufpassen müssen auf
unsere Kinder. Stefan Kuzmany

10 DER SPIEGEL 31 / 2016


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Angst vor der Angst


Sicherheit War das erst der Anfang? Nach den Anschlägen von München, Würzburg
und Ansbach stellen viele die Frage, wie sich die Gewalt stoppen lässt.
Es gibt Antworten darauf. Aber werden sie in aufgewühlten Zeiten gehört?

N
ach einem Platz im „Himmel der niert. Stell dir vor, es ist Wiesn, und keiner 18-Jährige, der dort am 22. Juli neun Men-
Bayern“ sehnt sich fast jeder geht hin. schen erschoss, wohnte in seiner Nachbar-
Münchner. Wer seinen Namen auf „Die Welt hat sich verändert“, sagt der schaft. „Ich habe Angst vor Nachahmungs-
einer Bierbank im prächtigsten Zelt des Münchner Ladenbesitzer Stephan Bau- tätern“, gibt der Familienvater offen zu.
Oktoberfests lesen darf, ist in der Regel manns. „Wir bleiben zu Hause.“ Das fröh- Baumanns ist nicht der einzige Bayer,
ein glücklicher Mensch. liche Gedränge unterm Zeltdach, das er vie- dem beim Gedanken ans Oktoberfest
Seit Kurzem muss Wiesn-Wirt Toni le Jahre lang genoss, erscheint ihm plötzlich mulmig wird. Drei Gewalttaten in sieben
Roiderer jedoch ungewöhnliche Wünsche nicht mehr sicher. Zu nah ist Baumanns Tagen haben das Selbstverständnis des
erfüllen: Sieben Wochen vor Beginn des dieser Tage schon dem Schrecken gekom- Freistaats als Hort der Lebensfreude er-
größten Volksfestes der Welt haben bereits men. Seine beiden Kinder besuchen regel- schüttert. Wie wohlig wird einem in einem
mehrere Kunden ihre Reservierung stor- mäßig das Olympia-Einkaufszentrum. Der vollen Bierzelt, wenn einer der Gäste eine
12 DER SPIEGEL 31 / 2016
AFP

Evakuierung des Olympia-Einkaufszentrums in München am 22. Juli*: Mehr als 4300 Notrufe

Axt, eine Pistole oder eine Bombe dabei- ter Dieter Reiter – dann werde sich ein At- Kann man es ihnen verdenken? Schon
haben könnte? tentäter womöglich in der Masse der war- 2015 war ein Jahr des Schreckens. Dass
München ist geschockt. Und mitten in tenden Menschen vor dem Eingang in die dieses Jahr nicht friedlicher werden würde,
die „Woche der Trauer“ hinein versuchen Luft sprengen. zeigte sich bereits in der Silvesternacht,
Lokalpolitiker, die Menschen zu beruhi- Manche Bürger verstanden die Bot- als in München ein – offenbar falscher –
gen – mit eher zweifelhaftem Erfolg. Ein schaft so: besser nicht hingehen. Im Som- Terroralarm ausgelöst wurde. Und dann
Rucksackverbot und ein Zaun um die mer 2016 bleiben viele Menschen lieber dieser Juli. Ein Monat so voller Heim-
Theresienwiese könnten das Oktoberfest mit sich und ihrer Angst allein. suchungen und Horrorszenarien wie die
sicherer machen, verkündete Josef Bilder von Hieronymus Bosch.
Schmid, der Wiesn-Chef. Das sei „nicht * Die Besucher zeigen mit erhobenen Händen an, dass Am 14. Juli, an Frankreichs Natio-
der Königsweg“, befand Oberbürgermeis- sie keine Waffen tragen. nalfeiertag, tötet ein 31-Jähriger in
DER SPIEGEL 31 / 2016 13
Titel

Nizza mit einem Lastwagen 84 Men- eine: Terror. Oder noch konkreter: islamis- nebenan in Frankreich, schleichend zum
schen. tischer Terror. Normalzustand werden. Die Politik scheint
Am 18. Juli stürzt sich ein 17-Jähriger in So kriecht die Angst in die Köpfe. getrieben von der Angst der Menschen.
einem Regionalzug nahe Würzburg mit Und das erst recht, seit sich abzeichnet, „Der islamistische Terror ist in Deutsch-
Axt und Messer auf Passagiere. dass die Gewalttäter von Würzburg und land angekommen“, entfuhr es CSU-Chef
Am 22. Juli folgt der Amoklauf von Ansbach als „Soldaten“ der Terrormiliz „Is- Horst Seehofer am Dienstag – ihm müsse
München. lamischer Staat“ (IS) zugeschlagen haben. man „mutig die Stirn bieten“. Er klang fast
Am 24. Juli sprengt sich ein 27-Jähriger Die womöglich erste IS-Attacke und der schon so wie Frankreichs Präsident François
in Ansbach in die Luft. erste islamistische Selbstmordanschlag auf Hollande, der nach dem Pfarrermord von
Am selben Tag tötet ein 21-jähriger deutschem Boden – in den Worten von Saint-Étienne-du-Rouvray einmal mehr das
Syrer in Reutlingen eine Frau mit einem Bundeskanzlerin Angela Merkel sind sie ein Wort vom „Krieg“ im Mund führte. Beson-
Dönermesser. „zivilisatorischer Tabubruch“. Die „abstrak- nenheit ersetze nicht den Schutz durch den
Am 25. Juli erschießen mehrere Täter te Gefahr“, vor der die Sicherheitsbehörden Staat, befand Seehofer und kündigte einen
vor einem Nachtklub in Fort Myers, Flori- seit Jahren warnen, ist vor unserer Haustür langen Katalog staatlicher Maßnahmen an.
da, zwei Menschen – ganz so, als hätten auf bestialische Weise konkret geworden. Terrorbekämpfung ist damit wieder
sie den wenige Wochen zurückliegenden Die Fragen, die nun die öffentliche Debatte einmal das Gebot der Stunde – nicht Ter-
Anschlag mit 49 Toten in Orlando nachah- dominieren, lauten: War das erst der An- rorursachenbekämpfung. Dass die Gefahr
men wollen. fang? Und wie können wir es beenden? Vor damit größer gemacht wird, als sie trotz
Am 26. Juli stürmen zwei Männer, beide allem aber: Sind wir stärker als unsere allem ist, dass es auch andere, besonnene-
19 Jahre alt, eine Kirche in Saint-Étienne- Angst, stärker als mögliche Attentäter? re Ansätze gibt, dass eine Gesellschaft Ge-
du-Rouvray und schneiden einem Pfarrer Wohltuend differenziert äußerte sich waltexzesse „bis zu einem gewissen Aus-
die Kehle durch. Bundesinnenminister Thomas de Maizière maß aushalten muss“, wie Minister de Mai-
Ebenfalls am 26. Juli dringt ein 26-Jäh- (CDU). Es stimme schon, die Deutschen zière sagt: Was kümmert es die Angstpoli-
riger nahe Tokio in ein Heim für geistig müssten sich auf Veränderungen einstellen. tiker? Für sie ist das Maß schon lange voll.
Behinderte ein und ersticht 19 Bewohner. „Wir werden uns bei großen öffentlichen Wie groß inzwischen die Bereitschaft
Fast immer sind die Menschen in der Veranstaltungen wie Faschingsumzügen, der Deutschen zur kollektiven Panik ist,
vernetzten Welt hautnah dabei. Der Fußballspielen, Kirchentagen oder Okto- ließ sich am Abend des 22. Juli beobachten.
Schrecken wird live auf ihr Smartphone berfesten mitunter an intensivere Sicher- Als der 18-jährige David Sonboly seinen
gesendet. Frankreich, Japan, die USA und heitsvorkehrungen gewöhnen müssen“, Amoklauf vor einem Münchner Einkaufs-
Deutschland verschwimmen in diesen Ta- sagte er dem SPIEGEL. Gleichwohl sei es zentrum begann, glaubten viele reflexartig
gen zu einer großen Pixelwelt des Terrors. ratsam, besonnen zu bleiben. an einen Angriff des IS auf Deutschland.
Dass es in jedem Einzelfall Terroristen Reicht das schon? Binnen Minuten verbreiteten sich über das
waren, da sind sich viele in den sogenann- Nach einem allzu kurzen Moment des Internet Informationen, wonach ein Ter-
ten sozialen Netzwerken erstaunlich Innehaltens greift bei anderen längst rorkommando mordend durch die bayeri-
schnell erstaunlich einig. Noch während wieder die Logik der Sicherheitsindustrie, sche Landeshauptstadt ziehe. Von Män-
Forensiker Blutspuren analysieren, noch die auf Gewalt – egal, ob sie eruptiv oder nern mit Sturmgewehren war die Rede,
während Ermittler Puzzleteile zusammen- kalkuliert ist – nur eine Antwort kennt: von Schüssen am Stachus, von Detonatio-
fügen, teilen Menschen auf Facebook und überwachen, wegsperren, bekämpfen. Die nen in der Innenstadt. Die sozialen Netz-
Twitter diese unumstößliche Wahrheit mit- Israelisierung des Straßenbilds, mit schwer werke wirkten als Angstverstärker und
einander. Jede Affekttat, jeder Amoklauf, bewaffneten Uniformierten an Kreuzun- schäumten über vor Spekulationen, Halb-
jedes im Wahn angerichtete Blutbad, jeder gen und Eingangskontrollen vor Geschäf- wahrheiten, Falschmeldungen.
minutiös geplante Anschlag von Fanati- ten und Restaurants, ist plötzlich denkbar Bis Mitternacht gingen mehr als 4300
kern ist für viele längst nur noch dieses geworden. Der Alarmzustand könnte, wie Notrufe bei der Polizei ein, zahllose erwie-

Schlag auf Schlag Attentate in den vergangenen Wochen


1 2 3 1 Orlando, USA
2 Atatürk-Flughafen,
Türkei
3 Dhaka, Bangladesch
4 Kabul, Afghanistan
5 Saint-Étienne-
du-Rouvray,
Frankreich
6 Sagamihara, Japan

12. Juni 28. Juni 1. Juli 14. Juli 18. Juli


Orlando /USA Istanbul/ Türkei Dhaka / Bangladesch Nizza / Frankreich Würzburg / Deutschland
Bei einem der schwersten Bewaffnet mit einer Sieben bewaffnete Männer Nach dem Feuerwerk In einem Regionalzug fällt ein
Anschläge in den USA seit Kalaschnikow und mit überfallen ein Café im zum Nationalfeiertag 17-Jähriger mit einer Axt und
dem 11. September 2001 Sprengsätzen, greifen Diplomatenviertel der rast ein 31-jähriger einem Messer über Mitreisende
erschießt der Attentäter in drei Selbstmordattentäter Hauptstadt und nehmen Tunesier mit einem her. Vier Mitglieder einer Familie
seinem Hass auf Homosexuelle den Atatürk-Flughafen Geiseln. Die Polizei kann Lkw in die Menge. aus Hongkong werden schwer
49 Klubbesucher. 53 weitere an und sprengen sich in 12 der Geiseln befreien. Er tötet 84 Menschen verletzt. Auf der Flucht attackiert
Menschen werden verletzt, die Luft. 45 Opfer sterben, 20 Gäste – überwiegend und verletzt mehr der Täter eine Passantin. Er wird
ehe der Täter von der Polizei 239 werden verletzt. Ausländer – sowie 2 Poli- als 200 Besucher. erschossen, als er Polizisten
getötet wird. zisten werden ermordet. angreift.

14 DER SPIEGEL 31 / 2016


sen sich als Fehlalarm. Bewaffnete Beamte, Alles Terror? Mitnichten. Die Gewalt stellten fest, dass von 2009 bis 2014 zwar
darunter etliche in Zivil, überprüften die hat viele Väter. Aber weil sie in so kurzer 38 Prozent „religiös motiviert“ waren,
Meldungen und versetzten dabei unbeab- Taktung daherkommt und weil die Angst aber auch 33 Prozent von Rechtsextremis-
sichtigt weitere Bürger in Panik. So ver- das Denken erschwert, wird es schwieriger, ten begangen wurden. Von Menschen wie
festigte sich in Windeseile der Eindruck, die eruptive von der geplanten Tat zu un- Anders Behring Breivik, der am 22. Juli
dass in München eine Art Terrorkrieg nach terscheiden. Irrer oder Islamist? Oder we- 2011 in Norwegen 77 Menschen tötete –
Pariser Vorbild ausgebrochen sein musste. der noch? Es ist ein Wimmelbild, auf das und von dem sich offenbar der Amok-
Bundesweit lief derweil die Medienmaschi- die Sicherheitsbehörden in diesen Tagen läufer von München inspiriert fühlte. Die
ne heiß, Journalisten ohne Sachkenntnis starren. Dabei beunruhigt sie, dass sie es Wissenschaftler warnen deshalb davor,
befragten Experten ohne Expertenwissen. immer wieder mit einem unheimlichen Europas Sicherheitsapparat, wie in den
Als sich dann noch am Abend US-Präsi- Phänomen zu tun haben: dem des Einzel- vergangenen Jahren geschehen, überwie-
dent Barack Obama zu Wort meldete, um täters, der scheinbar aus dem Nichts he- gend auf die Bedrohung durch Islamisten
dem deutschen Bündnispartner seine Un- raus den Tod bringt. auszurichten.
Keine andere extremistische Gruppe
Die IS-Propaganda zielt pausenlos darauf ab, weltweit Aktivisten allerdings hat es je so gut verstanden, in
Europa Einzeltäter für ihre Zwecke ein-
für den Do-it-yourself-Dschihad zu animinieren. zuspannen wie der „Islamische Staat“.
Dessen Propagandaapparat zielt pausenlos
terstützung zu versichern, schien das wie „Lone Wolf“, einsamer Wolf, wird dieser darauf ab, weltweit Aktivisten für einen
die Bestätigung des Terror-GAUs, vor dem Tätertypus genannt. Er ist der Albtraum Do-it-yourself-Dschihad zu animieren.
so viele so lange schon gewarnt hatten. jedes Ermittlers. Von 2006 bis 2014 gingen Und offenbar fühlen sich besonders Men-
Selbst nachdem klar geworden war, dass fast drei Viertel aller Terrortoten in west- schen in Lebenskrisen oder mit mentalen
die Bluttat nicht von dschihadistischen Fa- lichen Nationen auf das Konto von Einzel- Problemen von den viral verbreiteten
natikern begangen worden war, sondern tätern oder autonomen Kleinstzellen. Hasspredigten des IS angesprochen.
von einem Jungen mit ausländerfeindlichen Nach den Anschlägen der vergangenen Sicherheitsbehörden gehen davon aus,
Ansichten, blieben Teile der Netzgemeinde Wochen stellt sich mehr denn je die Frage, dass ein Großteil der Europäer, die im
dabei: Es war ein islamistischer Terrorist! ob es Mittel und Wege gibt, einsame Wölfe Namen des IS töten, schwere seelische
Das werde wie gewohnt von einem „Lügen- zu stoppen. Störungen aufweisen. Zu ihnen muss man
kartell“ aus Politik und Medien verschwie- Die USA und die Europäische Union be- nun wohl Mohammad Daleel zählen, den
gen. Der Dschihad sei endgültig in Deutsch- treiben enormen Aufwand, um diese Frage Attentäter von Ansbach. Er stand kurz vor
land angekommen, schrieben Twitter-Nut- zu klären. Aktuelle Erkenntnisse dazu der Abschiebung und hatte angeblich be-
zer – und ernteten Likes für den Mut, die überraschen. Sie belegen, dass Einzeltäter reits zwei Suizidversuche unternommen.
gefühlte Wahrheit ausgesprochen zu haben. vor ihren Taten mehr Spuren hinterlassen, Irrer oder Islamist? Womöglich beides.
Ein Junge mit iranischen Wurzeln, der als sie selbst und als ihre Häscher bislang „Früher brachten Depressive sich einfach
Gleichaltrige aus womöglich rassistischen glaubten. Dass einsame Wölfe in vielen um“, sagt der französische Soziologe
Motiven in einen Hinterhalt locken will Fällen alles andere als einsam handelten. Farhad Khosrokhavar. „Jetzt nehmen sie
und zeitweise als „Dschihadist“ gilt: Selten Und dass die Behörden gut beraten wären, andere Menschen mit in den Tod“ und
hat eine einzelne Tat die Besinnungslosig- auch nach 9/11 den Terror nicht nur aus berufen sich dabei auf den IS.
keit in Zeiten der Gewalt so auf den Punkt islamistischer Richtung zu erwarten. Der Kampf gegen einsame Wölfe wird
gebracht. Es gibt keine einfachen Kate- So untersuchten mehrere europäische für die Ermittler damit beschwerlicher.
gorien mehr, nicht in München, nicht in Thinktanks für ihre Studie „Lone-Actor Ein Lichtblick immerhin besteht für die
Würzburg, Ansbach oder Reutlingen. Also Terrorism“ 98 Einzeltäterattacken in der Sicherheitsbehörden darin, dass die meis-
auch keine einfachen Antworten. EU, der Schweiz und in Norwegen und ten Einzeltäter längst nicht so klandestin

4 5 6
RA H M AT G U L / A P ; I A N L AN G S D O N / D PA ;
KOS E / A F P; N UR P H OTO / D DP IMAG E S ;
J I M YO U N G / R E U T E R S ; OZ A N

SHIZUO KAMBAYASHI / AP

22. Juli 23. Juli 24. Juli 26. Juli 26. Juli
München / Deutschland Kabul /Afghanistan Ansbach / Deutschland Saint-Étienne-du-Rouvray / Sagamihara /Japan
Ein 18-jähriger Deutsch- Während einer friedlichen Ein 27-jähriger Syrer versucht, Frankreich In einem Heim für geistig
Iraner lockt Bekannte per Demonstration in der mit einem selbst gebastelten Während der heiligen Messe behinderte Menschen
Facebook in ein McDonald’s- Hauptstadt zünden Splittersprengsatz auf ein Open- ermorden zwei Attentäter tötet ein ehemaliger
Lokal. Dort und in der zwei Selbstmordattentäter Air-Konzert in der Innenstadt den 85-jährigen Priester Angestellter 19 Personen
Umgebung erschießt er Sprengsätze. Dabei sterben zu gelangen. Als das misslingt, Jacques Hamel. Als sie mit mit Messern. 26 weitere
mit einer Pistole neun mehr als 80 Menschen, zündet er den Sprengsatz vor drei Geiseln die Kirche Bewohner werden verletzt.
Menschen. Später tötet mindestens 231 werden einer Weinstube. Die Detonation verlassen wollen, werden Dem 26-jährigen Täter
er sich selbst. verletzt. verletzt zwölf Menschen und sie von einer Spezialeinheit droht die Todesstrafe.
tötet den Attentäter. der Polizei erschossen.

DER SPIEGEL 31 / 2016 15


Titel

und verschwiegen handeln, wie man lange Als Vorbild könnte der Anti-Suizid- Am Morgen des 1. November 2013
Zeit annahm. Die beiden US-Wissenschaft- Alarm von Facebook dienen. Wenn dort stürmte der 23-jährige Paul Anthony
ler Mark Hamm und Ramon Spaaij schrei- ein Mitglied häufig düsteren Weltschmerz Ciancia ins Zimmer seines Mitbewohners
ben in einer vom US-Justizministerium postet, kann es seit geraumer Zeit von di- und forderte, dieser möge ihn auf der
geförderten Untersuchung aus dem Jahr gitalen Freunden gemeldet werden, um Stelle zum Flughafen von Los Angeles fah-
2015: „Praktisch alle einsamen Wölfe zei- den Suizid zu verhindern. ren. Zudem schickte er eine SMS an seine
gen Affinität zu anderen Personen, Grup- Wird künftig auch eine Warnlampe über Familie in New Jersey, in der er seinen
pen oder Gemeinschaften, sei es online jenen Computernutzern leuchten, die allzu Selbstmord andeutete. Ciancias Vater alar-
oder in der realen Welt.“ internsiv nach Stichworten wie „IS“, „Ent- mierte die Polizei, wenig später standen
Insbesondere seit dem Siegeszug der hauptung“, „Ungläubige“ suchen? Und Polizisten vor Ciancias Wohnung. Zu spät.
sozialen Netzwerke hinterließen die ver- wie viele Wissenschaftler, Kriminologen, Der einsame Wolf war bereits am Flugha-
meintlichen Einzelgänger zumeist digita- Politiker, Journalisten werden dann ins fen, wo er vier Menschen anschoss. Einer
le Hinweise auf ihre Pläne. Das bedeute: Visier der Behörden geraten? Oder gar auf starb.
„Wenn einsame Wölfe ihre gewalttätigen eine der staatlichen Listen mit Terrorver- Lassen sich Terroranschläge und Amok-
Absichten vorab annoncieren, dann kön- dächtigen, die beständig anwachsen und läufe dennoch verhindern? Gibt es wirk-
nen sie wahrscheinlich gestoppt werden.“ kaum noch zu überblicken sind? same Rezepte gegen Radikalisierung von
Es ist die alte Hoffnung von Kriminalis- Selbst wenn es den Behörden gelänge, Jugendlichen? Kann man beizeiten erken-
ten, die daher in diesen Tagen der Gewalt mit Algorithmen und Bürgerhilfe ein Früh- nen, wenn sich die Wut junger Migranten
wieder auflebt: den Täter an der Tat zu warnsystem aufzubauen, bliebe die Frage, gegen ihre neue Heimat zu richten be-
hindern. Deshalb arbeiten Geheimdienste ob früh auch früh genug sein wird. Es stimmt ginnt? Möglich ist das, glauben Wissen-
und andere Behörden in Amerika und zwar, dass viele Einzeltäter ihre Pläne vorab schaftler der Universität Maryland und der
Europa längst an einer Art globalem digi- annoncierten, aber in etlichen Fällen ver- Bremer Jacobs-Universität. Dafür müsse
talem Frühwarnsystem – und dringen da- schlüsselt. Oder erst kurz vor der Tat. man sich allerdings von dem Fehlglauben
für immer tiefer in die Privatsphäre jedes befreien, die alles entscheidende Rolle in
Einzelnen ein. Weltweit haben Regierun- dieser Frage spiele die Religion.
gen milliardenschwere Programme in Auf- SPIEGEL-UMFRAGE In einer psychologischen Untersuchung
trag gegeben, um den virtuellen Raum tag- wollten die amerikanischen und deutschen
hell auszuleuchten. Wissenschaftler herausfinden, worin für
Im Juli 2015 nahm bei Europol die „In- Gefühlte Gefahr junge, im Westen aufgewachsene Muslime
ternet Referral Unit“ ihre Arbeit auf, eine „Hat durch die Anschläge in Deutschland bei Ihnen der Reiz des Dschihad liegt. Für die Studie
Taskforce, die nach Benutzerkonten fahn- persönlich die Angst zugenommen, selbst einmal mit dem Titel „Der Kampf um Zugehörig-
det, auf denen terroristische Propaganda von einem Anschlag betroffen zu sein?“ keit“ befragten sie 464 überwiegend junge
betrieben wird. Ja und gebildete Muslime in den USA, den
In Deutschland gründete das Bundesamt Niederlanden und Deutschland.
36
für Verfassungsschutz die „Erweiterte Das Ergebnis: Je stärker die Jugend-
Fachunterstützung Internet“, um poten- Anhänger AfD 57 lichen sich von der Mehrheitsgesellschaft
ziellen Tätern in der digitalen Welt auf … SPD 37 abgelehnt fühlten, desto eher neigten sie
die Schliche zu kommen. Der Bundes- … Union 37 zu einem fundamentalistischen Schwarz-
nachrichtendienst soll im Rahmen seiner Weiß-Denken.
„Strategischen Initiative Technik“ künftig
… FDP 33 Migranten, die sich weder in Deutschland
verstärkt soziale Netzwerke ausforschen. … Linke 29 noch in ihrem Herkunftsland zu Hause fühl-
Das Bundeskriminalamt im Rahmen seines … Grüne 26 ten, seien anfällig für radikale Ideen, sagt
Projekts „Radar“ Gefährder frühzeitig er- Klaus Boehnke, der Koleiter der Studie.
kennen. Mit dem Amoklauf von München Nein Anerkennung sei für sie von entscheidender
ist zudem das sogenannte Darknet noch 63 Bedeutung. „Wir aber teilen ihnen stattdes-
stärker in den Fokus der Fahnder gerückt sen mit, dass sie Fremdkörper sind.“
(siehe Seite 25). Thomas Mücke glaubt, die Prävention
Die schiere Menge an digitalen Inhal- Suche nach Schuldigen müsse umfassender sein und viel früher
ten – allein auf YouTube erscheinen pro „Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen den ansetzen. Er ist Geschäftsführer des Vio-
Minute mehrere Hundert Stunden neuer jüngsten Anschlägen in Deutschland und der lence Prevention Network, das bundesweit
Videos – kann jedoch keine Behörde dieser Flüchtlingspolitik der Bundesregierung?“ mehr als 200 gefährdete Jugendliche be-
Welt bewältigen. Deshalb setzen westliche treut. Er spricht von einem „Frust-Cock-
Regierungen darauf, die nach Milliarden Ja tail“, der nach und nach in entwurzelten
zählende Netzgemeinde für ihre Zwecke 47 jungen Menschen ent-
einzuspannen. Anhänger AfD 88 stehe und auf den Extre-
Anfang 2016 trafen sich Vertreter der … FDP 56
misten nur zu warten
US-Regierung und ihrer Geheimdienste mit brauchten. „Wenn Inte-
Vertretern der großen Internetkonzerne, … Linke 46 gration nicht gelingt, sich der junge Flücht-
darunter Apple, Facebook, Twitter und … SPD 40 ling allein fühlt, ausgegrenzt, dann kom-
Microsoft. Hinter verschlossenen Türen be- … Union 39 men sie und rekrutieren.“ Darauf nur mit
ratschlagte die hochrangige Runde, ob und Repression und Überwachung zu reagieren
… Grüne 23
wie die „wachsende Bedrohung durch Ter- werde weitere Anschläge nicht verhindern.
roristen und andere böswillige Akteure“ Nein „Wir brauchen neben der Sicherheitsar-
mit technischen Mitteln bekämpft werden chitektur auch eine pädagogische Archi-
49
kann. Dabei machten offenbar Überlegun- tektur in Deutschland“, sagt Mücke.
gen die Runde, eine Art dauerhafte Crowd- Diese Erkenntnis scheint nach Jahren
TNS Forschung am 26. und 27. Juli; 942 Befragte ab 18 Jahren;
Fahndung nach Terroristen zu etablieren. Angaben in Prozent; an 100 fehlende Prozent: „Weiß nicht“/ keine Angabe auch die Bundesregierung erreicht zu ha-
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ANDREAS GEBERT / DPA
Antiterroreinheiten am Münchner Stachus, Polizeieinsatz in Ansbach: Die abstrakte Gefahr ist konkret geworden

SDMG / FRIEBE / DPA

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JOHANNES SIMON / GETTY IMAGES
Innenminister de Maizière, Herrmann: „Gewaltexzesse bis zu einem gewissen Ausmaß aushalten“

ben. Erstmals arbeiteten Innen- und Fa- dass mindestens ein Viertel der nach Heizung, bis er blutete, oder versuchten,
milienministerium bei dem Thema zusam- Deutschland geflohenen Menschen psy- sich zu erdrosseln.
men und präsentierten vor zwei Wochen chologische Betreuung benötigt. Doch seit vergangenem August bekom-
die „Strategie der Bundesregierung zur Ihr Behandlungszimmer ist eine Art men unbegleitete minderjährige Flüchtlin-
Extremismusprävention und Demokratie- Seismograf dafür, wie politische Entschei- ge, die im Saarland leben, psychotherapeu-
förderung“. Nach Lektüre des 62-seitigen dungen in der Hauptstadt sich auf das tische Begleitung – ohne dass sie es mer-
Papiers wird klar: Es stehen nun nicht Gemüt der Flüchtlinge auswirken. Als die ken. Sie wird einfach in den Alltag inte-
mehr die „sicherheitspolitischen Aufga- Regierung beschloss, den Familiennachzug griert und findet hauptsächlich in Gruppen
ben“ im Vordergrund, wie es zuvor der einzuschränken, merkte die Ärztin das statt. Mit großem Erfolg: Während vor
Fall war. Präventionsangebote werden sofort an ihren Patienten. Als bekannt anderthalb Jahren fast jede Nacht ein
gleichwertig genannt. wurde, dass die Maghreb-Staaten zu siche- unbegleiteter Flüchtling einen Suizid ver-
Jugendministerin Manuela Schwesig ren Herkunftsländern erklärt werden soll- suchte, sind es mittlerweile nur noch zwei
(SPD) hat ein neues Gesetz in Aussicht ge- ten, ebenfalls. „Jede politische Entschei- pro Monat, sagt Eva Möhler, Chefärztin
stellt, das den zahlreichen Präventionspro- dung, jeder Brief einer Behörde kann eine der Kinder- und Jugendpsychiatrie der
grammen in Deutschland eine konstantere Person, die sich in einem labilen Zustand SHG-Kliniken Sonnenberg in Saarbrücken.
Finanzierung garantieren soll. Bislang ist befindet, in eine Krise stürzen, die sich Sie hat sich das Konzept ausgedacht, es
es oft so, dass die Initiativen fast jährlich dann sehr häufig in Selbstmordabsichten heißt START (Stress, Traumasymptoms,
um neues Fördergeld betteln müssen. Ins- auswirkt“, sagt Wenk-Ansohn. Arousal-Regulation, Treatment). „Es ist
besondere Organisationen, die präventiv Das gilt umso mehr für jugendliche eine Kurzintervention, die helfen soll, die
mit Flüchtlingen arbeiten, sollen künftig Flüchtlinge, die ohne Eltern, ohne Kon- akute emotionale Krise zu überstehen und
gezielt unterstützt werden. Bei einem takte und oft auch ohne Perspektive in wieder zu lernen, sich und seine Gefühle
Treffen mit ihren Länderkollegen in der Deutschland gestrandet sind. Die Kran- selbst zu regulieren“, sagt Möhler.
vergangenen Woche sagte Schwesig münd- kenhäuser im Umfeld von Asylbewerber- Die Flüchtlinge kämen nicht als ag-
lich zu, dass ihr Haus über den Sommer unterkünften sind immer wieder mit gressive, verschlossene Gewalttäter in
Vorschläge erarbeiten werde. Teenagern konfrontiert, die versucht ha- Deutschland an, sondern hoffnungsvoll.
Wie dringend notwendig das ist, lässt ben, sich umzubringen. Die meisten Kli- Das dürfe man nicht zerstören, indem
sich im Behandlungszimmer von Mecht- niken sind personell darauf nicht einge- man ihnen ständig negative Attribute zu-
hild Wenk-Ansohn erleben. Die Ärztin stellt. schreibe: „Wenn man einem jungen Flücht-
und Psychotherapeutin arbeitet seit 23 Im Saarland geht man deswegen neue ling immer wieder sagt, dass er nicht er-
Jahren in der Ambulanz des Behandlungs- Wege. Auch hier haben Jugendliche ver- wünscht ist, und ihn behandelt, als würde
zentrums für Folteropfer in Berlin, die sucht, sich das Leben zu nehmen. Sie aßen er stehlen oder als wäre er potenziell ge-
seit einem Jahr von Flüchtlingen nahezu Reißnägel, verletzten sich mit Messern, walttätig, ist es nicht verwunderlich, wenn
überrannt wird. Wenk-Ansohn schätzt, schlugen ihren Kopf immer wieder an die er die Rolle irgendwann annimmt.“
18 DER SPIEGEL 31 / 2016
Titel

So, wie die Dinge stehen, wird Möhler Sahra Wagenknecht – zur Empörung ihrer chenden Befugnissen ausgestattet als in
es in diesen Tagen schwer haben, mit ihren eigenen Genossen (siehe Seite 38). Deutschland. Gegen die jüngsten Terror-
Argumenten durchzudringen. Die Arbeit Die so Angegriffene versucht, mit einer taten waren sie anscheinend dennoch
der Ärzte und Psychologen verspricht Mischung aus Besonnenheit und Ent- machtlos.
mittelfristig Hilfe. Die Unsicherheit vieler schlossenheit die Bevölkerung zu beruhi- Seehofer und seine Mannschaft sind
Menschen im Land aber ist akut. Sie wol- gen. Die „barbarischen Taten“ würden gleichwohl überzeugt, dass der Staat in
len Lösungen. Sofort. konsequent aufgeklärt, versprach Merkel Zeiten der Verunsicherung etwas tun muss.
Schon vor den Anschlägen des Juli hatte am Donnerstag. Zugleich warnte sie vor Egal was. Einzuräumen, dass es nach der
die Terrorangst alle anderen Ängste der Überreaktionen. Es sei das Ziel von Ter- chaotischen Lage der vorigen Woche zu
Deutschen in Umfragen verdrängt. Und roristen, „unsere Art zu leben zu zerset- früh ist für substanzielle Antworten,
mit ihr war die Ablehnung von Migranten zen. Sie säen Hass und Angst zwischen scheint keine Option zu sein.
und Muslimen gestiegen. Dass es nun den Kulturen, und sie säen Hass und Angst Bislang immerhin hat der CSU-Chef der
muslimische Flüchtlinge waren, die in zwischen den Religionen“. Versuchung widerstanden, den politischen
Würzburg und Ansbach eine Axt zückten Wie heikel die Situation für sie ist, weiß Diskurs noch weiter zu radikalisieren. Ob
und eine Bombe zündeten, ist für viele die Merkel. Bei ihren Auftritten wird sie im- er das durchhält, hängt von der Ent-
Bestätigung der nächsten vermeintlich mer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, wicklung der Umfragewerte ab, die sich
unumstößlichen Wahrheit: dass der Islam der Staat habe die Kontrolle über die Er- für die Union zuletzt stabil zeigten. Falls
gleichbedeutend sei mit Terror. eignisse verloren. Jede Gewalttat verstärkt es zu weiteren islamistischen Anschlägen
Die Mehrheit der Bürger bleibt zwar dieses Gefühl. „Es ist unglaublich schwie- kommt, wird die Rhetorik der CSU schär-
nach den jüngsten Anschlägen gelassen rig, dagegen anzugehen“, sagt ein enger fer werden. Und die Angstspirale sich wei-
(siehe Umfrage Seite 16). Bei einer großen, Vertrauter. ter drehen.
stimmungsmachenden Minderheit jedoch Merkel will ein Aufflammen der Dis- Dabei bleibt nach der Gewaltwelle
könnte – wie schon während der Flücht- kussion um ihre Flüchtlingspolitik verhin- in Bayern und anderswo festzuhalten: So
lingskrise im vergangenen Jahr – die Angst dern. Dabei hat sie allerdings die Rech- nah der Terror nun gekommen sein mag,
den Aggregatzustand wechseln und sich nung ohne CSU-Chef Horst Seehofer ge- zu Hause ist er an ganz anderen Orten.
geradewegs in Wut verwandeln. macht. „Wir haben in allen unseren Pro- Ansbach, Würzburg und München sind
Seit der Axtattacke von Würzburg je- phezeiungen recht behalten. Vor allem in nicht New York, London oder Paris – und
denfalls greifen Bundesbürger wieder zur der Sicherheitspolitik“, sagte Seehofer am erst recht nicht Bagdad oder Kabul. Von
Selbstjustiz. Im niedersächsischen Gailhof Dienstag vor der Klausur des bayerischen den Tausenden Menschen, die jährlich
und im nordrhein-westfälischen Rösrath Kabinetts in St. Quirin. Dann präsentierte durch Terroristen ums Leben kommen,
wurden Asylbewerber auf offener Straße er eine Forderungsliste aus dem Werkzeug- sind die allerwenigsten Europäer oder gar
attackiert. Im sächsischen Niesky fielen kasten der Law-and-order-Politik: Einsatz Deutsche.
aus einem Auto heraus Schüsse auf eine der Bundeswehr im Innern, mehr Polizei, Und wenn Verblendete oder Wahnsin-
Asylunterkunft. In Dresden, Heidenau und mehr Vorratsdatenspeicherung, mehr nige zur Verrichtung ihres Mordwerks auf
Königstein malten Unbekannte Leichen- Überwachung von Flüchtlingsheimen. Äxte oder Messer zurückgreifen müssen,
umrisse vor die Bahnhöfe und hinterließen Sein Innenminister Joachim Herrmann zeigt das: Deutschland ist besser gerüstet,
Flugblätter mit der Aufschrift „Migration ergänzte, „die Abschiebung in Krisenge- als viele glauben. Wer aus Angst um sein
tötet“. Die Angst vor der Angst wächst biete“ dürfe künftig „kein Tabu“ mehr Leben nun Züge meidet und stattdessen
angesichts solcher Aktionen. sein. Justizminister Winfried Bausback Auto fährt, sollte wissen, dass er sich damit
Zahllose Menschen kübeln nun wieder schließlich forderte elektronische Fußfes- einem unvergleichlich größeren Risiko aus-
ihren Hass in die „sozialen“ Netzwerke. seln für Extremisten. Dumm nur: Beim setzt.
Unter dem Hashtag #merkelsommer giften Priestermord in Frankreich in derselben Angst stellt die Welt gern auf den Kopf.
sie gegen die Kanzlerin, die mit den Woche stellte sich heraus, dass einer der Sie ist oft dort am größten, wo die Gefahr
Flüchtlingen massenhaft Verbrecher, Ver- Täter eine elektronische Fußfessel trug – am geringsten ist. Und umgekehrt.
gewaltiger und Terroristen ins Land gelas- hindern konnte sie ihn an der Tat nicht. Als in der Amoknacht von München un-
klar war, wer und wie viele dort mordend
Angst stellt die Welt gern auf den Kopf. Sie ist oft dort durch die Straßen zogen, als das öffent-
liche Leben zum Erliegen kam und Busse
am größten, wo die Gefahr am geringsten ist. und Bahnen stoppten, passierte dies:
Münchner nahmen gestrandete, verängs-
sen habe. „Deutschland opfert seine Bür- Es sind die gleichen Reflexe, die seit tigte und panische Menschen bei sich auf.
ger auf dem Altar der Masseneinwande- 15 Jahren die Sicherheitspolitik des Wes- Auch der Bayerische Landtag und mehrere
rung“, schreibt ein Anonymus auf Twitter. tens dominieren. Rund zwei Dutzend Moscheen öffneten spontan ihre Pforten.
Um aus den Gewalttaten politisches Antiterrorgesetze oder Gesetzesänderun- Unter dem Hashtag #offenetuer organi-
Kapital zu schlagen, ließ auch jene Partei gen wurden seit 9/11 allein in Deutschland sierten Twitter-Nutzer Notunterkünfte in
wenig Zeit verstreichen, die das „Fürchtet erlassen – etliche von ihnen musste an- der Nachbarschaft.
euch!“ zum Programm erhoben hat. AfD- schließend das Bundesverfassungsgericht So fanden zahllose Fremde Schutz in
Chefin Frauke Petry fragte am Montag auf korrigieren oder verwerfen. Das auch des- den Wohnungen der Münchner.
Facebook: „Würzburg, Reutlingen, Ans- halb, weil sie oft unmittelbar nach einer Die Angst blieb draußen.
bach … Ist Ihnen Deutschland nun bunt Gewalttat hastig geschrieben worden Maik Baumgärtner, Anna Clauß, Martin Knobbe,
genug, Frau Merkel?“ Parteivize Alexan- waren. Ann-Katrin Müller, Ralf Neukirch, Sven Röbel,
der Gauland forderte, das Asylrecht für Dass es mit der Ausweitung behörd- Jörg Schindler, Wolf Wiedmann-Schmidt
Muslime auszusetzen. licher Befugnisse allein nicht getan ist,
Auf die Idee, Merkels Flüchtlingspolitik zeigt das Beispiel Frankreich: Dort Video:
mit den Gewalttaten der vergangenen Tage herrscht seit mittlerweile neun Monaten Tätersuche via Social Media
in Beziehung zu setzen, kam nicht nur die der Ausnahmezustand, wurden Polizei spiegel.de/sp312016angst
AfD. Sondern auch Linken-Fraktionschefin und Geheimdienste mit noch weiter rei- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 31 / 2016 19


Im Tunnel des Wahnsinns
Verbrechen Der Amokschütze von München war bis kurz vor der Tat in psychiatrischer
Behandlung. Mit grausamer Berechnung verfolgte er seinen Plan.

Polizei bei Spurensicherung, toter Amokläufer Sonboly


REUTERS

20 DER SPIEGEL 31 / 2016


Titel

D
as Wort Seelenruhe beschreibt ei- über Ausländer äußert und sich im Internet wickelt, bringen sie ihn für zwei Monate
nen Zustand, in dem jemand ganz „Hass“ oder „Amok“ nennt? Wenn er das in der Abteilung für Kinder- und Jugend-
bei sich selbst ist. Seelenruhe ist Gesicht des Massenmörders Anders Brei- psychosomatik des Klinikums Harlaching
das, was David Sonboly nach seiner Tat vik als Profilbild in seinem WhatsApp- unter.
empfunden haben muss. Es gibt ein Video, Account hochlädt? Heranwachsende ma- Dem Klinikaufenthalt folgt eine ambu-
das den Amokschützen aus München zeigt, chen oft schräge Sachen. Wenn man jedes lante Diagnostik der Heckscher-Klinik für
wie er langsam die Rampe zu einem Park- Mal Alarm schlagen würde, hätte die Jugendpsychiatrie. Insgesamt vier Termine
deck hochläuft. Er hat zu diesem Zeit- Polizei viel zu tun. hat er dort, die er zusammen mit seinen
punkt neun Menschen getötet und mehre- Im Nachhinein fügt sich vieles zu einem Eltern wahrnimmt: Der erste ist am 15. Ok-
re schwer verletzt. Aber er wirkt auf den Bild. Nach allem, was man weiß, hatte es tober 2015, der letzte am 15. Februar dieses
Bildern so, als ob er vom Training im
Sportstudio zurückkehren würde. Ein angeknackstes Leben, aber nicht so angeknackst, dass es
Man sieht, wie er auf dem verlassenen
Dach des Parkhauses mit langen Schritten mit einem Schuss in den Kopf enden muss.
an einem Auto vorbeigeht, hin und wieder
wirft er einen Blick nach unten auf die David Sonboly nicht leicht im Leben. Er Jahres. Danach ist David bei einem nie-
Straße. Unter ihm laufen Menschen, nicht war ein Junge, der schwer Anschluss fand dergelassenen Arzt in Behandlung. Den
ahnend, dass über ihnen der Mann steht, und von anderen oft schikaniert wurde. Es letzten Termin hier nimmt er im Juni wahr.
vor dem sie flüchten. In dem Rucksack, gibt Kinder, auf denen alle herumhacken, Da er inzwischen volljährig ist, sind diese
den er auf dem Rücken trägt, stecken noch weil sie die falschen Haare haben, die fal- Besuche freiwillig erfolgt.
rund 240 Schuss Munition. Es wäre ein schen Klamotten oder eine komische Art Der Vater, der aus Iran nach Deutsch-
Leichtes, aus dem Schutz der Betonbalus- zu sprechen. Er habe so weibisch geredet, land gekommen war, ist Taxifahrer, die
trade das Feuer zu eröffnen, aber er sagen Leute, die Sonboly aus der Schulzeit Mutter Verkäuferin bei Karstadt. Sonboly
scheint das Interesse verloren zu haben. kannten. Auch sein Gang, der wirkte, als war im Hasenbergl aufgewachsen, keine
Gleich nach dem Amoklauf war ein hätte er einen Handball zwischen den Bei- einfache Gegend für ein Kind, das schüch-
Video aufgetaucht. Es fand große Verbrei- nen, gab Anlass zu Hänseleien. tern ist. Aber seit mehr als drei Jahren
tung, weil man darauf verfolgen konnte, „Du Opfer“, sagen sie auf dem Schulhof wohnt die Familie in der Münchner Innen-
wie sich Sonboly mit dem Bewohner eines zu Kindern, die sich nicht wehren können. stadt, in unmittelbarer Nähe zum Königs-
angrenzenden Wohnblocks, der ihn auf Einmal erstattet der Junge Anzeige, nach- platz. Die Sonbolys bezogen eine Woh-
dem Parkdeck des Olympia-Einkaufszen- dem er bestohlen wurde. Ein anderes Mal nung in den Nymphenburger Höfen, einer
trums erspäht hatte, ein Schreigefecht lie- meldet er sich bei der Polizei, weil er von Anlage, in der man leicht 20 Euro Miete
fert. Die Szene endet damit, dass der Schü- drei Jugendlichen verdroschen wurde. für den Quadratmeter zahlt.
ler seine Waffe nimmt und auf die Haus- Aber das ändert nichts. Es gibt Berichte, Dass sich der Vater hier eine Bleibe
fassade zielt. wonach jemand während des Sportunter- leisten kann, verdankt er der Münchner
Auch auf dem neuen Material, das ein richts auf seine Kleidung uriniert haben Politik, die von Bauherren verlangt, bei
Anwohner von der gegenüberliegenden soll. In dieser Zeit entwickelt David offen- Neubauprojekten eine bestimmte Anzahl
Seite mit seinem Handy aufgenommen hat, bar einen Hass auf Türken und Araber, die, preiswerter Wohnungen anzubieten. Im
sind die Schüsse festgehalten. Man erkennt so berichten Mitschüler, zu seinen größten Sommer 2015 hatte David die Mittelschule
darauf, wie ruhig der Attentäter ist, als Peinigern gehörten. Er verbietet seinen Be- verlassen, um die Fachoberschule zu be-
wäre es das Normalste der Welt, auf einem kannten, ihn weiter „Ali“ zu nennen, wie suchen.
Parkdeck in München zu stehen und auf er noch zu Grundschulzeiten hieß. Wenn er nicht Zeitungen austrug, um
Leute am Balkon zu schießen, die einen Es ist ein angeknackstes Leben, aber sich sein Taschengeld aufzubessern, hockte
beschimpfen. auch wieder nicht so angeknackst, dass es er in seinem Zimmer vor dem Computer.
David Sonboly erweiterte am vorver- mit einem Schuss in den Kopf an einem Die Jungs, die er im Netz traf, trugen alle
gangenen Freitag die Schreckensliste deut- Treppenabgang hätte enden müssen. Die Fantasienamen. Aber sie hatten vor ihm
scher Amokläufe um eine weitere Bluttat. Familienverhältnisse sind ordentlich, die wenigstens Respekt, weil er bei „Counter-
Nach Erfurt, Emsdetten und Winnenden Eltern nehmen die Probleme ihres Kindes Strike“ genauer zielen konnte als die
ist nun München-Moosach einer der Orte, ernst. Als David eine Angststörung ent- meisten.
an dem ein junger Mann die Waffe auf an- Es ist immer schwer, den Zeitpunkt zu
dere richtet, bevor er sich erschießt. Aber bestimmen, an dem jemand den Tunnel
diesmal wählte der Schütze keine Schule, des Wahnsinns betreten hat, der ihn zu
sondern einen öffentlichen Ort, um der seiner Tat führt. Wie viele Amokschützen
Welt zu zeigen, wozu er fähig ist. Und die hat Sonboly seinen großen Auftritt akri-
Tat fällt in eine Zeit, in der jeder sofort an bisch geplant. Wenn das Leben auf einen
islamistischen Terror denkt, das verschaff- finalen Akt zusteuert, in dem man für ei-
te ihr weltweit Aufmerksamkeit. nen Augenblick die Macht über Leben und
Nach der Tat finden sich immer Warn- Tod erlangt, überlässt man nichts dem Zu-
zeichen, die man hätte beachten können. fall. In seinem Zimmer fanden die Ermitt-
Wenn es passiert ist, fragen sich viele, die ler das Buch „Amok im Kopf. Warum
dem Täter nahestanden, ob sie früher hät- Schüler töten“ des amerikanischen Psycho-
ten einschreiten müssen. Aber was ist ein logen Peter Langman. Das Buch richtet
Warnzeichen, dass etwas so sehr aus dem sich vor allem an ein Fachpublikum, es
Ruder läuft, dass man die Behörden alar- soll dabei helfen, Schulmassaker zu ver-
mieren muss? hindern.
Wenn einer Tag und Nacht damit zu- Sonboly hat offenbar die Lebensläufe
bringt, auf andere zu schießen, auch wenn Schüler Sonboly studiert, die Langman ausbreitet. Er hat
es nur ein Spiel ist? Wenn er sich abfällig Eben ganz normal, dann aggressiv die Schilderung der Tatverläufe gelesen,
DER SPIEGEL 31 / 2016 21
Titel

dann aggressiv. Mit einem Mal habe er


einen „Riesenhass auf Ausländer“ an den
Tag gelegt, immer streitsüchtiger sei er
geworden. Irgendwann habe er sogar sei-
nen Freunden gedroht, sie alle umzubrin-
gen, aber das nahm niemand ernst. „Kei-
ner von uns hätte gedacht, dass Ali zu
einem Amoklauf imstande war“, sagt der
Freund.
Vier Monate ist es her, dass sich die bei-
den das letzte Mal sahen. Die Clique war
zum Kino verabredet. Alle standen auf der
Straße, als David plötzlich anfing, wüste
Beleidigungen auszustoßen. Danach brach
die Gruppe den Kontakt ab.
Zwei Monate nach dem Eklat erkundig-
te sich der 17-Jährige über WhatsApp bei
seinem alten Freund, wie die Schule so
laufe. Selbst diese harmlose Konversation
sei irgendwann eskaliert: „Auf einmal
schrieb er wirres Zeug und beleidigte mei-
ne Familie.“ Die Auseinandersetzung en-
dete damit, dass David den Kumpel auf
dem Chat-Programm blockierte.
Kaum hatte sich die Nachricht vom
Blutbad in München herumgesprochen,

REUTERS
begann die politische Schuldverrechnung.
„Unser Abscheu den Merklern und
Polizeieinsatz in München: Ein öffentlicher Ort, um der Welt zu zeigen, wozu er fähig ist Linksidioten“, schrieb der sachsen-an-
haltische AfD-Vorsitzende André Poggen-
um Schwachstellen zu identifizieren, die bei Facebook unter dem Namen „Selina burg auf Twitter. Aber je mehr über
es der Polizei erlauben würden, das Vor- Akim“ einen falschen Account anlegte. die Überzeugungen des Attentäters be-
haben, viele Menschen mit in den Tod zu Bevor er sich am Nachmittag des 22. Juli kannt wird, umso schwerer dürfte es fallen,
nehmen, vorzeitig zu beenden. Amoktäter auf den Weg zum Olympiapark machte, den Amokläufer von München ausgerech-
wie die Columbine-Schützen Eric Harris schrieb er, dass er alle einladen werde, die net für die Sache der AfD zu verein-
und Dylan Klebold waren für den Jungen sich um 16 Uhr beim McDonald’s neben nahmen.
aus München keine Soziopathen, sondern dem Einkaufszentrum einfänden. Derzeit Er sei sehr nationalistisch gewesen, sagt
Vorbilder, an deren Taten er sich orien- weiß niemand, ob oder wie viele der einer, der Sonboly übers Spielen im Inter-
tierte. Facebook-Freunde von „Selina Akim“ der net kennenlernte. Auf den Plattformen,
Ganz besonders verehrte er Tim K., den Aufforderung folgten. Unter den Jugend- auf denen sich die Spieler austauschen,
Attentäter von Winnenden. Im Internet lichen, die am Ende dieses schrecklichen äußerte er sich so offen fremdenfeindlich,
war er Mitglied der „Tim K. Memorial“- Nachmittags sterben mussten oder verletzt dass viele den Kontakt abbrachen. Ein
Gruppe, eines Zusammenschlusses von wurden, war keiner, der auf „Selinas“ Ein- Schüler, der mit dem Jungen über die
Computerspielern, die dort ihre Bewunde- ladung reagiert hatte. gemeinsame Begeisterung für „Counter
rung für den baden-württembergischen Manche Amokläufer sind bis zum Strike“ zusammenfand, erinnert sich, wie
Schüler teilten. Schluss nach außen die angepassten Aller- sie sich über den Fall Tuğçe Albayrak aus-
Spätestens seit Frühjahr vergangenen
Jahres, so ergeben es die Ermittlungen, ver- Davor lagen mehrere Stunden, in denen er wohl glaubte,
folgte Sonboly einen Plan. Im Mai 2015
war er in Winnenden gewesen, um sich die die totale Kontrolle zu besitzen.
Tatorte anzusehen, an denen Tim K. seine
Opfer gefunden hatte. Die Polizei entdeck- weltsjungen, bei David Sonboly zeigte sich tauschten, jene türkischstämmige Studen-
te auf seiner Kamera entsprechende Bilder. schon vor der Tat, dass er sich verändert tin, die gestorben war, nachdem es zu
Zu dieser Zeit muss er auch angefangen hatte. Bei seinen wenigen Freunden habe einem Streit in einem Schnellrestaurant
haben, sich im Internet nach einer Waffe er als netter, ruhiger Typ gegolten, dessen gekommen war. „Fuck Tuğçe“, habe Son-
umzusehen, das legen Suchanfragen nahe großes Hobby die Fliegerei gewesen sei, boly alias „Hass“ im Chat geschrieben. Tut
(lesen Sie dazu auch Seite 25 über die Be- so berichtet es ein 17-jähriger Russland- sie dir nicht leid?, fragte sein Spielkamerad
schaffung der Waffe). deutscher, der mit Sonboly über viele Jah- nach. „Zum Glück ist sie tot“, antwortete
Die Wahl fiel auf eine Glock 17, die glei- ren denselben Freundeskreis teilte. David „Hass“, „wieso mischt die Missgeburt sich
che Pistole, die Anders Breivik benutzt sei oft mit der S-Bahn zum Münchner Flug- ein?“
hatte und auch Robert Steinhäuser, der hafen gefahren, um vom Besucherpark aus Sonboly ist am 20. April 1998 in Mün-
Amoktäter von Erfurt. Mit der Glock kön- die Maschinen auf dem Rollfeld zu foto- chen geboren. In der „Frankfurter Allge-
nen selbst ungeübte Schützen gut umge- grafieren, ein richtiger „Flugzeug-Freak“ meinen Zeitung“ konnte man lesen, er
hen, weil sie wenig wiegt und sich der Ab- eben. habe es als „Auszeichnung“ verstanden,
zug leicht bedienen lässt. Aber dann habe Sonboly angefangen, dass sein Geburtstag auf den von Adolf
Wie planvoll Sonboly vorging, sieht man Stimmungsumschwünge zu zeigen. Eben Hitler fiel. Dass seine Eltern aus Iran
auch daran, dass er Monate vor der Tat noch sei er ganz normal gewesen und stammten, habe er als weiteres Privileg ge-
22 DER SPIEGEL 31 / 2016
sehen: Iran gilt als eine Heimstätte der Alle Opfer des Münchner Amoklaufs ha- vor dem McDonald’s-Restaurant zeigen,
Arier, jenes mythologischen Volksstamms, ben einen Migrationshintergrund. Drei sieht es so aus, als habe er wahllos auf
der bei den Nationalsozialisten überragen- Jugendliche waren türkischstämmig, drei jeden geschossen, der sich nicht schnell
de Bedeutung gewann. weitere waren Kosovo-Albaner, ein Opfer genug in Sicherheit bringen konnte.
Die Münchner Staatsanwaltschaft wollte stammte aus Griechenland. Von Anfang Dass er ein „Wichser“ sei, ein „Loser“,
die Hinweise auf Nachfrage nicht bestäti- an gingen die Ermittler deshalb der Frage wurde David Sonboly in der Schule immer
gen. Der mehrseitige Text, den Sonboly nach, ob Sonboly seine Opfer möglicher- wieder gesagt. „Wichser“ war auch eines
hinterlassen hat, hilft leider wenig weiter, weise gezielt nach ihrem Aussehen ausge- der letzten Wörter, die er hörte, bevor er
um seine politische Gesinnung genau zu wählt habe. Aber alles, was man über den seinem Leben ein Ende setzte. Davor la-
bestimmen. Das sogenannte Manifest ist Tathergang weiß, spricht eher dagegen. gen mehrere Stunden, in denen er wohl
eher ein Sammelsurium von Gedanken, Das Olympia-Einkaufszentrum liegt in glaubte, die totale Kontrolle zu besitzen.
die um schulische Misserfolge, die fami- einer Gegend, in der der Anteil von Mi- Für diesen Machtrausch mussten neun
liäre Situation und das Gefühl der Perspek- granten besonders groß ist. Nach den Vi- Menschen ihr Leben lassen.
tivlosigkeit kreisen. deoaufnahmen zu urteilen, die Sonboly Laura Backes, Jan Fleischhauer, Conny Neumann

„Bleib ruhig und knall alle ab“


Gewalt Ein Gymnasiast kannte den Münchner Täter aus Amokforen und baute selbst Bomben.

I
m Netz wird David Sonbolys mons- hig und knall alle ab). Er lud Fotos von
tröse Tat von einer Sympathisanten- Messern, Schusswaffen und offenbar
szene für Amokläufer bejubelt. In selbst gebauten Bomben hoch, dazu
der Gruppe mit dem Namen „Killer zu gab er alle chemischen Bestandteile an.
vermieten“ freut sich ein „Ivan der Das Video einer explodierenden Bom-
Judenjäger“ über den Attentäter von be kommentierte er auf Englisch: „Ich
München: „Er hat es getan, er hat es wünschte, ich könnte meine Brandbom-
wirklich getan.“ ben an einem lebendigen Körper testen.
Es gibt Onlinegruppen, in denen die Ich würde so gerne die verbrannte Haut
Grenzen zwischen Ausländerhass, und den Ruß auf dem Fleisch sehen.“
Rechtsextremismus und allgemeiner Daneben stellte er einen Smiley mit
Menschenverachtung zerfließen. Die Herzaugen. Zwölf Personen gefiel das.
„social club misfit gang“ begrüßt Besu- Bei der Hausdurchsuchung stellte
cher mit einem Hakenkreuz und den „Diabolic Psychopath“-Waffen auf Instagram die Polizei fest, dass dies mehr war als
Worten „Willkommen, potenzieller zu- „Brandbomben an Menschen testen“ nur Fantasie. In der Wohnung des Jun-
künftiger Amokläufer“. Rund 1600 Mit- gen fand sie Waffen, größere Mengen
glieder aus aller Welt gehören dieser Dass der Schüler aus Baden-Württem- Chemikalien – und Pläne der Flucht-
virtuellen Gang an. berg aufflog, ist der Aufmerksamkeit ei- wege seiner Schule. In einem Compu-
Natürlich plant nicht jeder, seine nes Berliner Computerspielers zu ver- terspiel hatte er das örtliche Robert-
Fantasie in die Tat umzusetzen. Aber danken. Der 34-Jährige zockt jeden Tag Bosch-Gymnasium nachgebaut, die
zumindest ein deutscher Teenager, der stundenlang Computerspiele und über- Schule, die er vermutlich besuchte.
zu dieser Szene gehört, hatte offenbar trägt das Ganze per Livestream im In- Laut Polizei hat der Jugendliche ge-
mit konkreten Planungen begonnen. ternet. Erstaunlich viele Menschen in sagt, aufgrund von „persönlichen und
In der Nacht zum Dienstag stürmte Deutschland sind offenbar bereit, dafür schulischen Problemen“ über einen
die Polizei die Wohnung eines 15-Jäh- Geld zu zahlen. Der Mann kann davon Amoklauf nachgedacht zu haben. Er
rigen und seiner Eltern in Gerlingen leben. Aus privater Neugierde versuch- habe aber auch ausgesagt, dass er dies
bei Ludwigsburg. Man befürchtete, der te er, so viel wie möglich über den jetzt nicht mehr tue. Der Junge wurde
Junge könnte ebenfalls einen Amok- Münchner Attentäter herauszufinden. in eine jugendpsychiatrische Einrich-
lauf planen, womöglich vor Beginn Dabei stieß er auf die Onlineaktivitäten tung gebracht, die Staatsanwaltschaft
der Schulferien in Baden-Württemberg eines Jugendlichen aus Deutschland, ermittelt wegen Verstößen gegen das
am Donnerstag. der sich „Diabolischer Psychopath“ Waffen- und das Sprengstoffgesetz.
Der 15-Jährige war, wie David Son- nannte. Zuerst dachte der Computer- Unklar ist, wie weit die Pläne des
boly, Mitglied in mehreren dieser freak, der tote Amokläufer habe sich so 15-Jährigen gediehen waren. Die meis-
Onlinegruppen. Zumindest virtuell genannt. Bis „Diabolic Psychopath“ ten seiner Instagram-Beiträge stammen
waren die beiden Freunde und tausch- plötzlich online war. aus dem Herbst 2015. Doch noch
ten sich per Chat über Amokläufer aus. Der Berliner wandte sich an die Poli- 24 Stunden vor dem Attentat in Mün-
Nach dem Attentat postete der Ger- zei, die nahm den Jungen in derselben chen stellte der Junge das Foto einer
linger Gymnasiast auf der Plattform Nacht fest. Auf Instagram hatte der Pistole im Gras online, womöglich eine
Instagram ein Foto eines Profils Schüler zahlreiche Collagen des Colum- Softairwaffe, die nicht tödlich ist und
von David Sonboly: „Ich kannte den bine-Amokläufers Eric Harris gepostet, mit Druckluft funktioniert. Dazu
Münchner Schützen übrigens.“ An etwa mit Kreuzen, Einschusslöchern schrieb er: „Was macht mehr Spaß als
anderer Stelle schrieb er: „Freund von und Herzen, darauf den Spruch: „Keep ein bisschen Training im Wald?“
David S.“ calm and shoot everyone up“ (Bleib ru- Laura Backes

DER SPIEGEL 31 / 2016 23


Inzwischen fragen sich Ermittler, ob der
IS gezielt eine labile Person angeworben
und instrumentalisiert hat – oder ob Daleel
schon lange Islamist war und seine deut-
schen Gesprächspartner getäuscht hat.
Jedenfalls trügt in seinem Fall das Bild
vom sich selbst schnell radikalisierenden
Attentäter. Der Anschlag von Ansbach
hatte einen Vorlauf, genau wie der bei
Würzburg, wo der 17-jährige Afghane Riaz
Khan A. fünf Menschen mit einer Axt at-

DPA
AFP
tackierte.
Flüchtlinge Daleel, A.: „Sehr positiver, motivierter und offener Eindruck“ Laut Ermittlern hatte auch A. bis kurz
vor seiner Tat Kontakt zu einer Person im
Nahen Osten, die dem IS zugerechnet

Angeleitete Attacken
wird. Das ergab sich aus der Auswertung
von teils verschlüsselten Datenträgern.
Sein Bekennervideo übertrug A. demnach
per Facebook an den IS.
Islamisten Die Attentäter von Ansbach und von Würzburg In den Tagen vor der Attacke telefonier-
te A. viel, seinen Pflegeeltern im kleinen
lebten monatelang unauffällig – doch vor Ort Gaukönigshofen erzählte er, in Afgha-
ihren Taten erhielten sie wohl Instruktionen vom IS. nistan sei ein Freund von ihm ums Leben
gekommen.

U
m sein Taschengeld aufzubessern, mittlungen wird deutlich, dass Daleels be- Doch womöglich nutzte er nur die Ge-
half Mohammad Daleel im Hotel schauliche Existenz in Ansbach nur Fassa- legenheit, nun ungestört kommunizieren
Christl gelegentlich beim Putzen. de war. Sein wahres Ich offenbarte er nur und dann zur Tat schreiten zu können.
Er erhielt dafür eine kleine Aufwandsent- in seiner elektronischen Kommunikation Denn im Kolpinghaus Ochsenfurt, wo A.
schädigung, zusätzlich zu den 320,14 Euro, per Handy oder Computer, in seinem Zim- bis zwei Wochen vor der Tat lebte, teilte
die ihm nach dem Asylbewerberleistungs- mer bei heruntergelassenen Rollläden. er ein Zweibettzimmer. Bis Juli 2015 wohn-
gesetz monatlich ausgezahlt wurden. Einen Tag nach der Tat feierten die Pro- te er in einer Passauer Turnhalle, die als
„Freundlich und unauffällig“ habe sich pagandisten des IS Daleel als einen ihrer Notunterkunft diente.
der 27-jährige Syrer bei Besuchen auf dem Soldaten. Inzwischen zeichnet sich ab, dass Außerdem war er seit Anfang Juni die-
Sozialamt gezeigt, heißt es von der Stadt diese Aussage mehr ist als reine Kraftmeie- ses Jahres unter Beobachtung: In einem
Ansbach. Und auch ein pakistanischer Mit- rei. Denn der Attentäter hatte bis kurz vor ungeklärten Streit um eine Spielkonsole
bewohner aus der zur Flüchtlingsunter- dem Anschlag mit einer Person im Nahen soll A. laut einem Zeugen gegenüber ei-
kunft umgewidmeten Pension kann nur Osten per Chat kommuniziert. Diese Per- nem anderen Jugendlichen das Messer ge-
Harmloses berichten: Man habe einen son wusste von Sprengstoff und vom ge- zückt, ein anderes Mal mit einem Mitbe-
Plausch auf dem Gang gehalten, dann habe planten Anschlag. Sie instruierte Daleel, wohner gerangelt haben.
sich Daleel in sein Zimmer zurückgezogen. wie er die Taschenkontrolle am Festival- Das Jugendamt Würzburg hatte den-
Am Montagmorgen stürmte ein Einsatz- Eingang umgehen sollte. noch einen guten Eindruck von dem af-
trupp der Polizei ins Hotel Christl. Aus Da-
leels Einzelzimmer trugen die Beamten Sein wahres Ich offenbarte Daleel nur in seiner elektronischen
unter anderem: Chemikalien zur Herstel-
lung von Sprengstoff, Glühbirnchen, die Kommunikation per Handy oder Computer.
sich als Zünder eignen, eine Geldrolle mit
50-Euro-Scheinen. Dazu zwei Mobiltelefo- Schon im Vorfeld muss Daleel einschlä- ghanischen Jugendlichen. Er habe „einen
ne, mehrere SIM-Karten und einen Laptop. gige Kontakte in den Nahen Osten gehabt sehr positiven, prosozialen, motivierten
Darauf gespeichert: ein IS-Propaganda- haben: Der IS befand sich im Besitz des und offenen Eindruck gemacht“. Seine
video mit Enthauptungsszenen. Videos, auf dem Daleel dem irakischen IS- Vormündin habe „einen sehr guten Ent-
Wenige Stunden zuvor, am Sonntag- Führer Abu Bakr al-Baghdadi die Treue wicklungsverlauf festgestellt“.
abend gegen 22 Uhr, hatte Daleel am Ein- schwört. Flüchtlinge in Ansbach und Würzburg
gang eines Musikfestivals in der Ansbacher Auch die Bombe kann Daleel kaum un- tun sich unterdessen schwer, die beiden
Innenstadt eine selbst gebaute Bombe ge- angeleitet gefertigt haben. Er verbaute Täter zu verstehen. „Uns wurde doch alles
zündet. Er starb, 15 Menschen wurden ver- eine kleine Lautsprecherbox und ein Fahr- gegeben“, sagt der pakistanische Nachbar
letzt. radlämpchen, den Sprengsatz spickte er Daleels aus dem ehemaligen Hotel Christl
Seither versuchen die Behörden fieber- mit Befestigungskrallen aus Metall, wie sie in Ansbach, „Unterkunft, Essen, Geld.“
haft, die Vorgeschichte des Anschlags auf- zum Anbringen von Dämmplatten verwen- Wie könne man unter diesen Umstän-
zuklären. Wie nach dem Axtattentat bei det werden. den nur einen Anschlag planen? „Die deut-
Würzburg am Montag zuvor beschäftigt Zum Zeitpunkt des Anschlags lebte Da- sche Regierung“, so der Mitbewohner,
sie vor allem eine Frage: Handelten die leel seit fast zwei Jahren in Ansbach. Er „war wie eine sorgende Mutter zu uns.“
Täter allein oder im Auftrag und mit Un- hatte den Status eines Geduldeten; seine Anna Clauß, Jörg Diehl,
terstützung des „Islamischen Staats“? Abschiebung nach Bulgarien wurde zu- Jan Friedmann, Sven Röbel, Andreas Ulrich
In beiden Fällen verdichten sich nun die nächst nicht vollzogen, weil er psychische
Hinweise auf enge Verbindungen der At- Probleme und Verletzungen durch Granat- Lesen Sie auch auf Seite 122
tentäter zum „Kalifat“. Mit Fortgang der splitter aus dem Bürgerkrieg in Syrien gel- Essay über die öffentliche Inszenierung von
von der Bundesanwaltschaft geführten Er- tend machen konnte. Allmacht und Größenwahn

24 DER SPIEGEL 31 / 2016


Titel

Die Glock aus dem Darknet


Kriminalität Wie konnte sich ein 18-jähriger Junge eine scharfe Pistole für ein geplantes Attentat
im Internet besorgen? Der Verfolgungsdruck auf Waffenhändler nimmt zu.

W
er eine Pistole braucht, sollte kanntesten deutschsprachigen Darknet-Fo- schisch über Ecstasy-Pillen bis hin zu He-
nicht einfach ins nächstbeste ren und machte sich auf die Suche nach ei- roin. Aber auch eine kleine Auswahl an
Bahnhofsviertel spazieren. Leu- ner Pistole; damals war er 17 Jahre alt. We- Waffen ist im Angebot: Wer 4100 Dollar
te, die dumm herumfragen, machen sich nige Monate später hatte sich Maurächer hinlegt, soll eine Maschinenpistole („Uzi“)
dort schnell als Polizeispitzel verdächtig. mit den Gepflogenheiten des Forums ver- mit Schalldämpfer bekommen. Auch eine
Das Milieu ist paranoid, ohne gute Kon- traut gemacht und bewegte sich in den Tie- Glock 17, „fast neu“, wird für 1500 Dollar
takte kommt man nicht weit. Waffenge- fen der kriminellen Netzwelt. In dem Fo- angeboten – hier hätte ein angehender At-
schäfte werden gern nachts im Gewerbe- rum ist noch heute nachzulesen, wie er über tentäter sich ebenfalls ausstatten können.
gebiet oder auf einem Autobahnparkplatz Monate hinweg mit Dutzenden Nachrichten Auch Kleinkriminelle finden allerhand
abgewickelt. versuchte, den Kauf einzufädeln. Maurä- im Sortiment: Blüten (300 falsche Euro ge-
Solche Umstände blieben dem Attentä- cher konnte sich Zeit lassen mit seiner Ein- gen 50 echte) oder geknackte PayPal-Ac-
ter erspart, der am 22. Juli in München kaufstour, zu befürchten hatte er wenig. counts für 23 Dollar das Stück („drei kau-
neun Menschen und dann sich selbst tötete. Selbst wenn die Polizei mitlas: In der Regel fen, zwei bezahlen“). Wer die Zugangsda-
David Sonboly musste sich vor der Tat bleibt ihr verborgen, wer hinter den Deck- ten erwirbt, kann damit angeblich shoppen
nicht erst Zugang zur Unterwelt verschaf- namen steckt, die hier herumgeistern. In auf Kosten der oft ahnungslosen Inhaber.
fen. Er machte einfach seinen Computer diesem Winkel des Internets, genannt Dark- Neben den Händlern haben sich seltsa-
an und ging ins Internet: „Hallo, ich suche net, dürfen sinistre Gestalten sich unangreif- me Dienstleister angesiedelt. Ein gewisser
nach einer Glock 17 mit insgesamt 250 bar fühlen. „wtfjustwork“ bietet ferngesteuerte E-Mail-
Schuss Munition.“ Für gewöhnliche Browser ist das Dark- Bomben feil. Der Kunde nennt die Adresse
Diese Anfrage, unterzeichnet mit „Mau- net nicht sichtbar, daher der Name. Wer eines missliebigen Mitmenschen, dessen
rächer“ fanden die Münchner Ermittler in aber die nötige Software installiert, etwa Postfach ruiniert werden soll – und der
einem abgeschiedenen Onlineforum für den sogenannten Tor-Browser, dem tut Bomber aus dem Darknet schreitet zur Tat:
Kriminelle. Sie vermuten, dass Sonboly sich eine Parallelwelt auf: Hier gibt es alles, Tausende E-Mails verschiedener Absender,
sie geschrieben hat, doch den Beweis ha- was das finstere Herz begehrt. so die Verheißung, gehen auf das Opfer
ben die Ermittler noch nicht geführt. Das Einkaufsportal AlphaBay führt al- nieder. Schon nach wenigen Tagen sei so
Demnach registrierte sich der User Mau- lein in der Abteilung Drogen und Pharma- eine E-Mail-Adresse rettungslos überlau-
rächer am 29. Mai 2015 in einem der be- zeutika gut 120 000 Produkte – von Ha- fen. 512 solcher Bomben hat „wtfjustwork“

Tarnkappe Tor-Netzwerk
Wie die Anonymisierung von Daten
Tor-Station 2
im Darknet funktioniert

Absender Tor-Station 1 Empfänger

Tor-Station 3

Die Nachricht wird mehrfach Station 1 entfernt die äußere Station 2 entfernt die zweite Verschlüs- Station 3 entfernt die letzte Wer den Empfänger ausspäht,
verschlüsselt und über drei Verschlüsselung und erfährt selung und ermittelt so das nächste Verschlüsselung und schickt weiß nicht, woher die Nach-
zufällig ausgewählte Stationen so die Adresse der nächsten Ziel. Sie kennt weder den ursprünglichen die Nachricht an den Empfän- richt kommt – Tor-Station 3
durchs Tor-Netzwerk verschickt. Station. Absender noch den Empfänger. ger im offenen Internet. ist scheinbar der Absender.

DER SPIEGEL 31 / 2016 25


bislang abgesetzt, 90 Prozent der Käufer
zeigten sich mit der Ausführung zufrieden.
Es geht hier zu wie bei Amazon: Die
Kunden können die Händler bewerten,
weshalb diese sich um Sternchen bemühen.
Der Handel im Darknet beruht auf öffent-
lich sichtbarer Reputation – andernfalls
würden sich die Geschäftspartner wohl
nach Kräften übers Ohr hauen.
Schließlich kann hier niemand die Poli-
zei zu Hilfe rufen; sie müsste im Zweifels-
fall schon bei der Aufnahme der Persona-
lien passen: In diesem Schattenreich ist je-
der Nutzer anonym unterwegs – wer keine
Fehler macht, ist für seine Taten kaum zu
belangen. Dafür sorgt die ausgeklügelte
Verschleierungstechnik des Tor-Netzwerks
(siehe Grafik Seite 25).
AlphaBay ist die führende Handelsplatt-
form; daneben gibt es noch etwa ein Dut-
zend kleinere Einkaufsparadiese sowie
zahlreiche Händler, die auf eigene Faust Mutmaßliche Wortmeldung des Attentäters unter dem Namen „Maurächer“ im Darknet
gefälschte Führerscheine oder gestohlene
Goldbarren zum halben Preis verhökern.
Über Jahre hinweg übte das Darknet
aufs interessierte Publikum den Zauber ei-
ner Schattenwelt aus, in der die Polizei we-
nig ausrichten kann. Schon 2014 stellte das
Bundeskriminalamt fest, dass auf den ille-
galen Handelsplätzen zunehmend soge-
nannte Dekowaffen auftauchten. Das sind
Pistolen oder Gewehre, die unbrauchbar
gemacht wurden und fortan als Theater-
requisiten oder einem Waffennarren als
Wandschmuck dienten.
In Deutschland sind die Regeln für den
Umbau streng, anderswo geht es weit lo-
ckerer zu. In der Slowakei genügt es, einen
oder zwei Stahlstifte in den Lauf zu trei-
ben. Sie lassen sich mit wenig Aufwand

BORIS ROESSLER / DPA


wieder herausbohren. Dann ist die Waffe
scharf wie zuvor.
Auch die Glock 17, mit der David Son-
boly im Münchner Olympia-Einkaufszen-
trum um sich schoss, war eine reaktivierte
Dekowaffe aus der Slowakei. Die Ermittler Pistole vom Typ Glock 17
suchen zudem nach einer zweiten Pistole
vom Kaliber .45. Sonboly alias Maurächer
soll sich in einem Darknet-Forum nach pas-
sender Munition erkundigt haben. Auch
wollen Zeugen bei Sonboly eine silberne
Waffe gesehen haben, die benutzte Glock
ist jedoch schwarz. Nach dem Verkäufer
im Darknet wird noch gesucht.
„Der Kreis möglicher Lieferanten reicht
inzwischen über das kriminelle Milieu hi-
naus“, sagt der Frankfurter Staatsanwalt
Georg Ungefuk. Er ist Sprecher der Zen-
tralstelle zur Bekämpfung der Internetkri-
minalität und verfolgt die Szene seit Jahren.
„Das Darknet zieht heute auch Waffen-
sammler an, die ihre legalen Bestände um
begehrte Stücke erweitern wollen“, sagt
Ungefuk. „Anderes schlagen sie dafür los.“
Auch Deutsche versuchten, im Darknet
ihre Waffenleidenschaft zu Geld zu ma- Waffenangebot im Darknet
chen. Ein Sportschütze aus Heidelberg kam
26 DER SPIEGEL 31 / 2016
Titel

unter dem Alias „Dosensuppe“ zu zweifel- gesamten Datenverkehr im Tor-Netzwerk werden, kann die klassische Polizeiarbeit
hafter Bekanntheit. Im Portal Agora, das entfällt nur eine einstellige Prozentzahl ansetzen – mit verdeckten Ermittlern, die
heute nicht mehr existiert, betrieb er auf solche Adressen. sich in die Szene hineinpirschen; mit Kri-
schwunghaften Handel mit Kalaschnikows, Das ist einer der Gründe, warum Krimi- minalbeamten, die wochenlang verdächti-
Maschinenpistolen und Pumpguns. Er sei, nelle zumindest einen Teil ihrer Geschäfte ge Packstationen observieren.
so rühmte er sich einmal, der „größte Waf- lieber im offenen Internet betreiben – Die Fahndungserfolge der letzten Zeit
fen- und Munitionsverkäufer Europas“. hauptsächlich in teils vielbesuchten Dis- haben die Szene verstört. Läden machten
Solche Typen konnten sich eine Weile kussionsforen. Dort handeln sie mit ge- zu, Onlineforen schalteten ihre Waffenab-
für unbezwinglich halten. Einkäufe wer- stohlenen Kreditkartendaten oder Pass- teilungen ab. „Bei AlphaBay werden we-
den im Darknet fast ausschließlich mit ano- wörtern. „Selbst Waffen sind da vereinzelt niger Waffen angeboten als früher“, sagt
nymen Bitcoins bezahlt. Spezielle Online- zu finden“, sagt Staatsanwalt Ungefuk. Staatsanwalt Ungefuk. „Die Händler zie-
börsen bieten diese virtuelle Kryptowäh- Die Server, auf denen der krumme Han- hen sich zurück, sie wickeln ihre Geschäfte
rung zum Kauf; sie wechseln die Bitcoins del im offenen Internet läuft, sind meist noch konspirativer ab.“
auch wieder in Euro zurück. Überweisun- in Weltgegenden registriert, in denen deut- Es mag mal eine Zeit gegeben haben,
gen mit dem digitalen Geld haben den Vor- sche Strafverfolger kaum Zugriff bekom- da konnte ein junger Mann in einem On-
zug, dass sie kaum rückverfolgbar sind. men. Die Kokosinseln und das Königreich lineshop des Darknet einfach ein paar
Absender und Empfänger bleiben geheim. Tonga gehören zu den Favoriten. Knarren in den Warenkorb legen. Aber
Wer sich im Darknet bewegt, ist auch Für die Betreiber ist das Risiko dennoch das ist vorbei. Heute gehe ein Käufer, sagt
sonst kaum zu identifizieren. Dafür sorgt größer als im Darknet. Sie nehmen es in Ungefuk, meist vorsichtiger ans Werk. Er
der Tor-Browser; er funktioniert wie eine
Tarnkappe für Surfer. Diese können damit Die Fahndungserfolge der letzten Zeit haben die Szene verstört.
unerkannt jede beliebige Adresse im Web
aufrufen. Die Geschäfte laufen jetzt noch konspirativer ab.
Die Tarnung ist klug umgesetzt: Bevor
der Browser eine Website lädt, verschlüs- Kauf, weil sie auf diese Weise mehr Lauf- suche erst einmal die einschlägigen Foren
selt er seine Anfrage zunächst mehrfach. kundschaft erreichen. „Viele Händler fah- auf und frage dort in die Runde. Oder es
Dann hüpft sie durch ein globales Netz ren zweigleisig“, sagt Ungefuk. „Im offe- habe ihm schon jemand zugesteckt, wen
von mehr als 6000 Tor-Servern blitzschnell nen Internet werben sie um Kunden, die man da am besten anspricht. Kann ein Fo-
zum Ziel. Die Route verläuft über zufällig Geschäfte wickeln sie dann im Darknet rumsmitglied die gewünschte Waffe liefern,
ausgewählte Zwischenstationen; zudem ab, wo sie sich ungestört glauben.“ Aller- so kommt die Antwort in der Regel per
wechselt sie häufig. dings stimmt das nur mehr bedingt. Tech- Privatnachricht auf einem verschlüsselten
Einem Überwacher, der die Daten un- nisch sei das Darknet nach wie vor nicht Kanal. Der Rest wird vollends unter Aus-
terwegs abfängt, sagen sie nichts. Er kann zu knacken, glaubt der Ermittler. „Aber schluss der Öffentlichkeit ausgehandelt.
weder sehen, woher sie ursprünglich kom- der Verfolgungsdruck auf die Szene ist Auch David Sonboly alias Maurächer
men, noch, wohin sie letztendlich reisen. trotzdem gestiegen.“ fragte ausgiebig herum; möglicherweise er-
Davon profitieren nicht nur Kriminelle. Am vergangenen Donnerstag verurteilte schien ihm ein Kauf auf AlphaBay nicht
Auch Dissidenten in Syrien oder Ägypten das Heidelberger Landgericht den Händler sicher genug. Oder er fürchtete, hereinge-
sind auf Onlinekanäle angewiesen, über „Dosensuppe“ zu fünfeinhalb Jahren Haft. legt zu werden.
die sie sich unbewacht austauschen kön- Er war aufgeflogen, weil er Waffenteile Ein Jahr lang war Maurächer damit be-
nen. Nicht umsonst wird das Tor-Netzwerk aus den USA bestellt hatte – dass der Zoll schäftigt, sich seine Schusswaffe zu organi-
seit 2006 von einer gemeinnützigen Orga- ab und zu Pakete durchleuchtet, hatte der sieren. Schon viermal sei er an Betrüger ge-
nisation betrieben. Mann wohl nicht bedacht. raten, klagte er vorigen Dezember. Im Früh-
Zudem nutzen es Journalisten in aller Zuvor hatte es schon den Händlerkolle- jahr suchte er nachweislich immer noch. Sei-
Welt, auch beim SPIEGEL, zur sicheren gen „Max Mustermann“ erwischt, einen ne letzte Nachricht verfasste er mutmaßlich
Kommunikation mit Informanten. Medien Mechatronikstudenten aus Unterfranken. am 8. Mai dieses Jahres. Wieder ging es um
betreiben im Darknet anonyme Briefkäs- Der stand wie „Dosensuppe“ im Ruf, prak- eine Glock. „Schreibe noch auf ein leeres
ten, wo jedermann ohne Angst vor Repres- tisch jedes Schusswaffenfabrikat auftreiben Blatt Papier die Forenadresse und das heuti-
salien heikles Material deponieren kann. zu können. Er kaufte in großen Mengen ge Datum. Bilder vom Lauf und Munitions-
Selbst Facebook bietet dort seit fast zwei Dekowaffen, machte sie scharf und ver- lager“, forderte er. Damit wollte er offenbar
Jahren einen klandestinen Zugang – Mit- kaufte sie weiter, gelegentlich zum zehn- klären, ob der Anbieter tatsächlich über die
glieder aus Ländern, in denen Zensur fachen Preis. Inzwischen sitzt der krimi- angebotene Ware verfügte.
herrscht, können sich unbemerkt von der nelle Heimwerker in Haft. Irgendwann danach hat es offenbar ge-
Obrigkeit einwählen. Ihn überführten die Ermittler, indem sie klappt. Belege für den Kauf sind bislang
Für Menschen, die Grund zur Vorsicht Waffen zum Schein bestellten – die Spur nicht aufgetaucht. Ob Maurächer über-
haben, gehört die Anonymisierungstech- konnten sie dann zu einer Paketbox in haupt im Darknet fündig wurde, ist hoch
nik zum Alltag. Die meisten Anwender Schweinfurt zurückverfolgen. wahrscheinlich, aber derzeit nicht zu be-
nutzen sie, um unerkannt durchs gewöhn- Das ist die große Schwäche der illegalen weisen. Sicher ist nur: Mit dem Aufwand,
liche Internet zu surfen. Nur ein kleiner Geschäfte im Darknet: Irgendwann muss den er da trieb, wäre er wohl auch auf her-
Bezirk im Tor-Netzwerk besteht aus be- ein echtes Paket auf den Weg zum Kunden kömmliche Weise zu seiner Waffe gekom-
sonders abgeschirmten Websites, genannt gebracht werden. Die Händler nutzen men – beim Hehler im Bahnhofsviertel.
Hidden Services, versteckte Dienste. Dort zwar Packstationen mit gefälschten Zu- Maik Baumgärtner, Jörg Diehl, Manfred Dworschak,
finden sich die Einkaufsportale für Waffen gangskarten, und sie ersinnen trickreiche Fidelius Schmid
und Drogen. In den abgeschiedensten Win- Camouflage für die Ware – wie aus ver-
keln haben sich die Anbieter von Kinder- traulichen Polizeiunterlagen hervorgeht, Animation:
pornografie eingenistet. reisten Waffen auch schon zerlegt und ver- Was ist das Darknet?
Die Zahl dieser Hidden Services bewegt teilt auf mehrere Kisten mit Stahlschrott spiegel.de/sp312016darknet
sich schätzungsweise um die 50 000. Vom durchs Land. Aber sobald Waren versandt oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 31 / 2016 27


Union

Mehr Mütterrente
für Westfrauen
Streit um neue Wohltaten für Seniorinnen
In der CDU gibt es Widerstand gegen Pläne der CSU,
die Mütterrente noch weiter auszubauen. „Wir müssen
mehr über diejenigen nachdenken, die in 15 bis 20 Jahren
in Rente gehen, und nicht über die heutigen Rentnerjahr-
gänge. Die sind gut abgesichert“, sagt Karl-Josef Lau-
mann, Chef des Arbeitnehmerflügels CDA. Der Ausbau
der Leistungen sei „richtig und gut“ gewesen. Bei der
nächsten Reform sollten aber „neue Prioritäten“ gesetzt
werden, ganz oben stünden dabei Verbesserungen bei
der Erwerbsminderungsrente.
Die CSU möchte allen Müttern, die vor 1992 Kinder
zur Welt gebracht haben, ein weiteres Erziehungsjahr gut-
schreiben. Diese wären damit Eltern mit später geborenen
Kindern gleichgestellt. Die zusätzlichen Kosten beziffern
Rentenexperten auf jährlich 6,5 Milliarden Euro.
Vor allem Seniorinnen aus den alten Bundesländern
haben bisher von der jüngsten Reform profitiert. Nach
einer Statistik der „Deutschen Rentenversicherung Bund“
erhielten westdeutsche Frauen, die 2015 in den Ruhestand
gingen, eine durchschnittliche Altersrente von 635 Euro –
ein Plus von rund 13 Prozent. 2014 lag der Durchschnitt
noch bei 562 Euro.
Nach Einschätzung der Rentenkasse geht der starke
Anstieg auch auf die geänderten Regeln bei der Mütter-
rente zurück: Seit Mitte 2014 werden den Versicherten
für jedes vor 1992 geborene Kind mehr rentensteigernde
Erziehungsjahre als zuvor anerkannt. Davon profitieren
vor allem jene Westseniorinnen, die nach der Geburt
ihrer Kinder oft längere Zeit aus dem Beruf ausgestiegen
waren. In den neuen Bundesländern fiel das Plus für Neu-
rentnerinnen mit 2,4 Prozent bescheidener aus. Hier stieg
der durchschnittliche Monatsbetrag von 841 auf 861 Euro
IMAGO

im Jahr 2015. cos

Soziale Medien sind auch die Parteien CDU, ragraph“) die Social-Media- ter aus dem Ausland gesteuer-
Cyberattacke auf CSU, SPD und Grüne. Aktivitäten deutscher Partei- te, automatisch arbeitende
Bundesregierung? Entdeckt hat die mutmaß-
liche Attacke der Hambur-
en und Politiker verfolgt.
Fuchs, der seine Erkenntnisse
Computerprogramme (Bots).
Das Bundespresseamt erklär-
Mehrere Mitglieder der ger Politikberater und Blog- über Twitter mitgeteilt hat, te, es sei erst durch die Me-
Bundesregierung, darunter ger Martin Fuchs, der mit spricht von einer „echten dienanfrage auf den Anstieg
Vizekanzler Sigmar Gabriel einem speziellen Portal („plu- Gefahr“ und vermutet dahin- der Follower aufmerksam ge-
(SPD), Justizminister Heiko macht worden. Fuchs rechnet
Maas (SPD), Kanzleramts- in einigen Wochen mit geziel-
minister Peter Altmaier ter, destruktiver Unterwande-
(CDU) und Regierungsspre- rung von Debatten auf Twit-
cher Steffen Seibert, sind am ter und sogar mit Auswirkun-
vergangenen Wochenende gen auf Wahlkämpfe.
offenbar Opfer eines Cyber- Ernüchtert spricht der
angriffs auf ihre Twitter- Experte von Ignoranz der
Accounts geworden. In der Regierung: „Auf der Füh-
HENNING SCHACHT

Nacht des Amoklaufs von rungsebene haben sie kein


München meldeten sich auf Sensorium dafür – die haben
ihren Accounts Tausende Gabriel die Relevanz schlicht noch
neuer Follower an. Betroffen nicht erkannt.“ kn

28 DER SPIEGEL 31 / 2016 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Sexueller Missbrauch therapeutische Hilfen für die
Geld für Opferhilfe Opfer von Kindesmissbrauch
wird knapp in Familien zu finanzieren.
Doch bislang haben lediglich
In einem Mahnbrief an 13 der Bund sowie die Länder
Ministerpräsidenten hat der Bayern und Mecklenburg-Vor-
Bundesbeauftragte für Fragen pommern eingezahlt. Hessen
des sexuellen Kindesmiss- hat in dieser Woche angekün-
brauchs die Länder aufgefor- digt, seinen Anteil für 2017
dert, endlich Geld für einen und 2018 leisten zu wollen.
Hilfsfonds zur Unterstützung Doch selbst nach dieser Zu-
von Missbrauchsopfern be- sage sei absehbar, so Rörig,
reitzustellen. Nur wenn alle dass dem Fonds bald das

MAURIZIO GAMBARINI / DPA


Länder einzahlten, könnten Geld ausgehe. Bisher lägen
Betroffene weiterhin die schon über 5500 Anträge von
„dringend erforderliche“ Missbrauchsopfern aus dem
Hilfe erhalten, mahnt der Be- familiären Bereich vor, damit
auftragte Johannes-Wilhelm sei das aktuelle Fondsvolu-
Rörig in dem am Donnerstag men von 58 Millionen Euro Bundesverkehrsminister Dobrindt
verschickten Brief. nahezu aufgebraucht. Die Be-
Der Hilfsfonds war 2013 troffenen hätten große Hoff- Dieselaffäre für Strafrecht, Umweltrecht
von der Bundesregierung ein- nungen in den Fonds und die Experten wollen und Verkehr mit. Üblicher-
gerichtet worden. Er sollte
100 Millionen Euro umfassen,
Zusagen der Politik gesetzt,
sagt Rörig. Es sei nun „höchs-
nicht prüfen weise fragen die Wissen-
schaftlichen Dienste die nöti-
um etwa Beratungs- und Be- te Zeit, die Politik der kalten Die Wissenschaftlichen gen Informationen bei den
treuungskosten oder psycho- Herzen zu beenden“. mab Dienste des Bundestags Ministerien an, dies versuch-
haben es abgelehnt, die Die- ten sie in dem Fall offensicht-
sel-Abgasaffäre juristisch zu lich nicht einmal: Bereits
bewerten. Die Grünen-Ab- einen Tag nach Eingang wies
Serienmörder geordnete Bärbel Höhn hatte der Bundestag Höhns An-
Spurensuche im Grab gefragt, ob sich Beamte im frage ab. „Die Absage ist
Verkehrsministerium oder ungewöhnlich und in ihrer
Der Polizei könnte es nach 40 Jahren gelingen, einen Serien- die politische Spitze um Mi- Begründung für mich nicht
killer zu überführen: den „Anhalterinnenmörder“, der in nister Alexander Dobrindt nachvollziehbar“, kritisiert
den Siebzigerjahren nahe Münster und im Raum Heidelberg (CSU) strafbar gemacht hät- die Abgeordnete. Ein Spre-
mutmaßlich acht Frauen erwürgt hat. Die Ermittler vermuten, ten, wenn sie von erhöhten cher der Bundestagsverwal-
dass der Mann vor einigen Jahren gestorben und auf einem Stickoxidwerten oder den tung bestätigt, dass 2016 nur
Friedhof in Norddeutschland bestattet worden ist (SPIEGEL Abschaltvorrichtungen bei ein Auftrag abgelehnt, aber
17/2016). Weil gegen Tote eigentlich nicht weiter ermittelt Dieselfahrzeugen wussten 600 bearbeitet wurden. Höhn
wird, hatte es der zuständige Richter im März abgelehnt, und nichts unternahmen. Es verweist auf die Kontroll-
das Grab des möglichen Täters öffnen und eine DNA-Probe lägen keine Angaben „zum funktion des Bundestags ge-
entnehmen zu lassen. Nun änderte der Jurist seine Meinung – konkreten Ablauf eines mög- genüber der Exekutive: „Si-
auch deshalb, wie es heißt, weil durch die Maßnahmen andere lichen Tatgeschehens“ vor, cherlich ist die Fragestellung
Verdächtige entlastet werden könnten. Die DNA-Probe soll die seien aber für eine „seriö- heikel, aber das Parlament
mit Hautresten verglichen werden, die unter dem Fingernagel se strafrechtliche Beurtei- ist nun einmal dazu da, den
eines Opfers gefunden wurden. Sie stammen laut einem lung“ notwendig, teilte ihr Ministerien auf die Finger zu
Rechtsmediziner mit hoher Wahrscheinlichkeit vom Täter. gui der Fachbereich der Dienste schauen.“ akm

Korruption mit sie Informationen für ei- erhielt (SPIEGEL 28/2016), den Akten, nur die halbe
Halbwahrheiten nen ukrainischen Oligarchen verschwieg der Minister Wahrheit. Bereits am 8. April
vom Minister beschaffen.
Caffier hatte in der Aus-
jedoch. Vergangene Woche 2015 schrieb ein Kriminal-
konfrontierten die Ausschuss- oberrat des LKA in einem
In der Affäre um zwei Beam- schusssitzung am 12. Mai mitglieder der Grünen und „Sachstandsbericht“, ihm sei
te des Landeskriminalamts erklärt, „alle erforderlichen der Linkspartei Caffiers „bekannt, dass H. über gute
(LKA) Mecklenburg-Vorpom- Schritte“ seien „eingeleitet Staatssekretär Thomas Lenz Kontakte zum BND“ verfüge.
mern steht Innenminister worden, um den Sachverhalt mit den SPIEGEL-Recherchen. Überdies war Heinz-Peter H.
Lorenz Caffier (CDU) im Ver- aufzuklären“. Dass der Lenz räumte ein, dass das bereits im September 2005
dacht, dem Innenausschuss Hauptverdächtige Heinz- Innenministerium bereits seit vom LKA zu zweitägigen Be-
des Landtags wichtige Infor- Peter H. über Jahre hinweg Mai 2015 über die geheime ratungen mit dem Nachrich-
mationen vorenthalten zu intensive Verbindungen zum Kooperation des BND mit tendienst entsandt worden,
haben. Eine Nachrichten- Bundesnachrichtendienst dem beschuldigten Landes- wie der BND den Schweriner
händlerin soll den LKA-Poli- (BND) hatte und vom deut- beamten informiert war. Ermittlern in einer als Ver-
zisten mehrere Hunderttau- schen Auslandsgeheimdienst Doch auch dieses Eingeständ- schlusssache gestempelten
send Euro gezahlt haben, da- sogar zwei Jahre lang Geld nis ist, so ergibt es sich aus Mitteilung gemeldet hatte. gla

DER SPIEGEL 31 / 2016 29


Deutschland

Wahlkampf Kunden zu verprellen. Wer


Kiffer für die AfD die Kampagne nun erdacht
hat, wollte Padzerski nicht
Weil die Berliner AfD für sagen, nur so viel: Die Agen-
ihre Werbekampagne keine tur stamme aus dem deutsch-
deutsche Agentur finden sprachigen Ausland.
konnte, musste sie sich Hilfe Für die Werbeaktion, mit
aus dem Ausland besorgen. der sie ihren Einzug ins Berli-
„Wir hatten erhebliche ner Abgeordnetenhaus beför- Wahlplakat der AfD
Schwierigkeiten, eine Werbe- dern will, hat die rechtspopu-
agentur in Deutschland zu listische Partei ein fünfstelli- sich über Sozialhilfe für sei- katen eine sportliche blonde
bekommen“, so Landeschef ges Budget bereitgestellt. nen Dealer beschwert, und Frau folgen, die auf die
Georg Padzerski. In der vergangenen Wo- einem schwulen Paar, das Kölner Silvester-Übergriffe
Die Werbeleute hätten che hatte die AfD im Berli- über die angebliche Homo- anspielt, und sogar eine
Sorge gehabt, durch einen ner Wahlkampf bereits mit phobie von Muslimen klagt. Muslimin, allerdings ohne
Auftrag für die AfD andere einem Kiffer geworben, der Demnächst soll auf den Pla- Kopftuch. akm, jfl

Streit um Erdoğan Gülen, sondern auch gegen Toprak: Die deutsche Politik, Krankenkassen
„Klare Kante zeigen“ Kurden. die bisher teilnahmslos rea- Verbotene Prämie
SPIEGEL: Was erleben Sie giert, muss jetzt klare Kante
Ali Ertan Toprak, persönlich? zeigen und sagen, Menschen, für DAK-Mitglieder?
47, Bundesvorsit- Toprak: Ich werde seit Länge- die Autokraten verteidigen, Die DAK-Gesundheit hat
zender der Kurdi- rem attackiert, beleidigt und sind hier fehl am Platze. Das möglicherweise mehreren
schen Gemeinde, bedroht, weil ich zu den Verhältnis zwischen unserem Versicherten Geld gezahlt,
CDU-Mitglied und wenigen Türkeistämmigen Staat und den islamischen damit sie nicht zu einer
ZDF-Fernsehrat, gehöre, die Erdoğan noch Verbänden wie Ditib muss ge- anderen Krankenkasse wech-
über die Eskala- öffentlich kritisieren. In klärt werden: Wer vom Aus- seln. Das könnte den aktuel-
tion der Konflikte Erdoğan-nahen Zeitungen land dirigiert wird, wer sich len Wettbewerbsgrundsätzen
unter Türken in bin ich schon als PKKler und mehr mit einem ausländischen widersprechen. Laut Bundes-
Deutschland „Terrorunterstützer“ tituliert Staat identifiziert als mit der versicherungsamt richten
worden. Das ist Rufmord, hiesigen Gesellschaft, kann sich Beschwerden anderer
SPIEGEL: Für Sonntag planen damit hat man mich zur nicht erwarten, dass er bei der Kassen bei der Aufsichtsbe-
Anhänger von Präsident Zielscheibe gemacht. Freun- Integration der Muslime und hörde der gesetzlichen Kran-
Recep Tayyip Erdoğan eine de und Verwandte in der der Gestaltung der Islampoli- kenversicherungen dagegen,
Großdemo in Köln mit etwa Türkei haben Angst, sich zu tik als Gesprächspartner ak- dass die DAK einen „Sofort-
15 000 Teilnehmern, auch mir zu bekennen, sie ent- zeptiert wird. Wir müssen un- bzw. Aktivbonus in Höhe
Gegenmärsche sind angekün- freunden sich auf Facebook terbinden, dass Erdoğan die von 210,- bzw. 330,- € ange-
digt. Wie stehen die kurdi- oder WhatsApp, weil sie Türken hier als seine fünfte boten“ oder bei Rücknahme
schen Gruppen dazu? Repressalien fürchten. Kolonne instrumentalisiert. der Kündigung die Zahlung
Toprak: Wir haben als Ge- SPIEGEL: Wodurch könnte Er hat inzwischen Gegenge- einer Prämie von 110 Euro
meinde bewusst nicht zu ei- eine weitere Verschärfung sellschaften in Deutschland „für die Teilnahme an einer
ner Gegendemo aufgerufen, der Situation hierzulande etabliert, die aggressiv gegen Marktforschung“ in Aussicht
um das Erdoğan-Lager nicht verhindert werden? unsere Werte agieren. agr gestellt habe. Mit sechs Mil-
aufzuwerten. Wir wollen lionen Versicherten ist die
auch verhindern, dass mög- DAK nach TK und Barmer
liche Zusammenstöße uns GEK die drittgrößte gesetz-
Kurden zugeschrieben wer- liche Krankenkasse Deutsch-
den. Aber einzelne linke lands. Nachdem sie ihre Bei-
Gruppen, auch kurdische, träge erhöhen musste, verlor
werden zu den Gegendemos sie seit Jahresbeginn mehr
gehen. als 180 000 Mitglieder. Ein
SPIEGEL: Politiker befürchten, Sprecher der Kasse bestätig-
dass der türkisch-kurdische te sechs Fälle, in denen „im
Konflikt auch hierzulande Rahmen der Mitgliederhalte-
eskalieren könnte. Zu Recht? arbeit“ Zahlungen „vorge-
Toprak: Ja, leider, die Stim- nommen wurden, obwohl
mung ist aufgeheizt, aller- erforderliche Auszahlungs-
dings geht die Aggression im voraussetzungen nicht vor-
MARKUS HEINE / IMAGO

Moment von den Erdoğan- lagen“. Ein Fall verstoße


Anhängern aus. Und die gegen die „interne Anwei-
Hetze in den sozialen Netz- sungslage“; gegen einen
werken richtet sich nicht nur Mitarbeiter seien deshalb
gegen Anhänger des islami- „disziplinarische Maßnah-
schen Predigers Fethullah Putschgegner bei Demonstration in Berlin men ergriffen“ worden. mop

30 DER SPIEGEL 31 / 2016


Herz.
Haltung.
Hayali.
ZDFdonnerstalk
mit Dunja Hayali
donnerstags 4., 18. und 25. August
Deutschland

„Zu selten geweint“


SPIEGEL-Gespräch Die Feministin Alice Schwarzer über Frauen in Spitzenämtern,
die Wut der Männer und die verspätete Einsicht in eigene Fehler

SPIEGEL: Frau Schwarzer, Angela Merkel re- dann wird es auch welche geben, die diese SPIEGEL: Viele amerikanische Feministinnen
giert Deutschland seit fast elf Jahren. The- missbrauchen. haben es Hillary Clinton übel genommen,
resa May ist seit gut zwei Wochen britische SPIEGEL: Ist so gesehen der Aufstieg von dass sie ihrem Mann auch noch die Treue
Premierministerin, und Hillary Clinton rechtspopulistischen Politikerinnen wie hielt, als herauskam, dass er ein notori-
könnte die erste Präsidentin der USA wer- Marine Le Pen und Frauke Petry eine Art scher Fremdgänger ist.
den. Wird die Welt besser, wenn sie von Normalisierung? Schwarzer: Es gibt keine Frau, die in den
Frauen regiert wird? Schwarzer: Ja. Frauen sind links und rechts. vergangenen Jahrzehnten öffentlich so vor-
Schwarzer: Sie wird auf jeden Fall anders. Fair und gemein. Schlau und dumm. geführt und gedemütigt worden ist wie Hil-
Frauen haben eine andere Geschichte, eine Der Weg, den Marine Le Pen geht, ist lary Clinton. Für mich ist es ein Wunder,
andere Lebensrealität als Männer. Bis heu- übrigens sehr interessant. Ihr Vater war dass sie nicht schon längst in der Psychia-
te. Sie bringen also andere Erfahrungen noch ein knallharter Rechter, ein Faschist trie gelandet ist. Als Bill angetreten ist,
ein. So hat Merkel in ihrer Kanzlerschaft und Antisemit. Marine Le Pen hat mit ih- sagte er: „Wählt mich, und ihr bekommt
von Anbeginn an einen sehr uneitlen, sach- rem Vater gebrochen, sich für die Homo- zwei zum Preis für einen.“ Das war eine
bezogenen Stil gepflegt, an dem sich The- Ehe ausgesprochen. Sie ist soft rechts- stolze Ansage, aber natürlich auch die Ein-
resa May ganz offensichtlich orientiert. Es populistisch. Verstehen Sie mich nicht ladung für alle Frauenhasser, Hillary ins
war kein Zufall, dass Mays erste Auslands- falsch, ich hege keine Sympathien für Le Visier zu nehmen. Plötzlich war sie die
reise nach Berlin ging. Dort sagte sie den Pen, auch sie ist Nationalistin. Aber wenn böse Hexe im Weißen Haus. Natürlich hat
schönen Satz: „Wir sind zwei Frauen, die man sich für Machtpolitik der Geschlech- sie das getroffen. Unter dem Druck der
ihren Job machen.“ ter interessiert, ist sie ein interessanter Angriffe machte sie sich klein und wurde
SPIEGEL: Woran liegt es, dass Frauen anders Fall. scheinbar die First Housewife, die wö-
regieren? SPIEGEL: Hat die Frauenbewegung die Leis- chentlich die Frisur wechselte, Cookies
Schwarzer: Bei den Hahnenkämpfen der tungen von Margaret Thatcher, der kon- buk und ihrem Bill ein schönes Heim be-
Männer geht es ja immer darum, das Ge- servativen britischen Premierministerin, reitete. Es hat ihr alles nichts genutzt. Als
sicht zu wahren. Frauen hatten jahrhun- zu wenig gewürdigt? die Monica-Lewinsky-Affäre losbrach,
dertelang gar kein Gesicht zu verlieren. Schwarzer: Die linken Feministinnen ja. Sie hieß es nun auch noch: Na ja, sie mag zwar
Die einzige Ehre, die sie verlieren konn- müssen sehen, dass gerade die westdeut- intelligent sein, und Bill kann sich mit ihr
ten, lag zwischen ihren Beinen. Und na- sche Frauenbewegung sehr im politischen über Politik unterhalten, aber er begehrt
türlich haben Frauen in den vergangenen Lagerdenken verhaftet war. Für eine auf- sie nicht. Das war perfide und verletzend.
Jahren begriffen, dass ihr Verhalten immer rechte Linke war es verboten, Thatcher in- Die uralte Teilung von Frauen in Kopf und
noch mit zweierlei Maßstäben gemessen teressant zu finden. Es gab da nur wenige Körper! Jetzt sehen wir den finalen Kampf:
wird. Wenn eine Frau nach oben will, ist Ausnahmen, die unterschieden zwischen der Supermacho Trump gegen die Femi-
sie eiskalt und karrieregeil. Bei Männern der berechtigten Kritik an Thatchers Poli- nistin Clinton.
heißt es anerkennend: weiß sich durch- tik einerseits und ihrer Funktion als Rol- SPIEGEL: Warum werden Frauen, die an die
zusetzen. lenmodell andererseits. Wir müssen lernen, Macht wollen, so stark über Äußerlichkei-
SPIEGEL: Im Grundsatzprogramm der SPD dass man eine Frau an der Macht bis auf ten angegriffen?
steht der Satz: „Wer die menschliche Ge- Weiteres bemerkenswert finden kann, Schwarzer: Weil unser Wert als Objekt lange
sellschaft will, muss die männliche über- auch wenn man ihren Umgang mit der entscheidend war. Frauen waren ganz real
winden.“ Ist das nicht ein bisschen naiv? Macht kritisiert. relative Wesen. Ohne die Gunst eines Man-
Schwarzer: Es ist schlicht und einfach das SPIEGEL: Gibt es aus Ihrer Sicht eigentlich nes waren wir verloren. Diese Vorstellung
Recht der Frauen, die Hälfte der Macht eine Verpflichtung für Politikerinnen, sich sitzt immer noch tief. Ich bin überzeugt,
für sich zu beanspruchen. Punkt. Ich hatte für die Sache der Frauen einzusetzen? dass man bis heute fast jede Karrierefrau
noch nie die Illusion, dass Frauen die Welt Schwarzer: Überhaupt nicht. Ich hoffe das, kippen kann mit der Aussage: „Du magst
dann gerechter oder moralischer machen. aber ich erwarte es nicht. zwar tüchtig und intelligent sein, nur leider
Frauen sind nicht automatisch besser als SPIEGEL: Angela Merkel wurde ja anfangs bist du nicht begehrenswert.“ Inzwischen
Männer. Sie hatten in der Vergangenheit kritisiert, weil sie sich als Kanzlerin nicht gibt es die Versuche erfolgreicher Frauen,
nur seltener Gelegenheit, sich die Hände für Frauenthemen engagiert hat. dem offensiv zu begegnen. Indem sie sich
schmutzig zu machen. Schwarzer: Ich bin die Erste, die das versteht. demonstrativ weiblich inszenieren, sie tra-
SPIEGEL: Wenn man Ihren Gedanken kon- Für den westdeutschen Mann war es ja gen dann High Heels und sehr kurze Rö-
sequent zu Ende denkt, heißt das: Irgend- schon Zumutung genug, dass eine Ostdeut- cke. Ich bezweifle allerdings, dass das die
wann wird es einen weiblichen Hitler ge- sche ins Kanzleramt einzog. Und dann richtige Strategie ist.
ben? auch noch eine Frau! Wenn sie da auch SPIEGEL: Was ist die richtige Strategie?
Schwarzer: Monster wie Hitler gab es ja nun noch angefangen hätte, die Frauenrechtle- Schwarzer: Den eigenen Stil wahren, seine
nicht so oft in der Geschichte. Aber sicher: rin zu geben, dann hätte sie sich gleich Wurzeln nicht durch Überanpassung kap-
Wenn mehr Frauen an die Macht kommen, eine Bombe unter den Stuhl legen können. pen. Merkel trägt einfach praktische Sa-
Aber sie hat dann ja ihre Familienministe- chen, Blazer, Hosen und flache Schuhe;
Das Gespräch führten die Redakteure Susanne Beyer rin eine sehr fortschrittliche Frauenpolitik das mag langweilig sein, aber es passt zu
und René Pfister in Köln. machen lassen. ihrer nüchternen Art. Theresa May wagt
32 DER SPIEGEL 31 / 2016
ULLSTEIN BILD

DER SPIEGEL 31 / 2016 33


Deutschland

eine extravagante Eleganz, dieses Augen- ich schon genug Ärger hatte und nicht irgendwann. Die gehört seit Langem zu
zwinkern mit den Tigerpumps finde ich noch eine Front eröffnen wollte. meiner Lebensplanung.
witzig. Ich finde es allerdings traurig, wenn SPIEGEL: Viele Menschen, die in der Öffent- SPIEGEL: Können Sie loslassen?
Frauen sich hinter einer rüstungsartigen lichkeit stehen, legen sich mit der Zeit ei- Schwarzer: Wen?
Kleidung verbergen wie Hillary Clinton. nen Panzer zu, um die Angriffe aushalten SPIEGEL: Die „Emma“ zum Beispiel.
Obwohl: Gerade bei ihr verstehe ich das zu können. Das bedeutet aber auch, dass Schwarzer: Ich soll die „Emma“ fallen las-
sehr gut! berechtigte Kritik nicht mehr durchdringt. sen? Also hören Sie! Ich bin nur wenige
SPIEGEL: Als Sie in den Siebzigerjahren eine Schwarzer: Worauf wollen Sie hinaus? Jahre älter als Hillary Clinton, die Präsi-
bekannte Figur wurden, gab es auch viele SPIEGEL: Viele haben nicht verstanden, wa- dentin werden will. Ich habe nicht das Ge-
unfreundliche Kommentare über Ihr Aus- rum Sie sich für eine Imagekampagne der fühl, dass ich dringend in den Ruhestand
sehen. Sie waren die „Nachteule mit dem „Bild“-Zeitung hergegeben haben. treten muss. Ich glaube außerdem, meine
Sex einer Straßenlaterne“. Wie erträgt Schwarzer: Ach Gott, die olle Kamelle von Kolleginnen würden verzweifeln, wenn ich
man so was? vor fast zehn Jahren. Eine befreundete sagen würde: Macht den Laden alleine.
Schwarzer: Da war ich Anfang dreißig und Werberin hat mich gefragt, ob ich nicht SPIEGEL: Ihre Argumentation kennt man
hatte bis dahin die Erfahrung gemacht, bei einer Kampagne mitmachen will, in von anderen Patriarchen, die furchtbar ger-
dass die Männer eher zu viel von mir woll- der bis dahin nur Männer vorkamen, von ne aufhören würden, aber leider keinen
ten als zu wenig. Jeder Feministin wird Gandhi bis Willy Brandt. Ich dachte: Na geeigneten Nachfolger finden.
grundsätzlich abgesprochen, attraktiv zu ja, wenn das Blatt, das dich bisher so be- Schwarzer: Nennen Sie mal eine Nachfol-
sein, egal wie sie aussieht. Ich weiß noch kämpft hat, sich nun mit dir schmücken gerin!
gut, wie im Jahr 1977 im „Stern“ ein Foto will, dann ist das ja auch ganz schön. Ich SPIEGEL: Wir halten fest: Sie sind unersetz-
von mir erschien. Ich trug ein Leinenkleid habe übrigens auch schon mal bei einer lich.
von einer Pariser Designerin, die damals Imagekampagne der „FAZ“ mitgemacht. Schwarzer: Ich habe einfach Freude an mei-
sehr angesagt war. Die Bildunterschrift lau- Dabei sehe ich als Feministin und Blattma- ner Arbeit, die sehr sinnvoll ist. Sinnvoller
tete: „Schwarzer in einem Sack“. Das Kli- cherin alle Medien kritisch – den SPIEGEL denn je.
schee hält sich bis heute. Ich habe Gott sei allen voran. Trotzdem hätte ich mir das SPIEGEL: Ihre Biografin Bascha Mika hat ge-
Dank ein robustes und fröhliches Gemüt. mit „Bild“ vielleicht sparen sollen. Wenn schrieben, im System Schwarzer geht es
Aber schauen Sie sich bekannte amerika- ich die Reaktionen sehe. um Machterhalt. Empfinden Sie das als
nische Feministinnen an, Kate Millett oder SPIEGEL: Ein noch größerer Fehler war, dass Kompliment?
Shulamith Firestone. Beide waren immer Sie die Zinsen für Ihr Konto in der Schweiz Schwarzer: Nun, dieses 18 Jahre alte Buch
mal wieder in der Psychiatrie. Dahin hatte nicht versteuert haben. ist weniger Biografie und mehr Projektion.
nicht zuletzt die Hetze ihrer eigenen Mit- Schwarzer: Ja, das war ein echter Fehler! Interessiert mich Macht? In der Kategorie
kämpferinnen sie befördert. SPIEGEL: Als der SPIEGEL im Februar 2014 habe ich noch nie gedacht.
SPIEGEL: Woher kam der Hass gegen Sie? die Affäre enthüllte, erklärten Sie, Sie hät- SPIEGEL: Frau Schwarzer, bitte, das ist jetzt
Schwarzer: Na ja. Seit dem „Kleinen Unter- ten ursprünglich das Geld deswegen ge- eine ganz öde Politikerantwort.
schied“, der im Jahr 1975 erschien, ging hortet, um einen Notgroschen zu haben, Schwarzer: Ist aber so. Was mich interessiert,
es um Sex und Liebe, die Machtverhält- falls die Angriffe in Deutschland gegen Sie ist Unabhängigkeit. Und die Möglichkeit
nisse im Bett. Ich habe sozusagen in deut- zu heftig werden. zu handeln, die Verhältnisse zu verbessern.
schen Schlafzimmerbetten auf der Ritze Schwarzer: Stimmt. Ich fand es beruhigend, SPIEGEL: In Ihrer Autobiografie schreiben Sie,
gelegen. Viele Frauen lasen in dem Buch außerhalb von Deutschland Geld zu ha- dass Sie nach der Gründung der „Emma“
zum ersten Mal, was sie bis dahin kaum ben. Aber es war dumm, das öffentlich zu oft in Schwulendiscos gegangen sind, weil
zu denken gewagt hatten. Das hat so man- sagen. Sie Frauen nicht mehr ertragen konnten.
chen Mann irritiert. SPIEGEL: Fühlen Sie sich ungerecht behan- Schwarzer: Stimmt. Das war sehr erholsam
SPIEGEL: Das Erscheinen des „Kleinen Un- delt? mit den Jungs an der Theke.
terschieds“ fällt ziemlich genau zusammen Schwarzer: Vom SPIEGEL auf jeden Fall. Der SPIEGEL: Was hat Sie mehr getroffen: die
mit dem Ende Ihrer langjährigen Bezie- hat sich ja die Freiheit genommen, in mei- Angriffe der Männer oder der Frauen?
hung zu Bruno, Ihrem französischen Le- nem Fall das für alle Bürger geltende Steu- Schwarzer: Die der Frauen natürlich! Bis
bensgefährten, und dem Beginn einer Be- ergeheimnis zu brechen. heute. Bei Männern kann man die Sache
ziehung mit einer Frau. War der „Kleine SPIEGEL: Wir haben da ein berechtigtes öf- ja immer rationalisieren, so nach dem Mot-
Unterschied“ auch biografisch gefärbt? fentliches Interesse gesehen. Sie galten ja to: Du stellst deren Privilegien infrage, da
Schwarzer: Sicher. Das war die Zeit der fe- als moralische Instanz. Und vielleicht war ist es doch klar, dass das Patriarchat zu-
ministischen sexuellen Revolution. Plötz- auch deswegen die öffentliche Enttäu- rückschlägt.
lich fanden Frauen auch Frauen liebens- schung so groß. SPIEGEL: Was wurde Ihnen vonseiten der
wert. Schwarzer: Das müssen Sie beurteilen. Frauen vorgeworfen?
SPIEGEL: Warum haben Sie eigentlich nicht SPIEGEL: Als die Steueraffäre vor mehr als Schwarzer: Zu stark. Zu dominant. Zu selten
schon damals öffentlich gemacht, dass Sie zwei Jahren bekannt wurde, sagten Sie so- geweint. Hinzu kamen die politischen Dif-
bisexuell sind? Viele lesbische Frauen hät- fort, Sie wollten eine Stiftung für die Rech- ferenzen. Ich stand immer für einen anti-
ten das als Ermutigung begriffen. te von Frauen gründen und sie mit einer biologistischen Feminismus, der die Macht-
Schwarzer: Das Buch war eine enorme Er- Million Euro ausstatten. Jetzt ist heraus- frage stellt. Ich konnte nie etwas anfangen
mutigung für viele Frauen, egal wie sie gekommen: Die Stiftung gibt es immer mit Frauen, die sich auf ihre sogenannte
lebten: in einer Beziehung mit einem noch nicht. Weiblichkeit beriefen, den Mutterkult
Mann, mit einer Frau oder dazwischen. Schwarzer: Das Steuerverfahren hat sich pflegten und darauf ihr Selbstbewusstsein
Doch ich war noch nie der Ansicht, dass über zwei Jahre lang hingezogen, und vor bauten. Gleichzeitig wurde ich von linken
es zu meinem feministischen Engagement Abschluss konnte ich die Stiftung, die seit Frauen bekämpft, für die der Feminismus
gehört, privaten Striptease zu machen. Jahren beim Notar liegt, gar nicht gründen. nur ein Unterpunkt des Klassenwider-
Auch die Exempel im „Kleinen Unter- Darf ich jetzt vielleicht einmal einen klei- spruchs war. Wenn Sie so wollen, wieder-
schied“ sind ja anonymisiert. Sicher hat nen Moment lang verschnaufen? Doch holt sich jetzt gerade diese Geschichte wie-
auch der Gedanke eine Rolle gespielt, dass seien Sie beruhigt: Die Stiftung kommt der.
34 DER SPIEGEL 31 / 2016
SPIEGEL: Wie meinen Sie das?
Schwarzer: Manche sogenannte Netzfemi-
nistinnen haben panische Angst vor dem
Vorwurf, Rassistinnen zu sein, und gehen
so weit, die Burka zu rechtfertigen, dieses
Leichentuch für Frauen. Dabei ist der
Kampf gegen den religiösen Fundamenta-
lismus, allen voran gegen den politisierten

ANDREW PARSONS / ZUMA PRESS / DDP IMAGES


Islam, schon lange existenziell. Nicht nur
für Frauen.
SPIEGEL: Der Feminismus wollte auch im-
mer überkommene Männerbilder irritie-
ren. Das ist gelungen, mit positiven, aber
auch negativen Auswirkungen. Kann es
sein, dass die vielen Attentäter in diesen
Tagen in ihrer Männlichkeit gekränkt ge-
wesen sind?
Schwarzer: Ohne jeden Zweifel. Wir leben
Britische Premierministerin May: „Frauen machen die Welt nicht automatisch gerechter“ in Zeiten des Umbruchs, solche Zeiten sind
immer die gefährlichsten. Der Kern der
Konstruktion von Männlichkeit ist ja die
Gewalt. Und die Amokläufer und Atten-
täter greifen auf diesen Kern zurück. Aber
verunsichert und gedemütigt fühlen diese
rasenden Männer sich nicht nur durch die
erstarkenden Frauen. Im Westen spielt
auch die Deindustrialisierung und Globa-
lisierung eine Rolle, die die Männer ar-
beitslos macht. Und im Nahen Osten sind
es die Kriege, die der Westen angefangen
hat, die die Männer brutalisieren.
SPIEGEL: Wie soll man Ihrer Meinung nach
hierzulande mit den gekränkten Männern
umgehen?
Schwarzer: Wir dürfen nicht nur aufrüsten,
DOUG MILLS / NYT / REDUX / LAIF

sondern müssen auch „die Seelen retten“,


wie der algerische Schriftsteller Kamel
Daoud es formuliert. Das heißt, wir müssen
erhebliche Mittel zur Verfügung stellen, um
früh herauszufinden, wo einer unrettbar
gefährlich ist, vor dem müssen wir uns dann
schützen. Und wir müssen ebenfalls heraus-
US-Präsidentschaftskandidatin Clinton: „Ein Wunder, dass sie nicht in der Psychiatrie landete“ finden, wo die vielen anderen sind – die
frustrierten, traumatisierten, sich gedemü-
tigt fühlenden Männer, die wir noch auf
andere Gedanken bringen können. Und de-
nen müssen wir reale Chancen bieten.
SPIEGEL: Sie sagen, der Kern der Konstruk-
tion von Männlichkeit sei die Gewalt, aber
es gibt inzwischen ganz andere Männlich-
keitsbilder. Den Vater in Elternzeit zum
Beispiel.
Schwarzer: Ja, bei uns, wo die Welt noch in
Ordnung scheint. Und das ist gut so. Und
da sind jetzt auch die Frauen gefragt. Sie
müssen stärker honorieren, wenn Männer
versuchen, anständige Menschen zu sein.
Es gibt sie ja leider, die traditionell tief sit-
zende weibliche Faszination für den dunk-
MICHAEL KAPPELER / DDP IMAGES

len Verführer. Die sollten sich die Frauen


verdammt noch mal abgewöhnen!
SPIEGEL: Die britische Premierministerin
May hat kein Kind, Merkel hat keins …
Schwarzer: … Alice Schwarzer auch nicht.
SPIEGEL: Ist das der Preis der Macht?
Schwarzer: Es würde „Emma“ nicht geben,
Kanzlerin Merkel: „Da hätte sie sich gleich eine Bombe unter den Stuhl legen können“ wenn ich ein Kind hätte. Es wäre zeitlich
DER SPIEGEL 31 / 2016 35
Deutschland

PRIVAT
„Emma“-Gründerin Schwarzer (2. v. l.), Mitstreiterinnen 1977: „Angst vor Liebesverlust, das ist das Scheißproblem“

gar nicht gegangen. Es gab ja Phasen, in Und dann? Letztlich muss jede Frau bis Schwarzer: Wenn das so ist, wäre das traurig.
denen ich in der Redaktion übernachtet zum Ende durchspielen, was es für sie be- Aber dann müssten es die Frauen, die so
habe. Und wenn ich mir das Leben der deutet, ein Kind zu haben, und ob sie es empfinden, zum Thema machen.
Kanzlerin angucke, du lieber Gott. Aber auch allein schaffen würde. Und ich muss SPIEGEL: Verspüren Sie manchmal eine
was heißt denn überhaupt Preis der hier doch auch mal etwas Kritisches über Wehmut, dass Sie auf Kinder verzichtet
Macht? Ich denke, es gibt einfach Frauen, Frauen sagen: Viele nehmen die Väter haben?
die gar nicht unbedingt Mutter werden wol- nicht genug in die Pflicht. Als Bruno Schwarzer: Nein. Ich habe ja ein ziemlich
len. So wie manche Männer keine Väter und ich darüber nachgedacht haben, ein aufregendes und sehr erfülltes Leben.
werden wollen. Kind zu bekommen, habe ich ihm gleich SPIEGEL: Als Sie 20 Jahre alt waren, gingen
SPIEGEL: War es in den Siebzigerjahren auch gesagt: Aber im Kreißsaal bist du dabei! Sie als Au-pair-Mädchen nach Paris.
eine politische Entscheidung, keine Kinder Ich hatte keine Lust, da allein vor mich So einen Job sucht man sich doch nur,
zu kriegen? Ein Symbol, sich nicht an das hinzuschreien. wenn man besondere Freude an Kindern
patriarchale System zu binden? SPIEGEL: Warum nehmen die Frauen ihre hat.
Schwarzer: Nein. Ich glaube nicht, dass Men- Männer nicht stärker in die Pflicht? Schwarzer: Ja, das habe ich auch. Mit den
schen so funktionieren. Man trifft solche Schwarzer: Weil Frauen Angst haben vor Jungen von damals bin ich bis heute be-
Entscheidungen nicht rein vom Kopf her, Liebesverlust. Das ist das Scheißproblem freundet. Der eine hat seine Tochter Alice
das hat viel mit Emotionen zu tun. Wir Fe- von Frauen. Dass sie immer und um jeden genannt. Auch ohne eigene Kinder habe
ministinnen waren ja nicht die maoistische Preis geliebt werden wollen. Das macht ich ständig mit Kindern zu tun. Ich habe
Bewegung, bei uns ging es nicht so rigide sie unfrei und opportunistisch. seit über dreißig Jahren ein Haus auf dem
zu. Aber natürlich hat uns der Feminismus SPIEGEL: Kurz bevor Theresa May Premier- Land. Und wenn ich da ankomme, fliegt
die Augen geöffnet. Wir begriffen, dass ministerin wurde, musste sie sich von einer schon die Türe auf, und die Nachbars-
die Männer und der Staat uns mit den Kin- Konkurrentin anhören, dass sie ja keine kinder stürmen rein.
dern allein lassen. Und bis heute bedrückt Mutter sei und sich diese Tatsache politisch SPIEGEL: Also doch ein kleines Bedauern?
es mich, dass den Frauen nicht die Wahr- auswirken könnte. Angela Merkel ging Schwarzer: Es ist aufschlussreich, dass selbst
heit gesagt wird über die Mutterschaft. Sie es vor elf Jahren im Wahlkampf ähnlich. Sie mich so auf mein Frausein festlegen.
werden ja ungeheuer belogen. Warum ist dieses unfaire Argument so Einem Mann würden Sie diese Fragen
SPIEGEL: Belogen? haltbar? nicht stellen. Aber gut, wenn es Ihnen
Schwarzer: Ja, es wird ihnen vorgegaukelt: Schwarzer: Vielleicht ist es das gar nicht Spaß macht: Manchmal denke ich, Groß-
Ihr könnt alles schaffen! Mutterschaft und mehr. Bei May hat sich dieser Vorwurf ja mutter sein wäre eigentlich ganz nett. Die
Karriere – kein Problem. Aber das ist ja Gott sei Dank als Bumerang erwiesen. Kinder kommen dann und wann zu Be-
nicht wahr. Selbst wenn eine Frau das SPIEGEL: May hat öffentlich bedauert, keine such, sind goldig, und man ist gelassen.
Glück hat, einen echten Partner zu haben, Kinder zu haben. Das hört man selten von Das finde ich einen Bombenposten.
mit dem sie sich die Arbeit zu Hause teilt. Frauen. Ist das Bedauern von Kinderlosig- SPIEGEL: Frau Schwarzer, wir danken Ihnen
Auch der kann ja unters Auto kommen. keit ein Tabu? für dieses Gespräch.
36 DER SPIEGEL 31 / 2016
Deutschland

Volkes
Wagenknecht, so sieht es Petzold, be- verständnis der Partei so zentral, dass
diene mit solchen Aussagen Ängste, um die Genossen Wagenknecht nun stoppen
Protestwähler zurückzugewinnen. „Ich wollen.

Stimme
will nicht, dass wir zu einer linken AfD Eine Abgeordnete der Linken aus Thü-
werden“, sagt er. Petzold hat deshalb sei- ringen ersann auf Twitter den Hashtag
nen Namen auf eine Unterschriftenliste ge- #nichtmeinevorsitzende. Der Bundestags-
setzt, die in der Partei die Runde macht. abgeordnete Jan van Aken forderte ihren
Parteien Linken-Fraktions- „Eine Linke, die rechts blinkt, ist nicht Rücktritt. Auch aus dem Lager der West-
mehr auf dem richtigen Kurs“, heißt es in linken, die sonst ihre treueste Anhänger-
chefin Sahra Wagenknecht redet dem Aufruf. „Sahra, es reicht.“ schar bilden, wurde Wagenknecht ange-
im AfD-Ton über Flüchtlinge. Die Wut auf Wagenknecht ist groß. gangen. Ihre Sätze, so hieß es, seien „Was-
Denn es ist nicht das erste Mal, dass sie ser auf die Mühlen der Rechten“.
Ihre Parteifreunde sind entsetzt. sich gegen den weitreichenden Willkom- Sogar dem braven Dietmar Bartsch, Ko-
Wagen sie den Putsch? menskurs ihrer Partei stellt. chef der Fraktion, wurde es zu viel. Seit-
Zweimal schon hatte ihre Fraktion ihr dem Wagenknecht und er im Herbst ge-

S
ahra Wagenknecht hat etwas ge- deutlich gemacht, dass sie sich Äußerun- meinsam die Fraktionsspitze übernommen
schafft, was in der Politik nur wenige gen sparen solle, die nach AfD riechen. haben, hatte der Realo-Mann sich jegliche
schaffen. Sie ist eine Marke. Wagen- Zweimal dachten die Genossen, die Bot- Kritik an Wagenknecht verkniffen, um des
knecht™. schaft sei angekommen. Doch Wagen- lieben Friedens willen.
Keine Politikerin ist so oft in Talkshows knecht zeigte regelmäßig, dass ihr Be- In dieser Woche ging er auf Distanz.
wie sie. Auf der SPIEGEL-Treppe der be- schlüsse der Partei mitunter ziemlich Bartsch soll außer sich gewesen sein, als
liebtesten Politiker steht sie auf er von ihren Aussagen hörte. Er
Platz 14, noch vor so manchen steckte gerade im Wahlkampf auf
Ministerinnen und Ministerpräsi- Rügen in seinem Heimatbundes-
denten. land Mecklenburg-Vorpommern,
Das Label links gehört zur Mar- wo die Linke nach dem 4. Septem-
ke Wagenknecht. Aber was genau ber am liebsten eine Regierungs-
das ist, definiert sie selbst. Wenn koalition mit der SPD bilden
ihre Vorstellungen von links an- möchte. Streit ist das Letzte, was
ders aussehen als die ihrer Partei die Partei gebrauchen kann.
Die Linke, dann ist das eben so. Bartsch soll Wagenknecht mehr
Im Zweifel setzt sie sich über die als deutlich die Meinung gesagt
Parteilinie hinweg. haben, heißt es aus seinem Um-
Bisher ist Wagenknecht mit die- feld, und ihr „die dunkelgelbe Kar-
ser Methode bestens gefahren, die te gezeigt“ haben. Soll heißen:
auch andere deutsche Politiker Noch einmal, und der Frieden ist
schon mit Erfolg praktiziert haben. vorbei.
Der damalige Verteidigungsminis- Kurz darauf ruderte Wagen-
ter Karl-Theodor zu Guttenberg knecht zurück, sprach von Miss-
HENNING SCHACHT / BERLINPRESSPHOTO

pflegte sich auf diese Weise gegen verständnissen. Sie habe auf
seine Partei, die Union, zu profi- keinen Fall Flüchtlinge unter Ge-
lieren wie seine Amtsnachfolgerin neralverdacht stellen wollen, na-
Ursula von der Leyen. Wagen- türlich nicht. „In meine Presse-
knecht ist Guttenberg von links. erklärung wurden Dinge reininter-
In dieser Woche allerdings pretiert, die ich weder gesagt noch
könnten sich die Dinge geändert gemeint habe“, sagt sie.
haben. Wagenknecht hat ihre Es ist ein Muster, das man auch
Masche möglicherweise überreizt. Politikerin Wagenknecht: Rechts blinken von anderen Populisten kennt:
Denn was sie als links erachtet, Man sagt etwas, die Aufregung ist
halten immer mehr in der Partei für rechts, gleichgültig sind. Was zählt, ist die Zustim- groß, dann relativiert man das Gesagte.
und das ist irgendwann doch ein Problem. mung der Leute, gerade auch der kleinen. Die Botschaft aber bleibt in der Welt.
Als Harald Petzold am Montag die Pres- An Zufälle glaubt in der Linken keiner „Ich hätte für mich Selbstverständliches
semitteilung seiner Fraktionschefin liest, mehr. Entweder, so heißt es unter den Ge- noch mal ausdrücklich sagen sollen, um
ist er stinksauer. Petzold, Bundestagsabge- nossen, seien ihre Sätze strategisch: Stim- Fehlinterpretationen auszuschließen“, sagt
ordneter aus dem Havelland, engagiert menfang durch Stimmungsmache. Oder Wagenknecht. Aber das ist auch schon das
sich wie viele in seiner Partei seit Monaten aber sie entsprächen ihrer Überzeugung Äußerste, was sie an Zerknirschung erken-
für Flüchtlinge. Er hilft ihnen bei Behör- und seien Teil eines linken Nationalismus. nen lässt. Im Kern hält sie an ihren Posi-
dengängen, besucht Unterkünfte, spendet Dazu passen auch die Anti-Euro-Töne, die tionen fest. Sie ist schließlich eine Marke,
einen Teil seiner Abgeordnetendiäten an in den vergangenen Tagen von ihr wieder und die muss, wie alle guten Verkäufer
Flüchtlingsinitiativen. zu vernehmen waren – auch das eine Min- wissen, gepflegt werden.
Umso mehr empört ihn, dass Wagen- derheitenposition in der Linkspartei. Und so sagt Wagenknecht trotzig:
knecht den Anschlag von Ansbach mit Lange konnte sich Wagenknecht darauf „Aber es ist auch nicht links, Probleme zu
Merkels Flüchtlingspolitik in Verbindung verlassen, dass die Linke ihre Alleingänge verschweigen.“ Im Übrigen habe sie in die-
bringt und von den „Gefahrenpotenzialen“ zähneknirschend akzeptiert. Seit dem ser Woche viele E-Mails bekommen: Die
spricht, die man aufspüren müsse, damit Abgang von Gregor Gysi in die hintere allermeisten seien zustimmend gewesen.
„sich die Menschen in unserem Land wie- Reihe ist sie ihr einziger A-Promi. Doch Wolf Wiedmann-Schmidt
der sicher fühlen können“. die Flüchtlingsfrage ist für das Selbst- Twitter: @schmidtwolf

38 DER SPIEGEL 31 / 2016


Ehemalige Journalisten Seibert, Wirtz
„Geübte Praxis“

hängigkeit der Presse für vereinbar, wenn


ehemalige Regierungssprecher oder politi-
sche Beamte nach dem Ende ihrer Tätig-
keit wieder für öffentlich-rechtliche Medien
journalistisch arbeiten? Warum werden
Journalisten, die vorher bei öffentlich-
rechtlichen Medien tätig waren, gegenüber
denen, die von privaten Medien kommen,
privilegiert? Keine Antwort.
Wirtz’ neuer Arbeitgeber, das Bundes-
justizministerium, bittet um „Verständnis,
dass wir uns zu Personalaktendaten von
Mitarbeitern des BMJV nicht äußern“. Sei-
bert bestätigt immerhin, dass „zwischen
MARKUS SCHREIBER / PICTURE ALLIANCE / AP IMAGES

dem Sender und mir eine Rückkehroption


vereinbart worden ist“. Die entspreche, so
Seibert, „der geübten Praxis beim ZDF“.
Mit der „geübten Praxis“ ist das aller-
dings so eine Sache.
Anruf bei Friedhelm Ost, von 1985 bis
1989 Sprecher von Bundeskanzler Helmut
Kohl. Auch Ost kam aus Mainz. „Ich habe
damals alle Kontakte zum ZDF abgebro-
chen“, erzählt der 74-Jährige. „Es hätte
doch sofort geheißen, du bist noch mit ei-
nem Bein in Mainz“, sagt Ost. „Das wäre

Ein Bein
bereits Sprecherin gewesen, bevor das für meine und Kohls Glaubwürdigkeit
Deutschlandradio sie anstellte. Als sie 2014 schwierig geworden.“
stellvertretende Regierungssprecherin wur- Ost kann sich an keinen anderen Presse-

in Mainz
de, löste der Sender ihren Vertrag nicht staatssekretär erinnern, der ein solches
auf, sondern gewährte ihr eine Rückkehr- Rückkehrrecht genossen hätte. ZDF-Mann
option. Rüdiger von Wechmar, den Willy Brandt
Es ist eine merkwürdige Konstruktion. 1973 zum Sprecher machte, habe ebenso
Medien Die Staatssekretäre Der öffentlich-rechtliche Rundfunk steht alle Verbindungen gekappt wie Lothar
schon lange im Verdacht, unter der Fuchtel Rühl, der acht Jahre später ebenfalls vom
Steffen Seibert und Christiane der Politik zu stehen, seit dem Jahr 2013 Lerchenberg kam und Vizesprecher wurde.
Wirtz genießen in ihren wird er zudem mit einer steuerähnlichen Auch Helmut Schmidts Sprecher Klaus
Zwangsabgabe finanziert. Nun stellt sich Bölling, der von der ARD kam, kündigte
Ämtern ein seltsames Privileg. auch noch heraus, dass er ein sicherer Ha- ganz regulär.
fen ist für Journalisten, die einmal einen Das ZDF bestätigt, dass Friedhelm Ost

V
on den 24 Regierungssprechern, die Ausflug in die Politik wagen. damals seinen Vertrag gekündigt hat. Im
in 67 Jahren Bundesrepublik dien- Es gibt schon finanziell keinen Grund Fall Seibert schließt der Sender immerhin
ten, merkt man Steffen Seibert am für das Rückkehrrecht von Seibert und „eine Rückkehr in eine journalistische
wenigsten an, dass er mal Journalist war. Wirtz. Scheidet ein beamteter Staatssekre- Funktion“ aus.
Bei seinem Abschied vom ZDF im Jahr tär nach einem Regierungswechsel aus, Das Deutschlandradio teilt mit, man
2010 schwärmte Seibert, er gehe „mit hei- wird er in den vorzeitigen Ruhestand ver- könne „aus Rücksicht auf die berechtigten
ßem Herzen“ zu Angela Merkel. Diese Be- setzt. Nach dem Beamtenversorgungs- Interessen der Kolleginnen und Kollegen
geisterung hat er sich erhalten. Wer den gesetz gut versorgt: In den ersten drei Mo- grundsätzlich keine Auskunft zum Inhalt
56-Jährigen mit roten Wangen über seine naten erhalten politische Beamte das volle einzelner Arbeitsverträge geben“. Falls
Chefin reden hört, kann sich nicht so recht Gehalt weiter, danach beziehen sie ein an- aber ein Regierungsbediensteter zum Sen-
vorstellen, dass er wieder einmal das „heu- sehnliches „Ruhegehalt“. der zurückkehre, achte man auf mögliche
te-journal“ moderieren könnte. Hinzu kommt: Die Rückkehr eines poli- Interessenkonflikte. Gegebenenfalls werde
Seibert offenbar schon. Er hat beim ZDF tischen Beamten in den Journalismus ist dann der Mitarbeiter in einem „programm-
nämlich nie gekündigt, sein Vertrag ruht heikel. Schließlich sollen die Medien mög- fernen Bereich“ eingesetzt.
nur. Und er ist nicht der einzige ehemalige lichst objektiv über die Bundesregierung Die meisten Regierungssprecher zog es
Journalist eines öffentlich-rechtlichen Sen- berichten. Schon der Wechsel von Seiberts nach ihrem Ausscheiden in die freie Wirt-
ders, der in seinem Regierungsamt eine Vorgänger Ulrich Wilhelm, der als Inten- schaft. Einer der wenigen, die noch mal in
„Rückkehroption“ zu seinem alten Arbeit- dant zum Bayerischen Rundfunk ging, wur- den Journalismus zurückkehrten, war
geber vereinbart hat. Auch Seiberts bishe- de damals heiß diskutiert, auch wenn Wil- Kohls späterer Sprecher Peter Hausmann.
rige Stellvertreterin Christiane Wirtz, 46, helm in seiner Funktion keine direkte re- Der CSU-Mann tat allerdings gar nicht erst
genießt dieses seltsame Privileg. daktionelle Verantwortung wahrnimmt. so, als arbeitete er als unabhängiger Jour-
Die gelernte Journalistin wechselte im Merkels Sprecher und seine ehemalige nalist: Er wurde nach einer Zeit als Berater
Juni als beamtete Staatssekretärin ins Bun- Stellvertreterin geben sich auf Anfrage Chefredakteur der CSU-Zeitung „Bayern-
desjustizministerium (BMJV). Dort war sie schmallippig. Halten sie es mit der Unab- kurier“. Markus Brauck, Christoph Schult

DER SPIEGEL 31 / 2016 39


Deutschland

Belgisch Block
Bundeswehr Seit zwei Jahren versucht Katrin Suder, den notorisch
skandalträchtigen Rüstungsbereich zu reformieren. Scheitert die
frühere McKinsey-Beraterin, ist auch die Karriere der Verteidigungs-
ministerin in Gefahr. Von Konstantin von Hammerstein

D
er weiße Teddybär steht zwischen sie Suder bald nach. Und überträgt ihr das
den Akten und glotzt durch eine wohl schwierigste Reformprojekt, das die
halb geöffnete Schranktür auf den neue Bundesregierung zu vergeben hat.
Flaggenständer hinter dem Besprechungs- Als beamtete Staatssekretärin soll die
tisch. „Er hat so einen Gremlinblick“, sagt McKinsey-Frau das Rüstungschaos in den
Katrin Suder. Irgendwie gruselig. Ein Ge- Griff bekommen, das von der Leyens Vor-
schenk der Rüstungsindustrie. gänger Thomas de Maizière das Amt kos-
Die Herren waren anfangs ein wenig un- tete.
gelenk im Umgang mit dem ersten weib- Ein Höllenjob. Flugzeuge, die nicht flie-
lichen Rüstungsstaatssekretär. 44 Jahre alt, gen, Hubschrauber, die nicht abheben,
promovierte Physikerin, Bachelor in Thea- Panzer, die nicht geliefert werden, Geweh-
terwissenschaften, zwei Kinder, alleiner- re, die nicht gerade schießen, Kosten, die
ziehend und dann auch noch lesbisch. Das explodieren. Und das bei einer Bundes-
war zu viel. wehr, die als weltweite Einsatzarmee ge-
Das Fremdeln beruht auf Gegenseitig- fordert ist und nun auch noch, durch die
keit. Suder ist seit zwei Jahren im Amt, Ukrainekrise, die lange vernachlässigte
aber sie kann sich nicht daran gewöhnen, Landes- und Bündnisverteidigung ausbau-
dass bei Rüstungsgeschäften der Kunde en soll.
vor dem Lieferanten sitzt und betteln muss, Ausgerechnet in dieser Situation soll
um an seine Ware zu kommen. eine Quereinsteigerin die Lösung sein?
„Wenn draußen fünf Grad minus sind Ohne militärischen und parteipolitischen
und Sie Ihren Handwerker vergeblich auf- Hintergrund? Die erste Staatssekretärin
fordern, endlich das Fenster einzusetzen, im Ministerium, mit diesem Privatleben,
Ihr Handwerker dennoch nicht reagiert, im konservativsten aller Ressorts?
dann sagen Sie: tschüss. Verklagen ihn an- Die Verteidigungsministerin knüpft ihre
schließend und nehmen sich einen neuen eigene Karriere an die ihrer wichtigsten
Handwerker – der Rüstungsmarkt funktio- Mitarbeiterin. Hat Suder Erfolg, kann auch
niert so nicht“, sagt sie. von der Leyen Erfolg melden. Scheitert
Suder hat sich nach ihrem Studium auf sie, ist die politische Zukunft der Ministe-
eine Redakteursstelle bei der „Sendung rin in Gefahr. Von der Leyen weiß, dass
mit der Maus“ beworben, aber als das sie einen Schleudersitz übernommen hat.
nicht klappte, machte sie Veränderung zu Zwei Dinge können sie jederzeit aus dem
ihrem Beruf. Sie ist „Change-Managerin“. Amt fegen. Ein Auslandseinsatz, der schief-
14 Jahre lang arbeitete sie für die Bera- geht. Oder ein Rüstungsskandal. Mit dem
tungsfirma McKinsey, zuletzt als Direkto- ersten Risiko wird sie leben müssen. An
rin im Berliner Büro. Sie beriet Großkon- dem zweiten kann sie arbeiten.
zerne, die Bundesagentur für Arbeit und Zu Suders Bereich gehört die Wehrtech- bungslos funktioniert. So gut wie immer
mehrere Ministerien. Bei einem ihrer Pro- nische Dienststelle in Trier. Dort heizen werden Rüstungsgüter teurer als geplant,
jekte lernte sie 2010 die damalige Arbeits- Ingenieure der Bundeswehr mit Panzern kommen später als versprochen und leis-
ministerin kennen. und Geländewagen über eine mörderische ten weniger als angekündigt. Ein weltwei-
Als Ursula von der Leyen drei Jahre spä- Teststrecke. Besonders gefürchtet ist Bel- tes Debakel, das Gründe hat.
ter ins Verteidigungsressort wechselt, holt gisch Block, eine spezielle Marterpiste aus Moderne Waffensysteme sind riskante
Schlaglöchern und grobem Kopfsteinpflas- Hightech-Neuentwicklungen. Sie müssen
ter. Oft müssen die Tester danach kiloweise dem Gegner überlegen sein, deshalb kann
Schrauben von der Strecke klauben. man sie nicht von der Stange kaufen. Im
Die Reform der Wehrbeschaffung ist das Vergleich zu zivilen Produkten sind die
politische Äquivalent zu Belgisch Block. Stückzahlen winzig, und die Produktion
Wohl dem, der auf dieser Strecke nur ein ist teuer.
paar Schrauben verliert. In der kommen- Ein neuer VW Golf läuft nach seiner
den Woche ist Suder zwei Jahre lang im Entwicklung millionenfach vom Band. Von
Amt. Ein guter Zeitpunkt, ihre „Perfor- dem neuen Schützenpanzer „Puma“ wer-
MARCO-URBAN.DE

manz“ zu untersuchen. Das Wort aus der den 350 Stück produziert. Die große Rhein-
McKinsey-Welt gehört zu Suders Lieblings- metall-Panzerfabrik im niedersächsischen
begriffen. Unterlüß ist in Wahrheit eine Manufaktur
Reformerin Suder Wahrscheinlich gibt es kein Land auf mit Einzelanfertigung. Deshalb kostet je-
Teddybär von der Rüstungsindustrie der Erde, dessen Wehrbeschaffung rei- der „Puma“ über zwölf Millionen Euro.
40 DER SPIEGEL 31 / 2016
SEBASTIAN WILKE / BUNDESWEHR
Bundeswehrsoldaten an Bord eines CH-53-Hubschraubers: Hey Joe, lass uns das mal so machen

Die Gesetze des Marktes, die im Ideal- wird es nicht geben. Die berüchtigte Be- schaft KPMG einen Bericht über die neun
fall Preise nach unten und Leistungen nach schaffungsbehörde für Wehrtechnik in Ko- wichtigsten Rüstungsprojekte der Bundes-
oben treiben, sind im Rüstungsbereich blenz mit ihren 11 000 Mitarbeitern soll wehr vor. Das Ergebnis ist vernichtend.
weitgehend ausgeschaltet. Viele Anbieter nicht in eine Agentur verwandelt werden. Beinahe alle Beschaffungen sind teurer als
sind Monopolisten, und auch auf der Ab- Den Moloch von Nürnberg, die Bundes- geplant, werden zu spät und dann nur mit
nehmerseite herrscht kein Wettbewerb. In anstalt für Arbeit, hat man 2002 auf diese Mängeln ausgeliefert.
jedem Land gibt es meist nur einen einzi- Weise erfolgreich umgebaut. Sie kann Die Prüfer kritisieren handwerkliche De-
gen Kunden, die jeweiligen Streitkräfte. beim Personal freier agieren und ist bei fizite im Ministerium und in der Industrie,
Die Wehrbeschaffung ist immer politi- der Bezahlung ihrer Vorstände nicht an sie bemängeln politische Einflussnahme,
siert, Lobbyisten haben deshalb einen die Bezüge für Beamte gebunden. die mit militärischen Erfordernissen nichts
übergroßen Einfluss, die Wehrverwaltun- Bei einer Agentur müsste das Parlament zu tun hat. Sie prangern das „Hefekuchen-
gen sind in vielen Ländern notorisch kor- loslassen können, doch der Bundestag will prinzip“ an, wie es im Ministerium ge-
rupt, dazu geheimniskrämerisch, entschei- mehr und nicht weniger Kontrolle im Be- nannt wird. Ein kleines Törtchen ver-
dungsschwach, intransparent, ineffizient. schaffungsbereich. „Der Umbau hätte uns schwindet im Ofen, ein großer Kuchen
Willkommen in der Welt der Katrin Su- mehrere Jahre gekostet“, sagt Suder, „die- kommt wieder raus. Um Projekte durchs
der. Als die Beraterin vor zwei Jahren auf se Zeit hatten wir nicht.“ Zwei Jahre Still- Parlament zu bekommen, werden sie klein
ihr Millionengehalt bei McKinsey verzich- stand kann sich die Truppe nicht leisten. gerechnet. Das dicke Ende kommt dann
tet und für 165 000 Euro im Jahr ihr neues Sie ist im Einsatz, sie braucht Material. später.
Amt antritt, ist eine wichtige Vorentschei- Wenige Wochen nach Suders Amtsan- Suder und ihre Leute erzählen von die-
dung bereits gefallen. Eine Radikalreform tritt legt die Wirtschaftsprüfungsgesell- sen Wochen im Herbst 2014 wie Welt-
DER SPIEGEL 31 / 2016 41
kriegsveteranen von der Schlacht am
Kursker Bogen. Im Verteidigungsausschuss
muss die Ministeriumsspitze einen Offen-
barungseid ablegen. Von 109 „Euro-
fighter“-Kampfjets sind nur 42 einsatzbe-
reit, bei den „Tornados“ sind es 38 von 89.
Von 56 „Transall“-Transportfliegern kön-
nen nur 24 starten.
Die Lage ist eine Katastrophe, doch die
Ministerin ist rücksichtslos genug, die Krise
als Chance zu begreifen. Es ist die einma-
lige Gelegenheit, das Chaos ihren Vorgän-
gern vor die Füße zu kippen. Bebend vor
Wut muss der ohnehin tief gekränkte Tho-
mas de Maizière mitansehen, wie er zum
Hauptschuldigen des Debakels um das
Sturmgewehr G36 gemacht wird.
Der heiße Rüstungsherbst ist der Funke,
den die Ministerin und ihre Staatssekretä-
rin brauchen, um eine kleine Revolution
anzufachen. Von der Leyen lässt verbrei-
ten, der Suder-Vorgänger Stéphane Bee-
melmans habe intern dafür geworben, alle
Probleme wie immer unter den Teppich
zu kehren. Er muss gehen.
Von der Leyen entscheidet sich, alles
auf den Tisch zu legen: die Zahlen, die
Probleme, die Risiken, die Lieferzeiten,
die Verspätungen, die Kostenüberschrei-
tungen, die Pannen, die Fehler, die Mängel,
die Ausfallzeiten. Schuld an dem Chaos
ist ja nicht sie, sondern der unfähige Vor-
gänger de Maizière.
Die Öffentlichkeit, das Parlament – sie
können sich kaum noch retten vor dem
Unrat aus dem Ministerium, mit dem sie
jetzt geflutet werden. Zweimal im Jahr ein
Rüstungsbericht, jeweils der erste Teil öf-
fentlich, der zweite vertraulich, aber auch
der wird sofort an die Medien durchgesto-

MAJA HITIJ / DPA


chen. Hunderte Seiten, wunderbare Gra-
fiken, saubere Charts, kleine bunte Risiko-
ampeln.
Der „Puma“? Kommt 54 Monate zu spät Verteidigungsministerin von der Leyen: Wider das Hefekuchenprinzip
und wird 1,185 Milliarden Euro teurer als
geplant. Der Hubschrauber CH-53? 33 Mo- Vor allem das ist für Suder wichtig. Sie der nach unten geleitet. Ginge auch gar
nate zu spät, 102 Millionen teurer. Der muss den Apparat drehen, sonst wird sie nicht, weil das EDV-System des Ministe-
Transportflieger A400M? 107 Monate zu scheitern. Bisher läuft es so: Hat ein Pro- riums nicht mit dem des Beschaffungsamts
spät, 1,47 Milliarden zu teuer. jektleiter im Beschaffungsamt in Koblenz gekoppelt ist.
Der Vorstandschef eines bekannten Rüs- ein Problem, meldet er es seinem Grup- Ist die Vorlage besonders kritisch, steht
tungsunternehmens kräuselt sorgenvoll die penleiter. Der leitet es an den Abteilungs- überall auf der Mappe „in Vertretung“.
stark gebräunte Stirn. Ist das nicht Lan- leiter, dann kommt der Vizepräsident, Besser, man ist im Urlaub oder auf Dienst-
desverrat? Kennt der Russe jetzt nicht un- noch ein Vizepräsident, der Präsident. Von reise. Dann muss eben der Vertreter ge-
sere Schwächen? Von der Leyen lacht. Der dem geht es nach Berlin an den Fachrefe- genzeichnen. Bloß keine Verantwortung
Russe kennt doch die Probleme der Bun- renten im Ministerium, zum Referatsleiter, übernehmen.
deswehr. Er muss ja nur Zeitung lesen. dem Unterabteilungsleiter, dem stellver- Im August 2014 fährt Suder zum ersten
Die Abgeordneten schaffen es kaum tretenden Abteilungsleiter, dem Abtei- Mal zum Wehrbeschaffungsamt in Ko-
noch, die dicken Berichte auszuwerten. lungsleiter, und erst dann landet die Mel- blenz. Sie wird feierlich begrüßt, Blumen,
Denn schon kommen neue Meldungen. dung beim Staatssekretär. wichtige Gesichter bei den Beamten, das
Jede Panne, jede Verzögerung, jeder Feh- Es sei denn, irgendeiner in der Kette übliche Ritual. Bei ihrem Abschied sagt
lerbericht eines Lieferanten wird sofort greift zum Telefonhörer und sagt: sie: „Ich komme in vier Wochen wieder.“
dem Verteidigungsausschuss und damit der Nimm das und das mal raus, sonst leite Verblüffung bei den Beamten. Warum das
Öffentlichkeit gemeldet. Die Meldungen ich’s nicht weiter. Gut möglich also, dass denn? Noch größere Verblüffung, als sie
sind so inflationär, dass jede einzelne der Projektleiter Rot meldet und ganz dann tatsächlich wieder kommt. Und noch
kaum noch ein Aufreger ist. Und die Trans- oben Grün ankommt. Was der ursprüng- mal und noch mal. Suder verfügt, dass sich
parenz zwingt der Rüstungsverwaltung ein liche Absender aber nicht mitbekommt, Projektleiter bei Problemen direkt an sie
neues Denken auf. denn was einmal oben ist, wird nicht wie- wenden können. Es ist ein Novum in einer
42 DER SPIEGEL 31 / 2016
Deutschland

Behörde, die immer streng den Dienstweg entschieden. Auch unten soll Verantwor- kommt, ist niemand mehr im Amt, weder
einhält. tung übernommen werden. Kein Beamten- im Haushaltsausschuss noch im Ministe-
Die Staatssekretärin ist eine Anhängerin mikado mehr, „wer sich zuerst bewegt, hat rium oder in Koblenz. Geprügelt werden
der Dritteltheorie. Bei Veränderungspro- verloren“. die Nachfolger, wenn dann der Schützen-
zessen gibt es ein Drittel, das etwas will. Wehrbürokratie und Rüstungsindustrie panzer „Puma“ 54 Monate zu spät geliefert
Diese Leute müssen auf die entsprechen- verbindet ein gewachsener Filz. Die Be- wird und 1,185 Milliarden Euro teurer ist
den Posten gesetzt werden und Freiräume schaffer aus dem Amt und die Lieferanten als geplant.
bekommen, sodass sie etwas verändern der Industrie arbeiten oft jahrelang eng zu- Der Bundesrechnungshof kritisiert die
können. Das mittlere Drittel muss man sammen. Das verbindet. Da tut man sich miesen Verträge seit Jahren. Kay Scheller,
dazu bringen, dass es zumindest in die rich- gern mal einen kleinen Gefallen und hilft. der Präsident der Bonner Rechnungsprüfer,
tige Richtung geht. Und das dritte Drittel? Auch ohne Vertrag. Es wird schon nicht erzählt gern die Geschichte der 30 Lenk-
Tja, das ist eben das letzte Drittel. vergessen werden. flugkörper, die von der Bundeswehr 2005
Nun also soll Koblenz, diese Inkarnation „Hey-Joe-Prinzip“ nennt Gundbert für ihre Korvetten gekauft wurden. 2009
einer deutschen Mammutbehörde, auf Ma- Scherf diese Kultur. Hey Joe, lass uns das sollten sie einsatzbereit sein, wurden aber
nagementdenken getrimmt werden. Denn mal so machen. Scherf ist Suders engster erst drei Jahre später geliefert.
Manager, so predigen es Suder und ihre Vertrauter. Ex-McKinsey, 34 Jahre alt, Glat- 2012 zahlte die Bundeswehr den vollen
Jünger in ihren Workshops, sind output- ze, taillierte Tweedjacketts, hellblaue Kaufpreis von 60 Millionen Euro, ohne die
orientiert. Das heißt, sie wollen möglichst Hosen, hellbraune, spitze Schuhe. Der Waffen ausreichend zu prüfen. Prompt fie-
schnell ein möglichst gutes, möglichst güns- wandelnde Kulturbruch in dem konser- len zwei ins Meer. Der Hersteller war
tiges Produkt. Während der Beamte als vativen Ministerium. Hey-Joe- und Hefe- schuld, aber die Verträge waren so schlecht
Erstes die Frage stellt: Bin ich zuständig? kuchenprinzip hängen bedauerlicherweise ausgehandelt, dass die Bundeswehr meh-
Und werden alle Vorschriften eingehalten? zusammen. rere Millionen für weitere Tests überneh-
Eine Sitzung in Koblenz ist Suders Das liegt an den katastrophalen Verträ- men musste. Immerhin fliegen die Ge-
Leuten im Gedächtnis geblieben. Ein Be- gen, die von der Bundeswehr in der Ver- schosse inzwischen, können allerdings nur
amter meldet sich zu Wort und sagt, wir gangenheit abgeschlossen wurden. Die gegen Ziele auf See und nicht an Land ein-
müssen den „Eurofighter“ abnehmen. funktionierten in etwa so: Ich kaufe einen gesetzt werden.
Dazu brauchen wir Bodenprüfgeräte, um Panzer, der 10 Millionen Euro kostet. Für 13 920 Beschaffungsverträge hat das Ko-
zu testen, ob die Jets funktionieren. Kostet den Fall, dass er nicht rechtzeitig geliefert blenzer Amt im vergangenen Jahr abge-
30 000 Euro, also so gut wie nichts, wenn wird, vereinbaren wir einen Schadenser- schlossen, 7 davon lagen über der magi-
man an die Milliarden für das „Euro- satz von zehn Prozent, also von einer Mil- schen 25-Millionen-Euro-Grenze, sodass
fighter“-Programm denkt. lion. Diesen Risikoaufschlag teile ich mir der Haushaltsausschuss des Bundestags zu-
Der Projektleiter will, dass der „Euro- mit dem Verkäufer. Jeder übernimmt eine stimmen musste. Suder hat drei Großpro-
fighter“ fliegen kann. Für den Haushalts- halbe Million. jekte identifiziert, an denen sie exempla-
experten im Ministerium aber, der die Der Panzer müsste also 10,5 Millionen risch durchexerzieren will, wie komplexe
30 000 Euro freigeben muss, ist der „Euro- Euro kosten. Aber wenn er so teuer ist, Verträge in Zukunft ausgehandelt werden
fighter“ nicht das Wichtigste. Er muss da- wird das Parlament ihn nicht durchwinken. sollen: das neue Mehrzweckkampfschiff
rauf achten, dass die Haushaltsordnung Also lassen wir den Risikoaufschlag weg, 180, das Raketenabwehrsystem
eingehalten wird. Und es ist immer heikel, selbst wenn der Schadensersatzanspruch „Meads“ und das neue europäische Droh-
Geld einfach umzuwidmen. Er schiebt den damit entfällt. Und sicherheitshalber rech- nenprojekt.
Vorgang hoch an den Abteilungsleiter. Der nen wir noch ein paar weitere Kosten raus, Schluss mit dem Hefekuchenprinzip –
hat viel auf dem Schreibtisch. Wenn’s nur sodass am Ende nur noch 8 Millionen auf das ist die Kernbotschaft, die Suder ver-
um 30 000 geht, wird es ja wohl nicht so der Rechnung stehen. So genau muss es mitteln will. Kosten sollen für das Parla-
wichtig sein, also bleibt die Sache liegen. das Parlament ja nicht wissen, Hauptsache, ment in Zukunft transparent sein, auch
Und der „Eurofighter“ am Boden. es stimmt zu. Hefekuchenprinzip eben. der Risikoaufschlag. Teuer wird es also
Suder will erreichen, dass dieses Kom- Der Rest wird auf Zuruf geregelt. Hey-Joe- schon am Anfang und nicht erst am
petenz-Pingpong aufhört. Deshalb müssen Prinzip eben. Schluss.
nun alle einmal im Monat zusammensit- Alle sind zufrieden, ein kleines Törtchen Die absurde Praxis, auch für Großpro-
zen, die Projektleiter, die Haushälter, wird in den Ofen geschoben, und wenn 10, jekte Musterverträge aus der Schublade
die Staatssekretärin, und es wird gleich 15 Jahre später der dicke Kuchen raus- zu holen, wird es nicht mehr geben. Ko-

Zu spät, zu teuer +40% „Eurofighter“ +40% Fregatte F125


Verzögerungen und Kostensteigerungen
bei Rüstungsprojekten
P H OTOT H E K ; A . RA I N / D PA ; C. V E N N E M A N N / ACT I O N P R ES S

Quelle: Verteidigungsministerium
+136 Monate +30 Monate
P. ST EF F EN / DPA ; G . VAN DER S C H A AF ; ULL STEIN -

Schützenpanzer Unterstützungs-
Kosten- „Puma“ hubschrauber Transportflugzeug A400M
steigerung „Tiger“
+36 %
+24%
+18%

+54 Monate +80 Monate +107 Monate


Lieferverzögerung

DER SPIEGEL 31 / 2016 43


Deutschland
10 x digital lesen + Prämie!
blenz wird jetzt von externen Anwälten
Testen Sie 10 x den digitalen beraten. Die Verhandlungen ziehen sich
seit Monaten hin, die Industrie stöhnt.
SPIEGEL mit vielen multimedia- Das neue Kriegsschiff ist europaweit
ausgeschrieben worden, auch das eine
len Inhalten auf Tablet, Smart- Premiere. Aufschrei der Werftenindustrie,
phone und PC/Mac – auch off- Unruhe im Bundestag. Soll da etwa der
Einfluss der Abgeordneten beschnitten
line und schon ab freitags 18 werden? Parlamentarier kritisieren gern
Uhr. Alle SPIEGEL-E-Books und öffentlich, dass alles immer teuer wird,
sorgen aber gleichzeitig dafür, dass mög-
der digitale LITERATUR SPIEGEL lichst Unternehmen aus ihrem Wahlkreis
sind inklusive! zum Zuge kommen. Auch wenn’s teurer
wird.
Der Haushaltsausschuss des Bundestags
ist der eigentliche Aufsichtsrat des Minis-
teriums, denn das Verteidigungsbudget ist
der einzige Etat der Bundesregierung, bei
dem alle Ausgaben über 25 Millionen Euro
einzeln abgesegnet werden müssen. Das
bietet Lobbyisten eine wunderbare Ein-
flugschneise.
„Können wir mal aufhören, sachlich zu
sein, und endlich politisch werden?“, zi-
10 € Amazon.de Gutschein USB-PowerBank tieren Kollegen den einflussreichen sozial-
demokratischen Haushälter Johannes
Kahrs. Gibst du mir meine Umgehungs-
10 Wochen lesen, 10 Wochen lesen, straße, geb ich dir deine Panzerabwehr-
50 % sparen 50 % sparen rakete. Das heißt „politisch“ in Berlin.
10 bis 15 Jahre dauert der Umbau einer
SPIEGEL-E-Books inklusive SPIEGEL-E-Books inklusive Großorganisation, glaubt Suder. So lange
wird sie nicht bleiben. Einflussreiche In-
digitaler LITERATUR SPIEGEL digitaler LITERATUR SPIEGEL dustrievertreter erzählen gern, es gebe Hin-
inklusive inklusive weise darauf, dass in Koblenz schon jetzt
auf Zeit gespielt werde. Warten, bis die
10 € Amazon.de Mit Universalakku fürs große Suder-Welle vorbeigeschwappt ist.
Gutschein gratis Smartphone, Zzlg. € 1,– Um dann alles weiter so zu machen wie
bisher.
Die Gefahr besteht. Vieles ist nach zwei
Jahren noch in der Anfangsphase. Das
lässt sich leicht zurückdrehen. Andere Din-
Prämie ge nicht. Die Transparenzoffensive zu be-
enden wäre für jeden Verteidigungsminis-
zur Wahl ter politisch riskant. Sie nicht zu beenden
allerdings auch. Selbst von der Leyen wird
es nicht auf Dauer gelingen, ihre Vor-
gänger für alle Pannen verantwortlich zu
(Lieferung ohne Smartphone)

machen.
Suder ist mit dem dritten Kind schwan-
ger, sie wird im Herbst in den Mutter-
schaftsurlaub gehen. Ihr Mitstreiter Scherf
hat angekündigt, dass er Ende des Jahres
das Ministerium verlassen wird. Im nächs-
ten Jahr wird gewählt. Wer weiß, ob die
Ministerin danach noch im Amt ist. Bleibt
sie, wird wohl auch Suder bleiben. Wech-
selt sie, geht auch die Staatssekretärin.
„Ich fand’s eine Ehre, gefragt zu wer-
Jetzt 10 x den digitalen SPIEGEL für den“, sagt sie. „Wenn jemand mit meiner
Biografie Staatssekretärin im Verteidi-
nur € 19,90 + Prämie sichern! gungsministerium wird, ist allein das schon
ein Grund, sein Land zu verteidigen.“


Video: Auf der Bundeswehr-
abo.spiegel.de/digital10 Teststrecke
spiegel.de/sp312016ruestung
oder in der App DER SPIEGEL

44 DER SPIEGEL 31 / 2016


Stromfresser
im Keller
Umwelt Sind Passivhäuser besser
als andere Neubauten? Eine
Wohnungsgesellschaft baute
zwei Gebäude nebeneinander

KRISTINA SCHAEFER / GWW


und machte den Alltagstest.

A
uf den ersten Blick wirken die Häu-
ser wie exakte Kopien: zwei schlich-
te weiß-grün-graue Wohnwürfel im
Wiesbadener Neubauquartier Weidenborn. GWW-Passivhaus (r.), Vergleichshaus: „Unterm Strich praktisch kein Vorteil“
Fünf Stockwerke, gleiche Grundrisse, je-
weils 14 Wohnungen. Die beiden Gebäude Um den Stromverbrauch zu erklären, familienhäusern gut funktionieren, wenn
stehen direkt nebeneinander, aber nur ei- führen Kremer und sein Baubereichsleiter die Eigentümer sich diszipliniert an die
nes von ihnen galt bislang als zukunfts- Thomas Keller in einen abgeschlossenen Erfordernisse der Technik hielten, sagt
weisend. Raum im Untergeschoss des Passivhauses. Dirk Müller von der Technischen Univer-
An den extradicken Außenwänden des Dort verlaufen dicke Lüftungsrohre aus sität Aachen. Zur Standardlösung für alle
Hauses in der Rüthstraße 9 kleben 26 Zen- der Decke zu einem wummernden Kasten, Gebäudearten tauge es nicht.
timeter starke Polystyrolplatten. Die Fens- durch den große Mengen Luft gepumpt Schulen sollten beispielsweise besser
ter sind absolut luftdicht und dreifach ver- werden. Der Wärmetauscher erwärmt Au- nicht nach Passivhausstandard gebaut
glast. Im Inneren des Gebäudes arbeitet ßenluft, die ständig in die stark isolierten sein, warnt der Professor für Gebäude-
ein automatisches Lüftungssystem mit zen- Wohnungen gepumpt wird, und nutzt dazu und Raumklimatechnik: „Wenn sich ein
tralem Wärmetauscher. Das Haus ist ein Wärme, die aus der verbrauchten Luft in Klassenraum bei Unterrichtsbeginn in
sogenanntes Passivhaus, hochmodern, auf- den Wohnungen herausgezogen wird. kurzer Zeit füllt, ist das Lüftungssystem
grund von Dämmung und Wärmetauscher „Das alles kostet Strom“, sagt Keller. schnell überlastet, und man muss die
kommt es fast ohne Heizung aus. Theoretisch sollte der Spareffekt beim Fenster aufreißen.“ Auch die Wirkung
Das Haus mit der Nummer 7 daneben Heizen höher sein als der Mehrverbrauch sehr dicker Wanddämmung werde über-
hat eine deutlich bescheidenere Dämm- beim Strom. In der Praxis hätten Mieter schätzt. Nur die ersten zehn bis zwölf
schicht von nur 14 Zentimetern, Isolier- aber oft andere Bedürfnisse als von den Zentimeter seien effektiv, sagt Müller.
fenster und eine einfache Wohnraumlüf- Konstrukteuren angenommen, erklärt Kel- Danach nehme der Wirkungsgrad des
tung gibt es dort auch, aber alles nach den ler: Manche wollten eben lieber drei Grad Dämmmaterials ab.
weniger anspruchsvollen Regeln der Ener- mehr im Wohnzimmer. Andere ließen häu- Wirtschaftlich sei die Bauweise bei ih-
gieeinsparverordnung von 2009. fig die Fenster offen, was in den Modellrech- nen jedenfalls nicht, resümieren die Wies-
Den Alltagstest für das Passivhaus hat nungen nicht vorgesehen gewesen sei. Oder badener GWW-Leute: Die beiden Passiv-
sich die städtische Wiesbadener Woh- die Bewohner drehten die Strom zehrende häuser waren nach ihrer Rechnung im Bau
nungsbaugesellschaft GWW ausgedacht. Lüftung permanent voll auf, weil ihnen der um 220 Euro pro Quadratmeter teurer als
„Wir wollten vorurteilsfrei an einem prak- Standardluftaustausch nicht genüge. die konventionellen Vergleichsgebäude.
tischen Beispiel herausfinden, ob sich der Dem Passivhaus Institut in Darmstadt, „Mit dem Geld könnten wir weitaus grö-
hohe bauliche Aufwand und die Mehr- das den selbst entwickelten Standard in- ßere Energiespareffekte erreichen, wenn
kosten für Passivhäuser lohnen“, sagt ternational propagiert, gefallen die Ergeb- wir damit Altbauten aus den Fünfziger-
GWW-Geschäftsführer Hermann Kremer. nisse aus Wiesbaden natürlich nicht. „Wir jahren sanieren“, sagt Kremer.
Um eine bessere Datengrundlage zu ha- sind mit der GWW im Gespräch“, sagt Außerdem brauchen Dämmung und Lüf-
ben, ließ die GWW noch zwei weitere Ver- Berthold Kaufmann, der den Modellver- tungsanlagen Platz. Das Passivhaus an der
gleichshäuser nebeneinander bauen. Zwei such für das Institut auswertet: Vermutlich Rüthstraße hat bei gleicher Grundfläche
Jahre maßen die Wohnungsbauer dann müsse am Lüftungssystem „nachjustiert“ laut GWW fast 67 Quadratmeter weniger
und verglichen. Das Ergebnis beschreibt werden, sagt Kaufmann. Und die Mieter nutzbare Fläche als das konventionelle Ver-
Kremer als „ziemlich ernüchternd“. brauchten eventuell eine Nachschulung im gleichsgebäude nebenan.
Zwar liegt der Heizenergieverbrauch in Umgang mit der Passivhaustechnik. Umgerechnet auf das ganze Gebiet Wei-
den Passivhäusern fast ein Drittel unter Grundsätzliche Zweifel an Passivhäu- denborn mit rund 800 Wohnungen bedeu-
dem der Vergleichshäuser, aber dafür ver- sern wischen Vertreter des Instituts beisei- te dies, dass mit Passivhausstandard dort
brauchten sie deutlich mehr Strom. Mit te. Weltweit seien bereits mehr als 60 000 etwa 40 Wohnungen weniger gebaut wer-
knapp 19 000 Kilowattstunden pro Jahr sei solcher Gebäude konstruiert worden, das den könnten als nach gesetzlichen Stan-
der allgemeine Verbrauch des Hauses, der Interesse steige stetig. Einige Städte, wie dards. „Angesichts der Wohnungsnot in
nicht in den einzelnen Wohnungen anfalle, Frankfurt am Main, haben den Standard Ballungszentren ist das durchaus ein Ar-
beinahe viermal so hoch wie in den Normal- für öffentliche Gebäude übernommen. Sie gument“, sagt Kremer. Matthias Bartsch
häusern, sagt Kremer. Dadurch werde die wollen auch Schulen und Krankenhäuser
Einsparung bei der Heizenergie nahezu auf- nur noch so bauen. Lesen Sie auch auf Seite 112
gezehrt: „Unterm Strich bieten die Passiv- Nicht alle halten das für sinnvoll. Das Wie Häuser mit der Hitze von Rechenzentren
häuser somit praktisch keinen Vorteil.“ Passivhaus könne bei selbst genutzten Ein- geheizt werden sollen
DER SPIEGEL 31 / 2016 45
Sozialdemokratin Kraft, Flüchtlinge
„Der Bund lässt uns Länder im Stich“

SPIEGEL: Warum nicht?


Kraft: Von den 2625 Abschiebungen im ers-
ten Halbjahr 2016 aus Nordrhein-Westfalen
waren nur 55 Marokkaner, davon haben
wir 22 nach Marokko abgeschoben und
33 ins europäische Ausland zurückge-
schickt. Bei den Algeriern waren es 57,
davon 21 direkt nach Algerien. Das sind
einfach zu wenige.
SPIEGEL: Wie viele abgelehnte Asylbewer-
ber lassen sich in einer Maschine aus-
fliegen?
Kraft: Wir können nach Marokko und
Algerien nur per Linienflug abschieben.
Beide Länder lehnen Charterflüge bisher
ab. Auf Linienflügen akzeptieren die Air-
lines aber meist nur ein bis zwei Ab-
zuschiebende. Und wenn einer randaliert,
weigert sich der Pilot, alle beide mit-
zunehmen.
SPIEGEL: Hilft denn der Bund?
Kraft: Der Bund lässt uns Länder im Stich.
Der Bundesinnenminister hat mit Marok-

MARCEL KUSCH / DPA


ko und Algerien im Februar eine Rück-
nahmevereinbarung getroffen, die in der
Praxis kaum tauglich ist. Das stört und är-
gert mich – da muss dringend nachgebes-
sert werden. Wir sind dazu mit dem Bund

„So geht es nicht weiter“


im Gespräch.
SPIEGEL: Haben Sie Druckmittel?
Kraft: Die Länder machen keine Außen-
politik. Deshalb wehren wir uns so vehe-
SPD NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, 55, will schneller ment gegen den Vorwurf, wir würden un-
genügend abschieben.
abschieben und mehr Unterstützung der Bundesregierung. SPIEGEL: In Berlin wird diskutiert, Ländern,
die nicht kooperieren, die Entwicklungs-
SPIEGEL: Frau Ministerpräsidentin, die Er- Kraft: Der Bund hat Abkommen mit Marok- hilfe zu kürzen.
eignisse der vergangenen zwei Wochen ko und Algerien verhandelt, die sich in der Kraft: Die Verhandlungen zu führen ist Auf-
beunruhigen das Land. Kippt die Stim- Praxis als untauglich erweisen. Wir können gabe der Bundesregierung und nicht mei-
mung gegenüber den Flüchtlingen? Asylbewerber, auch wenn sie ausreisepflich- ne. Für mich ist nur wichtig, dass etwas
Kraft: Richtig ist, dass wegen der Anschläge tig sind, häufig nicht dorthin abschieben. geschieht. So geht es nicht weiter.
Sorgen und Ängste wachsen. Es gibt aber Wenn wir so weitermachen wie im Moment, SPIEGEL: Nach einem Jahr merkelscher
auch weiterhin ein fantastisches Engage- würde es allein in Nordrhein-Westfalen Flüchtlingspolitik: War diese Politik alter-
ment von vielen haupt- und ehrenamt- über 20 Jahre dauern, bis wir alle Ausreise- nativlos, oder hätte man die Weichen an-
lichen Helfern. pflichtigen zurückgeschickt haben. ders stellen können?
SPIEGEL: Wie sollte die Politik in diesen SPIEGEL: Bereiten die Migranten aus Nord- Kraft: Die Situation hat uns alle in Deutsch-
Zeiten mit den Sorgen der Menschen um- afrika Ihren Behörden besonderen Ärger? land unvorbereitet getroffen. Wir hatten
gehen? Kraft: Grundsätzlich sind die Kriminalitäts- jahrelang die Unterkünfte in den Kommu-
Kraft: In jedem Fall nicht ignorieren. Wir raten aller Flüchtlinge unterdurchschnitt- nen abgebaut, der Datenabgleich war nicht
tun in puncto Sicherheit, was wir können. lich. Bei Migranten aus Marokko und Al- möglich, es gab organisatorische Defizite,
Aber die Wahrheit ist: Wir können keine gerien ist das anders. Seit 2010 ist allein dem Bundesamt für Migration und Flücht-
hundertprozentige Sicherheit garantieren. bei uns die Zahl der Häftlinge aus dem linge fehlte Personal. Wir haben inzwi-
Ein Amoklauf eines Einzeltäters ist kaum Maghreb um 52 Prozent auf heute über schen gemeinsam sehr viel verbessert, aber
zu verhindern. 350 gestiegen, überwiegend junge Männer. wir sind noch nicht am Ziel, insbesondere
SPIEGEL: Sie sollen in einer Ministerpräsi- Aus dem Justizvollzug höre ich, dass diese bei der Integration.
dentenrunde der letzten Wochen gesagt Leute schnell laut werden und versuchen, SPIEGEL: Sind Sie froh, dass die Grenzen im
haben, die Flüchtlinge müssen raus, raus, das Personal einzuschüchtern. Gespräche Moment vergleichsweise dicht sind?
raus … mit ihnen enden häufig mit einer Suizid- Kraft: Entscheidend ist, dass wir jetzt da-
Kraft: Falsch. Ich plaudere ungern aus in- drohung oder Selbstverletzung. Gegen- rangehen, die Fluchtursachen zu bekämp-
ternen Sitzungen, aber das muss ich klar- über weiblichen JVA-Bediensteten reagie- fen. Und wir täten gut daran, Entwick-
stellen: Vertreter der Bundesregierung hat- ren sie häufig vollkommen respektlos. Es lungspolitik einen anderen Stellenwert
ten uns mal wieder vorgeworfen, wir Län- kommt auch zu körperlichen Auseinander- beizumessen. Ich muss selbstkritisch sa-
der würden nicht genug abschieben. Ich setzungen mit anderen Gefangenen. gen, im täglichen Hamsterrad war die
habe dann darauf hingewiesen, dass wir SPIEGEL: Was passiert nach der Entlassung? Entwicklungszusammenarbeit lange Zeit
oft gar nicht abschieben können. Insbeson- Kraft: Dann sollten wir diese Leute eigent- kein Thema. Das war ein Fehler, auch
dere nicht Flüchtlinge aus dem Maghreb. lich schnell abschieben, können es aber von mir.
SPIEGEL: Wo liegt das Problem? nicht. Interview: Horand Knaup, Barbara Schmid

46 DER SPIEGEL 31 / 2016


Deutschland

Hass und
Ein anderes Mal singen Fans des SV Kriminalität“ werden viele Übergriffe gar
Lichtenberg bei einem Fußballspiel gegen nicht als judenfeindlich erfasst, weil sie –
den SV Tasmania ein Hetzlied gegen Hans wie es im Polizeideutsch heißt – „anderen

Hetzlieder
Rosenthal, den einstigen populären Show- Phänomenbereichen“ zugeordnet wurden.
master und Expräsidenten von Tennis Bo- Der Vorfall in Neukölln wäre vermutlich
russia Berlin: „Der alte Jude lebt nicht als schwulenfeindlich eingestuft worden.
mehr, Hans Rosenthal ist tot.“ Auch Gerichte tun sich schwer mit der
Antisemitismus Übergriffe auf Viele der Fälle wären ohne die Arbeit Einordnung. Voriges Jahr ließ das Amts-
von Rias gar nicht bekannt, denn oft wer- gericht Wuppertal drei Palästinenser mit
Juden mehren sich, von der den sie der Polizei nicht einmal gemeldet. geringen Strafen davonkommen, die einen
Polizei werden sie aber oft nicht Auch den Übergriff in Neukölln kannte Brandanschlag auf eine Synagoge verübt
erfasst. Ein Berliner Verein hat ein diese bis vor Kurzem nicht. „Wir wissen, hatten. Der Richter befand, die Angeklag-
dass viele Juden ihre Erfahrungen nicht ten hätten nicht aus antisemitischen Moti-
neues Meldesystem entwickelt. zur Anzeige bringen und sie deshalb nicht ven gehandelt. Er glaubte den Männern,
in der offiziellen Statistik auftauchen“, die behaupteten, sie hätten die Aufmerk-

M
ittags in Berlin, ein Mittwoch im sagt Rias-Gründer Benjamin Steinitz. samkeit auf den Gazakonflikt lenken wol-
Juni. Ein Mann geht die Karl- Manche Betroffene meiden den Weg len. „Wenn in Deutschland im Jahr 2015
Marx-Straße im Bezirk Neukölln zum Revier aus Angst vor möglichen ein Brandanschlag auf eine Synagoge
entlang, da kommt ein etwa 30-jähriger weiteren Anfeindungen, andere scheuen nicht als antisemitische Straftat gewertet
Passant auf ihn zu, ruft: „Du schwules Ju- die Polizeibürokratie. Bei Rias hingegen wird, dann haben wir ein gesellschaftli-
denschwein!“ und schlägt ihm ins Gesicht. gelangen Opfer oder Zeugen mit wenigen ches Problem“, kritisiert Steinitz. Erst im
„Der Tatort, Karl-Marx-Straße, Ecke Reu- Berührungen über das Smartphone zu ei- Berufungsverfahren wurde das Strafmaß
terstraße, ist zu dieser Tageszeit belebt. nem Internetformular. Dort muss man erhöht.
Da sich keiner der anwesenden Passanten lediglich eine E-Mail-Adresse hinterlassen Die Rias-Zahlen belegten, „wie gering
rührte, musste die betroffene Person die und kurz den Vorfall mit Ort und Zeit- das Vertrauen der Opferzeugen in die
Flucht ergreifen, um sich vor weiteren At- punkt schildern. Erst im zweiten Schritt Polizei ist“, sagt Volker Beck, religions-
tacken des Angreifers zu schützen.“ erkundigt sich der Sozialwissenschaftler politischer Sprecher der Grünen im Bun-
So sieht alltäglicher Antisemitismus in Steinitz nach Details – und vermittelt bei destag, „und wie notwendig eine unab-
Deutschland aus. Der Bericht stammt von Bedarf juristische oder psychologische hängige, zivilgesellschaftliche Erfassung
der Berliner „Recherche- und Informa- Hilfe. antisemitischer Taten ist“.
tionsstelle Antisemitismus“ (Rias), die al- Bei einer Umfrage in Synagogen und In Großbritannien folge die Polizei der
lein für 2015 mehr als 400 solcher juden- anderen jüdischen Einrichtungen in Berlin „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der
feindlicher Vorfälle in Berlin erfasst hat – war genau dies ermittelt worden: dass viele Europäischen Stelle zur Beobachtung von
Angriffe, massive Bedrohungen, Beleidi- Opfer nicht zur Polizei gehen. Um dem Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Da-
gungen. abzuhelfen, wurde die Recherchestelle vor nach ist Antisemitismus „eine bestimmte
Mal wird ein Mitglied der Jüdischen Ge- einem Jahr gegründet. Sie wird vom Ber- Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass
meinde, der mit Kippa am Steuer seines liner Senat und der Amadeo Antonio Stif- gegenüber Juden ausdrücken kann“. Auch
Wagens sitzt, vom Fahrer eines Lieferwa- tung unterstützt. der Staat Israel könne Ziel antisemitischer
gens beschimpft und bespuckt. „Ich ficke Das unkomplizierte Meldesystem ist ein Angriffe sein, wenn er als jüdisches Kollek-
Israel“, ruft der und täuscht mehrfach an, Grund dafür, dass Rias mehr Fälle als die tiv verstanden werde. „Würde sich auch die
mit seinem Lieferwagen das Auto des Op- Polizei sammelt. Ein anderes Problem deutsche Polizei bei der Ermittlung antise-
fers zu rammen. liegt in der Frage, was überhaupt als anti- mitischer Tatmotive von dieser Definition
semitisch gewertet wird. In der polizei- leiten lassen, wäre die Zahl der Fälle in der
* Nach dem Brandanschlag im Juli 2014. lichen Statistik über „politisch motivierte offiziellen Statistik deutlich höher“, glaubt
Steinitz.
Immerhin erkundigte sich im Januar erst-
mals ein Beamter des Berliner Landeskri-
minalamts bei ihm nach der Erfassungsme-
thode. Inzwischen teilte das LKA dem Ver-
ein mit, dass es bis zu 40 Fälle nachträglich
in die Statistik von 2015 aufnehmen werde.
Die Ergebnisse der Recherchestelle zeig-
ten, „wie wichtig es ist, Opfern von anti-
semitischen Vorfällen eine unbürokrati-
sche Meldemöglichkeit zu geben“, sagt der
Präsident des Zentralrats der Juden, Josef
Schuster. Der Alltags-Antisemitismus habe
in den vergangenen Jahren bedauerlicher-
OLIVER BERG / PICTURE ALLIANCE / DPA

weise deutlich zugenommen.


Nun plant Steinitz eine bundesweite Do-
kumentation antisemitischer Übergriffe.
„Der Zentralrat würde eine bundesweite
Ausdehnung von Rias begrüßen“, sagt
Schuster. Etwa ein Drittel der Fälle wird
dem Verein bereits jetzt aus anderen Bun-
desländern gemeldet. Christoph Schult
Synagoge in Wuppertal*: „Andere Phänomenbereiche?“ Twitter: @schultchristoph

DER SPIEGEL 31 / 2016 47


Studenten auf dem Campus in Leipzig

FELIX ABRAHAM / IMAGO


Am Tropf der Länder
Hochschulen Marode Gebäude, zu wenig Professoren, veraltete Technik: Zahlreiche Rektoren
klagen, ihre Universitäten bekämen zu wenig Geld. Dabei ist genug da, es wird nur falsch verteilt.

U
do Sträter könnte ein zufriedener „Da lässt es sich nur schwer glaubhaft ar- ist nach Ansicht der Hochschulchefs längst
Mann sein. Aus dem Fenster seines gumentieren, dass bei uns das Geld knapp nicht mehr ausreichend. „Die Länder
Jugendstilbüros blickt der Rektor ist?“ lassen die Hochschulen am langen Arm
der Universität Halle-Wittenberg auf junge Monatelang diskutierte die deutsche verhungern“, sagt Kempen.
Menschen, die über den Campus wuseln, Wissenschaftspolitik über die Fortführung Überall im Land klagen Hochschulrekto-
zu den Hörsälen hasten, in der einen Hand der Exzellenzinitiative, jetzt in „Exzellenz- ren über marode Gebäude, fehlendes Perso-
einen Kaffeebecher, in der anderen Ordner strategie“ umgetauft, jenes milliarden- nal, veraltete Technik und Mangel an For-
mit Powerpoint-Folien. schwere Förderprogramm von Bund und schungsgeldern. Zwar ist die Höhe der
Andere sitzen auf den Stufen vor dem Ländern, das eine Handvoll herausragende Grundfinanzierung kontinuierlich gestiegen,
Juridicum in der Sonne, gehen ihre Auf- Hochschulen auf eine Stufe mit internatio- aber nicht so schnell wie die Zahl der Stu-
zeichnungen durch – und fühlen sich nalen Forschungs-Leuchttürmen wie Stan- denten. Der Wissenschaftsrat, das wichtigste
sichtlich wohl. Sträters Universität ist bei ford stellen soll. Beratergremium der Hochschulpolitiker,
Studierenden beliebt wie nie. Im CHE- Die Nöte derer, die nicht von dem Geld- empfiehlt, die Ausgaben jährlich um min-
Ranking, der umfassendsten deutschen regen profitieren, rückten dabei in den destens einen Prozentpunkt über der allge-
Hochschul-Hitliste, belegte Halle-Witten- Hintergrund. „Die Exzellenzinitiative löst meinen Kostensteigerung aufzustocken. In
berg Spitzenplatzierungen: Erziehungs- nicht die Probleme, die wir in der Fläche Wirklichkeit lagen die Grundausgaben pro
wissenschaften kann man demnach fast haben“, sagt Bernhard Kempen, Präsident Student im Jahr 2013 unter denen von 2006.
nirgendwo so gut studieren wie hier, auch des Deutschen Hochschulverbands. Das Dass die Hochschulen im selben Zeit-
Chemie landete in der Bestengruppe. größte dieser Probleme sei die Grund- raum viele externe Gelder, sogenannte
Sträter freut sich über den Erfolg. Einer- finanzierung, die den laufenden Betrieb Drittmittel, einwarben, hilft kaum. Im Ge-
seits. Andererseits bereitet er ihm Sorgen: in Forschung und Lehre sichern soll. Sie genteil: Für jedes Drittmittelprojekt muss
48 DER SPIEGEL 31 / 2016
Deutschland

die Uni eigenes Geld zuschießen und zum erhalt müssten demnach von 2017 bis 2025 mehr gegeben, urteilt Hochschulforscherin
Teil Kosten für Räume, technische Ausstat- rund 29 Milliarden Euro aufgewendet Konegen-Grenier. Die Länder stopften mit
tung, Strom und Heizung übernehmen. werden. dem Geld lieber Löcher, als langfristig zu
Geld, das oft nicht vorhanden ist. „Wir sie- Es ist ein dramatisches Bild – obwohl denken.
gen uns zu Tode“, beschrieb Ulrich Rüdi- das Bundesbildungsministerium immer Ähnlich ungesteuert läuft die Ausbil-
ger, Rektor der forschungsstarken Univer- wieder Hunderte Millionen spendiert, um dung des wissenschaftlichen Nachwuchses.
sität Konstanz, das Dilemma. die Länder zu entlasten. Die Hochschulen produzierten für viel
Leidtragende sind Lernende wie Leh- Neben der Exzellenzstrategie gibt es den Geld massenhaft Doktoranden. Die meis-
rende gleichermaßen. Ein Arbeitspapier Qualitätspakt Lehre (zwei Milliarden Euro ten von ihnen haben aber keine Chance,
der Konrad-Adenauer-Stiftung kommt zu zwischen 2011 und 2020), das Förderpro- jemals eine Professur zu ergattern. „Nur
dem Schluss, dass die Grundfinanzierung gramm „Innovative Hochschule“ (550 Mil- zwei von zehn kommen durch, ein wahn-
in den meisten Ländern so weit abgesun- lionen Euro, verteilt auf zehn Jahre), die sinnig enger Flaschenhals“, rechnet Bern-
ken ist, dass sogenannte explorative For- erste Säule des Hochschulpakts, mit knapp hard Kempen vom Deutschen Hochschul-
schung in neuen, bislang nicht beforschten 20 Milliarden Euro bis 2020 das dickste Ex- verband vor. „Die Leute haben jahrelang
Gebieten ohne externe Förderung nicht trabündel vom Bund. Allerdings sind all auf befristeten Verträgen gesessen, haben
mehr möglich ist. Das gefährde die Inno- diese Maßnahmen befristet. immer wieder gehofft – und jetzt wissen
vationsfähigkeit der Unis. wir nicht, wohin mit ihnen.“
Und die Studierenden? 63 von ihnen
mussten sich 2013, statistisch gesehen,
Viele Doktoranden Auch der Fächerkanon könnte besser
koordiniert werden. „Die Hochschulen
einen Professor teilen. 2005 waren es noch haben keine Chance, sollten stärkere Profile mit klar definierten
54. In Nordrhein-Westfalen liegt das Ver-
hältnis sogar bei 83:1. Und das, obwohl die
jemals eine Kernfächern entwickeln und dafür in an-
deren Bereichen einsparen“, findet Exper-
Umstellung auf das Bachelor-Master-Sys- Professur zu ergattern. tin Konegen-Grenier. Besonders Fächer
tem mehr Personaleinsatz erfordert, wie wie Physik, Ingenieurswissenschaften und
der Hamburger Universitätspräsident Die- „Wenn ich an das Auslaufen des Hoch- Medizin brauchen ausreichend Ressourcen,
ter Lenzen argumentiert. „Es gibt eine schulpakts denke, mache ich mir Sorgen“, da dort ohne Labors und teure Großgeräte
Vielzahl mehr Prüfungen, dadurch wächst sagt der Hallenser Rektor Sträter. Offiziell nicht geforscht werden könne. Udo Sträter
der Betreuungsaufwand“, sagt Lenzen. Au- habe seine Universität rund 13 700 Studi- aus Halle hält von derlei Vorschlägen nicht
ßerdem strömten seit einigen Jahren mehr enplätze, eingeschrieben seien aber knapp viel. In Sachsen-Anhalt gebe es nur zwei
junge Leute an die Universitäten, denen 20 000 – finanziert würden die Zusatzkos- Universitäten. „Soll ich etwa die Erzie-
Grundlagenwissen fehle und die erst für ten aus befristeten Hochschulpaktmitteln. hungswissenschaften einsparen – und wir
das Studium fit gemacht werden müssten. „Wir brauchen eine dauerhafte Zusage, holen uns dann die Lehrer aus Nordrhein-
„Wir haben die Zahl der Mathe-Vorkurse dass wir mit dem Geld rechnen können“, Westfalen?“
deutlich erhöht“, sagt Udo Sträter aus Hal- fordert Sträter. „Eine Professur ist ein Be- Was passieren kann, wenn man die Län-
le. „Dafür braucht man Personal.“ ruf auf Lebenszeit“, sagt der Rektor. „Mit der einfach machen lässt, lernte Johanna
Auch in Hörsäle und Labors müsste Mitteln, die auf Zeit vergeben werden, Wanka auf die harte Tour. Seit Anfang 2015
wegen des Studentenandrangs investiert kann ich keine Professoren berufen.“ Im- schenkt die Bundesbildungsministerin den
werden. 2,7 Millionen Menschen studieren merhin hat der Bund seit der Lockerung Unis jährlich gut eine Milliarde Euro, in-
inzwischen an deutschen Hochschulen, gut des Kooperationsverbots im vorletzten dem der Bund den Länderanteil der Bafög-
ein Drittel mehr als noch vor zehn Jahren. Winter die Erlaubnis, sich dauerhaft in der Kosten übernimmt. Die frei werdenden
„Irgendwo müssen die Leute ja hin“, sagt Hochschulfinanzierung zu engagieren. Mittel, so die Erwartung, sollten die Länder
der Hamburger Präsident Lenzen. „Es ist wichtig, den Geldfluss zu verste- zur Hochschulfinanzierung einsetzen.
An seiner Hochschule ist der Geldman- tigen“, sagt auch Christiane Konegen-Gre- Blöd nur: Erwartungen sind nicht bin-
gel von Weitem sichtbar. 52 Meter ragt der nier, die seit Jahrzehnten am Institut der dend. Während Bayern und Hessen die
sogenannte Philosophenturm in den Him- deutschen Wirtschaft Köln zum Thema Hochschulen tatsächlich großzügig bedach-
mel, ein Mahnmal des Sanierungsstaus. Hochschulfinanzierung forscht. Zusätz- ten, sanierte Berlin Schultoiletten, inves-
Teile der Gebäudetechnik befinden sich liche Fördermittel hält sie aber – im Ge- tierte in die Jugendhilfe und trieb die In-
nahezu auf dem Stand der Eröffnung in gensatz zu den Rektoren – nicht zwingend klusion voran. Bei den Hochschulen kam
den frühen Sechzigerjahren. Der Brand- für nötig. „Wenn man sich die Summen weniger als die Hälfte des Geldes an.
schutz ist veraltet, innen bröckelt der Putz. anschaut, ist eigentlich genug Geld im Sys- Schleswig-Holstein steckte seine Millionen
Mindestens 51 Millionen Euro soll die tem“, sagt die Bildungsforscherin. Das sogar komplett in die Schulen. Hamburg
Sanierung kosten, die 2018 wohl endlich Geld fließe nur nicht dahin, wo es am meis- gab lediglich an, „aus haushalterischen
beginnen könnte. ten nütze. „Es gibt kein Gesamtkonzept – Gründen keine Zuordnung der frei gewor-
In Kiel müssen die sogenannten Anger- und damit ein massives Steuerungspro- denen Bafög-Mittel vornehmen“ zu kön-
bauten aus den Sechzigerjahren, in denen blem.“ Der Sanierungsstau im Hochschul- nen – weiß der Teufel, wo das Geld ge-
etwa die Geografen untergebracht sind, bau hätte vermieden werden können, sagt blieben ist, in der Sanierung des Philoso-
bei Sturm evakuiert werden – die verklin- die Wissenschaftlerin. Doch seit der Bund phenturms bisher jedenfalls nicht. „Eine
kerten Fassaden halten dem Wind nicht im Zuge der Föderalismusreform 2006 den Heidenschweinerei“, schimpft Hochschul-
stand. An manchen Stellen sickerte Re- Hochschulbau allein den Ländern überlas- verbandschef Bernhard Kempen.
genwasser hinter die Verkleidung, es sen habe, gebe es hierfür kein Koordinie- Die „ganze Bafög-Sache“ sei ein Beleg
schimmelte. Im September wird das erste rungsgremium mehr. dafür, wie wenig sich manche Länder um
der Gebäude abgerissen. Auf erstaunliche Schon im Vorfeld warnte die Hochschul- die Lage der Hochschulen scherten, sagt
11,7 Milliarden Euro summiert sich der Sa- rektorenkonferenz: „Es ist offen, ob die Kempen. „Wenn sich die Bedingungen
nierungsstau an deutschen Hochschulen Länder ihrer Verantwortung gerecht wer- nicht drastisch verbessern, rutschen wir
allein seit 2008, wie das Hochschulinfor- den könnten.“ Inzwischen ist klar, dass sie als Wissenschaftsnation in die zweite
mationssystem in einem Gutachten fest- es nicht können. Seit die Länder selbst ent- Liga.“ Miriam Olbrisch
stellte. Aber auch für den bloßen Bestands- schieden, habe es keine solide Planung Twitter: @olbi

DER SPIEGEL 31 / 2016 49


Deutschland

fenbar Bauarbeiter in sein Haus schicken;


diese könnten dann von der Polizei be-
schützt werden.
Im Mai beschäftigten sich Henkels Be-
amte erneut mit der Immobilie. Diesmal
ging es dem Eigentümer darum, wie dort
eine der letzten besetzten Flächen – der
knapp hundert Quadratmeter große Sze-
netreff „Kadterschmiede“ im Hinterhof –
faktisch geräumt werden könnte. Damit
rechtlich nichts schiefläuft, ließ sich Poli-
zeijustiziar Tölle einen Brief des Eigentü-
meranwalts André Tessmer vom 22. Mai
vorlegen und bot einen ungewöhnlichen
Service an: Er redigierte quasi den Text.
Tessmer hatte in seinem Schreiben um
„polizeiliche Unterstützung“ gebeten. Töl-
le beriet den Anwalt dahin, es müsse „po-
lizeilicher Schutz“ heißen: „Sonst muss

CHRISTIAN MANG / IMAGO


abgelehnt werden.“ Der Anwalt folgte
dem Rat und verwendete in einem korri-
gierten Schreiben die Formulierung des
Beamten.
Das Dokument begründete den gemein-
Polizeiaktion in der Rigaer Straße am 22. Juni: „Lieber ein paar Beamte mehr einsetzen“ samen Schritt von Polizei und Eigentümer:
Am 22. Juni räumten Bauarbeiter die

Freund
fer einen dubiosen Hauseigentümer (SPIE- „Kadterschmiede“, wiederum waren Hen-
GEL 29/2016) beraten und ihm bei seinen kels Beamte in großer Zahl präsent: 300
fragwürdigen Methoden geholfen hat. Polizisten sicherten die Aktion. Kurz da-

und Helfer
Die heiße Phase des Konflikts begann rauf folgte jene Straßenschlacht mit Auto-
am 13. Januar, als ein Polizist in der Rigaer nomen, die bundesweit Schlagzeilen mach-
Straße einen Strafzettel wegen Falschpar- te: 123 Polizeibeamte wurden verletzt.
kens ausstellte und angegriffen wurde. Die Und nun? Ein Berliner Gericht hat die
Hauptstadt Interne Dokumente Täter flüchteten in das Haus Nummer 94. Rechtswidrigkeit der Räumung bescheinigt
Vielleicht wäre der sofortige Einsatz und den Autonomen vorerst die Rückkehr
zeigen, wie die Berliner Polizei eines Streifenwagens hilfreich gewesen – in die „Kadterschmiede“ erlaubt. Andere
den Konflikt um das Autonomen- stattdessen rückte neun Stunden später Fragen bleiben offen – vor allem zum mys-
eine kleine Armee an: Fünf Hundertschaf- teriösen Eigentümer, der sich lange hinter
Haus Rigaer Straße 94 ten der Polizei fuhren vor, ein Sonderein- einer Londoner Briefkastenfirma versteck-
monatelang eskalieren ließ. satzkommando stürmte die Rigaer Straße te. Aus einem Schreiben, das sich in den
94, die Beamten durchkämmten das Haus Behördenakten findet, geht hervor, mit wem

F
rank Henkel war mit sich im Reinen. und drangen in Wohnungen ein; unter an- sich die Staatsmacht eingelassen hat: Leo-
„Ich stehe hinter diesem Einsatz“, sag- derem stellten sie Pflastersteine sicher. nid Medved, einem in Berlin lebenden
te Berlins Innensenator im Abgeord- Henkel konnte sich als Hardliner feiern. Ukrainer, der zunächst mit Spielhallen sein
netenhaus über den Kampf seiner Polizei „Lieber ein paar Beamte mehr einsetzen, Geld verdient hat. Sein Name („Sehr ge-
„gegen diese Chaoten“. als am Ende die Kontrolle über die Lage ehrter Herr Medved“) findet sich auf einem
Die Parlamentarier hatten eigens ihre zu verlieren“, rechtfertigte der Innense- Brief des Eigentümeranwalts Tessmer vom
Sommerferien unterbrochen. In einer Son- nator den juristisch fragwürdigen Einsatz. 24. Juni, der die „Besitzansprüche“ in der
dersitzung des Innenausschusses wollten Dass sich von den Tätern so viele Stunden Rigaer Straße 94 klären soll.
sie ermitteln, wer die Verantwortung für nach dem Übergriff keine Spur mehr fand, Bereits Anfang der Neunzigerjahre soll
den Showdown um das autonome Wohn- schien fast nebensächlich. Medved in einen Spielhallenkrieg mit
projekt Rigaer Straße 94 trägt. Räumungs- Es begann eine unkonventionelle Bezie- russischen Mafiosi verwickelt gewesen
aktionen, Straßenschlachten – hatte Hen- hung zwischen Polizei und Eigentümer. sein. Aktuell ermittelt die Berliner Staats-
kel den Eklat mit Linksautonomen insze- Kaum war der Trubel vom Januar einiger- anwaltschaft gegen ihn wegen Sachbeschä-
niert, um sich als CDU-Spitzenkandidat maßen überstanden, da wandten sich die digungen. Und ein ehemaliger Geschäfts-
im beginnenden Berliner Wahlkampf zu Beamten einem neuen Konfliktfeld zu. partner behauptet in einer Zivilklage, von
profilieren? Als konservativer Sicherheits- Während sich viele Berliner um die dra- Medved bei einem Grundstücksgeschäft
politiker, der für Recht und Ordnung sorgt? matisch wachsende Kriminalität am Kott- um rund eine Million Euro geprellt wor-
Lächerlich, befand Henkel: „Ich brauche busser Tor oder am Partygelände RAW den zu sein. Anfragen dazu hat Medved
eine Aktion wie in der Rigaer Straße so sorgten, entdeckte der Stab von Polizei- nicht beantwortet.
nötig wie ein Loch im Kopf.“ präsident Klaus Kandt den Brandschutz in In der Rigaer Straße ist die Verwunde-
Ganz so flapsig lässt sich die Affäre der Rigaer Straße 94 als Problem – eigent- rung groß. Der Eigentümer, heißt es bei
nicht beenden. Interne Dokumente legen lich keine Aufgabe der Landespolizei. den Autonomen, dürfte Polizei und Staats-
den Verdacht nahe, dass Henkels Beamte Am 9. Februar empfahl ein Mitarbeiter anwälte in den vergangenen Jahren häufi-
den Konflikt mit linksradikalen Bewoh- des Stabes dem Polizeijustiziar Oliver Töl- ger beschäftigt haben als die Bewohner des
nern seit Monaten eskalieren ließen. Sie le („Lieber Olli“) per Mail, „offensiv auf Hauses. Maik Baumgärtner, Frank Hornig,
zeigen, wie die Polizei als Freund und Hel- den Eigentümer zuzugehen“. Er sollte of- Andreas Wassermann

50 DER SPIEGEL 31 / 2016


MEIN LAND, DEIN LAND
SAMSTAG, 30. 7., 18.00 – 19.00 UHR | ZDF

Gewinnen mit
Auch in Schweden und Großbritannien
wird Postcode-Lotto angeboten. Die Spie- Zwischen Äppelwoi und Döner –
ler werden nicht nur mit Gewinnen ge- türkische Lebensart in Offenbach

den Nachbarn
lockt, 30 Prozent des Erlöses der Lotterie Offenbach gilt als die kleine, schmut-
sollen in soziale Projekte jener Region ge- zige Schwester von Frankfurt. Ein
steckt werden, aus der die Gewinner kom- sozialer Brennpunkt, wo viele Men-
men. „Zusammen gewinnen, zusammen schen mit Migrationshintergrund
helfen“, preist Geschäftsführerin Anne- seit drei Generationen leben und sich
Glücksspiel Lotterien mit Post- miek Hoogenboom ihr Modell, mit dem ihre eigene Welt eingerichtet haben.
leitzahlen oder Geodaten sie gegen Lotterien antritt, die immer atem- Eine Parallelwelt?
sind in anderen Ländern der EU beraubendere Jackpots ausspielen.
Der Bremer Spielsuchtexperte Gerhard
erfolgreich. Jetzt drängen An- Meyer ist nicht von den Erfolgsaussichten SPIEGEL TV MAGAZIN
bieter auf den deutschen Markt. der Postcode-Lotterie überzeugt: „Grund- SONNTAG, 31. 7., 22.20 – 23.25 UHR | RTL
sätzlich ist gegen das Spielkonzept nichts

M
anche Menschen müssen lange einzuwenden“, findet er. „Aber wir erle-
auf ihr Glück warten, einige fast ben in Deutschland, dass immer neue Lot-
ein ganzes Leben. So wie die Be- terien angeboten werden. Es herrscht ein
wohner einer Seniorenanlage im nieder- Verdrängungswettbewerb.“
ländischen Breda südlich von Rotterdam. Auch andere Anbieter hoffen auf das
Zu Neujahr 2012 gewannen zehn Rentner Potenzial der guten alten Postleitzahl. Die
insgesamt 20 Millionen Euro. Der jüngste staatliche Lottogesellschaft in Hessen ver-
Gewinner war 78, der älteste 92 Jahre alt. anstaltet seit einigen Wochen die Umwelt-
Zu dem Gewinn verhalf ihnen die Kom- lotterie „Genau“. Bislang können nur Spie-
bination „4834 WC“. Das ist der Postcode ler mit hessischer Postleitzahl teilnehmen,
ihrer Adresse, eine Verbindung aus Post- ein Teil der Einnahmen geht in den Umwelt-
leitzahl und Buchstaben für den Straßen- schutz. Bis Dezember will auch die staat-
zug. Die Senioren hatten sich an der be- liche Toto-Lotto Baden-Württemberg mit
liebten niederländischen Postcode-Lotterie einer ähnlichen Idee auf den Markt. Dort

SPIEGEL TV
beteiligt. Der Veranstalter zieht einen sollen die Teilnehmer mit den Geodaten
Hauptgewinner, der quasi im Epizentrum ihrer Wohnadresse spielen, also dem genau-
des Losglücks wohnt. Mitspieler der Lot- en Längen- und Breitengrad. Auch dort ge- Überfüllter Strand in Palma
terie, die in seiner Nachbarschaft wohnen winnen Spieler in der Nachbarschaft mit.
und den gleichen Postcode haben, gewin- Für Novamedia ist es der zweite Versuch, Mallorca – Reportage über die
nen automatisch ebenfalls hohe Beträge. in Deutschland Fuß zu fassen. Vor 15 Jah- Lieblingsinsel der Deutschen, über
Die Aufregung über die reichen Rentner, ren tat sich das Unternehmen mit neun den Luxus und die Verlierer des
die nicht wussten, wie sie die unerwarteten deutschen Hilfsorganisationen zusammen, Touristenbooms.
Millionen ausgeben sollten, war gewaltig. um gemeinsam eine Postcode-Lotterie an-
Ähnliches könnte sich bald auch hierzu- zubieten. Doch damals verweigerten die
lande ereignen: Seit dieser Woche bietet Bundesländer zunächst Genehmigungen, SPIEGEL TV WISSEN
die Firma Novamedia, die hinter dem nie- dann gab es Streit untereinander. Nun hat MITTWOCH, 3. 8., 20.15 – 21.00 UHR | PAY-TV
derländischen Spiel steht, eine Deutsche Rheinland-Pfalz das Vorhaben für alle Län- BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
Postcode-Lotterie an. Die erste Ziehung der gemeinsam erlaubt. Weil 30 Prozent
soll im Oktober stattfinden. Novamedia der Einnahmen gespendet werden, gilt das Verkaufe Brautkleid, ungetragen!
verdient seit mehr als 27 Jahren Geld im neue Glücksspiel als Soziallotterie, das Wenn der Traum in
Glücksspielgeschäft und hat laut eigenen macht die Sache einfacher. Weiß zum Albtraum wird
Angaben im vergangenen Jahr 1,5 Milliar- In anderen Ländern ist gemeinschaft- Der Film erzählt die Geschichten
den Euro umgesetzt. liches Gewinnen beliebt, etwa bei der welt- dreier Frauen, die nicht vor
weit größten Lotterie, der den Altar getreten sind und für die
spanischen Weihnachtslotte- ihr Traum in Weiß zum Albtraum
rie „El Gordo“, für die jedes wurde.
Jahr Lose im Wert von mehr
als zwei Milliarden Euro ver-
kauft werden. SPIEGEL GESCHICHTE
Ob ein solcher Hype auf MITTWOCH, 3. 8., 21.15 – 22.45 UHR | SKY
Deutschland überspringt, ist
fraglich: Eine im Februar Taylor Camp –
des vergangenen Jahres neu Hippies auf Hawaii
eingeführte Deutsche Sport- Seit 1969 lebt eine Gruppe ame-
lotterie, die deutsche Olym- rikanischer Studenten auf der Insel
piakandidaten unterstützen Kauai ihren Traum von grenzen-
sollte, fiel jedenfalls bei loser Freiheit. Sie verzichten auf
JON NAZCA / REUTERS

den Spielern durch. Die Kleidung, praktizieren freie Liebe,


bisherigen Ausschüttungen experimentieren mit Drogen. In
reichten kaum für ein Flug- der Dokumentation lassen ehemali-
ticket nach Rio. ge Bewohner ihre Zeit dort Revue
Teilnehmer der Lotterie „El Gordo“: Gemeinsam spielen Michael Fröhlingsdorf passieren.
DER SPIEGEL 31 / 2016 51
Früher war alles schlechter
Nº 31: Luftverschmutzung
in Innenräumen
Afrika 1980:
87 Prozent der Menschen verwenden
minderwertige Brennstoffe wie Holz, Kohle Afrika 2010:
oder Viehdung zum Kochen und Heizen. 77 Prozent

Europa 1980: Europa 2010:


38 Prozent 7 Prozent

Q U E L L E : O U R WO R L D I N DATA
Das größte aller vergessenen Probleme. Was ist wirklich wichtig? liarden! – kochen und heizen in ihren Häusern oder Hütten
Um welche Probleme sollten wir uns mit Nachdruck küm- noch immer mit Festbrennstoffen wie Kohle, Holz, Viehdung
mern, um welche nicht ganz so dringend? Schwer zu entschei- und Ernteabfällen. Mehr als vier Millionen jährlich sterben an
den. Ein Kriterium könnte die Zahl der Menschen sein, die Krankheiten, die auf verschmutzte Innenraumluft zurück-
aufgrund derselben Ursache ums Leben kommen. Bezüglich gehen: Atemwegserkrankungen, Schlaganfälle, Herzkrank-
vieler Phänomene besteht ein groteskes Missverhältnis zwi- heiten. Vier Millionen: Das sind fast viermal so viele, wie
schen globaler Aufmerksamkeit und Opferzahlen. Am einen heute pro Jahr an Aids versterben. Es sind über hundertmal
Ende dieser Skala könnte der Terrorismus stehen: vergleichs- mehr Opfer als 2014 bei Terrorakten ihr Leben ließen.
weise wenige Tote, gigantische Aufmerksamkeit. Am anderen – Kommt hier auch noch eine gute Nachricht? Ja: 1980 waren
Ende erscheint etwas, von dem viele im Westen noch nie noch fast zwei Drittel der Menschheit von Festbrennstoffen
gehört haben: offene Herdfeuer. Enorm viele Opfer, null abhängig. 30 Jahre später sind es noch 41 Prozent.
Aufmerksamkeit. Etwa drei Milliarden Menschen – drei Mil- Mail: guido.mingels@spiegel.de

Nostalgie SPIEGEL: Sie haben noch im kassette ist gegenüber einer aber seltsam wirken, wenn
Wer braucht heute vergangenen Jahr Hundert- DVD mit deren fragiler sie auf DVD abgespielt wer-
noch Videokassetten, tausende Videokassetten aus
Südkorea gekauft. Wieso?
Struktur wesentlich robuster
und langlebiger.
den, weil dann beispielsweise
eine nicht gut gemachte
Herr Hellweg? Hellweg: Wir haben die letzte SPIEGEL: Der Plattenspieler ist Maske sichtbar wird, die auf-
Charge unseres langjährigen noch immer beliebt, weil Ken- grund der geringen Qualität
Ende des Monats wird in Japan Produktionspartners in sechs- ner die Qualität des Klangs einer VHS-Kassette vorher
der letzte Videorekorder pro- stelliger Menge aufgekauft, schätzen. Hat das Video ver- unsichtbar war.
duziert. Die deutsche Firma SK um der recht hohen Nach- gleichbare Qualitätsvorteile? SPIEGEL: Was kostet eine leere
verkauft jedoch weiterhin frage unserer Kunden gerecht Hellweg: Es gibt alte Filme, VHS-Kassette?
Videokassetten. Der Geschäfts- zu werden. die heute zwar auf DVD er- Hellweg: Wir empfehlen un-
führer Jörg Hellweg, 50, erklärt, SPIEGEL: Hohe Nachfrage? scheinen, aber dabei geht das seren Kunden einen Abgabe-
warum. Hellweg: Ja, die Stapel mit Flair verloren. Manche Filme preis in Höhe von vier Euro
Videokassetten bei uns wer- sind so gemacht, dass sie auf für eine Kassette mit drei
SPIEGEL: Herr Hellweg, wer den täglich kleiner. Videokassetten gut Stunden Aufnahmezeit.
kauft Ihre Videokassetten? SPIEGEL: Hat die VHS- aussehen, SPIEGEL: Was machen Sie in
Hellweg: Menschen, die keine Kassette irgendeinen Zukunft? Super 8?
DVDs oder Filme auf Netflix Vorteil gegenüber Hellweg: Gott sei Dank
gucken. der DVD? haben wir vor vielen
SPIEGEL: Rentner? Hellweg: Auf Jahren erfolgreich den
Hellweg: Es wäre despektier- jeden Fall. Das Schritt zu den digitalen
lich, wenn ich hier mit Ja ant- Magnetband Aufnahmemedien voll-
worten würde. der Video- zogen. tkw
IMAGO

52 DER SPIEGEL 31 / 2016


Gesellschaft
fragte der Pilot: Hast du in jüngster Zeit irgendwelche
Gottes Werk, glasiert Konversationen mit Gott gehabt?
Matt White, als Jude geboren, wurde Christ. Er ging in
eine Kirche, in der es eine Band mit Schlagzeug gab. Er
Eine Meldung und ihre Geschichte Wie hörte auf mit den Drogen, arbeitete an seinen Songs, fand
ein Label, verdiente Geld und wurde ein glücklicher Mann.
ein US-Amerikaner mit sechs In diesen Tagen kann man vergessen, dass Religion Gu-
Donuts die Welt ein wenig besser machte tes hervorbringen kann. Wer Matt White am Telefon hat,
bekommt die Gelegenheit, sich daran zu erinnern.

M
att White, ein 30-jähriger Mann aus Memphis, Als White vor dem Jungen stand, der ihn nach Donuts
Tennessee, ist überzeugt davon, dass Gott einen fragte, dachte er daran, wie er durchs Leben gewabert
Plan für sein Leben hat, und er glaubt, eine ent- war. Er fragte den Jungen nach dem Namen. Chauncy
scheidende Rolle in diesem Plan spielten Donuts, im Black, sagte der. Sie verbrachten die nächste Stunde im
Sechserpack, glasiert. Supermarkt und kauften für Chauncy Black Donuts, Eis-
Vor ein paar Wochen besuchte White abends in creme, Pizza und eine Wassermelone. Danach fuhr Matt
Memphis einen Supermarkt, er wollte Lebensmittel kau- ihn nach Hause, nach South Memphis.
fen. Im Gebäude rollte ein Junge auf ihn zu, er trug Im Auto erzählte Chauncy, dass er in der Schule Best-
gammelige Kleidung, war 16 Jahre alt und fuhr ein kleines, noten habe, dass er bei seiner Großmutter aufwachse,
elektrisch betriebenes Mobil, das für gewöhnlich von sehr dass er arm sei. Dass er davon träume, Geld für Lebens-
alten oder sehr dicken Menschen verwendet wird. mittel zu verdienen, indem er anderen Menschen den
Entschuldigen Sie, Sir, würden Rasen mähe, aber er habe kei-
Sie mir bitte Donuts kaufen?, nen Rasenmäher.
fragte der Junge. Er lächelte. Als sie vor einem Haus aus
White hätte weitergehen kön- Brettern parkten und Chauncy
nen oder den Sicherheitsdienst ausstieg, bemerkte White, dass
rufen und darauf hinweisen, dieser Junge anders ging als
dass ein verwahrloster Schwar- zuvor. Er machte beim Gehen
zer in einem Rentnermobil den kleine Hüpfer. Heute, nachdem
Supermarkt unsicher macht. White mehr über das Schicksal
White sagte Ja. Chauncy Blacks erfahren hat,
Brauchst du noch mehr? weiß er: Dieser Junge hüpfte,
Matt White ist Musiker, vor weil er wusste, dass die Lebens-
Kurzem hat ihn das Label mittel für ein paar Tage den
„Made in Memphis Entertain- Hunger vertreiben würden.
ment“ unter Vertrag genommen, Das Haus war eine morsche
das hierzulande keiner kennt, Schüler Black Hütte, eingerichtet mit einer
was aber für White bedeutet, Couch und einem Kühlschrank,
dass er mit einer glücklichen der leer war, bis auf Ketchup
Laune durch Memphis spaziert. und Senf. Auf der Couch saß
Vor allem, weil die vergangenen Chauncys Großmutter und
zehn Jahre für ihn auch Unglück schaute auf ihrem Handy alte
bereitgehalten hatten. „Godzilla“-Filme. White blieb
Whites Vater, so erzählt es bis halb ein Uhr nachts, redete
Matt, war ein prominenter An- und hörte zu.
walt und durchgeknallt. Als Als er nach Hause kam, ver-
Matt 22 Jahre alt war, sagte der Aus dem „Berliner Kurier“ fasste er einen Eintrag auf Face-
Vater, ich habe keine Lust mehr book über Chauncy, weil des-
auf Anwalt, ich möchte Lachse in Alaska fischen, und sen Geschichte ihn rührte, dann legte er sich schlafen. Am
Matt sagte, gute Idee. Vater und Sohn fuhren nach Alaska nächsten Morgen war der Eintrag oft geteilt worden, und
und kauften ein Boot. Sie wussten kaum etwas über Lach- da ahnte White, dass er diesem Jungen und seiner Groß-
se. Matt lernte, wie es sich anfühlt, wenn die Taue einem mutter womöglich richtig helfen könnte. Er schrieb eine
die Handflächen aufraspeln und wie gut Lachs direkt aus Geschichte über Chauncy auf einer Crowdfunding-Website
dem Meer schmeckt. Dann bekam der Vater die Diagnose und bat um Spenden, damit Chauncy einen Rasenmäher
Krebs, Nierenkrebs, Metastasen im Gehirn und in der kaufen könne.
Lunge; drei Monate später starb er. Fünf Wochen später hatte Matt White über die Inter-
White bezeichnet das, was folgte, als: wabern. Er verlor netseite mehr als 300 000 US-Dollar gesammelt. Chauncy
das Boot, spielte ein wenig Gitarre und verdiente Geld und seine Großmutter mussten, von der Polizei eskortiert,
damit, anderen Menschen zu zeigen, wie man illegal Mu- ihr Haus verlassen, weil Nachbarn sie belagerten. Sie woh-
sik aus dem Internet lädt. Dann lernte er durchs Feiern ei- nen jetzt in einem Hotel. Matt White will das Geld anlegen
nige Menschen kennen, die unbegrenzt Ecstasypillen hat- lassen und ein Haus für die Blacks kaufen. Einen Rasen-
ten. White bediente sich fortan täglich davon. mäher hat Chauncy Black gespendet bekommen.
Auf einer Party traf er einen Piloten, White spielte ein White und er sind nun Freunde, und wenn White davon
wenig Musik für ihn, was den Piloten so beeindruckte, erzählt, fängt er manchmal an zu weinen. Am Abend nach-
dass er White fragte, ob er bei ihm wohnen wolle und dem Matt White die Donuts für Chauncy Black gekauft hat-
dass er ihm das Leben finanzieren werde, wenn White an te, fragte der Junge ihn etwas. Die Frage lautete: Nimmst
seiner Musik arbeiten wolle. So kam es. Nach einiger Zeit du mich am Sonntag mit in die Kirche? Takis Würger

DER SPIEGEL 31 / 2016 53


Gesellschaft

E
s gibt Tage, da scheint Todd Riders schaftsbetriebs, verheißungsvolle Ansätze müsste seine Forschung eigentlich ohne
Keller nicht tief genug unter der angemessen zu fördern. Womöglich, auch Probleme finanzieren können, er müsste
Erde zu liegen, nicht weit genug ent- das legt Riders Geschichte nahe, gäbe es mit Mitarbeitern in einem gut ausgestatte-
fernt zu sein vom Getöse der Medien. für viele Probleme längst Lösungen, wenn ten Labor arbeiten, stattdessen hockt er
Ende 2014 fühlte er so, während der Ebo- unkonventionelle Forschung stärker be- in seinem Keller.
la-Epidemie in Westafrika, als ein Virus lohnt würde statt bestraft. Es gab für Rider einmal eine deutlich
binnen eines Jahres mehr als 10 000 Män- Um das Potenzial von Riders Idee er- bessere Zeit, fünf Jahre ist es mittlerweile
ner, Frauen und Kinder fortriss aus dem messen zu können, muss man wissen, dass her, da wurden er und seine Entdeckung
Leben, und die Menschheit mal wieder der Kampf gegen Viren für Forscher bis- hymnisch gefeiert, als möglicher Befrei-
nackt dastand, schutzlos, ohne Impfstoff. lang eine unendlich mühselige Angelegen- ungsschlag in einem scheinbar unendli-
Und nun geschieht es wieder, eine neue heit ist. Um einen Impfstoff zu finden, müs- chen Kampf. Ein Papier zur Zukunft der
Attacke, ein anderer Kontinent, ein ande- sen Forscher jedes Virus einzeln ins Visier Biotechnologie, herausgegeben vom Wei-
res Virus, nicht so tödlich wie Ebola, aber nehmen, was Jahre dauern und Hunderte ßen Haus, nannte seine Arbeit „visionär“.
nicht weniger fürchterlich. Millionen Euro kosten kann. Und sollte Die renommierte Fachzeitschrift „Plos
Er fragt: „Möchten Sie etwas trinken?“ endlich ein tauglicher Impfstoff vorliegen, one“ ließ sie von Experten prüfen und pu-
Seit Ende vergangenen Jahres berichten kann niemand sagen, wie lange er von Nut- blizierte sie, die noch renommiertere „Na-
die Medien über Zika, über seinen unauf- zen sein wird. ture Biotechnology“ berichtete über seine
haltsamen Vormarsch, über Neugeborene Viren sind infektiöse Partikel, aufs Äu- Arbeit. Das Magazin „Time“ reihte Draco
mit deformiertem Schädel, über Schwan- ßerste reduziert, sie bestehen aus Nuklein- unter die erstaunlichsten Entdeckungen
gere, die abtreiben lassen, weil sie ihr Le- säuren und einer Proteinhülle. Sie gleichen des Jahres 2011 ein. „Wall Street Journal“
ben nicht mit einem behinderten und BBC berichteten über ihn.
Kind belasten wollen. Wieder Er reiste durch die USA, stellte

Mr Riders
protokollieren Journalisten mi- seine Arbeit auf Konferenzen
nutiös den Fortgang der unglei- Kollegen und einem breiten Pu-
chen Schlacht, wieder können blikum vor. Eine private Stiftung
die Menschen bestenfalls Etap- war so überzeugt von seinen Re-

Erfindung
pensiege melden, und wieder sultaten, dass ihr Vorstand bereit
hat Todd Rider – verschanzt in war, Riders Forschung mit zwei
seinem Keller, eingegraben zwi- Millionen Dollar zu fördern.
schen seinen Büchern, Mikrosko- Es waren gute Monate für
pen, Menschenschädeln – das Rider, er wurde umworben, auf
Gefühl, er vergeude sein Leben. Podien gefeiert. Doch heute ist
Denn Rider, von Beruf Bioinge- Karrieren Der amerikanische die Erinnerung an diese Zeit vor
nieur, Genmanipulator, ist fest
davon überzeugt, dass er in der Wissenschaftler Todd Rider hat vielleicht allem bitter. Heute steht Rider
ohne Forschungsgelder da, arbei-
Lage ist, das Kräfteverhältnis im einen Weg gefunden, das Denguefieber, tet als Biologielehrer, der Schü-
ungleichen Kampf Menschen ge- lern zeigt, wie man mithilfe von
gen Viren verschieben zu kön- das Zika-Virus und alle möglichen Waschmittel die DNA aus einer
nen, zugunsten der Menschen. weiteren Viren zu bekämpfen. Zwiebel löst.
Es scheint ein anmaßendes Statt in einem gut ausgestat-
Vorhaben zu sein, und Rider ist Aber er kann seine Forschungen nicht teten Labor zu stehen, bittet er
es gewohnt, Skeptikern zu be- finanzieren. Wie ist das möglich? im Internet auf der Crowd-
gegnen, aber er hat weit mehr funding-Plattform Indiegogo um
vorzuweisen als eine fixe Idee. Von Uwe Buse Geld. Das Video lässt sich auf
Der Viruskiller, von Rider „Dra- YouTube besichtigen. Es zeigt
co“ getauft, existiert bereits. Er zunächst, wie Rider geräusch-
hat ihn in Experimenten erprobt, hat ihn Piraten, kapern Zellen, unterwerfen sie, voll Kaffee schlürft und scheinbar ziellos
in menschlichen Zellkulturen antreten las- damit die Zellen produzieren, was von den im weißen Kittel durch die Gänge eines
sen gegen bislang 18 Viren, darunter solche, Viren gefordert wird. Schon seit ewigen Labors läuft. Viermal grüßt er innerhalb
die Grippe verursachen, das Dengue-, das Zeiten sind Viren Experten in der Kunst von drei Minuten mit gespreizten Fingern
Rift-Tal-Fieber, den gemeinen Schnupfen. des Überlebens, haben sich eingerichtet wie Spock, der Vulkanier aus der US-Fern-
Und am Ende jedes Experiments war das auf feindlichem Gebiet. Sie mutieren er- sehserie „Raumschiff Enterprise“. Neben
Virus stark dezimiert. Im nächsten Schritt schreckend schnell und entwickeln immer all diesen Albernheiten, die vermutlich
infizierte Rider Mäuse mit der Grippe und neue Formen, die der Immunabwehr des nicht dazu beitragen, ihn seriös wirken
dem Arenavirus, und auch hier unterlagen Wirts entgehen. Im Kampf gegen diesen zu lassen, gibt es eine Szene, in der Rider
die Viren. „Eine Zeit lang ging es gut vo- hochflexiblen Feind fehlt Ärzten immer erklärt, wie sein Virenkiller Draco funk-
ran“, sagt Rider. Er lehnt im Keller, an sei- noch eine verlässlich einzusetzende Waffe tioniert.
nem Schreibtisch, ein kleiner Mann mit mit großer Bandbreite, vergleichbar den Die Idee, die Riders Leben veränderte,
großer Brille, weichen Zügen, Bundfalten- Antibiotika, die jedes Jahr unzählige Le- ereilte ihn vor mittlerweile 16 Jahren. Er
hose, Seitenscheitel. ben retten. stand unter der Dusche, und ein Gedanke
Es lässt sich nicht mit Bestimmtheit sa- Rider könnte der Forscher sein, der in drang an die Oberfläche seines Bewusst-
gen, ob Riders Idee hielte, was sie ver- der Lage ist, diese Waffe zu liefern. Natür- seins: Jede Zelle des menschlichen Körpers
spricht, so wie man das in der medizini- lich stehen noch viele Experimente und besitzt einen Selbstmordschalter. Auf die-
schen Forschung nie sagen kann, bevor klinische Studien aus, aber bislang wirkt sen Gedanken folgten Fragen: Ist es mach-
eine Idee alle Hürden genommen hat. Si- Draco überraschend gut, Nebenwirkungen bar, diesen Schalter umzulegen, sobald ein
cher ist dagegen, dass Riders Fall ein Bei- sind nicht festzustellen, nicht in den Zell- Virus in eine Zelle eindringt? Ist es mög-
spiel ist für das Unvermögen des Wissen- kulturen, nicht bei Mäusen. Todd Rider lich, das Virus mit seiner Wirtszelle zu eli-
54 DER SPIEGEL 31 / 2016
JASON GROW / DER SPIEGEL

Virenforscher Rider

DER SPIEGEL 31 / 2016 55


Gesellschaft

minieren? Kann der Wirt zugleich der Hen- nicht Popstars waren die Helden seiner Forscher mögen die Konzentration auf ein
ker sein? Kindheit, sondern Forscher wie Einstein, Fach als sinnvoll erachten, als der Karriere
Die Antwort, die Rider selbst gab: nur Bohr, Heisenberg. Während andere Kinder förderlich, auch als ökonomisch zwingend.
dann, wenn ein Alarm existiert, der den davon träumten, im Sport zu brillieren Er sieht vor allem verpasste Chancen und
Eindringling verlässlich meldet. oder als Musiker, träumte Rider von künf- Kleinmütigkeit.
Glücklicherweise besitzen die meisten tigen Triumphen als Wissenschaftler. Seine Rider ist kein einfacher Mensch, soll
Viren eine Eigenart, die sich als Auslöser Olympiaden waren die „Science Fairs“, kein einfacher Kollege sein, seine Kompro-
für den Alarm eignet, die doppelsträngige vergleichbar mit den Jugend-forscht-Wett- misslosigkeit grenzt an Arroganz. Seine
RNA, eine enge Verwandte der DNA, und bewerben. Mehrmals schaffte er den Ein- Rigorosität führt auch dazu, dass er sich
zwar in ungewöhnlicher Länge. Taucht die- zug in die nationale Endrunde, einmal schwertut in wissenschaftlichen Arbeits-
se lange RNA in einer Zelle auf, so akti- gewann er den Hauptpreis eines interna- gemeinschaften, er steht in dem Ruf, mög-
viert sie ein genetisch modifiziertes Mole- tionalen Wettbewerbs, mit einem selbst ge- lichen Ruhm nur ungern zu teilen. All das
kül, das zuvor gespritzt wurde und das bauten mobilen Roboter in Gestalt eines führt dazu, dass in der einschlägigen me-
den Suizidschalter der Zelle umlegt, um Hundes. Damals war Rider 14 Jahre alt. dizinischen Datenbank nur zwei Studien
Zelle und Virus zu eliminieren. Es ist ein Sein Preis war eine Einladung nach Stock- von ihm zu finden sind, veröffentlicht im
radikaler Ansatz und um ein Vielfaches holm, um die Verleihung der Nobelpreise Abstand von acht Jahren.
eleganter als das mühsame Niederringen mitzuerleben. Gemessen am Publikationsvolumen an-
einzelner Viren. Noch während seiner Schulzeit versuch- derer Forscher ist die Zahl lächerlich. So
Rider besaß gute Voraussetzungen, sei- te Rider, es seinen Helden gleichzutun und kommt es, dass Virologen, die sich für Dra-
ne Idee Wirklichkeit werden zu lassen. Er etwas Grandioses zu schaffen. Er entwi- co interessieren, oft schon nach dem ersten
arbeitete am richtigen Ort, am Lincoln-La- ckelte einen Raketenantrieb, der es mög- Blick Abstand nehmen. Sie sehen einen
boratorium des MIT, dessen Aufgabe es lich machen sollte, die Nutzlast einer Ra- Forscher, der in einer fachfremden Diszi-
ist, die nationale Sicherheit der USA durch kete um 50 Prozent zu erhöhen, ohne zu- plin promoviert hat, einen ungewöhnli-
neue Technologien zu stärken. Auch besaß sätzlichen Treibstoff zu verbrauchen. „Ich chen Ansatz verfolgt und ganz offenbar
er das nötige Wissen. Bevor Rider seine schlug der Nasa das vor“, sagt Rider unten kein großes Interesse an kollegialen
Forschung an Draco begann, hatte er einen in seinem Keller, aus den Tiefen eines Arbeitsgemeinschaften hat.
Sensor entwickelt, der in weniger als zwei schweren Ledersessels, „aber die wollten Eine Gruppe chinesischer Tiermediziner
Minuten Biokampfstoffe in der Luft iden- davon nichts wissen“. Einzelheiten zu Ri- an der Sun-Yat-sen-Universität im chine-
tifiziert, mithilfe genmanipulierter Blutzel- ders Rakete finden sich in der Datenbank sischen Guangdong hat allerdings anders
len und Quallenprotein. Rider taufte das des US-Patentamts, Patent Nummer reagiert, die Mitglieder haben Riders
Gerät „Canary“, es wird heute in den USA 4,723,736. Experimente nachvollzogen und waren
unter dem Namen „Panther“ vertrieben. Seine Doktorarbeit beschäftigte sich nicht mit den Ergebnissen hochzufrieden. Eine
Trotzdem ging nach anfänglichen Erfolgen mit Raketenantrieben, nun ging es um in- Übersichtsarbeit zum internationalen For-
alles schief, und Rider landete nicht auf tellektuell Anspruchsvolleres, um Kernfusi- schungsstand über mögliche Wege, Viren
dem Titelblatt von „Science“ oder „Na- on und ihre physikalischen Grenzen. „Ich auf breiter Front anzugreifen, ebenfalls
ture“, sondern auf YouTube. Wie konnte habe bewiesen, dass es fundamentale Be- chinesischen Ursprungs, nennt Riders
das geschehen? schränkungen gibt, die viele Varianten der Ergebnisse „optimal zur weiteren Verfol-
Den Keller seines Hauses in Littleton, Kernfusion unmöglich machen.“ Aber es gung“.
Massachusetts, dürfen Besucher nur auf gebe immer noch Firmen in den USA, die Auch westliche Forscher interessieren
Socken betreten. Auf knarrendem Holz viel Geld in die Erforschung dieser Fusions- sich für Riders Arbeit; Shirit Einav etwa,
geht es die Stufen hinunter, Rider schaltet varianten steckten. „Die könnten das auch Mikrobiologin in Stanford, sieht „einiges
das Licht ein. gleich verbrennen, ganz konventionell, im Potenzial“ in Riders Ansatz. Andere wie
An den Wänden entlang ziehen sich Ofen“, sagt Rider. Peter Catto, Abteilungs- Eleanor Fish, Immunologin an der Univer-
Regale, Meter um Meter, geschreinert aus leiter am MIT und ausgewiesener Experte sität von Toronto, wünschen sich zunächst
massivem Holz, dunkel gebeizt, die jede auf diesem Gebiet, bestätigt Riders Aussa- mehr Daten, um Draco besser beurteilen
öffentliche Bibliothek schmücken würden, gen. Auch die über die Firmen. zu können.
und Rider besitzt nicht Hunderte, sondern Nach der Kernfusion wandte sich Rider Mehr Daten würde Rider sehr gern
Tausende Bücher. Die Regale ziehen sich wieder einem neuen Forschungsgebiet zu, liefern. Doch es ist ein Teufelskreis. Die
durch drei Räume, sind nach Sachgebieten der Biologie. Die Möglichkeiten der Gen- zögerlichen Reaktionen seiner Kollegen ver-
geordnet, frei von Staub. Zu finden sind manipulation faszinierten ihn, und sein mindern seine Chancen, neue Forschungs-
grundlegende Werke zu fast allen Natur- erstes Projekt war Canary, der Sensor, der gelder zu akquirieren, und ohne For-
wissenschaften, die Biologie der Zelle wird mithilfe von Quallenprotein Biokampfstof- schungsgelder kann er keine neuen Ergeb-
ebenso detailliert behandelt wie Quanten- fe in der Luft identifiziert. nisse vorlegen, die seine Reputation in der
mechanik, Astronomie oder Strömungsleh- Biografien von Forschern verlaufen akademischen Welt verbessern würden.
re. Mehrere Meter sind Abhandlungen zur heutzutage geradlinig, selten wird das Fach Könnte er noch auf das Fördergeld der
Wissenschaftsgeschichte vorbehalten, nicht gewechselt, selten wird eine Dissertation, Stiftung zurückgreifen, wäre vieles einfa-
weniger für Biografien und Autobiografien Resultat mehrerer Jahre Arbeit, zugleich cher, aber auch das ist nicht mehr möglich.
großer Forscher, die das moderne Weltbild das Fundament jeder wissenschaftlichen Die Förderung war gekoppelt an die Be-
geprägt haben. Werner Heisenberg ist hier Karriere, einfach so zu den Akten gelegt, dingung, dass er Zugriff hat auf ein Labor,
zu finden, Niels Bohr, Erwin Schrödinger, weil es auf der Welt noch andere Phäno- auf die Geräte, die nötig sind, um seine
Albert Einstein natürlich. Dazu, penibel mene gibt, die verstanden werden wollen. Forschung voranzutreiben. Aber diese
aufgereiht, die Abgüsse mehrerer mensch- Die meisten Forscher bescheiden sich mit Möglichkeiten hat Rider nicht mehr. Er
licher Schädel und Trümmer einer V2-Flug- einem Fachgebiet, und oft genug bestimmt verließ das Lincoln-Laboratorium und ging
bombe, die während des Zweiten Welt- das Thema der Dissertation die gesamte Anfang 2014 zum Draper Lab, das eben-
kriegs auf London abgefeuert worden war. wissenschaftliche Laufbahn. falls in der Nähe des MIT liegt. Er hoffte,
Riders Keller ist sein Refugium, er ist Rider lächelt bei diesem Gedanken, und dort ein besseres Umfeld für seine For-
ein Wissenschaftsfanatiker. Nicht Athleten, es ist kein freundliches Lächeln. Andere schungen zu finden. Es war ein Schritt, den
56 DER SPIEGEL 31 / 2016
Rider besser unterlassen hätte. Nach nicht ihn mit den Utensilien, die er für den Un- beispielsweise, ein neues Verfahren, um
einmal anderthalb Jahren trennte sich das terricht braucht, und fährt mit dem Auto schnell, zielgenau und mit geringen Kosten
Draper Lab von etlichen Forschern, darun- zehn Minuten zur Schule. Dort steht er ins Erbgut eingreifen zu können, revolu-
ter auch Todd Rider. An der Spitze des dann im weißen Kittel vor mäßig interes- tioniert gerade die medizinische For-
Instituts saß ein neuer Geschäftsführer, er sierten Teenagern, vor der Brust die Kra- schung. Aber womöglich verläuft der Fort-
hatte zuvor für Google gearbeitet, dachte watte mit lustigen DNA-Spiralen, die auch schritt langsamer, als er müsste. Weil Quer-
unternehmerischer als sein Vorgänger und im YouTube-Video zu sehen ist. einsteiger, Unangepasste, Unbequeme es
war nicht sehr interessiert an langfristiger Während der kurzen Fahrt zurück zu heute schwerer haben als noch vor zwei,
Forschung. Er schloss eine Zweigstelle des seinem Haus spricht Rider voller Sehn- drei Jahrzehnten.
Laboratoriums in Florida, bereinigte „das sucht über „das goldene Zeitalter der For- Dies ist ein Urteil, das nicht nur Rider
Forschungsportfolio“. Mit dem Job ver- schung“. Für ihn währte es hundert Jahre fällt, es wird gestützt von akademischen
schwand auch das Geld. und zog sich bis in die Sechzigerjahre des Schwergewichten, von Männern und Frau-
Während dieser Jahre be- en, die ihre wissenschaftliche
mühte sich Rider immer wie- Karriere vor Jahrzehnten be-
der, Geld von den staatlichen gannen, als die Umstände
National Institutes of Health noch günstiger waren, und
(NIH) zu bekommen, der die am Ende ihrer wissen-
wichtigsten Stelle zur Finan- schaftlichen Laufbahn ge-
zierung medizinischer For- wichtige Titel tragen. Shirley
schung in den USA. Die NIH Tilghman, Molekularbiologin
lobten seine Arbeit zwar, und bis 2013 Präsidentin der
weil sie „vielversprechend“ Princeton University; Bruce
sei, die „bislang vorliegenden Alberts, Biochemiker von
Daten eindrucksvoll“ seien Weltrang und zwölf Jahre
und weil diese „nahelegen, lang Präsident der Nationa-
dass Draco erfolgreich ange- len Akademie der Wissen-
wandt werden kann gegen schaften in den USA. Zusam-
eine Vielzahl viraler Infek- men mit weiteren Forschern
tionen“. beklagen sie in offenen Brie-
Aber trotzdem erging es fen den Zustand der medizi-
ihm nicht besser als vielen nischen Forschung in den
anderen Forschern. Seine An- USA. Gemessen an den For-
träge, die zu erstellen mona- schungsmitteln gebe es viel
telange Arbeit erfordert, wur- zu viele Forscher, die viel zu
den abgelehnt, unter ande- viel Zeit damit verbrächten,
rem weil sie „nur langfristig Anträge auf Forschungsförde-
vermarktbar seien“, weil er rung auszufüllen, die viel zu
„der einzige qualifizierte Wis- oft abgelehnt würden. Das
senschaftler“ („career scien- Ergebnis sei ein überhitzter
tist“) in seiner Forschergrup- Wettbewerb, eine ungesunde
pe sei, weil Rider „allem An- Konkurrenz, die das kreative
schein nach nur wenige Stu- Denken, die Kooperation,
dien veröffentlicht“ habe. die Risikobereitschaft bei For-
Schließlich zog Rider Konse- schern und Geldgebern be-
quenzen. Er beschloss, sich Jugendlicher Rider mit Roboterhund 1983 schränke und in der Summe
nicht mehr bei den NIH zu zu einer kleinmütigen For-
bewerben und nach anderen schung führe, die den wissen-
Finanzquellen zu suchen.
„All das ist wirklich sehr,
Er hat Sehnsucht nach der Zeit, als schaftlichen Fortschritt be-
hindere. Es ist ein harsches
sehr unglücklich“, sagt Rider. Motor, Glühbirne und Telefon erfunden Urteil, vorgetragen mit gro-
Er sitzt immer noch in sei-
nem dunklen Ledersessel,
wurden – „und nicht nur Apps“. ßer Wucht, bislang verhallt
es ungehört.
die dicke Brille im Gesicht, Rider glaubt nicht an die
seine Unterarme liegen auf Reformierbarkeit des Wis-
üppigen Lehnen, die Füße erreichen nur 20. Jahrhunderts. Der Verbrennungsmotor senschaftsbetriebs. Er hat vor Kurzem
knapp den Boden. Er wirkt klein und ge- wurde in dieser Zeit erschaffen, die Glüh- eine zweite Spendenaktion auf Indiegogo
schlagen, keine Spur mehr von der Begeis- birne, die elektrische Eisenbahn, das Tele- gestartet, wieder mit großen Hoffnungen,
terung, mit der er eine halbe Stunde zuvor fon, neue Impfstoffe, Stahlbeton – und das wieder mit bescheidenem Ergebnis: Statt
über Wissenschaft und Forschung gespro- Beste: „Forscher haben nicht die Hälfte 60 000 kamen gut 40 000 Dollar zusammen.
chen hat. Er kann seine Wut über sein ihrer Zeit mit dem Schreiben von Anträ- In einer Mail schreibt er, er werde sich
Schicksal nur mühsam unterdrücken. Wäre gen verbracht.“ Rider hätte gern in dieser weiter um Geldgeber bemühen. Wer das
das Licht aus, könnte man ihn im Dunkeln Ära gearbeitet, „denn was“, fragt er, „wird sein könnte, schreibt er nicht. Stattdessen
glühen sehen. heute erfunden? Apps“. berichtet er von einem neuen Vorhaben.
Bestätigung, ein wenig zumindest, er- Natürlich stimmt das nur zur Hälfte. Er will sich nun auch der Wissenschafts-
fährt er mittwochs, wenn er sich aufmacht Nach wie vor werden atemberaubende geschichte widmen, vor allem der Frage,
zu seinen Schülern. Dann zerrt er einen Entdeckungen gemacht, gerade auf dem warum Forschen früher so viel einfacher
roten Rollkoffer aus der Garage, belädt Gebiet der Genmanipulation. Crispr-Cas9 war. I

DER SPIEGEL 31 / 2016 57


Gesellschaft

2,78 Mio. 203 596


abgespielte Dollar Umsatz
20,8 Mio. Videos bei von Amazon 51000
Nachrichten YouTube Downloads
bei WhatsApp im App Store
von Apple
1,04 Mio. 150 Mio.
abgespielte verschickte
Videoclips bei Vine E-Mails

1389 701389
Fahrten Was sich Facebook-
bei Uber in einer Minute Log-ins
weltweit im
347222 Internet ereignet 2,4 Mio.
Tweets Google-
bei Twitter Quelle: Excelacom Suchanfragen

972222 38 194
Profilbewertungen Posts auf
bei Tinder Instagram
38052 120
Stunden neue
gestreamte 69444 LinkedIn-
Musik bei 527760 Stunden Nutzer
Spotify geteilte Fotos gestreamte
bei Snapchat Filme bei
Netflix

Kleiner Chip, was nun?


Big Data Was fasst weltweit eine Internetminute? Beispielsweise 20 Millionen WhatsApp-Nachrichten
und 347 000 Tweets. Doch der digitale Temporausch kann nicht ewig dauern.

S
chneller ist besser, dieser Glaubens- auch, dass mehr Geld um den Globus Jahrzehnts müssten die Transistoren auf
satz treibt das Internet seit Langem fließt. Amazon setzt pro Minute über den Chips so winzig werden, so dicht ge-
voran. Auch nach über zwei Jahr- 200 000 Dollar um. Auch Start-ups wie der packt sein, dass die verwirrenden Regeln
zehnten World Wide Web ist die Raserei Taxivermittlungsdienst Uber profitieren. der Quantenphysik sie unberechenbar
der Daten ungebremst, immer mehr wird Rund 1300 Uber-Touren werden pro Minu- machen. Wie es dann mit dem Wachstum
online gekauft, geguckt, immer breiter te bestellt, doppelt so viele wie im vergan- des Internets weitergeht, ist ungewiss.
wird der Strom aus Nachrichten, Tweets genen Jahr. Zusammengerechnet sind das Vielleicht folgt bald ein Paradigmen-
und Mitteilungen. Die Flut der Daten zu fast zwei Millionen Uber-Fahrten pro Tag. wechsel: weg vom Immer-mehr, hin zum
erfassen, dieser Aufgabe hat sich das US- Fraglich ist, ob der Onlineboom in die- Immer-besser. Vorgemacht hat das die
Unternehmen Excelacom gestellt. Es trug sem Tempo weitergehen kann. Seit den kommerzielle Luftfahrt, die sich schon vor
zusammen, was alles geschieht im Netz, Siebzigerjahren verdoppelt sich die Kapa- langer Zeit vom Rausch der Geschwindig-
weltweit, in einer einzigen Minute – und zität von Mikrochips alle 24 Monate ver- keit verabschiedet hat. Linienflugzeuge
die Zahlen sind erstaunlich. lässlich. Dieser Umstand wurde bereits in wie die Boeing 787 fliegen nicht schneller
150 Millionen E-Mails werden versendet, den Rang eines Gesetzes erhoben: Moore’s als ihre Vorgänger in den Fünfzigerjahren.
2,4 Millionen Fragen an Google geschickt, Law, formuliert von Gordon Moore, dem Verändert hat sich das Fliegen trotzdem.
und jede Minute werden weltweit rund ehemaligen Intel-CEO. Es ist beispielsweise sehr viel sicherer ge-
970 000 Profile von Paarungswilligen bei Aber das Gesetz wird bald nicht mehr worden. Das würde man sich für das Inter-
Tinder bewertet. Mehr Daten bedeuten gelten. Schon Anfang des kommenden net ebenfalls wünschen. Uwe Buse

58 DER SPIEGEL 31 / 2016


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Gesellschaft

hatte die Delegation einen Kranz auf dem Gedenkfriedhof


niedergelegt, auf dem Opfer der deutschen Belagerung in
Massengräbern bestattet worden waren. Beinahe eine Mil-
lion Leningrader verhungerten, als die Wehrmacht die Stadt
einschloss. De Maizière lief den langen Weg zwischen den
Gräbern zurück, als trüge er ein Kreuz auf den Schultern.
Gut oder böse Ich schlief drei Nächte in Sankt Petersburg, es wurde
nie richtig dunkel. Als ich in Berlin den Fernseher an-
schaltete, verurteilte dort mein Kollege Hajo Seppelt zwi-
Leitkultur Eine Kolumne von schen Attentatsbildern im Kommentar der „Tagesthemen“,
dass das IOC Russland nicht generell von den Olympi-
Alexander Osang schen Spielen in Rio ausgeschlossen hat. Es schien nur
eine weitere furchtbare Nachricht zu sein wie all die an-

V
or fast genau 80 Jahren verließ meine Großmutter deren. Für mich war es die einzige gute.
Leningrad. Sie hatte einen deutschen Ingenieur ge- Vor ein paar Jahren habe ich mit Hajo in Sankt Peters-
heiratet, der auf Einladung Lenins in die Sowjet- burg versucht, den Geheimnissen von IOC-Präsident Tho-
union gekommen war. Das Konzept nannte sich Neue mas Bach auf die Schliche zu kommen. Wir haben mit
Ökonomische Politik, kurz NEP, im Russischen gibt’s keine korrupten Scheichen, stiernackigen rumänischen Ringern
Umlaute. Die Kapitalisten sollten beim Aufbau der So- und schwermütigen Schweizer Ruderfunktionären geredet.
wjetmacht mithelfen. Mein Großvater erkundigte sich bei Nachts an der Bar haben wir mit nervösen Funktionärs-
den deutschen Behörden, ob das okay sei. Die Behörden sprechern aus aller Welt getrunken, einmal ging es so lange,
schrieben: ja. Er reiste in offizieller Mission zu den Kom- dass ich nicht mehr ans andere Flussufer konnte, an dem
munisten. Irgendwann lernte er da- mein Hotel lag. Nachts ziehen sie
bei meine Großmutter kennen. alle Brücken über der Newa hoch.
Das war in der Nähe von Nischni Das IOC ist eine bizarre Welt-
Nowgorod, wo die Oka in die Wol- regierung, in der Prinzessin Anne
ga fließt und meine Oma geboren und ein Prinz von Jordanien ge-
worden war. Sie zogen erst nach nauso viel zu sagen haben wie eine
Moskau, später nach Leningrad, in ehemalige polnische Weitspringe-
jeder Stadt wurde ein Mädchen ge- rin und ein nordkoreanischer Bas-
boren. Meine Tanten. ketballfunktionär. Nur so kann es
Lenin starb, Stalin kam an die dazu kommen, dass Winterspiele
Macht, und deutsche Ingenieure an Städte vergeben werden, in
lebten gefährlich. Es war höchste denen kein Schnee fällt. Nur hier
Zeit, dass meine Großeltern aus haben Mächte der Finsternis auch
Leningrad wegkamen. Ich habe mal die Chance zu gewinnen. Na-
mir oft vorgestellt, wie meine Oma türlich kann man das nicht begrü-
aus dem Flugzeugfenster auf die ßen, wenn man halbwegs bei Ver-
glitzernde Stadt hinuntersah, in stand ist. Ich freue mich trotzdem,
der sie in weißen Nächten Tennis dass es in Rio auch Russen geben
gespielt hatte. wird. Genauso wie US-Amerika-
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

Vorige Woche war ich da. Le- ner, die für immer die Weltrekorde
ningrad heißt wieder Sankt Peters- im Damensprint halten werden, ob-
burg, die neue ökonomische Poli- wohl die Rekordhalterin längst ge-
tik nennt sich heute Petersburger storben ist, bestimmt an ihrem gro-
Dialog. Er wurde einst von den ßen Dopingherz.
Kumpels Putin und Schröder ins Mich hat als Junge nichts mehr
Leben gerufen. NEP heißt jetzt deprimiert als die verlogenen Er-
PED. Lenin wüsste sofort, wo- Russische Musikerin, deutscher Reporter klärungen der jeweiligen deut-
rum’s geht. In der Wirtschaftsgrup- schen Politiker zum Boykott der
pe des Dialogs waren jede Menge vierschrötige Gazprom- Spiele in Moskau und in Los Angeles. Damals hatte ich
Funktionäre, aber auch die Chefs von Siemens und SAP zum allerersten Mal das Gefühl, die Welt falle auseinander.
in Russland. Am Politikstammtisch saßen der ehemalige Ich glaube, die meisten Deutschen denken bei Russland
Verteidigungsminister Jung sowie ein Enkel von Andrej nicht an Sport. Sie denken an Gut oder Böse. So einfach
Gromyko, außerdem waren Gabriele Krone-Schmalz, Jus- sind die Dinge selten. Ich fürchte, man wird nicht gut,
tus Frantz und Manfred Stolpe da. Auf einer Stadtrund- weil man das Böse ausschließt.
fahrt saß ich neben Lothar de Maizière, der unentwegt re- Meine Großeltern und ihre Töchter schafften es im Som-
dete. Von Schostakowitsch, von seinem verstorbenen mer 1936 gerade noch so aus dem immer paranoider agie-
Hund, von der Bedeutung der Krim und von einer musika- renden Sowjetreich. Wie sie das angestellt haben, ist mir
lischen Gastspielreise durch die Sowjetunion, auf der er bis heute nicht ganz klar. Sie landeten in Berlin, wo gerade
sich in den Sechzigerjahren Tuberkulose zugezogen hatte. die Olympischen Spiele begannen. Überall wehten Nazi-
Im Krankenbett lernte der letzte Ministerpräsident der flaggen. Es gibt ein Foto, auf dem meine russische Oma
DDR Russisch. De Maizière schien mehr über die Faber- vor dem kleinen Flugzeug steht, das sie in Sicherheit brin-
gé-Eier der Zarenfamilie zu wissen als die Stadtführerin. gen sollte. Auf dem Flughafen Tempelhof. Wenn ich meine
In dem kleinen Mann gibt es erstaunlich viel Verständnis russisch-deutsche Seele beschreiben sollte, würde sie in
für die Nöte des großen russischen Volkes. Am Vormittag etwa aussehen wie das Bild.

60 DER SPIEGEL 31 / 2016


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WIKTOR DABKOWSKI / ZUMA / DDP IMAGES
Stabilitätspakt

„Unsere Drohung ist ernst gemeint“


EU-Digitalkommissar Günther Oettinger, 62, über die Defizitsünder Spanien und Portugal
SPIEGEL: Die EU-Kommission hat nun doch keine Sanktionen Spanien und Portugal im nächsten Jahr zu kürzen, ist ernst
gegen Portugal und Spanien verhängt. Der französische gemeint. Die beiden Länder müssen dringend ihre Haushalte
Währungskommissar Pierre Moscovici sprach von einer „ein- in Ordnung bringen, wenn sie die Milliardentransfers nicht
vernehmlichen Entscheidung“ im Kommissarskollegium. riskieren wollen.
Stimmt das? SPIEGEL: Selbst Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble
Oettinger: Es gab keine Kampfabstimmung. Aber ich habe scheint sich gegen Sanktionen, die möglicherweise den
deutlich für eine maßvolle Geldbuße plädiert. Auch einige spanischen Konservativen schaden könnten, ausgesprochen
andere Kollegen sprachen sich für Sanktionen aus. zu haben.
SPIEGEL: Ist der Stabilitätspakt nun endgültig tot, weil eine Oettinger: Es läuft wegen der Sanktionen ein Schwarzer-
Mehrheit der Kommissare sich weigert, ihn anzuwenden? Peter-Spiel zwischen den europäischen Institutionen.
Oettinger: Nein, wir haben eine zweite Option. Unsere Wir müssen aufpassen, dass nicht Parteipolitik eine immer
Drohung, die Strukturmittel aus dem EU-Haushalt für größere Rolle in Europa spielt. pau

Modehandel let, verkauft aber auch Mas- Unternehmen Insolvenz an. Si- durch die Übernahme ein Vo-
Karstadt-Mutter senmarken wie Benetton, G- gna glaubt, der Webplattform lumen von mehr als hundert
kauft Dress-for-less Star oder Wrangler in 13 Län-
dern. 1999 wurde Dress-for-
neuen Schwung verleihen
und zugleich seine eigene Mo-
Millionen Euro erreichen. Die
Zukunft von Dress-for-less sei
Die Warenhauskette Karstadt less gegründet, danach wech- dekompetenz steigern zu kön- gewährleistet, verspricht Si-
soll weg vom bloßen Kauf- selte der E-Commerce-An- nen. Das Onlinegeschäft soll gna, die 260 Arbeitsplätze
hausimage und mehr Kunden bieter aus dem hessischen seien „weitgehend gesichert“.
über das Internet erreichen. Kelsterbach mehrfach den Be- Ihre Onlineaktivitäten will
Karstadts Mutterkonzern Si- sitzer. Nach dem Ausstieg des die Handelsgruppe weiter
gna Retail übernimmt deshalb letzten Eigentümers, der spa- ausbauen. Kürzlich hatte Si-
OLIVER BERG / DPA

das insolvente Modehandels- nischen Handelsfirma Priva- gna das Sportartikelportal


portal Dress-for-less. Der digi- lia, geriet Dress-for-less in outfitter.de erworben, ergän-
tale Discounter bezeichnet finanzielle Schwierigkeiten, zend zum bereits bestehen-
sich selbst als Designer-Out- Anfang Juni meldete das den Portal karstadt.de. sh, one

62 DER SPIEGEL 31 / 2016


Wirtschaft
Unister ist“. Der Sprecher der Gene-
Eltern misstrauen ralstaatsanwaltschaft spricht
Staatsanwalt von einem Missverständnis.
Die Todesumstände unter-
Die Eltern des verstorbenen suchten die Behörden in Slo-
Unister-Gründers Thomas wenien – dort hatte sich der
Wagner haben sich bei der Absturz ereignet. Der Staats-
Generalstaatsanwaltschaft anwalt, der zuvor gegen
Dresden beschwert. Sie seien Unister ermittelte, sei nun le-
„entsetzt, schockiert und diglich in der Betrugssache
traurig“, dass derselbe tätig, in der Wagner der Ge-
Staatsanwalt mit der Klärung schädigte war. Die Vorwürde
der Umstände des Todes ih- der Eltern gegen den Staats-
res Sohnes beauftragt sei, anwalt seien „durch die Trau-
der zuvor gegen Manager er und den Schmerz“ ver-
des Internetunternehmens er- ständlich. Man sehe jedoch
mittelt hat. Wagner war am keinen Grund, den Staatsan-
14. Juli bei einem Kleinflug- walt auszuwechseln: Das Ge-
zeugabsturz ums Leben ge- richt habe schließlich auch

RAINER WEISFLOG
kommen. Unister (ab-in-den- die erhobene Anklage zuge-
urlaub.de, fluege.de) wird lassen. Wagner wurde offen-
unter anderem vorgeworfen, bar Opfer eines Betrugs in Walzwerk in Eisenhüttenstadt
Versicherungsteuern nicht Venedig, als er dort versuch-
korrekt abgeführt zu haben. te, von einem bisher unbe-
Wagners Eltern schreiben kannten Mann einen Millio- Energiekosten
weiter in ihrem Brief, dass nenkredit zu bekommen. Stahlkonzerne sparen
„die Ermittlungen, die Vor- Auf dem Rückflug stürzte
würfe und die hetzerische das gecharterte Kleinflug- Die deutsche Stahlindustrie spart über zwei Milliarden Euro
Pressearbeit dazu geführt ha- zeug ab, alle vier Insassen bei den Energiekosten. Grund sind Ausnahmen bei Abgaben,
ben, dass das Unternehmen starben. Mehrere Unister- die private Stromkunden oder weniger stromintensive Unter-
unseres Sohnes in wirtschaft- Unternehmen meldeten da- nehmen bezahlen müssen. Den größten Anteil in Höhe von
liche Schwierigkeiten geraten nach Insolvenz an. mum bis zu 800 Millionen Euro macht die weitgehende Befreiung
von der Ökostromzulage aus. Umgerechnet auf die 120 000
Beschäftigten der Stahlindustrie macht dieser Vorteil rund
18 000 Euro pro Arbeitnehmer aus. Dies geht aus einer Studie
des Forums Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft hervor, die
von den Grünen-Abgeordneten Kerstin Andreae und Oliver
Krischer in Auftrag gegeben wurde. Nun müssen Privatkun-
den, aber auch weite Teile der Industrie, die nicht über eine
bestimmte Verbrauchsschwelle kommen, die Summe größten-
IGOR KUPLJENIK / DPA

teils ausgleichen. Krischer kritisiert, dass die Stahlindustrie


sich trotz ihrer Privilegierung über zu hohe Stromkosten
Wrack des Piper-Kleinflugzeugs beschwert. „Wir brauchen eine faire Verteilung der Energie-
kosten“, sagt der Grünen-Abgeordnete. gt

Die Samstagsfrage Wie bucht man den billigsten Flug?


362 Passagiere haben in einer Lufthansa-Boeing 747-8 ren unter oder verkaufen ihnen Versicherungen. Ein
Platz. Kaum ein Fluggast hat den gleichen Ticket- Tarifklassen Hilfsmittel für Reisende ist der Dienst Google
preis bezahlt wie sein Nachbar. Allein in der Eco- bei Interkontinentalflügen Flights. Er gibt eine Übersicht, wo eine Strecke ak-
der Lufthansa
nomy Class gibt es zwölf verschiedene Buchungs- 12 tuell am günstigsten ist. Wer buchen will, wird
klassen, der Bordservice ist stets gleich. Im Allge- (noch) direkt auf die Airline-Seite geleitet. Billige-
meinen gilt: Ein großer Teil der günstigsten Tarife 5 re Tickets bekommt meist, wer bei internationa-
ist zuerst ausgebucht. Aber es gibt Ausnahmen.
3 2 len Flügen bereit für einen Umweg über Dublin,
Für den Reisenden macht das die Suche kompli- Amsterdam oder Kopenhagen ist. Zu beachten ist,
Eco Premium- Busi- First
ziert. Er will ja nicht derjenige im Flugzeug sein, Eco ness dass sich Einzelflüge selten lohnen, außer bei Billig-
der für die gleiche Leistung am meisten ausgibt. Por- fliegern. Stattdessen ist es ratsam, lieber einen Hin-
tale wie Opodo oder Expedia gaukeln zwar vor, den und Rückflug zu buchen. Wer billig reisen will, sollte
günstigsten Flug verfügbar zu haben, bei einer aktuellen Analy- Tage meiden, an denen verstärkt Geschäftsreisende unterwegs
se der „Stiftung Warentest“ schnitten sie jedoch schlecht ab. Sie sind: Montag, Donnerstag und Freitag; bei Fernostflügen Sams-
lieferten kaum Schnäppchen, im Gegensatz zu den Websites tag. Eine Übernachtung von Samstag auf Sonntag am Zielort
der Airlines. Das hat seinen Grund: Die Portale bekommen für macht den Tarif oft günstiger. Zusätzlich kann es hilfreich sein,
die Vermittlung von Tickets keine Provisionen. Um trotzdem an Wochenenden zu kaufen. Bonusmeilen für innerdeutsche
Geld zu verdienen, schieben sie ihren Kunden oft Servicegebüh- Economy-Class-Flüge einzusetzen lohnt fast nie. mum

DER SPIEGEL 31 / 2016 63


PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF
EZB-Zentrale (l.), Bankenviertel in Frankfurt am Main

Die neue Planwirtschaft


Geldpolitik Die Europäische Zentralbank hat mit einer einzigartigen Geldschwemme
den Zerfall der Eurozone vorerst verhindert. Doch der Nutzen ihrer Eingriffe nimmt ab.
Mit Negativzinsen und Anleihekäufen setzt sie die Regeln der Märkte außer Kraft.

O
liver Kahn ist sicher nicht der Erste, ein leidenschaftlicher Verfechter der kahn- kein Zweifel, dass der bisherige Kurs trotz
der einem einfällt, um Mario Dra- schen Weiter-immer-weiter-Philosophie. heftigen Gegenwinds und gegen allerlei
ghi zu charakterisieren, den Präsi- Wie Draghi den an Starrsinn grenzen- Widrigkeiten sehr wirksam gewesen sei,
denten der Europäischen Zentralbank den Behauptungswillen des Fußballers in behauptete der EZB-Chef selbstbewusst.
(EZB). Doch eines hat der filigrane Italie- die Welt der Geldpolitik überträgt, hat er Und so werde die Notenbank auch künftig
ner mit dem rustikalen Torwart und Ex- vergangene Woche im Frankfurter Euro- alle zur Verfügung stehenden Mittel nut-
Titan gemeinsam: Draghi ist offenkundig tower wieder einmal gezeigt. Es bestehe zen, um ihr Ziel zu erreichen. Weiter, im-
64 DER SPIEGEL 31 / 2016
Wirtschaft

mer weiter – und seien die Siegchancen Geldkonzerne sind gehandicapt durch ei- nen, dass die Aussichten schlecht sind, sie
noch so gering. gene Fehler und durch die Zinspolitik der zerstört das Vertrauen in das Wachstum.“
Das ist die Lage: Die EZB hat ihr Reper- Notenbanken. Die EZB hält die Banken Wemmer ist einer der ersten deutschen
toire ausgeschöpft und neue Instrumente zwar flüssig, andererseits ersetzt sie zu- Topmanager, die das Kaufprogramm für
erfunden, um eine drohende Spirale aus nehmend die Institute als Geldgeber für Unternehmensanleihen scharf kritisieren.
fallenden Preisen und einer schrumpfen- Wirtschaft und Staaten. „Europa wollte nach der Finanzkrise den
den Wirtschaft abzuwenden. Sie hat die Es sind diese widersprüchlichen Signale Kapitalmarkt stärken und Anleihen als Fi-
Leitzinsen auf null und darunter gesenkt, der EZB, die dafür sorgen, dass die Geld- nanzierungsalternative zum Bankkredit
Liquiditätsspritzen für Banken verabreicht, schwemme nicht für spürbares Wachstum etablieren“, sagt der Allianz-Vorstand.
Staatsanleihen im Wert von rund einer Bil- sorgt. Zwar ist Kapital dank Draghi billig „Die exzessiven Anleihekäufe der EZB
lion Euro gekauft. Als das aus ihrer Sicht wie nie, und Banken haben zuletzt tatsäch- konterkarieren das Ziel, einen aktiven Ka-
nicht reichte, hat sie begonnen, den Markt pitalmarkt zu schaffen.“
für Unternehmensanleihen abzusaugen. Kaufrausch und Kater Bertolt Brecht schrieb die „Ballade von
Auf 3,3 Billionen Euro ist die Bilanzsumme 1,2 der Unzulänglichkeit menschlichen Pla-
der Notenbank angeschwollen. nens“ – und sie liest sich, als ob sie Mario
Die Erfolge dieser Politik sind über- Die EZB kauft Anleihen von Staaten Draghi auf den Leib gedichtet wäre. „Ja,
und Unternehmen in großem Stil … 0,8
schaubar, die Risiken enorm. Zwar wäre mach nur einen Plan! Sei nur ein großes
die wirtschaftliche Lage ohne die Eingriffe Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten
der EZB vermutlich schwächer. Doch um Ankäufe, 0,4 Plan. Gehn tun sie beide nicht.“
in Billionen Euro
einen Absturz der Wirtschaft kurzfristig Der Plan war, die Banken zu stärken
zu verhindern, setzten Draghi und seine und den Kapitalmarkt zu beleben. Schließ-
Mitstreiter im Zentralbankrat die Gesetze lich gibt es für Europa da Nachholbedarf.
des Marktes in einer Weise außer Kraft, 2009 2011 2013 2015 16
In den USA kommen die Unternehmen
die manchen Ökonomen an das Zentral- 6% zu zwei Dritteln durch die Ausgabe von
komitee der Kommunistischen Partei der … die Renditen sinken … Anleihen an Anleger, Kleinsparer und
Sowjetunion erinnern. Europa steuert auf Hedgefonds an Geld. Bankkredite machen
eine neue Planwirtschaft zu. Unternehmensanleihen 4% gerade ein Drittel aus. In Europa ist es
„Kauft die EZB Unternehmensanleihen, Staatsanleihen umgekehrt.
vergibt sie faktisch direkt Kredite“, erklärt Eurozone; Laufzeit: bis 3 Jahre Doch durch ihr Aufkaufprogramm hat
Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerz- 2% die EZB den Markt erst einmal durch-
bank. Das laufe einem zweistufigen Ban- einandergewirbelt und Anleger und Emit-
kensystem zuwider, in dem die EZB die tenten verunsichert.
Banken mit Liquidität versorgt und diese 0% Die Allianz etwa profitiert zwar als
wiederum für die Kreditvergabe zuständig Emittent von Anleihen selbst von den Käu-
sind. „Das erinnert fast an das einstufige 2009 2011 2013 2015 16 fen der EZB. Doch vor allem ist sie einer
Bankensystem aus Zeiten der Planwirt- der größten Investoren der Welt. Je stärker
schaft“, folgert Krämer. die Renditen sinken, desto schwieriger tut
… doch die Investitionen ver-
Die Ansicht, dass die EZB die harren auf niedrigem Niveau.
sie sich, Anlagemöglichkeiten zu finden.
Marktwirtschaft beschädige, ist verbreitet. 22 Sie wäre Nutznießer eines größeren An-
„Es ist nicht sinnvoll, die Geldpolitik im- Investitionen in der leihemarktes.
mer weiter zu treiben“, sagt Clemens Eurozone, in Prozent des „Man schafft einen solchen Markt nicht,
Fuest, Präsident des Münchner Ifo-Insti- Bruttoinlandsprodukts 21 indem man die EZB dort zum dominieren-
tuts. „Die Negativzinsen zerstören die den Investor macht“, sagt auch Ifo-Chef
Grundlage für die Geschäftstätigkeit der Quelle: Thomson 20 Fuest. Ziehe sie sich eines Tages zurück,
Banken, und die Anleihekäufe verzerren Reuters Datastream bestehe die Gefahr, dass der Markt zusam-
die Zinsen, also den Preis des Risikos, so- menbreche.
dass die Funktionsfähigkeit der Kapital- 2009 2011 2013 2015 16 Die Experten fürchten, dass private In-
märkte leidet.“ vestoren von der EZB aus dem Markt ge-
Die EZB macht sich mit jedem Eingriff lich etwas mehr Kredite vergeben, doch drängt werden. Sie könnten außerdem an
in die Märkte selbst zu einem wichtigeren die Unternehmen nutzen sie zu wenig für den Zinsen nicht mehr ablesen, welche Ri-
Marktteilnehmer. Sie ist größte Gläubige- Investitionen. Die Verbraucher bleiben siken eine Investition birgt. „Hier gleichen
rin der teils exzessiv verschuldeten Euro- sparsam – und die Inflation bewegt sich sich wegen der Anleihekäufe Zinsen an,
staaten und hält rund zehn Prozent der nur zaghaft auf die von der EZB angepeilte wo die Risiken nun einmal nicht gleich
ausstehenden Staatsanleihen. Und gerade Marke von zwei Prozent zu. sind“, sagt Allianz-Vorstand Wemmer. Tat-
einmal sieben Wochen nachdem die EZB Planwirtschaft, ob kommunistisch ge- sächlich sind die Renditen europäischer
begonnen hat, Unternehmensanleihen auf- steuert oder vom Rat der EZB, ist ökono- Unternehmensanleihen seit Ankündigung
zukaufen, ist sie auch hier zum dominan- misch keine gute Idee. Sie vernebelt den des Programms stark gefallen, und die
ten Akteur aufgestiegen. Blick auf die wirtschaftliche Realität. Sie Zinsabstände zwischen Papieren von Fir-
Die Folgen sind schwerwiegend. Die verteilt Ressourcen nicht zielgenau. Sie men mit guter Bonität und solchen mit
EZB verzerrt und destabilisiert den ohne- setzt falsche Anreize. Und sie hat in den schlechtem Rating sind geschrumpft. Der
hin unterentwickelten europäischen Kapi- Ländern, wo sie angewendet worden ist, Markt wird nebulös.
talmarkt – und lähmt ein Bankensystem, selten Zuversicht gestiftet und zu Unter- Schon jetzt weist etwa ein Drittel der
das sowieso schlecht funktioniert. nehmertum eingeladen. für das EZB-Programm infrage kommen-
Europas Banken sind acht Jahre nach „Unternehmer investieren, wenn sie den Unternehmensanleihen eine negative
der Finanzkrise labil und ertragsschwach, glauben, dass es aufwärtsgeht“, sagt Dieter Rendite auf, das heißt, Investoren zahlen
der jüngste Stresstest der europäischen Wemmer, Finanzvorstand der Allianz. drauf, um diesen Firmen Geld zu leihen.
Bankenaufsicht gibt davon Zeugnis. Die „Aber die Politik der EZB signalisiert ih- Als erster europäischer Konzern begab die
DER SPIEGEL 31 / 2016 65
EZB-Anleihekäufe
von Unternehmen Deutschland 26,6 %
darunter VW, Daimler,
Deutsche Bahn, BMW,
sonstige 9,4% RWE, SAP
Österreich 3,1%
Schweiz 3,6%
Belgien 3,8%
Nieder-
lande 7,1%

ANGELOS TZORTZINIS / NYT / REDUX / LAIF


Spanien
9,2%

Italien 11,5% Frankreich 25,7%

Quellen: EZB, Bloomberg

Die EZB hat seit dem 8. Juni Anleihen von


165 Unternehmen für 11,8 Mrd. Euro gekauft.
EZB-Präsident Draghi (M.): „Vertrauen in das Wachstum zerstört“

Deutsche Bahn vor Kurzem eine Anleihe, den Euro für die Käufe infrage. „Schon kann dann auch Auswirkungen auf die
die sogar schon bei der Ausgabe eine ne- jetzt erzeugt die EZB bei Unternehmens- Kreditvergabe haben.“ Die zinsvernichten-
gative Verzinsung aufwies. anleihen ein Knappheitsproblem“, sagt de Politik der Notenbanken drängt Banken
Je mehr sich die EZB in den Anleihe- Krämer. Viele Anleihen liegen bei institu- und Investoren an den Kapitalmärkten ge-
markt einmischt, desto größer werden die tionellen Investoren fest. Die EZB muss radezu, höhere Risiken einzugehen, um
Probleme, die sie sich aufhalst. also zunehmend Neuemissionen kaufen. noch Geld zu verdienen.
Weil die EZB versucht, mit ihren Anla- „Fast die Hälfte der neu ausgegebenen Fir- „Das eigentliche Problem ist der Schul-
gen den Markt abzubilden, erwirbt sie auch menanleihen dürfte bei der EZB landen, denüberhang, vor allem in den südlichen
viele Anleihen mit negativer Rendite und wenn sie weiterhin ein monatliches Volu- Ländern“, sagt Ifo-Präsident Fuest. „Das
handelt sich entsprechende Verlustrisiken men von drei bis fünf Milliarden Euro im löst man nicht, indem man noch mehr Kre-
ein. Die Notenbank kauft zudem Papiere, Monat kauft.“ dite vergibt.“ Gesunde, innovative Firmen
die von Ratingagenturen gerade noch als Auch bei Staatsanleihen wird es eng. hätten kein Finanzierungsproblem. Über-
solides Investment eingestuft werden, wie Die EZB darf nur Papiere kaufen, die nicht kapazitäten müssten abgebaut und die fau-
Telecom Italia oder Lufthansa. Auch der weniger Rendite als -0,4 Prozent abwerfen. len Firmenkredite in den Bankbilanzen ab-
schlingernde Energiekonzern RWE steht Das entspricht dem Strafzins, den die EZB geschrieben werden.
auf der Einkaufsliste der EZB. Und sie ist von Banken verlangt, wenn diese bei ihr Doch dafür sind viele Banken zu
indirekt als Geldgeber dabei, wenn sich kurzfristig Geld parken. Bereits 50 Prozent schwach, man müsste sie abwickeln. Allein
nun Bayer anschickt, den amerikanischen der Staatsanleihen in der Eurozone weisen italienische Kreditinstitute haben 360 Mil-
Saatgutkonzern Monsanto zu übernehmen. eine negative Rendite auf, bei Bundesan- liarden Euro an faulen Krediten in den Bü-
„Ordnungspolitisch ist das Programm leihen sind es fast 80 Prozent, also Papiere chern. Die Geldschwemme der EZB hilft
problematisch. Es bevorzugt die großen im Wert von rund 750 Milliarden Euro. diesen Banken, am Leben zu bleiben, doch
Konzerne und benachteiligt kleinere und Bleiben die Rahmenbedingungen so, ihre Probleme löst sie nicht, und bei ge-
mittlere Unternehmen, die vor allem in könnten die Zentralbanken bereits in zwei sunden Banken schafft sie neue.
den Peripherieländern unter Finanzie- bis vier Monaten keine Anleihen von Län- Der mächtige Mario Draghi, an dem so
rungsproblemen leiden“, kritisiert Com- dern wie Deutschland oder den Niederlan- vieles hängt und dem noch mehr angelas-
merzbank-Volkswirt Krämer. den aufkaufen, warnen Analysten des bel- tet wird, kennt diese Widersprüche und
Am Ende ist nicht einmal mehr mit Si- gischen Finanzkonzerns KBC. Nebenwirkungen. Doch er fühlt sich von
cherheit zu sagen, wer nun Nutznießer die- EZB-Beobachter erwarten, dass Draghi den Regierungen im Stich gelassen.
ser Politik ist und wer unter ihr leidet. und Kollegen deshalb die Grenzen für ihre In der Tat wären es die Politiker in Rom
Selbst Unternehmen, die von den Käufen Kaufprogramme im Herbst ausweiten wer- und Brüssel, Paris und Berlin, die auf den
der EZB profitieren, sind über den neuen den, wenn sich die Lage nicht deutlich schleichenden Niedergang der europäi-
Großanleger nicht uneingeschränkt glück- verbessert. Die EZB könnte die Zins- schen Wirtschaft reagieren müssten. Einer
lich. „Unsere Anleiheinvestoren, die lange grenze für Käufe senken oder einen hö- Wirtschaft, in der Banken und Unterneh-
dabei sind, wünschen sich von uns, dass heren Anteil an einzelnen Papieren kau- men schon jetzt nur noch einen Bruchteil
wir sie trotz der EZB als großem zusätzli- fen, als bisher erlaubt. All diese Varianten der amerikanischen Konkurrenz verdie-
chem Käufer bei Neuemissionen angemes- bergen jedoch höhere Risiken für die nen, in der viele Staaten und Firmen über-
sen berücksichtigen“, sagt Stefan Scholz, Notenbank. schuldet sind und die Arbeitslosigkeit in-
Leiter des Bereichs Finanzen und Treasury Der Kern des Problems ist, dass die EZB akzeptabel hoch ist.
beim Autozulieferer Continental. „Sie be- mit der Ausdehnung ihrer Kaufprogramme Die Brexit-Entscheidung der Briten
richten, dass der Markt immer trockener die Banken schwächt, die sie ja eigentlich könnte diese Probleme verschärfen. Es
wird, es wird schwieriger, größere Pakete zu mehr Kreditvergabe bewegen möchte. wäre fatal, wenn die Regierungen der EU
zu kaufen und rentable Anlagemöglichkei- „Banken können durch die Hereinnahme es wieder einmal der EZB überließen, die-
ten zu finden.“ kurzfristiger Gelder und die Vergabe län- se neue Herausforderung zu meistern. Es
Experten sehen das Programm an Gren- gerfristiger Kredite kaum noch Margen er- wäre ein weiterer Schritt in die Zentral-
zen stoßen. Insgesamt kommen überhaupt zielen“, sagt Isabel Schnabel, Mitglied des bankwirtschaft. Martin Hesse
nur Papiere im Wert von rund 650 Milliar- Sachverständigenrats für Wirtschaft. „Dies Mail: martin.hesse@spiegel.de

66 DER SPIEGEL 31 / 2016


Wirtschaft

Letzter Aufruf
Afrikas bringen, bleibt der Lufthansa oft Das Drehkreuz des Wettbewerbers Etihad
nur die Kapitulation. in Abu Dhabi bedient die Lufthansa seit
Einige der bevölkerungsreichsten Län- vergangenem Jahr nicht mehr.

Shenyang
der der Erde wie Indonesien, Malaysia, die Wie schnell die Erträge auf einstmals
Philippinen oder Pakistan fliegt Deutsch- einträglichen Verbindungen durch die ara-
lands Nummer eins nicht mehr an. Aus bische Konkurrenz erodiert sind, zeigt ein
Hyderabad hat sich der Konzern bereits anderes Dokument aus Hohmeisters Ab-
Lufthansa Die führende deutsche vor einigen Jahren zurückgezogen. teilung. Als Beispiel dient die Verkehrs-
Für die exportorientierte deutsche Wirt- entwicklung zwischen Europa und dem
Fluglinie streicht immer mehr schaft ist das ein Problem. Wenn Nonstop- indischen Kalkutta.
Strecken nach Asien, Afrika und Flüge in wichtige Weltregionen wegfallen, Danach flogen dort zwischen 2006
kostet das Zeit und Frachtfläche. Doch bis- und 2009 neben Emirates zunächst noch
in den Nahen Osten. Nun gibt lang gab es wenig Proteste. BMW-Chef drei weitere Fluglinien hin und her: die
es erstmals Protest – von BMW. Krüger ist der Erste, der seinen Ärger nicht Lufthansa, British Airways und Air India.
nur im kleinen Kreis äußert. Als kurz darauf auch Qatar Airways

W
enn BMW-Ingenieure eines der Wie zugespitzt die Lage ist, geht aus und Etihad einstiegen, verabschiedeten
beiden Werke des Konzerns im einem internen Papier hervor, das Mit- sich die Briten und Inder. Nur die Luft-
nordostchinesischen Shenyang arbeiter im Auftrag von Lufthansa-Vor- hansa hielt durch, gab 2012 aber auch
besuchen wollen, brauchen sie gerade ein- stand Harry Hohmeister kürzlich erstellt auf – aus naheliegenden Gründen. Ein
mal etwas mehr als 12 Stunden. Ein Hüpfer haben. Er ist für das klassische Lang- Rückflugticket brachte ihr gerade mal
nach Frankfurt, umsteigen in den Nonstop- streckengeschäft im Konzern zuständig noch 750 Euro, inzwischen ist der Durch-
Flug der Lufthansa. Ankunft. und damit auch für Töchter wie Swiss schnittspreis weiter gefallen – auf unter
Ab Ende Oktober werden die BMW- und Austrian Airlines. Die Ausarbeitung 600 Euro.
Leute – inklusive Wartezeiten, etwa in Du- liefert erstmals einen detaillierten Über- Bis vor Kurzem galt Südamerika als be-
bai – mindestens doppelt so lange unter- blick über die eingestellten Strecken (siehe vorzugte Ausweichregion. Der Halbkonti-
wegs sein. Die Lufthansa fliegt Shenyang Grafik). nent liegt weit entfernt von den Heimat-
nicht mehr an. Am Dienstag will der Kon- Demnach hat die Fluglinie in den ver- flughäfen der Golf-Carrier. Deshalb sind
zern offiziell das Aus verkünden. gangenen zehn Jahren in Afrika sowie in sie dort nicht so stark wie in Asien und
BMW-Chef Harald Krüger hatte verge- Nah- und Fernost insgesamt 22 Strecken anderen Teilen der Welt. Doch ausgerech-
bens versucht, Lufthansa-Chef Carsten gestrichen, darunter so traditionsreiche net in der einstigen Wachstumsregion
Spohr umzustimmen. Vor fünf Wochen Ziele wie die indonesische Hauptstadt Ja- schwächelt die Wirtschaft, und die Nach-
trug er ihm bei einem Abendessen in Mün- karta, Malaysias Hauptstadt Kuala Lumpur frage von Geschäftsreisenden sinkt. Aus
chen seine Argumente vor. Die Flieger auf oder die philippinische Metropole Manila. Venezuela hat sich die Lufthansa wegen
der Shenyang-Strecke seien voll der unsicheren politischen Ver-
mit seinen Leuten, so Krüger. In den letzten zehn Jahren hältnisse verabschiedet.
Und er brauche die zeitspa- eingestellte Flugstrecken So bleiben nur die Transatlan-
rende Direktverbindung. Doch der Lufthansa tikflüge. Doch auch dort wird
Spohr blieb hart. Mit BMW-Mit- es langsam eng.
arbeitern allein seien die Jets Andere europäische Flug-
nicht rentabel zu betreiben. Auf linien wie Air France-KLM oder
den Routen von Europa nach British Airways leiden ebenfalls
Asien herrsche ein mörderi- unter dem Druck der arabischen
scher Preiskampf. 17 Airlines auf das Angebots- und
18
Wieder streicht die Luft- Preisgefüge. Deshalb setzen
hansa eine Verbindung nach 12 sie mehr Flugzeuge zwischen
Asien, wieder schrumpft das 1 Europa und den USA ein. „Zur-
Streckennetz. Immer weiter gibt 2 13 19 zeit drängen sich alle dort“, sagt
der Konzern seinen Anspruch 16
20 Vorstand Hohmeister.
14
auf, ein globaler Carrier zu 7
9 11 Komplett aufgeben will die
sein, auf Augenhöhe mit den 5 6 8 10
15 Lufthansa die gestrichenen Zie-
Großen der Welt. 21
le nicht. Um einen Fuß in der
Noch vor zehn Jahren galt 3 Tür zu behalten, kooperiert sie
der asiatische Markt als bevor- 4
22 neuerdings stärker mit ihrem Al-
zugte Wachstumsregion der lianzpartner Singapore Airlines.
Lufthansa. Auch in Afrika brei- Die Unternehmen bedienen
tete sich der Konzern aus. 2008 Routen wie beispielsweise von
noch war es Unternehmensziel, München nach Jakarta oder Ma-
jedes Jahr zwei neue Lufthan- nila gemeinsam und teilen sich
sa-Ziele in Afrika aufzunehmen. die Erträge. Singapore Airlines
All die schönen Pläne sind übernimmt dabei das letzte Teil-
längst Makulatur. Seit vor allem stück in Asien. Allerdings müs-
Golf-Airlines wie Emirates, Eti- Von Frankfurt a. M. bzw. München nach sen Passagiere teilweise bis zu
had und Qatar preisbewusste Afrika: (1) Tripolis, Libyen (2) Alexandria, Ägypten (3) Libreville, Gabun (4) Pointe-Noire,
Rep. Kongo (5) Khartum, Sudan (6) Asmara, Eritrea; Naher Osten: (7) Dschidda,
zweimal umsteigen, etwa in
Privat- und Geschäftsreisende Saudi-Arabien (8) Sanaa, Jemen (9) Abu Dhabi (10) Dubai, V.A.E. (11) Maskat, Oman; Frankfurt und in Singapur.
über ihre Verkehrsdrehscheiben Asien: (12) Taschkent, Usbekistan (13) Lahore (14) Karatschi, Pakistan (15) Hyderabad Von Deutschland nonstop in
in die entlegensten Winkel im (16) Kalkutta, Indien (17) Shenyang, China (18) Busan, Südkorea (19) Guangzhou, China alle Welt. Das war einmal.
Nahen und Fernen Osten oder (20) Manila, Philippinen (21) Kuala Lumpur, Malaysia (22) Jakarta, Indonesien Dinah Deckstein

DER SPIEGEL 31 / 2016 67


Wirtschaft

„Angela May und Theresa Merkel“


Brexit Wohin steuert Großbritannien? Der britische Finanzexperte David Marsh
erwartet, dass der EU-Austritt den Briten weniger schadet als dem Rest Europas.

Marsh, 64, ist einer der besten Kenner der


europäischen Finanzindustrie. Er hat das Offi-
cial Monetary and Financial Institution Forum
mitgegründet, eine Londoner Denkfabrik für
Finanz- und Wirtschaftsthemen, und leitet es.
Davor arbeitete er bei verschiedenen Institu-
ten und als Journalist. In den Neunzigerjahren
war Marsh für die „Financial Times“ in
Deutschland tätig.

SPIEGEL: Mr Marsh, haben Sie für den Aus-


stieg der Briten aus der EU gestimmt?
Marsh: Nein, ich war für den Verbleib. Ich
habe allerdings etwas getan, was ich sonst
nicht mache: Ich bin zu Ladbrokes gegan-
gen, einem Buchmacher, und habe 200
Pfund auf „Ausstieg“ gesetzt. Ich wollte
mir für den Fall des Falles wenigstens ei-
nen Trostpreis sichern.
SPIEGEL: Wie viel haben Sie gewonnen?
Marsh: 600 Pfund. Das lindert ein wenig
meinen Schmerz.
SPIEGEL: Nach dem Referendum vor fünf
Wochen erwarteten viele einen Absturz
der Wirtschaft. Bislang sieht es jedoch
nicht danach aus. Waren die Sorgen über-
trieben?
Marsh: Ich glaube schon. Natürlich erleben
wir jetzt eine Phase der Unsicherheit, die
Unternehmen investieren vielleicht weni-
ger. Aber in 20 Jahren werden wir wohl
kaum sagen, dass dieses Referendum zu
irgendwelchen Katastrophen geführt hat.
Der Brexit bietet sogar Chancen.
SPIEGEL: Wo sehen Sie die?
Marsh: Das Pfund hat relativ an Wert ver-
loren. Diese Schwäche hilft unserer Ex-
portwirtschaft, weil britische Produkte
international günstiger werden. Und sie
zieht ausländische Investoren an, wie vo-
rige Woche zu beobachten war, als Soft-
bank aus Japan ankündigte, das britische
Hightechunternehmen ARM für umgerech-
net 29 Milliarden Euro zu übernehmen.
SPIEGEL: Ein solcher Coup kann kaum im
Sinne der Brexit-Befürworter sein. Fürch-
ten die Briten nicht einen Ausverkauf ihrer
Wirtschaft?
Marsh: Der irische Schriftsteller Oscar
Wilde hat einmal geschrieben, heutzutage
kennen die Leute von allem den Preis und
von nichts den Wert. Es ist nichts Beson-
ANDREA ARTZ / DER SPIEGEL

deres für uns, wenn alles zum Verkauf


steht. Wir sind da weniger empfindlich als
die Deutschen.
SPIEGEL: Aber bleiben die Briten noch so
gelassen, wenn es um ihre Paradebranche
geht, die Finanzindustrie? Hier fürchten
manche einen regelrechten Exodus. Brexit-Kritiker Marsh: „Wir wollen eine Extrawurst“

68 DER SPIEGEL 31 / 2016


Marsh: Es gibt sicher einige Sektoren, die
besonders betroffen sind, beispielsweise
die Abwicklung von Euro-Transaktionen.
Aber so etwas erledigen vielfach schon
Computer. Es könnte auch zu Verlagerun-
gen im Devisenhandel oder im Investment-
banking kommen, allerdings nicht in gro-
ßem Stil. Von gut 700 000 Menschen, die
im Londoner Finanzsektor beschäftigt sind,
werden vom Brexit höchstens zehn Pro-

GUIDO BERGMANN / BPA / GETTY IMAGES


zent beeinflusst sein.
SPIEGEL: Aber die Banken werden doch
wohl den EU-Pass verlieren, der nötig ist,
um ihre Produkte in Europa zu vertreiben.
Marsh: Die großen Häuser haben ohnehin
Stützpunkte in Frankfurt, Dublin oder
Paris. Sie können diese Standorte nutzen,
das erfordert keinen großen Aufwand.
SPIEGEL: Viele Finanzzentren in Europa Regierungschefinnen Merkel, May: „Europas neues Tandem“
versuchen nun, Geschäft aus London ab-
zuziehen. Der hessische Wirtschaftsmi- ländisches. Es soll jetzt nicht nationalis- gulierung der Banken sollte mindestens so
nister will im August dorthin fahren und tisch klingen, aber es wird ein britischer strikt sein wie in der EU. Wir haben in der
für den Standort Frankfurt am Main wer- Weg werden. Man ist in Deutschland ge- Finanzkrise schmerzvoll erfahren, dass we-
ben … neigt zu denken, die Briten wollen immer niger Regulierung zu schlechteren Ergeb-
Marsh: … die Pariser waren auch schon eine Extrawurst – und das stimmt: Wir wol- nissen führt. Da ticken wir inzwischen ähn-
da. Alle bemühen sich jetzt, aber ich finde, len eine Extrawurst. lich wie die Deutschen.
Konkurrenz belebt auch hier das Geschäft. SPIEGEL: Und woraus besteht sie? SPIEGEL: Dass es auch zwischen der Premier-
Dass es nicht einen, sondern zehn Rivalen Marsh: Wir steuern einen Kompromiss zwi- ministerin und Kanzlerin Angela Merkel
gibt, hilft London sogar. Die City kann schen unseren Vorstellungen und denen eine Menge Gemeinsamkeiten gibt, wurde
das klassische britische Spiel betreiben, der EU an: Wir werden nach wie vor in beim Besuch Mays in Berlin vorige Woche
das Bemühen um eine „Balance of den EU-Haushalt einzahlen, allerdings deutlich: ähnliches Alter, ähnliche Her-
Power“, und die Rivalen gegeneinander deutlich weniger. Wir werden die Einwan- kunft, ähnlich pragmatisch. Hilft das bei
ausspielen. derung schärfer kontrollieren. Und wir den Brexit-Verhandlungen?
SPIEGEL: Die Frankfurter machen sich also werden, was den Handel angeht, einen Marsh: Die Chemie zwischen den beiden
voreilig Hoffnungen? kontinuierlichen Zugang zum EU-Binnen- stimmt offenbar. Man könnte auch von
Marsh: Frankfurt wird sich kaum über markt anstreben. „Angela May und Theresa Merkel“ als
Nacht in ein großes, internationales Fi- SPIEGEL: Meinen Sie wirklich, Europa wird Europas neuem Tandem sprechen. Aller-
nanzzentrum transformieren. Frankfurt es dem Vereinigten Königreich so leicht dings hat es die Bundeskanzlerin ungleich
und London könnten sich gut ergänzen: machen? Dann würden doch EU-Kritiker schwerer. Ihr Spielraum verringert sich
Die Hessen konzentrieren sich auf die ver- in den Niederlanden oder Österreich erst zusehends, je stärker sie mit den ökono-
arbeitende Industrie in der EU, und Lon- recht dem Vorbild der Briten nacheifern mischen Problemen Europas konfrontiert
don übernimmt die globalen Geschäfte. und aus der Union aussteigen. wird: der Schuldenfrage Griechenlands,
SPIEGEL: In dieser Woche haben die Aktio- Marsh: Das stimmt, die EU kann deshalb der Bankenkrise in Italien, der Geldpolitik
näre einer Fusion der Börsen von Frank- nicht allzu großzügig gegenüber Großbri- der Europäischen Zentralbank.
furt und London zugestimmt. Ist es realis- tannien auftreten. Andererseits spielt die SPIEGEL: Was soll sie tun?
tisch, den Unternehmenssitz in der briti- Zeit für uns. Hier stehen voraussichtlich Marsh: Sie steckt in einem Dilemma. Mer-
schen Hauptstadt anzusiedeln? erst 2020 Wahlen an, während Deutsche, kel droht von ihren Wählern allein gelas-
Marsh: Natürlich wäre eine solche Wahl Niederländer und Franzosen schon kom- sen zu werden, wenn sie zu konziliant auf-
für den juristischen Sitz nicht besonders mendes Jahr eine neue Regierung wählen. tritt. Aber andererseits können die Deut-
klug. Vielleicht wird man sich mit einem Die neue Premierministerin Theresa May schen nicht immer Nein sagen, wenn es
anderen Ort arrangieren, zum Beispiel mit hat also Zeit, ihre Position gegenüber um Hilfen für Krisenländer geht oder die
Amsterdam oder Dublin. Europa zu entwickeln. Sie kann darauf auf- Aufweichung der Maastricht-Kriterien.
SPIEGEL: Auch die Europäische Bankenauf- bauen, dass wir traditionell einen Sonder- Diese Stärke haben sie nicht.
sicht müsste wohl aus London abziehen. status genießen, weil wir zwar außerhalb SPIEGEL: Wen trifft nun der Brexit härter:
Marsh: Das wäre eine Schlappe für die City. des Euroraums agieren, aber einer der Großbritannien oder den Rest Europas?
Aber es sind noch voraussichtlich zweiein- größten Handelspartner sind. Wir werden Marsh: Die Briten erleben jetzt einen kur-
halb Jahre, bis Großbritannien die EU ver- einen britischen Sonderweg finden. Wenn zen, scharfen Schock, der relativ schnell
lassen wird. Da kann viel passieren. Die Frank Sinatra einst sang „I Did It My nachlässt. In Kontinentaleuropa hingegen
Fähigkeit europäischer Politiker, Kompro- Way“, heißt es für Großbritannien künftig: wird dieser Prozess länger dauern und
misse zu finden, verblüfft jedes Mal aufs „We did it May way“. schmerzhafter sein. Ich habe zwar gegen
Neue. SPIEGEL: Wie könnte denn dieser „May den Brexit gestimmt, aber ich sehe die Zu-
SPIEGEL: Dies wird auch nötig sein, wenn way“ aussehen? Wird aus dem Vereinigten kunft Großbritanniens optimistischer als
Großbritannien auf die Suche geht nach Königreich ein Niedrigsteuerparadies mit die Zukunft der restlichen europäischen
einem Modell für die Zeit nach der EU. einem Minimum an Regulierung? Staaten. Entstünde ein Zweierbund zwi-
Wie könnte es aussehen? Marsh: Wir werden uns sicher nicht in die schen Deutschland und Großbritannien,
Marsh: Es wird jedenfalls kein Schweizer großen Cayman Islands verwandeln, das hätte es dieses Duett wesentlich leichter.
Modell sein, kein albanisches, kein grön- können wir uns kaum leisten. Und die Re- Interview: Alexander Jung

DER SPIEGEL 31 / 2016 69


Wirtschaft

Böses Spiel
Lobbyismus Ronald Pofalla führt sich auf, als wäre er noch immer Kanzleramtschef: Der Bahn-Vorstand
diktierte dem Bundestag Teile eines Gesetzes, das den Konzern eigentlich entmachten sollte.

D
er Abend, an dem die deutsche Na- Rede. Vor vier Jahren hatte die Brüsseler Konsens über den Gesetzestext – zumin-
tionalmannschaft bei der Fußball- Behörde die Richtlinie 2012/34/EU verab- dest nahezu.
EM rausfliegt, endet für Ronald schiedet, die für mehr Wettbewerb auf der Eigentlich war nur noch der Wortlaut
Pofalla mit einem Sieg nach Elfmeterschie- Schiene sorgen sollte, unter anderem von Paragraf 37 („Ausgestaltung der Tras-
ßen. Es ist kurz vor neun, wenige Minuten durch ein Verbot für den Besitzer des Net- sen- und Stationsentgelte für Personenver-
vor dem Anpfiff des Halbfinales Deutsch- zes, die Trassengebühren – eine Art Schie- kehrsdienste im Rahmen eines öffentlichen
land–Frankreich. Der Bundestag stimmt nenmaut – willkürlich festzulegen. Dienstleistungsauftrags“) offen. Eine Peti-
über das „Gesetz zur Stärkung des Wett- Die Bahn sah dieses Ansinnen als eh- tesse, dachten sich die Experten angesichts
bewerbs im Eisenbahnbereich“ ab. Rund renrührig an und lobbyierte auf allen Ebe- des Weges, den sie zurückgelegt hatten.
40 Abgeordnete der Koalition erheben sich nen. Dabei zeigte der Staatskonzern dem Diese Einschätzung erwies sich aller-
und beschließen, kaum bemerkt von der deutschen Gesetzgeber, wer seiner Mei- dings als trügerisch. Denn Politik funktio-
Öffentlichkeit, eines der bizarrsten Geset- nung nach bei Regulierungsfragen der niert nicht anders als das sonstige Leben.
ze der Legislaturperiode. Chef ist: Kurz vor der letzten Bundestags- Und das Angenehmste, was sich mit ech-
Das Eisenbahnregulierungsgesetz, wie wahl hatte die schwarz-gelbe Koalition – ten Problemen machen lässt, ist, sie zu ver-
das Konvolut auch genannt wird, ist ein damals mit dem Kanzleramtschef Pofalla tagen. Sie werden dadurch nur nicht klei-
Musterbeispiel dafür, was bei der Gesetz- – versucht, die EU-Vorgabe halbwegs am- ner. So war es auch mit dem Streitpunkt,
gebung schiefläuft. Es kam zu absurden bitioniert in nationales Recht umzusetzen. der sich hinter Paragraf 37 verbarg.
Deals zwischen Bund und Ländern. The- 2013 musste Bahn-Chef Grube noch selbst Es war am 24. September 2015, als die
men, die nichts miteinander zu tun haben, den Oberlobbyisten geben und in einer Ministerpräsidenten in Berlin mit der Kanz-
wurden vermischt. Und die Interessenver- Last-Minute-Aktion die Ministerpräsiden- lerin zu einem Gipfel zusammenkamen, der
treter nahmen Einfluss, wo es nur ging. ten überzeugen, den Gesetzentwurf im sich eigentlich der Flüchtlingspolitik wid-
Besonders praktisch war, dass der wich- Vermittlungsausschuss des Bundesrats zu men sollte. Die Runde verabschiedete ein
tigste Lobbyist genau wusste, wann er wo blockieren. Papier, in dem es unter anderem um schnel-
wie eingreifen muss, weil er selbst einmal Angesichts dieser Erfahrungen hätte die lere Anerkennungsverfahren und die Kos-
Spitzenpolitiker war: Ronald Pofalla, enger Große Koalition das Thema am liebsten ten für die Unterkunft von Asylbewerbern
Vertrauter von Angela Merkel, hat längst nicht mehr angefasst. Es drohte aber ein ging. Nur der vorletze Absatz in der zehn-
die Seiten gewechselt. Das Gesetz trägt in Vertragsverletzungsverfahren gegen die seitigen Unterlage passte nicht zum Thema.
nicht unerheblichem Maße seine Hand- Bundesrepublik, das inzwischen eingelei- Dort hieß es unvermittelt, dafür aber sehr
schrift, obwohl er nicht mehr Kanzleramts- tet worden ist. Das Problem musste also präzise: „Die Regionalisierungsmittel wer-
chef ist, sondern als „Vorstand Wirtschaft, abgeräumt werden. Dobrindt legte im Ja- den in 2016 auf acht Mrd. Euro erhöht und
Recht und Regulierung“ bei der Deutschen nuar einen Gesetzentwurf vor, der Bun- in den Folgejahren jährlich mit einer Rate
Bahn AG arbeitet. Pofalla hat es geschafft, destag hatte ein paar Wünsche – und der von 1,8 Prozent dynamisiert.“ Und weiter:
dass ein Gesetz, das die Spielräume des Bundesrat gleich mehr als 50. Nach dem „Bund und Länder werden die Dynamik
Unternehmens eigentlich einengen sollte, üblichen Hin und Her bestand Mitte Juni des Anstiegs der Trassenpreise begrenzen.“
nahezu wirkungslos ist. Der Absatz hat es in sich. Er bedeutet,
Der Mann, der als aussichtsreichster dass die Erhöhung der Trassenpreise im
Kandidat für die Nachfolge von Bahn-Chef Regionalverkehr künftig gedeckelt sein
Rüdiger Grube gilt, hat im Verlauf des Ver- soll. Zuletzt hatte die Bahn die Schienen-
fahrens allerdings so herumgetrickst, dass maut um zwei bis drei Prozent pro Jahr
Politiker und Beamte fassungslos über das erhöht. Die Einigung im Kanzleramt war
selbstherrliche Gebaren sind. Ein einfluss- nicht nur schlecht für den Konzern, er wur-
reicher Abgeordneter der Koalition sagt: de davon auch überrascht. Schließlich hat-
„Pofalla ist der größte Schmutzfink, der in te die Bahn die stetig steigenden Umsätze
Berlin herumläuft.“ aus der Nutzung des Netzes längst in ihren
Dabei hatte der CDU-Politiker im Ge- Planungen berücksichtigt. Lange Zeit be-
setzgebungsverfahren zunächst wenig harrte sie darauf, dass der Bund die Lücke
Grund, sich die Finger dreckig zu machen. schließen müsse. Die meisten Verkehrs-
Schließlich war er sich mit Bundesver- politiker unterstützten das Anliegen, da die
kehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) Kanzlerin den Ländern ihrer Ansicht nach
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

und den Fachpolitikern von Union und Zusagen zulasten Dritter gemacht hatte.
SPD von Anfang an weitgehend einig, dass Doch Angela Merkel dachte genauso we-
nur ein Placebo-Gesetz auf den Weg ge- nig wie Finanzminister Wolfgang Schäuble
bracht werden soll. „Der Bahn war wichtig, daran, sich finanziell noch einmal zu be-
dass es eine möglichst schmale Regulie- wegen. Dafür waren die Kosten der Flücht-
rung gibt“, sagt ein Verkehrspolitiker. lingskrise zu unkalkulierbar. Und Pofalla
„Deshalb herrschte Konsens, dass wir nicht konnte auch im Frühsommer wohl immer
mehr machen als absolut notwendig.“ noch nicht genau beziffern, um welchen
Von den ambitionierten Plänen der EU- Bahn-Lobbyist Pofalla Betrag es genau geht. Eine gute Verhand-
Kommission war da längst nicht mehr die Der Staat bin ich lungsposition baut man sich so nicht auf.
70 DER SPIEGEL 31 / 2016
Gleich mehrere Anpassungen
erklärt Pofalla für „unabding-
bar“. Worte wie „müssen“,
„zwingend“ und „unerlässlich“
fallen. Auch mit den Formu-
lierungen für die von ihm ge-
forderten Änderungen ist Po-
falla nicht zimperlich. 㤠37 (2)
muss entsprechend angepasst
werden“, schreibt er unter an-
derem. Und: 㤠37 (3) ist ent-
sprechend allgemeiner zu for-
mulieren“, und: „§ 37 Abs. 4
ist zu streichen“.
Ein Konzern, der durch ein
Gesetz besser kontrolliert wer-
den soll, erklärt, unter wel-
chen Bedingungen er ihm
zustimmen kann – es ist eine
demokratische Farce. Doch Po-
falla hatte offenbar wenig Bes-
seres zu tun, als sich bei den
Beteiligten über die langwieri-
gen Verhandlungen zu be-
schweren. „Etwas derart Über-
griffiges habe ich noch nicht
erlebt“, sagt einer, der schon
lange im Geschäft ist. Und ein

MICHAEL ZWAHLEN / WESTEND61 / PLAINPICTURE


Spitzenpolitiker der Koalition
seufzt: „Was soll man dazu
noch sagen?“ Solange Pofalla
den Rückhalt des Kanzleramts
habe, könne er anscheinend
machen, was er wolle.
Die Bahn äußerte sich zu kon-
kreten Fragen nicht. Sie teilte
mit, die Kompromissbereit-
schaft aller Beteiligten habe im
ICE am Berliner Hauptbahnhof, Parlamentsviertel: „Die Deutsche Bahn wird dem Gesetz so nicht zustimmen“ Laufe des Verfahrens zu einem
vertretbaren Ergebnis geführt.
Allerdings rückte die Sommerpause be- reiche Szenen, die exemplarisch dafür ste- Am Schluss hatte Pofalla jede Karte aus-
drohlich nahe – und es musste eine Lösung hen, dass er sich offenbar noch immer wie gespielt, die er besaß. Er hatte viel telefo-
her. Pofalla war nun sichtlich unter Druck. der Kanzleramtschef aufführt und Proble- niert, Abgeordnete gelockt und ihnen ge-
Im Juni begann die Zeit der Tricksereien. me mit seiner Rolle als Vertreter eines Un- droht, mehrfach den Verkehrsminister kon-
Immer wieder machte der wichtigste Lob- ternehmens zu haben scheint. So soll er taktiert – und, ja, auch etwas nachgegeben.
byist der Bahn, so berichten es jene, die Abgeordneten entgegengeschleudert ha- So wie er es in seiner jahrzehntelangen
dabei waren, vermeintliche Kompromiss- ben: „Die Deutsche Bahn wird dem Gesetz politischen Karriere gelernt hat.
vorschläge, die sich bei näherer Betrach- so nicht zustimmen.“ Entscheidend für ihn war, dass sich zen-
tung als Deals erwiesen, von denen vor al- Der Staat bin ich – dass der ehemalige trale Forderungen aus dem Non-Paper im
lem sein Arbeitgeber profitiert hätte. Bundestagsabgeordnete inzwischen wohl Gesetz wiederfanden, das der Bundestag
Pofalla bewies, dass man ihm wohl nicht keinen allzu großen Respekt vor dem Par- schließlich am 7. Juli verabschiedete. Zwar
ganz zu Unrecht nachsagt, es mit der lament mehr hat, zeigte sich auch im wei- muss die Bahn zunächst die geringeren
Wahrheit nicht immer genau zu nehmen. teren Verlauf der Verhandlungen. Pofalla Trasseneinnahmen ausgleichen. Sie be-
Wenn er nach Mehrheiten für einen seiner signalisierte nun zwar, die Bahn könne sich kommt aber die Möglichkeit, sich das Geld
Vorschläge suchte, erzählte er den SPD- vorstellen, die Einnahmenverluste aus der an anderer Stelle zurückzuholen. Außer-
Leuten offenbar, die Union sei längst auf Trassenpreisbremse selbst zu tragen. Er dem werden die Auswirkungen der Rege-
seiner Seite – und umgekehrt. Solche Be- nannte dafür aber Bedingungen. lung in nicht allzu ferner Zukunft über-
hauptungen lassen sich leicht überprüfen. Ende Juni speiste er ein sogenanntes prüft – vor allem im Hinblick auf die fi-
„Wenn Pofalla mir sagt, er habe jemanden Non-Paper ein. Non-Paper sind Papiere, die nanziellen Folgen für die Bahn.
überzeugt, rufe ich dort erst mal an und zwar kursieren, die es offiziell aber nicht Die endgültige Lösung ist erst einmal
frage, ob das stimmt“, erzählt ein Abge- gibt. Pofallas vierseitiges Schreiben, in dem vertagt, der nächste Bundestag muss sich
ordneter. „Meistens verneint mein Ge- weder sein Name noch das Logo der Deut- also erneut mit dem leidigen Thema be-
sprächspartner dann die Frage und meint, schen Bahn auftauchen, trägt den unschul- fassen.
ihm gegenüber habe Pofalla behauptet, digen Titel „Eisenbahnregulierungsgesetz: Für Pofalla gilt damit, was auch im Fuß-
mich bereits in der Tasche zu haben.“ Aktuelle Kompromissvorschläge zwischen ball die Regel ist: Nach dem Spiel ist vor
Pofalla hat in diesen Wochen viele Be- Bund und Ländern“. Weniger harmlos ist dem Spiel. Sven Böll
teiligte gegen sich aufgebracht. Es gibt zahl- der Inhalt. Er gleicht einem Gesetzesdiktat. Mail: sven.boell@spiegel.de, Twitter: @SvenBoell

DER SPIEGEL 31 / 2016 71


In den Schuhen des Rappers
Sportindustrie Um cool zu sein, setzen Marken wie Adidas und Puma auf Musikstars als
Werbeträger und Designer. Aber bringen Kanye West und Rihanna langfristig Erfolg?

SUNSETBOX / ALLPIX / LAIF

US-Hip-Hopper West auf der New York Fashion Week 2015

72 DER SPIEGEL 31 / 2016


Wirtschaft

A
ls Kanye West zum ersten Mal nach Nun soll ausgerechnet eine Sängerin Das Marketing war geschickt. Adidas
Franken reiste, hielt man ihn für ei- dem Unternehmen zum Comeback verhel- befeuerte den Hype um den Yeezy, indem
nen Touristen. Am Flughafen Nürn- fen: Rihanna vertreibt unter der Marke der Konzern das Angebot verknappte. In
berg stieg der US-Rapper in ein Taxi und eine eigene Kollektion. „Als Musikerin ist Deutschland waren von jedem Modell zu-
bat den Fahrer, er möge ihn zu Adidas nach Rihanna auch für Athleten relevant“, sagt nächst nur ein paar Dutzend erhältlich –
Herzogenaurach bringen. Sein Wunsch Adam Petrick, Marketingleiter bei Puma, in drei Läden. Die Zahl der Geschäfte wird
wurde erfüllt. Allerdings setzte der Taxi- „denn Sport und Lifestyle wachsen immer nun schrittweise erhöht.
fahrer ihn nicht an der Konzernzentrale in enger zusammen.“ West nimmt die Sache ernst. In seinem
der Adi-Dassler-Straße ab, sondern am Beim Buhlen um Unterhaltungsstars Studio in Los Angeles hält er sich einen
nahe gelegenen Outletcenter. kommen sich die Sportkonzerne gegensei- eigenen Stab an Modedesignern, den er
West ging in die McDonald’s-Filiale ge- tig ins Gehege. Auch Puma sucht jetzt die ständig ergänzt. Wenn ihm ein Talent auf-
genüber, rief den Adidas-Fahrdienst an Nähe zum Kardashian-Clan, das Unterneh- fällt, besorgt er sich dessen Handynummer
und wartete. Kein Mensch erkannte ihn. men arbeitet mit Kylie Jenner zusammen, und ruft an. „Hey, mir gefällt deine Ar-
Drei Jahre später ist Kanye West, 39, der Halbschwester Kim Kardashians. beit“, sagt der Rapper dann, „ich möchte,
auch in Herzogenaurach ein Star. Sein Frei- Kanye West soll bei Adidas nicht nur dass du für mich arbeitest.“ Hat West eine
zeitschuh namens Yeezy, den er mit Adi- Freizeitmode, sondern auch funktionale Idee, will er sie kurzfristig umgesetzt ha-
das entwickelt hat, sorgt für Hysterie in Sportkleidung entwerfen. Adidas baut da- ben. Die Budgets, die Adidas im vorgibt,
den Geschäften. Autofahrer ignorieren für eine eigene Konzerneinheit am US-Fir- begreift er als grobe Richtwerte.
rote Ampeln, um als Erste am Laden an- mensitz in Portland auf. Die Mitarbeiter Selbstzweifel scheinen dabei nicht auf-
zukommen. Wenn nötig, verbringen Kun- sollen dort Wests Ideen in Produkte für zukommen. Seinen Tweets zufolge hält
den die Nacht auf dem Bürgersteig, um den Massenmarkt verwandeln. Für die Adi- Kanye West sich für den „großartigsten
ein Paar aus der limitierten Schuhedition das-West-Marke Yeezy sind eigene Läden Künstler aller Zeiten“ und den „Disney
zu ergattern, für 200 bis 350 Euro. geplant, in Metropolen wie Los Angeles, dieser Generation“.
In kurzer Zeit hat Kanye West mehr er- New York, London oder Shanghai. West wird bei Adidas nicht betreut, er
reicht als mancher Konzernmanager: Mit Schon einmal hatte Adidas versucht, die wird hofiert. Man tut alles, um den Rapper
seiner Hilfe wurde Adidas zur Lifestyle- Marke mit Hilfe von Hip-Hoppern aufzu- bei Laune zu halten. Unter dem Marken-
marke. Landet ein Foto des Rappers in peppen. 1986 veröffentlichte Run DMC namen Yeezy darf er auch seine eigene
Adidas-Schuhen im Internet, schnellen die den Song „My Adidas“. Danach nahm Modekollektion verkaufen. Und das, ob-
Verkaufszahlen in die Höhe. Auch Retro- Adidas die Band unter Vertrag, brachte wohl manches Einzelstück das Ästhetik-
modelle wie Stan Smith oder Superstar, besondere Schuhmodelle auf den Markt. verständnis der Adidas-Designer auf eine
die in vielen Sneaker-Geschäften Laden- Der Erfolg verpuffte. Run DMC machte harte Probe stellt. Bei der New Yorker
hüter waren, sind nun weltweit gefragt. die deutsche Marke in den USA zwar Fashion Week 2015 zeigte West Damen-
„Wir wollen mit der Marke den Zeitgeist populär, allerdings vorwiegend auf der bodys, die wie Ganzkörperstrumpfhosen
beeinflussen“, sagt Arthur Hoeld, Chef der Straße, nicht auf dem Sportplatz. aussahen.
Sportmodelinie Adidas Originals, „dabei Entsprechend verhalten reagierten die Sie lassen es ihm sogar durchgehen,
spielt Kanye West eine wichtige Rolle.“ Adidas-Strategen, als Kanye West vor ei- wenn er in einer Liedzeile einen Konkur-
Zum Vorteil für Adidas ist West promi- nigen Jahren zum ersten Mal beim Kon- renten lobt. „An manchen Tagen trage ich
nent verheiratet. Seine Frau Kim Karda- zern vorfühlte. Einer seiner Freunde, der meine Yeezys, an anderen Tagen Vans.“
shian multipliziert die mediale Reichweite. Formel-1-Fahrer Lewis Hamilton, stand be- In sozialen Medien kursierte ein Foto, das
Hoeld schließt nicht aus, dass Adidas eines reits bei der Adidas-Tochter Reebok unter den Rapper in Schuhen der kalifornischen
Tages auch sie unter Vertrag nimmt. Vertrag. Diskret ließ Hamilton bei Adidas Skatermarke zeigt. Gerüchte über einen
West hat die Marke Adidas von ihrer verlauten, West arbeite zwar mit dem Erz- Wechsel kamen auf.
Umkleidekabinenmuffigkeit befreit. Das rivalen Nike zusammen, sei dort aber un- Das wäre eine Katastrophe für Adidas.
Problem ist nur, dass niemand vorhersagen glücklich. Ein Wechsel sei denkbar. Auch, weil sich West gegenüber abgelegten
kann, wie lange der Hype anhält. Und was Bei Nike war West angeeckt. Er hatte Geschäftspartnern nicht besonders loyal
passiert, wenn die hippen Adidas-Sneaker eine eigene Marke gefordert, an deren zeigt. Seinem früheren Auftraggeber wid-
plötzlich wieder out sind. Der Erfolg des kommerziellem Erfolg er stärker partizi- mete West einen Hass-Song. „Nike, Nike“,
Unternehmens hängt nicht mehr bloß an pieren wollte. Der US-Konzern lehnte ab. geht der Text, „behandelt seine Mitarbei-
eigenen Innovationen. Er ist abhängig von Derartige Privilegien seien Sportidolen ter wie Sklaven.“ Im Fall eines Zerwürf-
einem Promi aus dem Showgeschäft, von wie Michael Jordan vorbehalten. nisses muss Adidas damit rechnen, ähnlich
dessen Beliebtheit und Coolness, die er Nach anfänglichem Zögern griff Adidas behandelt zu werden.
von heute auf morgen an eine andere Mar- Ende 2013 zu. Der Konzern stand unter Ende Juni erhielt West einen neuen Adi-
ke verkaufen kann. Adidas braucht Kanye Druck. Die Umsätze stagnierten. In den das-Vertrag, wohl mit verbesserten Kondi-
West mehr als umgekehrt. USA, dem größten Sportmarkt der Welt, tionen. Experten schätzen, dass der Kon-
Der Adidas-Umsatz mit Lifestyleproduk- waren sie rückläufig. Ein Prominenter trakt auf jährlich etwa 15 Millionen Euro
ten wächst schneller als das Geschäft mit musste her. Der brachte praktischerweise dotiert ist. Das wäre das Dreifache dessen,
Trainingskleidung oder Laufschuhen. Das eine Produktidee mit: 2015 kam der Yee- was Adidas-Chef Herbert Hainer verdient.
bringt zusätzliche Milliardenerlöse. Doch zy-Schuh auf den Markt. „Kann Kanye Vor Jahren warnte der damalige Adidas-
langfristig ist die Strategie riskant. Adidas retten?“, schrieb das US-Wirt- Marketingchef: „Wer sich nur auf Trends
Wie rasch ein Trendsetter abstürzen schaftsmagazin „Fortune“. verlässt, geht damit ein hohes Risiko ein.“
kann, zeigt das Beispiel Puma. Der Adi- Bei Adidas bekam West, was er bei Nike Mindestens zwei Drittel des Umsatzes müs-
das-Rivale verließ sich jahrelang auf seine vermisst hatte: Freiheit und Anerkennung. se Adidas mit Sport-Performance-Produk-
modischen Sneaker und vernachlässigte Der Rapper macht seine Modelinie nicht ten erzielen. Nicht mit Rap, Pop, Trallala.
den Verkauf von Fußballschuhen und Lauf- nebenher. „Kanye will als Designer und 2015 hat der Konzern die Zielvorgabe ge-
hosen. Bis der Modegeschmack sich änder- eigenständige Persönlichkeit wahrgenom- rade noch erfüllt. 2016 könnte er sie zum
te, die Kunden sich abwandten – und die men werden“, sagt Adidas-Manager Hoeld, ersten Mal verfehlen. Simon Hage
Gewinne einbrachen. „wir geben ihm dafür das Spielfeld.“ Mail: simon.hage@spiegel.de

DER SPIEGEL 31 / 2016 73


Wirtschaft

Unmoralische
SPIEGEL in Zusammenarbeit mit Cor- von Rio Tinto würden „zu massiven Um-
rectiv*. Aus der Auswertung von Investi- weltschäden“ beitragen. Der Fonds der
tionslisten mit Hunderten Einzelpositionen Norweger, der größte seiner Art weltweit,

Rendite
geht hervor, dass Millionen Euro an öffent- hat bereits vor Jahren beschlossen, sich von
lichen Geldern in Tabakfirmen oder Gold- „grob unethischen“ Investments zu verab-
und anderen Minen stecken, die massive schieden. Konzerne wie die Allianz ver-
Umweltschäden anrichten. Mindestens sprechen ebenfalls grünere Investments.
Haushalte Um in Zukunft 400 Millionen Euro flossen in Kohleunter- „Die Bundesländer müssen da endlich nach-
nehmen und andere Klimasünder. ziehen“, sagt die bayerische Finanzpoliti-
Beamtenpensionen bezahlen zu Oft orientieren sich die Anlagen schlicht kerin Claudia Stamm von den Grünen.
können, legen die Bundesländer am Deutschen Aktienindex oder am Euro Doch das ist nicht einfach, wie der Ber-
Milliarden Euro an – oft jedoch in Stoxx 50, der die größten europäischen
Firmen abbildet, ohne Rücksicht darauf,
liner Finanzsenator Matthias Kollatz-Ah-
nen feststellen musste. Der SPD-Politiker
fragwürdige Unternehmen. welche Firmen sich da tummeln. Dabei set- versucht seit 2014, den Berliner Haushalt
zen international immer mehr öffentliche auf Kurs zu bringen. Die Pensionslasten

B
ahrain gehört nicht zu den lupenrei- Einrichtungen und Unternehmen auf sau- spielen dabei eine zentrale Rolle: In Berlin
nen Demokratien der Welt: Oppo- bere und ethische Investmentstrategien. belaufen sie sich nach Angaben des Ren-
sitionelle müssen mit Folter rechnen, Mehrere Bundesländer, darunter auch tenexperten Bernd Raffelhüschen auf rund
auf der Rangliste der Pressefreiheit der „Re- Sachsen-Anhalt, steckten dagegen insge- 65 Prozent der Wirtschaftsleistung.
porter ohne Grenzen“ liegt der Inselstaat samt rund 20 Millionen Euro in den fran- Um die Profitabilität seiner Versorgungs-
auf Platz 162 von 180. Staatsoberhaupt Ha- zösischen Energieriesen Engie, besser be- rücklage zu steigern, erwägt Kollatz-Ahnen,
mad bin Isa Al Khalifa, der sich vor einigen kannt unter seinem früheren Namen Gaz mit Blick auf die niedrigen Zinsen stärker
Jahren selbst zum König ernannt hat, plagt de France Suez. Er hat es in einem Ran- auf Aktien zu setzen, in die bisher höchs-
trotzdem kein Problem, Geld zu finden. king der weltweit schlimmsten Klimasün- tens 15 Prozent der Gelder fließen dürfen.
Es kommt unter anderem aus Sachsen-An- der auf Platz sechs geschafft. Nebenher hat Vorher will er überprüfen, ob das Portfolio
halt: Das deutsche Bundesland kaufte eine das Unternehmen jahrelang giftige Bohr- politisch korrekt ist. „Wir wollen einen weit-
bahrainische Staatsanleihe, für die es satte abfälle in einer Bohrschlammgrube in der gehenden Ausschluss für fossile Brennstof-
sechs Prozent an Zinsen erhält. Nähe des sachsen-anhaltischen Dorfs Brü- fe, Atomenergie erzeugende Unternehmen
Diese Erträge werden irgendwann deut- chau entsorgt. An das französische Mineral- oder Kriegswaffenhersteller“, sagt er.
schen Pensionären als Ruhestandsgeld ölunternehmen Total gingen insgesamt fast Kollatz-Ahnen wandte sich deshalb an
ausgezahlt. Denn der bahrainische Schuld- 53 Millionen Euro, an Shell rund 26 Mil- die Bundesbank, die für Berlin und andere
schein liegt im sachsen-anhaltischen Pen- lionen, BP bekam 19 Millionen Euro. Länder die Portfolios gebührenfrei managt.
sionsfonds. Auch Staatsanleihen von Aser- Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg Dabei richtet sich die Notenbank nach Stan-
baidschan und Kasachstan findet man dort, legten darüber hinaus Kapital in den mul- dardindizes wie dem Dax und dem Euro
ebenfalls Staaten, die von Menschenrechts- tinationalen Bergbauriesen Rio Tinto an. Stoxx 50. Nachhaltige Strategien werden
experten harsch kritisiert werden. Das Unternehmen hat sogar der norwegi- nicht angeboten. Kollatz-Ahnen will sich
Die deutschen Bundesländer haben in sche Staatsfonds, der die Ölmilliarden des deshalb einen eigenen Index basteln lassen
den vergangenen Jahren Versorgungsfonds Landes anlegt, von seiner Investitionsliste – von einer Rating-Agentur, einer NGO
und -rücklagen aufgebaut, um künftige Pen- gestrichen – die Begründung: Die Minen oder irgendjemand anders, der das seriös
sionslasten besser zu schultern – auf diesem machen kann. „Die Ausschreibung läuft“,
Wege fließen hohe Summen in zweifelhafte * Correctiv ist ein gemeinnütziges Recherchezentrum sagt er. Bis zum Jahresende soll der Index
Investments. Das ergaben Recherchen des für investigativen Journalismus; www.correctiv.org. fertig sein, „und er kann dann gern auch
von anderen Ländern benutzt werden. Dann
gibt es endlich eine Art Blaupause für nach-
haltige Investments der öffentlichen Hand“.
Denn allgemein anerkannte Normen,
was als nachhaltig anzusehen ist, existieren
bisher nicht. Kirchenvertreter, berichtet ein
Beamter aus einem anderen Bundesland,
wollten zuweilen sogar Telekomfirmen als
Investition ausschließen, weil über deren
Leitungen kommerzieller Telefonsex be-
trieben werde. Doch dass der geplante Ber-
liner Index die Lösung ist, bezweifelt der
Beamte. Wer darauf zurückgreife, müsse
sicherstellen, dass die politischen Schwer-
punkte beider Landesregierungen auf einer
Linie lägen. Und wenn in Berlin die Regie-
rung wechsle? Womöglich verschöben sich
dann auch die Anlageprioritäten.
In Sachsen-Anhalt belasse man wegen
solcher Probleme alles beim Alten, wie
RAINER JENSEN / DPA

ein Ministeriumsmitarbeiter erzählt. Zwar


wurde diskutiert, nur noch „vernünftig und
menschlich“ zu investieren. Aber: „Wir
wollten das Fass nicht aufmachen.“
Bahrains König Hamad in der Hauptstadt Manama: Satte sechs Prozent Zinsen Annika Joeres, Fabian Löhe, Anne Seith

74 DER SPIEGEL 31 / 2016


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Gewinner wird schriftlich benachrichtigt. Teilnahmeschluss: 30.9.2016

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Wirtschaft
Kostenvergleich
konventionell und biologisch
erzeugter Früchte, je Hektar

Bio kostet
Experten der FAO schätzen und Jahr in Euro nate Künast, „aber irgend-
die versteckten Umwelt- einer zahlt dabei immer
kosten der weltweiten Wasser Klima drauf.“ Die ehemalige Land-

weniger
Nahrungsmittelproduktion Apfel 753 3084 wirtschaftsministerin der
auf rund 1900 Milliarden 484 2492 Grünen unterstützt die True-
Euro pro Jahr. Dafür wurde Cost-Bewegung: „Wissen ist
auf den Hektar genau be- Zitrone 1610 5145 Macht für den Konsumen-
1183 3840 ten, und dieses Wissen ist
Nachhaltigkeit Eine Kampagne rechnet, wie teuer der Was-
ser- und Energieverbrauch, Birne 753 3144 zwingend, um sich in unse-
rechnet Supermarktkunden aber auch die Reinigung von
484 2542 rer globalisierten Welt nach-
die wahren Kosten für den Anbau vergifteten Böden und Flüs- haltig verhalten zu können.“
von Obst und Gemüse vor. sen sind. Selbst der Verlust Ananas 485 8567 Doch wie verhalten sich
von Artenvielfalt wird in 283 6554 die Konsumenten? In
Geld umgerechnet. Deutschland, der Heimat
„Es ist wichtig, die Preis- Wein- 672 3028 der weltgrößten Discounter,

W
enn es nach Volkert Engelsman
geht, dann kann man Äpfel nicht unterschiede transparent zu trauben 339 1256 in der selbst ausländische
mit Äpfeln vergleichen. Zumin- machen, um dem Verbrau- Quelle: Nature &More Ware zum Teil weniger als
dest nicht die, die aus konventioneller cher die Augen zu öffnen“, im Herkunftsland kostet.
Landwirtschaft stammen, mit denen aus erklärt Engelsman. Auf Flyern, die in Bio- „Wenn die Kunden immer wieder nach
biologischem Anbau. „Äpfel beim Dis- supermärkten ausliegen sollen, werden die den wahren Kosten ihrer Einkäufe fragen,
counter für 99 Cent das Kilogramm sind Kosten und Nutzen für Bioware und das werden auch die großen Handelsketten
in Wirklichkeit gar kein Schnäppchen“, konventionell erzeugte Produkt nebenein- reagieren müssen“, sagt Engelsman. Bei
sagt Engelsman, „denn die wahren Kosten andergestellt. Sein Fazit: „Bio ist nicht zu Bioprodukten sei das ähnlich gewesen. Der
für die Erzeugung dieser Billigäpfel trägt teuer, sondern konventionell ist zu billig.“ Bioanteil am gesamten Lebensmittelum-
am Ende die Gesellschaft beziehungsweise Die Bewässerung einer ein Hektar gro- satz beträgt mit 4,4 Prozent nur einen
der Steuerzahler.“ ßen Apfelbaumplantage kostet demzufol- Bruchteil, doch die Nische wächst seit Jah-
Weil die Deutschen beim Einkauf in ers- ge im Bioanbau 484 Euro, im konventio- ren, Deutschland ist mit 8,6 Milliarden
ter Linie auf den Preis achten, gehört En- nellen Anbau 753 Euro. Bei Tomaten aus Euro der größte Biomarkt Europas.
gelsman zu den Initiatoren der Kampagne dem Gewächshaus fallen fast dreimal so Engelsman will in Zukunft auch die „so-
„Was unser Essen wirklich kostet“, die Ver- hohe Wasserkosten an wie auf dem Bio- zialen Kosten“ für Menschenrechte, Ar-
brauchern die tatsächlichen Preise von Le- hof (239 statt 88 Euro pro Hektar). Beim beitsbedingungen und die Gesundheitsver-
bensmitteln offenlegen will. Die „True Anbau von Biobirnen gibt es neben Ein- sorgung von Arbeitern aufschlüsseln. „Mo-
Cost“-Bewegung stammt aus den USA. sparungen bei Klima (602 Euro) und Was- mentan zahlt nämlich der Bauer in China
Mit Info-Broschüren wollen der 58-Jährige ser (269 Euro) auch positive Effekte bei oder Indien den wahren Preis für unsere
Unternehmer und seine Mitstreiter nun der Bodennutzung in Höhe von 1417 Euro, Sonderangebote.“
auch in deutschen Supermärkten über die vor allem durch Verzicht auf Pestizide und Engelsman ist ein spät Bekehrter. Zu Be-
ökologischen Nebenkosten von Obst und Dünger. Auch für Trauben, Zitronen oder ginn seiner Karriere arbeitete er für den
Gemüse aufklären. Ananas gibt es Rechenbeispiele. Bio kostet amerikanischen Futtermittelkonzern Car-
Die Initiative stützt sich dabei auf Zahlen in dieser Kalkulation am Ende weniger. gill, „dem bösen Zwilling von Monsanto“,
der Ernährungs- und Landwirtschaftsorga- „Bei Essen und Kleidung werden die Kun- wie Engelsman sagt. Dann gründete er sei-
nisation der Vereinten Nationen (FAO). Die den mit Billigangeboten gelockt“, sagt Re- ne eigene Firma. Er handelt mit exotischen
Früchten und Gemüse aus Bioanbau.
Die Branche beäugt die Kostendiskus-
sion mit Skepsis. „Die Idee ist gut, aber
der Kunde ist mit diesen komplexen Infor-
mationen überfordert“, sagt Andreas Krä-
mer von Penny. Eine Sprecherin von Lidl
erklärt: „Wir beobachten stets neue Ent-
wicklungen und Trends am Markt und rich-
ten das Sortiment nach den Wünschen un-
serer Kunden aus. Derzeit planen wir aber
keine derartige Kundeninformation.“ Aldi
Süd hat ebenfalls nicht vor, die Flyer auszu-
legen.
Auch Monika Hartmann, Professorin am
Institut für Lebensmittel- und Ressourcen-
ökonomik der Universität Bonn, sieht Pro-
bleme: „Der Gedanke der True-Cost-Be-
wegung ist interessant, die Umsetzung im
Handel aber so komplex, dass sie flächen-
deckend kaum realisierbar erscheint.“
EOSTA / NATURE & MORE

Engelsman lässt sich nicht beirren und


setzt auf langfristige Ziele: „Jeder noch so
kleine Schritt ist ein Fortschritt. Ich glaube
an die Macht der Verbraucher.“
Simone Salden
Werbung der True-Cost-Initiative: Mit Biobirnen Boden gutmachen Mail: simone.salden@spiegel.de

76 DER SPIEGEL 31 / 2016


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Ausland
Japan schüsse für die ersten drei getragen, in Säcke gepackt
Werbung für den Jahre. und an einem Zwischenlager
Sperrbezirk Allerdings hat die reizvolle
Gegend einen Nachteil: Ka-
im Ort deponiert. Doch von
den nahen Bergen kann bei
Üppiges Grün, wilde Bäche, wauchi liegt wenige Kilometer Regen weiterhin verstrahltes
klarer Sternenhimmel – mit südwestlich des havarierten Wasser talwärts fließen. Einst
diesen Vorzügen und einer Kernkraftwerks Fukushima hatte Kawauchi rund 3000 Ein-
Schnuppertour samt Daiichi. Nach der Strahlenka- wohner, davon leben erst
Gratisübernachtung wirbt die tastrophe im März 2011 war knapp 1800 wieder in Kawau-
japanische Gemeinde der Ort evakuiert worden. chi, weit mehr als ein Drittel
Kawauchi um neue Bewoh- Doch Mitte Juni gab die japa- sind Alte. Vor allem Familien
ner. Die Werbeaktion richtet nische Obrigkeit den letzten mit Kindern zögern zurück-
sich speziell an Alleinerzie- Sperrbezirk von Kawauchi zur zukehren, viele misstrauen
hende. Interessierten Vätern Besiedlung frei. Die Gemein- den Zusicherungen der Re-
und Müttern verspricht de gilt offiziell als dekontami- gierung, die auf rasche Rück-
Kawauchi eine großzügige niert, radioaktiv verstrahlte kehr drängt – und nun auf
Umzugsbeihilfe und Mietzu- Erde und Pflanzen wurden ab- finanzielle Anreize setzt. ww

Spanien zunächst eine Volksbefragung das Verfassungsgericht erneut


Revolte im vor, dann die Trennung von anzurufen. Doch die Chan-
Machtvakuum Madrid und Wahlen zu einer
verfassunggebenden Ver-
cen, die rebellierenden Abge-
ordneten in Barcelona zu dis-
Während in Madrid König Fe- sammlung, abschließend ein ziplinieren, sind gering. Zwar
lipe VI. mit den Parteiführern Referendum über diese kata- drohen der Parlamentspräsi-
beriet, wie nach der Wahlwie- lanische Verfassung. Mit ei- dentin Carme Forcadell die
derholung vor einem Monat ner entsprechenden Resolu- Absetzung und eine Geldstra-
eine neue Regierung gebildet tion setzten sich die katalani- fe von bis zu 30 000 Euro so-
werden kann, nutzte Barcelo- schen Parlamentarier am wie eine Klage. Sie schiebt je-
na das Machtvakuum: In der Mittwoch bewusst über das doch alle Verantwortung auf
Hauptstadt Kataloniens ha- jüngste Urteil des Verfas- die Fraktionsführer der Sepa-
ben die separatistischen Par- sungsgerichts hinweg. Des- ratisten. So wird der künfti-
teien mithilfe ihrer absoluten halb hat der amtierende spa- gen Regierung in Madrid wo-
Mehrheit im Parlament die nische Ministerpräsident möglich nichts anderes übrig
Abspaltung der autonomen Mariano Rajoy, dem sonst bleiben, als die illegale Volks-
Region von Spanien vorange- der Rückhalt fehlt, die Unter- abstimmung mithilfe der
trieben. Ein neuer Plan zur stützung aller gesamtspani- staatlichen Ordnungskräfte
„einseitigen Loslösung“ sieht schen Parteien erhalten, um zu unterbinden. hzu

Fußnote

42000
Kenianer
sollen sich nach Uno-Anga-
ben als angebliche Flücht-
linge in das Lager Dadaab
im Norden ihres Landes
eingeschlichen haben. Sie
gaben sich wohl als Süd-
IMAGO STOCK&PEOPLE / ZUMA PRESS

sudanesen oder Somalier


aus, um so Essen und
Unterkunft zu erhalten. Die
kenianische Regierung
will das mit rund 340 000
Bewohnern größte Flücht-
lingslager der Welt nun
Demonstration katalanischer Separatisten in Barcelona schrittweise verkleinern.

78 DER SPIEGEL 31 / 2016


Heilige Eile
Nonnen rennen durch die
Krakauer Innenstadt, um einen
Blick auf ihr Idol, den Papst, zu
erhaschen. Franziskus besuch-
te am Mittwoch den katholi-
schen Weltjugendtag in Polen.
Angst vor Anschlägen über-
schattete das Fest mit bis zu
einer Million Gästen. Anfang der
Woche hatte die Polizei in Łódź
einen terrorverdächtigen Iraker

CARSTEN KOALL / GETTY IMAGES


festgenommen. Franziskus
mahnte mit Blick auf die natio-
nalkonservative Regierung
trotzdem Barmherzigkeit
gegenüber Flüchtlingen an.

Vietnam welche die sogenannte Neun- nesischen Meeres markiert. Philippinen, die vor dem
Schreibender Affe Striche-Linie zeigt, mit der Teile dieses Seegebiets wer- Ständigen Schiedshof in Den
Peking seinen Anspruch auf den auch von Vietnam bean- Haag gegen Peking klagten
Frau Zhong aus China hatte etwa 80 Prozent des Südchi- sprucht – ebenso wie von den und Anfang Juli recht beka-
nichts Böses im Sinn, als sie men. Im chinesischen Inter-
am 23. Juli nach Vietnam flog net hat Frau Zhongs Fall eine
und dem Zollbeamten am Welle des Chauvinismus aus-
Flughafen von Ho-Chi-Minh- gelöst. „Der vietnamesische
Stadt ihren Pass reichte. Drei Affe kann also schreiben“,
NAN SHA GOVERNMENT IMAGE / PICTURE ALLIANCE

Minuten später bekam sie ihn lästerte ein Blogger über den
zurück, gestempelt, aber mit Beamten. „Wie viele Bana-
zwei ungewöhnlichen Noti- nen haben dir die Philippinen
zen auf den Seiten 8 und 24. dafür gegeben?“, schrieb ein
„Fuck you“, stand dort ge- anderer in einer imaginären
schrieben. Die Beleidigung Nachricht an den Zöllner. Pe-
galt offenbar nicht Frau king reagierte mit „Verach-
Zhong persönlich, sondern tung“ auf den Vorfall und for-
ihrer Regierung: Seit 2012 ist derte, dass Vietnam den
in chinesischen Reisepässen schuldigen Beamten streng
eine Landkarte abgedruckt, Pöbelei im Pass Insel im Südchinesischen Meer bestrafe. bza

DER SPIEGEL 31 / 2016 79


Pöbelei im Pass, Insel im Südchinesischen Meer
Der zerplatzte Traum
Brasilien Am Vorabend der Olympischen Spiele befindet sich das Land in der tiefsten
politischen und wirtschaftlichen Krise seit Jahrzehnten. Die Elite des Landes ist in Skandale
verwickelt, die Bürger sind verschuldet. Von Marian Blasberg und Jens Glüsing

D
er Palácio da Alvorada, die Resi-
denz der brasilianischen Präsiden-
ten, ist ein Ort, an dem man sich
sehr einsam fühlen kann. Das Gebäude,
ein Bau des Architekten Oscar Niemeyer,
steht an einem See im grünen Niemands-
land der Hauptstadt. Hohe Zäune um-
schließen das Grundstück. Der nächste
Mensch wohnt einen Kilometer weit ent-
fernt, aber auf die Gesellschaft dieses Man-
nes legt Dilma Rousseff, die mit ihrer Mut-
ter im Palácio da Alvorada lebt, derzeit
nicht den größten Wert.
Man könnte es so sagen: Dieser Nachbar,
der lange Zeit ein enger Verbündeter Rous-
seffs war, ist jetzt der Mann, der ihr die
Möbelpacker schicken will.
Es ist ein kühler Junimorgen, als Dilma
Rousseff, deren Präsidentenamt aufgrund
eines Amtsenthebungsverfahrens seit eini-
gen Wochen ruht, durch eine hohe Flügel-
tür in die Bibliothek ihres Palasts tritt, eine
kleine, dezent gekleidete Frau, die sagt,
dass sie im Augenblick sehr viele Stunden
an diesem Ort verbringe.
Rousseff wirkt nicht so, als gäbe sie sich
Illusionen über den Ernst ihrer Lage hin.
Sie hatte Zeit, die Dinge in ihrem Kopf zu
ordnen, während ihr Nachbar eilig neue
Fakten schuf: Michel Temer, der bis Mai ihr
Stellvertreter war und jetzt für die Dauer
des Verfahrens die Amtsgeschäfte führt, hat
20 Leute aus Rousseffs Beraterstab entlas-
sen. Er hat ihr Flüge mit der Luftwaffe ge-
strichen, die Kreditkarte des Präsidenten,
den Gärtner, der sich um die Blumen im
Garten des Palasts kümmert. Rousseff fürch-
tet, dass es nicht mehr lange dauern könne,
bis Temer selbst hier einzieht.
Die Sonne bricht sich auf der langen,
matt glänzenden Holztafel, an deren Ende
Rousseff Platz nimmt. Seit fast sechs Jah-
ren lebt sie in diesem Haus. Es habe sie
stets mit Stolz erfüllt, sagt sie, dass sie
hier eingezogen ist. Als erste Frau. Als
linke Guerillera, die während der dunklen
Jahre Brasiliens in den Gefängnissen der
Militärs gefoltert wurde. Rousseff glaubte,
dass ihr Land die alten Zeiten hinter sich
gelassen habe, aber nun zweifelt sie wie-
der daran.
„Damals“, sagt sie, „haben die Dik-
tatoren so viele Äste vom Baum der
Demokratie abgeschlagen, dass dieser
Baum irgendwann starb. Heute ist es
subtiler. Heute ist unsere Demokratie ein Präsidentin Rousseff auf der Terrasse ihres Amtssitzes in Brasília: Der Mann, der lange Zeit ihr enger

80 DER SPIEGEL 31 / 2016


Ausland

kranker Baum. Ein Baum, der voller Pa- von den Schmerzen, die eine wie sie da- waren gedacht als großer roter Teppich,
rasiten ist, aber diese Parasiten lassen ihn mals ertrug, als sie gefoltert wurde. Es sind auf dem Rousseff die Glückwünsche der
nicht sterben, weil er sie alle wunderbar die großen, die Epochen überspannenden Welt entgegennimmt. Diese Spiele, so hat
ernährt.“ Linien, in denen Dilma Rousseff dieser sie sich das vorgestellt, sollten ein Land
Die Parasiten, die Rousseff meint, das Tage denkt, während sie Abschied nimmt ins Scheinwerferlicht rücken, das Antwor-
sind Männer wie ihr Nachbar Temer, den von diesem Haus und diesem Amt. ten gefunden hatte auf die Fragen des
sie zu einer alten, konservativen Elite Dabei sollte alles eigentlich ganz anders 21. Jahrhunderts.
zählt, die seit Monaten versucht, sie aus kommen. Es war ein magischer Moment, als Rio
dem Amt zu putschen. Verräter nennt sie Die Olympischen Spiele, die nächste im Herbst 2009 die Zusage erhielt. Wäh-
diese Leute, die keinen Schimmer hätten Woche in Rio de Janeiro eröffnet werden, rend der Rest der Welt in eine große Wirt-
schaftskrise schlitterte, lagen sich am
Strand von Copacabana die Menschen in
den Armen. Wenig später verwandelte der
britische „Economist“ die Christus-Statue
auf seinem Cover in eine startende Rakete,
die zum Symbol dafür wurde, dass Brasi-
lien endgültig im Kreis der größten Wirt-
schaftsmächte angekommen war. Millio-
nen Menschen waren aus der Armut in die
Mittelklasse aufgestiegen. Der Hunger ging
zurück, genauso die Anzahl derer, die
nicht lesen oder schreiben konnten.
Es sah so aus, als hätte eine neue Klasse
von Politikern einen dritten Weg gefun-
den, der Brasilien mit seiner Vergangen-
heit versöhnte.
Es war Lulas Werk.
Luiz Inácio Lula da Silva, ein ehemaliger
Metallarbeiter, der nach drei vergeblichen
Versuchen 2002 zum ersten Mal zum Präsi-
denten gewählt wurde, verkörperte mit sei-
ner Biografie das Gefühl, dass plötzlich al-
les möglich wäre. Er war das Gegenteil von
Hugo Chávez, der in Venezuela eine radi-
kale linke Politik verfolgte. Von Lula ging
ein fröhlicher, alles umarmender Charme
aus, dem sogar George W. Bush verfiel.
Olympia, so sah es lange aus, würde die
Krönungsmesse dieses Projekts werden.
Ein Rausch der hochgereckten Fäuste. Lula
und die Staatschefs anderer Länder. Lula
und Dilma, die er zu seiner Nachfolgerin
erkor, als er 2010 kein drittes Mal kandi-
dieren durfte. Man muss daran erinnern
in einer Woche, in der Dilma Rousseff öf-
fentlich erklärt hat, dass sie der Eröffnungs-
feier fernbleibe, weil sie nicht in einer
zweitklassigen Loge sitzen will.
Es ist nicht ganz leicht zu sagen, wann
genau die brasilianische Rakete vom Kurs
abkam. Wenn die Welt jetzt ihre Augen
nach Brasilien richtet, dann blickt sie auf
ein Land, dessen Wirtschaft in einer der
tiefsten Rezessionen seiner Geschichte
steckt. Sie blickt auf ein politisches System,
das ausgelaugt scheint nach einer nicht
enden wollenden Serie von Korruptions-
skandalen. Große Teile der politischen Eli-
te, die lange Zeit als unantastbar galt, sit-
zen im Gefängnis, weil sie die Kassen des
LUIZ MAXIMIANO / DER SPIEGEL

halb staatlichen Ölkonzerns Petrobras ge-


plündert haben.
Es ist nicht leicht, den Überblick zu wah-
ren über all die Prozesse, die derzeit gegen
Abgeordnete und Senatoren laufen, gegen
Parteischatzmeister, Geldwäscher oder die
Verbündeter war, will ihr nun die Möbelpacker schicken Direktoren großer Baufirmen. Es sind so
DER SPIEGEL 31 / 2016 81
Ausland

viele, dass es manchmal wirkt, als würden


sie das Land stilllegen.
Aber es ist ein atemloser Stillstand, zu-
mindest in Brasília, wo unter den Politi-
kern die Angst vor jedem neuen Tag um-
geht, vor jedem neuen Kronzeugen, der
sie belasten könnte. Die Hauptstadt ist heu-
te ein nervöses Biotop, das sich entkoppelt
hat von einer Wirklichkeit, in der die gro-
ßen Autofirmen ihre Angestellten in die
Kurzarbeit entlassen und die Inflation die
Mindestlöhne schrumpfen lässt.
Es ist nicht klar, wer sich früher abge-
wendet hat: die Politiker von den Bürgern
oder die Bürger von den Politikern, an de-
ren gute Absichten längst keiner mehr
glaubt. Klar ist nur, dass sich etwas ange-
staut hatte. Dass es am Ende ein Ventil
brauchte, und dieses Ventil sind jetzt ein
paar geschönte Haushaltszahlen, mit de-
nen Rousseff die Wahrheit über große Lö-
cher in der Staatskasse verschleiern wollte.
Darum geht es offiziell bei diesem Im-
peachment. Die Zahlen sind der Vorwand
für ein politisches Verfahren, das über
Rousseffs gesamte Amtszeit richtet.
Die Frage ist jetzt weniger: Was wird
aus ihr? Die Frage ist: Was wird aus ihrem
Land? Was wird aus ihrer Arbeiterpartei,
die untrennbar mit dem Aufstieg Brasiliens
verbunden war?
Als die Partido dos Trabalhadores (PT)
an die Schalthebel der Macht kam, schürte
sie im Volk die Hoffnung, dass alles anders
werden würde. Dass sie mehr sein würde
als ein Wahlverein, der Politiker in Ämter
bringt und ihnen Geld verschafft. Heute,
13 Jahre später, gehört die PT selbst zu je-
nen Parasiten, die den Baum der brasilia- Favela-Bewohner in Rio de Janeiro vor dem Fußballstadion Maracanã: Die Spiele sollten ein Land
nischen Demokratie befallen.
Wenn man Dilma Rousseff fragt, an die- tenamt zu votieren. Sechs Stimmen fehlten scheitert. Die Geschichte, die ihn mit der
sem Morgen im Palast, warum sie sich so ihr, glaubt Rousseff. Es ist ungewiss, wie PT verbindet, ist eine, die heute viele in
schwertue, über die Verfehlungen ihrer es am Ende ausgeht, aber sie spricht mit Brasília erzählen. Buarque sagt, man müs-
Partei zu sprechen, über ihre eigene Ver- ihren Gästen vor allem über Literatur. se ein Gefühl bekommen für die Aufbruch-
strickung in die vielfältigen Krisen, dann Cristovam Buarque, ein kleiner älterer stimmung dieser frühen Jahre, um das gan-
weicht sie aus. Die Zeit, sagt Rousseff, seiHerr im Anzug, ist einer dieser Grübler, ze Drama des Absturzes zu ermessen.
nicht reif dafür. die kürzlich im Palast waren. An einem Die PT, die im Februar 1980 aus einem
Es sind andere, die reden. Männer, die Julimorgen empfängt er in seinem Büro Zusammenschluss von linken Widerstands-
abgesprungen sind, als ihnen dämmerte, über dem Senat. Buarque war Minister un- gruppen, Gewerkschaften und Befreiungs-
dass dieser Zug auf eine Wand zurast. Die ter Lula. Heute vertritt er eine kleine theologen hervorging, war so etwas wie die
Geschichten, die sie erzählen, handeln von Linkspartei. Er ist einer dieser ehemaligen erste politische Massenbewegung Brasiliens.
Enttäuschungen, Entfremdung, von verra- Weggefährten, in deren Hand jetzt Rous- Ihre Heimat, sagt Buarque, sei die Straße
tenen Idealen. Ein Gefühl der Hoffnungs- seffs Zukunft liegt. gewesen. Anfangs, als die Generäle noch
losigkeit zieht sich in diesen Wochen vor „Diese Haushaltssachen, die ihr vorge- regierten, schärften sie ihr Profil vor allem
den Spielen durch alle Gespräche. worfen werden, wiegen an sich nicht so mit regelmäßig einberufenen Streiks. Spä-
Olympia, das ein Symbol sein sollte für schwer“, sagt er. „Würden wir sie isoliert ter, als Buarque schon dabei war, zog Lula
Brasiliens Aufstieg, steht heute für einen betrachten, dann wäre ein Impeachment wochenlang auf einem Pritschenwagen
zerplatzten Traum. wie Lebenslang für einen Auffahrunfall. durch entlegene Provinzen, um mit all den
Andererseits – sollen wir außer Acht las- Kleinbauern und Landlosen zu reden, für

E
s sind Tage, an denen Rousseff wie- sen, dass die Frau am Steuer vorher diver- die sich in Brasília niemand interessierte.
der selbst die Blumen schneidet. se Leute umgefahren hat?“ Es war etwas Neues: Politiker, die nicht
Manchmal lädt sie Senatoren zum Buarque, der während der Diktatur im nur kamen, wenn gerade Wahlkampf war.
Abendessen in den Palast. Es sind Treffen, Pariser Exil als Wirtschaftswissenschaftler Die ein ideologisches Programm anboten
bei denen es eigentlich darum gehen sollte, promovierte, war lange Rektor der Uni- und nicht nur ein paar Stimmen kaufen
Wankelmütige zu überzeugen, bei der ent- versität in Brasília. Als er 1990 in die Ar- wollten für den Preis von einem Teller Boh-
scheidenden Abstimmung im September beiterpartei eintrat, war Lula gerade zum nen. Bürgerkarawane nannte Lula das, und
doch noch für ihre Rückkehr ins Präsiden- ersten Mal als Präsidentschaftskandidat ge- den Minderheiten in Brasilien dämmerte
82 DER SPIEGEL 31 / 2016
müsste, am besten in der Opposition, aber
sie bezweifeln, dass sie dazu in der Lage
ist. Andere rufen nach Neuwahlen, aber
dazu müsste die Verfassung geändert wer-
den, und was wäre dann? Wo sind die Prä-
sidentschaftskandidaten, die heute glaub-
haft sagen können, dass sie morgen nie-
mand denunziert?
„Manchmal“, sagt der Abgeordnete Ivan
Valente, „kommt es mir so vor, als wäre
der Klassenkampf zurück.“
Auch er hatte Bedenken, als es kürzlich
im Kongress um Rousseffs Suspendierung
ging, aber einem Mann wie Temer, der für
all das steht, was sie immer bekämpft ha-
ben, den Weg zur Macht zu ebnen – nicht
mit ihm.
Valente sitzt in seinem Büro in São Paulo,
er ist heute Abgeordneter einer kleinen
Linkspartei namens PSOL, ein bärtiger
Mann mit struppigen Haaren, der wie Rous-
seff während der Diktatur gefoltert wurde.
„Ich weiß noch“, sagt er, „wie ich damals
einen Lautsprecher aufs Dach meines Kä-
fers geschnallt habe und morgens vor die
Tore der Fabriken fuhr, um Mitglieder für
die PT zu werben. Und dann standen wir
plötzlich auf dieser Bühne hier im Zen-
trum, vor uns Tausende Menschen, die
rote Fahnen schwenkten. Ich sah Lula an,
der gerade zum Präsidenten gewählt wur-
de, und ich weiß noch, wie ich dachte: Ver-
MARIO TAMA / GETTY IMAGES

dammt, jetzt wird es kompliziert.“


In Brasília traf die PT auf eine Welt, die
nach anderen Gesetzen funktionierte als
die Straße. Ihre Koordinaten sind seit der
Kolonialzeit gleich geblieben. Auch wenn
Brasilien heute keine Monarchie mehr ist,
ins Scheinwerferlicht rücken, das Antworten gefunden hatte auf die Fragen des 21. Jahrhunderts sondern ein sogenannter Koalitionspräsi-
dentialismus, geht es noch immer weitge-
zum ersten Mal, dass sie eigentlich die te, war das Versprechen, Korruption nicht hend um Erbfolgen, Privilegien oder das
Mehrheit sind. mehr zu dulden“, sagt Buarque. Erweisen von Gefallen.
Es seien Jahre gewesen, sagt Buarque, Lula vertraute ihm das Bildungsminis- Es ist dieses System, das viele als Ursa-
in denen immer deutlicher erkennbar wur- terium an. Vielleicht aus Dankbarkeit, viel- che der vielen Krisen sehen.
de, dass die von der Weltbank und dem In- leicht aber auch, weil ihm eine Idee gefiel, In der brasilianischen Verfassung gibt es
ternationalen Währungsfonds empfohlenen die Buarque als Gouverneur des Haupt- keine Fünfprozentklausel. Es gibt weder
Rezepte nur einer postkolonialen Ober- stadtdistrikts entwickelt hatte. Später ging Koalitionsverträge, noch unterliegen die
schicht zugutekamen. Nicht nur in Brasi- sie im Programm „Bolsa Familia“ auf, das Abgeordneten einem Fraktionszwang, was
lien, auf dem gesamten südamerikanischen bis heute als eine der größten Errungen- dazu führte, dass die PT, die in der ersten
Kontinent ertönte damals ein Schrei nach schaften der PT gilt: eine Sozialhilfe für Amtszeit Lulas nur 91 von insgesamt 513
mehr sozialer Gerechtigkeit. Nach einer Familien, die an den Schulbesuch der Kin- Sitzen hatte, vor jedem Wahlgang mindes-
neuen, ehrlicheren Generation von Politi- der gekoppelt ist. tens 166 Abgeordnete für sich gewinnen
kern. Das war die Ausgangslage, als Lula Buarque hätte das Programm gern selbst musste. Diese Abgeordneten verteilten
im Herbst 2002 zum ersten Mal für eine umgesetzt, aber er kam nicht mehr dazu. sich auf 32 andere Parteien.
Mehrheit in Brasilien präsidiabel schien. 2004, ein Jahr nach seinem Amtsantritt, Das brasilianische Parlament ist wie ein
„Der Verrat“, sagt Buarque, „begann erklärte Lula ihm am Telefon, dass er sei- großer Marktplatz, auf dem man, wie
aber bereits, bevor es richtig losging.“ nen Posten für jemand anderen brauche. Valente sagt, den Charakter eines Pferde-
Als Ursünde bezeichnet er einen offenen „Der Anruf“, sagt Buarque, „dauerte nicht händlers braucht. Wer Mehrheiten benö-
Brief, mit dem sich Lula vor der Wahl ans länger als eine Minute.“ tigt, der besorgt sie sich über die Vergabe
brasilianische Volk gewandt hatte. Um der von Ministerämtern oder von einflussrei-

B
bürgerlichen Mitte die Angst davor zu neh- uarque ist einer von vielen, bei de- chen Stellen in staatlichen Betrieben.
men, dass Brasilien unter ihm dem Beispiel nen sich in diesen Tagen ein melan- Während Lula damals um die Welt jettete
Venezuelas folgen würde, wo Hugo Chávez cholisches Grundrauschen in die Ge- und sich auf internationalen Gipfeltreffen
kurz zuvor die Bolivarianische Revolution danken mischt. Alte Wunden reißen wie- feiern ließ, verhandelte sein Stabschef José
verkündet hatte, versprach Lula wirtschaft- der auf, aber sie werden überlagert von Dirceu mit einigen Zwergparteien, die als
liche Stabilität. „Es war ein Manifest des grundsätzlichen Fragen. Viele in Brasília besonders offen galten für diese Art von
Weiter-so. Die einzige Utopie, die überleb- glauben, dass sich die PT neu erfinden Deals. Vor allem aber suchte er die Nähe
DER SPIEGEL 31 / 2016 83
Ausland

zu einer Partei, die wie keine andere die


Politik als umfassendes Geschäft versteht.
In der ideologisch flexiblen Zentrums-
partei PMDB, deren Gründung in die Zeit
der Diktatur fällt, versammelt sich die alte
brasilianische Elite, Großgrundbesitzer,
Medienunternehmer, Familienclans, die
seit der Kolonialzeit über ganze Bundes-
staaten herrschen. Es sind Politiker, die im
Wesentlichen dafür sorgen, dass niemand
ihre Privatgeschäfte stört. Im Jahr, als Lula
die ersten Minister der PMDB vereidigte,
war ihr Abgeordneter Michel Temer Prä-
sident des Parlaments.
Was soll ich machen?, sagte Lula. Wir
brauchen Mehrheiten. Der höhere Zweck,
so sah er es, heiligte das Mittel der unheil-
vollen Allianz mit dem Klassenfeind.
POLARIS / LAIF

Valente sagt, er habe sich damals gewun-


dert, als sein Parteichef, den er aus der
Guerilla kannte, mit einem Koffer voller
Bargeld aufflog, den er ins Büro einer ver- Präsidentschaftskandidat Lula 1994: „Verdammt, jetzt wird es kompliziert“
bündeten Partei fuhr.
Was dieser Koffer zu bedeuten hatte, er- schrank kauften, ihr erstes Auto oder ihre und hat ihr Leben dem Protest gegen den
fuhr Valente erst 2005, als nach und nach erste Wohnung. Bald besaßen viele dieser Staudamm verschrieben. „Als Lula damals
herauskam, dass in der Hinterzimmerwirk- Menschen drei Kreditkarten. erklärte, dass er doch gebaut würde, war
lichkeit Brasílias nicht nur mit Posten ge- Als Geologen im Jahr 2006 vor den Küs- das ein Schock“, sagt sie.
schachert wurde. Der sogenannte Mensa- ten Rios gewaltige Ölfelder entdeckten, er- Um die Wogen zu glätten, lud Lula die
lão war der erste große Korruptionsskan- klärte Lula Brasilien zu einem Saudi-Ara- Widerständler nach Brasília ein und erklär-
dal, in den die PT verwickelt war. bien des Westens. Brasilien war jetzt ein te ihnen, dass ohne diesen Damm im Land
Private Firmen, die mit Staatsbetrieben Global Player, der sogar einen Sitz im das Licht ausgehe. Er versprach, dass alle,
Geschäfte machen wollten, waren genötigt Uno-Sicherheitsrat forderte. die vom Bau betroffen seien, eine Entschä-
worden, Schmiergeld an die Parteispitze Im Jahr nach seiner Wiederwahl setzte digung erhalten würden. Er sprach von
zu zahlen. Es floss in Wahlkampagnen Lula ein milliardenschweres Investitions- Krankenhäusern und von Schulen, die es
oder als monatliche Überweisung auf die programm auf, um das Wachstum weiter in Altamira geben sollte, aber nichts, sagt
Konten von Abgeordneten, deren Stim- zu befeuern. Unter der Aufsicht seiner da- Melo, sei geschehen.
men man sich sichern wollte. Daher der maligen Energieministerin Rousseff plante Über 30 000 Menschen wurden wegen
Name „Mensalão“, was übersetzt ungefähr Brasilien jetzt eine Eisenbahnlinie, auf der Belo Monte umgesiedelt. In vielen Fällen
„große monatliche Zahlung“ heißt. die Sojabauern ihre Ware zu den Häfen ermitteln jetzt die Staatsanwälte, ob es
Es war ein Skandal, der offenlegte, dass des Atlantiks bringen sollten. Um die tro- dabei zu Menschenrechtsverletzungen ge-
die PT jetzt Teil dieses Systems war, das ckenen Felder des Nordostens zu bewäs- kommen ist. In Altamira sind neue Armen-
sie eigentlich verändern wollte. Es war, als sern, leitete die Regierung den Lauf des siedlungen entstanden, in denen große Tei-
hätte Lula alles über Bord geworfen, sagt Rio São Francisco um. le der inzwischen arbeitslosen Damm-
Valente. Die ganzen Werte. Die Moral. Vor allem ein Projekt versinnbildlicht arbeiter strandeten. Ihre Stadt, sagt Melo,
Anstatt in Klöstern tagte die Partei plötz- den Gigantismus dieser Jahre: der Bau des sei heute ein Ort der Holzfäller, in dem
lich in Luxushotels. Da waren all die teu- Wasserkraftwerks Belo Monte, das den junge Indianerinnen ihre Körper anbieten.
ren Imageagenturen, die ihre Wahlkämpfe Energiehunger der Wirtschaft stillen sollte. Belo Monte ist nur ein Beispiel. Überall
organisierten. Da war der Schatzmeister, Die Pläne, die vorsahen, an einem Ne- im Land gibt es Großprojekte wie diesen
der Nachfragen zu schwarzen Kassen mit benarm des Amazonas den drittgrößten Staudamm, und sie alle haben daran mit-
den Worten abbügelte: Zu viel Transpa- Staudamm der Welt zu bauen, stammten gewirkt, dass Menschen wie Antonia Melo
renz ist Eselei. Als Valente 2005 die Partei noch aus der Militärdiktatur. Sie bedeute- den Glauben an die Politik verloren.
verließ, hielt niemand ihn auf. ten, tief in den Regenwald einzudringen Ohne dass er es jemals offen diskutieren
und Tausende Kleinbauern und Fischer ließ, verschob Lula die Prioritäten. Schnel-

W
ährend hochrangige Politiker wie umzusiedeln, die entlang der Ufer des Rio les Wachstum hatte Vorrang vor nachhal-
Lulas Stabschef Dirceu infolge Xingú lebten. tigem Wirtschaften. Konsum war wichtiger
des Mensalão-Skandals zu lan- Die PT hatte aus dem Kampf gegen den als Umwelt.
gen Haftstrafen verurteilt wurden, stritt Staudamm einst einen Teil ihrer Identität

B
der Präsident ab, von diesen Zahlungen bezogen. Prominente wie der Sänger Sting elo Monte war lange ein Symbol für
gewusst zu haben. Lulas erste Amtszeit hatten an der Seite von Indianern protes- grenzenloses Wachstum, heute steht
neigte sich damals dem Ende zu, und es tiert, deren Lebensraum durch das Projekt es für das Ende einer Illusion.
schien, als schwebte er auf einer Wolke, bedroht war. Schon lange gab es den Verdacht, dass
auf der ihm niemand etwas konnte. „Als Lula an die Macht kam, haben wir mit diesem Damm etwas nicht stimmte.
Angeheizt vom Rohstoffhunger Chinas, eigentlich gedacht: Jetzt ist Belo Monte Die Kosten waren explodiert, von vier Mil-
wuchs die brasilianische Exportwirtschaft. endlich tot“, sagt die Umweltaktivistin An- liarden Euro auf knapp sieben, was bei
Die Nachfrage im Inland explodierte durch tonia Melo in Altamira, einem kleinen, Großprojekten in Brasilien meist ein un-
billige Konsumkredite. Es waren Jahre, in staubigen Nest an der Transamazonica. Sie trügliches Zeichen dafür ist, dass größere
denen viele Brasilianer ihren ersten Kühl- war hier eine der Gründerinnen der PT Beträge in dunkle Kanäle fließen. Aber
84 DER SPIEGEL 31 / 2016
scheint nach 13 Jahren wieder dort zu ste-
hen, wo Lula einmal angefangen hatte; mit
dem Unterschied, dass es heute keine Par-
tei mehr gibt, die noch die Hoffnung we-
cken kann, dass ein anderes Brasilien mög-
lich ist.

A
uch Lula, hört man, will nicht zur
Eröffnungsfeier der Olympischen
Spiele kommen. Damit trifft er
das Gefühl der meisten Brasilianer, deren
Euphorie längst umgeschlagen ist in Des-
interesse.
Lula ist inzwischen selbst im Visier der
Petrobras-Ermittler. Die Staatsanwälte neh-
men an, dass Baufirmen zwei Immobilien
renoviert haben, die ihm gehören sollen.

ATOSSA SOLTANI / DPA


Als kostenloses Dankeschön für all die Auf-
träge, die er für sie an Land gezogen hat.
Lula bestreitet das.
Während seine alten Weggefährten wie
Protestaktion gegen Staudammbau in Altamira 2012: Der Gigantismus dieser Jahre Valente oder Buarque glauben, dass Fehler
zugeben ein erster notwendiger Schritt
erst jetzt, nachdem die erste Turbine ange- vergrößerte nur die Löcher in der Staats- wäre, um die Glaubwürdigkeit der Partei-
laufen ist, erhärten sich die Indizien, dass kasse. Ratingagenturen stuften das Land en wiederherzustellen, befindet sich Lula
die Regierung, ähnlich wie beim Mensalão- zurück. Ausländische Investoren, die wäh- im Kampfmodus.
Skandal, Bauaufträge vor allem an Firmen rend der Krise in Brasilien einen Wachs- Er sitzt in einem Ledersessel im ersten
vergeben hat, die sich dafür erkenntlich tumsmarkt gefunden hatten, schleusten ihr Stock des Instituts, das seinen Namen
zeigten. 40 Millionen Euro sollen beim Bau Kapital in gewinnversprechendere Erdteile. trägt, und sagt, er habe nichts verbrochen.
des Damms verschoben worden sein. Viele der knapp 30 Millionen Menschen, Er fürchte sich nicht vor dem Gefängnis.
Sogar mehr als drei Milliarden waren es die aufgestiegen schienen in die neue Mit- Was ihm Angst mache, sei die Rückkehr
beim halb staatlichen Ölkonzern Petrobras, telschicht, sitzen jetzt auf einem Berg von eines Polizeistaats, in dem Verdächtige
was in der Geschichte Brasiliens ohne Bei- Schulden, von denen sie nicht wissen, wie so lange unter Druck gesetzt würden, bis
spiel ist. An beiden Skandalen waren die- sie sie wieder loswerden. Abstiegsangst, sie erzählten, was die Ermittler hören
selben Baufirmen beteiligt. Dieselben Arbeitslosigkeit, Misswirtschaft und Kor- wollten.
Geldwäscher. Dieselben Strippenzieher ruption, das sind die Gründe, die seit Mo- Er ist jetzt 70. Er hat den Krebs besiegt
von PT und PMDB, die die Direktoren- naten Millionen Brasilianer auf die Straßen und verbringt die Tage hier in diesem
posten dieser Unternehmen unter sich auf- treiben. Raum, an dessen Wänden große Karten
geteilt hatten. Die alte und die neue Elite Kaum 20 Prozent, das zeigen aktuelle hängen, die Lula so sehr liebt, weil sie die
bereicherten sich gemeinsam. Umfragen, wünschen sich, dass Rousseff wahre Größe seines Landes zeigen. Wie
Bis zu drei Prozent aller Einnahmen von in ihr Amt zurückkehrt. Noch geringer ist Rousseff kreist er in Gedanken um sein
Petrobras zweigten sie ab und leiteten sie die Zustimmung zum Interimspräsidenten Erbe. Er spricht vom Hunger, den es in
auf die Konten von führenden Politikern, Michel Temer. Schon in den ersten Wochen Brasilien seinetwegen kaum noch gebe.
heute ist das Unternehmen hoch verschuldet. musste er dreien seiner Minister kündigen. Vom Fehlen großer Utopien in einer Welt,
Der Börsenwert ist abgestürzt, und in den Sie hatten in abgehörten Telefongesprä- die voller Technokraten sei. Von seinen
USA laufen Prozesse, bei denen Anleger chen zugegeben, dass sie im Impeachment Begegnungen mit Bush und Chávez.
Entschädigungen in Milliardenhöhe fordern. gegen Dilma Rousseff vor allem die Gele- Lula beugt sich vor. Er blickt seinem Ge-
Dilma Rousseff wird nicht beschuldigt, genheit erkennen, Korruptionsermittlun- sprächspartner tief in die Augen. Er packt
sich selbst bereichert zu haben. Als frühere gen gegen sich selbst zu stoppen. seinen Arm und lässt ihn eine Weile nicht
Verwaltungsratsvorsitzende des Unterneh- Am Vorabend der Spiele herrscht eine mehr los. „Das ist das Geheimnis“, sagt
mens glaubt ihr aber kaum jemand, dass große Ratlosigkeit im Land. Brasilien er. „So schließt man Bündnisse.“
sie von den Vorgängen nichts wusste. Das sei etwas, was seine Nachfolgerin
Als Lula im Jahr 2010 Rousseff zu seiner Wirtschaftswachstum in Brasilien Rousseff nie verstanden habe. Dass Abend-
Nachfolgerin erkor, war sie in der Bevöl- Veränderung des Bruttoinlandsprodukts essen mit Politikern nicht langweilig sein
kerung so gut wie unbekannt. „Ich hätte gegenüber dem Vorjahr, in Prozent müssen. Dass man reden müsse, auch mit
auch einen Laternenpfahl aufstellen kön- seinen Gegnern, selbst mit jemandem wie
nen“, spottete er später. So populär war + 7,5 Temer. Man muss Deals schließen, so sieht
er am Ende seiner zweiten Amtszeit. er das.
Doch wenig später schaltete sich das Auch deshalb ist er jetzt wieder öfter
Triebwerk der Rakete einfach aus. Die + 3,9 unterwegs. Neulich war er im Nordosten,
+ 3,0
Schockwellen der Weltwirtschaftskrise er- + 1,9 wo er mit einer Gruppe Ziegenhirten
reichten das Land mit Verzögerung. Erst sprach. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er
war es die Nachfrage, die einbrach. Dann + 0,1 2018 wieder kandidiert. Lula ist noch im-
waren es die Preise auf den Rohstoffmärk- 2010 2011 2012 2013 2014 2015 mer sehr beliebt. Sollten die Umfragen
ten. Das Wachstum ging zurück. recht behalten, liegt Brasiliens Zukunft in
Das Geld, das Rousseff in die Hand der Vergangenheit.
nahm, um die Nachfrage zu stimulieren, Quelle: IMF –3,8 Mail: marian.blasberg@spiegel.de, jens.gluesing@spiegel.de

DER SPIEGEL 31 / 2016 85


KAYHAN OZER / AP

Eine tödliche Rivalität


Türkei Präsident Erdoğan hat eine Hexenjagd gegen mutmaßliche Anhänger des Predigers
Fethullah Gülen entfacht. Steckt dessen Gemeinde tatsächlich hinter dem gescheiterten Putsch?

Z
wei Jahrzehnte lang, sagt Oberst- gangene Woche als erster mutmaßlicher nicht als Anhänger der islamistischen
leutnant Levent Türkkan, habe er Verschwörer gegenüber der Staatsanwalt- Gülen-Bewegung aufzufallen.
im türkischen Militär vor allem eine schaft aus, dass Gülen-Kader im Militär Türkkans Geständnis ist womöglich un-
Aufgabe gehabt: nicht aufzufallen. Er dien- den Putschbefehl erteilt hätten. ter Folter erpresst worden. Fotos der staat-
te in der Infanterie, stieg auf zum Offizier Türkkan stammt aus einer armen Bau- lichen Nachrichtenagentur Anadolu Ajansı
und später zum Adjutanten des General- ernfamilie. Er träumte schon als Kind da- zeigen ihn mit Schrammen im Gesicht und
stabschefs. Seine Loyalität jedoch galt of- von, Soldat zu werden. Laut dem Verneh- Bandagen um die Hände. Seine Aussagen
fenbar nicht seinem Dienstherrn oder dem mungsprotokoll, das der SPIEGEL einsehen aber sind derart detailliert, dass viele Ex-
türkischen Staat – sondern Fethullah Gü- konnte, haben ihm Gülen-Anhänger bei perten sie dennoch für glaubwürdig halten.
len, jenem Prediger, dem die Regierung der Aufnahme auf die Kadettenschule ge- Erdoğan hat in den Tagen nach dem
Präsident Recep Tayyip Erdoğans vorwirft, holfen, indem sie ihm die Fragen für den Putschversuch den Rest der Welt verstört
den gescheiterten Putsch vom 15. Juli or- Eignungstest vorab zukommen ließen. durch den Furor, mit dem er gegen Kritiker
chestriert zu haben, bei dem mindestens Türkkan meinte fortan offenbar, in der vorgeht, und das Tempo, mit dem er sein
270 Menschen ums Leben kamen. Schuld Gülens zu stehen. Land in eine Diktatur verwandelt.
Erdoğan bezeichnete Gülen, der seit Lange Zeit trug die Gemeinde keine Doch die Vorwürfe gegen die Gülen-Ge-
Ende der Neunzigerjahre in den USA im Aufgabe an ihn heran. Erst als er zum Hel- meinde scheinen nicht gänzlich unbegrün-
Exil lebt, einst als „Freund“. Heute be- fer des Generalstabschefs befördert wurde, det. In der Türkei bezweifelt kaum jemand,
schimpft er ihn als „Terrorführer“ und „Fa- seien Gülen-Kader auf ihn zugekommen, dass Gülen oder seine Anhänger zumindest
schisten“. Er hat in den vergangenen Ta- sagte Türkkan in dem Verhör. Sie hätten teilweise an dem Aufstand beteiligt waren.
gen Tausende Soldaten, Lehrer, Richter ihn aufgefordert, jeden Morgen Wanzen Der türkische Generalstabschef Hulusi
und Akademiker festnehmen lassen, die im Büro seines Chefs zu platzieren und Akar, der am 15. Juli vorübergehend von
er der Komplizenschaft mit dem Prediger abends wieder abzumontieren. Türkkan den Putschisten festgenommen worden war,
bezichtigt. Seine Regierung hat bislang je- erledigte den Job über mehrere Jahre hin- gab am Montag vor Gericht an, die Geisel-
doch keine eindeutigen Beweise erbracht, weg, ohne mit jemandem darüber zu re- nehmer hätten ihn gedrängt, mit ihrem „An-
dass Gülen wirklich hinter dem blutigen den. Er wusste bis zur Putschnacht nicht, führer“, Fethullah Gülen, zu telefonieren.
Aufstand steckt. wer außer ihm im Militär der Gülen-Be- Der ehemalige Istanbuler Polizeidirektor
Oberstleutnant Türkkan gilt den Gülen- wegung angehörte. Er trank Alkohol und Hanefi Avcı sagt, die Gülen-Gemeinde sei
Gegnern nun als Kronzeuge. Er sagte ver- brach das Fastengebot im Ramadan, um die einzige Gruppierung in der Türkei, die
86 DER SPIEGEL 31 / 2016
Ausland
Politiker Erdoğan, Anti-Gülen-Demonstranten in Istanbul
Geschichte von Glauben und Verrat

Erdoğan hat die Gülen-Kader in ihrem Der Publizist Latif Erdoğan kennt Gülen
Treiben lange Zeit unterstützt. Schließlich seit Jahrzehnten. Er hat die Gemeinde mit-
richteten sich die Attacken der Gemeinde aufgebaut, war selbst ein „großer Bruder“,
vor allem gegen seine Gegner: Angehörige die Nummer zwei der Bewegung. Vor fünf
des Militärs, Journalisten, Säkulare, Linke. Jahren hat er sich von der Gemeinde los-
Erst als sich Erdoğan und Gülen 2011 über- gesagt: „Viele unserer Anhänger haben
warfen, begann der Premier, gegen die An- sich nicht mehr für Spiritualität interessiert,
hänger des Predigers vorzugehen. sondern nur noch für Politik und Geld.“
Mit dem Putschversuch vom 15. Juli hat Latif Erdoğan, der nicht mit dem Präsi-
der Konflikt zwischen Erdoğan und der denten verwandt ist, sitzt in seinem Büro
Gülen-Gemeinde den vorläufigen Höhe- am Stadtrand von Istanbul. Im Regal ste-
punkt erreicht: Erdoğan nutzt den Aufruhr, hen Bücher über den Islam aneinanderge-
um Gülen-Unterstützer endgültig aus dem reiht. „Gülen hätte als Religionsgelehrter
Weg zu räumen – und mit ihnen auch viele und Wohltäter in die Geschichte eingehen
weitere Oppositionelle, die er ohne Bewei- können“, sagt er. „Nun wird sein Name
se zu ihnen rechnet. Seine Regierung hat auf ewig mit dem schändlichen Coup ver-
in den vergangenen Tagen Zehntausende bunden bleiben.“ Latif Erdoğan ist über-
Staatsbeamte suspendiert oder verhaften zeugt davon, dass Gülen-Anhänger den
lassen – Lehrer, Richter, Staatsanwälte, Aufstand angezettelt haben. Er glaubt auch
Journalisten, Akademiker. Der Präsident zu wissen, warum: „Die Macht hat diese
hat gegen vermeintliche Gülen-Anhänger Gemeinde korrumpiert.“
eine Hexenjagd entfacht, die an die Kom- Gülen wurde 1941 in Ostanatolien gebo-
munistenverfolgung in den USA der Fünf- ren und begann seine Karriere in den Sech-
zigerjahre unter dem Senator Joseph zigerjahren als Imam in Edirne. „Er war
McCarthy erinnert. Selbst die teilstaatliche ein fantastischer Redner“, erinnert sich La-
Fluglinie Turkish Airlines hat diese Woche tif Erdoğan. „Die Menschen brachen bei
OZAN KOSE / AFP

211 Mitarbeitern gekündigt, die sie der seinen Predigten in Tränen aus.“ Gülen
Sympathie für Gülen verdächtigt. sammelte Geld, um Schulen zu bauen und
Der Westen hat den Konflikt zwischen Wohnungen für fromme Schüler und Stu-
Erdoğan und der Gülen-Bewegung bislang denten zu mieten, die damals vom Staat
über die Ressourcen, das Personal und die als innertürkischen Konflikt betrachtet. benachteiligt wurden.
Skrupellosigkeit verfüge, eine derartige Diesen Luxus werden sich die Regierungen Innerhalb weniger Jahre wuchs die Ge-
Operation durchzuführen. Er glaubt, Mit- in Berlin, Brüssel und Washington nicht meinde von einer Gruppe zu einer inter-
glieder anderer Fraktionen im Militär hät- länger leisten können. Schon jetzt kam es nationalen Bewegung an. Gülen gab sich
ten sich dem Coup lediglich angeschlossen. in deutschen Städten zu Auseinanderset- nicht mehr damit zufrieden, Gebete zu hal-
Selbst die Oppositionsparteien sind zungen zwischen Anhängern und Gegnern ten und Spenden zu sammeln. Er wollte
beim Thema Gülen ausnahmsweise einer des Putschs, griffen AKP-Unterstützer Ein- die Gesellschaft umbauen.
Meinung mit der Regierung. „Wir warnen richtungen der Gülen-Bewegung an. US- In einer geheimen Predigt rief Gülen in
seit Jahren vor der antidemokratischen Ge- Präsident Barack Obama wird bald ent- den Achtzigerjahren seine Schüler dazu
sinnung der Gülen-Bewegung“, sagt der scheiden müssen, ob er dem Gesuch der auf, den türkischen Staat zu unterwandern
Vorsitzende der prokurdischen Partei HDP, Regierung in Ankara nachgibt und Gülen und sich konspirativ zu verhalten, bis die
Selahattin Demirtaş. Der Chef der türki- an die Türkei ausliefert. Auch von Deutsch- Zeit zur Machtübernahme reif sei: „Ihr
schen Sozialdemokraten, Kemal Kiliçda- land fordert die türkische Regierung nun müsst in die Arterien des Systems eindrin-
roğlu, unterstützte am Dienstag die Forde- die Auslieferung von dessen Anhängern. gen, ohne dabei bemerkt zu werden. Ihr
rung Erdoğans, Gülen solle in der Türkei Die Geschichte der Rivalität zwischen müsst warten, bis der richtige Moment ge-
vor Gericht gestellt werden. Erdoğan und Gülen ist eine Geschichte kommen ist, bis ihr die gesamte Staats-
Gülen weist jede Schuld von sich. „Es über Glauben und Verrat, über zwei große macht an euch gerissen habt.“ Als ein Mit-
ist absurd, unverantwortlich und falsch zu muslimisch-nationalistische Verführer, die schnitt der Rede 1999 an die Öffentlichkeit
behaupten, ich hätte irgendetwas mit die- die Türkei zunächst umkrempelten – und geriet, floh Gülen in die USA. Er behaup-
sem schrecklichen Putschversuch zu tun“, nun in den Abgrund führen. tet, das Tonband sei manipuliert worden,
sagt er in seinem Exil im US-Bundesstaat Gülen inszeniert sich als weltoffener Is- Jahre später sprach ihn ein Gericht vom
Pennsylvania. Seine Anhänger geben sich lamgelehrter, der auf einem Anwesen in Vorwurf des Landesverrats frei.
modern und tolerant. Sie haben in mehr den Wäldern Pennsylvanias lebt und für Der Aufstieg der islamisch-konserva-
als 140 Ländern Schulen gegründet, Uni- die Verständigung zwischen den Religio- tiven Partei für Gerechtigkeit und Auf-
versitäten, Kliniken, Medienhäuser. nen eintritt. Menschen, die mit ihm gebro- schwung (AKP) bot Gülen schließlich die
Die Gemeinde war in den vergangenen chen haben, beschreiben ihn hingegen als Chance, die türkische Politik mitzubestim-
Jahren immer wieder in unlautere Machen- Guru, als Ideologen, der keinen Wider- men. Der damalige Vorsitzende der AKP,
schaften verstrickt. US-Diplomaten warn- spruch duldet. Erdoğan, sah in dem Prediger nach seinem
ten bereits 2010 vor einer Unterwanderung Die Gemeinde verfügt über kein Mit- Wahlsieg 2002 einen Verbündeten im
des türkischen Staates durch Gülen-An- gliedsregister, keine Adresse. Sie gibt vor, Kampf gegen das säkulare Establishment.
hänger. Der Istanbuler Journalist Ahmet eine lose Bewegung zu sein, ist jedoch in Erdoğan besetzte als Premier Schlüssel-
Şık beschrieb 2011 in dem Buch „Armee Wahrheit straff organisiert. Gülen be- positionen in der Regierung und Verwal-
des Imams“, wie Gülen-Kader in Polizei, stimmt Kurs und Ausrichtung. Ihm folgen tung mit Kadern der Gülen-Gemeinde.
Justiz und Medien Gegner mit Verleum- seine engsten Vertrauten, die sogenannten Vom Bündnis zwischen Erdoğan und
dungskampagnen unter Druck setzten. Er großen Brüder. Sie kontrollieren die wich- Gülen profitierten lange Zeit beide Lager:
wurde unter fadenscheinigen Gründen für tigsten Unternehmen der Gemeinde, leiten Erdoğan verschaffte Unternehmern der
ein Jahr ins Gefängnis gesteckt. Befehle an Untergebene weiter. Gemeinde Staatsaufträge, mit seiner Hilfe
DER SPIEGEL 31 / 2016 87
Ausland

breiteten sich Gülen-Anhänger in Ministe-


rien, Justiz und Polizei aus. Die Lobby-
gruppen Gülens im Ausland wiederum ver-
markteten Erdoğan als muslimischen
Demokraten, die Medien der Gemeinde
und die Tageszeitung „Zaman“ betrieben
damals noch unverhohlen Propaganda für
den Regierungschef. Gemeinsam verdräng-
ten Erdoğan und Gülen das Militär aus der
Politik.
In den sogenannten Ergenekon- und
Vorschlaghammer-Prozessen wurden Hun-
derte Generäle, Admiräle, Offiziere ge-
meinsam mit Oppositionellen, Journalis-
ten, Akademikern ab 2008 als vermeint-
liche Putschisten teils zu lebenslangen
Haftstrafen verurteilt. Ein Großteil der Be-
weise gegen sie war von Gülen-nahen Er-
mittlern und Staatsanwälten fingiert wor-
den. Erst mehrere Jahre später wurden die
Betroffenen rehabilitiert.
Die Prozesse rissen eine Lücke ins Mili-
tär. Sie ebneten dem Gülen-Kader zugleich
den Weg an die Spitze der Streitkräfte. Die
Gemeinde hatte sich seit den Achtziger-
jahren darum bemüht, im Militär Fuß zu
fassen. Nun erst war der Widerstand der
laizistischen Generalität gebrochen.
Mit dem Sieg über die alten Eliten der
Gesellschaft ging Erdoğan und Gülen der
gemeinsame Feind verloren. 2011 fühlte
Erdoğan sich nach seinem dritten Wahlsieg
in Folge nicht länger auf die Unterstützung
der Gemeinde angewiesen und begann,
ihre Anhänger aus dem Staatsapparat zu
entfernen. Gülen-Kader in der Polizei ver-
hafteten daraufhin vorübergehend den Ge-
heimdienstchef Hakan Fidan, einen engen
www.spiegel-geschichte.de Vertrauten des Premiers. Erdoğan betrach-
Jetzt im tete das Manöver als Kriegserklärung. Er
kündigte im Herbst 2013 an, die Gülen-
Handel Schulen in der Türkei schließen zu lassen,
die wichtigste Rekrutierungsquelle der Be-
wegung.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war je-
dem in der Türkei klar, dass die Auseinan-
dersetzung zwischen Erdoğan und Gülen
auf einen Vernichtungskampf hinausläuft.
Die Gülen-Gemeinde setzte alles daran,
X Auch als App für iPad, Android den Premier loszuwerden. Sie eröffnete
sowie für PC/Mac. Hier testen: Korruptionsermittlungen gegen Erdoğans
spiegel-geschichte.de/digital Sohn Bilal und weitere Vertraute des Re-
gierungschefs und veröffentlichte diskre-
ditierende Telefonmitschnitte.
Erdoğan überstand auch diese Krise und
schlug nur noch härter zurück: Seine Re-
gierung erklärte die Gülen-Gemeinde im
Mai 2016 zur „Terrororganisation“, stellte
Gülen-nahe Medien wie die „Zaman“ un-
ter staatliche Aufsicht. Manche Beobachter
interpretieren den Militärputsch als einen
Achtundsechziger Mythen einer Generation letzten verzweifelten Versuch der Gülen-
Gemeinde, Boden zurückzugewinnen.
Erdoğan hatte vor dem 15. Juli sein Ver-
Frauenbewegung Der neue Feminismus hältnis zum Militär gerade neu geordnet.
Er hatte sich von den Ergenekon-Prozes-
Design und Mode Rebellion im Minirock sen distanziert. Er war wieder auf Israel
88 DER SPIEGEL 31 / 2016
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und Russland zugegangen, ein Schritt, den
etliche Generäle begrüßten. „Die Gülen- Sie Begünstigter eines Vergleichs über 53,55 Millionen $ sein
Bewegung hatte als einzige Gruppe inner-
halb der Streitkräfte ein Motiv für den
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Mehr als zwei Wochen nach dem ge- Dienste bestimmter Spediteure in An- Sie bestimmten Leistungen ist im
scheiterten Staatsstreich sind die Details spruch genommen haben, können Sie Auszahlungsplan festgelegt, der bei
des Manövers noch immer unklar. Nach Anspruch auf eine potenziell erhebliche www.FreightForwardCase.com einge-
wie vor lässt sich nicht mit Sicherheit Barzahlung aus Vergleichen zu Sammel- stellt ist.
sagen, wie die Putschisten die Tat vorbe- klagen haben. Inzwischen konnten Ver-
reiteten und woran das Vorhaben letztlich gleiche mit den letzten beiden Beklagten Vorgehensweise für den Erhalt
gescheitert ist. Doch immer deutlicher abgeschlossen werden. Zuvor waren der Leistungen
zeichnet sich ab, dass die Nacht vom Vergleiche mit  29 Beklagten erreicht Sie müssen bis spätestens 3. April 2017
15. Juli das Land nachhaltig verändern worden. ein Anspruchsformular online oder per
wird. E-Mail einreichen, um eine Zahlung aus
Erdoğans Säuberungsaktion richtet sich Die Vergleiche betreffen ein Gerichts- den Vergleichen zu bekommen. Ein An-
jedoch längst nicht mehr nur gegen Gülen- verfahren, in dem geltend gemacht wird, spruchsformular können Sie per Anruf
Anhänger. Am Mittwochabend ließ seine
dass bestimmte Speditionsfirmen insge- bei einer der nachstehenden Nummern
Regierung 45 Zeitungen und 16 Fernsehsen-
heim Preise für ihre Speditionsdienst- oder auf der Website erhalten. Wenn Sie
der schließen, darunter der prokurdische
leistungen in aller Welt abgesprochen bereits während der ersten oder zwei-
haben, wovon Strecken innerhalb der ten Vergleichsrunde ein Anspruchs-
USA sowie zwischen den USA und Chi- formular eingereicht haben, brauchen
na, Hongkong, Japan, Taiwan, Indien, Sie dies nicht erneut zu tun. Ihre Zah-
Deutschland, dem Vereinigten König- lung erfolgt automatisch im Rahmen die-
reich und anderen Teilen Europas betrof- ser dritten Vergleichsrunde.
fen sind. Die vergleichsbereiten Beklag-
ten streiten jegliches Fehlverhalten ab. Weitere Ihnen zustehende Rechte
Auch wenn Sie keinen Anspruch stellen,
Spediteure liefern Transport- oder Lo- werden Sie von den Entscheidungen des
gistikdienste für Lieferungen im Zu- Gerichts erfasst. Wenn Sie Ihr Recht auf
sammenhang mit der Organisation des Klage gegen DHL oder Hellmann auf-
Transports von Gütern auf dem Luft- rechterhalten möchten, müssen Sie sich
und Wasserweg, die ergänzende Schie- bis zum 20. September 2016 selbst aus
nen- und LKW-Transportdienste im In- diesem Vergleich ausschließen. Wenn
und Ausland sowie zugehörige Tätigkei- Sie einem bestimmten Vergleich wei-
ten wie etwa Zollabfertigung, Lagerung terhin angehören, können Sie diesen bis
EMIN OZMEN / LEJOURNAL

und Bodenverkehrsdienste einschließen zum 20. September 2016 anfechten.


können.
Das Gericht hat Rechtsanwälte zu Ihrer
Erfasster Personenkreis Vertretung bestellt, ohne dass dadurch
Sie können von einem oder mehreren der für Sie Kosten entstehen. Sie sind be-
Publizist und Ex-Gülen-Anhänger Latif Erdoğan Vergleiche (als Sammelkläger) erfasst rechtigt, eigene Anwälte auf Ihre eige-
In die Arterien des Systems eindringen sein, wenn Sie: (1) Speditionsdienst- nen Kosten zu beauftragen. Das Ge-
leistungen selbst beauftragt haben, (2) richt wird am 4. November 2016 eine
Kanal IMC TV und die linksliberale Tages- und zwar von einem der Beklagten bzw. Anhörung abhalten, um Folgendes zu
zeitung „Taraf“. Gegen 47 Mitarbeiter der
deren Tochter- oder Konzerngesellschaf- genehmigen: (1) die Vergleiche, (2) An-
„Zaman“ wurde Haftbefehl erlassen.
Der Menschenrechtsanwalt Orhan Ke- ten, (3) wenn die Beauftragung zwischen trag auf Zahlung von Anwaltsgebühren
mal Cengiz war auf dem Weg nach Lon- dem 1. Januar 2001 und dem 4. Januar von bis zu 33  % des Vergleichsfonds,
don, als er am Flughafen in Istanbul von 2011 und (4) inner- und außerhalb der zuzüglich Zinsen und Erstattung von
der Polizei festgenommen wurde. Cengiz USA in Bezug auf Lieferungen inner- Prozesskosten, und (3) Antrag auf einen
gilt als einer der profiliertesten Juristen halb der USA, in die USA oder aus den Höchstbetrag von jeweils 75.000 $ pro
der Türkei. Er hat Kurden vor Gericht ver- USA stattfand. Vertreter der Klägergruppe für dessen
treten, Christen, zuletzt die Zeitung „Za- jeweiligen Aufwand. Sie selbst oder Ihr
man“. Nun sollte er sich für regierungskri- Inhalt der Vergleiche eigener Anwalt sind berechtigt, bei der
tische Tweets rechtfertigen, die er vor DHL und Hellmann richten einen Ver- Anhörung zu erscheinen und das Wort
mehr als einem Jahr veröffentlicht hatte. gleichsfonds mit einer Einlage von zu ergreifen.
Cengiz blieb vier Tage in Haft. Er darf
die Türkei nicht verlassen. „Ich verstehe,
dass die Regierung gegen Putschisten vor-
geht“, sagt er, „aber warum verwandelt Diese Mitteilung stellt nur eine Kurzfassung dar. Eingehende Informationen
sie das ganze Land in ein Gefängnis?“ erhalten Sie per Anruf in den USA und KANADA unter der Nummer 1-877-276-7340
Onur Burçak Belli, Eren Çaylan, Maximilian Popp (gebührenfrei) bzw. aus dem AUSLAND unter 1-503-520-4400 (gebührenpflichtig)
Twitter: @Maximilian_Popp
oder auf der Website www.FreightForwardCase.com
DER SPIEGEL 31 / 2016 89
Ausland

Angriff der Bären


USA Eine Spionageaffäre bringt Hillary Clinton und die Demokraten im Wahlkampf
in Bedrängnis. Versucht der Kreml, den Ausgang der Wahl zu beeinflussen?

M
itte Juni verteilte Julian Assange, „Russland, wenn du zuhörst: Ich hoffe, du genannt. Hinter dem ersten Bären soll sich
der enigmatische Gründer von findest die 30 000 E-Mails, die fehlen.“ der russische Inlandsgeheimdienst FSB ver-
WikiLeaks, im Internet eine Datei, Trumps Appell löste Entsetzen aus. Dies bergen, hinter dem zweiten der russische
88 Gigabyte groß, verschlüsselt. Er nannte sei das erste Mal in der amerikanischen Militärgeheimdienst GRU, dessen Beute-
sie seine „Versicherung“. Falls ihm jemand Geschichte, dass „ein Präsidentschaftskan- zug im April aufflog. Es gebe keine Anzei-
etwas antue, werde das Passwort veröffent- didat aktiv eine fremde Macht zur Spio- chen dafür, dass die beiden Bären bei ih-
licht. Niemand sollte einen der größten nage gegen seinen politischen Gegner auf- rem Angriff auf die Demokraten voneinan-
Scoops der vergangenen Jahre stoppen ruft“, sagte Clintons Berater Jake Sullivan. der gewusst hätten, sagt Dmitri Alpero-
können. Trump habe sich auf Russlands Seite ge- vitch von CrowdStrike, der die Untersu-
Seit rund einer Woche nun veröffent- schlagen, kritisierte der ehemalige Vertei- chung der infizierten Server leitete. Wäre
licht WikiLeaks den Inhalt häppchenweise. digungsminister Leon Panetta. der zweite Bär nicht so tapsig vorgegangen,
Es handelt sich um teilweise brisante Un- Für Trump war es ein willkommener wäre der erste Einbruch womöglich nie
terlagen aus der Zentrale der amerika- Anlass, von der imposanten Inszenierung aufgeflogen.
nischen Demokratischen Partei, die das des demokratischen Parteitags abzulen- Die beiden Hackergruppen, die in der
Potenzial haben, den US-Wahlkampf zu ken. Jegliche Kritik, er mache sich mit Szene einen legendären Ruf genießen, sol-
verändern – mehr als 20 000 interne E- Amerikas Feinden gemein, perlte an ihm len für eine Reihe von Datendiebstählen
Mails und Audiobotschaften. ab, wie so oft. Die Russen „haben die Mails verantwortlich sein, vor allem gegen Poli-
Die Daten wurden bei zwei Hacker- höchstwahrscheinlich“, sagte er. „Und ich tiker, Militärs und Medien des Westens. Im
angriffen gestohlen und zeigen unter ande- sähe sie gern veröffentlicht.“ vergangenen Jahr brach Cozy Bear bei-
rem, wie sich die Partei im Vorwahlkampf Woher kommt das freundschaftliche Ver- spielsweise in einen Teil der Computer-
auf Hillary Clintons Seite schlug, um ihren hältnis zwischen Donald Trump und dem netzwerke des Weißen Hauses und des US-
linken Rivalen Bernie Sanders auszubrem- Kreml? Und ist die Veröffentlichung der Außenministeriums ein. Fancy Bear wurde
sen. Am Montag musste die demokratische internen Parteikommunikation Teil einer das erste Mal 2007 gesichtet und verübte
Parteichefin Debbie Wasserman Schultz groß angelegten russischen Desinforma- diverse Angriffe in Westeuropa, darunter
aufgrund der Enthüllung zurücktreten, tionskampagne, um Clinton als Präsidentin nach Informationen des SPIEGEL auch
am Dienstag erklärte US-Präsident Barack zu verhindern? eine in der Öffentlichkeit bislang unbe-
Obama, seine Experten würden die Hacker- Die Affäre um die E-Mails, die Assange kannte Attacke gegen die italienische Luft-
angriffe „Russland zuschreiben“. jetzt veröffentlichte, beginnt im Sommer waffe und Marine.
Der ohnehin schon unberechenbare, wil- 2015. Damals erhalten Mitarbeiter der Der bekannteste Coup allerdings betrifft
de amerikanische Wahlkampf ist seitdem Demokratischen Partei eine Serie von den deutschen Bundestag. Im April 2015
um zwei zusätzliche Akteure reicher: Wiki- Mails. Die Post enthält zwei Arten von hatte Fancy Bear eine Welle kontaminierter
Leaks-Chef Assange – sowie Russland, des- Schadware: angehängte Videos, die den Mails an Rechner des deutschen Parlakom-
sen Geheimdienste im Verdacht stehen, Rechner beim Abspielen kontaminieren. Netzwerks geschickt, über das die Bundes-
die Daten gestohlen und der Enthüllungs- Und Links, die auf eine Website der An- tagsabgeordneten ihre Kommunikation
plattform zugespielt zu haben. greifer führen und damit die Rechner in- abwickeln. Als vermeintlicher Absender
Die Spionageaffäre rund um die Mails tauchten die Vereinten Nationen auf.
der Demokraten gibt einen Vorgeschmack
darauf, was im Wahlkampf noch folgen
„Russland, ich hoffe, Die Angreifer drangen tief in das Bun-
destagsnetz ein, sie suchten gezielt nach
könnte. Assange hat angedeutet, im Besitz du findest die 30000 Briefverkehr, Word-Dateien und Datei-
weiterer E-Mails zu sein, die von Clintons
privatem Server stammen und ihre Amts-
E-Mails, die fehlen“, anhängen. Die Attacke, die über zwei Kon-
trollrechner in Osteuropa gesteuert wurde,
zeit als Außenministerin betreffen. Sie sagt Donald Trump. war derart erfolgreich, dass der Bundestag
hatte, bevor sie im vergangenen Jahr ih- Wochen brauchte, um die Hoheit über das
ren E-Mail-Server dem FBI übergab, rund fizieren. Unbemerkt dringen die Angreifer Netzwerk zurückzuerlangen. Etwa 16 Giga-
30 000 angeblich private Mails löschen tief in das Servernetzwerk der Demokra- byte an Daten sollen Richtung Russland
lassen. ten ein, sie identifizieren Accounts und abgeflossen sein. Gut denkbar, dass sich
In den kommenden Wochen will Wiki- kopieren Mails. im Bundestagswahlkampf im kommenden
Leaks weiteres Material veröffentlichen, Im April dieses Jahres schleicht sich ein Jahr ein Szenario wie derzeit in den USA
scheibchenweise bis zur Wahl am 8. No- zweiter Angreifer ein. Aber diesmal läuft wiederholt: dass interne Dokumente ein-
vember. Die Publikationen bergen ein ge- etwas schief. Der digitale Einbruch fliegt zelner Abgeordneter in der Öffentlichkeit
waltiges Risiko für Clinton: In einem Wahl- auf. Die Demokraten beauftragen die Si- auftauchen, um Einfluss auf den Wahl-
kampf, in dem rund die Hälfte aller Ame- cherheitsfirma CrowdStrike mit einer Un- kampf zu nehmen.
rikaner angibt, ihr zu misstrauen, könnte tersuchung. Deren Forensiker stoßen auf Dass Russland immer öfter mit dem
das Auftauchen delikater Briefwechsel gro- Spuren, die sie kennen. Sie stammen von Mittel der Desinformation spielt, um die
ße Wirkung entfalten – zugunsten Trumps, zwei Hackergruppen, die seit rund zehn Politik des Westens zu beeinflussen, wird
was wohl ganz im Sinne des Kreml wäre. Jahren aktiv sind. selbst in Moskau kaum bestritten.
Am Mittwoch trat Donald Trump dann In der Welt der Geheimdienste und Cy- Im amerikanischen Wahlkampf sind die
selbst vor die Kameras und forderte den bersecurity-Experten werden die beiden Sympathien des Kreml klar verteilt. Wäh-
Kreml auf, Clintons Mails zu hacken: Gruppen „Cozy Bear“ und „Fancy Bear“ rend ihrer Zeit als Außenministerin hat
90 DER SPIEGEL 31 / 2016
ALAMY / MAURITIUS IMAGES
Graffito der Männerfreunde Putin, Trump in Litauen: „Sehr markanter, talentierter Mensch“

sich Clinton in Moskau viele Gegner ge- absurd darzustellen. Die Behauptung, „Vieles spricht dafür, dass dahinter staat-
macht. Bemerkungen wie jene, dass Putin Russland habe etwas mit dem Leak zu tun, liche Akteure aus Russland stehen“, sagt
versuche, das alte sowjetische Imperium sei der „manische Versuch, das russische auch der deutsche Cybersecurity-Experte
wiederherzustellen, haben ihr böse Kom- Thema im amerikanischen Wahlkampf zu Thomas Rid vom Londoner King’s College.
mentare eingebracht. Putin nahm es ihr nutzen“. Russland achte sorgfältig darauf, Im Vergleich zu früheren Geheimdienst-
zudem persönlich übel, dass sie 2011 die sich nicht in den Wahlkampf einzumischen. operationen handle es sich „um eine neue
Legitimität der russischen Parlamentswah- Auch der russische Außenminister Sergej Qualität“. Unwahrscheinlich, aber nicht
len anzweifelte. Lawrow dementierte am Rande eines ausgeschlossen ist immerhin die Möglich-
Donald Trump dagegen wird in der russi- Gesprächs mit seinem Amtskollegen John keit, dass Cozy Bear und Fancy Bear dem
schen Öffentlichkeit weitgehend positiv dar- Kerry jegliche Verbindung. Milieu der organisierten Kriminalität ent-
gestellt. Putin charakterisierte ihn im De- In der Welt der Cyberspionage ist ein stammen und einfach nur gute politische
zember als „sehr markanten, talentierten gerichtsfester Beweis kaum möglich – all- Verbindungen haben.
Menschen“, nachdem Trump gesagt hatte, zu leicht können Angreifer ihre Spuren Als Mitte Juni die ersten Meldungen
dass Amerikaner und Russen „ein besseres verwischen. Doch im Fall der beiden Bä- über den Datendiebstahl bei der Demo-
Niveau der Beziehungen“ erreichen müss- ren deuten fast alle Indizien auf Russland. kratischen Partei publik wurden, tauchte
ten. Dem Kreml gefiel auch, dass Trumps Eine der von den Angreifern genutzten im Netz plötzlich das Profil eines angebli-
außenpolitischer Berater Carter Page An- Serveradressen ist identisch mit jenen, die chen Hackers namens „Guccifer 2.0“ auf,
fang Juli davon sprach, ein „bedeutender die Einbrecher im Deutschen Bundestag der sich brüstete, aus Rumänien zu stam-
Teil der Schuld an der Verschlechterung der nutzten. Das Gleiche gilt für ein gefälsch- men und den Einbruch allein durchgeführt
Beziehungen“ liege in Washington. tes Sicherheitszertifikat, das die Rechner zu haben.
Trump ist genau der Typ, mit dem die der Demokraten in falscher Sicherheit Auf Nachfrage von Reportern hatte
Russen umgehen können: Mit dem exzen- wiegte. „Guccifer 2.0“ allerdings Probleme, auf Ru-
trischen Milliardär lasse sich leichter eine Die Metadaten eines der veröffentlich- mänisch zu antworten; für die Kommuni-
gemeinsame Sprache finden als mit Clin- ten Dokumente weisen in kyrillischer kation nutzte er einen russischsprachigen
ton, heißt es in Moskau. Er denke ebenso Schrift einen Nutzer namens „Felix Ed- Anbieter. Auch konnte er nicht erklären,
machtpolitisch wie Putin, beide Männer mundowitsch“ als letzten Bearbeiter aus, wieso ein einzelner Hacker zwei separate,
würden die Dinge ungeschminkt beim Na- eine Anspielung auf den legendären Grün- sich behindernde Attacken starten sollte.
men nennen. Zudem hat Trump mehrfach der der sowjetischen Geheimpolizei, Felix Wie auch immer die Jagd des ermitteln-
die Nato infrage gestellt und sich seines Dserschinski – offensichtlich hatte einer den FBI nach „Guccifers“ Identität aus-
guten Verhältnisses zu Putin gerühmt. Auf der Datendiebe das Dokument neu abge- geht, ein Ziel haben die Bären jetzt schon
die Frage, ob er die Krim als russisch aner- speichert. Die Beweislast sei „so nah an erreicht: Sie haben den amerikanischen
kennen würde, antwortete er diese Woche einer Smoking Gun, wie sie es nur sein Wahlkampf weiter angeheizt und die Spal-
mit: „Das werde ich mir anschauen.“ kann, wenn ein Nationalstaat involviert tung des Landes vorangetrieben.
Natürlich beeilte sich Putins Sprecher ist“, argumentiert die ehemalige NSA- Maik Baumgärtner, Christian Neef, Holger Stark
Dmitrij Peskow, die Hacking-Vorwürfe als Juristin Susan Hennessey. Mail: christian.neef@spiegel.de, holger.stark@spiegel.de

DER SPIEGEL 31 / 2016 91


RAJESH JANTILAL / AFP
Frischvermählter Zuma mit Braut beim Hochzeitstanz 2010: Er herrscht wie ein Stammeshäuptling – aus dem Bauch

Der Herbst des Kleptokraten


Südafrika Präsident Jacob Zuma hat das Land an den Abgrund regiert und sich schamlos bereichert.
Vor den Kommunalwahlen fordern selbst Anhänger seinen Rücktritt.

E
in gescheiterter Präsident? Ein Geschrei, Gelächter, Tumult. Beinahe die Macht kam. Laut einer Umfrage traut
gescheitertes Land? He! He! He! kommt es zu Handgreiflichkeiten. Die De- ihm nur noch ein Drittel der Südafrikaner.
Jacob Zuma steht vor dem südafri- batten im Parlament zählen zu den belieb- Vor fünf Jahren waren es fast doppelt so
kanischen Parlament und lacht hellauf. testen Comedy-Shows am Kap, Videoclips viele. Und die Enttäuschung der Wähler
„Ich weiß nicht, wie ich mein Lachen stop- über Zumas peinliche Auftritte werden mil- kann sich bei den Kommunalwahlen am
pen kann“, sagt er, und das nächste lionenfach in den sozialen Medien verbrei- kommenden Mittwoch deutlich zeigen.
He-he-he schallt durch das hohe Haus in tet: der Präsident als nationale Witzfigur. „Schlagt Zumas scheußlichen Kopf ab“,
Kapstadt. Der Ausbau von Zumas Domizil hat um- titelte die Tageszeitung „Sowetan“, nach-
Der Staatschef soll Fragen der Abgeord- gerechnet rund 17 Millionen Euro ver- dem die elf höchsten Richter des Landes
neten beantworten, Fragen zu Nkandla, schlungen, wegen der zusätzlichen Sicher- Ende März einstimmig entschieden hatten,
seiner protzigen Privatresidenz, die er auf heitsmaßnahmen, heißt es in der offiziel- dass der Präsident die Verfassung gebro-
Kosten der Steuerzahler hat ausbauen las- len Begründung. Der Swimmingpool? Ein chen habe und einen Teil der exorbitanten
sen, Besucherzentrum, Schwimmbad, Am- Feuerlöschteich. Die Theaterarena? Ein Ausbaukosten für Nkandla zurückzahlen
phitheater, Viehgehege, Bunker und Hub- Sammelplatz für Notfälle. müsse. Ausgerechnet der regierungsfreund-
schrauberlandeplatz inklusive. „Dieb!“, ru- Der Name Nkandla steht mittlerweile liche „Sowetan“, der überwiegend von
fen Vertreter der Opposition. „Zahl das stellvertretend für die Gier des Staatschefs Schwarzen gelesen wird.
gestohlene Geld zurück!“ Zuma grinst, ki- und der herrschenden Elite, für Misswirt- Die Schlagzeile spiegelt die Empörung
chert, reißt Witze. „Manche können schaft, Korruption und schamlose Selbst- über einen Mann wider, der sein Land an
Nkandla nicht mal richtig aussprechen. bereicherung. Für die schwerste politische den Rand des Abgrunds regiert hat. Seit
He! He! He!“ Krise, seitdem Zuma vor sieben Jahren an dem Ende der Apartheid vor über zwei
92 DER SPIEGEL 31 / 2016
Ausland

Jahrzehnten stand Südafrika wirtschaftlich 783 Fällen angeklagt: Korruption, Betrug, risiko zu minimieren, erklärte er einem
nie schlechter da, die Arbeitslosenrate liegt Geldwäsche, Erpressung. Richter im April 2006. Zuma war damals
offiziell bei 26,7 Prozent, wird aber auf Er gibt keinen Kommentar dazu ab. Nur angeklagt wegen Vergewaltigung und wur-
über 40 Prozent geschätzt. In den Town- ein breites Grinsen, das die Bedeutung von de mangels Beweisen freigesprochen.
ships flammen fast jeden Tag gewalttätige Zumas Mittelnamen erahnen lässt – Ged- Drei Jahre später gewinnt JZ, wie er im
Proteste auf. Der Zorn richtet sich gegen leyihlekisa, frei übersetzt: „der, dessen Lä- Volksmund heißt, mit überwältigender
die Regierungspartei African National cheln die Gegner zermalmt“. Mehrheit die Wahlen, im Mai 2009 wird
Congress (ANC). Gegen Parteibonzen, die Trotz der massiven Anschuldigungen ist er als Präsident vereidigt. Vier Wochen
in Saus und Braus leben, während die er damals sehr beliebt im Volk. Ein leutse- vorher war die Korruptionsanklage gegen
Mehrheit des Volkes so arm ist wie eh und liger, jovialer Politiker, der vor allem in ihn niedergeschlagen worden. Zumas
je. Und gegen den unersättlichen Staats- den schwarzen Townships gut ankommt. Adjutanten hatten rechtzeitig dafür ge-
und Parteichef Zuma, der es ihnen vorlebt. Aber auch die weiße Wirtschaftselite sorgt, dass die ermittelnde Sondereinheit
Sogar altgediente ANC-Kämpen bekla- schätzt ihn als Mann des Ausgleichs. Er der Polizei aufgelöst und der General-
gen die moralische Verrottung der politi- würde dort anknüpfen, wo Mandela auf- staatsanwalt ausgetauscht wurde. Andern-
schen Elite und fordern die Abdankung gehört hatte: Jacob Zuma ist damals der falls wäre Zuma vermutlich nicht im Prä-
des Präsidenten. „Ich bitte dich, Genosse neue Hoffnungsträger Südafrikas nach den sidialamt gelandet, sondern im Gefängnis.
Zuma, tritt zurück“, schreibt Ahmed Ka- bleiernen Mbeki-Jahren. Mit seiner Amtsübernahme beginnt ein
thrada in einem offenen Brief. Er zählt zu Der Kandidat wirkt an jenem Apriltag beispielloser Niedergang Südafrikas.
den angesehensten Freiheitskämpfern ge- heiter und gelassen, er scherzt, umarmt ei- Schon bald zeigt sich, dass Zuma wenig
gen die Apartheid, er saß wie Zuma viele nen alten Anti-Apartheid-Kämpfer aus der Ahnung davon hat, wie man einen mo-
Jahre im Gefängnis. früheren DDR. Er spricht leise, sein Eng- dernen Staat führt. Bei seinen Reden hat
Die aufgebrachten Veteranen befürch-
ten, dass der lange unangreifbare ANC bei
den Kommunalwahlen empfindliche Ver-
luste erleiden könnte. Die Oppositionspar-
teien werden mit jeder Verfehlung des Par-
teichefs stärker. Die liberale Democratic
Alliance ist auch für die neue schwarze
Mittelschicht wählbar geworden, seit sie
von Mmusi Maimane angeführt wird, ei-
nem smarten schwarzen Politiker. Die
linksradikalen Economic Freedom Fighters
(EFF) ziehen das Heer der Armen und jun-
gen Arbeitslosen an, die sich um die Zu-
kunft betrogen fühlen. Als der EFF-Vorsit-

WALDO SWIEGERS / BLOOMBERG / GETTY IMAGES


zende Julius Malema noch ein Jungtalent
des ANC war, wollte er für sein Idol Zuma
gar töten. Heute wirft er ihm vor, die Idea-
le Nelson Mandelas verraten zu haben:
„Zuma ist nicht mehr unser Präsident …
wir werden ihn einsperren.“
Es ist nicht mehr auszuschließen, dass
der ANC die absolute Mehrheit in Groß-
städten wie Johannesburg oder Port Eliza-
beth verliert, entsprechend nervös sind die
Strategen der Partei. Sollten die Einbrüche Staatsoberhaupt Zuma: „Ich weiß nicht, wie ich mein Lachen stoppen kann“
zu groß sein, könnte das bisher Unvorstell-
bare eintreten: der Sturz Jacob Zumas. lisch ist weich, gefärbt vom Akzent seiner er Schwierigkeiten, komplexe Zahlen ab-
Ein regnerischer Apriltag im Jahr 2008. Volksgruppe, der Zulu. Zuma redet über zulesen. Der Mann, der als Junge Vieh ge-
Zuma empfängt zum Einzelgespräch in ei- Kriminalität, wachsende Armut, Massen- hütet und nur fünf Schuljahre absolviert
nem Berliner Hotel. Ein bulliger, glatzköp- arbeitslosigkeit, ohne etwas zu sagen. Al- hat, herrscht wie ein Stammeshäuptling:
figer Mann, über seinen gewaltigen Bauch lister Sparks, der große alte Mann des süd- aus dem Bauch, instinktsicher, mit einem
spannt sich ein dunkelgrauer Anzug. Er afrikanischen Journalismus, sagte über Feingespür für die Macht. Er hat Charisma,
tritt betont bescheiden auf, um seine Tri- Zuma: „Ich habe von ihm noch nie einen man spürt es, wenn er auf dem Land um-
umphgefühle zu verbergen. „Ich bin nur bedeutsamen Satz gehört.“ jubelt wird. Wenn er im Kriegsschmuck
eine Stimme im Chor einer großen Befrei- Nur in einer Sache äußert sich Zuma da- der Zulu auftritt oder seine Hymne aus
ungsbewegung“, sagt er. Vier Monate zu- mals konkret: Er wolle die Aidsstrategie der Kampfzeit anstimmt: „Umshini wami“
vor hatte Zuma beim Parteitag in Polok- der Regierung korrigieren. Sein Vorgänger – gib mir mein Maschinengewehr.
wane eine Palastrevolte angezettelt und Mbeki hatte die Existenz der tödlichen Vi- JZ kann tanzen, er kann singen, er leistet
den selbstherrlichen ANC-Vorsitzenden ren geleugnet. Der Kurswechsel im Kampf sich vier Ehefrauen. Bei vielen weißen Süd-
Thabo Mbeki gestürzt. Damit war Zumas gegen Aids sollte das größte Verdienst Prä- afrikanern löst er rassistische Vorurteile
Weg ins höchste Staatsamt frei. sident Zumas werden – und das einzige. aus; sie sehen in ihm den triebgesteuerten
Aber von Anfang an gab es Zweifel an Dennoch bleibt unvergessen, dass auch schwarzen Unhold, der das Land zugrunde
seiner moralischen Eignung, denn zu die- er lange Zeit zu den naiven Verharmlosern richtet, das sie noch immer als ihres anse-
sem Zeitpunkt lief ein Strafverfahren ge- der Seuche gehörte. Er würde nach dem hen. Zuma war mittellos, als er 1990 aus
gen ihn. Er war in ein dubioses Rüstungs- Geschlechtsverkehr mit einer HIV-positi- dem Exil in Sambia heimkehrte. Sein Geld-
geschäft der Regierung verwickelt und in ven Frau duschen, um das Ansteckungs- bedarf wuchs mit der Zahl seiner Frauen
DER SPIEGEL 31 / 2016 93
JOHN WESSELS / AFP
Demonstranten der oppositionellen Economic Freedom Fighters in Johannesburg: „Wir werden Zuma einsperren“

und Kinder, mittlerweile sind es wohl zwei zahlt, aber oft gar nicht ausgeführt werden. gen der Macht erlagen. Dennoch kämpft
Dutzend eheliche und nicht eheliche. Seit der Präsident im Amt ist, haben An- der 74-Jährige in diesen turbulenten Tagen
Nachdem bekannt wurde, dass Zuma gehörige seines Clans weit mehr als hun- wie ein alter Löwe. Wenn JZ hinausfährt
die Tochter eines guten Freundes ge- dert Firmen und Scheinfirmen gegründet. in die Townships, trägt er seine schwarz-
schwängert hatte, sagte ein ANC-Funktio- Auch auf der untersten Ebene, in den gelb-grüne Lederjacke, die Wahlkampfuni-
när: „Wir wissen nicht mehr, wie wir mit Lokalverwaltungen, füllen sich Funktio- form in den Farben der Partei. Er klettert
seinem sexuellen Appetit umgehen sollen.“ näre des ANC die Taschen. Politische Äm- auf die Ladeflächen von Lastwagen, be-
Der Funktionär wollte anonym bleiben, in ter öffnen den schnellsten Weg zum Wohl- schimpft Oppositionspolitiker als Schlan-
der Partei herrscht längst ein Klima der stand. Allein vor diesen Kommunalwahlen gen, tanzt, giggelt, lässt sich feiern. Und
Einschüchterung: Wer Kritik wagt oder wurden in der Verteilungsschlacht um Lis- verkündet, dass der ANC regieren werde,
den Weisungen des Parteigenerals Zuma tenplätze zwölf ANC-Kandidaten ermor- „bis Jesus Christus zurückkommt“.
und seiner Offiziere nicht folgt, wird als det. Zu den engen Vertrauten und Spon- Am Dienstag der vorvergangenen Wo-
Konterrevolutionär gebrandmarkt. soren des Präsidenten zählen auch die che tritt er in eQhudeni auf, einer Siedlung
Der ANC ist nach wie vor vom militäri- Gupta-Brüder, Großunternehmer aus In- in der Nähe seines Heimatdorfs Nkandla.
schen Geist einer Befreiungsbewegung dien, die in Südafrika durch ihre Verbin- Zuma preist die Errungenschaften seiner
durchdrungen. Vielen Funktionären geht dungen zur Staatsspitze steinreich gewor- Regierung, die staatlichen Sozialleistungen,
es allerdings längst um teure Autos, schöne den sind; sie sollen sogar bei der Besetzung die mehr als 17 Millionen der 53 Millionen
Villen, Flüge in der ersten Klasse, Luxus- höchster Regierungsämter mitreden. Südafrikaner erhalten: Kindergeld, Alters-
hotels, ein üppiges Leben. Der Politikwis- Im Dezember feuerte Zuma ohne Anga- rente, Zuschüsse für Aidswaisen, Ausbil-
senschaftler Prince Mashele vergleicht die be von Gründen den hochgelobten Finanz- dungsförderung. Für die meisten Haushalte
Auswüchse mit der Entwicklung in Kenia, minister Nhlanhla Nene; er habe sich nicht ist es das einzige Einkommen, es gibt kaum
wo die herrschende Klasse jeden Tag fetter den Profitinteressen der Guptas und ande- Arbeit in dieser rückständigen Region.
geworden sei und den Staat ruiniert habe. rer Protegés beugen wollen, heißt es. Über Im Publikum sitzen viele alte Menschen,
„Wir sind jetzt ein afrikanisches Land, das Nacht stürzte die nationale Währung, der sie sind arm, man sieht es an ihren Klei-
haben wir Zuma zu verdanken.“ Rand, ab, die Johannesburger Börse notier- dern und in ihren Gesichtern. Sie haben
Doch Zuma herrscht im Moment unan- te Milliardenverluste. Ratingagenturen er- sich versammelt, um ihrem Wohltäter zu
gefochten weiter. Der ANC hält die abso- wogen, Südafrika auf „Junk-Status“ herab- danken. Msholozi rufen sie ihn hier, nach
lute Mehrheit im Parlament, der große Vor- zustufen. Zuma schien das nicht zu küm- seinem Clannamen. Sie sind stolz auf den
sitzende kann sich auf die unterwürfigen mern. Er lachte und ging zum Golfspielen. „Vater der Nation“, der aus ihrer Gegend
Abgeordneten verlassen. Überdies hat er Nkandla? War da was? Trotz des vernich- stammt. Zuma genießt die Ovationen, an
die Schlüsselpositionen im Staatsapparat tenden Urteils der Verfassungsrichter steht diesem Ort ist niemand, der an ihm zwei-
mit kreuzloyalen Kadern besetzt, viele ge- der Parteivorstand hinter Jacob Zuma, zäh- felt, und jeder nimmt seine Kernbotschaft
hören zu seinem alten Netzwerk, das er neknirschend, aber geschlossen. Eine Mi- mit nach Hause: Vergesst an der Wahlurne
als ANC-Geheimdienstchef während des nisterin nannte freimütig den Grund für die nie, wer euch befreit hat. Am Ende dürfen
Befreiungskampfs geknüpft hatte. unerschütterliche Loyalität: „Wir alle haben alle ein Stück von dem riesigen Kuchen
In einem mafiösen Patronagegeflecht Leichen im Keller.“ Alle wissen: Stürzt der essen, den der Präsident angeschnitten hat.
dürfen Zumas Günstlinge die öffentlichen Kleptokrat an der Spitze, fallen auch sie. Dann gehen sie zurück in ihre Hütten,
Haushalte plündern und Staatsunterneh- Jacob Zuma reiht sich ein in die Riege und Zuma lässt sich zu seinem Palast chauf-
men kannibalisieren, Bahn, Post, die na- der afrikanischen Führer, die als Hoff- fieren. Sie werden ihn wieder wählen, die
tionale Fluglinie. Besonders lukrativ sind nungsträger aufbrachen, am eigenen Un- Armen von Nkandla. Bartholomäus Grill
milliardenschwere Staatsaufträge, die be- vermögen scheiterten und den Versuchun- Mail: bartholomaeus.grill@spiegel.de

94 DER SPIEGEL 31 / 2016


Sport
Doping
Die DDR lebt weiter
Oral-Turinabol war einst das
Zaubermittel der als „Sport-
wunderland“ gepriesenen
DDR. Das Anabolikum mäs-
tete viele Tausend Athleten
zu Siegern – und erlebt mehr
als zwei Jahrzehnte nach
dem Mauerfall offenbar eine
Renaissance. Der Kanadier
Richard McLaren, der im Auf-
trag der Wada vorige Woche
seinen Report über das
Staatsdoping in Russland vor-
legte, resümiert, dass sich
auch dort viele Athleten mit
Oral-Turinabol gedopt hatten.
Kein anderes Anabolikum
fand sich häufiger in ver-
tuschten Urinproben als das
ehemalige DDR-Hausmittel.
Woher der Starkmacher
kommt, klärt der McLaren-
Report nicht auf. Der Arznei-
mittelproduzent Jenapharm
hat die Herstellung 1994 ein-
gestellt. „Die noch vorhan-
denen Lagerbestände wurden
vernichtet“, sagt eine Spre-
cherin des inzwischen im
Bayer-Konzern aufgegange-
nen Pharmaherstellers aus
Thüringen. Oral-Turinabol ist
ein sehr wirksamer Kraftma-
cher mit erheblichen Neben-

SIPA PRESS / ACTION PRESS


wirkungen. Über 200 DDR-
Athleten sind als Dopingopfer
staatlich anerkannt, etliche
sind an den Gesundheitsschä-
den gestorben. Dennoch fas- Ortiz
ziniert der in Oral-Turinabol
enthaltene Wirkstoff De-
hydrochlormethyltestosteron Extremsport sieben Jahren. Kajakfahrer viel Vorsicht sind die Fälle
weiterhin Athleten. In der
Untergrundliteratur gibt es „Etwas sind schon ähnlich hohe
Wasserfälle hinuntergefah-
im Kajak zu bezwingen.
SPIEGEL: Woran sind Ihre
Hinweise auf Hersteller in
den Niederlanden, der Türkei Großartiges“ ren, aber die schiere Größe
und die riesigen Wassermas-
Pläne gescheitert?
Ortiz: An den Niagarafällen
und Thailand. Allerdings Der Mexikaner Rafael Ortiz, 29, sen machen die Niagarafälle betrifft die Gefahr nicht nur
dürften diese illegalen Labo- wollte die Niagarafälle in einem zu etwas ganz Besonderem. mich. Man braucht ein
re kaum in der Lage sein, die Kajak bezwingen. Ein Film hält SPIEGEL: Das Risiko ist Team, um die Abfahrt zu
enorme Nachfrage aus Russ- seine jahrelangen Vorbereitun- enorm hoch, der US-Ameri- schaffen. Erst spät haben
land zu befriedigen. „Es muss gen fest. Doch kurz bevor er kaner Jessie Sharp starb wir herausgefunden, dass
irgendwo eine größere Pro- die Abfahrt wagen sollte, sag- 1990 bei seinem Versuch. meine Freunde wegen fahr-
duktionsstätte geben, die te er sie ab. Können Sie es nachvollzie- lässiger Tötung ins Gefäng-
Oral-Turinabol mit dem Wis- hen, wenn man Ihr Vorha- nis kommen könnten, wenn
sen aus der DDR herstellt“, SPIEGEL: Was ist so faszinie- ben für lebensmüde hält? ich bei dem Versuch um-
sagt der Molekularbiologe rend an der Idee, sich in Ortiz: Es ist ein verrücktes komme. Eine Abfahrt mit
und Dopingkenner Werner den Wassermassen der Projekt, und ich kann ver- dem Kajak ist illegal. Das
Franke. Eine Sprecherin Niagarafälle in einem Kajak stehen, dass Leute mich für wog bei meiner Entschei-
von Jenapharm teilt mit, über 50 Meter in die Tiefe dumm halten. Vor allem die dung sehr schwer. Ich wurde
dass der Betrieb selbst „keine zu stürzen? Felsen am Fuß der Wasser- reifer und erkannte die
Know-how-Transfers oder Ortiz: Der Gedanke, hier fälle machen es gefährlich. möglichen negativen Folgen.
Schulungen“ durchgeführt etwas Großartiges zu errei- Trotzdem bin ich mir sicher: Also habe ich von meinem
habe. pur, ulu chen, fesselt mich seit Mit guter Vorbereitung und Vorhaben abgesehen. red

DER SPIEGEL 31 / 2016 95


Der Unerschrockene
Handball Als Bundestrainer hat der Isländer Dagur Sigurdsson aus einer
desolaten deutschen Nationalmannschaft den Europameister
geformt – und einen Olympiafavoriten. Zeit für einen Heimatbesuch.

D
er Weg zum wichtigsten Mann des entlang, es geht durch Spitzkehren und Dagur Sigurdsson verbringt von Berufs
deutschen Handballs führt, von über Schotterstraßen, und nach mehr als wegen viel Zeit in Hallen, in denen es nach
Reykjavík aus, vorbei an Ortschaf- fünf Stunden Autofahrt ist man endlich da, Schweiß und Stress riecht. Er runzelt dann
ten wie Mosfellsbær, Borgarnes, Bifröst am Arsch der Heide oder auch: am Ziel. die Stirn, reißt den Mund auf und redet in
und Búdardalur, durch den Tunnel Hvalf- Vor einer Hütte steht ein Mann in Holz- den Spielpausen lautstark auf seine Mann-
jardargöng, über die sich dahinziehende fällerhemd und mit Farbe bekleckster schaft ein. Hier dagegen wiegen das hohe
Landstraße Vestfjardarvegur, an vereinzel- Hose. Man sieht ihn von Weitem. Er winkt Weidegras und die Mähnen der Ponys im
ten Häusern und erhabenen Bergketten und lächelt. Wind, der Blick geht hinaus über den wei-
96 DER SPIEGEL 31 / 2016
Sport
Deutsche Nationalspieler (in Weiß) bei der EM*
Euphorisch bis zur Rauschhaftigkeit

menziehen wird, bevor sein Dasein wieder später ging er nach Japan, Österreich und
auf eine Sache ausgerichtet sein wird, dies- wieder nach Deutschland, als Spieler, Spie-
mal Olympia, Rio de Janeiro, wenn also lertrainer und schließlich als Trainer. Zwi-
das Leben in der Sporthalle wieder beginnt. schendurch kehrte er für zwei Jahre nach
Sigurdsson lebt die meiste Zeit in Berlin. Reykjavík zurück, um bei seinem alten
Jetzt ist er für eine Woche hierhergereist, Sportklub die Geschäfte zu führen. Er hielt
um gemeinsam mit Ingibjörg Hand ans sein Leben in Bewegung, ohne dabei zu
Haus zu legen, Fensterrahmen zu streichen, hetzen. Er nahm Gelegenheiten wahr.
die Dielen der Terrasse abzuschlei- „Ich habe keinen Masterplan“,
fen und ins eisige Atlantikwasser sagt Sigurdsson, behaglich in seiner
zu springen. „Es macht Spaß“, sagt Hütte sitzend, ein Schmalzgebäck
er. „Und es härtet uns ab.“ naschend. Sigurdsson ist, wie seine
Trotzdem klappt er jeden Tag Frau auch, ein angenehmer, un-
den Laptop auf, um Daten zu che- aufgeregter Mensch. Worte, die er
cken und nachzuprüfen, wie sich häufig verwendet, lauten: normal,
seine Nationalspieler fit halten. An- probieren, mal gucken. Das klingt
dreas Wolff etwa, der Torwart. gewöhnlich für jemanden, der ein
„Der Wolff ist gestern elf Kilometer gelau- ungewöhnliches Leben führt, der auf sei-
fen“, sagt Sigurdsson und schmunzelt. Was nem Weg durch die Welt einer der besten
er damit meint: Täuscht euch nicht, auch Handballtrainer dieser Welt geworden ist,
von der entlegensten Prärie aus behalte ich über sich allerdings behauptet, „kein Hand-
die Dinge im Blick. ballfreak“ zu sein. Dem Ballwerfen nicht
Ende Januar hat Sigurdsson mit der genug ist. Es nie war.
Mannschaft ein Stück deutsche Sportge- Nach drei Jahren als Spieler in der Bun-
schichte geschrieben, als sie überraschend desliga war er, ein Beispiel, von Wuppertal
den Europameistertitel gewannen und ei- zu Wakunaga Hiroshima gewechselt. Da
nen Freudentaumel auslösten. Eine Ge- waren, einerseits, Knieprobleme, die ihn
meinschaft junger, bis dato unbekannter erkennen ließen, dass er den Belastungen
Spieler, euphorisch bis zur Rauschhaftig- des Spitzenhandballs nicht mehr würde
keit, vollbrachte etwas, was kaum jemand standhalten können. Andererseits, sagt er,
erwartet hatte – das war ihre Story. Bis zu „war da die Neugierde“. Auf Japan. Mit
17 Millionen Menschen schauten das EM- damals zwei kleinen Kindern zogen die Si-
Finale im deutschen Fernsehen, das Land gurdssons hin. Schwierig? „Nee, würde ich
entdeckte den Handball wieder. nicht sagen. Wir haben uns dort sehr wohl-
Sigurdsson war Kopf und Seele dieses gefühlt. Die Saison war viel kürzer. Wir
Erfolgs. Er hatte seinem Team eine Spiel- konnten die Zeit nutzen, um zu reisen.
idee und viel Selbstvertrauen vermittelt. Wir waren viel unterwegs in Asien.“
Und es vertraute dem Trainer. Was er ih- Ingibjörg: „Thailand, Malaysia.“
nen gesagt habe, so erzählten es viele Spie- Dagur: „Bali.“
ler, hätten sie bedingungslos geglaubt. In Viele Isländer zieht es in die Welt hinaus.
Rio de Janeiro zählen sie jetzt zu den Fa- „Das hier ist eine Insel im Atlantik, und
voriten auf Gold. im Winter ist es dunkel“, sagt er. „Da
Als Sigurdsson die Mannschaft vor zwei kommst du mit deinen Freunden auf die
IMAGO / NEWSPIX

Jahren übernahm, lag der deutsche Hand- Idee: Lass uns mal woanders gucken. Da
ball, was das Nationalteam betraf, am Bo-
den. Nach dem Weltmeistertitel von 2007,
errungen im eigenen Land, war es bergab
gegangen. Die Ära von Meistertrainer
ten Fjord, die Natur ist groß und der Heiner Brand war quälend langsam und
Mensch klein. Das nächste Dorf liegt zehn spät zu Ende gegangen, unter dem über-
Kilometer entfernt. forderten Nachfolger Martin Heuberger
Vor gut einem halben Jahr hat er dieses verpasste es die Auswahl, sich für Olympia,
Stück Wildnis im Norden Islands entdeckt EM oder WM zu qualifizieren. Sigurdsson
und gekauft, die Eltern seiner Frau Ingibjörg brachte neuen Schwung. In der Bundesliga
leben in der Nähe. „Zwei Fjorde weiter“, hatte er bei den Füchsen Berlin erstklassige
sagt sie. Das Land der Sigurdssons umfasst Arbeit geleistet, indem er die besten Spie-
1000 Hektar und drei Kilometer Strand. Und ler aus dem Vereinsnachwuchs geschickt
drauf steht nichts weiter als diese Holzhütte mit einigen Routiniers kombinierte.
ohne Stromanschluss. Ein Raum mit Dop- Allein schon die Berufung eines Typen
ERIK EGGERS / DER SPIEGEL

pelbett, Spüle, Campingkocher, tropfendem wie Sigurdsson war ein Zeichen. Brand
Wasserhahn, Regal in der Ecke, an dem eine und Heuberger stammen aus Gummers-
Gitarre lehnt. Viel mehr gibt es nicht. bach und Schutterwald und blieben der
„Wir wollten das so haben“, sagt Sigurds- Provinz treu. Der Isländer Sigurdsson da-
son, streckt sich im Sessel aus und schaut gegen hatte mit 23 Jahren seine Insel ver-
aus dem Fenster. „So einfach wie möglich.“ lassen, um in der Bundesliga zu spielen,
Es ist Mitte Juni, zwei Wochen bevor er Hüttenbesitzer Sigurdsson
die deutsche Handballmannschaft zusam- * Am 29. Januar im Halbfinale gegen Norwegen. „So einfach wie möglich“

DER SPIEGEL 31 / 2016 97


machst du schnell fünf, sechs Reisen im besprochen. Sigurdsson fasst sich lieber
Jahr. Einfach um wegzukommen.“ kurz. Er könne nicht ständig auf sie ein-
„Und man kann auch länger von hier reden, erklärt er, „weil die Informationen
weggehen, ohne fürchten zu müssen, kei- einfach durchgehen. Lieber weniger sagen.
nen Platz mehr zu kriegen, wenn man zu- Die Jungs wissen dann, dass sie das ernst
rückkehrt“, sagt Ingibjörg. „Man kriegt im- nehmen müssen“.
mer Arbeit. Die Leute haben keine Angst, Sein Vertrag beim DHB läuft noch bis
etwas auszuprobieren. Wenn etwas nicht 2020, er ist, mit 43, ein noch eher junger
funktioniert, macht man etwas anderes.“ Trainer, dessen Ehrgeiz ungestillt geblie-
Elf Jahre lang lebten sie außerhalb Is- ben ist. Aber eines Tages würden Ingibjörg
lands, dann kamen sie wieder. Sigurdsson und er nach Island zurückkehren, sagt Si-
fing als Geschäftsführer bei Valur Reykja- gurdsson, während er in der Hütte sitzt,
vík an. Er liebäugelte damit, in der Bun- Kaffeepott in der Hand, Farbkruste an den
desliga eine Trainerkarriere zu starten, hat- Fingern. „Wir haben das hier eigentlich für
te jedoch wenig Lust, sich von Verein zu die Zukunft gekauft. Dann werden wir es
Verein hochzudienen, „ein Dorf nach dem genießen. Momentan ist es mehr Arbeit.“
anderen, mit drei Kindern. Wir hatten aber Sigurdssons Eltern leben in Island, die
keinen Bock, oft umzuziehen“. Entweder Brüder auch, mit einem betreibt er einen
sollte es ein Topklub sein oder einer aus Autoteilehandel. Und in der Nähe des Ha-
einer Großstadt. Sonst würden sie bleiben. fens von Reykjavík steht das Kex, eine ehe-
Dann kam der Anruf aus Berlin. malige Keksfabrik, deren Geschichte viel

ANNEGRET HILSE / IMAGO


Große Stadt, spannende Stadt. Die Füch- erzählt über die Unerschrockenheit der Is-
se waren damals, 2009, keine Spitzenmann- länder. Und über Sigurdssons Kreativität.
schaft, konnten es aber werden. Die Ju- 2008, kurz nach Ausbruch der Finanz-
gendarbeit war hervorragend, das Projekt krise, die den Inselstaat besonders hart er-
bot eine Perspektive, wenn man etwas Ge- wischt hatte, entdeckte jemand aus seinem
duld aufbringen wollte. Es war einen Ver- Europameister Sigurdsson Freundeskreis das brachliegende Gebäude.
such wert. Familie Sigurdsson zog um. Kopf und Seele des Erfolgs Zusammen wollten sie daraus etwas Neues
Die Geschäftsstelle der Füchse liegt am machen, etwas, bei dem sich Spaß, Ge-
Gendarmenmarkt, mittenmang, totales Ge- nerung des Umfeldes, rein in die Groß- schäft und Leidenschaft verbanden. Zu
genprogramm zum isländischen Fjord. Bob stadt, in den Mainstream, schöne Hotels, überschaubaren Kosten, Geld gab es da-
Hanning tritt ins Zimmer, noch so ein Kon- auf junge Spieler setzen.“ mals bei keiner Bank. Ein Hotel? Nicht zu
trapunkt. Wo Sigurdsson leise ist, ist Han- Einmal, bei einem Trainingslager in Ber- finanzieren, die nötige Vollsanierung. Ein
ning laut. Dessen Energie und Gestaltungs- lin, versammelte Sigurdsson die Mann- Hostel, mit Bar und Küche? Machbar.
wille haben aus den Füchsen, einem Stadt- schaft am späten Abend vor der zentral ge- Einer der Freunde, der in der Krise auf
teilverein, einen Hauptstadtklub geformt. legenen Unterkunft und lief mit den Spie- einmal viel Zeit hatte, bekam den Auftrag,
Sigurdsson kann man nicht nicht mögen, lern im Dunkeln an Regierungsbauten und nach gebrauchten Möbeln und Einrich-
den Berserker Hanning schon. Botschaften vorbei, angeleitet von einem tungsgegenständen zu suchen. Das Haus
„Zwei extrem starke Persönlichkeiten mitjoggenden Stadtführer. Ein anderes Mal sollte einen rauen, warmen Charme be-
treffen aufeinander.“ Sagt wer? Hanning. stand Boxen auf dem Programm, in einem kommen. „Wir wollten diese Atmosphäre.
Er ahnt Fragen, bevor man sie gestellt alten Gym prügelten die Spieler auf Leder- Converse-Schuhe, Bob-Dylan-Platten, al-
hat. Ein kurzer irritierter Blick auf seinen säcke ein und lernten Schlagtechniken. tes Gym“, erzählt Sigurdsson. Jetzt hängen
Kopf reicht aus, und er erzählt davon, dass Hinterher gab es beim Grillabend frische Landkarten und Schwarz-Weiß-Bilder an
er sich Haare vom Hinterkopf aufs Haupt Burger. „Konzentrierte Lockerheit“ zeich- den Wänden, in Vitrinen liegen Baseball-
habe transplantieren lassen. Und wie das ne Sigurdssons Art aus, eine Mannschaft handschuhe neben uralten Rollschuhen, in
ablief. Schwer, sich vorzustellen, wie Han- zu führen, sagt Hanning. „Er ist unheimlich Regalen lehnen Bücher an Büsten, Tisch-
ning und Sigurdsson – dem Haarwuchs wissbegierig. Und er hat keine Angst.“ platten liegen auf Nähmaschinengestellen.
und Frisur erkennbar schnuppe sind – mit- Die beiden Männer verbindet, dass sie „Alles secondhand. Bis auf die Betten.“
einander klarkommen. Tun sie aber. begriffen haben, wie sehr Veränderung Sigurdsson selbst fand in Berlin einen
Bis heute ist das so geblieben, auch Kräfte freizusetzen vermag. Dass die neue alten Lederboxsack. Einen Teil des Par-
wenn Sigurdsson nicht mehr für die Füchse Generation der Handballprofis einen an- ketts staubte er bei seinem Jugendverein
arbeitet. Dafür arbeitet Hanning inzwi- deren Zugang braucht als jene Haudegen ab, der stammt aus der Sporthalle, Sigurds-
schen für den Deutschen Handballbund, von früher, denen der Muff der Sporthalle son hatte noch auf diesem Bodenbelag
den DHB. Seit September 2013 ist er dort, Luft genug war. Und dass Ziele hochge- Handball spielen gelernt. Außerdem wur-
neben dem Füchse-Job, Vizepräsident, zu- steckt sein sollten. Angestrebt wird Gold, de Holz von Europaletten zu Dielen ver-
ständig für den Leistungssport. Er fädelte nicht unbedingt schon in Rio, spätestens arbeitet. Materialkosten: „Null Euro.“
es ein, dass Sigurdsson als Bundestrainer aber 2020 in Tokio. „Ich möchte den Olym- Es gibt Doppelzimmer mit eigenem WC,
angeheuert hat. piasieg“, sagt Hanning. Sigurdsson will das aber auch enge Schlafräume mit Etagen-
„Die Zeit war reif. Wir brauchten etwas auch. Er sagt das bloß nicht so laut. betten und Gemeinschaftsbad auf dem
Neues, Unverbrauchtes, eine neue Gedan- „Eines ist jedenfalls klar“, meint Han- Gang. Sigurdsson quartierte die National-
kenwelt“, sagt Hanning. „Die alte Heran- ning, „Dagur wird nicht daran scheitern, mannschaft im Kex ein, als sie zwei Län-
gehensweise war: Sportschule, dreimal am dass er zu viel kommuniziert.“ derspiele in Reykjavík absolvierte. Kom-
Tag Training, drei Stunden Videostudium, Nationalspieler absolvieren fast 100 Par- fort war tabu. Statt der besseren Zimmer
Riesenstab an Ärzten und Physiotherapeu- tien in einer Saison – Bundesliga, Pokal teilte der Trainer seinen Spielern die spar-
ten. Die neue ist: Alle freuen sich auf die und Europacup mit dem Verein, dazu Län- tanischen Schlafräume zu.
Nationalmannschaft, mehr Verantwortung derspiele und Trainingslehrgänge mit der Erik Eggers, Detlef Hacke
für die Spieler, einmal Training, Verklei- DHB-Auswahl. Dabei wird dauernd etwas Twitter: @DetlefHacke

98 DER SPIEGEL 31 / 2016


Sport

Öliger Weg
Teil des russischen Dopingsystems gewe- auszuschließen. Es wäre ein Signal gewe-
sen sei. Aber auf die Tribüne darf sie. Bach sen für einen saubereren Sport. Es hätte
wollte ihre Anwesenheit auf eine Geste der „Entschlossenheit“ und „Null-Tole-
reduzieren. Die hätte ihm mehr genutzt ranz-Politik“ entsprochen, die Bach pro-
Olympia Wofür steht IOC- als Stepanowa. Großherzigkeit zu demons- pagiert. Russland hatte eine rote Linie
trieren, das war das Maximum, was er sich überschritten. „Eine neue, schockierende
Präsident Thomas Bach? und seinem Amt als Gottvater der olym- Dimension des Dopings mit beispielloser
Die Dopingaffäre um Russland pischen Familie zugestanden hätte. krimineller Energie“, schrieb Bach noch
zeigt: für den Zynismus Der Fall Russland ist bei Weitem nicht Mitte Mai in einem Beitrag für die „FAZ“.
der erste Skandal in der Geschichte des Doch als es um Konsequenzen ging, ent-
seines Amtes. IOC, aber er ist die erste Bewährungsprobe schied er sich für „eine ausgewogene Lö-
in Bachs Präsidentschaft. Jahrzehntelang sung“. Als Chef eines Verbandes, der Wer-
Wahrscheinlich, ja, ganz si- hatte der ehemalige Florettfechter auf die- te wie Fairness und Menschlichkeit wie
cher hielt Dr. Thomas Bach ses Amt hingearbeitet, schon als aktiver eine Monstranz vor sich herträgt, wählte
es für eine angemessene Athlet glitt er hinein in die Funktionärs- Bach den faulen Kompromiss. Russland ist
Idee, Julija Stepanowa und welt, gelangte von Posten zu Posten, in mit einem großen Team in Rio dabei. Bach
deren Mann als Gäste des Kommissionen, Vorstände und Exekutiven. kaschiert das als Gerechtigkeit gegenüber
Komitees nach Rio de Ein langer und öliger Weg, der ihn im Sep- jenen russischen Athleten, die nicht Teil
Janeiro einzuladen. Ein tember 2013 ans Ziel führte. des Dopingsystems gewesen seien. Seine
paar Tage Olympia von der Solch einen Weg geht niemand, ohne Karriere hing an dieser Entscheidung. Hät-
schönsten Seite, schickes Hotel, Fahrser- Bündnisse aufzubauen, Abhängigkeiten te er anders gehandelt, dann hätte er sich
vice zum Stadion, bester Blick auf die einzugehen, Königsmacher zu gewinnen im IOC angreifbar gemacht und womög-
Laufbahn. Und das alles für lau. Das IOC und befangen zu werden. Als Wirtschafts- lich Kräfte freigesetzt, die er nicht mehr
lässt sich bei so was nicht lumpen. anwalt besitzt Bach beste Kontakte nach hätte kontrollieren können. Um in dieser
Wenn man sich, wie Bach, unter ande- Arabien, zu seinen einflussreichsten Ver- Parallelwelt an der Spitze zu überleben,
rem Träger des ukrainischen Ordens „Ja- bündeten im IOC gehört der kuwaitische zog er den Zynismus seines Amtes vor.
roslaw der Weise“, zwischen Empfängen, Scheich Ahmad al-Fahad al-Sabah. Es war Bachs hervorstechende Eigenschaft ist
Ehrenlogen, Präsidentensuiten und First- für die Wahl auch kein Schaden für Bach, die Unschärfe. Es ist schwer zu erkennen,
Class-Sitzen bewegt, dann könnte man tat- dass zu seinen Gönnern Wladimir Putin wofür genau er steht. Auch jetzt wieder.
sächlich auf diese Idee kommen. Wenn zählt. Russland Präsident hat sportlichen Die Russen nicht auszuschließen? Sei
man, wie die Stepanows, aus der Heimat Erfolg zum Staatsziel erhoben und ver- eine fast einstimmige Entscheidung der
geflohen ist und sich in billigen Absteigen steht sich bestens mit Bach. IOC-Exekutive. Stepanowa darf nicht lau-
versteckt gehalten hat, wenn man seine Als nun bewiesen war, dass Doping in fen? Hat ihm die IOC-Ethikkommission so
Existenz drangegeben hat, um als Whistle- Russland von staatlichen Stellen organi- empfohlen. Welche russischen Athleten
blower ein staatliches Dopingsystem bloß- siert und gedeckt wird, positive Doping- werden für Rio gesperrt? Müssen die Ver-
zustellen, dann klingt solch eine Einladung tests verschwinden und der Geheimdienst bände der jeweiligen Sportarten festlegen.
herabwürdigend. Sie sagten ab. bei den Winterspielen in Sotschi dreckige Wohin das führt, zeigt sich schnell. Der
Stepanowa darf nicht als 800-Meter-Läu- gegen saubere Proben austauschte, stand Weltverband der Fechter wird von dem
ferin in Rio starten. Bachs IOC lässt sie Bach vor der heiklen Entscheidung, Russ- russischen Oligarchen Alischer Usmanow
aus „ethischen Gründen“ nicht. Weil sie lands Athleten von den Sommerspielen geführt – Startrecht für alle erteilt. Und
sogar wenn ein Verband gewillt ist, Athle-
ten die Teilnahme zu verweigern, muss er
mögliche Folgen für sich selbst berücksich-
tigen. Für Rio abgewiesene Sportler könn-
ten vor Gericht Schadensersatz fordern.
Vom Verband, nicht vom IOC. Das ist fein
raus, denn es braucht die einzelnen Ent-
scheidungen nicht zu verantworten. Bach
hat das juristische und finanzielle Risiko
abgewälzt.
Eine Woche vor Beginn der Spiele ist er
nach Rio gereist, er braucht jetzt die schö-
nen Bilder der Vorfreude auf die Spiele.
Bach spielt auf Zeit und Vergesslichkeit.
Vor allem aus Deutschland hallt die Kritik
nach. Am persönlichsten wurde Diskus-
Olympiasieger Robert Harting, der dem
IOC-Chef vorwirft, „Teil des Dopingsys-
tems“ zu sein, er schäme sich für ihn.
Bachs Ideale, sofern er jemals welche
besessen hat, sind auf der Strecke geblie-
ANDREJ ISAKOVIC / AFP

ben. Er ist wie ein ehrgeiziger Athlet, der


sich entschieden hat, dass der persönliche
Erfolg besondere Mittel erfordert. Bach ist
gedopt, vom Steroid seines Amtes, vom
Amphetamin seiner Karriere, vom Epo sei-
Verbündete Bach, Putin in Sotschi 2014: „Beispiellose kriminelle Energie“ ner selbst. Detlef Hacke

DER SPIEGEL 31 / 2016 99


„Pausenlos am Limit“

KATRIN BINNER / DER SPIEGEL


Turnen Fabian Hambüchen, 28, über seinen geschundenen Körper, waghalsige Reckübungen
und seine Spitznamen, die er nicht mehr hören kann

SPIEGEL: Herr Hambüchen, werde langsamer im Training, brauche län- auf ein Regal hochzustellen, aber es ging
wie viele Jahre Turnen auf gere Pausen, solche Sachen eben. nicht. Ich habe meinen Arm nicht mehr
höchstem Niveau hält ein SPIEGEL: Im Februar hatten Sie einen Unfall über den Kopf bekommen.
Körper aus? im Training. Bei einer Drehung am Reck SPIEGEL: An Training war in dieser Zeit
Hambüchen: Lassen Sie verfehlten Sie die Stange, Sie stürzten und wahrscheinlich nicht zu denken.
mich mal kurz rechnen: verletzten sich an der Schulter. Hambüchen: Nee, ich habe es probiert, aber
Also, ich habe als 15-Jähri- Hambüchen: Das war wirklich ätzend. Ich an die Geräte konnte ich nicht mehr. Egal
ger bei meiner ersten Welt- bin nachts ständig aufgewacht, weil meine was du für Turnelemente machst, die
meisterschaft geturnt, das ist 13 Jahre her. Schulter so wehtat. Manchmal hatte ich Schulter ist ja immer mit im Spiel. Ich habe
Eine brutal lange Zeit. sogar Schmerzen beim Autofahren, wenn mich nur ein bisschen gedehnt und bin
SPIEGEL: Ihr Vater Wolfgang, der auch Ihr ich schalten musste. Im Frühjahr zog ich aufs Trampolin.
Trainer ist, hat mal gesagt, dass ein Körper zusammen mit meiner Freundin um. Die SPIEGEL: Sie konnten sich kaum bewegen
nach spätestens zehn Jahren Hochleis- meiste Arbeit blieb leider an ihr hängen. und wussten, dass bald die Olympischen
tungsturnen fertig sei. SPIEGEL: Sie haben Muskelpakete wie Pop- Spiele in Rio de Janeiro beginnen. War
Hambüchen: Echt? Da bin ich ja schon lange eye und lassen Ihre Freundin beim Umzug das die schlimmste Zeit Ihrer Karriere?
drüber. Leider merke ich das auch. die Kisten schleppen? Hambüchen: Definitiv. Mir selbst fiel das
SPIEGEL: Woran? Hambüchen: Es gab da diesen ganz leichten gar nicht so auf, aber meine Freundin sagt,
Hambüchen: Mein Rücken tut weh, wenn Karton, da waren nur ein paar Wettkampf- ich sei sehr nachdenklich und introvertiert
ich mal zu lange im Bett gelegen bin. Ich trikots von mir drin. Ich habe versucht, ihn gewesen. Ich hatte immer einen Plan in
100 DER SPIEGEL 31 / 2016
Sport

meinem Leben, einen Trainingsplan, einen SPIEGEL: Turnen Sie inzwischen mit mehr fie veröffentlicht. Viele sind darüber her-
Wettkampfkalender. Plötzlich hing ich in Risiko? gefallen, ich sage: Das war eine tolle Sache.
der Schwebe, ich wusste nicht: Haut das Hambüchen: Der Niederländer Epke Zon- SPIEGEL: Man liest darin, wie Sie von Ihrer
noch hin mit Rio? Oder ist das jetzt mein derland ist in London Olympiasieger am Mutter beim Sex erwischt wurden.
Karriereende? Beende ich meine Laufbahn Reck geworden, weil er es schaffte, drei Hambüchen: Kann passieren.
heimlich durch die Hintertüre? Flugelemente direkt nacheinander zu tur- SPIEGEL: Ist das nicht unvorsichtig?
SPIEGEL: In Ihrer Schulter war eine Sehne nen. Ich habe das vor zwei Jahren bei der Hambüchen: Was jetzt? Sich beim Sex von
angerissen … Europameisterschaft auch probiert. Nach seiner Mutter erwischen zu lassen oder das
Hambüchen: … was heißt: war? Sie ist noch dem ersten Flug habe ich die Stange nicht in einem Buch aufzuschreiben?
immer angerissen. richtig zu greifen bekommen, mich hat es SPIEGEL: Wir meinen eher das Buch.
SPIEGEL: Sie sind erst kürzlich deutscher auf die Fresse gelegt. Seitdem ist mir klar, Hambüchen: Sie müssen differenzieren. Bei
Meister am Reck und am Boden geworden. dass ich über die perfekte Ausführung ge- meinen Homestorys, bei meinem Buch
Wir dachten, Sie seien wieder gesund? winnen will. Ich werde nicht mehr auf Teu- gebe ich den Leuten bewusst etwas. Es ist
Hambüchen: Fit bin ich ja auch wieder. Se- fel komm raus etwas riskieren. alles vorher bis ins Detail abgesprochen,
hen Sie: In meiner Schulter ist die Supra- SPIEGEL: 2004 in Athen starteten Sie bei Ih- und ich weiß genau, was das auslösen kann
spinatussehne angerissen, die Diagnose ren ersten Olympischen Spielen. Sie waren und wie ich damit umgehe. Ich bin dann
habe ich aber schon vor vier Jahren be- 16 Jahre alt, im Reckfinale wurden Sie vorbereitet. Wenn mir aber bei einem
kommen. Der Riss ist nicht das Problem, Siebter, mehr als neun Millionen Men- Event irgendjemand ein Mikro unter die
sondern die Entzündung drum herum, die schen in Deutschland saßen am Fernseher. Nase hält und möchte, dass ich zu einem
jetzt aufgetreten ist. Das hat die Schmer- Wie schauen Sie auf diese Zeit zurück? Thema etwas sage, von dem ich total über-
zen verursacht. Sehnen und Bänder heilen Hambüchen: Das war aufregend, aber auch rascht bin, dann passe ich extrem auf. In
nicht von allein, solche Verletzungen anstrengend. In Athen hatte ich über 70 In- diesem Fall habe ich es nicht in der eigenen
musst du operieren lassen. Das wollte ich terviews in einer Woche. Das war so stres- Hand, was daraus gemacht wird.
aber nicht, weil ich sonst vor Rio noch sig, dass ich mich irgendwann übergeben SPIEGEL: Den Hambüchens scheint es wich-
mehr Zeit verloren hätte. Also haben wir musste. Ich habe aus Athen meinen Mana- tig zu sein, immer alles in der eigenen
die Entzündung mit einer Strahlentherapie ger in Deutschland angerufen, er kam und Hand zu haben. Ihr Vater arbeitet als
behandelt. Ich kann jetzt wieder mit Voll- hat mir geholfen. Als Olympia vorbei war, Ihr Trainer, Ihr Onkel ist Ihr Mentalcoach.
gas turnen. ging es von A nach B, Bälle, Ehrungen, Hatten Sie nie das Bedürfnis, aus dem
SPIEGEL: Und falls die Sehne mitten in einer Talkshows. Wir haben aber immer darauf Familienkreis auszubrechen?
Übung komplett abreißt? geachtet, dass der Sport und die Schule Hambüchen: Nein, warum auch? Mein Vater
Hambüchen: Dann ist Feierabend. Aber Priorität haben. ist der beste Turntrainer Deutschlands.
meine Schulter hat jetzt vier Jahre lang SPIEGEL: Man nannte Sie Harry Potter. Natürlich gibt’s auch Tage, da zoffen wir
durchgehalten, Olympia wird sie auch Hambüchen: Von dem war ich noch nie Fan. uns im Training. Früher haben wir dann
noch überleben. Der Spitzname kam daher, dass ich im Fi- abends zu Hause die Türen geknallt, weil
SPIEGEL: Sie starten in Rio bei Ihren vierten nale in Athen meine Brille tragen musste, wir stinksauer aufeinander waren. Ich
Spielen nacheinander. Am Reck, Ihrem weil zuvor meine Kontaktlinsen kaputt- habe mir aber nie gewünscht, mit einem
Lieblingsgerät, haben Sie 2008 in Peking gegangen waren. Die Leute fanden das anderen Trainer zu arbeiten. Auch das mit
die Bronzemedaille gewonnen, 2012 in wahrscheinlich niedlich. Inzwischen habe meinem Onkel hat von Anfang an gepasst,
London Silber. Gibt’s dieses Mal Gold? ich mir die Augen lasern lassen, ich brau- wir harmonieren einfach.
Hambüchen: Ha! Es hätte andersrum laufen che jetzt keine Brille mehr. SPIEGEL: Sie wurden mal als Projekt Ihres
müssen, Gold in Peking, Silber in London, SPIEGEL: Ihr anderer Spitzname war Turn- Vaters beschrieben. Trifft es das?
und jetzt noch Bronze hinterherschießen. floh. Hambüchen: Nein, ich würde sagen: Ich bin
Das wäre realistisch. Ich fühle mich in der Hambüchen: Bitte! sein Lebenswerk. Er war früher selbst Leis-
Lage, unter die besten acht zu kommen, SPIEGEL: Ging Ihnen das auf die Nerven? tungsturner. Er hat mit mir Sachen ge-
und wenn ich erst mal im Finale bin, ist al- Hambüchen: Wer wird schon gern mit ei- schafft, die er als Sportler nicht erreichen
les möglich. Aber ich sehe auch, wie sehr nem Floh verglichen? Auf der Straße riefen konnte. Bei allen Reibereien, die wir hat-
sich mein Sport in den letzten Jahren wei- die Leute: Schaut mal, da ist unser Turn- ten: Ihm habe ich alles zu verdanken.
terentwickelt hat und was die Jüngeren floh! Ging gar nicht. SPIEGEL: Nach Rio werden Sie Ihre interna-
für brutale Übungen draufhaben. SPIEGEL: Haben Sie versucht, gegen Ihr tionale Karriere beenden. Freuen Sie sich
SPIEGEL: Was hat sich verändert? Image des putzigen Teeniestars anzu- darauf, nicht mehr jeden Tag mit Ihrem
Hambüchen: Seit der Reform in unserem kämpfen? Vater in der Halle stehen zu müssen?
Wertungssystem zählen die zehn schwie- Hambüchen: Das kam mit der Zeit, die Leu- Hambüchen: Es ist kein Zwang, keine Last
rigsten Elemente in einer Übung. Die te merkten irgendwann, dass ich erwach- für mich, mit meinem Vater zu trainieren.
Jungs, die 21, 22 Jahre alt sind, wurden in sener geworden bin. Bei dem ganzen Rum- Während meiner Verletzungszeit war er
dem neuen System sozialisiert. Während mel musst du schnell raffen, wie du dich der Letzte, der gesagt hätte: Stell dich nicht
ich mit einem breiten Repertoire an Ele- in der Öffentlichkeit gibst. Da kannst du so an, wir müssen zu den Olympischen
menten aufgewachsen bin, konzentrieren kein Kind sein, da musst du schon über- Spielen! Im Gegenteil, er weiß, was auf
sich die Jungen darauf, wenige, sehr legen, bevor du den Mund aufmachst. meinen Körper nach meiner Laufbahn
schwierige Bewegungen perfekt zu beherr- SPIEGEL: Was man von Ihnen über die Me- noch alles zukommen wird.
schen. Es ist eine andere Philosophie. dien mitbekam, waren Liebesschwüre an SPIEGEL: Was denn?
SPIEGEL: Ist es akrobatischer geworden? Ihre Freundinnen und Homestorys, bei de- Hambüchen: Mein Vater spürt sein Leben
Hambüchen: Auf jeden Fall. Aber auch ris- nen Sie und Ihre Mutter Pizza gebacken lang Nachwehen vom Turnen. Er ist jetzt
kanter. Damit du viele Punkte bekommst, haben. Dachten Sie, das muss man so ma- 61, vor einem halben Jahr wollte er einem
brauchst du zehn sauschwierige Elemente chen, wenn man bekannt ist? Kind in der Turnhalle Hilfestellung geben,
in deiner Übung, du bist pausenlos am Li- Hambüchen: Och, von müssen war da nie er hob es hoch. Da machte es plötzlich
mit. Früher dauerte eine Reckkür 30 Sekun- die Rede. Ich fand das immer lustig. Ich plopp: Ihm ist die Bizepssehne gerissen.
den, jetzt sind es 50 Sekunden. habe auch mit 22 Jahren eine Autobiogra- Interview: Lukas Eberle, Detlef Hacke

DER SPIEGEL 31 / 2016 101


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Bunt wie Schnee
Viele Gletscher schimmern im Sommer nicht weiß, sondern
rötlich oder grünlich, wie hier auf der antarktischen Galíndez-Insel.
Dahinter stecken Algen, deren Farbspiel die Reflexion des Eises
verändert und es vielleicht sogar schneller schmelzen lässt.
Dieser Idee geht ein britisches Forscherteam derzeit auf Grönland
nach und twittert darüber unter @Glacier_Albedo.

Kommentar

Spaßflieger, keine Pioniere


Warum Solarflugzeugen nicht die Zukunft der Fliegerei gehört
Die eindrucksvollsten Pioniere sind diejenigen, denen es ge- die zwar die Spannweite einer Boeing 747 erreicht, aber nur
lingt, die Welt aus den Angeln zu heben. Orville Wright war die Geschwindigkeit eines Mopeds. Wird die mehr als 170 Mil-
so einer: 1903 gelang ihm der erste Motorflug der Geschichte. lionen Dollar teure Mission das Fenster aufstoßen in eine
Als Folge seiner Pioniertat gab es 1908 schon 5 Piloten auf neue Ära der solaren Passagierfliegerei? Sicher nicht: Solarzel-
Erden. Im Jahr darauf waren es 50. 1910 flogen etwa 500 Män- len können niemals genügend Energie liefern für den Trans-
ner (und auch mindestens eine Frau), dreimal so viele im port von 150, 50 oder auch nur 5 Passagieren. Piccard und
nächsten Jahr, und 1912 waren bereits 5800 Flugzeugführer in Borschberg haben einen Spaßflieger in Leichtbauweise geschaf-
den Lüften unterwegs. Verglichen damit dürfte der Nachhall fen, doch nichts, was der Luftfahrt eine neue Zukunft wiese.
bescheiden sein, auf den die Abenteurer Bertrand Piccard und Diese könnte irgendwann Elektroflugzeugen gehören, zumin-
André Borschberg hoffen dürfen. Ja, die Schweizer haben dest für kürzere Strecken. Die Energie dürften sie aus Brenn-
Mut und Fantasie bewiesen. Mit ihrem Einmannflieger „Solar stoffzellen oder fortschrittlichen Batterien beziehen. Auch So-
Impulse 2“ haben sie, einander im Cockpit abwechselnd, in larflieger wird es geben, aber nur unbemannte: Sie werden
17 Etappen und mit langen Reparaturpausen die Welt umrun- über Monate oder Jahre in der Luft bleiben, um etwa in entle-
det. Ohne einen Tropfen Treibstoff zu verbrauchen, legte ihr genen Gegenden den Zugang zum Internet zu sichern. Piccard
Gefährt über 42 000 Kilometer zurück. Alle Energie stammte und Borschberg mögen rekordsüchtige Luftfahrtenthusiasten
von den 17 000 Solarzellen auf der Oberfläche ihrer Maschine, sein, neue Lilienthals oder Wrights sind sie nicht. Marco Evers

104 DER SPIEGEL 31 / 2016 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Wissenschaft+Technik
Biologie Di Cesare: Nein, wir Men- ner bei der durchschnittlichen
„Am stärksten schen haben zwar ein gewis- Körpergröße von Platz 3
wachsen die Iraner“ ses Plateau erreicht. So füh-
ren die niederländischen
auf Platz 37 zurückgefallen
sind?
Männer seit Jahren die Statis- Di Cesare: Vielleicht liegt das
tiken an mit einer durch- an der zunehmenden sozia-
schnittlichen Körpergröße len Ungleichheit in den USA.
von 182,5 Zentimetern. Aber Einen Anteil hat aber wo-
eine starre Obergrenze sehen möglich auch die Einwande-
wir trotzdem noch nicht. rung. Viele Immigranten
SPIEGEL: Welche Länder holen aus Lateinamerika sind nicht
am schnellsten auf? gerade hochgewachsen.
Di Cesare: Am stärksten wach- SPIEGEL: Bei deutschen Män-
sen derzeit die Iraner. Inner- nern ist es genau anders-
halb von 100 Jahren haben die herum, sie sind von Platz 34
persischen Männer einen auf Platz 11 geklettert.

OHNE
Sprung von 157,1 auf 174,6 Zen- Di Cesare: In vielen Ländern
timeter gemacht. Die süd- Osteuropas verzeichnen
Wieso werden die Menschen koreanischen Frauen haben so- wir ähnlich starke Zuwächse.
immer größer? Wo nimmt gar über 20 Zentimeter zuge- Dabei bildet sich wohl das
die Körpergröße am schnells- legt, auf jetzt 162,3 Zentimeter. Wirtschaftswachstum ab, also
ten zu? Nach Antworten SPIEGEL: Wie ist das zu er- der zunehmende Wohlstand.
sucht ein internationales klären? SPIEGEL: Gibt es auch Länder
Expertenteam um die britische Di Cesare: Vor allem der ein- mit schrumpfender Körper-
Gesundheitsforscherin fache Zugang aller Einwohner größe?
Mariachiara Di Cesare, 40. zu medizinischer Versorgung Di Cesare: Ja, verursacht
und hochwertigen Nahrungs- etwa durch Armut, Hunger
SPIEGEL: Ist bei der mitteln macht die Menschen oder Bürgerkrieg. In den
JASON EDWARDS / GETTY IMAGES/NATIONAL GEOGRAPHIC RF?

Körpergröße eine größer. Achtzigern betraf das zum


Grenze des Wachstums ab- SPIEGEL: Wie kann es sein, Beispiel Jemen, Sierra Leone,
sehbar? dass männliche US-Amerika- Uganda oder Ruanda. hil

Archäologie
Seilschaft in
der Steinzeit
Ein Fundstück aus der Stein-
zeithöhle „Hohle Fels“ auf
der Schwäbischen Alb ist of-
fenbar bedeutender als ge-
dacht. Auf den ersten Blick
wirkt das rund zwanzig Zen-
Fußnote timeter lange Stück Mammut-

60000
elfenbein unscheinbar, auf-
fällig sind nur die vier Löcher
darin. Bislang hielten For-
scher es für ein Kunstwerk
Tonnen Phosphor werden oder ein Musikinstrument.
jedes Jahr mit menschli- Nun hat ein Team des belgi-
chen Fäkalien durch deut- schen Experimentalarchäo-
sche Kloaken gespült logen Veerle Rots von der
und wie Abfall entsorgt, Universität Lüttich demons-
als Teil der rund 1,8 Mil- triert, dass es sich auch um
lionen Tonnen getrockne- ein steinzeitliches Hightech-
ten Klärschlamms. Was Gerät gehandelt haben könn-
für eine Verschwendung: te – zur Herstellung von
Das weiße Gold ist ein Seilen. Mühelos gelang es den
unersetzlicher Rohstoff Forschern, lange Pflanzen-
für Mineraldünger. Durch fasern durch die Löcher zu
die chemische Rückge-
UNIVERSITÄT TÜBINGEN

führen und sie zu verdrillen.


winnung könnte Deutsch- Die hochwertige Verarbei- Seilwerkzeug
land rund die Hälfte tung des Werkzeugs wirft ein aus der
seiner teuren Phosphor- neues Licht auf die Kunstfer- „Hohle Fels“-Höhle
importe einsparen. tigkeit vor 40 000 Jahren. hil

DER SPIEGEL 31 / 2016 105


Wissenschaft

STAN HONDA / AFP


Diagnose ohne Mitgefühl
Medizin Ein Niederländer baut eine Onlineplattform für noch nicht zugelassene
Medikamente auf. Auch in Deutschland warten Schwerkranke auf die
neuen Wirkstoffe, meist vergebens. Patienten sterben, weil die Hürden zu hoch sind.

A
ls der Anruf kam, war Ronald Brus Wenige Wochen später versuchten Ärz- Vor allem ein Präparat namens Keytruda
in seinem Ferienhaus in Südfrank- te, den Tumor herauszuschneiden. Die werde als Wundermittel gehandelt.
reich. Die Atlantikküste lag verlas- Metastasen kamen trotzdem. Doch der Wirkstoff war noch nicht zu-
sen da. Er hatte das Gebäude einen Tag Ronald Brus, selbst Doktor der Medizin, gelassen.
zuvor gekauft. Im Sommer, so seine Hoff- stand damals an der Spitze einer niederlän- Um seinen Vater zu retten, wollte Brus
nung, würde er hier mit der Großfamilie dischen Firma, die Impfstoffe herstellte. Seit das Medikament unbedingt haben, sofort.
Urlaub machen. mehr als 20 Jahren arbeitete er in der Phar- Er telefonierte mit Ärzten und Pharma-
Sein Vater war am Telefon. Er atmete mabranche, er hatte Geld und Kontakte. firmen. Er arbeitete sich durch Gesetzes-
schwer. Er weinte. „Ich habe Lungen- Ein Kollege berichtete ihm, dass in den USA vorschriften, stellte einen Antrag bei den
krebs“, sagte er. „Ich werde dein Haus gerade neuartige Medikamente gegen nicht niederländischen Behörden. Er ahnte, dass
nicht mehr sehen.“ kleinzelligen Lungenkrebs getestet würden. er zu spät sein würde.
106 DER SPIEGEL 31 / 2016
MARKEL REDONDO / DER SPIEGEL

Medikamentenabfüllung, Unternehmer Brus vor seinem Ferienhaus in Südfrankreich: „Ich habe eine große Idee“

In vielen Arzneimittelstudien werden Vor etwas mehr als einem Jahr ging seine dieser Welt in einer großen Liste zusam-
Wirkstoffe gegen Erkrankungen getestet, Plattform MyTomorrows online: eine welt- mengefügt. Jetzt möchte er erreichen, dass
für die es bislang noch keine Therapie umspannende Datenbank, die experimen- man möglichst viele dieser Pizzen direkt
gibt. Es sind potenzielle Medikamente telle Medikamente gegen lebensbedroh- bei ihm bestellen kann. Und damit beginnt
für Menschen, deren wichtigste Frage liche Krankheiten enthält. Jeder Patient das Problem.
lautet: Wie lange habe ich noch zu leben? kann seither auf der Plattform einsehen, Brus kann die neuen Medikamente nicht
In zahlreichen Industrieländern gibt es ob es einen Wirkstoff gibt, der ihm helfen einfach so verschicken. Jedes Compassio-
gesetzliche Ausnahmeregelungen, um könnte – und er erfährt auch, wie er ihn nate-Use-Programm muss von den jewei-
schon vor der Marktzulassung an solche bekommen kann. ligen nationalen Behörden genehmigt wer-
Mittel zu gelangen. Der Fachausdruck Inzwischen zählt die Onlinebörse den; denn niemand weiß genau, wie sicher
lautet Compassionate Use: Gabe aus Mit- 30 000 Suchanfragen pro Monat. Auf sei- die Präparate sind. Ein noch nicht zuge-
gefühl. nem Handy kann Brus jederzeit verfolgen, lassenes Medikament ist eben keine Pizza.
Bisher jedoch ist dieses Mitgefühl die nach welchen Krankheiten am häufigsten Ronald Brus empfängt Besucher in sei-
Ausnahme, nicht die Regel. gesucht wird. Die aktuelle Statistik: ner Firmenzentrale in Amsterdam, Pilo-
Brus beschloss, einen Onlinehandel für Platz 3: Prostatakrebs tenstraat 45, ein Großraumbüro im dritten
solche noch nicht zugelassenen Medika- Platz 2: Hautkrebs Stock. Hinter klobigen Holztischen: Er-
mente zu eröffnen. Er verkaufte seinen Platz 1: chronisches Erschöpfungssyn- dem, Mitchell, Siebrig, alle per Du. Brus,
Anteil an der Pharmafirma und beantragte drom. 53 Jahre, Manschettenknöpfe, Einsteck-
eine Lizenz zum Vertrieb pharmazeuti- Mit MyTomorrows hat der Niederländer tuch, ist ein Mann, der nicht gern still
scher Mittel. Er investierte 2,7 Millionen eine Öffentlichkeit hergestellt, die es vor- sitzt. Mitten im Gespräch springt er auf,
Euro, stellte Juristen ein, Apotheker, Pro- her so nicht gab. Brus hat, so könnte man läuft zur Tafel an der Wand und malt einen
grammierer, Ärzte. es sagen, die Speisekarten aller Pizzerien lang gestreckten Pfeil. Darüber schreibt
DER SPIEGEL 31 / 2016 107
Wissenschaft

er: „Zehn Jahre“. So lange dauere es im ner der Listen zu stehen: Es muss gegen können die Patienten nicht an einer klini-
Schnitt, bis ein neues Medikament auf den eine Krankheit wirken, die zum Tod oder schen Studie teilnehmen? Welche Erkennt-
Markt komme. zu einer schweren Behinderung führen nisse gibt es bisher über die Sicherheit des
In diesen zehn Jahren muss sich das kann und für die es keine zufriedenstel- Wirkstoffs?
potenzielle Arzneimittel in drei klinischen lende Therapie auf dem Markt gibt. Und Behandlungserfolge während eines
Phasen bewähren, in denen es an Men- es muss sich bereits in der klinischen Er- Compassionate-Use-Programms fließen
schen getestet wird. Der Wirkstoff wird probung befinden. Nur der Pharmaherstel- nicht in die zukünftige Bewertung des Me-
dabei nicht mehr verändert. ler selbst darf einen Antrag beim Bundes- dikaments ein – unerwünschte Arzneimit-
„Wir nennen diesen Zeitraum ,Entwick- institut einreichen. Patienten und Ärzte telwirkungen hingegen schon, auch von
lung‘, aber tatsächlich wird nichts mehr können das Unternehmen darum bitten; solchen Patienten, die gar nicht die stren-
entwickelt“, sagt Brus. Wie viele schwer doch sie haben nicht das Recht, selbst ei- gen Kriterien der Studie erfüllen. Sollte
kranke Menschen, fragt er aufgebracht, nen Antrag zu stellen. der Wirkstoff einem Patienten ernsthaft
müssten sterben, weil ihnen ein Medika- Wie viele Menschen ein noch nicht zu- schaden, müssten alle laufenden Studien
ment auch nach zwei erfolgreichen Studien- gelassenes Medikament dringend benöti- unterbrochen oder sogar beendet werden.
phasen noch vorenthalten werde? gen, es aber nicht bekommen, das steht Warum also hätte sich die Firma Bio-
Mit seiner Plattform gehört er zu den auf keiner Liste. marin darauf einlassen sollen, Hannah das
Pionieren einer Bewegung, die für einen Nur selten treten die Schwerkranken in Medikament vorzeitig herauszugeben?
leichteren Zugang zu experimentellen Me- die Öffentlichkeit, um Hilfe zu finden – Aus welchem Grund sollte sich überhaupt
dikamenten kämpft und vor allem in den als würde sich für kurze Zeit ein Vorhang irgendein Unternehmen auf Compassio-
Vereinigten Staaten starken Zulauf hat. In öffnen. So erfährt die Gesellschaft von tra- nate Use einlassen? Eigentlich gibt es kei-
bisher 31 amerikanischen Bundesstaaten gischen Geschichten, von der Suche nach nen Grund. Mitgefühl ist nicht wirtschaft-
setzten Aktivisten und Patientenorganisa- einem Ausweg aus der Ausweglosigkeit. lich. Das deutsche Gesetz macht Patienten
tionen in jüngster Zeit „Right to Try“-Ge- Im Frühjahr 2015 hob sich der Vorhang, zu Bettlern vor Unternehmen.
setze durch, die sterbenskranken Patienten als auf der Website Change.org eine Es gibt einen Mann, der diesen Skandal
das fundamentale Recht zusprechen, selbst Petition online ging. „Bitte helft unserer nicht akzeptieren möchte. Christian John-
zu entscheiden, ob sie ein neues Mittel be- Tochter Hannah zu leben“, stand dort. sen, 59, arbeitet als Pfarrer in Berlin. Als
reits vor der Zulassung ausprobieren möch- Hannah, inzwischen zehn Jahre alt, leidet Prediger könne man viel über Ideen zur
ten. Keine staatliche Stelle darf ihnen die- an CLN2, einer Form der sogenannten Verbesserung der Welt reden, sagt er, aber
sen Wunsch mehr verwehren. Es ist der Kinderdemenz. Die seltene Stoffwechsel- wirklich verändern würden sich Dinge nur,
amerikanische Freiheitsgedanke in seiner krankheit führt zur Erblindung, die betrof- wenn man sie anpacke.
reinsten Form. fenen Kinder verlernen das Laufen und Als Student engagierte er sich bei
Die Forderungen europäischer Aktivis- Denken – und sterben früh. „Christen für die Abrüstung“, später war
ten sind weniger radikal. Noch glauben Bislang ist kein Medikament zugelassen, er Herausgeber eines Magazins in Leipzig,
hiesige Patientenorganisationen an die das Hannah Vogel helfen könnte. Das US- das die Zeit nach der Wende kritisch be-
schützende Hand von Zulassungsbehör- amerikanische Unternehmen Biomarin tes- gleitete. Derzeit leitet er eine bundesweite
den. Doch das Ziel ist gleich: Compassio- tete zwar einen neuen Wirkstoff, nahm Hilfsstelle für evangelische Pfarrer. Chris-
nate Use soll leichter möglich werden als aber keine weiteren Patienten mehr in die tian Johnsen ist ein Mann, der sich um
bisher. bereits laufende klinische Studie auf. Des- viele Baustellen kümmert.
In Deutschland kämpfen Betroffene mit halb baten die Eltern Biomarin um einen Als ihm eine Bekannte von dem Fall
einem starren Gesetz, das die entscheiden- Einzelheilversuch. Hannah erzählte, kam eine neue Baustelle
de Frage unbeantwortet lässt: Was, wenn Doch die Pharmafirma lehnte ab. hinzu. Er erfuhr, dass weitere Kinder auf
die Pharmafirmen die neuartigen Medika- Der Vorhang stand jetzt weit offen. Fa- dasselbe Medikament warteten, mindes-
mente nicht herausgeben? Derzeit laufen milie Vogel wandte sich an Selbsthilfegrup- tens zehn. Er versuchte zu erreichen, dass
lediglich 14 Compassionate-Use-Program- pen, 404 685 Menschen unterzeichneten die Betroffenen doch noch in die laufende
me für Patienten, die nicht mehr warten zwischenzeitlich auf Change.org einen Studie aufgenommen werden.
können. Die Betroffenen leiden an unter- Appell an den Pharmakonzern. Hannahs Und er hörte den Namen eines anderen
schiedlichen Krebsarten, an neurologi- Vater reiste nach London und New York, Kindes, mit einer anderen Krankheit. Mi-
schen Erkrankungen oder an Infektionen, stellte sich als lebende Litfaßsäule mit ei- guel Kit Morales-Laubinger aus Hildes-
gegen die kein Antibiotikum mehr hilft. nem Schild um den Hals vor ein Gebäude, heim, heute 22 Monate alt, Diagnose „in-
Es sind Patienten wie der Würzburger in dem Investoren von Biomarin zusam- fantile spinale Muskelatrophie Typ 1“: Mus-
Gerald Brandt, 45, der an einer unheilba- mentrafen. Es sah aus wie der klassische kelschwund in seiner schlimmsten Form.
ren Knochenstoffwechselstörung erkrankt Kampf David gegen Goliath, der verzwei- Der Junge muss mehrfach am Tag umgela-
ist. Innerhalb weniger Jahre zog er sich felte Vater gegen die profitgierige Pharma- gert werden, damit er sich nicht wund liegt.
fast 50 Frakturen zu, Mittelfußknochen, industrie. Aus seinem Hals ragt eine Atemkanüle.
Schlüsselbein, Unterarme, Rippen. Er Aber so einfach ist es nicht. Die Zurück- Seit ihr Sohn krank ist, schlafen die Eltern
stand kurz vor einem Nierenversagen. Im haltung der Pharmafirmen liegt auch daran, zusammen mit ihm im Ehebett, um sofort
Mai 2012 erhielt er einen neuartigen Wirk- dass die rechtlichen Hürden in Deutsch- reagieren zu können, wenn er zu ersticken
stoff gegen seine Krankheit, lange bevor land zu hoch sind. Das bestehende Gesetz droht.
dieser in Deutschland zugelassen wurde. schreibt vor, dass die Unternehmen nicht Im Internet schöpfte die Familie Hoff-
Brandt sagt: „Ohne Compassionate Use zugelassene Präparate kostenlos heraus- nung: Die Pharmafirma Biogen testet ge-
wäre ich heute nicht mehr da.“ geben müssen. Keine Krankenkasse muss rade ein Präparat gegen Muskelschwund,
In Deutschland sind Compassionate- dafür bezahlen. das in ersten klinischen Studien tatsächlich
Use-Programme auf den Websites des Hinzu kommt der bürokratische Auf- zu helfen scheint. Miguels Vater wandte
Bundesinstituts für Arzneimittel und Medi- wand: Zu 18 Punkten muss ein Pharma- sich an die Klinik, in der die Studie lief.
zinprodukte und des Paul-Ehrlich-Instituts unternehmen Stellung nehmen, wenn es Und erfuhr, dass Miguel wenige Wochen
gelistet. Zwei grundlegende Bedingungen einen Antrag stellt. Welche Patienten dür- zu alt war, um daran teilnehmen zu dürfen.
muss ein Medikament erfüllen, um auf ei- fen das Medikament bekommen? Wieso Kein Arzt, sagen die Eltern heute, habe
108 DER SPIEGEL 31 / 2016
WILMA LESKOWITSCH
Patient Miguel: Hoffnung im Kampf gegen den Muskelschwund

ihnen von der Möglichkeit des Compas- Gespräch um die Voraussetzungen für ein rows könnten sie dieses Werbeverbot
sionate Use erzählt. Compassionate-Use-Programm gegangen. schrittweise umgehen.
Dann meldete sich Pfarrer Johnsen bei Pfarrer Johnsen sagt, man brauche einen „Wir machen keine Werbung“, wider-
ihnen. Mit Unterstützung von Selbsthilfe- langen Atem, um Dinge zu verändern. Im spricht Brus. „Ich habe eine große Idee.“
gruppen versucht er seither, die Firma Bio- September soll das Rechtsgutachten ver- Anfang Juli tauchte ein weiteres Medi-
gen zu erweichen, das Medikament zur öffentlicht werden. Johnsen glaubt, dass kament auf der Liste des Bundesinstituts
Verfügung zu stellen. eine Gesetzesänderung Menschenleben für Arzneimittel und Medizinprodukte auf:
Johnsen sieht aber vor allem den Gesetz- retten könnte. Zudem gebe das Gutachten Biomarin, die Firma, die Hannah Vogel
geber in der Pflicht, den Zugang zu nicht Betroffenen die Chance, gegen Unterneh- das Medikament gegen Kinderdemenz seit
zugelassenen Arzneimitteln zu erleichtern. men zu klagen, die mutwillig die Heraus- eineinhalb Jahren verwehrt, ist nun doch
Vor wenigen Monaten gab der Pfarrer bei gabe neuer Wirkstoffe verweigern. zu Compassionate Use bereit. Es ist nicht
dem Bonner Rechtsprofessor Stefan Huster Johnsen glaubt an die Macht des Rechts. sicher, ob der Wirkstoff Hannah noch hel-
ein Gutachten in Auftrag. Seit Kurzem liegt Ronald Brus glaubt an die Macht des fen kann.
das Ergebnis vor. Huster sagt, rechtlich sei Marktes. Sobald ein Markt geschaffen sei, Auch für Miguel aus Hildesheim gibt es
es schwierig, Pharmafirmen zu zwingen, sagt der holländische Unternehmer, fänden Hoffnung. Das Unternehmen Biogen er-
Medikamente vorzeitig herauszugeben. Pharmafirmen und Patienten zusammen. klärte auf Anfrage des SPIEGEL, sie werde
Der Professor plädiert deshalb für finan- Brus beschäftigt mittlerweile 41 Mitar- ein Compassionate-Use-Programm star-
zielle Anreize. Es müsse möglich sein, Phar- beiter in 17 Ländern. Sie füllen Compas- ten, noch in diesem Jahr. Und lässt sich
mafirmen die Kosten für die Behandlung sionate-Use-Anträge aus, verhandeln mit doch eine Hintertür offen: Zuvor müsse
zu erstatten. Dafür sei eine Gesetzesände- Behörden, organisieren die Lieferung der nachgewiesen sein, dass der Wirkstoff ge-
rung erforderlich. Wirkstoffe. Ein Jahr nach dem Start arbei- gen Muskelschwund wirklich helfe und
In Ländern wie Frankreich übernehmen tet seine Plattform bereits mit 16 Pharma- sicher sei.
Krankenkassen längst die Kosten für firmen zusammen. Sie nimmt Patienten Hannah und Miguel – am Ende werden
Compassionate-Use-Programme. Pharma- die Bettelei um Medikamente ab und den die Konzerne mit der Hilfe für die Kinder
firmen und Krankenkassen können dort Firmen die Bürokratie. so lange gewartet haben, bis die Zulassung
einen vorläufigen Preis für ein noch nicht Kritiker sagen, Ronald Brus mache Ge- für die Mittel ohnehin so gut wie sicher ist.
zugelassenes Medikament aushandeln. Da- schäfte mit dem Leiden von Menschen. Das Medikament gegen Lungenkrebs,
durch stehen viele neue Medikamente in Wahr ist: Für jedes Medikament, das er mit dem Ronald Brus seinen Kampf be-
Frankreich früher zur Verfügung als in vertreibt, verlangt er von den Pharmaher- gann, ist am 2. Oktober 2015 in den USA
Deutschland. stellern einen Anteil des vorläufigen Prei- zugelassen worden. Keytruda ist dort seit-
Immerhin will das Bundesgesundheitsmi- ses. Im Gegenzug liefert Brus den Phar- her frei verkäuflich, jeder Patient, dem es
nisterium das Gesetz zu Compassionate Use makonzernen wertvolle Gesundheitsdaten verschrieben wird, kann es erhalten.
demnächst überprüfen lassen. Auch bestä- über die Patienten. Ein Branchenkenner Ronald Brus aber hat es nicht geschafft,
tigte ein Ministeriumssprecher, dass es ein sieht noch einen weiteren Grund, warum den Wirkstoff rechtzeitig für seinen Vater
Treffen mit Vertretern von Biomarin gege- die Pharmafirmen mit Brus zusammenar- zu beschaffen.
ben hat – mit derjenigen Firma also, die beiten: Sie dürfen für noch nicht zugelas- Piet Brus starb Ende 2012, vier Tage
Hannah Vogel das womöglich lebensretten- sene Medikamente keine Werbung ma- nach Weihnachten.
de Medikament verweigerte. Es sei in dem chen. Auf der Internetplattform MyTomor- Vivian Pasquet, Martin Schlak

DER SPIEGEL 31 / 2016 109


Wissenschaft

Fluch der frühen Geburt


Geschichte Aufregung um Heinrich III. – die Stadt Goslar will den 1000. Geburtstag des
mittelalterlichen Kaisers feiern. Nun stellt sich heraus: Sein Geburtsdatum ist falsch.

D
ass ein Stellvertreter Gottes im te. Ausgemergelte Kumpel, darunter auch Denn Lubich ist Professor für Mediävistik
Harz Wildschweine schießt, klingt Kinder, schlugen im Schein von Fackeln an der Universität Bochum und ein aner-
seltsam. Es ist auch schon lange her. Blei und Kupfer aus den Stollen. Im Ram- kannter Fachmann. Er gehört zu den Leitern
Im Herbst 1056 n. Chr. eilte Papst Viktor II. melsberg lag die Ausbeute an Silbererz bei der „Regesta Imperii“: Das Forschungspro-
Richtung Brocken und stieg in Bodfeld in jährlich bis zu 10 000 Tonnen. jekt wertet alle Urkunden und Zeugnisse der
einer knorrigen Jagdhütte ab, umgeben Die Mine ist bis heute offen. Auch von römisch-deutschen Könige und Kaiser aus.
von Tannen und Fichten. Heinrichs Prachtbauten stehen einige in Seit einigen Monaten schon spürt der
Die Datsche gehörte Heinrich III. Der Goslar. Selbst die vergoldete Kapsel, in Professor den Originalquellen zu Hein-
deutsche Kaiser hatte zur Pirsch geladen. der sein Pumpmuskel bestattet wurde, rich III. nach, der dem Geschlecht der
Mit Pfeil, Bogen und Speeren – wie die west noch in einer Gruft. Salier entstammt. Dafür sichtet er uralte
Germanen – robbten die Weltenlenker All die Wohl- und Wundertaten des Kai- Pergamente und vergilbte Briefe aus dem
durchs Unterholz. sers will man nun feiern. Goslar bereitet Hochmittelalter.
Plötzlich wurde dem Gastgeber unwohl. fürs nächste Jahr eine Ausstellung zum Die Quellen sind spärlich. Das Datum
Sieben Tage lang quälte ihn eine Krank- 1000. Geburtstag des Monarchen vor. 15 von Heinrichs Wiegenfest wird in keiner
heit. Im Fieberwahn, so darf man vermu- ehrenamtliche Verbände sowie der örtliche Chronik direkt erwähnt. „Die Geburt galt
ten, flehte der Gekrönte zum Himmel. Museumsverein haben Pläne entworfen, damals wenig“, so der Forscher, „viel wich-
Doch die Gebete nutzten nichts. Der Lei- den „wohl mächtigsten Herrscher des Rö- tiger war der Todestag.“
dende starb am 5. Oktober 1056. Gleichwohl lässt sich der Ge-
Eine Quelle nennt als Ursache ein burtstag unzweifelhaft errechnen.
schweres Gichtleiden. Anderen Mitteleuropa im 11. Jahrhundert In den „Annales Augustani“, ei-
Notizen zufolge hatte er eine ver- nem von Augsburger Mönchen
dorbene Hirschleber verspeist. KGR. verfassten Verzeichnis, finden sich
So rätselhaft wie das Ableben DÄNEMARK wichtige Hinweise. Dort heißt es,
sind auch die Umstände seiner KGR. dass der Kaiser am 28. Oktober,
Geburt. Wo die Mutter mit dem KIEWER also mehr als drei Wochen nach
ENGLAND
Knäblein niederkam, weiß keiner. Goslar HZM. REICH seinem Ableben, beigesetzt wurde.
Und auch sein Geburtsdatum Grund für die Verzögerung:
POLEN
wurde offenbar falsch berechnet. Speyer R Ö M I S C H - Ärzte hatten dem Toten zuerst die
Ein verblüffende Debatte läuft KGR. Bauchhöhle geöffnet, um seine
derzeit: Demnach haben Scharen DEUTSCHES Eingeweide zu entnehmen. Bei ei-
FRANKREICH KGR.
von Historikern beim kleinen KAISERREICH nem zweiten Eingriff wurde das
Kgr. UNGARN
Einmaleins versagt und die bio- Herz freigelegt und in jenem acht-
Bur- K g
grafischen Daten des Kaisers KGR. eckigen Prachtgefäß verstaut, das
gund
r.

vermasselt. Er kam nicht im KROATIEN heute in der Pfalzkapelle von Gos-


Jahr 1017 zur Welt, sondern schon BUL- lar liegt.
It

früher. Rom li
GARIEN Den Leichnam dagegen wollte
a

OMAIJADEN-
Der Wirrwarr betrifft einen KALIFAT e man in das rund 400 Kilometer
n
Mann, dessen Macht bis an die Kirchen- entfernte Speyer schaffen. Dort
Côte d’Azur und bis nach Ungarn staat war eine pompöse Beerdigung ge-
reichte. Einmal, bei einem Besuch BY Z A N T I NI S C H E S plant. Deshalb versuchten die Kle-
in Rom, setzte er auf einen Schlag REICH riker, die Verwesung zu verlang-
drei Päpste ab. Der Dom von samen. Gängige Praxis waren das
Speyer, einst die größte Kirche Abwaschen des Toten mit Wein
des Abendlandes – Heinrich III. war ihr misch-Deutschen Reichs“ zu ehren, wie es sowie die Verwendung von Harzen und
Bauherr. stolz in der Lokalpresse heißt. Duftstoffen.
Seine größte Leidenschaft aber galt dem Sogar das „Evangeliar von Uppsala“ Vielleicht wurde Heinrich auch erhitzt,
Harz. Zwar verbrachte der Reichschef die wird aus Schweden herangeschafft. Der um ihn unbeschadet über Land zu karren.
meiste Zeit seines Lebens im Sattel. Doch Kodex ist mit Farbbildern und Lettern aus „Die Deutschen aber entnehmen den Kör-
wenn er Pause machte, dann am liebsten goldfarbener Tinte verziert. Eine Reihe pern jener Edlen, die in fremden Gegen-
in Goslar. Überschwänglich bedachte er solcher Prachtbibeln ließ der gottesfürch- den sterben, die Eingeweide und kochen
den Ort mit Schenkungen und architekto- tige Monarch herstellen. Bei Prozessionen dann in Kesseln die restlichen Körperteile
nischen Schätzen – Kirchen, Türmen und trug man sie als Schaustücke. ein, bis sich alles Fleisch, die Nerven und
Stiften. Es entstand ein „nordisches Rom“. Nun aber herrscht Verwirrung bei den Knorpel von den Knochen lösen“, schrieb
Auch seine Lieblingspfalz befand sich dort. Veranstaltern. Ein gewisser Gerhard Lu- um 1200 ein italienischer Gelehrter.
Sie besaß zwei 47 Meter lange Säle, dazu bich behauptet, dass Heinrichs Personalien Laut den „Annales Augustani“ wurde
eine Warmluftheizung. nicht stimmen. Zwar versucht Goslars Mu- der Bestattungstermin in Speyer so ge-
Die Liebe für den Harz kam nicht von seumsverein, den Mann als „Spielverder- wählt, dass er mit dem Geburtstag des
ungefähr. Dort lagen die Bergwerke, aus ber“ abzutun. Doch das will nicht richtig
denen der Regent seinen Reichtum schöpf- klappen. * Buchmalerei aus dem 11. Jahrhundert.

110 DER SPIEGEL 31 / 2016


Herrscher Heinrich III.*,
Speyrer Dom
Spielverbot für Gaukler

Kaisers zusammenfiel. Etwas umständlich


meldet die Chronik, dass just am Tag der
Beerdigung sein „41. Lebensjahr“ begon-
nen habe. Er starb also mit 39 Jahren.
Rechnet man von diesem Datum aus rück-
wärts, kam Klein Heini folglich bereits im
Jahr 1016 zur Welt.
Bestätigt wird Lubichs Sterbe-Algebra
durch eine weitere Schriftquelle, die der
Dichter Wipo hinterließ, der Sinnsprüche
und schmelzende Verse zur Auferstehung
Jesu verfasste. Lange diente er als Erzieher
des Prinzen, ehe er dem Trubel entfloh
und als Eremit im böhmischen Grenzge-
biet verstarb. Wipo erwähnt, dass der
Junge elf Jahre alt war, als man ihn im
April 1028 krönte. Auch diese Angabe
führt zum Geburtsjahr 1016.
Wie peinlich. „Da wurde ein Versehen
ungeprüft übernommen“, erklärt Mediä-
vist Lubich. Einer schrieb vom anderen ab.
Wer die Falschmeldung als Erster in die
Geschichtsbücher einschleppte, vermag
der Forscher noch nicht zu sagen. Nur so
viel: Es sei ein „seit Jahrhunderten trans-
BREMEN, STAATS- UND UNIVERSITÄTSBIBLIOTHEK MSB 0021, FOL. 3V portierter Fehler“.
Der Goslarer Kulturleiter Christoph Gut-
mann hält den Schnitzer für verzeihlich.
Schließlich hätten sich auch die Chemiker
lächerlich gemacht, als sie das Ernährungs-
märchen vom hohen Eisenwert im Spinat
in Umlauf brachten.
Heinrich III. würde die Posse dagegen
nicht so lustig finden. Der Mann galt als
Spaßbremse. Wegen seiner dunklen Haare
und der finsteren Miene trug er den Bei-
namen „der Schwarze“. Fast täglich las er
in der Bibel. Als Verfechter eines „Gottes-
friedens“ wollte er Kriegshandlungen nur
am Dienstag und am Mittwoch erlauben.
Auch ging der Büßer gern barfuß und be-
zichtigte sich allerlei Sünden. Beim Tod
seiner Mutter warf er sich in den Staub –
eine Mode der Zeit. Weltliche Freuden ge-
noss der Frömmler nur in kleinen Dosen.
Musik und Komödiantentum waren ihm
verdächtig. Zu seiner Hochzeit erteilte er
den Gauklern Spielverbot.
Fachbücher, Lexika, aber auch Gedenk-
tafeln oder Grabinschriften zu Heinrich III.
müssen nun geändert werden. Goslar da-
gegen kann nichts mehr korrigieren. Um
die 1000-Jahr-Schau zu verlegen, ist die
Zeit zu knapp. Auch die Ausleihfrist für
den kostbaren Kodex lässt sich nicht ver-
schieben. Die Harzstadt kriegt den Fluch
der frühen Geburt voll zu spüren.
Kulturexperte Gutmann nimmt es trotz-
dem gelassen: Die Geschichte klinge oh-
BRIDGEMANART.COM

nehin wie ein Märchen. „Dann feiern wir


eben den 1001. Geburtstag.“
Matthias Schulz

DER SPIEGEL 31 / 2016 111


Technik

Wärme aus Jährlicher Stromverbrauch in Terawattstunden


Deutschland Weltweit

der Wolke RECHENZENTREN


z.B. Server, Netzwerke
in Rechenzentren
2010

10,4
2015

12,1 +16%
2010

222,8 287,0
2015
+29%

Internet Eine Dresdner Firma


will Häuser mit der Hitze
von Rechenzentren heizen. COMPUTER 16,5 12,9 – 22% 523,5 409,7 – 22%
z.B. Laptops,
Das spart Energie – und Netzwerke in
Gebäuden
beschleunigt den Datenverkehr.
TV-GERÄTE 19,2 14,3 – 26% 741,2 534,2 – 28%

F
ilme fließen wie aus dem Nichts aufs
Tablet, Musik strömt aus virtuellen Quelle: Borderstep Institut
Wolken aufs Handy, unbemerkt sau-
sen Daten um die Welt – das Digitale fühlt „Die Mieter sparen Hemmungslose Netznutzung, gepaart
sich, weil immateriell, seltsam sauber und durch das Rechenzentrum 10 bis mit einem suprasauberen Ökogewissen –
still an. Eben postindustriell. 15 Prozent der Heizkosten“, sagt das kommt an auf dem deutschen Markt,
Ist es aber nicht. Was das weltumspan- Struckmeier. „Und die Cloudkunden spa- könnte man denken. Fehlanzeige: „Wir ha-
nende Internet am Laufen hält, sind mäch- ren, weil sie keine Klimaanlage mehr be- ben einen ziemlichen Dämpfer bekom-
tige Maschinenparks. Und die dröhnen, treiben müssen.“ Außerdem bleibt der Erd- men“, sagt Struckmeier. „Wir hatten un-
stinken, rattern, wenn auch meist im Ver- atmosphäre und damit dem Klima einiges terschätzt, wie skeptisch der Mittelstand
borgenen. erspart: nämlich 30 Tonnen des Treibhaus- gegenüber der Vorstellung ist, seine eige-
Geschwindigkeit und Datenmacht von gases CO2. nen Daten nicht vor Ort, sondern irgend-
Suchmaschinen und sozialen Netzwerken Mit einem Mikro-Rechenzentrum der wo in der Cloud zu verarbeiten.“
entspringen riesigen Fabrikhallen, in de- Firma sollen Unternehmen angeblich „bis Zwischenzeitlich geriet die Firma in ei-
nen Tausende Rechner rackern, häufig zu 7000 Euro an laufenden jährlichen Kos- nen Finanzierungsengpass. Nun orientiert
ziehen sie so viel elektrische Energie ten pro Serverschrank“ einsparen. sie sich um: Statt in Wohnsiedlungen sollen
wie eine Kleinstadt. In Deutschland ver- „Hans-Dieter, mir ist kalt, glotzt du mal die Datenheizungen eher in Krankenhäu-
brauchen sie rund zwei Prozent des ge- bitte was auf Netflix?“ Ganz so einfach ist sern oder Hotels Einzug halten, um auf
samten Stroms. Die Cloud ist eine Dreck- es natürlich nicht. Genutzt wird die Hei- den Zimmern Turbo-Internet zu bieten.
schleuder. zungskeller-Cloud vielmehr von Kunden „Wir haben die Zeit auf unserer Seite“,
Das will Jens Struckmeier ändern, einer aus ganz Deutschland. Eine Kinokette zum sagt der Dresdner Struckmeier. Denn
der Mitgründer der Dresdner Firma Cloud Beispiel wickelt hier unten ihre Karten- nicht nur Geld und Energie will er sparen,
& Heat. „Früher musste ein Rechenzen- bestellungen ab, auch das Teilchenfor- sondern vor allem Zeit: Lokale Rechen-
tren für jedes Watt Rechenleistung fast schungszentrum Cern bei Genf hat eine zentren können schneller sein als her-
noch einmal ebenso viel Watt elektrische Weile die Heizungsrechner genutzt. Ähn- kömmliche, die teilweise viele Hundert
Leistung in die Kühlung mit Klimaanlagen liche Rechenzentren sind auf 18 Standorte Kilometer entfernt liegen. „Edge Cloud“
investieren“, sagt der promovierte Physi- der Firma quer durch Deutschland verteilt. werden derlei Netzverteilerstationen ge-
ker: „Wir dagegen benutzen die Rechner „Das Ganze fing als eine Art Heim- nannt, die Zeitverzögerungen auf wenige
einfach wie eine Zentralheizung.“ werkerprojekt an“, erzählt Struckmeier; Millisekunden drücken können – ideal für
Eine stille Gegend in der Dresdner Jo- Professor Christof Fetzer, ein Fachmann Spiele oder den Mobilfunk der nächsten
hannstadt-Süd, Vögel zwitschern, Kinder für Rechenzentren an der TU Dresden, Generation.
spielen. Struckmeier zeigt auf ein Haus der habe sich vor sechs Jahren ein Passivhaus Eine naheliegende Idee, an der das
Wohnungsgenossenschaft Aufbau: „Das ist gebaut. Seine Arbeitsgruppe entwickelte Erstaunlichste ist, dass man nicht früher
eines unserer Rechenzentren.“ die Rechnerheizung dafür. darauf gekommen ist. Unter dem Schlag-
Unauffälliger geht’s nicht. Neben der 2011 folgte die Ausgründung. Heute sit- wort „Hot fluid computing“ kam das
Tiefgarage liegt ein Kellerraum, vollgestellt zen (und schwitzen) rund 40 Mitarbeiter Thema zwar schon auf der Computer-
mit 20 mannshohen Metallschränken, in von Cloud & Heat in der unklimatisierten messe Cebit vor, aber meist eher als
denen jeweils 10 Netzrechner surren. Eine Zentrale am Rande der Dresdner Neustadt, Prototyp.
Serverfarm wie jede andere, mit dem in einer ehemaligen Artilleriewerkstatt der „Vor allem in Skandinavien ist man
Unterschied: Klempnerschläuche hängen Königlich Sächsischen Armee direkt hinter schon viel weiter“, sagt Ralph Hintemann,
aus den Computerschränken, als wären es dem Militärhistorischen Museum. Energieexperte beim Beratungsbüro Bor-
Waschmaschinen. Etliche Branchenpreise hat Struckmeiers derstep. Das Fernwärmenetz von Stock-
In den Schränken wartet die nächste Firma eingeheimst. Die Effizienz ist hoch, holm etwa wird bereits seit Jahren von
Überraschung: Glänzende Kupferplatten nur 1,4 Prozent des gesamten Strombe- den Rechenzentren der Firma „Bahnhof“
sitzen auf den Prozessoren, durchzogen darfs werden für Pumpen, Belüftung und mitgespeist; das ist der älteste Internet-
von feinen Wasseradern, welche die Hitze Beleuchtung verbraucht. Bei der Konkur- provider Schwedens. Hilmar Schmundt
mit 55 Grad Celsius abführen zum Puffer- renz, egal ob Google, Facebook oder Mi- Mail: hilmar.schmundt@spiegel.de
speicher an der Wand, der Badewannen crosoft, ist es deutlich mehr – vermutlich.
und Heizungen der 56 Wohnungen speist. Leider müsse man hier spekulieren, sagt Video: Ein Rechenzentrum als
Rund ein Drittel des Warmwassers stammt Energieexperte Gary Cook von Green- Zentralheizung
aus den Rechnern, 110 Megawattstunden peace: Cloudbetreiber seien verschwiegen, spiegel.de/sp312016heizung
pro Jahr. eine Art TÜV fehle immer noch. oder in der App DER SPIEGEL

112 DER SPIEGEL 31 / 2016


Wissenschaft

Biss ins
„Bei der Autopsie können Tierbisse als erstochen hatte. 22 Monate lang saß Rey-
Spuren eines Verbrechens fehlinterpretiert nolds in Untersuchungshaft, bevor ein
werden“, warnt Byard. Aber ebenso stelle Gegengutachten die Wahrheit ans Licht

Gemächt
sich das umgekehrte Problem: „Bei einem brachte.
tatsächlichen Verbrechen kann Tierfraß Wie sich am Ende zweifelsfrei nachwei-
die Form beigebrachter Verletzungen er- sen ließ, waren die vermeintlichen Stich-
heblich verändern.“ wunden am Körper ihrer Tochter in Wahr-
Forensik Hunde am Tatort können Hunde fühlten sich angezogen von feuch- heit die Bissspuren eines Pitbulls, der ei-
ten Stellen am Körper, wie etwa Stich- und nem Nachbarn gehörte. Der Erstgutachter
die Aufklärung von Verbrechen Schusswunden, erläutert Byard. Er ver- hatte den schon früh aufgetauchten Ver-
erschweren – und sogar den weist auf Fälle, bei denen Hunde Projektile dacht einer Hundeattacke brüsk zurück-
Eindruck einer Tat erwecken, aus dem Gewebe des Toten gefressen ha- gewiesen: „Das ist genauso absurd, als
ben – das Corpus Delicti verschwand da- nähme man an, ein Eisbär habe Sharon
die nie stattgefunden hat. durch unauffindbar im Hundedarm. angegriffen“, gab der Experte vor Gericht
Gelegentlich säßen Fahnder auch dem zu Protokoll – eine Fehleinschätzung mit

D
en Polizisten bot sich ein schreck- Irrglauben auf, sie hätten es mit der Ver- „verhängnisvollen Konsequenzen“, kom-
licher Anblick. Das 57-jährige Opfer stümmelungstat eines Perversen zu tun, mentiert Byard.
war bis zur Unkenntlichkeit ent- weil den Toten die Genitalien abgerissen Im Zweifel, fordert der australische Fo-
stellt. Sein Peiniger hatte der Leiche die wurden. Dabei müsse eine alternative Er- rensiker, sollten Hunde und ihr Stuhl ge-
Haut vom Gesicht gezogen. klärung in Betracht gezogen werden: Man- nauestens auf Spuren untersucht werden.
Als ähnlich schockierender Fund erwies che Hunde verspüren die Neigung, ihren Welche unterschätzten Gefahren von den
sich der Leichnam eines 55-jährigen Man- verstorbenen Besitzern ins Gemächt zu Abkömmlingen des Wolfs ausgehen, hat
nes. Dem Toten waren Herz und Lunge beißen; hin und wieder reißen die Ge- Byard im Laufe seiner Karriere selbst er-
entnommen worden. schlechtsteile dabei ab. lebt. Einmal untersuchte er den mysteriö-
Beide Verbrechen eint die Grausamkeit, Manchmal verkennen Kriminalbeamte sen Fall eines 40-Jährigen, der scheinbar
mit der die Taten scheinbar begangen wor- und Forensiker sogar die Indizien, dass ohne Grund zusammengebrochen und ge-
den waren. Die Spuren der Schlächtereien Hunde tatsächlich die Täter waren. Eine storben war.
erinnerten an Gewaltorgien in einem der verstörendsten Fehldeutungen in der Dann stellte sich heraus: Zwei Tage zu-
Horrorfilm. Geschichte der Rechtsmedizin unterlief ei- vor war der Mann, der unter einer Immun-
Die vermeintlichen Gemetzel haben nem Gutachter Ende der Neunzigerjahre schwäche litt, von seinem Hund gebissen
aber noch eine Gemeinsamkeit: In beiden in der kanadischen Provinz Ontario. worden. Keine größere Sache eigentlich,
Fällen konnten die Ermittler gar keine Ver- Damals wurde Louise Reynolds inhaf- äußerlich war kaum etwas zu sehen – den-
brechen nachweisen. tiert, weil sie angeblich in einem Wutan- noch hatte der Biss zu einer tödlichen Blut-
Das erste Opfer war an einem Herz- fall ihre siebenjährige Tochter Sharon vergiftung geführt. Frank Thadeusz
infarkt gestorben. Auch im zweiten Fall
hatte der Tod des Mannes höchstwahr-
scheinlich eine natürliche Ursache.
Was war geschehen?
In beiden Fällen fielen Hunde über ihre
Herrchen her – allerdings erst post mortem,
also nach dem Ableben. Im zweiten Fall
hatte der Vierbeiner den Leichnam sogar
dermaßen verschandelt, dass sich die ge-
naue Todesursache nicht mehr ermitteln
ließ.
Erfahrene Rechtsmediziner kennen sol-
che Geschichten. Wie häufig Hunde am
Tatort die Ermittler tatsächlich auf eine
falsche Fährte führen, hat der australische
Rechtsmediziner Roger Byard jetzt im
Fachmagazin „Forensic Science, Medicine,
and Pathology“ dokumentiert. „Ein Hund
kann der beste Freund eines Polizisten
sein“, schreibt Byard darin. „Er kann die
Untersuchungen aber auch erheblich er-
schweren.“
Der Mediziner analysierte mehr als
14 000 Kriminalfälle, bei denen Tiere Biss-
B IL DE R: DE P OSI T; IL LU ST RAT IO N: D E R SP I EG E L

oder Fraßspuren an Leichen hinterlassen


hatten. Gemeinsam mit seinem Berliner
Kollegen Michael Tsokos hat der Foren-
siker auch das sogenannte Diogenes-
Syndrom untersucht: von der Welt abge-
kehrte Menschen, die in vermüllten Woh-
nungen leben – und mitunter nach ihrem
natürlichen Ableben von ihren Hunden
zernagt werden.
DER SPIEGEL 31 / 2016 113
Inma Cuesta, Ugarte in „Julieta“

Kino
Almodóvar rettet seine Karriere

TOBIS FILM
Man hatte sich schon Sorgen Sinn und mit sehr schlechten die mit großen Gesten – und „Julieta“ ist ein Melodram
gemacht um Pedro Almodó- Witzen. So sollte sein 20. Film natürlich doch auf Spanisch – über Abschied, Trauer und
var. Seit seinem letzten Hit ganz anders werden: der erste erzählte Geschichte einer Vergessen, in übersatten
„Volver“ sind zehn Jahre ver- auf Englisch, nach einer Vor- Frau (gespielt in jungen Jah- Farben und mit übergroßen
gangen, in denen jeder neue lage von Literaturnobelpreis- ren von Adriana Ugarte, spä- Momenten an der Grenze
Film den Ruf des spanischen trägerin Alice Munro gedreht, ter von Emma Suárez), die zwischen Kitsch und Kunst.
Regisseurs etwas mehr ram- deren fein geschliffene Erzäh- über drei Jahrzehnte jedes Von Munros drei Originalge-
ponierte. Mit der Flugbeglei- lungen so viel zurückhalten- Stück Glück mit unendlichem schichten aus dem Erzähl-
terkomödie „Fliegende Lie- der sind als die Leinwand- Schmerz bezahlen muss – die band „Tricks“ sind nur Bruch-
bende“ war zuletzt ein künst- exzesse des Spaniers. Am endlich bereit für einen Neu- stücke geblieben, aber die pas-
lerischer und kommerzieller Ende ist Julieta (Start 4. Au- anfang ist, als ein Lebenszei- sen genau. Kein Neuanfang
Tiefpunkt erreicht – eine gust) doch wieder ein typi- chen ihrer verlorenen Tochter für Almodóvar, aber eine
seichte Nummernrevue ohne scher Almodóvar geworden: alles wieder aufbrechen lässt. Rückkehr zu alter Form. das

Kommentar

Schon verloren
Ein Verlag in Paris verzichtet auf die Veröffentlichung eines islamkritischen Buchs.
Sterben für ein Buch? Die Nachricht, die der französische Ver- und handelt von den Parallelen zwischen Islamismus und Fa-
leger von „Der islamische Faschismus“ an den deutsch-ägyp- schismus, sucht gemeinsame historische Wurzeln und verwandte
tischen Autor Hamed Abdel-Samad schickte, liest sich drama- ideologische Versatzstücke: Antisemitismus, Todessehnsucht,
tisch. Er könne es nicht verantworten, die Übersetzung des Ablehnung der kulturellen Moderne. Das Buch war in Deutsch-
Buchs wie geplant im September erscheinen zu lassen, schreibt land umstritten, Abdel-Samad ist für die AfD aufgetreten, ihm
Jean-Marc Loubet, Verlagschef von Piranha, an Abdel-Samad. wurde immer wieder Islamfeindlichkeit vorgeworfen. Möglicher-
Nach den Anschlägen von Nizza befürchte er, mit einer Veröf- weise stimmt das sogar. Möglicherweise aber ändert das nichts
fentlichung das Leben seiner Mitarbeiter zu riskieren. Seit dem an der Stichhaltigkeit mancher seiner Thesen. Man kann darüber
Anschlag gegen das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ ist auch in streiten. Deshalb gibt es Bücher wie dieses. Diesen Streit muss
Frankreich klar, was Karikaturisten wie der Däne Kurt Wester- man aber wollen. „Der islamische Faschismus“ schütte derzeit
gaard oder Schriftsteller wie Salman Rushdie schon lange wis- Wasser auf die Mühlen der Rechten, das steht ebenfalls in der
sen – wer über den Islam spottet oder ihn kritisiert, lebt gefähr- Mail von Loubet an Abdel-Samad. Das ist ungefähr so, als wäre
lich. Das Risiko kann man eingehen oder nicht: Es für seine man für die Abschiebung von Flüchtlingen, damit Nazis keine
Mitarbeiter abzulehnen ist verständlich und trotzdem schwierig. Argumente mehr haben. Wer so redet, hat schon verloren –
„Der islamische Faschismus“ war in Deutschland ein Bestseller gegen den Islamismus wie gegen die Rechte. Tobias Rapp

114 DER SPIEGEL 31 / 2016


Kultur
Biblische Kunst abzutragen, ohne die Seiten Nils Minkmar Zur Zeit
Nackerter
Algorithmus
zu beschädigen. Das Museum
bat Forscher des Instituts
für Angewandte Mathematik
Doof, aber selig
Britischen Mathematikern ist der Universität Cambridge Vor keinem irdischen Wesen ängstigt
es gelungen, die vor Jahr- um Hilfe – die hatten zuvor sich der Tourist mehr als vor einem
hunderten zensierte Kinder- ein Programm entwickelt, das anderen Touristen. Sind zwei Touris-
bibel einer französischen alte Gemälde scannt und ten unverabredet beisammen, ist die
Prinzessin zu rekonstruieren, Farblücken mit den noch vor- Gefahr groß, dass sie gemeinsam
ohne die hochempfindlichen handenen Pigmenten wieder in eine sogenannte Touristenfalle ge-
Seiten auch nur anfassen ausfüllen kann. Im Fall von tappt sind. Man erkennt die an lami-
zu müssen. Das über 500 Jahre Adam und Eva haben die nierten Speisekarten. Wo man das An-
alte Buch aus dem Besitz des Wissenschaftler den Prozess gebot für Speis und Trank so versiegeln
Fitzwilliam Museum in Cam- nun erstmals umgekehrt und muss, dass es auch in Jahrzehnten noch gültig ist, hat die
bridge zeigt diverse Szenen errechnet, welche Farbe an Falle längst zugeschnappt, und der Tourist muss erken-
aus dem Alten Testament – welchen Stellen nicht hin- nen, was er ist: Teil einer Macht, die die kulinarische Viel-
die Bilder von Adam und Eva gehört. So konnten sie eine falt der Welt auf Pizza und Pommes reduziert.
hatte jedoch ein unbekannter genaue Rekonstruktion des Dabei ist alles gut gemeint: Der Tourist ist auch noch
Besitzer nachträglich über- Originals herstellen. Das an den aberwitzigsten folkloristischen Darbietungen und
malen lassen: Adam bekam Museum ist vom Ergebnis be- Objekten interessiert. In den Ferien bewundern wir urige
einen schlecht proportionier- geistert. Laut Panayotova Holzinstrumente, alte Töpfe und religiöse Stätten, ganz
ten Grasrock über die ur- hätten die Figuren nach Jahr- grundlos und restlos begeistert. Man käme nicht auf die
sprünglich nackten Lenden, hunderten ihre Unschuld Idee, am Urlaubsort die Feuerwache, das Krankenhaus
Eva wurde in einen transpa- zurückbekommen – und das oder die Leitstelle des öffentlichen Nahverkehrs aufzusu-
renten Schleier gehüllt. Laut mit dem Einsatz von Algo- chen, obwohl es dort auch viel zu erfahren gäbe. Der
Fitzwilliam-Kuratorin Stella rithmen statt zittriger Finger. touristische Blick ist derart auf das Abseitige, Eigentliche
Panayotova war sich das Das übermalte Original und und Kuriose gerichtet, dass, um ihm etwas zu bieten,
Museum der Verschandelung die Rekonstruktion werden parallele Wirklichkeiten geschaffen werden müssen, denn
immer bewusst, konnte aber im Rahmen einer Ausstellung kein Mensch lebt so, wie die Touristen es gern hätten.
nichts dagegen tun: Anders über Bilderhandschriften Noch lächerlicher wirkt der touristische Zustand in An-
als bei Gemälden sei es bei noch bis zum 30. Dezember wesenheit von Kindern, denn sie untergraben die jeder
hauchdünnen Buchseiten im Fitzwilliam Museum zu Ferienunternehmung innewohnende Ernsthaftigkeit.
nicht möglich, Farbe manuell sehen sein. das Beim Besuch des Doms fragen sie nach Toiletten, und auf
der Safari interessieren sie sich nur für die Nagerplage
auf dem Parkplatz: „Ein Hase!“ Treibt man in mühseliger
Forschungsarbeit ein Glas ihrer bevorzugten Nussnugat-
creme auf, kommen sie zu dem Schluss, dass die örtliche
Variante leider ungenießbar, möglicherweise hochgiftig
und auf jeden Fall „ekelig“ sei. Hat man ein Kind von
etwa 14 mit auf Reisen, fällt das Adjektiv noch häufiger,
ANDREW MORRIS / THE FITZWILLIAM MUSEUM

meist in Bezug auf die von den Eltern so geschätzten


urigen örtlichen Gepflogenheiten.
Ganz zu sich selbst findet der innertouristische Konflikt
aber im Fall der Begegnung mit den Kindern der anderen.
Man lernt dann etwas: Schleppt der deutsche Familien-
vater jederzeit das Äquivalent eines Infanteristen auf Ma-
növer mit sich herum, falls die lieben Kleinen gleichzeitig
durchnässt, überhitzt, ausgehungert und am Verdursten
sein sollten, zudem Hornissen, Quallen und Flughunde den
Sammelangriff starten, hält es der französische Père de
famille durchaus anders. Ihm genügen für den Tag am Meer
ein Handtuch für je drei Kinder, Sonnenbrille und gege-
benenfalls seine Zigaretten. Briten scheinen neuerdings
ihren lieben Kleinen alles durchgehen zu lassen. Offenbar
gehen ihnen die erzieherischen Argumente aus, seit
jeder Zögling auf Boris Johnson verweisen kann, aus dem
auch etwas wurde.
Wandelt sich der Mensch zum Touristen, wird er
schlagartig harmloser. Alles außer dem Wetter wird irrele-
vant, denn wir sind ja auch auf Erden nur Touristen. Ge-
gen Ende der Ferien hat er zuverlässig seine Passwörter,
FITZWILLIAM MUSEUM

FITZWILLIAM MUSEUM

PIN-Codes und politischen Orientierungen vergessen,


blinzelt nur noch in die Sonne, ebenso doof wie selig. In
der gegenwärtigen Lage ist das eine ganze Menge.

Übermalte Bibelszenen, Rekonstruktion An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.

DER SPIEGEL 31 / 2016 115


Kultur

AKG-IMAGES
Versammlung im antiken Athen (Kolorierter Druck aus dem 19. Jahrhundert): „Die Bevölkerung soll mitreden“

„Wahlen sind nicht demokratisch“


SPIEGEL-Gespräch Der belgische Historiker David Van Reybrouck plädiert für den radikalen
Umbau des politischen Systems in Europa: Nur das Losverfahren könne die Demokratie retten.

Mit Debatten hat Van Reybrouck, 44, seine SPIEGEL: Herr Van Reybrouck, immer mehr
Erfahrungen. „Kongo“, sein Buch über die Ge- Menschen in den westlichen Demokratien
schichte und Gegenwart des afrikanischen scheinen das Gefühl zu haben, dass ihnen
Landes, löste nach Erscheinen 2010 eine De- nicht zugehört wird, und wenden sich den
batte über die belgische Kolonialvergangenheit Populisten zu. Sie machen nun einen radi-
aus. Und nach der belgischen Staatskrise der kalen Vorschlag: Das Losverfahren könne
Jahre 2010 und 2011, als die Parteien des Lan- die Demokratie retten. Was ist falsch an
des 541 Tage lang keine Regierung bilden konn- Wahlen?
ten, war er einer der Mitorganisatoren von Van Reybrouck: Nichts. Ich habe nichts ge-
G1000, einem Bürgerkonvent über die Zukunft gen Wahlen und auch nichts gegen Volks-
des Landes. Aus diesen Erfahrungen ist sein abstimmungen.
Buch „Gegen Wahlen“ entstanden, das nun SPIEGEL: Aber?
auf Deutsch erscheint und sich liest, als Van Reybrouck: Wir töten die Demokratie,
EZEQUIEL SCAGNETTI / DER SPIEGEL

wäre es ein Kommentar zum Krisensommer wenn wir sie auf diese archaischen Ver-
2016, zwischen Brexit-Schock, Trump-Hysterie, fahren reduzieren. Schauen Sie sich den
Flüchtlingskrise und AfD-Aufstieg*. „Eigentlich Brexit an. In dieser Entscheidung bündelt
hatte ich gehofft, das Buch würde nicht auf sich alles, was mit unserem demokrati-
Deutsch erscheinen. Sie brauchen es nicht, schen System nicht stimmt. Das Referen-
dachte ich. Aber der deutsche Sonderweg,
eine Demokratie ohne Populisten, scheint
* David Van Reybrouck: „Gegen Wahlen. Warum Ab-
wohl zu Ende zu gehen“, sagt Reybrouck zur Autor Van Reybrouck stimmen nicht demokratisch ist“. Wallstein, Göttingen;
Begrüßung. „Kein Wunder, dass alles schiefgegangen ist“ 200 Seiten; 17,90 Euro.

116 DER SPIEGEL 31 / 2016


BESTIMAGE / ACTION PRESS
Aktivisten der Protestbewegung Nuit debout in Paris: „Es gibt keine Öffentlichkeit mehr jenseits der Massenmedien und der sozialen Medien“

dum gab es überhaupt nur, weil es ein dieses Prozesses abstimmen lassen – es hät- SPIEGEL: Warum ist das besser als Wahlen?
Wahlversprechen David Camerons war – te wahrscheinlich eine viel vernünftigere Van Reybrouck: So lassen sich Entscheidun-
der insgeheim davon ausging, die Briten Entscheidung gegeben, und die tiefe Spal- gen herbeiführen, die das langfristige Ge-
würden mit Nein stimmen. Dann hat Boris tung des Landes wäre vermieden worden. meinwohl betreffen. Die Wahldemokratie
Johnson das Referendum gekapert, in der SPIEGEL: Es gibt Stimmen, die sagen, dass kann das ganz offensichtlich nicht. Es gibt
Hoffnung, sich so in Stellung für die nächs- man die schwierigen Fragen künftig den einen belgischen Minister, der sagte, er wis-
te Wahl zum Premierminister bringen zu Fachleuten überlassen solle. se genau, was für das Klima gut wäre, wenn
können. Auch er ging davon aus, die Briten Van Reybrouck: Ganz falsch. Das würde das er das mache, werde er nie wieder gewählt.
würden mit Nein stimmen. Und dann ha- Gefühl, dass die Eliten machen, was sie wol- Das ist zynisch, aber so ist es. Der Kern
ben sie mit Ja gestimmt. Dabei war das len, nur bestärken. Wir müssen demokrati- des Losverfahrens ist: Die Bevölkerung soll
Thema denkbar komplex: Wie stellen wir sche Verfahren entwickeln, die der Kom- mitreden. Dafür benutzt unsere Demokra-
uns die zukünftigen Beziehungen zur EU plexität einer Fragestellung angemessen tie im Augenblick die falschen Werkzeuge.
vor? Aber es gab nur zwei mögliche Ant- sind. Ich habe nichts gegen den Brexit, so- Wahlen und Volksabstimmungen sind
worten: Ja oder Nein. Remain oder Leave. lange der Entscheidung ein vernünftiges primitiv und alt. Sie sind dem Leben im
Zwei Wahlen, ein Referendum, persönli- Verfahren vorangeht. Das war nicht der Fall. 21. Jahrhundert nicht angemessen.
che Eitelkeiten, Medien, die nicht gut ge- SPIEGEL: Losverfahren klingt nach Lotterie, SPIEGEL: Was ist heute anders?
nug informiert haben – kein Wunder, dass nach Willkür. Als würden politische Ent- Van Reybrouck: Sie. Ich. Wir. 2006 hat das
alles schiefgegangen ist. scheidungen per Münzwurf herbeigeführt. „Time Magazine“ das Individuum zur Per-
SPIEGEL: Was wäre mit dem Losverfahren Van Reybrouck: Das Losverfahren hat eine son des Jahres gewählt. Die Journalisten
besser gegangen? lange Geschichte, die im antiken Griechen- hatten recht. Unsere individuelle Macht ist
Van Reybrouck: Stellen Sie sich vor, es wären land beginnt. Die Republik Florenz hat größer als jemals zuvor. Der Aufstieg der
per Losverfahren tausend Briten ausge- über Jahrhunderte ihre politischen Ent- sozialen Medien hat unsere Gesellschaft
wählt worden. Diesen Menschen hätte man scheidungen mit einem komplizierten Los- verändert. Die sozialen Medien geben
ein halbes Jahr Zeit gegeben, sich über die verfahren getroffen. In unserem politi- Menschen eine Stimme, die vorher keine
Zukunft der europäisch-britischen Bezie- schen System gibt es das Losverfahren Stimme hatten. Wer einmal die Gelegen-
hungen Gedanken zu machen. Sie hätten auch immer noch: bei Geschworenenge- heit hatte, zu sprechen und gehört zu wer-
alle Informationen bekommen, die sie richten – die gut funktionieren und ver- den, und so ist es in den sozialen Netzwer-
brauchen und wünschen. Sie hätten das antwortungsvoll schwierige Urteile fällen. ken, der möchte von Politikern auf eine
Recht und die Möglichkeit gehabt, jeden Im Grunde heißt Losverfahren nichts wei- andere Art ernst genommen werden. Das
Experten einzuladen, den sie hören wollen. ter, als dass per Los eine repräsentative können Politiker aber im Augenblick nicht.
Jeden Politiker, dessen Meinung sie wichtig Gruppe ausgewählt wird, um Entscheidun- SPIEGEL: Wenn das politische System nicht
finden. Hätte man diese Leute am Ende gen zu treffen oder Ratschläge zu geben. mehr funktioniert, weil das Kommunika-
DER SPIEGEL 31 / 2016 117
tionssystem sich so stark verändert hat und
das politische System das nicht abbilden
kann – warum soll ausgerechnet das Los-
verfahren besser sein?
Van Reybrouck: In der westlichen Welt haben
wir heute die wahrscheinlich am besten aus-
gebildete Bevölkerung der Menschheitsge-
schichte. Nie zuvor hatten wir Zugang zu
so umfassenden Informationen. Wir haben
nur keine Verfahren, um das Beste aus den
Menschen herauszuholen. Warum werden
die Leute Trump wählen? Weil es Spaß
macht. Man zieht den Vorhang hinter sich
zu und denkt sich: Euch zeig ich es jetzt.
Trump wählen heißt dem Establishment

ZUMA PRESS / IMAGO


den Mittelfinger zeigen. Aber wenn die
Menschen den Politikern nicht trauen, wie
sollen die Politiker den Menschen trauen?
SPIEGEL: Wie lässt sich das verhindern?
Van Reybrouck: Indem wir die Leute aus der Brexit-Befürworter in Manchester: „Alles, was mit unserem System nicht stimmt“
Kabine holen und hinein in die Öffentlich-
keit bringen. Das Losverfahren schafft eine
neue Öffentlichkeit. Es gibt keine Öffent-
lichkeit mehr jenseits der Massenmedien
und der sozialen Medien. Wir müssen drin-
gend Orte schaffen, die das leisten.
SPIEGEL: Und die Leute werden bessere
Menschen, wenn sie an einem Tisch zu-
sammensitzen? Oder sich, wie die Nuit-
debout-Aktivisten in Paris, auf einem Platz
versammeln? Ist das nicht naiv?
Van Reybrouck: Nein. Churchill hat einmal
über das britische Parlament gesagt: „Wir
formen diese Gebäude, und diese Gebäude
formen uns.“ Leute, die an einem Tisch
sitzen, sprechen anders miteinander, als
wenn sie etwas ins Internet schreiben. Die-
se Erfahrung habe ich wieder und wieder
gemacht. Die Frau, die am Tisch sitzt und

ULLSTEIN BILD / ACTION PRESS


sagt, dass sie das Land aufgebaut habe und
nicht wolle, dass die Einwanderer es ihr
nun wegnehmen, denkt anders über diese
Frage, wenn der Mann, der neben ihr sitzt,
sagt: Ich habe viele Jahre illegal in Ihrem
Land gelebt, und ihr seine Geschichte er-
zählt. Am Ende solcher Konvente stehen Volksvertreter in Versailles 1789: „Die Revolutionäre fürchteten zu viel Demokratie“
immer vernünftige Vorschläge.
SPIEGEL: Sie sagen, dass wir eine neue Öf-
fentlichkeit brauchen. Gibt es die mit den Van Reybrouck: Einige. Das interessanteste SPIEGEL: Im katholischen Irland.
sozialen Netzwerken nicht längst? Beispiel dürfte Irland sein. Dort wurde 2013 Van Reybrouck: Ohne dieses Verfahren wäre
Van Reybrouck: Es ist wunderbar, dass es eine Versammlung einberufen, um Ände- es nicht dazu gekommen. Es hat der Ent-
die sozialen Netzwerke gibt. Man sollte rungen der Verfassung zu beraten. Sie be- scheidung ihre Legimität verliehen. Ich
sie aber nicht mit Öffentlichkeit verwech- stand aus 100 Mitgliedern, darunter 66 iri- war ein Jahr später in Paris, dort gab es
seln. Sie sind Angebote großer Medien- sche Bürger, die durch das Losverfahren be- ebenfalls eine große gesellschaftliche De-
konzerne wie andere Medien auch. Nur stimmt wurden. Diese Leute sollten über batte über die Homo-Ehe.
dass man als Nutzer aktiv ist. Ich glaube acht Artikel der irischen Verfassung disku- SPIEGEL: Im März 2013 demonstrierten
nicht daran, dass die digitale Demokratie tieren. Am kompliziertesten: der über die einige Hunderttausend Menschen gegen
eine große Zukunft hat. Ich glaube, dass Ehe, die gleichgeschlechtliche Ehe sollte ein- die Homo-Ehe.
Demokratie etwas mit Anwesenheit zu tun geführt werden. Alle, die nicht ausgelost Van Reybrouck: Das war der Tag, an dem
hat. Damit, dass man sich sehen kann. worden waren, konnten über das Internet ich da war. Ich kam aus dem Metro-Aus-
Dass man an einem Tisch sitzt. Einfluss nehmen, sagen, was sie denken. Es gang und sah ein älteres Paar, der Mann
SPIEGEL: Sie haben den Bürgerkonvent war eine lange Debatte. Am Ende sprachen hatte eine französische Fahne an seinem
G1000 in Belgien organisiert. Dort musste sich 80 Prozent der Versammlungsmitglieder Hut stecken, und ich fragte ihn, wogegen
nichts entschieden werden. Er hatte nur dafür aus, den Verfassungsartikel über die er demonstrieren wolle. Er sagte: „Gegen
eine symbolische Rolle. Gibt es Beispiele, Ehe zu öffnen. Dann gab es ein Referendum. das hitlerstalinistische System in meinem
wo das Losverfahren in der europäischen Bei dem es beinahe eine Zweidrittelmehr- Land.“ Seine Frau schaute ihn an und sag-
Politik schon einmal funktioniert hat? heit für die gleichgeschlechtliche Ehe gab. te: „Für den Erhalt der Familie.“ Sie sehen:
118 DER SPIEGEL 31 / 2016
Kultur

Es geht um Werte. Aber nicht nur. Es geht beschimpft hätten, nicht nur miteinander SPIEGEL: Muss das automatisch zu Demo-
auch um das Gefühl, dass die Regierung reden wie zivilisierte Menschen, sondern kratiemüdigkeit führen?
mich und meine Meinung nicht mehr an- darüber hinaus die Komplexität politischer Van Reybrouck: Wenn die EU klug wäre,
hört. Wir haben ein Recht zu wählen, aber Probleme akzeptieren. Menschen, die wie würde sie Geld in die Hand nehmen und
kein Recht, gehört zu werden, glaubte die- Stimmvieh behandelt werden, verhalten in die Demokratie investieren. Und zwar
ser Mann. Viele denken das. Die politi- sich wie Vieh. Wer sich ernst genommen auf der nationalen Ebene.
schen Parteien sind überall im Westen die fühlt, verhält sich dementsprechend. SPIEGEL: Das heißt?
am wenigsten vertrauenswürdige Institu- SPIEGEL: Jeder, der einen amerikanischen Van Reybrouck: Ein Gedankenexperiment:
tion des öffentlichen Lebens. Das ist unser Gerichtsfilm gesehen hat, weiß, wie einfach Angenommen, die EU würde in jedem eu-
Problem, das müssen wir lösen. Sonst wird es ist, Geschworene zu manipulieren. ropäischen Land per Losverfahren tausend
es nicht mehr lange gut gehen. Es ist ja Van Reybrouck: Im Gericht sind die Ge- Menschen auswählen und ihnen die Frage
ein Paradox. Der Glaube an die Demokra- schworenen keine Akteure. Die Zeugen stellen: Wo sehen Sie die EU im Jahr 2030?
tie ist so stark wie noch nie. Überall auf und Gutachter werden von Verteidigung Finden Sie die zehn Punkte, die für Ihr
der Welt. Aber unsere Form der Demo- und Anklage aufgerufen, die Geschwore- Land in der EU wichtig sein werden. Und
kratie ist so schlecht angesehen wie nie. nen dürfen keine Fragen stellen – all das diesen tausend Menschen würde man ein
SPIEGEL: Wenn das Losverfahren so eine wäre in der politischen Arena anders. Budget und genug Zeit geben, dass sie Ex-
lange Geschichte hat: Warum hat es sich SPIEGEL: Trotzdem ist jeder Prozess ein perten befragen und miteinander sprechen
historisch nicht durchgesetzt? Theaterstück, das vor den Geschworenen, können. Ein Lernprozess, den man trans-
Van Reybrouck: Die athenische Demokratie die ja die direkten Vertreter des Volks sind, parent machen und im Internet dokumen-
basierte zu großen Teilen auf dem Losver- aufgeführt wird, um sie auf die eine oder tieren könnte. Dann würden bei 28 Län-
fahren. Die wichtigsten Posten wurden per die andere Seite zu ziehen. dern am Ende 280 Punkte herauskommen.
Los vergeben – so sollte Machtmissbrauch Van Reybrouck: Das gesamte politische Sys- Nehmen wir die Überschneidungen weg,
verhindert werden. Für Aristoteles etwa tem heute ist im höchsten Maße theatra- bleiben vielleicht 150 Punkte übrig. Darü-
war das Los demokratisch, die Wahl in ein lisch. Die meisten Parlamente sind Halb- ber könnte man dann abstimmen lassen.
Amt oligarchisch. Und so sahen das auch runde: Wer immer spricht, spricht in Ka- Es könnte eine Wahl sein, bei der man je-
Montesquieu und Rousseau, die Vordenker meras. Jeder Politiker ist Schauspieler, den Wähler fünf Themen auswählen lässt.
der Demokratie im 18. Jahrhundert. Beide muss es sein. Als ich durch das belgische Wo soll Europa hin? Nach so einem Pro-
glaubten an das Losverfahren. Doch so- Parlament geführt wurde, weil wir für un- zess sähe die EU ganz sicher anders aus.
wohl in der amerikanischen wie in der fran- seren Konvent Räume suchten, schaute ich SPIEGEL: Könnte diese Öffentlichkeit, dieses
zösischen Revolution fürchtete man sich mich immer wieder um und dachte: schön, neue Organ, einen festen Ort haben?
vor zu viel Demokratie – um das Regieren aber nutzlos. Für fruchtbare Diskussionen Van Reybrouck: In Belgien haben wir ein
möglich zu machen, müsse die Erbaristo- braucht man einfache Räume und runde Parlament, das aus zwei Kammern besteht.
kratie durch eine Wahlaristokratie ersetzt Tische. Die großen Halbrunde machen Po- Und es gibt die Idee, dass Mitglieder des
werden. Und am Anfang des 19. Jahrhun- litik zum Theater – und die Wahlkabinen Senats, der im Augenblick so etwas Ähn-
derts taucht dafür dann ein neuer Begriff machen Politik zu einem klandestinen liches ist wie der Bundesrat in Deutsch-
auf: die „repräsentative Demokratie“. Akt. land, per Losverfahren bestimmt werden
SPIEGEL: Das allgemeine Wahlrecht ist eine SPIEGEL: Wenn Linke heute über Politik- könnten. Das heißt, es gäbe in der ersten
große demokratische Errungenschaft. verdrossenheit sprechen, heißt es, der Neo- Kammer des Parlaments die gewählten
Van Reybrouck: Sicher. Die Sozialisten ha- liberalismus hänge einen Teil der Gesell- Abgeordneten. Und in der zweiten Kam-
ben gegen die Eliten gekämpft, als sie da- schaft ab. Deshalb rebellieren sie gegen mer, dem Senat, säßen die Bürger, die per
rauf bestanden, dass alle Stimmen gleich das System. Auf der Rechten sagt man: Zufall ausgewählt worden sind.
viel wert sein müssen. Dass jeder abstim- Kein Wunder, dass rebelliert wird, wir ha- SPIEGEL: Ganz ehrlich: Glauben Sie, dass
men kann. Dass damals nicht über das Los- ben die nationale Souveränität an die EU Ihre Ideen eine Chance haben, jemals
verfahren geredet wurde, dürfte daran lie- abgegeben, Wahlen ändern nichts mehr, Wirklichkeit zu werden?
gen, dass kaum jemand etwas darüber alle wichtigen Entscheidungen werden in Van Reybrouck: Meine Ideen sind nicht ver-
wusste. In Belgien war es sogar verhasst – Brüssel getroffen. Wer hat nun recht? rückter als Mitte des 19. Jahrhunderts für
weil das Militär es zum Einziehen von Sol- Van Reybrouck: Beide. das Frauenwahlrecht zu sein. Es ist der
daten benutzte und die Reichen sich frei- SPIEGEL: Glauben Sie? gleiche Kampf, dafür, die Demokratie zu
kaufen konnten. Losverfahren wurden mit Van Reybrouck: Kaum jemand, der Thomas demokratisieren. Es gibt Politiker, die dem
Willkürherrschaft verbunden. Pikettys „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ nicht abgeneigt sind. Sogar ein ehemaliger
SPIEGEL: Demokratie ist langsam. Das muss gelesen hat, wird bestreiten, dass die Kluft Premierminister hat sich in diese Richtung
so sein. Es müssen Kompromisse ge- zwischen Reichen und Armen größer wird. geäußert.
schmiedet und viele Interessen berücksich- Und es stimmt einfach, dass sich viele SPIEGEL: Ein ehemaliger.
tigt werden. Lebt die Idee der Losverfah- Kompetenzen von der nationalen auf die Van Reybrouck: Solche Prozesse dauern.
ren nicht auch von dem Wunsch, es möge europäische Ebene verlagert haben. Dabei nutzen wir das Losverfahren doch
einfache Entscheidungswege geben? Ein- sowieso schon jeden Tag. In Meinungsum-
facher vielleicht, als gut ist? fragen. Und die sind die schlechtestmögli-
Van Reybrouck: Nein. Erstens glaube ich, dass che Form, mit ihm zu arbeiten. Bei Mei-
EZEQUIEL SCAGNETTI / DER SPIEGEL

das Losverfahren seinen Ort in der Legis- nungsumfragen werden Leute gefragt, was
lative haben sollte, nicht in der Exekutive. sie über bestimmte Dinge denken, wenn
In der Judikative funktioniert es ja ohne- sie noch nicht nachgedacht haben. Ist es
hin. Zweitens war ich bei einigen Konvents, nicht sinnvoller, die Leute zu befragen,
die durch Losverfahren zusammengestellt nachdem sie vorher die Möglichkeit hatten,
wurden. Meine Erfahrung ist die, dass nor- sich so gut wie möglich zu informieren?
male Bürger, die sich sonst bei Facebook Mir scheint das der bessere Weg zu sein.
Van Reybrouck beim SPIEGEL-Gespräch* SPIEGEL: Herr Van Reybrouck, wir danken
* Mit Redakteur Tobias Rapp in Brüssel. „Reden wie zivilisierte Menschen“ Ihnen für dieses Gespräch.
DER SPIEGEL 31 / 2016 119
Kultur

Das Gespenst des


Feminismus
Kino Die Komödie „Ghostbusters“ mit Melissa McCarthy
ist der teuerste Frauenfilm in der Geschichte
Hollywoods – und löst eine Welle des Hasses aus.

A
ls der erste Trailer ins Kino kam, Tweets fühle sie sich wie „in meiner per-
brach im Internet ein Shitstorm los, sönlichen Hölle“, schrieb sie.
wie ihn Hollywood noch nicht er- „Die Heftigkeit dieser Reaktionen hat
lebt hatte. Dies sei „ein Terrorangriff“, hieß uns überrascht“, sagt McCarthy. Dabei ist
es, „Feminazis“ hätten diesen Film gedreht, es die Schauspielerin gewohnt, beleidigt
in den sozialen Netzwerken herrschte Hass. zu werden. Der amerikanische Filmkritiker
Donald Trump hatte den Ton vorgegeben. Rex Reed verglich sie vor einigen Jahren
„Was ist bloß in Hollywood los?“, polterte mit einem „Nilpferd“, das „die Größe eines
er. „Jetzt machen die ,Ghostbusters‘ noch Traktors“ habe. McCarthy ist 45 Jahre alt,
einmal, nur mit Frauen!!“ klein und rundlich – und einer der höchst-
Die Komödie, die am Donnerstag in die bezahlten Hollywoodstars.
deutschen Kinos kommt, ist das Remake McCarthys vier Komödien „Braut-
eines der erfolgreichsten Filme der Acht- alarm“, „Voll abgezockt“, „Taffe Mädels“
zigerjahre. Im Original retten vier New und „Spy – Susan Cooper Undercover“
Yorker, gespielt von Bill Murray, Dan Ayk- haben seit 2011 zusammen fast eine Mil-
royd, Harold Ramis und Ernie Hudson, liarde Dollar eingespielt, mehr als das Fünf-
ihre Stadt vor einer Invasion von Geistern. fache der Produktionskosten. Noch vor
Das schrille Spektakel lief 1984 an und zehn Jahren hätte sich in Hollywood kaum
spielte in Nordamerika fast eine Viertel- jemand vorstellen können, dass eine
milliarde Dollar ein. Schauspielerin, die dem Bild des weibli-
In der neuen Version werden diese vier chen Stars so sehr widerspricht, einen der-
Rollen von Frauen gespielt, von Kristen artigen Erfolg haben würde.
Wiig, Melissa McCarthy, Kate McKinnon Viele Jahre lang drehten die Studios ihre
und Leslie Jones. Der von Paul Feig insze- aufwendigsten Filme in erster Linie für
nierte Film folgt dem Original mit einer Jungen und junge Männer. In Actionspek-
Mischung aus Nostalgie und Ironie. takeln wie „Lethal Weapon“ oder „Die
„Das Wort Feminismus hat keinen guten Hard“ waren Frauen meist nur Beiwerk.
Ruf“, sagt McCarthy. „Viele Menschen den- Doch 2015 waren bereits mehr als 50 Pro-
ken dabei an Männerhass. Wir nicht, für zent aller Kinobesucher in Nordamerika
uns ist das Spaß.“ weiblich. Jungen und junge Männer ver-
Im Original beschäftigen die Geister- bringen heute mehr und mehr Zeit mit überhaupt gab: den Nerd, den Spinner, der
jäger eine sehr scharfzüngige Sekretärin Computerspielen. Und die weiblichen in einer Parallelwelt lebt und sich nur mit
mit großer Brille, im Remake stellen die Kinogängerinnen wollen auf der Leinwand Gleichgesinnten verständigen kann. Die
Heldinnen einen Kerl namens Kevin ein, Heldinnen sehen, die nicht nur Projektio- von Dan Aykroyd und Harold Ramis ge-
der aussieht wie ein junger Gott, aber zum nen männlicher Wünsche sind. spielten Wissenschaftler sind letztlich gro-
Telefonieren zu dumm ist. Chris Hems- Hollywood besetzte zwar auch früher ße Jungs, schlau, aber lebensfremd.
worth, im Kino seit Jahren Darsteller des schon gelegentlich pummelige Schauspie- Man kann bebrillt sein und bleich und
Superhelden Thor, spielt diesen Mann vol- lerinnen wie McCarthy, stellte ihnen aber den ganzen Tag am Computer sitzen und
ler Lust an der Selbstdemontage. gern langbeinige Blondinen an die Seite. dennoch die Welt retten. Das war die Bot-
Viele Gags des Films basieren auf einer Diesem Proporz verweigert sich „Ghost- schaft dieses Films. So wurde „Ghostbus-
Umkehrung von Rollenklischees. Immer busters“. Keine der Schauspielerinnen ters“ zum Manifest für Millionen von
wieder pumpen sich in „Ghostbusters“ wird in diesem Film aufgehübscht, die Jungs und jungen Männern, die das Er-
Männer vor den Heldinnen auf, Bürger- schlanke Blondine McKinnon verschwin- wachsenwerden am liebsten bis zum Tod
meister, Wissenschaftler, FBI-Agenten. Ge- det in einem sackförmigen Hosenanzug vor sich herschieben würden. Und dieses
nüsslich nimmt der Film diese Phalanx des und hinter einer gelben Schutzbrille. Manifest wird nun umgeschrieben.
Patriarchats auseinander, zeigt Eitelkeit Der Film gibt den Zuschauern von An- Man kann sie erleben, diese Nerds und
und Arroganz. Das ist manchmal nur al- fang bis Ende das Gefühl, dass er auch als Geeks, zum Beispiel auf der Comic-Con
bern, aber oft ziemlich lustig. reine Mädelsparty gut funktionieren würde. in San Diego, der größten Comicmesse der
McCarthy und ihre Ko-Stars werden im „Das Remake vergewaltigt meine Kindheit“, Welt, wenn sie in Kostümen von Super-
Internet als „Schlampen“ beschimpft, de- schrieb einer der empörten männlichen helden über Figuren wie Batman, Luke
nen Gott weiß was in den Mund gestopft Fans. Der Film als Angriff auf ihre Identität. Skywalker oder die Avengers reden wie
werden sollte. Die schwarze Schauspielerin Tatsächlich stellte „Ghostbusters“ dem über Freunde, die sie aus dem Sandkasten
Leslie Jones wurde auf Twitter mit einem Publikum schon 1984 eine Leitfigur des kennen. Man kann das rührend, skurril
Orang-Utan verglichen. Nach vielen Hass- Internetzeitalters vor, bevor es das Internet oder irrsinnig finden.
120 DER SPIEGEL 31 / 2016
SONY PICTURES
„Ghostbusters“-Darstellerinnen McCarthy, McKinnon, Wiig, Jones: Kampfansage an das Patriarchat

Doch tatsächlich haben diese Fans, die darum, Frauen einzuschließen, und nicht setzung der Serie nachdenken. Das dürfte
sich im Internet zu mächtigen globalen darum, Männer auszuschließen.“ schwierig werden, zumal der Film in China
Interessengruppen zusammenschließen, in Und dennoch ist der Stolz McCarthys nicht laufen wird. Er befördere den Geis-
Hollywood immer mehr an Einfluss ge- zu spüren, diesen Film gegen die Forde- terglauben, ließen die Behörden verlauten.
wonnen. Die Superheldenspektakel wer- rungen vieler männlicher Fans durch- Andere Hollywoodstudios haben sich
den ganz und gar auf sie zugeschnitten, gesetzt zu haben. Die Antwort auf den „Ghostbusters“ bereits zum Vorbild ge-
durch Petitionen setzen die Fans die Stu- Shitstorm hat sie ohnehin schon im Film nommen und planen ebenfalls weibliche
dios unter Druck und reden sogar bei der gegeben. Auch die Geisterjägerinnen wer- Remakes von Männerfilmen. Eine neue
Besetzung der Filme mit. den immer wieder unflätig beleidigt. Man Version der Gangsterkomödie „Ocean’s
Natürlich waren sie von vornherein müsse ja nicht alles lesen, was im Internet Eleven“ soll bald gedreht werden und San-
gegen eine weibliche „Ghostbusters“-Ver- stehe, sagt sie in einer Szene lässig. dra Bullock die Rolle von George Clooney
sion, schon vor anderthalb Jahren, als McCarthy weiß, wie wichtig der Erfolg übernehmen.
Regisseur Paul Feig das Projekt ankündig- dieses Films nicht nur für sie selbst ist, son- Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass
te, wetterten sie dagegen. Aber sie konn- dern für das gesamte Hollywoodkino. „Wir am Ende nicht nur erfolgreiche, sondern
ten es nicht verhindern. Nun beschimpfen Frauen sind doch immer schon gern ins auch bessere Filme dabei herauskommen,
die Fans Feig als „feministischen Homo“. Kino gegangen“, sagt sie. „Wieso hatten wenn sich Hollywood an den Wünschen
Aus ihren Hass-Posts spricht narzisstische uns die Studios und Produzenten eigent- und Vorstellungen erwachsener Frauen
Kränkung: Wie konnte uns Hollywood lich so selten auf der Rechnung?“ Das soll orientiert statt an den fixen Ideen spät-
ignorieren? sich nun ändern. pubertierender Männer. Lars-Olav Beier
McCarthy will nicht schlecht über die Rund 150 Millionen Dollar hat das
Fans reden, niemand in Hollywood will „Ghostbusters“-Remake bislang einge- Video: Eine neue
das, denn sie sind Fundamentalisten und spielt, das Dreifache muss es schaffen, um Generation „Ghostbusters“
verstehen keinen Spaß. „Wir sind doch sel- in die Gewinnzone zu kommen. Wohl erst spiegel.de/sp312016ghost
ber Fans“, beteuert sie. „Es geht uns doch dann würde Sony ernsthaft über die Fort- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 31 / 2016 121


Kultur

Morden im Rampenlicht
Essay Über die öffentliche Inszenierung von Allmacht und Größenwahn
Von Martin Altmeyer

D
ie Bluttaten fanden in aller Öffentlichkeit statt. In sich auf diese Suche begibt, hat sich dafür entschieden,
Paris vor einem Fußballstadion, in Straßencafés das Gewaltphänomen selbst zu ignorieren und dem wirk-
und in einem Klub. In Brüssel am Flughafen. In lichen Akteur die Zurechenbarkeit seiner Tat zu bestreiten.
Nizza auf der Hautpromenade entlang des Strandes. Bei Unter der Hand wird er zu einer Marionette gemacht, an
Rouen in einer Kirche. In München in einem Einkaufs- der andere ziehen, nur er selbst nicht. Wir gewähren damit
zentrum. Bei Würzburg in einem Regionalzug. In Ansbach dem Gewalttäter jenen Bonus an Unverantwortlichkeit,
am Rande eines Musikfestivals. Und bis zum Erscheinen den er sich selbst längst zugeschrieben hat. Er fühlt sich
dieses Beitrags vielleicht noch an weiteren Orten. Nach als Opfer von anderen, die als die wahren Täter auf die
einer Serie von Mordanschlägen „im Grenzbereich zwi- Anklagebank gehören. Die bittere Ironie der gängigen
schen Amoklauf und Terror“, so sagte es Innenminister Gewaltforschung liegt darin, dass der Gewalttäter, den sie
Thomas de Maizière, wird das gesellschaftliche Klima in zum bedauerlichen Opfer erklärt, sich gerade entschieden
Europa von Angst und der wachsenden Sorge darüber be- hat, den Spieß umzudrehen. Ausgerechnet im Moment
herrscht, mit welcher Bedrohung wir es zu tun haben und des Gewaltakts schlüpft er aus der Rolle des vermeintlich
wie man sich davor schützen kann. Ich schlage vor, das Gekränkten und Gedemütigten in die des gnadenlosen
Morden im Rampenlicht unterschiedslos als öffentliche Rächers, um an seinen Peinigern Vergeltung zu üben.
Inszenierung von Allmachtsfantasien zu verstehen: Jedes „Warum lachen die Täter?“, fragt der Kulturtheoretiker
islamistische Terrorattentat ist eine Sonderform des Amok- Klaus Theweleit in seiner Untersuchung zur Psychologie
laufs; jeder Amoklauf dient der Verbreitung von Tod, von Massenmördern im Medienzeitalter. Weil sie ihre
Angst und Schrecken; beide Formen des Gewaltausbruchs totale Macht über andere genießen. Weil sie sich selbst
sind von enormer Kränkungswut, paranoidem Vernich- mit den angstvollen Augen ihrer Opfer sehen. Weil sie
tungsdrang und eitlem Größenwahn getrieben, unabhän- neben den Opfern auch Zuschauer brauchen, die ihre
gig davon, ob die Mordmotive einer psychischen Erkran- Großartigkeit bezeugen. „Weil der Bösewicht allmächtig
kung der Mörder, ihrem gestörten Selbst- und Weltbild, ist!“, lautet die Antwort des Filmregisseurs George Lucas
ihrer religiösen Überzeugung oder ihrer politischen Ideo- auf die Frage, warum bei Kindern an Halloween von
logie entstammen. allen Star-Wars-Figuren ausgerechnet Darth Vader die
beliebteste ist.
Täter sind keine Marionetten
Eine soziologische Gewaltforschung, die statt der Gewalt Ich vernichte den anderen, also bin ich!
selbst bloß ihre angeblichen Ursachen untersucht, verfehlt Sichtlich genoss der Amokläufer von München seinen
ihren Untersuchungsgegenstand, so lautete schon 1997 der Auftritt auf der medialen Weltbühne. Das lässt sich sogar
selbstkritische Befund des Soziologen Trutz von Trotha. auf den ins Netz gestellten Amateurvideos noch erken-
Wir erführen viel „über Risikolagen, soziale und ökono- nen, die in Endlosschleifen auf vielen TV-Kanälen und
mische Unterprivilegierung, Arbeitslosigkeit, Erziehungs- im Internet heißliefen: In dunkler Montur mit rotem Ruck-
defizite, Schulversagen, Statusfrustration, psychische und sack aus der McDonald’s-Filiale am Olympia-Einkaufs-
soziale Pathologien, kurz, von allem, was nicht ‚in Ord- zentrum heraustretend (drinnen hatte er bereits mehrere
nung‘ scheint. Eine genuine Soziologie der Gewalt muss Menschen erschossen, wie sich herausstellen sollte), sieht
stattdessen mit der Gewalt beginnen, vor allem mit einer man ihn in Kinomanier seine Pistole ziehen und auf pa-
Phänomenologie der Gewalt“. Ähnlich pragmatisch argu- nisch fliehende Passanten schießen. Nach der Tat stolziert
mentierte 2015 Jan Philipp Reemtsma: „Lassen Sie uns er auf einem Parkdeck, wo er sich mit dem Bewohner
banal miteinander werden“, forderte er. „Wenn einer ir- eines benachbarten Hochhauses ein Rededuell liefert; ein
gendetwas tut, nehmen wir an, dass er das tut, weil er das anderer Bewohner desselben Hauses filmt die Szene. Da-
tun will.“ Man solle gewaltförmige Interaktionen genau bei rechtfertigt der Täter seinen Schreckensauftritt lar-
beschreiben, weil die beste Erklärung in der präzisen Be- moyant mit vergangenen Demütigungen: „Wegen euch
schreibung liege. Gewalt brauche keine weitere Begrün- wurde ich gemobbt, sieben Jahre lang. Und jetzt musste
dung, sie finde ihre Begründung in sich selbst, sie sei eine ich ’ne Waffe kaufen, um euch alle abzuknallen.“
„attraktive Lebensform“, in der sich der Gewalttäter groß- Was aber unterscheidet den Münchner Amoklauf eines
artig und zu Hause fühle. psychisch labilen Täters eigentlich vom Terrorakt in Nizza,
Im Diskurs über die angeblichen Ursachen mörderischer bei dem ebenfalls ein psychisch labiler Täter am sorgfältig
Gewalt dominiert dagegen eine Logik kausaler Ableitung. geplanten, gründlich vorbereiteten und schließlich reali-
Hinter der Tat müsse etwas liegen, was sie bewirkt, ihre sierten Tötungswerk war, außer dass der eine mit einer
wahre Ursache eben. So führt der psychosoziale Ursa- im Darknet erworbenen Pistole auf Menschen in einer
chendiskurs nicht nur weg vom eigentlichen Tatgeschehen, Shoppingmall schoss und eine persönliche Kränkung für
sondern entbindet den Täter von seiner Verantwortung, seinen mörderischen Racheakt reklamierte, während der
die nun Umständen zugeschrieben wird. Die Suche nach andere mit einem angemieteten Lastwagen in eine Men-
der wahren Ursache ist deshalb immer eine Suche nach schenmenge fuhr und sich zur Rechtfertigung auf eine
dem wahren Täter und nach der eigentlichen Schuld. Wer religiöse Kränkung berief?

122 DER SPIEGEL 31/ 2016


MARCUS LANGER / JUTTA FRICKE ILLUSTRATORS / DER SPIEGEL
Amokläufe und
Terrorakte sind so etwas
wie pathologischer
Narzissmus in Aktion.

Sowohl Amokläufe als auch Terrorakte gehören zu ei- Ein exzentrisches Selbst läuft Amok
nem neuartigen Typus von Gewaltverbrechen, die von Nun ist die gewaltförmige Selbstinszenierung in der indi-
der amerikanischen Kriminologie als „rampage killing“ vidualisierten, digitalisierten und medialisierten Lebens-
bezeichnet werden und ein Set an Tatmerkmalen mit- welt der Moderne ein durchaus sperriger Untersuchungs-
einander teilen. Die Taten sind lange vorbereitet und wer- gegenstand. Lieber würde man die Augen davon abwen-
den in der Regel im Internet angekündigt. Das Morden den. Aber das hilft nicht. Wir müssen hinschauen und uns
geschieht auf offener Bühne. Die Mörder verstecken sich bemühen, auch die zeittypischen Gewaltphänomene im
nicht. Sie fühlen sich mächtig. Sie weiden sich an der trüben Zwischenbereich von Psycho- und Soziopathologie
Angst ihrer Opfer. Wichtig ist ihnen, möglichst viele Men- zu verstehen. Aber wie kann man sie verstehen?
schen umzubringen, denn eine hohe Opferzahl hebt das Den Inszenierungscharakter solcher narzisstischen Auf-
Selbstwertgefühl der Täter und steigert die Bedeutsamkeit führungen hat uns Oliver Stone in „Natural Born Killers“
ihrer Taten. Oft sorgen sie dafür, dass Zuschauer und von 1994 vorgeführt, basierend auf einem Drehbuch von
Kameras dabei sind, damit ihr Tötungswerk öffentlich Quentin Tarantino. Darin lässt er Woody Harrelson und
bezeugt wird. In der Mehrheit der Fälle bringen sie sich Juliette Lewis als Killerpaar auftreten, das bei seiner
in einem finalen Showdown selbst um, sei es mit der eige- mörderischen Tour durch das Land Medienberühmtheit
nen Waffe, sei es durch provoziertes Polizeifeuer. erlangt und zum Idol der Jugend wird. An den Tatorten
Der Sinn dieses Schauspiels, bei dem der Täter zugleich werden Überlebende hinterlassen, die als Zeugen von den
Drehbuchautor, Dramaturg, Regisseur und Hauptdarstel- Großtaten berichten können. Am Ende wird der TV-
ler ist und anderen ihre Nebenrollen zuweist, erschließt Reporter, der durch die Berichterstattung selbst berühmt
sich aus den imaginierten Zwecken, mentalen Wirkungen geworden ist, zum Komplizen, der mitsamt seiner Kamera
und publikumswirksamen Folgen der Tat: den Vorfan- das Mörderpaar begleiten und dessen Heldentaten live
tasien des allmächtigen Täters und der posthumen Be- kommentieren darf. Was die beiden nicht daran hindert,
rühmtheit, die er sich erhofft, um in der Nachwelt Spuren ihn am Ende zu erschießen: Sie bedürfen seiner persön-
zu hinterlassen. Das „rampage killing“ kann man als lichen Zeugenschaft nicht mehr, ihnen genügt seine Fern-
pathologischen Narzissmus in Aktion begreifen, als Büh- sehkamera, die sie nun selbst bedienen.
nenaufführung eines grandiosen Selbst. Während der In modernen Kommunikationsgesellschaften finden
Gewaltausübung findet eine Art soziale Neugeburt statt, sich zahlreiche Schaubühnen, auf denen sich das Verlan-
ein radikaler Identitätswechsel, der aus einer schwachen gen nach gesellschaftlicher Sichtbarkeit entfalten darf.
eine starke Figur, aus dem Gekränkten einen Rächer, aus Dazu gehören die sozialen Netzwerke, die persönlichen
dem Verlierer einen Gewinner macht: Ein bisher Namen- Homepages, die Chatrooms im Internet oder die inter-
loser ist nun berühmt. aktiven Formate des Fernsehens mit seinen zahllosen

DER SPIEGEL 31/ 2016 123


Kultur

Casting- und Realityshows. Das zeitgenössische Selbst dem Kapital und den Juden nun der dekadente Westen
nutzt diese Schaubühnen als Spiegel- und Echoräume. das Böse verkörpert. Zweitens die Reinheitsutopie vom
Um Resonanzerfahrungen zu machen, muss das Selbst homogenen Volkskörper: Nach der klassenlosen Gesell-
allerdings aus sich herausgehen, muss zeigen, was in schaft und der arischen Volksgemeinschaft wird nun die
ihm steckt, wird im buchstäblichen Sinne: „exzentrisch“. Umma als muslimische Heilsgemeinschaft angestrebt. Drit-
Auch wer in Fitnessstudios seinen Körper trainiert, ihn tens die moralische Begründung der Barbarei, die nach
unter Schmerzen tätowieren lässt, tut das nicht für sich dem Klassenmord im Namen des Proletariats und dem
allein, sondern um Umweltresonanz zu erhalten. Am Rassenmord im Namen der Nation nun den Massenmord
Ende verlangt er oder sie, dass das Resultat der eigenen an Ungläubigen, Andersgläubigen, Abgefallenen und Ver-
Anstrengung von einer interessierten Welt gefälligst rätern im Namen der Religion gebietet. Und viertens einen
beachtet und möglichst be- apokalyptischen Märtyrer- und Todeskult, der den hero-
wundert wird. Darin besteht ischen Sozial- oder Nationalrevolutionär durch den zu
Die Wunde im die identitätsstiftende Wir- allem entschlossenen Gotteskrieger ersetzt.
kung von Selbstdarstellung In seinem Buch „Versiegelte Zeit. Über den Stillstand
kollektiven und Selbstoptimierung. in der islamischen Welt“ hat der Historiker Dan Diner
Unbewussten Solche narzisstischen Identi-
tätsspiele können allerdings
2005 den Finger in die narzisstische Wunde im kollektiven
Unbewussten der Muslime gelegt: ein verletztes Selbst-
des Islam: ein entgleisen. Die Aussicht auf Re-
sonanz lockt in den Grauzonen
wertgefühl, das mit dem historischen Niedergang und
der Rückständigkeit des Islam zu tun hat und mit dem
verletztes einer im Eiltempo zusammen- verzweifelten Versuch, die Kränkung projektiv zu bewäl-
wachsenden Welt zugleich die tigen. Anstatt die Ursachen für das Elend in der eigenen
Selbstwertgefühl. Gefährdeten, die Verzweifel- Kultur- und Sozialgeschichte zu suchen, wird immer noch
ten, die Gescheiterten, die Ver- der kolonialistische Westen beschuldigt, obwohl für die
lierer sowie politisch, spirituell oder religiös motivierte miserablen Zustände längst die eigenen Eliten verant-
Hasardeure auf die boomenden Märkte einer Ökonomie wortlich sind. Anstatt die hausgemachten Entwicklungs-
der Aufmerksamkeit. Auch an den pathologischen Rän- hemmnisse zu beseitigen, die vor allem in mangelnder
dern der globalisierten Lebenswelt wird nämlich Selbst- Bildung, Analphabetentum und religiöser Dogmatisie-
darstellung gegen Beachtung getauscht. Auch die terro- rung von Schulen und Universitäten liegen, klagt man
ristischen Amokläufer und Selbstmordattentäter sind Kin- über die anhaltende Diskriminierung des Islam. Anstatt
der einer exzentrisch gewordenen Moderne. Auch beim Menschenrechte anzuerkennen und ökonomische, poli-
Morden gilt die Identitätsformel der Mediengesellschaft: tische, kulturelle, soziale und persönliche Freiheiten zu
Ich werde gesehen, also bin ich! gewähren, um eine Entwicklungsdynamik in Gang zu
setzen, werden diese Rechte und Freiheiten als un-
Die unbewältigte Kränkung des Islam islamisch verteufelt. Anstatt die Symbiose von Staat und
Lange bevor das „highschool shooting“ im medialen Ram- Religion aufzuheben, damit die Gesellschaft ihre Poten-
penlicht zur Modeerscheinung unter sozialrebellischen ziale entfalten kann, wird an der Idee des Gottesstaats
Teenagern in den nördlichen Komfortzonen der Welt festgehalten.
werden sollte, hatte der radikale Islamismus bereits seine Mit Diner lässt sich die Verteidigungs- und Aggressi-
Blutspur durch den Süden gezogen. Sie reichte von Süd- onsbereitschaft, die der radikale Islamismus predigt, als
und Südostasien über den Nahen Osten bis hin zum afri- paranoide Reaktion auf ein selbst verschuldetes Moderni-
kanischen Kontinent, bevor sie 1993 zum ersten Mal ame- sierungsdefizit deuten. Sie geht mit einer Verliererstrategie
rikanisches Terrain erreichte. In seinem im selben Jahr einher, die von den Frontsoldaten des gewaltbereiten
veröffentlichten, hoch umstrittenen SPIEGEL-Essay „An- Dschihadismus in Europa übernommen wird. Verpfuscht,
schwellender Bocksgesang“ hatte Botho Strauß spirituelle wie ihr Leben sonst ist, halten sie an ihrer vermeintlichen
Konflikte jenseits der Ökonomie heraufdämmern sehen Kränkung fest, um ihre narzisstische Wut zu rechtfertigen
und an die Nähe des Heiligen zur Gewalt erinnert. Noch und sich wichtigzutun. Der libanesische Intellektuelle
im selben Monat wurde auf das World Trade Center in Samir Kassir, der 2005 durch eine Autobombe vor seinem
New York von der islamistischen Organisation al-Qaida Haus getötet wurde, sprach vom „arabischen Unglück“:
zum ersten Mal ein Bombenanschlag verübt, der sechs Der vom Islamismus gewiesene Ausweg aus der empfun-
Menschen das Leben kostete und mehrere Hundert ver- denen Ohnmacht, der weltweite Terror, gleiche „besten-
letzte. Es war nur der Vorschein des Kommenden. Erst falls dem Wüten des rasenden Samson“ und diene lediglich
im 21. Jahrhundert sollte der Radikalislamismus mit All- dazu, die moralische Überlegenheit des Opfers zu demons-
machtsgesten die Weltbühne betreten: Terroranschläge trieren. Gegen diese niederträchtige Zurschaustellung lässt
auf New York und Washington, London, Madrid, Paris. sich in einer liberalen Demokratie wenig ausrichten. Viel-
Mittlerweile ist der „Islamische Staat“ in Europa zum leicht hilft einzig die Verweigerung von Anerkennung,
Kult unter radikalisierten muslimischen Jugendlichen der Entzug von Resonanz: keine Bilder, keine Namen,
geworden, die sich mit dem Projekt eines totalitär ver- kein Medienecho.
standenen politischen Islam identifizieren. Der Schrecken,
den er mit seinen Propagandavideos verbreitet, und Altmeyer, 68, ist Psycho-
BERT BOSTELMANN / DER SPIEGEL

die Machtgebärden, die er aussendet, sind seine stärksten analytiker. Kürzlich er-
Identitätswaffen. schien von ihm das Sach-
Dabei nährt sich der sogenannte muslimische Totalita- buch „Auf der Suche nach
rismus vom Erbe der beiden totalitären Bewegungen im Resonanz“, in dem er die
20. Jahrhundert. Mit Kommunismus und Faschismus teilt seelischen Veränderungen
der vom Islam inspirierte Totalitarismus erstens eine pa- in der digitalen Moderne
ranoide Weltverschwörungstheorie, der zufolge neben untersucht.

124 DER SPIEGEL 31/ 2016


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2 (2) Juli Zeh 2 (2) Peter Wohlleben Das geheime Leben


Unterleuten Luchterhand; 24,99 Euro der Bäume Ludwig; 19,99 Euro

3 (3) Jonas Jonasson Mörder Anders 3 (3) Dalai Lama Der Appell des Dalai Lama
und seine Freunde nebst dem einen an die Welt Benevento; 4,99 Euro
oder anderen Feind Carl’s Books; 19,99 Euro
4 (5) Bruno Preisendörfer
4 (4) Benedict Wells Vom Ende Als unser Deutsch erfunden wurde
der Einsamkeit Diogenes; 22 Euro Galiani Berlin; 24,99 Euro

5 (5) Elke Heidenreich 5 (4) Rainer M. Schießler


Alles kein Zufall Hanser; 19,90 Euro Himmel, Herrgott, Sakrament
Kösel; 19,99 Euro
6 (6) Joy Fielding
Die Schwester Goldmann; 19,99 Euro 6 (6) Wilhelm Schmid
Gelassenheit Insel; 8 Euro
7 (7) Donna Leon
Ewige Jugend Diogenes; 24 Euro 7 (8) Antoine Leiris Meinen Hass
8 (8) Dörte Hansen bekommt ihr nicht Blanvalet; 12 Euro

Altes Land Knaus; 19,99 Euro


8 (9) Tim Marshall Die Macht
9 (10) Isabel Bogdan der Geographie dtv; 22,90 Euro

Der Pfau Kiepenheuer & Witsch; 18,99 Euro


9 (10) Alexander von Schönburg
10 (13) Jane Gardam Weltgeschichte to go
Ein untadeliger Mann Hanser; 22,90 Euro Rowohlt Berlin; 18 Euro

11 (11) Hans Fallada Kleiner Mann – 10 (7) Sahra Wagenknecht


was nun? Aufbau; 22,95 Euro Reichtum ohne Gier Campus; 19,95 Euro

12 (–) Volker Klüpfel / Michael Kobr 11 (14) Oliver Hilmes


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Berlin 1936
12 (12) Peter Hahne Finger weg von
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Europas
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15 (12) John Irving 17 (13) Thilo Sarrazin man auf der rasanten Zugfahrt verpasst.
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DER SPIEGEL 31 / 2016 125


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benen Telefonnummern reservieren.
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übertragbar. Missbrauch wird zur
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Berlin Filmkunst 66
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Beginn: 20.00 Uhr
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Düsseldorf
atelier-Kino im Savoy-Theater
Graf-Adolf-Straße 47
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 3246262-1*

Frankfurt am Main
Cinema
Roßmarkt 7
GENIUS Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 3246262-2*
Neue Worte, radikale Ideen – für Lektor
Maxwell Perkins (Colin Firth) ist klar, Hamburg
was einen grandiosen Roman ausmacht: Im Passage Kinos
New York der Zwanzigerjahre nimmt er Mönckebergstraße 17
gegen alle Widerstände seines Verlags- Beginn: 20.00 Uhr
hauses „Scribner’s Sons“ noch unbekannte, Hotline 0900 3246262-3*
aber höchst talentierte Autoren wie Ernest
Hemingway oder F. Scott Fitzgerald erst- Hannover
mals unter Vertrag. Als der junge Thomas Kino am Raschplatz
Wolfe (Jude Law) mit einer losen, tausend- Raschplatz 5
seitigen Blättersammlung in Perkins’ Büro Beginn: 20.00 Uhr
auftaucht, sagt ihm sein Instinkt sofort: Hotline 0900 3246262-4*
Hinter diesem Chaos verbirgt sich ein
literarisches Genie! Perkins versucht, die Köln Metropolis
überschäumenden Texte des exzentrischen Ebertplatz 19
Künstlers zu bändigen, Lektor und Autor Beginn: 20.00 Uhr
kämpfen um jede Formulierung. Es ent- Hotline 0900 3246262-5*
steht eine Freundschaft, die sowohl Wolfes
Geliebte Aline (Nicole Kidman), als auch München
Perkins’ Ehefrau Louise (Laura Linney) Kinos Münchner Freiheit
eifersüchtig macht und ihre Geduld stra- Leopoldstraße 82
paziert. Dabei gerät Perkins selbst in den Beginn: 20.00 Uhr
Bann von Wolfes faszinierendem Geist. Hotline 0900 3246262-6*
Als der Roman „Schau heimwärts, Engel“
dann tatsächlich ein durchschlagender
Nürnberg Cinecittà
Gewerbemuseumsplatz 3
Erfolg wird, verändert sich die Freude des Beginn: 20.00 Uhr
Schriftstellers jedoch in eine böse Para- Hotline 0900 3246262-7*
noia: Ist es wirklich sein Buch, das die
Begeisterungsstürme der Kritiker auslöst? Potsdam Thalia
Oder hofiert die Presse stattdessen Per- Rudolf-Breitscheid-Straße 50
kins’ „untrügliches Gespür“ für das Neue? Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 3246262-8*
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Preview am 8. Augus /wildbunch.filmlounge.de Stuttgart
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Hohe Straße 26
Wählen Sie die Hotline eines der zehn aufgeführten
Kinos. Sie erhalten eine vierstellige Eintrittsnummer Beginn: 20.00 Uhr
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QR-Code scannen, abholen. Bei einer ausgebuchten Veranstaltung in Ihrer * Mondia Media, 0,69 €/Min. aus dem dt. Festnetz;
und Trailer ansehen. Stadt erhalten Sie eine entsprechende kurze Ansage. Mobilfunk ggf. abweichend.
Heilige Schamlosigkeit
Literatur Er war schwul, sie eine Geschiedene aus guten Verhältnissen: Der Schriftsteller Hubert Fichte
und die Fotografin Leonore Mau waren eines der unkonventionellsten Künstlerpaare
Deutschlands. 30 Jahre nach Fichtes Tod erscheinen nun seine Briefe an sie. Von Volker Weidermann

D
as war die Grundfrage dieses son- ken. Warum nicht? Dafür ist die Kunst, da- verliebt habe, antwortete die 90-Jährige:
derbaren und freiheitssüchtigen für ist das Leben doch da. „Nein, nein – ohne Objektiv.“
Paares: „Wäre nicht eine andere Fichte war 15, als er 1950 zum ersten Hubert Fichte, 1935 im brandenburgi-
Welterfahrung denkbar?“ Hubert Fichte Mal ins Haus des Ehepaars Mau in Ham- schen Perleberg geboren, uneheliches Kind
und Leonore Mau, der Schriftsteller und burg-Blankenese kam. Es lud zu literari- eines Juden und einer protestantischen
die Fotografin, der schwule Mann und die schen Sonntagsgesprächen ein, und Hubert Stenotypistin. Der Vater war ins Exil nach
19 Jahre ältere, geschiedene Frau und Mut- Fichte, der damals schon oft als Schauspie- Schweden gegangen, wo er verschwand,
ter, lebten 25 Jahre lang, von 1961 bis zu ler aufgetreten war, war an der Seite eines die Mutter musste den ganzen Tag ar-
Fichtes Tod 1986 eine Beziehung, für die Kollegen gekommen. 1957 hat ihn Mau beiten. Den Jungen, Halbjude, wie er im
es in Deutschland kein Vorbild gab, und zum ersten Mal fotografiert, und als sie damaligen Deutschland genannt wurde,
sie schufen gemeinsam Werke, die neu wa- 2006, am Ende ihres Lebens, einmal ge- schickte man nach Bayern, in ein Waisen-
ren und anders als der Rest der deutschen fragt wurde, ob sie sich damals, als das haus, 1943 kam er zurück nach Hamburg
Literatur. Eine andere Welterfahrung den- Foto entstand, durch das Objektiv in ihn und erlebte die schweren Luftangriffe, da-
128 DER SPIEGEL 31 / 2016
Kultur
Autor Fichte um 1971 vor Romanskizzen
„Ich ficke viel und hoffe von Dir das gleiche“

Fichte war immer unterwegs, immer mit ein Kind nicht zu gebären – ein Kind aber
Notizbuch und offenen Augen, er hat Prä- ohne Vater und Mutter ist ein Verbrechen.“
sidenten, Maler, Gammler und Stricher in- Es scheint ausweglos. Er wird die Vaterrolle
terviewt, Bordellbesitzer, psychisch Kran- annehmen müssen und sieht auch, was das
ke, Erlösungssucher und Erlöste, er hat das bedeutet: „In einer Familiengemeinschaft
Fremde gesucht und aufgeschrieben und der Erziehung eines Kindes leben, kann ich
dabei immer versucht, den eurozentri- nur unter Aufgabe der Kunst.“
schen Blick abzulegen. Sein Programm Es hätte also alles schon vorbei sein kön-
war: sich berühren lassen. Seine 17-bändi- nen, ehe es richtig begann, das gemeinsa-
ge, Fragment gebliebene „Geschichte der me Künstlerleben jenseits aller Konventio-
Empfindlichkeit“ gehört zu den abenteu- nen. Doch es kommt anders, Leonore Mau
erlichsten Projekten der deutschen Litera- ist nicht schwanger, er schreibt ihr weiter
turgeschichte, ein Werk ohne Grenzen, das aus dem weitgehend verlassenen französi-
aus Romanen, Hörspieltexten, Essays und schen Dorf Montjustin in der Provence,
Interviews besteht. wo er auf einem Hof lebt, den halben Tag
Auf den meisten Reisen war Leonore lang Schafe hütet und mit dem 50-jährigen
Mau mit dabei. Zu vielen Büchern hat sie Maler Serge Fiorio und dessen Bruder ein
Fotos beigetragen. Als Fichte Ende 1961 Liebesverhältnis hat.
die Palette kennenlernte, jenes legendäre Aber auch von diesen Bindungen will er
Hamburger Kellerlokal, über das er später sich frei machen. „Ich kämpfe stündlich,
sein berühmtestes Buch geschrieben hat, täglich mit dem Problem Serge.“ Und auch
begann ihre gemeinsame Zeit. Mau tritt die ferne Freundin schwört er auf seine Lie-
jetzt als „Irma“ in Fichtes Werken auf. Er besbedingungen ein. Im März, so schreibt
selbst ist „Jäcki“. Im Roman „Die Palette“ er, könne sie kommen: „Dann können wir
träumt Irma einmal, sie stehe gemeinsam zusammen nach Paris fahren unter Bedin-
mit Jäcki in einem Hotel; Leute kommen, gung völliger Mitleidslosigkeit und gegen-
einer fragt Jäcki, ob er Gynäkologe sei. Er seitiger sinnlicher Freiheit. Ich bin nicht
sagt Ja. „Das wundert Irma. – Er sagt ein- mehr bereit, irgendeine leidenschaftliche
fach: Ja! Dann geht Jäcki mit Irma auf eine Bindung einzugehen. Ich habe keine Lust
Party. Jäcki führt eine Maus an einem lan- mehr, kuhäugige Blicke zu werfen und mit
LEONORE MAU / NACHLASS LEONORE MAU, S. FISCHER STIFTUNG

gen roten Seidenband.“ kuhäugigen Blicken angesehen zu werden.


Er sagt einfach Ja. Gynäkologe für den Ich will Freiheit, Freiheit – und dazu be-
Moment. Kein Problem für Jäcki. Kein Pro- darfs Witzes und Lachens.“
blem für Hubert Fichte. Eine andere Welt- Doch schon im Schreiben bemerkt er,
erfahrung denken. Komm mit, Mäuschen dass er seine Sorgen da an die Falsche
am Seidenband! adressiert: „Du bist mir in Deiner Amora-
Jetzt endlich, drei Jahrzehnte nach Fich- lität sehr verwandt“, erinnert er sich selbst,
tes Tod, erscheinen die Briefe, die Fichte und zum Schluss des Briefes schickt er ihr
an Mau schrieb**. Sie fanden sich als un- „eine trockene Distel“. Die Distel sei etwas
sortiertes Bündel in den Hinterlassenschaf- sehr Schönes, fügt er erklärend hinzu: „Sie
ten Leonore Maus, die 2013, im Alter von kennt das Glück der Einsamkeit.“
97 Jahren, gestorben war. Ihre Briefe sind Ausgerechnet auf diesen Brief ist eine
nicht dabei. Er hat sie wohl weggeworfen. Art Antwort von Leonore Mau erhalten.
Es ist also ein Monolog, aber einer, bei Ein Entwurf von ihr, auf blaues Luftpost-
dessen Lektüre sich ganz von selbst auch
nach wurde er, bis Kriegsende, nach Schle- ein Bild der Adressatin einstellt, einer Frau,
sien verschickt. die nach ihrer konventionellen Familien-
„Seit er in die Welt kam, war Fichte in zeit mit diesem bärtigen Weltgeist Erlebnis
ihr nicht heimisch: Deshalb hat er sie be- auf Erlebnis sammelte, Foto auf Foto. Um
reist, durchforscht, erfahren“, hat der Kri- Freiheit geht es von Anfang an.
tiker Wolfram Schütte einmal geschrieben. Fichte ist selbst erschrocken in seinen
Hubert Fichte ist heute noch ein fast kul- ersten Briefen aus dem Jahr 1962, als alles
tisch verehrter Schriftsteller. Ein Vater der erst begann: „Mir ist natürlich wieder spei-
Popliteratur wie seine ebenso rebellischen übel geworden nach unserem Abschied. Ich
Generationsgenossen Rolf Dieter Brink- hätte nie gedacht, daß ich so an Dir hängen
NACHLASS LEONORE MAU / S. FISCHER STIFTUNG

mann und Jörg Fauser. Ein Kiezdichter, der könnte.“ Dann kommt auch noch der Ver-
die Hamburger Halbwelt beschrieb, die Hu- dacht hinzu, Leonore Mau könnte von ihm
ren, Zuhälter und Alkoholiker. Und ein schwanger sein. Fichte sieht sich in einem
Weltenbummler, der sich als „Ethnopoet“ schrecklichen Dilemma. Die Erinnerung an
verstand und für seine Texte nach Marok- sein eigenes Aufwachsen ohne Vater und
ko, Brasilien, Haiti reiste, in den Senegal, meist auch ohne Mutter ist sofort präsent:
nach Tansania, Togo. Meistens machte er „Ich glaube, daß ich Dich nicht bitten dürfte,
sich selbst zum Ausgangspunkt seines
Schreibens, ein Chronist und Dokumentar * Selbstporträt von Leonore Mau mit Foto von Hubert
des Alltags, der die Realität mit der Fiktion Fichte.
** Hubert Fichte: „Ich beiße Dich zum Abschied ganz
verwob. Das ist, auch 30 Jahre nach seinem zart. Briefe an Leonore Mau“. Hg. von Peter Braun. S. Liebespaar Mau, Fichte 1962*
Tod, ein ziemlich modernes Konzept. Fischer Verlag, Frankfurt am Main; 256 Seiten; 26 Euro. Keine Lust auf kuhäugige Blicke

DER SPIEGEL 31 / 2016 129


Kultur

papier geschrieben, mit vielen mer einen Schwung dazu. Und


durchgestrichenen Sätzen, man- je freier einer ist, umso wichti-
che nur angefangen, vieles un- ger wird der andere Freie, mit
lesbar. Doch das wenige, was dem man alles teilt.
lesbar ist, erzählt viel. Er könne Früh schon hatte Fichte in ei-
ihr gern alle Disteln der Welt nem Brief an sie seine Idee,
schicken, das sei kein Problem, sein Programm des gemeinsa-
aber schwesterliche Stirnküsse men Arbeitens entwickelt. Es
könne er sich bitte in Zukunft war zunächst nur eine Idee für
sparen, das erinnere sie „an Artikelserien in Zeitungen, wo-
den mässigen Geruch protes- von sie später einige verwirk-
tantisch unterkühlter Gottes- lichten. Ihre erste gemeinsame
dienste“, die sie schon als Kind Auftragsarbeit führte sie für die
gehasst habe. Dann aber zur Zeitschrift „Merian“ ins Atelier
Freiheit: „Du solltest Dir klar- von Oskar Kokoschka. Später
machen, dass ich durch Ehe- würden sie Salvador Allende
Erfahrung allergisch geworden besuchen und Jorge Luis Bor-
bin gegen Freiheitsbeschrän- ges. Und vor allem viele Un-
kungen jeder Art. Ein Kalei- bekannte, um von all deren ro-
doskop, was man nicht drehen manhaften Leben zu erzählen:
kann.“ „Ganz hart und ungeschminkt
Die Sache ist also geklärt. In die Tagesabläufe von verschie-
Zukunft müssen sie über dieses denen Leuten aufzeichnen und
Freiheitsding nicht mehr schrei- photographieren“, schrieb er
ben. Schon bald beziehen sie ihr. Und fügte hinzu, als handle
in Hamburg eine gemeinsame es sich dabei um eine sensa-
Wohnung, gehen auf Reisen, tionelle Idee: „Sprich nicht da-

LEONORE MAU / NACHLASS LEONORE MAU, S. FISCHER STIFTUNG


haben Sex miteinander und von.“ Dabei wurde es sensatio-
vor allem mit anderen. In den nell erst durch ihn, diesen ei-
Briefen wirkt es so, als sei das nen Autor, und sie, diese eine
in all den folgenden Jahren für Fotografin.
keinen der beiden ein Problem Einmal, im April 1970, da
gewesen. Fichte liebt das ex- wäre die Geschichte fast vorbei
plizite, unverkrampfte Schrei- gewesen. Mau hatte einen Flug
ben in seinen Briefen ebenso gebucht, von Agadir nach Pa-
wie in seinen Büchern. Seine ris. Sie hatte Fichte davon ge-
Mitteilungen an Mau unter- schrieben. Das Flugzeug stürz-
zeichnet er gern mit einem ge- te ab. Sie aber war nicht an
malten Penis. Auf Französisch Bord. Fichte wusste es nicht,
sendet er den heiteren Gruß: musste annehmen, dass sie ge-
„Wenn Du da wärst, würde Von Mau porträtierter Fichte 1969 storben war. Die existenzielle
ich ihn Dir reinstecken.“ Und Schwesterliche Stirnküsse könne er sich sparen Erschütterung, die diese Nach-
wünscht ihr herzlich: „Ich ficke richt für ihn bedeutet haben
viel und hoffe von Dir das gleiche. (Eben ihn in Haiti, in den Wasserfällen von Ville muss, klingt später, nachdem er von ihrer
sieht mir die Wirtin des Hotels über Bonheur, einem alten Voodoo-Heiligtum. Unversehrtheit erfahren hat, in einem
die Schulter.)“ Fichte, umschäumt von Wasser, umgeben Brief an sie noch nach: „Ich bin fast um-
Dieses Buch ist der authentische Brief- von nackten und halb nackten Haitianern. gekommen und habe ganz Marokko ver-
roman eines Künstlerpaars, das auf der Er schrieb dazu: „Auch ich lasse das kalte rückt gemacht. Ich muß sagen, ein Tele-
Suche nach unbedingter Freiheit mit den Wasser auf mich niederschlagen. Auch ich grammchen wäre vielleicht nicht über-
Jahren die Erfahrung einer ganz neuen schreie vor Angst und Begeisterung. Die flüssig gewesen, nach so vielen Eilbriefen
Abhängigkeit machte. Einer Abhängigkeit Sucht, sich fallen zu lassen. Auf die Fälle aus Agadir. Herzlich Dein altes Verhältnis
von der gemeinsam erlebten Freiheit. zu, von den Fällen weg. Das Sonnenlicht Hubert.“
Über Rom ohne sie schreibt Fichte trau- formt einige Gruppen heraus, läßt andre Fichte hat davon in dem Buch „Der
rig: „Es enthusiasmiert mich nicht.“ Ein zu Silhouetten erstarren. Heilige Scham- Platz der Gehenkten“ erzählt. Und auch
andermal notiert er: „Es macht keinen losigkeit.“ davon, dass sein Roman-Ich Jäcki diesen
Spaß ohne Dich.“ Und aus Agadir gesteht Körperlichkeit und Schreiben, Liebe und grauenvollen Moment auch als eine Art
er ihr die letzte, große Wahrheit: „Ich Freiheit. Sie waren zusammen ein Kalei- Befreiung erlebt. „Irma war abgestürzt. –
weiß wohl jetzt, dass ich ohne Dich nicht doskop, was man drehen kann. Es setzte Ich bin frei.“ Doch dann fällt der Erzähler
leben kann, und das ist weniger sentimen- sich immer wieder neu zusammen. Jedes sich selbst ins Wort, in seine Gedanken:
tal gemeint – es ist fast eine Gemeinheit Mal ein neues Bild, ohne den anderen war „Habe ich die Festlichkeit Irmas vergessen?
und hat viel mit Ausnützen zu tun – als es nicht komplett. „Ich arbeite die ganze Den Überfluss ihrer Düfte, Lächeln, Klei-
eine physiologische und soziologische tansanische Ethnographie durch. Aber oh- der, Geschenke, Salate, Hammelkeulen,
Feststellung.“ ne Dich fehlt doch sehr der Schwung.“ Ein Linse und Gang der Kranichin?“
Hubert Fichte war ein Ganzkörperautor, sentimentales, fast kleinbürgerliches Ein- Vergessen, nur für einen Moment. Sie
Dichter der Empfindlichkeit, ein ganz und geständnis von dem bärtigen Welterfor- blieben zusammen, die Kranichin und er,
gar Teilnehmender. Eines der Bilder, das scher da draußen, inmitten seiner tansani- Irma und Jäcki, als staunenswertes Frei-
Leonore Mau von ihm gemacht hat, zeigt schen Untersuchungen. Es braucht halt im- heitspaar bis zu Fichtes frühem Tod.
130 DER SPIEGEL 31 / 2016
sperrt sie ein“, brüllten sie jedes Mal, wenn der Name
Crooked Hillary fiel, und der fiel oft.
Das menschliche Gehirn reagiert auf düstere Bilder, die
wir nur mithilfe eines Übervaters überwinden können. Es
ist eine der ältesten, einfachsten und emotionalsten Er-
Dystopie und Hoffnung zählungen der Menschheitsgeschichte. Sie ist hier auch
deswegen so mächtig, weil einige der Beobachtungen aus
der aktuellen amerikanischen Wirklichkeit, die Trump be-
Showkritik Wie sich Donald Trump nutzt, ja tatsächlich schwer von der Hand zu weisen sind.
Wie langweilig ist es dagegen, der Dystopie Hoffnung,
und Hillary Clinton auf Zuversicht und Vernunft entgegenzusetzen. Welchen Film
ihren Parteitagen präsentierten würde man lieber sehen? Welt wird von schillerndem Hel-
den vor der Apokalypse gerettet? Oder: Welt ist gar nicht

E
s war gleich am ersten Abend des Parteitags der Re- so schlimm, sieht sich nur ein paar Herausforderungen
publikaner, als die Regie das Bild produzierte, das gegenüber, die wir aber gemeinsam lösen können?
die Kandidatur von Donald Trump perfekt abbildete. Das war die Problemstellung Anfang dieser Woche, als
Den ganzen Tag über hatten die Redner in Cleveland da- die Demokraten ihren Parteitag in Philadelphia begannen.
mit verbracht, eine dunkel schillernde Fantasie eines End- Gar nicht so leicht.
zeit-Amerikas zu zeichnen, in dem Häuser, Straßen und Zunächst: Bei den Demokraten ist es angenehmer. We-
Brücken verfallen, schwarze Gangs und mexikanische Ver- niger Hass, Aggression, Lügen, dafür mehr Expräsidenten,
gewaltiger durch die Großstadtfluchten marodieren und mehr amtierende Präsidenten, mehr berühmte Schauspie-
islamistische Terrorkommandos in die Städte einreiten ler (Meryl Streep, Sigourney Weaver) und Popstars (Lenny
und den Sheriff erschießen. Und gerade als man sich als Kravitz, Alicia Keys), das alles aufgelockert durch kurze
Zuschauer fragte, wie man es am Abend überhaupt noch Einspieler von „Star Wars“-Regisseur J. J. Abrams. Aber
unversehrt ins Hotel schaffen sollte, verschwand um 19.40 auch Mütter von Jugendlichen sind gekommen, deren Kin-
Uhr die Bühne im Trockeneisnebel. der von der Polizei erschossen worden waren, Überlebende
Daraus hervor kam der Heilsbringer. Oder war es Bat- des Anschlags vom 11. September, ein blinder junger Mann
man, der im gomorrhischen Gotham ankommt, ein Ver- singt die Nationalhymne, Offenheit und Inklusion.
gleich, den Comicfan Trump selbst einmal gezogen hatte? Hier wird ein Amerikabild inszeniert, an dem vor allem
Oder war es, um in popkulturellen Analogien zu bleiben, wir Europäer lange festgehalten haben. Die Frage ist nicht,
der faschistische Imperator aus der „Star Wars“-Trilogie, ob dieses Bild noch stimmt. Die Frage ist, ob es sich noch
der die Wiederherstellung von „Recht und Ordnung“ ver- glaubwürdig und attraktiv transportieren lässt. Der Wi-
spricht? Die Rettung vor dem moralischen Niedergang derstand gegen das Wertesystem der sogenannten Social
durch einen starken Mann ist ein klassisch faschistischer Justice Warriors, ein abwertender Begriff für allzu politisch
Topos. Der Anführer, der vor einer erlöst schreienden Mas- korrekte Liberale, wächst auch in nicht ganz so rechten
se der Dunkelheit beziehungsweise dem Nebel entsteigt. Kreisen. Der Kern, auf den die Parteitagsregie der Demo-
Trump hatte auf seinem Parteitag keine Stargäste, obwohl kraten abzielt, ist nicht politische Korrektheit. Es ist der
das eigentlich üblich ist. Die republikanischen Expräsiden- Rückgriff auf die amerikanische Urgeschichte.
ten George W. Bush und George Bush hatten beide abge- Schon immer wurden Trecks überfallen, Banditen ritten
sagt. Kein Popstar wollte singen, dafür eine Countryband, in die Stadt ein und teerten den Sheriff. Immer schon ka-
die „Born in the USA“ coverte. Der berühmteste Schau- men Fremde in das Land. Bill Clinton erzählt noch einmal
spieler, der eine Rede für Trump hielt, hieß Willie Robertson die Geschichte von Hillary und ihm, die klassische ameri-
und spielt in einer Serie namens „Duck Dynasty“. kanische Aufsteigergeschichte. Sie waren beide arm, er
Trump brauchte das alles nicht. Für die Geschichte, die wurde Präsident, sie könnte bald Präsidentin werden.
er erzählen wollte, benötigte er nur zwei Zutaten: „Croo- Zwei Präsidentschaftsanwärter. Zwei Amerikas. Welche
ked Hillary“, eine von ihm erfundene Comicfigur, die an Geschichte wird sich durchsetzen? Der Parteitagsregisseur
der dystopischen Welt schuld ist, sowie eine wütende Men- J. J. Abrams würde es wohl so inszenieren: Lange sieht es
schenmenge in der Halle, eine Art Zombie-Spezies, ge- so aus, als verlöre die gute Seite. Sie ist unbeweglicher,
zeichnet von der gewalttätigen und verblendeten Welt, in langweiliger, ihr fehlt der Punch. Doch am Ende wird alles
der diese Geknechteten leben müssen. „Sperrt sie ein, gut. Hoffentlich. Noch drei Monate. Philipp Oehmke
JIM WATSON / AFP

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US-Parteitage der Republikaner und der Demokraten: Welchen Film würde man lieber sehen?

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132 DER SPIEGEL 31 / 2016


Nachrufe
THORBJÖRN FÄLLDIN, 90 Öffentlichkeit davon nichts
1976 sorgte der aus der schwe- wissen sollte, wurden Stimm-
dischen Provinz Ångerman- doubles wie Nixon zum
land stammende Landwirt

HIROYUKI ITO / THE NEW YORK TIMES / LAIF


für einen politischen Wandel
in seinem Land. Nach über
40 Jahren löste der Parteivor-
sitzende der bürgerlichen Zen-
trumspartei die Sozialdemo-
kraten ab und wurde Regie-
rungschef einer Koalition aus

RICHARD UNGER
Zentrum, liberaler Volkspartei
und konservativen Moderaten.
Doch bereits zwei Jahre später
konnte der erklärte Kernkraft- Schweigen verpflichtet. Doch
VILIM VASATA, 86 gegner Fälldin die Koalition in Kerr, nach ihrer grandiosen
Er schuf Slogans wie den aus der Bausparkassen-Werbung der Atomenergie-Frage nicht Stimme in „Der König und
„Wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause“ oder „Ich geh auf seine Seite ziehen, und er ich“ (1956) befragt, lüftete das
meilenweit für eine Camel Filter“. Auch die Audi-Reklame trat zurück. Bei der Neuwahl Geheimnis ein wenig und
„Vorsprung durch Technik“ oder den Ausdruck „Krawat- 1979 gewannen die bürgerli- dankte für die Hilfe. Als Nixon
ten-Muffel“ ersann der in Zagreb geborene Vasata – die chen Parteien noch einmal die in „My Fair Lady“ (1964) den
Sprüche machten ihn in Deutschland zu einer Legende in Mehrheit, und obwohl nun die Part der Eliza vertonte, ge-
der Branche. Schon 1966 hatte der SPIEGEL über ihn ge- Moderaten die größte Fraktion spielt von der als nicht gerade
schrieben, er habe „den Sprachschatz der Bundesbürger stellten, wurde der beliebte sangesstark bekannten Hep-
bereichert“. In den Achtzigern entwarf der vielseitige Fälldin erneut zum Regie- burn, wurde das in Hollywood
Vasata das Logo für Sony und ließ den Audi Quattro eine rungschef gewählt. Nach Aus- schließlich bekannt. Marni
Sprungschanze in Finnland hochfahren. „Gute Werbung Nixon, die 2006 ihre Autobio-
erfordert ein äußerst waches Bewusstsein!“ war sein Leit- grafie „I Could Have Sung
motiv, öffentliches Vertrauen zu gewinnen das Ziel seiner All Night“ herausgab, starb
Werbekampagnen. Vasata, der in Kiel und Essen Grafik am 24. Juli in New York. kle

ESSE COLLECTION / INTERFOTO


studiert hatte, gründete 1953 in Mülheim an der Ruhr mit
Partnern die deutschlandweit erste Werbeagentur, in der JAMES NEDERLANDER, 94
Grafiker, Texter und Ideengeber gleichberechtigt zusam- Der Sohn eines Theaterunter-
menarbeiteten. „Team“ zog bald um nach Düsseldorf, ver- nehmers galt als der letzte
suchte sich an Werbung im US-Stil und wurde in Koope- Patriarch des Broadway. Sein
ration mit der amerikanischen BBDO zur größten Agentur Vater hatte 1912 mit der Über-
in Deutschland. Im Rentenalter machte sich Vasata 1999 nahme des Opernhauses von
selbstständig. In seiner Autobiografie „Gaukler, Gambler einandersetzungen um die Detroit den Grundstein ge-
und Gestalter“ (2010) beschreibt sich der stets in Schwarz Steuerpolitik zerfiel die Koali- legt. Nederlander erweiterte
gekleidete Vasata als einen „gaukelnden Schwärmer, ver- tion aber bald, und Fälldin das Geschäft stetig – bis er ei-
zockt in einer Ginza-Reklamewelt“. Vilim Vasata starb – bildete eine Minderheitsregie- ner der größten Produzenten
wie erst jetzt bekannt wurde – bereits am 8. Juli im nieder- rung, die bis zur Wahl 1982 von Live-Entertainment welt-
sächsischen Wildeshausen. kle von den Moderaten toleriert weit wurde. Von Manhattan,
wurde. Nach deutlichen Ver- wo er 1964 mit dem Kauf des
lusten bei der Reichstagswahl Palace Theatre begann, ex-
JOHANNES KORTEN, 42 1985 trat Fälldin vom Amt des pandierte er über Chicago bis
Schon als Jugendlicher entdeck- Parteivorsitzenden zurück und nach Kalifornien. Aber auch
te er seine Leidenschaft für widmete sich wieder seinem in London betrieb er Spiel-
Jazz. Er schloss sich der Schul- Bauernhof. Thorbjörn Fälldin
band an und spielte sich durch starb am 23. Juli in Ramvik. kle
IMAGO STOCK&PEOPLE

die Standards des Genres. Spä-


ter zog es den studierten Be- MARNI NIXON, 86
triebswirt ins Internet, wo er Als Ghostsinger lieh sie Film-
auf seinem Blog „Jazzlounge“ stars wie Audrey Hepburn,
mit viel Akribie Playlisten zu- Natalie Wood und Deborah
JIM SPELLMAN

sammenstellte und Alben be- Kerr in den Fünfziger- und


sprach. Schnell wurde Korten ein fester Teil der Blogger- Sechzigerjahren ihre Stimme.
szene, da schrieb er längst nicht mehr nur über Musik. Das Marni Nixon, bei der schon als
Internet wurde für ihn zur zweiten Heimat. Seine eigent- Kind ein außergewöhnliches
liche war Bochum, wo er für eine Genossenschaftsbank als Gesangstalent festgestellt stätten. Zu seinen größten
Onlineredakteur arbeitete. Freunden und Kollegen galt wurde, war mit ihrer Sopran- Erfolgen zählten Musicals wie
Korten als einer, der anpackte und sich kümmerte, wenn stimme vielseitig einsetzbar. „Annie“, „Chicago“ und
es geboten war. Als ein Freund einen Schlaganfall erlitt, Um den Mythos aufrechtzuer- „La Cage aux Folles“. James
organisierte er eine Spendenaktion. Seine Blogeinträge lie- halten, die Schauspielerinnen Nederlander, der mehr als ein
ßen erahnen, dass es ihm in letzter Zeit nicht gut ging. Am könnten selbst auch gut sin- Dutzend Tony Awards gewon-
vergangenen Montag veröffentlichte er einen Abschieds- gen, wurde für bekannte Stars nen hatte, starb am 25. Juli in
brief. Johannes Korten starb am 25. Juli in Bochum. akn ein Playback hinterlegt. Da die Southampton, New York. kle
DER SPIEGEL 31 / 2016 133
Larry, Palmerston

ZUMA / ACTION PRESS


Machtkampf in der Downing Street
Seit Mitte Juli regiert in Großbritannien lebt nämlich auch im benachbarten Au- dass sich die beiden Tiere „mittlerweile
Theresa May, aber der Machtkampf im ßenministerium ein Kater: Palmerston, 2, auf einen Modus Vivendi verständigt ha-
Londoner Regierungsviertel geht weiter. ist offenbar genauso auf Krawall gebürs- ben“, teilte David Lidington mit, bis vor
Jetzt musste Larry, 9, deswegen sogar zum tet wie sein Vorgesetzter, Außenminister Kurzem Staatssekretär im Außenministe-
Tierarzt. Larry ist seit 2011 die offizielle Boris Johnson. Immer wieder liefern sich rium. Palmerston ist übrigens benannt
Hauskatze und „Chief Mouser“ (oberster die beiden – also Larry und Palmerston – nach dem Viscount Palmerston (1784 bis
Mäusefänger) in 10 Downing Street, dem heftige Revierkämpfe. Nach einer Ausei- 1865) – einem Außenminister, der später
Sitz der Regierungschefin. „Leider kann nandersetzung mit seinem Rivalen muss- selbst Premierminister wurde. Die Sicher-
ich Larry nicht mitnehmen“, hatte Mays te Larry in Behandlung. Der Katzenkrieg heitsmaßnahmen am Regierungssitz wur-
Vorgänger David Cameron an seinem wurde sogar Thema im Parlament: Larry den erhöht: Vergangene Woche fing ein
letzten Arbeitstag als Premierminister er- „sieht jämmerlich aus“, sagte die Labour- Polizist Palmerston ein, als dieser gerade
klärt. Der Kater dürfte darüber inzwi- Abgeordnete Ann Clwyd, „vermisst er durch die Tür von 10 Downing Street
schen ziemlich verzweifelt sein. Seit April den alten Premierminister?“ Er hoffe, schleichen wollte. mwo

Trennung mit Gewinn mern und einen Fußballplatz; es inspi-


rierte Stewart zur Komposition einiger
Statt noch einmal zu heiraten, suche er Songs und soll beim Kauf im Jahr 1986
sich lieber eine Frau, die er nicht leiden 1,2 Millionen Pfund gekostet haben. Seit
könne, und schenke ihr einfach gleich 2007 ist Stewart in dritter Ehe mit Penny
ein Haus, soll Rod Stewart, 71, einmal ge- Lancaster, 45, verheiratet. Die Veräuße-
sagt haben. Jetzt verkauft der britische rung der Immobilie hat aber offenbar
Musiker, zweifach geschieden, Vater nichts mit schlechter Stimmung oder an-
von acht Kindern und berühmt für Hits gespannter Finanzlage im Hause Ste-
ALAMY / MAURITIUS IMAGES

wie „Da Ya Think I’m Sexy?“, nach 30 wart-Lancaster zu tun. Grund des Um-
Jahren sein geliebtes Landgut in der zugs in eine andere Villa in Essex – ein
Grafschaft Essex für 7,5 Millionen Herrenhaus aus dem 18. Jahrhundert –
Pfund. Das Anwesen nordöstlich von sind die beiden gemeinsamen Söhne, 5
London umfasst mehr als zehn Hektar, und 10 Jahre alt. Die Familie will näher
ein Herrenhaus mit sechs Schlafzim- an der Schule der Kinder wohnen. ks

134 DER SPIEGEL 31 / 2016


Personalien
Studieren und ge Gouverneur von Kalifor-
trainieren nien hatte 2011 öffentlich ge-
standen, Josephs Vater zu
Bisher beschäftigte sich die sein; die Mutter ist die lang-
Öffentlichkeit vor allem mit jährigen Haushälterin der Fa-
dem Äußeren von Joseph Bae- milie Schwarzenegger. Doch
na, 18: seiner Statur, seinen auch intellektuell ähnelt Bae-
Muskeln, seinem Lächeln – na offenbar seinem Vater, der
Ähnlichkeiten mit Arnold einst BWL studiert hatte: Jo-

WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL


Schwarzenegger, 69, wurden seph ist mittlerweile Student
gesucht und gefunden. Der an der Pepperdine University
Hollywoodstar und ehemali- in Malibu, er belegt die Fä-
cher „Business“ sowie „Busi-
ness Management“ und lebt
offenbar auf dem Campus im
Studentenwohnheim. Pepper-
dine ist eine private, christli-
che Hochschule mit herrli- Der Augenzeuge
cher Aussicht auf den Pazifik,
zu ortsüblichen Kosten: Die „Wir haben getanzt“
COLEMAN-RAYNER / BULLS PRESS

Studiengebühren betragen
67 150 Dollar pro Jahr, die Bei der Deutscholympiade des Goethe-Instituts traten in Ber-
Wohnheimmiete ist im Preis lin 125 Jugendliche aus 64 Ländern an, um ihre Sprach-
mit drin. Seine Freizeit ver- kenntnisse unter Beweis zu stellen. Für Owen Adantey, 17, aus
bringt Joseph Baena – ganz Ghana ging es dabei um etwas ganz anderes als den Sieg.
der Vater – gern im Fitness-
studio der Uni. ks „Ich lerne seit zwei Jahren Deutsch in der Schule. Die
meisten Schüler wählen Französisch oder Spanisch, da
wollte ich etwas Besonderes machen. Am Anfang war es
schwer, all die Regeln zu lernen. In meiner Familie in
Durchblick monie für eine politische Ghana sprechen wir Krobo, da gibt es den Dativ und
Botschaft: „Nicht nur Israel Akkusativ gar nicht. Aber jetzt ist alles gut. Dieses Jahr
Drei ältere Herren blicken sollte vom Fortschritt pro- habe ich mich für die Deutscholympiade beworben, es
gemeinsam in die Zukunft: fitieren, sondern die gesamte gab eine schriftliche und mündliche Prüfung. Im Juni
Israels Präsident Reuven Rivlin, Region. Das Zentrum er- kam mein Lehrer zu mir und sagte: ,Owen, du hast ge-
76, sein Amtsvorgänger Shi- möglicht allen jungen Men- wonnen, du fliegst nach Deutschland.‘ Oh, das war su-
mon Peres, 92, und Minister- schen – Juden, Muslimen und per. Die Olympiade besteht aus drei Teilen. Meine erste
präsident Benjamin Netanyahu, Christen –, sich daran zu be- Aufgabe war eine Wandzeitung. Dafür wollte ich heraus-
66, testeten Virtual-Reality- teiligen.“ Präsident Rivlin finden, was Menschen in Berlin in ihrer Freizeit ma-
Brillen. Anlass für das Abtau- warb dafür, vermehrt Ultra- chen – und bin zum Tempelhofer Feld gefahren. Berlin
chen in künstliche Welten orthodoxe und Araber im ist ein ganz besonderer Ort, alles ist ordentlich, aber es
war die Grundsteinlegung für Hightechsektor zu beschäfti- sieht auch artistisch aus, mir gefallen die Graffiti an den
das „Israeli Innovation Cen- gen. Die Sätze von Peres und Wänden. Der Flughafen Tempelhof ist riesig, und es gibt
ter“ in Tel Aviv. Das Museum Rivlin dürfen als subtile so viele Menschen. Ich habe einen Skateboardfahrer und
soll für die Hightechindustrie Mahnung an Netanyahu ver- einen Mann mit Hund getroffen und darüber geschrie-
des Landes werben und als standen werden: Dessen ben. Als Nächstes mussten wir in einer Vierergruppe
Begegnungsstätte für Wissen- Regierung hat bisher wenig eine Präsentation zum Thema Wasser vorbereiten. Wir
schaftler und Unternehmer dafür getan, den Konflikt mit haben ein Lied geschrieben, getanzt und Werbung zum
dienen. Friedensnobelpreis- den Palästinensern zu ent- Thema Wasser entwickelt. Als Letztes haben wir ein
träger Peres nutzte die Zere- schärfen. mwo Quiz mit Bildern gemacht. In meiner Gruppe waren zwei
Mädchen, aus Irland und Vietnam, und ein Junge aus
dem Libanon. Für mich ist diese Erfahrung wichtiger als
zu gewinnen, ich lerne hier andere Leute und Kulturen
kennen. Was mir besonders gefällt: Es gibt keinen Ras-
sismus, die Hautfarbe ist egal, alle arbeiten zusammen,
egal ob schwarz oder weiß. Ich habe viele Freunde ge-
wonnen. Das schönste Erlebnis bei der Olympiade war
der Länderabend. Jeder musste sein Land vorstellen. Ich
habe traditionelle Kleidung aus Ghana vorgestellt. Sie
heißt Kente. In vier Jahren möchte ich nach Berlin zu-
rückkommen und an der Freien Universität studieren,
etwas mit Finanzen. Danach würde ich gerne bei einer
deutschen Bank arbeiten. Mit Frederyk aus Polen habe
DAN BALILTY / AP

ich schon verabredet, dass wir uns dann wiedersehen.


Wir wollen uns zusammen ein Fußballspiel angucken.“
Aufgezeichnet von Sven Becker

DER SPIEGEL 31 / 2016 135


„Auch wenn wir in politisch zunehmend schwierigen Zeiten leben,
hätte ich mir mehr Mut in den Äußerungen der Außenpolitik
demokratischer Staaten gewünscht. Schaut die Welt wieder nur zu?“
Christine Schmid-Witzsche, Haigerloch (Bad.-Württ.)

Erbärmliche Duckmäuserei im eigenen Land. Die andere Hälfte, die


gerade lautstark darüber jubelt, wie ihre
Merkel ließ sich einlullen
Nr. 31/2016 Es war einmal eine Demokratie – Diktator bürgerlichen Rechte im Eiltempo außer Nr. 29/2016 CSU-Politiker Gauweiler fordert Entschul-
Erdoğan und der hilflose Westen digung der Kanzlerin zum Irakkrieg
Kraft gesetzt werden, wird bald mit der
Als am 27. Februar 1933 der Reichstag ersten Gruppe vereint sein, allerdings dann Ein Wort der Entschuldigung für Merkels
brannte, war dies für die Nazis ein willkom- in der Dunkelheit der Willkür und Unter- nicht nachvollziehbare Unterstützung der
mener Anlass, Tausende Kommunisten, So- drückung. kriegsverbrecherischen Irakpolitik von Prä-
zialdemokraten, Gewerkschafter und Links- Nedju Buchlev, Berlin sident George Bush und seinen Hardlinern,
intellektuelle zu verfolgen, zu verhaften mit ihren verheerenden Folgen, ist seit über
oder zu vernichten. Was folgte, war die Unter Demokratie verstehe ich freie Wah- zehn Jahren überfällig. Merkel hat sich sei-
Verfestigung der Diktatur durch eine Not- len, Mehrheitsprinzip, Verfassungsmäßig- nerzeit im Vorfeld für den Irakkrieg ausge-
verordnung, das Ermächtigungsgesetz und keit, Schutz der Grundrechte und Achtung sprochen und Gerhard Schröders Ableh-
die Gleichschaltung. Diese Repressionsmaß- der Menschenrechte. Über Meinungs- und nung als „Irrweg“ bezeichnet. Und entgegen
nahmen stießen in der Bevölkerung weit- Pressefreiheit wollen wir gar nicht erst re- üblicher Praxis bezog sie als damalige deut-
gehend auf Zustimmung. Geschichte wie- den. Unser Bundespräsident Gauck appel- sche Oppositionsführerin bei einem Besuch
derholt sich zwar nicht, aber die Parallelen lierte an die türkische Regierung. Er sagt, im Weißen Haus Stellung gegen Schröders
zur Lage in der Türkei mag jeder selbst zie- die türkische Regierung muss bei der Auf- wohlbegründetes Verhalten. Wenn man
hen. Ich hoffe, dass in der Türkei genug kri- sich dann noch erinnert, wie Merkel sich
tische Kräfte Widerstand leisten, um die auch später Bush angebiedert hat, ist dies
Gewaltenteilung zu verteidigen. alles mehr als peinlich.
Ralf Pieper, Remscheid (NRW) Prof. Dr. Hael Mughrabi, Nürnberg

CHRIS MCGRATH / GETTY IMAGES


Die Türkei war nie ein demokratischer Jemand wie Herr Gauweiler, der immer
Rechtsstaat. Es gab von Zeit zu Zeit zwar wieder offenbart hat, dass er mehr Faschist
demokratische Fortschritte. Diese wurden als Demokrat ist, egal ob er Aidskranke in
aber von Erdoğan in den letzten Jahren Lager sperren wollte, ob beim Thema Wa-
nach und nach abgeschafft. Wiederholt ckersdorf oder Wehrmachtausstellung, der
sagte er sinngemäß, Demokratie sei für ihn Verständnis für die Annexion der Krim
ein Zug, mit dem er so lange fahre, bis er Großbildschirm mit Präsident Erdoğan hat, der ist nicht in der Position, von Mer-
sein Ziel erreichen werde. Zur Errichtung kel eine Entschuldigung zu fordern.
seines Sultanats braucht er ein Herrschafts- arbeitung der Ereignisse rechtsstaatliche Thomas Kneißl-Gehrmann, Ludwigshafen (Rhld.-Pf.)
system, das er der Welt als Demokratie Grundsätze wahren. Alles andere würde
unterjubelt und in dem er sich als Held die Demokratie in der Türkei beschädigen Den Brief würde ich auch unterschreiben.
der Demokratie feiern lässt. Dabei ist die … Gauck hat recht, aber ich frage mich, Friedrich Hendel, Zwickau
Gülen-Bewegung ein Mittel zum Zweck. welche Demokratie? Erdoğan war und ist
Dr. HIdIr Çelik, Bonn ein Diktator, und jetzt lebt er die Diktatur Der offene Brief beeindruckt auch inter-
aus. Und der Rest der Welt schaut zu. national. Merkel ließ sich einlullen, im Ge-
Fast weiß man nicht, was schlimmer ist: Arzu Bakici, Scharbeutz (Schl.-Holst.) gensatz zu Schröder. Die 200 000 Opfer
das Wüten des Tyrannen selbst oder die und der Hass auf die USA und den Westen
erbärmliche Duckmäuserei, die wir an- EU und Erdoğan, das erinnert an Bieder- sowie der IS sind kausalursächlich aus die-
stelle einer Haltung als einzige Reaktion mann und die Brandstifter. sem Krieg herausgewachsen. Es spricht für
zeigen. Wie weit wollen sich deutsche Poli- Friedrich Brehm, Frankfurt am Main die Bundesrepublik und ihre Politkultur
tiker noch erniedrigen, ihr gesamtes Han- sowie den SPIEGEL, dass solche offenen
deln einer elenden Mischung aus Heuche- Erdoğan gebärdet sich nicht erst seit ges- Briefe publiziert werden können.
lei, Feigheit und Political Correctness zu tern weitaus diktatorischer als Putin, trotz- Roger Schärer, Feldmeilen (Schweiz)
unterwerfen? Oder bin ich wirklich der dem ist und bleibt die Türkei Mitglied der
Einzige, der in der Nacht des Putsches Nato. Mit welcher Berechtigung wollen Ohne der Merkel-Schelte von Gauweiler
stundenlang wach blieb in der Hoffnung, wir jetzt noch den Kremlherrn und dessen und Wimmer das Wort reden zu wollen,
einen lupenreinen Faschisten stürzen zu Getreue wegen der Beschneidung und Be- bin ich sehr angetan von der Darstellung
sehen? Dass der gewaltsame Putsch immer seitigung von demokratischen Freiheiten einer der Hauptursachen für den Nahost-
Unrecht ist, dass jeder Tote einer zu viel kitisieren, wenn sich nicht einmal ein wich- konflikt, den völkerrechtswidrigen Ein-
und Erdoğan demokratisch gewählt ist, tiger Verbündeter an die grundlegenden marsch des westlichen Militärs in den Irak.
muss mir keiner sagen: Seine gewaltlose demokratischen Spielregeln hält? Ob Deutschland durch entschiedenen Wi-
demokratische Abwahl wäre mir auch lie- Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW) derspruch diesen geostrategischen Fehler
ber gewesen. hätte verhindern können, sei dahingestellt.
Michael Marquardt, Erlangen Eine stabile Wirtschaft, die ein Garant für Vielleicht ist aber das merkelsche „Wir
eine innere Stabilität sein wird, wird wohl schaffen das!“ ein bisschen auf die Einsicht
Durch die Ambitionen eines Einzelnen nicht ohne die EU möglich sein. Und das zurückzuführen, damals eine falsche Hal-
wird in der Türkei die eine Hälfte der Be- bedingt die Demokratie im Land. tung eingenommen zu haben?
völkerung unterdrückt und zu Fremden Rainer Szymanski, Grünheide (Brandenb.) Friedrich Kluth, Willich (NRW)

136 DER SPIEGEL 31 / 2016


Briefe

Bitte kein Pexit! thetik und den öffentlichen Raum besitzt,


und in der Folge darum, wem die Stadt
Nr. 29/2016 Potsdams Bürger wehren sich gegen den gehört. Wer von „sozialistischer Notdurft-
Abriss eines alten, hässlichen DDR-Hotels – warum?

REINHILD KASSING
Architektur“ spricht, darf nicht vergessen,
Die Potsdamer haben nicht vergessen, dass dass dieser zweckmäßige, schmucklose Stil
die Stadt erst kurz vor Kriegsende bom- in einer Zeit der Bedürftigkeit in ganz
bardiert wurde, aber dafür mit verheeren- Deutschland verbreitet war und ohne Mä-
der Wirkung. Ohnmächtig mussten sie mit- zenatentum und Stararchitekten auskom- Illustration zu „Duschen“ in Leichter Sprache
ansehen, wie die Reste der Garnisonskir- men musste. Jede geschichtliche Epoche Ein Mann sitzt in Badewanne und braust sich ab
che 1968 gesprengt wurden, und das wirkt hat unabhängig von ihrer aktuellen politi-
bis heute nach. Die Kirche wird bekann- schen Bewertung das gleiche Recht, archi- Nach dem Lesen war ich erst nicht sicher:
termaßen wiederaufgebaut. Warum also tektonisch im Stadtbild vertreten zu sein. Soll ich lachen, weinen oder erbrechen?
einen Fehler am früheren Interhotel wie- Wenn wir diese ästhetischen Spannungen Ich habe erbrochen. Leichte Sprache hilft
derholen? Das Gebäude ist praktisch schon aushalten, sind wir der Vergangenheit ge- den dummen Menschen nicht. Leichte
ein Denkmal, und vergleichbare Bausün- wachsen. Das Hotel als bauliche Landmar- Sprache macht dumme Menschen. Zuwan-
den gibt es auch im Westen. ke Potsdams zu erhalten und zugleich die derer sind doch keine Geistes-Kranken.
Sebastian Most, Löhne (NRW) Erinnerung an die Geschichte des Ortes Martin Neumann, Deutschlehrer für Zuwanderer, Lippstadt
zu pflegen ist kein Widerspruch.
Danke für die Darstellung! Potsdam führt Germar Schulte-Hunsbeck, Sindelfingen (Bad.-Württ.) Nach Neusprech, Reformsprech, Denglisch
eine Luxusdiskussion. Andere Städte wä- und Gendersprech nun also Leichtsprech.
ren froh, ein florierendes Hotel in expo- Bei aller DDR-Nostalgie – wenn schon Er- Das mündet in einer Kreolsprache oder Pid-
nierter Lage zu haben. halt, dann aber bitte total entkernt. Die gin, wobei eine Verständigung über diffe-
Klaus Felz, Potsdam Innenausstattung des Potsdamer Mercure renzierte Sachverhalte nicht mehr möglich
fand ich vor einigen Jahren so „notdürf- sein wird. Es etablieren sich Übersetzungs-
Den Beschluss von 1990 fasste eine Mehr- tig“, wie ich sie zu Zeiten des real existie- und Schreibbüros wie weiland in analpha-
heit der erstmals frei gewählten Potsdamer renden Kommunismus in keinem der äu- betischen Gesellschaften die schriftkundi-
Stadtverordnetenversammlung. Zahllose ßerlich ähnlichen Hochhaushotels erlebt gen Lohnschreiber. Der Irrweg ist das Ziel.
Menschen engagierten sich, auch für die habe. Udo Baukus, Gudensberg (Hessen)
Plattner-Idee „Kunsthalle statt Mercure“. Dr. Dorothea Schmitt-Hollstein, Karlsruhe
Für sie wie für die seit zwei Jahren er- Es manifestiert sich hier ein Menschenbild
starkte Gegenbewegung gilt gleicherma-
ßen: Sie sind älter oder jünger, arm oder
Schwer ist leicht was einiger Meinungsbildner, das früher der
Obrigkeit und der herrschenden Klasse als
reich, aus Ost und West, prominent oder Nr. 29/2016 „Leichte Sprache“ soll Menschen mit Identifikationskern diente: arrogant und
Lernschwierigkeiten helfen
auch nicht, die soziale „Frontlinie“ ist eine ausgrenzend, immer der eigenen gefühlten
Als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache Überlegenheit verpflichtet. Gut gemeint
verwende ich fast ausschließlich die Leich- ist nicht gleichbedeutend mit gut gemacht.
te Sprache im Unterricht, und zwar mit Richard-Jürgen Tietz, Bonn
positiven Ergebnissen. Sie verschafft den
Ausländern Erfolgserlebnisse, sie verste- Um es mit einer bayrischen Redewendung
hen wichtige Inhalte. Sie ist die Basis für zu sagen: Schwer ist leicht was! Nicht der
spätere Perfektion. Schließlich lernen deut- an Bildung Interessierte sollte sich auf ein
sche Kleinkinder genauso! niedrigeres Niveau begeben, sondern der
Regina Hendel, Zwickau weniger Gebildete sollte Interesse daran
haben, sich hochzuarbeiten.
AKG

Es ist der allgemeine Trend: Statt die Trä- Peter Wachter, Nürnberg
Interhotel 1969 (heute Mercure-Hotel) gen und Lernunwilligen für die Schule zu
interessieren und die wirklich Lernbehin- Hierzu Albert Einstein: „Man soll die Din-
Mär, ebenso die Idee einer einheitlichen, derten mit allen Mitteln zu fördern, orien- ge so einfach wie möglich machen. Aber
mit genau diesen Neubauten verbundenen tiert man sich lieber am Niveau der nicht einfacher.“
„DDR-Identität“. Die aktuellen Beschlüsse Schwächsten. Man hält das wohl auch noch Alexander Pieper, Essen
knüpfen am historischen Stadtgrundriss für sozial. Sieht man denn nicht, dass die
an, um eine lebendige, sozial ausgewogen deutsche Dichtung, die das größte Kulturgut Leichte Sprache kann doch niemals heißen,
bewohnbare Mitte wiederzugewinnen. Ein der Deutschen überhaupt ist, zunehmend dass wichtige Inhalte so stark verkürzt wer-
neues, kein historisch-preußisches Stadt- aus dem Bewusstsein verdrängt wird? den, dass der Sinn teilweise völlig entstellt
bild wird entstehen. Es wäre wenig hilf- Josef Vogt, Mülheim-Kärlich wird, wie ich es bei den Parteiprogrammen
reich für die Stadt, wenn sich die oft be- in Leichter Sprache gesehen habe.
rechtigten Unzufriedenheiten der alten Nichts gegen einfachere Texte bei Behör- Siglinde Haustein, Deutschlehrerin, Wolfhagen (Hessen)
Ostbevölkerung, zu der ich gehöre, aus- den, damit sich Menschen in der verwal-
gerechnet hier entladen würden. Ein Stopp teten Welt zurechtfinden. Und gern ein Hat man bei dieser Aktion vergessen, dass
an dieser Stelle wäre ein tief greifender Angebot für Leute mit Lernschwierigkei- vor allem jugendliche Deutsche bereits un-
Rückschlag für Potsdam insgesamt. Bitte ten. Aber müssen denn jetzt schon wieder ter einer Sprachverwahrlosung leiden?
kein Pexit für die Potsdamer Mitte! selbst ernannte Sprach-Obergurus große Friedrich Müller, Krumbach (Bayern)
Saskia Hüneke, Baupolitische Sprecherin der Potsdamer Teile der Bevölkerung versuchen zu ent-
Stadtfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Stadtverordnete mündigen? Um sich in einer Sprache auf Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
einem guten Niveau auszudrücken, bedarf (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Bei dem Abrissstreit geht es um die Frage, es der Anstrengung. sowie digital zu veröffentlichen und unter
wer die Deutungshoheit über bauliche Äs- Jutta Schnütgen-Weber, Kerpen (NRW) www.spiegel.de zu archivieren.

DER SPIEGEL 31 / 2016 137


Hohlspiegel Jetzt im Handel Rückspiegel

Zitate
Aus dem „Weser-Kurier“ Die „Welt“ zum SPIEGEL-Titel
„Wohin treibt die Türkei?“ (Nr. 26/2013):

Bildunterschrift aus der „Rhein-Zeitung“: Man (Erdoğan-Anhänger in der Türkei


„Eine Sanierung der Freiherr-vom- –Red.) versucht nicht nur, Orte mit
Stein-Grundschule wäre zu neuen Bildern zu überblenden, sondern
teuer, deshalb soll sie neu gebaut und auch Parolen zu überschreiben: Auf von
dann abgerissen werden.“ der AKP gedruckten Plakaten taucht
ein Spruch der Gezi-Proteste auf, der
es damals auf ein Titelbild des SPIEGEL
schaffte: „Boyun Eğme“ – „Beuge dich
nicht“. Auf den Plakaten steht nun:
„Diese Nation wird sich nicht beugen.“

Aus dem „Reutlinger Generalanzeiger“ Die „Welt“ zum SPIEGEL-Titel „Schuld


und Schein“ (Nr. 44/2015) über die
Machenschaften des DFB und die
Aus dem „Tagesspiegel“: SCHWERPUNKT: Verwicklung des damaligen Präsidenten
„Nach fünf Jahren gibt es keine Wolfgang Niersbach:
Entwarnung“, sagt Untch. Auch das LEADERSHIP
ist eine Eigenart dieses häufigsten Als der SPIEGEL den DFB im Oktober
Krebsleidens von Frauen. Eine, die für Weitere Themen: 2015 mit der Millionenzahlung konfron-
Jüngere besonders bedrohlich ist. tierte, gab Niersbach zu, bereits von der
Denn ältere Frau erleben solche ■ ZUKUNFTSSTUDIE Angelegenheit zu wissen. Warum das
Rückschläge häufig gar nicht mehr.“ So könnte die Welt der Wirt- Geld gezahlt wurde, konnte oder wollte
er nicht erklären, weder gegenüber den
schaft im Jahr 2036 aussehen übrigen DFB-Vorständen noch bei einer
Aus dem Kalender „Harenberg Wissen ■ BEST PRACTICE bizarren Pressekonferenz, deren Kern-
2016“: „Außerhalb Europas finden botschaft lautete: Ich weiß gar nichts.
sie sich u. a. im Baltikum, in Brasilien, Wie ein IT-Nerd seine Kurz darauf wurde er zum Rücktritt
Indien, Skandinavien und Südafrika.“ Schüchternheit überwand gedrängt.
und CEO wurde
Aus einem Interview der„BZ“ zu
dem SPIEGEL-Bericht „Der geht ab!“
(Nr. 29/2016) mit dem Bayreuth-
Dirigenten Hartmut Haenchen:
Aus der „Zeitschrift der Deutschen
Gesellschaft für Humanes Sterben“ Der SPIEGEL hat Sie abfällig als Kapell-
meister bezeichnet.

Aus dem Chemnitzer „Wochenspiegel“: Hartmut Haenchen: Für mich ist Kapell-
„Je nach Sorte benötigen die meister eine Auszeichnung. Das ist ein
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Säulenobstgehölze einen Pollenspender, Jetzt erstrebenswerter Titel. Es ist ja nur die


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abo.harvardbusinessmanager.de/ Fliegenden Spaghettimonsters Deutsch-
Aus dem „Schwarzwälder Boten“ angebot
land e.V.“, in der „Tageszeitung“ zum
SPIEGEL-ONLINE-Artikel „Mein Gott,
Aus der „Wetterauer Zeitung“: ein Nudelmonster!“ vom 23. August 2005:
„Verbrauchte Kalorien konnten alle beim
,Radeln für die Umwelt‘, beim Fußball- Als ich vor gut zehn Jahren im SPIEGEL
spielen oder einem der vielen anderen las, dass der Physiker Bobby Henderson
Sport- und Spielangebote wie dem www.harvardbusinessmanager.de aus Protest gegen die Zulassung der
Bobby-Car-Parcours abtrainieren.“ kreationistischen Pseudowissenschaft
an amerikanischen Schulen die Reli-
gionsparodie gründete, war ich sofort
begeistert. Das war total mein Ding,
und ich habe im Dezember 2005 die
Gemeinde Uckermark gegründet,
die Urzelle unseres Vereins, der 2006
Aus der „Main-Post“ eingetragen wurde.
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Ganz großes Feuilleton: Françoise Frenkel erzählt von Katja Lange-Müllers Roman Nach Auerhaus: Bov Bjergs
Jens Balzers Pop. Ein Panorama ihrer Flucht vor den Nazis: Nichts, über Lebens- und Liebeskrisen: Geschichtenband Die Modernisierung
der Gegenwart Seite 4 um sein Haupt zu betten Seite 10 Drehtür Seite 12 meiner Mutter Seite 13

Autorin Cline
Roman über Blumenkinder, die zu Mörderinnen wurden

Manson, 81, ist verurteilt als Anstifter von sie-

Sehr böse Mädchen ben Morden, die junge Frauen und Männer aus
seiner Hippiegang im Jahr 1969 in Los Angeles
begangen haben; unter den Mordopfern war die
Schauspielerin Sharon Tate, die zum Zeitpunkt
Die junge Amerikanerin Emma Cline erzählt in The Girls der Tat von Roman Polanski schwanger war. Seit
bald fünf Jahrzehnten ist Manson eine amerika-
vom kalifornischen Sommer des Jahres 1969 – nische Obsession. In Dokumentationen, Spielfil-
und von den Jüngerinnen einer Farmkommune, die an men, True-Crime-Büchern und Popsongs sinnie-
ren viele schlaue und nicht so schlaue Menschen
die Killerbande von Charles Manson erinnert. über die immer gleiche Frage: Wie konnte ein
nur 1,57 Meter großer, zottelhaariger Waldschrat,
der leidlich die Gitarre schrammelt und von der
Von Wolfgang Höbel beschenken wollen. Vor knapp zwei Jahren etwa Weltrevolution schwadronierte, eine derart dia-
hat eine 26-jährige Amerikanerin die offizielle Er- bolische Macht ausüben?
DAS HAKENKREUZ-TATTO O auf seiner Na- laubnis erwirkt, den Häftling zu heiraten, der im „Du wirst ihn lieben“, heißt es über einen ge-
senwurzel ist verblasst, das Feuer in seinen be- California State Prison der Stadt Corcoran eine walttätigen Anführertypen mit haarigen Waden,
rüchtigten Glotzeaugen wirkt auf neueren Fotos lebenslange Haftstrafe verbüßt. Schmutzfingernägeln und bohrendem Blick in
nahezu erloschen. Trotzdem gibt es bis heute jun- Aus der Hochzeit wurde dann aber doch dem Roman The Girls. Das Buch berichtet von
ge Frauen, die Charles Manson mit ihrer Liebe nichts. den Sitten und Gebräuchen in einer Hippiekom-

...LESEN SICH AUF


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Mit eingebautem Licht, das nicht blendet. Und Zugang zu Millionen eBooks.
2
mune im Kalifornien des Jahres 1969. „In seiner Rechte an The Girls und zwei Folgeromanen – für tragen Wallekleider, entblößen frech ihre Brüste
Nähe zu sein ist wie ein natürliches High“, wird mehr als zwei Millionen Dollar. und erscheinen Evie mit ihren fliegenden Haaren
über deren Chef geschwärmt. Er weist auch sonst Tatsächlich ist Clines Romandebüt, als es vor und ihrem Glitzerschmuck wie „Fürstinnen im
jede Menge Ähnlichkeiten zu Charles Manson ein paar Wochen in den USA erschien, sofort auf Exil“.
auf. der Bestsellerliste der „New York Times“ gelandet. The Girls ist ein Erinnerungsbuch, in dem Evie
Trotzdem ist The Girls, und das ist eine erfreuliche manchmal aus der Sicht einer älteren Frau erzählt,
Überraschung, letztlich kein Buch über Charles die viele Jahrzehnte nach dem Sommer von 1969

D IE SCHRIFTSTELLERIN Emma Cline


ist 27 Jahre alt und im nordkalifornischen
Manson.
So deutlich Russell, der im Roman über eine
keinen rechten Platz im Leben gefunden hat –
und die nun halb erschauernd, halb staunend be-
Sonoma mit vielen Geschichten über Hippiegemeinschaft regiert – ein mal charmanter, richtet von den Freuden und Schrecken ihrer Pu-
Manson aufgewachsen. Sie erinnert sich sogar an mal fieser, auf viele junge Frauen und bertät. Die prägende Erzählstimme aber
sonntägliche Ausflugsfahrten im Kindesalter, in Männer unheimlich anziehender Kerl –, gehört der jungen Evie.
deren Verlauf ihre Eltern aufgeregt mit den Fin- nach dem Gruselvorbild des Charles Sie ist sofort hingerissen von dem ge-
gern fuchtelten, wenn man Mansons Gefängnis Manson modelliert sein mag: Er ist nur heimnisvollsten, anziehendsten, zwang-
passierte. „Der Manson-Kult ist ein Mythos, dem eine Nebenfigur in einem Drama, in dem losesten der Hippiemädchen im Park, ei-
man nicht entgehen kann, wenn man in Kalifor- es um die ziemlich aktuelle Frage geht, ner Schwarzhaarigen, deren Namen sie
nien groß wird“, sagt Cline. warum scheinbar harmlose junge Men- bald herausfindet; das magische Mäd-
Sie hat diesen Mythos zu einem sensationel- schen sich jäh radikalisieren und aus fast chen heißt Suzanne. Und Evie schafft es
len Karrierestart genutzt. Als Cline im Jahr 2014 spontaner Verblendung zu Mördern wer- ziemlich schnell, von Suzanne und ihren
ihren Agenten verbreiten ließ, dass sie an einem den. Dieses Drama spielt sich unter zwei Emma Cline: The Freundinnen in deren schwarz angemal-
Girls. Aus dem
Roman arbeite, der sich um eine mörderische Mädchen ab; einer 14-Jährigen und einer ten Schulbus gehievt zu werden. Auf der
amerikanischen
Hippiegemeinschaft nach dem Vorbild der Man- 19-Jährigen, von denen die Ältere für Englisch von
Fahrt zur Farm der Hippies wird die neue
son Family dreht, gerieten zahlreiche US-Verleger viele Jahre im Knast landen wird. Nikolaus Stingl; Passagierin mit „animalischer Aufmerk-
in Verzückung. Es kam zu einem Wettbieten gro- Im Sommer des Jahres 1969 sind die Hanser Verlag; samkeit“ beäugt.
ßer Verlage, am Ende erwarb Random House die Eltern der Icherzählerin Evie frisch ge- 350 S.; 22 Euro. Emma Clines Debüt ist ein Buch
schieden, und Evie ist so unglücklich über archaische Triebe und erwachendes
und abenteuerlustig, wie man mit 14 in einer Begehren, über den revolutionären Moment, in
AUSSERDEM IM Katja Lange-Müllers langweiligen kalifornischen Mittelklassevorstadt dem ein Teenagerhirn plötzlich die Verheißungen
LITERATUR SPIEGEL: Roman Drehtür S. 12 nur sein kann. In ihrem Körper fühlt sie sich un- der Freiheit entdeckt, über den Reiz der Regel-
Jens Balzers Sachbuch Bov Bjergs wohl; die Kleidung ihrer Mutter und die neue verletzung. Evie klaut Geld von ihrer Mutter und
Pop. Ein Panorama Geschichtenband Die Freundin ihres Vaters sind ihr noch peinlicher besorgt Essen für ihre neuen Freundinnen, sie
der Gegenwart S. 4 Modernisierung meiner als deren Gerede; sie wird gequält vom „schmerz- wird von Suzanne gehätschelt, darf Zigaretten
Mutter S. 13
haften Empfinden“ der Ödnis ihrer Wohnhölle rauchen und Trips schmeißen. Und bald wird sie
BELLETRISTIK &
SACHBÜCHER S. 6 KULTURPROGRAMM und der Tumbheit ihrer besten Schulfreundin. dem Gemeinschaftsguru Russell in dessen Wohn-
IM AUGUST S. 14 Ein bisschen stolz ist Evie nur darauf, dass ihre wagen sexuell zu Willen sein. Er begrapscht ihr
Françoise Frenkels Abgesang: Ein Gedicht
Großmutter einst eine berühmte Hollywood- Genital, schwallt sie mit Schmeicheleien zu und
Erinnerungsbuch von Jan Wagner S. 18 schauspielerin war – und mit der prahlt sie auch onaniert auf ihre nackte Haut. „Hinterher reichte
Nichts, um sein Haupt
zu betten S. 10 IMPRESSUM S. 18
gleich, als sie eines Tages mit ein paar Herum- er mir jedes Mal ein Handtuch, das empfand ich
treiberinnen ins Gespräch kommt, die sich als als große Freundlichkeit“, berichtet Evie, erfüllt
Revoluzzerinnen gebärden. Die jungen Frauen von der Hoffnung, durch Russells Zuwendung

Titelbild: Neil Krug; Fotos: George Brich / AP; Michael Ochs Archives / Getty Images (r.)

Verhaftete Manson-Anhängerinnen Susan Atkins, Patricia Krenwinkel, Leslie Van Houton 1970
Mit kaltem Lächeln in die Schlacht
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in der Gruppe an Achtung zu gewinnen: „Ich
war auf unsere Begegnungen erpicht.“
Es ist eine sanfte Komik, die Cline in solche
Beschreibungen packt, und zart hingestrichelt
sind auch die Skizzen, in denen sie die Atmosphä-
re des Sommers 1969 beschwört, ohne mit pop-
musikalischen Feinheiten detailzuhubern. Über
den Protest der Hippiejugend gegen Amerikas
Krieg in Vietnam grübelt Evie: „Ich wusste nicht,
welchen Grad von Entrüstung über den Krieg ich
zeigen sollte und wie ich über die Studenten reden
sollte, die die Polizei mit Steinen bewarfen oder
Passagierflugzeuge kaperten und verlangten, nach
Kuba geflogen zu werden.“
Manchmal glaubt man The Girls anzumerken,
dass die Schriftstellerin Cline, die an der New Yor-
ker Columbia Universität studiert hat, ihren Stil
in Schreibkursen geschult hat wie praktisch alle
jüngeren US-Autoren. Mitunter reizt sie in ihren
Sätzen die Kunst der lyrischen Paraphrase ein biss-
chen selbstverliebt aus, manchmal lässt sie ihre
Heldin in fröhlicher Metaphernseligkeit vor sich
hinplappern. Allerdings ist der poetische Über-
druck, der sich da bemerkbar macht, sehr typisch
für die Art, in der sehr junge, ihren Eigensinn
und ihre Sexualität entdeckende Menschen nun
mal empfinden. „Mein immer wieder aussetzender
Häftling Manson 1970
Teenagerverstand gierte nach Kausalitäten, nach „Es kommt der Tag, an dem ihr euch alle gegenseitig umbringen werdet“
Verknüpfungen, die jedes Wort, jede Geste, mit
Sinn aufluden“, beschreibt die Erzählerin in der
Rückschau ihren Zustand in jenem Sommer. man weiß, von ihrem Guru auf der Straße aufge- takuläre Rahmen einer schrecklichen, grandiosen
Emma Cline, die ihre Geschichten schon früh lesen und dann mit Lob, Sex und Ohrfeigen ge- Liebesgeschichte. Die spielt sich fast ausschließ-
in wichtigen amerikanischen Zeitschriften wie fügig gemacht. Mansons Family bestand aus ei- lich in Evies Kopf ab. Jede kleine Zurückweisung
dem „New Yorker“, „Slate“ und „The Paris Re- nem harten Kern von ungefähr 15 jungen Frauen, stachelt das Mädchen noch an in ihrer Liebes-
view“ veröffentlichen durfte, ist eine ziemlich deren jüngste erst 13 Jahre alt war, und ein paar sehnsucht. Als „unerklärliche Wohltat“ empfindet
abgebrühte Autorin. Und sie ist beeindruckend wenigen Männern; die Gier nach Erleuchtung sie es, wenn Suzanne ihr Haar striegelt oder ihr
virtuos darin, Worte für das Sehnen und den und grotesken Verschwörungstheorien trieb der Zöpfe flicht, wenn die Ältere ihre Hand ergreift
Herzschmerz einer 14-Jährigen zu finden, ihre Gruppe rund achtzig lose Anhänger zu. Ganz oder sie gar „ihren herben Atem an meinem Hals“
Verlorenheit, ihre kindische Sucht nach Anerken- ähnlich wird Russell von anreisenden und abrei- spüren darf. Mit großer Einfühlungskraft wird
nung, ihre Lust an der Gefahr. „Arme Mädchen“, senden Fans umschwirrt. Die Gäste laben sich an hier der süße Wahn und der Abgrund einer ob-
sessiven Mädchenfreundschaft geschildert.
Es gibt mehrere Stellen in diesem Buch, bei
Die Heldin erkennt, welche Gewalt in ihrer denen man sich als Leser an einen berühmten

Ersatzfamilie gärt. Drogen und Sex machen nicht


Film über eine andere sehr böse pubertäre Mäd-
chenliebe erinnert fühlt, an Peter Jacksons „Hea-
frei, sondern schaffen neuen Psychodruck. venly Creatures“. Dort sagt eine der Heldinnen:
„Es ist traurig für die Welt, dass sie nicht erkennen
kann, welche Genies wir beide darstellen.“
heißt es an einer Schlüsselstelle des Buchs. „Die der frischen Luft, am eigenen, oft drogenverne- Im Größenwahn der Liebe verklärt auch Evie
Welt mästet sie mit der Verheißung von Liebe. belten Gerede und an der „kühlen Fülle von Rus- sich und die Geliebte zu himmlischen Geschöp-
Wie dringend sie sie brauchen, und wie wenig sells Worten“. Sie folgen dabei, so kommt es Evie fen, die über allen Gesetzen stehen. Die Entzau-
die meisten von ihnen je bekommen werden.“ vor, der Losung: „Kein Ego mehr, schaltet den berung kommt spät. Suzanne hat sich von Rus-
Nur allmählich erkennt Evie, welche Gewalt Verstand aus.“ sell zum Mordwerkzeug abrichten lassen. Mit
in ihrer Ersatzfamilie gärt. Suzanne ist rücksichts- Manchmal machen sie sich auch bloß nackig. kaltem Lächeln zieht sie in die Schlacht, die Hel-
los, herrisch und zunehmend verstimmt, weil ihre Wenn die Mädchen von ihrem Guru alleingelas- din bleibt zurück. „Wie eine Reihe zerlumpter
und Russells Zukunftsvisionen kläglich verpuf- sen werden, lungern sie an einem kleinen Fluss- Entenküken“ kommen ihr die zum Massakrieren
fen. Das angeblich überlegene Lebensmodell der lauf auf dem Farmgelände herum und langweilen ihrer vermeintlichen Widersacher entschlossenen
Hippiegemeinschaft wird im WG-Alltag von Hun- sich im „dösigen Schatten“ einer Baumgruppe Kampfgefährtinnen plötzlich vor.
ger und Verwahrlosung und Katzenkotgestank zwischen grün bemoosten Felsen. Es sei ein Irrtum, so zu tun, „als hätten die
geprägt. Die vermeintliche Befreiung durch Dro- Suzanne kommt auf die Idee, die Jungs der Männer die Mädchen zu allem gezwungen“, heißt
gen und Sex schafft neuen Psychodruck. Selbst Kommune zu einem kleinen Machtspiel heraus- es einmal in Emma Clines Buch. Die Autorin sagt,
aus der von Russell als unausweichlich prophe- zufordern: Sie triezt die Männer so lange, bis sie das Motiv für ihre Beschäftigung mit den histo-
zeiten Popstarkarriere wird nichts. Der einzige ihre Jeans herunterlassen. „Auf den Fotos lächeln rischen Morden der Manson Family habe nie dem
echte Star, den die Hippies kennen, ist ein Rock- die Männer schüchtern“, stellt die Erzählerin fest. angeblichen Drahtzieher gegolten. „Mich in-
musiker namens Mitch, er soll ein Album mit „Vom entlarvenden Blitzlicht erbleicht, nur Haare teressiert, was es ist, das Frauen dazu bringt, sol-
Russell produzieren. Dafür schickt Suzanne ihre und feuchte Tieraugen. ,Es ist kein Film in der che Verbrechen zu begehen.“
kindliche Freundin Evie mit Mitch ins Bett. Weil Kamera‘, sagte Suzanne jedes Mal, obwohl sie Man kann nicht sagen, dass dieser psycholo-
Mitch trotzdem nicht spurt wie erhofft, be- im Laden eine Rolle geklaut hatte. Die Jungs ta- gisch präzise, nur manchmal hippiesk blümerante
schließt die Gang eine Racheaktion: Suzanne soll ten so, als glaubten sie ihr. So war es mit vielen Roman wirklich neue Erkenntnisse findet bei der
ihm mit anderen Gangmitgliedern eine Lektion Dingen.“ Erforschung solcher Schuldfragen. Die alt gewor-
erteilen. Aus der wird ein Blutbad. dene Evie behauptet irgendwann, dass sie in sich
Viele Details der Romanstory von The Girls denselben Hass entdeckt habe, der Suzanne mit
sind der wahren Manson-Geschichte nachemp-
funden. In Mitch beispielsweise kann man Züge N ATÜRLICH GEHT EVIE SELBST in
ganz ähnlicher Weise den Verführungs-
dem Messer zustoßen ließ, „als versuchte sie, eine
rasende Krankheit loszuwerden“.
des Beach-Boys-Musikers Dennis Wilson entde- spielen ihrer Freundin auf dem Leim. Sie Das ist dann schon sehr nah an Charles Man-
cken, von dem der reale Manson sich nicht bloß berauscht sich an der mysteriösen Kraft, die Su- sons Prophezeiung, dass dereinst der Killer in
ungefragt die Kreditkarte auslieh, sondern an- zanne ausstrahlt, und sie ist bald bereit zu einer uns allen erwachen werde. „Es kommt der Tag,
geblich auch Hilfe beim Aufstieg zum Weltruhm fast bedingungslosen Unterwerfung. Wenn The an dem ihr euch alle gegenseitig umbringen wer-
erhoffte. Die meisten der jungen Frauen der Man- Girls mit großer Präzision von den Bluttaten von det“, hat der böse alte Mann aus dem California
son Family stammten aus ähnlich kaputten Fa- 1969 erzählt, von einem ziemlich irren Guru, der State Prison verkündet. „Ich bin nicht verrückter
milien wie die Mädchen, denen Evie begegnet. sich für erleuchtet hält, und von den Hippiehirn- als alle anderen Menschen. Ich bin das Spiegel-
Auch Mansons reale Jüngerinnen wurden, soweit gespinsten jenes Sommers – ist das nur der spek- bild dessen, was in jedem von euch lauert.“
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Nacht für Nacht


Der Konzertkritiker als Hauptstadtfeuilletonist: Jens Balzer findet in Pop. Ein Panorama der
Gegenwart den Weg von Helene Fischer zum Berghain.

Von Tobias Rapp

D IESES BUCH BEGINNT mit Helene Fi-


scher. Daran ist auf den ersten Blick nichts
Ungewöhnliches, wer ein Buch über Pop
schreibt, und es im Untertitel Ein Panorama der
Gegenwart nennt, sollte sich auch über die popu-
lärste deutsche Sängerin der vergangenen Jahre
seine Gedanken machen. Allerdings ist die deut-
sche Popkritik normalerweise eine ziemliche Bes-
serwisserangelegenheit – und über Helene Fischer
wird bestenfalls gelästert. Wenn es gut läuft, wird
ihr Erfolg erklärt. Jens Balzer dagegen nimmt sie
künstlerisch ernst. Er geht auf ihr Berliner Kon-
zert und beobachtet, wie sie Prince und Van Halen
zitiert, wie sie Motive aus Vivaldis „Vier Jahres-
zeiten“ anspielt und ihre eigenen Lieder mit Tech-
nobeats versetzt. Dies sei der Eklektizismus der
Post-Postmoderne, schreibt er, Musik wie aus dem
Zufallsgenerator, im Schlager verwurzelt und
gleichzeitig überall auf der Welt zu Hause, voll-
kommen entgrenzt – und offensichtlich der pop-
kulturelle Normalzustand in Deutschland. Vor
20 Jahren wäre das „noch nicht denkbar gewesen“.
Was ist seitdem passiert? Davon handelt dieses
Buch. Wie die Digitalisierung die Hörgewohnhei-
ten verändert hat. Wie die sofortige Verfügbarkeit
aller Lieder, die je aufgenommen worden sind,
das Musikmachen umwirft. Wie sich die neuen
Geschlechterverhältnisse im Pop ausdrücken. Wie
radikale Kleinkunst und nicht ganz so radikaler
Mainstream immer neu zueinanderfinden und
wieder auseinandergehen. Die ganz großen The-
men also – und selten wurden sie so kurzweilig
dargeboten.
Jens Balzer, 47, ist Popredakteur und der stell-
vertretende Leiter des Kulturteils der „Berliner
Zeitung“. Das ist jene gebeutelte Ostberliner
Tageszeitung, die in den Neunzigern einmal zur
deutschen „Washington Post“ aufgemotzt werden
sollte – was natürlich nicht klappte –, dann mehr-
mals den Besitzer wechselte, zwischenzeitlich von
einer Investoren-Heuschrecke angefressen wurde
und heute nur noch als Schatten ihrer alten Größe
am Kiosk hängt. Gerade gibt es mal wieder neue
Pläne, demnächst wird sie aus ihrem Stammhaus
am Alexanderplatz ausziehen und in einem neuen
Gebäude unterkommen. Sie soll jetzt eine „digitale
Hauptstadtzeitung“ werden, viel Glück dabei.
Auf den Seiten dieses Blatts allerdings, und
im Windschatten der Nichtberliner Öffentlichkeit,
führt Balzer seit gut 15 Jahren eine Show auf, die
wahrscheinlich nur mit dem Schaffen des legen-
dären Theaterkritikers Alfred Kerr aus den ersten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vergleichbar ist.
Balzers große klingende Wunderwelt – Nacht für
Nacht treiben sich Balzer und seine zwei oder drei
Mitarbeiter auf den Konzerten der Hauptstadt he- ist der Großkritiker, von dem man seit dem Fall ist eben nur zur Hälfte der Schreibtischtäter der
Illustration: Victor Bregante / kombinatrotweiß

rum, um am nächsten Morgen brillant, kenntnis- der Mauer immer geträumt hat. Was natürlich Tagstunden. Des Nachts ist er da, wo die Musik
reich, subjektiv und ungerecht darüber zu schrei- auch daran liegt, dass Musik die Kunstform ist, in spielt, und versucht, Hipsteralarm und Main-
ben. Dem Traum vom großen Hauptstadtfeuille- der sich das neue Berlin spiegelt. In ihren Klängen streamgeschunkel zusammenzukriegen – indem
ton sind ja einige Autoren gefolgt und von Mün- können sich alle finden; Ossis, Wessis, Deutsche, er alles unter seinem Autoren-Ego zusammen-
chen und Frankfurt nach Berlin gezogen – ge- Nichtdeutsche, Dumme und Kluge. Das hat auch zwingt. Vor diesem Mann sind alle gleich, jede
klappt hat es eigentlich bei keinem. Jens Balzer mit Balzers Vorstellung vom Kritiker zu tun: Er und jeder, die sich für einen Abend in der Haupt-
für LITERATUR SPIEGEL

stadt die Ehre geben.


Superstars wie Helene Fischer oder Lady Gaga,
wie Amy Winehouse und Adele, eigenartige Frau-
BALZER, Jahrgang 1969, ist stellvertretender Ressortleiter im Feuilleton der en wie Joanna Newsom oder Julia Holter, Doom-
„Berliner Zeitung“. Außerdem lehrt er Popkritik an der Universität der Künste Metaller wie die geheimnisvollen Mönchskutten-
in Berlin und veranstaltet regelmäßig den Popsalon im Deutschen Theater. träger von Sunn O))), J-Pop-Bands, Neofolk-Bart-
5
träger wie Devendra Banhart, Antony Hegarty, die die Geschichte des schrumpfenden Phallus. Das über alles geliebten Doom-Metal-Experimentalis-
sich nun Anohni nennt, Rammstein natürlich, aber Zeitalter der Rockband ist vorbei, und an die Stelle ten Sunn O))) entdeckt er „das widersprüchliche
auch die Strokes oder die Improv-Krach-Combo der Jungs, die mit Gitarre, Bass und Schlagzeug Glück des Einswerdens mit dem monotonen
Animal Collective. die Welt erobern, ist eine Vielzahl anderer Ent- Krach“. An Justin Bieber interessiert Balzer vor
Dafür hat Balzer eine neue journalistische würfe getreten. Pop ist weiblicher, schwuler und allem, dass er nach dem Konzert in einem Klub
Form eingeführt, fast alle seine Kritiken beginnen queerer als früher – und Maschinen sind gleich- landet, wo Biebers Musik in ultraverlangsamten
wie eine Meldung: „Zu einem Gipfeltreffen der berechtigte Instrumente geworden. Diese These Versionen gespielt wird und sich auf einmal anhört
Superstars der deutschsprachigen Popmusik ist es hat natürlich ihre Grenzen. Wie etwa das Beispiel wie „Geistermusik aus dem Jenseits“.
am Sonnabend in der ausverkauften Waldbühne Rammstein zeigt – die erfolgreichste deutsche Balzer interessiert am Pop das, was die Psy-
gekommen; vor 20 000 begeisterten Zuschauerin- Band steht ja gerade dafür, dass sowohl das Prin- choanalyse das polymorph-perverse Begehren
nennt. Für das Abgelegene, das sich hier auf die
Bühne traut. Was ihn nicht interessiert: die ganze
aufrechte Mittelschichtsrockschaffe der vergange-
nen Jahre. All diese Bands, die die mittleren Hallen
füllen. Balzer geht in die große Arena oder in den
kleinen Saal. Hip-Hop, die größte Jugendkultur
der Gegenwart, kommt in Pop so gut wie gar nicht
vor. Möglicherweise ist Balzer die Unterschichts-
männlichkeit der Rapper fremd, vielleicht mag er
diese Musik auch deshalb nicht, weil sie ihren
Raum vor allem auf der Straße oder im Internet
hat – nicht im Konzertsaal. Balzer ist ja nicht mal
bei Facebook. Musik findet in Pop vor allem auf
der Bühne statt.
Das ist ein sehr moderner Blick: Auf der Büh-
ne wird schließlich seit dem Zusammenbruch der
Tonträgerindustrie das große Geld verdient, nicht
mehr mit dem Verkauf von Platten oder CDs.
Gleichzeitig ist das aber auch sehr demokratisch:

Balzers Show ist


nur mit dem Schaffen
des legendären
Kritikers Alfred Kerr
vergleichbar.

Jeder hat seine Chance in der großen Balzer-Show,


mit jeder Band, jeder Sängerin, jedem Popstar ver-
bringt er zwei Stunden seines Abends. Jedes Genre
der Kulturkritik hat seine großen Jahre. In den
späten Sechzigern und frühen Siebzigern war das
die Filmkritik, hier wurden sich die großen Ge-
danken über die Welt gemacht. In den späten
Neunzigern und frühen Nullerjahren war die so-
genannte Netzkritik ein Feld, in dem sich die jun-
gen und klugen Denker tummelten. Die große Ära
der Popkritik in Deutschland waren eigentlich die
Achtziger, als Hippies und Punks ihre Defini-
tionsmacht über die Jugendkultur verloren hatten,
als die linken Bewegungen auf dem Rückzug wa-
ren und all das Platz ließ für aufregende Artikel
über aufregende Platten.
Das ist lange vorbei. Der Kritiker Diedrich
Diederichsen, eine der Hauptfiguren jener golde-
nen Zeit der Popkritik, hat vor zwei Jahren in sei-
nem Buch Über Pop-Musik gleich den ganzen Pop
beerdigt. Die Ära dieser Kunstform falle im Gro-
ßen und Ganzen mit seinen biografischen Daten
zusammen, schrieb Diederichsen, Geburt in den
Fünfzigern, Ende jetzt, zeitgleich mit dem Erschei-
nen von Über Pop-Musik. Große Geste natürlich,
Popkritik sollte ja auch selbst immer Pop sein.
Aber auch Quatsch. Pop kann immer noch ein
Seismograf der Gegenwart sein – wenn sich ein
nen und Zuschauern boten Andrea Berg, Roland zip Jungsbande noch funktioniert als auch die Fei- Autoren-Ego findet, das ein Konzert dazu hoch-
Kaiser, Matthias Reim, Michelle, Jürgen Drews er der Maskulinität. schreiben kann.
und viele andere ein Potpourri ihrer größten Er- Balzer würde dem wohl widersprechen. Ge- Das Buch endet übrigens im Technoklub
folge und neuesten Kompositionen dar“, ließ er rade Rammstein, schreibt er, seien vor allem Berghain, einen Steinwurf entfernt von der Mehr-
neulich eine Text über die Schlagernacht des Jah- Männlichkeitsdarsteller und ihr Treiben eine gro- zweckhalle, in der auch Helene Fischer gespielt
res beginnen. So schreibt er auch über obskure ße Maskerade. Der Rammstein-Sänger Till Lin- hat. Am Rand der Tanzfläche. Mit einem Gespräch
skandinavische Krachbands oder über Beyoncé – demann wirke doch wie ein Wesen, das „gerne ei- über Musik. Die einen suchen ihr Glück hier. Die
dieser standardisierte Anfang ist seine Rampe, um nen Penis hätte, aber keinen besitzt und deshalb anderen ein paar Hundert Meter entfernt. Jens
sich dann zu den schönsten gedanklichen Höhen- zur Prothese greifen muss“. Er schreibt über Amy Balzer lässt beide zu ihrem Recht kommen. Mehr
flügen zu erheben. Pop ist die Zusammenfassung Winehouse, zu deren erstem Berliner Auftritt er kann ein Kritiker nicht schaffen.
seines Nachdenkens über die Gegenwartskultur, sich eher zufällig verirrt (sie ist für ihn die Erbin
und die große These des Buchs lautet: Die Ge- jener heroischen männlichen Selbstzerstörer, die Jens Balzer: Pop. Ein Panorama der Gegenwart.
schichte des Pop des vergangenen Jahrzehnts ist gerade abgewirtschaftet haben). Bei den von ihm Rowohlt Berlin; 256 Seiten; 20 Euro.
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fahren die Hinterwäldler, wenn sie denn
lesen können, von den Gräueln in Verdun
und auf anderen europäischen Schlacht-
feldern. Und gerade eben bekommen sie
auch noch mit, dass ihr Land jetzt eben-
falls Deutschland den Krieg erklärt hat.
Warum, weiß in diesem Buch niemand. Im
Europa des Ersten Weltkriegs schafft sich
die Zivilisation selbst ab – in Pollocks
Südstaatenamerika ist sie noch gar nicht
angekommen. Da hat man zwar schon
davon gehört, dass es anderswo Frauen in
Hosen geben soll, die eigenhändig Au-
tomobile steuern, während man selbst
kaum die eigenen ausgemergelten Gäule
in den Griff bekommt. Die Welt aber
bleibt den zumeist männlichen Figuren
eine Zumutung, der sich nur mit Gewalt
begegnen lässt. Der Mensch ist in Pollocks
Roman weniger der wichtigste Antreiber
der Zivilisation als deren schlimmster
Belletristik & Sachbücher

Feind. Christian Buß

Verschwörung
allenthalben

Beide schreiben und zeichnen und haben


Erst mal an den dich ziemlich genau getroffen. Rein in die
Strand Fluten! beginnt dort, wo jeder gute Som-
mertag beginnt, an der Tankstelle, auf der
David Prudhomme, Pascal Rabaté: Rein in Autobahn. Dann geht es auf die Prome-
die Fluten! Reprodukt; 120 Seiten; 24 Euro. nade und schließlich ans Meer. So, wie
am Strand die Wellen ans Land schwap-
Lieber Sommertag, launisches Etwas, pen und wieder verschwinden, kommen
dem zahllose Menschen durch ganz und gehen in dieser Geschichte die Men-
Thomas Kapielski: Leuchten. A- und
Europa hinterherreisen, nur um festzu- schen und ihre Tiere, die einen zum Auf- So-phorismen. Edition Suhrkamp; 160 Seiten;
stellen, dass du doch wieder weg bist – blasen, die anderen aufgeblasen. Mal liegt 12 Euro. Erscheint am 8. August.
jetzt hab ich dich! Nicht ganz, zugege- eine Jakobsmuschel im Sand, mal bloß
ben; wie sollte das auch gehen bei einer eine alte Plastikflasche. Nach Hause aber Der Berliner Gesamtkünstler Thomas
derart flüchtigen Angelegenheit, aber im- können wir erst dann, wenn wir den Kapielski, Musiker, bildender Künstler
merhin doch auf dem Papier, in einem Autoschlüssel wiedergefunden haben – und eigensinniger Erzähler seines Lebens
Comic, festgehalten von den Franzosen wo ist der bloß? In diesem Buch auf der in Berlin (Hauptwohnsitz) und anderswo
David Prudhomme und Pascal Rabaté. letzten Seite. Sebastian Hammelehle (auf Berufs- und Vergnügungsreisen) legt
A- und So-phorismen vor, Sentenzen also,
die das Denkwürdige, das So-Seiende und
die geglückte Albernheit umfassen sollen.
ben wie ihr literarisches Vorbild; wo die Wer ein Fan seiner Geschichten ist, in
Totschläger und drei hässlichen Maisköpfe auftauchen, denen er die Misshelligkeiten des Alltäg-
Hungerleider bleiben meist Leichen mit weggeschosse-
nen Köpfen zurück. Von Frauen können
lichen auf entspannte Weise in hochkomi-
sche Sätze bringt, muss sich auf Enttäu-
sie nur träumen. Donald Ray Pollock ist schungen gefasst machen. Nach wie vor
der Großmeister der Hillbilly-Prosa. In kommentiert Kapielski so beiläufig wie
Büchern wie Knockemstiff hat er so detail- pointiert die wechselhaften Gepflogenhei-
liert wie raffiniert davon erzählt, wie Un- ten des sozialen Lebens, von der TV-Koch-
wissen ins Verbrechen führt, Hunger in show als Symptom des „voyeuristischen
den Irrsinn und Triebverzicht in den re- Fressens“ bis zum quasireligiösen Glauben
ligiösen Wahn. Seine Romane entwerfen der aufgeklärten Agnostiker an das „vege-
Elendslandschaften, man weiß nicht recht, tarische Fastenheil“. Aber die trödelnde
ob man sich hineinfallen lassen soll in die- Unschuld des Bohemiens ist einer Düster-
se Geschichten oder ob man nach der Lek- nis gewichen, die allenthalben Niedergang,
türe besser schnell unter die Dusche Verschwörung oder noch Schlimmeres in
Donald Ray Pollock: Die himmlische Tafel.
springt. Das Gefühl stellt sich nun bei der böse oder trübe Worte fasst. Vieles, so
Liebeskind; 432 Seiten; 22 Euro. Lektüre seines 400-Seiten-Epos Die himm- schreibt er, „wird, derweil wir altern, un-
lische Tafel ein. Pollocks Erzählkosmos trüglich und knapp: die Gesundheit brü-
In Europa wütet der Erste Weltkrieg, leicht südlich des US-Maisgürtels ist über- chig, das Befinden schal; von einstigen
aber in den Südstaaten der USA sind die schaubar, ebenso die Speisekarte. Meist Ekstasen bleibt sentimentaler, bisweilen
Fotos aller Bücher im Heft: Jonas von der Hude

Menschen gefangen in der Erinnerung an gibt es irgendeine Pampe mit, eben: Mais. qualvoller Nachhall; den Liebesakten
den Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts. Die Wenn der alle ist, werden Kaulquappen hängt nichts als ein matt-schlaffer Nach-
Jewett-Brüder, Söhne eines versoffenen aus den Tümpeln und Läuse aus den ruhm an; die Zuversicht ist verglommen,
Herumtreibers, ziehen im Jahr 1917 zwi- ungewaschenen Bärten gefischt. Die Orte die Rauschfestigkeit zermorscht, der Hun-
schen Alabama, Georgia und Ohio ihre der Handlung sind überschuldete Farmen, ger vergangen; das Gedächtnis wird lau-
blutigen Runden. Im Gepäck haben sie verwesende Plantagen und zu Soldaten- nisch: es erinnert sich kaum noch seiner
einen Schundroman über einen ehemali- bordellen umfunktionierte Ziegenställe. selbst; und ganz zum Schluss: erlöscht
gen Konföderiertenoffizier namens Bloo- Auch wenn der Erste Weltkrieg hier fern dann sogar der Durst, und es gebricht an
dy Bill Bucket, der nach der Niederlage scheint, verzahnt Pollock in seinem Hun- Kraft und Tat und Willen! – ,Gewisslich?‘
seiner Armee Banken ausraubt und Süd- gerleider- und Totschlägertableau hinter- – Wartet nur ab!“ Aber wir wollen lieber
staatenschönheiten beglückt. Die Jewetts sinnig den globalen historischen Kontext. auf bessere Zeiten für den Autor Kapielski
sind nicht ganz so elegant in ihrem Trei- Durch spärliche Zeitungsmeldungen er- warten. Elke Schmitter
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HARDCOVER-VERKÄUFE IM JULI

1 Jojo Moyes: 6 Benedict Wells:


Ein ganz neues Leben Vom Ende der Einsamkeit
Wunderlich; 19,95 Euro Diogenes; 22 Euro

2 Juli Zeh: 7 Dörte Hansen:


Unterleuten Altes Land
Luchterhand; 24,99 Euro Knaus; 19,99 Euro

3 Jonas Jonasson: 8 Victoria Aveyard:


Mörder Anders und seine Die Farben des Blutes.
Freunde … Gläsernes Schwert
carl's books; 19,99 Euro Carlsen; 21,99 Euro

4 Donna Leon: 9 Hans Fallada:


Ewige Jugend Kleiner Mann - was nun?
Diogenes; 24 Euro Aufbau; 22,95 Euro

5 Elke Heidenreich: 10 John Irving:


Alles kein Zufall Straße der Wunder
Hanser; 19,90 Euro Diogenes; 26 Euro

PAPERBACK-VERKÄUFE IM JULI

1 Jean-Luc Bannalec: 6 Tommy Jaud:


Bretonische Flut Sean Brummel – Einen
Kiepenheuer & Witsch; 14,99 Euro Scheiß muss ich
Fischer; 16,99 Euro
2 Jojo Moyes:
Über uns der Himmel, Audrey Carlan:
unter uns das Meer
7
Calender Girl. Verführt
Rowohlt Polaris; 14,99 Euro Ullstein; 12,99 Euro

3 Andreas Föhr: 8 Harlan Coben:


Eisenberg Ich schweige für dich
Knaur; 14,99 Euro Goldmann; 14,99 Euro

4 Wendy Walker: 9 Joakim Zander:


Dark Memories ... Der Bruder
Fischer Scherz; 14,99 Euro Rowohlt Polaris; 14,99 Euro

5 Viola Shipman: Für 10 Dora Heldt:


immer in deinem Herzen Böse Leute
Fischer Krüger; 14,99 Euro dtv; 14,90 Euro

TASCHENBUCH-VERKÄUFE IM JULI „Ein geradliniger Thriller, spannend, verstörend und so kurzweilig,


Jojo Moyes: Harlan Coben:
wie man es sonst nur aus Hollywood kennt.“ ARD ttt
1 6
Ein ganzes halbes Jahr Ich vermisse Dich
Rowohlt; 9,99 Euro Goldmann; 9,99 Euro

2 Fredrik Backmann: 7 Fredrik Backmann:


Oma lässt grüßen ... Ein Mann namens Ove
Fischer; 9,99 Euro Fischer; 9,99 Euro

3 Robert Seethaler: 8 Emma Sternberg:


Ein ganzes Leben Fünf am Meer
Goldmann; 9,99 Euro Heyne; 9,99 Euro

4 Petra Hülsmann: Glück 9 Riley Lucinda:


ist, wenn man trotzdem ... Helenas Geheimnis
Bastei Lübbe; 9,99 Euro Goldmann; 9,99 Euro

5 Michel Houellebecq 10 Melanie Raabe:


Unterwerfung Die Falle
DuMont; 10,99 Euro btb; 9,99 Euro

HARDCOVER-VERKÄUFE IM JULI

1 Peter Wohlleben: Das 6 Wilhelm Schmid: BAYERISCHER FILMPREIS


Seelenleben der Tiere Gelassenheit BESTER FILM
Ludwig; 19,99 Euro Insel; 8 Euro
NOMINIERT FÜR
5 DEUTSCHE
2 Peter Wohlleben: Das 7 Deborah Feldmann FILMPREISE
geheime Leben der Bäume Un-orthodox
Ludwig; 19,99 Euro Secession Verlag; 22 Euro
EIN FILM VON
3 Dalai Lama: Der Appell 8 Sahra Wagenknecht: FLORIAN GALLENBERGER
des Dalai Lama … Reichtum ohne Gier
Benevento; 4,99 Euro Campus; 19,95 Euro

4 Rainer M. Schießler: 9 Alexander v. Schönburg:


Himmel, Herrgott, Weltgeschichte to go
Sakrament Campus; 19,95 Euro
Kösel; 19,99 Euro
10 Peter Hahne:
Antoine Leiris: Finger weg von unserem
5 Bargeld!
BON US -
Meinen Hass bekommt MATE R IA
ihr nicht
L
Quadriga; 10 Euro
Blanvalet; 12 Euro
AB 4. AUGUST AUF BLU-RAY,
DVD & ALS VIDEO ON DEMAND
8
ratung, Betreuung, Beurteilung. Der LESUNGEN IM
Füße in Beton Selbstausdruck wird nicht gedeutet, er AUGUST Sommerliches Glück
trägt Sinn und Zweck in sich. Das Lernen
ohne Zwang ist zum Lebensthema von
Arno Sterns Sohn geworden, der nun, be-
gleitet von stützenden Kommentaren des
Hirnforschers Gerald Hüther und der
Pädagogin Katrin Saalfrank, eine Lanze
bricht für das Spiel des Kindes. Das ein
anderes ist als das der Erwachsenen, wenn
die sich zu Canasta, Boule oder Trivial Katja
Pursuit zusammenfinden: Kinder spielen, Lange-Müller
so man sie denn frei spielen lässt, nicht, In ihrem Roman
um den Alltag zu vergessen und Abstand „Drehtür“ erzählt
die Schriftstellerin J. L. Carr: Ein Monat auf dem Land. Aus
Tilman Rammstedt: Morgen mehr. Hanser;
zu gewinnen, sondern um sich mit der von einer Kranken- dem Englischen von Monika Köpfer. DuMont;
224 Seiten; 20 Euro. Welt zu verbinden. Durch assoziative Ge- schwester, die sich 144 Seiten; 18 Euro.
staltung, durch Nachahmung, durch Ex- an wichtige und
Am 11. Januar hat Tilman Rammstedt perimente im Sozialen und mit Materie schreckliche Män- Es regnet in Strömen, als der junge Res-
damit begonnen, Kapitel für Kapitel eines erfahren sie, dass die Welt verstehbar ist ner ihres Lebens taurator Tom Birkin im nordenglischen
erinnert
neuen Romans ins Internet zu stellen. Je- und dass man sie gestalten kann – unab- (siehe S. 12).
Städtchen Oxgodby eintrifft. Der Pfarrer
den Tag von Montag bis Freitag ging das dingbare Voraussetzungen für die psy- 11.8. Literarisches hat Birkin beauftragt, in der Kirche ein
so, 64 Tage lang, und Rammstedt hat (mit chische Gesundheit und ein als sinnvoll Colloquium Berlin; übertünchtes Wandgemälde freizulegen,
winzigen Ausnahmen) verlässlich geliefert. empfundenes Leben. Mit schönem, heili- 30.8. Akademie es ist das Jahr 1920, Birkin bezieht eine
Es hat Spaß gemacht, das Projekt mit dem gem Ernst erinnert Stern an eine Voraus- der Künste Berlin. Kammer im Glockenturm mit weitem
Titel „Morgen mehr“ zu begleiten. Wenn setzung menschlicher Entwicklung, die Wilhelm Blick über die Landschaft. Am nächsten
man ein oder zwei Tage verpasst hatte, allzu leicht vergessen wird, obwohl jeder Genazino Morgen hat er nicht nur zum ersten Mal
stieg man halt drei Kapitel später wieder sie erfahren hat. Und an die wir uns halten Der Büchnerpreis- seit vielen Monaten tief geschlafen, es
ein. Dem Text vorangestellt war jeden Tag sollten in der Gestaltung unserer Städte träger liest aus scheint auch die Sonne. Ein erster schöner
das Foto des Autors, mal sah er besser aus und pädagogischer Institutionen. seinem neuen Tag, dem bis zu Birkins Abreise im Herbst
Roman: „Außer uns
als er schrieb, oft war es umgekehrt. Nun Elke Schmitter spricht niemand ein grandioser Sommer folgen wird. Der
ist der Roman Morgen mehr als gedrucktes über uns“. schmale Roman ist rückblickend erzählt,
Buch erschienen, das war ein Fehler: Der 22.8. Scheller ein Kunstgriff am Ende des Buchs legt
Charme des Onlineprojekts übertrifft die Boyens Buch- nahe, dass Birkin das Buch im Jahr 1978
Qualität des Textes um Längen. Ramm- Am Altar der handlung Heide;
23.8. Literatur-
selbst geschrieben habe. Dieses Spiel mit
stedt erzählt die Geschichte eines Mannes,
der sich darum kümmern muss, dass er
Kindheit haus Hamburg; der Perspektive ermöglicht es dem eng-
lischen Schriftsteller J. L. Carr (1912 bis
24.8. Musik- und
geboren wird, dass seine Eltern sich An- Literaturhaus Wil- 1994) seinem Roman jene Melancholie ein-
fang der Siebzigerjahre treffen und mit- helm13 Oldenburg. zuschreiben, die sich erst aus dem Wissen
einander ins Bett gehen, damit er gezeugt um die Vergänglichkeit ergibt. Zudem
Andreas Maier
wird. Eine Art „Zurück in die Zukunft“ in Der Schriftsteller schickt Carr seinen 21-jährigen Helden be-
Europa, denn zu Beginn der Geschichte arbeitet seit reits beschädigt in die Geschichte: Birkin
ist seine Mutter drauf und dran, in Mar- Jahren an einem war Fernmelder im Ersten Weltkrieg, sein
seille Sex mit einem Franzosen zu haben, großen Erinnerungs- Gesicht wird von Zuckungen ergriffen, die
während sein Vater mit einbetonierten roman im Geiste er nicht steuern kann; seine Frau hat ihn
Marcel Prousts.
Füßen am Rand des Mains steht. Dem 25.8. Literaturfest verlassen. Nach den hinter ihm liegenden
Icherzähler bleiben im Buch 24 Stunden, Poetische Quellen Erschütterungen empfindet er den Som-
die beiden an einen Ort zu bekommen Andreas Maier: Der Kreis. Suhrkamp; 152 Löhne; 31.8. Ovag mer in Oxgodby, die befriedigende Arbeit
und zu vereinen. In der Version im Inter- Seiten; 20 Euro. Erscheint am 8. August. Hauptverwaltung an dem Wandgemälde, das sich als be-
net waren es drei Monate. Trotz der dra- Friedberg. deutendes Kunstwerk entpuppt, und die
maturgischen Verschärfung schleppt sich Wieso schreibt ein Schriftsteller, was Thomas Glavinic Begegnung mit der Pfarrersfrau Alice als
die Geschichte, die Figuren gleichen hat das Kind, das er mal war, zum Künst- Der Wiener Litera- großes Glück. Weil Carr in leichten,
Knallchargen, der Humor wirkt ange- ler gemacht? Im fünften Roman seines tur-Macho mit schlichten Worten von der tief empfunde-
strengt. Fast verblüffend, wie das gedruck- auf elf Romane angelegten Großprojekts seinem Dicke-Eier- nen Freude seines Helden erzählt, erfasst
te Buch die Schwächen des Textes zutage Ortsumgehung zeichnet Andreas Maier die Roman „Der das sommerliche Glück auch den Leser.
Jonas-Komplex“.
fördert. Claudia Voigt Wetterau der Siebziger- und Achtziger- 11.8. Hör- und See- In England zählt Ein Monat auf dem Land
jahre wieder im weichen Licht der Erin- bühne ORF Graz; zur Schullektüre; eine kleine Entdeckung
nerung, eine gelbstichige Welt, mit Rau- 14.8. summerstage für deutsche Leser. Claudia Voigt
fasertapeten an den Wänden und Sicht- Weinpavillon Wien.
Spielen ist gesund schutzgardinen vor den Fenstern. Zu
Peter Stamm
Hause himmelt der Icherzähler Andreas
die Mutter an, die mit dem Friedberger
Der Schweizer
Autor liest aus Von den
Schriftsteller und Büchnerpreisträger Fritz
Usinger (1895 bis 1982) korrespondiert
seinem eleganten,
novellenhaften
Nachgeborenen
und sich zum Lesen und Schreiben jedes Roman „Weit über
das Land“.
Mal feierlich in eine Klause zurückzieht, 22.8. Buchhand-
ein sakraler Akt, der Schreibtisch ein Altar, lung Hugendubel
die Bücher Bibeln. In der Schule verehrt Lübeck; 23.8. Lite-
Illustration: Florian Schommer / kjosk für LITERATUR SPIEGEL

er ein Triumvirat älterer Mitschüler, das raturhaus Kiel;


der Theater-AG vorsteht und die Klein- 24.8. Gemeinde-
haus der ev.
stadtmoral hinwegfegt: Thomas Heinz Kirchengemeinde
und Mathias Herrmann, heute bekannte Lütjenburg; 25.8.
André Stern: Spielen, um zu fühlen, zu ler-
nen und zu leben. Elisabeth Sandmann; 144 Schauspielprofis, und René Pollesch, Re- Nordkolleg
Seiten, 19,95 Euro. Erscheint am 8. August. giestar des Gegenwartstheaters („Ich be- Rendsburg; 26.8.
neidete die drei, ihr Wille war absolut auf Gewächshaus Hof
Königsweg Paula Fürstenberg: Familie der geflügelten
André Stern ging nie zur Schule, er das Erreichen von Künstlertum ausgerich- Schleswig; 29.8. Tiger. KiWi; 240 Seiten; 18,99 Euro. Erscheint
wuchs in Paris in einer besonderen Familie tet“). Die Sehnsucht schreibt mit, wie im- Dialograum Kreu- am 11. August.
auf: Sein Vater Arno, ein jüdischer Flücht- mer bei Maier. Es ist die Sehnsucht nach zung St. Helena
ling aus Kassel, begründete in den Fünf- einer Zeit, in der man die Wunder der Welt Bonn; 30.8. Stadt- Als die Mauer fiel, war die Schriftstelle-
zigerjahren den „Mal-Ort“, eine inzwi- bestaunte – und mit glühendem Herzen teilbibliothek rin Paula Fürstenberg, geboren in Potsdam,
Mönchenglad-
schen internationale Institution, in der glaubte, sie bald zu durchschauen. Die bach-Rheydt; 31.8. zwei Jahre alt, das Leben in der DDR kennt
Menschen jeden Alters zusammenkom- Zeit der Kindheit und Jugend. Medienforum sie nur vom Hörensagen. Wie kann ihr ein
men, um zu malen – allerdings ohne Be- Tobias Becker Bistum Essen. solch guter DDR-Roman gelingen? Indem
9
sie exakt das zum Thema macht: die bio-
grafische Spurensuche, die Wissenslücken,
die Erfahrungsdefizite. Fürstenbergs Ich-
Störrische Außenseiter Ein
erzählerin Johanna war ebenfalls zwei, als
die Mauer fiel. „Wir stellten uns vor die Vi-
trinen und schauten uns das Leben an, das
unsere Eltern offenbar einmal gehabt hat-
faszinierender
ten“, heißt es, als sie ein DDR-Museum be-
sucht. Wobei dieses Leben 1989 natürlich
nicht einfach abgeschnitten, archiviert und
durch ein BRD-Leben ersetzt wurde, wie
Selbstversuch
man im Museum meinen könnte, sondern

in
Callan Wink: Der letzte beste Ort. Short
draußen vor dem Museum weitergelebt Stories. Aus dem amerikanischen Englisch
wird, bis heute, von den Eltern und auch von Hannes Meyer. Suhrkamp; 284 S.; 22 Euro.
von ihren Kindern. Es ist beides, Geschich-
te und Gegenwart. Johanna merkt das, als Brutal und komisch ist die Welt drau-
sich plötzlich ihr Vater bei ihr meldet: der
Mann, von dem sie seit dem 4. Oktober
1989 nichts gehört hat. Wenn sie als Kind
ßen in der amerikanischen Wildnis, in der
die Helden des 32-jährigen Schriftstellers
Callan Wink sich herumtreiben. Sie sind
80 Disziplinen
nach ihm gefragt hatte, hatte ihre Mutter hinter den Fischen in den Flüssen der
stets gesagt: Dein Vater ist in den Westen Rocky Mountains her oder hinter einem
gegangen, kurz vor der Wende, um „drü- Zirkuszebra, das durch das Gestrüpp der
ben“ Rockmusiker zu werden. Aber stimmt texanischen Steppe trabt. Und sie sind auf
das? Johannas Vater ist krebskrank, ver- der Flucht vor einem Leben, in dem es
stummt rasch und stirbt dann, und so keine Überraschungen mehr gibt, weder
denkt sie sich die Geschichten, „die ver- schöne noch böse. „Ich will auch einfach
dammt noch mal auch mir gehören“, selbst abhauen, wann es mir passt und auf eine
aus, schreibt fiktive Stasiakten, fabuliert Ranch ziehen und Zäune ausbessern und
herum wie die Mönche im Mittelalter, die mit fremden Frauen rummachen und Bier
die Ebstorfer Weltkarte entwarfen, von der saufen“, hört einer dieser Helden seinen
Johanna einen Nachdruck besitzt. An die verspießerten Bruder sagen. Mit knappen,
Ränder der damals bekannten Welt zeich- kraftvollen Sätzen schildert Wink, der
neten die Mönche Fabeltiere, darunter ei- selbst in den Wäldern von Montana lebt,
nen geflügelten Tiger. Fürstenbergs Debüt- in seinen Kurzgeschichten die Abenteuer
roman ist klug komponiert, auch wenn ihr störrischer Außenseiter. In einem beson-
manches Bild arg symbolisch gerät. Die ders spektakulären Fall führen sie dazu,
Moral hallt nach: Der Mensch braucht Ge- dass ein Kerl, der sich mit zwei Typen an-

*empfohlener ladenpreis
schichten, um Halt zu finden. Wahr müs- gelegt hat, splitternackt über Berg und
sen sie nicht unbedingt sein. Tobias Becker Tal rennen muss. Wolfgang Höbel

BELLE TRISTI K / SACHBUCH

(1) Marc-Uwe Kling: (-) Agatha Christie: Das Geheimnis


1 11
Die Känguru-Chroniken der Schnallenschuhe Ilija Trojanow Meine Olympiade
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Sprecher: Oliver Kalkhofe. 3 CDs.
Downtown Der Hörverlag Autorenlesung
2 (2) Jonas Jonasson: 12 (14) Hape Kerkeling: 6 CDs Laufzeit: 7 Stunden, 40 Minuten
Mörder Anders und seine Freunde ... Der Junge muss an die frische Luft
€ 19,95* ISBN 978-3-8398-1467-3
Sprecher: Jürgen von der Lippe. 6 CDs. Sprecher: Hape Kerkeling. 8 CDs.
Der Hörverlag Osterwoldaudio

(3) Marc-Uwe Kling: (7) Jörg Maurer:


3 13
Das Känguru-Manifest Schwindelfrei ist nur der Tod
Sprecher: Marc-Uwe Kling. 4 CDs. Sprecher: Jörg Maurer. 6 CDs.
Downtown Argon

(5) Moritz Matthies: (10) Volker Klüpfel, Michael Kobr:


4 14
Letzte Runde In der ersten Reihe sieht man Meer
Sprecher: Christoph Maria Herbst. 4 CDs. Sprecher: Bastian Pastewka. 7 CDs.
Argon Osterwoldaudio

(4)
Während der Olympischen Spiele 2012
5 Jörg Maurer: 15 (-) Alexander Schönburg:
Schwindelfrei ist nur der Tod Weltgeschichte to go
Sprecher: Jörg Maurer. 6 CDs.
Argon
Sprecher: Christoph Maria Herbst. 4 CDs.
Random House Audio
fasst Ilija Trojanow einen ehrgeizigen
(6)
6 Tommy Jaud: Sean Brummel – 16 (-) Petra Hülsmann: Glück ist,
Entschluss: Er will alle 80 Olympia-Sommer-
Einen Scheiß muss ich wenn man trotzdem liebt
Sprecher: Tommy Jaud. 5 CDs. Sprecherin: Nana Spier. 4 CDs.
Argon Lübbe Audio

(11) Andreas Föhr: (14) Christian Schiffer:


Einzeldisziplinen trainieren.
7 17
Eisenberg Jogis Eleven
Sprecher: Michael Schwarzmaier. 7 CDs.
Argon
Sprecher: Christian Schiffer. 1 CD.
Argon
Sein Ziel: halb so gut abzuschneiden wie der
(8) Elke Heidenreich: (13) Jojo Moyes:
8 18 Goldmedaillengewinner von London.
Alles kein Zufall Ein ganzes neues Leben
Sprecherin: Elke Heidenreich. 3 CDs. Sprecherin: Luise Helm. 7 CDs.
Random House Audio Argon

(15)
9 Isabel Bogdan: 19 (-) Fredrik Backman:
Der Pfau Britt-Marie war hier
Sprecher: Christoph Maria Herbst. 4 CDs. Sprecher: Heikko Deutschmann. 6 CDs.
Argon Argon

10 (9) Rita Falk: 20 (16) Jojo Moyes: Über uns der Himmel,
Leberkäsjunkie unter uns das Meer
Sprecher: Christian Tramitz. 7 CDs.
Der Audio Verlag
Sprecherin: Luise Helm. 7 CDs.
Argon
www.argon-verlag.de
10

Eine unbekannte Heldin


Françoise Frenkel berichtet in ihrem Erinnerungsbuch Nichts, um sein Haupt zu betten
von ihrem Leben auf der Flucht vor den Nazis.

Grenzübergang zwischen dem besetzten und dem nichtbesetzten Teil Frankreichs bei Moulins, um 1940 bis 1942
Der Blitzkrieg löste eine Fluchtwelle aus

Von Martin Doerry Für einen Moment schien alles verloren. Doch Zeugnis von einem unmenschlichen System, dem
der Beamte sagte nur: „Stehen Sie auf, Madame, sie beinahe zum Opfer gefallen wäre.
N EINEM SONNIGEN MORGEN im Sie sind nicht verletzt.“ Der Kollege auf der an- Viel Beachtung fand ihr Buch damals jedoch
A Juni 1943 eilte eine in Schwarz gekleidete deren Seite habe in die Luft geschossen. nicht. Eine einzige Rezension ist überliefert: Das
Dame in der Nähe von Annecy über eine Françoise Frenkel rappelte sich auf: Sie war „Mitteilungsblatt der Gesellschaft der Schweizer
Straße an der Grenze zur Schweiz. Immer wieder gerettet, sie war frei. Der Schweizer Zöllner nahm Feministinnen“ erklärte die Autorin zur „unbe-
hielt sie Ausschau nach einer Öffnung im Grenz- ihr Bündel an sich; mit blutigen Beinen und kannten Heldin“, die nie anklage, sondern nur
zaun, aber sie musste vorsichtig sein: Im Abstand zerrissenen Kleidern, aber unendlich erleichtert „Tatsachen“ mit „Anstand und Maß“ berichte.
von 200 bis 300 Metern waren Soldaten postiert. stapfte sie über das Feld hinter ihm her. Eine „unbekannte Heldin“? Françoise Frenkel
Ein Bauer, der am Straßenrand das Gras mähte, Mit dieser Episode endet Frenkels Erinne- war keine öffentliche Figur, weder in der Schweiz
wies ihr schließlich den Weg: Da vorn sei eine rungsbuch Nichts, um sein Haupt zu betten, das nun noch in Frankreich. Als die Rezension 1946 er-
Gittertür, dort könne sie in die Schweiz gelangen. erstmals auf Deutsch erscheint. Die Autorin erzählt schien, lebte sie bereits wieder in Nizza. Ihre
Françoise Frenkel war damals 53 Jahre alt, darin die spannende, ja streckenweise unglaubli- Adresse konnte unlängst ausfindig gemacht wer-
eine in Polen geborene Jüdin, die schon seit ge- che Geschichte ihres Überlebens in der NS-Zeit. den, auch ihr Todesjahr, 1975 in Nizza. Aber viel
raumer Zeit in Frankreich lebte. Zweimal bereits Geschrieben hatte sie das Buch unmittelbar nach mehr ist nicht bekannt. Wie, zum Beispiel, sah
Fotos: Keystone France / Getty Images; Ullstein Bild (r.)

hatte sie in den vergangenen Monaten aus dem ihrer Ankunft im Schweizer Exil in französischer Françoise Frenkel eigentlich aus? Es gibt offenbar
von den Deutschen besiegten Land zu fliehen ver- Sprache, veröffentlicht wurde es noch 1945 in ei- nicht ein einziges Foto von ihr.
sucht, ohne Erfolg. In wenigen Tagen lief ihr nem Genfer Verlag. Immerhin wurde ihr Buch wiederentdeckt.
Schweizer Visum ab. Diesmal musste es gelingen, Eigentlich gilt es als unverzeihlich, die Pointe Ein historisch interessierter Leser fand vor weni-
sie musste die Grenze überwinden. oder gar das Happy End eines solchen Abenteuers gen Jahren ein Exemplar auf einem Flohmarkt in
Sie trug nur ein kleines Bündel mit den wich- zu verraten. Aber dieser Fall liegt anders: Das Nizza. Für die 2015 in Paris erschienene Neuauf-
tigsten Sachen bei sich und lief nun direkt auf Buch wäre nie entstanden, wenn die Geschichte lage schrieb Patrick Modiano das Vorwort. Der
das Gittertor zu, aber es klemmte und ließ sich der Françoise Frenkel nicht glücklich ausgegan- Nobelpreisträger hält es geradezu für einen Vor-
nicht öffnen. Einer der Grenzsoldaten entdeckte gen wäre. Hätte man sie erneut geschnappt, so zug des Buches, dass man über die Autorin so
sie und rannte auf sie zu. Mit letzter Kraft kletterte wäre sie in den nächsten Zug in ein Konzentra- wenig wisse. Der Eindruck, den ihre Überlebens-
sie über den Zaun, ihre Kleider verfingen sich im tionslager im Osten gesetzt worden. Und was dort geschichte auf ihn als Leser mache, sei umso
Stacheldraht, der Soldat schoss, sie stürzte. geschah, wusste sie genau. stärker.
Sie lag noch auf dem Boden, als sie in das Also wollte sie „Zeugnis ablegen“, wie sie in Modiano weist allerdings auch auf eine Merk-
Gesicht eines anderen Mannes in Uniform blickte. einer Vorbemerkung zu ihrem Buch notierte, würdigkeit hin, die ihm und jedem Leser uner-
11
klärlich bleiben wird: Françoise Frenkel schrieb Chaos auf den Straßen und das Versa- der jüdischen Hotelgäste. Zunächst woll-
nicht ein einziges Wort über ihren Mann Simon gen der Zivilgesellschaft. Vor allem aber te sie sich solidarisch zeigen und sich frei-
Raichenstein, einen in Russland geborenen Juden, schildert die später in Auschwitz ermor- willig stellen, dann aber meldete sich ihr
der 1942 von Paris nach Auschwitz verschleppt dete Autorin die Fraternisierung vieler „Selbsterhaltungstrieb“, wie sie schrieb:
und dort umgebracht worden war. Franzosen mit deutschen Besatzern. „Die Bitterkeit dieser Wahrheit lastet heu-
Raichenstein und Frenkel hatten 1921 eine Nach der militärischen Niederlage te schwer auf mir und wird immer auf
französische Buchhandlung in Berlin gegründet, wurde Frankreich geteilt: in einen nörd- mir lasten, bis ans Ende meiner Tage.“
obwohl Freunde sie vor diesem Schritt dringend lichen Bereich, der unter deutscher Von nun an war Françoise Frenkel
gewarnt hatten: Zwei Jahre nach dem aufgezwun- Herrschaft stand, und in einen südli- auf die Hilfsbereitschaft jener Mitbürger
genen Frieden von Versailles sei die französische chen, selbstverwalteten Teil, der von Vi- Françoise angewiesen, die sich von der antisemiti-
Kultur in Deutschland unerwünscht. chy aus regiert wurde und in den nun Frenkel: Nichts, schen Propaganda des Vichy-Regimes
viele jüdische Flüchtlinge strömten, da- um sein Haupt nicht hatten infizieren lassen. Sie wurde
zu betten.
runter auch Françoise Frenkel. von Versteck zu Versteck weitergereicht,
Mit einem
Zunächst genossen französische Ju- nicht wenige ließen sich ihre Hilfe teuer
D O CH DIE JUNGE BUCHHÄNDLERIN
und ihr Mann gingen das Risiko ein. den unter dem Vichy-Regime einen ge-
Vorwort von
Patrick Modiano.
Aus dem Franzö-
bezahlen. Sie lernte gute Franzosen und
Nachdem anfangs nur Ausländer ihr La- wissen Schutz, dann aber mussten alle schlechte Franzosen kennen, und von
dengeschäft in Berlin besucht hatten, kamen bald Juden, ausländische wie französische, sischen von beiden Sorten ziemlich viele.
Elisabeth Edl.
auch frankophile Deutsche in wachsender Zahl. mit einer Deportation rechnen. In den Die einen setzten ihre bürgerliche
Hanser;
Vorträge und Empfänge französischer Literaten ersten Wochen fand Frenkel eine Unter- 288 Seiten; Existenz aufs Spiel, um Juden vor dem
machten „La Maison du Livre“ in der Passauer kunft in Avignon, danach in Nizza. Fast 22 Euro. Zugriff der Gendarmen zu schützen. Die
Straße stadtbekannt. „So erlebte ich Jahre voller täglich musste sie sich um Passierschei- anderen entpuppten sich als Opportu-
Sympathie, Frieden und Wohlstand“, schreibt ne und Registrierungen bemühen, um Aufenthalts- nisten oder gar als fanatische Juden-Jäger. „Ein
Frenkel über ihre Zeit in Berlin bis 1933. genehmigungen oder eine neue Wohnung. sadistischer Kern muss wohl in jedem Menschen
Wer ein wenig nostalgisch auf das vordigitale Wenn etwas kafkaesk genannt werden darf, stecken“, schrieb Frenkel. Nach der Niederlage
Zeitalter des beschriebenen Papiers, der Bücher dann sind es die Kämpfe mit französischen Büro- hätten sich viele junge Franzosen an den „noch
und Zeitungen schaut, der wird Frenkels Schilde- kraten, die Françoise Frenkel auszutragen hatte. Schwächeren abreagieren“ wollen.
rung dieser noch unbeschädigten Epoche lieben. Unvollständige Informationen, Vorschriften, die Die letzten Monate vor ihrer Flucht in die
In ihrer Buchhandlung stapelten sich neben den sich ständig änderten, Gerüchte und Halbwahr- Schweiz verbrachte sie in der im Südosten Frank-
aktuellen Pariser Magazinen Berge von Büchern, heiten sorgten bei Frenkel und ihren Leidensge- reichs eingerichteten italienischen Zone, in der
Plakate und Druckwerke jeder Art. Hier trafen nossen für ein tagtägliches Wechselbad aus Ängs- sie sogar einen legalen Status erhielt. Freunde or-
sich französische Diplomaten und deutsche Gym- ten, Hoffnungen und Enttäuschungen. ganisierten das Schweizer Visum, doch als Jüdin
nasiallehrer, um neue Autoren zu entdecken. Rus- Schließlich schlug ein Freund eine Scheinhei- durfte sie die französische Grenze nicht über-
sische Emigrantinnen durchblätterten die auslie- rat mit einem Franzosen vor, um ihr ein dauerhaf- schreiten. Ein erster Versuch endete zunächst im
genden Modeillustrierten, Schriftsteller lasen aus tes Bleiberecht zu verschaffen. Doch der avisierte Gefängnis und dann mit einer Freiheitsstrafe auf
Bewährung; ein zweiter wurde von einem italie-
nischen Grenzsoldaten vereitelt, der sie aber wie-
Sie lernte gute und schlechte Franzosen kennen, der laufen ließ; und erst der dritte hatte Erfolg.
Einmal übrigens war Françoise Frenkel nach
und von beiden Sorten ziemlich viele. dem Krieg noch in Berlin. 1959 fuhr sie in die
geteilte Stadt, um eine Entschädigung für jenen
Reisekoffer zu beantragen, den die Nazis in Paris
ihren jüngsten Werken vor – eine faszinierende Bräutigam wollte nicht nur das ihm angebotene konfisziert hatten. Vor einem Westberliner Notar
Welt des gedruckten Wortes, eine polyglotte Idyl- Geld, sondern die Frau noch dazu. Das Projekt musste sie jedes einzelne Kleidungsstück, das in
le, die natürlich mit der nationalsozialistischen endete als traurig-komische Posse. dem Rohrplattenkoffer aufbewahrt worden war,
Machtergreifung zerbrach. Dass Frenkel nicht deportiert wurde, verdank- zu Protokoll geben. 24 Positionen umfasst diese
Frenkel schildert die immer neuen Schikanen, te sie einem glücklichen Zufall. Am 26. August Liste, von Nachthemden zu 25 Reichsmark pro
denen sich ihre Person und ihre Buchhandlung 1942 führten Polizisten des Vichy-Regimes eine Stück bis zu maßgeschneiderten Kleidern, Män-
von nun an ausgesetzt sahen. Aus anderen Quel- Razzia in jenem Hotel in Nizza durch, in dem sie teln sowie zwei Schreibmaschinen.
len erfährt man zudem, dass ihr Mann schon 1933 damals lebte. Als die Gendarmen das Hotel mor- 1960 erhielt sie von der Bundesrepublik
Berlin verließ und zurück nach Paris ging. Sie gens stürmten, war sie jedoch bereits in der Stadt Deutschland eine „Wiedergutmachung“ von 3500
selbst blieb noch bis zum 27. August 1939 in der unterwegs, um einzukaufen. Und bei ihrer Rück- Mark. Für die Deutschen war der Fall damit er-
Reichshauptstadt, dann musste auch sie Berlin kehr wurde sie gerade noch rechtzeitig gewarnt. ledigt. Doch Françoise Frenkel hatte mehr als nur
verlassen. In einem schweren Koffer verstaute sie Aus der Ferne beobachtete sie den Abtransport einen Koffer verloren.
ihre Habseligkeiten, ein Freund expedierte ihn
Richtung Frankreich, wo er später dann von den
Nazis beschlagnahmt wurde.
Mit Schrecken verfolgte sie den Vormarsch
der Wehrmacht in Polen, mit all seinen „Verwüs-
tungen und Massakern an der Bevölkerung“. Ver-
zweifelt wartete sie in Paris auf ein Lebenszeichen
ihrer in Polen lebenden Mutter. „Das Grauen“, so
schrieb sie, „nistete sich ein im Alltagsleben.“
Und dieser Alltag nahm chaotische Formen
an. Der Blitzkrieg der Deutschen löste in Frank-
reich eine Fluchtwelle aus. Hunderttausende
machten sich im Mai 1940 auf den Weg in den
nichtbesetzten Süden des Landes. Auf den Natio-
nalstraßen blockierten sich bald jene, die gerade
erst losgefahren waren, und jene, die bereits
zurückkehrten, weil sie kein Quartier gefunden
hatten. Auch Françoise Frenkel verließ Paris und
fuhr nach Vichy. Dort war jedoch alles überfüllt,
also verließ sie die Stadt in Richtung Clermont-
Ferrand. Dieser Weg war wiederum durch eine
französische Militäreinheit versperrt; dann griffen
auch noch deutsche Tiefflieger an, die Flüchten-
den stürzten aus ihren Autos in den Schutz der
Straßengräben.
Frenkels packende Erzählung erinnert an
Irène Némirovskys Suite Française, diesen großen
Roman über das Scheitern Frankreichs im Zwei- Restaurant in Nizza 1941
ten Weltkrieg. Auch Némirovsky beschreibt das Von Versteck zu Versteck weitergereicht
12
se, keine Familie, keine Freunde, keine Perspek-
tive“, das ist ihre Lage.
Von der Schriftstellerin Lange-Müller weiß
man, dass sie heute gleichfalls 65 Jahre alt ist und
selbst mal als Hilfsschwester in der geschlossenen
Psychiatrie der Berliner Charité gearbeitet hat,
nachdem man sie als Tochter einer DDR-Po-
litikerin erst in einem Heim weggesperrt hatte
und dann eine Lehre als Schriftsetzerin hatte
absolvieren lassen. 23 Jahre alt war Lange-Müller,
als sie 1974 im Krankenhaus anfing. Neuerdings,
so hat sie während ihrer Poetikvorlesung in
Frankfurt erzählt, träume sie oft von dieser Zeit.
In Drehtür lässt sie ihre Heldin behaupten, die
Gründe, warum ein Mensch dem anderen bei-
stehe, ob aus Mitleid oder aus Egoismus, seien
einerlei – dass der Mensch „nicht wegschaut,
sondern die Ärmel hochkrempelt, reicht fürs
Erste“.
Lange-Müller mag berühmt sein für ihren
Berliner Witz und für ihr skrupulöses Suchen
nach dem richtigen Wort, hier redet ihre Heldin
ernst und sogar ein bisschen pathetisch von letz-
ten Dingen. Vom Zustand „unseres verkommenen
Planeten“ beispielsweise und von der Einsamkeit
der meisten Sterbenden. „Womöglich wurde und
wird der eine oder andere ja geliebt, selbst im fi-
nalen Stadium“, meint Asta. Für den Todgeweih-
ten sei die Zuneigung in den letzten Lebenstagen

Der Roman bietet


Beistand gerade in
jenen Momenten,
in denen nichts
mehr zu retten ist.

aber nutzlos: „Die emotionslose, gelernte und be-


herrschte Fachkrankenpflege, die ist das, was ihm
wirklich nottut.“
Vor neun Jahren hat Lange-Müller in ihrem
Roman Böse Schafe eine tolle, komisch-verzwei-
felte Liebesgeschichte aus ihren wilden Acht-

Zigarettenpause
zigerjahren erzählt, in denen sie aus Ostberlin
nach Westberlin umgezogen war. Zum Glück ist
Drehtür nur in der sehr klapprigen Rahmenhand-
lung, in der Asta paffend über ihre Arbeit räso-

Illustration: Jules Julien / Wildfox Running für LITERATUR SPIEGEL; Foto: Steffen Jänicke für LITERATUR SPIEGEL (r.)
niert, ein Buch übers Sterben. Nach und nach
lässt die Heldin in ihrem gejetlagten Gehirn die
Katja Lange-Müller lässt in Drehtür eine Krankenschwester Erinnerung an wichtige und schreckliche Männer
ihres Lebens wiedererstehen.
ihre Lebensbeichte ablegen. Eine dreht sich um Kurt aus Österreich, der
einen „rosigen Hintern“ hat und mit dem sie wäh-
rend eines Sommerurlaubs in Tunesien nur ein
Von Wolfgang Höbel rupft, äußerlich selten hübsch und nicht mehr paar Augenblicke lang groteske Nähe erlebt – als
ganz auf der Höhe ihrer Kraft sein. Aber immer- beide den Unfalltod einer deutschen Wassersport-
EIN MENSCH bleibt unbeschmutzt in hin haben sie sich eine Art von rau artikuliertem touristin mitansehen und dazu blöde Kommen-
K der Sudelei des Lebens, diese nur bedingt Näheverlangen bewahrt, ein „Bedürfnis, dem Art- tare abgeben. Eine andere Erinnerung gilt Georg,
frohe Botschaft verkünden sämtliche Ro- genossen beizustehen, das wir mit vielen Tieren dem ostdeutschen Maler, der am Abend seiner
mane der Schriftstellerin Katja Lange-Müller. Es teilen“, wie es im Roman heißt. ersten Vernissage in Westberlin seinen größten
wird höllisch viel getrunken und gequalmt in die- Die Heldin von Drehtür heißt Asta, steht mut- Triumph erlebt und seinen Ruin: Erst werden sei-
sen Büchern, die Luft ist oft stickig, der Sex meist terseelenallein auf dem Gelände des Münchner ne Bilder gefeiert, spätnachts schlagen Diebe das
dürftig, und die Gemeinheiten, mit denen sich der Flughafens herum und qualmt eine Zi- Schaufenster der Galerie ein und steh-
Einzelne herumschlagen muss, sind nicht selten garette nach der anderen. Sie ist gerade len sämtliche Gemälde. Nie wieder wird
ungeheuerlich. Ein gelungenes Zusammentreffen 65 Jahre alt geworden und hat mehr als er sie zu Gesicht bekommen, Kopien
zwischen Mann und Frau hört sich bei dieser Au- 20 Jahre lang als Krankenschwester ge- oder Fotografien hat er nicht gemacht.
torin so an: „Wir betranken uns gründlich und ir- arbeitet, im internationalen Einsatz, zu- Es gebe eine „tief sitzende Feigheit“
gendwann schwankten wir hinaus in die Nacht letzt in Nicaragua. Sie hat ihre Arbeit angesichts des Unglücks anderer Men-
und waren uns einig und von Herzen gut und frag- gern getan, aber offenbar nicht gut. In schen, behauptet Katja Lange-Müllers
ten einander trotzdem nicht: zu mir oder zu dir?“ dem Krankenhaus in Managua, in dem Heldin, eine „Angst vor der Pein des an-
Was ist so reizvoll an dieser Elendswelt? In sie Dienst tat, wurde sie von ihren Kol- deren“. Der Roman Drehtür ignoriert
Lange-Müllers Romanen werde „Deutschland leginnen diverser Schludrigkeiten be- diese Feigheit und diese Angst. Er steht
von unten aus betrachtet“, hat die „Zeit“-Kriti- zichtigt. „Helfen ist geil und macht geil: Katja Lange- seinen Figuren gerade in jenen Momen-
Müller: Drehtür.
kerin Iris Radisch mal behauptet, und doch mar- machtgeil“, sinniert Asta. „Du stehst mit ten bei, in denen nichts mehr zu retten
Kiepenheuer &
kiert das keusche Glück des aus einer Kneipe tor- einem Bein im Misserfolg.“ Weshalb Witsch; 224
ist. Und verkündet ein Gesetz unserer
kelnden Paars im neuen Buch der Schriftstellerin Asta nun mit einem One-Way-Ticket zu- Seiten; 19 Euro. elenden Welt, das nicht bloß im Kran-
auch einen himmlischen Moment. Die Menschen, rück in ihr Heimatland Deutschland ge- Erscheint am kenhaus gilt: „Die Hoffnung stirbt zu-
von denen in Drehtür erzählt wird, mögen zer- schickt wurde: „Kein Geld, kein Zuhau- 11. August letzt, aber sie stirbt.“
13
Hausherrin kochen. Es schmeckt entsetzlich –

Im Innern
und zwar allen. Der Sohn der Haushälterin ver-
birgt seine Riesenenttäuschung hinter übertrie-
bener Höflichkeit. Er isst und isst und isst, bis er
dem Lehrerpaar auf den Tisch kotzt. Der Sohn

der Maultasche des Hauses, der vom Terror der Mutter längst
zum Therapeuten getrieben wurde, sagt entgeis-
tert: „Ich geh zum Irrenarzt, und du kotzt hier
auf den Tisch.“ Darauf der Vater, der gerade einen
Der Roman Auerhaus hat Bov Bjerg berühmt gemacht. Kotzespritzer an der Fensterscheibe mustert: „Die
Menschen sind eben verschieden.“
Jetzt erscheint Die Modernisierung meiner Mutter, Bov Bjerg beschreibt Menschen, die die Welt
nicht mehr verstehen. Beispielsweise Kopfschuss-
ein Band mit kurzen Geschichten des Lesebühnenautors. Klaus, der den berühmten Unabomber so sehr
bewunderte, dass er sich in Montana eine Kugel
in den Kopf schoss. Und als er vom Erzähler auf
Von Volker Weidermann „Auf einmal kamen die Einladungen. Mein erster den feinen Unterschied angesprochen wird, der
Vortrag handelte von Pessach. Ich hab ihnen er- Bomber habe doch einflussreiche Mitglieder einer
S IST KARFREITAG in Schwaben, und zählt, was im dtv-Lexikon steht. Heute dozier ich beschissenen Gesellschaft treffen wollen und nicht
E der Erzähler und seine Geschwister sind über alles, was sie wollen: Nürnberger Gesetze, sich selbst, sagt Kopfschuss-Klaus: „Ich war halt
zu Hause geblieben, während ihre Mutter Sechstagekrieg, Ben Gurion.“ Es redet sich so eher so ’n introvertierter Typ.“ Die Kugel hat ihn
zur Kirche gefahren ist. Vorher hat- damals nicht sehr verletzt. Nur das
ten wir Leser kurz Heimatkundliches Schamzentrum im Hirn wurde ge-
erfahren, nämlich dass die Maul- troffen. Die hat er also verloren, die
tasche einst erfunden wurde, um am Scham. Aber dafür auch etwas ge-
Karfreitag, dem höchsten christ- wonnen, das er „Witzelsucht“ nennt.
lichen Fleischverbotstag des Jahres, Der Bov-Bjerg-artige Erzähler meint,
trotzdem Fleisch essen zu können. als er das hört: „Witzelsucht, das
Durch den Teigmantel, so der total kannte ich gut. Und das kam tatsäch-
zwingende Glaube, kann Gott das lich von einem Gehirnschaden?“ Am
Hackfleisch nicht erblicken. Ende gehen sie zusammen ins Kino,
Nun also ist die Mutter fort. „Sleepy Hollow“ sehen sie sich an,
Der Bruder fragt, was es wohl so zum und Kopfschuss-Klaus kommentiert
Abendessen gibt, und das ist irgend- jeden abgehackten Kopf mit einem
wie das Stichwort. Rollläden knallen fröhlichen „Jawollo!“
herunter, Schlösser werden doppelt Ein Rolf fährt ein unsichtbares
verschlossen, die Kühlschranktür Auto durch die Straßen der Stadt.
wird aufgerissen, und Schnitzel, Lyo- Anfahren am Berg macht er am liebs-
ner, Salami, Mettwurst, Bierschinken ten. Gefährlich wird es erst, als er
wirbeln durch die Wohnung, hinein sich mit dem Rücken auf die Straße
in die Geschwistermünder: „Der legt und mit einem Schraubenschlüs-
Bruder griff mit beiden Händen in sel in der Luft herumschraubt. Ein
die Wurstdose, zerrte wahllos den plötzlich durch Betrug reich gewor-
Aufschnitt heraus, legte sich bunt dener Onkel, der das Papiergeld so
schimmernde Scheiben aufs Gesicht.“ sehr liebt, verbrennt in seiner Zelle.
Kinder-Karfreitagsfest in Schwaben. Wahrscheinlich hat er das geliebte
Bov Bjerg schreibt: „Wir waren im Geld so heiß gezählt, dass es sich
Innern der Maultasche.“ selbst entzündet hat. Eine plötzliche
Bov Bjerg, 51, das ist der Mann, Trennung beschreibt Berg so: „Tür
der seit vielen Jahren schon auf Ber- zu, und dann war sie weg, und ich
liner Lesebühnen stadtberühmt ge- war schneller mit ihr alt geworden,
wesen ist und der dann plötzlich im als ich mir das vorgestellt hatte.“
letzten Jahr mit seinem Roman von Wie kommt man zurecht in ei-
der Anti-Selbstmord-WG Auerhaus ner falschen Welt? Ist Witzelsucht
seinen ersten Riesenerfolg hatte. wirklich ein Gehirnschaden? Und
Mehr als 100 000-mal wurde das wie bitte kommt man ohne sie zu-
Buch über eine Jugend am Rande recht? Die klugen Menschen in den
der Schwäbischen Alb verkauft. Ver- Geschichten legen sich alle einen
Foto: Steffen Jänicke für LITERATUR SPIEGEL; Fotos aller Bücher im Heft: Jonas von der Hude

Schriftsteller Bov Bjerg


filmt wird es jetzt auch. Also hat der Kluge Menschen mit mildem Wahnsinn milden Wahnsinn zu. Einmal erzählt
Blumenbar-Verlag nun eine Samm- er von einer Kassiererin an der Su-
lung der Geschichten zusammenge- permarktkasse, die er schon sein gan-
stellt, die der Autor bislang nur auf Bühnen vor- leicht in einer Stadt, die schweigt. „Gestern hat zes Leben lang kennt. Früher war sie hektisch,
getragen hat – „Best of Bov“. mich das Stadtradio angerufen, weil in der Bahn- schlecht gelaunt und wollte ihn unbedingt des
Die Geschichten sind schnell, pointensicher hofsdurchführung irgendwer ein Hakenkreuz ge- Ladendiebstahls überführen. Heute ist sie sanft,
und verschroben. Kein falsches Wort, ständig sprüht hat.“ Klar. Ein Feilchenfeldt kennt sich da fast heiter. Nach einem ganzen Leben an der Kas-
unerwartete Abbiegungen, sehr traurige Witze. aus. Opferbeauftragter. Die Leute wollen ihr Ge- se. Bjerg schreibt: „Und manchmal, wenn an der
Kondensiertes Auerhaus. Einige Figuren kennen wissen reingequatscht haben. Das macht er gern Kasse zehn oder zwanzig nörgelnde Leute stehen,
wir schon aus dem Roman. Zum Beispiel den und routiniert. habe ich den Verdacht, diese Gelassenheit, diese
Auschwitz-Apotheker, der jüdischen KZ-Häftlin- Bov Bjerg hat einen großartig Sanftmut, diese Freundlichkeit, dieses
gen das Zahngold stahl und von dessen Taten die traurigen Humor. Die Leute in seinen ,... und zwei fünfzig zurück, schönes Wo-
Bewohner des Städtchens erstmals in der Ermitt- Geschichten sind kolossal einsam und chenende auch‘ ist nur ihre besondere,
lung von Peter Weiss lasen. Kein Grund natürlich, lachbereit und essen gern. Gleich der ers- ganz eigene Form des Wahnsinns.“
nun darüber zu reden, im Ort. Ein Familienge- te Junge, dessen Mutter bei einem Leh- Es kommt darauf an, sich gut zu
heimnis im Großen. Der Erzähler bewahrte das rerehepaar als Haushälterin arbeitet, ver- schützen. Man braucht einen überzeu-
Buch von Weiss zwischen seinen Pornoheftchen schenkt in der Pause sein Salamibröt- genden Trick, um zu überleben. Leben
auf. „Immerhin, ich hab ein Blatt Papier dazwi- chen, weil für den Mittag Schinken- in der Maultasche. Doch selbst das ist
schen gelegt.“ nudeln angekündigt wurden. Das Para- nicht mehr sicher, Gott kennt alle Tricks,
Einer im Dorf gab sich irgendwann den jü- dies steht kurz bevor: Schinkennudeln, und die Karfreitagskinder haben echt ein
dischen Namen Feilchenfeldt. Seitdem wird er Schinkennudeln, er kann gar nichts an- Bov Bjerg: Die Problem: „Es klingelte Sturm. Klopfte.
Modernisierung
von den örtlichen Radiostationen und Zeitungs- deres mehr denken. Doch seine Mutter meiner Mutter.
Rüttelte an der Tür. Der liebe Gott wollte
redaktionen immer angerufen, wenn irgendwas musste leider nach dem „Rezept“ (ja, in Blumenbar; 160 sehen, was in dieser Maultasche vor sich
mit Nazis ist oder Israel oder mit „Erinnerung“. ironischen Anführungszeichen) der Seiten; 16 Euro. ging.“
Theater | Klassik | Serien | Kino | Pop | Kunst | Games

Kulturprogramm

Kater bei den Proben zu „The Greatest Show on Earth“

ist auch einfach eine lustige Tiernum-


Theater mer.“ Oder der Auftritt der japanischen
Truppe „contact Gonzo“: Es schadet
Weitere Premieren &
Festivals
In The Greatest Show on Earth zwar nichts, sich mit dem theoretischen
werden Performer zu Zirkuskünstlern. Hintergrund dieser Leute zu beschäfti- BERLIN
gen, die sich auf die in den Siebzigern Tanz im August. Der israelische Choreo-
Kommen Sie! Staunen Sie! Wer „The entwickelte Tanzform der Kontaktimpro- graf Emanuel Gat zeigt sein neues Stück
Greatest Show on Earth“ anpreist, muss visation beziehen. Aber man kann ihre „Sunny“; die gefeierten Belgier von Pee-
klotzen, nicht kleckern. Grelle Farben Schau, die im Wesentlichen darin be- ping Tom sind zum ersten Mal in Berlin zu
und extreme Effekte, krasse Nummern steht, sich nach allen Regeln der Kunst sehen u. v. m. Diverse Orte, 12.8.– 4.9.
und groteske Szenerien, dazu ein wag- zu verprügeln, auch so auf sich wirken
halsiger Körpereinsatz – das sind klassi- lassen. „Das schaut man sich nicht aus DRESDEN
sche Elemente des Zirkus. Man findet einer reflektierten Distanz an, das nimmt 89/90. Peter Richter schildert in seinem
sie aber auch in der Performancekunst. einen körperlich sofort mit“, sagt Witt- Roman die Wendezeit in Dresden aus der
So kamen Eike Wittrock und Anna Wag- rock, der die Endproben auf dem Kamp- Sicht eines 16-Jährigen. Christina Rast
ner, die künstlerischen Leiter des Per- nagel-Gelände in Hamburg betreut, wo bringt das Buch auf die Bühne. Staats-
formanceprojekts „The Greatest Show „The Greatest Show on Earth“ im Rah- schauspiel, Kl. Haus, Uraufführung 27.8.
on Earth“, auf die Idee, Künstler und men des Internationalen Sommerfestivals
Künstlerpaare einzuladen, mit ihnen ein zur Uraufführung kommt. Danach geht RUHRGEBIET
Zirkusprogramm zu entwickeln. Der Ti- die Produktion, wie es sich für einen Zir- Ruhrtriennale. U. a. zeigt Susanne Kenne-
tel geht auf das Programm eines ameri- kus gehört, auf Tournee. „Der Schauwert dy eine „Medea.Matrix“ mit Birgit Minich-
Fotos: Nicolas Ritter; Lebrecht Music & Arts / Culture-Images (r.)

kanischen Zirkusunternehmens im frü- war bei der Auswahl der Performances mayr, Festivalchef Johan Simons widmet
hen 20. Jahrhundert zurück; die Künst- entscheidend“, sagt der künstlerische sich „Alceste“ . Diverse Orte, 12.8.– 24.9.
ler wollen das Zirkusprinzip in die Ge- Leiter. Auch die Choreografin Meg Stuart
genwart übertragen. „Great“, so viel ist wird dabei sein: Ihre Stelzennummer ist WEIMAR
klar, kann angesichts moderner Kino- eine Auseinandersetzung mit der „zeit- Kunstfest. In einem Schwerpunkt geht es
effekte nicht mehr „big“ bedeuten. So genössischen Suche nach Extremen“ und um Peter Weiss. Daniel Wetzel von Rimini
präsentieren etwa die Performer Maika mit Menschen, die versuchen, nach einer Protokoll spannt in „Evros Walk Water“
Knoblich und Hendrik Quast ihre Dres- Katastrophe wieder aufzustehen. Viel- John Cage und das Flüchtlingsdrama zu-
surnummer nicht mit Löwen oder Ele- leicht ist es aber auch einfach tolle Akro- sammen. Diverse Orte, 19.8.– 4.9.
fanten, sondern mit einem Hund und batik. Anke Dürr
einem Kater. Der Kater ist der Star, der ZÜRICH
Hund muss ihm den roten Teppich aus- The Greatest Show on Earth. Theaterspektakel. Kenner lassen sich
rollen. Eine Performance „über das Ver- Hamburg, Kampnagel, 11.– 14. und 17.– 20.8. vom Programm überzeugen (u. a. Milo
hältnis von Mensch und Tier, Zähmung Frankfurt a. M., Mousonturm, 1.–4. u. 7.–10.9. Rau, Mette Ingvartsen), alle anderen vom
und Wildheit“ sei das, sagt Wittrock. Berlin, Sophiensæle, 21.– 23.9. Lageplan (direkt am Zürichsee). Landi-
Aber man muss das nicht so sehen. „Es München, Kammerspiele, 13.– 16.10. wiese, 18.8.– 4.9.
15

Klassik
Das erste Klavierkonzert des Spätromantikers Moritz Moszkowski
ist die Wiederentdeckung der Saison. Hyperion.

Gerade mal 20 Jahre alt war quellende Emotionsmusik, die


der junge Pianist Moritz Mosz- sich neben dem Zeitgenossen
kowski, als er 1874 sein Klavier- Tschaikowski durchaus hören
konzert in h-Moll schrieb. lassen kann. In den vier Sätzen,
Europa war künstlerisch im die zwischen lyrischer Intensi-
Zeichen der Spätromantik ver- tät und schwelgerischer Klang-
einigt, und ein aufstrebender lust elegant hin und her
Virtuose konnte nichts Besseres schweifen, schimmert bisweilen
tun, als sich für seine Tourneen geradezu wagnerische Harmo-
die Bravourstücke selbst zu nik durch; schon der Anfang
schreiben. Doch Moszkowski klingt kühn, als teilten sich
(1854 bis 1925), der tatsächlich düstere Wolken, bis der Blick
bald internationalen Ruhm er- frei wird auf ein monumentales
langen sollte, war ein selbstkri- Gemälde. Erschienen ist die
tischer Komponist. Von ihm als Aufnahme in der längst legen-
„wertlos“ weggeräumt, dämmer- dären Entdecker-Reihe „The
te die 400-Seiten-Partitur in der Romantic Piano Concerto“, die
Pariser Nationalbibliothek, bis 1991 anfing und nun die 68.
der Moszkowski-Forscher Bo- Folge erreicht hat. Für deren
jan Assenov sie 2008 aufspürte. Produzenten ist es ein besonde-
Nun hat der bulgarische Pia- rer Triumph, denn schon auf
nist Ludmil Angelov mit dem der allerersten CD des Unter-
Dirigenten Vladimir Kiradjiev nehmens war ein Konzert jenes
die erste Aufnahme heraus- Deutschpolen zu hören, der
gebracht: stolze 54 Minuten nun vollends als unterschätzte
unterhaltsame, von melodi- Größe dasteht: Moritz Mosz-
schen Einfällen schier über- kowski. Johannes Saltzwedel

Weitere Konzerte &


Klassikalben Premieren

Robert Schumann: Klaviertrios, BREMEN


Quartette u. a. Brilliant. Seelen- Musikfest. Der Weser-Klassiker
töne, bestens serviert vom bietet diesmal extra viel Oper
Quartetto Savinio und Matteo und Gesangsstars. 20.8.– 10.9.
Fossi (Klavier).

J. S. Bach: „Goldberg-Variatio-
DRESDEN
Moritzburg Festival. Gastkom-
Die Sommerausgabe
nen“. Accentus Musicus. Schein- ponist bei Jan Voglers edlem
bar Altbekanntes wirkt bei der Kammer-Festival ist Erkki-Sven
emen!
Pianistin Zhu Xiao-Mei auf ein-
mal wie neu – fabelhaft.
Tüür. 6.– 21.8.
mit aktuellen Trends und Th
LUZERN
Alessandro Stradella: „Santa Lucerne Festival. Große Kön-
Editta“. Outhere Arcana. Das ner, vom Dirigenten Bernard
barocke Gesangs-Kleinod ent- Haitink bis zur jungen Cellistin
stand vermutlich aus Anlass Harriet Krijgh. 12.8.– 11.9.
einer Fürstenhochzeit von 1673.
WUPPERTAL
Grażyna Bacewicz: Sämtliche Musiksommer: Eröffnungs-
Streichquartette. Chandos. konzert. Vor dem Start der
Elegisch bis energisch: Klang- Meisterklassen zeigen die
expeditionen der großen polni- Dozenten hier selbst ihre Kunst.
schen Neutönerin (1909 bis 1969). 21.8., Stadthalle.

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Komponist Moritz Moszkowski www.buchaktuell.de


16

Kino Viggo Mortensen


und zwei
seiner Filmkinder
Weitere Filme
aus „Captain
In Captain Fantastic werden Fantastic“ AB 4 . AUG UST
Kinder zu Guerillakämpfern gegen Julieta. Eine Frau verliert ihren Mann,
die Moderne. Start: 18. August. dann verschwindet die Tochter. Nach der
missglückten Flugbegleiter-Farce „Flie-
Sie leben in den Wäldern, töten Tiere gende Liebende“ findet Pedro Almodóvar
mit bloßen Händen und essen rohes mit dieser schwelgerischen Frauen-
Fleisch. Wenn sie von ihrem Vater ein geschichte wieder zu besserer Form.
Jagdmesser geschenkt bekommen, ist
das einer der schönsten Tage ihres Le- AB 11. AUGUST
bens. Außerdem können sie die Verfas- Jason Bourne. Jeremy Renner ist in der
sung der Vereinigten Staaten ebenso flie- Rolle des gedächtnisschwachen CIA-
ßend zitieren wie Klassiker der Weltlite- Attentäters zuletzt gescheitert, jetzt
ratur. Die sechs Kinder von Ben (Viggo übernimmt wieder Matt Damon und haut
Star Winona Ryder in „Stranger Things“ Mortensen) sind wild und gebildet, sie im neuen Abenteuer allerhand Bösewichte
leben ausgegrenzt mitten in den USA. um. Regie führt erneut Damon-Kumpel
Sie verkörpern den inneren Widerspruch Paul Greengrass.

Serien / DVDs
Amerikas. Matt Ross’ Film „Captain
Fantastic“, im Mai beim Festival in AB 18. AUG UST
Cannes gefeiert, handelt von Kindern, Suicide Squad. Ein Haufen irrer Super-
Die Abenteuerserie Stranger Things die in Fundamentalopposition zum ka- schurken wird zur Weltrettung rekrutiert.
würdigt den wohligen Grusel der pitalistischen System aufwachsen. Ihr Sehnlichst erwartete Comicverfilmung
Achtzigerjahre. Netflix. Vater macht aus ihnen kleine Guerilla- von David Ayer. Mit Will Smith.
kämpfer gegen die Moderne, gegen
Verblassenden Filmstars bleibt irgend- dekadenten Unsinn wie Fast Food, Com-
wann nur die Wahl zwischen Versenkung
und Fernsehen. Doch der vermeintliche
Abstieg auf den Bildschirm kann Karrieren
puterspiele oder Internet. Sie heften sich
keine Star-Poster an die Wand, sondern
ein Foto des kommunistischen Diktators
Pop /Live
retten – die von Kevin Spacey („House Pol Pot. Ross erzählt das mit leichter Die amerikanische Rockband Eagles of Death Metal kommt
of Cards“) etwa oder Christian Slater Hand, mit sanfter Ironie und dennoch auf Tour. Bremen 15.8., Köln 16.8., Großpösna (bei Leipzig)
(„Mr. Robot“). Mit der neuen Netflix-Se- berührend. Im Nu bringt er das Publi- 20.8., Frankfurt am Main 30.8.
rie „Stranger Things“ versucht es nun Wi- kum auf die Seite der charmanten
nona Ryder, It-Girl der frühen Neunziger Bagage, die sich der Gemeinschaft nach
und nach einem Ladendiebstahlskandäl- Kräften widersetzt – und auch darunter
chen in der Versenkung verschwunden. leidet. Der älteste Sohn will studieren,
Aber schließlich war mal eine halbe Ge- doch Ben verachtet das Bildungssystem.
neration männlicher Teenager in sie ver- Am Ende aber zeigt Matt Ross dieses
knallt. Die erinnern sich auch heute noch zerrissene Land USA doch als eine Art
gern an sie. In der Serie, die im Jahr 1983 große Familie. Das macht den Film nicht
angesiedelt ist, spielt Ryder, 44, die Klein- unsympathisch, nur vielleicht ein biss-
stadtmutti Joyce. Ihr kommt einer ihrer chen zu lieb. Lars-Olav Beier
beiden Söhne abhanden. Weggelaufen,
glaubt der Sheriff (David Harbour), aber
Joyce weiß schnell, dass etwas Schlim- Weitere Serien / DVDs
mes, Unerklärliches passiert sein muss.
Eine unheimliche Kreatur, ausgebrochen SERIENSTARTS
aus einer dubiosen Forschungseinrich- Humans. In dieser tollen Thrillershow lässt
tung, treibt sich in den Vorgärten herum, sich die Menschheit von täuschend
und nur ein Trio von halbwüchsigen menschlichen Robotern bespaßen. Geht
Möchtegernermittlern hilft Joyce auf der nicht lange gut. Ab 11. August bei RTL Crime.
Suche nach dem verlorenen Sohn. Die
Serienschöpfer, die Zwillingsbrüder Matt The Get Down. Nach Martin Scorseses
und Ross Duffer („Hidden“), rühren Siebziger-Musik-Serie „Vinyl“ kommt Baz
dabei eine nicht zwingend originelle, Luhrmann („Moulin Rouge!“) mit einem
aber spannende und warmherzige Hom- ähnlichen Projekt, aber mit mehr Disco- Auftritt der Eagles of Death Metal in Paris am 16. Februar
mage an „E. T.“, „Stand by Me“ und Glitter. Ab 12. August bei Netflix.
Fotos: Curtis Baker / Netflix (o. l.); ABACA / DDP Images; Levi Walton (u.); Next Nature Network

„Das Ding aus einer anderen Welt“ zu- Es hat seine Tragik, wenn of-Death-Metal-Sänger Josh
sammen – wohliger Grusel wie aus einer DVD/BLU-RAY eine Band nur deshalb welt- Homme, Waffennarr und Un-
anderen Zeit, mit einer Winona Ryder, in lraqi Odyssey. Persönlich, berührend: Der bekannt ist, weil sie bei einem terstützer von Donald Trump,
die man sich gern ein zweites Mal ver- im Irak geborene Regisseur Samir erzählt der schlimmsten terroristi- behauptete in Interviews
liebt. Daniel Sander seine Familiengeschichte. NFP. schen Anschläge, die Europa fälschlicherweise, französische
in den vergangenen Jahren er- Muslime hätten nach den An-
lebt hat, auf der Bühne jenes schlägen in den Straßen gefei-
Saals stand, den ein islamisti- ert, und ein muslimischer An-
sches Kommando überfiel. 89 gestellter des Bataclan sei in
Konzertbesucher der Eagles das Attentat verwickelt gewe-
SPIELFILME
of Death Metal wurden am 13. sen. Daraufhin wurde seine
November 2015 ermordet, als Band von mehreren Festivals
(1) Ich bin dann mal weg (4) Heidi (2015)
1 6 drei Attentäter den Pariser ausgeladen. Zu Recht? Zu Un-
Warner Bros., FSK: ohne Studiocanal, FSK: ohne
Club Bataclan stürmten. Wie recht? Homme entschuldigte
(-) Deadpool (3) Star Wars: Das Erwachen der Macht
2 7 geht man damit um? Der Jour- sich später. Im Februar 2016
20th Century Fox, FSK: ab 16 Jahre Walt Disney, FSK: ab 12 Jahre
nalist Antoine Leiris, der dort kehrte die Band für einen
(-) Zoomania (10) Alles steht Kopf
3 8 war und dessen Frau erschos- Auftritt zurück nach Paris.
Walt Disney, FSK: ohne Walt Disney, FSK: ohne
sen wurde, hat nach dem Die Frage bleibt: Kann man
4 (2) The Revenant 9 (7) Er ist wieder da Amoklauf „Meinen Hass das richtige Gedenken verord-
20th Century Fox, FSK: ab 16 Jahre Constantin/Universal, FSK: ab 12 Jahre bekommt ihr nicht“ auf seine nen? Wer Rock als Kunst der
Facebook-Seite geschrieben; so Stumpfheit schätzt, ist bei
5 (8) Fack Ju Göhte 2 10 (5) Die Tribute von Panem. Mockingjay 2
Constantin/Universal, FSK: ab 12 Jahre Studiocanal, FSK: ab 12 Jahre heißt auch sein Buch, das zum den Eagles of Death Metal so
Bestseller wurde. Der Eagles- oder so richtig. Tobias Rapp
17

Lou Barlow schon rausgeworfen, weil sie


Weitere Popkonzerte sich nicht einigen konnten, wer auf der
Bühne lauter spielen durfte. Den Schlag-
Sting. Der größte Streber des internatio- zeuger Murph feuerte er, weil er dessen
nalen Pop kommt für zwei Termine nach Trommelei zu „langweilig“ fand. Nirva-
Deutschland. Diesmal ohne Jazzbeglei- na hätten Mascis gern als Schlagzeuger
tung und ohne klassisches Orchester, nur gehabt, er wollte nicht. Ein Slacker-
er und seine Band. Zur Aufführung Schicksal: erst keine Lust, dann kommt
kommen die Greatest Hits aus 40 Jahren auch noch Schlappheit dazu. 2005 fan-
Karriere. Wiesbaden 31.7., Berlin 1.8. den Dinosaur Jr. wieder zusammen. Das
neue Album „Give A Glimpse Of What
Rihanna. Sie war immer der Superstar für Yer Not“ ist das mittlerweile vierte im
die Smartphone-Mädchen mit den aufge- neuen Jahrtausend. Elf Songs, die klin-
klebten Fingernägeln. Bis sie im Frühjahr gen wie in ihren großen Zeiten, nur bes-
ihr Album „Anti“ veröffentlichte. Rihanna ser produziert. Mühelos tragen sie die „Knitted Meat“ von Next Nature Network im Stedelijk Museum
hat aus der Figur des sexy Loner einen alte Dinosaur-Jr.-Idee weiter, das Glück
weiblichen Popstar gemacht. München 7.8., in der Verbindung von schweren Riffs
Wien 9.8., Berlin 16.8. und leichten Melodien zu suchen – und

Alle Farben. Es ist ja höchst erstaunlich,


in den flirrend-bratzigen Klängen, die
Mascis aus seiner Gitarre und ihren Ver-
Kunst
wie selten es ein Künstler aus der elektro- zerrern und Verstärkern herauszaubert. Das Stedelijk Museum in Amsterdam feiert in der Schau
nischen Tanzmusik, Deutschlands größter Lange weiße Haare hat er mittlerweile, Dream Out Loud neues Design. 26.8.2016 – 1.1.2017.
Undergroundkultur, in die Charts schafft. was so gar nicht zu seiner jungenhaften
Alle Farben ist diese Ausnahme. Saalburg Stimme passt. Es gibt also Bands, die In den Neunzigerjahren man erkennt schnell, dass die
13.8., St. Pölten 18.8., Bad Aibling 20.8. brauchen viele Jahre, um das zu tun, was und im beginnenden neuen Jüngeren zwar Idealisten, aber
sie eigentlich immer schon wollten. Beru- Jahrtausend konnten Künstler keine Träumer sind. Man
higend, irgendwie. Tobias Rapp nicht jung genug sein. Die könnte fast von einer neuen

Pop /Alben Weiteres Popalbum


Szene erfand Schlagworte wie
„Young British Art“ und
„Young German Art“. Ab-
industriellen Revolution spre-
chen, so sehen es auch die
Gestalter selbst. Sie rebellie-
Die amerikanische Band Dinosaur Jr. schlussausstellungen an Aka- ren allerdings gerade gegen
klingt auf „Give A Glimpse Of What Yer Betty Davis: „The Columbia Years 1968- demien waren bestens besucht, die Ideenlosigkeit und Igno-
Not“ wieder wie in ihren großen Zeiten. 1969“. Columbia. Ein Jahr war Betty Mabry denn schon unter den Absol- ranz der alten Industrie und
Jagjaguwar, erscheint am 5.8. mit dem Trompeter Miles Davis verheiratet, venten hofften Galeristen, kämpfen für mehr Umweltbe-
1968/69. Es reichte, um sein Leben umzu- Sammler und Museumsleute wusstsein. Ein wichtiges The-
Dafür, dass ihm jahrelang der Ruf vor- krempeln. Sie war Model, Musikerin und die Stars von morgen zu fin- ma sind Recycling und Upcyc-
auseilte, ein unverbesserlicher Schluffi New Yorker Szenegröße, brachte Miles mit den. Der heutige Nachwuchs ling: Aus alten, eingeschmol-
zu sein, ein Mann, der abends den Kühl- Jimi Hendrix zusammen und spielte ihm hat es schwerer, wahrgenom- zenen CDs werden Stühle
schrank offenlasse, weil er zu faul sei, die die Musik von Sly Stone vor – was dazu men zu werden, der Betrieb produziert, aus gebrauchten
Glühbirne der Küchenlampe zu wech- führte, dass Davis seine elektrischen hält sich an etablierte Namen. Sicherheitshelmen entsteht
seln, aber nicht im Dunkeln essen wolle Alben wie „Bitches Brew“ aufnahm. Die Eine Ausnahme ist das Stede- Schmuck. Manchmal ist die
– dafür ist die Karriere von J (eigentlich Gerüchte, dass Miles und Betty zusammen lijk Museum in Amsterdam. Vision wichtiger als die Funk-
Joseph) Mascis, dem Kopf der US-Band eine Platte eingespielt hätten, sind alt. Die weltbekannte Institution tionalität, es gibt etwa eine
Dinosaur Jr., ziemlich erstaunlich. Mit Nun erscheinen die Aufnahmen zum ers- bezeichnet es gar als ihre Gruppe von Designern, die
den zwei großen Alben „You’re Living ten Mal. Neun Stücke, eher Skizzen als Mission, Künstlern und Desi- sich schlicht „Wir machen Tep-
All Over Me“ und „Bug“ erfanden Dino- fertige Songs, eine Mischung aus Funk, gnern zu Beginn ihrer Karrie- piche“ nennt. Ihre wie gewebt
saur Jr. Ende der Achtziger den Alter- Pop und Jazz. So wild wie auf Betty Davis’ re die Chance zu geben, ihre wirkenden Gebilde sind aller-
native Rock, als verlärmte Mischung aus wegweisenden (und vergessenen) Platten Werke zu präsentieren. Alle dings eher Kunstwerke, auf
punkiger Gitarrenknallerei und hippi- aus den Siebzigern ist sie noch nicht. Was zwei Jahre findet dazu eine jeden Fall sollte man nicht
esker Freude am Gegniedel. Dass Bands möglich gewesen wäre, wenn ein Label Ausstellung statt, diesen Som- darauf laufen. Es handelt sich
wie Nirvana kurz danach mit genau die- damals gewagt hätte, eine neue Art von mer ist es wieder so weit. Aus um Reliefs etwa aus Feuer-
sem Sound die Welt eroberten, nützte selbstbewusstem schwarzem Star zu lan- mehr als 400 Bewerbern wur- werkskörpern, aus gefüllten
Mascis wenig: Da hatte er den Bassisten cieren, klingt immer durch. de eine Auswahl getroffen, das Kaffeebechern oder Deko-
Design der Gegenwart wird schirmchen fürs Cocktailglas.
einen Schwerpunkt bilden. Es gibt nichts, was sich nicht
Der Titel der Ausstellung lau- zweckentfremden oder wieder-
tet „Dream Out Loud“, und verwenden lässt. Ulrike Knöfel

Weitere Ausstellungen

A ARG AU MÜNCHEN
Karl Ballmer. Kopf und Herz. Gert und Uwe Tobias –
Der Schweizer Maler Karl Ball- Grisaille. Die Brüder Gert und
mer (1891 bis 1958) ist fast noch Uwe Tobias beschränken sich in
ein Unbekannter, seine Freund- ihrer neuen Serie von Grafiken
schaft mit dem Kunsthändler weitgehend auf die Farbe
Hildebrand Gurlitt sorgte für ein Grau – und pflegen doch ihren
spätes Interesse an seiner Surrealismus. Staatliche Gra-
Person. Kunsthaus, 28.8.–13.11. phische Sammlung, bis 16.10.

ESSEN WEIMAR
Richard Deacon. Drawings Sardellensalat sehr gut. Man
and Prints 1968–2016. Der kann sich in dieser Ausstellung
Brite Richard Deacon ist ein zurückversetzen in die Ess-
gefeierter Bildhauer. In Essen kultur einstiger Geistesgrößen.
widmet man sich seinen Zeich- Gezeigt werden Menükarten
nungen und Druckgrafiken – und Rezepte der Familien Goe-
Grundthema bleibt Deacons the, Schiller, Arnim und Nietz-
Leidenschaft fürs Abstrakte. sche. Goethe- und Schiller-
US-Band Dinosaur Jr. mit Frontmann J Mascis (M.) Museum Folkwang, 26.8.–13.11. Archiv, 26.8.–22.12.
18
Abgesang
Jeden Monat ein neues Gedicht

rettich

du hast so lang an ihm gezerrt, gezogen;


nun stehst du, den ruf der waldohr-
eule im rücken, mit diesem stoßzahn
von rettich da, ertappt wie ein wilderer.

und hier an deinem küchentisch, blass


Szene aus „Inside“
vor einem klotz mit der kälte von marmor
und schwer wie ein unterschenkel apolls,

Games
ein mittlerer amor,

Im Computerspiel Inside bedeutet der Tod beschleicht dich das gefühl, du habest exakt
noch etwas. Playdead.
um sein gewicht an gewicht verloren,
Ein kleiner Junge auf der Flucht: roter Pulli, würdest noch leichter, leichter. draußen knackt
schwarze Hose, das Gesicht kaum zu erkennen. Er
versteckt sich vor Männern, die mit Taschenlampen
der wald, rückt auf mit augen und mit ohren.
das Gelände absuchen, flieht vor Wachhunden, über-
windet Hindernisse. Als Spieler weiß man nichts über
ihn, über seine Geschichte, seine Verfolger, und man
geschrumpft zu wenig mehr als einem nugget,
wird es auch im Laufe des Spiels nicht erfahren. „In- eine feder im windzug, nichts als ein flaum
side“ wurde von dem kleinen dänischen Studio Play-
dead erschaffen, das schon mit „Limbo“ ein gefeiertes
vor diesem stummen albinogott,
Spiel produziert hat. Die Entwickler verlieren keine sieht man dich kaum.
Worte, lassen nur den Jungen durchs Bild laufen,
Rätsel lösen, schleichen und fliehen – und sterben,
zigfach im Spiel. Ein Fehler bedeutet den Tod, und sein name, der wie ein seufzer entwich,
der wiederum ist wichtig, schließlich gibt er Hinweise
auf die Lösung. Und dennoch ist der Tod jedes Mal
ein stoßgebet: hätte ich, hätt ich ...
ein niederschmetternder Moment. Er hat eine emo- dein haus liegt kalt und unbewohnt
tionale Bedeutung, anders als sonst in vielen Spielen.
Auch deshalb ist „Inside“ eines der eindringlichsten
unter dem rettichmond.
Spiele der letzten Jahre. Es erzählt von Flucht und
Vertreibung, von Verfolgung und Krieg, von Macht
und Ohnmacht und von dem Wunsch, dem Elend zu
entkommen – notfalls in Fantasiewelten. Die mono-
chrome Gestaltung des Spiels verstärkt noch das
unwirkliche Grauen, das hinter jedem Bild zu spüren
ist. Wer sucht, findet Anspielungen auf Noir-Filme,
auf George Orwells „1984“, auf Bilder von Flüchtlin-
gen. „Inside“ wird dabei nie konkret, liefert aber mit
seinen Bildern Ideen, die sich in den Gehirnen der
Spieler zusammensetzen. Gegen Ende wandelt sich
das Spiel, verlässt die Realitätsebene und wird zu ei-
ner Groteske, die Erlösung in Auflehnung sucht und
einen als Spieler überwältigt. Großartig! Carsten Görig
Fotos: Playdead (o.); Jens Kalaene / DPA; Illustration: Sebastian Rether für LITERATUR SPIEGEL

Weitere Games

BoxBoxBoy! Nintendo. Ein kleines Quadrat mit Beinen


und der Fähigkeit, weitere Quadrate zu erstellen, aus
denen es Brücken und Treppen bauen kann: Mehr Sein erster Gedichtband, Jan Wagner, 1971 in Hamburg geboren,
braucht es nicht, um ein herausragendes Puzzlespiel zu der im Jahr 2001 erschien, unternimmt seit jenen Tagen selbst immer
gestalten. „BoxBoxBoy!“ hangelt sich abwechslungsreich trug den Titel „Probe- wieder Luftexpeditionen ins Blau. Er ist
und clever durch die Level. bohrung im Himmel“. Bei heute einer der populärsten und meistde-
einer Zugfahrt von Ham- korierten deutschen Poeten. Sein Gedicht-
Sherlock Holmes: The Devil’s Daughter. Bigben. burg nach Berlin hatte der Dichter zwei band „Regentonnenvariationen“ stand
Sherlock-Holmes-Spiele sind oft eine etwas betuliche Windräder gesehen, sie schienen diese 2015 über Wochen auf der SPIEGEL-Best-
Angelegenheit. „The Devil’s Daughter“ versucht, mehr Probebohrung durchzuführen: „gott hielt sellerliste und wurde mit dem Preis der
Action ins Konzept zu bringen, scheitert damit jedoch den atem an“, endeten die Verse. Leipziger Buchmesse ausgezeichnet.
kläglich. Zum Glück kann man die Action aber über-
springen, denn Fälle und Detektivarbeit überzeugen.
IMPRESSUM E-Mail: Verantwortlich Anzeigenpreise,
kultur@spiegel.de für Anzeigen: Formate und
Dangerous Golf. Three Fields Entertainment. In „Burn- SPIEGEL-Verlag Dr. Michael Plasse Termine unter:
out“ ging es um die Inszenierung spektakulärer Unfälle. Rudolf Augstein Herausgeber www.spiegel-qc.de
GmbH & Co. KG Rudolf Augstein Druckerei:
Das von denselben Entwicklern stammende „Dangerous (1923 – 2002) appl Druck GmbH,
Golf“ übersetzt das Chaosprinzip in den Golfsport. Ericusspitze 1 Wemding
20457 Hamburg Chefredakteur
Aufgabe ist es, mit dem Ball möglichst viel Flurschaden T. 040 3007-2791 Klaus Brinkbäumer
zwischen Spiegelglas und Flaschenbergen anzurichten. F. 040 3007-2876 (V. i. S. d. P.)
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