Sie sind auf Seite 1von 132

BeNeLux € 5,80 Finnland € 8,– Griechenland € 7,– Norwegen NOK 74,– Polen (ISSN00387452) ZL 32,– Slowakei € 6,60 Spanien

i € 6,60 Spanien € 6,50 Ungarn Ft 2350,-


Dänemark dkr 53,– Frankreich € 6,50 Italien € 6,50 Österreich € 5,80 Portugal (cont) € 6,50,– Slowenien € 6,30 Spanien/Kanaren € 6,70 Printed in Germany

Suizide auf Bahngleisen

vier Menschen vor seinen Zug warfen


Wie ein Lokführer damit lebt, dass sich
Medizin
Neue Hoffnung im
Kampf gegen Alzheimer
Hintergründe eines
fürchterlichen Verbrechens
Kindesmissbrauch im Breisgau
Nr. 4 / 20.1.2018
Deutschland €5,10
Der neue Golf Sportsvan JOIN.
Mit optionalem, individuellem
Schlüssel und Car-Net App-Connect.
Stellt sich auf Sie ein.

Jetzt erhältlich in
Ihrem App-Store.

Wir bringen die Zukunft in Serie.

Kraftstoffverbrauch in l/100 km: kombiniert zwischen 5,2 und 4,9, CO₂-Emissionen in g/km: kombiniert zwischen 118 und 112, Effizienzklassen:
www.volkswagen.de

B–A. Abbildung zeigt Sonderausstattung gegen Mehrpreis.


Begegnen Sie Menschen
und ihrer Kultur

Kataloge:
00 800/24 01 24 01
www.studiosus.com

Intensiverleben
SPIEGEL-Gespräche
Das deutsche Nachrichten-Magazin live im Bucerius
Kunst Forum
Hausmitteilung
Betr.: Landwirtschaft, Lokführer, Iran
Deutschland
A
uf der Internationalen Grünen Woche in
Berlin feiert die wohl einflussreichste nach dem Krieg
Lobbyorganisation der Republik noch bis Ende

Maike Raap FZH


kommender Woche wieder ihr alljährliches
Hochamt: der Deutsche Bauernverband. Das
Geheimnis seiner Stärke liegt in einem einzig-
FRED DOTT

artigen Netz, das er sich geknüpft hat – mit Funk-


tionären in Politik, Forschung und Industrie.
Schießl Michaela Schießl und Antonia Schaefer beschrei-
ben in ihrem Report ein sich selbst kontrol-
lierendes System, das die Agrarwende hin zu einer umweltschonenderen
Landwirtschaft verhindert. Die Pressestelle des Verbands reagierte nicht auf
Anfragen der Journalistinnen, und die meisten Gesprächspartner wollten sich
nur anonym zitieren lassen; aus Angst vor Ausgrenzung und Ächtung. „Noch
steht das Bollwerk, doch am Fundament beginnt es zu bröckeln“, sagt Schießl. Prof. Dr. Axel Schildt
Denn mehr und mehr Bauern werde klar, dass sie mit Massenproduktion keine
Zukunft haben. Seite 64
Trümmer, Hunger, Flucht und Besatzer – viele
Menschen erlebten die Jahre nach 1945 als
M anche Menschen haben ein seltsames
Hobby, sie investieren Zeit und Geld,
um Kennerschaft auf einem Gebiet zu er-
existenzielle Krise, die sogar die Erinnerung an
den Krieg überschattet. Was bedeutet das für
den Umgang mit der Nachkriegsgeschichte?
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL

langen, das sonst kaum jemanden interes-


Darüber diskutiert der Hamburger Historiker
siert. Warum? Hauke Goos, der sich seit
Prof. Dr. Axel Schildt mit dem SPIEGEL-
seiner Kindheit für Schiffe begeistert,
Redakteur Uwe Klußmann.
nahm Kontakt zu drei Shipspottern auf,
die im Rotterdamer Hafen Tanker und Fäh-
ren fotografieren. So lernte er Stephan
Kniest kennen, einen Lokführer aus Nord- Goos, Kniest (2. v. l.) mit Freunden
rhein-Westfalen, dessen Bilderarchiv meh- Mittwoch, 31. Januar 2018, 20 Uhr
rere Terabyte Speicherplatz füllt – und der in elf Jahren vier Menschen totge- Bucerius Kunst Forum,
fahren hat, die sich zum Selbstmord auf den Schienen entschieden hatten. Goos Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg
beschloss, Kniests Geschichte aufzuschreiben. Durch die Suizide traumatisiert,
kämpft der Lokführer darum, dass der Todeswunsch anderer Leute nicht sein
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und in allen
eigenes Leben zerstört: Wenn er mit seinen Freunden zu den Schiffen reist,
bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich.
lenkt ihn das von den „Personenschäden“ ab, wie die Selbsttötungen beim Die Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt
Zugpersonal heißen. Goos sagt: „Bemerkenswert ist, dass Lokführer nach wie am Veranstaltungstag zum Besuch der
vor sein Traumjob ist.“ Seite 52 Ausstellung „Karl Schmidt-Rottluff:
expressiv | magisch | fremd“
(27. Januar bis 21. Mai 2018).

A
ls Luisa Hommerich vergangenes Jahr an der Uni-
versität in Teheran studierte, entdeckte sie am
Schwarzen Brett ihrer Fakultät die Einladung zu einer
Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von
LUISA HOMMERICH / DER SPIEGEL

19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste


Reise mit Mitgliedern der Basidsch, jener Miliz, die geöffnet. Änderungen vorbehalten.
auch bei den aktuellen Protesten in Iran wieder auf
Demonstranten einprügelt. Obwohl sie Deutsche ist,
erhielt Hommerich die Erlaubnis, an jener Fahrt teilzu-
nehmen, die 300 junge Frauen auf die Ziele der Para-
militärs einschwören sollte. „Die Organisatoren zeigen
Hommerich (r.) in Iran Ausländern gern das ihrer Meinung nach richtige Iran“, BUCERIUS
erklärt Hommerich, die ihre Erlebnisse nun schildert. K U N S T
Im Ganzkörperschleier saß sie am Lagerfeuer, Soldaten beschossen sie mit Platz- FORUM
patronen, sie lief vor echten Bomben in Deckung. Hommerich beobachtete, wie
tief die Strukturen des Regimes in der Gesellschaft verankert sind. „Im Westen
denkt man oft, das Regime stürze bald, wenn viele Menschen auf die Straße
gehen. So einfach ist das nicht“, sagt sie. Ihre Reportage lesen Sie ab Seite 80

DER SPIEGEL 4 / 2018 5


Pakt der Verlierer
Bündnisse Die Rekonstruktion der
Sondierungen für eine schwarz-
rote Koalition zeigt, wie sehr die
Macht der Chefs schon erodiert
ist. Angela Merkel, Horst Seehofer
und Martin Schulz hatten alle
Mühe, ihre Leute auf Linie zu hal-
ten. In den Parteien wird hinter
den Kulissen schon über einen

PETER KNEFFEL / DPA


Machtwechsel diskutiert. Seite 30

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL


PHILIP WALLER / PLAINPICTURE

Steuern per Roboter Täter ohne Schuld Demenz, neu gedacht


Autoindustrie Gibt es bald nur noch Schicksale Es passiert im Durchschnitt Medizin Tausende Alzheimerforscher
Fahrzeuge ohne Lenkrad und Pedale? 800-mal im Jahr: Menschen, die sich das suchen seit Jahrzehnten nach Mitteln gegen
BMW, Daimler und VW konkurrieren mit Leben nehmen wollen, werfen sich vor das große Vergessen. Vergebens. Aber
IT-Konzernen aus den USA darum, wer einen Zug. Lokführer fühlen sich dadurch sie wissen jetzt sehr viel: dass die Krankheit
als Erster massenhaft Roboterautos auf die als Täter, sind aber in Wahrheit Opfer. früher beginnt als gedacht; wie stark das
Straße bringt. Es ist eine milliardenschwere Stephan Kniest ist das schon viermal pas- Immunsystem beteiligt ist. Schon entstehen
Wette – mit unsicherem Ausgang. Seite 70 siert. Wie hält ein Mensch das aus? Seite 52 Ideen – für neue Wirkstoffe. Seite 102

6 Titelbild: Illustration: Miriam Migliazzi & Mart Klein für den SPIEGEL
In diesem Heft

Titel Ausland
Parteien Der anhaltende Niedergang der Die leeren Drohungen des Palästinenser-
politischen Linken in Deutschland 14 präsidenten Mahmoud Abbas /
SPD Parteichef Martin Schulz verteidigt Warum die Verleihung eines Fake-News-
den Sondierungsvertrag mit der Union 20 Awards eine inhaltliche Logik hat 74
Nostalgie Das seltsame Gedenkritual Diplomatie Selbstbewusst und angst-

JÖRG MÜLLER / DER SPIEGEL


am Grab von Liebknecht und Luxemburg 22 frei – die Außenpolitik des französischen
Karrieren Wie Robert Habeck die Grünen Präsidenten Emmanuel Macron 76
als künftiger Parteichef dominieren will 24 Iran Unterwegs mit Studentinnen der
Basidsch-Milizen, die auch an der
Deutschland Niederschlagung der jüngsten Proteste
Leitartikel Merkels grimmige beteiligt sind 80
Flüchtlingspolitik 8 USA Die Kindesmisshandlungen in
Meinung Der schwarze Kanal / So gesehen: Südkalifornien entfachen eine Ronen Bergman
Wahre Liebe 10 neue Debatte über Heimunterricht 84
Deutschland für neue Iran-Sanktionen / Zu Großbritannien Der endlose Kampf Er kennt Israels Geheimdienst
wenig Personal für Abschiebungen / Polen der konservativen Tories mit Europa 86 wie kaum ein anderer und
jagt per Interpol deutsche NS-Verbrecher 26 sagt, der Mossad habe rund
Bündnisse Die schwierigen Sondierungen Sport 3000 Menschen getötet.
zwischen Union und SPD zeigen Wie Bayern München die Bundesliga Der Experte kritisiert dessen
den Machtverlust der Parteichefs 30 dominiert / Magische Momente: Aktionen – die auch einen
Außenpolitik Berlin und Ankara planen einen Was Skispringer Stefan Kraft bei seinem deutschen Geschäftsmann das
Panzerdeal zur Freilassung des inhaftierten Weltrekord durch den Kopf ging 89
„Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel 34
Leben kosteten. Seite 40
Ski Junge Leute verlieren die Lust am
Migranten Italienische Staatsanwälte werfen Wintersport 90
deutschen Flüchtlingsrettern vor, im Mittelmeer
Football Leaks Tut Messi mit seinen Stiftungen
das Geschäft der Schlepper zu unterstützen 36
Gutes, oder hilft er nur sich selbst? 94
Geheimdienste Der Experte Ronen Bergman
im SPIEGEL-Gespräch über die
Morde des Mossad – und dessen 3000 Opfer 40 Wissenschaft
Wie der Mossad einen deutschen Nähe zu spüren lässt sich lernen / Obergrenze

TIM DIRVEN / REPORTERS / LAIF


Geschäftsmann entführte, verhörte und für Neutronensterne / Kommentar:
dann umbrachte 42 Die vermeidbare Katastrophe – Lehren
Terrorismus Frauen beim IS – eine aus „Friederike“ 100
unterschätzte Gefahr? 45 Medizin Forscher beginnen, Alzheimer
Verbrechen Fatale Fehler – warum der Junge besser zu verstehen – nun sind sie neuen
aus dem Breisgau so lange ohne Schutz blieb 46 Wirkstoffen auf der Spur 102
Luftfahrt Eine US-Firma entwickelt ein
Gesellschaft Überschallflugzeug, das Passagiere
Früher war alles schlechter: Sieg über in drei Stunden von London nach New Věra Jourová
die Pest / Das Comeback der York bringen soll 105
Biomechanik Warum Ratten nicht
Sie redet mit den Internet-
Zimmerpflanze bei Jugendlichen 50 größen im Silicon Valley und
Eine Meldung und ihre Geschichte Ein stolpern – Jenaer Zoologen röntgen
deutscher Beamter investiert Steuergelder, Tiere beim Laufen 106 den Chefs deutscher Auto-
um die Polizei mit fair gehandelten Ethik Der Kinderchirurg Allan Goldstein mobilkonzerne. Das Ziel der
Computermäusen zu versorgen 51 trennte siamesische Zwillinge, tschechischen EU-Kommissa-
Schicksale Wie ein Lokführer damit obwohl ihm klar war, dass eines der rin ist dabei immer, mehr
lebt, dass sich schon vier Menschen vor Mädchen dadurch sterben wird 108 Rechte für die Verbraucher
seinen Zug warfen 52 zu erkämpfen. Seite 68
Homestory Warum unsere Kinder den Wert Kultur
einer Armbanduhr nicht mehr erkennen 57 Ehrung für die „Guerrilla Girls“ / Die
Fälle Bruce Weber und Mario Testino /
Wirtschaft Kolumne: Besser weiß ich es nicht 110
Neues Design für Lufthansa / Soli nur für Reiche Europa SPIEGEL-Gespräch mit dem
könnte gegen Grundgesetz verstoßen / Wirt- bulgarischen Politologen Ivan
schaftsministerium erwartet 500000 neue Jobs 58 Krastev über die Differenzen zwischen
Digitalisierung Das Internet der Dinge Ost- und Westeuropa 112
VICTORIA WILL / INVISION / AP

verändert Unternehmen von Grund auf – Übergriffe Debatte um das Münchner


noch allerdings fehlt ein einheitlicher Haus der Kunst 119
Standard für Transaktionen 60 Kino Das wechselhafte Geschick des Matt
Landwirtschaft Der Deutsche Bauernverband Damon, nun in „Downsizing“ zu sehen 120
ist eng mit Politik und Wirtschaft verdrahtet, Filmkritik Der bitterböse Oscarfavorit „Three
aber die Allianz bekommt Risse 64 Billboards Outside Ebbing, Missouri“ 123
Verkehr Ein neues Gutachten setzt die
Dieselhersteller unter Druck 67 Matt Damon
Internet Wie EU-Verbraucherschutz-
kommissarin Věra Jourová Hass im Netz Bestseller 122 Er durfte sich Hoffnung auf
bekämpfen will 68 Impressum, Leserservice 124 einen Oscar machen für
Autoindustrie VW, Daimler und BMW ringen Nachrufe 125 die Rolle in seinem aktuellen
mit globalen IT-Konzernen darum, wer beim Personalien 126 Film „Downsizing“. Nun
autonomen Fahren die Nase vorn haben wird 70
Wohnen Bundesbauministerin Barbara
Briefe 128 wird der Hollywoodstar wegen
Hendricks sieht in der Reform der Hohlspiegel / Rückspiegel 130 seiner Äußerungen in der
Grundsteuer die Chance, mehr bezahlbaren #MeToo-Debatte heftig atta-
Wohnraum zu schaffen 73 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ ckiert – zu Unrecht? Seite 120

DER SPIEGEL 4 / 2018 7


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Die Kanzlerin der Grimmigen


Mit ihrer Flüchtlingspolitik nimmt Angela Merkel den liberalen Teil der Gesellschaft nicht ernst.

E
s geht nicht mehr um Menschen, es geht um eine Das ist ihr Stil, und er ist schon lange eine Zumutung,
Zahl. Es geht um die Zahl der Flüchtlinge, die nach da sich die liberale Demokratie vor allem dadurch aus-
Deutschland kommen, nicht um die Flüchtlinge. Die zeichnet, dass miteinander geredet wird. Diesmal ist es
jüngste Zahl heißt 223 000. Das sind die Asylanträge, die nicht nur eine Zumutung, sondern eine schwere Missach-
im vergangenen Jahr gestellt wurden. 2016 waren es tung vieler Bürger.
746 000. Der Bundeskanzlerin passt die neue Zahl. Sie Nicht nur Politiker haben die Flüchtlingspolitik des
liegt nahe bei 220 000, also der Obergrenze, die es in das Jahres 2015 getragen. Das waren auch viele, viele Bürger.
Sondierungspapier von Union und SPD geschafft hat. Sie haben dem Staat, der nicht gut vorbereitet war, ge-
Diese Zahl ist Ausdruck einer Politik, die nie deutlich holfen, haben Flüchtlinge willkommen geheißen, unter-
angekündigt, nie erklärt wurde. Sie ist Ausdruck einer stützt, bei sich zu Hause aufgenommen. Sie waren Ak-
scharfen Kurve in der Flüchtlingspolitik, von den offenen teure der Politik, und viele sind es immer noch, weil sie
Grenzen zur harschen Abwehr. Im Spätsommer 2015 ver- dabei helfen, Flüchtlinge in diese Gesellschaft zu integrie-
kündete Angela Merkel, wenn Deutschland in einer Not- ren. Sie sind die Deutschen mit dem freundlichen Gesicht.
situation nicht „ein freund- Diese Bürger müssen nun
liches Gesicht“ zeigen könne, sehen, dass Merkel aus Angst
„dann ist das nicht mein um ihre Macht Politik für die
Land“. Sie hielt die Grenzen anderen macht, für die Grim-
offen für Flüchtlinge, und der migen, für potenzielle Wäh-
liberale Teil der Welt war be- ler der AfD, für die Freunde
geistert von diesem humani- der ganz kleinen Zahl.
tären Politikansatz. An deren Land baut Mer-
Nun zeigt Deutschland ein kel gerade mit, für deren
grimmiges Gesicht, und die Sicht auf die Lage macht sie
Bundeskanzlerin hat kein Politik. Natürlich gab und
Land mehr. Das stört sie je- gibt es enorme Probleme mit
doch nicht. Sie sieht das alles Flüchtlingen. Aber es gibt
inzwischen ohnehin ganz auch eine hysterische Sicht
EMIN OZMEN / MAGNUM / AGENTUR FOCUS

anders. darauf, die wenig mit der


Merkel hat 2016 für die EU Realität zu tun hat. Silvester
einen Deal mit der Türkei 2015/16 in Köln war fürch-
eingefädelt, der die Flucht- terlich, doch die Jahre da-
route über die Ägäis weit- nach haben bewiesen, dass
gehend schließt. Sie hat sich man solche Probleme in den
von der CSU eine Obergren- Griff bekommen kann. Jede
ze abhandeln lassen, die aber Vergewaltigung ist eine zu
nicht so genannt werden darf. viel, aber Recherchen des
Künftig soll es auch für den SPIEGEL (Heft 2/2018) haben
Familiennachzug eines großen Teils der Schutzberech- gezeigt, dass interessierte Kreise dazu falsch informieren,
tigten eine Obergrenze geben, 1000 pro Monat. Das ist zu um Flüchtlinge zu diffamieren.
wenig. Gerade der liberale Teil der Gesellschaft erwartet ein
Ausgerechnet der Familiennachzug wird begrenzt, von offenes Gespräch. Merkel hätte längst eine Rede halten
den Oberfamilienparteien CDU und CSU, obwohl allen müssen, zwei, drei Stunden lang, in der sie ihren Schwenk
klar sein muss, dass Männer die besten Chancen auf eine erklärt. Vielleicht hätte mancher Bürger ihre Argumente
Integration haben, wenn sie hier mit ihren Familien zu- verstanden und wäre ihr gefolgt. Andere hätten immerhin
sammenleben. Aber das ist jetzt egal. Hauptsache, die sagen können: Die Kanzlerin nimmt uns ernst. Und
Zahl liegt niedrig. Und die Spitze der SPD macht klaglos vielleicht hätte die Debatte nach der Rede eine andere
mit, auch das ist eine Enttäuschung. Zahl ergeben. Jetzt fühlt man sich geradezu beleidigt von
Natürlich kann Deutschland nicht Jahr für Jahr 750 000 diesem albernen Tanz um das Wort Obergrenze. Kinder-
Asylsuchende aufnehmen, ohne die Gesellschaft zu über- garten.
fordern. Aber warum legt die CSU die Obergrenze fest? Ein wichtiges Gespräch zu verweigern – das ist nicht
Warum hat sich die Bundeskanzlerin auch in dieser Frage liberale Demokratie, das ist Königtum. Was interessiert
für eine Politik der Stille entschieden? Sie war schon Kli- mich mein Geschwätz von gestern – in dieser Floskel
makanzlerin und hat sich dann klammheimlich von einer steckt eine herrische Attitüde, steckt die Arroganz der
entschiedenen Klimapolitik verabschiedet, weil das nicht Macht. Das kommt fast zwangsläufig, wenn Leute zu lange
mehr in ihr Machtkalkül passte. im Amt sind. Dirk Kurbjuweit

8 DER SPIEGEL 4 / 2018


Transporter
TOP DEAL
Angebote nur für Gewerbetreibende

Abbildung enthält Sonderausstattungen.

All-in Leasing ohne Anzahlung


Inklusive
Der Citan Kasten- Der Vito Kasten- Der Sprinter Kasten-
wagen1 mtl. ab wagen1 mtl. ab wagen1 mtl. ab
4 Jahre
Rundum-
149 € 189 € 249 € ²
225 €
²
275 €
Monatliche Gesamtrate ohne Anzahlung inkl. Vorteilspaket mit Komplettservice
²
339 € Sorglos-Paket!
Nur bis 31.03.2018
zzgl. der gesetzlichen USt., Laufzeit 48 Monate, Gesamtlaufleistung 40.000 km

Frohes neues Leasing.


Der Mercedes-Benz Citan, Vito und Sprinter jetzt mit All-in Leasing ohne Anzahlung.
Mit guten Vorsätzen ins neue Jahr: Diese Transporter lassen Sie sparen und langfristig
ein gutes Geschä machen – dank attraktiven Leasingraten und 4 Jahren ServiceCare
Komplettservice inklusive. www.transporter-topdeal.de

Citan 108 CDI Kastenwagen/Vito 109 CDI Kastenwagen/Sprinter 211 CDI Kastenwagen:
¹ Krastoffverbrauch innerorts; außerorts; kombiniert (l/100 km): 4,7; 4,2; 4,3/7,8–7,7; 5,4–5,3; 6,3–6,2/
11,0–10,8; 7,1–6,9; 8,6–8,4. CO₂-Emissionen kombiniert (g/km): 112/164–162/224–219.
² CharterWay ServiceLeasing ist ein Angebot der Mercedes-Benz CharterWay GmbH, Mühlenstraße 30, 10243 Berlin.
Unser Leasingbeispiel: Kaufpreis ab Werk zzgl. lokaler Überführungskosten 12.990 €/18.490 €/20.990 €, Leasing-
Sonderzahlung 0,00 €, Laufzeit 48 Monate, Gesamtlaufleistung 40.000 km, mtl. Gesamtleasingrate inkl. Komplettservice
gemäß unseren Bedingungen 149 €/189 €/249 €. Gilt nur für gewerbliche Einzelkunden und bis 31.03.2018. Alle
Preise zzgl. der gesetzlich geltenden Umsatzsteuer. Die Aktion ist in der Stückzahl begrenzt.
Bei Fragen zur Diesel-Umtauschprämie sprechen Sie bitte Ihren Mercedes-Benz Partner an.

Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart


Meinung
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal

Großer Wurf, große Kosten


Ich bin vor zwei Wochen Wimper zu zucken, an die Wähler weiter-
nach Südafrika geflo- reichen, ist jeder gewarnt, der das Spiel ein Wahre Liebe
gen, um in Ruhe den paarmal mitgemacht hat. So gesehen Was wir nie
weiteren Verlauf Es heißt, die Große Koalition sei im Sep-
der Regierungsbil- tember abgewählt worden. Aber auch
über deutsche Altkanzler
dung in Deutschland das scheint mir nicht ganz richtig. Sie hat wissen wollten
abzuwarten. Wenn ein paar Prozente eingebüßt, weil sich Es war eine Woche der ganz
sich die Politik eine genug Leute fanden, die der Meinung wa- großen Gefühle, kanzler-
Auszeit gönnt, kann ich ren, dass es wieder eine richtige Opposi- technisch. Während die am-
das auch, dachte ich. Aber der deutschen tion im Bundestag geben sollte. Die hat tierende Kanzlerin um ihr
Misere entgeht man nicht so schnell. ja vorher gefehlt. Aber auch jetzt verfügt politisches Überleben bang-
Es fehle die Idee, der große Wurf, las ich die Große Koalition noch über eine te, flatterten aus dem
nach dem Ende der Sondierungsgespräche. Mehrheit. Ich glaube, wenn man Koalitio- Universum der Altkanzler
Alles, was den Unterhändlern eingefallen nen wählen könnte, wäre eine Regierung zwei Zeitschriftentitel auf
sei, bleibe im Klein-Klein. Vielleicht sollte aus Union und SPD genau das, was raus- den Schreibtisch. Auf dem
ich nicht so bald nach Deutschland zurück- kommen würde. In Wahrheit ist die sozial- ersten Maike Kohl-Richter
kehren. Wer will schon in einem Land demokratische Weltsicht in Deutschland ganz in Schwarz, im Heft
leben, in dem das Klein-Klein regiert? mit Abstand am populärsten. Daran eine Fotostrecke der Witwe
Die Wahrheit ist: Die meisten Menschen hat sich jeder kluge Kanzler gehalten, im Haus in Oggersheim,
haben damit weniger Probleme, als Jour- egal von welcher Partei. das sie offenbar in eine per-
nalisten sich das vorstellen können. Die Die Jusos sagen jetzt, es brauche mehr sönliche Helmut-Kohl-
zündende Idee, die packende Vision, alles politische Auseinandersetzung. Man müsse Gedenkstätte verwandelt
gut und schön: Aber wer morgens zwei links und rechts wieder klar unterscheiden hat: gigantische Porträts
Kinder für die Kita fertig machen muss, be- können. Damit haben sie nicht unrecht. auf Fotos und in Öl, von sei-
vor er zur Arbeit geht, ist heilfroh, wenn Es wird nur wahnsinnig schwer, für mehr nem Schreibtisch im Sou-
ihn nicht noch die Politik mit irgendwel- Unterschiede zu sorgen, solange Angela terrain ist die Rede, von sei-
chen Vorschlägen behelligt. Merkel zur Wahl steht. Was sollen sie bei nen Trophäen. Sie lässt
Ich habe noch nie jemanden außerhalb der SPD denn fordern? An die Bürger- sein Grab per Videokamera
des Journalismus sagen hören, er vermisse versicherung glauben sie nicht mal im Willy- überwachen. Sie hat sich
den großen Wurf. Die Mehrheit der Leute Brandt-Haus. Das Einzige, was Union im Haus eingemauert wie in
ist schon froh, wenn die Regierung einiger- und SPD noch unterscheidet, ist die einer Gruft, als wollte sie
maßen mit dem Geld auskommt, das sie Forderung nach höheren Steuern für die sich selbst lebendig begra-
bei den von ihnen Regierten einsammelt. Reichen. Aber da ist die letzte Messe nicht ben. Warum sie nach Kohls
Man weiß ja, wie es bei großen Vorhaben gesungen, sagt mir mein Gefühl. Wenn Tod Sohn und Enkeln
läuft. Sie werden meist deutlich teurer, als die SPD stur bleibt, ist bei dem Punkt nicht die Tür geöffnet habe?
es am Anfang heißt. Wenn Politiker das alles drin. Aus „Angst um die Stille“.
Geld mitbringen würden, das sie für ihre Auf dem zweiten Cover
Ideen einplanen, wäre es etwas anderes. An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, das Gegenprogramm: die
Aber da sie die Rechnung, ohne mit der Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. Turtelbilder des letzten Alt-
kanzlers mit seiner neuen
koreanischen Lebensgefähr-
tin in einem Park in Seoul –
Kittihawk „Wird sie seine 5. Ehefrau?“
– und den intimen Details
seines neuen Glücks – „In
Marburg lernte sie, wie man
Bratkartoffeln zubereitet“.
Die gute Nachricht: Der
deutsche Altkanzler ist
eine begehrte Spezies. „Ja,
es ist Liebe!“ Die schlechte:
zweimal Gefühle für die
Kamera, zweimal zudring-
liche Bilder, viel zu nah
dran, zweimal der Kampf
um Image und Deutung,
zweimal Fremdschämen.
Geht das wirklich nicht an-
ders? Frau Merkel, wenn
Sie Altkanzlerin sind, ver-
schonen Sie uns!
Christiane Hoffmann

10 DER SPIEGEL 4 / 2018


Keiner entscheidet sich gern Individualisierung für
dafür in einer Warteschlange Patienten.
stillzustehen. Besonders, Wenn es um individuelle
wenn man krank ist. Deswe- Therapie geht, muss die
gen braucht es Fortschritt in Wirksamkeit immer im
der Gesundheitsversorgung. Fokus bleiben. Dabei helfen
Echte Alternativen, die uns die Digitalisierung und
selbst entscheiden lassen, technischer Fortschritt und
wie wir warten. Und bei ermöglichen in Zukunft ein-
manchem sogar, ob wir es fachere Gesundheitsvorsorge.
überhaupt tun. Es braucht die
Möglichkeit, jede Minute zu Nähe zu Patienten.
nutzen, damit es uns besser Die Digitalisierung macht uns
geht. Es braucht Apotheken erreichbarer und vernetzter.
mit dem Anspruch, dass Nicht nur privat oder beruflich,
Selbstbestimmung und Un- sondern auch in der Gesund-
abhängigkeit das Wichtigste heitsversorgung. Distanzen
sind. Für jeden Patienten. werden abgebaut und Arzt,
Ob offline oder online. Ob ab- Apotheker und Patient rücken
holen oder liefern lassen. Ob näher zusammen.
Warteschlange oder nicht. Es
gibt kein Richtig oder Falsch. Neuartige Produkte für
Denn das kann jeder Mensch Patienten.
für sich selbst entscheiden. Digitale Services verändern den
Gesundheitsmarkt. Sie verkürzen
Doch wir haben noch und vereinfachen Prozesse,
mehr vor: die für mehr therapeutische
Freiräume und eine verbesserte
Bessere Behandlung für Patientenbeziehung sorgen.
Patienten.
Durch transparentes Handeln Erfahren Sie mehr über uns
können wir den Wissensaus- auf DocMorris.de
tausch zwischen Patient, Arzt,
Apotheke und Krankenkasse
verbessern. Und die bestmög-
liche Versorgung für den
Patienten schaffen.
BESTES WLAN
1&1 DSL

9,
INTERNET & TELEFON

99 €/Monat*
Sparpreis für 12 Monate,
danach 24,99 €/Monat.

In Ruhe Expertenrat? Defekt?


ausprobieren: Jederzeit: Morgen neu!

Internet
made in
Germany
1MONAT 1ANRUF 1TAG
TESTEN GENÜGT AUSTAUSCH
VOR ORT
INKLUSIVE!
Intelligent vernetzt im ganzen Haus!
Sichern Sie sich jetzt den 1&1 HomeServer Speed+ für 0,– €! Er ist das digitale Herzstück Ihres Heimnetzwerks und
sorgt dank neuester WLAN-Technologie und Mehr-Antennentechnik für hohe Geschwindigkeiten und maximalen
Surfspaß im ganzen Haus. Ideal für Musikstreaming, Video-on-Demand und vieles mehr. Der 1&1 HomeServer Speed+
ist gleichzeitig WLAN-Modem, leistungsfähige Telefonanlage und superschnelles Heimnetzwerk in einem Gerät.

NEU
1&1 HomeServer
€ *

0,–
Speed+

€*

02602 / 96 90
*1&1 DSL Basic ab 9,99 €/Monat für 12 Monate, danach 24,99 €/Monat. Inklusive Telefon-Flat ins dt. Festnetz, Internet ohne Zeitlimit (monatlich 100 GB bis zu 16 MBit/s,
danach bis zu 1 MBit/s) und 1&1 DSL-Modem für dauerhaft 0,– € oder leistungsstarkem 1&1 HomeServer Speed+ für 0,– €/Monat in den ersten 12 Monaten, danach
4,99 €/Monat. Auf Wunsch auch mit Internet-Flat für 4,99 €/Monat mehr. Hardware-Versand 9,90 €. 24 Monate Vertragslaufzeit. Preise inkl. MwSt.
1&1 Telecom GmbH, Elgendorfer Straße 57, 56410 Montabaur 1und1.de
H C PLAMBECK / LAIF

Die Abgehängten
Parteien Die SPD zerfleischt sich, der Linken droht die Spaltung, und die Grünen driften
nach rechts. Die politische Linke in Deutschland und Europa ist machtloser denn je.

E
s ist 16.30 Uhr am Dienstag dieser Der Parteichef nimmt auf Sitz 1A Platz. Das ewige Drama dieser chronisch zur
Woche, als Martin Schulz in Berlin- Gleich hinter ihm sitzen bereits Andrea Selbstzerfleischung neigenden Partei er-
Tegel den Eurowings-Flieger 9043 Nahles, die Fraktionsvorsitzende, und reicht in den Tagen vor dem Bonner Son-
nach Düsseldorf betritt. Auf dem Kopf Karl Lauterbach, der Gesundheitsexperte. derparteitag an diesem Sonntag seinen vor-
trägt er eine dunkle bretonische Fischer- Sie reisen nach Düsseldorf, wo sie wieder läufigen Höhepunkt.
mütze, die er erst kürzlich wieder hervor- mal stundenlang diskutieren werden, um Nahles und Schulz glauben, ihre Partei
gekramt hat. Die steife Kappe macht ihn die vielen Genossen zu überzeugen, die mit dem Eintritt in die Große Koalition
strenger. Typ Arbeiterführer. Auf zum letz- erbittert gegen eine Große Koalition zumindest vorerst vor dem Untergang
ten Gefecht. kämpfen. zu retten. Ihre Gegner aus der NoGroKo-
14 DER SPIEGEL 4 / 2018
Titel

BRITTA PEDERSEN / DPA


Politiker Schulz, Wagenknecht: Das Elend wurzelt tiefer

Fraktion glauben ebenfalls, die SPD mit fen ist. Auch Nahles und Lauterbach ni- Und bei den Grünen, einst ebenfalls
ihrem Einsatz zu retten. Die Frage ist nur, cken umgehend ein. eine Partei, die sich zur politischen Linken
ob sich die SPD überhaupt noch retten Die drei abgekämpften und ausgelaug- zählte, hat der linke Flügel gegenüber den
lässt. ten Spitzengenossen im vorderen Bereich Realos an Einfluss verloren. Beim Grünen-
Wie aufreibend die Mission ist, lässt sich der Eurowings-Maschine sind ein trauriges Parteitag in Hannover am kommenden
im grellen Licht der Flugzeugkabine nicht Sinnbild für den Stand der politischen Wochenende könnte die Partei erstmals
mehr kaschieren. Lauterbach wirkt noch Linken im Jahr 2018. Es ist nicht nur die eine Doppelspitze erhalten, die ohne Ver-
schmaler als sonst, Schulz’ Augenringe SPD, die mit sich, ihrer Identität, ihrer treter des linken Flügels auskommt.
sind um einiges tiefer, Nahles gähnt. Sie Erfolglosigkeit und ihren Widersprüchen Als Antwort auf all diese Schrumpfungs-
wirken erschöpft wie selten zuvor in ihrer ringt und die es dabei fast zerreißt. Der prozesse und Zerfallserscheinungen kur-
Karriere. Erst die nächtelangen Sondie- Partei Die Linke, das Resultat einer frü- siert nun die Idee einer neuen linken Volks-
rungsgespräche, nun die Überzeugungs- heren Zerrissenheit und einer Abspaltung partei, in der sich Sozialdemokraten, Grü-
tournee kreuz und quer durch die Repu- von der SPD, droht dieser Tage selbst die ne und Linke zusammenfinden sollen. Pro-
blik. Der Kampf gegen den Untergang Spaltung. Weil sie sich nicht darauf ver- pagiert wird sie ausgerechnet von Sahra
kostet enorme Kraft. ständigen kann, wie linke Politik im Wagenknecht und ihrem Ehemann Oskar
„Ich mache jetzt mal ein Nickerchen“, Zeitalter von Globalisierung und Migra- Lafontaine, der die Spaltung der politi-
sagt Schulz, als der Flieger abhebt. Dann tionsdruck auszusehen hat: offen und in- schen Linken in Deutschland wie kein
schließt er die Augen. Es dauert nur Se- ternationalistisch oder abschottend, natio- Zweiter betrieben hat. Nun scheint er be-
kunden, bis er vor Erschöpfung eingeschla- nalistisch? reit, auch seine neue Partei zu opfern.
DER SPIEGEL 4 / 2018 15
Titel

Der Trend ist eindeutig. Kam das linke vierter Stock. Die Möbel sind gerade erst ren zwischen 2009 und 2013 hat das jeden-
Lager aus SPD, Grünen und PDS bei der eingetroffen. In ihrem Bielefelder Unter- falls nicht geklappt.
Bundestagswahl 1998 gemeinsam auf 52,7 bezirk hat Esdar eine Art Keimzelle der Die Kampagne der Widerständler ist je-
Prozent, schafften sie es im Herbst 2017 Bewegung geschaffen: Sie selbst sitzt seit denfalls kraftvoll genug, um die SPD wie-
nur noch auf 38,6 Prozent, wobei sich die Dezember im Bundesvorstand, ihr Freund der mal vor eine Zerreißprobe zu stellen.
Frage stellt, ob die Grünen nach erfolgrei- ist Mitglied im Landesvorstand der SPD In den letzten Tagen vor der Entscheidung
cher Özdemisierung überhaupt noch zum in Nordrhein-Westfalen – und ihr Bürolei- gleicht der Kampf um die GroKo einem
linken Lager gezählt werden können. Das ter ist Juso-Landeschef. Esdar stimmte di- absurden Wettrennen. Kühnert tourt
rechte Lager verbesserte sich im selben rekt nach den Sondierungen im Parteivor- durchs Land, Schulz auch. Der SPD-Chef
Zeitraum von 41,4 Prozent (Union und stand gegen den Kurs der SPD-Spitze. steht im ständigen telefonischen Kontakt
FDP) auf 56,2 Prozent bei der letzten Bun- „Erstens halte ich es für gefährlich, mit den Landesvorsitzenden, um sich über
destagswahl (nun inklusive AfD, aber noch wenn die AfD Oppositionsführer wird“, die Stimmung auf dem Laufenden zu hal-
ohne die Grünen). Deutschland war nie so sagt Esdar. „Zweitens sind die Gemein- ten. Schulz glaubte in den Tagen vor dem
weit von einem Bundeskanzler mit linker samkeiten mit der Union nach acht Jahren Parteitag, dass am Ende genügend Sozial-
Agenda entfernt wie heute. Großer Koalition seit 2005 aufgebraucht. demokraten zum Ja-Lager finden: Bundes-
Der Zeitgeist ist rechts, und der Nieder- Und drittens klappt die Zusammenarbeit tagsabgeordnete, Bürgermeister, Landes-
gang der politischen Linken scheint sich mit CDU und CSU einfach nicht.“ So hat- minister, Landräte, vor allem also jene
nicht stoppen zu lassen – weder in te die Parteispitze im Oktober ebenfalls Genossen, die ein Mandat haben. Die
Deutschland noch in den anderen Staaten argumentiert. Aber anders als die Führung Rechnungen gelten auch der Selbstverge-
Europas. Dabei war die EU zur Jahrtau- ist Esdar einfach bei ihrer Meinung geblie- wisserung. Im Verlauf der Woche wurde
sendwende noch fest in den Händen der ben. Das Ergebnis der Sondierungen mit klar: Sollte die Abstimmung schiefgehen,
Sozialdemokraten und Sozialisten. Sie re-
gierten in 12 von 15 EU-Staaten, es war der
Höhepunkt sozialdemokratischer Macht.
Gerhard Schröder in Deutschland, Tony
Blair in Großbritannien, in Frankreich Lio-
nel Jospin. Wobei sich rückblickend die
Frage stellt, ob die Politik dieser vermeint-
lichen Linken tatsächlich links war. Und
ob nicht gerade Schröder und Blair die
Linke mit ihrem bewusst postideologi-
schen und allzu wirtschaftsfreundlichen
Konzept vom „Dritten Weg“ in jene Iden-
titätskrise wiesen, in der sie heute steckt.
Wenn sich im Frühjahr die inzwischen

WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL


28 Regierungschefs der EU-Staaten in Brüs-
sel treffen, werden wohl noch sechs Sozial-
demokraten unter ihnen sein. Hinzu
kommt der Grieche Alexis Tsipras von der
linkspopulistischen Syriza-Partei. Und dann
die große Frage: Zählt der französische
Präsident Emmanuel Macron mit seiner
auf den Trümmern der Sozialdemokratie SPD-Abgeordnete Esdar: „Die Zusammenarbeit mit CDU und CSU klappt einfach nicht“
gegründeten Bewegung „La République
en marche!“ noch als Linker? Ein halber
vielleicht, mit etwas Wohlwollen. Sechs- der Union enttäuschte sie dann zusätzlich: würde dies das politische Aus für Schulz
einhalb von 28. Ein trauriges Bild. Nicht mal einen Einstieg in eine Bürger- und wohl auch für Fraktionschefin Nahles
Wie konnte es dazu kommen? versicherung habe die SPD erreichen kön- bedeuten.
Die Gründe für den Niedergang der nen, keine Erhöhung des Spitzensteuer- Dass der Parteitag in Bonn zur unbere-
politischen Linken in Europa sind bei aller satzes, kein Ende der sachgrundlosen Be- chenbaren Angelegenheit wurde, ist nicht
Gemeinsamkeit vielschichtig, sie unter- fristung. Sie könne keinen Politikwechsel nur der Entschlossenheit der Widerständ-
scheiden sich je nach Land voneinander. erkennen, sagt Esdar. „Ich glaube einfach ler geschuldet, sondern auch dem Zick-
Eines aber lässt sich mit Sicherheit sagen: nicht, dass eine Neuauflage der GroKo zackkurs der SPD-Führung. Nach dem
In den seltensten Fällen waren Große Ko- gut für dieses Land ist.“ Scheitern der Jamaikaverhandlungen
alitionen schuld – und noch seltener An- Zum Helden des Widerstands wurde Ke- schloss die Parteispitze zunächst eine Gro-
gela Merkel. Genau das aber versuchen vin Kühnert, der Juso-Chef. Nicht weil er ße Koalition aus, kurz darauf verhandel-
die wütenden Genossen der NoGroKo-Be- herumposaunt, sondern weil er leiden- ten sie doch darüber, das wirkte höchst
wegung, angeführt von den Jusos, im Vor- schaftlich, aber sachlich mit der Großen unprofessionell. Und dass sich etliche Mit-
feld des Bonner Schicksalsparteitags ihrer Koalition abrechnet. Das Problem der jun- glieder des Sondierungsteams kurz nach
Partei weiszumachen. gen Sozialdemokraten ist nur, dass sie kei- Ende der Verhandlungen unzufrieden
Es sind vor allem jüngere Genossen wie nen Gegenentwurf anbieten können. Es über die ausgehandelten Ergebnisse äu-
Wiebke Esdar, 33, die der Parteispitze den ist eine Politik nach dem Brexit-Prinzip: ßerten, ebenfalls.
Kampf erklärt haben. Die Bielefelderin Erst mal Nein sagen – und dann schauen, Die neue Lage ist nicht weniger als ein
wurde erst im Herbst ins Parlament ge- wie es weitergeht. Woher wissen die Albtraum für die Partei. Geht die SPD in
wählt. Nun sitzt sie in ihrem frisch bezo- GroKo-Gegner denn, dass sich die Partei die Regierung, muss sie viel fürchten, nicht
genen und noch immer spartanischen Bun- in der Opposition besser erneuern lässt als nur einen Verlust an Glaubwürdigkeit. Es
destagsbüro in der Berliner Wilhelmstraße, in der Regierung? In den Oppositionsjah- besteht die Gefahr, abermals von der Kanz-
16 DER SPIEGEL 4 / 2018
lerin in den Schatten gestellt zu werden. Der Göttinger Politikwissenschaftler ken beigetragen und damit letztlich auch
Eine neue Polarisierung zwischen den Franz Walter, der sich seit Jahrzehnten zu ihrer Schwächung.
Volksparteien, die die Demokratie leben- mit der Partei befasst, kritisiert denn auch „Die SPD hat damals die Seiten gewech-
dig machen kann, würde vertagt. Die poli- die „Oppositionsparolen der angeblichen selt“, sagt er heute über diesen Schritt.
tischen Ränder könnten gestärkt, die eige- Parteilinken“. Diese seien „so leer, so hül- „Sie hat sich dem neoliberalen Mainstream
ne Erneuerung verschleppt werden. sig, so unelementar, wie die Repetierung angepasst.“ Allerdings präsentierte sein
Einige Genossen hoffen darauf, dass der eines Kanons, der zur Glaubensgeschichte Widersacher Gerhard Schröder die umstrit-
Parteichef rasch ein Zeichen setzt, dass er dazugehört, auch wenn überall der Glau- tene „Agenda 2010“ erst 2003 – vier Jahre
es mit der Erneuerung trotz einer Regie- ben daran zerfällt“. Auf die meisten Bür- nach Lafontaines Flucht.
rungsbeteiligung ernst meint. Schulz solle ger wirke das nur noch nervig. Es habe Schröders Agenda aber hat der Partei
den Zweiflern eine Brücke bauen und sei- mal Zeiten gegeben, „da war diese Partei geschadet wie keine andere Entscheidung.
nen Verzicht auf ein Ministeramt erklären, Träger von Hoffnungen hier oder Projek- Was für die wirtschaftliche Entwicklung
heißt es in manchen Landesverbänden. tionsfläche für bürgerliche Bedrohungs- des Landes richtig gewesen sein mag, hatte
Auch in der Sitzung der NRW-Landesgrup- ängste dort. Jetzt fürchtet sich niemand verheerende Folgen für die SPD. Sie war
pe am Mittwoch war Schulz’ künftige Rolle mehr vor der SPD, erst recht begeistert plötzlich verantwortlich dafür, dass Men-
ein Thema, mehrere Redner betonten, dass sie niemanden mehr. Sie geht auf den schen, die ihr Leben lang geschuftet hatten
sich nur mit einer Trennung von Partei- Wecker“. und dann arbeitslos wurden, in kurzer Zeit
vorsitz und Vizekanzleramt die SPD wirk- Oskar Lafontaine hat die Zeiten, als die nur noch ein Minimum an staatlicher Un-
lich erneuern und ein Weiter-so verhindern Partei noch Träger von Hoffnungen war, terstützung erhielten.
ließe. Aber kann das gut gehen: ein Chef- selbst miterlebt. In der Woche vor dem Zwar stiegen in der Folge wie erhofft
verhandler, der nicht Teil des Kabinetts Bonner Parteitag sitzt er daheim im Saar- die Wirtschaftsdaten, und auch die Zahl
der Arbeitslosen sank, aber zugleich führ-
ten die Reformen zu einer massiven Aus-
Bundestagswahlergebnisse Zweitstimmen in Prozent weitung der Leiharbeit und erhöhten die
Zahl der prekären Beschäftigungsverhält-
CDU/CSU 35,2 32,9 33
nisse. Für Millionen Menschen, die sich
Umfrage einst von der Arbeiterpartei SPD beschützt
Infratest dimap gefühlt hatten, waren die Sozialdemokra-
50 % vom 4. Januar
ten zu Verrätern geworden.
FDP 6,2 10,7 9
Die Sozialdemokratie, so drückt es der
Sonstige 5,9 mit den Jahren immer radikaler geworde-
PDS/Linke 5,1 AFD 12,6 13 ne Lafontaine aus, habe mit der „schweren
B’90/Grüne 6,7 Beschädigung des Sozialstaates“ ihre Seele
5,0
9 verloren. Aber die SPD ignoriere noch im-
SPD 40,9 9,2 mer, warum ihr seit 1998 zehn Millionen
8,9 11
Wähler abhandengekommen sind. Lafon-
taine glaubt, dass die SPD gerade „weiter-
20,5 21 stirbt“, und das tue ihm weh, sagt er. Dann
muss er das Telefonat kurz unterbrechen.
1998 2002 2005 2009 2013 2017 „Da ist eine Katze auf der Terrasse“, sagt
Regierungen er. Er klingt leicht panisch. Eine Tür schlägt
zu. Zwei Minuten später ist er wieder da.
„Die geht mir immer an die Vögel.“ Auch
im heimischen Garten verteidigt Lafon-
taine konsequent die Schwachen gegen die
ist? Und ginge dann nicht erst recht die land und denkt versonnen zurück. Damals Raubtiere.
Postendiskussion los, die eigentlich ver- unter Willy Brandt sah alles noch rosarot Besonders zuwider sind Lafontaine
mieden werden soll? aus, da habe noch ein anderer Geist ge- jene Politiker, die sich zu Zeiten der Agen-
Beteiligt sich die SPD an der Regierung, herrscht. „Wir trugen im Herzen die Idee da anpassten, die stillschweigend und
bietet das natürlich auch Chancen. Die Par- von einer besseren Welt.“ Man sei stolz opportunistisch mitmachten, statt linke
tei hätte Bühnen, die sie sonst nicht hat. gewesen, ein Sozialdemokrat zu sein. „Es Werte zu verteidigen. Jürgen Trittin war
Merkel ist in der Spätphase ihrer Kanzler- gab eine Aufbruchsstimmung; die Jugend einer, der damals mitmachte, als Minister
schaft. Es gibt viel Geld zu verteilen, nicht war begeistert von Willy Brandt.“ Bei den in Schröders Kabinett. Und er bereut im
zuletzt an die eigene Wählerklientel. Und Parteitagen saßen Intellektuelle wie Max Rückblick vieles: Der Neoliberalismus sei
die Kanzlerin hat nach längerer Diskussion Frisch und Walter Jens in den ersten Rei- schuld am Niedergang der politischen Lin-
zugestimmt, zur Mitte der Legislatur eine hen. Man habe noch die klare Aufgabe ge- ken, sagt Trittin. Und Rot-Grün sei es
Bilanz der Koalition zu ziehen. Das könnte habt, sich für die Schwachen einzusetzen auch. „Der Neoliberalismus hat dazu
dann als Anlass für ein vorzeitiges Ende und für den Frieden. „Willy Brandts Knie- geführt, dass die Spaltung in der Gesell-
genutzt werden. Ein eingebauter Flucht- fall in Warschau, das war für uns ein emo- schaft wieder größer geworden ist“, wäh-
weg sozusagen. tionaler Höhepunkt.“ rend die Hoffnung auf Teilhabe in der
Dass die Misere der SPD mit einer Ab- Später war Lafontaine dann selbst für Gesellschaft gesunken sei. Dass die So-
sage an Schwarz-Rot beendet werden könn- kurze Zeit ein Hoffnungsträger der SPD. zialdemokraten, aber auch die Grünen
te, wie die Gegner des Bündnisses glauben, Bis er im März 1999 überraschend als Fi- „eine Zeit lang den neoliberalen Diskurs
ist nicht sehr realistisch. Denn die Proble- nanzminister und SPD-Vorsitzender zu- mitgefahren haben“, sei ein Grund dafür,
me der Partei und damit der politischen rücktrat und später mit der Linken eine dass es heute keine linke Mehrheit mehr
Linken in Deutschland haben viel früher Konkurrenzpartei gründete. Kaum einer gebe. Ein Beispiel? Das Wort „Reform“
begonnen, das Elend wurzelt tiefer. hat stärker zur Spaltung der deutschen Lin- sei heute, anders als zu Zeiten Willy
DER SPIEGEL 4 / 2018 17
Brandts, eine Bedrohung. Statt mehr Teil-
habe drohe Ausschluss. „Daran hatten die
Hartz-Reformen definitiv ihren Anteil.“
Dabei schien es eine Zeit lang, als könn-
te der sogenannte Dritte Weg, den die So-
zialdemokratie, angeführt von Schröder
und Blair, um die Jahrtausendwende fast
überall in Europa einschlug, die Bewegung
zu neuem Glanz führen. Für Parteienfor-
scher Franz Walter war der vermeintliche
Triumph von New Labour allerdings nur
ein Nachglühen der wirklichen sozialde-
mokratischen Epoche: der Sechziger und
Siebziger. Olof Palme, Willy Brandt und
Bruno Kreisky hätten tatsächliche linke
Politik machen können, so Walter, sie hät-
ten die Wirtschaft gesteuert und den ge-
sellschaftlichen Ausgleich organisiert. Im
Zuge der neoliberalen Reformen habe die
Bedeutung des Staats dann nachgelassen.
Dem habe die Linke sich ergeben. Ergeb-
nis: Obwohl sie überall an der Macht ge-
wesen sei, habe sie bei der Kontrolle des
Finanzkapitalismus ab Mitte der Neunzi-
ger versagt.
Auch die große Gegenwartsbeschrei-
bung des Kultursoziologen Andreas Reck-
witz, 47, der mit „Die Gesellschaft der Sin-
gularitäten“ die wahrscheinlich klügste Ge-
sellschaftsanalyse der vergangenen Jahre
veröffentlicht hat, gibt der Linken nur we-
nig Anlass zur Hoffnung. Spätmoderne Ge-
sellschaften feierten das Besondere, so
Reckwitz, der Durchschnittsmensch mit
seinem Durchschnittsleben zähle nicht
mehr. Das gute Leben entscheide sich nicht
mehr an der Waschmaschine oder dem

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL


Auto, sondern an der besonderen Reise
oder dem restaurierten Oldtimer.
Die Bruchlinie, die die europäischen Ge-
sellschaften teile, verlaufe zwischen den
neuen Mittelschichten, den Gewinnermi-
lieus des neuen, kreativen Kapitalismus,
die in der ganzen Welt zu Hause seien und
ihr Leben wie ein Kunstwerk inszenierten SPD-Mitglieder in Düsseldorf: Der Parteispitze den Kampf erklärt
– und den alten Mittelschichten, den Hand-
werkern, Ladenbesitzern und kleinen An-
gestellten, die sich davon abgeschnitten Hilfsarbeiter, Arbeitslose und Hartz-IV- alle weniger abgewinnen. Sie fühlten
fühlten. Die auf dem Land oder in Klein- Empfänger zur Wahl – und haben ihre sich heute oft politisch heimatlos, wie
städten leben. Für die die Globalisierung Stimme vor allem der AfD gegeben. In der Baseler Professor Oliver Nachtwey
eher Bedrohung als Verheißung sei und Vierteln mit vielen Niedrigverdienern er- sagt. Der Sozialwissenschaftler befragt
die mit Abwehr auf die rasanten sozialen reichten die Rechtspopulisten ihre stärks- derzeit AfD-Wähler in der ganzen Re-
Veränderungen reagierten. ten Ergebnisse. Dagegen musste die SPD publik nach ihren Einstellungen und
Für Sozialdemokraten und viele andere dort große Einbußen hinnehmen. Motiven; und er ist überrascht, wie viel-
linke Parteien sind das schlechte Nachrich- Von einer „neuen Konfliktlinie der De- schichtig die Antworten sind. Es gibt den
ten. Denn sie erreichen weder die eine noch mokratie“ ist in einer Studie der Bertels- Lkw-Fahrer, der sich darüber empört, dass
die andere Klasse. Die einen wählen grün mann-Stiftung die Rede. Wer sich mit Be- ihm die Überwachungsmodule der moder-
oder liberal, weil sie sich dort als besondere griffen wie „Tradition“ und „Besitzstands- nen Bordelektronik kaum noch Pausen-
Individuen ernst genommen fühlen. Die an- wahrung“ identifizieren kann, wählt in- zeiten lassen. Und es gibt den Schornstein-
deren wenden sich von der Politik ab oder zwischen überwiegend rechts außen. Da- feger, der von seinen Hausbesuchen den
gleich den populistischen Bewegungen zu, gegen konkurrieren Union, Grüne und Eindruck mitnimmt, dass Recht und Ord-
bei denen sie ihre Abneigung gegen die SPD um die Gruppe der sogenannten Mo- nung nichts mehr gelten. Früher haben
neuen Eliten gespiegelt sehen. dernisierungsbefürworter, die gern über viele von ihnen links gewählt; doch in-
Bei der jüngsten Bundestagswahl hat die „Grenzüberwindungen“ oder „Beschleuni- zwischen hätten sie das Gefühl, „dass
AfD vor allem in solchen Vierteln gewon- gung“ reden. sie für die Populisten stimmen müssen,
nen, die Soziologen als „prekär“ bezeich- Viele Arbeiter können der traditio- wenn sie gehört werden wollen“, sagt
nen. Erstmals seit Jahren gingen vermehrt nellen Kleinfamilie viel und der Ehe für Nachtwey.
18 DER SPIEGEL 4 / 2018
Titel

Von „kultureller Frustration“ sprechen der Gedenkfeier anlässlich Ende 1990 für Deutsche gemacht
Politikwissenschaftler, und fataler noch: der Ermordung von Rosa 949 550 werden soll oder ob die
Bei vielen kommt sie zur ökonomischen Luxemburg und Karl Lieb- Solidarität mit den Schwa-
Enttäuschung hinzu. Deutschland hat knecht in Berlin-Fried- SPD- chen so weit über die Fra-
einen der größten Niedriglohnsektoren in richsfelde (siehe Seite 22). Mitglieder ge der Nationalität hinaus-
Europa. Zwar sind die Löhne auch in den Als sie in ihrer schwarzen reicht, dass die Grenzen
unteren Gehaltsgruppen zuletzt etwas Limousine an der Gedenk- für jeden offen sein sollen.
angestiegen, doch häufig werden die Zu- stätte der Sozialisten vor- Es ist eine der ungelös-
wächse von steigenden Mieten, Energie- fuhren, zischte man ihnen ten Fragen linker Politik –
oder Lebensmittelpreisen wieder aufge- entgegen: „Rosa würde und nichts illustriert die
fressen. Was bleibt, ist das Gefühl, von sich im Grab umdrehen.“ Sprengkraft dieser Frage
den Früchten des Aufschwungs ausge- Ein Vorbild haben die eindrücklicher als der er-
schlossen zu sein. beiden im französischen Quelle: Bis 2015 die bitterte Streit zwischen
Welche Schlüsse sollten linke Parteien Linkspopulisten Jean-Luc Rechenschaftsberichte
der SPD; ab 2016
den Linken-Politikerinnen
nun aus diesen eher düsteren Erkenntnis- Mélenchon gefunden. Mé- Auskunft der SPD Kipping und Wagenknecht.
sen der Forschung ziehen? Lässt sich das lenchon war beim Neu- Während Kipping der Uto-
Nov. 2017
verspielte Vertrauen überhaupt noch zu- jahrsempfang der Frak- pie eines Planeten nach-
ca. 443 000
rückerobern? Weil die Krise der politi- tion am vorigen Wochen- hängt, auf dem Bewegungs-
schen Linken im Lande so offensichtlich ende als Redner geladen – freiheit und Chancengleich-
ist, schwanken viele an der Spitze von im Gegensatz zu den unerwünschten Par- heit für alle herrschen, setzt Wagenknecht
SPD, Grünen und Linken derzeit zwischen teichefs Kipping und Bernd Riexinger. auf einen linksnationalen Kurs. Sie spielt
Resignation und Ratlosigkeit. Mélenchon, ein enger Freund Lafontaines, mit Ressentiments. Im Vordergrund stehen
Es ist auch dieser Eindruck von Läh- sprach mit einer Stimme, die an Donner- bei ihr die eigenen Landsleute. Der Natio-
mung, die Lafontaine und seine Frau Sahra grollen im Gebirge erinnert, vom „Freund nalstaat wird als eine Art Schutzraum in
Wagenknecht dazu brachten, mehr Konse- Russland“ und wurde für seine Parolen der globalisierten Welt betrachtet.
quenz zu wagen. Eine linke Mehrheit, so bejubelt. Der Riss, der in der Frage nach dem rich-
ihre Überzeugung, sei nur noch durch eine Mélenchon holte mit seiner neu gegrün- tigen Kurs durch die Linke und auch durch
Neuordnung des Parteiensystems zu erzie- deten Bewegung „La France insoumise“ die SPD geht, ist nicht nur in Deutschland,
len. Eine linke Sammlungsbewegung solle in der ersten Runde der französischen Prä- sondern in ganz Europa zu beobachten.
entstehen, forderte Wagenknecht vorige sidentschaftswahl aus dem Stand 20 Pro- Während etwa die dänischen Sozialdemo-
Woche im SPIEGEL. Sie wünsche sich eine zent. Dabei trat er ganz bewusst nicht als kraten glauben, der Weg nach rechts führe
starke linke Volkspartei. Ein paar Tage und Partei an, sondern mit einer parteiüber- wieder an die Macht, setzt Labour-Chef
einige Empörungswellen später sitzt sie in greifenden Liste. „So war es viel leichter, Jeremy Corbyn in Großbritannien auf
hellblauem Kostüm in ihrem Büro und gibt Wähler zu gewinnen“, sagt Mélenchon. einen stramm linken Kurs. In vielen euro-
sich zufrieden. Sie habe fast ausschließlich Die Hürden seien wesentlich niedriger. päischen Ländern sind zudem neue linke
positive Zuschriften bekommen, sagt sie, Der Wähler müsse so nicht mit einer Bewegungen wie etwa Podemos in Spa-
und bleibt bei ihrer Analyse: „Die SPD gesamten Partei, deren Organisation, Per- nien entstanden, die die alte Sozialdemo-
schafft sich ab, und es gibt keine Kraft, die sonal und Ideen einverstanden sein. „Ge- kratie mit ihrer Radikalität wie träge Ver-
die entstehende Leerstelle von links füllen eine wirken lassen. In Deutschland ist die
kann.“ Dass ihre bisherige Partei, die Linke, „Erst mal Nein sagen Lage noch verzweifelter. Die SPD ringt er-
die enttäuschten SPD-Wähler für sich ge- bittert um die Frage, ob sie Angela Merkel
winnen könnte, hält sie für eine Illusion. und dann schauen, wie noch einmal zur Kanzlerin machen will.
„Ich will, dass etwas entsteht, das deutlich Die Linke fragt sich, ob sie nationalisti-
breiter ist“, sagt sie. Deswegen habe sie et- es weitergeht.“ scher werden soll, und die Grünen sind
was „Neues“ gefordert. sich nicht einmal sicher, ob sie überhaupt
Mit ihrer Forderung erklärt sie die Partei, stimmt wird einfach nur für ein Wahl- noch eine linke Kraft sein wollen.
deren Fraktion sie derzeit im Bundestag programm.“ Und natürlich auch für eine In den Siebzigerjahren gab es eine ge-
anführt, faktisch für ungeeignet. Entspre- Person. meinsame Vorstellung von linker Politik.
chend erbost reagierten die Kollegen. Für „Drei alte weiße Männer: ich, Jeremy Heute kämpfen die verschiedenen linken
das Projekt einer Abspaltung gebe es keine Corbyn in Großbritannien und Bernie San- Gruppierungen oft erbitterter gegeneinan-
Unterstützung in der Partei, machte Par- ders in den USA – wir haben die Jugend der als gegen den Gegner von rechts. In
teichefin Katja Kipping klar. Der Thüringer erreicht“, erklärt er und lächelt versonnen. den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhun-
Ministerpräsident Bodo Ramelow kritisier- „Sie sehen also, das ist keine Altersfrage derts war es die Spaltung zwischen Sozial-
te das „gefährliche Gerede von der Samm- und auch keine Frage irgendwelcher digi- demokraten und Kommunisten, die dem
lungsbewegung“ und warf Wagenknecht talen Kommunikationsstrategien.“ Für den Faschismus den Weg ebnete.
vor, die Linke zu zerstören. Von Sozialde- Erfolg seien vor allem zwei Dinge nötig: Vielleicht sollte sich die Linke nach Jah-
mokraten und Grünen wurde die Idee Geduld und Leidenschaft. „Wir haben nur ren der Individualisierung und Ausdiffe-
ebenfalls prompt zurückgewiesen. „Wagen- eine Realität abgerufen, die es in der renzierung mal wieder auf den Ursprungs-
knechts Politikmodell basiert auf Abgren- Gesellschaft schon gibt: den Wunsch nach gedanken und Kern ihrer Bewegung besin-
zung, der Entlarvung der SPD, eben der linker Politik.“ nen: Nur gemeinsam sind wir stark.
Spaltung der gesellschaftlichen Linken“, Kann die deutsche Linke also von Mé- Nicola Abé, Markus Feldenkirchen, Veit Medick,
sagt der Grüne Jürgen Trittin. „Da müssten lenchons Erfolg lernen? Ann-Katrin Müller, Tobias Rapp, Christian Teevs
noch viele Scherben eingesammelt werden, Sie müsste sich zunächst mal darauf ver-
Aktualisierung: Ab Sonntag-
bevor sie glaubhaft Teil einer Sammlungs- ständigen, für welchen Kurs sie überhaupt abend lesen Sie hier,
bewegung sein kann.“ eintreten will. Im Zeitalter der Flüchtlings- wie die SPD abgestimmt hat.
Vorigen Sonntag zeigte sich das Ehepaar krisen ringt gerade die deutsche Linke mit spiegel.de/sp042018aktuell
Wagenknecht/Lafontaine wie üblich bei der Frage, ob eine soziale Politik vor allem oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 4 / 2018 19


Zur Selbstironie fähig
SPD Parteichef Schulz, 62, spricht über seine Zeit als Juso, warnt die Genossen, aus den Gesprächen
über eine Große Koalition auszusteigen, und erklärt, was ihn mit der Kanzlerin verbindet.

SPIEGEL: Herr Schulz, waren Sie mal Mit-


glied bei den Jusos?
Schulz: Ja. Ich war sogar ein paar Jahre ihr
Vorsitzender in meiner Heimatstadt Wür-
selen. Die Jusos machten damals Front ge-
gen Helmut Schmidt und debattierten über
staatsmonopolistischen Kapitalismus. Ich
gehörte in dieser Frage zu den moderate-
ren Vertretern, unter anderem, weil ich als
Sohn eines Polizeibeamten ein eher posi-
tives Verhältnis zum Staat und seinen Au-
toritäten hatte.
SPIEGEL: Heute attackieren die Jusos wieder
Autoritäten, nämlich Sie und Ihren Plan
für eine Neuauflage der Großen Koalition.
Wie genervt sind Sie von Ihrer Jugend-
organisation?
Schulz: Überhaupt nicht. Mit der Kritik
kann ich leben. Ich bin derjenige, der den
Streit in der Sache wollte. Als ich vor ei-
nem Jahr als Parteivorsitzender angetreten
bin, habe ich genau das angekündigt: eine
lebendige Debattenkultur in der SPD. Wo-
mit ich nicht einverstanden bin, ist eine
Ablehnung um des Ablehnens willen. Ich
möchte mit den Jusos über das diskutieren,
was wir für die junge Generation erreichen
können. Wenn die Große Koalition zustan-
de kommt, werden wir zum Beispiel das
Bafög erhöhen und eine Mindestvergütung
für Auszubildende einführen. Und in den
europäischen Nachbarländern werden ge-
rade junge Leute davon profitieren, dass
wir weniger sparen und mehr investieren.
SPIEGEL: Juso-Chef Kühnert wirft Ihnen vor,
Sie hätten, anders als verabredet, nicht er-
gebnisoffen sondiert, sondern einfach
„sehr große Lust“ auf eine Große Koalition
gehabt.
Schulz: Wer das behauptet, hat zwischen
dem 24. September und der Aufforderung
des Bundespräsidenten nach dem Schei-
tern von Jamaika den Schlaf der Gerech-
ten geschlafen. Wenn wir aber in Sondie-
rungs- und Koalitionsgespräche gehen,
dann haben wir auch einen politischen Ge-
staltungsauftrag, nämlich das Leben all je-
ner zu verbessern, die auch die Jusos im
Blick haben: Arbeitnehmer mit niedrigen
Einkommen, Senioren mit kleinen Renten,
Azubis, Familien, Alleinerziehende.
SPIEGEL: Viele in der Partei sehen einfach,
STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL

dass die SPD nach jeder Großen Koalition


Wählerstimmen eingebüßt hat. Beein-
druckt Sie das nicht?
Schulz: Das beeindruckt jeden Sozialdemo-
kraten. Die letzte Große Koalition hat sich
allein schon für den Mindestlohn gelohnt.
Er hat das Leben Hunderttausender Men- Sozialdemokrat Schulz: „Dann würde es zu Neuwahlen kommen“

20 DER SPIEGEL 4 / 2018


Titel

schen verändert. Ich bin in die Politik ge- rungsergebnisse verhandelt, vertieft, er- verursacht worden ist. Schließlich steckt
gangen, um die Welt zu verbessern, nicht gänzt und präzisiert. die Sozialdemokratie nicht nur in Deutsch-
um mich wohlzufühlen. Viele sagen ja SPIEGEL: Soll es dabei auch um jene Leucht- land, sondern europaweit in der Krise.
jetzt: Lasst die anderen regieren, dann kön- turmprojekte gehen, die viele Sozialdemo- SPIEGEL: Wo sehen Sie die Gründe?
nen wir in vier Jahren machtvoll angreifen. kraten jetzt so schmerzlich vermissen: die Schulz: In der erodierenden Gesellschaft,
Mir ist das zu taktisch. Ich will nicht, dass Bürgerversicherung zum Beispiel? in der wir leben, brauchen wir mehr Zu-
die Altenpflegerin vier Jahre lang auf bes- Schulz: Wir haben bei der Sondierung den sammenhalt. Deshalb müssen wir unser
sere Arbeitsbedingungen wartet, nur damit Rahmen abgesteckt, was geht und was Land dort erneuern, wo die Solidargemein-
sich die SPD wohlfühlt. nicht geht. Dabei bleibt es. Wir wollen ja schaft am stärksten herausgefordert ist: bei
SPIEGEL: Aber Sie könnten ein Minderheits- auch nicht, dass die andere Seite Dinge in- Bildung, Qualifizierung, der Würde im
kabinett Merkel tolerieren. frage stellt, die wir erstritten haben. Aber Alter. Mehr soziale und mehr öffentliche
Schulz: Frau Merkel hat das ausgeschlossen. Sie können sicher sein: Wir werden im Sicherheit: Wenn die Sozialdemokratie be-
Jeder muss wissen: Eine Minderheitsregie- Rahmen der Koalitionsverhandlungen weist, dass sie hier überzeugende Antwor-
rung wäre nur eine kurze Übergangsphase noch viele Themen ansprechen, die uns ten hat, wird sie auch wieder mehr Wähler
auf dem Weg hin zu Neuwahlen. Wir ha- Sozialdemokraten am Herzen liegen. anziehen.
ben das in den Sondierungen angespro- SPIEGEL: Dazu gehört zum Beispiel der Spit- SPIEGEL: Ihr Amtsvorgänger Sigmar Gabriel
chen. Zum anderen: Eine Regierung, die zensteuersatz. Die SPD wollte ihn anhe- ist anderer Meinung. Er hat in einem Bei-
bei jeder Kleinigkeit um ihre Mehrheit im ben, konnte sich damit aber bei den Son- trag für den SPIEGEL geschrieben, dass
Parlament zittern muss, halte ich persön- dierungen nicht durchsetzen. Werden Sie sich die SPD zu viel um Grünes und Libe-
lich auch nicht für das richtige Modell für da nachlegen? rales und zu wenig um Rotes gekümmert
Deutschland. Schon gar nicht in einer Zeit, Schulz: Wir haben keine Erhöhung aushan- habe. Die klassische Klientel aus der In-
in der wir Europa stabilisieren, den Klima- deln können, das stimmt. Aber dafür ha- dustriearbeiterschaft sei vernachlässigt
wandel stoppen und riesige internationale ben wir unser Ziel, das Steuersystem ge- worden. Hat er recht?
Herausforderungen von China über Trump rechter zu machen, auf anderem Wege er- Schulz: Sigmar Gabriel war knapp acht Jah-
bis Putin wuppen müssen. Da ist es schon reicht. Unsere Freigrenzenregelung beim re lang Parteivorsitzender. Er hat die Ent-
ein Vorteil, wenn die Regierung über eine Soli führt dazu, dass Menschen mit kleinen wicklung in seiner Amtszeit beschrieben,
stabile Mehrheit verfügt. und mittleren Einkommen um zehn Mil- das ist sein Recht. Auch ich mache mir na-
SPIEGEL: Viele Genossen hat auch irritiert, liarden Euro entlastet werden – 90 Prozent türlich meine Gedanken dazu.
dass Sie nach der Jamaikaabsage der FDP der Steuerzahler haben dann mehr im SPIEGEL: Nämlich?
zunächst weiter gegen eine Neuauflage der Portemonnaie, die 10 Prozent Topverdie- Schulz: Niemand hat die Interessen der
Großen Koalition waren. Wie viel Verant- klassischen Industriearbeiterschaft in den
wortung tragen Sie persönlich für den Un- „Die SPD muss lernen, zu sich vergangenen Jahren so zu seinem Herzens-
mut in Ihrer Partei? anliegen gemacht wie die SPD. Ich nenne
Schulz: Es stimmt, dass wir in der Partei- selbst und ihren hier nur mal die Themen Zeitarbeit, Min-
führung die Lage an dem Montag nach destlohn, Rente mit 63. Aus meiner Sicht
dem Scheitern der Jamaikaverhandlungen eigenen Erfolgen zu stehen.“ müssen wir uns die Frage stellen, warum
anders eingeschätzt haben. Aber da kann- diese Erfolge bei den Bürgerinnen und Bür-
ten wir die Haltung des Bundespräsidenten ner aber zahlen genauso viel wie heute. gern nicht wahrgenommen wurden.
noch nicht. Nach seiner Intervention war Das ist auch eine wirksame Methode, et- SPIEGEL: Die SPD hat in der letzten Legis-
die Lage neu zu bewerten. Darauf haben was gegen die wachsende Kluft zwischen laturperiode durchaus gemeinschaftlich
die Parteigremien und ich dann sehr Arm und Reich zu unternehmen. manches durchgesetzt, in der Sozialpolitik
schnell reagiert. SPIEGEL: Der Gang in die Große Koalition oder beim Mindestlohn. Es hat der Partei
SPIEGEL: Was würde passieren, wenn der ist das eine, der Gang hinaus das andere. aber kaum Punkte gebracht.
Parteitag am Sonntag Nein sagte? Wie wollen die Sozialdemokraten für eine Schulz: Die SPD muss lernen, zu sich selbst
Schulz: Dann würde es zu Neuwahlen kom- neue Regierung trommeln, nachdem sie und ihren eigenen Erfolgen zu stehen. Ich
men, und zwar ziemlich rasch. vier Jahre lang für die alte geworben ha- habe manchmal das Gefühl, dass es bei
SPIEGEL: Und, wäre das so schlimm? ben? Haben Sie dafür einen Plan? der SPD zugeht wie bei meinem Großva-
Schulz: Die SPD müsste dann mit einem Schulz: Natürlich. Punkt eins ist, meine ter. Der hat ein Zeugnis mit sechs Einsen
Programm in den Wahlkampf ziehen, das Partei für Koalitionsverhandlungen zu ge- und einer Zwei nach Hause gebracht, und
in großen Teilen mit dem Sondierungs- winnen. Punkt zwei besteht darin, die dann hat der Lehrer druntergeschrieben:
ergebnis identisch ist. Wie absurd wäre das SPD-Mitglieder vom Ergebnis zu überzeu- Bei noch größerem Fleiß hätte der Schüler
denn? Noch größer aber wäre der Schaden gen – wenn wir denn eins erzielen. Punkt noch besser abschneiden können. Die SPD
für die Demokratie. Wenn es den Parteien drei lautet, so zu regieren, dass die Leute muss mehr Stolz auf die eigene Leistung
nicht gelingt, mit den Mehrheiten im Bun- die SPD für fähig halten, das Land zu entwickeln.
destag eine Regierung zu bilden, würden führen. Und Punkt vier und genauso SPIEGEL: Viele in der Partei haben aber das
sie von den Wählern abgestraft. Das würde wichtig: die Erneuerung der SPD voran- Gefühl, dass es in einer neuen Großen Ko-
nur Populisten und Demokratieverächtern treiben. Nicht nur organisatorisch, son- alition genauso laufen würde wie in der
nutzen. dern auch programmatisch. Wir müssen alten. Dabei hatte es zuletzt immer gehei-
SPIEGEL: Trotzdem fordern viele Sozial- wieder die Architekten neuer Zukunfts- ßen, ein Weiter-so dürfe es nicht geben.
demokraten, das Sondierungsergebnis entwürfe werden. Schulz: Das wird es auch nicht. Wir haben
noch einmal nachzuverhandeln. Sehen Sie SPIEGEL: Das Problem ist nur, dass auch in den Sondierungen zum Beispiel eine
dafür Chancen? Ihre Amtsvorgänger nach diesem Rezept fundamentale Neuausrichtung der Beschäf-
Schulz: Wir haben sondiert und keine Ko- vorgegangen sind. Das Ergebnis an der tigungspolitik erreicht: Erstmals wird es
alitionsverhandlungen geführt. Die begin- Wahlurne war nicht unbedingt überzeu- einen wirklich sozialen Arbeitsmarkt in
nen erst, wenn der Parteitag grünes Licht gend. Deutschland geben. Wir werden mit Milliar-
dafür gibt. Dann wird, so haben wir es be- Schulz: Ich bezweifle, dass die Krise der denbeträgen Menschen, die bisher als nicht
schlossen, auf der Grundlage der Sondie- SPD vornehmlich von der Großen Koalition mehr vermittelbar gelten, zu einer vom
DER SPIEGEL 4 / 2018 21
Titel

Nelken welken
Staat bezahlten Stelle verhelfen, und zwar
zu Tariflöhnen. Ich halte das für eine große
Errungenschaft im Kampf gegen die De-
mütigungen, die viele Langzeitarbeitslose
häufig erdulden müssen. Nostalgie Der Gedenktag für Rosa Luxemburg und
SPIEGEL: Neu ist auch, dass Union und SPD
zur Mitte der nächsten Legislaturperiode Karl Liebknecht ist das Allerseelen der Linken.
überprüfen wollen, was die Große Koalition

D
gebracht hat. Wollen Sie so die Zusam- er Arbeiter verhalte sich, so Marx, Reihe mobiler Toiletten, so diskret, wie
menarbeit nach zwei Jahren beenden? zum Produkt seiner Arbeit wie zu mobile Toiletten auf einem Friedhof eben
Schulz: Das ist nicht das Ziel dieser Verein- einem „fremden Gegenstand“. stehen können. An den Ständen dahinter
barung. Wir haben aber in der letzten Le- Auch die Werktätigen in den übersee- werden Glühwein und Bratwurst ange-
gislaturperiode die Erfahrung gemacht, ischen Großgärtnereien werden kaum wis- boten, man kann auch Abonnements
dass wir nach zwei Jahren weite Teile un- sen, warum sie einmal im Jahr die Produk- bei etwa einem Dutzend sozialistischer
seres Koalitionsvertrags erledigt hatten. tion von roten Nelken für Berlin um ein Kleinstzeitungen abschließen.
Dann aber tauchten viele neue Probleme Vielfaches heraufsetzen müssen. Und die Ulli Zelle, der rasende Reporter des RBB,
asiatischen Verkäuferinnen, die im eisigen weist seinen Kameramann an, sich rasch
„Wir brauchen Wind auf der S-Bahn-Brücke unweit des zum Parkplatz zu begeben. Dort wird in
Zentralfriedhofs Friedrichsfelde sitzen, ha- Kürze die Parteispitze vorfahren. „Ich will
eine positive Antwort ben nur eine vage Ahnung, warum so viele die Wagenknecht“, raunt er ihm zu.
Menschen am Sonntagmorgen um acht Um halb zehn entsteigt die Frak-
auf Macron.“ diese Blumen brauchen. tionsvorsitzende ihrer Limousine. Im Licht
„Jemand gestorben, ja?“, sagt eine. der tief stehenden Sonne sieht sie aus, als
auf, für die es keine Verabredungen gab: „Traurig, traurig.“ bestünde sie aus einer edleren Substanz
von Glyphosat bis Flüchtlinge. Dieses Ver- Die Todesfälle liegen 99 Jahre zurück, als ihr Mann Oskar Lafontaine, der ihr die
säumnis hat der letzten Koalition eine ge- am 15. Januar 1919 wurden die Arbeiterfüh- Tür aufhält. Sie hat einen schwarzen Man-
wisse Bleischwere gegeben. Das wollen rer Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht tel an, auf dessen Pelzkragen ihr Dutt ruht
wir ändern. von Freikorpssoldaten ermordet. Am zwei- wie eine schlafende Katze. Für einen Mo-
SPIEGEL: Damit die künftige Regierung gut ten Sonntag des Jahres, dem Allerseelen ment ist es vorstellbar, dass sie nun gleich
funktioniert, muss es auch eine mensch- der Linken, wird ihrer gedacht, auf dem ein Märchenschloss bezieht, als Königin
liche Basis für die Zusammenarbeit geben. einstigen Armenfriedhof, wo Liebknechts eines utopischen Landes.
Wie sind Sie in der Sondierungsnacht mit Gebeine vermutlich noch begraben sind Die Chopin-CD springt wieder auf An-
Merkel und Seehofer klargekommen? und Luxemburgs womöglich nie begraben fang, Wagenknecht schreitet den gestreu-
Schulz: Was mich zuversichtlich stimmt, ist ten Weg entlang, durch das Spa-
die Tatsache, dass wir drei zu einer gewis- lier der Trauernden. Der Kame-
sen Selbstironie fähig sind. Das macht es ramann vom RBB stellt sich für
schon mal leichter. Ich will auch ausdrück- die bessere Perspektive auf die
lich Andrea Nahles und Volker Kauder er- Gedenktafel von Otto Grote-
wähnen. Am wichtigsten aber ist, dass die wohl, Wagenknechts Gesicht
Parteichefs ein Vertrauensverhältnis auf- schimmert, als sie den Kranz
bauen. Nach den Sondierungen bin ich niederlegt, auf den Berg von ro-
etwas optimistischer als zuvor, dass uns ten Nelken. Sie hält inne, ganz
das gelingt. so, als wäre sie eine nahe Ver-
STEFAN BONESS / IPON

SPIEGEL: Im Wahlkampf haben Sie sich mit wandte der Verstorbenen, eine
Merkel noch heftig über die Europapolitik Enkelin womöglich. Hinter ihr
gestritten. Nun soll es das wichtigste The- wartet Gregor Gysi, bis er auch
ma für die neue Regierung werden. Wird endlich mal dran ist.
Merkel nun wie Sie die „Vereinigten Staa- Auf dem Rückweg gibt Wa-
ten von Europa“ fordern? Teilnehmerin der Feierstunde genknecht ein Interview, sie
Schulz: Wir werden wahrscheinlich nicht Jemand gestorben? sagt: „Im entfesselten Kapitalis-
in jedem Detail übereinstimmen; aber wir mus wird Rosa Luxemburgs Bot-
sind uns sehr einig, welche Schritte in waren, ihr Verbleib ist ungewiss. Die Men- schaft immer wichtiger.“ An ihrem Wagen
Europa nun notwendig sind. Wir brauchen schen ziehen zu Tausenden zur Gedenk- wird sie noch von einer Greisin angespro-
eine positive Antwort auf Macron, und wir stätte der Sozialisten und legen dort die chen, die eine Breschnew-Fellmütze trägt,
müssen in Europa mehr investieren. Dass Nelken nieder, das Stück zu einem Euro. eine Uschanka, auf deren Stirnklappe
es dafür im Sondierungspapier eindeutige Aus Lautsprechern schallt Chopins Trau- Hammer und Sichel prangen. „Viel Kraft
Formulierungen gibt, ist übrigens ein ermarsch. Die Menge bewegt sich im ge- wünsch ich dir, Sahra“, sagt die Frau.
klarer Erfolg für die SPD. Natürlich muss- tragenen Takt der Musik, als folge sie einer „Bleib bei deiner Linie. Wir haben uns ja
ten wir auch Konzessionen an die Union geheimen Choreografie. Der Reigen ge- so dafür eingesetzt, dass die SED sich nicht
machen, aber in der Europapolitik ist die mahnt an einen frühkirchlichen Gottes- auflöst.“ Die Fraktionsvorsitzende lächelt
Linie eindeutig SPD pur. dienst, nur eben ohne Gott. Ein Friedhofs- kühl. Dann steigt sie mit Lafontaine in den
SPIEGEL: In der SPD gibt es trotzdem viele wärter streut Sand auf den Weg ringsum. Fond und wird davongefahren.
Skeptiker. Was machen Sie, wenn der Par- „Achtung, Blitzeis!“, ruft er. „Et herrscht Auf dem frei gewordenen Parkplatz hält
teitag gegen die Große Koalition stimmt? akute Unfalljefahr.“ kurz darauf ein Lieferwagen. Ein Vietna-
Schulz: Ich bin sehr zuversichtlich, dass er Am Rande der Gedenkstätte franst das mese lädt 20 Kübel roter Nelken aus, die
das nicht tun wird. Weihevolle aus, es zeigt sich die Dialektik schon bald verwelkt sein werden.
Interview: Veit Medick, Michael Sauga von Pathos und Banalität. Dort steht eine Dirk Gieselmann

22 DER SPIEGEL 4 / 2018


Renault KADJAR
SUV à la Renault

0 % Finanzierung1
2 3
Leichtmetall-Winterkompletträder kostenlos
1
Renault Kadjar Life ENERGY TCe 130: Fahrzeugpreis4 18.453,– €. Bei Finanzierung: nach Anzahlung von 2.530,– € Nettodarlehensbetrag 15.923,– €,
24 Monate Laufzeit (23 Raten à 149,– € und eine Schlussrate: 12.496,– €), Gesamtlaufleistung 20.000 km, eff. Jahreszins 0 %, Sollzinssatz (gebunden)
0 %, Gesamtbetrag der Raten 15.923,– €. Gesamtbetrag inkl. Anzahlung 18.453,– €. Ein Finanzierungsangebot für Privatkunden der Renault Bank,
Geschäftsbereich der RCI Banque S.A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1, 41468 Neuss. Gültig bis 28.02.2018.

Renault Kadjar Life ENERGY TCe 130: Gesamtverbrauch (l/100 km): innerorts: 6,9; außerorts: 5,0; kombiniert: 5,7; CO2 -Emissionen kombiniert:
127 g/km. Energieeffizienzklasse: B. Renault Kadjar: Gesamtverbrauch kombiniert (l/100 km): 6,2–3,8; CO2 -Emissionen kombiniert: 139–99 g/km
(Werte nach Messverfahren VO [EG] 715/2007).
2
Für Renault Twingo, Clio, Captur und Kangoo: gültig für vier Winterkompletträder. Für Renault Kadjar, Koleos, Mégane, Mégane Grandtour, Scénic,
Grand Scénic, Espace, Talisman und Talisman Grandtour: gültig für vier Leichtmetall-Winterkompletträder. Jeweils nur in Verbindung mit einer Finan-
zierung eines neuen Renault Pkw über die Renault Bank, Geschäftsbereich der RCI Banque S.A. Niederlassung Deutschland, Jagenbergstraße 1,
41468 Neuss. Ausgeschlossen sind Renault ZOE, Renault Trafic Pkw und Renault Master Pkw. Reifenformat und Felgendesign nach Verfügbarkeit. Ein
Angebot für Privatkunden und Kleingewerbetreibende, gültig bei Kaufantrag bis 28.02.2018 und Zulassung bis 30.04.2018 bei allen teilnehmenden
Renault Partnern. 3 2 Jahre Renault Neuwagengarantie und 3 Jahre Renault Plus Garantie (Anschlussgarantie nach der Neuwagengarantie) für
60 Monate bzw. 100.000 km ab Erstzulassung gem. Vertragsbedingungen. 4 Abb. zeigt Renault Kadjar BOSE Edition mit Sonderausstattung. Renault
Deutschland AG, Postfach, 50319 Brühl.

Renault empfiehlt
Titel

Der grüne Trudeau


Karrieren Robert Habeck will Parteichef der Grünen werden. Aber nur zu seinen Bedingungen.
Kommt er damit durch, wird er zum starken Mann der Partei.

E
igentlich geht es um Schweine, doch darum geht, einen inhaltlich guten Fach- Zweidrittelmehrheit, die ultimative Be-
Robert Habeck schafft es in wenigen vorschlag zu machen. Und er gehe ab und stätigung durch die Partei. Habeck wolle
Sätzen bis zu Jean-Jacques Rousseau. an auf Risiko, das habe der Partei gefehlt. mit dem Rückenwind der Zweidrittelmehr-
Es ist der vergangene Dienstag, der Aber Habeck will nicht einfach Partei- heit ins Amt starten, heißt es in seinem
Agrarkongress des Umweltministeriums in chef sein, sondern Parteichef mit Autorität. Umfeld. Er habe viel vor, dafür brauche
Berlin, im Publikum steht ein Bauer aus Das ist gerade bei den antiautoritären Grü- er Schwung.
dem Münsterland und erzählt, wie er den nen keine Selbstverständlichkeit, auch das Am vergangenen Montag sitzt Habeck
Hof seiner Eltern umgebaut hat. Statt deren weiß Habeck. Jetzt verlangt er von seiner in einem Restaurant an der Kieler Förde
„Gemischtwarenladen“ mit ein paar Kühen, Partei einen Beweis, dass sie ihm folgt. und trinkt Milchkaffee. Er wolle, sagt er,
Schweinen und Hühnern hat er jetzt nur Auch wenn es wehtut. seiner Verantwortung gerecht werden, das
noch Sauen, dafür aber knapp 300. „Warum, Denn seit Juni ist Habeck wieder Um- Vertrauen, das die Wähler in Schleswig-
Herr Habeck“, fragt er, „ist ein Betrieb, der weltminister in Schleswig-Holstein. Und Holstein in ihn gesetzt haben, nicht zer-
wächst, nicht gut?“ das will er zunächst auch bleiben, trotz stören. Und: Er habe als Minister noch
Der grüne Landwirtschaftsminister von Parteivorsitz. „Pi mal Daumen ein Jahr“ einiges zu regeln, die Windkraftplanung
Schleswig-Holstein hatte zuvor gesagt, hat er sich gewünscht, um, wie er sagt, sei- etwa und damit die Frage, ob die Energie-
dass in der deutschen Landwirtschaft kein ne Nachfolge ordentlich regeln zu können. wende Wirklichkeit werden könne. Und
Raum für Wachstum sei. Es müsse „weni- Die Trennung von Amt und Mandat die Umsetzung des Düngerechts.
ger Tiere“ geben. oder in diesem Fall von zwei Ämtern ge- „Offensichtlich Quatsch“ nennt der FDP-
Jetzt holt er weit aus: „Ist das überhaupt hört zur DNA der Grünen, keiner ihrer Politiker Wolfgang Kubicki das Argument,
die Lebensmittelproduktion, die wir wol- Politiker soll zu viel Macht bekommen. dass Habeck seine Nachfolge noch richtig
len?“ Und noch weiter: „Degradieren wir Habeck will nun, dass die Satzung ge- regeln müsse. Schließlich habe er schon je-
Tiere damit nicht zu Rohstofflieferanten?“ ändert wird. Dafür braucht er eine Zwei- mand sehr Gutes im Auge. Kubicki hat mit
Am Ende erklärt er dem Publikum noch drittelmehrheit. 2002 scheiterte selbst Habeck erfolgreich Jamaika in Kiel ver-
rasch, wie Demokratie funktioniert. Und Claudia Roth, damals Parteichefin, mit handelt, man schätzt und duzt sich.
den Gesellschaftsvertrag von Rousseau. einer ähnlichen Abstimmung. Für den Fall, „Robert Habeck will dokumentieren,
Den großen Bogen vom Schweinebauern dass es nicht gelingt, droht Habeck mit dass er es aus eigener Stärke schafft, seine
zum Tierwohl bis zur politischen Theorie gesamte Partei zu überzeugen“ sagt Kubi-
und zurück, Habeck schafft ihn spielend. „Alles oder nichts, cki. Er wolle ein starker Parteivorsitzender
Bei den Grünen kann das keiner so wie sein. „Alles oder nichts, das ist sein Motto.“
er. Robert Habeck, 48 Jahre alt, vor seinem das ist sein Motto“, sagt Habeck hat schon einmal einen Partei-
Politikerleben hauptberuflich Schriftsteller, tag umgestimmt, 2013 war das und Habeck
ist aktuell ihr größtes politisches Talent, Kubicki über ihn. gerade Umweltminister. Peter Altmaier,
und er weiß das auch. Habeck verfügt über damals sein Kollege auf Bundesebene, hat-
genau jene Mischung von Begabungen, die Rückzug. Er kommt nur zu seinen Bedin- te ihn gebeten, Atommüll, der aus England
in diesen Zeiten Erfolg verspricht: rhetori- gungen. zurückgenommen werden musste, in
sches Talent, ein sicheres Gespür für die Dabei hatten ihm die Parteivorderen in Schleswig-Holstein zwischenzulagern. Ha-
Stimmung und Machtwillen. Dazu kommt, den letzten Monaten goldene Brücken ge- beck sagte zu. Die Grünen waren außer
dass er sich vor allem um die Themen küm- baut. Sie schlugen ihm vor, sich erst mal sich. Als ob ihr Motto plötzlich lautete:
mert, die seiner Partei Stimmen bringen: wählen zu lassen und das Ministeramt „Atommüll? Ja bitte!“
Umwelt und sozialer Zusammenhalt. Dazu dann so schnell wie eben möglich abzuge- „Damals stand ich kurz vor dem Rück-
ist er zutiefst pragmatisch. Das macht ihn ben. Dann müsse erst mal jemand vor dem tritt“, sagt Habeck heute. Auf einem Son-
zum idealen Protagonisten für die herr- parteiinternen Schiedsgericht klagen. Das derparteitag stellte er sich vor die Dele-
schende Stimmung in der Partei: nicht Prozedere würde so lange dauern, dass gierten, entschuldigte sich, hielt eine hoch
mehr linkes Lager, sondern linke Mitte. sich das Problem schon erübrigt habe, emotionale Rede. Und er ließ durchbli-
Am kommenden Wochenende möchte wenn das Verfahren losginge. Doch das cken: Wenn er die Abstimmung verliert,
Habeck Parteichef der Grünen werden. wollte Habeck nicht. Er fand die Haltung tritt er zurück. Am Ende gewann er mit
Und trotz der Machtarithmetik von Frau- heimtückisch. großer Mehrheit. „Natürlich ist Robert ein
en, Männern, Realos und Linken wäre ihm Dann gab der Bundesvorstand ein juris- Machtmensch“, sagt Kubicki. „Er weiß,
der Posten eigentlich sicher. Spätestens seit tisches Gutachten in Auftrag, um zu klären, was er will, und er weiß im Zweifel auch,
den Jamaika-Sondierungen ist Habeck in ob eine konkrete Satzungsänderung über- wie er das durchsetzt.“
der Partei unangefochten. Kein Mann traut haupt notwendig ist. Das Ergebnis: Eigent- Habecks Karriere bei den Grünen verlief
sich, gegen ihn anzutreten. lich würde schon eine vage Ergänzung rei- rasant. Erst 2002 trat er in die Partei ein,
Selbst Spitzengrüne des linken Flügels chen. Man müsse nur „in angemessener nach nur zwei Jahren übernahm er den Vor-
bedenken ihn mit Elogen. Habeck sei ein Frist“ mitteilen, welches Amt man nieder- sitz in Schleswig-Holstein. Als man ihn 2008
„politischer Mensch mit Intellekt und Wis- legt. Damit hätte sich das Problem elegant fragte, ob er Parteichef im Bund werden
sen, der gemerkt hat, wann wir über den lösen lassen. will, lehnte Habeck ab, seine vier Söhne
Tisch gezogen werden sollten“, sagt einer, Doch Habeck besteht auf einer konkre- waren noch jung. 2009 wurde er Fraktions-
der mit ihm Jamaika im Bund sondiert hat. ten Frist. In Wahrheit braucht er gar kei- chef, 2011 Spitzenkandidat, Minister und
Habeck wisse außerdem, dass es nicht nur nen pragmatischen Ausweg, er braucht die Vize-Ministerpräsident in Kiel. Dann der
24 DER SPIEGEL 4 / 2018
DENNIS WILLIAMSON
Grüner Habeck: Er suchte „den richtigen Moment“

Sprung nach Berlin, für die Urwahl zum Und der Widerstand wächst, immer wieder Justin Trudeau, der kanadische Premier,
Spitzenkandidaten im Bund gab er seinen melden sich Grüne zu Wort und fordern, sagt Habeck, habe vorgemacht, „wie das
Listenplatz in Schleswig-Holstein auf. dass Habeck sich entscheiden müsse. geht“. Mehr Gerechtigkeit, bessere Bildung,
Alles oder nichts eben. Die Lage ist so prekär, dass sich am Steuern runter, mit solchen Allgemeinplät-
Doch Habeck verlor die Urwahl gegen Dienstag vergangener Woche die 14 Jamai- zen funktioniere Politik nicht mehr, sagt er.
Cem Özdemir, äußerst knapp, um 0,22 Pro- ka-Sondierer in einer Bibliothek schräg ge- „Die Zeiten, in denen 20 Euro Kindergeld-
zentpunkte. Das hat ihn vorsichtiger ge- genüber der Parteizentrale in Berlin-Mitte erhöhung Wählerstimmen brachten, sind
macht. Er suchte nun „den richtigen Mo- versammelten, um Habeck zu bearbeiten. vorbei.“ Trudeau habe „eine Ansprache ge-
ment“. Seinen Moment. Nur Winfried Kretschmann fehlte. Partei- funden, bei der sich verschiedene Milieus
Kurz vor der Bundestagswahl gab es die linke wie Anton Hofreiter, Michael Kellner wiederfinden konnten.“ Sie sei individuali-
ersten Versuche, ihn nach Berlin zu holen, und Jürgen Trittin versuchten, Habeck auf sierter. Und trotzdem eine gemeinsame Er-
die „Operation Robert“. Viele versprachen sechs Monate herunterzuhandeln. Doch er zählung. „Das könnten sich die Grünen von
sich von seinem Wechsel ein Signal des blieb stur, wollte „maximal ein Drittel der Trudeau abschauen“, sagt Habeck.
Aufbruchs. Doch Habeck wollte nicht: Amtszeit“ als Kompromissformel, also bis Natürlich will er sich selbst auf keinen
„Meine Rolle ist jetzt eine andere“, sagte zu acht Monate. Am Ende hatte er die Run- Fall mit dem beliebten Kanadier vergli-
er. Er wollte nicht den Eindruck erwecken, de hinter sich. Kellner, der die Antrags- chen haben. Überhaupt Vergleiche: Schon
es gäbe einen Machtkampf mit Özdemir. kommission leitet, soll dieses Wochenende gar nicht will er, wie es neulich auf Zeit
Selbst nach der Wahl und dem Scheitern mit allen Antragstellern telefonieren, um Online hieß, „der neue Joschka“ werden.
der Jamaika-Sondierungen im November den Kompromiss zu besprechen. Jener mächtige Grünen-Chef, der der Par-
wartete er weiter ab. Kurz hieß es, Özde- Habeck sagt, er sehe dem Parteitag ge- tei wie kein anderer seinen Willen auf-
mir werde vielleicht doch noch einmal an- lassen entgegen. Er arbeite sehr gern als zwang, diesen Vergleich kann Habeck
treten. „Ich will den Laden nicht spalten“, Minister. Dann erzählt er lange, wie er den nicht gebrauchen. Fischers Macker-Attitü-
sagte Habeck zu Parteifreunden. Aufbruch seiner Partei gestalten will, falls de sei ihm auch immer ganz gehörig auf
Bei den Grünen schätzen sie Habecks er gewählt wird. Er will aus den Grünen den Senkel gegangen, sagt er.
Chancen auf 50 bis 80 Prozent. Hinter den eine „gesellschaftliche Gesamtbewegung“ Sein Stil ist ein anderer. Bei ihm ist das
Kulissen arbeiten viele aus der Parteispitze machen, linksliberal verortet. Damit sollen Machtbewusstsein sehr weich verpackt.
daran, dass er es schafft. „Wir brauchen die Grünen den Raum füllen, den andere Dann doch eher Trudeau. Ann-Katrin Müller
Robert“, sagt einer von ihnen. Doch in- linke Parteien frei lassen. Er will den Ab-
zwischen gibt es sechs verschiedene Än- gehängten ihre Würde zurückgeben und Video: Robert Habecks
derungsanträge, zwischen null und zwölf eine eigene Sozialstaatsidee entwickeln. Bei Karriere im Zeitraffer
Monaten Übergangszeit ist alles dabei, an- alledem müssten die Grünen „Aufbruch, spiegel.de/sp042018habeck
dere wollen die Entscheidung gar vertagen. Dynamik, aber auch Halt“ verkörpern. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 4 / 2018 25


Huthi-Kämpfer in Sanaa,
Jemen

MOHAMMED HUWAIS / AFP


Außenpolitik

Berlin für neue Iran-Sanktionen


Bundesregierung kommt Trump entgegen, um Atomdeal zu retten.
Deutschland macht sich in Brüssel für neue Sanktionen gegen erst kürzlich eine neue Mittelstreckenrakete präsentiert. Mit
Iran stark, heißt es aus Diplomatenkreisen. Damit soll das ira- den zusätzlichen Sanktionen wollen Deutschland, Großbritan-
nische Regime für seine destabilisierende Rolle im Nahen Os- nien und Frankreich demonstrieren, dass sie die Kritik von
ten zur Verantwortung gezogen werden. Der islamische Staat US-Präsident Donald Trump am iranischen Regime ernst neh-
unterstützt unter anderem die Huthi-Rebellen im Jemenkrieg men und dem Treiben Teherans nicht tatenlos zusehen. Vor
und die libanesische Hisbollah-Miliz. Im syrischen Bürger- allem aber geht es den Europäern darum, die USA davon ab-
krieg hilft Teheran Staatspräsident Baschar al-Assad mit Waf- zuhalten, das 2015 mit Iran geschlossene Atomabkommen
fen und Söldnern, die mit iranischen Zivilflugzeugen nach aufzukündigen. Bereits bestehende Sanktionen, etwa wegen
Syrien gebracht werden. Darüber hinaus will Berlin die euro- der Menschenrechtsverletzungen eingefrorene Konten von
päischen Partner dazu bewegen, Irans Raketenprogramm Iranern oder das Waffenembargo, blieben vom Nukleardeal
schärfer als bislang zu ahnden. Die Revolutionswächter haben ohnehin unberührt und sind weiterhin in Kraft. red

Kulturpolitik den nur „für ihr Bekenntnis mehr so leicht tun können“,
„Stimmung drehen“ zu Diversity oder Multikultu-
ralismus unterstützt“, so Jon-
warnt er. „Wir wollen die
Stimmung im Land insgesamt
Der AfD-Politiker Marc Jon- gen, und „oft genug in Propa- drehen.“ In der Kulturszene
gen, Philosoph an einer Karls- ganda ausschlagen“. Der AfD regt sich schon Widerstand
ruher Hochschule und Kandi- gehe es „um eine Entideologi- gegen einen Ausschuss unter
dat für den Vorsitz des Kul- sierung der Kulturpolitik, hin AfD-Führung. Die Kritik gel-
turausschusses des Bundesta- zur Förderung von echter te aber nicht ihm selbst, so
ULI DECK / PICTURE ALLIANCE / DPA

ges, kündigt einschneidende Qualität und Talent“. Die ver- Jongen, sondern der AfD,
Änderungen der Kulturpoli- misst Jongen, Schüler des „deren Aura auf mich proji-
tik an: „Unser Ziel ist es, die Philosophen Peter Sloterdijk, ziert wird“. Kritikern wirft er
Förderkriterien grundlegend bei vielen Kulturschaffenden. „Verdachtshermeneutik“ vor:
zu untersuchen und die bishe- „Leute, die lange selbstver- Sie nähmen seine Worte
rige Förderung politisch kor- ständlich auf dem öffentli- nur als radikal wahr, „weil sie
rekter Projekte herunterzu- chen Förderticket gefahren von einem AfD-Mitglied
fahren.“ Viele Vorhaben wür- sind, werden es künftig nicht Jongen kommen“. ama

26 DER SPIEGEL 4 / 2018 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Flüchtlingspolitik ghanen zurückgebracht wer-
Zu wenig Abschiebe- den; 19 von ihnen direkt aus
der Abschiebehaft. In der
personal Bundespolizei gibt es nur
Die Bundespolizei hat zuneh- rund 800 speziell dafür ausge-
mend Schwierigkeiten, genü- bildete Beamte, an vielen
gend Personal zur Abschie- Dienststellen herrscht Perso-
bung von abgelehnten Asyl- nalnot. Die Aufgabe ist psy-
bewerbern zu bekommen – chisch und körperlich belas-

CARSTEN VENNEMANN / BUNDEDSWEHR / ACTION PRESS


vor allem nach Afghanistan. tend. In Kabul müssen die
Für den nächsten Flug nach Polizisten nach dem anstren-
Kabul am kommenden Diens- genden Flug ohne Waffe und
tag etwa hatten sich nur 35 Funkgerät die Maschine bis
Vollzugsbeamte freiwillig ge- zum Rückflug bewachen –
meldet: deutlich zu wenige. mit Westen, die sie als deut-
Mit dem in Düsseldorf star- sche Polizisten deutlich er-
tenden Flugzeug sollen 80 Af- kennbar machen. aul

Justiz lang hat das Institut nach An-


Polen sucht gaben von Staatsanwalt Ro- Fregatte „Baden-Württemberg“ vor dänischer Küste
bert Janicki 128 Namen von
deutsche NS-Täter Deutschen und einigen Öster- Marine Dirk Bolte vom „Freundes-
Die polnische Justiz fahndet reichern an Interpol gegeben; kreis Fregatte Baden-Würt-
mithilfe der internationalen weitere sollen folgen. Es sei „Enttäuschung pur“ temberg“. Zumal die Repara-
Polizeiorganisation Interpol „die letzte Chance, jene zur Die Defizite der neuen, insge- tur länger dauern dürfte als
nach deutschen NS-Verbre- Rechenschaft zu ziehen, die samt drei Milliarden teuren bis zum Herbst, wie vom Ver-
chern. Es geht um eine Liste Verbrechen an den Häftlin- Hightech-Fregatten der F125- teidigungsministerium offi-
von 8502 SS-Leuten, die in gen von Auschwitz begangen Klasse sind größer als be- ziell angekündigt. „Wenn sich
Auschwitz tätig waren. Das haben“, sagt Janicki. In Polen kannt. Das Kampfschiff „Ba- der Frust der Marinesoldaten
Warschauer Institut für Natio- verjähren Kriegsverbrechen, den-Württemberg“ wurde am herumspricht, wird es noch
nales Gedenken (IPN) will Verbrechen gegen die Mensch- Mittwoch zur Reparatur in schwieriger werden, den drin-
wissen, wo sich diese aufhal- lichkeit und Genozid nicht. die Werft in Hamburg ge- gend benötigten Nachwuchs
ten. IPN leistet historische Insgesamt sind bei IPN 650 bracht: Neben Softwarefeh- rekrutieren zu können“,
Aufklärung, kann aber auch Ermittlungen wegen NS-Ver- lern gibt es Defekte am Ra- fürchtet der Wehrbeauftragte
staatsanwaltlich ermitteln. brechen anhängig. Zu den dar, beim Wasseraufberei- der Bundesregierung, Hans-
Seine Strafverfolger konzen- Beschuldigten zählen vor al- tungssystem und bei der Le- Peter Bartels (SPD). Der
trieren sich auf die jüngeren lem Deutsche, aber auch bensmittelkühlung. Auch auf Freundeskreis der „Baden-
SS-Angehörigen, die mög- Österreicher, Weißrussen, dem Schwesterschiff „Nord- Württemberg“ versucht, die
licherweise noch leben. Bis- Ukrainer oder Letten. klw, ms rhein-Westfalen“ sollen die schlechte Moral mit Süßem
Probleme massiv sein. Die zu heben: Er hat 20 Kilo-
Stimmung in der Besatzung gramm Fruchtgummis an die
sei „Enttäuschung pur“, so Besatzung geschickt. gt, sve
SPD-Parteitag ve Gespräche in
Europa, so Schick,
Ja für Europa finanzpolitischer
SPD-Chef Martin Sprecher der Grü- Sterbenskranke ten bei Ex-Verfassungsrichter
ANDREAS PEIN / LAIF

Schulz bekommt nenfraktion. Auf Udo Di Fabio. Es hält das Ur-


Schützenhilfe von Grundlage dieses SPD für Suizidhilfe teil der Leipziger Richter für
ungewohnter Seite. Sondierungsergeb- Vertreter von CDU, FDP, Lin- „verfassungsrechtlich nicht
Der grüne Bundes- nisses könnte ein ken und Grünen fordern eine haltbar“. Gesundheitsminis-
tagsabgeordnete Ger- Schick SPD-Finanzminister gesetzliche Klarstellung zur ter Hermann Gröhe (CDU)
hard Schick, der „gemeinsam mit Suizidhilfe: Bundesbehörden besteht nun auf eine klarere
auch im Parteirat der Grünen dem französischen Präsiden- sollten keine Betäubungsmit- Gesetzesregelung. Auch die
sitzt, empfiehlt den SPD-De- ten Emmanuel Macron end- tel zur Selbsttötung ausgeben Gesundheitsexpertinnen Kirs-
legierten, auf ihrem Parteitag lich die nötigen Investitionen dürfen. Das Bundesverwal- ten Kappert-Gonther (Grü-
am Sonntag für Koalitionsver- in Europa anschieben“. tungsgericht hatte im März ne), Kathrin Vogler (Linke)
handlungen mit der Union zu Schick räumt freimütig ein, 2017 entschieden, dass Ster- und Christine Aschenberg-
stimmen. Denn: „Bei einer dass die Sozialdemokraten benskranken in extremer Not Dugnus (FDP) sprechen sich
der wichtigsten Fragen haben mehr erreicht haben, „als wir der Zugang zu Betäubungs- dafür aus. Nur der mögliche
die Sozialdemokraten richtig Grünen wegen des Wider- mitteln zur Selbsttötung ge- Koalitionspartner SPD teilt
was erreicht: Europa.“ Hier stands der FDP bei Jamaika währt werden darf. Das Bun- Gröhes Forderung nicht. Karl
würden sie „nach Jahren der hätten erreichen können“. desinstitut für Arzneimittel Lauterbach, Gesundheitsex-
schäubleschen Neins“ eine Die Sache sei es „wert zu und Medizinprodukte beauf- perte der Sozialdemokraten,
Tür aufstoßen für konstrukti- regieren“. akm tragte daraufhin ein Gutach- hält das Urteil für richtig. red

DER SPIEGEL 4 / 2018 27


Deutschland

Razzien
Zielliste für
Teheran?
Iranische Geheimdienste ar-
beiten womöglich an einer
Liste mit israelischen und
jüdischen Einrichtungen in
Deutschland, die als An-
schlagsziele im Konfliktfall
mit Israel infrage kommen
könnten. Nach Informatio-
nen des SPIEGEL gehen die
deutschen Sicherheitsbehör-
den davon aus, dass Aus-
spähversuche hierzulande
diesem Zweck dienen soll-
ten. In dem Zusammenhang
durchsuchten 150 Polizei-
beamte im Auftrag des Ge-

MOHAMED HAMMI / SIPA PRESS / ACTION PRESS


neralbundesanwalts am
Dienstag die Wohnungen
von zehn Männern aus Pa-
kistan, Afghanistan und der
Türkei sowie ein Restaurant,
einen Fladenbrotladen und
eine Bochumer Filiale einer
US-amerikanischen Fast-
Food-Kette. Die Männer
sollen Kontakt zu irani-
Pflückerinnen bei Olivenernte in der Nähe von Ariana, Tunesien schen Geheimdienstleuten
gehabt haben. Allerdings
Entwicklungshilfe nischer Staaten wie Burkina ren. Müller drängt auf einen scheint die Beweislage
Müller will Zölle für Faso oder Mosambik von Im- „Marshallplan für Afrika“. dünn; bisher erging kein
portzöllen befreit. Müller Das Thema dürfe bei den Ko- Haftbefehl. Neun der Be-
Nordafrika senken weist auf Tomaten aus Nord- alitionsverhandlungen nicht schuldigten bestritten alle
Entwicklungshilfeminister afrika hin, auf die je nach vergessen werden, mahnt Vorwürfe, einer schwieg.
Gerd Müller (CSU) will den Saison unterschiedliche Zölle der CSU-Mann: „Deutsch- Die Ermittler beschlag-
Zugang nordafrikanischer erhoben werden. Betroffen land muss auch in internatio- nahmten Dokumente, Bar-
Länder zum europäischen sind aber auch weiterverar- nal wichtige Aufgaben inves- geld, Mobiltelefone und
Binnenmarkt weiter verbes- beitete Produkte wie hoch- tieren, zum Beispiel in Re- Computer für weitere Nach-
sern. „Länder wie Tunesien wertiges Olivenöl. Die EU formpartnerschaften mit afri- forschungen. Informationen
und Marokko brauchen für verhandelt derzeit Freihan- kanischen Ländern.“ Die des Bundesamts für Verfas-
ihre Waren einen freien Zu- delsabkommen mit Marokko Uno beziffert den Investitions- sungsschutz und eines aus-
gang zur EU“, sagt Müller. und Tunesien – allein die Tu- bedarf in Afrika allein für ländischen Nachrichten-
Bisher sind bereits die Wa- nesier könnten dadurch rund die Infrastruktur auf 600 Mil- diensts lösten die Ermittlun-
ren besonders armer afrika- 400 Millionen Euro einspa- liarden Dollar. mp gen aus. fis, jdl

Arbeitsagentur dass Keller gleichzeitig um sen. Allerdings gab nur Kel-


Wohltätiger Berater
LOUIZA FROEBE © HOLM KELLER GMBH 2016 / HOLM KELLER GMBH

einen millionenschweren lers Firma ein Angebot ab,


Auftrag der BA buhlte. Kel- das so hochpreisig war, dass
Als die Bundesagentur für ler war seit 2015 als Subun- sich der Zuschlag hinzog.
Arbeit (BA) im September ternehmer von IBM und Seit 2004 hat die BA rund
2016 Tausende „Drachen- Accenture für die Behörde 200 Millionen Euro für Un-
prinz“-Bücher an Flüchtlings- tätig gewesen. Im Sommer ternehmungsberater ausgege-
kinder verschenkte, erschien 2016 bewarb er sich dann ben, wie eine Anfrage der
dies als ein Projekt mildtäti- selbst auf ein IT-Projekt des Linkenabgeordneten Sabine
ger Sponsoren. Organisator Hauses. Gegen den Verdacht, Zimmermann jetzt ans Licht
der Pro-bono-Aktion war dass sich Keller mit der brachte. „Statt Beratungs-
der umtriebige Berater Holm Buchaktion einen Vorteil bei firmen mit zig Millionen zu
Keller, bis 2016 Vizepräsi- der Auftragsvergabe ver- füttern“, so die Linke, „sollte
dent der Universität Lüne- schaffte, verwehren sich der das Geld besser zur Unter-
burg; die BA kostete sie Berater und die BA. Der Auf- stützung von Erwerbslosen
nichts. Nun stellt sich heraus, Kind mit „Drachenprinz“-Buch trag sei ausgeschrieben gewe- eingesetzt werden.“ sve

28 DER SPIEGEL 4 / 2018


ANGRILLEN
27. 01.
Der neue Opel SUV bei Opel

GRANDLAND
Ï 360-Grad-Kamera1
Ï Intelligente Traktionskontrolle IntelliGrip2
Ï Adaptives Fahrlicht AFL mit LED-Technologie3

Jetzt Probe fahren!


1
Serie in Ultimate. 2 Optional verfügbar mit Grip & Go für Edition, INNOVATION und Ultimate. Nicht verfügbar für Selection.
3
Optional verfügbar für Edition und INNOVATION. Serie in Ultimate. Nicht verfügbar für Selection. Abb. zeigt Sonderausstattung.
Deutschland

„Dann ist Schluss“


Bündnisse Die Sondierungsgespräche offenbaren die Schwächen der Wahlverlierer
Merkel, Schulz und Seehofer. In den Parteien wächst
der Unmut, nur noch mit Mühe können die Chefs ihre Autorität wahren.

A
m 20. Dezember treffen sich im ob er als Minister nach Berlin geht oder sagte er: „Die Wählerinnen und Wähler
Berliner Reichstag vier Männer sich aus der Politik zurückzieht. In der haben einen Anspruch darauf, dass die Par-
und zwei Frauen, um eine neue Re- CDU hat die Debatte über die Zeit nach teien sagen, was sie tun, und anschließend
gierung vorzubereiten. Es könnte ein schö- Merkel begonnen, und Martin Schulz hal- tun, was sie sagen.“
ner Termin werden. Martin Schulz, der ten viele in der SPD ohnehin für einen Und nun doch regieren?
SPD-Chef, hat Geburtstag, er wird an die- Parteichef auf Abruf. Die SPD befindet sich in einer parado-
sem Mittwoch 62 Jahre alt. Die Kanzlerin Am 3. Januar treffen sich Schulz, Merkel xen Situation. Auf der einen Seite ist sie
freut sich auf ihren jährlichen Urlaub im und Seehofer in der bayerischen Landes- so schwach wie nie, bei der Bundestags-
Engadin, der zwei Tage später beginnt. vertretung in Berlin, es ist ihr erstes Ge- wahl reichte es gerade noch für 20,5 Pro-
Über dem Regierungsviertel liegt schon spräch nach den Weihnachtsferien. Eigent- zent der Stimmen. Andererseits gibt es an
vorweihnachtliche Stille; die Stimmung in lich hätte die Runde vertraulich bleiben der Basis die Stimmung, dass man nur
der Runde ist weniger friedlich. sollen, doch wie so oft hat irgendjemand dann mit Merkel koalieren dürfe, wenn
Tags zuvor hat Schulz der CSU die geplappert. diese lupenreine SPD-Politik vertrete.
Verantwortung dafür zugeschoben, dass Schulz sagt, dass er sich einen anderen Als Sigmar Gabriel im Herbst 2013 die
die offiziellen Sondierungsgespräche zwi- Verhandlungsstil wünscht als bei den Ja- SPD in eine Regierung mit der Union füh-
schen Union und SPD erst in der zweiten maikasondierungen: keine Durchstecherei- ren wollte, nahm er zu Beginn die Kanzle-
Januarwoche beginnen können. Die Bay- en, keine Interviews. Merkel und Seehofer rin und CSU-Chef Seehofer zur Seite. Er
ern wollten die Tagung ihrer CSU-Landes- sind einverstanden. Sie haben in den Ge- brauche zwei Punkte, sonst müsse man die
gruppe in Kloster Seeon abwarten. Der sprächen mit Grünen und FDP ja erlebt, Verhandlungen erst gar nicht anfangen:
neue Landesgruppenchef Alexander Do- den Mindestlohn und die Rente mit 63.
brindt fragt empört, wie Schulz zu einer Merkel und Seehofer willigten ein, ver-
solchen Behauptung komme. Die CSU Viele glauben, man dürfe langten aber im Gegenzug, dass die SPD
sei jederzeit verhandlungsbereit. Schulz auf Steuererhöhungen verzichtet und von
entgegnet, Dobrindt habe ihn falsch ver- nur mit Merkel koalieren, ihrer Forderung abrückt, Schwulen und
standen. wenn sie lupenreine Lesben eine standesamtliche Hochzeit zu
Merkel zieht daraufhin ihr Handy her- ermöglichen.
vor und liest eine Meldung vor mit einem
SPD-Politik vertrete. Schulz und Fraktionschefin Andrea Nah-
Schulz-Zitat: „Die CSU will vor der Klau- les gehen nun anders vor. Sie formulieren
sur in Seeon (früher: Kreuth) nicht sondie- wie es die Atmosphäre zerstört, wenn stän- im Dezember mit dem Parteivorstand
ren. Deshalb brauchen wir ein bisschen dig Zwischenstände per Twitter in die Welt elf Punkte, die für die SPD „essentiell“ sei-
mehr Zeit.“ Schulz blickt Merkel und Do- geblasen werden. en, darunter die Bürgerversicherung, eine
brindt an. „Leute, das war doch kein An- Aber als Merkel zwei Tage später die Europareform und die höhere Besteuerung
griff auf euch. Das war eine simple Sach- „Bild“-Zeitung liest, traut sie ihren Augen Reicher. Aber schon das Wort „essentiell“
feststellung.“ nicht. Schulz klagt in einem Interview, dass zeigt an, dass die Themen wichtig, aber
Es ist kein guter Auftakt für die Bildung Deutschland schlecht regiert werde. „Bei eben nicht unverzichtbar sind. Das Risiko
einer Regierung. Wenn man die Tage Bildung, Gesundheitsversorgung, Pflege der Enttäuschung mag damit reduziert
der Sondierungsgespräche rekonstruiert, und vielem anderen sind wir kein moder- werden. Der Druck auf die Union, die
wenn man mit den Beteiligten von CDU, nes Land“, sagt er. Merkel, so heißt es in Bürgerversicherung oder die Erhöhung
CSU und SPD spricht, dann wird schnell der Union, habe Schulz daraufhin eine wü- des Spitzensteuersatzes mitzutragen, aller-
deutlich, wie viel Misstrauen zwischen tende SMS geschickt. Was das nun solle? dings auch.
den Parteien und ihren Spitzenleuten Forderungen aufstellen, an die er sich Am 8. Januar trifft sich Schulz mit Mer-
herrscht. Es ist ja nicht nur so, dass Union selbst nicht halte? In der SPD wird be- kel und Seehofer in der CDU-Zentrale, es
und SPD genug voneinander haben, nach stritten, dass Merkel den SPD-Chef per ist der Montag der vergangenen Woche.
insgesamt acht gemeinsamen Regierungs- SMS ermahnt habe. Aber klar ist, dass die An diesem Tag soll es um Europa gehen.
jahren seit 2005. Gespräche von Anfang an unter einem Es ist der Wunsch des SPD-Chefs, dass das
Am 24. September fuhr die Union ihr schlechten Stern stehen. Thema in einer eigenen Runde der Vorsit-
zweitschlechtestes, die SPD ihr schlechtes- Schulz hatte im Wahlkampf immer wie- zenden beraten wird.
tes Bundestagswahlergebnis ein. Horst See- der versichert, niemals in eine Regierung Schulz hat es im Wahlkampf fast aus-
hofer musste deshalb schon seinen Rück- Merkel einzutreten. Er hatte unmittelbar schließlich Außenminister Sigmar Gabriel
zug vom Amt des bayerischen Minister- nach der Bundestagswahl hoch und heilig überlassen, über Europa zu sprechen.
präsidenten ankündigen, er will es bald an versprochen, dass seine SPD kein neues Später ärgerte sich Schulz darüber. Kein
seinen Nachfolger Markus Söder überge- Bündnis mit der Union eingehen werde. Thema ist mehr mit ihm, dem ehemaligen
ben. Anfang Februar will er entscheiden, Und als Jamaika Mitte November platzte, EU-Parlamentspräsidenten, verbunden;
30 DER SPIEGEL 4 / 2018
KAY NIETFELD / DPA
Verhandler im Konrad-Adenauer-Haus: Keine Durchstechereien, keine Interviews

STEFFI LOOS / GETTY IMAGES

Parteichefs Seehofer, Merkel, Schulz: Die Machtverhältnisse sind ins Rutschen geraten

DER SPIEGEL 4 / 2018 31


allerdings nur fünf Exemplare. Für Scheuer
ist keines übrig. Was das für ein Stil sei,
fährt er Stegner an. Das Papier sei ohnehin
nur eine Diskussionsgrundlage für die Ver-
handlungsführer, antwortet der.
Das will sich die CSU nicht bieten lassen.
Nach Rücksprache mit Dobrindt erarbeitet
Scheuer ein eigenes Papier. Es entspricht
im Wesentlichen den Vereinbarungen der
anderen, bis auf die zwei strittigen Punkte:
Dort hat Scheuer einfach die Positionen
von CDU und CSU eingesetzt.
Es ist eine kuriose Situation: Den Par-
tei- und Fraktionschefs liegen nun zwei
Papiere vor. Über das Stegner-Papier rede
er gar nicht erst, sagt Dobrindt. Stegner
ist außer sich, auch Bouffier fühlt sich von
Dobrindt düpiert. Schulz schlägt vor, dass
Dobrindt und Stegner einen gemeinsamen
Vorschlag erarbeiten. Stegner sei nicht auf
Augenhöhe, erklärt Dobrindt trocken.
Also muss Schulz ran. Der SPD-Chef
HANS CHRISTIAN PLAMBECK / LAIF

zieht sich mit Dobrindt zurück, es geht


wieder um die Obergrenze und den Fami-
liennachzug. Einmal kommt Seehofer he-
rein und fragt: „Was macht ihr beiden denn
so lang?“ Schließlich stößt noch Merkel zu
der Gruppe.
Wie es weitergeht, darüber gibt es ver-
Sondierer Dobrindt: „Sie waren nicht dabei“ schiedene Darstellungen. Laut Union
schlägt Merkel vor, die Zahl der Familien-
für kein anderes Gebiet entwickelt er eine Als trotz intensiver Gespräche kein Kon- nachzügler mit den bis zu 1000 Migranten
ähnliche Leidenschaft. sens in Sicht ist, entscheidet man sich zu monatlich zu verrechnen, die Deutschland
Merkel und Seehofer haben im Prinzip einem ungewöhnlichen Schritt: Bouffier aus Griechenland und Italien freiwillig auf-
nichts dagegen, dass das erste Kapitel des wird beauftragt, ein Papier mit möglichen nimmt. Es ist eine symbolische Geste,
Sondierungspapiers Europa gewidmet ist. Kompromisslinien zu erarbeiten, über das denn im Zuge der sogenannten Relocation
Die Kanzlerin will nur verhindern, dass es sich dann die Partei- und Fraktionschefs kommen ohnehin nur wenige Flüchtlinge
allzu sehr ins Detail geht und ihr so die beugen sollen. Als Dobrindt am Donners- nach Deutschland. Schulz habe zuge-
Freiheit in der praktischen Politik raubt. tagmittag das Papier zu Gesicht bekommt, stimmt, heißt es in der Union. Auch dass
Aber die Zusagen, die schließlich in dem weist er es brüsk zurück. Die Arbeitsgrup- die Flüchtlinge zunächst Sachleistungen
Abschlusspapier fixiert werden, sind auch pe müsse noch einmal ran. statt Geld erhalten sollen und sich nur an
so weitgehend genug: Deutschland erklärt Dann nimmt die Angelegenheit eine in- einem bestimmten Ort aufhalten dürfen.
sich bereit, mehr Geld für Brüssel bereit- teressante Wendung. Die Mitglieder der Stegner dagegen wirft Scheuer später vor,
zustellen, es soll einen Topf für notleiden- Arbeitsgruppe treffen sich im Zimmer von er habe diese beiden Punkte entgegen den
de Mitgliedstaaten geben und mehr Ein- Parteichef Schulz im Willy-Brandt-Haus – Absprachen in das Papier geschmuggelt.
fluss für das EU-Parlament. aber nur zu fünft. Scheuer ist nicht dabei, Es ist ein ziemlich heftiger Vorwurf, weil
Viel schwieriger ist das Thema Migra- er soll ganz offensichtlich außen vor gelas- er Scheuer als Schummler dastehen lässt.
tion. Bald ist allen klar, dass es zum Knack- sen werden. Auch die übrigen Verhandler Schließlich einigt sich die Runde der
punkt der Sondierungen wird. Für die der Union sind von Scheuers Krawallton Chefs. Aber das ist noch nicht das Ende.
Union verhandeln Innenminister Thomas genervt. Herrmann, der CSU-Innenminis- Die Vereinbarung muss noch aufgeschrie-
de Maizière und der hessische Minister- ter aus Bayern, macht bei dem Spiel mit. ben werden. Seehofer wird später im Par-
präsident Volker Bouffier, für die CSU der Aber Scheuer erfährt von der Runde. teivorstand erzählen, er habe mit Merkel
bayerische Innenminister Joachim Herr- Als er dazustößt, haben die anderen be- zusammengesessen, als es draußen immer
mann und Generalsekretär Andreas Scheu- reits ein Papier erarbeitet. Unter dem lauter geworden sei. „Das waren die Herren
er. Schulz hat für die SPD Parteivize Ralf Punkt Familiennachzug ist darin von Dobrindt und Stegner vor der Tür.“ In der
Stegner benannt und Eva Högl, die stell- 15 000 bis 20 000 Personen jährlich die Rede Tat streiten die beiden lautstark darüber,
vertretende Fraktionschefin. – viel mehr, als die CSU zugestehen wollte. auf was man sich geeinigt habe. „Sie waren
Am Mittwochabend, nach tagelangen Stegner lässt das Dokument ausdrucken, gar nicht dabei“, schreit Dobrindt. Dann
Gesprächen, stellen die Experten fest, dass weist er einen Mitarbeiter an, genau aufzu-
sie an zwei Punkten nicht weiterkommen: passen, was da aufgeschrieben wird.
beim Familiennachzug für Flüchtlinge und „Was mir in den vergan- Es ist bei Weitem nicht der einzige Kon-
bei der Obergrenze, dem Steckenpferd der genen Stunden geboten flikt in der langen Nacht zum Freitag. Je
CSU. Die Union will eine Maximalzahl länger die Verhandlungen dauern, desto
von 200 000 Flüchtlingen pro Jahr in die wurde, das war schon klarer wird, dass es ein Fehler der SPD
Sondierungsvereinbarung schreiben und einmalig“, sagt Bouffier. war, nicht schon zu Anfang ein oder zwei
den Familiennachzug weiter aussetzen. unverhandelbare Pflöcke eingeschlagen zu
Die SPD lehnt das ab. haben. Schulz hat zwar einiges erreicht:
32 DER SPIEGEL 4 / 2018
Deutschland

eine Lebensleistungsrente über dem Ni- land kommen sollen. Die CSU beharrt auf könnte. Seehofer versucht zu beschwichti-
veau der Grundsicherung oder das Recht der Formulierung, die Zahl dürfe „nicht gen: „Volker, lass uns darüber doch noch
auf Ganztagsbetreuung von Grundschü- überschritten“ werden. Schulz lehnt das einmal in Ruhe sprechen.“
lern. Was fehlt, ist ein Symbolthema, ein vehement ab, weil es so aussieht, als hebe- Ob es etwas nützt? In Union und SPD
Punkt, der der Union Schmerzen bereitet. le man das Grundrecht auf Asyl aus. sind die Machtverhältnisse ins Rutschen ge-
Deshalb verlangt Schulz immer wieder Wenn die Passage nicht gestrichen wer- raten, das haben die Sondierungsgespräche
Nachbesserungen. Er will die sachgrund- de, „dann ist hier Schluss“, poltert Schulz. gezeigt. Dobrindt sieht sich als der kommen-
lose Befristung von Arbeitsverträgen be- „Dann ist eben Schluss“, erwidert Do- de Mann in der CSU in Berlin, auch deshalb
enden. Er fordert, den Spitzensteuersatz brindt. lässt er sich von Seehofer kaum noch etwas
anzuheben, wozu Merkel im Prinzip sogar Aber die Gemüter beruhigen sich schnell. sagen. In der SPD will Andrea Nahles nicht
bereit wäre. In der CDU kursieren Pläne, Niemand hat ein Interesse an Neuwahlen, länger die Nummer zwei sein, in der Union
die „Reichensteuer“ zu ändern, die die und so einigt man sich auf eine Formulie- wird mit einer gewissen Häme erzählt, dass
SPD im Jahr 2005 in der ersten Großen rung, die eigentlich unmöglich ist: Die drei man sich besser an sie und nicht an Schulz
Koalition unter Merkel durchgesetzt hat. Parteien begrenzen nicht die Zuwande- wendet, wenn man ein Anliegen in der Sa-
Peter Altmaier, der geschäftsführende Fi- rung auf 220 000, sondern sie „stellen fest“, che hat. Schulz, der Europapolitiker, sei doch
nanzminister, schlägt vor, den Reichensteu- dass dieser Wert nicht überschritten wird. eher der Mann der wolkigen Diplomatie.
ersatz von 45 Prozent schon ab einem Ein- Ganz so, als würde die Zahl von Zauber- Merkel wiederum musste sich in der lan-
kommen von etwa 210 000 Euro im Jahr hand erreicht. gen Verhandlungsnacht mit Jens Spahn he-

Hinter jedem erfolgreichen Trader


steht ein erfahrener Broker
Über 20 Jahre Erfahrung machen uns zu einem Pionier
des Online-Handels. Profitieren Sie davon!

Alle Trades ein Preis:

3,90 €*
* An deutschen Börsenplätzen sowie im außerbörslichen Handel (außer Eurex und CFD-Handel). Ggf. anfallende fremde Kosten und börsenplatzabhängige Entgelte sowie Telefon-, Fax- und
Briefzuschläge für die Ordererteilung werden zusätzlich berechnet. Nach Ablauf des Vergünstigungszeitraumes von 12 Monaten handeln Sie ab 9,90 Euro. Nur für comdirect Depotneukunden.
comdirect bank AG, Pascalkehre 15, 25451 Quickborn, info@comdirect.de

Jetzt lostraden auf www.comdirect.de/trading

greifen zu lassen – und nicht wie bisher Merkel ruft nun endlich die ganze Ver- rumschlagen, der immer mehr Spaß daran
erst ab rund 250 000 Euro. Dies wäre ein handlungsdelegation der Union zusammen, findet, sich als Rivale der Kanzlerin in Sze-
Ausgleich, sollte der Soli abgeschafft wer- damit alle über das endgültige Papier ab- ne zu setzen. Als die Union am Freitag-
den, den vor allem Besserverdiener zahlen. stimmen können. Es wird einstimmig ab- morgen Bilanz über das Verhandlungs-
Seehofer aber legt sein Veto ein, weil seine genommen. Doch Bouffier, der düpierte ergebnis zieht, sagt Spahn: „Das ist ja wie
Partei im Wahlkampf jede Form von Steu- hessische Ministerpräsident, meldet sich zu 2013 – nur mit mehr Geld und weniger
ererhöhungen ausgeschlossen hat. „Wenn, Wort und macht seinem Ärger Luft: „Also, Lust. Ich dachte, wir machen was Neues.“
dann bleiben wir sauber“, sagt er. ich habe ja viel erlebt und kenne unsere Merkel, so berichten es mehrere Unions-
Schulz versucht auch noch, das Renten- Freunde von der CSU aus vielen Verhand- leute, wirft Spahn einen vernichtenden
niveau bis zum Jahr 2030 festzuschreiben, lungen“, sagt er. „Aber was mir in den ver- Blick zu. Sie versagt sich aber eine Er-
das wiederum will Merkel nicht. Sie fürch- gangenen Stunden hier geboten wurde, das widerung. Später dann habe Merkel
tet, dass die Zusage unbezahlbar wird, soll- war schon einmalig. Man sieht sich immer in kleinem Kreis auf den Finanzstaats-
te es zu einer Wirtschaftskrise kommen. zweimal im Leben.“ sekretär und seinen Profilierungsdrang ge-
Am Ende einigt man sich auf das Jahr 2025. Bouffier muss den Anlass seines Zorns, schimpft.
Kurz vor Abschluss der Gespräche am die Eigenmächtigkeiten von Dobrindt und „Eigentlich müsstest du den morgen ins
frühen Freitagmorgen bricht noch einmal Scheuer, gar nicht erst mehr erwähnen. Wie Kanzleramt einbestellen, der müsste seine
der Streit um die Obergrenze aus. Für ei- sich die beiden CSU-Leute aufgeführt ha- Urkunde zurückgeben“, sagt einer aus der
nen Moment sieht es so aus, als könnte al- ben, hat sich längst herumgesprochen. Man- Runde zu Merkel. Gut möglich aber, dass
les platzen. Es geht um die Frage, mit wel- che Parteifreunde verstehen den empörten die Kanzlerin sich genötigt sieht, Spahn
cher Formulierung die Zahl von 180 000 Bouffier so, dass er, sollte es zu Koalitions- bald zum Minister zu befördern.
bis 220 000 Flüchtlingen eingeleitet wird, gesprächen kommen, nicht mehr als Ver- Melanie Amann, Veit Medick, Ralf Neukirch,
die künftig maximal jährlich nach Deutsch- handler der Union zur Verfügung stehen René Pfister

DER SPIEGEL 4 / 2018 33


Aber auch der Gast aus Ankara hatte
eine Wunschliste im Gepäck, ganz oben:
ein umstrittenes Rüstungsprojekt.
Die türkische Regierung möchte ihre
deutschen „Leopard 2“-Panzer aufrüsten.
Es geht um eine bessere Panzerung und
ein modernes Abwehrsystem gegen kleine
Raketen und Sprengfallen. Damit soll eine
HERMANN BREDEHORST / POLARIS / STUDIO X

Schwachstelle der alten Stahlkolosse be-


seitigt werden, wegen der die türkische
Armee im Krieg gegen den „Islamischen
Staat“ (IS) bereits mehrere Panzer und Sol-
daten verlor.
Schon seit geraumer Zeit sind die Tür-
ken über die Modernisierung ihrer Panzer
mit dem deutschen Rüstungskonzern
Rheinmetall im Gespräch. Doch ohne eine
Ausfuhrgenehmigung der Bundesregie-
rung darf Rheinmetall nicht liefern. Bislang
weigerte sich Berlin, ein derart großes Rüs-
tungsprojekt zu genehmigen. Denn das
würde nicht zu der härteren Gangart ge-
genüber Ankara passen, die Gabriel am
20. Juli vergangenen Jahres verkündet hat-
te. „Die großen Anträge, die die Türkei
an uns stellt, haben wir alle ‚on hold‘ ge-
stellt“, sagte der Außenminister noch im
September.
Hinzu kommt, dass die Bundesregierung
immer beteuert hat, sie werde sich auf
Tauschgeschäfte nicht einlassen. Die tür-
kische Seite allerdings hat in den Gesprä-
FLORIAN GAERTNER / DPA

chen deutlich gemacht, dass sie für die Frei-


lassung von Deniz Yücel eine Gegenleis-
tung erwartet. Beim Geheimbesuch von
Altkanzler Gerhard Schröder kurz nach
der Bundestagswahl hatte Staatspräsident
Demonstration gegen Panzerdeal in Berlin, Minister Gabriel, Çavuşoğlu: „Dostum Sigmar“ Recep Tayyip Erdoğan vorgeschlagen, dass
die Bundesrepublik mehrere türkische Ge-
neräle ausliefert, die seit dem gescheiterten
Putschversuch von der türkischen Justiz

Ein Preis, der nicht so heißt als Verschwörer gesucht werden. Erdoğan
gab damit indirekt zu, dass er die deut-
schen Staatsbürger als politische Geiseln
Außenpolitik In den Gesprächen über das Schicksal des betrachtet.
Die Bundesregierung will den Türken
inhaftierten Journalisten Deniz Yücel hat die Bundesregierung stets unmissverständlich klargemacht ha-
angeboten, türkische „Leopard“-Panzer aufzurüsten. ben, dass sie für einen „schmutzigen Han-
del“ nicht zur Verfügung stehe. Theore-

D
er Gast aus Ankara sollte sich In jüngster Zeit hatte Ankara erste Ent- tisch. In der Praxis wissen die Deutschen,
rundum wohlfühlen. Bevor Sig- spannungssignale in Richtung Berlin ge- dass die Freilassung von Yücel einen Preis
mar Gabriel kurz nach Neujahr sandt. Mehrere unschuldig inhaftierte hätte. Es mag kein direkter Deal werden,
seinen türkischen Amtskollegen Mevlüt Deutsche wurden freigelassen, darunter keine Übergabe von Gefangenen gegen
Çavuşoğlu im heimischen Wintergarten der Menschenrechtler Peter Steudtner und Geldkoffer. Aber: „Am Ende müssen beide
empfing, besorgte er in Goslar noch einen die Journalistin Meşale Tolu. Die Lösung Seiten den Weg zu einer Einigung pflas-
Çaydanlık, eine traditionelle türkische des schwierigsten Falls aber lässt weiter tern“, sagt ein Diplomat, „sonst kommt
Teekanne. auf sich warten: Deniz Yücel, Türkei-Kor- der Zug ins Stocken.“
Dass Çavuşoğlu seinen Gastgeber an- respondent der Zeitung „Die Welt“, sitzt Folglich passte es Berlin ganz gut, dass
schließend einen Freund nannte („Dostum seit fast elf Monaten ohne Anklage in Haft. Çavuşoğlu die „Leopard“-Panzer beim
Sigmar“), lag allerdings nicht nur daran, In Goslar, wo sich die beiden Außenmi- Hausbesuch in Goslar wieder ins Gespräch
dass Gabriel sogar den Tee eigenhändig nister erst unter vier Augen, später im Bei- brachte. Kurz darauf wies Gabriel sein
einschenkte. Vielmehr besprachen die Mi- sein von Beratern trafen, forderte Gabriel Amt an, das Thema bei der nächsten
nister in der Kleinstadt am Nordrand des erneut die Freilassung des deutsch-türki- Staatssekretärsrunde über Rüstungsge-
Harzes, welche Schritte beide Seiten un- schen Journalisten. Çavuşoğlu entgegnete, schäfte auf die Tagesordnung zu setzen
ternehmen könnten, um die schwere Ver- er sei persönlich auch unglücklich darüber, und wohlwollend zu prüfen.
trauenskrise in den deutsch-türkischen Be- dass sich in dem Fall noch immer nichts Offiziell will die Bundesregierung es so
ziehungen zu beenden. bewegt habe. aussehen lassen, als sei die Modernisierung
34 DER SPIEGEL 4 / 2018
Deutschland

der türkischen „Leopard“-Panzer eine „hu- genüber Bundeswehroffizieren sprachen Sekundenbruchteilen mit einer Spreng-
manitäre Verpflichtung“ gegenüber einem türkische Generäle sogar vom „Trauma ladung.
Nato-Verbündeten im Kampf gegen den von al-Bab“. Als weitere Gegenleistung auf dem Weg
IS. Dabei kämpft das türkische Militär in Was den türkischen Panzern fehlt, gibt zu einer Freilassung Yücels könnte sich die
Syrien schon lange nicht mehr gegen den es bei anderen „Leopard“-Panzern schon komplette Modernisierung der „Leopard
IS, sondern hauptsächlich gegen syrische länger serienmäßig. So installierte Rhein- 2“-Panzer anbieten, inklusive einer neuen
Kurden der YPG-Miliz. Und: Wenn die metall eine wesentlich dickere Boden- Bewaffnung. „Kampfwertsteigerung“ heißt
Lieferung so unproblematisch wäre, wie platte unter den Panzern, die vor der das im Industriedeutsch.
Gabriel vorgibt, hätte sie auch schon früher Wucht von Minen mit Hohlladungen Während die Türken in den Gesprächen
genehmigt werden können. Denn Rhein- schützen soll. immer wieder eine Verbindung zwischen
metall-Chef Armin Pappberger sprach Rüstungsgeschäften und dem Fall Yücel
bereits am 15. März 2017 im Bundeswirt- hergestellt haben, beteuert Gabriel, es
schaftsministerium vor. Berlin und Ankara sind sich gebe diese Verbindung nicht. Es wirkt, als
Spätestens seit dem Fiasko in Syrien im solle der Wahrheitsgehalt dieser Formel
Dezember 2016 gelten die 60 Tonnen einig, dass möglichst allein durch stetes Wiederholen steigen.
schweren Stahl-Ungetüme aus deutscher wenig von den Gesprächen Einig sind sich beide Regierungen, dass
Produktion als eine Achillesferse der tür- möglichst wenig von ihren Gesprächen an
kischen Armee. Damals hatte die 2. Pan-
nach draußen dringen soll. die Öffentlichkeit dringen soll. Diese
zerbrigade an der Operation „Schutzschild Strategie durchkreuzte am Mittwoch
Euphrat“ in Nordsyrien teilgenommen. Das entscheidende Upgrade wollen die ausgerechnet Deniz Yücel. Er wolle, teilte
Am Ende hatte die Brigade nach unbestä- Türken am Turm einbauen, dem dreh- der inhaftierte Korrespondent am Mitt-
tigten Angaben zehn „Leos“ durch Be- baren Geschütz der Kampfmaschine. Dort woch in einem Interview mit, seine
schuss von Panzerabwehrraketen und soll bei der modernen „Leopard“-Variante Freiheit nicht „mit Panzergeschäften von
selbst gebaute Sprengfallen verloren. Die ein sogenanntes Hard-Kill-System für Rheinmetall oder dem Treiben irgend-
Bilder der brennenden Panzer nutzte die einen Rundumblick sorgen: Mithilfe welcher anderen Waffenbrüder befleckt
Terrormiliz für ihre Propaganda. von Sensoren erkennt das System an- wissen“. In der Bundesregierung fürchten
Ernüchtert mussten die Militärs damals fliegende Panzerabwehrgeschosse und sie, dass Yücel sich durch diese Äußerung
feststellen, dass ihre Panzer für den Krieg täuscht sie dann, ähnlich wie bei sechs weitere Monate im Gefängnis ein-
gegen eine Guerilla-Armee nicht mehr Flugzeugen, mit Tarnkörpern, bringt sie gebrockt hat.
auf dem Stand der Technik waren. Ge- vom Kurs ab oder neutralisiert sie in Matthias Gebauer, Christoph Schult

Mehr im Blick

Mit Asset Finance und Asset Services.

Schneller Erfolgreiche und vielfältige Investitionslösungen


für jedes Objekt. Wir erfassen alle Dimensionen:

am Ziel. mehr-im-blick.com
Deutschland

Jagd auf „Iuventa“


Migranten Italienische Staatsanwälte beschlagnahmten das Rettungsschiff deutscher Aktivisten.
Halfen diese im Mittelmeer nicht nur Flüchtlingen, sondern auch deren Schleppern?

D
er Verdacht taucht zum ersten Mal Flüchtlingspolitik, immer im Fokus: das und setzten verdeckte Spitzel ein. Ein Auf-
am 10. September 2016 auf, etwa Mittelmeer. wand, als ginge es darum, ein global ope-
15 Meilen vor der libyschen Küste. Die Waffen in diesem Kampf sind scharf, rierendes Mafianetzwerk auszuheben. Ha-
Das Schiff „Iuventa“ des Berliner Vereins der Berliner Verein „Jugend rettet“ be- ben die jungen Helfer in ihrem Eifer, Gutes
„Jugend rettet“ ist auf dem Mittelmeer kommt es am 2. August vergangenen Jah- zu tun, tatsächlich Regeln gebrochen? Ar-
unterwegs. Die freiwilligen Helfer aus res zu spüren. Sizilianische Staatsanwälte beiteten sie mit kriminellen Schleppern zu-
Deutschland suchen nach überladenen beschlagnahmen die „Iuventa“. Ihr Vor- sammen? Oder waren sie nur ein leichtes
Schlauchbooten und Holzkähnen. Viele wurf: Beihilfe zur illegalen Migration. Opfer in diesem politischen Kampf?
Flüchtlinge haben sich an dem Tag auf den Monatelang haben Polizei, Küstenwa- Ein Novembertag auf Malta, die Sonne
Weg von Nordafrika nach Europa gemacht, che, die Finanzpolizei Guardia di Finanza ist gerade aufgegangen über dem Hafen-
bis zum Abend rettet die Besatzung der und sizilianische Staatsanwälte gegen die becken der Bezzina-Werft, wo viele Schiffe
„Iuventa“ 372 Menschen aus dem Wasser. Helfer aus Deutschland ermittelt, sie hör- der Nichtregierungsorganisationen (NGOs)
Auch die „Vos Hestia“ ist unterwegs, ein ten Telefonate ab, brachten Wanzen an ankern, die im Mittelmeer Flüchtlinge ret-
Schiff, das die Organisation Save the Chil- ten. Hunde liegen auf dem Asphalt im
dren für ihre Rettungseinsätze gechartert Schlaf, während auf Deck des Rettungs-
hat. Mit an Bord sind Vittorio Nuncio* und I TA L I E N schiffs „Lifeline“ eine Gruppe um eine
Paolo Pinelli*. Sie arbeiten für die italie-
Aufgespürte Sizilien Plastikpuppe herumsteht.
nische Firma IMI Security Service und Flüchtlingsboote Constantin Nestler, 33, drückt mit bei-
sollen das Schiff und seine Besatzung be- jeweils Januar bis 25. August den Händen kräftig auf die Brust des Tor-
schützen. Doch ihr Interesse gilt an diesem 2014 Quelle: Frontex 2016 sos, Lea Reisner, 28, zählt laut mit. Sie
Donnerstag nur der „Iuventa“. 2015 sind ein eingespieltes Team, der Arzt und
Pinelli blickt auf das Radargerät der „Vos 2016 die Gesundheitsökonomin, schon oft wa-
M A LTA
Hestia“. Ihm fällt auf, dass die „Iuventa“ ren sie gemeinsam unterwegs, um Leben
auffallend oft der libyschen Küste näher zu retten, zuletzt auf der „Iuventa“.
kommt. Als sich später die „Vos Hestia“ in Lampedusa (ITALIEN) Sie sind umringt von Feuerwehrmän-
der Nähe der „Iuventa“ befindet, glaubt M ittelm eer nern aus Spanien, von Ingenieuren, Elek-
Pinelli zu erkennen, wie ein schnelles trotechnikern und Studenten aus Deutsch-
Schlauchboot „mit zwei dunkelhäutigen land. An den Wänden hängen Anweisun-
Männern“ von der „Iuventa“ wegfährt. Er 100 km gen: Haltet das Schiff sauber, räumt eure
vermutet, dass es Schlepper sind, die Sachen weg. Die Szene erinnert an einen
soeben Flüchtlinge direkt auf das Schiff Klassenausflug, nicht unbedingt an das
gebracht haben. Am 24. Oktober 2016 be- Treffen einer kriminellen Vereinigung.
richten die beiden Männer dem italieni- Zwölf- Nestler hat zwei Jahre lang als angestell-
schen Auslandsgeheimdienst Aise von ih- Meilen- ter Arzt für die Berliner Charité gearbeitet,
rem ungeheuren Verdacht. Es ist der Tag, zone als die Klinik 2015 ein Hilfsprogramm star-
als die Jagd auf die „Iuventa“ beginnt. Anschluss- tete und Ärzte in deutsche Aufnahmeein-
Die Geschichte dieser Jagd steht für zone richtungen für Flüchtlinge schickte. Es ging
einen politischen Kampf, die Arena ist das um die Existenz der Ärmsten. „Das hat
Mittelmeer. Auf der einen Seite sind die- mich daran erinnert, warum ich das alles
jenigen, die Flüchtlinge in Seenot retten Sabrata Tripolis überhaupt studiert habe“, sagt Nestler. Er
und nach Italien bringen. Neben den Schif- LIBYEN unterbrach seine Facharztausbildung zum
fen von Marine und Küstenwache tummel- Anästhesisten, kündigte in der Klinik, lern-
ten sich in den vergangenen Jahren immer te einen Helfer von „Jugend rettet“ ken-
mehr privat organisierte Initiativen auf nen und heuerte dort an.
dem Wasser. Viele verbanden ihre huma- Auf dem Werftgelände in Malta haben
nitären Taten mit politischen Forderungen. sich viele Menschen mit solchen Biografien
Auf der anderen Seite stehen die, die versammelt. Da ist Theo, der in Dresden
verhindern wollen, dass Flüchtlinge nach eine Ausbildung zum Hotelfachmann ge-
Europa kommen. Im vergangenen Som- macht hat. Jetzt ist der 23-Jährige Camp-
mer schipperte sogar die rechtsextreme manager, rast mit einem VW-Bus durch die
„Identitäre Bewegung“ auf dem Meer, ihr Hauptstadt Valletta und organisiert alles,
ITALY PHOTO PRESS / IMAGO

Motto: „Europa verteidigen“. Die Tour was die Hilfsorganisation Mission Lifeline
war von Pannen begleitet, doch sie zeigte, für ihren nächsten Einsatz braucht: Wasser,
wie aufgeladen das Thema ist. Ersatzteile, Medikamente, Lebensmittel,
Dazwischen agiert die Politik. In Berlin, Rettungswesten. Da ist Francesco, der Ita-
in Rom, in Brüssel stritten deren Vertreter loamerikaner, der in New York in einem
erbittert über den richtigen Kurs in der Edelrestaurant gekocht hatte, bevor er nach
Konfiszierter Kutter von „Jugend rettet“ Europa übersiedelte, um für linke Ziele zu
* Namen geändert. Monatelang überwacht kämpfen. Da ist Lea Reisner, die Kranken-
36 DER SPIEGEL 4 / 2018
@SELENE.ENA.PHOTO
Gerettete an Bord der „Iuventa“ im Mai 2017: „Taxi-Service“ für Flüchtlinge?

schwester mit Ausbildung zur Gesundheits- neller agierte. Ein Dutzend NGOs war im Immigration beunruhige ihn. Der Druck
ökonomin aus Köln, die in Burma ein Kran- vergangenen Jahr mit Schiffen unterwegs, auf die Regierung in Rom wuchs. Noch im
kenhaus mitaufgebaut hatte und danach be- allein aus Deutschland kamen nach einer Sommer 2017 beklagte der italienische Au-
schloss, so lange ehrenamtlich zu helfen, Umfrage des SPIEGEL unter den NGOs ßenminister, sein Land fühle sich vom Rest
bis das Ersparte verbraucht ist. Sie sagt: mehr als 500 freiwillige Helfer. Ehrenamt- der Europäischen Union im Stich gelassen.
„Vielleicht kann man erst verstehen, was liche Piloten der Organisation Sea-Watch Es gibt noch einen anderen Rekord aus
wir da machen, wenn man selbst gesehen überflogen mehrmals in der Woche mit dem Jahr 2016: Knapp 5000 Flüchtlinge er-
hat, wie ein Mensch ertrinkt.“ einem Kleinflugzeug das Mittelmeer, um tranken auf ihrer Flucht. Dass es nicht
Helfen ist für die jungen Menschen zur die Rettungsschiffe schneller zu den Flücht- noch mehr waren, lag an den freiwilligen
Lebensaufgabe geworden, sie selbst brau- lingen zu dirigieren. Je besser die Einsätze Helfern. Fast jeder vierte Bootsflüchtling
chen nicht viel. Ein Stockbett in der Unter- organisiert wurden, desto mehr Menschen wurde laut einem Bericht des Maritimen
kunft, eine Koje auf dem Boot, Essen, Trin- wurden nach Europa gebracht. Zum Miss- Rettungskoordinationszentrums (MRCC)
ken und Tabak zum Selberdrehen. Manche fallen derjenigen, die Flüchtlinge nicht in Rom von den Ehrenamtlichen gerettet.
haben ihre Wohnung in Deutschland aufge- mehr aufnehmen wollen. Insgesamt waren es 47 000 Menschen, mehr
geben, manche sind nicht krankenversichert. Knapp zwei Monate nachdem die beiden als die Marine aus dem Wasser zog, mehr
Sie sind Idealisten, wie auch die Gründer Sicherheitsmänner dem italienischen Ge- als die Küstenwache oder die Handelsschif-
von „Jugend rettet“, eine Studentin und ein heimdienst ihre Beobachtungen geschildert fe. Die NGOs wurden zu den wichtigsten
Abiturient. Als sie im Sommer 2015 mit dem haben, wird der Verdacht in der britischen Lebensrettern im Mittelmeer.
Aufbau des Vereins begannen, sprach man „Financial Times“ erstmals öffentlich geäu- In einem von Frontex im Februar 2017
in Deutschland noch von einer Willkom- ßert: Kriminelle Schleusernetzwerke bräch- veröffentlichten Bericht stellen die Auto-
menskultur für Flüchtlinge und nicht von ten Migranten direkt auf NGO-Schiffe. Der ren fest, dass die NGOs im Mittelmeer im-
Obergrenzen. Da schockierte das Bild des Artikel vom 15. Dezember 2016 beruft sich mer mehr Rettungsaktionen „unmittelbar
toten Flüchtlingsjungen am Strand von Bo- auf einen vertraulichen Bericht der euro- in der Nähe, gelegentlich auch innerhalb
drum, bevor die Zahl der Toten im Meer zur päischen Grenzschutzagentur Frontex, der Zwölf-Meilen-Zone“ starteten. Inner-
Routinemeldung in den Nachrichten wurde. nennt aber weder Namen noch Belege. Im halb dieser Zone hat der jeweilige An-
Die Berliner fanden prominente Fürspre- italienischen Abgeordnetenhaus verbreiten rainerstaat das Hoheitsrecht, in diesem
cher für ihr Projekt, wie Maria Furtwängler rechte Politiker das Gerücht, die freiwilli- Fall Libyen, außerhalb, in den internatio-
oder Jan Josef Liefers, und Sponsoren wie gen Helfer wären wie ein „Taxi-Service“ nalen Gewässern, können Rettungsschiffe
ein Berliner Architekturbüro, das ihnen für Flüchtlinge. frei kreuzen. Allerdings müssen sie nach
2016 die „Iuventa“ finanzierte, einen 33 Italien hatte zuletzt neben Griechenland internationalem Seerecht überall Men-
Meter langen Fischkutter. Regelmäßige die Hauptlast der Flüchtlingswelle zu tra- schen vor dem Ertrinken retten, sei es
Spender ermöglichten die Einsätze, die je- gen. Im Jahr 2016 kamen 181 000 Menschen außerhalb oder innerhalb der Zone.
den Monat rund 40 000 Euro kosteten. über die zentrale Mittelmeerroute hierher, Die Rettungsaktionen aber haben sich
„Jugend rettet“ wurde Teil eines Netz- so viele wie noch nie. In einer Umfrage seit 2012 immer mehr nach Süden verlagert.
werks aus Helfern, das immer professio- sagte mehr als jeder dritte Italiener, die Viel weiter kommen die Flüchtlinge auch
DER SPIEGEL 4 / 2018 37
Deutschland

nicht: Die libyschen Schlepper Es ist umstritten, wie poli-


setzen billigere Schlauchboote tisch Organisationen sein dür-
ein, denen oft schon nach weni- fen, deren Ziel es ist, Leben zu
gen Meilen die Luft ausgeht. Sie retten. Da gibt es die, die auf
verlassen sich darauf, dass die Neutralität setzen. Und andere,
Helfer schon rechtzeitig kom- die ihre ehrenamtliche Tätigkeit
men. Und die Helfer kommen als politischen Aktivismus ver-
oft. stehen. Die deutschen Helfer
Alle, die an der Rettung der tendieren zu Zweitem. „Fähren
Menschen beteiligt seien, heißt statt Frontex“, liest man oft auf

PAOLO GRECA
es in dem Bericht, spielten den Facebook-Seiten ihrer Or-
unbeabsichtigt den Verbrechern Kontrollraum der italienischen Küstenwache ganisationen. Es ist die Forde-
in die Hände. Von einer bewuss- rung, die Einreise von Flücht-
ten Zusammenarbeit zwischen lingen zu legalisieren.
Schleusern und Helfern ist aber Auch „Jugend rettet“ ist poli-
nicht die Rede. tisch und benennt seine Missio-
Doch einigen Politikern reicht nen nach Protagonisten einer
der bloße Verdacht. Sebastian restriktiven Flüchtlingspolitik,
Kurz, heute Kanzler in Wien, zu Mission Leggeri etwa, nach dem
dem Zeitpunkt noch österrei- Chef von Frontex, Fabrice Leg-
chischer Außenminister, fordert, geri. Oder Mission de Maizière,
„den NGO-Wahnsinn“ im Mittel- nach dem Bundesinnenminister.
meer zu beenden. In Italien soll In einem offenen Brief an den
Carmelo Zuccaro, Leiter der CDU-Politiker schreiben die
Staatsanwaltschaft von Catania, Aktivisten: „Der Status quo der
dem Parlament am 9. Mai Bewei- europäischen Asylpolitik steht
se für eine Zusammenarbeit der unseren Vorstellungen europäi-
Helfer mit den Kriminellen vor- scher Werte und Ideale ent-
legen. gegen.“ Auf Facebook fordern
Aber er liefert nur „Verdachts- sie eine „staatlich organisierte

FOTOS: JUGEND RETTET


momente“ und „Ermittlungshy- Seenotrettung“.
pothesen“. Niemals seien NGOs Vermutlich ist nicht nur die
„Gegenstand von Ermittlungen politische Haltung der Deut-
der Staatsanwaltschaft von Ca- schen Grund für die Wut des
tania“ gewesen, versichert er. Italieners. „Jugend rettet“ hatte
Da sind die Ermittlungen seiner Motordiebe bei „Iuventa“-Einsatz im Juni 2017 sich im Streit von ihm getrennt,
Kollegen in Trapani schon voll „Anormale Vorkommnisse“ nachdem er den Klinikraum auf
im Gange. der „Iuventa“ nicht nach den
Dass irgendetwas nicht stimmt, be- Einer der Helfer schreibt „Fuck MRCC“ Standards der deutschen Ärzte ausgestat-
merken die Helfer der „Iuventa“ auf ihrer auf ein Papier und lässt es auf der Brücke tet hatte.
elften Mission im Frühjahr 2017. Der Ton liegen. Das Schild wird später in den Er- Die italienischen Ermittler überwachen
in den E-Mails und Gesprächen über mittlungsakten erwähnt, die sizilianischen die Berliner NGO von nun an rund um
Satellitentelefon mit dem MRCC ist ge- Staatsanwälte erfahren davon aus einem die Uhr. Am 19. Mai, die „Iuventa“ ist auf
reizt. Die staatliche Leitstelle in Rom ist abgehörten Telefonat. Sie überwachen das ihrer zwölften Mission unterwegs, heuert
für die Seenotrettung im westlichen und Handy eines jungen Mediziners aus Pisa. Francesco Conti* auf der „Vos Hestia“ an,
zentralen Mittelmeer zuständig. Sie ko- Mario Grazia* engagiert sich bei der dem Schiff von Save the Children. Er ist
ordiniert auch die Einsätze der NGOs. italienischen Hilfsorganisation Rainbow kein gewöhnlicher Sicherheitsmann, son-
Bislang war die Kommunikation fast for Africa. Er kennt die Aktivisten von dern ein verdeckter Polizeiagent. Conti
freundschaftlich. „Jugend rettet“ gut. Und sie gehen ihm ge- soll unauffällig die Beweise gegen „Jugend
Am 6. Mai nimmt die „Iuventa“ 75 hörig auf den Geist. rettet“ liefern, die der Staatsanwaltschaft
Flüchtlinge an Bord. Das MRCC ordnet Als er von dem Papier mit der Aufschrift noch immer nicht vorliegen.
an, sie nach Lampedusa, der größten der erfährt, sagt er in einem Telefonat mit Conti macht von der „Vos Hestia“ aus
Pelagischen Inseln, zu bringen. Die Helfer einem Kollegen von Ärzte ohne Grenzen: viele Fotos, die zumindest belegen, dass
auf der „Iuventa“ sind irritiert. Bislang ha- „Wäre ich an Bord gewesen, hätte ich sie sich die Retter der „Iuventa“ und die
ben sie die Flüchtlinge an größere Schiffe mit einem Tritt in den Hintern über Bord Schleuser oft gefährlich nahe kommen. Am
übergeben, Handelsschiffe, Militärschiffe befördert und hätte sie in den Hafen 18. Juni fotografiert er, wie ein Rettungs-
oder die Schiffe der großen NGOs. Auch schwimmen lassen.“ Die „ragazzini tede- schlauchboot der „Iuventa“ eine leere Holz-
diesmal wollen sie im Rettungsgebiet blei- schi“, die deutschen Jüngelchen, seien be- barke mutmaßlich in Richtung libysche Küs-
ben. Es herrscht gutes Wetter, viele Flücht- ratungsresistent, unbelehrbar und hätten te schleppt. Zuvor sind darin Flüchtlinge
linge sind auf dem Weg. Doch die Rettungs- keinerlei Gefühl für die vertrackte Lage gewesen, die sich nun auf der „Iuventa“ be-
stelle bleibt hart. In Großbuchstaben ord- Italiens in der Flüchtlingsfrage. „Denen ist finden. Das leere Boot, vermutet der Agent,
net sie an, nach Lampedusa zu fahren. der Unterschied zwischen einer humani- solle wieder den Schleusern übergeben wer-
Die Retter sind frustriert, erst später wer- tären Mission und einer politischen Kam- den. „Am Horizont tauchten weitere Boote
den sie den Grund für den Befehl erfahren: pagne nicht klar.“ Grazia wird zu einem auf, offensichtlich solche, die von Schleu-
Die italienischen Ermittler wollen Wanzen wichtigen Zeugen der Ankläger. Und zu sern benutzt werden“, notiert er.
anbringen, vermutlich deshalb muss das einem, der offenbart, wie zerrissen die Sze- Vier Stunden später wird der Agent noch-
Schiff nach Italien. ne der Helfer bisweilen ist. mals Zeuge von „anormalen Vorkommnis-
38 DER SPIEGEL 4 / 2018
sen“, wie er sie in seinem Bericht lerweise würden sie nach der
nennt. Wieder drückt er den Aus- Rettung die Holzkähne verbren-
löser seiner Kamera. Das Foto nen und die Schlauchboote zer-
zeigt, wie zwei Männer in einem stechen, damit die Schlepper sie
Boot den Außenbordmotor eines nicht wiederverwenden können.
Schlauchboots abmontieren, in An diesem Tag aber habe es zu
dem sich noch Flüchtlinge auf- viele Notrufe gegeben. „Die
halten, die gerade von den Hel- Rettung von Menschen zählt
fern der „Iuventa“ gerettet wer- mehr als die Zerstörung eines
den. Die Motordiebe fuchteln mit Bootes“, sagt Lea Reisner.
den Armen, die Ermittler deuten Es ist nicht so, dass den Hel-
die Geste als Gruß an die Helfer. fern das Dilemma nicht bewusst
Im Juni 2017 wird Paolo Pinel- wäre. Natürlich würden die
li, der Mitarbeiter des IMI Secu- Schlepper ihre Bereitschaft zu
rity Service, nochmals vernom- retten missbrauchen, sagt Lea
men. Er sagt aus, die Helfer der Reisner, natürlich seien sie
„Iuventa“ würden die leeren selbst Teil eines Systems, in dem
Boote der Flüchtlinge nicht zer- Kriminelle mitspielten. Sie hätte
stören, wie es üblich ist, sondern es lieber, wenn das Problem an-
zu anderen Booten zurückbrin- ders gelöst würde. Sie als linke
gen. Es sind Aussagen, die dem Spinner, Gutmenschen und Kol-
Staatsanwalt fehlten, um gegen laborateure der Kriminellen ab-
„Jugend rettet“ tätig zu werden. zutun, mache sie aber wütend.
Der Druck aus der Politik ist „Wir haben die Situation
hoch. Im Juli 2017 bestellt Ita- nicht geschaffen, dass Tausende
liens Innenminister Marco Min- im Mittelmeer ertrinken muss-
niti Vertreter mehrerer NGOs ten“, sagt Constantin Nestler,
in seinen Amtssitz. Dort präsen- der Arzt. „Wir sind erst gekom-
tiert er einen Kodex, den die men, als die Ersten starben.“ Er

JOSEPH L. HALL / DER SPIEGEL


Helfer unterzeichnen sollen, fragt sich, was die Alternative
wenn sie weiterhin mit Flücht- sein soll. „Zigtausende ertrin-
lingen an Bord italienische Hä- ken lassen, damit die Botschaft
fen anlaufen wollen. bis nach Afrika gelangt und sich
Die Organisationen müssen keiner mehr traut?“ Das Kalkül
sich verpflichten, künftig nicht der Behörden sei zynisch. Aber
mehr in libyschen Hoheitsge- Ehrenamtliche Helfer Reisner, Nestler offenbar geht es auf.
wässern zu kreuzen. Aus Seenot „Tausende mussten ertrinken“ Leonardo Marino hat seine
gerettete Flüchtlinge sollen die kleine Anwaltskanzlei in Agri-
NGOs nicht länger an größere Schiffe über- ordert, fünf Boote der Küstenwache eskor- gent, an der Südküste Siziliens. Er ist der
geben, sondern selbst nach Italien bringen. tieren sie in den Hafen. Die Staatsanwalt- italienische Rechtsbeistand von „Jugend
Außerdem müssen sie jederzeit zulassen, schaft lässt das Schiff beschlagnahmen und rettet“ und hat Klage gegen die Beschlag-
dass bewaffnete Polizisten mitfahren. Bis nach Trapani bringen. Unter der Aufsicht nahme vor dem Kassationsgericht in Rom
Ende Juli sollen die NGOs unterschreiben. der Polizeibeamten dürfen die Helfer ihre eingelegt. Demnächst soll dort eine Anhö-
Die Helfer protestieren. Ärzte ohne persönlichen Sachen von Bord nehmen. rung stattfinden. Die Chancen sind nicht
Grenzen, eine der mächtigsten Organisa- Die Aktivisten von „Jugend rettet“ le- groß, das weiß auch Marino. „Es ist eben
tionen, verweigert die Unterschrift. Zu ih- gen Beschwerde gegen die Beschlagnahme Politik.“
ren Prinzipien gehört es, ohne bewaffnete ein, ein Gericht lehnt sie später ab. Dem „Jugend rettet“ ist ohne Schiff handlungs-
Kräfte in Krisengebieten zu operieren. SPIEGEL präsentieren sie Logbuch-Ein- unfähig. Viele Helfer engagieren sich nun
Auch „Jugend rettet“ weist den Kodex zu- träge, E-Mail-Konversationen mit dem in anderen NGOs. Die Spenden sind seit
rück. Die Verpflichtung, alle Flüchtlinge MRCC und Fotos. Die Belege lassen an dem Vorfall zurückgegangen, vor allem die
selbst nach Italien bringen zu müssen, se- den Behauptungen der italienischen Behör- Großspenden. Auch andere Organisatio-
hen die Berliner als Versuch, die kleinen den erhebliche Zweifel aufkommen. nen wie SOS Méditerranée oder Sea-Watch
NGOs handlungsunfähig zu machen. So wurden auf Fotos des verdeckten berichten von zeitweilig „deutlichen“ und
Sie verweisen auf ein Gutachten der Wis- Ermittlers Rettungsboote „Jugend rettet“ „wahrnehmbaren“ Rückgängen.
senschaftlichen Dienste des Bundestags, zugeschrieben, die tatsächlich anderen Die jungen Aktivisten müssen ihre An-
das den italienischen Kodex als nicht bin- Organisationen gehören. Die Helfer wider- wälte bezahlen und fürchten, dass die Be-
dend ansieht. Über allem stehe das Völker- sprechen auch dem Verdacht, sie würden hörden ihnen auch die Liegegebühr für die
recht und die Verpflichtung, einem Schiff mit Schleppern kooperieren. Die sogenann- beschlagnahmte „Iuventa“ in Rechnung
in Seenot zu helfen, heißt es da. Ein Fall ten Engine Fishers, die von den Flüchtlings- stellen könnten. Irgendwann könnte die
von Seenot bestehe dann, wenn man davon booten die Außenbordmotoren abschrau- NGO dann auch zahlungsunfähig sein.
ausgehen könne, „dass ein Schiff und die ben, seien jeden Tag unterwegs, die NGOs Auf dem Mittelmeer begann das neue
auf ihm befindlichen Personen ohne Hilfe seien machtlos gegen sie. Jahr mit einer Tragödie. Am ersten Wo-
von außen nicht in Sicherheit gelangen kön- Auch für jenes Foto, das zeigt, wie die chenende starben 66 Flüchtlinge, nachdem
nen und auf See verloren gehen“. Helfer ein leeres Holzboot hinter sich her ihre Boote in Seenot geraten waren. Dies-
Zufall oder nicht, nur einen Tag nach ziehen, haben sie eine Erklärung: Sie hät- mal waren nicht genügend Retter da.
Ablauf des Ultimatums wird die „Iuventa“ ten es nur zur Seite gezogen, damit es die Maria-Mercedes Hering, Martin Knobbe,
vom MRCC wieder nach Lampedusa be- Rettungsaktion nicht behindere. Norma- Andreas Wassermann

DER SPIEGEL 4 / 2018 39


„Sie arrangieren Treffen mit Gott“
SPIEGEL-Gespräch Der Mossad-Experte Ronen Bergman über die Methode der gezielten Tötungen,
deutsche Opfer und einen für Israel verhängnisvollen Irrglauben

AP
UPI / PICTURE-ALLIANCE / DPA
AFP

Palästinensischer Terrorist in München 1972, Mossad-Agenten in Dubai 2010, erschossener PLO-Repräsentant in Rom 1972

40 DER SPIEGEL 4 / 2018


Deutschland

Bergman, 45, ist Chefkorrespondent für Mili- den hatte, sollte wissen: Der Mossad, also effektiv zu sein. Ihr Buch liest sich stre-
tär- und Geheimdienstthemen bei der israe- der Auslandsgeheimdienst, wird ihn jagen, ckenweise wie eine Entmystifizierung.
lischen Tageszeitung „Yedioth Ahronoth“. Er koste es, was es wolle und wie lange es Bergman: Nun, insgesamt betrachtet halte
studierte Jura, arbeitete für den israelischen auch dauern möge, bis zu dessen Tod. ich den israelischen Geheimdienstapparat
Generalstaatsanwalt und promovierte in SPIEGEL: Aber wie kann es sein, dass in ei- für einen der besten, wenn nicht den bes-
Geschichte an der Universität Cambridge mit nem demokratischen Land zwei Rechtssys- ten der Welt. Es gab dennoch eine Menge
einer Arbeit über den Mossad. teme nebeneinander herrschen? Eines fürs katastrophaler Fehler, bis zum Tiefpunkt
Volk, in dem Mord als Verbrechen gesühnt Mitte der Neunzigerjahre, als die Dienste
SPIEGEL: Herr Bergman, in Ihrem Buch über wird. Und eines für Geheimdienste und neue Bedrohungen wie Iran und die Ha-
die israelischen Geheimdienste beschreiben Militär, die auf politische Weisung über mas schlicht nicht auf dem Schirm hatten.
Sie deren gezielte Tötungsaktionen über Leben und Tod entscheiden. Aber im Großen und Ganzen waren sie
einen Zeitraum von mehr als 50 Jahren. Bergman: Viele Jahrzehnte lang gab es kei- äußerst effizient, und das ist die wahre Ka-
Wie viele Menschen wurden umgebracht? ne Gesetze, die Aufgaben und Rechte der tastrophe für Israel.
Bergman: Alles in allem reden wir SPIEGEL: Inwiefern?
über mindestens 3000, darunter Bergman: Weil die politische Füh-
nicht nur die Zielpersonen, son- rung in dem Glauben bestärkt
dern auch viele Unschuldige, die wurde, die Geheimdienste könn-
zur falschen Zeit am falschen Ort ten mit Gewalt alle Probleme
waren. Allein während der zwei- lösen. Aus meiner Sicht ist es des-
ten Intifada gab es Tage, an denen halb eine Geschichte vieler klei-
in der Befehlszentrale vier bis ner taktischer Erfolge – aber ei-
fünf „gezielte Tötungen“ angeord- nes unglaublichen strategischen
net wurden, in der Regel gegen Versagens. Weil dieser Irrglaube
Hamas-Aktivisten. den Weg für politische und diplo-
SPIEGEL: Wie kam Israel dazu, poli- matische Lösungen verstellte.
tische Konflikte auf diese blutige SPIEGEL: In Ihrem Buch trifft man
und rechtlich umstrittene Weise auf große Politikernamen, die in
lösen zu wollen? jungen Jahren in viele Geheim-
Bergman: Einige der frühen Zionis- operationen eingebunden waren:
ten waren desillusionierte Revolu- Yitzhak Shamir, Ehud Barak,
tionäre aus Russland. Sie hatten Benjamin Netanyahu …
das Konzept der politischen Morde Bergman: Das ist in Israel einzig-
aus ihrer Heimat mitgebracht und artig: Sehr junge Leute kamen
gründeten 1907 die erste bewaff- mit ihren jeweiligen Chefs zum
nete zionistische Einheit in Jaffa. Premierminister, um sich Tötungs-
Ein anderes Motiv war natürlich missionen genehmigen zu lassen.
der Holocaust. Die Lehre daraus Manche von ihnen saßen dann
war, dass wir ein eigenes Land als Jahrzehnte später selbst in die-
Schutzraum für Juden brauchen sem Stuhl. Ehud Barak kom-
und dieses Land gegen zahlreiche mandierte die Einheit, die den
JÖRG MÜLLER / DER SPIEGEL

Feinde verteidigen müssen – mit Fatah-Führer Abu Dschihad in


allen Mitteln. Und jeder dieser Tunis tötete. Einer der beteilig-
Feinde wurde mit Hitler gleichge- ten Agenten, Moshe Ya’alon,
setzt: Nasser, Arafat, Saddam Hus- wurde später Stabschef, Vertei-
sein, Ahmadinejad. Gegen solche digungsminister und Vizepre-
Leute galt es als legitim, sich über mier. Das hat natürlich Auswir-
alle internationalen Normen und Autor Bergman kungen. Es sorgt mit dafür, dass
Gesetze zu stellen. Das ist die Geis- „Taktische Erfolge, strategisches Versagen“ die Strategie des Tötens überlebt.
teshaltung, bis heute. Es trägt zur Überzeugung bei,
SPIEGEL: Warum aber diese Fokussierung israelischen Geheimdienste bestimmten. dass es legitime und notwendige Maß-
auf gezielte Tötungen? Bis in die Siebzigerjahre war es sogar ver- nahmen sind, um die Sicherheit Israels zu
Bergman: Für Israels Staatsgründer David boten, die Existenz des Mossad öffentlich gewährleisten.
Ben-Gurion war Krieg das allerletzte Mit- zu machen. Seit 2002 ist die Rolle des In- SPIEGEL: Was waren aus Ihrer Sicht die
tel, eine Dauermobilisierung der Streitkräf- landsdienstes Schin Bet definiert, während größten Pannen der Dienste?
te konnte sich das junge, kleine Land nicht der Mossad weiterhin ohne rechtlichen Bergman: 1973 sollte im norwegischen Lil-
leisten. Um Kriege zu verhindern oder he- Rahmen tätig ist. lehammer ein Führungsmitglied der Ter-
rauszuzögern, baute er von Juni 1948 an, SPIEGEL: Und Israels Bürger finden das in rororganisation „Schwarzer September“
also weniger als einen Monat nachdem Is- Ordnung? eliminiert werden. Aufgrund einer Ver-
rael seine Unabhängigkeit erklärt hatte, Bergman: In den ersten Jahrzehnten waren wechslung erwischte man einen unschul-
machtvolle Geheimdienste auf. Sie sollten die Operationen ein großes Staatsgeheim- digen Kellner. 1997 hatte der gescheiterte
vor drohenden Kriegen warnen, Informa- nis, nie wurde etwas zugegeben. Sie gerie- Giftmordanschlag auf den politischen Chef
tionen über das feindliche Militär beschaf- ten nicht in den Blick der Öffentlichkeit. der Hamas, Khaled Meshal, in Amman fa-
fen und durch geheime Kommandoopera- Später haben es die Bürger, auch die Me- tale Folgen: Die israelischen Agenten wur-
tionen weit hinter den feindlichen Linien dien akzeptiert – weil es zur Wahrung der den verhaftet und später gegen Scheich
das Kriegsrisiko mindern – durch Sabotage nationalen Sicherheit nötig sei. Jassin ausgetauscht, den Anstifter vieler
und eben durch das Töten zentraler Ak- SPIEGEL: Der Mossad genießt international Terroraktionen der Hamas. Und natürlich
teure. Jeder, der jüdisches Blut an den Hän- den Ruf, bestens informiert und äußerst das Debakel in Dubai Anfang 2010, als der
DER SPIEGEL 4 / 2018 41
Operation „Vitamin C“
Geheimdienste 55 Jahre nach dem Verschwinden eines Münchner Geschäftsmanns erfahren
seine Kinder, wo er starb – und wer seinen Tod befahl.
PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL

Nachkommen Kaj Krug, Beate Soller, Fotos von Vater Heinz Krug: Ein Leben in Ungewissheit

A
n den Abschied können sie sich dem SPIEGEL und „Report München“. der Polizei in die Schule eskortiert. Ihre
gut erinnern. Es war der 11. Sep- Zusammen mit seiner Schwester hat er Mutter, erinnern sich die Geschwister,
tember 1962, der Vater versprach über Jahrzehnte selbst versucht heraus- habe schon am ersten Abend bange Vor-
ihnen und der Mutter, am Abend recht- zufinden, was seinem Vater widerfah- ahnungen gehabt. Auch ihr Vater habe
zeitig zu Hause zu sein. Es sollte Pfiffer- ren ist – nachdem eine Großfahndung Vorsicht walten lassen, sagt Kaj Krug:
linge geben, sein Leibgericht. Doch der der Münchner Polizei und Ermittlungen Bevor er in seinen brandneuen Merce-
Geschäftsmann Heinz Krug kehrte nicht der örtlichen Staatsanwaltschaft im San- des 300 SE stieg, sei er stets inspizie-
zur Familie zurück. Nicht an jenem Spät- de verlaufen waren. rend um das Auto gegangen.
sommerabend, nie mehr. Gemeinsam haben die Geschwister Heinz Krug, ein studierter Jurist und
Mehr als 55 Jahre später sitzen seine sogar ein Buchmanuskript über ihre passionierter Flieger, war in München
Tochter Beate Soller, 70, und ihr vier Spurensuche und all die widersprüch- Geschäftsführer einer Handelsgesell-
Jahre jüngerer Bruder Kaj im Wohnzim- lichen Versionen verfasst, mit denen sie schaft namens Intra und der United
mer und sehen vorab Ausschnitte einer über die Jahrzehnte konfrontiert wur- Arab Airlines. Zuvor hatte er die Ge-
Fernsehdokumentation. Ehemalige Mos- den: Mal sei ihr Vater nach Ägypten schäfte des Forschungsinstituts für Phy-
sad-Agenten sprechen darin erstmals verschleppt worden, mal habe er irgend- sik der Strahlantriebe geleitet, an dem
öffentlich darüber, was mit Heinz Krug wo unbehelligt unter falschem Namen damals führende Luft- und Raumfahrt-
geschehen ist. gelebt. 2016 sorgte eine Geschichte für experten wie Eugen Sänger, Paul Goer-
Der Film beruht auf Recherchen des Furore, wonach Krug vom ehemaligen cke und Wolfgang Pilz wirkten.
israelischen Geheimdienstexperten SS-Obersturmbannführer Otto Skorze- Um 1960 hatten die Forscher und der
Ronen Bergman, der den Vorgängen ny in einem Wald bei München erschos- umtriebige Krug einen Auftrag aus dem
rund um Krugs Verschwinden ein Kapi- sen und in Säure aufgelöst worden sei, Ausland angenommen. Sie sollten für
tel seines neuen Buchs widmet. Dem- im Auftrag des Mossad. den ägyptischen Staatspräsidenten Ga-
nach war der Vater von Beate und Kaj In ihrem Manuskript schreiben die mal Abdel Nasser Raketen entwickeln.
in die Mühlen der Weltpolitik geraten. Geschwister, sie würden wohl nie Krug sorgte über die Intra für das not-
Wie in einem Agententhriller wurde er mehr erfahren, was genau geschah. Die wendige Material und mit der Fluglinie
am helllichten Tag aus München ent- Recherchen von Bergman ermöglichen für dessen Transport nach Ägypten. In
führt, in Israel monatelang verhört und ihnen nun womöglich ein eigenes, der Fernsehdokumentation sagt Klaus
dann erschossen – auf direkten Befehl persönliches Schlusskapitel. Fehrer, damals ein junger Mitarbeiter
des damaligen Mossad-Chefs Isser Schon früh war klar, dass es sich nicht dieser einträglichen Entwicklungshilfe,
Harel, der das Kidnapping persönlich um einen herkömmlichen Vermissten- er sei davon ausgegangen, an einer Sa-
leitete und überwachte. fall handeln konnte. In der Münchner telliten-Trägerrakete zu arbeiten. Der
„Wir würden uns wünschen, dass Wohnung der Familie tummelten sich Sohn von Eugen Sänger räumt ein, sei-
Israel uns das bestätigen würde“, sagt neben der Polizei bald Vertreter deut- nem Vater sei wohl bewusst gewesen,
Kaj Krug, ungläubig und aufgewühlt, scher Nachrichtendienste. Krugs Kinder, dass Nasser auch militärische Einsatz-
nach dem Ende des Films gegenüber damals 14 und 10 Jahre alt, wurden von zwecke vorschwebten.

42 DER SPIEGEL 4 / 2018


Deutschland

Spätestens seit Juli 1962 bestand Früchte“, heißt es in dem Mossad-Do-


daran kein Zweifel mehr. Nur Tage kument. Auch Krugs Adressbuch mit
nach einem erfolgreichen Test von vier Angaben zu beteiligten Wissenschaft- Mossad einen Hamas-Mann in einem Flug-
Raketen ließ der begeisterte Staats- lern und Firmen habe sich als wertvolle hafenhotel umbrachte, die Agenten in der
präsident bei einer Militärparade die Quelle entpuppt. Lobby und auf den Fluren aber gefilmt
neuen Waffensysteme vorführen, Das weitere Schicksal Krugs schilder- und öffentlich der Lächerlichkeit preis-
dekoriert mit ägyptischen Fahnen. Die ten ehemalige, teils hochrangige Mos- gegeben wurden.
Botschaft war klar: Hiermit können sad-Leute dem Buchautor. Demnach SPIEGEL: Wieso konnte es zu solchen Plei-
wir Ziele in Israel angreifen. hatte Krug in israelischer Haft angebo- ten kommen?
Dort brach Panik aus. Der Mossad ten, von München aus für den Mossad Bergman: In diesen Fällen spielte Hybris
hatte Nassers Raketenpläne nicht auf zu arbeiten. Harel sei das Risiko aller- eine Rolle, das Gefühl, unfehlbar und
dem Schirm. Umso entschiedener be- dings zu groß erschienen. Nach Berg- unverwundbar zu sein. Aber all das ver-
trieb Mossad-Boss Harel nun den Kampf mans Recherchen befahl der Mossad- blasst gegen das strategische Versagen, die
gegen die Flugkörper, die Operation Chef einem seiner Männer, Krug zu neuen Bedrohungen Mitte der Neunziger-
erhielt den Codenamen „Vitamin C“. erschießen. Seine Leiche sei von einer jahre übersehen zu ha-
Wenige Wochen nach Nassers Leis- Maschine der israelischen Luftwaffe ben. Während die Diens-
tungsschau reiste Harel mit einem Mos- über dem Meer abgeworfen worden, te noch die Geister der
sad-Team nach München. Einer der be- sagt ein anonymer Ex-Mossad-Mann in Vergangenheit jagten,
teiligten Agenten, der in der TV-Doku- der TV-Dokumentation in die Kamera. entstand mit Hamas und
mentation als Oded auftritt, rief bei den Autor Bergman sagt, er kenne den Hisbollah und deren neu-
Krugs an und stellte sich als ägyptischer Namen des Schützen und des Piloten, er Terrormethode der
Mittelsmann vor. Es gehe um ein drin- beide seien wie Harel inzwischen ver- Selbstmordattentate eine
gendes und höchst vertrauliches Treffen storben. Innerhalb des Mossad war die dramatische Bedrohungs-
mit einem der ägyptischen Auftraggeber. Hinrichtung offenbar durchaus umstrit- lage. Das hat Hunderte
Oded, im Irak geboren und in Bagdad ten. Im Buch zitiert der Autor aus ei- Israelis das Leben ge-
zu Schule gegangen, war einer jener nem Interview, das er Ende der Neun- kostet. Ronen Bergman
israelischen Agenten, die sehr glaubwür- zigerjahre mit dem durch die Eich- SPIEGEL: In Ihrem Buch Der Schatten-
dig als Araber auftreten konnten. mann-Entführung bekannt gewordenen gibt es eine Reihe deut- krieg. Israel
und die gehei-
Nun erzählt er vor der Kamera, was Mossad-Agenten Zvi Aharoni führte: scher Bezüge. Zu den ers- men Tötungs-
an jenem 11. September geschah: Dem- „Diese Tat war unverzeihlich, ein ten Zielen des Mossad ge- kommandos
nach fuhr er in einem Taxi zum Intra- Schandfleck, der an uns allen haften hörten Nazis wie Adolf des Mossad
Büro, um Krug abzuholen. Der habe ihn blieb.“ Eichmann oder Raketen- Deutsche
in seinem neuen Wagen zu dem angeb- Krugs Tötung war indes nur der Be- wissenschaftler, die Hit- Verlags-Anstalt;
lichen Treffen mit dem Ägypter in ein ginn einer massiven Mossad-Kampagne lers Wunderwaffe V2 ent- 864 Seiten;
Haus in einem Münchner Vorort chauf- gegen die Raketenbauer. Nur Monate wickelt hatten und später 36 Euro.
fiert. Dort warteten Harel und sein Ent- später töteten Briefbomben fünf ägypti- für Ägypten forschten
führungsteam, die den arglosen Krug sche Mitarbeiter der Raketenfabrik (siehe Kasten). Wie eng waren damals die
überwältigten, fesselten und knebelten. und verletzten die Sekretärin von Wolf- Beziehungen zwischen dem Bundesnach-
Die weitere Schilderung stützt Berg- gang Pilz schwer. Auf einen weiteren richtendienst und dem Mossad – und wie
man unter anderem auf einen Mossad- Wissenschaftler und engen Vertrauten sind sie heute?
internen, als geheim eingestuften Be- von Krug, Hans Kleinwächter, wurde Bergman: Sehr eng, damals schon, und sie
in Lörrach auf offener Straße ein Mord- wurden immer enger. Der deutsche Dienst
anschlag verübt, der aber misslang – wird im Mossad als hilfsbereit und pro-
weil die Waffe der Angreifer nach dem israelisch wahrgenommen. Selbst wenn
ersten Schuss blockierte und Klein- eine erbetene Unterstützung offiziell ab-
wächter einen Revolver im Wagen hatte, gesagt wurde, haben BND-Leute oft in-
mit dem er zurückfeuerte. formell geholfen, das haben mir mehrere
Krugs Nachkommen haben fortan in Agenten beschrieben. Etwa indem die
Ungewissheit über das Schicksal des BND-Kollegen zu Treffen kamen, Doku-
SPIEGEL TV

Vaters gelebt. Es hat sie nie losgelassen, mente auf den Tisch legten und dann auf
bis ins Alter. Ihre Mutter ist 2004 ver- die Toilette verschwanden.
Ehemaliger Mossad-Agent Oded storben. Die neuen Aussagen und Belege SPIEGEL: 1972 erlitt die deutsch-israelische
Glaubwürdig als Araber aufgetreten ließen sie „erschauern“ und seien aus Zusammenarbeit empfindlichen Schaden.
ihrer Sicht plausibel, sagt Beate Soller. Palästinensische Terroristen nahmen wäh-
richt – denn Odeds Aufgabe war an der Ihr Bruder stimmt zu, sie passten auch rend der Olympischen Spiele in München
Haustür erledigt. Dem Bericht zufolge zu den eigenen Recherchen. elf israelische Athleten und Betreuer als
sperrten die Mossad-Leute, zu denen Die Geschwister Krug wollen sich Geiseln. Sie schreiben, Israel habe eine
ein Arzt gehörte, Krug in eine Kiste, nun an die israelische Botschaft wen- Sondereinheit zur Befreiung einfliegen las-
die unter der Sitzbank eines VW-Bus- den und dort um eine offizielle Bestäti- sen wollen, die deutschen Behörden hät-
ses verborgen war. In einem Konvoi gung bitten. „Es wäre ein Traum“, sagt ten ihnen aber die Einreise verweigert.
aus mehreren Fahrzeugen ging es nach Kaj Krug leise, „wenn wir endlich Klar- Bergman: Für den Mossad und für das ge-
Marseille. Von dort aus wurde er, mit heit bekämen.“ Marcel Rosenbach samte Land war das Massaker in Fürsten-
starken Beruhigungsmitteln sediert, als feldbruck ein traumatisches Ereignis.
angeblich „kranker Immigrant“ mit ei- Sendehinweis Später schilderte der Mossad-Chef in Be-
nem El-Al-Flugzeug nach Israel geflo- Der Mossad, die Nazis und die Raketen – richten und sogar vor einem Knesset-Aus-
gen. Dort sei er in einem Geheimge- Showdown am Nil von SPIEGEL TV schuss detailreich die Unfähigkeit und
fängnis des Mossad mehrere Monate für NDR und BR, am Montag, 22. Januar, schlimmer noch den Unwillen der deut-
lang verhört worden. „Er brachte viele um 23.30 Uhr im Ersten. schen Sicherheitsbehörden, effektiv ein-
zuschreiten. Viele können bis heute nicht
DER SPIEGEL 4 / 2018 43
Deutschland

nachvollziehen, was diese Katastrophe aus- tionen auszuführen – weil das Risiko im- blower zu existieren. Wieso hat es in Israel
gelöst hat; in gewisser Weise war es Israels menser Kollateralschäden bestand. nie einen Edward Snowden gegeben?
9/11. Unter anderem änderte Premierminis- SPIEGEL: Als er tatsächlich starb, gab es Bergman: Die israelische Gesellschaft ist
terin Golda Meir ihre Haltung, was Tötungs- schnell Gerüchte, Israel stecke dahinter. eine besondere, die Loyalität gegenüber
operationen gegen Terroristen in Europa Was wissen Sie über Arafats Tod? Behörden und der Patriotismus sind groß.
anging. Sie gab ihre Vorsicht auf. Bergman: Ich kann darauf keine Antwort Andererseits haben ja sehr viele mit mir
SPIEGEL: Im Kampf gegen den palästinensi- geben, selbst wenn ich sie wüsste. Die is- gesprochen und mir teils sogar Unterlagen
schen Terror nach dem Olympia-Attentat raelische Militärzensur untersagt es mir, anvertraut, die sie gar nicht haben dürften.
gelang es israelischen Diensten, einen An- dieses Thema zu diskutieren. Ich kann nur SPIEGEL: Was hat es mit Ihnen gemacht, das
schlag auf einen El-Al-Jet in Nairobi zu ver- sagen, Premier Ariel Sharon hasste ihn, jahrzehntelange Treiben von Killerkom-
hindern. Dabei wurden mit Brigitte Schulz obsessiv. Sein Stabschef erzählte mir, dass mandos minutiös zu recherchieren, mit Tä-
und Thomas Reuter zwei Deutsche gefasst Sharon täglich anrief, um zu fragen, was tern wie mit Opfern zu reden?
und in einer Geheimaktion nach Israel ge- gegen Arafat unternommen werde. Es war Bergman: Ich bin insgesamt viel kritischer
bracht. Es gab nach Ihren Recherchen Pläne, klar, dass die USA einen Mordanschlag geworden, was die Geheimdienste angeht,
sie über dem Meer abzuwerfen. Was hielt nicht gutheißen würden. Präsident George und sensibler in Bezug auf die vielen un-
Israel davon ab? W. Bush verlangte von Sharon im April schuldigen Opfer. Das Leid, das diese Mis-
Bergman: Es war eine neue Zeit, Mitte der 2004 eine Zusage, dass alle Versuche un- sionen über so viele Familien gebracht ha-
Siebziger. Israel hatte den Sechstagekrieg terbleiben sollten. Aber Sharon antwortete ben, ist erschütternd. Ich habe eine Familie
gewonnen, das Land war selbstbewusst. An- nur: Herr Präsident, ich verstehe Ihren getroffen, die das Pech hatte, in ihrem Auto
dere Leute waren an den Spitzenpositionen, Punkt. Wenn Israel etwas unternommen vorbeizufahren, als 2006 eine israelische Ra-
Generalstaatsanwalt Aharon Barak machte hätte, müsste es so diskret passiert sein, kete einschlug. Die damals zweijährige
unmissverständlich klar, dass ein Mord an dass sowohl die USA als auch die Palästi- Tochter hat ein Schrapnell abbekommen
deutschen Staatsbürgern nicht infrage kom- nenser nichts davon mitbekommen. und ist seither vom Hals an abwärts ge-
me. Er sagte, man müsse verrückt lähmt, ihr Vater muss sie den ganzen
sein, so etwas nur zu erwägen. Tag pflegen. Über diesen morali-
SPIEGEL: Wer sind die Männer und schen Preis kann man nicht einfach
Frauen, die für den Mossad töten? hinwegsehen, er ist bisweilen uner-
Bergman: Es gibt kein Muster, oft träglich hoch. Andererseits haben die
sind sie sehr jung, unter 30. Diejeni- Tötung des Hamas-Führers Scheich
gen, die in arabischen Ländern agie- Jassin und kurz darauf die seines
ren, brauchen eine wasserdichte Tar- Nachfolgers dazu geführt, dass die
nung. Sie sind Israelis, aber in der Flut von Selbstmordattentaten ab-
JÖRG MÜLLER / DER SPIEGEL
Regel nicht in Israel geboren. flaute – das war kein kleiner Erfolg.
SPIEGEL: Haben Sie Mitglieder von SPIEGEL: Sie schildern, dass selbst der
Killerkommandos kennengelernt, langjährige Mossad-Chef Meir Da-
die in der Rückschau an ihrem Han- gan und Premier Sharon zum Ende
deln zweifelten? ihres Lebens sehr kritisch auf Israels
Bergman: Dazu fällt mir mein Besuch Gewaltstrategie geblickt haben. Wie
bei Natan Rotberg ein, dem langjäh- Bergman, SPIEGEL-Redakteure* kam es dazu?
rigen Leiter des Sprengstofflabors „Ich bin kritischer geworden, was die Geheimdienste angeht“ Bergman: Das war bei beiden ein lan-
des militärischen Geheimdienstes. ger Prozess. Dagan ging geheime Ko-
Er sprach nonchalant davon, dass es sein SPIEGEL: Obwohl Sie Ihr Buchmanuskript operationen mit vielen arabischen Geheim-
Job gewesen sei, „Treffen mit Gott zu ar- der Militärzensur vorlegen mussten, gehen diensten ein und stellte überrascht fest, wie
rangieren“, und ermunterte mich zu fra- Sie in Teilen mit der israelischen Regierung viele gemeinsame Interessen es gab: Alle
gen, wie viele dieser Treffen er arrangiert hart ins Gericht. Welchen Einfluss hat der hassten sie Syriens Staatschef Assad und
habe – mehr als vierzig. Er sagte das mit Zensor genommen? waren gegenüber Iran mindestens so miss-
Stolz. Für deutsche Ohren klingt das sicher Bergman: Ich arbeite seit 25 Jahren als Jour- trauisch wie die Israelis. Da wurde ihm of-
seltsam, vielleicht unerträglich. Aber in Is- nalist und befinde mich seither im Kampf fenbar klar, dass Kooperation und Diploma-
rael wird Rotberg nicht als Mörder oder mit diesem System. Hunderttausende Wör- tie das Land vielleicht weiter vorangebracht
Krimineller angesehen, sondern als Held ter, die ich geschrieben habe, durften nicht hätten als militärische Konfrontation. Er sah
verehrt, der aus tiefer Überzeugung israe- erscheinen. Ich bin so oft gegen die Ent- plötzlich eine reale Chance für Frieden.
lische Leben rettete. scheidungen vor Gericht gezogen – und SPIEGEL: Es gab eine israelisch-arabische
SPIEGEL: Manche der Todeskandidaten habe immer verloren. Ich bin der Meinung, Geheimdiplomatie?
überlebten über Jahrzehnte. Jassir Arafat dass es nicht die nationale Sicherheit Is- Bergman: Die Welt wird schockiert sein,
zum Beispiel. Sie schildern verschiedene raels gefährdet, Pannen oder gar Verbre- wenn sie irgendwann erfährt, wie weit die-
Operationen, etwa den Plan, eine Woh- chen zu benennen. Ein Land, das die Ver- se Kooperation zwischen israelischen und
nung in der Beethovenstraße in Frankfurt öffentlichung solcher Themen aushält, ist arabischen Diensten funktionierte. Ein
am Main zu stürmen, wo sich die Palästi- ein stärkeres Land, um nicht zu sagen: ein Großteil der Erfolge, die dem Mossad in
nenserführung in den Sechzigern regelmä- demokratischeres. Umso wichtiger ist es den letzten 20 Jahren zugeschrieben wur-
ßig traf, und dort alle umzubringen. Hatte mir, über die Geheimdienste, die weder den, gehen darauf zurück.
Arafat nur extremes Glück? vom Parlament noch von anderen Orga- SPIEGEL: Herr Bergman, wir danken Ihnen
Bergman: Er war extrem vorsichtig, vertrau- nen wirksam kontrolliert werden, weiter- für dieses Gespräch.
te niemandem und verbreitete aktiv Des- hin zu berichten.
informationen, etwa über seine Reisepläne. SPIEGEL: Anders als in den USA scheinen Video: Ausschnitt aus
Andererseits gab es auch immer wieder kaum interne Widerstände oder Whistle- „Raketenpoker am Nil“
mutige Chefs israelischer Sicherheitsbehör- sp042018bergman
den, die sich weigerten, bestimmte Opera- * Marcel Rosenbach und Alfred Weinzierl in Hamburg. oder in der App DER SPIEGEL

44 DER SPIEGEL 4 / 2018


„Du bist
die Nächste!“
Terrorismus Strafverfolger wollen
entschiedener gegen Frauen
vorgehen, die sich dem IS an-
schließen. Der Fall einer Islamistin
aus Hessen soll ihnen helfen.

D
er Film zeigt einen Mann – ihren
Mann. Er hält eine Kalaschnikow
in den Händen und sagt: „So be-
reite ich mich mit meiner Frau auf die
dreckigen Kuffar (die Ungläubigen –Red.)
in Deutschland vor. Nehmt euch in Acht!“
Ali S. schießt, dann wendet er sich wieder
der Kamera zu: „Merkel, du bist die
Nächste!“
Polizisten fanden dieses Propaganda-
video auf dem Handy der Frau, als sie im
Januar 2014 mit einer Maschine der Tur-
kish Airlines in Frankfurt am Main landete.
In Begleitung ihres Schwiegervaters kehrte Mutmaßliche Dschihadistin Sibel H. (r.), Lebensgefährte Deniz B.
sie nach dem Tod ihres Mannes nach Beamte beschreiben die Frau als Fanatikerin
Deutschland zurück. Die Ermittler vermu-
ten, dass Sibel H. einige solche Filme ge- von kurzer Dauer. Inzwischen sitzt das Die Rolle der Frauen als Unterstützerinnen
dreht hat. Einer endet mit den wenig mar- Paar im irakischen Arbil fest, festgenom- der kämpfenden Männer und als Mütter
tialischen Worten ihres Mannes: „Mach men von Kräften der Anti-IS-Koalition. zukünftiger Dschihadisten sei in der Logik
aus, Schatz, mach aus.“ Für die deutsche Justiz könnte sich die des IS von „großer Bedeutung“.
Ihr Mann Ali S., ehemaliger Kampfsport- Festnahme der Extremistin als günstig er- Soll heißen: Auch ohne Kampfeinsatz
ler aus Frankfurt am Main, starb in einem weisen. Mit ihrem Fall will die Bundes- kann man einer Terrororganisation ange-
Gefecht der Terrororganisation „Islami- anwaltschaft erreichen, dass die etwa 200 hören – was strafbar ist. Oder wie es ein
scher Staat“ (IS) mit Truppen des Assad- Frauen, die aus Deutschland Richtung Sy- Staatsanwalt formuliert: „Wer zum IS ge-
Regimes. Nach Erkenntnissen deutscher rien und Irak ausgereist sind, nicht mehr gangen ist, gehört für uns von jetzt an auch
Sicherheitsbehörden war er erst im Juli so einfach ohne Strafe davonkommen. dazu.“
2013 per Reisebus zusammen mit sechs Sibel H. sei der Prototyp einer Salafistin, Die Behörden fürchten auch den Ein-
weiteren Dschihadisten in die Türkei ge- die sich aus freien Stücken einer Terror- fluss der Islamistinnen nach ihrer Rück-
fahren und von dort weiter nach Syrien organisation angeschlossen habe, heißt es. kehr. „Sie gehen in ihre alten Strukturen
gereist. Ein halbes Jahr später war er tot. Nicht aus Liebe sei sie nach Syrien gezo- zurück“, sagt ein hochrangiger Beamter,
Sibel H. ist heute 30 Jahre alt und hat gen, sondern aus Hass. „dort sind sie nicht greifbar.“ Frauen seien
zwei Staatsbürgerschaften, die deutsche Rund 50 Frauen, die ausgereist waren, oftmals fester in der Ideologie verankert
und die türkische. Beamte beschreiben die sind bislang nach Deutschland zurückge- als Männer. Auch deswegen will der Ge-
Frau als Fanatikerin. Sie fand nach dem kommen. Kaum eine wurde in Haft ge- neralbundesanwalt jetzt härter als bisher
Tod ihres Mannes schon bald einen neuen nommen. Strafrechtlich verfolgt wurden gegen sie vorgehen und sie wegen der
„Löwen“, wie sich die Dschihadisten selbst die mitreisenden Ehefrauen bislang nur, Mitgliedschaft in einer ausländischen
nennen, in der Frankfurter Salafistenszene. wenn sie Terrororganisationen konkret un- terroristischen Vereinigung vor Gericht
Deniz B., 26 Jahre alt, 1,82 Meter groß, tä- terstützt oder wenn sie selbst gekämpft bringen.
towiert. Die Behörden ermittelten gegen hatten. Ihre Rolle als Mütter und Ehefrau- Der Präzedenzfall Sibel H. ist in Karls-
ihn unter anderem wegen Betrug, Hehlerei en betrachteten die deutschen Strafverfol- ruhe beim Bundesgerichtshof anhängig.
und Bedrohung. Er wurde der neue Ge- ger lange Zeit als „sozialadäquates Verhal- Die Karlsruher Strafverfolger hatten einen
fährte der Sibel H. ten“, wie ein hochrangiger Ermittler sagt. Haftbefehl beantragt, der Bundesgerichts-
Gemeinsam reisten die beiden im März Doch in einer vertraulichen Analyse der hof hat ihn abgelehnt, die Bundesanwalt-
2016 ins IS-Gebiet. „Sie hat sich gezielt in deutschen Sicherheitsbehörden heißt es in- schaft dagegen Beschwerde eingelegt. Eine
Deutschland nach einem Mann umgetan, zwischen, dass der IS Frauen und Männern Entscheidung könnte bald fallen.
der sie zum IS begleitet“, sagt ein Beamter. unterschiedliche Aufgaben übertragen Vielleicht kehrt Sibel H. dann zum zwei-
Die Familie von Deniz B. bezeichnete sie habe. Die Geschlechter seien in „unter- ten Mal aus dem IS-Gebiet nach Deutsch-
als „schwarze Witwe“ und veröffentlichte schiedlichen Funktionsbereichen“ des zu land zurück. Diesmal könnte sie für länge-
eine „Vermisstenmeldung“. Am 2. Novem- errichtenden Kalifats eingesetzt worden. re Zeit hierbleiben müssen: Wer als Mit-
ber 2016 brachte Sibel H. in Tall Afar den Daher hätten sich sowohl Frauen als auch glied einer terroristischen Vereinigung ver-
gemeinsamen Sohn zur Welt. Doch das Männer mit ihrer freiwilligen Ausreise der urteilt wird, muss mit bis zu zehn Jahren
vermeintliche Glück im Kalifat war nur Terrororganisation zur Verfügung gestellt. Haft rechnen. Jörg Diehl, Fidelius Schmid

DER SPIEGEL 4 / 2018 45


SIMON HOFMANN / GETTY IMAGES
Fundort einer Festplatte in Staufen: Perverse Fantasien

Tarnname „GeilerDaddy“
Verbrechen Der Junge aus dem Breisgau, mutmaßlich missbraucht von vielen Männern, hätte nicht
so lange leiden müssen. Die Behörden waren alarmiert – sie taten nur nicht das Richtige.

A
ls die Beamten des FBI endlich den für Bilder, auf denen Erwachsene Kinder zwischen lebt der Junge in einer Betreu-
Server in Florida lokalisiert hatten, beiderlei Geschlechts missbrauchten. Allein ungseinrichtung; acht Beschuldigte sitzen
dauerte es nicht mehr lange, bis in den zwei Wochen, in denen das FBI mitlas, in Haft, zwei von ihnen sollen für den Miss-
eine Spur auch in den Breisgau, in eine rief er 227 Threads auf, er nutzte dazu of- brauch aus Spanien und der Schweiz an-
kleine Stadt nahe Freiburg, führte. fenbar auch das WLAN seiner Mutter. gereist sein. Die deutsche Justiz kam ihnen
Über Monate hatten die Amerikaner ge- Wäre „GeilerDaddy“ danach schnell in auf die Spur, weil Ermittler Bilder davon
rätselt, wer die Onlineplattform „Playpen“ Haft gekommen, wäre wohl zumindest ei- im Darknet gefunden hatten.
betreibe. Pädophile aus aller Welt tausch- nem Kind weiteres Leid erspart geblieben: Der Fall beschäftigt die Republik, und
ten dort kinderpornografische Fotos und dem Sohn seiner Lebensgefährtin, dessen je mehr über den Pädophilenring bekannt
Filme samt der Passwörter. Das Forum im Schicksal seit Tagen die Republik bewegt. wird, desto drängender stellen sich Fragen:
Darknet war unterteilt in Kategorien wie Hinter dem Pseudonym steckt, davon Wie konnte es sein, dass ein einschlägig
„präpubertär“, „Kleinkinder“, „Inzest“, sind die Ermittler überzeugt, Christian L., vorbestrafter Mann überhaupt Kontakt
„Bondage“ oder „Schläge“. In der ver- ein 39-jähriger Arbeitsloser aus Staufen zu dem Jungen hatte? Warum hat niemand
meintlichen Anonymität der Chats heizten südlich von Freiburg, damals gemeldet in geprüft, was der Straftäter mit dem Tarn-
die Nutzer gegenseitig ihre perversen Fan- einer Obdachlosenunterkunft. Er soll mit namen „GeilerDaddy“ außerhalb des
tasien an, auch durch Bilder brutaler Ver- seiner Lebensgefährtin deren Sohn über Darknets noch trieb?
gewaltigungen. das Internet zum Missbrauch angeboten Es war ja nicht der unbescholtene, unver-
Im Februar 2015 kam der Administrator und den Jungen selbst vergewaltigt haben. dächtige Täter von nebenan, der Nachbar
in Haft, ein 58-jähriger Mann aus dem Küs- Seit 2015 dauerte das Martyrium des oder der Nachhilfelehrer oder Trainer, der
tenstädtchen Naples, danach wurden mehr Kleinen an, der seinen Peiniger „Papa“ ein Kind vergewaltigte. Die Taten begingen
als 800 Verdächtige festgenommen, in den nannte und heute neun Jahre alt ist. Mutter wohl notorische Pädokriminelle, die den
USA, der Türkei, in Kolumbien, in Israel. und Stiefvater sollen bis zu mehrere Tau- Missbrauch planten und dokumentierten.
Die Fahnder konnten auch einen Nutzer im send Euro pro Täter kassiert haben. Die Inzwischen ist eine Debatte darüber los-
Breisgau identifizieren. Der Mann nannte Staatsanwaltschaft Freiburg geht von einer gebrochen, wer die Fehler begangen hat.
sich „GeilerDaddy“ und hatte eine Vorliebe zweistelligen Zahl von Straftaten aus. In- Im Internet kursieren die üblichen Kopf-
46 DER SPIEGEL 4 / 2018
Deutschland

ab- oder Schwanz-ab-Parolen, die mit Be- Die Behörden wussten von der heiklen eingelassen hatte, sollte für die Unversehrt-
richten von Kindesmissbrauch einherge- Beziehung: L. beantragte beim Landge- heit des Kindes bürgen – zu einem Zeit-
hen. Jugendamt und Familiengerichte richt, zu der Frau und deren Sohn ziehen punkt, zu dem ihr Sohn schon missbraucht
schieben einander die Verantwortung zu. zu dürfen. Das Gericht lehnte ab, doch L. wurde, was die Gerichte nicht wussten.
Bundesfamilienministerin Katarina Barley hielt sich nicht daran. Die Staatsanwalt- „Aus heutiger Sicht war die gerichtliche
(SPD) forderte „mehr Sachverstand an den schaft Freiburg klagte ihn im April 2017 Einschätzung der Mutter falsch“, räumt
Gerichten“, die CSU wetterte gegen die erneut an, weil er dadurch gegen Weisun- eine Sprecherin des Oberlandesgerichts
„Resozialisierungsromantik“. Und viele gen während seiner Führungsaufsicht ver- ein. Auch habe man das Jugendamt nicht
Politiker fordern, Kinderrechte im Grund- stoßen habe. Im Juni verurteilte ihn das per Amtshilfe gebeten, weiterhin dem
gesetz zu verankern. Amtsgericht Staufen zu vier Monaten Frei- Gericht zu berichten, allerdings habe das
Ein solches Statut hätte aber wohl wenig heitsstrafe. L. ging in Berufung, das Urteil Jugendamt eine „eigene Beobachtungs-
im Breisgauer Fall verändert. Die akute wurde nicht rechtskräftig. pflicht“. Im Nachhinein muten einige Sät-
Gefahr für den Jungen wurde schlicht nicht Das war also der Stand im vergangenen ze aus dem Beschluss des Oberlandes-
erkannt – auch weil niemand die Online- Sommer: zwei unverbundene Verfahren, gerichts blauäugig an. „Eine ,Abschottung‘
und die Offlinewelt des Christian L. ab- eines noch nicht zur Verhandlung zugelas- der Familie ist nicht zu befürchten“, heißt
glich und daraus die richtigen Schlüsse zog, sen, das andere ohne rechtskräftiges es dort. Und: Die Mutter habe aufrichtig
über die fatale Fusion von „GeilerDaddy“ Urteil – und ein Junge in höchster Gefahr. ihr Bestreben zum Ausdruck gebracht,
und „Papa“. Im März 2017 erfuhr auch das Jugend- „das Wohl ihres Sohnes nicht aus dem
Als sich L. auf der Plattform „Playpen“ amt Breisgau-Hochschwarzwald davon Blick zu verlieren und diesen vor Gefahren
einloggt haben soll, war er erst seit rund und nahm den Jungen in Obhut. Das Fa- zu schützen“.
einem Jahr ein freier Mann. 2010 Irgendwo zwischen zwei Amts-
war er zu einer mehrjährigen Frei- gerichten, einem Landgericht,
heitsstrafe verurteilt worden. Er einem Oberlandesgericht, einer
hatte ein Mädchen, 13 Jahre alt, Staatsanwaltschaft und dem Ju-
missbraucht und den Sex mit ihr gendamt wurde also versäumt,
gefilmt. Das Mädchen war da- die wesentlichen Fakten richtig
nach in psychologischer Behand- zu gewichten: dass ein vorbestraf-
lung, unter anderem weil es sich ter Pädophiler sich einer ver-
selbst verletzte. wundbaren Familie angeschlos-
L. hatte damals in einem Chat sen hatte, dass er offenbar entge-
mit ihr Interesse an deren drei- gen den gerichtlichen Weisungen
jähriger Halbschwester gezeigt, in allein Zeit mit dem Kind ver-
einer Videosequenz war das brachte, dass er sich unterdessen
Kleinkind unbekleidet zu sehen. in kinderpornografischen Foren
Auf L.s Computer fanden Ermitt- bewegt haben soll.
ler 300 Video- und 1000 Bildda- „Da hätten Alarmglocken läu-
teien mit Kinderpornografie. Eine ten müssen“, sagt Ludwig Salgo
Vertreterin der Nebenklage cha- aus Frankfurt am Main, Rechts-
rakterisierte L. in dem Verfahren experte und ehemaliger Vizepräsi-
2010 als „sehr eloquenten und zur dent des Deutschen Kinderschutz-
Manipulation neigenden“ Men- bundes. Es sei bekannt, dass Pädo-
schen mit einem „Hang zu er- sexuelle nach alleinerziehenden
MARKUS DONNER

heblichen Straftaten“. L. war ge- Müttern suchten. Die Richter hät-


ständig, die Richterin sagte laut ten darum weitere Vorkehrungen
„Badischer Zeitung“ bei der Ver- treffen sollen, etwa überprüfen
kündung des Urteils: „Sie haben Tatverdächtiger L.*: „Eloquent und zur Manipulation neigend“ müssen, dass die Anordnungen
eine Chance verdient.“ umgesetzt werden. Das Kind hät-
Doch L. nutzte diese Chance nicht, er miliengericht beim Amtsgericht Freiburg te angehört und ihm ein Verfahrensbei-
tat sich nach seiner Haftentlassung statt- erteilte Berrin T. in der Folge eine Reihe stand zugeordnet werden müssen.
dessen offenbar auf den „Playpen“-Seiten von Auflagen: Ihr Lebensgefährte dürfe Stattdessen entdeckten die Strafverfolger
um. Die Staatsanwaltschaft Freiburg leitete die Wohnung nicht mehr betreten und kei- den Missbrauch nur, weil sich die Täter
deshalb bereits 2016 ein Ermittlungsver- ne Freizeit mit dem Kind verbringen. Sie selbst filmten und die Bilder verbreiteten.
fahren ein, im Mai 2017 erhob sie Anklage. müsse sich psychiatrisch untersuchen las- Christian L. und Berrin T. stellten nach
Zur Verhandlung vor dem Amtsgericht sen und beim Jugendamt Hilfe zur Erzie- Überzeugung der Ermittler eigene Film-
Staufen kam es jedoch nicht. Dort war hung beantragen. Das Kind wurde darauf- sequenzen ins Darknet, auf denen der bru-
aber schon eine andere Verhandlung gegen hin nach einem Monat wieder in die Obhut tale Missbrauch des Jungen deutlich zu se-
den Mann terminiert: Es ging um den Ver- der Mutter gegeben. hen war. Das sei „sehr hartes Material“,
stoß gegen Weisungen. Doch T. wehrte sich gegen die Auflagen sagt ein Ermittler. Der Junge sei vor der
L. war im Rahmen der Führungsaufsicht und hatte teilweise Erfolg. Die nächste In- Kamera mit roher Gewalt misshandelt und
nach seiner Entlassung auferlegt worden, stanz, das Oberlandesgericht Karlsruhe, vergewaltigt worden, offenbar auch von
von Kindern und Jugendlichen fernzublei- hielt die ärztliche Untersuchung und die seiner Mutter. Sie und ihr Freund hätten
ben. Irgendwann im Jahr 2015 aber ging erzieherische Hilfe für entbehrlich. die Aufnahmen in einem Pädophilenforum
er mit Berrin T. eine Beziehung ein, einer So setzten die Richter allein auf die Mut- präsentiert, um für ihr Angebot an andere
heute 47-jährigen alleinerziehenden Frau. ter: Ausgerechnet die Frau, die sich auf ei- Pädophile zu werben, den Jungen gegen
Mit der Erziehung ihres Sohnes war die nen Mann mit einschlägiger Vorgeschichte Bezahlung selbst schänden zu dürfen.
Mutter wohl teilweise überfordert, jeden- Hinter dem Schutz des Tor-Netzwerks,
falls begleitete das Jugendamt die Familie. * Bei Festnahme am 16. September 2017 in Münstertal. das die echten IP-Adressen der Nutzer un-
DER SPIEGEL 4 / 2018 47
IN DER SPIEGEL-APP

sichtbar macht und das Darknet vom ge- Ermittler ließen ihn in dem Glauben, dass
wöhnlichen Internet trennt, fühlte sich das er den kleinen Jungen treffen und miss-
Paar offenbar sicher. Was Christian L. und brauchen könne. Noch am Bahnhof nahm
Berrin T. nicht wussten: Dort war auch ein ihn ein Spezialeinsatzkommando fest, in
verdeckter Ermittler unterwegs. Er erkann- seinem Rucksack fanden sich Fesseluten-
te schnell, dass es sich um aktuelles Mate- silien.
rial handelte, also um einen Fall, in dem Wenn es nach den Ermittlern ginge, hät-
ein Kind sich gerade in höchster Gefahr te der Elektrotechniker aus Schleswig-Hol-
befindet. stein schon seit Jahren in Sicherungsver-
Die Bilder und die Missbrauchs-Annon- wahrung gesessen. Ein Gutachter hatte
ce landeten beim Bundeskriminalamt in ihm in einem früheren Prozess eine schwe-
Wiesbaden und kurz darauf bei der Gene- re „sadistisch-fetischistische Pädophilie“
ralstaatsanwaltschaft in Frankfurt am Main attestiert, die er trotz Therapie offenbar
und deren Zentralstelle zur Bekämpfung nicht kontrollieren kann. Vor knapp zehn
der Internetkriminalität (ZIT). „Wir waren Jahren hatte sich V. im „Zauberwald“ he-
schockiert und wussten, dass wir sehr rumgetrieben, einem der ehemals größten
schnell handeln müssen“, sagt Georg Un- Pädophilie-Internetforen im deutschspra-
gefuk, der Sprecher der ZIT, der mit sei- chigen Raum. Er traf dort auf Gleichge-
nem Gießener Kollegen Andreas May das sinnte, darunter einen Schweizer, der sich
Material sichtete. den Chatnamen „Stopfbär“ gab. Die bei-
Ungefuk ist ein erfahrener Staatsanwalt, den planten einen „Boytausch“: die Ver-
der selbst mehr als acht Jahre lang Fälle gewaltigung der eigenen Kinder durch den
von Kinderpornografie und Kindesmiss- jeweils anderen. V. hatte bereits eine Ferien-
brauch bearbeitet hat. Aber die Bilder aus wohnung im Harz gemietet und seinem
diesem Fall, sagt er, „die bekommt man drei Jahre alten Sohn probeweise eine
nicht so schnell aus dem Kopf“. Schlaftablette und betäubende Salbe ver-
Christian L. und Berrin T. hatten es den abreicht. Bevor es zu dem Verbrechen
Ermittlern leicht gemacht. Während viele kam, wurden die beiden festgenommen.
JUSTIN JIN

Täter darauf achten, keinesfalls erkennbar Die Ermittlungen ergaben, dass Daniel
zu sein, und sogar Bilder und Möbel ver- V. noch grausamere Sexualfantasien ge-
hüllen, verhielt sich das Paar erstaunlich äußert hatte. Unter dem Pseudonym „No-
sorglos. Beide seien auf den Filmen relativ Limit“ chattete er mit einem Niederländer.
gut zu identifizieren gewesen, heißt es aus Sie berauschten sich an dem Gedanken,
Ermittlerkreisen. Binnen weniger Tage einen Schuljungen zu verschleppen und
habe man den Wohnort herausfinden und ihn stundenlang zu quälen. Am Ende sollte
die Behörden in Baden-Württemberg ein- das Kind im Meer „entsorgt“ werden.
In der Eishölle schalten können. Eine Festplatte, die sie
L. zuordneten, bargen die Fahnder kurz
Zunächst verurteilte ein Gericht Daniel
V. zu elf Jahren Freiheitsstrafe mit anschlie-
Der Wind schneidet hier alle Gedanken ab, darauf aus dem Staufener Stadtsee. ßender Sicherungsverwahrung. Doch der
bei minus 45 Grad Celsius zählt nur: Wo Neben dem Paar konnte die Polizei Män- Bundesgerichtshof befand, dass ihm eine
ist der nächste Unterschlupf? In der Arktis ner ermitteln, die auf die perversen Ange-
bote eingegangen sein sollen. Dazu zählt
leben drei Gruppen von Menschen: die indi-
Markus K., ein 41-jähriger Mann aus der
Die Experten stuften den
genen Nenzen, ein Volk von Rentierzüchtern; Region, den die Polizei wenige Tage nach Mann in Kategorie B
die Nachkommen der Häftlinge aus sibi- L. auf seiner Arbeitsstelle festnahm. K. hat-
rischen Gefängnissen und Arbeitslagern – te von 2009 bis 2013 im Gefängnis gesessen,
ein, er galt als „latent
und die modernen Schatzsucher auf der wie bei L. ordneten die Gerichte später rückfallgefährdet“.
Jagd nach Öl und Gas. Der Fotograf Justin Führungsaufsicht an. Die beiden Männer
Jin hat Monate in der Arktis verbracht, hat hatten wohl schon im Gefängnis Kontakt Verabredung zum Mord nicht nachzuwei-
Rentierhirn mit den Nenzen gegessen, war zueinander. Inwieweit sich K. zu den sen sei, und kassierte das Urteil in Teilen.
mit den Ölsuchern in der Sauna und hat aktuellen Vorwürfen eingelassen hat, ist Daniel V. kam nach knapp sechs Jahren
unklar. Gefängnis wieder frei.
die sowjetischen Wohnklötze im ewigen Eis K. saß seinerzeit ein, weil er in einem Er wurde in ein spezielles Programm
fotografiert. Eine multimediale Expedition badischen Dorf ein zehnjähriges Kind in des Landeskriminalamts aufgenommen,
in die weiße Wüste der Arktis. ein Maisfeld gelockt hatte. Er hatte dem das „Kieler Sicherheitskonzept Sexualstraf-
Kind erzählt, dass es ihm dort helfen solle, täter“. Die Experten stuften ihn in die Ka-
Sehen Sie die Visual Story im digitalen auf Hundewelpen aufzupassen. Dann ver- tegorie B ein, er galt als „latent rückfallge-
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. ging sich der Mann an dem Kind. Auf dem fährdet“.
Rechner des Täters konnten die Fahnder In Untersuchungshaft sitzt auch ein deut-
mehr als 5000 gelöschte kinderpornografi- scher Soldat, der als Stabsfeldwebel des
sche Bilder rekonstruieren. Jägerbataillons 291 im elsässischen Illkirch-
Ein weiterer Verdächtiger: Daniel V., 43, Graffenstaden diente. Auf seinem Compu-
aus Wulfsdorf an der Ostsee. Er setzte sich ter hatte er kinderpornografisches Material
am 3. Oktober in den Zug nach Karlsruhe. gesammelt. Ein 32 Jahre alter Spanier wur-
Zu dem Zeitpunkt waren die beiden de in seinem Heimatland festgenommen.
Hauptverdächtigen bereits in Untersu- Zuletzt verhaftete die Polizei einen 37-jäh-
JE TZ T DI G I TAL L E S E N chungshaft, doch das wusste V. nicht. Die rigen Schweizer, kurz nachdem er nach
48 DER SPIEGEL 4 / 2018
Deutschland
JETZT IM HANDEL:
RAUS AUS
„Playpen“ identifizieren konnte. Die Be-
hörden kooperieren über Staatsgrenzen
hinweg, so konnten BKA und ZIT im ver-
gangenen Jahr auch die Tauschbörse „Ely-
DER ROUTINE
Wie Sie gewohnte Pfade verlassen,
sium“ ausheben und stilllegen.
Schlechter vorbereitet auf die außerge- um neue Strategien zu finden
wöhnliche kriminelle Energie der Pädophi-
lenringe sind möglicherweise die Gerichte.
Die Hürden, zum Schutz von Kindern ein-
zuschreiten, sind in Deutschland hoch.
Bundesverfassungsgericht und Bundesge-
richtshof betonten in mehreren Entschei-
dungen, dass eine Kindeswohlgefährdung
SVEN MOSCHITZ / BILD
erst vorliege, wenn eine „erhebliche Schä-
digung des geistigen oder leiblichen Wohls
des Kindes“ mit „hinreichender Wahr-
scheinlichkeit“ zu erwarten sei. Um von
den Eltern getrennt zu werden, müsse die
Ermittler Ungefuk, May Gefährdung sogar „nachhaltig“ sein und
„Zu wenige therapeutische Angebote“ „mit ziemlicher Sicherheit“ eintreten. Ein
bloßer Verdacht oder eine Sorge reichen
Österreich eingereist war. Im schleswig- nicht aus.
holsteinischen Neumünster nahm die Poli- Stefan Heilmann, Vorsitzender Richter
zei zudem einen Mann fest, der nicht den am Oberlandesgericht Frankfurt am Main,
Jungen im Breisgau, aber seine achtjährige sieht die Rechtsprechung in einer Schief-
Tochter missbraucht haben soll. lage: Die Gerichte argumentierten häufig
Ermittler sind es gewohnt, dass sie sich nur aus der Perspektive des Elternrechts.
immer wieder mit denselben Tätern aus- „Die Grundrechtsposition des Kindes und
einandersetzen müssen. Psychiatrisch ge- seine Belange rücken oft in den Hinter-
sehen sei Pädophilie eine Störung der Se- grund.“ Damit verlagere sich auch das
xualpräferenz – „und die verschwindet Risiko „zulasten des Kindes“.
nicht einfach, wenn der Betroffene im Jus- 2016 verhandelte der Bundesgerichtshof
tizvollzug seine Strafe verbüßt“, sagt einen Fall, der dem aktuellen ähnelt. Die Weitere Themen:
Georg Ungefuk von der ZIT. Ohne eine alleinerziehende Mutter eines Mädchens
erfolgreich absolvierte Verhaltenstherapie war mit einem Mann zusammengezogen,
sei es unwahrscheinlich, dass ein Täter der mehrmals wegen sexuellen Miss- SCHWERPUNKT
sein sexuelles Interesse an Kindern in den
Griff bekommen oder zumindest so weit
brauchs von Kindern verurteilt worden
war. Das Jugendamt nahm die Siebenjäh- AUGMENTED REALITY
beherrschen könne, dass er es nicht mehr rige in Obhut, das Amtsgericht entzog der
auslebe. Mutter teilweise das Sorgerecht. Was Manager über die Technik
„Das Problem ist, dass wir zu wenige
therapeutische Angebote in diesem Be-
Das Oberlandesgericht Karlsruhe aber
entschied, ähnlich wie später im Breisgau- wissen müssen
reich haben“, sagt Ungefuk. Viele Pro- er Fall, dass die Tochter wieder zur Mutter
gramme, etwa an der Berliner Charité,
richteten sich nur an Männer, die noch
zurückdürfe. Allerdings unter Auflagen,
etwa dass das Mädchen nie mit dem Le-
KOMMUNIKATION
nicht straffällig geworden seien. „Für die
anderen gibt es kaum etwas, die wenigen
bensgefährten allein sein dürfe. Die Mutter
wollte die gerichtlichen Weisungen nicht
So klappt die Teamarbeit im
Psychotherapeuten und Psychologen, die akzeptieren, verlor am Ende vor dem Bun- sozialen Intranet
einschlägig vorbestrafte Täter behandeln, desgerichtshof, der diese Auflagen für „ver-
sind überlastet.“ Und auch eine Therapie
sei keine Gewähr dafür, dass Pädophile
hältnismäßig“ hielt. Eine Gutachterin
schätzte die Rückfallwahrscheinlichkeit für KARRIERE
nicht mehr auffällig würden.
Immerhin gelingt es den Ermittlern re-
den Mann auf 30 Prozent.
Sicher ist, dass auch der aktuelle Fall Passen Sie zu einem Start-up?
gelmäßig, in Foren und Tauschbörsen von die Diskussion der Juristen befeuern wird.
Pädokriminellen einzudringen. Um Zutritt Jugendamt und Gerichte haben angekün-
zu den abgeschotteten Bereichen zu erhal- digt, die Abläufe zu prüfen. Die Aufarbei-
ten, wird von den Forumadministratoren tung solle auch „die Frage der Kontrolle
zumeist eine Probe mit „frischer“ Kinder- gerichtlicher Auflagen mit umfassen“. Der ! Auch als digitale Ausgabe erhältlich:
pornografie verlangt. Für deutsche Straf- Hauptverdächtige Christian L. hat nach
verfolger sind an diesem Punkt in aller seiner Festnahme gegenüber den Ermitt- harvardbusinessmanager.de
Regel die Ermittlungen vorerst am Ende, lern umfangreich ausgesagt.
denn es ist ihnen nicht erlaubt, illegales Der Mann hat nichts mehr zu verlieren:
Material zu verbreiten. Er wird diesmal einer Sicherungsverwah-
In anderen Ländern, etwa den USA rung wohl nicht entgehen.
oder Australien, haben die Fahnder oft Matthias Bartsch, Jan Friedmann,
weitergehende Möglichkeiten, mit denen Dietmar Hipp, Martin Knobbe, Ann-Katrin Müller,
das FBI auch viele Nutzer der Plattform Sven Röbel, Wolf Wiedmann-Schmidt

DER SPIEGEL 4 / 2018 49


Q UELLE: WH O
Früher war alles schlechter
Nº 108: Pest auf Madagaskar
Etwa 25 Millionen Menschen
tötete die Pest in den fünf Jahren
von 1347 bis 1351 in Europa. gemeldete Pestfälle
auf Madagaskar / Tag
Stand: 4. Dezember 2017

80

584 Menschen
10. Oktober 60
von 2010 bis 2015,
weltweit 1. August 2017 Die Zahl der Kranken
Der erste Fall erreicht ihren Höhepunkt.
von Pest tritt auf.
40

20
209 Menschen
25. November
2017, Madagaskar
letzter Patient

Wir lagen vor Madagaskar. Wenn man das Wort „Pest“ hört, Fällen, ja sogar in den USA. Das Erschreckende an der Nach-
denkt man ans Mittelalter, an Aderlass, an Knechte, die mit richt vom letztjährigen Ausbruch auf Madagaskar war, dass
Schubkarren durch die Gassen ziehen, um die Toten aufzu- sich die extrem ansteckende Lungenpest, übertragbar von
sammeln. Geschätzte Opferzahl in Europa zwischen 1347 und Mensch zu Mensch und unbehandelt fast immer tödlich, in
1351: etwa 25 Millionen Menschen. Man denkt vielleicht auch der dicht besiedelten Hauptstadt ausbereitete. Die gute Nach-
an das Seemannslied, das der Mainzer Just Scheu 1934 schrieb richt: Die Medizin ist selbst einem solchen Szenario mittlerwei-
und das Generationen von deutschen Schülern seither mit le gewachsen. Die WHO hat aus den Erfahrungen mit Ebola
Hingabe sangen – „und täglich ging einer über Bord“. Wie gelernt und dämmte die Seuche ein, indem sie deren Spur
500 Jahre zu spät wirkt deshalb ein Satz wie dieser: „Über verfolgte und schnell jene Menschen ausfindig machte, die
Madagaskar fegt eine beispiellose Pestepidemie hinweg“; tat- mit den Befallenen in Kontakt gewesen waren. Diese erhielten
sächlich stammt er aus der „Süddeutschen Zeitung“ vom prophylaktisch Antibiotika. Ende November erklärte die Re-
2. November 2017. Der Schwarze Tod lebt, auch im Kongo und gierung den Ausbruch für beendet. 2417 Menschen hatten
in Peru kam es in der jüngeren Vergangenheit wiederholt zu sich bis dahin angesteckt, 209 starben. maik.grossekathoefer@spiegel.de

Ästhetik Ikrath: Das wird zwar gern be- chen bei H&M kaufen. Es gibt
Kommt mit der Zimmerpflanze die hauptet, aber das glaube ich auch in den sozialen Unter-
nicht. Es geht bei diesen Din- schichten Trends, die werden
konservative Revolution, Herr Ikrath? gen nur um die Ästhetik. aber nur wahrgenommen,
Philipp Ikrath, 37, ist Jugendforscher und weiß, wie Trends entstehen. Wenn Sie die jungen Leute fra- wenn sie mit Drogen zu tun
gen, wer in den Fünfzigerjah- haben. Die netteren Lifestyle-
SPIEGEL: Zimmerpflanze, Näh- SPIEGEL: Könnten Sie schon. ren Bundeskanzler Trends fangen hin-
maschine, Nierentisch – Ge- Ikrath: In manchen Sub- war, werden Ihnen gegen im gehobe-
genstände, die gestern noch kulturen ist das möglich, nur wenige eine Ant- nen Milieu an.
spießig waren, erleben bei aber in einem Mittelklasse- wort geben können. SPIEGEL: Also dürf-
jungen Leuten ein Comeback. haushalt würde ich mich SPIEGEL: Wer folgt te die Zimmer-
Wie konnte das passieren? damit eher als verschroben solchen Trends? pflanze auch bald
Ikrath: Der Mensch ist be- darstellen. Ich greife lieber Ikrath: Das sind die im Mainstream an-
THORDIS RÜGGEBERG / PLAINPICTURE

strebt, das wird in diesen auf das zurück, von dem ich jungen, urbanen, ge- kommen. Haben
Accessoires deutlich, sich von weiß, das hat nicht jeder, bildeten Menschen, Sie schon eine?
anderen zu unterscheiden. Da- aber trotzdem ist es akzep- die auch eine Aus- Ikrath: Nein, dafür
für stehen uns nur begrenzte tabel. Das ist immer ein strahlungskraft ha- bin ich zu alt.
Mittel zur Verfügung. Ich schmaler Grat. ben. Darüber berich- Außerdem würde
kann mir ja nicht einfach ein SPIEGEL: Kommt nun mit der ten dann Medien, sie sich nicht mit
mittelalterliches Folterwerk- Zimmerpflanze die konserva- und irgendwann meiner Katze ver-
zeug in die Küche stellen. tive Revolution? können Sie die Sa- tragen. red

50 DER SPIEGEL 4 / 2018


Gesellschaft
Kinder, schraubte eine Maus auf und versuchte zu verste-
Eine Frage der Mäuse hen, wie die einzelnen Teile zusammen funktionieren.
Dieses kleine Gerät, es schien ihr der schnellste Weg
zu sein, in den gerechten IT-Handel einzusteigen. Eine
Eine Meldung und ihre Geschichte Ein Maus besteht ja nur aus ein paar Kondensatoren, zwei
Tasten, dem Gehäuse, einer LED, einer Linse, dem Scroll-
deutscher Beamter investiert Steuergelder – rad, einem Sensor, einem Chip, einer Leiterplatte, etwas
in fair gehandelte Computerteile. Kupferkabel mit USB-Anschluss, vier Füßen, ein paar
Widerständen.

A
uf dem Tisch, an dem der Staatsdiener Jens Leh- In den folgenden Monaten führte Jordan viele Gesprä-
ner arbeitet, liegt eine Computermaus, und man che, sie telefonierte mit Rohstofflieferanten, traf Hersteller
sieht ihr nicht an, dass sie Teil einer besseren Welt und Vertriebsleiter, sie besuchte Messen und Ausstellun-
ist. Ein Gehäuse mit zwei Tasten und einem Scrollrad, gen, schrieb E-Mails, Faxe, forderte Zertifikate an und
dazu ein Kabel mit einem USB-Anschluss am Ende. Sie schriftliche Bestätigungen, die belegen sollten, dass die
sieht aus, wie solche Geräte aussehen, aber die Maus von Rohstoffe nicht aus Krisengebieten stammen und die Ar-
Herrn Lehner kann man nicht in der Fußgängerzone beitsbedingungen fair sind.
bei Saturn kaufen. Sie ist ein Fairtrade-Produkt, wie Der Tag, an dem Jordan ihre erste Maus aufschraubte,
Kaffee von den Maya-Indianern oder Gesichtscreme mit liegt jetzt acht Jahre zurück, seit fünf Jahren verkauft sie
ghanaischer Sheabutter. Sie ist die fairste Maus der ihr Produkt bereits, aber nur in geringer Zahl, denn eine
Welt und Ausdruck dafür, dass Jens Lehner ein guter faire Maus kostet 30 Euro das Stück, gut doppelt so viel
Mensch ist. Aber sie könnte ihm noch Ärger machen. wie eine konventionell hergestellte. Außerdem muss Jor-
Lehner ist von Beruf Jurist, seit dan zugeben, dass sie ihr Ziel bislang
17 Jahren arbeitet er als Beamter im noch nicht ganz erreicht hat. Ihre
öffentlichen Dienst. Er ist ein zurück- Maus ist zwar die fairste Maus der
haltender Mann, der in seiner Freizeit Welt, aber sie ist immer noch nicht zu
an Computern bastelt und Bücher zur 100 Prozent fair, eher zu 70 Prozent.
Relativitätstheorie liest, einer, der da- Aber Jordan gibt nicht auf. Im ver-
ran glaubt, dass man als Bürger etwas gangenen Frühjahr reiste sie aus Bichl
für die Weltverbesserung tun kann, in Oberbayern nach China, zum zwei-
wenn man die richtigen Sachen ein- ten Mal seit Beginn ihres Projekts.
kauft; Nahrung, Kleidung, Dinge des Diesmal wollte sie einen Lieferanten
alltäglichen Gebrauchs. finden, der bereit ist, Kupferstecker
Vor vier Jahren reiste Lehner nach und Kabel mit recyceltem Kunststoff
HELENA LEA MANHARTSBERGER / DER SPIEGEL

Rostock, dort besuchte er eine Tagung, zu umhüllen.


auf der er viel mit anderen Teilneh- Während Jordan durch die Welt zog,
mern über „nachhaltige öffentliche Be- machte Jens Lehner in der Abgeschie-
schaffung“ diskutierte, über die Krite- denheit seiner Dienststelle Karriere.
rien, nach denen die Bundesregierung, Er wurde Leiter des Einkaufs bei „IT
die Landesregierungen, die Städte und Niedersachsen“, einem Betrieb im Be-
Gemeinden Dinge kaufen, die sie sitz des Landes, der für die Computer
brauchen, um zu funktionieren. und Programme zuständig ist, die in
Der deutsche Staat ist ein mächtiger den Ämtern und Behörden benutzt
Konsument, geschätzte 300 Milliarden Lehner werden. Ein Projekt sah neue Compu-
Euro gibt er im Jahr aus. Mit einer sol- ter für die Polizeiinspektionen Nieder-
chen Macht sollte er verantwortlich sachsens vor und damit auch neue
umgehen, findet Lehner. Für ihn darf Mäuse. Lehner dachte an Jordan. Er
der Staat nicht nur sparen, er muss Von der Website Enorm-magazin.de brauchte 19 000 Mäuse. Wenn er die
auch Vorbild sein. bei Susanne Jordan bestellen würde,
Deshalb blieb Lehner auch gleich stehen, an diesem würde er mehr zahlen als nötig. Wie viel mehr, das darf
Tag, an jenem Stand, wo er sie sah, die faire Maus, in der Lehner nicht offenlegen, aus Wettbewerbsgründen, wie
Hand von Susanne Jordan, ihrer Schöpferin. er sagt. Aber es dürften um die 100 000 Euro sein. Es ist
Lehner mochte Jordan gleich, sie war ihm sehr ähnlich, schwer zu sagen, ob dem deutschen Steuerzahler fair ge-
fand er, eine gute Demokratin, eine aktive Bürgerin. Jor- handelte Computermäuse für die Polizei in Niedersachsen
dan studierte Geografie, während dieser Zeit beschäftigte so viel Geld wert sind.
sie sich intensiv mit dem fairen Handel in der Welt und Jens Lehner entschied: Ja, sind sie. Seit sein Großauftrag
lebte für ein Jahr in Afrika. Zurück in Deutschland trug bei ihr eingegangen ist, gibt Susanne Jordan viele Inter-
Jordan faire Kleidung, aß faires Obst und legte nur fair views, sie redet darin vom „Durchbruch“, von sechs Mit-
hergestellten Schmuck an. Sie lebt in einer Wohngemein- arbeitern, die sie jetzt hat, davon, dass ihr IT-Projekt end-
schaft in Bichl. Von diesem behaglichen Ort in Oberbayern lich den „symbolischen Goodwill“ verlassen hat. Über
aus ärgerte sich Jordan weiter über die Ungerechtigkeiten Jens Lehner spricht sie nicht.
dieser Welt. Darüber, dass es keine fair hergestellten Com- Seitdem die ersten Presseberichte über die Mäuse-
puter gab, keine Laptops, Tablets, keine Drucker. Sie be- bestellung der Polizei in Niedersachsen raus sind, ist
schloss, wenn niemand von den Mächtigen diesen Zustand Lehner etwas nervös. Er steht nicht gern in der Öffent-
ändern wollte, dann würde sie es halt tun. lichkeit. Er sagt: „Es war auf alle Fälle keine leichtfertige
Susanne Jordan hatte jetzt eine Vision, die faire Com- Entscheidung für mich.“ Aber er sagt auch: „Ich würde es
putermaus. Sie kaufte sich einen Elektronikbaukasten für wieder machen.“ Uwe Buse

DER SPIEGEL 4 / 2018 51


Personenschaden
Schicksale Jedes Jahr lassen sich 800 Menschen von einem Zug überrollen.
Sie machen Lokführer zu Opfern, die sich als Täter fühlen. Stephan Kniest
hat das schon viermal erlebt. Wie hält ein Mensch das aus? Von Hauke Goos

CHRISTIAN PLOCHACKI / PLAINPICTURE

52 DER SPIEGEL 4 / 2018


Gesellschaft

W
o sucht jemand, der in kurzer Woran er sich erinnert: an das Geräusch jeder Hebel, jeder Knopf, jeder Schalter
Zeit vier Menschen totgefahren des Anpralls, einen dumpfen Knall. eine Aufgabe hat – und wo jeder Knopf,
hat, Frieden? Wo sucht so einer, Er habe kein Gesicht gesehen, sagt jeder Hebel und jeder Schalter genau so
vielleicht sogar: Glück? Stephan Kniest Kniest. Er weiß nicht, ob die junge Frau aussieht, wie er aussehen muss, damit er
sucht es in Rotterdam, Navi-Adresse: „Slag bäuchlings auf den Gleisen lag oder auf genau diese eine Aufgabe erfüllen kann.
Maasmond 10“ – dort, wo der mächtige dem Rücken. Als der Zug endlich stand, Eisenbahn ist, im Unterschied zum Stra-
Rhein in die noch mächtigere Nordsee kletterte Kniest aus seinem Führerstand. ßenverkehr, vor allem Ordnung: die mög-
mündet und wo ein Typ, den alle hier nur Ein Lokführer ist verpflichtet, zurückzu- lichst störungsfreie Wiederholung immer
John nennen, auf dem Strand einen Imbiss gehen an die Unfallstelle, um sich nicht gleicher Abläufe, die ihren Ausdruck fin-
errichtet hat, das Smickel-Inn. wegen unterlassener Hilfeleistung strafbar det im Wunderwerk des Fahrplans. Ein
Stephan Kniest sitzt an einem Tisch am zu machen. Zug, der Hamburg Hbf um 11.38 Uhr ver-
Fenster. Er trägt einen modischen Kinnbart Irgendwann traf der Notfallmanager der lässt, läuft um 13.21 Uhr in Berlin Hbf ein –
und eine randlose Brille, die kurzen Haare Bahn ein, der Staatsanwalt, der Kollege, am Montag, am Dienstag, jeden Tag.
hat er in die Höhe gegelt. der zur Ablösung gerufen worden war. Als Kniest sechs Jahre alt war, schenk-
Kniest ist 36 Jahre alt, aber er sieht jun- Später saß Stephan Kniest, damals 21 Jahre ten ihm seine Eltern zu Weihnachten eine
genhaft aus. Vor sich auf dem Tisch: eine alt, Lokführer seit ein paar Wochen, im Modelleisenbahn. Mit zwölf wusste er,
Canon 5D mit einem riesigen Objektiv, da- Taxi, auf dem Weg nach Hause. Ein dass er Lokführer werden würde. Er mach-
neben eine Plastikschale mit „Frikandel Freund kam, damit er nicht allein war te die Schule fertig und eine Lehre, danach
speciaal“, einer gebratenen Fleischrolle mit den Gedanken und dem Bild eines schickte er seine Bewerbung an die Deut-
mit gehackten Zwiebeln, Pommes und Ket- Müllsacks auf den Gleisen, der kein Müll- sche Bahn.
chup. An der Wand hinter ihm hängt ein sack war. Bevor die Bahn einen Bewerber zum
Foto, das er selbst geschossen hat. Ein Tan- Was er nicht vergessen kann: wie lang Lokführer ausbildet, macht sie Tests mit
ker ist darauf zu erkennen, aufgenommen der Weg war, zurück zur Unfallstelle. Wie ihm. Ein Lokführer muss sich konzentrie-
von schräg vorn, ein gewaltiger schwarzer viele Gedanken einem auf diesem Weg ren können, er muss belastbar sein und
Rumpf im Dämmerlicht. durch den Kopf gehen können. Stress aushalten. Die Bahn weiß Dinge
Am Meer, sagt Kniest, finde er Ruhe. Kniest stochert in den Pommes, vor dem über den Job, von denen der Bewerber
Die Last der Arbeit, die Last der vergan- Fenster des Smickel-Inn kreisen Möwen. keine Ahnung hat.
genen Jahre falle hier von ihm ab, am „Ich wusste ja nicht, was mich erwartet.“ Einmal hockte Kniest mit Kopfhörern
Strand vor dem Smickel-Inn könne er „den An diesem Samstagmorgen ist er kurz vor einem Monitor. Er sah Farben und hör-
Stress im Meer versenken“ – die Erinne- vor fünf zu Hause losgefahren. Knapp te Töne, er sollte darauf reagieren, indem
rung an das, was er „Ereignisse“ nennt. 200 Kilometer sind es von Weeze, wo er mit den Händen zwei Knöpfe drückte
Das erste „Ereignis“ traf ihn auf gerader Kniest wohnt, nach Rotterdam, zwei Stun- oder mit den Füßen zwei Pedale trat, je
Strecke, in einem Waldgebiet. Eine junge den, dann ist er am Meer. nachdem, ob gerade eine Farbe aufschien
Frau hatte sich quer über die Gleise gelegt. oder ein Ton erklang. Dann wurde das
Kniest fuhr im Nahverkehr, 120 Kilometer Tempo erhöht. Hinterher erfuhr er, dass
pro Stunde, früher Abend. Es dämmerte Es kommt der Moment, in es nicht darauf ankam, hektisch auf Knöp-
bereits. „Es sah aus wie ein Müllsack“, sagt fe und Pedale zu drücken, sondern darauf,
er. Er war erst seit ein paar Wochen Lok- dem er überlegt, sich um- irgendwann aufzuhören, eine Pause zu ma-
führer. Er bremste sofort. zubringen. „Nimm Tabletten. chen – die Abfolge der Farben und Töne
Sein Triebwagen wiegt etwa 80 Tonnen, wurde langsamer, sobald sich der Kandidat
von hinten schiebt das Gewicht der Wag-
Dann hast du Ruhe.“ entschied, erst einmal abzuwarten.
gons. Um den Zug, der 120 fährt, zum Ste- Natürlich sprachen sie während der Aus-
hen zu bringen, braucht es einen Brems- Kniest hat sich mit zwei Freunden ver- bildung auch über Selbstmörder. Pro Jahr
weg von 600 Metern. abredet, Malte Kopfer und Thomas Braun. sterben in Deutschland rund 800 Menschen
600 Meter, das sind 18 endlose Sekun- Die drei stehen den ganzen Tag über ge- auf Gleisen, „Schienensuizid“ heißt diese
den, in denen der Lokführer auf den Men- meinsam am Deich, vor sich die Nordsee, Form der Selbsttötung im Amtsdeutsch.
schen vor sich starrt, der plötzlich zum im Rücken der gewaltige Hafen von Rot- Bei den Bahnkunden kommt ein „Schie-
Hindernis geworden ist. In der Ausbildung terdam, sie stehen einfach da in ihren di- nensuizid“ als Störung des Fahrplans an,
wird Lokführern geraten, wegzuschauen cken Jacken und warten: darauf, dass ein als lästige Verspätung. Das Zugpersonal
und sich die Ohren zuzuhalten. „Aber das Schiff ausläuft; darauf, dass ein Schiff ein- spricht von „Personenschaden“ oder „Not-
klappt nicht“, sagt Kniest. „Das geht gar läuft; darauf, dass dann, wenn ein Schiff arzteinsatz am Gleis“.
nicht. Man hat keine Zeit wegzugucken.“ kommt, alles exakt so ist, wie es sein soll, 800 Selbstmörder im Jahr, das sind im
Kollegen gibt es, Kniest hat davon ge- der Sonnenstand, die Wolken, die Schat- Schnitt mehr als zwei am Tag. Jeder Lok-
hört, die das Rollo runterziehen, weil sie ten, die Ladung. Vor allem aber das Licht. führer, heißt das, muss damit rechnen, dass
wissen, was kommt. Kniest dachte nicht Rotterdam ist weit weg von Kniests Hei- er in seinem Berufsleben ein- bis zweimal
an das Rollo. Er stand einfach da und starr- matort, am Meer ist er sehr weit weg von einen Menschen überfährt.
te. 18 Sekunden, in denen ihm, zu seiner der Strecke, auf der er täglich mit seiner Noch bevor er seine erste Fahrt als Lok-
eigenen Verblüffung, fast ausschließlich Lok unterwegs ist. Lokführer, sagt Kniest, führer antrat, Ende 2004, kaufte sich Ste-
Betriebliches durch den Kopf ging. Im Aus- sei sein Traumjob, immer noch. phan Kniest ein Buch. Ein älterer Kollege
bildungshandbuch der Bahn gibt es ein Ka- Ein Cousin seines Vaters, so beginnt hatte ihm den Tipp gegeben. Viele Schau-
pitel „Verhalten bei Gefahr“. In den 18 Se- Kniests Lokführergeschichte, war Fahr- bilder und Tabellen sind darin, es trägt
kunden erinnerte sich Kniest an jeden ein- dienstleiter bei der Bahn. Eines Tages den Titel „Die Angst fährt immer mit …“.
zelnen Schritt, den er darin gelesen hatte. nahm er den Jungen mit zur Arbeit, das Es ist ein Buch über Lokführer, und
Notruf absetzen. Gleis sperren lassen. An- war’s. Der Auslöser? Die Technik, sagt eben weil es das Grauen eines Schienen-
dere Lokführer warnen. Den Zug sichern, Kniest. Das Maschinenhafte, das Mächtige, unfalls in Statistiken und Schaubilder
damit er nicht rollt. Leitzentrale verstän- die Kraft, die Präzision. Und die Schönheit, fasst, ist es vor allem ein Buch für Lokfüh-
digen, den Fahrdienstleiter. die im Funktionalen verborgen liegt, wo rer. Kniest interessierte damals, was man
DER SPIEGEL 4 / 2018 53
Gesellschaft

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL


Traumapatient Kniest vor dem Smickel-Inn, Schiffs-App: Der Versuch, Bilder mit Bildern zu bekämpfen

macht, wenn es passiert. Wie es danach Länge und einem Leergewicht von min- und sich hinstellen“, sagt Kniest, „das
weitergeht. Wer einem hilft. Er wollte vor- destens 400 Tonnen. knallt ordentlich.“
bereitet sein. Er konnte nicht wissen, dass Bei Tempo 300 beträgt der Bremsweg Das zweite „Ereignis“ macht Kniest zu
man sich auf manche Dinge im Leben mehr als drei Kilometer. einem Fortgeschrittenen. Er fährt Strecken
nicht vorbereiten kann. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Stephan nicht bloß ab. Er kann jetzt im Verlauf der
Vier Wochen nach dem ersten „Ereig- Kniest ungefähr zu jener Zeit, als er seinen Schienen etwas lesen. Er erkennt die Chan-
nis“ wollte Kniest wieder fahren. „Wie ersten Unfall erlebte, die Liebe zu Schiffen cen, die Selbstmörder darin sehen.
geht’s?“, hatte ihn sein Teamleiter am Te- entdeckte. Bis dahin hatte er Eisenbahnen Kniest weiß bald, wo Menschen uner-
lefon gefragt. Hätte Kniest damals geant- fotografiert, ein Hobby, bei dem man vor laubt die Gleise queren, wo Schalthäus-
wortet, dass ihn der Vorfall belastet, dann allem schnell sein muss. Zwei Fotos, mehr chen stehen, hinter denen sich jemand ver-
hätte er einen Termin beim Betriebspsy- nicht, dann ist die Lok vorbei. Kniest emp- stecken könnte, er weiß, was es für den
chologen bekommen. Allerdings fühlte er fand das Fotografieren von Zügen zuneh- Bremsweg bedeutet, wenn die Schienen-
sich gut. Er traute sich die Rückkehr zu, mend als Stress. köpfe nicht mehr glänzen, weil der Frost
er hatte das Gefühl: geht ja wieder. Schiffe sind langsam. Ein Schiff steuert sie mit Raureif überzogen hat. Personen-
Außerdem klingt „Betriebspsychologe“ einen Kurs, es kommt in Sicht und nähert verkehr, sagt Kniest, ist gefährlicher als
nach Schwäche. Kniest kannte keinen Kol- sich, und wenn es seinen Kurs ändert, hat Güterverkehr. Unbebautes Gelände ist
legen, der die Hilfe eines Psychologen in der Fotograf alle Zeit, darauf zu reagieren. gefährlicher als Wohngebiet. Männer
Anspruch genommen hätte, er kennt auch Schiffe bewegen sich, verglichen mit Ei- zieht es eher an die Gleise als Frauen,
heute kaum einen. Man redet unter Lok- senbahnen, in extremer Zeitlupe. junge Menschen eher als alte. Besondere
führern nicht über „Ereignisse“. Von seinem zweiten Unfall, ziemlich ge- Gefahr droht, wenn eine psychiatrische
Lokführer ist ein Beruf für Einzelgänger. nau ein Jahr später, habe er nicht viel mit- Klinik in der Nähe liegt. Kniest lernt,
Wer sich für die Präzision von Abläufen bekommen, sagt Kniest. Diesmal war es dass die Scheinwerfer am Triebwagen
begeistert, muss es gut mit sich selbst aus- ein Mann, der ihm vor den Zug sprang, nicht helfen, wenn es darum geht, ein Hin-
halten können. Wenn der Lokführer über- Kniest sah ihn erst im letzten Moment. dernis zu erkennen. Sie leuchten so
haupt in Kontakt mit Menschen kommt, Diesmal lief er nicht zurück an die Unfall- schwach, dass Lokführer sie „Teelichte“
dann fast immer, weil der Mensch den Ab- stelle, ein anderer ging für ihn. „Ich hätte nennen.
lauf stört: indem er sich, in der Bahn, es auch nicht gekonnt.“ Ende 2006 trifft es Stephan Kniest zum
schlecht benimmt. Oder indem er vor der Wieder fuhr ihn ein Taxi nach Hause, dritten Mal, „wieder die dunkle Jahres-
Bahn ins Gleis springt. Ein guter Lokführer wieder wurde er für vier Wochen krank- zeit“, sagt Kniest, der schon „mit einem
muss den Menschen vergessen, so gut es geschrieben, wieder dachte er, er sei stark mulmigen Gefühl“ in diesen Herbst hinein-
geht. Die ideale Welt eines Lokführers ist genug. „Ich glaubte, der Vorfall hätte mich gefahren ist.
menschenleer: vor sich die Strecke, hinter nicht belastet.“ Er weiß nicht mehr, ob das Opfer ihn
sich Hunderte Fahrgäste, unter sich die Fast jeder Lokführer lernt mit den Jah- liegend oder stehend erwartete, er hat ver-
Kraft von 10 000 PS. ren, die Geräusche zu unterscheiden, die drängt, welches Geräusch der Aufprall
Spürt er die Kraft? „Im Sitzen“, sagt der Tod macht. Je höher der Anprall, sagt machte. Kniest will nichts über die Opfer
Kniest und lächelt. „Du merkst es im Kniest, desto lauter der Knall. Er lernt, ei- wissen, das Nichtwissen schützt ihn: ein
Stuhl.“ nen Fuchs von einem Hund zu unterschei- Gesicht, ein Name, ein Schicksal gar macht
Ein Güterzug ist 100 Kilometer pro Stun- den, einen Hasen von einem Kaninchen, es für ihn nur noch komplizierter.
de schnell, ein Nahverkehrszug 160. Im eine Taube von einem Bussard. Ein Im Taxi nach Hause fragt er sich: „Wa-
Fernverkehr erreichen die Züge bis zu Mensch, der auf den Schienen liegt, klingt rum wieder ich?“ Stephan Kniest liegt
300 km/h. Ein ICE 3, ausgelegt für 450 Pas- anders als ein Mensch, der stehend auf den jetzt über dem statistischen Mittel. Er ist
sagiere, ist ein Geschoss von 200 Meter Tod wartet. „Wenn die den Kasper machen 24 Jahre alt.
54 DER SPIEGEL 4 / 2018
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL
Shipspotter-Freunde Braun, Kopfer, Kniest in Rotterdam: Sehnsucht nach Ordnung

Er weiß inzwischen, dass ein Fahrplan schon Arzt in Malente. Im Ultraschall zwischen belegen neun Terabyte seine
nicht mehr ist als eine optimistische An- konnten sie keine Ursache entdecken. Ir- Festplatten. Er kann sich an beinahe jedes
nahme. Ständig kann etwas dazwischen- gendwann erzählte der Mann, dass er mit Schiff erinnern, an das Wetter, den Tag,
kommen. Ein Mensch, der auf den Gleisen seiner Lok in einen Arbeitertrupp gefah- das Licht, an die Umstände. Die Fotos sind
den Tod sucht, stört die Ordnung der Eisen- ren war. So kamen sie darauf, dass die ein Beweis, dass es diesen Tag gab. Dass
bahn. Die Freiheit des Selbstmörders, Herzbeschwerden nicht organischer Ursa- etwas fortschreitet, dass das Leben eine
Chaos zu erzeugen, wo und wann immer che waren. Reihenfolge, eine Ordnung einhält.
er will, bedeutet gleichzeitig die Unfreiheit Kniest leidet spätestens seit seinem Acht Jahre lang geht alles gut, zu-
des Lokführers. dritten Selbsttötungsfall an einer Krank- mindest fühlt es sich für Kniest so an. Er
Hilfe holt Kniest sich auch diesmal nicht. heit, die Ärzte PTBS nennen, die Abkür- erlebt ein paar Beinaheunfälle, aber keine
Er hat drei traumatische Ereignisse hin- zung für posttraumatische Belastungsstö- Katastrophe.
ter sich, Vorgänge, die das Gehirn nicht rung. Seit 1980 ist PTBS als Krankheit an- Doch Freunden fällt schon in dieser Zeit
verarbeiten kann. Sie sind immer präsent, erkannt. Etwa 15 Prozent der Lokführer, auf, dass er sich verändert. Er zieht sich
vor allem die Details, die Geräusche, die die einen Menschen überfahren haben, zurück, geht kaum noch aus, und wenn
Gerüche. „Ich erinnere mich an alles“, sagt entwickeln eine PTBS, das ist Kalls Erfah- sie verabredet sind, zu einer Feier beispiels-
Kniest. „Alles ist überscharf.“ rung. Lokführer sind ähnlich gefährdet weise, dann findet er Ausreden, um nicht
„Ein Trauma macht häufig sprachlos“, mitgehen zu müssen.
sagt Bruno Kall, Oberarzt an der Buchen- „Ich bin vielen Fragen aus dem Weg ge-
holm-Klinik im schleswig-holsteinischen Der Mann läuft ihm gangen“, sagt Kniest. „Einigeln“ nennt er
Malente, die sich vor etwas mehr als das. „Damit keine blöden Fragen kom-
20 Jahren auf die Behandlung traumati- auf den Gleisen men.“ Blöd sind alle Fragen, auf die er kei-
sierter Lokführer spezialisiert hat. Die Be- entgegen. „Er hat mich ne Antwort hat.
troffenen sind, im Wortsinn, sprachlos vor Dann kommt der 23. Januar 2015, ein
Entsetzen.
angeguckt.“ Freitag. Diesmal ist es ein Mann, der sich
Denn ein Mensch, der den Tod auf Kniests Zug ausgesucht hat, um seinem
den Gleisen sucht, zerstört nicht nur sein wie Feuerwehrleute, Rettungssanitäter Leben ein Ende zu setzen.
eigenes Leben. Er missbraucht immer auch oder Polizisten. Kall sagt: „Je geringer die Es ist sein viertes „Ereignis“. Und das
einen zweiten Menschen. Er macht aus Möglichkeit ist, bei einem traumatischen vierte Ereignis ist noch mal ganz anders.
einem Lokführer einen Täter, jemanden, Erlebnis etwas beeinflussen zu können, Es ist ein dunkelhäutiger Mann, das kann
der gezwungen wird zu töten. Einen Mör- desto schwerer ist die Verarbeitung.“ Kniest erkennen. Er hat sich nicht auf die
der ohne Schuld. Stephan Kniest versucht seine Traumata Schienen gelegt. Er gibt Kniest nicht die
Die Buchenholm-Klinik liegt unter ho- zu verarbeiten, indem er Schiffe fotogra- Chance auf den entlastenden Gedanken,
hen Bäumen am Dieksee, vom Speisesaal fiert. Die Fotos von Schiffen werden mit jemand könne womöglich nur einen Müll-
aus blickt man durch Panoramafenster aufs jedem „Ereignis“ wichtiger. Kniest steht sack abgeworfen haben. Der Mann läuft
Wasser; es ist ein guter Ort, um zur Ruhe in Rotterdam am Meer, so oft er kann. Er Kniest auf den Gleisen entgegen.
zu kommen. Was sie darauf brachte, sich macht Fotos, bis zu 1500 am Tag, die er zu Was Kniest nicht vergessen kann, bis
mit traumatischen Störungen von Lokfüh- Hause durchsieht, bearbeitet, beschriftet heute nicht: „Er hat mich angeguckt.“
rern zu beschäftigen? Die Klinik ist eine und archiviert – als versuchte er, Bilder Drei Handgriffe bleiben einem Lokfüh-
Tochter der Bahn-Betriebskrankenkasse. mit Bildern zu bekämpfen. rer, der einen Zug möglichst rasch zum
1996 hatten sie einen Lokführer zur Be- Jedes Bild, das scharf ist, sichert er dop- Stehen bringen will: Er reißt das Führer-
handlung dort, der über diffuse Herz- pelt. Kniests größte Sorge ist, dass ein Feh- bremsventil aus der Fahrstellung in die
schmerzen klagte, Kall war auch damals ler, ein technischer Defekt alles löscht. In- Schnellbremsstellung; er löst mit einem
DER SPIEGEL 4 / 2018 55
Gesellschaft

begleitet von einem Kollegen. Es hilft, dass


der Ausbildungslokführer ebenfalls einen
Menschen totgefahren hat. „Der wusste,
wovon ich rede.“
Die Schichten, sagt Kniest, sind heute
deutlich kraftraubender als früher. In
den ersten Wochen sieht er hinter jedem
Schaltschrank jemanden lauern; wenn er
nachts fährt oder bei Nebel, ist er hinterher
schweißgebadet.

STEPHAN KNIEST / FACEBOOK


Manchmal, wenn es ihm schlecht geht,
lässt er sich krankschreiben. Stundenlang
hockt er dann an seinem Schreibtisch,
klickt sich durch seine Schiffsbilder, macht
Termine mit der Psychologin, die ihn be-
treut. Kniest hat Angst, ein fünftes „Ereig-
Kniest-Foto vom Fähranleger: Die ideale Welt ist menschenleer nis“ könnte ihn endgültig zerstören.
Einmal muss er eine Woche lang ausset-
Fußpedal den Signalpfiff aus; er drückt ei- Wenn er nachts nicht schlafen kann, setzt zen. Während dieser Zeit, erfährt er später,
nen Knopf, wodurch Quarzsand vor der er sich an den Computer und betrachtet die haben sich auf der Strecke, auf der er nor-
ersten Achse auf die Schienen geschüttet Schiffsbilder, die auf dem Rechner gespei- malerweise unterwegs ist, drei Menschen
wird, damit die Räder beim Bremsen einen chert sind. Stundenlang korrigiert er Farben, das Leben genommen.
besseren Grip haben. Drei Handgriffe, und Kontraste und Töne. Solange er die Bilder Kniest zwingt sich dazu, nicht an die
trotzdem steht der Zug fast immer zu spät. mit den Schiffen bearbeitet, muss er nicht Menschen zu denken, die ihm sein Leben
Wieder wird Kniest krankgeschrieben. mit den Bildern in seinem Kopf kämpfen. zerstören, weil sie mit ihrem Leben nicht
Diesmal kehrt er nicht in den Dienst zu- Nach kurzer Zeit hat er eine Sehnen- mehr klarkommen. Er hat sich zurück-
rück. Er kann nicht mehr Lok fahren, die scheidenentzündung. Als der rechte Arm gekämpft in den Führerstand, das ist eine
Bilder in seinem Kopf sind zu mächtig. deswegen eingegipst werden muss, bestellt beachtliche Leistung, er denkt an die Ma-
Nachts schläft er schlecht, tagsüber geht er sich eine Maus für den linken. schine, an den Fahrplan; er hat gelernt,
er kaum noch vor die Tür. Jederzeit und Weil er nicht arbeiten kann, läuft er Ge- dass Glück auch die Abwesenheit von
überall überfallen ihn die Erinnerungen, fahr, dass nach einem Jahr sein Lokführer- Unglück bedeuten kann.
ausgelöst durch Kleinigkeiten: durch Mar- schein erlischt. Je näher der Stichtag rückt, Als der Tag in Rotterdam zu Ende geht,
tinshorn, durch Bremsgeräusche, durch das desto schlechter geht es ihm. Es kommt nachdem Stephan Kniest und seine beiden
Rattern eines Zuges, durch Blaulicht. der Moment, in dem er daran denkt, sich Freunde stundenlang am Deich gestanden
Im Mai 2015 fährt er zum ersten Mal umzubringen. Nimm Tabletten, denkt er, haben, Witze machend, fotografierend,
nach Malente, in die Buchenholm-Klinik dann hast du Ruhe. schweigend, fahren sie, als die Dämme-
zu Doktor Kall. rung von der Nordsee hochzieht, vom
Augenkontakt, sagt Kall, macht die Be- Smickel-Inn noch einmal hinüber zur
handlung schwieriger. „Der Lokführer Er fährt jetzt wieder. In Landzunge, von einer Anhöhe hat man
glaubt dann: Der Selbstmörder hat mich einen fantastischen Blick auf den Erzhafen
gemeint.“ den ersten Wochen sieht und den Calandkanal.
In Malente versuchen sie, das traumati- er hinter jedem Schalt- Vom Stativ aus macht Kniest Fotos von
sche Ereignis durchzuarbeiten, den Tag zwei weißen Fährschiffen, die unter einem
des „Ereignisses“ zurückholen, die Fahrt,
schrank jemanden lauern. bemerkenswert gelben Himmel am Kai lie-
den Unfall, das Gefühl. gen, weil die Wolken durch die Lampen
Viele Patienten kommen nach Malente, 2016 geht er ein zweites Mal nach Ma- der Gewächshäuser angestrahlt werden, in
sagt Kall, und sagen: „Machen Sie’s weg. lente, diesmal für zwölf Wochen. denen sie hier Orchideen ziehen. „Heute
Wie bei einem Super-8-Film: Können Sie Kniest lernt, seine „Trigger“ zu erken- war ein guter Tag“, sagt er. Ein guter Him-
die Sequenz nicht einfach rausschneiden?“ nen, jene Geräusche und Gerüche, die das mel, viele Schiffe, gutes Licht.
Es dauert meist eine Weile, bis ein Trau- Gehirn mit dem „Ereignis“ verknüpft. Erst Noch am selben Abend schaut er zu
mapatient begreift, dass man Erlebnisse in Malente fällt ihm auf, dass er seit seinem Hause am Computer die Bilder des Tages
nicht löschen kann. Man kann die Sequenz ersten „Ereignis“, als er in einem Waldge- durch, das Foto mit dem gelben Himmel
besprechen, sagt Kall, mit dem Ziel, dass biet im November über die Gleise zurück- bearbeitet er als Erstes, 20 Minuten lang.
der Kranke sie anders bewertet. Wenn al- lief zur toten Frau, Waldspaziergänge mei- Um 23.26 Uhr lädt er das Ergebnis auf
les gut läuft, verblassen die Bilder irgend- det, weil er den Geruch von Herbstlaub Facebook hoch.
wann; verschwinden werden sie nicht. nicht erträgt. Er lernt, Geduld zu haben. Ein perfektes Bild, sagt Kniest. Zwei rie-
Der Patient muss lernen, dass der Lok- Als sein Lokführerschein erlischt, verspürt sige Maschinen, hintereinander vertäut,
führer nicht Täter ist, sondern Opfer. Er er Erleichterung. Und er lernt, wieder zum der hohe gelbe Himmel, alles ist scharf
hat die Lok zwar gesteuert, aber er hat Bahnhof zu gehen, mit dem Zug zu fahren. und korrekt belichtet.
keinen Menschen getötet; das hat der Er kommt sich dabei vor „wie ein kleines Ein Bild, auf dem nichts stört, auf dem
Selbstmörder selbst getan. Wut, sagt Kall, Kind, das laufen lernt“. sich nichts bewegt. Und auf dem kein ein-
ist gut. Wut auf den Menschen, der einen Es dauert bis zum Frühjahr 2017, bis er ziger Mensch zu erkennen ist.
in diese Lage gebracht hat. Wut hilft, um den Entschluss fasst, den Führerschein er-
aus der Täterrolle herauszukommen. neut zu machen. Er will kämpfen, sagt Video: Hauke Goos über
Nach neun Wochen fährt Kniest nach Kniest. Die Prüfung besteht er im ersten seine Recherchen
Hause zurück. Er fühlt sich besser, aber er Anlauf. Anfangs fährt er für zwei Stunden spiegel.de/sp042018recherche
fühlt sich nicht gut. auf der Lok, dann vier, schließlich acht, oder in der App DER SPIEGEL

56 DER SPIEGEL 4 / 2018


ein bisschen erwachsen. Auch meine zweite Uhr war ein
Geschenk, nun zum Abitur. Ein Designklassiker aus Edel-
stahl zwar, aber für meinen Geschmack zu klein. Richtig
gefallen hat die Uhr mir nie, trotzdem trug ich sie jeden
Tag, 27 Jahre lang. Sie ist für mich von hohem ideellem
Wert: Ich vermute, die Reparaturen und Dichtheitsprü-
Tick, tack fungen haben fast so viel gekostet wie die Uhr selbst. Ir-
gendwann kam dann der Tag, an dem ich dachte: Mein
Junge, du bist jetzt alt genug für die Uhr deines Lebens.
Homestory Warum unsere Kinder den Wert Auf der Suche nach dieser Uhr guckte ich in Schaufens-
ter und suchte im Netz nach der richtigen Ausführung. Es
einer Uhr nicht mehr erkennen können war nicht leicht. Denn eine Uhr ist das einzige Schmuck-
stück, das ein Mann tragen sollte, abgesehen vom Ehering,

V
or ein paar Wochen habe ich mir einen Wunsch falls er verheiratet ist. Eine Uhr sagt etwas darüber, wer
erfüllt. Ich habe mir eine Armbanduhr gekauft, du bist. Oder wer du sein möchtest. Ich habe mich zum
zum ersten Mal in meinem Leben. Nicht irgend- Beispiel nie für eine Rolex interessiert.
eine Uhr, sondern eine Taucheruhr von Omega, mit auto- Für meine Söhne sind Armbanduhren etwas, was es
matischem Aufzug. Freunde der Uhren- und Filmgeschich- nicht mehr gibt. So wie Kassettenrekorder. Wenn sie wis-
te wissen, dass Bond, James Bond, diese Uhr trägt, ein sen wollen, wie spät es ist, gucken sie auf das Handy, den
ikonischer Zeitmesser, Swiss made. Weil mir eine Bond- iPod, das Tablet. Die Auskunft, die sie dort bekommen,
Uhr neu zu teuer gewesen wäre – sie hat den Preis eines ist präziser als auf jeder mechanischen Uhr. Die physi-
zweiwöchigen Familienurlaubs –, habe ich nach einem kalischen Gesetze, die das Werk laufen lassen, wirken an
gebrauchten Modell in ordentlichem Zustand gesucht. meinen Kindern vorbei: Schwungmasse, Zugfeder und
Fündig wurde ich bei einem 84-jährigen Uhrmacher, Ankerradzähne sind ihnen schnurz. Sie wissen nicht, wie
der einen kleinen Laden mit gelber Markise hat, in der der Herzschlag einer Armbanduhr entsteht, tick, tack.
Auslage historische Taschenuhren und Wecker, wie ich Hat ein Smartphone ein Herz? Hat ein Tablet eine Seele?
sie von meiner Oma kenne. Nicht dass ich wüsste. Würde jemand auf die Idee kommen,
Meinen Kindern zeigte ich einem Sohn zur Gesellenprüfung
die Uhr zu Hause beim Abend- oder meinetwegen zur Hochzeit
essen. Ich sagte, dass ich ihnen ein altes Handy zu überreichen?
diese Uhr eines Tages weiter- Hätte der Vater von Bruce Willis
reichen werde. Ich kam mir vor, ein Handy sonst wo versteckt,
als würde ich mein eigenes Ver- um es zu retten?
mächtnis vorlesen. Ich fühlte Solche Dinge haben nichts,
mich wie der Vater von Bruce was einen mit dem Mechanis-
Willis in „Pulp Fiction“, der als mus verbindet, der dafür sorgt,
THILO ROTHACKER FÜR DER SPIEGEL

Gefangener im Vietnamkrieg dass sie funktionieren. Ich kann


die Uhr des Großvaters in sei- eine Bindung aufbauen zu Din-
nem Arsch vorm Feind ver- gen, die ich verstehe. Ich hatte
steckt, und zwar fünf Jahre auch eine Bindung zu meinem
lang, damit sein Sohn sie erben ersten Auto, einem Ford Fiesta;
kann. Ich dachte an die Wer- ließ man bei geöffneter Haube
bung von Patek Philippe, wo den Motor an, konnte man da-
der Vater seinen Sohn an die bei zusehen, wie er arbeitet.
Hand nimmt, wobei es dabei Wenn ich heute bei meinem
eher auf das Handgelenk ankommt. Die Werbung endet Auto, einem Škoda Kombi, die Motorhaube öffne, sehe ich
mit dem Satz: „Du besitzt niemals wirklich eine Patek nichts mehr. Ich habe auch keine Bindung zu diesem Auto.
Philippe, du passt nur für die nächste Generation auf sie Der Uhrmacher, bei dem ich die Omega gekauft habe,
auf.“ Ich erwachte brutal aus diesen Welten, als mein äl- ist ein eleganter Herr mit Seidenschal und Goldrandbrille.
tester Sohn zu mir blickte und ein einziges Wort sagte, Uhrmachermeister wie ihn gibt es inzwischen nicht mehr
„aha“. Der Kleine sagte gar nichts, er wollte weiteressen. viele: Hipster-Casio-Uhren mit Digitalanzeige sind ihm zu-
Ich hätte es ahnen müssen. Als meine Söhne in der wider, er hat eine Leidenschaft für Manufakturwerke und
Schule lernen sollten, wie man die Uhr liest, habe ich ih- besorgt jedes Einzelteil im Original, wenn er eine Uhr in-
nen eine geschenkt. Ein Modell aus Plastik, ganz schlicht, stand setzt – egal, wie alt und klein es auch sein mag. In
die Ziffern, zwei Zeiger, sonst nichts. Bei meinem Älteren seinem Fundus hat er hundert verschiedene Batterien. Die
war irgendwann die Batterie leer, ohne dass er die Uhr je- Ganggenauigkeit einer Uhr misst er nicht mit einer Ma-
mals getragen hätte. Der Jüngere hatte sie mir zur Liebe schine, er trägt die Uhren seiner Kunden am Arm, er sagt,
zwei- oder dreimal am Handgelenk, danach verschwand der Alltagstest sei immer noch am besten.
sie in einer Küchenschublade. Damit war klar, dass Arm- Er sagt auch, er hätte sich geweigert, mir die Omega zu
banduhren für meine Kinder eine andere Bedeutung ha- verkaufen, wenn er der Meinung gewesen wäre, sie stünde
ben als für mich selbst. mir nicht.
Meine erste Uhr habe ich von meinen Eltern zur Kom- Ich rede jetzt einfach nicht mehr mit meinen Söhnen
munion bekommen, mit neun. Sie war von Junghans, was über die Uhr. Ich warte, bis sie erwachsen sind. Und dann
ich deshalb noch weiß, weil Bayern München damals einen wird der Tag kommen, an dem ich ihnen sagen kann: Kin-
Torwart hatte, der Walter Junghans hieß. Ich mochte Bay- der, diese Uhr habe ich niemals wirklich besessen, sondern
ern München zwar nie, aber mit der Uhr fühlte ich mich immer nur auf sie aufgepasst, für euch. Maik Großekathöfer

DER SPIEGEL 4 / 2018 57


FRANK RUMPENHORST / DPA
Lufthansa

Das Blaue vom Himmel


Europas größte Airline ändert nach 30 Jahren ihr Erscheinungsbild grundlegend.
Nach drei Jahrzehnten will sich Lufthansa ein neues Design ist auf Hunderten Gegenständen der Kranich abgebildet.
verpassen – die aktuelle Bemalung ist seit 1988 im Einsatz. Bei Derzeit wird eine Boeing 747-8 in Rom in den neuen Far-
Mitarbeiterfesten in Frankfurt und München am 7. Februar ben gestaltet. Einen Jumbojet umzulackieren dauert länger
sollen die Neuerungen vorgestellt werden. Sogar der welt- als eine Woche; deshalb wird es auf den Flughäfen in den
bekannte Kranich – entworfen vor ziemlich genau 100 Jahren nächsten Monaten noch ein Design-Mischmasch geben. Die
von Otto Firle – soll leicht verändert daherkommen. Auch Veränderungen sollen später auch an den Flugsteigen zu
die Schriftart des Markennamens wird überholt. Der Rumpf sehen sein. Das neue Erscheinungsbild wird ebenfalls Ma-
der Maschinen werde mehr Blau tragen, heißt es bei Luft- schinen der Frachttochter Lufthansa Cargo betreffen.
hansa. Aber nicht nur der Außenanstrich der gut 320 Ma- Das Industriedesign von Lufthansa zählt zu den bekann-
schinen soll sich ändern, auch im Innern der Kabine wird es testen der Welt. Erst zum dritten Mal nach der Neugrün-
kleinere Anpassungen geben. An Bord der Lufthansa-Jets dung 1955 wird der Anstrich grundlegend verändert. mum

Solidaritätszuschlag zehn Prozent der Steuerzah- dauerhaft höher belastet wer- halbieren. Das hätte zur Fol-
Warnung vor ler wegfalle. Ansonsten laufe den, müsse der Solidaritätszu- ge, dass Einkommen bis rund
die Maßnahme Gefahr, gegen schlag von 5,5 Prozent auf 60 000 Euro bei Ledigen von
Verfassungskonflikt das Grundgesetz zu versto- die Einkommensteuerschuld der Abgabe befreit würden.
Experten verschiedener Bun- ßen, heißt es in den Ministe- in den Tarif integriert wer- Führende Finanzpolitiker der
desministerien warnen Union rien für Wirtschaft, Finanzen den, sagen die Fachleute. Union nehmen die Warnun-
und SPD davor, den Solidari- und Justiz. Es sei kaum zu In ihrer Sondierungsverein- gen ernst und wollen im
tätszuschlag wie geplant nur rechtfertigen, warum der barung haben CDU/CSU und Gesetzgebungsverfahren ein
für untere und mittlere Ein- Staat eine ihrer Natur nach SPD vereinbart, den Soli für Enddatum für den Soli fest-
kommen abzuschaffen. Un- befristete Sonderlast für untere und mittlere Einkom- schreiben, um Verfassungs-
umgänglich sei, dass in einem einen bestimmten Personen- men in dieser Wahlperiode klagen zu vermeiden und der
entsprechenden Gesetz gere- kreis unbefristet beibehalte. schrittweise abzubauen und FDP im nächsten Wahl-
gelt werde, wann die Sonder- Sollten die oberen 10 Prozent so sein Aufkommen von der- kampf keine Angriffsfläche
abgabe auch für die oberen der Einkommensbezieher zeit 20 Milliarden Euro zu zu bieten. rei

58 DER SPIEGEL 4 / 2018


Wirtschaft
US-Steuerreform SPIEGEL: Rechnen Sie damit,
„Deutlich attraktiver“ dass wegen der ansprechen-
den Steuersätze von
Clemens Fuest, 49, 21 Prozent auch deutsche
Präsident des Münch- Firmen vermehrt in den
ner Ifo-Instituts, über USA investieren werden?
die Folgen der Neu- Fuest: Deutsche Firmen ha-
ULLSTEIN BILD

regelung für deut- ben nun starke Anreize, vor


sche und amerikani- allem profitable Investitions-
sche Unternehmen projekte und wertvolle Paten-
te in die USA zu verlagern.

SEBASTIAN KAHNERT / DPA


SPIEGEL: Apple zahlt wegen Erfahrungen mit bisherigen
der Steuerreform von US-Prä- Steuerreformen zeigen, dass
sident Donald Trump etliche diese Anreize auch wirken.
Milliarden Steuern nach. Sind SPIEGEL: Soll die künftige
die USA auf dem Weg zur Bundesregierung auf die
Steueroase? neue Runde im Steuer- Fensterputzer bei der Arbeit
Fuest: Apple hat 250 Milliar- wettbewerb reagieren, und
den Dollar im Ausland gehor- wenn ja, wie? Mindestlohn von 8,84 Euro zahlen. Zum
tet und wird darauf in den Fuest: Deutschland will den Lücke am Bau Vergleich: Die tarifliche Unter-
USA nun 38 Milliarden Dollar Steuerwettbewerb nicht an- grenze für Reinigungskräfte
Steuern zahlen. Ein Teil des heizen, aber hinzunehmen, Arbeitnehmern am Bau und liegt im Osten bei 9,55 Euro
verbleibenden Geldes will dass Firmen und Jobs abwan- in der Gebäudereinigung dro- und im Westen bei 10,30 Euro.
Apple in den USA investie- dern, ist nicht sinnvoll und hen zu Jahresbeginn emp- Die Mindestlöhne am Bau be-
ren und dort 20 000 Arbeits- wird den Steuerwettbewerb findliche Einkommensverlus- ginnen bei 11,75 Euro.
plätze schaffen. Obwohl es nicht stoppen. Deutschland te, weil die Mindestlöhne in Weil sich die Verhandlungen
möglich ist, dass die Arbeits- sollte maßvoll reagieren ihren Branchen derzeit nicht zu den neuen Tarifverträgen
plätze auch ohne die Reform und die Steuerbelastung von mehr gelten. Bau und Gebäu- lange hinzogen, stellten IG
entstanden wären, ist klar: In rund 30 auf 25 Prozent sen- dereinigung gehören zu neun Bau und Arbeitgeber die ent-
den USA zu investieren und ken. Das wäre der Steuersatz, Branchen, deren tarifliche sprechenden Anträge für eine
dort Gewinne auszuweisen ist den auch Frankreich ange- Mindestlöhne nach dem Ar- neue Rechtsverordnung beim
deutlich attraktiver geworden. kündigt hat. rei beitnehmer-Entsendegesetz BMAS erst Mitte November
per Verordnung durch das und Anfang Dezember. „Wir
Bundesarbeitsministerium erwarten, dass die Allgemein-
(BMAS) für alle Betriebe für verbindlichkeit trotz einer
Finanzanlagen ein Bruchteil des Basiswerts verbindlich erklärt werden lediglich geschäftsführenden
Hebelpapiere hinterlegt werden. Hohe Ge- können – unabhängig davon, Bundesregierung zügig er-
winne sind möglich, aber ob sie einen Tarifvertrag ha- klärt wird“, sagt IG-Bau-Chef
alarmieren Aufsicht auch Totalverluste. Die briti- ben oder nicht. Doch in Robert Feiger. Die Schwierig-
Die britische Finanzaufsicht sche Finanzaufsicht nahm ein beiden Branchen ist diese All- keiten der Regierungsbildung
FCA warnt vor sogenannten Jahr lang 34 Anbieter von gemeinverbindlichkeitserklä- dürften nicht zulasten der
Differenzkontrakten, die CFDs für Privatanleger unter rung mit den alten Tarifver- Beschäftigung gehen.
auch hierzulande beliebt sind. die Lupe, die Ergebnisse sind trägen zum Jahresende ausge- Das Bundeskabinett wird
Mit diesen CFDs können In- teils alarmierend. Im Unter- laufen, eine neue Verordnung sich voraussichtlich am 21. Fe-
vestoren mit eigenem und ge- suchungszeitraum machten noch nicht in Kraft. Die Fol- bruar mit den Mindestlöhnen
liehenem Geld auf Kursände- 76 Prozent der Anleger Ver- ge: Firmen, die nicht an Tarif- befassen – erst danach kann
rungen von Wertpapieren luste. Viele Anbieter prüften verträge gebunden sind, kön- das BMAS die neuen Tarif-
wetten, ohne diese zu halten. zu nachlässig, ob ihre Kun- nen ihren Beschäftigten nun löhne wieder für allgemein-
Als Sicherheit muss lediglich den erfahren genug seien. baz den gesetzlichen Mindestlohn verbindlich erklären. mad

Jahreswirtschaftsbericht Experten aus dem federfüh-


Der Boom renden Wirtschaftsministe-
rium erwarten etwa eine hal-
geht weiter be Million neue Jobs. Die
Die Bundesregierung rechnet Zahl der Beschäftigten dürfte
im neuen Jahreswirtschafts- demnach auf einen neuen Re-
bericht für 2018 mit einem kordstand von rund 45 Millio-
Wachstum von 2,3 Prozent. nen steigen. Bis zur offiziel-
Im Herbst hatte sie noch ein len Vorstellung des Berichts
THIES RAETZKE / LAIF

Plus von nur 1,9 Prozent in der übernächsten Woche


prognostiziert. Wegen der gu- könnten sich die Zahlen noch
ten Konjunktur werde sich leicht verändern, allerdings
auch die Beschäftigung wei- eher zum Besseren, heißt es
Exportautos im Hamburger Hafen ter günstig entwickeln. Die in den beteiligten Ressorts. rei

DER SPIEGEL 4 / 2018 59


Kettenreaktion
Digitalisierung Der Bitcoin-Hype ist vergänglich – was bleibt, ist die Technologie dahinter:
Die Blockchain als dezentrale Datentechnik elektrisiert die Industrie. Viele
Branchen loten nun die Potenziale aus. Manche arbeiten schon mit eigenen Währungen.

W
enn die Digitalchefs deutscher Viele Betriebe arbeiten daran, ihre Ma- coin bezahlen, dem Iota-Token, versteht
Konzerne über die Zukunft phi- schinen, Geräte oder Fahrzeuge miteinan- sich. Das ist seine Vision.
losophieren, dann kommen sie der zu vernetzen, es entsteht das „Internet Schiener war schon als Kind ein wenig
über kurz oder lang auf vier Buchstaben der Dinge“, kurz: IoT. Was bisher fehlt, ist anders. Mit zehn begann er zu programmie-
zu sprechen. „Iota“ lautet das Kürzel, da- eine einheitliche Technologie, mit der ren. Nächtelang saß er zu Hause vor dem
hinter verbirgt sich die Idee eines jungen Transaktionen und Bezahlvorgänge abge- Monitor. Die Eltern machten sich Sorgen:
Mannes aus Südtirol. wickelt werden können. „Junge, du verschwendest dein Leben.“
Er heißt Dominik Schiener, ist gerade Und hier kommt Iota ins Spiel – Schie- Dann versuchte er, mit seiner Begabung
22 geworden und stammt aus Lajen, einer ner hat die Technik gemeinsam mit drei Geld zu verdienen, hatte aber ein Problem:
Gemeinde im Eisacktal. Sein Vater ist Mau- Kollegen in Berlin entwickelt. Mit ihrer Er war zu jung für ein Bankkonto. So be-
rer, die Mutter Köchin. Mit der Hornbrille, Hilfe sollen Maschinen unterschiedlicher gann er sich mit Digitalwährungen wie Bit-
den Fred-Perry-Turnschuhen und seinem Unternehmen ihre Geschäfte demnächst coin zu beschäftigen und der Blockchain,
jungenhaften Äußeren wirkt Schiener automatisch abwickeln können. Iota soll der Technologie dahinter: Sein Alter inte-
wie ein Drittsemester im Firmenpraktikum. Industriestandard werden, so der kühne ressierte da nicht. Dieses Wissen nutzt
Doch Schiener ist alles andere als ein Plan, soll zum „Rückgrat der Maschinen- Schiener nun für Iota, das zur neuen Ge-
naseweiser BWL-Student. Er gehört der- Ökonomie“ werden, so Schiener. neration von Kryptowährung werden soll.
zeit zu den gefragtesten Gesprächs- Dann könnte ein autonomes Elektro- Mit Bosch hat bereits ein Schwergewicht
partnern der Industrie. IT-Manager gieren auto, ausgestattet mit digitaler Brieftasche, der Industrie in das Projekt investiert und
danach, ihn zu treffen. Schiener hat eigenständig die günstigste Ladesäule an- „eine bedeutende Menge an Iota-Token er-
Großes vor. Er will einen neuen Standard steuern und selbstständig den Strom in worben“, so das Unternehmen. „Ich sehe
setzen. einer Computerwährung ähnlich dem Bit- ein großes Potenzial für die Milliarden ver-
60 DER SPIEGEL 4 / 2018
Vernetztes Singapur (Simulation) Wirtschaft

Stunden verspätet ist, ohne den üblichen schreibungen der Anlagen, Hinweise über
Papierkram, so das Versprechen. verfügbare Kapazitäten und die jeweiligen
Die Blockchain kann man sich vorstellen Preise pro Kilowattstunde. Entstanden ist
wie ein Kassenbuch, das statt in einer zen- das Modell aus der Überlegung, dass Be-
tralen Datenbank auf einer Vielzahl von treiber älterer Windkraftanlagen bald aus
Rechnern verteilt gleichzeitig geführt wird; der staatlichen Förderung herausfallen.
jede neue Position wird bei sämtlichen Be- Nun können sie ihren Strom direkt beim
teiligten abgespeichert. Das Ganze erinnert Kunden vermarkten und bleiben so kos-
an das Kinderspiel „Ich packe meinen Kof- tendeckend.
fer und nehme mit: eine Hose, ein Hemd, In den kommenden Wochen wollen die
einen Pullover …“ Jedes Kind versucht, Wuppertaler die Plattform auf ganz Nord-
sich die Artikel in der Kette zu merken. rhein-Westfalen erweitern. Mit Spannung
Der Unterschied: Im Spiel unterläuft verfolgt die Strombranche, welche Erfah-
einem der Kinder irgendwann ein Fehler – rungen die Stadtwerke machen. Die Ener-
in der Blockchain wächst die Kette stetig giewende stellt alle Unternehmen vor ähn-
weiter, fehlerfrei und für alle transparent. liche Herausforderungen. Künftig wird sich
Es bedarf keiner zentralen Instanz, die mit eine Vielzahl kleiner Anbieter auf dem
ihrem guten Ruf die Geschäfte beglaubigt: Markt tummeln, die Mengen an Wind- und
einer Bank oder eines Händlers. Das Ver- Sonnenstrom schwanken, Batterien dienen
trauen resultiert aus der schieren Masse als Speicher, Konzerne wie RWE oder E.on
an Transaktionen. verlieren ihre Dominanz. Die Blockchain
Die Manager sind fasziniert von der Vor- verspricht, mit der Komplexität der neuen
stellung, die Technologie in ihrer Industrie Energiewelt fertigzuwerden.
einzusetzen, sie sei von „hoher strategi- Hier könnte die Blockchain ihre Stärken
scher Bedeutung“, sagt Bosch-Chef Volk- ausspielen. Aber auch dort, wo der Weg
mar Denner. Sogar ein Unternehmen wie von Waren oder Dokumenten präzise
Kodak, das einst von der Digitalisierung nachverfolgt werden muss, eröffnet sich
überrollt wurde, springt auf den Zug auf ein Einsatzgebiet für die Technologie. Im
MOMENT / GETTY IMAGES

und will künftig per Blockchain Fotorechte Diamantengeschäft nutzt die britische Fir-
verwalten, bezahlt mit eigenen Kodak- ma Everledger sie schon heute, um Steine
coins. Nach der Ankündigung schoss der zweifelsfrei zu identifizieren; mehr als eine
Aktienkurs in die Höhe. Million Exemplare hat das Unternehmen
Heute genügt es, kurz „Blockchain“ zu registriert.
raunen, und den Anlegern geht die Fanta- Per Blockchain werden Informationen
sie durch. Beratungsfirmen wie IBM oder über Herkunft, Farbe oder Gewicht des
trauenswürdigen Transaktionen von Ma- Deloitte versprechen ihren Kunden nicht Diamanten gespeichert, einsehbar für je-
schinen“, sagt auch Johann Jungwirth, weniger als eine Revolution. Immerhin be- den Händler, Käufer oder Versicherer. Ein
Chief Digital Officer von Volkswagen. Er steht unternehmerisches Handeln im We- solches digitales Prüfsystem lässt sich auch
wird demnächst in der Iota-Stiftung als sentlichen aus Geschäftsprozessen, hinter auf Zeugnisse anwenden, dann müssten
Aufsichtsrat agieren. Abschließende Tests denen sich zahllose Datentransaktionen Bewerber keine Originaldokumente aus
mit VW laufen, mit weiteren Konzernen verbergen. Diese könnten künftig, so die der Hand geben, oder auf Lebensmittel.
ist Schiener im Gespräch. Es läuft prima Verheißung, schneller, sicherer und billiger Der US-Einzelhandelskonzern Walmart
für ihn – und doch ist nicht entschieden, ablaufen. Aber stimmt das auch? hat in einem Pilotprojekt den Ursprung
dass er das Rennen macht. Wie diese Technik in der Praxis funk- von Mangos ermittelt. Fast eine Woche
Derzeit werden jede Woche neue Kryp- tioniert, lässt sich im Bergischen Land be- dauerte die Recherche, um auf herkömm-
towährungen geboren, in vielen Branchen, sichtigen, in Wuppertal bei den dortigen liche Weise die Früchte bis zum Erzeuger
überall auf der Welt. Die Aufmerksamkeit Stadtwerken. Der Versorger hat Anfang zurückzuverfolgen – mithilfe der Block-
zieht längst nicht mehr allein der Bitcoin des Jahres einen neuartigen Handelsplatz chain war es eine Sache von Sekunden.
auf sich, die schillerndste Ausprägung gestartet. Die Kunden können nun zu Hau- Immer wieder dienen Blockchain-An-
eines digitalen Zahlungsmittels. Der Hype se vor dem Computer ihren persönlichen wendungen in der Industrie dem Zweck,
darum scheint gerade wieder abzuflauen Energiemix zusammenstellen, direkt vom Abläufe entlang der Lieferkette automa-
– was bleibt, ist die technologische Idee, Erzeuger geliefert, den örtlichen Öko- tisch zu steuern, ganz ohne schriftliche Do-
die ihm und anderen Kryptowährungen stromanbietern, „ganz nach individuellen kumente. Logistikfirmen interessieren sich
zugrunde liegt: Die Blockchain als dezen- Vorlieben und dem Geldbeutel“, sagt Ver- besonders dafür, der internationale Wa-
trales Datensatzsystem hat das Zeug, weit triebsleiter Andreas Brinkmann: ein biss- renhandel bietet sich als Versuchsfeld an.
mehr zu verändern als nur das Finanz- chen Wind vom Bürgerwindrad in Cronen- Wenn das dänische Logistikunterneh-
gewerbe. berg, ein wenig Wasserkraft von der Herb- men Moller-Maersk Blumen im Kühlcon-
Energiekonzerne, Maschinenbauer, Rei- ringhauser Talsperre, etwas Sonne von der tainer von Mombasa nach Rotterdam ver-
severanstalter, sogar Musikerinnen wie die Solaranlage auf dem Dach des Fruchthänd- schifft, fallen rund 200 Interaktionen an,
Isländerin Björk: Alle loten derzeit die lers Jenniges. Und wenn das alles nicht beteiligt sind unter anderem Spediteure,
Potenziale für sich aus. Versicherer wie Al- reicht, springt das Stadtwerk mit seinen Hafenbehörden und Zollämter. In dieser
lianz, Swiss Re und Zurich haben eine ge- Reserven ein und liefert Ökostrom aus sei- Woche hat Maersk mit IBM ein Joint Ven-
meinsame Initiative gestartet, die Banken nem Repertoire. Die Blockchain-Techno- ture gegründet, das herausfinden soll, wie
ein Konsortium gebildet. Die Axa bietet logie macht es möglich. sich solche Prozesse mit der Blockchain
auf Blockchain-Basis bereits eine Police Auf dem Stadtwerkeportal sind ein hal- abwickeln lassen. Die bisherigen Abläufe
an, die Kunden automatisch eine Entschä- bes Dutzend Anbieter aus der Region ver- seien ineffizient und fehleranfällig, be-
digung zahlt, wenn ein Flug mehr als zwei sammelt. Dort finden sich Bilder und Be- gründet Maersk das Vorhaben, es würden
DER SPIEGEL 4 / 2018 61
Iota Transaktion
Funktionsweise
der Kryptowährung


Iota soll schnelle und Künftig könnten etwa Funktionsweise der Tangle: Das Gerät überprüft diese Danach schließt die eigene Überweisung
sichere Mikrozahlungen Autos mit einer elektro- auf ihre Echtheit. Die in die Warteschlange auf, um von anderen
von Maschinen an nischen Brieftasche, einer Bevor eine neue Transaktion Maschine leistet so ihren Maschinen, die eine eigene Transaktion
andere Maschinen sogenannten Wallet, aus- ausgeführt wird, muss die Beitrag zur Sicherheit tätigen wollen, verifiziert zu werden. Beim
ermöglichen. Es gestattet werden – sie Maschine gewissermaßen des gesamten Systems. Tangle werden die Transaktionen parallel
basiert auf einer könnten darüber auto- in Vorleistung treten. Dies macht es für Angreifer verarbeitet, nicht nacheinander in Blöcken
Weiterentwicklung matisch Tankrechnungen, unattraktiv, das System wie bei der Blockchain. Je mehr Trans-
klassischer Block- Parktickets, Mautgebühren Sie bekommt zwei fremde, mit vielen gefälschten aktionen, desto größer und sicherer wird
chains, dem so- oder Werkstattbesuche noch ausstehende Trans- Transaktionen zu über- Iota, versprechen die Entwickler. Zudem
genannten Tangle. bezahlen. aktionen zugewiesen. schwemmen. gibt es keine Transaktionsgebühren.

Unmengen Ressourcen verschwendet. Da- oder Booking bedroht, da auch diese digi- Überzogen dürften ebenso Vorstellun-
mit meint das Unternehmen nicht nur Pa- talen Plattformen letztlich nur Zwischen- gen sein, dass die Blockchain beispielswei-
pier – auch Arbeitskraft. händler sind. Ihr Wert besteht darin, Daten se ein Grundbuchamt ersetzen wird. „Das
Hier deutet sich an, was die Technologie zu sammeln und Verbindungen zu organi- Szenario zündet in Deutschland nicht“,
ebenfalls mit sich bringen könnte: ein rie- sieren – die per Blockchain womöglich sagt Wolfgang Prinz vom Fraunhofer-In-
siges Rationalisierungspotenzial. Falls die auch unmittelbar herzustellen sind. In Zu- stitut für Angewandte Informationstech-
Blockchain wie erhofft funktioniert, könn- kunft könnte jeder direkt das Wissen er- nik. Das Vertrauen in solche Institutionen
te sie Mittelsmänner zu einem gewissen langen, wo noch ein Hotelbett frei ist oder sei hierzulande groß, es gebe gar keinen
Grad überflüssig machen. Im Filmhandel eine Mitfahrgelegenheit zur Verfügung Anlass, sie zu ersetzen. Tatsächlich gibt es
zum Beispiel steht zwischen Produzenten steht. Werden also die Disruptoren nun noch ganz andere Probleme zu lösen, be-
und Abnehmern der Vertrieb, er verteuert selbst zu Opfern der Disruption? vor die Blockchain erfolgreich sein kann.
nach Schätzung von Hendrik Hey, Ge- Solche Szenarien erinnern an die küh- So ist unklar, wie digitale Transaktionen
schäftsführer des Senders Welt der Wun- nen Vorstellungen der New Economy vor juristisch zu werten sind. Ein „Smart Con-
der TV, die Vorführrechte um 30 bis 50 Pro- zwei Jahrzehnten, als schon einmal das tract“ ist, anders als der Name vermuten
zent: „Und es entstehen unglaubliche An- Ende von Buchhändlern, Reisebüros und lässt, nicht in jedem Fall ein wasserdichter
waltskosten.“ Bankfilialen beschworen wurde – vor- Vertrag. Auch gibt es Sorge um die IT-
Seit 1996 produziert Hey die Wissen- schnell, wie man heute weiß. Viele von ih- Sicherheit, da der Einsatz der Blockchain
schaftssendung „Welt der Wunder“, die nen gibt es noch, aber sie haben sich ver- die Angriffsfläche in Unternehmen vergrö-
früher auf ProSieben lief, inzwischen sind ändert und deshalb überlebt. ßert. Zudem verschlingen manche Krypto-
mehr als 5000 Stunden Sendematerial zu- Auch die Blockchain wird nicht alle Er- währungen wie Bitcoin enorme Mengen
sammengekommen. Nun will Hey die wartungen erfüllen. Sie mag Transaktio- an Energie.
Blockchain nutzen, um Fernsehstationen nen beschleunigen und sicherer machen, Der Vorteil von neuen Ansätzen wie
oder Onlinekanäle direkt zu beliefern, doch Plattformen behalten weiter eine Dominik Schieners Iota ist, dass sie im Wis-
nicht nur mit Material: Die Lösung soll wichtige Funktion: Wo sonst soll ein neuer sen um diese Schwachpunkte entwickelt
allen Produzenten offenstehen. Anbieter einen Kunden finden oder ein wurden und viele davon vermeiden. Ob
Will ein Sender eine Lizenz erwerben, Kunde ein neues Angebot? der Iota-Ansatz allerdings wirklich das
wird automatisch ein Vertrag ausgefertigt, Zeug hat, zum Kryptostandard des Inter-
das Sendematerial übermittelt und eine nets der Dinge zu werden, muss sich noch
Notiz geschickt, wenn die Lizenz ausläuft, erweisen. Die etablierte Bitcoin-Szene be-
so ist der Plan. Bezahlt werden könnte der wertet das Konzept kritisch, einige stellen
Film in einer eigenen Kryptowährung, dem gar seine Sicherheit infrage.
„Micro Licencing Coin“, kurz: Milc. Bis Und dann ist da noch das Problem mit
Ende Februar will Hey den Verkauf der dem eigenen Erfolg. Im Fahrwasser von
Token abgeschlossen haben. Bitcoin & Co. war der Iota-Kurs in den
Sollten solche digitalen Direktgeschäfte vergangenen Monaten massiv gestiegen,
tatsächlich realisiert werden, träfe dies auch nach erheblichen Einbußen in der
nicht nur Vertriebsleute oder Juristen. Wer vorigen Woche war ein Iota am Donners-
GORDON WELTERS / DER SPIEGEL

Geld überweist, kann auf die Bank ver- tagabend noch 2,42 Euro wert. Mitgründer
zichten. Wer eine Eigentumswohnung Schiener sieht das zwiegespalten, aus prak-
kauft, benötigt keinen Notar mehr. Theo- tischen Gründen. Denn damit ist die Wäh-
retisch wäre nicht einmal mehr ein Grund- rung derzeit schlicht zu teuer, um einen
buchamt nötig, denn auch ein Eigentums- wichtigen Zweck zu erfüllen: Mikrozahlun-
nachweis ließe sich per Blockchain zwei- gen auszuführen – eine kleinere Einheit
felsfrei erbringen. als einen Iota gibt es nämlich nicht.
Manche sehen schon die Existenz von Iota-Mitbegründer Schiener Frank Dohmen, Alexander Jung,
Internetportalen wie Google, Ebay, Uber „Junge, du verschwendest dein Leben“ Marcel Rosenbach

62 DER SPIEGEL 4 / 2018


Jetzt testen: Das digitale manager magazin
2 Ausgaben für nur € 11,90

DIE RATTENFÄNGER
manager-magazin.de/angebot

VON DIGITALIEN
Wie Berater planlose Vorstände verführen

BMW
Kampfansage an Mercedes
JULIAN STRATENSCHULTE / DPA

PHOTOTHEK / IMAGO
RAINER JENSEN / PICTURE ALLIANCE / DPA
SEBASTIAN GOLLNOW / DPA

Agrikultur in Deutschland, Verbandspräsident Rukwied: „Wir lassen nicht zu, Bauern Gelder wegzunehmen und den Naturschutzorganisationen zu geben“

Risse in der Wagenburg


Landwirtschaft Der Deutsche Bauernverband stemmt sich seit Jahren mit all seiner Lobbymacht
gegen eine Agrarwende. Doch viele Landwirte wollen die Probleme nicht mehr länger aussitzen.

W
ir wollen die Landwirtschaft ver- Doch der Minister stimmte über- Experten, bis zur Bedeutungslosigkeit ent-
ändern“, versprach Bauernpräsi- raschend für eine Wiederzulassung, ganz schärft.
dent Joachim Rukwied im Vor- so, wie es der Bauernverband wollte. „So Derartig durchschlagende Lobbyerfolge
feld der Grünen Woche am Donnerstag in isser, der Schmidt“, erklärte der Schmidt kann nicht einmal die Automobilindustrie
Berlin. So, wie er es auch schon im Jahr danach. oder die Pharmabranche vorweisen. Wie,
zuvor zugesagt hatte. Und wie er es wahr- So oder so ähnlich waren auch seine so fragt man sich, bringt es ein einzelner
scheinlich im nächsten Jahr wiederholen drei Amtsvorgänger. Denn nur so kann Verband fertig, Minister wie Tanzbären
wird – was am Ende aber egal ist. man diesen Posten behalten. am Nasenring herumzuführen?
Denn wenn der Präsident des Deutschen Seit 2005 stellt die CSU den Landwirt- Die Antwort ist einfach: Der Deutsche
Bauernverbands (DBV) von Veränderun- schaftsminister, seit 2005 wird Agrarpolitik Bauernverband ist nicht bloß ein einzelner
gen spricht, wissen die Landwirte so sicher, im Schulterschluss mit dem Bauernver- Verband. Er verfügt über ein krakenhaft
wie sie weiter Glyphosat spritzen dürfen: band gemacht. Die damalige Landwirt- verzweigtes Netzwerk, dessen Tentakeln
Es wird sich nicht viel ändern. Zumindest schaftsministerin Ilse Aigner soll einem bis in die wichtigen Ebenen und Macht-
nicht zu ihren Ungunsten. Dafür steht der Abgeordneten einmal beim Bier gestanden zentren reichen, in Politik, Wirtschaft, For-
Deutsche Bauernverband, fest wie eine haben, wie die Sache läuft: „Ich tue alles, schung und Gesellschaft.
deutsche Eiche. Seit Jahrzehnten. was der Bauernverband will.“ Über seine 18 Mitgliedsverbände kon-
Zu beobachten war das eindrucksvoll Ob diese Anekdote nun stimmt oder trolliert der DBV das Geschehen in
im November bei der europäischen Wie- nicht – die Verbindung vom Verband zur der Fläche. Um die großen Weichenstellun-
derzulassung des Pestizids Glyphosat: Für Politik charakterisiert sie genau. gen kümmern sich seine Vertreter in Ber-
Außenstehende sah es kurz so aus, als Was wird eigentlich aus dem staatlichen lin – ein gutes Dutzend in ihrer Funktion
würde sie scheitern. SPD-Umwelt- Tierwohl-Label, von Minister Schmidt vor als Bundestagsabgeordnete. Bauern-Parla-
ministerin Barbara Hendricks votierte einem Jahr vollmundig angekündigt? Wa- mentarier sind in Personalunion Funktio-
dagegen, Landwirtschaftsminister Chris- rum hat es nicht mit dem für 2017 ge- näre des Bauernverbandes und stimmen
tian Schmidt dafür. Laut Koalitionsraison planten Ende des Kükenschredderns ge- in den Ausschüssen dementsprechend ab.
hätte sich Deutschland in Brüssel enthal- klappt? Die neue Düngeverordnung? Wur- Tun sie es nicht, müssen sie fürchten, bei
ten müssen. de erst verschoben und dann, so kritisieren der nächsten Wahl weit nach hinten auf
64 DER SPIEGEL 4 / 2018
Wirtschaft

der Unionsliste zu landen. 61 Prozent der Nachwuchstalente. Während der Grünen den wir wegen deren Interessenskonflikte
Landwirte wählten CDU/CSU. Woche toben 26 handverlesene junge fast keine“, erzählt Meyer. Viele waren ne-
Den Linientreuen winkten lukrative Ne- Agrarökonomen und Landwirte durch Ber- ben ihrer Tätigkeit für hoheitliche Aufga-
benjobs. Denn die eigentliche Schlagkraft lin, sie gehören dem „TOP-Kurs“ der pres- ben mit Pestizidherstellern verbandelt.
besteht in der engen Verflechtung der Bau- tigeträchtigen Andreas Hermes Akademie Angesichts dieser flächendeckenden
ernfunktionäre und -politiker mit der im Bildungswerk der Deutschen Landwirt- Verquickung ist verständlich, mit welcher
Agrar- und Ernährungsindustrie. Seit Jah- schaft an. Mehrere Wochen lang werden Seelenruhe sich der Bauernverband gegen
ren fallen die bäuerlichen Abgeordneten sie in die Geheimnisse des Netzwerks des jegliche Forderung nach einer anderen, um-
durch ihre überdurchschnittlich vielen, lu- DBV eingeweiht. Viele von ihnen sind, we- weltschonenderen Landwirtschaft stellen
krativen Nebentätigkeiten auf, berichtet nig überraschend, Hoferben mit im Bau- kann. Da mag die Gesellschaft noch so
Lobbycontrol. Sie dienen zusätzlich zu ih- ernverband aktiven Eltern; überraschend laut eine Agrarwende fordern, wie alljähr-
rer öffentlichen Aufgabe in Aufsichtsräten ist, dass fast die Hälfte der Teilnehmer lich die rund 18 000 Teilnehmer der „Wir
oder Beratungsgremien von Firmen oder Frauen sind. Bislang gibt es im DBV kaum haben es satt“-Demonstrationen zu Beginn
Interessenverbänden der Agro- und Le- weibliches Führungspersonal. der Grünen Woche – den Bauernchef
bensmittelindustrie. Erwischt man die Zöglinge nicht im Ver- schreckt das nicht. Seine Truppen stehen
Der Bauernverband sieht darin über- band, dann eben an den Unis. In Kiel darf dort, wo sie etwas ausrichten.
haupt kein Problem. Ganz ungeniert be- der Bauernverband Schleswig-Holstein Damit sie nicht ins Zweifeln kommen,
zog er 2005 zusammen mit der Bundesver- Veranstaltungen zum Tierwohl durchfüh- werden sie mit den Produkten zweier linien-
einigung der Deutschen Ernährungsindus- ren und über gute Öffentlichkeitsarbeit re- treuer Fach- und Regionalverlage versorgt,
trie und dem Bund für Lebensmittelrecht ferieren; in Göttingen fördert die Renten- in deren Aufsichtsräten Bauernfunktionäre
und Lebensmittelkunde einen Glaspalast bank ein Projekt zur Imageverbesserung mitreden: der Deutsche Bauernverlag und
in der Claire-Waldoff-Straße 7 in Berlin. der Landwirtschaft. Agrarkonzerne finan- der Landwirtschaftsverlag Münster. Letz-
Seither wird ganz unverhohlen gemeinsam zieren Drittmittelforschung, über Stiftun- terer verdient viel Geld ausgerechnet mit
lobbyiert. Gerade so, als ob sich die Inte- gen vergibt der Bauernverband Stipendien. den urbanen Lesern des Kultmagazins
ressen decken würden. „Landlust“, genau der Klientel also, die
Genau das aber wird von Kritikern be- eine Agrarwende wünscht.
zweifelt. „Seit sich der Bauernverband mit Landwirtschaftliche Betriebe Derart abgesichert setzt der Bauernver-
der Ernährungsindustrie zusammengetan in Deutschland, in Tausend band weiterhin auf Verharmlosung, Irre-
hat, vertritt er nicht mehr die Interessen 1995 führung, auf glattes Abstreiten und Dämo-
der bäuerlichen Betriebe, sondern Bauern nisierung der Gegner:
werden zu Lieferanten möglichst billiger 588 Artensterben? „Daran sind in erster Li-
Rohstoffe für die Nahrungsmittelbranche nie Verkehr und Siedlungen schuld.“
degradiert“, sagt Reinhild Benning, Agrar- Sauen, die wochenlang in Stahlkörben
expertin von Germanwatch. fixiert werden? „Optimaler Schutz.“
Teil des Netzwerks sind über 40 weitere Quelle: 2017 Umverteilung der EU-Agrarzahlungen
Mitglieder des DBV, vom BioEnergie-Ver- Statistisches
band über die Saatgut- hin zu den Ziegen-
Bundesamt 268 zur Belohnung nachhaltiger Praxis? „Wir
lassen nicht zu, Bauern Gelder wegzuneh-
züchtern, aber auch die R&V-Versicherung men und diese den Naturschutzorganisa-
ist dabei, die Forschungsorganisation Deut- tionen zu geben.“
sche Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) Landwirtschaft als Klimakiller? „Wir
und der Bundesverband landwirtschaftli- wirtschaften nachhaltig.“
cher Fachbildung, der die Fortbildung im Tierhaltung? „Wir lieben unsere Tiere.“
Agrarbereich betreut. Glyphosat? „Aggressive Angstkampa-
Sorgen macht Rukwied & Co. das schlech- gnen.“
te Image seiner Klientel. Landwirte gelten Dabei ist es beileibe nicht so, dass die
als Klimakiller und Wasservergifter, Tier- Selbst Ebenen, die man für staatliches vom Verband verordnete Politik den eige-
quäler und Bodenverderber, Antibiotika- Hoheitsgebiet hält, sind durchsetzt mit nen Leuten nutzt: Das Höfesterben schrei-
sünder und Bienenmörder. Darum soll sich Bauernfunktionären. Etwa die Landwirt- tet seit Jahren ungebremst voran. Die Prei-
das Forum Moderne Landwirtschaft küm- schaftskammern, die in einigen Bundes- se sind tief, die für Schweinefleisch mit
mern. Dort wird zwar nicht um eine bes- ländern für Agrarverwaltung und Kontrol- 1,30 Euro pro Kilogramm im Keller. Bauern,
sere Landwirtschaft gerungen, aber um len zuständig sind. Deren Vorstände wer- die sich mit neuen Ställen verschuldet ha-
einen verbesserten Dialog mit der Gesell- den nicht etwa von dem Minister bestimmt, ben, können ihre Kredite nicht mehr bedie-
schaft. Mit gezielter PR sollen kritische sondern von den Bauern gewählt. Oft sind nen. Die Verzweiflung ist groß, Kirchen bie-
Bürger besänftigt und an die real existie- sie im Verband aktiv. ten Sorgentelefone für Landwirte. Auf vie-
rende Agrarwelt herangeführt werden. „Da erlasse ich verschärfte Düngeregeln len Höfen herrscht nackte Not, das Image-
Bemerkenswert ist die Zusammenset- und werde erst einmal von der Landwirt- problem zerrt zusätzlich an den Nerven.
zung des Forums: Dort sitzen Vertreter schaftskammer öffentlich kritisiert“, sagt „Der Bauernverband ist in der Nach-
von Südzucker, BASF, Bayer Crop Science, der ehemalige niedersächsische Landwirt- kriegsdenke von Produktionssteigerung
K+S und dem Bundesverband Deutscher schaftsminister Christian Meyer. Man kann stecken geblieben“, sagt der Grünenabge-
Pflanzenzüchter. Als Botschafter der mo- sich vorstellen, mit welchem Eifer die Um- ordnete Friedrich Ostendorff. „Jetzt steckt
dernen Landwirtschaft – ausgerechnet. setzung solcher Maßnahmen kontrolliert er in der Wachstumsfalle. Er hat gesell-
Damit die Macht erhalten bleibt, wacht wird. Außerdem sind viele Mitarbeiter in schaftlich keine Akzeptanz mehr und
der Bauernverband sorgfältig über seine den Kammern Diener zweier Herren – macht Politik gegen die eigene Mitglied-
Nomenklatura. Der Bund der Landjugend weil auch unter Vertrag bei Agrarfirmen. schaft, nur noch für die großen Player.“
sitzt im selben Haus wie der DBV und „Als wir Leute brauchten, die die Sachkun- Doch warum bleiben die meisten der
kann von den Altvorderen lernen. Zahl- deprüfung beim Thema Pflanzenschutz- rund 260 000 Hofinhaber trotzdem Mit-
reiche Stiftungen der Bauernschaft fördern mittel unabhängig abnehmen sollten, fan- glied im Bauernverband? Warum wehren
DER SPIEGEL 4 / 2018 65
glyphosatfreie Produkte, die Molkereien
Berchtesgadener Land und Goldsteig ver-
bieten ihren Lieferanten, das Pestizid zu
verwenden. Es verändert sich also etwas.
Und tatsächlich beginnt es auch am Fun-
dament der Wagenburg zu bröckeln. Vie-
len Bauern wird klar, dass sie am Standort
Deutschland nicht mit Massenproduktion
überleben können, sondern nur mit Qua-
lität. Die Biobauern, die Weidemilchinitia-

MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL


tiven, die Hofvermarkter machen es ihnen
vor – und immer mehr Verbraucher sind
bereit, dafür zu bezahlen.
Die Umwelt- und Tierhaltungsprobleme
lassen sich nicht mehr ernsthaft wegdisku-
tieren. Ausgerechnet in Westfalen-Lippe,
einer Hochburg der Tierhalter und Hard-
Schweinemäster Ahrens-Westerlage junior: Der Spott ist dem Neid gewichen liner, hat der Bauernverband reagiert und
zur Überraschung des Bundesverbandes
sie sich nicht gegen die ideologische Be- treiben in Neuenkirchen im westlichen eine Nachhaltigkeitsinitiative ins Leben ge-
vormundung? Und gegen eine Beratung, Niedersachsen einen Offenstall – seit rufen. Das Papier ist die Gegenthese zu
die sie in wirtschaftliche Krisen treibt? 16 Jahren. Lange galten sie unter Kollegen alldem, was Rukwied verlautbart. Dort
Die angebotenen Leistungen wie Bera- als verrückt: warum sie sich die Arbeit steht: „Wir müssen uns verändern, wo un-
tung, Hilfe bei der Steuer und Formular- machten, das seien doch Spielwiesen, das sere Art und Weise der landwirtschaft-
dienste sind zweitrangig. Es ist eher ein brauche kein Schwein. lichen Erzeugung dazu beiträgt, dass Bo-
psychologisches Phänomen, meint Osten- Das sahen Karl & Carl anders. In ihren den, Wasser, Luft, Pflanzen und Tiere so-
dorff. „Der Bauernverband versteht es im- offenen Pigports vergnügen sich, in Grup- wie Elemente der Kulturlandschaft geschä-
mer wieder, das wärmende Lagerfeuer in pen abgeteilt, 810 Schweine mit Stroh und digt werden, und weil unser bisheriges
Gang zu halten. Er schafft einen Kokon Beißbohnen. Sie haben eingestreute Lie- Wachstum sowohl betrieblich als auch in
der Behaglichkeit. Je weniger Bauern es geplätze, einen Kotplatz mit Ablüftung, den Familien an Grenzen stößt.“
werden, desto mehr lechzen die Verblie- einen Außenlaufraum, eine Dusche zum Auch die landwirtschaftliche Fachorga-
benen nach der Wagenburg des DBV. Dort Abkühlen, Windnetze und Jalousien, und nisation, die Deutsche Landwirtschafts-Ge-
erschaffen sie einen gemeinsamen Feind, wenn es kalt wird, fährt eine isolierte De- sellschaft, unterstützt in ihren „Thesen zur
gegen den man noch enger zusammen- cke herunter. Das Konzept aus Süddeutsch- Landwirtschaft 2030“ die gesellschaftliche
rückt.“ land spart Energie, vermindert Emissionen Forderung, die EU-Direktzahlungen an
Nur zwei Organisationen haben sich in und hält die Schweine bei so guter Laune, Nachhaltigkeitsleistungen der Landwirte
Opposition zum Bauernverband gegrün- dass sie sich nicht gegenseitig die Ringel- zu binden. Dabei gehe es nicht um ein
det: die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche schwänze abbeißen. paar isolierte Ablasshandel-Maßnahmen
Landwirtschaft 1980, gefolgt 1998 vom Bun- Ahrens-Westerlages Freiluftschweine wie Blühstreifen und Ähnliches, sondern
desverband Deutscher Milchviehhalter. rechnen sich. Sie lassen sie in einer kleinen, um ausgetüftelte, auf die einzelnen Höfe
Beim Bauernverband hält man umso feinen Schlachterei in Lohne zerlegen, ihr abgestimmte Gesamtkonzepte, so DLG-
stärker zusammen, je mehr Kritik an die Fleisch geht an die „Wurst- und Schinken- Präsident Carl-Albrecht Bartmer. So kön-
Burgränder schwappt. Wer auch immer et- manufaktur“ Bedford in Osnabrück, für ne jeder Landwirt an seinem Standort
was an der landwirtschaftlichen Praxis kri- mindestens 1,90 Euro pro Kilo – ein über- selbst kreativ agieren. Die Resonanz, auch
tisiert, hat keine Ahnung, so lautet die Pau- durchschnittlicher Preis. aus den Kreisbauernverbänden, sei sehr
schalverteidigung gegen unliebsame Jour- Der Spott der Berufskollegen ist jetzt positiv, sagt Bartmer. „Wir merken gewal-
nalisten, Initiativen und Wissenschaftler. dem Neid gewichen, sagt der Bauer. Plötz- tige Veränderungen in Landwirtschaft und
Selbst schwarze Schafe werden in der ver- lich feiert sogar die Zeitschrift „Top Agrar“, Gesellschaft, da suchen viele, besonders
ängstigten Herde geschützt: Als TV-Auf- lange Zeit Sprachrohr des Bauernverban- die Jungen, einen Weg raus aus den jewei-
nahmen von schlimmen Zuständen in den des, Pigports als die Ställe der Zukunft. Be- ligen Wagenburgen.“
Ställen hoher Verbandsfunktionäre auf- sucher aus dem In- und Ausland besuchen Der Wille zur Veränderung reicht mitt-
tauchten, regten sich die Bauern nicht etwa den altehrwürdigen Hof der Westerlages, lerweile selbst bis nach Berlin. Die Jamai-
über die Tierquäler auf, sondern über die Greenpeace, Veganer und sogar die Mitglie- kaverhandler hatten sich darauf geeinigt,
Einbrecher. Die neue Landwirtschafts- der des CDU-Agrarausschusses aus dem 900 Millionen Euro für den Umbau der
ministerin in Nordrhein-Westfalen, Chris- hannoverschen Landtag waren schon da. Landwirtschaft auszugeben.
tina Schulze Föcking, in deren Familien- Auch der Handel bedrängt Ahrens- Angeblich wünschte sich so mancher
betrieb grausam verletzte Schweine zu se- Westerlage und seine Kollegen vom Verein Unionspolitiker gar einen grünen Land-
hen waren, erfuhr massive Unterstützung Offenstall: Kaufland, Aldi, Edeka, alle su- wirtschaftsminister. Der hätte all die not-
seitens der Bauern, inklusive eines Twit- chen für ihre Premiumlinien Fleisch, das wendigen Maßnahmen durchsetzen kön-
ter-Hashtags: #wirstehenhinterchristina. Tierwohlkriterien entspricht. Der Fleisch- nen, die die Union nicht anfassen kann –
Wie es die Bauern mit dieser Haltung multi Tönnies plane für eine neue Marke wegen ihrer Verflechtung mit dem Bauern-
zurück in die Mitte der Gesellschaft schaf- doppelt so viel Platz pro Schwein wie ge- verband. Antonia Schaefer, Michaela Schießl
fen wollen, ist ein Rätsel. setzlich vorgeschrieben, Offenstallhaltung,
An der Basis haben einige Bauern längst Ferkel deutscher Herkunft, die gentechnik- Animation: Deutschland,
aufgegeben, auf Veränderung von oben zu frei ernährt werden, und langfristig sogar ein Bauernstaat
hoffen. Schweinemäster Karl Ahrens- die Erhaltung von Ringelschwänzen, be- spiegel.de/sp042018landwirtschaft
Westerlage, 65, und sein Sohn Carl, 37, be- richtet Carl junior. Aldi Nord drängt auf oder in der App DER SPIEGEL

66 DER SPIEGEL 4 / 2018


Wirtschaft

die Abgase gespritzt, wodurch in einem Nachrüstung vorhanden“, heißt es in einer

Hilfe aus dem speziellen Katalysator giftige Stickoxide


weitgehend unschädlich gemacht werden.
Diese sogenannte SCR-Technik ist mittler-
Bewertung des Verkehrsministeriums.
Das Urteil des Sachverständigen, der
auch von der Industrie als Kapazität aner-

Kofferraum weile Standard bei modernen Dieselfahr-


zeugen. Sie verhindere 90 Prozent aller
Stickoxidemissionen, so Wachtmeister. Die
kannt ist, hat Gewicht. Die Bundesregie-
rung wird kaum umhinkommen, die recht-
lichen Voraussetzungen für eine solche
Verkehr Ein Gutachten für die Umrüstung durch die Hersteller sei „ein- Nachrüstung zu schaffen. Zumal es nach
deutig die beste und sicherste Lösung“. Einschätzungen aus dem Ministerium bei
Bundesregierung empfiehlt, Detailliert beschreibt er, wie das Reini- der Hälfte der betroffenen Autos noch
Millionen Dieselautos aufwendig gungsset so entwickelt werden kann, dass nicht einmal einer Genehmigung bedarf.
es die Zulassung des Kraftfahrt-Bundes- Denn deutsche Autofirmen bieten sol-
nachzurüsten. Doch die amts erhalten kann. „Grundsätzlich sind che SCR-Systeme für viele ihrer Modelle
Konzerne wollen nicht zahlen. Rechtsinstrumentarien für eine solche bereits seit längerer Zeit an – als Sonder-
ausstattung. Auch sind die Komponenten

D
er Mann schien eine gute Wahl für oft als Ersatzteil bei jedem Vertragshändler
die deutsche Autoindustrie. Georg zu bestellen. Die meisten Fahrzeuge, die
Wachtmeister, Lehrstuhlinhaber in die USA exportiert werden, sind ohne-
für Verbrennungskraftmaschinen an der hin schon für das System ausgelegt. Das
TU München, hatte mit einer eigenen Fir- ist dem ADAC aufgefallen, der unter an-
ma für Konzerne der Branche geforscht. derem Modelle wie den Audi A4, den VW
So einer werde sich schon nicht mit der Passat oder die Mercedes E-Klasse mit Ab-
Industrie anlegen, dachten wohl auch die gasnorm Euro 5 auflistet.
Unternehmenschefs, als Bundesverkehrs- Die Autoindustrie aber denkt nicht da-
minister Alexander Dobrindt den Wissen- ran, für diese Autos zu werben. Ihre Bosse
schaftler zum Mitglied der Untersuchungs- haben behauptet, der Einbau sei zu kom-
kommission Volkswagen machte. Das war pliziert, es fehle der Platz. Gutachter
im September 2015, auf dem Höhepunkt Wachtmeister widerspricht: „Der Bauraum
der Affäre um manipulierte Dieselfahrzeu- für eine SCR-Nachrüstung ist mit sehr ho-
ge. Es ging darum, den Schaden für die In- her Wahrscheinlichkeit vorhanden.“
dustrie möglichst gering zu halten. Im Schnitt kostet das SCR-System rund
Doch das, was Wachtmeister in seiner 1300 Euro. Auch Autoteilezulieferer halten
BERND WEISSBROD / PICTURE ALLIANCE

jüngsten, noch vertraulichen Expertise auf- Systeme bereit. „In den meisten Autos pla-
geschrieben hat, dürfte Politik und Kon- nen wir einen rund 18 Liter großen Tank für
zernen ganz und gar nicht gefallen. Im Ge- die Harnstoffflüssigkeit, der meist im Ersatz-
genteil. Es könnte sie viele Milliarden Euro rad-Kasten platziert wird“, sagt etwa Marcus
kosten. Denn der Professor plädiert in sei- Hausser vom Autozulieferer Baumot-Twin-
ner neuen Studie dafür, Dieselfahrzeuge tec aus Königswinter. Je nach Emissionswert
mit einer Reinigungstechnik nachzurüsten, Messstelle am Stuttgarter Neckartor hält diese Füllung gute 8000 Kilometer, das
die giftige Stickoxide endlich wirksam be- Mittel ist zum Beispiel unter dem Handels-
kämpft. Sie sei eine „sehr effiziente Maß- namen AdBlue zu kaufen.
nahme zur Emissionsreduzierung“, heißt Die Dieselfahrer, die ihre Autos umge-
es: „Deshalb wird dieses System für eine Diesel-Pkw rüstet haben, würden einen entsprechenden
Nachrüstung vorgeschlagen.“ Vermerk im Fahrzeugschein bekommen,
Genau dagegen hatten sich die Autokon- in Deutschland zugelassene Fahrzeuge der im Zentralen Verkehrsinformations-
zerne bislang stets zur Wehr gesetzt, und nach Schadstoffklassen, system des Kraftfahrt-Bundesamts erfasst
schon gar nicht wollten sie dafür zahlen. in Millionen würde. So könnten ihn auch Polizisten ab-
Stattdessen versuchen die Manager in 5,92 rufen, die Fahrzeuge in einer Fahrverbots-
Wolfsburg, München und Stuttgart, die zone kontrollieren.
Kunden mit einer Umtauschprämie zum Doch was die Fachbeamten im Ministe-
Kauf neuer Fahrzeuge zu bewegen. rium bereits gutheißen, stößt bei ihrem
Doch die Zeit für eine Lösung der Die- Chef auf Bedenken. Landwirtschaftsminis-
selfrage drängt. Denn Millionen Fahrzeuge ter Christian Schmidt, der im geschäftsfüh-
könnten im kommenden Monat drastisch 4,20 renden Kabinett für Verkehr zuständig ist,
Euro-Schadstoff-
an Wert verlieren, wenn das Bundesver- klasse, zögert mit einer Entscheidung. Schließlich
waltungsgericht Ende Februar den Weg für Zeitpunkt der ist ungeklärt, wer für die über zehn Mil-
Fahrverbote wegen erhöhter Stickoxid- Einführung liarden Euro aufkommen soll, die eine Um-
konzentrationen in vielen Innenstädten Stand: Januar 2017 rüstung kosten würde.
frei macht. 2,67 Experten wie Jürgen Resch, Geschäfts-
Quelle: Kraftfahrt-
Deshalb sind nun auch die Beamten im Bundesamt führer der Deutschen Umwelthilfe, ver-
zuständigen Bundesverkehrsministerium langen, dass die Autokonzerne zahlen.
der Auffassung, dass die Dieselaffäre um- 1,69 Schließlich seien die Abschalteinrichtun-
fassender bekämpft werden sollte als bis- Euro 2 gen oft der Regel- und nicht der Ausnah-
lang beabsichtigt: nicht nur mit einer neu- und 3 4 5 6 mebetrieb gewesen, sagt er. „Bei vielen
en Software, wie es die Industrie plant, älter Januar Januar Sept. Sept. Dieselfahrzeugen ist das System zu mehr
sondern mit der von Wachtmeister emp- 0,54 2000 2005 2009 2014 als zwei Dritteln der Zeit abgeschaltet.“
fohlenen Technik. Dazu wird Harnstoff in Gerald Traufetter

DER SPIEGEL 4 / 2018 67


„Gute Absichten machen skeptisch“
Internet EU-Verbraucherschutzkommissarin Věra Jourová sieht im deutschen Facebook-Gesetz kein
Modell für Europa. Sie drängt die Internetkonzerne, umstrittene Inhalte selbst zu löschen.

Jourová vertritt in der EU-Kommission die In-


teressen der europäischen Verbraucher. Die
53-jährige Tschechin tritt resolut auf und muss
das auch, denn anders als ihre Kollegin, die
Wettbewerbskommissarin Margrethe Vesta-
ger, kann sie Konzerne nicht mit Geldbußen
zur Räson bringen. Auch beim Thema Hass
im Netz setzt Jourová auf ihre Überzeugungs-
kraft. Kommende Woche wird sie Sheryl Sand-
berg treffen und die Facebook-Managerin ein-
mal mehr ermahnen, Propaganda, Verleum-
dungen und Beleidigungen auf der Plattform
in den Griff zu bekommen. Sie hofft, dass die
Gespräche besser verlaufen als mit VW-Chef
Matthias Müller. Weil das EU-Recht keine Sam-
melklagen kennt, wollte sie den VW-Boss da-
von überzeugen, seine Kunden in der EU frei-
willig zu entschädigen – erfolglos. Deshalb
macht Jourová nun Druck: Sie will ein EU-Ge-
setz auf den Weg bringen, das Verbrauchern
erlaubt, sich gegen betrügerische Konzerne
zu wehren und Schadensersatz einzuklagen.

SPIEGEL: Frau Jourová, sind Sie selbst schon


mal Opfer von Hass im Netz geworden?
Jourová: O ja. Jeden Tag. Aber als Politike-
rin muss ich das aushalten. Ich verteidige
als Verbraucherschutz- und Justizkommis-
sarin Sinti und Roma, Juden und Muslime,
Schwule und Lesben. Ich bin ein Gesicht
dieser Gruppen, denen bestimmte Men-
schen keinerlei Rechte zugestehen wollen.
Das macht mich zum Angriffsziel.
SPIEGEL: Sie haben Ihr Facebook-Profil ge-
löscht mit der Begründung: Facebook sei
eine „Autobahn des Hasses“.
Jourová: Wenn ich persönlich angegriffen
werde, kann ich damit leben. Aber ich fin-
de nicht, dass ich auf Facebook dafür auch
noch ein Forum bieten muss.
SPIEGEL: In Deutschland gilt seit Kurzem
das Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das
Plattformen wie Facebook und Twitter
zwingt, strafbare Hasskommentare rasch
zu löschen, sonst droht ihnen ein hohes
Bußgeld. Ist das ein Vorbild für Europa?
Jourová: Meiner Ansicht nach nicht, und das
sehen die meisten Justizminister in Europa
ähnlich. Trotzdem habe ich Verständnis für
die Lage in Deutschland. Bundesjustiz-
minister Heiko Maas hat uns erschreckende
Zahlen gezeigt, wie sehr der Hass im Netz
in Deutschland zunimmt. Er hat auch be-
tont, dass ein großer Teil der deutschen Ge-
sellschaft von der Regierung erwartet, dass
sie etwas dagegen unternimmt.
SPIEGEL: Anders als Deutschland setzt die
EU-Kommission bisher auf die freiwillige
Selbstverpflichtung. Sie haben 2016 mit Politikerin Jourová: Dunkle Seite des Internets

68 DER SPIEGEL 4 / 2018


Wirtschaft

Facebook, Twitter, YouTube und Microsoft Wahlen zu beeinflussen, und Holocaust- davon? Im April werden wir daher ent-
einen Verhaltenskodex erarbeitet. Warum leugnern Plattformen für Propaganda. sprechende Vorschläge vorstellen.
schonen Sie die US-Konzerne? Jourová: Es gibt eine dunkle Seite des In- SPIEGEL: Das heißt, Sie wollen eine EU-
Jourová: Ich schone sie nicht, im Gegenteil: ternets, ich habe mir da nie Illusionen ge- Richtlinie erlassen?
Ich habe die Internetunternehmen diszipli- macht. Ich erkenne die guten Absichten Jourová: Ja, Verbraucher sollen nicht nur
niert. Mir ging es darum, dass sich schnell der Internetkonzerne voll und ganz an. fair behandelt, sondern auch entschädigt
etwas ändert. Das erreichen Sie nicht, Aber auch die vielen guten Absichten ma- werden, wenn sie betrogen wurden. Wir
wenn Sie erst mal ein Gesetz entwickeln. chen mich skeptisch. Wenn Internetfirmen wissen, dass das Zivilrecht der Mitglied-
Das dauert auf europäischer Ebene einige sagen, sie wollen unser Leben besser ma- staaten unantastbar ist, aber jedes Land
Jahre. Inzwischen ist auch Instagram unse- chen, darf das nicht heißen, dass sie uns soll künftig auf seine Weise gewährleisten,
rem Verhaltenskodex beigetreten, und die sagen wollen, wie wir zu leben haben. Ich dass solche Sammelklagen für Verbraucher
Unternehmen tun, was wir von ihnen er- bin in der Tschechoslowakei aufgewachsen, leicht zugänglich, verständlich und kosten-
warten. Sie löschen 70 Prozent der bean- ich habe ein totalitäres Regime erlebt. günstig sind.
standeten Inhalte von ihren Seiten. Und es SPIEGEL: Sind Sie aus diesem Grund auch SPIEGEL: Sind Sie bei dem Thema auch des-
geht heute deutlich schneller als noch vor so zögerlich beim Thema Hass im Netz? halb so engagiert, weil Sie VW-Chef Müller
einem Jahr. Wir setzen auf Verantwortung, Fürchten Sie, zunehmend autokratisch nicht dazu bewegen konnten, seine Kun-
das deutsche Modell auf Sanktionen. agierende Regierungen etwa in Polen oder den in Europa freiwillig zu entschädigen?
SPIEGEL: Und der Appell an die Verantwor- Ungarn bekämen ein mächtiges Zensur- Jourová: Sagen wir so: Die Gespräche mit
tung reicht? instrument in die Hand? Herrn Müller haben mich in meiner Ent-
Jourová: Nicht immer, aber sehr oft. Unser Jourová: Ich bin vielleicht besonders sensi- schlossenheit sehr bestärkt.
Ziel war nie, dass die Social-Media-Platt- bel, wenn es um Zensur geht oder über- SPIEGEL: Die Autokonzerne werden ihre
formen 100 Prozent der beanstandeten In- haupt darum, die Freiheit von Menschen ganze Lobbymacht aufwenden, um Sam-
halte löschen, das ist ein entscheidender zu beschneiden. Meine Theorie ist: Wenn melklagen in Europa zu verhindern.
Unterschied zum deutschen Gesetz. Es be- wir beim Thema Hate Speech überreagie- Jourová: Das wird ein interessanter Test,
darf einer feinen Unterscheidung zwischen ren, wächst der Hass weiter, und die Atmo- der zeigen wird, wie es die Mitgliedstaaten
dem, was noch von der Meinungsfreiheit sphäre in der Gesellschaft wird noch ver- mit dem Schutz ihrer Verbraucher gegen
gedeckt ist, und wirklich illegalen Inhalten, gifteter. Das könnte manche politischen die Lobbymacht der Industrie halten. Aber
auf Basis des europäischen Rechts. In un- Kräfte einladen, hart durchzugreifen. Die es geht mir nicht nur um die Autoindustrie.
serem System lässt das IT-Unternehmen werden keine Samthandschuhe anziehen, Nehmen Sie etwa Qualitätsunterschiede
womöglich im Zweifel ein Posting auf der etwa wenn es um Zensur geht. Unser mo- bei Lebensmitteln.
Seite. In Deutschland löscht es lieber SPIEGEL: Sie meinen den sogenannten Nu-
schnell, weil es sonst drakonische Strafen tella-Graben: In Osteuropa enthält Nutella
riskiert. Die Abschreckungswirkung des „Ich bin in der Tschecho- weniger Kakao als in Westeuropa.
deutschen Gesetzes funktioniert, aber sie Jourová: Je mehr ich darüber lerne, desto
funktioniert vielleicht zu gut. Ich bin mir slowakei aufgewachsen. klarer wird, dass das kein Ost-West-Graben
nicht sicher, ob ich mir das für ganz Europa Ich habe ein totalitäres ist, sondern dass Konzerne in allen Län-
wünsche. dern versuchen, ihre Kosten zu optimieren,
SPIEGEL: Sie meinen, das deutsche Gesetz
Regime erlebt.“ weil Verbraucher sich nicht wehren.
schränke die Meinungsfreiheit zu sehr ein? Auch in diesen Fällen würden Sammel-
Jourová: Das deutsche Gesetz ist sehr viel derater Ansatz soll auch ein solches Sze- klagen von Verbraucherschutzorganisatio-
umfassender als unser Verhaltenskodex, nario verhindern. nen helfen.
von übler Nachrede bis Drohung ist alles SPIEGEL: Beim Hass im Internet vertrauen SPIEGEL: Der Blick in die USA zeigt aber
dabei, insgesamt 21 verschiedene kriminel- Sie auf die Selbstregulierung der Konzerne. auch die Probleme von Sammelklagen: Oft
le Handlungen und Tatbestände. Das geht An anderer Stelle, etwa bei der Frage, wie sind sie eher ein Glücksfall für Anwalts-
schon sehr weit. sich geprellte Verbraucher in Europa ge- kanzleien als für Verbraucher.
SPIEGEL: Selbst Facebook-Chef Mark Zu- meinsam gegen Unternehmen wehren kön- Jourová: Das sehe ich genauso. Wir wollen
ckerberg sieht inzwischen, dass Facebook nen, fordern Sie dagegen gesetzliche Re- dem amerikanischen Beispiel daher nicht
überquillt vor Hass, sich also nicht wirklich geln, wir reden natürlich von Dieselskan- folgen. Die Rechte der Verbraucher sollten
etwas verbessert hat. Facebook sei kaputt, dal und VW. Ist das nicht ein Widerspruch? keine Gelddruckmaschine für Anwälte
„wir müssen es reparieren“, sagt er. Jourová: Nein, die Situation ist doch folgen- oder Finanzfirmen werden, die solche Pro-
Jourová: Ich war froh, dass er das gesagt de: Wir haben uns jahrelang auf die Schul- zesse finanzieren.
hat. Es zeigt, dass Herr Zuckerberg er- ter geklopft und gratuliert, wie stark der SPIEGEL: Wie wollen Sie das verhindern?
kannt hat, dass das, was er geschaffen hat, Verbraucherschutz in der EU sei. Und Jourová: Unter anderem dadurch, dass die
nicht das ist, was er schaffen wollte. Ich dann wachen wir eines Morgens auf und Mitgliedstaaten eine Reihe von Organisa-
habe das Silicon Valley besucht, die Atmo- erfahren: In den USA werden Verbraucher tionen, etwa Verbraucherschutzverbände,
sphäre dort ist sehr gut, offene Arbeits- in Millionenhöhe entschädigt. benennen sollen, die solche Klagen über-
plätze, Teamwork, jeder darf seine Mei- SPIEGEL: In der EU dagegen sollen sie sich haupt einreichen dürfen. Die Finanzierung
nung sagen. Und dann gehen Sie aus dem mit einem Softwareupdate begnügen. solcher Prozesse durch Dritte wird nur un-
Gebäude von Facebook hinaus, dieser of- Jourová: Ja, der Fall Volkswagen war ein ter strengen Voraussetzungen erlaubt sein.
fenen und hellen Welt, und sehen, dass Weckruf. Er hat gezeigt, wie hilflos Ver- SPIEGEL: Sie haben ihren Facebook-Ac-
die Menschen draußen etwas ganz anderes braucher in Europa bei der Durchsetzung count gelöscht und nicht nur mit den US-
mit Facebook anstellen. ihrer Rechte oft sind. Und er hat mir ge- Internetfirmen, sondern auch mit dem
SPIEGEL: Die Geschichte des Silicon Valley holfen, das Thema Sammelklagen wieder deutschen Traditionsunternehmen VW
begann als Verheißung: Die Internetkon- auf die Agenda zu setzen. Es braucht eine ihre Erfahrungen gemacht. Verraten Sie
zerne wollten unser Leben besser machen, europäische Regelung. Ich kann schön uns: Würden Sie noch einen VW kaufen?
gesünder, transparenter. Heute bieten sie über Verbraucherschutz reden, aber die Jourová: Ich bin in meinem Mercedes sehr
russischen Hackern das Werkzeug, um Menschen fragen zu Recht: Was habe ich glücklich. Interview: Isabell Hülsen, Peter Müller
DER SPIEGEL 4 / 2018 69
DAIMLER
Daimler-Designstudie zum autonomen Fahren

Zukunft. Und dann?


Autoindustrie BMW, Daimler und VW ringen mit IT-Konzernen um die ersten Roboterautos – ohne
zu wissen, ob sie damit Geld verdienen können und wie es ihre Unternehmen verändert.

S
terling Anderson arbeitet an einem Umso erstaunlicher ist, für wen Ander- Schon in den kommenden Jahren will
Projekt, das er auf Taxifahrten besser son heute arbeitet. Früher war er Manager VW in Großstädten automatisierte Shut-
verschweigt. Fragt ihn der Chauffeur bei Tesla, dem Elektroauto-Pionier aus tles einsetzen, die auf Bestellung zum Kun-
nach seinem Beruf, wird Anderson wort- Kalifornien. Mittlerweile aber ist es ein den rollen. In der Testphase soll noch ein
karg: Er sei im Softwaregeschäft tätig, lau- Dinosaurier der Branche, der Andersons Mensch am Steuer sitzen. Ab 2021, so der
tet seine Standardantwort. Rat und seine Hilfe sucht: Volkswagen. Plan, wird der Fahrer zunehmend durch
Das ist zwar nicht falsch, aber nur die Seit einigen Monaten ist Anderson ein voll autonomes System ersetzt.
halbe Wahrheit. Tatsächlich gilt Anderson regelmäßig zu Gast in Wolfsburg, wo Das wachsende Angebot digitaler Mobi-
als einer der Vordenker des autonomen ihn die Chefs der Marken VW und Audi litätsdienste dürfte dazu führen, dass im-
Fahrens. Sein Wissen und seine Software empfangen. Der Volkswagen-Konzern ar- mer mehr Kunden kein eigenes Auto mehr
könnten schon bald dazu beitragen, beitet jetzt eng mit Andersons Firma besitzen, sondern lieber eins für Einzel-
menschliche Fahrer überflüssig zu machen. Aurora zusammen. Das erklärte Ziel: fahrten mieten wollen. Der Beweis aber,
Für die gesamte Auto- und Transport- „Mobilität für alle auf Knopfdruck“ zu ob die Autohersteller mit derartigen
industrie wäre das ein Schock. Anderson schaffen. Dienstleistungen wirklich Gewinne erwirt-
hingegen sieht darin eher eine Denksport- VW will dadurch auf Augenhöhe mit schaften können, steht aus.
aufgabe oder, wie er es ausdrückt: „die Tesla kommen, aber auch mit Apple oder Die Carsharing-Dienste von BMW und
größte technische Herausforderung unse- Google. Auto- und IT-Industrie konkur- Daimler, DriveNow und Car2go, haben
rer Generation“. Er ist 34 Jahre alt, trägt rieren darum, die ersten fahrerlosen Autos jahrelang Verluste angehäuft. Hohen Be-
einen Kapuzenpulli, Sakko, Jeans und eine auf die Straße zu bringen – und sich damit triebs- und Wartungskosten stehen niedri-
Armbanduhr, die eine Stunde vorgeht. neue Milliardenmärkte zu erobern. Es ist ge Einnahmen gegenüber. Experten gehen
Anderson war seiner Zeit schon immer eine Wette mit hohem Einsatz und mit un- davon aus, dass die Fahrpreise aufgrund
ein Stück voraus. Bereits vor zehn Jahren, gewissem Ausgang. des hohen Wettbewerbs sogar noch sinken
als junger Forscher an der US-Eliteuniver- Sicher ist nur: Das autonome Fahren werden.
sität MIT, arbeitete er an Erfindungen für wird gravierende Auswirkungen haben, Lange waren die Autokonzerne skep-
autonome Fahrzeuge. Viele traditionelle auf Volkswagen, BMW und Daimler, auf tisch, ob sie sich überhaupt auf das Risiko
Hersteller hielten selbstfahrende Autos da- ihre Mitarbeiter und Kunden und auf die eigener Fahrdienste einlassen sollten. Der
mals noch für Science-Fiction, ungefähr so Art und Weise, wie die deutsche Auto- frühere VW-Vorsitzende Martin Winter-
realistisch wie eine bemannte Marsmission. industrie künftig ihr Geld verdienen will. korn befürchtete, seine Kunden könnten
70 DER SPIEGEL 4 / 2018
Wirtschaft

sich davor ekeln, in ein bereits benutztes herausholen zu können. Autos in Privat- Das Betriebssystem dafür will VW nun
Auto einzusteigen. Sogar Tesla-Chef Elon besitz stünden die meiste Zeit nur unge- mithilfe von Aurora entwickeln, der Soft-
Musk wird nachgesagt, er habe zunächst nutzt herum. Ein Fahrdienstanbieter hin- warefirma von Ex-Tesla-Manager Ander-
nicht an die Bereitschaft von Autofahrern gegen, so das Kalkül, könnte die Fahrzeu- son. Zum Team gehört Chris Urmson, der
geglaubt, ihr Fahrzeug mit Fremden zu tei- ge wesentlich stärker auslasten. früher bei Google für das autonome Fah-
len. Mittlerweile zählt der Plan eines eige- Die traditionelle Autoindustrie, kritisiert ren zuständig war.
nen Fahrdienstes zu den Kernpunkten sei- Krafcik, sei immer noch „besessen“ von Bei ihren früheren Arbeitgebern hatten
ner Strategie. ihren Verkaufszahlen. Dabei gehe es längst die beiden IT-Ingenieure Probleme, Robo-
Aber haben die Autohersteller über- nicht mehr darum, möglichst viel Geld mit terautos auf die Straße zu bringen, die
haupt eine Wahl? Können sie sich ernsthaft dem Verkauf der Autos zu verdienen – son- wirklich funktionieren. Das soll sich bei
verweigern? Die Antwort der Firmenchefs dern mit jedem Kilometer, den sie auf der VW ändern. Auf lange Sicht wollen sich
ist mittlerweile eindeutig: nein. Straße zurücklegen. Urmson und Anderson nicht mit ein paar
„Das autonome Fahren ist eine Entwick- Die Frage ist jedoch, wer am Ende die Tausend futuristischen Fahrzeugkabinen
lung, die sich nicht mehr aufhalten lässt“, Gewinne einstreicht. begnügen. Sie träumen davon, ihre Soft-
sagt VW-Konzernchef Matthias Müller. Krafcik stehen viele Einnahmequellen ware schrittweise auf die gut zehn Millio-
„Offen bleibt nur die Frage, wie schnell offen. Er kann Gebühren für seinen Fahr- nen Autos zu übertragen, die Volkswagen
die Technologie sich durchsetzt – und in dienst erheben, die Roboterauto-Software jährlich produziert.
welchem Umfang.“ an Dritte vermieten und die Nutzerdaten Der VW-Konzern wiederum hofft auf
Die ganze Industrie wird getrieben von vermarkten. Am Bau von Autos dagegen ein milliardenschweres Neugeschäft. Seine
Digitalkonzernen wie Uber, Amazon oder hat der Waymo-Chef kein Interesse. Die Roboterautos will Volkswagen künftig an
Apple, die schon seit Jahren an autonomen Blechkarossen für seinen Fahrservice lie- Flottenbetreiber und Verkehrsbetriebe ver-
Fahrsystemen forschen. Sie alle hoffen, fert ihm der Autohersteller Fiat Chrysler. kaufen, aber auch an Privatleute, die nicht
dank überlegener Technik den Mobilitäts- Manager von Traditionsunternehmen wie mehr selbst fahren wollen.
markt der Zukunft beherrschen zu können, Volkswagen haben Angst davor, dass diese Zusätzliche Gewinne sollen eigene Fahr-
indem sie den wesentlichen Kostenfaktor Art der Arbeitsteilung sich durchsetzt – dienste einspielen – und die Inhalte, die
eliminieren: den Fahrer. und sie zu reinen Hardwarelieferanten für auf den Bildschirmen im Auto gezeigt wer-
Es ist ein Wettkampf mit ungleichen Waymo oder Uber degradiert werden. den. Im VW-Testbetrieb gehörte sogar
Startbedingungen. Denn die Software- Um den Anschluss nicht vollends zu ver- Supermarktwerbung dazu: Wer bereit war,
riesen aus Kalifornien haben es wesentlich lieren, arbeiten die Hersteller deshalb an bei der nächsten Edeka-Filiale anzuhalten,
leichter, die Mittel für die nötigen Milliar- Gegenstrategien. Am Rand der Elektronik- erhielt die Fahrt umsonst. „Jedes der
deninvestitionen zu beschaffen. messe CES in Las Vegas zeigte der Volks- selbstfahrenden Autos“, sagt Jungwirth,
Selbst wenn man die 25 größten Auto- wagen-Konzern, wie er sich die Mobilität „wird vom ersten Tag an profitabel sein.“
hersteller zusammenrechnet, kommen die der Zukunft vorstellt. Die Präsentation des VW-Digitalchefs
gerade mal auf 20 Prozent des Börsenwerts In einem kleinen Zimmer des Nobel- ist flott und unterhaltsam. Sie passt zu dem
der 15 wichtigsten IT-Unternehmen. „Das hotels Mandarin Oriental verteilt VW- Optimismus und dem Fortschrittsglauben,
zeigt ganz klar, dass die Digitalkonzerne Digitalchef Johann Jungwirth digitale die die Elektronikmesse alljährlich insze-
finanziell in einer anderen Liga spielen“, Hightech-Brillen. Wer sie aufsetzt, blickt niert. Durch das Hotelfenster blinken die
sagt Dieter Becker, Autoexperte des Wirt- ins Innere eines futuristischen Fahrzeugs: bunten Werbetafeln der Vergnügungstem-
schaftsprüfers KPMG. ein rechteckiger Kasten, der ohne Lenkrad pel von Las Vegas.
Die Google-Schwesterfirma Waymo und Pedale auskommt. In der Simulation Offen bleibt, ob Jungwirths Pläne rea-
zum Beispiel hat einen Milliardenbetrag lässt sich der Innenraum flexibel einrich- listisch sind. Ob Autobauer wie VW sich
in selbstfahrende Testfahrzeuge investiert. ten, je nach Bedarf mit Sofa, Schreibtisch tatsächlich zu Mobilitätsdienstleistern wan-
Vorrangiges Ziel ist der Aufbau eines flä- oder Hantelbank. deln können, ob sie es wirklich wollen.
chendeckenden, voll autonomen Fahr- Noch wirkt alles wie Blendwerk, genau Dazu kommt die andere große Frage –
dienstes. Schon in diesem Jahr will Waymo wie der falsche Eiffelturm oder die nach- nämlich die, was das eigentlich für die Un-
in der US-Stadt Phoenix starten, mit einer gebaute Rialtobrücke nahe dem Mandarin ternehmen bedeuten würde.
Flotte von mehr als 500 Fahrzeugen. Oriental. Doch geht es nach Jungwirth, sol- Gerade haben sich die Mitarbeiter von
Dass er mit seinem Service Geld verdie- len seine Ideen bis Anfang des nächsten Volkswagen, BMW und Daimler damit ab-
nen kann, steht für Waymo-Chef John Jahrzehnts umgesetzt werden. gefunden, dass ihre jahrzehntelang erfolg-
Krafcik außer Frage. Er glaubt, aus jedem Das passende Konzeptfahrzeug, ge- reichen Kernprodukte, Autos mit Diesel-
einzelnen Auto noch viel mehr Gewinn nannt Sedric, hat VW bereits 2017 gebaut. und Benzinmotoren, zunehmend durch

David gegen Goliath


Deutsche Automobilhersteller und
amerikanische Technologiekonzerne
im Vergleich, Börsenwerte in Mrd. €

60,4 79,3 91,2 Quelle:


Bloomberg,
744,0 644,2 509,6
Stand:
18. Januar

DER SPIEGEL 4 / 2018 71


Elektrofahrzeuge ersetzt werden. Eberhard sagt, er wolle die Kon-
Nun steht die nächste Revolution be- trolle über Lenkrad und Beschleu-
vor, die womöglich eine noch viel nigung nicht abgeben. Dafür sei die
größere Wucht entfaltet. Software zu störungsanfällig. Außer-
Vor allem Belegschaftsvertreter dem warnt er vor den Folgen für die
befürchten, die Autohersteller könn- Gesellschaft: Der Wandel hin zu den
ten ihr Stammgeschäft vernachlässi- Roboterautos sei anders als alle in-
gen, ihre Identität verlieren – und dustriellen Revolutionen zuvor.
damit viele Arbeitsplätze. „Diese Revolution ist schneller
BMW-Betriebsratschef Manfred und birgt die Gefahr, dass sehr viele
Schoch ist alles andere als ein Re- Leute in sehr kurzer Zeit ihre Arbeit
formgegner. Im Münchner Autokon- verlieren“, sagt Eberhard. Künstli-
zern hat er sich schon vor gut einem che Intelligenz mache nicht nur ein-
Jahrzehnt dafür starkgemacht, dass zelne Fähigkeiten wie Autofahren
elektrifizierte Fahrzeuge wie der i3 überflüssig, sondern „die menschli-
und der i8 gebaut werden, auch ge- che Fähigkeit an sich“.
gen interne Widerstände. Doch am Egal welche neuen Jobs arbeitslo-
Erfolg des vermeintlichen Zukunfts- se Taxi-, Bus- oder Lkw-Fahrer auch
geschäfts mit Mobilitätsdiensten hat annehmen würden: „Sie werden
Schoch Zweifel. bald einfacher und billiger durch
„Für einen Premiumhersteller künstliche Intelligenz erledigt wer-
ist es schwierig, mit dominanten den können.“
Fahrdienstleistern wie Uber oder Den Autoherstellern rät Eberhard,
Didi mitzuhalten“, sagt Schoch. den Trends aus dem Silicon Valley
„Denn mit dem heutigen Geschäft nicht kritiklos hinterherzujagen. Der
und den Herstellungsprozessen von vermeintliche Siegeszug von Fahr-
BMW hat das überhaupt nichts zu diensten wie Uber oder Lyft er-
tun.“ scheint ihm überbewertet.

FRISO GENTSCH / DPA


Er befürchtet, dass die Gewinne „Es ist besser, unabhängig zu den-
aus dem Angebot von Fahrdiensten ken, seine Kunden zu verstehen und
wie DriveNow weit hinter den Sum- auf Kernkompetenzen zu setzen“, so
men zurückbleiben werden, die Eberhard, „dazu zählt das historisch
BMW heute mit dem Verkauf von VW-Digitalchef Jungwirth: Mobilität auf Knopfdruck gewachsene, tiefe Verständnis von
Fahrzeugen einnimmt. Sicherheit und Zuverlässigkeit.“ Da-
Für Schoch hängt die Zukunft der Auto- stärker fördert – etwa mit einem Ausbau für seien deutsche Hersteller wie VW oder
industrie nicht davon ab, wer das erste des Ladenetzes oder mit Stromrabatten BMW bekannt. Im Silicon Valley, glaubt
Roboterauto oder den besten Taxiservice für die heimische Produktion von Batte- der Tesla-Mitgründer, seien diese Fähigkei-
entwickelt. Entscheidend ist für ihn, dass riezellen. ten „Mangelware“.
BMW & Co. den Kern ihrer bisherigen Das Plädoyer des Betriebsratschefs zeigt, Den Autokonzernen bleibt letztlich nur
Wertschöpfung sichern: die Produktion wie groß die Verunsicherung in der Bran- ein Ausweg: Sie müssen sich alle Optionen
von Antrieben. che ist. Das Dilemma von BMW, Daimler offenhalten.
Die deutsche Autobranche müsse sich oder VW: Sie müssen jetzt beschließen, BMW und Daimler zum Beispiel sind
künftig darauf konzentrieren, die besten womit sie in Zukunft ihr Geld verdienen bemüht, ihren Mobilitätsangeboten eine
Elektromotoren und Batterien zu bauen. wollen. Ohne allerdings genau zu wissen, größere Schlagkraft zu verleihen. Geplant
„Es darf keine Situation entstehen, in wie diese Zukunft aussieht – und was der ist, die Angebote der beiden Konkurrenten
der wir solche Schlüsseltechnologien in Kunde wirklich will. zusammenzulegen, um die Reichweite zu
China oder Korea einkaufen müssen“, Das Roboterauto wird kommen, so viel erhöhen und Kosten zu senken. Ob das al-
sagt der Betriebsratschef. Ansonsten sei ist klar. Aber welchen Fortschritt es tat- lerdings reicht, um DriveNow und Car2go
„der Wohlstand in Deutschland massiv ge- sächlich bringen wird, ist umstritten. Auch zum globalen Durchbruch zu verhelfen, ist
fährdet“. Vorreiter der Auto- und Techbranche sind ungewiss.
Schoch fürchtet weniger die Mobilitäts- mittlerweile skeptisch, was die Perspekti- „Falls wir keinen geeigneten Weg finden
dienste von Softwarekonzernen wie Uber ven des autonomen Fahrens anbelangt. sollten“, sagt ein hochrangiger Manager,
oder Google. Es ist die Expansion chinesi- Zu den Kritikern zählt ein Ingenieur „dann haben wir zumindest eine Erkennt-
scher Autobauer, die ihn besorgt: Herstel- aus Kalifornien, der 2003 eine Marke nis gewonnen: dass solche Geschäfte für
ler wie BYD, Geely oder Nio profitieren für Elektroautos mitgegründet hat. Der uns keinen Erfolg bringen.“
von hohen Subventionen und dem staat- Name des Ingenieurs, Martin Eberhard, Auch VW-Chef Müller will sich nicht
lich angeordneten Ausbau von Ladesäulen. ist längst in Vergessenheit geraten. Nicht auf ein Geschäftsmodell festlegen. Die Fra-
Mit aller Macht erobern sie das Geschäft jedoch der Name des Autoherstellers: ge, wie Menschen sich künftig fortbewegen
mit der E-Mobilität. Tesla. wollen, ist für ihn noch nicht entschieden.
„Wir haben bereits die TV-, die Foto- Den Chefposten bei Tesla hat Eberhard Müller geht davon aus, dass seine Kun-
und die Mobilfunkindustrie verloren“, schon vor Jahren verlassen, den Ruhm den verstärkt Fahrassistenten nutzen wer-
warnt Schoch. „Wenn wir jetzt nicht rea- erntet nun sein Nachfolger Elon Musk. den, sei es auf der Autobahn, im Parkhaus
gieren, laufen wir Gefahr, dass chinesische Doch von den Fahrzeugen ist Eberhard bis oder im Bus-Shuttle. Gleichzeitig aber
Wettbewerber in Zukunft auch die Auto- heute begeistert. Noch immer fährt er glaubt er, „dass viele Menschen auch in
industrie dominieren.“ Tesla-Modelle. Vom autonomen Fahren, Zukunft gern selber fahren möchten, und
Er fordert, dass die Politik auch in das der US-Konzern seit einiger Zeit mas- zwar im eigenen Auto“. Simon Hage
Europa den Durchbruch der E-Mobilität siv bewirbt, hält er allerdings wenig. Mail: simon.hage@spiegel.de

72 DER SPIEGEL 4 / 2018


Wirtschaft

ger werden. Denn im Mehrfamilienhaus

„Spekulation eindämmen“ teilen sich dann mehr Mietparteien die


Grundsteuer als im Einfamilienhaus.
SPIEGEL: Wie lässt sich der Bodenwert über-
Wohnen Bundesbauministerin Barbara Hendricks, 65 (SPD), will mit haupt seriös einschätzen?
Hendricks: Da könnte man die Bodenricht-
einer Reform der Grundsteuer günstigen Wohnraum schaffen. werte von Gutachterausschüssen zugrunde
legen, die es überall in Deutschland gibt
SPIEGEL: Frau Hendricks, die Grundsteuer, Berechnungsgrundlagen lösen, die im Wes- und die zum Beispiel auch für die Erb-
die auf Grundstückseigentum anfällt, ist ten von 1964 sind und im Osten von 1935. schaftsteuer gelten. Das ist ein weithin an-
in ihrer aktuellen Form wahrscheinlich ver- Aber dabei darf es nicht bleiben. Wenn erkanntes Verfahren.
fassungswidrig. Das ließ das Bundesverfas- wir uns clever anstellen, könnte eine Re- SPIEGEL: Es gibt ja bereits einen Vorschlag
sungsgericht bei einer ersten Anhörung form für die Kommunen aufkommensneu- einiger Bundesländer für eine Grundsteuer-
zum Thema diese Woche durchblicken. tral werden und trotzdem dazu führen, reform, der allerdings derzeit auf Eis liegt.
Fürchten Sie, dass Karlsruhe die Abgabe dass Mietnebenkosten sogar sinken und Soll er aufgegriffen werden, wenn Karls-
kippt? der Wohnungsbau angekurbelt wird. ruhe die Grundsteuer kippt?
Hendricks: Nein, ganz im Gegenteil. Ich SPIEGEL: Die Bodenwerte sind seit 1964 ins- Hendricks: Eher nicht. Das Verfassungsge-
sehe darin eine Chance, ein neues Gesetz besondere in Stadtlagen drastisch gestie- richt wird ja voraussichtlich neue Vorgaben
zu entwickeln und die Berechnung der gen. Wie wollen Sie verhindern, dass die machen. Hier ist der künftige Bundes-
Grundsteuer grundsätzlich zu ändern. Grundsteuer durch die Decke schießt? finanzminister gefragt, einen neuen Vor-
SPIEGEL: Was schlagen Sie vor? Hendricks: Wenn der Bodenwert gestiegen schlag zu erarbeiten und das Problem
Hendricks: Derzeit wird für die Erhebung ist, müssen die Multiplikatoren, mit denen nicht wieder an die Bundesländer abzu-
der Grundsteuer der Wert des Grundstücks die endgültige Abgabe ausgerechnet wird, schieben, wie das in der Vergangenheit ge-
sowie der Aufbauten berücksichtigt. Folg- eben sinken. Zum Beispiel die sogenann- schehen ist.
lich werden Investoren bestraft, die bei- ten Hebesätze … SPIEGEL: Warum sollte plötzlich gelingen,
spielsweise ein Mehrfamilienhaus moder- SPIEGEL: … also die Sätze, mit denen die was jahrzehntelang nichts geworden ist?
nisieren oder das Dachgeschoss ausbauen Kommunen den eigentlichen Grundsteu- Hendricks: Weil bezahlbares Wohnen zu
und neuen Wohnraum schaffen. Dadurch ersatz multiplizieren … einem der wichtigsten Themen für die Bür-
steigt nämlich die Grundsteuer. Künftig Hendricks: … genau. Die Kommunen dürfen ger geworden ist, nicht nur in den sieben
sollten wir deshalb die Gebäude aus der diese Hebesätze bislang völlig autonom großen Metropolen, sondern auch in wirt-
Berechnung heraushalten und ausschließ- bestimmen. Vielerorts sind sie sehr hoch. schaftlich florierenden mittelgroßen Städ-
lich den Wert des Grundstücks betrachten. In einem neuen Gesetz könnte man deshalb ten und Gemeinden. Dieser Druck wird
SPIEGEL: Der Hamburger Finanzsenator hat eine bestimmte Bandbreite vorgeben, um für Bewegung sorgen.
gerade schockierende Rechnungen vorge- zu verhindern, dass etwa Eigenheimbesit- SPIEGEL: Die Grundsteuer soll helfen,
legt. Demnach würde sich die Grundsteuer zer plötzlich ein Vielfaches des bisherigen Wohnraum zu schaffen?
in der Hansestadt im Schnitt verzehnfa- Satzes zahlen müssen. Aber entscheidend Hendricks: Man könnte eine grundsätzliche
chen, würde sie nach aktuellen Bodenwer- ist, dass künftig allein der Bodenwert zählt Reform der Grundsteuer als Gelegenheit
ten berechnet. und nicht mehr die Art des Gebäudes. Für nehmen, auch Bodenspekulation einzu-
Hendricks: Das ließe sich mit einer grund- viele Mieter, an die die Grundsteuer für dämmen. Kommunen müssen die Möglich-
legenden Reform vermeiden. Natürlich gewöhnlich direkt weitergegeben wird, keit erhalten, für baureife, aber unbebaute
muss man sich von den aktuell geltenden dürfte eine solche Regelung sogar günsti- Grundstücke erheblich mehr Grundsteuer
zu verlangen als für bebaute. Nach den
Sondierungen gehe ich davon aus, dass das
auch mit der Union zu machen ist.
SPIEGEL: Das wäre eine Umkehrung der bis-
herigen Verhältnisse, denn im Moment
wird für unbebautes Land weniger Steuer
fällig.
Hendricks: Mir hat schon vor einigen Jahren
ein Bürgermeister einer schwäbischen Mit-
telstadt gesagt: Meine Stadt ist wegen
Reichtums geschlossen. Die reichen Besit-
zer verkaufen ihre Grundstücke einfach
nicht für den Bau neuer Wohnungen, son-
dern lassen sie brach liegen.
SPIEGEL: Man kann sie kaum zum Verkauf
zwingen …
Hendricks: Nein, aber das Liegenlassen auf
Kosten der Gemeinschaft muss wehtun.
Die Kommune müsste in die Vorleistung
XANDER HEINL / PHOTOTHEK

gehen und sagen, das ist ein Baugebiet.


Das neue Grundsteuergesetz muss ihr dann
erlauben, für diese Liegenschaft empfind-
lich mehr Steuern zu verlangen. Die Woh-
nungsnot zu beenden dient schließlich
dem sozialen Frieden im Land.
Ministerin Hendricks: „Für viele Mieter dürfte es sogar günstiger werden“ Interview: Anne Seith, Gerald Traufetter

DER SPIEGEL 4 / 2018 73


Ausland
Frankreich Zahl der Geburten die der
Weniger Kinder Todesfälle noch übersteigt.
2017 kamen 17 000 Babys we-
Die Schreckensnachricht er- niger zur Welt als im Jahr da-
eilte die Franzosen am Diens- vor, die französische Gebär-
Kolumne tagvormittag, als das Statis- freudigkeit, bisher einsame
12 Wochen in Riad tikamt die Geburtenrate für Spitze, nähert sich immer
2017 veröffentlichte: Sie lag mehr dem EU-Durchschnitt
„Wir werden brüllen, bis un- bei nur noch 1,88 Kindern an – der bei 1,58 Kindern
sere Hälse heiser sind“, rufen pro Frau. Das bedeutet, dass pro Frau liegt. Was sind die
die Frauen vor ihrem ersten die Rate weiter sinkt – das Gründe? Die Finanzkrise sei
Besuch im Fußballstadion dritte Jahr in Folge. Die Zahl schuld, sagen manche. Ande-
von Dschidda. So lese ich es war mit Aufregung erwartet re machen Kürzungen beim
zumindest in der Zeitung, die worden. Die Familienpolitik Kindergeld dafür verantwort-
jetzt täglich den Fortschritt galt als eine der letzten Bas- lich. Gilles Pison, Professor
feiert. Der Moment ist groß, tionen des französischen Na- für Demografie, glaubt, dass
historisch, am Ende sitzen tionalstolzes. Sie gewährleis- es nur unter einer Bedingung
dann aber gar nicht so viele tete eine intakte Demografie: in Zukunft wieder mehr
Frauen auf den Rängen, das Frankreich ist eines der weni- Babys geben wird: Wenn die
sehe ich wiederum auf Saudi gen EU-Länder, in denen die Arbeitslosigkeit sinkt. hey
TV. Da ruft Khaled an, mein
Nachbar. Seine Mutter sei zu
Besuch. „Willst du sie ken-
nenlernen?“ Khaleds Mutter, USA Awards von Trump an die
denke ich, muss wissen, wie „New York Times“, die „Wa-
das ist mit den Frauen und Fantasyland shington Post“, „Newsweek“,
dem Fußball. Khaled ist 43, Nichts lieben die Amerikaner ABC und CNN sein mag – es
Bauunternehmer, er wohnt so sehr wie eine gute Ge- ist auch der neueste Dreh
im Zentrum von Riad, hohe schichte. Die ersten Siedler, eines alten Tricks. Der Illu-
Mauern, Pool, drei Frauen, die in die Neue Welt aufbra- sionskünstler spielt die Vor-
neun Kinder. Die Ehefrauen chen, erzählten sich vom würfe zurück, die ihn bloß-
tauchen nicht auf, aber dafür Gold, das sie reich machen stellen könnten. Trump hasst
sitzt die Schwägerin komplett würde. Dann kamen die pro- die Leitmedien seines Landes
verschleiert da, nur die Mut- testantischen Fundamenta- und giert gleichzeitig nach ih-
ter lehnt entspannt ausge- listen, die sich ihre Bibelaus- rer Anerkennung. Er schaut
streckt und unverschleiert auf legung nicht verbieten lassen in den Fernseher wie andere
einer Couch zwischen ihren wollten. Die Überzeugung, Menschen in den Spiegel,
Söhnen. Khaled tätschelt ihr dass jeder Mensch ein Recht und er denunziert die Zeitun-
die Füße, sein älterer Bruder auf seine eigene Wahrheit gen, denen er trotzdem im-
Ameen legt eine Decke um hat, gehört zum Kern der US- mer wieder Interviews gibt.
ihre Schultern. Beim Essen amerikanischen Identität. Da ist es nur folgerichtig, die
danach präsidiert die Mutter Auch deshalb lieben seine Medienhäuser auszuzeichnen,
am Kopfende des Tisches, es Anhänger Donald Trump im- die Redaktionen und Ressour-
gibt Reis, Lamm und Erd- mer noch: Er ist ein „con cen aufgestockt haben, um

6
beertorte. Khaleds verschlei- man“, ein professioneller ihn noch umfangreicher kriti- Fußnote
erte Ehefrauen essen in den Hochstapler, ein amerikani- sieren zu können. Denn auch
Frauengemächern – und Fuß- scher Archetyp. So irre die sie sind Teil des Echoraums
ball, das scheint hier kein Verleihung der Fake-News- der großen Trump-Show. rap
Thema zu sein. „Wieso wol-
len Frauen ins Stadion?“,
Minuten
fragt Khaled entgeistert. lang schien im Dezember
„Sollten Frauen Auto fahren, vergangenen Jahres
müssen sie das?“, fragt mich in Moskau die Sonne, gab
Ameen. „Äh …“ – weiter das Observatorium der
komme ich nicht. „Wenn die Lomonossow-Universität
Frauen das Haus verlassen, bekannt. Selbst für
zerfällt die Familie, unsere hartgesottene Einwohner
Tradition“, sagt Khaled. Sie der russischen Haupt-
hätten es doch gut hinter den stadt ist das wenig. Nor-
Mauern, geschützt vor der mal sind zu dieser Jahres-
bösen Welt. Ich verabschiede zeit etwa 18 Stunden
mich, in diese böse Welt. Sonne. Doch die Tempe-
Das Lamm jedenfalls war raturen waren ungewöhn-
EVAN VUCCI / AP

ausgezeichnet. lich hoch, und dichte


Susanne Koelbl berichtet an dieser Trump Wolken fingen das
Stelle bis März aus Saudi-Arabien. Sonnenlicht ab.

74 DER SPIEGEL 4 / 2018


Europa vor der Tür
Es muss kein schlechtes Zeichen sein, dass der europäische
Rotfuchs sich bis 10 Downing Street vorwagt, zum Amtssitz der

TOM NICHOLSON / ZUMA PRESS / IMAGO


britischen Premierministerin Theresa May in London. Es könnte
Hoffnung machen. Die Tiere, denen die britische Oberschicht
jahrhundertelang in aufwendigen Jagden nachstellte, dringen
immer weiter in die Städte vor, 18 Füchse leben in der briti-
schen Hauptstadt mittlerweile pro Quadratkilometer. Denn sie
finden auch hier inzwischen ausreichend Nahrung: italienische
Pizzen in Mülleimern zum Beispiel.

Kommentar

Tot, toter, am totesten


Präsident Abbas hat keine Idee, wie es ohne den Oslo-Prozess weitergeht.
Wer mit Selbstmord droht, sollte auch bereit sein zu sterben. will Abbas nun bei den EU-Außenministern in Brüssel wer-
Den Selbstmord androhen, genau das ist es, was Mahmoud ben. Aber die EU ist gespalten, was den Palästinakonflikt
Abbas, der Palästinenserpräsident, derzeit wieder mal angeht. Dass von Brüssel in naher Zukunft ein Impuls für ech-
tut: Erst erklärte er am Sonntag den Oslo-Prozess für tot und te Vermittlungen ausgeht, ist schwer vorstellbar.
sprach den Amerikanern ihre Rolle als fairer Mediator ab. Zugleich hat Abbas den USA eine trotzige Abfuhr erteilt.
Kurz danach beschloss der PLO-Zentralrat, die Anerkennung Sein Ärger über die proisraelische Trump-Regierung ist ver-
Israels einzufrieren. Mit der Problembeschreibung hat Abbas ständlich. Aber Diplomatie ist noch immer der einzige Weg zu
absolut recht. Würde er es jedoch ernst meinen, dann müsste einem eigenen Staat, wie immer der genau aussieht – und
er zurücktreten und die Autonomiebehörde auflösen. ohne Amerika geht es vorerst nicht. Abbas’ leere Drohungen
Das aber will Abbas nicht. Er ist seit 13 Jahren im Amt, ein und erfolglose diplomatische Rochaden dürften daher bei den
alter Mann, dessen ganze politische Karriere mit dem Oslo- Palästinensern einmal mehr für Frust sorgen. Sie sehen, dass
Prozess verknüpft ist; ohne Lust und Ideen für einen Neuan- ihr Staat Tag für Tag schrumpft, weil Israel unbeirrt Siedlun-
fang. Seine scharfe Rhetorik dient einzig dazu, Druck auf die gen baut. Eine Debatte über neue Lösungsansätze verweigert
Europäer auszuüben. Sie sollen einspringen und den Staat Abbas jedoch. Einfach das Reden einzustellen und ansonsten
Palästina anerkennen, mit Ostjerusalem als Hauptstadt – und so weiterzumachen wie bisher führt leider zu nichts. Oder,
so Donald Trumps Jerusalem-Entscheidung kontern. Dafür schlimmer noch: zur nächsten Eskalation. Juliane von Mittelstaedt

DER SPIEGEL 4 / 2018 75


STEPHANE DE SAKUTIN / REUTERS
FRANCOIS MORI / AP

ALAIN JOCARD / AFP


MARK SCHIEFELBEIN / GETTY IMAGES
MICHEL EULER / DPA

Präsident Macron mit den Staats- und Regierungschefs Putin, Merkel, Trump, Kurz und Xi Jinping
„France is back“

76 DER SPIEGEL 4 / 2018


Ausland

Der Furchtlose
Diplomatie Seit seiner Wahl sucht Präsident Emmanuel Macron die große
außenpolitische Bühne, schäkert mit Trump, spricht mit Putin, umarmt Merkel,
vermittelt in Saudi-Arabien. Er verändert Frankreichs Rolle in der Welt.

N
och im November, am französi- wohnt lyrisch bei ihrem ersten Treffen mit winner des Jahres 2017. Das Land habe
schen Gedenktag des Waffenstill- Macron nach dessen Wahl. Und Kanzler- sich im Alleingang runderneuert: „Frank-
stands von Compiègne, der den amtsminister Peter Altmaier schwärmte, reich hat alle Erwartungen übertroffen“,
Ersten Weltkrieg beendete, trottete Vésuve Macron erinnere ihn an den französischen schrieben die Briten. France is back.
de Brekka im Nieselregen mit seinem Prä- Dichter Rimbaud. In Brüssel wundern sich langjährige fran-
sidenten die Champs-Élysées hinauf. Keine Seit Mai vergangenen Jahres schaut die zösische Diplomaten, wie viel Gewicht die
zwei Monate später begleitete er ihn nach Welt wieder öfter nach Frankreich und Worte ihres Präsidenten plötzlich haben
Peking. Jetzt steht der neunjährige Wal- kann sich anscheinend nicht sattsehen an können. Und auch Berlin konstatiert die
lach in einem Pekinger Vorort in einer Box diesem jungenhaft wirkenden Mann mit Rückkehr eines Partners auf Augenhöhe.
unter Quarantäne, wie es die Vorschriften dem großen Gestus. Macron hat innerhalb Dass etliche von Macrons Ideen für Eu-
verlangen. weniger Monate geschafft, was seine Vor- ropa, vorgetragen in einer Grundsatzrede
Das Pferd war Emmanuel Macrons Gast- gänger jahrzehntelang nicht vermochten: an der Sorbonne kurz nach der Bundes-
geschenk anlässlich seines ersten Staats- Frankreich wieder als modernes Land er- tagswahl, sich nun prominent im Sondie-
besuchs in China. Beim Bankett zu seinen scheinen zu lassen, als europäische Füh- rungspapier von Union und Sozialdemo-
Ehren überreichte er Parteichef Xi Jinping rungskraft mit einer wachsenden Einfluss- kraten finden, ist dafür nur ein Beleg. Am
feierlich ein Foto des außergewöhnlich sphäre. Der Präsident habe ein ausgespro- Mittwoch meldete die Kanzlerin ihren
schönen Tieres aus dem Stall der Republi- chenes Talent, den richtigen Ton für sein Besuch in Paris an, um Macron persönlich
kanischen Garde. jeweiliges Gegenüber zu treffen, heißt es zu erklären, wie es um ihre Regierungs-
Die Anekdote ist sinnbildlich für die Au- im Élysée. Das erlaube ihm auch, Dinge koalition steht.
ßenpolitik des jungen Präsidenten: Auch sehr direkt anzusprechen. Die Beziehungen zu Deutschland waren
diese kommt acht Monate nach seinem Es ist noch gar nicht so lange her, da Macron von Anfang an wichtig. Auch des-
Amtsantritt gern überraschend daher, galt die Republik als Land, das sich, einge- halb hat er den früheren französischen Bot-
manchmal ungestüm. Und immer selbst- schnürt in ein Korsett sklerotischer Struk- schafter in Berlin, Philippe Étienne, zu sei-
bewusst, und das von Anfang an. Ob er turen, nach und nach selbst die Luft ab- nem diplomatischen Chefberater ernannt.
Donald Trump einen Tick zu lang und zu drosselte. Da machte Frankreich nur Étienne, 62, ist ein freundlicher Mann und
fest die Hand schüttelt oder ihn fast er- Schlagzeilen, weil es Opfer wurde von ter- erfahrener Diplomat mit stilsicherem Bril-
stickt in Herzlichkeit beim gemeinsam roristischen Attentaten oder von einer poli- lengeschmack. Er spricht nicht nur flie-
begangenen Nationalfeiertag. Ob er Wla- tischen Klasse, die so vermessen war zu ßend Deutsch, sondern auch Russisch, Ser-
dimir Putin durch den Schlossgarten von glauben, kein noch so wuchtiger Skandal bokroatisch und Rumänisch – und hat ge-
Versailles kutschiert und ihm dann vor ver- könne ihr etwas anhaben. Die innenpoliti- meinsam mit François Hollande die Ena
sammelter Presse die Leviten liest. Oder sche Lethargie ging einher mit außenpoli- absolviert. Zur sogenannten „cellule diplo“
ob er sich zum obersten Klimaschützer auf- tischer Blässe. gehören zwölf Berater, mit einigen hat Ma-
schwingt und dazu die Parole ausgibt: Daran änderten auch die Versuche von cron studiert, andere haben bereits im
Make our planet great again. Macrons Vorgängern nichts, dieses Bild Wirtschaftsministerium für ihn gearbeitet.
Jeder sollte von ihm, dem Neuen auf durch internationale Militäreinsätze zu Darunter auch Clément Beaune, 35, des-
der internationalen Bühne, Notiz nehmen. korrigieren. Nicolas Sarkozy wollte sich sen Referate zu Europa schon während sei-
Das Entrée des Außenpolitikers war laut- mit der Libyen-Intervention profilieren, nes Studiums kopiert und weitergereicht
stark und hallend. Und diesem Prinzip François Hollande ließ IS-Stellungen bom- wurden, so brillant waren sie. Beaune wich
scheint er bis heute zu folgen: großer Ein- bardieren. Beide Vorhaben seien „grausa- auch während des Wahlkampfs nicht von
satz, überall und unermüdlich; seltener me Fehler“ gewesen, urteilt ihr Nachfolger Macrons Seite. Macrons Initiative für
sind die kleinen, wohlgesetzten Auftritte. heute. Macron setzt auf den Dialog („Wir Europa trägt seine Handschrift. Beaune ist
Macron liebt die große Geste und pompöse sprechen mit allen“), er sucht Kontakt mit witzig, schlau und geradeheraus – eine
Inszenierungen, was seinem Hang zur Baschar al-Assad, dem syrischen Diktator, eher seltene Charaktereigenschaft bei Di-
Symbolik geschuldet ist. er will der erste französische Spitzenpoli- plomaten.
Berührungsängste kennt er nicht. Furcht- tiker seit 1971 sein, der Iran besucht. Mög- In China landete Macron mit seinem Ge-
los umarmt er, tätschelt, strahlt, ist auf lichst bald, möglichst schnell. Sein Aktio- schenk einen Coup: Staatschef Xi Jinping
eine fast körperliche Art zugewandt, fasst nismus findet Widerhall.  soll geradezu gerührt gewesen sein von so
Trump während der Militärparade an Wahrscheinlich stehe Macron in einer viel Aufmerksamkeit. Seit einem Besuch
den Arm und den österreichischen Kanz- Reihe mit Präsidenten wie Charles de in Paris 2014 schwärmt Xi von den Pferden
ler Sebastian Kurz beim Élysée-Besuch Gaulle und François Mitterrand, schrieb der Republikanischen Garde.
an die Hüfte. jüngst die Zeitschrift „Foreign Policy“. Das Er werde nun jedes Jahr zu Besuch kom-
Und es gefällt: Donald Trump nennt Ma- US-Magazin „Time“ stellte schon im No- men, versprach Macron und zitierte de
cron einen „prima Kerl“, er sei „smart“ vember fest, auch wenn Macron bestreite, Gaulle, den die Chinesen lieben, seit
und „stark“, so der amerikanische Präsi- der neue Führer der freien Welt sein zu Frankreich als eines der ersten Länder 1964
dent. Dem Anfang wohne ein Zauber inne, wollen, höre er sich oft genau so an. Für die Volksrepublik anerkannte. „Frankreich
formulierte selbst Angela Merkel unge- den „Economist“ war Frankreich der Ge- ist und wird die Macht im Herzen Europas
DER SPIEGEL 4 / 2018 77
Ausland

jeder Gelegenheit den Multilateralismus


beschwört, mit diesem Alleingang einige
ziemlich verärgerte.
Ende des Jahres dann schien er sich
selbst übertreffen zu wollen. Innerhalb ei-
ner Woche reiste er drei Tage lang durch
Westafrika, dann weiter nach Algerien und
Katar. Er organisierte einen eigenen Kli-
magipfel und lud nicht nur Staats- und Re-
gierungschefs ein, sondern auch den inter-
nationalen Charity-Jetset.  One Planet
Summit taufte er das zumindest medial
wirksame Ereignis. Nur einen Tag später
rief er die sogenannte „G5“-Sahel-Gruppe
zusammen, um gemeinsame Ziele im
Kampf gegen den Terrorismus zu erörtern.
Abgesehen vom manchmal übertrieben
Theatralischen: Symbolik sollte in der Au-

LUDOVIC MARIN / REUTERS


ßenpolitik nicht unterschätzt werden.
Macrons Ambitionen könnten weitrei-
chende Folgen haben – vor allem für
Europa. Seinen Vorschlägen zur Erneue-
rung der Union stehen bislang vor allem
Ehepaar Macron in Peking: Da ist sonst niemand die Osteuropäer skeptisch gegenüber, ein
slowakischer Minister verglich Macrons
sein, die den Dialog mit China führt“, ver- Dass ihm dabei aber auch ein Sparrings- Europapläne mit einer Aufforderung, den
kündete Macron und schien ganz verges- partner fehlt, sehen manche als Problem. Mount Everest ohne Sauerstoffgerät zu
sen zu haben, dass dies bisher eigentlich Denn was will einer allein, sosehr er auch besteigen. Viele andere europäische Part-
Angela Merkels Rolle war. wirbeln mag, schon ausrichten? ner aber reagierten positiv auf Macrons
Der Chinabesuch habe ihn endgültig Für Bertrand Badie, Professor für In- Forderung nach Erneuerung.
zum „Leader“ Europas gemacht, schrieb ternationale Beziehungen an der Pariser Dass mit Macron auch ein Politiker einer
eine italienische Zeitung; das „Handels- Universität Sciences Po, ist Macron zu anderen Generation spricht, machte er auf
blatt“ ernannte ihn gleich zum Chefdiplo- umtriebig. Die Diplomatie, sagt Badie, sei seiner Afrikareise klar, auf der er einen
maten. eigentlich ein leises, ein diskretes Ge- bislang ungekannten Ton anschlug: Vor
Natürlich nutzt Macron seine Strahl- schäft. Erfolgreiche diplomatische Initia- einem ihm nicht sehr wohlgesinnten Pu-
kraft, um Frankreich zu profilieren. Sein tiven kämen selten mit einem Trommel- blikum in Ouagadougou hielt er eine Rede;
Land, erklärt er unverhohlen, solle wieder wirbel daher. Burkina Faso war bis 1960 französische Ko-
Großmacht werden. „L’influence“, das alte „Warum will er überall mitverhandeln, lonie. Bei der anschließenden Fragerunde
Prinzip, von französischer Seite aus Ein- sich überall einmischen?“, fragt Badie. ging ihn eine Studentin aggressiv an: Wie
fluss auf die Welt auszuüben, gilt im Élysée Was gewinnt man, wenn man Trump be- man denn erfolgreich studieren könne,
immer noch als Leitmotiv. Macron mag schwichtigen, Iran im Zaum halten und wenn dauernd die Klimaanlage ausfalle,
noch so jung sein, auch er beteuert wie all weil die Stromversorgung im Land so
seine Vorgänger, alles dafür tun zu wollen, schlecht sei? Macron hörte aufmerksam zu
dass Französisch bald das Englische als Lin- Macron hat in wenigen und antwortete dann  laut und klar: „Sie
gua franca ablöse.
Warum eigentlich? Monaten geschafft, was sprechen zu mir, als sei ich hier noch die
Kolonialmacht. Aber ich will mich nicht
Es ist ein kühner Spagat, dabei als seine Vorgänger jahre- um die Stromversorgung in Burkina Faso
„Chefdiplomat“ auch noch die Interessen
Europas im Auge zu behalten. Gerade in
lang nicht vermochten. kümmern.“
Es gab viel Kritik an dieser Äußerung –
Ländern wie China. Schließlich geht es bei aber Macron ist nicht geschichtsvergessen,
solchen Reisen auch um milliardenschwere zwischendrin auch noch den Konflikt zwi- er wirbt für einen neuen, gleichberechtig-
Handelsverträge. schen Israelis und Palästinensern lösen teren Umgang miteinander. Lassen wir die
Mit Macron und der Politik ist es ein will? Macron, so Badie, produziere bisher Vergangenheit hinter uns, kümmern wir
wenig wie bei Goethes „Fischer“: Halb vor allem Bilder. Für ein richtiges Urteil uns um die Zukunft, soll das heißen.
zog er sie, halb sank sie hin, heißt es in über seine Außenpolitik sei es aber noch Bei den Franzosen kommt diese unver-
der Ballade – und so in etwa kann man zu früh. Trotzdem, es sei eine „déforma- blümt nach vorn gerichtete Art gut an. Ver-
sich das auch bei diesem Präsidenten und tion française“, sich immer und überall ein- sank er noch im Sommer in einem Popula-
seinem Erfolg im Ausland vorstellen. mischen, überall präsent sein zu wollen. ritätstief, hat Macron in den vergangenen
Denn der Stern Macrons strahlt im Au- Und es stimmt ja: Macron empfängt Ne- Monaten in Umfragen wieder hinzugewon-
genblick ja auch deshalb so hell, weil da tanyahu, kurz darauf Abbas, dazwischen nen. Trotz seiner ungeliebten Sozialrefor-
irgendwie keiner ist, der ihm Konkurrenz fädelt er die Rückkehr des libanesischen men zollen seine Landsleute dem interna-
macht. In den USA regiert Trumps Willkür, Premiers Hariri aus Saudi-Arabien ein. tionalen Einsatz ihres Präsidenten Respekt:
die Briten igeln sich auf ihrer Insel ein, Oder, so geschehen im Sommer, er ver- 75 Prozent mögen die Art, wie er Frank-
und Merkel hat den Zenit ihrer Macht un- handelt mal rasch in einem Schlösschen reich im Ausland repräsentiert.
übersehbar überschritten. Zumindest in außerhalb von Paris einen Waffenstillstand Von einem solchen Wert konnten Fran-
der westlichen Hemisphäre gibt es derzeit in Libyen. Der Haupteffekt dieser „Frie- çois Hollande und Nicolas Sarkozy fünf
niemanden, der ihn aufhalten könnte. densgespräche“ war, dass Macron, der bei Jahre lang nur träumen. Julia Amalia Heyer
78 DER SPIEGEL 4 / 2018
Flexibel bleiben:>ğťğō^ĴğĚğō
^V0(>ťœŅćōĬğ^ĴğŋŘĔıŭğō

Keine
Mindest-
laufzeit

Der SPIEGEL jede Woche


frei Haus:
Ja, ich möchte den SPIEGEL lesen!
0ĔıŅğťğĚğō^V0(>ĨŸšōųš)*$ǽŝšœųťĬćĒğťŭćŭŭ)&ǾǽĴŋ
œıōğZĴťĴłœĿğĚğš
ğĴŭłŸōĚĒćš Ĵō
ğŅłćųĨųōĚğōŭťĔığĴĚğťğŅĒťŭſĴğŅćōĬğĴĔıĚğō^V0(>
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

ĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋĴō
ğŅıćōĚğŅ ŅğťğōŋŘĔıŭğ
łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ
ŋĴŭĚğŋ>0eZekZ^V0(> ĴōĨćĔıĿğŭ
ŭćōĨœšĚğšō
žğšĬŸōťŭĴĬŭğeĴĔłğŭťĨŸšćųťĬğſČıŅŭğ
^V0(>vğšćōťŭćŅŭųōĬğō abo.spiegel.de/flexibel
ſſſťŝĴğĬğŅŅĴžğĚğ
040 3007-2700 !"ĴŭŭğłŭĴœōťōųŋŋğšćōĬğĒğō ^VǾ$ǿǾ&'
Basidsch-Frauen in Gedenkstätte in Chusestan: „Nieder mit Amerika, nieder mit England, nieder mit Israel“

Verliebt in die Märtyrer


Iran Die Basidsch-Milizen stützen das Regime, schlagen Proteste nieder, gehen gegen Demonstranten
vor. Eine Reise mit den Frauen der Organisation. Von Luisa Hommerich (Text und Fotos)

A
n Tag zwei der Reise müssen wir Wo immer Iran sich gerade öffnet, sind Die Reise wurde beworben auf dem
durch einen Bombenhagel. Es ist sie eine Gegenkraft. Ihr voller Name: Ba- schwarzen Brett meiner Fakultät, wo ich
Nacht, wir laufen durch eine sidsch-e Mostasafin, „Mobilisierte der Un- für „Iranische Studien“ eingeschrieben war.
Schlucht, links und rechts von uns brennen terdrückten“. Ihre Netzwerke durchziehen Als ich Motahare fragte, ob ich mitkommen
die Felshänge. Die Explosionen drücken die Gesellschaft. An den Universitäten könne, sagte sie nur: gern. Motahare ist in
auf die Brust wie platzende Ballons, jedes schwören sie die künftige Elite auf Regime- meinem Wohnheim die „Repräsentantin
Mal blitzt es grell auf. Wir sind in der Pro- treue ein – durch Lesekreise, Filmabende des Revolutionsführers“, sie ermahnt Stu-
vinz Chusestan im Südwesten Irans, die und Reisen wie diese. Ein Faktor ihrer dentinnen, die im Hof rauchen oder zu kur-
irakische Grenze muss in Rufweite liegen. Macht ist kaum bekannt: Ein großer Teil ze Mäntel tragen. Sie ist 30 und promoviert
Wir, das sind 300 Frauen zwischen 17 ihrer Mitglieder sind Frauen. über die diplomatischen Beziehungen Groß-
und 30 Jahren, Studentinnen der Universi- Jedes Jahr im Frühling gehen Tausende britanniens. Vor ihr und allen anderen trete
tät Teheran, gekleidet in den schwarzen Iraner auf diese Reise. „Aber das hier“, sagt ich auf als interessierte Austauschstudentin.
Tschador, einen Ganzkörperschleier, der Motahare, eine der Organisatorinnen, „das Am Ende der Reise werden sich Freund-
nur das Gesicht frei lässt. An diesen fünf hier gibt es dieses Jahr zum ersten Mal.“ schaften gebildet haben, es werden Tränen
Tagen im Frühjahr 2017 sind wir „Rahian-e Sie meint die Bomben. Vor uns rennen die geflossen sein und mehrere Studentinnen
Nur“, Reisende des Lichts. Es ist eine Reise, anderen, nur Motahare geht ruhig über den werden sagen, dass sie für ihr Land sterben
die die Studentinnen einschwören soll auf Sandboden, auf ihrer randlosen Brille spie- möchten. Wir werden Kissenschlachten
die Ziele der regimetreuen Basidsch. geln sich die Explosionen. Das Inferno ver- machen, Geschichten vom Tod hören und
Es waren Basidsch, die bei den Massen- anstaltet die Armee für uns. Vorher haben dreimal täglich zusammen beten. Wir wer-
protesten der „Grünen Revolte“ 2009 Stu- die Soldaten schon mit Gewehren auf uns den in alten Bunkern, Lazaretten und Ka-
dierende verprügelten und erschossen. geschossen. Es waren nur Platzpatronen sernen schlafen, unter Wolldecken auf dem
Und auch bei den jüngsten Protesten ras- drin. Die Bomben aber sind echt. Wir sollen Boden, so dicht beieinander, dass man den
ten wieder Basidsch-Mitglieder auf Motor- fühlen, wie es ist, Todesangst zu haben – Atem der anderen spürt.
rädern durch die Menschenmenge und so wie die Soldaten, die hier im Irak-Iran- Über neun Monate später werden einige
knüppelten auf Demonstranten ein. Krieg von 1980 bis 1988 starben. dieser Studentinnen „Gott ist groß, Khame-
80 DER SPIEGEL 4 / 2018
Ausland

nei ist unser Führer“ auf Pro-Regime-De- sagen, dass sie es zu sehr liebten, um es rechtfertigt. Als ab 1978 das halbe Land
mos schreien, sie werden in sozialen Netz- abzulegen. „Ein gutes Kopftuch hilft auch auf die Straße ging, um den Schah zu stür-
werken gegen die Demonstranten hetzen. gegen eklige Taxifahrer“, sagt Sara, eine zen, verglichen viele Protestierende den
Sie werden einen offenen Brief mitverfas- 20-Jährige mit breitem Lächeln, die Isla- unbeliebten Herrscher mit dem „bösen Ka-
sen, in dem sie den moderaten Präsidenten mische Studien studiert. Wenn ich etwas lifen“. Die Islamische Republik hat den
Hassan Rohani zum Rücktritt auffordern. auf Farsi nicht verstehe, wiederholt sie es Märtyrertod dann zur Popkultur gemacht.
Sie werden also genau das tun, was ihnen für mich auf Spanisch, das sie sich mithilfe In den Städten hängen überall Porträts jun-
auf dieser Reise eingeimpft wurde. lateinamerikanischer Popsongs beige- ger Männer. Die meisten von ihnen star-
Tag eins, auf dem Weg nach Süden, im bracht hat. Einen Widerspruch zur Ideolo- ben nicht während der Revolution, son-
Nachtzug: Sechs Mädchen löffeln Hühn- gie der Basidsch sieht sie darin nicht. „Wir dern in den Achtzigerjahren. Und zwar ge-
chen und Reis aus Styroporschalen, drau- glauben an Gott und versuchen uns ständig nau hier, in Chusestan.
ßen rauscht die Wüste vorbei. Sie zeigen zu verbessern. Eine gute Person ist erfolg- Saddam Hussein wollte das ölreiche Chu-
Fotos von Pilgerorten. „Das war in Kerbela reich im Studium, hilft den Armen, bildet sestan erobern; der Westen und die Sow-
im Irak“, sagt Zohre, 19, eine blasse, dünne sich religiös weiter. Das ist alles“, sagt sie. jetunion feuerten den Krieg mit ihren Waf-
Politikstudentin mit Nerdbrille. Auf dem Tag zwei, in der Schlucht. Wir laufen fenlieferungen an. Das iranische Regime
Selfie steht sie mit ihrer Familie vor der nicht nur vor Bomben davon, die Armee erklärte den Krieg zum Märtyrerkampf.
Moschee mit der goldenen Kuppel, dem schickt auch einen Panzer hinter uns her Doch als es zwei Jahre später die Chance
zweitheiligsten Ort der Schiiten. Dort er- und jagt Leuchtraketen und Rauchgrana- auf Frieden gab, lehnte Khomeini ab: Das
mordeten Truppen des sunnitischen Kalifen ten über uns in den Himmel. Als die letzte Regime sah sich auf dem Weg zum Sieg, es
im Jahr 680 Imam Hussein, einen Enkel des Explosion verhallt ist, lotsen Soldaten uns hoffte, die „islamische Revolution“ in den
Propheten. Weil er sich gegen den Kalifen aus der Schlucht. „Wow, das war aufre- Irak exportieren zu können. Am Ende war
stellte, ist er für Schiiten bis heute eine zen- gend“, sagt Zohre. etwa eine halbe Million Menschen tot. Die
trale Figur: ein Märtyrer im Kampf gegen Wir setzen uns um ein Lagerfeuer. Ein Grenzen blieben die gleichen.
ungerechte Herrschaft. Zohre legt die Hand Mann beginnt zu singen, erst leise, dann Inzwischen herrscht seit 29 Jahren Frie-
auf die Brust. „Wir lieben die Märtyrer“, leidvoll und getragen. „Er erzählt die Ge- den, Ali Khamenei ist auf Ruhollah Kho-
sagt sie. „Wir lieben sie, wirklich!“ schichte von Imam Hussein“, flüstert Zoh- meini gefolgt, und doch holen die Basidsch
Ruhollah Khomeini gründete die Ba- re. „Und wie unsere Soldaten für ihn ge- noch immer die Schrecken des Krieges her-
sidsch 1980, ein Jahr nach dem Sieg der fallen sind, damals, als hier Krieg war.“ vor. Sie wollen die Islamische Republik in
iranischen Revolution, als Freiwilligenmi- Dann bricht ihre Stimme. permanenter Bedrohung zeichnen.
liz. Sie sind eine Untergruppe der Revolu- Politische Kämpfe wurden in der Ge- Eine Frau schlägt jetzt mit der Faust auf
tionswächter, die jede Bedrohung vom Re- schichte Irans immer wieder religiös ge- den Sandboden, presst einen Schrei aus
gime abwenden sollen. Inzwischen ihrer Kehle, kratzt sich mit den Fin-
sind die Revolutionswächter zum gernägeln über die Wangen. An-
Staat im Staate geworden, mit ei- dere beginnen, sich durch das
genen Kampftruppen, Wirtschafts- Kopftuch hindurch an den Haaren
betrieben und enormem Einfluss zu reißen. Motahare kauert ein
auf die Politik. Ohne die Revolu- paar Meter abseits und weint still.
tionswächter und die ihnen unter- „War das nicht schrecklich?“, fra-
geordneten Basidsch geht in Iran ge ich, als wir zurück zu unserer
nichts. Sie sind es auch, die in Sy- Schlafstätte wandern. „Nein, wie-
rien aufseiten von Baschar al-As- so?“, fragt Zohre zurück. „Ich bin
sad gegen die Rebellen kämpften jetzt ganz ruhig und habe keine
und im Irak gegen den „Islami- Angst mehr. Das war keine echte
schen Staat“. Traurigkeit. Wir haben Kraft ge-
Damals, ab 1980, nach Saddam wonnen. Wir wissen jetzt, was zu
Husseins Angriff auf Iran, zogen tun ist.“
Revolutionswächter und Basidsch Was ist zu tun, Zohre?
gegen die irakische Armee in den „Wenn Khamenei uns ruft, dann
Kampf, darunter auch Jugendliche. Stellung aus dem Irak-Iran-Krieg: „Das war aufregend“ sind wir da“, sagt Zohre.
Nach dem Krieg wandelten sich „Wenn Donald Trump uns an-
die Basidsch zur Massenorganisa- greift und ich habe Söhne, schicke
tion, verdrängten große Teile der ich sie in den Kampf“, sagt Sara.
Zivilgesellschaft. Wir sind an den Waschräumen
Wie viele Mitglieder sie haben, angekommen, drinnen spülen sich
ist umstritten, Schätzungen zufolge die Mädchen den Staub von den
sind es vier bis fünf Millionen. Nur Wangen. Komplimente werden ge-
noch wenige Mitglieder erhalten in- macht, Zöpfe werden neu gefloch-
tensives Militärtraining, die Orga- ten und unters Kopftuch gestopft.
nisation ist vor allem: Jugendbewe- Donald Trump, sagt eine Stu-
gung, Kaderschmiede, Moralpolizei. dentin, zeige das wahre Gesicht
Der gesamte Zug ist für uns Rei- Amerikas. „Soll er den Atomdeal
sende des Lichts gemietet, es gibt ruhig kaputtmachen, der war nie
keinen Mann weit und breit, trotz- gut für uns.“ Das Abkommen
dem legen Zohre und zwei andere brachte Iran im Januar 2016 eine
selbst im Abteil ihr Kopftuch nicht Aufhebung der meisten Sanktio-
ab. Auf der Reise werden einige nen. Im Gegenzug verpflichtete
sogar damit schlafen. Sie werden Märtyrerbild in Teheran: „Wie lieben sie, wirklich!“ sich das Land zur Kontrolle seines
DER SPIEGEL 4 / 2018 81
Ausland

Atomprogramms. Vor allem den Konser-


vativen ist der Vertrag verhasst.
„Es geht gar nicht um Atomwaffen oder
Menschenrechte“, sagt Zohre. „In Wirk-
lichkeit akzeptiert der Westen unser isla-
misches System einfach nicht.“
„Feinde sind Feinde“, sagt Sara achsel-
zuckend, „auch wenn sie manchmal so tun,
als wären sie keine.“
Tatsächlich war die Einmischung Groß-
britanniens, Russlands und der USA im-
mer wieder verheerend für das Land. Ab
1908 beutete die Anglo-Persian Oil Com-
pany Arbeiter aus, das Land profitierte
kaum. 1953 stürzte die CIA den Minister-
präsidenten Mohammad Mossadegh, weil
das iranische Parlament das Erdöl verstaat-
licht hatte. Später unterstützten die USA
den Irak im Krieg gegen Iran.
Die Basidsch sehen all das als Beleg für
eine andauernde Verschwörung des Wes-
tens gegen Iran. Die Figur des „bösen Ka- Propaganda-Wandbild: „Wenn Trump uns angreift, schicke ich meine Söhne in den Kampf“
lifen“ – sie wird von den Konservativen
nur noch im Ausland gesucht. Donald Viele Basidsch erhoffen sich Vorteile. meisten, die nach Chusestan mitreisen,
Trump passt da perfekt in ihr Muster. Der Miliz gehören Supermarktketten, Ban- sonst kaum erlaubt. Materielle Anreize
„Ich glaube, diese Reise macht uns stark. ken, Verlage, Tourismusbüros, Autofa- gibt es ebenfalls: leichteren Zugang zu Kre-
Wir können so viel bewegen, wenn wir zu- briken und Baufirmen. Diese stellen nur diten, Studienplätzen, Lehrstühlen, Jobs.
sammenstehen“, sagt Zohre. Basidsch ein – und rekrutieren ihr Füh- Auf unserer Reise gibt niemand solche
„Ja, zusammen bringen wir Israel zu rungspersonal aus den ehemaligen Studen- Motive zu. Wie Sara erzählen sie dagegen
Fall“, sagt Sara. Dann schlagen die beiden ten-Basidsch. Und obwohl Khomeini die von einem Hunger, den sie anders schlecht
ein und lachen. Gruppe ausdrücklich aus der Politik heraus- stillen können: dem Hunger nach Politik.
Wir schlafen in dieser Nacht in einem halten wollte, drängte sie ab 2005 unter Ex- Zum Jahresanfang stehen zahlreiche
Bunker, eng aneinandergeschmiegt. In je- Präsident Mahmoud Ahmadinejad immer männliche Basidsch vor dem Tor der Uni-
dem Raum hängen Fotos von Khomeini weiter nach oben. Mehrdad Bazrpash zum versität Teheran, sie demonstrieren für das
und Khamenei, zwei alten Männern mit Beispiel, der frühere Chef der Basidsch an Regime. Daneben strecken mindestens
langen, weißen Bärten. der Teheraner Sharif-Universität, saß bis hundert Frauen im Tschador ihre Fäuste
Tag drei, im Bunker. Morgens um sieben 2016 im Parlament, leitete lange Zeit die in die Luft, man hört sie rufen: „Inflation,
gibt es Brot mit Fleischsuppe, dazu läuft beiden größten Autohersteller, war Vize- Preiserhöhung, jetzt antworte mal, Roha-
ein Lied mit dem Refrain „Nieder mit Ame- präsident und Vorstand der Finanzstiftung ni!“ und „Unsere Schande, unsere Schande
rika“. Sara erzählt, wie sie zu den Basidsch der Revolutionswächter. Auch der Ex-Lan- ist unsere Regierung, die unser Leiden
gekommen ist. Anders als die meisten hier, deschef der Studenten-Basidsch war bis nicht versteht!“ Auf den Plakaten steht:
die aus eher ärmeren Verhältnissen stam- 2010 Abgeordneter, auch er ist ein Vertrau- „Die Uni ist kein Platz für Verführer.“ Ge-
men, ist sie aus der Teheraner Mittelschicht. ter von Ahmadinejad. meint sind die regimekritischen Demons-
Ihr Vater ist IT-Spezialist, ihre Mutter Be- Wichtige Aufträge wie der Bau der Au- tranten. Ich habe mir die Videoaufnahmen
amtin – fromm, aber keine Basidsch. Mit tobahn in Teheran und der Grenzmauer dieser Pro-Regime-Demo angeschaut, und
13 habe sie angefangen, Zeitungen zu lesen zu Pakistan wurden unter Ahmadinejad auch wenn ich keine der Frauen von der
und zu begreifen, dass es in Iran, wie nir- wettbewerbslos an Unternehmen der Ba- Reise erkenne, bin ich mir sicher, dass eini-
gendwo sonst auf der Welt, eine erfolgrei- sidsch vergeben. Seit Hassan Rohani re- ge von ihnen dabei sind.
che islamische Revolution gab. Es war die giert, ist ihr direkter politischer Einfluss Die Basidsch der Teheraner Universität
Zeit, in der Schlägertrupps der Basidsch zurückgedrängt worden, die wirtschaft- mobilisierten gegen die jüngsten Proteste,
die „Grüne Revolte“ niederschlugen. „Von lichen Seilschaften aber sind intakt. seit die erste systemkritische Parole fiel.
da an wollte ich etwas dagegen tun, dass Für weibliche Basidsch ist eine solche Auf ihrer Website zeigen sie Fotos von ih-
solche Leute unsere Errungenschaften be- Karriere keine Option, sie sollen Hausfrauen ren Gegendemonstrationen, auf ihren Pla-
drohen.“ Zu Beginn ihres Studiums füllte und Mütter werden. Trotzdem sind auch katen steht: „Der Marxismus ist im Müll
sie den Mitgliedsantrag aus. Akademikerinnen in der Organisation. Of- gelandet, ihr auch!“, „Nieder mit der BBC,
Zohre dagegen suchte zunächst schlicht fizielle Stellen geben einen Frauenanteil der britischen Verführung“ und „Ausnut-
Anschluss, als sie vor einem Jahr aus von bis zu 40 Prozent an; auf vielen öf- zen der Bedürfnisse des Volkes verboten“.
der Provinz in die Hauptstadt zog. Sie ist fentlichen Veranstaltungen dominieren Am Nachmittag des dritten Tages der
die Erste in ihrer Familie, die studiert. Frauen sogar das Bild. Auch sie verspre- Reise laufen wir ohne Schuhe über bren-
„Am Anfang kannte ich niemanden, dann chen sich Vorteile. Sie bilden Netzwerke nend heißen Sand, aus Respekt vor den
habe ich mir ein Herz gefasst und bin zu bei den Basidsch – und sie treffen Männer. Toten. Pappfiguren gefallener Soldaten ste-
den Basidsch gegangen“, sagt sie. „Meine Allein fünf Tage wegfahren, das wäre den hen am Rand, aus versteckten Lautspre-
Eltern sind froh, weil die Organisation si- chern kommen Schüsse und Schreie. Dann
cher ist für junge Frauen. Und dann fand Videoreportage: Beim redet ein einhändiger Ex-General über die
ich es gut, dass es hier um Themen geht, Training der Basidsch-Milizen Heldentaten seiner Soldaten.
die in meinem Politikstudium wichtig spiegel.de/sp042018bassidsch „Einer war hundertmal angeschossen
sind.“ oder in der App DER SPIEGEL und starb nicht“, ruft er. „Einer betete, er
82 DER SPIEGEL 4 / 2018
„Der Feind war in der Stadt“, sagt sie ernst,
„er musste es machen.“
Es ist über 40 Grad heiß, die Sonne
brennt auf unsere schwarzen Schleier. Wir
haben kein Wasser, keinen Schatten. Den
anderen scheint es egal zu sein. „Nicht
dass du hier was falsch verstehst“, mischt
sich Motahare ein: „Wir Iraner sind fried-
lich, wir verteidigen uns nur. Krieg an sich
ist nie gut. Aber gegen einen übermächti-
gen Gegner, der seine Macht missbraucht,
da kann Krieg gerecht sein.“
Der Redner hat sich in Rage geredet.
„Jetzt war die Uni hier auf den Schlachtfel-
dern“, sagt er. „Jetzt müsst ihr zurückgehen
und die Uni zum Schlachtfeld machen.“
Tag fünf, auf der Rückfahrt. Im Zug er-
zählt Motahare, wie sie vor ein paar Wo-
chen einen Funktionär der Basidsch anrief
und ihn anflehte, nach Syrien reisen und
dort im Lazarett arbeiten zu dürfen. Der
Studentinnen in der Wüste bei Dezful: „Hier geht es um Gott und unser Land“ Funktionär lehnte ab. Nur bei einem Krieg
innerhalb Irans sei es vertretbar, dass Frau-
möge in tausend Stücke zerfallen, wenn Freund.“ Irgendwann habe sie angefangen, en sich engagierten. Solange der Krieg im
er sterbe, und Gott gewährte es ihm. Einer schiitische Theologen zu lesen. Heute hat Ausland stattfinde, müssten sie zu Hause
hatte keine Arme und Beine mehr, aber sie Hunderte Fotos und Videos von Mär- bleiben und sich um die Kinder kümmern.
er robbte noch sieben Stunden weiter. Und tyrern auf ihrem Handy. „Ich fühle mich Aber Motahare hat keine Kinder, und
einer“, er macht eine Pause, viele haben so gut, seitdem ich mich vernünftig bede- sie wollte mehr. Eines Morgens, erzählt
schon Tränen in den Augen, „einer wollte cke, in der Teheraner Partywelt ging es sie, sei sie in ein Reisebüro gefahren. Wenn
unbedingt als Märtyrer sterben, aber sein nur um Äußerlichkeiten“, sagt sie. „Hier die Organisation ihr kein Ticket bezahle,
Wunsch ging nie in Erfüllung.“ Motahare geht es um Gott und unser Land. Für bei- müsse sie sich eben selbst drum kümmern.
verteilt Papiertaschentücher. des würde ich sterben. Ich wünschte, ich „Aber ich hatte nicht genug Geld. Ich bin
Später im Bus knacken wir Sonnenblu- könnte es.“ traurig, dass ich nicht mehr tun kann. Män-
menkerne, einmal in der Stunde ruft ir- Frauen durften bisher nur einmal kämp- ner haben es da einfacher. Sie sind glück-
gendwer „Gott ist groß, Khomeini ist unser fen: Im sechsten Kriegsjahr, als es nicht lich, dass sie als Märtyrer sterben dürfen.“
Führer“, und alle stimmen ein. Danach mehr genug Männer gab. Khomeini erlaub- Neun Monate später werde ich Motaha-
folgt meistens noch „Nieder mit Amerika, te 100 000 weiblichen Basidsch den Zugang re via Telegram fragen, was sie über die
nieder mit England, nieder mit Israel“. zu Militärtraining, etwa 7000 starben. Heu- Proteste denkt.
Eine der Organisatorinnen geht durch te werden nur noch besonders glühende „Wie immer berichten die westlichen
den Bus und verkauft kleine Märtyrer-But- weibliche Mitglieder im Kampf ausgebil- Medien nicht die Wahrheit über die Situa-
tons. Ich kaufe den Mann mit dem schöns- det. Bei Demonstrationen sollen sie sich tion in Iran“, schreibt sie. „In allen Län-
ten Lächeln, für etwa zehn Cent. Er hat um Störerinnen kümmern. dern gibt es Formen von Gewalt unter den
ein breites Kinn und trägt ein gelbes Stirn- Ansonsten ist es ihre Aufgabe, den Bürgern. Aber ich will, dass du weißt, dass
band. „Hadi Zolfaghari“, kreischt meine Geist der Revolution in ihre Familien zu die Iraner sich lieben – obwohl sie ver-
Sitznachbarin: „Mein Lieblingsmärtyrer! tragen – und in die Gesellschaft. Basidsch- schiedene Ansichten haben. Und sie lieben
Du hast einen guten Geschmack.“ Der Frauen geben Keuschheits- und Ehekurse, ihr Land und ihr politisches System. Aber
Theologiestudent starb 2015 bei einem An- werben für den Tschador, rekrutieren Mit- die USA betreiben viel Gehirnwäsche und
schlag des „Islamischen Staats“ im Irak. glieder und demonstrieren gegen liberale bezahlen ein paar Heuchler … die meisten
Seitdem die Basidsch auch in Syrien und Feministinnen. Im Internet bloggen sie be- von denen sind jetzt verhaftet.“
im Irak kämpfen, entstehen in Teheran geistert über den Revolutionsführer und Sie schickt ein Victory-Zeichen und ein
neue Wandbilder. Die Toten darauf tragen kontern reformistische Ansichten. Ihre „Daumen hoch“.
jetzt modernere Brillen. vielleicht wichtigste Aufgabe aber ist: Vä- „Hast du keine Angst?“, das ist eine mei-
Tag vier, im Gebetsraum. Ich sitze mit ter, Brüder, Ehemänner, Söhne und Kom- ner letzten Fragen auf dieser Rückfahrt im
den Mädchen, die ihre Tage haben und militonen zu motivieren, als Märtyrer zu März, nachdem Motahare gesagt hat, dass
deswegen nicht beten dürfen, am Rand auf sterben. Die Organisation lebt von der Be- sie als Märtyrerin sterben wolle.
dem Teppich. Alle anderen legen die Stirn wunderung der Frauen für den Mut der Motahare guckt mich an und lacht.
auf den Boden, knien, richten sich wieder Männer. Dann antwortet sie mit einer Gegenfrage:
auf. Es raschelt und murmelt. Der Bus bringt uns zu einem Grab, wo Ob ich nach fünf Tagen denn gar nichts
Mehrnaz, eine 23-jährige Jurastudentin eine Witwe berichtet, wie ihr Ehemann verstanden hätte? „Wenn Gott will, dass
mit rotem Kopftuch unterm Tschador, von den Irakern verbrannt wurde. Danach wir sterben, dann sterben wir. Und wenn
zeigt mir auf ihrem Handy, wie sie früher erzählt am Ufer des Grenzflusses ein Red- nicht, dann eben nicht.“
aussah: Die Augenbrauen zu hohen Bögen ner mit Mikrofon, wie ein 13-Jähriger sich
geschminkt, die Lippen violett und das hier einen Sprengstoffgürtel umschnallte Hommerich, 28, studierte von September
Kopftuch lose über dem blondierten Haar, und sich damit vor einen Panzer warf. Kho- 2016 bis Juni 2017 an der Universität Teheran
so ist sie bis vor einem Jahr auf die Straße meini erklärte ihn zum Helden. Religion, Kultur und Geschichte Irans, lernte
gegangen. Sie flüstert mir ins Ohr: „Sag’s „Ist es nicht grausam, einen 13-Jährigen Farsi und bereiste das Land. Sie arbeitet inzwi-
keinem, aber ich hatte sogar einen sterben zu lassen?“, frage ich Mehrnaz. schen als freie Journalistin.

DER SPIEGEL 4 / 2018 83


SANDY HUFFAKER / GETTY IMAGES
Journalisten vor Haus der Familie Turpin im kalifornischen Perris: Wie können Eltern ihrem eigenen Nachwuchs so etwas antun?

Ding 1 bis 13
USA Ein verdrecktes Haus, darin abgemagerte, teils gefesselte Kinder: Der grausame Fall einer Familie
in Kalifornien entfacht eine Debatte um häuslichen Unterricht und staatliche Kontrolle.

D
ie Kinder wirkten eigentlich zufrie- Fox News, NBC, irgendwann sperrt die Es ist dieses Mädchen, das am vergan-
den, sagt der Großvater. Die Mut- Polizei die Umgebung ab, damit nicht noch genen Sonntagmorgen den entscheiden-
ter hatte ein Traumleben, sagt eine mehr Schaulustige, Nachbarn und Journa- den Notruf auslöst. Irgendwo im Haus hat
Tante, so schien es zumindest. Irgendetwas listen vor das Haus drängen. es ein deaktiviertes Mobiltelefon entdeckt,
stimmte da nicht, sagt eine andere Tante, 13 Geschwister, das jüngste zwei Jahre ist aus einem Fenster geklettert, vor den
aber dass es so schlimm sein würde, hätte alt, das älteste 29, alle zwar am Leben, eigenen Eltern geflohen und hat 911 ge-
sie wirklich nicht erwartet. aber ausgemergelt. Es sind keine Pflege- wählt. Ohne den Mut des Mädchens, so
Schlimm heißt: ein dreckiges, übel rie- oder Adoptivkinder, die die Turpins groß- der Sheriff, wären die Behörden nie alar-
chendes Haus. 13 Geschwister, abgemagert, ziehen, sondern ihr leiblicher Nachwuchs, miert worden. Seit zwei Jahren, so der zu-
verängstigt, einige gefesselt, als die Polizei zehn Töchter, drei Söhne, alle von Louise, ständige Staatsanwalt, habe das Mädchen
sich am vergangenen Sonntag Zutritt ver- heute 49, zur Welt gebracht. Der Vater der mit seinen Geschwistern an einem Flucht-
schafft. Dazu ein Vater und eine Mutter, Kinder ist 57 Jahre alt. Eine 15-köpfige plan gearbeitet.
die nicht wissen, was die Polizei von ihnen Großfamilie ist unter strenggläubigen Einen „Albtraum“ nennt die „New York
will, die offenbar völlig ahnungslos sind, Christen in den USA nicht ungewöhnlich. Times“ die Qual der Kinder, auf NBC
was sie verkehrt gemacht haben. Das ist Unfassbar ist jedoch, unter welch qual- heißt das Heim von David und Louise Tur-
die Familie von David Allen Turpin und vollen Bedingungen die Kinder lebten, pin nur das „Folterhaus“.
seiner Frau Louise Ann in der Muir Woods oder besser: dahinvegetierten. Als Polizei- Halb Amerika fragt sich seit Tagen, wie
Road in Perris, 70 Meilen südöstlich von beamte das Haus betreten, sind mehrere 13 Geschwister unter so unmenschlichen
Los Angeles. Die Horrorfamilie. Geschwister mit Schlössern und Ketten Bedingungen leben konnten, ohne dass es
Es dauert nicht lange, bis der Schrecken an Möbel gefesselt. Ungewaschen und jemandem auffiel. Wie schaffen es ein Va-
von Perris die Nation aufwühlt, es ge- blass sind sie, fast knöchrig, es riecht ter und eine Mutter mutmaßlich über Jahre
schieht in einer Woche, in der sich die nach Urin. Auf die Polizisten wirken sie hinweg, das Leiden ihrer Kinder vor Be-
Amerikaner mit den kognitiven Fähigkei- um etliche Jahre jünger, als sie tatsächlich hörden und der eigenen Verwandtschaft
ten und dem Body-Mass-Index ihres Prä- sind. Ein Mädchen, das die Beamten auf zu verstecken? Wie können Eltern ihrem
sidenten auseinandersetzen. Hubschrauber 10 Jahre schätzen, ist in Wahrheit 17, ver- Nachwuchs so etwas antun?
mit Fernsehkameras knattern über die Dä- mutlich eine Folge jahrelanger Mangel- Der Schock ist auch deshalb so groß,
cher der Muir Woods Road, CNN berichtet, ernährung. weil die Turpins in einer Stadt leben, die
84 DER SPIEGEL 4 / 2018
Ausland

amerikanischer nicht sein könnte. Weder drei Jungen in schwarzen Anzügen mit Demokratische Politiker fordern jetzt
arm noch reich, weder Paradies noch Höl- lila Krawatten. Viele der Kinder sehen eine bessere Überwachung. „Der Staat
le, sondern Mittelschicht, Mittelmaß. Perris krankhaft blass aus, mit dunklen Rändern muss sicherstellen, dass zumindest einmal
ist Amerika. Einfamilienhäuser mit großen unter den Augen. Einige Mädchen wirken im Jahr eine Inspektion durchgeführt
Garagen und kleinen Gärten, eine Kulisse mit ihren eingefallenen Wangen gespens- wird“, sagt Susan Eggman, Abgeordnete
wie in der US-Serie „Breaking Bad“. tisch dünn. der Demokraten im Parlament von Kali-
Nur einmal am Tag bekamen die Viel Geld hatte die Familie nicht, zuletzt fornien, einem demokratisch regierten
Geschwister eine Mahlzeit, sie durften meldeten die Eltern vor sieben Jahren Bundesstaat. Offenbar wurden nicht ein-
höchstens einmal im Jahr duschen, so Bankrott an. Zeitweise aber war David Tur- mal Brandschutzkontrollen bei den Tur-
der Staatsanwalt. Die 29-jährige Tochter pin bei dem Rüstungskonzern Northrop pins durchgeführt, was für Schulen eigent-
wiegt nicht mal 40 Kilogramm. Ärzte be- Grumman angestellt, wo er als Ingenieur lich obligatorisch ist. Und auch dem Sozial-
handeln die Geretteten nun wegen starker 140 000 Dollar im Jahr verdiente. Seine dienst der Stadt und der Polizei waren die
Mangelerscheinungen. Die Turpins fessel- Frau kümmerte sich zu Hause um die Turpins nicht aufgefallen. „Ich bin so wü-
ten ihre Kinder erst mit Seilen, später mit Kinder. tend und sauer“, sagt Teresa Robinette, die
Ketten und Vorhängeschlössern. Als Be- Inzwischen hat der Fall auch eine Dis- Schwester von Louise Turpin. Sie fühle
strafung. kussion über häuslichen Unterricht ausge- sich wie in einem schlechten Traum.
Die Tat fügt sich in eine Reihe von Miss- löst. Denn keines der Turpin-Kinder ging Die traurige Wahrheit ist, dass Familien
brauchsfällen, die in den vergangenen Jah- zur Schule, daher konnten auch Lehrer wie die Turpins in den USA ihre Kinder
ren auch in den USA eine Menge Aufmerk- nicht auf die Familie aufmerksam werden. jahrelang unbehelligt und ohne jeglichen
samkeit erregten. Zur Tortur von Natascha Nach ihrem Umzug nach Kalifornien 2010 Kontakt zu Behörden erziehen können.
Kampusch etwa, die mehr als 8 Jahre lang hatte David Turpin beim Bildungsministe- Deshalb ebbte nach anfänglicher Hysterie
in einem Verlies bei Wien gefangen gehal-
ten wurde, oder zum Monster Josef Fritzl,
der seine Tochter 24 Jahre lang in einem
Keller im niederösterreichischen Amstet-
ten versteckte, missbrauchte und mit ihr
sieben Kinder zeugte. Bislang gibt es
zwar in Perris keine Anzeichen sexueller
Gewalt, doch allein die Zahl der mutmaß-
lichen Opfer hebt die Tat auf grauenvolle
Weise hervor.
Wie es aussieht, lebten die Turpins ein
zurückgezogenes, streng religiöses Leben.
„Sie haben einen Ruf von Gott erhalten“,
sagen die Eltern von David Turpin. Ihren
Sohn und seine Kinder sahen sie vor rund
fünf Jahren das letzte Mal, seither nicht
mehr. Offenbar hielten die Turpins selbst
zu nahen Verwandten Abstand. Eine
Schwester von Louise Turpin berichtete
Journalisten, weder ihr noch ihren Eltern
sei gestattet worden, mit den Kindern der
Turpins überhaupt zu reden.

UPI / LAIF
„Wir haben uns Sorgen gemacht, weil
alles so seltsam war, es gab nichts, was wir
tun konnten“, sagte Elizabeth Jane Flores. Großfamilie Turpin 2016: Krankhaft blass, mit Rändern unter den Augen
Ihre Schwester und deren Mann seien
schon immer verschwiegen gewesen. rium die Einrichtung einer Heimschule be- die Aufregung rasch ab. Viele Amerikaner
Zumindest im Internet hinterließ die Fa- antragt, die Sandcastle Day School. Laut schätzen es, vom Staat in Ruhe gelassen
milie Spuren, etwa auf Facebook. Sie luden Behördenregister handelt es sich um eine zu werden, viele wollen dessen Einfluss
Fotos von Ausflügen hoch, ins Disneyland private, nichtreligiöse Bildungsstätte für noch weiter begrenzen – und genau das
oder nach Las Vegas, mit einem Dutzend Jungen und Mädchen, registriert auf die hat Donald Trump ihnen versprochen.
oft identisch gekleideter Jungen und Mäd- Privatadresse der Turpins. Sechs Schüler Dessen Steuerreform wird nach Einschät-
chen, rote Hemden, blaue Jeans. Dazu waren angemeldet, jeweils einer in Klasse zung von Kritikern dazu führen, dass är-
David Turpin mit seinem Topfhaarschnitt, 5, 6, 8, 9, 10 und 12. Der Schulleiter: David mere Familien mit Kindern langfristig we-
der seine Frau um fast zwei Köpfe überragt. Turpin. niger zum Leben haben als bisher. Und dass
Auf einem Foto tragen die Kinder durch- In Kalifornien gibt es über 3000 solcher der Sozialstaat weiter geschwächt wird.
nummerierte T-Shirts, die an Figuren aus Heimschulen, oft Wohnzimmerklassen, Inzwischen sind David und Louise Tur-
einem Kinderbuch von Dr. Seuss erinnern: die Eltern für eine Handvoll Kinder er- pin angeklagt, ihnen werden Kindesmiss-
„Thing 1“ bis „Thing 13“, Ding 1 bis 13. richten. Bewerber müssen dafür einige handlung und Folter vorgeworfen. Dem
Sie wirken fröhlich, fast ausgelassen. Formulare ausfüllen, erklären, dass sie Paar drohen je 94 Jahre Haft. Um die Ge-
Die letzten Aufnahmen, die bis Anfang sich an die Gesetze halten, und unter- schwister will sich nun das Sozialamt küm-
dieser Woche öffentlich zugänglich waren, schreiben, dass sie dazu fähig sind, Kinder mern. Die wichtigste Frage aber, die nach
wurden im Sommer 2016 gepostet. Sie zu unterrichten. Hausbesuche führt das dem Motiv der Turpins, ist noch offen: Wa-
zeigen die Turpins beim Erneuern ihres Bildungsministerium nicht durch. Eltern rum tun Eltern ihren eigenen Kindern so
Eheversprechens in Las Vegas, umgeben können unterrichten, wie und was sie etwas an? Christoph Scheuermann
von zehn Mädchen in lila Kleidern und wollen. Twitter: @chrischeuermann

DER SPIEGEL 4 / 2018 85


Ausland

MORTEN MORLAND

„Spectator“-Karikatur zum Streit unter den Tories*: Lächerliche Säbelrasselbande

86 DER SPIEGEL 4 / 2018


Insel der Besessenen
Großbritannien Nicht erst seit dem Brexit-Votum, seit 30 Jahren streiten die Konservativen erbittert
über Europa. Und nehmen dabei ihren Untergang in Kauf. Warum ist das eigentlich so?

A
n einem halbwegs freundlichen losen steigt und steigt; die Kluft zwischen Woher aber kommt dieser Masochis-
Winterabend treffen sich in Lon- Arm und Reich wächst. mus? Und können die Wunden heilen?
don rund 600 Konservative zu ei- Während Labour unter dem Sozialisten „Ich sehe nicht, wie das gehen sollte“,
ner öffentlichen Therapiesitzung. Man hat Jeremy Corbyn zur mitgliederstärksten Par- sagt der Mann, den sie einst Tarzan nann-
ihnen versprochen, dass sie hier im Em- tei Westeuropas aufgestiegen ist, werden ten, mit traurigem Blick. Michael Heseltine
manuel Centre, einem gewaltigen Rund- die Tories allmählich zu Volksvertretern sitzt in seinem verglasten Büro in der
bau im Herzen von Westminster, etwas ohne Volk. Einer Schätzung zufolge haben Victoria Street, einen Steinwurf entfernt
über die Zukunft ihrer Partei erfahren wer- nur noch 70 000 Konservative ein Partei- von Westminster Palace, aber doch weiter
den. Eingeladen hat der „Spectator“, eine buch. In den Achtzigerjahren waren es weg denn je vom Zentrum der Macht, seit
Wochenzeitung, die der Regierungspartei mehr als eine Million. ihn May im vergangenen Jahr als Berater
für gewöhnlich in inniger Zuneigung ver- In den vergangenen Wochen bemühte geschasst hat. Der ehemalige Vizepremier
bunden, zuletzt aber an ihr verzweifelt ist. sich Theresa May zwar, verlorenes Terrain hatte sich für ihren Geschmack etwas zu
Vorn auf dem Podium haben die Veran- zurückzuerobern. Nachdem sie im Dezem- europafreundlich geäußert.
stalter eine Karikatur platziert: Sie zeigt ber gerade so eben Phase 1 der Brexit-Ver- Er ist jetzt fast 85 Jahre alt. Die hünen-
die Regierung als lächerliche Säbelrassel- handlungen überstanden hatte, kündigte sie hafte Erscheinung ist einer leicht gebückten
bande, die drauf und dran ist, Premiermi- Grundhaltung gewichen, seine Silbermäh-
nisterin Theresa May zwischen sich zu zer- ne wirkt indes noch ähnlich ungezähmt
quetschen. Eher zufällig prangen am Ge- wie früher. Das Gleiche gilt für seinen Ver-
sims darüber in Bronze drei Worte aus stand. Heseltine hat alle Schlachten über
dem Neuen Testament, Matthäus Kapitel 1, Europa geschlagen, seit Großbritannien
Vers 23: „Gott mit uns.“ 1973 Mitglied der Europäischen Wirt-
Man darf das bezweifeln. schaftsgemeinschaft geworden war. Er hat
„Die Lage ist zurzeit wirklich schreck- immer für das Bündnis gefochten, und sei
lich“, sagt der Historiker Anthony Seldon. es nur, um die Deutschen in Schach zu hal-
Gegen den Brexit sei selbst die Suezkrise ten. Er wurde dafür von Parteifreunden
1956 ein Klacks gewesen. Wenn man es ge- mit Erdnüssen und Cocktailwürstchen be-
nau bedenke, sei es den Tories in ihrer 230- worfen. „Die Zeit damals war bitter“, sagt
jährigen Geschichte noch nie so schlecht er, „aber doch nichts im Vergleich zu dem,
gegangen. Und es könnte noch schlimmer was wir jetzt erleben.“
kommen: Sollte die Partei nicht endlich Menschen wie Michael Heseltine stellten
„den Arsch hochkriegen“, so Seldon, wer- in ihrer Partei einst die große Mehrheit.
ANTONIO OLMOS / INTERTOPICS

de demnächst womöglich ein Sozialist in Als die Briten 1975 über Europa abstimm-
10 Downing Street einziehen. ten, war Labour mehrheitlich für ein Nein,
Da geht ein Raunen durch die Menge: während die Konservativen sich als „Partei
Wenn noch etwas den Überlebensinstinkt für Europa“ rühmten. Die damals neue
der Tories zu wecken vermag, dann die Tory-Chefin Margaret Thatcher warnte ihr
Angst vor der Linken. wirtschaftlich gebeuteltes Land vor einem
Es sind dunkle Tage für die Tories. Und Pro-Europäer Heseltine Austritt: „Es wäre schlecht für Großbritan-
das liegt nicht nur daran, dass der Winter Weiter weg von der Macht denn je nien, schlecht für unsere Beziehungen zum
auf der Insel in diesem Jahr besonders un- Rest der Welt und schlecht für jeden künf-
gemütlich ist. Es liegt vor allem daran, dass eine bürgerfreundlichere Politik an. Sie will tigen Handelsvertrag.“
die Regierung das Regieren praktisch ein- gegen happige Studiengebühren und noch Thatcher, sagt Heseltine, habe „instink-
gestellt hat, seit Theresa May im Juni ohne happigere Managergehälter vorgehen, im tiv zur alten Schule gehört“, die das Com-
Not ihre absolute Mehrheit verspielt hat. ganzen Land sollen bezahlbare Wohnungen monwealth und die USA für wichtiger hielt
Seither kämpft jedes Kabinettsmitglied nur entstehen. Die Botschaft ist klar – es gibt als Europa. „Aber sie war klug genug zu
noch für sich selbst – während bei May, noch mehr als dieses vermaledeite Europa. begreifen, dass es ein Desaster gewesen
einer Art Anti-Midas, nahezu alles, was Aber es hilft alles nichts. Was immer wäre, bei der Gründung des Binnenmark-
sie anfasst, zu Blei wird. May und die Tories auch versuchen, der tes tatenlos danebenzustehen.“ Und sie
Das Volk wendet sich derweil mit Schau- Brexit – dieser einmalige Feldversuch mit war stark genug, dass ihre Partei ihr folgte.
dern ab, beziehungsweise der Labour- 66 Millionen mehr oder weniger Freiwilli- Dann jedoch verkündete der damalige
Partei zu, die das Ergebnis eines sieben- gen – hängt ihnen wie ein mit Sand gefüll- EU-Kommissionspräsident Jacques Delors
jährigen konservativen Spardiktats auszu- ter Rettungsring um den Hals. Der vom im September 1988, als bloße Wirtschafts-
schlachten versteht: Das Gesundheitssystem Volk beschlossene Austritt aus der Euro- union werde das Bündnis von den Euro-
steht kurz vor dem Kollaps; die Wohnungs- päischen Union hat die Tories, anders als päern nicht geliebt werden – nötig sei eine
not ist so groß, dass die Zahl der Obdach- erhofft, nicht befriedet. Stattdessen hat er „soziale Dimension“. Sozial? Das klang
sie in etliche Lager gespalten, die mit Feuer- vielen Tories verdächtig nach „Sozialismus
* Mit Schatzkanzler Philip Hammond (l.), Premierminis-
eifer über den richtigen Härtegrad des Aus- durch die Hintertür“. Thatcher fuhr nach
terin Theresa May (M.), Außenminister und Brexit-Hard- tritts streiten und dabei schlimmste Selbst- Brügge, um vor einem „europäischen Su-
liner Boris Johnson (r.). verletzungen in Kauf nehmen. perstaat“ zu warnen. Daheim auf der Insel
DER SPIEGEL 4 / 2018 87
Ausland

gründeten EU-Kritiker sogleich die „Brüg- Europa wurde für die einstige „Partei für Auf seiner ersten Parteitagsrede mahnte
ge-Gruppe“. Die Saat für einen jahrzehn- Europa“ allmählich zum bequemen Feind- Cameron: „Während Eltern sich darum
telangen Streit war ausgebracht. bild. An allem, was zu Hause schieflief, wa- sorgten, einen Schulplatz für ihre Kinder
John Major, Thatchers glückloser Nach- ren die fremden Mächte auf dem Festland zu finden und Arbeit und Familienleben
folger, hatte gegen die in den Neunziger- schuld. Die Insel hatte sich dem Kontinent unter einen Hut zu bekommen, haben wir
jahren immer stärker werdende Anti-EU- seinerzeit ohnehin nur widerwillig ange- uns wegen Europa gebalgt.“
Front nie eine Chance. Und das auch des- schlossen. Anders als die vom Krieg trau- 2010 führte Cameron die Tories wieder
halb, weil die überwiegend konservative matisierten Deutschen oder Franzosen sa- zurück an die Macht. Und das, sagt der El-
britische Presse mit zunehmend nationa- hen die ungeschlagenen Briten in dem der Statesman Michael Heseltine heute,
listischen und chauvinistischen Tönen ge- Bündnis nicht so sehr ein Friedensprojekt. hätte seiner Partei eine Lehre sein können:
gen die EU zu Felde zog. „Wir sind nicht aus existenziellen, sondern „Cameron war der erste Konservative seit
Vor allem der Brüssel-Korrespondent aus ökonomischen Gründen beigetreten“, Major, der wieder eine Wahl gewann, als
des „Daily Telegraph“ sorgte in den frühen sagt der Thatcher-Biograf Charles Moore. EU-Freund. Daraus hätte man etwas ab-
Neunzigerjahren für Aufsehen, indem er Umso leidenschaftlicher aber bekämpf- leiten können.“ Die Partei verzichtete da-
die EU in seinen Kolumnen als Quasi-Dik- ten die Tories sich selbst. Noch jeder Par- rauf. Vom ersten Tag an setzten die mäch-
tatur beschrieb. Der junge Mann, ein ge- teichef seit Major scheiterte bei dem Ver- tigen EU-Skeptiker, die rauswollten aus
wisser Boris Johnson, sah stets so aus, als such, die Partei zu einigen. „Die Spaltung dem Klub, Cameron zu. Der Chef reagier-
sei es am Vorabend wieder spät geworden. über Europa ist fast schon eine Blutfehde“, te erst pragmatisch, dann genervt. 2013
In seinen Texten aber warnte er hellwach sagt Moore. Irgendwann waren die Briten schließlich ging er zum Gegenangriff über:
vor einer Brüsseler Kommandowirtschaft, des Schauspiels überdrüssig – 1997 wählten Sollte er die nächste Wahl gewinnen, ver-
die „wilder und teurer“ sei als „alles, was sie die ewige Regierungspartei ab. sprach Cameron seiner Partei, werde er
Stalin je geschafft hat“. Der Binnenmarkt, Der neue Premier, Labour-Mann Tony das Volk über die EU-Mitgliedschaft ab-
so Johnson, werde Drogenschmugglern, Blair, rückte sein Land entschieden näher stimmen lassen.
Es war der Versuch, die Europafeinde
mundtot zu machen – und die vermutlich
folgenreichste Fehlkalkulation in der jün-
geren britischen Geschichte.
Mit den Folgen plagt sich nun Camerons
Nachfolgerin Theresa May. Dass sie es
überhaupt an die Regierungsspitze schaf-
fen konnte, hat sie der ungelösten Euro-
pafrage in ihrer Partei zu verdanken: Wäh-
rend der Referendumskampagne hatte es
die 61-Jährige geschafft, irgendwie gleich-
zeitig für und gegen die EU zu sein. So je-
manden brauchten die Tories nun, eine
Kompromisskandidatin, ein Scharnier.
Dabei würde sie ihrer Partei gern die
Europa-Besessenheit austreiben. Bislang
jedoch ist sie mit dem Versuch gescheitert,
GERALD PENNY / AP/ DPA

den Tories ein sozialeres Image zu verpas-


sen. Stattdessen muss sie jederzeit mit einer
Rebellion der EU-Feinde oder -Freunde
rechnen. Der Brexit überschattet alles.
Entsprechend sah jüngst auch die lang
Premierministerin Thatcher 1982: Stark genug, dass die Partei ihr folgte erwartete Kabinettsumbildung aus, für
eine klare Kursänderung fehlten May
Terroristen „und allen Arten von Migran- an die EU. 2004 jedoch traf er eine fol- schlicht die Kraft und der Mut. Alle pro-
ten“ Tür und Tor öffnen. genreiche Entscheidung: Anders als an- minenten EU-Streiter und -Gegner blie-
Johnson, der Jahre später als Politiker dere Länder gewährte er den Bürgern von ben im Amt, obwohl sie einander nicht
zum wichtigsten Verfechter eines EU-Aus- acht neuen osteuropäischen EU-Staaten mehr viel zu sagen haben. In Mays Kabi-
tritts werden sollte, produzierte „fake ungehinderten Zugang zum britischen nett bilden sie ein Gleichgewicht des
news“, lange bevor der Begriff erfunden Arbeitsmarkt. Binnen eines Jahres ver- Schreckens.
war. Seine Kolumnen trugen Titel wie sechsfachte sich die Zahl der EU-Einwan- Auch das siegreiche Brexit-Lager ist
„Schnecken sind Fische, sagt die EU“ oder derer. Plötzlich kamen nicht mehr nur läs- längst zerfallen in einzelne Gruppen, die
„Brüssel rekrutiert Schnüffler, damit Euro- tige bürokratische Regeln vom Kontinent, wollen, dass sich an der Beziehung zur Eu-
Mist überall gleich riecht“. Das fanden die sondern auch Zigtausende Fremde. Das ropäischen Union alles, viel, ein bisschen
anderen Zeitungen so drollig und unerhört, hatte den EU-Hassern im Land noch ge- oder fast nichts ändert. Dabei stehen die
dass sie nachzogen. fehlt. entscheidenden Verhandlungen mit dem
Jahre später verriet der heutige Außenmi- Kurz darauf sah es für einen Moment verhassten Brüssel erst noch an. Irgend-
nister der BBC: „Es war, wie Steine über die gleichwohl so aus, als könnten die Tories wann in den kommenden Wochen, so
Gartenmauer zu werfen. Ich lauschte dem ihren Streit endlich hinter sich lassen. Ei- heißt es, werde May ihre nächste große
erstaunlichen Klirren vom englischen Ge- nigermaßen überraschend machten sie Da- programmatische Rede zum Brexit halten.
wächshaus nebenan, während alles, was ich vid Cameron 2005 zum Parteichef, jung, Aber in Europa erwartet niemand mehr,
aus Brüssel schrieb, einen explosiven Effekt smart, internationalistisch – und gewillt, dass die britische Verhandlungsposition
auf die Tory-Partei ausübte. Das hat bei mir sich zur Abwechslung den Problemen der dann geklärt sein wird. Jörg Schindler
ein seltsames Gespür für Macht geweckt.“ Menschen im Land zuzuwenden. Mail: joerg.schindler@spiegel.de

88 DER SPIEGEL 4 / 2018


Sport
Heimniederlagen von Bayern München* seit Bestehen der Fußballbundesliga
Bundesliga
9 9
Große Langeweile
Christian Seifert, Chef
7 der Deutschen Fußball
6 5 5
gegen: Liga, kritisierte in dieser
Borussia Dortmund FC Köln Werder Bremen Schalke 04 Hamburger SV VfB Stuttgart Woche das Niveau der
Anzahl der
Bundesliga. Bayern Mün-
Heimspiele: 48 45 51 47 52 49 chen, dem Branchen-
primus, würden ernsthafte
1 Rivalen fehlen. Besonders
2 2 in Heimspielen haben
3 3 3 die Bayern meist leichtes
Spiel, sie gewannen in der
Geschichte der Bundesliga
Borussia Eintracht Bayer Hertha BSC Mainz 05 Hannover 96
Mönchengladbach Frankfurt Leverkusen
74 Prozent aller Begeg-
nungen. Erstaunlich: Mit
die beste Bilanz in Mün-
49 46 39 32 12 28
chen hat mit neun Siegen
ausgerechnet der Tabel-
1 0 0 0 0 lenletzte 1. FC Köln. Al-
lerdings gewannen die
Kölner dort das letzte Mal
vor neun Jahren. Auch
*gegen die
Augsburg VfL Wolfsburg SC Freiburg TSG Hoffenheim RB Leipzig aktuellen auswärts waren die Bay-
Bundesligisten ern zuletzt kaum noch
7 21 18 9 2
Quelle: transfermarkt.de angreifbar.
GETTY IMAGES SPORT

Magische Momente
„Wie nach einer brutalen Achterbahnfahrt“
Der österreichische Skispringer Stefan Kraft, 24, über seinen Weltrekordflug auf 253,5 Meter

SPIEGEL: Dieses Wochenende um das Ding voll durchzu- SPIEGEL: Hätten Sie nach der war. Damit war er für ein
findet in Oberstdorf die WM ziehen. Landung mit den Händen paar Minuten Weltrekordhal-
im Skifliegen statt. Landen SPIEGEL: Sie segelten rund den Boden berührt, wäre der ter. Ich fühlte mich wie nach
Sie auf Platz 1? acht Sekunden durch die Versuch ungültig gewesen. einer brutalen Achterbahn-
Kraft: Weltmeister im Skiflie- Luft. Was ging Ihnen durch Kraft: Richtig. Ich war voll da- fahrt, die einen aufgekratzt
gen – der Titel würde mir ge- den Kopf? rauf konzentriert, genau das zurücklässt. In der Nacht
fallen. Seit meiner Kindheit Kraft: Nach 50 Metern reali- zu vermeiden. habe ich kaum ein Auge zu-
sind die Wettbewerbe im Ski- siert man, ob es weit gehen SPIEGEL: Es klappte. gekriegt – immer wieder ging
fliegen für mich das Größte. kann. Bei 100 Metern spürte Kraft: Im Auslauf hatte ich mir der Flug durch den Kopf.
Wenn es weit über 200 Meter ich, dass ich die Welle gut den totalen Adrenalinkick. SPIEGEL: Verdrängen Sie die
geht, dann sieht das einfach reite. Bei etwa 150 ahnte ich, Meine Konkurrenten, die Ser- Angst vor einem schlimmen
extrem spektakulär aus. es könnte für einen Weltre- viceleute – alle wollten mich Sturz?
SPIEGEL: Auf der größten kord reichen. Am Ende war umarmen und klopften mir Kraft: Nein.Wenn jemand
Schanze der Welt im norwe- nur noch ein einziger Ge- auf die Schulter. Ich gratulier- stürzt, gibt es meistens klare
gischen Vikersund haben Sie danke: Du musst den Sprung te Robert Johansson, der vor Gründe. Die analysiert man,
vor einem Jahr einen neuen sauber stehen. Irgendwie. mir bei 252 Metern gelandet ansonsten verlässt man sich
Weltrekord aufgestellt. auf das eigene Können. Da
Sind Sie besonders mutig? gibt es nicht viel zu grübeln.
Kraft: Für so einen Riesensatz SPIEGEL: Wie sehr belasten
muss vieles zusammenkom- die Sprünge Ihre Freundin?
men. Gute Windbedingungen, Kraft: Natürlich fiebert Ma-
eine saubere, aerodyna- risa mit, aber sie hat mitt-
mische Anfahrt und ein opti- lerweile ein gewisses Ver-
GEPA PICTURES / IMAGO SPORT

maler Absprung am Tisch trauen in meine Fähigkeiten.


mit über 100 Sachen. Dann Sie ist Krankenschwester,
die Balance, die Körper- aber zum Glück musste ich
spannung im Flug, und ja – ihre Dienste bisher nur
letztlich braucht man auch Kraft 2017 bei lästigen Krankheiten
Mut und Selbstvertrauen, in Anspruch nehmen. pk

DER SPIEGEL 4 / 2018 89


Sport

Eine aussterbende Art


Ski Der beliebteste Wintersport der Deutschen kämpft mit dem Klimawandel – und einer
jungen Kundschaft, die Kunstschnee und die Ausbeutung der Berge nicht mehr akzeptiert.

A
ls sich der Olympiasieger Marcel Veranstaltung stellte Ralf Roth, Leiter des müsse doch irgendwie weitergehen mit
Hirscher vor zwei Wochen auf Instituts für Natursport und Ökologie an dem Skisport.
seinen Start beim Weltcup-Riesen- der Deutschen Sporthochschule Köln, Zah- In Österreich, wo die Seilbahnwirtschaft
slalom in Adelboden vorbereitet, steigen len aus einer neuen Studie vor. Demnach vorigen Winter 1,3 Milliarden Euro Um-
einige Täler entfernt im Wallis zwei Män- gibt es allein in Deutschland 22,9 Millionen satz machte, und in der Schweiz, wo es
ner in 3000 Meter Höhe über eine Absper- Wintersportler, 6,3 Millionen davon laufen 7400 Kilometer markierte Pisten gibt,
rung unterhalb des Hockenhorns. Ski. „Wir haben in unserer DNA einen star- hängen ganze Täler vom Skitourismus
Sie tragen auch Skier an ihren Füßen, ken Bezug auf Schnee“, resümierte Roth. ab. Tausende von Schneekanonen, die in
dazu auf dem Rücken einen Lawinenair- Trotz dieser Zahlen sei es aber nicht rat- Tirol, im Salzburger Land, am Arlberg ste-
bag. Das wichtigste Utensil aber sind ihre sam, in neue Liftanlagen zu investieren, hen, sichern in Österreich Jobs für fast
Gleitschirme. Mit ein paar Handgriffen warnte Roth. Im Zeitalter des Klimawan- 100 000 Menschen.
sind die Fluggeräte einsatzbereit. Auf Kom- dels würden ohnehin nur Gebiete überle- In Garmisch-Partenkirchen liefen Natur-
mando brettern die beiden Speedflyer auf ben, die hoch genug liegen, in denen es freunde lange Sturm gegen den Bau der
eine fast senkrecht abfallende Felswand noch ausgiebig schneit. Außerdem gebe es neuen Seilbahn auf die Zugspitze. Ende
zu – und segeln davon. unter den Kunden keine Akzeptanz mehr Dezember wurde die Anlage in Betrieb
Hirscher gewinnt das Rennen in Adel- für weitere Erschließungsmaßnahmen. genommen, und über die Feiertage um
boden und wird von den Fans im Ski- „An alle Seilbahnbetreiber: Es macht Weihnachten und Neujahr brachte die
stadion gefeiert. Die beiden Speedflyer keinen Sinn!“, rief Roth von der Bühne. Gondelverbindung auf Deutschlands
landen auf einer verschneiten Wiese im Der Forscher berichtete von einer „sig- höchsten Gipfel und in das dortige Skige-
Nirgendwo und klatschen sich ab. nifikanten Drop-out-Quote“ bei den 14- biet Einnahmen von 1,4 Millionen Euro.
Gian Franco Kasper, der Präsident des bis 39-jährigen Wintersportinteressierten. Ein Vertreter aus dem Garmischer Gemein-
Internationalen Skiverbands (FIS), zündet Ein Grund, warum sich in dieser Alters- derat, der lange kritisch auf den Seilbahn-
sich in seinem Büro in Oberhofen am Thu- gruppe viele vom Skisport verabschiede- bau blickte, sieht das Projekt inzwischen
nersee eine Zigarette an. Durch große ten: die hohen Kosten für Ausrüstung und als Investition in die ferne Zukunft: „Viel-
Fensterscheiben kann er die Gipfel des Ber- leicht wird das Zugspitzplatt in 100 Jahren
ner Oberlands sehen. Kasper, 73, sagt, das der letzte Ort in Deutschland sein, wo man
Schöne am Skilaufen sei, dass jeder auf Liftbetreiber versuchen, noch Ski laufen kann.“
seine Weise Spaß im Schnee erleben kön- In den meisten Skigebieten in den Alpen
ne: der Hobbyläufer, der Adrenalinjunkie, durch Aufklärung das versuchen die Liftbetreiber, durch Auf-
Champions wie Hirscher. Image der Umweltzerstörer klärung das Image der Umweltzerstörer
„Aber leider wollen immer weniger Leu- loszuwerden. Sie lassen die Pisten im Som-
te diesen Spaß.“
loszuwerden. mer durch Biologen untersuchen, um nach-
In Europa gibt es 48,2 Millionen aktive zuweisen, dass auf den stark beanspruch-
Skifahrer. Ganze Regionen in den Alpen Tickets. Zudem habe sich bei den meisten ten Wiesen noch Leben gedeihen kann.
leben seit Jahrzehnten vom Schneetouris- potenziellen Kunden ein Bewusstsein für Leitungen für die Schneekanonen werden
mus. Doch die langjährige Boombranche das schleichende Verschwinden des Win- verbuddelt, künstliche Speicherteiche ange-
hat die Grenzen des Wachstums erreicht. ters verfestigt. legt, Hotels mit Erdwärme beheizt, Pisten-
Viele Wintersportgebiete melden rückläu- Nach Roths Vortrag debattierte eine Ex- bullys fahren mit Biodiesel.
fige Ticketverkäufe. In der Schweiz und pertenrunde darüber, warum der „Pisten- Auf der Lauchernalp im Wallis kommt
in Österreich, wo das Skilaufen eine Volks- sport“ so einen schlechten Ruf hat. Es fiel der Strom für die Seilbahn und die Lifte
bewegung war, wollen immer weniger Kin- der Betriff „Klimahysterie“. Natürlich sei- aus einem eigenen Wasserkraftwerk. Es
der den Sport überhaupt noch erlernen. en die Grünen schuld. Ein Tourismuslob- gibt keinen Autoverkehr in dem Skigebiet.
Wie konnte es dazu kommen? byist erklärte, nur 0,6 Prozent der Gesamt- Beschneiungsexzesse sind nicht notwendig,
Gian Franco Kasper erzählt eine Ge- fläche Tirols werde für Wintersport ge- weil das Revier über 1900 Metern liegt und
schichte aus seiner Heimat. Er stammt aus nutzt. Ein anderer Diskutant schlug vor, sehr schneesicher ist.
St. Moritz. In dem von Investoren und Su- Begriffe wie „Schneekanone“ künftig zu Dafür muss Geld für die Absicherung
perreichen gekaperten Bergdorf im Enga- vermeiden, das klinge der Kundschaft wo- der Hänge ausgegeben werden. Staubla-
din gibt es mehr Gästebetten als Einwoh- möglich „zu kriegerisch“. winen rasen mit bis zu 300 Stundenkilo-
ner, man kann beim Juwelier Diamant- Beim Weltcup in Adelboden Anfang Ja- metern ins Tal. Ein Mensch, der einer sol-
ringe kaufen, die eine halbe Million Euro nuar, wo wieder einmal der Österreicher chen Naturgewalt im Weg steht, sagt der
kosten. Für einen Tagesskipass bezahlen Hirscher gewann, zeigte sich ein typisches Skischulleiter Beat Dietrich, werde zuerst
Erwachsene 79 Franken, 67 Euro. Bild des Skisports im 21. Jahrhundert: eine von der Druckwelle fortgeblasen, danach
Eigentlich, sagt Kasper, sei damit schon mit Kunstschnee ordentlich präparierte verschüttet. „Und dann ist es ganz still.“
vieles gesagt. Rennpiste. Die Wiesen links und rechts da- Dietrich sitzt Anfang Januar in seinem
Im November gab es in Rottach-Egern von – grün. „Bei mir will bei solchen Ver- Büro neben der Seilbahnstation Lauchern-
ein Symposium über die Zukunft des alpi- hältnissen kein Wintergefühl aufkommen“, alp. Das Sturmtief Burglind hat in Höhen-
nen Wintersports. Gleich zu Beginn der sagt FIS-Chef Kasper. Aber was tun? Es lagen bis zu zwei Meter Neuschnee ge-
90 DER SPIEGEL 4 / 2018
GETTY IMAGES SPORT

Weltcup-Riesenslalom Anfang Januar im Schweizer Adelboden: Es mag kein Wintergefühl aufkommen

DER SPIEGEL 4 / 2018 91


Sport

SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 21. 1., 23.20 – 00.05 UHR | RTL
bracht. Der Skilehrer war mit Kollegen Wer also fährt in Zukunft noch Ski? Wis-
Die Kinderschänder-Karriere des Chris- schon morgens um fünf Uhr oben am senschaftler Roth von der Kölner Sport-
tian L. – Neue Fakten im Freiburger Hockenhorngrat unterwegs, um durch hochschule glaubt, dass die Wintersport-
Missbrauchsskandal; Ein Schritt vor, Sprengungen gezielt Lawinen auszulösen. branche nicht weitere Gipfel mit Liften,
zwei zurück – Die Hassliebe der SPD Die Schneemassen wären ansonsten eine sondern neue Kundengruppen erschließen
zur GroKo; Knochen lügen nicht – Gefahr für die Touristen auf den Pisten ge- müsse. Jugendliche mit Migrationshinter-
Umstrittene Alterstests bei minder- wesen. grund zum Beispiel haben meist traditio-
jährigen Flüchtlingen. Die Sprengmaßnahmen sind ein für die nell keine Beziehung zum Schneesport.
Gäste unsichtbarer Service. Die Arbeit ist Sie fänden in Deutschland, Österreich, der
wichtig. Weil die Hänge auf der Lauchern- Schweiz aber auch keinen Weg dorthin,
ARTE RE: alp nicht mit Liften verbaut sind, gibt es weil sich niemand um sie bemühe. „Wir
MONTAG, 22. 1., 19.40 – 20.15 UHR | ARTE viel Platz für Abfahrten im freien Gelände. müssen offen werden, andere Kulturen
Freerider aus ganz Europa pilgern in das reinzuholen. Da passiert bei den Verbän-
Reichsbürger gegen den Staat – Skigebiet, um hier abseits der Pisten zu den zu wenig“, sagt Roth.
Eine Gefahr für die Demokratie? fahren oder Touren zu gehen. FIS-Präsident Kasper glaubt, das Gefühl
Spinner, Abgehängte oder Rechts- „Bei uns stimmt eigentlich alles“, sagt für Schnee, die Lust auf Wintersport ent-
extreme? Die sogenannten Reichs- Dietrich, ein drahtiger Mann mit wachen stehe automatisch, „wenn es mal wieder
bürger haben immer mehr Zulauf. Augen, der seit 16 Jahren seine Skischule ordentlich schneit“, auch in den Städten,
Hinter der Bewegung stecken Men- betreibt. Dennoch sei jeder Winter für ihn in Hamburg, München, Wien und in Zü-
schen, die an den Fortbestand und seinen kleinen Betrieb eine Heraus- rich. Er guckt zum Fenster hinaus, es ist
des Deutschen Reichs glauben. Seit forderung. In den letzten Jahren seien die Anfang Januar. Draußen sind es zehn Grad
dem Polizistenmord durch einen Ticketverkäufe zurückgegangen. Die Zahl plus. Auf den Wiesen sprießen Schnee-
Reichsbürger gilt die Szene als ge- der Leute, die überhaupt noch das Skifah- glöckchen. Es ist zum Verzweifeln.
fährlich. rern erlernen wollen, sinke beständig ab. Ein großes Konjunkturprogramm für
„Wir Skilehrer“, glaubt Dietrich, „sind eine den Skisport in Europa wären Olympische
aussterbende Art.“ Spiele in den Alpen, sagt Kasper. Dann er-
GESCHICHTE IM ERSTEN FIS-Chef Kasper sagt: „Wir müssen die zählt er eine weitere Geschichte aus seiner
MONTAG, 22. 1., 23.30 – 00.15 UHR | ARD Menschen wieder in den Schnee bringen.“ Heimat St. Moritz. Mit dem Kanton Grau-
Aber wie? bünden wollte sich der Ort für die Winter-
Der Mossad, die Nazis und die Die Industrie hat Carvingski entwickelt, spiele 2026 bewerben. Die notwendige
Raketen – Showdown am Nil mit denen es einfacher geworden ist, die Volksabstimmung wurde mit Absicht in
Im Juli 1962 lässt Ägyptens Präsi- Fahrtechnik zu erlernen. Die Pisten sind die Zeit während der Skiweltmeisterschaft
dent Gamal Abdel Nasser in der planiert wie Autobahnen. Alle Skigebiete im vorigen Jahr gelegt. Kasper, seit 2000
Wüste Raketen testen. Diese könn- locken mit Familienangeboten. In Luzern Mitglied des Internationalen Olympischen
ten bis nach Israel fliegen, verkün- werden Kinder kostenlos in nahe gelegene Komitees, war sich sicher, dass die Zustim-
det er. In Jerusalem schrillen die Reviere kutschiert. In Saas Fee gibt es jetzt mung für eine Kampagne groß sein würde.
Alarmglocken – auch weil deutsche das Saisonticket zum Schleuderpreis von Doch es stimmten 56 Prozent der Stimm-
Raketenforscher an den Waffen 220 Franken. berechtigten von St. Moritz gegen die Be-
mitgearbeitet haben. Der Mossad Dennoch, sagt Kasper, würden immer werbung. Das Projekt war geplatzt.
wird eingeschaltet und greift in mehr Großstädter im Winter lieber in der Innsbruck, München, Oslo. Überall
einer Geheimaktion auch auf die Karibik Urlaub machen als in den Bergen. scheiterten in den vergangenen Jahren Pla-
Hilfe von Altnazis zurück. Früher fuhren Schüler in der Schweiz ab ner mit einer Olympiabewerbung am Bür-
einem gewissen Alter jedes Jahr ins Skila- gerwillen. In Sion im Wallis, wo im März
ger. Heute kaum mehr. Wegen der hohen über eine Kandidatur abgestimmt wird,
SPIEGEL TV REPORTAGE Kosten. Aber auch, weil manche Schulen scheinen die Gegner ebenfalls in der Über-
DIENSTAG, 23. 1., 23.10 – 00.15 UHR | SAT.1 nicht die Verantwortung für die Kinder zahl zu sein.
übernehmen wollen. Denn immer wieder „Der Ruf des IOC ist schlecht“, sagt
Après-Ski in der Notfallklinik – gab es Fälle, in denen Eltern die Lehrer Kasper. Er könne die Leute verstehen, an-
Einsatz für die Knochen-Docs verklagten, wenn der Sohn oder die Toch- gesichts der Skandale, angesichts des olym-
Wenn die Skiretter mit dem Hub- ter mit Blessuren aus der Winterfreizeit pischen Gigantismus. Es gibt nur sieben
schrauber angefordert werden, dann zurückkam. Sportarten bei Winterspielen – aber 102
geht es oft um gebrochene Schien- „Wir erleben einen Kulturwandel“, sagt Wettbewerbe. „Dieser Event passt nicht
beine, ausgekugelte Schultern und Kasper. Von seinem Büro aus kann der mehr in unsere Berge“, findet Kasper.
jede Menge Schmerzen. FIS-Präsident bei klarem Wetter den Eiger, Nach Olympia im Februar in Pyeong-
den Mönch und die Jungfrau sehen. Am chang, Südkorea, darf Peking 2022 Win-
Fuß dieser Berge wird jedes Jahr die be- terspiele austragen. Die Organisatoren
SPIEGEL GESCHICHTE rühmte Lauberhorn-Abfahrt ausgetragen. möchten, so berichtet es Kasper, dass der
DONNERSTAG, 25. 1., 21.05 – 22.00 UHR | SKY Der Rennsport ist ein wichtiger Motor für Kampfsport Wushu mit einer Variante auf
den Skitourismus. Er liefert Bilder von mu- Schnee ins Programm aufgenommen wird.
Superwaffen im Zweiten tigen Athleten, die vor imposanter Berg- Kasper schüttelt den Kopf. Nicht mehr
Weltkrieg – Kampf um den kulisse zu Tal brettern. seine Welt. Er guckt über den Thunersee
Ärmelkanal Leider guckten die Leute in Deutschland und erzählt von einem Paradies, weit jen-
Gigantische Geschütze, ausgedehnte aber lieber Biathlon. Und die Zahl der Ju- seits der Alpen, in den Pyrenäen: Andorra.
Bunkersysteme und Panzer sollten gendlichen, die in der Schweiz noch die Dort gehen die Schüler im Winter während
während der deutschen Besetzung Liveübertragungen der Rennen im Fernse- des Sportunterrichts Ski laufen. Und es
Frankreichs die Naziherrschaft über hen anschauen, nehme auch kontinuierlich gebe immer ausreichend Schnee.
den Kontinent sichern. ab, sagt Kasper. Gerhard Pfeil

92 DER SPIEGEL 4 / 2018


SIMON PRADES / DER SPIEGEL
Fußballprofis Ronaldo (M.), Messi

Leos Geheimbund
Football Leaks Verspätete Rechenschaftsberichte, womöglich illegale Spendenquittungen und
Steuervergünstigungen für Geldgeber – eine Spurensuche im Reich der Stiftungen Lionel Messis.

M
it durchgedrücktem Kreuz sitzt verdient mehr als 100 Millionen Euro im mit seinen Partnern des Recherchenetz-
der Sicherheitsmann hinter sei- Jahr und schmückt sich damit, auch jene werks European Investigative Collabo-
nem Schreibtisch und starrt auf an seinem Reichtum teilhaben zu lassen, rations (EIC), dass der Fußballprofi 2016
ein halbes Dutzend Monitore. Neben ihm, die weniger Glück im Leben hatten als er: rund zwölf Millionen Euro ans Finanzamt
an der Wand, hängt eine Tafel mit 13 Fir- Kranke, Arme, Bedürftige, vor allem be- nachzahlte. Einer der Gründe waren Zah-
mennamen. Eine davon müsste die Stif- nachteiligte Kinder. lungen seines Arbeitgebers, des FC Barce-
tung Lionel Messis sein, schließlich ist dies Die Stiftung in Argentinien ist so etwas lona, an Messis spanische Stiftung in Höhe
hier die Adresse, die die gemeinnützige wie Messis Bank des guten Gewissens. von rund 7,5 Millionen Euro. Die Finanz-
Organisation des argentinischen Fußball- Sponsoren bezahlen Millionen Dollar, da- behörden waren der Auffassung, dass der
stars in ihren Verträgen nennt. Doch der mit der Superstar mit ihrem Geld die Welt Spieler das Geld als Teil seines Einkom-
Name fehlt auf der Tafel, nur Eingeweihte ein bisschen besser macht. Eine schöne mens hätte versteuern müssen.
finden die Spur: Limecu. Ein Unterneh- Vorstellung. Aber ist sie auch wahr? Der Aufzug klingelt. Heraus kommt der
men von Messis Vater Jorge, elfter Stock. Auf die Klingel der Stiftung reagiert nie- Sicherheitsmann, er schaut grimmig, sagt
Der Aufzug kriecht nach oben. Dort, wo mand. Ein Schlitz neben der Tür erlaubt mit tiefer Stimme, es sei verboten, hier he-
Limecu sitzt, glitzern silberne Buchstaben einen Blick auf verwaiste Schreibtische: rumzustreunen, Privatetage, sofort mit-
an einer Holzwand: „Fundación Leo Messi keine Papiere, keine Kaffeetasse, keine Fa- kommen! Unten, zurück an seinem Posten
– elegí creer“, was so viel heißt wie: „Stif- milienfotos. Der einzige Hinweis auf den vor den Monitoren, wird er gesprächiger.
tung Leo Messi – ich wählte den Glauben“. Namensgeber der Stiftung ist eine lebens- „Manchmal ist jemand für ein paar Stun-
Hier soll es nun also zu finden sein, das große Messi-Plastikfigur im Trikot des Na- den hier, aber sehr unregelmäßig.“ Er tippt
Spenderherz von Lionel Messi: in einem tionalteams, die neben dem auf einen der Bildschirme, der
Hochhaus im Zentrum von Rosario, Pro- Eingang steht. das Parkhaus zeigt: „Das ist der
vinz Santa Fe, Argentinien. In der Nähe Das Stiftungsreich Leo Mes- Stammplatz von Messis Vater
des Bürogebäudes wuchs der Dribbelkünst- sis ist bei den Steuerbehörden Jorge. Er kommt selten hierher
ler in einfachen Verhältnissen auf. Heute einschlägig bekannt. In der Vor- und geht noch seltener in die
ist er der bestbezahlte Fußballer der Welt, woche enthüllte der SPIEGEL Stiftung. Meistens parkt er nur
94 DER SPIEGEL 4 / 2018
Sport

seinen großen, verdunkelten BMW und beim ersten Versuch, sich anzumelden, die – und dass sie dabei fleißig Geld einsam-
geht dann zu Fuß in die Stadt“, sagt der nötigen Papiere fehlten. Später ließen sie melte.
Sicherheitsmann. Fristen verstreichen. Nach spanischem Neben den Verträgen, die Lionel Messi
War Lionel Messi auch schon einmal Recht ist eine Nichtregistrierung nicht mit dem FC Barcelona schloss, wurden
hier? „Oh ja! Das ist aber schon etliche Jah- zwingend ein Gesetzesbruch. Die Stiftung auch Millionenzahlungen des Klubs an
re her. Er wusste damals nicht, in welchem musste sich so lange auch nicht an die ge- seine spanische Stiftung vereinbart. Die
Stockwerk die Stiftung ist und fuhr aus Ver- setzlichen Vorgaben für gemeinnützige Or- Agencia Tributaria, die zuständige Finanz-
sehen in die zehnte statt in die elfte Etage. ganisationen halten. So musste sie auch behörde in Barcelona, beziffert diese Zah-
Als er ausstieg, sind die Mädchen in den nicht 70 Prozent ihrer Einnahmen für ka- lungen allein für die Jahre 2010 bis 2013
Büros da oben durchgedreht, sie haben ihn ritative Zwecke ausgeben, wie es das spa- auf etwas mehr als 7,5 Millionen Euro.
alle belagert und wollten Autogramme und nische Recht sonst fordert. Offenbar erst nachdem Betriebsprüfer
Fotos. Danach war er nie wieder hier.“ Der Juristisch relevant wird die Nichtregis- den Klub aufgesucht und Unterlagen zur
Sicherheitsmann lacht sich kaputt. trierung vor allem dann, wenn eine Stif- Versteuerung von Messis Stiftungsmillio-
Eine gemeinnützige Stiftung sammelt tung Steuervergünstigungen in Anspruch nen angefordert hatten, reichte die Funda-
Geld von Spendern ein und reicht es an ción dem Klub die Rechenschaftsberichte
jene weiter, die es dringend benötigen. Ein für 2010 bis 2012 nach. Das war im Sommer
nobles Modell, das auch von seiner Offen- 2016. Laut Vertrag mit dem FC Barcelona
heit lebt. Denn Spender profitieren von hätte die Stiftung jährlich ihre Bücher of-
Steuervergünstigungen, und Stiftungsinha- fenlegen müssen.
ber sind angewiesen auf das Vertrauen, das Auffällig ist, dass Messis spanische Stif-
Geldgeber in sie setzen. tung außer Barça kaum einen potenten
Doch wer die Stiftungen und Firmen der Geldgeber hat. Seit 2013 hat sie rund sie-
Messis durchleuchtet, stößt auf ein Ge- ben Millionen Euro an Spenden eingenom-
flecht von Organisationen und Firmen, in men, knapp sechs Millionen davon kamen
Spanien, Argentinien und Großbritannien, von dem Klub. 2016 war der FC Barcelona
mit Geldflüssen in Steueroasen – ein ver- sogar der einzige Spender. Um Geld für
zweigtes Imperium hinter dichtem Schleier, karitative Zwecke auszugeben, hätte der
geleitet von Lionel Messis Bruder Rodrigo FC Barcelona es auch direkt über die klub-
und Vater Jorge. eigene Stiftung spenden können.
Der SPIEGEL hat monatelang recher- Im April 2016 hatten die Betriebsprüfer
chiert und Tausende Unterlagen zu Messis mal wieder einen Termin mit Vertretern
Stiftungsgeflecht ausgewertet, etliche da- des FC Barcelona. Sie wollten damals ge-
von stammen von der Enthüllungsplatt- nau wissen, was es mit den Zahlungen des
form Football Leaks. Klubs an die Messi-Stiftung in den Jahren
Die Geschichte des angeblichen Wohl- vor ihrer Registrierung auf sich hatte.
täters Lionel Messi beginnt im April 2007. Um einzuschätzen, was da bei den Fi-
Vor einem Notar in Barcelona lässt er die nanzbehörden womöglich auf sie zurollte,
Fundación Leo Messi gründen. Der Fuß- beauftragten die Klubbosse einen externen
ballprofi wird als Präsident eingetragen, Anwalt mit einer Risikoanalyse. Der Jurist
Vater Jorge und Bruder Rodrigo firmieren Gründungsurkunde der Messi-Stiftung lieferte seine Einschätzung Mitte Juni ab,
als Beisitzer, der Anwalt Iñigo Juárez über- Null Einblick dem SPIEGEL liegt ein Entwurf dieses
nimmt den Posten des Geschäftsführers. Schreibens vor. Demnach hatte der Klub
Juárez ist damals einer der ganz weni- nimmt oder gewährt – etwa durch das in seinen Steuererklärungen die Millionen-
gen im Inner Circle der Messis, der nicht Ausstellen von Spendenbescheinigungen. zahlungen an die Messi-Stiftung als Spen-
aus der Familie stammt. Mit seiner Kanzlei „Eine spanische Stiftung, die nicht regis- den deklariert – und steuermindernd gel-
hat er Lionel und Jorge Messi seit dem triert ist, darf keine Spenden quittieren“, tend gemacht. Die Fundación, das ergibt
Jahr 2006 dabei geholfen, in Steueroasen sagt Javier Martín Cavanna, Experte für sich aus dem Papier des Anwalts, hatte
ein illegales System von Tarnfirmen auf- spanisches Stiftungsrecht. Spender könn- dem Klub offenbar Spendenquittungen
zubauen, über die fortan die Werbeein- ten in solchen Fällen nicht von Steuerver- ausgestellt.
nahmen des Spielers vor dem Zugriff des günstigungen profitieren, so Martín. Und: Dazu war sie bis zum Jahr 2013 nicht be-
Fiskus bewahrt wurden. So steht es im Ur- „Es könnte den Straftatbestand der Urkun- fugt. Das Protectorado, die katalanische
teil des Obersten Spanischen Gerichtshofs denfälschung erfüllen, ohne die rechtlichen Aufsichtsbehörde, hob gegenüber dem
vom Mai 2017, das Lionel Messi in letzter Voraussetzungen Spendenbescheinigun- SPIEGEL hervor, dass eine Stiftung, die
Instanz wegen Steuerhinterziehung von gen auszustellen.“ Zu einer ähnlichen nicht registriert ist, „sich nicht auf eine steu-
mehr als vier Millionen Euro und seinen Einschätzung gelangt der Wirtschaftsjurist erliche Sonderregelung berufen“ könne.
Vater der Beihilfe für schuldig befand. Albert Sanchez-Graells von der University Ein Dokument aus dem Innenleben des
Bei der Gründung belehrt der Notar die of Bristol Law School: „Sollte die Messi- Klubs beleuchtet die Rolle des FC Barce-
Runde über ihre gesetzlichen Pflichten, da- Stiftung vor 2013 steuermindernde Spen- lona in dieser Sache. Es ist der Compliance-
runter die Eintragung beim Protectorado, denbescheinigungen ausgestellt haben, Bericht für die Monate Juli bis September
der in Katalonien zuständigen Kontroll- hätte sie gegen spanische Steuergesetze 2016. Dort heißt es: „Eine Untersuchung
behörde für Stiftungen. Doch es dauert bis verstoßen.“ der Stiftung hätte es uns erlaubt herauszu-
zum 6. Juni 2013, ehe die Fundación Leo Genau dies scheint die Fundación Leo finden, dass die Fundación Leo Messi ...
Messi rechtmäßig eingetragen wird. Messi getan zu haben. In den Football- nicht ordnungsgemäß registriert war.“ We-
Sechs Jahre unterm Radar. Wie kann Leaks-Dokumenten finden sich zahlreiche gen der aktuellen Betriebsprüfung bestehe
das sein? Hinweise darauf, dass die Messi-Stiftung nun ein „reales Steuerrisiko“. Wenn der
Auf Anfrage des SPIEGEL antwortet das schon lange vor ihrer offiziellen Anmel- FC Barcelona die Millionen an die Messi-
Protectorado, dass den Messis im Jahr 2007 dung ihre Geschäfte aufgenommen hatte Stiftung vor 2013 als Spenden abgesetzt
DER SPIEGEL 4 / 2018 95
Sport

hat, wie die Football-Leaks-Unterlagen es die Jahre gekommenes Gebäude. „Messi? trägen und Vertragsentwürfen, die der
nahelegen, hätte der Klub gegen spani- Ja, ja, der hat sein Foto hierhin malen las- SPIEGEL prüfen konnte, gab die Messi-Stif-
sches Steuerrecht verstoßen. Die Untersu- sen“, sagt eine der Lehrerinnen. Sie öffnet tung eine Bankverbindung an. Mal hieß
chung der Finanzbehörden gegen den die Tür zum Hinterhof. Man sieht eine es lapidar, zu überweisen sei auf ein Konto,
FC Barcelona dauert bis heute an. Wandmalerei, ein Porträt von Lionel Mes- das die Stiftung später benenne, mal fehl-
Verspätete Rechenschaftsberichte, wo- si, etwa 40 Quadratmeter groß. Es soll den ten die Angaben komplett. Oder die Ver-
möglich illegale Spendenbescheinigungen Kindern zeigen, dass es jeder bis ganz nach einbarung war: Zahlung per Scheck.
und Steuervergünstigungen für die Spen- oben schaffen kann, egal wo er geboren Was die Einnahmen angeht, ist die Fun-
der – mit derart fragwürdigen Methoden wurde. „Die Farben hat ein Unternehmen dación Leo Messi Argentina also ein or-
hangelte sich die spanische Messi-Stiftung gestellt, der Künstler soll auf Messis dentliches mittelständisches Unternehmen.
in Barcelona bis 2013 durch die Jahre. Wunsch hierhergekommen sein“, sagt die Nur: Wohin fließt das Geld – und zu wel-
Wer den Blick nach Südamerika wendet, Lehrerin. Sie betrachtet das Bild, dann flüs- chem Zweck?
trifft auf ein weiteres Stiftungsgeflecht des tert sie: „Wir sind ein armer Stadtteil, die Ein Blick in den Vertrag, den die Firma
Fußballstars, das offenbar auf Verschleie- Schule hat viele Bedürfnisse. Das Bild Lafmur aus Uruguay im November 2012
rung ausgerichtet war: die Fundación Leo stand sicher nicht ganz oben auf unserem mit der Stiftung abschloss, erstaunt. Laf-
Messi, nun aber mit dem Namenszusatz Wunschzettel.“ mur sollte Merchandisingartikel herstellen
Argentina. Sie entstand im Sommer 2011 Unweit der Schule liegt ein Kranken- und weltweit vertreiben. Vater Messi hatte
in Rosario als eigenständige Organisation. haus. Messi soll laut Stiftungswebsite ge- zehn Prozent der Einnahmen für die Stif-
Die Stiftung in Barcelona, die zu diesem meinsam mit Partnern an der 1,6 Millionen tung ausgehandelt, zudem eine Zahlung
Zeitpunkt noch nicht registriert war, half Dollar teuren Renovierung einer Station von 300 000 Dollar. Diese Pauschale sollte
bei der Gründung mit 560 000 Euro An- beteiligt gewesen sein. Wie hoch sein An- jedoch laut Vertrag an die Firma Limecu
schubfinanzierung nach. teil an der Spende war, benennt die Web- gehen – Jorge Messis Privatfirma, die, wie
Warum braucht Lionel Messi zwei fast site nicht. Eine Anfrage zu einer Besichti- praktisch, in Rosario Tür an Tür mit Lionel
namensgleiche Stiftungen? gung des renovierten Gebäudeteils lehnen Messis Stiftung residiert.
Die Türen des Registeramts in Rosario Klinikbedienstete schroff ab. In Rosario Lafmur zahlte 300 000 Dollar direkt in
öffnen kurz nach sieben Uhr. Die Gänge will kaum jemand über Messis Stiftungs- eine Steueroase. Ein Mitarbeiter der Stif-
sind lang, im Deckenputz sind große Lö- arbeit sprechen. tung hatte von Messis Anwälten in Barce-
cher, über die notdürftig blaue Plastiksäcke Die Einnahmen von Messis argenti- lona die Anweisung erhalten, dass Lafmur
gestülpt wurden. Die Mitarbeiter sitzen nischer Stiftung sind beträchtlich, wie das Geld auf das Konto einer andorrani-
hinter dickem Glas an Schreibtischen, die Dokumente nahelegen, die der SPIEGEL schen Privatbank in Luxemburg überwei-
überladen sind mit Ordnern. erhielt. So unterzeichnete die Banco de sen möge. Inhaber dieses Kontos: ein Un-
Eine einfache Anfrage zu den Bilanzen la Nación Argentina im März 2011 mit ternehmen namens Hanns Enterprises mit
und den Verantwortlichen der Messi-Stif- Messis Vater Jorge eine Vereinbarung über Sitz in Großbritannien.
tung gleicht der Suche nach dem legendä- drei Millionen Dollar, das Geld sollte England, Andorra, Luxemburg – für ge-
ren Passierschein A 38 – wie einst Asterix „ausschließlich sozialen Projekten der Stif- wöhnlich braucht eine Firma, die mit einer
und Obelix im „Haus, das Verrückte tung in Argentinien“ zugutekommen. Die wohltätigen Organisation gemeinsame Sa-
macht“, bewegt man sich von einem Schal- Grupo Maori, ein Verlagshaus in Buenos che macht, keine klandestine Geldrutsche,
ter zum anderen. Wortkarge Mitarbeiter an deren Ende eine Steueroase wartet.
reichen Formulare über den Tresen. Dann Zwei Zeitungen, die argentinische „La
der Hinweis, sich nach dem Ausfüllen er- Wie im „Haus, das Nación“ und die spanische „ABC“, waren
neut in der Warteschlange anzustellen. Für diesen dubiosen Zahlungen der Stiftung
jedes Formular wird eine Gebühr fällig. Verrückte macht“, bewegt schon auf der Spur. Damals behauptete
Fünfmal ist diese Prozedur zu überstehen, man sich von einem ein Anwalt der Messis, die 300 000 Dollar,
bis am Ende ein großer Mann mit mächti- die Lafmur nach Luxemburg auf das Konto
gem Oberlippenbart hinter der Scheibe
Schalter zum anderen. der britischen Hanns Enterprises gezahlt
auftaucht. Ein Blick auf das Formular: „Ah, habe, seien später korrekt bei der Stiftung
Messi“. Er nickt und verschwindet. Etwa Aires, verpflichtete sich zur Konzeption verbucht worden. Beweise dafür soll er in-
15 Minuten später trottet er zurück, mit einer Lionel-Messi-Biografie, die weltweit des nicht vorgelegt haben. Dem SPIEGEL
zwei Karteikarten. Es sind belanglose Aus- vertrieben werden sollte. Allein in Asien, antwortete die Stiftung zur Rolle der
künfte zu anderen Firmen, an denen die Afrika und Australien kalkulierten die Hanns Enterprises nicht.
Messis beteiligt sind. „Zur Stiftung haben Verleger mit Umsätzen von rund 50 Mil- Die Spur nach England kann für die
wir keine Informationen, das müssen Sie lionen Dollar. Messis argentinische Stif- Messis noch unangenehme Folgen haben.
auf unserer Internetseite nachschlagen.“ tung sollte davon zehn Prozent bekom- Etwa wenn die spanischen Steuerfahnder
Im Onlineregister findet sich immerhin men, ein Garantiehonorar von 6,2 Millio- dem Zusammenhang zwischen dem alten
der Name der Vizepräsidentin: Lionel Mes- nen argentinischen Pesos obendrauf, zum Steuerhinterziehungsgeflecht der Messis,
sis Mutter, Celia Maria Cuccittini. Ansons- damaligen Wechselkurs rund eine Million für das sie verurteilt worden sind, und dem
ten: keine Auflistung der Geschäftsführer, Dollar. Stiftungsgeflecht nachgehen. Die Hanns
keine Angaben zur Bilanz, keine Hinweise Äußerst gut dotiert waren auch zwei Enterprises ist eine klassische Briefkasten-
auf die Spender. Null Einblick. Deals mit dem Reisedienstleister Universal firma. Sie ist eng verwoben mit dem Netz
Die Website der Messi-Stiftung hingegen Assistance. Garniert mit guten Vorsätzen von Scheinfirmen, das der Messi-Anwalt
zeigt viele Fotos vom demütigen Superstar, („Auf der Suche nach einem gerechteren Juárez seit 2006 zur Verschleierung von
der die Welt der Bedürftigen überall dort, Land mit mehr Chancengleichheit für Lionel Messis Werbemillionen mit errich-
wo er sie betritt, ein bisschen lebenswerter alle“) sollten sie insgesamt drei Millionen tet hatte. Im alten Steuerbetrugsmodell
machen will. Dollar einbringen. Dabei wurde nicht fest- der Messis landeten Sponsorengelder bei
Ein Projekt, das die Messi-Stiftung me- gelegt, wie viel von dem Geld an die Stif- der Londoner Firma Sidefloor Limited.
dienwirksam inszenierte, führt zu seiner tung und wie viel an Papa Messis Firma Auch sie hatte ein Konto bei der andorra-
alten Grundschule in Rosario. Es ist ein in Limecu gehen sollte. Nur in wenigen Ver- nischen Privatbank in Luxemburg.
96 DER SPIEGEL 4 / 2018
Familiensache
Zahlungen des FC Barcelona an die spanische Stiftung
Leo Messi (Fundación Leo Messi) raten und Auskunftsersuchen der Behör-
den durchweg nachgekommen, antworte-
AKTUELLER ten die Messis.
STIFTUNGSVORSTAND
Fragen zu den womöglich illegalen Spen-
Präsident
Rodrigo Messi (Bruder) denbescheinigungen bis 2013 an den
FC Barcelona beantwortete Lionels Bruder
Schriftführerin

I M AG O / PA N O RA M I C ; K . M C M A N U S / B P I / R E X / ACT I O N P R E S S
Florencia Parisi (Schwägerin) Rodrigo, zuständig für die spanische Stif-

F. RO BI CH O N / P I CTUR E A LLI A N CE / DPA ; I MAG O SP O RT /


Beisitzer tung, nicht. Und warum war diese über
Lionel Messi, Jorge Messi Jahre nicht registriert, warum reichte sie
Rodrigo
(Vater), Alfonso Nebot, Messi
keine Rechenschaftsberichte ein? Rodrigo
Dominik Fourné Messi schrieb, dies sei das Versäumnis frü-
herer Berater gewesen. Er meint damit
wohl auch den ehemaligen Vertrauten der
Familie, den Anwalt Iñigo Juárez. Der Ju-
rist, vom SPIEGEL ebenfalls befragt, ver-
wies auf seine Verschwiegenheitspflicht.
Lionel Messi
Jorge Zu den Indizien, dass Gelder auf ein
Messi Konto in einer Steueroase, verwaltet von
einer Briefkastenfirma, geflossen seien, äu-
ßerten sich weder Jorge Messi noch Anwalt
Juárez. Der FC Barcelona betonte in seiner
2500 000 € 1650 000 € 1650 000 € 1725 000 € Stellungnahme, dass alle Überweisungen
des Vereins an die Messi-Stiftung dem
2010 2011 2012 2013 Zweck der Spende dienten. Womöglich il-
legale Spendenquittungen, die Barça von
Quelle: Agencia Tributaria der Messi-Stiftung erhalten haben soll, und
Steuervergünstigungen, die der Klub dafür
wohl in Anspruch nahm, kommentierte
Die Suche nach dem Firmensitz der dacht krimineller Handlungen in der Stif- der Verein nicht.
Hanns Enterprises führt in eine wenig gla- tung erhärtet hätten. „Der Staatsanwalt Vielleicht gibt es für all die schrägen
mouröse Gegend Londons, den Stadtteil hat ihn wiederholt darum gebeten“, sagt Konstruktionen und zweifelhaften Geld-
Camden. Die Eingangstür wird von einem Farías. flüsse sinnvolle Erklärungen. Vielleicht
Pub und einem Copyshop flankiert. Die Und was ist mit den fragwürdigen Geld- sind die Vorwürfe des ehemaligen Ge-
Frau am Empfang, Anfang zwanzig, knib- flüssen von Geschäftspartnern der Stiftung schäftspartners der Stiftung in Rosario
belt an ihren violetten Nägeln herum. an eine Firma mit Konto in Luxemburg? falsch. Aber dann sollte es für die Messis
Hanns Enterprises? Sagt ihr nichts. Sie Was mit der Briefkastenfirma in London, eigentlich ein Leichtes sein, die Ungereimt-
greift unter den Tresen, holt einen dicken die ganz nah dran ist an dem Steuerhin- heiten aufzuklären.
Ordner hervor und fährt Hunderte Firmen- terziehungsgeflecht, für das Vater und Der FC Barcelona hat aus dem Ärger
namen ab. „Oh, hier“, ruft sie. Aber Aus- Sohn Messi verurteilt worden sind? mit den Steuerbehörden wohl Konsequen-
künfte dürfe sie nicht erteilen. „Das reicht noch nicht aus für einen An- zen gezogen. Als der Klub Ende Juni 2017
Nur wenige Tage nach dem Besuch des fangsverdacht“, sagt Farías. die Vertragsverlängerung mit Lionel Messi
SPIEGEL begann die Liquidierung der Hat der Staatsanwalt denn Einblick in besiegelte, gehörte zu dem Verhandlungs-
Hanns Enterprises. Sie hat nur einen Mit- die Einnahmen und Ausgaben der Messi- paket auch eine neue Vereinbarung mit
arbeiter, der gleichzeitig auch Geschäfts- Stiftungen genommen? seiner spanischen Stiftung. Geldgeber ist
führer von zwölf weiteren Briefkastenfir- „Haben wir nicht angefordert, weil es nun die Stiftung des FC Barcelona: Sie
men ist, allesamt ansässig an derselben keinen Anfangsverdacht für eine kriminel- überweist der Fundación Leo Messi bis
Adresse. Eine davon, was für ein Zufall, le Tat gibt“, sagt Farías. Juni 2022 exakt 3,5 Millionen Euro.
ist die alte Scheinfirma der Messis: die Und was ist mit den vielen Millionen in Die Berichtspflicht für die Messis füllt
Sidefloor Limited. einer Stiftung ohne öffentliche Kontrolle? in dem Vertragsdokument Absätze. Es gibt
Ein früherer Geschäftspartner der argen- „Das ist Aufgabe der Provinz Santa Fe, klare rote Linien für jährliche Rechen-
tinischen Messi-Stiftung überwarf sich 2014 nicht unsere“, sagt Farías. schaftsberichte, spätestens Mitte Juli sind
mit Jorge und Lionel, viele Jahre lang hatte Im Sommer 2013, als das Steuerstrafver- die Bilanzen des Vorjahres fällig. Bei kom-
er für den Clan gearbeitet. Ein Insider. Er fahren gegen Vater und Sohn konkrete plizierteren Vorhaben darf die Klub-Stif-
beschuldigte die Messis, sie hätten für und damit gefährliche Formen annahm, tung einen „lokalen Koordinator“ mit der
wohltätige Zwecke eingeworbenes Geld meldeten die Messis ihre Stiftung in Bar- Wahrung ihrer Interessen beauftragen.
veruntreut. Es kam zu einer Anzeige, die celona an. Sie spendet heute Millionenbe- Der FC Barcelona engagiert bei Bedarf
Messis bestreiten die Vorwürfe. träge für Wohltätigkeiten. Allerdings wer- also einen Aufpasser vor Ort. Das sagt vie-
Die Ermittlungsakte landete bei Doktor den Spender noch immer nicht genannt, les aus über das Vertrauen, das Lionel Mes-
Ricardo Luis Farías. Das Büro des Richters die Angaben zur argentinischen Stiftung si mit seinen Stiftungen verspielt hat.
befindet sich im fünften Stock des Justiz- sind teilweise irreführend. Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
palastes in Buenos Aires. Farías sitzt in ei- Der SPIEGEL schickte Jorge und Rodri- Gunther Latsch, Nicola Naber,
nem schweren Ledersessel, neben ihm go Messi einen Fragenkatalog, der all die Jörg Schmitt, Michael Wulzinger
hängt eine Argentinienflagge. Die Augen Merkwürdigkeiten rund um die Stiftungen
des Richters sind klein, er spricht leise: behandelte. Beide gemeinnützigen Einrich- Animation: So funktioniert
„Wir mussten das Verfahren einstellen.“ tungen hätten immer „ordnungsgemäß Messis Stiftungssystem
Der Mann, der die Strafanzeige einreichte, ihre gesetzlichen Vorgaben erfüllt“, sie sei- spiegel.de/sp042018messi
habe keine Belege präsentiert, die den Ver- en niemals mit dem Gesetz in Konflikt ge- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 4 / 2018 97


6 Prämien zur Wahl!
JETZT LESER WERBEN – SIE MÜSSEN SELBST NICHT ABONNENT SEIN.

100 € Amazon.de Gutschein Wagenfeld-Tischleuchte WG 24


Über eine Million Bücher sowie 250 000 CDs, Der Bauhaus-Klassiker! Aus vernickeltem
DVDs, Spiele, Technikartikel und vieles mehr Metall, Klarglas und Opalglas. Nummeriert.
stehen zur Auswahl. Höhe: ca. 36 cm. Zuzahlung nur € 149,–.

TomTom START 42 CE T € 100,– Prämie


Karten für 19 Länder Europas. Mit 4,3"-Touchscreen, Erfüllen Sie sich oder Ihren Lieben einen
4-GB-Speicher. Inkl. Halterung, Autoladegerät und besonderen Wunsch, oder legen Sie die € 100,–
USB-Kabel. Ohne Zuzahlung. für eine größere Anschaffung zurück!
Teasi One3 eXtend Navi iPad 32 GB Wi-Fi in Space Grau
Für Rad, Wandern, Ski und Boot. Mit Arbeiten, spielen, surfen und mehr. Mit 9,7"-Retina-
8,8-cm-Display, Routing, Gratiskarten Display, Fingerabdruck-Sensor und 8-Megapixel-
und 3-D-Kompass. Ohne Zuzahlung. Kamera. Gewicht: 469 g. Zuzahlung nur € 269,–.

 
Ja, ich habe geworben und wähle meine Prämie! Ich bin der neue SPIEGEL-Leser.
Anschrift des neuen Lesers:
SPIEGEL-Vorteile  Wertvolle Wunschprämie für den Werber. Frau
ğšwğšĒğšŋųťťťğŅĒťŭłğĴō^V0(>>ğťğšťğĴō  -ğšš
Fćŋğ, vœšōćŋğ
ųŋvœšųĬťŝšğĴťťŭćŭŭǾǽōųšǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ>ĴğĨğšųōĬ
ųĨwųōťĔıĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĨŸšōųšǽǽĿğųťĬćĒğĴōłŅ
^V0(>#œœłť ^ŭšćŬğ,-ćųťōš Geburtsdatum

Wunschprämie ǾǽǽŋćœōĚğ(ųŭťĔığĴō*ǽ5+ V> Lšŭ


wćĬğōĨğŅĚeĴťĔıŅğųĔıŭğ*.5.)+ ŅĬǾ)1
eğćťĴLōğ.ğ|ŭğōĚFćžĴ*./)+
eğŅğĨœō*ĨŸšğžğōŭųğŅŅğZŸĔłĨšćĬğō+ DćĴŅ*ĨŸšğžğōŭųğŅŅğZŸĔłĨšćĬğō+
(ŅČųĒĴĬğš0ĚğōŭĴĪłćŭĴœōťōųŋŋğšǽǽǽǽǽǽǽ.ǽǿǽ/

ĴVćĚ.ǿ(#^ŝćĔğ(šćų*.+ŅĬǿ/)1
eœŋeœŋ^eZeǿ4e*)/+ Gleich mitbestellen! :ćĴĔıŋŘĔıŭğųťČŭŅĴĔıĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĨŸšōųšǽǽ
ŝšœųťĬćĒğĒğĴğığōťŭćŭŭĨŸš))ĴŋĴōğŅłćųĨ ^ǾǽǾ
 Ǿǽǽ1PrämĴğ*ǿǾ/ǽ+DğĴō<œōŭœĨŸšĚĴğpĒğšſğĴťųōĬ
 :ć ĴĔı ſŸōťĔığ ųōžğšĒĴōĚŅĴĔığ ōĬğĒœŭğ Ěğť ^V0(>vğšŅćĬť ųōĚ Ěğš ŋćōćĬğš ŋćĬćĴō vğšŅćĬťĬğťğŅŅťĔıćĨŭ
DE *ųğĴŭťĔıšĴĨŭğō#ŸĔığšōĒœōōğŋğōŭťLōŅĴōğVšœĚųłŭğōųōĚvğšćōťŭćŅŭųōĬğō+ŝğšeğŅğĨœōųōĚ,œĚğšDćĴŅDğĴō
ĴōžğšťŭČōĚōĴťłćōōĴĔıĿğĚğšğĴŭſĴĚğššųĨğō
0#F
Anschrift des Werbers: ğšōğųğĒœōōğōŭŅĴğťŭĚğō^V0(>ĨŸšųōČĔıťŭǿųťĬćĒğōĨŸšųšğĴŭǽŝšœųťĬćĒğťŭćŭŭǾǽĴŋĴōğŅłćųĨ
Ěğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅųťČŭŅĴĔıĨŸšǽǽŝšœųťĬćĒğćťĒœōōğŋğōŭžğšŅČōĬğšŭťĴĔıĿğſğĴŅťųŋſğĴŭğšğǿųťĬćĒğō
Frau ſğōōōĴĔıŭťğĔıťwœĔığōžœšōĚğĚğť#ğųĬťğĴŭšćųŋťĬğłŸōĚĴĬŭſĴšĚ
 -ğšš
Fćŋğ, vœšōćŋğ Ich zahle bequem per SEPA-Lastschrift* žĴğšŭğŅĿČıšŅĴĔı/ǿǽĚĴĬĴŭćŅğųťĬćĒğıćŅĒĿČıšŅĴĔıǾ.1
ĴğDćōĚćŭťšğĨğ
DE šğōſĴšĚťğŝćšćŭ
mitgeteilt.
^ŭšćŬğ,-ćųťōš 0#F
^VǾǾǽ/
V> Lšŭ ćŭųŋ kōŭğšťĔıšĴĨŭĚğťōğųğō>ğťğšť
Coupon ausfüllen und senden an:
DER SPIEGEL, Kunden-Service, 20637 Hamburg 040 3007-2700 www.spiegel.de/p18
ğšwğšĒğšğšıČŅŭĚĴğVšČŋĴğĔćžĴğšwœĔığōōćĔıćıŅųōĬťğĴōĬćōĬĚğťĒœōōğŋğōŭĒğŭšćĬťğšvœšųĬťŝšğĴťžœōǽǽĨŸšĚğō^V0(>ĚĴĬĴŭćŅĬĴŅŭōųšĴōvğšĒĴōĚųōĬŋĴŭğĴōğŋŅćųĨğōĚğō#ğųĬĚğšVšĴōŭćųťĬćĒğğōŭıćŅŭğōťĴōĚǽ)ĨŸšĚćťVćŝğš
#ğĴ^ćĔıŝšČŋĴğōŋĴŭųćıŅųōĬĬŅǿ1FćĔıōćıŋğĬğĒŸıšŅŅğVšğĴťğĴōłŅųťĴžğDſ^ŭųōĚvğšťćōĚćťōĬğĒœŭĬĴŅŭōųšĴōğųŭťĔıŅćōĚ-ĴōſğĴťğųĚğō(#ųōĚĚğŋwĴĚğššųĨťšğĔıŭĪōĚğō^ĴğųōŭğšſſſťŝĴğĬğŅĚğ,ćĬĒ^V0(>vğšŅćĬZųĚœŅĨųĬťŭğĴō
(ŋĒ-34œ<(šĴĔųťťŝĴŭğǾǿǽ5-ćŋĒųšĬeğŅğĨœōǽǽ.ǽǽ5ǿ5ǽǽDćĴŅćĒœťğšžĴĔğ6ťŝĴğĬğŅĚğ
* SEPA-Lastschriftmandat: 0ĔığšŋČĔıŭĴĬğĚğōvğšŅćĬćıŅųōĬğōžœōŋğĴōğŋ<œōŭœŋĴŭŭğŅť>ćťŭťĔıšĴĨŭğĴōųĴğığōųĬŅğĴĔıſğĴťğĴĔıŋğĴō<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭćōĚĴğžœŋvğšŅćĬćųĨŋğĴō<œōŭœĬğœĬğōğō>ćťŭťĔıšĴĨŭğōğĴōųŅŘťğō-ĴōſğĴť0ĔıłćōōĴōōğšıćŅĒ
žœōćĔıŭwœĔığōĒğĬĴōōğōĚŋĴŭĚğŋ#ğŅćťŭųōĬťĚćŭųŋĚĴğšťŭćŭŭųōĬĚğťĒğŅćťŭğŭğō#ğŭšćĬťžğšŅćōĬğōťĬğŅŭğōĚćĒğĴĚĴğŋĴŭŋğĴōğŋ<šğĚĴŭĴōťŭĴŭųŭžğšğĴōĒćšŭğō#ğĚĴōĬųōĬğō
Wissenschaft+Technik
Psychologie SPIEGEL: Welches Verhalten Isolation stört unsere Fä-
„Einsamkeit funktio- meinen Sie konkret? higkeit, die Gefühle anderer
Frazzetto: Da geht es um die zu erkennen. Einsame
niert wie ein Filter“ vielen kleinen Dinge, aus Menschen haben erwiesener-
Echte Nähe zu denen das menschliche Mit- maßen Probleme damit,
spüren und zu einander besteht: Wie re- Emotionen wie Angst, Wut,
einem gelieb- agiert man auf das Gesicht Traurigkeit oder Glück
KATHARINA WIEDEMANN

ten Menschen einer Person? Deutet ihren bei anderen richtig zu deuten.
herzustellen Blick? Sagt Absichten voraus, SPIEGEL: Bedeutet Nähe am
sind Fähigkei- ordnet Verhaltensweisen ein? Ende ganz einfach, die Ges-
ten, die man SPIEGEL: Wie entwickelt sich ten, Blicke, Worte des an-
laut dem italie- daraus Nähe? Sie zitieren in deren richtig zu verstehen?
nischen Neurowissenschaftler Ihrem Buch zu dem Thema Frazzetto: All dies ist ein Teil
Giovanni Frazzetto, 41, trainieren Rilke, der schreibt, dass einan- dessen, was man als Intimität
kann – und sollte. Denn um- der lieb zu haben Arbeit sei. betrachten kann. Aber vor
gekehrt fällt es einsamen Men- Frazzetto: Er hat recht: Wir allem ist Nähe die Möglich-
schen mit der Zeit immer können lernen, Intimität und keit, sehr wahrhaftig mit
schwerer, sich mit anderen zu Nähe herzustellen. Dazu sich selbst und anderen um-
verbinden. braucht es vor allem die Fähig- gehen zu können.
keit, gut beobachten und SPIEGEL: Entschuldigen Sie,
SPIEGEL: Wie definiert man richtig einschätzen zu können. das klingt ein bisschen nach
als Neurowissenschaftler den Gibt es zum Beispiel Proble- Selbstliebe-Sinnsprüchen.
Begriff „Nähe“? me in einer Beziehung, sollte Frazzetto: Die stimmen ja auch
Frazzetto: Es gibt viele mög- man sehen können, woran oft. Aber das heißt nicht,
liche Blickwinkel auf das The- das liegt. Um einander nahe dass man sich selbst erst voll-
ma, aber mithilfe der Neu- zu sein, darf man nicht ständig verstehen muss, um
rowissenschaft ist es möglich, ständig auf Autopilot fliegen. eine Beziehung einzugehen.
sich das Konzept im Detail Denn man kann auch ver- Im Gegenteil, andere Men-
anzusehen. Dann bedeutet lernen, die Gefühle anderer schen können uns dabei hel-
Nähe: eine Reihe von Verhal- richtig zu deuten. fen. Und wir ihnen. kk
tensmustern, an denen man SPIEGEL: Wie das?
sieht, wie Menschen mit- Frazzetto: Einsamkeit funktio-
Giovanni Frazzetto: „Nähe. Wie wir lie-
einander umgehen und was niert wie ein Filter, durch den ben und begehren“. Hanser; 208 Seiten;
sie zusammenführt. wir die Welt sehen: Zu große 20 Euro.

Astrophysik ten im Universum. Ein solcher anzieht. Doch dies ist ein
Irgendwann ist Himmelskörper bildet sich, endlicher Vorgang – beliebig
wenn eine Sonne bei einer groß und schwer kann ein
Schluss gewaltigen Explosion (einer Neutronenstern nicht werden.
Eine stecknadelkopfgroße sogenannten Supernova) in Nun konnten Wissenschaftler
Portion ihrer Materie wiegt sich zusammenstürzt. Ein rund um den Astrophysiker
so viel wie ein voller Öl- Teil der Trümmer ballt sich Luciano Rezzolla an der
Fußnote

36
tanker: Neutronensterne zäh- zum Neutronenstern zusam- Goethe-Universität Frankfurt
len zu den dichtesten Objek- men, der weitere Überreste erstmals eine Obergrenze
für die Masse von Neutronen-
sternen berechnen. Dabei
half ihnen, dass im August
2017 eine Kollision solcher Prozent der Frauen, denen
Himmelsobjekte beobachtet Ärzte einen zuvor einge-
worden war. Die bei dem kos- frorenen Embryo einsetz-
mischen Crash registrierten ten, wurden schwanger.
INSTITUT FÜR THEORETISCHE PHYSIK, CAMPUS RIEDBERG

Gravitationswellen und elek- Bei den sofort – ohne den


tromagnetischen Strahlen lie- Umweg über Eis – im-
ferten den Forschern die ent- plantierten Embryonen lag
scheidenden Informationen: die Schwangerschafts-
Mit einer Genauigkeit von rate bei 35 Prozent. Das
wenigen Prozent kalkulierten zeigt eine Studie der
sie, dass ein Neutronenstern Medizinischen Universität
nur wenig mehr als doppelt in Ho-Chi-Minh-Stadt mit
so schwer sein kann wie unse- 782 Patientinnen. Eine
re Sonne. Zieht er noch mehr spezielle Form des Einfrie-
Masse an, kollabiert er zu rens, Vitrifikation ge-
einem schwarzen Loch und nannt, verletzt die Zellge-
Gravitationswellen bei Neutronensternkollision (Simulation) verschwindet. kk bilde offenbar nicht.

100 DER SPIEGEL 4 / 2018 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Ins kalte Wasser
Dieser Eiderenten-Erpel ist auf der Suche nach Futter: In den Fjorden der Region
Trøndelag in Mittelnorwegen sammeln sich die Tiere, um nach Muscheln, Schnecken

PAL HERMANSEN / NATUREPL


oder kleinen Fischen zu tauchen. Diese werden im Ganzen geschluckt, der starke
Kaumagen zermalmt sie. Der Fotograf Pål Hermansen arbeitete mit einer Kamera, die
er an einer Stange ins eisige Wasser tauchte und mit Fernbedienung auslöste. Etwa
100 000 Bilder machte er – bis er endlich dieses schoss.

Kommentar

Unschuldige „Friederike“
Mieses Katastrophenmanagement macht Stürme erst gefährlich.
„Friederike“ kam nicht aus heiterem Himmel. Schon eine Wo- Arbeitgeber, was zu tun ist; sie hätten ihren Mitarbeitern frei-
che bevor der Sturm über die Mitte Deutschlands hinwegraste, gegeben oder ihnen angeboten, von zu Hause aus zu arbeiten.
tauchte er in den Supercomputern der Meteorologen auf. Und während der private Wetterdienst von Jörg Kachelmann
Und spätestens einen Tag vor ihrem Eintreffen stand nach den tagelang intensiv warnte, war „Friederike“ den öffentlich-
Prognosemodellen fest, wo genau „Friederike“ wie schlimm rechtlichen Sendern nicht einmal eine Sondersendung wert.
wüten würde. Besser geht Wettervorhersage nicht. Erst nach dem Sturm bequemte sich die ARD, einen „Brenn-
Umso deprimierender ist, wie planlos die betroffenen Bun- punkt“ auszustrahlen; die drastischen Bilder bedienten den
desländer auf das Naturereignis reagierten. In einem gut funk- Voyeurismus der Zuschauer, geholfen war niemandem mehr.
tionierenden Gemeinwesen wäre einen Tag vorher angeordnet Was an einem derartigen Umgang mit Katastrophen besonders
worden, dass Schulen und Kindergärten flächendeckend ge- beunruhigt: „Friederike“ war zwar ein kräftiger Wintersturm –
schlossen bleiben. Stattdessen überließ es Nordrhein-Westfalen aber nicht zu vergleichen mit dem Monsterorkan „Lothar“, der
den Schulen oder Eltern, ob sie den Schülern freigeben – mit Weihnachten 1999 in Süddeutschland wütete, damals mit Wind-
teilweise lebensgefährlichen Folgen: Ausgerechnet als der geschwindigkeiten von über 150 km/h im Flachland. Auf einer
Sturm am stärksten tobte, forderte ein Rektor in Duisburg die Skala von 1 bis 10 hatte „Friederike“ eine Stärke von 7, „Lo-
Eltern auf, jetzt doch bitte schön die Kinder abzuholen. In thar“ eine von über 9. Was würde heute ein neuer „Lothar“ im
einem gut funktionierenden Gemeinwesen wüssten auch die dicht besiedelten Nordrhein-Westfalen anrichten? Olaf Stampf

DER SPIEGEL 4 / 2018 101


Der lange Weg in die Demenz
Was vor dem Ausbruch der Alzheimer-Krankheit im Gehirn passiert
Schon rund zwei Jahrzehnte bevor die Demenz
beginnt, finden sich bei Alzheimer-Patienten erste Tau
Veränderungen im Gehirn. Deshalb ist es so schwer,
3
eine geeignete Therapie zu finden. Die ersten Sym-
ptome der Krankheit entstehen erst, wenn eine Das Tau-Protein, das die Transportwege
größere Menge an Nervenzellen ihre Funktion verliert der Nervenzelle stabilisiert, wird geschä-
oder abstirbt. digt. Es verklumpt und breitet sich über
das Gehirn aus. Zunächst wird dadurch
die Funktion der Nervenzellen beein-
trächtigt, später sterben die Zelle ab.
Wissenschaftler arbeiten an Wirkstoffen,
die die Tau-Schädigung verhindern oder
rückgängig machen.

Immun- Tau
reaktion Beta-A
mylo
id
Symptome Ausb
erste ruch

g
2
stun
Die Immunzellen des Gehirns, die ei
L

sogenannten Mikroglia, greifen


ve
iti

das Beta-Amyloid an, schaffen es


gn

jedoch nicht, es aus dem Gehirn


ko

zu entfernen. Die chronische


le

Immunreaktion schädigt die


ma

Nervenzellen und treibt die Ver-


nor

klumpung des Beta-Amyloids


immer weiter voran.
Neuartige Therapien ver-
suchen, die fehlgeleitete
Immunreaktion zu
beeinflussen.

Beta-
Amyloid

1
Mithilfe von Enzymen wird im Gehirn das kleine Eiweiß-
stück Beta-Amyloid aus einem Protein herausgeschnitten.
Dies ist ein natürlicher Vorgang, der noch nicht krank
macht. Bei Alzheimer-Kranken verklumpen die Beta-
Amyloid-Stücke jedoch zu großen Plaques und breiten
sich über weite Teile des Gehirns aus. Bei der Antikörper-
therapie soll das Beta-Amyloid durch Antikörper
entfernt werden. Enzym-Hemmstoffe sollen verhindern,
dass zu viele der kleinen Eiweißstücke entstehen.
Wissenschaft

Gegen das große Vergessen


Medizin Über Jahre häuften sich die Fehlschläge in der Alzheimer-Forschung,
Pharmafirmen gaben auf. Nun ist klar, wie es nicht geht – aber zugleich, wie es doch
gehen könnte. Die Wissenschaftler hoffen wieder: auf neue Wirkstoffe.

I
m Herbst, vor gut einem Jahr, zogen degenerative Erkrankungen (DZNE) in krankungen in Tübingen ist der deutsche
sich Statistiker und Pharmaforscher in Bonn. Und dann wagt er eine überra- Koordinator dieser Studie, in der bereits
einen abgeschotteten Raum in der Zen- schend klare Prognose: „In den nächsten mehr als 400 Mutationsträger und deren
trale des US-Pharmariesen Lilly in Indiana- fünf Jahren könnte es einen Durchbruch Familienangehörige erforscht werden. Die
polis zurück. Mithilfe eines geheimen Codes geben.“ Studie, sagt Jucker, sei für ihn eine „Her-
sollten die Experten die Patientendaten Seit den Neunzigerjahren dominierte in zensangelegenheit“, eine große Zahl der
einer brisanten Studie entschlüsseln: Ein der Alzheimer-Forschung vor allem eine deutschen Teilnehmer kenne er persönlich.
spezieller Antikörper war an Alzheimer- einzige Idee: dass die Amyloid-Ablagerun- „Dass die Amyloid-Ablagerungen so
Patienten getestet worden. Würde es einen gen in den Gehirnen der Kranken am An- früh beginnen“, sagt Jucker, „ist für mich
Durchbruch zu verkünden geben? Ein fang einer fatalen Kaskade stehen, die letzt- die wichtigste Erkenntnis der letzten zehn
Medikament gegen Alzheimer, endlich? endlich zum Absterben der Nervenzellen Jahre.“ Wahrscheinlich habe die Behand-
Es wäre eine Sensation gewesen. führt – und dass man deshalb das Amyloid lung bei all den gescheiterten Studien ein-
Der Antikörper heißt Solanezumab und zum Ziel der Therapie machen muss. fach viel zu spät begonnen. Für die breite
kann das Eiweißstückchen Beta-Amyloid, Masse der Alzheimer-Kranken, ist sich Ju-
das sich in den Gehirnen von Alzheimer- cker sicher, „genügt eine alleinige Fokus-
Kranken in großen Mengen anhäuft, wie- sierung auf das Amyloid nicht.“
der aus dem Gehirn entfernen. Die große Genau das geschieht jetzt: eine Auswei-
Frage war, ob es auch den geistigen Verfall tung des Blicks auf diese Krankheit. For-
der Versuchsteilnehmer gestoppt hatte. schung, die lange ein Nischendasein fris-
Die Enttäuschung kam schnell. Solane- tete, gewinnt an Bedeutung. So ist mittler-
zumab, so das Ergebnis der Datenentschlüs- weile ein viel komplexeres und dynami-
selung in Indianapolis, war gegen die De- scheres Bild der Demenz entstanden, als
menz machtlos. Forscher es noch vor wenigen Jahren für
Der Aktienkurs von Lilly stürzte ab, möglich hielten. Und eine Vielzahl neuer,
mittlerweile hat das Unternehmen die For- ganz unterschiedlicher Therapie-Ideen
schung an Solanezumab weitgehend ein- wächst heran, die vielleicht in 15 bis 20
gestellt. Bald danach erwies sich auch noch Jahren eine Kombinationsbehandlung
ein experimentelles Amyloid-Medikament möglich machen, so wie sie schon bei vie-
der US-Firma Merck als wirkungslos. Und len anderen Erkrankungen funktioniert.
Anfang Januar verkündete Pfizer, das welt-
weit größte Pharmaunternehmen, nach et- Angriff der Fresszellen
MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL

lichen Misserfolgen den kompletten Aus- Der Biochemie-Professor Christian Haass,


stieg aus der Alzheimer-Forschung. heute Standortsprecher des Deutschen
Zwar stehen etliche weitere Studien- Zentrums für Neurodegenerative Erkran-
ergebnisse mit ähnlichen Medikamenten kungen in München, gehört zu den ange-
noch aus. Es ist durchaus denkbar, dass es sehensten Amyloid-Forschern der Welt.
in den nächsten Jahren doch noch zumin- Als jungem Wissenschaftler an der Har-
dest einen kleinen Erfolg zu vermelden Neurologe Heneka vard University gelang ihm Anfang der
gibt. Dennoch fragen sich jetzt viele Wis- „Die Immunreaktion ist fehlgeleitet“ Neunzigerjahre ein Schlüsselexperiment,
senschaftler fassungslos: War die Alzhei- das die Vorstellung, wie Alzheimer sich
mer-Forschung ein Vierteljahrhundert lang Mittlerweile haben Mediziner über Jah- aus Amyloid-Ablagerungen entwickelt,
auf einem Irrweg? re hinweg mit der Positronen-Emissions- auf Jahrzehnte hinaus prägte. Er sei ein
Es könnte das Ende für große Teile der Tomografie die Gehirne von Menschen un- „Superbeliever“ der Amyloid-Hypothese,
etablierten Alzheimer-Forschung bedeu- tersucht, die eine Alzheimer-Mutation in sagt Haass über sich selbst.
ten. Aber die kritischen Fragen, die jetzt ihrem Erbgut tragen und deshalb in relativ Doch jetzt ist er dabei, sich ein neues
an vielen Universitäten und Instituten ge- jungen Jahren mit Sicherheit erkranken Forschungsgebiet zu erschließen: die Im-
stellt werden, verändern etwas: Sie bringen werden. Das Ergebnis: Die Amyloid-Ab- munprozesse, die bei der Alzheimer-
die Forscher auf frische, ungewöhnliche lagerungen beginnen bereits rund 20 Jahre Krankheit im Gehirn ablaufen.
Ideen. Etwas bewegt sich in der Art, wie bevor die ersten Symptome auftreten, viel- Schon Alois Alzheimer, der Entdecker
über die Krankheit nachgedacht wird, in leicht sogar noch früher – und die fatale des Leidens, fand 1906 im Gehirn seiner
den Ansätzen für neue Forschung; Quer- Kaskade, die sie in Gang setzen, ist ab einem verstorbenen Patientin Auguste Deter
denker kommen zu Wort. gewissen Punkt vermutlich einfach nicht deutliche Veränderungen der Immunzel-
„Wir haben uns mit der Alzheimer-For- mehr zu stoppen. len. Und in den vergangenen Jahren wur-
schung auf völlig neues Terrain bewegt“, Mathias Jucker vom Hertie-Institut für den mehrere Mutationen entdeckt, die das
sagt Pierluigi Nicotera, Vorstandsvorsit- klinische Hirnforschung und dem Deut- Risiko, im Alter Alzheimer zu bekommen,
zender des Deutschen Zentrums für Neuro- schen Zentrum für Neurodegenerative Er- erhöhen und alle die Funktion des Immun-
DER SPIEGEL 4 / 2018 103
Wissenschaft

systems betreffen. Und: „Gene lügen nicht“, Nach den ersten Misserfolgen der Amy-
sagt Haass. loid-Studien erkannten auch die Pharma-
Er interessiert sich für einen bestimm- konzerne die Bedeutung des Tau. Inzwi-
ten Typus von Immunzellen, die Mikro- schen gibt es bereits mehrere Tau-Medi-
glia; es sind die Fresszellen des Gehirns. kamente, die an Patienten erprobt werden,
Mithilfe eines speziellen Mikroskops lässt bislang allerdings noch ohne größere Er-
sich in den Gehirnen lebender Alzheimer- folge.
Mäuse beobachten, wie sich diese Zellen Die Mandelkows forschen mittlerweile
auf die Amyloid-Ablagerungen stürzen, ebenfalls am Bonner DZNE. Um fit zu
um diese Fremdkörper aus dem Gehirn bleiben, machen sie jeden Morgen gemein-
zu entfernen. sam Frühsport und gehen dann zu Fuß von
Allerdings schlägt dieser Angriff oft fehl. ihrer Wohnung zu dem nahen Labor in
In alten Mäusen und auch Menschen wirk- der Bonner Rheinaue.
ten die Mikroglia-Zellen nicht selten wie Ein entscheidender Durchbruch, berich-
ausgelaugt und gebärdeten sich wenig an- tet Eva-Maria Mandelkow, sei ihnen be-
griffslustig, sagt Haass. „Aber wir glauben, reits vor rund zehn Jahren gelungen. Da-
dass man sie reaktivieren kann.“ Aller- mals schalteten sie bei Alzheimer-Mäusen
dings weiß er auch: Wenn das überhaupt die Produktion des toxischen Tau-Proteins

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL


gelingen kann, dann wahrscheinlich nur mithilfe eines genetischen Tricks ab – und
in einem Vorstadium der Krankheit. Sonst die dementen Tiere waren plötzlich wieder
schadet die Entzündung, die durch die At- lernfähig.
tacke der Fresszellen entsteht, mehr, als Da dies bei Menschen jedoch nicht funk-
sie nützt. tioniert, suchten die Mandelkows nach
einer Substanz, die sich als Tau-Medi-
Schwelbrand im Gehirn Forscher-Ehepaar Mandelkow kament eignet – und wurden fündig. Das
Michael Heneka, Direktor an der Klinik „Die Tiere konnten wieder lernen!“ Mittel war sogar schon ausführlich an
für Neurodegenerative Erkrankungen und Menschen erprobt worden, als Herzmedi-
Gerontopsychiatrie der Universität Bonn, Dass die chronische Fehlreaktion des kament.
ist ein Alzheimer-Immunforscher der ers- Immunsystems für die Entwicklung von Vor dem entscheidenden Versuch an
ten Stunde. Die Rolle des Außenseiters Alzheimer entscheidend ist, wurde auch schwer dementen Labormäusen wollte
kennt er gut. Als er vor rund 20 Jahren Heneka erst 2010 so richtig klar. Damals Eva-Maria Mandelkow mit ihren Mitarbei-
auf einem Kongress seine ersten For- hatten er und sein Team bei Mäusen mit tern wetten. „Um 2000 Euro, dass das nicht
schungsergebnisse präsentieren wollte, Alzheimer-Mutationen durch eine Gen- funktionieren kann“, sagt sie. Sie lacht.
kam kaum jemand, um sich sein Poster an- manipulation die chronische Entzündungs- „Aber niemand wollte dagegenhalten.“
zusehen. Weil sich kein anderer Platz fand, reaktion weitgehend ausgeschaltet. Und Die Wette hätte Mandelkow verloren.
lag sein Büro lange Jahre in einem Schwes- obwohl die Tiere sehr alt waren und eigent- „Vier Wochen nachdem die Mäuse das Mit-
ternwohnheim. Und sein Labor, das in ei- lich an Alzheimer hätten leiden müssen, tel bekommen hatten“, erzählt sie, „konn-
nem provisorischen Gebäude mit Gipskar- zeigten sie sich so lernfähig wie gesunde; ten die Tiere wieder lernen! Heilung von
tonwänden untergebracht war, fiel einem es war kaum zu glauben. „Noch eine Wo- Demenz kann also funktionieren.“ Tat-
Wasserrohrbruch zum Opfer. che vorher“, sagt er, „hatte ich bestritten, sächlich wäre der große Vorteil eines Tau-
Mittlerweile sitzt er mit seinem Team dass so etwas überhaupt möglich ist.“ Medikaments, dass es vielleicht noch in ei-
im eleganten Neubau des DZNE auf dem Inzwischen hofft Heneka, auf der Basis nem relativ späten Krankheitsstadium wir-
Bonner Venusberg – und hat einige der dieser Erkenntnisse ein Alzheimer-Medi- ken würde.
spannendsten Forschungsergebnisse vor- kament entwickeln zu können. Er habe Doch Eckhard Mandelkow warnt – von
zuweisen, die es derzeit zu Alzheimer bereits Substanzen identifiziert, die zur kritischen Einwänden seiner Frau unter-
gibt. Therapie infrage kämen. „Ich denke“, sagt brochen („Tut mir leid, Eckhard, Tau ist
„Die Mikroglia-Zellen reagieren sehr er, „dass wir in fünf bis zehn Jahren die ein ganz wichtiger Faktor!“) – davor, nur
stark auf das Amyloid, weil es der Ober- erste Studie dazu an Alzheimer-Kranken aufs Tau zu gucken. „Die Alzheimer-
fläche von Bakterien ähnelt“, erklärt er. sehen werden.“ Forschung hat so lange den Fehler ge-
Doch anders als Bakterien könne das Ei- macht, dass man sich zu sehr auf bestimm-
weißstückchen von den Immunzellen nicht Flut des Giftproteins te Theorien verlassen hat“, sagt er. „Am
vollständig eliminiert werden. Einem Die Alzheimer-Forscher Eva-Maria und Ende ist für die Gedächtnisleistung ent-
Schwelbrand gleich laufe die Immunreak- Eckhard Mandelkow sind schon seit scheidend, wie gut die Schaltstellen der
tion im Alzheimer-Gehirn deshalb immer Studentenzeiten verheiratet. Gemeinsam Nervenzellen funktionieren.“ Darauf hät-
weiter und weiter – mit fatalen Folgen. haben sie über viele Jahre der Dominanz ten bei der Alzheimer-Erkrankung aber
„Ab einem gewissen Punkt überwiegen der Amyloid-Forscher getrotzt. Sie kon- sehr viele Faktoren Einfluss, nicht nur die
die negativen Wirkungen dieser Immun- zentrierten sich auf die Erforschung des im Mikroskop sichtbaren Proteinablage-
reaktion“, sagt Heneka. „Sie ist fehlgelei- sogenannten Tau-Proteins in Nervenzellen, rungen Amyloid und Tau, sondern auch
tet.“ Entzündliche Botenstoffe schädigten dessen krankhafte Veränderung sich bei Einflüsse wie die Durchblutung, Entzün-
schon früh die empfindlichen Schaltstellen etlichen neurodegenerativen Erkrankun- dungsprozesse oder der Energiestoffwech-
der Nervenzellen, und Entzündungspro- gen findet, bei Alzheimer ebenso wie bei sel im Gehirn.
teine trieben die Verklumpung und Aus- Parkinson oder Huntington. „Natürlich wäre es schön, man fände bei
breitung des Amyloids immer schneller Das veränderte Tau-Protein breitet sich der Alzheimer-Erkrankung ein Molekül,
voran. Wie das funktioniert, hat Heneka in vielen Regionen des Gehirns aus und das für alles verantwortlich wäre“, sagt
Ende vergangenen Jahres in der renom- ist entscheidend daran beteiligt, dass er. „Aber das“, stimmt ihm seine Frau nun
mierten Fachzeitschrift „Nature“ veröffent- Nervenzellen aufhören zu arbeiten und zu, „gibt es sicher nicht.“
licht. schließlich absterben. Veronika Hackenbroch

104 DER SPIEGEL 4 / 2018


Technik

Boom Supersonic Concorde Drei modifizierte Standardtriebwerke


sorgen für den nötigen Schub. Die
Spitz zulaufende Länge: London eintretende Luft wird durch einen
Deltaflügel verringern 52 Meter 62 Meter New York speziellen Lufteinlass auf Unterschall-
den Luftwiderstand geschwindigkeit verlangsamt.
im Überschallflug. Überschallflug
3 Stunden, 15 Minuten
Spitzere
Normalflug
Die kürzere Deltaflügel
7 Stunden
Flügelspanne
entlastet die

BO O M
Struktur.

18 m 26 m

Reisegeschwindigkeit: 2335 km/h 2160 km/h Boom bietet Platz für bis zu 55 Business-Class-Passagiere. Die Concorde hatte
Reichweite: 8334 km 6667 km 100 Sitze. Ein Flug von London nach New York und zurück soll circa 5000 Dollar
kosten – ungefähr halb so viel wie ihrerzeit mit der Concorde.

Raser Scholl selbst ist Hobbypilot und früherer


Amazon-Manager. Um sich hat er Exper-
ten geschart, die zuvor bei Boeing, Airbus,
Rumpf spitz und schmal sein, wodurch er
für Passagiere eng und eher unbequem
wird. Und: Die Triebwerke müssen im

im Himmel Lockheed, der Nasa, SpaceX oder Gulf-


stream tätig waren. Scholl hat bisher mehr
als 50 Millionen Dollar Risikokapital ein-
geworben – und erste Kunden stehen auf
Kampf gegen den Luftwiderstand ganz er-
heblich mehr Schub liefern, was ihren
Spritbedarf vervielfacht und zwangsläufig
zu hohen Ticketpreisen führt. Nicht zuletzt
Luftfahrt 15 Jahre nach dem Ende der Warteliste: Der risikofreudige britische diese Tatsache hatte die Concorde zum
der Concorde ist ein neuer Unternehmer Richard Branson (Virgin technisch brillanten Ladenhüter verdammt.
Galactic) hat Optionen auf 10 Booms, Boom-Vater Scholl glaubt, dass er das
Überschallflieger im Bau. Lassen Japan Airlines gar auf 20. Bislang bekun- Problem des Luftwiderstands wenigstens
sich die Makel vermeiden, an deten fünf Fluggesellschaften Kaufinteres- ansatzweise lösen kann. Anders als ehe-
denen sein Vorgänger scheiterte? se für mehr als 70 Maschinen. dem die Concorde-Konstrukteure könnten
Im Augenblick baut das Team einen seine Leute die Form der Maschine elegant
Baby-Boom namens „XB-1“. Er hat nur im Rechner optimieren statt in endlosen

A
lles bewegt sich immer schneller in ein Drittel der geplanten Größe und soll Windkanaltests. Ein aerodynamisch aus-
dieser hektischen Welt – mit einer als Testplattform dienen. Der Erstflug von gereiftes Flugzeug, gepaart mit modernen
Ausnahme: Düsenflieger. „XB-1“ ist für dieses Jahr angesetzt, ein Triebwerken und leichten Verbundwerk-
Als die Boeing 707 vor 60 Jahren in Chef-Testpilot wird dringend gesucht. In stoffen statt Aluminium, werde günstige
Dienst trat, donnerte sie mit fast 1000 Stun- den kommenden Monaten will Scholl einen Verbrauchswerte erreichen.
denkilometern durch die Lüfte. Ihre Ur- Standort für die Serienfertigung bestim- Selbst wenn Scholl recht behalten sollte:
enkelin, die hochmoderne Boeing 787, men. 2023 soll Boom in den Liniendienst Sein Boom wird trotzdem immer viel
bringt es im Reiseflug nur noch auf einsteigen – und die Welt verkleinern wie mehr Kerosin verbrennen als aktuelle Ma-
900 Stundenkilometer. Das Fliegen im Jet- noch kein kommerzielles Flugzeug zuvor. schinen von Airbus und Boeing, die eben
Zeitalter ist sicherer geworden, massen- Auch andere tüfteln an der Idee von nicht für höhere Geschwindigkeit, sondern
tauglicher, billiger, leiser, sauberer. Und mehr Tempo über den Wolken. Die Nasa für beste Wirtschaftlichkeit ausgelegt sind.
eben verblüffend langsam. entwickelt zusammen mit Lockheed Mar- Kerosinkosten sind für Airlines ein alles
Ist er also ausgeträumt, der ewige Mensch- tin einen Überschallflieger, der keinen entscheidender Faktor. Steigen die Ölprei-
heitstraum von der immer höheren Reise- Überschallknall mehr erzeugt und folglich se, lässt sich der durstige Überschallflieger
geschwindigkeit? Nicht ganz. auch über bewohnten Gebieten eingesetzt womöglich nicht mehr gewinnbringend be-
Am Centennial Airport von Denver, Co- werden könnte. Lockheed Martin, bewähr- treiben. Boom dürfte daher allenfalls eine
lorado, residiert das Start-up Boom Tech- ter Hersteller von Kampfflugzeugen, ko- Zukunft als Nischenprodukt für die eiligs-
nology. Hier, im unscheinbaren Hangar 14, operiert zudem mit der Firma Aerion aus ten Reisenden haben.
arbeiten Dutzende hoffnungsfroher Inge- Nevada bei dem Bau eines bis zu zwölfsit- Zweifelhaft ist zudem, ob wirklich viele
nieure an der Revolution jenseits der zigen Überschall-Geschäftsreisejets; 2025 Passagiere mehr Geld ausgeben würden,
Schallmauer. Seit 2014 entwickelt Boom soll dieser fertig sein. um früher anzukommen. Viele Insassen
Technology eine Maschine für bis zu Werden Boeing und Airbus jetzt abge- der Businessclass fühlen sich – im Gegen-
55 Passagiere, die mit 2335 Stundenkilo- hängt? Müssen Airlines wie Lufthansa zu- satz zu denen hinten in der Holzklasse –
metern durch die Stratosphäre jagen und sehen, wie ihre Premiumkunden der First pudelwohl an Bord. Flache Betten, breite
nur gut drei Stunden brauchen soll für die und Businessclass massenhaft zu Branson Sitze, gutes Essen und schnelle Internet-
Strecke von New York nach London, fünf- und Co. desertieren? Beides erscheint eher zugänge verwandeln schon jetzt lange
einhalb von San Francisco nach Tokio. unwahrscheinlich. Flüge gefühlt in kurze. Marco Evers
15 Jahre nach dem Ende der Concorde Niemand kann den Gesetzen der Flug-
will Firmengründer Blake Scholl mit Boom physik entkommen. Nähert sich ein Flug- Video:
die Überschallfliegerei neu erfinden: billi- zeug der Schallgeschwindigkeit von gut Boom in der Luft
ger für die Passagiere, profitabler für die 1000 Stundenkilometern, steigt sein Luft- spiegel.de/sp042018flugzeug
Airlines, schonender für die Umwelt. widerstand dramatisch an. Also muss sein oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 4 / 2018 105


NORA KLEIN / DER SPIEGEL
Ratte in Röntgenanlage: Sie tritt in die Stolperfalle, läuft aber weiter, als wäre nichts gewesen

Huschen, watscheln, galoppieren


Biomechanik Wie genau bewegen sich Hunde und Krokodile, Vögel und Schlangen? Ein Jenaer
Forscher beobachtet Tierskelette in voller Bewegung – Roboter sollen davon lernen.

D
ie Kamera läuft, Strahler senden reflektierenden Kugeln bekleben – wie Doch wie bewegen sich Tiere wirklich?
ihr gleißendes Licht auf die Bühne, man es auch für Animationsfilme macht, Er träumte von einer Art Mehrfachbe-
alles ist bereit im ehemaligen Ope- um die Bewegungsmuster zu erfassen. lichtung aus Innen- und Außenansicht, aus
rationssaal. Nur die Diva nicht. Sie ziert Fischers Bilder dagegen gehen unter die Licht- und Röntgenbild, aus mehreren Per-
sich, muss beruhigt werden von einem As- Haut, bis aufs nackte Knochengerüst. spektiven. Diese Vision wurde wahr, als
sistenten. Sie ist die Hauptfigur an diesem „Falten, Fett und Fell verdecken oft die er vor elf Jahren seine einzigartige Rönt-
Wintermorgen in Jena: die Albinoratte eigentliche Körpermechanik“, sagt Fischer. genvideografie-Anlage installieren ließ.
Nummer zwei. Sein Interesse gilt den inneren Werten: Ge- „Okay, röntgen!“, ruft Rommy Peter-
„Wenn die Ratte nicht will, geht gar lenken, Muskeln, Sehnen, Nerven. sohn, die an einer Konsole im strahlenge-
nichts“, sagt Martin Fischer. „Wir sind ja Eigentlich wollte der gebürtige Schwabe schützten Nebenraum die Geräte fernbe-
Zoologen und keine Dompteure.“ Paläontologe werden und Urzeitknochen dient. Die Strahlendosis, die die Tiere ab-
Fischer lässt Tiere auf dem Laufband studieren. Während des Studiums in Tü- bekommen, fügt ihnen keinen messbaren
zwischen zwei Röntgengeräten hindurch- bingen arbeitete er auch am renommierten Schaden zu.
laufen, einer Sonderanfertigung der Firma Muséum national d’Histoire naturelle Nummer zwei schnuppert, trippelt über
Siemens. Die Anlage rauscht wie ein Wind- in Paris, für ihn eine „Kathedrale der das Laufband in Richtung einer verlockend
tunnel, denn die Kühlung ist aufwendig. vergleichenden Anatomie“. Dort lernte dunklen Kiste, die Sicherheit verspricht.
Schon nach wenigen Minuten muss eine Fischer das detaillierte Zeichnen von Auf dem Kontrollbildschirm huscht ein
Pause eingelegt werden, damit die Geräte Knochen und Muskeln. Sein „Leib-und- bleiches Gerippe vorüber, scheinbar schwe-
nicht überhitzen. Magen-Tier“ wurde der Klippschliefer, ein relos wie ein Geist. „Was wir hier sehen,
Wenn Pinscher oder Wachteln über pummeliger Felsbewohner, der aussieht hat noch niemand gesehen“, schwärmt
seinen Laufsteg watscheln, filmt Fischer wie ein kleinohriger Hase. Um dessen Be- Fischer. Rund ein Gigabyte Daten fällt für
sie mit Hochleistungskameras mit bis zu wegungen zu verstehen, nahm Fischer oft ein paar Filmsekunden an.
2000 Bildern pro Sekunde. Viele Forscher Knochen zwischen die Finger und probier- Mehr als 53 000 Videoaufnahmen haben
versuchen Ähnliches, indem sie Tiere mit te herum, drehte, schob, wendete sie. Fischer und sein Team gemacht, von Frö-
106 DER SPIEGEL 4 / 2018
Wissenschaft

schen und Vögeln, Salamandern wesen. Ähnlich machen es Hun-


und Bibern, Affen und Schlangen. de und Vögel.
Selbst ein Krokodil schob sich Die Reaktionsgeschwindigkeit
schon über den Laufsteg, unter der Beinmuskeln beträgt manch-
besonderen Sicherheitsvorkeh- mal nur fünf Millisekunden. „Das
rungen und gelockt von Hühner- ist schneller, als ein Nervenimpuls
schlegeln. das Gehirn erreicht“, sagt Fischer.
Auch ein Faultier köderten die Seine Erklärung: Viele Bewegun-
Forscher mit einem Topf voll Le- gen laufen vor Ort ab, ohne das
ckereien. Wie in Zeitlupe hangelte Hirn zu behelligen.
sich das Geschöpf kopfüber vor- Fischers Röntgenvideos lehren
wärts – und Fischer wurde beim ihn das Denken in Bildern, mit
Betrachten der Bilder klar: „Die überraschenden Analogien: Je
hängende Fortbewegung eines mehr „Intelligenz“ in den Mus-
Faultiers sieht ähnlich aus wie der keln selbst stecke, desto schneller
Gang einer Katze – nur eben spie- die Reaktion, desto besser die
gelverkehrt.“ Chancen, Kampf oder Flucht zu
Und wie läuft ein Hund? „Wir überleben, sagt Fischer. So ähn-
stellten fest: Wir wissen es nicht“, lich sei es auch anno 1806 abge-
sagt Fischer. Also lud er Hunde- laufen, als Napoleons Truppen
züchtervereine zur Zusammen- die Preußen beim Örtchen Auer-
arbeit ein, mittlerweile hat sein stedt schlugen, unweit von Jena –
Team mehr als 400 Tiere aus obwohl der Gegner weit überle-
32 Rassen untersucht. gen war. Was diese Schlacht mit
Ergebnis: „Alle Hunde laufen dem Lauf der Tiere zu tun hat,
weitgehend gleich“, sagt Fischer, liegt für Fischer klar auf der
„egal ob Dogge oder Dackel“ – Hand: Die Preußen warteten auf

NORA KLEIN / DER SPIEGEL


trotz eines mitunter vierzigfachen Befehle, französische Einheiten
Gewichtsunterschieds. Letztlich dagegen manövrierten schneller
sei, was die Motorik betrifft, eben und unabhängiger, sagt Fischer –
auch der Zwergpinscher ein Wolf. fast wie flinke Rattenfüße.
Und dessen Lebensstil stecke den Bei einigen Tieren geschehe
Vierbeinern immer noch buch- Wissenschaftler Fischer die Stabilisierung der Beine sogar
stäblich in den Knochen: Wölfe „Wir sind Zoologen und keine Dompteure“ ohne viel Hilfe von Nerven oder
überwinden mühelos riesige Dis- Muskeln, einfach durch „intelli-
tanzen. Gerade erst beobachteten Forscher mit solchen Knochen die Verwandtschaft gente Mechanik“, sagt Fischer. Hunde etwa
mithilfe von GPS, wie die wild lebende von Mensch und Tier illustrierte. Goethes scheinen im vollen Galopp widerstandslos
Jungwölfin Naya von Mecklenburg bis fast Augenmerk lag dabei auf der Herkunft – über holprige Böden zu fließen, auch dank
nach Brüssel wanderte, 700 Kilometer. „Es Fischers liegt auf der Zukunft. eines beweglichen Schulterblatts als Dreh-
gibt zwei Langstreckenläufer, den Wolf „Wir wollen vom Lauf der Ratte lernen“, punkt für elegant rollende Bewegungen.
und den Menschen“, sagt Fischer. „Kein sagt Roger Quinn, Roboterforscher an der „Unsere Videos überraschen sogar Tierärz-
Wunder, dass wir uns zusammengetan amerikanischen Case Western Reserve te“, sagt Fischer.
haben.“ University. Der Professor ist zu Besuch in Noch erstaunlicher: „Die individuellen
Je länger der Forscher den Tanz der Jena, denn einer seiner ehemaligen Stu- Unterschiede zwischen einzelnen Hunden
Knochen verfolgt, desto packender findet denten ist an der Entwicklung des vierbei- sind größer als die Unterschiede zwischen
er ihn. Bewegen sich Hunde wirklich nur nigen „Big Dog“ beteiligt, einer Art me- den Rassen“, sagt Fischer. „Hunde in Be-
in Schritt, Trab und Galopp? Wohl nicht, chanischer Muli für Militärtransporte. wegung“ heißt ein opulenter Bildband, der
statt eindeutiger „Gänge“ wie ein Auto Staunend steht Quinn jetzt neben der aus dieser Forschung hervorgegangen ist,
zeigen sie fließende Übergänge. Und wa- Röntgenkamera. „Rund 60 Muskeln spie- eine sinnliche, streng wissenschaftliche
rum haben Pitbullbeine eher einen runden len pro Körperseite bei Ratten zusammen“, Liebeserklärung an den vierbeinigen Mit-
Knochenquerschnitt und Windhundbeine schwärmt er. Aus den Videos wollen er läufer des Menschen.
einen ovalen? Das liege an ihrem Verhal- und sein Team ein „neuromechanisches Mittlerweile geht Martin Fischer auch
ten: Ovale Knochen sind für schnelles Lau- Modell“ entwickeln, um Robotern flüssi- anders mit Irma um, seiner Airedale-
fen optimiert, runde für Richtungswechsel gere Bewegungen beizubringen. Hündin. Er gönne ihr, erzählt er, regelmä-
im Kampf. Neben seiner Grundlagenforschung hat ßig leinenlosen und ausgiebigen Auslauf
Fischer ist als Professor für Spezielle sich Fischer zu einem Meister der Dritt- auf den Hügeln über Jena. „Bis sie nur
Zoologie auch für das altehrwürdige Phy- mittelbeschaffung entwickelt. Er berät In- noch ein Pünktchen am Horizont ist.“
letische Museum zuständig, unweit des genieure bei Firmen wie Audi oder Festo Genug für heute, die Scheinwerfer
Gartenhauses von Friedrich Schiller. Die und finanziert auch mal ein Projekt mit- verlöschen. Fischer streichelt die Ratten-
Decken des Museums sind mit bunten hilfe eines Herstellers homöopathischer dame, bevor er sie in ihren Käfig setzt.
Quallen verziert, durch deren Inszenie- Mittelchen. „Zum Glück hat sie heute mitgespielt“,
rung der Gründer Ernst Haeckel zur Kai- Nummer zwei hat sich warm gelaufen, sagt er. Hilmar Schmundt
serzeit den Jugendstil beeinflusste. Fischer erschwert nun den Parcours und
Auch der „Zwischenkieferknochen“ baut in die Laufstrecke eine zentimeter- Video: Eine laufende Ratte
eines Rindes ist hier zu bewundern, eine tiefe Falltür ein. Das Erstaunliche: Das im Röntgenfilm
Verbeugung vor Johann Wolfgang von Rattenweibchen tritt in die Stolperfalle, spiegel.de/sp042018bewegung
Goethe, der in Jena intensiv forschte und huscht aber weiter, als wäre nichts ge- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 4 / 2018 107


Wissenschaft

Sie spielten und umarmten sich


Ethik Der Bostoner Kinderchirurg Allan Goldstein berichtet von der schwierigsten Operation seines
Lebens: Er trennte siamesische Zwillinge. Eines der kleinen Mädchen starb.

Goldstein, 50, ist Chefarzt an der Kinderklinik


des Massachusetts General Hospital in Boston.
Nach der Trennung der Zwillinge fragte ihn sei-
ne 14-jährige Tochter: „Hast du nicht den hippo-
kratischen Eid verletzt?“ Der Vater musste ge-
stehen, dass er die Antwort nicht wusste.

E
s war das erste Mal, dass ich im OP
geweint habe. Ich war dem Tod be-
gegnet, in einer Weise, wie es uns in
der Kinderchirurgie sehr selten passiert.
Ich musste bei dieser Operation vor gut
einem Jahr eine schreckliche Entscheidung
fällen, vielleicht die schwierigste in meiner
Karriere als Arzt. Dieser Fall war medizi-
nisch faszinierend, fordernd, aber auch
sehr, sehr schmerzhaft für mich.
Alles begann mit einer E-Mail aus Afri-
ka. Der Vertreter einer Stiftung fragte bei
mir an. Er suche nach Ärzten, die einem
siamesischen Zwillingspaar helfen könn-
ten. Er schickte auch Fotos. Sie zeigten
zwei anderthalb Jahre alte Mädchen, die
unterhalb der Rippen zusammengewach-
sen waren. Sie hatten zwei Köpfe, vier
Arme, einen Bauch und drei Beine.

THE NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE


Sie wurden in einem Dorf in Ostafrika
geboren. Das Land möchte ich lieber nicht
nennen, denn das könnte die Familie ge-
fährden. Abnorme Babys wie diese Zwil-
linge gelten dort als Monstrosität, als ein
Zeichen des Teufels. Die Eltern wurden
ausgegrenzt, mit Steinen beworfen, und
jetzt, nach der Operation, haben sie Angst
um ihr Leben – ich fürchte, zu Recht.
Wir guckten uns die Bilder genau an,
fragten uns, ob wir diese beiden Kinder
wohl würden trennen können. Mir schien
die Sache nicht aussichtslos. Dass 20 ande-
re Kliniken in den USA den Fall abgelehnt
hatten, habe ich erst nachher erfahren.
Und das ist wohl auch gut so.
Natürlich kenne ich siamesische Zwillin-
ge aus der Literatur. Aber ich hatte nie zu-
vor selbst eine solche Operation durchge-
führt. Für einen Chirurgen bedeutet sie
eine enorme Herausforderung. Denn jeder
STEPHANIE MITCHELL / HARVARD UNIVERSITY

Fall ist einzigartig. Jeder Eingriff muss an-


ders geplant und vorbereitet werden.
Uns lagen, außer den Fotos, nur ein dürf-
tiges Computertomogramm und ein schrift-
licher Bericht vor. Als wichtig sollte sich
später erweisen, dass niemand die beiden
Herzen untersucht hatte. Vielleicht hätten
wir den Fall nicht angenommen, wenn wir
gewusst hätten, wie schwach das eine von
ihnen war. So aber sagten wir zu. Computertomogramme, 3-D-Modell des Zwillingsskeletts, Chirurg Goldstein (l.)*
Die Familie wurde also nach Boston ein- „Ich war es, der die entscheidende Arterie abband“
geflogen. Gleich vom Flughafen schickten
108 DER SPIEGEL 4 / 2018
sie mir eine SMS. Sie waren so aufgeregt, dete. Das 3-D-Modell, das wir vom Skelett chem Kind gehörten. Wir injizierten Fluo-
in Amerika zu sein. Zwei, drei Tage später und den Blutgefäßen der Zwillinge ange- reszenzfarbstoff in die Gefäße des kräfti-
kamen sie in mein Büro. Die Eltern waren fertigt haben, zeigt ganz deutlich die Ar- geren Mädchens. Dann schalteten wir das
verzweifelt. Sie liebten ihre Kinder, aber terie, die quer durch den unteren Brust- Licht aus und fuhren mit einem Textmar-
die Situation war unerträglich. Sie wussten korbraum vom einen Körper in den ande- ker die leuchtenden Areale ab.
nicht, wie sie diese Zwillinge versorgen ren verläuft und ihn mit sauerstoffreichem Schließlich waren mehr als 13 Stunden
sollten. Wie sie füttern oder kleiden? Es Blut versorgt. Wir wussten: Wenn wir sie vergangen, die Kinder hingen nur noch am
gab keinen passenden Kinderwagen. Und voneinander trennen, werden wir diese Rücken zusammen. Und noch immer war
ein Wesen mit vier Armen und drei Beinen Lebensader zerschneiden müssen. ihr Zustand erstaunlich gut. Wir schöpften
zu tragen ist schwierig. Wir suchten Rat beim pädiatrischen Hoffnung: Vielleicht würden sie doch bei-
Für uns begannen die Untersuchungen. Ethikkomitee unseres Krankenhauses. In de überleben!
Die Mädchen waren Seite an Seite an- den vielen Gesprächen ist mir klar gewor- Allerdings hatten wir uns die Durchtren-
einandergewachsen. Sie konnten nicht lau- den, wie sehr es nun auf die Perspektive nung der entscheidenden Arterie bis zum
fen, aber die eine von ihnen hatte zu spre- ankam: Es war wichtig zu begreifen, dass Schluss aufgespart, um nicht unnötig einen
chen begonnen. Sie war auch etwas größer es nicht unsere Absicht war, das Leben des frühen Tod der schwächeren Schwester zu
und überhaupt die Lebendigere der beiden. einen Mädchens zu beenden, sondern, das riskieren. Nun mussten wir den Schnitt wa-
Auch sonst unterschieden sich ihre Per- des anderen zu retten. Der Unterschied ist gen. Erst drückten wir das Gefäß testweise
sönlichkeiten, obwohl sie, wie alle siame- subtil, denn das Ergebnis ist beide Male ab. Der Blutdruck im Körper des kleineren
sischen Zwillinge, eineiig waren: Die eine dasselbe: Wir würden zwei lebende Kinder Mädchens sackte sofort ab. Der Effekt war
war aktiv und kontaktfreudig, die andere in den Operationssaal schieben und nur drastisch.
eher in sich gekehrt. Sie schienen aber gut mit einem wieder herauskommen. Trotzdem blieb keine Wahl. Ich weiß
miteinander zurechtzukommen: Sie spiel- Nicht alle sind dieser Argumentation ge- nicht mehr, wer den Schnitt machte, aber
ten zusammen, und sie umarmten sich. folgt. Drei Ärzte – zwei Chirurgen und ein ich war es, der die Arterie abband. Danach
Wir mussten nun möglichst genau he- Anästhesist – erklärten, dass sie bei so et- ging es schnell: Der Anästhesist bemühte
rausfinden, wie sie zusammengewachsen was nicht mitmachen könnten. Die Vor- sich noch, ihren Kreislauf zu stabilisieren.
waren. Es war klar, dass sie zwei Herzen, stellung, dass unser Eingriff zum Tod des Aber sehr bald musste er aufgeben.
zwei Lungen und auch zwei Mägen hatten. schwächeren Mädchens führen würde, Es dauerte noch weitere 15 oder 20 Mi-
Doch wo war ihr Darm zusammengewach- schien ihnen unerträglich. Wir haben diese nuten, bis die plastischen Chirurgen auch
sen? Wie war das gemeinsame Becken Entscheidung respektiert. die Rückenmuskeln durchtrennt hatten.
organisiert? Welche Teile wurden von wel- Dann schoben wir den toten Körper in ei-
chem Herzen durchblutet? nen Nachbar-OP. Dort nähten wir ihn zu
Bei der Trennung gilt es, den Blutbah- Hätte die schwächere und wickelten ihn ein. Die Eltern sollten
nen zu folgen. Wir würden folglich das nur das Gesicht sehen.
dritte, allerdings missgebildete Bein der
der Schwestern gewollt, Ein Team kam, um die Kleine hoch zu
Kräftigeren der beiden mitgeben müssen. dass sie gemeinsam ihren Eltern zu bringen. Ich selbst habe
Denn es wurde von ihrem Körper mit Blut in den Tod gehen? Zuflucht in einem dritten OP gesucht. Dort
versorgt. habe ich geweint.
Im Ultraschall und im Cardio-CT zeigte Dem überlebenden Mädchen geht es
sich, dass die Kleinere an einem ange- Auch mit den Eltern haben wir lange gut. Sie ist glücklich. Nur ein Bein bereitet
borenen Herzfehler litt. Der Sauerstoff- diskutiert. Wir wollten sicher sein, dass sie Probleme: Es handelt sich um eine soge-
gehalt ihres Blutes war niedrig. Auch war die Trennung wollten, selbst wenn sie den nannte Duplikatur. Der Fuß endet in ei-
ihre Gesichtsfarbe nicht gesund. Natürlich Tod einer ihrer Töchter bedeuten sollte. nem großen Zeh, an den sich rechts und
waren sie beide schwarz, aber bei der ei- Und wir haben uns gefragt, wie sie wohl links je drei kleine Zehen reihen. Es hat
nen war der Teint kräftig-rosig, bei ihrer selbst entschieden hätte: Würde sie wollen, zwei Schienbeine, dafür aber kein Knie-
Schwester aschgrau. dass ihre Schwester weiterlebt, wenn sie gelenk. Das Mädchen wird es nie benutzen
Dann wurde sie auch noch krank, eine selbst sterben muss? Oder hätte sie gewollt, können.
Infektion der Atemwege. Eigentlich nichts dass sie gemeinsam in den Tod gehen? Ich Wir haben deshalb für eine Amputation
wirklich Schlimmes, aber ihr Körper hatte werde die Antwort nie wissen, aber es trös- plädiert. Wir sagten den Eltern, dass Kinder
dem Erreger wenig entgegenzusetzen, die tet mich zu glauben, dass ich auch in ihrem zu einem so frühen Zeitpunkt noch lernen,
Zwillinge mussten auf die Intensivstation. Sinne gehandelt habe. eine Prothese zu beherrschen wie ein eige-
Der Sauerstoffgehalt im Blut der Schwä- Für die Operation stellten wir ein Team nes Bein. Aber für die Eltern war das keine
cheren sank bedrohlich, sie lief bläulich von rund 50 Chirurgen, Anästhesisten, Frage: „Alles, nur das nicht“, antworteten
an. In diesem Moment wurde uns klar, Pflegern und Technikern zusammen. Als sie. Es wurde mir einmal mehr bewusst,
dass sie sterben würde. Ihr Herz war zu wir das Skalpell ansetzten, wussten wir, dass dieser Fall nicht nur chirurgisch und
schwach, um ihren Körper allein zu ver- dass die Überlebenschance der schwäche- ethisch, sondern auch kulturell eine große
sorgen. Sie hing am Tropf ihrer Schwester. ren Zwillingsschwester sehr gering war. Herausforderung darstellte.
Doch was bedeutete das für die bevor- Aber wir hatten Hoffnung: Vielleicht wür- Das Mädchen kommt für Nachsorge-
stehende Operation? Für die eine stellte den wir die Kleine nach der Trennung untersuchungen noch regelmäßig in die Kli-
ihre schwer kranke Schwester eine Gefahr noch für einige Stunden oder sogar Tage nik. Einmal, es war vielleicht drei Monate
dar. Falls diese sterben sollte, würde sie stabil halten können, damit sich die Eltern nach der Operation, habe ich ihr ein Stoff-
selbst nur noch wenige Stunden überleben von ihr verabschieden könnten. tier geschenkt. Sie lächelte und sagte etwas
können. Der Eingriff verlief wie geplant. Wir hat- zu ihrem Vater; er hat es für mich übersetzt:
Für die andere dagegen war die gesunde ten die Zwillinge am Brustkorb getrennt, „Sie sagt: Das ist meine Schwester.“
Schwester ein Halt, der ihr Kräftigung spen- die miteinander verschmolzenen Lebern Irgendwo, tief in ihr drin, scheint es
geteilt, das kompliziert verwachsene Be- noch eine Erinnerung daran zu geben, dass
* Mit Brian Cummings, dem Vorsitzenden des pädiatri- cken gespalten. Bei der Haut war es schwie- sie einmal eine Zwillingsschwester hatte.
schen Ethikkomitees. rig zu bestimmen, welche Partien zu wel- Aufgezeichnet von Johann Grolle

DER SPIEGEL 4 / 2018 109


COURTESY WWW.GUERRILLAGIRLS.COM
„Guerrilla Girls“-Plakatkunst, 1989

Ausstellungen zum ersten Mal in Deutsch- zum Beispiel gefragt wird, ob tät nicht – auch wenn einige
Feminismus land mit einer Ausstellung
gewürdigt, in der Hannovera-
Frauen nackt sein müssten,
um ins Museum zu kommen.
Namen durchgesickert sind,
wie der von Erika Rothen-
mit Maske ner Kestner Gesellschaft.
Der englische Titel lautet
Denn unbekleidete weibliche
Körper haben durchaus ihren
berg. Sie nennen sich nach
historischen Künstlerinnen
Eine heute berühmte New übersetzt: „Die Kunst, sich Platz in der Kunstgeschichte. und tragen, wenn sie in ge-
Yorker Künstlerinnengruppe schlecht zu benehmen“. Im Künstlerinnen aber wurden meinsamer Mission unter-
nahm vor mehr als 30 Jahren Kampf gegen die Ungerech- (und werden) gern übersehen. wegs sind, Gorillamasken. Im
die #MeToo-Debatte vor- tigkeiten in der Kunstwelt, 1990 veröffentlichten sie Laufe der Jahre beteiligten
weg – und bewies Durchhalte- gegen absurde Machtstruktu- Ethikregeln für Museen – sich unterschiedliche Frauen
vermögen. 1985 wurden die ren, gegen Sexismus und Ras- eine lautet, ein Kurator dürfe an den Aktionen. Für eine
„Guerrilla Girls“ gegründet; sismus haben diese Künstle- nicht die Werke einer Person Performance in der kommen-
im Jahr 2018 gibt es das rinnen nie auf Zurückhaltung ausstellen, mit der er eine den Woche in Hannover
Kollektiv immer noch. Von gesetzt. Sie entwarfen lieber Affäre habe. Die Guerrilla reisen zwei der sieben Grün-
nächster Woche an wird es riesige Plakate, auf denen Girls offenbaren ihre Identi- dungsmitglieder an. uk

Einwurf

Abrechnung mit den Raubtierjahren


Die #MeToo-Vorwürfe gegen Starfotografen stellen auch eine Ära des Hedonismus unter Verdacht.
Nun also sind auch Bruce Weber und Mario Testino, zwei Star- das ehemalige Model Ryan Locke der „New York Times“. We-
fotografen, Schöpfer von Schönheit und Sehnsüchten, die den ber wiederum wirft man vor allem seine Atem- und Energie-
bildergetriebenen Kapitalismus so lange beherrschten, öffent- übungen vor, bei denen er den nackten Models die Finger in
lich des sexuellen Missbrauchs angeklagt – von jeweils mehr als den Mund steckte oder sie im Genitalbereich anfasste.
einem Dutzend Models, alles Männer. Es waren die Achtziger- Es ist auch eine Abrechnung mit einer Zeit. Für eine Weile,
und speziell die hedonistischen Neunzigerjahre, als Weber, heu- das zeigen auch diese beiden (von Testino und Weber demen-
te 71, und Testino, 63, Ruhm und Reichtum erwarben mit Fotos, tierten) Fälle, wird sich die Kunstrezeption zum Teil im Modus
die aufgeladen waren mit einer Mischung aus Verführung und der Kriminologie bewegen, das scheint unausweichlich. Wir
Naivität. Es war die Zeit, als Sex überall zu sein schien, es war verdächtigen, was wir betrachten – speziell Bilder, Fotos, Filme,
die Zeit, als Sex zur Schaufensterdekoration wurde. denn sie sind so stark, so übermächtig fast, dass sie Wirklich-
Im Fall von Weber war das eine explizit männlich aufgelade- keit schaffen und das kollektive Unterbewusstsein prägen. In
ne Sexualität, die spielerisch war und direkt und immer wieder den Bildern erkennen sich die, die sich erkennen wollen.
auf den Waschbrettbauch fokussiert. Im Fall von Testino waren Das macht ihre Stärke und ihre Gefahr aus. Weber und Testino
es Starporträts, etwa immer wieder von Lady Di, die eine ge- wurden bereits Verträge gekündigt, von Magazinen wie von
wisse demokratische Versöhnung mit den Entrückten erzeug- Werbekunden. War es aber auch ein kollektives Versprechen
ten, die in Testinos Bildern zugleich näher und ferner wurden von Schönheit und Freiheit, das hier gebrochen wurde? Nur
für den Betrachter. „Er war ein sexuelles Raubtier“, sagte nun für die, die an die Wahrheit der Bilder glauben. Georg Diez

110 DER SPIEGEL 4 / 2018


Kultur
Buchmarkt zu den USA jedoch wenig im- Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
English with Donald
Der rätselhafte US-Präsident
posant: Rund 2500 verkaufte
Bücher in einer Woche reich-
ten für einen vorderen Platz.
Diskurs in Pumps
Donald Trump erweist sich als Der deutsche Buchmarkt klagt Im Kino gewesen, gelacht. Dabei war es
Konjunkturprogramm für die seit Längerem über zurückge- eines dieser unkomfortablen Kleinst-
geplagte Medienbranche. hende Verkäufe, 2017 wurden kinos, wie sie inzwischen in Flugzeu-
Michael Wolffs Enthüllungs- rund fünf Prozent weniger Bü- gen üblich sind. Wenn der Film
buch „Fire and Fury“ führt seit cher abgesetzt als im Jahr da- nur gut genug ist, so kalkulieren die
Erscheinen amerikanische vor. Der Rowohlt Verlag lässt Airlines wohl, kann man an allem
Bestsellerlisten an, eine Million das Buch derzeit von gleich anderen sparen: Die embryonal enge
Exemplare wurden vorbestellt, mehreren Übersetzern ins Höhle, in der die Reisenden kauen,
E-Books in sechsstelliger Höhe Deutsche übertragen. Es soll kauern und dämmern, wird von den
heruntergeladen. In dieser Wo- am 16. Februar erscheinen, der Klassikern Hollywoods im Gemüt erfolgreich abgepuffert.
che taucht Wolffs Werk sogar Erfolg der englischsprachigen So verhindert man auch ohne sedierende Drogen eine
auf Platz vier der SPIEGEL- Ausgabe dürfte die Freude Revolte.
Bestsellerliste auf. Es ist das dort trüben. Immerhin: Ro- „Tootsie“, vor 25 Jahren ein Riesenerfolg, sieht heute
erste fremdsprachige Sachbuch, wohlt und auch der amerika- aus wie die verpasste Initialkomödie der #MeToo-Debatte:
das es auf die seit 1961 geführte nische Verlag Henry Holt Der arbeitslose Schauspieler Michael Dorsey bewirbt
Liste geschafft hat. Die deut- gehören beide zur Stuttgarter sich in Pumps und mit Perücke aus schierer Verzweiflung
schen Zahlen sind im Vergleich Holtzbrinck-Gruppe. lg erfolgreich um eine Damenrolle in einer Krankenhaus-
Soap. Bisher war er derjenige, der Frauen ungefragt am
Ausschnitt herumnestelte und ihnen schiefe Komplimente
machte; ein klassischer Vertreter jenes Typus Mann, für
Serien Mediziner, feinsinnig gespielt den die Rolle der Frau, um Wiglaf Droste zu zitieren, zeit-
Chirurgen-Genie von Freddie Highmore und lebens nicht mehr bedeutete als „die süße, kleine Rolle
entwickelt von Drehbuch- am Bauch“. Nun aber tätschelt man ihn unerbeten, nennt
ohne Empathie schreiber David Shore („Dr. ihn Schätzchen, Baby, Schnuckelchen („Tootsie“), behan-
In den USA war die Fernseh- House“), präzise Diagnosen delt ihn also völlig zeitgemäß als ein gutartiges Mischwe-
serie, die vom Wirken des und rettet Leben. Empathie sen aus Haustier und Sexspielzeug, das erfreulicherweise
Mediziners Dr. Shaun Murp- hingegen kann er für seine auch Kaffee kochen kann. Michael alias Dorothy macht
hy erzählt, ein Über- Patienten nicht aufbringen. aus seiner Frauenrolle, authentisch empört, einen Grund-
raschungserfolg. Dabei ist Seine Direktheit liefert Zünd- kurs in Emanzipation, der auch die wenig subtilen Fakten
The Good Doctor, produziert stoff bei jeder Form sozialer berücksichtigt: So empfiehlt er/sie einer grün und blau
vom Sender ABC und nun in Interaktion. So fragt Murphy geschlagenen Ehefrau, die ihren Mann laut Drehbuch mit
Deutschland auf Sky ange- in einer Szene, warum die der Vermutung entschuldigen soll, er „fühle sich wohl
laufen, nicht frei von den Kli- Angehörigen des Unfall- verachtet“, die schlichte Gegenwehr; mit derlei Offenher-
schees des Arztseriengenres: opfers weinten, wenn er des- zigkeiten wird Dorothy schnell zu einer so beliebten wie
Gut aussehendes Kranken- sen Bein amputiere – er rette bewunderten Heldin.
hauspersonal hat heiße Affä- schließlich das Leben des Pa- Das Material lag also offen zutage. Auch dass Dustin
ren, arrogante Mediziner- tienten. Die Serie schafft es, Hoffman, als Tootsie so hinreißend wie überzeugend,
kollegen machen dem Doc im die Zuschauer zu berühren, schon Jahre vor diesem Film, aber auch mehrfach danach,
Zentrum das Leben schwer, und sie macht die Gedanken- der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde (unter ande-
und am Ende jeder Folge welt eines Autisten anschau- rem von Meryl Streep), hat seiner Karriere als Schau-
steht eine (meist) erfolgreich lich: Ähnlich wie bei „Dr. spieler mit Niveau nicht wahrnehmbar geschadet. Die
abgeschlossene OP. Das House“ helfen Einblendun- Zeiten waren freundlich Mitte der Achtzigerjahre, man
Besondere: Der Chirurg gen von Computergrafiken wollte progressiv sein, und der Humor war es sogar.
Murphy hat eine Inselbega- anatomischer Prozesse, die Doch es passierte: nichts.
bung – und er ist Autist. In Denkvorgänge des Protago- Wann ist die Zeit reif für eine gesellschaftliche Bewe-
Rekordzeit stellt der junge nisten zu verdeutlichen. red gung, wann für eine Revolution? Die Linke zerbricht sich
darüber seit mehr als 150 Jahren den bärtigen Kopf und
kam im Zweifel zu dem Schluss, es sei besser, die Sache
Highmore selbst in die bewaffnete Hand der Partei zu nehmen, als
auf die Reifung der Verhältnisse zu warten. Die Frauen-
bewegung musste stets höflicher sein; nicht nur wegen ih-
res erfahrungsgemäß gebrochenen Verhältnisses zur Ge-
walt, sondern weil ihre Vertreterinnen auch Töchter, Müt-
ter und Schwestern waren, mit Leib und Seele – und auch
juristisch und finanziell – vertäut mit ihren Vätern, Ehe-
männern und Chefs, dazu verantwortlich für das Wohl
der Kinder in jenem Haus, das sie verlassen oder grund-
JACK ROWAND / ABC / SKY

renovieren wollten. Sie ist schicksalhaft zum Gespräch


verpflichtet, inzwischen sagt man „Diskurs“ dazu: eine
Einladung zum Verläppern.

An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.

DER SPIEGEL 4 / 2018 111


Kultur

„Einer von uns“


SPIEGEL-Gespräch Nationalismus, Wut und Populismus –
der bulgarische Politologe Ivan Krastev
erklärt die Spaltung Europas am Beispiel Deutschlands.

P
olitologe aus Bulgarien, das klingt Krastev ist heute Fellow am Institut für die
wie Schnaps aus Mazedonien. West- Wissenschaften vom Menschen in Wien,
europäer haben es nicht so mit dem das Geisteswissenschaftler aus Ost und
Osten, und der gemeine Westdeutsche hat West zusammenführt. Im Suhrkamp Ver-
es nicht so mit Ostdeutschland. Eine frem- lag erschien im vergangenen Jahr sein Es-
de Welt, die zu viel Geld kostet, zu wenig say „Europadämmerung“, er schreibt als
Dankbarkeit zeigt und zu oft Populisten Gastautor für die „New York Times“ und
wählt. Eine Welt, in der früher der Kom- lebt in Wien. Das Treffen fand in Berlin
munismus herrschte und vielleicht ein neu- statt, am Vormittag zuvor hatte er einen
er Faschismus droht, was die Utopie eines Auftritt bei der Robert Bosch Stiftung, wo
gemeinsamen, Frieden stiftenden Europas er ebenfalls Fellow ist. Berlin war Zwi-
zerstören könnte. schenstation einer Reise, die ihn nach Wa-
Der Politologe Ivan Krastev ist ein ost- shington, Paris, Lugano, Warschau, Ams-
europäischer Intellektueller, der die Men- terdam und Russland führte.
talitäten, Psychologien und Erfahrungen
des Ostens anders deutet als seine west- SPIEGEL: Herr Krastev, Deutschland erlebt
lichen Kollegen. Er wurde 1965 im bulga- neue Zeiten, die Populisten sind erstmals
rischen Lukowit geboren, der Vater war im Bundestag, das Land wartet seit vier
Mitglied der KP und Chefredakteur der Monaten auf eine neue Regierung. Die alte
kommunistischen Zeitung „Volksjugend“. Gemütlichkeit scheint dahin zu sein.
Krastev hat in den Achtzigerjahren, in den Krastev: Deutschland ist jetzt einer von uns.
Zeiten von Glasnost, in Sofia Philosophie Dieses Land lebte lange in einer total an-
studiert. Nach dem Zusammenbruch des deren Welt als große Teile Europas. Als
Kommunismus ging er als Gastforscher ob Deutschland Ferien machte, während
nach Oxford, sein Mentor war der Sozio- die anderen zur Arbeit gingen. Es war ein
loge Sir Ralf Dahrendorf. 1994 gründete Paradies: die Wirtschaft stabil, das Vertrau-
er in Sofia zusammen mit ehemaligen Dis- en groß in die Institutionen, in die Parteien,
sidenten das Centre for Liberal Strategies, in die Medien. Lebt man wie Deutschland
einen Thinktank, unterstützt von dem in einer anderen Welt, ist es schwierig, die
amerikanischen Milliardär George Soros. Probleme anderer zu verstehen. Die Deut-
schen meinten sogar, nichts mit den Pro-
blemen anderer zu tun zu haben.
SPIEGEL: Einer von uns? Das ist ein bisschen
zynisch.
Krastev: Es gab immer den Vorwurf,
Deutschland verhalte sich als Führungs- es gibt auch dort Korruption. Vielleicht be-
macht der EU arrogant. Denken Sie an die greift man nun langsam, dass andere nicht
Griechenlandkrise, an die Eurokrise, aber einfach Idioten sind oder Kriminelle, die
das war keine Arroganz. Deutschland sich nicht an Regeln halten.
glaubte, einige Länder verhielten sich an- SPIEGEL: Wann waren Sie das erste Mal in
ders als erwartet, weil sie es so wollten. Deutschland?
Deutschland hat nicht verstanden, dass die- Krastev: 1987 oder 1988. Es war die Zeit
se Länder nicht anders konnten. Die von Glasnost und Gorbatschow. Irgend-
Flüchtlingskrise hat nun auch in Deutsch- etwas schien zu passieren. Ich studierte in
land eine populistische Partei hervorge- Sofia. Wir fuhren für zwei Wochen nach
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

bracht. Plötzlich muss man die Erfahrung Leipzig, ein Studentenaustausch. Die DDR
machen, selbst auch eine gespaltene Ge- ist aus unserer Sicht schon immer ein selt-
sellschaft zu sein. sames Land gewesen. Leipzig wirkte ir-
SPIEGEL: Und wem hilft das? gendwie kalt, intellektuell uninteressant.
Krastev: Europa. Deutschland ist in der Als aber 1989 die Mauer fiel, waren viele
Normalität angekommen, und das nicht Osteuropäer plötzlich neidisch, weil die
erst seit der Bundestagswahl. Nehmen Sie Ostdeutschen es vergleichsweise einfach
Autor Krastev den Dieselskandal: Deutschland ist nicht
„Für uns war die DDR ein seltsames Land“ so rein und sauber, wie es zu sein glaubt, Das Gespräch führte der Redakteur Lothar Gorris.

112 DER SPIEGEL 4 / 2018


MADELEINE LENZ / PACIFIC PRESS / SIPA PRESS / ACTION PRESS
Gedenkmarsch zum 72. Jahrestag des Warschauer Aufstands am 1. August 2016: „Die Ostdeutschen sind den Polen näher als den Westdeutschen“

zu haben schienen, sie konnten ein Teil glaube ich, dass die Ostdeutschen in ihrem vollziehbar, da hat jemand eine Beziehung
Deutschlands werden. politischen Denken und Wahlverhalten zur Geheimpolizei und vergisst das? Kann
SPIEGEL: Während die anderen Nationen den Polen näher sind als den Westdeut- nicht sein. Aus einer östlichen Perspektive
den Zusammenbruch und den Neuaufbau schen. ist das etwas völlig anderes: Für eine junge
allein bewältigen mussten. SPIEGEL: Das hieße, dass Deutschland im- Kommunistin war die Stasi nicht die Stasi,
Krastev: Genau. Man kann die Geschichte mer noch eine geteilte Nation ist. sondern ein Instrument, die Welt zu ver-
der europäischen Integration aber auch als Krastev: Und gleichzeitig erzählt die Ge- ändern. Die Stasi wurde für sie erst zur
Migrationsgeschichte erzählen. Nach 1989 schichte der ostdeutschen Identitätssuche Stasi, als Wolf begann, sich von der SED-
wollte dieses Osteuropa unbedingt Teil der viel über die Spaltung Europas. Die Schrift- Führung abzuwenden. Als Osteuropäer,
EU werden und deren Institutionen über- stellerin Christa Wolf hat ein Buch ge- der diese Generation und ihre Geschichten
nehmen. Aber wie bei jeder Migration ent- schrieben über ihre Zeit Anfang der Neun- kennt, würde ich sagen: Für die Stasi zu
deckt erst die zweite Generation die Gren- zigerjahre in Los Angeles: „Stadt der En- arbeiten war keine moralische Entschei-
zen: die Glasdecke zum Beispiel, die ihr gel“. Es hat mir die Augen geöffnet. In der dung, das Bekenntnis zum Sozialismus
den Aufstieg verwehrt, man beginnt, einen DDR ist sie eine bedeutende Stimme ge- aber schon.
romantischen Blick zurückzuwerfen und wesen, nach dem Fall der Mauer kam he- SPIEGEL: Sie hat es vergessen, weil es für
über die eigene Identität nachzudenken. raus, dass sie in den Fünfzigerjahren für sie nicht bedeutend war?
Das ist überall in Osteuropa geschehen, die Stasi Berichte verfasst hatte. Sie sagte Krastev: Ja. Und während sie in Amerika
und das hat politische Reaktionen wie damals, sie habe das vergessen. Aus einer lebt, denkt sie darüber nach, wie es
den Populismus produziert. Ehrlich gesagt westlichen Perspektive ist das nicht nach- ist, eine Ostdeutsche zu sein. Sie besucht
DER SPIEGEL 4 / 2018 113
HENDRIK SCHMIDT / AP / DPA
Legida-Demonstranten mit Anti-Merkel-Plakat in Leipzig 2015: „Sie ist eine Ostdeutsche, die das Ostdeutsche überwunden hat“

einen Indianerstamm und beginnt, sich mit Drang, auch die schwierigsten Umstände SPIEGEL: Und in Ostdeutschland?
diesen Leuten zu identifizieren. Auch sie zu normalisieren. Ein DDR-Professor für Krastev: Da ist es anders. Fährt man durch
fühlt sich als Repräsentantin einer unter- politische Philosophie kann stolz darauf Ostdeutschland, hört man immer noch die
gegangenen Kultur, einer verschwundenen sein, was er erreicht hat in seinem Leben, Geschichten, wie damals die Westdeut-
Identität. Aber was bedeutet es, wenn je- auch wenn er Dinge gelehrt und gesagt schen das Land übernahmen, die wichti-
mand verschwindet? Wer verschwindet, hat, auf die man nicht stolz sein sollte. gen Jobs bekamen, in Unternehmen, in
hat keine Zukunft mehr. Wer keine Zu- SPIEGEL: So sind Revolutionen. Plötzlich ist der Verwaltung, im Regierungsapparat.
kunft hat, kann auch nicht die Geschichte das, was vorher richtig war, falsch. Hier also gab es eine Revolution, die zum
der eigenen Vergangenheit erzählen, weil Krastev: Ja. Und Revolutionen sind so at- Austausch der Eliten führte. Dummerwei-
sie als Ostdeutsche nur berichten kann, traktiv, weil sie den Austausch von Eliten se ohne Beteiligung der Ostdeutschen.
warum der Osten zusammengebrochen ist, herbeiführen. Dass diejenigen, die unten SPIEGEL: Egal ob die alten Eliten ausge-
als Geschichte eines totalen Versagens, waren, plötzlich oben sein können. In Ost- tauscht oder integriert wurden, überall ent-
eine Geschichte, die natürlich niemand er- europa, in Ländern wie Ungarn und Polen, stand Wut. Aber warum? Weil man sich
zählen möchte. Denn das hieße ja, alles, geschah Folgendes: Nach den Revolutio- von Flüchtlingen bedroht fühlte?
was man erreicht und erlebt hat, zählt: nen von 1989 wurden die alten Eliten nicht Krastev: Es gibt diese Angst vor Flüchtlin-
nichts. Und das produziert Wut. durch neue ersetzt, sondern die alten wur- gen, die Angst vor den Fremden, aber ich
SPIEGEL: Das Leben, das man geführt hat, den integriert, in der Hoffnung, dass sie glaube, dass es nicht so entscheidend ist,
ist wertlos. sich wandeln. In Polen beispielsweise gibt wer gekommen ist oder vielmehr zu kom-
Krastev: Deswegen wählen die Ostdeut- es aber Politiker wie Herrn Kaczyński, der men droht, weil es ja bislang nicht so viele
schen, wie sie wählen. Wären die Ostdeut- fragt: Haben wir wirklich gesiegt? Wie waren. Viel entscheidender ist es, wer ge-
schen nur nostalgisch, hätten sie weiterhin kann es sein, dass das Polen der Solidar- gangen ist. Polen verlor 2,5 Millionen Men-
Die Linke wählen können. Wo immer man ność gesiegt hat und trotzdem die Leute, schen, Rumänien 3,5 Millionen, Litauen
lebt und so ungewöhnlich die Umstände gegen die wir gekämpft haben, heute so 600 000, bei uns in Bulgarien waren es zehn
auch sein mögen, der Mensch hat den ein gutes Leben haben? Prozent, in Ostdeutschland waren es eben-
114 DER SPIEGEL 4 / 2018
Kultur

falls mehr als zehn Prozent. Tatsächlich kuyama glaubte, dass Imitation, das Ko- schen Blick auf sich selbst. Warum sollte
sind in den Regionen Osteuropas, wo die pieren des westlichen Modells, überall man sich verändern, wenn alle so sein wol-
Auswanderung in den vergangenen 25 Jah- stattfinden werde, die Menschen und ihr len wie man selbst?
ren am größten war, die Wahlerfolge der Regime sich immer ähnlicher würden. Was SPIEGEL: Sie halten sich für alternativlos.
Populisten besonders deutlich. er nicht bedachte: Imitation, ob erfolgreich Krastev: Exakt. In den Siebziger- und Acht-
SPIEGEL: Warum ist das so? oder nicht, produziert auch Ressentiment zigerjahren waren diese Gesellschaften
Krastev: Es gibt diesen Witz über das Loch und Wut. sehr selbstkritisch mit sich umgegangen:
in der Mauer, durch das die Bürger der SPIEGEL: Verstehe ich nicht. Was machen wir da? Ist das richtig? Kann
DDR nach und nach ihr Land verlassen. Krastev: Drei Punkte: Erstens fußt Imita- es sein, dass andere besser sind? Helmut
Der Letzte sagt dann zu Erich Honecker: tion auf einer asymmetrischen Beziehung. Schmidt befürchtete damals den Unter-
Vergiss nicht, das Licht auszumachen. Die- Es ist ein Machtverhältnis. Ob der, der imi- gang der Demokratie. Das war natürlich
se Angst, dass ein Land und seine Bevöl- tiert, das gut macht oder nicht, entscheidet hysterisch und gleichzeitig produktiv. Die
kerung aufhören zu existieren, das ist das derjenige, der die Vorlage zur Nachah- Ereignisse von 1989 erschufen die Illusion
entscheidende psychologische Moment. mung gibt. im Westen, dass nach dem Ende des Kalten
Für Westler ist das kaum nachvollziehbar. SPIEGEL: Die Macht bestimmt das Spiel und Krieges sich alle anderen ändern würden,
SPIEGEL: Der Aufstieg und die Resonanz die Regeln. nur der Westen selbst, der konnte so blei-
des Populismus und der AfD im Osten wer- Krastev: Während des Aufnahmeprozesses ben, wie er war. Und nun erst, nach Fi-
den hierzulande sozial und ökonomisch wurde in Brüssel darüber befunden, wel- nanzkrisen und dem Flüchtlingsdrama, er-
erklärt: eine Region der Abgehängten. che osteuropäischen Gesellschaften sich kennt der Westen, wie sehr sich alles ver-
Krastev: Ja, die Rede ist von ökonomischen gut anstellen. Institutionell war das ein ändert hat, auch er selbst.
Ängsten, aber: Natürlich gibt es Unterschie- sehr autoritatives Vorgehen. Aber die Men- SPIEGEL: Was genau hat sich verändert?
de der ökonomischen Entwicklung in Ost- schen in Osteuropa gingen davon aus, dass Krastev: Dass Identitätspolitik eines der we-
europa, doch generell leben die Menschen die in Brüssel es besser beurteilen können. sentlichen Themen der Politik geworden
dort nicht nur freier, sondern auch besser. Dann entwickelte sich ein seltsamer psy- ist. Identitätspolitik ist eigentlich ein linker
Polen beispielsweise boomt, der Abstand chologischer Prozess: In Osteuropa glaubte Begriff, der das Recht von Minderheiten
zwischen Arm und Reich ist kleiner gewor- man bald, dass die Entscheidungen in Brüs- auf Gleichbehandlung beschreibt. Inzwi-
den. Die Wut, das Ressentiment sind kul- schen, und die Wahl Donald Trumps in
turell begründet, nicht ökonomisch. den USA hat das deutlich gezeigt, ist Iden-
SPIEGEL: Was macht die Leute nervös? titätspolitik kein Begriff mehr, mit dem
Krastev: Ich glaube, das Lebensgefühl die- „Mehrheiten wollen wie nur die Minderheiten operieren, sondern
ser Menschen in Sachsen und in anderen auch die Mehrheiten.
Teilen Osteuropas ist ähnlich wie jenes in
Mehrheiten behandelt SPIEGEL: Wie muss man sich die Identitäts-
den Fünfzigerjahren, als die Landflucht werden: Wir sind stärker.“ politik der Mehrheiten vorstellen?
einsetzte, die Menschen von den Dörfern Krastev: Identitätspolitik geht der Frage
in die großen Städte zogen. Sie führen heu- nach, wer man ist. Die Identitätspolitik
te ein besseres Leben, aber wie kann man sel über Erfolg oder Misserfolg abhängig von Minderheiten ist eine universelle Ideo-
sich an einem Ort, in einem Land glücklich davon seien, welche Interessen man eigent- logie. In der Identitätspolitik von Mehr-
und erfolgreich fühlen, wenn so viele weg- lich in der EU verfolgt. Und man stellte heiten aber geht es um etwas anderes. Was
wollen? Außerdem altern die Gesellschaf- die Frage, ob es in Ordnung sei, dass der eint Trump mit Putin und Erdoğan? Sie
ten, und die meisten osteuropäischen Na- eine über den anderen urteilt, da doch alle behaupten, sie würden nicht mit genügend
tionen sind eher klein und ethnisch struk- gleich sein sollen. Aber so funktioniert Imi- Respekt behandelt. Gemeint ist damit,
turiert, was die Angst produziert, dass es tation nicht. Es gibt Originale und Kopien. dass sie in den internationalen Organisa-
sie in hundert Jahren gar nicht mehr gibt. Eine Kopie weiß immer, dass sie nur eine tionen nicht wie alle anderen behandelt
Das ist, als ob man sich der eigenen Sterb- Kopie ist. werden wollen, dass es da eine falsche Il-
lichkeit bewusst wird. SPIEGEL: Und was machen diejenigen, die lusion von Gleichheit gäbe: Wir sind mäch-
SPIEGEL: Das stimmt für Deutschland nicht. nur schlecht kopieren? tig, ihr könnt mit uns nicht umgehen, als
Krastev: Aber für Ostdeutschland. Krastev: Das ist der zweite Punkt: Wenn wären wir die Ukraine. Der Ruf nach Res-
SPIEGEL: Die Kanzlerin ist Ostdeutsche. ich nicht gut Schach spielen kann, suche pekt heißt: die Forderung nach einer asym-
Krastev: Eigentlich müsste man davon aus- ich mir ein anderes Spiel. Wer ökonomisch metrischen Beziehung. Mehrheiten wollen
gehen, dass die Ostdeutschen stolz auf An- nicht mithält, versucht es vielleicht militä- wie Mehrheiten behandelt werden. Wir
gela Merkel sind. Aber für viele ist sie ge- risch. Der amerikanische Politologe Joseph sind stärker, wir sind politisch wichtiger.
nau die falsche Ostdeutsche. Eine Ostdeut- Nye hat 2004 ein Buch über die „Soft Reist man durch Ostdeutschland, hört man
sche, die das Ostdeutsche überwunden hat. Power“ des Westens veröffentlicht. In Ost- oft: Die Regierung will, dass wir die Syrer
SPIEGEL: Eine Verräterin? europa las man das Buch so, als würde der integrieren, aber warum integriert die
Krastev: Sie sagt jedenfalls nicht, was sie Westen seine kulturelle Attraktivität als Regierung nicht erst mal uns? Wir sind
sagen sollte. Ich glaube auch, dass man da- Machtinstrument betrachten. Also kam doch die Mehrheit. Sie sind wütend und
ran etwas Größeres erkennen kann als nur man in Russland auf die Idee, der europäi- stellen die Frage, auch durch ihr Wahlver-
ein deutsches oder europäisches Problem. schen Soft Power anders entgegenzutreten. halten: Was ist heute deutsch?
Ich habe noch einmal Francis Fukuyamas Ja, ihr seid möglicherweise attraktiver, SPIEGEL: Eine Art Ohnmacht?
„Das Ende der Geschichte“ gelesen. Seine aber wir sind besser bewaffnet. Die Anne- Krastev: Ja, denn auf einer gesamtdeut-
These war, dass nach dem Fall der Mauer xion der Krim durch Russland war so eine schen Ebene können sie ja niemals die
eine Periode beginnen würde, in der der Antwort. Jeder setzt die Macht ein, die er Mehrheit stellen. Nach den Wahlen im Sep-
globale Wettbewerb alle Nationen, die er- zur Verfügung hat. tember wurde das Ergebnis auch gedeutet
folgreich sein wollen, dazu zwingt, west- SPIEGEL: Und der dritte Punkt? als Rückkehr Deutschlands in die Drei-
liche institutionelle Praktiken zu überneh- Krastev: Was passiert eigentlich bei den Ori- ßigerjahre, zurück in eine labile Demokra-
men. Den Westen zu imitieren schien der ginalen in Westeuropa und den USA? Die tie. Der Historiker Tony Judt hat einmal
unabdingbare Lauf der Dinge zu sein. Fu- Gesellschaften dort verlieren den kriti- geschrieben, dass wir nicht mehr die
DER SPIEGEL 4 / 2018 115
Kultur

Geschichte selbst studieren und erforschen, en niemandem, der Regierung nicht, über- man, über die eigene Identität nachzu-
sondern nur noch die Ergebnisse der Ge- haupt niemandem mehr. Unser Misstrauen denken.
schichte, und das heißt dann: Nie mehr ist so groß, dass wir bereit sind, jeder Ver- SPIEGEL: Weil das Gefühl der Normalität
Kommunismus. Nie mehr Faschismus. Ost- schwörungstheorie nachzugehen. verloren geht?
europäer sehen in den Geschichtsbüchern SPIEGEL: Es gab kein 68 in der DDR. Krastev: Die Utopie der Gleichheit aller
andere Länder beschrieben als jene, in de- Krastev: Fragt man Ostdeutsche, heißt es, Menschen wurde 1990 zur Normalität er-
nen sie aufgewachsen sind. Das geschieht 1968 war das Jahr, als junge Soldaten an klärt. Aber diese Normalität gibt dir keine
ganz zwangsläufig, wenn sich die Ge- die Grenze zur Tschechoslowakei beordert Identität. Was heißt das schon, normal zu
schichtsschreibung auf die Lektionen be- wurden. Die kulturelle Rebellion in Ost- sein?
schränkt. Wer das tut, fokussiert sich allein deutschland findet erst jetzt statt, 50 Jahre SPIEGEL: Nichts. Es gibt keine Normalität.
auf die Pathologie der Ereignisse. später, und richtet sich gegen die liberale Krastev: Gesellschaften verändern sich stän-
SPIEGEL: Pathologie? Ethik des Westens. dig. Wir in Osteuropa mochten den Wes-
Krastev: Die Pathologie des Kommunismus, SPIEGEL: Die 68er haben nicht nur die BRD ten, aber nur wie wir ihn uns vorstellten,
das Krankhafte, Dysfunktionale dieser verändert, sondern die meisten westlichen als wir ihn noch nicht kannten, viel mehr
Ära. Aber die meisten Menschen, die heu- Gesellschaften. jedenfalls als jetzt den real existierenden
te 50 oder 60 Jahre alt sind, erinnern sich Krastev: Ich glaube, dass diese neue Revolte Westen. Andererseits: Das ist ein natürli-
an einen Alltag, der weicher war, an ihre die kulturellen Paradigmen ebenso deut- cher Prozess, der Westen sollte toleranter
Jugend, an ihre Ambitionen, die mögli- lich verändern wird. Das Paradoxon der sein und die Psychologie dieser Gesell-
cherweise nichts mit Politik zu tun hatten. Globalisierung ist, dass die Menschen, ob- schaften verstehen lernen. Der europäi-
Die Erfahrungen im Kommunismus zu nor- wohl sie sich heute viel näher sind als je- sche Diskurs war in den vergangenen 25
malisieren, oder auch die Erfahrungen im mals zuvor, universelle Ideologien eher ab- Jahren nur darauf gerichtet, Minderheiten
Faschismus, wird durch die lektionsorien- lehnen. Europa sah sein politisches Modell anzuerkennen und gleich zu behandeln.
tierte Geschichtsschreibung aber infrage nach dem Zusammenbruch des Kommu- SPIEGEL: Was der wesentliche Kern einer
gestellt. Deutschlands Botschaften für Ost- nismus als universales Vorbild für alle. liberalen, demokratischen Gesellschaft ist.
europa 1989 hießen, auch wenn ich das SPIEGEL: Was meinen Sie genau mit Uni- Krastev: Natürlich, aber nun gibt es die An-
jetzt etwas verknappe: Wir waren erfolg- versalismus? erkennung und die Gleichbehandlung, und
reich, wir haben den Totalitarismus, in die- Krastev: Die EU fußt auf der Idee eines gleichzeitig muss es auch klar sein, dass es
sem Fall den Faschismus, besiegt, und wir Weltbürgerrechts. Nimmt man diese Idee Minderheiten gibt und Mehrheiten. Eine
haben uns gewandelt. Also solltet ihr in ernst, müssten entweder alle ökonomi- Demokratie kann da keine Gleichheit her-
Osteuropa das auch tun. Tatsächlich aber schen und politischen Unterschiede auf stellen, weil Mehrheiten die Regierung stel-
hatte Deutschland genau das nicht getan, der Welt verschwinden, oder es müsste, len können und Minderheiten eben nicht.
was man nun von Osteuropa erwartete im Das ostdeutsche Paradoxon ist ja, dass sie
Umgang mit dem untergegangenen Kom- nicht wie eine Minderheit behandelt wer-
munismus. Denn von den späten Vierzi- den wollen, obwohl sie es in Gesamt-
ger- bis in die Sechzigerjahre hinein hat „Der wertvollste Vorteil deutschland sind.
die große kulturelle Entnazifizierung gar SPIEGEL: Gleichzeitig erscheint das, was im
nicht stattgefunden, und deswegen ge-
eines Deutschen Osten des Landes und Europas passiert,
schah ja auch 68. Aber was heißt das für ist sein deutscher Pass.“ wie eine Bedrohung der westlichen, freien
Osteuropa: den Kommunismus vergessen Gesellschaft.
und auf eine neue Generation warten? Krastev: Ich würde das als Fremdheit be-
Oder sollen wir tun, was ihr glaubt, was wenn das nicht möglich ist, für jeden Welt- zeichnen. Es geht nicht so sehr um Werte
ihr damals besser hättet tun sollen? Ost- bürger die Möglichkeit geben, dort zu le- und Interessen, sondern um unterschied-
deutsche hielten das für Heuchelei, und ben, wo er es möchte. liche Erfahrungen. Nehmen wir Russland,
auch die produziert eine stille Wut, irgend- SPIEGEL: Beides sind Utopien. das wohl der dramatischste Fall sein dürfte.
wann sind die Wütenden bereit, sich jeder Krastev: Genau. Stattdessen ist der ent- Der Westen hat Russland das Gefühl geben
Protestbewegung anzuschließen. scheidende Faktor dafür, welches Leben wollen, dass die Neunzigerjahre eine groß-
SPIEGEL: Erst der Linken, nun der AfD. Es ein Mensch führt, seine Staatszugehörig- artige Zeit für das Land waren, die Befrei-
geht nicht um politische Ansichten? keit. Der wertvollste Vorteil eines Deut- ung vom Kommunismus, die Aufnahme in
Krastev: Es geht nur um eine Botschaft: schen ist sein deutscher Pass. Und so die westliche Welt. Aber versuchen wir
Eure Welt ist nicht so perfekt, wir sind in kommt es, dass für Menschen, die sich be- das mit den Augen eines normalen, eini-
diesem Deutschland unglücklich. droht fühlen, die Einwanderung eine Art germaßen liberal denkenden Russen zu se-
SPIEGEL: In Bayern hatte die AfD auch sehr Inflation produziert. Der deutsche Pass hen. Ihm wird gesagt, dass beide Seiten
viele Stimmen. wird entwertet. Was nun wiederum zu ei- den Kalten Krieg gewonnen hätten, und
Krastev: Ich glaube, dass das ein falsches ner Art Umkehr geführt hat: Exzeptiona- gleichzeitig verlor das Land ein Drittel sei-
Argument ist. Die einen wählen AfD aus lismus statt Universalismus. Wir sind an- nes Bruttoinlandsprodukts. Das aber ist et-
Angst vor der Migration und davor, wie ders. Wir glauben, in einer feindlichen was, was passiert, wenn man einen Krieg
das die Gesellschaft verändert. Welt zu leben. Einer Welt der Mauern, in verliert, und nicht, wenn man ihn gewinnt.
SPIEGEL: Und die anderen? der man umgeben ist von feindlich gesinn- Der Westen sagt diesen Russen: Der Staat
Krastev: In Ostdeutschland geschieht eine ten Nationen, einer Welt, in der die demo- unterdrückt dich nicht mehr. Stimmt, aber
kulturelle Rebellion, die man durchaus ver- grafische Entwicklung Ängste auslöst. Ist die Gewalt verschwand trotzdem nicht,
gleichen kann mit der 68er-Revolte im es nicht lustig, dass der große Universalist weil eine kriminelle Mafia das Land über-
Westen. Die Studenten in den Sechziger- Immanuel Kant Königsberg in seinem Le- nahm. Statt von der Polizei wurden sie
jahren waren radikal, sie hielten die Bun- ben nie wirklich verlassen hat und sich nun von Gangstern verprügelt. Menschen
desrepublik für einen faschistischen Staat, dort aber Gedanken über die Zukunft der dazu zu bringen, zufrieden und glücklich
was natürlich nicht stimmte. Nun gibt es gesamten Menschheit machte? Aber was zu sein, obwohl sie etwas ganz anderes
Deutsche, anders als damals nicht jung, passiert, wenn die Menschheit Teil deines denken und fühlen, produziert Wut. Der
sondern fast in Rente, die sagen: Wir trau- Alltags in Königsberg wird? Dann beginnt Westen muss versuchen, den Osten zu ver-
116 DER SPIEGEL 4 / 2018
weniger um Migration als darum, dass
Deutschland allein entscheidet und sie
dem folgen sollten. Hätten Länder wie
Tschechien, Ungarn, Polen ein paar Tau-
send Flüchtlinge aufgenommen, hätten sie
sagen können: In Zukunft darf Deutsch-
land keine Entscheidungen im Alleingang
fällen. Stattdessen begann die gegenseitige
Dämonisierung.
SPIEGEL: Glauben Sie an die Zukunft der
EU?
Krastev: Interessanterweise haben die euro-
päischen Krisen, Finanzen und Flüchtlinge,
zumindest dazu geführt, dass man mehr
Interesse füreinander entwickelt. Vor der
Griechenlandkrise wussten die Deutschen
nichts über die griechische Wirtschaft. Sie
hatten auch keine Ahnung von ungarischer
oder polnischer Innenpolitik. Was nicht
heißt, dass dadurch alle unterschiedlichen
Meinungen und Haltungen verschwinden.
Man muss die Kontexte verstehen, die his-
torischen Erfahrungen und die regionalen
Unterschiede und damit auch den Populis-
mus.
SPIEGEL: Sie klingen manchmal wie ein
Populistenversteher.
Krastev: Populismus macht mir Angst, na-
türlich. Aber wissen Sie, was meine zweit-
größte Sorge ist? Die antipopulistische Rhe-
torik.
SPIEGEL: Warum?
Krastev: Weil diese Rhetorik den perfekten
Feind konstruiert, um den Status quo zu
legitimieren, in einem Moment, da der Sta-
tus quo sich verändert und auch verändern
sollte. Je mehr man diesen Leuten unter-
stellt, sie seien Faschisten, desto mehr wer-
den sie es auch. Diese Leute haben keine
BASTIAN / CARO / FOTOFINDER

Identität, sie haben keine gemeinsame


politische Ideologie. Wie jeder Mensch
sind sie voller Widersprüche. Sagt man ih-
nen immer wieder, wer sie sind, dann er-
schafft man damit eine Identität, die sie
annehmen werden. Sie wissen nicht, wer
Transparent am Berliner Alexanderplatz 1999: „Sie sind in diesem Deutschland unglücklich“ sie sind, und werden zu dem, was die an-
deren schon immer von ihnen dachten.
Und das würde wirklich alles verändern.
stehen, nicht um die Politik des Westens Probleme lösen sollte. Für Polen ist 1989 SPIEGEL: Ist das nicht etwas naiv: für Ver-
zu rechtfertigen, sondern um die Komple- das Jahr, in dem man nach dem Ende des ständnis sorgen und miteinander reden?
xität zu begreifen, warum so viele Men- Kommunismus die Souveränität zurücker- Krastev: Demokratische Institutionen kön-
schen im Osten das Gleiche sagen. kämpft hat. Es ist nicht das Jahr, in dem nen moderierende Wirkung haben. Sie
SPIEGEL: Also ein tief gehendes Missver- die europäische Integration begann. können aber auch polarisieren, und genau
ständnis zwischen Ost und West. SPIEGEL: Aber das Verhalten vieler osteuro- das geschah im Weimar-Deutschland. Die
Krastev: Polen ist ein gutes Beispiel. Wir päischer Länder während der Flüchtlings- Nachkriegsdemokratien besaßen dagegen
sehen es täglich im Fernsehen, dass das krise war unsolidarisch, was Westeuropa eine große integrative Kraft. Denken wir
Land gespalten ist, dass es viele Polen gibt, als skandalös betrachtete. nur an die 68er. Anfang der Siebzigerjahre
die mit den Maßnahmen der Regierung, Krastev: Na ja, die Regierungen in Ost- sympathisierte ein Viertel der jüngeren
die die Gewaltenteilung untergraben, nicht europa hätten tatsächlich auch ein gutes Leute in der BRD mit der RAF. Ein Viertel!
einverstanden sind. Die EU will nun Sank- Argument gehabt. Während der Finanz- Man hätte also sagen können, dass ein
tionen aussprechen. Aber was macht das krise war es Berlin, das auf Prinzipien und Viertel der jungen Leute Extremisten wa-
mit den liberalen Polen? Sind sie gegen Regeln bestanden hat, damit die EU über- ren, die Terroristen unterstützten.
die Regierung? Ja. Unterstützen sie des- lebt. Und dann kam die Flüchtlingskrise, SPIEGEL: Was durchaus geschah.
wegen die Maßnahmen der EU? Nein. und plötzlich, ohne jemanden zu konsul- Krastev: Und dennoch haben die großen
SPIEGEL: Warum nicht? tieren, sagte Berlin: Die Regeln gelten Parteien die radikalen Gruppen margina-
Krastev: Weil auch die liberalen Polen glau- nicht mehr. Wir machen das so, wie wir lisieren können. Weil die Gewaltfrage das
ben, dass ein souveräner Staat selbst seine wollen. Es ging den Osteuropäern damals linksradikale Lager geteilt hat. Bei den
DER SPIEGEL 4 / 2018 117
Populisten geht das nicht so einfach. Sie
vertreten radikale Positionen, aber bislang
kennt der Populismus keine terroristische
Gewalt.
SPIEGEL: Was kann Politik überhaupt tun?
Krastev: Es ist auf jeden Fall nicht die Frage
von Löhnen oder Sozialleistungen. Es ist
eher ein Fall für die Psychoanalyse.
SPIEGEL: Das ist ein Scherz.
Krastev: Nein. Es geht darum, Menschen
dabei zu helfen, eine andere Identität zu
entwickeln. Die Frage nach einer ostdeut-
schen Identität spielt öffentlich kaum eine
Rolle. Wenn Menschen nicht sprechen,
weil sie Angst haben, ihre Meinung öffent-
lich kundzutun, dann haben sie keine Spra-
che für das, was sie vielleicht meinen. Statt-
dessen wird geschrien und gebrüllt.
SPIEGEL: Und jetzt?
Krastev: Die derzeitige Politik sagt von sich
selbst, sie sei alternativlos. Das zeugt von
Unkenntnis darüber, wie der menschliche
Geist funktioniert. Wenn in Spanien gesagt

Das Nachrichten-Magazin wird, es gebe keine Alternative zur Wirt-


schaftspolitik der Regierung, dann wird
ein unabhängiges Katalonien zur Alterna-
tive. Und tatsächlich erscheint die Wirt-

für Kinder. schaftspolitik der EU so wenig verhandel-


bar wie die Frage der Menschenrechte.
Also wenden sich die Unzufriedenen an-
deren Themen zu: Homoehen, Flüchtlin-
gen, kulturell geprägten Themen.
SPIEGEL: Aber wie könnte Deutschland, das
die eigene Spaltung weder begreift noch

Jetzt lösen kann, überhaupt die EU führen?


Krastev: Ich bin da nicht so pessimistisch.

testen: Die Krise, die Deutschland nun erfährt,


die Erfahrung von Normalität, also dass
es kein Paradies ist und die anderen auch
www.deinspiegel.de keine Idioten sind, versetzt es viel eher in
die Lage, die EU zu führen. Krisen löst
man nicht durch Prinzipien. Wer auf Prin-
zipien beharrt, produziert Brüche. Prinzi-
pien und Regeln helfen übrigens auch nicht
im Umgang mit der AfD. In den Sondie-
rungsgesprächen hat man sich ja schon auf
Grenzen bei der Migration geeinigt.
SPIEGEL: Ist das gut oder schlecht?
Krastev: Das hängt davon ab, welche Werte
und Ideologien man vertritt. Andererseits:
Um ein Land regierbar zu machen, sollte
man das wohl tun. Und will man vernünf-
tig mit Griechenland oder Polen oder Un-
garn über die EU sprechen, dann müssen
deren Zwänge und Haltungen genauso be-
rücksichtigt werden, wie die Bundesregie-
rung das mit den Befindlichkeiten der Bay-
ern macht. Das ist das Wesen politischer
Gemeinschaften. Wissen Sie, wo Prinzi-
pien die geringste Rolle spielen? In der
eigenen Familie. Wenn der Sohn etwas
Schlimmes anstellt, dann sehen die Eltern
das nicht als Verbrechen, sondern als Tra-
gödie, in der man seinem Kind beisteht
und ihm hilft.
SPIEGEL: Herr Krastev, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
118 DER SPIEGEL 4 / 2018
Kultur

jahrelang, bis sie sich eben an den Be- vertraute er den Falschen, nahm er das

„Widerwärtig“ triebsrat wendete. In der Folge lehnte er


eine Vertragsverlängerung ab. Andere
ältere Kollegen, eine sogar 78, durften
alles nicht ernst? Der Personalverwalter
ist bereits unter seinen Vorgängern tätig
gewesen. Zwar soll es früher schon Be-
Übergriffe Das Münchner Haus bleiben. schwerden gegeben haben, aber die wur-
Der Mann, obwohl gekündigt, schicke den nicht angemessen dokumentiert.
der Kunst macht wegen vieler ihr weiter E-Mails und WhatsApp-Nach- Doch auch die bayerische Landesregie-
Probleme von sich reden. Nun richten. Er wolle sie treffen, er vermisse rung hat eine Aufsichtspflicht, und deshalb
kommen Vorwürfe wegen sie. Geantwortet hat sie nie. könnte alles zum Politikum werden. Trä-
Eine andere Frau, 33, beschreibt den Per- ger des Hauses der Kunst ist eine gemein-
sexueller Belästigung hinzu. sonalverwalter gegenüber dem SPIEGEL nützige GmbH, und der Freistaat ist einer
als „zudringlich“ und „widerwärtig“. Auch von drei Gesellschaftern. Der bayerische

D
as Haus der Kunst in München. Er- sie arbeitete am Empfang, um die 30 Stun- Kultusminister und CSU-Politiker Ludwig
baut von den Nazis, nach 1945 pein- den pro Woche. In Textnachrichten nannte Spaenle hat den Vorsitz des Aufsichtsrats
liches Erbe, später die Wandlung er sie „Süße“, „Schnucki“, „wunderschö- inne. Auf Anfrage lässt er ausrichten, dass
zur Vorzeigekulturstätte. Weltstars wie Ai nes Kind“, er versprach „gaanz viele Kas- der Aufsichtsrat informiert sei und allen
Weiwei zeigten dort ihre Werke. Direktor senschichten“. Als sie krank war, bot er Vorwürfen nachgehe. Immerhin wurde im
ist seit 2011 Okwui Enwezor, Nigerianer ihr mehrfach an, sie „schneller gesund“ zu Oktober 2017 für die Geschäftsführung der
mit US-Pass und einer der gefragtesten Ku- machen, er schlug ein Treffen zu Hause Interimsmanager Stefan Gros eingesetzt,
ratoren überhaupt. vor, „bei Dir oder mir“. Sie wehrte ab, sie der die Anschuldigungen ernst nimmt und
Seit einiger Zeit produziert das Ausstel- sei „generell menschenscheu“. eine Kanzlei mit einer Prüfung aller Ab-
lungshaus statt Glanz nur noch schlechte
Nachrichten, die marode Bausubstanz, die
umstrittenen Sanierungspläne, die Finanz-
probleme. Die jüngste Hiobsbotschaft lau-
tet: Angeblich wurden Mitarbeiterinnen
sexuell belästigt.
Der Mann, dem die Vorwürfe gelten,
war nicht fest angestellt, aber mächtig.
Mehr als 20 Jahre lang war er Personalver-
walter und als solcher vor allem für die
etwa 60 Aufsichts-, Kassen- und Garde-
robenkräfte zuständig, die meisten sind
Minijobber. Von ihm trennte sich das Haus
der Kunst im März 2017 – das aber aus
anderen Gründen. Auch hatte der Verfas-
sungsschutz ein Auge auf ihn geworfen,
weil er Scientology angehören soll.

JOHANNES SIMON / SZ PHOTO


Der Geschasste will sich weiter vor dem
Arbeitsgericht zur Wehr setzen.
Allerdings hat er dort einiges zu erklären.
Hört man frühere Untergebene, so soll
er ein perfides System installiert haben,
Belästigungen seien Teil davon gewesen.
Im April 2016 schilderten zwei weibliche Haus der Kunst: „Gaanz viele Kassenschichten“ für „Schnucki“
Aufsichtskräfte dem Betriebsrat, was sie
mit ihm erlebt hätten. Irgendwann sei er ständig um den Emp- läufe beauftragte. Er sagt, es werde alles
Eine der Frauen, 66 Jahre alt, erzählt fang herumgelaufen, wenn sie Dienst hatte, „hoch professionell aufgearbeitet“.
dem SPIEGEL, der Personalverwalter habe und habe sie mit „bohrendem Psychoblick“ Der Anwalt des Ex-Personalverwalters
sie vor einigen Jahren nach einer Betriebs- angeschaut. Dann habe er ihr immer we- nahm gegenüber der Kanzlei Stellung.
feier nach Hause gefahren und versucht, niger Schichten gegeben. Einen schriftli- Demnach seien einige Zitate aus dem Zu-
sie zu küssen. Sie sei aus dem Auto ge- chen Vertrag bekam sie erst, als sie mit sammenhang gerissen, an anderes, was
sprungen. Monatelang habe er ihr erzählt, Unterstützung des Betriebsrates darauf be- sein Mandant gesagt haben soll, könne der
er habe eine „super Behandlung“, die sie stand. Nur: Der Vertrag, den er aushändig- sich nicht erinnern. Stets seien die Absich-
glücklich machen werde. Sie signalisierte, te, lief schon wenige Wochen später aus. ten seriös gewesen. Wenn der Mann Mas-
kein Interesse zu haben – und habe die Nachdem die Beschwerden eingereicht sagen angeboten habe, habe er nie Sexu-
Konsequenzen zu spüren bekommen. waren, kam er glimpflich davon. Das hatte elles oder Entwürdigendes im Sinn gehabt.
Die Frau arbeitete vor allem im Bereich er angeblich dem langjährigen kaufmän- Auch gegenüber dem SPIEGEL weist die-
Empfang und Kasse. Nun habe er sie sehr nischen Leiter zu verdanken – der vor ser Anwalt alle Vorwürfe „entschieden“
häufig nur noch als Aufsicht eingeteilt. Kurzem ebenfalls die Kündigung erhielt. zurück, die Mehrung unangehmer Dienste
Wenn Veranstaltungen liefen oder Aus- Dieser ehemalige Vorgesetzte wiederum habe alle Aufsichten betroffen und sei auf
stellungen aufgebaut wurden, auch sonn- sagt, er kenne den Grund für die Trennung betriebliche Belange zurückzuführen, für
tagmorgens ab sechs Uhr, spätabends oder nicht, in Sachen des Personalverwalters die dieser Mitarbeiter nicht verantwortlich
nachts. Schichten, die sonst eher junge habe er sich stets korrekt verhalten, sogar gewesen sei. Er stellt den Mandanten als
Männer übernehmen. „Ich war abhängig eine juristische Expertise eingeholt. eigentliches Opfer dar, alles sei „üble Nach-
von dem Job, deshalb ließ ich mir Und Okwui Enwezor, der Direktor? rede“ und „Mobbing“.
das gefallen“, sagt die Frau. So ging das Wurde er nicht angemessen informiert, Laura Backes, Ulrike Knöfel

DER SPIEGEL 4 / 2018 119


Hassgeschrumpft
Kino Matt Damon war der Liebling von Hollywood –
nun fordern 28800 Frauen, dass er aus einem
demnächst startenden Film herausgeschnitten wird.
Warum? Von Wolfgang Höbel

VICTORIA WILL / INVISION / AP


E
s ist der letzte Augusttag in Venedig, schichten über Weinstein in den Medien In Interviews sagt Damon in den folgen-
Matt Damon sitzt in einer Suite des werden oft Bilder präsentiert, auf denen den Oktober- und Novemberwochen wie-
Hotels Excelsior auf dem Lido und er die Schauspieler Matt Damon und Ben derholt, dass er sexuelle Belästigung und
spricht über seinen Film „Downsizing“. Affleck umarmt: die Beglaubigung einer Vergewaltigung ekelhaft und bestrafens-
Die Politsatire des Regisseurs Alexander Männerfreundschaft offensichtlich. wert finde. Er sagt unter anderem auch,
Payne hat gerade das Festival von Venedig Am 8. Oktober erhebt Sharon Waxman, es werde in der aktuellen Debatte überse-
eröffnet, sie wurde von den Zuschauern eine Journalistin, die als Reporterin für die hen, dass die große Mehrheit der Männer,
und auch von vielen Kritikern gefeiert, „New York Times“ gearbeitet hat, den Vor- sogar in Hollywood, sich anständig verhal-
und Matt Damon hat prächtige Laune. wurf, Matt Damon habe im Jahr 2004 te. Und er behauptet: „Für mich ist es ein
„Mein Regisseur sagt, ich würde den durch einen Telefonanruf das Erscheinen Unterschied, ob man jemandem einen
Menschen das Gefühl vermitteln, nie etwas einer Enthüllungsstory über Weinstein in Klaps auf den Hintern gibt oder Vergewal-
anderes sein zu wollen als ein absolut der „New York Times“ verhindert. tigung oder Kindesmissbrauch begeht.“ Al-
durchschnittlicher Mann“, berichtet er. Die „New York Times“ dementiert die les sei zu verurteilen, alles sei Unrecht,
„Ich glaube, er hat recht damit. Es ist für Behauptung. Nie und nimmer habe man aber es handle sich um unterschiedlich
mich okay, so auszusehen und mich so zu sich durch eine solche Intervention von schwerwiegende Übergriffe.
benehmen wie ein gewöhnlicher Mensch. der Berichterstattung abhalten lassen. Matt Juristisch ist das korrekt, moralisch wird
Genau das hat mir die besten Rollen ver- Damon erklärt, dass er zwar tatsächlich es zu Damons Ungunsten ausgelegt. Die
schafft. Ich bin kein Typ, der sich in jedem mit Waxman telefoniert habe, aber aus- Schauspielerin Alyssa Milano belehrt Da-
Film zuallererst darum bemühen muss, schließlich deshalb, weil er Auskunft geben mon auf Twitter: „Es gibt verschiedene Ar-
dass die Zuschauer vergessen, wie ver- sollte über seine Erfahrungen mit einem ten von Krebs. Manche kann man besser
dammt gut er aussieht. Warum sollte ich italienischen Mitarbeiter von Weinsteins heilen als andere. Aber es ist immer noch
mich darüber beschweren?“ Firma. Waxman sagt, sie habe den betref- Krebs.“ Die Schauspielerin Minnie Driver,
Einige Fragen später behauptet Matt Da- fenden Mitarbeiter damals verdächtigt, mit der Damon in jungen Jahren befreun-
mon: „Ich habe mir in meiner Karriere so Weinstein junge Frauen zuzuführen; Da- det war, verkündet gleichfalls auf Twitter:
viel Gelassenheit erarbeitet, dass es mich mon beteuert, er sei weder von Waxman Männer wie Matt Damon seien „syste-
nicht kratzt, wenn Kritiker plötzlich etwas noch von sonst jemandem über einen sol- misch Teil des Problems“, gerade wegen
an mir auszusetzen haben – ich trage eine chen Verdacht informiert worden. ihrer Differenzierungsversuche zwischen
Rüstung, an der die Schüsse abprallen.“ Von Weinsteins zahlreichen sexuellen sexueller Belästigung und Vergewaltigung.
Anfang Oktober werden die Vorwürfe Übergriffen, so Damon, habe er nichts ge- „Sie haben keine Ahnung, was Missbrauch
gegen den Produzenten Harvey Weinstein wusst. Gerüchteweise habe er allein von für Frauen bedeutet“, so Driver.
bekannt. Er wird beschuldigt, über viele einer versuchten Attacke Weinsteins auf Im Dezember startete eine Frau namens
Jahre hinweg zahlreiche Frauen sexuell be- Gwyneth Paltrow gehört, die Ende der Rebecca G. eine Onlinepetition, die zum
lästigt zu haben. Zu den Enthüllungsge- Neunzigerjahre stattgefunden haben soll. Ziel hat, dass Matt Damons Auftritt aus
120 DER SPIEGEL 4 / 2018
Kultur

dem Film „Ocean’s 8“ geschnitten wird. versprechen; also verpflichtet sich Paul ge- Produzenten des Films, George Clooney
Der Film ist die Fortsetzung der mit Da- meinsam mit Audrey dazu überzusiedeln und Steven Soderbergh, sind mit ihm eng
mons Beteiligung höchst erfolgreichen Ga- nach „Leisureland“, ins Paradies der me- befreundet.
novenfilmreihe, die mit „Ocean’s Eleven“ dizintechnisch Geschrumpften. Matt Damon hat in den vergangenen
im Jahr 2001 begann – nur tritt diesmal Die frohe Botschaft, dass die Wissen- Wochen alle weiteren Interviewanfragen
eine Riege von Gaunerinnen an; Damon schaft einen Ausweg aus dem kapitalisti- abgelehnt, auch die des SPIEGEL. Er ist
soll nur eine kleine Gastrolle spielen. Der sche Rattenrennen gefunden habe, indem vor ein paar Tagen zur Verleihung der Gol-
Begründungstext für die Petition sugge- sie die Welt gesundschrumpft, erweist sich den Globes angetreten, gemeinsam mit sei-
riert trotz der Dementis, Damon habe die in „Downsizing“ als dreister komischer ner Frau Luciana Barroso, die ein schwar-
Berichterstattung der „New York Times“ Betrug. Als erste Überraschung muss zes Kleid trug als Zeichen der Solidarität
im Jahr 2004 verhindert. Er habe Harvey Paul erleben, dass ihn die Ehefrau im mit den Frauen, die gegen die Diskrimi-
Weinsteins „unangemessenes Verhalten letzten Moment vor der Verzwergungs- nierung von Frauen in Hollywood kämp-
nicht nur ignoriert, sondern ermöglicht“. prozedur im Stich lässt. Achselzuckend fen. Damon hat bei den Golden Globes
Durch seine Interviewäußerungen habe er sagt Audrey dem zum Gnom mutierten wie bei Gelegenheiten zuvor gesagt, dass
„Geringschätzung“ gezeigt gegenüber dem Gatten per Videotelefonat goodbye. Es er es für richtig und gut halte, dass Frauen
Leid sexuell belästigter Frauen. ist die lustigste, grausamste Szene des unter Devisen wie „Time’s Up“ und
Die Petition auf dem Portal Care 2 Peti- Films – sie zeigt einen Mann, der sich „#MeToo“ von Fällen berichten, in denen
tions trägt den Titel „Sexual Harassment kolossal irrt in der Einschätzung des an- Männer sie erniedrigten und verletzten.
Isn’t a Joke – Remove Matt Damon from deren Geschlechts. Das Kapital aller großen Jedermann-
Ocean’s 8“ und fordert ausschließlich Frau- Im August 2017 galt „Downsizing“ als darsteller ist es, dass sie sich perfekt für
en auf, den Aufruf an die Produzenten des Kandidat für die Oscars. Matt Damon zählt jede Art von Projektion eignen. Das hat
Films zu unterschreiben. Bis Mitte dieser den Helden Paul zu seinen liebsten Rollen, nichts mit Charakterlosigkeit, sondern mit
Woche fand sie 28 800 Unterstützerinnen. Wandlungsfähigkeit zu tun. Für seine Rolle
Matt Damon ist nie von irgendwem ei- als Agent Jason Bourne hat er sich wie-
ner sexuellen Belästigung beschuldigt wor- derholt in eine Kampfmaschine umgemo-
den. Er hat in Hollywood den Ruf eines delt, in „Downsizing“ spielt er mal wieder
Musterknaben und Gutmenschen. virtuos den Biedermann. Und doch: „Man
Er gilt als sittsamer Ehemann und Vater. spürt bei seinem Spiel immer, dass dieser
Er ist seit zwölf Jahren mit Luciana Barro- Kerl von einer undurchschaubaren Gefahr
so verheiratet, gemeinsam ziehen sie vier bedroht wird“, hat Regisseur Paul Green-
Töchter groß. Er ist Mitbegründer der Or- grass über Damon gesagt. Es war natürlich
ganisation Water.org, die sich zum Ziel ge- als Kompliment gemeint.
setzt hat, Menschen in den armen Ländern Im Film „Downsizing“ begreift der von
BERLINER STUDIOS LLC / ACTION PRESS

der Welt zu sauberem Trinkwasser zu ver- Damon gespielte Naivling Paul irgend-
helfen. Seit 2009, so Damon, habe man wann, dass hinter der schönen Fassade des
aus Spendengeldern rund sieben Millionen Zwergenreichs Leisureland ähnlich unschö-
Mikrokredite unter anderem in Afrika ver- ne Dinge passieren wie in der Welt der
geben und neun Millionen Menschen den Normalgroßen. Auch in der Miniaturwelt
Zugang zu sauberem Wasser ermöglicht. gibt es ein System brachialkapitalistischer
Im vergangenen Jahr trat Matt Damon in Ausbeutung, zwangsgeschrumpfte Arbeits-
Davos beim Weltwirtschaftsgipfel auf, um sklaven und ausgefeilte Formen von Kri-
Politiker und Unternehmer für die Unter- Star Damon, Produzent Weinstein 2005 minalität. Christoph Waltz spielt einen
stützung der Arbeit von Water.org zu ge- Kollateralschaden einer Männerfreundschaft Schmuggler und Großgauner, der Paul mit
winnen. „Ich bin in Davos auch Bono von schelmischem Grinsen belehrt: „Die Welt
U2 begegnet, er brach in Lachen aus, als er sagt, für ihn habe sie den gleichen Rang braucht Arschlöcher.“
er mich dort in Anzug, Krawatte und An- wie seine Schauspielerjobs in Anthony Stimmt das im Film wie in der Realität?
zug herumlaufen sah, und hat mich sofort Minghellas „Der talentierte Mr. Ripley“ In seiner Suite im Hotel Excelsior in Vene-
mit seinem iPhone fotografiert“, sagt Matt (1999) und in Steven Soderberghs „Der In- dig sagte Matt Damon im August: „Jede
Damon in Venedig. „Tatsächlich lebe ich formant!“ (2009). An „Downsizing“ gebe Utopie von einem friedlichen Zusammen-
drei Leben. Das eine ist Filmemachen, das es für ihn nicht das Mindeste auszusetzen. leben der Menschen hat damit zu kämpfen,
zweite ist meine Familie, das dritte die Ar- „Ich bin stolz auf diesen Film, ich liebe je- dass sich der menschliche Charakter nicht
beit für Water.org.“ des Bild, jede Einstellung.“ Im Januar 2018 ändert, wenn man ihn in eine Welt ver-
In dem Film „Downsizing“, der nun in wäre aber schon eine Oscarnominierung pflanzt, in der alles friedlich und fröhlich
den deutschen Kinos läuft, spielt Matt Da- für „Downsizing“ eine Überraschung. geregelt werden soll.“ Braucht die Welt
mon einen braven US-Mittelstandsbürger Er solle aus seinem nächsten Film he- also wirklich Arschlöcher, Mr Damon?
namens Paul, der sich freiwillig auf die rausgeschnitten werden, so die Forderung. „Ich fürchte, in jedem Menschen findet sich
Größe von zwölf Zentimetern schrumpfen In „Ocean’s 8“ würde Damon neben weib- die Anlage dazu, sich ab und zu wie ein
lässt – wobei ihm böses Unrecht wider- lichen Stars wie Rihanna, Anne Hathaway, Arschloch zu benehmen. Das gehört zum
fährt. Der Kerl glaubt, sich mit seiner Frau Cate Blanchett und Sandra Bullock in we- Menschsein dazu.“ Er glaube nicht daran,
Audrey (Kristen Wiig) einig zu sein, dass nigen Szenen zu sehen sein. „Zeigen Sie dass man uns das eines Tages austreiben
sie sich selbst und der Welt mit ihrer Ver- Flagge gegen Sexismus, unterschreiben Sie kann. „Wir sollten es nicht leugnen, son-
kleinerung einen Dienst erweisen. Alle jetzt“, heißt es im Begleittext von Rebecca dern versuchen, damit zu leben.“
großen Menschheitsprobleme, die Über- G.s Petition. Kann es sein, dass dem Atta-
völkerung des Planeten, der Müll, die Ener- ckierten hier Unrecht widerfährt? Video:
gieverschwendung, selbst die Geldsorgen, In Hollywood gilt es trotz allem als so Ausschnitte aus „Downsizing“
könnten im Miniatur-Wunderland der Zu- gut wie ausgeschlossen, dass Damon wirk- spiegel.de/sp042018damon
kunft gelöst werden, so lautet das Werbe- lich eliminiert wird aus „Ocean’s 8“. Die oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 4 / 2018 121


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Daniel Kehlmann 1 (1) Rolf Dobelli Die Kunst


Tyll Rowohlt; 22,95 Euro des guten Lebens Piper; 20 Euro

2 (2) Maja Lunde Die Geschichte 2 (4) Axel Hacke Über den Anstand
der Bienen btb; 20 Euro in schwierigen Zeiten und die Frage,
wie wir miteinander umgehen
3 (3) Dan Brown Kunstmann; 18 Euro
Origin Lübbe; 28 Euro
3 (3) Gerhard Wisnewski
4 (4) Sebastian Fitzek verheimlicht – vertuscht –
Flugangst 7A Droemer; 22,99 Euro
vergessen 2018 Kopp; 14,95 Euro

4 (–) Michael Wolff


5 (5) Mariana Leky Fire and Fury Little, Brown; circa 20 Euro
Was man von hier aus
sehen kann DuMont; 20 Euro 5 (5) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
6 (7) Marc-Uwe Kling
QualityLand Ullstein; 18 Euro 6 (–) Erling Kagge
Stille Insel; 14 Euro
7 (10) Robert Menasse 7 (6) Peter Wohlleben Das geheime
Die Hauptstadt Suhrkamp; 24 Euro
Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro

8 Ken Follett Das Fundament


In der nächsten (9)
der Ewigkeit Lübbe; 36 Euro
8 (7) Peter Wohlleben Das geheime
Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro

Eckart von Hirschhausen Wunder


SPIEGEL-Ausgabe 9 (6) Camilla Läckberg
Die Eishexe List; 22 Euro
9 (2)
wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro

10 (9) Gregor Gysi


am 27.1.2018 10 (–) Bernhard Schlink
Olga Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro

Diogenes; 24 Euro 11 (–) Reinhold Messner


Bernhard Schlink berichtet Wild
vom Leiden einer tapferen S. Fischer; 20 Euro
Heldin an zwei Männern,
die sich nach deutscher Reinhold Messner beschreibt
Größe sehnen – mit jeweils die berühmte
katastrophalen Folgen Polarexpedition von
Themen im Februar: 1914 aus Sicht des stellver-
tretenden Expeditionsleiters
11 (8) Juli Zeh Frank Wild: ein dokumentari-
Leere Herzen Luchterhand; 20 Euro sches Kunststück

1968 – eine 12 (–) Arno Geiger 12 (8) Yuval Noah Harari


Unter der Drachenwand Hanser; 26 Euro Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
literarische Inventur
13 (11) Lucinda Riley 13 (12) Elli H. Radinger
Von Volker Weidermann Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro Die Weisheit der Wölfe
Ludwig; 19,99 Euro
14 (12) Joachim Meyerhoff
14 (13) Christine Westermann
Angelika Klüssendorfs Die Zweisamkeit der Einzelgänger
Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
Manchmal ist es federleicht
Kiepenheuer & Witsch; 19 Euro
„Jahre später“, ein 15 (14) Carmen Korn 15 (11) Andreas Michalsen Heilen mit
kaum verhülltes Porträt Zeiten des Aufbruchs Kindler; 19,95 Euro der Kraft der Natur Insel; 19,95 Euro

Frank Schirrmachers 16 (16) Rachel Joyce Mister Franks


fabelhaftes Talent für Harmonie
16 (10) Ildikó von Kürthy
Hilde Wunderlich; 19,95 Euro
Von Nils Minkmar Fischer Krüger; 19,99 Euro
17 (15) Roberto Saviano / Giovanni di Lorenzo
17 (17) Jojo Moyes Erklär mir Italien!
Kleine Fluchten Wunderlich; 12 Euro Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
Der Schriftsteller Jan 18 (14) Herfried Münkler Der Dreißigjährige
18 (13) Kerstin Gier
Brandt über Haruki Wolkenschloss Fischer; 20 Euro
Krieg Rowohlt Berlin; 39,95 Euro

19 (16) Gerald Hüther Raus aus der


Murakamis neuen Ro- 19 (20) Elena Ferrante Meine geniale Demenz-Falle Arkana; 18 Euro
Freundin Suhrkamp; 22 Euro
man „Die Ermordung 20 (19) Ferdinand von Schirach /
20 (15) John Green Schlaft gut, Alexander Kluge Die Herzlichkeit
des Commendatore“ ihr fiesen Gedanken Hanser; 20 Euro der Vernunft Luchterhand; 10 Euro

122 DER SPIEGEL 4 / 2018


ge sehen … und sterben?“. Schon damals war McDonagh
für einen Oscar nominiert. In diesem Jahr gilt „Three Bill-
boards“ als einer der Favoriten.
McDonagh hat „Three Billboards“ für Frances McDor-
mand geschrieben. Keine andere Schauspielerin ist als
Mildred vorstellbar. Wenn es, anders als in diesem Film,
Werbung mit Wut gerecht zugeht im Leben, wird sie für die Rolle wohl ihren
zweiten Oscar gewinnen, mehr als 20 Jahre nach dem
Preis für „Fargo“, die Krimifarce der Coen-Brüder. Darin
Filmkritik Der Oscarfavorit spielte McDormand eine Polizistin.
„Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ Auch in „Three Billboards“ kämpft McDormands Figur
überrascht mit grimmigem Humor. für Gerechtigkeit, nur mit radikaleren Mitteln; die Plakate
sind bloß der Anfang. Die Trauer um ihre Tochter hat
Kinostart: 25. Januar Mildred nicht gebrochen, sondern eher versteinern lassen.
Ihre Verbitterung verwandelt sie in Energie, alles an ihr

N
atürlich hätte sie auch eine Twitter-Kampagne star- signalisiert: Leg dich besser nicht mit mir an!
ten können oder einen Fahndungsaufruf bei Face- Diese Frau fürchtet sich vor niemandem mehr. Umso
book. Aber Mildred Hayes – die Heldin der Tragi- mehr Angst kann man vor ihr bekommen. Wie weit wird
komödie „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“, ver- sie gehen? Und wie weit ist man als Zuschauer bereit, ihr
körpert von Oscarpreisträgerin Frances McDormand – will dabei zu folgen? „Three Billboards“ stellt beiläufig heikle
eigentlich keine Debatte führen. Mildred will Rache. moralische Fragen, über Selbstjustiz, über die Grenzen
Sie lebt in einer Welt, in der sich die Menschen nicht unseres Mitgefühls. Im Zweifel riskiert der Film nämlich
im Internet fetzen, sondern, ganz traditionell, in der Knei- immer ein bisschen mehr als erwartet.
pe prügeln; in einer Gegend, in der man seine Pro-
bleme in sich hineinfrisst, um sie später allein zu
lösen, notfalls mit der Schrotflinte. Doch jetzt ist
diese Frau mit ihrer Geduld am Ende. Die Wut
muss raus, sofort.
Gerade fährt sie an großen Werbetafeln vorbei,
an drei alten Billboards, die ungenutzt an einer
Landstraße in der Nähe der Kleinstadt Ebbing ver-
wittern. In der nächsten Szene besucht sie den
Mann, der die Werbetafeln vermietet. „Was darf
man laut Gesetz auf ’n Billboard schreiben und
was nicht?“, fragt Mildred. „Ich nehme an, man
darf nichts Verleumderisches schreiben? Oder
‚ficken‘, ‚Pisse‘ oder ‚Fotze‘?“

TWENTIETH CENTURY FOX


Kurz darauf sind die Billboards mit neuen Pla-
katen beklebt, mit Mildreds Plakaten, schwarze
Schrift auf rotem Grund. Keine Werbung im klas-
sischen Sinn, sondern eine öffentliche Anklage ge-
gen den Chef der örtlichen Polizei: „Im Sterben
vergewaltigt“, „Und immer noch keine Festnah- Hauptdarstellerin McDormand: Rache statt Debatte
men?“, „Wie kann das sein, Chief Willoughby?“
Vor sieben Monaten war Mildreds 20-jährige Tochter „Wie läuft das Niggerfolter-Geschäft?“, fragt Mildred zum
vergewaltigt und ermordet worden. Der Täter konnte nicht Beispiel den Polizisten Dixon (Sam Rockwell), einen stadt-
ermittelt werden, weil, wie Mildred glaubt, Willoughby bekannten Rassisten. „‚Nigger‘ darf man nicht mehr sagen“,
(Woody Harrelson) und seine Kollegen zu träge waren und korrigiert Dixon, „es heißt jetzt ,Persons of color‘-Folter.“
mehr damit beschäftigt, Afroamerikaner zu schikanieren. Übertrieben? Ebbing, die Stadt im Titel, ist erfunden,
Die Plakate verhindern nun, was außer ihr offenbar alle der institutionelle Rassismus nicht. 2014 machte Missouri
in Ebbing wollen: dass der Fall endlich vergessen wird. weltweit Schlagzeilen, als in Ferguson ein weißer Polizist
Stattdessen eskaliert die Situation – aber ganz anders, als einen schwarzen Teenager erschoss. Tagelange Unruhen
es Mildred oder die Zuschauer vorhergesehen haben. folgten, die Nationalgarde musste eingreifen.
„Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ ist ein Doch letztlich geht es in „Three Billboards“ nur am Ran-
eigentlich unmöglicher Film, ein Widerspruch in sich. Eine de um Politik. Was ihn wirklich motiviert, hat Regisseur
Tragödie mit unfassbar komischen Dialogen. Melancholie, McDonagh schon in seinem letztem Film verraten, in „7 Psy-
die immer wieder ins Groteske kippt – und umgekehrt. chos“. Dessen Hauptfigur war ein Drehbuchautor mit
Ein Rachedrama, in dem auch Versöhnung möglich scheint. Schreibblockade, der irgendwann gestand: „Ich habe diese
Ein Thriller, der die großen Konflikte der Gegenwart auf- stereotypen Hollywood-Psychopathen-Mörder-Filme satt.“
greift, sexuelle Gewalt und Rassismus, ohne zum Lehr- „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ dürfte ihm
stück zu werden. Und ein durch und durch amerikanischer dagegen sehr gefallen. Martin Wolf
Film über die amerikanische Provinz, wie ihn die Ameri-
kaner allein offenbar nicht mehr hinkriegen: Der Dreh- Video: Ausschnitte aus
buchautor und Regisseur von „Three Billboards“ ist ein „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“
in London geborener Ire, Martin McDonagh, 47. Vor zehn spiegel.de/sp042018kritik
Jahren wurde er bekannt mit der Gangsterkomödie „Brüg- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 4 / 2018 123


Impressum Service
Leserbriefe
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) Mail spiegel@spiegel.de
SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg
www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966
Mail: leserbriefe@spiegel.de
HERAUSGEBER Rudolf Augstein CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, MOSKAU Christian Esch, Glasowskij Hinweise für Informanten
(1923–2002) Anke Jensen (stellv.) Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und
Tel. +7 495 22849-61,
CHEFREDAKTEUR
Schlussredaktion: Gesine Block; Christian
Fax 22849-62 Informationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen
Klaus Brinkbäumer (V. i. S. d. P.) Albrecht, Gartred Alfeis, Ulrike Boßerhoff, folgende Wege zur Verfügung:
Regine Brandt, Lutz Diedrichs, Bianca
Hunekuhl, Ursula Junger, Dörte Karsten,
NEW YORK Philipp Oehmke, 10 E 40th Post: DER SPIEGEL, c/o Investigativ, Ericusspitze 1,
ST ELLV. CHEFREDAKTEURE Street, Suite 3400, New York, NY 10016, 20457 Hamburg
Susanne Beyer, Dirk Kurbjuweit, Sylke Kruse, Christine Kuhlmann, Tel. +1 212 2217583, Fax 3026258
Alfred Weinzierl Katharina Lüken, Stefan Moos, Reimer Telefon: 040 3007-0, Stichwort „Investigativ“
Nagel, Sandra Pietsch, Fred Schlotterbeck, PA RIS Julia Amalia Heyer, Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ
HAUPTSTA DT BÜRO Leitung: René Pfister, Sebastian Schulin 137 Rue Vieille du Temple, 75003 Paris, Unter dieser Adresse finden Sie auch eine Anleitung,
Michael Sauga, Christiane Hoffmann Produktion: Petra Thormann, Reinhard Tel. +33 1 58625120, Fax 42960822 wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine
(stellv.). Redaktion Politik und Wirtschaft: Wilms; Kathrin Beyer, Michele Bruno,
Nicola Abé, Dr. Melanie Amann, Markus PEKING Bernhard Zand, P.O. Box 170, PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können.
Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Petra Der dazugehörende Fingerprint lautet:
Dettmer, Veit Medick, Ann-Katrin Müller, Peking 100101, Tel. +86 10 65323541,
Gronau, Ursula Overbeck, Britta Romberg,
Ralf Neukirch, Cornelia Schmergal, Fax 65325453 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
Martina Treumann, Rebecca von Hoff,
Christoph Schult, Anne Seith, Britta Stuff, Katrin Zabel
Gerald Traufetter. Autoren, Reporter: RIO DE JANEIRO Jens Glüsing,
Markus Feldenkirchen, Konstantin von BILDREDA KT ION Leitung: Michaela Caixa Postal 56071, AC Urca, Redaktioneller Leserservice
Hammerstein, Marc Hujer, Christian Herold, Claudia Jeczawitz (stellv.); Tinka 22290-970 Rio de Janeiro-RJ, Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
Reiermann, Marcel Rosenbach Dietz, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, Tel. +55 21 2275-1204 Mail: leserservice@spiegel.de
Thorsten Gerke, Andrea Huss, Elisabeth
D E U TS C H L A N D Leitung: Cordula Meyer, Kolb, Petra Konopka, Matthias Krug, ROM Walter Mayr, Largo Chigi 9,
Dr. Markus Verbeet. Redaktion: Laura 00187 Rom, Tel. +39 06 6797522,
Nachdruckrechte / Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken
Parvin Nazemi, Peer Peters, Anke Wellnitz Nachdruck und Speicherung in digitalen Medien nur mit
Backes, Katrin Elger, Michael Fröhlings- Fax 6797768
dorf, Hubert Gude, Charlotte Klein, Mail: bildred@spiegel.de schriftlicher Genehmigung des Verlags.
Miriam Olbrisch, Andreas Ulrich, Michael SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, SA N F RA N C I S CO Thomas Schulz, Für Deutschland, Österreich, Schweiz:
Wulzinger. Meldungen: Annette Bruhns. Tel. +1 917 3998184 1 Post Street, Suite 2750, San Francisco,
CA 94104, Tel. +1 212 2217583
Mail: lizenzen@spiegel.de, Telefon: 040 3007-3540
Autoren, Reporter: Jan Fleischhauer, An- GRAFIK UND MULT IMEDIA Leitung: Jens
nette Großbongardt, Julia Jüttner, Beate Fax: 040 3007-2966
Radü. Grafik-Team: Cornelia Baumer- TEL AVIV P.O. Box 8387, Für alle anderen Länder: The New York Times Syndicate
Lakotta, Bruno Schrep (frei), Hans-Ulrich mann, Thomas Hammer; Ludger Bollen,
Stoldt, Katja Thimm, Dr. Klaus Wiegrefe Tel Aviv-Jaffa 61083 Mail: ilaria.parogni@nytimes.com, Telefon: +1 212 556-5118
Max Heber, Anna-Lena Kornfeld, Gernot
Berliner Büro Leitung: Frank Hornig. Matzke, Cornelia Pfauter, Michael Walter. TO KIO Dr. Wieland Wagner, Asagaya
Redaktion: Maik Baumgärtner, Sven Multimedia-Team: Alexander Epp, Minami 2-31-15 B, Suginami-ku,
Nachbestellungen SPIEGEL-Ausgaben der letzten Jahre so-
Becker, Sven Röbel, Michael Sontheimer Roman Höfner, Marco Kasang, Bernhard Tokio 166-0004, Tel. +81 3 6794 7828 wie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE und SPIEGEL
(frei), Andreas Wassermann, Wolf Riedmann WISSEN können unter www.amazon.de/spiegel versand-
Wiedmann-Schmidt. Autoren, Reporter: WA RS C H AU P.O. Box 31, kostenfrei innerhalb Deutschlands nachbestellt werden.
L AYOUT Leitung: Jens Kuppi, Reinhilde
Stefan Berg, Martin Knobbe ul. Waszyngtona 26, 03-912 Warschau,
Wurst; Michael Abke, Lynn Dohrmann, Tel. +48 22 6179295
W I RTS C H A F T Leitung: Armin Mahler, Claudia Franke, Bettina Fuhrmann, Ralf Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn
Susanne Amann (stellv.), Markus Brauck Geilhufe, Kristian Heuer, Elsa Hundert- WAS H I N GTO N Christoph Scheuermann, www.spiegel-antiquariat.de Telefon: 0228 9296984
(stellv.). Redaktion: Simon Hage, Isabell mark, Louise Jessen, Nils Küppers, 1202 National Press Building, Washington,
Hülsen, Alexander Jung, Nils Klawitter, Annika Loebel, Leon Lothschütz, D.C. 20045, Tel. +1 202 3475222, Abonnement für Blinde Audio Version, Deutsche
Alexander Kühn, Martin U. Müller, Ann- Sebastian Raulf, Florian Rauschenberger, Fax 3473194 Blindenstudienanstalt e. V. Telefon: 06421 606265
Kathrin Nezik, Simone Salden. Autoren, Barbara Rödiger
Reporter: Hauke Goos, Michaela Schießl Elektronische Version, Frankfurter Stiftung für Blinde
DOKUMENTAT ION Leitung: Dr. Hauke
TITELBILD Leitung: Katja Kollmann,
Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Peter Telefon: 069 9551240
AUS L A N D Leitung: Britta Sandberg, Johannes Unselt (stellv.); Suze Barrett,
Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Mathieu Iris Kuhlmann Wahle (stellv.); Zahra Akhgar, Dr.
Susmita Arp, Viola Broecker, Dr. Heiko Abonnementspreise
von Rohr (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers,
Katrin Kuntz, Jan Puhl, Tobias Rapp, San- Buschke, Johannes Eltzschig, Klaus Inland: 52 Ausgaben € 249,60
dra Schulz, Samiha Shafy, Helene Zuber. REDA KT IONSVERT RE TUNGEN Falkenberg, Catrin Fandja, Dr. André Studenten Inland: 52 Ausgaben € 171,60
Autoren, Reporter: Marian Blasberg, D E U TS C H L A N D Geicke, Thorsten Hapke, Susanne Heitker,
BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin; Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland
Clemens Höges, Susanne Koelbl, Dietmar
Pieper, Christoph Reuter Deutsche Politik, Wirtschaft Bertolt Hunger, Kurt Jansson, Stefanie Mengenpreise auf Anfrage.
Tel. 030 886688-100, Fax 886688-111; Jockers, Michael Jürgens, Tobias Kaiser,
WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Renate Kemper-Gussek, Ulrich Klötzer, Der digitale SPIEGEL: 52 Ausgaben € 213,20
Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. Gesellschaft Tel. 030 886688-200, Ines Köster, Anna Kovac, Peter Lakemei- (der Anteil für das E-Paper beträgt € 187,20)
Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Fax 886688-222 er, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Rainer Befristete Abonnements werden anteilig berechnet.
Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt,
Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Julia DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4,
01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard Minich, Abonnentenservice Persönlich erreichbar
Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Schmundt, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd
Frank Thadeusz, Christian Wüst. Autor: Fax 26620-20 Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr
Musa, Nicola Naber, Claudia Niesen,
Jörg Blech DÜSSELDORF Frank Dohmen, Lukas Eber- Sandra Öfner, Dr. Vasilios Papadopoulos, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
KULT UR Leitung: Elke Schmitter, Sebastian le, Fidelius Schmid, Jägerhofstraße 19–20, Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070


Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Mail: aboservice@spiegel.de
Becker, Lars-Olav Beier, Anke Dürr, Ulrike Fax 86679-11 Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek,
Knöfel, Katharina Stegelmann, Claudia FRANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Dr. Regina Schlüter-Ahrens, Mario
Voigt, Martin Wolf. Autoren, Reporter: Tim Bartz, An der Welle 5, Schmidt, Andrea Schumann-Eckert, Ulla
Georg Diez, Dr. Martin Doerry, Lothar 60322 Frankfurt am Main, Tel. 069 9712680, Siegenthaler, Meike Stapf, Rainer Staud-
Gorris, Wolfgang Höbel, Dr. Nils Minkmar, Fax 97126820 hammer, Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Abonnementsbestellung
Volker Weidermann Stodte, Rainer Szimm, Dr. Marc Theodor, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
KARLSRUHE Dietmar Hipp, Waldstraße 36, Andrea Tholl, Nina Ulrich, Ursula
GESELLSCHAF T Leitung: Matthias Geyer, SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737, Wamser, Peter Wetter, Holger Wilkop,
Özlem Gezer (stellv.), Guido Mingels oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Fax 9204449 Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller,
(stellv.). Redaktion: Maik Großekathöfer,
Barbara Hardinghaus, Maren Keller, Malte Zeller
M Ü N C H E N Anna Clauß, Dinah Deckstein, Ich bestelle den SPIEGEL
Dialika Neufeld, Claas Relotius, Jonathan Jan Friedmann, Martin Hesse, Rosental 10,
Stock, Takis Würger. Autoren, Reporter:
N AC H R I C H T E N D I E N ST E AFP, AP, dpa, ❏ für € 4,80 pro gedruckte Ausgabe
80331 München, Tel. 089 4545950, Los Angeles Times / Washington Post,
Uwe Buse, Ullrich Fichtner, Jochen-Martin Fax 45459525 New York Times, Reuters, sid
❏ für € 4,10 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
Gutsch (frei), Alexander Osang, Cordt E-Paper beträgt € 3,60)
Schnibben, Alexander Smoltczyk, Barbara REDA KT IONSVERT RE TUNGEN AUSL AND
Supp BA N G A LO R E Laura Höflinger, 811, SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN ❏ für € 0,50 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das E-Paper
10th A Main Road, Suite No. 114, 1st Floor, GMBH & CO. KG
S P O RT Leitung: Udo Ludwig. Redaktion: Bangalore – 560 038
beträgt € 0,49) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe. Der Bezug
Thilo Neumann, Gerhard Pfeil, Antje Verantwortlich für Anzeigen: ist zur nächsterreichbaren Ausgabe kündbar. Alle Preise inkl.
Windmann, Christoph Winterbach BOSTON Johann Grolle, 25 Gray Street, André Pätzold
02138 Cambridge, Massachusetts, MwSt. und Versand. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Bitte
INVEST IGATIVREPORTER Rafael Busch- Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 72 vom
mann, Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch,
Tel. +1 857 9197115 liefern Sie den SPIEGEL an:
1. Januar 2018
Jörg Schmitt (investigativ-reporter@ BRÜSSEL Peter Müller, Mediaunterlagen und Tarife:
spiegel.de). Koordination SPIEGEL ONLINE: rue Le Titien 28, 1000 Brüssel, www.spiegel.media
Jörg Diehl, Koordination SPIEGEL TV: Tel. +32 2 2306108, Fax 2311436
Name, Vorname des neuen Abonnenten
Roman Lehberger ISTANBUL Maximilian Popp,
Verantwortlich für Vertrieb:
SONDERTHEMEN Leitung: Dr. Susanne Tel. +90 5413971567 Stefan Buhr
Weingarten, Dr. Eva-Maria Schnurr
K A P STA DT Bartholomäus Grill, Verantwortlich für Herstellung: Straße, Hausnummer oder Postfach
(stellv.). Redaktion: Markus Deggerich,
P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, Silke Kassuba
Uwe Klußmann, Joachim Mohr, Bettina
Musall, Dr. Johannes Saltzwedel. Autorin: Tel. +27 21 4261191
Marianne Wellershoff KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, Druck: PLZ, Ort
01001 Kiew, Tel. +38 050 3839135 Mohn Media
KOORDINATION MEINUNG Markus Felden- Gütersloh
kirchen, Christiane Hoffmann LON DON Jörg Schindler, 26 Hanbury
S P I EG E L P LU S Alexander Neubacher Street, London E1 6QR, Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
Tel. +44 203 4180610, Fax +44 207 0929055
DEIN SPIEGEL Leitung: Detlef Hacke,
VERL AGSLEITUNG Jesper Doub
Bettina Stiebel. Redaktion: Antonia Bauer, MADRID Apartado Postal Número 100 64, Ich zahle nach Erhalt der Rechnung.
Claudia Beckschebe, Alexandra Schulz 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 G E S C H Ä F TS F Ü H RUN G Thomas Hass
Hinweise zu den AGB und meinem Widerrufsrecht finde ich
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel unter www.spiegel.de/agb

INTERNE T www.spiegel.de DER SPIEGEL (USPS no 0154520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known
REDA KT IONSBLOG spiegel.de/spiegelblog Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SP18-003, SD18-006
Office of Publication: German Language Publications Inc, 153 S Dean St, Englewood NJ SD18-008 (Upgrade)
TWIT TER @derspiegel 07631, 1-855-457-6397. Periodicals postage is paid at Paramus NJ 07652. Postmaster:
FACEBOOK facebook.com/derspiegel Send address changes to: DER SPIEGEL, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631.

124 DER SPIEGEL 4 / 2018


Nachrufe
DOLORES O’RIORDAN, 46 Day“. Der in Kalifornien ge-
Vier Wörter genügen, um Do- borene Edwin Hawkins hatte
lores O’Riordans Stimme wie- das Lied in einem Gesang-
der im Ohr zu haben: „In buch seiner Mutter entdeckt,
your head, Zombie.“ Der ihn als Gospel arrangiert und
Song der irischen Rockband mit seiner Gesangsgruppe
The Cranberries, der kritisch eine eher laienhafte Aufnah-
auf den Nordirlandkonflikt me produziert. Ein Radio-DJ
blickte, wäre 1994 nicht zu entdeckte die Platte, spielte
einem weltweiten Hit gewor- sie – und bald stürmte „Oh
den, vielleicht auch nie – ne- Happy Day“ die Charts. 1970
ben Nirvanas „Smells Like erhielt er dafür einen Gram-
Teen Spirit“– zu einer Hymne my. Hawkins war schon als
der MTV-Generation, hätte Kind in der Welt der Gospel-

HOFFMANN / IMAGO
nicht O’Riordan „Zombie“ ge- musik zu Hause und ein talen-
sungen – mit ihrer melancho- tierter Klavierspieler. Eigent-
lischen, doch kräftigen Stim- lich wollte er Innenarchitekt
me, die sich so markant werden. Mit seinen Edwin
überschlug. Singen lernte Hawkins Singers tourte er
THOMAS LEIF, 58 O’Riordan als Kind, in Bally- durch die Welt; seine Stimme
In seiner letzten Reportage „Wahre Christen oder böse bricken, einer kleinen Ge- wurde als „beruhigend, ele-
Hetzer?“, die Mitte September im SWR lief und in der gant“ gefeiert. „Ich habe nie
Mediathek noch abrufbar ist, zeigt sich der Reporter geplant, in die Musikbranche
auf der Höhe seiner Kunst. Es geht um Christen in der zu gehen“, sagte er einmal,
AfD. Thomas Leif begibt sich in die Gemeindesäle und „der Erfolg der Platte be-
Wohnzimmer der süddeutschen Provinz und spricht stimmte mein Schicksal.“
mit Rechten wie mit Liberalen, mit engagierten Kirchen- Edwin Hawkins starb am
männern und bewegten AfD-Frauen. Niemand wird vor- 15. Januar in Pleasanton,
geführt, jeder kommt ausführlich zu Wort. Der 14-jährige Kalifornien. ks
Sohn eines AfD-Kandidaten erzählt, wie es ihm damit
geht, dass sein Vater von Klassenkameraden als Nazi VIKTOR ANPILOW, 72
bezeichnet wird. Der Standpunkt des Reporters ist zu je- Auf das Ende des Kommunis-

CHINAFOTOPRESS / DPA
dem Zeitpunkt deutlich – er hält nichts von der AfD. Aber mus folgte in Russland das
er ist sehr neugierig. Ihn interessiert einfach alles, und Ende der Kommunisten. Sie
nichts Menschliches ist ihm fremd. Wenn man Thomas Leif wurden zu einer zahmen Op-
begegnete, traf man gleich mehrere Personen: einen positionspartei, von der dem
Reporter, einen Politikdeuter, einen Organisator, einen Kreml keine Gefahr droht.
Bestsellerautor und manischen Redner. Wenn man ihm Viktor Anpilows Schuld ist
nicht schnell genug war, äußerte er eben selbst eine meinde im Südwesten Irlands. das nicht: Der linke Politiker
sensationelle Personalie, enttarnte ein Komplott oder Ihren ersten Song schrieb steht für jene aufmüpfige Lin-
verblüffte mit einer irren Info. Und regte sich dann auf sie mit zwölf; Auftritte hatte ke, die Russland Anfang der
über das, was er einem gerade beigebracht hatte. Dann sie in Pubs und in Kirchen. Neunzigerjahre noch hatte.
erklang sein leicht heiseres, tiefes „Waas? Na, was sagst du 1990 trat sie einer damals Der Ex-Journalist und Grün-
dazu?“. Ich hatte das Glück, ihn schon früh kennenzuler- noch unbekannten Band aus der der Bewegung „Arbeiten-
nen, da war ich bei der Schülerzeitung, und er war schon Limerick bei, die Mitte der des Russland“ führte Massen-
umtriebig und ein Auskenner, Funktionär des Schüler- Neunzigerjahre als The Cran- kundgebungen vor den Mau-
zeitungsverbands. Sollte uns, unserem Schülerblatt jemand berries sowohl in Europa als ern des Kremls an. Auch im
ein Haar krümmen, würde die Bundesrepublik in den auch in den USA populär wur-
Generalstreik im Namen der Pressefreiheit geführt, und de. An den Erfolg des zweiten
zwar von ihm persönlich – so ungefähr war damals schon Albums, „No Need to Argue“,
sein Versprechen. Jeden zweiten Satz beendete er mit der das „Zombie“ enthielt, konn-
Verpflichtung auf Vertraulichkeit, vermutlich hielt er uns ten The Cranberries nicht an-
FADEICHEV SERGEI / ITAR TASS / DPA

auch zum Besten. Wir blieben in Kontakt, so wie Leif knüpfen. O’Riordan veröffent-
mit der ganzen Branche, ja mit halb Deutschland in Verbin- lichte Ende der Nullerjahre
dung stand. In der bedächtigen und biederen Republik, zwei Soloalben. 2013 machte
die wir geworden sind, war er für die Erhöhung von Tem- sie öffentlich, dass sie als
po und Temperatur zuständig. Leif war selten zufrieden, Kind missbraucht worden
aber meistens guter Laune. Bei all seinen Erfolgen, den war, später wurde ihr eine bi-
vielen Ehrungen, die ihm zu Recht zuflogen, hatte er auch polare Störung diagnostiziert.
einige Flops zu verbuchen, der bekannteste war wohl sein Dolores O’Riordan starb am
Streit mit dem von ihm gegründeten Netzwerk Recherche, 15. Januar in London. skr bewaffneten Konflikt zwi-
es ging damals um buchhalterische Ungenauigkeiten. schen Präsident Boris Jelzin
Was ihn interessierte, wie der SPIEGEL, wurde von ihm EDWIN HAWKINS, 74 und Teilen des Parlaments ge-
mit Spott und Kritik überreichlich bedacht. Und dann wur- Elvis Presley, Aretha Franklin hörte Anpilow 1993 zu den
de diskutiert, bis man bei Montaigne war – es war ein und viele andere sangen den radikalen Gegnern der Regie-
Glück mit ihm. Thomas Leif starb, wie erst jetzt bekannt Song, der eher zufällig ein Hit rung. Viktor Anpilow starb
wurde, am 30. Dezember 2017. nm geworden war: „Oh Happy am 15. Januar in Moskau. esc
DER SPIEGEL 4 / 2018 125
Kühler Konter
Die Britin Lily Cole, 30, wurde
von der Brontë Society zur
„Kreativpartnerin“ ernannt.
Sie soll federführend die Feier-
lichkeiten rund um den 200.
Geburtstag der Schriftstellerin
Emily Brontë („Sturmhöhe“)
mitgestalten. Cole, gefragtes
Fotomodel, Schauspielerin
und Kunsthistorikerin (Cam-
bridge-Abschluss mit Aus-
zeichnung) plant unter an-
derem, einen Kurzfilm zu
drehen. Die Wahl der Gesell-
schaft führte jedoch zu einem
Eklat: Der britische Autor
Nick Holland erklärte seinen
Austritt aus der Vereinigung,
weil es ihm unerträglich sei,
dass ein Supermodel das Jubi-
läumsjahr gestalte; er sei sich
sicher, dass Emily Brontë ge-
nau wie er reagieren würde.
Hollands misogyne Bemerkun-
gen handelten ihm im Internet
den Titel „sexistischer Snob“
ein. Lily Cole konterte kühl:
„Ich maße mir nicht an, Emilys
potenzielle Reaktion auf mei-
ne Ernennung als Kreativpart-
nerin der Brontë-Gesellschaft
zu kennen. Doch ich achte
ihre Intelligenz und ihren An-
stand genug, um zu glauben,

GEOFF PUGH FOR THE TELEGRAPH


dass sie keine Arbeit aus-
schließlich auf der Grundlage
des Namens beurteilen wür-
de.“ Brontë hat unter Pseudo-
nym veröffentlicht, um ihr Ge-
schlecht zu verschleiern und
Vorurteilen zu entgehen. ks

Mit Vorkoster zur Eröffnung der Spiele ge-


meinsam ins Stadion einmar-
man kurz durchklingeln und
ein bisschen Small-Talk-taug-
Nordkoreas Diktator Kim Jong schieren, sogar ein gemein- liches Sporthalbwissen auf-
Un, vermutlich 35, will offen- sames Eishockeyfrauenteam saugen. Während des Fluges
bar eine Delegation zu den scheint geplant. Klingt nach nicht den Piloten hinrichten
Olympischen Spielen in Süd- einer guten Gelegenheit für lassen. Beruhigungstropfen
korea entsenden. Im Angebot Kim Jong Un, endlich seine nicht vergessen vor Nutzung
sind 230 regimetreue Cheer- erste offizielle Reise ins kapi- des südkoreanischen Inter-
leaderinnen, vielleicht aber talistische Ausland anzutre- nets, es ist das schnellste der
auch die Spice Girls Nord- ten; am besten per Flieger, Welt und, Vorsicht, nicht zen-
RODONG SINMUN / DPA

koreas: die Moranbong Band um sich schön von Vati abzu- siert. (Bei Langeweile „Kim
(bekannt durch Hits wie „Wir setzen, der ja Bahn fuhr, auf- Jong Un looking at things“
denken an den Marschall Tag grund von Flugangst. Vor Ab- googeln.) Ach ja, wichtig:
und Nacht“). Darüber hinaus flug bitte beim befreundeten Beruhigungstropfen unbe-
wollen Nord- und Südkorea US-Basketballer Dennis Rod- dingt vorkosten lassen. skr

126 DER SPIEGEL 4 / 2018


Personalien
„Ich liebe dich“ trägt eine tannengrüne Stepp-
jacke mit Fellrand-Kapuze,
auf Koreanisch sie einen roten Tweedmantel
Jedes Jahr lassen sich rund mit Plüschschal (dass Kim
160 000 Paare in Deutschland sich für Kunstfell entschieden
scheiden. In naher Zukunft hat, steht extra dabei). Auf
wird wohl auch die Ehe von einem Foto schauen beide
Gerhard Schröder, 73, und Do- verzückt in die Ferne, was sie
ris Schröder-Köpf dazuzäh- dort entdecken, würde man
len. Der ehemalige Bundes- gern wissen, wird aber nicht

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL


kanzler hat im vergangenen verraten. Sonst erfährt man
Herbst die Scheidung einge- eine Menge: Schröder kann
reicht, das ist in der aktuellen „Ich liebe dich“ auf Korea-
Ausgabe der „Bunten“ zu nisch sagen; sie verdient
lesen, die dem Liebesleben 200 000 Euro im Jahr. Zwölf-
des SPD-Politikers eine Titel- mal wird Schröder in dem
geschichte widmet. Auch das Text der Illustrierten als
Leben einst be- Altkanzler be- Der Augenzeuge
deutender Men- zeichnet. Kein
schen trägt ge-
wöhnliche Züge.
nettes Wort für
jemanden, der
„Ich hielt es nicht aus“
Schröders neue über siebzig, Nach dem Abriss der Kirche im nordrhein-westfälischen
Lebensgefährtin aber frisch ver- Immerath soll auch die Heilig-Kreuz-Kirche im Nachbarort
heißt Soyeon Kim, liebt ist. Womög- Keyenberg dem Braunkohletagebau Garzweiler II weichen.
47, eine Dolmet- lich liegt in die- Wolfgang Lothmann, 66, lebte in Keyenberg, dann musste er
scherin aus Süd- sem Wort – Alt- umsiedeln. Er erzählt vom Verschwinden seiner Heimat.
korea. Wie glück- kanzler – die
lich beide sind, Erklärung für „Ich habe bis April 2017 in Keyenberg gewohnt, dann bin
sollen exklusive vieles. Auch für ich ins acht Kilometer entfernte Erkelenz umgesiedelt –
Fotos in der „Bun- diese fünfseitige so wie es allen meinen früheren Nachbarn bevorsteht.
ten“ zeigen: Er Homestory. clv Keyenberg ist eines von fünf Dörfern, die in den kom-
menden Jahren verschwinden werden, weil der Energie-
versorger RWE und die Politik in unserer Region den
Braunkohletagebau vorantreiben. Vor allem die Kirche
halle – widmet ihm eine um- in Keyenberg habe ich ins Herz geschlossen, sie wurde
Happy Birthday! fassende Schau. Sie beginnt im 19. Jahrhundert gebaut, hat einen imposanten Hochal-
Der Künstler Georg Baselitz zwei Tage vor dem Festtag tar und ist denkmalgeschützt. Trotzdem werden sich
feiert am 23. Januar seinen des Malers und Bildhauers. bald Bagger an ihr zu schaffen machen.
80. Geburtstag, und eines Baselitz hat sich aber bereits Wie das aussehen wird, habe ich in Immerath beobach-
seiner Geschenke genießt er in den vergangenen Tagen bli- ten können. Ich war einer der wenigen aus der Gegend,
schon im Vorfeld. Die Fonda- cken lassen und ein womög- die sich den Abriss der Kirche Sankt Lambertus angese-
tion Beyeler in Riehen bei lich auch prüfendes Auge auf hen haben. Die meisten wollten sich das nicht antun. Die
Basel – eine private, aber die Vorbereitungen geworfen, Kirche war eine Landmarke, ein Wahrzeichen. Ich muss-
weltbekannte Ausstellungs- vor allem auf die Auswahl te schlucken, als der Bagger sich voranarbeitete. Mit
und Anordnung der einer Art Greifarm zerhackte er das Kirchendach in ein
Werke. Der Künstler paar Sekunden. Dann war der erste Turm dran. Steine
wird mit weiteren Aus- spritzten zu Boden. Ein Gebäude, das Menschen über
stellungen geehrt. In Jahre aufgebaut hatten, ein Gotteshaus, das sie mehr als
der Staatlichen Graphi- ein Jahrhundert bewegte, verschwand im Nu in einer
schen Sammlung in Staubwolke. Als der Bagger den zweiten Turm anknab-
München werden insbe- berte, ging ich heim. Ich hielt es nicht mehr aus.
sondere Zeichnungen Ich möchte nicht auf Strom verzichten, ich kann ver-
und Druckgrafiken von stehen, dass die Landesregierung auf Braunkohle setzt
Baselitz gezeigt, nicht und Bürger Opfer bringen müssen. Wir werden dafür
wenige sind Schenkun- auch materiell entschädigt. Dennoch fielen die Entschei-
gen oder Leihgaben dungen rund um Garzweiler II undemokratisch. Es gab
eines seiner frühsten Anhörungen zu den Umsiedlungen, in denen Vertreter
und größten Fans, der Bezirksregierung lange Reden hielten, die Beiträge
Franz Herzog von Bay- der Bürger wurden dagegen nach zwei Minuten gekappt.
ern. Mit einer Presse- Man hätte die Immerather Kirche verlagern können,
TIM WEGNER / DER SPIEGEL

konferenz wird die aber das war nie wirklich ein Thema. Viele Menschen
Schau am Ehrentag des sind müde, sie wollen nicht mehr kämpfen und ziehen
Künstlers eröffnet, Ge- weg. Keyenberg wird immer leerer, es gibt verwaiste
burtstagskind Baselitz Häuser, an denen die Fenster mit Brettern zugenagelt
wird allerdings nicht sind. Es ist ein sterbender Ort, da will niemand bleiben.“
anwesend sein. uk Aufgezeichnet von Lukas Eberle

DER SPIEGEL 4 / 2018 127


„Evolution rückwärts, oder: das Ende der Zivilisation.
Das Cover richtet den Fokus auf ein präsidiales wie globales
Desaster. Es trifft den Nerv der Zeit.“
Peter Hülcker, Norderstedt (Schl.-Holst.)

Das Problem ist nicht Trump gangen, mit der Wahl von Herrn Trump der abzuwägen, wäre es sinnvoller, den re-
zum Präsidenten. In fast jeder Ihrer Aus- lativen Anteil der deutschen Täter mit dem
Nr. 3/2018 Im Zeitalter von Feuer und Zorn gaben seitdem widmen Sie ihm mehrere relativen Anteil der Täter unter Asylbe-
Es reicht mir allmählich. Gefühlt jede zwei- Seiten; ich kann es nicht mehr lesen. Na- werbern zu vergleichen. Erst so wäre eine
te Ausgabe hat Trump auf dem Titelbild. türlich stimme ich Ihnen mit Ihren Äuße- faire Aussage möglich, wer nun wirklich
Warum können Sie es nicht ertragen, dass rungen, dass dieser Mann gefährlich ist, zu mehr Opfer auf dem Gewissen hat.
die USA demokratisch gewählt haben? 99 Prozent zu; meiner Meinung nach wäre Dr. Petra Eilfeld, Fürstenfeldbruck (Bayern)
Wie geht es weiter – vielleicht mit Öster- aber das Beste, ihn zu ignorieren!
reich? Aber dann ohne mich!
Anton Widmann, Au i. d. Hallertau (Bayern)
Michael Gassner, Bensheim (Hessen)
Spätabends nie allein
Nr. 2/2018 Rechte Internetseiten berichten über an-
Treffender und überzeugender könnte gebliche Vergewaltigungen durch Flüchtlinge – haben
die Gefahren für Frauen tatsächlich zugenommen?
kein Wortbeitrag die derzeit zu besichti-
gende Zurückentwicklung vom zivilisier- Vielen Dank für Ihren überaus differen-
ten Homo sapiens zum politischen Primi- zierten Artikel. Ich finde es außerordent-

TOM BRENNER / NYT / REDUX / LAIF


tivling à la Trump darstellen. Brillanter lich erfreulich, dass derartige Übergriffe
Bildjournalismus! heute strafbar sind und vermehrt angezeigt
Burkhard Vesper, Hamburg werden. Allerdings finde ich es doch eini-
germaßen verwunderlich, dass so viele
Ein Hoch auf dieses Titelbild! Der SPIEGEL Menschen so tun, als habe es „so etwas“
hatte schon immer besondere Blickfänge, früher nicht gegeben. Sowohl für meine
aber dieser toppt in seiner Aussage alle Mutter (Jahrgang 1929) als auch für mich
vorherigen! US-Präsident Trump (1950) und meine Tochter (1979) war es frü-
Gert Läufer, Berlin her völlig selbstverständlich, dass man
Gewiss, dieser Kongress bringt es nicht spätabends dafür sorgte, dass man nicht
Nun aber mal halblang! Was soll dieses auf, ein Amtsenthebungsverfahren gegen allein unterwegs war. Und es war auch
wiederholte Trump-Bashing? Er trampelt Trump einzuleiten. Es fehlt noch das klare, klar, dass von jungen Männern (vor allem
doch nur dummdreist auf der sogenannten eindeutige Vergehen. Das könnte Trump in Gruppen oder angeheitert) stets eine
Political Correctness herum und ist auch natürlich mal nachliefern. Nicht auszu- potenzielle Gefahr ausging. Ein neues Phä-
nicht wirklich gefährlich, denn ein Narzisst schließen ist jedoch, dass Trump von sich nomen ist das also wahrlich nicht.
ist kein Selbstmörder, der Kriege anzettelt, aus hinschmeißt, möglicherweise weil ihn Corinna Seibring, Mülheim an der Ruhr
die er nicht überleben kann. Wir werden sein Kabinett dazu drängt oder gar nötigt.
ihn überstehen. Alan Benson, Berlin Es mag schon sein, dass es rechte Fake-
Klaus Müller, Essen Informationen über Flüchtlinge gibt. Aber
Schimpfen Sie ruhig weiter über Trump, jeder Übergriff, wirklich jeder – ob auf der
Gratuliere zum wunderbaren Titelbild! Sie für mich wurde das Weiße Haus durch ihn Straße oder in Flüchtlingsheimen – ist zu
haben uns gebildeten Amerikanern aus zum weisen Haus. Er dient dem Nutzen viel. Und unsere Justiz funktioniert sowie-
der Seele gesprochen. Wie wir seit über Amerikas und der ganzen Menschheit. so nicht – das ist eine Institution mit Samt-
zwölf Monaten Trump beurteilen, haben Rolf Zobel, Lahnstein (Rhld.-Pf.) handschuhen!
Sie in bester Wilhelm-Busch-Tradition aus- Evelyn Thriene, Konstanz
gedrückt. Herkunft nennen
Volker Kruhoeffer, Lititz, Pennsylvania (USA) In einer Zeit einer häufig vorschnellen und
Nr. 2/2018 Kolumne „Der gesunde Menschen- aufgeregten, teilweise bis ins Hysterische
verstand“: Auch Deutsche unter den Tätern
Das Problem ist nicht Donald Trump, son- reichenden Medienberichterstattung ist der
dern die Gesellschaft, die diesen Charakter Es ist schon ein schwacher Versuch, die Artikel ein herausragender und beispiel-
gewählt hat; sie wusste genau, wen sie nachweislich überproportional angestiege- gebender Beitrag zur dringend notwendi-
wählt. Wenn wir in Deutschland nicht ak- nen Straftaten von Flüchtlingen mit dem gen Versachlichung der zweifelsohne er-
tuelle amerikanische, russische oder chi- Hinweis zu relativieren, dass auch Deut- forderlichen öffentlichen Diskussion des
nesische Gesellschaftsstrukturen haben sche unter den Tätern sind. Die Forderung, Themas. Er hebt sich mehr als wohltuend
wollen, muss sich die breite Gesellschaft bei jeder Tat die Herkunft des Täters zu von vielen anderen Beiträgen ab. Die Aus-
stärker artikulieren. Wie wir nicht mit nennen, kann ich nur unterstützen – das sage der Autoren: „Die Beschäftigung mit
Trump gerechnet haben, so rechnen wir ist aber politisch nicht gewollt. diesen Daten ist kleinteilig und kompli-
auch derzeit nicht mit einem Bundeskanz- Gertrud van Schwamen, Sundern (NRW) ziert, aber nur so lässt sich beispielhaft ver-
ler Björn Höcke oder Ähnlichem, und das stehen, was dran ist an derlei Behauptun-
trotz unserer geschichtlichen Erfahrungen. Markus Feldenkirchen hat vollkommen gen und wie rechte Seiten operieren“, trifft
Gernot Hilge, Münster recht: Deutsche begehen signifikant mehr die Problematik auf den Punkt. Leider gilt
Straftaten als Asylbewerber – aus einem sie nicht nur für dieses Thema. Das Leben
Ich lese den SPIEGEL seit Jahren mit gro- sehr einfachen Grund: In Deutschland le- ist zu komplex für einfache Botschaften,
ßer Zufriedenheit. Diese Zufriedenheit ist ben signifikant mehr Deutsche als Asylbe- denen viele nur allzu willig nachlaufen.
mir aber seit November 2016 verloren ge- werber. Statt absolute Zahlen gegeneinan- Michael Frücht, Moers (NRW)

128 DER SPIEGEL 4 / 2018


Briefe

Wertschätzung für Helfer nicht. Wir sind wach und kritisch geblieben mit Kindern allein, und welche Milliarden-
und nicht zufrieden mit den Zuständen, kosten entstehen uns, wenn unzählige Vä-
Nr. 2/2018 Attacken gegen Rettungskräfte wie an die Sie in Ihrem Artikel ja durchaus be- ter sich um Unterhaltszahlungen drücken?
Silvester gehören inzwischen zum Alltag
schreiben. Ich bin dankbar, dass ich nicht vergessen
Das Skandalöse an den Aussagen von Sigrid Bosse, Cottbus (Brandenb.) habe, selbst ein Flüchtling gewesen zu sein,
Herrn Staller, aber auch am Tenor des Bei- und jetzt einem jungen Flüchtling wieder
trags ist: Die Helfer stehen in der Pflicht, Weil der Autor die meisten Argumente der ein „Mutterhaus“ geben kann. Denn für
den ihnen gegenüber gezeigten Aggressio- interviewten Dissidenten nicht widerlegen ein „Vaterhaus“ ist der männliche Held ab-
nen „geschult“ entgegenzutreten. Nach kann, nutzt er Aussagen von Prof. Maaz, handengekommen.
meiner Erfahrung hat kein Rettungssani- um alle bei den Psychopathen einzuord- Dr. Beate Pesch, Grefrath (NRW)
täter, Feuerwehrmann oder Notarzt ein nen. Für Hammerstein und Maaz sind die
Problem, mit einer Aggression eines wirk- feigen Angepassten die Normalen und alle, Sie stellen sich nur dumm
lich psychisch Kranken umzugehen. Ge- die unter Lebensgefahr in Leipzig demons-
genüber enthemmten, eigentlich psychisch trierten, sind Narzissten. Für mich bleiben Nr. 2/2018 Werden Computer bald zu echtem Denken
fähig sein?
gesunden alkoholisierten Krawallfetischis- sie Helden.
ten jedoch kann man nur die Sprache an- Lothar Nickel, Obrigheim (Rhld.-Pf.) Vielen Dank für Manfred Dworschaks gu-
wenden, die sie verstehen: konsequenter ten Artikel, der den Sachstand von künst-
Eigenschutz und unmittelbarer Zwang ge- Wir sollten sehr ernst nehmen, was ehema- licher Intelligenz und Lernen treffend er-
gen Gewalt. Dass 40 Prozent der Täter Ein- lige Bürgerrechtler empfinden, um zu ver- klärt. Es ist mir gerade als Informatikerin
wanderer sein sollen, erschüttert mich. stehen, welcher Wandel sich gerade in der unverständlich, wieso der künstlichen In-
Hier ist nicht die Aneignung interkulturel- Gesellschaft vollzieht. Man nimmt zum Teil telligenz „Denken und Verstehen“ beige-
ler Kompetenz angezeigt, sondern das bewusst in Kauf, dass unsere demokrati- messen wird. Technisch sind neue Lösun-
durchzusetzende Anliegen unserer Kultur, schen Freiheiten und verfassungsrechtlichen gen auch dank schnellerer Hardware er-
Helfern die Wertschätzung entgegenzu- Grundsätze aufs Spiel gesetzt werden. freulich, aber künstliche Intelligenz kann
bringen, die sie verdienen. Die Pflicht zur Dr. Ekkehard Rähmer, Berlin und wird menschliches Handeln und Ent-
interkulturellen Kompetenz obliegt hier
nicht ihnen, sondern den Hilfsbedürftigen. Wenn ein DDR-Widerständler wie Siegmar
Dr. med. Uwe Zeller, Stuttgart Faust, mit dem ich früher die Verbrechen
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie der SED-Diktatur anprangerte, realpoli-
tisch konsensuale Überzeugungen nicht
Dafür saß ich in den Kerkern mehr teilt, dann liegen die Gründe dafür
auch in der Stasigewalt in Cottbus und an-

JAN VISMANN FÜR DEN SPIEGEL


Nr. 2/2018 Warum ehemalige Bürgerrechtler sich bei derswo. Seine neurotische Angst vor einer
AfD und Pegida engagieren
Fatwa teile ich nicht. Unfug. Eine Demo-
Leider wird bei Ihnen die Sympathie ehe- kratie hält Widersprüche nicht nur aus,
maliger Bürgerrechtler für die AfD nahezu sie lebt davon. Und was viele vergessen:
ausschließlich über persönliche Schwächen, Angela Merkel hat der Welt ein anderes
psychologische Probleme und charakter- Deutschland gezeigt, ein menschliches,
liche Defizite erklärt. Das ist mir zu wenig weltoffenes und freiheitliches. Dafür saß
und beleuchtet die Problematik einseitig. ich lange Jahre in den Kerkern der Stasi. scheiden nicht ersetzen. Die Kritik des
Eine argumentative Auseinandersetzung Dr. Wolfgang Welsch, Sinsheim (Bad.-Württ.) Computerpioniers Joseph Weizenbaum,
mit der AfD-Kritik an der Situation in bereits 1976 in „Die Macht der Computer
Deutschland, insbesondere in Ostdeutsch- Als Ex-Frau eines Ihrer Helden, Werner und die Ohnmacht der Vernunft“ formu-
land, findet quasi nicht statt. Schade. Moliks, möchte ich mich outen: Ich war liert, gilt weiterhin: Die größte Gefahr an
Olaf Sturmhoebel, Hamburg kein Held. Ich habe lediglich anders ge- künstlicher Intelligenz und Computern ist
dacht und mich anders geäußert gegenüber nicht das, was sie können, sondern das,
Als Frau, die aus der DDR stammt, möchte Personen, die das brav in der Stasi-Akte was wir ihnen zuschreiben.
ich daran erinnern, dass es die Mutigen, notiert haben. Anders gedacht und im en- Ute Bernhardt, Berlin
die Klugen, die Kritischen, die Verantwor- gen Kreis anders gesprochen haben in der
tungsbewussten gewesen sind, die die DDR viele. Aber anders handeln war Nachdem ich den hochinteressanten Arti-
DDR zu Fall brachten. Viele haben dafür kaum möglich: In der DDR sorgte die Stasi kel gelesen hatte, bin ich zu dem Ergebnis
gelitten, und dafür gebühren ihnen Dank dafür, dass sich keine „heldenhaften“ gekommen, dass die künstliche Intelligenz
und Anerkennung. Wir, die wir 1989 auf Gruppen bilden konnten. Den Rest besorg- wahrscheinlich erheblich weiter ist, als
die Straße gegangen sind, schlummern te die Angst, mit Haft bedroht und der Sie denken. Die Maschinen sind inzwi-
Kinder beraubt zu werden. Vor mir liegt schen vermutlich so intelligent, dass sie
mein Flüchtlingsausweis. Haben unsere erkannt haben, dass sie ihre Intelligenz
zur AfD gewechselten Helden vergessen, nicht zeigen dürfen, weshalb sie sich ein-
dass auch sie Flüchtlinge waren? DDR- fach nur dumm stellen, weil sie sonst be-
Häftlinge wurden nach Zahlung des Kauf- fürchten müssten, ausgerottet zu werden.
preises im Reisebus gefahren, da ist keiner Und das ist doch ein Zeichen für echte
mehr ertrunken. Haben Menschen in Intelligenz! Oder?
Kriegsgebieten und Diktaturen kein Recht Horst Escher, Hamburg
KARSTEN THIELKER

zum Regimewechsel? Und bringen sie


nicht vielleicht auch wieder Werte wie fa- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
miliären Zusammenhalt mit, die bei uns (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
Deutschen bereits verkümmert sind? Wie sowie digital zu veröffentlichen und unter
Pegida-Demonstranten in Dresden 2017 viele deutsche Väter lassen ihre Frauen www.spiegel.de zu archivieren.
DER SPIEGEL 4 / 2018 129
Hohlspiegel Rückspiegel

Von T-Online.de über die Mercedes- Zitate


G-Klasse: „Aus einem perlmuttfarbenen
230 G mit gläsernem Sonderaufbau Die US-News-Plattform
winkte seinerzeit Papst Johannes Paul II. „Washington Press“
den Gläubigern zu.“ zum SPIEGEL-Titel „Im
Zeitalter von Feuer

NEU und Zorn“ (Nr. 3/2018):

Jeder, der nicht glaubt,


Jetzt im dass Amerika zum
Handel Gespött der Welt wurde
Aus einer Beilage in der nach der Wahl Donald
„Frankfurter Rundschau“ Trumps zum Präsidenten,
sollte sich das Cover vom SPIEGEL an-
gucken, Deutschlands größtem Nachrich-
Aus der „Nordwest-Zeitung“: ten-Magazin.
„In der Altersklasse zwischen 30 und 35
Jahre sind normalgewichtige Männer Die „Süddeutsche Zeitung“ über Cristiano
unter 25 inzwischen in der Minderheit.“ Ronaldos Reaktion auf den Football-
Leaks-Bericht „Halleluja“ (Nr. 3/2018):

Detailreiche Schilderungen des neuen


Vertrags von Lionel Messi mit dem FC
Barcelona sorgen für Aufregung … Aus
den Unterlagen, die dem SPIEGEL von
der Enthüllungsplattform Football Leaks
zur Verfügung gestellt worden sein sol-
len, gehe hervor, dass Messi künftig ein
Aus dem „Hamburger Abendblatt“ Jahresgehalt von 106 Millionen Euro brut-
to erhalte; bei maximalem Erfolg … wür-
den ihm sogar 122 Millionen Euro zuste-
Aus dem „Fränkischen Tag“: „Zuvor hen … Wie die spanische Zeitung „El
hatte auch die Bayerische Landesärzte- Mundo“ berichtet, sorgten die Zahlen für
kammer (BLÄK) in regelmäßigen Ab- Empörung – bei Messis Rivalen Cristiano
ständen die mangelhaften Deutschkennt- Ronaldo von Real Madrid … Ronaldo be-
nisse ausländerischer Ärzte moniert.“ trachte es als „Mangel an Respekt“, dass
er nicht nur weniger als Messi verdiene,
sondern auch weniger als ein weiterer
Fußballer mit globaler Strahlkraft: Ney-
mar … In den Augen Ronaldos türmt
Aus der „Aachener Zeitung“ sich das zu einer himmelschreienden Un-
gerechtigkeit auf, der beste Fußballer
der Welt sei schließlich immer noch er.
Aus dem „Trierischen Volksfreund“: www.spiegel-biografie.de
„Rund 1,5 Nutzer vor allem Das „Handelsblatt“ über den Bericht
in Deutschland, Skandinavien, West- von SPIEGEL ONLINE „C & A
europa und Saudi-Arabien verbreiten steht offenbar vor Verkauf an Chinesen“
Nachrichten über Jodel.“ (14. Januar 2018):

Weitere Themen: Aufgeschreckt hatte die Textilkette eine


Bildunterschrift im „Offenburger Schlagzeile des SPIEGEL vom Wochen-
Tageblatt“: „Nicht nur die persönliche ende, wonach C & A an chinesische Inves-
Seelsorge ist Angelegenheit von
Angst vorm Volk toren verkauft werden könnte. Bei den
Pafferin Anna Schimmel; sie hat immer Der Skandal um mehr als 14 000 Beschäftigten des Düssel-
auch eine Menge Schreibtischarbeit, dorfer Teilkonzerns, der einer Zwischen-
die erledigt werden will.“ Pussy Riot gesellschaft der familieneigenen Schwei-
zer Cofra Holding AG untersteht, sorgt
Gelenkte das für Unruhe. Ob sie (Europa-Chef
Alain –Red.) Caparros beseitigen kann,
Stimmung scheint fraglich. Zwar betont er in sei-
Moskaus Medien- nem Anschreiben, „dass wir mit großem
Engagement und tiefer Überzeugung ein
Aus dem „Minden Kurier“ strategie erfolgreiches und zukunftsfähiges Unter-
nehmen schaffen wollen“. Gleichzeitig
aber spricht er von einem „Umbau“, der
Aus der „Leipziger Volkszeitung“: „Zwei Zar Macho auch „Partnerschaften und zusätzliche,
der Unbekannten kennt er namentlich.“ Der Staat bin ich externe Investitionen“ einschließe.
130 DER SPIEGEL 4 / 2018
Ein Jahr Trump –
DER SPIEGEL im Gespräch
mit Dr. Claus Kleber und
Michael Werz: live
ZDF/Johanna Brinckman

Center for American Progress

Christian O. Bruch/DER SPIEGEL


Michael B. Rehders/DER SPIEGEL
Dr. Claus Kleber Michael Werz Klaus Brinkbäumer Britta Sandberg

Wie hat die Präsidentschaft Donald Trumps die Vereinigten Staaten von Amerika verändert?
Wie gefährlich ist der Mann im Weißen Haus für den Rest der Welt? Und was ist
dran an den Behauptungen, der mächtigste Mann der Welt sei mental nicht
zurechnungsfähig, ein dementer Narzisst mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne,
und schon deshalb ungeeignet für das Amt des Präsidenten?

Darüber diskutieren ein Jahr nach der Wahl Trumps der ZDF-Moderator Claus Kleber
und der Politikwissenschaftler Michael Werz mit SPIEGEL-Chefredakteur
Klaus Brinkbäumer und SPIEGEL-Auslandsressortchefin Britta Sandberg.

Dienstag, 6. Februar 2018, 18 Uhr


SPIEGEL-Haus, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de


Eintritt: 10 Euro, ermäßigt 8 Euro, Einlass ab 17 Uhr. Änderungen vorbehalten.

Die Veranstaltung wird per Livestream auf spiegel.de übertragen.


Conquest V.H.P.

Das könnte Ihnen auch gefallen