Sie sind auf Seite 1von 84

Deutschland 6,70 € · Österreich 7,20 € · Schweiz 10,70 sfr · Benelux 7,40 € · Italien 7,90 € · Portugal 7,90 € www.g-geschichte.

de

MENSCHEN · EREIGNISSE · EPOCHEN

GESCHICHTE 10/2022

Liebe, Laster,
Totentanz

Leben
im
Mittelalter
Von Bauern,
Bürgern
und Huren

10

606701
4 190727

Freiheit für Hellas Haute Couture und Hakenkreuz


Griechen gegen Türken Warum Coco Chanel für die Nazis spionierte
MENSCHEN · EREIGNISSE · EPOCHEN

GESCHICHTE 4 3%
ges part!

Die großen G/GESCHICHTE Themenpakete:

3 Ausgaben für nur € 10,- (statt


€ 17,70)

Europa will die Welt Kriege und Philosophen Abenteuer Kreuzzüge

06/2012 09/2014 09/2020 08/2015 08/2021 11/2021 07/2016 03/2017 03/2018


Gold, Blut und Zeitalter der Kampf um Afrika Athen Zeit der Helden Germanen gegen Die Johanniter Die Staufer Kreuzzüge gegen
Konquistadoren Niederlande Rom Ketzer

Bestell-Nummer: GGTP68 Bestell-Nummer: GGTP67 Bestell-Nummer: GGTP53

Zwischen Orient und Okzident Dynastien schreiben Geschichte Städte, die die Welt bedeuten

08/2014 08/2015 Sonderheft 02/2015 02/2020 03/2017 Sonderheft 02/2015 Sonderheft 02/2018 Sonderheft 02/2019 Sonderheft 02/2020
Die Osmanen Athen Die Habsburger Die Bourbonen Die Staufer Die Habsburger Berlin Prag Venedig

Bestell-Nummer: GGTP37 Bestell-Nummer: GGTP62 Bestell-Nummer: GGTP65

Revolution & Fortschritt Englische Helden Herrscher & Umbrüche

11/2016 09/2017 Sonderheft 01/2018 09/2016 03/2020 01/2013 07/2014 10/2020 Sonderheft 01/2019
Deutschland unter 1848 – Deutschland Karl Marx 1066 • Englands Duell der Könige Der Heilige Gral Die Französische Der große Katharina
Dampf im Aufruhr Schicksal Revolution Kurfürst die Große

Bestell-Nummer: GGTP60 Bestell-Nummer: GGTP55 Bestell-Nummer: GGTP59

Sofort versandkostenfrei bestellen! Tel.: 0711/72 52 279

Wir nutzen nur Ihre anlässlich von Bestellungen anfallenden Daten für die Bestellabwicklung und für Werbezwecke. Sie können der Nutzung oder Übermittlung Ihrer Daten für Zwecke der Werbung oder der Markt- oder Meinungsforschung jederzeit widersprechen (unter
datenschutz@roularta.de). Vertragspartner: Roularta Media Deutschland, eine Zweigniederlassung der Roularta Media Group N.V., Böheimstraße 8, 86153 Augsburg, UST-ID DE343167457, CEO und ständiger Vertreter Roularta Media Deutschland: Horst Ohligschläger
EDITORIAL

Freiheit, Friedhof &


Fensterhennen
Schweine suhlen sich vor den Häusern, und von
den Werkstätten der Gerber breitet sich ein infer-
nalischer Gestank aus. Arme, Bettler und zuweilen
Lepröse bevölkern die Gassen. Vor den Mauern
verwesen die Körper der Gehenkten. Die Stadt ist
kein romantischer Ort, aber sie verspricht eine
Chance auf Freiheit von den Ketten der Leibeigen-
schaft. In den Reichsstädten herrschen die Patrizier,
die alteingesessenen Geschlechter. Eine Ausnahme
bildet Köln, wo 1396 die Zünfte die Macht über-
nommen haben und jetzt die Politik bestimmen.

Würfelspiele auf dem Friedhof, landsknechtiges Saufen im Wirtshaus oder ein Besuch bei den
Titelmotiv »Fensterhennen«, den leichten Mädchen der Stadt – das Laster triumphiert im Spätmittelalter,
»Bauer und Dirne«, aber auch die Tugend. Fromme Stifter errichten Spitäler für Arme und Gebrechliche, und für
Gemälde von Lu- die Leprakranken gibt es eine städtische Grundversorgung.
cas Cranach dem
Älteren. Die Hand Mittelpunkt des Lebens ist die Familie. Die Position der Ehefrau ist überraschend modern:
der Hure geht Sie gilt als »Genossin« ihres Mannes, der keine wichtigen Geschäfte ohne ihre Einwilligung
zielstrebig zur tätigen darf. Die Generationen leben noch unter einem Dach, und im Kreis der Familie wird
Börse ihres recht auch gestorben. Der Tod wird nicht verdrängt oder tabuisiert, sondern man bereitet sich
tumben Freiers darauf vor. Die Menschen des Mittelalters haben ein beneidenswertes Gottvertrauen!

Ihr, Euer

Dr. Klaus Hillingmeier, Chefredakteur

Der Verbundbrief
BILDNACHWEIS: AKG, DANIEL GERST; TITEL: AKG, MAURITIUS

Die Kölner Verfassung verleiht den


Zünften die Macht im Rat Seite 30

LESERSERVICE ABO-PREISE (inkl. E-Paper) REDAKTION G/GESCHICHTE


Fragen zum Abo bitte an: Leserservice G/GESCHICHTE, DEUTSCHLAND: Heftpreis € 6,51 / Jahresabo € 104,20 frei Haus, Roularta Media Deutschland
Postfach 81 05 80, 70522 Stuttgart Studenten-Jahresabo (mit Nachweis): € 59,90  Böheimstraße 8, 86153 Augsburg
Tel.: (0)711 7252-279 ÖSTERREICH: Heftpreis € 6,51  / Jahresabo € 119,40 inkl. Versand Tel.: (0821) 45 54 81-42, Fax: (0821) 45 54 81-10
Fax: (0)711 7252-399 SCHWEIZ: Heftpreis sFr 10,40  / Jahresabo sFr 166,40 frei Haus E-Mail: g @ roularta.de
E-Mail: abo.geschichte@ roularta.de SONSTIGES AUSLAND: Weitere Auslandspreise auf Anfrage www.g-geschichte.de

Übrigens: Mit einem G/Abo verpassen Sie keine unserer Ausgaben. Einen Abo-Bestellcoupon finden Sie auf Seite 67.

G GESCHICHTE 10 | 2022 3
INHALT
G/GESCHICHTE · Oktober 10/2022

AKTUELLES
Alltag im
6 Freiheit für Hellas
Das türkische Massaker an den
Mittelalter
Bewohnern der Insel Chios 1822
ist das Fanal: Die Griechen
Im Schatten von Krieg, Krankheit und Tod
kämpfen um ihre Unabhängigkeit gedeiht viel Leben: Arbeit und Familie, Feste,
12 Forum & Chronik die Genüsse der Tafel und die Freuden der Liebe
Schweinekrieg in Nordamerika

14
und der Siegeszug der Milch

TITEL

14 Leben, Laster,
Totentanz
16 Der Preis des Fortschritts
Waldsterben, Energiekrise und die
Angst vor einer Klimakatastrophe

1. KAPITEL BAUERN
20 Der Lauf des Jahres
Landlust mit feinem Pinselstrich:
Das Buch des Herzogs von Berry
24 Im Schweiße deines Angesichts
Das harte Leben der hörigen
Bauern zwischen Frondienst,
Armut und Hunger
28 Stadtluft macht frei
BILDNACHWEIS: AKG, FOTOFINDER/BSIP/YOUR PHOTO TODAY, GETTY IMAGES/APIC, GETTY IMAGES/EZEPOV, WIKIMEDIA

Wie aus Leibeigenen in einem


Jahr und einem Tag Bürger werden

2. KAPITEL BÜRGER
30 Ein kleines Universum
Der Rhein bringt Köln Reichtum,
die Kirchen Pilger. Willkommen
in der größten Stadt des Reiches
35 Im Zeichen des Adlers
Wie sich die freien Städte
zu kleinen Staaten mausern
36 Arbeit bringt die Welt voran
Zünftiges Leben und gute Geschäfte:
Handwerk hat goldenen Boden,
doch der große Reichtum kommt
erst mit dem Handel
40 Ehrlos und verachtet
Von Bettlern, Juden und dem
blutigen Gewerbe der Henker

4 G GESCHICHTE 10 | 2022
Gefährliche
Liebschaften

44 Wie die Würfel fallen


Glücksspiele auf dem Friedhof
und wildes Fastnachtstreiben

Im Zeichen der Burg:


Nürnberg um 1500.
68 3. KAPITEL LEBEN
48 Pfefferstoßen und Blinde Kuh
Die Stadt ist die Bühne SERIE Ehe, Eros und Erziehung –
intime Einblicke ins Familienleben
für Reichstage, sie
hütet die Insignien und
Coco Chanel und
52 Alles außer dem Ringelschwanz
Reliquien des Kaisers Freiherr von Dincklage Die Speisekarte der Epoche:
Biber, Dohlen und saure Weine
56 Frau Venus regiert die Welt
Prostitution hat Hochkonjunktur,
die Bordelle boomen
58 Wenn Beten nicht hilft
Schwarzer Tod, Lepra und das
rätselhafte Feuer des Antonius
62 Der Tod gehört zum Leben
Warum der Totentanz keine
Pausen kennt
64 Rätsel, Leserbriefe
& Impressum

PANORAMA

7
  2
GESCHICHTE IM ALLTAG
68 Serie: Gefährliche Liebschaften
Die Obsternte Coco Chanel und
Freiherr von Dincklage
Die französische Modeschöpferin
PORTRÄT spioniert für die National­sozialisten
72 Geschichte im Alltag:
Thomas Millar Die Obsternte
und die »Titanic« Vom Pflücken und Einwecken

7
 4
74 Thomas Millars letzte Reise
Es bleibt nur die Erinnerung:
Das Schicksal eines Technikers
78 Ausstellungen

80 Bücher & Medien


82 Historische Pleiten
83 Vorschau

www.g-geschichte.de
Mehr zur aktuellen Ausgabe auf unserer
Seite im Internet. Besuchen
Sie uns auch auf Facebook und Twitter

G GESCHICHTE 10 | 2022 5
BLICKPUNKT

Griechischer
Unabhängigkeitskrieg

Freiheit für
Hellas
Vor 200 Jahren kämpfen
griechische Aufständische
für die Unabhängigkeit ihrer
Heimat vom Osmanischen
Reich. Viele junge Europäer
melden sich begeistert für
den Einsatz. Doch vor Ort
verliert sich alle Romantik

BILDNACHWEIS: AKG

6 G GESCHICHTE 10 | 2022
Auf der Insel Chios
in der Ostägäis haben
Griechen einen Auf-
stand gewagt. Nun,
im April 1822, töten
die Osmanen 25 000
Bewohner und verskla-
ven 45 000. Zwei Jahre
später verewigt Eugène
Delacroix »Das Massa-
ker von Chios«

G GESCHICHTE 10 | 2022 7
BLICKPUNKT

D
[ VON ULRICH MEER ]

ann also über Marseille! Im


Frühjahr 1821 löst in West-
europa die Kunde vom Auf-
stand der Griechen gegen
die bald vier Jahrhunderte
währende osmanische Herr-
schaft eine Welle der Sym-
pathie aus. Besonders ge-
bildete, liberal und national gesinnte Europä-
er jubeln. Die einen fühlen eine Dankesschuld
gegenüber den großen und edlen Griechen der
Antike, die anderen wollen den Kampf gegen die
muslimischen »Barbaren« unterstützen, wieder
andere hoffen auf einen Siegeszug der Freiheit,
die seit dem Wiener Kongress von 1815 von der
Heiligen Allianz aus Russland, Preußen und Germanos segnet die griechische Fahne.
Österreich drakonisch beschränkt wird. So beginnt am 25. März 1821 der Kampf
Zahlreiche Freiwillige wollen es nicht bei gu-
ten Wünschen belassen, sie machen sich ab dem
Herbst 1821 auf den Weg an das östliche Mit- Die Freiwilligen müssen einen weiten Um-
telmeer. Vor allem innerhalb der studentischen weg auf sich nehmen. Die Einschiffung in Triest
Jugend herrscht Enthusiasmus, der von eini- oder Venedig wäre naheliegend, zumal für die
gen Universitätslehrern kräftig genährt wird. Brigadisten aus den deutschen, polnischen und
Der Leipziger Philosoph Wilhelm Traugott dänischen Landen. Doch dagegen sperrt sich
Krug und der Münchner Altphilologe Fried- Fürst Clemens von Metternich. Dem allmäch-
rich Thiersch sind engagiert. So sieht Thiersch tigen Außenminister und seit Kurzem auch
in diesem Aufstand eine einmalige Gelegenheit, Haus-, Hof- und Staatskanzler in Österreich
»eine altheilige Schuld, wenn auch nur zum darf man mit Freiheitsbewegungen nicht kom-
kleinen Teil, abzutragen«. men, schließlich könnten diese im Habsburger-
reich Nachahmer finden. Für Metternich, den
mächtigsten Gegner aller liberalen und natio-
Istanbul nalen Strömungen sowie Konstrukteur der re-
aktionären Karlsbader Beschlüsse von 1819, gilt:
Thessaloniki Griechenlandfahrer sind nicht willkommen,
Häfen dicht!
OSMANISCHES
Pro-Griechische Vereine organisieren
Mesolongi REICH
Ägäis Waffen, Essen und Schlafplätze
April 1826
Athen Aufhalten lassen sich die Freiwilligen so
Juli 1826
Tripoli
Chios nicht. Sie finden ihren Weg über den deutschen
April 1822 Südwesten und die Schweiz. Stuttgart, Zürich,
September 1821
Hydra
April 1821
Lausanne und Lyon heißen häufig die Stationen.
Ein unverzichtbares Netzwerk hilft ihnen wäh-
Navarino
Oktober 1827 rend der Reise: der Philhellenen-Verein (phi-
los für Freund, hellas für Griechenland). An-
geregt von den Professoren Krug und Thiersch
sind diese Vereine in vielen größeren Städten
Deutschlands und der Schweiz gegründet wor-
Aufstände den. Die Vereine organisieren Schlafplätze und
Der Krieg beginnt im Frühjahr 1821 auf der Peloponnes und in beschaffen Waffen und Verpflegung.
Mittelgriechenland, dann weitet er sich rasch auf die Ägäis aus Fürst Metternich zeigt sich höchst verär-
gert über das Treiben und fordert vor allem
Königreich Griechenland 1832 Griechenland heute die süddeutschen Länder auf, »dem revolutio-
nären Spiel des Professors Thiersch und Kon-

8 G GESCHICHTE 10 | 2022
Die Osmanen unter Ibrahim Pascha greifen 1826 erfolgreich Mesolongi im Westen Griechenlands an

sorten ein Ende zu machen«. Ohne Erfolg: Am nen vernichtend geschlagen. Derweil treten der
Zielort, der französischen Hafenstadt Marseille, »Gesellschaft der Freunde« vermehrt Nicht-
sammelt sich 1821 und 1822 eine bunte Truppe, Griechen bei, darunter der russische National-
füllt die Cafés, schmettert Freiheitslieder und dichter Alexander Puschkin und der vom grie-
wartet gespannt auf die Überfahrten und ihren chischen Freiheitskampf begeisterte englische
historischen Einsatz. Dichter George Gordon Noel Byron, bekannt
Die Geschichte des griechischen Aufstands als Lord Byron.
beginnt sieben Jahre zuvor: In Odessa am
Schriftsteller Lord Byron spendet
Schwarzen Meer setzt eine Handvoll griechi-
scher Kaufleute ihre berufliche Hoffnung auf den Aufständischen große Summen
die Befreiung ihrer Heimat von osmanischer Der Adelige, der von der englischen Gesell- Lord Byron
Fremdherrschaft. 1814 gründen sie den patri- schaft wegen skandalöser Liebesaffären boykot- Der Dichter, geboren
otischen Geheimbund Filiki Eteria, die »Ge- tiert wird, ist mit seiner offenen Schilderung 1788 in London,
sellschaft der Freunde«. Und sie haben Glück: menschlicher Gefühle vor exotischen Kulissen führt ein Wander-
Denn der russische Zar sucht am Schwarzen zu schneller Bekanntheit gelangt: »Ich wachte leben, ehe er den
Meer nach Kapital und Know-how für neu er- auf und war berühmt.« griechischen Frei-
worbene Gebiete. Die erfolgreichen Griechen Byron, der zu einem der meistgelesenen
BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA/ANDROMEAS, WIKIMEDIA/DCOETZEE, WIKIMEDIA/ULRICHSTILL; KARTE: AGENTUR2

heitskampf für sich


mit ihren Handelsflotten sind Russland, auch Dichter des 19. Jahrhunderts wird, hat schon entdeckt. Am 5.
wegen des orthodoxen Bekenntnisses, willkom- 1816 seine Heimat England verlassen, um sei- Januar 1824 trifft
men. Trotzdem wird die Exilorganisation jahre- nen romantischen Neigungen folgend nach er mit Waffen, Geld
lang kaum beachtet, selbst die Griechen aus der Italien zu ziehen. Er steht auch im Briefwech- und Medikamenten
Heimat zeigen wenig Interesse an ihr. sel mit Johann Wolfgang von Goethe, der wie- in Patras ein. Bald
Mit der Rekrutierung bedeutender Per- derum seine Verehrung für die klassische Anti- führt der 36-Jährige
sönlichkeiten wie Alexandros Ypsilantis, dem ke durch sein Schauspiel »Iphigenie auf Tauris« eine Brigade von
Spross einer einflussreichen Dynastie im Don- ausdrückt. Darin steht Iphigenie voller Sehn- 2500 Mann an.
aufürstentum Walachei, gewinnt der Geheim- sucht lange Tage am Ufer des Meeres »das Land Er stirbt am 19. April
bund an Einfluss. Am 21. Februar 1821 über- der Griechen mit der Seele suchend«. 1824 in Westgrie-
schreitet die von Ypsilantis angeführte »Heilige Der charismatische Lord Byron unterstützt chenland an Malaria.
Griechenland trauert
Schar« den Pruth, einen Nebenfluss der Donau den Aufstand der Griechen mit erheblichen
21 Tage lang.
und Grenze zwischen dem Russischen und dem Geldmitteln, schifft sich 1823 in Genua nach
Osmanischen Reich. Es ist der Auftakt für die Griechenland ein, aber ihm bleibt für das Kom-
wechselvollen Jahre des griechischen Aufstands. mando über seine Brigade von Elitesoldaten
Doch die Aufständischen werden zunächst nur wenig Zeit. Byron stirbt im April 1824 an
nicht von Russland unterstützt. Auf sich al- Sumpffieber (Malaria). In seinem Buch »Lord
lein gestellt werden sie schnell von den Osma- Byrons letzte Fahrt« hat der österreichische

G GESCHICHTE 10 | 2022 9
»Freiheit oder Tod!«
Metropolit Germanos von Patras am 25. März 1821

Autor Richard Schuberth diesen Nationalhel- gen die Osmanen besonders auf der Peloponnes
den der jüngeren griechischen Geschichte ge- weiter. Die Griechen erobern mehrere Städte
würdigt (siehe Lesetipp). und nehmen dabei nur selten Gefangene.
Obwohl erste Rückkehrer vor allem Schreck- Der Kampf für die Nation mündet zuneh-
liches aus Griechenland berichten, reißt der mend in einen Krieg der Religionen: ­Orthodoxe
Strom der philhellenischen Freiwilligen aus Christen kämpfen gegen Muslime. In Tripolitsa,
Deutschland nicht ab. Ihre romantischen der Hauptstadt der Peloponnes, massakrieren
Illusionen zerschellen an griechischen Felsen, die Aufständischen 6000 muslimische Bewoh-
schreibt Schuberth. Niemals seien Romantiker ner, stehlen Toten wie Überlebenden die Klei-
auf tragischere Weise zur Vernunft gekommen. dung und erhalten für abgeschlagene Schädel
Von einer größeren Gruppe deutscher Frei- ein Kopfgeld.
williger sind schriftliche Berichte überliefert.
Längst nicht alle Griechen wollen
Sie verheißen nichts Gutes: Wilhelm Lefèbre,
ein erfahrener preußischer Offizier und Zeuge den Krieg gegen den Sultan
grausamer Kämpfe, versucht den auf die Über- Doch Gräueltaten verüben beide Seiten. Und
fahrt Wartenden die Augen zu öffnen. Sie soll- es ist ein brutaler Überfall der Osmanen auf ei-
ten nicht auf die Griechenlandeiferer in der ner Insel in der Ostägäis, der in Europa für Em-
Heimat hören, als Soldat wisse er, dass den pörung sorgt und sich für immer ins Gedächt-

WIKIMEDIA/FILE UPLOAD BOT (MAGNUS MANSKE), WIKIMEDIA/FLICKR UPLOAD BOT


fremden Mitstreitern in Griechenland nur Un- nis einprägt: das Massaker von Chios.
dank, Elend oder gar der Tod winkten. Dabei wollen die Bewohner der Insel Chios,

BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA/BOTAURUS, WIKIMEDIA/DAOS~COMMONSWIKI,


Die Freiwilligen erwartet eine verworrene die vor dem Festland der heutigen Türkei liegt,
Lage: Volksgruppen, Clans und lokale Kriegs- keinen Konflikt mit dem Sultan. Seit Langem
herren, die mit der bergigen Landschaft ­bestens gewinnen sie Mastix, ein begehrtes Baumharz.
vertraut sind, versuchen ihre Pfründe zu si- Ihre Gemeinde genießt eine ungewöhnlich gro-
chern und bekämpfen einander heftig. Ihr pro- ße Autonomie, und die direkte Souveränität des
Friedrich visorischer Präsident Fürst Alexandros Mavro- Sultans über Chios hat den Menschen niedrige
Thiersch kordatos hat kaum Autorität. Und lassen es die Steuern und damit Reichtum beschert.
Der Philologe und Griechen einmal geruhsamer angehen, nerven Ohnehin waren die Griechen bis zum Auf-
Philhellene, geboren die ausländischen Freiwilligen mit Aktionismus. stand »das vielleicht am meisten privilegierte
1784, ist vom grie- Trotz der Niederlage General Ypsilantis und Volk im Osmanischen Reich, auf jeden Fall
chischen Freiheits- seiner Flucht nach Österreich, wo ihn Metter- unter den Nicht-Muslimen«, schreibt der His-
kampf begeistert. nich bis 1827 festsetzt, gehen die Aufstände ge- toriker Nikolas Pissis. Griechische Kaufleute
Seit 1811 unterrichtet
er die Töchter von
Bayerns König
Maximilian I. Joseph. Eine osmanische Fregatte brennt, beschossen vor der Insel Lesbos in der Ostägäis
1831/32 reist er
nach Griechenland
und verfasst dort
zahlreiche Briefe.
Angeblich stammt
von ihm die Idee,
Prinz Otto zum
König der Griechen
zu machen. Bildungs-
reformer Thiersch
stirbt 1860, er gilt
als »Vater der
humanistischen
Bildung« in Bayern.

10 G GESCHICHTE 10 | 2022
BLICKPUNKT

Nach dem Sieg verlangen


die Alliierten einen europäischen
Fürsten als König: Es wird 1832
Otto von Wittelsbach

gehen noch deutlich weiter. Sie fordern unver-


blümt die Inseln des Dodekanes, zudem Chios,
Lesbos, Samos sowie das größte griechische Ei-
land: Kreta.
Gleichwohl bleibt der Historiker Nikolas Pis-
sis optimistisch und verweist auf die Normalität
der vielen Boote türkischer Touristen auf Chios
und jenen der griechischen Touristen, die nach
Çeşme und Izmir fahren.
Der Katastrophe von Chios folgen Jahre der
Irrungen und Wirrungen, Tausende verlie- Alexandros
ren ihr Leben. Die wenigsten sterben in einer Ypsilantis
Schlacht, sondern sind Zivilisten, werden mas- Der Militär, geboren
sakriert, verhungern oder krepieren an Seuchen. 1792, aufgewachsen
Osmanische Attacken auf der Peloponnes in Sankt Petersburg,
haben lange keinen Erfolg. Erst als Sultan Mah- kämpft als Grieche
mud II. im Jahr 1825 eine ägyptische Armada in russischen Diens-
von mehr als 400 Schiffen samt Invasionsheer ten gegen Napoleon,
zum Eingreifen gewinnt, geraten die Rebel- überlebt schwer
len in die Defensive. Der griechische Freiheits- verwundet und führt
und orthodoxe Kleriker genießen Vorzüge, die kampf droht gegen den ägyptischen Befehlsha- ab 1820 die Geheim-
sogenannten Phanarioten belegen die obersten ber, Vizekönig Ibrahim Pascha, zu erliegen. gesellschaft Filiki
Ränge griechischen Einflusses. Aber viele Bau- Doch nun greifen die europäischen Groß- Eteria. 1821 mar-
ern leben in Armut, dürfen keine Waffen tragen mächte ein: Zar Nikolaus I. entscheidet sich schiert der Charis-
und nicht zu Pferde reiten. offen, zur Schwächung des osmanischen Geg- matiker mit 500
Im März 1822 landen Aufständische auf ners, für die Griechen Partei zu ergreifen. Zu- Freiwilligen ins ent-
Chios und drängen mit Hilfe lokaler Bauern die dem wollen Großbritannien und Frankreich ih- militarisierte Moldau
osmanischen Soldaten in die Zitadelle zurück. ren Einfluss auf die Meerengen sichern. Die drei ein, um Kämpfer zu
Sultan Mahmud II. versteht dies als ein Zei- Mächte vereinbaren im Londoner Vertrag vom sammeln — vergeb-
chen der Undankbarkeit, zumal er ohnehin wü- 6. Juli 1827, zumindest für einen halbautono- lich. Ypsilantis sitzt
bis 1827 in Öster-
tend ist über die griechischen Massaker auf der men Staat Griechenland einzutreten.
reich im Kerker. Er
Peloponnes. So fällt die Entscheidung für den Der Absicht folgen Taten: In der Bucht von
stirbt 1828 verarmt
Überfall auf Chios. Im Auftrag des Sultans lan- Navarino im Südwesten der Peloponnes geht
in Wien. Seine Ge-
den am 11. April 1822 fast 50 osmanische Schif- am 20. Oktober 1827 die ankernde ägyptisch-
beine werden 1964
fe an der Insel. Die Angreifer töten und verskla- türkische Flotte durch die maritime Feuerkraft nach Athen über-
ven in den kommenden Wochen schätzungs- der aufgefahrenen alliierten Schiffe unter. Es ist führt.
weise 70 000 der 100 000 Inselbewohner. die letzte Seeschlacht unter Segeln. Die griechi-
sche Unabhängigkeit steht damit kurz bevor.
Erdoğan fordert einige kleine Inseln,
In Deutschland erschallt im mittelfränki-
andere Politiker sind noch viel gieriger schen Ansbach ein eindrucksvolles Zwölfuhr-
In Europa löst die Nachricht vom Massaker läuten vom Turm der katholischen Ludwigs-
von Chios großes Entsetzen aus. Es wird zum kirche. Eines der Klangwunder: die Ottoglocke,
Inbegriff osmanischer Barbarei. Die Insel selbst gegossen aus der Bronze osmanischer Kanonen
wird ihre alte wirtschaftliche Blüte nie wieder aus der Bucht von Navarino. Der erste König im
erreichen. freien Griechenland, der Wittelsbacher Otto I.,
Noch in unserer Gegenwart versteht es ließ die Kanonen bergen und in seiner Heimat
der türkische Staatspräsident Recep Tayyip daraus markante Denkorte schaffen, etwa die
Erdoğan meisterlich, antigriechische Stimmun- Bavaria auf der Münchner Theresienwiese.
gen nach Belieben zu schüren, besonders in
Zeiten eines nahenden Wahlkampfes. »Ich spa-
ße nicht«, drohte er jüngst in Richtung Athen. LESETIPP
Wenn es ihm nützt, stellt er die griechische Sou-
Richard Schuberth: »Lord Byrons letzte Fahrt«.
veränität über etliche Inseln in der Ostägäis in- Wallstein 2021, € 32,–
frage. Ultranationalistische türkische Politiker

G GESCHICHTE 10 | 2022 11
Bereit gegen die Briten. US-Soldaten heben
1859 auf San Juan Befestigungsanlagen aus

D
ZEITZEICHEN: 21. 10. 1872 ie ärmste Sau in dieser
Geschichte ist ein

Noch mal Schwein. Das gehört


einem Bauern in
Britisch-Nordamerika
Truppenstärke
461 Mann 2140 Mann

Schwein (heute Kanada) und lebt 1859 auf


einer Insel im äußersten Westen an 0 Gefallene
Verluste
1 Schwein

gehabt
der Grenze zur USA. Als der Eber
die Kartoffeln eines Amerikaners besetzen den Norden der Insel, wäh-
frisst, wird er von diesem erschossen. rend die US-Army einen Stützpunkt
Klarer Fall von Grenzverletzung, be- mit 14 Geschützen im Süden aufbaut.
Wegen eines toten Ebers hauptet der Amerikaner – und der US-Präsident James Buchanan kann
wären die USA und Konflikt eskaliert. Denn der Oregon- am Vorabend des Amerikanischen
vertrag von 1846 hat die Grenze zwar Bürgerkriegs nicht noch einen Krieg
Großbritannien fast geregelt, aber nicht deren Verlauf auf gebrauchen. Gefechte bleiben aus, der
in den Krieg gezogen. den San-Juan-Inseln. sogenannte Pig War schwelt jahrelang.
Den »Schweinekrieg« schlichten soll
Der Deutsche Kaiser Große Ehre für Wilhelm I. der Deutsche Kaiser. Wilhelm I. be-
vermittelt im »Pig War« Der britische Gouverneur fordert für auftragt eine Kommission, die am
den Tod des Schweins Vergeltung. 21. Oktober 1872 entscheidet, dass
Fünf Kriegsschiffe der Royal Navy die Inseln zu den USA gehören. Zäh-
werden nach San Juan entsandt und neknirschend ziehen die Briten ab.

CHRONIK IM OKTOBER

3. 10. 382
Der oströmische Kaiser
siedeln und kämpfen
fortan als Söldner für
bezweifeln allerdings
seine Existenz.
»Nach Regentschaft fällt die
Aussöhnung mit Uralt-
Theodosius I. schließt Rom, sind aber keine uns die Feind Österreich. Nach
einen Vertrag mit den römischen Bürger. 25. 10. 1722 ihm ist die Stilepoche
Westgoten, der diese Viele Forscher sehen Ludwig XV. wird mit Sintflut!« Louis-quinze benannt.
zu »foederati« macht: in dem Vertrag einen zwölf Jahren in Reims Marquise de Pompa- Seine Mätresse war die
Sie dürfen sich südlich Wendepunkt in der zum französischen dour, die Mätresse legendäre Marquise de
der unteren Donau an- Historie Roms, einige König gesalbt. In seine von Ludwig XV. Pompadour.

12 G GESCHICHTE 10 | 2022
FORUM & CHRONIK

Die Puppenallee
So nannten Berliner despektierlich
die Siegesallee, die Wilhelm II.
1895 im Tiergarten errichten ließ

ERNÄHRUNG

Die Milch macht’s — mit FRAGE DES MONATS

Krämpfen und Durchfall Warum feiert


Schon vor Tausenden Jahren trinken Europäer den ältesten
man »bis in
Energy-Drink der Welt – obwohl sie ihn gar nicht vertragen die Puppen«?

M
it der Milch ist das so eine nicht nur als Baby, sondern auch im »Weißt du noch, als wir
Sache. Irgendwie hat schon Erwachsenenalter das Enzym Laktase bis in die Puppen getanzt
jeder mal davon gehört, dass bildet, sind erst rund 5000 Jahre alt, haben?« Die Redewendung
sie nicht unbedingt immer stammen also vom Ende der Steinzeit. stammt aus Berlin – wobei
gesund sein soll. Aber wer nicht gerade Ab dann setzte sich die Milchverträg- man auch bis in die Puppen
an einer Laktoseintoleranz (Milchzu- lichkeit durch, weil Menschen dadurch arbeiten oder schlafen kann.
ckerunverträglichkeit) leidet, den stört häufiger überlebten. Mitte des 18. Jahrhunderts
das nicht wirklich. Eine neue Studie ließ Preußenkönig Fried-
zeigt, dass die Steinzeit-Europäer 5000 rich II., der »Alte Fritz«, am
Jahre lang Milch tranken, obwohl sie Glückliche Milch Platz Großer Stern im Berli-
diese noch gar nicht vertrugen, weil ih- von glücklicher Kuh? ner Tiergarten eine Reihe
An Blähungen
nen das Enzym Laktase fehlte. von Götterstatuen aufstellen.
BILDNACHWEIS: GETTY IMAGES/NARVIKK, WIKIMEDIA, WIKIMEDIA/NATIONAL PARK SERVICE;

denkt keiner
Rund hundert Wissenschaftler haben Der Volksmund sprach spöt-
jetzt in einem Mammutprojekt die tisch von den »Puppen des
DNA von 1786 prähistorischen Indivi- Königs«. Damals war Berlin
duen untersucht und herausgefunden, kleiner als heute, der Tier-
dass die Menschen schon zu Beginn garten lag außerhalb des
der Viehhaltung vor 10 000 Jahren die Zentrums. Ein Normal-Berli-
Tiere nicht nur für Nahrung und Klei-
TEXTE: MICHAEL FELDHOFF, CHRISTIANE SCHLÜTER

ner hatte bis dahin einen


dung nutzten, sondern auch deren sehr langen Spaziergang vor
Milch tranken. Viele mussten sich of- sich und musste »bis in die
fenbar mit Krämpfen und Blähungen Puppen« laufen.
herumschlagen. An den Folgen von Im 19. Jahrhundert wurden
Durchfall gestorben sind aber nur die- die Statuen entfernt, und die
jenigen, die etwa durch Hunger oder Bezeichnung »Puppen« über-
Krankheit bereits geschwächt waren. trug sich auf die Herrscher-
Älteste Nachweise, dass ein Mensch denkmäler in der Siegesallee.

8. 10. 1822 27. 10. 1922 Tags darauf wird 13. 10. 1972 16 gerettet. 29 sind


Auf der indonesischen Anhänger Benito Mus- Mussolini als Minister- Flugzeugunglück in beim Absturz oder
Insel Java bricht der solinis beginnen ihren präsident vereidigt. den Anden: Von den später im Eis gestor-
Vulkan Gunung Galung- dreitägigen »Marsch Ein Jahr später endet 45 Insassen, einer ben. Die Überlebenden
gung aus. 114 Dörfer auf Rom«. Am 30. Ok- Adolf Hitlers Versuch Rugbymannschaft aus mussten sich vom
werden zerstört, am tober sind 40 000 bis eines »Marsches auf Uruguay mit Betreuern Fleisch der Toten
Ende sind 4011 Men- 50 000 Faschisten vor Berlin« an der Münch- und Angehörigen, ernähren. Das Drama
schen tot. der Stadt eingetroffen. ner Feldherrnhalle. werden nach 72 Tagen ist mehrfach verfilmt.

G GESCHICHTE 10 | 2022 13
PROLOG

Alltag im Spätmittelalter

Das pralle Leben


Die Chroniken berichten ausführlich über die Mächtigen.
Aber wie leben die Bauern, Handwerker, Henker, Huren und Bettler?
Unsere Zeitreise bietet intime Einblicke in den Alltag –
von der Wiege bis zur Bahre
BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA

14 G GESCHICHTE 10 | 2022
Festtafel und Turnier. Die winterliche Stadt
Augsburg am Ende des Mittelalters

G GESCHICHTE 10 | 2022 15
Raus aus dem Fenster
mit dem Schmutzwasser!
Bis ins 16. Jahrhundert
werden die Gassen vieler-
orts bedenkenlos vermüllt

Mensch, Stadt, Natur

Der Preis des


Fortschritts
Im Spätmittelalter wachsen die Städte, während die Wälder rasant
schrumpfen und die Natur leidet. Einige Menschen erkennen
die Grenzen des Wachstums. Aber wohin mit Mist und Abwässern?
[ VON FREDERIK SEELER ]

16 G GESCHICHTE 10 | 2022
PROLOG

S
tadtluft macht frei, vor allem aber
stinkt sie. In Köln leben Anfang des
14. Jahrhunderts etwa 20 000 Men-
schen innerhalb der Stadtmauern, so
viele wie in keiner anderen Stadt im
Reich. Morgens leeren die Kölner ihre Nacht-
töpfe vor der Haustür aus. Eierschalen, Kno-
chen und andere Essensreste werfen sie in die
Gassen, auch Bauschutt und die Kadaver von
Katzen und Hunden landen auf der Straße. Be-
sonders schlimm sind die Schweine, die vie-
le Stadtbürger in Ställen halten. Der Schweine-
mist wird in die Gassen gekippt und liegt dort
wochenlang herum, bevor ihn jemand abträgt.
Der Geruch setzt sich in der Kleidung fest.
Die Schweine würden die »Leute erstänken«,
schreibt ein Stadtrat. Vor allem im Sommer,
wenn Müll und Mist in der Hitze modern.
Die Kölner Stadträte mahnen die Bürger, vor
dem eigenen Haus zu kehren, sie drohen sogar
Geldstrafen an. Doch niemand fühlt sich ver-
antwortlich. Mitte des 14. Jahrhunderts schrei-
tet der Rat ein und engagiert Arbeiter, die mit
einer Schubkarre durch die Straßen fahren, um
Mist und Müll wegzuschaffen. Dieser wird au-
ßerhalb der Mauern in den Stadtgraben gekippt. Ernst Schubert kalkuliert, dass pro Jahr 6000 Vor der Stadt
Nur den Schweinemist trennen die Arbeiter Tonnen Kot anfallen, die man aus der Stadt Der Nürnberger
vom restlichen Müll und verkaufen ihn an rhei- schaffen muss. Das antike Rom verfügte des- Kaufmann Ullmann
nische Landwirte als Dünger. Köln entwickelt halb über riesige unterirdische Kanalisationen Stromer errichtet
mit den sogenannten Schraiffelkarren wohl die wie die Cloaca Maxima, die das Abwasser in 1390 die erste Pa-
erste städtische Müllabfuhr des Mittelalters – den Tiber leiteten. In den mittelalterlichen Städ- piermühle nördlich
samt Weiterverwertung des Schweinemists. ten graben die Bürger stattdessen Löcher für ih- der Alpen. Weil sie
re Latrinen und umzäunen sie, damit sie nicht stinkt und laut ist,
Müll und Mist, Rauch und giftige Laugen: muss sie jenseits
überlaufen. Sind sie voll, muss der Inhaber je-
Die Städte kämpfen ums Überleben manden beauftragen, der das »heimliche Ge- der Stadtmauern
stehen
Müll und Mist sind nur zwei der Probleme, mach« leerschaufelt und den Inhalt zum Fluss
für die Städte im Spätmittelalter eine Lösung bringt. In Nürnberg nennt man diese Arbeiter
finden müssen. Seit der Antike ist viel Wissen Nachtmeister oder Pappenheimer, in Wien Kot-
darüber verloren gegangen, wie das Leben auf könige.
engem Raum funktioniert. Wie soll man Tau- Doch ihre Dienste können sich nicht alle
sende von Menschen mit Brennholz versorgen? Bürger leisten. Sauberkeit ist im Spätmittelalter
Wohin mit dem Abwasser? Wie umgehen mit ein Privileg der Reichen, die einen Brunnen ha-
Gestank, Rauch und giftigen Laugen? Die Men- ben und andere bezahlen können, ihren Dreck
schen stoßen dabei auf ein scheinbar modernes wegzumachen. Viele ärmere Bürger vergrößern
Problem: die Grenzen des Wachstums. Dort, wo stattdessen ihre Fäkaliengruben und riskie-
die wachsenden Städte die Natur zu stark belas- ren so Unglücke. Wie etwa 1472 in Nürnberg:
BILDNACHWEIS: AKG (2)

ten, kann eine Stadt nicht überleben. Ein Mann, der am Marktplatz wohnt, lässt sei-
Eines der drängendsten Umweltprobleme ist ne Grube so volllaufen, dass der eingrenzende
das Abwasser. Braunschweig hat im 14. Jahr- Zaun dem Gewicht nicht mehr standhält und
hundert etwa 15 000 Einwohner. Der H ­ istoriker bricht. Literweise Fäkalien schwappen auf

G GESCHICHTE 10 | 2022 17
PROLOG

»Etwas Verzweifeltes haftet allen


Maßnahmen zur urbanen Sauberkeit an«
Historiker Ernst Schubert in »Alltag im Mittelalter«

die Straße und in den Keller des Hauses. Der Die Stadträte nehmen die Umweltprobleme
Gestank hängt tagelang über dem Nürnberger meist hin, zu wichtig ist das Gewerbe für die
Marktplatz. Wirtschaft der Stadt. Der Züricher Stadtrat im-
Die Freiburger und Lübecker sind da wei- merhin erlaubt Färberkesseln den Betrieb nur
ter. Sie bauen bereits seit dem 12. Jahrhundert noch, wenn Nachbarn nicht »von gesmak und
Fließrinnen aus Holz, in denen das Abwasser von rouches wegen« belästigt werden. In Köln
von der Stadt direkt in die Flüsse geleitet wird. stößt 1450 eine Messing- und ­Kupferschmelze
Teilweise sind die Rinnen mit Holz umwölbt, so schweflige Abgase aus, dass den Anwohnern
um nicht zu viel Gestank zu verbreiten. Eine die Augen tränen. Der Besitzer meint gegen-
Vorform der modernen Kanalisation. über dem Kölner Rat, sein Betrieb ­verschaffe
100 Menschen Arbeit. Schon jetzt sind Ar-
Färber müssen ihr stinkendes Handwerk
beitsplätze ein beliebtes Argument, um Um-
fern der Häuser am Stadtrand ausüben weltschutz zu verhindern. Doch die Anwohner
Trotzdem muffeln die Städte schlecht, vor al- machen wohl genug Druck beim Stadtrat, die
lem wegen des Gewerbes. Um Leder zu machen, Schmelze muss schließen.
hängen die Gerber Tierhäute zum Trocknen Der größte Umweltkonflikt des Spätmittelal-
auf, die an der Luft verwesen. Die Färber nutzen ters ereignet sich jenseits der Stadtmauern: in
Kuhdung, um ihre Stoffe zu beizen. Schon im den Wäldern. Noch Anfang des 11. Jahrhun-
13. Jahrhundert hat Kaiser Friedrich II. in den derts bedecken riesige Urwälder aus Eichen,
Konstitutionen von Melfi festgeschrieben, dass Buchen und Linden das heutige Deutschland.
solche Gewerbe sich nur am Stadtrand ansie- Doch als die Städte wachsen, wächst auch der
deln dürfen, fernab der Wohngebiete. Bedarf an Holz. Um ein einfaches ­Fachwerkhaus
Von Stadt zu Stadt Auch dort verschmutzen sie die Umwelt. Ger- zu bauen, muss man mindestens zwölf Eichen
Szene aus dem 15. ber und Färber leiten ihre Laugen meist über fällen. Große Kirchen wie die Frauenkirche in
Jahrhundert: Während die Straße in den Fluss. Die Flüsse verwandeln München benötigen 20 000 Baumstämme allein
die einen noch Bäume sich in Kloaken, Wäsche kann man darin nicht für den Dachstuhl.
fällen, pflastern die mehr waschen, geschweige denn Baden. Auch Holz ist der wichtigste Rohstoff des Mittelal-
anderen die Straße die Fischbestände gehen vielerorts zurück. ters. Die Menschen bauen daraus Möbel, Kar-
Bergwerke verschlingen Holz —
auch für Anlagen zum Wasserschöpfen,
um die Stollen trockenzulegen

ren, Schuhleisten und Langbögen aus dem Städte wie Hagenau im Elsass verlieren Einwoh- Giftige Dämpfe
dehnbaren Eibenholz. Der Reichtum der Han- ner und Gewerbe, weil in der Region das Holz Handwerker erhitzen
sestädte beruht auf Holz – ohne Schiffe und ausgeht. Andere Städte sind besser vorbereitet. mit Quecksilber
Fässer kein Fernhandel. In Nürnberg hat man schon früh bemerkt, wie gefüllte Töpfe. Das
Im Winter verbrennen die Menschen Rei- eng das Überleben der Stadt mit dem Wald zu- Mineral kondensiert,
sig im Ofen, um die Stube zu heizen. Glashüt- sammenhängt. 1294 erlässt der Rat eine Wald- wobei schwarzer
ten verfeuern Holz als Brennstoff in ihren Glas- ordnung, die Raubbau im Nürnberger Reichs- Rauch aufsteigt.
öfen, Salzmacher müssen die Feuer unter ihren wald verbietet. Junge Bäume dürfen nicht mehr Der hochgiftige Stoff
Sudpfannen nähren, die Bierbrauer Hopfen und geschlagen werden. Auch beginnt man damit lässt sich flüssig
Malz erhitzen. Eisen- und Messinghütten ver- Bäume nachzupflanzen. 1400 eröffnet in Nürn- aufbewahren
feuern enorme Mengen Holzkohle, um Erze zu berg das erste Geschäft für Waldsamen. Die
schmelzen. Für die Montanindustrie ist die Nä- Nürnberger Förster gelten bald als Experten für
he zum Wald ein wichtiger Standortfaktor, der die Baumzucht. Und sie reisen durch das Reich,
günstigen Nachschub an Brennmaterial garan- um andere Städte zu beraten.
tiert. Die Umweltprobleme sorgen aber nicht nur
dafür, dass die Menschen nachhaltiger mit Res-
Von immer weiter her wird Holz
sourcen umgehen, vielmehr fangen die Stadt-
mit Flößen herangeschafft bewohner auch an, die Umwelt anders wahrzu-
Der Bedarf an Holz verändert die Landschaf- nehmen. 1441 ordnet der Rat in Nürnberg an,
ten. Zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert innerhalb der Stadtmauern Linden und Vogel-
wird auf deutschem Boden ein Gebiet von der beerbäume zu pflanzen. Die Wiener beginnen,
Größe Englands gerodet. Die Wälder um die Blumenkästen vor ihren Fenstern zu bepflanzen,
Städte herum sind kahlgeschlagen. Flöße fahren und die Regensburger können ab 1511 durch ei-
die Flüsse hinab und bringen Nachschub aus nen Park mit wohlduftenden Linden spazieren.
waldreichen Regionen wie dem Schwarzwald Die Stadtbewohner sehnen sich nach der Natur,
oder dem Frankenwald. Aber selbst dort sind die ihre Städte verdrängt haben.
die Ressourcen endlich.
Spätestens Ende des 15. Jahrhunderts ist
BILDNACHWEIS: AKG (3)

Holz so knapp und teuer, dass Menschen in


den Wintern erfrieren, weil sie ihre Öfen nicht LESETIPP
mehr befeuern können. Die Eisenhütten stellen Ernst Schubert: »Alltag im Mittelalter«.
ihren Betrieb teilweise ein. Einst bedeutende wbg Theiss 2022, € 38,–

G GESCHICHTE 10 | 2022 19
1. KAPITEL BAUERN

Im Lauf des Jahres


Es ist das schönste Manuskript des 15. Jahrhunderts: das »Stundenbuch
des Herzogs von Berry« mit seinen 208 opulenten Blättern.
Jedes Monatsbild dokumentiert die Sternzeichen, die typischen
Tätigkeiten und in der Ferne meist ein prachtvolles Schloss
BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA/PETRUSBARBYGERE (2)

März
Am Fuß des Château de Lusignan im Westen Frankreichs beginnt die Arbeit des Frühlings:
Es werden Schafe geweidet und Weinstöcke beschnitten, ein Bauer bereitet
die Aussaat vor, ein anderer pflügt den Acker mit einem Ochsengespann

20 G GESCHICHTE 10 | 2022
Juni
Ein heißer Sommertag nahe der Stadtresidenz des Herzogs, dem Hôtel de Nesle im alten Paris:
Drei Männer sensen, zwei Frauen wenden das Heu. Sie alle tragen leichte Kleidung und schützen
sich mit Hüten oder Kopftüchern vor der brennenden Sonne

G GESCHICHTE 10 | 2022 21
September
Herbstliche Weinlese am Château de Saumur nahe der Loire. Männer und Frauen sammeln
Trauben, Maultiere tragen die Ernte in Körben davon. Ein Mann leckt sich Traubensaft von
der Hand, die Frau daneben sieht empört den nackten Hintern eines sich bückenden Arbeiters

22 G GESCHICHTE 10 | 2022
BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA/PETRUSBARBYGERE (2) 1. KAPITEL BAUERN

November
Eine Szene vermutlich in Savoyen im Südosten Frankreichs: Ein Bauer in einer rötlichen
Tunika ist dabei, einen Knüppel in die Eichen zu schleudern, damit Eicheln zu Boden fallen.
Sein Hund schaut wachsam, wie die Schweine die heruntergefallenen Früchte fressen

G GESCHICHTE 10 | 2022 23
15. Jahrhundert

Im Schweiße
deines Angesichtes
Das Leben der Bauern ist ein fortwährender Überlebenskampf.
Sie arbeiten viel und hart, doch Ernteausfälle durch extremes Wetter und
kriegerische Verwüstungen verursachen katastrophale Hungersnöte
[ VON ANDRÉ WEIKARD ]

24 G GESCHICHTE 10 | 2022
1. KAPITEL BAUERN

D
er Winter 1431 ist außer- Noch dazu werden die derart Ausge-
gewöhnlich. Im Norden pressten zum Frondienst herangezogen.
Deutschlands erinnert Sie müssen nicht nur unentgeltliche
man sich an ihn, weil da Feldarbeit verrichten, sondern auch
die Wölfe kamen. Die Botengänge und Fuhrdienste leisten,
ausgehungerten Raub- außerdem Brücken bauen und Wege
tiere ziehen aus Norwegen und Däne- instandhalten, das Vieh hüten, Brenn-
mark über die zugefrorene Ostsee. Sie holz sammeln. Weil die Fronarbeit un-
sind die Vorboten eines Jahrzehnts von bedingten Vorrang hat – sogar vor dem
Wetterextremen. Kalte, aber trockene Bestellen der eigenen Felder –, ist sie
Winter wechseln sich ab mit warmen, besonders verhasst. Widerstand leisten
feuchten Sommern. Was von der Aus- die Bauern oft passiv. Sie versehen die
saat winters nicht bereits erfroren ist, Zwangsarbeit nachlässig und langsam.
verfault in der Schwüle. Pilze befallen Offene Revolten sind dennoch selten.
das Getreide, Seuchen breiten sich un- Noch nehmen die Bauern ihre Unter-
ter der Bevölkerung aus. drückung als gottgewollt hin.
1435 hält die Kälte so lange an, dass
nicht nur die Ostsee, sondern auch
Rhein, Donau und Bodensee gefrieren.
Das Vieh verendet, Schmelzwasserströ-
me plagen die Menschen im Frühjahr
mit Hochwassern. Anders als bei der
Pestepidemie im 14. Jahrhundert, die
keinen Unterschied machte zwischen
Reich und Arm, sucht das Elend dies-
mal vor allem den dritten Stand heim.
Der Grundherr verdient an der
Heirat und am Tod des Bauern mit
Die Bauern, denen selbst in guten
Erntejahren kaum genug zum Überle-
ben bleibt, krepieren in der Hungerpe- Schuften, schuften, schuften Ein Bauer
riode bis 1440 zu ­Hunderttausenden. mit Bierfässchen bei der Heuernte
Unerbittlich treiben die Grundher-
ren, den »Zehnt«, die Abgabe auf das
Ackerland, ein. Weitere Steuern, Zöl- Im häufig bemühten Bild von der
le und Gebühren drücken das Volk. Gesellschaft als einem Organismus, in
»Besuch auf So wird häufig eine pauschale Kopf- dem der Klerus dem Haupt und der
dem Pachthof« steuer erhoben, ein Weidezins für den Adel den tätigen Gliedern entspricht,
So heißt das Gemälde von Viehbauern fällt ebenso an wie eine bleiben für die Bauern, die neun Zehn-
Jan Brueghel dem Älteren. Schlacht- oder Gerichtsgebühr. An der tel der Bevölkerung ausmachen, nur
Darauf übergibt ein Grundherr Heirat verdient der Grundherr genau- die Füße als metaphorisches Gegen-
seinem bäuerlichen Pächter so mit wie am Tod seiner Untertanen. stück. Verdreckt, grob, versoffen und
einen Zuckerhut, wohl Auch bei der unumgänglichen Nutzung dumm werden sie denn auch in den
zur Geburt des Babys von Mühle und Backhaus zweigt die mittelalterlichen Schriften dargestellt.
Herrschaft sich ihren Teil vom müh- Doch Bauer ist nicht gleich B ­ auer.
sam erarbeiteten Korn des Bauern ab. Die hierarchische Ordnung des Mittel-
Die Strafen für Zahlungsverzug alters unterscheidet zwischen Leibeige-
sind hart. So hält der »Sachsenspie- nen, Hörigen und Freibauern. Während
gel«, die bedeutendste Rechtssamm- die Leibeigenen vollends der Herrschaft
BILDNACHWEIS: AKG (2)

lung des Mittelalters, fest: »Wer seinen ihres Fürsten unterworfen sind, recht-
Zins nicht an dem festgelegten Tag ab- lich als Ware gelten, die von der Obrig-
gibt, der soll ihn in doppelter Höhe am keit bei Bedarf eingetauscht oder ver-
zweiten Tag zahlen.« kauft werden kann und ­ohne jeden

G GESCHICHTE 10 | 2022 25
1. KAPITEL BAUERN

»Du musst sein, was Gott will«


Leitspruch des Volkspredigers und Franziskaners
Berthold von Regensburg, dem viele Bauern folgen

Lohn dessen Güter bewirtschaften, früchten die Dreifelderwirtschaft zu, Kapuze, die Schutz vor Sonne, Wind
bestellen Hörige den ihnen überlasse- wo bislang immer zur Hälfte Getreide und Regen bietet. Das Tragen von Waf-
nen Acker auf eigene Faust. Die Frei- angebaut, zur anderen Hälfte der Bo- fen ist dagegen streng untersagt. Gegen
bauern wiederum verfügen über eige- den geschont worden war. Damit neh- Ende des 15. Jahrhunderts mehren sich
nes Land und können nicht zur Fron- men die Erträge zu, was es den Bauern die Erlasse und Predigten, in denen ge-
arbeit gezwungen werden. Sie allein mancherorts ermöglicht, Milchwirt- gen ungebührlichen Kleiderluxus ge-
können sich frei im Land bewegen und schaft zu betreiben und Honig oder wettert wird. Sie sind offenbar eine Re-
haben ihrerseits Knechte, die nicht nur Hopfen für den Verkauf zu produzie- aktion auf ein erstes, noch stummes
zu schwerer Arbeit, sondern auch zur ren. Aufbegehren gegen die Obrigkeit.
Ehelosigkeit verdammt sind. Im Elsass und am Oberrhein for-
Feldarbeit mit sieben Jahren? Ja!
Oft leben Bauern unterschiedlichen miert sich um 1493 die bäuerliche
Standes gemeinsam in kleineren, meist Eine Waffe tragen? Ist untersagt Bundschuh-Bewegung und stellt radi-
planlos um einen Platz oder Teich he- Der Alltag bleibt für die Mehrzahl kale Forderungen: Die Bauern verlan-
rum angelegten Dörfern. Der Dorf- freilich karg. Bauernkinder gelten mit gen nicht weniger als die Abschaffung
vorsteher – je nach Region Schulze, sieben Jahren als erwachsen und müs- des Zehnts und die Enteignung von
Schultheiß oder auch Meier genannt sen Feldarbeit leisten. Älter als 40 Jah- Klöstern. Militärisch sind die Aufrüh-
– spricht Recht, verteilt die Gemein- re wird nach Jahrzehnten der Plackerei rer den Söldnertruppen ihrer Fürsten
deaufgaben und zieht die Abgaben für kaum jemand, was auch an der kärg- aber hoffnungslos unterlegen. Erst im
die Landesherren ein. lichen Ernährung liegt. In Notzeiten Zeitalter der Reformation werden die
Im Spätmittelalter mildert eine Rei- wie den Hungerjahren 1437 bis 1440, wütenden Bauernheere, die den Tod
he von landwirtschaftlichen Neuerun- so berichten die Chronisten, wird so- durch das Schwert nicht mehr fürchten
gen das Los der Bauern. Zusätzlich gar Baumrinde zu Brot gebacken und als den durch den Hunger, zu einer Be-
zum Schollenpflug kommt die Egge selbst die Wurzeln der verdorbenen drohung für Adel und Klerus.
zum Einsatz, um den Boden zu lockern Ernte werden gekaut. In der größten
und zu glätten. Statt einfacher Riemen Not werden die Menschen auch gegen
legen die Bauern ihren Zugtieren ver- göttliches Gebot zu Kannibalen. LESETIPP
mehrt das Joch an, welches die Zuglast Die Kleiderordnung ist strikt. Bau-
besser verteilt. Sense und Dreschfle- ern tragen grau oder meist mit Kirsch- Annette Großbongardt, Johannes
Saltzwedel (Hrsg.): »Leben im Mittelalter.
gel ersetzen die Sichel und das mühsa- saft schwarz gefärbte Kittel, dazu mit-
Der Alltag von Rittern, Mönchen, Bauern
me Dreschen durch das Füßestampfen. unter knielange Hosen sowie die »Gu- und Kaufleuten«. DVA 2014, € 12,90
Vor allem lässt der Anbau von Hülsen- gel«: eine über die Schultern ­reichende

Zur Mittagspause
kommt der Aufseher
(Mitte) und überprüft
den Stand der Arbeit
BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA/KUNSTHISTORISCHES MUSEUM WIEN

26 G GESCHICHTE 10 | 2022
*Zzgl. € 2,30 Versandkosten, ab € 10,- Bestellwert versandkostenfrei. Vertragspartner: Roularta Media Deutschland, eine Zweigniederlassung der Roularta Media Group N.V., Böheimstraße 8, 86153 Augsburg, UST-ID DE343167457, CEO und ständiger Vertreter Roularta Media Deutschland: Horst Ohligschläger

www.g-geschichte.de/kombi
Das E-Paper ist nun im Abo enthalten!
Jetzt bestellen und attraktive Prämie sichern:
überall
Jetzt mit E-Paper!

verfügbar!
Immer und

Jede Ausgabe, jederzeit greifbar, perfekt archiviert:


Stadtluft macht frei

Vom Bauern
D
as Doppelleben des
Heilbronner Bürgers
Hans Bülligkeimer fliegt
im Jahr 1430 auf. Eini-

zum Bürger ge Jahre lang hat er in


der Reichsstadt gelebt,
die dank Hafen und Wassermühlen
als Handelszentrum floriert. Aber sein
Durch Flucht in die Städte entziehen wahrer Name lautet Hans Vogler. Ei-
sich viele Leibeigene ihren Herren. gentlich ist er Leibeigener Konrads von
Weinsberg, eines einflussreichen Adli-
Doch dafür müssen sie verschiedenste gen. Er floh nach Heilbronn, um hier
Hindernisse überwinden in Freiheit zu leben, doch dann spür-
te ihn sein Grundherr auf und verlangt
[ VON RÜDIGER STURM ] ihn zurück. Prompt kündigt der Rat
der Stadt Vogler das Bürgerrecht auf
und fordert von ihm, sofort die Stadt
zu verlassen.
Schicksale wie dieses gibt es im
In den Mühlen Spätmittelalter reichlich. Ab dem
der Justiz: 12. Jahrhundert ziehen immer mehr
Ein Bauer (re.) Menschen in die Städte, legal und
steht vor illegal. Die Gründe für die Land-
dem Richter flucht sind vielschichtig. Ei-
ne Rolle spielt wohl das ste-
te Bevölkerungswachstum
seit der Jahrtausendwen-
de, das allerdings Mitte des
14. Jahrhunderts zum Still-
stand kam: durch die Pest.
Diese wiederum führ-
te zu einem Rückgang der
Getreidenachfrage, der zu-
sammen mit Missernten
durch Witterungs- und Kli-
maschwankungen die spät-
mittelalterliche Agrarkrise
auslöste, die im 14.  Jahr-
hundert einsetzte – und die
Landflucht erneut befeuerte.
Städte bieten Schutz,
Chancen und Freiheit
Und es gibt noch einen weiteren
wichtigen Faktor: das Zwangssystem
der Leibeigenschaft. Es finden sich
etliche Belege für Unfreie wie Hans
Vogler, die vor ihren Herren in die
Städte flüchten.
Diese mögen den Bauern wie
Inseln der Seligen erscheinen.
Dank der Stadtmauern sind sie
geschützt vor Fehden und krie-
gerischen Auseinandersetzun-

28 G GESCHICHTE 10 | 2022
1. KAPITEL BAUERN

fährdend. Gassen und Straßen sind eng


und von Müll und Fäkalien bedeckt.
Brände, die sich in dieser Gedrängtheit
rasend schnell ausbreiten, bilden eine
ständige Gefahr.
Das ändert indes nichts an der Sog-
wirkung, die Städte speziell nach ihrer
Gründung auf die Leibeigenen entfal-
ten. Die Herren wollen sich die Fluch-
ten nicht gefallen lassen, daher ist ihr
Verhältnis zu den Städten vom 12. bis
zum 15. Jahrhundert konfliktgeladen.
Verliehen wird der Status einer freien
Reichsstadt von den Königen, und die
stellen sich in der Regel auf die Seite der
weltlichen und geistlichen Machthaber.
Das königliche »Statut zugunsten der
Fürsten« vom 1. Mai 1231 untersagt es
den Städten explizit, Leibeigene aufzu-
nehmen. Dabei sind die Städte ohnehin
Inseln der Seligen? So erscheinen die befestigten Orte vielen Land­ bemüht, den Konflikt zu entschärfen.
bewohnern. Die Buchmalerei um 1460 zeigt ein idealisiertes Stadtleben Das Freiburger Stadtrecht etwa gesteht
den Herren aller umliegenden Gebiete
gen. Denn mangels ausgeklügelter Be- hängigkeit. Davon abgesehen fordern das Recht zu, ihre Leibeigenen wieder
lagerungstechniken sind gut befestigte viele Städte von ihren Bürgern eine zurückzuholen.
Städte im Spätmittelalter nahezu un- Minimalbewaffnung bestehend aus Allerdings ist es nicht so einfach,
einnehmbar. Harnisch, Schwert und Spieß – der die Ansprüche auf einen Entlaufenen
Vor allem aber bieten sie die Chan- Ursprung des Begriffs »Spießbürger«. durchzusetzen. Zuerst sind Nachfor-
ce zum wirtschaftlichen Aufstieg. Und schungen nötig, die von den Städten
Handwerker vom Land sind
eben Freiheit. In vielen Stadtrechten ist nicht gerade gefördert werden. Dann
festgelegt, dass ein Unfreier, der sich gefragter als Feldarbeiter gilt es, die Ansprüche zu beweisen –
Jahr und Tag in einer Stadt aufgehalten Die besten Chancen bieten sich vor einem Stadtgericht. Manche Städ-
hat, ohne dass sein Herr Ansprüche auf Neuankömmlingen mit Kapital oder te drohen dem Herrn für den Fall einer
ihn erhob, die bürgerlichen Rechte und den »servi cottidiani«: den Tagewer- Niederlage vor Gericht mit einer Geld-
Freiheiten erhält. Daher das Motto: kern, die ihren Herren mit besonderem strafe. Auslieferungen werden behin-
»Stadtluft macht frei.« Natürlich haben Know-how als Handwerker oder Ver- dert. Letztlich nimmt das Tauziehen
die weltlichen und geistlichen Grund- waltungsfachleute dienen. Die »servi um die Aufnahmeverbote unterschied-
herren etwas dagegen einzuwenden casati«, die an die Scholle gebundenen lichste Formen an. Oftmals sind die
und drohen potenziellen Flüchtlin- und zu Frondiensten verpflichteten Städte dabei um einvernehmliche Lö-
gen mit Strafen. Doch die Verlockun- Bauern, tun sich im neuen Umfeld un- sungen bemüht.
BILDNACHWEIS: AKG/ COLLECTION MAGNARD, AKG/NORTH WIND PICTURE ARCHIVES

gen der Städte sind oft stärker. In Mit- gleich schwerer. So kommt in Frankfurt Die fand sich letztlich auch für Hans
teldeutschland etwa entvölkern sich im oder Dortmund nur ein kleiner Teil der Vogler und Konrad von Weinsberg.
Spätmittelalter 40 bis 68 Prozent a­ ller Neubürger aus der landwirtschaftli- Nach längeren Verhandlungen lieferte
Dörfer. Im Schmelztiegel der Städte chen Urproduktion, der überwiegende der flüchtige Leibeigene dem Adligen
können die Leibeigenen leicht unter- Teil aus dem ländlichen Handwerk. Die eine größere Menge Getreide ab. Sei-
tauchen und sich dem Zugriff ihrer Be- große Abwanderung unter der Bauern- ne Freiheit hatte ihren Preis. Aber den
sitzer entziehen. schaft setzt erst mit der erwähnten Ag- konnte er bezahlen.
Aber sind die Städte wirklich Hor- rarkrise ein.
te der unbegrenzten Möglichkeiten? Doch egal welcher Herkunft, al-
Nur bedingt. Das Bürgerrecht muss le Neueinwohner sind mit demselben
ererbt oder gekauft werden. Wer sich Problem konfrontiert: Mochten die LESETIPP
das nicht leisten kann, schlägt sich als Städte auch gegen Angriffe von au-
Bernd Fuhrmann: »Die Stadt im Mittel­
Dienstbote, Knecht oder Magd durch ßen schützen, so sind die Umweltbe- alter«. wbg Theiss 2006, antiquarisch
und gerät in eine neue Form der Ab- dingungen im Inneren gesundheitsge-

G GESCHICHTE 10 | 2022 29
2. KAPITEL BÜRGER

Köln am Rhein

Ein kleines
Universum
Machtvolle Zünfte, florierende Märkte und ein pulsierender Hafen.
40 000 Einwohner und unzählige Pilger. Die längste Stadtmauer der
Welt und dutzende Kirchen und Klöster. Willkommen in Köln!
[ VON KARIN FEUERSTEIN-PRASSER ]

30 G GESCHICHTE 10 | 2022
E
s reicht! Webermeister Mede- fe sind ein heiß begehrter Exportartikel, viel- Kölner Panorama
bruwer ist außer sich vor Zorn. leicht nicht so fein wie die flandrischen, dafür von 1493. Zum neu-
Soeben erst wurde die Tuch- aber erheblich preiswerter. Das soll auch in Zu- en Wahrzeichen der
steuer erhöht und jetzt heißt kunft so bleiben! Doch es geht um mehr. Mit Stadt ist der unvoll-
es, dass auch der Rheinzoll an- der Zeit haben es die Weber zu erheblichem endete Dom mit
gehoben werden soll. Wie soll Reichtum gebracht, manche von ihnen können seinem Baukran
man da noch konkurrenzfähig sogar mit den Patriziern konkurrieren. Doch in geworden
bleiben? Sein Zorn richtet sich gegen die soge- der städtischen Politik ist ihnen jede Mitspra-
nannte Richerzeche. So heißt der Zusammen- che verwehrt. Das muss sich schleunigst än-
schluss der reichsten Bürger Kölns, der Patrizi- dern, notfalls mit Gewalt!
er, die angeblich von den römischen Senatoren
Revolution am Rhein: Die Kölner Weber
abstammen. Seit Ende des 12. Jahrhunderts sit-
zen sie an den Schalthebeln der Macht und be- entmachten die Patrizier
stimmen damit auch die Preispolitik der Stadt. Im Mai 1369 ist es soweit: Bewaffnet mit
Dabei zahlen sie selbst keinen Pfennig Steuern! Schwertern, Spießen und Hellebarden ziehen
Und nicht nur das: In letzter Zeit konnten ih- die Weber zum Rathaus, um die Richerzeche zu
nen sogar Geldunterschlagungen nachgewiesen entmachten. Schließlich haben die Kölner 1288
werden. Dieses selbstherrliche Gebaren muss schon ihren Erzbischof aus der Stadt vertrieben.
BILDNACHWEIS: AKG

ein Ende finden! Jetzt sind die Patrizier dran. Es geht einfacher
Wie Medebruwer denken auch andere Köl- als erwartet. Druck und Drohungen reichen
ner Webermeister, aus gutem Grund. Ihre Stof- aus, um die Männer von der Abdankung zu

G GESCHICHTE 10 | 2022 31
2. KAPITEL BÜRGER

»überzeugen«. Wenig später löst sich die Ri-


cherzeche auf und überträgt die Macht an die
Kölner Webermeister.
Doch die Herrschaft der Weber bleibt ein
kurzes Intermezzo. Sie begehen nämlich die
gleichen Fehler, die sie zuvor der Richerzeche
angekreidet hatten. Mit undiplomatischem Ver-
halten und neuen Steuererhöhungen – von de-
nen sie selbst ausgenommen sind – machen sie
sich die anderen Zünfte zu erbitterten Feinden.
Tief enttäuscht verbünden die sich mit den Pa-
triziern, um nunmehr der Weberherrschaft ein
Ende zu setzen. Das verläuft diesmal nicht so
glimpflich. Am 20. November 1371 liefern sich
die Kontrahenten eine blutige Schlacht, und
»die Straßen färbten sich rot vom Blut der We-
ber«, wie es in einer Chronik heißt. Am Ende
finden dreißig Weber den Tod, zahlreiche Fami- Vorsicht, Rute! Der Gelehrte Albertus
lien, darunter auch die Medebruwers, werden Magnus bei einer Vorlesung in Köln
aus der Stadt vertrieben, ihre Häuser abgerissen,
Vermögen konfisziert. auftragt. Künftig ist die Bürgerschaft in 22 ge-
werblich-politische Genossenschaften eingeteilt,
Eine neue Verfassung: Der Verbundbrief
die sogenannten Gaffeln. Alle Vollbürger Kölns
garantiert die Herrschaft der Bürger – selbstständige Kaufleute und Handwerker –
Vorerst kehrt Ruhe ein. Doch die Patrizier, müssen einer dieser Gaffeln angehören. Über
die die Macht wieder an sich reißen, sind bald diese Institution wählen sie die neue Machtzen-
heillos zerstritten. Es folgen jahrelange Aus- trale, den Rat der Stadt Köln, dem 49 Ratsher-
einandersetzungen mit den Zünften. Allmäh- ren angehören. Diese als »Verbundbrief« be-
lich dämmert es den Kölnern: Wenn sie künf- zeichnete Verfassung, die das endgültige Ende
tig in Frieden miteinander leben wollen, dann der Patrizierherrschaft besiegelt, bleibt bis zum
muss die Macht gerechter verteilt werden. Im Einmarsch der Franzosen 1794 in Kraft.
Sommer 1396 wird ein provisorischer Rat mit Das späte Mittelalter markiert die Blütezeit
der Ausarbeitung einer neuen Verfassung be- der Metropole am Rhein. Mit rund 40 000 Ein-

»Et hillije
Köln«
Das »heilige Köln«
ist ein Pilgerziel.
Im Dom 1 ruhen
die Gebeine der
Heiligen Drei Köni-
ge. Auf einem ehe-
maligen römischen
4 3
Gräberfeld erhebt
1
sich St. Ursula 2
mit den Reliquien
2
der 10 000 Jung-
frauen. Die Kirche
St. Severin 3 ist
dem dritten Bischof
der Stadt geweiht.
Machtzentrum ist
das Rathaus 4
am Alten Markt 4

32 G GESCHICHTE 10 | 2022
wohnern zählt Köln zu den größten Städten Eu- man den Inhalt in neue Behältnisse um, wobei Unabhängigkeit
ropas, im Heiligen Römischen Reich ist sie die die entsprechenden Fässer oder Kisten jetzt mit 1288 triumphieren
größte und reichste überhaupt. Der Wohlstand dem Kölner Stadtwappen versehen sind: den die Kölner Bürger
beruht vor allem auf dem Fernhandel, dessen drei Kronen, die für die Heiligen Drei Könige in der Schlacht
Wurzeln bis in die römischen Anfänge der Stadt stehen. Ein Gütesiegel, das »Kölner Qualität« in von Worringen
zurückgehen. Begehrte Exportartikel sind ne- alle Welt exportiert. über ihren Erz-
ben den bereits erwähnten Stoffen – darunter Doch Köln ist nicht nur florierende Handels- bischof Siegfried
auch hochwertige Seide – vor allem Wein, Ge- metropole, sondern neben Rom und Jerusalem von Westerburg.
treide und Kunsthandwerk. auch eines der bedeutendsten Pilgerziele der Jetzt ist Köln
eine freie Stadt
Es sind übrigens keineswegs nur Männer, die Epoche. Wie die heutigen Touristen, kommen
die Wirtschaft ankurbeln. Auch zahlreiche Köl- die Gläubigen von nah und fern, um vor den
nerinnen betätigen sich als tüchtige Unterneh- Reliquien der hl. Ursula oder dem Schrein der
merinnen mit weltweiten Handelsbeziehungen, Heiligen Drei Könige zu beten, deren Gebei-
besonders in der Garn- und Seidenproduktion. ne 1164 nach Köln gebracht wurden. Schon seit
Köln ist sogar die einzige Stadt, in der spezielle dem 8. Jahrhundert wird die Stadt als »Sancta
Frauenzünfte existieren. Colonia« bezeichnet, und Münzen mit dieser
Überdies gibt es noch einen weiteren Grund Aufschrift verbreiten die »Heiligkeit« Kölns bis
für den Reichtum der Handelsmetropole, den in den letzten Winkel des Reiches.
sogenannten Stapel. Dazu muss man wissen: Im
Ein rheinisches Jerusalem:
Mittelalter können hochseetüchtige Schiffe den
Rhein nur bis Köln befahren. Hier müssen alle Kirchen, Klöster und Pilgerstätten
stromaufwärts transportierten Waren in kleine- Diese »Heiligkeit« kommt selbst in der Stadt-
re Wasserfahrzeuge verladen werden und um- mauer zum Ausdruck, denn der imposante,
gekehrt. Das seit 1259 geltende Kölner Stapel- 400 Hektar umgebende Schutzwall ist mit sei-
recht verfügt nun, dass alle Güter drei Tage lang nen zwölf Toren dem Vorbild des »himmli-
in Köln ausgestellt (»gestapelt«) werden müssen. schen Jerusalem« nachempfunden. Überhaupt
In dieser Zeit werden sie den Bürgern der Stadt prägen auf engem Raum zahlreiche Gottes-
BILDNACHWEIS: INTERFOTO (2), WIKIMEDIA

in eigenen »Stapelhäusern« zum Verkauf ange- häuser die Silhouette der Stadt. Außer dem seit
boten – eine Garantie für hohe Steuereinnah- 1248 im Bau befindlichen Dom sind vor allem
men. Zugleich aber wird die Ware einer Quali- die zwölf romanischen Stifts- oder Klosterkir-
tätskontrolle unterzogen. Man öffnet zum Bei- chen von Bedeutung, die parallel zur Stadtmau-
spiel alle Heringsfässer, die in großer Zahl an- er einen Halbkreis bilden. Hinzu kommen die
geliefert werden, und überprüft, ob sie den An- Kirchtürme der neunzehn Pfarrbezirke. Für das
forderungen entsprechen. Ist das der Fall, füllt Selbstbewusstsein der Kölner Bürger steht

G GESCHICHTE 10 | 2022 33
2. KAPITEL BÜRGER

»Die Vielzahl der großen Schiffe


konnte ich nicht zählen«
Ein Chronist über den Kölner Hafen im Spätmittelalter

hingegen der zwischen 1407 und 1414 errich- Doch wo Licht ist, ist auch Schatten: Trotz al-
tete, 61 Meter hohe Rathausturm mit seinem len Reichtums gibt es in Köln Heerscharen von
reichen Figurenschmuck. armen Menschen – meist Witwen und Waisen,
Bürgerlicher Initiative ist auch die Grün- Kranke oder Behinderte. Es ist ein interessantes
dung der Kölner Universität 1388 zu verdan- Phänomen, dass diese nicht am Rande der Ge-
ken. Während die älteren Universitäten Prag sellschaft stehen, sondern als selbstverständli-
(1348), Wien (1365) und Heidelberg (1386) auf cher Bestandteil der christlichen Gemeinschaft
kaiserliche oder fürstliche Anregung zurückge- gelten. Die reichen Bürger der Stadt sind näm-
hen, etabliert sich in Köln zum ersten Mal auf lich gerne bereit, für ihre bedürftigen Mitmen-
deutschem Boden eine von der Stadt ins Leben schen zu sorgen. Diese Wohltätigkeit verschafft
gerufene und von Bürgern finanzierte Hoch- ihnen das angenehme Gefühl, mit gutem Ge-
schule. Mit ihr verfestigt sich der Ruf der Stadt wissen reich sein zu können. Schließlich heißt
am Rhein als Zentrum hervorragender Bildung. es in der Bibel: »Eher geht ein Kamel durch ein
Vorreiter auf diesem Gebiet sind jedoch die Bet- Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Got-
telorden der Franziskaner und Dominikaner, tes gelangt.« So wird es üblich, sich den »Weg
die sich zu Beginn des 13. Jahrhunderts in Köln ins Himmelreich« durch Spenden, Stiftungen
niedergelassen haben und deren Klöster schon und milde Gaben zu sichern.
bald zu Stätten der Gelehrsamkeit wurden.
Gelebte Mildtätigkeit: Ein Platz für
Blick in eine Ratsstube Große Berühmtheit erlangte zum Beispiel der
Dominikaner Albertus Magnus, der 1248 eine Bedürftige in den Häusern der Reichen
Die 49 Mitglieder
des Kölner Stadtrates Schule gründete, in der alle damals bekannten Betteln gilt daher keineswegs als anstößig.
werden von den Wissenschaften gepflegt wurden und die von Für alle, die nicht betteln wollen, gibt es ein ur-
Bürgern für ein Scharen internationaler Studenten frequentiert banes Wohlfahrtssystem, das sowohl von den
Jahr gewählt wurde. reichen Bürgern als auch von den Kirchen ge-
tragen wird. Viele wohlhabende Bürgerfamilien
unterstützen einen sogenannten »Hausarmen«,
bieten ihm mitunter sogar »Kost und Logis«, al-
so neben den täglichen Speisen auch eine tro-
ckene Unterkunft, sei es unter der Treppe oder
in der Dachkammer.
Für alle anderen gibt es das Heilig-Geist-Spi-
tal am Domhof, eine zentrale Einrichtung der
offenen Armenpflege. Hier erhalten rund 700
Bedürftige eine regelmäßige Unterstützung in
Form von Geld, Kleidung und Lebensmitteln.
Ähnlich arbeiten auch die Tafeln der verschie-
denen Pfarrbezirke, wo die Berechtigten aus der
Nachbarschaft ihre Almosen in Empfang neh-
men können.
Die Kölner Weberfamilien, die man 1371 aus
der Stadt vertrieben hat, sind übrigens nicht auf
milde Gaben angewiesen. So konnten die Me-
debruwers rechtzeitig Land vor den Stadttoren
erwerben, um dort die Waidpflanze anzubauen.
Die aus ihr gewonnene Farbe ist hochbegehrt,
dient sie doch dem Blaufärben der typischen
Kölner Stoffe. Nur wenige Jahre später sind die
Medebruwers reicher als je zuvor.

LESETIPP
Carl Dietmar, Werner Jung: »Kleine illustrierte
Geschichte der Stadt Köln«. Bachem 2009, € 19,95
Reichsadler Neben Fürsten und Herzögen: die Wappen von Augsburg, Nürnberg, Köln und Lübeck

Die freien Städte gen um ehemalige Bischofsstädte, die die geist-


liche Herrschaft abschütteln konnten, ohne dass

Im Zeichen ein anderer Regent an die Stelle des Bischofs ge-


treten wäre. Sie besitzen gegenüber den Reichs-
städten einen größeren politischen Spielraum

des Adlers und sind sowohl von den Steuerabgaben als


auch vom Kriegsdienst befreit.

Viele Städte mausern sich zu kleinen Einigkeit macht stark: Die Städtebünde
sind ein respektierter Machtfaktor
Staaten. Sie sind nahezu souverän
Als die Reichsstädte ebenso wie die frei-
und verteidigen ihre Freiheiten en Städte beginnen, verstärkt ihre Interessen
[ VON KARIN FEUERSTEIN-PRASSER ] durchzusetzen und seit 1489 als Reichsstädte-
kollegium regelmäßig auf den Reichstagen ver-

D
treten sind, »verschwimmen« beide Stadttypen
ie Bezeichnung »Reichsstadt« hat im Volksmund zur »freien Reichsstadt«.
sich für jene Städte durchgesetzt, Doch das städtische Macht- und Selbstbe-
die in der Stauferzeit »königliche wusstsein kommt bereits im 14. Jahrhundert
Städte« genannt wurden, weil sie zum Ausdruck, als sich schwäbische und rhei-
auf Reichs- oder Königsgut lagen. nische Städte zu Bündnissen zusammenschlie-
Sie hatten also von Anfang an keinen anderen ßen, um gegen äußere Bedrohungen vorzuge-
Herrn als den König oder Kaiser über sich, be- hen und ihre Rechte und Freiheiten zu wahren.
saßen damit einen reichsunmittelbaren Status. Den bedeutendsten Machtfaktor stellt die Han-
Mit der Zeit ist es ihnen gelungen, sich zu- se dar, die in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun-
nehmend von der direkten Einflussnahme des derts aus der Kaufmannshanse hervorgegangen
Monarchen zu befreien und weitgehende Auto- ist. Den Kern bilden etwa siebzig norddeutsche
BILDNACHWEIS: INTERFOTO, WIKIMEDIA

nomie zu erreichen. Was bleibt, ist jedoch die Städte, die sich gegenseitig den Rücken stärken.
Verpflichtung, dem König eine jährliche Steuer »Stolz und frei« bleiben die meisten deut-
zu zahlen, Kriegsdienst zu leisten und dem je- schen Städte bis zum Reichsdeputationshaupt-
weils neuen Herrscher zu huldigen. schluss von 1803, einer radikalen Neugliederung
Bei den »freien Städten« wie Köln, Speyer, des Reiches: Bis auf wenige Ausnahmen werden
Worms oder Regensburg handelt es sich hinge- alle Städte einem Landesherrn zugeschlagen.

G GESCHICHTE 10 | 2022 35
Reiche Kundschaft
beim Goldschmied.
Gemälde des Nieder-
länders Petrus
Christus von 1449

36 G GESCHICHTE 10 | 2022
2. KAPITEL BÜRGER

Handel und Handwerk

Arbeit bringt
die Welt voran
Den Fuggern gelingt der sagenhafte Aufstieg
von einfachen Webern zu Finanzmagnaten.
Aber für die meisten Menschen in den
Städten bedeutet Arbeit eine tägliche
Plackerei, um das Überleben zu sichern
[ VON KARIN SCHNEIDER-FERBER ]

M
öglich ist eine stei- trag von 1806 Gulden und hat damit
le Karriere, wie die mit alteingesessenen Patrizierfamilien
der Fugger, nur in gleichgezogen. Nach seinem Tod kann
der Stadt. Denn in seine Witwe Elisabeth – mit den soli-
den Städten schlägt den Fähigkeiten einer schwäbischen
das Herz der mit- Hausfrau reich gesegnet – das Famili-
telalterlichen Wirt- envermögen gar mehr als verdoppeln!
schaft. Wer weiß, was aus den Fuggern Ihre Söhne Endres und Jakob d.Ä. ver-
geworden wäre, wenn nicht ihr Ahn- fügen 1448 über das fünftgrößte Ver-
herr Hans 1367 seine überschaubare mögen in der Stadt. Der Sprung in die
Welt im Dorf Graben auf dem Lechfeld Riege der Superreichen gelingt in der
verlassen hätte und in die aufstreben- nächsten Generation unter Jakob Fug-
de Handels- und Textilstadt Augsburg ger dem Reichen.
eingewandert wäre. Mit diesem Schritt
Barchent: Der Stoff, aus dem
erschließt er sich und seinen Nachfah-
ren ein weites Feld der Möglichkeiten. die Träume sind
Hans hat schon etwas Geld in der Allein am Webstuhl wäre dieser
Tasche, als er nach Augsburg kommt. Reichtum allerdings nicht zu erwerben
Das beweist ein Eintrag in den Steuer- gewesen. Bereits Hans Fugger dürf-
büchern. Doch er weiß es äußerst ge- te der Einstieg in den Textilhandel mit
schickt zu mehren. Zwei Mal geht er seinen deutlich höheren Gewinnspan-
vorteilhafte Heiraten mit Töchtern von nen gelungen sein; für seine Söhne ist
BILDNACHWEIS: INTERFOTO

Zunftmeistern der Weber ein, erwirbt er sicher belegt. Der Stoff, aus dem die
das Bürgerrecht, engagiert sich selbst Träume sind, heißt zu dieser Zeit Bar-
im Vorstand der Zunft und im Großen chent, ein Mischgewebe aus Leinen
Rat. 1396 versteuert er schon einen Be- und Baumwolle.

G GESCHICHTE 10 | 2022 37
2. KAPITEL BÜRGER

Die Baumwolle wird über Italien Weber, Schuster und Schmiede zäh-
eingeführt, doch Flachs wächst an vie- len regelmäßig zu den wohlhabenden
len Orten. Die heimischen Webstühle Gewerben einer Stadt. Danach folgen
beginnen zu klappern. Der bunt ein- Bauhandwerker und Berufe, die Holz
gefärbte, preiswerte, angenehm zu tra- verarbeiten. So etwa Fassmacher, die
gende Barchent ist ein überregional das wichtigste Transportbehältnis der
nachgefragter Massenartikel. Wer sich Zeit anfertigen.
in dieser Branche engagiert, darf auf Prächtig ausgestattete Zunfthäuser
die Zukunft hoffen. Die Städte bieten oder Stiftungen von Kirchen und ka-
ideale Voraussetzungen für Produkti- ritativen Einrichtungen zeugen von Der reichste Mann seiner
on und Export: ein großes Reservoir ihrem Reichtum. Der Freiheit in der Epoche: das Augsburger
an Arbeitskräften, hochspezialisierte Stadt sind allerdings enge Grenzen ge- Finanzgenie Jakob Fugger
Handwerksbetriebe, technische Inno- setzt; statt Gewerbefreiheit herrscht
vationen, internationale Handelsmes- Zunftzwang. Jeder Handwerker muss
sen und Verkehrswege, Schutz und Si- sich einer Zunft anschließen, die seine bei Krankheit, Alter und Not sowie
cherheit hinter hohen Mauern. Arbeit normiert und überwacht, aber Schutz vor missliebiger Konkurrenz.
Wer wie Hans Fugger in eine der auch Privilegien garantiert. Den inneren Zusammenhalt stärken
aufblühenden Handels- und Gewerbe- gesellige Treffen in der Zunftstube, die
Vom zünftigen Leben und der
städte des Reiches einwandert, muss gemeinsame Verehrung der Zunftpat-
sich dennoch auf ein hartes Leben ein- Vielfalt der Handwerksberufe rone und die Teilnahme an religiösen
stellen. Krasse Vermögensunterschie- Die Zunft bestimmt über Gesellen- Prozessionen.
de prägen die Gesellschaft. Nur die ausbildung und Zugang zu den Meis- Das Handwerk gedeiht auf »golde-
wenigsten zählen zur hauchdünnen terstellen, über Arbeits- und Verkaufs- nem« Boden. Fast explosionsartig dif-
Schicht der Fernhandelskaufleute, die bedingungen und kontrolliert streng ferenziert es sich im Spätmittelalter. Bei
mit exklusiven Waren ein Vermögen die Qualität der hergestellten Wa- den Bäckern gibt es längst nicht mehr
machen und gleichzeitig die Stadtpoli- ren. Hohe Hürden stehen vor der Auf- nur Brotbäcker, der Markt verlangt
tik bestimmen. nahme in einer Zunft. Der Bewerber nach Spezialisten wie Brezel-, Pfeffer-
Doch weil in einer bevölkerungsrei- muss eheliche Geburt, handwerkliche kuchen-, Zucker- und Pastetenbäcker
chen Stadt immer kräftig gegessen, ge- Fähigkeit und ein Mindestvermögen und Lebküchner. Das Nürnberger Me-

BILDNACHWEIS: AKG (10)


trunken, gebaut und konsumiert wird, nachweisen, eine Aufnahmegebühr tallgewerbe wartet neben Hufschmie-
lassen sich auch mit den Grundbe- zahlen und das Bürgerrecht erwer- den mit Blechschmieden, Eimerma-
dürfnissen recht solide Einnahmen er- ben. Dafür bietet die Zunft ihm ein chern, Feilenhauern, Hammer- und
wirtschaften. Bäcker, Metzger, Brauer, Mindestmaß an sozialer Absicherung Klingen-, Sensen- und Zangenschmie-

Lob der Arbeit Vom Brauer über den Feilenhauer bis hin zum Zimmermann präsentieren die

Ein Zimmermann Brauer am Gärbottich. Seilerei. Wichtigster Pergamenter. Mit den


bereitet Holz für Der Stern ist das Rohstoff für Seile und Häuten werden die
den Hausbau vor Zunftzeichen Stricke ist Hanf Fenster bespannt

38 G GESCHICHTE 10 | 2022
bensverhältnisse machen sie zu einem
unruhigen Element in der Stadtgesell-
schaft. Die Arbeitsbedingungen sind
oft hart und gesundheitsschädigend.
Der Gestank in einer Gerberei ist un-
erträglich; der eingesetzte Kalk verätzt
die Haut; mit bloßen Füßen werden die
Häute in der Lohbrühe gewalkt.
Kapitalstarke Kaufherren f­orcieren
Arbeit in einer Spinnerei. Mit Stoffen neue Vertriebs- und Produktions-
lassen sich gute Geschäfte machen. Doch methoden. Sie strecken den export­
den Hauptprofit streichen die Händler ein orientierten Barchentwebern Rohma-
terial und Arbeitsgeräte vor, um hinter-
her zu festgelegten Preisen und Stück-
den, Messerern, Naglern und noch Patronatstage der lokalen Heiligen. Erst zahlen den Barchent abzunehmen und
mehr auf. In der Textilherstellung tre- im Zuge der Reformation und der Ab- mit hohem Gewinn im Ausland zu ver-
ten neben die Weber, die Garnspinner, schaffung der Heiligenfeste steigt die kaufen. Auch die Fugger bedienen sich
Färber, Sticker, Walker, Gewandschnei- Arbeitszeit auf knapp 300 Arbeitstage. dieses Verlagssystems, um ihre Ren-
der, Seidenspinner- und Seidensticker. diten zu steigern. Die Erlöse aus dem
Arbeiten am Existenzminimum
In einer Stadt durchschnittlicher Barchenthandel investieren sie später
Größe sind etwa 60 bis 100 verschie- und traumhafte Gewinne in der Montanwirtschaft, erwerben Sil-
dene Handwerksberufe vertreten; in In der Regel sind die Beschäfti- ber- und Kupferbergwerke. Ihr Vermö-
Frankfurt am Main zählt man 1440 so- gungsverhältnisse überschaubar: Ein gen ist schließlich so riesig, dass sie zu
gar 191 Berufe. Die Arbeitstage sind Meister, zwei Gesellen, ein Lehrling. Bankiers von Kaisern und Päpsten wer-
lang und richten sich nach dem Son- Doch die Unterschiede selbst in der den. Diese Karriere bleibt allerdings für
nenlicht. Da kommt man im Sommer gleichen Zunft sind enorm. Es gibt vie- die meisten Städter ein Traum.
schon mal auf 13 Stunden täglich, im le allein arbeitende Meister, die kaum
Winter dagegen auf etwa sieben Stun- das Existenzminimum erwirtschaften.
den. Der Lohn folgt diesem Arbeits- Ganz zu schweigen von den unzähligen LESETIPP
rhythmus. Im 15. Jahrhundert wird ledigen Gesellen, die bei ihrem Meister
Greg Steinmetz: »Der reichste Mann der
an etwa 265 Tagen gearbeitet, denn leben und wegen der Zunftbeschrän-
Weltgeschichte. Leben und Werk des Jakob
der Sonntag ist heilig, ebenso wie die kungen nie Aussicht auf eine eigene Fugger«. FinanzBuch Verlag 2016, € 26,99
Hochfeste des Kirchenjahres und die Meisterstelle haben. Ihre prekären Le-

Nürnberger »Hausbücher der Zwölfbrüderhausstiftungen« die zahlreichen Berufe in der fränkischen Reichsstadt

Der Beruf des Feilen- Der Flaschenschmied Dachdecker sind im Auch der Steinmetz
hauers wird 1387 zum fertigt Pulver- und Spätmittelalter gut zählt zu den Spitzen-
ersten Mal erwähnt Feldflaschen bezahlte Spezialisten verdienern

G GESCHICHTE 10 | 2022 39
2. KAPITEL BÜRGER

Randgruppen

Ehrlos und verachtet


Mit ihrer Mauer setzt sich die mittelalterliche Stadt deutlich vom Umland ab.
In der Stadt selbst leben die Bürger mit unsichtbaren Mauern
[ VON FRANZ METZGER ]

S
pür- und sichtbar wird eine die- Links Intimer Einblick
ser Mauern an Gerichtstagen: So- in eine Badestube.
bald der Henker den Gang zur Der Bader schröpft das
Gerichtsstätte antritt, öffnet sich Blut seiner Kunden
eine Gasse in der Menge. Jeder Rechts Das blutige
versucht, möglichst viel Abstand Handwerk der Henker:
zu der Gestalt zu schaffen, die ihren Auftrag mit Rädern, Köpfen,
dem erhobenen Gerichtsschwert verkündigt. Geißeln, Ausweiden
Ihre Identität ist hinter einer Maske verborgen, und mehr
die zusammen mit einem speziellen Gewand
die Absonderung des Scharfrichters von den
Bürgern unterstreicht.
Überhaupt ist Kleidung ein Mittel, jene Men-
schen zu kennzeichnen, die am Rande, wenn
nicht außerhalb der bürgerlichen Stadtgesell-
schaft, leben. Ereignisse wie Markt- und Ge-
richtstage bieten eine der Gelegenheiten, bei der
sich beide Gruppen begegnen.
Die bunten, fantasievollen Gewänder des
»Fahrenden Volkes« sind dabei ebenso Kenn-
zeichen des Außenseitertums wie Werbemit-
tel. Spielleute, Akrobaten, Jongleure oder Bä-
renführer hoffen, so die Aufmerksamkeit und Im 15. Jahrhundert schreiben zahlreiche Städte
Spendenfreudigkeit der Menge zu gewinnen. wie Nürnberg, Frankfurt oder Bamberg zudem
Als Werbemittel nutzen auch die Prostituier- den Juden das Anbringen eines gelben Rings an
ten, die »Hübschlerinnen«, die auffällige Klei- der Kleidung vor.
dung. Sie wird ihnen von der städtischen Ob-
Blutarbeit mit fester Gebührenordnung:
rigkeit vorgeschrieben und vom »Frauenwirt«,
dem Betreiber des städtischen Bordells, über- Das Tagewerk des Henkers
wacht. An geschäftigen Tagen gehen allerdings Der Henker hat die Richtstätte erreicht und
auch »freischaffende« Liebesdienerinnen auf waltet dort seines tödlichen Amtes nach den
BILDNACHWEIS: AKG, INTERFOTO

Kundenfang (siehe Beitrag ab Seite 56). ergangenen Urteilen. Ein rascher Tod ist das
Als weitere Gruppierung in der Stadt sind die Köpfen, wenn der Scharfrichter sein Handwerk
Juden verpflichtet, sich als Außenseiter kennt- beherrscht. Auch ein Gehenkter muss nicht lan-
lich zu machen. Weit verbreitet ist dafür eine ge leiden, wenn die Vorbereitung des Galgens
spitz zulaufende Kopfbedeckung, der Judenhut. stimmt. Qualvoll und Schwerarbeit für den

40 G GESCHICHTE 10 | 2022
2. KAPITEL BÜRGER

Henker sind dagegen das Vierteilen oder das


Rädern, wenn dem Delinquenten alle Glied-
maßen gebrochen werden und er aufs Rad »ge-
flochten« wird. Für alle diese Aktionen gibt es
feste Tarife, nach denen der Henker seine Hel-
fer entlohnt und Material wie den Galgenstrick
oder das Feuerholz für den Ketzer-Tod auf dem
Scheiterhaufen abrechnet. Auch für die Folter
bei einem »hochnotpeinlichen Verhör« gilt eine
Gebührenordnung. Hingegen sind Hexenpro-
zesse, die bis heute für viele Menschen das Bild
von »mittelalterlicher« Rechtspflege prägen, ein
Phänomen der frühen Neuzeit.
Einen eigenen Scharfrichter mit Dienstwoh-
nung können sich nur größere Städte leisten.
Dass er und seine Familie innerhalb der Stadt
wohnen, ändert aber nichts daran, dass alle An-
gehörigen zu den »unehrlichen Berufen« zäh-
len, die vom Gemeindeleben ausgeschlossen
sind. Sie können so gezwungenermaßen nur Haus der Hoffnung sind in Bürgerhäusern schon wegen der Feuer-
miteinander verkehren und untereinander hei- Das Nürnberger gefahr unüblich.
raten. Dies gilt auch für Schinder und Abdecker Heilig-Geist-Spital Zum Angebot der Körperpflege zählen neben
oder Totengräber – eben alle, die mit Tod in Be- ist seit 1339 die letzte Haar- und Bartschneiden auch medizinische
rührung kommen. Zuflucht für Kranke, Behandlungen wie Schröpfen oder zur Ader las-
Arme und alte Bürger sen, kleinere Operationen, das Versorgen von
Der Henker ist oft ein gefragter ohne Familie Wunden oder das Ziehen von Zähnen – blutige
Fachmann in medizinischen Fragen Tätigkeiten, die zur Einordnung des Baderbe-
Dennoch klopft an die Tür des Henkerhauses rufs unter die »unehrlichen« Gewerbe führten.
so mancher ehrbare Bürger, der sich die Schul- Der Verdacht der Zuhälterei spielt dabei weni-
ter oder die Hüfte ausgerenkt hat. Hier ist die ger eine Rolle, mochte auch das Zusammensein
Foltererfahrung des Henkers wertvoller als die von Männlein und Weiblein im großen Badezu-
Studien der gelehrten Doctores! Und eine Sal- ber, wie es in zahlreichen Abbildungen überlie-
be aus dem Fett eines Gehenkten soll ja Wun- fert ist, manches Anbandeln ermöglichen und
der wirken … die Missbilligung von Geistlich- und Obrig-
Medizinische Dienstleistungen bietet auch keit finden. Seriöse Badermeister achten sorg-
ein anderer Berufszweig der Randgesellschaft: fältig auf den Ruf ihres Hauses. Nur so ist der
die Bader. Badehäuser leisten einen wichtigen Aufstieg der Augsburger Baderstochter Agnes
Beitrag zur städtischen Hygiene; eigene Bäder Bernauer zur Liebes- und Lebensgefährtin des

Verfolgt und vertrieben: Die Juden


Die blühenden deutschen Judenge- des Schwarzen Tods 1348/49 zum
meinden entlang des Rheins sind Opfer fallen. Am Ausgang des Mittel-
1096 durch die Gewalttaten im Vor- alters verbannen viele Städte die
feld des Ersten Kreuzzugs weitge- Juden aus ihren Mauern, andere
hend vernichtet worden. In den fol- zwingen sie, in abgeschlossenen
genden Jahrhunderten entwickeln Ghettos zu leben. Als Landjuden
sich in den Städten neue Gemeinden, führen die Vertriebenen ein meist
die zum Teil den Pogromen während karges Leben.

Juden bei einem angeblichen Ritualmord


Leben im Elend
Das Bild »Die Krüp-
pel« von Pieter
Brueghel dem Älte-
ren ist ein gemaltes
Rätsel. Die Kopfbe-
deckungen der
armen Kreaturen
erinnern an eine
Krone, einen Helm,
ein bürgerliches Ba-
rett sowie eine Bi-
schofsmitra. Wollte
der Maler damit an-
deuten, dass im Leid
alle Stände aufgeho-
ben sind? Oder viel-
leicht, dass jeder
Gewinner auch sei-
nen gescheiterten
Bayernherzogs Albrecht III. möglich, der aller- Eine Ausgrenzung macht aber vor keiner so-
Gegenpart hat?
dings mit der Ermordung der Nicht-Standesge- zialen oder rechtlichen Schranke halt: Schlägt
mäßen 1435 endet. der Aussatz, die Lepra, zu, trifft Reich und Arm,
Nicht der rechtliche Status, sondern die öko- Mächtig oder Einflusslos dasselbe harte Schick-
nomischen Umstände machen eine weitere Be- sal. Weisen die Symptome auf eine Ansteckung
völkerungsgruppe zu Außenseitern – die Ar- hin, bedeutet dies den sozialen Tod des Betrof-
men und Bettler, die in »normalen« Zeiten bis fenen. Im Leichenhemd muss er oder sie die ei-
zu zehn Prozent der städtischen Bevölkerung gene Totenmesse miterleben, dann wird ihnen
ausmachen. Bürgerinnen und Bürger, die in ein Platz in einem der Leprosenhäuser zuge-
harte Zeiten fallen – etwa durch Krankheit, In- wiesen, die vor den Stadtmauern errichtet wur-
validität oder Tod des Ernährers –, können auf den. Zurück in die Stadt dürfen deren Insas-
die Solidarität der Bürgerschaft zählen. Sie er- sen nur zu bestimmten Zeiten und Anlässen,
halten von einem eigenen Offiziellen, dem Bet- etwa um an einem eigenen Fenster der Kirche
telvogt, den Bettelsack und ein Abzeichen, das an der Messe teilzunehmen oder um Almosen
sie als Gemeinde-Arme ausweist. Wenn sie auf einzusammeln. Dabei müssen sie ständig mit
ihren Bettel-Touren an die Türen der Stadtbür- den Klappern rasseln, die sie bei ihrer Auswei-
ger klopfen, geben sie diesen die Möglichkeit, sung erhalten haben. So soll sichergestellt wer-
mit den Almosen ihrer Christenpflicht nach- den, dass die Bürger der gefürchteten Krankheit
zugehen. Mit der guten Tat tragen die Spender weiträumig aus dem Weg gehen können.
zum eigenen Seelenheil bei. Wie groß die Angst vor der Infektion war,
lässt sich auch daran ablesen, dass man die Er-
Vor den Toren der Stadt vegetieren
wähnung der Siechenhäuser möglichst vermied:
die todgeweihten Opfer der Lepra Findet man in den Plänen mittelalterlicher
Bettelarme Mitbürger leisten somit einen Städte »Rosengassen« oder »Rosenstraßen«, ist
wichtigen Beitrag zum sozialen und spirituellen dies kein Hinweis auf blühende Gärten, son-
Zusammenhalt der Gemeinde. An hohen Feier- dern Tarnung des dortigen »Leprosen-Hauses«.
tagen werden die Armen zudem verköstigt, und Die unsichtbaren Mauern der mittelalterlichen
BILDNACHWEIS: INTERFOTO, GETTY IMAGES/DUKAS

wenn sie krank oder gebrechlich werden, kön- Stadt haben Spuren hinterlassen.
nen sie auf einen Platz im Armenspital hoffen.
Die Spitäler sind in vielen Städten die Stiftun-
gen reicher Mitbürger. Ein eindrucksvolles Bei-
spiel ist das Heilig-Geist-Spital in Nürnberg, LESETIPP
das von Konrad Groß, Kaufmann, Kaiserfreund
Harry Kühnel: »Alltag im Spätmittelalter«.
und »Pate« der Reichsstadt im 14. Jahrhundert, Edition Kaleidoskop 1998, antiquarisch
finanziert wurde.

G GESCHICHTE 10 | 2022 43
Vor grandioser Kulisse:
Adelige spielen das
beliebte Schachzabel

D
Spiele und Feste er Friedhof ist als
Ort für Würfelspiele
sicher nicht passend,

Wenn die aber dort zu spielen ist


eben auch nicht un-
möglich. So sehr greift

Würfel fallen
diese Unsitte um sich,
dass das Würfeln im Jahr 1276 auf dem
Wiener St.-Stephansfriedhof offiziell
untersagt wird. Offenbar jedoch nur
mit mäßigem Erfolg. Denn 1296, also
Kegeln, Wetten, Tanzen: Menschen aller zwanzig Jahre später, bestätigt Herzog
Stände lieben das Spiel, aber manchmal Albrecht I. von Österreich das Verbot
seines Vorgängers und erweitert es für
fürchtet die Obrigkeit um die guten Sitten sämtliche Friedhöfe der Donaustadt.
Noch ungenierter und rüpelhafter
[ VON ANJA STILLER ] geht es auf den Friedhöfen von Luzern
in der Schweiz zu. Schließlich sieht sich
dessen Stadtrat sogar gezwungen, nicht

44 G GESCHICHTE 10 | 2022
2. KAPITEL BÜRGER

Spieleverbrennung
Im 15. Jahrhundert wettert der franziskanische Wanderprediger
Johannes Capistrano auch hierzulande gegen jeglichen Luxus,
worunter für den Fanatiker sämtliche Gesellschaftsspiele fallen

nur das Würfeln zu verbieten, son- Brett und das Licht, er nimmt die Ein- Kugelhut zu tragen: Drei aufgenäh-
dern gleich auch noch Kegeln, Stechen, sätze in seine Obhut und zahlt am En- te schwarze Würfel mit weißen Augen
Armbrustschießen und Steinstoßen. de die Gewinne aus. Möglich, dass die kennzeichnen den Träger als beson-
Seit jeher lieben Menschen das Spiel, Maßnahme hier geholfen hat. ders spielwütig. Und in Aachen geht
doch eine Gesellschaft, in der ­v ieles man sogar so weit, Glücksspielern ein
Heftige Strafen sollen Spieler
nicht berechenbar ist, braucht ihre Ab- Brandmal auf die Wange zu zeichnen.
lenkung. So dienen Spiele, Feste, Tan- vor dem Ruin bewahren Das Spiel um Geld ist nur eine Form
zen und Theater im Mittelalter als Anderswo können die Menschen der Freizeitbeschäftigung. Das mit-
willkommene Abwechslung zum oft nur unter Androhung drakonischer telhochdeutsche Wort »spil« bedeutet
BILDNACHWEIS: AKG, INTERFOTO/BILDARCHIV HANSMANN

mühsamen Alltag. Früh dürfte es auch Strafen davon abgehalten werden, sich so viel wie Unterhaltung, Zeitvertreib
um Geldwetten gegangen sein, die zwar in den Ruin zu spielen. In Straßburg oder Vergnügen, wozu Tanz, Sport,
nicht verboten, aber doch stark regle- werden Mitte des 15. Jahrhunderts al- Ballspiele, Turniere, Musik und eben
mentiert werden. le Würfelspiele untersagt, nur Schach-, auch Glücksspiel zählen.
Im Jahr 1435 legen die Wiener in Brett- und Kartenspiele sind noch mit Was und wie gespielt wird, hängt
einer Satzung fest, dass Würfel- und kleinem Einsatz erlaubt. Wer dage- vom Stand ab. Als höfisch gelten Brett-
Brettspiele grundsätzlich nur unter gen verstößt, zahlt entweder ein Buß- spiele wie Schach, Mühle, Dame und
Aufsicht eines Vertrauensmannes, etwa geld oder muss für einen Monat in den Wurfzabel (ein Würfelbrettspiel), au-
eines Wirtes, gespielt werden dürfen. Turm. In Basel zwingt man alle, die ge- ßerdem Ballspiele sowie Spiele mit
Er stellt gegen Gebühr die Würfel, das gen die Regeln verstoßen, einen ­gelben Ringen und Kreiseln.

G GESCHICHTE 10 | 2022 45
2. KAPITEL BÜRGER Schwertkampf
ist ein beliebter
Sport der
Oberschicht

dem Land eher derbe und oft deutlich


erotisch besetzte Sprungtänze. »Werfet
ûf die stuben« (öffnet die Stuben), heißt
es in einem Lied des Dichters Neidhart
vom Reuental aus dem 13. Jahrhundert,
»so ist es küele, / daz der wint / an diu
kint / sandte waeje durch die übermüe-
der« (so ist es kühler, so dass der Wind
sanft durch die Röcke der Mädchen
fahren kann).
Ein besonderes Fest ist die Fastnacht,
deren Faszination darin liegt, dass die
Menschen sich maskieren dürfen. Bau-
ern, Teufel, Hexen und alte Weiber zäh-
len zu den beliebten Kostümierungen.
Aber nicht nur das ist erlaubt: Im Fast-
nachtstreiben wird mit Rollen gespielt
und die Identität der Geschlechter auf-
Wer den Wettkampf mag, nimmt
an Wettläufen, am Wettschießen oder
»Würde der Würfel gehoben, was erotische Freiheiten er-
öffnet, die sonst unterdrückt werden.
an Turnieren teil. Auch Jagd und Falk- auf die eine Seite So erhalten die Maskierten – Männer
nerei zählen am Hof zum spielerischen wie Frauen – nun Zutritt zu Orten, die
Zeitvertreib. In vielen Städten etablie- nicht so gut fallen ihnen sonst verschlossen bleiben.
ren sich Fechtschulen, wie die Nürn- wie auf die andere, In Straßburg dürfen sie bis in die
berger Marxbrüder. Beliebteste Waffe Schlafräume der Stadthäuser. Die Frau-
ist das leichte Langschwert. wäre das eher en bedienen die Verkleideten dort mit
In gebildeten Kreisen kommt im
14.  Jahrhundert das sogenannte Phi-
Betrug als Zufall« süßem Kuchen. Die Kirche schaut dem
Treiben missbilligend zu. »Sich aber an,
losophenspiel auf: ein anspruchsvolles Alfons X. von Kastilien in »Das Buch du hussmann, der sein weib und töch-
Zahlenkampfspiel, das auf einem Dop- der Spiele«, 13. Jahrhundert teren lat also das küchle holen, das inen
pelschachbrett gespielt wird. In den net der buch (der Bauch) davon an-
wohlhabenden Patrizierfamilien der höfen, sondern überall dort, wo immer schwelle, das sie mitt dem kindle wer-
Städte orientiert man sich an der Spiel- man mit mehreren Menschen zusam- de gon«, warnt im 15. Jahrhundert der

BILDNACHWEIS: BAYERISCHE STAATSBIBLIOTHEK MÜNCHEN/PAUL HECTOR MAIR


kultur der Höfe. menkommt: im Garten, auf Festwiesen, Prediger Geiler von Kaisersberg.
Über die Spiele der niederen Stände in höfischen Hallen, in Zunft- und Rats- Und noch etwas ist in der Fastnacht
gibt es weniger Überlieferungen. Wür- stuben, in Wirtshäusern, im Feldlager, populär: Schautänze aller Art und Fast-
fel- und Kartenspiele dürften bei ihnen auf Jahrmärkten oder am Dorfanger. nachtsspiele. Das sind Schauspiele, in
beliebt gewesen sein. Kreuzfahrer brin- denen die Darsteller, oft Handwerker,
Akrobaten und Tierbändiger
gen zudem Spielkarten aus dem Orient nach Kräften über alles und alle her-
mit in ihre Heimat. treten auf Jahrmärkten auf ziehen dürfen. Man macht sich über
Längst bekannt ist das Kegeln. So er- Unvorstellbar ist ein Fest ohne pro- plumpe Bauern lustig, schimpft über
wähnt eine Xantener Handschrift des fessionelle Spielleute: Akrobaten ­treten dumme Ratsherren und lüsterne Mön-
Jahres 1265 die »fratres kegelorum« auf, Narren, Zauberer und Tierbän- che. Damit dient das Fastnachtsspiel
(die Brüder des Kegelns), eine Art Ke- diger, fahrende Sänger – die »Nach- als derbes, witziges Ventil für Kritik,
gelgilde, in die man sich in Form von richtenbörse« des Mittelalters – sowie die man den Rest des Jahres besser für
Naturalabgaben einkauft. Gerade das Musikanten aller Art: Pfeifer, Fiedler, sich behält.
Kegeln entwickelt sich schnell zu ei- Trompeter, Dudelsackspieler und viele
nem Glücksspiel, bei dem man sich mehr. Man trifft sie nicht nur bei Ho-
nicht nur um Haus und Hof bringen fe, sondern ebenso auf dem Land bei LESETIPPS
kann. Veritable Prügelszenen und Mes- Dorffesten oder Jahrmärkten. Meist Ulrich Schädler: »Alfons X., der Weise.
serstechereien sollen sich auf Kegel- spielen sie nicht nur, sondern begleiten Das Buch der Spiele«. Lit 2011, € 29,90
bahnen abgespielt haben. auch die Tänze.
Otto Borst: »Alltagsleben im Mittelalter«.
Gespielt, gesungen und getanzt wird Während an Höfen züchtige Schreit- Insel Verlag 2016, € 16,–
nicht nur auf zweckentfremdeten Fried- tänze aufgeführt werden, liebt man auf

46 G GESCHICHTE 10 | 2022
Auf Dauer mehr Geld für Sie!

• liefert Fakten, die sich auszahlen.


• Ein sachkundiges Autorenteam vermittelt leicht
verständlich, wie Sie Ihre Rentenbelange vor-
teilhaft regeln können. Immer aktuell.
• Umfassend, kompetent & praxisnah.

10,- €
Gutschrif
Print t
für Sie!
&
Digital

6x (Print &
Digital) für Sie nur € 26.40 Normalpreis
€ 39,80

Jetzt bestellen: ) Tel. 0711/72 52 281


 Internet: www.shop.roularta-zeitschriften.de/rente-gg102022 Oder
abfoto-
@ E-Mail: abo.renteundco@roularta.de grafieren
 Coupon an: Leserservice, Rente & Co, Postfach 810580, 70522 Stuttgart & per Mail
schicken

Ja, ich möchte 6 x lesen + meine € 10,- Gutschriftsprämie sichern! d


Als Print- un e!
alausg ab
Ich bestelle 6 Ausgaben Rente & Co Anschrift Digit
Frau
(print + digital) für nur € 36,40 statt Herr
€ 39,80 im Handel und erhalte zu- Name, Vorname

sätzlich meine € 10,- Gutschriftsprä-


mie. Wenn ich danach weiterlesen Straße Hausnummer

möchte, muss ich nichts weiter tun.


PLZ Ort Geburtsdatum (Tag, Monat, Jahr)
Ich erhalte dann Rente & Co 6 x jähr-
lich (print + digital) für zur Zeit nur €
Telefonnummer (für Rückfragen und bes. Angebote) E-Mail (für Rückfragen und Newsletter)
6,63 pro Heft frei Haus. Ich kann den SEPA-Lastschriftmandat**
Bezug nach 6 Ausgaben jederzeit be- Ich zahle
enden. Dieses Angebot gilt nur in bequem per
Bankeinzug! DE
Deutschland. IBAN BLZ Kontonummer
Zahlungsempfänger: Roularta Media Deutschland*, Böheimstr. 8, 86153 Augsburg. Mandatsreferenz wird separat mitgeteilt.
Ja, ich möchte von weiteren Vorteilen profitieren. Des- Mit Absenden der Bestellung erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ich zahle per Rechnung
halb bin ich einverstanden, dass Roularta Media Deutsch- die von Ihnen angegebenen Daten elektronisch gespeichert werden. Ihre

7
land* mich zukünftig per Telefon und/oder per E-Mail Daten werden dabei nur streng zweckgebunden zur Auftragsbearbeitung
über interessante Angebote und Aktionen informiert. genutzt. Hinweise zu den AGB und Ihrem Widerrufrecht finden Sie unter
Mein Einverständnis kann ich jederzeit widerrufen (z.B. www.shop.roularta-zeitschriften.de/agb. Die Datenschutzerklärung finden
per E-Mail:Datenschutz@roularta.de). Sie unter www.shop.roularta-zeitschriften.de/datenschutz Datum Unterschrift 40P0001799
**SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige Roularta Media Deutschland*, Zahlungen von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom Verlag auf mein Konto gezogenen Lastschriften einzulösen. Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags
verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen. *Vertragspartner: Roularta Media Deutschland, eine Zweigniederlassung der Roularta Media Group N.V., Böheimstraße 8, 86153 Augsburg, UST-ID DE343167457, CEO und ständiger Vertreter Roularta Media Deutschland: Horst Ohligschläger.
3. KAPITEL LEBEN

Pfefferstoßen
und Blinde Kuh

Der Vater mit Weinglas,


die Mutter mit Baby
und Rosenkranz:
Familienporträt aus
der Reformationszeit
Ehe und Familie

D
[ VON EVA-MARIA BAST ]

er Landshuter Bürger Andre der


Beziehungen im Mittelalter bewegen sich Stärchel ist 1373 ein angesehe­
zwischen tiefer Zuneigung und heftigem ner Mann. Doch auch ein ange­
Zoff inklusive Prügel. Geheiratet wird früh, sehener Mann kann sich nicht
alles erlauben: Nachdem er sei­
manchmal auch heimlich. In der Ehe ne Ehefrau geschlagen hat, wird
haben Frauen erstaunlich viele Rechte er ins Gefängnis geworfen. Und
dort muss er bleiben, bis er seine Schandtat ein­
gesteht und gelobt, seine Angetraute künftig
gut zu behandeln.
Wenn Andre der Stärchel also hinter Git­
ter muss, weil er seine Ehefrau verdrischt – ist
daraus dann zu schließen, dass eheliche Prügel
im Mittelalter unüblich waren? Schon im Hel­
denepos »Nibelungenlied« betont Siegfried die
Pflicht des Mannes, seine Frau zu züchtigen.
Und selbst Heilige hauen anderen gerne mal ei­
ne runter! Kunigunde zum Beispiel, die i­hrer
Nichte, weil die den Gottesdienst versäumte,
»einen heftigen Schlag auf ihre rechte Wange«
gab. Und der muss hart gewesen sein, denn das
Ohr soll noch recht lange geschmerzt haben.
Doch auch hier wird deutlich, was wohl für
das ganze Mittelalter gilt: Eine Epochenein­
heitlichkeit gibt es nicht. Im 13. Jahrhundert
bemerkte der Prediger Berthold von Regens­
burg in Bezug auf das Schlagen von E ­ hefrauen:
»Vornehme Leute oder fromme Leute machen
so etwas nicht«. Zumindest nicht »unverdient.«
Und ebenjene ungerechtfertigten Prügel hat
Andre der Stärchel seiner Frau wohl verabreicht.
Übrigens: Auch die Frage, ob die Prügelstra­
fe der Kindeserziehung dienlich ist oder nicht,
wird im Mittelalter kontrovers diskutiert.
So manch einer kennt nicht einmal
den Vornamen der eigenen Frau
Ob die Ehe Andres des Stärchels nach seiner
Rückkehr aus dem Gefängnis noch eine glück­
liche wird, sei dahingestellt. Und es mag auch
durchaus mittelalterliche Ehen geben, die von
einer sehr großen inneren Distanz geprägt sind,
wie der Fall des Grafen Heinrich von Rechberg
zeigt. Als der nämlich sein Testament macht,
fällt ihm auf, dass er den Vornamen seiner Ge­
mahlin gar nicht kennt – »habe zu ihr immer
Frau gesagt«.
Daraus ist jedoch keine Allgemeingültigkeit
herzuleiten. Jeder Mensch ist anders – und jede
Beziehung auch, heute wie damals. Außerdem
gibt es zahlreiche Belege von Menschen, die den
BILDNACHWEIS: AKG

Tod ihres Ehepartners sehr beklagen. So bilan­


ziert etwa der Historiker Ernst Schubert in sei­
nem Standardwerk »Alltag im ­Mittelalter«:

G GESCHICHTE 10 | 2022 49
3. KAPITEL LEBEN

»Bei allem anzunehmendem Variantenreich­


tum scheint für uns unzweifelhaft zu sein, dass
üblicherweise die Ehe nicht von Streit, sondern
von Zuneigung oder gegenseitigem Respekt be­
stimmt war, dass es sich mehrheitlich um trag­
fähige, belastbare Lebensgemeinschaften ge­
handelt hat.«
Entgegen dem Klischee ist die Ehefrau
nicht Untergebene, sondern Genossin
Da passt ins Bild, was die Pfarrer dem Bräu­
tigam bei der Vermählung sagten: »Ich überge­
be dir keine Magd, sondern eine Gefährtin, ei­
ne Genossin«. »Genoz« im Zusammenhang mit
»geniezzen«, also Genuss, ist allerdings eher ei­
ne neuere Entwicklung. Im Mittelalter ist viel­
»Der Liebeszauber«
So heißt das Gemälde
mehr ein Zusammenhang mit Nießbrauch,
eines unbekannten der gemeinsamen Nutzung des Eigentums, zu
Künstlers Ende des sehen. Schubert fragt in seinem Buch: »Was Streng getrennt In der Schule werden Kinder
15. Jahrhunderts. zwingt uns aber, nicht auch die Möglichkeit zu nach Altersklasse aufgeteilt. Holzschnitt, 1524
Dass sich eine Person erwägen, dass sich über gemeinsamen Nieß­
durch einen Trank nutz gemeinsame Freude entwickeln kann?« das Recht, Widerspruch einzulegen. »Und den­
in jemand anderen Und wenn die Frau in dieser Vertragsehe noch trauen wir uns nicht, den von den Quellen
verliebt, ist bis in auch Mündel des Mannes ist, so hat sie doch et­ nahegelegten Begriff der ›socia‹ im Sinne heuti­
die Neuzeit hinein liche Rechte: Sie darf mitreden, ob sie nun Bäu­ ger Gleichberechtigung zu verstehen«, schreibt
ein beliebtes Motiv erin ist, Bürgerin oder Adelige. Sie bekundet Schubert. Der Historiker kommt zu dem
in Kunst und Literatur zusammen mit ihrem Gatten Verkäufe und hat Schluss: »Die Stellung der Frau in der Überle­
bensgemeinschaft Ehe ist die einer minderpri­
vilegierten Partnerin, gewiss keiner Magd, aber
einer dienstbereiten Genossin.«
Das Leben dieser dienstbereiten Genossin
beginnt sehr früh und löst das des dienstberei­
ten Kindes ab: Schon im Alter von sieben Jah­
ren müssen die Kleinen im Mittelalter mithel­
fen, vorbei ist es mit lustigen Spielen wie B
­ linde
Kuh. Sprösslinge aus Bauernfamilien haben sich
nun als Gänsemagd oder Viehjunge zu verdin­
gen, Handwerkskinder müssen im Betrieb mit­
helfen. Für die Söhne höherer Schichten be­
ginnt der Unterricht in der Schule. Kaufleute
müssen rechnen können, und ohne Latein kein
Studium. Adelige Familien schicken den Nach­
wuchs an befreundete Höfe, in die sie mögli­
cherweise später einmal einheiraten.
Geheiratet wird im Spätmittelalter ab vier­
zehn, die Väter übergeben ihre Töchter dann
zumeist in sogenannten Vertragsehen an ihre
BILDNACHWEIS: AKG (2), AKG/ERICH LESSING

Ehemänner. Andere Eheformen, wie die »heim­


liche Ehe«, sind den Familienvätern eher ein
Graus, auch wenn sie aus Sicht der Kirche gül­
tig sind – zumindest bis zum Konzil von Trient
1563, als die in der Kirche öffentlich geschlos­
sene Ehe zur einzig gültigen bestimmt wird.
Bei der heimlichen Ehe reicht ein gegenseitig
Die Geburt Marias. Das Gemälde aus
der Mitte des 15. Jahrhunderts vermittelt
einen guten Eindruck von Entbindung
in den Haushalten der städtischen
Oberschicht der Epoche

ausgesprochenes Ehegelübde, um verheiratet direkt empfinden, so rührt das vielleicht gerade Ein Mythos:
zu sein, jedoch ist die Verbindung »muntfrei«, vom Gegenteil her: Sex soll ja keinen Spaß ma­ Das »Recht der
was unter anderem bedeutet: Der Ehemann ist chen, sondern dem Zeugen von Kindern die­ ersten Nacht«
nicht für den Schutz der Ehefrau verantwort­ nen. Und vor allem die »bessere« Gesellschaft Angeblich gibt es im
lich. Das gilt auch für die sogenannten Friedel­ vermeidet es gern, die Dinge beim Namen zu Mittelalter und bis
ehen, von denen der Mann (nicht die Frau) nennen. Diese Menschen umgehen das Thema weit in die Neuzeit
mehrere führen darf. entweder komplett oder sie ergehen sich in Me­ hinein europaweit
taphern, für die die Zimmerische Chronik eine ein Recht, nach dem
Der Penis als »Bösewicht« und
hervorragende Quelle bietet. ihren Feudalherren
»Eisen, das ganz heiß und hitzig wird« In Beichten wird der Penis auch mal als unterstellte Bräute
Anerkannt sind diese Friedelehen, die auch »Böse­w icht« bezeichnet, und als Umschrei­ nach der Hochzeit
gerne bei Standesunterschiedlichkeit geschlos­ bung für männliche Erregung dient »das Eisen, zunächst mit diesen
sen werden, durchaus. Arnulf von Kärnten zum das ganz heiß und hitzig geworden«. Für den intim werden müs­
Beispiel, der es immerhin zum Kaiser gebracht Geschlechtsakt selbst finden sich Namen wie sen. Verzichtet der
hat, entstammt einer solchen Friedelehe. »raudi-maudi«, »schiri-miri«, »zusammen­ Herr gnädig auf
Die Anzahl der im Leben eines Mannes ge­ schrauben«, »Laus im Pelz«, »auf dem Hack­ dieses Hoheitsrecht,
zeugten Kinder wird immer wieder als Zeichen brett schlagen«, »Pfefferstoßen«, »Lanzenste­ so wird kolportiert,
sexueller Leistungsfähigkeit hergenommen. So chen« oder, sehr anschaulich, »das Tier mit vier kann er von seinen
wird beim Tod Graf Balduins II. von Guînes Beinen und zwei Rücken machen«. Untertanen als fi­
seine sexuelle Leistung in Form einer Aufzäh­ Und wenn ein Mann eine Frau einlädt »mit nanzielle Entschädi­
lung aller seiner Kinder unterstrichen: 33 Söh­ ihm im Brett [zu] spielen«, heißt es aufgepasst: gung den »Stechgro­
ne und Töchter, »die er von seiner Frau oder Denn das ist dann, auch wenn man sich im schen« verlangen.
sonstwoher hatte«. Mittelalter gerne in Gesellschaftsspielen ergeht, Doch die Quellen­
lage ist sehr dünn.
Der Mann brüstet sich gern mit seiner uner­ zumindest als sehr intime Form derselben zu
Somit ist das »Recht
müdlichen Fähigkeit, »das Werk der Natur zu werten.
der ersten Nacht«
verrichten«. Wenn er klug ist, ruht er anschlie­
wohl näher am Reich
ßend und lässt Feder und Papier links liegen,
der Legenden ange­
empfiehlt doch eine spätmittelalterliche Ge­ siedelt als an der
sundheitslehre, nach dem Geschlechtsverkehr LESETIPP Realität
nicht zu schreiben. Das sei ganz und gar nicht
Werner Meyer: »Haferbrei und Hellebarde.
gut für die Augen.
Leben im Mittelalter zwischen Alltag und Krieg«.
Auch wenn wir die Wortwahl des Mittelal- Nünnerich-Asmus 2021, € 29,–
ters in sexueller Hinsicht gern mal als derb und

G GESCHICHTE 10 | 2022 51
Essen und Trinken

Alles außer
Ringelschwänze
Biber gut gesotten, Igel im Tonmantel oder knusprige Dohle vom Spieß:
Alles geschätzte Happen – Hauptsache, es kommt nicht der langweilige
Einheitsbrei auf den Tisch
[ VON KLAUS HILLINGMEIER ]

52 G GESCHICHTE 10 | 2022
3. KAPITEL LEBEN

Bevor die Kartoffel die deutschen Küchen


erobern wird, ist Getreide das wichtigste Nah-
rungsmittel der Menschen. Ungefähr ein Pfund
Brot erhalten die Bedürftigen der Stadt Nürn-
berg als Tagesration. Wer nicht auf Kosten der
Stadt lebt und sich etwas leisten kann, kauft
Brötchen aus »Semel«, Weizenmehl, oder geht
zu den spezialisierten Bäckern für Brezeln,
Anisgebäck oder Honigkuchen. Städter, die ei-
nen weniger gut gefüllten Geldbeutel am Gürtel
tragen, müssen sich mit Roggenbrot begnügen.
Aber selbst graues Brot ist für die Menschen ein
kulinarischer Luxus. Es gilt die Spruchweisheit
»gut Brot und gut Rat sind teuer«. Das meiste
Getreide, vor allem Hafer und Hirse, wird als
langweiliger Brei hinuntergewürgt. Um den so-
zialen Frieden zu sichern und die Getreidepreise
halbwegs stabil zu halten, errichten Köln, Frank-
furt und Nürnberg städtische Getreidespeicher.
Die Cowboys des Mittelalters treiben
Rindertrecks aus der ungarischen Puszta
1449 rekrutiert die Reichsstadt Nürnberg
Schweizer Landsknechte, um gegen den Mark-
grafen Albrecht Achilles von Brandenburg-
Ansbach gerüstet zu sein. Neben ihrem Sold er-
halten die Männer aus den Bergen vom Stadtrat
eine Ration von gut fünf Pfund Fleisch in der
Woche. Das Doppelte des durchschnittlichen
Konsums der Nürnberger. Das blutige Gewerbe
macht hungrig!
Auch wenn sich in den Gassen der Städte die
Schweine der Bürger suhlen, sind Rinder der
wichtigste Fleischlieferant. Alleine aus Ungarn

D
werden jährlich über 100 000 Ochsen in den Sü-
er Name »Kotzmenger« täuscht. Karge Kost den des Heiligen Römischen Reiches getrieben.
Der Händler bietet beliebte Wa- Die »Bauern­ Die Viehtrecks aus der Puszta dauern gut drei
ren an: Herzen, Nieren, Lebern hochzeit« von Monate und werden von einem »Ochsenkapitän«
und andere rustikale Köstlich- Pieter Brueghel angeführt. Der Kapitän ist zumeist ein Spross
keiten. Seinen unappetitlich dem Älteren des ungarischen Kleinadels. Die Cowboys des
klingenden Namen verdankt er scheint ein Fest­ Mittelalters sind die Haiducken, raue Gesellen
einem speziellen Korb für In- mahl zu skizzie­ von der ungezähmten Grenze zum Osmanischen
nereien, der »Kotze«. Vom Schwein wird jedes ren. Wer genau Reich. Neben Ungarn liefern Friesland und Dä-
Teil vertilgt, und die Därme und das Blut wer- hinsieht, erkennt, nemark Ochsen, vor allem für den Appetit der
dass Fleisch auf
den verwurstet. Nur der Ringelschwanz der Sau Hansestädte zwischen Dortmund und Lübeck.
den Tellern fehlt.
landet nicht auf dem Teller. Für Bauern, Tage- Dank der Müllgruben wissen wir, dass nach
Stattdessen gibt
löhner oder Handwerksgesellen sind Innereien Rind- und Schweinefleisch Schafe und Ziegen
es nur Grütze
ein kleines Festmahl. auf dem Speisezettel der Bürger stehen. Aber
und Brei
Anfang des 14. Jahrhunderts tobt der »Gro- auch Igel, Murmeltiere und Eichhörnchen en-
ße Hunger« in Europa. Die Friedhöfe können den in den Kochtöpfen der armen Bevölkerung.
BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA

die zahlreichen Opfer der Katastrophe nicht Auch beim Geflügel ist man nicht wählerisch.
mehr fassen, und viele Dörfer müssen aufgege- Was Federn hat, landet am Spieß: Hühner, Fin-
ben werden. Die »göttliche Strafe« hat gelehrt, ken, Spatzen, Singvögel, aber auch Dohlen und
dankbar für jede Nahrung zu sein. Krähen – trotz ihres tranigen Beigeschmackes.

G GESCHICHTE 10 | 2022 53
Frischer Süßwasserfisch aus Seen und
Flüssen ist teurer als gutes Fleisch. Zudem liegt
das Fischerrecht bei den Grundherren, die die
Delikatesse lieber selbst verspeisen. Eine er-
schwingliche Alternative für die Freitage sowie
die Fastenzeiten vor Ostern und Weihnachten
sind Salzhering und Stockfisch. Allein im da-
mals dänischen Schonen werden jährlich 25 000
Tonnen Hering eingesalzen – ein Exportschla-
ger der Hanse. Schuppige Konkurrenz kommt
bald aus der Nordsee. Amsterdam avanciert im
Spätmittelalter zum blühenden Fischmarkt, so-
dass es bald heißt: »Die Stadt ist auf Hering er-
baut.« Windige Zeitgenossen finden Schleich-
wege, das Fastengebot zu umgehen: Kurzerhand
werden schwimmende Tiere wie Biber oder Ot-
ter zu Fischen deklariert.
Salz bietet nur eine Möglichkeit, L
­ ebensmittel
zu konservieren. Fleisch und Würste werden
In der Metzgerei. Verschwendung kennt das Mittel­ geräuchert, Bohnen, Linsen und Erbsen ge-
alter nicht. Alle Teile des Tieres werden verwendet. trocknet, und Kohl wird zu Sauerkraut verar-
Daher muss der Hund leer ausgehen beitet – der Winter kann kommen. Trockenobst
wird auch im Sommer viel verzehrt, denn das
frische Obst gilt als ungesund. »Welsche Rosi-
nen« aus dem Mittelmeerraum sind eine Mas-
senware, die in »ganzen Schiffsladungen« ins
Reich kommt. Sie verwandeln den Reisbrei in
eine geschätzte Delikatesse.
Mehr Schärfe bitte: Meerrettich,
Ingwer und Pfeffer aus dem Orient
Mehr Geschmack in der Schüssel und auf
dem Teller bringen Kräuter und Gewürze.
Recht gerne wird überwürzt, um den intensi-
ven Eigengeschmack von Salzfisch oder Pökel-
fleisch zu übertünchen. Petersilie, Knoblauch,
Dill, Kümmel, Liebstöckel, Meerrettich oder
Wacholderbeeren sind erschwinglich. Sie wer-
den auf dem Markt gekauft oder im Hausgarten
selber angebaut. Populärstes Gewürz der Epo-
che ist der Ingwer, dem man auch eine medizi-
nische Wirkung nachsagt. Zucker ist teuer, und
noch versüßt der heimische Honig das Leben.
Purer Luxus sind die Spezereien aus dem
fernen Orient wie Pfeffer, Nelken, Muskat und
Zimt. Diese Gewürze sind nur für gut betuch-
te Zeitgenossen erschwinglich. Der König aller
Gewürze ist schon damals der Safran. Das Ge-
BILDNACHWEIS: GETTY IMAGES (4)

würz aus den Blüten der Krokuspflanze wird


Backen im Gemeinschaftsofen. Brot ist neben Brei fast mit Gold aufgewogen. Zentraler Marktplatz
aus Getreide das wichtigste Grundnahrungsmittel ist Nürnberg, wo eine Kommission die Qualität
des Mittelalters der Ware kontrolliert. Wer seinen Safran streckt,
muss damit rechnen, dass ihm die Augen ausge-
stochen werden!

54 G GESCHICHTE 10 | 2022
3. KAPITEL LEBEN

Rosmarin, Lorbeer, Anis oder Ingwer pepp-


ten nicht nur viele Speisen auf, sie aromatisier-
ten auch die Biere in der dunklen Epoche vor
dem Reinheitsgebot. Bier und Wein sind der
Treibstoff des Lebens, denn Wasser wird nur im
äußersten Notfall getrunken – lange vor Louis
Pasteur ahnt man um die Gefahren durch Kei-
me und Bakterien. Die Qualitätsunterschiede
beim Wein sind enorm. Der billige Tischwein
ist ein saurer und dünner Durstlöscher. Hinge-
gen überzeugt der hochwertige Wein (»vinum
nobile«) durch sein volles Aroma. Der Grand
Cru des Mittelalters ist der schwere Malvasier
aus Griechenland, den sich nur Könige, Fürsten
und Magnaten wie die Fugger leisten können.
Es ist angezapft: Mit Hopfen wird
das Bier zum Volksgetränk
Mit der Klimaverschlechterung beginnt der
Siegeszug des Bieres. Der grausame Vorkämpfer Kürbisernte. Das Gemüse wurde durch die Römer
ist das Grutbier, ein Gebräu mit dem bitteren in Europa verbreitet. Der Flaschenkürbis wird haupt­
Geschmack des Gagelkrautes. Dann kommt es sächlich für Nachspeisen genutzt
im Norden Deutschlands zur kulinarischen Re-
volution: Der Hopfen verdrängt die Gagel. Das
neue Hopfenbier fließt bald in Strömen. 1367
gibt es in Hamburg 531 Brauhäuser, um den
Durst der 7000 Einwohner zu löschen. »Man-
che leben von diesem Getränk mehr als vom
Essen«, wird später ein Chronist über den Bier-
konsum seiner Mitmenschen spötteln. Ein Ex-
portschlager ist das Starkbier der Hansestadt
Einbeck, das begeisterte Abnehmer in Amster-
dam, Stockholm und sogar in München findet.
1412 schreibt dann Köln Biergeschichte, als
der Rat die Zutaten für Kölsches Bier festlegt:
Hopfen, Malz, Wasser, Hefe. Ein Jahrhundert
vor dem bayerischen Reinheitsgebot! Als das
Mittelalter zur Neige geht, scheint der »Saufteu-
fel« zu regieren. Eine neue Mode wird das ge-
genseitige Zuprosten. Wer ein »richtiger Mann«
sein will, trinkt jetzt als Antwort auf Ex. Alle
Versuche der Obrigkeit, dieser »landsknechti-
gen« Unsitte Einhalt zu gebieten, scheitern.
In den Trinkstuben zwischen Lübeck und
Innsbruck sollen »Tischzuchten« für ein wenig
Disziplin sorgen: Wer im Bierrausch seinen in-
neren Winden lautstark freien Lauf lässt, muss
Strafe zahlen.

Käsehändler. Die Herstellung von Käse ist der


LESETIPP einzige Weg, ein lagerfähiges Milchprodukt zu
produzieren. Man beachte die Katze auf Mäusejagd
Ernst Schubert: »Essen und Trinken im Mittelalter«.
wbg Philipp von Zabern 2016, € 40,–

G GESCHICHTE 10 | 2022 55
Prostitution

Wenn Frau
Venus die
Welt regiert
Sie heißen Fensterhennen, freie Töchter
oder Hübschlerinnen. Käufliche Liebe ist
allgegenwärtig und fester Bestandteil im
Leben von Adel, Bürgern und Klerikern
[ VON MICHAEL FELDHOFF ]

S
port zu treiben, ist Frau- Wollust. Der Name »Moulin Rouge« Die Leidtragenden sind junge Frau-
en im Mittelalter strengs- kommt also nicht von ungefähr, und en. Es gibt zu viele von ihnen, die meis-
tens verboten. Es sei denn, auch heute gibt es noch viele Bordelle, ten haben weder Arbeit, Geld noch ei-
man arbeitet als H ­ ure. die ihr Gewerbe in einer Mühlenstraße nen Mann. Der Weg in die Prostitution
König Ladislaus von Un- anbieten. ist daher oft vorgezeichnet.
garn und gleichzeitig Ende des 13. Jahrhunderts hat so
Die Liebe findet immer ihren Weg:
Herzog von Österreich veranstaltet im gut wie jede größere Stadt im römisch-
Mai 1454 einen Laufwettbewerb. Um Die wilden Ehen des Sommers deutschen Reich ihr eigenes Bordell
schneller ans Ziel zu gelangen, lüften Die Mehrheit der Bevölkerung ist oder Frauenhaus. Die Dirnen heißen
die Damen während des Rennens unter bettelarm. Mägden, Handwerksgesel- im Volksmund Fensterhennen, gemeine
dem Gejohle der Zuschauer ihre Röcke len und Knechten ist es verboten, un- Weiber, freie Töchter, öffentliche Frauen
und ziehen sie Richtung Kinn. Die Ge- tereinander zu heiraten. So trifft man und in Wien auch Hübschlerinnen.
winnerin erhält ein Stück Barchent, ein sich draußen für Sex und pflegt in der Da die Dirnen vogelfrei sind und
feiner Stoff aus Baumwolle und Leinen. Natur seine Liebesbeziehungen. Man viele von ihren Freiern misshandelt
Die sogenannten Dirnenrennen spricht dabei von Maien- oder Som- und vergewaltigt werden, beschließt
sind fester Bestandteil der spätmittel- merehen. Die Männer können sich ih- Rudolf von Habsburg, der erste König
alterlichen Gesellschaft. Streng genom- re Partnerinnen quasi aussuchen. Im aus dem Haus Habsburg, den recht-
men sind Prostituierte die ersten weib- Spätmittelalter herrscht Frauenüber- losen Zustand der Prostituierten zu
lichen Leistungssportler im deutsch- schuss. Im Jahr 1450 beträgt in Nürn- regeln. 1278 unterstellt er sie dem
BILDNACHWEIS: BRIDGEMAN, WIKIMEDIA

sprachigen Raum. berg das Verhältnis von Knechten und Scharfrichter. Die Frauenhäuser unter-
Das 15. Jahrhundert ist jenes Jahr- Mägden 1475 zu 1855, so die Statistik. stehen der Oberhoheit des Rates oder
hundert, in dem Prostitution in der Nicht allzu selten hat ein Geselle das des Landesherren, in Wien zum Bei-
Gesellschaft fest sozialisiert ist. Es gibt Glück, dass er nach dem Tod des Meis- spiel dem Hofmarschall, und werden
zahlreiche Bordelle, Badehäuser, und ters die oft weit ältere Witwe heiraten von einer Frauenwirtin oder einem
auch in Windmühlen frönt man der darf, um selbst Meister zu werden. Frauenwirt geleitet.

56 G GESCHICHTE 10 | 2022
3. KAPITEL LEBEN

Lukratives Geschäft Das Geld des


Freiers wandert zum Zuhälter

Einerseits stehen die Huren im Spät-


mittelalter symbolisch für das Teufli-
sche in der Welt und werden von der
bigotten Obrigkeit und der Kirche be-
kämpft. Andererseits nehmen sie an
Kampf um Kunden? Schlägerei zwischen Prostituierten Hochzeiten und anderen Festen teil
in einem Bordell. Die Zimmer für die erotischen und führen Tänze vor dem Rat und an-
Dienstleistungen liegen im 1. Stock des Etablissements deren hochstehenden Gästen auf.
1413 vergnügt sich König Siegmund
mit seinem Gefolge in einem Freuden-
haus in Bern. Als König Albrecht  II.
Somit wird die Prostitution von anzuziehen und die Haare kurz zu tra- 1438 in Wien einzieht, wird er von Bür-
ganz oben institutionalisiert und bringt gen, um keine homosexuellen Männer gersfrauen sowie einer Delegation von
zugleich einen warmen Geldregen in anzulocken. Männliche Prostitution Huren empfangen. Beim Konstanzer
die klammen Kassen der S­ tädte. Die wird mit dem Tode bestraft, Analver- Konzil von 1414 bis 1418 sind 1500
Dirnen müssen einen wöchentlichen kehr gilt als Sodomie. Dirnen in der Stadt, mit denen sich
Abgabezins zahlen, dürfen weder hei- Ins Bordell dürfen in der Regel nur Kleriker, Adel, aber auch Bürger amü-
raten noch offiziell eine Beziehung ha- unverheiratete Männer, keine Geist- sieren. Die Huren garantieren durch
ben. Das Bürgerrecht ist ihnen ver- lichen und Juden. Aber wo kein Klä- ihre Arbeit den Frieden in der Stadt.
wehrt. Laut Verordnung stehen ihnen ger, da kein Angeklagter. Freier, die es Durch Abbau sexueller Gelüste verrin-
aber feste Verpflegung, Unterkunft, sich nicht leisten können, dass sie auf gert sich bei Männern das Aggressions-
Kleidung, Lohn und Regelungen bei frischer Tat ertappt werden, wie hoch- potenzial, damals wie heute.
Krankheitsausfall zu. rangige Geistliche und Adlige, lassen Als sich Ende des 15. Jahrhunderts
sich die Damen von ihren Dienstboten die Syphilis rasend schnell und tod-
Auch der Klerus hat ein Faible
nach Hause schicken. Der Klerus ist bringend ausbreitet, ist das goldene
für die Damen im Frauenhaus mehr oder weniger heimlich Stamm- Jahrhundert der Bordelle im Abend-
Um die sittsamen Frauen von den gast im Frauenhaus. Im Jahr 1472 ap- land jäh beendet. Für die Kirche ist
Gewerblichen zu unterscheiden, ist pelliert der Rat der Stadt Nördlingen die Krankheit die Strafe Gottes für das
auch die Kleidung reglementiert. Da- an die Priester, den Bordellbesuch we- sündige Leben der Menschen.
mit sie in der Öffentlichkeit auffallen, nigstens nachts zu unterlassen.
müssen Prostituierte bestimmte Bän- Prostitution wird von der Kirche als
der, Schuhe und Schleier in den soge- notwendiges Übel angesehen. Wenn
nannten Schandfarben rot, gelb und sich verheiratete Männer heimlich LESETIPP
grün tragen. Daher auch die Bezeich- verlustieren, werden zuhause die ehr-
Edith Ennen: »Frauen im Mittelalter«.
nung Hübschlerinnen. Den Dirnen ist samen und frommen Ehefrauen vor C. H. Beck 1993, € 24,90
es zudem verboten, Männerkleidung sündhaften Handlungen geschützt.

G GESCHICHTE 10 | 2022 57
In größter Not
Ein Arzt schneidet die
Pestbeulen eines Kran-
ken auf, damit Eiter ab-
fließen kann. Während
eine Lungenpest oft mit
dem Tod endet, sind
die Prognosen bei der
Beulenpest besser.
Holzschnitt von 1482

58 G GESCHICHTE 10 | 2022
3. KAPITEL LEBEN

Epidemien

Wenn das Beten


nicht mehr hilft
Pest, Lepra, Syphilis, Antoniusfeuer: Im Mittelalter sind die Menschen
vielen tödlichen Krankheiten ausgeliefert. Verzweifelt suchen sie nach
Erklärungen, flehen Gott an und ersinnen erste Vorschriften
[ VON SOPHIA SCHÜLKE ]

D
ie Menschen sterben septischen Pest liegt bei beinah hun-
auf der Straße, sie dert Prozent. Italiens großer Dichter
sacken in ihren Häu- Francesco Petrarca überlebt die Heim-
sern in sich zusam- suchung erschüttert: »Wo sind unse-
men, von wo der Lei- re treuen Freunde jetzt? Wo sind ihre
chengeruch die Nach- geliebten Gesichter? Wo sind die guten
barn aufschreckt. Als Worte, die entspannten und heiteren
die Pest im 14. Jahrhundert in Europa Gespräche? Welcher Blitzschlag hat sie
grassiert, weht der Gestank von den vernichtet? Welcher Abgrund hat sie
Beulen der Kranken durch die Gassen. verschluckt? Einst gab es eine Menge
Zwischen 1347 und 1353 sucht »das von uns, jetzt sind wir fast allein.«
große Sterben«, wie Zeitgenossen die Ende 1349 erfasst die Pest auch Paris
Pest nennen, Europa heim und schickt und London. Dort leben die Menschen
25 Millionen Menschen in den Tod, unter angespannten Hygienebedingun-
rund ein Drittel der Europäer. gen, während man auf den Dörfern si-
Die Pest stammt, wie jüngst For- cherer ist. Viele Menschen flüchten
scher nachwiesen, aus dem Tian-Shan- Rote Flecken im Gesicht Leprakranker
sich in Buße oder Einsamkeit. Andere
Gebirge im heutigen Kirgisistan, wo mit einer Warnglocke um 1400 suchen nach Sündenböcken wie Juden,
sie 1338 ausbrach. Sie wird durch das die sie der Vergiftung von Brunnen be-
hoch ansteckende Stäbchenbakterium Osten und im Mittelmeerraum wüte- zichtigen. Erstmals werden in Städten
Yersinia pestis ausgelöst. Infizierte Na- te. Die Erkrankten husten Blut, tragen und Seerepubliken wie Venedig auch
getiere übertragen den Erreger auf schwarze Flecken auf der Haut und lei- Quarantänevorschriften erprobt: Kran-
Flöhe und diese wiederum auf Men- den unter quälend harten Beulen in ke und Reisende müssen in Isolation.
schen. Von Zentralasien aus erreicht den Leisten. Der Schwarze Tod, die wie Epide-
die Pandemie über Karawanenrouten mie später genannt wird, ist ein bru-
BILDNACHWEIS: AKG, AKG/BRITISH LIBRARY

Der Dichter Petrarca überlebt,


das Schwarze Meer, ehe sie im Oktober taler Einschnitt: Ein Drittel der Bevöl-
1347 mit Handelsschiffen in die Häfen aber fühlt sich unendlich einsam kerung überlebt nicht. Er ist aber nur
im Südwesten Europas gelangt, nach Dieses Mal fordert das große Ster- eine von vielen Krankheiten und Seu-
Venedig, Genua, Marseille, Messina. ben so viele Opfer, weil es sich wahr- chen. In den wachsenden Städten bre-
Es ist die zweite große Pestperiode, scheinlich um eine Kombination von chen immer wieder Ruhr und Cholera
nachdem die Seuche schon zwischen Beulen-, Lungen- und septischer Pest aus, nicht zuletzt durch das mit Fäkali-
541 und dem 8. Jahrhundert im Nahen handelt. Allein die Sterblichkeit der en verschmutzte Trinkwasser.

G GESCHICHTE 10 | 2022 59
3. KAPITEL LEBEN

»Wir sehen den Tod in unserer Mitte


auftauchen wie schwarzen Rauch«
Jeuan Gethin, walisischer Dichter, 1349 gestorben

Auch das Leben auf dem Land fangs in Großbritannien, Deutschland Bauch ist aufgebläht, das Gesicht ver-
birgt Gefahren. In heißen Sommern und Italien genannt wird, verläuft da- färbt, die Arme sind verdorrt. Ihn plagt
führt die Ernteseuche nach zwölf bis 18 mals noch meist tödlich. Sie schädigt das Antoniusfeuer, eine Lebensmittel-
Tagen Inkubationszeit zu heftigen Fie- Organe, kann zu Lähmungen, Blind- vergiftung. Anfangs leiden ­Erkrankte
berschüben. Man friert, schwitzt, hat heit oder Demenz und Psychosen füh- an verengten Blutgefäßen, Krampfan-
Hitzewallungen. Hinter den Sympto- ren und bewirkt Abszesse, die sich bis fällen und Halluzinationen, bis unter
men steckt eine Form der Malaria, die auf die Knochen durchfressen. enormen Schmerzen ihre Füße, Arme
damals selbst in Gebieten mit gemä- Von allen wichtigen Infektions- und Beine absterben. Erreger ist das
ßigtem Klima vorkommt. Hierzulande krankheiten ist Lepra die am wenigsten Mutterkorn, die Dauerform eines Pilzes,
etwa an Marschen und Mooren nahe ansteckende. Nur fünf bis zehn Prozent der sich bei bestimmten Witterungsver-
der Küste sowie entlang großer Flüsse. der Infizierten erkranken ernsthaft an hältnissen an Roggenähren entwickelt.
Verläuft sie chronisch, drohen körperli- der bakteriellen Infektion. Lepra schä- Im Mittelalter übersehen Bauern die
che Schwäche und damit Armut. digt in schweren Fällen Haut, Knochen kleinen dunklen, hitzestabilen Krumen
Im Spätmittelalter leiden die Men- und Nerven und zerstört das Gesicht. und mahlen sie mit. Der Name Anto-
schen vielerorts in Europa unter sol- niusfeuer kommt von den brennenden
Ob Beichte oder Kräuterbad:

BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA/EDELSEIDER
chen Malariaepidemien. Da sie an Schmerzen und erinnert an die Ver-
Sümpfen auftritt, entsteht die Vorstel- Eine Rettung gibt es bei Lepra nicht suchung des Heiligen Antonius in der
lung, dass dort giftige Dämpfe das Lei- Die Erkrankten beten und beich- Wüste. Im 11. Jahrhundert bildet sich
den auslösten: Miasmen, »üble Düns- ten, sie versprechen sich von Kräuter- der Antoniterorden, der die Vergifteten
te« und faulige Prozesse des Bodens bädern, Aderlass, Salben und gesunder pflegt. Matthias Grünewald schuf sein
verbreiten die Krankheiten über die Ernährung eine Linderung. Zwischen Hauptwerk, den Isenheimer Altar, für
Luft. Und darunter eben jene hierzu- dem 11. und 14. Jahrhundert erreicht ein Kloster dieses Ordens.
lande als »Marschenfieber« bezeichne- die Lepra ihren Höhepunkt, ehe sie in
te Malaria. Europa abklingt.
Auch bei der ab 1495 auftretenden Eine weitere, furchtbare Krankheit LESETIPP
Syphilis vermuten viele Menschen zu- wird auf dem Isenheimer Altar darge-
nächst verdorbene Luft als Ursache; stellt, den Matthias Grünewald zwi- Mary Dobson, Kathrin Schwarze-Reiter:
»Seuchen und Pandemien, die die Welt
dabei handelt es sich um eine sexu- schen 1512 und 1516 im Elsass ge-
verändert haben«. National Geographic
ell übertragbare, bakterielle Krankheit. malt hat. Der Altar zeigt einen Mann Deutschland 2021, € 36,99
Die Franzosenkrankheit, wie sie an- mit apokalyptischen Symptomen: Sein

Geplagter Kapuzenmann
Darstellung auf dem dritten Wandelbild
des Isenheimer Altars. Der Mann trägt die
Symptome von Pest und Antoniusfeuer:
Geschwüre und einen brandigen Arm

60 G GESCHICHTE 10 | 2022
testen und 28 % sparen!

JETZT BESTELLEN
.............................
3 HEFTE*
18 €
*AT: 21 € / CH: 27 CHF

Keine automatische Abo-Verlängerung!

TELEFON EMAIL ONLINE


+49 (0) 8131 5655-28 abo@octane-magazin.de www.ogy.de/octane-testabo
Verlag: PremiumMedia Verlags GmbH, Benedikt-Hagn-Str. 5b, 80689 München. Geschäftsführer: Martin Rebstock, Registergericht:
Amtsgericht München, HRB Nr.: 228362. Verlagsgarantie: Sie können Ihre Bestellung innerhalb von vier Wochen ohne Angabe
von Gründen beim Leserservice OCTANE Magazin (PremiumMedia Verlags GmbH, Postfach 57, D-85230 Bergkirchen) in Textform
widerrufen. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs (die Frist beginnt mit dem Bestelldatum).

facebook.com/octaneheft
Der fröhliche Friedhof Totentanz-Szene aus der Nürnberger Weltchronik des Historikers Hartmann Schedel

Sterben im Mittelalter

Der Tod gehört


zum Leben
Ob mit Klageweibern oder mit einem Ratgeber fürs Sterben:
Für die letzte Reise ist man gewappnet. Der Tod wird
von den Menschen nicht verdrängt, sondern zuweilen zelebriert
[ VON JANINA LINGENBERG ]

62 G GESCHICHTE 10 | 2022
3. KAPITEL LEBEN

W
enn das Gerippe mit »gut« abzutreten. Beim alltäglichen
dem Bischof tanzt Anblick von Tod lohnt es sich – so von
oder mit der Sense der Kirche versprochen –, sich um ein
die Fidel spielt. Wenn heilsames Ableben zu bemühen. Ein
das Skelett die Jung- »Sterbebüchlein« empfiehlt mithilfe
frau umschmeichelt von Text und Holzschnitten, was ritu-
und dem Doktor die Flöte pfeift, dann ell zu tun ist.
ist das eine Warnung. Kein fröhlicher Für Lärm sorgen nicht nur die Glo-
Reigen mit dem Ziel »ewiger Frieden«, cken, sondern auch Klageweiber, die
sondern der »Totentanz« – bildneri- schreiend, wimmernd und Haare rau-
sche Mahnung den Lebenden, dass es fend den Trauerzug begleiten. Je mehr
jeden treffen wird, egal welchen Stan- Einsatz, desto reicher der Verstorbene,
des. Der äußerst lebendige Tod macht Himmel oder Hölle? Ein Engel und denn der Job muss ja bezahlt werden.
keine Unterschiede. Und darauf gilt es ein Teufel kämpfen um eine Seele Auch die Anzahl der Fürbitten steigt
sich vorzubereiten. Vor allem ereifert mit vorausgehender Spendenfreudig-
sich der Gläubige im Diesseits, um das schritt. Statt im Zentrum von Basel fin- keit. Zum Erringen der Himmelsfähig-
Jenseits möglichst angenehm zu errei- den die Leichen nun auf Zentralfried- keit kann auch ein Geißlerzug erbau-
chen. Kein Wunder, dass die mittelal- höfen am Rande der Städte ihre letzte lich sein: Hier ziehen Laien etwa 33 1/2
terliche Kirche das Sujet für sich ent- Ruhe. Auch ist ein schönes Diesseits Tage (gemäß den Lebensjahren Jesus’)
deckt und sündiges Tanzen mit dem nunmehr erstrebenswerter als das Jen- sich selbst geißelnd durch die Gassen.
Tod verbindet, um Ängste zu schüren. seits. Somit löst sich das Sterben vom Leichenzug und Zeremonie sind
Eine der berühmtesten Darstellun- Leben, das Leben vom Tod. wahre Inszenierungen. Gerade eine
gen eines sogenannten »Totentanzes« Übers Sterben spricht heute kaum je- laute Beerdigung warnt: Bereite dich
schmückte auf einer Länge von 60 Me- mand – ein Tabuthema, dessen R ­ ituale vor. Ebenso wie bei Hingerichteten, die
tern die Friedhofsmauer bei der Predi- verschwinden. Todesanzeigen, Trauer- noch als »Madensack« liegen bleiben,
gerkirche in Basel. Das Gemälde soll redner, Leichenschmaus und schwar- um zu einem gottesfürchtigeren L ­ eben
im 15. Jahrhundert entstanden sein. Im ze Kleidung sind übrig. Dabei tragen aufzurufen, ansonsten stirbt es sich
Bild tippelt die Todespolonaise auf ih- die Menschen im Mittelalter noch kein auch am Galgen ganz schnell. Manch-
rem Weg in die Hölle zum linken Bild- Trauerschwarz. mal reicht vielleicht schon ein geringes
rand. Die Tanzpaare erscheinen natür- Vergehen.
Von Madensäcken, Geißlerzügen
lich in absteigender Rangfolge: vom Für das Seelenheil nach dem Ster-
Kaiser zum Bauern oder von der Edel- und Seelenschwestern ben sorgt die 30-tägige Trauerzeit mit
frau bis zum Wucherer. Dafür wird lauter gestorben. Beim Totenwachen. Manche dieser Zusam-
Gestorben wird viel. Allein die Kin- Versehgang beispielsweise läuten die menkünfte arten allerdings in Feiern
dersterblichkeit liegt bei Neugeborenen Glocken, sodass sich Anwohner dem aus, sodass auch hier Einhalt geboten
etwa bei 20 bis 30 Prozent. Durch Seu- Priester anschließen können, wenn er werden muss. Seelenschwestern über-
chen, Kriege und Hunger präsentiert zum Sterbebett eilt. Dort versieht – oder nehmen den Job als Manager der Trau-
sich der Tod überall und jederzeit. Er versorgt – er den Ablebenden mit allem er, sie beten und sitzen am Grab.
ist alltäglicher Begleiter. Die ­Friedhöfe Nötigen. Die Menschenmenge wartet Haben wir heute noch eine Kultur
als Kirchhöfe liegen direkt im Zent- vor der Tür und geleitet den Geistlichen des Sterbens? Sind wir gemahnt? Sind
rum des städtischen Lebens, um mög- wieder zurück. In den Haushalten steht wir vorbereitet? Wir gehen von Un-
lichst nah an den Reliquien zu sein, da- die Versehgarnitur bereit, damit das Fa- verwundbarkeit aus: Wann gestorben
mit beim Jüngsten Gericht die Heiligen milienmitglied die letzten Sakramente wird, bestimme ich. So ist es aber nicht.
Fürsprache halten können. So geht es empfangen kann und durch Beichte so- Krieg, Seuchen und tödliche Krankhei-
zwischen den Gräbern durchaus recht wie Buße Ablass erhält. Die Sterbekom- ten, Armut und Hunger sind durchaus
lebendig zu, wenn die Leute dort Ke- munion stellt quasi eine Wegzehrung präsent. Übrigens: Auch Klageweiber
geln oder Würfeln. dar. So kann die Route ins Jenseits mit gibt es heute wieder.
Das ändert sich, als mit der Aufklä- Zuversicht beschritten werden. In Soli-
BILDNACHWEIS: AKG, GETTY IMAGES

rung der christliche Erziehungsauf- darität kümmert sich der Familienver-


trag des »Memento mori« (»Geden- bund um den Toten und übernimmt
ke, dass du sterblich bist«) scheinbar zum Beispiel die Waschung. Sie geben LESETIPP
überholt ist. 1805 reißen die Basler die das Amt nicht an einen Bestatter ab.
Hans Holbein: »Der Totentanz. Bilder des
mittlerweile verfallene Kirchhofmauer Sterbehilfe meint hier also das Be- Todes«. Books on Demand 2020, € 12,90
ab, denn es braucht Platz für den Fort- gleiten in den Tod, um auch möglichst

G GESCHICHTE 10 | 2022 63
Giftiges Mutterkorn
Er sieht eklig aus, doch dieser dunkle Pilz wurde
im Mittelalter unbekümmert mit dem Getreide zu Mehl
verarbeitet. Dessen Verzehr ist lebensgefährlich

Woran litten die Menschen infolge der Klimakatastrophe 1438?

2 4

Rätseln Köln, 1369 bis 1371: Eine Zunft wehrt sich gegen das Patriziat:

& Gewinnen 9 3 5

[ VON DIRK LIESEMER ] Größter Augsburger Kaufmann und Bankier:


Nicht jeder starb, der mit Mutterkorn ver-
giftetes Mehl aß. Viele litten an der soge- 1

nannten »Kribbelkrankheit« mit Krämpfen


und Halluzinationen. Sie fanden Aufnahme Mittelalterliches Kinderspiel mit verbundenen Augen:
in besonderen Spitälern, wo man ihnen ein
Getränk verabreichte. Wie heißt es? 6 12 7

Tragen Sie die Lösung bitte bis 12. Oktober


Sportlicher Wettkampf mit Ruderbooten:
2022 in das Online-Lösungsfeld ein:
www.g-geschichte.de/heftraetsel-loesen
11 8 10
Oder schicken Sie eine Postkarte an:
Roularta Media Deutschland, G/Geschichte,
Lösung:
Böheimstr. 8, 86153 Augsburg

Gewinnen Sie mit etwas Glück: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

3-mal
3-mal
Jacques Le Goff:
»Das Mittelalter«
»Geld im Mittelalter«
(Beck’sche Reihe)
(Klett-Cotta)

3-mal 3-mal
Bernd Fuhrmann: Werner Meyer:
»Hinter festen Mauern« »Haferbrei und Hellebarde«
(Theiss) (Nünnerich-Asmus)

? STECKBRIEF (AUFLÖSUNG AUF SEITE 82)

Ein Adeliger liebt die Buchmalerei


Seine große Zeit ist um die Wende zum 15. Jahrhundert: »der Prächtige«. Zwar gilt dieser Herzog und Graf als gei-
BILDNACHWEIS: WIKIMEDIA/ACCIPITER

Er wird als Sohn eines späteren Königs im Schloss Vincen- zig, eitel und habgierig, aber auch als kunstsinnig. Er lässt
nes bei Paris geboren. Mächtiger als sein Vater ist der nicht nur pompöse Schlösser bauen, darunter in Bourges,
Bruder seiner Mutter: ein Kaiser. Auch wenn er selbst sondern bestellt auch kostbare Handschriften und sam-
nicht zum König aufsteigt, gibt man ihm den Beinamen melt prächtige Stundenbücher mit wertvollen Malereien.

64 G GESCHICHTE 10 | 2022
RÄTSEL & LESERBRIEFE
DEUTSCHLAND, DEREN ANGEHÖRIGE UND TEILNEHMER, DIE MITTELS TEILNAHME- ODER GEWINNSPIELANMELDUNGSDIENSTEN WIE GEWINNCLUBS AN DER VERLOSUNG TEILNEHMEN. JEDER TEILNEHMER KANN NUR IM EIGENEN NAMEN UND NUR EINMAL TEILNEHMEN. MEHRFACHSENDUNGEN ERHÖHEN NICHT DIE GEWINNCHANCE UND WERDEN
HERAUS­GEFILTERT. DIE GEWINNER WERDEN DURCH LOS/ZUFALLSMOMENT ERMITTELT UND SCHRIFTLICH BENACHRICHTIGT. DIE GEWINNER ERKLÄREN SICH DAMIT EINVERSTANDEN, DASS IHRE NAMEN VERÖFFENTLICHT WERDEN. LIEGT KEINE WERBEEINWILLIGUNG VOR, WERDEN DIE DATEN NACH BEENDIGUNG DES GEWINNSPIELS GELÖSCHT.
TEILNAHMEBEDINGUNGEN: DIE TEILNAHME AM GEWINNSPIEL IST KOSTENLOS. EINE BARAUSZAHLUNG DER SACHPREISE IST AUSGESCHLOSSEN. TEILNAHMEBERECHTIGT SIND VOLLJÄHRIGE UND MINDERJÄHRIGE MIT EINWILLIGUNG DES ERZIEHUNGSBERECHTIGTEN. NICHT TEILNAHMEBERECHTIGT SIND MITARBEITER DER ROULARTA MEDIA

LESERBRIEFE IMPRESSUM

Schreiben Sie messen schimpflich dargestellt:


Ertrinken ist für einen 70-jährigen
— ISSN 1617-9412, B 7276

Herausgeber: Dr. Franz Metzger

uns gerne! Schwimmer sicher nicht schimpf-


lich, besonders wenn wir bedenken,
Chefredakteure (v. i. S. d. P.):
Dr. Klaus Hillingmeier, Dr. Christian Pantle
Redaktion: Dirk Liesemer, Sonja Nowack, Dr. Christiane Schlüter
Lektorat: Dr. Mareike Pohl
Roularta Media Deutschland wie viele Jugendliche des Schwim- Redaktionsassistenz: Verena Kernstein
Redaktion G/GESCHICHTE mens nicht mächtig sind. Es ist of- Art Direction: Klaus Springer, Christoph Rauch,
Agentur2 GmbH, München
Böheimstr. 8, 86153 Augsburg fenbar eine erhebliche Leistung, in Grafik: Daniel Baum, Christoph Rauch
Anschrift der Redaktion:
Tel.: (0821) 45 54 81-42 diesem Alter eine solche Unterneh- Roularta Media Deutschland
E-Mail: g@roularta.de mung durchzuführen. Heute schei- Redaktion G/GESCHICHTE
Böheimstr. 8, 86153 Augsburg
Leserbriefe geben nicht tern Minister an ganz anderen Be- Tel.: +49 (0)821  45 54 81-42
E-Mail: g@roularta.de, www.g-geschichte.de
die Meinung der Redaktion wieder. dingungen und müssen zum Rück- Mitarbeiter dieses Heftes:
Eva-Maria Bast, Katharina Behmer, Bernd Brunner, Michael Feldhoff,
tritt getragen werden. Karin Feuerstein-Praßer, Christiane Flechtner, Janina Lingenberg,
Klaus Lutterberg, per E-Mail Ulrich Meer, Marika Schaertl, Karin Schneider-Ferber, Sophia Schülke,
Frederik Seeler, Dr. Anja Stiller, Rüdiger Sturm, André Weikard
Zu »Showdown in Tombstone« und Verlag: Roularta Media Group N.V.
Meiboomlaan 33, BE-8800 Roeselare
»Legendäre Namen«, Heft 9/2022: Zum Artikel »Das irre Spiel mit Zweigniederlassung Deutschland:
Roularta Media Deutschland
Doc Hollidays Grab befindet sich den Ängsten«, Ausgabe 2/2021: Böheimstraße 8, 86153 Augsburg
auf dem Friedhof der Rocky Moun- Am Jahrestag des Sturms auf das Gesetzlicher Vertreter Roularta Media Group N.V.:
Rik De Nolf (Vorstandsvorsitzender)
tains Stadt Glenwood Springs west- Kapitol ist mir Ihr Artikel aus dem CEO und ständiger Vertreter Roularta Media Deutschland:
Horst Ohligschläger
lich von Denver. Calamity Janes vergangenen Jahr über Verschwö- Register:
Grabstätte ist direkt neben der von rungstheorien eingefallen. Sie er- Zentrale Unternehmensdatenbank von Belgien (Kruispuntbank van
Ondernemingen/Banque-Carrefour des Entreprises)
Wild Bill Hickok auf dem Friedhof wähnten die QAnon-Erzählung Registernummer: 0434.278.896
Vorstand: Rik De Nolf, Xavier Bouckaert (ständiger Vertreter
von Deadwood City, einer Wild- über eine angebliche Elite, von der der Koinon Comm.VA), Lieve Claeys, Coralie Claeys (ständige
Vertreterin der Verana NV), Francis De Nolf (ständiger Vertreter
west-Stadt im Westen des Bundes- es heißt, sie würden Kinder entfüh- der Alauda NV), Carel Bikkers, Koen Dejonckheere (ständiger
staates Süd Dakota nahe des Mount ren und ihnen Adrenochrom ab- Vertreter der Invest at Value NV), Caroline Pauwels
Vorsitzender des Vorstands: Rik De Nolf
Rushmore National Memorial. zapfen, um dieses Stoffwechselpro- Aufsichtsrat: Die Gesellschaft verfügt über keinen Aufsichtsrat

Günter Stephan, per E-Mail dukt als Verjüngungskur zu ver- Media Sales: Tel.: +49 (0)821 45 54 81-37, media@roularta.de
Es gilt die aktuelle Preisliste.
wenden. Diese Story erinnert mich Weitere
 Informationen: www.roularta.de/mediadaten-agb
Anzeigenleiter: Stefan Rörig (verantw.)
Zum Artikel »Der Kaiser im Kyff- stark an Stephen Kings Roman Druckvorstufe: Agentur2 GmbH, München

häuser«, Ausgabe 5/2022: »Doctor Sleep«. Die Parallelen sind Druck: Euro-Druckservice GmbH, Passau
Abo-Marketing: Daniela Ospel-Lindner
Mit Vergnügen habe ich das Heft so frappierend, dass ich den Ver- Auslieferung an den Handel:
MZV Moderner Zeitschriften Vertrieb GmbH & Co. KG
gelesen. Aber das Reiterstandbild dacht nicht loswerde, dass »Q« sich Ohmstraße 1, 85716 Unterschleißheim
Tel.: (+49) (0)89 3 19 06-0, Fax: (+49) (0)89 3 19 06-1 13
Wilhelms I. ist nicht 81 Meter hoch, bei der Fabulierung der eigenen mzv@mzv.de, www.mzv.de
sondern 11 Meter! Das gesamte Verschwörungserzählung bei Hinweise: Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos
wird nicht gehaftet; Rück­sendung nur gegen Rückporto. Nachdruck
Denkmal ist 81 Meter hoch. Auch Stephen King »bedient« hat.  der Beiträge nur mit schriftlicher Genehmigung der Redaktion.
Zuschrif­ten können (mit Namens- und Ortsangabe, auch auszugs-
das Ende wird ein wenig unange- Vanessa Hufmann, Oberhausen weise) ver­öffentlicht werden, falls kein Vorbehalt gemacht wird.
Bei Nichtlieferung ohne Verschulden der Vertriebsfirma oder in-
folge höherer Gewalt bestehen keine Ansprüche gegen den Verlag.
Bei Adressänderungen kann uns die Post Ihre neue Anschrift
mitteilen; dieser Weitergabe können Sie innerhalb von vier Wochen
nach Erhalt des Heftes widersprechen. Sofern Sie nicht frist­gerecht
Das Lösungswort des Preis­rätsels aus G/GESCHICHTE 8/2022 »Atlantis« lautet: vom Widerspruchsrecht Gebrauch machen, setzen wir Ihr
Ein­verständnis voraus.
  R E S C H E N S E E    Heutiger Name von Thera:  S A N T O R I N    Bronzezeitlicher Vulkanausbruch Alle Preise inkl. gesetzl. MwSt. Auslandspreise auf Anfrage.
Alle Abonnenten erhalten für 104,20 EUR zu den 16 Printausgaben
auf Thera:   M I N O I S C H E    E R U P T I O N     Rekonstruktion erdgeschichtlicher geografischer auch die Digitalausgaben (E-Paper). Einzelhefte kosten 6,70 EUR
(G/GESCHICHTE) bzw. 6,90 EUR (G/GESCHICHTE PORTRÄT) zzgl.
Verhältnisse:   P A L Ä O G E O G R A F I E    Regel, wonach dem erstgeborenen Kind die Erbfolge Versand. Hefte können unter +49 (0)711 72 52 279 (kostenfrei)
nachbestellt werden. Die ­Abogebühren werden unter der
zusteht:  P R I M O G E N I T U R     Spurrillen im Fels auf Malta:  C A R T     R U T S  Gläubiger-Identifikationsnummer: DE95ZZZ00000015331 von
der Roularta Media Deutschland eingezogen.
Ein Verzeichnis aller lieferbaren Ausgaben ist beim Verlag
3-mal: Natalie Livingstone: »Die Frauen der Rothschilds« (Quadriga): Petra Görg (63225 Langen), Harald List (13507 Berlin), oder unter www.g-geschichte.de erhältlich.
Eva-Maria Füllgrabe (32427 Minden); 3-mal: Harald Haarmann: »Von Thera nach Atlantis« (marix): Natascha Wischmeyer
(26474 Spiekeroog), Alfonso J. Fernandez Garcia (60599 Frankfurt/Main), Arnold Heiles (L-9753 Heinerscheid);
3-mal: Malachy Tallack: »Von Inseln, die keiner je fand« (wbg Theiss): Wolfgang Layh (86736 Auhausen), Bernd Wendeborn Wir unterstützen das Projekt
(06844 Dessau-Roßlau), Melanie Kersting (59555 Lippstadt); 3-mal: Argyros Estate, Santorini: »Atlantis Weiß, 2021« zur Förderung von
(vindusud.de): Heinrich Grabowski (36110 Schlitz), Marianne Tetzlaff (17438 Wolgast), Marcus Scharra (52156 Monschau) Lese- und Medienkompetenz

G GESCHICHTE 10 | 2022 65
Jetzt G/GESCHICHTE lesen, bis zu € 70,-
und unterstützen!
Für jede Bestellung mit Bankeinzug spenden wir € 5,- an Plan International

Jetzt
schnell sein +
Höchstbetrag
sichern!

Ihre Vorteile mit G/GESCHICHTE:


• Sie bezahlen per Bankeinzug, wir spenden € 5,- an Plan International!
• Portofrei & pünktlich frei Haus!
• NEU! Als Print- und Digitalausgabe lesen!
• Nach einem Jahr bzw. 2 Jahren jederzeit kündbar!

Sofort anfordern! ➜
Coupon einsenden an: • Leserservice G/GESCHICHTE, Postfach 810580, 70522 Stuttgart
Noch schneller per:
• Internet: www.g-geschichte.de/cash1022
• Tel.: 0711 / 72 52 279 • E-Mail: abo.geschichte@roularta.de

**SEPA-Lastschriftmandat: Ich ermächtige Roularta Media Deutschland* Zahlungen von meinem Konto mittels Lastschrift einzuziehen. Zugleich weise ich mein Kreditinstitut an, die vom Verlag auf mein Konto gezogenen Lastschriften einzulösen.
Hinweis: Ich kann innerhalb von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
*Vertragspartner: Roularta Media Deutschland, eine Zweigniederlassung der Roularta Media Group N.V., Böheimstraße 8, 86153 Augsburg, UST-ID DE343167457, CEO und ständiger Vertreter Roularta Media Deutschland: Horst Ohligschläger
sparen NEU!
Für jede Bestellung mit Bank-
einzug spenden wir € 5,- an
für wichtige Projekte in Afrika! Plan International!
Die Spende geht an wichtige
Schnell sein Projekte in Afrika.
Ihre Gutschrift lohnt sic Weiterführende Infos
h!
finden Sie unter
»
www.plan.de
»
70 €
für ein 2-Jahresabo

35 €
für ein 1-Jahresabo
Bei Bestellung
bis 23.09.2022
60 €
für ein 2-Jahresabo

30 €
für ein 1-Jahresabo
Bei Bestellung
bis 30.09.2022
» 50 €
für ein 2-Jahresabo

25 €
für ein 1-Jahresabo
Bei Bestellung
ab 01.10.2022
#
Mein Vorteils-Angebot mit Gutschrift! Jetzt als Print- und Digitalausgabe lesen!
JA, ich bestelle G/Geschichte ab der nächsterreichbaren Ausgabe print + digital. Beim 2-Jahresabo beträgt der Normalpreis für JA, ich möchte G/Geschichte ab der nächsterreichba-
Selbst 24 Ausgaben + 8 Sonderhefte nur € 208,40, beim Jahresabo für 12 Ausgaben + 4 Sonderhefte nur € 104,20. Die Gutschrift Als ren Ausgabe print + digital verschenken und bestelle
Geschenk! ein 2-Jahresabo (24 Ausgaben + 8 Sonderhefte) für €
lesen! wird direkt mit dem Abopreis verrechnet. Wenn ich danach weiter­lesen möchte, muss ich nichts weiter tun. Ich erhalte dann
G/Geschichte jeden Monat für zur Zeit nur € 6,51 pro Heft (16 Ausgaben im Jahr – print + digital) frei Haus. Ich kann den Bezug 208,40 oder ein Jahresabo (12 Ausgaben + 4 Sonder-
nach 16 bzw. 32 ­Ausgaben jederzeit beenden. Dieses Angebot gilt nur in Deutschland. (Gewünschtes Abo bitte ankreuzen!) hefte) für € 104,20. Die Gutschrift wird direkt mit dem
o 2-Jahresabo: o 1-Jahresabo: Abopreis verrechnet. Dieses Angebot gilt nur in Deutschland.
Bestellung bis 23.09.2022 = € 70,– Gutschrift 50P0001884 Bestellung bis 23.09.2022 = € 35,– Gutschrift 50P0001890 (Gewünschtes Abo bitte ankreuzen!)
Bestellung bis 30.09.2022 = € 60,– Gutschrift 50P0001886 Bestellung bis 30.09.2022 = € 30,– Gutschrift 50P0001892 o 2-Jahresabo:
Bestellung ab 01.10.2022 = € 50,– Gutschrift 50P0001888 Bestellung ab 01.10.2022 = € 25,– Gutschrift 50P0001894 Bestellung bis 23.09.2022 = € 70,– Gutschrift 50P0001885
Anschrift Bestellung bis 30.09.2022 = € 60,– Gutschrift 50P0001887
o Frau Bestellung ab 01.10.2022 = € 50,– Gutschrift 50P0001889
o Herr Name, Vorname o 1-Jahresabo:
Bestellung bis 23.09.2022 = € 35,– Gutschrift 50P0001891
Bestellung bis 30.09.2022 = € 30,– Gutschrift 50P0001893
Straße Hausnummer
Bestellung ab 01.10.2022 = € 25,– Gutschrift 50P0001895
➜ Rechnungsanschrift bitte im linken Feld eintragen!
PLZ Ort Geburtsdatum
Lieferanschrift

Telefonnummer (für Rückfragen und bes. Angebote) E-Mail (für Rückfragen und Newsletter)
Name, Vorname
SEPA-Lastschriftmandat**
o Ich zahle bequem Zahlungsempfänger: Roularta Media
Deutschland*, Böheimstr. 8,
per Bankeinzug,
Sie spenden € 5,- an DE 86153 Augsburg. Gläubiger-ID:
DE95ZZZ00000015331
Straße, Hausnummer
Plan International IBAN BLZ Kontonummer Mandatsreferenz wird separat mitgeteilt.
#

o Ja, ich möchte von weiteren Vorteilen profitieren. Deshalb bin ich einverstanden, dass Roularta Media Deutschland* mich zukünftig per Telefon und/oder per E-Mail über PLZ
interessante Angebote und Aktionen informiert. Mein Einverständnis kann ich jederzeit widerrufen (z.B. per E-Mail: Datenschutz@roularta.de).
Mit Absenden der Bestellung erklären Sie sich damit einverstanden, dass die von Ihnen o Ich zahle per Rechnung Ort
angegebenen Daten elektronisch gespeichert werden. Ihre Daten werden dabei nur streng
zweckgebunden zur Auftragsbearbeitung genutzt. Hinweise zu den AGB und Ihrem
Widerrufrecht finden Sie unter www.shop.roularta-zeitschriften.de/agb. Die Datenschutz-
erklärung finden Sie unter www.shop.roularta-zeitschriften.de/datenschutzerklaerung Datum
7 Unterschrift Telefonnummer (für Rückfragen und bes. Angebote)
Gefährliche
Liebschaften

Teil 2: Coco Chanel & 1972, wenige Monate nach dem Tod
der Modedesignerin, machen erstmals
Hans Günther von Dincklage Gerüchte über ein vom »Paris Match«-
Reporter Pierre Galante verfasstes

Haute Couture
Buch die Runde. Es handelt von Coco
Chanels Liaison Dangereuse mit dem
deutschen Hans Günther von Dinck-
lage, und die Gemüter in der Stadt an

und Hakenkreuz der Seine erhitzen sich. Angesehene


Society-Größen wie die Romanauto-
rin Edmonde Charles-Roux tun die
Enthüllungen über den vermeintlichen
Was findet die französische Modekönigin bloß NS-Agenten und Gestapo-Mitarbei-
ter Dincklage als »Unsinn« ab. Auch
an dem deutschen Spion? Für ihren Lover wendet Coco Chanels treuer Ex-Anwalt Re-
sich Coco Chanel mitten im Krieg den Nazis zu. né de Chambrun beschönigt eilfertig:
Der deutsche Adelige sei lediglich »ein
Eine abstruse Agentenaffäre beginnt deutscher Tennisspieler« gewesen, den
Chanel »mal finanziell unterstützt« ha-
[ VON MARIKA SCHAERTL ]
be. Die Akten aus britischen Geheim-
dienstkreisen, die der US-Schriftsteller
Hal Vaughan 2011 für seine Chanel-
Biografie »Der schwarze Engel« ausge-

E
wertet hat, sagen freilich etwas anderes.
ines ihrer bekanntesten
Nachts geistert Hermann Göring
Zitate lautet: »Die Schön-
heit brauchen wir Frauen, in Frauenkleidern durchs »Ritz«
damit die Männer uns lie- Begonnen hat Cocos unrühmliche
ben. Die Dummheit, da- Liebe zu dem Deutschen 1940. Die
mit wir sie lieben.« Okay, einst in einem Armenhaus geborene
eine klassische Schönheit war Gabrielle Gabrielle Chanel residiert damals als
Chanel, Spitzname »Coco«, nicht wirk- erfolgreiche Modemacherin in einer
lich. Eher apart, von kleiner Gestalt, Suite im Hotel »Ritz«, Frankreich hat
aber ausnehmender Eleganz und Al- den Waffenstillstand unterschrieben,
BILDNACHWEIS: BRIDGEMAN, GETTY IMAGES/EZEPOV, UNITED ARCHIVES/WITTMANN/SÜDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO
lüre. Dumm war die Französin schon die deutschen Besatzer akquirieren die
gar nicht. Schwerreiche Männer, Hoch- Luxusherberge an der Place Vendôme
adelige und Künstlertypen verfielen ih- als ihr Hauptquartier. Statt neben ih-
rem intellektuellen Esprit, ihrem Witz ren bisherigen Zimmernachbarn wie
und ihrem frechen Freigeist. Und den- Ernest Hemingway, Francis Scott Fitz-
noch war es wohl die größte veritable Im Exil Coco und ihr deutscher
gerald oder dem Herzog von Windsor
Dummheit der legendären Mode- »Spatz« 1951 in der Schweiz nächtigt Coco jetzt neben Nazi-Scher-
schöpferin, die einst das berühmte gen wie Hermann Göring, der nachts
»kleine Schwarze« und den Parfum- gern in Frauenkleidern oder anderen
Bestseller »Chanel No. 5« erfand, wäh- Schließlich gilt die gehätschelte Coco karnevalesken Kostümen durchs »Ritz«
rend des Zweiten Weltkriegs mit einem bis heute als Inbegriff des französi- stolziert.
einflussreichen deutschen Nazispion schen Stils, als leibhaftige Verkörpe- Wie genau sich von Dincklage und
das Bett zu teilen. Denn so geriet sie in rung des guten Geschmacks und gan- die Fashion-Königin begegneten, ist
eine der abstrusesten Geheimagenten- zer Stolz der Republik. nicht bekannt. Als sie ihre Affäre be-
affären der Geschichte. Ausgerechnet die piekfeine Made- ginnen, ist sie 57 Jahre alt, er 13 Jahre
Es ist ein dunkles Kapitel im Leben moiselle Chanel mit ihren Perlenket- jünger. »Spatz«, so der ihm von Mät-
der Couture-Ikone, über das die meis- ten und Tweed-Kostümen als Gespielin ressen verpasste Kosename, gilt als Ca-
ten Pariser Medien und das Modehaus des Erzfeinds also? Schlimmer noch: sanova und Lebemann. Blond, groß
Chanel immer noch verschämt das Als Liebchen eines Mitarbeiters der und gut aussehend, Spross eines mittel-
Mäntelchen des Schweigens hängen. verhassten Gestapo? losen Blaublüters aus Niedersachsen

68 G GESCHICHTE 10 | 2022
SERIE GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN

Ganz à la Chanel Im »kleinen Schwarzen« und


mit Perlenkette: Die Modeschöpferin 1935

G GESCHICHTE 10 | 2022 69
SERIE GEFÄHRLICHE LIEBSCHAFTEN

und einer Engländerin. Der ehema-


lige Kavallerieoffizier im Ersten Welt-
krieg tummelt sich seit 1933 in Paris,
seit ihn Goebbels’ Reichspropaganda-
ministerium als Botschaftsattaché an
die Seine geschickt hat, um rechtskon-
servativen französischen Medien auf
die Sprünge zu helfen. Zu der Zeit ist Paris 1940 Die Hakenkreuzflagge weht auf dem Arc de Triomphe
er noch mit Maximiliane verheiratet,
einer Deutschen mit jüdischer Mutter.
Er lässt sich vor Einführung der Rasse- Coco Chanels Biografin Kathari- doch kläglich: Der einst gute Freund
gesetze offiziell scheiden und lebt doch na Zilkowski schreibt über die Affäre Churchill bekundet kein Interesse.
bis etwa 1939 mit Maximiliane zeitwei- zwischen von Dincklage und der Cha- Wenige Wochen später, im Sommer
se an der Côte d’Azur zusammen, wo nel: »Es war für sie eine bedeutungs- 1944, wird Paris befreit. Von Dinckla-
die beiden als Spione agieren. volle Liebe.« Auch wenn Coco über ge ist bereits in die Schweiz geflüchtet.
Nach seiner Rückkehr in die Haupt- ihren umstrittenen Lover irgendwann Coco Chanel wird verhaftet und ver-
stadt Paris beziehen Gabrielle Chanel nur den despektierlichen Satz verlieren hört – und kommt nach einer Stunde
und Freiherr von Dincklage schnell ei- wird: »Ach der ... ein alter Bekannter!« frei. Ein Anruf von Winston Churchill
ne gemeinsame Suite im »Ritz«. Wäh- hat sie angeblich gerettet.
Coco prahlt vor den Deutschen
rend draußen der Kriegsspuk herrscht, Coco folgt ihrem Liebhaber »Spatz«
frönt das ungleiche Paar dem dekaden- mit Kontakten zu Churchill ins Exil. In Lausanne teilen sich beide
ten Hedonismus zwischen Champag- Irgendetwas muss »Mademoiselle«, einen goldenen Käfig. Sie erfreuen sich
ner und teuren Klamotten. Ob es die das ewige Fräulein Chanel, indes be- freilich immer noch eines opulenten
große Liebe ist? Schließlich bekundet wogen haben, sich, von ihrem Galan Lebensstils. Aber Coco langweilt sich,
Coco selbst einmal, es habe in ihrem inspiriert, aktiv den Nazis zuzuwen- die einst Liebenden sind wie ein altes
Leben nur »zwei Lieben gegeben«. Die den. Codewort »Modellhut« ist dieser Ehepaar, streiten sich oft. Als die ehe-
zu dem von ihr vergötterten Boy Capel, törichte Einfall betitelt. Coco hat vor malige Mode-Queen 1954 nach Paris

BILDNACHWEIS: AKG/LES ARTS DÉCORATIFS PARIS/JEAN THOLANCE, GETTY IMAGES/PRINT COLLECTOR, WIKIMEDIA/ARZ
der sie, das Provinzmädchen, aus Stan- von Dincklage und seinen deutschen zurückkehrt, ist es in der Couture-Welt
desdünkel für eine andere verließ, und Kumpanen mit ihrer engen Beziehung so etwas wie die Sensation des Jahres.
jene zu Herzog Hugh Richard von zu Winston Churchill geprahlt. Aus- Der 71-Jährigen gelingt ein beeindru-
Westminster. Dem hat sie trotz seines gerechnet sie soll nun mit dem alten ckendes Comeback. Ihr Ruhm ist jetzt
45-Zimmer-Schlosses und seines un- Freund aus London einen Frieden zu- größer denn je. Und von Dincklage?
ermesslichen Reichtums nach einigen gunsten Deutschlands verhandeln. Die Er bleibt eine Fußnote in ihrer Biogra-
Jahren die lange Nase gezeigt. »Modellhut«-Operation scheitert je- fie. Sie unterstützt ihn und sogar sei-
nen Nazi-Vorgesetzten in der einstigen
Churchill-Sache zwar weiter mit finan-
ziellen Zuwendungen – aber womög-
Bis heute Modell
von 1928
lich nur, um sich unangenehme Aus-
plaudereien zu ersparen.
unverwechselbar Hans Günther von Dincklage segnet
1974 als Luxusrentner auf der behagli-
Ab 1913 macht Coco Chanel Furore chen Baleareninsel Mallorca das Zeitli-
mit bequemer und zugleich eleganter che. Coco Chanel verstirbt bereits 1971
Mode für die emanzipierte Frau. in ihrer Suite im »Ritz« in Paris. Was
»Chanel No. 5«, der sie an dem deutschen Nazi wirklich ge-
von ihr kreierte Duft, fesselt hat, das nahm sie wohl mit in ihr
gilt als das meist- Grab.
verkaufte Parfüm
der Welt

LESETIPP
Seit 1921 auf
Hal Vaughan: »Coco Chanel – Der schwar-
dem Markt
ze Engel. Ein Leben als Nazi-Agentin«.
Hoffmann und Campe 2011, antiquarisch

70 G GESCHICHTE 10 | 2022
Jetzt auch als Hörbuch!

Jeden Monat neu! Nur € 6. 99

Erhältlich bei Audible, Thalia.de, Spotify


und überall, wo es digitale Hörbücher gibt
Viele Monate haltbar
Mirabellen im luft-
dichten Einmachglas.
Das Einwecken ist
erst seit dem
20. Jahrhundert
bekannt

GESCHICHTE IM ALLTAG
Obsternte

Mehr als freche


Früchtchen
Was tun nach der Obsternte? Äpfel, Birnen, Pflaumen werden
lange Zeit nur vergoren oder als Würzmittel verwendet –
weil die Menschen erst spät lernen, wie sie haltbar gemacht werden
[ VON BERND BRUNNER ]

72 G GESCHICHTE 10 | 2022
GESCHICHTE IM ALLTAG

Idyll mit Äpfeln


Um 1940 malt der Tscheche Sammelaktion 1944
František Jakub sein sinnli- Schweizer Helferin
ches Gemälde »Obsternte« verpackt Dörrobst
für hungrige Kinder

N
un, im Spätsommer, be-
ginnt die Erntezeit, und
es gilt, Äpfel und Birnen
behutsam von den Zwei-
gen zu pflücken und sie
sachgerecht zu transpor-
tieren, um Druckstellen zu vermeiden.
Ein großer Teil wandert heute in gas-
dichte Lagerräume mit kontrollierter
Atmosphäre, also mit wenig Sauerstoff
und viel Stickstoff, sodass die Früchte
weniger atmen. So lassen sich Super- Der zügige Transport der geernteten Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts
märkte das ganze Jahr über mit schein- Früchte ist herausfordernd, weshalb kommt ein Verfahren auf, bei dem wir
bar frischer Ware beliefern. Leichter man sie gleich vor Ort in der Sonne an die »gute alte Zeit« denken: das Ein-
verderbliche Obstarten wie Kirschen, oder in besonderen Backstuben trock- wecken. Es ermöglicht, Pflaumen und
Pflaumen und Beeren müssen weiter- net und ihnen auf diese Weise 85 Pro- Kirschen, die ansonsten schwer zu kon-
hin schnell verarbeitet werden. zent Wasser entzieht. Häufig verzehrt servieren sind, luftdicht abzuschlie-
Noch zu Beginn der Neuzeit wis- man die zuvor in Teile geschnittenen, ßen und haltbar zu machen. Das Ein-
sen die Menschen nicht, wie sie reife gedörrten Früchte – Schnitzer genannt wecken ist dem Unternehmer Johann
Früchte haltbar machen können. Trotz – mit Speck oder als Teil einer Mehl- Carl Weck zu verdanken, der das Patent
eintöniger Ernährung kommt frisches speise. Auch für Zwetschgenmus be- dafür von anderer Seite erwirbt. Schon
Obst selten roh auf den Tisch. Zum nötigt man größere Mengen gedörrte 1864 hatte Louis Pasteur das nach ihm
einen ist es nicht immer gut gerei- Früchte. benannte Verfahren der Pasteurisie-
nigt, was zu Durchfall führt, zum an- rung entdeckt: Kurzzeitiges Erhitzen
Die Ernte wird flüssig gemacht:
deren sind ihre gesundheitsfördernden hilft, Hefen, Schimmel und Bakterien
Stoffe noch unbekannt. Zwar schätzt Zu Most und Branntwein abzutöten, die einen Saft vergären und
man Sauerkraut, frisches Gemüse und Ein Gutteil der Äpfel und Birnen, verderben können.
Früchte als Mittel gegen Skorbut, aber die lange Zeit den Anbau in Mittel- Einer übrigens liebte verfaulendes
es wird bis zum frühen 20. Jahrhundert europa dominieren, wird für haltba- Obst: Friedrich Schiller verteilte über-
dauern, ehe Vitamin  C synthetisiert re, wohlschmeckende Getränke wie all in seiner Schreibstube alte Äpfel,
wird. Als Heilmittel gelten nur weni- eingedickten Fruchtsaft, Most, Wein legte einige sogar in seine Schubladen
ge Früchte: Pflaumen etwa werden mit und Branntwein verwendet. Die teils und genoss ihren von Tag zu Tag pene-
BILDNACHWEIS: AKG/KEYSTONE/GR, FOTOFINDER/BSIP/YOUR PHOTO TODAY, GETTY/APPLEUZR, WIKIMEDIA/FA2010

anderen Substanzen vermengt und als hochprozentigen Getränke sind schon tranteren Geruch. Er könne ohne ihn
»purgierendes Diaprunum«, also Ab- deshalb beliebt, weil das verfügbare nicht leben und arbeiten, verriet seine
führmittel, verordnet. normale Wasser oft verseucht ist, denn Frau einmal dem befreundeten Goethe.
Äpfel isst man bis ins 17. Jahrhundert die Gewerbe verschmutzen es stark. Vermutlich nahm Schiller an, in den
meist gekocht, wie überhaupt Früchte Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt Fauldüften seien Essenzen, die seinen
eher als Würzmittel für Speisen dienen. der Chefgärtner von Schloss Versailles erkrankten Atemwegen Linderung ver-
Das gilt besonders für Zitrusfrüchte: mit der »fruiterie«, einer Frühform der schaffen.
Seefahrer haben süße Orangen­sorten heutigen Lagerung: Jean-Baptiste de la
erst Jahrzehnte zuvor nach Portugal ge- Quintinie lässt das Gebäude mit einer
bracht, vorher hatte es in Europa nur Mauer vor den Nordwinden schützen LESETIPP
Bitterorangen gegeben. Auch Stillleben und die Fenster gegen Frost abdichten.
mit appetitlich auf Schalen drapier- An den Wänden bringt er Bretter an, Der Autor dieses Arti-
kels, Bernd Brunner,
ten Pfirsichen, Melonen und derglei- und darauf legt er die Früchte auf Moos
schrieb das opulent
chen sind erst im 16. Jahrhundert auf- oder Sand. Monatelang gilt es nun, ver- illustrierte Buch:
gekommen – mal abgesehen von ähnli- dorbene Früchte rasch zu entfernen, »Von der Kunst, die
chen Malereien in pompejischen Haus- damit sich keine Erreger ausbreiten. Bei Früchte zu zähmen.
halten. Von Tafelobst, das man auch Frost wird das Gebäude beheizt. Quin- Eine Kulturgeschichte
für diesen Zweck anbaut, wird man ab tinie lässt auch Mausefallen aufstellen des Obstgartens«.
dem 19. Jahrhundert sprechen. und Katzen nach Ratten jagen. Knesebeck 2022, € 22,–

G GESCHICHTE 10 | 2022 73
Tragisch: Ingenieur
Thomas Millar hilft
beim Bau der Titanic
­­in Belfast — und geht
bei der Jungfernfahrt
mit ihr unter

Schifffahrt
in den
Tod
TITANIC-UNGLÜCK 1912
Thomas Millar ist Techniker an Bord des Luxus-Liners.
Den Untergang der Titanic überlebt er nicht.
Sein Schicksal zeigt, wie die Tragödie das Leben einer
Familie über Generationen verändert
[ VON CHRISTIANE FLECHTNER ]

D
as Läuten der Glocke ist früh
am Morgen zu hören, wenn
Belfast noch schläft. Der hel-
le Klang am Albert Memori-
al Clock Tower am Queen’s
Square ertönt über der Stadt –
sechs Mal für jede Stunde, die
bereits vergangen ist. Diese Glocke hat auch
Thomas Millar gehört, als er vor mehr als 100
Jahren zur Arbeit ging. Da stand die Uhr be-
reits und schlug immer zur vollen Stunde. Den
Klang in seinen Ohren, setzte er jeden Morgen
mit der Fähre über den Fluss Lagan, um zu sei-
BILDNACHWEIS: SUSIE MILLAR, WIKIMEDIA

nem Arbeitsplatz zu gelangen: der Werft Har-


land & Wolff Ltd.
Heute, ein Jahrhundert später, steht Susie
Millar an jenem Uhrenturm und denkt an Tho-
mas Millar, ihren Urgroßvater. Sie hat ihn nie

74 G GESCHICHTE 10 | 2022
PORTRÄT

Die RMS Titanic im Hafen von


Southampton an der Südküste
Englands. Am 10. April 1912
beginnt ihre Jungfernfahrt,
vier Tage später rammt sie
einen Eisberg und sinkt.
Von den etwa 2200 Menschen
an Bord überlebt nur jeder
Dritte die Katastrophe

G GESCHICHTE 10 | 2022 75
PORTRÄT

persönlich kennengelernt, und doch ist sie


mit ihm verbunden. Mit ihm, mit Belfast und
mit der Titanic. Schließlich war er es, der das
prachtvolle Schiff mit aufbaute – und der auf
tragische Weise auch mit ihm unterging.
»Thomas hat hier in Belfast in der Werft ge-
arbeitet, die während der Glanzzeit der Ocean
Liner eine der bedeutendsten Werften Europas
war«, erklärt sie. Als einer von rund 30 000 Mit-
arbeitern sei Thomas dort als Ingenieur tätig
gewesen. Er arbeitete an Motoren-Komponen-
ten der beiden Schwesternschiffe RMS Olym-
pic und RMS Titanic für die britische Reederei
White Star Line.
Die Docks waren die größten in ganz Irland – Die Nachricht vom nahm. Und er sagte zu seiner Frau, dass es viel
und spielten eine bedeutende Rolle für Belfasts Untergang der Titanic mehr sei als ein Stück Ingenieurskunst. Er sagte,
Wirtschaft. Sie waren entscheidend für den Im- geht um die Welt: die Titanic sei ein schwimmender Palast.
port von Industriegütern und den Export von Am Abend verkünden »Als er dann die Möglichkeit erhielt, als ei-
Produkten. Kohle kam aus England, aber auch Zeitungen in London ner von acht Technikern der sogenannten Ga-
Zucker, Tabak und Agrargüter wurden impor- den »großen Verlust rantiegruppe mitzufahren, sagte er sofort zu«,
tiert. Exportiert wurden hauptsächlich Leinen an Menschenleben« — erzählt Susie. Denn durch den Tod seiner Frau
und später auch andere in Belfast und Umge- die genaue Opferzahl wuchs in ihm der Wunsch, irgendwo ganz neu
bung hergestellte Güter wie Taue, Seile und ist da allerdings noch anzufangen. Und durch seinen Job sah er plötz-
gar nicht bekannt
Whiskey. lich eine Chance, ein neues Leben für sich und
seine Jungs aufzubauen. Er wollte weiterhin
Das harte Leben der Familie Millar und
für die White Star Line arbeiten, aber eben von
der Bau eines schwimmenden Palasts New York aus. Dort wollte er alles vorbereiten
Das Leben der Hafenarbeiter war hart. Unge- und dann die Söhne nachholen.
sunde Lebens- und Arbeitsbedingungen waren »Er erklärte seinen beiden Söhnen, dass sie
an der Tagesordnung. Oftmals lebten ganze Fa- erst einmal zurückbleiben mussten bei ihrer
milien nur von Brot und Tee. Großtante, während er nach New York fuhr«,
»Genau vor dem heutigen Titanic-­Museum so Susie. »Als der Moment des Abschieds kam –
in Belfast befand sich die Helling (Bauplatz das war vor 110 Jahren am 2. April 1912 – nahm
für den Stapellauf) der Titanic«, sagt Susie er sie mit zum Schiff, gab ihnen zwei Pennies
Millar. »Hier wurde sie in nur fünf Jah- aus dem Jahr 1912 und sagte ihnen, sie sollen
ren gebaut und fertiggestellt – und war sie behalten, bis sie alle drei wieder vereint wä-
zu dieser Zeit das größte Schiff der Welt. ren. Mein Großvater Ruddick erinnerte sich ge-
Von hier aus trat der fast 40 000  Ton- Ein nau an diesen Tag. Daran, wie er als Fünfjähri-
nen schwere Koloss seine erste Reise nach unerfülltes ger am Strand stand und zusah, wie die Titanic
Southampton an. Von dort stach die Titanic Versprechen davonfuhr. Er hatte die beiden Münzen in der
dann am 10. April 1912 mit großem Rummel Vor der Abreise gibt Hand und hielt sie so fest, dass sich die Jahres-
zur ersten Nordatlantik-Überquerung in See.« Thomas Millar sei- zahl in seine Hand einprägte. Er verstand nicht,
BILDNACHWEIS: BRIDGEMAN, CHRISTIANE FLECHTNER, SUSIE MILLAR (2)

Ihr Urgroßvater Thomas wohnte auf der an- nen beiden Söhnen warum alle dem Schiff so freudig und jubelnd
deren Seite des Flusses Lagan, der sich quer zwei Pennies. Die hinterherwinkten. Schließlich war es für ihn
durch Belfast schlängelt. Es war eine schwe- sollen sie aufbewah- und seinen Bruder ein sehr trauriger Moment.«
re Zeit für die Millars. Anfang 1912 starb seine ren, bis er von New Auf der Titanic kümmerte sich Thomas Mil-
Frau Jeannie, und er stand plötzlich mit seinen York zurückkehrt. lar als Assistent des Ingenieurs an Deck um al-
zwei kleinen Söhnen ganz allein da. Thomas Ju- Die Münzen liegen les Technische. Geräte zu warten und zu repa-
nior war elf und sein Bruder Ruddick gerade heute im Titanic-Mu- rieren gehörte zu seinen Aufgaben – so unter
einmal fünf Jahre alt. Wenn er zur Arbeit ging, seum in Branson im anderem die Kräne und Winden. Aber er war
wurden die beiden von ihrer Großtante Mary US-Staat Missouri auch für den Zustand und Erhalt der Fitnessge-
Millar betreut. räte der ersten Klasse verantwortlich.
Er erlebte, wie das Schiff über die Jahre in die Auf dem Weg von Belfast nach Southamp-
Höhe wuchs und mehr und mehr Gestalt an- ton bekam er die Gelegenheit, sich ausgiebig die

76 G GESCHICHTE 10 | 2022
Verhängnisvolle Entscheidung Nach dem
plötzlichen Tod seiner Frau Jeannie Anfang 1912
beschließt Thomas Millar, mit seinen Söhnen
in New York ein neues Leben aufzubauen

»Mir bedeutet das Wissen um meinen Ur-


großvater sehr viel, denn er ist Teil der tragi-
schen Geschichte, die oft unbeachtet bleibt«,
sagt Susie und fügt hinzu: »Zum Glück schrieb
mein Großvater die Familiengeschichte auf.
Sonst wäre das Schicksal von Thomas Millar
womöglich für immer vergessen. Ich fühle mich
ihm sehr verbunden.«
Ein Grab in den Tiefen des Meeres und
ein Buch über einen einfachen Arbeiter
Als Nachfahrin nahm Susie 2012 an der
Gedenkfahrt auf der MS Balmoral teil. Sie fuhr
direkt zu der Stelle, an der die Titanic ein Jahr-
Räumlichkeiten der ersten Klasse anzuschauen, hundert zuvor sank, rund 550 Kilometer südöst-
die Restaurantbereiche, Raucher- und Lesesäle. lich von Neufundland. »Das war für mich sehr
Für ihn und seine Kollegen blieben die Ingeni- bewegend«, erinnert sie sich. »Schließlich ist
eursquartiere tief im Bauch des Schiffes – ohne dieser Ort in den Tiefen des Meeres sein Grab
Salons oder Fitnessraum. wie das vieler anderer.«
Die Familie erfuhr aus der Zeitung vom Un- Um an ihren Vorfahren zu erinnern, hat sie
glück – die Schlagzeilen über das Schiff, das ei- die Stationen ihres Urgroßvaters in einem Buch
nen Eisberg rammte, und den massiven Verlust festgehalten: »The Two Pennies« (siehe Lesetipp
von Menschenleben waren auf allen Titelseiten. unten). Es ist die Geschichte eines einfachen
Thomas war nicht unter den etwa 700 Überle- Arbeiters, eines zur Crew gehörenden Ingeni-
benden. Sein Körper wurde nie gefunden. eurs. »Ich habe es geschrieben, damit auch die
Die traurige Nachricht an die beiden Jungs kleinen Leute in Erinnerung bleiben – Arbei-
überbrachte Marys elfjährige Tochter. »Mein ter, die den Bau dieses Kolosses erst möglich ge-
Großvater hatte am Strand gerade sein Papier- macht haben. Denn ohne sie hätte es die Titanic
boot zu Wasser gelassen. Als es mit einem Stein niemals gegeben.«
kollidierte und sank, nutzte sie die Gelegenheit,
die Geschichte der Titanic zu erzählen«, sagt
Susie. Das war zu viel für einen Fünfjährigen. LESETIPP
Die beiden Pennies hat er immer behalten. Sie
Susie Millar: »The Two Pennies. A True Story
wurden dann von Generation zu Generation from the Titanic«. Authorhouse 2012, ca. € 20,–
weitergereicht – als Symbol für die Familie.

»Mein Urgroßvater
ist Teil der tragischen
Geschichte, die oft
unbeachtet bleibt«
SUSIE MILLAR
Die Urenkelin von Thomas Millar zeigt auf den
Namen ihres Urgroßvaters. Die Gedenktafel für die
etwas mehr als 1500 Opfer der Schiffskatastrophe
steht am Titanic-Museum in Belfast

G GESCHICHTE 10 | 2022 77
AUF EINEN BLICK Spanien Silberschmiedearbeit für
Hier sind die Ausstellungen den Kalifen Hisham II., um 1000

Bramsche-
Kalkriese
Berlin

Bonn Regensburg

Mannheim Normannenkrieger
als Schachfigur,
München Wien Schottland um 1200
Basel
Gotland Bildstein mit Wikingern und
Drachenboot, 750 — 1000 n. Chr.

Mit anderen
Augen
gesehen
Mobilität, Migra- Netzwerker aus
dem hohen Norden
tion, Integration:
Wenn diese Begriffe
auf das Mittelalter Erobern, integrieren, weiterziehen: Wie die Normannen
angewendet wer- das frühe Europa prägen und daran selbst wachsen
den, rückt es uns
plötzlich ganz nah. Mannheim. Es ist ein modernes Deshalb ist der kulturhistorische An-
Die Mannheimer Wort, das auf den ersten Blick satz, den diese Ausstellung verfolgt, so

HAUS DER BAYERISCHEN GESCHICHTE/PHILIPP MANSMANN, NATIONAL MUSEUMS SCOTLAND, SONJA NOWACK,
nichts mit den Normannen zu lohnend. Die Schau zeigt, wie aus Krie-
Normannenschau tun hat: Vernetzung. Und doch gern Kulturvermittler und mächtige
nutzt diesen Über- waren die sagenumwobenen Nord- Fürsten wurden. Aufwendig inszeniert, VARUSSCHLACHT IM OSNABRÜCKER LAND/SEBASTIAN ORTNER; TEXTE: CHRISTIANE SCHLÜTER
COLLECCIÓN CAPÍTOL CATEDRAL DE GIRONA/AUTOR 3DTECNICS, GETTY IMAGES/NURPHOTO,

raschungseffekt für männer genau dies: Meister der bietet sie 300 wertvolle Exponate aus
das begleitende Vernetzung. Das belegt jetzt die Aus- großen europäischen Sammlungen:
BILDNACHWEIS: CHRISTER ÅHLIN/THE SWEDISH HISTORY MUSEUM/SHM (CC BY),

stellung »Die Normannen« der Reiss- Handschriften und Textilien, Kunst-


Schulprojekt »Mit Engelhorn-Museen in Mannheim. Die handwerk, Schmuck und Waffen.
anderen Augen«: Namensgeber betraten als Wikinger So sind etwa die Krone Rogers II.,
Schüler lernen hier die Bühne der Geschichte und wurden die Angelsächsische Chronik und
zu frühen Gestaltern im europäischen der Krönungsmantel Friedrichs II. zu
anhand des Gestern Raum – von Skandinavien bis ans Mit- sehen. Virtuelle Rekonstruktionen,
das Heute einmal telmeer, von der Ostseeküste bis nach Mitmach-Stationen und Filme lassen
anders zu sehen. Byzanz. Obgleich brutale Eroberer, das Thema noch lebendiger werden.
passten sie sich als Sieger doch den Museum Zeughaus Mannheim,
Dr. Christiane jeweils vorhandenen Strukturen an. Sie bis 26. Februar 2023,
Schlüter verschmolzen mit der einheimischen → www.rem-mannheim.de/
Redakteurin Bevölkerung und drückten ihr zu- ausstellungen/sonderausstellungen/
G/GESCHICHTE gleich den eigenen Stempel auf. die-normannen

78 G GESCHICHTE 10 | 2022
AUSSTELLUNGEN

Kaulbachs »Schützenlisl«
Das fast fünf Meter hohe
Gemälde von 1881 ist in Regens-
burg im Original zu sehen

Gefährdete Im Museum
von morgen
Gemütlichkeit
Bonn. Das Museum der
Eine Ausstellung fühlt dem Zukunft wartet in
bayerischen Wirtshaus den Puls »#Proberaum.
Geschichte(n) entdecken«.
Regensburg. Von der Taverne An Mitmachstationen lassen
über die Dorfschenke bis zum sich im Haus der Geschichte
Bierpalast: »Wirtshaussterben? neue mediale Inszenierungen
Wirtshausleben!« erkundet des Deut- ausprobieren. Das Feedback
schen – speziell des Bayern – liebstes Wirtshaus? Antworten gibt ein Film der Besucher ist ausdrücklich
zweites Wohnzimmer. Originale vor auf Großleinwand, in dem unter ande- erwünscht – so können sie am
und hinterm Tresen werden gezeigt, rem Gerhard Polt zu Wort kommt. Museum von morgen mitwir-
Braukunst und Brotzeiten, Wirtshaus- Auch online gibt’s viel zu entdecken. ken. Alle paar Monate wartet
singen und Kegelturniere anschaulich Haus der Bayerischen Geschichte eine neue Installation.
gemacht. Kehrseite der Gemütlichkeit Regensburg, bis 11. Dezember → www.hdg.de
waren der harte Arbeitsalltag, die häu- → www.museum.bayern/ausstellungen/
figen Raufereien und die oft drohende bayernausstellung-wirtshaussterben-
Armut. Und wie steht es heute ums wirtshausleben.html

Auf nach Pompeji


Berühmte Exponate aus den Römerstädten am Vesuv
machen das Leben und Sterben von einst erfahrbar
Bramsche-Kalkriese. »Es ist viel Läufers aus der Villa dei Papiri oder
Unheil in der Welt geschehen, das berühmte Doppelporträt des
aber wenig, das den Nachkom- Bäckers Terentius Neo und seiner Frau.
men so viel Freude gemacht hätte.«
Der Ausspruch Goethes über den
Sie sind vor Projektionen des Vulkan-
ausbruchs in Szene gesetzt. So wird
Oktoberfest
Untergang von Pompeji und Hercula- nicht nur die Lebenswelt von einst er- digital
neum beim Ausbruch des Vesuvs im fahrbar, sondern auch ihr Untergang.
Jahr 79 n. Chr. bewahrheitet sich auch Museum und Park Kalkriese, München. Diesmal soll
jetzt wieder. »Pompeji. Pracht und bis 6. November, die Wiesn wieder statt-
Tod unter dem Vulkan« bietet heraus- → www.kalkriese-varusschlacht.de/ finden. Wie sie sich seit
ragende Objekte wie die Skulptur eines museum-park/ausstellungen.html 1810 durch gesellschaftliche,
politische und technische Er-
eignisse verändert hat, zeigt
»Oktoberfest — Historie,
Hintergründe, Höhepunkte«.
Fotos, Ton- und Filmaufnah-
men sorgen für authentisches
Flair. Fehlt nur noch ein Bier ...
→ www.bavarikon.de/
oktoberfest

Wohlhabend und selbstbewusst


— Pompejis berühmtestes Paar G GESCHICHTE 10 | 2022 79
Grenzen sind vielfältig Manchmal muten sie
seltsam an – so wie unten die Datumsgrenze,
die im Südpazifik nicht dem Meridian folgt,
sondern hammerförmig nach Osten reicht

Von Mauern und Linien In fünf Kapiteln widmen die beiden


Franzosen sich verschiedenen Arten
von Land- und Seegrenzen. Dass bei
60 Karten verschaffen einen Überblick zu all den deren Entstehung oft Blut fließt –
sichtbaren und unsichtbaren Grenzen unserer Erde man denke an Kriege und Kolonial-

B
zeit –, behandeln sie ebenso wie die
eim Lesen der ersten Sei- Und: »Die Grenzen [der UdSSR] Tatsache, dass dennoch 55 Prozent
ten stellt sich zunächst wurden willkürlich gezogen«. In aller Grenzen der Welt »natürlich«
ein ungutes Gefühl ein. Anbetracht des Einmarsches Russ- sind, etwa Seen, Gebirgen und Tä-
Zitate von berühmten lands in die Ukraine kann dem Leser lern folgen.
Persönlichkeiten sind bei diesen Sätzen schon mal ein Kenntnisreich und hoch spannend
dort zu sehen. Von Politikern, Schauer über den Rücken laufen. führen die Autoren durch die ver-
Schriftstellern, Sängern. Menschen, Wie aktuell die Aussagen und das schiedenen Regionen der Welt. Das
die sich zum Thema »Grenze« geäu- Thema werden, konnten die Autoren moderne Layout und die mehr als
ßert haben. Von Wladimir Putin Delphine Papin und Bruno Tertrais 60 detaillierten Karten und Illustra-
heißt es da: »Die Grenzen meines natürlich nicht ahnen, als sie ihren tionen runden das Werk ab.
Landes sind nirgends zu finden«. »Atlas der Unordnung« verfassten. wbg Theiss 2022, 176 S., € 28,–
BILDNACHWEIS: ANACONDA (2), ARD/SWR, C. H. BECK, DTV, WBG THEISS (2), ZDFINFO (3); TEXTE: SONJA NOWACK

Wendejahr Sie, die Widerstandskämpferin, er,


der Oberleutnant, der nach Stalin-

des Krieges grad muss. Der promovierte Histo-


riker und G/GESCHICHTE-Autor
Hauke Friederichs erzählt unge-
Eine junge Liebe wöhnlich viel Persönliches, etwa
in dunklen Zeiten von Fritz’ Seitensprung und von
Sophies Ideal der Enthaltsamkeit.

N
ähe und Ferne«, »Zuver- Sauber trennt Friederichs zwischen
sicht und Zweifel« oder historisch gesicherten Informatio-
»Licht und Düsternis« – nen und Vermutungen. Die Statio-
schon die Kapitelnamen nen des Paares verknüpft er ge-
klingen vielversprechend. Im Buch schickt mit den Ereignissen des
»Flammenzeichen« folgt der Leser Krieges, inklusive zahlreicher Zitate
der Beziehung zwischen Studentin aus Briefen der Liebenden. Selten
Sophie Scholl und Hauptmann Fritz fühlte man sich den beiden so nah.
Hartnagel im Schicksalsjahr 1942/43. dtv 2022, 336 S., € 24,–

80 G GESCHICHTE 10 | 2022
BÜCHER & MEDIEN

Am
1. Oktober
im TV

SPIEL DES MONATS


Von der Redaktion getestet

Gewalt im
Mittelalter ment, ob der englische König tat-
sächlich durch einen Armbrust-
schützen getötet worden sein kann.
ZDF-Dokureihe über Pro 45-Minuten-Folge werden je
historische Kriminalfälle drei Kriminalfälle beleuchtet und
mithilfe beeindruckender forensi-
Woher kommt
R
ichard Löwenherz’ Ent- scher Methoden ausgewertet. So
führung bildet den Auf-
takt der sechsteiligen
etwa der Fall eines Toten aus dem
Moor sowie rätselhafte Kinderlei-
eigentlich …?
Dokureihe »Tatort Mit- chen der Inka. Sendetermin: 1. Ok- Wie oft benutzen wir eine Rede-
telalter«. Für Geschichtsinteres- tober 2022, alle Folgen ab 20.15 Uhr wendung, deren Herkunft oder
sierte ist da erst mal wenig Neues auf ZDFinfo, danach abrufbar in der ursprüngliche Bedeutung wir
dabei. Spannender ist das Experi- ZDF Mediathek unter www.zdf.de nicht kennen? Zumindest ein
paar Wissenslücken schließt
nicht nur unser Forum (stets auf
Seite 13), sondern speziell für

Neu aufgelegt das Mittelalter auch das Memo-


ry »Holzauge sei wachsam!«.
Mit »Bloodlands« ist die blutge- Der namensgebende Spruch hat
tränkte Erde zwischen Polen und übrigens nichts mit Holzaugen-
Russland gemeint. Dort starben prothesen zu tun. Vielmehr be-
14 Millionen Menschen durch das zeichneten Holzaugen Astlöcher,
NS- und Sowjet-Regime. Timothy die den Hobelklingen der Schrei-
Snyder schildert in seinem Klassi- ner Schaden zufügen konnten.
ker von 2010 eindrücklich den Ge- Insgesamt 20 mittelalterliche
nozid in der Ukraine unter Hitler Redensarten sind auf den Kar-
und Stalin. Enttäuschend: In der ten erklärt, wie »etwas an die
Neuauflage ist kaum Neues. Nur
Ein Anschlag, das Nachwort wurde aktualisiert,
große Glocke hängen« und »am
Hungertuch nagen«. Das Spiel
viele Fragen ist aber von Juli 2021 – acht Mona-
te, bevor Putin in die Ukraine ein-
ist kurzweilig und informativ.
Anaconda 2018, ab 2 Spieler,
13 Menschen sterben, als ein LKW fiel. C. H. Beck 2022, 541 S., € 34,– ab 8 Jahren, € 7,95
am 19. Dezember 2016 in den
Weihnachtsmarkt am Berliner
Breitscheidplatz rast. Der islamis-
tische Täter war den Behörden
bekannt. Hätte er gestoppt wer-
den können? Das erörtert der
Podcast »Breitscheidplatz« vom
SWR und RBB in sechs Folgen.
→ www.swr.de/breitscheidplatz/
breitscheidplatz-podcast-100.html

G GESCHICHTE 10 | 2022 81
Eine Kobra is
t noch
keine Plage.
Doch der
Kobra-Effekt
kann aus
Kleinigkeiten
Katastro-
phen mache
n

HISTORISCHE PLEITEN

Effektvoll vermasselt
Was ist das Gegenteil von gut? Gut gemeint. Jedenfalls in diesen
Geschichten mit ungeahntem – und unbeabsichtigtem – Ausgang
[ VON KATHARINA BEHMER ]

K
ennen Sie den Kobra-Ef- bot zu umgehen. So wurde die Luft- und die Plage war größer als zuvor.
fekt? Der beschreibt das verschmutzung noch gesteigert. Der Sängerin Barbra Streisand ging es
Phänomen, dass genau Namensgebend für derartige Fehl- 2003 ähnlich. Sie verklagte einen Fo-
das, was man eigentlich regulierungen ist eine Anekdote aus tografen, der 12 000 Luftaufnahmen
vermeiden möchte, ver- der Kolonialzeit: Ein Gouverneur in der kalifornischen Küste auf seiner
mehrt auftritt, und zwar durch eigene Indien wollte eine Kobraplage ein- Website veröffentlicht hatte, weil auf
Handlungen ausgelöst. Klar soweit? einem der Fotos ihr Haus zu sehen
Nein? Ein Beispiel: Als Mexico ­City Eine Variation: Streisand-Effekt war. Das war bis dahin keinem aufge-
1989 im Smog versank, beschloss die dämmen, indem er Prämien auf er- fallen, außer ihren Anwälten. Durch
Stadt, dass jedes Auto – abhängig schlagene Tiere aussetzte. Daraufhin ihre Klage wurde die Sache publik,
von der letzten Ziffer des Nummern- fingen die Menschen an, Kobras zu und im Monat darauf hatte das Foto
schildes – an jeweils einem Wochen- züchten, um das Geld einzustreichen. 420 000 Aufrufe. Das Großmachen
tag nicht fahren durfte. Die Leute Als die Prämie dann nicht mehr aus- von Informationen durch den Ver-
kauften aber kurzerhand billige Ur- gezahlt wurde, setzten die Züchter such, ebendiese zu unterdrücken,
altautos als Zweitwagen, um das Ver- die nun nutzlosen Schlangen aus – heißt entsprechend: Streisand-Effekt.

? AUFLÖSUNG STECKBRIEF (ZUM RÄTSEL AUF SEITE 64)

Johann von Valois (* 1340, † 1416) entstammt Montpensier. Johann von Valois ist königlicher
hochadeligem Haus: Sein Vater steigt bald zum Stellvertreter im südfranzösischen Languedoc,
König Johann II. von Frankreich auf, Mutter Jutta nach dem Frieden von Brétigny im Hundertjähri-
von Luxemburg ist die Schwester von Kaiser gen Krieg jahrelang Geisel in England, später
Karl IV. Er selbst firmiert als Herzog von Berry Militärgouverneur in Paris. Sein Motto lautet
und Auvergne, Graf von Poitiers, Étampes und »Le temps venra« (»Die Zeit wird kommen«).

82 G GESCHICHTE 10 | 2022
VORSCHAU

ab e
Ausg
hste

Ab ber
Näc

. Okto el
14 Hand
im

BLICKPUNKT

Welt am Abgrund:
Kubakrise 1962
Als die Russen Raketen auf Kuba
stationieren, reagieren die USA
mit einer Seeblockade. Es droht
der Dritte Weltkrieg.
BILDNACHWEIS: GETTY IMAGES (2), GETTY IMAGES/GLOBALP, GETTY IMAGES/TIMOTHY ALLEN, WIKIMEDIA, WIKIMEDIA/KAHO MITSUKI

König Alfons X. nach der Eroberung von Cádiz, 1262

MAUREN GEGEN CHRISTEN

Kampf um Spaniens Erde:


Die Reconquista
Zu Beginn des 8. Jahrhunderts haben Mauren die ganze Iberische Halbinsel PORTRÄT
erobert. Doch es regt sich Widerstand. In den Bergen Asturiens beginnt die
Reconquista, die Rückeroberung. Im Kampf gegen den Islam werden die Leben mit
Königreiche Aragon und Kastilien geboren, und El Cid reitet in die Legende. einem Trauma
1492 fällt dann mit dem Sultanat Granada die letzte Bastion der Mauren.
1988 erschüttert das Geiseldrama
WEITERE THEMEN von Gladbeck die Republik. Für
Geschichte im Alltag: Es geht rund – der Hula-Hoop-Reifen die Überlebende ist danach nichts
Serie: Ein Königreich für eine Frau – Lola Montez und Ludwig I. von Bayern mehr wie zuvor.

G GESCHICHTE 10 | 2022 83
Neu: G/Geschichte-Kalender 2023

Schatztruhe des
Mittelalters

Nur
€ 26.90
bei Bestellung
bis 30.11.
danach € 31.90 *

Sofort bestellen!
www.g-geschichte.de/kalender2023

Wir nutzen nur Ihre anlässlich von Bestellungen anfallenden Daten für die Bestellabwicklung und für Werbezwecke. Sie können der Nutzung oder Übermittlung Ihrer Daten für Zwecke der Werbung oder der Markt- oder Meinungsforschung jederzeit widersprechen
(unter datenschutz@roularta.de). Vertragspartner: Roularta Media Deutschland, eine Zweigniederlassung der Roularta Media Group N.V., Böheimstraße 8, 86153 Augsburg, UST-ID DE343167457, CEO und ständiger Vertreter Roularta Media Deutschland: Horst Ohligschläger

Das könnte Ihnen auch gefallen