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Das Magazin für Geschichte

N R. 74

DAS

BRITISCHE EMPIRE
1815-1914

Benelux €11.80 • Finnland €15.50 1Frankreich €13.50 ■ Italien €13.50 • Spanien €13.50
Deutschland € 10.00 ■ Schweiz 18.60 sfr Österreich € 11.40
ISBN 17fi-3-bS2-004M3-5

ALS LONDON DIE WELT BEHERRSCHTE


Singapur - Stadt im Dschungel / Die Opiumhändler Ihrer Majestät / Abenteuer Indien / Die Macht der
Royal Navy / Im Reich des weißen Radscha / Kampf gegen die Buren / Niedergang: Der müde Titan
»Wir sind die beste Rasse auf

Erden, und je mehr wir von der Welt

bewohnen, desto besser für das

Menschengeschlecht.«

Cecil Rhodes, 1877

Pionier der britischen Expansion in Südafrika


Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser

eit ein paar Jahren verfolgt eine wachsende Gemeinde

S von TV-Zuschauern die Geschicke der fiktiven briti­


schen Adelsfamilie Crawley und ihrer Dienstboten.
„Downton Abbey“, ausgestrahlt in mehr als 100 Län­
dern und vielfach ausgezeichnet, ist die derzeit wohl erfolg­
reichste Serie des Planeten.
Vordergründig handelt das Melodram höchst unterhalt­
sam von den gesellschaftlichen, politischen und amourösen
Konflikten in der Zeit um den Ersten Weltkrieg - tatsächlich
aber geht es um den Niedergang einer Großmacht und ihres
Kolonialreichs (und das macht für mich auch die eigentliche
Qualität dieser Serie aus). 80 Territorien auf allen Kontinenten, von der winzigen Insel
„Downton Abbey“ beginnt im Jahr 1912 und zeichnet Tristan da Cunha im wellenumtosten Südatlantik bis in die
dann über einen Verlauf von einem Dutzend Jahren den ge­ Höhen des Himalaya, von den Weiten Kanadas bis an die Küs­
sellschaftlichen Abstieg des britischen Adels nach. Anschau­ ten der Karibik, vom Süden Afrikas bis nach Australien.
licher als in jedem Geschichtsbuch lässt sich an den Figuren Die großen Rivalen im Kampf um den globalen Ein­
der Serie verfolgen, welch ungeheurer Schock es für die Elite fluss - Frankreich und Russland - waren zu schwach, um dem
des Vereinigten Königreichs gewesen sein muss, nach dem Königreich ernsthaft Paroli zu bieten, die USA waren mit den
Ende des Ersten Weltkriegs nach und nach zu realisieren, dass Folgen des Bürgerkriegs beschäftigt, und das Deutsche Reich
Großbritannien nicht mehr das mächtigste Land der Erde war gerade erst gegründet worden.
ist - und das Empire nicht mehr das bedeutendste Reich. „Britannia rule the waves!“, hieß es damals in der inoffi­
Denn das waren beide im 19. Jahrhundert. Angesichts des ziellen Nationalhymne, und das musste man nicht nur auf Lon­
ökonomischen und politischen Bedeutungsverlustes Groß­ dons Herrschaft über die Weltmeere beziehen. Auch technisch
britanniens kann man sich heute kaum noch vorstellen, wie und industriell hatte das Vereinigte Königreich mindestens eine
groß die Machtfülle der Krone um, sagen wir: 1875 war, als die Generation Vorsprung vor allen anderen Nationen.
Royal Navy die sieben Meere dominierte und London das un­ Die Welt war unipolar, und das Zentrum des Planeten
bestrittene Zentrum der Welt war. Als die Regierung Ihrer lag an der Themse. Wie es für die Briten war, sich als Herren
Majestät Königin Viktoria über 280 Millionen Menschen der Erde zu fühlen, davon handelt dieses Heft. Es beschreibt
herrschte, ein Fünftel der Weltbevölkerung, und über mehr als die Hochzeit des britischen Imperiums, die von 1815 bis 1914
reichte.
Natürlich gab es auch zuvor schon ein britisches Welt­
reich - das „ältere Empire“, wie Historiker es nennen -, dessen
bedeutendstes Auslandsterritorium die ab 1607 in Nordame­
rika gegründeten Kolonien waren. Doch jene Ara endete 1776
mit der Unabhängigkeitserklärung von 13 britischen Besitzun­
gen auf amerikanischem Boden, und es begann bald darauf die
Epoche des „klassischen Empire“. Von diesem Zeitalter erzäh­
len wir auf den folgenden 162 Seiten.
Und davon, was es bedeutete, über das größte und bedeu­
tendste Reich in der Geschichte der Menschheit zu gebieten.
In den gut 100 Jahren vor „Downton Abbey“.

Herzlich Ihr

Niedergang des Empire: Die TV-Serie »Downton Abbey« hijLtktL Sil?


erzählt am Beispiel einer britischen Adelsfamilie vom
Bedeutungsverlust der Weltmacht Großbritannien und
ihrer Eliten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Michael Schaper

GEO EPOCHE Das Britische Empire 3


SINGAPUR 1819 gründet Sir Thomas
Raffles an der Straße von Malakka einen
Handelsposten. Der wird schon bald zum
wichtigsten Stützpunkt des Empire in Asien.

OPIUM Britische Kaufleute schmuggeln HERRSCHAFT Am Ende der 63-jährigen Regierungszeit Königin Viktorias
Rauschgift nach China - mit großem besitzen die Briten 1901 das größte Kolonialreich in der Geschichte. Die Eroberer
Profit, aber verheerenden Folgen für die gebieten über ihr Imperium mit einer Mischung aus militärischer Gewalt,
Menschen. 1839 schlägt Beijing zurück. fürsorglicher Strenge - und grenzenloser Selbstgerechtigkeit.

LONDON Im Jahr 1851 wird in der KOLONIALFRAUEN Selbst in der AFRIKA Niemand verkörpert imperiale
mächtigsten Stadt der Erde die erste Hitze und Fremdheit Indiens kultivieren Hybris so sehr wie der Diamantenkönig
Weltausstellung eröffnet - eine Leistungs­ die Gattinnen der Kolonialbeamten Cecil Rhodes. der sein afrikanisches Privat­
schau des britischen Imperiums. unnachgiebig den British Way of Life. reich nach sich benennt: Rhodesien.

4 GEO EPOCHE Das Britische Empire


INHALT # 74

HERRSCHAFT GEBIETER ÜBER DEN PLANETEN LONDON. 1851 DAS ZENTRUM DER WELT
Im Verlauf des 19. Jahrhunderts unterwerfen sich die Briten In der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs, der größten
ein Weltreich, das ein Viertel der Erde umfasst 6 Metropole auf dem Globus, schlägt das Herz des Empire 92

PROLOG. 1607-1783 AUFSTIEG EINES IMPERIUMS ÄGYPTEN, 1882 MIT DER MACHT DER KANONEN
Bevor das Empire zur Weltmacht wird, gab es schon ein Die Royal Navy schützt die Handelsrouten der Briten - und zwingt
frühes, von England kontrolliertes Kolonialreich 22 ausländische Mächte, sich dem Willen Londons zu beugen 110

SINGAPUR. 1819 DER TRAUM DES MR. RAFFLES CECIL RHODES. 1853-1902 GRIFF NACH AFRIKA
Aus einem Piratennest macht ein Abenteurer die Drehscheibe Ein imperialistischer Diamantenhändler treibt das Empire
des britischen Handels mit den Schätzen des Ostens 26 in einen blutigen Guerillakrieg 122

JAMAIKA, 1831 REBELLION AUF DER ZUCKERINSEL INDIEN. 1911 BESUCH EINES KAISERS
Auf den Plantagen des Karibikeilands schuften Sklaven für weiße Die erste Visite eines britischen Herrschers in Indien ist eine
Pflanzer. Doch dann erheben sie sich gegen ihre Ausbeuter 40 präzise choreografierte Feier von Monarchie und Imperium 142

KOLONIALFRAUEN. UM 1835 DAHEIM IN DER FREMDE ZEITLEISTE DATEN UND FAKTEN 156
Die Gattin eines Beamten der East India Company sucht jenes
Indien, in dem der europäische Einfluss noch nicht sichtbar ist 52 Impressum 109

CHINA. 1839 DIE DROGENHÄNDLER IHRER MAJESTÄT Bildquellen 161


So mancher geschätzte Untertan Königin Viktorias verdient sein
Geld mit einem perfiden Gewerbe: dem Verkauf von Opium 60 Die Welt von GEO 162

NEUSEELAND. 1840 AM ANDEREN ENDE DER WELT VORSCHAU


Als immer mehr Siedler auf die Inseln der Maori drängen, schließt GEOEPOCHE DIE PEST 164
die Krone einen fatalen Vertrag mit den Einheimischen 74 GEOEPOCHE EDITION DÜRER UND SEINE ZEIT 165

BORNEO, 1839 DER WEISSE RADSCHA


Der Glücksritter James Brooke errichtet auf der Insel der
Kopfjäger im Südchinesischen Meer sein eigenes Fürstentum 76
Ein Verzeichnis mit den Themen aller
AUSTRALIEN, 1849 KÜSTE DER VERDAMMTEN GEOfPOCHf-Ausgaben sowie einen Briefkasten
Lange Zeit nutzt London den Südkontinent als Überseegefängnis. für Leserzuschriften finden Sie unter www.geo-epoche.de.
Bis die Bewohner ehrbare Bürger des Empire werden wollen 90 oder besuchen Sie uns auf Facebook

Titelbild: Sir Henry Hesketh Bell. Gouverneur im britischen Uganda, um 1908. Alle Fakten, Daten und Karten in dieser Ausgabe sind vom GEOEPOCHE-
Verifikationsteam auf ihre Richtigkeit überprüft worden. Kürzungen in Zitaten sind nicht kenntlich gemacht. Die Redaktion folgt der Regel, nach der die Namen
aller regierenden christlichen Monarchen Europas - und damit auch die der englischen Königinnen und Könige - in ihrer deutschen Form zu schreiben sind. Schiffs­
namen sind dagegen nicht übersetzt. Redaktionsschluss: 24. Juli 2015

GEO EPOCHE Das Britische Empire 5


---------------------------------------------------------- Das Britische Empire -----------------------------------------------------------------------------------

DIE HERREN
Im Laufe des 19. Jahrhunderts erobert Großbritannien ein Viertel der Erde und macht sich

Inselreiches bringen ihren kolonialen Besitzungen vor allem neuen Luxus - und das Gefühl

in der Geschichte, mit einer Mischung aus militärischer Gewalt, fürsorglicher Strenge, Fort

6 GEO EPOCHE Das Britische Empire


DER HW ELT
mehr als 400 Millionen Menschen untertan. Den Einwohnern des

moralischer Überlegenheit. So regieren sie ihr Imperium, das größte

schrittsglauben und grenzenloser Selbstgerechtigkeit

Unter einem Triumphbogen aus Stoßzähnen thront Sir Henry Hesketh Bell inmitten seiner Jagdtrophäen. Der britische
Kolonialbeamte macht ab 1882 eine typische Karriere im Empire: Als er 18 Jahre alt ist. besorgt ihm ein Freund der Familie
einen Posten als Schreiber in der Verwaltung von Barbados; später steigt er bis zum Gouverneur von Uganda auf

GEO EPOCHE Das Britische Empire 7


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ln einem Park in Hongkong ist eine schottische Einheit der British Army um 1880 zum Appell
angetreten - mit Kilts und Dudelsäcken. Die Hafenstadt an der südchinesischen Küste haben die Briten 1842
von Beijing erbeutet und sie nach und nach zum größten Handelsstützpunkt der Region ausgebaut

8 GEO EPOCHE Das Britische Empire


IMMER
ZUM
ANGRIFF
BEREIT

So stolz die Briten auch

auf ihr Weltreich sind - zu

viel kosten darf es nicht.

Mit der Sparsamkeit geizi­

ger Kaufleute achten die

Parlamentarier darauf, dass

die Krone kein Steuergeld

für imperiale Abenteuer

verschwendet. Das Ergeb­

nis ist eine bemerkenswerte

Effizienz: Gerade einmal

220 000 britische Soldaten

und Matrosen sind in den

Kolonien stationiert

GEO EPOCHE Das Britische Empire 9


AM IIOF
DER
EWIGEN
KÖNIGIN

Sie regiert länger als

alle britischen Monarchen

vor ihr und gibt einem

ganzen Zeitalter seinen

Namen: Her Royal Majesty

Queen Victoria. Im Laufe

ihrer mehr als 63 Jahre

währenden Herrschaft ver­

wandelt sich Großbritan­

nien nicht nur in einen

industriellen Giganten,

sondern unterwirft auch

ein Viertel der Erde.

Das mächtigste Symbol

dieses Aufstiegs ist

die Königin selbst

10 GEO EPOCHE Das Britische Empire


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Als junge Herrscherin interessiert sich Königin Viktoria kaum für ihr auf blühendes Weltreich, doch spätestens mit der Ernennung
zur Kaiserin von Indien 1877 sieht sie sich selbst auch als Oberhaupt des Empire. In den letzten 14 Jahren ihres Leben kümmern sich sogar
indische Diener um die Monarchin. Sie sind exakt so. wie sich Viktoria ihre asiatischen Untertanen erträumt: höflich, gehorsam und treu

GEO EPOCHE Das Britische Empire 11


Den Turban geschmückt mit Gold und Edelsteinen, erwartet der Maharadscha der nordindischen Region Bikaner den britischen
Thronfolger Prinz Georg. Wie die meisten indischen Fürsten ist auch er ein treuer Untertan der Krone: Denn im Gegenzug für seine
Loyalität garantiert ihm London den Fortbestand seiner Dynastie sowie militärische Hilfe im Falle eines ausländischen Angriffs

12 GEO EPOCHE Das Britische Empire


HERRSCHER
UND
DOCH
UNTERTAN

Möglichst effizient

wollen die Briten ihr Welt- P


C/i
reich verwalten - und

kooperieren daher oft mit n


den einheimischen Eliten.

In Indien lassen sie die

Maharadschas, alteingeses­

sene Regionalfürsten,

Recht sprechen und Steuern

erheben - und vermeiden

es so, in den Herrschafts­

gebieten der Kollaborateure

eine eigene Verwaltung

aufbauen zu müssen

GEO EPOCHE Das Britische Empire 13


MIT DER
KRAFT
DER
MASCHINEN

Als Pioniere der Indus­

triellen Revolution nutzen

die Briten die neuesten

Techniken, um ihr Empire zu

beherrschen: Telegraphen­

leitungen verbinden die Kolo­

nien mit den Machtzentralen

in London, Eisenbahnlinien

erschließen ihr wildes Inneres,

und riesige Dampfer bringen

Menschen und Waren so

schnell wie nie zuvor an ihr Ziel.

Auf diese Weise verbreitet

sich die britische Zivili­

sation bis in die hintersten

Winkel der Welt

14 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Vor allem in Afrika gewinnt das Empire nach 1880 gewaltige Territorien hinzu - darunter Britisch-Ostafrika. das um 1900 durch
eine rund 1000 Kilometer lange Bahnstrecke zwischen dem Victoriasee und der Hafenstadt Mombasa erschlossen wird. Für das Projekt
verpflichten die Kolonialherren 30 000 Arbeiter aus Indien, das zu dieser Zeit längst über ein gut ausgebautes Eisenbahnnetz verfügt

GEO EPOCHE Das Britische Empire


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WUNDER
FREMDER
WELTEN

Mit dem Empire wächst

auch die Lust der Briten auf

jene exotischen Genüsse,

die ihnen ihr Weltreich bieten

kann: Zucker aus der Kari­

bik, afrikanischer Kakao,

indische Seide und vor allem

chinesischer Tee. Lange

Zeit importiert eine mächtige

Handelsfirma, die East

India Company, die begehrte

Fracht aus Asien und

revolutioniert so den Alltag

der gesamten Nation

GEO EPOCHE Das Britische Empire


VERGNÜGEN
FÜR
GENTLEMEN

Gelangweilt vom oft

eintönigen Alltag in den

Kolonien, suchen viele

Beamte, Offiziere und

Adelige das Abenteuer in

der Wildnis. In Indien

schießen sie von Elefanten

aus auf Tiger und töten

binnen weniger Jahrzehnte

80 000 Exemplare der


«SKfc
• "M. t-.,' »/I
gefährlichen Raubkatzen.

Dabei ist die Jagd stets

mehr als nur ein Sport -

nämlich eine Demonstra­

tion ihrer Macht

18 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Ende einer Hatz. Eine adelige Jagdgesellschaft hat sich im Dezember 1911 in Nepal um ihre Beute versammelt: drei bengalische Tiger,
von den Einheimischen als Könige des Dschungels verehrt. Zu den Männern, die die Raubkatzen, auf Elefanten reitend, verfolgt haben
zählt auch der britische Monarch Georg V. (im hellen Sattelkasten), der den Subkontinent kurz nach seiner Krönung besucht

GEO EPOCHE Das Britische Empire 19


Unter freiem Himmel empfangen diese vier britischen Beamten um 1900 die Abgesandten mehrerer nigerianischer Stämme: Auch
wenn die Vertreter des Empire oft mit einheimischen Anführern Zusammenarbeiten, blicken sie doch auf die Einwohner der Kolonien
herab. In ihren Augen sind sie »halb Teufel, halb Kind«, wie der britische Schriftsteller Rudyard Kipling 1899 formuliert

20 GEO EPOCHE Das Britische Empire


gegen aie Kegeln
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mit aller Härte be


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■ dieses Zwangssysl

die Unterworfene

** noch selbst bezah


Das ältere Empire - 1607-1783

AUFSTIEG EINES IMPERIUMS


Bevor das Empire zur Weltmacht wird, gibt es schon ein erstes, von England kontrolliertes Kolonialgebiet mit
Besitzungen in Asien, Afrika und Amerika. Doch dann erklären die späteren USA ihre Unabhängigkeit, und
London beginnt mit dem Aufbau eines neuen Reichs in Übersee Text: cay rademacher: Karten: Stefanie peters

er große schottische Ökonom Nach der Reise von Christoph Ko­ Francis Drake los, doch erst 100 Jahre

D Adam Smith nennt das britische


Weltreich im Jahr 1776 „a project
of an empire“ - und tatsächlich
haftet dem Imperium des Vereinigten
Königreichs in seinen ersten zwei Jahr­
lumbus teilen die starken Seefahrer­
mächte Portugal und Spanien die neuen
Weltregionen 1494 in einem Vertrag
untereinander auf: Den größten Teil
Süd- und Mittelamerikas, der Karibik,
später ist die Nation stark genug, um
dauerhaft nach Ubersee zu greifen: weil
nun genug Kapital vorhanden ist. Denn
anders als bei den iberischen Rivalen, wo
der Staat die Eroberungen organisiert,
hunderten noch etwas Unfertiges an. Es dazu Florida und Südkalifornien werden finanzieren auf der Insel vor allem Händ­
hat in London niemals einen Strategen sich die Spanier sichern; Teile von Brasi­ ler und Spekulanten diese teuren Unter­
gegeben, der einen Masterplan entwi­ lien sowie wichtige Häfen in Afrika, Ara­ nehmungen - und erst um 1600 haben
ckelt hat, wie denn die sieben Meere zu bien, Indien, Ostasien gehen an Portugal. sie ausreichend Geld angesammelt.
erobern wären. Das Empire ist vielmehr Zwar segeln schon von etwa 1500 Die Engländer drängen nun in jene
ein Produkt aus Geschäftssinn, Glück an auch im Namen Englands Entdecker Regionen, wo ihnen Spanien und Portu­
und Opportunismus. und Freibeuter wie John Cabot und gal den Zugriff nicht verwehren.

1775: DAS ÄLTERE EMPIRE

Atlantischer Ozean

o Bermuda

Barbados. St Vincent.
Grenada. Tobago

o Ascension

Pazifischei Ozean St. Helena

Atlantischer Ozean

Tnstan da Cunha

Ö) British Empire 1775 y-, ©Falklandinseln

Die bedeutendsten britischen Überseebesitzungen liegen im 18. Jahrhundert in Indien, der Karibik und Nordamerika. Vor allem
die 13 amerikanischen Kolonien sind wirtschaftlich erfolgreich. Doch die Siedler dort streben nach Unabhängigkeit: 1776 prokla­
mieren sie die Loslösung vom Mutterland. In der Folge verlagert sich der Schwerpunkt des Empire stärker nach Osten
22
1858: DAS ERBE DER EAST INDIA COMPANY

Groß­
britannien
Neufundland
Irland^'
Kanalinseln—-

irischer

Gibraltar
o Bermuda

Layman-Inseln •Turks- und Caicosinsein


Bntisch-Honduras Leeward-Inseln Britisch-'
Jamaika
Miskitoküste 7 Barbados. St. Vincent. Indien
Grenada, Trinidad, Tobago ^ Streit«' V-
Malediven

Seychellen

Chagos-Archipel ^

St Helena' Mauntius
Indischer
Walvis Bay

Tristan da Cunha Q Kapkolonie

Heard u. McDonaldmseln
Falklandinseln
O] British Empire 1858

Nach dem Abfall der späteren USA wird Indien zur bedeutendsten Kolonie Englands (die verbliebenen Territorien in Nordamerika
sind weitgehend unerschlossen). Dort herrscht allerdings eine Aktiengesellschaft, die East India Company - bis zu einem Aufstand
einheimischer Söldner. Danach übernimmt im Jahr 1858 die britische Krone die Administration auf dem Subkontinent

Zum einen ziehen sie nach Nord­ von seinen Rivalen: Portugal ist zu klein, sind die Schiffe mindestens ein Jahr un­
amerika - einem Kontinent, der den als dass sich in den Kolonien jemals viele terwegs, sind Stürmen, Piraten und den
Spaniern an Bodenschätzen zu arm er­ Siedler niederlassen könnten; und Spa­ Riffen unkartierter Küsten ausgeliefert.
scheint. Dort gründen einige von einer nien entsendet zwar Eroberer, Missionare Kein Kaufmann würde sein Vermö­
Aktiengesellschaft angeheuerte Siedler und Beamte, aber kaum Bauern, Hand­ gen bei so einem Himmelfahrtskomman­
am 14. Mai 1607 Englands erste dauer­ werker oder Händler und insgesamt do allein riskieren. Deshalb schließen sich
hafte Besitzung in Nordamerika: James­ ebenfalls viel weniger Menschen. im Jahr 1600 gut 100 Kaufleute in Lon­
town im späteren US-Staat Virginia. Die britischen Siedler sind erfolg­ don zu einer Aktiengesellschaft zusam­
Bis 1733 entstehen nach und nach reich: Amerika versorgt das Mutterland men mit dem Namen „The Governor and
13 Kolonien, von New Hampshire his schon bald mit Tabak und Baumwolle, Company of Merchants of London tra-
Georgia. Zudem besetzen Briten einige die Karibik liefert Zucker. ding into the East Indies“. Königin Eli­
von den Spaniern kaum verteidigte Ka­ sabeth I. garantiert den Kaufleuten dieser
ribikinseln wie Jamaika und Barbados. um anderen wenden sich die Bri­ East India Company einen Freibrief.
Schon bald nach der Gründung von
Jamestown und mit dem aufkommenden
Tabakhandel mischt sich das Mutterland
in die Politik der amerikanischen Kolo­
nien ein: König Jakob I. erklärt Virginia
Z ten früh nach Asien, denn dort
sind die portugiesischen Stütz­
punkte so schwach, dass Englän­
der (wie auch Niederländer und Franzo­
sen) Lissabons Oberhoheit schon bald
Der sichert der Firma zu, dass nur
sie Handel mit Indien, Ost- und Südost­
asien betreiben darf: ein staatliches Han­
delsmonopol, das das Risiko der Aktio­
näre mindern soll.
1624 zur Kronkolonie, also einem direkt heraustordern. Portugiesen und Nieder­ Die Anteilseigner der Handels­
dem Monarchen unterstellten Territori­ länder schaffen zu jener Zeit Pfeffer und gesellschaft teilen sich Kosten und zu­
um, das von einem ihm verantwortlichen andere Gewürze aus Indien und Java, von künftige Gewinne. Ihr Geld reicht, um
Gouverneur verwaltet wird. Und auch die der Malaiischen Halbinsel, Sumatra so­ zunächst vier große Segler für die Fahrt
übrigen Regionen an der Ostküste des wie von den Gewürzinseln herbei, die in nach Java und Sumatra auszurüsten.
neuen Kontinents gelangen schnell unter Europa so teuer gehandelt werden wie Nach zwei Jahren kehren 1603 die
die Kontrolle der Regierung. Gold und Silber. ersten Schiffe der Company von ihrer
Tausende Engländer und Schotten Die Handelsroute nach Südostasien Asienreise zurück, mit mehr als 1000
wandern nach Amerika aus - auch das ist enorm profitabel, aber auch risikoreich. Tonnen Ladung. Die Investoren machen
unterscheidet das Vereinigte Königreich Auf dem Tausende Kilometer langen Weg einen Gewinn von 20 Prozent im Jahr.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 23


Die East India Company steigt Briten zwar nur ein Flickenteppich, den­
nun rasch zu Englands erfolgreichster noch ist das Vereinigte Königreich flexi­
Aktiengesellschaft auf. Bald kämpft sie bler und stärker als seine Rivalen:
auch niederländische und portugiesische • Portugal ist wirtschaftlich und von
Rivalen nieder. Und darf später sogar mit der Zahl seiner Einwohner her schlicht
Erlaubnis der Krone Söldner für eine zu klein, um seine fernen Besitzungen
Privatarmee anwerben. dauerhaft zu verteidigen;
Zwölf Handelsstützpunkte gründen • die Niederlande sind am Ende
die Briten in Indien und Indonesien, so ebenfalls nicht groß genug, um sich von
in Bombay 1668 und Kalkutta 1690. Amerika bis Indien gegen die Briten O Bermuda

Schiffe der East India Company drän­ behaupten zu können; ' /CN Bahamas
gen zunehmend in den innerasiatischen • Spanien verausgabt sich in Krie­ Mexiko
_ v ,\ Tuiki- und
V£?Gucosinseln
Handel, zwingen Araber und andere gen gegen Frankreich, die Niederlande Cayman-Inteln O Antigua
Britiseh-Honduras
Einheimische nach und nach aus ihrer und das Osmanische Reich sowie in Jamaika Domin,

angestammten Rolle als Seefahrer zwi­ internen Erbfolgestreitigkeiten. Madrid /Är' Trinidad u.
schen dem Jemen, Indien und China. bleibt zwar eine Macht in Lateinamerika, ^^Tobago
Die Briten transportieren Silber doch spielt es jenseits seiner traditionel­
nach Indien und schaffen Gewürze und len Besitzungen keine Rolle mehr.
Baumwolle zurück; sie laden in Indien Bleibt Frankreich. Dort leben um
Opium und bringen es nach China, wo 1700 etwa 18 Millionen Menschen — Brasilien

die Droge gegen Tee für den britischen mehr als doppelt so viele wie in England.
Bolivien"
Markt getauscht wird (siehe Seite 60). Auch Paris greift fast zeitgleich nach
Allerdings werden niemals viele West und Ost aus, gründet in Amerika Q Pitcaim
Siedler in die asiatischen Besitzungen von Quebec bis Louisiana Kolonien und
gehen: Denn das Klima dort ist mörde­ in Asien Handelsstützpunkte wie etwa
risch. Und es regieren mächtige einhei­ Pondichery an der Ostküste Indiens. itinien
mische Fürsten, die zwar einzelne Häfen Von 1689 an kommt es zwischen
hergeben, aber keine großen Territorien den Rivalen zu mehreren Watfengängen. British Empire 1914
für Kolonisten. Und London triumphiert auch hier: Am Grenzen 1914
Daher arbeiten im späten 17. Jahr­ Ende des Siebenjährigen Krieges verliert Erwerbungen und Völkerbunds­
mandate bis 1919
hundert in allen Handelsstützpunkten Frankreich 1763 fast alle Kolonien - ein
der Company in Ostasien bloß 200 Bri­ Sieg der Seemacht über die Landmacht.
ten — selbst im winzigen Jamestown in Das Vereinigte Königreich verfügt
Virginia sind es wenige Jahre nach der in diesem Konflikt über rund 120 große
Gründung schon fast viermal so viele. Dreimaster, doppelt so viele wie Frank­
Und anders als in Amerika hält sich die reich. Die Insel liegt zudem strategisch
Krone in Asien aus der Verwaltung der günstig: Es ist leicht für die Royal Navy,
unterworfenen Gebiete heraus, sondern die Versorgungsrouten der Franzosen zu
überlässt dies der später ohnehin halb­ kappen, die recht nahe an den britischen
staatlichen East India Company. Küsten liegen. Umgekehrt ist es für die Für die Siedler dort gibt es plötzlich kei­
Auf diese Weise wird das Vereinigte Franzosen fast unmöglich, die britischen nen Grund mehr, britische Soldaten und
Königreich um 1700 eine der führenden Lebensadern zu blockieren. Und so kann Schiffe mitzufinanzieren.
und sicherlich auch ungewöhnlichsten Paris seine Besitzungen kaum noch ver­ Die 13 Kolonien sind zudem, auch
Kolonialmächte. Denn im Unterschied sorgen - die nach und nach kapitulieren. ein Erfolg britischer Politik, mit ihren
etwa zu Spanien — das alle Besitzungen 1763 ist Großbritannien Europas Waren reich geworden - dürfen aber
straff und einheitlich regiert, Vizekönige, führende Kolonialmacht. Doch genau in weiter nur mit dem Mutterland handeln.
Gouverneure, Richter, Beamte und Sol­ diesem Sieg steckt ein tödliches Gift. Darüber hinaus verweigert die Re­
daten entsendet und recht einheitlich gierung in London den Amerikanern
Steuern und Gesetze regelt - stützt sich enn kurz darauf rebellieren Lon­ auch noch jede politische Repräsenta­
die Regierung in London auf ein paar
Tausend Auswanderer im riesigen Nord­
amerika und in Asien auf weit verstreute,
spärlich bemannte Handelsstützpunkte,
die der East India Company gehören.
D dons größte Kolonien: die 13
Besitzungen in Nordamerika.
Und es ist ausgerechnet der Er­
folg der britischen Politik, der sie in die
Rebellion treibt. Denn dank der briti­
tion: Die Kolonisten werden von Gou­
verneuren regiert, die sie nicht gewählt
haben, dürfen selbst aber nicht einen
Abgeordneten ins Unterhaus entsenden.
Es gibt daher für die Amerikaner
Geographisch und politisch ist das schen Triumphe existiert in Nordamerika keinen militärischen, ökonomischen und
sich nun abzeichnende Imperium der keine fremde, bedrohliche Macht mehr. politischen Grund mehr, noch länger im

24 GEO EPOCHE Das Britische Empire


1914: AUF DEM GIPFEL DER MACHT

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Pazifischei Ozean
Hongkong

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Ceylon ÄMaliya -------------- Brunei Gilbert-Inseln
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' Südrhodesien
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Heard u. McDonaldinseln

© 200« km
(2) Sudgeorgien am Äquator GEOfPOOC-Karte

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts steht das britische Weltreich im Zenit seiner Macht: London gebietet über mehr als 400 Millionen
Menschen, knapp ein Viertel der Weltbevölkerung, und fast 30 Millionen Quadratkilometer - eine Fläche, mehr als 100-mal so groß wie
das Mutterland. Und mit Australien beherrscht das Empire als einziges Kolonialreich der Geschichte sogar einen ganzen Kontinent

Empire zu bleiben. Warum sollen sie sich im eigenen Land. Die Briten hingegen ben, wenn sie sich dort erst einmal fest­
einen Handel ausschließlich mit dem müssen mehr oder weniger jeden Sol­ gesetzt hatten. Doch jetzt verliert Seine
Vereinigten Königreich aufzwingen las­ daten und jede Kanonenkugel über den Majestät innerhalb von acht Jahren Be­
sen, wenn sie doch mit der ganzen Welt Atlantik schaffen. Es ist ein Konflikt, den sitzungen von der vierfachen Größe des
Handel treiben könnten? Und warum sie nicht gewinnen können. Mutterlandes. Dem Kolonialreich fehlen
sollen sie Steuern zahlen für Soldaten, 1783 akzeptiert London in einem plötzlich seine wichtigsten Kolonien.
die sie nicht brauchen, und für eine Re­ Friedensvertrag die Unabhängigkeit der Ein Desaster und ein Neuanfang:
gierung, die sie nicht gewählt haben? Kolonien. Es ist seine größte Niederlage Denn aus der Konkursmasse des bishe­
1775 bricht der amerikanische Un­ in mehr als drei Jahrhunderten. Knapp rigen Weltreichs, das Historiker später
abhängigkeitskrieg aus. Auch hier domi­ 200 Jahre lang ist das Empire unaufhör­ das „ältere Empire“ nennen werden, also
niert die Royal Navy die See - doch was lich gewachsen. Weder Spanier noch vor allem aus den Besitzungen in Asien,
nützt es ihr? Zum ersten Mal können die Portugiesen, weder Niederländer noch formt die Londoner Regierung ab 1783
Briten dem Feind nicht die Versorgungs­ Franzosen haben die Briten je dauerhaft ein neues Weltreich.
wege abschneiden, der Gegner kämpft ja von einer einzigen Küste wieder vertrie­ Das „klassische Empire“. 9

GEO EPOCHE Das Britische Empire 25


Singapur -1819

26 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Nach dem Verlust fast aller nordamerikanischen Kolonien orientiert
sich Großbritannien Richtung Asien. 1819 erkauft sich der Abenteurer
Sir Thomas Stamford Raffles von einem malaiischen Sultan das Recht, im
Piratennest Singapur einen Handelsposten zu gründen. Er macht es zur
Drehscheibe im lukrativen Warenverkehr mit den Schätzen des Ostens
und schafft so eine wichtige Voraussetzung für den Aufstieg des Empire
zum größten Weltreich der Geschichte ------------------ von cay rademacher

Bereits wenige Jahre nach der Übernahme Singapurs nutzen rund 1600 Schiffe, darunter auch
europäische Segler, auf ihrer Reise zwischen Indien und China die günstige Lage des neu angelegten
britischen Hafens, um Waren zu löschen oder an Bord zu nehmen (Ölgemälde, um 1850)

GEO EPOCHE Das Britische Empire 27


Raffles erwirbt die Rechte
an Singapur vom Sultan von
Es ist Freitag, der 29. Januar 1819. An der Ruinen: den „verbotenen Hügel“, auf Johore. 1822 leben bereits
Küste Singapurs liegen Schädel im Was­ dem es spukt. 10 000 Menschen in der
ser. Die Insel wölbt sich wie der Rücken Doch weder Piraten noch Geister stetig wachsenden Stadt,
eines Riesen aus dem Meer, gut 40 Kilo­ halten an diesem Tag jene acht kanonen­ Chinesen. Araber, Europäer,
meter lang und 20 Kilometer breit, nied­ starrenden Segelschiffe auf, die vor der Malaien. Die Pläne der
rig, dunkel, abweisend. In der Ferne Küste Anker werfen. An ihren Flaggen­ Briten sehen vor, dass die
schimmern die Hügel der Malaiischen masten hängt der Union Jack. Straßen der Stadt in Zukunft
Halbinsel. Feuchtschwere Hitze, mittags Der 15-jährige Seenomade Wa Ha­ rechtwinklig verlaufen und
brennt die Sonne fast senkrecht vom kim sieht, wie er sich später erinnern die verschiedenen Völker­
Himmel. Im Urwald brütet die Malaria. wird, dass auf dem Schiff „Indiana“ schaften nach Wohnvierteln
Am Strand, wo sich der Singapore eine Schaluppe zu Wasser gelassen wird. getrennt leben
River ins Meer ergießt, haben einige Ma­ An Bord des Beibootes gehen ein paar
laien Hütten aufgeschlagen: Es sind See­ Matrosen und Soldaten - sowie ein rot­
nomaden, die auf leichten Booten mal haariger, nur 1,62 Meter großer Mann
hierhin, mal dorthin ziehen, immer auf mit auffallend hellen Augen.
der Jagd, immer auf der Flucht. Denn sie Niemand weiß, ob der Rothaarige
sind Piraten und lauern Schiffen im In­ den Totenschädeln, an denen er vorbei­
sellabyrinth der Straße von Malakka auf. gerudert wird, mehr als bloß einen flüch­
Wer ihnen in die Hände fällt, dessen tigen Blick schenkt. Worte wird er dar­
Schädel bleicht bald vor der Küste. über jedenfalls nicht verlieren, denn er ist
Andernorts auf der Insel haben sich nicht gekommen, um mit den Einheimi­
ein paar Hundert malaiische und chinesi­ schen zu kämpfen: sondern um ihnen
sche Familien niedergelassen, viele bauen den Handel ihres Lebens anzubieten.
auf Plantagen gambir an, eine tropische Der Brite ist Sir Thomas Stamford
Pflanze. Insgesamt aber leben auf Singa­ Raffles, 37, ein Abgesandter der East In-
pur weniger Menschen als Geister. dia Company. Seine Mission: das Pira­
•U’OVri
Um das Jahr 1300 war Singapura, tennest Singapur zu einem Juwel des
die „Löwenstadt“, noch eine gewaltige Britischen Empire zu machen.
Festung, das Bollwerk eines Fürsten, der Offiziell gehört die Insel seit Lan­
auch über Sumatra und Java herrschte. gem zu einem Fürstentum. Der Sultan
Doch nach mehreren Kriegen wurde der von Johore im Süden der Halbinsel Ma­
Ort nach und nach aufgegeben. Der laya gebietet über Singapur - doch was
Dschungel holte sich die verfallenden heißt das schon? Der Herrscher ist in
Monumente zurück. Bukit Larangan Thronwirren verstrickt, ein Verwandter
nennen die Malaien die überwucherten macht ihm den Titel streitig. Auf Singa-

Neuen Baugrund für Singapur lässt Raffles dem Wasser abringen.


Hunderte Arbeiter schuften in der Tropenhitze, um den Salzsumpf in
der Bucht einzudeichen und trockenzulegen (Stadtansicht, 1846)

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pur hat der Sultan einen temenggong Im Gegenzug erlaubt der Temeng­ Linien der alten Stadt und ihrer Festun­
installiert, eine Art Distriktgouverneur. gong den Briten im Namen seines Sul­ gen sind noch zu erkennen, und inner­
Der ist zwar loyal, doch weiß er sehr tans, einen Trupp Soldaten an Land zu halb ihrer alten Wille flattert unbehelligt
genau, wie unsicher die Macht seines schicken, damit sie auf der Insel einen der Union Jack.“
Herrn ist. Es ist in jedem Fall klüger, die Stützpunkt des Empire errichten. Tunku Long, der Sultan von Johore,
Europäer, die sich da seiner Küste nä­ Es ist ein Pachtvertrag, der dem erreicht die Insel wenig später, bespricht
hern, freundlich zu empfangen. Zudem Herrscher über Singapur Einnahmen sich mit Raffles - und akzeptiert persön­
kann es für die Macht des Sultans ja verspricht, die er sonst niemals in der lich die Bedingungen, auf die sein Statt­
auch förderlich sein, zu hören, was die verrotteten Ruinenstadt erzielen könnte. halter zuvor bereits eingegangen ist.
Ankömmlinge zu bieten haben. Ein Abkommen zudem, das ihm gegen­ Eine knappe Woche später, am
Der Temenggong empfängt Stam- über seinem Thronrivalen die Unterstüt­ Samstag, dem 6. Februar 1819, einem
ford Raffles am Strand der Insel. Viele zung einer fremden Macht sichert. strahlenden Tropentag, sind die engli­
Einzelheiten dieses ersten Treffens sind Umgekehrt erhalten die Briten ei­ schen Segler über Topp und Takel ge­
nicht überliefert, aber gut möglich, dass nen Stützpunkt an einem Nadelöhr der flaggt. Gegen Mittag nehmen rund 30
der Statthalter angenehm überrascht ist: Meere. Jedes Frachtschiff, jedes Kriegs­ Offiziere und Soldaten am Ufer des Sin-
Denn Raffles, der seit Jahren hauptsäch­ schiff, das zwischen Indien und China gapore River in Paradeuniform Aufstel­
lich in Südostasien lebt, spricht fließend segelt, muss an Singapur vorbeifahren. lung. Ein Zelt ist errichtet worden, fünf
Malaiisch und ist so höflich, wie man es Zukünftig werden nicht mehr räuberi­ Stühle stehen davor, auf denen unter an­
von einem Gentleman erwarten kann. sche Seenomaden, sondern bewaffnete derem Raffles und der Sultan sitzen. Ein
Das Ergebnis dieser ersten Unter­ Segler der Royal Navy diesen einmaligen 30 Meter langer roter Teppich leuchtet
redung ist jedenfalls ein vorläufiger Hafen nutzen: Das Piratennest soll zum über dem rattenverseuchten Boden. Die­
Vertrag, dem kurz darauf noch einige Angelpunkt Südostasiens werden. ner reichen Erfrischungen und Lunch,
Details hinzugefugt werden. Fortan wird Schon bald stehen Militärzelte am der Herrscher von Johore schwitzt heftig.
das Sultanat von London jährlich 1250 Ufer. Soldaten schleppen Kanonen und Dann erhebt sich Raffles, verkündet
Pfund erhalten (was heute etwa 110000 Gewehre an Land. Raffles schreibt an den Vertragstext, der auf Englisch und
Euro entsprechen würde). Zudem ver­ einen Freund einen Brief, auf den er stolz Malaiisch verlesen wird. Es gibt Ge­
spricht Raffles, in Singapur einen Han­ die Ortsangabe „Singapur“ setzt. schenke für Tunku Long: Opium, Waf- c/j
delshafen einzurichten; und alle zukünf­ „Ich sitze hier mit all den Freuden, fen und englischen Wollstoff, edel, fein crq
tigen Zolleinnahmen werde die East die das Betreten eines so klassischen - und in den Tropen vollkommen nutz-
India Company mit dem Sultan teilen. Bodens auslösen muss“, notiert er. „Die los. Gewehrsalven der Soldaten, Salut-
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Raffles erkennt als Erster das Potenzial Singapurs. Es gibt keinen kürzeren Seeweg zwischen Indien und
China als durch die Meerenge vor dem britischen Hafen. Die niederländische Konkurrenz in der Region -
geschwächt durch die Napoleonischen Kriege - duldet die Gründung nur widerwillig (Karte von 1855)

30 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Als 14-Jähriger tritt Thomas
Stamford Raffles 1795 in
den Dienst der East India
Company — einer privaten
Firma, die wie eine Kolo­
nialmacht Besitzungen in
Südostasien unterhält

dieses Kolonialreich, das größte aller


Zeiten, mit einer Mischung aus Stolz
und Fassungslosigkeit bestaunen.
Dabei ist das Britische Empire
noch kurz vor Königin Viktorias Geburt
eigentlich bereits erledigt.
Denn das Weltreich, in seiner ersten
Ausprägung ja schon um 1600 begrün­
det, ist zuvor jahrhundertelang bloß eine
Art Provisorium, geographisch wie poli­
tisch (siehe Seite 22). Dank ihres Ent­
decker- und Kriegsglücks unterjochen
die Briten halbe Kontinente, wie etwa
Nordamerika, in die Zehntausende Aus­
wanderer strömen. Anderswo in der Welt
gründen sie dagegen nur winzige Han­
delsstationen, die oft von Privatfirmen
wie der East India Company kontrolliert
werden und damit streng genommen £
nicht einmal zum Königreich zählen. »q
schiisse von den Schiffen, auch die an Südafrika, Kenia und selbst noch über so Das britische Imperium ist daher "g
Land geschafften Kanonen donnern. entlegenen Eilanden wie den Falklands zwischen 1600 und 1783 im Grunde
Und dann wird in den Ruinen der Union und Fidschi, die so winzig sind, dass man nicht viel mehr als: eine Flagge, ein Han­
Jack gehisst. Singapur ist zu einem wich­ sie auf einem Globus kaum finden kann. delsreich - und ein Gefühl.
tigen Stein im weltumspannenden Mo­ Es sind Männer wie Raffles, die Die Flagge: Das Empire ist überall
saik des Britischen Empire geworden. dieses Empire für Viktoria zusammen- dort, wo der Union Jack weht, ob über
raffen: Männer, die noch die unwirtlichs­ der Residenz des königlichen Gouver­
ten Küsten, Wüsten und Gebirge erkun­ neurs in Boston oder über einer Faktorei
Sir Stamford Raffles macht Singapur in den, die mit geschickter Diplomatie und der East India Company in Kalkutta.
jenem Jahr britisch, in dem in London viel Geld und oft genug auch mit roher Das Handelsreich: Die überseei­
die zukünftige Königin Viktoria geboren Gewalt Inseln, Städte, ganze Regionen schen Besitzungen dürfen ihre Waren
wird. Diese legendäre Herrscherin wird unterwerfen, die diese Länder koloniali- nur nach England exportieren, auf eng­
einmal über die halbe Welt gebieten. Ihre sieren und regieren, die darüber ein un­ lischen Schiffen. Und importieren dürfen
Hauptstadt wird die größte Metropole vergleichliches Wissen Zusammentragen, sie nur englische Waren oder zumindest
des Zeitalters sein, die Queen wird über manchmal unfassbare Vermögen erringen über englische Häfen gelieferte Waren.
Hunderte Millionen Inder, Chinesen, und manchmal grauenhafte Tode sterben. Das Gefühl: Das Empire stiftet so
Afrikaner und Indianer herrschen, ihr Das Britische Empire wird darüber etwas wie eine neue Identität, es machte
Banner wird über Vancouvers Pazifikküs­ zum Mythos, nicht bloß in der Rück­ aus „England“ erst wahrhaftig „Großbri­
te wehen und in den eisigen Weiten von schau, sondern schon für die Zeitgenos­ tannien“. Zwar haben die Engländer seit
Labrador, über Australien, Neuseeland, sen, für Briten und für alle anderen, die dem Mittelalter bereits Waliser, Schotten
und Iren unter ihre Krone gezwungen,
doch gerade dieser Zwang verhindert
lange jedes Gefühl von Einheit. Erst die
Segler im Hafen von Triumphe in Übersee ändern dies.
Singapur. Mit den Schiffen der Denn es sind Engländer, Schotten,
Royal Navy kontrolliert Iren, die nach Amerika auswandern. Die
London die Weltmeere. Keine in der East India Company Karriere ma­
Kriegsflotte ist größer chen. Die die Segler bemannen. Die auf

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Das Klima Südostasiens ist mörderisch, viele Landstriche sind von Malaria verseucht.
Von Singapur aber ist Raffles begeistert: »Alles hier ist Leben und Geschäftigkeit«, notiert er.
diese Weise in der Fremde eine neue »Es wäre schwer, einen Ort zu nennen mit helleren Zukunftsaussichten« (Ölgemälde, 1856)
patriotische Zusammengehörigkeit ent­
wickeln. Und so kommt der Begriff „Bri­
tish Empire“ überhaupt erst um 1750 auf.
Doch kaum hat das Empire auf groß ist wie das Mutterland. Dem Kolo­ zieht aus der Niederlage so rasch und so
den Schlachtfeldern und in den Köpfen nialreich fehlen plötzlich seine wichtigs­ drastisch Konsequenzen, dass sich das
der Untertanen eine ungefähre Gestalt ten Kolonien. Wesen des Empire ändert. Zum ersten
angenommen, da taumelt es in eine tiefe Mal zeichnet sich so etwas wie eine ein­
Krise: 1783 muss die Krone in einem heitliche Strategie ab.
Friedensvertrag die Unabhängigkeit der Denn von jenem Jahr an entsteht in
13 amerikanischen Kolonien akzeptieren. der Hülle des alten ein neues Weltreich.
Zuvor ist Londons Imperium gut Zwar regiert Seine Majestät von London
180 Jahre lang unaufhörlich gewach­ aus noch immer über die sieben Meere,
sen, improvisiert zwar, von Zufällen ge­ noch immer flattert der Union Jack über
trieben und unregelmäßig, doch es wur­ fernen Gestaden, noch immer nennt sich
de immer größer und mächtiger. Weder das Gebilde „Empire“. Doch es wird ein
Spanier noch Portugiesen, weder Nieder­ anderes Weltreich sein. Der Mythos des
länder noch Franzosen haben die Briten Britischen Empire, so wie er heute noch
je dauerhaft von einer einzigen Küste nachweht, entsteht eigentlich erst jetzt.
wieder vertreiben können. Auf die Amerikanische Revolution folgt Premierminister Pitt und nachfol­
Jetzt aber verliert Seine Majestät 1784 eine zweite, fast lautlose Umwäl­ gende Regierungen ziehen, vereinfacht
nach nur sechs Jahren Unabhängigkeits­ zung, eine Revolution von oben: Die ausgedrückt, drei Konsequenzen. Zum
krieg ein Territorium, das fast viermal so Regierung unter Premier William Pitt einen verlagert sich der Schwerpunkt des

32 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Hier hat die privat betriebene East
India Company seit dem 17. Jahrhundert
Faktoreien eingerichtet: Stützpunkte, in
denen die Handelswaren gelagert und
von denen aus sie verschifft werden. Für
die Aktiengesellschaft sind diese Territo­
rien nicht Eroberungen, sondern Inves­
titionen. Zwar sichern Soldaten einer
firmeneigenen Armee die Stützpunkte,
doch mischt sich die Company so wenig
wie möglich in die einheimische Politik
ein, weil die Direktoren stets fürchten,
dass so etwas unprofitabel ist.

Im 18. Jahrhundert gibt es allerdings


Angestellte vor Ort, die aus Abenteuer­
lust oder schierer Gier und ohne Erlaub­
nis der Vorgesetzten in London inner­
indische Wirren nutzen, um gewaltige
Ländereien zu unterwerfen - so Robert
Clive, der 1757 bei Plassey eine Armee
der Einheimischen vernichtet. Spätestens
mit diesem Triumph gebietet die East
India Company über gewaltige Territo­
rien, die ihre Direktoren gar nicht haben
wollten und auf deren Verwaltung die j£
Firma überhaupt nicht vorbereitet ist. yq
Im Sommer 1784 bringt Premier "g
Pitt den „India Act“ durch das Parla­
ment: Die East India Company - die
zuvor durch Misswirtschaft und eine
Hungersnot auf dem Subkontinent in
Empire von West nach Ost: Nun ist nien das Pionierland der Industriellen eine ernste wirtschaftliche Krise geraten
nicht mehr Nordamerika das Herzstück Revolution ist, also das Land mit der ist - wird zum Teil vom Staat übernom­
des Weltreiches, sondern Indien. Der modernsten und kostengünstigsten Pro­ men und so zu einer seltsamen Kombi­
Subkontinent und mit ihm die Küsten duktion, und zudem über die weltgrößte nation aus Unternehmen und Behörde.
Asiens bis hin nach China liefern fortan Handelsflotte verfügt, wird es von dem Die von den Aktionären gewählten
die wichtigsten Waren, sie nehmen im Aufschwung vor allem selbst profitieren. Direktoren leiten zwar weiterhin das
Gegenzug den größten Teil der briti­ Zum Dritten müssen die einheimi­ Geschäft, doch die Regierung installiert
schen Kolonialexporte auf. schen Eliten an der Machtausübung in über ihren Köpfen ein Board of Control:
Zum Zweiten ersetzt der Freihan­ den Kolonien beteiligt werden. Denn die Sechs Politiker, unter ihnen stets der
del den zuvor ausgeübten merkantilen Briten haben Amerika verloren, weil sich Schatzkanzler, bestimmen nun die grund­
Zwang: Den Kolonien wird nicht länger die Händler in New York und die Plan­ sätzlichen Entscheidungen der Aktien­
vorgeschrieben, welche Produkte sie zu tagenbesitzer in Virginia von London gesellschaft.
liefern haben, auf welchen Schiffen und übergangen fühlten, es lag nicht länger Zudem entsendet London erstmals
über welche Häfen. Fort mit hohen Zöl­ in ihrem Interesse, loyal zu bleiben. Also einen Generalgouverneur nach Indien,
len und Monopolen! Jedermann — auch müssen fortan die Mächtigen in Übersee der fortan nicht mehr der Company, son­
jeder Nichtbrite - soll im Empire zu so - ob es nun Schafzüchter in Neuseeland dern der Krone unterstellt ist.
günstigen Bedingungen wie möglich jede sind, Häuptlinge auf Fidschi oder Ma­ Einige Jahre darauf wird die Firma
Wire anbieten und transportieren dürfen. haradschas in Indien - in die Hierarchie zudem die Handelsmonopole mit Indien
Der Staat verzichtet damit zwar auf des Empire eingeflochten sein. London und China verlieren: Aus dem Wirt­
etliche seiner bisherigen Einnahmen wird sein Weltreich auf Dauer nur mit schaftsunternehmen ist nun eine Art
(etwa manche Zölle), doch dafür, so hofft ihnen regieren können, nicht gegen sie. staatliche Kolonialbehörde zur Verwal­
London, wird der ungehinderte Handel Nirgendwo ist der Kurswechsel so tung Siidostasiens geworden - allerdings
gewaltig zunehmen. Und da Großbritan­ dramatisch wie in Indien. eine Behörde, die noch immer Faktoreien,

GEO EPOCHE Das Britische Empire 33


Lagerhäuser sowie Bergwerke besitzt und sal fast keine andere Wahl lässt, als sein schmücktes Portal eines römischen Tem­
ihren Anteilseignern Dividenden zahlt. Leben dem Empire zu widmen. Sein pels würdig wäre, versammeln sich jeden
Das von William Pitt begründete Vater ist der 42-jährige Kapitän eines Mittwoch die Direktoren um einen
neue Britische Empire wird schon bald Handelsseglers, der seine schwangere hufeisenförmigen Tisch und signieren
einer Belastungsprobe unterzogen: 1793 Gattin auf große Fahrt mitgenommen Verträge mit indischen Maharadschas
bricht ein Waffengang mit Frankreich hat. Ihr erster Sohn Thomas wird vor der oder entsenden Mitarbeiter auf die Insel
los. Zuerst kämpft London gegen die Küste Jamaikas geboren, auf einem Seg­ Penang an der Küste von Malaya.
Revolutionstruppen, später gegen Napo­ ler, unter dessen Deck Sklaven, Zucker In einer Halle werden Pfeffer und
leon. 1805 zerschlagen die Linienschiffe und Rum transportiert werden. Muskat und Tee an Großhändler verstei­
der Royal Navy die vereinte französisch­ Später wird sich die Familie bei gert. Kapitäne der Ostindiensegler brin­
spanische Flotte bei Trafalgar. London niederlassen. Noch ist diese Me­ gen exotische Objekte aus Bengalen und
In diesem Konflikt, der Großbri­ tropole ein Moloch aus Schmutz, Hektik China mit, die in einem eigens einge­
tanniens Kräfte aufs Äußerste anspannt, und Hoffnung, aber hier und da auch richteten Saal ausgestellt werden.
stehen die Kolonien loyal zu London. ein pastorales Idyll mit Blumen, Gärten, Die East India Company ist noch
Mehr noch: Die Krone nutzt die Feldern, auf denen Kühe grasen. immer ein Gigant: In ihren Lagerhäu­
Gelegenheit, um neue Ländereien zu an­ Mit 14 Jahren gelangt Thomas dank sern duftet es nach Nelken und Zimt.
nektieren, etwa Ceylon vor der indischen der Verbindungen eines Onkels ins East Dreimaster bringen aus China Tee nach
Küste oder die den Niederländern ent­ India House, die Zentrale der East India London, dazu Porzellan, Lackwaren,
rissene Kapkolonie, womit die strategisch Company. Er wird Extra Clerk, der nied­ Elfenbeinkunst, Seide, Papiertapeten.
wichtige Südspitze Afrikas unter briti­ rigste Posten in der schier byzantinischen Allein in London arbeiten bald
sche Kontrolle kommt (siehe Seite 122). Bürokratie der Company. Er soll Akten 3000 Menschen für den Konzern: An­
1792 waren 26 Kolonien London und Briefe abschreiben, Tag um Tag, für gestellte wie Raffles, Träger, Schauer­
untertan; als die Waffen in Europa 1816 50 Pfund Gehalt - im Jahr. leute, Arbeiter. Die Firma stellt Söldner,
endlich wieder schweigen, sind es 43. Das Doch an welchem Ort! In der Arzte und Geistliche an, die sie in ent­
Empire steht glänzender da als je zuvor: prachtvollen Residenz in der Londo­ legenste Faktoreien entsendet. Sie baut
Spaniens Griff nach Südamerika hat sich ner City, deren säulen- und giebelge­ in London ihren eigenen Hafen. Um
gelockert, bald wird es den gesamten
Kontinent an Unabhängigkeitskämpfer
verlieren. Portugal, die Niederlande und
Frankreich gebieten nur noch über Der Singapore River mündet direkt ins Hafenbecken. An beiden Ufern lässt Raffles seine
Trümmerstücke einstigen Besitzes, und Vision der Stadt entstehen, legt die Breite der Straßen, die Größe der Häuser und sogar die
das auch nur von Englands Gnaden. Baumaterialien fest. Eine Brücke überspannt seit 1819 den Fluss (Panorama um 1850)
Denn die Royal Navy ist inzwischen
ebenso groß wie alle anderen Kriegsflot­
ten zusammengenommen.
Großbritannien ist zum einzigen
globalen Akteur geworden. Die ganze
Welt, so scheint es, steht dem britischen
Zugriff offen. Es muss sich nur noch
jemand finden, der zupacken will.

■ i* •..

Thomas Bingley Stamford Raffles wird


am 6. Juli 1781 geboren, und wenn man
die Umstände seiner Geburt bedenkt, so
darf man festhalten, dass ihm das Schick­

34
Die 1600 in London von
Kaufleuten gegründete East India
1800 ist die Company Großbritanniens Company ist mit einem könig­
bedeutendster Arbeitgeber. lichen Freibrief ausgestattet und
Thomas atmet hier das Aroma des tritt so in Südostasien quasi als
Empire ein. Wenn es einen Ort gibt, der staatliche Instanz auf (Stammsitz
das Fernweh befeuert und Träume von in London, um 1817)
eigenen Großtaten entzündet, dann ist
es das India House. Raffles arbeitet sich
diszipliniert durch die Hierarchie. In sei­
ner kargen Freizeit (während „gestoh­
lener Momente“, wie er später notiert)
lernt er Französisch und weitere Fächer. Tropenhitze, der Gestank von Teer. Zwei Offizier Seiner Majestät eine Einheimi­
Der Lohn: Im März 1805 empfiehlt mit Raffles nach Südostasien versetzte sche nach dem Gesetz heiratet. Undenk­
ein Vorgesetzter Raffles - der sei „über­ Kollegen sterben unterwegs. Der aber bar, dass er sie je mit nach England neh­
durchschnittlich talentiert und mit an­ paukt und paukt und beherrscht bereits men könnte. Doch hier lebt er mit ihr
genehmem Charakter“ - als Assistant leidlich Malaiisch, als er am 25. Septem­ und den gemeinsamen sechs Kindern
Secretary für den Handelsposten Penang ber 1805 sein Ziel erreicht. ganz offen zusammen. Raffles nennt Far­
vor der malaiischen Küste. Ein Verwal­ Penang: mit dunkelgrünem Wald quhar den „Radscha von Malakka“.
tungsposten noch immer, aber nun an der bedeckte Berge, die sich fast 800 Meter Raffles will selbst ein Radscha wer­
Straße von Malakka! aus dem Meer erheben, davor Felsen und den, doch nicht bloß der eines gott­
Sechs Wochen vor der Abreise hei­ Strände, auf denen Fischernetze trock­ verlassenen Hafens. Einem ebenfalls in
ratet Thomas eine zehn Jahre ältere Frau, nen. Hölzerne Bungalows, ein Leucht­ Asien stationierten Freund vertraut er an,
die Witwe eines Arztes der East India turm, Kanonen auf den Wällen eines dass er von einem eastern empire träume.
Company. Olivia Raftles - eine schöne, heruntergekommenen Forts. Raffles ist Was er damit genau meint, scheint selbst
in Indien geborene Irin - ist nicht nur 10000 Kilometer von zu Hause entfernt, ihm nicht ganz klar: Es ist anfangs wohl
die Liebe seines Lebens, sondern auch er verdient das 30-Fache dessen, was er nicht mehr als eine Chimäre, eine gran­
seine beste Beraterin: Sie hat bereits in anfangs bekommen hatte, er ist 24 Jahre diose Idee von einer Art Kolonialreich,
jener Region der Welt gelebt, in der er alt. Und bereit, die Welt zu erobern. das sich über die Inseln Ostasiens hinweg
sich noch beweisen will. Mit seinem Ehrgeiz, seinen Sprach- von Indien bis China spannt. cre
Ein halbes Jahr auf einem Drei­ kenntnissen, seinen zehn Jahren Büro­ Es ist dieser Wahntraum, der ihm, "g
master. Enge, Seekrankheit, Schmutz, kratie-Erfahrung im India House wird dem subalternen Angestellten aus Pe­
er bald der Vertraute des örtlichen Gou­ nang, den Mut gibt, eine lange Denk­
verneurs. Das Klima ist mörderisch, der schrift an die Zentrale im India House
Neuankömmling wird immer wieder von zu verfassen. Denn die Company will
Fiebern geschüttelt. Doch die Chancen Malakka aufgeben, der Posten sei nicht
sind groß. In Europa wütet noch der profitabel. Raffles argumentiert dagegen
Krieg gegen Napoleon. Die Niederlande für einen Ausbau von Stadt und Fort.
sind von den Franzosen besetzt und zu Und er wählt seine Worte so geschickt,
ihren Verbündeten gemacht worden. dass ihm die Direktoren im fernen Lon­
Also haben die Briten etliche niederlän­ don folgen. Zudem wird der General­
dische Stützpunkte in Asien okkupiert. gouverneur von Indien in Kalkutta auf
Niemand weiß, ob London diese Kolo­ den jungen Mann aufmerksam.
nien je wieder hergeben wird. Auf Jahre Doch diese unaufgeforderte Einmi­
hinaus jedenfalls sind die Niederländer schung macht Raffles nicht nur Freunde
als Konkurrenten ausgeschaltet. in der Company. Seine Frau notiert: „Die
1807 reist Raffles nach Malakka, kleinen, blassen Kreaturen hier waren
einen jener von London übernommenen erstaunt und wurden beinahe verrückt
niederländischen Posten. Verfall, Träg­ vor Eifersucht.“
heit, Hitze. Dort lernt er Captain Wil­
liam Farquhar kennen, den Komman­
danten der britischen Besatzungstruppen; Thomas Raffles wettert in den nächs­
ein 37-jähriger Berufsoffizier, zwei Jahr­ ten zehn Jahren mehr Stürme ab, als die
zehnte Siidostasien, gutmütig, höflich, meisten Menschen in ihrem gesamten
in Malakka hoch respektiert. Die Frau Leben je erleben. Seine Frau stirbt, er
an seiner Seite ist eine nonya, eine semi- heiratet ein zweites Mal. Seine Gegner
offizielle Gattin portugiesisch-malaii­ innerhalb der East India Company be­
scher Abstammung. Undenkbar, dass ein treiben seine Ablösung, er reist nach
Mehr als eine halbe Million
Schiffe ankern 1856 in Singapur.
Neben den Seglern aus aller
Welt nutzen auch viele kleine
einheimische Boote den Hafen
(im Hintergund Singapore
Hill mit Flaggenmast)

England, rechtfertigt sich im India


House, beeindruckt mit seinen Berich­
ten und seinem respektvollen Verhalten
Prinzessin Charlotte, eine Tochter des
zukünftigen Königs Georg IV. Im Jahr
1817 wird er geadelt und wählt zu seinen
Motto Auspicium Melioris Aevi, „Das
Vorzeichen eines besseren Zeitalters“.
Als Lieutenant-Governor von Beng-
kulu kehrt er nach Asien zurück, der
Titel ist grandioser als die Realität,
eigentlich ist er bloß lokaler Statthalter So ist der Vertrag vom 6. Februar East India Company - und ein typisches
in einem halb verfallenen Außenposten 1819, trotz rotem Teppich und Salut und Beispiel für die politisch und juristisch
auf Sumatra. 1818 reist er nach Kalkutta. vorbildlichem Auftreten der Briten, seltsam unscharfe Sicht der Briten auf
Gemeinsam mit dem Generalgouverneur letztlich ein Diktat. Raffles nutzt die die Welt. Denn der Generalgouverneur
Indiens sucht er einen neuen britischen Stunde, um dem Sultan genau so viele von Indien, also ein Regierungsbeamter,
Stützpunkt an der Straße von Malakka, Konzessionen zuzugestehen, wie nötig hat Raffles zwar freie Hand gegeben und
dem strategisch bedeutsamen Seeweg sind, damit er sich Singapur ohne lästi­ ihm Schiffe und Soldaten gestellt. Doch
rund um die Malaiische Halbinsel. gen Widerstand holen kann: 1250 Pfund den Vertrag mit dem Sultan unterzeich­
Der Generalgouverneur gibt Raffles Pacht jährlich sowie ein paar vage Ver­ net der als Abgesandter und im Namen
die Order, „die allgemeine Leitung un­ sprechungen - mehr kostet es nicht, der East India Company.
serer Interessen jenseits der Straße von einen Handelsposten zu errichten, der Rein formal wird Singapur eine
Malakka“ zu übernehmen und irgendwo später zur Kolonie ausgebaut wird. Faktorei, der Handelsposten einer Ak­
an diesem Seeweg „nach freiem Ermes­ tiengesellschaft. Nicht einmal ein eigener
sen“ einen Hafen zu gründen. Lieutenant-Governor residiert hier, die
Sir Thomas, der Kommandant eines Ruinenstadt untersteht dem Fort von
zweitklassigen Außenpostens, hat sich Bengkulu (und damit dem dortigen
mit seiner Überzeugungskraft freie Hand Lieutenant-Governor Raffles).
für ein Abenteuer erredet und bekommt Die Niederländer kümmern aller­
vom Generalgouverneur obendrein noch dings derlei Finessen nicht: Sie sehen in
drei Schiffe und einige Soldaten zur Ver­ der Gründung des britischen Handelpos­
fügung gestellt. Er hat auch schon einen tens Singapur einen aggressiven staatli­
Ort im Visier: Singapur. chen Akt, einen Landgewinn Großbri­
Raffles weiß alles über die strategi­ tanniens in ihrer Einflusssphäre. Aus dem
sche Position der Insel, über ihre glor­ niederländischen Java gehen scharfe Pro­
reiche Vergangenheit und triste Gegen­ Bereits 24 Stunden nach der Vertragsun­ testnoten beim britischen Generalgou­
wart - und über das Dilemma der Nie­ terzeichnung segelt Ratfies zurück nach verneur in Kalkutta ein. In London tref­
derländer, die diese Region mehr als zwei Penang. In Singapur bleibt ein Offizier fen Depeschen aus Den Haag ein - deren
Jahrhunderte dominiert haben, aber nach als Resident and Commandant, mit ein Schärfe allerdings etwas Surreides anhaf­
den Verheerungen der Napoleonischen paar Soldaten, Kanonen — und dem Be­ tet, denn in beiden europäischen Haupt­
Kriege zu schwach sind, um ihre Inter­ fehl, möglichst rasch ein Fort und einen städten erfahrt man ja erst ein halbes Jahr
essen in Ostasien weiterhin militärisch Hafen zu bauen. „Unser Ziel ist nicht nach dem Ereignis überhaupt davon.
durchzusetzen. Landgewinn, sondern Handel“, schreibt Und jede Reaktion darauf - selbst
Und Raffles weiß um die Situation Raffles, „ein großes Handelsimperium“ der Befehl zum Krieg um Singapur -
des Sultans von Johore, dessen Lage auf­ im Osten. Singapur, wird er später geste­ würde wiederum mit einem halben Jahr
grund seiner innenpolitischen Probleme hen, ist „mein beinahe einziges Kind“. Verspätung vor Ort eingehen. Wer ver­
so schwach ist, dass er Singapur den Bri­ Wenn es denn so einfach wäre: Tat­ mag zu sagen, was in der Zwischenzeit
ten gar nicht verweigern kann. sächlich aber ist Singapur das Kind der in Ostasien alles geschehen wird?

36 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Raffles tut die Demarchen denn Bereits im Oktober 1819 ist Raffles Erwartungen“. Wo einst die Schädel der
auch als „Papierkrieg“ ab. Tatsächlich wieder in Kalkutta und bedrängt den Piratenopfer im Wasser bleichten, liegen
sind die Niederländer viel zu schwach, Generalgouverneur. Sein Plan: Singapur nun europäische Ostindienfahrer, chine­
um gegen Singapur vorzugehen, denn sie soll zum Zentrum des von Sir Stamford sische Dschunken und arabische Dauen
würden damit gegen die Royal Navy erträumten „Empire im Osten“ wer­ vor Anker.
einen Konflikt riskieren, der sie ganz den - der Mittelpunkt eines Handels­ 139 Rahsegler und 1434 einheimi­
Südostasien kosten könnte. reiches und die Residenz eines neu zu sche Schiffe werden allein 1822 die güns­
Allerdings will auch kein britischer ernennenden Gouverneurs. Und selbst­ tige Lage nutzen, um Fracht zu laden
Politiker die Niederländer verärgern. verständlich ist klar, wen Raffles allein oder zu löschen. (In London, dem Zen­
Londons Sieg über Napoleon war zwar für diesen Posten geeignet hält. trum maritimen Welthandels, sind es
glänzend, aber auch teuer. Die Nation ist Wochen vergehen. Intrigen in der allerdings mindestens zehnmal so viele.)
mit kolossalen 700 Millionen Pfund ver­ East India Company. Alte Rivalen und Die Insel, auf der selbst fast nichts pro­
schuldet. Wer würde, nach einem solchen Neider. Neue Gegner, die sich an die duziert wird, ist tatsächlich zum mariti­
Blutzoll und so hohen Schulden, wegen Protest-Demarchen der Niederländer men Basar Asiens geworden.
eines Piratennestes irgendwo in Südost­ gegen Raffles erinnern. „Alles hier ist Leben und Geschäf­
asien einen neuen Krieg anzetteln? Ende des Jahres dann die Absage: tigkeit“, notiert Sir Stamford etwas spä­
So werden in quälender Langsam­ Singapur soll weiterhin von Bengkulu aus ter, „und es wäre schwer, einen Ort auf
keit diplomatische Noten zwischen Lon­ verwaltet werden. „Schwer und krank am der Oberfläche des Globus zu nennen
don, Kalkutta, Bengkulu und Den Haag Herzen“, so schreibt er, nimmt Raffles mit helleren Zukunftsaussichten oder
getauscht. Der Generalgouverneur von die Niederlage hin. einer größeren Zufriedenheit. In kaum
Indien hat Raffles daher mittlerweile be­ Ständig plagen ihn nun Kopf­ mehr als drei Jahren ist er von einem un­
fohlen, doch „keinen Posten zu gründen“. schmerzen. Dann sterben in schreck­ bedeutenden Fischerort zu einer großen
Da aber weht der Union Jack schon licher Regelmäßigkeit in Bengkulus und wohlhabenden Stadt aufgestiegen,
über Singapur, und es wird Monate dau­ ungesundem Klima innerhalb von sechs mit mindestens 10000 Einwohnern aus
ern, bis Raffles, bis die Regierung, bis der Monaten drei seiner vier Kinder - das allen Nationen, strebsam beteiligt an
niederländische Botschafter in London letzte überlebende, ein Kleinkind noch, Handelsunternehmungen, die allen und
von dem neuen, dem gegenteiligen Be­ wird eilig auf ein Schiff nach England jedem ein ordentliches Auskommen und
fehl erfahren. Anschließend werden wie­ geschickt, nur fort aus den verseuchten reichlichen Gewinn bescheren.“ ctq
P
der neue Depeschen abgesandt. Und neue. Tropen! (Und es wird wiederum ein Jahr Doch ganz so wohlgeordnet, wie es "g
Und alle, alle Briefe sind stets ein verwehen, bevor die besorgten Eltern sich der Brite ausmalt, ist Singapur dann
halbes Jahr unterwegs, bevor sie ihren auch nur erfahren, dass es heil in der doch nicht: Die Mündung des Flusses,
Adressaten erreichen, und so verläuft sich Heimat angekommen ist.) mitten in der Stadt, ist nach wie vor ein
der Protest irgendwann in den Weiten Im Jahr 1822, zermürbt und verbit­ riesiger Salzsumpf.
der Ozeane. (1824 schließlich werden tert, bittet Raffles die East India Com­ Und am nördlichen Flussufer, das
sich London und Den Haag in einem pany schließlich um seinen Abschied. Raffles schon beim ersten Besuch für die
Vertrag einigen: Großbritannien wird auf Er will nun auch zurück nach England. zukünftigen Regierungsgebäude auserse­
alle Ansprüche in Sumatra verzichten, Doch bevor er Asien für immer verlässt, hen hatte, stehen ohne Ordnung Lager­
dafür darf es Singapur behalten.) fährt er einmal noch nach Singapur. häuser und Schuppen. Denn dort, wo
Solange jedoch die diplomatische Er wird dort acht Monate bleiben. nach seinen Plänen eigentlich das Ha­
Krise schwelt, macht die Regierung in Und seine Stadt wird danach eine an­ fenviertel liegen sollte, will sich kein
London von der kleinen Neuerwerbung dere sein. Händler niederlassen - zu gefährlich ist
so wenig Aufhebens wie möglich. Keine die Brandung direkt am Meeressaum.
Ehrung für Raffles, kein Ruhm, kein Llöher hinauf am Flussufer, nur
neuer Adelstitel und bloß keine trium­ Donnerstag, 10. Oktober 1822. Singapur, wenige Schritte vom Haus des komman­
phale Geste, die Den Haag aufs Neue schreibt Raffles bei der Ankunft, „über­ dierenden britischen Offiziers entfernt,
verstimmen könnte - im Gegenteil. trifft meine wärmsten Hoffnungen und werden sogar offen Sklaven verkauft -
eigentlich ein krimineller Akt, denn im
Empire ist der Sklavenhandel ja bereits
seit Jahren verboten.
1867 wird der Umschlagplatz Raffles wird durch diese Stadt ge­
Singapur zur Kronkolonie und hen wie ein Taifun.
damit fortan von einem direkt Denn zwar ist Singapur noch im­
der Regierung unterstellten mer bloß ein Ableger von Bengkulu.
Gouverneur regiert (Lasten­ Doch Raffles ist ja nach wie vor Lieute­
träger, 19. Jahrhundert) nant-Governor von Bengkulu - und da­
mit auch Herr von Singapur. Vielleicht

37
ist es der schiere Schöpferstolz, der ihn Die neuen Bungalows und Läden den Menschenmarkt am Flussufer - und
nun zu einem so mörderischen Tempo sind alle aus Holz, alle etwa sechs Meter alle Spielhöllen und Hahnenkampfplätze
antreibt: der Wille, seine Gründung auch breit (denn das ist das Standardmaß der gleich mit, da sie „extrem zerstörerisch
nach seinen Vorstellungen zu formen. Balken aus den im Dschungel geschlage­ sind für die Moral und das Glück der
Vielleicht ist es auch der Schmerz, nen Baumriesen), alle mit einer andert­ Bevölkerung“.
den er so betäuben will, die Erinnerung halb Meter tiefen, überdachten Veranda Strenge Bauvorschriften zementie­
an die drei toten Kinder, an das marternde vor der Fassade. So fügt sich Haus an ren die ästhetische und ethnische Ord­
Pochen hinter der eigenen Stirn. Haus und Veranda an Veranda - und die nung der Stadt, da sie genau festlegen,
Vielleicht ist es beides zugleich: der Fußgänger können fortan die Straßen wer etwas bauen darf, wo und in welcher
Rausch der Schöpfung und die Ahnung, hinunter im Schatten flanieren. Form. Und noch bei Mord führt Raffles
dass dieser Rausch sehr bald schon einen Den „verbotenen Hügel“ mit den strengste Ordnung ein: Lebenslänglich
hohen Preis von ihm fordern wird. Resten der einstigen Festung Singapura für gewöhnliche Täter, „bei Amok“ aber
überlässt Raffles auch weiterhin den solle der Schuldige hingerichtet, dessen
Geistern, allerdings nun denen der Neu­ Eigentum eingezogen und die Leiche
ankömmlinge: Auf den von Malaien 24 Stunden zur Schau gestellt werden.
abergläubisch gefürchteten Ruinen ste­ Mit dem Stichwort „Amok“ meint
hen jetzt die Gräber der europäischen der Lieutenant-Governor (obwohl es so
Pioniere. nicht im Gesetz steht) vermutlich jeden
Um einige 600 Jahre alte Obstbäu­ Mord, den ein Asiat an einem Europäer
me plant Raffles die Anlage eines bota­ begeht. Er selbst sitzt als Vorsitzender
nischen Gartens. Er treibt die Gründung neben zwei weiteren Magistraten nun
der Singapore Institution voran, einer jeden Montag um 9.00 Uhr über Misse­
höheren Schule für Europäer und Ein­ täter zu Gericht.
heimische, die sein Motto tragen soll: Genau 241 Tage wird Raffles fast
Jedenfalls beruft er sofort ein Komitee Ausp icium Melioris Aevi. pausenlos arbeiten. Er sieht Häuser und
zum Ausbau der Stadt ein; der junge „Ich legte den Platz für einen klei­ Speicher wachsen. Er sieht Schiffe ein-
Schiffsoffizier Philip Jackson wird kur­ nen Bungalow fest, wo Sie letzte Nacht und wieder auslaufen. Er gibt Empfange.
zerhand zum obersten Planer ernannt. einen Stein geworfen haben“, schreibt Sir Er befördert fähige Männer und Günst­
Hunderte Arbeiter werden in den Stamford einem befreundeten Botaniker. linge, die mit ihm verwandt sind. Er feu­
Salzsumpf beordert, um Deiche aufzu­ Dieser „kleine Bungalow“ ist die ert den kommandierenden Offizier, der
schütten und Gräben zu ziehen, und man Residenz des Gouverneurs auf dem Sin­ Singapur zuvor so wild hat wuchern las­
möchte sich diese Schufterei unter der gapore Hill. In nicht einmal drei Mona­ sen. Seine Frau erleidet eine Fehlgeburt
Sonne gar nicht ausmalen. ten zwingt ein junger irischer Architekt und wird erneut schwanger.
Auf das neu gewonnene Terrain ein 30 Meter breites und 15 Meter tiefes 241 Tage Macht und Glück und
pflanzt Raffles Lagerhäuser, die alten Bauwerk auf die Anhöhe: von Veranden Drama. Dann ist Dr. John Crawfurd als
lässt er niederreißen - wie auch Dut­ beschattet und mit einem Palmwedel­ Nachfolger des Stadtkommandanten da,
zende Wohnhäuser. Den Chinesen, den dach gedeckt — luftig und groß, wenn ein Mann, den Raffles selbst ausgewählt
aus Sulawesi stammenden Bugi, den auch so fragil, dass Tropenstürme es weg­ hat, und er kann sich erschöpft nach
Arabern und den Malaien lässt er eigene zublasen drohen. England aufmachen, darf sein „fast ein­
Wohnviertel zuweisen, mit Tempeln und „Nichts“, schreibt der stolze Resi­ ziges Kind“ nun sich selbst überlassen.
Moscheen. Dem Temenggong schenkt er dent nach seinem Einzug trotzdem,
eine neue, 80 Hektar große Residenz. „kann interessanter und schöner sein als
Er legt die Orte für Marktplätze fest, für die Aussicht von diesem Punkt.“ Raffles Montag, der 9. Juni 1823. Die „Hero of
eine Werft, für die Polizeistation, für eine blickt über die Bungalows auf das Meer, Malown“ lichtet den Anker. Sir Stamford
Zugbrücke über den Fluss. Die Leute wo Schiffe aus aller Welt ankern. Raffles steht in der Achterkabine und
arbeiten, „als zögen sie in den Krieg“, Endlich ist er am Ziel: Dies ist hebt zum letzten Abschiedsgruß die
berichtet ein Augenzeuge. sein Eastern Empire, hier herrscht er wie Hand. Auf der Pier steht Abdullah, seit
Das beste Viertel schräg unterhalb ein Maharadscha. Er baut nicht nur das Jahren sein einheimischer Sekretär: von
des Singapore Hill bis hinunter zum Gesicht Singapurs, er formt auch dessen den 10000 Menschen in Singapur viel­
Meer reserviert Sir Stamford den Euro­ Seele. Er entwirft, wie er selbst es nennt, leicht der Einzige, dessen Herz schwer
päern: Er entwirft ein Netz sich recht­ „so etwas wie eine Verfassung“. ist. „Mister Raffles - weise ist er, / wie
winkelig kreuzender Straßen — wie um Tatsächlich ist es eher eine Ge­ gut er die Herzen der Menschen kennt“,
dem fremden Durcheinander die eigene setzessammlung: Sklaverei? Fort damit! wird Abdullah dem Briten zu Ehren
Ordnung aufzuzwingen, den Wildwuchs Alle Sklaven sind frei (außer denen des dichten.
durch Vernunft einzuhegen, das Alte Temenggong, um diplomatische Schwie­ Singapur ist, wie alle Pionierstädte,
unter dem Neuen zu planieren. rigkeiten zu vermeiden). Raffles schließt ein Platz ohne Sentimentalitäten und

38 GEO EPOCHE Das Britische Empire


ohne Vergangenheit. Raffles hat die lukrative Steuern anfallen, die Geld in Großbritannien, Holland, Frankreich
Macht per Proklamation an den Nach­ die Kassen der Verwaltung spülen. Und und Amerika können oft gesehen wer­
folger übertragen. Keine großartige Ze­ er lässt die Arbeiten an der Singapore den, zusammen mit den Bannern chine­
remonie, keine Tränen, kein Pathos. „Das Institution ruhen, wo Europäer und sischer Dschunken und den fantasie­
Ende meiner Verwaltung von Singapur Asiaten nach Sir Stamfords Willen doch vollen Farben einheimischer Jterahus“,
ist genau das, was ich gewollt habe“, eigentlich gemeinsam lernen sollten. notiert ein britischer Seemann.
schreibt er einem Freund. Vor allem aber kauft der energische Am Ufer schimmern die weißen,
Tatsächlich? Er macht sich auf den und zielstrebige Crawfurd dem politisch neoklassizistischen Fassaden europäi­
langen Rückweg nach England. Was schwachen und offenbar" wenig energi­ scher Residenzen, über den Dächern
wird er dort tun? Wovon soll er leben? schen Sultan mit weiteren Geldzuwen­ leuchten die Minarette aus dem arabi­
Sir Stamford hat Pläne, doch nie­ dungen alle politischen Rechte über schen Viertel und die Pagoden aus den
mand hat ihm irgendetwas Konkretes Singapur ab. chinesischen Straßen.
versprochen. Seine Gattin ist schwanger, 14 Monate nach der Abreise von Was für ein Triumph! Singapur ist
doch längst weiß er, dass dies eher Anlass Raffles unterzeichnet der Herrscher tatsächlich zum Juwel des Britischen
zur Furcht als zur Freude ist - und tat­ einen neuen „Vertrag der Freundschaft Empire geworden, und es symbolisiert
sächlich wird sie noch in Südostasien das und Verbundenheit“, der ihn de facto zugleich dessen Stärken: den Wagemut
Baby bald nach der Geburt verlieren und und de jure auf der Insel entmachtet. und die Skrupellosigkeit ehrgeiziger
selbst mehrere Tage lang zwischen Leben Die „volle juristische und rechtliche Aufsteiger, die die Welt erkunden und
und Tod schweben. Kontrolle über ganz Singapur geht auf den Union Jack dort pflanzen, wo es ih­
Der Mann, der am 9. Juni 1823 die East India Company über, und weder nen gewinnbringend scheint. Die Macht
alleine an einem Fenster der „Hero of der Sultan noch der Temenggong behal­ einer Flotte, die Kanonen und Solda­
Malown“ steht und die Hand hebt, ahnt ten irgendwelche Rechte“, so steht es in ten unbehelligt bis zu den entferntesten
wohl, dass er sich nicht nur von Singapur, aller Deutlichkeit im Text. Küsten tragen kann. Den Mahlstrom aus
sondern von seinem Leben verabschiedet. Singapur - also die gesamte, gut Profit und Gier, der von einem entfessel­
Niemals mehr wird er in diese - in 600 Quadratkilometer große Insel sowie ten globalen Handel angetrieben wird.
seine! — Stadt zurückkehren, niemals einige dazu zählende winzige Eilande — Denn Singapur, das ist ja kein
mehr wird er eine Tat vollbringen, die ist nun endgültig vom Sultanat Johore Schlachtfeld, das erobert, kein Gipfel, der
mit jener der Gründung Singapurs ver­ abgetrennt und damit ab 1824 Teil des bestiegen, kein Dschungel, der durch­
gleichbar wäre. Britischen Empire. quert worden ist. Das ist eine Bucht, in
Tatsächlich bleiben Ratfies noch der sich 1819 ein paar Piratenboote ver­
rund drei Jahre. In England trägt er bargen. Und in der im Verlauf des Jahres
sich mit verschiedenen Projekten, sieht 1856 bereits mehr als eine halbe Million
für sich gar schon eine Karriere als Par­ Segler ankern.
lamentsabgeordneter, doch alles, alles Sir Stamford Raffles hätte es gefal­
zerschlägt sich - unter anderem auch len, und vielleicht wäre ihm sogar der
deshalb, weil er bei einem Bankencrash schreckliche Preis, den er selbst dafür
1825 einen erheblichen Teil seines Ver­ bezahlen musste, nicht als zu hoch
mögens verliert. erschienen. ^
Am 5. Juli 1826 steht er in den frü­
hen, noch dunklen Morgenstunden auf Cay Rademacher, Jg.
1965, ist
und wandert alleine durch seinen Land­ CEO EPOCHE-Autor und seit der
sitz Highwood House. Vielleicht haben Die East India Company, lebenslanger Gründung des Magazins 1999 dabei.
ihn seine Kopfschmerzen hochgetrieben. Arbeitgeber von Raffles, wird Singapur
Wenn, dann quälen sie ihn zum letzten noch mehrere Jahrzehnte lang verwalten.
Mal: Seine Frau findet ihn kurz darauf, Nach einigen politischen und adminis­ LITERATUREMPFEHLUNGEN: Victoria
niedergestreckt von einem Schlaganfall trativen Volten wird die Insel, zusam­ Glendinning. „Raffles and the Golden Oppor-
und bewusstlos, am Fuß einer Treppe. men mit Malakka und Penang, 1867 tunity". Profile Books: solide Biografie über
Als ein Arzt eintrifft, ist er bereits tot. schließlich zur Kronkolonie und unter­ den Gründer von Singapur. Philip Lawson.
Einen Tag später hätte er seinen steht damit fortan direkt der Regierung „The East India Company: A History“. Long-
Geburtstag begangen, den 45. in London und nicht mehr dem Gene­ man: pointierte Darstellung der turbulenten
Da hat Dr. John Crawfurd in Sin­ ralgouverneur in Indien. Geschichte der vielleicht seltsamsten Aktien­
gapur bereits längst damit begonnen, Sir Da hat die Stadt dank ihrer günsti­ gesellschaft der Welt. Mark R. Frost/Yu-Mei
Stamfords Gründung rücksichtslos zu gen Lage längst fast alle anderen Nieder­ Balasingamchow, Singapore. A Biography",
verändern. Er hat Glücksspiel wieder lassungen Ostasiens übertrumpft. „Schif­ Hong Kong University Press: die Entwicklung
zugelassen - weil auf die Spielhöllen, fe aus allen Ecken der Welt kommen des Stadtstaates, meisterlich erzählt anhand
ebenso wie auf Opium und Alkohol, andauernd hier an, und die Flaggen von von Schicksalen aus sieben Jahrhunderten.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 39


Jamaika - 1831

DER

Auf den Zuckerrohrplantagen Jamaikas schuften Sklaven


v• ^ (

für den Reichtum britischer Pflanzer. Ein Drittel der Unfreien

stirbt bereits in den ersten Jahren nach der Ankunft in

der Karibik. 1831 erheben sich die schwarzen Zwangsarbeiter

gegen ihre weißen Ausbeuter --------------- VonchristinaSchneider

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40 GEO EPOCHE Das Britische Empire


GEO EPOCHE Das Britische Empire 41
Ein zweiter Antreiber lehnt eben­ Bald darauf rückt eine Einheit der
falls ab - er ist ein Verwandter der zu lokalen Miliz in Salt Spring an. Die
Bestrafenden. Urheber des Aufruhrs sind bereits in den
Sklaven, die sich gegen seinen Be­ Wald geflohen - und die Nachricht von
fehl auflehnen? So etwas hat Grignon der Befehlsverweigerung der Sklaven von
noch nicht erlebt. Wut steigt in ihm auf, Salt Spring verbreitet sich rasend schnell.
wie die Umstehenden beobachten. Rebellion! Aufgeschreckt beginnen
Mannshoch steht das Zuckerrohr kurz Und wohl auch Angst. Er ist in die­ einige Pflanzer schon am Tag darauf mit
vor Weihnachten 1831 auf der Salt- sem Moment der einzige Weiße weit Vorsichtsmaßnahmen für den Notfall.
Spring-Plantage im Nordwesten der und breit. Erst jetzt bemerkt er die feind­ Sie lassen Boote in den Häfen vertäuen,
Karibikinsel Jamaika, bald bereit zur seligen Blicke der Männer. Sie murmeln auf die sich während eines Aufstands
Ernte. William S. Grignon, der Verwal­ Bedrohliches, scheinen kurz davor, sich ihre Frauen und Kinder retten könnten.
ter, reitet an diesem Tag durch das wo­ auf ihn zu stürzen. Jamaikas Gouverneur hat wegen der
gende Grün der weiten Felder, die das Sollte wirklich etwas dran sein an Gerüchte bereits die Bürgermilizen der
Herrenhaus, die Wirtschaftsgebäude und den Gerüchten, die seit Wochen die Bri­ Insel in Alarmbereitschaft versetzt.
die Sklavenquartiere umgeben. Da fallt ten auf Jamaika beunruhigen: dass die Und doch wissen die Gutsbesitzer,
ihm am Wegrand eine Frau auf; sie ist Sklaven einen Aufstand gegen ihre Her­ dass alle Vorkehrungen nutzlos sind, wenn
eine der Leibeigenen, die auf der Plan­ ren planen? Jedenfalls gerät Grignon in sich Jamaikas Unfreie wirklich gemein­
tage arbeiten. Sie hält ein Stück Zucker­ Panik, springt auf sein Pferd und galop­ sam erheben. Denn auf der größten Zu­
rohr in der Hand, das sie sich abge­ piert in die vier Meilen entfernte Stadt ckerinsel des Britischen Empire stehen
schnitten hat, um mit dem süßen Saft Montego Bay, wo er die Polizei alarmiert. den 25 000 Weißen auf fast 800 Planta­
der Pflanze ihren Hunger zu stillen. Umgehend machen sich zwei Con­ gen gut 300 000 Sklaven gegenüber. Die
Der Verwalter sitzt ab, hebt die stables auf den Weg zur Plantage - und Pflanzer furchten um ihr Leben.
Peitsche - und schlägt zu. Immer wieder. werden bei ihrer Ankunft von Männern Tatsächlich bereitet ein schwarzer
Aber das reicht ihm noch nicht. Er zerrt mit erhobenen Buschmessern empfan­ Laienprediger heimlich einen Genend­
die blutende Frau den Feldweg entlang gen. Einen der Polizisten versuchen die streik seiner Leidensgenossen vor: In den
zum Haupthaus und befiehlt dort dem Sklaven in einen Kessel mit brodelndem Monaten zuvor hat Samuel Sharpe, Bap­
Ersten Antreiber, selbst ein Zwangs­ Rohrzuckersirup im Kochhaus zu stoßen; tist und Haussklave im nahen Montego
arbeiter, sie erneut zu bestrafen. Die An­ er kann gerade noch entkommen. Bay, bereits viele Schwarze auf der Insel
treiber sind geübter im Umgang mit der Der britische Missionar Henry von seinem Plan informiert. In nur we­
Peitsche. Der Angesprochene aber wei­ Bleby wird den Vorfall später in seinen nigen Tagen wollen sich Jamaikas Leib­
gert sich: Die Sklavin ist seine Frau. Aufzeichnungen festhalten. eigene erheben.
Es wird der größte Sklavenaufstand,
den die britischen Kolonien in West­
indien je erlebt haben.

Jamaika hat das Empire reich gemacht.


In London galt die Insel viele Jahrzehn­
te lang als das am hellsten strahlende
Juwel in der Krone Seiner Majestät.
Schon seit Langem ist sie wichtiger
Teil eines weit gespannten Handels­
netzes - und eines perfiden Dreiecks-
geschäfts: Von England aus segeln bri­
tische Schiffe zunächst nach Afrika, wo
die Kapitäne Stoffe, Eisenwaren und
Waffen aus heimischer Produktion gegen
Sklaven eintauschen, und fahren dann
weiter in die Karibik; dort verkaufen
sie die Sklaven und Fertigwaren wie
Kristallzucker an die Plantagenbesitzer
und laden dafür Rohzucker. Die Fracht­
Zwar verbietet London 1807 den Handel mit räume gefüllt, kehren die Schiffe heim
Sklaven - doch der Besitz von Leibeigenen bleibt nach England, wo die Rundfahrt von
im Empire noch über Jahrzehnte legal Neuem beginnt.

42 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Jamaika
Kingston ist die bedeutendste Hafen- und Handelsstadt auf Jamaika. Hier treiben die Kapitäne die Sklaven an Land
und laden dafür Rohzucker. Die britischen Plantagenbesitzer und Kaufleute werden reich - und verfügen in London über eine
mächtige politische Lobby, der es lange Zeit gelingt, die wirtschaftlichen Interessen der Sklavenhalter zu schützen

Jedes Jahr verschleppen die Briten Allerorten in Großbritannien ver­ Zuckerhüte in blaues, die kleinen, beson­
bis zu 25000 Menschen aus Afrika in die führen Ladenbesitzer ihre Kundschaft ders reinen in violettes Papier gewickelt.
Karibik, und da der Bedarf an Zwangs­ mit leuchtend bunten Bonbons und Gesüßt schmecken auch die ande­
arbeitern, Industrieprodukten und Zu­ fantasievollem Konfekt. In den Regalen ren beliebten Genussmittel aus Ubersee
cker beständig wächst, machen die Kauf­ der Kaufleute türmen sich die Kegel aus wie Kaffee, Tee oder Kakao noch besser.
leute auf jeder einzelnen Station dieses gepresstem Haushaltszucker, die großen Schon lange gehört der Nachmittags­
atlantischen Dreieckshandels Gewinn. tee mit Milch und Zucker in Englands
Schon bald nach der Eroberung Mittel- und Oberschicht zum Ritual.
Jamaikas von Spanien im Jahr 1655 im­ Den unterernährten Fabrikarbeitern des
portieren die Engländer 10000 Tonnen DIE ZUCKERINSEL Landes, von Zeit- und Kalorienmangel
Zucker im Wert von mehr als einer hal­ gequält, muss der gezuckerte Tee am
ben Million Pfund aus Westindien in Florida
idaW K - ^ Morgen das Frühstück ersetzen.
ihre Heimat. Zwischen 1663 und 1775
Golf von ^ Bahamas Wer um 1750 das Startkapital für
Mexiko --- .
nimmt in England der Zuckerkonsum eine Plantage aufbringt, kann ein Ver­
um das 60-Fache zu, und 1805 machen Kuba mögen verdienen. So entsteht im Empire
die Einfuhrzölle auf Zucker aus der Ka­ eine schier unermesslich reiche Gesell­
Montego Boy
ribik ein Zwölftel der gesamten briti­ Jamaika^
schaftsschicht: die der Zuckerbarone in
schen Staatseinnahmen aus. Kingston den „West Indies“ - wie die Briten ihre
Karibisches Meer
Aus dem einst raren Luxusgut Zu­ 0 400 km
Kolonien in der Karibik nennen, zu der
GZOEPOCHE-fa(\e
cker wird durch die Sklavenarbeit auf Ende des 18. Jahrhunderts neben Jamai­
den Plantagen eine Ware für die Massen. ka noch Dutzende weitere Inseln gehö-
Seit 1655 gehört die einst spanische
Kolonie Jamaika zum Empire
GEO EPOCHE Das Britische Empire
und wird zu einem der weltweit 43
größten Sklavenmärkte
ren, darunter Barbados, Antigua, Gre­ auch, das Süßgras in der Kolonie weiter­
nada und die Bahamas. zuverarbeiten. Erst in den Raffinerien
Die Plantagenbesitzer leben auf der britischen Hafenstädte wird die gelb­
ihren Anwesen wie Könige. Aus England braune Masse gereinigt, in ihre weiße,
lassen sie sich Kleidung nach der neues­ kristalline Form gebracht und anschlie­
ten Mode schicken. Ihre weißen, meist ßend mit großem Gewinn verkauft.
auf einer Anhöhe gebauten Herrenhäuser Doch um 1800 beginnt Jamaika et­
bilden das Zentrum eines jeden Guts. was von seinem Glanz zu verlieren. Die
Geschwungene Treppen führen zu den europäischen Kontinentalländer nehmen
Wohnräumen im oberen Stock, wo der den Engländern immer weniger Zucker
kühlende Wind besser durch die Räume ab, weil sie den Süßstoff jetzt von US-
streifen kann. Auf den Veranden stehen Schiffen beziehen, die Zuckerladungen
Schaukelstühle. Der Blick führt, wenn aus Brasilien und Kuba anlanden.
möglich, aufs Meer. Die Preise für den Rohstoff von den
Sklaven polieren die glänzenden West Indies stürzen ab. Immer mehr
Mahagoniböden. Während der opulenten Pflanzer gehen bankrott, weil London
Mahlzeiten stehen sie um den Tisch, um die Zölle nicht den gesunkenen Preisen
den Pflanzern jeden Wunsch zu erfüllen anpassen will und bald nichts mehr un­
und mit Palmblättern lästige Fliegen ternimmt, um den Preis zu stützen.
fortzuwedeln. Die Tage der Weißen ver­ Die Plantagenbesitzer sind gegen
streichen mit Festen und Aufwartungen. diese Entwicklung machtlos - wie auch
Doch längst nicht alle Zuckerbaro­ sklaven bei der Zuckerrohrernte. Nach gegenüber einer neuen politischen Be­
ne leben auf ihren Gütern. Plantagen­ zwei Jahren haben sich ihre »Kosten« für wegung, die ihnen noch gefährlicher
besitzer, die es sich erlauben können, die Besitzer in der Regel amortisiert werden wird als der fallende Zuckerpreis.
residieren in England und überlassen die Denn schon seit Jahrzehnten
Geschäfte mit dem Zuckerrohranbau kämpft eine Allianz von Intellektuellen,
ihren Verwaltern. Klerikern und Menschenrechtlern gegen
Sie entfliehen dem gefürchteten treter westindischer Interessen — genü­ die Sklaverei. Und diese „Abolitionisten“
karibischen Klima, in dem die Europäer gend Politiker, um Entscheidungen zu­ haben den Zucker aus Westindien zum
unter der drückenden Hitze ächzen, gunsten der Kolonien wenden zu können. Symbol ihres Anliegens gemacht.
Moskitos Krankheiten wie Malaria und So wehrt die Pflanzerlobby Ver­ Angeregt von aufklärerischen Den­
Dengue übertragen und verheerende suche der Regierung ab, die Zölle auf kern wie Montesquieu und Rousseau und
Hurrikans oft große Regionen verwüsten. Zucker aus den karibischen Kolonien zu deren humanistischen Idealen von der
In der Londoner Gesellschaft prot­ erhöhen oder Einfluss auf die produzier­ angeborenen Gleichheit aller Individuen,
zen diese neureichen absentees mit ihren te Menge zu nehmen. Sie erreicht sogar, lehnen die Gegner der Sklaverei den Be­
Wohnpalästen, den prächtigen Kutschen dass die Royal Navy statt Brandy den aus sitz eines Menschen durch einen anderen
und livrierten Dienern; sie tragen die dem Zuckerprodukt Melasse destillierten ab. Wohlhabende Briten engagieren sich
feinsten Stoffe, geben luxuriöse Feste. Rum an ihre Matrosen verteilt. in Stiftungen für die Armen.
William Beckford, im 18. Jahrhun­ Die Ideale der Humanisten verbin­
dert einer der mächtigsten karibischen den sich mit christlichen Werten wie der
Pflanzer und vielleicht der reichste Mann Nächstenliebe zum bekanntesten Slogan
Europas, lässt zu einer Feier 600 Gede­ der Abolitionisten, geschrieben auf Flug­
cke auflegen; sein Sohn erhält Klavier­ blättern unter das Bild eines in Ketten
unterricht von einem achtjährigen Jun­ gelegten schwarzen Mannes: „Bin ich
gen namens Wolfgang Amadeus Mozart, nicht ein Mensch und Bruder?“
der als Wunderkind durch England reist. Vor allem die Quäker vertreten die
Zwar lacht die feine Gesellschaft Forderung nach der Abschaffung der
über Beckfords schlechtes Latein. Trotz­ Sklaverei - eine kleine christliche Glau­
dem wird er zweimal zum Bürgermeister Auch Englands übrige Wirtschaft pro­ bensgemeinschaft, die im Konflikt mit
von London gewählt. fitiert von dem Geschäft mit dem Zu­ der britischen Regierung liegt.
Denn die Pflanzer verfugen über cker. Denn bei allem Einfluss der Plan­ Da die Quäker Gewalt ablehnen,
eine mächtige Lobby an der Themse. tagenbesitzer - an einige Regeln müssen verweigern ihre Mitglieder den Militär­
Nahezu jede wohlhabende Zuckerfamilie auch sie sich halten: Das Mutterland dienst und zahlen keine Steuern, die für
zählt einen Parlamentsabgeordneten zu verbietet es den westindischen Kolonis­ Kriegskosten erhoben werden. Quäker
ihren Verwandten. Um 1765 sitzen im ten beispielsweise, den Zucker in andere dürfen keine politischen Ämter beklei­
Londoner Unterhaus mehr als 40 Ver­ Länder zu verkaufen. Es untersagt ihnen den, trotzdem zählen sie einflussreiche

44 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Bankiers, Minenbesitzer und Eisenfab­ ckers auf. Zehntausende folgen und ver­ genzeugenberichte über die Zustände auf
rikanten zu ihren Mitgliedern. zichten auf den karibischen Süßstoff den Zuckerinseln. Missionare, Offiziere
Bald schließen sich weitere religiöse oder kaufen Zucker aus Indien. Dort wird oder ehemalige Plantagenmitarbeiter
Gemeinschaften wie die Methodisten der Rohstoff seit einiger Zeit ebenfalls erzählen sie.
und Baptisten den Forderungen der angebaut - von Lohnarbeitern. Schon
werben Kolonialwarenhändler mit Zu­
cker aus „freier Arbeit“. Es sind abscheuliche Geschichten wie
Ohne den Prozess aufhalten zu die über den Sklavenhalter Adam Steel,
Die Plantagen können, müssen die Plantagenbesitzer der die 15-jährige Sarah aut seiner
verfolgen, wie sich immer mehr Parla­ Veranda auspeitscht, weil sie ihm nicht
sind die mentsabgeordnete aut die Seite der Skla­ sexuell zu Willen sein wollte. Um dabei
tödlichsten vereigegner schlagen - manche aus Op­
portunismus gegenüber der öffentlichen
nicht stehen zu müssen, setzt er sich auf
einen Stuhl. Während der folgenden an­
Orte des Meinung, andere aus Überzeugung.
1807 gelingt den Abolitionisten ein
derthalb Stunden müssen die Riemen
seiner Peitsche mehrmals erneuert wer­
Empire entscheidender Schritt: Das britische
Parlament verbietet im gesamten Empire
den. Das Mädchen überlebt den Gewalt­
exzess nicht.
den Handel mit Sklaven (allerdings nicht Vor dem Londoner Unterhaus be­
Quäker an. Für ihre Ziele sprechen auch deren Besitz). richtet ein ehemaliger Offizier, wie er auf
ökonomische Argumente. Die Sklaverei Rund zwei Millionen Afrikaner einer Patrouille ein Stöhnen aus einer
stehe der natürlichen Entwicklung von sind seit Beginn des Geschäfts mit der Hütte hörte und hineinging. Darin fand
Wohlstand und Moral entgegen, erklärt Ware Mensch nach Britisch-Westindien er einen Sklaven auf dem Boden aus­
etwa der schottische Wirtschaftslibe­ verschleppt worden, nun aber kommt der gestreckt, seit vier Tagen angekettet an
rale Adam Smith: Da dem Sklaven die Dreieckshandel zum Erliegen. Und aut Händen und Füßen. Ratten hatten be­
Früchte seines Wirkens vorenthalten den Plantagen versiegt der Nachschub reits einen Teil seiner Ohren gefressen.
würden, werde er - anders als ein freier an jungen, kräftigen Arbeitern. Die Briten lesen, dass Männer, die
Mensch - so wenig Anstrengung wie Die Pflanzer protestieren. Doch sie sich in den besten Kreisen Londons be­
möglich auf seine Arbeit verwenden. finden in England kaum noch Gehör. wegen, auf ihren Plantagen in der Kari­
Immer mehr Briten empfinden die Den Briten sind ihre Landsleute in der bik wie Tyrannen herrschen. Die Pflan­
Sklavenhaltung als überholt und schänd­ Karibik fremd geworden. Fast jeder zer oder ihre Verwalter bestrafen jedes
lich. Die Abolitionisten rufen schließlich kennt - aus der Zeitung oder Informa­ Fehlverhaltcn, foltern, schlagen für Dieb­
sogar zum Boykott westindischen Zu­ tionsblättern der Abolitionisten — Au­ stahl oder Fluchtversuch Gliedmaßen ab.
Wer sich auflehnt, muss damit rech­
nen, lebendig verbrannt zu werden -
langsam, zuerst an Händen und Füßen.
Auf manchen Plantagen stehen zur Ab­
schreckung die auf Pfähle gespießten
Köpfe eingefangener Flüchtlinge.
Und überall regiert die Peitsche.
Die Lederriemen gehen auf die Rücken
derer nieder, die über Hunger klagen,
sie zerfetzen die Haut der Kranken, die
nicht zur Arbeit kommen können, sie
schlagen die Müden, die Lachenden, die
Protestierenden; sie treffen die im Feld
Arbeitenden auf den Rücken und auf
ihre Beine.
Wer die Hand zur Abwehr hebt,
muss aus der Reihe treten und sich
bäuchlings auf den Boden legen. Dann

Anpflanzen von Zuckerrohr. 1830 schuften


mehr als 300 000 schwarze Sklaven auf den
800 Plantagen Jamaikas

GEO EPOCHE Das Britische Empire 45


Im Zentrum der Güter wie hier von
Old Montpelier liegt jeweils das weiße
lässt der Antreiber die Peitsche über Solche Regelungen seien ein „Akt Herrenhaus, meist auf einer Anhöhe
seinem Kopf kreisen und niedergehen, der Zerstörung, der die Einwohner die­
bis er meint, dass es genug sei. Um ihre ser einst so geschätzten und wertvollen
privilegierte Position nicht zu verlieren, Kolonie dazu bestimmt, als Sühneopfer
müssen die Antreiber stets beweisen, dass auf dem Altar des Fanatismus geopfert den englischen Zeitungen aut Jamaika
sie keine Milde zeigen. zu werden“, schimpfen die Mitglieder klingt es so, als stünde die Abschaffung
Nirgendwo im Empire sterben die des jamaikanischen Parlaments in einer der Sklaverei im gesamten Empire un­
Menschen so schnell wie als Sklaven auf gemeinsam verfassten Resolution. mittelbar bevor.
den Zuckerrohrplantagen der West In- Und im November 1831 lehnt das
dies. Etwa jeder dritte Zwangsarbeiter Abgeordnetenhaus der Insel öffentlich
auf Jamaika kommt in den ersten drei und endgültig die Umsetzung eines sol­ Der 31-jährige Haussklave Samuel
Jahren nach seiner Ankunft aut der Insel chen Gesetzes ab. Sharpe in Montego Bay liest die Berich­
um - vor allem durch Gewalt, Krankheit Dabei stehen in jenem Jahr die te aus London mit großer Aufmerksam­
oder Selbstmord. Chancen zur Abschaffung der Sklaverei keit (die Lokalzeitung erhält er von sei­
Nach dem Verbot des Sklavenhan­ im Empire so gut wie nie zuvor. England nem Neffen aus einer Druckerei in der
dels fühlen sich die Pflanzer von Eng­ plant eine Parlamentsreform (die eine Stadt). Als Hauptdiakon der großen
land verraten. Denn wie sollen sie ohne Zunahme der Zahl der Wahlberechtigten schwarzen Baptistengemeinde gehört
Leibeigene weiter Zucker produzieren? um 50 Prozent bringen wird). Nach Jahr­ Sharpe zur Sklavenelite Jamaikas - zu
Als das Londoner Parlament 1823 zehnten konservativer Herrschaft könn­ jenen Zwangsarbeitern, die nicht auf den
den Kolonien zudem auch noch emp­ ten neue, liberalere, gegen die Sklaverei Plantagen schuften, sondern als Butler
fiehlt, Gesetze zum Wohl der Sklaven zu eingestellte Kandidaten ins Parlament in den Häusern ihrer Besitzer oder als
verabschieden, die unter anderem ein gewählt werden. Handwerker in den Städten arbeiten.
Verbot des Auspeitschens von Frauen Mit ihrer Anti-Sklaverei-Kampa- Um auch in weiter entfernten Kir­
vorsehen sollten, empören sich Jamaikas gne gewinnen die Abolitionisten nun chen predigen zu können, hat Sharpe von
Zuckerbarone. anderthalb Millionen Unterschriften. In seinem Herrn sogar eine Reiseerlaubnis

46 GEO EPOCHE Das Britische Empire


erhalten. Er lebt fast wie ein freier Mann. Männer zu töten, deren Frauen und Kin­ besitzer sind sich darin einig, dass sie
Aber er ist es nicht. der aber weiterhin in Sklaverei zu halten. keine Schwarzen freilassen werden.
Wie Sharpe sind Zehntausende Sollten sich seine Leidensgenossen Dem ersten Geheimtreffen der Ver­
Sklaven zum christlichen Glauben über­ nicht wehren, würden die Weißen sie schwörer folgen weitere. Sharpe und
getreten. Die Missionskirchen der Bap­ abknallen wie Tauben, erklärt Sharpe. Es seine Mitstreiter kommen in Sklaven­
tisten, Methodisten oder Quäker werben gebe nur einen Weg, die Freiheit zu er­ häusern oder bei Gebetskreisen auf den
in den Kolonien um die Seelen. langen: nämlich dafür zu kämpfen. Plantagen zusammen. Stets enden die
Die Gotteshäuser sind für die Die Worte des Predigers rütteln die Versammlungen mit dem Schwur auf die
Unterdrückten Orte des Mitgefühls, der Anwesenden auf — so werden sie es später Bibel, nach Weihnachten die Arbeit zu
Gnade - und der Würde: Die Gläubigen dem Missionar Bleby berichten. Gebannt verweigern. Sharpes engste Mitstreiter -
erhalten Mitgliedsausweise, können in lauschen sie, als Sharpe seinen Plan wei­ wie er Angehörige der Sklavenelite - ver­
den Kirchen lesen und schreiben lernen, ter erläutert: Am Tag nach Weihnachten breiten den Plan; auf diese Weise infor­
Diakone werden und vor eigenen kleinen sollen alle ihre Arbeit niederlegen und mieren die Verschwörer die Schwarzen
Gemeinden auf den Plantagen predigen. sie erst wieder aufnehmen, wenn ihnen auf rund 100 Plantagen.
Die Sklavenhalter verfolgen die Ar­ ihre Freiheit zugesichert worden ist und Aber im Dezember dringen erst­
beit der Kirchen mit Misstrauen. Aber sie Lohn erhalten. mals auch Gerüchte nach außen.
sie wissen, dass ihr Ansehen im Mutter­ Gewalt dürfen sie nur zur Selbst­
land noch weiter sinken würde, wenn sie verteidigung ausüben. Der Streik, be­
keine Gotteshäuser auf ihrem Boden schwört er seine Zuhörer, könne nur
zuließen. Ein paar Pflanzer aber begrü­ wirken, wenn sich alle daran beteiligten.
ßen die Missionierung ihrer Sklaven - sie Schließlich zieht Sharpe eine Bibel
glauben, der christliche Glaube der Un­ hervor und lässt alle Anwesenden darauf
freien sei ein Schutz vor Aufständen. schwören, den Streik nicht zu brechen.
Tatsächlich sehen die europäischen Er selbst küsst sie als Erster.
Missionare ihre Aufgabe vor allem dar­ Dabei weiß er genau, dass keinerlei
in, den Unfreien Trost zu spenden. Mit Freiheitsurkunde für Jamaikas Sklaven
Geduld sollen die Schwarzen ihr Los auf dem Weg von England zu den West Kurz vor Weihnachten 1831 entlädt sich
akzeptieren, predigen die Pfarrer, bis es Indies ist. Er will seinem Plan mit dieser die zunehmende Spannung mit der Re­
Gott gefalle, sie davon zu erlösen. Unwahrheit wohl nur mehr Überzeu­ volte auf der Salt-Spring-Plantage.
Sam Sharpe aber beruft sich in sei­ gungskraft verleihen. Für Jamaikas Weiße werden damit
nen Ansprachen auf andere Bibelstellen. Allerdings diskutieren die Pflanzer böse Ahnungen zur Gewissheit: Sie wis­
Vor Gott sind alle Menschen gleich, der Insel längst darüber, was sie unter­ sen nun, dass der Aufstand jederzeit
liest er in der Heiligen Schrift. Und: nehmen werden, sollte London ihnen ausbrechen kann. Ängstlich erwarten sie
„Niemand kann zwei Herren dienen.“ die Haltung von Sklaven verbieten. die Feiertage. Denn die Sklaven haben
Im Frühjahr 1831 lässt er Vertrauten Kommentatoren in den Lokalzeitungen per Gesetz über Weihnachten frei.
Einladungen überbringen: zu einer ge­ fordern für diesen Fall die Abspaltung Am 25. Dezember trifft sich der
heimen Versammlung in das Haus eines Jamaikas vom Empire. Und die Guts­ engste Kreis der Verschwörer zum letzten
befreundeten Sklaven. Er hat einen Mal im Haus eines Sklaven. Sam
mutigen Plan gefasst. Sharpe ist nicht dabei. Der Aufstand
Sharpe ist bekannt für die soll drei Tage später beginnen: mit
Gabe, sein Publikum in einen fast einem Generalstreik.
hypnotischen Bann zu ziehen. Damit Anschließend wollen sie die
seine Stimme nicht aus dem Haus Weißen von deren Anwesen vertrei­
dringt, spricht er leise, ruhig, doch ben - und zwar friedlich. Doch die
zugleich eindringlich. Umstürzler wissen, dass der Streik
Die Weißen hätten kein Recht, nicht ohne Kampf abgehen wird.
die Schwarzen zu unterdrücken, hebt Um sich gegen Pflanzer oder deren
er an. Zudem hätten sich die Eng­ Bürgermiliz verteidigen zu können,
länder und ihr König von der Skla­ planen die Freiheitskämpfer daher,
verei abgewendet: Ein Papier, das den auf den Plantagen Waffen und Pferde
Sklaven Jamaikas ihre Freiheit zusi­ an sich zu nehmen.
chere, sei bereits unterwegs, behaup­ Zudem benennen die Verschwö­
tet er. Aber die Pflanzer planten, sich rer zwei Sklaven zu „Colonels“: Sie
dem Entschluss des englischen Kö­ Brutale Strafen zwingen die Sklaven zum sollen Aktivisten für ein „Black Re­
nigs zu widersetzen. Schlimmer Gehorsam. Schon für kleinste Vergehen werden giment“ rekrutieren, um die Kämpfer
noch: Sie hätten vor, alle schwarzen Männer und Frauen bis aufs Blut gepeitscht der weißen Bürgermiliz zu vertreiben.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 47


Nur in
den Städten
sind die
Weißen noch
sicher

ehern, die die Insel von Norden nach


Der Aufstand auf Jamaika beginnt nach Südwesten durchquert: Er soll den Auf­
Weihnachten 1831 zunächst mit einem Streik. Doch schon ständischen diese Route versperren.
bald kommt es auch zu Gewaltausbrüchen Aber aus Angst vor den Feuern ver­
schanzt sich Grignon mit seinen Män­
nern auf der großen Plantage Old Mont-
pelier, die etwas näher an Montego Bay
Während die Aufrührer dem Ende Doch auf wie vielen Plantagen tat­ liegt. Von dort fordert er Unterstützung
der Feiertage entgegenfiebern, besuchen sächlich die Arbeit verweigert wird, weiß durch britische Soldaten an. Noch am
die Weißen in den Städten der Insel die niemand: Die Anwesen liegen zu weit Abend des 28. Dezember erreicht eine
Weihnachtsgottesdienste. Die Feiertage auseinander. Keiner kann sagen, ob die Militäreinheit die Plantage.
verstreichen. Am 27. Dezember 1831 Streikfront hält und es sich wirklich lohnt, Doch inzwischen haben die beiden
schließlich werden die schlimmsten Be­ für die Sache sein Leben hinzugeben. schwarzen Colonels fast 500 Männer
fürchtungen der Pflanzer wahr. Oft greifen die Aufseher schon rekrutiert und nach Einbruch der Dun­
Am Abend jenes Tages brechen ei­ am Morgen des ersten Streiktages hart kelheit an den Schafställen der Mont-
nige Sklaven auf der Kensington-Plan- durch. Sie wählen einzelne Schwarze aus, pelier-Plantage versammelt. Sie wollen
tage die Tür zum Rumlager auf und be­ halten ihnen Pistolen an die Köpfe, bis das Anwesen stürmen und Grignons Re­
trinken sich. Kurz darauf zünden sie den sie die Arbeit wieder aufnehmen. Und so giment vertreiben. Rund 100 von ihnen
Lagerschuppen für das Heizmaterial an. bricht der Widerstand vielerorts schnell haben gestohlene Pistolen oder Gewehre
Weithin sichtbar thront Kensington zusammen. Sharpes Plan scheint bereits dabei. Manche tragen in den Wochen
über allen anderen Plantagen im Um­ am 28. Dezember gescheitert. zuvor heimlich geschneiderte Uniformen.
kreis. Bald schlagen die Flammen hoch Einer der Colonels gibt den Befehl
in den Nachthimmel. Auf die Sklaven zum Angriff. Unter dem Dröhnen von
der Nachbaranwesen - von denen viele Hörnern, schrillen Pfiffen und Geschrei
wohl nur vage Informationen über Sam stürmen die Sklaven das Anwesen.
Sharpes Plan erhalten haben - wirkt das Statt sich den Angreifern entgegen­
Feuer als Signal: Aufstand! zuwerfen, befiehlt Grignon seinen Män­
Die Pflanzer und ihre Familien flie­ nern von der Miliz, sich mit erhobenen
hen panisch in die nächstgelegenen Waffen in Formation aufzustellen und
Städte an der Küste. Doch bei allem Tu­ zu warten, bis die Gegner aut 30 Meter
mult: Kein Umstürzler greift einen der herangekommen sind.
Weißen an. Die Arbeit ruht. Jamaikas Gouverneur lässt noch am sel­ Die Verteidigung der Plantage
Auf zahlreichen Plantagen bleiben ben Tag das Kriegsrecht ausrufen. Boten überlassen sie dem britischen Militär.
die Schwarzen am nächsten Morgen in galoppieren über die Insel, um alle wehr­ Es ist schwarze Nacht. Nur für
ihren Quartieren. Das erntereife Süßgras fähigen weißen Männer zu den Waffen Sekundenbruchteile erhellen die Mün­
steht unberührt. Kein Sklave steckt Zu­ zu rufen. William Grignon, der Plan­ dungsfeuer der Musketen die Szenerie.
ckerrohr zwischen die schweren Walzen tagenverwalter von Salt Spring - und Dann aber stecken die Sklaven einen
in den Mühlen, die den Saft aus den Kommandeur der einzigen Bürgermiliz Schuppen in Brand.
Pflanzen pressen. Das Feuer unter den im Landesinneren des Nordwestens —, Im Flammenschein sind sie für die
Kesseln, in denen der Rohrzuckersaft zu hat die Aufgabe, mit seinem 250 Mann Soldaten nun leichte Ziele; die beiden
Sirup eingekocht wird, bleibt kalt. starken Regiment eine Straße abzusi- schwarzen Colonels fallen im Kugel­

48 GEO EPOCHE Das Britische Empire


hagel. Ihrer Führung beraubt, fliehen die Empörer im westlichen Landesinneren die sie zur Selbstverpflegung angelegt
übrigen Rebellen in die Dunkelheit. kaum noch auf Gegenwehr stoßen. haben. Mancherorts verteidigen sie die
Schon am Morgen darauf ziehen Gebäude der Güter gar gegen andere
die Soldaten auf Old Montpelier aus Aufständische, um die Plantagen zu
Angst vor weiteren Angriffen gemeinsam Anfang Januar 1832 sind die ländlichen schützen — für später, wenn sie freie Ar­
mit Grignon und seinen Männern nach Gebiete im Westen Jamaikas vollständig beiter geworden sind.
Montego Bay ab. Damit überlassen sie in der Hand der Aufrührer. Nur die Küs­ Manche Streikende sind in die
das Landesinnere den Umstürzlern. tenstädte sind für die Weißen noch si­ Wälder geflohen. Hunderte andere haben
Den einzigen Toten aus ihren Rei­ cher. Viele von ihnen rechnen mit dem sich zu kleinen, unabhängig voneinander
hen lassen die Weißen in der Eile zurück. Tod. Werden sich die Sklaven nicht rä­ handelnden Kampftrupps zusammenge­
Nur wenige Stunden nach dem chen für alles, was ihnen angetan wurde? funden, die entlang der Hauptstraßen
überstürzten Aufbruch von Old Mont­ Vielen Pflanzern steht vermutlich Soldatenpatrouillen auflauern.
pelier steht das gesamte Anwesen in das Schicksal der französischen Kolonis­ Da es keine Informationen aus an­
Flammen, angesteckt von Aufständi­ ten auf Saint-Domingue (dem heutigen deren Teilen der Insel gibt, vermuten
schen. Den zurückgelassenen Toten wer­ Haiti) vor Augen, das durch einen 1791 viele Sklaven bereits ganz Jamaika in der
fen die Schwarzen ins Feuer. ausgebrochenen Aufstand vollständig Hand der Aufrührer. Sie wissen nicht,
Anschließend ziehen Rebellengrup­ in die Hand der Sklaven fiel. Die weißen dass im Osten Zuckerrohr geerntet wird,
pen von Plantage zu Plantage durch das Siedler dort wurden von der Insel ver­ als wäre nichts geschehen.
Gebiet westlich von Montego Bay, plün­ trieben oder getötet. Jamaikas Gouverneur, der in Spa-
dern und brandschatzen. Rund 60 000 Schwarze sind nun nish Town im Osten residiert, hat unter­
Der Aufstand bleibt auf diesen Teil auf Jamaika im Aufstand. Doch längst dessen Sir Willoughby Cotton, den
der Insel beschränkt. Wahrscheinlich nicht alle plündern oder stecken Häuser Oberbefehlshaber der britischen Truppen
haben Sharpes Kontakte nicht weiter in Brand: Viele verweigern einfach nur auf Jamaika, mit mehreren Hundert Sol­
gereicht. Zudem sind im Osten mehr die Arbeit, bleiben in ihren Hütten, daten auf zwei Fregatten nach Montego
Militärposten stationiert - während die kümmern sich um ihre Gemüsegärten, Bay entsendet. Als die Schiffe dort im

Um Old Montpelier entbrennt am 28. Dezember 1831 ein heftiges Gefecht: Zwar wehren britische Soldaten dort einen Angriff
der Rebellen ab. Doch als die Truppen fortziehen, kehren die Aufständischen zurück und legen Feuer. Bald darauf ist der gesamte
äußerste Westen Jamaikas in der Hand von 60 000 revoltierenden Sklaven, immer mehr Herrenhäuser gehen in Flammen auf

GEO EPOCHE Das Britische Empire 49


Die Rebellen haben nur wenige Waffen, und so schlagen die britischen Truppen den Aufstand innerhalb weniger Wochen nieder.
Die meisten Sklaven kehren zu ihrer Arbeit zurück, als ihnen der britische Kommandeur die Begnadigung verspricht, wenn sie sich
ergeben. Doch die Pflanzer halten sich nicht an die Zusage des Generals: Die wütenden Weißen lynchen Dutzende Schwarze

Januar landen, begrüßen die Rebellen im kampf. Die kleinen, beweglichen Skla­ Sie fallen in die Sklavenquartiere
Umland die Nachricht mit Jubel: Noch ventrupps verbergen sich im dichten ein, verwüsten Häuser und machen Jagd
immer glauben sie, Englands König habe Unterholz der Wälder oder in Höhlen, auf Schwarze - selbst wenn die am Auf­
längst ihre Freiheit beschlossen — und meist unauffindbar für die Soldaten. stand gar nicht beteiligt waren. Cottons
wähnen die Truppen aut ihrer Seite. Machtlos müssen die Briten verfol­ Soldaten müssen nun die auf die Plan­
Aber der General nimmt ihnen die­ gen, wie um sie herum immer wieder tagen zurückgekehrten Arbeiter vor den
se Hoffnung. Er verkündet im Namen Feuer ausbrechen. Bald sind etliche der entfesselten Sklavenjägern schützen.
Seiner Majestät, dass alle Aufständi­ einst strahlend weißen Herrenhäuser Dennoch verschleppen die Pflanzer
schen, die friedlich zu ihren Plantagen im Rebellengebiet rauchende Trümmer. und ihre Helfer Hunderte Schwarze nach
zurückkehren und ihre Arbeit wieder Allerdings lynchen die Aufständischen Montego Bay und in andere Städte und
aufnehmen, begnadigt werden. Doch wer nicht einen ihrer weißen Peiniger. werfen sie in Kerker.
sich weigert, muss mit dem Tod rechnen. Dann aber lässt Cotton die Wälder Auf den Marktplätzen der Städte
Auf Sharpe und andere Anführer von kleinen Einheiten durchkämmen. stehen nun eilig errichtete Galgen. In
setzt der Gouverneur ein Kopfgeld von Gegen diese Trupps haben die militä­ Schnellverfahren werden die Aufstän­
je 300 Dollar aus. Erst jetzt begreifen die risch ungeübten Rebellen keine Chance. dischen nach Kriegsrecht zum Tode ver­
Umstürzler, dass Englands Regierung urteilt. Viele der Richter sind Pflanzer,
nicht auf ihrer Seite steht. die durch die Revolte Verluste erlitten
Inzwischen kontrollieren die Auf­ Die meisten Sklaven sind nach Cottons haben: Es seien „vor Wut schäumende
rührer ein fast 2000 Quadratkilometer Proklamation ohnehin auf die Plantagen Männer“, notiert der Missionar Bleby.
großes Gebiet zwischen Montego Bay zurückgekehrt. Sie verlassen sich aut die Unter dem Galgen in Montego Bay
und Savanna-La-Mar. In den folgen­ ihnen zugesicherte Begnadigung. türmen sich Leichen. Jeden Abend laden
den zwei Wochen kreist General Cotton Aber die Pflanzer wollen sich daran Sklaven sie auf Karren und werfen sie
diese Region mit seinen Truppen nach nicht halten. Viele hat der Aufstand rui­ außerhalb der Stadt in eigens dafür aus­
und nach ein, um eine Ausbreitung des niert, die Ernte ist zerstört, ihre Häuser gehobene Gräben.
Aufstands nach Osten zu verhindern. und Höfe sind verkohlte Ruinen. Sie Ende Januar spüren Cottons Solda­
Die hügelige Gegend in Westja­ wollen Rache und scheren sich nicht um ten etliche noch verbliebene Rebellen in
maika eignet sich ideal für den Guerilla­ das Versprechen des Generals. einer Höhle auf. Kurz darauf stellen sich

50 GEO EPOCHE Das Britische Empire


die letzten Anführer. Der Umsturzver­ verei, verstorben am 31. Juli 1838 im Alter
such ist niedergeschlagen. von 276 Jahren“. Endlich sind sie frei.
Die Sklaven haben rund 200 Plan­ Nach wie vor aber bestimmen die
tagen teilweise und fünf vollständig zer­ Pflanzer den Alltag in der Kolonie. Viele
stört, der Schaden beläuft sich auf über Schwarze arbeiten weiter für wenig Geld
eine Million Pfund (abgesehen von dem auf den Feldern ihrer alten Herren, denn
zusätzlichen Verlust durch die getöteten die verlangen nun Miete für die Quar­
und hingerichteten Sklaven). 14 Weiße tiere und die Gemüsegärten und drohen
sind den Freiheitskämpfern zum Opfer mit Vertreibung, wenn die ehemaligen
gefallen, mindestens 430 Schwarze sind Sklaven den Gehorsam verweigern.
bis dahin umgekommen. Andere werden arbeitslos und hun­
Auch Sam Sharpe wird verhaftet. gern, weil die Plantagenbesitzer Zehn­
Obwohl er seine Leidensgenossen aus­ tausende billige Arbeiter einschiffen,
drücklich nur zu Streik und passivem etwa aus Indien.
Widerstand aufgerufen hat, gilt er den Doch zunehmend leiden die west­
Weißen als Anführer der Rebellion. Vor indischen Zuckerproduzenten unter der
Gericht nimmt er alle Schuld auf sich. Konkurrenz aus anderen Regionen, etwa
Die Richter verfügen, dass er als letzter aus Kuba und Brasilien, wo weiterhin
Aufrührer gehängt werden soll. Leibeigene auf den Plantagen arbeiten.
Am 23. Mai 1832 versammeln sich Zudem erodieren die über Jahrhunderte
Schaulustige auf dem Exekutionsplatz Der Sklave und Prediger Sam Sharpe war ausgelaugten Böden. Wenige Jahrzehnte
in Montego Bay, um die Hinrichtung des der Kopf des Aufstands. Er wird verhaftet nach der Abschaffung der Sklaverei ist
obersten Empörers mitzuerleben. und am 23. Mai 1832 gehängt die Insel, die einst profitabelste Kolonie
Mit sicherem Schritt nähert sich des Empire, nur noch der ärmliche Hin­
Sharpe dem Galgen: „Er schien vollkom­ terhof eines Weltreichs.
men unbeeindruckt vom Nahen des To­ Die Vision des Laienpredigers Sam
des“, notiert Henry Bleby. Der Missionar überhaupt erst zum Widerstand ver­ Sharpe aus Montego Bay aber, nach der
überliefert auch jene Worte, die Sharpe führt? War nicht Sharpe ein Baptisten­ kein Mensch der Besitz eines anderen
später zum nationalen Helden Jamaikas prediger? Kirchen gehen in Flammen sein darf, verbreitet sich dank des mora­
werden lassen: „Lieber an jenem Galgen auf, Geistliche werden verprügelt. lischen Feldzugs der Abolitionisten nach
sterben, als leben und Sklave sein.“ Ein Mob weißer Pflanzer überfallt und nach über die ganze Welt. 1848 ver­
Ein Henker legt ihm die Schlinge Henry Bleby, den Missionar und Chro­ bietet Frankreich endgültig die Sklave­
um den Hals. Momente später ist der nisten des Aufstands, in seinem Haus, rei, 1863 folgen die Niederlande, in den
Mann, der den Schwarzen von der Zu­ teert und federt ihn, bevor ihm Freunde USA führt erst der Bürgerkrieg 1865 zum
ckerinsel die Freiheit bringen wollte, tot. zu Hilfe kommen können. Ende des Handels mit Menschen.
Kaum ein Politiker in London wagt Und 1948, gut ein Jahrhundert
es jetzt noch, sich auf die Seite der Zu­ nachdem die Schwarzen in Jamaika ihre
ckerbarone zu stellen. Das Parlament Freiheit bejubeln konnten, verkünden die
beschließt, im gesamten Empire die Vereinten Nationen das Verbot von Skla­
Sklaverei zu verbieten. Das neue Gesetz verei und Sklavenhandel in jeder Form -
tritt am 1. August 1834 in Kraft. in der allgemeinen Erklärung der Men­
Allerdings sind die Zugeständnisse schenrechte, die mit dem Satz beginnt:
an die Plantagenbesitzer beachtlich. Die „Alle Menschen sind frei und gleich an
Abgeordneten verabschieden eine Uber­ Würde und Rechten geboren.“ 9
gangsfrist von mehreren Jahren sowie
Sein Traum aber ist es nicht. Die Berich­ 20 Millionen Pfund, etwa 40 Prozent des Christina Schneider, Jg.
1975, ist Autorin
te der Missionare von den West Indies britischen Staatshaushalts, als Entschä­ in Adenbüttel bei Braunschweig.
sind das letzte Argument, das die Abo- digung für das verlorene „Eigentum“ der
litionisten in London noch brauchen für Sklavenhalter - also für ihre nun frei-
ihren Kampf gegen die Sklaverei. Zumal gelassenen Leibeigenen. LITERATUREMPFEHLUNGEN: Elizabeth
die alarmierenden Nachrichten aus Ja­ Am 1. August 1838 ist es so weit: Abbott. „Sugar, A Bittersweet HistoryOver­
maika nicht abreißen. Jubel bricht um Mitternacht in allen look Books: Geschichte des „weißen Goldes"
Denn der Hass der Pflanzer richtet Städten Jamaikas aus. Die Schwarzen von der ersten Kultivierung des Zuckerrohrs
sich nun auch gegen die Missionare. Ha­ feiern Dankgottesdienste. In einer Kirche bis heute. Adam Hochschild. „Sprengt die
ben sie nicht die Schwarzen mit ihren tragen Menschen einen Sarg zu Grabe Ketten", Reclam: spannende Darstellung des
Ideen von der Gleichheit aller Menschen mit der Aufschrift: „Die koloniale Skla­ Kampfes um die Abschaffung der Sklaverei.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 51


Die Frauen der Kolonialbeamten -um 1835

Ein britisches
Ehepaar in
Indien macht sich,
unterstützt von
Dienern, bereit
zum Ausritt. Seit
1765 kontrolliert
die East India
Company große
Teile des Sub­
kontinents

DAHEIM

FREMDE
Gemeinsam mit ihrem Mann, einem Kolonialbeamten der Londoner East India Company, erreicht
Fanny Parkes im November 1 8 2 2 Kalkutta. Doch im Gegensatz zu vielen anderen colonial wives will sie
ihren Gatten nicht nur begleiten und in der Fremde unterstützen - sie will Indien begreifen
------------ Text: CONSTANZE KINDEL: Illustrationen: GEORGE F. ATKINSON und JAMES B. FRASER

52 GEO EPOCHE Das Britische Empire


das es zu sehen, zu verstehen gilt. Mögen
die Männer das Land verwalten, mögen
die wenigen Ehefrauen ihnen in der die durch Brust und Rücken getrieben
fremden Welt zur Seite stehen wollen - werden. Die, betäubt von Opium und
Fanny Parkes will Indien begreifen. dem Hanftrank Bhang, so ihre Sünden
Sie sammelt Eindrücke und Erfah­ büßen - oder die anderer, die sie dafür
rungen, unermüdlich. Lernt Persisch und bezahlen. Fanny Parkes schaut hin, bei
Urdu, lässt sich von einem indischen allem, was ihr Indien bietet. Und selbst
Musiker das Sitarspielen beibringen, das, was sie abstößt, fasziniert sie noch.
auch wenn ihre Freunde lachen, wenn Mrs. Parkes ist in so vielem anders
sie Fanny an den Saiten zupfen sehen. In als die anderen memsahibs, die britischen
ihrem Haus in Allahabad arrangiert sie Ehefrauen in Indien, und sie gibt sich
Drinnen im Dämmerlicht werfen die ein Kuriositätenkabinett, Schädel von keine Mühe, das zu verbergen, auch
Marmorwände jedes Wort als Murmeln Tigern, Hyänen, Krokodilen; einen Skor­ wenn man sie belächelt und bestaunt in
zurück und alles Stimmengewirr als pion, den sie im Badezimmer erschlagen ihrer Begeisterung flir ein Land, das allen
Donner. Kein Gebet, das über den Grä­ hat, legt sie in arsenhaltiger Seife ein; Opferbereitschaft abverlangt und nicht
bern gesprochen wird, bleibt ohne Echo. einen Alligator, gefangen im Fluss Ya- wenige das Leben kostet.
Im Gewölbegemach im tiefsten Inneren muna, der unterhalb ihres Hauses fließt, Jedes Jahr zwischen April und Ok­
des Mausoleums liegen sie Seite an Seite lässt sie präparieren und auf der Veranda tober, wenn erst die Hitze und dann der
in steinernen Sarkophagen, der Mogul- festnageln, bis er zu Form erstarrt ist. Monsun das britische Leben lähmt, plant
Kaiser Shah Jahan und die Frau, die ihm Sitten und Glauben der Hindus sie ihre Reisen durch das Land, die sie in
die liebste war. Zu Ehren der Kaiserin studiert sie mit solcher Hingabe, dass der kälteren Jahreszeit antritt, oft allein,
Mumtaz Mahal hat der Herrscher das ihre Freunde behaupten, sie würden sie fast immer ohne ihren Mann, den Indien
Taj Mahal in seiner Hauptstadt Agra wohl eines Tages bei einem religiösen anderweitig beschäftigt hält - wohl aber
errichten lassen, hat ihr und seiner Liebe Ritual im Fluss vorfinden. mit einer Schar von Bediensteten.
ein Denkmal gesetzt. Fanny sieht Bettelmönche, das Im Dezember 1834 bricht sie auf
„Das größte Kompliment, das einer Haar mit Schlamm verklebt und um den nach Agra zum Taj Mahal, Hunderte
Frau je gezollt wurde“, wird Fanny Parkes Kopf gewunden, die Körper mit Asche Meilen den Yamuna hinauf, in einem
später in ihrem Tagebuch notieren. Still eingerieben, nackt bis auf einen Fetzen Segelboot, der „Seagull“, das sie mit
vor Ehrfurcht steht sie im Halbdunkel Tuch. Sie sieht Männer, die sich zu Eh­ Büchern und Zeichenmaterial beladen
unter der Kuppel, legt Rupien und ren ihrer Götter Schwerter und Bambus­ lassen hat und das ein Küchenboot hin­
Rosen nieder am Grabmal der Kaiserin. stäbe durch die Muskeln ihrer Arme ter sich her schleppt. An Bord geht die
Wandert abends allein zwischen Spring­ schieben und ihre Zungen mit Spießen Memsahib allein mit ein paar indischen
brunnenfontänen und uralten Bäumen durchstoßen, sich meterhoch über der Dienstboten. Fanny Parkes nennt ihre
durch die weiten Gärten um das Grab­ Erde an Eisenhaken aufhängen lassen, Fahrt eine Pilgerreise.
mal. Schaut in schweigender Der Yamuna, flach und tü­
Bewunderung auf die himmel­ ckisch, voller Felsen und Sand­
hohen Minarette, das Flecht­ bänke, schlängelt sich zwischen
werk aus Blütenornamenten und hohen Klippen dahin, am Ufer
geschwungenen Inschriften, das Hütten und Hindu-Tempel und
den perlschimmernden Marmor die Ruinen alter Festungen.
durchzieht, ein Gebäude wie aus Fischer und Frauen in bunten
Eisblumen gemacht. Kleidern, die Tongefäße auf den
Es kommt selten vor, dass Köpfen tragen. Manchmal trei­
es Fanny Parkes die Sprache ben Körper im Fluss, halb ver­
verschlägt. Vielleicht kann nur brannte Leichen, nach hinduis-
Indien das fertigbringen. tischem Ritus bestattet; wenn
Seit einem Dutzend Jahren die Strömung sie auf eine Sand­
ist sie an diesem Januartag des bank schwemmt, machen sich
Jahres 1835 schon im Land: Geier, Krähen und Hunde aus
Frances Susanna Parkes, Ehe­ den Dörfern über die Toten her.
frau eines Zollbeamten der East Kalkuttas Straßen Manchmal ist es so kalt,
India Company, die von einer und Märkte sind für dass Fanny mit Schneestiefeln
Handelsgesellschaft längst zur viele Europäer eine und Schultertüchern unter Deck
Verwaltungsmacht der immer Zumutung: Dreck, sitzt und beim Tagebuchschrei­
ausgedehnteren Besitztümer des Elend. Gestank. ben kaum die Feder halten kann,
Empire in Indien gewachsen ist. Fanny Parkes aber weil ihre Hand so zittert.
Ein Dutzend Jahre, und sucht das Indien, in Aber wenn es sein muss,
noch immer ist da Immerneues, dem der britische dann steht sie an Deck und hält
Einfluss noch nicht
zu sehen ist
GEO EPOCHE Das Britische Empire 53
Oberste Aufgabe
einer Kolonialfrau
ist es. ihrem Mann
den Haushalt zu
führen. Auch
Fanny Parkes hat
57 Dienstboten zu
beaufsichtigen,
vom Wasserträger
über den Gärtner
bis zum Koch

St John s
Cathedral. Kalkutta.
Im Herbst wird
der sonntägliche
Kirchgang zum
Heiratsmarkt, denn
dann treffen wieder
ledige Damen
mit Schiffen aus
England ein
54 GEO EPOCHE Das Britische Empire
Männer in ihren Diensten, die darauf
bestanden, die Überseeposten in Beglei­
Ansprachen auf Urdu an die Bediens­ tung der Ehefrauen anzutreten. mann in England gefunden. Im März
teten. An Männer, die sie „meine Kinder“ Erst die Angewohnheit mancher 1822 heiratet sie Charles Parkes, der kurz
nennt und von denen sie in ihrem Tage­ Angestellten, sich indische Geliebte zu vor dem Ende seiner Ausbildung im
buch schreibt, sie sähen aus, wie sie sich halten oder, schlimmer noch, katholische College der East India Company steht,
in ihrer Jugend Kannibalen vorgestellt hat, Portugiesinnen zu heiraten, bewegte die in dem angehende Beamte zwei Jahre
so wild und seltsam: mit ihrem langen, protestantischen Direktoren der Com­ lang Mathematik, Naturphilosophie, Li­
wirren Haar, der dunklen Haut, nur mit pany, ihren Standpunkt zu ändern. teratur, Recht, Geschichte, Ökonomie
einem Tuch um die Hüften bekleidet. 1671 arrangierten sie erstmals die und orientalische Sprachen studieren.
Das letzte Stück Weges nach Agra Anreise einer ganzen Schiffsladung hei­ In Indien werden sie dafür zustän­
legt sie zu Pferd zurück, das allerletzte in ratsfähiger Frauen aus Großbritannien. dig sein, Recht und Ordnung aufrecht­
einer Sänfte. Spät am Abend kommt sie Ein Jahr lang übernahm die Firma deren zuerhalten und Steuern einzutreiben, die
dort an, in der alten Hauptstadt des Mo­ Versorgung in Indien - lange genug, um wichtigste Einnahmequelle der Compa­
gulreiches, am Zelt, das vor dem großen einen Ehemann zu finden, Wohlverhal­ ny. Manche von ihnen werden Bezirken
Tor des Taj Mahal für sie aufgeschlagen ten vorausgesetzt: Wer sich daneben­ von einem Drittel der Größe Englands
ist, nach einer Reise von 51 Tagen. benehme, ließen die Direktoren warnen, vorstehen.
Die Ehrfurcht, die sie an diesem werde auf Brot und Wasser gesetzt und Bürokratie und Armee — darauf
Ort empfindet, kann Fanny mit anderen heim nach Großbritannien geschickt. stützt sich die britische Herrschaft in
Engländern nicht teilen. Eines Abends Jetzt, um 1830, ist die Company an Indien. Ein paar Hundert Beamte kon­
trifft sie eine Gruppe, die vor dem Grab­ der Eheanbahnung im britischen Indien trollieren fast den gesamten Subkontinent.
mal eine Musikkapelle spielen lässt und längst nicht mehr beteiligt. „Fischerei- Im Juni 1822 besteigt das Ehepaar
Quadrillen tanzt. Im ehemaligen Palast flotte“ heißen die jungen und manchmal Parkes ein Schiff, im Gepäck Truhen
des Großmoguls haben britische Offi­ auch nicht mehr ganz so jungen Frauen, voller Kleider und Kisten mit Porzellan
ziere einige Schlafgemächer vorüberge­ die im Herbst in Indien ankommen und und Gläsern. Im November, einen Monat
hend zu einer Küche umfunktioniert, die sich auf die Suche nach einem Ehemann vor Fannys 28. Geburtstag, kommen sie
Blütenintarsien sind nun rußgeschwärzt. machen. Manche Ehen werden binnen in Kalkutta an, wo Charles sein Sprach­
Und den Marmor aus den Bädern, em­ Tagen geschlossen. studium am Fort William College been­
pört sich Mrs. Parkes in ihrem Tagebuch, Die Suche folgt einem festen Ri­ det, bevor er seinen ersten Posten antritt.
hat man zugunsten der Regierung ver­ tual. Noch in den Hafenstädten laden der Für die meisten Neuankömmlinge

Frauen
kauft, „die Auktion brachte glück­ ist Indien ein Schock. Noch bevor
licherweise eine so geringe Summe, die Schiffe angelegt haben, trägt
dass sie weiteren Plünderungen ein der Wind eine erste Ahnung heran
Ende machte“. Für die Frauen von dem, was sie erwartet: einen
Bisweilen erlaubt sie sich un­ Geruch, beißend und berauschend,
verhohlene Kritik an der britischen ist DISZIPLIN nach Jasmin und Sandelholz, nach
Herrschaft, wenigstens in ihrem Tabak und Gewürzen, Kurkuma,
Tagebuch. „Die Untertanen Seiner alles Ingwer, Nelken, nach Staub und
Majestät von Awadh“, schreibt sie Erde und dem scharfen Rauch von
über einen Fürstenstaat im Norden, brennendem Kuhdung.
„wollen keinesfalls am Segen der Indien ist Lärm und Gestank,
britischen Herrschaft teilhaben. Sie sind Kapitän des Schiffes und Damen der ist riesig, überfüllt und ungeordnet. Ist
eine reichere, gepflegtere und fröhlichere Gesellschaft zu Partys, drei, vier Abende aufgesplittert in unzählige Völker, Reli­
Rasse als die Eingeborenen in den in Folge, bei denen die eben Angekom­ gionen, Kasten. Ein Land der klaffenden
Gebieten der Company.“ Überhaupt sei menen auf hoffnungsvolle Junggesellen Kontraste, und nichts, das es Zusammen­
Indien dort am schönsten, wo von briti­ treffen. Wer weder dort noch sonntags halten könnte, kein Zentrum, keine ge­
schem Einfluss nichts zu sehen ist: „Ein in der Kirche seine Chancen zu nutzen meinsame Sprache, keine geteilte Kultur.
Ort wird durch ansässige Europäer ver­ weiß, zieht mit dem Rest der Fischerei- Frauen, die fließende, bunte Saris
dorben.“ Fanny Parkes denkt über so flotte weiter in die britischen Stationen tragen und ihr Haar zu locker geflochte­
vieles anders als andere Memsahibs. in den entlegeneren Gebieten. nen Zöpfen binden, und andere, die sich
Indien ist eine Chance für junge von Kopf bis Fuß verschleiern.
nfangs hatte die East In- Damen, die sich in der Heimat mangels Kriegerische Sikhs und Jainas, de­
dia Company Frauen auf Schönheit, Geld oder Verbindungen nen alles Leben so unantastbar ist, dass
ihren Stützpunkten über­ kaum Hoffnungen auf eine gute Partie sie Mund und Nase mit dünnen Tüchern
haupt nicht vorgesehen. machen können. Während in England bedecken, um nicht versehentlich ein
Ausnahmsweise nur ge­ Frauenüberschuss herrscht, zählt das Ko­ einziges winziges Insekt zu verschlucken.
nehmigte sie Mitte des 17. Jahrhunderts lonialreich Indien über die gesamte Zeit Wuchernd grüne Dschungel und
einigen Britinnen die Passage nach In­ seines Bestehens mindestens dreimal so karg verbrannte Wüsten, verschwenderi­
dien - ein Zugeständnis an wichtige viele britische Männer wie Frauen. scher Reichtum und erbärmliches Elend.
Die Offizierstochter Fanny Archer
aber, schön und talentiert, hat ihren Ehe­
GEO EPOCHE Das Britische Empire
Scharen in eigens angelegte hill stations
zurückziehen. Beinahe englisch scheint
Tempel für die Göttin Kali, mit einer ihnen das mild verregnete Klima dort. Im kaum. Die Briten in Übersee sind sozial
Zunge, von der Blut tropft, und einer Rest des Landes aber ist es eine Qual. weniger gespalten als in der Heimat. Es
Kette aus Menschenschädeln um den Auf das kalte Wetter, die kurzen sind fast ausnahmslos Mittelschichtsbür­
Hals. Für Shiva, den Zerstörer, und Vish- Monate, in denen das gesellschaftliche ger, denen das koloniale Leben Auskom­
nu, den Bewahrer, und für Hanuman, den Leben aufblüht, folgt erst eine fiebrige men und sozialen Aufstieg verspricht.
schwarzgesichtigen Affengott. Hitze, die zahllose unbestimmte Krank­ Dennoch ist das britische Indien
Ein Land, das sich britischem Be­ heiten bringt, und schließlich der Regen, durchaus hierarchiebewusst. Die Ange­
greifen, britischen Maßstäben entzieht. der Dächer löchrig werden lässt und stellten der Company ordnen ihre Welt
In dem Kühe heilig sind und besser leben Laken klamm und der Bücher, Kleider, nach Rang, der Status der Frauen bemisst
als viele Menschen. Möbel mit Schimmel überzieht. sich an der beruflichen Stellung des Gat­
Ein furchteinflößend grausames Manchmal wird es selbst Fanny zu ten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts be­
Land, dessen Natur blind darauf bedacht viel. Wenn die drückend heißen Tage vor stimmt der „Warrant of Precedence“, von
scheint, sich menschlicher Ordnung zu dem Monsun in Trägheit und Erschöp­ der Regierung herausgegeben, wer sich
widersetzen, Menschen zu bedrohen, zu fung zerfließen, wenn die Hitze nichts in welcher Reihenfolge bei offiziellen
vernichten, mit tödlichen Fieberkrank­ als Leere und Langeweile zulässt, findet Anlässen zum Abendessen setzen oder
heiten, giftigen Schlangen, Erdbeben, auch sie Indien schrecklich. nach dem Mahl die Toilette aufsuchen
Sandstürmen. Indiens Tage sind grelle, Manchmal steht sie an diesen Ta­ darf. Und die Frauen legen womöglich
flirrende Hitze, die schlaflosen Nächte gen mitten in der Nacht auf, zieht sich mehr Wert auf die strenge Einhaltung
begleitet vom Singen der Zikaden, vom bei Kerzenschein an, geht im Mondlicht dieser Regeln als ihre Ehemänner.
Heulen der Schakale. nach draußen und lässt ihr Pferd sat­ Ansonsten gilt ihre ganze Kraft und
Indien ist ein Schrecken. Und die teln. Um sechs Uhr morgens kehrt sie Anstrengung der Haushaltsführung so­
kleinen Gemeinschaften der Briten, die von ihrem Ausritt zurück und verbringt wie der Führung der Untergebenen -
das Land überziehen, sind die Zuflucht. den Rest des Tages mit Schlafen, Lesen, eine Aufgabe, die die Memsahibs neben
Baden und Rufen nach Sodawasser. dem Klima für die wohl größte Prüfung
usammengefügt bilden ihre Allahabad, wo der Zollbeamte halten, die Indien ihnen auferlegt.
europäischen Inseln eine ge­ Charles Parkes seit Januar 1827 seinen Faul und träge seien die indischen
schlossene Welt, mit starren Dienst versieht, unterbrochen nur von Dienstboten, diebisch und unzuverlässig,
Konventionen und unge­ einer kurzen Vertretungszeit im 200 klagen die Kolonialfrauen, die Hindus
schriebenen Gesetzen, vernarrt in Vorschriften, die ihrer
die es nicht zu überschreiten gilt. Kaste diese oder jene Tätigkeit ver­
Mit einer eigenen Sprache, die sich bieten. Schon deshalb könne man
indische Wörter leiht oder engli­ Die Herrin des nicht mit wenigen Angestellten
sche zweckentfremdet. Es ist eine auskommen, stellt Fanny Parkes
Welt, in der Inder vor allem als Haushalts darf keine fest, die in Allahabad 57 Bedienste­
Dienstboten Vorkommen und es an te zu beaufsichtigen hat, darunter
den Ehefrauen liegt, das Leben SCHWÄCHE zeigen Schneider, Gärtner, Wasserträger,
möglichst britisch zu gestalten. Wachmänner und ein Koch. Eine
Sie sorgen dafür, dass Stühle Plage allesamt, findet sie, „viel läs­
und Sofas, von indischen Schrei­ tiger als englische Dienstboten“.
nern aus indischem Holz gefertigt, unter Kilometer entfernten Cawnpore, wird Manchmal denkt Mrs. Parkes eben doch
bunten Stoffen verschwinden. auch der „Ofen Indiens“ genannt. wie alle anderen britischen Damen.
Die gestampfte Erde rund um ihre Ansonsten ist der Posten in Allaha­ An ihrem Umgang mit dem Perso­
Bungalows verwandeln sie mit der tat­ bad durchaus begehrenswert. Fanny und nal, an dem Beispiel, das sie ihm gibt,
kräftigen Hilfe des Gärtners in etwas, Charles schätzen das gesellschaftliche muss sich eine Memsahib messen lassen.
das einem englischen Rasen zumindest Leben dort, die Abendessen und Bälle. Die Angestellten sind ständig zu kon­
ähnelt. In den Beeten ringsum trotzen Allahabad hat eine Buchgesellschaft, ein trollieren. Jedes Fehlverhalten muss so­
Stiefmütterchen, Löwenmäulchen, Rit­ halbes Dutzend Billardtische und eine fort gemaßregelt werden, nicht zu streng
tersporn, gezüchtet aus Samen, die sich Meute Jagdhunde, viel mehr Unterhal­ allerdings, weil die Inder es allzu oft ein­
die Briten aus der Heimat schicken las­ tung lässt sich von einer Anstellung fern fach nicht besser wissen. Als Kinder be­
sen, der brennenden indischen Sonne. der großen Städte nicht erwarten. trachten die Briten die Einheimischen,
In zwei von drei Jahreszeiten, die Neuankömmlinge, so wollen es die mit Geduld zu erziehen.
die britischen Bewohner in Indien un­ Regeln, müssen schnellstmöglich und Eine vorbildliche Kolonialfrau zeigt
terscheiden, scheint das Klima des Lan­ höchst förmlich alle ansässigen Familien keine Schwäche, keine Müdigkeit, lässt
des schier unüberwindbar feindlich, kennenlernen, in einer genau festgeleg­ nie die nötige Disziplin vermissen, ver­
zumal in jenen Jahren, ehe die Briten ten Folge von Besuch und Gegenbesuch, liert nie die Kontrolle. Wer seine Dienst­
Indiens Berge als Fluchtort entdecken die in einer Einladung zum Abendessen boten schlägt und anschreit, schadet dem
und sich in den heißen Sommern in zu Ehren der Zugezogenen gipfelt. eigenen Ansehen und dem des Empire.
Die gesellschaftliche Herkunft der
expatriates, ihre Abstammung, zählt hier
56 GEO EPOCHE Das Britische Empire
1827 ziehen
Charles Parkes und
seine Frau Fanny
ins nordindische
Allahabad. Ihr Haus
liegt am Ufer eines
Flusses - wie auch
dieses Gebäude
des Botanischen
Gartens von
Kalkutta

Die Gesellschaft
in den britischen
Niederlassungen folgt
einer strengen Hier­
archie. So bestimmt
der Rang innerhalb
der Company etwa,
wer wann und wo bei
Dinnerpartys Platz
nehmen darf
GEO EPOCHE Das Britische Empire 57
Ein Diener
serviert dem Haus­
herrn Tee auf der
Veranda. Die Briten
kultivieren auch in
Indien ihre Lebens­
art, verabreden
sich zur Jagd mit
Hunden und
zu literarischen
Zirkeln

Das Ehepaar
Parkes kehrt 1846
nach England zurück.
Rund zehn Jahre
später wird London
die East India Com­
pany entmachten
und die Regierung in
Kalkutta (oben)
übernehmen
58 GEO EPOCHE Das Britische Empire
britischen Besitzungen geht von der East
India Company an die Krone über.
Im eigenen Haushalt lastet auf den Die Erhebung bestätigt die Briten sie die Nachricht, dass ihr Vater in Eng­
Frauen die ganze Bürde des Weltreichs, nur in ihrer Meinung, dass Indien der land gestorben sei. Im Januar 1839 reist
für dessen Gelingen jeder, der die Krone Besserung bedarf, in jeder Hinsicht. Die sie zurück in die englische Heimat, die
in Indien vertritt, ein Stück Verantwor­ Idee setzt sich fest mit dem Missionseifer ihr fremd geworden ist.
tung trägt. Dem ordnen sie alles unter. der evangelikalen Christen, die Indiens Das bisschen Indien, das sie hin­
Ihre Kinder schicken sie mit sieben Heiden bekehren wollen, mit der philo­ überretten kann, nimmt sie mit. Vor den
Jahren in die Heimat auf Internate, um sophischen Lehre der Utilitaristen, die Fenstern ihrer Schiffskabine arrangiert
sie dem Einfluss Indiens zu entziehen. das größtmögliche Glück für die größt­ sie einen Wald aus Hörnern von Büf­
Gesundheit, Moral, der rein britische mögliche Zahl von Menschen verkün­ feln, Hirschen, Antilopen. Als nach der
Akzent, die Heirats- und Karriereaus­ den, mit der Industriellen Revolution, die Ankunft in England die Souvenirs vom
sichten: All das ist in Gefahr, fürchten Großbritannien den Glauben an die Zollhaus durch die Straßen getragen
die Eltern, wenn man den Nachwuchs in eigene Überlegenheit geschenkt hat. werden, bleiben die Leute stehen und
Indien aufwachsen lässt. Diesen Briten kann Indien nur rück­ starren. Und Fanny Parkes erscheint alles,
schrittlich erscheinen: die Religion als was sie sieht, so schrecklich klein, aber
Götzenverehrung, die Kunst primitiv, die das müsse wohl so sein, wenn man aus
Sitten barbarisch. Die Wasserpfeife, zu Indien zurückkehre, findet sie.
der sich einst britische Abendessenrun­ Ein einziges Mal wird sie den Sub­
den in andächtig gurgelndem Schweigen kontinent noch wiedersehen,Jahre später
versammelten, kommt außer Mode. und für Monate nur, ehe sie 1846 mit
Schon 1830 verbietet die East India ihrem Ehemann für immer nach Eng­
Company ihren Angestellten, bei offi­ land abreist. Und zu Hause sitzt zwi­
ziellen Anlässen indische Kleidung zu schen den Götterbildern, Monstern, Ku­
tragen. Der Generalgouverneur William riositäten, verloren in Gedanken an eine
Bentinck verordnet dem Land eine Poli­ Zeit, die vergangen ist, an ein Indien, das
Als Fanny Parkes 1822 in Kalkutta an­ tik der Zivilisierung und Christianisie­ die Briten Tausende Meilen entfernt nun
kommt, sind jene Briten längst selten rung. Englisch soll Amtssprache werden. nach dem Bilde Englands formen, mit
geworden, die Indien uneingeschränkt Vor allem die Lage der indischen Eisenbahnschienen, Telegraphenstangen
bewundern - so sehr manchmal, dass sie Frauen scheint den Briten ein Eingreifen und Bewässerungsanlagen.
Wanderer zwischen den Welten werden: zu erfordern: die abgetrennten Frauen- Das wildfremde, ungezähmt andere,
Männer wie der Richter William Jones, wohnbereiche, in denen wohlhabende immer neue Indien aber, in dem sich die
der 1784 eine „Asiatic Society“ gründete, Muslime und Hindus ihre Frauen und europäische Lebensweise nur winzige
die Indiens Geschichte, Kunst, Literatur Töchter lebenslang vor der Welt ver­ Inseln erobert hatte, das Indien, das
und Wissenschaft erforschen sollte. schließen; die Tötung weiblicher Neu­ Fanny Parkes geliebt hat, weil sie hier
Männer wie der Generalgouverneur geborener, weil das Leben von Töchtern wie nirgends sonst frei sein konnte als
Warren Hastings, der eines Tages be­ weniger gilt als das von Söhnen; der hin- Entdeckerin zwischen den Welten, wird
kannte, in Wahrheit liebe er Indien mehr duistische Brauch der Witwenverbren­ es nie wieder geben. 9
als sein eigenes Land. Wie Colonel James nung, bei dem die Gattin des Verstorbe­
Kirkpatrick, der als Gesandter am Hof nen mit auf den Scheiterhaufen steigt, Constanze Kindel, _/g. 1979, ist
seit Jahren
von Hyderabad seinen Bart mit Henna auf dem der Tote verbrannt wird. regelmäßige G YLQEPOCHE-Autorin.
färbte und eine Muslimin heiratete. 1829 lässt Gouverneur Bentinck George F. Atkinson (1822-1859) und
Wie Sir David Ochterlony, Ge­ den Brauch verbieten. Sie sei glücklich, James B. Fraser (178.3-1856) lebten im
sandter am Mogulhof, der bei Aufent­ schreibt Fanny Parkes in ihrem Tage­ 19. Jahrhundert im britischen Indien.
halten in Delhi jeden Abend mit seinen buch, dass keine Witwen mehr getötet
13 Konkubinen durch Delhi prozessierte, würden, um so sicherzustellen, dass der
jede auf dem Rücken eines Elefanten. Besitz an die Söhne des Toten geht. LITERATUREMPFEHLUNGEN: William
Doch nun beginnt allmählich die Im Übrigen aber hätten es Frauen Dalrymple (Hg.), „Begums. Thugs and White
Entfremdung. Zum Ende des 19. Jahr­ in England kaum besser als in Indien: Mughals: The Journals of Fanny Parkes ". Eland
hunderts werden sich Herrscher und Einmal verheiratet, seien sie von Gesetz Books: wunderbare Edition des Tagebuchs
Beherrschte mit Misstrauen, Furcht und wegen die Sklavinnen ihrer Ehemänner: einer furchtlosen Lady. Margaret MacMillan,
Feindseligkeit gegenüberstehen. „Es ist überall auf der Welt das Gleiche. „Women of the Raj". Random House: gute
Ein Auslöser dieses Misstrauens ist Die Frauen, weil sie schwächer sind, sind und umfassende Studie zur Rolle der
ein Aufstand indischer Soldaten im die Spielzeuge, die Arbeitssklaven oder Frauen in Britisch-Indien, Anne de Courcy,
Dienste der Briten, der im Mai 1857 los­ die Opfer der Männer, eine Frau ist eine „The Fishing Fleet: Husband-Hunting in the
bricht, zu Massakern auf beiden Seiten Sklavin von Geburt an, und je mehr ich Raj". Weidenfeld & Nicolson: erzählt von den
fuhrt und erst nach einem Jahr mit einem vom Leben sehe, desto mehr tut mir die Erfahrungen jener Damen, die einst mit der
Sieg der Europäer endet. Mit der Rebel­ Situation der Frauen leid.“ sogenannten ..Fischereiflotte“ auf der Suche
lion stirbt eine Ara: Die Verwaltung der Im September 1838, da bereitet sie nach einem Ehemann nach Indien kamen.
sich gerade auf eine Wanderung durch
die Ausläufer des Himalaya vor, erreicht
GEO EPOCHE Das Britische Empire
China -1839
Die britischen Kaufleute William Jardine und James Matheson sind geschätzte

Untertanen der Krone, allerdings verdienen sie ihr Geld mit einem perfiden Gewerbe. Von

Indien aus schmuggeln sie und andere Händler tonnenweise Opium nach China - mit

verheerenden Folgen für die Menschen dort, aber großen Vorteilen für die Handelsbilanz

des Vereinigten Königreichs. 1839 befiehlt der Kaiser in Beijing, dem Geschäft ein Ende

zu setzen. Doch das Empire führt lieber Krieg, als auf seine Profite zu verzichten

Mit einem Schuss zerstört


der britische Raddampfer
»Nemesis« 1841 eine chinesische
Dschunke. Das ungleiche
Gefecht entbrennt während
des Opiumkrieges zwischen
China und dem Empire
Etwas stimmt nicht. Etwas stimmt ganz nennen die Chinesen das Opium oder
und gar nicht. Das wird den Briten rasch passender, weil es aus dem Ausland ein­
klar an diesem lauen Nachmittag Ende geschmuggelt wird: „fremder Dreck“.
Februar 1839, als ohne jede Vorwarnung
ein Trupp chinesischer Soldaten die Old
Die Droge ist eine schreckliche
Plage geworden im Reich der Mitte.
DIE CHINESEN
China Street in Kanton hinuntermar­ Millionen sind ihr inzwischen verfallen,
schiert, mitten hinein in das Ausländer­
viertel der Hafenstadt.
rauchen sich in Opiumhöhlen buchstäb­
lich um Sinn und Verstand.
NEHMEN
Am Flussufer, direkt vor den Han­ Nun aber, so scheint es, haben die
delshäusern der europäischen und ame­
rikanischen Kaufleute, rammen sie einen
Behörden des Kaisers genug und greifen
mit Härte durch. 300 AUSLÄNDER
Holzpfahl in den Boden, binden daran Das haben die Briten in Kanton
einen chinesischen Gefangenen fest, den nicht erwartet. Schon oft hatten die Chi­
sie, eingezwängt in einen Korb, mit sich nesen in der Vergangenheit versucht, den IN KANTON
geschleift haben. Vor aller Augen erdros­ Opiumhandel zu unterbinden. Doch den
seln sie die arme Seele mit einem Strick. Ankündigungen waren selten Taten
Nur mit Mühe lassen sie sich danach
überreden, den Toten wegzuschaffen.
gefolgt. Zudem sind sich die Fremden
keiner Schuld bewusst: Nur Wochen
ALS GEISELN
Der Mann, so stellt sich heraus, war zuvor hat William Jardine, der Doyen der
in den Schmuggel von Opium verwickelt. Kaufleute von Kanton — und mit seiner
Jener berauschenden Droge, die die Firma Jardine Matheson der größte aller
Kaufleute Ihrer Majestät in großen Men­ Opiumhändler —, bei einem Ban­ Wenn Jardine nicht kurz zuvor ins
gen mit windschnittigen Clippern aus kett getönt: „Gentlemen, wir sind keine ferne London abgereist wäre, würden sie
Indien nach China bringen und dort an Schmuggler!“ ihn jetzt vermutlich verhaften.
zwielichtige Mittelsmänner verkaufen. Die Chinesen sehen das offenkun­ Denn der Kaiser hat einen Sonder­
Ein enorm profitträchtiges Geschäft mit dig anders. Sie schmähen Jardine, einen gesandten in den äußersten Süden seines
einem entscheidenden Makel: Der Kai­ Schotten, als „eisenköpfige alte Ratte“ Riesenreichs geschickt: Gouverneur Lin
ser, der Sohn des Himmels im fernen (eisenköpfig deshalb, weil er einmal einen Zexu, einen seiner fähigsten Beamten.
Beijing, hat Handel und Konsum des Schlag mit einem Bambusknüppel ein­ Und der ist entschlossen, dem Opium­
Rauschgifts in seinem Imperium aufs steckte und anschließend ungerührt wei­ handel ein für alle Mal ein Ende zu set­
Strengste verboten. „Schwarze Erde“ ter seinen Geschäften nachging). zen. Die Vergangenheit soll sich nicht

62 GEO EPOCHE Das Britische Empire


China
Nichts verrät, mit welchem schmutzigen Geschäft diese Gentlemen ihr Geld
verdienen: James Matheson (I.) und William Jardine (r.) sind die größten Opiumhändler
des Empire. Von Indien aus schmuggeln sie die Drogen nach China

wiederholen - jene Zeit, in der sich nie­ kurzerhand das Ausländerviertel am trägt, darf passieren - und ganz be­
mand um das kaiserliche Verbot scherte: Nordufer des Kanton-Flusses abriegeln. stimmt keiner der fremden Teufel.
weder die ausländischen Kaufleute noch Etwa 300 Fremde sind nun seine Gei­ Selbst wenn eine der Geiseln auf
die chinesischen Beamten, die sich im­ seln, die meisten von ihnen Briten. die Idee käme zu fliehen: Es würde nicht
mer wieder bestechen und das Schmug­ Die Situation in dem Quartier ist gelingen. Auf dem Platz hinter dem ein­
gelgut ungehindert ins Land kommen alles andere als angenehm. Auf der Stadt zigen Tor hat sich ein Mob gesammelt,
ließen. lastet zu dieser Jahreszeit eine stickige etwa 500 Kulis in weiten Hosen und
Diesmal werden sich die „rothaari­ Hitze. Gewiss, die Briten haben Vorräte: Sandalen aus gewundenem Gras, be­
gen Teufel“, wie Chinesen die Briten zur Bier, Rotwein und hochprozentigen Ma­ waffnet mit Spießen und Knüppeln und
Unterscheidung von den anderen Aus­ deira sowie Wasser aus eigenem Brun­ Schilden aus Rattan.
ländern nennen, dem Willen des Kaisers nen. Auch Mehl und gesalzenes Fleisch Für die Ausländer gibt es kein Ent­
beugen müssen. haben sie gebunkert. Doch sie müssen kommen. Sie sind gefangen wie Tiere
Am 18. März 1839, wenige Wochen auf ihre einheimischen Köche, Diener im Käfig. Sogar auf dem Fluss liegen
nach der öffentlichen Hinrichtung im und Kulis verzichten. Lin Zexu hat es Dschunken in Dreierketten gestaffelt.
Quartier der Kaufleute, verkündet Lin den Bediensteten bei Todesstrafe verbo­ Eine Ungeheuerlichkeit: Eine frem­
Zexu, dass die Fremden die Opiumvor­ ten, den Bezirk zu betreten. de Macht hat Untertanen Ihrer Majestät
räte, die an Bord ihrer Schiffe vor der Zudem lässt der Gouverneur die der Königin, der jungen Viktoria, als
Küste lagern, an ihn auszuliefern haben. Zugänge zum Ausländerviertel schließen, Geiseln genommen!
Die Händler bieten ihm 1037 Kisten. die Schweinegasse, die New China Street. Alarmiert von den Nachrichten
Der Beamte aber lässt sich nicht Allein die Pforte an der Old China aus Kanton, eilt der britische Handels­
übertölpeln. Er weiß, dass sie noch viel Street ist noch offen. Aber dort stehen gesandte aus dem nahen Macau herbei,
mehr Drogen besitzen. Sie sollen ihm grimmig dreinschauende Soldaten. Nur einem portugiesischen Handelsposten.
alles aushändigen, fordert er - und lässt wer einen hölzernen Pass am Gürtel Um die Situation zu entschärfen, ver-

GEO EPOCHE Das Britische Empire 63


spricht der Diplomat Gouverneur Lin
auf einen Schlag 20 000 Kisten Opium
aus den Vorräten der eingeschlossenen
Kaufleute. Den als Geiseln genommenen
Händlern sichert er zu, dass die Krone
sie für den Verlust ihrer Waren entschä­
digen wird.
Doch zu welchem Preis? Zum
Marktpreis, erklärt der Mann der Re­
gierung seinen Landsleuten. Das sind
fast 2,5 Millionen Pfund - eine enorme
Summe, die heute rund 330 Millionen
Pfund entsprechen würde.
Die Händler können ihr Glück
kaum fassen. So viel Opium lagert gar
nicht auf ihren Schmuggelschiffen vor
der chinesischen Küste. Sie müssen noch
neue Lieferungen aus Indien abwarten,
ehe sie die 20000 Kisten, jede mehr als
ein Zentner schwer, abgeben können -
7000 allein im Namen der Firma von
William Jardine und dessen Kompagnon
James Matheson. Und alles zum garan­
tierten Entschädigungspreis.
Wenn nur Lin Zexu nicht wäre.
Der Mann macht Matheson - nach der
Abreise Jardines der Seniorpartner der
Firma — und einem guten Dutzend an­
derer Kaufleute weiterhin Ärger. Zwei
Monate lang dürfen sie das schwüle
Kanton nicht verlassen, bis am 21. Mai Seit 1757 können fremde
1839 endlich alle zugesagten Opium­ Kaufleute einen chinesischen
kisten abgeliefert sind. Dann verweist Hafen anlaufen: Kanton.
Lin sie des Landes. Sofort. Hier haben die Ausländer ihre Das Viertel der westlichen
Die Briten sind empört. Derart un­ Faktoreien errichtet Händler in Kanton. Ab März
erbittlich kannten sie die Chinesen bis­ 1839 dürfen sie es auf Ge­
her nicht. Zudem lässt Lin das Opium heiß des Kaisers in Beijing
tatsächlich vernichten. Drei Wochen lang nicht mehr verlassen
schütten Kulis den Inhalt der Kisten in
eigens ausgehobene Wasserbecken am
Fluss und streuen Salz und Kalk darüber,
ehe das stinkende Gebräu von der Strö­
mung hinaus ins Meer gespült wird.
In Kanton haben die Briten unter­
dessen ihre Niederlassungen geräumt.
Nur eine Handvoll von ihnen bleibt zu­
rück, die meisten keine Kaufleute. Die
übrigen ziehen um nach Macau.
Doch Lin plant noch eine weitere
Demütigung. Er schreibt dem portugie­
sischen Gouverneur von Macau, dass er
die „rothaarigen Teufel“ dort nicht mehr
dulden soll - was der Mann seine unge­
betenen Gäste auch umgehend wissen Kanton liegt inmitten eines riesigen Flussdeltas, etliche Wasserläufe durchziehen
lässt (der Portugiese will sich mit den die Region. Auf ihnen transportieren Schmuggler mit Ruderbooten tonnenweise
Chinesen nicht anlegen). Ende August Drogen in die Stadt - auch die Waren von Jardine und Matheson

64 GEO EPOCHE Das Britische Empire


fliehen die Briten auf ihre Schiffe, segeln
von Macau aus zur nahe gelegenen Halb­
insel Kowloon und gehen gegenüber
jenem Eiland vor Anker, das bald unter
dem Namen Hongkong bekannt wer­
den wird.
Die Chinesen haben die Briten ver­
trieben, wie man räudige Hunde vom
Hof jagt. Eine untragbare Schmach. „Ich
vermute, dass Krieg mit China der
nächste Schritt sein wird“, hat James
Matheson bereits im April 1839 an einen
Geschäftspartner geschrieben.
Er wird recht behalten. Auch weil
sein alter Kompagnon Jardine deutlich
nachhilft. Schon ein paar Monate später
. 4. ff 's ih
herrscht Krieg. Wird es zu einem Kon­
-Si \
flikt zwischen dem Britischen Empire
und jenem einsiedlerischen Riesen­
Uf l II I reich kommen, das sich noch immer
als Mittelpunkt der Welt begreift und
doch längst von fremden Mächten über­
trumpft worden ist.
Es ist ein Kampf um den freien
Handel. Und um Drogen.

chon seit Jahrhunderten haben

China
Waren aus China, dem gewalti­
gen Imperium am anderen Ende
der Welt, die Europäer faszi­
niert, besonders Seide und Porzellan.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts ist vor
allem in Britannien eine weitere Leiden­
schaft hinzugekommen: Tee.
Geradezu verrückt ist man dort
nach dem Getränk. Die Pflanze gedeiht
aber nur auf Gebirgsterrassen im Fernen
Osten (erst zur Mitte des 19. Jahrhun­
derts werden die Briten lernen, das emp­
findliche Gewächs auch im Hochland
ihrer asiatischen Kolonien zu kultivieren,
im indischen Assam und in Ceylon).
Die Importe steigen rasant an.
1783 fuhren die Briten bereits jährlich
2700 Tonnen Tee aus China ein. Rund
50 Jahre später sind es 13600 Tonnen.
Dabei sind die getrockneten Blätter,
die den Geist so angenehm beleben und
Müdigkeit vertreiben, in Großbritannien
ein Luxusgut: Mehr als zehn Shilling
kostet ein Kilo Tee - den Wochenlohn
eines einfachen Arbeiters.
Dem Schatzmeister der Krone be­
IIP

schert die Leidenschaft der Untertanen


indes konstante Einnahmen. Drei Mil­
lionen Pfund sind beispielsweise 1830 an

GEO EPOCHE Das Britische Empire 65


Importzoll fällig - genug, um damit die ton dürfen sich die fremden Kaufleute Wenn die East India Company also
Hälfte der Royal Navy zu bezahlen. aufhalten, und auch dort nur in dem immer mehr spanische Silberdollar im
Doch die Teelust schadet der Han­ kaum 200 mal 300 Meter messenden Austausch für den begehrten Tee in den
delsbilanz des Vereinigten Königreichs. Ausländerviertel. Fernen Osten schaffen muss, bedeutet es
Denn die Chinesen wollen im Austausch Im Laufe der Zeit interessieren sich unweigerlich, dass dieser Geldabfluss
keine britischen Waren erwerben. Wolle, die Chinesen zwar immer mehr für bri­ zusehends auch das Empire belastet.
der wichtigste britische Exportartikel, tische Baumwollstoffe. Doch reichen die Denn in einer Zeit, in der die Stärke
interessiert sie kaum. Allenfalls Spiel­ Erlöse weiterhin nur für einen Teil jener einer Währung von den Gold- und Silber­
uhren finden ihre Abnehmer. Summen aus, die die Briten für Tee auf­ reserven des Landes abhängt, schwächt
Der chinesische Kaiser und seine bringen müssen. Die Europäer bezahlen der stete Verlust an Wertmetall Britan­
Beamten betrachten den Handel mit den die Lieferungen fast ausschließlich in niens Wirtschaft.
„kulturlosen“ Fremden, wie sie es sehen, spanischen, mexikanischen oder US-
ohnehin als einen Gnadenakt. Die Segler Silberdollars. Zu allen anderen Währun­
der britischen Ostindien-Kompanie, die gen haben die Chinesen kein Vertrauen.
bis 1834 das Monopol auf den Handel Ohnehin werden die Münzen oft so
mit China besitzt, dürfen nur einen ein­ lange bearbeitet, dass sie am Ende zer­
zigen Hafen im Reich anlaufen: Kanton. brechen und nur noch gewogen werden.
Gesandte aus Europa behandelt Für die East India Company, die
der kaiserliche Hof, wenn er sie denn den Teehandel organisiert, droht sich dies
überhaupt empfängt, mit Herablassung. auf Dauer zu einem ruinösen Geschäft
Fremden ist das Land mit seinen 400 zu entwickeln. Und damit auch für das
Millionen Einwohnern verboten. Allein gesamte britische Königreich.
in den Hafenstädten Macau, in Amoy Denn die honourable Company, die
(weiter im Nordosten) und eben in Kan- ehrenwerte Gesellschaft, wie die Ost­ Gegen Ende des 18. Jahrhunderts aber
indien-Kompanie genannt wird, ist nicht eröffnet sich den Kaufleuten der Ost­
nur die mächtigste Handelsgesellschaft indien-Kompanie ein lukrativer Ausweg
des Landes - sie ist de facto ein Staats­ aus dem Dilemma. Sie entdecken eine
unternehmen mit Besitz in Asien, dessen Handelsware, an der Chinesen erstmals
DAS Geschicke seit 1784 direkt von der Re­ tatsächlich interessiert sind: Opium,
gierung kontrolliert werden. So sitzen im jenes Rauschmittel, dessen Rohstoff in
Aufsichtsrat der Firma unter anderem Indien wächst.
RAUSCHGIFT der Schatzkanzler Seiner Majestät und
ein weiterer Minister. Viele Vorstände
Opium war in Asien anfangs nur als
Heilmittel bekannt, doch irgendwann
der Kompanie sind Parlamentarier, deren entdeckte man seine Rauschwirkung,
SCHWÄCHT Job und Einkommen von den guten
Geschäften der Gesellschaft abhängen.
wenn man es raucht, und so hat es sich
nach und nach von Indien aus entlang
Krone und Kompanie, Handel und der Küsten nach China verbreitet.

DAS REICH Staatseinnahmen, Regierung und Aktio­


näre sind derart eng miteinander ver­
Die East India Company erkennt
das Geschäftspotenzial, als gegen Ende
strickt, dass eine Krise der Firma zugleich des 18. Jahrhunderts die Nachfrage steigt.

DER MITTE das ganze Land bedroht.


„Zu sagen, dass die Kompanie in
1797 sichert sie sich ein Monopol: Nur
mit ihrer Genehmigung dürfen bengali­
Not ist“, notiert der Philosoph Edmund sche Bauern in Zukunft die Schlafmohn-
Burke, „heißt nichts anderes zu sagen, als ptlanzen anbauen, aus deren Samenkap­
dass der Staat in Not ist.“ seln die Droge gewonnen wird. Und nur

66 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Kanton zählt zu den reichsten
Städten Chinas. Mehr als 900 000
Menschen leben in der Metropole, die
ihren Wohlstand vor allem dem
Handel mit fremden Völkern verdankt

Kaufleute in Gehröcken, Sänftenträger und Einheimische mit Zöpfen: In der

China
Enge des Kontorviertels von Kanton - hier die Old China Street - kommen sich
Chinesen und Europäer so nah wie nirgendwo sonst im Reich der Mitte

Männer wetten auf zwei


kämpfende Wachteln. Nur dank
der Hilfe chinesischer Komplizen
können Jardine und Matheson
ihr Geschäft betreiben

GEO EPOCHE Das Britische Empire 67


Seit die Briten im späten 17. Jahrhundert ihre Leidenschaft für Tee entdeckt haben,
hat der Handel mit China rasant zugenommen. Denn die belebende Pflanze wird zu dieser Zeit
noch nicht in Indien angebaut (chinesische Plantagen, um 1810)

die Kompanie nimmt ihnen das in ecki­ übernehmen, sie von Schmugglern an fünf Millionen Pfund nach China. Gut
ge Blöcke gepresste Rohopium ab. Land schaffen lassen und die Verteilung die Hälfte davon ist Opium, das ent­
Mit dem Export nach China will des Rauschgifts übernehmen. spricht rund 10 000 Kisten. Doch die
die Handelsfirma aber nichts zu tun Bezahlt wird das Opium in Silber, Nachfrage steigt immer weiter. Kurz
haben - offiziell zumindest. Denn sie ihre Einnahmen geben die Agenten bevor Gouverneur Lin dazwischengeht,
furchtet, das Opium könne sie bei Chi­ der Kasse der Ostindien-Kompanie in setzen die britischen Kaufleute 40000
nas Herrscher in Misskredit bringen, mit Kanton (abzüglich ihrer Provision für Kisten pro Jahr ab. „Opium ist wie Gold“,
negativen Folgen für den Teehandel. Verkauf und Transport). Die Kompanie schwärmt einer von ihnen - wie beim
So entwickelt sich ein kompliziertes wiederum verwendet das Silbergeld, um Gold findet sich immer ein Abnehmer.
Dreiecksgeschäft: Zunächst verkauft die in China Tee zu kaufen, den sie nach
Kompanie das Rohopium im indischen Großbritannien schafft. Das Ganze ist ie erfolgreichsten Opiumhänd­
Kalkutta meistbietend an britische
Händler, die private merchants. Die lassen
das Rauschgift über Agenten auf Seglern
nach China bringen. Dort ankern die
Schiffe vor der Küste, wo chinesische
Händler an Bord kommen, die Ware
ein hochprofitables Geschäft: Die Ost­
indien-Kompanie erwirtschaftet um 1830
allein aus den jährlichen Auktionen des
Rohopiums ein Siebtel ihrer Profite.
Zu dieser Zeit exportieren die Bri­
ten bereits Waren im Wert von vier bis
D ler jener Zeit sind die beiden
Schotten William Jardine und
James Matheson. Jardine ist
1802 als erst 18 Jahre alter Schiffsarzt
nach Kanton gekommen. Die Reisen
nach China sind zu jener Zeit lebens-

68 GEO EPOCHE Das Britische Empire


gefährlich: Das schwüle Klima macht die
Europäer krank, zudem lauern Piraten
vor den Küsten des Südchinesischen
Meeres.
Auf diesen Fahrten lernt Jardine
aber auch, welche Profite in China mit
dem Opiumschmuggel zu machen sind.
1822 lässt er sich in Kanton als Private
Merchant nieder.
Er gilt als hart gegen sich selbst und
andere. In seinem Büro in Kanton stehen
keine Stühle - seine Geschäftspartner
sollen nicht das Gefühl haben, dass sie
es sich bei ihm bequem machen könn­
ten. 1832 tut er sich mit James Matheson
zusammen.
Der ist etwas jünger, aber schon län­
ger im Business: Bereits mit Anfang 20
ist Matheson 1817 in die Firma seines
Onkels in Kalkutta eingetreten. Er wirkt
weniger raubeinig als sein Kompagnon,
ist belesen, kennt sich aus mit den Vor­
denkern des Freihandels.
Wie Jardine ist Matheson ein kom­

China
promissloser Liberaler, dem ein weltum­ Hauptprofiteur des Opiums, das
spannendes Empire ohne Zollschranken aus den Samenkapseln des Schlaf­
vorschwebt: Britische Kaufleute sol­ mohns gewonnen wird, ist die East India dukten irgendwo durch hohe Einfuhr­
len unter dem Schutz der Royal Navy Company. Sie besitzt auf dem Sub­ gebühren oder gar Handelsverbote der
überall ungehindert ihren Geschäften kontinent das Monopol auf die Droge Zugang verwehrt wird, dann haben eben
nachgehen können. Und wenn ihren Pro- (Opiumlager im indischen Patna) Kriegsschiffe Seiner Majestät den briti­
schen Freihandelsprinzipien ein wenig
Nachdruck zu verleihen und den Markt
gewaltsam zu öffnen.
Seine Überzeugungen schreibt Ma­
theson 1836 in einem Pamphlet nieder.
In dem Text attestiert er den Chinesen
ein „beeindruckendes Maß an Dumm­
heit und Geiz, Dünkel und Sturheit“,
da sie sich dem Freihandel widersetzten
und in lediglich drei Häfen Kaufleute aus
dem Ausland duldeten.
Matheson denkt schon weit über
den Opiumhandel hinaus: Denn China
mit seinen 400 Millionen Einwohnern
ist ein gigantischer Markt - und noch
immer weitgehend abgeschottet.
Sein Kompagnon und er werben
jahrelang öffentlich dafür, den Freihandel
auch im Fernen Osten durchzusetzen. Im
„Chinese Repository“, einem Monats­
blatt, das in Kanton erscheint, aber auch
Mehr als zwölf Millionen in New York und London gelesen wird,
Chinesen rauchen Opium. heißt es in einem viel beachteten Artikel,
Vor allem kaiserliche Beamte dass im Chinahandel noch immer die
und Bürokraten verfallen gleichen Regeln gelten würden, die der
dem zerstörerischen Gift Kaiser bereits 1500 Jahre zuvor für den

GEO EPOCHE Das Britische Empire 69


liiiiil

Als der chinesische Kaiser im


Sommer 1839 die Europäer aus seinem
Umgang mit wagemutigen arabischen nicht ausreichen. Vielmehr müsse sich Land vertreibt, erklären die Briten
Seefahrern erlassen habe. London einen Stützpunkt sichern, viel­ dem Reich den Krieg. Bald darauf be­
Manche vermuten hinter dem ano­ leicht gar eine Insel einnehmen, von der schießt die Royal Navy Kanton
nymen Autor (wohl nicht zu Unrecht) aus man jederzeit 10 000 Mann in Rich­
William Jardine. Er schreibt: „Unser Ka­ tung Beijing in Marsch setzen könnte.
pital, unser produzierendes Gewerbe, Diese Vorstellungen eines briti­
unsere Webstühle rufen unisono: Für schen Freihandelsimperialismus werden Verbote dulden die chinesischen Behör­
nichts müsst ihr sorgen, außer uns die schon bald Wirklichkeit sein. den ja (gegen ein entsprechendes Hand­
Möglichkeit zu verschaffen, unsere Wa­ geld) den Opiumschmuggel.
ren zu verkaufen. Dann werden wir die ardine und Matheson sind zwar Dass sie mit einem die Menschen
nachgefragten Mengen schon liefern.“
Der Verfasser lässt keinen Zweifel,
wie die Krone dieses Ziel erreichen soll.
Nur diplomatische Gesandtschaften zu
schicken werde nichts helfen: Das Ein­
zige, was die Chinesen beeindrucke, sei­
J die Besitzer des größten und
einflussreichsten britischen
Handelshauses in Kanton, doch
mit ihrer Forderung nach einer Militär­
intervention in China machen sie sich
nicht bei allen Kollegen beliebt. Manche
zerstörenden Gift handeln, irritiert die
beiden Schotten nicht im Geringsten.
Seit 1827 veröffentlicht das von Mathe­
son gegründete englischsprachige Wo­
chenblatt „Canton Register“ sogar die
Handelspreise für Opium, so als wäre
en britische Kriegsschiffe. Doch werde sind durchaus damit zufrieden, wie die das Schmuggelgut eine offiziell gelistete
eine einmalige Demonstration der Stärke Dinge laufen: Denn trotz aller offiziellen Handelsware.

70 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Der Preis schwankt immer wieder Vermarktung der Droge. Kaufleute wie Körper fühlen sich während des Rau­
heftig - je nachdem, wie streng die chi­ Jardine und Matheson kommen mit der sches schwerelos an. Am Anfang putscht
nesischen Behörden gerade gegen den Ware nie direkt in Berührung. die Droge sie auf, sie reden viel. Je mehr
Schmuggel Vorgehen. Doch langfristig sie konsumieren, desto schläfriger aber
nimmt das Handelsvolumen zu. Daher werden die Abhängigen, bis sie einfach
erhöhen Jardine und Matheson Anfang eindösen.
der 1830er Jahre ihren Einsatz im Viele treibt die Sucht in den wirt­
Opiumhandel. Sie schicken neuartige schaftlichen Ruin: Sie geben ihr ganzes
Clipper los, besonders windschnittige Geld für die Droge aus. Opiumraucher
Segler, die selbst gegen den Monsun an­ werden zudem lethargisch; der Abhän­
kommen und die Rundreise zwischen gigkeit folgt Auszehrung und körper­
Kalkutta und Kanton nun dreimal statt licher Verfall. Mund und Atemwege
bis dahin einmal pro Jahr bewältigen. entzünden sich, Süchtige leiden an Kreis­
Um den unberechenbaren Schwan­ laufstörungen. Sie magern ab, weil sie
kungen der chinesischen Anti-Drogen- keinen Hunger mehr verspüren. Ihre
Politik zu entgehen, lassen sich die bri­ Auch in Großbritannien wird mit Haut gleicht getrocknetem Pergament,
tischen Händler in dieser Zeit einen Opium gehandelt, denn das Rauschmit­ wie ein britischer Missionar beobachtet.
Trick einfallen: Im Schutz der Insel Lin- tel gilt zu jener Zeit als nicht gefährlicher Das Gift schwächt das ganze Land.
tin in der Mündung des hier mehr als als Alkohol: Man kann davon zwar ab­ Denn abhängig sind vor allem die Ange­
20 Kilometer breiten Kanton-Flusses, hängig werden, doch ist das für die Be­ hörigen der chinesischen Führungselite.
gut 70 Kilometer flussabwärts von Kan­ hörden noch lange kein Grund, es zu Ein Fünftel der Beamten am kaiserlichen
ton, lassen sie vier, fünf und mehr Schiffe verbieten. Fast zehn Tonnen Rohopium Hof und vier Fünftel der örtlichen Büro­
fest als schwimmende Lager ankern. Die schickt die East India Company allein kraten gelten als Raucher, so die Schät­
Segler sind mit Kanonen bestückt, die 1830 ins Mutterland. Auch dort gibt es zungen. Und je mehr Opium die Briten
Besatzungen mit Musketen und Enter­ inzwischen Opiumsüchtige, aber in deut­ ins Land bringen, desto dramatischer sind
messern bewaffnet. lich geringerem Ausmaß als in China. die Folgen des Konsums in der Führungs­
„Dass die Chinesen auf die Idee Immerhin rauchen die Briten die klasse des Landes. Viele hohe Beamte

China
kommen könnten, etwas zu beschlagnah­ Droge nicht, so wie die Chinesen — was fordern den Kaiser daher zum Eingreifen
men, ist ausgeschlossen“, schreibt Ma­ besonders gesundheitsschädlich ist. Am auf. Sie verlangen drakonische Maßnah­
theson an einen Handelspartner. „Die häufigsten konsumieren die Europäer den men: die Todesstrafe für Schmuggler und
einzig wirkliche Gefahr könnte von orga­ berauschenden Stoff als „Laudanum“. Händler - und für Raucher.
nisierten Piratenbanden ausgehen, aber Diese schwache Mixtur aus Opium und Auch wirtschaftliche Gründe füh­
seit einigen Jahren hat es im Kanton- Alkohol wird häufig als Schmerzmittel ren sie an: Denn die chinesische Wirt­
Fluss keine Piraten mehr gegeben.“ bei Gicht, Zahnweh oder Kater sowie als schaft leidet im Geschäft mit Großbri­
Das eigentliche Geschäft wird aber Verdauungshilfe eingesetzt. Sogar als tannien inzwischen unter einer negativen
nicht auf den Schiffen vor Lintin abge­ Beruhigungssaft für Babys und Kinder
wickelt, sondern in den Ausländer- verabreichen Arzte Opium in niedrigen
Faktoreien in Kanton - so wie auch der Dosen.
Handel mit Tee oder Seide. Chinesi­ Dennoch nimmt die Opposition
sche Kaufleute kommen in die Büros
und zahlen in Silber, sobald man sich
gegen das Fernostgeschäft zu. Religiöse
Gruppen wie etwa die Quäker haben kurz
DER
handelseinig geworden ist. Dafür erhal­ zuvor schon die Abschaffung der Skla­
ten sie Bestellscheine, in die nur noch die
Anzahl der auszuliefernden Opiumkisten
verei im Empire zum Jahr 1834 erreicht
(siehe Seite 40). Nun wird auch der Han­
STOLZ DES
einzutragen ist. del mit dem Opium in der britischen
Mit den Orderscheinen werden die
Kommandeure der Schmugglerboote —
Öffentlichkeit zunehmend geächtet.
William Jardine ist sich darüber HIMMELS­
langer, galeerenartiger Gefährte, ange­ völlig im Klaren: „Viele betrachten es als
trieben von Dutzenden sehniger Rude­ ein unmoralisches Geschäft“, schreibt er
rer - hinaus zu den schwimmenden in einem Brief. SOHNS WIRD
Lagerstationen vor der Küste geschickt. Vor allem in China sind die Folgen
Dort übernehmen die Schmuggler die des Drogenkonsums verheerend: Rund
Opiumkisten und schaffen sie, je nach
Bedarf, flussaufwärts zu versteckten Ver­
zwölf Millionen Menschen dort „jagen
den Drachen“, wie die Chinesen das
GEBROCHEN
teilungsstellen. Anschließend organisie­ Opiumrauchen nennen. Die Süchtigen
ren einheimische Gangster die weitere vergessen die Sorgen des Alltags, ihre

GEO EPOCHE Das Britische Empire 71


ANGRIFF AUF
Niuzhuang
/
DAS REICH DER
MITTE

Der Erste Opiumkrieg,


der im Herbst 1839 beginnt,
ist ein ungleicher Kampf.
Die Chinesen haben den bri­
tischen Truppen kaum etwas
entgegenzusetzen, und so
endet der Feldzug drei Jahre
später mit einer demütigen­
den Niederlage. China muss
vier weitere Häfen für briti­
sche Kaufleute öffnen, den
Opiumhandel dulden und dem
Empire die Insel Hongkong
ganz überlassen. In einem
zweiten Feldzug zwischen 1856
und 1860 erobern die Briten
sogar Beijing - und bren­
nen den Sommerpalast der
Himmelssöhne nieder

Handelsbilanz. Anders als zum Ende des bereits 2000 Schmuggler verhaftet. Zahl­ auch noch die Besetzung der Insel Zhou-
18. Jahrhunderts, als die Briten noch reiche Hinrichtungen werden befoh­ shan in der Mündung des Jangtse-Flus­
Dollars nach China schaffen mussten, len - wie die im Ausländerviertel von ses bei Shanghai. Denn wer das Eiland
tragen ihre Schiffe inzwischen Silber in Kanton. beherrscht, kontrolliert zugleich die
großen Mengen zurück ins Mutterland. Für Jardine und Matheson aber wichtigste Route ins Landesinnere.
Die Vertreter eines harten Kurses kommt endlich die Gelegenheit, auf die Palmerston lässt sich überzeugen.
überzeugen den Kaiser schließlich, den sie seit Jahren gewartet haben. Das Vorgehen der Chinesen in Kanton
Drogenschmuggel zu unterbinden. Im will die britische Regierung nicht auf
Dezember 1838 setzt der Herrscher den ut seiner Reise nach Europa sich sitzen lassen. Und schon gar nicht
Sonderkommissar Lin Zexu ein. Der
Showdown mit den Briten beginnt.
Anfangs sind die Opiumhändler
nicht beunruhigt. Krisen, so sehen es
die britischen Kaufleute, kommen und
gehen - auch wenn William Jardine im
A macht William Jardine im Au­
gust 1839 im italienischen Ge­
akzeptiert sie die Beendigung des
Opiumhandels, der völlig „legitim“ sei,
nua Station - und erfahrt dort wie Jardine dem Premier erläutert.
die alarmierenden Nachrichten von Lin Die Regierung setzt Truppen in
Zexus Vorgehen in Kanton. Daraufhin Richtung China in Marsch. Vergebens
begibt er sich sofort nach London. versucht die Opposition im Parlament,
Dezember 1838 in einem Brief feststellen Noch im September empfangt ihn den heraufziehenden Krieg zu stoppen.
muss, dass die Verfolgung der Opium­ der liberale Außenminister Lord Pal­ Sie wirft der Regierung Inkompetenz
händler schlimmer sei als je zuvor. Auf merston, ein Parteifreund. Jardine ist gut vor. Der konservative Abgeordnete (und
alle Provinzen Chinas erstrecke sie sich vorbereitet. Er hat Karten dabei und spätere Premier) William Gladstone ver­
nun: „Das hat es noch nie gegeben.“ Tabellen und schlägt als militärische weist darauf, wie moralisch suspekt der
Tatsächlich meinen es die Chinesen Strafaktion eine Blockade der chinesi­ Opiumhandel sei - und wie fragwürdig
diesmal ernst. Ende des Jahres 1838 sind schen Küste vor. Später empfiehlt Jardine der Schutz der Geschäftsinteressen von

72 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Opiumhändlern wie Jardine und Mathe- in allen fünf Häfen ein Kriegsschiff zu Die Firma, die am meisten von der
son. Doch das Misstrauensvotum in der stationieren. Die Insel Hongkong wird britischen Politik profitiert, ist Jardine
Volksvertretung scheitert knapp. ihnen sogar ganz als Kolonie überlassen. Matheson. Schon am 26. Januar 1841 ist
Bis Ende Juni 1840 sammelt sich Der Stolz der Himmelssöhne ist James Matheson dabei, als der Union Jack
vor der Küste Chinas nach und nach gebrochen. Mit ihrer Niederlage im über Hongkong aufgezogen wird, jener
eine große britische Flotte: 16 Kriegs­ „Opiumkrieg“, wie die Briten den Waf­ Felseninsel, vor der im August 1839 die
schiffe, vier bewaffnete Dampfer sowie fengang nennen, beginnt ein Jahrhun­ von Lin Zexu aus Kanton ausgewiesenen
28 Transporter mit 4000 Soldaten an dert der Schwäche Chinas. Der dem Kai­ britischen Händler geankert hatten.
Bord. Die Truppen der Krone sind den ser oktroyierte Vertrag ist nur der erste Das Eiland besitzt einen unschätz­
Chinesen, die zuweilen noch mit Pfeil in einer langen Reihe ungleicher Ab­ baren Vorteil, wie er an Jardine schreibt:
und Bogen sowie Speeren kämpfen, weit kommen, die Europäer den Chinesen „So unabhängig wird Hongkong sein,
überlegen. aufzwingen werden. Fortan sind es die dass es sogar möglich sein wird, dort
Wie von Jardine empfohlen, beset­ Fremden, die dem Reich ihren Willen Opium zu horten, sobald wir Lagerhäu­
zen die Briten die Insel Zhoushan. Spä­ diktieren. ser errichten.“ 1844, ein Jahr nach dem
ter bombardieren ihre Schiffe die Befes­ Der Auslöser des Waffengangs in­ Tod William Jardines, zieht die Firmen­
tigungen vor Kanton und versenken eine des, der Opiumhandel, wird in dem zentrale nach Hongkong.
chinesische Flotte von 71 Dschunken. Dokument mit keinem Wort erwähnt. In den folgenden Jahrzehnten wird
Und nachdem Verstärkung aus Indien Der britische Gesandte in China unter­ die Kolonie an der chinesischen Küste
eingetroffen ist, erobern die Briten im sagt seinen Landsleuten zwar bald jeden nach und nach zu einer der wichtigsten
Sommer 1842 schließlich auch noch Schmuggel des Rauschgifts - doch das Handelsstädte des Empire aufsteigen,
Shanghai sowie andere Hafenstädte. Verbot steht nur auf dem Papier. auch dank Jardine Matheson.
Schon bald ist Beijing von der Küste ab­ „Es bedeutet nichts“, schreibt Alex­ Von dem Opiumhandel aber, das
geschnitten. Dem kaiserlichen Hof bleibt ander Matheson, der Neffe des Firmen­ ihren Erfolg und Reichtum begründet
nichts, als zu kapitulieren. gründers, 1843 an das Londoner Büro des hat, verabschiedet sich die Firma 1872.
Am 29. August 1842 unterzeich­ Handelsunternehmens und fügt sarkas­ Andere Investments erweisen sich als
nen Chinesen und Briten an Bord eines tisch hinzu: „Es ist nur für die Heiligen lohnender und weniger imageschädigend.
britischen Kriegsschiffes einen Vertrag - in England gedacht.“ Die Nachfolger der Unternehmensväter
ein Dokument der Demütigung: 21 Mil­ Tatsächlich laufen die Geschäfte machen ihr Geld lieber mit Versicherun­
lionen Silberdollar nötigen die Briten so gut wie nie zuvor. Allein die Firma gen, Baumwolle und sogar Eisenbahnen.
den besiegten Chinesen ab, weit mehr von Jardine und Matheson hat nun acht Selbst als die Briten 1997 ihre
als die Entschädigungssumme für das Verteilerschiffe als schwimmende Lager­ Kolonie an China zurückgeben, bleibt
beschlagnahmte Opium. stationen für das Opium an Chinas Küs­ Jardine Matheson in Hongkong. Im Ge­
Neben Kanton muss der Kaiser vier ten stationiert, fünf Clipper sind ständig schäftsviertel der Metropole ragt noch
weitere Häfen für den Handel mit den zwischen Indien und China unterwegs. immer deren Zentrale in den Himmel:
Briten öffnen. Diese haben das Recht, 1850 werden mehr als 50 000 Kisten ein Wolkenkratzer, so monumental, wie
Opium angelandet. er einem Milliardenkonzern gebührt.
Ein weiteres Mal noch wehren sich Heute kündet nichts mehr davon,
die Chinesen gegen die Drogenhändler dass die Firma einst auf Drogengeld
Ihrer Majestät: Unter dem Vorwurf, dass gebaut wurde: von zwei Männern, die das
FORTAN Piraten an Bord seien, beschlagnahmt
die chinesische Polizei 1856 ein kleines
Empire dazu brachten, im Namen des
freien Handels Krieg zu führen. £
Segelschiff, das unter britischer Flagge,

DIKTIEREN DIE aber mit einheimischer Besatzung fahrt.


Der Vorfall liefert den Briten den
Reymer Klüver,^. 1961, ist Autor und
Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“.
Anlass für eine erneute Strafaktion. Der

FREMDEN zweite Opiumkrieg, der kurz darauf be­


ginnt, führt sogar zur Besetzung Beijings LITERATUREMPFEHLUNGEN: Peter
und endet mit einer weiteren erniedri­ Ward Fay, „The Opium War“. University of
genden Niederlage für China. North Carolina Press: spannende Darstel­
CHINA IHREN Opiumeinfuhren sind fortan recht­ lung des Krieges und des Abwehrkampfs
mäßig, China erhebt nun offiziell Zoll. der Chinesen gegen den Drogenschmuggel.
Mit dem Segen der Regierung in Lon­ Robert Blake. „Jardine Matheson“. Weiden­
WILLEN don werden indische Pflanzer die Droge
noch bis 1917 ganz legal auf dem Sub­
feld & Nicolson: Wer nachlesen will, welch
enormen Einfluss eine einzelne Firma im
kontinent anbauen und Händler sie in Lauf von fast 200 Jahren in China ausüben
China verkaufen. konnte, muss sich dieses Buch vornehmen.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 73


Neuseeland - 1840

LAND DES WEISSEN WOLKE


Lange Zeit hat das Empire keinen Plan für Neuseeland, dessen Küste James Cook 1769 kartiert hat;

Londoiyjichte^Tunn^enachbarter^bjstralien eine Sträflingskolonie ein. Erst als immer mehr weiße Siedler

auf die Inseln der Maori drängen, handelt die Krone. Mit fatalen Folgen - ----------- Von ISABELLE BERENS und ANJA FRIES

ieses Mal will es das Empire bes­ Häuptlinge erhofft er sich Vorteile von Themse und der Realität der Kolonie am

D ser machen: Jahrhundertelang


haben die Briten Völker unter­
jocht. In Nordamerika haben sie
die Einheimischen von ihrem Land ver­
trieben, in Afrika Millionen Schwarze
dem Bündnis: Einkünfte durch Handel,
ein Ende der Kriege mit den anderen
Stämmen sowie Frieden mit jenen euro­
päischen Siedlern, die den Maori immer
wieder Land rauben.
anderen Ende der Welt.

Aotearoa, „Land der weißen Wolke“,


nennen die Maori ihre Heimat im Pazi­
versklavt, in Tasmanien Aborigines ge­ Weitere Stammesführer unterzeich­ fik. Seinen europäischen Namen ver­
jagt. Doch all das soll in der zukünftigen nen nun das Schriftstück - insgesamt dankt Neuseeland niederländischen
Kolonie Neuseeland nicht geschehen. mehr als 40. Die Zeremonie endet mit Seefahrern, die es im 17. Jahrhundert ent­
Hier sollen sich Briten und ansäs­ einem dreifachen Beifallsruf. Anschlie­ deckt haben. 1770 nimmt der Engländer
sige Maori das Land einvernehmlich tei­ ßend werden jedem Unterzeichner zwei James Cook das benachbarte Australien
len. Die alte Kolonialpolitik passt nicht Decken und Tabak überreicht. für die Krone in Besitz, und Neuseeland
mehr in das Selbstverständnis eines Vol­ In den Monaten darauf bereisen wird bald zu einem Vorposten der neuen
kes, das 1834 die Sklaverei verboten hat. Gesandte mit Kopien des Vertrages von Kolonie.
Daher versammeln sich am 6. Fe­ Waitangi das Land. Rund 450 weitere Mit Neuseeland hat London zu­
bruar 1840 im Ort Waitangi mehr als Maori-Führer unterschreiben das Doku­ nächst keine Pläne. In Europa fürchtet
500 Maori und eine Handvoll Europäer, ment. Und obwohl etliche Häuptlinge man die Maori als wehrhafte Krieger und
um einen Vertrag zu unterzeichnen, der nicht zustimmen, weil sie ihre Souverä­ Kannibalen. Die Gewässer vor den Inseln
ihnen ein Zusammenleben in Frieden, nität mit niemandem teilen wollen, pro­ locken anfangs nur Wal- und Robben­
Sicherheit und Freiheit garantieren soll. klamiert William Hobson im Mai 1840 fänger an. Ihnen folgen Holzhändler
Am Tag zuvor noch haben sie die britische Hoheit über Neuseeland. und bald Missionare, die 1814 eine erste
das Abkommen, das Missionare in der Nord- wie Südinsel gehören nun zu Station gründen. In Missionsschulen
Nacht in die Sprache der Einheimischen Londons Kolonialreich. lernen Maori lesen und schreiben, von
übersetzt hatten, besprochen, einzelne Doch es wird nicht lange ruhig den Händlern erwerben sie Waffen.
Aspekte geändert. Nun liegt es vor Wil­ bleiben. Zu groß ist der Abstand zwi­ Doch von 1830 an drängen immer
liam Hobson im Festzelt auf dem Tisch. schen dem moralischen Anspruch an der mehr Siedler aus Australien auf die
Der designierte Gouverneur lässt den Inseln, die sich mit Gewalt nehmen, was
Text noch einmal auf Maori verlesen, ehe sie wollen: Land. Zudem droht Frank­
die anwesenden Häuptlinge ihre Unter­ reich, Neuseeland zu annektieren.
schrift leisten. Kapitän William Hobson (1792—1842) Daraufhin bitten 13 Maori-Führer
Mit ihrer Signatur erkennen sie die ist der erste Gouverneur der 1840 gegrün­ Englands König 1831 um Hilfe gegen
Souveränität der britischen Königin an deten britischen Kolonie Neuseeland Siedler und Franzosen. London stellt
und stimmen zu, dass sie ihr Land - soll­ einen Beauftragten ab. Er soll friedfertige
ten sie es je verkaufen - nur an die Krone Kolonisten und Händler schützen, Über­
abgeben. Als Gegenleistung erhalten sie griffe der Europäer auf die Maori ver­
alle Rechte britischer Bürger sowie eine hindern - und vor allem das Wohlwollen
Garantie für ihren Besitz. So zumindest der Einheimischen gewinnen.
besagt es der englische Vertragstext. Doch der Druck der Siedler aus
Als Erster erhebt sich Hone Heke Großbritannien und Australien wächst.
zur Unterzeichnung. Der Anführer der 1836 nennt ein Londoner Politiker Neu­
Ngapuhi-Nation ist ein ehemaliger Mis­ seeland das „für eine Kolonisierung
sionsschüler. Er hat sich dafür eingesetzt, geeignetste Land der Welt“ und gründet
den Briten zu vertrauen. Wie viele andere die New Zealand Association. Das Un-

74 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Schon bald nach der Errichtung
der Kolonie kommt es zum Streit
zwischen Briten und Einheimischen.
Von 1845 bis 1872 herrscht sogar
offener Krieg (die Schlacht
von Te Ngutu-o-te-Manu am
7. September 1868)

ternehmen soll Land von den Einhei­ Zudem gehen die Maori davon aus, pen, die durch loyale Maori verstärkt
mischen akquirieren und mit Gewinn an den Briten nur die Erlaubnis zum Er­ werden. Gut 1000 Siedler und Soldaten
weiße Einwanderer verkaufen. werb einiger Territorien erteilt zu haben sowie vermutlich mehr als doppelt so
In dieser Situation entsendet Lon­ - während der englische Text der Krone viele Einheimische sterben.
don 1839 William Hobson nach Neusee­ das Monopol auf den An- und Verkauf Zahlreiche Maori werden nun ent­
land. Er soll die Doppelinsel flir die Kro­ sämtlichen Landes sichert. schädigungslos enteignet, darunter selbst
ne sichern und die Besiedlung durch Viele Maori fühlen sich verraten, manche, die aufseiten der Briten gestrit­
Briten in geregelte Bahnen lenken - zum auch weil die New Zealand Company ten haben. Nur 17 Prozent ihrer Heimat
Wohl des Empire wie auch der Maori. Gebiete besiedeln lässt, die sie nie ge­ bleiben ihnen noch, und das sind oft
In dem im Vertrag von Waitangi fest­ kauft hat. Als sie 1843 Landvermesser karge, unfruchtbare Flächen.
geschriebenen Landkaufmonopol der losschickt, um weitere Gegenden zu Damit bricht die Kolonialregierung
Krone sieht der künftige Gouverneur erschließen, werden die von Kriegern endgültig den Vertrag von Waitangi, mit
die einzige Chance, die Einheimischen verjagt. 50 Kolonisten ziehen daraufhin dem das Empire doch eigentlich alles
vor der aggressiven Landnahme durch am 17. Juni 1843 gegen die Maori. Bei hatte besser machen wollen. Und auch
private Spekulanten zu schützen. dem Versuch, die Verantwortlichen zu an der Themse findet sich nun niemand
Die Franzosen lassen sich von der verhaften, sterben 22 Engländer. mehr, der erfolgreich für die Rechte der
Entschlossenheit der Briten beeindru­ Häuptling Hone Heke fordert Kö­ Maori eintritt. Petitionen der Einheimi­
cken: Zwar landet eine Expedition, um nigin Viktoria schriftlich auf, den Vertrag schen an Königin Viktoria leitet die Krone
eine Kolonie zu gründen, akzeptiert aller­ rückgängig zu machen: „Geht zurück stets umgehend an das inzwischen gebil­
dings sofort die britische Oberhoheit. zu eurem eigenen Land, nach England, dete neuseeländische Parlament weiter,
das Gott für euch gemacht hat. Gott hat das fast nur aus Weißen besteht, und
dieses Land für uns gemacht und nicht beteuert, sich strikt an die (englischen)
Einige Maori aber wollen sich nicht vor­ für eine andere Nation.“ Vergebens. Regelungen von Waitangi zu halten. Da­
schreiben lassen, an wen sie ihr Eigen­ Unterdessen müssen die Maori in mit ist die Sache für London erledigt.
tum abgeben, sondern direkt mit den der Nähe der wachsenden Städte Auck­ Erst mehr als 100 Jahre später, 1995,
Siedlern über lukrative Landverkäufe land, Wellington und Nelson erleben, wie erreicht das Maori-Volk der Tainui eine
verhandeln. Als die Kolonialherren zu­ immer mehr Siedler in ihre Territorien offizielle Anerkennung des Unrechts von
dem 1841 die Hauptstadt verlegen - von vorstoßen. Sie werden zum Teil genötigt, höchster Stelle. Elisabeth II. (immer
Kororareka in das 200 Kilometer südli­ ihr Land zu verkaufen. Nahezu jede Wo­ noch Staatsoberhaupt der ehemaligen,
cher gelegene Auckland — und die Maori che erreichen nun Schiffe der New Zea­ inzwischen selbstständigen Kolonie) un­
des Nordens damit an Einfluss verlieren, land Company mit weiteren Siedlern die terzeichnet einen Vertrag mit der Köni­
nimmt der Unmut zu. Kolonie. Schon bald leben mehr Weiße gin Te Arikinui Te Atairangikaahu, in
Darüber hinaus wird den Einhei­ in Neuseeland als Maori. dem die neuseeländische Regierung die
mischen nach und nach klar, dass ihre Daraufhin schließen sich einige Vergehen von einst bedauert und den
eilig über Nacht erstellte Version des Stämme zu einer Föderation zusammen Einheimischen Entschädigungen für den
Vertrags von Waitangi offenbar Überset­ und erheben einen Häuptling 1858 zum Landraub im 19. Jahrhundert zusichert.
zungsfehler enthält. König: Er soll gleichberechtigt mit der Es ist das erste Mal, dass ein briti­
So ist in der Maori-Fassung von britischen Monarchin die Konflikte scher Monarch sich für die Taten einer
einer Beteiligung der Einheimischen vor Ort verhindern helfen. Doch der Kolonialregierung entschuldigt, f
an der Macht die Rede - während die Gouverneur wertet die Königswahl als
englische Ausfertigung den Briten die feindlichen Akt. Bis 1872 kommt es zu Isabelle Berens./g. 1988,ist Historikerin.
uneingeschränkte Souveränität über Dutzenden Scharmützeln zwischen ein­ Dr. Anja Fries, Jg. 1967, gehört zum Team
die Doppelinsel zuspricht. heimischen Kriegern und Kolonialtrup­ von GEO EPOCHE.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 75


Borneo -1839

Früh wirbt Brooke


in London für seine
Expedition nach Borneo,
doch Unterstützung
erhält er nicht: Noch
interessiert sich
das Empire nicht
für die Region

IM REICH DER

KO P FJÄG E R
------------ Von MARITA LIEBERMANN

Im Jahr 1839 erreicht der britische Glücksjäger James Brooke Borneo.


Ohne Auftrag der Krone hilft er dem dort herrschenden Sultan beim Niederschlagen
einer Rebellion - und wird dafür zum Fürsten, zum Radscha, über ein Reich
das er nach und nach auf die Größe Englands ausdehnt. Schließlich wird London
auf den Abenteurer und dessen Privatstaat aufmerksam

76 GEO EPOCHE Das Britische Empire


I. LKbt-Mue M ihr Fniiun io um tanwni um. i A ba u Hnad. 4 nur i4 nu|uh BraAo'. Milan 41 Hanwbk.
S. Comkjß JO«» 1 JUKI* r»a iu BOmcO. ». Tb Sinn™ or Hrnncl Hmlrm< VOr-Uimrnl Sir Sunrll SJu >OJ Olfinl» oJ Ihr äquulna.

SKHTCHBM IM BO KN KO : VIS1T OF TUE BBITISII MATAL SQUADRÜK TO BKliNEI.

1888 erscheint in einer Londoner Zeitung ein Bericht über den


Besuch britischer Offiziere in Brunei, dessen Herrscher einst Brooke die
Region Sarawak im Norden Borneos zugesprochen hat

GEO EPOCHE Das Britische Empire 77


Der Fürst hebt einen weißen Hahn empor,
schwenkt das Tier hin und her. Glöckchen, die
an den Armen des Mannes festgebunden sind,
begleiten mit ihrem Klang seine gebetsartigen
Beschwörungen. Um Glück für seine Untertanen
ruft der Herrscher die unsichtbaren Geister an,
die nach dem Glauben der Bewohner seines Rei­
ches die Welt bevölkern und die Geschicke der
Menschen lenken.
Üppige Ernten erbittet er sowie Früchte, die
zur rechten Zeit reifen. Dass männliche Kinder
geboren werden und Reis in den Hausern vorrätig
sein möge. Und dass im Dschungel wilde Schwei­
ne erlegt werden und kühles Wetter komme.
Nach seinem Gebet beginnen die um ihn
versammelten Männer und Frauen in der läng­
lichen Hütte aus Urwaldholz zu tanzen. Nackt bis
Der Hof des Sultans auf die Lendentücher winden sie ihre Leiber in
von Brunei: Um 1839 langsamen, schlangenhaften Bewegungen.

D
wird die Macht des Einer nach dem anderen ergreifen sie die
Herrschers von einer Hände des Herrschers, um anschließend mit
Rebellion erschüttert, ihnen die eigenen Gesichter zu berühren: um die
in die Brooke bald
eingreifen wird

COURT OF THE SULTAN OF BORNEO

78 GEO EPOCHE Das Britische Empire


besondere Lebenskraft, die ihm nach ihrer Vor­ der Fremde, der Wildnis - und Geltung. Er sehnt
stellung innewohnt, durch die Berührung seiner sich nach Reisen in Gebiete, in die sich noch kein
Haut in ihre Körper zu leiten. Europäer vorgewagt hat, wünscht sich, Gefahren
Und noch etwas mehr von seiner Energie zu meistern, Menschen kennenzulernen, die für
schenkt er ihnen gegen Ende der Zeremonie, in­ Engländer gemeinhin die Unzivilisierten sind.
dem er sie seine Hände und Füße waschen lässt. Vor allem die Idee, solche „Naturwesen“, die
Voll der vitalen Kraft ist nun auch das dafür ver­ von den sozialen und technologischen Errungen­
wendete Wasser, mit dem sie nach dem Tanz ihre schaften westlicher Kulturen nichts wissen, zu
Häuser und Pflanzungen besprenkeln. erziehen und zu beschützen, scheint ihn angetrie-
Es sind Angehörige eines Stammes der Da­ ben zu haben: der Gedanke, ihnen unter anderem
yak, der teils als Kopfjäger umherziehen­ beizubringen, dass sie sich nicht gegen­
den Ureinwohner von Borneo, die um das seitig töten dürfen; der Wille, sie vor Aus­
Jahr 1845 in einer Region im Norden der beutung und Verfolgung durch höher
südostasiatischen Insel gemeinsam mit entwickelte Völker zu bewahren.
ihrem Gebieter jenes traditionelle Ritual Im Grunde träumt er offenbar wie
vollziehen. An diesem Tag lässt er eine ein kleiner Junge davon, Herrscher zu sein
der Dorfgemeinschaften auf den Hügeln über ein Land, dessen Bewohner sich ihm
an seinem semangat teilhaben: an der zu ihrem eigenen Wohl unterwerfen, ohne
geheimnisvollen Urkraft, die ein Herr­ dass er sie dazu zwingen musste.
scher wie er besitzt und die alle Menschen Welche Sehnsüchte es auch sind, die
brauchen, um auf den immateriellen Teil ihn nach Borneo treiben - eines ist sicher:
des Kosmos einzuwirken und glücklich, Hier wird er zu einem der Männer, die als
gesund und erfolgreich zu leben. Einzelkämpfer in die Geschichte des Em­
Nach den Maßstäben der Dayak ist pire eingehen. Zu einem jener wagemuti­
es ein mächtiger Fürst, der sie mit seinem gen - und oft gnadenlosen - Abenteurer,
Gefolge in ihrer Siedlung besucht. Einer, die ausziehen, um Reichtum oder Ruhm
der jene magische Energie nicht etwa zu erlangen, und auf der Suche nach ih­ ec
besitzt, weil er der Potentat ist - sondern Radscha Muda rem persönlichen Glück maßgeblich zum o-t
der umgekehrt zum Herrn von Sarawak wurde, Hassim, Statthalter Aufstieg Großbritanniens beitragen. Die nicht nD
O
weil er ein besonders machtvoller Mensch ist. des Sultans in vor Gewalt zurückschrecken und die mit ihren
Tatsächlich haben sie nie zuvor einem sol­ Sarawak, tritt seine Privatinitiativen dem Kolonialreich auch jenseits
chen Oberhaupt gehuldigt: einem Mann in Hose Macht 1841 an seiner offiziellen Grenzen zu politischem und
und Hemd, der in der feuchten Hitze der Tropen Brooke ab, der wirtschaftlichem Einfluss verhelfen. Es sind Män­
leicht ins Schwitzen gerät. Er ist höher gewach­ entscheidend ner, ohne die es das britische Imperium so nicht
sen als ein durchschnittlicher Dayak, schlank, gut geholfen hat. den gegeben hätte, das eben nicht von Regierungs­
aussehend, hellhäutig - und ein Fremder. Aufstand zu beamten in London errichtet wurde.
Der Mann heißt James Brooke, ist knapp beenden

A
über 40 und kommt aus Bath in Großbritannien. m linken Ufer des Ganges kommt
Er ist ein Abenteurer, der in den Jahren zuvor auf James Brooke 1803 zur Welt, in der
eigene Faust in Borneo eine Art privaten Staat indischen Stadt Benares, einem für
von nahezu der Größe Englands errichtet hat. Hindus besonders heiligen Ort. Sein
Nicht im Auftrag des Empire und nicht auf Vater ist dort Richter im Dienst der East India
Befehl der Königin ist er 1839 an der Küste der Company. Und so wächst James als fünftes von
Insel gelandet, sondern aus eigenem Entschluss; sechs Kindern in einer Umgebung von besonderer
mit einem Segelschiff, das er sich von seinem Erbe Exotik auf- nahe den zahlreichen, für europäische
gekauft hat. Dabei hätte er mit dem Ver­ Augen fremdartigen Tempeln und ge­
mögen, das ihm sein Vater hinterlassen heimnisvollen Kultstätten am Fluss sowie
hat, ein sorgloses, sicheres, geregeltes Le­ den Pilgerscharen, die aus allen Gegenden
ben führen können. Alles hätte er werden Brooke Indiens zu den Heiligtümern reisen.
können, wonach intelligente und wohlha­ Im Unterschied zu den meisten an­
bende Gentlemen gewöhnlich streben -
all das Übliche hätte er erreichen können,
trägt eine deren englischen Knaben auf dem Sub­
kontinent muss James sich nicht schon mit
doch das hätte ihn ungeheuer gelangweilt. sechs Jahren von seiner Familie trennen,
Denn James Brooke will einzigartig FANTASIE um eine Schule in Großbritannien zu be­
sein. Seine Tagebücher und Briefe handeln suchen. Seine Eltern finden wohl, dass sich
davon: Ihn dürstet es nach dem Wagnis, ein verlängerter Aufenthalt in Indien auf
UM FORM
GEO EPOCHE Das Britische Empire 79
die Gesundheit und die Erziehung eines Kindes
nicht so ungünstig auswirken muss, wie es ihre
Landsleute annehmen.
Erst als James zwölf wird, schicken sie ihn
dann doch auf die weite Reise, damit er die Dis­
ziplin einer englischen Schule kennenlerne. Zu
seinem Vormund bestellt sein Vater einen alten
Freund in Bath; zwei Jahre später wird die gesamte
Familie aus Indien nach England zurückkehren.

Schon bald allerdings macht sich der junge


Brooke wieder nach Osten auf: Wie zuvor bereits
sein älterer Bruder soll er auf Beschluss der Eltern
in die Streitkräfte der Ostindischen Kompanie
eintreten, der (de facto staatlichen) Handelsge­
sellschaft, die im Auftrag der Krone Indien regiert.
Ihre Macht stützt sich auf ein mehr als 100000
Mann starkes Heer. Brooke wird mit 16 Jahren
Soldat der Bengalischen Armee - und kämpft
kurz vor seinem 22. Geburtstag ums Überleben.
Denn bei Gefechten seiner Truppe mit den
Birmesen in Assam erleidet er durch eine Kugel
eine so schwere Brustverletzung, dass seine Ka­
meraden ihn für tot halten. Einzig seinem Vorge­
setzten, der sich auf dem Feld den vermeintlich
leblosen Körper Brookes zeigen lässt, verdankt der
junge Mann seine Rettung. Ausgiebig
Er wird zurück nach Bath gebracht, wo ihn erkundet Brooke Zwar stimmt dieses Gerücht höchstwahr­
seine Eltern pflegen. Zeitweise scheint es, als würde die Flusssysteme scheinlich nicht; doch viele spätere Anhänger
er für immer ein Invalide bleiben. Schleppend und Borneos, der dritt­ Brookes wollen es glauben, müssen so nicht be­
schmerzhaft verläuft die Heilung jener Wunde, größten Insel der fürchten, dass ihr maskuliner Held seine sexuelle
über die später allerhand Spekulationen in Umlauf Welt: Landschaft Lust eher mit Männern als mit Frauen auslebt -
kommen werden. Denn offenbar ist es für die An­ nahe Labuan, einem im Großbritannien jener Zeit ein Skandal und ein
gehörigen der viktorianischen Gesellschaft und vorgelagerten Verbrechen, auf das die Todesstrafe steht.
Brookes frühe Biografen nicht nachvollziehbar, Eiland im Norden Knapp fünf Jahre dauert seine Genesung,
dass ein Mann freiwillig auf eine Ehe verzichtet — Borneos dann bricht James wieder in Richtung Kalkutta
es sei denn, er ist zu einer körperlichen Beziehung auf- unter anderem deshalb, weil er seinen Posten
zu einer Frau nicht in der Lage. bei der East India Company nicht verlieren will.
Jedenfalls erklären sich manche Zeitgenossen Denn nach den Regeln der Gesellschaft darf er
mit der Kriegsverletzung, dass Brooke niemals auch bei einer Verletzung dem Dienst lediglich
heiratet und durch keinerlei Liebeleien von sich eine gewisse Zeit fernbleiben.
reden macht: Die Kugel habe angeblich nicht sei­ Doch das Segelschiff erleidet Schiffbruch;
ne Lunge, sondern seinen Unterleib getroffen und bei einem erneuten Versuch verzögern Stürme
letztlich Impotenz verursacht. und Flauten die Weiterfahrt. Brooke muss erken-

80 GEO EPOCHE Das Britische Empire


nach Bath zurück. Er ist inzwischen 28 Jahre alt
und träumt weiterhin von Abenteuern, zu denen
er autbrechen könnte. Wale in Grönland will er
jagen, Farmer in Australien werden, den Amazo­
nas hinauffahren. Drei Jahre später erfüllt ihm der
Vater seinen größten Wunsch: James bekommt
eine Brigg geschenkt, ein Segelschiff mit einer
Tragfähigkeit von 300 Tonnen, und dazu eine
Ladung gemischter Handelsartikel wie Textilien
und Produkte aus Stahl und Eisen - Waren, die
er in Fernost vertreiben will.
Doch das Unternehmen schlägt fehl: Heftige
Streitigkeiten mit dem Kapitän machen James die
Reise zur Qual. Vor allem aber hat er den ostasia­
tischen Markt falsch eingeschätzt. In Macau, in
der Nähe von Hongkong, ist er gezwungen, die
Ladung, für die er keine Abnehmer findet, sowie
das Schiff billig zu veräußern.
Eine Lehre zieht er aus der ihn demütigen­
den Erfahrung: Sein nächstes Schiff muss klei­
ner sein, er wird es selbst kommandieren und
ohne Ware fahren. Und nun beginnt er, über eine
Expedition nachzudenken, die er in den folgenden
Jahren sorgfältig vorbereitet.
Von den 30 000 Pfund (heute knapp 3,5 Mil­
lionen Euro), die ihm sein 1835 verstorbener
Vater vererbt, erwirbt er einen Schoner, die mit
140 Tonnen Gewicht beladbare „Royalist“, deren
Tauglichkeit er auf einer neun Monate andauern-

JAMES BROOKES STAAT


AR LABUAN ISLAND.

=£2 Labuan .
Sabah
nen, dass er nie pünktlich in Kalkutta ankommen Brunei ... j

wird. Und so trifft er eine jener überraschenden


Entscheidungen, die er in seinem Leben immer
wieder fallen wird: Bevor ihn sein Arbeitgeber
entlassen kann, kündigt er kurzerhand selbst.
Von Madras aus unternimmt Brooke bald
darauf eine Rundfahrt, die ihn über Singapur 200 km
‘öEOEPOC^HE-Karte
und Malakka bis ins chinesische Kanton führt. Entwicklung des Brooke-Reichs
Seine Erlebnisse auf der Reise hält er in seinem i "B 1841 James Brooke wird Radscha
Tagebuch fest. Vieles, was er sieht, überzeugt ihn BB 1868 Brooke stirbt
I I 1905 größte Ausdehnung
davon, dass die einheimischen Völker Schutz
vor den Europäern brauchen - denn das Vorbild
der Weißen verdirbt in Brookes Augen die Moral Ab 1841 herrscht Brooke über den
der Ureinwohner, die etwa dazu verleitet werden, Nordwesten Borneos. Seine Nachfolger
ihre ursprünglichen Religionen aufzugeben. dehnen die Grenzen seines Reichs weiter
Erst 1831 kehrt Brooke (der durch seinen aus und regieren dort, bis Japaner sie
wohlhabenden Vater finanziell abgesichert ist) im Zweiten Weltkrieg vertreiben

GEO EPOCHE Das Britische Empire 81


Kr tritt auf
den Probefahrt im Mittelmeer austestet. Über seine eigenen Pläne erklärt er
Und er liest Reisebereichte über Borneo. wie ein dagegen nur, dass er die Natur des Land­
Zieht beim Britischen Museum und der strichs erkunden, seine Pflanzen und Tiere
Admiralität in London Erkundigungen erforschen wolle.
über die Insel ein.
ABGESANDTER Tatsächlich aber, so scheint es, ist
Warum er sich gerade die nördlichen Brookes Ehrgeiz immens: Vor allem treibt
Gebiete Borneos zum Ziel erwählt - Re­
gionen, die bekannt sind als Jagdreviere
DES EMPIRE ihn wohl sein Wunschtraum, große Taten
zu vollbringen und einmal über ein Reich
der dort lebenden Piraten lässt sich in der Ferne zu herrschen.
nicht genau sagen. Gut möglich, dass er Ende 1838 sticht er in See. Er kom­
darauf spekuliert, von der Regierung finanzielle mandiert eine gut 20-köpfige Mannschaft von
und politische Unterstützung zu erhalten, sollte Seeleuten, mit denen er teils auf früheren Schiffs­
es ihm gelingen, das Territorium unter die Vor­ reisen Freundschaft geschlossen hat. Nach einer
herrschaft des Empire zu bringen. privaten Expedition sieht der Schoner allerdings
Brooke verfasst einen Artikel für eine Zeit­ nicht gerade aus. Die „Royalist“ ist schwer bewaff­
schrift, um die Öffentlichkeit und die staatlichen net, unter anderem mit einem halben Dutzend
Stellen auf sein Vorhaben aufmerksam zu machen, Kanonen sowie drehbaren Geschützen.
plädiert dafür, dass sich Großbritannien zur Fes­ Außerdem verleiht der Kauf des Schiffes
tigung seiner wirtschaftlichen und politischen Brooke das Recht, sich in amtlich wirkender Klei­
Macht stärker für Nordborneo interessieren solle. dung zu präsentieren: Stolz trägt er eine Uniform,
Denn die Region sei für die Briten aus wirt­ die der eines Offiziers der Royal Navy ähnelt.
schaftsstrategischen Gründen wichtig: Nord­ Manche Stämme Offenbar will er so auftreten, als erfülle er einen
borneo liege wie Singapur an einer exponierten im Norden Borneos Auftrag der Regierung und könne auf die politi­
Stelle des Malaiischen Archipels, sodass hier ein trocknen und sche und militärische Macht des Empire zählen.
zentraler Hafen für den britischen Warenverkehr sammeln die Köpfe Die „Royalist“ durchquert den Atlantik in
in Südostasien gebaut werden könne. ihrer Feinde - ein südlicher Richtung, steuert zunächst Südamerika
Brauch, den Brooke
verbietet

DYAK MOOS OF DKYI.KJ HEAD8.

82 GEO EPOCHE Das Britische Empire


an, nimmt dann Kurs nach Osten, läuft für eine Bewohner dieser Region siedeln vornehmlich an
kurze Rast in den Hafen von Kapstadt ein. Von den Flüssen, den Verkehrswegen des Landes, durch
dort aus setzt das Schiff die Reise fort, gelangt in das ansonsten nur enge Dschungelpfade führen.
den Indischen Ozean. Neben den Dayak, die in viele ver­
Gute fünf Monate nach ihrem Aus­ schiedene Stämme zersplittert sind und
laufen in der Heimat legt die „Royalist“ sich vor allem vom Reisanbau ernähren,
in Singapur an, wo der Kapitän weitere leben in dem Gebiet unter anderem die
zehn Männer rekrutiert, darunter einen muslimischen Malaien. Sie sind die Füh­
Dolmetscher. Bald darauf geht es ins Süd­ rungselite auf Borneo, weil sie lesen und
chinesische Meer. Zwei Wochen später schreiben können und Handel treiben mit
lässt Brooke vor Kuching ankern, einer jenen Rohstoffen, die die Dayak im Busch
Hüttensiedlung am Fluss Sarawak an der abbauen, etwa Rattan, Ebenholz oder
Nordwestküste Borneos. Guttapercha, einem kautschukähnlichen
Eine Reihe von Salutschüssen, die Milchsaft einheimischer Bäume.
seine Besatzung aus den Kanonen ab­ Um 1839 bereiten die Malaien der
feuert, soll die friedlichen Absichten der Regierung in Brunei große Probleme. Sie
Briten signalisieren - und zugleich deren haben sich gemeinsam mit einigen Da­
Stärke demonstrieren. yak-Stämmen gegen die Herrschaft des
Brooke will zeigen, dass er nieman­ Sultans erhoben. Allem Anschein nach
den zu furchten braucht, aber auch keinen hat der Gouverneur von Sarawak den Da­
Konflikt sucht: Für die Bewohner Ku- Die Einheimischen, yak derart viele Rohstoffe des Dschungels
chings hat er Geschenke mitgebracht, Seide, Samt hier ein Krieger abgepresst, dass für die ortsansässigen Händler
und Süßigkeiten für die Erwachsenen, Spielzeug vom Stamm der kaum noch etwas übrig geblieben ist.
für die Kinder. Taman, glauben, Vor allem geht es um das seltene Antimon,
Als derart bedeutsames Ereignis wird die dass Brooke ein kurz zuvor auf der Insel entdecktes Metall,
Ankunft des britischen Seglers wahrgenommen, über magische das unter anderem zur Fertigung von Munition
dass sogar einer der ranghöchsten einheimischen Kräfte verfügt dient - eine Ressource, die auch die Regierung ec
Fürsten Brooke willkommen heißt: Radscha von Sambas interessiert, der an Sarawak angren­ o
D
r&
Muda Hassim, der älteste Onkel des Sultans von zenden Provinz. Von dort stammen die Gewehre, O
Brunei, des Herrschers über fast ganz Nordborneo. mit denen die Aufständischen ausgerüstet sind.
In Anwesenheit eines Dutzends sei­ Radscha Muda Hassim soll die re­
ner Brüder und einiger örtlicher Macht­ bellische Provinz im Auftrag des Sultans
haber heißt Hassim die Europäer ehr­ befrieden. Dazu zieht Hassim mit seinem
erbietig willkommen. Als Präsent lässt er Hofstaat nach Kuching. Womöglich hofft
seinen Gästen in Blätter eingerollten er in der Auseinandersetzung mit den
Tabak überreichen. Diener auf Knien Aufständischen auf die Unterstützung
servieren den Fremden Tee in dem mit Brookes, den er in seiner Uniform und mit
Tüchern verhangenen Empfangssaal der dem kanonenbewehrten Schiff wahr­
Regierung: einem Holzpavillon, der auf scheinlich für einen Gesandten des Em­
in den schlammigen Boden gerammten pire hält. Doch da hat er sich getäuscht.
Pfählen steht, wie es üblich ist bei Gebäu­ Brooke ist viel zu begeistert darüber,
den auf Borneo. endlich im Land seiner Träume zu sein,
um sich ernsthaft mit den Sorgen des
orneo. Eine der größten Inseln Radscha zu befassen. Stattdessen lässt er

B der Erde, von Mangrovensümp­


fen umgeben wie von einem
Gürtel. Niedrige Hügel erheben
sich hinter den flachen Küstenregionen
und weiter im Inneren hohe Berge. Urwald be­
Tätowierungen
zieren diesen Mann
sich von dessen Untergebenen mit Booten
herumfahren, auf dem Meer und auf den
Flüssen, erkundet die Wildnis.
Übermütig entledigt sich der Aben­
teurer dabei auch einmal seiner Schuhe und
deckt den Inselboden vollkommen, den mäan­ vom Volk der Strümpfe, läuft barfuß über den tropischen Boden,
dernde Flüsse durchziehen, teils bräunlich trübe Dayak. Brooke will den er als erster Europäer betritt: Das zumindest
Heimstätten von Krokodilen, teils kristallklare die »Naturwesen« glaubt er, und er könnte damit recht haben.
Wasserläufe, auf deren Grund sich mit bloßem zu besseren Men­ Denn unter den frühen Seefahrern des
Auge die Steine erkennen lassen. schen erziehen Abendlandes sind Spanier zwar bereits im
Im Nordwesten Borneos liegt die nach dem 16. Jahrhundert an der Nordküste Borneos gelan­
dortigen Fluss benannte Provinz Sarawak. Die det, die sie auch in ihren Berichten beschrieben.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 83


TOWB O» KRNOWIT, RIVER RUiEO.

Die Dayak
wohnen in auf
Ob sie es jedoch riskiert haben, in den dichten Pfählen ruhenden Rund elf Monate lang kreuzt Brooke durch
Dschungel vorzudringen, ist fraglich. Langhäusern, die die Meere Südostasiens. Erst im August 1840 setzt
Zudem ist Sarawak schon im folgenden ihnen Schutz vor er wieder Anker im Fluss von Kuching, wo noch
Jahrhundert nicht mehr auf jenen Landkarten Überschwem­ immer der Hofstaat des Radscha aus Brunei lo­
verzeichnet, die europäische Kartographen vom mungen, Feinden giert. Denn noch immer hat Hassim die Rebellen
nördlichen Borneo anfertigen; vermutlich hatten und wilden Tieren nicht unter seine Kontrolle bringen können.
die Entdecker aus dem Westen kein weiteres bieten Doch diesmal hört der Brite auf die Bitten
Interesse an der Region. Das änderte sich erst, als seines Gastgebers: Er mischt sich in den Konflikt
um 1810 britische Schiffe Ziele in Südostasien ein - mit der Chance auf einen einzigartigen
ansteuerten und die Händler des Empire ihre Lohn. Denn der Radscha verspricht ihm die Herr­
Stützpunkte errichteten. schaft über Sarawak, sollte Brooke ihm helfen,
Da er nicht in den Konflikt der Einheimi­ den Aufstand niederzuschlagen.
schen verwickelt werden will, beschließt Brooke,
eine Rundreise durch den südostasiatischen Ar­ llerdings verlaufen Kriege auf Borneo
chipel zu unternehmen und Sarawak so lange zu anders als in Europa: Nie kommt es
meiden, bis wieder Frieden herrscht. , _ zu größeren Gefechten zwischen den
Großes Bedauern bei Hassim, der den Eng­ -X. etwa 800 Mann Hassims und seinen
länder wohl gern an seiner Seite gewusst hätte: vielleicht 500 Gegnern. Denn Malaien greifen
Dessen Schiff mit den Geschützen und der erfah­ ihre Feinde selten direkt an, sondern ziehen es vor,
renen Mannschaft imponiert den Malaien und sie in langwierigen Belagerungen zu zermürben.
den Dayak, ist für sie Ausdruck jenes geheimnis­ Darauf aber lässt sich Brooke nicht ein: Kur­
vollen Semangat, der begehrten Lebenskraft, die zerhand lässt er die Kanonen von der „Royalist“
sich vor allem darin zeigt, wie groß das Gefolge an Land transportieren und beschießt mit ihnen
eines Mannes ist und wie viele Waffen er besitzt. eines der hölzernen Forts der Feinde. Damit hat

84 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Im Dschungel
der Brite die Stärke seiner Waffen deut­ mischen zur Residenz Hassims - dem
lich vorgeführt. rafft bald daraufhin keine andere Wahl bleibt, als
Trotz der Überlegenheit seiner Ge­ Brooke endlich vorzulassen.
schütze kann Brooke die Offiziere Has-
sims nicht zu einer Offensive bewegen.
EINE Tags darauf erklärt der Fürst ihn öf­
fentlich zum Radscha von Sarawak. Der
Sie versuchen lieber, den Nachschub der Brite ist nun der Herrscher der Provinz
Rebellen zu blockieren. Als ihre Männer KIRCHE AUE und eine Art Vasall des Sultans von Bru­
dabei jedoch unter feindlichen Beschuss nei, der ihn ein Jahr später in diesem Amt
geraten, attackiert Brooke die Angreifer. bestätigt. Tatsächlich jedoch wird Brookes
Die Schüsse der englischen Gewehre Staat im Laufe der Zeit immer unabhän­
dröhnen durch den Dschungel. giger werden von dem Monarchen in Brunei, der
Und offenbar beeindruckt das die Aufstän­ zunehmend die Kontrolle über die Wirtschaft und
dischen: Sie ergeben sich den Regierungstruppen, Politik Sarawaks verliert.
die zudem durch weitere Soldaten verstärkt wor­
den sind. Brooke führt die Kapitulationsverhand­
lungen mit den Abtrünnigen: eine einmalige
Gelegenheit, sich eine Position zu verschaffen,
die ihm so leicht niemand streitig machen kann.
Er sichert den Rebellen zu, dass ihr Leben, soweit
es in seiner Macht stehe, verschont werde.
Doch als es um die versprochene Belohnung
für die geleisteten Dienste geht, hält Hassim ihn Die meisten
hin. Der Radscha weigert sich sogar, Brooke zu Bräuche der Ein­
empfangen. Nun zahlt sich das Entgegenkommen heimischen werden
des Briten gegenüber den Rebellen aus: Die bieten von Brooke res­
ihm ihre Gefolgschaft an, um seine Ansprüche pektiert: So vertrei­
auch mit Gewalt durchzusetzen. ben in manchen Nun, da es dem Fremden gelungen ist, zum neu­

Borneo
Und tatsächlich marschiert Brooke im Sep­ Zeremonien die en Gebieter der Provinz aufzusteigen und sich
tember 1841 mit etwa 200 bewaffneten Einhei­ Frauen der Dayak gegen die alteingesessenen Oberhäupter sowie die
böse Geister mit Familie des Sultans zu behaupten, sind die Men­
Speiseopfern schen in Sarawak endgültig von Brookes beson­
deren Kräften überzeugt.
Jene Dayak, die in den Hügelsiedlungen des
Landesinneren leben, halten ihn sogar für all­
mächtig. Immer wieder bitten sie ihn, sie in ihren
Langhäusern zu besuchen, in denen mehrere Fa­
milien in abgetrennten Räumen unter einem Dach
wohnen und ihre Zeremonien abhalten. Und
Brooke kommt ihren Wünschen nach, feiert mit
ihnen Rituale, weil ihre Bewunderung und Treue
seine Macht festigen und vergrößern.
Auch glaubt er daran, dass sich ein guter Re­
gent persönlich um seine Untertanen zu kümmern
hat und wissen muss, worum sie sich sorgen, wel­
che Bedürfnisse sie haben.
Viele Einheimische dürfen abends zu Au­
dienzen in sein großes Haus kommen, das er sich
auf einer Anhöhe in Kuching hat erbauen lassen,
der inmitten besonders üppigen Dschungels ge­
legenen Siedlung, die einst nur aus einer Handvoll
Hütten bestanden hatte.
Nun verwandelt sie sich mehr und mehr in
einen europäisch wirkenden Ort, mit kleinen, an
den schönsten Plätzen errichteten Häusern, die
A SKETCH IN HOHN KM.
manchen Besucher an die Schweiz erinnern. Im
Speisesaal seiner Residenz, einem weiß getünch-

GEO EPOCHE Das Britische Empire 85


ten Bau mit hohen Eingangstüren, Fensterläden
aus Holz und einer weitläufigen Veranda, lässt der
weiße Radscha seine Untertanen Platz nehmen,
je nach Rang in seiner Nähe oder auf weiter von
ihm entfernten Stühlen, die entlang der Wände
des Raums aufgestellt sind. Einige kauern auf
dem Boden. Jeder kann sein Anliegen Vorbringen,
sobald er an der Reihe ist.
Brooke herrscht wie ein absoluter Gebie­
ter über sein Land: Für Fragen des islamischen
Rechts setzt er einen gesonderten Gerichtshof ein;
in allen anderen Fällen urteilt er entweder selbst,
oder er wählt unter seinen malaiischen und euro­
päischen Gefolgsleuten die Richter aus. XLXOXOAK TUUTU.
Manchmal wirft sich ein Angeklagter vor
ihm auf den Boden, um die Füße des Radscha zu
küssen. Der stellt nicht selten nach wenigen Fra­
gen fest, dass ein Beschuldigter mit dem Tod zu Vor Nordborneo
bestrafen sei; in der Regel werden solche Urteile sind Piraten, die
sofort in einem nahe gelegenen Fort vollstreckt. Brookes Herrschaft nicht die förmliche Garderobe, zu der sie ein sol­
Und die Handelsgeschäfte in seinem Reich herausfordern, cher Anlass in England verpflichten würde.
regelt Brooke so, dass die Malaien, die ihm in wendigen Nach dem Dinner wird bisweilen getanzt;
zur Herrschaft verholfen haben, die gewinnbrin­ Kampfbooten dann führt Brooke die Missionarsgattin, die erste
gendsten Ressourcen des Dschungels vermarkten unterwegs weiße Frau in Sarawak, über das Parkett. Ein
dürfen. Für sich selbst allerdings behält er das Spektakel für die mit Geschmeiden aus Messing
Monopol aut den Export des Antimons, das er in festlich geschmückten Dayak, die am Ende des
Singapur verkauft. Da er aber nur geringe Steuern Abends aus vollem Halse ein Lied singen, das die
erhebt, muss er zur Finanzierung seines Staates europäischen Bewohner erdacht haben: eine Art
immer wieder auf sein Privatvermögen zurück­ Nationalhymne von Brookes Fürstentum. Die
greifen, das er bei schlechten Reisernten auch zur Engländer klatschen zum Gesang den Rhythmus.
Versorgung der Dayak aufwendet. Und natürlich braucht das Land des weißen
Radscha auch eine Flagge: ein halb rotes, halb
violettes Kreuz auf gelbem Grund, das dem Fami­
lienwappen der Brookes ähnelt. Sie ist in das
bunte Fensterglas der neu errichteten Kirche ein­
gearbeitet, eines Baus mit einem Dach aus Palm­
wedeln und Bananenblättern.
Zudem unterhält der Brite eine hervorragend
ausgestattete Bibliothek: Er sammelt historische
Arbeiten, Dichtung, Reiseberichte und theologi­
sche Literatur. Mit Besuchern aus England dis­
kutiert er wissenschaftliche, religiöse und philo­
sophische Themen. Findet auch großen Gefallen
daran, mit seinen Gästen Schach zu spielen.
Sosehr der Mann aus England bestrebt ist, am Als seine wichtigste zivilisatorische Mission
Alltag der Einheimischen teilzunehmen, sieht es Brooke an, einen blutigen Brauch
deren Sitten und Werte zu respektieren, so der Ureinwohner Borneos zu unterbinden:
wichtig bleiben ihm westliche Gewohn­ die Kopfjagd.
heiten und Normen. Die Europäer Besonders jene kämpferischen Dayak,
Er veranstaltet Teestunden mit eng­ die ihre Hütten in den Küstengebieten und
lischem Gebäck, lädt zu Abendessen, bei
denen seine Diener zum Dessert Pudding
metzeln in Nähe der Flussufer errichtet haben,
ziehen immer wieder auf Raubzüge gegen
reichen. Die britischen Gäste, unter ande­ umliegende Siedlungen oder Nachbar­
rem ein Geisdicher, der sich als Missionar TAUSENDE stämme. Manchmal finden sich dazu meh­
auf Borneo niedergelassen hat, und dessen rere Tausend Krieger zusammen. Gefan­
Frau, tragen allerdings leichte Kleidung, genen Feinden schneiden die Jäger die
MEDER
86 GEO EPOCHE Das Britische Empire
Köpfe ab. Anschließend entfernen sie mit einem beginnen, als sie mit ihm gegen jene Stämme
Stück Bambusrohr, das wie ein Löffel zurecht­ ziehen, die sich ihm nicht unterworfen haben,
geschnitten ist, die Hirnmasse aus den Schädeln. sondern immer wieder in seine Territorien einfal­
Zum Schluss werden die Köpfe mit Haut und len, seine Untertanen morden oder verschleppen.
Haaren über einem kleinen Feuer getrocknet. Unterstützung erhält er in diesen Ausein­
Wie Trophäen stellen die Männer die erbeu­ andersetzungen auch vom Empire. Denn manche
teten Häupter in den Langhäusern ihres Stammes der aufständischen Stämme bedrohen die briti­
aus - die Exponate gelten den Dayak als Zeichen Weil die Piraten schen Handelsrouten: Sie sind Piraten.
von Stärke. Je mehr ein Krieger vorweisen kann, die britischen Blitzschnell können sie angreifen, mit
desto höher ist sein Rang in der Gemeinschaft. Handelsrouten Kampfbooten, die bis zu 50 Ruderer fassen. Be­
Die Frauen spornen zu diesen Taten an. Denn ein gefährden, schickt sonders kleinere Frachter fallen ihnen leicht zum
Mann ohne eine Sammlung seihst erbeuteter London Marine­ Opfer. Ihre Ladungen werden geraubt; Mitglieder
Menschenköpfe ist schlicht nicht heiratsfähig. soldaten: Gemein­ der Besatzung enden oft als Geisel oder in der
Brooke hat die Kopfjagd in Sarawak per Ge­ sam mit Brookes Sklaverei.
setz verboten — duldet aber, dass die ihm folgen­ Kriegern jagen Daher investiert die britische Regierung
den Männer wieder mit dem traditionellen Töten sie die Piraten und hohe Summen, um die Piraten Nordborneos zu-
zerstören ihre
Siedlungen

Borneo

GEO EPOCHE Das Britische Empire 87


rückzudrängen; sie entsendet die Marine in das binetts offenbar seine Privatangelegenheit bleiben.
Gebiet und bewilligt den Offizieren großzügige Jedenfalls erhält Brooke nicht die gewünschte
Prämien für die Verfolgung oder Tötung der See­ Anerkennung der Krone und keinerlei Zusiche­
räuber. rung von Schutz für sein Land.
Einer dieser Kapitäne der Royal Navy hält Dabei scheinen mehrere britische Außenmi­
sich gerade in Singapur auf, als Brooke dorthin nister seine Anfragen durchaus positiv zu sehen,
reist und um Beistand gegen die für ihn gefährli­ loben ihn für den Dienst, den er der Zivilisation
chen Stämme bittet. Die beiden Männer freunden leiste, und bieten ihm weitere Unterstützung in
sich an und schließen schon bald ihre Truppen zu seinem Kampf gegen die Piraten an.
gemeinsamen Feldzügen zusammen. Aber die Kabinette wechseln; bald sind
Sie jagen ihre Gegner zu Wasser, greifen de­ Brookes Befürworter in der Opposition - und
ren Siedlungen an, lassen brennen, plündern und seine Gegner an der Macht.
metzeln, bis alle Boote und Hütten zerstört sind, Denn nicht alle Briten sehen in Brooke ei­
alle Ernten vernichtet oder weggeschafft, nen Helden. Zeitungsreporter behaupten,
alle Tiere getötet oder fortgetrieben. Am er sei ein wahnsinniger und blutrünstiger
Ende liegen auf den ineinander verkeilten Despot, der die Navy benutzt habe, um
Kampfbooten in den Flüssen Leichen harmlose Urwaldstämme abzuschlachten
ohne Köpfe und Köpfe ohne Körper. und deren Boden zu rauben.
Mehrere Tausend Piraten kommen wäh­ Uber Brookes Taten in Sarawak dis­
rend dieser Strafexpeditionen um. kutiert bald sogar das Parlament, das sich
schließlich für eine gerichtliche Untersu­
chung ausspricht: Die wird unter anderem
zu ermitteln haben, ob die von Brooke
verfolgten, enteigneten und getöteten
Dayak wirklich Piraten waren oder nicht
(am Ende wird eine 1854 in Singapur zu­
sammengetretene Untersuchungskommis­
sion keinen der Vorwürfe gegen den wei­
ßen Radscha belegen).
Wahrscheinlich ist Brooke aber tat­
sächlich befallen vom Größenwahn - und
James Brooke. zudem hin und her gerissen zwischen den
um 1860. Ein paar zwei Rollen, die er sich geschaffen hat: Abwech­
Offizieller Auftrag der britischen Kapitäne ist Jahre zuvor ist selnd will er mal der souveräne Herrscher eines
allerdings ausschließlich die Piratenbekämpfung. er von der Krone Reiches in den Tropen sein, mal ein gehorsamer
Brookes Probleme dagegen interessieren das Em­ geadelt worden - Untertan der britischen Königin, der ihr Reich
pire nicht: Es will sich nicht in die Angelegenhei­ und wurde um eine Kolonie erweitert.
ten Nordborneos einmischen. Generalkonsul So bemüht er sich stets, den Menschen in
Bereits nach seiner Erhebung zum Radscha von Borneo Sarawak wie ein offizieller Repräsentant des Em­
hat Brooke London vergebens um den Schutz pire zu erscheinen, der jederzeit auf die Unterstüt­
seines Territoriums oder wenigstens um dessen zung der Royal Navy zählen kann. Und so lässt er
Bestätigung als eigenständiger Staat gebeten. seine Agenten und Freunde in der Heimat von
Um sein Anliegen persönlich vorzutragen, Anfang an Gespräche mit Regierungsvertretern
reist er in den Jahren 1847 und 1851 in die Heimat, in London führen, um die Möglichkeiten für eine
wo der Abenteurer wie ein Held willkommen ge­ Einbeziehung Sarawaks in das Empire auszuloten.
heißen wird. Die Queen empfängt ihn zu einem Dennoch versteht er sich als der Fürst, den
feierlichen Dinner in Schloss Windsor, die Uni­ sich die Bewohner Sarawaks zu ihrem Oberhaupt
versität Oxford ernennt ihn zum Ehrendoktor, er erkoren haben. Und dessen gutes Recht es ist,
erhält die Ehrenbürgerschaft von London sowie ständig seine persönliche Macht auszubauen.
einen Adelstitel: Fortan darf er sich Sir James
nennen. Zudem bestimmt die Regierung ihn zum m 1865 posiert er, nun ein Mann in
britischen Generalkonsul für Borneo und zum
Gouverneur von Labuan, einer früheren Piraten­
insel vor der Nordwestküste Borneos.
Aber seine Herrschaft über das riesige Ge­
biet von Sarawak soll nach dem Willen des Ka­
U den Sechzigern, für ein Foto. In tiefen
Höhlen sitzen seine Augen, kahl ist
seine Stirn, die Brauen wie vor Sorge
leicht zusammengezogen. Seine grauen, gewellten
Haare trägt er ordentlich frisiert. Und kerzen-

88 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Nach Brookes Tod
1868 übernehmen
gerade hält er sich in seinem eleganten Gehrock, Verwandte die Herr­ Da ist James Brooke schon lange tot. 1863
während er einen seiner Füße in den glänzenden schaft über Sarawak: hat er Borneo für immer verlassen. An der Süd­
Schuhen ähnlich wie ein Balletttänzer hinter dem das Anwesen des küste Englands bewohnte er noch mehrere Jahre
anderen aufstellt. Dynastiegründers in lang ein kleines Cottage. Nach all der Zeit der
Nicht mehr so kraftvoll und abenteuerlustig der Provinzhaupt­ Abenteuer suchte er nichts als Ruhe.
wie in seiner Jugend, aber lässig, beinahe kokett stadt Kuching Seine Gesundheit war angegriffen; immer
wirkt James Brooke auf dieser Aufnahme. wieder hatte er in den Tropen mit Malaria zu
Und schließlich, 1888, in einer Zeit der ver­ kämpfen gehabt. Und sein Zustand verschlech­
schärften Konkurrenz zwischen den europäischen terte sich, er erlitt mehrere Schlaganfälle. 1868
Kolonialmächten, erklärt die britische Regierung starb der weiße Radscha von Sarawak.
Sarawak doch noch zu einem Protektorat des Em­ Nach seinem Tod erzählten sich die Men­
pire und errichtet formal jene Schutzherrschaft, schen in Borneo, das Semangat des ungewöhn­
um die sich Brooke bereits vier Jahrzehnte zuvor lichen Herrschers sei zu ihnen zurückgekehrt.
vergebens bemüht hat. Es wohne nun auf dem Gipfel eines Berges
Faktisch bleibt allerdings noch ein halbes bei Kuching und beschütze das Land. ^
Jahrhundert lang die von dem weißen Radscha
eingerichtete Verwaltung maßgeblich für das Dr. Marita Liebermann, Jg.
1973, ist Autorin und
Land im Nordwesten Borneos. Dozentin an der Universität Eichstätt-Ingolstadt.
Zwei Generationen von Brookes Familie
herrschen nach James über Sarawak: sein von ihm
als Erbe eingesetzter Neffe Charles und dessen LITERATUREMPFEHLUNGEN: John H. Walker
Sohn Charles Vyner. ..Power and Prowess. The Origins of Brooke Kingship in
Im Zweiten Weltkrieg besetzen japanische Sarawak“. Allen & Unwin; ausführliche Studie über die
Truppen die Insel und vertreiben Vyner, den Entstehung und die Grundlagen von Brookes Privat­
dritten Radscha des Hauses Brooke, aus Borneo. reich auf Borneo. Brookes Taten wurden zudem in
Doch 1946 kehrt Charles zurück - allerdings nur, mehreren Romanen verarbeitet - darunter in Rudyard
um die Herrschaft offiziell an Großbritannien zu Kiplings 1888 erschienener Novelle „Der Mann, der
übergeben. Das Reich der Brookes bleibt eine König sein wollte". Ripperger & Kremers, über einen
Kolonie des Empire, bis Sarawak 1963 zum Bun­ britischen Abenteurer, der im heutigen Afghanistan
desstaat des souveränen Staates Malaysia wird. ein Königreich errichtet.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 89


Australien -1849

KÜSTE DER VERDAMMTEN


Seit 1788 nutzt London Australien als Sträflingskolonie. Zudem sollen die Kriminellen den Kontinent für
die Krone erschließen. Doch als 1849 erneut ein Gefangenentransport Sydney erreicht, kommt es zum Protest:
Die Pioniere wollen, dass aus dem Kontinent nun ein ehrbarer Teil des Empire wird Von marion hombach

or sechs Tagen ist die „Hashe- teiligen sich an dem Protest gegen die Prostituierte und klauende Waisenjungen

V my“ in Sydney eingelaufen. Ein


Hauptmann hat die 212 männ­
lichen Passagiere gemustert, sie
zu ihrer Überfahrt befragt, ihre Quartiere
inspiziert. Dann hat er das Schiff freige­
Neuankömmlinge. Und keiner kann sich
vorstellen, dass ausgerechnet William
Henry Groom, der Dieb, hier eine poli­
tische Karriere machen wird.
nach Nordamerika geschickt worden.
Doch nach der Unabhängigkeitser­
klärung der USA 1776 musste die Krone
viele Gefangene auf Schiffen unterbrin­
gen, die in der Themse und in südengli­
geben. Und so dürfen an diesem 14. Juni schen Häfen ankerten. Da erinnert man
1849 endlich jene Männer an Bord des Früh schon hat das Empire Strafgefan­ sich in der Obrigkeit an einen Küsten­
Seglers gehen, die schon seit Wochen auf gene nach Ubersee verschifft, um so seine streifen, der sich für eine Gefangenen­
seine Ankunft gewartet haben: Schaf­ wenigen Gefängnisse zu entlasten, die kolonie eignet: New Holland, eine noch
züchter und Gutsbesitzer. Sie suchen dramatisch überfüllt sind. Oft sind es unerforschte Landmasse, 1770 an ihrer
Knechte und billige Arbeitskräfte. Kinder oder junge Erwachsene, die in Ostküste von dem Entdecker James Cook
Aut dem Achterdeck machen sie den schnell wachsenden Städten Eng­ für die Krone in Besitz genommen.
den Ankömmlingen ihre Angebote: Kost lands keine Arbeit finden, aus Hunger 1787 schickt Großbritannien elf
und Logis frei, dazu zwölf bis 16 Pfund stehlen und betrügen und dafür zu jahre­ Schiffe mit über 700 Sträflingen auf die
Verdienst im Jahr, das ist etwa halb so langer Haft oder gar zum Tode verurteilt Reise zum Fünften Kontinent. Insgesamt
viel wie bei freien Landarbeitern in Eng­ werden. Weil London sie für unverbes­ werden in den folgenden 80 Jahren mehr
land. Einige Handwerker bekommen serlich hält, Todgeweihte aber immer als 800 britische Schiffe etwa 160 000
sogar 28 Pfund. Unter den Passagieren öfter begnadigt, sind im 17. und 18. Jahr­ Gefangene auf die südliche Halbkugel
stehen auch einige Minderjährige. hundert Tausende Gauner, Schuldner, bringen. Wer die Reise übersteht, soll das
Sie alle sind in Großbritannien als Land unter Militäraufsicht urbar machen
Kriminelle verurteilt worden. Manche und erhält nach Ablauf seiner Strafzeit
haben Silberlöffel gestohlen, andere sei­ die Freiheit sowie ein Stück Boden.
dene Taschentücher, wieder andere Woll­ Mehr als 800 britische Gefangenen­ Viele der ersten Siedler sterben
stoff oder Hüte. Doch im Grunde waren schiffe laufen Australien an, etwa 160 000 schon bald. Sie gehen bei Fluchtversu­
die meisten ihrer Vergehen gering. So Menschen werden verbannt chen in den Busch zugrunde, erliegen
wie das des 16-jährigen Bäckerlehrlings Krankheiten, enden wegen Diebstahls
William Henry Groom, den ein Gericht oder Meuterei am Galgen. Und manche
zu sieben Jahren Haft wegen des Dieb­ verhungern schlicht.
stahls von Brot verurteilt hat. Der erste Gouverneur von New
Die „Hashemy“ ist ein Sträflings­ South Wales - der neu gegründeten
transport. Kurz nach der Ankunft der Kolonie an der Ostküste des in weiten
Bark demonstrieren Tausende Bürger Teilen noch unbekannten Kontinents -
Sydneys dafür, dass es der letzte ist. In erkennt bald, dass er vor allem Bauern
der Stadt, die 61 Jahre zuvor als Gefan­ braucht. Auf sein Drängen hin wirbt
genenkolonie gegründet wurde, sind Ver­ man in England daher schon ab 1792
urteilte nicht länger willkommen. erste Freiwillige an, verspricht ihnen
New South Wales, die älteste der Land und für sie arbeitende Sträflinge.
zu dieser Zeit vier britischen Kolonien Doch anfangs interessieren sich nur
in Australien, wandelt sich von einem wenige Auswanderer für das Angebot -
Straflager zu einem Ziel ehrlicher und bis 1800 nehmen es nur 20 an. Daher
ehrgeiziger Siedler. Auf dem Kontinent zahlt die Kolonialregierung manchen bri­
geborene Kinder weißer Einwohner be­ tischen Bürgern nun die Schiffspassage

90 GEO EPOCHE Das Britische Empire


r-VSt y'in.

schon nach vier Monaten bedingt begna­


digt und zahlt von seinen ersten Gehäl­
tern die Kosten seiner Passage zurück.
Offenbar kann der Junge gut mit
Zahlen umgehen und arbeitet bald unter
anderem als Buchhalter. Schließlich geht
er in die Stadt Toowoomba, heiratet in
eine etablierte Familie ein und wird bin­
nen weniger Jahre Besitzer eines Hotels
und später Miteigentümer einer der ört­
lichen Zeitungen.
Zudem gelingt ihm eine unge­
wöhnliche politische Karriere: 1861 wird
William Groom Bürgermeister von Too­
woomba, 1862 Abgeordneter im ersten
Sträflinge, die wie hier in Käfigen transportiert Parlament von Queensland, der neu ge­
werden, und ihre Nachkommen bauen über mehrere gründeten, sechsten und damit letzten
Jahrzehnte das moderne Australien mit auf britischen Kolonie in Australien.
Er debattiert über Gesetze und
kontrolliert die Regierungen der Kolonie.
Er kämpft für Landverteilung und für
und hilft, Farmen oder Geschäfte zu Es entsteht eine neue Gesellschaft: Schutzzölle beim Import. Sein größtes
gründen. Vor allem im überbevölkerten Am wenigsten gelten die Ureinwohner, Ziel, den Ministerposten für Landfragen,
London wirbt sie um Emigranten - auch die Aborigines. Sie haben kaum Rechte, erreicht er allerdings nicht, vermutlich
um Frauen, damit die überwiegend männ­ werden oft straflos gejagt und getötet. wegen seiner kriminellen Vergangenheit.
lichen ehemaligen Sträflinge in ihrer Uber ihnen stehen die Sträflinge aus Eu­ Im Jahr 1870 zieht Großbritannien
neuen Heimat Familien gründen können. ropa, darüber diejenigen, die ihre Strafe seine Truppen aus dem Kontinent ab,
Und nun kommen nach und nach abgeleistet haben. Die Oberschicht bil­ sodass fortan Freiwilligenverbände Aus­
auch immer mehr Einwanderer nach den die Vertreter der Regierung und die tralien beschützen, ehe 1901 eine eigene
Australien, wie der Kontinent seit 1824 Soldaten Ihrer Majestät sowie die frei­ Armee gegründet wird. Von 1890 an dis­
offiziell heißt - benannt nach terra aus- willig Eingewanderten. kutieren die sechs Kolonien die Grün­
tralis incognita (lat., unbekanntes Süd­ Auch auf ihren Druck hin beschließt dung eines gemeinsamen Staates, und
land). Bald entdecken die neuen Siedler die britische Regierung 1840, fortan kei­ im Mai 1901 tritt das neue Parlament
im Hinterland Weiden für Schafe und ne Delinquenten mehr nach New South von Australien erstmals zusammen - mit
erzielen mit der Wolle innerhalb kurzer Wales zu verschicken. Denn zwar profi­ Groom als einem der ersten Abgeordne­
Zeit enorme Profite. tieren manche Siedler wirtschaftlich von ten. Wenige Monate später stirbt er an
Die abgelegene Gefängnisinsel wird den Gefangenen, viele Kolonisten aber einer Lungenentzündung.
wohlhabend - und in Sydney, der Haupt­ wollen endlich den Makel des Kriminel­ So wie er sich zu seinen Lebzeiten
stadt der sich immer weiter ins Landes­ len loswerden. So werden weitere Ver­ gewandelt hat, so hat sich auch Aus­
innere ausdehnenden ersten Kolonie urteilte auf die noch abgelegenere Insel tralien radikal verändert. Die Kolonie
New South Wales, beginnt der dortige Tasmanien geschickt. hat ihre verrufenen Anfänge hinter sich
Gouverneur, bei Bauprojekten die Archi­ Acht Jahre später aber ist sie über­ gelassen und ist zum „Dominion“ auf­
tektur des Britischen Empire zu kopie­ füllt — und Großbritannien rüstet doch gestiegen — einem selbstbewussten,
ren: Wohnhäuser im georgianischen Stil wieder Sträflingsschiffe zur Fahrt nach autonomen und von freien weißen Sied­
werden errichtet, eine Bank, Straßen, Sydney aus, darunter die „Hashemy“. lern beherrschten Teil des Britischen
Brücken und ein Leuchtturm. Es ist einer der letzten Gefange­ Empire.
Sydney wächst von 2000 Einwoh­ nentransporte: Nach der Demonstration Schon bald wird der Kontinent sich
nern im Jahr 1800 auf 50 000 ein halbes im Hafen von Sydney gegen seine Lan­ •als zuverlässiger Verbündeter erweisen:
Jahrhundert später. Und als weitere grö­ dung werden nur noch drei Schiffe Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht,
ßere Städte an den australischen Küsten mit Verurteilten die Stadt anlaufen, das werden die Nachfahren jener Sträflinge,
entstehen, gründen die Briten fünf zu­ letzte wenige Monate später. die Großbritannien einst an das andere
sätzliche eigenständige Kolonien. Ende der Erde verbannte, für das Mut­
Um 1850 leben auf dem Kontinent terland in die Schlacht ziehen. 9
bereits mehr als 400 000 aus Europa William Henry Groom, der 16-jährige
stammende Menschen, alle in den briti­ Junge von der „Hashemy“, steigt nach Dr. Marion Hombach, Jg. 1975, ist
schen Besitzungen. seiner Ankunft schnell auf: Er wird Autorin in Berlin.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 91


Weltausstellung - 1851

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1 Qliiil r l

Hier schlagt das Herz des Emp ire: London ist zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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die größte Stadt der Erde, zudem der wichtigste Hafen und bedeutendste

Industriestandort, das Zentrum der internationalen Waren- und Geldströme.

Im Frühjahr 1851 wird an der Themse die erste Weltausstellung eröffnet - ei«

Leistungsschau des britischen Imperiums -------------------------- Von Mathias mesenhöller

92 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Zentrum
der Welt

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Symbol der Weltmetropole:


Die Tower Bridge verbindet zum
Ende des Jahrhunderts das
Londoner East End mit dem
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Südufer der Themse

GEO EPOCHE Das Britische Empire 93


Anschließend sollen die rund 300 000
Glasplatten und vorgefertigten Rahmen
des Baus wieder demontiert werden.
Die „Great Exhibition“ ist eine
Schau neuer Maschinen und Erfindun­
gen, von Konsumgütern, Rohstoffen und
Kunstgegenständen aller Kontinente,
kurz: eine Feier des friedlichen Austau­
sches und Fortschritts. Sowie des briti­
schen Imperiums, das den globalen Han­
del antreibt wie keine zweite Macht. Und
Englands, dieser „Werkstatt der Welt“.
Hell funkelt (gleich dem Koh-i-
Noor im Kleid der Königin) der Kristall­
palast am Saum der Kapitale: der größten,
reichsten, fiebrigsten Stadt des Planeten
- die eben am Anfang ihrer glanzvollsten
Ära steht. Einer nasskalten, in Freiheit
und Gier verliebten, grandiosen und
elenden, erbarmungslosen und erbärm­
lichen Metropole. Strotzend vor Pracht
und Vergnügen, Perversion, Macht.
„The Imperial City“: London.
2,3 Millionen Menschen leben um
1850 in dieser Metropole. Darunter eini­
ge der vermögendsten Aristokraten und
Kaufleute Europas sowie Angestellte und
Arbeiter fast jeder Profession, ein Heer
Wie so oft fällt ein dünner Regen. Den­ Eisenstruktur. Eine spiegelnde Kathe­ männlicher und weiblicher Dienstboten,
noch strömen rund 500 000 Menschen drale der technischen Zivilisation. halb verhungerte Tagelöhner, Bettler.
an diesem 1. Mai 1851 in den Londoner Errichtet in nur wenigen Monaten, Doch gleichgültig, ob Mittelschicht oder
Hyde Park, zu Fuß, zu Pferd, auf leichten dient der „Kristallpalast“ - wie eine Lon­ Proletarier, Millionär oder Vagabund,
Einspännern oder in Mietdroschken. doner Zeitschrift das Meisterstück aus einer Erfahrung kann sich kein Londo­
Erwartungsvoll. Gegen Mittag rollt eine Licht und Leichtigkeit getauft hat - ner entziehen: Die Stadt stinkt.
Kolonne von neun Staatskutschen heran. einem einzigen Zweck: Für ein knappes Sie stinkt aus 200000 überlaufen­
In einem der Wagen sitzt eine kleine Frau. halbes Jahr wird hier die „Great Exhibi­ den Sickergruben, aus verfallenen, ver­
Da bricht die Sonne durch die tion of the Works of Industry of All Na- stopften Abwasserkanälen und Gullys.
Wolken und lässt die Juwelen im Haar, tions“ gezeigt, die erste Weltausstellung. Sie stinkt von der Themse her, die vor
an Hals und Fingern der Frau funkelnd Exkrementen und Abfall dunkel schim­
aufstrahlen. Hell schimmert ihr Hofkleid mert, durch deren verpesteten Ufer­
aus weißem und rosafarbenem Satin; schlamm Massen roter Würmer kriechen.
triumphal gleißt in ihrem Dekollete Sie stinkt nach den Ausscheidungen der
der Koh-i-Noor, der größte Diamant der Zugpferde und Schlachttiere, die jedes
Welt. Königin Viktoria von England, die Jahr Zehntausende Tonnen Kot und
Herrscherin über Britannien und dessen Urin auf den Straßen zurücklassen.
Weltreich, gibt sich die Ehre. Auf innerstädtischen Mülldepots
Der Glanz all ihrer Edelsteine aber und um Metzgereien und Märkte verrot­
wird übertroffen von dem menschen­ ten welkes Gemüse, Fleischabschnitte,
umlagerten Wunderwerk, auf das die Fischreste. Zwischen Schmutzwasser­
Karosse der Monarchin nun zusteuert lachen und Kehrichthaufen liegen ver­
und dessen Eröffnung durch ihren Be­ endete Ratten, Katzen und Hunde, von
such geadelt wird. Einem Bau, wie ihn den überfüllten Friedhöfen geht mensch­
die Welt noch nicht gesehen hat. licher Verwesungsgeruch aus.
Er ist 560 Meter lang, in Teilen Die ätzenden Ausdünstungen zahl­
33 Meter hoch und scheinbar fast ganz loser Gerbereien, Leim- und Kürschner­
aus Glas, getragen von einer filigranen Viktoria. Königin seit 1837. herrscht betriebe, Färberwerkstätten mischen sich
63 Jahre lang über das Empire. Doch die
wirkliche Macht im Reich haben andere
94 GEO EPOCHE Das Britische Empire
Am 1. Mai 1851 eröffnen Königin Viktoria und ihr Ehemann Albert die erste Weltausstellung - in einer säkularen Kathedrale: dem
Kristallpalast, einem 560 Meter langen, 33 Meter hohen Bau aus Eisen und Glas. Großbritannien präsentiert hier - neben anderen
Staaten - den Besuchern aus zahlreichen Ländern seine neuesten Industrieprodukte sowie die Pracht und Exotik seiner Kolonien

GEO EPOCHE Das Britische Empire 95


Arm und Reich sind in London zumeist streng
geschieden. Dieser Gentleman trifft Angehörige der Unter­
schicht wohl nur als Dienstboten oder Schuhputzer

OFFICES

In der Fleet Street (im Hintergrund die


Kuppel der St Paul s Cathedral) sitzen wichtige
Zeitungsredaktionen, aus allen Winkeln der
Welt laufen hier Nachrichten ein. Und begierig
liest sie das Londoner Publikum. Denn auch
eine Krise in China kann das Geschäft der inter­
nationalen Handelsfirmen beeinflussen

mit dem beißenden Rauch der Brikett­ gehen zurück auf einen festen Glauben Im Namen der Freiheit verteidigen
heizungen und Küchenfeuer, dem tee­ an das Recht jedes Einzelnen, zu tun, was sie einerseits uralte Privilegien, anderer­
rigen Anhauch von Kohlengas, das aus ihm beliebt. Gehen zurück auf ein tiefes seits eine Marktgesellschaft, in der jeder
undichten Leitungen dringt. Misstrauen gegenüber dem Staat und für sich selbst verantwortlich ist, sich so
Und es stinken auch die Menschen, seinen „tyrannischen“ Bürokraten. gut bereichert, wie es ihm gelingt, auf­
ihre faulen Zähne und schwitzenden, eng Auch deshalb hat London keine steigt oder untergeht.
gegeneinander drängenden Leiber, selten zentrale Verwaltung, sondern wird von
gewaschen, oft krank, alkoholisiert; es rund 300 teils seit dem Mittelalter beste­ nd kaum irgendwo tobt
stinkt ihre über Tage, Wochen nicht ge­
wechselte Wäsche, das fettig verfilzte
Haar. Stechend scharf, süßlich-schwer,
bitter: London stinkt so vielfältig und
durchdringend, wie die Menschheit nur
stinken kann.
henden Körperschaften geführt, in denen
die steuerzahlenden Gewerbe- und Haus­
besitzer den Ton angeben - Pfennigfuch­
ser, die bei öffentlichen Ausgaben nur
Kosten und höhere Abgaben sehen. Die
lieber das verseuchte Themsewasser trin­
U dieser rücksichtslose Wett­
bewerb um Reichtum und
Überleben so sichtbar wie in
der innersten Herzkammer des Empire,
der ersten Quelle von Londons Reich­
tum. Im Hafen.
Es ist der Dunst der Freiheit. Denn ken, als die Kanalisation zu sanieren oder Auf dem stinkenden Fluss drängen
all dieser Dreck und das Gedränge, die die privaten Wasserversorger zu regulie­ sich Wasserfahrzeuge aller Art: Last­
wild wuchernden Betriebe und Märkte ren. Zumal etliche einflussreiche Männer kähne mit langen, dünnen Rudern und
von den Unternehmen bestochen oder
direkt an ihnen beteiligt sind.
96 GEO EPOCHE Das Britische Empire
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kleine Boote, die Flöße aus Bauholz Dampfschlepper die mächtigen Segler Die Docks werden von privaten
ziehen; tief liegende Schaluppen mit im Minutentakt flussaufwärts, nahezu Kapitalgesellschaften betrieben, die in
Heu oder Steinen; von ihrer Fracht ge­ ununterbrochen transportieren Leichter harter Konkurrenz zueinander stehen.
schwärzte Kohletransporter. Hunderte die Ladung ankernder Schiffe an das von Noch brutaler indes ist der Wettbewerb
schneller Passagier-Raddampfer pendeln Lagerhäusern gesäumte Ufer. unter den Menschen, die für sie arbei­
in die Vororte und die Seebäder. Ebenso stetig aber schmälern Die­ ten. Morgen für Morgen drängen sich
Zweimastige Briggs tragen Talg, be, die sich an den oft ungeschützt auf Tausende vor den Toren, Männer in zer­
Hanf und Getreide aus dem Baltikum den Kais lagernden Waren vergreifen, schlissenen Uberziehern, schmutzigen
und Russland heran. Imposante Drei­ den Profit der Kaufleute. Daher bevor­ Hemden und dreckstarrenden Jacken.
master bringen Güter von allen Konti­ zugen viele Reeder eine der fünf Dock­ Sie rempeln und schieben einan­
nenten. Rasante Segler, die „Clipper“, anlagen, die von der Themse abzweigen: der weg, schreien ihre Namen, winken,
starten von hier ab 1852 zu mörderischen riesige künstliche Becken mit eigenen schneiden Grimassen, um von einem
Rennen um die halbe Welt, um als Erste Kais und Speichern. Vorarbeiter bemerkt zu werden, der die
den erntefrischen Tee aus China auf den Hier fällt zwar eine besondere Ge­ Mannschaft für den Tag oder ein paar
Londoner Markt zu bringen. bühr an, doch dafür schützen mehrere Stunden anheuert. Die Kräftigsten und
Bei Hochwasser (die Themse steigt Meter hohe Mauern und Wachleute die Bewährten werden zuerst genommen,
und Fällt mit den Gezeiten) ziehen kostbaren Waren - allein einer der Wein­ die Unterernährten und Alten nur, wenn
keller des London Dock umfasst rund
28300 Quadratmeter.
GEO EPOCHE Das Britische Empire 97
Erster königlicher Schirmherr der traditionsreichen Henley Regatta ist Prinz Albert, der deutschstämmige
Gemahl Königin Viktorias. Das stets im Sommer ausgetragene Ruderrennen auf der Themse ist ein wichtiger
gesellschaftlicher Termin für Londons bessere Kreise, die von Booten oder den Ufern aus Zusehen

besonders viel zu tun ist. Wie viele zern der Docks deren Renditen. Und ihre zahmen Papageien und Affen ab,
Glückliche jeweils Arbeit und Lohn be­ eine gigantische Baustelle themseabwärts haben zuweilen sogar Kobras, ein Kamel
kommen, hängt von der Jahreszeit und kündigt weitere Einbußen an: Hier ent­ oder einen Tiger im Angebot.
der Konjunktur ab, vom Wind auf See. steht das erste Dock einer neuen Ara, Nirgendwo mischen sich Besatzun­
eigens ausgelegt für große und schwere gen so wie hier: Chinesen, Inder, Malai­
T er es geschafft hat, Dampfschiffe, bestückt mit hydrauli­ en, Afrikaner schlafen aut den Pritschen
schiebt für ein paar schen Kränen, vor allem aber mit Schie­ schäbiger Herbergen. Nur wenige blei­
Pennys in der Stunde nensträngen, die es an das rasant wach­ ben länger - erst später wird das Imperi­
schwere Karren, hievt sende Eisenbahnnetz anschließen. um auch die ansässige Bevölkerung Lon­
und schleppt und wuchtet Ballen und Benannt nach der Königin, wird das dons prägen. Eher schon lockt Englands
Tonnen mit den Reichtümern der Welt: Victoria Dock 1855 eröffnen und Lon­ Freiheit politische Flüchtlinge und Exi­
afrikanischen Guano und norwegisches dons Vorrangstellung unter den euro­ lanten aus ganz Europa, darunter einen
Gletschereis, Gewürze aus Java, Roh­ päischen Häfen festigen - zulasten der deutschen Aufrührer namens Karl Marx.
zucker aus der Karibik, Kaffee und älteren Anlagen. Bald darauf fertigt das Bereits um 1850 macht der unabläs­
Kakao, Seide, Tabak, Baumwolle, Edel­ Victoria Dock annähernd so viel Ton­ sige Güterstrom London zum Stapel­
metalle. Alles Waren und Güter, die nage ab wie alle anderen Dockanlagen platz der Welt. Und zu ihrem führenden
großen Gewinn versprechen — an dem des nördlichen Themseufers zusammen. Einkaufszentrum.
jedoch die ums blanke Überleben schuf­ Die umliegenden, längst einge­ Bis weit nach Einbruch der Dun­
tenden Schauerleute kaum einen Anteil meindeten Seefahrerdörfer wie Wapping, kelheit erstrahlen die Straßen mit den
haben. Und oft nicht einmal ihre Arbeit­ Limehouse, Ratcliffe oder Rotherhithe teuren Shops im Licht der Gaslampen;
geber, die Dockbetreiber. werden immer noch beherrscht von an einzelnen Fassaden reichen die
Denn trotz der miserablen Löhne Bootsbauern und Matrosenausrüstern, Leuchten vom Parterre bis unter das
drückt die Konkurrenz unter den Besit­ Seilmachern, Bäckereien für Schiffszwie­ Dach, andernorts bilden sie gleißende
back; es riecht nach Teer und Rum. Spe­
zialgeschäfte kaufen den Ankömmlingen
98 GEO EPOCHE Das Britische Empire
tiquen ohnehin, aber ebenso der Wein­
händler die Flaschen für den geselligen
Abend, der Pub die gemieteten Gläser
Ornamente in der Form von Blättern dazu, der Fischhändler die Muscheln. Denn anders als viele Industrie­
und Ranken. Um Kunden anzulocken, ziehen unternehmen, die sich vornehmlich über
Weil die Flammen heftig blaken, Ausrufer und Handzettelverteiler durch Eigenkapital und Anteilsscheine finan­
bringen einige Händler die Lampen die Straßen, Plakatträger zu Fuß oder auf zieren, ist der Überseehandel fast voll­
außen an. Spiegel reflektieren das Licht dem Pferd, klebt Reklame an Mauern, ständig kreditfinanziert. Zudem überlässt
durch weite Schaufenster aus Flachglas Brücken, Baugerüsten, Omnibussen oder die wirtschaftsliberal orientierte Regie­
ins Innere, ohne dass dort die Luit noch ist einfach mit Kreide oder Tünche auf rung viele Aufgaben, für die in anderen
stickiger würde. die Wände gemalt. Ländern der Staat zuständig ist, privaten
Die großartigsten Auslagen finden Ein Quacksalber preist auf einem Kapitalgesellschaften, etwa die Wasser­
sich auf der vielleicht feinsten Straße Karren in Form einer Moschee seine versorgung, den Bau der Verkehrsinfra­
Europas, der Regent Street, und bieten „phänomenale arabische Medizin“ gegen struktur — sowie den Erwerb und die
Juwelen, verlockende Delikatessen, ita­ Hunde- und Reptilienbisse an. Ein an­ Verwaltung von Kolonien.
lienische Statuen, Samt- und Seiden­ derer Motivwagen wirbt mit hölzernen Auf diese Weise ist die mächtigste
stoffe dar, ausgestopfte Paradiesvögel, Pyramiden für ein Ägypten-Panorama. Finanzindustrie der Welt entstanden. Ihr
Kolibris und Papageien. Das Wirtshaus „Elephant and Castle“ Hauptquartier hat sie im historischen
präsentiert das Modell eines Elefanten, Kern Londons, in der City um die Lom­
erweil nehmen die unter Krämer stellen Bilder von Tee trinkenden bard Street - der Name stammt von den

D einem Dach vereinten Ver­


kaufsstände des „Pantheon“
Beduinen in die Auslage.

exklusiven „Pantechnicon“ in Belgravia


Londons kleine und große Kaufleu­
in der Oxford Street oder des te verdienen Geld mit praktisch allem,
was auf der Welt zu kaufen ist. Doch die
bereits die großen Warenhäuser vorweg, größten Profite wirft das komplizierteste
die bald entstehen werden. Fast jedes und abstrakteste Geschäft von allen ab:
lombardischen Geldhändlern, die hier
bereits im 13. Jahrhundert ansässig wa­
ren und Englands Könige mit Krediten
versorgten. Nun residieren in der City
namhafte Bankhäuser wie Rothschild,
Barings, Barclays oder Kleinwort sowie
Geschäft liefert frei Haus, die Luxusbou­ das Geschäft mit dem Geld selbst. die für jeden Geschäftsmann unverzicht-

Auf dem Gelände des Hurlingham Club (im Westlondoner Stadtteil Fulham),
auf dem sonst Polospiele ausgetragen werden, versammeln sich elegant gekleidete Damen
und Herren - Zuschauer und Teilnehmer einer dort startenden Ballonwettfahrt

99
telschicht — nämlich einen Teil von je­
nem rasant zirkulierenden Reichtum, den
sie verwalten. Sie träumen davon, Opern­
baren Schiffs-, Lebens- und Feuerver­ abende und Pferderennen zu besuchen, rungsangestellter. Und veruntreut min­
sicherer, vor allem aber zwei prächtige, ein schönes Haus zu kaufen, gesellschaft­ destens 70 0 00 Pfund, das 350-Fache
von klassizistischen Säulen geschmückte lich aufzusteigen. Also spekulieren sie seines Jahresgehalts. Als er auffliegt und
Gebäude: die Bank of England und die selbst, geben sich einer fieberhaften verurteilt wird, erhängt er sich in der
Londoner Aktienbörse. Goldgräberstimmung hin. Gefängniszelle an seiner Krawatte.
Die Bank of England ist eine privat Das West End, in dem Watts, ge­
geführte Nationalbank, die das britische anche werden bei diesen schützt durch die Freiheit und Anony­
Papiergeld herausgibt - mit der Auflage, Geschäften extrem reich, mität der Metropole, seine glamouröse
für jede Note den Umtausch in eine ge­ andere enden als Bettler. Zweitexistenz führte, ist neben der City
nau fixierte Menge Gold zu garantieren. Oder sie halten das ner­ die bevorzugte Wohnlage der sagenhaft
Dieser einzigartige „Goldstandard“ macht venzerrende Spiel mit dem Risiko nicht reichen Oberschicht. Manche Angehö­
das Pfund zu einer besonders harten aus: In der City sind Selbstmorde so rige dieser Elite haben ihr Geld in den
Währung und weckt das Vertrauen von verbreitet wie sonst nur unter den hoff­ Kolonien verdient, andere im Handel
Sparern und Investoren. nungslosesten der städtischen Armen. und in den Finanzgeschäften, die von
Die Börse wiederum bie­ London aus gesteuert werden.
tet ihnen Gelegenheit, sich an Die reichsten Männer des
Unternehmungen aller Art zu Königreichs indes sind immer
beteiligen, ist offener für spe­ noch die aristokratischen Erben
kulative Geschäfte als ihre riesiger Ländereien: vor allem,
Konkurrenten in New York wenn ihr Besitz um das alte
und Amsterdam. London herum liegt und sie
Gemeinsam ziehen die mit dem rasanten Wachstum
Institutionen der Londoner der Kapitale gewaltige Ein­
City Kapital aus ganz Großbri­ künfte aus Bauprojekten, Pach­
tannien an - sowie zunehmend ten und Mieten erzielen.
auch aus dem Ausland — und Sie unterhalten prächtige
vermehren es noch, indem sie Stadthäuser voller Marmor,
es be- und verleihen, mit Zah­ Silber und Buntglas, in deren
lungsversprechen Handel trei­ Ballsälen die imperiale Elite
ben. Und so wird nicht das während der jährlichen „Sai­
Pfund selbst zu der wichtigs­ son“ von März bis August glän­
ten Währung des Welthandels, zende Feste gibt, Geist, Geld
sondern der in London garan­ und große Namen versammelt,
tierte Wechselschein. Arbeiter beim Verladen von Waren auf dem exklusive Ehen und politische
Kaum reguliert, extrem Markt von Billingsgate. Vor allem Fisch wird hier in Bündnisse schmiedet.
erfinderisch und unabhängig einer großen Halle nahe dem Fluss gehandelt Andere bewohnen die
von politischen Bedenken, son­ stuckverzierten Mietspaläste,
dern allein dem jeweils besten deren cremefarbene Reihen die
Ertrag verpflichtet, verwandeln Straßen und Plätze von Belgra-
die mächtigen Bankhäuser der via südlich des Hyde Park säu­
City die Ersparnisse schottischer Bauern In dieser allgemeinen Gier breiten men - das am stärksten geldgesättigte
oder südenglischer Ladenbesitzer in Fern­ sich Betrug und Unterschleif aus, mit Viertel des Planeten, wie ein Zeitgenos­
handelsdarlehen, in Überbrückungskre­ ihnen Skandale und Gerichtsprozesse. se bemerkt. Tore und Schranken schir­
dite für Teeplantagen in Indien oder in die Die Direktoren etwa der Royal British men die Privilegierten von Verkehrslärm
Finanzierung eines Bergwerks in Latein­ Bank treten zwar als strenge Freikirch- und ungebetenem Besuch ab.
amerika, einer kanadischen Eisenbahn. ler auf und eröffnen jede Sitzung mit Doch vor einem kann auch sie
Morgen für Morgen strömt das einem Gebet - fälschen aber ihre Bücher, nichts bewahren: vor Londons in alle
Personal, das diese Geschäfte abwickelt, unterschlagen Einlagen, führen ein rau­ Winkel vordringendem Gestank sowie
gegen 9.00 Uhr in die City: Angestellte schendes Luxusleben, bis sie 1856 über­ dem gelben Nebel aus Smog, erzeugt von
jeden Alters und Äußeren, die doch uni­ führt und verhaftet werden. zahllosen Kohlefeuern, der Blätter, Fas­
form wirken in ihren schwarzen Anzug­ Ein paar Jahre früher macht im saden, Silbergeschirr mit einem rußigen
jacken, weißen Kragen und Zylinderhü­ vornehmen West End ein geheimnis­ Schmutzfilm überzieht. Selbst die Ab­
ten. Häufiger als früher finden sich nun voller Dandy von sich reden, der einen wasserleitungen und Keller des nahen
auch junge, ehrgeizige Neuankömmlinge exquisiten Geschmack für edle Stoffe Buckingham-Palastes riechen bestialisch.
unter ihnen, die mehr wollen als eine und beste Weine zeigt, großzügig in zwei Allenfalls Tyburnia, die Hochburg
respektable Position in der unteren Mit­ Theater investiert, rauschende Feste gibt. der Neureichen im Norden des Hyde
Allerdings nur nachts. Denn tags­
über arbeitet Walter Watts als Versiche­
100 GEO EPOCHE Das Britische Empire
Westminster Bridge mit dem Uhrenturm von Big Ben und dem Westminster-Palast im
Hintergrund. Dort tagt das Parlament; dessen Abgeordnete und die ihnen verantwortlichen Minister
sind seit der Revolution von 1688 die wahren Herren der Politik im Königreich und im Empire

Park und einem Zeitgenossen zufolge der Gruppe mächtiger, belaubter Ulmen, die lässt Viktoria die „Great Exhibition“ für
„gesündeste Teil Londons“, mag reinere bereits vorher hier standen und in den eröffnet erklären.
Luft haben. Die Snobs der altenglischen Innenraum einbezogen wurden. Wasser 17062 Aussteller haben mehr als
Elite freilich kann das nicht locken, so­ plätschert einen gut acht Meter hohen 100 000 Exponate geschickt, die nun
lange hier die Nachbarn zwar fließendes Springbrunnen aus Glas hinab; weitere auf 80000 Quadratmeter Schaufläche
Warm- und Kaltwasser genießen, Kunst­ Brunnen sind zu erkennen, Palmen zu besichtigen sind. Sie sind eingeteilt
schätze anhäufen - aber ihren Unterklas­ und bunte, duftende Blumen, Reihen in vier Klassen: Rohstoffe, Maschinen,
senakzent nicht loswerden. So hat sich von übermannshohen Marmorstatuen, Konsumgüter und Kunstgegenstände.
in Tyburnia „die indische Welt“ versam­ leuchtende Schmuckteppiche. Sämtliche Gegenden Europas sind ver­
melt: suspekte Aufsteiger, die jenseits des Nachdem Viktoria und ihr Mann, treten, auch die USA und Lateinamerika,
Ozeans ihr Glück gemacht haben. Da Prinz Albert, zwischen Hofdamen und kein Kontinent fehlt. Ein Panorama der
lieber der Dunst der königlichen Kloake. Staatsmännern ein Podest bestiegen ha­ Güter, Ideen, des Reichtums der Welt.
ben, spielt eine gewaltige Orgel von 4500 Zugleich demonstrieren die Gast­
is Königin Viktoria am Pfeifen die Nationalhymne; die vielen geber ihren Anspruch, den Marsch dieser

V Mittag des 1. Mai 1851 den Tausend Anwesenden fallen ein.


Kristallpalast betritt, ertönen
Trompeten, brandet der Ju­
Albert verliest den Bericht der Kö­
niglichen Kommission, die mithilfe pri­
bel von mehr als 25000 privilegierten vater Spenden und einer Kapitalmarkt­
Gästen auf, die Sitze und Galerien füllen. anleihe die Ausstellung organisiert hat
Welt in eine Zukunft des Fortschritts
von Technik und Zivilisation, des fried­
lichen Wettbewerbs und des freien Aus-
tauschs von Gütern anzuführen: Mehr
als die Hälfte der Exponate sowie die
Der Eindruck des Baus übertrifft und deren Vorsitzender er ist. Viktoria innovativsten Maschinen, die größte
den ihrer stattlichsten Paläste. Sein licht­ dankt ihm. Rohstoffpalette, die raffiniertesten Ins­
durchflutetes Querschiff überspannt eine Unter großem Beifall schreitet das trumente stammen aus Viktorias Reich.
königliche Paar das Hauptschiff des
Kristallpalastes hinab und zurück. Dann
GEO EPOCHE Das Britische Empire 101
Die Bibliothek des British Museum im Stadtteil Bloomsbury sammelt das Wissen des Empire. Nahezu alles,
was im Vereinigten Königreich gedruckt wird, sowie die meisten Veröffentlichungen aus den Kolonien und darüber hinaus
Abschriften sämtlicher Patente finden sich in den Registern des riesigen runden Lesesaals

Im Zentrum des Kristallpalastes belegt mit Wein, Seide und Merinowolle, merkwürdig anmutende Insekten, Kan-
präsentiert Großbritannien denn auch dass es auf dem Weg von einer Straf­ nibalen-Messer, Wachsmodelle karibi­
seinen stolzesten Besitz: das Empire. kolonie zur prosperierenden Siedler­ scher Blumen, ein Kanu, Muschelketten,
Spektakulär ist der „Indische Hof1 - gemeinschaft ist. Und ein Botaniker zeigt Pfeil und Bogen eines Zulu-Kriegers.
entsprechend der überragenden Bedeu­ 700 Holzarten jeder Herkunft, bietet ihre Viele Besucher kommen so erstmals
tung, die dem Subkontinent für das genaue Beschreibung sowie Anregungen mit der exotischen Mannigfaltigkeit des
Weltreich zukommt. Von der East India für ihre Nutzung. Imperiums in Berührung und fühlen
Company ausgerichtet, führt der Indi­ Denn mehr noch als an spektaku­ sich wie in ein Märchenreich versetzt. Sie
sche Hof die Kolonie als unerschöpfliche lären Kunstgegenständen ist den Köp­ beginnen ein Gefühl für die Bedeutung
Schatzkammer vor, zeigt etwa den mit fen hinter der Weltausstellung daran und Macht ihrer Insel zu entwickeln.
Gold, Perlen und Edelsteinen bestick­ gelegen, unbekannte Rohstoffe oder neue Karten führen den Briten vor Augen, was
ten Umhang eines Sikh-Führers, einen Bezugsquellen bekannt zu machen, bei alles zum Imperium gehört — seit 1841
Thron aus geschnitztem Elfenbein sowie Erfindern und Fabrikanten Interesse wird in englischen Atlanten der britische
einen ausgestopften Elefanten, der die zu wecken. Auf diese Weise sollen alle Besitz in stolzem Rot eingefiirbt.
mannshohe, von einem Baldachin über­ Beteiligten profitieren. Am zweiten und dritten Tag kostet
wölbte Reitsänfte eines Radscha trägt. der Eintritt ein volles Pfund Sterling und
Der Stand präsentiert aber auch nd doch können die Orga­ bleibt damit jener Elite Vorbehalten,
Rohstoffe wie Erze, Tee, Kaffee, Gewür­
ze, Reis und Oie. Ähnlich stellt Neusee­
land Kohle, Kupfer, Gummi, rohe und
verarbeitete Edelhölzer aus; Australien
U nisatoren sich dem Zauber
der von London beherrsch­
ten Welt nur schwer entzie­
hen, bieten auch afrikanische Fetische
dar, eine Indianerhütte aus Trinidad, das
die das König- und Weltreich dominiert.
Vom vierten Tag an werden die Tickets
auf fünf Shilling verbilligt, nach drei Wo­
chen auf einen Shilling - ein Zwanzigs-

Modell eines befestigten Maori-Dorfes,


102 GEO EPOCHE Das Britische Empire
germeister-Residenz sowie des Haupt­
postamtes, der London University, der
Warenbörsen und Theater bekräftigen
tel. (Ein Dockarbeiter verdient an einem Londons Ruhm, das neue Rom zu sein. Zu Londons Attraktionen gehören
guten Tag zweieinhalb Shilling.) auch eine chinesische Dschunke samt
Bald strömen die Menschen in gro­ iele Ausländer sind beein­ Besatzung und asiatischen Kuriositäten
ßer Zahl herbei, Einwohner, Provinzler, druckt von den guten Stra­ am Pier an der Essex Street, Madame
mehrere Zehntausend Ausländer. Nie ßen, oft gepflastert mit ge­ Tussauds Wachsfigurenkabinett sowie
zuvor hat London solche Besucher­ presstem Split oder Granit, der zoologische Garten im Regent’s Park
massen angezogen. Die Hotels und Her­ an einigen Stellen mit lärmschluckendem mit dem ersten Reptilienhaus der Welt.
bergen sind überfüllt; mancher Tourist Holz - so vor dem Strafgerichtshof von Und die Pubs an fast jeder Ecke:
findet erst 30 Kilometer jenseits der Old Bailey, dessen Verhandlungen nicht Ein Beobachter schätzt, dass die Zahl der
Stadtgrenzen ein Quartier. gestört werden sollen. Zuweilen tren­ Kneipen in London höher ist als die der
Der Reiseveranstalter Thomas nen bereits Poller einen Bereich ab, der Läden aller Bäcker, Metzger, Fisch- und
Cook bietet Exkursionen in Sonder­ Fußgängern Schutz vor dem Strom der Gemüsehändler zusammen. In manchen
zügen an, Schulkinder werden im Klas­ Fahrzeuge bietet. Hinterzimmern kann man auf Boxkämp­
senverband entsandt, manche Betriebe Überall finden sich Zeugnisse der fe wetten oder mitfiebern, wenn abge­
schicken ihre Belegschaft, auch Ade­ britischen See- und Kolonialmacht, dar­ richtete Hunde in blutigen Duellen ge­
lige ermöglichen ganzen gen Dutzende gewaltiger
Gemeinden die Fahrt. Ratten gehetzt werden.
„Scheffelweise“ lagern die Theater und Music
Pfandleiher silberne Uh­ Halls bieten oft große
ren von denjenigen ein, Sänger auf, locken jedoch
die sich anders die Reise meist mit Klamauk und
nicht leisten können. Akrobaten, tanzenden
In großen und klei­ Pferden, schlüpfrigen
nen Gruppen picknicken Sketchen, reichlich Gin
Besucher auf der Wiese und anheizenden Melo­
um den Kristallpalast dien. Johlend lässt das ^
oder drinnen inmitten Publikum sich gehen, g"
der Ausstellungsstücke; darunter Parlamentarier 5 t/i

vier große Büfetträume und die edelsten Lords S


bieten Snacks, Tee, Kaf­ des Reiches. c“
fee, Mineralwasser und Selbst die Königin ^
Limonade (aber keinen genießt aus einer dis­
Alkohol). Einen Penny kreten Loge den Radau.
kostet der Zugang zu ei­ Auch sie ist Londonerin
ner faszinierenden neuen Operation in einem Vorlesungssaal des Londoner - und ihre Gier nach
Erfindung: öffentlichen Universitätskrankenhauses, einem der weltweit führenden Entertainment größer als
Klos mit Wasserspülung. medizinischen Forschungsinstitute der Standesdünkel.
Die „Great Exhi­ Für manche Besu­
bition“ überwältigt ihr cher ist schon das Stra­
Publikum mit all diesen ßenleben zu viel. Verwirrt
prachtvollen oder einfach treiben sie durch dieses
nur unterhaltsamen Neuheiten. Doch unter die mehr als 50 Meter hochragen­ tosende Zentrum der Welt. Zwischen
auch die Stadt selbst ist ein tausend­ de Triumphsäule des legendären Admi­ Passanten, hastenden Lieferanten, Pfer­
faches Wunder. rals und Franzosenbesiegers Horatio deomnibussen, Esels- und Schubkarren.
Da sind die himmelhohe Kuppel Nelson auf dem Trafalgar Square. Der Lärm ist überwältigend: Räder
von St Pauls Cathedral, die acht Themse­ Oder der massige Bau der Admi­ poltern über das Pflaster, Vieh blökt,
brücken und der Tunnel, der es erlaubt, ralität. Dort schreiten blasierte Offiziere, Zeitungsjungen schreien Nachrichten
den Fluss zwischen Wapping und Ro- die scheinbar nichts rühren kann in be­ aus aller Welt. Von Schienenviadukten
therhithe zu unterqueren. Die Regie­ tressten, marineblauen Uniformjacken und Bahnhöfen dringt das Stampfen und
rungsbauten in Whitehall und das fast einher. Pfeifen der Dampflokomotiven.
vollendete neugotische Parlament, dessen Oder das auftrumpfende Haus der Milchfrauen balancieren ihr mit
Prunk und Größe einem Stadtführer zu­ East India Company, das unter anderem Eimern behängtes Schulterjoch, Höker
folge „der ersten unter den Städten der Hindu-Gottheiten aus Gold und Sil­ auf dem Kopf gestapelte Körbe voller
Welt“ gebührend entsprechen soll. ber präsentiert sowie eine mechanische Früchte, Gemüse, Wasserkresse, andere
Auch die erhabenen, nach antiken Orgel im Inneren eines lebensgroßen, halten Blumen oder Teekessel feil, Ana­
Mustern gestalteten Fassaden der Bür­ geschnitzten Tigers, der einen Europäer nasscheiben, Zwiebelbünde, lebendes
zerreißt - Kriegsbeute aus einem süd­
indischen Sultanat.
GEO EPOCHE Das Britische Empire 103
Fast im gesamten Stadtgebiet fin­
den sich Elendsquartiere mit krum­
men Gassen, über denen sich die Giebel
Geflügel, zahme Drosseln, Nachtigallen jahrhundertealter Häuser fast berühren. selbst wenn sie nur ein paar Pennys ge­
und Lerchen sowie Schnecken als deren Deren Fensterrahmen, Türen, selbst stohlen haben. Gerade schulreif, wird von
Futter - oder als Spezialität für das fran­ Holztreppen sind oft längst verheizt oder ihnen erwartet, dass sie Geld verdienen,
zösische Hotel am Leicester Square. verkauft, die Bewohner drängen sich in als Laufburschen, als Hökermädchen.
Überall Enge, Taschendiebe, Trick­ der ausgeweideten Steinhülle, schlafen Oder eben durch Diebstahl.
betrüger. Imbissbuden verströmen den eng an eng auf dem Boden. Denn ihre Eltern hoffen vor den
Dunst von Erbsensuppe, Ersatzkaffee, Andere hausen in hölzernen, auf Docks vergebens auf ein paar Stunden
Bratfisch, Pasteten. In dicht besetzten Pfähle gestützten Behelfsanbauten direkt Arbeit, da sie vielleicht krank sind, inva­
Cafes wird warme Milch mit Gin ausge­ über stinkenden Gräben oder in Hütten lid oder alt. Oder sie können vom Lohn
schenkt. Bands von bis zu zwei Dutzend und Baracken, die in den Hinterhöfen eines Kohlenträgers, Pförtners, einer Nä­
Straßenmusikanten treten auf, manche herabgekommener Reihenhaussiedlun­ herin und Waschfrau, als Schuster oder
in Begleitung einer Tänzerin. gen jeden Quadratmeter füllen. Zuweilen Sackmacherin kaum überleben, fegen für
Dazwischen stehen Drehorgelspie­ sind die Zugänge zu schmal, um einen ein Trinkgeld von Passanten die Straße.
ler und Balladensängerinnen, machen Sarg hindurchzubugsieren. Die Armenhilfe ist minimal, oft an
Akrobaten mit Trommeln auf sich auf­ Es gibt keine Wasseranschlüsse, harte Auflagen gebunden - oder Privat­
merksam. Sind Marionettentheater zu keine Müllabfuhr, oft nicht einmal ein sache religiöser Menschenfreunde: Ver­
bestaunen, Guckkästen, Tanzbären, uni­ Plumpsklo; der Unrat sammelt sich auf lierer im Uberlebenskampf gelten als
formierte Affen, dressierte Mäuse. Ver­ wachsenden Haufen, in schleimig schil­ moralische Versager.
sehrte Matrosen der Navy, die für ein lernden Gräben und Gruben, oder in den Viele gehen betteln. Andere sam­
Almosen Shantys singen. Kellern. Wer selbst hier nicht unter­ meln aus dem herumliegenden Abfall
Und oft braucht es nur die Biegung kommt, schläft auf der Straße, auf öffent­ oder dem giftigen Uferschlamm der
in eine Seitenstraße, den Durchgang zu lichen Bänken oder in den wenigen Parks Themse Altmetall und Kohlestückchen,
einem Hinterhof, um in der reichsten der Metropole, obwohl das verboten ist. Asche für die Ziegeleien, Stofffetzen für
Stadt der Erde bittere Armut zu erleben. Wie viele Menschen so vegetieren, wird Papiermühlen, Essensreste für Schwei-
von keiner Statistik erfasst. nemäster. Die Gerbereien nehmen Hun­
enn so groß der Prunk des Besucher erschauern angesichts der de- und Taubenkot für acht Pennys je

D unterworfenen Indien auch


sein mag, so gewaltig die
Reichtümer sind, die an Lon­
dons Hafen anlanden, und wie selbstge­
wiss die modernste Nation von allen ihre
Krüppel und Einäugigen, deren Gesich­
ter von Pockennarben entstellt, deren
erfrorene Füße voller Geschwüre sind.
Sie wenden sich ab von den abge­
magerten Kindern in Fetzen und ohne
Eimer ab, um darin ihre Tierhäute zu
beizen. Aus fortgeworfenen Zigarren­
stummeln lässt sich noch Tabak kratzen.
Viele behelfen sich mit Einfallen
jenseits der Legalität: mit Ladendieb­
Überlegenheit auch feiert - nur einen Schuhe, die Wangen bedeckt mit krusti­ stahl, Einbruch, Raub, Hehlerei. Die
kurzen Spaziergang vom Kristallpalast gem Dreck, geschüttelt von Keuchhus­ Armen stehlen im Gedränge Taschen­
entfernt treten die Zurückgelassenen der ten. Nicht wenige werden als Diebe auf­ uhren und Brieftaschen, schneiden Ge­
imperialen Globalisierung ins Bild. gegriffen - und Sechsjährige weggesperrt, päck von den Kutschen der Reisenden,
entwenden Wische von der Leine, ent­
führen Schoßhunde und verkaufen sie
den Besitzern zurück. Scheinbar freund­
Die 213 Meter lange Gusseisenkonstruktion über dem Bahnhof St Pancras ist liche Frauen locken gut angezogene Kin­
das größte Dach der Welt. Für die Endstation der Bahnlinie, die London mit Liverpool der in eine dunkle Straße und nehmen
verbindet, mussten mehrere Straßenzüge und Teile eines Friedhofs weichen ihnen dort Kleider und Schuhe ab.
Manche Londoner machen ein
Geschäft daraus, für Geld ungewollte
Kinder zu „adoptieren“ - und bei erster
Gelegenheit auszusetzen oder zu töten.
Andere prostituieren sich. Die Stra­
ßen, Theater, Restaurants, Spielhöllen
und Billigherbergen sind ein Basar von
Frauen, Mädchen und Jungen, die Sex
verkaufen. Die erotisch Ausgefallensten
finden Aufnahme in den Führer „Ta­
schenbuch für Junggesellen“, einige Frau­
en werden hoch bezahlte Edelkurtisanen.
Wer kann, hält Schweine, Hühner
oder Kühe in einem engen, selten aus­
gemisteten Schuppen oder Keller. Zwar

GEO EPOCHE Das Britische Empire


rT-, j

Zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist London die größte Industriestadt auf dem Planeten. In den Fabriken und
Manufakturen der Hauptstadt schuften über eine Viertelmillion Arbeiter. Das sind mehr Menschen, als Manchester,
die Keimzelle der Industriellen Revolution, Einwohner zählt (Produktion von Teilen für Schiffsmotoren)

bewahren manche Seidenweber ihre Kristallpalastes errichten, das aus ma­ durch Handel - und Technik. In einer
Tradition, hinter dem Haus leuchtend schinell gefertigten Hohlziegeln gemau­ Halle des Kristallpalastes sind Hobel­
bunte Dahlien zu ziehen. Doch Farben ert ist, im Inneren trocken und warm. und Lochmaschinen zu sehen sowie hy­
und der Blumenduft tragen nicht weit Ein raffiniertes Modulsystem er­ draulische Pressen, ein eigens verlegter
unter Nachbarn, die von aufgesammel- laubt es, die kleinen, praktischen Einhei­ Schienenstrang mit Lokomotiven, Wag­
tem, in Wasser geweichtem Brot leben, ten beliebig neben- oder übereinander zu gons mit schallgedämpften Bremsen.
von verdorbenem Fleisch, dem Hafer­ staffeln und auf diese Weise günstigen, Und eine Druckerpresse, die pro
schleim mildtätiger Stiftungen und Sup­ hygienisch einwandfreien Wohnraum zu Stunde 5000 Exemplare der „Illustrated
penküchen - oder die schlicht hungern. schaffen. Mehrere Tausend Londoner London News“ zu produzieren vermag.
kommen während der folgenden Jahre in Daneben steht ein Dampfhammer,
ll dieses Elend ist den Orga­ solchen und ähnlichen Reformprojekten der sich so genau justieren lässt, dass er

V nisatoren der Weltausstel­


lung im Hyde Park weder
unbekannt noch gleichgül­
tig. So lässt Prinz Alhert persönlich ein
Musterhaus entwerfen und außerhalb des
unter. Es ist ein Anfang.
Doch die großen Visionen der
„Great Exhibition“ kreisen weniger um
die Verelendeten als um die Hoffnungen
der Ober- und Mittelschichten. Sie han­
sowohl gigantische Eisenträger schmie­
den als auch behutsam ein Ei anknacken
kann. Ein Automat stellt in 14 Arbeits­
schritten binnen einer Minute bis zu
100 Zigaretten her.
deln zunächst davon, wie ihre Welt eine
bessere, wohlhabendere werden kann
GEO EPOCHE Das Britische Empire 105
London droht an seinem Wachstum zu ersticken: 1850 leben hier rund 2,3 Millionen Menschen, 30 Jahre später
sind es bereits fast doppelt so viele. Um dem Kollaps zu entgehen, legt die Stadt ein Modernisierungsprogramm auf: So
werden Schneisen für breite Straßen in die Viertel geschlagen und ein Tunnel unter der Themse gebaut (oben)

106 GEO EPOCHE Das Britische Empire


mende Erkenntnis, dass seine Quellen
tödlich sind: Während einer Cholera-
Epidemie tragen Ärzte 1849 den Ver­
Die Firma Platt &, Sons aus Man­ dacht vor, die Krankheit könnte über das Etwa zur gleichen Zeit wird auch die
chester hat eine Produktionsstraße mit verschmutzte Wasser verbreitet werden. zweite Plage der Metropole angegangen:
15 Maschinen aufgestellt, die zeigt, wie Schließlich, im Jahr 1855, nach ei­ das Verkehrschaos.
Rohbaumwolle industriell gekämmt, ge­ nem erneuten Ausbruch der Seuche mit
sponnen, geschoren, gewebt und schließ­ mehr als 10 000 Toten, handelt die briti­ f I äglich pendeln rund 600 000
lich zum Hemd wird. Zwei Kessel in sche Regierung. Sie zwingt Londons Menschen aus den rasant
einem Nebengebäude versorgen die Ma­ Stadtväter zur Einrichtung eines über­ wachsenden Vororten ins Zen-
schinen durch unter dem Boden verlegte geordneten Gremiums, des „Metropoli­ A trum Londons, die meisten
Leitungen mit Dampf; der Lärm gleicht tan Board of Works“, das das Mandat zu Fuß, viele mit dem Vorortzug oder
dem einer wirklichen Fabrik. und die Mittel erhält, ein modernes, Pferdebus, andere per Flussdampfer.
1850 gibt es in Großbritannien be­ die Gemeindegrenzen übergreifendes In der Altstadt stoßen diese Scha­
reits mehr als 10500 Kilometer Eisen­ Abwassersystem zu installieren. ren aufeinander, verkeilen sich in den
bahnschienen: Weitere 20000 Kilometer Bald darauf reißen Arbeiter die engen, gewundenen Straßen mit dem
sind genehmigt. Fast zwei Drittel der Straßen auf, ziehen mithilfe von Dampf­ Lieferverkehr, mit Schaf- und Rinder­
Beschäftigten arbeiten in Industrie und kränen bis zu neun Meter tiefe Gräben herden auf dem Weg zum Viehmarkt von
Handel, die Gesamt­ Smithfield sowie Touris­
leistung der britischen ten und Reisenden, die
Dampfmaschinen liegt von einem Kopfbahnhof
bei rund 1,3 Millionen Londons zum anderen
PS. Das übrige Europa gelangen wollen.
hinkt dieser Entwick­ Das Metropolitan
lung um mindestens eine Board of Works lässt nun
Generation hinterher. zusätzliche, großzügige
Die Maschinenab­ Straßenschneisen schla­
teilung ist das Herz der gen, oft quer durch die
Weltausstellung im Kris­ Slums. Der Viehmarkt
tallpalast - so wie Eng­ muss schließen und auf
land das industrielle Zen­ eine Vorstadtwiese aus-
trum des Empire bildet, weichen.
in dem der natürliche In Verbindung mit
Reichtum des Weltreichs den Abwasserkanä­
in Produkte und damit in len entsteht eine neue
Geld verwandelt wird. Hauptverkehrsader an
Dass dabei die Inter­ der Themse, das Victo­
essen der Einheimischen Im Untergrund entsteht eine neue Infrastruktur: ria Embankment zwi­
in den Kolonien letztlich 1863 fährt zwischen den Stationen Paddington und schen Westminster und
keine Rolle spielen (oder Farringdon die erste U-Bahn der Welt der City: Auf zwei Kilo­
gar Schaden nehmen wie meter Länge wird ein gut
im Fall Indiens, dessen 30 Meter breiter, steiner­
eigenständige gewerbli­ ner Uferdamm in den
che Entwicklung abge­ Fluss gebaut und mit ei­
würgt wird zugunsten einer Position als und mauern auf ihrem Grund weite ner Fahrbahn versehen. Der Damm ist
Rohstofflieferant und Absatzmarkt bri­ Backsteintunnel auf. Wo das Gefalle für ein Geniestreich. Unter der Fahrbahn
tischer Hersteller), blendet die Elite des einen Abfluss nicht ausreicht, entstehen verbirgt sich nicht nur der letzte der gro­
Empire aus oder erkennt es nicht. Sie mächtige, reich verschnörkelte Pump­ ßen Kanäle, sondern auch ein Schacht
sieht vor allem die kolonialen Verheißun­ stationen. für Gas- und Wasserleitungen, der später
gen für Britannien und seine Metropole. Die Sickergruben verschwinden. noch Stromkabel aufnehmen wird, sowie
1863 wird ein erster Teil des Netzes in ein breiter Tunnel.
nd doch herrscht in London, Betrieb genommen und beginnt Lon­ Denn inzwischen haben Geschäfts­
das auch industriell längst dons Abwasser mehrere Kilometer leute eine alte Idee aufgegriffen: Wenn
jede andere Stadt übertrifft, stromabwärts in die Themse zu leiten. der Verkehr die Straßen unbenutzbar
noch immer ein Konglome­ Im Jahr darauf vermeldet eine Zei­ macht, dann muss er verschwinden.
rat mittelalterlicher Räte. tung stolz, in dem sich erholenden inner­ Unter die Straßen.
Zum Auslöser einschneidender Re­ städtischen Flussabschnitt sei ein „feiner Bereits 1860 sind in der New Road
formen wird schließlich der kaum mehr Lachs auf der Ausschau nach sauberem, hölzerne Bau wagen aufgezogen. Wenig
erträgliche Gestank - und die zuneh­ frischem Wasser“ gesichtet worden. später kommen Karren mit Balken und
Die Kanalisation kündet von einer
neuen Ara, einem allgemeinen Aufbruch.
GEO EPOCHE Das Britische Empire 107
hen, unter anderem im Tunnel unter dem
Victoria Embankment.
Das neue Verkehrsmittel ist schnell
und praktisch - und fühlt sich an wie
die Hölle selbst: Die Züge fahren durch
eine rußgeschwärzte Unterwelt, heiß und
düster. Die Wagen der dritten Klasse
sind offen, die Passagiere husten und
keuchen in den mit Kohlestaub und
Rauch gefüllten Tunneln. Die Betreiber
erklären ungerührt, der Qualm und die
schwefelsauren Gase desinfizierten die
Luft und reinigten die Lunge. Kaum
einer glaubt das. Aber in London ist Zeit
Geld - und Geld: alles.
Die Metropole wuchert und
schwillt, bleibt chaotisch. Ein andauern­
des Experiment, brachial und innovativ.
Während die U-Bahnen anfangs noch von
Dampfloks gezogen wurden, fahren ab 1890 Züge ls der Kristallpalast am
mit Elektroantrieb (Euston Station) 11. Oktober 1851 für das
Publikum schließt, ist dieser
Stadtumbau noch weit­
gehend geträumte Zukunft. Doch die
Brettern, Männer in kiesfarbenen Ar­ Verkehrsschluss bekommt nur rund die Weltausstellung hat den Briten Zuver­
beitsanzügen. Binnen eines Tages und Hälfte von ihnen einen Platz in den dun­ sicht verliehen, ihre Fantasie beflügelt,
einer Nacht rüsten sie mehrere Hundert kelgrünen Waggons. ihren Stolz auf eine neue Höhe getrie­
Meter Straße ein. Eine seltsame Stille Bald verkehren die kohlebefeuerten ben: Für viele war es ein nationales
legt sich über die Nachbarschaft. Der Untergrundzüge alle paar Minuten, meist Großereignis, an das sie sich ein Leben
sonst tosende Verkehr ruht. gut gefüllt mit Passagieren; die Investo­ lang erinnern werden.
Doch dann kehrt der Lärm mit ren erhalten eine akzeptable Dividende Neben der restlos begeisterten
Macht zurück: Ein Heer von Zimmer­ von fünf Prozent. Weitere Linien entste­ Königin Viktoria (sie kommt nach der
leuten und Erdarbeitern mit Zugpfer­
den rückt heran, Spitzhacken klirren,
Schaufeln und Spaten, Hämmer klop­
fen, Kommandorufe. Dampfkräne puffen Um 1900 verkehren sechs U-Bahn-Linien in
und rattern, ununterbrochen rollt das London - die Stadt hat mittlerweile gut 6.5 Millionen
Donnern der Abfuhrloren. Einwohner (Station British Museum)
Die Arbeiter ziehen einen breiten
Graben entlang der Straße, legen Gleise
hinein, setzen ein Dach darüber und
schütten alles wieder zu.
Hinter dem Bauzaun entsteht ein
technisches Weltwunder: die erste Un­
tergrundbahn der Welt. Abermals über­
wiegend von privatem Kapital finanziert,
in der Hoffnung auf spätere Profite.
Die Bauarbeiten sind ein logisti-
scher Albtraum. Immer wieder bricht
Wasser ein, platzt eine Fäkalienleitung,
rutscht eine Mauer ab.
Dennoch: Im Januar 1863 eröffnet
zwischen Paddington und Farringdon
Street die erste unterirdische Eisenbahn.
Gut 30 000 technikbegeisterte Londoner
wollen am ersten Tag mitfahren, doch bis

108
seinem frühen Tod 1861 zum Keim einer
Ansammlung wissenschaftlicher, kultu­ GEOEPOCHE
Das Magazin für Geschichte
reller und Bildungseinrichtungen.
Eröffnungsveranstaltung noch mehrmals Am 22. Januar 1901 stirbt auch Grüner ♦ Jahr GmbH & Co KG.
Druck- und Veriagshaus. Sitz von Verlag und Redaktion
wieder) haben über sechs Millionen Königin Viktoria. Mehr als 63 Jahre hat
Am Baumwall 11, 20459 Hamburg.
Menschen die Schau gesehen, knapp sie das Vereinigte Königreich und sein Postanschrift der Redaktion: Brieffach 24. 20444 Hamburg

43 000 im Tagesdurchschnitt; allein am Empire regiert. Ein ganzes Zeitalter, das Telefon 040 / 37 03-0, Telefax 040 / 37 03 56 48.
E-Mail (Redaktion): briefe@geo.de:
7. Oktober drängten sich gegen 14.00 bereits ihre Untertanen das „viktoriani­ Internet; www geo-epoche.de
Uhr mehr als 93 000 Besucher gleich­ sche“ nennen: voller Wunder und Elend,
CHEFREDAKTEUR
zeitig durch das Gebäude. Glanz und Verwerfungen, großer Hoff­ Michael Schaper
Nun aber stellen sich zwei Fragen: nung und erdrückender Enge. GESCHAFTSFÜHRENDER REDAKTEUR
Dr Frank Otto
Was soll mit dem Bau geschehen? Und Das Imperium ist noch einmal KONZEPT DIESER AUSGABE
was mit dem Überschuss? Denn nach gewachsen; neue, große Territorien in Joachim Telgenbüscher

Abzug aller Kosten werden den Veran­ Asien und Afrika sind in den Atlanten ART DIRECTION
Tatjana Lorenz. Eva Mitschke
staltern 186000 Pfund Gewinn bleiben. nun britisch rot eingefärbt. Freie Mitarbeit: Laura Büssenschütt. Chris Campe

Viele Londoner haben die neue Zwar haben industrielle Konkur­ TEXTREDAKTION
Jens-Rainer Berg, Insa Bethke,
Sehenswürdigkeit ins Herz geschlos­ renten deutlich aufgeholt, allen voran Gesa Gottschalk, Dr. Anja Fries, Johannes Schneider
sen und würden sie gern behalten. Doch Deutschland und die USA. Dennoch ist AUTOREN
Jörg-Uwe Albig, Cay Rademacher
für die vornehmen Anwohner des Hyde Großbritannien auch zu Beginn des 20. Freie Mitarbeit Isabelle Berens. Dr. Ralf Berhorst,
Parks gibt es keine Debatte; der Glasbau Jahrhunderts die unbestritten führende Hauke Friederichs. Dr. Marion Hombach. Constanze Kindel,
Reymer Klüver, Dr. Marita Liebermann,
muss wie geplant aus ihrer bevorzug­ Macht - und seine Metropole London
Dr. Mathias Mesenhöller. Christina Schneider
ten Reit- und Flanierpromenade ver­ stattlicher und reicher denn je: Zentrum BILDREDAKTION

schwinden - genauer: Die unerträglichen der globalen Finanzwirtschaft, größter Christian Gargerle,
Roman Rahmacher, Katrin Trautner
Massen, die er anzieht, sollen wieder Hafen der Welt, mit mehr als 6,5 Millio­ VERIFIKATION

wegbleiben. nen Einwohnern die bei Weitem bevöl­ Lenka Brandt. Olaf Mischer,
Alice Passfeld. Andreas Sedlmair
Wie so oft in London ist die Lö­ kerungsstärkste Stadt des Planeten. Freie Mitarbeit: Dr. Eva Danulat. Tobias Hamelmann.
sung eine privatwirtschaftliche - schließ­ Armut und Elend gibt es immer Dr. Dirk Hempel. Carsten Juwig. Fabian Klabunde.
Svenja Muche
lich hat der Kristallpalast ja bewiesen, noch, doch viele Slums sind verschwun­ KARTOGRAPHIE
dass sich mit ihm Geld verdienen lässt. den. Gewerkschaften haben höhere Löh­ Stefanie Peters

1852 demontiert eine eigens gegründete ne erkämpft, Impflcampagnen und ver­ SCHLUSSREDAKTION
Dirk Krömer
Gesellschaft die Eisen- und Glasele­ besserte Hygiene zahlreiche Krankheiten Freie Mitarbeit Antje Poeschmann

mente, transportiert sie ab und baut die zurückgedrängt, der soziale Wohnungs­ CHEF VOM DIENST TECHNIK
Rainer Droste
Attraktion bei dem Dörfchen Sydenham bau macht Fortschritte. HONORARE

außerhalb Londons wieder auf. Und bei Nacht strahlen weite Teile Petra Schmidt
REDAKTIONSASSISTENZ
Der Palast wird zu einer Art Ver­ der Stadt in neuem Licht: Zahlreiche Angelika Fuchs, Helen Oqueka
gnügungspark, in dem fortan große his­ Gaslampen sind durch elektrische ersetzt Freie Mitarbeit: Anastasia Mattem. Dr. Verena Mogl

torische Epochen vom alten Ägypten bis worden. Elektrizität treibt nun auch VERANTWORTLICH
FÜR DEN REDAKTIONELLEN INHALT
zur Moderne inszeniert werden. Dane­ manche U-Bahnen und soll bald die Michael Schaper

ben präsentieren die Betreiber besondere Pferdestraßenbahnen ersetzen. Die Luft


VERLAGSGESCHÄFTSFÜHRER
Exponate der Industriekultur, aber auch ist deutlich besser als 50 Jahre zuvor, Dr. Frank Stahmer
Dinosauriermodelle, bauen eine Tropen­ wenn auch viele der alten Gerüche ge­ PUBLISHER
Alexander Schwerin
landschaft auf und später ein riesiges blieben sind, der Rauch der Schornsteine DIGITAL BUSINESS DIRECTOR
Aquarium, wird in Ausstellungen immer und Kamine, der Dung der Pferde. Daniela von Heyl
DIRECTOR DISTRIBUTION & SALES
wieder das Imperium gefeiert. Auf einzelnen Straßen Londons Torsten Koopmann / DPV Deutscher Pressevertrieb
Ein eigener Eisenbahnanschluss aber ist bereits ein neuer Gestank zu er­ EXECUTIVE DIRECTOR DIRECT SALES

bringt die Besucher heran und verbürgt ahnen: der von verbranntem Benzin, den Heiko Hager / G*J Media Sales
DIRECTOR BRAND SOLUTIONS
den Publikumserfolg. Erst Anfang des die ersten Motorbusse und Autos hinter Daniela Krebs (verantwortlich für den

20. Jahrhunderts verfällt der Kristall­ sich lassen. 9 Inhalt der beigelegten Anzeigen)
Es gilt die aktuelle Preisliste: www gujmedia de
palast zusehends und brennt schließlich MARKETING
1936 nieder. Jg. 1969, schreibt
Dr. Mathias Mesenhöller, Kristin Niggl
HERSTELLUNG
Von dem Profit der „Great Exhibi­ regelmäßigfiir GE OEPOCHE. G*J Herstellung. Heiko Belitz (Ltg ).
tion“ aber erfüllt sich Prinz Albert einen Oliver Fehling

Traum. Nachdem das Parlament zusätz­


Heftpreis: 10.00 Euro (mit DVD: 17.50 Euro)
liche 150000 Pfund bewilligt hat, kauft LITERATUREMPFEHLUNGEN: Liza Pi­ ISBN: 978-3-652-00443-5:

die Ausstellungskommission ein großes card, „Victorian London“, Phoenix: farben­ 978-3-652-00437-4 (Heft mit DVD)
ISSN-Nr. 1861-6097
Areal südlich des Hyde Park und errich­ frohe Beschreibung Londons im 19, Jahrhun­ © 2015 Grüner * Jahr. Hamburg
tet dort ein Museum für Kunstgewerbe, dert. Stephen Inwood, _A History of London“, Bankverbindung; Deutsche Bank AG Hamburg.
Konto 032280000, BLZ 200 700 00
Design und Technik. Wie von Albert Macmillan: detailreiche Biografie der Stadt IBAN: DE 30 2007 0000 0032 2800 00
erhofft, wird es in den Jahrzehnten nach von den Anfängen bis in die Neuzeit. BIC: DEUTDEHH
Litho. 4mat Media. Hamburg
Druck Mohn Media Mohndruck GmbH. Gütersloh
Pnnted in Germany

GEO EPOCHE Das Britische Empire


Ägypten - 1882

A.V

V*v
SM5l»fö

In der Wüste zwischen


Nildelta und Suezkanal tragen
die Briten (in den roten und
blauen Uniformen) am
13. September 1882 die ent­
scheidende Schlacht gegen
die ägyptische Armee aus

110 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Ohne die Royal Navy wäre

das Empire nicht denkbar:

Die königliche Marine

schützt die Handelsrouten,

denen das Inselreich seinen

Wohlstand verdankt, und

zwingt zudem bei Konflikten

andere Mächte, sich dem

Willen Londons zu beugen.

Als ägyptische Offiziere

gegen den wachsenden Ein­

fluss der Briten in ihrem

Land aufbegehren, entsendet

die Krone im Frühjahr 1882

eine Flotte. Deren Geschütze

sollen die Rebellen in die

Schranken weisen

------------ V o n H A U K E F R I E D E R I C H S
und JOACHIM TELGENBÜSCHER

*** - *

GEO EPOCHE Das Britische Empire 111


gen und setzen Kasernen in Brand. Die
Stadt ist zwar durch zehn Festungen
geschützt, aber die Ägypter haben die
Forts seit Jahrzehnten nicht moderni­
siert. Ihre Wälle bestehen zum Groß­
teil aus porösem Kalkstein und Sand, der
mit Zement überzogen ist. Die Zitadelle
am östlichen Hafeneingang stammt so­
gar noch aus dem Mittelalter.
Um alle Bollwerke gleichzeitig
bombardieren zu können, hat Admiral
Seymour das Geschwader aufgeteilt.
Eine Gruppe, darunter sein Flaggschiff,
die „Invincible“, ist im Westen bis dicht
an die Küste herangefahren. Ihre Kano­
nen zielen auf das Mex-Bollwerk, die
Sie haben das Empire herausgefordert. stärkste Festung der Stadt. Ein zweiter
Heute, am 11. Juli 1882, werden die Bri­ Verband liegt weiter östlich vor jener
ten die Herren der ägyptischen Hafen­ Halbinsel, auf der sich in der Antike der
stadt Alexandria dafür bestrafen. Leuchtturm erhob.
Im frühen Morgenlicht macht sich Schon bald mischt sich ein salziger
die modernste Flotte ihrer Zeit zum An­ Nebel in den Pulverdampf, der die Flotte
griff bereit. 15 Schiffe der Royal Navy umfangt: Die Ägypter feuern zurück,
liegen vor Alexandria, darunter acht zunächst ins Wasser; Fontänen schießen
gepanzerte Kolosse, deren Granaten neben den Kolossen in den Himmel,
60 Zentimeter dicke Eisenplatten durch­ Gischt weht zu den Angreifern herüber.
schlagen. Selbst seine gefährlichste Waffe Dann die ersten Treffer: Holz split­
hat London in den Einsatz geschickt: die tert, Nieten platzen aus den Nähten, ein
„Inflexible“. Das erste Schlachtschiff mit Geschoss reißt ein Loch in den Schorn­
Torpedorohren und elektrischer Beleuch­ stein der „Alexandra“. Viele Kugeln aber
tung an Bord. prallen wirkungslos von den gepanzerten
Seit Monaten erschüttert eine Kri­ Rümpfen ab. Nur sechs Briten werden
se das Land am Nil. Rebellische Offizie­ an diesem Tag ihr Leben verlieren. An Piraten und zwingt fremde Monarchen,
re wollen ihren Herrscher dazu zwingen, Land hingegen sterben Hunderte. ihre Häfen für britische Kaufleute zu
die Briten und Franzosen zu vertreiben Nach zwei Stunden hat die Royal öffnen. Dank Dutzender globaler Stütz­
- jene Europäer, die in Ägypten immer Navy das Mex-Bollwerk fast gänzlich punkte können die Verbände zuschlagen,
mehr an Einfluss gewinnen. Aufgehetzt außer Gefecht gesetzt. Um zehn Uhr wo auch immer die Interessen Londons
von den Obristen, ist vier Wochen zuvor zertrümmert eine Granate den Harem bedroht sein mögen. Ganz nach dessen
ein Mob durch die Straßen Alexandrias eines Palastes. Längst hängen dichte anmaßendem Selbstverständnis: Was gut
gezogen und hat 50 Europäer getötet. Rauchwolken über der Metropole. Ge­ für Großbritannien ist, ist auch gut für
Lange hat London abgewartet, gen Mittag feuern nur noch die Festun­ den Rest der Völker.
doch nun wird Ägypten den Zorn der gen am östlichen Rand Alexandrias. Wie die Legionen der römischen
Weltmacht spüren. Um sieben Uhr in der Nun macht sich die „Inflexible“ dar­ Cäsaren, so sehen es die Briten, sorgen
Früh gibt Admiral Sir Frederick Beau- an, den letzten Widerstand zu brechen. die Schiffe der Royal Navy für Recht und
champ Seymour, der Kommandeur des Wenig später explodiert ein ägyptisches Ordnung in der Welt. Sie sichern die
Geschwaders, den Feuerbefehl. Pulvermagazin. Die Druckwelle ist noch „Pax Britannica“ - den britischen Frie­
Eine Breitseite lässt das Deck seines an Bord der Schiffe zu spüren. den - und die Position des Inselreichs als
Flaggschiffes erzittern. Geschosse don­ Um 17.15 Uhr, nach zehn Stunden mächtigsten Staat des Erdballs.
nern durch die Luft. Rauch steigt auf ununterbrochenen Bombardements, brei­
und nimmt den Kanonieren die Sicht. tet sich schließlich Stille über der Stadt
Die Offiziere klettern in die Masten, um aus. „Feuer einstellen“, signalisiert der Es ist ein Menschenalter her, dass die
ihre Männer von dort aus zu dirigieren. siegreiche Admiral an das Geschwader. königliche Marine ihre letzten Rivalen
Mehr als 3000 Granaten gehen in Das Empire hat seine Macht bewiesen. im Kampf um die Meere gedemütigt hat.
den folgenden Stunden auf Alexandria In Alexandria triumphiert jene Unter dem Kommando von Admiral
nieder. Mit hydraulischen Ladehilfen Kraft, die das britische Weltreich in sei­ Horatio Nelson gelingt der britischen
wuchten die Matrosen immer neue Pro­ nem Innersten zusammenhält: die Royal Flotte am 21. Oktober 1805 der wohl
jektile in die Läufe. Sie sprengen Löcher Navy. Deren unangefochtene Vorherr­ größte Sieg ihrer Geschichte: An der
in Mauern und Fassaden, reißen tonnen­ schaft auf allen Meeren macht das Im­ Straße von Gibraltar, unweit des Kap
schwere Kanonen aus ihren Verankerun­ perium überhaupt erst möglich. Die Trafalgar, fangt die Royal Navy ein spa-
Flotte schützt die Seerouten, denen das
Land seinen Reichtum verdankt, jagt
112 GEO EPOCHE Das Britische Empire
gelte Ausbildung, keine Uniform, keine
Chance auf Beförderung und kein Recht
auf Urlaub. Aus Angst vor Desertationen
lassen manche Kapitäne ihre Besatzung
nie an Land. Oft müssen die Männer
mehrere Jahre in den schwankenden,
engen und stinkenden Holzrümpfen
verbringen, bis sie endlich wieder festen
Boden betreten.
Ihre Bezahlung ist schlecht, die
Strafen sind hart. Schon wegen geringer
Vergehen können Vorgesetzte ihre Ma­
trosen auspeitschen, knebeln, in Ketten
legen lassen. Eine beliebte Züchtigung
ist das stundenlange regungslose Stehen
an Deck. Meuterer werden an Bord auf­
geknüpft.
Zu Nelsons Zeiten ist der Alltag in
der Marine gefährlicher als jede Schlacht.
Zahlreiche Krankheiten bedrohen das
Leben der Seeleute: Tuberkulose wegen
der ständigen Feuchtigkeit, Cholera
und Typhus aufgrund von verseuchtem
Trinkwasser. In den Tropen kommt noch
die Malaria dazu. Von den 100 000 Män­
nern, die die königliche Flotte im Kampf
gegen das revolutionäre Frankreich und
Napoleon verliert, sterben vier Fünftel an
Am 11. Juli 1882 bombardieren 15 britische Kriegsschiffe die ägyptische Hafenstadt Seuchen und Unfällen.
Alexandria. Zehn Stunden dauert der Beschuss. Danach ist der Widerstand der Verteidiger So wundert es kaum, dass die
gebrochen - und ein Großteil der Befestigungsanlagen zertrümmert Matrosen der Krone sich oft ohne Hem­
mungen betrinken, um ihr Los zu ertra­
gen. Denn in einem Punkt ist die Royal
Navy großzügig: Jedem Seemann steht
nisch-französisches Geschwader ab und zehnten die Briten nicht mehr ernsthaft pro Tag rund ein Viertelliter hochpro­
vernichtet oder kapert einen Großteil der werden herausfordern können. zentigen Rums zu. Die Ausgabe der Al­
33 feindlichen Schiffe, ohne selbst einen Auch wenn der Sieg bei Trafalgar koholration jeden Mittag ist eines der
einzigen Segler zu verlieren. die Zukunft des Empire entscheidet, wichtigsten Rituale an Bord.
Nur der Tod ihres Oberbefehls­ errungen wird er mit den Waffen der Dass Admiral Nelson unter diesen
habers, den an Deck die Kugel eines Vergangenheit: Nelson kommandiert Bedingungen dennoch bei Trafalgar
Scharfschützen niederstreckt, dämpft schwerfällige Dreimaster aus Eichenholz, siegt, liegt vor allem daran, dass die In­
den Jubel der Briten. Admiral Nelson deren Grundform sich seit fast zwei Jahr­ selnation Großbritannien mehr fähige
steigt bald darauf zum Nationalhelden hunderten kaum verändert hat. Bis zu Seemänner hervorbringt als Frankreich
auf, zur Symbolfigur der maritimen 130 Geschütze drängen sich auf den oder Spanien. Die Royal Navy profitiert
Dominanz, die er mitbegründet hat. Kanonendecks dieser Schiffe. von der großen Handelsmarine sowie
Napoleon hingegen, der französi­ Die Taktik ihrer Kapitäne ist eben­ von den unzähligen Fischern und Fähr­
sche Kaiser, muss nach dem Verlust sei­ so simpel wie effizient: Sie segeln in einer leuten im Land. Aus diesen Reserven
ner besten Schiffe alle Pläne für eine Linie hintereinander in die Schlacht und schöpft sie ihre Stärke.
Invasion der Britischen Inseln aufgeben. beschießen ihre Gegner dann aus der Doch mit dem Ende der napoleo-
Das Königreich ist gerettet. Mehr Nähe so lange mit Eisenkugeln, bis deren nischen Kriege im Jahr 1815 bricht eine
noch: Spanier und Franzosen, die tradi­ Schiffe sinken oder aufgeben. neue Ara an - eine Zeit, in der es nicht
tionellen Konkurrenten der englischen Wer auf den Ungetümen seinen länger genügt, gut zu segeln und wacker
Krone im Ringen um die Seeherrschaft, Dienst tut, führt ein wenig ruhmvolles zu kämpfen.
sind durch die Niederlage derart ge­ Leben. Jeder zweite Matrose ist gegen Vielmehr werden die Kräfte der
schwächt, dass sie in den folgenden Jahr­ seinen Willen an Bord - ist ein Opfer Industriellen Revolution, die englische
jener Greiftrupps, die in den englischen und schottische Ingenieure im späten
Häfen regelmäßig Jagd auf Seeleute ma­
chen. Die Matrosen haben keine gere­
18. Jahrhundert als Erste entfesselt haben,
nun auch die Seefahrt radikal verändern.
Die Royal Navy wird ihre bei Tra­
falgar erstrittene Vormachtstellung nur
deshalb behaupten, weil auch sie sich
wandelt. Dabei folgen die Briten weder
einem Masterplan, noch besitzen sie
einen entscheidenden technischen Vor­
sprung. Bisweilen sind andere Nationen
sogar erfinderischer als sie.
Was aber das Empire auszeichnet,
das ist der politische Wille, stets stärker
zu sein als alle anderen Mächte - und es
sind die finanziellen Ressourcen, die
Werften und Fabriken, um dieses Ziel
auch zu erreichen. Die Schlachtschiffe der königlichen Marine - hier die »Temeraire« - sind mit
Keiner der ausländischen Rivalen den modernsten Kanonen ihrer Zeit ausgerüstet. Manche dieser Geschütze sind so
des Vereinigten Königreichs nutzt die Er­ mächtig, dass ihre Granaten 60 Zentimeter dicke Eisenplatten durchschlagen
rungenschaften der neuen Zeit - Dampf­
kraft, effiziente Verwaltung, moderne
Artillerie, Eisen - in den folgenden Jahr­
zehnten so konsequent wie die könig­ brauchen große Mengen Kohle und Erst allmählich lernt die Royal
liche Marine. Dabei interessieren sich die haben daher eine geringe Reichweite - Navy die Stärken der neuen Schiffe zu
Admiräle zunächst fast gar nicht für jene ständig müssen sie neuen Brennstoff schätzen. Denn unter anderem fahren sie
Erfindung des Schotten James Watt, die bunkern. Noch sind sie kein Ersatz für auch bei Flaute und gegen Strömungen;
eine technische Revolution auslösen und die schwimmenden Festungen aus Holz. zudem können sie gefährliche Küsten
ein neues Zeitalter einleiten wird. Ohne die Großsegler der Royal ansteuern, ohne dass ihre Besatzung
Navy könnten die Briten ihre imperiale fürchten muss, vom Wind auf bedroh­
Macht nicht sichern: So legt im Sommer liche Untiefen getrieben zu werden.
1816 ein königliches Geschwader die Pi­ Auch sind sie in der Lage, über­
ratenhochburg Algier in Schutt. Und vor raschend auszulaufen und vor Anker
der westafrikanischen Küste kreuzen ab liegende Feinde anzugreifen.
1818 britische Schiffe, um den Sklaven­ Ein Krieg im fernen Asien trägt viel
handel zu unterbinden, den London dazu bei, die Vorurteile der Admirali­
einige Jahre zuvor verboten hat. tät abzubauen: 1824 bewährt sich das
Als die königliche Marine 1821 Dampfschiff „Diana“ im Kampf um Bir­
doch damit beginnt, Dampfer in Dienst ma. Es bringt Truppen an Land, schleppt
zu stellen, nutzt sie die neuartigen Schif­ Segler bei Windstille flussaufwärts und
fe zunächst als Schlepper sowie als Ku­ zerstört Dutzende feindliche Boote.
Das erste erfolgreiche Dampfschiff der rier- und Versorgungsfahrer, nicht aber „Feuerteufel“ nennen die Birmanen
Geschichte wird nicht von der Royal für die Schlacht, in der die schwachen das Gefährt, dem die Briten ihren ra­
Navy in Dienst gestellt, sondern ist eine Boote noch nicht bestehen könnten. schen Sieg verdanken. Nun baut die Ma­
amerikanische Passagierfahre, die „Cler- Und noch immer glauben manche rine immer mehr bewaffnete Schiffe mit
mont“, die ab 1807 auf dem Hudson britische Marineexperten, dass es sich bei Kesselanlagen und Schornsteinen. 1837
River zwischen New York und Albany den qualmenden Ungetümen um eine verfügt sie schon über 29 Dampfer.
pendelt. Bis dahin hat Watts Dampf­ Mode handelt, die irgendwann wieder Doch noch sind es hauptsächlich
maschine nur Pumpen, Webstühle und verschwindet. kleinere, mit wenigen Geschützen be­
Mühlen angetrieben. Unter Offizieren sind die dampf­ stückte Gefährte, mit denen die Kolonial­
Doch schon wenig später fahren getriebenen Schiffe ohnehin verpönt, macht zwar asiatische Völker beeindru­
Dampfer auf allen großen Strömen der denn nach ihrer Ansicht muss ein echter cken kann - für eine offene Seeschlacht
USA, auch in Großbritannien tuckern Seemann vor allem das Segelhandwerk gegen einen europäischen Rivalen fehlt

I sie bald auf Flüssen, Seen und Kanälen. beherrschen. „Dampfleutnant“ ist in ih­
ren Kreisen ein Schimpfwort. Als sich
einer von ihnen freiwillig meldet, um auf
einem Raddampfer anzuheuern, gilt dies
vielen als dumm: In den Augen seiner
den Dampfern aber die nötige Feuerkraft.
Der Grund ist ein technisches Pro­
blem, das die Ingenieure lange Zeit nicht
lösen können: Die erste Generation von
Dampfschiffen wird durch riesige, an den
Kameraden begeht der junge Mann eine
Die konservative Führung der Ro­ Torheit, die seine Karriere riünieren wird.
114
yal Navy hingegen setzt weiterhin auf GEO EPOCHE Das Britische Empire
Segler. Dampfschiffe hält die Admirali­
tät für zu langsam und zu teuer. Sie ver-
Denn Josef Ressel hat es versäumt, sich
die Rechte für die Vermarktung auch
außerhalb Österreichs zu sichern. Nach
Flanken montierte Schaufelräder bewegt. und nach verbreiten sich seine Ideen der Royal Navy bislang auf der segleri-
Die sind extrem verwundbar, etwa bei in England, wo sie von einheimischen schen Meisterschaft ihrer Seeleute be­
schwerer See oder im Gefecht, und neh­ Erfindern aufgegriffen und weiterent­ ruht hat, bedeutet dann der Siegeszug
men zudem viel Raum ein - der daher wickelt werden. der Maschinen nicht zwangsläufig das
für Kanonen fehlt. Gegen waffenstar­ Die 1838 in Dienst gestellte .Archi­ Ende der britischen Dominanz?
rende Kriegsschiffe haben die Raddamp­ medes“ kann sich mit einer Höchst­ Die Sorgen nehmen noch zu, als die
fer keine Chance. geschwindigkeit von zehn Knoten (rund Franzosen 1848 das erste kohlebefeuerte
Ausgerechnet ein Forstbeamter aus 18 km/h) mit den schnellsten Schiffen Schlachtschiff der Welt auf Kiel legen
Österreich findet die Antwort auf das der Navy messen. Zudem ist ihre Schraube — ein Monstrum von Dampfer, das
Rätsel, und zwar in der Antike. Die In­ deutlich kleiner, leichter und daher effi­ schnelle Angriffe ermöglicht.
spiration für den revolutionären Antrieb, zienter als ein Schaufelrad. Der Gedanke, dass Londons Erz­
den sich der Hobby-Erfinder Josef Res­ Wichtiger noch: Sie liegt gut ge­ feind ein modernes Geschwader im At­
sel 1827 patentieren lässt, holt sich der schützt unterhalb der Wasserlinie. Die lantik stationieren könnte, schürt Panik
Österreicher bei dem griechischen Ma­ Admiräle Ihrer Majestät sind beein­ unter den Parlamentariern in London.
thematiker Archimedes. Der hat bereits druckt, bestehen aber auf weiteren Tests. „Der Ärmelkanal ist nicht länger ein
im 3. Jahrhundert v. Chr. eine schrauben­ Zu einem solchen Vergleich kommt Hindernis“, argumentiert etwa Lord Pal­
förmige Wasserpumpe entworfen; ein es im März 1845 in der Nordsee. Die Ro­ merston, der spätere Premier: Die Tech­
Prinzip, das Ressel für seinen „Schiffs­ yal Navy lässt zwei fast baugleiche Schif­ nik habe ihn „in einen Fluss verwandelt,
propeller“ übernimmt. fe gegeneinander antreten: die „Rattler“ den eine Brücke aus Dampf überspannt“.
Die Idee: Die rotierende Schraube angetrieben von einer Schraube, und die Jetzt erst geben die stets auf Spar­
drückt stetig Wasser nach hinten - und „Alecto“, bewegt von riesigen Paddel­ samkeit bedachten Briten zahlreiche
das Schiff dadurch nach vorn. rädern. Das Ergebnis: In mehreren Wett­ schraubengetriebene Schiffe in Auftrag,
Damit ist sie deutlich effizienter als fahrten siegt der Schraubendampfer. um ihren Konkurrenten in die Schranken
der Radantrieb, der viel Energie darauf Beim Höhepunkt des Duells, einem Tau­ zu weisen. Isaac Watts, der Chefkon­
verschwendet, das Nass auch nach unten ziehen der Schiffe, schleppt die „Rattler“ strukteur der königlichen Marine, reist
und oben zu bewegen. Nur ein Sechstel die „Alecto“ einfach hinter sich her. gar nach Frankreich und berichtet seinen
jeder Umdrehung produziert bei diesem Die Schiffsschraube verhilft der Vorgesetzten über die neueste Waffe des
Prinzip tatsächlich Vortrieb - auch weil Dampfkraft zur See endgültig zum Widersachers. Die Franzosen haben sie
sich die Schaufeln die Hälfte der Zeit Durchbruch; nie wieder wird die könig­ „Napoleon“ getauft - nach dem frühe­
über der Wasseroberfläche befinden. liche Marine ein Segelgeschwader in die ren Kaiser, dem Onkel des regierenden
Besonders unwirksam sind die Rad­ Schlacht schicken. Staatspräsidenten.
dampfer bei schwerer See, wenn die Wel­ Die Briten reagieren schnell: Im
len den Rumpf anheben und die Paddel Oktober 1852 lassen sie die „Agamem­
ins Leere greifen. Dies ist ein tief greifender Wandel, der non“ zu Wasser, kein halbes Jahr nach der
Das erste zuverlässige Schiff mit bei der britischen Führung auch Ängste Indienststellung der „Napoleon“.
dem neuen Antrieb bauen die Briten. auslöst. Denn wenn die Überlegenheit Die beiden Schlachtschiffe sind fast
gleich groß, doch Watts entwirft nun
noch mächtigere Gefährte, die mehr als
100 Kanonen tragen. Bald ist die briti­
Die Kanoniere der Royal Navy zählen zu den besten Schützen der Welt. Seit 1830 sche Überlegenheit im Kriegsschiffhau
hat die königliche Marine die Ausbildung ihrer Seeleute immer weiter professionialisiert wiederhergestellt.
und unter anderem ein Schulschiff für Artilleristen in Dienst gestellt Mehr noch: Statt das Empire zu
bedrohen, wie manche Politiker befürch­
tet hatten, schmiedet die Dampfkraft das
Weltreich noch enger zusammen. Weil
die modernen Schiffe ferne Kontinente
viel schneller und vor allem zuverlässi­
ger erreichen als die Segler, nimmt der
Austausch zwischen London und seinen
Überseebesitzungen rasant zu.
Um 1830 vergingen rund sechs Mo­
nate, bis das Schreiben eines in Indien
stationierten Engländers in seiner Hei­
mat eintraf. Auf die Antwort musste er
also mindestens ein Jahr warten. Ein
Vierteljahrhundert später dauert ein

115
Falklandinseln und 1839 die jemenitische
Hafenstadt Aden, die den Eingang zum
Roten Meer kontrolliert. Solche strate­
Briefwechsel mit der ertragreichsten Ko­ gisch günstig gelegenen Stützpunkte gen fremde Herrscher. Wo immer Bürger
lonie des Empire nur noch drei Monate seien, so ein britischer Admiral, die des Empire in Gefahr sind, fährt die
- auch dank neuer Eisenbahnlinien. „Schlüssel, die die Welt aufsperren“. Eingreiftruppe Ihrer Majestät vor den
Um den zunehmenden Verkehr auf Immer wieder entsendet London Küsten auf. Ganz im Sinne von Lord
den wichtigsten Seerouten zu schützen, seine Flotte, um das Spiel der Mächte zu Nelsons Sinnspruch: „Kriegsschiffe sind
schickt die Royal Navy immer größere steuern: So verhindert die Royal Navy die besten Verhandlungsfuhrer.“
Verbände in die Ferne. 1848 sind 129 allein durch ihre ständige Präsenz auf 1850 etwa blockiert die Navy mo­
Schiffe im Ausland stationiert, mehr als den Weltmeeren, dass sich Europas Staa­ natelang den Hafen von Piräus, um die
doppelt so viele wie 1817. ten in die Revolutionen in Lateinameri­ griechische Regierung dazu zu zwingen,
Sie bewachen die britischen Ver­ ka einmischen. Und erst die Waffenhilfe einen Briten jüdischen Glaubens zu ent­
tragshäfen in China, jagen Sklavenhänd­ eines britischen Geschwaders 1827 bringt schädigen - mit Erfolg. Ein antisemi­
ler, patrouillieren auf wichtigen Schiff­ den Griechen die Unabhängigkeit vom tischer Mob hatte dessen Anwesen ge­
fahrtswegen. Meist genügt es, auf den Osmanischen Reich. plündert und niedergebrannt.
Ozeanen Flagge zu zeigen, um mögliche Auf allen Ozeanen künden nun die
Rivalen abzuschrecken. Ihre Geschütze Rauchschwaden britischer Dampfer von
feuern die Geschwader nur selten ab — der Ankunft einer neuen Zeit. Die Ara
etwa im Zweiten Opiumkrieg von 1856 der Segler geht zu Ende. Niemand findet
gegen China. für diesen Epochenwechsel ein besseres
Unerlässlich für die wachsende Bild als das größte künstlerische Genie
Flotte ist das Netz von Basen und Koh­ der Insel, der Maler William Turner.
lendepots, das die Briten nach und nach Im Jahr 1839 bannt er die letzte
ausbauen. Schon beim Friedensschluss Fahrt der „Temeraire“ aut die Leinwand,
von 1815 haben sie sich unter anderem eines Seglers aus der Schlacht von Tra­
Mauritius, die Insel Malta im Mittelmeer falgar. Auf seinem Gemälde zieht ein
sowie Kapstadt offiziell gesichert - alles kleiner, schwarzer, Qualm spuckender
Stützpunkte, die sie während der napo- Nun, da die Royal Navy keinen echten Schlepper das hölzerne Ungetüm im
leonischen Kriege besetzt hatten. Rivalen mehr fürchten muss, nutzt die Abendlicht die Themse hinauf, dem
Vier Jahre später ist Singapur hin­ Regierung in London die königliche Abwracker entgegen. Die stolze „Teme­
zugekommen, 1833 übernahmen sie die Marine meist für Strafexpeditionen ge­ raire“, die einst die britische Flotte aus

Ihre Vormachtstellung auf allen Meeren erringt die Royal Navy noch im Zeitalter hölzerner Segler, doch ab etwa 1820 revolutionieren
Dampfkraft und Eisen den Schiffbau. Die ersten kohlebefeuerten Gefährte bewegen noch zwei riesige Schaufelräder, wie die knapp 120 Meter
lange »Persia«, aber in den 1830er Jahren entwickeln die Ingenieure eine weitaus effizientere Art des Antriebs: den Schiffspropeller
Doch so viel sich auch ändert, die
alten Hierarchien überleben - an der
Spitze stehen weiterhin die Commis-
höchster Gefahr errettete, wirkt nur noch sioned Officers vom Leutnant bis zum Zu diesem Zweck liegt seit 1830 die
wie ein ausgebleichtes Geisterschiff. Wie Admiral. Sie bilden die Elite unter den „HMS Excellent“ vor der südenglischen
das Relikt einer untergehenden Welt. Offizieren, stammen meist aus der Ober­ Küste nahe Portsmouth. Auf dem aus­
Denn mit den großen Segelschiffen schicht und tragen die Verantwortung für rangierten Segler erprobt die königliche
verschwindet auch allmählich die alte die wichtigsten Aufgaben an Bord. Flotte unter anderem neue Kanonen und
Navy. Der Fortschritt, den die Dampf­ Danach kommen die Warrant Offi­ drillt treffsichere Artilleristen.
kraft symbolisiert, beschränkt sich nicht cers, Männer, die meist eine besondere Dort lernen die Seeleute, was die
auf Maschinen - sondern zielt zugleich Tätigkeit ausüben und über spezielle Flugbahn eines Geschosses beeinflusst:
aut den Menschen. der Wind, das Schwanken
Das 19. Jahrhundert ist des Schiffes, die Stärke des
das Zeitalter der Reform. * » Te*. MtEON .3*01 Nt t» MB 1*0110 CJ*
Pulvers. So fortschrittlich
Es gibt kaum etwas, das ist der Lehrplan der „Excel­
die Briten nicht voller Eifer lent“, dass er konservative
modernisieren: Schulen, Admiräle überfordert.
Gefängnisse, die Arbeitsbe­ wri Ein hoher Offizier, der
dingungen, das Wahlrecht, kurz nach der Gründung
die Armenhilfe. Was die der Schule die Examens­
Zeitgenossen des Admiral fragen für junge Leutnants
Nelson an (meist schlech­ durchliest und manche nicht
ten) Lebensbedingungen versteht, wettert gegen den
noch hingenommen haben, „wissenschaftlichen Hum­
ist nun nicht mehr akzep­ bug“ und fordert die sofor­
tabel. Bildung, Ordnung tige Schließung des Trai­
und Selbstkontrolle sind die ningszentrums - allerdings
neuen Ideale. vergebens. Die Absolventen
Bereits 1825 hat die Statt massiver Eisenkugeln wie früher der „Excellent“ zählen bald
Admiralität ihren Matrosen die tradi­ verschießen die neuen Geschütze der Royal zu den besten Schützen der Welt.
tionelle Rum-Ration halbiert und den Navy mit Sprengstoff gefüllte Granaten Die zukünftigen Offiziere lernen
Bierausschank bald darauf ganz verboten. ihr Handwerk auf einem eigenen Schul­
Statt sich zu betrinken, sollen die See­ schiff. Anders als früher muss nun jeder
leute lernen: Bücher werden an Bord Bewerber einen echten Einstellungstest
eines jeden Schiffes gebracht - rund 300 Fähigkeiten und Kenntnisse verfügen: absolvieren. Zur Aufnahmeprüfung ge­
religiöse Werke und erbauliche Literatur. Steuermänner, Schiffsärzte, Kanoniere, hören eine medizinische Untersuchung,
Zudem tragen die Seeleute nun Zimmerleute, Köche, Pfarrer, Proviant­ ein Diktat und mathematische Aufgaben.
Uniform. Ein Edikt legt genau fest, wel­ meister und die Maschinisten, die sich
che Kleidungsstücke in den Seesack ge­ um die Kessel kümmern.
hören: blaue Jacken, weiße Hosen, Hem­ Die größte Gruppe an Bord stellen Doch trotz aller Versuche, nun die Bes­
den, Strümpfe, Fäustlinge und schwarze the hands, die einfachen Seeleute. Sie ten der Besten zur Navy zu holen: Ent­
Seidentaschentücher. Unteroffiziere dür­ klettern in die Takelage, schleppen Kohle scheidend bleibt nach wie vor die vor­
fen sich als Zeichen ihres Ranges einen und bedienen die Geschütze. Die Jüngs­ nehme Herkunft der Kandidaten, die fast
weißen Anker aufnähen. ten an Bord sind die Schiffsjungen, die alle aus alten Militärfamilien oder der
Das verhasste „Schanghaien“, also meist mit zwölf Jahren in die Marine Aristokratie stammen.
die gewaltsame Rekrutierung, schafft die eintreten. Die ältesten Matrosen haben In einer Zeit ohne allgemeine
Regierung zwar nicht offiziell ab, aber die 70 schon überschritten. Schulpflicht besitzen meist nur Kinder
die Marine entsendet kaum noch Greif­ In früheren Zeiten gingen die Neu­ aus den einflussreicheren Schichten das
trupps in die Hafenstädte. linge bei den Veteranen in die Lehre. nötige Wissen, um den Test zu bestehen.
Um dennoch genug Nachwuchs zu Von ihnen lernten sie alles, was ein See­ Ohnehin lässt das von altem Stan­
gewinnen, lockt die königliche Flotte von mann wissen muss: wie man die 30 Me­ desdünkel dominierte Offizierskorps nur
1853 an mit höherem Lohn, mehr Chan­ ter hohen Masten erklimmt, die Segel den Nachwuchs seinesgleichen zu der
cen auf Beförderung, Krankengeld, be­ setzt oder einholt, Knoten knüpft, geris­ Prüfung zu. Die Mitglieder der briti­
zahltem Urlaub - und mit milderen Stra­ sene Taue spleißt und das Schiff steuert. schen Eliten betrachten es weiterhin als
fen: Die Kapitäne werden zur Mäßigung Doch in einer Zeit rasanten Wan­ ihr Geburtsrecht, dass ihre Söhne und
aufgerufen. Unteroffiziere dürfen sie dels genügen die über Jahrhunderte ge­ Neffen das Offizierskorps dominieren.
ohnehin seit Längerem nur noch dann sammelten Erfahrungen nicht mehr. Um Der Weg zum ersten eigenen Kom­
auspeitschen, wenn ein Kriegsgericht die ihre Stellung als mächtigste Marine der mando indes ist für Offiziere lang: Zwei
Delinquenten zuvor dazu verurteilt hat. Welt zu verteidigen, muss die Navy ihren Jahre verbringen die Kadetten auf der
Männern die Erkenntnisse der moder­
nen Wissenschaft vermitteln.
„Britannia“, Jie }n einer Flussmündung
in Devon festgemacht hat.
Jeder Tag beginnt mit einem Bad
im kalten Salzwasser. Anschließend pau­
ken die Jungen Mathematik, Navigation,
Französisch, Zeichnen, Segeln und Sig­
nalkunde. Nach dem Unterricht stehen
Cricket, Fußball und Querfeldeinläufe
auf dem Stundenplan. Wer das Ab­
schlussexamen besteht, dient fünf Jahre
auf einem Schiff Ihrer Majestät und wird
dann zum Sub-Lieutenant befördert.
Die besten Absolventen können da­
von träumen, irgendwann einen Posten
im Nervenzentrum der Navy zu bekom­
men: der Admiralty in London.
In dem Gebäude der Marinefüh­
rung, nur wenige Hundert Meter vom
Trafalgar Square entfernt, wo seit 1843
eine Statue Lord Nelsons auf einer ge­ Kurz nach dem Bombardement von Alexandria entsenden die Briten ein Invasionsheer
waltigen Säule thront, laufen alle Infor­ von 30 000 Mann nach Ägypten. Die Truppen gehen unweit des Suezkanals an Land und
mationen über die britische Flotte zu­ stoßen dann entlang einer Bahnlinie in Richtung der Hauptstadt Kairo vor
sammen.
Per Brief und später auch per elek­
trischen Telegraphen erhalten die Chefs
der Navy täglich Depeschen über die Eine erste Probe ihrer neuen Fähig­ Munition nur klaffende Löcher in die
Position der eigenen Schiffe, die Bewe­ keiten liefert die Royal Navy im Krim­ hölzernen Bordwände schlug, dringen
gungen des Feindes, Probleme beim krieg, der 1853 ausbricht: Als der Zar in diese Projektile tief in die Rümpfe ein,
Nachschub. Rund 40000 Schreiben ver­ jenem Jahr das Osmanische Reich über­ ehe sie im Inneren explodieren und alles
fassen und lesen ihre Sekretäre im Jahr. fällt, entsenden Franzosen und Briten in Brand setzen.
Lange war das höchste Gremium eine Invasionsarmee auf die Schwarz­ Der Vater dieser Waffe ist der fran­
der Marine eine Clique reicher Adeliger, meerhalbinsel, um wichtige Häfen der zösische Ingenieur Henri-Joseph Paix-
die sich vor allem von politischen Inter­ Russen zu erobern und St. Petersburg so hans. Er hat die „Bombenkanone“ 1822
essen treiben ließen. Doch mehrere zu Friedensverhandlungen zu zwingen. erfunden - und hoffte, mit ihrer Hilfe
Reformen verwandeln die Admiralität Die königliche Flotte transportiert die britische Vorherrschaft zu brechen.
ab 1832 in eine höchst effektive Verwal­ rund 30 000 Soldaten ins Kampfgebiet Da den Franzosen aber die nötigen
tungsmaschine. Keine andere Seemacht und versorgt die Truppen anschließend Kenntnisse fehlten, um zuverlässige
ist ähnlich professionell organisiert. zwei Jahre lang mit Lebensmitteln und Geschütze herzustellen, dauerte es noch
Sechs hohe Beamte, die „Lords of 1,4 Millionen Granaten. Es ist eine lo­ zwei Jahrzehnte, bis sich die neuen Waf­
the Admiralty“, tagen regelmäßig im Sit­ gistische Kraftanstrengung, die den Sieg fen auch einsetzen ließen.
zungssaal der Marinebehörde, umgeben der Alliierten erst möglich macht. Das Schicksal der türkischen Flotte
von Globen und Karten. Sie beraten über Die wahren Gewinner des Krim­ schockiert Briten und Franzosen. Es
Rüstungsprojekte, legen die Strategien krieges aber sind andere: Panzerschiffe macht ihnen auf einen Schlag bewusst,
der Flotte fest und planen neue Einsätze und moderne Kanonen. wie verletzlich ihre eigenen hölzernen
- stets in Absprache mit dem Premier­ Dampfer sind. Konnten die Kriegsschiffe
minister und dessen Kabinett. eines Lord Nelson in einem Gefecht
Jeder von ihnen verantwortet eigene Denn nur wenige Wochen nach dem noch Dutzende Treffer verkraften, ehe
Bereiche, etwa die Werften, die Finanzen Beginn der Gefechte hat die - zu jener sie sanken, so vermag nun ein einziges
oder die Verpflegung der Seeleute. An Zeit noch siegreiche - russische Flotte explosives Geschoss das ganze Gefährt
ihrer Spitze steht der „First Lord of the ein Geschwader des türkischen Sultans zu zerstören.
Admiralty“, de facto der Marineminister zerstört: ein Triumph mit bleibenden Als Erster reagiert der französi­
des Königreiches. Als Mitglied des Re­ Folgen. Denn er führt der Welt zum sche Herrscher auf die neue Bedrohung:
gierungskabinetts vertritt er die Inter­ ersten Mal die tödliche Wirkung einer Napoleon III. schlägt vor, schwimmende
essen der Navy vor dem Parlament. neuen Waffe vor Augen. Geschützplattformen aus Holz zu bauen,
Er ist allein den Abgeordneten und Die Schiffe des Zaren feuern nicht deren Außenwände er mit bis zu elf Zen­
der Krone verantwortlich. mehr massive Eisenkugeln ab, sondern timeter dicken Platten aus Schmiede-
längliche Geschosse, die mit Sprengstoff
gefüllt sind. Granaten. Während die alte
118 CEO EPOCHE Das Britische Empire
Und die Royal Navy belässt es nicht
bei einem Ironclad. Während es den
Franzosen an modernen Werften und
eisen panzern lässt. An ihnen sollen die Rohstoffen mangelt, nutzen die Briten maschinen kombiniert. Die „Lightning“,
russischen Projektile abprallen. nun die ganze Wucht ihrer Industrie, um die 1876 vom Stapel läuft, erreicht bereits
Tatsächlich werden drei dieser Un­ stärkste Seemacht zu bleiben. eine Geschwindigkeit von 18,5 Knoten
getüme ins Schwarze Meer geschleppt Zur Mitte des 19. Jahrhunderts pro­ (etwa 34 km/h).
und erfolgreich im Krimkrieg eingesetzt, duziert das Königreich zwei Drittel der Fünf Jahre später wird die „Inflexi­
wo sie vor allem feindliche Festungen weltweit geförderten Kohle, die Hälfte ble“ in Dienst gestellt, auch sie ein Pan­
beschießen. Es ist die Geburtsstunde der des Eisens und 70 Prozent des Stahls. zerschiff. Sie trägt ihre großen Kano­
Panzerschiffe - der „Ironclads“, wie sie Glasgow, Newcastle und Sunderland nen nicht mehr im Rumpf, sondern in
die Briten nennen. Die Franzosen besit­ sind die internationalen Metropolen des drehbaren Geschütztürmen auf Deck
zen nun eine neue fortschrittliche Waffe, Schiffbaus. Die Marinebasis von Ports­ und kann so gleichzeitig in verschiedene
die in den Arsenalen des Empire fehlt. mouth mit ihren Docks und Werkstätten Richtungen feuern.
Doch noch sind die Kolosse nicht ist das größte Industriegelände der Erde. Es ist eine revolutionäre Neuerung,
fähig, sich über längere Zeit aus eigener Als 1862 im amerikanischen Bür­ mit der die Konstrukteure Ihrer Majestät
Kraft fortzubewegen oder dem Wellen­ gerkrieg erstmals zwei gepanzerte Schif­ das alte Prinzip der Segelkriegsschiffe
gang auf den Ozeanen zu widerstehen. fe in einer Schlacht aufeinandertreffen endgültig überwinden werden.
Nach dem Ende des Krimkriegs tun - die „Monitor“ der Nordstaaten gegen Nie zuvor war die königliche
die Franzosen alles, um ihren techni­ die „Virginia“ der Rebellen -, haben die Schlachtflotte so schlagkräftig wie um
schen Vorsprung zu verteidigen. Denn Briten dank ihrer Fabriken ihre alte Stel­ 1880. Und nie zuvor hatte sie so wenig
Napoleon III. träumt davon, zu errei­ lung bereits wieder zurückerobert. zu tun. Die gefährlichste Waffe des Em­
chen, was seinem berühmten Onkel Die Franzosen sorgen sich zudem pire ist nun derart furchteinflößend, dass
versagt blieb: die Macht des britischen schon bald mehr um das aufstrebende sie praktisch nie eingesetzt werden muss.
Empire zu übertreffen. Preußen unter dem neuen Ministerprä­ Sie zwingt fremde Herrscher dazu, ihre
Auf seinen Befehl hin entwickeln sidenten Otto von Bismarck als um Lon­ Differenzen mit dem Imperium friedlich
französische Ingenieure das erste hoch­ dons Flotte. Paris gibt im Kampf um die beizulegen, noch ehe die Briten ihre
seetaugliche Panzerschiff. Als die fast Weltmeere auf. Geschwader entsenden.
80 Meter lange „Gloire“ („Ruhm“) im Die Bombardierung von Alexan­
Jahr 1859 vom Stapel läuft, sind die Bri­ dria ist die große Ausnahme: der einzige >:
ten entsetzt. Die Wunderwaffe der Fran­ Kampfeinsatz der mächtigen Kriegs- ■<
zosen ist so konstruiert, dass ihr knapp schiffe in mehr als sechs Jahrzehnten.
zwölf Zentimeter dicker Eisenmantel Zwischen dem Krimkrieg und dem Aus­
jeder bekannten Kanone widersteht. bruch des Ersten Weltkriegs wird die
Uber Nacht sind alle existierenden britische Schlachtflotte ansonsten in
Kriegsschiffe der Welt de facto veraltet. keine einzige Schlacht geschickt.
Nun bricht Panik aus im König­ Das Land am Nil ist seit 1869 von
reich. Seit dem Sieg von Trafalgar war besonderer Bedeutung für das Empire.
die Alleinherrschaft der Royal Navy In jenem Jahr ist der Suezkanal, der den
niemals in so großer Gefahr. Vor dem Seeweg nach Indien um mehr als 7000
Parlament in London muss der First Königin Viktoria befehligt nun 240 Kilometer verkürzt, eröffnet worden.
Lord of the Admiralty gestehen, dass die Schiffe und 40 000 Seeleute, das größte Fortan verläuft die Lebensader des Welt­
königliche Marine nicht mehr in der und schlagkräftigste Marinegeschwa­ reichs durch Ägypten - und die Briten
Lage wäre, die heimische Küste zu ver­ der der Welt. Wenn sie sich in ihrem sind fest entschlossen, sie zu schützen.
teidigen. Denn mit Schiffen wie der Landsitz Osborne House auf der Isle of Als dort im Frühling 1882 eine in­
„Gloire“ könnten die Franzosen Tausen­ Wight erholt, kann sie die gewaltigen nenpolitische Krise eskaliert, entsendet
de Soldaten binnen kurzer Zeit auf die Dampfer beobachten, die Portsmouth die Marine ihre stärksten Schiffe unter
Britischen Inseln bringen. ansteuern oder verlassen. dem Kommando von Admiral Beau-
Doch das Imperium schlägt zurück: In den folgenden Jahrzehnten ent­ champ Seymour. Am Morgen des 20. Mai
mit jener Kraft, die nur das Mutterland wickelt sich die Navy ständig weiter, treffen die ersten Dampfer in der Hafen­
der Industriellen Revolution besitzt. Im tauscht die alten Vorderlader-Kanonen stadt Alexandria ein.
Gegensatz zur „Gloire“, deren Eisenhaut durch neue Hinterlader aus, die einfacher Seit Wochen bedrängen die ägyp­
sich über einen hölzernen Rumpf spannt, und rascher nachgeladen werden können. tischen Offiziere ihren Herrscher, einen
plant der britische Chefentwickler Watts Sie führt erste Torpedos ein und Vasallen des osmanischen Sultans. Sie
ein komplett eisernes Schiff. testet frühe Unterseeboote. Zudem sind fordern, dass er sich endlich gegen den
Auf einer Werft in London ent­ die Läufe der neuen Kanonen mit Rillen Einfluss der Europäer zur Wehr setzt, bei
steht bis 1861 die „Warrior“ („Krieger“): versehen, die den Projektilen einen sta­ denen er hochverschuldet ist.
50 Meter länger als die „Gloire“, stärker bilisierenden Drall verleihen. So gewin­ Mit den Schlachtrufen „Ägypten
gepanzert - und dennoch schneller. nen sie noch mehr Durchschlagskraft. den Ägyptern“ und „Tod den Christen“
Bald werden Hochdruckkessel mit
neuartigen, leistungsfähigeren Dampf­
GEO EPOCHE Das Britische Empire 119
Mitte September 1882 treffen die britischen Invasoren westlich des Suezkanals auf die ägyptische Armee. Die einheimischen Truppen haben
ihre Stellungen mit Schützengräben und Schanzwerken stark befestigt. Um sie dennoch zu besiegen, wählen die Generäle des Empire eine gewagte
Taktik: Sie führen ihre Truppen in der Dunkelheit heran - und überraschen die Ägypter in den ersten Morgenstunden. Mit Erfolg

hetzen die Führer der Armee gegen Bri­ ten lassen, um die Stadt vor den Briten vielen Einschlägen vernarbt, dass die
ten, Franzosen und andere Ausländer in zu schützen. Matrosen die Zahl der Treffer nicht be­
dem Land. Am 11. Juni greift eine aufge­ Nun übermittelt Seymour den stimmen können.
brachte Menge in Alexandria Dutzende Ägyptern ein Ultimatum: Sollten sie ihm Jener Ort, an dem sich das explo­
Europäer an. die Forts nicht innerhalb von 24 Stunden dierte Munitionsdepot der Ägypter be­
Sie schlagen ihre Opfer nieder, tre­ übergeben, werde seine Flotte sie zerstö­ funden hat, ist nun iibersät mit Steinen,
ten und prügeln auf sie ein. Auch vier ren. Seine Widersacher reagieren nicht. Geschosssplittern und verkohlten Bal­
Offiziere des britischen Kriegsschiffs Als am 11. Juli 1882 die Sonne auf­ ken. Umgeworfene Kanonen liegen me­
„Superb“ werden beim Landgang von geht, ist die Frist abgelaufen. Um sieben terweit von ihren Verankerungen ent­
den Aufrührern attackiert. Ein Soldat Uhr gibt Seymour den Angriffsbefehl. fernt. Das Minarett der alten Zitadelle
erliegt seinen Wunden, seine Kameraden ist zur Hälfte eingestürzt, die gesamte
können gerade noch entkommen. Westfront des Bollwerks mit seinen Tür­
Plündernd ziehen die Ägypter men zerschmettert.
durch die Häuser und Geschäfte des Die Angreifer blicken auf eine Rui­
europäischen Quartiers von Alexandria, nenlandschaft, doch nach wie vor haben
des reichsten Viertels der Stadt. sich die Ägypter nicht offiziell ergeben.
Admiral Seymour versucht zu­ Daher feuert die „Inflexible“ noch einmal
nächst nicht, den Mob mit seinen Sol­ mehrere Granaten ab - dorthin, wo die
daten aufzuhalten - vermutlich, weil er Briten weiterhin feindliche Truppen ver­
die Lage an Land als zu unübersichtlich muten. Dann erst erkennen die Angreifer
einschätzt. Zudem will London einen weiße Flaggen auf den Festungen ihrer
Militäreinsatz um jeden Preis vermeiden. Gegner.
Vor allem aber beunruhigt den Befehls­ Einen Tag nach dem Bombardement Am Nachmittag schickt Admiral
haber, was die ägyptische Armee plant. hängt eine drückende Hitze über der Seymour eines seiner Kanonenboote in
Schon vor den Angriffen auf die Stadt. Die Briten schicken ein Boot von den Hafen, um einen ägyptischen Offi­
Europäer haben die aufrührerischen Of­ Schiff zu Schiff, um ihre Toten zu sam­ zier zu suchen, mit dem er eine Waffen­
fiziere die Festungen im Hafen Alexan­ meln und sie anschließend auf See zu ruhe aushandeln kann.
drias mit neuen Geschützen verstärkt. bestatten. Nur: Es findet sich niemand. Die
Und zudem mehrere Erdwälle aufschich­ Langsam fährt die „Inflexible“ an Stadt scheint verlassen. Irgendjemand
den Forts entlang, um die Schäden zu
inspizieren: Die Mauern sind von derart
120 GEO EPOCHE Das Britische Empire
einheimische Herrscher ist nur noch eine
fürstliche Marionette, wie es sie so viele
im Empire gibt.
aber muss Feuer gelegt haben - denn von Gegenüber den anderen europäi­ Trafalgar orientiert: Die königliche Flot­
der Hafenmole aus können die Briten schen Regierungen betont London zwar te soll immer so viele Schiffe besitzen
eine Brandsäule sehen, die sich rasch im immer wieder, dass seine Truppen nur wie die beiden nächststärksten Mächte
Zentrum der Metropole ausbreitet. vorübergehend in Ägypten stationiert zusammen. Um diesen „Two-Power-
In der folgenden Nacht beobachten seien. Tatsächlich werden sie bis 1956 Standard“ zu erreichen, bewilligen die
die Matrosen Ihrer Majestät, wie die vor­ bleiben. Abgeordneten 21,5 Millionen Pfund für
nehmsten Viertel Alexandrias in Flam­ Die Royal Navy genießt nach ihrem den Ausbau der Royal Navy.
men stehen; der Himmel ist glutrot Sieg bei Alexandria enormes Prestige. Noch immer, so scheint es, gilt der
erleuchtet, die Küste in dichten Qualm Mit fantasievollen Stichen schildern die Vers aus der inoffiziellen Nationalhymne,
gehüllt. Illustrierten im Inselkönigreich ihren die patriotische Briten und Seeleute so
Ein Voraustrupp, den Seymour ent­ Lesern jedes Detail des Bombardements. gern singen: „Britannia rule the waves!“
sendet, meldet dem Admiral, dass die Matrosen werden zu gesellschaftlichen Britannien beherrsche die Wellen.
ägyptische Armee die Stadt geräumt und Doch jenseits des Kanals, im Deut­
angezündet habe. Jetzt erst entschließt schen Reich, zeichnet sich längst eine
sich der britische Oberbefehlshaber, Ale­ neue Bedrohung ab. Sie wird sich als
xandria zu besetzen. stärker erweisen als alle Herausforde­
Binnen weniger Stunden gehen 800 rungen der Vergangenheit.
Mann an Land. Die Schlachtschiffe der Denn Wilhelm II., der junge deut­
Royal Navy nehmen unterdessen ihre sche Kaiser, der 1888 seinem Vater auf
Kampfpositionen auf Reede ein - für den den Thron gefolgt ist, träumt von Welt­
Fall, dass die Ägypter doch noch einmal politik und „einem Platz an der Sonne“,
angreifen sollten. also einem eigenen Kolonialreich. Wil­
Die Marinekämpfer sind die ersten helm, Sohn einer englischen Prinzessin
von insgesamt 30 000 Soldaten, die und Enkel von Königin Viktoria, weiß
Großbritannien in den folgenden Wo­ nur zu gut, was das Deutsche Reich dafür
chen ins östliche Mittelmeer schickt. Sie benötigt: eine eigene Schlachtflotte.
kommen aus dem ganzen Empire, aus Deutschland ist fest entschlossen, es
England, Malta, Gibraltar, Zypern, Aden dem Empire gleichzutun. Mit dem ers­
und Bombay, und gehen in Ägypten an ten Flottengesetz, das der Reichstag
Land. Ihr Ziel: die aufständischen Offi­ 1898 verabschiedet, beginnt der Angriff
ziere endgültig zu besiegen - und den Mit der Niederschlagung auf die britische Vorherrschaft zur See.
Suezkanal zu sichern. der Revolte beginnt die britische Es ist eine Attacke, die das Fundament
Besatzung Ägyptens des Weltreichs bedroht.
Und anders als alle Herausforderer
Schon in der zweiten Augusthälfte kon­ des 19. Jahrhunderts, besitzen die Deut­
trollieren die Briten die gesamte Kanal­ schen genügend Eisen, Stahl, Geld und
zone. Wenige Wochen später treffen sie Vorbildern erklärt; es sind Sympathie­ Fabriken, um sich mit der Macht des
mit rund 13000 Soldaten westlich der träger, mit denen Seifen- und Tabak­ Empire zu messen.
künstlichen Wasserstraße auf die ägyp­ hersteller ihre Produkte bewerben. So entbrennt jener verhängnisvolle
tische Armee, die über 20 000 Kämpfer Und doch sorgen sich die Briten Wettstreit, der die viel gerühmte „Pax
verfugt. Am 13. September 1882 kommt zunehmend um ihre Marine. Vielleicht Britannica“ für immer zerstört - und die
es zu einem weiteren Gefecht. sind es gerade die langen Jahrzehnte der Menschheit in einen Weltkrieg stürzen
Die Schlacht von Tel-el-Kabir dau­ unangefochtenen Vorherrschaft, die den wird. ^
ert allerdings nur 30 Minuten. Während Zweifel säen. Ist die königliche Flotte
auf britischer Seite nur 57 Mann sterben, wirklich noch in der Lage, alle Rivalen Hauke Friederichs,/g. 1980, ist Journalist
verlieren die rebellischen Obristen rund zu übertrumpfen? in Hamburg.
2000 Mann und erleiden eine vernich­ Etliche Experten spekulieren über
tende Niederlage. Ihr Anführer wird von die relative Schwäche der Royal Navy.
den Invasoren festgenommen und zum Denn auch Franzosen und Russen be­ LITERATUREMPFEHLUNGEN: J. R. Hill
Tode verurteilt, später aber begnadigt ginnen nun, ihre Flotten aufzurüsten. (Hg.), ..The Oxford lllustrated History of the
und nach Ceylon verbannt. Um jede Kritik zum Schweigen zu Royal Navy". Oxford University Press: gut
Ägypten behält zwar eine eigene bringen - und das eigene Selbstbewusst­ geschriebener, reich bebildeter Überblick
Regierung. De facto aber steht das Land sein zu demonstrieren -, verabschiedet der gesamten britischen Marinegeschichte.
am Nil fortan unter der Kontrolle Lon­ das Parlament in London am 7. März Jeremy Black. ..The British Seaborne Empire“,
dons: Die wahre Macht üben Vertreter 1889 den „Naval Defence Act“. Yale University Press: Standardwerk eines
der Krone sowie Generalkonsule aus. Der Das Gesetz schreibt jenen Grund­ renommierten Militärhistorikers.
satz fest, an dem sich die Admiralität -
inoffiziell - schon seit der Schlacht von
Cccil Rhodos - 1853-1902
Im ausgehenden 19. Jahrhundert strebt das Empire seinem Höhepunkt entgegen. Vor allem auf
dem afrikanischen Kontinent unterwerfen die Briten in kurzer Zeit gewaltige Territorien. Kein Mann
verkörpert diese Ara imperialer Hybris so sehr wie Cecil Rhodes, Pfarrerssohn, Diamanten­
könig und Erzimperialist. Getrieben von dem Traum, die britische Lebensart vom Kap bis nach
Kairo zu verbreiten, rafft er um 1890 im Süden Afrikas im Alleingang sein eigenes Reich
zusammen - und benennt es sogar nach sich: Rhodesien ------------- von jörg-uwe albig
„Im 18. Jahrhundert war das Briti­
sche Empire bestenfalls amoralisch“, wird
der Historiker Niall Ferguson später in
Erinnerung rufen. Das habe sich im
Reich der Königin Viktoria, die 1837 den
Thron bestieg, geändert. „Die Viktoria-
ner“, schreibt Ferguson, „hatten erhabe­ Marktplatz in Südafrika,
nere Bestrebungen. Sie träumten nicht um 1890. Gut 80 Jahre
nur davon, die Welt zu beherrschen, son­ zuvor haben die Briten die
dern sie zu erlösen. Es genügte ihnen Herrschaft am Kap von
nicht mehr, andere Rassen auszubeuten: den Niederländern über­
Jetzt wurde es ihr Ziel, sie zu verbessern.“ nommen und später auch
Dieser kurze Krieg im Jahr 1893 an der Ostküste eine Kolo­
Die Zivilisation kommt mit Kaliber .45 jedenfalls, bei dem das Maxim-Maschi­ nie gegründet (siehe Karte
und 500 Schüssen pro Minute. Ihre Über­ nengewehr zu einem seiner ersten Seite 135). Die Siedler
zeugungskraft ruht auf einem Stativ und Kampfeinsätze kommt, beseitigt die betreiben Landwirtschaft
einem raffinierten Mechanismus, der den Rückständigkeit der Verlierer ein für alle und Viehhandel; Industrie
Rückstoß der Geschosse zum Auswer­ Mal. Als die Waffen schließlich schwei­ und Gewerbe gibt es
fen und Neuladen der Munition nutzt. gen, hat das Land der Ndebele - jenes anfangs kaum - bis Pio­
Schon die Handhabung beweist ihre Gebiet zwischen den südafrikanischen niere in das an Boden­
Überlegenheit: Ein einziger Druck auf Flüssen Limpopo und Sambesi, auf dem schätzen reiche Landes­
den Abzug, und sie feuert ohne Pause. dereinst der Staat Simbabwe entstehen innere vorstoßen
Die Barbarei hat keine Chance. wird - einen neuen Herrscher.
Binnen weniger Augenblicke fallen 1500 Einen Mann, der die hehren Werte
Männer vom Volk der Ndebele wie ge­ des Empire vertritt wie kein anderer:
mähtes Gras. Die Überlebenden können Cecil Rhodes, der Direktor der British
sich den blitzartigen Massentod ihrer South Africa Company, König der süd­
Brüder nur durch das Wirken eines bö­ afrikanischen Diamantenindustrie und
sen Geistes erklären, den sie nach seiner einer der reichsten Männer der Welt. ford bei London, glaubt an die Mission.
furchtbaren Stimme scockacocka nennen. Mit einem Offizier und 20 weißen Er glaubt an die Optimierung der Welt
Der Geist wohnt in einer neuen Söldnern, deren Schwertscheiden gegen im Zeichen der britischen Krone. Für ihn
Waffe, die sich in diesem Jahr 1893 an­ die Flanken ihrer Pferde klatschen, rei­ ist die „angelsächsische Rasse“ schlicht
schickt, den afrikanischen Kontinent zu tet Rhodes am 4. Dezember 1893 in die „die beste, die menschlichste, die ehren­
erobern: Es ist das vollautomatische Ma­ kurz zuvor eroberte Ndebele-Hauptstadt werteste“ der Welt: „Je mehr von der
schinengewehr, 1884 erfunden von einem Bulawayo ein. Er sitzt locker im Sattel, Welt wir bewohnen, desto besser für das
US-Ingenieur namens Hiram Maxim, seine Kleidung ist nachlässig, die Züge Menschengeschlecht.“
doch bald schon Symbol für den Impe­ zerfurcht, der weiche Hut sitzt tief in Und weil in den Atlanten die briti­
rialismus des Britischen Empire. So der Stirn. In knappen Sätzen hält er eine schen Gebiete seit Langem in royalem
wirksam tötet sie für den Aufbau des Rede an seine Männer: Sie hätten, lobt Rot erscheinen, ist diese Farbe das Was­
Kolonialreiches, dass Königin Viktoria er, nicht nur „die weitere Ausdehnung serzeichen seiner Ambition: „Das alles
den Erfinder 1901 zum Ritter schlägt. des Britischen Empire“ erstritten, son­ muss rot angemalt werden“, dekretiert er
Doch so verheerend die Waffe wirkt dern der „Herrschaft der Wilden südlich vor einer Afrikakarte. Und zeichnet
- in den Köpfen derer, die sie einsetzen, des Sambesi ein Ende bereitet“. forsch mit Bleistift dem Abbild des Kon­
ist sie ein Erziehungsinstrument: „Wenn Auch Cecil Rhodes, der Pfarrers­ tinents, das in seinem Büro hängt, seinen
sie auf eure Lehren nicht hören wollen“, sohn aus der Kleinstadt Bishop’s Stort- größten Traum ein: eine Bahnlinie vom
singen britische Soldaten, die mit ihr
Afrika durchkämmen, „gebt ihnen noch
eine Predigt mit dem Maxim-Gewehr.“
Auch wenn diese tiefschwarze Päda­ Bis 1806 prägen die Buren,
gogik zynisch anmutet, so klingt sie in Nachfahren zumeist niederländi­
den Ohren vieler Landsleute im König­ scher Siedler, die Region am Kap.
reich wie purer Idealismus. Denn in der Dann weichen sie vor den Briten
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus und gründen weiter nordöstlich
strebt Britannien nicht mehr einfach der Kapkolonie zwei Republiken:
nach Gold, Macht und Absatzmärkten. Transvaal und den Oranje-Freistaat
Es hat jetzt eine Mission. (Treck in Südafrika)
Dort, in den Einöden am Orange River,
haben Farmer 1867 die bis dahin reichs­
ten Diamantenfelder der Welt entdeckt.
Für einen Jüngling von zarter Ge­
sundheit wie Cecil muss die Siedlung
der Glücksritter, die bald nach dem
britischen Kolonialminister Kimberley
heißen wird, eine Hölle sein.
Sie liegt in einer bäum- und was­
serlosen Ebene, schutzlos der glühenden
Sonne ausgesetzt, eingehüllt von Staub­
wolken und Fliegenschwärmen. Ein La­
byrinth aus Zelten und Planwagen, eng
um die beiden größten der vier Minen
gedrängt. Eine Kloake, geplagt vom
Gestank der Gräben, die als Latrinen
dienen, und der Überreste geschlachteter
Ochsen, Schafe und Ziegen, die in der
Hitze faulen.
Das Herz von Kimberley ist der
„Marktplatz“, eine leere Sandfläche, flan­
kiert von hastig aufgebauten Buden aus
Brettern, Planen und Wellblech: Hier

Cecil Rhodes
Kap bis nach Kairo, die ausschließlich
durch (zum großen Teil noch zu erobern­
de) Kolonien seiner Königin fuhren soll.

Am 1. September 1870, kurz nach sei­


nem 17. Geburtstag, ist Rhodes mit an­
sehnlichen 2000 Pfund Zehrgeld von
seiner Tante in Durban an der Ostküste
Südafrikas gelandet, wo sein älterer Bru­
der Herbert bereits als Baumwollfar-
mer Fuß gefasst hat: Hier soll Cecil, so
wünscht es die Familie, unter südlicher
Sonne sein schwaches Herz kräftigen.
Südafrika, das ist Bauernland, fast
ohne Industrie und Gewerbe - und vor Wie die Briten verstehen
allem: ein Flickenteppich. Denn zu jener sich die Buren als von Gott
Zeit besteht der Süden des Kontinents etablierten britischen Herrschaft am Kap auserwähltes Volk: Auch
aus drei Herrschaftsgebieten (siehe Karte ins Landesinnere ausgewichen sind; die calvinistischen Kolonisten
Seite 135), deren Bewohner einander • und schließlich aus den verspreng­ unterjochen die afrika­
misstrauisch belauern: ten, kaum durch feste Grenzen definier­ nischen Stämme
• aus der Kapkolonie im Süden so­ ten Wohngebieten jener afrikanischen
wie der Provinz Natal an der Ostküste, Völker, die noch nicht von den weißen
beide in britischer Hand; Eindringlingen unterjocht sind.
• aus Transvaal und dem Oranje- Nach kurzer Zeit folgt Rhodes
Freistaat, den beiden Republiken der dem Bruder ins (bald ebenfalls britisch
Buren - Nachkommen vor allem nieder­ beherrschte) Landesinnere, wo Herbert
ländischer Siedler -, die vor der 1806 eine neue Erwerbsquelle aufgetan hat:

GEO EPOCHE Das Britische Empire 125


1867 entdecken Farmer
am Orange River nördlich
der Kapkolonie die bis
dahin reichsten Diaman­
tenfelder der Welt. In den
in eine Vielzahl von Claims
unterteilten Minen nahe
der Stadt Kimberley macht
Cecil Rhodes sein erstes
Geld - und kauft schließ­
lich sämtliche Gruben
auf (Mine in Kimberley,
um 1888)

können die glücklichen Finder ihre fun­ bleibt er allein zurück, sein einziger Ver­ ihrer Konkurrenten bald genug Kapital,
kelnde Ware an Händler verkaufen - und trauter ein plumper Mischlingshund um deren Claims nach und nach aufzu­
den Erlös gleich in einer der improvisier­ ohne Schwanz. Seine Mitmenschen kaufen. Rhodes hat sogar ausreichend
ten Kneipen in Schnaps Umsetzern bedeuten ihm nicht viel. Mittel, acht Jahre lang zwischen Süd­
Die Lebensader der Stadt aber sind afrika und Großbritannien zu pendeln,
die Minen, aufgeteilt in 470 Claims, jeder um nebenbei in Oxford zu studieren.
nur etwa 90 Quadratmeter groß und Derweil entwickelt sich die Dia­
durch Unterverpachtung noch weiter mantensuche vom Glücksspiel zur In­
zerstückelt. Dort, in den 20 Meter tiefen, dustrie - und Kimberley wird zur Stadt.
offenen Gruben, verrichtet ein Heer von Kirchen, Schulen, Bibliotheken und
billigen schwarzen Wanderarbeitern die Abstinenz-Klubs verdrängen Kneipen
Drecksarbeit. Eimer um Eimer füllen die und Bordelle. Im neu gebauten Vorort
Männer mit Erde, Geröll und Gestein, Belgravia verwöhnen sich reiche Siedler
hieven den Aushub mit Seilwinden an in geziegelten Villen mit allen Segnun­
die Oberfläche, verfrachten ihn mit Kar­ gen moderner Zivilisation. Der anarchi­
ren und Maultieren zu den Sieben und sche Kampf eines jeden gegen jeden ist
Sortiertischen - wo die weißen Herren vorbei: Wer Geld hat, schließt sich jetzt
wie Rhodes das Durchkämmen der Rhodes aber weiß, wem er bei Geschäf­ mit anderen Kapitalstärken zu mächtigen
Beute nach Schätzen überwachen. ten trauen kann: Im Nachbar-Claim Gesellschaften zusammen.
Die Diamantensucher sind ein der­ trifft er den 28-jährigen Charles Donnell Auch Rhodes strebt nun zur Größe.
bes Volk. Es sind Abenteurer aus Lon­ Rudd, der ihm von ähnlichem Schlag zu 1880 gründet er mit Rudd und anderen
don und Dublin; Veteranen der Gold­ sein scheint. Sie beschließen, gemeinsam Diamantensuchern rund um eine Mine
räusche von Kalifornien und Australien; auf die Jagd nach Reichtum zu gehen. die De Beers Mining Company mit ei­
Quacksalber und Hochstapler, ausgemus­ Rudd ist es auch, der die Idee hat, nem Stammkapital von 200 000 Pfund
terte Offiziere und Deserteure. den Ertrag an Diamanten durch das Tro­ — und übernimmt Direktorenposten bei
Zwischen diesen Männern ist der ckenlegen jener Minen zu verbessern, vier weiteren Gesellschaften. Aus einem
junge Rhodes ein Fremdkörper; ein die manchmal nach langen Dürreperio­ Crash, der die 1881 gegründete Börse von
einsamer Sonderling mit schlurfen­ den von plötzlichen Regenfluten über­ Kimberley noch im selben Jahr heim­
dem Gang und schriller Stimme. Als sein schwemmt werden. Die beiden Partner sucht und viele Konkurrenten in den
Bruder die Diamantenfelder verlässt, um kaufen einem Farmer eine Pumpe ab - Ruin treibt, geht er gestärkt hervor. 1887
anderswo neue Abenteuer zu suchen, und erwirtschaften so aus den Notlagen gehören De Beers alle Claims der Mine.

126 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Umgehend macht sich Rhodes dar­ ein Leben auf der Jagd nach Geld schon der wenigen. Es ist ein Ideal, das sich,
an, eine weitere Mine seinem Imperium wert: so ganz „ohne Sinn und Ziel“? wie der zeitgenössische Schriftsteller
einzuverleiben, deren Mehrheit ein ehe­ Rhodes sehnt sich nach einem Auf­ Gilbert K. Chesterton anmerkt, nicht
maliger Music-Hall-Entertainer kon­ trag. Er findet ihn in den imperialisti­ von dem „irgendeines Cockney-Ange­
trolliert. In einem verbissenen Bieter­ schen Träumen seiner Zeit — die er zur stellten in Streatham“ unterscheidet: der
wettstreit um die Aktienmehrheit, der wahnhaften Utopie überhöht. Sein Ziel „Bodensatz eines Darwinismus, der nicht
Rhodes die sagenhafte Summe von fünf ist jetzt die Herrschaft der britischen nur abgestanden, sondern schon giftig
SP Millionen Pfund kostet, trägt er schließ­
lich den Sieg davon.
„Rasse“ über „die gesamte unzivilisierte
Welt“. Seine Aufgabe: das Heil britischer
geworden“ sei.
1859 hat der Biologe Charles Dar­
Cecil hat ein sicheres Gespür dafür, Lebensart auch in jene Gegenden zu tra­ win mit seinem Buch „Über die Entste­
wer ihm nutzen kann, entwickelt ein gen, die „derzeit von den abscheulichsten hung der Arten“ die Evolutionstheorie
Geschick, sich Politiker zu verpflichten, Menschentypen bewohnt“ seien. durchgesetzt. Jetzt dient seine Lehre vom
Kirchenmänner und Bürokraten - wenn Vor allem ein Kontinent biete sich survival of thefittest dazu, die Herrscher­
es sein muss, mit Geld. Jeder Mann“, das einer solchen Veredelung an: „Afrika fantasien eines ganzen Volkes zu muni-
ist sein Glaubenssatz, „hat seinen Preis.“ liegt immer noch für uns bereit“, stellt er tionieren: Wer in der Lage ist, sein Terri­
Und je mehr Menschen er kauft, desto fest, „es ist unsere Pflicht, es zu nehmen.“ torium derart erfolgreich auszudehnen,
mehr neue fallen ihm zu. Ein geradezu religiöser Fanatismus wie es die Briten tun, beweist der nicht
Doch liegt es am heroischen Zeit­ beseelt den Agnostiker Rhodes jetzt, und überlegene fitness?
geist der Viktorianer, der stets nach es ist nur folgerichtig, dass er sein Credo
hochherzigen Taten verlangt, dass ihm in einem „Glaubensbekenntnis“ festhält
das Streben nach Reichtum bald nicht (das er bei einem Anwalt in Kimberley Schon der Blick auf die Weltkarte, die
mehr genügt? „Ich kann mir nicht hel­ hinterlegt) und eine Gemeinde gründen sich von Jahr zu Jahr satter mit dem
fen“, schreibt er 1875 seinem zweiten will: eine „Kirche für die Vergrößerung imperialen Rot einfärbt, muss den Insu­
Bruder Frank, „ich habe das Gefühl, ich des Britischen Empires“ - ja für die lanern das Gefühl der Auserwähltheit
bin für bessere Dinge gemacht.“ Was sei „Ausdehnung britischer Herrschaft über eintlößen. Und schon Darwin selbst hat
die ganze Welt“. ja auf seiner fünf Jahre währenden Welt­

Cecil Rhodes
Ein Geheimbund schwebt ihm vor, umsegelung beim Anblick kolonialer
eine „Gesellschaft der Auserwählten“ Ordnung stets „großen Stolz und erheb­
Arbeiter in einer Mine von nach dem Vorbild des Jesuitenordens (in liche Befriedigung“ empfunden: „Die
Kimberley. um 1900. Wie viele dessen Statuten man, so Rhodes, nur den britische Fahne zu hissen scheint als
seiner Landsmänner sieht Begriff „römisch-katholische Religion“ sichere Folge Reichtum, Wohlstand und
sich Cecil Rhodes als Erzieher durch „Empire“ ersetzen müsse). Zivilisation nach sich zu ziehen.“
der Schwarzen, denen man So elitär das Projekt daherkommt — In diesen Jahren zwischen 1875 und
die »Künste der Zivilisation« sein Ziel ist alles andere als eine Fantasie 1900, in denen ein Expansionsschub das
durch harte Arbeit nahe­ Empire aufbläht und ihm 90 Millionen
bringen müsse neue Untertanen von Uganda bis Birma
hinzuerobert, hält das Pathos der gewalt­
samen Erlösung der Welt triumphalen
Einzug in den britischen Alltag.
Romanautoren verwandeln die
Feldzüge in aufbauende Spannungslek­
türe. Schlager besingen blutige Schlach­
ten im Sudan. Paraden nach dem Muster
römischer Triumphzüge ziehen durch
London, in denen Vertreter der unter­
worfenen Völker als Beispiele gezähm­
ter Barbarei marschieren. Kolonialaus­
stellungen führen Zulukrieger vor unter
dem Motto „Greater Britain“. Und ein
Seifenhersteller preist seine Rezeptur als
„Formel der britischen Eroberung“ an:
„zum Aufhellen der dunklen Ecken der
Erde beim Vormarsch der Zivilisation“.
Rhodes geht daran, seine eigenen
Lichter zu setzen. Er ist ein ungelenker
Redner, doch ein erfolgreicher Unterneh-

GEO EPOCHE Das Britische Empire 127


Das Streben nach Reichtum
genügt Rhodes (2. Reihe,
3. v. I.) nicht. »Ich habe das Er begreift sich ja selbst als Erzie­ zugleich verleugnete“, wird etwa der
Gefühl, ich bin für bessere her der Schwarzen: als strengen, aber Rhodes-Biograf Robert Rotberg vermu­
Dinge gemacht«, schreibt er gerechten „Vater der Eingeborenen“, in ten: „Zweifellos suchte Rhodes jenen
1875. Sechs Jahre später denen er „Kinder“ sieht. Denen will er, Vater und dessen Macht zu besitzen, um
wird er in das Parlament der im Einklang mit den imperialen Ideolo­ sie selbst auszuüben.“
Kapkolonie gewählt gen seiner Zeit, die „Würde der Arbeit“
einbläuen — eine Lieblingsidee der
viktorianischen Ara, die der deutsche Es ist eine verzweifelte Beschwörung
Historiker Peter Wende später „Erzie­ männlicher Potenz - in der sich bei
mer, und so haben ihn die Siedler 1881 hungskolonialismus“ nennen wird. näherer Betrachtung die Neurose einer
ins Parlament der Kapkolonie gewählt. Es gibt Geschichtswissenschaft­ ganzen Gesellschaft spiegelt: Denn auch
Umgehend peitscht er einen Geset­ ler, die den pädagogischen Wahn von die Eroberung der Kolonien stellt die
zesvorschlag der Minenbesitzer durch, Rhodes auf dessen Familienkonstellation Empire-Propaganda ja gern als natur­
der die Kasernierung der schwarzen zurückführen: auf die ödipale Rivalität gewollte Unterwerfung der „weiblichen“
Arbeiter in eingezäunte Barackenlager mit dem strengen Vater. Der habe ihm, Eingeborenen durch die „männliche“
vor den Städten erzwingt. Das soll sie erinnert sich Cecil, mit seiner unbarm­ weiße Rasse dar.
angeblich zum einen an der Hehlerei mit herzigen Kritik „viele Träume zerstört“. Und so ist das imperialistische Stre­
gestohlenen Steinen hindern, zum ande­ So sei im Sohn der „Groll“ gewachsen ben, wie der Kulturgeschichtler Dietrich
ren die Desertion zur besser zahlenden „gegen einen Vater, der ihn übertraf und Schwanitz vermutet, nicht zuletzt „ein
Konkurrenz unterbinden.
Stolz ist Rhodes auch auf ein Ge­
setz, das Schwarze in Arbeitsreservate
abseits der weißen Gesellschaft zusam­ Ab 1890 besetzt eine von Rhodes
menzieht, wo sie auf Vier-Morgen- Firmen die Stammesgebiete der
Landparzellen mittels harter Fron „die Ndebele und Shona im heutigen
Künste der Zivilisation lernen“ sollen. Simbabwe. Der Unternehmer
Und als die Abgeordneten über den hegt einen noch größeren Plan:
„Masters and Servants Act“ abstimmen, eine Bahnlinie, die die Kapkolonie
der die Züchtigung von schwarzen Un­ mit dem Mittelmeer verbinden
tergebenen erlauben soll, schlägt er sich soll - ausschließlich auf britischem
entschieden auf die Seite der Peitsche. Gebiet (Kapstadt um 1900)

128 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Symptom der Effeminierungspanik und Persönliches, fühlt er sich unbehaglich. „Ich will gehen und den Norden
der Angst vor Virilitätsverlust“. Männer, die eine Ehe eingehen, straft er nehmen“, hat er 1884 angekündigt. Jetzt
Auch Rhodes teilt den Kult des mit Zorn oder Verachtung: „Ich hasse es, setzt er seine Absicht in die Tat um.
ganzen Kerls, ekelt sich, wie einer seiner wenn Leute heiraten“, schreibt er.
Sekretäre berichtet, vor vermeintlich Sein Personal rekrutiert er aus­
weiblichen Eigenschaften wie „Unent­ schließlich aus jungen, vorzugsweise
schiedenheit, Schwäche und Weichheit“. blauäugigen Männern, „netten engli­
Schmuck bei Männern ist ihm so zuwi­ schen Knaben“, wie er sie nennt. Weib­
der, dass er keine Armbanduhr trägt. liche Bedienstete kommen ihm nicht
Dafür nimmt er im Kimberley Club, ins Haus.
dem Treff der Diamantengräber-Elite, 1881 engagiert er einen Sekretär
schon morgens Cocktails aus Champa- namens Neville Ernest Pickering, einen

Bereits 1885 hat die britische Kolonial­


macht das Tor zum Herzen des Konti­
nents aufgestoßen: Sie annektierte (nicht
ohne Rhodes’ lobbyistisches Drängen)
Betschuanaland, ein riesiges Wüsten­
gebiet zwischen Deutsch-Südwestafrika
und der Burenrepublik Transvaal, machte
den südlichen Teil zur Kronkolonie
namens Britisch-Betschuanaland und
erklärte den Nordteil zum Protektorat. O
Gleich hinter der Nordgrenze der rr>

eil Rhode
neuen Bastion liegt das Reich der Nde-
bele, in dem reiche Goldadern vermu­
tet werden. Zudem ist es aber auch das Vi
Nadelöhr für jede weitere Expansion:
Denn der dortige König Lobengula gilt
Rhodes als „das einzige Hindernis auf
dem Weg nach Zentralafrika“, wie er
seinem Londoner Finanzier Rothschild
Von Dienern in einer meldet. „Sobald wir sein Territorium
Rikscha gezogen, reist haben, ist der Rest einfach.“
eine englische Gräfin schlichten, doch hübschen Sonnyboy mit Doch schon haben andere Europäer
durch Rhodesien - jenes juvenilem Charme. Die Frohnatur wächst begonnen, um Lobengulas Reich herum
Land, das Cecil Rhodes dem schroffen Unternehmer umgehend ihre Claims abzustecken - und Ansprü­
im Alleingang für derart ans Herz, dass die beiden schon che auf das Land der Ndebele zu erhe­
das Empire unter­ zur Jahreswende eine gemeinsame Woh­ ben. Im Westen sind es die Deutschen
worfen hat nung beziehen — und der Chef seine (die im späteren Namibia ein „Schutz­
rechte Hand kurz darauf als Universal­ gebiet“ eingerichtet haben), im Osten die
erben einsetzt. Portugiesen, die ihre dortige Kolonie
Doch der Favorit kommt nie in den erweitern wollen. Im Norden stehen die
gner und Bier zu sich, die „Schwarzer Genuss dieser Wohltat: 1886 stirbt er an Belgier, deren König sich Anfang 1885
Samt“ heißen. den Folgen eines schweren Reitunfalls. die Herrschaft über den Kongo gesichert
„Das“, erklärt er seinen Zechkum­ Rhodes scheint nach diesem Ver­ hat. Und im Süden schicken die Führer
panen, „macht einen Mann aus dir.“ lust, wie manche Biografen mutmaßen der Burenrepublik Transvaal Unterhänd­
Für Frauen hat er keinen Blick und werden, nicht mehr der Gleiche zu sein. ler ins Land der Ndebele, um - wie
keinen Sinn. Findet er sich mit einer Fortan wird er sich seiner Empfindungs­ Gerüchte besagen - in der Folge dort ein
Vertreterin des weiblichen Geschlechts losigkeit rühmen, wird stolz sein auf Protektorat einzurichten.
allein in einem Raum, packt ihn die Pa­ seine Brutalität: mit der er sich jetzt Weil die britische Krone die euro­
nik. Wenn von körperlicher Liebe die anschickt, den Kontinent seinem väter­ päischen Mächte nicht provozieren will
Rede ist, wird er rot; streift das Gespräch lichen Willen zu unterwerfen. und daher zögert, beschließt Rhodes,

GEO EPOCHE Das Britische Empire 129


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Als sich die Ndebele
1893 gegen die Beset­
zung durch die Briten
wehren, schickt Rhodes «hg|Tjpß*.''-*'
Söldner, die bewaffnet
sind wie diese regulären
Soldaten: mit vollauto­
matischen Maschinen­
gewehren, gegen die die
schwarzen Kämpfer
machtlos sind

auf eigene Faust zu handeln. Von seiner mit misstrauischer Würde - und lässt sie Unterhändler aus Kimberley einlegt, ist
Regierung verlangt er nur eine royal char­ zunächst einmal warten. der König so beeindruckt, dass er Rudd
ter, eine Handlungsvollmacht, die seine Bisweilen scheint er sie während die begehrte Konzession gewährt.
expansiven Pläne decken soll. Mit einer der Verhandlungen sogar ganz zu verges­ Ob dem Herrscher bewusst ist, was
solchen Vollmacht haben britische Un­ sen, unterbricht ihre Darlegungen mitten er da unterschreibt, ist zweifelhaft. Für
ternehmen bereits Nigeria und Ostafrika im Satz, um sich irgendeinem Anliegen die „exklusive Kontrolle über sämtliche
erschlossen. seiner Untertanen zu widmen. Oder er Metalle und Mineralien“, die er den
Das Problem: Für eine derartige steht auf, um sich in seinen gedeckten Weißen einräumt, erhält er 100 Pfund
Anerkennung braucht er eine Konzession Planwagen zur Siesta zurückzuziehen. monatlich, 1000 Martini-Henry-Geweh-
- etwa zum Abbau von Mineralien Schnell stellen Rudd und seine re und 100000 Schuss Munition - sowie
die sein Geschäft auf eine solide Grund­ Männer zudem fest, dass sie nicht die die vage Aussicht auf ein Dampfschiff
lage stellt. So schickt er seinen bewähr­ einzigen Weißen sind, die den König (das freilich nie geliefert wird).
ten Kompagnon Charles Rudd mit einer umschmeicheln: Rund 30 Unterhändler Doch von Rudds mündlicher Zu­
Handvoll Männer zum König Loben- anderer Unternehmen buhlen ebenfalls sage, höchstens zehn Mann zur Suche
gula, um ihm eine Genehmigung für am Hof um eine Konzession. nach Bodenschätzen ins Land zu schi­
den Goldabbau in seinem Land abzu­ Es sind ungewohnt ungemütliche cken, ist im Vertrag nicht mehr die Rede.
handeln. Verhandlungen für Rudd. Auch die Es sind seine Konkurrenten, die dem
grimmige Haltung mancher Krieger, die König nach der Signatur die Augen über
die Besucher am liebsten vertreiben wür­ den Vertrag öffnen: dass nämlich die im
Nach sechs Wochen Reise erreicht den, wird von Tag zu Tag bedrohlicher. Vertrag erwähnte „Kontrolle“ nicht nur
Rudds Trupp die Ndebele-Hauptstadt Erst als Sir Sidney Shippard, ein das Bohren von ein paar Löchern in sei­
Bulawayo, im Gepäck 5000 Pfund Bar­ alter Bekannter von Rhodes aus Pionier­ nem Boden bedeutet - sondern den Griff
geld, 100 Goldmünzen als Gastgeschenk tagen und mittlerweile zum Verwalter für nach seinem ganzen Land.
sowie ein Empfehlungsschreiben des Britisch-Betschuanaland aufgestiegen, in Lobengula fühlt sich getäuscht. Er
britischen Hochkommissars für Süd­ Gala-Uniform - Gehrock, glänzende schickt zwei seiner Getreuen nach Lon­
afrika. Der König, eine stattliche Gestalt Lederstiefel und weißer Tropenhelm — don. Sie sollen bei der Queen persönlich
mit mächtigem Bauch und einer Schwä­ und Polizeibegleitung an Lobengulas Näheres über die Legitimation seiner
che für Champagner, begrüßt die Gäste Hof erscheint und ein gutes Wort für die Vertragspartner in Erfahrung bringen.

134 GEO EPOCHE Das Britische Empire


WETTLAUF UM SÜDAFRIKA

Kongo-Freistaat Deutsch-
(belgisch)
Ostafrika
Bemba
Angola
(portugiesisch)

Kaonde

Shona

Ndebele
Deutsch Bulawayo
Südwest­
afrika Betschuanaland
Walvis Bay J
Und tatsächlich: Königin Viktoria ge­ Protektorat
währt den Abgesandten eine Audienz - Transvaal
und schickt zudem einen vierköpfigen Swasiland
(burisches Protektorat)
Trupp der Royal Horse Guards mit
Tongaland
scharlachroten Uniformen, glänzenden
Zululand
Stiefeln, Harnischen und Helmen aus
Durban
blitzendem Messing sowie einem per­
Kapkolonie
sönlichen Brief nach Bulawayo. Kaffraria
Das Schreiben soll Lobengula ei­ 400 km
gentlich beschwichtigen, spricht aber nur Kapstadt
GEOEPOCHf-Karte
eine kühle Wahrheit aus: Wo es Gold Stammesqebiete unter
brit. Kolonien 1870 [ □ brit. Gebietsgewinne bis 1891 Q
gebe, sei es nun einmal unmöglich, den
Burenstaaten unabhängiges Gebiet I I ab 1895 Rhodesien
weißen Mann fernzuhalten. Die Köni­
gin gebe dem Herrscher daher den Rat,
die Sache einer „anerkannten Körper­ In den 1880er Jahren beschleunigt sich die Aufteilung des afrikanischen

Cecil Rhodes
schaft“, bestehend aus „einigen der Kontinents durch die Europäer - auch im Süden. Vor allem die Briten dehnen
höchsten und vertrautesten Untertanen“, ihren Machtbereich immer weiter aus. Sie annektieren mehrere Regionen
anzuvertrauen - nämlich Rudd und sei­ an der Küste und bringen das Betschuanaland unter ihre Kontrolle. Um 1890
nen Partnern. greift Cecil Rhodes schließlich nach den Stammesgebieten nördlich des
Für einen Moment ist Lobengula britischen Kolonialbesitzes, dem späteren »Rhodesien«
geblendet von dieser Demonstration bri­
tischer Macht und genehmigt den Bau
einer Straße in den Norden; willigt sogar
ein, dafür Arbeitskräfte zur Verfügung
zu stellen. Doch als die Gesandten abge­
zogen sind, reut ihn seine Konzilianz:
Vergebens schickt er nach Rhodes, um Mit einer Firmenbeteiligung in hält. Auch der Kolonialsekretär Lord
den Vertrag neu zu verhandeln. Höhe von 20000 Pfund hat er sich einen Knutsford hat sich von der finanziellen
Der aber hat inzwischen in London Redakteur der einflussreichen „Pall Mall Seite des Unternehmens überzeugen las­
eitrig Werbung für sein Projekt betrie­ Gazette“ geneigt gemacht, mit einer sen: Eine Vollmacht für den Diamanten­
ben. Mit dem schlagkräftigsten Argu­ Spende von 5000 Pfund die irische Na­ könig, setzt er dem Premierminister Lord
ment, das ihm zu Gebote steht: Geld. tionalist Party, die 85 Sitze im Unterhaus Salisbury bei der Weiterleitung von
Rhodes’ Petition auseinander, böte dem
Empire die Gelegenheit, sich „auf die bil­
lige Art“ auszudehnen - ohne „diplomati­
Gefangene aus Mashonaland, sche Verwicklungen und hohe Ausgaben“.
einem der von Rhodes unterjochten Und so unterzeichnet die Queen
Territorien, um 1895. Jeden Wider­ am 29. Oktober 1889 die Royal Charter
stand der Einheimischen lässt für die British South Africa Company
der Imperialist von seinen Truppen (die bald nur noch Chartered Company
brutal niederschlagen genannt wird).
Die Vollmacht erlaubt es der Firma,
ihr Aktionsfeld unbegrenzt jenseits von
Betschuanaland, Transvaal und Portugie-
sisch-Ostafrika auszudehnen. Sie auto-

135
risiert den Bau von Straßen, Eisenbah­ Rhodes verliert keine Zeit. Schon geschützen, Maschinengewehren und
nen und Häfen, den Betrieb von Banken nimmt er sich den nächsten Meilenstein einem mächtigen, mit einem Generator
und Wasserwerken, die Einsetzung von seiner Expansion vor: das ebenfalls gold­ betriebenen Scheinwerfer, der die Ein­
Verwaltung und Polizei. Kurz: die Er­ verdächtige Land der Shona, das nörd­ heimischen in Angst und Schrecken ver­
richtung eines Privatstaates — der auch lich von Lobengulas Reich liegt — und setzen soll. Im Tross marschiert eine fast
noch nach Belieben wachsen darf. das der König als seinen Vasallenstaat 1000-köpfige schwarze Arbeitskolonne
Dieser Freibrief geht weit über die betrachtet. Rhodes schickt einen Trupp von Köchen, Scouts und Handwerkern.
Schürf- und Straßenbaurechte hinaus, Bergleute nordwärts und verspricht Mit Äxten hauen die Männer sich
die Rudd von König Lobengula erfeilscht ihnen neben Sold Farmland und Claims den Weg durch dichten Busch, manö­
hat. Und in dem kaum von Regeln be­ auf das Gold, das er dort vermutet. vrieren die gut 80 Planwagen durch san­
engten „Scramble for Africa“, dem Ge­ dige Flussbetten, senden Aufklärungs­
rangel um Afrika, von dem die Zeitun­ trupps aus, die das Gehölz nach Feinden
gen schreiben, hat das Empire einen durchkämmen. Die Ndebele verfolgen
Griff angesetzt, dem keine der konkur­ zwar die Kolonne mit ihren Spähern.
rierenden Mächte etwas entgegenzuset­ Einen Angriff aber wagen sie nicht.
zen hat - und das, ohne sich die Finger Nach gut zwei Monaten lichtet sich
schmutzig zu machen. vor den Pionieren der Busch: Vor ihnen
weiten sich die endlosen Granitebenen
jenes Landes, das ihnen versprochen ist.
Am Morgen des 13. September paradie­
Als Premierminister ren die Männer in voller Uniform am
der Kapkolonie arbeitet Fuß eines Berges, hissen den Union Jack,
Rhodes auf eine britisch schicken Gebete, 21 Salutschüsse und
geführte Union aller Am 27. Juni 1890 setzt sich der Pio­ drei Hochrufe auf die Queen in die Luft.
südafrikanischen Staaten niertreck von 186 Freiwilligen in Marsch, Mit dieser Zeremonie im Nirgend­
hin, die später tatsäch­ angetan mit Uniformen und Schlapp­ wo nehmen sie kurzerhand ein ganzes
lich Realität wird: hier hüten. Eine Söldnereinheit von 500 Mann Land in Besitz, ein Territorium von mehr
der Bürgermeister von begleitet den Treck, bewaffnet mit Feld­ als 100 000 Quadratkilometer Größe.
Kapstadt während einer
Parlamentseröffnung

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Ul! ' ]
gewehrs demonstriert. Am 4. November
1893 fällt Bulawayo. Der König flieht mit
seinen letzten Getreuen in einem Och­
senkarren nordwärts und vergiftet sich
bald darauf am Ufer des Sambesi.
Der „nackte alte Wilde“, wie Rhodes
ihn nennt, ist besiegt. Die Aktien der
Chartered Company steigen auf neue
Höhen. Und im Mai 1895 benennt die
Gesellschaft das vereinigte Territorium
der Ndebele und der Shona, fast 400 000
Quadratkilometer groß, nach ihrem
Chef: Rhodesien.
Es ist das Land, das die Company
besetzt hat und das Rhodes nun kurzer­
hand - gestützt auf die Royal Charter
und den Vertrag mit König Lobengula
- zu seiner Privatkolonie erklärt.
Rhodes steht nun auf dem Gipfel
seines Erfolgs: Er gebietet über ein Ver­
Der Glaube an mögen von rund einer Million Pfünd, hat
die Überlegenheit ihrer ein Diamantenimperium aufgebaut, das
Rasse eint die Europäer seine Vasallen vom Volk der Shona, die 90 Prozent des Weltmarkts beherrscht.
in Afrika: Begegnung dort leben, nach Belieben zu kujonieren, Zudem haben seine Leute jenseits
zwischen Briten und deren Vieh zu beschlagnahmen und de­ des Sambesi weitere Gebiete für die
Einheimischen während ren Männer zu töten oder zu verschlep­ Company ergaunert und so das okku­

Cecil Rhodes
einer Gartenparty in pen - auch jene, die den britischen Sied­ pierte Territorium auf eine Fläche an-
Kapstadt lern als billige Arbeitskräfte dienen. wachsen lassen, die größer ist als Frank­
Und nach wie vor sind seine Krieger reich und Großbritannien zusammen.
eine Gefahr für die britischen Transporte Inzwischen ist er sogar zum Premiermi­
von Material und Lebensmitteln, die nister der Kapkolonie gewählt worden.
Zwar ist die Beute weniger lukrativ durch sein Land ziehen müssen. Jetzt triumphiert er: „Gibt es sonst
als erwartet: Nach einem Besuch in den Eine blutige Strafaktion Loben- jemanden, nach dessen Namen ein Land
Schürfgebieten in Begleitung eines Berg­ gulas gegen einen Shona-Clan liefert benannt worden ist?“
bau-Experten muss ein britischer Poli­ Rhodes einen Vorwand, den Herrscher Doch sein Hunger nach Größe,
tiker ernüchtert feststellen, dass dort auszuschalten: Im Oktober 1893 rückt nach Lebensraum für die „edelste Rasse
„weder Arkadien noch Eldorado“ hege. eine Söldnertruppe der Company auf der Welt“ ist noch längst nicht gestillt.
Doch für Rhodes ist das Land ohnehin Lobengulas Hauptstadt Bulawayo vor. „Ich würde die Planeten annektieren,
nur ein Sprungbrett zur weiteren Expan­ wenn ich könnte“, fantasiert er.
sion in den Norden - zur gnadenlosen Und in seinem Übermut versteigt
Ausbreitung der britischen Zivilisation. Das ist der Krieg, der den tapferen Nde- sich Rhodes sogar dazu, das letzte Ge­
Seinen Pionieren, die in Lehmhüt­ bele-Soldaten zum ersten Mal die infer­ fecht mit einer anderen selbst ernannten
ten, Zelten und Wellblechkaten um ihr nalische Kraft des Maxim-Maschinen­ Herrenrasse zu suchen: den Buren.
Überleben kämpfen, ist diese Haltung
nicht leicht zu vermitteln. Als er ihnen
bei einem Besuch seine Vision vorträgt,
erinnert ihn ein Goldgräber an den Wie viele Imperialisten
Grund ihres Aufbruchs: „Mr. Rhodes“, pflegt Rhodes einen herben
wirft er ein, „wir sind nicht für die Nach­ Männlichkeitskult: Die briti­
welt hierhergekommen.“ schen Kolonialherren treffen sich
Außerdem ist die Herrschaft der in Clubs, zechen, messen sich
Chartered Company in den besetzten beim Sport (Cricketmannschaft
Gebieten noch längst nicht gesichert. in Pietermaritzburg. 1906)
Denn trotz der vertraglich garantierten
Präsenz von Rhodes’ Männern nimmt
sich König Lobengula das Recht heraus,

GEO EPOCHE Das Britische Empire


Seit 1886 entsteht in
der Burenrepublik Transvaal
das größte Goldabbau­
gebiet der Welt; auch Rhodes
investiert in das Geschäft.
Um die Kontrolle über das
Revier streiten sich Briten
und Buren jahrelang. 1899
kommt es zum Krieg (briti­
sche Infanteristen an der
Front, um 1900)

Auch die betrachten sich ja als aus­


erwähltes Volk, vom alttestamentarisch
anmutenden Gott ihres calvinistischen
Glaubens mit einer Mission für die ko­
lonisierten Gebiete betraut. Fast unge­
brochen haben sie das Weltbild ihrer
im 17. Jahrhundert eingewanderten
Vorväter im Bernstein ihrer Isolation
konserviert - nahezu unberührt von den
Ideen der europäischen Aufklärung.
Der Präsident ihrer Republik Trans­
vaal, der 70 Jahre alte Paul Krüger, ist in
vielen Dingen sogar ein Mann des Mit­
telalters: Seine Bildung hat er fast kom­
plett aus der Bibel bezogen und glaubt
fest daran, dass die Erde eine Scheibe ist.
Und er gehört der ultrakonservativen ten Adern im Jahr 1886 das Land über­ Und während die Buren sich vor
„Reformierten Kirche in Südafrika“ an, fluten: Mittlerweile steht den 6000 Bu­ der heimlichen Übernahme ihrer Repu­
die nicht nur Frivolitäten wie das Tanzen ren in Johannesburg eine Mehrheit von blik durch goldhungrige Engländer
verdammt, sondern auch Orgelmusik 15000 Briten gegenüber. fürchten, bangen die britischen Politi­
und Choräle im Gottesdienst. ker der Kapkolonie um ihre Vormacht­
So streng ist Krügers Sinn für weib­ stellung in Südafrika: Das Gold hat die
liche Zucht, dass er darauf besteht, die Republik Transvaal zu einem mächtigen
allegorische Frauenfigur auf dem Regie­ Rivalen gemacht.
rungsgebäude seiner Hauptstadt Preto­ Zu allem Überfluss nähert sich Prä­
ria mit einem Helm zu versehen: Eine sident Krüger nun auch noch den Deut­
Dame könne nicht „ohne etwas auf dem schen an, Großbritanniens schärfsten
Kopf* in der Öffentlichkeit auftreten. Konkurrenten um die koloniale Beute im
Doch ausgerechnet in der Nach­ Süden Afrikas.
barschaft dieses frommen Jerusalem, in Auch dem Eroberer Rhodes, dem
kaum 50 Kilometer Entfernung, hat sich eine Union südafrikanischer Staaten un­
ein Sodom ausgebreitet. ter britischer Führung vorschwebt, miss­
Dort liegt das einstige Goldgräber­ fällt die Unabhängigkeit des Burenstaats
lager Johannesburg, das inzwischen zu Zudem hat sich in Transvaal eine briti­ (zumal er 1892 ebenfalls ins Goldgeschäft
einer Stadt herangewachsen ist: zu einer sche Elite aus Mineneignern und Mana­ der Johannesburger Minen eingestiegen
duivelstad mit Bars und Spielhöllen, mit gern etabliert, die jedoch auf die Politik ist). Und er fasst, zweifellos mit Wissen
97 Bordellen und Scharen von alleinste­ des Burenstaats keinen Einfluss hat. Die der britischen Kolonialbehörde in Lon­
henden Männern, die keine Gelegenheit Briten sind uitlanders, Einwohner ohne don, den Vorsatz, das Problem wie ge­
zur Sünde verstreichen lassen. Bürgerrechte, die zwar Steuern zahlen, wohnt auf eigene Faust zu beseitigen.
Es ist das Gold, das diese Stadt aber nicht wählen dürfen: ein unbe­ Sein Plan: Zunächst will er die Un­
geschaffen hat - sowie der Zustrom der quemer Status, der immer wieder den zufriedenheit der Briten im Transvaal
Briten, die seit der Entdeckung der ers­ Unmut der Zuwanderer erregt. schüren und einen Aufstand forcieren,

138 GEO EPOCHE Das Britische Empire


der seiner Ansicht nach ohnehin unmit­ Zwar überschreiten zunächst die
telbar bevorsteht. Wenn dann die Buren Buren die Grenze zur Kapkolonie.
mit Gewalt reagieren, soll ein bewaffne­ Doch die Briten schlagen sie unter
ter Stoßtrupp aus 1500 Mann von der hohen Verlusten zurück und besetzen
Kapkolonie gen Johannesburg marschie­ schließlich Transvaals Hauptstadt
ren, um den bedrohten Brüdern und Pretoria. Aber der Krieg ist damit
Schwestern zu Hilfe zu eilen. noch lange nicht gewonnen
Sein erster Schritt besteht darin, (gefallene Soldaten, um 1900)
die Briten in der Burenrepublik mit Waf­
fen zu versorgen. Unter dem Vorwand,
seine Firmenpolizei auszurüsten, lässt er
Munition und Gewehre in ein Depot der macht ist der Arzt Leander Jameson, Schließlich erkennt auch Rhodes,
Chartered Company liefern. Minen­ einer enger Mitarbeiter von Rhodes, der dass sich ein Staatsstreich zurzeit nicht
arbeiter in Kimberley füllen die Ware die Eroberung Bulawayos befehligt hat. organisieren lässt. Er willigt ein, den
in Ölfässer und Kokssäcke um. Schließ­ Coup zu verschieben - doch eine Kette
lich schmuggeln seine Spediteure die von Kommunikationspannen verhindert,
Konterbande nach Johannesburg, wo sie Jameson agitiert fortan die Uitlanders in dass Jameson rechtzeitig von der geän­
in den Goldminen versteckt wird. Johannesburg, um einen Aufstand vor­ derten Planung erfährt.
Mit Genehmigung der Kolonialbe­ zubereiten. Zur Sicherheit lässt er sich Und so marschiert der Arzt am
hörde stellt Rhodes seine Truppen an der einen undatierten Brief aufsetzen, der Abend des 29. Dezember mit 800 Mann
Grenze zwischen Britisch-Betschuana- ihn im Namen der Transvaal-Briten um in Transvaal ein. Es wird ein kurzer, ein
land und Transvaal auf - offiziell zum die Rettung von „Tausenden unbewaff­ erbärmlicher Feldzug.
Schutz der Bauarbeiten für eine Eisen­ neten Männern, Frauen und Kindern Nach drei Tagen, kaum 50 Kilo­
bahnstrecke, die freilich noch nicht ein­ unserer Rasse“ anfleht. meter vor Johannesburg, erhält Jameson
mal in Planung ist. Anführer der Streit- Tatsächlich aber verläuft die Mobi­ eine Nachricht vom britischen Amts­
lisierung der Unzufriedenen zäher als träger in Pretoria, dass die Krone sein

Cecil Rhodes
erwartet. Es gibt viele Uitlanders, die Verhalten entschieden missbillige. Und
lieber unter einer gemäßigten Buren­ dann gerät sein Trupp an jenem Tag auch
Kommandostand der regierung leben würden als unter der noch in einen Hinterhalt der Buren.
Buren in der britischen britischen Flagge. Auch das Colonial Die Kämpfe dauern 17 Stunden, bis
Kolonie Natal an der Ost­ Office in London neigt allmählich eher neun Uhr am nächsten Morgen - dann
küste Südafrikas. Schon dazu, einen Vermittler nach Johannes­ hissen die Briten die weiße Flagge und
bald beginnen die zahlen­ burg zu schicken, als ein militärisches werden nach Pretoria ins Gefängnis
mäßig unterlegenen Abenteuer zu unterstützen. geführt, auf den Lippen das Lied „After
burischen Kämpfer einen the ball is over“.
Guerillakrieg Auch Rhodes kommt es vor, als sei
sein Fest vorbei: Der klägliche Ausgang
seiner Verschwörung bricht ihm das
Herz. Er reicht seinen Rücktritt als Pre­
mierminister der Kapkolonie ein, schließt
sich in seinem Schlafzimmer ein, verlässt
sechs Tage lang kaum noch das Haus.
Und bald muss er erfahren, dass auch die
britische Regierung ihn fallen lässt.
Zwar sind die Konsequenzen seines
Privatfeldzugs glimpflich: Ein Unter­
suchungsausschuss in London - kaum
interessiert an einer Aufklärung, die auch
die beteiligten Offiziellen des Empire
kompromittieren könnte - spricht ihn
von der Verantwortung für den geschei­
terten Putsch frei.
Doch sein Nimbus ist angeschlagen.
Zwar gelingt es ihm 1896, einen Auf­
stand der Ndebele mit vagen Verspre­
chungen zu befrieden und seinen Ruf

GEO EPOCHE Das Britische Empire 139


wenigstens teilweise zu reparieren. Doch Zeiten wächst der Bauch des einst hage­ die Angst der Buren, so zur Minderheit
die Niederlage im Transvaal hat er nicht ren Mannes ins Monströse. Immer wie­ im eigenen Land zu werden und ihre
überwunden: Er fühlt sich „wie ein der pilgert er nun zu jenem Gipfel in den Autonomie zu verlieren.
Mann unter einem Todesurteil“. Matopo-Hügeln, den er für seine letzte Immer aggressiver werden Londons
Er wird zum Alkoholiker, leert zu­ Ruhe ausgewählt hat. Drohgebärden, gipfeln schließlich in der
weilen zwei Flaschen Champagner nach­ Stationierung von 10000 zusätzlichen
einander, spült einen Becher Whisky mit britischen Soldaten an den Grenzen der
einer Flasche Kirschschnaps hinunter, Kapkolonie und Natals zum Transvaal.
beendet keine Mahlzeit ohne fünf oder Schließlich wagt Buren-Präsident
sechs Glas russischen Kümmellikörs. Krüger einen Präventivschlag: Am 12.
Mit Mitte 40 sieht er aus wie ein Oktober 1899 marschiert seine Armee in
Greis: graues Haar, aufgedunsenes Ge­ Natal und in der Kapkolonie ein.
sicht, wässerige Augen. Geschwollen von Als die Buren Kimberley umzin­
Unmengen Alkohol und ruinösen Mahl- geln, die Telegraphenkabel kappen, die
Bahnlinien zerstören und die Stadt mit
Granaten beschießen, hilft Rhodes, das
Leben dort zu organisieren, gibt Geld
Die Briten zerstören zur Reparatur zerstörter Straßen, öffnet
unzählige Landgüter der Den Weg Londons in den Krieg mit den Minen als Schutzbunker. Vier Monate
Buren und treiben die Buren, der 1902 die Herrschaft des Em­ hält er in der belagerten Stadt aus, bis im
Bewohner in sogenannte pire über Südafrika bringen wird, erlebt Februar 1900 eine britische Entsatztrup­
concentration camps, in er daher nur noch als Zuschauer mit. pe eintrifft, die die Stadt befreit - und
denen rund 28 000 Menschen Schon seit 1897 fordern die Briten anschließend die Burenkämpfer besiegt.
umkommen. 1902. im immer massiver von den Buren, ihren Im Juni 1900, neun Monate nach
Todesjahr von Cecil Rhodes. Landsleuten im Transvaal Wahlrecht zu Kriegsausbruch, gelingt es den Briten, die
ist der Krieg entschieden: gewähren — und immer größer wird Transvaal-Hauptstadt Pretoria einzuneh-
Die Burenrepubliken
werden Teil des Empire
KRIEG AM KAP

Rhodesien
men. Da ist Präsident Krüger bereits auf
der Flucht in die Niederlande. Betschuanaland-
Portugiesisch-
Protektorat
Seine burischen Mitstreiter verle­ Deutsch- Ostafrika
Transvaal
gen sich nun auf den Guerillakrieg, plün­ Südwest­
afrika Pretoria
dern und brandschatzen britische Far­ O X Jun 1900
Johannesburg Swasiland
men. Im Gegenzug zerstören die Briten (Protektorat
rund 30 000 burische Landgüter und Oranje- von Transvaal)
Freistaat
sperren deren Bewohner in Lager, die sie Feb 1900} März 1900 yFeb 1900
YOkt. 1899
Kimberley« XoBloem-
concentration camps nennen. Etwa 28 000 fontein Natal
0 Durban
Menschen, meist Frauen und Kinder,
werden in dieser Gefangenschaft ums Kapkolonie X.
Dez. 1899
Leben kommen, vor allem wegen der
katastrophalen hygienischen Zustände. O km
Kapstadts
Als die Buren 1902 schließlich ka­ Port Elizabeth GEOEPOCHE-Karte
pitulieren und die Briten deren Repub­
von Buren besetzte wichtige Offensiven im Burenkrieg Schlachten
liken dem Empire einverleiben, hat der Gebiete und Städte, 1899-1902 (Auswahl)
Okt. 1899 bis Jan. 1900 Briten Buren X
Krieg gut 40 000 der 300 000 Weißen
der Burenrepubliken das Leben gekostet.
Um die Jahrhundertwende habe die Briten die Burenstaaten fast gänzlich
umzingelt. Aus Angst vor einem Angriff des Empire gehen die Nachfahren
Am 26. März 1902 stirbt Cecil Rhodes niederländischer Siedler in die Offensive: Im Herbst 1899 dringen ihre Truppen
bei Kapstadt an den Folgen jener Herz­ tief in die Kapkolonie ein, belagern wichtige Städte und überfallen britische
krankheit, die ihn einst nach Afrika ge­ Militärkolonnen. Erst durch einen brutalen Feldzug gelingt es dem Weltreich,
trieben hat. Noch einmal flackert sein die Macht der Buren zu brechen - und deren Republiken zu annektieren
Ruhm auf. Sein Sarg, eingehüllt vom
Union Jack, auf einer Lafette aufgebahrt
und von berittenen Polizisten der Kap­
kolonie durch das Gedränge der Kondo­
lierenden zum Bahnhof begleitet, reist
fünf Tage lang durch das Land, von Sta­
tion zu Station aufs Neue verabschiedet Für einen Moment ist Cecil Rhodes Weltkrieg gehört es zur Standardausrüs­
von trauernden Siedlern. die Symbolfigur einer Ara - doch mit tung sämtlicher beteiligter Armeen - und
In Kimberley fluten geschätzte dieser Ara wird auch sein Ruhm verblas­ hat bis zum heutigen Tag vermutlich
15 000 Bewunderer den Bahnsteig, viele sen. Zwar geht die Ausdehnung des Em­ mehr Menschen das Leben gekostet als
von ihnen in Tränen. Eine ähnlich große pire vorerst weiter: Nach der deutschen jede andere Waffe der Geschichte. £
Menge erwartet ihn in Bulawayo. Bi­ Niederlage im Ersten Weltkrieg fügt
schöfe halten Trauergottesdienste, Hor­ sich auch das letzte missing link der von Jörg-Uwe Albig, Jg.
1960, Autor im Team
nisten blasen den Zapfenstreich, Militär­ Rhodes einst erträumten Achse von Süd­ ■von GEO EPOCHE, hat bereits in den
kapellen spielen Händels „Totenmarsch“. afrika zum Mittelmeer der königlichen 1990er Jahren das einstige Rhodesien und
Am 11. April zieht ein Ochsen­ Machtsphäre ein - die einstige Kolonie heutige Simbabwe besucht.
gespann den rollenden Sarg zu der von Deutsch-Ostafrika, die jetzt unter dem
Rhodes testamentarisch bestimmten Namen Tanganyika britisches Mandats­
Grabstätte in den Matopo-Hügeln. gebiet wird. LITERATUREMPFEHLUNGEN: Martin
Auf diesem Gipfel, mit dem Blick Seine große Vision aber, die Bahn­ Meredith, „Diamonds, Gold and War: The
in endlose Weite, zollen selbst die frühe­ linie vom Kap nach Kairo, wird nie rea­ Making of South Africa". Simon & Schuster:
ren Feinde dem Eroberer Respekt: Ein lisiert: Die Schienen enden im südlichen epische Darstellung der Kämpfe um die
Vertreter ebenjener Ndebele, die Rhodes Kongo, etwa 400 Kilometer nördlich Reichtümer südlich des Sambesi - mit einer
einst getäuscht und massakriert hat, hält seiner erbeuteten Gebiete. Und ab Mitte Hauptrolle für Rhodes als tragischer Schurke.
eine Trauerrede, flankiert von schweigen­ der 1960er Jahre verschwindet auch sein Paul Maylam. „The Cult of Rhodes: Remem-
den Kriegern seines Volkes. Name von den Landkarten: Nord- und bering an Imperialist in Africa". David Philip:
Und Rudyard Kipling, der Groß­ Südrhodesien erringen die Unabhängig­ kritische Einführung in Rhodes’ Biografie, die
dichter des britischen Imperialismus, hat keit vom Britischen Empire und heißen sich mit widerstreitenden Sichtweisen über
eigens für das Begräbnis ein Poem ver­ fortan Sambia und Simbabwe. den Eroberer auseinandersetzt - und mit der
fasst: Dieser „unermessliche und grübeln­ Nur das Maschinengewehr, das Frage, warum ein derart mediokrer Charak­
de Geist“, heißt es darin, „wird weiterhin Rhodes im Kolonialkampf eingesetzt hat, ter mit Filmen. Romanen und Denkmälern
anregen und kontrollieren“. macht dauerhaft Karriere: Im Ersten geehrt wurde.

GEO EPOCHE Das Britische Empire 141


Indien -1911

cv;

Die Visite des britischen Herrschers in der Kolonie Indien ist eine präzise choreografierte Feier von Monarchie und Imperium (hier das
Königspaar am Hafen von Bombay). Paraden, Salutschüsse, Kameras und ausgesuchte Gäste begleiten Georg V. und seine Gemahlin

142 GEO EPOCHE Das Britische Empire


BESUCH eines
KAISERS

Georg V. ist als englischer König zugleich Kaiser von Indien

Indien ist die wohlhabendste Kolonie des


britischen Weltreichs, das Juwel im Gefüge
des Empire. 1911 reist der neue König
Georg V. auf den Subkontinent, um sich
seinen dortigen Untertanen in einer nie
da gewesenen Zeremonie zu präsentieren.
Doch abseits der imperialen Pracht­
entfaltung wachsen bei den Briten Angst
und Zweifel ---------- Von ralf berhorst

GEO EPOCHE Das Britische Empire 143


mit weißen Helmen; Inder in Khaki mit
blauen, grünen oder orangefarbenen
Kopfbedeckungen.
Am Vormittag sind Veteranen zu Briten, seien einfach nicht geschaffen für
Marschmusik des Komponisten Georg Freiheit und Unabhängigkeit.
Friedrich Händel in die Arena eingezo­ Georg V., ein Enkel Viktorias, hat
gen und haben das Programm eröffnet. darauf bestanden, nach seinem Thron­
Als Seine Majestät gegen Mittag den antritt das 6300 Seemeilen entfernte
Platz in einer offenen Kutsche erreichte, Juwel des Empire zu besuchen. Als erster
ertönte ein Salut aus 101 Kanonen. Jetzt britischer Herrscher in der Geschichte
unterbrechen Trompetenstöße und will er sich von seinen Untertanen bei
Trommelwirbel die feierliche Stille. einer prunkvollen Audienz feiern lassen
Georg V. erhebt sich von seinem - einem durbar, der an die Empfänge der
Thron und verkündet, er freue sich, seine alten Mogulkaiser erinnern soll.
Gäste begrüßen zu können - zu einer Eine Stunde lang dauern die Hul­
Zeremonie, in der seine offizielle, bereits digungen. Dann folgt die offizielle Pro­
Einen Tag lang, am 12. Dezember 1911, ein halbes Jahr zurückliegende Königs­ klamation der Krönung durch einen
liegt das Zentrum des Empire gut 6700 krönung noch einmal öffentlich gefeiert Herold, ein Inder wiederholt den Wort­
Kilometer östlich von London in einer werden soll und mit der er sich zudem laut für das Volk.
Ebene nahe der indischen Stadt Delhi. als Kaiser Indiens präsentiert. „Allen Nachdem der Vizekönig einige
Mehr als 80000 Menschen sind unweit Anwesenden, Fürsten und Untertanen, Wohltaten verkündet hat, etwa eine Am­
der alten Residenz der Mogulherrscher entbiete ich meine liebevollen Grüße“, nestie, scheint die Zeremonie schon fast
zusammengeströmt. Unter freiem Him­ schließt er seine kurze Ansprache. beendet; doch dann erhebt sich der
mel hat die britische Kolonialregierung Nun ist es an den Untertanen, ih­ Monarch plötzlich noch einmal und gibt
ein Amphitheater errichtet — die Bühne rem neuen Herrscher zu huldigen. Als zwei überraschende Entscheidungen be­
für ein Spektakel, das zum größten Er­ Erster tritt Lord Charles Hardinge vor, kannt - fast so, als wolle er den Anwe­
eignis in der Geschichte des Subkonti­ der Generalgouverneur und Vizekönig senden seine Allmacht demonstrieren.
nents werden soll: die feierliche Bekannt­ Britisch-Indiens, und verbeugt sich dabei Georg erklärt zum einen, dass die
gabe der Krönung des englischen Königs dreimal. Er kniet nieder und küsst die Provinz Bengalen wiedervereinigt wer­
und indischen Kaisers Georg V. Hand Seiner Majestät - nur ihm steht den soll, jene bevölkerungsreiche Region,
Ein mächtiger Erdwall ist aufge­ dieses Privileg zu. Dann erweisen die die die Kolonialherren erst sechs Jahre
schüttet worden, auf dem nun die meis­ Mitglieder des Exekutivrates, der briti­ zuvor gegen den Willen der Bewohner
ten Zuschauer sitzen oder stehen; zudem schen Kolonialregierung in Indien, ihrem geteilt haben. Zum anderen verkündet er
wurde für 12 000 Ehrengäste eine über­ Souverän die Reverenz. den Bau einer neuen Hauptstadt. Die
dachte Tribüne erbaut. Filmteams haben Anschließend ehren die englischen besten Architekten sollen bei Delhi eine
Kameras postiert, um das historische Provinzverwalter den Monarchen sowie Metropole erbauen, wie sie dem größten
Geschehen festzuhalten. die indischen Potentaten: Fürsten, Prin­ Reich der Erde gebührt.
Nur wenige Meter entfernt von zen und Maharadschas in leuchtenden Jedem, der dem Spektakel bei­
den Rängen der Würdenträger verharrt Gewändern aus Seide oder prächtigen wohnt, muss es so Vorkommen, als stünde
Georg V. in starrer Würde auf seinem Uniformen mit Tressen und Bordüren, das Empire im Zenit der Macht. Rund
Thron, neben sich seine Frau Mary; bei­ gegürtet mit Schärpen, behängt mit 27 Millionen Pfund (umgerechnet heute
de sind gegen die Mittagssonne durch Perlenschnüren und Edelsteinen. fast 3,3 Milliarden Euro) fließen allein in
einen riesigen Baldachin geschützt. Einzeln bezeugen sie Georg ihre diesem Jahr an Zwangsabgaben aus der
Der Monarch trägt sein Krönungs­ Treue: Manche streuen sich als Zeichen Kolonie nach London.
ornat: einen schweren purpurfarbenen der Untertänigkeit mehrmals eine Hand­ Doch der Durbar ist kaum mehr als
Hermelinmantel mit Goldstickereien voll Erde über ihr Haupt, andere verbeu­ eine Kulisse. Hinter dem Pomp, mit dem
und meterlanger Schleppe. Auf dem gen sich mit vor der Brust zusammen­ sich Georg wie ein Halbgott feiern lässt,
Haupt des 46-Jährigen funkelt eine mit geführten Händen. Die kampferprob­ verbirgt sich eine verunsicherte Nation.
Diamanten besetzte Krone. Pagen in ten Rajputen legen dem König und der Denn großer Reichtum bringt auch
schimmernden Seidengewändern, alle­ Königin ihre Schwerter zu Füßen. immer große Angst vor dem Niedergang.
samt Söhne indischer Fürsten, sitzen zu Seit fast 150 Jahren schon herrschen
Füßen des hohen Paares. die Briten über weite Teile des Subkon­
Hinter dem Thron haben sich ein­ tinents, aber erst 1876 hat das englische Georg V. ist aus einem Land angereist,
heimische Ehrenwächter postiert. Sie Parlament Königin Viktoria zur Kaiserin das von Zweifeln geplagt wird. Die im­
tragen Turbane und halten Amtsstäbe Indiens erklärt. Die mehr als 550 einheimi­ perialistische Hybris von Männern wie
oder Fächer aus Pfauenfedern und Yak­ schen Fürsten sind de facto Untertanen Cecil Rhodes (siehe Seite 122), der sich
schwänzen in der Hand. Vor König der englischen Krone, das Mutterland allen Völkern überlegen wähnte, ist
Georg stehen 20000 Soldaten stramm: der parlamentarischen Demokratie fuhrt längst der Furcht vor Zerfall und Abstieg
Briten in scharlachroten Uniformen und seine reichste Kolonie nach dem Muster gewichen. So warnt der Kolonialminister
einer orientalischen Despotie. Die 300
Millionen Untertanen, so glauben viele
144 GEO EPOCHE Das Britische Empire
Die Briten herrschen bereits seit 1765 über Teile Indiens, seit 1858 regieren sie de facto fast den _
gesamten Subkontinent. Zwar sind viele einheimische Fürsten weiterhin offiziell unabhängig, doch werden sie cL
von englischen Beamten eng geführt (hier der Beraterstab des Nawab von Bahawalpur mit Briten) 3

Ein hoher Kolonialbeamter empfängt um 1895 mehrere Fürsten seiner Region Punjab im Norden
des Landes. Zur Selbstbestimmung, wie sie andere Besitzungen der Krone zu dieser Zeit bereits teilweise
genießen, etwa Kanada, seien die Inder nicht fähig, so die Ansicht vieler Briten

GEO EPOCHE Das Britische Empire 145


Georg V. (vorn links) nutzt seine
Indienreise, um mit einer Jagd­
gesellschaft umherzuziehen. Zuvor
haben Kritiker in England die
Kosten des Staatsbesuchs moniert
und den Nutzen des gesamten
Empire infrage gestellt

Joseph Chamberlain 1903 seine Lands­


leute: „Ich war in Venedig, das einst eine
wirtschaftliche Vorherrschaft genoss wie
wir. Seine Pracht ist geschwunden. Ich
behaupte nicht, dass ich eine so große
Katastrophe für Großbritanniens Handel
erwarte, aber ich sehe Anzeichen eines
Niedergangs, Risse und Brüche im Mau­
erwerk des großen Gebäudes. Ich bin
sicher, dass die Fundamente, auf denen
es errichtet wurde, nicht tragfähig genug
sind, um es zu erhalten.“ Das Empire, so
Chamberlain, sei ein „müder Titan“.
Kurz zuvor ist die Krise erstmals
sichtbar geworden: mit einem Triumph,
der sich wie eine Niederlage anfühlte.
Ein konservatives Kabinett regierte sourcen, die nun für längst überfällige Polospieler in Südindien:
zu jener Zeit, 1901, das Land, alle Minis­ Sozialreformen im Innern fehlten. Vom Kolonialimperium profi­
ter waren überzeugte Imperialisten. Das Am Ende siegte das Empire um tiere nur eine kleine Gruppe
Empire führte Krieg - und erfuhr erst­ den Preis seiner eigenen Glaubwürdig­ ohnehin wohlhabender
mals seit Langem die Grenzen seiner keit: Das Weltreich, das sich selbst als Briten, bemängeln Publizisten,
Macht: ein Schock für Regierung und Kämpfer für Zivilisation und Wohlstand während die Massen im
Öffentlichkeit. Denn im Süden Afrikas feierte - Indiens späterer Vizekönig Cur- Mutterland verarmten
kämpfte Großbritannien gegen die Bu­ zon nannte es um 1880 „ein großartiges
ren, weiße Siedler niederländischer Ab­ Instrument für das Wohl der Mensch­
stammung. Eine halbe Million Soldaten heit“ hatte in Südafrika all jene Ideale
mobilisierte London gegen die rund verraten, mit denen es sein imperiales
80 000 Burenkrieger - und konnte sie Streben jahrzehntelang legitimierte.
dennoch lange Zeit nicht niederringen.
Den Sieg brachte erst eine rück­
sichtslose Strategie der Zerstörung: Lon­ Schlimmer noch: Das Empire hatte sich
dons Generäle ließen Dörfer, Farmen, vor aller Welt verwundbar gezeigt. Mehr
Felder der Buren niederbrennen, sperrten als 22000 Mann waren in Südafrika ge­
deren Frauen und Kinder in concentration fallen, London hatte sogar Soldaten etwa
camps, wo fast 30 000 Internierte an aus Kanada, Neuseeland und Indien zu
Hunger, Durst und Krankheiten starben. Hilfe rufen müssen. Denn die eigene
Bei den britischen Massen entfach­ Armee war in einer zu schlechten Ver­
te der Burenkrieg zwar eine patriotische fassung. Ein Drittel der engÜschen Frei­
Hysterie, doch viele Bürger waren über willigen, zumeist aus der Arbeiterklasse,
den desaströsen Feldzug entsetzt. Die hatten die Musterungskommissionen als
liberale Opposition im Unterhaus be­ zu schwach und zu kränklich abweisen
schuldigte die Regierung, den Feldzug müssen, so der schockierende Befund.
mit „barbarischen Mitteln“ zu fuhren. Sah so die „beste Rasse“ aus, von der eng­
Der Abgeordnete David Lloyd lische Imperialisten gern sprachen?
George nannte den Krieg „ein Verbre­ Plötzlich begannen Politiker, Presse
chen und einen Fehltritt, angezettelt von und Wissenschaftler im Königreich eine
verantwortungslosen Kapitalisten“. Der Debatte über die „nationale Effizienz“
Kriegszug verschlinge zu viel Geld, ar­ des eigenen Landes. Manche Gelehrte
gumentierte der spätere Premier - Res­ warnten vor einer Zunahme der „Min­
derwertigen“. Und die Regierung setzte
eine Kommission ein, die die „physische
146
Die Hierarchie ist eindeutig: Die Briten herrschen, die Inder dienen. Die meisten Europäer -
ob Kolonialbeamte. Militärs oder Geschäftsleute - haben gleich mehrere Hausangestellte. Hier wird
ein Weißer von Einheimischen durch die Berge des westlichen Himalaya getragen

Degeneration“ der Briten untersuchen spielen in Lumpen und barfuß auf den land und den USA zugenommen hat).
sollte. Grund für das Debakel, so die Ex­ Straßen. Die Schulklassen sind überfüllt, Zwar wächst die britische Wirtschaft
perten, seien die ärmlichen Lebensbedin­ die Ausbildung der Schüler und Lehr­ noch, allerdings deutlich langsamer als
gungen in den englischen Städten. linge ist unzureichend. bei den Konkurrenten. Das deutsche
Auf öffentlichen Plätzen sind viele Kaiserreich und die USA schicken sich
Versehrte zu sehen: Denn die Fabrik­ an, Großbritannien als Produzenten von
arbeiter schützt keine Versicherung ge­ Kohle und Stahl zu überflügeln.
gen Krankheit oder Unfall, viele sind mit England, die einstige „Werkstatt
40 Jahren völlig ausgezehrt - eine staat­ der Welt“, ist zum Importeur geworden,
liche Absicherung im Alter gibt es nicht. es führt aus Deutschland Maschinen,
Auch sonst wiegen die Folgen des Werkzeug, Haushaltswaren und Spiel­
Burenkrieges schwer. Er hat Kosten von zeug ein unter dem Label „Made in Ger-
Tatsächlich ist Großbritannien zwar 250 Millionen Pfund verursacht, etwa das many“. Das Markenzeichen, das die Bri­
noch immer eine führende Industrie­ Doppelte des jährlichen Staatsbudgets. ten 1887 erzwungen hatten, um deutsche
nation Europas und das Finanzzentrum Bis dahin waren es die Schatzkanz­ Waren zu stigmatisieren, hat sich schnell
der Welt. Doch im Innern ist das König­ ler gewohnt, ausgeglichene Haushalte zu zu einem Gütesiegel gewandelt.
reich, das so viel Glanz zu entfalten ver­ vermelden. Schulden zu machen galt Der Handel mit den Kolonien da­
mag, erstaunlich rückständig. unter Politikern aller Parteien als ver­ gegen sollte nicht überschätzt werden,
Um 1900 leben 30 Prozent der Be­ pönt. Doch nun muss die Regierung viele Waren erreichen die britischen
völkerung Londons, der größten Metro­ Kredite aufnehmen, zudem Steuern etwa Häfen hauptsächlich aus anderen Teilen
pole der Erde, in Armut. In den Arbei­ auf Tee und Tabak erhöhen, einen Zoll der Welt: Kaffee und Zucker kommen
tervierteln stirbt fast jeder dritte Säugling auf importiertes Getreide einführen. aus Brasilien, Rohbaumwolle aus den
vor seinem ersten Geburtstag. Kinder Premier Arthur Balfour warnt 1904 USA, gepökeltes Fleisch und Tierhäute
in einem Kabinettsmemorandum davor, aus Argentinien und Uruguay.
dass sich die Finanzkraft Großbritanni­ Seit Jahrzehnten übertreffen die
ens erschöpfen könnte, wenn die Vertei­ Einfuhren aus den USA gewöhnlich den
Elitärer Zeitvertreib digungsausgaben weiter erhöht würden. gesamten britischen Asienhandel. Von
und zugleich Identitäts­ Seine Sorge passt in eine Zeit, in den Lebensmitteln, Waren und Rohstof­
pflege in der Fremde: In der das Mutterland der Industrialisierung fen, die Großbritannien vor 1914 impor­
Indien lebende Briten erstmals wirklich registriert, dass sein tiert, stammt nie mehr als ein Viertel
treffen sich ganz in Weiß großer Vorsprung gegenüber anderen aus dem Empire. Und: All diese Waren
zum englischen Upper- Nationen immer kleiner wird. So ist der könnte das Mutterland zu gleichen Prei­
class-Sport Tennis britische Anteil am Welthandel zwischen sen auch aus anderen Ländern beziehen.
1880 und 1900 von 25 auf 21 Prozent ge­
schrumpft (während der von Deutsch­
GEO EPOCHE Das Britische Empire 147
So wie diese Briten geht auch König Georg V. gern auf die Tigerhatz. Vom Rücken eines Elefanten
aus erlegt der Monarch bei seinem Besuch 21 der gewaltigen Raubkatzen. Und schätzt es wohl auch, dass er
sich in Asien von dem Verfassungsstreit erholen kann, den die Liberalen in London entfesselt haben

Fotos mit selbst getötetem Großwild sind in Indien beliebte Souvenirs. Auch Briten bringen sie aus der Ferne
mit - vermutlich, weil die Bilder koloniale Dominanz symbolisieren. Dabei zeigen ganz andere Ereignisse um 1900.
vor allem der opferreiche Burenkrieg in Südafrika, dass das Empire inzwischen verwundbar ist
und Aristokraten mithilfe der von ihnen
gesteuerten Presse die Regierung zur
kolonialen und imperialen Expansion
Den größten Teil ihres Handels wi­ in Ubersee, um dort neue Märkte und Trotz allem stellen viele einfache
ckeln die Industrieländer ohnehin unter­ lukrative Investments zu erschließen. Bürger das Kolonialreich nicht infrage
einander ab - nicht mit den Kolonien. Mit fatalen Folgen für die Heimat: - vielleicht, weil sie das Gefühl haben,
Auch Großbritannien exportiert vor al­ Durch den Abfluss des Kapitals in die seinen Schutz gerade jetzt besonders zu
lem in andere entwickelte Staaten. In den Kolonien fehle es in England an Geld für brauchen. Denn zu dem Verfall im In­
Uberseebesitz gehen meist nicht mehr längst überfällige Sozialreformen. Letzt­ nern kommt noch eine Bedrohung von
als gut 30 Prozent seiner Ausfuhren. lich profitiere von den imperialen Aben­ außen, wie sie Großbritannien seit Na­
So verwundert es nicht, dass einige teuern nur eine kleine Interessengruppe. poleons Zeiten nicht mehr erlebt hat.
Politiker, Experten und Wissenschaftler Moderne Ökonomen halten Hob­ Denn um 1900 sieht sich die Regie­
grundsätzlich den Wert des Weltreichs sons Thesen teils für zutreffend, teils für rung in London von drei Rivalen und
in Zweifel ziehen: Ist das Empire für falsch. Neuere Untersuchungen zeigen Konkurrenten umgeben, die sich gemein­
England überhaupt noch von Nutzen? nämlich, dass die Finanziers des König­ sam gegen die Briten wenden könnten.
reichs ihr Geld keineswegs vorwiegend Mit dem Erbfeind Frankreich strei­
in afrikanischen oder asiatischen Kolo­ tet sie in Afrika um die koloniale Auftei­
Kaum jemand beantwortet diese Frage nien anlegten. Die erhaltenen Daten lung des Schwarzen Kontinents.
so radikal wie John Atkinson Hobson, legen nahe, dass nur ein Viertel des ins­ Mit dem russischen Zarenreich
ein Ökonom, der den Burenkrieg als gesamt verfügbaren britischen Kapitals ringt sie in Asien um Einfluss. Beider
Zeitungskorrespondent miterlebt hatte. ins Empire floss: Das übrige Ausland war Interessensphären berühren sich in
Schon während des Südafrika-Feld­ für Investoren weitaus attraktiver. einem so großen Gebiet, dass die Briten
zugs hat Hobson in einem Buch gefragt: es unmöglich mit Truppen absichern
„Für wen kämpfen wir eigentlich?“ Und können (außerdem haben es beide Riva­
eine antisemitisch gefärbte Antwort ge­ len auf die Territorien des Osmanischen
geben: „Für eine kleine Gruppe interna­ Reiches abgesehen, dessen Zusammen­
tionaler Finanziers, hauptsächlich deut­ bruch sie bald erwarten).
schen Ursprungs und jüdischer Rasse.“ Und schließlich hat Deutschland -
Seine Streitschrift zielte vor allem die neue ökonomische Supermacht auf
gegen die Bankiersfamilie Rothschild, dem Kontinent - begonnen, eine Flotte _
die Goldminen am Kap und Maschinen­ zu bauen, die Großbritannien die Vor- EL
gewehrfabriken in England finanzierte. herrschaft in der Nordsee und im Nord- 3
Kurz nach Ende des Krieges weitet atlantik streitig machen könnte.
Hobson seine Kritik zu einer grundsätz­ Diese Aufrüstung unter Kaiser
lichen Anklage gegen den „Imperia­ Wilhelm II. bedroht das Fundament der
lismus“ aus, so der Titel seines Buches. englischen Außenpolitik: den „Two-
Hobsons These: Englands Gesellschaft Dennoch ist das Empire - darin stimmen Power-Standard“. Diese Doktrin besagt,
sei von der Vorherrschaft der Reichen heute viele Wirtschaftshistoriker über­ dass Britanniens Flotte an modernen
geprägt, die den unteren Schichten die ein - für die große Mehrheit der Briten Kriegsschiffen immer so groß sein müsse
Teilhabe am Wohlstand verwehre. ein Verlustgeschäft. Die Bürger des Kö­ wie die der beiden stärksten Konkurren­
Tatsächlich sind im Königreich nigreichs zahlen deutlich höhere Steuern ten zusammen (siehe Seite 110).
Einkommen und Besitz höchst ungleich als ihre Nachbarn aut dem Kontinent. Doch 1903 besitzen Deutsche und
verteilt. Knapp 900000 Personen, das Mit ihren Abgaben finanzieren sie zwei- Franzosen bereits jeweils 28 Schlacht­
sind zwei Prozent der Bevölkerung, einhalbtach höhere Militärausgaben, als schiffe, England dagegen nur 48. Die
verfügen über 87 Prozent des privaten sie die Steuerzahler in Frankreich oder britischen Schiffe sind zwar von über­
Vermögens. Es sind vor allem rund 7000 Deutschland zu verkraften haben. legener Qualität, dennoch gerät die Do­
adelige Familien, denen vier Fünftel des Der Grund: Mit der Ausnahme In­ minanz zur See zunehmend in Gefahr.
britischen Bodens gehören und die um diens beteiligen sich die Kolonien kaum Denn Berlin, das nach Kolonien
die Jahrhundertwende nicht nur die an den Kosten für ihre Verteidigung. und Weltgeltung strebt, stellt immer
meisten Minister und sämtliche Mitglie­ Und von den hohen Ausgaben zum neue Kriegsschiffe in Dienst. Zwischen
der des Oberhauses stellen, sondern auch Erhalt und Schutz des Empire profitiert beiden Ländern ist ein kostspieliger Rüs­
die Mehrheit im Unterhaus. tatsächlich, wie von Hobson kritisiert, tungswettlauf entbrannt.
Aufgrund dieses Ungleichgewichts, nur eine kleine Elite, darunter Waffen­ Bald sind die Briten wie besessen
so Hobson, mangele es den Massen an fabrikanten und ihre Finanziers sowie von ihrem neuen Rivalen, dem vor Kraft
Geld für den Konsum — und den Begü­ Kaufleute im Fernhandel, Reeder, Ade­ strotzenden wilhelminischen Deutsch­
terten an genügend Investitionsmög­ lige, die in den Kolonialverwaltungen land. Artikel und Bücher mit Titeln wie
lichkeiten für ihr Kapital im Inland. So Karriere machen. Für die meisten Briten „The German Danger“ schüren antideut­
drängten die Finanziers, Waffenpro­ aber würden ohne das Empire die Steu­ sche Ressentiments. Romane fantasie­
duzenten, Großindustriellen, Reeder ern weitaus niedriger liegen, wäre zudem ren von Tausenden deutschen Spionen,
Geld für Wohlfahrtsausgaben und die
Modernisierung der Industrie verfügbar.
GEO EPOCHE Das Britische Empire 149
Da das Klima in den Ebenen im Sommer heiß und feucht
ist, leistet sich die britische Kolonialregierung in Indien einen
zweiten Sitz: das in den Bergen gelegene Simla

die sich ins Königreich eingeschlichen 1906 erleiden die Konservativen, zu men dem Budgetgesetz zu - doch längst
hätten. Und der Burenkriegsveteran Ro­ deren Lager Chamberlain gehört, ein haben die Liberalen den Plan gefasst, die
bert Erskine Childers entwirft in seinem Desaster. Die Tories erhalten lediglich Macht des Oberhauses zu brechen.
Buch „Das Rätsel der Sandbank“ 1903 157 von 670 Parlamentssitzen - in abso­
das Schreckensszenario einer deutschen luten Mandaten ihr schlechtestes Ergeb­
Invasion an den heimischen Küsten. nis im gesamten 20. Jahrhundert.
Die Briten lesen solche Bücher mit Die Liberalen um Lloyd George
einer Art von Angstlust und machen hingegen verfügen nun über eine über­
viele zu Bestsellern. Doch nicht alle sind wältigende Mehrheit und damit ein kla­
Fatalisten - manche träumen auch davon, res Mandat für ihre Reformpolitik.
das Weltreich zu erneuern. Das neue Kabinett beginnt sofort
Einer von ihnen ist Kolonialminis­ mit der Modernisierung des Landes. Noch während der Krise stirbt am 6. Mai
terjoseph Chamberlain, ein Schrauben­ Schon bald verabschiedet das Parlament 1910 König Eduard VII., der Nachfolger
millionär aus Birmingham und glühen­ eine von den Bismarck’schen Sozialre­ Viktorias. Neuer Monarch wird sein
der Imperialist. 1903 fordert er in einer formen beeinflusste Rentenversicherung: Sohn: Georg V.
Rede einen dramatischen Wandel: Um Wer 70 Jahre oder älter ist und unter Der 44-Jährige scheint auf sein
die einheimische Wirtschaft zu fordern einer bestimmten Einkommensgrenze schweres Amt kaum vorbereitet: Georg
sowie Sozialreformen zu finanzieren und liegt, erhält künftig eine wöchentliche hat die letzten Jahre vor allem in der
einen Niedergang des Empire durch aus­ Pension von fünf Shilling. ländlichen Abgeschiedenheit seines Cot­
ländische Konkurrenz zu verhindern, will Um weitere Reformen des Gesund­ tages in Ostengland verbracht. Er mag
der Minister mit einem Tabu brechen: heitswesens und die Versorgung von Ar­ keine Empfänge, verabscheut die Lon­
Er befürwortet die Abkehr von der all­ beitslosen zu finanzieren, plant Lloyd doner Gesellschaft, zeigte bislang wenig
gemein akzeptierten Freihandelsdoktrin. George eine kleine Revolution: Er will Interesse an Staatsangelegenheiten. Die
Er will im Empire eine Art Zoll­ Vermögende und Großgrundbesitzer mit
verein errichten - einen riesigen gemein­ neuen Steuern belasten.
samen Wirtschaftsraum mit Zwangs­ Doch das Oberhaus - der demokra­
aufschlägen für Waren, die in diesen tisch nicht legitimierte Sitz des Hoch­ Der Bahnhof von Bombay:
Wirtschaftsraum importiert werden. adels und der Bischöfe - lehnt seinen Die Briten treiben den Bau von
Doch was als Allheilmittel für die Entwurf im November 1909 ab. So etwas Eisenbahnen voran, auch um
Probleme des Weltreichs gedacht ist, ist seit dem 17. Jahrhundert nicht mehr die Wirtschaftskraft der Kolonie
weckt bei vielen Briten eine weitere vorgekommen. Das verunsicherte Em­ zu stützen. Denn die dort ab­
Angst: die vor steigenden Lebensmittel­ pire befindet sich plötzlich auch noch in geschöpften Gelder werden in
preisen. Bei den Unterhauswahlen von einem schweren Verfassungskonflikt. England dringend gebraucht
Zwar geben die Lords einige Mo­
nate später schließlich nach und stim­
150 GEO EPOCHE Das Britische Empire
Mit Faszination und
Abscheu beobachten
europäische Reisende
Rituale wie diese Leichen­
verbrennung am Ganges,
halten sie für Zeichen
von Unterentwicklung

halb den Titel einer Kaiserin von Indien


verliehen, weil sie auf diese Weise das
Prestige der Monarchin gegenüber dem
Zaren stärken wollte. Politisch aber war
der Kaisertitel bedeutungslos.

Doch Georg verbindet mit Indien eine


sentimentale Beziehung. Als Thronfolger
hat er den Subkontinent einst 18 Wochen
lang bereist - und seinem Vater kritisch
über die herablassende Behandlung der
Einheimischen durch die Briten berich­
tet. So überraschte den Kronprinzen
etwa, dass Indern die Mitgliedschaft in
den Clubs der Europäer verboten war.
Prächtige Tempel, hier in Leidenschaft des Thronfolgers gilt viel­ Um die Reise des Monarchen zu
Kalkutta, können nicht davon mehr der Jagd. Unermüdlich erlegt er verhindern, verweist der Premier auf
ablenken, dass das Leben in Fasane, Rebhühner, Waldschnepfen und Sicherheitsbedenken. Noch nie habe ein
der Kolonie von Armut geprägt Enten. Die zweite Passion des neuen britischer Souverän die Insel für so lange
ist: Hungersnöte erschüttern Monarchen ist das Brietmarkensammeln. Zeit verlassen — allein Hin- und Rück­
immer wieder die einheimi­ Dennoch entscheidet Georg V. nun fahrt dauerten sechs Wochen. Deshalb
sche Bevölkerung den Verfassungskonflikt: Von den Libe­ haben bisher immer die britischen Vize­
ralen unter Druck gesetzt, verspricht er könige den Kaisertitel stellvertretend für
dem Premier, notfalls so viele neue Mit­ ihren Monarchen öffentlich gefeiert.
glieder für das Oberhaus zu ernennen - Zudem scheuen die liberalen Poli­
ein Vorrecht des Monarchen -, bis dort tiker in Zeiten sozialer Reformen den
eine Mehrheit für eine Gesetzesvorlage Pomp und die Kosten, die mit einem
sicher ist, die die Befugnisse des Ober­ solchen Staatsbesuch verbunden wären.
hauses einschränken soll. (Georg ist alles Georg aber setzt sich durch. Ein­
andere als liberal gesinnt, doch da die ziges Zugeständnis: Er wird sich nicht,
Regierung mit Rücktritt droht und er das wie geplant, die Kaiserkrone selbst aufs
Chaos fürchtet, gibt er nach.) Haupt setzen (der einflussreiche Erz­
Als das Versprechen des Königs be­ bischof von Canterbury lehnt eine solche
kannt wird, lenkt das Oberhaus ein und Zeremonie als zu „napoleonisch“ ab).
lässt im August 1911 die Gesetzesvorlage Der Kompromiss: Georg soll schon
passieren. Zudem kann die Regierung mit der Krone auf dem Kopf auf dem
endlich die geplante Kranken- und Ar­ Durbar in Indien erscheinen.
beitslosenversicherung verwirklichen. Aber mit welcher Krone?
Doch nun, da er seinem Premier­ Die existierenden Insignien dürfen
minister widerwillig zu Diensten sein die Britischen Inseln auf keinen Fall ver­
musste, sehnt sich der König nach einer lassen. So erhält der königliche Juwelier
uneingeschränkten Demonstration seiner die Order, für 60000 Pfund ein neues
Macht: Georg V. will als erster britischer Geschmeide anzufertigen. Die Kosten
Monarch nach Indien reisen, um sich tragen die indischen Steuerzahler.
seinen Untertanen dort als neuer Kaiser Am 11. November 1911 sticht Georg
des Landes zu zeigen. in See. Vier Kreuzer der Royal Navy es­
Der Plan ruft unter den Politikern kortieren seinen luxuriösen Dampfer. Am
des Königreichs Überraschung, ja Be­ 2. Dezember erreicht der König Bombay.
fremden hervor. Die britische Regierung
hat Königin Viktoria 1876 vor allem des-
151
DAS JUWEL DER KRONE

Jammu und
Kaschmir
Afghanistan

Rajputana Ver. Prov.


von Aqra
und Awadh
Gwadar
Ostbengalen
Karachi und Assam
Bengalen
Chandernagor
Kalkutta*
Zentrale Birma
Provinzen
und Berar

Arabisches Meer

Hyderabad Golf von Bengalen


Yanaon

Mysore
Madras
Pondichery
KSrikäl
Andamanen
und
Nikobaren

Indischer Ozean

] Bntisrh-Inrlicn ] Fürstenstaat oder Protektorat • französische Kolonie O portugiesische Kolonie • omanische Kolonie
km
GEOEPOCHE-Karte

Die Briten sind um 1911 die Herren des gesamten indischen Subkontinents, doch nicht alle
Regionen stehen gleichermaßen unter ihrer Gewalt. So ergibt sich ein kolonialer Flickenteppich: Gut die
Hälfte des Gebietes beherrscht London direkt als Britisch-Indien, etwa die Gegend um Madras.
Die anderen Territorien bestehen aus mehr als 550 einheimischen Fürstentümern und Kleinstaaten, die
zwar formal souverän, de facto aber von der Kolonialmacht abhängig sind, beispielsweise ohne deren
Erlaubnis keine Beziehungen untereinander pflegen dürfen. Hinzu kommen Sonderverwaltungsgebiete
sowie Stützpunkte anderer europäischer Mächte. Erst 1858 hat der britische Staat die Kontrolle
über die indischen Besitzungen übernommen und sie so offiziell ins Empire integriert - zuvor hatte die
East India Company, die berühmte halbstaatliche Handelsgesellschaft, das indische Kolonialreich
verwaltet. Seit 1876 ist jeder britische Herrscher zugleich Kaiser von Indien
Der spätere Premier Winston
Churchill bereitet sich hier als Offizier
in Indien auf einen Ausritt vor. Die
Ausgaben für das Militär sind immens -
und immer häufiger benötigt das
Mutterland Hilfe von einheimischen
Kämpfern aus den Kolonien

Zudem hatten schwere Hungers­


nöte in den letzten beiden Jahrzehnten
20 Millionen Opfer gefordert - eine Fol­
ge von Überschwemmungen und Dürren,
deren Ausmaß die britischen Kolonial­
behörden heillos überforderte.
Anders als in Kanada, Australien
oder Neuseeland, den Dominions mit
überwiegend weißer Bevölkerung, die
ihre inneren Angelegenheiten selbst
bestimmen, sind die Einwohner des
Subkontinents von der Teilhabe an der
Macht ausgeschlossen: Die rein formal
unabhängigen Fürsten Indiens werden
durch britische Berater dirigiert.
Im Indian Civil Service, der Kolo­
Seit Monaten lauten in Indien die Fünf Tage nach dem Durbar begibt nialverwaltung und eigentlichen Exeku­
Vorbereitungen für den Durbar. Unweit Georg sich nach Nepal auf die Jagd. Die tive des Landes, dienen kaum mehr als
des Amphitheaters wurde eine gewal­ Aussicht darauf hat ihn vor der Indien­ 20 000 Inder, und zwar fast ausschließ­
tige Zeltstadt errichtet. Sie bedeckt eine reise fast ebenso begeistert wie der Ge­ lich in niederer Stellung als Schreiber,
Fläche von 65 Quadratkilometern, ver­ danke an die Kaiserproklamation. In den Steuereinnehmer oder Telegraphisten.
braucht so viel Strom wie zwei englische Ausläufern des Himalaya macht er als Ein Aufstieg in die höheren Ränge
Kleinstädte und beherbergt neben dem Gast eines Maharadscha von einem Ele­ bleibt ihnen in der Regel verwehrt.
Königspaar und seinen Gästen auch fanten aus Jagd auf Großwild.
noch Hunderte Prinzen und Mahara­ Er erlegt 21 Tiger, acht Rhinoze­
dschas aus allen Teilen Indiens sowie rosse sowie einen Bären. „Ein Rekord“,
Tausende Diener, Pferde, Elefanten. notiert er stolz, „und ich denke, er wird
Bis der Durbar beginnt, unterhalten schwer zu schlagen sein.“ Seine Frau be­
Fußballspiele, ein Poloturnier, Paraden, sucht unterdessen das Taj Mahal, besich­
Empfänge und Staatsdiners die Ange­ tigt Palastruinen des Großmoguls Akbar,
reisten. Das Budget für die Feierlichkei­ bereist die Region Rajputana.
ten in dem von Hungersnöten geplagten Von der Realität des modernen In­ Auch beim Militär bieten sich den Ein­
Land: eine Million britische Pfund. dien erfahrt das Königspaar vermutlich heimischen nur wenig Karrierechancen.
nichts; Georgs Interesse an dem Land Denn ihre indische Armee rekrutieren
scheint erlahmt zu sein. Dabei mehren die Briten bewusst aus Minderheiten,
12. Dezember 1911. Es war „der schönste sich auch hier die Krisensymptome. etwa den nepalesischen Gurklvas oder der
und wunderbarste Anblick, den ich je Schon um die Jahrhundertwende Glaubensgemeinschaft der Sikhs.
genossen habe“, notiert Georg V. nach war die Kolonie beim Mutterland mit Die Kolonialherren schätzen deren
dem Durbar zufrieden in sein Tagebuch. 226 Millionen Pfund verschuldet, sodass besondere kriegerische Fertigkeiten und
Am Abend gibt er in der Zeltstadt einen sie jährlich 20 Millionen Pfund Zwangs­ Loyalität. Für die gesamten Kosten des
Empfang für 5000 Gäste, um 23 Uhr abgaben nach London überweisen muss­ Heeres und der Verwaltung müssen die
geht Indiens Kaiser zu Bett, erschöpft te. Denn die Steuereinnahmen in Indien Steuerzahler des Landes aufkommen.
vom Tragen der schweren Krone. reichten nicht aus, um den Unterhalt der Trotz allem ist in Indien eine kleine,
Am Tag darauf empfangt er seine großen britischen Garnison, die Gehäl­ gut ausgebildete Schicht von Lehrern,
Offiziere und verteilt Orden. Im Zen­ ter und Pensionen der Kolonialbeamten Journalisten, Ärzten und Beamten der
trum Delhis zeigt sich das Königspaar sowie den Bau von Eisenbahnen zu Kolonialverwaltung entstanden (seit 1857
vom Balkon einer Festung noch einmal finanzieren. gibt es in Kalkutta, Madras und Bombay
einer gewaltigen Menschenmenge, so wie Auch die meisten indischen Klein­ Universitäten, auch Schulen haben die
es früher die Mogulkaiser taten. bauern plagten hohe Verbindlichkeiten, Briten eröffnet).
da sie die vom Kolonialregime geforder­
ten Steuern oft nicht zahlen konnten.
GEO EPOCHE Das Britische Empire 153
Diese neue Intelligenz fordert für
Inder nun immer lauter jene Rechte, wie
sie die Bürger der Dominions schon ge­
nießen, beispielsweise Selbstbestimmung
in der Innenpolitik, etwa in der Verwal­
tung und im Justizsystem.
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Doch die Kolonialverwaltung ist
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kaum bereit, selbst kleine Zugeständnisse
zu machen - und entfacht so in dem
Land, das in 14 Sprachen und Hunderte
Dialekte, in Kasten und mehrere Reli­
gionen gespalten ist, eine Nationalbewe­
gung, die nach und nach die Idee einer
Kooperation mit den Briten aufgibt.
Besondere Empörung hat 1905 die
als willkürlich wahrgenommene Teilung
Bengalens hervorgerufen, die vor allem
die Hindus in der Region schwächen
sollte, da in der durch die Spaltung neu
geschaffenen Provinz Ostbengalen die
Muslime in der Mehrheit waren. Die
Bevölkerung reagierte mit Protesten und
einem Boykott britischer Waren.
Manchen Indern aber genügt der
Britische Beamte sowie zahlreiche indische Fürsten erweisen Georg V. bei passive Widerstand nicht mehr: Extre­
seinem Besuch 1911 die Ehre. Seit ein paar Jahren jedoch gibt es auf dem Subkontinent misten haben militante Geheimgesell­
politische Aktivisten, die diese Zeit der Unterwürfigkeit beenden wollen schaften gegründet, sammeln Waffen für
einen Unabhängigkeitskrieg. Die Kolo­
nialherren gehen rigoros gegen die junge
Nationalbewegung vor: Ihre Anführer
werden verhaftet, diverse Zeitungen we­
gen Aufrufs zum Aufruhr verboten.
Vor allem in Bengalen nehmen die
Spannungen zu: Dort haben Muslime
1906 eine eigene Organisation gegründet,
die den Warenboykott verurteilt. Sie ver­
teidigen die Zerschlagung der Provinz,
da sie glauben, davon zu profitieren, und
erklären sich den Briten gegenüber loyal.

Die von Georg V. verkündete Rücknah­


me der Teilung ist also vor allem eine
Konzession an unzufriedene Hindus, die
jahrelang gegen sie demonstriert hatten.
Die Verlegung der Hauptstadt aus dem
bengalischen Kalkutta nach Delhi, die
einstige Mogulstadt, ist dagegen zugleich
eine Warnung an die Protestler, nicht
übermütig zu werden. Ansonsten zeigt
die liberale Regierung in London wenig
Interesse an echten Reformen in Indien.
Warum auch? Londons Herrschaft
Ein gewaltiger Pavillon beschirmt das königliche Paar bei der Zeremonie dort scheint 1911 trotz der wachsenden
in der Nähe von Delhi. Indien bleibt noch bis 1947 Kronkolonie - da hat der Proteste nicht ernsthaft in Gefahr, die
Zerfall des Weltreichs aber schon lange begonnen Nationalbewegung ist noch keine schlag-

154 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Offenbar zu recht, denn das Impe­
rium hält zusammen: Die Kolonien und
Dominions entsenden Truppen ins Mut­
kräftige Organisation. Und so ist das terland (insgesamt mehr als zwei Mil­ werden mit dem Westminster-Statut von
Bild, das Georg und seine Frau bei ihrem lionen Soldaten), liefern Lebensmittel, 1931 in jeder Hinsicht souveräne Staaten.
Staatsbesuch präsentiert bekommen, das Rohstoffe und Waffen. Allein aus Indien Indien aber hält London mit aller
eines archaischen, vermeintlich ewig un­ kommen 150 000 Pferde, Ponys und Gewalt im Reichsverband. Proteste wer­
wandelbaren Subkontinents. Maultiere, 146000 Gewehre, 1,4 Millio­ den niedergeschossen. Der Rechtsanwalt
Am 8. Januar 1912 steigt das Kö­ nen Granaten und 3000 Kilometer an Mahatma Gandhi steigt zum führenden
nigspaar in den Zug nach Bombay, zwei Eisenbahnschienen. Und mehr als eine Kopf der Nationalbewegung auf und
Tage später legt ihr Dampfer ab. Million Inder kämpfen für die Briten in kämpft gegen die Kolonialmacht. 1947
Am Ort des Durbar aber beginnen Europa, Afrika und Asien. schließlich ziehen sich die Briten aus
britische Architekten mit dem Bau jener Doch die Entscheidung in diesem dem „Kronjuwel“ des Empire zurück.
Kapitale, die Georg seinen indischen Krieg erzwingen die USA. Im April 1917 Es dauert zwar noch mehrere Jahr­
Untertanen versprochen hat: New Delhi. schließt sich Washington den Alliierten zehnte, bis London auch seine afrikani­
Eine Stadt mit prachtvollen Gebäu­ im Kampf gegen Berlin und dessen Ver­ schen, mittelamerikanischen und kari­
den, Parks, Plätzen und Boulevards nach bündete an, liefert Schiffe und Getreide, bischen Kolonien aufgibt, aber mit dem
europäischem Geschmack. Allein die gewährt London Kredit. Dank frischer Subkontinent hat das Empire seinen
neue Residenz des Vizekönigs wird sich US-Truppen beginnt im August 1918 die Status als globaler Titan verloren.
über anderthalb Hektar erstrecken. Erst erfolgreiche Gegenoffensive der Alliier­ Das Vermächtnis des Empire je­
1931 wird sie eingeweiht. ten. Das ist die Wende. doch hat überlebt - im Guten wie im
Gut drei Wochen nach ihrer Ab­ Am Ende gehört Großbritannien Schlechten. Seine Auswirkungen sind so
reise aus Indien erreicht Georgs kleine zu den Siegern - auch wenn es zu allgegenwärtig und so eng mit dem All­
Flotte die englische Küste. Der Monarch schwach war, den Krieg aus eigener Kraft tag von Millionen Menschen verwoben,
kehrt zurück in ein Land, in dem trotz für sich zu entscheiden. dass sie leicht zu übersehen sind: die
der Auseinandersetzungen der vergange­ Weltsprache Englisch, der globale Kapi­
nen Jahre noch immer kaum ein Politiker talismus, die Handelsnetze, die unseren
am Sinn des Empire zweifelt. Zugleich Planeten umspannen, die Verbreitung der
aber droht dem Reich neue Gefahr. parlamentarischen Demokratie, Metro­
Einerseits haben die erfolgreichen polen wie Mumbai oder Kalkutta, Staa­
Reformen im Innern auch das Empire ten wie Neuseeland oder Australien.
stabilisiert, und die außenpolitische Iso­ Aber auch die oftmals willkürlich
lation nach dem Burenkrieg ist durch­ gezogenen Ländergrenzen in weiten
brochen worden. So ist es Großbritanni­ Flüchtig betrachtet, steht das Empire Teilen der Erde, viele blutige Konflikte,
en gelungen, eine Annäherung mit zwei nun auf dem Höhepunkt seiner Macht. etwa zwischen Indien und Pakistan, die
seiner Rivalen zu erreichen: Mit Frank­ Es wächst sogar noch: In Afrika weht Entrechtung vieler Völker sowie der
reich hat es ein Abkommen geschlossen der Union Jack nun auch über Teilen noch immer andauernde Kampf um
und seine Konflikte in Afrika beigelegt. der einstigen deutschen Kolonien, im den Nahen Osten zählen zu den Hinter­
Und auch das durch die Niederlage im Nahen Osten besetzen die Briten die lassenschaften des größten Weltreichs
Krieg gegen Japan 1905 und revolutio­ früheren Besitzungen des Osmanischen der Geschichte.
näre Unruhen geschwächte Zarenreich Reiches, etwa Palästina und das Zwei­ Fast könnte man sagen: Das Erbe
hat sich in Asien mit London arrangiert. stromland. Nie zuvor war das Imperium des Empire ist nicht weniger als die
Doch andererseits nimmt die so groß. moderne Welt, in der wir leben. £
Wahrscheinlichkeit eines Krieges der Doch der Triumph im Ersten Welt­
Großmächte immer mehr zu. Und die krieg erweist sich als Pyrrhussieg: Die Dr. Ralf Berhorst, Jg.
1967, Autor in Berlin,
Spannungen werden sich bald entladen Staatsschulden des Königreichs sind von hat für GYLOEPOCHE bereits zwei andere
- nicht auf einem fernen Kontinent, son­ 600 Millionen auf 7,7 Milliarden Pfund Herrscher über Indien porträtiert: die Könige
dern mitten in Europa. Als ein bosnisch­ angewachsen — auch deshalb fordert Ashoka und Akbar.
serbischer Nationalist am 28. Juni 1914 London auf der Pariser Friedenskonfe­
den österreich-ungarischen Thronfolger renz so hohe Reparationen von Berlin.
und dessen Frau in Sarajevo erschießt, Der einstige Gläubiger der ganzen LITERATUREMPFEHLUNGEN: Franz-
eskaliert der Wettstreit zwischen den Welt ist selbst zum Schuldner geworden Josef Brüggemeier. „Geschichte Großbri­
imperialen Mächten. und hat seine führende Stellung in der tanniens im 20. Jahrhundert", C. H. Beck:
Nach dem Einmarsch deutscher Finanzwirtschaft verloren. Und so kann souveränes Panorama über das britische Kö­
Truppen am 4. August 1914 in das neu­ Großbritannien den Verfall seines Welt­ nigreich in dessen letztem imperialen Jahr­
trale Belgien zieht auch Großbritannien reiches nur mehr hinauszögern. hundert. Kenneth Rose. „King George V.",
in den Kampf, und wie selbstverständ­ Bereits 1919 erheben sich die iri­ Weidenfeld und Nicolson: etwas ältere, aber
lich erfolgen die Kriegserklärungen im schen Republikaner und erkämpfen bald immer noch die beste Biografie über den
Namen des gesamten Empire. die Freiheit für den katholischen Süden britischen Monarchen.
der Insel. Kurz darauf wird Ägypten
formal unabhängig, und die Dominions
GEO EPOCHE Das Britische Empire 155
Daten und Fakten

Rule, Britannia!
In den 99 Jahren zwischen 1815 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist Großbritannien
so mächtig wie kein anderes Land zuvor. Doch die Wurzeln des Empire reichen zurück bis ins
15. Jahrhundert - und sein Einfluss bis in die Gegenwart ----------------- von isabelle berens und frank otto

größte Seestreitmacht. seit dem 12. Jahrhundert einigen sich die Mächte
1498 1651
Auslöser des Angriffs ist dauerhaft zu etablieren auf eine Neuverteilung
Nordamerika. Im Auftrag ein Bündnisvertrag Elisa­ versucht, wodurch Irland England. Auf Drängen ihrer kolonialen Macht­
des englischen Königs beths I. mit den rebellie­ de facto die erste Kolonie einer Lobby einflussreicher sphären. Großbritannien
Heinrich VII. erkundet der renden Niederlanden, die Englands geworden ist Kaufleute erlässt das erwirbt von Spanien die
venezianische Seefahrer zum Besitz der spanischen - lässt der englische König Londoner Parlament die Flottenstützpunkte Gibral­
Giovanni Caboto (engl. Krone gehören. Die Kolo­ Jakob I. zahlreiche protes­ „Navigationsakte“, die tar und Menorca im Mit­
John Cabot) die Ostküste nialmacht Spanien be­ tantische Schotten und vorschreibt, dass der ge­ telmeer, zudem französi­
des Kontinents. Er nimmt fürchtet, England könne Engländer in der nord­ samte Überseehandel mit sche Gebiete in Amerika,
das Land zwischen dem ein neuer Konkurrent in irischen Provinz Ulster den englischen Kolonien wie die Hudson Bay. Neu­
Sankt-Lorenz-Strom und Amerika werden. ansiedeln. Das ist der Aus­ fortan nur mit englischen fundland und Neuschott­
der Hudson-Mündung gangspunkt des bis heute Schiffen abgewickelt wer­ land. und der Karibik.
1600
für die englische Krone in andauernden Konflikts den soll. Das Gesetz be­ Darüber hinaus erhält das
Besitz. Da Cabot in der England. Königin Elisa­ zwischen Protestanten und stimmt zwei Jahrhunderte Empire das Monopol auf
Region jedoch keine beth I. verleiht Londoner Katholiken in Nordirland. lang die Handelspolitik. den Sklavenhandel in die
erhofften Rohstoffe wie Kaufleuten das Monopol spanischen Kolonien La­
1613 1655
etwa Edelmetalle oder für den Handel mit Indien teinamerikas. Damit steigt
Zedernholz findet, zeigt und anderen Regionen in Indien. Der Mogul, Herr­ Karibik. Die Briten neh­ London zur Großmacht
England in den folgenden Asien. Sie gründen darauf­ scher über weite Teile In­ men das spanische Jamai­ auf den Weltmeeren auf.
Jahrzehnten kein Inter­ hin die East India Compa­ diens, stellt der East India ka ein. Schon zwei Jahr­
1739
esse an den Gebieten. ny. 1601 verlässt der erste Company einen Freibrief zehnte zuvor haben sich
Konvoi von vier größeren zur Gründung ihrer ersten britische Siedler auf der Großbritannien. Um
1585
Schiffen London in Rich­ Niederlassung in Surat an Insel Barbados niederge­ die spanische Vormacht­
Nordamerika. Der eng­ tung Indonesien und kehrt der indischen Nordwest­ lassen. Zunächst ist Jamai­ stellung in Westindien zu
lische Seefahrer Richard zwei Jahre später mit einer küste aus. Die Kaufleute ka ein Stützpunkt eng­ brechen und den Übersee­
Grenville erreicht mit 600 Ladung Pfeffer zurück. interessieren sich vor allem lischer Piraten, später handel des Konkurrenten
Auswanderern die Neue für den Handel mit Baum­ Umschlagplatz für afrika­ zu stoppen, erklärt London
1607
Welt. Sie gründen auf der wolle und Seide. Die erste nische Sklaven und Zen­ Madrid den Krieg. Doch
Insel Roanoke, in der Re­ Nordamerika. Am 26. englische Stadt auf dem trum des Schmuggels. die Briten können keinen
gion des heutigen North April erreichen drei Schiffe Subkontinent entsteht 1866 wird Jamaika zur entscheidenden Erfolg
Carolina, die erste eng­ mit 120 Auswanderern 1639: Fort St. George, das Kronkolonie erklärt. Die erringen, weil ihre Truppen
lische Uberseekolonie. Als die Chesapeake Bay und heutige Chennai. Insel bleibt bis Mitte durch Tropenkrankheiten
ein weiteres Siedlerschiff gründen dort Jamestown, des 20. Jahrhunderts in geschwächt sind. 1742 stel­
1620
zwei Jahre später vor der die erste Siedlung der britischem Besitz. len sie die Kämpfe ein.
Insel ankert, fehlt von den künftigen und dauerhaften Nordamerika. Nach
1713 1757
Pionieren jede Spur. Auch Kolonie Virginia - benannt zweimonatiger Überfahrt
der neue Besiedlungs­ nach der „jungfräulichen verfehlen 102 englische Niederlande. Im Frieden Indien. Vor allem durch
versuch scheitert. Königin“ Elisabeth I. Auswanderer an Bord der von Utrecht (der den Spa­ Bestechung siegt eine
Irland. Nach einem „Mayflower" das Ziel Vir­ nischen Erbfolgekrieg Armee der East India
1588
Aufstand der mehrheitlich ginia und landen rund 320 zwischen der siegreichen Company gegen die zah­
England. Im Ärmelkanal katholischen irischen Be­ Kilometer weiter nördlich Allianz unter Führung lenmäßig überlegenen
besiegt eine kleine eng­ völkerung gegen die engli­ in der Bucht von Cape Großbritanniens und den Truppen des Herrschers
lische Flotte die Spanische sche Herrschaft - die Lon­ Cod, wo sie die Siedlung verbündeten Franzosen von Bengalen, der zuvor
Armada, die weltweit don auf der Nachbarinsel New Plymouth gründen. und Spaniern beendet) das britische Fort in Kal-

156 GEO EPOCHE Das Britische Empire


kutta eingenommen hat. nent“ zu finden, umrundet zu bestimmen. Der Gou­ britischen Untertanen, sich
Kanada, das sich an dem
Das Geld der Briten bringt der Seefahrer James Cook verneur erhält zudem die am transatlantischen Skla­
Konflikt nicht beteiligt hat,
einen Großteil der benga­ Neuseeland und nimmt Befugnis, zukünftig Rich­ bleibt britisch. venhandel zu beteiligen.
lischen Truppen dazu, sich im Jahr darauf die Ost­ ter, Sheriffs und Geschwo­ Um den Menschenhandel
zu ergeben. In Folge erhält küste Australiens als rene zu benennen oder
1788 endlich zu stoppen, setzt
die Krone die Steuerrechte „New South Wales" für Gerichtsverfahren nach Australien. Eine Flotte die Seemacht andere
über Bengalen, obwohl die Krone in Besitz. England zu verlegen. Dervon elf Schiffen mit 723 europäische Staaten unter
nominell weiterhin ein ein­ Sträflingen an Bord landet Druck, ebenfalls ein sol­
Streit eskaliert, schließlich
heimischer Herrscher
1773 verlangen die Vertreter nach achtmonatiger Über­ ches Verbot zu erlassen,
regiert. Acht Jahre später Großbritannien. Das der Kolonien uneinge­ fahrt nördlich der Botany und rüstet eine Kriegsflot­
übernehmen die Briten Parlament übernimmt die schränkte Selbstständig­Bay. Die britische Regie­ te aus, die vor der afrikani­
die gesamte Verwaltung. Kontrolle über die East keit. Als Großbritannienrung hat zwei Jahre zuvor schen Küste patrouilliert,
India Company, die in die Gründung einer Straf­ dort verdächtige Schiffe
die Autonomie verweigert,
1763 finanziellen Schwierig­ beginnen die amerikani­ kolonie in New South abfängt und lokale Macht­
Frankreich. In Paris keiten steckt. Warren schen Siedler einen be­ Wales beschlossen. Insge­ haber dazu zwingen soll,
beschließt ein Friedens­ Hastings, erster General­ waffneten Aufstand. samt werden rund 160 000 den Menschenhandel
vertrag jenen Teil des Sie­ gouverneur in Indien, Sträflinge nach Australien von ihren Territorien aus
benjährigen Krieges, der reformiert in der Folge
1775 verbannt, ehe die Depor­ zu untersagen.
in Westeuropa, Nordame­ die korrupte Verwaltung Nordamerika. Im April tationen in den 1860er
rika und Indien zwischen in Kalkutta und erobert - kämpfen erstmals eng­ Jahren enden.
1815
Großbritannien und den teils durch Diplomatie, lische Soldaten und eine Belgien. Bei Waterloo.
verbündeten Frankreich teils durch Gewalt - wei­ Miliz aus Massachusetts
1805 15 Kilometer südlich
und Spanien ausgefochten tere indische Gebiete. gegeneinander. Delegierte Spanien. Vor Kap Tra­ von Brüssel, schlägt eine
worden ist (der andere Nordamerika. Als Indi­ der Kolonien ernennen falgar besiegt das von Armee aus britischen,
Teil des Krieges, in dem aner verkleidete Bostoner den militärisch erfahrenen Vizeadmiral Lord Horatio niederländischen und
sich Preußens König Fried­ Bürger entern ein mit Tee George Washington aus Nelson kommandierte deutschen Soldaten die
rich II.. Londons Alliierter, beladenes Schiff der East Virginia zum Befehlshaber Geschwader der Royal Streitmacht Napoleons.
und Kaiserin Maria There­ India Company und wer­ der kolonialen Truppen. Navy die vereinigte fran­ Damit endet für die Krone
sia gegenübergestanden fen die gesamte Ladung zösisch-spanische Flotte. der letzte von sieben
hatten, endet kurz darauf ins Hafenbecken. Die
1776 Der französische Kaiser großen Kriegen seit 1689
mit dem Frieden von Hu­ „Boston Tea Party“ ist der Nordamerika. Am 4. Juli Napoleon muss nach gegen Frankreich. Groß­
bertusburg). Durch das Höhepunkt eines lange verkünden die 13 briti­ dieser Niederlage sein britannien hat sein Ziel
Abkommen erhält Groß­ schwelenden Streits zwi­ schen Kolonien ihre Unab­ Ziel, England zu erobern, erreicht, den Hauptrivalen
britannien von Frankreich schen den 13 nordamerika­ hängigkeit vom Mutter­ endgültig aufgeben. Mit auszuschalten, und ist
dessen Besitzungen in nun unangefochtene
Neuschottland, Kanada, Seemacht; zudem wird
Louisiana (östlich des Mis­ ihm auf Jahrzehnte vom
sissippi) sowie von Spanien
Die Briten demütigen Frankreich Kontinent keine Gefahr
Florida. Darüber hinaus mehr drohen.
bekommt London neue
Stützpunkte im Mittel­ nischen Kolonien und dem land und schließen sich zu dem Triumph, einem sei­
1819
meer, in Afrika und der britischen Mutterland, das den Vereinigten Staaten ner bedeutendsten mariti­ Singapur. Sir Thomas
Karibik. Dadurch ver­ versucht, die Ubersee­ von Amerika zusammen. men Siege, sichert sich Stamford Raffles, Lieute­
schiebt sich das Macht­ besitzungen durch Steuern In den nachfolgenden Großbritannien die Vor­ nant-Governor von Beng-
gleichgewicht auf dem an den steigenden Kosten Kämpfen werden die ame­ herrschaft zur See und kulu, einem Stützpunkt
Globus zugunsten Groß­ für Militär und Verwaltung rikanischen Truppen von baut diese Stellung durch der East India Company
britanniens. das den des Empire zu beteiligen. Frankreich und Spanien weitere Stützpunkte syste­ auf Sumatra, gründet in
Krieg eigentlich nur zum Die Kolonisten fordern unterstützt. Vor allem we­ matisch aus. So bringt ein dem Piratennest Singapur
Schutz der eigenen Kolo­ Mitbestimmung im briti­ gen der großen Distanz Angriff der Royal Navy einen britischen Handels­
nien geführt hatte. schen Parlament, sonst hat Großbritannien 1806 das Gebiet am Kap hafen. weil er den Einfluss
wollen sie keine Abgaben Schwierigkeiten, seine der Guten Hoffnung an der Niederländer in dem
1769 an das Mutterland mehr Truppen zu versorgen. der Südspitze Afrikas un­ Gebiet fürchtet, das alle
Südpazifik. Während leisten. London ergreift Nach mehreren mili­ ter britische Kontrolle. Frachtschiffe auf der Rou­
einer Reise mit dem Auf­ Strafmaßnahmen, schließt tärischen Niederlagen te zwischen China und
trag. für Großbritannien den Bostoner Hafen, akzeptiert London 1783
1807 Indien passieren müssen.
im südlichen Pazifik einen widerruft die Rechte der die Unabhängigkeit seiner Großbritannien. Das Da die Niederländer
„unbekannten Südkonti­ Kolonie, ihre Räte selbst ehemaligen Kolonien. Parlament verbietet allen ebenfalls Ansprüche auf

GEO EPOCHE Das Britische Empire 157


Singapur erheben, muss hatten auf den Aufstand Afghanistan Teil der briti­ zu mehreren Kriegen, die Briten den Ort und setzen
sich London mit ihnen der Zwangsarbeiter mit schen Einflusssphäre. bis 1872 andauern und mit den Herrscher ab. Zehn
1824 in einem Vertrag brutaler Vergeltung rea­ der Niederlage der Maori Jahre später nimmt die
einigen: Die Briten über­
1839
giert. Nachrichten von den enden. Die Ureinwohner Krone den Küstenstreifen
nehmen die Stadt Malakka Racheaktionen empörten China. Ein kaiserlicher verlieren große Teile um Lagos offiziell als
und behalten Singapur die britische Öffentlich­ Sonderkommissar lässt ihres Landes. Kolonie in Besitz.
und verzichten zugunsten keit, die fortan starken 1200 Tonnen britisches
Den Haags auf ihre Terri­ Druck auf die Parlamen­ Opium vernichten. Seit
1851 1854
torien auf Sumatra. Zu tarier ausübte. mehr als vier Jahrzehnten Australien. In New South Südliches Afrika. Der
diesem Zeitpunkt ist Sin­ verkauft die East India Wales wird Gold entdeckt. Schotte David Livingstone
gapur bereits ein bedeu­
1835
Company Opium aus Diese Nachricht lockt startet eine zweijährige
tender Umschlagplatz Südafrika. Viele Buren, Bengalen an britische Zwi­ Glücksritter aus aller Welt West-Ost-Expedition
für Gummi, Zinn und Ol Siedler vor allem nieder­ schenhändler, die es auf an. Innerhalb eines Jahr­ durch das noch uner­
und wird später zu einem ländischer Herkunft, ver­ Schiffen nach China trans­ zehnts steigt die weiße forschte südliche Afrika.
wichtigen Stützpunkt Während seiner Reise
der Royal Navy. entdeckt er als erster Eu­
ropäer die riesigen Was­
1831 Ein Schotte durchquert Südafrika serfälle am Mittellauf des
Jamaika. Der Prediger Sambesi und nennt sie
Sam Sharpe organisiert zu Ehren der britischen
einen Streik unter den lassen die britisch domi­ portieren. Dort wird die Bevölkerungszahl Austra­ Königin „Victoria Falls".
Sklaven auf der Insel. Der nierte Kapkolonie. Denn Droge dann von einheimi­ liens von 400 000 auf über Großbritannien.
daraus resultierende Auf­ die Krone hat sie gezwun­ schen Gangstern weiter­ eine Million an. Die Ver­ Die Regierung gründet
stand von 60 000 Unfreien vertrieben, Schätzungs­
gen, alle Sklaven auf ihren waltungen der inzwischen ein Ministerium für die
wird nach vier Wochen Farmen in die Freiheit zuweise zwölf Millionen fünf britischen Kolonien Kolonien. Zuvor sind
niedergeschlagen - und entlassen. In den folgen­ Chinesen sind opiumsüch­ auf dem Kontinent versu­ sie vom Kriegsminister
Sharpe gehängt. den zehn Jahren ziehen tig. Als der Kaiser in Bei­ chen. mit kostenpflichti­ mitverwaltet worden.
Tasmanien. Die letzten rund 14000 Buren nach jing nun den Handel mit gen Schürflizenzen an den
der einst 5000 Ureinwoh­ Norden und gründen dem Rauschmittel verbie­ Gewinnen der Goldgräber
1856
ner dieser Insel südlich von die Republiken Oranje- tet, setzen die Briten im teilzuhaben. Dagegen China. Zweiter Opium­
Australien geben den Wi­ Freistaat und Transvaal. ersten „Opiumkrieg”, der entwickelt sich 1854 ein krieg. Als Beamte der
derstand gegen die briti­ bis 1842 andauert, ihre Aufstand, den die Briten kaiserlichen Regierung ein
schen Einwanderer auf.
1837
Interessen durch: Das chi­ blutig niederschlagen. britisches Schiff wegen
Durch Morde und von den Großbritannien. Als nesische Handelsmonopol Großbritannien. Verdachts des Opium­
Europäern eingeschleppte Nachfolgerin König wird abgeschafft, fünf Königin Viktoria eröffnet schmuggels durchsuchen
Krankheiten ist die Zahl Wilhelms IV. besteigt die Städte an Chinas Küste am 1. Mai im Londoner und die Besatzung verhaf­
der Ureinwohner auf rund 18-jährige Viktoria den müssen sich dem euro­ ..Crystal Palace" die erste ten, nimmt London das
200 dezimiert worden. Die englischen Thron. Es ist päischen Handel öffnen, Weltausstellung - eine zum Anlass, China erneut
Briten siedeln sie auf eine der Beginn des bis 1901 und Großbritannien Schau der größten Errun­ anzugreifen. Mit franzö­
australische Insel um. dauernden Viktorianischen erhält das ein Jahr zuvor genschaften in Technik, sischer Hilfe siegt das
Zeitalters, in dem das besetzte Hongkong. Produktion. Kunst und Empire nach zwei Jahren.
1833
Empire den Höhepunkt Design. Diese und nach­ China muss Kowloon,
Großbritannien. Das seiner Macht erreicht.
1840
folgende Ausstellungen das Festland nördlich von
Parlament beschließt per Neuseeland. Die Briten präsentieren den Reichtum Hongkong, an Großbri­
Gesetz das Verbot der
1838
schließen mit den Urein­ und die Exotik des Empire. tannien abtreten. Die Öff­
Sklaverei in den britischen Afghanistan. Britische wohnern, den Maori, einen Nigeria. Um den Skla­ nung elf weiterer Häfen
Kolonien zum nächsten Truppen aus Indien fallen Vertrag und machen die venhandel wirksam zu verbessert die Handels­
Jahr. Es ist ein Triumph in das Emirat am Hindu­ Doppelinsel zur Kolonie. unterbinden, lässt London möglichkeiten für auslän­
der 1823 gegründeten und kusch ein. Damit will die Der Plan, anders als bei seit Jahrzehnten eine eige­ dische Kaufleute. Da Chi­
vor allem christlich-mora­ Krone ihren Einfluss in anderen Landnahmen ne Flotte vor der Küste nas Kaiser jedoch keine
lisch motivierten „Anti- Asien festigen, da die diesmal im Einverständnis Afrikas kreuzen, die vor diplomatischen Vertretun­
Slavery Society“. Entschei­ Regierung in London be­ mit den Einheimischen allem verdächtige Schiffe gen in Beijing gestattet,
dend beigetragen zu die­ fürchtet. dass Russland vorzugehen, scheitert an aufbringen soll. Doch als nimmt eine britisch-fran­
sem Beschluss hat aber sonst eines Tages bis nach Übersetzungsfehlern des sich der König von Lagos zösische Armee die Kapi­
auch die Rebellion der Skla­ Indien vorstoßen könne. Vertrags und an den Inter­ weigert, das Geschäft auf tale ein, plündert und zer­
ven 1831 auf Jamaika. Die Doch erst nach einem essen der weißen Siedler seinem Territorium zu stört die Sommerpaläste.
Plantagenbesitzer dort zweiten Krieg 1880 wird in Neuseeland. Es kommt verbieten, beschießen die Der Kaiser kapituliert: Der

158 GEO EPOCHE Das Britische Empire


Opiumhandel wird lega­ als die Hälfte des Subkon­ wenige Jahre zuvor eröff- islamischen Erlösers, des
lisiert, und fortan dürfen tinents (einschließlich des neten Suezkanal. Die „Mahdi“, der den Dschi­
1885
westliche Vertreter in heutigen Bangladesch und Wasserstraße verkürzt den had gegen die Fremdherr­ Indien. In Bombay tritt
Beijing residieren. weiten Teilen Pakistans Seeweg nach Asien um schaft ausgerufen hat, zum ersten Mal der „Indian
und Birmas). Der Rest wird mehrere Tausend Kilo­ besiegen drei ägyptische National Congress“ zu­
1857 von mehr als 550 einheimi­ meter. In der Folge wird Armeen. Die Briten ent­ sammen, eine politische
Indien. Ein britisches Mili­ schen Fürsten regiert, die der Kanal zur Hauptver­ senden daraufhin General Organisation der einhei­
tärgericht verurteilt sepoys, jedoch von den Kolonial­ kehrsader des Empire. Charles George Gordon mischen Führungsschicht.
einheimische Söldner un­ herren abhängig sind. nach Khartum. Er soll die Mit ihrer Forderung nach
ter dem Kommando briti­
1877 dortigen Soldaten und mehr Mitbestimmung wird
scher Offiziere, zu langen
1861 Indien. Vizekönig Robert Zivilisten evakuieren. Doch der Kongress zur Keim­
Haftstrafen. Sie haben sich Großbritannien. In Lytton ruft Königin Vikto­ im Frühjahr 1884 wird zelle der indischen Unab­
geweigert, eine neue Mu­ London läuft die „HMS ria in Delhi zur Kaiserin von Gordon eingeschlossen, hängigkeitsbewegung,
nition zu verwenden, da Warrior" vom Stapel. Der Indien („Kaiser-i-Hind“) Khartum monatelang
die Patronen angeblich mit Bau des ersten ozean­ aus. Damit soll vor allem von den Anhängern des
1889
Schweine- oder Rinderfett tauglichen Panzerschiffes das Prestige der Monar­ Mahdi belagert und Südafrika. Königin Vikto­
eingeschmiert und somit der Royal Navy verstärkt chin gegenüber dem schließlich gestürmt, wo­ ria gewährt Cecil Rhodes
für Hindus und Muslime noch die Dominanz der Zaren gestärkt werden. bei der General und die das Recht, Gebiete im
verunreinigt seien. Als britischen Flotte auf gesamte Garnison getötet heutigen Simbabwe zu
Reaktion auf das Urteil den Weltmeeren.
1880 werden. Der Mahdi-Auf­ besiedeln. 1890 entsendet
meutern Kameraden aus Südafrika. Der englische stand ist eine der ersten der Diamanten-Tycoon
der bengalischen Armee
1867 Pfarrerssohn Cecil Rhodes erfolgreichen Revolten bewaffnete Siedler und
am nächsten Tag, befreien Kanada. Mit der Zustim­ gründet mit einigen Part­ gegen die britische Kolo­ Truppen, um die Privat­
die Gefangenen und er­ mung des britischen Parla­ nern in den Diamantfel­ nialmacht in Afrika. Erst kolonie in Besitz zu neh­
schießen britische Offizie­ ments schließen sich am dern von Kimberley die 1898 können die Briten men. Sie heißt ab 1895
re und Zivilisten. Daraus 1. Juli die im Osten des De Beers Mining Com­ den Aufstand in Omdur- nach ihrem Gründer

Daten und Fakten


entwickelt sich ein Auf­ heutigen Kanada gelege­ pany. Bis 1889 wird er sich man blutig niederschlagen. „Rhodesien“.
stand gegen die Fremd­ nen Kolonien Quebec, in Südafrika ein Monopol Mithilfe einer neuartigen
herrschaft, der sich auf Ontario, New Brunswick auf die wertvollen Kristalle Waffe, des Maschinen­
1898
dem gesamten Subkonti­ und Nova Scotia zu einem sichern und mit der welt­ gewehrs, töten sie Sudan. Am Weißen Nil
nent ausbreitet. Mehr dominion zusammen, einer weit größten Produktion 10 000 Rebellen. stellt der englische Feld­
als ein Jahr lang kämpfen quasi halb unabhängigen zum mächtigsten Unter­ marschall Horatio Kitche-
indische Söldner gegen Kolonie, die von London nehmer und Finanzier am
1884 ner ein französisches Ex­
britische Soldaten, ehe die Ermächtigung erhält, Kap aufsteigen. Deutschland. Auf Ein­ peditionskorps. das dort
die den Aufstand blutig ihre innenpolitischen ladung des Reichskanzlers sein Fort errichtet hat, und
niederschlagen können. Angelegenheiten fortan
1882 Otto von Bismarck treten fordert es zum Rückzug
selbst zu regeln. Nach Ägypten. Am 11. Juli in Berlin Delegierte von auf. Dies ist der Höhe­
1858 diesem Vorbild werden bombardieren britische zwölf europäischen Natio­ punkt im Wettstreit der
Großbritannien. Als Jahrzehnte später weitere Kriegsschiffe den Hafen nen sowie aus den USA beiden Mächte um die
Reaktion auf den Aufstand britische Gebiete zu Do­ von Alexandria. Grund und dem Osmanischen Vorherrschaft in Afrika.
in Indien verabschiedet minions: Australien (1901), dieser Intervention ist ein Reich zusammen, um ihre Denn während Paris eine
das Londoner Parlament Neuseeland sowie Neu­ Aufstand ägyptischer Interessen in Afrika zu koloniale West-Ost-Ver-
den „Government of India fundland (1907) und Süd­ Offiziere, der die britische regeln. Fast der gesamte bindung von Dakar bis
Act“. Mit diesem Gesetz afrika (1910): allerdings Kontrolle über den Suez­ Kontinent wird anschlie­ Dschibuti anstrebt, träumt
übernimmt die Krone von bleibt dieser privilegierte kanal bedroht. Nach ßend im „Wettlauf um London von einem Reich,
der East India Company Zustand auf von Weißen dem Ende der Rebellion Afrika“ bis 1914 unter den das sich von Kairo im
die Herrschaft über Bri- besiedelte Kolonien besetzen die Briten das Teilnehmern aufgeteilt, Norden bis zum Kap der
tisch-lndien. Zwar erhält beschränkt. Land und üben fortan vor allem Großbritannien Guten Hoffnung im
nun das neu gegründete die Regierungsgewalt aus, und Frankreich profitieren. Süden erstreckt. Da die
Ministerium „India Office“
1875 obwohl nominell ein Die Briten werden in den Franzosen den Briten
die Verantwortung für die Ägypten. Das britische Vasall des osmanischen Jahren bis zum Ersten militärisch nicht gewach­
Verwaltung der Kronkolo­ Kabinett kauft für gut drei Herrschers an der Spitze Weltkrieg weite Gebiete sen sind, verzichten sie
nie, die Herrschaftsstruk­ Millionen Pfund von der des Staates steht. des heutigen Botswana, auf den Sudan.
turen vor Ort bleiben ägyptischen Regierung, Swasiland, Simbabwe, China. Die britische
jedoch fast unverändert die vor dem Bankrott
1883 Sambia, Kenia. Uganda, Regierung unterzeichnet
bestehen. Großbritannien steht, 40 Prozent der Ägypten/Sudan. Kämp­ Nigeria, Sudan und Soma­ mit Beijing einen Pacht­
herrscht nun über mehr Aktienanteile an dem erst fer eines selbst ernannten liland annektieren. vertrag über die „New

GEO EPOCHE Das Britische Empire 159


Territories“ nahe Hong­ Frankreich erhält Marokko, Weltreich gehören unter fang der 1920er Jahre der
kong. Für die nächsten erkennt dafür im Gegen­
1914 anderem die Dominions Bürgerrechtler Mohandas
99 Jahre stehen damit das zug die britische Vorherr­ Großbritannien. Am 4. Au­ Kanada, Australien, Süd­ Karamchand Gandhi.
nördliche Umland der schaft in Ägypten an. gust erklärt die britische afrika, Neufundland und
Stadt sowie mehr als 230 Regierung für das gesamte Neuseeland sowie die
1930
kleinere Inseln unter engli­
1906 Empire dem Deutschen Kolonien Indien. Singapur Indien. Gandhi ruft den
scher Kontrolle. Die Kron­ Großbritannien. Auf Reich den Krieg. Rund und Ceylon und Besitzun­ „Tag der Unabhängigkeit“
kolonie wächst dadurch der Marinewerft läuft ein 2,5 Millionen Soldaten aus gen in Süd- und Mittel­ aus und fordert London
um ein Vielfaches. neues, stark gepanzertes den Dominions und Kolo­ amerika wie Honduras, auf, die politischen Gefan­
und mit überlegener Ge­ nien werden im Ersten British-Guayana. die genen freizulassen, zum
1899 schützreichweite ausge­ Weltkrieg für Großbritan­ Bahamas und Jamaika. Schutz der indischen In­
Südafrika. Als sich die stattetes Großkampfschiff nien kämpfen. Mehr als Zudem kontrolliert Lon­ dustrie Zölle auf die in
Burenrepublik Transvaal vom Stapel, die „HMS 130 000 Kanadier, Austra­ don nun auch weite Teile Großbritannien gefertig­
weigert, die rechtliche Dreadnought". Auf einen lier und Neuseeländer Afrikas und des Nahen ten Textilien zu erheben
Situation der nichtburi- Schlag sind alle anderen sowie 100 000 Afrikaner, Ostens, etwa Palästina. und die hohe Salzsteuer
schen Einwanderer zu Kriegsschiffe veraltet. Das die den Truppen als Träger abzuschaffen. Als die Bri­
verbessern, verstärkt Groß­ seit Jahren anhaltende dienen, kommen um.
1921 ten nicht nachgeben, star­
britannien als Drohung die Wettrüsten mit dem Deut­ Großbritannien/ Irland. tet Gandhi mit Begleitern
Truppen an der Grenze schen Kaiserreich um die
1917 Ein Vertrag beendet einen 385 Kilometer lan­
der Kapkolonie. Daraufhin Vorherrschaft zur See Indien. Edwin Montagu, den in Irland seit 1919 gen Protestmarsch gegen
erklärt Transvaal, gefolgt erreicht damit seinen der britische Indienminis­ anhaltenden Guerilla­ das britische Salzmonopol
vom benachbarten Oran­ Höhepunkt. ter, verspricht der indi­ krieg der Unabhängig­ an die Küste. Tausende
je-Freistaat, London den Indien. Um die schen Bevölkerung, ange­ keitsbewegung IRA. Als folgen seinem Aufruf,
Krieg. Die Briten sehen Rechte der islamischen sichts ihrer Unterstützung „Irischer Freistaat" erhält verbotenerweise selbst
nun eine Chance, die Bu­ Minderheit auf dem im Ersten Weltkrieg, die der Süden der Insel am Salz zu gewinnen. Bald
renstaaten zu annektieren Subkontinent zu wahren, Mitbestimmung in der 6. Dezember den Status breitet sich der Protest
und damit ihre Vorherr­ gründen indische Muslime Regierung ihres Landes. eines Dominion und über ganz Indien aus.
schaft in Südafrika zu festi­ im bengalischen Dhaka damit weitgehende Auto­
gen. Nach anfänglichen
1919 1932
die Muslimliga („All-India nomie. Nordirland hin­
Erfolgen der Buren errin­ Muslim League“). Es ist Indien. Im nordindischen gegen bleibt Teil des Ver­ Großbritannien. Mit dem
gen die Briten durch ihre eine Gegenbewegung Amritsar demonstrieren einigten Königreichs. Statut von Westminster
zahlenmäßige Überlegen­ gewährt London seinen
heit die Oberhand und Dominions auch formal
gliedern die Republiken die fast vollständige Unab­
1900 ihrer Kolonie an. Den 1997 verliert London auch Hongkong hängigkeit. Sie gelten nun
daraufhin einsetzenden als „autonome Gemein­
Guerillakampf der Buren schaften innerhalb des
kann London nur mit bru­ zum überwiegend hinduis- 20 000 Inder friedlich für Britischen Empire", die
taler Härte niederschla- tischen Nationalkongress, ihre Unabhängigkeit. Auf
1922 durch die Krone vereint
gen, etwa durch die Inter­ der sie ihrer Meinung Befehl des britischen Kom­ Ägypten. Das Nilland wird sind. Das Gesetz ist zu­
nierung von Frauen und nach nicht ausreichend mandeurs eröffnen Kolo­ als erste afrikanische Kolo­ gleich die Geburtsstunde
Kindern in Konzentrations­ repräsentiert. nialtruppen das Feuer auf nie in die Unabhängigkeit des „British Common­
lagern. Der Krieg endet die unbewaffnete Menge. entlassen. Der zuletzt unter wealth of Nations“ (von
1911
1902: Die Burenrepubliken Offiziell gibt es 379 Tote, den Briten amtierende Sul­ Commonwealth, englisch
werden britische Kolo­ Indien. In einer prächtigen tatsächlich sind es wohl tan wird zu König Fuad I.; für „Gemeinwesen“).
nien, erhalten Hilfe beim Zeremonie, an der sämtli­ dreimal so viele Opfer. Londons Einfluss bleibt In den folgenden Jahr­
Wiederaufbau und eine che indische Fürsten sowie Frankreich. Während aber noch lange bestehen. zehnten wird sich dieser
Zusage baldiger innerer 80 000 Zuschauer teilneh­ einer fünfmonatigen lose Verbund souveräner
Autonomie. men, lässt sich der engli­ Friedenskonferenz wird
1929 Staaten zur Nachfolge­
sche König Georg V. in der Erste Weltkrieg offi­ Indien. Großbritannien organisation des britischen
1904 Delhi als Kaiser von Indien ziell beendet. Obwohl ignoriert ein Ultimatum Weltreichs entwickeln.
Großbritannien/Frank­ feiern. Während seines Großbritannien durch der indischen Kongress­
1939
reich. Die beiden europäi­ Besuches legt er auch den die Kriegsanstrengungen partei, in dem die Erhe­
schen Mächte schließen Grundstein für eine neue geschwächt ist, erreicht bung Indiens zum Domi­ Großbritannien. Nach
ein Abkommen, um ihre Kapitale, die zwei Jahr­ das Empire in den folgen­ nion gefordert wird. Ablaufeines Ultimatums,
kolonialen Interessen in zehnte später fertiggestellt den Jahren seine größte Anführer der indischen die Truppen der Wehr­
Afrika auszugleichen. wird: New Delhi. Ausdehnung. Zu dem Nationalisten ist seit An­ macht zurückzuziehen, die

160 CEO EPOCHE Das Britische Empire


GEOEPOCHE
Das Magazin für Geschichte

GEO-LESERSERVICE
drei Tage zuvor Polen Damit endet die fast 200- Jahr wird Nigeria unab­
Fragen an die Redaktion
überfallen haben, erklärt jährige Herrschaft der Bri­ hängig, Uganda 1962,
Telefon: 01805/J7052098. Telefax 040/57OJ5648
London dem Deutschen ten auf dem Subkontinent. Kenia 1963 und zuletzt E-Mail: briefe@geo-epoche de

Reich am 3. September Swasiland 1968. Und in Die Redaktion behalt sich die Kürzung und Veröffentlichung
1952 von Leserbriefen auf www geo-epoche de vor.
den Krieg. Anders als Rhodesien erklären weiße
im Ersten Weltkrieg gilt Kenia. Radikale schwarze Siedler ihr Gebiet 1965, ABONNEMENT- UND EINZELHEFTBESTELLUNG
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1956
afrika rund 200 000 Solda­ krieg des Empire.
FOTOVERMERK NACH SEITEN
ten. Nur Irland erklärt Ägypten. Der ägyptische A nordnung im Layout. /.= links. r.= rechts, o.= oben,
1997
seine Neutralität. Präsident Gamal Abdel m - Mitte. u = unten

Nasser verkündet die Ver­ China. Weil der Pachtver­ TtTIL S»n<4ci of Ciirfcnd^ Univwwy Lfcmy EDITORIAL Bew* 0*1 fa*
1940
staatlichung des Suez­ trag von 1898 für die New GEOEPOCHE 5 o . Camr.al Fdms 3 m INHALT Chnsties Images/Bndgeman Art
bbrary. 4 l o.. Derek Bayes/Lebrecht MusK'Ans/Corbo 4 r. o.. almd.net. 4 I. m.

Indien. Die Muslimliga kanals. Die Briten fürchten Territories ausläuft - und Moniel/TKe LIFE Picture Collecton/Getty Images: 4 I u.. Mary Evara/Interfoto
4 m u BaUmn H Ward & Kathryn C Wa-d/Corbs 4 r u DIE HERREN
DER WELT Syndici of Camfcndge Unrversity Lfcrary 6/7. Alcian/Getty knages 8/9.
fordert einen unabhängi­ um ihren Transportweg, Hongkong allein nicht über­ Derek Bayes/Lebrecht Mu»c*Arts/Cocbs 10/11; Phlpp KesteriVilstefi bld 12/13.
Graogct Collection/hterfoto 14/13. Science & Sooety Picture Ubrary/Getty knages
gen muslimischen Staat vor allem für den Ol­ lebensfähig wäre wird 16/17 Kikon A/chr.e/Gett> Images. 18/1». HUtorvDeutsch Cotecbon/Corb». 20/21
AUFSTIEG DES IMPERIUMS; Stcfame IWs für GEOEPOCHE 22. 23 DER
namens „Pakistan" (ein import. Gemeinsam mit die gesamte britische Kron­ TRAUM DES MR RAFFLES CWes Imsgei/Bndgnan Art Lfcrary 26/27 Pum
Vertag Volte« Cbijten/Bndgeman Art Library Tm Wehrmann für GEOEPOCHE 28.
Kunstwort, gebildet aus Frankreich und Israel kolonie am 1. Juli an die Luca Tettcm/Bndgemsn Art Library 28/29. 36. Stock Montage/Super Stock/Interfo­
to 30: Bndgeman Art Lfcrary 31 o Privat sammk*>g. Tim Wehrmann hß GEO EPO­
den Anfangsbuchstaben greifen sie militärisch ein. Volksrepublik China über­ CHE 31 u . Collection of the National Museum of Singapore. National He”tage 8oard
32/33.34/35. Hentage Images/Corbs 35 o. Look and Learn/ Husrrated Papers CoBcc-
der Gebiete Punjab, Af­ Ihre Truppen besetzen geben. Mit dem Verlust tior\/Bndgeman An bbra-y Tn, Wehrmann für GEO EPOCHE 5' REBELLION
AUF DER ZUCKERINSEL Chiwtie» Images/Bndgeman An bbary 40/4- 43 ©
ghanistan, Kaschmir und die Kanalzone, werden der letzten bedeutenden Mary Evans/Interfoto 42. 44. 4». Stefan« Peters hjr GEOEPOCHE 43 u. Robana/
Bntisb Library 8©ard/bp*: 43. Yaie Center fo» Braish Art Paul Mellon Coüect>o*V
Sindh sowie der letzten aber kurz danach durch Uberseebesitzung endet Bndgeman Art Library 46. Bibbotheque des Am Decoratrfv Parts/Atchives Charmet/
Bndgeman Art Library. 4t Chfutopher Issa Collection. Jamarca 4». akg-images 50.

Silbe von Baluchistan). weltweite Proteste und die 155-jährige britische Ko­ PrtvatsamiHtng 31 DAHEIM IN DER FREMDE; Mwy Evans/lr**dcto 52. 54 o
57 u . 58 o. Top Foto/Ulste« bld SS 54 u 57 o SB j DIE DROGENHÄNDLER

Drohungen ihres engsten lonialherrschaft in China. IHRER MAJESTÄT: Edward Duncan/National Mantme Museum. Londo^lKerfoco.
60/61 dpa Pieture-ABance. 63 (2). 64/65 akg-tmages. 64 u.. 67 m_. 67 u. Iotas Ph-
1947
Bündnispartners USA Das Empire - das einst kppe Alphonse Bicheboo, National L-brary of AustraliA an10J9S0?9. 65 u . Soence
Photo Lferary/akg-mager 66/67. Yale Cento« for 8r.tr>, Art. Paul Melcn Collection/
Bndgeman An bbrary 68 ddp Images 69 o . almd.net 69 u. Oranger Collection/
Indien. Anfang Juni stellt zum Rückzug gezwungen. ein Viertel der Landfläche Interfoto 70 Stefane PVten f* GEOEPOCHE. 72 LAND DER WEISSEN WOLKE:
Aleaander Tumbell Library Nabend Lfcrary of Ne« Zealand 74. P-rvatsamrWmg 75
der neue Vizekönig Louis Das gedemütigte Groß­ der Erde umfasste - ist IM REICH OER KOPFJÄGER; Oranger Cdlecoon/lnteHoto 76.. Look and Learr/
Nustrated Papers Coftection/Bndgeman Art Library- 77. 80/81. 82. 83 (2). 84 85. 87.
Mountbatten einen Plan britannien hat - für alle mittlerweile zu einer An­ Top Foto All «er, brtd 78. Bnbsh Lfcrary Board 79. Stefane Peters für GEOEPOCHE
81 u . StaatsbibJiothel zu Berfm/bpk. 86. Mary Evans/Irvedoto. 88. Leemage/imago
zur Teilung Britisch-Indiens sichtbar - seine Position sammlung bedeutungs­ 89 KÜSTE DER VERDAMMTEN -Vm Ronan P.cturej/dpa P.eture-AJUxe »0
Bndgeman Art bbary 9* LONDON ZENTRUM DER WELT Mansell/The LIFE
in zwei unabhängige als Weltmacht verloren. loser Inseln wie St. Helena Ptcture Collectwn/Getty Images. 92/93. Bnlnh bbrary/Soence Photo bbrary/Agcn-
hr Focus 94. Poppedoto/Getty Images 95 uliten bld 96.102. tOI w. Corbis 96/97
Staaten vor: Indien für die herabgesunken. Wichtigs­ Th« Keaibury-Gordon Photograph Arcbve/AJamy 98 Htdton Arthrm/Getty Ima­

mehrheitlich hinduisti-
1960 ges 99. HuhorvDeutsch CcffecDon/Cortxs ’OO London Stereoscopic Company/
te Hinterlassenschaft des Hulton Arcbve/Getty knages 101. Soence 6 Society Picture bbrary/Getty knages
103. 105. 106. 108 o. Campbell* Press S*udK>/Engksh Hemage/Arcaid/Cort>B 104.
schen, Pakistan für die Südafrika. Am 3. Februar Weltreichs ist wohl die Manp Evans/Intedoto 107 MIT DER MACHT DER KANONEN: Malcolm Innes
Gallery. Londcn/Bndgeman Art Library 110/111 Nabend Mantime Musetm. London/
überwiegend muslimischen hält der englische Premier­ englische Sprache: In 59 Interfoto 112/113. Soence & Society Picture bbrary/hterfoto Tn, Wehrmann für
GEOEPOCHE 114. 113. David Kafcaldy/Natonal Mantime Museum. Lcndor\/lr*er-

Gebiete. Am 14. August minister Harold Macmillan Staaten ist sie Amtsspra­ foto 116 National A/dvresofAustraLa. 117. GrangerCollecton/uhswin bld 118; ddp
mages. 120. North Wind Picture Archn«s/akg-mages öl DER GRIFF HACH

verkündet Mountbatten eine Rede vor dem Parla­ che, in weiteren 25 Län­ AFRIKA Baidvan H Ward 6 Kathryn C Ward/Corbis 172/123 SZ Photo. 124 u . 140
Alman ArcKves/Getty Images 125 o . TCl/MarU/UlG/Getty kmages. I25u HJton-
Dcutsch ColWctaan/Corba 126 139 u.. Grangcr Collecbon/Irtedcto 127. Henry
die Gründung Pakistans. ment in Kapstadt, in der er dern Verkehrssprache. £ Gc*tmann/Getty Images 128 o. Undemood & Underwood/The bbrao, of Congress
128 u.. United Arcbves/imago; 129. Unted Archr.es/matribLO mages. 134. 139 o„
Nur einen Tag später er­ vom „Wind der Verände­ Stefanie Peters für GEOEPOCHE 133 o. 141. The Bos*eB Colecbon/Beriey Hen-
tage Trust/Mary Evans/ keerfoto 135 u.. Britnh Errpre and Common-ealth NViseum/
klärt Jawaharlal Nehru in rung" in Afrika spricht. Im Isabelle Berens,/^. 1988, UIG/8ndgeman Art Library 136 137 o.. Natd Witness Archrves/Gdlo knages/Getty
Images 157 u Huk<^ Archnre/Getty Images 138 BESUCH EINES KAISERS Top
Neu-Delhi die Unabhän­ Verlauf der kommenden ist Historikerin in Hamburg. Foto/Unrted Archves/dpa P<ture-Abance: 142/145. dpa P<tue-Akance 143 ». Bn-
bsh Libary/Sdence Photo bbrary/Agentur Focus 145 o.. Popperfoto/Getty Images.
gigkeit Indiens. Die letzten zwei Jahrzehnte zieht sich Dr. Frank Otto, Jg. 1967, ist 145 u Hulton-Deutsch CoUecton/Corbs 146 o Royal Geograpfncal Soccty/8ndgc-
man Art bbrary 146 m Royal Corrrmsson on the Anoent and Histoncd Monuments
britischen Truppen verlas­ Großbritannien aus Afrika der Geschäftsführende Redak­ of Scotland 146 u. Haecfcel A/chr./ull5tem bld 147. Underwood Archnes/Getty
Images 148 o Sureshchand Deendayd. Hyderabad 148 u.. Fh,*ppe Vogel/The Kern
sen Indien ein Jahr später. zurück: Noch im gleichen teur von GEOEPOCHE. ksbtute Collection of Fhotography. Leiden. 150. Ulstern büd. 151 o. Oswdd Lübeck/
Archiv Joachm K. 8autze 151 m . Aknin Archrves/G««y knages. 151 u. Stefan« Pe­
ters für GEOEPOCHE 152. Hulton Arcbve/Getty Images 153 Dady Mirror/Mrror-
pn/Corbn. 154 o. Bndgeman An Lfcrary 154 t VORSCHAU akg-tmages 164
Bayensche Staatsgemjldesarrmkingen/bp*. 165

Für urweriangt eingesandte MaruAnpte und Fotos übernehmen


GEO EPOCHE Das Britische Empire Verlag und Redskbcn keine Haftung €> GEO 2015 Verlag Grüner » Jahr.
Hamburg für simtlkhe Betrage.
DIE WELT VON GEO
Neues aus den Redaktionen

Nicht nur auf. auch unter den Straßen unserer Städte Kaliforniens Kleinod: Der Yosemite-Nationalpark,
ist jede Menge los - wie diese Grafik beweist in dessen Süden der Merced River entspringt

Es geht abwärts! California dreamin’


Das neue GEOlino extra »Unter der Erde« Was macht Kaliforniens Lebensgefühl aus? Eine
nimmt seine jungen Leser mit in ein unbe­ Reise durch atemraubende Naturlandschaften,
kanntes Universum im Untergrund aber auch in die Denklabors der Hightech-Nerds

o stoßen Abenteurer noch heute auf fremde Wel­ er Autor Wallace Stegner schrieb einst: „Kalifornien
ten? Wo spüren sie verborgene Schätze auf? In
fernen Ländern wohl kaum. Jeder noch so entle­
gene Winkel ist erforscht - spätestens seit Satelliten die Erde
D ist wie der Rest von Amerika - nur viel mehr.“ In der
Tat: Mehr Sonne, mehr grandiose Natur, mehr Meer
machen Kalifornien zu einem der beliebtesten US-Reiseziele.
scannen. Unter der Erdoberfläche aber, manchmal direkt un­ Gleichzeitig scheint der Golden State ein Sammelbecken für
ter unseren Füßen, verbergen sich noch viele geheimnisvolle Glücksucher, Abenteurer, Lebenskünstler, Visionäre, die mit
Flecken. GEOlino extra entführt seine Leser dorthin. Repor­ scheinbar grenzenlosem Optimismus an der Zukunft arbeiten.
ter begleiten Höhlenforscher auf einer Expedition durch ein Das neue GEO Special zeigt ihn von seinen schönsten, unge­
chinesisches Höhlenlabyrinth, das kaum ein Dutzend Men­ wöhnlichsten und verrücktesten Seiten: Warum ist Los An­
schen je betreten hat. Geschichten erzählen von einem chile­ geles attraktiver als sein Ruf? Wo trifft man beim Wandern
nischen Bergwerk, das für 33 Kumpel fast zur tödlichen Falle Wapitis? Wie leben dieTechnik-Nerds im Silicon Valley? Wie
wurde, und von einem Tunnel, der aus der DDR in die Freiheit ergeht es Schauspielern in Hollywood? Und wie fühlt es sich
führte. Außerdem ein Porträt des weltgrößten Tunnelbohrers an, in einem selbstfahrenden Auto die Hände vom Lenker zu
„Bertha“ und ein Blick ins Tierreich: Wer tut sich dort als nehmen? Dazu: viele Hotel- und Restauranttipps, die besten
Tunnelbauer hervor? GEOlino extra legt damit eine absolut Weingüter, Strände und Nationalparks, eine traumhafte
unterirdische Ausgabe vor. Doch nur im örtlichen Sinne! Wohnmobilroute — und jede Menge „California dreamin’“.

GEOlino extra „Unter der Erde“ kostet 7.00 Euro, mit GEO Special Kalifornien kostet 8,50 €,
DVD („Reise zum Mittelpunkt der Erde - Der rastlose mit DVD 16.50 €. als eMagazine 7,99€
Planet“) 12.90 Euro Weitere Themen im Heft u. a.: Der Aufstieg
Weitere Themen im Heft: Pilze: Das Internet im Erdboden / der Latinos / Strategien gegen die große
Diamanten: Die funkelnde und die dunkle Seite der schmu­ Dürre / Pulitzer-Preisträger Jonathan Gold
cken Steine / Tagebau: Das Megaloch von Garzweiler / über Kaliforniens Food-Szene / Santa Barbara,
Archäologie: Ein Krimi im Moor / Technik: Die Stadt unter San Diego. San Francisco / Abstecher
der Stadt / Kinderarbeit: Alltag am Silberberg nach Las Vegas

162 GEO EPOCHE Das Britische Empire


In neuem Gewand
Ab Ausgabe 9 erscheint GEO in völlig
überarbeiteter Form: mit frischem Design,
veränderter Heftstruktur und neuen Rubriken

ie augenfälligste Änderung im neuen GEO betrifft das

D Layout: Es ist zeitgemäßer, eleganter sowie lesefreund­


licher - und es räumt den Fotos mehr Raum ein, um
sie noch besser zur Geltung zu bringen. Die Redaktion hat
zudem die Struktur des Heftes verändert, um Abwechslung
und Vielfalt zu steigern. So rückt das beliebte GEOSkop in Bilder des Zweiten Weltkriegs: vom Überfall der Wehrmacht auf
die Heftmitte; es heißt fortan ,361 Grad“ und folgt unter dem Polen 1939 bis zur Kapitulation Deutschlands und Japans 1945
Motto „Weiter fragen“ nicht mehr dem üblichen Nachrich­
tenschema, sondern stellt jeweils die relevanten Fragen heraus,
die sich hinter aktuellen Forschungen verbergen.
Auch am Anfang des Heftes finden sich Neuerungen:
Der Zweite Weltkrieg
Auf die Foto-Doppelseiten des Kosmos folgen nun die GEO EPOCHE PANORAMA erzählt in
„Horizonte“, die zu einer abwechslungsreichen Reise um die
historischen Fotos die Geschichte des
Welt einladen. Darin finden sich neue Rubriken, etwa „Moral
international“, das Gewissensfragen in anderen Ländern Weltenbrandes (1939-1945)
aufgreift.
Treu bleibt die Redaktion dem Motto „Die Welt mit er Zweite Weltkrieg ist ein Waffen kampf, wie es ihn
anderen Augen sehen“ - und damit der Verpflichtung, Lesern
das Abenteuer von Entdeckungen und ungewöhnlichen
Erkenntnissen zu bieten. In Ausgabe 9 gehört dazu etwa eine
Geschichte über die erste Blinde in Deutschland, die lernt,
D nie zuvor gegeben hatte: Er fordert mehr Opfer als
je ein anderer, wird rund um den gesamten Erdball
ausgefochten, zieht tiefere globale Veränderungen nach sich
als irgendein anderes historisches Ereignis.
sich mithilfe der Echo-Ortung zu bewegen. Und die Titel­ Und er produziert nie gesehene Bilder. Denn erstmals
geschichte wirft einen Blick in die ethnisch bunte Zukunft begleiten an allen Fronten Fotografen die Truppen; ihre Auf­
unserer Gesellschaft, in die Gesichter von morgen. nahmen lassen die grauenerregende Wirklichkeit eines Kon­
fliktes im 20. Jahrhundert erkennen. Die neue Ausgabe von
GEOEPOCHE PANORAMA zeigt die beeindruckendsten -
wie bedrückendsten - Fotos des Zweiten Weltkriegs. Und
erzählt damit zugleich eine kurze Geschichte dieses fürchter­
lichsten aller jemals ausgetrage­
nen Waffenkämpfe. ^

GEO EPOCHE
digital
Die aktuelle sowie
Außerdem erscheinen
ältere Ausgaben von
Das Echo-Wunder: Wie sich ein blindes Mädchen mit zu immer mehr Themen
GEOEPOCHE gibt es auch
GEOfPOCHF-eBooks. die
verblüffender Selbstständigkeit in der Welt orientiert als eMagazine fürTablets in allen wichtigen digitalen
(www.geo-epoche.de) Bookstores erhältlich sind

Die neue GEO-Ausgabe ist ab dem 21. August


im Handel für 7.00 Euro erhältlich. Die digitale Version
für Tablet-Computer kostet 5.99 Euro.
Weitere Themen: Chinko - Expedition zu Afrikas letztem Die Redaktion von GEO EPOCHE erreichen
weißem Fleck / Die überraschenden Talente der Pilze /
™ " Sie in der digitalen Welt über den Facebook-
Mach doch, was du willst: Motivation richtig genutzt /
Theater im Iran: Kreativ in der Islamischen Republik / Tag Account sowie den Briefkasten der Website
der Artenvielfalt: Neues Leben in den Eibauen www.geo-epoche.de

GEO EPOCHE Das Britische Empire 163


Vorschau

(i! OEPOCHE

Der Tod triumphiert über die Lebenden: Niemand ist sicher vor der Pest

s ist das Jahr 1347, und meh Die Seuche trifft einen Kontinent kommt es zu einer Rebellion der Bauern
J rere Schiffe tragen den iod im Umbruch: Das Papsttum steckt in gegen die Adeligen. Und im italieni­
P 1 nach Europa. Sie kommen aus einer Krise; England und Frankreich schen Siena lösen neue Eliten die altein­
JL dem Schwarzen Meer, an des­ zerfleischen sich im Hundertjährigen gesessene Stadtregierung ab.
sen Gestaden die Pest ausgebrochen ist. Krieg. Gelehrte rütteln am Bildungs­ GEOEPOCHE erzählt von den
Ohne es zu ahnen, bringen die Besat­ monopol der Kirche. Verheerungen der Seuche in Venedig;
zungen der Handelssegler den Erreger Die Pest forciert diesen Wandel. von den Pogromen gegen Juden, die als
in die Häfen des Mittelmeers. Da weder Gottesfurcht noch Gehorsam vermeintliche Schuldige verdammt wer­
Von dort wird sich die Seuche na­ gegenüber der Obrigkeit die Menschen den; von Englands König Eduard III.,
hezu im ganzen Abendland ausbreiten vor der Krankheit bewahren, beginnen der die Herausforderung durch die Pest
und selbst entlegene Regionen treffen. sie, die alten Autoritäten infrage zu stel­ nutzt, um seine Macht zu stärken. Und
Sechs Jahre lang wird die Pandemie len. Tausende Männer und Frauen, die von einer Familie, die es sich leisten
wüten, etwa 25 Millionen Menschen in der Seuche eine Strafe Gottes sehen, kann, auf einer prächtigen Fiirstenhoch-
werden sterben - ein Drittel aller Be­ ziehen in schaurigen Büßerprozessionen zeit den Schwarzen Tod zu ignorieren.
wohner Europas. Der „Schwarze Tod“ ist umher und brüskieren als selbst ernann­ GEO EPOCHE: über Leben und
die größte Katastrophe des Mittelalters. te Prediger den Klerus. In Frankreich Sterben im Mittelalter.

be von (i! 'EPOCHE erscheint am 21. Oktober 2015

GEO EPOCHE Das Britische Empire


Vorschau

GEOEPOCHE EDITION

ALBRECHT DÜRER
und die Revol ution der deutschen Kunst

Aus Italien trägt


Albrecht Dürer die
Ideen der Renaissance
über die Alpen - und
befördert in Deutsch­
land eine realistische
Kunst, die nicht mehr
Heilige, sondern
den Menschen in den
Mittelpunkt stellt

ur 27 Jahre alt ist Albrecht Dürer, als er zum inter­ Wissen über Perspektive und Proportionen die häufig glei­

N
national gefeierten Künstler wird - mithilfe eines chen biblischen Motive produzieren. Und wo bald darauf
Weltuntergangs. 1498 illustriert der Nürnberger das durch Humanismus und Reformation eine geistige Revolu­
Drama derart detailliert, dass seine Zeitgenossen so tion beginnt, die auch die Kunst dramatisch verändern wird.
fasziniert wie erschüttert auf die 15 Holzschnitte blicken, in In dieser Epoche des Umbruchs entdecken Maler wie
denen die apokalyptischen Reiter heranpreschen oder der Dürer, der Franke Lucas Cranach d. A. und der Augsburger
Erzengel Michael auf einen Drachen einsticht. Wie keinem Hans Holbein d. J., dass die Natur an sich ein lohnendes
Meister vor ihm gelingt es Dürer mit diesen Arbeiten, den Motiv sein kann. Sie erforschen, welch fulminante Wirkung
Holzschnitt auf ein neues künstlerisches Niveau zu heben. ungewöhnliche Farbkontraste haben, wie individuell Porträts
Das ganze Genie des Deutschen aber zeigt sich in seiner wirken können. Gemeinsam begründen sie die schöpferischste
Vielseitigkeit: Gleich ob Zeichnung, Kupferstich oder Ölge­ Phase der altdeutschen Malerei.
mälde, es scheint keine Technik zu geben, die er nicht perfek­ Im nächsten Heft beschreibt GEOEPOCHE EDITION,
tioniert. 1505 reist er nach Venedig - und schafft dort Bild­ wie die Künstler der „Dürerzeit“ mit der traditionellen christ­
nisse, für die ihn sogar die italienischen Meister bewundern. lichen Ikonographie brechen und technisch filigrane Werke
Umgekehrt bringt Dürer die Lehren der Renaissance schaffen, deren Kompositionen überraschender und deren
nach Deutschland, wo Maler oft noch ohne theoretisches Motive provozierender sind als alles, was man bis dahin kannte.

D i e n ä c h s t e A u s g a b e v o n GEOEPOCHE EDITION e r s c h e i n t a m 2 1 . O k t o b e r 2 01 5

GEO EPOCHE Das Britische Empire 165


WEITERE AUSGABEN
ZUM THEMA
GEDEPOCHE GEO EPOCHE CM) EPOCHE
AFRIKA

Prihcutcr, Ahmtrurr'. Mcmchrnhändlcr 1450-1948


>000 fc*hrr WrrikAorM M*h*nd»<hj». Moguln. Kolonulh*rr**i

GEDEPOCHE GEO EPOCHE Gl (»EPOCHE

KAPITALISMUS

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