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Debakel
GASUMLAGE
Habecks vermeidbares
Der Scheich von
Mönchengladbach
TÜTEN VOLLER CASH

MICHAIL GORBATSCHOW

Das tragische Vermächtnis eines Weltverbesserers


ein totes Pferd
HENGST TOTILAS
Millionenstreit um

DER ANTI-PUTIN
DEUTSCHLAND€ 6,10
Nr. 36 | 3.9.2022
HAUSMITTEILUNG

Geldschieber | Seite 32

Der Mann ließ sich »Scheich« nennen, auch »King«,


aber er lebte wenig fürstlich. Ein heruntergekommenes
Mehrfamilienhaus in Mönchengladbach, die Klingel-
schilder abgerissen, vor der Tür der Dachgeschoss-
Oliver Tjaden / DER SPIEGEL

wohnung stehen ausgetretene Turnschuhe. »Ich dach-


te erst, ich hätte mich in der Adresse geirrt«, sagt
SPIEGEL -Redakteur Lukas Eberle (r.), der mit seinem
Kollegen Jörg Diehl die Machenschaften des mut-
maßlichen Geldschiebers Khaled A. recherchiert hat.
A. wird verdächtigt, Kopf einer internationalen Bande
gewesen zu sein, die illegale Finanztransaktionen orga-
nisierte. Rund 63 Millionen Euro soll der arbeitslose Syrer eingesammelt haben. Über das soge-
nannte Hawala-System wurde das Geld in alle Welt transferiert, womöglich ging es auch an
Terrororganisationen. Inzwischen ermitteln die Behörden in Nordrhein-Westfalen gegen A. und
Dutzende weitere Beschuldigte. Es ist ein Verfahren, so verschachtelt und komplex, dass an ihm
sogar Nachwuchsermittler ausgebildet werden. »Für Khaled A. und seine Leute schienen über Jahre
keine Gesetze zu existieren. Sie hielten sich für unantastbar«, sagt Diehl. »Das ist nun vorbei.«

Ulrich Seidl | Seite 112

Der Österreicher Ulrich Seidl ist einer der bekanntesten


deutschsprachigen Filmemacher der Gegenwart. Seine Filme
laufen auf den großen Festivals in Venedig, Cannes und Ber-
lin. Sie gewinnen Preise, werden von Kritikern gefeiert, auch
weil sie der Wirklichkeit ungewöhnlich nahe kommen und
gesellschaftliche Tabus behandeln. Seidls neuer Film »Sparta«
erzählt die Geschichte eines pädophilen Mannes, der seine
Neigung verschweigt und in Rumänien eine Judoschule für
Kinder gründet. Recherchen des SPIEGEL legen nahe, dass
die Eltern von Laiendarstellern bewusst darüber im Unklaren
gelassen wurden, dass es in dem Film um Pädophilie geht.
Die Kinder wurden offenbar ohne Vorbereitung und ange-
messene Betreuung mit Alkoholismus, Gewalt und Nacktheit
konfrontiert, auch sollen sie gedrängt worden sein, Dinge zu
privat

tun, die sie nicht tun wollten. »Wer mit den Mitwirkenden
des Films spricht, gewinnt den Eindruck, dass hier ein Re-
gisseur jedes Maß und Verantwortungsbewusstsein verloren hat«, sagt SPIEGEL -Mitarbeiter
Bartholomäus Laffert. Zusammen mit Pascale Müller (l.) und Delia Marinescu hat er die Kinder
und ihre Familien in Rumänien gesprochen sowie ehemalige Crewmitglieder von Seidl interviewt,
die die Dreharbeiten empört verlassen haben.

Terror | Seite 46

Die Olympischen Spiele 1972 in München sollten ein fröhliches Fest werden, ein neues, friedliches
Deutschland wollte sich der Welt präsentieren, doch die Heiterkeit endete in einer Tragödie.
Palästinensische Terroristen nahmen elf israelische Sportler und Betreuer im olympischen Dorf
gefangen, am Ende einer dilettantischen Befreiungsaktion waren alle Geiseln tot. SPIEGEL -Re-
dakteurin Anne Armbrecht (r.) hat zusammen mit ihren
Kollegen Peter Ahrens und Guido Mingels die Gescheh-
nisse von damals rekonstruiert. Sie besuchte Über-
lebende und Angehörige der Opfer in Israel, unter
Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL

anderem die Witwe Ankie Spitzer in Tel Aviv, die seit


50 Jahren um das Andenken der Ermordeten kämpft.
»Während man sich in Deutschland am liebsten nur an
die ›heiteren Spiele‹ erinnern möchte, haben sie und
die anderen Familien das Trauma nie wirklich über-
winden können«, sagt Armbrecht. »Auch weil es bisher
keine echte Aufarbeitung gab.«

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 3


INHALT TITEL

8 | Zeitgeschichte Michail
Gorbatschow ist mit vielem ge-
scheitert – und hat doch die Welt
DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 36 | 3.9.2022
verändert wie kaum ein Zweiter

14 | Gastbeitrag Warum in
Putins Reich kein Platz für die
Erinnerung an Gorbatschow ist

17 | Diplomatie Gorbatschows
Begräbnis wird zur Staatsaffäre

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Die Bundes-


regierung sollte der Ukraine end-
lich entscheidend helfen

18 | Grüne streiten über Homöo-


pathie / Weniger Geld für
Entwicklungshilfe / Druck bei
der Sterbehilfe / Die Gegen-
darstellung / So gesehen: BR
bleibt sauber

Frank Kleefeldt / dpa


22 | Bundesregierung Zehn
Wochen lang steuerte die Ampel
auf das Desaster bei der
1989 Gasumlage zu – Rekonstruktion
einer Koalitionskrise

28 | Parteien CDU-Chef Merz


Der Epochenmacher kann die Erwartungen seiner
Anhängerschaft nicht erfüllen

TITEL Michail Gorbatschow wickelte die Sowjetunion ab und ermöglichte 30 | SPD Die politische Influen-
die deutsche Einheit. Im Westen wird er dafür als Held gefeiert, cerin Lilly Blaudszun über ihr
plötzliches Abtauchen und ihre
in Russland von vielen verachtet. Präsident Putin gönnt ihm noch nicht mal Freundin Manuela Schwesig
ein Staatsbegräbnis. Nachruf auf eine Jahrhundertfigur. | 8, 14, 17
32 | Kriminalität Ein Geflüch-
teter aus Syrien erschuf ein
weltweites Netzwerk für illegale
Geldtransfers

34 | Wie das berüchtigte


Hawala-System funktioniert

37 | Universitäten Droht
ein Energie-Lockdown an den
Hochschulen?
Tom Stockill / CAMERA PRESS / laif

38 | Karrieren Der Ost-


Dia Dipasupil / Getty Images

Stephie Braun / DER SPIEGEL

beauftragte Carsten Schneider


hat den vielleicht härtesten
Job der Regierung

42 | Schicksale Das blühende


Geschäft der Pfandleiher

Liz Truss J. K. Rowling Lilly Blaudszun 46 | Zeitgeschichte Von den


Die Brexit-Hardlinerin könnte Die »Harry Potter«-Erfinderin Die SPD-Influencerin spricht »heiteren Spielen« in die
Großbritanniens nächste Regie- macht ihren Ärger mit Trans-Ak- über ihre Zeit im Rampenlicht Katastrophe – der Olympia-
rungschefin werden. | 86 tivisten zum Krimithema. | 118 und ihre Zukunftspläne. | 30 Terror von München 1972

4 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


DEBAT TE 86 | Großbritannien Liz Truss,
Favoritin auf das Amt der
52 | Demokratie Gibt es Cancel Regierungschefin, ist selbst den
Culture? Ein Streitgespräch eigenen Leuten ein Rätsel

90 | Albanien Premier
REPORTER Edi Rama warnt vor Putins
Einfluss auf dem Balkan
56 | Familienalbum / Wovon
träumen Spinnen?

Sean Gallup / Getty Images


SPORT
57 | Eine Meldung und ihre
Geschichte Wie ein gekenterter 93 | Aufschwung durch die
Segler im Atlantik überlebte Champions League / Hätte Kobe
Bryants Witwe auch in Deutsch-
58 | Bundeswehr Was land Millionen kassiert?
die moderne Kriegführung Konzern gerettet – Koalition in Not
für Soldaten bedeutet 94 | Justiz Wer darf das tiefge-
Wie sich bei der Gasumlage ein schwerer Konstruktionsfehler ein-
frorene Sperma des Jahrhundert-
schleichen konnte, der den Grünen-Star Robert Habeck beschädigte
63 | Homestory Ist Erziehung pferds Totilas vermarkten?
und die Ampel in ihre erste schwere Krise führte. | 22
auf Augenhöhe immer richtig?

WISSEN
WIRTSCHAF T
98 | Wie gesund ist Hafermilch? /
64 | Audi wirft Chinesen Analyse: Warum gibt es so
Markenrechtsverletzung vor / wenige Elektro-Dienstwagen?

Daniel Berehulak / The New York Times / REDUX / laif


Hamburg baut die wenigsten
Solardächer 100 | Paläontologie Ausgräber
erkunden den Siegeszug der
66 | Karrieren Drei Münchner Ursaurier
Brüder wollen mit ihren Start-ups
die Welt verbessern 103 | Umwelt spiegel-
Gespräch mit der Politökonomin
70 | Europa EU-Pläne für die Maja Göpel über Auswege
Regulierung von grünem aus der Klimakrise
Wasserstoff alarmieren Industrie
106 | Geschichte Das Leben
72 | Energie spiegel-Gespräch des Scharfrichters Johann Glaser
mit E.on-Chef Leonhard Plötzlich in der Offensive
Birnbaum über die Rekordpreise
Die Ukrainer wollen mit einer groß angelegten Militäroperation
für Strom und Gas KULTUR den Süden des Landes von den russischen Besatzern zurückerobern.
Kann der Vormarsch gelingen? | 82
75 | Luftfahrt Der Arbeitskampf 110 | Werkschau über Niki de
der Lufthansa-Piloten Saint Phalle in Zürich /
Judith Holofernes’ Abschied
76 | Blockchain Die Krypto- vom Pop-Zirkus
währung Ethereum soll
umweltfreundlicher werden 112 | Kino Regisseur Ulrich Seidl
soll rumänische Kinder bei einem
77 | Serie Transformation: Filmdreh ausgenutzt haben
Die neue Unabhängigkeit (XI) 
Elon Musk und andere Unter- 118 | Kulturkampf Die Autorin
nehmer träumen von autarken J. K. Rowling ärgert mit ihrem
Kolonien auf dem Mars neuen Krimi Trans-Aktivisten

120 | Literatur Thomas Melle


AUSLAND legt nach einer manischen Phase
Johannes Arlt / laif

wieder einen Roman vor


80 | Interview mit einem
Apachen über Winnetou / 123 | Filmkritik »Das Leben ein
Bolsonaros gefährlicher Wahl- Tanz« von Cédric Klapisch
kampf in Brasilien zeigt französische Lebensfreude
Spermastreit ums Wunderpferd
82 | Ukraine Hat die Gegen- SPIEGEL-TV-Programm | 26 Bestseller | 116 Totilas war das eleganteste, beste und teuerste Dressurpferd
Impressum, Leserservice | 124
offensive im Süden eine Chance Nachrufe | 125 Personalien | 126
der Welt. Sein früherer Besitzer Paul Schockemöhle und ein Unter-
auf Erfolg? Briefe | 128 Hohlspiegel / Rückspiegel | 130 nehmer streiten nun um eingefrorene Samenflüssigkeit. | 94

Titelfoto: The Gorbachev Foundation Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 5


Jetzt oder nie
LEITARTIKEL Die Gegenoffensive der Ukraine im Süden könnte eine neue Phase des Krieges einläuten.
Das wird dem Westen neuen Mut abverlangen, vor allem den Deutschen.

Sollte Putin Cherson verlieren, läge nicht nur seine


Kampagne im Süden in Trümmern – dann würde sich
grundsätzlich die Frage stellen, wie lange er den Krieg
weiterführen kann.
Das könnte sich für die Ukraine und den Westen als
Wendepunkt herausstellen. Bisher ist vor allem die Bun-
desregierung stets von der Annahme ausgegangen, dass
die Ukraine in diesem Krieg nicht den Funken einer Sieg-
chance hat. Kiew verteidigen – vielleicht. Die Russen aus
den eroberten Gebieten vertreiben – unmöglich bei dieser
Übermacht.
Und nach dieser Maxime hat die Regierung von Olaf
Scholz auch versucht, sich durch die Krise zu lavieren.
Der Kanzler hat stets nur so viel für die Ukraine getan

Maxim Dondyuk / DER SPIEGEL


wie unbedingt nötig – und das so spät wie möglich. Jetzt
wäre die Gelegenheit, es besser zu machen.
Wenn die Ukraine mit der Gegenoffensive im Süden
Erfolg haben soll, benötigt sie mehr und andere Waffen.
Gebiete zu verteidigen ist das eine, sie einzunehmen ist
ungleich schwieriger, das hat der bisherige Kriegsverlauf
gezeigt.
Raketenangriff im er Ukrainekrieg hatte bislang zwei Phasen. In der Die Ukraine hat seit Februar offiziell 25 Mehrfach-
Süden der Ukraine
D ersten scheiterte Russlands Machthaber Wladimir
Putin mit dem Versuch, die Ukraine innerhalb we-
niger Tage zu überrollen. In der zweiten Phase liefern
raketenwerfer erhalten, insbesondere Himars aus den
USA. Um an der Front wirklich im Vorteil zu sein, brauch-
te es nach Ansicht von Expertinnen und Experten fast
sich seither russische und ukrainische Soldaten eine Ab- doppelt so viele.
nutzungsschlacht im Donbass. Die Bundesregierung könnte Mars-II-Raketenwerfer
Nun könnte eine dritte, entscheidende Phase beginnen, liefern, von denen die Bundeswehr derzeit 40 besitzt.
jedenfalls deuten Meldungen von der Front im Süden der Deutschland verfügt darüber hinaus über Luftabwehr-
Ukraine darauf hin. Das ukrainische Militär hat demnach systeme, Panzerhaubitzen und Schützenpanzer, also ge-
eine Offensive in der Region um die von Russland be- nau jene Geräte, die bei der Offensive im Süden einen
setzte Stadt Cherson gestartet. Ukrainische Truppen ha- wichtigen Unterschied machen könnten.
ben ihre Gegner mit Artillerie unter Beschuss genommen. Das Verteidigungsministerium scheut sich bislang, die
Es ist ihnen offenbar gelungen, einzelne Dörfer zurück- Bestände der Bundeswehr anzutasten, angeblich um die
zuerobern. Zudem haben sie die Brücken über dem Fluss Nato-Bündnisfähigkeit nicht zu riskieren. Das ist ein Feh-
Dnipro zerstört, weshalb es der russischen Armee nun an ler. Wo sonst, wenn nicht in der Ukraine, werden deutsche
Nachschub fehlt. Waffen derzeit gebraucht? Und wenn nicht jetzt, wann
Noch ist es zu früh zu beurteilen, wie groß diese Of- dann?
fensive ist, geschweige denn, ob sie Erfolg haben wird. Wichtig ist auch das Training ukrainischer Soldaten.
Die Regierung in Kiew hat ein Interesse daran, sie als Großbritannien schult derzeit rund 10 000 Ukrainer in
aussichtsreich darzustellen, unter anderem um die Moral 90-Tage-Programmen, Deutschland weniger als 100. Und
der eigenen Bürgerinnen und Bürger hochzuhalten. auch nur im Umgang mit Gepard-Panzern.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Vormarsch der Wenn der Westen Putin in Schach halten und der
Ukrainer in den kommenden Tagen ins Stocken gerät, Ukraine annehmbare Friedensverhandlungen ermögli-
dass sich beide Parteien in einem Stellungskrieg zerreiben. chen will, dann muss er Schwächen des Gegners auch für
Der Kanzler Denkbar ist aber auch das bislang Undenkbare: dass sich nutzen. Und die Schlacht um Cherson scheint eine
die Ukrainer die Russen tatsächlich aus Cherson vertrei- solche Schwäche zu offenbaren.
hat stets ben. Gelänge dies, wäre es für das ukrainische Militär Dass Scholz bei seiner Europa-Rede in Prag ankündigte,
nur so viel für mehr als ein symbolischer Triumph. Es würde den Kriegs- die Ukraine »so lange wie nötig« zu unterstützen, war
verlauf wohl radikal verändern. eine schöne Geste. Nun muss er beweisen, dass es ihm
die Ukraine Cherson ist mit seinen fast 300 000 Einwohnern eine damit ernst ist. Zu hoffen, dass der Ukrainekrieg irgend-
getan wie der größten Städte, die die Russen seit der Invasion am wann irgendwie endet, ist keine Option. Cherson könnte
24. Februar unter ihre Kontrolle gebracht haben. Sie ist eine Wende einleiten. Und es liegt auch in der Hand
unbedingt zugleich das Tor zum Süden, insbesondere zum bedeut- Deutschlands, ob die zum Guten oder Schlechten ausfällt.
nötig. samen Schwarzmeerhafen Odessa. Maximilian Popp n

6 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


TITEL

MENSCH
ZEITGESCHICHTE
GORBI
Er hat die Sowjetdiktatur friedlich beendet und die deutsche Wiedervereinigung
ermöglicht. Doch in seiner Politik war die russische Katastrophe
von heute schon mit angelegt. Eine kritische Würdigung. Von Christian Neef

Die Äußerungen dieser Gorba- 1952 Eintritt Gorba- Neue zu François Mitterrand. Für
tschow-Hasser nahmen vorweg, was tschows in die KPdSU Kompromisse war der Kreml bis da-

V
Vor einigen Jahren, es war im Som-
unter Präsident Wladimir Putin nun
Staatspolitik ist. »Gorbatschow ist
tot. Es ist Zeit, die Trümmer wieder
einzusammeln«, erklärte die Chef-
redakteurin des Propagandakonzerns
»Russland heute«, Margarita Simon-
jan, nach Gorbatschows Tod am
1970 bis 78
KP-Gebietsparteichef
Stawropol
1978 bis 85
Sekretär des Zentral-
komitees (ZK);
zuständig für Land-
wirtschaft, Personal
und Wirtschaft
hin nicht bekannt. Aufregend war die
Atmosphäre, in der die Pariser Visite
dieses Kremlchefs ablief. Ich lebte zu
der Zeit bereits zwei Jahre in Moskau
und hatte beobachtet, wie eng der
Kreml die Welt außerhalb seines
Machtbereichs sah, hatte die altern-
mer 2013, vermeldete eine russische Dienstagabend – und meinte damit 1985 bis 91 General- den Parteichefs Juri Andropow und
Agentur schon einmal Gorbatschows die Trümmer des unter dem ehema- sekretär des ZK Konstantin Tschernenko erlebt, bevor
Tod – versehentlich, wie sich heraus- ligen Sowjetpräsidenten versunkenen Feb. 1986 Auf dem sie in ihren Krankenbetten ver-
27. Parteitag fordert
stellte. Bevor das Dementi kam, tat Reichs. Gorbatschow die schwanden, und die Resignation, die
sich in den Internetforen für ein paar War Michail Gorbatschow für die »Verbreitung der sich bei den 270 Millionen Bürgerin-
Glasnost«, gemeint
Stunden ein Fenster auf, durch das Russen nur ein riesiges Missverständ- war Rede-, Meinungs- nen und Bürgern breitgemacht hatte,
man in die Seele vieler Russinnen und nis und die Zeit zwischen 1985 und und Pressefreiheit. weil sich im Sowjetreich nichts mehr
Russen blicken konnte. Denn die 1991, die Jahre seiner Herrschaft, eine Feb. 1988 Gorba- bewegte. Ich wusste um die Unfähig-
Falschmeldung löste eine Welle von Periode, die in der Geschichte Russ- tschow proklamiert für keit der Sowjetbeamten, mit dem
jedes sozialistische
Kommentaren aus. lands bald vergessen sein wird? Land die »Freiheit der eigenen Volk ins Gespräch zu kom-
Es war eine Welle des Hasses: eine Putin und seine Umgebung wollen Wahl« seines gesell- men. Und um ihre Angst, Privates
schaftlichen Systems.
Mischung aus politischer Verachtung, das heute glauben machen, weil das, vorzuzeigen, ihre Frauen gar.
bloßen Beschimpfungen, Pöbeleien was Gorbatschow angestoßen hatte, 1988 bis 90 Und nun dieser Gorbatschow, im
Vorsitzender des
und unfassbaren Beleidigungen. Allein so gar nicht ihren politischen Vorstel- Obersten Sowjet aristokratischen Paris. Ein Mann, der
Gorbatschow sei am Untergang der lungen entspricht. März 1990 Gorba- im Élysée plötzlich eine Pressekonfe-
Sowjetunion schuld, so war da zu le- Der Bauernsohn aus dem südrus- tschow wird Präsident renz gibt und dabei nicht mal Mitter-
sen, nicht wenige meinten, er habe sischen Stawropol wollte das Land der Sowjetunion. rand zu Wort kommen lässt. Und
einen Auftrag der Amerikaner erfüllt. verändern, er wollte es öffnen. Ich Juli Gorbatschow und dessen Gattin, gebildet plaudernd, die
Kohl vereinbaren end-
In jedem zweiten Eintrag tauchte das ahnte das ein halbes Jahr nach seinem gültig die Wiederverei- Salons von Cardin und Yves Saint
Wort »Verräter« auf. Für »30 Silber- Amtsantritt. Es war Anfang Oktober nigung Deutschlands Laurent besucht und dabei nicht ver-
und den Verbleib in
linge« habe Gorbatschow die Sowjet- 1985, als sich der Generalsekretär der der Nato. gisst, ihrem Mann neue Schuhe mit-
union verkauft, er selbst sei wohl rei- KPdSU auf seine erste Westreise be- Aug. 1991 Kommunis-
zubringen – solche, wie es sie in Mos-
cher als der Oligarch Roman Abramo- gab, nach Frankreich. Er hatte nicht tische Hardliner um kau nicht gibt. Nur dass sie beide das
witsch, Kinder und Enkel könnten sein zufällig Paris für diese Premiere ge- den KGB-Chef put- Preisschild auf den Sohlen übersehen,
schen gegen Gorba-
Portemonnaie sicher noch 20 Jahre wählt, er wollte Europa beeindru- tschow, der Urlaub auf sodass der Neuerwerb bei der Presse-
lang nutzen, unterstellte eine Frau. cken, mit seiner ersten großen Abrüs- der Krim macht. konferenz allzu offensichtlich wird.
Jemand anders steuerte die rheto- tungsgeste. In der französischen Na- Dez. Die Staatsober- Mir hat dieses Preisschild, das Gor-
rische Frage bei: »Lebt es sich leicht tionalversammlung bot er an, die häupter von Russland, batschow abzukratzen vergaß und
der Ukraine und Weiß-
als Verräter, der vom ganzen Land sowjetischen Mittelstreckenraketen russland bilden die das ich in Paris so überdeutlich sah,
gehasst wird?« Ein dritter immerhin SS-20 abzubauen, jene Geschosse, Gemeinschaft Unab- mehr über den neuen Kremlmann
hängiger Staaten
billigte Gorbatschow weitere Lebens- die 1979 den Nato-Doppelbeschluss (GUS) und erklären die erzählt als das offizielle Kommuniqué
zeit zu – so lange, bis »das Volk über und die Aufstellung amerikanischer UdSSR für aufgelöst. jener vier Pariser Tage. »Turning
Stephen Voss / Redux / laif

ihn zu Gericht sitzen wird«. Der Rest Pershing-Raketen ausgelöst hatten. Gorbatschow tritt als On the Charm« schrieb das ameri-
ging unter die Gürtellinie. Dass auch Selbst in Moskau hatten sie solch Präsident der UdSSR kanische Magazin »Newsweek« da-
zurück.
noch jemand schrieb: »Toll, dass Sie einen Schritt Wochen zuvor noch für mals auf seinem Titelblatt.
Aug. 2022
diese ganze große hohle UdSSR zum unmöglich gehalten. Gorbatschow stirbt Mehr als 30 Jahre lang habe ich
Einsturz brachten!«, ging in dem Shit- Wir müssen miteinander sprechen in Moskau Gorbatschows Weg verfolgt, ihn auf
storm unter. und Kompromisse suchen, sagte der S Grafik Reisen begleitet und viele Interview-

8 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


TITEL

Politiker
Gorbatschow 2009

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 9


TITEL

Bettman Archive / Getty Images


1 2

stunden mit ihm verbracht. Immer wieder und im Westen um Vertrauen zu werben. ZK-Sekretär und den Führern der Regierung.
diskutierten wir dabei über seine »Perestroi- »Glasnost« also, Offenheit. Wer dazu nicht bereit ist, der muss den Weg
ka«. Die Suche nach einem Überlebensmodell Auf diesem Gebiet war er gut. Wer ihn auf freimachen, der darf nicht stören.«
für den manövrierunfähig gewordenen seinen Reisen beobachtete, hat das nicht ver- Das war fast Blasphemie in einem Land,
Dampfer Sowjetunion. Es ging aber zualler- gessen. Schon die erste war für die Russen das sich offiziell als Arbeiter- und Bauern-
erst um die Köpfe der Menschen. Das immer- eine Sensation. Gorbatschow hatte sich Le- Macht verstand, in Wirklichkeit aber eine
hin wusste Gorbatschow von Anfang an. ningrad für die Premiere ausgesucht, das heu- Parteidiktatur war. Sprachlos saßen die Leu-
Auch der Leningrader Schriftsteller Daniil tige Sankt Petersburg, es war Mitte Mai 1985. te vor ihrem Fernseher, als man den Film über
Granin sah darin den Kern der nötigen Refor- Er durchbrach damals das Protokoll: Auf dem Gorbatschows Leningrad-Besuch zeigte.
men: Die Jahre des Personenkults und der Newski-Prospekt, Leningrads Hauptstraße, Nicht das, was er eingestand, bewegte sie. Sie
Stagnation hätten ihre Spuren hinterlassen, ließ er seinen Wagen halten, stieg aus, ging faszinierte, wie da ein Vorgesetzter plötzlich
unter dem Druck von Angst, Lüge und Ent- auf die Leute zu. Und stand – noch mit grau- zu ihnen sprach: verbindlich, werbend, char-
täuschung seien die Menschen schlechter ge- em Funktionärsmantel und Wollschal – plötz- mant. »Wir reden hier ganz offen, sonst hat
worden, schrieb er in den Achtzigerjahren. lich in einer Traube aufgeregter Menschen, es überhaupt keinen Sinn anzufangen«, stell-
Schlechter verglichen mit den Zwanziger- und neben sich nur Gattin Raissa und seinen Chef- te sich Gorbatschow seinen Landsleuten vor.
Dreißigerjahren, als sie ehrlich beseelt vom leibwächter, KGB-General Wladimir Med- Nie zuvor hatte die Partei das Volk um Zu-
Traum künftiger Gleichheit, in Baracken le- stimmung gefragt.
bend, singend zur Arbeit zogen und Stalins Mit dieser Leutseligkeit versuchte er sich
Industrie aufbauten. Abgeschreckt weder
vom Hunger noch von der ständigen Entde- »WENN UNSERE POLI- auch den Westen zu erschließen. Ronald Rea-
gan etwa oder Helmut Kohl, die den Neuen
ckung vermeintlicher Feinde.
Doch irgendwann, sagte Granin, sei der
TIK KEIN VERSTÄND- für einen besonders ausgebufften Demagogen
hielten und die Sowjetunion für das Übel
Nährboden des Volksvertrauens erschöpft ge- NIS FINDET, MÜSSEN schlechthin. Reagan war abweisend, als es im
wesen. »Die ewige Trostlosigkeit der Wohn-
heime, die Enge der Gemeinschaftswohnun-
WIR SIE ÄNDERN.« November 1985 in Genf zum ersten Gipfel-
treffen mit Gorbatschow kam. Erst am Ende
gen haben die Menschen gedemütigt. Jahre des zweiten Gesprächs taute er auf. Zum
sind draufgegangen beim Schlangestehen nach wedew. Seit Lenin hatte sich kein sowjetischer Schluss lachten die beiden vor dem Kamin-
Mehl, Schuhen, Kindergartenplätzen; hoff- Parteichef mehr unter Passanten gemischt. feuer, schüttelten sich gleich mehrmals die
nungslose, empörte Menschen in Polikliniken Den Säufern im Lande werde es künftig Hände, als hätten sich nach langer Trennung
und Wohnungsämtern. Die grobe Behandlung schlecht ergehen, sprach Gorbatschow und zwei gesucht und gefunden. Da wurde sicht-
in Institutionen, die Verlogenheit mancher kündigte seine Anti-Alkohol-Kampagne an. bar, »dass auch ein Bolschewist ein ›Großer
Leiter – das alles zerstörte die Seele.« Die Wirtschaft laufe nicht richtig, gab er zu, Kommunikator‹ sein kann, dass er Reagan
In dieser Situation rief die Altherrenriege »wir müssen einen Kassensturz machen«. Er zumindest ebenbürtig ist oder gar, da 20 Jah-
im Politbüro den gerade mal 54-jährigen Gor- gestand Probleme bei der Lebensmittelver- re jünger, an Vitalität überlegen«, stand da-
batschow als Retter. Der kannte, als er ins sorgung und der Vergabe von Wohnungen mals im SPIEGEL .
Amt kam, zwar die katastrophale ökonomi- ein. »Wenn unsere Politik bei Ihnen kein Ver- Regans Stabschef ging sogar zu Gorba-
sche Lage. Er hatte aber keinen Plan, das Land ständnis findet, dann müssen wir sie ändern.« tschows Beratern, um über sie den Kremlchef
aus der Krise zu führen. »Wenn ich einen Plan Verblüffung unter den Leuten, dann Beifall. dazu ermuntern, weiter auf den US-Präsiden-
dafür gehabt hätte, wäre ich in Magadan ge- Am nächsten Tag trat er vor Leningrader ten einzuwirken und dem klarzumachen, dass
landet«, hat uns Gorbatschow in einem seiner Funktionären in der Aula des einstigen Smol- es den Russen ernst sei mit einem Abbau ihrer
letzten SPIEGEL-Gespräche gesagt – er mein- ny-Instituts für adlige Töchter auf, in dem Raketen. Gorbatschow hatte aber auch mit
te die inoffizielle Hauptstadt des stalinschen Lenin 1917 die Machtübernahme der Bolsche- seinen eigenen Leuten zu kämpfen, die die
Gulag. Das Wichtigste sei gewesen, »zuerst wiki verkündet hatte. »Wir haben uns alle Einigung mit den Amerikanern fast zum Plat-
das Volk aus der Erstarrung herauszuführen« umzustellen, vom Arbeiter bis zum Minister, zen brachten.

10 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


TITEL

Tass / picture-alliance / dpa


The Gorbachev Foundation

Boris Yurchenko / dpa


3 4

In der Außenpolitik war er auf eine 1 | Generalsekretär gliedschaft des künftigen Deutschland Soldaten aus Afghanistan zurückge­
für ihn fast untypische Weise kon­ Gorbatschow mit zu – der Weg zur Wiedervereinigung holt hatte. Der Sowjetunion blieben
US-Präsident Reagan
sequent. Auf dem improvisierten 1988 2 | Familie
war frei. noch zwei Jahre.
sowjetisch­amerikanischen Gipfel im Gorbatschow um Das ist das, was die Deutschen Die Mission Gorbatschows war die
isländischen Reykjavík 1986 brachte 1990 3 | Gespräch Gorbatschow nie vergessen werden. Abwicklung des Monstrums Sowjet­
er Reagan fast dazu, weitgehend auf mit Bürgern in Kohl übrigens hatte aus heutiger Sicht union, obwohl er das Gegenteil ge­
Leningrad 1987
Atomwaffen zu verzichten – bevor 4 | Bruderkuss mit
recht, diese Chance ohne Zögern zu wollt hatte. Dass sie im Wesentlichen
diesem die eigenen Leute in den Arm DDR-Chef Honecker nutzen. Denn beides – Wiederver­ unblutig vor sich ging, ist sein Ver­
fielen. Und als wir mit ihm Anfang 1989 einigung und Nato­Mitgliedschaft – dienst. Dass er sie auch »ohne größe­
Dezember 1989 nach Malta reisten, wären später mit Putins Russland re Schäden für die an Größe geeichte
wo ihn der Sturm hinderte, die Insel nicht mehr zu haben gewesen. russische Seele« bewerkstelligte, wie
zu betreten, und er sich mit George Als in Berlin die Mauer fiel und die »Süddeutsche Zeitung« einst
H. Bush auf dem Kreuzfahrtschiff wütende Menschen die Geheim­ schrieb – dem kann man heute nicht
»Maxim Gorki« traf, da erklärte er: dienstzentralen stürmten, stellte sich mehr zustimmen. Das wissen wir spä­
»Der Kalte Krieg ist zu Ende.« vor der KGB­Vertretung in der Dresd­ testens seit Beginn der Auseinander­
Das war wenige Tage nach dem ner Angelikastraße ein Mann den setzungen um die Ukraine.
Berliner Mauerfall. Gorbatschow Demonstranten entgegen, während Gorbatschow war der Anti­Putin.
wurde in diesen Wochen klar, dass drinnen die Akten seiner Agenten Er hatte nicht den Hauch von dem,
die DDR nicht mehr zu retten war. verbrannten: Geheimdienstmajor was heute Putin ausmacht. Ihm fehl­
»Das Wichtigste wäre jetzt, wie auch Wladimir Putin. Zehn Jahre später te nahezu alles, was ein Politiker in
immer das Endziel heißen mag – mei­ wurde er Russlands Präsident. »Es Russland braucht, zumal in solch
netwegen auch Wiedervereinigung –, war ein fataler Fehler Gorbatschows, einer Umbruchphase: Härte, Ent­
dass der Vorgang zeitlich in die Län­ die Wiedervereinigung zuzulassen«, schlossenheit, Rücksichtslosigkeit,
ge gezogen wird«, erklärte er im en­ rief einer seiner verlässlichsten Pro­ Zynismus. Er war der große Zauderer,
gen Kreis. Das gelang nicht mehr, weil pagandisten kürzlich im russischen der zum Schluss die Macht verspielte.
die Lage im eigenen Land immer pre­ Staatsfernsehen aus. »Gorbatschow hatte nicht genügend
kärer wurde und Gorbatschow sich Als Gorbatschow 1989 nach Malta inneren Glauben an seine Vorbestim­
ohne deutsche Kredite nicht mehr reiste und den Mauerfall begrüßte, mung«, sagt sein früherer Vertrauter
halten konnte. war er schon ein Getriebener, weil Alexander Zipko. »Er fand in sich
Nur in einem Punkt leistete er ihm zu Hause alles aus dem Ruder nicht genügend Halt, um fest zu blei­
noch Widerstand: Er wollte nicht, lief. Da standen in Moskau wieder ben und anderen das Gefühl von Stär­
dass das vereinte Deutschland Mit­ endlose Schlangen vor den Geschäf­ ke zu geben.«
glied der Nato wird. »Wir haben kei­ ten, die Regale waren leer, an die Be­ Die Leidenschaft Gorbatschows,
nerlei wirkliche Hebel, uns dem ent­ völkerung wurden erneut Lebensmit­ sich immer wieder dem Volk zu zei­
gegenzustemmen«, erklärt ihm da­ telkarten ausgeteilt. Und im Kauka­ gen und endlose Predigten über die
raufhin einer seiner engsten Berater. sus, in Armenien, Aserbaidschan und Notwendigkeit von Veränderungen
»Und warum sollten wir wieder einen Georgien begannen die ethnischen zu halten, war aus Zipkos Sicht
abgefahrenen Zug einholen wollen, Auseinandersetzungen, aus denen »selbstmörderisch«. Schon Nikita
obwohl wir eindeutig nicht mehr dann blutige Kriege wurden. Da zähl­ Chruschtschow sei an seiner Ge­
auf dessen Lokomotive aufspringen te nicht mehr, dass das Volk nun über schwätzigkeit zugrunde gegangen.
können?« Gorbatschow lenkte ein den Zarenmord diskutieren oder die Dabei wisse jeder in Russland, »dass
und stimmte im Juli 1990, beim Kau­ alten Moskauer Straßennamen an die dieses Volk keine redseligen Men­
kasus­Treffen mit dem deutschen Häuser nageln durfte. Oder dass Gor­ schen mit offener Seele liebt. Die
Kanzler Helmut Kohl, der Nato­Mit­ batschow gerade die sowjetischen Russen muss man mit der Knute oder

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TITEL

1 2

dpa
mit dem Glauben nehmen«. Gorba­ ten Berater tief enttäuscht im Ge­ 1 | Staatspräsident batschow schuld. Sie wäre auf die
Gorbatschow
tschows außenpolitischer Berater bäude der Parteiführung am Mos­ mit Außenminister
eine oder andere Art ohnehin an ihre
Anatolij Tschernjajew war angesichts kauer Alten Platz und sprachen da­ Hans-Dietrich Grenzen gekommen. Nur war es Gor­
der Zögerlichkeit seines Chefs manch­ rüber, was sie an ihrem Chef in den Genscher und Bun- batschow, der seinen Kopf für diese
mal fassungslos – vor allem als es da­ letzten Jahren so sehr vermisst hät­ deskanzler Kohl 1990 Katastrophe hinhalten musste – und
2 | Rivalen Gorba-
rum ging, endlich das Machtmonopol ten. Alexander Zipko hat später da­ tschow, Jelzin 1991
als Katastrophe empfanden Millionen
der Kommunistischen Partei zu bre­ von erzählt. 3 | Reporter Neef (r.) tatsächlich den Untergang jenes Rei­
chen, einer Partei, die Gorbatschow Gorbatschows größter Fehler sei es mit Politiker Gorba- ches, in dem sie zu Hause gewesen
immer wieder Knüppel zwischen die gewesen, seine Macht nicht auszuspie­ tschow in Moskau waren.
1992 4 | Ex-Präsident
Beine warf. Leute wie Tschernjajew len, als es am nötigsten gewesen sei: Gorbatschow 2000
16 Jahre nach dem Ende der Sow­
hatten Gorbatschow dazu gedrängt, als KGB und Generalität die nationa­ mit Nachfolger Putin jetunion, mitten in einem heißen Mos­
sich von der Partei und ihrer Nomen­ len Unruhen an den Rändern der kauer Sommer, saßen wir mit Russ­
klatura zu trennen, aber dazu konnte Sowjetunion geschürt und die wirt­ lands großem Dichter Alexander
er sich nicht durchringen. schaftlichen Reformpläne sabotiert Solschenizyn zusammen, in seinem
Erst im April 1991, acht Monate hätten. »Schwach und charakterlos« Haus im Dorf Troize­Lykowo an der
vor dem Ende der Sowjetunion, er­ sei Gorbatschow gewesen, weil er die Moskwa. Da rechnete der alte Mann –
klärte er seinen Rücktritt als Chef der entscheidenden Männer nicht abge­ 88 war er inzwischen – auch mit
KPdSU, um ihn dann sofort zu wider­ setzt habe. Die Berater hatten Gorba­ Michail Gorbatschow ab. »Politische
rufen. Auch wenn er als Polit­Pensio­ tschow Ende 1991 dazu aufgefordert, Naivität, mangelnde Erfahrung und
när die Perestroika stets schönzure­ seine Vollmachten unter keinen Um­ Verantwortungslosigkeit gegenüber
den versuchte – in diesem Falle war ständen niederzulegen und es auf seinem Land« warf er ihm vor. »Das
er später Realist. An die 90 Genossen einen gewaltsamen Machtwechsel mit war keine Machtausübung, sondern
hätten damals im April 1991 bereits Jelzin ankommen zu lassen. Denn Jel­ ein sinnloser Verzicht auf Macht.«
die Liste für eine neue Gorbatschow­ zin war nicht von seinem Sieg über­ Die 30 Jahre, die Gorbatschow als
Partei aufgemacht, erzählte er uns zeugt: Er hatte am 25. Dezember 1991 Ex­Präsident verbrachte, sind ein Ka­
zehn Jahre später, »das wäre die Spal­ doppelte Wachen vor allen Regie­ pitel für sich. Er zog sich nicht etwa
tung gewesen. Ich bin mit 19 in die rungsgebäuden aufstellen lassen, weil zurück, um die vergangene Zeit poli­
KPdSU eingetreten, noch auf der er sich der Unterstützung durch Russ­ tisch zu überdenken. Er machte, von
Schule, ehrlichen Herzens. Mein Va­ lands Generäle nicht sicher war. Krankheiten geplagt, einfach weiter.
ter war an der Front gewesen, der Wäre die Sowjetunion nach dem Getrieben von Rachegelüsten, kämpf­
Großvater ein alter Kommunist – und Putsch 1991 noch zu retten gewesen, te er gegen seinen Nachfolger Jelzin
ich sollte den Laden nun sprengen? wie Gorbatschow zeitlebens behaup­ und reiste auf der Suche nach An­
Heute weiß ich: Ich hätte es tun sol­ tete? Mag sein, aber wohl nur vorüber­ erkennung durch die Welt.
len. Aber vor Ihnen sitzt nicht nur gehend – als Staatenbund à la EU viel­ Er engagierte sich in neuen Partei­
ein sogenannter Staatsmann, sondern leicht oder als Unionsstaat mit Ele­ en, die keine Überlebenschance hat­
auch ein ganz normaler Mensch. menten einer Konföderation. Es bleibt ten, und mied eine klare Position
Einer mit einem Gewissen, und die­ Spekulation. Pluralismus einzuführen, gegenüber Putin. Immerhin kam er
ses Gewissen hat mich ständig ge­ wie es Gorbatschow mit seiner Peres­ zu dem Befund, dass dem neuen
quält.« troika tat, aber nichts an den politi­ Russland vor allem eines fehle: De­
Putin ist ein Politiker, den das Ge­ schen und wirtschaftlichen Strukturen mokratie. Dass die Freiheiten immer
wissen nie zu quälen scheint. zu ändern – das musste das sowjeti­ mehr eingeschränkt würden, Kon­
Am Abend seiner Rücktrittserklä­ sche System von innen her sprengen. trolle, Reglementierung, Willkür und
rung als sowjetischer Präsident am Die Sowjetunion war ökonomisch Konformität an ihre Stelle träten. Pu­
25. Dezember 1991 saßen seine engs­ am Ende, aber daran war nicht Gor­ tins außenpolitischen Kurs kritisierte

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TITEL

Boris Yurchenko / AP

Marc Darchinger

Tass / epa / dpa


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er nicht – unübersehbar war, dass er nicht »Warum hassen so viele Russen Sie?« Eher ungewollt war Gorbatschow auch ein
noch den letzten Funken Popularität im Volk So lautete eine unserer Fragen in einem Lehrer des Autokraten Putin. Der lernte von
verspielen wollte. Geholfen hat ihm dieses SPIEGEL -Gespräch 2011. Gorbatschow ließ ihm, wie gefährlich es ist, politische und wirt-
Taktieren nicht. Eine Mehrheit der Russinnen sich mit der Antwort Zeit, er überlegte fast schaftliche Freiheiten zugleich durchzusetzen,
und Russen hat ihn zum Schluss verachtet. In eine Minute lang. »Wahrscheinlich werden was in einem fragilen Kolonialreich ohne de-
der Staatsduma gab es noch 2014 den Ver- die Leute erst nach meinem Tod aufhören, mokratische Traditionen schnell zu Kontroll-
such, Gorbatschow gerichtlich zur Verant- mich zu hassen«, antwortete er schließlich. verlust und Chaos führt. Putin geht es deshalb
wortung zu ziehen – weil er die Sowjetunion Doch als das Gespräch autorisiert werden zuallererst um Machtbewahrung, den Kern
angeblich »geplant« zerstört habe. sollte, strich er diesen Satz wieder durch und des Staates bildet sein Sicherheitsapparat. Für
Das mag uns Deutsche, die wir uns mit schrieb einen neuen hin. Der lautete: »Diesen ihn ist Gorbatschow auch schuld daran, dass
Dank an den Mann aus Stawropol erinnern, Eindruck habe ich nicht.« Wir haben lange Russland durch den Verlust der anderen Re-
entsetzen. Viele Russen aber kommen mit mit ihm diskutiert, die realistischere Fassung publiken, vor allem der Ukraine, seinen eins-
Gorbatschows Erbe nicht zurecht, weil sie stehen zu lassen. Doch da blieb Michail tigen Großmachtstatus verlor.
Gorbatschow nicht verstanden haben. Als der Sergejewitsch Gorbatschow ausnahmsweise Den Abfall dieser Republiken hatte auch
Kritik daran übte, dass Nachfolger Wladimir mal hart. Gorbatschow zu verhindern versucht. Der
Putin nicht gemäß der Verfassung nach zwei Vor allem eine Frage stellt sich uns heute: Schatten dreier Ereignisse liegt noch heute auf
Amtszeiten abtrete, höhnte dessen Sprecher Hat Gorbatschow einen Anteil daran, dass seinem Namen: das Auseinanderjagen einer
Peskow: »Ein ehemaliger Staatschef, der ein friedlichen antisowjetischen Demonstration in
Riesenland zerlegt hat, empfiehlt also dem der georgischen Hauptstadt Tiflis im April
Mann, der Russland vor diesem Schicksal ge- 1989 – Sondereinheiten der sowjetischen Ar-
rettet hat, den Rücktritt.« »WAHRSCHEINLICH mee töteten damals 21 Menschen, die meisten
Der Grund dafür, dass so viele Russen Gor-
batschow nicht verstehen, ist, dass sie sich mit
WERDEN DIE LEUTE davon Frauen. Ähnlich grausam verliefen die
Niederschlagung der aserbaidschanischen Un-
ihrer eigenen Geschichte bis heute nicht wirk- ERST NACH MEINEM abhängigkeitsbewegung im Januar 1990 mit
lich auseinandersetzen wollen. Sie wollen
nicht wahrnehmen, welche Irrwege ihr Land TOD AUFHÖREN, etwa hundert Toten sowie ein von Moskau
1991 inszenierter Putsch in Vilnius, der die
unter Stalin, Chruschtschow oder Breschnew
ging. Und dass ein Mann wie Gorbatschow
MICH ZU HASSEN.« Unabhängigkeit Litauens verhindern sollte –
14 unbewaffnete Menschen starben, die meis-
zwangsläufig auftauchen musste. Putin hat ten wurden dabei von Panzern der Sowjetar-
diese Geschichtslosigkeit kultiviert. Er gibt Russland wieder zu Totalitarismus und Ge- mee überrollt oder von Soldaten erschossen.
dem Land das Gefühl, nie wirklich etwas walt zurückgekehrt ist? Diese Ereignisse haben eines mit Putins
falsch gemacht zu haben. Das Böse komme Den hat er gewiss. Gorbatschows größter Invasion in der Ukraine gemein: Russlands
stets nur von außen, sagt er, alle inneren Un- Fehler bestand darin, sich Illusionen über die Führung nutzt immer wieder Gewalt, um poli-
zulänglichkeiten seien auf den Druck einer Beharrungskräfte der alten Ordnung gemacht tische Probleme zu lösen. Allerdings ging es
Russland feindlich gesinnten Umgebung zu- und sie nie konsequent bekämpft zu haben. damals darum, die Sowjetunion noch irgend-
rückzuführen. Die Rolle des zu Sowjetzeiten So lebte vieles von dem, was die alte Sowjet- wie vor dem Auseinanderbrechen zu bewah-
treu ergebenen Parteigenossen übernimmt union kennzeichnete, im Putin-Russland wie- ren. Putins Einmarsch in die Ukraine ist ein
heute der unkritische russische Patriot. Zweif- der auf. Im Kreml herrscht erneut eine poli- klassischer Angriffskrieg gegen ein längst un-
ler wie Gorbatschow haben keinen Platz in tisch verbohrte Clique, die von der Realität abhängiges Land.
dieser Staatsdoktrin. im eigenen Land wie draußen in der Welt Gorbatschow hat immer behauptet, er
Aber auch Gorbatschow war ja oft ein Ver- keine klare Vorstellung mehr besitzt, sondern habe das bewaffnete Vorgehen in Tiflis, Baku
dränger. Dass er zum Schluss in weiten Teilen zunehmend Opfer ihrer eigenen Propaganda und Vilnius nicht befohlen, ja vorab davon
der Bevölkerung unbeliebt war – diesen Ge- wird. Die Angst vor politischen Reformen hat nichts gewusst. Ob es tatsächlich so war – wir
danken mochte er nicht an sich heranlassen. zudem zu wirtschaftlicher Stagnation geführt. wissen es nicht. n

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TITEL

DER MISSVERSTANDENE
ESSAY In Putins Reich ist kein Platz für Michail Gorbatschow. Aber künftige Generationen
werden in ihm einen Helden sehen. Von Mikhail Zygar

or drei Jahren veranstaltete tellektueller – das verzieh ihm das gungen leid und rechnete damit,
V Michail Gorbatschow zum naserümpfende Publikum nicht. Er dass eine Kandidatur zum Anlass
Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

letzten Mal eine Geburtstags- war kein großer Denker wie Sacha- für neue Missgunst dienen würde.
feier. Kurz bevor ich dorthin auf- row. Kein Rockstar wie Jelzin. Doch genau das provozierte Gorba-
brach, entschied ich mich, meine Obwohl der gebildete Teil Russ- tschow dazu, doch zu kandidieren –
Tochter mitzunehmen – sie war da- lands den Zerfall der Sowjetunion er wollte sich erklären.
mals acht Jahre alt. Ich dachte, es begrüßte, war er lange nicht bereit, Man hatte Lügen über ihn ver-
könnte interessant für sie sein, eine Gorbatschow dafür zu danken. breitet, ihn missverstanden, und er
historische Persönlichkeit kennen- Hauptstadtjournalisten sahen auf hatte keine andere Möglichkeit als
Zygar, 41, russischer
zulernen. Für ihre Generation ist ihn herab. Sie waren der Meinung, eine Präsidentschaftskandidatur,
Journalist und Autor, Gorbatschow wie Charles de Gaulle er habe keinen Plan gehabt und um auf die Fernsehbildschirme zu-
war von 2010 bis oder George Washington: ein Mann selbst nicht verstanden, was er an- rückzukehren und Millionen Zu-
2015 Chefredakteur aus einer völlig anderen Epoche. gezettelt hatte. »Dem Bauern ist die schauer zu erreichen. Sein Ziel war
des unabhängigen Indem Gorbatschow einst frei- Sache über den Kopf gewachsen«, nicht die Macht, sondern die Wie-
Senders Doschd. Er
lebt in Berlin. willig das höchste Staatsamt aufgab, musste er sich lange anhören. Selt- derherstellung seines guten Rufs.
könnte man annehmen, er hätte samerweise verehrten viele von ih- Gleich bei den ersten Treffen mit
sich damit die Liebe und den Res- nen Jelzin, der herrischer und weni- den Wählern musste Gorbatschow
pekt des Volkes verdient. Aber bis- ger demokratisch agierte. feststellen, dass ihm die Zuhörer-
her gehört Gorbatschow zu den un- Aber auch weniger gut situierte schaft äußerst negativ gesinnt war,
beliebtesten historischen Figuren Russen lehnten Gorbatschow ab, sie aber er behielt die Fassung und
Russlands. Vielleicht werden ihn ja verbinden mit seiner Amtszeit ihre scherzte: »Ich sehe schon, dass viele
künftige Generationen von Russin- schwersten Jahre: leere Regale in von euch Jelzin und mich am liebs-
nen und Russen wertschätzen. den Geschäften, Lebensmittelmar- ten erhängen würden. Nur eine Bit-
Die russische Intelligenzija war ken, steigende Kriminalität, Abriss te: Wenn ihr das macht, dann nicht
schon immer hart zu Gorbatschow. ehemaliger Verbindungen. Im am selben Baum.«
Zunächst vertraute man ihm nicht – Gegensatz zu den Intellektuellen Jelzin gewann die Wahlen (mit-
vor allem die Dissidenten im Exil herrschte in der Arbeiterklasse kei- hilfe des gesamten Staatsapparats
nicht. Sie sagten, er sei ein gewöhn- ne Übereinstimmung, dass der Zer- und der Oligarchen), während
licher Kommunist und gebe nur vor, fall der Sowjetunion etwas eindeu- Gorbatschow gerade mal 0,5 Pro-
liberal zu sein. tig Gutes sei. Der arme Teil der Ge- zent erzielte und Siebter wurde.
Als klar wurde, dass er doch kein sellschaft versank nach dem Zusam- In den Jahren danach beobachte-
gewöhnlicher Kommunist war, wa- menbruch des Imperiums in noch te Gorbatschow nicht ohne Sarkas-
ren sie angetan von ihm, doch diese größerer Armut und beschuldigte mus, wie seine Errungenschaften
Zuneigung verflog bald. Vielleicht, Gorbatschow, ihnen die Stabilität zerstört wurden. Die Schuld daran
weil Gorbatschows Sprache auf geraubt zu haben. »Er hat sich als gab er nicht Putin. Für ihn war
Russisch nicht so beeindruckend Schwächling erwiesen, hat das Land der Feind, der die Demokratie in
klang wie in der Übersetzung. Er ruiniert« – das ist wohl das am Russland vernichtet hatte, immer
war ein Dorfjunge, der sein Leben meisten verbreitete Urteil. schon Jelzin – ihn nannte er »einen
lang mit einem starken südrussi- Die ersten fünf Jahre nach dem hinterhältigen Menschen und
schen Dialekt (der an das Ukraini- Zerfall der Sowjetunion war von Hochstapler«, der die Wahlen in
sche erinnert) sprach. Oft betonte er Gorbatschow nichts zu hören. Er eine Farce verwandelt habe.
Wörter falsch, drückte sich unge- verabschiedete sich von seinen Mit-
schickt aus. Seine Redeweise wurde bürgern kurz vor dem Jahreswech- ie Demütigung bei den Wah-
von Komikern parodiert – was er
gelassen aufnahm. Für die Sowjet-
union war das neu, viele legten es
sel 1992 und verschwand. Aber
1996 sollten in Russland Präsident-
schaftswahlen stattfinden, und sein
D len 1996 besiegelte seine poli-
tische Karriere. Ein Jahr spä-
ter spielte er in einem Werbespot
ihm als Schwäche aus. Für gewöhn- Umfeld drängte ihn dazu, in die für Pizza Hut mit. Später erklärten
lich ließen sich sowjetische Ober- Politik zurückzukehren. Man be- seine Assistenten, er habe das nicht
häupter nicht verspotten. hauptete, das Volk habe ihn ver- aus Not getan, sondern um seine
Bemerkenswert, dass gerade die misst, die Umfragen lögen und in Stiftung zu finanzieren. Das Sujet
Leute, die Gorbatschow hätten ver- Wirklichkeit sei er beliebt beim des Werbespots war seltsam. Der
stehen und annehmen müssen, sich Volk. Leider war dem nicht so. ehemalige Generalsekretär spaziert
so lange von ihm distanziert haben. Seine Ehefrau Raissa war katego- mit seiner Enkelin über den Roten
Gorbatschow wirkte nie wie ein In- risch dagegen. Sie war die Beleidi- Platz. Dann gehen die beiden in

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eine Pizzeria, dort wird Gorbatschow sie gleich zwei Thesen: »Gorba­ tschow nie hoch angerechnet. Im
von den anderen Besuchern er­ tschow ist Anarchist« und »Gorba­ ZU HAUSE Gegenteil, sie wurde ihm als Schwä­
kannt, und es entsteht ein Streit da­ tschow ist ein Agent der CIA«. KEIN HELD che ausgelegt. Gorbatschow wurde
rüber, was er Russland gebracht Als Putin an die Macht kam, ver­ nachgesagt, er sei ein Pantoffel­
habe – Chaos oder neue Möglich­ schärfte sich alles. Die Veteranen »Ihrer Meinung nach held – warum berät er sich mit sei­
keiten. Den Schlussstrich bei der des Geheimdienstes waren wieder ist Michail Gorba- ner Frau und nimmt sie mit auf
tschow ...?«,
Debatte zieht eine ältere Frau, in­ angesehene Leute, die man ins Angaben in Prozent
seine Reisen?
dem sie sagt: »Dank ihm haben wir Staatsfernsehen einlud. Ihre ver­ Eine jüngere Generation blickte
Pizza Hut.« Woraufhin die Besu­ schwörungstheoretischen Fantasien ... ein Politiker, der anders auf Raissa. Als Gorbatschow
cher einstimmig skandieren: »Für über Gorbatschow bekamen einen an das Wohl des Lan- 1996 die Präsidentschaftswahlen
Gorbatschow!« festen Platz in den propagandisti­ des dachte, aber eine verlor, war der größte Hit auf allen
Reihe schwerwie-
Dieser Werbespot lief natürlich schen Fernsehshows. Radiosendern ein Track mit dem
gender taktischer
nie in Russland, doch allein die Fehler beging, die zu
Titel »Das Glück ist da«, kreiert
Nachricht, dass es ihn gab, wurde ber das Wichtigste war, dass von einem jungen DJ. Über die
als Demütigung aufgefasst. Wobei
sich am meisten diejenigen empör­
ten, die zuvor behauptet hatten,
A der Kreml in den letzten
zehn Jahren alles daransetz­
te, die Sehnsucht nach der Groß­
Umwälzungen und
Problemen führten.
51
elektronische Musik waren die
Stimmen von Raissa und Michail
Gorbatschow gelegt. Sie sprachen
Gorbatschow habe das Land an die macht, vor der alle Angst haben, ... ein Verbrecher, der über ihre Liebe. Die ehemalige First
Amerikaner verkauft, Millionen zur nationalen Idee zu erheben. In böswillig und vorsätz- Lady sagte: »Das Glück ist da, an­
kassiert und lebe nun im Ausland. diesem Wertesystem ist Stalin ein lich eine Großmacht ders kann es gar nicht sein.« Und
ruiniert hat.
In den Nullerjahren, in Putins Heiliger und Gorbatschow zum der ehemalige Präsident sagte: »Ich
22
Amtszeit, trat Gorbatschow noch größten Bösewicht verdammt. habe gewartet, gesucht und gefun­
einmal in einem Werbeprojekt auf: Es gibt nur einen Menschen, der ... ein mutiger Mann, den. Ich möchte mit ihr zusammen
Annie Leibovitz fotografierte ihn noch unbeliebter war als Gorba­ der keine Angst davor sein.« Die unglaubliche Beliebtheit
für Louis Vuitton. Dass er offenbar tschow: seine Ehefrau Raissa. Zu mo­ hatte, Verantwortung des Songs zeigt, dass die Genera­
Geld brauchte, wurde aber nicht als debewusst, zu aktiv – im 21. Jahr­ zu übernehmen und tion, die in den Neunzigern soziali­
Beleg dafür interpretiert, dass Gor­ hundert wäre sie eine Stilikone gewe­ Reformen durchzu- siert wurde, offenbar keinen sol­
batschow nicht korrupt gewesen war. sen, in den Achtzigern hielt man sie führen, die für das chen Hass auf die Gorbatschows
Im Gegenteil, viele rümpften aber­ für eine Streberin. Im Gegensatz zu Land lebenswichtig empfand wie ihre Eltern.
mals die Nase, er habe sich verkauft. ihrem sich immer einfach ausdrü­ sind. Raissa starb 1999 an Leukämie.
11
Bezeichnend ist auch, was Alexej ckenden Mann wirkte sie, eine Absol­ Er hatte die Liebe seines Lebens
Nawalny nach dem Tod Gorba­ ventin der Philosophischen Fakultät S Quelle: Wziom-Sputnik, verloren. Seitdem waren die Erin­

tschows aus dem Gefängnis schrieb: der Moskauer Universität, arrogant Umfrage in Russland am
28. Februar 2021; 1600 Be-
nerungen an sie sein einziges The­
Gorbatschow habe seine Macht und nicht authentisch. Etwas Ähnli­ fragte ab 18 Jahren; die sta- ma. Nach einem Essen mit Freun­
tistische Ungenauigkeit der
nie dafür benutzt, sich selbst zu be­ ches dürften wohl auch die Amerika­ Umfrage liegt bei 2,5 Prozent- den konnte er sagen: »Und jetzt los
reichern, und habe seinen Posten ner gefühlt haben, die Hillary Clinton punkten; an 100 fehlende
Prozent: »Sonstiges«/
zu den Damen!« Und fuhr auf den
freiwillig verlassen, »und das ist hassten. Wobei Raissa keine eigenen »schwer zu beantworten« Friedhof zu Raissas Grab.
nach den Standards der ehemaligen politischen Ambitionen hatte. Sie Glücklicherweise wurde diese
Sowjetunion eine große Leistung«. wusste, dass das Volk sie hasste, hörte Liebe noch zu Gorbatschows Leb­
Schon während des Zerfalls der die geschmacklosen Witze über sich zeiten in einem Theaterstück besun­
Sowjetunion kursierten in Russland und litt sehr darunter. gen. 2020 inszenierte der lettische
unzählige, wahnwitzige Verschwö­ Aus irgendeinem Grund wurde Regisseur Alvis Hermanis ein Stück
rungstheorien. Meistens vereinten die Liebe zu seiner Frau Gorba­ über die Gorbatschows, in dem es
nicht um Politik, sondern um die
Beziehung der beiden ging. Das
Stück war ein Triumph, ein Zeichen,
dass die Moskauer Intelligenzija
30 Jahre nach Gorbatschows Rück­
tritt ihre Fehler eingestand.
Im Oktober 2020 war Gorba­
tschow selbst bei der Premiere. Der
Saal würdigte ihn mit Ovationen.
Er selbst bedankte sich nach dem
Stück bei der Schauspielerin Tschul­
pan Chamatowa dafür, dass sie ihm
die Möglichkeit gegeben habe,
gleichsam seine geliebte Frau noch
einmal zu sehen.
Doch das liegt alles in der Ver­
Andrej Krementschouk / Agentur Focus

gangenheit. Bei Ausbruch des


Kriegs verurteilte Chamatowa Pu­
tins Handeln öffentlich und verließ
Russland. Jewgenij Mironow hin­
gegen, ihr Partner in dem Stück, ist
Künstlerischer Leiter des Theaters
der Nationen in Moskau geblieben.
Obendrein besuchte er das besetzte
Siegesparade in Moskau am 9. Mai Mariupol und kündigte an, auch die

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TITEL

dafür, dass Gorbatschow ein unverrückbarer


Humanist und Vertreter liberaler Werte sei.
Gorbatschow war auch beteiligt an der
Gründung der »Nowaja Gaseta«, des wich-
tigsten unabhängigen Mediums in Russland.
1993 kaufte er der Redaktion von dem Geld
seines Friedensnobelpreises neue Computer.
2006 wurde er Teilhaber und pflegte sein
Leben lang ein freundschaftliches Verhältnis
zum Chefredakteur Dmitri Muratow, den er
für den Nobelpreis 2021 vorschlug. Doch
weder Gorbatschow noch der Friedensno-
belpreis konnten der Zeitung nach Kriegsbe-
ginn helfen – wie alle unabhängigen Medien
wurde sie im März dieses Jahres geschlossen.
Als Wladimir Putin gerade Präsident ge-

Panos Pictures / VISUM


worden war, versuchte man noch mithilfe
von Gorbatschows Autorität, die unabhän-
gigen Medien zu retten. 2001 war der ehe-
malige Präsident Aufsichtschef von NTW –
dem beliebtesten russischen Fernsehsender,
der scharfe Kritik an Putin übte. Der Sen-
Vergnügungspark nahe Moskau
der wurde mit Gewalt Gazprom übergeben,
Leitung des dortigen zerbombten Theaters treffen, die ihr ganzes Leben in der Sowjet- den Journalisten wurde gekündigt. Gorba-
zu übernehmen. union verbracht haben. tschows Schutz konnte nichts bewirken.
Als letzter Führer eines zerfallenen Außerdem verteidigte Gorbatschow die Auf Putin hatte auch er keinen Einfluss.
Reichs bedauerte Gorbatschow immer öf- Annexion der Krim. Er sagte, das dort doch Gleichzeitig hat Gorbatschow Putin nie
fentlich, dass die Sowjetunion kollabiert wirklich Russen lebten, und wenn sie bei so scharf kritisiert, wie er es beispielsweise
war. In unzähligen Interviews sagte er, das einem Referendum für eine Angliederung mit Jelzin tat. Mehr noch, er versuchte zu-
sei wegen Verrats in seinem Umfeld, wegen an Russland gestimmt hätten, so müsse man weilen sogar sein Handeln zu rechtfertigen.
Jelzin und den Anführern der anderen das respektieren. Diese Worte brachten ihm Gorbatschow hat sich nie für Alexej
Sowjetrepubliken geschehen. Gorbatschow den Hass vieler Menschen in der Ukraine Nawalny ausgesprochen – Nawalny war es
vertrat den Standpunkt, dass man die ein, der bis heute anhält. selbst, der aus dem Kerker, in dem er sich
Sowjetunion aus einem schlechten in ein Gorbatschow ließ den gegenwärtigen gerade befindet, kundtat, sein Verhältnis zu
gutes Imperium hätte verwandeln können, Krieg gegen die Ukraine unkommentiert – Gorbatschow habe sich in letzter Zeit stark
vergleichbar mit den USA. Er glaubte in den letzten Monaten war er bereits verändert. Heute sei er überzeugt, dass
aufrichtig daran, dass die Sowjetunion hätte schwer krank. Man kann mit Bestimmtheit nachfolgende Generationen den einzigen
reformiert werden können, dass die Re- sagen, dass er jeglichen Krieg verabscheute. »halbwegs wohlwollenden« Präsidenten
publiken friedlich in einem demokratischen Dmitri Muratow, ein enger Freund von ihm, der Sowjetunion noch würdigen werden,
Staat hätten koexistieren können. erinnert sich an ein Festessen in seinen letz- mehr als seine Zeitgenossen es tun.
Wenn Putin verkündete, der Zerfall der ten Jahren, bei dem Gorbatschow die Gäste Ich schreibe diesen Text vor Gorbatschows
Sowjetunion sei die größte geopolitische darum bat, sich eine Rede anzuhören, die Beerdigung. Aber es ist bereits klar, dass diese
Katastrophe des 20. Jahrhunderts, hätte er gern vor den Vereinten Nationen halten festlich ausfallen wird. Die russische Propa-
Gorbatschow ihm durchaus zustimmen würde. Er zog einen dicken Papierstapel ganda ist sehr vorsichtig mit dem verstorbe-
können. Allerdings fügte Gorbatschow im- hervor. Die Gesichter seiner Gäste verfins- nen Führer umgegangen – kein Tanz auf den
mer hinzu, dass eine Wiederherstellung der terten sich schon, sie stellten sich auf eine Knochen, wie man erwarten konnte. Das liegt
alten Sowjetunion unmöglich sei. Er erhitz- lange Rede ein. »Krieg verbieten!«, las Gor- daran, dass Putin beschlossen hat, sich von
te sich immer, wenn man ihm den Zerfall batschow. »Fertig. Trinken wir.« seinem Vorgänger zu verabschieden – natür-
des Ostblocks vorwarf. »Wir haben Polen lich nicht auf der Beerdigung, sondern indem
den Polen, Ungarn den Ungarn gegeben«, s ist bemerkenswert, dass sich Gorba- er sich in der Zentralklinik vor dem offenen
erwiderte er schroff. Doch einer Eigenstän-
digkeit der baltischen Staaten, der Ukraine
und Belarus stand er kritisch gegenüber.
E tschow direkt mit Amtsabtritt in
ein Museumsrelikt verwandelte, in ein
Exponat. In seinen letzten Jahren war
Sarg des Verstorbenen verbeugte. Es wirkte
wie eine Verhöhnung all dessen, was Gorba-
tschow getan hat. Ein demonstrativer Sieg des
Der Zerfall der Sowjetunion ging zuwei- er eine Art Denkmal für sich selbst und Diktators über den Demokraten.
len mit Blutvergießen einher: Eines der das System, das er zerstört hat. Zwar sprach Aber es ist ein vorübergehender Sieg.
schrecklichsten Ereignisse ist der Einmarsch er nicht mehr über Politik, hat aber auch Meine Tochter hat Gorbatschow gemocht,
sowjetischer Truppen nach Litauen im nicht völlig geschwiegen. Er redete mit als sie ihn einst traf. Ich habe keine Zweifel,
Januar 1991. 15 Menschen starben bei dem Journalisten, tat es jedoch in Metaphern, dass künftige Generationen in ihm einen
Sturm auf den Fernsehturm. Offenbar ge- wie ein fernöstlicher Weiser, nicht wie ein Helden und Gründervater sehen werden,
schah das nicht auf Gorbatschows Befehl, westlicher Politiker. nicht in Putin. Trotz des Hasses und der
sondern wurde von ihm geduldet. Nach seinem Rücktritt aus der Politik Verständnislosigkeit kann Gorbatschow zu
Der ehemalige Generalsekretär konnte versöhnte er sich mit vielen seiner demokra- einem Moses für das künftige Russland wer-
nicht begreifen, wie sich die Ukraine von tischen Widersacher. Die Dissidentin Wale- den. Er hat nicht bis zum Ende des Weges
Russland trennen könne: Er begann darü- rija Nowodworskaja nannte ihn einen Fa- überlebt, auf den er seine Mitbürger ge-
ber zu sinnieren, dass er selbst zur Hälfte schisten und verbrachte während der Peres- bracht hat. Doch irgendwann werden dieje-
Ukrainer sei, und Raissa sei zu 100 Prozent troika einige Monate in Haft. Doch schon in nigen sterben, die noch Sklaven der Sowjet-
Ukrainerin gewesen. Diese Haltung ist oft den Neunzigern sprachen sich die beiden union sind. Putin wird man vergessen, an
bei Menschen älterer Generationen anzu- aus – Nowodworskaja bedankte sich sogar Gorbatschow wird man sich erinnern. n

16 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


TITEL

rige Verkäuferin im Zentrum von Moskau,


»die Bildung der Menschen und die Industrie-
betriebe. Wir hatten ein geregeltes Leben,
Stabilität. Gorbatschow hat das alles zerstört,

ABSCHIED IM ZORN uns an den Westen verkauft. Er ist ein Ver-


räter«. Auch ein 64-jähriger Passant hat nicht
viel Gutes über Gorbatschow zu sagen: »Er
hat die älteren Menschen, die dieses Land
DIPLOMATIE In Russland reagiert das Regime kühl auf den Tod während des Zweiten Weltkrieges verteidigt
und später aufgebaut haben, im Elend zurück-
des letzten Führers der Sowjetunion. Präsident Putin gelassen. Das ist ein Armutszeugnis.«
gönnt Gorbatschow noch nicht mal ein Staatsbegräbnis. Nur Jüngere, wie ein 18-jähriger Wirt-
schaftsstudent, erinnern sich an die Freihei-
ten, die Gorbatschow den Russen geschenkt
in mehrstöckiges, ockerfarbenes Gebäu- musste Putin selbst ohnehin nicht werden, hat: »Er hat uns die Tür zur Welt geöffnet,
E de an einer Ausfallstraße nordwestlich
vom Moskauer Zentrum. Hier hat die
Stiftung von Michail Gorbatschow ihren Sitz.
das überließ er anderen. Gorbatschow habe
zwar »aufrichtig daran glauben wollen«, dass
der Kalte Krieg zu Ende gehe und eine »ewi-
eine demokratische Gesellschaft ermöglicht.«
Alles, was Gorbatschow geschaffen habe, sei
inzwischen zerstört worden, sagt sein Weg-
Ein kleiner Tisch steht neben dem Eingang, ge romantische Periode zwischen einer neuen begleiter Alexej Wenediktow, ehemals Chef-
einige rote Rosen und Nelken liegen darauf. Sowjetunion, der Welt und dem kollektiven redakteur des kremlkritischen Senders Echo
Kein Foto, keine Informationstafel. Man muss- Westen« beginne, erklärte Kremlsprecher Moskwy. Gorbatschow habe für Abrüstung,
te schon genau hinschauen, um die improvi- Dmitrij Peskow. Das sei aber ein Fehler ge- Frieden, politischen Wettbewerb, Freiheit ein-
sierte Gedenkstätte für den früheren Staats- wesen. »Der Blutdurst unserer Gegner hat gestanden. Putin dagegen rüste auf, zensiere
präsidenten der Sowjetunion zu entdecken. sich gezeigt. Gut, dass wir das rechtzeitig er- die Medien, zerstöre den politischen Wett-
Die meisten Passanten liefen einfach vorbei. kannt und verstanden haben.« Anders als bewerb, lasse Oppositionelle inhaftieren. Al-
In der russischen Hauptstadt deutete Mit- eben der naive Gorbatschow, so die Botschaft. lerdings sei eine Mehrheit der Russen mit
te der Woche wenig darauf hin, dass Gorba- Die russischen Fernsehsender übernahmen Putins Linie einverstanden.
tschow am Dienstagabend gestorben war. Es diese Erzählung natürlich. Gorbatschow wur- An der Trauerfeier für Gorbatschow am
gab keine Trauerbeflaggung an staatlichen de als Staatsmann gezeigt, der die Sowjet- Samstag in Moskau werde Putin nicht teil-
Gebäuden, keine Sondersendungen in den union reformieren wollte, scheiterte und dann nehmen, »aus Termingründen«, wie der
Fernsehsendern. Während Beileidsbekundun- vom Westen betrogen wurde. Er habe sich Kreml erklärte. Bei der Trauerfeier für den
gen zahlreicher internationaler Staats- und bei »unseren Feinden«, im Westen, »einge- früheren Präsidenten Boris Jelzin hatte Putin
Regierungschefs bereits in den ersten Stunden schleimt«, sagte die Moderatorin einer Talk- noch eine Rede gehalten. Für Gorbatschow
nach Gorbatschows Tod eintrafen, meldete show im staatlichen Kanal Rossija 1, »wir aber soll es nicht einmal ein Staatsbegräbnis
sich die russische Führung erst spät mit einer mochten ihn nicht, aber er ist gerade erst ge- geben, nur Elemente davon, wie etwa eine
Würdigung. Dabei war Gorbatschow schon storben, also werden wir nicht zu sehr auf ihn Ehrengarde. Seine Stiftung organisiert die
lange schwer krank, lag viele Monate im Zen- eindreschen«. Feierlichkeiten. Hohe ausländische Gäste er-
tralklinikum von Moskau. Tatsächlich ist Gorbatschow bei vielen Rus- wartet angesichts des Krieges und der Sank-
Präsident Wladimir Putin hatte also genug sinnen und Russen nicht besonders beliebt. tionen gegen Russland kaum jemand in Mos-
Zeit, um sich zu überlegen, welche Worte er Gerade die Älteren tragen ihm nach, dass er kau. Immerhin zeigte Putin eine minimale
für den letzten Sowjetführer wählen könnte. ihr Sowjetimperium verspielt habe, dass sie Geste des Respekts. Am zweiten Tag nach
Er gibt Gorbatschow eine Mitschuld an dem nach dem Zusammenbruch des Kommunis- Gorbatschows Tod legte er einen Strauß Rosen
Auseinanderbrechen der Sowjetunion, das mus unter Chaos und wirtschaftlicher Not ge- am aufgebahrten Sarg im Zentralklinikum ab.
Putin – wie viele Russinnen und Russen – bis litten hätten. Vieles sei in der Sowjetunion Dann verbeugte er sich kurz.
heute nicht überwunden hat. Der Präsident besser gewesen, sagt etwa Aljona, eine 54-jäh- Christina Hebel n
nannte ihr Ende wiederholt die »größte geo-
politische Katastrophe des Jahrhunderts«.
Der Zerfall der Sowjetunion habe das
»Gleichgewicht der Kräfte« auf der Welt zer-
stört, sagte er in seiner Ansprache kurz vor
dem Angriff seiner Truppen auf die Ukraine.
Der Kreml brauchte jetzt mehr als zwölf
Stunden, um Putins Beileidstelegramm an
Familie und Freunde des letzten Sowjetfüh-
rers Gorbatschow zu veröffentlichen. Es sind
knappe, unterkühlt klingende Zeilen, in
denen Putin Gorbatschow als Politiker wür-
digt, »der enormen Einfluss auf den Verlauf
der Weltgeschichte genommen hat«. Was das
genau heißt, lässt Putin offen, flüchtet sich in
allgemein gehaltene Sätze wie diesen: Der
frühere Präsident habe »versucht, seine eige-
nen Lösungen für die drängenden Probleme
vorzuschlagen«.
Lob findet Putin einzig für die »große hu-
manitäre, wohltätige, aufklärerische Tätig-
keit« Gorbatschows, womit die Arbeit seiner
AP

Stiftung gemeint sein dürfte. Allzu deutlich Präsident Putin an Gorbatschows Sarg am Donnerstag: Minimale Geste des Respekts

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 17


DEUTSCHLAND

Ina Fassbender / AFP


Der trockene Sommer hat in Deutschland seine Spuren hinterlassen. Hier etwa ist der Edersee zu sehen – oder zumindest das, was derzeit von
ihm übrig ist. Das Gewässer liegt unweit des Ortes Waldeck in Hessen. Es ist einer der größten Stauseen Deutschlands. Derzeit kommen in
dem 1914 gefluteten See sogar eine alte Brücke und Ruinen zum Vorschein, die sich eigentlich die meiste Zeit unter Wasser befinden. Allerdings
lässt sich der niedrige Wasserspiegel auch damit erklären, dass der Edersee zur Regulierung der Weser und des Mittellandkanals genutzt wird.
Auf dem Seeboden gedeihen jetzt reichlich Sumpfgräser.

Grüne uneins über Homöopathie


GESUNDHEIT Die umstrittene Behandlungsmethode entzweit die Fachpolitiker.

in überwunden geglaubter Konflikt um die Wirksamkeit wissenschaftlich.« Die Grünen hätten deshalb auf ihrem Parteitag
E homöopathischer Behandlungen holt die Grünen wieder ein.
Nachdem Baden-Württembergs Gesundheitsminister Man-
fred Lucha sich für Homöopathie als Weiterbildungsmöglichkeit für
2020 beschlossen, dass »Leistungen nur dann von den gesetzlichen
Krankenkassen übernommen werden sollen, wenn sie medizinisch
sinnvoll sind und ihre Wirksamkeit wissenschaftlich erwiesen ist«.
Ärztinnen und Ärzte ausgesprochen hat, distanzieren sich andere Ein Sprecher von Brandenburgs grüner Gesundheitsministerin
grüne Gesundheitsministerinnen davon. In Berlin, Brandenburg Ursula Nonnemacher bestätigte, dass auch Brandenburg die Homö-
und vielen anderen Bundesländern hatten die Landesärztekam- opathie aus der Weiterbildungsordnung herausgenommen habe.
mern die alternative Heilmethode bereits aus dem Weiterbildungs- Dagegen bekräftigte Lena Schwelling, Vorsitzende der baden-würt-
katalog gestrichen. »Berlin hat die Homöopathie aus der Weiter- tembergischen Grünen, ihre Forderung nach dem Erhalt von Ho-
bildung für Ärztinnen und Ärzte herausgenommen. Das war eine möopathie im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen.
richtige Entscheidung«, sagt die Berliner Gesundheitssenatorin »Ob die Menschen ihre Erkältung mit Salbeitee, Globuli oder
Ulrike Gote dem SPIEGEL . »Basis für die Gesundheitsversorgung Aspirin auskurieren wollen, das geht die Politik nichts an, das kann
ist die Wissenschaft. Und Homöopathie ist nachweislich nicht und soll jede und jeder selbst entscheiden«, sagt sie. MFH, KEK

18 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


Hilfe für Pflegeberufe »Für diese Pflegende, gerade
DIE GEGENDARSTELLUNG
jene, die im ländlichen Raum
DIENST WAGEN In der Debatte leben und arbeiten, ist das im
um eine Abschaffung steuer- wahrsten Sinne des Wortes ein Freibier für alle
licher Vergünstigungen für Privileg, das eine große finan-
Dienstwagen warnt Nordrhein- zielle Entlastung für die Fami-
Westfalens Gesundheitsminis- lie darstellt«, so Laumann. Von Alexander Neubacher nes Lieblingsmetzgers in Ber-
ter Karl-Josef Laumann vor Zuletzt war in der Ampelkoa- lin sei von 65 Euro auf 95
Nachteilen für Beschäftigte in lition der Streit um die Be- rise? Sagen Sie es nicht Euro das Kilo gestiegen. Die
sozialen Berufen. »Wir denken
bei dem Thema Dienstwagen-
privileg alle automatisch an
steuerung von Dienstwagen
neu entbrannt: Während die
Grünen fordern, große Sprit-
K weiter, aber ich kann
mich gerade nicht be-
schweren, im Gegenteil. Ich
Regierung solle den Bürger
daher jetzt »endlich richtig
entlasten«.
dicke Limousinen. Dabei wird fresser höher zu besteuern staune, wie mich die Regie- 9-Euro-Ticket, Rinderfilet:
vergessen, dass Dienstwagen als Spar-Autos, pocht die FDP rung mit Geschenken über- Hier werfen heißer Herbst
auch eine soziale Komponente auf eine günstige Pauschal- häuft. Mache ich einen so be- und Wutwinter ihre düsteren
haben«, sagte der CDU-Politi- besteuerung für alle, wie es bis- dürftigen Eindruck? Weiß die Schatten voraus. Und warum
ker dem SPIEGEL . »Zum Bei- lang auch der Fall ist. »Sollte Regierung nicht, wohin mit gibt es eigentlich kein Freibier
spiel, wenn ambulante Pflege- die Ampel an das Dienstwagen- ihrem Geld? für alle? Dass es die Inflation
dienste ihren Mitarbeitern er- privileg rangehen, erwarte ich Diese Woche habe ich nicht gerade dämpft, wenn
möglichen, Dienstwagen – in hier zielgenaue Vorschläge«, unser Auto vollgetankt. 50 Li- der Staat kübelweise Geld an
der Regel Kleinwagen – auch sagte der nordrhein-westfäli- ter, knapp 100 Euro, keine leitende Angestellte verteilt,
privat zu nutzen«, so Laumann. sche Minister. KOR Kleinigkeit, aber dank des könnten freilich auch Nicht-
Tankrabatts etwa 15 Euro bil- ökonomen verstehen.
liger als normal. Die Bundesregierung hat
Schwarzfunk im werden«, sagte Rößner dem In den Sommermonaten ankündigt, bald das nächste
SPIEGEL . Nach der Absetzung ist gefühlt meine halbe Groß- »wuchtige Entlastungspaket«
Norden? des ZDF-Chefredakteurs Niko- familie mit dem subventio-
MEDIEN In der Affäre um mut- laus Brender 2009 hatte die nierten 9-Euro-Ticket durch Krise? Welche Krise?
maßlich frisierte Berichterstat- Grüne auf ein Normenkontroll- die Gegend gereist.
tung im NDR-Landesfunkhaus verfahren beim Bundesverfas- Im Juli hat mir der Staat
Ich kann mich nicht
in Schleswig-Holstein meldet sungsgericht gedrängt, das dazu für jedes meiner Kinder beklagen. Die Regie-
sich eine erste Vertreterin der führte, dass der ZDF-Staatsver- 100 Euro Bonus überwiesen. rung überhäuft mich
Regierungsparteien zu Wort. trag revidiert werden musste. Und demnächst gibt es je- mit Geschenken.
Die grüne Medienpolitikerin »Die Glaubwürdigkeit des öf- weils 300 Euro brutto soge-
und Bundestagsabgeordnete fentlich-rechtlichen Rundfunks nannte Energiepreispauschale (Christian Lindner) vorzustel-
Tabea Rößner fordert: »Es hängt entscheidend von seiner für meine Frau und mich. Da- len, darunter wohl auch eine
darf keinen Rotfunk, keinen Staatsferne und einer unabhän- bei hat sich unser Strompreis weitere Pauschale für alle. Der
Schwarzfunk, keinen Grünfunk, gigen Berichterstattung ab«, so aufgrund lang laufender Ver- Finanzminister sorgt sich
noch eine andere Farbe im Rößner. Das seien die Sender träge bisher kaum erhöht. nicht, dass ihm das Geld aus-
Rundfunk geben. Die Vorwürfe »den Beitragszahlerinnen und Und wir heizen auch nicht mit geht, sondern eher, dass er die
der politischen Einflussnahme -zahlern schuldig«. In der Affä- Gas. Milliarden nicht schnell genug
in der politischen Berichter- re beim NDR geht es darum, Insgesamt dürften es dann unter die Leute bringt. Am
stattung, wie sie auch im Redak- dass einzelne kritische Berichte über 1000 Euro sein, die uns Rande der Koalitionsklausur
teursausschuss protokolliert über CDU-Ministerpräsident die Ampelkoalition dieses erklärte er, was das Problem
wurden, wiegen schwer und Daniel Günther verhindert wor- Jahr schenkt. Die vom Finanz- ist: die IBAN mit der Steuer-
müssen allumfassend aufgeklärt den sein sollen. FIN minister rückwirkend erhöh- nummer zusammenzubringen.
ten Pendler- und Werbungs- Auch sei die öffentliche Ver-
kostenpauschalen sind nicht waltung mit ihrer IT leider nur
mal eingerechnet. Krise? in der Lage, 100 000 Über-
Nachgezählt Welche Krise? weisungen pro Tag vorzuneh-
Wobei: Mehr geht natürlich men.
Preisveränderung bei Grillzutaten, Juni 2022 gegenüber Juni 2021 immer. Eine Studioleiterin des »Jetzt überlegen Sie mal,
WDR twitterte diese Woche wie viele Deutsche wir sind«,
+17 % +12 % empört: »ICH WILL MEIN sagte Lindner, »ist nicht so
Kotelett Weißbrot
#9EuroTicket BEHALTEN!« einfach, dass man sagen könn-
Nicht alle Mitarbeiter der Öf- te: Wir drücken auf den
fentlich-Rechtlichen können Knopf, Geld im Haushalt ist
offenbar einen Dienstwagen da, werden wir schnell los.«
+17 % +11 % mit Massagesitzen fahren. In Ein Finanzminister, der nicht
Bratwurst Paprika der Zeitung »Die Welt« las ich weiß, wie er das Geld noch
den Kommentar eines Kolle- schneller an Leute wie mich
gen, der sich über die Infla- verschenken kann?
tion beschwert, sein Beispiel: Glücklich das Land, das
Das Rinderfilet am Stand sei- solche Krisen hat.
+13 % +4 %
Ketchup Auberginen
An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: Destatis

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 19


CHAPPATTES WELT »Hohe Dringlichkeit«
GESETZE Der SPD-Bundestags-
abgeordnete Helge Lindh
mahnt eine rasche gesetzliche
Regelung der Sterbehilfe an.
Zweieinhalb Jahre nach einem
wegweisenden Urteil des Bun-
desverfassungsgerichts gebe es
eine »hohe Dringlichkeit«, sagt
Lindh, der den liberalsten von
drei Gruppenanträgen im Parla-
ment unterstützt. Das Verfas-
sungsgericht hatte die Strafbar-
keit der geschäftsmäßigen För-
derung des Suizids im Februar
2020 gekippt. Bislang gab es
nur eine erste Lesung und eine
Orientierungsdebatte über eine
neue Regelung, aber noch nicht
einmal einen Termin für die An-
hörung von Sachverständigen.
Der Sozialdemokrat sagt, die
aktuelle Rechtsunsicherheit für
Betroffene, Ärzte oder Ange-
hörige sei unhaltbar. Allerdings
gehe Verfassungsmäßigkeit vor
Schnelligkeit. Lindh warnt da-
vor, die Strafbarkeit »durch die
Hintertür« wiedereinzuführen,
Weniger Geld für internationale Einrichtungen ist so blauäugig zu glauben, dass und fordert eine unabhängige,
und internationale Nichtregie- die Hungerkrise mit dem Neu- flächendeckende Infrastruktur
die Welt rungsorganisationen seien fast jahrstag endet, oder sie handelt für die Beratung. »Wir verste-
FINANZEN Der CSU-Abgeord- halbiert worden. Statt einer Mil- unverantwortlich«, sagt Stefin- hen uns bis heute nicht darauf,
nete Wolfgang Stefinger kriti- liarde sind es jetzt nur 507 Mil- ger. »Die anhaltenden Dürren uns den Menschen gegenüber
siert, dass der Haushalt für Ent- lionen Euro, die dorthin fließen. in Afrika und die explodieren- zu verhalten, die selbstbe-
wicklungspolitik deutlich UN Women etwa bekommt statt den Preise für Getreide und stimmt mit Hilfe Dritter sterben
schrumpft. So sind für den aktu- 12 nur noch 9 Millionen, Unicef Dünger werden die Ernährungs- wollen oder auch nur die Si-
ellen Haushaltsentwurf nicht nur noch 60 statt 140 Millionen krise eher noch verschärfen. cherheit haben wollen, es im
mehr 12,349 Milliarden Euro Euro. Der Kernbeitrag am Welt- Der Kampf gegen den Hunger Fall der Fälle tun zu können«,
vorgesehen, sondern nur noch ernährungsprogramm fällt trotz müsste oberste Priorität für die sagt der Bundestagsabgeordne-
11,08 Milliarden – ein Minus internationaler Ernährungskrise deutsche Entwicklungspolitik te Lindh. Und weiter: »Das ist
von mehr als zehn Prozent. nach dem Anstieg auf 70 Millio- haben, stattdessen wird bei den die große, gern verschwiegene
Allein die Sammeltitel mit Bei- nen Euro wieder auf die Summe Ärmsten der Armen gespart«, Leerstelle, der blinde Fleck in
trägen an die Uno, ihre Sonder- von 28 Millionen Euro zurück. so der CSU-Bundestagsabge- der Auseinandersetzung über
organisationen sowie andere »Entweder die Bundesregierung ordnete. TIL Suizidhilfe.« CTE

Beim RBB musste die Inten- där sei etwa das Interview des terpräsidenten und früheren
BR bleibt dantin gehen, beim NDR damaligen BR-Fernsehchefs BR-Redakteurs Markus Söder,
nimmt sich ein Funkhauschef Wolf Feller mit einem ange- der 2015 in der Vorabendserie
sauber eine Auszeit: Die öffentlich- trunkenen Franz Josef Strauß »Dahoam is dahoam« als »der
rechtlichen Medienanstalten in der Wahlnacht 1987, bei sympathisch-nahbare Politiker
stecken in der Krise. Auch dem Feller »aus Zeitgründen« aufgetreten ist, der er nun mal
SO GESEHEN Die weiße beim Bayerischen Rundfunk leider nicht mehr zu den har- ist«, sei keineswegs werblich,
Weste des südlichen wird jetzt jeder Stein umge- ten Fragen gekommen sei. In sondern »quasi dokumenta-
Senders dreht. Im Raum steht der böse der Wahlnacht 2013 wiederum risch« gewesen.
Verdacht, in vergangenen Jah- habe der BR-Grande Sigmund Auch den Verdacht der
ren möglicherweise eine allzu Gottlieb in einem beispiellosen Geldverschwendung räumt die
große Nähe zur Regierungs- Akt politischer Ausgewogen- BR-Intendanz aus dem Weg:
partei CSU gepflegt zu haben. heit seinen Sender ein Jubel- Es sei damals gelungen, den
Die BR-Spitze verweist der- porträt des CSU-Chefs Horst »hervorragenden Darsteller
weil mit einer historischen Auf- Seehofer unterbrechen lassen, Söder« für eine Nebenrolle zu
listung auf die traditionelle um live zu SPD-Chef Sigmar gewinnen – das aber »selbst-
Distanz des Hauses zu den Gabriel zu schalten. Selbst ein verständlich ohne Honorar«.
Mächtigen des Landes. Legen- TV-Auftritt des heutigen Minis- Stefan Kuzmany

20 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


Druck auf die Länder »rasch« in der Frage weiter-
komme, müssten die Länder
BAHNTICKET Nachdem sich Vorschläge machen. Ähnlich
Finanzminister Christian Lind- sieht es der Liberale Michael
ner und Verkehrsminister Theurer, Bahn-Beauftragter
Volker Wissing (beide FDP) der Bundesregierung. Nach
für eine Fortführung eines Evaluierung des 9-Euro-Tickets
bundesweiten Monatstickets müsse mit den Bundesländern
für die Bahn ausgesprochen über den neuen Preis disku-
haben, machen Liberale Druck tiert werden. »Die Länder
auf die Bundesländer. Es sei sind in der Pflicht – konzep-

Johannes Arlt / DER SPIEGEL


»zwingend notwendig, dass tionell und finanziell«, so
sich die Länder angemessen an Theurer. Zunächst hatte die
der Finanzierung beteiligen«, FDP eine Fortführung des
sagt der FDP-Generalsekretär 9-Euro-Tickets noch gänzlich
Bijan Djir-Sarai. Damit man abgelehnt. SEV

»Die Zukunftsvision« SPIEGEL: Sie haben Kandidatin-


nen und Kandidaten im Wahl- »Alle wollen weg vom Gas«
Der Aktivist Maximilian Oehl, kampf unterstützt. Drei haben
34, will die Regierung mit einer es in den Bundestag geschafft,
DER AUGENZEUGE Jan Asbahr, 36, ist selbstständiger
einheitlichen Agenda diverser zwei der SPD, einer von den
Gruppen unter Druck setzen. Grünen. War das schon ein Ver- Energieberater im schleswig-holsteinischen
such, den Einfluss von Nichtre- Hohenaspe. Seit die Strom- und Gaspreise steigen,
SPIEGEL: Herr Oehl, Ihre Initia- gierungsorganisationen außer-
tive Brand New Bundestag hat halb von Parteien zu stärken?
kann er sich vor Aufträgen kaum retten.
zusammen mit Aktivisten ein Oehl: Wir haben gezeigt, dass es
Programm geschrieben. Agora innovative Wege ins Parlament »Es gibt Wochen, da melden anlage kann eine kluge Inves-
Energiewende war involviert, geben kann, die aus der engen sich täglich 30 bis 40 Interes- tition sein, weil man einen
die Awo, die Jungen Europäi- Verzahnung von Zivilgesell- senten bei mir und wünschen Großteil des eigenen Strom-
schen Föderalisten oder Lobby- schaft und Parteipolitik entste- einen Termin. Ich habe das bedarfs selbst erzeugt und sich
control. Es geht um Klima- hen. Das Potenzial wollen wir Gefühl, jeder sucht jetzt nach vom Strompreis unabhängiger
schutz, Verkehrswende, Mieten, immer stärker nutzen, uns steht Möglichkeiten, wie er oder sie macht. Das Problem ist die
Pflege, Gesundheit, Teilhabe, eine intensive politische Zeit be- im eigenen Haushalt Energie hohe Nachfrage. Letzten
viele Forderungen sind bekannt. vor. Ab Herbst geht es los. sparen kann, kurz- und lang- Sommer hat eine Luft-Wasser-
Was ist daran brandneu? SPIEGEL: Erwarten Sie, dass sich fristig. Bis November bin ich Wärmepumpe 22 000 Euro
Oehl: Neu ist, wie wir die For- Ihre Abgeordneten jetzt nach ausgebucht, ich habe so viel gekostet, Lieferzeit war zwei
derungen der Zivilgesellschaft Ihrer Agenda richten statt nach zu tun, eigentlich müsste ich Wochen. Jetzt kostet sie
zusammenführen und zeigen: Parteiprogrammatik? die nächsten anderthalb Jahre 35 000 Euro, und ich warte
Es gibt dort eine weitreichende, Oehl: Welche Themen die Ab- keine neuen Kunden mehr an- 30 Wochen und länger.
übereinstimmende Zukunfts- geordneten setzen, entscheiden nehmen. Es gibt bei uns in der Ich wundere mich darüber,
vision, die über die Maßnah- sie selbst. Aber ich gehe davon Region viele Einfamilienhäu- wie viele Gefrierfächer und
men der selbst ernannten Fort- aus, dass sich in der Agenda ser mit Gas- oder Ölheizung, Gefriertruhen nicht abgetaut
schrittskoalition weit hinaus- vieles findet, für das sich zu- da möchten die Besitzer wis- sind. Die Eisschichten ziehen
geht. kunftsorientierte Abgeordnete sen, ob die noch Sinn macht viel Energie. Ein Kühlschrank
SPIEGEL: Es geht um eine Ein- in den nächsten drei Jahren und was es für Alternativen muss auch nicht kälter ein-
heitsfront gegen die Politik? einsetzen wollen. Das gilt auch gibt. Oder sie wünschen sich, gestellt sein als sieben Grad,
Oehl: Uns geht es vielmehr um für die Abgeordneten, die wir dass ich durchs Haus gehe, in beim Gefrierfach reichen mi-
ein Miteinander mit der Politik. unterstützen. alle Zimmer schaue und nach nus 18 Grad. Halogenlampen
Wir zeigen zukunftsorientierten SPIEGEL: Sie sprachen von der versteckten Stromfressern su- verbrauchen viel Strom, LED
Abgeordneten: Große Teile der Zivilgesellschaft. Es scheint aber che. Ich finde immer welche. ist effizienter. Ein kompletter
Zivilgesellschaft stehen hinter eher der linke Teil der Zivilge- Ich sehe mir zunächst den Austausch hat sich nach gut
einem gemeinsamen Zukunfts- sellschaft zu sein. Aufbau eines Hauses an, die einem Jahr amortisiert.
entwurf. Oehl: Es identifizieren sich auch Qualität der Fenster, die Däm- Ich vermute, dass die Ener-
SPIEGEL: Künftig wird also bei- Menschen und Gruppen mit mung des Dachs. Durch eine giepreise nicht mehr auf das
spielsweise Lobbycontrol auch dem Programm, die liberalen gute Dämmung kann man eini- Niveau vor dem Ukrainekrieg
für eine Begrenzung des Flug- oder bürgerlichen politischen ges einsparen. Viele Häuser fallen werden. Besonders die
verkehrs eintreten oder die Traditionen nahestehen. JOS aus den Siebziger-, Achtziger- fossilen und importierten
Deutsche Umwelthilfe für die jahren sind da nach heutigen Energieträger werden teuer
Abschaffung der Profitorientie- Maßstäben nicht wirklich gut. bleiben. Wenn ich jemanden
rung in der Pflege? Nun wollen alle weg vom Gas. finden würde, der mich sofort
Oehl: Es geht vor allem um den Die Heizungen der Zukunft unterstützen könnte, würde
Grundgedanken der Agenda. sind Sole-Wasser-Wärmepum- ich einen Kollegen Vollzeit
Natürlich hören die Organisa- pen oder Luft-Wasser-Wärme- einstellen.«
Malte Windwehr

tionen nicht auf, sich in erster pumpen, die mit Strom betrie- Aufgezeichnet von
Linie um ihre Themen zu küm- Oehl ben werden. Eine Fotovoltaik- Maik Großekathöfer
mern.

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

Kalte Dusche
BUNDESREGIERUNG Die Koalition wollte den Versorger Uniper retten – und erfand eine Gasumlage, von der auch
Unternehmen mit Milliardengewinnen profitieren. Der Streit darüber hat das Bündnis gespalten,
seine Führung beschädigt und die Bürger frustriert. Rekonstruktion eines politischen Totalschadens.

Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

Koalitionspartner Lindner, Scholz, Habeck in Meseberg: Das absurde Tempo wird zum Problem

22 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


DEUTSCHLAND

m Montag dieser Woche sitzt Robert den, obwohl sie dem Klima schaden. Aber
A Habeck im Garten seines Wirtschafts-
ministeriums. Es ist zugig, das Wetter
ist gekippt, die Anwesenden frösteln. Habeck
Moskaus Agieren lässt dem Minister keine
Wahl. Es drohe »ein Lehman-Brothers-Effekt
im ganzen System«, warnt Habeck. Ein Ab-
nicht. sturz also wie nach der Pleite der US-Bank
Er ist schon wieder mittendrin in der Kri- Lehman Brothers, die 2008 die Finanzkrise
se. Im neuen Strommarktdesign, in den Win- auslöste. Der Minister will das Land auf eine
terszenarien, Transformation, in den Plänen, mögliche Krise vorbereiten.
wie es weitergeht ohne russisches Gas. Das
bisschen Kälte? Ach Gott. 29. Juni Der Energiekonzern Uniper, größter
Neben ihm sitzt Ursula von der Leyen. Die Gasbeschaffer des Landes, veröffentlicht
EU-Kommissionspräsidentin will den Strom- um 20.22 Uhr eine Börsenmitteilung, in der
markt in Europa umbauen, und Habeck muss er seine Ergebnisprognose für das Geschäfts-
mit ihr klären, wie man seine und ihre Pläne jahr 2022 zurücknimmt. Die Düsseldorfer

Justin Jin / picture alliance / dpa


miteinander verzahnt. Eine Stunde lang reden können die hohen Preise für die Gasbeschaf-
sie, und als er fertig ist, lädt er das Publikum fung außerhalb Russlands nicht mehr stem-
ein, noch ein bisschen zu bleiben. »Auf ein men. »Da Uniper diese Mehrkosten bislang
Glas alkoholfreies Wasser«, wie er sagt. Kur- nicht weitergeben kann, entstehen hieraus
zer Lacher unter den Anwesenden. Weiter signifikante finanzielle Belastungen«, warnt
geht’s, alles gut. der Konzern seine Anleger und ruft nach
Alles gut? Nach diesen Wochen? Staatshilfen. Der Konzern verbrennt eine
Man soll ja vorsichtig sein mit Superlati- Gasaufbereitungsanlage in Sibirien zweistellige Millionensumme – pro Tag.
ven und Zuspitzungen, Krisen kommen und Den Gasimporteuren vom Rhein rennt die
gehen, aber was das Ampelbündnis zuletzt noch darum, nach dem Angriffskrieg Wladi- Zeit davon.
durchlebt und dargeboten hat, versetzte mir Putins auf die Ukraine den Energiemarkt
selbst hartgesottene Koalitionäre in einen zu retten. 30. Juni In den Postfächern der Energie-
mittelschweren Schockzustand. Robert Ha- Das Gas wird knapp. Seit der Nacht hat experten von SPD, FDP und Grünen landet
beck hat Fehler gemacht. Er hat ein Papier der russische Konzern Gazprom seine Liefe- eine E-Mail aus dem Bundeswirtschaftsmi-
nicht genau genug aufschreiben lassen, die rung durch die Nord-Stream-Pipeline auf nisterium. Angehängt ist ein Entwurf, den
Verordnung zu jener Umlage, mit der Gas- 40 Prozent gesenkt. Aus Reparaturgründen, Habecks Haus in Windeseile entwickelt hat.
kunden angeschlagene Importeure unterstüt- heißt es in Russland. In Habecks Ministerium Kern der Idee: Um Uniper und andere tau-
zen sollen. Was in normalen Zeiten womög- und im Kanzleramt ist man alarmiert. Olaf melnde Importeure zu stützen, sollen sich alle
lich eine Kleinigkeit gewesen wäre, ein kurzer Scholz ist an diesem Tag in Kiew – und Mos- Gaskunden an den hohen Beschaffungskosten
Aufreger, ist im Schatten der Energiekrise kau dreht am Hahn. Kann das Zufall sein? beteiligen. Dafür muss ein neues Instrument
eskaliert. Auf Twitter hat Habeck ein Video verbrei- im Energiesicherungsgesetz verankert wer-
Die SPD ist über den Minister hergefallen, tet, um einen Appell für das Energiesparen den. Eine »Umlage«. Noch vor der Sommer-
als wäre er ein Feind. Die Grünen haben den loszuwerden: »Es ist jetzt der Zeitpunkt, das pause könnte das beschlossen werden. Die
Kanzler ins Visier genommen, als wäre er zu tun. Jede Kilowattstunde hilft in dieser Idee war vor ein paar Tagen vom Branchen-
Chef einer fremden Koalition. Und als die Situation«, sagt er. Die Lage sei ernst. verband BDEW eingespeist worden, der
FDP Anfang der Woche Öl ins Feuer goss und einen kurzen Draht ins Ministerium hat. Die
die Umlage als »Habeck-Umlage« titulierte, 23. Juni Die Rückmeldungen, die in Habecks Geschäftsführerin, Kerstin Andreae, war lan-
twitterte der SPD-Abgeordnete Michael Roth Haus eintrudeln, sind eindeutig: Die Liefer- ge Zeit Fraktionsvize bei den Grünen.
einen Hilferuf: »Peeeeeeeeace!« Womit ausfälle aus Russland bedrohen viele Versor- Die Energiepolitiker der Ampel staunen
eigentlich alles gesagt war. ger. Die Firmen müssen die Ausfälle über nicht schlecht, als sie sich durch den An-
Bitte, Frieden. Es kommt in den nächsten teureres Gas auf dem Weltmarkt kompensie- hang klicken. Auf Seite 5 finden sie einen
Monaten viel auf das Land zu. Wäre nicht ren, so entstehen jeden Tag riesige Verluste. neuen Paragrafen mit der Nummer 26, »Um-
schlecht, wenn mal wieder regiert würde. Am schlimmsten erwischt hat es Uniper. Der lage, Verordnungsermächtigung«, lautet die
Zehn Wochen lang steuerte die Koalition Düsseldorfer Energiekonzern ist der größte Überschrift. Soll das wirklich Umlage heißen?
auf ihren Crash zu. Sie ist jetzt an einem Kipp- Kunde von russischem Gas in Deutschland. So wundert sich einer. Man hat doch gera-
punkt. Sie kann neu starten, aber wenn es Der europäische Gaspreis liegt an diesem Tag de die EEG-Umlage auf Strom abgeschafft.
schlecht läuft, wird man womöglich einmal bei mehr als 127 Euro pro Megawattstunde. Gleich eine neue einführen? Es gibt Rede-
sagen, dass in diesen Wochen ihr Ende be- Zum Vergleich: Am Tag vor dem Ukraine- bedarf.
gonnen hat. Koalitionen zerbrechen nicht so krieg hatte er noch unter 90 Euro gelegen.
leicht, aber sie können von innen verwesen. Der Wirtschaftsminister ruft am Morgen 1. Juli Die Ampelparlamentarier setzen ein
Die Ampel riecht schon streng. in Berlin die Alarmstufe aus. Stillgelegte Koh- Videomeeting mit Habecks Leuten an, so wer-
Um zu erklären, wie es dazu kommen lekraftwerke sollen wieder hochgefahren wer- den es Teilnehmer später dem SPIEGEL be-
konnte, hat der SPIEGEL die vergangenen richten. Von der Regierung unter anderem
Wochen rekonstruiert, hat mit Beteiligten ge- anwesend: Staatssekretär Udo Philipp und
sprochen, Treffen nachgezeichnet, Dokumen- Abteilungsleiter Philipp Steinberg aus dem
te gesichtet. Deutlich wird nicht nur, wie Wirtschaftsministerium. Auf Parlamentsseite
schnell kleinere Unachtsamkeiten das gesam- unter anderem Ingrid Nestle von den Grünen,
te Krisenmanagement vergiften können. Michael Kruse von der FDP und Nina Scheer
Deutlich wird auch, in welch absurdem Tem- (SPD). Die Sozialdemokratin ergreift das
po gerade Politik gemacht werden muss.
In der Schalte soll es laut Wort. Umlage klinge danach, dass den Bür-
geworden sein. Den gern das Geld aus der Tasche gezogen werde.
16. Juni In Habecks Ministerium arbeiten Dabei sei die Idee des neuen Paragrafen doch,
viele seit Wochen praktisch durch, kein Feier-
Teilnehmern ist klar, dass den Gaskonzern zu retten und die Kosten
abend, kein Wochenende, es geht fast nur das Gesetz Sprengkraft hat. dafür auf möglichst viele zu verteilen. Das sei

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DEUTSCHLAND

eigentlich eine Entlastung, findet Scheer und


plädiert dafür, das Wort Umlage zu streichen.
Es soll laut geworden sein, emotional, wie
sich jemand der Anwesenden erinnert. Ihnen
ist offensichtlich klar, dass dieses Gesetz poli-
tische Sprengkraft hat. Man einigt sich darauf,
das Wort Umlage zu streichen und durch den
Begriff »saldierte Preisanpassung« zu erset-
zen. Am Tag danach schicken die Ministeria-
len den Entwurf weiterer Paragrafen, einer

Celestino Arce Lavin / ZUMA Press / picture alliance / dpa


trägt die Nummer 29. Darin wird die Möglich-
keit geregelt, dass der Staat Energiekonzerne
stützen, notfalls bei ihnen einsteigen kann,
um die Versorgungssicherheit zu gewährleis-
ten. Was jetzt? Umlage? Staatseinstieg? Oder
beides? Es wird unübersichtlich.

3. Juli In Videokonferenzen drängen die Ab-


geordneten darauf, dass es eine klare Reihen-
folge gibt. Zunächst soll der Staat den bedürf-
tigen Firmen unter die Arme greifen, erst
danach sollen die Kosten auf die Gaskunden
umgelegt werden. So würde vermieden, dass Bundeskanzler Scholz in Kiew im Juni: Die eigenen Leute warten auf einen Befreiungsschlag
die ganze Wucht der hohen Gaspreise auf die
Bürger durchschlägt; zudem würden nur an- aus Düsseldorf. Sie wären womöglich eben- 13. Juli Ausgerechnet jetzt hat es den Minis-
geschlagene Firmen in den Genuss der Um- falls von der Pleite bedroht. ter erwischt: Corona. Robert Habeck muss in
lage kommen. Auch im Kanzleramt kommt diese Zahl an. die Isolation in seine Berliner Wohnung. Er
In Habecks Haus jagt ein Termin den Jörg Kukies, der mächtige Staatssekretär im arbeitet zwar weiter, aber kann nicht öffent-
nächsten. Die Ministerialen sprechen mit den Bundeskanzleramt und langjährige Deutsch- lich auftreten oder vernünftig kommunizie-
Uniper-Vorständen, mit Wirtschaftsberatern, landchef der Investmentbank Goldman Sachs, ren. Termine muss er per Videokonferenz
Investmentbanken, Ratingagenturen. Ein ho- koordiniert sich mit Habecks Leuten sowie abhalten, vor einem Holzfenster seiner Alt-
hes Pensum. führenden Beamten im Finanzministerium. bauwohnung mit Grünpflanze auf dem Fens-
Was dabei allen durchrutscht: Die Ände- Die Uniper-Rettung ist das Topthema in der terbrett. Erst nach mehr als zwei Wochen sind
rungsvorschläge, die Habecks Beamte er- Regierung. Eine Arbeitsgruppe mit leitenden die Coronatests negativ.
arbeitet haben, verpflichtet die Bundesregie- Beamten aus den beiden zentralen Ministe- Während der Minister daheim ist, bereiten
rung nicht, in der Verordnung für die Umlage rien sowie dem Kanzleramt wird eingesetzt. seine Beamten den Staatseinstieg bei Uniper
nur solche Unternehmen zu berücksichtigen, Dabei sind auch Berater von PWC, der An- vor. Und eine Verordnung muss her – für die
die wirklich in wirtschaftliche Schieflage ge- waltskanzlei CMS und der Investmentbank Umlage. Doch Brüssel hat Bedenken: Es darf
raten sind. Es heißt lediglich: »Die Anspruchs- Lazard. Die kleine Eingreiftruppe steuert die nicht nur Uniper von der Umlage profitieren.
berechtigten des finanziellen Ausgleichs sind große Operation, Uniper vor dem Bankrott Um Streit mit der EU-Kommission zu ver-
die von der erheblichen Reduzierung der Gas- zu schützen – und damit womöglich den ge- meiden, wird die Verordnung offen formuliert.
importmengen nach Deutschland unmittelbar samten Gasmarkt. Auch andere Unternehmen sollen Nutznießer
betroffenen Energieversorgungsunterneh- sein können. Im Ministerium glaubt man, es
men.« Es ist ein entscheidender Fehler. In der 7. Juli Der Deutsche Bundestag jagt Habecks werde eine Handvoll sein. So sagen es ihnen
Hektik merkt das niemand. Gesetzentwurf durch, im Plenum stimmen die Verbände. Eine Fehleinschätzung, wie sich
die Koalitionsfraktionen und die Linke für später herausstellen wird. Aber so richtig be-
5. Juli Die Lage von Uniper spitzt sich zu. den Plan. Die Unionsfraktion votiert gegen schäftigt sich niemand mit dieser Frage, alle
Die Ratingagentur S&P zieht die Kreditwür- den Vorschlag. Der Weg für die Gasumlage konzentrieren sich auf die Rettung von Uniper.
digkeit des Unternehmens in Zweifel. Unipers und einen Teileinstieg des Staates bei Uniper Inzwischen verbrennt der Konzern nicht mehr
Zukunft, schreiben die Analysten, hänge maß- ist frei. In Habecks Haus macht sich vorsich- einen zwei-, sondern einen dreistelligen Mil-
geblich davon ab, ob der Konzern staatliche tige Erleichterung breit. lionenbetrag täglich, schätzen Experten.
Hilfe und ein tragfähiges Geschäftsmodell
bekomme. Auch in informellen Gesprächen 11. Juli Doch die schlechten Nachrichten rei- 22. Juli Bundeskanzler Scholz sitzt im Hub-
mit Regierungsvertretern soll S&P skizziert ßen nicht ab. Gazprom stellt seine Gasliefe- schrauber auf dem Weg aus dem Allgäu nach
haben, welche Folgen die Handlungsoptionen rungen durch Nord Stream 1 ein, auch durch Berlin. Seine Vertrauten haben mit Habeck
der Regierung für die finanzielle Lage des andere Leitungen fließt kaum mehr Gas aus und Lindner bis in die Morgenstunden ver-
Unternehmens hätten. Die Botschaft ist klar: Russland. Wartungsarbeiten, wie jedes Jahr. handelt, um die Rettung von Uniper festzu-
Kommt keine Umlage von den Gaskunden, Aber in Berlin nimmt die Befürchtung zu, zurren. Es ist ein Gemeinschaftswerk – alle
sondern nur Staatsgeld, wird das Rating für dass Putin die Leitung gar nicht mehr in Be- haben zugestimmt. Was noch unklar ist: wann
Uniper auf Ramschniveau gesenkt. trieb nehmen könnte. die Umlage greift. Habeck plädiert intern für
Der Konzern müsste dann viel mehr Geld An diesem Montag schießt der Gaspreis in den 1. Oktober. Lindner, so kursiert es im
aufbringen, um seine Verbindlichkeiten zu Europa auf knapp 167 Euro pro Megawattstun- Wirtschaftsministerium, würde sie gern schon
bedienen, denn die Gläubiger würden höhe- de nach oben. Habeck hat tags zuvor vor einem zum 1. September erheben, um seinen Haus-
re Sicherheiten für ihr Geld fordern. Bis zu »politischem Albtraumszenario« gewarnt. Wie halt zu schonen.
35 Milliarden Euro, so streuen es Experten. recht er hatte. Der Minister und seine Beamten Scholz hat seinen Urlaub unterbrochen, er
Ein Risiko für den gesamten Energiemarkt. wissen, dass der finanzielle Druck auf Uniper will die Einigung persönlich verkünden – und
Denn Dutzende Stadtwerke und große Be- wächst, je teurer das Gas wird. Der zeitliche mit einer griffigen Botschaft versehen. Um
triebe beziehen ihr Gas vom Großimporteur Druck, den Konzern zu retten, steigt weiter. Punkt zwölf Uhr steht er im Kanzleramt und

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verkündet: »You’ll Never Walk Alone.« Der 18. August Überall wächst die Unruhe, auch braucherschützerin des Landes. Pop ist Grü-
Staat werde einsteigen bei Uniper und die in der Partei des Kanzlers. In Chatgruppen, ne, war Wirtschaftssenatorin Berlins und wur-
Bürger entlasten, sagt Scholz, niemand solle in internen Sitzungen entlädt sich Frust. Die de als mögliche Staatssekretärin Habecks
mit den Problemen alleingelassen werden, Uniper-Rettung schön und gut – aber warum gehandelt. »Es darf nicht sein, dass Verbrau-
weder Firmen noch Bürgerinnen und Bürger. geht die Bundesregierung nicht endlich neue cher und Verbraucherinnen die Gewinne und
Die Gasumlage erwähnt er eher nebenbei. Sie Entlastungen an? Warum dauert das alles so Dividenden von Unternehmen finanzieren«,
werde zum 1. Oktober, »vielleicht auch zum lang? In der SPD-Fraktion tagt eine Arbeits- sagt sie.
1. September«, eingeführt und könne für Ver- gruppe, um eigene Vorschläge zu erarbeiten. Die Trading Hub Europe veröffentlicht die
braucher etwa zwei Cent pro Kilowattstunde Eine weitere Frage dominiert: Welche Unter- Liste mit allen Namen. Auch eine Tochter des
ausmachen, also pro Jahr rund 200 bis 300 nehmen profitieren von der Umlage? österreichischen Versorgers OMV steht dar-
Euro zusätzlich für eine Familie, sagt er. Die Zwölf Firmen haben Unterstützung be- auf, deren Mutterkonzern sein operatives
genaue Höhe der Umlage bleibt jedoch offen. antragt, wer genau, ist vertraulich. Die Namen Ergebnis im ersten Halbjahr auf mehr als
Es ist kurios: Scholz will sich als Entlas- der entsprechenden Unternehmen könnten 5,5 Milliarden Euro verdoppelt hat. Die Um-
tungskanzler inszenieren. Aber das einzig vor dem Hintergrund der Wahrung von Ge- lage wird zur Gefahr für die Glaubwürdigkeit
Konkrete an diesem Tag ist eine Belastung. schäftsgeheimnissen nicht veröffentlicht wer- der Regierung. Eine Frage rückt ins Zentrum:
Das Krisenmanagement wird nun auch in sei- den, hat die Trading Hub Europe wissen las- Wer, bitte schön, hat das verbockt?
ner Partei kritischer beäugt. Die Umfragen sen, die die Umlage koordiniert.
der SPD sind schlecht. In Niedersachsen wer- Was, wenn darunter Firmen sind, deren 26. August Eigentlich die gesamte Regierung,
den die Ersten nervös: Dort sind bald Land- Kasse gut gefüllt ist? Es wäre eine politische es war ein gemeinsamer Beschluss. Aber unter
tagswahlen. Katastrophe, so viel ist klar. Druck schwindet die Solidarität. Habeck steht
Drei SPD-Abgeordnete, Matthias Miersch, allein auf der Lichtung.
28. Juli Der Wirtschaftsminister ist auf Som- Nina Scheer und Andreas Rimkus, schreiben Auch in den eigenen Reihen schwillt die
merreise. Er besucht einen Energiepark in einen Brief an den »lieben Robert«. Sie for- Kritik an. Der ehemalige Grünenfraktionschef
Sachsen-Anhalt, die Umlage und ihre Höhe dern Offenlegung der Firmennamen, die die Anton Hofreiter kritisiert, bei der Umlage sei
sind auch hier das große Thema. Habeck Umlage in Anspruch nehmen wollen. Tu end- »eindeutig ein Fehler passiert«, der korrigiert
bleibt vage. »Wir rechnen damit, dass es 1,5 lich was, das ist die Botschaft an Habeck. gehöre. Die Sozialdemokraten langen in die-
bis 5 Cent pro Kilowattstunde sein wird«, sagt sen Tagen richtig zu. Saskia Esken, die SPD-
er. Das beißt sich mit der Prognose des Kanz- 22. August Der Verdacht der Umlagekritiker Chefin, droht mit einem Parlamentsveto
lers, der von 2 Cent gesprochen hat. Was bestätigt sich. Von den zwölf Konzernen, die gegen die Umlage. Dirk Wiese, SPD-Frak-
stimmt? Weiß die Regierung, was sie tut? sich für eine Unterstützung angemeldet hat- tionsvize, kanzelt Habeck persönlich ab:
ten, seien »die wenigsten auf staatliche Hilfe »Das Prinzip Habeck geht so: Auftritte film-
4. August Die Verordnung ist fertig, das Ka- angewiesen«, hat das »Handelsblatt« heraus- reif, handwerkliche Umsetzung bedenklich,
binett verabschiedet sie im schriftlichen Um- gefunden. Offenbar wollen auch Firmen, die und am Ende zahlt der Bürger drauf.« Partei-
laufverfahren, es gibt keinen Widerspruch. Gewinne machen, die Umlage beanspruchen. chef Lars Klingbeil ist kaum zurückhaltender:
Der Fehler, dass sie nicht zielgenau genug Das Instrument droht ad absurdum geführt »Am Ende zählen in der Politik nicht nur
formuliert ist, fällt in der Ministerriege nie- zu werden. Entsetzen macht sich breit. Zum schöne Worte, es muss vor allem die Substanz
mandem auf. Beispiel bei Ramona Pop, der obersten Ver- stimmen.« Bijan Djir-Sarai, der Generalse-
Das Dokument ist ein 26-seitiges Zeugnis kretär der FDP, spricht von einer »Habeck-
des Drucks und der Dringlichkeit, die auf Ha- Umlage«, als hätte seine Partei damit nichts
beck, Scholz und Lindner lasten. »Mit erheb- Draufgezahlt zu tun.
licher Wahrscheinlichkeit« werde Russland die Es ist wie eine Entladung. Oder ein kollek-
Gaslieferungen weiter reduzieren. »In einer Prinzip der Gasumlage tiver Nervenzusammenbruch. Je nachdem.
solchen Situation droht der Zusammenbruch Der Stress der vergangenen Wochen bricht
Gasanbieter
großer, für das Funktionieren des Gasmarkts heraus.
relevanter Gasimportunternehmen«, schreibt verkaufen Ersatz für russisches
Unter vielen Grünen macht sich Frust
die Regierung – und verspricht den Importeu- Gas zu hohen Preisen breit, vor allem über die SPD. Ausgerechnet
ren unter Punkt B finanziellen Ausgleich. Bei jene, die für die Abhängigkeit von russischem
»Punkt C. Alternativen« steht: »keine«. Das Gas verantwortlich sind, fallen über Habeck
Gasimporteure
Kabinett macht einen Haken dran. z. B. Uniper her. So sehen sie das.
Wenig später verkündet die Trading Hub Der grüne Fraktionsvize Konstantin von
müssen teures Gas zu
Europe – ein Zusammenschluss von elf deut- vertraglich vereinbarten finanzieller
Notz macht seinem Ärger Luft. »Die schlech-
schen Ferngasnetzbetreibern – die Höhe der Preisen verkaufen, Ausgleich für te Performance des Bundeskanzlers, seine
Umlage für Haushalte und Unternehmen: Mehrkosten bleiben hohe Preise miesen Umfragewerte, Erinnerungslücken bei
2,419 Cent je Kilowattstunde. Entlastungen? Warburg und seine Verantwortung bei
Trading Hub Europe
Fehlanzeige. Es kursiert eine verwirrende An- verantwortlich für den Northstream2 werden durch unloyales Ver-
zahl an Vorschlägen, aber ein Paket steht im- deutschen Gasmarkt, halten und Missgunst in der Koa nicht geheilt
errechnet und erhebt Gas-
mer noch nicht. umlage von Lieferanten werden«, twittert er, ein Frontalangriff auf
Das Argument des Kanzleramts geht so: den Koalitionspartner. Im Kanzleramt würde
Es gibt schon zwei Entlastungspakete, und zahlen man die Klausur in Meseberg am liebsten vor-
manche Maßnahmen würden erst noch grei- Gasumlage ziehen. Jedes Bild, das irgendwie Harmonie
fen. Was Scholz, Habeck und Lindner unter- Gaslieferanten vermittelt, kann helfen.
schätzen: Je länger sie warten, desto stärker z. B. Stadtwerke
erodiert das Vertrauen in ihr Krisenmanage- verkaufen Gas zu vertraglich
30. August Endlich Meseberg. Habeck er-
ment. Eine Umfrage wird im Regierungsvier- vereinbarten Preisen scheint vor dem Schloss, in dem das Kabinett
zahlen
tel herumgereicht. 90 Prozent der Bürgerin- Gasumlage tagt. Drinnen die Ministerinnen und Minister,
nen und Bürger fühlen sich demnach kaum draußen die Kameras. Er will, er muss erklä-
oder gar nicht entlastet, eine kalte Dusche für Endkunden ren, wie er sicherstellen will, dass die Umlage
die Koalition. S Grafik nicht missbraucht wird. Verkündet der Grüne

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keine neuen Regeln, kann das Kabinett gleich


SPIEGEL TV Programm wieder abreisen.
Habeck hat drei Maßgaben entwickelt, die
Gasimporteure erfüllen müssten, um einen
Anspruch auf Ausgleichszahlungen zu haben.
Ihr Anteil an der Gasversorgung in Deutsch-
land muss sehr hoch sein. Die zu beschaffen-
den Gasmengen müssen für die Unternehmen
relevant sein. Und sie müssen auf Boni und
Dividenden verzichten. Wer eins dieser Kri-
terien bricht, kriegt kein Geld. Es klingt wie
ein Plan.
Aber ist er praktikabel? Ist er rechtssicher?
Das kann noch niemand abschätzen. Immer-
hin, die Korrektur ist umrissen, Habeck
scheint halbwegs zufrieden zu sein. Vielleicht
hilft sie ja. Ihm und der Koalition.
Natürlich kann es sein, dass das Bündnis
sich nun wieder fängt. Eine Krise, ein Schock
kann auch zusammenschweißen. Schnürt die

SPIEGEL TV
Koalition rasch ein großes Entlastungspaket,
wäre das zumindest ein Anfang.
Es wird nicht einfacher, im Gegenteil. Der
Maroder Wohnkomplex in Bad Oldesloe
Druck wird steigen. Die Regierung wird Ret-
tungsschirme spannen, womöglich die Schul-
SPIEGEL TV Immobilienkonzerne Milliardengewinne denbremse noch einmal lockern müssen. Und
MONTAG, 5. 9., 23.25 – 0.00 UHR, RTL machen, ist bezahlbarer Wohnraum das in einer Stimmung, in der jeder jedem
in Deutschland Mangelware geworden. misstraut. Manche sogar sich selbst.
Schimmel, Rohrbrüche, Doch was ist die Alternative zum Miet- Die Sozialdemokraten haben offenbart,
Wasserschäden – die Horror- wahnsinn? Hohe Kaufpreise und steigen- wie verunsichert sie sind, wie sehr der Hype
häuser von Bad Oldesloe de Zinsen lassen Eigenheimträume um Habeck sie stört. Längst ist bei den
Der marode Zustand der Wohnungen ist platzen. Ein SPIEGEL TV Spezial über ein Sozialdemokraten wieder aufgebrochen, was
nur das eine Problem. Darüber hinaus Land, das tief in einer Wohnkrise steckt. vom Wahlsieg überdeckt war. Die Selbst-
fielen für die rund 400 Mieter des Immo- zweifel, auch die Sorge davor, wieder abzu-
bilienunternehmens LEG die Fahrstühle rutschen, im linken Lager durchgereicht zu
aus. Wochenlang waren Familien mit SAT.1 werden. Die FDP leidet ohnehin an der
kleinen Kindern, alte und kranke Men- DONNERSTAG, 8. 9., 20.15 – 22.30 UHR, SAT.1 Ampel. Je schlechter das Bündnis regiert,
schen gezwungen, die Treppenhäuser desto mehr Liberale dürften infrage stellen,
des Hochhauses zu benutzen. Wenn Der SAT.1 Baumarkt- warum die Partei es überhaupt eingegangen
Wohnen zum Ausnahmezustand wird – Check – OBI, HORNBACH, ist. Und für die Grünen hat eine Zeitenwen-
eine Reportage über unzumutbare BAUHAUS & Co. de begonnen.
Lebensumstände. Dass es nicht immer nur nach oben geht,
für sie, für Habeck, das war ihnen klar. Aber
dass sich die SPD bei der erstbesten Gelegen-
SPIEGEL TV SPEZIAL heit auf den grünen Superstar stürzt, beschäf-
DIENSTAG, 6. 9., 22.35 – 0.00 UHR, RTL tigt sie. »Umfrageneid« sei das, streuen sie.
Und Scholz sei nervös.
Mieten, Kaufen, Leiden: Aber sie können auch nicht nur auf die
SPIEGEL TV

Deutschlands große Wohnkrise anderen zeigen. Zu offensichtlich sind die


Die 14-jährige Sara Abed Alazeez muss Risse im eigenen Laden. Die Grünen leiden
ihre Hausaufgaben seit Jahren in einem Baumarktbesucher Oliver, Anja schon lange daran, dass die Deutschen ihnen
verschimmelten Kinderzimmer machen. misstrauen, wenn es hart auf hart kommt.
Die Alleinerziehende Nadine Emons sucht Baumärkte sind nicht nur für Bastler, Habecks Fehler können dieses Misstrauen
verzweifelt nach einer freien Wohnung. Bauer und Heimwerker Sehnsuchts- wiederbeleben.
Mieterin Martina Burkandt hat Angst, orte. Sie gehören zu den beliebtesten Anlässe, Fehler zu machen, die Orientie-
nach 21 Jahren aus ihrem Zuhause Shopping-Zielen der Deutschen. Fünf rung zu verlieren, wird es reichlich geben. Die
vertrieben zu werden. Und die Politik? große Marken teilen sich das Revier eigentlichen Gaspreissteigerungen haben die
Die hat zu lange geschlafen. Während auf: OBI, Bauhaus, toom, hagebau und Deutschen noch nicht erreicht. Firmen wer-
Hornbach. Fünf Unternehmen, die um den womöglich kollabieren, Bäckereibetriebe
ihre Kunden kämpfen und sich immer schließen müssen, Mittelständler um Hilfe
wieder etwas Neues einfallen lassen. rufen. Der Kanzler wird dann im Fokus ste-
»Der SAT.1 Baumarkt-Check« fragt hen. Mit ihm sein Vize.
Verbraucher, Experten und die Unter- Wie sagte ein Koalitionär dieser Tage?
nehmen: Wie unterscheiden sich die »Wir haben in den Abgrund geguckt. Leider
Baumarktketten in Service, Sortiment, sind wir im Cañon unterwegs. Der nächste
SPIEGEL TV

Beratung und Preisen? Und wer hält Abgrund ist um die Ecke.«
tatsächlich, was er in der Werbung Tim Bartz, Martin Hesse, Marina Kormbaki,
Schülerin Sara in Schimmelzimmer verspricht? Veit Medick, Jonas Schaible, Gerald Traufetter n

26 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


DEUTSCHLAND

Überhaupt wächst die Unruhe in der CDU-


Führung vor dem Parteitag. Werden die gro-
ßen Fragen, über die Deutschland diskutiert,
bei der CDU von Grabenkämpfen überlagert?
Da wäre die Debatte über ein verpflichtendes

Im Sinkflug Dienstjahr für junge Leute, das viele befür-


worten. Doch andere streiten vehement da-
gegen: »Nach Uploadfilter, Klima- und Coro-
napolitik können wir nicht schon wieder eine
PARTEIEN Friedrich Merz wollte die CDU wieder auf Kurs bringen. Doch Entscheidung gegen junge Leute treffen, ohne
mit ihnen gesprochen zu haben«, sagt Tilman
anstatt in der Energiekrise eigene Impulse zu setzen, sind Kuban, Chef der Jungen Union. »Ein Dienst-
die Konservativen immer noch vor allem mit sich selbst beschäftigt. jahr braucht zunächst ein intensives Dialog-
format und eine Jugendbefragung.« Ausge-
rechnet die Parteijugend, in der sonst die
riedrich Merz steht zwischen Palmen ben. Man könne nicht nur auf die Vorschläge glühendsten Merz-Fans stehen, probt den
F und Pool. Die Hände hält er vor den
Bauch, was mit seinem Handicap zu tun
hat: Merz, 66, hat den linken Arm in einer
der Koalition reagieren, die CDU müsse selbst
etwas liefern. Manch einer fragte sich, ob der
Parteichef wohl an sich selbst appellierte.
Aufstand.
Der Parteitag legt ein zentrales Problem
der CDU offen: Anstatt mit den aktuellen
schwarzen Schlinge, im Urlaub brach er sich Am Ende ging der Generalsekretär mit Krisen beschäftigt man sich immer noch zu
kürzlich das Schlüsselbein. Der Parteivorsit- einem Arbeitsauftrag aus der Sitzung: Mario sehr mit der eigenen. Und zu oft geht es an
zende ist am Dienstagabend zu Gast beim Czaja soll einen Leitantrag zur Energiekrise die Substanz, etwa in der Debatte um die
Sommerfest der sächsischen CDU-Landtags- für den Parteitag vorbereiten, im Hauruck- Frauenquote, die in der CDU längst über
fraktion in einem Dresdner Klub. Im Pool verfahren. Eine Woche vor dem Delegierten- ihren sachlichen Kern hinausgewuchert ist.
schwimmen schwarze Gummienten mit der treffen ist der Entwurf noch rudimentär. Für viele Mitglieder ist die Quote eine Rich-
Aufschrift »Nicht quaken, machen!«, auf den
Stehtischen liegt der berühmte merzsche Bier-
deckel mit seinem Reformkonzept für die Ein-
kommensteuer.
Aber natürlich schauen die Gäste vor allem
auf den lädierten Arm des Chefs. Merz gibt
sich betont launig: Der Operateur habe ihm
eine Platte mit sechs ausgerechnet grünen
Schrauben eingesetzt. Das sei alles lästig, aber
er trage »den Arm in der Schlinge, nicht den
Kopf unter dem Arm«, versichert Merz.
Eigentlich ist die Lage nicht zum Lachen.
Der Arm bremst Merz aus. Er schläft schlecht,
und die Physiotherapie verstopft den Termin-
kalender. Das wäre alles nebensächlich, wenn
es bei der CDU sonst gut liefe. Aber eine
Woche vor dem Bundesparteitag in Hannover
präsentieren sich die Christdemokraten ähn-
lich malad wie ihr Chef.
»Starke Führung und klaren Kurs« hatte
Merz bei seiner Wahl Anfang des Jahres ver-
sprochen. Die gesamte CDU, verunsichert
durch das Debakel der Bundestagswahl, ver-
sammelte sich damals hinter ihm. Sogar das
alte Merkel-Lager spielte mit, schenkte ihm
ein Wahlergebnis von 95 Prozent.
Doch inzwischen ist der Hoffnungsträger
und Hobbypilot Merz im Sinkflug. Sein
Generalsekretär ist blass, die Parteizentrale
chaotisch aufgestellt. Die Marke CDU hat der
Chef nicht aufpoliert, in energiepolitischen
Debatten waren die Christdemokraten lange
unsichtbar. Der Merz-Effekt ist ausgeblieben.
Noch schlimmer: Auf dem Parteitag droht
Merz ausgerechnet seine Stammklientel zu
vergrätzen, mit Debatten über die Frauen-
quote und ein Pflichtjahr.
Markus Hibbeler / dpa

Die Nervosität erreicht längst die Partei-


spitze. In der jüngsten Sitzung des CDU-Bun-
desvorstands wurde die Ideenwüste offen an-
gesprochen – von Merz selbst. Es reiche nicht,
nur die Ampel wegen ihrer Krisenpolitik an-
zugreifen, soll er laut Teilnehmern gesagt ha- CDU-Chef Merz: Die Partei so malad wie der Vorsitzende

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DEUTSCHLAND

tungsentscheidung. Wird die Partei den Weg »Der Parteitag sollte sich tei kaum zu hören, außer vielleicht beim hei-
von Profil, Klartext und Widerstand gegen mischen Kiezauftritt auf dem Durlacher Platz
den Zeitgeist einschlagen, den Merz einst er- auf die Existenzängste in Berlin-Mahlsdorf. Als Czaja jüngst bei
klärtermaßen weisen wollte? Oder den Weg
der Anpassung an den Mainstream, den vie-
im Land konzentrieren und »Markus Lanz« auftrat, musste der Moderator
ihn fast animieren: »Sie können jetzt mal!«
le Merz-Fans mit Angela Merkel verbinden? Lösungswege aufzeigen.« Der Generalsekretär verweist auf den de-
Im Ex-Merkel-Lager finden sich auch die Gitta Connemann, solaten Zustand, in dem er die CDU vorge-
stärksten Anhängerinnen und Anhänger der Bundesvorsitzende der Mittelstandsunion funden habe. Er habe erst zuhören und ver-
Quote, etwa Frauenunion-Chefin Annette stehen wollen, welche Bedürfnisse es gibt,
Widmann-Mauz oder Parteivize Karin Prien. wie die süddeutschen Landesverbände ticken,
Aber an der Merz-Basis sträuben sich die wie der Wirtschaftsflügel und die Arbeitneh-
Nackenhaare bei dem Thema. »Für partei- merschaft. Früher seien Kompromisse häufig
interne Diskussionen um Satzungsfragen ist bauen. In den 16 Regierungsjahren Angela im Sinne der Regierung geschlossen worden,
eigentlich weder Zeit noch Raum«, sagt Gitta Merkels hatte sich die Zentrale zum verlän- sagt Czaja. »Nun müssen wir sie in der Partei
Connemann, Chefin der Mittelstandsunion gerten Arm des Kanzleramts entwickelt, mit gemeinsam erarbeiten. Und das tut man nicht
(MIT) und Bundestagsabgeordnete aus Nie- dem Hin und Her der Post zwischen Merkels auf der Bühne, sondern im Hintergrund in
dersachsen. Connemann ist überzeugt, dass Partei- und Kanzlerbüro als strategischem guten Gesprächen.«
»Bürgern und Betrieben mit Existenzsorgen Höhepunkt des Tages. Nach Merkels Abgang
weder Quoten helfen noch die Debatte da- folgten chaotische Jahre unter den Kurzzeit- Czaja spürt den Druck vor dem Parteitag, und
rüber«. Aber leider stehe das Thema in Han- vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer es passieren Fehler. Erst kürzlich strich Merz
nover nun mal auf der Tagesordnung – »und und Armin Laschet. Huawei von der Sponsorenliste. Warum der
damit müssen wir uns dann wohl oder übel Doch Wirtschaftsmann Friedrich Merz, so umstrittene chinesische Mobilfunkriese über-
dieser Debatte stellen«. die Hoffnung, würde das Haus mit Berater- haupt als Geldgeber akzeptiert worden war,
Merz selbst schlingert in der Debatte. blick durchleuchten und dann Konsequenzen kann man sich in der CDU nicht erklären.
Jüngst war er Gastredner auf dem Parteitag ziehen. 100 Tage wollte er sich dafür Zeit Für die konservative Merz-Anhängerschaft
der CDU Oldenburg und zählte in seiner Rede nehmen. Doch außer den bequemen Sofas, ist der gesellschaftlich liberale Czaja auch eine
die altbekannten Defizite auf: Zu wenige jun- die sich Merz ins Chefbüro stellen ließ, hat Zielscheibe, um den Frust über den angeblichen
ge Leute, zu wenige Frauen, das müsse sich sich nicht allzu viel verändert. Mittekurs von Merz abzulassen. Erst neulich
ändern. Dann sagte Merz beschwichtigend Die Strukturen sind eher undurchsichtiger enttäuschte der Parteichef dieses Lager wieder,
ins Mikrofon: »Was wir da beschließen wol- als zuvor. Markus Kerber, Ex-Staatssekretär als er eine Diskussionsrunde mit dem umstrit-
len, das ist im Grunde gar keine richtige Quo- im Bundesinnenministerium, soll für Merz tenen US-Republikaner Lindsey Graham und
te.« Die Quoren müssten ja nur erfüllt wer- die großen Linien vorausdenken. Bisher ist rechtskonservativen Teilnehmern absagte. Da-
den, wenn genügend Frauen kandidierten. davon wenig zu sehen. Wie Kerber sich zu bei hatte Merz erst kurz zuvor in der »Welt«
»Lassen Sie uns bitte doch einfach mal über Bundesgeschäftsführer Stefan Hennewig ver- die sogenannte Cancel Culture als größte Be-
diesen Graben springen und sagen, wir ma- hält, eine graue Eminenz schon zu Merkel- drohung für die Meinungsfreiheit bezeichnet.
chen das jetzt mal, wir probieren es aus.« Zeiten, ist unklar. Die in der Partei wenig be- Merz’ Problem: Was er im konservativen La-
Werben für eine Quote, die am besten kei- kannte Christina Stumpp, die sich im neuen ger verliert, kann er – anders als zuvor Mer-
ne sein soll – ist das die Führung, die Merz der Amt der Vizegeneralsekretärin um den Draht kel – bislang nicht in linksbürgerlichen Kreisen
CDU versprochen hat? Fast niemand wagt ei- zur Kommunalpolitik kümmern soll, musste oder bei Frauen zurückgewinnen.
ne Prognose, ob die Parteitagsdelegierten dem dem Vernehmen nach darum kämpfen, über- Offen will niemand den CDU-Chef kriti-
Plan zustimmen werden. Um die Diskussion haupt ein ordentliches Büro zu erhalten, sieren. Aber die Unzufriedenheit ist spürbar,
schnell abzuhaken, soll der Antrag möglichst ebenso wie Carsten Linnemann als Grund- wenn mehrere Parteimitglieder pikiert darauf
früh verhandelt und wohl anonym abgestimmt satzprogrammbeauftragter. All diese Einzel- hinweisen, man müsse sich den echten The-
werden. Merz soll intern gesagt haben, eine kämpfer konnte Merz noch nicht zu einem men zuwenden. »Der Parteitag sollte sich auf
halbe Stunde Debatte genüge doch. loyalen, schlagkräftigen Team formen. die Existenzängste in unserem Land konzen-
Zwei Büroleiter hat er schon verschlissen. trieren und Lösungswege aufzeigen«, sagt
Auch an anderen Stellen rumort es. Merz war Sein engster Vertrauter ist und bleibt sein Spre- etwa die MIT-Vorsitzende Connemann.
mit dem Versprechen angetreten, ein Füh- cher Armin Peter. Die Personaldecke ist so dünn, Beim Sommerfest der CDU-Fraktion in
rungsteam aufzustellen, kein CDU-Allein- dass es vorkommen kann, dass der Deutsch- Dresden kommt der Parteichef auch auf die
unterhalter zu sein. Doch während er sich als landfunk morgens um sieben Uhr für ein ge- Krise zu sprechen. Im Osten sorgen die stei-
Fraktionschef mit markigen Bundestagsreden plantes Interview nicht zu Merz durchdringt. genden Energiepreise besonders für Aufre-
und spektakulären Aktionen wie seiner Selbst an der zentralen Person im Ade- gung, weil die Einkommen im Schnitt immer
Ukrainereise rasch als Oppositionsführer pro- nauer-Haus hegt Merz dem Vernehmen nach noch deutlich niedriger sind als im Westen.
filierte, klafft hinter ihm weiterhin ein Loch. Zweifel – obwohl er Mario Czaja als General- Für einen kurzen Moment blitzte der alte
Wann hat man zuletzt etwas Programmati- sekretär selbst ausgesucht hat. Die Personalie Friedrich Merz auf, der einstige Blackrock-
sches von Parteivize Silvia Breher gehört? war überraschend, denn der Ex-Gesundheits- Mann und Millionär. Deutschland sei »stark
Carsten Linnemann, ebenfalls ein Merz-Stell- senator aus dem Osten Berlins war gerade genug, wohlhabend genug«, um sicherzustel-
vertreter, vergräbt sich in der Arbeit für das erst in den Bundestag eingezogen. Anderer- len, dass »wirklich niemand hungern muss
neue Grundsatzprogramm. Sachsens Minister- seits: warum nicht mal ins Risiko gehen mit und niemand frieren muss«. Ein bisschen
präsident Michael Kretschmer fällt als Vize nur einem smarten, jungen Ostdeutschen? Wohlstandsverlust müsse man hinnehmen.
auf, wenn er mal wieder aus der CDU-Linie Inzwischen wird in der CDU auffallend »Ist das so furchtbar?«, fragte Merz rheto-
zur Russlandpolitik ausschert. Aus der Frak- schlecht über den Generalsekretär geredet. risch. Verglichen mit anderen Ländern gehe
tion dringen lediglich Ex-Minister Jens Spahn Der Vorwurf: Czaja trete intern wie öffentlich es Deutschland ganz ordentlich. »Das muss
und der Parlamentarische Geschäftsführer zu wenig in Erscheinung, kümmere sich viel ein solches Land doch aushalten.«
Thorsten Frei durch, während andere Abge- um seinen Wahlkreis. Schlagzeilen machte Nach einem eigenen Lösungsvorschlag
ordnete frustriert in der Versenkung sitzen. eher sein vom SPIEGEL aufgedecktes fragwür- für die Krise klingt das nicht.
Auch das Konrad-Adenauer-Haus wollte diges Finanzgebaren. Zur Energiekrise ist der Melanie Amann, Sophie Garbe,
Merz nach dem vermurksten Wahlkampf um- Generalsekretär der größten Oppositionspar- Florian Gathmann, Steffen Winter n

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DEUTSCHLAND

ter zu machen. Ich lasse mich thema-


tisch gern auch mitreißen, aber ich
werde nichts mehr machen, hinter dem
ich nicht stehe. Auch das habe ich in
meiner Auszeit für mich beschlossen.

»Politik kann süchtig machen« SPIEGEL: Hat Sie der Trubel über-
fordert?
Blaudszun: Gerade am Anfang oft. Ich
erinnere mich an den Parteitag 2019,
SPD Als Teenager wurde Lilly Blaudszun eine der wichtigsten Influencerinnen auf dem Saskia Esken und Norbert
der Partei, dann tauchte sie plötzlich ab. Jetzt spricht sie über ihre Zeit Walter-Borjans als Parteivorsitzende
gewählt wurden. Ich habe die beiden
im Rampenlicht, ihre Pläne und ihre umstrittene Freundin Manuela Schwesig. damals unterstützt. Wochenlang gab
es Artikel über mich, zum ersten Mal
Ein Freitag Ende August, Blaudszun zeiten mein Leben bestimmt. Das hat in fast allen großen Medien. Auf dem
wartet vor einem Café in Schwerin, mir viel Spaß gemacht, aber das Tem- Parteitag konnte ich kaum ein paar
das Smartphone in der Hand, natür- po war dauerhaft zu hoch. Meter durch die Reihen gehen, ohne
lich. Jahrelang war das Handy ihr SPIEGEL: Wie war das, aus dem Ram- von Journalisten angesprochen zu
wichtigstes Arbeitsgerät. In den sozia- penlicht zu treten? werden oder von Menschen, die ein
len Netzwerken brachte es die Jung- Blaudszun: Es war erleichternd. Foto mit mir haben wollten. Das kann
sozialistin zu großer Prominenz. Nachdem ich meine Accounts deak- schon herausfordernd sein.
Blaudszun hatte kein großes Amt, tiviert hatte, habe ich zwei Sätze an SPIEGEL: Sie waren da erst 18 Jahre
aber Zehntausende hörten ihr zu. In die Deutsche Presseagentur gegeben, alt. Hatten Sie Hilfe aus der SPD?
der SPD machte sie Wahlkampf für mein E-Mail-Postfach für Presse- Blaudszun: Sowohl die Partei als auch
die Größen ihrer Partei, für ihre anfragen gelöscht, und das war’s. Ich ich waren in einer Ausnahmesituation:
umstrittene Vertraute, Mecklenburg- hatte plötzlich wieder viel Zeit für Die klassischen Parteistrukturen sind
Vorpommerns Ministerpräsidentin Freunde, meine Familie, alte Hobbys auf digitale Meinungsmacherinnen wie
Manuela Schwesig, ebenso wie für den und mein Jurastudium. Vor allem mich nicht vorbereitet. Wer ein Amt
späteren Kanzler Olaf Scholz. Dann aber war es mir wichtig, mich mal zu- hat, bekommt ein Büro. Wer keins hat,
verschwand Blaudszun plötzlich. Jetzt rückzunehmen und zu reflektieren: muss sich selbst organisieren. Das war
will die 21-Jährige reden, über ihren Was will ich? Wer bin ich? Und wer in meinem Alter schon eine Heraus-
rasanten Aufstieg, den radikalen will ich sein? Und lasse ich mich zu forderung, aber ich habe mir dann
Bruch und die neue Lage der SPD. sehr treiben? mein eigenes Team aufgebaut.
SPIEGEL: Durch wen haben Sie sich SPIEGEL: Sie hätten sich um Posten
SPIEGEL: Frau Blaudszun, »Nach- getrieben gefühlt? bewerben können.
wuchsstar«, »SPD-Hoffnung«, »sel- Blaudszun: Mein eigener Anspruch Blaudszun: Ich sehe mich als Teil einer
lillyblaudszun / Instagram

tenes Talent« – so nannte man Sie vor ist hoch, und natürlich gab es auch neuen Generation in der Politik. Wir
nicht langer Zeit. Übertreibung oder viele Erwartungen von außerhalb. Ich sind Meinungsmacher abseits der
Realität? hatte eine spannende Zeit, aber Poli- klassischen Parteistrukturen – und
Blaudszun: Andere mögen so über tik kann süchtig machen. Man begibt natürlich brauchen wir Unterstüt-
mich sprechen, ich selbst würde mich sich in eine total aufregende Welt. zung.
nicht so bezeichnen. Zugleich habe ich einen großen Druck SPIEGEL: Sie wollten mithelfen, dass
SPIEGEL: Warum nicht? Sie galten als gespürt, auf möglichst vielen Veran- die SPD wieder cool wird. Jetzt steht
wohl prominenteste Vertreterin der staltungen und medial präsent zu sie in Umfragen unter 20 Prozent,
Politik-Influencerinnen. Zigtausende sein, viele Leute zu treffen. Ich hatte junge Leute zieht es eher zu den Grü-
lillyblaudszun / Instagram

Menschen folgten Ihnen in den sozia- das Gefühl, mich als eine der wenigen nen. Was läuft da schief?
len Netzwerken, da waren Sie kaum prominenteren Stimmen aus Meck- Blaudszun: In der SPD herrscht oft
20 Jahre alt. lenburg-Vorpommern gewissermaßen eine ziemliche Bratwurststimmung,
Blaudszun: Ich finde es schwierig, äußern zu müssen. die nicht gerade anziehend auf junge
wenn einzelne Personen zu großen SPIEGEL: Wann war das der Fall? Menschen wirkt. Und gerade junge
Hoffnungsträgern ernannt werden. Blaudszun: Zum Beispiel als der da- Frauen sehen sich in der Partei den
Das weckt Erwartungen, die niemand malige Landesinnenminister Lorenz immer gleichen ermüdenden Debat-
erfüllen kann. Natürlich hatte ich eine Caffier von der CDU wegen eines ten ausgesetzt. Da sind wir nicht mo-
Fotos (3): lillyblaudszun / Instagram

große Reichweite. Aber ansonsten Waffenkaufskandals zurücktrat. Ich dern genug. Aber noch wichtiger ist:
war ich eine junge Studentin, die ein- hätte ihn dafür verurteilen sollen. Sozialdemokraten müssen in der Re-
fach das große Glück hatte, etwa in Stattdessen glaubte ich, auf staatstra- gierung einhalten, was sie im Wahl-
den Kampagnen zur Bundestagswahl gend machen zu müssen, und habe kampf versprochen haben. Das ist
oder zur Landtagswahl in Mecklen- Caffier auf Twitter für seinen Einsatz bislang unzureichend.
burg-Vorpommern mitzuhelfen. für das Land gedankt. Heute würde SPIEGEL: Was meinen Sie konkret?
SPIEGEL: Nach der Bundestagswahl ich das nicht mehr tun. Blaudszun: Der heutige Bundeskanz-
sind Sie von einem Tag auf den ande- SPIEGEL: Führende Genossinnen und ler hat doch den Satz geprägt: »Wer
Meinungsmacherin
ren abgetaucht. Was war da los? Blaudszun mit
Genossen zeigten sich gern mit Ihnen, bei mir Führung bestellt, bekommt
Blaudszun: So plötzlich war das für Par teiprominenten um von Ihrem jungen und hippen sie auch.« Die muss jetzt kommen.
mich gar nicht. Ich habe schon im Schwesig, Katarina Image zu profitieren. Fühlten Sie sich Ich wünsche mir einen offensiveren
Sommer 2021 für mich entschieden, Barley 2019, ausgenutzt? Umgang von Olaf Scholz mit der Uk-
Hubertus Heil 2021,
dass ich diesen Schritt nach der Bun- Heiko Maas 2019:
Blaudszun: Ich weiß, dass ich eine raine. Ich hätte eine schnellere und
destagswahl gehen möchte. Politik »Oft eine ziemliche hohe Reichweite habe und helfen klarere Unterstützung für Kiew er-
und Social Media haben seit Schul- Bratwurststimmung« kann, Themen oder Personen bekann- wartet. Wir müssen beides schaffen:

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DEUTSCHLAND

hältnis zu Russland haben können. Aber da-


für brauchen wir jetzt erst mal eine hundert-
prozentige Distanz zu Putins Regime – in
jederlei Hinsicht.
SPIEGEL: Haben das alle in der SPD verstanden?
Blaudszun: Im Moment geht es darum, den
Krieg zu beenden. Aber langfristig muss die
ganze Partei aufarbeiten, wie wir mit Russ-
land umgegangen sind oder warum noch vor
ein paar Jahren die wenigsten in der SPD ein
Problem damit hatten, dass Schröder als Star-
gast auf dem Parteitag spricht.
SPIEGEL: Sie hätten sich seinen Rauswurf ge-
wünscht?
Blaudszun: Ich möchte, dass er von selbst
geht.
SPIEGEL: Sie waren eine enge Vertraute von
Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsi-
dentin Manuela Schwesig, haben auch Wahl-
kampf für sie gemacht. Bereuen Sie etwas?
Blaudszun: Unser Verhältnis hat sich nicht
verändert.
SPIEGEL: Schwesig verkörpert das SPD-Russ-
landproblem. Sie war die oberste Vorkämp-
ferin für die Pipeline Nord Stream 2, die die
deutsche Gasabhängigkeit von Putin noch
vergrößert hätte.
Blaudszun: Alle in der SPD müssen sich fra-
gen, ob sie in der Russlandpolitik immer auf
der richtigen Seite standen. Richtig ist: Ich
habe all diese Verbindungen schon früher an-
ders bewertet als Manuela Schwesig. Ich fin-
de es richtig, dass die Landesregierung jetzt
Stephie Braun / DER SPIEGEL
einen echten Schnitt gemacht hat. Den Russ-
landtag wird es nicht mehr geben, der Verein
Deutsch-Russische Partnerschaft wird nicht
mehr gefördert. Für eine Freundschaft mit
Moskau in Zukunft brauchen wir jetzt volle
Abgrenzung zu Putins Regime.
Jungsozialistin Blaudszun: »Das Tempo war dauerhaft zu hoch« SPIEGEL: Das entschuldigt aber nicht Schwe-
sigs Beharren auf Nord Stream 2, als Russland
unmissverständlich an der Seite der Ukraine Blaudszun: Beraten klingt anmaßend, aber längst eine Autokratie war. Oder die dubiose
zu stehen, die stellvertretend für uns alle die- über einen Austausch mit Olaf Scholz freue Stiftung Klima- und Umweltschutz. Oder die
sen Krieg führen muss. Und natürlich darf ich mich jederzeit. Kontakte mit Putin-Vertrauten.
sich dieser Konflikt nicht ausweiten. Es steht SPIEGEL: Was ist für Sie als linkes Juso-Mit- Blaudszun: Auch wenn ich in der Sache an-
Spitz auf Knopf. glied schlimmer: dass ein SPD-Kanzler ein derer Meinung war, bin ich davon überzeugt:
SPIEGEL: Mit der Innenpolitik der Ampel sind Milliardenpaket für Aufrüstung schnürt oder Alles, was sie getan hat, war in guter Absicht
Sie zufrieden? dass manche Genossen immer noch ihrer für ihr Land. Ein vertrauensvolles Verhältnis
Blaudszun: Innenpolitisch erwarte ich, dass Russlandfreundschaft nachtrauern? muss abkönnen, dass man sich in manchen
der Kanzler sich klar an die Seite der Arbeit- Blaudszun: Beides ist problematisch. Man Fragen nicht einig ist.
nehmerinnen und Arbeitnehmer stellt. Das darf sich schon fragen, ob es einleuchtend ist, SPIEGEL: Seit einiger Zeit sind Sie wieder öf-
ist mir zu viel FDP in der Regierung, da reicht das 9-Euro-Ticket mit Verweis auf die Kosten fentlich aktiv, äußern sich regelmäßig auf In-
auch kein »You’ll Never Walk Alone«. Warum auslaufen zu lassen, während man ohne Pro- stagram. Wollen Sie zurück in die Politik?
beschließt die Koalition etwa eine Gasumlage bleme solch riesige Summen ins Militär Blaudszun: Ich bin ein politischer Mensch und
und wartet dann tagelang, bis sie klärt, wie steckt. Das war nach Jahren der Corona- habe weiterhin das Bedürfnis, mich politisch
sie die Menschen entlasten kann? flaute der mobilste Sommer, den junge Men- auszutauschen. Das lebe ich jetzt wieder et-
SPIEGEL: Finanzminister Christian Lindner schen je hatten. Auch für sie muss die Bundes- was stärker öffentlich aus. Ich weiß, dass ich
hat doch Pläne zur Steuerentlastung. regierung etwas tun. Was Russland betrifft, mindestens eine Stimme für das junge Meck-
Blaudszun: Ich bin nun wirklich kein Freund wünsche ich mir natürlich größtmögliche lenburg-Vorpommern sein kann, viele Leute
davon, Reiche zu entlasten. Das sollten wir Abgrenzung. erwarten das auch von mir.
genau umgekehrt machen. SPIEGEL: In dieser Frage musste die SPD eine SPIEGEL: Würden Sie ein Amt übernehmen?
SPIEGEL: Sie klingen so, als wäre Scholz für außenpolitische Kehrtwende hinlegen. Wie Blaudszun: Ich mache jetzt erst mal mein
Sie der falsche Kanzler. glaubwürdig ist das? juristisches Staatsexamen. Es ist nicht mein
Blaudszun: Bei aller Kritik, er ist der richtige Blaudszun: Sehen Sie, ich selbst habe viele Lebensziel, im Landtag oder Bundestag zu
Kanzler. Und in jedem Fall geeigneter als russische Freunde durch einen Schüleraus- sitzen. Aber langfristig möchte ich mich wei-
Christian Lindner oder Robert Habeck. tausch und eine Kooperation meiner Univer- ter für meine Region einsetzen, unabhängig
SPIEGEL: Würden Sie den Kanzler in politi- sität. Deshalb wünsche ich mir, dass meine von der Position.
scher Kommunikation beraten? Kinder irgendwann wieder so ein gutes Ver- Interview: Kevin Hagen, Levin Kubeth n

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Zitat groß
Marginalie
hier wären
fünf Zeilen
sehr schön
Zitat Autor

Matthias Schardt / DER SPIEGEL


Die Millionen des Scheichs
KRIMINALITÄT Der Syrer Khaled A. soll von Deutschland aus ein weltweites Netzwerk für illegale Geldtransfers
erschaffen haben. Womöglich hat er so auch Terroristen finanziert.

on den meisten Gangstern, die im Ge- die Niederlande gefahren, auf einem Auto- hinter der Grenze, in der Nähe von Nettetal
V fängnis hocken, kann man ziemlich ge-
nau sagen, warum sie sitzen. Die einen
wurden unvorsichtig, manche wurden ver-
bahnrastplatz in der Nähe von Veendaal
haben die beiden Bargeld abgeholt: etwa
286 000 Euro, es waren größtenteils 50-Euro-
in Nordrhein-Westfalen, fallen T. vor Müdig-
keit die Augen zu. Er verliert die Kontrolle
über den Wagen, das Auto überschlägt sich
pfiffen, anderen kamen findige Ermittler auf Scheine. So kann man es in Ermittlungs- mehrmals, kommt schließlich zum Stehen.
die Spur. Bei Khaled A. war es der Sekunden- berichten nachlesen. Die Männer haben kaum etwas abbekommen,
schlaf. Die Männer haben das Geld in einen Stoff- verwirrt klettern sie aus dem Wrack. Sie wis-
Am 28. Mai 2020, kurz nach Mitternacht, beutel gestopft. Nach der Übergabe brausen sen aber, dass es nun eng wird, dass die Poli-
fliegt A. auf. Und wie das passiert, ist ähnlich sie zurück nach Deutschland. Es ist eine Ge- zei bald anrückt.
spektakulär wie das kriminelle Netzwerk, das schäftsreise, wie man sie in ihrer Branche Also schraubt Khaled A. die Kennzeichen
er offenbar über Jahre erschaffen hat. Khaled wahrscheinlich jeden Tag macht. ab. Er holt die Zulassungspapiere aus dem
A. sitzt in einem Auto. Er und sein Geschäfts- Die Männer fahren über die A 61. Manfred Handschuhfach, wirft beides in einen Wäsche-
partner Manfred T. sind zu einem Treffen in T. sitzt am Steuer, Khaled A. daneben. Kurz korb, den er sich unter den Arm klemmt. Er

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schnappt sich den Stoffbeutel mit dem Geld, »Wir brauchen in Zürich spricht. Man gehe aber noch Dutzenden Ver­
dann rennen die Männer los, querfeldein. dächtigen nach, es gebe noch Hunderte be­
Doch an einer Tankstelle werden sie von Bun­ 14 000 Euro, wer schlagnahmte Handys auszuwerten, heißt es
despolizisten geschnappt.
Khaled A. hat die Scheine fast überall, im
will übernehmen?« in den Behörden.
Khaled A. steht noch nicht vor Gericht,
Stoffbeutel, im Wäschekorb und in seiner Ho­ Hawaladar in einem Chat doch schon jetzt ist klar: Nie zuvor konnten
sentasche. Die Polizisten fragen, woher das Ermittler in Deutschland einen so tiefen Ein­
Geld komme. Sie fragen ihn auf Deutsch, auf blick in diese bislang weitgehend unbekann­
Englisch. Khaled A. versteht die Polizisten te Finanzwelt werfen. Hawala­Banking ist
nicht. Oder will sie nicht verstehen. erst seit 2018 strafbar, es gab bisher nur we­
Noch am selben Tag leitet die Staats­ beteiligten Ermittler. Ein System, das Khaled nige Verfahren. Ein Groß­Hawaladar wurde
anwaltschaft in Mönchengladbach ein Ver­ A. offenbar perfektioniert hat. noch nicht verurteilt. Es gibt inzwischen sogar
fahren gegen ihn ein: Verdacht auf Geld­ Kurz nach dem Unfall auf der A 61 gründet Fortbildungen, in denen Polizistinnen und
wäsche. Ermittler durchsuchen seine Woh­ die Polizei in Düsseldorf eine eigene Einheit, Polizisten am Beispiel des Kings lernen, wie
nung, beschlagnahmen seine Handys. Sie die sich seitdem um die Hawala­Bande küm­ das Hawala­Prinzip funktioniert.
finden heraus, dass Khaled A. zwar keinen mert. Die Ermittlungskommission heißt Obwohl die Ermittler kurz nach dem Un­
Job hat, aber neun Bankkonten, unter ande­ »Vubrag«, was für Verkehrsunfall, Bedrohung, fall auf der A 61 wussten, mit wem sie es bei
rem bei der ING­Diba, der Kreissparkasse Raub und Geldwäsche steht. Die Einheit ist Khaled A. zu tun hatten, ließen sie ihn noch
Heinsberg und der Volksbank Mönchen­ nach der Episode auf der Autobahn benannt einige Monate seine Geschäfte machen. Sie
gladbach. und nach den Straftaten, die Khaled A. und wollten dazulernen. Die Fahnder beschatte­
Es ist schnell klar, dass es hier um mehr seinen Geschäftspartnern vorgeworfen werden. ten die Clique, hörten sie ab. Es gab mehrere
geht als um Geldwäsche. Es geht, so scheint Aus den umfangreichen Ermittlungsakten Razzien. Ein Ermittler erzählt, dass sie
es, um eine ganze Bank. Nur dass die nicht des Falls, die der SPIEGEL einsehen konnte, manchmal so viel Bargeld beschlagnahmt hät­
Volksbank oder Sparkasse heißt. Sie heißt ergibt sich das Bild eines skrupellosen Kar­ ten, dass es sie vor »logistische Probleme«
Khaled A., er ist die Bank. tells, das von NRW aus Millionen Euro um gestellt habe. Wohin mit all den Scheinen?
Mit dem Crash auf der Autobahn ist ein die halbe Welt bewegt, das seine Ansprüche Sie brauchten Maschinen, um sie zu zählen.
mutmaßlicher Pate aufgeflogen. A. soll der mit Gewalt und Todesdrohungen durchsetzt Die meisten Geschäfte soll Khaled A. über
Kopf eines kriminellen Geflechts gewesen und den Rechtsstaat für eine Pappkulisse hält. WhatsApp abgewickelt haben. In einem Ver­
sein, das selbst erfahrene Ermittler verblüfft. Inzwischen gibt es schon mehr als 80 Be­ merk der Ermittler ist von einem Chat mit
Für sie ist er das Mastermind einer Schatten­ schuldigte. Es sind vor allem Männer, aber mehr als 300 Teilnehmern die Rede. Es sei
wirtschaft, die Hawala­Banking genannt wird. auch sechs Frauen sollen Teil des Netzwerks eine »Hawala­Börse« gewesen, heißt es. Die
Es ist ein selbst organisierter, informeller Fi­ gewesen sein. Die meisten sind Flüchtlinge Nutzer seien aus Dutzenden Ländern gekom­
nanzkreislauf. Manche bezeichnen es als Zah­ aus Syrien, andere kommen aus der Türkei, men und hätten Aufträge in Deutschland, der
lungssystem im Untergrund. manche aus Deutschland. Mehr als 150 Per­ Türkei, Syrien, im Irak oder Libyen verteilt
Die Methode funktioniert über zwei Töp­ sonen sollen den Hawala­Betrieb am Laufen und angenommen.
fe: Wer Geld von Deutschland nach Syrien gehalten haben – und ihr Chef war offenbar In den Chats klang das so:
schicken möchte, geht in ein Einzahlungs­ Khaled A. »Wir brauchen in Zürich 14 000 Euro, wer
büro, zum Beispiel in Köln. Oft sind das Er soll der sogenannte Groß­Hawaladar will übernehmen?«
Kioske, Juweliere oder andere Einzelhändler. gewesen sein, der, bei dem die Fäden zusam­ »Jungs, wir haben 15 000 in Chemnitz,
Dort gibt man das Geld in bar ab. Auch in menliefen. Seine Handlanger sagten »Scheich Dresden oder Plauen, Lieferung in Istanbul.«
Syrien gibt es eine Stelle, zum Beispiel in Khaled« zu ihm, er selbst nannte sich »King«. »Wir haben in Indien 3 000 000 Rupien,
Aleppo, die den Betrag an den Empfänger Nach dem Autobahn­Crash beschäftigen der wir wollen die in Saudi­Arabien.«
auszahlt, nachdem der per Handy über die King und sein Umfeld mehrere Hundert Er­ »Ich brauche in Idlib 2000 $.«
Transaktion informiert worden ist. So kann mittlerinnen und Ermittler, beim General­ Khaled A. soll mitunter in 18 solcher Chats
Geld in wenigen Sekunden an jeden Ort der bundesanwalt und im Bundeskriminalamt, gleichzeitig unterwegs gewesen sein. Er ver­
Welt gelangen – ohne Konto, ohne Registrie­ beim Zoll, bei den Staatsanwaltschaften und suchte, vorsichtig zu sein, nutzte für die Ab­
rung. Alle, die diesen Geldtransfer organisie­ Polizeibehörden in Bund und Land. sprachen ein Handy mit rumänischer Num­
ren, bekommen Provisionen. Die elektronische Akte der »Vubrag«­ mer. Er war schnell und tüchtig, bewegte
Das Bundesfinanzministerium geht davon Kommission hat inzwischen 8,5 Gigabyte, Taschen voller Bargeld durch die Gegend, als
aus, dass mit Hawala jedes Jahr umgerechnet was rund zwei Millionen DIN­A4­Seiten ent­ spielte er Monopoly.
etwa 200 Milliarden US­Dollar um die Welt Einmal sagt ein Kunde am Telefon, dass er
fließen. Die Methode ist in Deutschland vor gern 300 000 Euro in den Niederlanden hätte.
allem unter Migrantinnen und Migranten be­ Wann er das Geld denn brauche, fragt Khaled
liebt, weil sie damit schnell Geld an ihre Ver­ A. zurück. Antwort: So schnell wie möglich,
wandten in der Heimat schicken können. am besten in der nächsten Stunde. Für Khaled
Einerseits. A. ist das offenbar kein Problem. Das sei wahr­
Andererseits gibt es Kriminelle, die es nut­ scheinlich machbar, sagt er seinem Kunden.
zen, um ihre Einnahmen aus Schwarzarbeit Die Polizisten haben jedes Detail ihrer
und Drogendeals zu waschen, Betrüger, die Observationen in den Akten festgehalten. An­
ihre Erträge aus Enkeltrick­Geschäften in Si­ hand der Aufzeichnungen kann man sich fast
cherheit bringen. Es gibt Flüchtlinge, die mit ein beliebiges Datum im Geschäftsleben des
Matthias Schardt / DER SPIEGEL

dieser Methode Schleuser bezahlen, Salafis­ Khaled A. heraussuchen, um zu verstehen,


ten, die damit Terroristen im Nahen Osten wie es funktionierte.
finanzieren. So genau lässt sich der Weg des Am 11. Mai 2021 soll A. insgesamt fast eine
Geldes nicht verfolgen, was in den meisten Million Euro eingesammelt und später weiter­
Fällen auch Sinn der Sache ist. transferiert haben – einen Teil davon so: Um
Es sei ein System, das sich »perfekt für in­ 13.06 Uhr spricht er mit einem Kunden
kriminiertes Verhalten eignet«, sagt einer der über 60 000 Euro, die sich in Rotterdam be­

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DEUTSCHLAND

finden. Er schickt einen Kurier dorthin. Um


FINANZEN
15.12 Uhr bekommt er die Info, dass er Bar-
geld in Aachen abholen könne. Um 15.15 Uhr
Das System der zwei Töpfe teilt er einem Kunden mit, dass er 300 000
Euro besorgt habe. Um 15.43 Uhr hört er eine
Wie mit dem Hawala-Netz Bargeld um die Welt geschickt wird Audionachricht ab, in der jemand ankündigt,
40 000 Euro abzuholen. Um 15.52 Uhr fragt
er einen Geschäftspartner, wann das Bargeld
Das Hawala-System entstand im frühen leicht und unauffällig intern verrechnen in Amman entgegengenommen werde. Um
Mittelalter, im vorderen und mittleren und in den Zielländern wieder auszahlen 19.47 Uhr verschickt er eine Sprachnachricht,
Orient. Weil es für Händler schwierig war, können. es gibt offenbar ein Problem, A. möchte wis-
auf ihren Reisen schwere Münzen zu sen, ob ein Kunde die von ihm besorgten
transportieren, suchten sie einen einfache- 100 000 Euro annehmen werde oder nicht.
ren Weg, Waren zu bezahlen. »Hawala« Um 20.44 Uhr teilt er laut den Aufzeichnun-
ist Arabisch und bedeutet so viel wie gen jemandem mit, dass er selbst Bargeld in
»wechseln«. Händler in Asien und in der Köln abgeholt habe.
Golfregion setzen bis heute auf vergleich- »Er war rund um die Uhr unterwegs, mach-
bare Systeme. Truck-Trick: Einige Hawaladare kaufen te nur einen Tag in der Woche Pause«, sagt
Beim Hawala-Banking bringen mit dem gesammelten Bargeld Lastwagen ein Ermittler.
Menschen Bargeld in Einzahlungsbüros, bei deutschen Händlern. Die Fahrzeuge Im Oktober 2021 wurde Khaled A. bei
damit es an einem anderen Ort auf der lassen sie anschließend in Länder des Na- einer Razzia festgenommen, seitdem sitzt er
Welt ausgezahlt wird. Hawaladare orga- hen Ostens verschiffen. Dort werden sie in Untersuchungshaft. Zwischen August 2018
nisieren die Transfers, sie stehen mitein- wieder gegen Bargeld verkauft, was die und August 2021 soll er rund 63 Millionen
ander in Kontakt und vereinbaren, wie Töpfe in diesen Ländern auffüllt. Euro eingesammelt haben. So steht es im
viel Geld ein Kunde im Auszahlungsbüro Haftbefehl, zusammen mit einem Katalog an
bekommt – abzüglich der Provisionen Anschuldigungen: Mitgliedschaft in einer kri-
für die Beteiligten. Sie schicken sich minellen Vereinigung, Betrug, Steuerhinter-
einen Code aufs Handy, um die Zahlung ziehung, Anstiftung zu schwerem Raub, ge-
zu legitimieren. fährlicher Körperverletzung und Nötigung.
Die Hintermänner stehen vor dem Womöglich hat Khaled A. auch Terroristen
Problem, dass von Europa aus höhere Bargeldhandel: Mitunter kommt es vor, finanziert, vielleicht wurden mit dem Geld
Beträge in Länder des Nahen Ostens dass Geld aus dem Nahen und Mittleren aus seinen Hawala-Transfers inhaftierte Ter-
transferiert werden als andersherum. Mit Osten nach Europa transferiert werden roristen im Nahen Osten freigekauft. Die Er-
anderen Worten: In den Zahlungsbüros soll, zum Beispiel an Firmen. Dann benö- mittler sagen, sie gingen solchen Spuren der-
in Deutschland stapelt sich das Bargeld. tigen Groß-Hawaladare hierzulande in zeit nach. Ihm sei es »jedenfalls nicht nur ums
Die Aufgabe der Groß-Hawaladare ist kurzer Zeit viel Bargeld. Der einfachste Geldverdienen« gegangen, heißt es aus Si-
es deshalb, die Töpfe zwischen den Län- Weg ist, bei Hawaladaren der mittleren cherheitskreisen, Khaled A. hätten »auch
dern auszugleichen, nur so kann das und unteren Ebene Cash einzusammeln, ideologische Gründe« angetrieben.
Konstrukt funktionieren. Der Ausgleich weil sie ihre Scheine loswerden wollen. Der SPIEGEL hat seinem Anwalt Fragen
geschieht über sogenannte Rückwärts- Die Groß-Hawaladare bekommen eine zu den Vorwürfen geschickt. Er teilte mit, dass
geschäfte, das sind zum Beispiel: Provision dafür, dass sie den Hawaladaren er »keine Stellungnahme« abgebe.
Bares abnehmen. Im Gegenzug lassen sie In Vernehmungen soll sich Khaled A.
den Betrag dem entsprechenden Kollegen »eher geständig« geäußert haben. Das sagt
bei einer Hawala-Bank, zum Beispiel in jemand, der mit dem Fall vertraut ist. Einige
Istanbul, gutschreiben. aus der Hawala-Bande sollen vollständig aus-
gepackt haben und Deals mit der Staats-
Neben diesen Methoden stießen die anwaltschaft eingegangen sein. Weil sie den
Cash: Einige Hawaladare lassen Bargeld Ermittler auf ein Verfahren, bei dem Fahndern erklärten, wie ihr Netzwerk funk-
in Autos, Lastwagen oder Flugzeugen die Hawaladare ihre Töpfe über einen tionierte, kamen manche aus der Unter-
beispielsweise in die Türkei oder nach Umweg ausgleichen: über den Rech- suchungshaft frei.
Syrien bringen. Bevor es dort in die nungskauf. Es gibt Firmen im Nahen Khaled A., 45, wurde in Idlib geboren, im
Zahlungsbüros kommt, wird es in Wech- Osten, die von europäischen Unterneh- Nordwesten Syriens. Er machte ein Diplom
selstuben umgetauscht. Die Methode men Süßwaren, Autos oder Düngemittel in Islamwissenschaften an der Universität in
ist riskant, immer wieder fliegen Kuriere kaufen und die Rechnungen nicht per Beirut. Im Oktober 2015 kam er als Flüchtling
an Grenzübergängen auf. Banküberweisung begleichen. Statt- nach Deutschland. Er landete in NRW, in
dessen bringen sie den fälligen Betrag einer Flüchtlingsunterkunft in Hückelhoven,
in bar in ein Zahlungsbüro vor Ort – einer Stadt zwischen Aachen und Düsseldorf.
zusammen mit den Rechnungen, die an- Später stellte er einen Antrag auf Asyl. Im
schließend per WhatsApp an Hawala- Herbst 2016 erhielt er eine Aufenthaltserlaub-
dare in Europa geschickt werden. Diese nis, später holte er seine Frau und seine drei
kümmern sich darum, dass die Rechnun- Kinder nach Deutschland.
Gold: Manche Schmuck- und Goldhänd- gen bezahlt werden. Weil die Töpfe hier- Bis zu seiner Verhaftung lebte er mit seiner
ler in Deutschland führen auch im Aus- zulande gut gefüllt sind, reichen sie den Familie in Mönchengladbach, in einer Dach-
land Betriebe, als Tochtergesellschaften fälligen Betrag in bar an eine Drittfirma wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Geht
etwa. Ein Transfer über solche Läden weiter, die wiederum den Auftrag hat, man dort heute vorbei, findet man seinen
ist für Hawaladare praktisch, weil die In- das Geld schließlich an das europäische Namen noch immer auf der Klingel und dem
haber der Geschäfte die Bargeldbeträge Unternehmen zu überweisen. n Briefkasten. In der Wohnungstür der Familie
ist ein Loch, das mit Tesafilm zugeklebt wur-

34 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


DEUTSCHLAND

de – vermutlich sind das die Spuren zufrieden.« Für »Anfragen und Kom-
des Polizeieinsatzes. munikation« sollten die Kunden
Als er noch nicht im Gefängnis saß, einen Link anklicken.
übernachtete Khaled A. manchmal In Audionachrichten, die Polizis-
auch in Erkelenz, bei seiner »Zweit- ten auf den sichergestellten Handys
frau nach islamischem Ritus«. So fanden, schwärmt Khaled A. vom
steht es in der Ermittlungsakte. Dort Hawala-Paradies in Deutschland: Er
finden sich auch Fotos von ihm, ge- könne Transaktionen überallhin ma-
macht von Polizisten, die ihn beschat- chen, ohne jemanden zu fragen, sagt
tet haben. Man sieht darauf einen er. Und: »Mein Freund, ich schwöre
Mann mit Vollbart, der gern Jogging- bei Gott, die Hawalas laufen gut.«
anzug trägt. Einen Mann, der entwe- Der fleißige Schattenbanker war
der sein Handy ans Ohr drückt oder wohl selbst überrascht von seinem
Briefumschläge, Tüten oder Taschen Erfolg und verwundert darüber, wie
durch die Straßen trägt, darin vermut- leicht er es hatte. In einer seiner
lich Bargeld. Einen, der sich mit sei- Sprachnachrichten sagt er, dass

Matthias Schardt / DER SPIEGEL


nen Geschäftspartnern auf Parkplät- Deutschland doch eigentlich »die
zen in Industriegebieten trifft und in Mutter der Kontrolle« sei. Trotzdem
hochmotorisierte Autos mit getönten bekomme er jeden Monat Geld auf
Scheiben steigt. sein Konto, ohne dass jemand Fragen
Schon bevor er aufflog, hatte Kha- stelle. Der Markt sei »offen«.
led A. Akten bei der Polizei und den Lange lief es gut für ihn, bis zum
Staatsanwaltschaften gefüllt. Im Sep- Sommer 2020. Erst der Unfall auf der
tember 2016 sagte ein Mann aus Sy- Autobahn, dann hintergingen ihn of-
rien auf der Wache in Erkelenz gegen Khaled A. – und sein Talent, das le- fenbar zwei seiner Netzwerkmitglie-
ihn aus. Die beiden hätten sich in der gen die Ermittlungsakten nahe. der. Khaled A. und andere Geschäfts-
Flüchtlingsunterkunft kennengelernt, Er soll die Kontakte zu den Kun- partner sollen Adnan A. und Amir A.
erzählte der Zeuge. Khaled A. habe den und Geschäftspartnern gehalten, insgesamt 517 500 Euro gegeben ha-
die Scharia studiert, befürworte die über die Provisionen verhandelt ha- ben. Die beiden sollten damit Rech-
Taten des »Islamischen Staats« und ben. Sie sollen bei ihm meistens zwi- nungen begleichen, um Geldtöpfe
sei in Syrien Mitglied in einer islamis- schen zwei und vier Prozent gelegen auszugleichen. Doch die Männer
tischen Kampfgruppe gewesen. Kon- haben. An Tagen, an denen er viel erledigten wohl ihren Job nicht, ver-
krete Straftaten konnte die Polizei Bargeld bewegte, soll er auf Gewinne mutlich zweigten sie einen Teil der
jedoch nicht ermitteln. von bis zu 3000 Euro gekommen Summe für sich selbst ab.
Später stellten die Behörden fest, sein. Als Ein- und Auszahlungsbüros In einem System, in dem jeden Tag
dass auf Khaled A.s Konten verdäch- dienten ihm offenbar Gemüse- und tütenweise Geld durch Dutzende
tige Zahlungen eingegangen waren. Klamottenläden, aber auch Mo- Hände geht, ist die Versuchung groß,
Bei manchen Überweisungen war im scheen. Ein Geschäft in Mönchen- sich ein paar Scheine in die eigene
Betreff das Wort »Religion« angege- gladbach soll er als Depot genutzt Tasche zu stecken. Die Hawala-Me-
ben. Dazu gab es Hinweise aus dem haben, um Geldscheine zwischenzu- thode ist schnell und geheim, weil es
Ausland. 2019 meldeten sich britische lagern. keine Kontrollen, keine Sicherheiten
Sicherheitsbehörden bei den deut- Wie der Chef eines mittelständi- gibt. Nur Absprachen. Und die Hoff-
schen Kollegen. Khaled A. finanziere schen Unternehmens soll der Syrer nung der Beteiligten, dass sich alle an
womöglich Terrororganisationen, sich gegeben haben, er soll Mitarbei- die Vereinbarungen halten.
hieß es. Auch in einem Ermittlungs- ter angeworben haben, für die Logis- Bei Problemen hilft kein Gericht,
verfahren in Luxemburg war er auf- tik, für Kurierfahrten. Manfred T., ein die klären sie selbst. Khaled A. soll
gefallen. im Kreis Düren geborener Konvertit, Adnan A. und Amir A. immer wieder
Dann tauchte sein Name in einem war vermutlich einer seiner engen angerufen haben: Er werde sie ver-
Chat auf, für den sich das BKA inte- Vertrauten, er kümmerte sich um den nichten, falls sie das Geld nicht zu-
ressierte. Ein Mitglied der Islamisten- Bargeldtransport und betrieb ein rückzahlten.
miliz »Haiat Tahrir al-Scham« schrieb eigenes Zahlungsbüro. Auch T. sitzt Als die Drohungen nicht fruchte-
über Khaled A. und nannte dessen inzwischen in Untersuchungshaft, ten, soll Khaled A. einen Schläger-
Kontodaten, zuvor hatte jemand an- sein Anwalt äußert sich nicht zu den trupp engagiert haben. Was dann
gegeben, Geld nach Syrien schicken Anschuldigungen. geschah, steht in den Ermittlungs-
zu wollen. Nun hatte A. endgültig die Khaled A. ernannte offenbar Be- vermerken und im Haftbefehl: Am
Aufmerksamkeit der Ermittler. Die vollmächtigte, die in seinem Namen 2. Juli 2020 war Amir A. gegen
Sicherheitsbehörden in NRW stuften Bargeld transferieren durften. Er soll 23 Uhr in Wuppertal auf dem Heim-
ihn als islamistischen Gefährder ein. »Er war rund auch seine beiden Söhne beschäftigt weg, als drei Männer auf der Straße
Im Frühjahr 2020 leitete der General- haben, die daheim an der Haustür auf ihn zukamen. Einer hielt ihm eine
bundesanwalt ein Verfahren gegen um die Uhr Bargeld angenommen oder verteilt Pistole an die Stirn. Die Schläger
ihn ein, wegen des Verdachts der unterwegs, haben sollen. A. soll Werbetexte in packten Amir A., er wehrte sich,
Unterstützung einer terroristischen Auftrag gegeben haben, um sie in einer sprühte ihm Pfefferspray ins
Vereinigung im Ausland. Von seinen
machte nur Chatgruppen zu teilen. In einem heißt Gesicht, die anderen prügelten auf
Hawala-Geschäften wussten die Be- einen Tag es, dass man Überweisungen nach ihn ein. Amir A. ging zu Boden, rief
hörden damals noch nichts. in der Woche Syrien, in die Türkei und weltweit an- um Hilfe, Anwohner kamen dazu.
Das Hawala-System basiert vor biete. Man sei bereit, »jeden Betrag« Die Schläger schnappten sich die
allem auf Vertrauen. Dieses aufzu- Pause.« und »alle Mengen« zu erfüllen. »So Tasche und das Telefon ihres Opfers,
bauen war offenbar Teil des Jobs von Ein Ermittler über A. Gott will, stellen unsere Preise alle dann rannten sie davon. Die Anwäl-

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 35


DEUTSCHLAND

wollte. Khaled A. suchte wohl neue Mitarbei-


ter für sein Hawala-Netzwerk, es war wahr-
scheinlich eine Art Bewerbungsgespräch, die
Polizei hörte mit.
Die Männer diskutierten über das Busi-
ness, über Preise, über Khaled A.s Kontakte
zu Auszahlungsbüros in Syrien und der Tür-
kei. Ob A. ein Büro in Istanbul habe, wollte
der Bewerber vom Scheich wissen. »Ist das
dein Ernst?«, fragte Khaled A., »halb Istanbul
gehört mir!« Er schwärmte, dass er 150 Be-
vollmächtigte unter sich habe, außerdem
sieben Buchhalter. Ihn interessierten nur
große Barbeträge, 400 000 Euro, das seien die
Transfers, die er mache. Davon habe er täg-
lich drei bis vier. Kleine Beträge, 30 000 Euro
zum Beispiel, bereiteten ihm Kopfschmerzen.
Vermutlich waren solche Summen über-
trieben, trotzdem führte Khaled A. ein aus-
kömmliches Leben. Er besaß mehrere Autos,

Matthias Schardt / DER SPIEGEL


eine E-Klasse von Mercedes und einen BMW.
Gleichzeitig kassierte er Sozialleistungen vom
Staat, seit 2016 hatte seine Familie insgesamt
mehr als 100 000 Euro bekommen. Solche
Betrügereien gehörten »zum Selbstverständ-
nis des Netzwerks«, schreiben die Ermittler
in den Akten.
te von Amir A. und Adnan A. äußerten sich Es ist eine andere Sache, wenn sich dabei Die nordrhein-westfälische Landesregie-
auf Anfrage nicht dazu. ein Geflecht bildet, in dem sich Menschen rung versucht nun, den Hawaladaren etwas
Die Ermittler gehen derzeit dem Verdacht systematisch außerhalb der Rechtsordnung entgegenzusetzen. Eine Taskforce im Landes-
nach, wonach der ehemalige Fußballprofi bewegen, wenn Selbstjustiz geübt wird, wenn kriminalamt verfolgt die Geldströme, es sind
Deniz Naki in die Attacke verwickelt gewesen nicht ordentliche Gerichte, sondern informel- Spezialistinnen und Spezialisten aus der Poli-
sein könnte. Der Ex-Spieler des FC St. Pauli le Friedensrichter und Schlägertrupps An- zei, den Staatsanwaltschaften und der Steuer-
soll einer der Angreifer gewesen sein. Zu den sprüche durchsetzen. Solche Systeme fordern fahndung. Man habe gemerkt, sagt CDU-In-
Vorwürfen sagen Nakis Verteidiger Mutlu den Staat heraus, ähnlich wie Rockerbanden nenminister Herbert Reul, dass man »an die
Günal und Peter Krieger: »Das ist Unsinn.« und die Mafia. Big Bosse nur mit vereinten Kräften« ran-
Naki steht zurzeit in anderer Sache in Aachen Die Umsätze des Scheichs stiegen Monat komme.
vor Gericht, die Staatsanwaltschaft wirft ihm für Monat, kurz vor seiner Verhaftung dürfte Zuletzt rückten die Einsatzkräfte häufiger
Erpressung, Drogenhandel und gefährliche sein Jahresgewinn bei rund einer halben Mil- zu Großrazzien aus, mit Hunderten Polizis-
Körperverletzung vor. lion Euro gelegen haben. Sein Geschäft tinnen und Polizisten. Sie beschlagnahmten
Ein paar Tage nach dem Überfall zahlte brummte, und irgendwann fühlte er sich of- Bargeld, aber auch Schmuck, Gold- und Silber-
Amir A. seinen Anteil an Khaled A. zurück, fenbar unantastbar. barren. Bei einer Durchsuchung stießen sie auf
doch er ging auch zur Polizei und zeigte die Im Mai 2021 traf er einen Mann, der da- einen begehbaren Tresor. Reul sagt: »Wir ha-
Attacke an. In den Ermittlungsakten finden mals als Paketzusteller für Amazon arbeitete ben mit den Ermittlungen die Büchse der Pan-
sich Vernehmungsprotokolle, die nahelegen, und sich vermutlich etwas dazuverdienen dora geöffnet, aber es lohnt sich, weil wir die-
dass Khaled A.s System nicht nur mit Bargeld se Parallelstrukturen nicht dulden können.«
und Provisionen funktionierte, sondern wohl Im vergangenen November verurteilte das
auch mit Drohungen und Angst. Ein Syrer aus Landgericht Düsseldorf fünf Männer, die über
Mönchengladbach, der für A. als Fahrer arbei- Über die Recherche Hawala-Banking von Duisburg aus mehr als
tete, sagte im Mai 2021 beim Staatsschutz in Es war im vergangenen Oktober, als 1400 170 Millionen Euro transferiert hatten. Der
Düsseldorf gegen seinen Chef aus. Polizistinnen und Polizisten in NRW gegen Chef der Bande soll gut vier Jahre in Haft,
Die anderen aus dem Hawala-Netzwerk, ein Hawala-Netzwerk ausrückten und das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. In ein
sagte der Zeuge, könnten ihm »Schaden zu- Landesinnenminister Herbert Reul den Fall paar Wochen könnte am Landgericht der
fügen«, wenn sie rauskriegten, dass er mit der kurze Zeit später ein »verdammt dickes nächste Prozess beginnen, vier Männer sind
Polizei kooperiere. Was er denn befürchte, Ding« nannte. Doch wer steckte dahinter? angeklagt, wegen Körperverletzung, Erpres-
fragte ihn ein Kriminalhauptkommissar. Der SPIEGEL recherchierte über Monate, sung und Beihilfe zum Hawala-Banking. Sie
Scheich Khaled handle mit »Millionenbeträ- sprach mit Expertinnen und Experten und sollen zu einem von Khaled A.s Schläger-
gen«, antwortete der Fahrer, wenn er etwas konnte schließlich Zehntausende Seiten trupps gehört haben.
gegen ihn sage, gehe er davon aus, dass der sich vertraulicher Ermittlungsunterlagen aus- Auf einem der vielen Handys von A. fan-
rächen werde. Vielleicht gebe er »jemandem werten. Darunter waren Vermerke der Kri- den die Ermittler eine Audionachricht, die
2000 oder 3000 Euro« und lasse ihn »umbrin- minalpolizei, Protokolle abgehörter Telefo- Aufschluss über seine Gedankenwelt gibt.
gen«. Offenbar traute er Khaled A. alles zu. nate, Zeugenaussagen sowie Berichte von Deutschland belaste seine Bürger mit »Steu-
Es ist die eine Sache, wenn ein Flüchtling Observationen. Auffällig war, mit welch ge- ern, Strafen und Bußgeldern«, spricht der
seiner Tante in Syrien über das Hawala-Ban- lassener Selbstverständlichkeit die Hawa- Scheich. Aber es seien auch nur Menschen,
king ein paar Hundert Euro schickt, wenn ladare ihr Geschäft betrieben – und wie sie die solche Gesetze machten. Und deswegen,
Juweliere und Gemüsehändler bei solchen in ihren basarähnlichen Gruppenchats mit so Khaled A., lasse sich jedes Gesetz »ver-
Transaktionen gegen die Paragrafen des Zah- Hunderten Teilnehmern den Überblick über stehen und besiegen«.
lungsdiensteaufsichtsgesetzes verstoßen. gehandelte Gelder behielten. Jörg Diehl, Lukas Eberle n

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DEUTSCHLAND

erreichen? Wenn Energie durch den Angriffs- »Manche Hochschulen sind nach der
krieg Russlands auf die Ukraine immer teurer Coronapandemie noch gar nicht vollständig
wird? Droht Deutschlands Hochschulen nach in den Präsenzbetrieb zurückgekehrt, da spre-
der Coronazeit nun der Energie-Lockdown? chen wir schon wieder über Schließungen«,
Der Erste, der ein solches Szenario ins sagt Lone Grotheer, Vorstandsmitglied des

Frostige Spiel brachte, war Niedersachsens Wissen-


schaftsminister Björn Thümler (CDU): Man
könnte doch die Weihnachtsferien verlän-
Freien Zusammenschlusses von Student*in-
nenschaften. »Das darf nicht wahr sein.«
Während Schulen und Kindergärten längst

Aussichten gern, um Energie zu sparen. Die Universität


in Frankfurt am Main ging noch einen Schritt
weiter. »Eine Schließung der gesamten Uni-
wieder geöffnet waren, blieben viele Hoch-
schulen noch etliche Wochen geschlossen.
Und das, obwohl viele Studierende unter der
versität für mehrere Tage oder Wochen bei Onlinelehre litten und sich zurück in Hörsäle,
UNIVERSITÄTEN Viele Studierende andauernden Energieengpässen ist denkbar«, Labore und Seminarräume sehnten. Ihnen
litten enorm darunter, dass die teilte das Präsidium der »Frankfurter Allge- fehlten die Druckmittel – und eine engagier-
meinen« mit. Eine Umfrage des SPIEGEL in te Lobby, die für ihre Rechte stritt.
Hochschulen während der Pandemie den Bundesländern ergab: Ausschließen Zwar beteuern Wissenschaftsministerien
geschlossen waren. Nun möchte einen solchen Schritt zum jetzigen und Bundesnetzagentur, wie wichtig die Prä-
erwägen manche Bundesländer Zeitpunkt kaum jemand. senzlehre sei. »Ich halte Debatten über Be-
einen Energie-Shutdown. Dabei gelten Hochschulen laut Bundes- schränkungen oder gar Schließungen in keiner
netzagentur sogar als »geschützte Kunden«, Weise für zielführend«, moniert Bayerns
die auch bei Energieknappheit in Betrieb blei- Wissenschaftsminister Markus Blume. »For-
enn es ums Energiesparen geht, ha- ben sollen. Lebensmittelgeschäfte, Kranken- schung und Lehre sind systemrelevant!«
W ben Deutschlands Hochschulen aller-
hand Ideen: Die Technische Univer-
sität Berlin dreht in ihren Gebäuden das
häuser und Altenheime gehören ebenfalls
dazu. Im Falle einer sogenannten Notfallstufe,
die bei akuter Gasknappheit ausgerufen wird,
Doch wie die SPIEGEL -Umfrage ergab,
erwägen auch Hamburg, das Saarland, Baden-
Württemberg und Sachsen-Anhalt verlänger-
Warmwasser ab. An hessischen Hochschulen nützt den Hochschulen dieser Sonderstatus te Weihnachtsferien, um Energie zu sparen.
wird die Raumtemperatur auf 19 Grad ab- allerdings wenig, wie die Bundesnetzagentur Berlin, Thüringen und Brandenburg über-
gesenkt. Kassel schaltet die Außenbeleuch- auf Anfrage des SPIEGEL klarstellte: In der lassen die Entscheidung den einzelnen Hoch-
tung nachts früher aus. Nordrhein-Westfalens Notfallstufe sei das Hauptkriterium »die De- schulen. Im rheinland-pfälzischen Wissen-
Studierendenwerke schränken das Angebot ckung des lebenswichtigen Bedarfs. Das be- schaftsministerium heißt es: Um eine Gasnot-
in den Uni-Mensen ein. Und am Karlsruher deutet, dass in diesem Fall auch die geschütz- lage abzuwenden, sei »als letzte Maßnahme
Institut für Technologie berechnen Wissen- ten Kundengruppen nicht ›absolut‹ geschützt eine weitgehende Umstellung auf Onlinelehre
schaftler derzeit, mit wie viel weniger Strom sind«. In einer gemeinsamen Erklärung mit nicht auszuschließen«. Auch Thüringens Wis-
ein Teilchenbeschleuniger auskommen kann. der Kultusministerkonferenz appellierte senschaftsstaatssekretär Carsten Feller (SPD)
Die Bundesländer haben ihren Hochschu- Netzagentur-Chef Klaus Müller an die Hoch- hält eine Einschränkung des Lehr- und For-
len wegen der erwarteten Gasknappheit im schulen, ihren »Beitrag zu leisten« und die schungsbetriebs für denkbar. Die Umstellung
Herbst und Winter teils ehrgeizige Energie- Einsparbemühungen zu intensivieren. auf Onlinebetrieb werde von den Hochschu-
sparziele vorgegeben. Rheinland-Pfalz und Viele Studierende fürchten nun, dass ihnen len aber als »Ultima Ratio« gesehen, heißt es
Bayern erwarten Einsparungen von 15 Pro- nach zweieinhalb Jahren Corona wieder ein aus dem Ministerium.
zent, die Hochschulen in Baden-Württemberg harter Winter bevorsteht. Denn selbst wenn Einzig die Hamburger Wissenschaftssena-
sollen künftig sogar ein Fünftel weniger Ener- die Universitäten geöffnet bleiben, sind die torin Katharina Fegebank (Grüne) legte sich
gie verbrauchen. Aussichten eher frostig: Frieren im Hörsaal – fest, dass mehr als verlängerte Weihnachts-
Doch was passiert, wenn die Universitäten oder aber am eigenen Schreibtisch, weil die ferien nicht zu machen seien: »Wegen der
trotz aller Anstrengungen ihre Sparziele nicht Heizkosten kaum noch zu bezahlen sind. Energiekrise wird es in Hamburg keine ver-
stärkte digitale Lehre geben.«
Unter den Studierenden sorgt die erneute
Unsicherheit für Unruhe. Viele litten noch
immer unter den Folgen der Corona-Isolation,
sagt Studierendenvertreterin Grotheer. Bei
den psychologischen Beratungsstellen der
Hochschulen in Schleswig-Holstein etwa war-
teten Betroffene mitunter bis zu 21 Wochen
auf einen Termin.
»Wir können es uns angesichts des Fach-
kräftemangels nicht leisten, eine weitere Stu-
dierendengeneration ausschließlich online
zu unterrichten«, heißt es aus der Senatsver-
waltung für Wissenschaft in Berlin. Man ver-
Rolf Vennenbernd / picture alliance / dpa

liere »viele Talente, die aufgeben, weil sie


nicht ins Studium hineinfinden oder unter
enormen psychischen Herausforderungen
studieren«.
»Ich kenne Studierende, die vor ihrem Ab-
schluss stehen und kein richtiges Campus-
leben kennen«, sagt Grotheer. Ein weiterer
Lockdown würde die Hoffnung auf ein biss-
chen Normalität endgültig zunichtemachen.
Studierende in Köln: Hoffnung auf ein bisschen Normalität Miriam Olbrisch n

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DEUTSCHLAND

Der östliche Makel


KARRIEREN Der Ostbeauftragte Carsten Schneider hat einen der schwierigsten Jobs in der Bundesregierung.
Mehr als drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung will er den Ostdeutschen das Gefühl
nehmen, sie seien Bürger zweiter Klasse. Dabei kennt er es selbst gut genug. Von Markus Feldenkirchen

ie Besucherin ist schnell auf


D 180. Sie beobachte, dass es
drüben im Westen noch immer
starke Ressentiments gegen sie als
Ostdeutsche gebe, sagt Frau Lunders-
hausen. Ständig höre sie Sprüche wie:
»Das können Sie nicht verstehen bei
Ihrer Sozialisation.« Oder: »Das ver-
stehen Sie nicht. Das ist in der Demo-
kratie nun mal so.«
»Das ist doch schrecklich«, sagt
Lundershausen. »So überheblich. So
herablassend!«
Ellen Lundershausen hat sich
einen Termin im Erfurter Wahlkreis-
büro von Carsten Schneider geben
lassen, dem neuen Ostbeauftragten
der Bundesregierung. Lundershausen
ist HNO-Ärztin und Vizepräsidentin
der Bundesärztekammer. Eine reso-
lute, elegant gekleidete Frau, die mit
ihren 71 Jahren dynamischer wirkt als
viele 30-Jährige.
Schneider sitzt ihr gegenüber, die
Hand nachdenklich am Kinn, die
Brust nach vorn gebeugt. Er kennt
das alles selbst, die Herablassung, das
Unverständnis. Er ist ja einer von
16 Millionen Ostdeutschen.
Frau Lundershausen ist noch nicht
fertig. »Es ist aber auch unsere eigene
Schuld. Wir sind zu zurückhaltend
gewesen. Wir haben uns hier im Os-
ten nicht genug zugetraut.«
All die schönen neuen Führungs-
positionen in den neuen Ländern
wurden nach der Wende fast aus-
schließlich mit Westdeutschen be-
setzt: an den Hochschulen, in der
Verwaltung, der Politik, der Justiz,
im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Und das nicht immer mit den hellsten
Köpfen.
»Das ist einfach nur traurig«, sagt
Lundershausen.
Andreas Chudowski / DER SPIEGEL

Vielleicht denkt Schneider in die-


sem Moment zumindest kurz an den
vergangenen Herbst. Da wollte er
unbedingt Bundesminister werden –
und wurde Ostbeauftragter.
Zu seiner Jobbeschreibung gehört
es jetzt, überall auch das Positive zu
sehen. Sie habe es doch immerhin zur Politiker Schneider in Rostock-Lichtenhagen: »Das fand ich so schlimm, so peinlich, so übel«

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DEUTSCHLAND

stellvertretenden Präsidentin der Bundesärz­ gen Büro im Kanzleramt. Beides stehe für schaftsbund, weil man so alle acht Jahre einen
tekammer gebracht, sagt er zu Frau Lunders­ einen Mangel an Respekt. »Das ist meine Dia­ Urlaubsplatz im Ferienheim bekam. Man
hausen. gnose.« habe viel Westfernsehen geguckt, aktiv
»Ja«, sagt Lundershausen. »Ich bin die Sie ist hart, illusionslos. Aber Schneider Widerstand leisteten seine Eltern allerdings
Quotenfrau aus dem Osten.« neigt weder zum Drama noch zur Übertrei­ nicht.
Sie tut sich ein bisschen schwerer damit, bung, also muss etwas dran sein. Aber ist das nicht auch schon wieder so ein
das Positive zu sehen. So geht es vielen im An einem heißen Junitag besucht er die Westurteil?
Osten, auch das kennt Schneider aus seinen Gedenkstätte Hohenschönhausen, das alte Welche Risiken seine Mutter und all die
Gesprächen. Stasi­Gefängnis. Nebenan hätten Gefangene anderen damals auf sich genommen hätten,
Als Ostbeauftragter hat Carsten Schneider die Autos des Ministerrats gewartet, erklärt da würden sich insbesondere viele Westdeut­
eines der kniffligsten, vielleicht undankbars­ der Leiter der Gedenkstätte zur Begrüßung. sche leider nicht richtig reinversetzen, sagt
ten Ämter bekommen, die es in der deutschen »Wolga«, sagt Schneider. Er meint die Schneider. Alle Sicherheit aufgeben! Die eige­
Politik gibt. Mehr als drei Jahrzehnte nach sowjetische Automarke, den Benz des Os­ ne Familie riskieren!
der Wiedervereinigung wirkt das Land zer­ tens. Die Frage ist, wie sehr man sich da über­
rissener denn je. Die Landschaften kamen nie »Wolga«, bestätigt der Leiter. haupt reinversetzen kann, wenn man nicht
so richtig ins Blühen, dafür florieren nach wie dabei war. Ob nicht eine gewisse Lücke, ein
vor Ressentiments und Vorurteile. Als die Mauer gefallen war, Anfang 1990, war kleiner Graben des Unverständnisses immer
Im Osten fühlen sich viele noch immer wie Schneider 14 Jahre alt. Er hatte gerade das bleiben wird.
Bürger zweiter Klasse. Sie klagen über blaue Hemd der FDJ überstreifen dürfen, im Ein paar Wochen später. Nach einem Ter­
schlechtere Löhne, niedrigere Renten, viel letzten Jahrgang der Freien Deutschen Ju­ min in einem Erfurter Jugendzentrum möch­
geringere Vermögen, sie wundern sich, wa­ gend. Damals war er glücklich über das Hemd te Schneider ein wenig spazieren, hoch auf
rum auch im Jahr 2022 die meisten Führungs­ – weil es allen zeigte, dass er bereits in die den Herrenberg, ein Plattenbaugebiet im Sü­
positionen im Osten von Wessis besetzt sind. achte Klasse ging, obwohl er jünger aussah. den der Stadt. Hier ist er aufgewachsen. In
Und arrogant, so empfinden es viele, sind sie Schneider hatte offenbar schon damals einen den Achtzigerjahren hatte seine Mutter, eine
im Westen auch noch. Hang zum Pragmatismus. gelernte Milchwirtschaftsingenieurin, extra
Im Westen schütteln dagegen viele den Sie steigen hinab in den Keller, ins Reich den Arbeitgeber gewechselt, vom Milchhof
Kopf über die undankbaren Schwestern und der DDR­Finsternis, bald stehen sie vor einer Erfurt zum VEB Kombinat Mikroelektronik,
Brüder aus dem Osten, die chronisch schlecht fensterlosen Minizelle, die Wände sind mit weil sie dadurch eine Wohnung im beliebten
gelaunt wirken und ständig auf die Straße Leder gepolstert. »Beruhigungszelle« nannte Neubaugebiet Herrenberg bekam.
gehen: gegen Flüchtlinge, Coronamaßnahmen man das, aber es ging nicht um Beruhigung. Heute wirkt die einstige Vorzeigesiedlung
oder Gasumlagen. Die gern AfD wählen und Hier wurden oft schreiende Gefangene ihrer in die Jahre gekommen. Zwischen den Beton­
eine seltsame Nähe zu Russland haben, selbst Panik überlassen, meist in Zwangsjacke. kolossen verlaufen löchrige Asphaltstraßen
jetzt noch, da die russische Armee in der Vor der Zelle erklärt der Gedenkstätten­ und wilde Rasenflächen. Schneider, der sonst
Ukraine wütet. Man versteht einander immer leiter, welche Personengruppen hier zu DDR­ extrem kontrolliert wirkt, blüht auf.
weniger, so wirkt es. Zeiten inhaftiert wurden. Regimegegner, so­ Er zeigt auf dieses Gebäude, dann auf je­
Mittendrin in diesem verkorksten Bezie­ genannte Asoziale, Ausreisewillige. nes, erklärt die Unterschiede der einzelnen
hungsgeflecht befindet sich nun Schneider, »Ausreisewillige auch?« Schneider merkt Plattenbauweisen, den Vorteil des »Punkt­
46 Jahre alt, geboren und aufgewachsen in auf, er wirkt überrascht. hochhauses« gegenüber der »Wohnschnecke«,
einer Erfurter Plattenbausiedlung, die ihm Ja, bestätigt der Leiter. Mit DDR­Bürgern, deutet auf die Garagenreihe am Fuß des
heute noch das Herz öffnet, wenn er hin­ die ihre Ausreise in den Westen beantragt Bergs. »Des kleinen Menschen Glück.« Weil
durchspaziert. Ein eher stiller, fast schüchter­ hatten, habe theoretisch alles geschehen kön­ die Trabis etwas so Besonderes waren, dass
ner Charakter, zweieinhalb Jahrzehnte Be­ nen: Haft und Folter. Oder gar nichts. Diese sie gepflegt und gehütet wurden.
rufspolitik haben ihn weder laut noch breit­ Ungewissheit sei Ausdruck der Willkür ge­ »Da vorne war der Herrenbergkrug«, sagt
beinig werden lassen. Vielleicht ist das nicht wesen, des Unrechtsstaates. Schneider. Er zeigt auf eines der Punkthoch­
die schlechteste Voraussetzung für seinen Später, in der winzigen Freigangzelle, aus häuser. »Ob’s den noch gibt?«
neuen Job. der man nur einen Fitzel vom Himmel sehen Er läuft auf die Fensterfront zu, hinter der
Als Schneider 1998 im Alter von 22 Jahren kann, erzählt Schneider, dass seine damals früher die »Wohngebietsgaststätte« war,
zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag alleinerziehende Mutter in den Achtziger­ die Tür ist verrammelt. Er läuft weiter, die
einzieht, der damals noch in Bonn sitzt, ist er jahren einen Ausreiseantrag gestellt habe. Für Fensterfront entlang, presst den Kopf an die
der jüngste Abgeordnete aller Zeiten. Maxi­ sich und ihren Sohn. schmutzigen Scheiben auf der Suche nach
mal 12 Jahre wolle er im Parlament bleiben, Sie habe sich auch eine weiße Schleife an einem Überbleibsel seiner Jugend. »Da ha­
erklärt er damals – sonst drohe man zu »ver­ die Antenne des Trabi gebunden, ein Zeichen ben wir immer gesessen.« Er zeigt auf eine
blöden«. Inzwischen sind es schon 24. des Widerstands und des Protests gegen das Ecke. Sonntags. Nicht oft, dafür war es zu
All die Jahre galt der Bankkaufmann Regime. Auch um sich selbst klar zu machen: teuer. »Das war ’ne ganz große Sache da­
Schneider als gewissenhafter und fleißiger Ich habe hiermit abgeschlossen. mals.«
Abgeordneter, er saß im Haushaltsausschuss, Seine Eltern waren keine SED­Mitglieder, Er habe sich hier wohlgefühlt, sagt er. Die
war Geschäftsführer der SPD­Fraktion. Er sie waren nur im Freien Deutschen Gewerk­ Kindheit und Jugend ist für die meisten Men­
war vor allem auf Zahlen fixiert, ein Kopf­ schen die schönste, leichteste Zeit des Lebens,
politiker. Bei seiner neuen Aufgabe aber geht das galt auch in der DDR, unter Aufsicht einer
es nicht nur um Zahlen, es geht jetzt auch um Diktatur. Es hat nicht zwingend mit Nostalgie
Gefühle und Enttäuschungen. Um den Bauch zu tun, wenn sich Ostdeutsche gern an früher
der Nation. »Das Desinteresse erinnern.
Wie also steht es um West und Ost, um das Zu Schneiders frühen Erinnerungen ge­
Verhältnis zueinander?
am und die Unkenntnis hören auch die Russen. Er hat seine eigene
»Das Desinteresse am und die Unkenntnis über den Osten ist Theorie, warum viele Ostdeutsche heute
über den Osten ist im Westen noch nie so groß gegen Waffenlieferungen an die Ukraine sind,
gewesen wie heute«, sagt Schneider bei einem
noch nie so groß gewesen warum sie eine Eskalation mit Russland be­
Treffen in seinem ebenso schicken wie riesi­ wie heute.« sonders fürchten – wofür sie wiederum von

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DEUTSCHLAND

die Leute mit Baseballschlägern und Bomber-


jacken rumgelaufen«. Dort drüben seien die
Linken gewesen. Er zeigt auf andere Platten-
bauten.
Er selbst war bei den Linken, obwohl er
im Viertel der Rechten wohnte. Er ging auf
Demonstrationen, trug lange, rot gefärbte
Haare, blaue Bomberjacke mit Ska-Aufnäher.
»Und irgendwas Antifaschistisches, was eben
Jugendkultur damals war.«
In Erfurt habe es schon in den Neunzigern
eine starke Antifa gegeben, eine sichtbare
Gegenbewegung. In anderen Ecken Ost-
deutschlands, vor allem in kleineren Städten,
in denen es keine nennenswerte Gegenbewe-
gung gab, haben die Rechten bis heute die

Stefan Boness / DER SPIEGEL


Oberhand.
Noch mal zurück in Schneiders Erfurter
Büro, zu Ellen Lundershausen, der resoluten
HNO-Ärztin. Sie redet mittlerweile über die
Medizinstudierenden an ostdeutschen Uni-
versitäten. Von denen gingen nach dem Ab-
schluss fast alle nach drüben, in den Westen.
Ostbeauftragter Schneider: Eines der undankbarsten Ämter in der deutschen Politik
Von den Absolventen in Jena zum Beispiel
vielen im Westen als Russlandverklärer ge- Halbkreis verläuft: fegen. Viele seien zu ab- blieben nur 16 Prozent in Thüringen.
schmäht werden. solut entwürdigenden Arbeitsbeschaffungs- »Warum machen alle rüber?«, fragt Lun-
Mit den sowjetischen Soldaten habe man maßnahmen genötigt worden. dershausen. »Warum?« Warum arbeiteten sie
damals Tauschgeschäfte gemacht, sagt Schnei- Die Zeit nach der Wiedervereinigung, nicht in Suhl oder Sonneberg in Thüringen,
der. »Wir haben Diesel bekommen, die glaubt Schneider, sei für die Entwicklung warum lieber in Coburg in Bayern?
Wurst.« Ein Liebesverhältnis, wie es die West- eines ostdeutschen Bewusstseins viel ent- »Wo ist der Unterschied? Ist doch überall
deutschen mit den amerikanischen Besatzern scheidender gewesen als die 40 Jahre davor. Wald! Das muss doch Gründe haben!«
gepflegt hätten, sei das nicht gewesen. Gera- Das Prägende sei die Erfahrung von Unsicher- Es gebe einfach einen großen Mangel an
de die DDR-Bürger hätten ihre ganz eigenen heit, Entwertung, Arbeitslosigkeit, auch von Nachwuchskräften, sagt Schneider. Das tref-
Erfahrungen mit russischen Soldaten ge- Angst gewesen. Man müsse das miterlebt fe nun offenbar auch die Ärzteschaft.
macht. 1953, bei der blutigen Niederschlagung haben, sonst könne man keine wirkliche Em- Schneider kann den Osten gut erklären,
des Aufstands vom 17. Juni. Oder 1968, die pathie für Ostdeutschland entwickeln. aber wenn es um Lösungen geht, um spezi-
Panzer in Prag. Bei vielen Ostdeutschen sei Schon mit 14 Jahren ist Schneider mehr fische Probleme, hat er einen latenten Hang
damals hängen geblieben: Gegen die gewinnst oder weniger auf sich allein gestellt. Allein zu zum Generalisieren.
du nicht. Um zu überleben, musst du dich Haus, widmet er sich den Spielen auf dem Nee, widerspricht Frau Lundershausen. Es
irgendwie mit denen arrangieren. neu erworbenen C64-Computer, verfällt gebe jährlich 40 000 Bewerber für ein Medi-
»Dass man sie kennt, heißt nicht, dass man dem »Konsumrausch«, wie er selbst im Rück- zinstudium – und nur 9000 Studienplätze.
sie mag«, sagt Schneider. blick sagt. Zum Übernachten geht er zu den Man habe kein generelles Nachwuchsproblem.
Was er selbst erinnert: dass viele sowje- Großeltern. »Das ist ein spezielles Ostproblem.« Die Infra-
tische Soldaten damals ausgemergelt gewe- struktur müsse besser werden. Man brauche
sen seien, arme Schweine, die von ihrer eige- Im August 1992 brennt das Wohnheim von mehr mittelständische Betriebe, mehr Indus-
nen Führung gedemütigt und brutal behandelt Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen. trie, damit es auch für die Lebenspartner
wurden. Vermutlich sei das heute noch so. Schneider sieht die Bilder der lodernden Häu- attraktiv sei, im Osten zu leben. »Wir brau-
So erkläre er sich auch Gräueltaten wie in ser, angezündet von Landsleuten, beklatscht chen Klebeeffekte, damit die hier bleiben.«
Butscha in der Ukraine. von Landsleuten, sieht den Hitlergruß-Mann Den Studierenden würden sogar dreitägi-
Kurz nach der Wende war der behütete mit eingenässter Jogginghose und Deutsch- ge Seminare angeboten, Tenor: »Guckt mal,
Teil der Jugend bald vorbei. Schneiders Mut- landtrikot in der Zeitung. »Das fand ich so wie schön unser Thüringen ist!« Aber nach
ter und sein Stiefvater, ein gelernter Gießer, schlimm, so peinlich, so übel«, sagt Schneider. dem Studium seien sie trotzdem weg.
verloren 1990 ihren Job. Um arbeiten zu kön- Die Schande von Lichtenhagen wird für ihn »Da denk ich mir: Was machen wir da
nen, gingen sie in den Westen, nach Kassel. zum Schlüsselerlebnis, sie reißt ihn aus seiner eigentlich?«
Vor allem Schneiders Stiefvater musste sich Nachwende-Agonie. Sie politisiert ihn. »Hm«, sagt Schneider. Das liege doch si-
ganz unten einreihen, verdiente deutlich we- »Die Typen gab’s ja auch bei uns im Vier- cher am Geld. Er meint die Bezahlung.
niger als die nicht besser qualifizierten Kol- tel«, erklärt er beim Spaziergang über den »Nein«, widerspricht Frau Lundershausen
legen aus dem Westen. »Das hat den ganz Erfurter Herrenberg. Wo man gerade lang- erneut. Das Geld spiele keine Rolle, der Tarif-
schön getroffen«, sagt Schneider. laufe, sei das Faschogebiet gewesen, »da sind vertrag des Marburger Bunds sei überall
Die DDR war eine Arbeiter- und Inge- gleich.
nieurgesellschaft. Die Menschen hatten ge- »Aber vielleicht daran, dass es im Osten
lernt, dass mit der Arbeit auch der Respekt weniger Privatpatienten gibt?« Schneider gibt
kommt. Nach der Wende wurden viele plötz- noch nicht auf.
lich gar nicht mehr gebraucht. Es fehlte nicht Prägend nach der Wende Nein, mit den Privatpatienten habe es auch
nur die Arbeit, es fehlte auch der Respekt. war die Erfahrung von nichts zu tun. Die Quote sei im Westen nicht
Schneider erinnert sich an einen Begriff, viel höher. Es liege an etwas anderem. »Ich ken-
der damals die Runde machte: Halbkreis-
Unsicherheit, Entwertung, ne Leute, die werden hier Chefarzt, lassen ihre
ingenieure. Er macht eine Bewegung, die im Arbeitslosigkeit und Angst. Familie aber in Bad Hersfeld zurück. Man geht

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DEUTSCHLAND

einfach nicht in den Osten! Es hat so nenstadt. »Ach, ich mag diese Stadt komisch.« Viele Entscheider rekru­
einen …«, sie sucht das treffende Wort, gern.« Wenn er das höre, dass Leute Go East tierten nach Gemeinsamkeiten, sagt
»… so ’nen komischen Beigeschmack. nach dem Studium lieber woanders­ Schneider. »Wir sind denen einfach
Es gibt offenbar einen Makel.« hin wollten, frage er sich immer: Wanderungen fremd.«
zwischen dem
Hm, sagt Schneider. Sein Blick »Warum? Es gibt doch kaum eine bes­ früheren Bundes- Dabei glaubt er, dass Menschen
wirkt jetzt etwas ratlos. Dagegen lässt sere Stadt zum Leben als diese hier.« gebiet und den neuen wie er und seine Eltern, die sich von
sich auch mit Förderprogrammen we­ Das verstehe er nicht. »Das ist für Ländern, in Tausend* heute auf morgen in einer komplett
nig ausrichten. mich wie ’ne fremde Welt, dass Leu­ nach West anderen Welt zurechtfinden mussten,
»Ihr Befund erschüttert mich so ’n te hier nicht leben wollen.« Das Ge­ für diese unsicheren Zeiten ganz gut
nach Ost
bisschen, ehrlicherweise«, sagt er. spräch mit Frau Lundershausen hallt geeignet wären.
»Ja, mich auch«, sagt die Ärztin. noch nach. 250 Im vergangenen Herbst wollte
»Deshalb bin ich ja hier. Weil Sie sich Schneider ins Kabinett, als Verteidi­
um den Osten kümmern müssen, Sie Auf die Frage, ob er Bundesfinanz­ 200
gungsminister, sein Name wurde öf­
Armer!« minister werden wolle, hat Schneider fentlich gehandelt. »Nach den vielen
Schneider nickt, dann lässt er die vor Jahren mal leicht resigniert ge­ Jahren hatte ich schon gedacht: Nun
Gelenke seiner Finger knacken. sagt, solche Posten würden nach poli­ 150 ja, hätte schon sein können«, sagt er.
Wenn der Makel jetzt noch be­ tischem Gewicht vergeben. Was er Jedenfalls hätte er nicht Nein gesagt.
steht, nach über drei Jahrzehnten – damit meinte? Dass es darauf ankom­ 100 »Du kannst als Ossi nicht immer nur
wird er dann je verschwinden? me, was man so auf die politische den Kopf einziehen.«
Neulich war Schneider in Schwedt, Waagschale bringe: einen Landesvor­ Er versuchte alles, mobilisierte,
50
wo Öl aus Russland in der örtlichen sitz – und wenn, von welchem Lan­ was er mobilisieren konnte. Tat­
Raffinerie verarbeitet wird, bald aber desverband? Oder gar einen Minister­ sächlich schlugen ihn alle ostdeut­
nicht mehr, weshalb der Standort präsidentenposten? 0 schen SPD­Landesverbände für einen
gefährdet ist. In Schwedt bekam er »Da, würde ich sagen, bin ich drei 1991 2006 2021 Ministerposten vor. Es reichte nicht.
ungefilterte Wut zu spüren. Die Men­ Ligen drunter«, sagt Schneider. Er ist * ohne Berlin Warum nicht?
schen seien »in so einer Gnatz­ weder Landesvorsitzender noch Mi­ S Quelle: Destatis Schneider schaut aus dem Fenster,
haltung« gewesen, sagt er. Gnatzig nisterpräsident. Und dann stammt er atmet tief ein und tief aus. Es habe zu
bedeutet: mürrisch, übel gelaunt, ver­ auch noch aus dem Osten. der Zeit eben näherliegende, schein­
drossen. »Wir haben eine westdeutsche Eli­ bar attraktivere Optionen gegeben als
Schneider macht den Begriff auf tenrekrutierung«, hat er neulich beim ihn. Wieder Atmen.
der Rückbank seines Dienstwagens Tag der offenen Tür im Kanzleramt »Na ja, is halt so. Aber im Nach­
vor, trotzige Hmpf­Laute, wippender geklagt. »Es funktionieren unbewusst hinein ist es gut so, wie es jetzt ist.«
Kopf, beleidigte Miene. »Ich hätt Netzwerke, weil die Leute sich nach Er sei nun so ein Zwischending zwi­
es lieber nicht in so ’ner Gnatzhal­ Ähnlichkeit einstellen. Wenn man wie schen Staatssekretär und Minister ge­
tung, sondern in einer produktiven ich an der polytechnischen Oberschu­ Schüler Schneider in worden. Und es gebe keinen Minister,
seinem Erfurter
Haltung.« le Augusto Cesar Sandino seinen Kinderzimmer 1987:
der so viel Freiräume habe wie er –
Er blickt aus dem Fenster, seine Unterricht und Russisch als Fremd­ Mit 14 Jahren auf ohne dass er die ganze Verantwortung
Limousine rollt durch die Erfurter In­ sprache hatte, dann wirkt das erst mal sich allein gestellt eines Ministers tragen müsse. »Diesen
Spielraum versuche ich zu nutzen. Ich
bin viel unterwegs.«
Weil Schneider nicht Minister wer­
den durfte, musste eine Art Trost­
pflaster für ihn gefunden werden: ein
aufgewerteter Ostbeauftragter, ange­
siedelt im Kanzleramt, das war in den
Jahren zuvor anders. Er kann jetzt
die geliehene Autorität des Kanzlers
nutzen, auch mal Einfluss auf Ent­
scheidungen nehmen, noch bevor sie
getroffen werden. Immerhin.
Schneiders Wagen steuert am Er­
furter Domplatz vorbei. Unweit des
Platzes gibt es eine Anhöhe, auf der
auch ein paar Rebstöcke stehen.
Schneider deutet aus dem Fenster. Es
sei eine Art Miniweinberg. Tatsäch­
lich werde in Erfurt an mehreren
Orten Wein hergestellt. Einer habe
einen ganz besonderen Namen.
»Wollen Sie wissen, wie der
heißt?«
Schneider blickt einen erwartungs­
voll an.
»Affenschweiß!«
Schneider lacht, es bricht aus ihm
heraus, er schüttelt sich.
»So viel zum ostdeutschen Mar­
privat

ketingtalent.« n

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DEUTSCHLAND

»Wer Geld braucht, findet mich«


SCHICKSALE Schmuck, Autos, Handys, Kinderspielzeug: Dem Pfandleiher übergeben die Menschen manchmal
das Letzte, was sie noch haben. Das Geschäft war früher verrufen – und floriert jetzt in der Krise.

ie ältere Frau, die ihre Armbanduhr als Altenpflegerin Bianca geht es ähnlich. Der mit seinem Pfand, nicht mit seinem privaten
D Pfand anbietet, schaut hoffnungsvoll
und ängstlich zugleich. »Wie viel?«,
fragt sie ungeduldig. Der Experte hinter der
Ring, den sie gerade gegen 120 Euro verpfän­
det hat, war ihr letztes Erbstück, die einzig
verbliebene Erinnerung an die verstorbene
Vermögen. Selbst ein negativer Schufa­Ein­
trag sei kein Hindernis. Schedl sieht die
Pfandhäuser als schnelle Finanzierungsgele­
Panzerglasscheibe guckt die Uhr kurz an, Großmutter, so erzählt sie. »Eigentlich hatte genheit nicht nur für Arme, sondern für An­
schüttelt den Kopf. »Mehr als 20 Euro kann ich nur mit 80 Euro gerechnet.« Nun habe sie gehörige aller Schichten. Die Pfandhäuser
ich Ihnen nicht geben«, sagt er, »tut mir leid.« eine Chance, zumindest diesen Monat schul­ hätten, so sagt er, »eine soziale Funktion«.
Die Frau ist den Tränen nahe, versucht es denfrei zu überstehen. »Stand heute habe Die Bedingungen sind gesetzlich geregelt,
noch einmal: »Nicht wenigstens 30 Euro?« ich alle Rechnungen bezahlt.« Und bis zum Schedl kann sie auswendig hersagen. Jeder
Die Antwort: »Null Chance, leider.« Monatsende in dreieinhalb Wochen seien Kredit wird mit einem Prozent pro Monat
»Keinem, der zu uns kommt, geht es gut«, 282 Euro übrig, »für drei Leute«. verzinst. Die übliche Laufzeit beträgt drei
sagt Benjamin Huber, »aber ohne uns ginge Menschen wie die Rentnerin und die Al­ Monate, kann jedoch auf Wunsch des Kunden
es manchen Leuten noch schlechter.« Der tenpflegerin haben nicht viel, wurstelten sich verlängert werden. Hinzu kommen monat­
schlanke junge Mann mit dem akkuraten bisher jedoch irgendwie durch. Das wird im­ liche Gebühren von 2,5 Prozent, bei Darlehen
Scheitel ist Filialleiter im Pfandleihhaus Ex­ mer schwieriger. Lebensmittel, Mieten, Hei­ über 300 Euro können die Nebenkosten frei
change, einem knallgelb ausgeschilderten zung – alles wird teurer. Und deshalb tragen ausgehandelt werden.
Laden am Hamburger Steindamm, mitten im manche, die das zuvor für undenkbar gehal­ Wird ein Pfand nicht abgeholt, kann
Bahnhofsviertel. Über dem Eingang wirbt ten hätten, jetzt ihre letzten Wertsachen ins es versteigert werden, frühestens nach vier
eine Tafel: »Einfach, schnell, liquide«. Leihhaus. Monaten. Mehrerlöse bei Versteigerungen
Die Gegensätze könnten kaum größer sein. »Unser Geschäft hat spürbar angezogen«, stehen dem Eigentümer zu. Wenn der nicht
Drinnen glitzern Vitrinen mit Schmuck in al­ berichtet Wolfgang Schedl, Geschäftsführer mehr ermittelt werden kann, fällt das Geld
len Preislagen, es wird meist nur leise gespro­ des Zentralverbands des Deutschen Pfand­ an den Staat. »Viele denken, wir machen
chen. Draußen tobt das Leben. Hier treffen kreditgewerbes. Dem Verband gehören rund Gewinn, wenn ein Pfand nicht abgeholt
Menschen verschiedenster Herkunft auf­ 150 privat geführte Leihhäuser mit 250 Filia­ wird«, sagt der Verbandschef. Das sei falsch.
einander. Fahrer von Lieferwagen streiten len an. Nur die Stadt Mannheim betreibt »Für uns ist es am lukrativsten, wenn die Kun­
sich um Parkplätze, es wird gehupt und ge­ das Geschäft auf eigene Rechnung, dort gibt den ihr Pfand einlösen.« Genau dies gesche­
schrien. Wer das Pfandhaus betritt, fällt nie­ es das Städtische Leihamt. Seit 2015 ist der he in rund 95 Prozent aller Fälle.
mandem auf – und das ist wichtig. Nettoumsatz der deutschen Leihhäuser kon­ Bei Exchange am Hamburger Steindamm
»Ohne Diskretion läuft nichts«, sagt der tinuierlich angestiegen, 2020 betrug er mehr werden nur Edelmetalle beliehen. Allerdings
Filialleiter. Für die Kundschaft stehen zwei als 108 Millionen Euro. ausschließlich der reine Materialwert; hand­
separate Kabinen bereit. Die Rentnerin, Verbandsboss Schedl entstammt einer werkliche Kunst, etwa bei fein ziseliertem
die mit ihrem achtjährigen Enkel in eine Pfandleiherfamilie, seine Frau und seine Geschmeide, zählt nicht. Und ein Abschlag,
Kabine schlüpft, hat sich mehrmals umge­ Tochter führen in Stuttgart ein Geschäft in rund 20 Prozent des Wertes, ist üblich. »Oft
dreht, doch hier kennt sie keiner. Sie besitzt der fünften und sechsten Generation, gegrün­ sind die Preisvorstellungen völlig utopisch«,
nicht genug Geld, um ihre goldenen Ohrrin­ det von Schedls Ururgroßvater im Jahr 1822. sagt Exchange­Schmuckexpertin Susanne
ge auszulösen. Für die hat sie vor ein paar »Bei uns kriegt jeder einen Kredit«, sagt er, Jahnke: »Wenn ein Ring mal 5000 Euro ge­
Monaten 400 Euro erhalten, heute wollte sie »unabhängig vom sozialen Status.« kostet hat und dann nur 1500 Euro rüber­
den Schmuck eigentlich zurückholen. Aber Die Bonität werde nicht penibel geprüft kommen, ist die Enttäuschung riesig.«
sie konnte gerade mal ein paar Euro für die wie bei der Bank, auch haftet der Kunde nur Jahnke berichtet, dass sie öfter in einen
Zinsen zusammenkratzen, damit das Pfand Zwiespalt komme. Einerseits muss sie ge­
nicht verfällt. »Mehr ging beim besten Willen winnorientiert wirtschaften, klar. Anderer­
nicht«, sagt sie. Verpfändet seits versuche sie, in Not geratenen Men­
Sie habe zwei Berufe erlernt, sei Kranken­ schen, die ihre Stromrechnung oder ihre Ein­
schwester und Tischlergesellin. Weil sie meh­ Nettoumsatz von Leihhäusern in Deutschland, käufe nicht bezahlen können, zu helfen. »Da
in Millionen Euro
rere Kinder bekommen habe und viele Jahre 108 109 wird gezetert, geschimpft, um fünf oder zehn
aussetzen musste, sei ihre Rente niedrig und Euro gefeilscht«, sagt sie, »manche Leute sind
werde vom Staat aufgestockt. Um über die 79 völlig verzweifelt.« Oft sei sie auch als Psy­
Runden zu kommen, arbeite sie regelmäßig 70 71 chologin gefragt, werde die Kabine zu einer
für einen Festivalveranstalter, baue Kulissen 52 Art Beichtstuhl.
bei Freiluftkonzerten auf und ab. Der höhe­ »Viele Kunden gehen einem unter die
re Krankenkassenbeitrag, die kaputte Wasch­ Haut, so oder so«, sagt die Kollegin Tanja
maschine – das habe sie ins Pfandhaus ge­ Stadus. Bei einigen freue man sich, wenn man
führt, zum ersten Mal. Ein zweites Mal wer­ sie wiedersehe, auch wenn die Freude wo­
de es nicht geben. »Die Ohrringe waren mein 2015 2016 2017 2018 2019 2020 möglich einseitig sei. Bei anderen wisse man
einziger wertvoller Schmuck«, sagt sie. S Quelle: Destatis gleich, dass Stress droht: »Die lassen den Frust

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DEUTSCHLAND

über ihre Lage an uns aus.« Der Streit ihn rein: Das Gerät war defekt. Der
drehe sich fast immer um den Wert ältere Mann dagegen, der seit Jahren
des Pfandgegenstands. mit seinem fast schon antiken Sam­
Die Angst, übervorteilt zu wer­ sung­Handy komme, sei noch vom
den, hat auch mit der Vergangenheit alten Schlag. »Ich geb ihm jedes Mal
der Branche zu tun. Horrorgeschich­ 70 Euro«, erzählt der Pfandleiher, »so
ten über gierige Pfandleiher haben viel ist es schon lange nicht mehr
über Jahrhunderte das Bild geprägt. wert.« Aber der Mann hole sein Han­
Und weil seit dem Mittelalter lange dy stets brav wieder ab.
Zeit nur Juden solche Geschäfte Bei Exchange am Hamburger
machten, da sie keinen Handel und Steindamm herrscht kurz vor Feier­
kein Handwerk ausüben durften, lie­ abend noch Hochbetrieb. »Was haben
ferte das Metier auch Vorwände für Sie denn diesmal?«, fragt Mitarbeite­
Antisemitismus. rin Tanja Stadus das Studentenpaar
Susanne Jahnke berichtet, dass aus Afghanistan. Die 500 Euro, die
kürzlich ein Mann ausgerastet sei: Er Lida und Haroon für alten Familien­
tobte, schrie und drohte, alle Mit­ schmuck bekommen, sind längst ver­
arbeiter umzubringen. Das verpfän­ plant: für Semestergebühren, für den
dete Armband, ein Geschenk seiner Umzug vom Studentenheim in eine
Mutter, war nicht mehr da: Weil er kleine Wohnung, für Bücher. »Wir
im Gefängnis saß, keine Nachricht haben keine Wahl«, sagt Haroon.
hinterlassen und sich sieben Monate Nach und nach hätten sie alle Wert­
lang nicht gemeldet hatte, war das sachen, die sie auf ihrer Flucht retten
Schmuckstück versteigert worden. konnten, ins Pfandhaus getragen.
Auch kuriose Pfänder seien nicht »Das war heute der Rest.«
selten, berichten die Mitarbeiter. Bis Beide leben von Bafög, jobben
vor Kurzem, sagt Filialleiter Huber, nebenher, sind trotzdem ständig plei­
habe er geglaubt, dass ihn nichts te, so erzählen sie. Sie wollen unbe­
mehr überraschen könne – bis dieser dingt in Deutschland bleiben. Sie sind
unscheinbar wirkende Mann mitt­ nicht verheiratet, nicht gläubig – für
leren Alters in den Laden gekommen die Taliban, die jetzt in ihrer Heimat
sei und einen Rollkoffer auf den das Sagen haben, eine Provokation.
Tisch geknallt habe: Goldbarren, Carola B. wird im Leihhaus be­
Goldmünzen, Goldschmuck. Er grüßt wie eine gute alte Bekannte.
brauche dringend Geld, um Hand­ »Seit vier Jahren gehe ich hier ein und
werker für einen Hausumbau zu be­ aus«, erzählt die 53­Jährige. Heute
zahlen, erklärte der Mann. Er habe Fotos: Alexandra Polina / DER SPIEGEL
musste sie sich von ihrer »Königin­
dafür 150 000 Euro erhalten. Zwei nenkette« trennen, einem fein ver­
Monate später holte er seinen Schatz arbeiteten Collier aus hochkarätigem
wieder ab. Gold. Die habe sie gekauft, als es ihr
Von solchen Umsätzen kann Mat­ mal richtig gut gegangen sei.
hias Czok nur träumen. Er betreibt Was sie aus ihrem Leben erzählt,
eines der wenigen Pfandleihhäuser in klingt hart: Schon mit 14 spritzte sie
Mecklenburg­Vorpommern, Ange­ sich Heroin, finanzierte ihre Sucht,
stellte hat er nicht. Sein Laden am indem sie ihren Körper verkaufte. Sie
Rande der Kreisstadt Neubranden­ dealte, klaute, saß mal im Knast, be­
burg liegt versteckt im zweiten Stock die Hälfte meiner Kunden beziehen Verpfändete kam früh zwei Kinder. Jobbte als Ver­
eines renovierten Bürogebäudes, Hartz IV«, sagt der Pfandleiher, »da Schmuckstücke, käuferin, zog in einen Stadtteil weit
Filiale in Hamburg:
mitten im Industriegebiet. »Wer Geld bleibt oft kein Euro mehr übrig.« »Da wird gezetert, außerhalb, wollte weg von der Szene.
braucht, findet mich«, sagt er. Anfangs belieh Czok nur Autos, geschimpft, um Und kehrte stets zurück.
Czok war bei der DDR­Handels­ eine Kreditvariante, die gerade wie­ fünf oder zehn Euro Das Geld vom Pfandhaus, immer­
marine. Als nach der Wende nichts der im Kommen ist und von Ex­Fuß­ gefeilscht« hin 1500 Euro, brauche sie, um
mehr ging, habe er das Branchenbuch baller Lothar Matthäus in Spots be­ Strom und Wasser zu bezahlen,
studiert und eine Entdeckung ge­ worben wird: »Bargeld und weiter­ »sonst stellen die mir das noch ab«.
macht, erzählt er: Es gab im neuen fahren«. Aber weil es ständig Ärger Und vielleicht, sagt sie, kaufe sie et­
Bundesland keine einzige Pfandleihe, mit Rostmühlen gab, sattelte er nach was Heroin oder einen kleinen Koks­
im real existierenden Sozialismus war und nach auf Unterhaltungselektro­ stein, aber nur zum Rauchen, nicht
das Geschäft ohnehin kein Thema. nik und Schmuck um. Und sammelte zum Spritzen. Dann die Zigaretten
»Ich war der Erste.« Viel mehr An­ jede Menge Erfahrung. »In dieser natürlich, und leben müsse sie
bieter gebe es bis heute nicht, »drei, Branche bekommt man viel Men­ schließlich auch davon, »fragt sich
vier höchstens«. schenkenntnis«, sagt er. »Aber immer nur, wie lang es reicht«.
Neben seinem Büro stapeln sich wenn man glaubt, man habe jetzt den Ob sie damit rechne, die »Königin­
Fahrräder, TV­Geräte, Bohrmaschi­ Durchblick, fällt man auf den nächs­ nenkette« wieder auslösen zu kön­
nen, Elektrosägen, Kinderspielzeug, ten Kunden rein.« nen? Carola B. schüttelt den Kopf.
silberne Vasen und alte Münzen – Die Mutter mit dem Baby zum Bei­ Ihre Erfahrung spricht dagegen: »Die
verpfändete Gegenstände, die noch spiel, der er aus Mitleid 100 Euro für meisten Sachen gehen irgendwann
nicht abgeholt worden sind, womög­ ihren angeblich tadellos funktionie­ flöten.«
lich auch nie abgeholt werden. Ȇber renden Fernseher gezahlt hat, legte Bruno Schrep n

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DEUTSCHLAND

Schuld und Spiele


ZEITGESCHICHTE Mit einem heiteren Sportspektakel
wollte die Bundesrepublik sich vor 50 Jahren
in der Welt als sympathisches Land präsentieren.
Dann kam alles ganz anders. Wie Teilnehmer,
Überlebende und Angehörige sich an die Tage des
Terrors von München erinnern – und was sie
bis heute vermissen.

Kur t Strumpf / AP
uf Ankie Spitzers Schreibtisch Für Spitzer waren der Anschlag in einer Mitteilung der beteiligten
A stehen bis heute die Fotos von auf die jüdischen Sportler in Mün-
André, ihrem verstorbenen chen und die deutschen Reaktionen
Mann, der bei den Olympischen darauf eine Art Echo des Holocaust.
Ministerien, »hält die Bundesregie-
rung eine Neubewertung des Um-
gangs mit den Ereignissen sowie
Sommerspielen 1972 von palästinen- Erst in den letzten Jahren seien ihr in deren gründliche historische Auf-
sischen Terroristen ermordet wurde. Deutschland Menschen einer neuen arbeitung für zwingend erforder-
Auch ein »Waldi« steht im Regal, das Generation begegnet, die »nach den lich«. Ankie Spitzer, die sich seit
offizielle Maskottchen der Spiele, ein sechs Millionen toten Juden auch Jahrzehnten als Sprecherin der Op-
bunter Dackel. Spitzer kämpft, ein noch die elf von München bedauer- ferfamilien engagiert, schrieb Mitte
halbes Jahrhundert danach, noch ten«. Aber die deutschen Entschei- August in einem Brief an den baye-
immer um das Andenken ihres Man- dungsträger von 1972? »Die hatten rischen Ministerpräsidenten Markus
nes und um die Aufarbeitung eines ihre Füße noch in Deutschlands dunk- Söder von »50 Jahren Schmähungen,
Attentats, das die inkompetent agie- ler Vergangenheit. Sie hätten nicht Lügen, Demütigungen und Zurück-
renden deutschen Sicherheitskräfte gleichgültiger sein können.« weisungen«.
nicht verhindern konnten. Mit der Aufarbeitung soll dem- Die Olympischen Sommerspiele
»Bis heute hat sich niemand für nächst neu begonnen werden. Die 1972 sollten eigentlich als »heitere
das Versagen entschuldigt«, sagt die Bundesregierung hat den Hinter- Spiele« in die Geschichte eingehen.
Witwe, heute 76 Jahre alt, in ihrem bliebenen diesen Sommer zugesagt, Neun Tage lang hatte München seit
Haus im Norden Tel Avivs. Sie trägt eine Kommission deutscher und is- der Eröffnungsfeier am 26. August
roten Lippenstift, eine hellgrüne Blu- raelischer Historiker einzusetzen, olympische Sportkämpfe dargeboten,
se, die kurzen braunen Haare sind die endlich noch offene Fragen klä- Terrorist im olympi- wie es sie ähnlich offen, fröhlich und
sorgfältig gescheitelt. Große Blätter ren soll. Im Hinblick auf die »Be- schen Dorf am modern zuvor nicht gegeben hatte.
spenden Schatten auf ihrer Terrasse. deutung der deutsch-israelischen 5. September 1972: Doch am 5. September fand die Hei-
Ankie Spitzer hat keine Minute jener Beziehungen« sowie auf »die bis Die deutschen
Behörden ignorierten
terkeit ein furchtbares Ende. Palästi-
verhängnisvollen Stunden im Sep- heute andauernden tiefen Verletzun- die Attentats­ nenser der Terrorgruppe »Schwarzer
tember 1972 vergessen. gen der Angehörigen«, so hieß es warnungen September« brachten am frühen

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Morgen im olympischen Dorf israelische In jenem Augenblick war sie erleichtert: Der Tag vor dem Massaker beschert
Sportler und Betreuer in ihre Gewalt. 20 Stun- Sie wusste, ihr Mann würde pünktlich in Mün- Deutschland zunächst einen Weltrekord und
den später endete die Geiselnahme nach chen und im olympischen Dorf ankommen, einen neuen Superstar: Ulrike Meyfarth,
einem dilettantischen Befreiungsversuch der um bei seiner Mannschaft zu sein. Es sei, sagt 16 Jahre alt, Hochspringerin. An diesem Tag
deutschen Einsatzkräfte auf dem Flugplatz Ankie Spitzer, der letztmögliche Zug gewesen, findet im Olympiastadion das Finale statt, und
Fürstenfeldbruck in der Katastrophe. Alle mit dem nächsten wäre er erst am nächsten Meyfarth ist dabei, »um Erfahrungen zu sam-
Geiseln, ein Polizist sowie fünf der acht Ter- Morgen am Ziel eingetroffen – und wäre da- meln, an mehr habe ich im Traum nicht ge-
roristen starben. mit dem Attentat wahrscheinlich entgangen. dacht«, wie sie sich erinnert.
»Das ist wohl, was man ›Schicksal‹ nennt«, Meyfarth, inzwischen Ulrike Nasse-Mey-
Wie soll man sich erinnern an ein Jahrhun- sagt sie heute. farth, 66, in schwarzer Bluse, noch immer
dertereignis, mit dem sich Deutschland der Einen Tag später, am Nachmittag des sportlich und die dunklen Haare wie damals
Welt als geläuterte, friedliebende und fröh- 5. September, wird sie ihren Mann zum letz- schulterlang, erinnert sich sehr genau an
liche Nation präsentieren wollte, das aber ten Mal lebend sehen: im Fernsehen, das den Wettkampf, der ihren Ruhm begründe-
mit einem Blutbad endete? Während im live überträgt. Sie sieht, wie ihr Mann in wei- te. Sie sitzt im Sommer 2022 in einem
internationalen Sprachgebrauch die Ereig- ßem Unterhemd auf einem Balkon in der schmucklosen Konferenzraum auf der An-
nisse jener Tage oft mit dem brutalen Begriff Münchner Connollystraße steht, die Hände lage des TSV Bayer 04 Leverkusen, einem
»Munich Massacre« bezeichnet werden, gefesselt. Er trägt seine Brille nicht, »dabei der renommiertesten Leichtathletikklubs
nutzt man in Deutschland lieber die distan- ist er praktisch blind ohne sie«, sagt Ankie Deutschlands. Bis vor Kurzem trainierte sie
ziertere Formel vom »Olympia-Attentat«. Spitzer. Ihr Mann, der deutschen Sprache hier den Nachwuchs. Sie hat einige Zeitungs-
Dass München in diesem Jahr das Jubiläum mächtig, spricht ein paar Worte zu Vertre- artikel mitgebracht, in denen die unglaub-
der Spiele feierte, mag auch Ausdruck davon tern des deutschen Krisenstabs, die unten auf liche Geschichte der Schülerin Meyfarth
sein, dass Deutschland bis heute nicht bereit der Straße stehen, verstehen kann sie ihn erzählt wird.
ist, das schöne Erinnerungsbild der »heiteren nicht. Einer der Terroristen stößt ihn zurück Es ist ein kühler Abend gegen 19 Uhr.
Spiele« aufzugeben. Im Mai gab es in Mün- in den Raum, der Vorhang wird zugezogen. Während die palästinensischen Terroristen
chen anlässlich der 50-Jahre-Marke eine Nur Stunden später sind André Spitzer, womöglich letzte Vorbereitungen treffen,
»Festwoche« mit Konzerten, Mitmachaktio- zehn weitere Israelis und ein deutscher Poli- überrascht ein langbeiniges Mädchen aus
nen und Feiern im Festzelt, im Juli folgte ein zist tot. Wesseling bei Köln mit dem Fosbury-Flop
»Festival des Spiels, des Sports und der
Kunst«.
Ankie Spitzer hat kürzlich in einem Inter- Die Tragödie der Familie Spitzer: »50 Jahre Schmähungen, Lügen, Demütigungen
view die Frage gestellt: »Wie kann sich ir- und Zurückweisungen« wirft Ankie Spitzer (mit Olympiamaskottchen Waldi)
gendwer an ›heitere Spiele‹ erinnern, nach deutschen Entscheidungsträgern vor. Unten: Ihr in München ermordeter Mann
allem, was passiert ist? Die ›heiteren Spiele‹ André Spitzer mit Tochter Anouk 1972, Hochzeit 1971.
sind nicht relevant.« Sie findet, man sollte
sich auf das Gedenken an die zwölf Opfer
des Anschlags konzentrieren, statt ein Jubi-
läum zu feiern.
Der SPIEGEL hat in den vergangenen
Monaten mit Teilnehmerinnen und Teilneh-
mern der Spiele gesprochen und Historiker
befragt. Zeitzeugen aus Deutschland und
aus Israel schildern ihre Erinnerungen an
das Attentat und wie unterschiedlich es ihr
Leben prägte.

Es ist Vormittag in Den Bosch, Niederlande,


am 4. September 1972, als André Spitzer, der
Fechttrainer des israelischen Olympiateams,
seiner Tochter Anouk einen Abschiedskuss

Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL


gibt. Dann fahren er und seine Frau Ankie
zum Bahnhof. Doch als sie ankommen, ist
der Zug nach München schon weg.
Spitzer ist 27 Jahre alt, geboren 1945 ein
paar Wochen nach der deutschen Kapitula-
tion, seit einem Jahr verheiratet mit der Hol-
länderin Ankie, einer seiner früheren Fecht-
schülerinnen. Seit ein paar Wochen ist er
Vater der kleinen Anouk. Die Teilnahme an
den Olympischen Spielen war für ihn ein lang
gehegter Traum: Als junger Trainer der
Fechtmannschaft ist er dankbar für die große
Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL
Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL

Chance.
Ankie Spitzer und ihr Mann rennen zum
Auto, rasen zur nächsten Station ins 30 Kilo-
meter entfernte Eindhoven, holen den ver-
passten Zug wieder ein. Spitzer springt in den
anfahrenden Waggon, »er hatte nicht einmal
einen Fahrschein«, sagt Ankie Spitzer.

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die viel älteren Konkurrentinnen: Dackel, der auf den Namen Waldi Die Republik tillerieoffizier im Sechstagekrieg von
Zum ersten Mal in ihrem Leben hörte, war das Maskottchen der 1967, nach dem Attentat diente er im
überspringt Ulrike Meyfarth die Spiele. Die transparente Zeltdachkon- gab sich einen Jom-Kippur-Krieg 1973.
1,90- Marke, lässt anschließend struktion des Olympiaparks und die Neuanstrich – Als Sportler ist Ladany konsequen-
1,92 auflegen – das ist Weltrekord- Sportanlagen waren modern und bunt, pazi­ terweise Geher geworden, Vertreter
höhe. Sie überspringt auch die und schwungvoll designt. All das sollte für jener seltsamen Ausdauerdisziplin,
landet unter gleißendem Flutlicht auf den Aufbruch stehen. fistisch, gut bei der man nicht rennen und den
der grünen Matte. 80 000 Zuschauer Doch am Morgen nach der Eupho- gelaunt. Kontakt zum Boden niemals verlie-
toben. rie über Meyfarths Goldsprung steht ren darf. Vom rastlosen Gang, den
Noch am selben Abend lässt ihr Deutschland unter Schock: Arabische sein Leben darstellt, erzählt er bei
Bundeskanzler Willy Brandt einen Terroristen haben jüdische Geiseln in einem Treffen in seinem Haus bei
Rosenstrauß überreichen. Erst ihre Gewalt genommen, mitten im Beerscheba, eine Autostunde südlich
nachts im Bett, »überwältigt, geplät- olympischen Dorf. Meyfarth erfährt von Tel Aviv in der Wüste Negev. In-
tet, erstaunt, aber auch mit Riesen- in der Mensa davon. Und sie erinnert zwischen 86 Jahre alt, hat er sich in
freude«, habe sie zu ahnen begon- sich heute, dass sie in diesem Augen- einen gepolsterten Sessel in seinem
nen, was an diesem Tag geschehen blick einen spontanen Gedanken hat- Wohnzimmer sinken lassen. Er geht
ist. Ulrike Meyfarth ist ab sofort eine te, eine heimliche Hoffnung, die sich leicht gebückt, trägt an den Füßen
Berühmtheit, eine öffentliche Person, ihr trotz allem Entsetzen über das aber immer noch Laufschuhe, grell-
sie wird es über Jahrzehnte bleiben. Attentat aufdrängte: »Ich dachte, dass gelb sind sie. Bis heute, so erzählt er,
Hunderte Millionen Menschen jetzt vielleicht keiner mehr einen gehe er täglich fünf Kilometer und
weltweit verfolgten Meyfarths Welt- Blick für mich hat«, dass das Interes- mehr. Während das Trauma des Ter-
rekord und die anderen Wettbewer- se an ihr nachlässt. Die 16-Jährige rors 1972 die Karrieren der meisten
be live am TV; erstmals richtete sich spürt, dass ihr altes Leben vorbei ist, überlebenden israelischen Sportler
das Programm der Spiele nach dem und denkt gleichzeitig, der Anschlag beendete, nahm Ladany nur einen
Fernsehen. Die Zeichen in München könnte sie wieder unsichtbar machen. Monat später an der Weltmeister-
standen auf Fortschritt: Neue elek- schaft über 100 Kilometer in Lugano
tronische Messgeräte erfassten Zei- Shaul Ladany ist in Deutschland zwei- teil. Und gewann.
ten bis auf die Tausendstelsekunde, mal dem Tod entkommen. Erst den Im Münchner Olympiastadion tritt
das erste Elektroauto von BMW be- Nazis im KZ Bergen-Belsen, dann er am Nachmittag des 3. September
gleitete den Marathon. den palästinensischen Terroristen, 1972 im 50-Kilometer-Gehen-Wett-
Die Republik gab sich einen Neu- 27 Jahre nach Kriegsende. »Glückli- bewerb an, anderthalb Tage vor der
anstrich, bunt, pazifistisch, gut ge- cherweise«, sagt Ladany, »hat mich Geiselnahme. Er rechnet sich Chan-
launt in die Zukunft. 36 Jahre nach keine dieser Erfahrungen verrückt cen auf eine Medaille aus, verausgabt
den Propagandaspielen der Nazis in oder unerträglich gemacht. Was sie Olympiasiegerin sich jedoch früh, wird schließlich nach
Berlin zeigte man sich vornehmlich mir brachten, war ein ausgeprägter Meyfarth am 4 Stunden und 25 Minuten nur 19. Es
4. September 1972:
in Orange, Blau und Grün. Das Per- Siegeswille. Und dass ich keine Angst Sensationell sprang gewinnt der Deutsche Bernd Kannen-
sonal trug modische Kleidung in Pas- mehr hatte, vor gar nichts.« Vor Mün- sie zu Gold und in ein berg mit 3:56:11. Weil die Westdeut-
telltönen statt steifer Uniformen, ein chen kämpfte er als israelischer Ar- anderes Leben schen praktisch gleichzeitig auch im
Speerwurf und im 800-Meter-Lauf
der Frauen siegen, schreibt Harry Va-
lérien, deutsche Sportreporterlegen-
de, in seinem Erinnerungsbuch
»Olympia München 1972« später ge-
radezu schwärmerisch: »Umarmen
hätten die deutschen Zuschauer auch
ihre Leichtathleten können. Denn
innerhalb einer historischen Stunde
gewannen sie am 3. September drei
Goldmedaillen.«
Ladany erinnert sich an die Leich-
tigkeit dieser Spätsommertage vor
der Katastrophe. Alles im olympi-
schen Dorf sei voller Blumen und
Farbe gewesen. Nicht einmal die Wa-
chen hätten Waffen getragen. »Die
Deutschen wollten der Welt zeigen,
dass die Bundesrepublik ganz anders
ist als die Militärmaschinerie des
›Dritten Reichs‹«, sagt er.
Er selbst hatte andere Motive.
28 Menschen aus Ladanys Verwandt-
schaft sind während des Holocaust
ermordet worden, und er kam im
Alter von acht Jahren nach Bergen-
Belsen. Mit seiner Teilnahme an den
Olympischen Spielen in München
habe er ein Zeichen setzen wollen,
sagt Ladany: »Hier sind wir. Ihr
AP

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DEUTSCHLAND

habt versucht, uns zu vernichten, weißen Sommerhut und hat das Ge-
aber es gibt uns noch. Und wir sind sicht geschwärzt, in der Hand hält er
immer noch in der Lage, mit dem Rest eine Granate. Bundesinnenminister
der Welt auf höchstem Niveau zu Hans-Dietrich Genscher kommt dazu.
konkurrieren.« Er bietet sich erfolglos als Ersatzgeisel
Am Abend des 4. September ist an. Auch ein Geldangebot lehnen die
das israelische Team ins Theater ein- Terroristen ab.
geladen. Es wird »Anatevka« gege- Zuvor haben sie Papiere mit ihren
ben, »Der Fiedler auf dem Dach«. Forderungen auf die Straße geworfen:
Der israelische Hauptdarsteller lädt 328 in Israel gefangene Palästinenser
die Sportler danach zu einem Glas sowie andere Gleichgesinnte, darun-
Wein hinter der Bühne ein, es entsteht ter RAF-Terroristin Ulrike Meinhof,
ein gemeinsames Foto. In hellen An- sollten freigelassen werden. Wenn
zughosen, Schlips und dunklen Ja- nicht, würden die Geiseln erschossen.
cketts lachen sie in die Kamera. Es ist Ein erstes Ultimatum wird kurz vor
das letzte Bild, das es von vielen von Ablauf verlängert.
ihnen gibt. Um neun Uhr gehen die Olympia-

AP
André Spitzers Zug aus Holland ist wettkämpfe einfach weiter. Das Her-
inzwischen in München angekom- che vor der Tür liegen. Auch der Witwe Spitzer im ren-Volleyballspiel Japan – Deutsch-
men. Kurz vor Mitternacht trifft der Gewichtheber Josef Romano wird olympischen Dorf land beginnt vor 2000 Zuschauern,
am 6. September:
Fechttrainer im Olympiadorf ein. Von beim Versuch, eine Waffe an sich Fassungslos inmitten
Japan gewinnt in drei Sätzen und holt
einer Telefonzelle aus erreicht er sei- zu bringen, von sieben Kugeln getrof- der Verwüstung später Gold.
ne Frau Ankie. Es ist ihr letztes Ge- fen. Er verblutet in den nächsten Bei ihren Eltern in den Niederlan-
spräch. Er müsse erst mal schauen, Stunden vor den Augen seiner Team- den sitzt Ankie Spitzer fassungslos
wo sein Bett sei, habe ihr Mann noch kollegen. vor dem Fernseher. Sie habe TV und
gesagt, so erinnert sich die Witwe. Im Apartment 2 nebenan schläft Radio gleichzeitig laufen gehabt,
Und dass er nur noch 50 Pfennig habe, Shaul Ladany noch. Er ist bei den habe zwischen deutschen und nieder-
dass sie sich beeilen müssten. Es Sportschützen untergebracht. Die ländischen Sendern hin- und herge-
reichte noch für ein »Ich liebe dich«, Terroristen gehen an dieser Wohnung schaltet, um alle Informationen zu
»dann war die Leitung weg«. vorbei, sie nehmen nur die Israelis bekommen. »Die Geiselnehmer sag-
Bald kehrt auch der Rest der israe- aus Apartment 1 und 3 gefangen – ten, sie würden um neun Uhr die ers-
lischen Delegation vom Theater zu- warum, ist bis heute unklar. »Sie te Geisel erschießen. Also saßen wir
rück. »Muni hat mich dann noch ge- könnten gewusst haben, dass die vorm Fernseher, es war fast neun, und
beten, ihm meinen Wecker zu leihen«, Sportschützen ihre Waffen auf dem ich dachte, sie erschießen womöglich
erzählt Shaul Ladany. »Muni«, das Zimmer hatten«, vermutet Ladany André.« Dann verlängern die Terro-
ist Mosche Weinberg, alle nennen den 50 Jahre später. risten die Frist. »Und mit jeder Frist,
Trainer der Ringer so. Er ist der Erste, Um 5.30 Uhr habe ihn dann der die näher kam, starb ich ein bisschen
den die Terroristen Stunden später Sportschütze Zelig Shtorch wachge- mehr. Es war ein Albtraum.«
erschießen werden. Weinberg muss rüttelt mit den Worten: »Araber haben Der schnell eingerichtete Krisen-
am Morgen früh raus, um einen seiner Muni getötet.« Ladany denkt zuerst, stab rätselt derweil über die Zahl der
Sportler zum Wiegen zu bringen. La- der Mann mache einen Scherz. »Ich Geiselnehmer und geht von maximal
dany stellt den Wecker auf fünf Uhr, kannte ihn von den Spielen in Mexiko, fünf aus. Ein Ultimatum nach dem
geht in sein Zimmer, sortiert noch ein er war ein großer Spaßvogel.« Doch anderen vergeht: 9, 12, 13, 15, schließ-
paar Zeitungsartikel über seinen schnell begreift er, dass es dem Kolle- lich 17 Uhr. In Jerusalem tritt das Ka-
Wettkampf vom Vortag. Gegen drei gen todernst ist. Im Apartment, wo binett um Premierministerin Golda
Uhr morgens schläft er ein. jetzt alle wach sind, sagt jemand: »Die Meir zusammen – und lehnt einen
Araber könnten auch versuchen, uns Gefangenenaustausch ab. Meir er-
In der Nacht, kurz nach vier Uhr, klet- zu kriegen. Lasst uns abhauen.« Allen klärt: »Wenn wir nachgeben, wird
tern acht Männer in Trainingsklei- gelingt die Flucht. Später, im Haupt- sich kein Israeli irgendwo auf der
dung und mit Taschen über den Zaun quartier des olympischen Dorfs, sehen Welt noch seines Lebens sicher füh-
des olympischen Dorfs. Das fällt of- Ladany und die anderen Teammitglie- len.« Um 15.38 Uhr unterbricht Ave-
fenbar nicht auf. In diesen Nächten der den Verlauf der Geiselnahme am Otl-Aicher- ry Brundage, Präsident des Interna-
schleichen immer wieder Sportler Fernseher, so wie Hunderte Millionen Piktogramme von tionalen Olympischen Komitees, die
heimlich zurück aufs Gelände. Doch Zuschauer rund um den Globus mit Sportarten Spiele.
diese acht sind keine Sportler. Mit ihnen. der Olympischen Danach geht schief, was schief-
Spiele 1972
Kalaschnikows und Handgranaten Es folgen Verhandlungen, Forde- gehen kann.
bewaffnet, dringen die Palästinenser rungen, Gegenangebote, Ultimaten Zunächst plant ein Einsatzkom-
in die Connollystraße 31 ein, nehmen und viele falsche Entscheidungen der mando die Stürmung des Apart-
in den Quartieren der Israelis Sport- Deutschen. Gegen sieben Uhr treffen ments, schwer bewaffnet. In Trai-
ler und Betreuer als Geiseln. der Bürgermeister des olympischen ningsanzügen als Sportler getarnt,
Alessandra Schellnegger / SZ Photo

Mosche Weinberg wehrt sich, wird Dorfs Walther Tröger, NOK-Präsi- klettern die Schützen aufs Dach.
angeschossen, es sind die ersten dent Willi Daume, Polizeipräsident Doch TV-Kameras filmen und über-
Schüsse. Als die Terroristen die Manfred Schreiber und Bayerns In- tragen die Szene live im Fernsehen.
Sportler von einem Apartment ins nenminister Bruno Merk im olympi- Die Attentäter bemerken, was
andere führen, versucht er zu fliehen; schen Dorf ein. Sie versuchen in den geschieht – die Aktion wird ab-
sie erschießen ihn. Einem seiner Rin- folgenden Stunden, mit »Issa«, dem gebrochen.
ger, Gad Tsabari, gelingt die Flucht. Anführer der Terroristen, eine Lö- Dann gehen die Deutschen zum
Die Terroristen lassen Weinbergs Lei- sung zu finden. »Issa« trägt einen Schein auf die Forderungen ein, stel-

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Repro: Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL


Überlebender Ladany:
Zweimal entkam der
israelische Geher dem Tod in
Jonas Opperskalski / DER SPIEGEL

Deutschland – erst im
KZ Bergen-Belsen, dann bei
Olympia in München.
Rechts: Ladany in einem Ausriss
aus der »Süddeutschen Zeitung«
vom 6. September 1972.

len in Fürstenfeldbruck ein Flugzeug nach ber, ein anderer wirft eine Handgranate in griff eines Terrorkommandos, Attentäter, die
Kairo bereit, bringen Attentäter und Geiseln den zweiten, der bei der Explosion vollstän­ im Morgengrauen über den Zaun klettern,
in Hubschraubern zum Flugplatz. Im Flug­ dig ausbrennt. Geiseln nehmen, um Gefangene freizupres­
zeug sollen als Besatzungsmitglieder ver­ Um 0.30 Uhr sind fünf der acht Terroris­ sen – das kam der späteren Wirklichkeit
kleidete Polizisten die Terroristen überwäl­ ten und alle Geiseln tot. beängstigend nahe, aber die Polizei hat die
tigen. Doch die Polizisten brechen die Ak­ David Berger. Zeev Friedman. Josef Gut­ Möglichkeit als »unrealistisch« abgetan. Man
tion kurz vor der Landung der Hubschrauber freund. Eliezer Halfin. Josef Romano. Amit­ bereitete sich stattdessen auf Handgreiflich­
eigenmächtig ab und verlassen die Boeing – zur Shapira. Kehat Shorr. Mark Slavin. keiten unter Zuschauern und den Missbrauch
sie erachten die Mission als Himmelfahrts­ André Spitzer. Jakov Springer. Mosche Wein­ von Eintrittskarten vor.
kommando. Die Terroristen finden das Flug­ berg. Sie waren Ringer, Gewichtheber, Fech­ Dabei belegen Dokumente, die der
zeug leer und ahnen den Hinterhalt. Als sie ter, Leichtathleten, Sportschützen. Sie warenSPIEGEL im Jahr 2012 auswertete, dass es
die Boeing verlassen, eröffnen die Deutschen Söhne, Brüder, Ehemänner und Familien­ Warnungen gab. Wenige Tage vor dem At­
das Feuer. väter. tentat hatte Bonns Botschafter in Beirut
Es kommt zu einer unkontrollierten »Manchmal gibt es Tote – aber doch nicht einen Tipp bekommen, Palästinenser wür­
Schießerei. Fünf Schützen stehen acht At­ alle!« Shaul Ladanys Stimme bebt kurz, wenn den in München einen »Zwischenfall« in­
tentätern gegenüber. Die Deutschen sind er über das grauenvolle Ende der Tat spricht,szenieren – das Außenministerium empfahl
schlecht ausgerüstet und kaum ausgebildet, dann ist Stille. Es ist das erste Mal im Ge­ »alle im Rahmen des Möglichen liegenden
haben keinen Funk, stehen sich zum Teil spräch, dass der sonst so ruhige Mann laut Sicherheitsmaßnahmen«. Allein in den fünf
gegenseitig im Weg. Zielabsprachen gibt es wird. Ladany erinnert daran, dass im Mai Wochen vor dem Überfall trafen 17 Hin­
nicht. Die viel zu spät angeforderten Panzer­ desselben Jahres in Israel eine Boeing 707 weise auf »palästinensische Terrorplanun­
wagen stecken im Stau der Schaulustigen von arabischen Terroristen auf dem israeli­ gen« beim Bundesverfassungsschutz ein,
fest. Eine verirrte Kugel trifft den deutschen schen Flughafen Lod gekapert wurde. Bei der überwiegend von ausländischen Geheim­
Polizisten Anton Fliegerbauer im Kontroll­ Stürmung kamen zwei Terroristen und ein diensten.
turm, er bricht tot zusammen. Passagier ums Leben, mehr als 90 Menschen Folgen für das Sicherheitskonzept hatte
Kurz nach 23.30 Uhr vermeldet Regie­ wurden befreit. Er wirft den Verantwortlichendas nicht; zu groß war wohl die Angst, dass
rungssprecher Conrad Ahlers, alle Geiseln falschen Stolz vor, weil sie die von Israel an­
eine sichtbare Polizeipräsenz Erinnerungen
seien gerettet. Die Operation sei »glücklich gebotene Hilfe des Mossad nicht angenom­ an die Nazis wecken könnte. Ein Vorstoß
und gut gelaufen«. Wie genau es zu dieser men hatten. des Sicherheitschefs, das Dorf stärker zu si­
Falschmeldung kam, ist bis heute ungeklärt. chern, wurde laut Zeitzeugen von NOK­Chef
In den Niederlanden jubelt André Spit­ Als die überlebenden israelischen Sportler Willi Daume mit dem Satz »Wir sind hier
zers Familie. Doch seine Frau hat eine böse vom Tod der Geiseln erfuhren, hätten einige nicht im KZ« abgetan.
Vorahnung. »Mein Vater wollte Champagner angefangen zu weinen, sagt Ladany. Er nicht. Kurz nach zehn Uhr am 6. September, bei
öffnen. Ich sagte: Du öffnest diese Flasche »Ich weine nie. Dafür habe ich in meinem einer Trauerfeier für die Opfer, setzt IOC­
nicht, bis André angerufen hat.« Leben schon zu viel gesehen.« Chef Avery Brundage die Spiele fort. »The
Als um Mitternacht in Fürstenfeldbruck Das Unglück war nicht unausweichlich. Games must go on«, donnert er ins Mikrofon.
die Panzerwagen eintreffen, erkennen die Der Polizeipsychologe Georg Sieber hatte Im vollen Stadion brandet Applaus auf. Noch
Terroristen ihre aussichtslose Lage. Einer schon im Februar 1972 bei der Vorbereitung am selben Tag gibt es Medaillen im Fechten
erschießt die Geiseln im ersten Hubschrau­ ein Szenario entworfen – die »Lage 21«: An­ und Gewichtheben. Der ZDF­Moderator Har­

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ry Valérien schreibt wenige Wochen Die Ermittlungen sind da zum Teil »Mit jeder »Trinkgeld« und »Beleidigung«, sie
später in seinem Olympiabuch: »Er- gerade erst aufgenommen. Rücktritte kündigt an, der Münchner Gedenk-
staunlich, wie schnell man zur Tages- gibt es keine. Frist, die veranstaltung am Jahrestag fernzu-
ordnung überging.« Und die »New In Israel macht man den Deut- näher kam, bleiben. Der Streit scheint festgefah-
York Times« fragt: »Sind Medaillen schen große Vorwürfe. Jeder israeli- ren, ein Eklat bevorzustehen: Eine
und kommerzielle Verträge wichtiger sche Offizier, so schreibt die Zeitung
starb ich Trauerfeier zu Ehren der Opfer ohne
als Menschenleben? Die Leichen wa- »Haaretz«, hätte die Planungen der ein bisschen deren Angehörige – es wäre das ul-
ren noch nicht begraben, als die Spie- Westdeutschen verworfen. Mossad- mehr. Es timative Sinnbild von 50 Jahren
le weitergingen.« Chef Zvi Zamir verfolgte den Verlauf deutschem Versagen und verfehlter
Ankie Spitzer fliegt am 6. Septem- des Attentats persönlich in München war ein Aufarbeitung.
ber nach München, um an der Ge- und Fürstenfeldbruck, doch alle sei- Albtraum.« Doch kurz vor dem Jahrestag
denkfeier im Olympiastadion teilzu- ne Vorschläge zur Rettung der Gei- kommt noch einmal Bewegung in die
nehmen. Als sie die Habseligkeiten seln seien abgelehnt worden: »Nicht Sache. Beide Seiten einigen sich
ihres toten Mannes abholen will, lässt einmal den minimalen Versuch« schließlich auf einen Kompromiss:
man sie erst nicht zum Tatort vor. habe man unternommen, um Leben 28 Millionen Euro gibt es nach
»Ich habe gesagt: Ich muss sehen, wo zu retten. »Sie wollten das Ganze so SPIEGEL -Informationen für die Fa-
André die letzten Stunden seines Le- schnell wie möglich hinter sich brin- milien. Der Bund soll von der Ent-
bens verbrachte. Ich öffnete die Tür, gen, um die Olympischen Spiele fort- schädigungssumme 22,5 Millionen
und auf der Treppe sah man schon setzen zu können.« Und Israels In- Euro aufbringen, 5 Millionen Euro
das Blut.« Im Raum selbst sei totales nenminister Josef Burg sagt den be- sollen vom Freistaat Bayern kom-
Chaos gewesen: Einschusslöcher in rühmten Satz: »Bis heute meinten men sowie eine halbe Million Euro
den Wänden. Essen, das niemand an- wir immer, dass Dachau in der Nähe von der Stadt München. Neben der
gerührt hatte. Sie nimmt den Stoff- von München liege. Von nun an liegt finanziellen Anerkennung des Leids
Waldi mit, den André Spitzer für sei- München leider in der Nähe von der Angehörigen, so heißt es in der
ne Tochter gekauft hatte. Ein Journa- Dachau.« Bundesregierung, gehe es ausdrück-
list schießt unbemerkt von Spitzer ein lich auch »um eine Übernahme von
ikonisches Foto: Es zeigt die junge Die Stimmung verschlechtert sich wei- Verantwortung durch den deutschen
Witwe fassungslos inmitten der Ver- ter, als Deutschland die drei über- Staat«.
wüstung. lebenden Terroristen nur zweieinhalb Was bleibt von München 1972? Für
Die Entscheidung zur Fortsetzung Monate nach den Spielen freilässt – jeden etwas anderes und für manche
der Spiele ist umstritten – für Shaul nach der Entführung einer Lufthansa- offenbar nichts Schlechtes. Die Ver-
Ladany aber war es die richtige. Tau- Maschine. Die Geiselnehmer werden anstalter des kürzlich beendeten Mul-
sende Athletinnen und Athleten hät- nach Tripolis ausgeflogen, wo sie von tisportevents European Champion-
ten jahrelang trainiert, um sich und Libyens Staatschef Muammar al-Gad- ships haben jedenfalls mit Sätzen für
der Welt zu zeigen, was sie können, dafi und tausend jubelnden Arabern sich geworben, die man auch als ge-
sagt er. »Wenn wir sie daran gehindert empfangen werden. schichtsvergessen empfinden kann.
hätten, die Spiele fortzusetzen, hätten Im Sommer 2022 tritt einer der Die Stadt heiße »die größte Sportver-
sie uns und Israel für immer gehasst.« Terroristen in einer ARD-Doku erst- anstaltung seit den Olympischen
Es sei dagegen ein Fehler der israeli- mals im Fernsehen auf: »Ich bin Sommerspielen von 1972 willkom-
schen Delegation gewesen, sich zu- stolz auf das, was ich getan habe. men«, wurde da ganz unbeschwert
rückzuziehen. Arabische Länder hät- Sollte es sich wieder ergeben – ich geprahlt. Zu erwarten sei »geballter
ten jahrzehntelang versucht, Israelis bin bereit.« Spitzensport, geprägt von einer un-
aus den Wettbewerben zu vertreiben, Seit 50 Jahren streiten die Opfer- beschwerten Atmosphäre – so lautet
»und jetzt hatten wir aus eigenem An- familien um eine angemessene Ent- das Erfolgsrezept für ein einmaliges
trieb ihr Ziel vollbracht«. schädigung. Ein erstes Angebot der Erlebnis, das in Erinnerung bleibt.
Nach der Gedenkfeier packen die Bundesregierung über zehn Millio- Zerstörte Hub- Damals wie heute«.
schrauber in
Überlebenden ihre Sachen und flie- nen Euro lehnen sie Ende Juli als Fürstenfeldbruck:
Auch in der Berichterstattung über
gen zurück nach Israel. Die Särge deutlich zu niedrig ab. Die Witwe Um 0.30 Uhr waren die Wettkämpfe fanden sich immer
liegen im Frachtraum. Die Wettbe- Ankie Spitzer spricht sogar von alle Geiseln tot wieder fröhliche Hinweise auf die
werbe gehen weiter. Nur wenige an- »heiteren Spiele«. Häufig ist von der
dere Sportler reisen ab – darunter mit gleichen Begeisterung wie 1972 die
Begleitschutz der US-Schwimmstar Rede.
Mark Spitz, selbst Jude, und der Ulrike Nasse-Meyfarth hat die
Sprinter Manfred Ommer als einziger Goldmedaille von damals rahmen
Deutscher. lassen, sie hängt »an unauffälliger
Nach der Tat beginnt eine Auf- Stelle«, wie sie sagt, denn »ehrlich
arbeitung, die den Namen nicht ver- gesagt ist sie ziemlich hässlich«. An
dient. Bundesregierung und Freistaat das Attentat habe sie nur noch selten
versuchen, ihre Fehler zu vertuschen. gedacht. Volksheldin ist sie geblieben.
Es überwiegt die Ansicht, man hätte Nicht ohne Verwunderung sagte sie
gar nichts anders machen, die Dinge kürzlich in einem Interview, sie habe
hätten gar nicht anders ausgehen bald gemerkt, dass über ihre Gold-
AP / picture alliance / dpa

können. Für Münchens Polizeichef medaille noch lange geredet werden


Schreiber, so sagte er im Nachhinein, würde, dass aber »kaum einer wissen
waren die Opfer mit der Geiselnahme würde, wie viele Geiseln bei dem At-
»bereits so gut wie tot«. Die Behör- tentat umgekommen sind«.
den veröffentlichen schon am 19. Sep- Peter Ahrens, Anne Armbrecht,
tember 1972 eine »Dokumentation«. Guido Mingels n

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D E B AT T E D E M O K R AT I E

Gibt es Cancel Culture? Und bedroht sie


die Meinungsfreiheit?
Ein Streitgespräch unter zwei SPIEGEL-Redakteuren
Zwei Texte der Redakteure René sen wir über die Aussage an sich spre- Ich halte es für extrem gefährlich, weil
Pfister und Jonas Schaible sorgten in chen: Natürlich glauben Menschen, es mit dafür sorgt, dass Populisten wie
dieser Woche für Diskussionen in dass sie Probleme bekommen kön- Donald Trump oder Björn Höcke ge-
der Leserschaft, aber auch in der nen, wenn sie offen ihre Meinung sa- wählt werden.
SPIEGEL -Redaktion. Pfisters »Ein fal- gen. Menschen wägen ständig ab, was Schaible: Ich würde ja Donald Trump
sches Wort« über die Bedrohung der sie sagen können. Wie wird das Um- und Björn Höcke nicht Populisten
Meinungsfreiheit und Schaibles »Wa- feld reagieren? Wie der Arbeitgeber? nennen, sondern radikale Rechte.
rum wir den Begriff Cancel Culture Wie der Partner? Was erlaubt das Aber wir springen schon wieder zwi-
canceln sollten« waren unabhängig Gesetz? Wie das Sprichwort sagt: Nur schen Lagebeschreibung und behaup-
voneinander entstanden und kamen Betrunkene und Kinder sagen die teten Folgen.
zu völlig unterschiedlichen Bewertun- Wahrheit. Wann soll das je anders ge- Pfister: Die Datenlage ist vollkommen
gen. Nun haben die beiden in einem wesen sein? eindeutig, dass es in etlichen Ländern
Chat ihre Argumente ausgetauscht. Pfister: Das Problem ist nur: In einer der westlichen Welt – den USA,
Demokratie kann man in der Anony- Deutschland, auch Großbritannien
Schaible: René, Du hast in der ver- mität der Wahlkabine seinen Protest – eine große Zögerlichkeit gibt, kon-
gangenen SPIEGEL -Ausgabe einen ausdrücken, den man öffentlich nicht troverse Themen offen und streitbar
Text darüber veröffentlicht, wie eine mehr zu artikulieren wagt. Davon zu diskutieren. Ich glaube, dafür gibt
»linke Ideologie aus Amerika unsere profitieren dann vor allem Populisten es eindeutige Gründe. Du hingegen
Meinungsfreiheit bedroht«. Du hast und Antidemokraten. sagst, schon diese Grundannahme sei
sogar ein Buch darüber geschrieben, Schaible: Das sind mir jetzt zwei falsch, und ich frage mich: warum?
über Identitätspolitik und Cancel Schritte zu viel bis in die Wahlkabi- Schaible: Natürlich gibt es eine Zö-
Culture. Fragst Du Dich in ruhigen ne, zumal die Annahme gar nicht gerlichkeit, aber ich glaube, es kann
Momenten manchmal, ob Du über- schlüssig ist. Du behauptest, es sei nicht anders sein. Du sagst ja selbst,
zogen hast? ein neues Phänomen, dass Menschen Du seist ein Fan von Tabus. Für
Pfister: Ich denke nicht. Wir haben glauben, sie könnten nicht alles sa- die Verfallserzählung, es sei heute
zum Essay eine Umfrage in Auftrag gen. Ich wüsste nicht, wann und wo schlimmer als früher, gibt es, anders
gegeben. Die hat ergeben, dass es je so gewesen sein soll, dass alle als Du behauptest, keine eindeutige
52 Prozent der Deutschen glauben, glaubten, alles ungeniert sagen zu Datenlage. Der Kern ist ein anderer:
sie bekämen Probleme, wenn sie of- können. Und ich weiß auch nicht, Neu ist nicht, dass bestimmte Aus-
Stephen Voss / DER SPIEGEL

fen ihre Meinung sagen. 52 Prozent! wie man ernsthaft behaupten könn- sagen tabuisiert werden oder auf
Die Zahl hat selbst mich überrascht. te, dass das gut wäre. Kritik stoßen. Neu ist, welche Aus-
Als Allensbach im vergangenen Jahr Pfister: Ich behaupte nicht, es sei ein sagen das sind. Darüber können wir
eine ähnliche Frage gestellt hat, sag- neues Phänomen. Ich bin sogar ein gern reden.
ten 44 Prozent der Deutschen, sie großer Fan des Tabus und seiner zi- Pfister: Ich glaube, die Debatte über
glaubten nicht, frei ihre Meinung vilisatorischen Wirkung. Es muss ein das Selbstbestimmungsgesetz in
äußern zu können. Pfister, geboren Tabu sein, den Holocaust zu leugnen. Deutschland ist ein gutes Beispiel, wie
Schaible: Dass Menschen das in Um- 1974, seit 2004 Es sollte geächtet werden, wenn sich die Debattenkultur zum Schlech-
beim SPIEGEL,
fragen sagen, nachdem sie seit Jahren ist Korrespon- Alexander Gauland erklärt, die Nazi- teren gewandelt hat. Ich halte es für
in Zeitungen lesen, wie bedroht die dent in Washing- zeit sei ein »Vogelschiss« in der deut- richtig, dass das alte Transsexuellen-
Meinungsfreiheit sei, ist doch kein ton, D. C. schen Geschichte. Aber wenn schon gesetz abgeschafft und es erleichtert
Wunder. Man bräuchte schon ordent- der Satz, »Woher kommst Du?«, eine wird, den Eintrag im Pass zu ändern,
liche Langzeiterhebungen, aber die rassistische Grenzüberschreitung dar- wenn man sich nicht mit seinem bio-
gibt es nicht. stellen soll, dann sagen viele berech- logischen Geschlecht identifiziert.
Dominik Butzmann / DER SPIEGEL

Pfister: Allensbach fragt die Deut- tigterweise: Das ist verrückt. Aber das neue Gesetz wirft enorm
schen seit 1953, ob sie frei ihre Mei- Schaible: Gut, dann halten wir erst viele Fragen auf, die diskutiert wer-
nung sagen können. Noch nie war mal fest: Die bloße Tatsache, dass den müssen: Was passiert mit Schutz-
der Wert so niedrig wie im vergan- Menschen sagen, sie könnten nicht räumen für Frauen? Ist es gerecht,
genen Jahr. Ich finde, wenn die mehr alles sagen, ist kein Problem dass Transfrauen am Frauensport teil-
Mehrheit der Bürger das Gefühl hat, und bedeutet erst einmal keinen Ver- nehmen, auch wenn sie körperlich
es ist besser, den Mund zu halten, statt fall der Demokratie. viel stärker sind? Wie gehen wir mit
sich zu kontroversen Themen zu Pfister: Wir können gern festhalten, der enorm gestiegenen Zahl von
äußern, dann hat die Demokratie ein Schaible, geboren dass Du es für unproblematisch hältst, Mädchen in der Pubertät um, die
1989, ist seit 2019
ernstes Problem. beim SPIEGEL und
dass die Mehrheit der Bürger lieber sich eine Geschlechtstransition wün-
Schaible: Bevor wir über diese arbeitet im den Mund hält, als offen über kon- schen? Wenn man all diese schwieri-
Schlussfolgerung reden können, müs- Hauptstadtbüro. troverse politische Themen zu reden. gen Fragen mit dem Argument vom

52 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


David Klammer / laif
Tisch wischt, dies sei »transfeindlich«, Großdiagnose über die bedrohte Black-Lives-Matter- lässt. Oder dass Du Dich instrumen-
dann wird das nicht die Akzeptanz Meinungsfreiheit? Warum belastet Demonstrantin talisieren lässt. Vielleicht ist Dir das
für ein neues Gesetz fördern, sondern man sich mit diesem ganzen Diskurs- in Köln 2020: Ist die Thema aus anderen Gründen wichtig.
Frage nach der
nur die Spaltung der Gesellschaft. schutt, anstatt einfach über die Sache Herkunft rassistisch? Pfister: Das Thema ist deshalb inte-
Schaible: Ich glaube, das Thema wird zu reden? ressant, weil es beispielhaft eine Dis-
sehr viel größer gemacht, als es für Pfister: Du benutzt genau das Argu- kursmethode vorführt, die aus den
alle ist, die nicht betroffen sind. Für mentationsmuster, das ich in meinem USA nach Deutschland importiert
Transpersonen geht es um die Identi- Buch kritisiere. Wer einfach nur über wird. Wenn man jemanden politisch
tät, für die anderen werden die Fra- das Gesetz diskutieren will und dazu erledigen oder mundtot machen will,
gen überproportional aufgeblasen. vollkommen berechtigte Fragen geht man nicht auf seine Argumente
Der Großteil sexueller Übergriffe ge- hat, lässt sich angeblich von rechts ein, sondern wirft ihm vor, rassistisch,
schieht im persönlichen Nahfeld, da »instrumentalisieren«. Ich glaube, transphob oder sexistisch zu sein.
muss man sich nicht über ein paar kurzfristig kann man mit dieser Ein- Schaible: Also ich will Dich weder
Transfrauen in Schutzräumen oder schüchterungsmethode sogar politi- politisch erledigen noch mundtot
Umkleiden zergrübeln. Es gibt nur sche Geländegewinne erzielen. Lang- machen.
eine Handvoll Spitzensportlerinnen, fristig wird es indes dazu führen, dass Pfister: Ich habe in den USA mit
die im Wettbewerb mit einer Trans- wir den amerikanischen Weg gehen: einem Datenanalysten namens David
frau stehen könnten. Schätzungen hin zu einer gespaltenen Gesellschaft, Shor gesprochen, der Barack Obama
zufolge machen Transpersonen ein in der die Sprachcodes in einem Teil 2012 bei der Wiederwahl geholfen
viertel bis ein halbes Prozent der Be- immer feiner werden. Während auf hat. Shor hat im Sommer 2020 auf
völkerung aus. Dass sich die Mehr- der andere Seite auch noch der plat- Twitter gewarnt, dass die gewalt-
heitsgesellschaft derart damit befasst, teste rassistische oder sexistische samen Proteste nach dem Tod von
liegt natürlich daran, dass das Thema Spruch als Ausdruck einer offenen George Floyd, verursacht durch einen
von sehr weit rechts immer wieder Debattenkultur gefeiert wird. Ich will weißen Polizisten, Trump helfen
aufgebracht wird, um das Störgefühl das nicht erleben. könnten, sich im Weißen Haus zu hal-
zu instrumentalisieren, das Men- Schaible: Du verdrehst meine Aus- ten, weil der Präsident sich als Law-
schen haben, wenn jemand nicht so sage. Ich habe gesagt, dass radikale and-Order-Mann präsentieren kann.
ist, wie sie es sich als normal vorstel- Rechte vor allem in den USA das The- Es war ein durch und durch vernünf-
len. Man kann ja meinetwegen die ma instrumentalisieren. Ich habe tiges Argument. Dennoch wurde er
Fragen, die Du aufwirfst, diskutieren. nicht gesagt, dass jeder, der das The- von seinem Arbeitgeber gefeuert,
Nur warum braucht man dafür eine ma aufgreift, sich instrumentalisieren weil Aktivisten einen Shitstorm gegen

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 53


D E B AT T E D E M O K R AT I E

ihn anzettelten und ihm »antischwar- »Nur Be­ treibt, sondern sie auch mit politi- matischer, mit der Staatsmacht im
ze Ressentiments« vorwarfen. scher Energie versorgt. Ich finde die Rücken, und sie zielen sogar auf
Schaible: Moment, ich wollte wissen, trunkene und Haltung, die hinter Deiner Frage die Demokratie selbst. Darüber hast
warum Du nicht einfach über das Kinder steht, absolut gefährlich, weil sie dafür Du viel geschrieben. Aber siehst
Thema Selbstbestimmungsrecht für sagen die sorgt, dass das Vertrauen in den Jour- Du nicht, dass die Proportionen ver-
Transpersonen sprichst, ohne die nalismus verloren geht. Die Leute er- rutschen, wenn Du eine Ideologie aus
ganz große Verfallsgeschichte zu er- Wahrheit. warten doch zu Recht von uns, dass Amerika beklagst, die die Meinungs-
zählen. Und Du antwortest, das Wann soll wir mit kritischem Blick auf alle Seiten freiheit gefährdet, und nicht den
Thema sei doch nur als Beispiel inte- des politischen Spektrums schauen. radikalisierten US-Konservatismus
ressant, um Deine große Verfallser- das je anders Schaible: Das erwarten sie zu Recht. meinst?
zählung zu stricken. Das ist ein Zir- gewesen Ich sage deshalb nicht, dass man da Pfister: Was die Beschreibung der Re-
kelschluss. Du drehst es, wie Du es sein?« nicht hinschauen sollte. Ich glaube publikaner angeht, gebe ich Dir in
für Deine These brauchst. sogar, dass es da etwas zu sehen gibt. weiten Teilen recht. Ein Kapitel in
Pfister: Das Selbstbestimmungsgesetz Jonas Schaible Ich bin lediglich überzeugt, dass es meinen Buch heißt übrigens »Cancel
ist ein gutes Beispiel dafür, wie mit sehr, sehr anders aussieht, als die ra- Culture von rechts«. Aber was Du
moralischer Erpressung und Ächtung dikale Rechte behauptet, und dass verlangst, ist im Grunde, dass wir im
der anderen Meinung versucht wird, man das, was da ist, überhaupt nur politischen Kampf Kombattanten
Politik zu machen. Ein Phänomen,
»Das Problem: erkennt, wenn man sich möglichst werden. Will ich, dass Donald Trump
von dem Du behauptest, es würde gar In einer freimacht von deren Erzählungen. noch einmal Präsident wird? Nein.
nicht existieren. Demokratie Die sind ja auf maximalen politischen Aber das kann doch nicht bedeuten,
Schaible: Das ist jetzt wieder die glei- Effekt getrimmt, nicht auf Erkenntnis. dass ich deshalb unkritisch auf Joe
che Behauptung in anderen Worten. kann man Und das erwarten die Leute auch von Biden, die Demokraten und deren
Ich bestreite in dieser Allgemeinheit in der Anony­ uns, oder nicht? politische Verbündete schaue.
übrigens nicht, dass mit moralischer mität der Pfister: Ich schreibe, was ich für rich- Schaible: Ich habe keine Sorge, als
Erpressung, wie Du es ausdrückst, tig halte. In meinem Buch beschreibe Gegner von Antidemokraten gesehen
Politik gemacht wird, das scheint mir Wahlkabine ich, wie Teile der Linken in den USA zu werden. Das schreckt mich weni-
ein ziemlich üblicher strategischer seinen Protest eine tiefe Skepsis gegenüber den Prin- ger als die Aussicht, dass Antidemo-
Kniff in der Politik zu sein. Ich be- zipien des liberalen Rechtsstaats ent- kraten wie Trump an die Macht kom-
streite noch nicht einmal, dass es Bei-
ausdrücken.« wickelt haben, die ich zum Teil sogar men. Was nicht heißt, dass ich unkri-
spiele für das geben kann, was Du René Pfister verstehen kann. Natürlich hat der tisch auf irgendeine Partei schaue, ich
Cancel Culture nennst. Nur bevor ich Civil Rights Act aus dem Jahr 1964 nehme nur Position für die demokra-
mich darauf einlasse, hätte ich zwei nicht die Gleichstellung von schwar- tische Seite an sich.
Fragen an Dich, wenn ich darf. zen und weißen Amerikanern ge- Pfister: Es ist interessant, dass Du aus-
Pfister: Bitte. bracht, die man sich erhofft hatte. gerechnet das 1619-Projekt erwähnst,
Schaible: Du hast meinen Hinweis, Aber wenn wir daraus den Schluss weil es ein Paradebeispiel dafür ist, wie
dass die radikale Rechte in den USA ziehen, dass wir die Meinungsfreiheit liberale Medien in den USA ihre
immer wieder das Thema Transrech- einschränken müssen oder einzelne Glaubwürdigkeit verspielen. In der
te aufbringt, mit dem Vorwurf abge- Gruppen je nach Hautfarbe oder Ge- Artikelserie wurde nämlich zuerst be-
wehrt, ich würde Dir unterstellen, schlecht aus dem Diskurs ausschlie- hauptet, dass das wahre Gründungs-
Dich instrumentalisieren zu lassen. ßen, dann begeben wir uns auf einen datum der USA nicht die Unabhängig-
Nun sind wir uns hoffentlich einig, gefährlichen Pfad. keitserklärung vom 4. Juli 1776 war,
dass die Kritik an Cancel Culture, Schaible: Meine zweite Frage wäre sondern die Ankunft der ersten Skla-
Identitätspolitik, Political Correct- die: Die Republikaner in den USA ven in Virginia im Jahre 1619. Nikole
ness, an Sprachverboten oder Denk- sind eine in weiten Teilen offen auto- Hannah-Jones schrieb in ihrem Artikel,
verboten sehr offensiv und strategisch ritäre Partei. Sie erkennen Wahlen nicht das Streben nach Unabhängigkeit
von radikalen Rechten geführt wird. nicht an. Sie verbannen Bücher, weil sei das Motiv für die Abspaltung von
Von Trump und seinen Gefolgsleuten die zum Beispiel LGBTQIA+-Themen der britischen Krone gewesen, sondern
und noch extremeren Akteuren, von behandeln. Sie gehen massiv gegen der Wunsch, weiter die Sklaverei be-
der AfD und anderen Parteien. Ich das 1619-Projekt der »New York treiben zu können. Eine Behauptung,
verstehe das Argument, dass man wei- Times« vor, das die Geschichte der die durch nichts gedeckt ist außer durch
terhin sagen können muss, was man USA von der Landung des ersten den Wunsch, Geschichtsschreibung für
für wahr hält, auch wenn es Ex- Sklaven her erzählt, und sie versuch- eine neue antirassistische Ideologie
tremisten sagen. Aber warum nicht mit ten, die Berufung der Verantwort- passend zu machen.
anderen Begriffen, anderen Beispielen, lichen Nikole Hannah-Jones auf eine Schaible: Die Idee dieses Projekts ist,
einem anderen Sound, weniger Dra- Professur zu verhindern. Sie schrei- dass sich die Geschichte der USA
matik, mehr Unterscheidungen? ben Schulen vor, mit welchen Bü- auch von diesem Datum aus erzählen
Pfister: Ich bin jetzt drei Jahre lang in chern sie lehren dürfen. Sie schneiden lässt. Und das geht natürlich. Es ist
den USA, und ich würde sagen, ich Unternehmen von Staatsaufträgen sogar erhellend, finde ich. Machen
habe 70 bis 80 Prozent meiner Zeit ab, weil die sich aus der Finanzierung verschiedene Perspektiven nicht klü-
damit verbracht, über Donald Trump von fossilen Energien zurückziehen. ger? Wird da nicht etwas sichtbar, was
zu berichten. Ich glaube, dass er bei Trump ging sowieso permanent gegen bisher unsichtbar war, ohne dass alles
Weitem die größte Gefahr für die die freie Presse und Meinungsfreiheit vorher falsch wird?
amerikanische Demokratie ist. Das vor. Drohungen und Gewalt kommen Pfister: An das Konzept, dass Falsch-
heißt allerdings nicht, dass man nicht besonders heftig von radikal rechts. behauptungen die Menschen klüger
auch mit klaren Worten die Gefahren Mit anderen Worten: Sie machen ge- machen, glaube ich nicht. Lass mich
einer dogmatischen Linken be- nau das, was als Cancel Culture ge- mal eine Frage stellen: Warum ver-
schreibt, die Trumps MAGA-Bewe- geißelt wird, wenn es von links teidigen Linke so vehement die Idee,
gung nicht nur Wähler in die Arme kommt, nur viel heftiger, viel syste- dass es in Ordnung ist, die Meinungs-

54 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


freiheit einzuschränken? Ich dachte in bestimmten Codes als in Konstel- »Wer einfach gressiven Lager reicht es nicht mehr,
immer, die freie Rede sei ein Instru- lationen: wenn die Ächtung von sehr Feminist zu sein, man muss ein inter-
ment des Fortschritts. Mächtigen gänzlich Ohnmächtige vollkommen sektionaler Feminist sein. Annalena
Schaible: Ich weiß nicht, was Linke trifft oder etwa Menschen gar keine berechtigte Baerbock muss sich entschuldigen,
tun und warum. Ich weiß, was ich tue: Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu Fragen weil sie das N-Wort benutzt hat, als
Natürlich ist die freie Rede ein In- ändern – wie im Fall der damals sie erklären wollte, dass es noch ras-
strument des Fortschritts und deshalb 27-jährigen Alexi McCammond, die hat, lässt sich sistisches Unterrichtsmaterial gibt.
zu verteidigen, darum bin ich persön- Condé Nast zur neuen Chefredakteu- angeblich Über Elke Heidenreich schwappte
lich ein überzeugter Streiter für die rin der »Teen Vogue« machte. Dann eine Welle der Empörung, weil
Demokratie. Sie war nur nie schran- tauchten zehn Jahre alte Tweets auf,
von rechts sie Menschen danach fragt, wo sie
kenlos und wird es nie sein. Daher die sie als Teenagerin geschrieben und ›instrumen­ herkommen. Findest Du das nicht
bestreite ich ja, dass es im Großen und in denen sie sich verächtlich über talisieren‹.« gruselig? Am Ende erwischt es
Ganzen eine gefährliche Einschrän- Asiaten und Homosexuelle geäußert selbst Dich.
kung der Meinungsfreiheit gibt. Und hatte. Sie hatte die Tweets bereits René Pfister Schaible: Ach, die Gruselshow funk-
schließlich: Solange Du darauf be- 2019 gelöscht und um Entschuldigung tioniert bei mir nicht. Ich bin über-
stehst, dass nichts weniger als das der- gebeten. Nichts deutet darauf hin, zeugt, dass das alles nicht so heiß ge-
zeit geschieht, werden wir nie zu dem dass sie heute noch so denkt oder ihre »Ich habe gessen wird, wie Du es mit Begriffen
Punkt vordringen, an dem wir viel- Entschuldigung nur so dahergesagt wie »sektenhaft«, »dogmatisch« und
leicht sogar einig werden, dass be- ist. Der Verlag kannte die Tweets. nicht gesagt, »moralischer Rigorismus« kochst.
stimmte Sprachcodes, Sensibilitäten Trotzdem trat sie ihre Stelle nach Pro- dass Du Dich Darf ich zum Schluss noch eine letz-
oder die Art, sie vorzubringen, pro- testen nicht an. Hier ist dann wie so instrumentali­ te, diesmal kurze Frage loswerden?
blematisch sein können. Fast alles oft nicht die Kritik das Problem, son- Pfister: Bitte.
kann problematisch werden. Wann dern die Reaktion von überforderten sieren lässt.« Schaible: Ich habe in diesem Ge-
und welche und wie und warum – das Unternehmen. Jonas Schaible spräch bei jedem Wort überlegt, ob
wären die schwierigen Fragen. Die Pfister: Ich glaube, der Fall von ich es verwenden will. Wie es wirkt
Antworten wären komplizierter und Alexi McCammond zeigt das Sekten- – auf Dich, auf die Leserinnen und
weniger grell als: Woke-Wahnsinn. hafte der dogmatischen Linken sehr Leser. War das nun Ausdruck einge-
Pfister: Und um wieder eine friedli- gut. Eine schwarze Frau mit makel- schränkter Meinungsfreiheit?
chere Note in dieses Gespräch zu loser progressiver Biografie wird Pfister: Ich würde es eher Stil nennen.
bringen: Welche Sprachcodes nerven aussortiert, weil sie als Teenager ein Schaible: Zu anderen Gesprächspart-
denn Dich? paar dämliche Tweets abgesetzt hat. nern würden wir jetzt sagen: Danke
Schaible: Ich finde es gar nicht so un- Und dieser moralische Rigorismus für das Gespräch, oder?
friedlich. Probleme sehe ich weniger schwappt nach Deutschland. Im pro- Pfister: Danke für das Gespräch. n

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SCHLAF
REPORTER
»Wovon träumen
Spinnen,
Frau Rößler?«
SPIEGEL: Sie haben schlafende
Spinnenbabys gefilmt. Was
haben Sie gesehen?
Rößler: Sie zucken regelmäßig
im Schlaf. Und sie bewegen
dabei die Augen. Wie andere
Lebewesen das tun, wenn sie
träumen.
SPIEGEL: Warum Spinnenbabys?
Rößler: Das Exoskelett von
Spinnenbabys ist in den ersten
Tagen ihres Lebens durchsich-
tig, sodass die Netzhautröhren
im Inneren des Kopfs sichtbar
sind. Das ist natürlich praktisch.
SPIEGEL: Und wovon träumen
Spinnen? Vom perfekten Netz?
Rößler: Springspinnen bauen
keine Netze. Die jagen wie Kat-
zen, sie schleichen sich an, oder
sie rennen ihrer Beute hinter-
her. Vielleicht träumen sie von
der perfekten Fliege.
SPIEGEL: Als Nächstes wollen Sie
Ihren Spinnen Videos vorspielen.
Rößler: Spinnen können wir
Privat

direkt vom Ei-Stadium an sepa-


rieren. Und so kontrollieren,
was sie jemals zu sehen bekom-

Sommer in Odessa, 1977 men. Und wenn man so einer


Spinne etwa ein Video vorspielt
von einer kleinen Fliege, die
immer wieder in bestimmten
FAMILIENALBUM Sylvia Rosenkranz-Hirschhäuser, 72, aus Weilrod Loopings fliegt, und dann nachts
die Bewegungen der Netzhaut

A uf diesem Foto sitze ich im Sommer 1977


mit unseren Hunden am Fuß der berühm-
ten Potemkinschen Treppe in Odessa,
die die Innenstadt mit dem Hafen verbindet. Sie
blumenfelder. Wir sahen auch viele Heldenstatuen
und Denkmäler, auf die alle Sowjetbürger stolz
waren, gleichgültig, ob sie Russen, Ukrainer, Bela-
russen oder Georgier waren. Sie einte das Gefühl
aufzeichnet, kann man schauen,
ob sich Fragmente von diesen
Loopings darin wiederfinden.
Das könnte eine Aussage darüber
ist das Wahrzeichen der Stadt. Die Treppe hat des gemeinsamen Sieges im Großen Vaterländi- ermöglichen, ob die Spinne im
192 Stufen und ist spätestens seit dem Film »Pan- schen Krieg. Schlaf tatsächlich etwas Erleb-
zerkreuzer Potemkin«, der 1925 gedreht wurde, Der Blick auf das Foto in diesen Wochen tes verarbeitet.
die wohl berühmteste Treppe der Welt. schmerzt. Die Reise von damals wäre unwieder- SPIEGEL: Warum erforscht
1977 war ich mit meinem damaligen Mann holbar für die Generation der 28-Jährigen von man überhaupt den Schlaf von
und meinen Hunden auf einer 17-monatigen Reise. heute. Von Odessa fuhren wir weiter durch die Spinnen?
In einem alten, klapprigen, selbst ausgebauten Sowjetunion, nach Russland und dann über Geor- Rößler: Es ist Grundlagenfor-
Hanomag-Bus waren wir aufgebrochen, um die gien und Afghanistan in den Irak, nach Syrien, schung. Spinnen sind faszinie-
Welt zu sehen. Ich war 28 Jahre alt und hatte Jordanien, Libanon. Wenn ich mir vergegenwär- rende Tiere. Sie können planen.
für diese Reise meine Beamtenstelle als Grund- tige, was aus all diesen Ländern geworden ist, Sie können sich Sachen merken,
schullehrerin kündigen müssen; dass ich sie kommen mir die Tränen. sie kommunizieren miteinander,
später zurückbekommen würde, wusste ich da Ich bin jetzt fast 73 Jahre alt, und ich reise im- sie können vielleicht träumen.
noch nicht. Damals konnte man sich noch nicht mer noch. Zuletzt war ich in der Südsee und auf Wir wissen wieder etwas mehr
beurlauben lassen. Ich habe es nie bereut. Grönland. Das Reisen hat mich geprägt. Es hat über die Wunderwelt direkt vor
Es machte keinen Unterschied, ob wir Belarus, meinen Blick auf die Welt geöffnet, ich habe viele unseren Füßen. Und was man
die Ukraine, Russland oder Georgien bereisten. unterschiedliche Menschen, Kulturen und Sicht- kennt und vielleicht ein biss-
Es gab keine Staatsgrenzen, keine Grenzbeamten. weisen kennen- und respektieren gelernt. Das chen versteht, wird man eher
Es war kein Thema unter den Reisenden und kein Reisen ist wie ein Virus: Wenn man es einmal hat, schützen. FHU
Thema unter den vielen Einheimischen, die mit wird man es nicht wieder los.
uns sprachen. Alle verstanden sich als Sowjetbür- Aufgezeichnet von Frauke Hunfeld Daniela Rößler, 33, forscht an
ger. Wir trafen auf große Gastfreundschaft, auf ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre
der Universität Konstanz
herzliche, hilfsbereite Menschen. Es war friedlich Geschichte erzählen möchten? Schreiben Sie an: und dem Max-Planck-Institut
entlang der unendlichen Weizen- und Sonnen- familienalbum@spiegel.de für Verhaltensbiologie.

56 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


Monate zuvor auf die Welt gekom-
men war. »Ich habe meiner Familie
immer wieder gesagt: Wenn ich ster-

Mast gen Meeresboden ben sollte, seid nicht traurig. Ich hat-
te ein super Leben.«
Die Wellen schlugen voller Wucht
gegen das Schiff. Der Stromgenerator
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie ein Segler 16 Stunden in seinem sprang an. Ein Kanister lief aus, Was-
durchgekenterten Schiff auf dem Atlantik überlebte ser und Treibstoff mischten sich.
Camprubis Augen brannten. Er ver-
hedderte sich in Stromkabeln, die ihn
m frühen Abend des 1. August mache er Extremsport: auf dem Mo- »Ich hatte umschlangen. Er fror. Das Boot wur-
A schloss Laurent Camp ru bi
für ein paar Minuten die Au-
gen. Er versuchte zu schlafen. Mit
torrad, auf dem Rennrad.
Diesmal wollte er sich qualifizieren
für die Route du Rhum, eine legen-
noch nie
Angst zu
de von den Wellen hin und her ge-
worfen. Camprubi verschluckte Was-
ser. Er spürte seine Beine vor Schmer-
seiner Jacht »Jeanne Solo Sailor« däre Segelregatta. Der französische sterben.« zen nicht mehr.
segelte er in der Nähe der Sisargas- Rekordsegler Francis Joyon und der Nach seinem Notruf kreiste ein
Inseln vor der Küste Galiziens, ein Deutsche Boris Herrmann haben da- Hubschrauber der spanischen See-
Archipel, keine Menschen, nur Trot- ran teilgenommen. Die Strecke führt notrettung über dem gekenterten
tellummen und Alpensegler, 43 Grad 3542 Seemeilen quer über den At- Boot, ein Rettungsschiff mit fünf
34 Minuten Nord, 8 Grad 59 Minu- lantik, von der Bretagne nach Guade- Tauchern fuhr aufs Meer hinaus. Sie
ten West. loupe in der Karibik. suchten nach Laurent Camprubi.
Plötzlich sei Wasser in sein Boot Er habe sich schon nahezu alles Aber nichts. Kein Mensch weit und
gelaufen, sagt Laurent Camprubi. Er gebrochen, die Rippen, das Becken, breit.
sprang auf, wollte die Segel einholen, die Nase. Gegen 23 Uhr landete ein Ret-
schaffte es nicht. Er selbst trage keine Schuld an tungstaucher mit großen schwarzen
Er rettete sich in die Kajüte unter dem Unfall, sagt er. Eine Welle habe Flossen auf dem gekenterten Schiff,
Deck, versuchte die Tür hinter sich offenbar den Kiel des Bootes abgeris- festgeschnallt an ein Seil. Eine Kame-
zu schließen, das Wasser schoss hi- sen. Vielleicht ein Konstruktionsfeh- ra nahm ihn von oben auf. Schwarz
nein, doch ihm fehlte die Kraft. ler. Die Werft der Jacht schreibt auf das Meer, weiß der Rumpf des geken-
15 Sekunden dauerte es, die Jacht Facebook, sie untersuche den Fall. terten Schiffs. Es wankte. Wellen
drehte sich um und schwamm nun Laurent Camprubi wohnt in Mar- schwappten darüber. Ein Scheinwer-
Rumpf gen Himmel, Mast gen Meer- seille. Er ist 62 Jahre alt und entwirft fer leuchtete den Taucher an.
boden. Drinnen stand dem Segler Designerschuhe für Frauen. Sein Pro- Er erstarrte für einen kurzen Mo-
das Wasser bis zur Brust, es war circa filbild auf WhatsApp zeigt ihn mit ment. Dann schlug er mit seiner rech-
15 Grad Celsius kalt. Unter Deck freiem Oberkörper, eine silberne Ket- ten Hand von oben gegen den Rumpf.
schuf eine Luftblase einen kleinen te ziert seine muskulöse Brust. Einmal, zweimal, dreimal. Laurent
Raum zum Atmen. Seinen Kopf hielt Als er im Innenraum seiner Jacht Camprubi schrie von unten: »Ey!
er darüber. Er griff nach einem vor Galizien gefangen war, wurde Ey!« Der Taucher blickte nach oben,
orangefarbenen Überlebensanzug die Luftblase immer kleiner, erst war zum Hubschrauber, winkte hektisch
und zog ihn an. Um 20.23 Uhr sen- sie 70 Zentimeter hoch, irgendwann Französisches
mit seinem Arm.
dete er ein Notsignal. nur noch 30 Zentimeter. Unter Deck Segelboot »Jeanne Sie hatten ihn gefunden. Drei gelbe
Ein Mensch im Wasser kühlt aus. war es laut und dunkel. Er sah kaum Solo Sailor« Auftriebsballons wurden am Schiffs-
Die Blutgefäße verengen sich. Erst etwas, seine Brille hatte er verloren. nordwestlich der rumpf befestigt.
Sisargas-Inseln,
schmerzen Arme und Beine, dann Er sagt, er habe keine Panik ge- Screenshot von
Innen im Schiff hoffte Camprubi
werden sie taub. Nach einer Weile habt. Er dachte an seine Frau, die Twitter.com/ auf seine Rettung. Doch der Taucher
stellt das Hirn seine Arbeit ein. Die Kinder, das Neugeborene, das drei salvamentogob verschwand. Er hörte Hubschrauber-
Nerven leiten keine Signale mehr rotoren, doch auch sie entfernten sich
weiter. Bewusstseinsverlust. Das wieder. So ging das dreimal. Keiner
Herz schlägt nur noch ein- oder kam, um ihn herauszuholen. Die See
zweimal in der Minute. Das Blut war zu unruhig, 25 Knoten Wind-
stockt. geschwindigkeit, zwei Meter hohe
In 15 Grad Celsius kaltem Wasser Wellen, Dunkelheit. Die Retter muss-
überlebt ein Mensch nicht lange, ten auf den nächsten Tag warten.
mit jeder Stunde steigt die Wahr- Am Mittag des 2. August gelangten
scheinlichkeit zu sterben. Laurent zwei Rettungstaucher in sein Boot
Camprubi wartete 16 Stunden auf und befreiten ihn, er wurde an einem
seine Rettung. Seil in den Helikopter gezogen.
»Ich hatte noch nie Angst zu ster- Noch in der Luft rief er seine Frau an.
ben«, sagt er zwei Wochen später bei Er bekam kein Wort heraus. Beide
Twitter /salvamentogob

einem Videotelefonat. Er ist kurz an- weinten.


gebunden, gerade verbringt er seinen Er versprach, nie wieder sein Leben
Familienurlaub in der Bretagne. zu riskieren.
Camprubi ist kein Philosoph, kein Am 6. November startet die Route
großer Erzähler, er trägt seine Ge- du Rhum, die Segelregatta über den
schichte vor mit der Nüchternheit Atlantik. Laurent Camprubi will da-
eines Handwerkers, der vom letzten ran teilnehmen.
Rohrbruch erzählt. Seit seiner Jugend Miguel Helm n

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 57


REPORTER

Verwundet

BUNDESWEHR André Hassan Khan ist einer der erfahrensten Drohnenspezialisten


in Deutschland. Er war in Bosnien, Mali und Afghanistan im Einsatz,
heute ist er in Therapie. Was bedeutet moderne Kriegführung für Soldaten?
Von Jonathan Stock und Jens Umbach (Fotos)

58 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


REPORTER

n einem Tag im Frühling, kurz Sobald er den dampfende, piepende Backofen er- deswehr verändert hat in den vergan-
A vor neun Uhr, steht Stabsfeld-
webel André Hassan Khan vor
einem Supermarkt in Kiel. Blaue, hel-
Supermarkt
innerte ihn an eine Sprengfalle. Heu-
te will er es noch einmal versuchen.
Trigger nennen Traumapatienten
genen Jahrzehnten, wie sich das Land
verändert hat. Jahr für Jahr hat der
Bundestag die Einsätze verlängert,
betritt,
le Augen hinter der Brille, ein großer das, ein Geräusch, ein Gespräch kann im ehemaligen Jugoslawien, in Mali,
Bart in einem müden Gesicht. André erinnert es ihn ihn wieder dahin bringen, wo er ein- in Afghanistan. Fast 100 000 deut-
ist 45 Jahre alt, verheiratet, drei Pfle- nicht nur mal war. Fotos, ein Film, ein Geruch sche Soldaten dienten allein in Afgha-
gekinder, getauft. Er sucht den Park- bringen die Gefühle des Einsatzes nistan. Die Bilder von Massengrä-
platz nach seiner Therapeutin ab.
an den Krieg. zurück. Angstschweiß, Herzrasen, bern, von Gefechten, von Todesangst,
»Wie geht es Ihnen?«, fragt sie, als Er ist wieder Zittern, Atemnot, Übelkeit, sogar manchmal kommen sie erst nach 10,
sie ankommt. im Krieg. Ohnmachtsanfälle sind möglich. Das 20 oder auch 30 Jahren wieder hoch.
»Nervös«, sagt André. Gehirn macht keinen Unterschied Haben wir das Risiko unterschätzt?
»Wie hoch ist das Angstniveau auf zwischen vermuteter und echter Ge- Was heißt es, wenn für eine Gesell-
einer Skala von null bis zehn?«, fragt fahr. Sobald er den Supermarkt be- schaft der Krieg fast zum Normalzu-
sie. tritt, erinnert es ihn nicht nur an den stand wird? Die Wahrscheinlichkeit,
Zehn ist die größte vorstellbare Krieg. Er ist wieder im Krieg. irgendwann im Leben eine PTBS zu
Angst. Die beiden, Therapeutin und Sol- entwickeln, wird bei Männern auf
»Acht«, sagt André. dat, gehen langsam hinein, die Schie- fünf bis sechs Prozent geschätzt, bei
Es ist ein Supermarkt mit Fleisch- betür schließt sich hinter ihnen. Heu- Frauen auf zehn bis zwölf Prozent.
theke, Paketschalter und Blumen- te bleibt er wieder am Blumenstand Ein alter Gutshof in der Nähe von
stand. Vor ihnen packen Mütter ihre bei den Tulpen stehen, spannt seine Rendsburg. Im Garten eine alte,
Einkäufe in den Kofferraum, Opas Muskeln an. Die Ader an seinem mächtige Eiche. Ein rotes Bobbycar
gehen zum Friseur, Obdachlose su- Hals pulsiert, seine Hände verkramp- wartet im Gras. André wohnt hier
chen Kleingeld. André steht davor fen sich. Seine Sinne registrieren mit seiner Familie in einer kleinen
wie vor einem feindlichen Lager. Eindrücke wie Hammerschläge: das Wohnung zur Miete. Im Laufstall
Er hat Angst, einkaufen zu gehen. Piepen der Kasse. Ein Dröhnen von spielt das kleinste Kind. Jessy, Andrés
Große Angst. Für André ist das nach hinten, undefinierbar. Stöckelschuhe Frau, macht in der Küche Kaffee. Sie
27 Auslandseinsätzen alles Krieg. klackern laut auf dem Boden. Eine hat früher Demenzkranke betreut.
Unbekannte Menschen, Gedränge, lange Schlange von Menschen an der Zwei Totgeburten haben sie zusam-
geschlossene Räume, unklare Wege. Kasse. Einige gucken ihn an. Ein paar men durchgestanden, erzählen sie,
Sein Gehirn vermutet automatisch Jugendliche kommen herein, warum drei Pflegekinder ziehen sie groß, die
Gefahren. Das Konservenregal wird teilen sie sich auf? Ein Paket wird an Mittlere hat eine Entwicklungsstö-
zur Deckung, hinter der Theke könn- ihm vorbeigetragen. Was ist drin? rung, ein Haus haben sie zusammen
ten Scharfschützen sein, der Paket- »Sie können trotzdem entscheiden geplant. Hunderte Feldpostbriefe
stand zur Möglichkeit, Bomben zu zu bleiben«, sagt die Therapeutin. haben sie sich geschrieben. »Smile«
verstecken. Der Gang durch den Das Dröhnen von hinten ist eine steht über der Küchentür.
Supermarkt wird zum Häuserkampf. Spargelschälmaschine. Das Paket ist Nachts, erzählt André, schlafe er
Er möchte weglaufen, zugleich fühlt harmlos. Die Menschen schauen nur nur kurz ein, sei schnell wieder wach,
er sich wie gelähmt. Ein Albtraum ist aus Neugierde. Der Verstand soll er grüble stundenlang, wälze sich hin
sein Leben. den Körper beruhigen, ihn wieder und her, schlafe dann drei, vier Stun-
Noch vor einem Jahr war André Screenshots von zurückholen. Er bleibt. Erst mal. den am Tag. Oft werde er aus dem
Hassan Khans
einer der erfahrensten Spezialisten in Instagram-Account:
Andrés Geschichte ist eine Ge- Nichts heraus nervös, der Körper sei
der Drohnenausbildung der Bundes- Einblicke in ein schichte des Krieges. Und auch eine dann unter ständiger Anspannung. Er
wehr. Das Wissen seines Taktischen Soldatenleben Geschichte davon, wie sich die Bun- meidet Menschenmengen. Er kann
Luftwaffengeschwaders 51 »Immel- nicht ins Kino gehen, nicht ins Res-
mann« gibt es in Deutschland nur taurant. An schlechten Tagen geht er
einmal. Er hat bald 27 Dienstjahre gar nicht vor die Tür. Er hat Angst im
bei der Bundeswehr hinter sich. Er Dunkeln und ist immer auf der Hut,
zitierte Fontane, er bildete Feldwebel ob jemand Fremdes in seiner Nähe
und Oberstleutnants aus, zeigte jahre- ist. Und doch vermisse er das Gefühl,
lang auf Instagram sein Leben, trai- durch die Kamera zu blicken, mit der
nierte sich ein Sixpack an, redete vor Drohne in der Luft zu sein, sagt er.
200 Leuten, ohne zu zögern. »Nice Das ist das, was er kann. Seine Uhr
and shiny«, sagt André. Bis es nicht zeigt immer noch drei Zeitzonen an,
mehr ging. damit er weiß, wie spät es ist, in Af-
Vor einem Jahr postete André ghanistan, in Deutschland und in Tel
dann im Internet den Satz: »Ich habe Aviv. Im Schrank hinter ihm stapeln
PTBS.« PTBS ist die Abkürzung für sich die Medaillen des Militärs in
posttraumatische Belastungsstörung. Gold, Silber und Bronze. Bundes-
»Darüber zu schweigen wäre grober wehr, Nato-Missionen, Uno. Sein al-
Unfug«, schrieb er. Seitdem geht er tes Leben.
Instagram / andrehassankhan (9)

zur Therapie. Der Tag heute ist ein Im Fotoalbum Bilder vom Vater.
Erfolg für ihn. André will sich der Der kleine André bei einem Familien-
Angst aussetzen, um sie zu besiegen. ausflug der Bundeswehr. Er hockt auf
Das letzte Mal hat er es bis zum dem Boden, der Vater in Uniform
Blumenstand geschafft. Dann bildete riesengroß neben ihm. Sein Vater war
sich eine Schlange beim Bäcker, und ein ganzes Berufsleben bei der Bun-
André fürchtete eine Explosion, der deswehr, im Kalten Krieg, aber nie im

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 59


REPORTER

Gefecht. Das Gehalt war gut, freitags um Spaten oder Gewehr? Menschen, die vor dem Abendessen zu Hau­
zwölf Uhr ging es ins Wochenende nach se aus dem Sessel in New Mexico noch ein
Dänemark auf den Campingplatz. Der Krieg Zivilist oder Terrorist? paar Menschen töten. Deutsche Drohnen sind
ist nur eine Möglichkeit. Hätte, hätte, Fahr­ unbewaffnet, ihre Piloten immer im Einsatz­
radkette, sagt André über diese Zeit. Die Sol­
Wenn er einen Fehler macht, land. Er isst mit den Kameraden, die er be­
daten spielen bei Planspielen Blau gegen Rot. sterben Unschuldige. schützen soll, zu Abend, verabschiedet sie.
»Die Firma« nennt André die Bundeswehr. Er unterstützt ihre Patrouillen auf dem Bo­
Sein Vater kann noch nicht wirklich nach­ den, klärt die Lage bei Notfällen.
vollziehen, was mit seinem Sohn passiert ist. André fliegt die Drohne nicht, das macht
André sagt, sie fingen langsam an, darüber soll dafür sorgen, dass kein Staat im Staate der Pilot neben ihm. André ist das Auge. An
zu reden. Zwei Generationen begegnen sich, entsteht. Im Gegensatz zu anderen Militär­ dem Flieger sind vorn drei Kameras ange­
die eine sucht noch Worte für ihre Gefühle. nationen kennt die Bundeswehr auch deshalb baut, Infrarotkamera für Nachtaufnahmen,
Zur Bundeswehr zu gehen war selbst­ keinen unbedingten Gehorsam. André muss zwei Tageslichtkameras, zehnfacher Zoom.
verständlich für André, obwohl er am Anfang sich fragen: Ist das, was ich da mache, in Ord­ Den »Ball« nennen sie die Halterung. André
überhaupt keine Lust hatte. Der Vater in der nung? steuert sie mit einem Joystick. In einer Stan­
Panzertruppe, der Schwiegervater Fallschirm­ Abends sitzt er auf der Basis, trinkt Cola dardhöhe von vier Kilometern ist die Kamera
jäger. Der Bruder seines Großvaters starb und redet mit seinen Kameraden, Telefon­ ständig in Bewegung, immer am Rotieren.
als U­Boot­Soldat im Zweiten Weltkrieg, der anrufe nach Hause sind teuer. Als er zurück­ Aus der Höhe kann er in groben Pixeln Men­
Urgroßvater kämpfte im Ersten Weltkrieg. kommt, Monate später, ist die Freundin weg. schen sehen. Das Licht und der Winkel än­
Die Vorfahren kommen aus Britisch­Indien, André geht zur Luftwaffe. Er erstellt Flug­ dern sich ständig. Oft sieht er nur Graustufen
daher der Nachname: Hassan Khan. »HK« pläne, lernt Englisch, hat das erste Mal wirk­ durch die Infrarotkamera, wenn er nachts
nannten sie ihn bei der Bundeswehr. André lich Verantwortung, entwickelt Ehrgeiz. Er unterwegs ist. Er hat keinen Ton, keine Vor­
wird mit seinem Bart und dem Namen oft für wird Ausbilder, Prüfer. Dann bekommt er eine geschichte der Bilder, die er sieht.
einen Muslim gehalten, aber er ist christlich Einladung, sich mit Drohnen zu beschäftigen. 2010 geht er zum ersten Mal nach Afgha­
getauft. Jetzt, sagt André, sei er sich mit Gott In Deutschland gibt es dafür keine Ausbil­ nistan. Karl­Theodor zu Guttenberg ist Ver­
nicht sicher. dung, er muss nach Israel. Er erlebt ein Land, teidigungsminister. Guttenberg räumt erst­
André kommt 1995 als Wehrpflichtiger für das seit Jahrzehnten im Krieg ist. Wenn dort mals ein, man könne »umgangssprachlich von
die Grundausbildung nach Lüneburg. 1996 Raketenalarm ist, dann bleiben die Leute Krieg« in Afghanistan reden. Bisher wurde
heißt es, es gehe in den Einsatz: Bosnien und manchmal ruhig sitzen. Das beeindruckt ihn. das Wort »Krieg« von der Regierung ver­
Herzegowina. André unterschreibt für vier Die nächsten elf Jahre wird der Heron 1 sein mieden, es sei lediglich ein »Stabilisierungs­
Jahre. Er ist Anfang zwanzig. Die Soldaten Berufsleben. einsatz« hieß es.
sollen den brüchigen Frieden nach dem gera­ »Heron« ist das englische Wort für Reiher. »Tactical Operator« oder »Sensorbediener«
de zu Ende gegangenen Bosnienkrieg sichern, So heißen die israelischen Aufklärungsdroh­ heißt Andrés Funktion jetzt. Sein erster Einsatz
ein Auftrag in einem halb zerstörten Land. nen, die die Bundeswehr benutzt, auch wenn dauert fünf Monate. Wochenenden gibt es
Manchmal müssen deutsche Soldaten Hecken­ André den Ausdruck nicht mag. Drohnen, nicht. Jeden Tag ist eine Drohne in der Luft.
schützen mit scharfen Schüssen vertreiben. sagt André, seien Spielzeug, das Kindern zum Am Anfang brauchte André eine Weile,
Verteidigungsminister ist Volker Rühe. Er Geburtstag geschenkt wird. Ein Heron 1 hat um herauszufinden, dass da einfach nur ein
sagt: »Der Einsatz militärischer Mittel kann eine Spannweite von über 16 Metern, eine Mann den Rasen mäht oder ein Hirte auf dem
unmoralisch sein; es kann aber ebenso un­ Geschwindigkeit von bis zu 200 Stundenkilo­ Feld sitzt oder jemand in den Garten pinkelt.
moralisch sein, Streitkräfte nicht einzusetzen, metern, er kann auf 10 000 Meter Höhe flie­ Er müsse sich einfühlen in die Lage der Men­
wenn ihr Einsatz notwendig ist.« André soll gen, in einem Radius von 400 Kilometern schen da unten, sagt André, müsse zu ihnen
im Inventurtrupp arbeiten. »Nachschub­ weit, und 27 Stunden in der Luft sein. Das ist werden, müsse nachvollziehen, was sie da
Buchführer Unteroffizier« heißt Andrés neu­ kein Spielzeug. Das ist ein Flugzeug. machen. »Guesswork«, sagt André, Gedan­
er Titel, Abkürzung: NschBuchFhr. Wer an Drohnenpiloten denkt, der denkt kenspiel. Er fliegt oft so lange, bis er eine Lö­
Die Bundeswehr hatte sehr viel zu lernen, vor allem an die amerikanischen Einsätze, an sung hat. 3000 Stunden hat er seitdem am
sagt André, sie seien naiv gewesen. Die Auf­ Joystick gesessen. Aber was lösen die Bilder
fahrt der Logistikhalle ist neben der ehe­ aus? André muss, wie Ermittler bei der Poli­
maligen Front in Sarajevo. Die Anwohner zei, Bilder sehen, die er nicht sehen will.
legen ihnen Handgranaten vor die Tür, er Meist sucht er Straßen nach Sprengladun­
fährt mit einem VW­Bus durch die Gegend, gen ab. Einmal verfolgt er fünf Taliban in die
ungepanzert. Er sieht das erste Mal ameri­ Berge, sie schießen auf afghanische Truppen
kanische Kampfhubschrauber im Ausland. aus dem Hinterhalt. Am Bildschirm sieht er
Sie schlafen mit drei Männern in einem Con­ Schüsse als Hitzesignaturen durch das Bild
tainer. André zählt im Inventurtrupp Schrau­ fliegen, er hört über Funk die Einschläge, die
ben. »Du bist mit deinen Leuten den ganzen Aufregung der Kameraden. Er meldet den
Tag zusammen«, sagt André, »und obwohl Vorfall dem Hauptquartier, die fordern ame­
du Sorgen hast, bist du sorgenfrei. Deine Wä­ rikanische Luftunterstützung an. »Das Ziel«,
sche wird gewaschen, dein Essen wird ge­ sagt er, »wurde dann neutralisiert.«
macht.« Sorgenfrei im Krieg. Komisch, sagt Er fragt sich manchmal, ob er die fünf Men­
André, heute stresse ihn ein faltiges T­Shirt. schen auf dem Gewissen hat. »Ich denke«,
Als junger Soldat in Deutschland erlebt sagt er, »irgendwie schon.« Aber die Entschei­
er, dass Leute in Uniform nicht die Kaserne dung für die Luftunterstützung habe nicht er
verlassen dürfen, weil sie sonst angegriffen getroffen, er habe nur die Koordinaten weiter­
werden könnten. André macht sich Gedanken gegeben. Der Einsatz sei ein Erfolg gewesen.
über den Staatsbürger in Uniform, über Aufstandsbekämpfung. Im Krieg gelten eige­
Menschenrechte, über das Grundgesetz. Die ne Regeln. Ist das Gott spielen? Nein, sagt
Innere Führung, ersonnen unter anderem von André, Gott spielen hieße, wahllos Menschen
Generälen aus dem Kreis des Widerstands, Patient Hassan Khan in einem Supermarkt zu töten.

60 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


REPORTER

Hundetrainerinnen Astrid, Julia: 28 000 Euro für einen Assistenzhund Ehepaar Hassan Khan: 27 Einsätze, das heißt, 27-mal Lebewohl zu sagen

Er will keine Fehler machen, er will nie Rund 2000 Soldaten und Soldatinnen be­ te nie Mitleid. André war monatelang auf
Zivilisten treffen. Wenn er Hirten auf dem finden sich derzeit in Auslandseinsätzen – von Einsätzen. Sie hasste die Frage an der Kasse:
Feld sieht, beschäftigt er sich mit ihrer Kultur, insgesamt etwa 182 000 Soldaten. Normaler­ »Ist eigentlich dein Mann zu Hause?« An
mit ihren Feuerstellen. Er liest Bücher über weise sollen Soldaten eine längere Pause zwi­ einem Silvesterabend rief er sie an: »Egal was
afghanische Geschichte. Ein Brunnen mit schen den Einsätzen haben. Doch André ist du hörst, mir ist nichts passiert.« Nach dem
einer Schwenkpumpe könne von oben aus­ Spezialist, er wird immer wieder gebraucht, Anschlag in Mali rief er an: »Wenn du was
sehen wie ein Mörser, sagt André. Einmal deshalb hat er 27 Einsätze in zehn Jahren, hörst, alles in Ordnung, lass uns später spre­
sieht er, wie Männer von Haus zu Haus lau­ 1500 Tage im Dienst, 3000 Flugstunden. chen.« Sie wusste immer: Wenn André stirbt,
fen, bevor er feststellt: Da wird nur die Mitgift 27 Einsätze, das heißt: 27­mal der Familie stehen sie persönlich vor der Tür, immer zu
für eine Hochzeit ausgehandelt. Die Sensoren Lebewohl zu sagen, immer mit dem Risiko, zweit, meist ein Kommandeur und ein Pfarrer.
der Drohne sehen mehr als das menschliche nicht wiederzukommen. 3000 Flugstunden, Wenn André zurückkam, von irgendwo
Auge. Sie können dünne Wolkenschichten das heißt: 3000 Stunden, in denen er die Last aus der Welt, gingen sie feiern, das war ihr
durchdringen und auch bei völliger Dunkel­ auf den Schultern spürte, dass ein Fehler je­ Tunnel zwischen der gefährlichen Welt da
heit noch Bilder liefern. Eine Infrarotkamera manden umbringen könnte. draußen und ihrer Familie auf dem Land.
kann zeigen, wie ein Mensch stirbt, wie die 2015 schlägt 250 Meter neben ihm in Mit der Zeit wurde es anders, das spürte sie.
Wärme langsam seinen Körper verlässt. Aber Masar­i­Scharif eine Rakete im Flugfeld ein. Er zieht sich immer mehr zurück, schläft
André muss die Informationen deuten, muss André tätowiert sich die Rakete als Strich schlecht, geht nicht mehr nach draußen.
Schnittstelle sein zwischen Menschen und auf den Arm, als Sinnbild für etwas, das ihn Extreme Schlaflosigkeit, Konzentrations­
Maschine. Spaten oder Gewehr? Zivilist oder und seine Familie zerstören wollte. schwierigkeiten, Stress. Laute Geräusche und
Terrorist? Stein oder Bombe? Wenn er einen 2016 fliegt er zum Einsatz nach Mali. Menschenmengen kann er nicht mehr er­
Fehler macht, sterben seine Kameraden, ster­ Frank­Walter Steinmeier ist damals Außen­ tragen. Sie fahren Schuhe kaufen, und André
ben Unschuldige. minister. »Wir haben die Hoffnung, dass es sieht eine Moschee, er hält das Auto an.
Zu Hause in Deutschland, in seinem Dorf, gelingt, Mali wieder zu einem stabilen und Jessy kauft dann für ihn ein.
klappt André seinen Computer auf. Eine alte funktionierenden Staat zu machen«, sagt er. Im Bundeswehrkrankenhaus 2021 die Dia­
Aufnahme, bei Nacht gemacht. Monochro­ Heute ist der Einsatz umstritten. gnose: F43.1. Posttraumatische Belastungs­
matisches Licht. Gelegentlich ziehen grüne André ist im Camp Castor im Norden Ma­ störung. Einsatzassoziiert. F 43.8. Sonstige
Streifen durchs Bild. Ein afghanischer Militär­ lis. Der Uno­Einsatz gilt als gefährlichster Reaktion auf schwere Belastung, einsatz­
stützpunkt von oben. Ausgebrannte Fahr­ Auslandseinsatz der Deutschen. 2017 fährt assoziiert. F32.1. Mittelgradige depressive
zeuge, ein Fahnenmast, Baracken. Irgendwo ein mit 300 Kilogramm Sprengstoff beladenes Episode. Kurz danach die erste Sitzung bei
unter ihm sind in dieser Aufnahme Kamera­ Fahrzeug durch das Tor des benachbarten seiner Therapeutin.
den auf dem Weg. malischen Lagers, bis in den Innenhof. Dort Seit weit über hundert Jahren werden die
André muss entscheiden: Was erwartet findet gerade der Morgenappell statt. Der Symptome der posttraumatischen Belastungs­
sie? Gefahr oder nicht? Wagen explodiert. 70 Soldaten sind tot, mehr störung untersucht, nur die Namen änderten
André sagt, er sei kein Computerspieler. als 100 verletzt. In seinem Camp kann er es sich im Laufe der Zeit. Kriegszitterer, Flatter­
»Das Leben hat keine Resettaste«, sagt er. »Du hören, spüren, die Rauchsäule sehen. Er fliegt mann, Kriegsneurose, Überlebendensyn­
kannst nicht mal eben auf Pause drücken.« über den Anschlagsort, sieht die Toten. drom, Gefechtsstress, Soldatenherz. Schon
Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg Anfang Februar 2017 fährt er von Mali nach Homer schildert die Symptome beim beinahe
sind in Afghanistan deutsche Soldaten an Hause, im März bricht er bereits nach Afgha­ unverwundbaren Heros Achilles vor Troja,
Kämpfen beteiligt. Nach seiner Ankunft nistan auf. Als er wiederkommt, acht Wochen der sich vom Kampf zurückzieht, sich ande­
kommt es zum sogenannten Karfreitags­ später, ist er verändert. »Das war nicht mehr ren Menschen gegenüber gleichgültig verhält
gefecht. Am 2. April 2010 greifen Taliban aus mein Mann«, sagt Jessy, seine Frau. Sie woll­ oder in Raserei verfällt. Selbst auf 3000 Jah­
dem Hinterhalt eine Fallschirmjägereinheit re alten Keilschriften finden sich Symptom­
an, drei Fallschirmjäger verlieren ihr Leben. beschreibungen. Damals glaubte man, böse
André kann nicht helfen, die Drohne ist nicht Geister hätten die Krieger verflucht.
einsatzbereit, er fühlt sich ohnmächtig. Nach 1945 waren Millionen Menschen
Wenn die Särge mit Gefallenen zum Flug­
Kriegszitterer, Flattermann, traumatisiert, Hilfe gab es kaum. Viele be­
platz gebracht werden, steht er an der Lager­ Kriegsneurose, Über­ täubten sich mit Alkohol oder nahmen sich
straße. Einmal fliegt er mit den Gefallenen später das Leben. Die Diagnose PTBS wurde
eines Gefechts nach Hause. Neben ihm sitzen
lebendensyndrom – nur der erst 1980 in das Klassifikationssystem für psy­
Kameraden mit schwarzem Trauerflor am Arm. Name hat sich geändert. chische Störungen aufgenommen, als die ame­

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REPORTER

rikanischen Soldaten aus dem Vietnamkrieg Es ist Freitagnachmittag, im April 2017,


heimgekehrt waren und doch immer im Krieg kurz nach Ostern. Die meisten afghanischen
blieben. Trauma ist der griechische Begriff Soldaten im nahe gelegenen Camp Schahin
für Wunde. Und tatsächlich sind die Soldaten sind unbewaffnet in der Moschee. Zehn Tali-
verwundet wie nach einem körperlichen ban, verkleidet mit Armeeuniformen, fahren
Angriff. Symptome: Flashbacks, Rückzug, auf die Basis, sie haben zwei als verwundete
Gleichgültigkeit. Kameraden getarnte Terroristen dabei. Mit-
Warum trifft es André, obwohl er nie eine leid öffnet ihnen das Tor, dann eröffnen sie
Waffe im Gefecht in der Hand hatte, nie einen das Feuer.
Menschen getötet hat, nie von einer Granate »Zielt auf die Köpfe«, schreien die An-
getroffen wurde? Der Schriftsteller und Soldat greifer. Rekruten versuchen zu flüchten, sprin-
des Ersten Weltkriegs Erich Maria Remarque gen aus dem Fenster. Überlebende berichten
schrieb über eine Generation, »die vom später, die Angreifer hätten ihre Opfer aus
Kriege zerstört wurde, auch wenn sie seinen nächster Nähe erschossen. Mehr als 140 af-
Granaten entkam«. Das US-amerikanische ghanische Soldaten sterben bei dem Anschlag
Verteidigungsministerium zeigte 2013 in einer der Taliban, noch mehr werden verwundet.
Studie, dass Piloten von bewaffneten Droh- Es ist einer der schlimmsten Angriffe, seit die
nen genauso häufig psychische Schäden da- Deutschen im Land sind. Nicht einmal genug
vontragen wie herkömmliche Kampfpiloten. Särge für die vielen Toten soll es in der Stadt
Der Krieg geschieht im Kopf. geben.
Elf Jahre lang hat André mithilfe von Droh- André kreist in dieser Zeit mit seiner
nen feindliches Gebiet überquert, hat seine Hassan Khans Uniformjacke
Drohne über dem Lager, er sieht die Toten
Sinne um neue Sinne ergänzt, GPS, Infrarot, unten verbluten, beobachtet das Massaker
Radar, Zoomblick, um tiefer und weiter zu ben sich auf die Ausbildung von Hunden aus der Luft. Er kann nichts tun. Er fühlt sich
sehen. Jetzt muss er zum ersten Mal nach spezialisiert, Assistenzhunde für PTBS- hilflos. Die Bilder brennen sich ein und kom-
innen sehen. Patienten. Hunde scheinen am besten zu men immer wieder hoch.
André macht eine Therapie, nimmt Medi- funktionieren. Ein Sommertag auf dem Flugplatz in
kamente. Er kommt in Schutzzeit, so heißt Die Möbel im Haus sind zerkratzt, die Hohn, Schleswig-Holstein. Ein flacher Back-
die Zeit für Soldatinnen und Soldaten, die im Türen angefressen. »Wir leben mit den steinbau auf der Wiese. Stacheldraht, eine
Einsatz schwer verwundet wurden, körperlich Hunden«, sagt Astrid, im Schrank hat sie das Landebahn und Flugzeuge dahinter. André
oder seelisch. Er bekommt weiter sein Gehalt, Bundesverdienstkreuz liegen. Andrés Hündin ist zurück beim Luftwaffengeschwader 51
die Bundeswehr zahlt seine Therapie. Einen heißt Tommine. Assistenzhunde sind teuer, »Immelmann«. Er hat sich langsam, mühevoll
Assistenzhund als Begleiter aber muss er sich sie müssen ausgesucht, untersucht, vorberei- zurückgekämpft, hat sich weiter in den
selbst kaufen. Kosten: 28 000 Euro. André tet werden. Das dauert Jahre. Supermarkt vorgewagt, Schritt für Schritt.
versucht, Spenden zu sammeln. Der Hund, einmal an den Soldaten und Seine Uniform hat er heute das erste Mal
Es gibt Kameraden bei der Bundeswehr, seine Symptome gewöhnt, löst den Betroffe- wieder an. »Termine« steht an der Wand.
die glauben, Soldaten mit PTBS spielten nur nen aus der Erstarrung, er tröstet ihn, bringt Aber es gibt erst mal keine Termine. André
krank. Dieses Misstrauen begleitet die Er- ihn nach Hause. Astrid sagt, dass die Soldaten weiß noch nicht, wann es wirklich losgeht,
krankung schon immer, von Anfang an wird in Deutschland nicht den Stellenwert hätten, wann er wieder arbeiten kann, aber er will
Trauma mit Schwäche assoziiert. »Man sieht den sie verdienten. In Amerika werde jeder sich schon einmal vorbereiten auf diesen
es einem nicht an«, sagt André, »das ist das Veteran an der Supermarktschlange vorge- Tag.
Problem.« Aber wer nimmt freiwillig jeden lassen. Deutsche blickten auf die Bundeswehr Sein Vorgesetzter lädt zum Gespräch,
Tag ein Antidepressivum? Wer macht frei- distanziert, widersprüchlich. Ex-Bundes- draußen starten die Maschinen, die André
willig monatelang Therapie? Wer ist stark präsident Horst Köhler sprach einmal von nicht fliegen wird. Der Chef sagt, das komme
genug, eine Schwäche zuzugeben? »freundlichem Desinteresse«. Auch deshalb jetzt öfter vor, dass Menschen zurückkämen,
Über das, was das Trauma ausgelöst hat, arbeitet sie seit Jahren mit Soldaten. die nur noch ein Schatten ihrer selbst seien.
will er lange nicht reden. Er habe ein Massaker Die Hundetrainerin probt draußen einen Er werde sich um ihn kümmern, er fühle sich
gesehen, schreibt er, das ihm nicht mehr aus Panikanfall, fasst sich an den Hals, atmet verantwortlich. Der Vorgesetzte redet von
dem Kopf gehe. Sein Innerstes sei aufs Tiefs- hechelnd. Der Hund springt hoch, soll sie aus ökologischem Kasernenbau, Gender und
te verwundet. Eine Zeitschleife, sagt er, in der der Erstarrung reißen. Tommine muss an Transsexuellen in der Bundeswehr. Die Armee,
er gefangen sei. Wenn er jetzt den Fernseher Andrés Symptome gewöhnt werden. sagt er, habe sich verändert in den vergan-
anmache, den Krieg in der Ukraine sehe, den »Was passiert denn bei dir, wenn es los- genen Jahren. Er redet auch von Work-Life-
Abzug der Truppen aus Afghanistan, dann geht?«, fragt die Hundetrainerin. Balance. »Meine Leute sollen Freude haben
sehe er da vor allem eine dunkle Schwärze. »Ich erstarre«, sagte André. Seine Hände bei der Arbeit«, sagt er.
Patienten berichten von »speechless ter- ballen sich zu Fäusten. Man sieht nicht viel Er werde jetzt Dinge tun, sagt André,
ror« – einem sprachlosen Entsetzen, das sie von außen. telefonieren, Papiere sortieren. Was einmal
überkommt, wenn sie sich an das Trauma Die beiden gehen raus, trainieren eine sein Leben war, das ist vorbei. »Ist gut so«,
zurückerinnern. Das macht es so schwer für Weile. sagt André.
Außenstehende, zu begreifen, was da abläuft. Auf der Rückfahrt erzählt er, was passiert Am Ende des Gesprächs geht André noch
Von draußen sieht André ruhig aus. Drinnen ist. Damals, 2017. Es ist jetzt alles da. an die Startbahn. Der Chef war nie in Afgha-
aber tobt ein Sturm. Er hat all die Jahre ge- Camp Marmal im Norden Afghanistans, nistan. Sein Knie, sagt er. Er schaut zu Boden,
lernt, sich zu beherrschen, Gefühle zu unter- an einem Ausläufer des Hindukusch. Das und sagt: »Pass auf, dass du hier nichts ver-
drücken. größte Feldlager der Bundeswehr bei Masar- lierst.« Manchmal werden winzige Dinge von
Ein Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. i-Scharif. Die Landebahn führt direkt am den Triebwerken aufgesaugt, erklärt er, be-
Nieselregen im März, die Dorfstraße liegt schwer bewachten Camp vorbei, daneben, schädigen die Rotoren. Dann müssen sie auf-
verlassen da. Zwei Frauen, Astrid und Julia, durch einen Drahtzaun gesichert, zwei sand- wendig repariert werden. Eine unvorsichtige
wollen André helfen. Im Garten ein Zwinger, farbene Container. »Kamp Krusty« nennen Entscheidung, sagt der Chef, könne großen
ein Teich, ein Trainingsplatz. Die beiden ha- sie es. Dort arbeitet André, als es passiert. Schaden anrichten. n

62 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


REPORTER

werden im Türkischen auch nicht als


solche bezeichnet, sondern als »Bü-
yüklerimiz«, was wörtlich übersetzt
»unsere Großen« heißt. Der Jüngere
wartet, bis er vom Älteren angespro-
chen wird, er serviert ihm Baklava

»Küss die Hand!« und Börek. Und es ist auch der Jün-
gere, der dem Älteren die Hand küsst.
Eine Geste, die in meinem Kulturkreis
allgegenwärtig ist. Dabei handelt es
HOMESTORY In der deutschen Kindererziehung geht es um Augenhöhe. Kinder sich nicht um das nonchalante »Küss
sind gleichberechtigt und bestimmen alles mit. Ist das richtig so? die Hand, gnädige Frau« im Wiener
Schmäh, wie wir es aus alten Filmen
kennen, sondern um eine Geste von
nstand und Respekt. Das sind Demut. Ich gebe zu: Ich habe diesen
A Begriffe, mit denen ich groß
geworden bin und an die ich
denken muss, als ich in einem Heidel-
Akt nie gemocht – mich leicht bücken,
die hingehaltene Hand küssen und sie
an meine Stirn führen.
berger Café eine alte Dame beobach- »Ellerini öpün! – Küsst ihre Hän-
te, die einen Jungen anspricht, der, auf de!« Das war eine typische Anwei-
seinem Handy daddelnd, sie ignoriert. sung meiner Eltern, wenn früher der
Ich ärgere mich, winke die Dame Besuch an der Tür klingelte. Quasi
übertrieben freundlich an meine Sei- ein Last-minute-Befehl, damit wir
te des Gemeinschaftstisches und sage diese Ehrerbietung ja nicht vergessen
mit breitem Lächeln: »Setzen Sie sich und der Besuch am Ende womöglich
ruhig zu mir. Der da wird gerade von noch denkt, dass wir Kinder in diesem
Illustration: Thilo Rothacker / DER SPIEGEL

seinem Handy verschluckt. Der hört fremden Deutschland der Achtziger-


Sie gar nicht.« jahre offensichtlich die türkischen
Gleichzeitig werfe ich dem Jungen Traditionen vergessen hätten. Meine
einen vorwurfsvollen Blick zu. Ich Eltern kamen in den Siebzigerjahren
würde ihm gern etwas über anständi- nach Süddeutschland, sie wollten in
ges Verhalten erzählen. Aber fremde Deutschland Geld verdienen, in der
Kinder zu belehren ist in Deutschland Türkei ein Hotel bauen. Hier sparen,
eine heikle Angelegenheit. dort die D-Mark verprassen. Hier
In der türkischen Erziehung gelten bloß nicht auffallen, dort besonders
ältere Menschen als Respektsperso- herausragen. Hier leiden, dort leben.
nen. Es gibt eine klar definierte Er- Wir drei Töchter küssten den El-
wachsenen-Kind-Beziehung. In der dern und Eltern oder Großeltern ist tern jeden Tag die Hand.
Hierarchie steht der Erwachsene über es in meinen Augen nicht verwun- Als ich vor einigen Wochen zu-
dem Kind, ohne diese vermeintliche derlich, wenn das Kind im Affekt sammen mit meinen Kindern auf dem
»Augenhöhe«, wie ich sie oft bei mei- die Mama oder – noch schlimmer – Weg zu meinen Eltern bin, denke ich
nen deutschen Freunden beobachte. die Großmutter mit den Worten wieder an den Jungen im Café. Viel-
Wenn sie sich darüber beklagen, »Du bist doof!« beschimpft. Für mich leicht gab es plausible Gründe für
dass ihre Kinder sich zu Hause nicht ist das eine rote Linie. Ich weiß nicht, seine Ignoranz. Er hatte die alte
einbringen, ständig Widerworte ge- wie Deutschlands bekannteste Pä- Dame nicht verstanden, weil er kein
ben, schweige ich höflich. Auch wenn dagogin Katia Saalfrank das lösen Deutsch sprach oder gehörlos war.
ich ihnen gern sagen würde, dass sie würde, aber ich weiß, was meine Mut- Aber irgendwie hätte er ja wohl re-
ihren Kindern zu viel durchgehen las- ter mir androhte, wenn ich als Kind agieren können, mit einem Nicken,
sen. Sie zu viel mit dem Kind, und verbal eine Grenze überschritt. Sie einem Achselzucken?
fast schon partnerschaftlich, durch- wollte mir nicht den Mund mit Seife Er soll ihr ja nicht gleich die Hand
diskutieren. Dass sie Verbote nicht auswaschen, so wie man es hierzu- küssen, denke ich und drücke die Klin-
verpönen sollten und Ansagen kon- lande scherzhaft sagt, nein, sie droh- gel meiner Eltern: »Wenn Oma euch
sequent durchziehen müssten. te, mir Chilipulver auf die Zunge zu die Hand zum Kuss hinhält, dann
In unserem Freundeskreis bin ich drücken. werft euch auf sie und knutscht ihr
die Mutter mit den meisten Kindern. Mich interessiert nicht, was meine ganzes Gesicht ab«, flüstere ich mei-
Unsere Freunde glauben wahrschein- Kinder geritten haben könnte, wenn nen Kindern noch schnell zu. Im Flur
lich, dass man drei kleine Kinder sie mir gegenüber unflätig und belei- höre ich Schmatzer und meine Mutter,
nur durch Strenge erziehen könne. digend werden. Ich analysiere nicht. die theatralisch nach Luft schnappt.
Vielleicht denken sie auch, mein Ich verbiete. Die Regel ist ganz ein- In dieser türkischen Familie wer-
deutscher Mann und ich seien zu fach: Kinder haben so nicht mit Er- den keine Hände mehr geküsst.
streng mit unseren Knigge-Regeln alla wachsenen zu reden. In der türki- Fatma Mittler-Solak n
turca. Doch sie schweigen höflich zu- schen Gesellschaft gibt es gegenüber
rück. Aber Ansagen müssen sein. Sie Älteren eine andere Ansprache. So ist In der Elternkolumne »Menschens-
sind eine Vorbereitung auf das späte- der fremde Kassierer im Supermarkt kinder« auf SPIEGEL.de erzählt die
re Leben. Auf Regeln in der Schule, der »Amca«, also der Onkel; die Frau, Ich analysiere ARD-Moderatorin Mittler-Solak, 45,
im Verein, im Beruf. Einer ist immer die einem den Weg zum Bahnhof er- künftig, wie sie in der Erziehung tür-
Chef. Und jetzt bin ich es. Bei einer klärt, ist ganz selbstverständlich die nicht. kische Strenge mit deutscher Direkt-
gelebten Augenhöhe zwischen Kin- »Teyze«, also die Tante. Die Älteren Ich verbiete. heit verbindet.

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WIRTSCHAFT

Ng Han Guan / AP / picture alliance / dpa


Nio-Gründer Li

Audi wirft Chinesen Namensklau vor


AUTOINDUSTRIE Der Ingolstädter Hersteller geht gegen den Rivalen Nio vor. Die Chinesen sollen die Namen von
drei Audi-Modellen kopiert haben. Der Rechtsstreit könnte den Markteintritt in Deutschland behindern.

A udi erhöht im Markenstreit mit dem


aufstrebenden chinesischen Wett­
bewerber Nio den juristischen
Druck. Bereits vor einigen Monaten hatte
kenrechtsverletzung durch den ES7 von
Nio moniert. Reagiert Nio nicht, dürfte eine
weitere Klage folgen. Bei Audi heißt es zu
dem Streit, man sei »stets darauf bedacht,
Kategorie als Flaggschiff des E­Auto­Spe­
zialisten, seit August wird er in China ver­
kauft. Hat Audi mit seinen Klagen Erfolg,
muss Nio seine ES­Reihe in Europa wo­
die VW­Tochter erklärt, Nio verletze mit seine Markenrechte umfassend zu schüt­ möglich umtaufen. Audis Vorgehen wird in
den Modellnamen ES6 und ES8 die Mar­ zen«. Nio äußert sich unter Verweis auf die der Branche als Indiz gewertet, dass deut­
kenrechte von Audi. Weil die Namen der laufenden Verfahren nicht. Die juristische sche Autokonzerne ihre chinesischen Wett­
beiden Elektro­SUVs beim bloßen Hören Offensive der Ingolstädter erfolgt unmittel­ bewerber mittlerweile ernst nehmen.
mit dem S6 und dem S8 des deutschen bar vor dem Marktstart von Nio in In China liegen heimische Hersteller bei
Premiumherstellers verwechselt werden Deutschland. Das 2014 von dem chinesi­ der Neuzulassung von Elektromodellen
könnten, dürfe Nio die Bezeichnungen schen Unternehmer William Li gegründete weit vor den Deutschen. Während Nio von
nicht verwenden, argumentiert Audi in Start­up will im Herbst in Berlin das erste Juni bis August rund 30 000 E­Autos ver­
einer Unterlassungsklage vor dem Landge­ »Nio House« eröffnen; so nennt die Firma kauft hat, waren es bei Audi wenige Hun­
richt München. Am 6. September wird der ihre Showrooms, mit denen sie vor allem dert. Der gesamte VW­Konzern kämpft in
Fall dort erneut verhandelt. auf die gehobene Kundschaft abzielt. Dann China derzeit mit Problemen. Jetzt drängen
Vergangene Woche hat Audi nach Infor­ soll hierzulande auch der Vertrieb starten, chinesische Hersteller verstärkt nach Europa,
mationen des SPIEGEL beim Amt der EU zunächst mit der Limousine ET8, Elektro­ neben Nio wollen auch Great Wall und
für Geistiges Eigentum nun auch eine Mar­ SUVs dürften folgen. Der ES7 gilt in der BYD noch 2022 in Deutschland starten. MHS

64 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


Hamburg baut Lindner erwartet zung auf der Grundlage von
Marktdaten von Ende Mai
die wenigsten höhere Inflation 2022«. Hintergrund: Das BMF
Solardächer HAUSHALT Das Bundesfinanz­ muss Käufer von Bundesan­
ministerium (BMF) rechnet für leihen, deren Zinsen an die In­
IMMOBILIEN Deutschlands dieses Jahr mit einer deutlich flation gekoppelt sind, jährlich
größte Städte kommen beim höheren Inflation als bislang entschädigen und das im Haus­

Joerg Boethling / IMAGO


Umstieg auf Solarenergie nur öffentlich kommuniziert. Die haltsgesetz berücksichtigen.
langsam voran. In Berlin waren Preise werden Berechnungen Bislang kalkulierte Finanzmi­
im Jahr 2020 nur 27,9 Prozent des Ressorts zufolge 2022 um nister Christian Lindner (FDP)
der Dachflächen auf Neubauten Solaranlage in Hamburg über acht Prozent steigen. Das für 2022 mit einer Inflationsrate
mit Solaranlagen ausgestattet, geht aus einem Schreiben des von rund sechs Prozent. Als
zeigt eine Analyse des Öko­ ders viel gebaut wird. Doch BMF an Christian Haase, Chef­ Folge wird auch die von ihm
stromanbieters Lichtblick. Die mehr Dachflächen bedeuteten haushälter der CDU/CSU­Bun­ geplante Erstattung von Infla­
Bundeshauptstadt landet damit nicht automatisch mehr Solar­ destagsfraktion, hervor. »Im tionsgewinnen des Fiskus an die
auf Platz 10 des jüngsten ausbau, sagt Corine Veithen Regierungsentwurf zum Haus­ Steuerzahler teurer. »Die An­
deutschlandweiten Vergleichs, von Lichtblick. »Die meisten haltsgesetz 2023 wurde eine nahmen nähern sich endlich der
aktuellere Zahlen liegen nicht Millionenstädte schneiden ver­ Inflationsrate von rund 8,1 Pro­ Lebenswirklichkeit an«, sagt
vor. München kommt mit einer mutlich deshalb schlecht ab, zent zugrunde gelegt«, heißt es Haase. »Mit Blick auf die Infla­
Quote von 20,8 Prozent auf weil dort besonders viele Im­ dort. Der Wert habe sich er­ tion war die Ampel bislang im
Platz 13, am schlechtesten mobilienunternehmen zur Ver­ geben »aus der internen Schät­ Schlafwagen unterwegs.« REI
schneidet Hamburg ab: Dort mietung bauen.« In diesem
haben nur 10,1 Prozent aller Segment gebe es bislang kein
Neubaudächer eine Fotovoltaik­ attraktives Modell für die Solar­
anlage. Ein besseres Resultat er­ nutzung. Tatsächlich sind
zielt Köln. Die Rheinmetropole die bürokratischen Hürden für
erreicht mit einer Quote von Mieterstrommodelle hoch: Ver­
63,3 Prozent den zweiten Platz, mieter müssen alle Pflichten
gefolgt von Essen (59,6 Pro­ eines Stromversorgers überneh­
zent). Spitzenreiter ist Nürn­ men, beispielsweise die Ab­
berg mit 69,2 Prozent. Der rechnung mit den Mietern oder
Rückstand der größten Metro­ die jährliche Meldung beim
polen erstaunt, weil dort beson­ Netzbetreiber. HEJ

Postbank entschul- gekommen ist«, heißt es in einer


Stellungnahme gegenüber der
digt sich bei Russin Finanzaufsicht Bafin. Aufgrund Hafen in der Region Odessa

dpa
für Kontosperrung der EU­Sanktionen gegen Russ­
land dürfen deutsche Banken Ukraine-Frachter bruar turnusmäßig weniger Wei­
SANKTIONEN Die Postbank keine Einlagen über 100 000 zen, sondern der im Herbst ge­
hat eingeräumt, in mindestens Euro mehr von russischen Kun­ laden meist Tierfutter erntete Mais verladen wurde –
einem Fall die Kontonutzung den annehmen. Die Postbank­ ERNÄHRUNG Das Getreide­ und dann liegen blieb. Bis heute
einer russischen Kundin unbe­ Klientin protestierte gegen den abkommen zwischen Moskau blockiert er viele Lager und den
rechtigterweise eingeschränkt Schritt der Bank: Ihr Guthaben und Kiew lindert die weltweiten Abtransport des im Sommer
zu haben. »Wir bedauern sehr, liege deutlich unter der Summe. Nahrungsengpässe bislang geernteten Weizens. Die Reeder
dass es zur Sperrung des Kontos Sie verfügte zudem über einen offenbar kaum. Zwar haben bis versuchten, im Frühjahr geplatz­
unbefristeten Aufenthaltstitel – Donnerstag 63 Frachter die te Lieferverträge »jetzt als Erstes
in diesen Fällen gilt die Vor­ ukrainischen Häfen verlassen, zu erfüllen«, sagt Martin Frick,
schrift nicht. Warum dies der doch nur 13 hatten Weizen ge­ Leiter des Berliner Büros des
Postbank entging, könne man laden. Die übrigen Schiffe trans­ Uno­Welternährungspro­
nicht mehr ermitteln, heißt es in portierten hauptsächlich Mais, gramms. Seine Leute bringt der
der Stellungnahme. Die Bank der in den allermeisten Fällen als Stau in eine prekäre Lage. Erst
betont, die Sperrung habe nur Tierfutter oder zur Produktion zwei Schiffe mit Brotgetreide für
Einzahlungen betroffen. Dass es von Biokraftstoff verwendet den Jemen und Äthiopien hat
zu weiteren Fällen dieser Art wird. Ein Dutzend Schiffe hatte das Welternährungsprogramm
gekommen sei, lasse sich an­ Soja­ oder Sonnenblumenpro­ bisher chartern können. »Dass
gesichts der Vielzahl der zu dukte geladen. Auch diese wer­ die ukrainischen Äcker in sol­
prüfenden Kontoverbindungen den meist zur Fütterung von chem Maß für unseren Fleisch­
»naturgemäß nicht ausschlie­ Nutztieren eingesetzt. Insgesamt konsum herhalten müssen, sollte
ßen«. Die Bafin bestätigt, dass wurden laut einer Liste der Uno­ uns zu denken geben«, sagt
einige deutsche Banken auch Koordinierungsstelle in Istanbul der Misereor­Beiratsvorsitzende
bei »geringfügigen Guthaben« seit Inkrafttreten der Vereinba­ Felix Prinz zu Löwenstein. Um
Rainer Unkel / SZ Photo

die Vorlage einer Aufenthalts­ rung rund 1,5 Millionen Tonnen die Konkurrenz zwischen
erlaubnis verlangten. »Betroffe­ Getreide und Ölsaaten ver­ Nahrungs­ und Futtermitteln zu
ne Kunden fühlten sich durch schifft. Der Vorrang des Futters entschärfen, plädiert er dafür,
Postbank-Filiale diese Maßnahmen verunsichert liegt auch daran, dass zu Beginn die Tierbestände in der Europä­
und diskriminiert.« DAB der russischen Invasion Ende Fe­ ischen Union zu reduzieren. NKL

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Daniel Hahn kauft ein Zelt und ein Schiff

Julian Hahn bietet Kunst im »Hexenhaus«

Frank Bauer / DER SPIEGEL (3)

Laurin Hahn baut ein Solar-Elektroauto

66 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


WIRTSCHAFT

Die besseren Samwers


KARRIEREN Die Münchner Gründerbrüder Daniel, Julian und Laurin Hahn suchen mit ihren Unternehmen
nicht den maximalen Profit – sie wollen die Welt verändern. Ist das naiv oder zeitgemäß?

it 21 Jahren kaufte sich Da- den«, sagt Laurin. Und das ist bei ihm »Einer posi­ der New Economy um die Jahrtau-
M niel Hahn ein großes, buntes
Zirkuszelt, seine erste große
Investition. Dass es kein Haus aus
nicht bloß einer dieser Sätze, die al-
lenthalben in Firmenbroschüren auf-
tauchen.
tiven Idee
nachzugehen
sendwende hatte.
Die Hahns wirken wie ein Gegen-
entwurf. Daniel, Julian und Laurin
Stein und Beton war, lag schlicht da- Die spannende Frage lautet nun, sollte einen gehörten nie zur Elite. Sie wuchsen
ran, dass er sich mehr nicht leisten wie weit sich das Trio der Logik von bei ihrer alleinerziehenden, arbeits-
konnte. Er war Gelegenheitsjobber, Marktmechanismen entziehen kann; erheblich losen Mutter in München-Sendling
eine Immobilie lag finanziell außer- ob Laurin in einer von milliarden- höheren auf. Sie besuchten die Waldorfschule
halb jeder Reichweite. Zugleich war schweren Konzernen dominierten und lernten früh, die Dinge selbst in
das Zelt auch ein Symbol dafür, was und von brutalem Wettbewerb ge-
Stellenwert die Hand zu nehmen.
ihn und seine Brüder als Unterneh- prägten Autoindustrie als Graswur- in unserer Studiert hat keiner von ihnen, ob-
mer so besonders macht. Die Hahns zel-Unternehmer bestehen kann; ob Gesellschaft wohl die Mutter es sich gewünscht
wollen nicht einbetoniert sein in ein Daniel und Julian ausgerechnet in hätte. »Ich bin, wie meine Brüder, zu
bewährtes Konzept von Aufstieg und München, einer gentrifizierten Wachs- bekommen.« dem Schluss gekommen, dass mich
Eigentum, sie möchten beweglich tumsmetropole, mit Subkultur dauer- Daniel Hahn, das nicht unmittelbar weiterbringt«,
bleiben, dem Mainstream etwas ent- haft Erfolg haben können. Kreativer sagt Laurin. Als Unternehmer brau-
gegensetzen – von unten ihre Stadt Es gab schon einmal drei Brüder che man eine sehr praktische und
verändern, oder sogar die ganze Welt. in Deutschland, die als junge Unter- globale Sicht, die man im Studium nur
Bald nach dem Zelterwerb grün- nehmer für Furore sorgten. Sie hatten bedingt lerne. Also »learning by do-
dete Daniel mit seinem Bruder Julian als Investoren atemberaubenden Er- ing«. Mit 17 begann Daniel, bei einem
und ein paar Freunden den Kultur- folg, weil sie die Hebel des globalen kleinen Theater im Münchner Krea-
verein Wannda. Sie bauten ein ganzes Finanzkapitalismus zu bewegen ver- tivviertel zu arbeiten. Weil es immer
Reich an Kleinkunst- und Abhäng- standen wie wenige andere: Marc, viel zu tun gab, holte er seine Brüder
paradiesen auf und blieben doch im- Oliver und Alexander Samwer. Auch dazu, Laurin war da erst 13. »Das
mer mobil: Container, Holzverschlä- sie waren Rollenvorbilder für eine schlug den ersten Funken«, sagt er.
ge, Bahnwaggons und schließlich ein ganze Generation von Gründern. 2012 gründeten sie Wannda, um
Schiff. Sie stellten sie überall dort auf, Zwei Jahrzehnte ist das her. »Platz für Träume, Kunst und Kultur
wo gerade ein nicht genutzter Platz Die Söhne eines Kölner Juristen- zu schaffen und den Mitmenschen die
war, und schufen so eine der auf- paares besuchten ein altsprachliches eigene Leidenschaft näherzubrin-
sehenerregendsten Erfolgsgeschich- Gymnasium. Marc studierte Jura, Oli- gen«. Später entwickelten Daniel und
ten der Münchner Alternativkultur. ver BWL an der Managerschmiede in Julian eigene Projekte, stets mit der
Daniel, 32, ist der älteste der drei Vallendar, Alexander schloss seinen Grundidee, als Zwischenmieter bra-
Brüder. Julian, 30, bildet die Mitte. Master an der Harvard Business che Flächen zu nutzen. So entstanden
Laurin, 28, ist der Youngster. Er geht School ab. 1999 gründeten die drei unter anderem der »Bahnwärter
noch ein Stück weiter, traut sich ein den eBay-Klon Alando, verkauften Thiel«, ein Klub mit Künstlerwerk-
alternatives Mobilitätskonzept zu, ihn nur drei Monate später für 50 Mil- stätten rundherum, und der Alterna-
gegen die etablierte Autowelt. Mit lionen Dollar an das Original. Sie tivbiergarten »Gans am Wasser«. Das
seinem Schulfreund Jona Christians wiederholten das Spiel mit dem Klin- Ganze erfolgte eher spontan als nach
gründete er das Solar-Elektroauto- geltonanbieter Jamba und der Grou- einem vorgefertigten Konzept.
Start-up Sono Motors, das mittler- pon-Kopie CityDeal. Laurin und sein Partner Christians
weile an der US-Technologiebörse 2007 gründeten Oliver und Alex- gingen die Sache anders an, mit einem
Nasdaq notiert. ander Samwer Rocket Internet, eine Businessplan, schließlich wollten sie
Die Geschichte der drei Brüder, Start-up-Fabrik, die Firmen am Fließ- eine etablierte Industrie aufmischen.
die sich nicht als klassische Unterneh- band ausspuckte, mit genormten Er- Kaum hatten sie aus einem alten Re-
mer sehen, steht womöglich paradig- folgsrezepten und aufstiegshungrigen nault Twingo ein von Solarzellen an-
matisch für eine neue Generation von Gründern. Viele der Jungfirmen ver- getriebenes Elektroauto gebastelt,
Gründern. Ihr Antrieb ist nicht der glühten schnell, einige wenige aber den ersten Entwurf ihres »Sion«, wur-
Rüdiger Nehmzow / laif

maximale Profit, ihre Firmen sind setzten sich am Markt durch und de ihnen klar, dass sie viel Geld brau-
keine am BWL-Reißbrett geplanten mehrten den Reichtum der Samwers. chen würden. Zugleich war ihnen
und von Beratern gepimpten Start- Die Brüder kauften sich davon bewusst, dass sie dieses Geld weder
ups. Sie wollen etwas bewegen, keine Zelte, sondern Immobilien, sie von den Banken noch von Risiko-
grundsätzlich anders wirtschaften. predigten und prägten eine Extrem- kapitalfonds bekommen würden.
»Die Idee, eine Welt ohne fossile leistungskultur und ein geradezu kli- Samwer-Brüder
»Für Hardware-Start-ups gibt es in
Energien zu erreichen, war für mich scheehaftes Fast-Food-Unternehmer- Marc, Oliver und Deutschland kaum konventionelle
der Antrieb, Unternehmer zu wers- tum, das seine Wurzeln im Rausch Alexander 2000 Finanzierung«, sagt Laurin. Sie ver-

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WIRTSCHAFT

suchten es mit Crowdfunding, das war ihr Rand stehen. Es müsse Orte geben, wo man
Durchbruch. »Plötzlich waren da mehrere Stunden bei einem Glas Wasser sitzen dürfe;
Tausend Leute, die zum Teil ihr Erspartes Orte, an denen angehende Künstler sich aus-
zusammengekratzt haben, um in den Sion zu probieren können, wo Junge und Alte mit
investieren, plötzlich spürten wir Verantwor- unterschiedlichem Hintergrund zusammen-

Florian Peljak / SZ Photo / picture alliance / dpa


tung für jemanden.« Für Leute, die die Idee finden. Wenn in einer Stadt die Bevölkerung
von Sono Motors teilten – und die am Ende und der Wohnraum wüchsen, dann müsse die
ein Auto oder zumindest ihr Geld zurück- Kultur mitwachsen, fordert er. »Aber es ist
haben wollten. eher so, dass sie dann zurückgedrängt wird.«
Weil sie immer mehr Geld brauchen, ver- Die Stadt müsse ermöglichen, dass Kultur-
handeln Hahn und Christians im Herbst 2019 stätten von selbst entstehen, erfolgreiche Pro-
mit einem Finanzinvestor. Der aber will die jekte in ihre Pläne integrieren und gegen In-
Firma zerschlagen und die Patente anderwei- vestoren verteidigen. Er klingt wie ein mo-
tig nutzen. Die Gründer sagen den Deal ab, derner Robin Hood.
sie wollen ihre Ideale nicht verraten. Die Pandemie indes hat den Hahn-Brüdern
In dramatischen Wochen zapfen sie die Klub »Bahnwärter Thiel« in München zugesetzt. »Im ersten Jahr der Pandemie gab
Community an, gewinnen neue Geldgeber es Momente, in denen ich dachte, wir werden
und bekommen schließlich 50 Millionen Euro men, hätte das große Auswirkungen auf die- mit unseren Projekten scheitern«, sagt Julian.
zusammen, um weiterzumachen. Hahn und ses Projekt gehabt und wäre womöglich sogar Es fehlte Geld für alles, kam zu Konflikten
Christians geben ihre Gewinnbezugsrechte das Ende aller Projekte gewesen«, sagt Da- mit zermürbten Künstlern, Personal sprang
an die Community ab. »Wir glauben, dass niel. Die Genehmigung für den Platz zieht ab. Auf Corona folgte der Ukrainekrieg, der
Besitz überholt und Sharing die Zukunft ist«, sich, am Ende reichen die Reserven kaum Weizenmehl verteuert, Frittierfett verknappt
steht als Glaubenssatz auf der Sono-Website. noch, um bei der Eröffnung genug Wechsel- und die Energiekosten in die Höhe treibt.
Er bezog sich ursprünglich nur auf das Teilen geld in der Kasse zu haben. Doch das Kon- »Unsere Niedrigpreisstrategie geht irgend-
von Autos, das zum Geschäftsmodell gehört. zept, das Schiff auf eine alte Eisenbahnbrücke wann nicht mehr auf.«
Als Sono an die Börse geht, rüttelt auch zu stellen und zum Biergarten und Veranstal- Auch Daniel hat in der Pandemie seinen
das am Selbstverständnis. In den Jahren zuvor tungsort umzufunktionieren, geht auf. 2019 – Weg infrage gestellt und über einen Ortswech-
hatte das Unternehmen dezentrale Entschei- dem letzten Jahr vor der Pandemie – erzielt sel nachgedacht. Aber Weggehen nach 14 Jah-
dungen kultiviert, die Mitarbeiter und teil- die »Utting« gut 300 000 Euro Gewinn. ren Aufbauarbeit? Er sei kein Typ, den es
weise auch die Community bestimmen bis »Wir leben im Kapitalismus und bewegen reizt, die Krise oder Veränderung als Chance
heute den Kurs der Firma mit. Die Regularien uns darin«, sagt Daniel. Deshalb sei soziale zu sehen und etwas ganz Neues zu machen.
der US-Börsenaufsicht SEC verlangen jedoch Marktwirtschaft wichtig, in der unternehme- »Ich brenne aktuell nur für diese eine Sache,
klare Verantwortlichkeiten. »Wir haben intern rische Leistung mehr ist als »ausbauen, was das lässt sich nicht so ohne Weiteres auf etwas
Verantwortung auf viele Schultern verteilt, funktioniert, und abstoßen, was nicht klappt«. anderes übertragen, besonders wenn ich die
während ich nach außen hafte«, sagt Laurin. Investieren, auf Effizienz trimmen, versilbern, Begeisterung unserer Besucher erlebe.«
Ob Sono einst Gewinn erwirtschaften wird, das in fast allen Bereichen der Wirtschaft do- Ob sich die drei Brüder ihren Idealismus
ist völlig ungewiss. minierende Samwer-Prinzip. Kulturwirtschaft erhalten können, ob er naiv ist oder genial,
Ja, er habe großen Respekt vor dem Schei- funktioniert anders, erst recht bei den Hahns. ob der Hahn-Weg irgendwann einmal mehr
tern, gibt Laurin zu. Das könne aber auch ein »Je mehr wir als Flächen-Zwischennutzer in Nachahmer finden wird als der Samwer-Weg
Antrieb sein. »Ein Problem sind die Leute mit einen Ort investieren, desto teurer wird es, – all das lässt sich heute noch nicht beantwor-
ihrer Skepsiskultur, wenn sie nur an der Sei- das Ganze zurückzubauen«, erklärt Daniel. ten. Auszusteigen ist zurzeit jedenfalls keine
tenlinie stehen und die Angst befeuern.« Gelinge es, Gewinne zu erwirtschaften, wer- Option, für keinen der drei. »Unsere Projek-
Über solche Absturzsorgen spricht er auch de damit die Möglichkeit geschaffen, Anre- te sind miteinander verwoben, wir haben eine
mit seinen Brüdern. Julian wohnt im gleichen gungen der Besucher aufzugreifen und neue gemeinsame Geschichte und ähnliche Wert-
Mietshaus wie er, noch immer in Sendling. Ideen umzusetzen, bestenfalls finanziere ein vorstellungen«, sagt Daniel.
Manchmal kommt er abends hoch auf ein Veranstaltungsort den nächsten. Damit sind sie ziemlich weit gekommen.
Bier. »Helfen kann ich Laurin nicht, aber wir Trotz ihres unkonventionellen Vorgehens An einem Sommerabend steht der Sion zu-
verstehen uns«, sagt er. Neid unter den Brü- spüren auch die Hahns mitunter das Miss- nächst von einem dunklen Tuch verdeckt in
dern gebe es nicht, Julian und Daniel fühlen trauen, das erfolgreichen Unternehmern hier- einem Zelt, sehr ähnlich dem, das der älteste
sich wohler mit ihrem lokalen Engagement. zulande oft entgegengebracht wird. Ob er vor elf Jahren gekauft hat. Das Dach ist mit
»Eine pulsierende Spielstätte zu errichten, einer aus dem »Hahn-Imperium« sei, werde Sternen übersät, ein paar Hundert Besucher
wo ein Miteinander entsteht, war für mich er schon mal gefragt, so Julian. Die öffentliche drängen sich um das Fahrzeug. Die Hahn-
greifbarer, als Einfluss auf den Individualver- Aufmerksamkeit verdanken sie ihrem An- Brüder sind da, Julian und Daniel bummeln
kehr zu nehmen und damit die globale Ener- spruch, mehr sein zu wollen als ein Anbieter über die Jahrmarktwiese, die Bühne gehört
giewende zu beeinflussen«, sagt Daniel. Lau- von Bier und Essen. heute dem Jüngsten. Er stellt das finale Design
rin habe sehr viel auf sich genommen, aber Julian formuliert diesen Anspruch am ihres Elektroautos vor.
»einer positiven Idee nachzugehen sollte deutlichsten. Er sitzt im Dachgeschoss des Laurin, im weißen T-Shirt, und Jona Chris-
einen erheblich höheren Stellenwert in un- »Hexenhauses«, einem Café samt Kleinkunst- tians, im grünen Mechanikeroverall, erzählen
serer Gesellschaft bekommen als die Angst, bühne, das er mit zwei Freunden im Arbeiter- vor laufender Kamera auf ihrem Weg ins Zelt
am Risiko zu scheitern«. viertel Giesing aufgebaut hat. Er erzählt, wie von ihrem Beitrag für eine Welt ohne fossile
Er weiß, wovon er redet. Als Daniel im ihn die Nöte jener Menschen umtreiben, die Energien. Die Zirkusszenerie wird über das
Frühling 2016 in der Zeitung liest, dass das in einer Boomstadt wie München eher am Internet übertragen, auch in die Welt der Fi-
MS »Utting« stillgelegt werden soll, ein Aus- nanzinvestoren. Laurin spricht Englisch, er
flugsdampfer auf dem Ammersee, schlägt er beherrscht längst auch den universalen Start-
zu. Er kauft das Schiff, ohne einen Standort up-Jargon. Dann läuft der Countdown zur
zu haben. Er weiß nicht einmal, ob man es Enthüllung des Sion. Laurin Hahn ruft laut in
transportieren kann. »Hätten wir nicht kurz-
Auszusteigen ist keine das Zelt hinein: »Are you ready?«
fristig einen Stellplatz für das Schiff bekom- Option, für keinen der drei. Martin Hesse n

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WIRTSCHAFT

Das ist konsequent – und zugleich so eng


gefasst, dass viele Fachleute nun den vorzei-
tigen Tod des hoffnungsvollen neuen Indus-
triezweigs fürchten. Das Regelwerk sei »zu
kleinteilig, zu restriktiv und zu mißbrauchs-

Von Brüssel totreguliert anfällig«, heißt es in einem Gutachten der


deutschen Wissenschaftsvereinigung Leopol-
dina von Mitte Juni. Würden die Brüsseler
Entwürfe umgesetzt, würde dies »den schnel-
EUROPA Die EU will der Industrie vorschreiben, wann Wasserstoff als grün len Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft be-
gelten darf. Doch so lässt sich keine Zukunftsbranche schaffen. hindern« und zu Vorgaben führen, die »nicht
systemdienlich« seien.
Konkret würden die Brüsseler Pläne Was-
ve Petersen muss nur die Haustür öff- mit denen »dann andere das Geld verdien- serstoffprojekte in Deutschland um etwa zehn
O nen, schon liegt das Elend der Energie-
wende vor seinen Augen. Der gelernte
Landwirt aus Nordfriesland blickt auf einen
ten«, klagt von der Leyen. In der Wasserstoff-
technik dagegen könne sich Europa mit seinen
»innovativen Weltmarktführern und einem
Prozent verteuern, so hat die Unternehmens-
beratung BCG ermittelt. In der Folge drohe
sich »das Wachstum des Industriezweigs deut-
Reigen von Windrädern, die immer mal wie- dicht geflochtenen Forschungsnetzwerk« lich zu verlangsamen«, sagt BCG-Experte
der stillstehen, weil das schlecht ausgebaute rasch einen Vorsprung verschaffen. Jens Burchardt.
deutsche Stromnetz die Ökoenergie aus dem Schöne Worte, die ihre Beamten indes Was das bedeutet, lässt sich etwa in Euro-
Norden nicht abtransportieren kann. »Das nicht davon abhalten, sich seit Jahren in pas größtem Stahlwerk besichtigen. Das Ge-
tut in der Seele weh«, sagt er. einem Grundsatzstreit zu verkeilen. Die einen lände von Thyssenkrupp in Duisburg ist wie
Jammern ist keine Lösung, lautet Petersens wollen, wie von der Leyen, einen beträcht- eine Stadt in der Stadt: mit eigenen Straßen,
Devise, deshalb hat seine Firma GP Joule vor lichen Teil der europäischen Ökoenergie in eigenem Kraftwerk, eigenem Hafen am
ein paar Jahren eine Reihe alter Windparks, den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft lenken. Rhein; alles zusammen fast fünfmal so groß
die keine Förderung nach dem Erneuerbare- Nicht nur Fabriken, auch Busse, Lkw oder wie das Fürstentum Monaco. Bald entsteht
Energien-Gesetz mehr bekommen, an Elek- Fernwärmenetze könnten mit dem grünen hier eine riesige Baustelle. Der Konzern will
trolyseure angeschlossen: Die Anlagen wan- Energieträger betrieben werden. Ein Markt, seine alten Hochöfen, die mit klimaschäd-
deln den Ökostrom in Wasserstoff. Damit der nach EU-Schätzung bis zur Mitte des Jahr- licher Kohle laufen, nach und nach ersetzen.
werden vor allem die Linienbusse der Region hunderts Investitionen von bis zu 470 Mil- Die Zukunft soll sogenannten Direktreduk-
betankt. liarden Euro freisetzen könnte. tionsanlagen gehören, die im ersten Schritt
»Grüner geht es praktisch nicht«, sagt der Die anderen fürchten, dass dann zu wenig mit Erdgas befeuert werden. Das verbessert
Geschäftsmann. Und doch muss er sich darauf Wind- und Sonnenkraft für die Stromnetze die Klimabilanz schon einmal; später will
einstellen, dass die Brüsseler EU-Kommission übrig bliebe, etwa für die Elektrifizierung des der Konzern nach und nach Wasserstoff ein-
sein Geschäft für unökologisch erklärt. Nach Autoverkehrs, und Europa seine Klimaziele setzen.
vorläufigen Plänen, die kürzlich an die Öf- für den Sektor verfehlt. Die Bedenkenträger Doch spätestens da beginnen die Schwie-
fentlichkeit gedrungen sind, will die Behörde sind in der Behörde derzeit obenauf, und so rigkeiten. So will Thyssenkrupp den Wasser-
langfristig nur Wasserstoffprojekte mit neu- sickerte im Frühsommer ein Regelungsent- stoff unter anderem aus einer Elektrolyse-
eren Wind- oder Solarparks als nachhaltig wurf der EU-Kommission durch, der dem anlage beziehen, die der Kraftwerksbetreiber
einstufen. jungen Industriezweig enge Grenzen setzt. Steag in Werksnähe bauen will.
Bleibt es dabei, müsste Petersen einen Teil Als »grün« darf Wasserstoff danach nur Die EU-Entwürfe schreiben vor, dass der
seiner Pläne einstampfen. Der Unternehmer bezeichnet werden, wenn er aus zusätzlich Strom zu jeder Stunde der Elektrolyse nahe-
will nach dem Vorbild in Nordfriesland 20 installierter und staatlich nicht geförderter zu vollständig aus erneuerbaren Quellen
Wasserstoffprojekte in ganz Deutschland auf- Ökoenergie stammt. Mit ihrem sogenannten stammen muss, die Wasserstoffhersteller müs-
legen. Vorausgesetzt, sie erhalten die Zerti- Additivitätsprinzip wollen die Beamten si- sen das nachweisen. Am besten lässt sich eine
fizierung, ohne die er seinen grünen Wasser- cherstellen, dass der Ökostrom nicht weiter solche Vorgabe in Regionen mit kontinuier-
stoff schlechter absetzen könnte. »Wir brau- verknappt wird für die H²-Produktion, son- lichem Ökostromangebot erfüllen, beispiels-
chen Klarheit«, sagt er, »dass auch Strom aus dern neue Anlagen gebaut werden. weise per Windkraft auf hoher See, Solar-
Bestandsanlagen grüner Strom ist.« strom in der Wüste oder Wasserkraft.
Der Ärger des Unternehmers aus Reußen- In Duisburg hingegen müsste Steag den
köge bei Husum steht in krassem Widerspruch Elektrolyseur im Zweifelsfall immer wieder
zum Hype, der gerade in Brüssel um das Öko- an- und abschalten, je nachdem, wie viel
gas entfacht wird. Seit Ursula von der Leyen Ökostrom verfügbar ist. Ein aufwendiges und
ihren Green Deal ausgerufen hat, preist die teures Verfahren, kritisiert Julian Schorpp,
Präsidentin der EU-Kommission die »unge- Repräsentant der Thyssenkrupp-Stahlsparte
heuren Chancen«, die grüner Wasserstoff für in Brüssel: »Es wäre viel einfacher und güns-
»einige der schmutzigsten Industrien« des tiger, wenn man den Strombezug und die
Kontinents birgt. Bislang müssen Stahl-, Che- Wasserstoffproduktion monatlich oder
mie- oder Glasfabriken riesige Mengen Koh- jährlich bilanzieren könnte.« Auch Grün-
le oder Erdgas verfeuern, um ihre Hochöfen strom zu speichern, um den Elektrolyseur
oder Schmelzwannen auf Temperatur zu brin- laufen zu lassen, wenn nicht genug erneuer-
gen. Künftig sollen die Anlagen mit Wasser- bare Energie vorhanden ist, wäre nicht ge-
stoff betrieben werden, der CO2-neutral aus stattet.
Solar- oder Windparks gewonnen wird. Damit nicht genug. Die Brüsseler Beamten
Damit will der Staatenbund seine Klima- wollen die Produktion von Ökostrom und
GP JOULE

ziele erreichen – und zugleich die Wirtschaft Wasserstoff nicht nur zeitlich, sondern auch
fördern. Allzu oft hätten die Europäer in der räumlich koppeln. Damit der Brennstoff als
Vergangenheit Neuerungen hervorgebracht, Wasserstoffproduktion in Nordfriesland grün gilt, so der Entwurf, müsse der Strom

70 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


WIRTSCHAFT

Andernfalls, so warnen Industrievertreter,


Der Stoff aus dem die Zukunft ist könnte der Staatenbund im Wettlauf um die
neue Industrie zurückfallen. Erst kürzlich
Einsatzmöglichkeiten von »grünem« Wasserstoff hatten Manager des australischen Wasserstoff-
Bei der Elektrolyse wird Wasser mithilfe von Für »grünen« Wasserstoff setzt ein EU- investors Andrew Forrest prognostiziert, dass
Strom aus Anlagen für erneuerbare Energie Entwurf unter anderem folgende Maßstäbe: ein Großteil der globalen Investitionen künf-
in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegt. Die erneuerbare Energie stammt von tig »an Europa vorbei in die Vereinigten Staa-
neuen Anlagen ten fließen« werde.
Stromerzeugung und Elektrolyse im
selben Gebiet Nur, so fragen viele Klimaschützer, wäre
aft das so schlimm? Könnte Europa den grünen
e rkr g ie Wasserstoff muss binnen einer Stunde
ss de ne r seit der Erzeugung des Ökostroms Brennstoff, den es für seine Dekarbonisierung
W
a Wi n
hergestellt werden benötigt, nicht einfach aus Amerika oder Af-
rika beziehen? So wie heute sein Rohöl?
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Viele Unternehmer halten das für keine


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gute Idee, zum Beispiel Nils Aldag, Chef des


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Dresdener Elektrolyseur-Herstellers Sunfire.


Der Firmenchef hatte sich vor Jahren als An-
schubfinanzierer beim Desertec-Projekt en-
gagiert, das in großem Stil Sonnenstrom aus

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Wa Nordafrika nach Europa transportieren woll-

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sto er- te. Dazu kam es nicht, wegen politischer Ri-

Be tri eis un g ins Gas ne


r m e un d Stro m

eb von Gasturbinen
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H2 f siken, aber auch, weil die Organisatoren über
zu wenig technologische und betriebswirt-
Brennsto

Elektrolyse schaftliche Erfahrungen aus ihrem Heimat-


markt verfügten. So könnte es wieder laufen,
warnt Aldag, wenn Europa zentrale Techno-

Einsp
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logien ans Ausland verliert. »Die europäische


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Wasserstoffindustrie muss beweisen, dass sie


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im Griff hat«, sagt er. »Nur dann wird sie glo-


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rt n e u n d ennu ngem Interesse am Hochlauf der Wasserstoffwirt-
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für V fü schaft, heißt es in Industriekreisen. Im Minis-
z. B. E-Fuels m oniak
Am terium sei man eher auf dem »All electric«-
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Trip, wie es ein Industrievertreter formuliert.


»aus derselben Preiszone« stammen, in der mens, Linde oder RWE gehören, in dieser Entgegen aller hochtrabenden Bekundungen
Regel also aus demselben EU-Staat. Woche vor »einem Massenexodus« der jun- stehe die Produktion des grünen Brenngases
Dem großen Netzbetreiber Westenergie gen Industrie aus Europa. »In seiner jetzigen in Deutschland nicht sonderlich weit oben auf
aus Essen bereitet diese Vorschrift Kopfzer- Form beschädigt das Regelwerk einen Groß- der Prioritätenliste der Politik. So werde die
brechen. Die E.on-Tochter will ein Wasser- teil der Initiativen, die Ihr Team auf den Weg Republik ihre Wasserstoffziele verfehlen,
stoffnetz im Ruhrgebiet aufbauen, und weil gebracht hat«, heißt es in dem Schreiben. Die warnen Industrievertreter.
im dunklen und kalten Deutschland nicht ge- Vorschriften würden »den Bedürfnissen der Bleibt den Lobbyisten nur die Hoffnung
nügend Energie dafür zur Verfügung steht, Industrie nicht gerecht«. auf die Durchsetzungskraft deutscher Abge-
will die Firma das Gas in Form von transpor- Hinzu kommt, dass andere Weltregionen ordneter im Europäischen Parlament. Dort
tablem Ammoniak aus Spanien importieren. ebenfalls auf Wasserstoff setzen. US-Präsi- steht Mitte September eine Abstimmung an,
Zugleich will sie Wasserstoff vor Ort selbst dent Joe Biden hat die Ökoenergie in seinem bei der eine Reihe von sozialdemokratischen,
erzeugen – mit Ökostrom aus Italien. jüngsten Anti-Inflations-Gesetz zur Schlüssel- liberalen und konservativen Abgeordneten
Mit den Brüsseler Vorgaben wäre Letzte- technologie erklärt, mit milliardenschweren ein Signal für liberalere Wasserstoffregeln
res nicht vereinbar. So mahnt Westenergie- Subventionen und betont einfachen Regeln. setzen wollen. »Für den Hochlauf der Tech-
Chefin Katherina Reiche: Besser wäre es, »Daran sollte sich die EU orientieren«, heißt nologie benötigen wir mehr Pragmatismus«,
pragmatisch zu beginnen und die Anforde- es in einem Schreiben von Siemens Energy sagt der CDU-Parlamentarier Markus Pieper.
rungen im Laufe der Zeit anzuziehen. Ande- an von der Leyen. »Wir sind bereit, in den Und sein Kollege Jens Geier, Chef der SPD-
renfalls verliere die EU auch als Absatzmarkt Aufbau einer wettbewerbsfähigen Wasser- Abgeordneten im EU-Parlament, ist über-
für potenzielle Lieferanten aus dem Ausland stoffwirtschaft in Europa zu investieren, aber zeugt, dass der russische Energiekrieg das
an Reiz: »Wenn Europa besonders strenge dazu brauchen wir ein pragmatisches und Wachstum der Wasserstoffökonomie noch
Bedingungen für grünen Wasserstoff auf- flexibleres Regelwerk«. dringlicher macht.
erlegt, könnten sich internationale Exporteu- Geier fürchtet ebenfalls, dass »zu strenge
re überlegen, in welche Weltregionen sie zu Regeln den Hochlauf der Wasserstoffwirt-
welchen Konditionen liefern.« schaft behindern« könnten. Das sei eine reale
Kein Wunder, dass die Industrie nun in Gefahr. Schließlich gehe es um nichts weniger
Brüssel Krach schlägt. In einem Brandbrief »Wir benötigen mehr als den »Erhalt der industriellen Kerne in
an Kommissionschefin von der Leyen warnt Europa«.
der Lobbyverband Hydrogen Europe, zu dem Pragmatismus.« Isabell Hülsen, Benedikt Müller-Arnold,
deutsche Konzern-Schwergewichte wie Sie- Markus Pieper, EU-Parlamentarier Michael Sauga n

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 71


WIRTSCHAFT

»Das Geld ist weg nach zwei Jahren«


SPIEGEL-GESPRÄCH E.on-Chef Leonhard Birnbaum, 55, fürchtet, dass die Koalition Milliarden in Entlastungs-
und Rettungspakete steckt – die Ursachen für die steigenden Strom- und Gaspreise damit
aber nicht in den Griff bekommt. Das konzerneigene Atomkraftwerk Isar 2 könnte die Lage entspannen.

SPIEGEL: Herr Birnbaum, die Preise für Strom


und Gas sind auf Rekordhöhen. Was ist den
Menschen noch zuzumuten an Preissteige-
rungen?
Birnbaum: Wir haben ganz klar ein Problem,
wenn die Preise über längere Zeit auf diesem
Niveau bleiben. Vergangene Woche kostete
die Megawattstunde Strom an den Großhan-
delsmärkten zwischenzeitlich etwa 700 Euro,
das ist ja in den Endpreisen noch gar nicht
angekommen.
SPIEGEL: Sie versorgen 14 Millionen Haus-
halte in Deutschland mit Energie, davon
1,5 Millionen mit Gas. Wie viele von denen
haben schon Post mit Preiserhöhungen
erhalten?
Birnbaum: Wer noch keine Post hat, bekommt
sie demnächst. Das ist unvermeidbar. Wie
groß die Erhöhungen ausfallen, ist extrem
unterschiedlich, je nach Tarifen und Region.
In Nordrhein-Westfalen waren es dieses Jahr
bisher rund 40 Prozent für die Gasgrund-
versorgung. Ob es dabei bleibt, hängt davon
ab, ob sich die Lage stabilisiert. Die Frage ist:
Was passiert, wenn die Preise drei Jahre lang
so hoch bleiben?
SPIEGEL: Gehen Sie davon aus?
Birnbaum: Wir müssen aufpassen mit Pro-
gnosen. Wir wissen nicht, ob der Winter kalt
oder warm wird. Das macht einen riesigen
Unterschied beim Gaspreis. Wir wissen nicht,
wie viel Gas Russland künftig liefert. Wir wis-
sen nicht, wie sich die Nachfrage entwickelt.
SPIEGEL: Wie viele Ihrer Kunden können
schon heute nicht mehr zahlen?
Birnbaum: Noch steigen die Ausfallraten
nicht, aber wenn die Preise so bleiben, wird
die Quote hochgehen. Die Zahl der Kunden,
die schon vor der Preiserhöhung bei uns an-
rufen, wächst deutlich. Die sind sensibilisiert.
SPIEGEL: Man könnte auch sagen: Sie haben
Angst.
Birnbaum: Ja.
SPIEGEL: Drehen Sie säumigen Kunden
irgendwann den Hahn ab?
Birnbaum: Das Problem hatten wir ja auch in
Oliver Tjaden / DER SPIEGEL

der Vergangenheit. Wir suchen immer nach


Wegen, die solche Kunden nicht überlasten,
Ratenzahlungen etwa. Und meistens finden
wir auch eine Lösung.

Das Gespräch führten die Redakteurin Isabell Hülsen


und der Redakteur Benedikt Müller-Arnold in Essen. Manager Birnbaum: »Der Markt ist abgegangen wie Schmidts Katze«

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WIRTSCHAFT

SPIEGEL: Wenn daraus ein Massenphänomen »Deutschland hat ein muss massiv bezuschusst werden. Wir reden
wird, wird das kaum möglich sein. hier über einen Finanzbedarf aus dem Bun-
Birnbaum: Das zu verhindern ist jetzt Auf- Stromproblem.« deshaushalt, der leicht auf 100 Milliarden an-
gabe der Politik. Aber ich will gleich warnen: wachsen kann – jährlich! Das ist nicht seriös
Der Staat wird das Problem nicht allein mit gegenfinanzierbar. Wenn man über Preisde-
Entlastungspaketen und Transferzahlungen ckel nachdenkt, dann auf dem Großhandels-
lösen können. Die sind notwendig, aber sie markt. Das hätte zudem den positiven Effekt,
sorgen nicht dafür, dass die hohen Marktprei- Birnbaum: Zum Beispiel Garantien geben, die dass Russland nicht so stark wie bisher von
se verschwinden. Der Staat kann nicht einfach es Produzenten und Händlern leichter ma- den hohen Gaspreisen für seine Kriegskasse
sagen, ich schmeiß Geld drauf, dann ist das chen, im Forward-Markt anzubieten. Wenn profitiert.
Thema gelöst. das Geschäft planmäßig zustande kommt, er- SPIEGEL: Energie ist zu einer Gerechtigkeits-
SPIEGEL: Weil das schlicht zu teuer würde? hält der Staat sein Geld ja zurück. Das würde frage geworden. Auf der einen Seite Konzer-
Birnbaum: Ja, was im Moment passiert, ist helfen, die Preise zu normalisieren. ne, die Milliarden verdienen, auf der anderen
Folgendes: Der Staat schnürt Unterstützungs- SPIEGEL: Bundeswirtschaftsminister Robert Seite Menschen in Energiearmut. Hat die
und Rettungspakete, 50 Milliarden, 100 Mil- Habeck und EU-Kommissionspräsidentin Politik zu spät erkannt, wie viel sozialer
liarden, 125 Milliarden – aber das nützt alles Ursula von der Leyen haben angekündigt, das Sprengstoff darin liegt?
nichts bei diesen Preisen, das Geld ist weg Strommarktdesign zu reformieren und den Birnbaum: Ich würde gern differenzieren. Wir
nach zwei Jahren. Wir müssen an die Ursache Strompreis vom Gaspreis zu entkoppeln. Ein müssen als Branche im Moment unglaublich
der Verwerfungen, damit die Rechnung nicht sinnvoller Schritt? viel in die Energiewende investieren, allein
ins Unendliche steigt. Dann können wir Birnbaum: Da sage ich: Vorsicht und nur mit E.on hat bis 2026 ein Programm von 27 Mil-
schauen, was an Hilfe darüber hinaus not- Bedacht! Ein neues Marktdesign macht man liarden Euro aufgelegt. Wenn Sie viel inves-
wendig ist. Umgekehrt funktioniert es nicht. nicht mal eben schnell in ein paar Wochen, tieren, müssen Sie das vorher verdienen.
Das macht auch die Rettung von Uniper nur das nützt für die kritischen nächsten Monate SPIEGEL: Ist das jetzt Ihr erwartbares Plädoyer
immer teurer. also nichts. Versucht man es mit einem gegen eine Übergewinnsteuer?
SPIEGEL: Wie wollen Sie denn die Ursache Schnellschuss, ist die Wahrscheinlichkeit sehr Birnbaum: Erst mal ist es ein Plädoyer dafür,
der Krise lösen, wenn Russland Energie als hoch, dass es schiefgeht. Ein falscher Satz im dass Gewinne per se nicht schlecht sind. Aber
Waffe einsetzt? Regelwerk, und alles fliegt einem um die Energieunternehmen ist nicht gleich Energie-
Birnbaum: Das ist an der Stelle eine billige Ohren. unternehmen. Und den Öl- und Gaskonzer-
Ausrede. SPIEGEL: Die Politik denkt deshalb kurzfristig nen ist es inzwischen selbst peinlich, wie viel
SPIEGEL: Wie bitte? über Preisdeckel nach. sie verdienen. Da ist es nachvollziehbar, dass
Birnbaum: Wir haben mehrere Probleme, Birnbaum: Preisdeckel für Endkunden funk- die Politik überlegt, ob sie abschöpft. Aber
nicht nur die Folgen des russischen Angriffs tionieren nicht, denn sie bedeuten: Die Ener- für E.on sind die hohen Einkaufspreise eine
auf die Ukraine. Deshalb brauchen wir eine gievertriebe bleiben auf den Kosten sitzen. unglaubliche Belastung. Wir müssen die ir-
breitere Antwort als bloß Entlastungen. Zu- Was dann passiert, sehen wir in Großbritan- gendwie an unsere Kunden weitergeben.
gegeben, manches, was nötig wäre, damit der nien: Da gehen Anbieter reihenweise pleite. Wenn die nicht zahlen, ist das unser Problem.
Markt wieder richtig funktioniert, ist wahn- SPIEGEL: Es sei denn, der Staat zahlt die Ich will ja nicht jaulen, aber die Importeure
sinnig komplex. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Differenz. werden gerettet, die Speicherbetreiber wer-
die geringe Liquidität auf dem sogenannten Birnbaum: Das ist viel zu teuer. den gerettet, die Kraftwerke kommen auch
Forward-Markt. Wenn wir dort für das erste SPIEGEL: In Frankreich versucht es die gut zurecht. Die Einzigen, die ein richtiges
Quartal 2023 Strom und Gas einkaufen wol- Regierung. Problem haben, wenn der Winter kalt wird,
len, um Versorgungssicherheit für unsere Birnbaum: Mit dem Ergebnis, dass der Ener- sind die Stadtwerke und wir. Wenn jetzt über
Kunden zu gewährleisten, gibt es gegenwärtig gieversorger EDF komplett verstaatlicht wer- die Milliardengewinne von Energiekonzernen
kaum Mengen. Das bedeutet: Wenn es kalt den muss und die Einsparungen der Kunden hergezogen wird, sage ich: Könnt ihr bitte
würde, müssten wir auf dem Spotmarkt nach- bei null liegen. Das ist teuer und ineffizient. unterscheiden, von wem ihr redet! Jedenfalls
kaufen. Bei derart hohen Preisen hätten auch SPIEGEL: Ihr Einwand gilt nicht, wenn nur eine nicht von uns.
wir dann schnell ein Problem. bestimmte Menge Energie, eine Art Basisver- SPIEGEL: Okay, wir haben verstanden, E.on
SPIEGEL: Das müssen Sie genauer erklären. brauch, bezuschusst wird. Auf jede Kilowatt- ist kein Krisengewinner. Bei der Gasumlage
Warum wird denn so wenig für die Zukunft stunde darüber würde der normale Tarif allerdings kommen Sie ungeschoren davon,
angeboten? fällig. die können Sie durchreichen. An den Kosten
Birnbaum: Stromproduzenten oder Gas- Birnbaum: So würde zumindest der Anreiz der Uniper-Rettung werden Sie mithin nicht
händler, die Mengen im Voraus verkaufen, zum Energiesparen nicht verloren gehen. Das beteiligt. Anders als Rentnerinnen und Rent-
müssen bei einer Bank Geld als Sicherheit Grundproblem bleibt: Der Basisverbrauch ner knapp über der Armutsgrenze. Die müs-
hinterlegen. Das schützt den Käufer für den sen zahlen.
Fall, dass die Lieferung ausfällt und er die Birnbaum: Entschuldigung, ich will nicht
Mengen anderweitig beschaffen muss. Je hö- Netzgeschäft respektlos sein. Auch da gilt: nicht alle über
her die Preise steigen, umso mehr Geld muss einen Kamm scheren. Die Umlage nutzt,
der Anbieter hinterlegen. Wer derzeit vor- Bereinigter Gewinn des E.on-Konzerns* wenn die Politik es richtig hinbekommt, nur
im 1. Halbjahr 2022, in Milliarden Euro
verkaufen will, muss deshalb sehr viel Geld zwei Unternehmen, Uniper und SEFE, die
zur Hand haben. Die Alternative ist: Er ver- Energienetze 2,7 frühere Gazprom Germania. Das sind Im-
kauft nicht im Voraus, sondern schiebt die Strom- und
1,0 porteure. Wir sind keine Importeure. Von
Mengen lieber in den Spotmarkt. Gleichzeitig Gasvertrieb dieser Umlage bleibt nichts bei E.on hängen.
versuchen verzweifelte Vertriebe und Spei- Atomkraft, SPIEGEL: Das ist nicht unser Punkt. Die Um-
0,5
Türkeigeschäft
cherbetreiber gerade, sich vorausschauend lage ist für Sie ein durchlaufender Posten.
Konzernleitung, Kon-
einzudecken. Doch weil das Angebot so be- – 0,1
solidierung, Sonstiges Birnbaum: Durchlaufende Posten hasse ich
grenzt ist, schießen die Preise auf dem For- wie die Pest. Da sind Sie Eintreiber für ande-
ward-Markt in die Höhe. Gesamt 4,1 re. Wir haben nur Aufwand, nur Ärger mit
SPIEGEL: Und was kann der Staat dagegen * vor Zinsen, Steuern und Abschreibungen den Kunden, denen ich das erklären muss.
tun? S Quelle: E.on Und die Umlage macht es den Kunden noch

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WIRTSCHAFT

schwerer, die eh schon hohen Rechnungen zu SPIEGEL: Man hört, dass Ihr Atomkraftwerk
begleichen. Isar 2 noch bis Juni 2023 Strom produzieren
SPIEGEL: Und wir dachten, E.on gehörte zu könnte, allein mit der Energie, die noch in
den gedanklichen Urhebern der Idee. den Brennstäben steckt. Ist das korrekt?
Birnbaum: Jetzt kommen wir zu dem Punkt, Birnbaum: Wir haben der Politik gesagt, mit
warum die Umlage trotzdem Sinn macht. Sie welchen Prämissen sie arbeiten kann, das al-
soll den Zusammenbruch der relevanten Im- lerdings nicht öffentlich gemacht.
porteure verhindern. Man hätte die auch SPIEGEL: Wie viel Zeit bleibt der Regierung
pleitegehen lassen können. Dann wäre es nach den Stresstestergebnissen für die Ent-
allerdings zu schwer kontrollierbaren Ketten- scheidung?
reaktionen gekommen. Alle Kunden dahinter Birnbaum: Je früher sie fällt, in die eine oder
wären plötzlich ohne Versorgung dagestan- andere Richtung, desto besser. Ich würde
den, Hunderte Stadtwerke und Industrie- unseren Mitarbeitern gern die Ungewissheit
betriebe hätten sich am Markt eindecken nehmen. Sie haben einen Sozialplan unter-
müssen, zu immensen Summen. Dann hätte schrieben, einige gehen am 31. Dezember in
man wieder überlegen müssen: Rettet man Rente. Ich kann nicht am 30. sagen, ich habe
jetzt Hunderte von Unternehmen? Da ist es es mir anders überlegt. Wir müssen Vorberei-
einfacher, an der Quelle zu retten. tungen treffen, falls es weitergeht. Es ist nicht

Frank Hoermann / SVEN SIMON


SPIEGEL: Die Alternative wäre doch nicht ge- trivial, ein Kernkraftwerk anders zu fahren.
wesen, Uniper bankrottgehen zu lassen. Son- SPIEGEL: Um welche Vorbereitungen geht es da?
dern andere Wege zu gehen. Birnbaum: Für einen Streckbetrieb bräuchten
Birnbaum: Der Staat hätte auch Steuergeld wir Dienstleister. Mit denen haben wir im
einsetzen können. Aber das wäre sehr teuer Moment keine Verträge über das Jahresende
geworden. Retten ist ja eines, laufende Kosten hinaus abgeschlossen. Man muss zum Beispiel
und Verluste zu tragen etwas anderes. Die E.on-Atomkraftwerk Isar 2 in Niederbayern
Brennelemente umkonfigurieren. Das ma-
Umlage erlaubt es Uniper, die Mehrkosten chen spezielle Teams von Fremdfirmen. Die
weiterzugeben, ansonsten müsste man den schon einen signifikanten Effekt. Hinzu muss man Monate im Voraus buchen, sonst
Konzern praktisch jeden Monat aufs Neue kommt: Deutschland hat ein Stromproblem, bekommt man sie nicht.
retten. Und es ist fairer, die Kosten auf alle das nicht nur Folge des Gasmarkts ist. Wir ha- SPIEGEL: Warum geben sich die Betreiber
Gaskunden zu verteilen, nicht nur auf die von ben in diesem Sommer mehr Strom aus Gas eigentlich so zögerlich? Am Anfang hieß es,
Uniper. Die meisten kennen ja ihren Liefe- produziert als vor einem Jahr, obwohl die Gas- der Weiterbetrieb sei technisch gar nicht mög-
ranten nicht mal. Wenn Sie als kleiner Ge- preise viel höher sind. Warum? Weil nicht ge- lich, jetzt ist man »zu Gesprächen bereit«.
werbebetrieb bei den Stadtwerken Neustadt nug französische Kernkraft verfügbar ist, nicht Haben Sie Angst, als Krisengewinnler dazu-
einkaufen, wissen Sie nicht, ob die bei Gaz- genug Wasserkraft und weil die Kohlekraft stehen?
prom Germania oder Uniper oder sonst wo noch nicht aus der Reserve zurückgekommen Birnbaum: Nein. Es gab noch nie einen Anlass
gekauft haben. Es wäre reines Lotto gewesen, ist. Das zeigt: Es fehlt uns gesicherte Grund- für einen Streckbetrieb. Wir haben eine
wen es trifft. lastleistung, es fehlen uns Kraftwerke. detaillierte Planung für die Zeit nach dem
SPIEGEL: E.on hat im ersten Halbjahr gut vier SPIEGEL: Das kann man nur als eindeutiges 1. Januar 2023: für den Rückbau. Es wurden
Milliarden Euro Vorsteuergewinn erzielt und Plädoyer für den Weiterbetrieb verstehen. schon Lieferanten bestellt, die uns dabei hel-
will die Dividende weiter erhöhen. Das klingt Birnbaum: Das sind erst mal nur die Fakten. fen. Das zu verschieben und neu zu planen
nicht nach Leidensdruck. Der Strommarkt ist eng. Trotzdem kann die würde einen Haufen Geld kosten.
Birnbaum: Unsere Aktie hat in diesem Jahr Politik entscheiden, dass es ihr wichtiger ist, SPIEGEL: Auf der anderen Seite können Sie
30 Prozent ihres Werts verloren. Die Kapital- die Kernkraftwerke Ende des Jahres abzu- mit dem Atomstrom gerade auch einen Hau-
märkte sehen: Da kommt eine Riesenrech- schalten. fen Geld verdienen.
nung auf E.on zu. Sie haben uns über die SPIEGEL: Sie liefern hier aber gerade Argu- Birnbaum: Wir haben keine kommerzielle
Maßen abgestraft. mente für den Weiterbetrieb. Planung für einen Weiterbetrieb. Wenn die
SPIEGEL: Ist es angesichts der düsteren Aus- Birnbaum: Die Argumente liefert der Stress- Politik den will, würden wir all das mit ihr
sichten dann vernünftig, im nächsten Jahr test der Übertragungsnetzbetreiber. Auf die- besprechen.
Dividende ausschütten zu wollen? ser Basis entscheidet die Politik. SPIEGEL: Und dann hätten Sie alle diese Pläne
Birnbaum: Unser Dividendenversprechen plötzlich innerhalb von zwei Tagen parat?
steht. Es ist wichtig, damit wir unsere Inves- Birnbaum: An uns soll es jedenfalls nicht
titionen finanziert bekommen. Wir brauchen Gespaltener Markt scheitern. Unsere Leute sind ja kompetent.
Kapital für die Energiewende. SPIEGEL: Ein Streckbetrieb wird automatisch
Nettogewinn bzw. Nettoverlust
SPIEGEL: Die Erwartung in Deutschland ist die Debatte lostreten, ob die Kraftwerke nicht
in Milliarden Euro
groß, dass ein Streckbetrieb der letzten drei besser gleich ein paar Jahre weiterlaufen
Atomkraftwerke die Energiepreise drückt. Ist 1. Halbjahr 2021 1. Halbjahr 2022 sollten.
diese Erwartung berechtigt? 2,772 2,536 Birnbaum: Darüber will ich nicht spekulieren.
Birnbaum: Vergangene Woche kam die Nach- 1,432 2,083 Da harre ich in gespannter Erwartung der
richt aus Frankreich, dass Kernkraftwerke mit Entscheidungen der Politik.
einer Kapazität von fünf Gigawatt leider nur RWE E.on Uniper SPIEGEL: Wegen des geplanten Ausstiegs dür-
verzögert ans Netz zurückkommen. Danach – 0,02 fen Sie die seit drei Jahren fällige periodische
ist der Markt abgegangen wie Schmidts Kat- Sicherheitsüberprüfung weglassen. Müsste
ze. Die drei Anlagen, über die in Deutschland Der Staat stützt Uniper man die nachholen, wenn die Kraftwerke
mit Milliarden und
diskutiert wird, haben eine Kapazität von 4,2 bereitet einen doch länger laufen?
Gigawatt. Wenn die Preise so hoch sind und möglichen Einstieg in Birnbaum: Wir könnten die Anlage technisch
den Konzern vor.
die Preiskurven so steil, dann hat schon eine sicher weiterbetreiben. Sie wird laufend über-
relativ kleine gesicherte Leistung große Aus- prüft. Die periodischen Sicherheitsüberprü-
wirkungen. Es hätte also wahrscheinlich S Quelle: Unternehmensangaben – 12,418 fungen finden zusätzlich dazu statt. Eine An-

74 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


WIRTSCHAFT

lage, die am 31. Dezember sicher ist, wäre es Flüge durchführen, das Personal an Bord aber
auch am Tag danach. weniger verdienen als bei Lufthansa Classic.
SPIEGEL: Nichtsdestotrotz müsste der Bund Mit den bestehenden Vergütungsstruk-
wohl das Atomgesetz ändern. Dann würden turen seien Kostensenkungen nicht möglich,
sich auch rechtliche und Haftungsfragen wie-
der stellen.
Birnbaum: Die Haftung bleibt in jedem Fall
Nach dem argumentiert das Management. Ohne diese
Kürzungen sei die Lufthansa international
nicht wettbewerbsfähig. So erwirtschafte ein
bei uns. Die Verantwortung für einen tech-
nisch sicheren Weiterbetrieb kann niemand
anderes als der Betreiber übernehmen. Das
Streik ist vor Airbus A320 gerade mal eine Million Euro
Gewinn im Jahr. Trotz der knappen Marge
könne ein A320-Pilot bei Lufthansa Classic
würden wir auch akzeptieren.
SPIEGEL: Machen Sie eigentlich jeden Tag drei
Kreuze, dass E.on vor sechs Jahren beschlos-
dem Streik bis zu 280 000 Euro im Jahr verdienen. Bei
Cityline 2 sollen die Gehälter auf rund
200 000 Euro gedeckelt werden.
sen hat, die einstige Tochter Uniper abzustoßen? Die Piloten halten dagegen: Nur wenige
Birnbaum: Wir haben Uniper abgespalten, LUFTFAHRT Vordergründig kämpfen Kollegen erreichten die 280 000 Euro. Sie
weil die Geschäfte nicht mehr zu uns passten. die Piloten der Lufthansa um wollen einen Dammbruch vermeiden. Im
Wir können nicht auf der einen Seite Energie- Arbeitskampf indes dürfen sie offiziell nur
wende predigen und auf der anderen Kohle- mehr Geld. Tatsächlich wollen sie über offene Punkte im Tarifvertrag streiten,
kraftwerke wie Datteln 4 betreiben oder Gas- einer Aushöhlung ihrer das Projekt Cityline 2 gehört nicht dazu. Wür-
importverträge mit Russland haben. Strate- Tarifverträge zuvorkommen. den die Piloten klar aussprechen, wofür sie
gisch haben wir alles richtig gemacht. Hätten streiken, könnte Lufthansa den Arbeitskampf
wir Uniper nicht abgespalten, hätten wir in per Eilverfahren gerichtlich unterbinden
dieser Krise staatliche Unterstützung ge- s ist schon lange kein besonderes Ver- lassen. VC-Tarifchef Marcel Gröls betont da-
braucht. Denn Uniper wäre auch im E.on-Ver-
bund ein Rettungsfall gewesen.
SPIEGEL: Aber mit Kraftwerken und er-
E gnügen mehr, mit der Lufthansa zu flie-
gen. Doch in diesem Jahr stellt die Air-
line ihre Kunden auf eine besondere Probe.
her immer wieder, es handele sich um »ganz
normale Tarifverhandlungen«.
Für Spohr ist der Konflikt schwer lösbar.
neuerbaren Energien machen andere gerade Kaum ist das Sommerchaos infolge des Per- Der 30 Jahre alte Konzerntarifvertrag (KTV)
Reibach. sonalmangels ein wenig abgeebbt, droht den wirkt inzwischen wie eine Fessel. Der KTV
Birnbaum: Das stimmt. Unser Vorteil ist: Wir Passagieren eine neue Chaoswelle. rang den Piloten 1992 bis zu 30 Prozent Ge-
betreiben nur noch Geschäfte, die voll auf die Am Freitag musste die Lufthansa rund 800 halt ab und rettete die damals aufgeblähte
Energiewende einzahlen. Netze, Ladesäulen, Flüge streichen, weil die Pilotenvereinigung Lufthansa vor dem Untergang. Im Gegenzug
Solar für zu Hause, Batteriespeicher. Mehr Cockpit ihre Mitglieder zum Streik aufgerufen sicherte der Konzern den Flugzeugführern
Energiewende heißt mehr Geschäft für uns. hatte. Der eintägige Ausstand könnte der Auf- zu, den Tarifvertrag auch bei den seinerzeit
SPIEGEL: Geben Sie mal eine Prognose ab: takt für eine Serie von Streiks werden, ähnlich bestehenden Tochtergesellschaften unter
Wird uns diese Krise in der Energiewende wie in den Jahren 2014 bis 2016. Damals bestimmten Bedingungen umzusetzen. Die
zurückwerfen, oder ist sie ein Katalysator? legten Kapitäne und Co-Piloten 14-mal die Zusage gilt unbefristet. Um sie zu umgehen,
Birnbaum: Schwierig zu beantworten. Einer- Arbeit nieder. Es geht jetzt um Grundsätz- ersinnt das Lufthansa-Management immer
seits werden plötzlich Dinge in einem Tempo liches – für die Flugzeuglenker und für das Top- wieder neue komplizierte Ausgründungen.
genehmigt, das hätten wir nie geglaubt. An- management um Konzernchef Carsten Spohr. 2014 etwa sollte eine neue Discounttochter
dererseits müssen wir aufpassen, dass nicht 900 Euro mehr pro Kopf und Monat bot für Langstrecken unter dem Namen »Wings«
die Basis unseres Wohlstands verloren geht. das Unternehmen zuletzt an. Den Lufthansa- gegründet werden. Sie ging nie an den Start.
Die Krise verschlechtert Europas Wettbe- Pilotinnen und -Piloten reicht das nicht. Um Ein Jahr später feilte Spohr an einem Billig-
werbsfähigkeit. Das ist schlimmer als Corona. die Löhne aber feilschen viele der gut bezahl- ableger, der von außen für Passagiere nicht
Damit hatte die ganze Welt zu kämpfen. Jetzt ten Flugzeugführer nur vordergründig. De erkennbar sein sollte. Die Operation lief in-
hat nur Europa ein Problem, unsere Energie- facto kämpfen die Piloten und ihre Gewerk- tern unter dem Codenamen »Jump«: Piloten
preise werden absehbar nicht wieder zurück- schaft Vereinigung Cockpit (VC) gegen eine einer Tochterfirma sollten Langstreckenflie-
kommen auf das Niveau, das wir hatten. Aushöhlung der Tarifverträge. ger vom Typ A340-300 zu Ferienzielen steu-
SPIEGEL: Zum Schluss können wir Ihnen die »Cityline 2« wird das Projekt intern ern. Die längst abgeschriebenen Maschinen
Frage nicht ersparen, wie Sie es persönlich genannt, das die Kapitäne so wütend macht. sahen äußerlich aus wie Lufthansa-Jets, am
mit dem Energiesparen halten: Sind Sie schon Der Ableger soll unter der Marke Lufthansa Leitwerk prangte das Kranich-Signet. Im
beim Waschlappen oder noch beim neuen Cockpit hingegen sollten statt gut bezahlter
Duschkopf? Lufthansa-Piloten Kolleginnen und Kollegen
Birnbaum: Ich habe mir vorgenommen, der Kurzstreckentochter Cityline sitzen – zu
30 Prozent zu sparen. Und das schaffe ich rund einem Viertel geringeren Kosten. Auch
auch. Wir haben ein großes Haus und werden der Vorstoß versandete.
nur noch die Kernregionen heizen: Küche, Die Coronakrise hätte der Konzernfüh-
Esszimmer, Wohnzimmer. Die Schlafzimmer rung Anlass gegeben, den lästigen Tarifver-
bleiben kalt. Das spart mehr, als im ganzen trag abzuschütteln: Bei einer Insolvenz in
Haus ein Grad runterzudrehen. Ganz wichtig: Eigenverwaltung wäre auch der KTV hinfäl-
Wir haben unsere Anlage bereits überprüfen lig gewesen. »Damit ist eine riesige Chance
lassen, ob sie sauber eingestellt ist. Und ein vertan worden«, sagt ein Beteiligter. Am Ende
paar unnötige Geräte vom Netz genommen. wollten weder das Management noch der
Heute Morgen erst habe ich zu meiner Frau Staat die Airline in die Pleite schicken.
Hannes P. Alber t / dpa

gesagt: Wir wollten doch schon immer die Ausbaden müssen den Konflikt nun die
Halogenlampen austauschen gegen LED. Lass Passagiere. Die Vereinigung Cockpit jeden-
uns das endlich tun. falls gibt sich kampfbereit. Will heißen: Wei-
SPIEGEL: Herr Birnbaum, wir danken Ihnen Lufthansa-Chef Spohr tere Streiks sind jederzeit möglich.
für dieses Gespräch. n Claus Hecking, Martin U. Müller n

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 75


WIRTSCHAFT

Grüne Gotteslästerung
BLOCKCHAIN Kryptowährungen sind energieintensiv und extrem klimaschädlich. Ethereum soll nun
umweltfreundlicher werden. Das gefällt nicht jedem in der Szene.

eine erste Blüte verdankt das Städtchen die das Projekt begleitet. »Dabei kann viel
S Bad Salzdetfurth einem Schatz: Bis in
die Neunzigerjahre holten die Menschen
hier Salz aus der Tiefe. Vom damaligen Wohl­
schiefgehen, aber die Ethereum­Gemeinde
hat eine unglaubliche Menge an Arbeit rein­
gesteckt, damit die Umstellung glattläuft.«
stand künden malerische Fachwerkhäuser. In Die Reform wird seit Jahren vorbereitet,
den vergangenen Jahren haben Christian und trotzdem kommt sie für manche Fans einer

Mark Mühlhaus / attenzione / DER SPIEGEL


Jennifer Behrens hier im Technologiezentrum Gotteslästerung gleich: »Nur das Proof­of­
einen virtuellen Rohstoff gefördert: digitales Work­Verfahren ist wirklich sicher und ent­
Gold. Sie schürften Kryptowährungen, im spricht der Grundidee der Blockchain«, sagt
Fachjargon »Mining« genannt. Roman Reher, ein prominenter Kopf der deut­
Bitcoin, Ether oder Dogecoin, wie die schen Kryptoszene. Schließlich schuf der mys­
digitalen Währungen heißen, werden nicht teriöse Bitcoin­Erfinder Satoshi Nakamoto,
von Notenbanken ausgegeben, sondern von der von der Szene quasireligiös verehrt wird,
Netzwerken im Internet kontrolliert. Das ein »dezentralisiertes Netzwerk«. Dass das
Ganze ist ein komplizierter Vorgang, bei dem jede Menge Strom verbraucht, sei ein »Zei­
Kryptominer wie das Ehepaar Behrens eine Miner-Paar Behrens
chen für den Fortschritt«, sagt Reher.
bedeutende Rolle spielen. Sie sorgen dafür, Die Kritiker des neuen Systems fürchten,
dass zu jedem Zeitpunkt feststeht, wem das an den Grundüberzeugungen der Szene. dass die Validatoren zu mächtig werden. Vor
Kryptogeld gehört – indem ihre Rechner rund Es geht um technische Fragen – und darum, allem große Kryptobörsen dürften wegen
um die Uhr Zahlenrätsel knacken. Auf diese wie anarchisch Kryptos noch sein dürfen. ihrer Finanzstärke eine Schlüsselrolle spielen.
Art schreiben sie die Blockchains, eine Art Ethereum lässt das Kassenbuch nicht mehr »Die Validatoren könnten beispielsweise
digitales Kassenbuch, fort und erhalten dafür komplett dezentral (und damit energieauf­ bestimmte Transaktionen blockieren, um
eine Belohnung in Form von virtuellen Mün­ wendig) kontrollieren, sondern von soge­ Sanktionsauflagen der Behörden nachzu­
zen. Das Verfahren heißt »Proof of Work« nannten Validatoren. Sie bürgen mit einem kommen«, erklärt der Informatiker Ulrich
(»Arbeitsnachweis«) und baut auf die ein­ Teil ihrer Kryptoersparnisse dafür, dass es im Gallersdörfer, Geschäftsführer des Crypto
fache Formel: Rechenleistung gegen Geld. Netzwerk mit rechten Dingen zugeht, und Carbon Ratings Institute. Das passe nicht zu
In den Anfangsjahren des Bitcoin nutzten bekommen dafür eine Belohnung. Das Ver­ den anarchischen Ideen der Kryptowelt, die
Miner dafür ihre Privatrechner, heute ist fahren heißt »Proof of Stake«, von September sich als Gegenmodell zum etablierten Finanz­
Kryptomining eine milliardenschwere In­ an will Ethereum darauf umschwenken. Und system sieht. Andererseits spart die Umstel­
dustrie. Mit dem Kryptopreis steigen Kon­ das im laufenden Betrieb: »Das ist so, als wür­ lung jede Menge Strom: »Der Energiebedarf
kurrenzdruck und Rechenaufwand – und so de man bei einem Flugzeug in der Luft den dürfte um mehr als 99 Prozent sinken«, rech­
wächst der Energieverbrauch. Allein das Propeller wechseln«, sagt der auf Kryptothe­ net Gallersdörfer vor.
Ethereum­Netzwerk verbraucht derzeit pro men spezialisierte Anwalt Florian Glatz. So kommt Lob von ungewohnter Stelle:
Jahr mehr Strom als ganz Österreich. Der Man mache das System nicht nur effizien­ »Ethereum leistet Pionierarbeit«, sagt Ras­
Bitcoin benötigt beinahe das Doppelte. Vom ter, sondern verändere es grundlegend, sagt mus Andresen, Sprecher der deutschen Grü­
Elektroschrott ganz zu schweigen: Eine Studie Carl Beekhuizen von der Ethereum­Stiftung, nen im Europäischen Parlament und Mitglied
schätzt, dass allein beim Bitcoin jährlich des Ausschusses für Wirtschaft und Währung.
30 000 Tonnen Elektromüll anfallen. Der Wechsel zu einem nachhaltigen Modell
Ein Albtraum für den Planeten: »Die Stromfresser könnte beispielhaft werden. »Sollte das bei
Klimabilanz vieler Kryptowährungen ist Ethereum klappen, könnte dies eine Blau­
hochproblematisch«, sagt Mauricio Vargas, Energieverbrauch 2022* in Terawattstunden pause für andere Kryptoassets sein.«
Finanzexperte bei Greenpeace. Einen Bitcoin Südafrika Kryptominer werden dann nicht mehr
zu besitzen, rechnet er vor, verursache etwa 229 gebraucht. Viele haben nach dem jüngsten
so viel CO2 wie ein Transatlantikflug – und Crash aufgegeben. Dazu kommen die hohen
das Jahr für Jahr. »Wer das Klima schützen Türkei Energiepreise. Die Rechnerfarm von Chris­
will, darf nicht in Bitcoin und andere Proof­ 220 tian und Jennifer Behrens verschlang monat­
of­Work­Währungen investieren.« Bitcoin Ethereum lich rund 120 000 Kilowattstunden. Sie haben
Die zweitgrößte Kryptowährung Ether will 131 77 208
ihre Computer deshalb vor einigen Wochen
sich deshalb vom energieintensiven Wettstreit in die USA geschickt, wo der Strom günstiger
der Kryptominer verabschieden – und das Indonesien ist. Dort sollen sie neue Rechenaufgaben
schon Mitte September. Der sogenannte 207 lösen. Die beiden bleiben gelassen. Ethereum
Merge (die »Zusammenführung«) soll die mag sich vom Proof of Work verabschieden,
Thailand
Digitalwährung umweltfreundlicher, schneller andere Kryptowährungen werden ihrer An­
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und kostengünstiger machen. Was vernünftig sicht nach daran festhalten. Sie machen wei­
klingt, bedroht das Geschäftsmodell von * Schätzung, Stand: 31. August ter, solange »die Rendite stimmt«.
Kryptominern wie den Behrens – und rüttelt S Quelle: Digiconomist Michael Brächer, Pascal Mühle n

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 76


WIRTSCHAFT

DIE NEUE
Serie Transformation Die neue Unabhängigkeit – wirklich selbst versorgen? Wie viel internationale
Teil XI: Pandemie und Ukrainekrieg haben sichtbar Vorarbeit steckt in einem Auto? Wie kommt ein
gemacht, wie verflochten die Weltwirtschaft Haus ohne fossile Energien aus? Das SPIEGEL-Wirt-
ist – und wie anfällig für Störungen. Viele Nationen, schaftsressort geht diesen Fragen in einer Serie
Unternehmen und private Haushalte streben nach und beschreibt, wie viel Autarkie möglich ist –
nun nach Unabhängigkeit. Aber wer kann sich schon und wo sie an Grenzen stößt.
UNABHÄNGIGKEIT

Mars Vivendi
RAUMFAHRT Elon Musk und andere Unternehmer träumen von autarken Kolonien auf dem Nachbarplaneten.
Dabei zeigt die Marsforschung vor allem eines: Es lohnt, das Leben auf der Erde zu schützen.

och ein paar Kilometer sind es bis zum Für die Sehnsucht nach einem Planeten B Die erste Marsmission auf dem Mauna Loa
N Mars. Henk Rogers lenkt seinen wei-
ßen Hummer über den kurvigen Pfad,
vorbei an schwarzen und ziegelroten Stein-
gibt es gute Gründe. Die Ressourcen der Erde
sind endlich. »Unser Planet wird immer
prekärer«, warnte der 2018 verstorbene Star-
startete 2013. Eine Professorin der Universi-
tät Hawaii hatte von der Nasa Geld für eine
Studie zur Ernährung im Weltall erhalten,
brocken. Scharf links, lange Kurve rechts, physiker Stephen Hawking – Klimawandel, doch eine Kuppel, in der die Probanden leben
wieder scharf links. Dann erscheint eine strah- Asteroideneinschläge und Epidemien könn- sollten, durfte sie von dem Geld nicht bauen.
lend weiße Halbkugel über dem schwarzen ten der Bevölkerung den Garaus machen. Sie bat Rogers um Hilfe. Der Unternehmer,
Ascheboden. Hawking gab der Menschheit nur hundert der sein Vermögen unter anderem mit Lizen-
Rogers, ein sehniger 68-Jähriger mit kur- Jahre Zeit, um den nächsten Planeten zu ko- zen für das Computerspiel Tetris gemacht hat
zem, ergrautem Zopf, parkt seinen Gelände- lonisieren. »Wenn die Menschheit für eine und bis heute bei der Tetris Company mit-
wagen neben dem Kuppelzelt und springt weitere Million Jahre existieren will, muss mischt, errichtete die Station binnen drei Wo-
vom Fahrersitz. Ein paar Schritte zu Fuß, und sie mutig dorthin gehen, wo niemand je zuvor chen. Bis heute hat er rund eine halbe Million
die Weltraumstation ist erreicht. gewesen ist.« Dollar in die Anlage gesteckt.
Kaum irgendwo kommt man dem Mars so Optimistischer und etwas poetischer for- Über ein Dutzend Missionen hat die HI-
nah wie hier, am Mauna-Loa-Vulkan auf muliert es Rogers. »Alles Leben, das wir ken- SEAS seither beherbergt. Manche dauern ein
Hawaii. Das Gebiet ähnelt der Marsoberflä- nen, ist auf diesem Planeten. Mutter Natur paar Wochen, die längste lief zwölf Monate.
che, die menschliche Zivilisation ist ziemlich hatte nie ein Baby.« So wie die Menschen die Bis vor ein paar Jahren buchte die Nasa die
weit weg. Ein perfekter Ort, um das Leben Erde entdeckt und besiedelt hätten, sei es Station regelmäßig, auch die europäische
auf dem roten Planeten zu simulieren. Seit nun ihre Aufgabe, das Leben auf andere Pla- Raumfahrtagentur Esa war schon da. Für die
2013 betreibt Rogers hier die HI-SEAS-Test- neten zu tragen. Für den Multimillionär ist meisten Missionen bewerben sich aber Ama-
station. HI-SEAS kein kommerzieller Freizeitpark teure aus der ganzen Welt. Für rund 2000
Der US-Unternehmer zählt zu einer Grup- für Science-Fiction-Abenteurer. Seine Mis- Dollar dürfen Ingenieure, Ärzte, Künstler
pe Wohlhabender um Tesla-Chef Elon Musk, sion sei es, eine »Sicherungskopie« des Le- oder Sozialarbeiter das Leben fern der Erde
Amazon-Gründer Jeff Bezos und Virgin-Zam- bens auf der Erde auf einen anderen Planeten trainieren. Jeder Teilnehmer bringt ein Expe-
pano Richard Branson, die große Pläne für zu bringen. riment mit. Manche versuchen Pflanzen mit-
die Menschheit im Weltraum verfolgt. Die
Ambitioniertesten träumen von autarken Unternehmer Rogers
Städten auf Mond und Mars, in denen Tau-
sende Menschen leben, Mineralien fördern,
eigene Nahrung anbauen und so der Klima-
katastrophe auf der Erde entkommen.
HI-SEAS ist eines von mehreren Projek-
ten, die den Menschen fit für das Leben im
Weltraum machen sollen. Dass jemals Astro-
nauten ihren Fuß auf den Mars setzen wür-
den, galt lange als Science-Fiction. Heute ist
der Rote Planet der am gründlichsten er-
forschte neben der Erde – und die Frage lau-
tet nicht mehr ob, sondern wann er erstmals
von Menschen betreten wird.
In den späten 2030er-Jahren will die Nasa
eine bemannte Marsmission starten, Musk
möchte es mit seiner Raketenfirma SpaceX
ronitphoto / DER SPIEGEL

noch früher schaffen, er plant eigenständige


Wohnkolonien auf dem Nachbarplaneten.
Doch wie realistisch ist das? Die Marsfor-
schung zeigt bisher vor allem eines: wie
schwierig es ist, die Erde zu ersetzen.

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 77


WIRTSCHAFT

tels künstlicher Fotosynthese anzubauen, Der Tesla-Gründer denkt auch bei der
andere untersuchen die Böden oder karto- Marsbesiedelung – natürlich – in Giga-
grafieren die Gegend. Vor allem trainieren dimensionen. Bis 2050 will er mit einer Ar-
die Pioniere, einander auf engstem Raum zu mada von 1000 Raumschiffen eine Million

Todd Anderson / The New York Times / Redux / laif


ertragen. Menschen auf den Mars schicken. »Wenn
Rogers tritt in das Innere der zweistöckigen der Umzug auf den Mars nur noch so teuer
Kuppel, kaum größer als eine kleine Maiso- ist wie der durchschnittliche Hauskauf in
nettewohnung. Im Erdgeschoss stehen den USA von 200 000 Dollar, dann ist
Schreibtische mit Computerbildschirmen, ein die Wahrscheinlichkeit, dass wir dort eine
Trainingsfahrrad und ein Laufband. Durch selbsterhaltende Zivilisation errichten, sehr
ein Bullauge fällt spärliches Licht in eine klei- hoch«, verkündete Musk 2016 auf einer Kon-
ne Küche. Eine Wendeltreppe höher befinden ferenz.
sich sechs Schlafkojen – und ein Kompostklo. Köhler hält ein solches Szenario für un-
Wer will hier freiwillig wochenlang woh- realistisch: Die ersten Marssiedler dürften
nen? Und vor allem: warum? vielleicht noch auf Unterstützung ihres Hei-
Simon Werner hat im Januar auf einer ähn- SpaceX-Chef Musk
matplaneten bauen. Ähnlich wie die Polar-
lichen Station gelebt. Als »analoger Astro- forscher, die auf ihrem Weg zum Südpol
naut« nahm der Deutsche für zwei Wochen Depots mit Nahrung und Brennstoff
an der 238. Expedition auf der »Mars Desert errichteten, könnten Frachtschiffe die Erst-
Research«-Station teil, einem Trainingszen- ausrüstung zum Mars befördern. Doch künf-
trum in der Wüste des US-Bundesstaats Utah. tige Bewohner müssten Monate, gar Jahre
Werner ist kein Fantast, sondern Ingenieur ohne fremde Hilfe überbrücken: »Sie können
mit Fantasie. Aufgewachsen ist er in der DDR. ja nicht jedes denkbare Ersatzteil mitneh-
»Da bin ich nicht viel rausgekommen, also men«, sagt Köhler. Helfen könnte dann nur
habe ich gelesen«, sagt er. Vor allem Science- der 3-D-Drucker.
Fiction-Romane. Eines seiner Lieblingsbücher Auch Ökonomen hegen Zweifel: Damit
handelt von Siedlern, die Lichtjahre durchs aus dem Roten Planeten eine prosperierende
All reisen, bis sie einen unwirtlichen Planeten Kolonie werden könne, müssten dort Hun-

Virgin Galactic / epa


namens Andymon erreichen – um daraus eine derte Millionen Menschen leben, argumen-
zweite Erde zu formen. tiert etwa der US-Nobelpreisträger Paul Krug-
Heute arbeitet Werner an einem Tübinger man. Sonst drohe dem Mars das Schicksal
Forschungsinstitut. Dass er womöglich einen kleiner Staaten, die vom Mikrochip bis zum
winzigen Teil dazu beitragen kann, die Men- Virgin-Gründer Branson
Flugzeug alles importieren müssen. Das sei
schen eines Tages auf einem anderen Planeten wegen der hohen Transportkosten viel zu
anzusiedeln, wurde ihm beim Strandurlaub Planeten betreten werden – auch wenn er teuer. Also müsste die Marskolonie in der
in Spanien klar. Da stolperte er auf dem Han- selbst wohl nicht dabei sein wird, die Aus- Lage sein, fast alle benötigten Güter selbst
dy über eine Ausschreibung der Mars Socie- wahlverfahren für echte Raumfahrer sind herzustellen.
ty, einer Organisation von Wissenschaftlern, gnadenlos. »Aber natürlich würde ich gern Die Voraussetzungen dafür sind denkbar
Ingenieuren und früheren »Apollo«-Astro- eines Tages auf echtem Marssand stehen.« schlecht: Auf dem Mars gibt es kein organi-
nauten, die sich für die Erforschung und Be- Wer Ulrich Köhler am Institut für Plane- sches Leben. Gold, seltene Erden oder Boden-
siedlung des Mars engagiert. Die NGO such- tenforschung in Berlin besucht, ahnt, wie hoch schätze wie Öl oder Kohle seien nicht zu fin-
te Freiwillige, um eine Marsmission zu simu- die Hürden noch sind. Überall auf den Fluren den, sagt Köhler. »Man könnte sagen: Dem
lieren. Werner bewarb sich – und reiste zwei hängen Fotos der europäischen Erkundungs- Mars fehlt der Business Case.«
Jahre später gemeinsam mit fünf weiteren mission »Mars Express«. »Da sehen Sie es Eine Marssiedlung wäre daher kaum in der
Kandidaten nach Utah. ja«, sagt er und deutet im Vorbeigehen auf Lage, Profite durch Export zu erwirtschaften,
Die Crewmitglieder fuhren mit Buggys die Bilder, »Sand und Staub, soweit das Auge gibt der frühere Raumfahrtingenieur und Pu-
durch die Wüste, nahmen Bodenproben und reicht.« blizist Robert Zubrin zu bedenken. Anderer-
übten für den Ernstfall: Was, wenn ein Aste- Die Atmosphäre auf dem Nachbarplaneten seits könnte sie womöglich mit der Kraft ihrer
roid ein Loch in die Station schlägt? Wie ret- ist zum Atmen zu dünn und voller Kohlen- Ideen punkten, so Zubrin. Denn sie sei zu
tet man ein verletztes Crewmitglied? dioxid. Die mittlere Temperatur liegt bei Innovationen gezwungen – und habe die nö-
Das Ziel der Mission: Autarkie üben. Kon- minus 60 Grad Celsius, an den Polen kann tige Freiheit dafür. »Es wird wie Amerika im
takt mit der Außenwelt dürfen die analogen sie im Extremfall bis auf minus 133 Grad fal- 19. Jahrhundert sein, ein Schnellkochtopf für
Astronauten nur nach strengen Regeln auf- len. »Nachts wird es saukalt«, sagt Köhler. Erfindungen.«
nehmen. Den Strom für die Station liefern Stürme jagen durch die dünne Atmosphäre Das glaubt auch Michaela Musilová, bis
Solarpaneele; Gemüse und Salat baut das und begraben die Solarzellen der Erkun- vor Kurzem Direktorin von Rogers’ HI-SEAS-
Team im eigenen Gewächshaus an. Das Ab- dungsfahrzeuge unter Sand. »Nicht gerade Station. Schon die Arbeit auf dem simulierten
wasser im Mars-WC wird von Bakterien zer- eine begehrte Wohnlage«, sagt Köhler. »So Mars helfe der Erde: »Der Klimawandel
setzt. Eines Tages könnte es als Pflanzendün- einfach, wie Musk und andere sich die Sache macht es an vielen Orten schwerer, Nahrung
ger dienen. ausmalen, wird es nicht.« anzubauen: Die Böden vertrocknen, Wasser
Zur Crew gehörten unter anderem eine wird weniger«, sagt die Astrobiologin. So wie
Künstlerin und eine Psychotherapeutin, die einst die Mondmission Erfindungen wie Tef-
sich mit den Vorzügen von Kamillentee für lon oder die Solarzelle voranbrachte, könnten
das seelische Wohlbefinden der Raumfahrer die Marssiedler in spe das Leben in einem
auseinandersetzte. »Wenn wir wirklich auf »Es wird wie Amerika im unwirtlicheren Erdklima erforschen. Selbst
dem Mars leben wollen, brauchen wir nicht 19. Jahrhundert sein, ein Schnell- wenn die Menschheit den Mars nie erreiche:
nur Leute, die etwas von Technik verstehen«, »Die Technologien, die wir erforschen, nut-
sagt Werner. Er glaubt fest daran, dass Men- kochtopf für Erfindungen.« zen uns auch auf der Erde.«
schen in den nächsten Jahrzehnten den Roten Robert Zubrin, ehemaliger Raumfahrtingenieur Michael Brächer, Alexander Demling n

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AUSLAND

Delil Souleiman / AFP


Ein minderjähriges Mädchen und voll verschleierte Frauen erleben eine mehrere Tage dauernde Razzia von kurdischen Sicherheitskräften und
Spezialeinheiten im Flüchtlingslager al-Haul im Nordosten Syriens. In dem Camp leben Frauen und Kinder von mutmaßlichen Kämpfern
des »Islamischen Staats« Seite an Seite mit Opfern des IS wie etwa Jesiden, die ins Camp geflohen waren. Laut kurdischen Sicherheitskräften
konnten mehrere Dutzend IS-Verdächtige während der Operation festgenommen werden.

Maskulinität vier Wochen vor den Wahlen mehr Stimmen ver-


Ein Herz für Bolsonaro schafft, ist allerdings fraglich: Umfragen zeigen, dass er damit
vor allem Wählerinnen verprellt. Aus der ersten Fernsehdebatte
mit seinen Gegnern ging Bolsonaro jetzt als Verlierer hervor,
ANALYSE Brasiliens Präsident inszeniert sich einen
weil er eine Journalistin mit aggressiv-sexistischen Anspielungen
Monat vor der Wahl mit höchst bizarren Aktionen. beleidigt hatte. Seine Verbündeten im Kongress appellieren an
ihn, sich zu mäßigen, doch Bolsonaro ist unkontrollierbar. Radi-
Mit einer Leihgabe der einstigen Kolonialmacht Portugal will kale Fans verehren seine Provokationen als »authentisch«.
Präsident Bolsonaro seine Chancen bei der Präsidentschaftswahl Unter Präsident Bolsonaro sind Homophobie und Sexismus wie-
im Oktober erhöhen: Er hat das in Formalin eingelegte Herz von der salonfähig geworden.
Kaiser Peter I. aus dem portugiesischen Porto einfliegen lassen. Die nächste Gelegenheit für Bolsonaro, an die Instinkte seiner
Der Imperator, der mitsamt dem Hof vor Napoleons Truppen Wählerbasis zu appellieren, bietet sich nun bei den Feierlich-
nach Brasilien geflüchtet war, rief vor 200 Jahren die Unabhän- keiten zum Unabhängigkeitstag. In Rio de Janeiro plant er eine
gigkeit der einstigen Kolonie aus. Das Organ, das in einer golde- nationalistische Massenveranstaltung, auf der er in Copacabana
nen Urne verwahrt wird, soll zu den Feierlichkeiten am 7. Sep- eine Militärparade abnehmen will, vor dem Strand sollen
tember ausgestellt werden. Bolsonaros Anhänger pflegen einen Kriegsschiffe auffahren. Berater haben den Präsidenten gebeten,
bizarren Kult um den Kaiser: »Peter I. verkörpert für sie eine die Veranstaltung einzudampfen und auf eine Rede zu verzichten,
kriegerische, virile Figur«, sagt der brasilianische Historiker um die ohnehin aufgeheizte Stimmung vor den Wahlen nicht es-
Carlos Fico. »Sie bewundern seine militärische Entschlusskraft kalieren zu lassen. Doch die Berater verkennen, dass Bolsonaros
als Ausdruck des brasilianischen Nationalcharakters.« Bewegung keine Partei ist, die nach rationalen Kriterien handelt,
Machogehabe ist ein Wesenszug der Bolsonaro-Bewegung, sondern eine Art Sekte, die ohne Feindbilder und Provokatio-
wie auch der Waffenkult seiner Anhänger. Ob ihm seine toxische nen ihr Fundament verlieren würde. Jens Glüsing

80 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


»Winnetou war fortschrittlich«
USA Der Apache Gonzo Flores über die deutsche Winne-
tou-Debatte und darüber, wofür er Karl May dankbar ist
Flores, 53, ist ist Winnetou vergleichsweise
traditioneller Heiler fortschrittlich.
des Lipan Apache SPIEGEL: Stimmt denn das Bild
Tribe of Texas, eines vom Leben Ihrer Vorfahren, das
amerikanischen der Autor Ende des 19. Jahr­
privat

Indigenenstamms. hunderts beschrieb, ohne sie je


erlebt zu haben?
SPIEGEL: Herr Flores, haben Flores: Wir trugen tatsächlich

Leonine / dpa
Sie je von einem Häuptling Wildlederhosen mit Fransen,
Winnetou gehört? jagten Büffel, und das Zeichen
Flores: Erstmals hörte ich von der Stammeszugehörigkeit wa­ Szene aus »Der junge Häuptling Winnetou«
ihm im Jahr 2015 in Frankfurt ren zwei Federn im Haar. Karl
(Oder), wo ich einen Vortrag May hat erreicht, dass deutsche Ureinwohner ist jedoch fünfmal die Umweltzerstörung. Aber
über die Heilkunde der Urein­ Forscher kamen, und so wurden höher als im US­Durchschnitt – deutsche Technologie, etwa
wohner hielt. Ein Professor unser Wissen, unsere Sprache, so tief sitzt unser Trauma der eine Entsalzungsanlage aus Ba­
erwähnte den Autor Karl May. unsere Literatur bewahrt. Ha­ Vernichtung. Heute kämpfen den­Württemberg, hilft uns da­
SPIEGEL: Kritiker werfen ihm ben die Briten, Spanier oder wir um Selbstbestimmung. bei, durch Fracking belastetes
heute vor, die Vernichtung der Amerikaner das getan? Nein. Das Schlachtfeld dafür ist nicht Wasser zu säubern und auch
Ureinwohner zu verharmlosen. SPIEGEL: Wie geht es den mehr die Prärie, sondern die noch Strom zu erzeugen. Dafür
Haben sie recht? Apachen heute? US­Justiz, die darüber entschei­ sind wir dankbar. Umgekehrt
Flores: Karl May zeigte uns in Flores: Unser Oberhaupt ist det, ob wir unser Land zurück­ lade ich die Deutschen ein, ihre
einem positiven Licht, und pensionierter Polizist, ich habe bekommen. spirituelle Verbindung mit den
das ist besser als die Darstellun­ Medizin studiert. Insgesamt SPIEGEL: Können Deutsche und Apachen zu vertiefen. Bei Festi­
gen hier in den USA, wo es sind wir noch 25 000, die Apachen Freunde bleiben? vals versichern wir uns der Ver­
bis 1993 ein Gesetz gab, das er­ meisten leben in Reservaten. Flores: Unsere größten Proble­ bundenheit mit der Erde. Das
laubte, Apachen zu töten. Da Die Selbstmordrate der me sind der Klimawandel und bringt uns allen Frieden. SUK

Stadt am Abgrund seinen Rückzug aus der Politik Kollektive Lahouaiejbouhlel hat das Mas­
– nicht zum ersten Mal und saker allein verübt. Der gebür­
IR AK Als die hoch gesicherte auch diesmal mit Kalkül: Da­ Traumabewältigung tige Tunesier war nach seiner
Grüne Zone von Bagdad diese raufhin stürmten seine Anhän­ FR ANKREICH Die Verschnauf­ vierminütigen Todesfahrt, die
Woche zum Schauplatz bewaff­ ger Regierungsgebäude in der pause, die sich das Land ge­ Monate später von Anis Amri
neter Kämpfe wurde, schlitterte Grünen Zone, Sadrs Milizen gönnt hat, war kurz – sie dauer­ am Berliner Breitscheidplatz
das Land nur knapp an einem und die seiner Gegner lieferten te nur einen Sommer lang. Jetzt nachgeahmt werden sollte, von
neuen Bürgerkrieg vorbei. Der sich Feuergefechte, mindestens beginnt die schmerzhafte Auf­ der Polizei erschossen worden.
mächtige schiitische Kleriker 30 Menschen starben. Was arbeitung des islamistischen Nun sind acht mutmaßliche
und Milizenführer Muqtada steckt hinter dem Konflikt zwi­ Terrors der vergangenen Jahre Unterstützer im Alter zwischen
al­Sadr war bei der Parlaments­ schen zwei rivalisierenden schii­ von Neuem: Vom 5. September 27 und 48 Jahren angeklagt,
wahl im vergangenen Oktober tischen Lagern, die den ohnehin an wird in Paris acht Angeklag­ zwei von ihnen sollen mit La­
als Sieger hervorgegangen. schon schwachen irakischen ten der Prozess gemacht, die houaiejbouhlel die Promenade
Seine unterlegenen Rivalen, mit Staat zunehmend untergraben? Mitverantwortung tragen sollen ausgekundschaftet haben, ein
Iran verbündete schiitische Sadr widersetzt sich heute für das Attentat von Nizza am weiterer soll ihm Kontakt zu
Parteien und Milizen, setzten Irans Einfluss im Irak – und ist 14. Juli 2016. Am Abend des Waffendealern verschafft ha­
seine Leute immer weiter unter deshalb für Teheran gefährlich französischen Nationalfeiertags ben. Ihnen drohen zwischen
Druck. Sadr fühlte sich pro­ geworden. An Korruption und hatte ein Mann einen Last­ 20 Jahren und lebenslanger
voziert und erklärte schließlich Vetternwirtschaft ist er aller­ wagen in die Menge auf der Haft. Den fünf anderen wird
dings ebenso beteiligt wie seine Strandpromenade gesteuert und Waffenschmuggel vorgeworfen.
Widersacher. Möglicherweise so 86 Menschen getötet, da­ Wie der Prozess um die Pariser
kommt es bald zu vorgezoge­ runter zwei Schülerinnen und Anschläge kann auch das Nizza­
nen Neuwahlen, lösen wird das eine Lehrerin aus Berlin. Das Verfahren mit etwa 900 Neben­
den Konflikt jedoch nicht, denn Verfahren wird nun in dem­ klägern als eine Art kollektive
unabhängige, nicht korrupte selben Saal abgehalten, in dem Traumabewältigung Frankreichs
Politiker haben im jetzigen Sys­ erst vor zwei Monaten die betrachtet werden: Justiz und
tem kaum Chancen. Die jüngste Urteile zu den Pariser Anschlä­ Öffentlichkeit legen viel Wert
Eskalation zeigt, dass der Irak gen des 13. November 2015 er­ auf die detaillierte Aufarbeitung
Hadi Mizban / dpa

nicht stabil werden kann, so­ gingen. Allerdings steht diesmal der islamistischen Hassattacken.
lange das Land in der Geiselhaft niemand vor Gericht, dem eine Das erweist sich auch als proba­
von Milizenführern und deren unmittelbare Mittäterschaft vor­ tes rechtsstaatliches Mittel
ausländischen Unterstützern geworfen werden kann: Der gegen Instrumentalisierungs­
Protest von Sadr-Anhängern bleibt. BOL 31­jährige Islamist Mohamed versuche rechter Politiker. LKL

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AUSLAND

Daniel Berehulak / The New York Times / laif


Ukrainische Soldaten in der Region Mykolajiw: Strategische Ziele weit hinter der Front

Ist das der Befreiungsschlag?


UKRAINE Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, um die Region um das russisch besetzte
Cherson zu befreien. Ein Erfolg wäre eine entscheidende Wende
im Krieg – aber ist das realistisch? Was Experten und Frontkämpfer sagen.

ie erste Rakete schießt in den Himmel Mykolajiw und Cherson im Einsatz. Dreimal brochen. Artilleristen mit grauen, übermüde-
D und zieht einen grellen Feuerball nach
sich. Keine zehn Sekunden später folgt
die zweite, die Flugbahn ist gleich, ein
innerhalb von zweieinhalb Stunden feuern
die Systeme ihre Ladungen in das russisch
besetzte Gebiet hinein.
ten Gesichtern laufen während ihrer Pausen
durch die Dörfer hinter der Front. Mit ihrem
Dauerfeuer sollen sie den Weg bereiten für
60-Grad-Winkel. Sechs Raketen feuern die Die Reichweite der Himars ist mit 80 Kilo- ein Vorrücken von Panzereinheiten und Bo-
ukrainischen Verteidiger hintereinander ab, metern enorm. Schon seit knapp zwei Mona- dentruppen ins russisch besetzte Cherson.
die komplette Salve aus dem Himars-Artille- ten nehmen die Ukrainer mit den Raketen- »Es hat womöglich eine neue Phase des
riesystem, das aus US-Lieferungen stammt. werfern strategisch wichtige Ziele weit hinter Kriegs begonnen«, sagt Franz-Stefan Gady,
Sechs dunkelgraue Rauchstreifen bleiben der Front ins Visier, darunter russische Muni- Militärexperte beim International Institute
am Abendhimmel über den Sonnenblumen- tionsdepots und Befehlsstäbe. Vor wenigen for Strategic Studies (IISS), einem Londoner
feldern zurück. Tagen haben sie offenbar damit begonnen, Thinktank.
Es ist der zweite Tag der vom ukrainischen auch feindliche Positionen in Frontnähe zu Die ukrainische Armee, das wird im
Militär ausgerufenen Gegenoffensive im Sü- beschießen. Grenzgebiet zwischen Mykolajiw und Cher-
den des Landes, die Mehrfachraketenwerfer Seit Wochenbeginn hämmern die ukraini- son seit Tagen deutlich, hat in diesem Front-
sind im Grenzgebiet zwischen den Regionen schen Kanonen in der Gegend fast ununter- abschnitt Truppen zusammengezogen und

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AUSLAND

Feuerkraft konzentriert. Als SPIEGEL -Repor- operation für einen größeren Vorstoß ein.
ter im Juni und Juli aus der Gegend berichte- Entweder wollten die Ukrainer den Weg für
ten, sahen sie nicht annähernd so viele Sol- einen Großangriff ebnen oder die Russen an
daten und so viel Gerät wie in den vergange- einer Stelle fixieren, um dann andernorts
nen Tagen. zuzuschlagen. »Vor dem Winter wird es auf
Auf den Plätzen der Dörfer stehen Kämp- jeden Fall noch eine größere ukrainische Of-
fer, viele frisch eingetroffen aus anderen Lan- fensive geben«, sagt der Militärexperte.
desteilen. Lastwagen transportieren Muni- Kurzfristiges Ziel dabei dürfte sein, den
tionskisten, Wasser und Essen an die Front, Gegner bis an den Fluss Dnjepr zu drängen.
Militärfahrzeuge ziehen Haubitzen aus sowje- Schätzungen zufolge könnten sich bis zu

Dimitar Dilkoff / AFP


tischer Produktion über die Landstraßen. 15 000 russische Soldaten im Gebiet um Cher-
Anderswo im Süden der Ukraine sieht man son westlich des Dnjepr aufhalten. Sollten sie
Kampfflugzeuge, die auf Lkw-Ladeflächen kampfunfähig werden oder zum Rückzug ge-
zur Reparatur transportiert werden. zwungen sein, wäre das ein herber Verlust für
Soldaten vor Ort bestätigen Vorstöße und Beschädigtes Klassenzimmer in Mykolajiw
Moskau. Ihre Ausrüstung würde wohl größ-
taktische Geländegewinne. Zugleich weisen tenteils der Ukraine in die Hände fallen, da
sie darauf hin, dass ihnen noch ein langer, unterlegende Kiew am liebsten zur Aufgabe schweres Gerät die beschädigten Brücken des
harter Kampf bevorstehe. Die Versorgungs- zwingen würden, wäre so der Wind aus den Dnjepr nicht mehr überqueren kann.
wege der russischen Truppen sind nach wo- Segeln genommen. In den sozialen Netzwerken konnte man
chenlangem Beschuss zwar ramponiert, aber Mit dem Beginn der ukrainischen Gegen- in diesen Tagen die angespannte Erwartung
noch immer nicht abgeschnitten. offensive ist der Krieg nun allem Anschein vieler Ukrainer mit Händen greifen. Der be-
Ein Befreiungsschlag im Süden des Landes nach in seine dritte und möglicherweise ent- kannte Journalist Oleksij Sorokin schrieb auf
war lange erwartet worden. Anfang Juli hat- scheidende Phase eingetreten. Nach dem Vor- Twitter: »Ich kann spüren, wie das ganze Land
te Wolodymr Selenskyj bereits angeordnet, marsch der Russen, der nahe der Hauptstadt auf gute Nachrichten aus Cherson wartet und
eine Offensive vorzubereiten, wie sein Ver- Kiew kläglich scheiterte, folgte die aus russi- alle fünf Minuten in die Nachrichten schaut.«
teidigungsminister Oleksij Resnikow damals scher Sicht effektivere Donbass-Offensive. Von russischer Seite wurden die Angriffe da-
berichtete. Schon diese Ankündigung war Nun will Kiew im Süden zurückschlagen und gegen kleingeredet. Russische Medien melde-
bemerkenswert, weil die ukrainische Regie- Boden zurückgewinnen. »Was sich definitiv ten zwar, dass es in der Stadt Cherson weder
rung höchst selten über konkrete militärische geändert hat, ist, dass die militärische Initia- Strom noch Wasser gebe. Mit der angeblichen
Ziele spricht. Am Montag, nachdem die An- tive jetzt bei der Ukraine liegt«, sagt der IISS- Offensive der Ukrainer habe das aber nichts
griffe nahe Cherson eingesetzt hatten, sagte Experte Gady. »Moskau hat seine Truppen zu tun, sondern mit einem Zwischenfall im
Selenskyj in seiner abendlichen Videobot- so verschoben, dass sie nun in der Defensive von Russland kontrollierten Umspannwerk.
schaft allerdings: »Die Ukraine holt sich zu- sind, was größere Geländegewinne wie im Die stellvertretende ukrainische Verteidi-
rück, was ihr gehört.« Man werde die Besat- Donbass kaum noch möglich macht.« gungsministerin Hanna Maljar hat dazu auf-
zer an die Grenzen der Ukraine zurücktrei- Was in diesen Tagen nahe Cherson ge- gefordert, von Spekulationen über Aktionen
ben, deren Verlauf sich nicht geändert habe. schieht, ordnet Gady noch als Vorbereitungs- der Streitkräfte abzusehen. »Die Hauptregel
Die Worte des ukrainischen Präsidenten
klangen nicht wie eine Drohung, eher wie
eine Feststellung. Eine überwältigende Mehr- An der Südfront UKRAINE
heit der Ukrainer glaubt an den Sieg und hat
auch eine klare Vorstellung davon, wie dieser Ukrainische Truppen Russische Truppen
aussehen soll: Russlands Streitkräfte und Be- Truppenstandorte Truppenstandorte
satzer sollen aus allen Teilen des Landes ver- mutmaßliche Gegenoffensive Vormarschgebiete
trieben werden, einschließlich der seit 2014 Truppenbewegungen
abgespaltenen »Volksrepubliken« Donezk
und Luhansk sowie der annektierten Halb- schwere Kämpfe
insel Krim. Mit weniger, so hört man es über- strategisch wichtige Brücken
all im Land, könne sich die Ukraine nicht
zufriedengeben nach den zahlreichen Opfern,
die das Land schon gebracht habe im Kampf UKRAINE
um seine Freiheit.
Der Süden mit den Regionen Cherson und REGION
Saporischschja ist für die Ukraine unverzicht- MYKOLAJIW
bar. Hier wachsen Wassermelonen, Tomaten,
pr

je
Weizen und Sonnenblumen, wichtige Agrar- Dn
güter des Landes. Russland hat bereits be- Mykolajiw REGION
gonnen, Agrargüter über die Halbinsel Krim CHERSON
und andere Häfen zu exportieren. Für Putin
sind der Zugang zum Schwarzen Meer und
die Landbrücke zur Krim wichtige strategi- Cherson
sche Ziele. Könnten die Ukrainer die Kon-
trolle über Cherson zurückerlangen, würde Staudamm
die Hafenstadt Odessa für Wladimir Putin in
noch weitere Ferne rücken. Zudem steht die Antoniwskyj-
Ukraine auch unter Druck, ihren westlichen Brücke 20 km
Unterstützern Erfolge zu präsentieren, um
sich langfristige militärische Unterstützung S Quellen: uawardata.com, Stand: 29. Aug. (Truppenstandorte); Institute for the Study of War and Critical Threats Project,

Stand: 31. Aug. (Gebiete); Rochan Consulting, Stand: 1. Sept. (Truppenbewegungen)


zu sichern. All jenen, die das vermeintlich

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AUSLAND

Deal verzögert sich allerdings, weil es zu Un-


stimmigkeiten über die Konditionen kam.
Neben Waffen brauchen die Ukrainer für
eine langfristige Offensive einen steten Zu-
fluss an Munition und neuen, gut ausgebilde-
ten Rekruten. Die Verbündeten müssen dafür
wohl langfristig ihre Produktion hochfahren
und mehr Ausbildungsmissionen auflegen,
wie es Großbritannien bereits tut. Die Briten
bilden in 90-Tage-Kursen Tausende ukraini-
sche Kämpfer aus, während die EU sich noch
nicht zu einer Entscheidung über ein solches
Programm durchringen konnte.
Die ukrainischen Soldaten, die man an der
Südfront treffen kann, machen sich wenig
Illusionen über schnelle Erfolge. Es sei Geduld
nötig, sagt ein Kämpfer. Mit einer wirklichen
Befreiung erster Landstriche rechnet er erst
in einem Monat. Wenn es bis Ende des Jahres
gelingen sollte, den Teil Chersons westlich
des Dnjepr zurückzuerobern, sagt er, wäre
das schon ein gutes Ergebnis.
Die Kämpfer warnen davor, die feindlichen
Truppen zu unterschätzen, gerade in der Ver-

Dimitar Dilkoff / AFP


teidigung. Schon seit Monaten graben sich
die Russen und ihre Hilfstruppen aus dem
Donbass ein. Viele ihrer Stellungen haben sie
mit Beton befestigt.
Anwohner in Mykolajiw vor zerstörtem Haus: Fast täglicher Beschuss Zudem beschießen die Besatzer seit Mo-
naten die von den Ukrainern kontrollierte
ist, dass die Streitkräfte der Ukraine über wurden von seinen westlichen Partnern eini- Großstadt Mykolajiw fast täglich. Zuletzt ka-
Militäraktionen, deren Verlauf, Folgen und ge Systeme zur Luftverteidigung in Aussicht men bei einem russischen Bombardement
Ergebnisse berichten«, hieß es in einem Tele- gestellt, beispielsweise vom Typ Nasams. Die- zwei Zivilisten ums Leben, die wichtigste
gram-Post von Maljar. In einem Krieg, in dem se würden allerdings wohl vor allem zum Brücke der Stadt wurde nur knapp verfehlt.
Soldaten und Zivilisten mit Mobiltelefonen Schutz von Städten eingesetzt, zumindest ist Derzeit liegt die Zahl ukrainischer Truppen
und Social-Media-Accounts ausgestattet sind, das der Plan. Für eine offensive Rolle an der im Gebiet um Cherson wohl noch unter der
lassen sich Informationen jedoch kaum voll- Front fehlt es offenbar noch an Koordination der russischen. Das führt dazu, dass die Ukra-
ständig unterdrücken. innerhalb der Streitkräfte. iner immer wieder auf Angriffe hinter feind-
Klar ist, dass die Ukrainer zurzeit vor allem SPIEGEL -Reporter sahen an der Front lichen Linien wie auf der Krim setzen und
mithilfe westlicher Artilleriesysteme russische neben Militärtransportern zwar Kranken- damit versuchen, die Besatzer zu zermürben.
Truppen treffen und so versuchen, den Weg wagen, aber keine gepanzerten Truppentrans- Wie weit sie mit dieser Taktik kommen, ist
für vorrückende Panzer und Infanterie frei porter. Dabei sind gerade diese für den Schutz noch nicht absehbar.
zu machen. In den ersten Tagen der Offensi- vorrückender Infanteristen besonders wich- Mit Fortschreiten der Kämpfe könnte die
ve schien Kiew mit diesem Vorgehen Erfolg tig. Auf ersten Bildern des Vormarschs war Repression russischer Einheiten gegen die Zi-
zu haben. Mehrere Ortschaften fielen wohl unter anderem zu erkennen, wie sich ukrai- vilbevölkerung in den besetzten Gebieten
an die Ukraine, die erste Verteidigungslinie nische Infanteristen ungeschützt durch die zunehmen – nicht zuletzt wegen der regen
wäre somit durchbrochen. Die Russen muss- Felder von Cherson tasten und Soldaten aus Aktivität ukrainischer Partisanen hinter den
ten sich unter dem hohen Druck an einigen Angst vor Minen auf den Dächern von Fahr- feindlichen Linien. Diese kundschaften Posi-
Stellen wohl an die nächste Verteidigungslinie zeugen sitzen. Entsprechend berichten ukrai- tionen aus und helfen der ukrainischen Artil-
zurückziehen. Die Ukrainer nahmen dafür nische Soldaten an der Südfront über emp- lerie, Munitionslager, Flugabwehranlagen und
aber offenbar Verluste in Kauf. findliche Verluste in den vergangenen Tagen. Gefechtsstände zu treffen. Die Besatzer re-
Die eigentliche Schwierigkeit liege nicht Die Verbündeten der Ukraine, darunter agierten auf Treffer gegen strategische Ziele
darin, in ein Dorf vorzurücken, sondern da- Deutschland, könnten unter anderem mit mit Wohnungsdurchsuchungen, Einschüch-
rin, es zu halten und die Versorgung zu si- Schützenpanzern aushelfen. Die Bundesre- terungen und Festnahmen, berichtet ein pro-
chern, sagt ein ukrainischer Soldat, der seit gierung wollte eigentlich Marder-Panzer im ukrainischer Aktivist, der im Frühjahr aus
fast fünf Monaten an der Südfront kämpft. Ringtausch an Griechenland liefern, damit Cherson fliehen konnte.
Einige Dörfer und Siedlungen in dem um- Athen im Gegenzug etwa 100 sowjetische Und auch wenn die Moral von Putins Trup-
kämpften Gebiet seien nur noch Ruinen. Die Schützenpanzer in die Ukraine liefert. Der pen westlich des Dnjepr schlecht sei, wie
kommenden Tage würden zeigen, ob die ukrainische Kämpfer schon seit Wochen be-
Ukrainer ihre ersten Geländegewinne gegen richten, seien die Feinde trotz schlechter Ver-
russische Gegenangriffe verteidigen können. sorgung dennoch zäh. »Das sind Profis«, sagt
Laut dem britischen Militärgeheimdienst ein ukrainischer Soldat. »Wir erkennen das auf
sind die nachrückenden Verbände der Ukrai- unseren Drohnenbildern daran, wie sie sich
ner unterbemannt und schlecht ausgebildet. bewegen.« Panik gebe es unter den Russen
Außerdem mangelt es ihnen nach Meinung Das Problem liege nicht bisher nicht. Wollen die Ukrainer die Besatzer
von Militärexperten unter anderem an Flug- aus sämtlichen Teilen des Landes vertreiben,
abwehrsystemen und Schützenpanzern, um
darin, ein Dorf zu erobern, stehen ihnen noch harte Kämpfe bevor.
die Einheiten ausreichend zu schützen. Kiew sondern es zu halten. Ann-Dorit Boy, Oliver Imhof, Alexander Sarovic n

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er Weg in Liz Truss’ Vergangenheit


D führt vom Zoo Tropical World mit
seinen Clownfischen und Krokodilen
durch einen der größten innerstädtischen
Parks in Europa hinein ins Sträßchen Ingle-

Die menschliche dew Crescent. Vor dessen stattlichen vikto-


rianischen Backsteinhäusern parken an einem
Donnerstag im Hochsommer ein grauer Fer-

Handgranate rari und diverse Sportgeländewagen. Eine


grauhaarige Frau schlendert mit ihrem zittri-
gen Zwergschnauzer durch die grüne Wohn-
siedlung, ruft gut gelaunt: »Willkommen im
GROSSBRITANNIEN Als neue Premierministerin scheint Liz Truss Armenviertel von Leeds!«, und geht dann
lachend weiter.
nicht mehr aufzuhalten zu sein. Dabei ist sie selbst den Solchen und ähnlichen Spott hört man in
eigenen Leuten ein Rätsel. Wer ist die Frau, die jetzt als Thatcher 2.0 der Grafschaft Yorkshire in diesen Tagen häu-
und Brexit-Hardlinerin die Rechten in ihrer Partei verzückt? figer. Der Stadtteil Roundhay im Nordosten
von Leeds hat es zu einer gewissen Berühmt-
heit gebracht, seit Liz Truss, die hier ihre
Jugend verbrachte und sich anschickt, Groß-
britanniens neue Premierministerin zu wer-
den, kaum ein gutes Haar daran ließ.
Wer ihr zuhörte bei ihrer nimmermüden
Werbetour durchs Königreich, der musste den
Eindruck gewinnen, die Tochter eines Mathe-
matikprofessors und einer Lehrerin habe es
trotz entbehrungsreicher Kindheit und lausi-
ger Schule ganz nach oben geschafft. Dabei
hat die Roundhay School, die Truss einst be-
suchte, von der Bildungsbehörde Ofsted das
Prädikat »World Class« bekommen. Besser
geht’s nicht.
Nun rätseln viele in Roundhay, bis 1997
eine Hochburg der Tories: »Braucht sie noch
Mitleidstimmen?« – »Wieso schwindelt
sie?« – »Will sie Boris imitieren?« Vor dem
Springbrunnen in Canal Gardens, ein paar
Gehminuten von Truss’ Elternhaus entfernt,
sitzt eine Anwohnerin auf einer Parkbank
und seufzt: »Ganz ehrlich, ich weiß nicht,
wofür diese Frau steht.«
Da ist sie nicht allein.
Geschadet hat das der amtierenden Außen-
ministerin offenbar nicht. Eher im Gegenteil.
Am 5. September wird die Conservative and
Unionist Party bekannt geben, wer künftig
an Boris Johnsons statt die Partei anführen
und damit auch das Vereinigte Königreich auf
absehbare Zeit regieren wird. Nach Lage der
Dinge kann das nur Liz Truss sein. Alles an-
dere wäre eine faustdicke Überraschung.
In dem sechswöchigen, oft niederträchtig
geführten Nachfolgeduell mit dem ehemali-
gen Schatzkanzler Rishi Sunak lag Truss in
Umfragen von Anfang an nahezu uneinholbar
vorn. Und das auch deshalb, weil sie die Seele
der rund 160 000 Tory-Mitglieder, die bei
dieser Wahl als Einzige das Sagen haben, mit
strammer Thatcher-Rhetorik streichelte, weil
sie den in weiten Teilen der Partei noch immer
geliebten Johnson mit keinem Wort kritisierte
Tom Stockill / CAMERA PRESS / laif

und weil sie wie dieser allen mehr oder we-


niger alles versprach. Bei letzter Zählung sum-
mierten sich ihre monetären Gelübde auf weit
mehr als 80 Milliarden Pfund.
Seltsam nebulös blieb dagegen im hitzigen
Konservative Truss britischen Sommer, wer diese Politikerin
wirklich ist, die seit zehn Jahren ununterbro-

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chen diverse Regierungsämter beklei- und Boris Johnson übernahm sie stets
det und sich unter Zuhilfenahme di- überaus loyal einen bunten Strauß
gitaler Medien ein ums andere Mal von Portfolios. In zehn Jahren war sie
neu erfunden hat. als Ministerin und Staatssekretärin
In den großen politischen Schlach- unter anderem zuständig für Umwelt,
ten der vergangenen Jahre vertrat sie Ernährung, Erziehung, Finanzen,
beherzt mal diese, mal jene Position. Frauen, Gleichstellung, Justiz, inter-
Zu den immensen innenpolitischen nationalen Handel und Außenpolitik.
Kalamitäten der Jetztzeit, der galop- In keinem dieser Ämter hinterließ

Mar tyn Wheatley / i Images / IMAGO


pierenden Inflation, der wachsenden sie sonderlich bleibenden Eindruck –
Ungleichheit, der Gesundheits-, der sieht man einmal von ihrer Parteitags-
Energie- und der Klimakrise, hatte sie rede 2014 als damalige Landwirt-
stets eine Antwort parat: Steuern sen- schaftsministerin ab. Über diese »Käse-
ken, deregulieren, den Markt machen rede« wird in Westminster noch heu-
lassen. Das kennen die Älteren noch te gern und ausgiebig gekichert. Nicht
aus den Achtzigerjahren. Zuletzt zuletzt von Truss selbst. Es sind elf-
mehrten sich jedoch die Anzeichen einhalb Minuten für die Ewigkeit.
dafür, dass sie ihren gebeutelten Parteifreund Sunak, Nach einigen Jahren in der freien Im beigefarbenen Blazer und be-
Landsleuten vielleicht doch mit dras- Noch-Premier Wirtschaft, unter anderem als Shell- gleitet von einer Vielzahl mimischer
Johnson: »Will sie
tischen staatlichen Maßnahmen zur Boris imitieren?« Managerin, wandte sich Truss der Entgleisungen und falsch gesetzter
Seite springen könnte. Politik zu. Und fand im damaligen Pausen sprach Truss damals von
Vieles spricht dafür, dass die Briten Parteichef David Cameron einen frü- einem unerklärlichen »Minderwertig-
Mary Elizabeth Truss erst ab der hen Förderer. Um die Tories neben keitskomplex«, der Britannien ange-
kommenden Woche wirklich kennen- Tony Blairs New Labour nicht ganz sichts seiner kulinarischen Spitzen-
lernen werden. Überraschungen nicht so alt aussehen zu lassen, suchte Ca- produkte wie Äpfel, Pork Pies und
ausgeschlossen. meron von 2005 an verstärkt nach Black Pudding befallen habe. Das
Dass Truss ausgerechnet als eine jungen Kandidaten fürs Parlament, Königreich exportiere doch Tee sogar
Art Wiedergängerin Margaret That- vorzugsweise Frauen, am besten aus nach China und produziere mehr
chers ihr politisches Heil suchen wür- dem Norden. Truss geriet so auf die Käsesorten als Frankreich – aber:
de, gehört zu den vielen Kuriositäten A-Liste und bekam mit dem Parla- »Wir importieren zwei Drittel unseres
eines alles andere als gradlinigen Le- mentarier Mark Field einen erfahre- Käses. Das. Ist. Eine. Schande!«
bens. Als Tochter einer Anti-Atom- nen Mentor zur Seite gestellt. Mit ihr, prophezeite Truss allen
waffen-Aktivistin lernte die junge Liz Dann wurde bekannt, dass die ver- Ernstes, werde Großbritannien zum
früh, auf Friedenscamps und Demos heiratete Nachwuchspolitikerin mit lukullischen Weltmarktführer aufstei-
»Maggie, Maggie, Maggie – out, out, dem verheirateten Abgeordneten gen. Sie werde »nicht ruhen, bevor
out!« zu skandieren. »Für mich ging eine Affäre gehabt hatte. Ehebruch! der britische Apfel wieder ganz oben
es nicht um Ballett oder ›My Little Für die Tories, die erst Jahre später am Baum hängt«.
Pony‹, sondern darum, den Planeten vom promiskuitiven Antimoralisten Das war, zwei Jahre vor dem Bre-
zu retten«, sagte sie später leicht an- Boris Johnson gekapert werden soll- xit-Referendum, schon nah dran an
gewidert. Dabei habe sie vor allem ten, ein schweres Vergehen. Boris Johnson und dessen »großer
gelernt, »wie man sich in einer Men- Vor allem Konservative aus länd- britischer Wurst«, die es um jeden
schenmasse bemerkbar macht«. Sie lichen Regionen, von Medien »Rü- Preis gegen Brüsseler Banausen zu
hat es bis heute nicht vergessen. ben-Taliban« getauft, machten Front verteidigen gelte. Es schien ausge-
Nach ihrer Schulzeit in Leeds gegen Truss. Deren Politkarriere machte Sache, dass sich die Apfel-
schaffte sie es mühelos nach Oxford, schien beendet, bevor sie begonnen anwältin aus Yorkshire im Zweifelsfall
wo sie – wie so viele der aktuellen hatte. auf die Seite der EU-Aussteiger schla-
politischen Elite – Philosophie, Poli- Die hartnäckige Frau aus dem Nor- gen würde. Das Gegenteil geschah.
tik und Wirtschaft studierte. Auch den aber dachte nicht daran aufzu- Als die Volksabstimmung 2016
dort gelang es ihr schnell, sich aus der geben und begründete in dieser Zeit nahte, ergriff Truss beherzt Partei
Masse hervorzuheben. In ihren Re- ihren Ruf als »Comeback Kid«. 2008 gegen den Brexit und warnte – kor-
feraten habe sie immer etwas Neues hängte sie ihr Businesskostüm end- rekterweise, wie sich herausstellen
präsentiert, wenn auch nicht immer gültig an den Nagel und wurde Vize- sollte – vor mehr Bürokratie und we-
Plausibles oder gar Korrektes, schrieb direktorin der Denkfabrik Reform, niger Zugang zu europäischen Märk-
ihr Politikdozent Marc Stears kürzlich die exzellente Kontakte in konserva- ten. Ein EU-Austritt werde für die
in der »Times«: »Ihr herausragender tive Kreise garantierte. Im Jahr darauf britische Wirtschaft »eine verschwen-
Charakterzug ist die Fähigkeit, ohne bewarb sie sich abermals als Kandi- dete Dekade« bedeuten. Sie übte gar
mit der Wimper zu zucken, eine lei- datin fürs Parlament, bot den verblie- den Schulterschluss mit der Opposi-
denschaftliche Überzeugung durch benen »Rüben-Taliban« die Stirn – tion, um die Brexiteers in einer ge-
eine andere zu ersetzen.« und zog 2010 schließlich als Abgeord- meinsamen Erklärung »extrem und
Daher war es für Truss auch kein
Problem, die Universität als Liberal-
160 000 nete des Wahlkreises South West
Norfolk ins britische Unterhaus ein.
aus der Zeit gefallen« zu nennen.
Als der Brexit dann beschlossene
demokratin zu betreten, die flammen- Tory-Mit- Von da an, so schien es, war Truss Sache war, dauerte es nicht lange, bis
de Appelle für die Abschaffung der nicht mehr zu stoppen. 2012 holte Liz Truss, die in der Rückschau nur
Monarchie hielt (»Wir glauben nicht, glieder stim- Cameron die damals 37-Jährige als eine »zögerliche« EU-Freundin ge-
dass bestimmte Menschen zum Herr- men über Staatssekretärin für Bildung in sein wesen sein will, sich wieder ganz
schen geboren sind«), um nach ihrer den Partei- Kabinett. Dort hat sie sich seither fest- anders besann. Noch knapp ein Jahr
Zeit in Oxford als königstreues Tory- gebissen. Für so gegensätzliche Cha- lang diente sie der glücklosen The-
Mitglied durchzustarten. vorsitz ab. raktere wie Cameron, Theresa May resa May unauffällig als Justizminis-

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terin. Aber schon als Brexit-beseelte Medien vor sechs Jahren auch die Brexit-Kampagne
wie die »Daily Mail« vermeintlich EU-affine
In ihrem Ministerium gesteuert wurde. Kritische Medien sprechen
Richter als »Feinde des Volkes« anprangerten, scherzen manche, man deshalb von einem »Tufton-Street-Netz-
blieb deren Dienstherrin stumm. Sie verlor arbeite im »Department for werk«, das Fäden bis zu Donald-Trump-na-
ihren Job, wurde in die zweite Reihe degra- hen Organisationen in den USA gesponnen
diert, und kurzzeitig sah es wieder nach einem Instragramming Truss«. haben soll.
jähen Karriereende aus. Das politische Mantra dieser Denkfabri-
Nachdem May jedoch gestürzt war und ihr ken: den Staat verschlanken, deregulieren,
Nachfolger Boris Johnson den EU-Verstehern Steuern senken und privatisieren. Den Kampf
unter den Tories den Kampf angesagt hatte, szenatorischen Möglichkeiten dieses Jobs. gegen den Klimawandel halten viele in Zeiten
witterte Truss ihre nächste Chance zum Ihre Hauptaufgabe bestand zwar lediglich wirtschaftlicher Krisen für zu teuer und nutz-
Comeback. Als erstes Regierungsmitglied darin, existierende EU-Handelsverträge los, die Auseinandersetzung mit dem briti-
wurde sie zur überzeugten Borisianerin. Im durch bilaterale Abkommen zu ersetzen. schen Kolonialismus für ein Kampfinstrument
turbulenten Sommer 2019 begann die nächs- Aber das bedeutete eben auch: dutzende Ge- linker Fanatiker.
te und gründlichste Verwandlung der einsti- legenheiten, überall in der Welt vor britischen Zufall oder nicht: Jede dieser Positionen
gen Liberalen – diesmal in jene beinharte Union Jacks Ministerhände zu schütteln, be- teilt Liz Truss.
Brüssel-Basherin, die heute die Parteirechte gleitet von zahlreichen Fotografen. In ihrem Sie sei nun einmal »keine zugeknöpfte or-
verzückt. Ministerium, dem Department for Interna- thodoxe Maschinenpolitikerin«, sagt Mark
Diese verblüffende Metamorphose vollzog tional Trade, scherzten manche, man arbeite Littlewood am Telefon – »sie liebt es, kon-
sich vor aller Augen und mit einer Konse- nun im »Department for Instagramming ventionelles Denken infrage zu stellen«.
quenz, wie sie die britische Politik bis dahin Truss«. Littlewood ist Direktor des Institute of Eco-
noch nicht erlebt hatte. Truss nutzte zu die- So entstand auf der Insel der Eindruck, nomic Affairs, er kennt Truss seit 25 Jahren
sem Zweck virtuos Instagram. Denn die Dau- Truss sei die Ministerin, die aus dem Brexit und gehörte wie sie zu den Liberaldemokra-
erministerin ist eine mittelmäßige Rednerin wirklich etwas mache. Dass von den Ver- ten an der Uni Oxford. Heute berät er sie in
und hölzerne Performerin, sie neigt zu ver- trägen mit mehr als 60 Staaten, die sie ab- wirtschaftlichen Fragen. Truss, so Littlewood,
balen Ausrutschern, ihr knatterndes Lachen schloss, die allermeisten lediglich Copy-and- sei »immer schon eine Staatsskeptikerin und
befremdet regelmäßig selbst Wohlmeinende. Paste-Manöver waren, ging in der Bilderflut glühende Anhängerin des freien Marktes ge-
»Sie kann Menschen nicht gut lesen und be- ein wenig unter. wesen«, es gebe da durchaus »interessante
herrscht keinen Small Talk«, sagt einer, der Und während Truss in der öffentlichen Parallelen zu Margaret Thatcher«. In gewisser
sie im Außenministerium oft erlebt hat. Das Wahrnehmung zur Hüterin der reinen Brexit- Hinsicht sei Truss eine »Thatcher 2.0«.
habe auch Truss’ Amtskollegin Annalena Lehre wurde, band sie sich auch politisch im- Unter Tories gleicht das einer Heiligspre-
Baerbock vor ein paar Monaten erfahren mer stärker an den rechten Flügel der Tories, chung. Dort wird die »eiserne Lady« bis heu-
müssen, als Boris Johnsons Abstieg begann der seit dem Brexit endgültig zum eigentlichen te als Serienwahlsiegerin und Sachwalterin
und die Deutsche im Scherz gefragt habe, ob Machtzentrum der Partei geworden ist. Dort britischer Interessen – insbesondere gegen-
Truss sich denn schon für die Nachfolge fiel Boris Johnson, der Entertainer an der über dem Kontinent – verehrt.
warmlaufe. Wie aus der Pistole geschossen Regierungsspitze, irgendwann in Ungnade. Und dass Truss sich auch selbst als eine Art
habe sie daraufhin mit Bittermiene Wortstan- Sein Flirt mit vermeintlich unkonservati- Wiedergängerin Thatchers sieht, daran hat
zen runtergerattert: Die Frage stelle sich nicht, ven Themen wie Klimaschutz und Tierwohl, die 47-Jährige zuletzt keinerlei Zweifel ge-
sie stehe hinter Johnson, erfülle zu 100 Pro- seine Big-State-Politik während der Pandemie lassen. Erst recht nicht, seit sie im September
zent ihren Job. Baerbock habe »einigermaßen und seine drastischen Steuererhöhungen zu- 2021 als Außenministerin eine noch größere
perplex« danebengesessen. In Tory-Kreisen gunsten des Pflege- und Gesundheitssektors Bühne für ihre Ambitionen geboten bekam.
erzählt man ähnliche Anekdoten über Truss, haben viele Traditions-Tories verstört. Schon Und so sahen die Briten in den vergangenen
dort ist eines der meistgebrauchten Eigen- lange vor Johnsons »Partygate« wuchs die Monaten: Liz Truss auf einem Triumph-Mo-
schaftsworte »weird« – sonderbar. Sehnsucht nach einer neuen Gralshüterin des torrad in Thailand, Liz Truss auf einem Chal-
Aber auf gut inszenierten Fotos spielt all wahren Konservatismus. In Truss meinten lenger-Panzer in Estland, Liz Truss beim
das keine Rolle. viele, sie gefunden zu haben. Knuddeln eines Kalbs in Herefordshire. Na-
Schon vor Jahren begann Liz Truss damit, Zumal sie immer mehr die Sprache der hezu identische Bilder existieren von That-
ihre öffentliche Persona getreu dem Bonmot Rechten sprach – und sich mit ihnen umgab. cher. »Reiner Zufall«, sagt Truss.
zu formen, wonach ein Bild mehr als tausend Auffällig jedenfalls sind ihre engen Verbin- Aber als die sendungsbewusste Ministerin
Worte sagt. In einer Kolumne schrieb sie, sie dungen zu libertären, klimaskeptischen und im Winter, wie einst Thatcher, mit schwarzer
habe ihre Instagram-Einstellungen Anfang EU-feindlichen Denkfabriken wie dem Insti- Pelzmütze auf dem Roten Platz in Moskau
2018 von privat auf öffentlich umgestellt und tute of Economic Affairs. fotografiert wurde, ging sogar ihr Blick in
sich selbst damit »entfesselt«. Das bedeute Etliche dieser Thinktanks haben ihr Haupt- die gleiche Richtung wie der ihres Vorbilds
für sie »Freiheit«, so die Frau, die ihre Toch- quartier in Londons Tufton Street, gleich – nach rechts.
ter Liberty genannt hat. neben dem Zentrum der Macht, von wo aus Liz Truss war also bestens vorbereitet, als
Seither bleibt den Briten nichts anderes sich Boris Johnson Anfang Juli in seinem
übrig, als sich täglich mindestens ein neues selbst gefertigten Netz aus Lügen derart ver-
Bild von Liz Truss zu machen. Unter Hash- Premier League heddert hatte, dass nicht mal mehr er daraus
tags wie #freeworld, #selfdetermination oder entwischen konnte. Zwar musste sie kämpfen,
#nolimits breitet die Politikerin unermüdlich »Für wen haben Sie bei der Wahl zum um es neben Rishi Sunak in die Runde der
Parteivorsitz der Konservativen gestimmt,
ihr gesamtes Leben aus; zum 14. Geburtstag oder für wen werden Sie stimmen?«, letzten beiden Nachfolgekandidaten zu schaf-
ihrer älteren Tochter Frances postete sie das Umfrage unter Tories, in Prozent fen. Das aber lag vor allem daran, dass zu-
Bild eines kunterbunten Kuchens mit dem nächst noch weitere Tory-Rechtsausleger ins
Kommentar »You can’t stop progress«. Liz Truss 57 Rennen gingen, auf die sich in den ersten
Als der neue Premier Boris Johnson die Rishi Sunak 30 Wahlgängen die Stimmen verteilten.
frisch inkarnierte Brexit-Vorreiterin zur Mi- Nun besteht kein Zweifel mehr: Eine eins-
nisterin für Internationalen Handel machte, S Quelle: YouGov-Umfrage vom 12. bis 17. August unter 1089
Mitgliedern der Konservativen Partei; an 100 fehlende Prozent:
tige Liberale ist nicht nur die Kandidatin der
erkannte Truss sogleich die ungeheuren in- »weiß nicht/werde nicht wählen«, keine Antwort britischen Rechten. Sie ist auch die haushohe

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Favoritin. Die Verwandlung der Liz


Truss hat sich offenbar ausgezahlt.
Die Frau aus Yorkshire hat die
Rhetorik und die Thematik konser-
vativer Hardliner inzwischen derart
verinnerlicht, dass es ihr in den ver-
gangenen Wochen fast schon spielend
gelang, Rishi Sunak – einen Brexiteer
der ersten Stunde – als eine Art EU-
Softie zu karikieren.
Sunak, wiewohl vergleichsweise
neu im Tory-Topzirkel, gilt inzwischen
als Teil des ewiggestrigen Establish-
ments. Truss dagegen, die seit zehn
Jahren brave Regierungsarbeit verrich-
tet, halten viele für eine »Maverick«:
eine Einzel- und Draufgängerin. Ein
Geniestreich ihrer Spindoktoren.
Um die öffentliche Wahrnehmung
zu ihren Gunsten zu beeinflussen, be-
diente sich Truss, deren Selbstbe-
wusstsein und rhetorisches Geschick
zuletzt von Tag zu Tag wuchsen,

Peter Cade / Getty Images


ungeniert im Werkzeugkasten der
Brexit-Frontleute von 2016. Die

@trussliz / Twitter
schlugen seinerzeit alle Warnungen
vor wirtschaftlichen Folgeschäden als
»Projekt Angst« in den Wind, mach-
ten das Wort Experte zum Schimpf-
wort und beschworen stattdessen ge- Politikerinnen Truss, nig die Warnung des einstigen Brexit- einem Rottweiler, dass der Rottweiler
betsmühlenhaft den Glauben an alte Thatcher 1978: Frontmanns und Dauerministers irgendwann wieder loslässt.« Sie darf
Nahezu identische
britische Größe. Bilder
Michael Gove, bei Truss’ Allen-alles- auch die Parteirechten nicht vergrät-
Als Sunak, ein langjähriger Fi- Kurs handle es sich um einen »Urlaub zen, die mit David Cameron, There-
nanzanalyst und früherer Schatz- von der Realität«. sa May und Boris Johnson nun schon
kanzler, nun im direkten Duell mahn- Wie ernst Liz Truss zu nehmen ist, drei Regierungschefs vorzeitig aus
te, man könne erst Steuern senken, wird sich zeigen, wenn sie nächste dem Amt gejagt haben.
wenn die aus dem Ruder laufende Woche tatsächlich die Schlüssel zu Will sie nicht die vierte sein, wird
Inflation gestoppt worden sei, kon- 10 Downing Street ausgehändigt be- sie sich davor hüten müssen, zu viele
terte Truss, er sei nicht »verwegen« kommen sollte. Von da an nämlich ihrer unzähligen Versprechen wieder
genug. wird sie als Premierministerin nicht zu kassieren. Und dass sie mutig –
Als der Gouverneur der Bank of mehr nur auf das Wohlgefallen von manche würden sagen: waghalsig –
England vor einer kaum mehr hand- rund 160 000 meist älteren und gut genug ist, ohne Rücksicht auf Verlus-
habbaren wirtschaftlichen Schieflage betuchten Tory-Mitgliedern ange- te Konventionen zu sprengen, zeigt
warnte, beschuldigte ihn Liz Truss, wiesen sein. Dann wird sie auch die schon ihr Spitzname aus frühen
er rede das Königreich in eine Re- 67 Millionen restlichen Briten von Ministerjahren: »die menschliche
zession. sich überzeugen müssen. Und nicht Handgranate«.
Sie habe, so die Kandidatin, genug alle von ihnen sind Thatcher-Fans. Andererseits hat sich die Gestalt-
von der ewigen Bedenkenträgerei so- Viel Zeit bleibt Truss nicht. Spä- wandlerin Mary Elizabeth Truss in
genannter Experten. Sie halte es eher testens Anfang 2025 stehen wieder ihrem Leben nun schon so oft neu
mit Thatcher und Ronald Reagan, Parlamentswahlen an, bis dahin muss erfunden, dass eine weitere Verwand-
dessen »optimistische Vision« sie sie nicht nur das Königreich aus seiner lung auf offener Bühne jederzeit
stets bewundert habe, und werde da- prekären wirtschaftlichen Lage be- denkbar erscheint. Nicht wenige in
her in großem Stil Steuern senken. freien, sondern auch dafür sorgen, Westminster jedenfalls glauben, im
Komme, was wolle. Die Staatsschul- dass es irgendwie vereinigt bleibt. Kern sei sie noch immer eine Liberale.
den werde sie trotzdem verringern, Aber ob ihr das gelingt, wenn sie Womöglich weiß sie es selbst noch
und das, ohne zur Sparorgie der Ära vor allem die Wohlhabenden steuer- nicht genau.
Cameron zurückzukehren. lich entlastet und die Habenichtse an- Und vielleicht macht es die feier-
Geht nicht? Geht doch, sagt Truss. gesichts rapide steigender Lebens- freudige Karaokefreundin Truss zu-
Man müsse nur fest genug an ein haltungskosten sich selbst überlässt? nächst auch so wie zuletzt meist vor
»entfesseltes« Britannien glauben. Wenn sie, wie angekündigt, die Schot- ihren öffentlichen Auftritten. Da
Dass sie auch in den vergangenen ten in ihrem Unabhängigkeitsdrang stülpte sie sich zur Einstimmung
Wochen wieder einige spektakuläre einfach ignoriert? Und wenn sie den Kopfhörer über und lauschte einem
U-Turns zustande brachte und der
»Im Gegensatz Streit mit der EU in der Nordirland- ihrer Lieblingssongs von Bruce
Fettnapf nie weit weg war, sobald sie zu Truss lässt frage auf die Spitze treibt? Springsteen, dem Boss. »You can’t
ihre perfekte digitale Bilderwelt ver- ein Rottweiler Truss ist stur. So stur, dass ein Weg- start a fire without a spark«, lautet
ließ, fiel angesichts ihres überschäu- gefährte einst sagte: »Wenn sich bei- der Refrain, »this gun’s for hire, even
menden Optimismus schon längst irgendwann de in etwas verbissen haben, ist der if we’re just dancing in the dark.«
nicht mehr ins Gewicht. Ebenso we- wieder los.« einzige Unterschied zwischen Liz und Jörg Schindler n

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AUSLAND

Russland macht keinen Hehl da­


raus, den Einfluss der USA im West­
balkan eindämmen zu wollen.
Hinter Rama funkelt das türkis­
blaue Meer, und aus den Macchia­

»Putin sagt: ›Kosovo, Hügeln der Dhërmi­Buchten steigen


die Betongerippe halb fertiger Luxus­
hotels auf. Bald sollen hier gleich

Kosovo, Kosovo‹« mehrere Fünf­Sterne­Hotels eröffnen.


Schwer vorstellbar, dass Albanien vor
zwei Jahrzehnten noch selbst kurz vor
einem Bürgerkrieg stand – damals
ALBANIEN Russland schürt den Konflikt auf dem Balkan und gefährdet den kämpfte das Land nach dem Zusam­
menbruch des kommunistischen Sys­
fragilen Frieden. Premierminister Edi Rama erklärt, was gegen tems mit Banden, Milizen und lokalen
Misstrauen und Hass hilft – und was Angela Merkel damit zu tun hat. Bürgerwehren. Heute setzt der junge
Staat auf die Tourismusindustrie.
Albanien ist kleiner als Branden­
er Premierminister empfängt Serbien droht, wie die Ukraine, zum burg, und mit gerade 2,8 Millionen
D seine Gäste barfuß. Edi Rama
ist ein großer Mann mit zer­
furchter Stirn, die Augen sitzen tief
Zankapfel zwischen Russland und
dem Westen zu werden: Das Land
strebt in die EU, kann aber nicht mit
Einwohnern leben hier weniger
Menschen als in Berlin. Für die stra­
tegische Abwehr ist das Land auf dem
in den Höhlen. Er trägt schwarze dem Verbündeten Russland brechen. Westbalkan dennoch bedeutsam,
Shorts, ein weißes Adidas­T­Shirt – Während Putin Europa den Gas­ auch gegen mögliche Störmanöver
und eben keine Schuhe. hahn zudreht, beliefert Russland Bel­ aus Moskau. Seit 2009 Nato­Mit­
Rama sitzt mit Ehefrau Linda im grad mit besonders günstiger Ener­ glied, in die EU strebend, transatlan­
Garten eines Strandhauses. Die Sech­ gie – und mit Waffen. Der Preis dafür tisch, fungiert Tirana als eine Art
zigerjahrevilla liegt nahe dem idylli­ ist Loyalität, eine Forderung, die Ser­ Gegengewicht zu Serbien.
schen Küstendorf Dhërmi, eingerahmt bien schier zerreißt. »Niemand wird Kurz vor dem Überfall auf die
von Pinienbäumen. Der Staat hat sie unsere Beziehungen mit Serbien zer­ Ukraine hatte die Nato gerade be­
einst für den albanischen Diktator En­ stören können«, sagte der russische gonnen, im Süden Albaniens einen
ver Hoxha gebaut. Polizisten wachen Außenminister Sergej Lawrow kürz­ alten Flughafen zum Luftwaffenstütz­
vor der Tür. Der mächtigste Mann Al­ lich, als sein geplanter Besuch in Bel­ Regierungschef punkt auszubauen. Ramas Regierung
Rama an
baniens befindet sich im Urlaub. grad wegen verwehrter Überflugrech­ seinem Urlaubsort:
offeriert dem transatlantischen Bünd­
»Sie stören nicht«, sagt Linda te kurzfristig abgesagt wurde. Es klang Gegenmodell zum nis zudem, künftig einen Nato­Ma­
Rama zu den SPIEGEL­Reportern, sie wie eine Drohung. Herrschaftsdenken rinestützpunkt nahe der Hafenstadt
trägt ein weißes Baumwollhemd und Durrës zu errichten. Käme es in der
eine Schirmmütze über den schwarzen Zukunft tatsächlich zu Auseinander­
Locken. In der Position ihres Mannes setzungen zwischen den Serben und
gebe es eben keinen wirklichen Urlaub. den Albanern, etwa im Norden Ko­
Vor elf Jahren hatten die Albaner sovos, würde Tirana wohl eine zen­
Edi Rama erstmals mit großer Mehr­ trale Rolle spielen.
heit zu ihrem Premier gewählt. Da­ Die Menschen in der Region seien
mals verkörperte der bekannte Künst­ gespalten, in Putin­Gegner und Putin­
ler das Gegenmodell zu Herrschafts­ Befürworter, erklärt Rama. Und er
denken und Korruption. glaubt: »Russland wäre begeistert,
Als Bürgermeister der Hauptstadt wenn sich auf dem Balkan etwas in
Tirana ließ Rama Straßenzüge bunt Richtung Konflikt bewegt.«
bemalen und sagte der korrupten »Gut 80 Prozent der orthodoxen
Justiz den Kampf an. Heute werfen Serben denken positiv darüber, wie
Kritiker Rama vor, inzwischen selbst Putin dem Westen in der Ukraine
Kontakte zur Mafia zu unterhalten, gerade die Eier zeigt, wenn ich das mal
was er zurückweist. Jedenfalls ist Al­ so sagen darf«, sagt Regierungschef
banien noch immer eines der ärmsten Rama. Die neuen Spannungen auf
Länder Europas. dem Balkan verlaufen ziemlich exakt
Und die Korruption ist längst nicht entlang der alten sowjetischen und der
Albaniens einziges Problem. Der westlichen Einflusslinien. In Albanien
Krieg in der Ukraine, nur etwa tausend liege die Zustimmung für Putins Vor­
Kilometer weit entfernt, reißt in der gehen dagegen nur bei 0,7 Prozent.
Region gerade alte Wunden auf. Wie­ Die Zahlen habe seine Regierung mit­
der zerren die Großmächte am ohne­ tels Umfrage herausgefunden.
hin fragilen Westbalkan. In den ver­ In Serbien seien die Sympathien
Aggelos Barai / DER SPIEGEL

gangenen Monaten verschärfte sich für Moskau »stark«, glaubt Rama,


einmal mehr die Tonlage zwischen in der mehrheitlich von bosnischen
Serbien und dem mit Albanien eng Serben bewohnten Republika Srpska
verbundenen Kosovo. sogar »sehr stark«. In Montenegro
Auf dem Spiel steht nicht weniger wiederum bestehe ein tiefer Graben
als der Frieden auf dem Balkan. zwischen der Bevölkerung der Mon­

90 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


AUSLAND

Tirana ins Spiel. Das provoziert Belgrad, das


die Errichtung eines »Groß-Albaniens« fürch-
tet, und macht eine Befriedung der Region
nicht leichter.
Rama wuchs in einem isolierten Land auf,
Albanien galt jahrzehntelang als das europäi-
sche Nordkorea. Auch aus dieser Erfahrung
heraus versucht der 58-Jährige einen schwie-
rigen Spagat: Er will den Westbalkan inter-
national einbinden und das Kosovo als unab-
hängigen Staat sichern, zugleich aber auch die
Phantomschmerzen Serbiens heilen. Geht das?
»Die Entscheidung für Kosovos Unabhän-

Ekin Yalgin / Alamy / mauritius images


gigkeit war richtig!«, sagt Rama und spreizt
dabei die Hände in die warme Sommerluft.
Es gebe jetzt schließlich auch einen »Friedens-
und Versöhnungsprozess«, selbst wenn dieser
nun schon sehr lange dauere.
Nach seiner Wahl 2013 reiste Rama nach
Belgrad, es war der erste Besuch eines Regie-
rungschefs aus Tirana nach 68 Jahren. Als er
Historisches Nationalmuseum am Skanderbeg-Platz in Tirana: Im Schatten der Weltkrisen
dort aber die serbische Regierung beim Sekt-
empfang aufforderte, das Kosovo anzuerken-
tenegriner und der Serben: »Wir sollten uns Interessen erfasst und pflegt internationale nen, habe ihn sein serbischer Amtskollege
bewusst sein, dass sich dieser Einfluss in etwas Kontakte, von Riad bis Istanbul, Paris und Vučić zur Seite genommen und gesagt, seine
Schreckliches verwandeln kann.« Washington. Mitarbeiter drängten ihn, den unverschämten
Auch 23 Jahre nach dem Einmarsch der Als Hillary Clinton vor einem Jahr anrief Gast hinauszuwerfen. Er habe Vučić geant-
Nato-Truppen ins Kosovo wird der Landstrich und bat, einige Tausend afghanische Flücht- wortet, so Rama, dass diese dummen Leute
immer noch von der westlichen Militärallianz linge ohne Papiere aufzunehmen, sagte Rama ja nur seine Beamten seien, er aber klüger sei
bewacht. 2008 hatte Kosovo schließlich seine sofort zu. Wegen der Unterstützung im Ko- und deshalb der Regierungschef. »Dann ha-
Unabhängigkeit erklärt. sovokrieg 1999 würde Rama den Clintons nie ben wir weitergemacht.«
Der Streit mit Serbien wurde politisch nie einen Wunsch abschlagen. Überhaupt seien Zuletzt aber gab es auf dem Balkan auch
gelöst. Bis heute schmerzt Belgrad der Verlust Albaner »amerikanischer als Texaner«, sagte einige ermutigende Entwicklungen. So wollen
der mehrheitlich albanisch besiedelten serbi- er einmal. Serbien, Albanien und Montenegro in Kürze
schen Provinz. Für viele Serben ist der Frieden In den Wendejahren hatte sich der Dozent eine Art Mini-Schengenraum eröffnen, um
deshalb bis heute ein erzwungener geblieben. der Kunstakademie in Tirana und Sohn eines besser Handel zu treiben. Das Projekt »Of-
Um damals, 1999, die Ermordung Tausen- bekannten kommunistischen Bildhauers der fener Balkan« vereine ihn mit seinem »liebs-
der Albaner und die Vertreibung Hundert- Demokratiebewegung angeschlossen. Damals ten Feind Aleksandar Vučić«. Die darin zu-
tausender Menschen zu stoppen, hatte das gab es nicht viele wie ihn: guter Sportler, un- gesagte Freizügigkeit zwischen den Ländern
Nato-Bündnis mit den eigenen Regeln ge- belasteter Künstler, inspirierender Redner. ist eine kleine Sensation.
brochen. Der Angriff gegen Serbien, die Bom- Doch in Ramas Kampf um die Anerken- Gegen Ende des Besuchs will Rama noch
bardierung von Belgrad, war von keinem nung eines selbstbestimmten Kosovos mi- sagen, dass das alles eigentlich eine Idee von
Uno-Mandat gedeckt. Politiker in Washington schen sich manchmal auch albanisch-natio- Angela Merkel war. Durch sie hätten er und
und Berlin rechtfertigten den Schritt als »hu- nalistische Töne. Immer mal wieder bringt er der Serbe Vučić zu einer stabilen Arbeitsbe-
manitären Einsatz«. eine gemeinsame Regierung von Pristina und ziehung gefunden, »trotz unserer Geschichte
Fast hundert Länder haben Kosovo in- von Schmerz und Blut«.
zwischen anerkannt. Nicht anerkannt haben 2014 habe die damalige Kanzlerin die
es aber Russland, China und auch einige EU- Fragiler Westbalkan sechs Regierungschefs des Westbalkans nach
Länder, darunter Spanien und Griechenland. Deutschland eingeladen, sie nannte es »Ber-
Man könnte auch sagen, der Kosovo-Einsatz Nato-Mitgliedstaat liner Prozess«. »Sie sagte uns, wir seien Euro-
der Nato von damals dient Putin als eine Art serbische Minderheiten päer, wenn auch noch keine Mitglieder der
Rechtfertigung für seine aggressive Annek- Europäischen Union. Bis dahin sollten wir die
tionspolitik auf der Krim, in Donezk, Lu- Zeit nutzen, um uns gemeinsam Gedanken
SLOWENIEN
hansk, in Abchasien und Georgien. Es war über die Zukunft zu machen.«
wohl der Anfang der Krise von heute. KROATIEN Erstmals in der Geschichte des Balkans
Kann sich die Katastrophe der Jugosla- Belgrad hätten die Spitzenpolitiker einmal im Jahr ge-
wienkriege wiederholen? meinsam an einem Tisch gesessen, sagt Rama,
Rama antwortet mit einer Gegenfrage: Adria SERBIEN immer in einer anderen europäischen Stadt, in
»Haben Sie gehört, wie oft Putin in seinen London, Paris, Triest, Wien. Bis zu ihrem Aus-
Republika Srpska
Reden das Kosovo erwähnt?«, fragt der alba- stieg aus der Politik sei Merkel jedes Mal per-
nische Politiker. »Immer wieder sagt er: ›Ko- BOSNIEN UND Kosovo sönlich anwesend gewesen. »Das hat alles ver-
HERZEGOWINA
sovo, Kosovo, Kosovo‹.« Der Kremlchef rüh- ändert«, sagt der albanische Premierminister.
re zielsicher »am schmerzlichsten aller un- MONTENEGRO NORD- Die sechs Führer der Balkanländer hätten
MAZEDONIEN
gelösten Probleme« des Balkans und unter- Tirana in diesen Gesprächen akzeptiert, dass sie
nehme alles, um eine neue Lunte zu legen. ALBANIEN nicht übereinstimmen. Einen gemeinsamen
Rama sieht sein eigenes Land fest im 200 km Willen aber teilten sie alle, sagt Edi Rama:
Westen verankert. Wie wenige Politiker der »Das Blatt der Geschichte zu wenden.«
Region hat er die Welt der unterschiedlichen S Karte: OpenStreetMap Susanne Koelbl n

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 91


SPORT
Kylian Mbappé, der Spitzenverdiener
im europäischen Fußball

Lizenz zum Gelddrucken


Umsatz im europäischen
Fußballmarkt, in Mrd. Euro

24,6
25,5
28,4

4,2
28,9

2,7
0,7 25,2 3,7
27,6
Milliarden Euro Umsatz wurden
2,4 0,7 1,9 in der Saison 2020/21 in den
3,1 0,6 Fußballwettbewerben in Europa
21,8 0,7 5,6 0,6
21,3 erzielt.
19,7 2,2 0,7 5,3 5,1
19,4 2,8 4,9 5
Fifa, Uefa und nationale 0,6 Premier League,
Organisationen 2,6 0,5 4,8 2,9 England
3,1 5,5 Mrd. €
0,5 4,6 2,6 2,6 2,6
Andere Ligen außerhalb 0,6 4,5 2,8
der Top-5-Länder 2,6 Bundesliga,
4,8
4,3 2,4 Deutschland
2,2 3,0 Mrd. €
Spitzenligen außerhalb
der Top-5-Länder 2,1 2
La Liga,
17,0 Spanien
Andere Ligen der 14,7 15,6 15,1 15,6 3,0 Mrd. €
Top-5-Länder 13,4
11,3 12,0 Serie A,
9,3 9,8 Italien
Die fünf größten 2,5 Mrd. €
europäischen Ligen
Ligue 1,

ANP / IMAGO
Frankreich
1,6 Mrd. €
S Quelle: Deloitte Saison 11/12 12/13 13/14 14/15 15/16 16/17 17/18 18/19 19/20 20/21

In der kommenden Woche startet die Champions League in die neue Saison, erstmals mit fünf Mannschaften aus der Bundesliga. Die finanziell
höchst attraktive Königsklasse des Fußballs hat dazu beigetragen, dass sich der Markt weiter auf die fünf größten Ligen Europas konzentriert.
Seit der Einführung der Champions League vor 30 Jahren gab es mit Ajax Amsterdam (1995) und dem FC Porto (2004) nur zwei Titelgewinner, die
nicht aus den »Big Five«-Ligen kamen.

GUT ZU WISSEN langen könnten: »Es ist wie nicht unumstritten. »Sie wird
Covid. Wenn es sich einmal von Geschworenen festgesetzt,
Hätte Kobe Bryants Witwe auch ausgebreitet hat, kann es nicht
rückgängig gemacht werden.«
die emotionaler agieren als Be-
rufsrichter«, sagt Srocke.
hier Millionen kassiert? Sie hatte keine postmortale
Verletzung der Rechte ihres
In Deutschland können Hin-
terbliebene bei Fotoveröffent-
Mannes, sondern eine Verlet- lichungen von Verstorbenen
Ein US-Gericht hat der Witwe auch den SPIEGEL vertritt. In zung ihrer eigenen Privatsphä- nur auf Entschädigung hoffen,
des bei einem Hubschrauber- Bezug auf Schadensersatz re beklagt. Nach dem Urteil wenn sie selbst dort auftauchen.
absturz getöteten Basketball- unterscheide sich das deutsche postete sie allerdings über In- Im Namen der Verstorbenen
stars Kobe Bryant 16 Millionen elementar vom US-ameri- stagram: »Gerechtigkeit für können sie nichts geltend ma-
Dollar Schadensersatz zuge- kanischen Recht. Auch in Kobe«. Die Höhe der Entschä- chen, auch nicht, wenn deren
sprochen – und der Landkreis Deutschland wäre es illegal ge- digung ist auch in den USA Rechte noch zu Lebzeiten ver-
Los Angeles muss einem weite- wesen, ohne Anlass Fotos der letzt wurden. Beispielhaft ist
ren Kläger, der Frau und Toch- Leichenteile zu machen. Die der Fall Helmut Kohls. Der Ex-
ter verloren hatte, 15 Millionen Beamten hätten sich aber straf- Bundeskanzler hatte zunächst
zahlen. Denn Rettungskräfte rechtlich verantworten müssen, eine Million Euro von seinem
und Polizisten hatten an der Geldforderungen wären hin- ehemaligen Ghostwriter erstrit-
Unglücksstelle Fotos gemacht gegen chancenlos gewesen. ten, weil dieser Tonbandproto-
und herumgezeigt, auf denen Hinter den hohen Summen kolle gegen Kohls Willen veröf-
Leichenteile zu sehen waren. in den USA steckt der Ge- fentlicht habe – die bis dahin
FREDERIC J. BROWN / AFP

Was hätten die Hinterblie- danke, Täter über den tatsäch- höchste Entschädigung wegen
benen in Deutschland als Scha- lichen Schaden hinaus zu be- verletzter Persönlichkeitsrechte.
densersatz erhalten? »Null strafen. Vor Gericht hatte die Vor Abschluss der zweiten In-
Euro«, sagt Marc-Oliver Srocke, Bryant-Witwe Vanessa gesagt, stanz verstarb Kohl. Seine Wit-
Medienanwalt der Hamburger die Angst belaste sie sehr, dass we versuchte erfolglos, das Ver-
Kanzlei Advant Beiten, die die Aufnahmen ins Internet ge- Bryant, Tochter (Wandbild in L. A.) fahren weiterzubetreiben. ULU

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SPORT

Dressurhengst
Totilas 2009

Streit ums Eingemachte


Jiri Buller / Hollandse Hoogte / laif

Vor Gericht duelliert sich Paul Schockemöhle mit einem niederländischen Unternehmer
JUSTIZ
um das Vermächtnis des einstigen Jahrhundertpferds Totilas. Es geht um rund 120 Milliliter
Sperma – und die Frage, wer mit der Hinterlassenschaft eines toten Tiers Millionen scheffeln darf.

94 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


SPORT

ehr als sieben Stunden dauert die »Er zog den Bericht hervor von Visser und Schockemöhle gezeichnete
M Zeugenbefragung bereits an, als in
einem niederländischen Gerichtssaal
die Frage aufkommt, ob das vielleicht be-
wie das Kaninchen aus dem
Vereinbarung, eine DIN-A4-Seite, gespickt
mit Rechtschreib- und Grammatikfehlern.
Das Pferd Totilas, heißt es darin, »ist im
rühmteste Pferd der Welt vor rund zwölf Jah-
Hut, ich habe dieses Doku- Eigentum von Herrn Visser. Dieser beabsich-
ren mit einer Geschlechtskrankheit infiziert ment nie zuvor gesehen.« tigt das Pferd zu verkaufen«. Für das Geschäft
war. Es ist Donnerstag vergangener Woche. Kees Visser, Immobilienmakler werde er »Herrn Schockemöhle als seinen
Der Mann, der zur Aufklärung beitragen soll, offiziellen Agenten« benennen.
ist von Beruf Pferdewirtschaftsmeister und Er habe Schockemöhle damals konsultiert,
Besamungswart, trägt Jeans und ein grob erzählt Kees Visser dieser Tage auf einem Ge-
kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln. Als er stüt im niederländischen Harskamp, da der
beschreibt, wie sich bei einem Pferd eine so- wie Stricknadeln, mit je 0,5 Milliliter Sperma, Deutsche »der Experte Nummer eins« in der
genannte Deckseuche, genauer CEM, nach- tiefgefroren in Stickstoff und somit nahezu Szene gewesen sei. Schockemöhle, ein ehe-
weisen ließe, die zu verminderter Fruchtbar- unbegrenzt haltbar. Laut Visser sind sie »min- maliger Springreiter, der in den Siebziger- und
keit und Fehlgeburten führen kann, krümmt destens 18 Millionen Euro« wert, so steht es Achtzigerjahren Medaillen bei Olympischen
er seine Finger leicht, als umgriffe er den eri- in den Gerichtsunterlagen. Tausende Stuten Spielen, Welt- und Europameisterschaften
gierten Penis eines Hengstes. ließen sich demnach mit der Samenflüssigkeit gewann, hat sich in Mühlen und auf einem
Man mache bei einem Verdacht auf CEM noch befruchten, verbunden mit der tausend- Gestüt in Mecklenburg ein Pferdeimperium
einen PCR-Test, sagt er dann, eine Tupfer- fachen Hoffnung von Züchtern, den nächsten aufgebaut. Rund 5000 Tiere hält er nach eige-
probe am Schaft, an der Eichelgrube. Natür- Dukatenesel zu zeugen. nen Angaben allein in Ostdeutschland. Ins-
lich müsse auch der Samen sowie das Vor- Schockemöhle will das verhindern. Er be- gesamt kämen pro Jahr etwa 1000 Fohlen
sekret, also der Lusttropfen des Pferdes, ansprucht die Zuchtrechte des toten Wunder- hinzu, von denen er viele später verkauft, zu
berücksichtigt werden bei der Suche nach hengstes exklusiv für sich. Man versteht nicht teilweise sechsstelligen Preisen. Auf seiner
dem Erreger. Das Prinzip sei »wie bei einem ganz, warum. Denn Personen aus seinem Um- Deckstation in Mühlen bietet er zudem Sper-
Coronatest«. feld erzählen, der Samen werde kaum noch ma von mehr als 100 Hengsten an, mit denen
Bei dem fraglichen Hengst habe es damals nachgefragt. Darüber hinaus streuen sie den Züchter ihre Stuten befruchten können. Es
positive CEM-Befunde gegeben, erzählt der Verdacht, dass das Sperma in Vissers Besitz gleicht einer Zeugungsfabrik.
Zeuge, woraufhin er persönlich dessen Penis kontaminiert und damit unbrauchbar sein Von diesem Schockemöhle erhoffte sich
eine Woche lang mit einem speziellen Medi- könnte. Das bestreitet Visser. Visser, der selbst in Immobilien macht, Hilfe
kament gewaschen habe, zusätzlich sei dem In Arnheim wird somit auch ein Kampf um beim Verkauf des wohl größten Juwels des
Tier ein Antibiotikum verabreicht worden. die Wahrheit ausgetragen, der zuweilen grotesk Dressursports. Er hatte Totilas 2006 von
Es ist der dritte von vier Zeugen an diesem anmutet. Experten beugen sich im Zeugenstand einem kleinen Züchter im Norden Hollands
Tag. Ihnen gegenüber sitzt die Richterin des über Verträge und Laborbefunde, angebliche erworben. Das Niederländische Warmblut,
Verfahrens, sie hört sich die Ausführungen Augenzeugen berichten ergriffen von einer Jahrgang 2000, Stockmaß 1,70 Meter, ent-
mit ernstem Blick und roten Wangen an. Ab Zeit, in der »die ganze Welt nach Samen von puppte sich als der Kauf seines Lebens. Von
und an stellt sie Nachfragen, bevor sie sich Totilas geschrien« habe, und zwischen alldem 27 internationalen Grands Prix unter Vissers
der Gerichtsschreiberin zuwendet und ihr die hebt der Beklagte Schockemöhle, der in seinem Flagge gewann der Hengst 25. Seine Auftrit-
Aussagen für das Protokoll diktiert. Leben nach eigener Angabe rund 30 000 Pfer- te mutierten zu Massenevents, alle wollten
Richterin (zur Gerichtsschreiberin): »Das de verkauft hat, immer mal wieder wie ein den »lackschwarzen Zauberer mit seinen wei-
Pferd wurde mit Chemikalien gewaschen …« Schuljunge seinen linken Zeigefinger und fragt ßen Ballettschuhen« sehen, wie der ARD-
Zeuge (unterbricht): »Die Genitalien, nicht die Richterin: »Darf ich was sagen?« Pferdesportexperte Carsten Sostmeier einmal
mit Chemikalien!« Es ist ein Zirkus unter Eid. schwärmte.
Richterin: »Ach so, die Genitalien wurden Die Geschichte beginnt – da scheinen sich Für Laien ist die Welt des Dressursports
gewaschen.« beide Seiten ausnahmsweise einig zu sein – nur schwer zu durchschauen. Gestriegelte
Es ist ein skurriles Kammerspiel, das dieser am 27. Juli 2010. Auf diesen Tag datiert eine Pferde traben und galoppieren in einem Vier-
Tage an der Rechtbank Gelderland, einem
Bezirksgericht in Arnheim unweit der deut-
schen Grenze, aufgeführt wird. Das liegt auch
daran, dass der Protagonist des Schauspiels
seit fast zwei Jahren tot ist: Totilas, der Wun-
derhengst, das Jahrhundertpferd, der Super-
star auf vier Beinen und wie er sonst noch zu
Lebzeiten bezeichnet wurde. Der wohl teu-
erste Dressurhengst der Geschichte stellte
Weltrekorde auf, wurde Welt- und Europa-
meister, zierte T-Shirts und Schirmmützen
und zeugte zahlreiche Nachkommen, die heu-
te Weltklasse sind.
Nun duellieren sich zwei ergraute Herren
um das, was von Totilas noch übrig ist: sein
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

Sperma. Simon Cornelis Visser, 66, Rufname


Kees, ein niederländischer Immobilienmakler,
Valeria Witters / WITTERS

der den Hengst einst an Paul Schockemöhle,


heute 77, verkaufte, den wohl größten Pferde-
züchter Europas aus Mühlen, Landkreis Vech-
ta. Sie sind inzwischen erbitterte Gegner. Im
Kern streiten sie um rund 240 Samenhalme,
die noch in Vissers Bestand sein sollen, dünn Kläger Visser Beklagter Schockemöhle mit Totilas 2016

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SPORT

eck zur Musik, sie traversieren und obachter zeigten sich bei Totilas’ letz­
piaffieren, und während ungeschulte tem Wettkampfauftritt entsetzt, als
Augen kaum Unterschiede zwischen das Pferd 2015 in Aachen in der lin­
den einzelnen Darbietungen ausma­ ken Hinterhand lahmte. Das Tier
chen, rührt es das Fachpublikum zu sei verheizt worden, sagen Kritiker.
Tränen, wenn es die Reiterin oder der Sein Tod kam früh: Im Dezember
Reiter schafft, perfekt mit dem Tier 2020, im Alter von 20 Jahren, ver­
zu harmonieren. Dressur ist große starb Totilas, offiziell an den Folgen
Emotion – vor allem ist es ein Milliar­ einer Kolik.
dengeschäft. Für die Besitzer sind Kurz darauf schaltete eine nieder­
erfolgreiche Hengste Geldanlagen auf ländische Deckstation im Internet ein
vier Hufen, neben den Preisgeldern Inserat: Sie biete »gefrorenes Sperma
streichen sie beträchtliche Summen von Totilas für die Zuchtsaison 2021«
ein, wenn sie ihre Schützlinge für die an. Es handelte sich um die alten Be­
Zucht einsetzen. stände Vissers. Die Befruchtung
Totilas war so ein Hengst, und den­ könnte mit dem für Pferde relativ
noch entschlossen sich die Vissers im neuen und aufwendigen ICSI­Verfah­
Sommer 2010, ihn zu verkaufen. »Wir ren vorgenommen werden. Zuvor
wussten, dass irgendwann ein Ange­ werden der Stute Eizellen entnom­
bot kommen würde, bei dem wir uns men. Bei der ICSI werden diese dann
unseren Kindern gegenüber schuldig unter dem Mikroskop befruchtet, in­
machen würden, wenn wir es ablehn­ dem ihnen jeweils ein einzelnes Sper­
ten«, sagt Visser. mium mit einer feinen Hohlnadel in­
Solch ein Angebot, so geht aus der jiziert wird.

Robin Utrecht / EPA


Vereinbarung hervor, wollte Schocke­ Er habe so lange mit der Samen­
möhle dem Niederländer organisie­ offerte gewartet, weil er zunächst
ren: Er sollte einen Käufer finden, der sehen wollte, wie sich die Reproduk­
Visser 10,5 Millionen Euro einbringen tionstechnik mit den Jahren entwick­
würde – abzüglich einer Million Euro le, sagt Visser heute. Nach dem Tod
Provision für ihn als Agenten. Eine Turnierreiter Edward Die Zuchtrechte seien nie bespro­ seines einstigen Schützlings sei
Rekordsumme für ein Dressurpferd. Gal auf Siegerpferd chen worden, kontert Visser. der Zeitpunkt nun mal günstig gewe­
Totilas bei Dressur-
Was dann mutmaßlich geschah, weltcup 2010:
Zum Streit um die rund 120 Milli­ sen, das Sperma prominent zu ver­
referierten beide Seiten nacheinander »Lackschwarzer liter Sperma in den 240 Halmen kam markten.
vor einigen Wochen bei ihren Zeu­ Zauberer« es aber erst ein Jahrzehnt nach dem Schockemöhle zog dagegen vor
genvernehmungen in Arnheim. Vis­ Deal. Bis dahin hatten die beiden Her­ Gericht. Am Landgericht Oldenburg
sers Version: Bei den Weltreiterspie­ ren ganz andere Sorgen. Für Visser beantragte er den Erlass einer einst­
len, die ab Ende September 2010 in begann mit dem Verkauf des Hengstes weiligen Verfügung gegen Visser, da
Kentucky stattfanden, habe Schocke­ ein Spießrutenlauf. »Ich hatte gedacht, ihm allein die Zuchtrechte für Totilas
möhle angedeutet, dass er, der Agent, dass sich die Menschen mit mir freuen zustünden. Das Gericht gab dem An­
das Pferd gern selbst kaufen wolle. würden, stattdessen wurde es so dar­ trag statt. Sollte Visser den Samen
Sie vertagten sich, da Visser den da­ gestellt, als ob ich die niederländische weiter anbieten oder verkaufen,
maligen Reiter von Totilas vor dem Goldmedaille bei den nächsten Olym­ drohten ihm bis zu sechs Monate Haft
Wettkampf nicht unnötig beunru­ pischen Spielen verkauft hätte – und oder ein Ordnungsgeld von bis zu
higen wollte. Nach dem Turnier hät­ das ausgerechnet an Deutschland, den 250 000 Euro, heißt es im Urteil vom
ten sie den Deal dann beschlossen: Erzfeind.« Er sei bedroht und be­ März 2021. Rund vier Monate später
Schockemöhle erwarb den Hengst für schimpft worden, erzählt Visser, »wir bestätigte das Oberlandesgericht Ol­
9,5 Millionen Euro. Aber: »Wir haben mussten die Telefonnummern unserer denburg die Entscheidung.
nur besprochen, dass der Preis für das Kinder wechseln«. Und Visser? Verklagte den Deut­
Sportpferd gelten soll«, so Visser vor Und auch Schockemöhle machte schen im Gegenzug selbst, diesmal
Gericht, mehr nicht. der Kauf wohl nicht glücklich. Totilas in den Niederlanden. Seit Juli ver­
Schockemöhle hält dagegen, er entpuppte sich nicht als der erwarte­ gangenen Jahres ist am Bezirks­
habe von Visser »sicher verlangt«, te »Wunderhengst«; 2015 schied das gericht  Gelderland das Verfahren
dass auch »das Sperma gemeinsam Pferd früh aus dem Leistungssport C/05/393 161 anhängig. Laut Pro­
mit Totilas verkauft wird«. Neben aus. Schockemöhle hatte die Sport­ zessunterlagen fordern Vissers An­
dem Hengst trafen im Herbst 2010
rund 300 Portionen Totilas­Samen
aus den Niederlanden in Mühlen ein.
3Nachkommen rechte an Ann Kathrin Linsenhoff
verkauft, eine hessische Millionen­
erbin und ehemalige Dressurreiterin.
wälte unter anderem eine Erklärung,
dass es ihrem Mandanten erlaubt
sei, Sperma von Totilas anzubieten
Schockemöhle sagt, er sei davon aus­ Insgesamt habe sie zehn Millionen und zu verkaufen – und Schadens­
gegangen, dass es sich dabei um Vis­ Euro gezahlt, sagte Schockemöhle ersatz von Schockemöhle für das ak­
sers Restbestand gehandelt habe, ab­
von Totilas vor Gericht, darüber hinaus habe er tuelle Verkaufsverbot. Als ersten
züglich einer kleinen Menge Samen nahmen 2021 die Zuchtrechte in Teilen behalten. »Vorschuss« taxieren sie drei Millio­
für dessen eigene Stuten, »drei bis an den Als Reiter wählten sie Matthias Ale­ nen Euro.
vier« an der Zahl, die der Deutsche xander Rath aus, den Stiefsohn Lin­ Die Beweislage scheint dünn zu
ihm zugestanden habe. »Für mich war Olympischen senhoffs – und damit wohl den Fal­ sein. Schockemöhle und Visser haben
klar, dass, wenn ein Hengst für so viel Spielen von schen: Mensch und Tier fanden nicht bei ihrem Deal vor zwölf Jahren be­
Geld verkauft wird, auch die Deck­ zueinander, der sportliche Erfolg züglich der Zuchtrechte wohl nichts
rechte verkauft werden«, so Schocke­
Tokio teil. blieb aus, und dann baute der Hengst schriftlich festgehalten. Über die
möhle in seiner Einlassung. Quelle: FEI auch noch körperlich massiv ab. Be­ bei Gericht vorgelegte Vereinbarung

96 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


SPORT

hinaus findet sich in der Prozessakte lediglich rinäramt Vechta schreibt auf Anfrage, man
die Rechnung vom 18. Oktober 2010, in der Seriensieger habe erst im März 2022 von der Infektion des
vom »Pferd Totilas« die Rede ist. Schocke­ Hengstes aus 2010 erfahren. CEM gehört aber
möhle erklärte vor Gericht, dass Kaufverträ­ Totilas’ sportliche Bilanz in 2009 und 2010 zu den meldepflichtigen Tierkrankheiten.
ge im Pferdehandel nicht üblich seien. Unter 27 Teilnahmen drei Weltrekorde: Klar ist: Sollten Vissers Bestände trotz an­
den etwa 30 000 Verkäufen, die er in seinem an internationalen Kür, Grand Prix derslautender Beteuerungen kontaminiert
Grands Prix und Grand Prix
Leben getätigt habe, seien »nur fünf bis zehn Special sein, wäre die Rechnung des Niederländers
Verträge schriftlich niedergelegt, weil die Käu­ hinfällig. Bislang kalkuliert er laut Prozess­
fer es wollten«. Vielleicht könnte Schocke­ zwei zweite Plätze 25 Siege akten so: Mit jedem seiner 240 Samenhalme
möhles Geschäftspartnerin Linsenhoff Licht könnten 25 Embryos erzeugt werden, bei
ins Dunkel bringen, doch bislang hat es die einer Decktaxe von 3000 Euro ergebe dies
Olympiasiegerin abgelehnt, vor Gericht zu einen Gesamtbetrag von 18 Millionen Euro.
erscheinen. Mit der Realität habe das nichts zu tun,
Vergangene Woche trat in Arnheim ein winkt Schockemöhles Seite ab, es gebe so gut
Experte für Internationales Kaufrecht in den wie keine Nachfrage mehr nach Totilas­Sa­
Zeugenstand: Burghard Piltz, Prof. Dr., Mit­ men. Auf die Frage, ob in diesem Jahr schon
te siebzig, grauer Anzug, buschige Augen­ Samen bestellt worden sei, antwortete Scho­
brauen, in seiner Hand hielt er die Verein­ ckemöhles Deckstationsleiter vergangene
barung von 2010. Er zitierte Paragrafen und Woche vor Gericht: »Ich glaube nicht, nein.«
Referenzentscheidungen. Branchenkenner zeigen sich verwundert,
Ob Visser verpflichtet gewesen sei, Scho­ wie vehement sich Schockemöhle zunächst
ckemöhle den gesamten Tiefkühlsamen aus­ zwei EM-Titel für ein Verkaufsverbot für Visser einsetzte,
zuliefern? »Ob mit dem Pferd weitere Dinge S Quelle: FEI drei WM-Titel wenn dessen Samenvorräte doch angeblich

verkauft werden, regelt der Kaufvertrag.« kontaminiert und ein Ladenhüter sind. Gibt
Hätten die Zuchtrechte also im Vertrag auf­ Schockemöhle behauptet, er habe damals es also noch eine andere Wahrheit? Anfragen
geführt werden müssen? »Ich tendiere dazu sämtlichen Samen, den er von Visser bekom­ zu Totilas bekäme er aktuell trotz der einst­
zu sagen: ja.« men hatte, vernichten lassen, das Pferd sei weiligen Verfügung nahezu täglich, sagt ein
Mehr als vier Stunden dauerte die Befra­ isoliert und behandelt worden. Sein Besa­ niederländischer Geschäftspartner Vissers,
gung. mungswirt schildert bei Gericht die Waschung der den Samen für den Kläger einlagert, aber
Das Prozedere trägt groteske Züge, vor des angeblich infektiösen Penis. Sein Deck­ nicht anbieten darf.
allem angesichts der Tatsache, dass Schocke­ stationsleiter könne sich ebenfalls daran er­ 2021 veröffentlichte die Weltzüchterver­
möhle die restlichen Samenbestände von innern. einigung WBFSH ihre jährlich aktualisierte
Visser gar nicht mehr haben möchte. Der Saft Wirklich? Auffällig ist, dass mehrere Ver­ Rangliste der 100 besten »Dressur­Vererber«,
sei ja vermutlich unbrauchbar. sionen darüber kursieren, wie es 2010 zur bei der ein Hengst umso höher gelistet wird,
Als Beleg dafür hatte Schockemöhle schon Entsorgung des mutmaßlich kontaminierten je erfolgreicher seine Nachkommen bei inter­
in dem deutschen Verfahren einen Labor­ Samens gekommen sein soll. So äußerte ein nationalen Wettkämpfen auftreten. Totilas,
bericht vorgelegt, der auf den 18. November Geschäftspartner von Schockemöhle, der für der heute mit knapp 22 Jahren noch nicht sehr
2010 datiert, also kurz nach dem Kauf von ihn bis heute den Totilas­Samen in den Nie­ alt wäre und daher wenige Nachfahren im
Totilas. Schockemöhle habe damals 13 Samen­ derlanden vertreibt, im März gegenüber Leistungssportalter hat, schaffte es auf Anhieb
proben, die dem Hengst zwischen Februar einem Fachportal, dass Schockemöhle die Be­ auf Platz sieben – allein bei den Olympischen
und April 2010, also vor dem Verkauf, ab­ stände »nach Absprache mit dem niederlän­ Spielen in Tokio waren im vergangenen Jahr
genommen worden waren, auf das Bakterium dischen Landwirtschaftsministerium vernich­ drei Totilas­Erben am Start.
Taylorella equigenitalis untersuchen lassen tet« habe. Schockemöhle selbst jubelt auf seiner Web­
– den Erreger der ansteckenden Geschlechts­ Auf SPIEGEL ­Anfrage heißt es aus dem site, dass Totilas »auch mit seiner Vererbung
krankheit CEM. Das Ergebnis: 5 der 13 Pro­ Ministerium: »Die Aussage trifft nicht zu.« völlig neue Maßstäbe« setze: »A Legend of
ben seien positiv. Der Samen wäre somit Aus­ Nach Aktenlage sei keine Anordnung »auf his own!« Für den Hengst fordert er eine saf­
schussware. Vernichtung der eingelagerten Samendosen tige Decktaxe: 4000 Euro.
»Er zog den Bericht hervor wie das Kanin­ von Totilas erteilt« worden. Es brauchte allerdings viele willige Stuten­
chen aus dem Hut«, erinnert sich Visser an Der Leiter von Schockemöhles Decksta­ besitzer, um eine weitere Forderung zu be­
die Verhandlung in Oldenburg, »ich habe die­ tion in Mühlen sagte vergangene Woche unter gleichen, die im Zuge des Verfahrens aufpopp­
ses Dokument nie zuvor gesehen.« Zudem Eid, dass der Samen auf Anraten des Test­ te. Bei seiner Befragung vor Gericht gab Scho­
habe er seine Zweifel an den Ergebnissen: labors vernichtet worden sei. Das Kreisvete­ ckemöhle im Juli an, dass er 2010 ein Angebot
»Die Befunde wechseln von Tag zu Tag: posi­ für Totilas erhalten habe, »über einen Betrag
tiv, negativ, positiv, negativ. Das ist unmög­ zwischen zwölf und dreizehn Millionen Euro«
lich.« Er selbst habe Tiefgefriersperma an – wohl zu der Zeit, als er laut Vereinbarung
einem veterinärwissenschaftlichen Institut in Wie im falschen Film eigentlich in Vissers Auftrag agierte. Dieser
den Niederlanden auf CEM untersuchen las­ behauptet, von dem Angebot nie zuvor gehört
sen. Die Ergebnisse, die er dem Gericht vor­ Beim ersten Gespräch für diese Geschich- zu haben.
gelegt habe, seien »immer negativ« gewesen te nahm SPIEGEL-Redakteur Thilo Neu- Wenn ein Angebot vorlag, das »Herrn Vis­
– manche Proben stammten gar von den glei­ mann im April auf dem Sofa eines nieder- ser nicht zur Kenntnis gebracht wurde, dann
chen Tagen wie das Sperma, das in dem von ländischen Pferdezüchters Platz, mit Blick wäre das eine Pflichtverletzung« Schocke­
Schockemöhle vorgelegten Befund als positiv auf eine Urne, Aufschrift: »Gribaldi« – es möhles, befand Burghard Piltz, der Experte
ausgewiesen sei. 180 Stuten seien 2010 mit waren die Überreste des Vaters von Totilas. für Kaufrecht, vergangene Woche unter Eid.
Totilas künstlich befruchtet worden, sagte Es war nicht das letzte Mal, dass sich Vissers Seite fordert von Schockemöhle
Visser bei Gericht, und er wisse von keiner Neumann wie im falschen Film vorkam: nun weitere 3,5 Millionen Euro plus Zinsen
einzigen CEM­Infektion. Zudem habe es re­ Vergangene Woche saß er mehr als zehn ein, die ihrem Mandanten entgangen seien,
gelmäßig Kontrollen gegeben, wenn Sperma Stunden in Arnheim bei Gericht. Danach damals, beim Verkauf des Jahrhundertpferds.
ins Ausland exportiert worden sei. glühten nicht nur der Richterin die Wangen. Thilo Neumann n

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WISSEN

John Moore / Getty Images


Einsam staksen die beiden Flamingos durch den Salar de Atacama, eine Salzebene in Chile. In dem Becken, von salzigem Wasser ausgefüllt und
unterlagert, liegen fast 30 Prozent des weltweiten Vorkommens an Lithium – dem Metall, das unter anderem für die Herstellung von Batterien
in Elektroautos benötigt wird. Die gegenwärtigen Abbaumethoden brauchen jedoch so viel Wasser, dass der Lebensraum der Tiere gefährdet ist.

sind vor allem CO2-starke Verbrenner laut T&E noch viel zu


Geld verbrennen mit attraktiv. Vom Arbeitgeber gestellte Tankkarten sind zusätzlich
verbreitet, Stromflatrates hingegen kaum etabliert.
Verbrennern Immerhin 22 Prozent der im Jahr 2021 privat gekauften Neu-
wagen fahren vollelektrisch, zeigen Daten des Spezialdienstes
Dataforce, die Firmenwagen hingegen erreichen mit 11 Prozent
ANALYSE Warum gibt es in Deutschland so wenige
nur einen halb so hohen Elektroanteil. »Deutschlands Steuer-
Dienstwagen mit Elektroantrieb? politik für Dienstwagen ist veraltet und hemmt den Markthoch-
lauf der Elektromobilität«, sagt T&E-Expertin Friederike Piper.
Wer ein günstiges Elektroauto als Dienstwagen nimmt, wird Eine ökologische Reform wäre aus ihrer Sicht eine kostengüns-
vom Staat besonders gefördert: Nur monatlich 0,25 Prozent des tige Maßnahme für mehr Klimaschutz im CO2-intensiven Ver-
Bruttolistenpreises von höchstens 60 000 Euro müssen als Ein- kehrssektor. Damit könnte der Staat seine Einnahmen steigern
kommen versteuert werden – bei Verbrennern ist es ein Prozent. und so Ausgaben für die Verkehrswende finanzieren. Das Aus-
Trotzdem fährt nur ein geringer Teil der deutschen Firmenwagen maß des Dienstwagenprivilegs wird von verschiedenen Quellen
vollelektrisch. Die Umweltorganisation Transport & Environ- auf drei bis über fünf Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. T&E
ment (T&E) spricht in einer neuen Analyse von einer »verpass- will gar nicht das Maximum für den Fiskus herausholen und
ten Chance«. Demnach verderben die Geschäftsautos, die zwei schlägt stattdessen eine Reform vor, um gezielt elektrische Fir-
Drittel der neu zugelassenen Pkw ausmachen, die Bilanz für das menwagen noch stärker zu begünstigen. Indirekt könnte das
Klimaziel. 15 Millionen Elektroautos auf Deutschlands Straßen auch sozial nützlich sein: »Jeder neue vollelektrische Firmen-
sind das Ziel der Ampelkoalition bis 2030, dafür müsste sie das wagen wird in vier Jahren zum Gebrauchtwagen, der Privatper-
Tempo der Zulassungen verfünffachen. Mit der Ein-Prozent- sonen den erschwinglichen Umstieg auf Elektro ermöglicht«,
Regel – im europäischen Vergleich eine großzügige Regelung – argumentiert Piper. Arvid Kaiser

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Eine Gefahr für Zusatzstoffen beigemischt wird und wie Kinder würde ich nicht empfehlen, kom-
sinnvoll das ist; für Nichtexperten ist es plett auf Pflanzendrinks umzustellen, weil
die Kinder? also sehr schwer zu beurteilen, ob etwa die dann die Gefahr von Mangelerscheinungen
ERNÄHRUNG Hafermilch ist bei deutschen Menge an Vitamin B¹² in dem Produkt besteht«, sagt Hauner. Man müsse jedoch
Verbrauchern der beliebteste unter den überhaupt vom Körper genutzt werden die gesamte Ernährung betrachten. Wenn
Pflanzendrinks. Ernährungsmediziner Hans kann – oder ob das nur gut auf der Packung ein Kind Hafer- statt Kuhmilch bekomme,
Hauner von der Technischen Universität aussieht.« sich sonst aber ausgewogen ernähre, sei das
München hält den Hype für überzogen: Hafer an sich sei nicht ungesund. »Er unproblematisch. KRY
»Zunächst einmal ist die Bezeichnung enthält viele komplexe Kohlehydrate sowie
Milchersatz sehr irreführend«, sagt der Er- Beta-Glucan, also Ballaststoffe mit günsti-
nährungsmediziner. »Die Pflanzendrinks gen Wirkungen auf den Stoffwechsel«, er-
sind ganz andere Lebensmittel mit einer klärt Hauner. »Was fehlt, sind Eiweiße und
ganz anderen Zusammensetzung, die Milch natürliche Fette, davon enthält Hafermilch
mit ihren Nährstoffen nicht ersetzen kön- wenig bis gar keine.« Manche Eltern glaub-
nen.« Einige Hersteller mischen neben ten, der Pflanzendrink sei für Kinder genau-
Wasser, Hafer, Öl und Salz Zusatzstoffe bei, so gesund oder besser als Kuhmilch. »Kuh-

Catherine Falls / Getty Images


darunter Kalzium oder die Vitamine B¹² milch enthält wichtige Nährstoffe, die für
und D². »Während man bei der Kuhmilch das Wachstum günstig sind«, so Hauner.
weiß, was drin ist, muss man bei den Eiweißqualität, Kalzium- und Jodgehalt sei
Pflanzendrinks schon ganz genau auf die sehr gut, während einige pflanzenbasierte
Packung schauen«, sagt Hauner. »Es ist Getränke die Aufnahme von Kalzium sogar
nicht vorgeschrieben, wie viel von welchen beeinträchtigen könnten. »Für ganz kleine

etwa ein halbes Grad Celsius Im Vergleich sieht man, dass


»In 20 Jahren werden Sommer wärmer. Eine solche Hitliste alle Monate wärmer geworden
ist aber nicht entscheidend. sind. Die Winterniederschläge
wie dieser zur Regel« Entscheidend ist, dass sich haben zugenommen, im Som-
seit 2003 die Rekordsommer mer haben sie abgenommen.
häufen. Ein klares Zeichen, Wir sehen jetzt seltener den
KLIMA So viel Sonne war noch nie: Der Meteorologe
dass wir schon mitten in der großflächigen Landregen, den
Andreas Friedrich, 65, vom Deutschen Wetter­ Klimaerwärmung leben – die Landwirtschaft bräuchte.
dienst erklärt, wie Hitzewellen entstehen und wie die und sie auch heftig zu spüren Dafür häufiger Stark- und
bekommen. Sturzregen, bei dem in kurzer
Sommer in Zukunft aussehen werden. SPIEGEL: Es handelt sich also Zeit fast eine ganze Monats-
nicht um einen zufälligen Aus- menge Niederschlag herunter-
SPIEGEL: Herr vermehrten Sonneneinstrahlung reißer nach oben? kommt. Unterm Strich nimmt
Friedrich, im Som- und dem wenigen Niederschlag Friedrich: Im vorigen Jahr- der Niederschlag im Sommer
mer 2022 gab es in führt das zu trockenen Böden. tausend waren Temperaturen im Mittel ab.
Deutschland die Der Boden wiederum heizt von mehr als 40 Grad bei SPIEGEL: Warum gibt es mehr
meisten Sonnen- sich schneller auf, wenn er nicht uns noch ein Jahrhundertereig- dieser Starkregen?
stunden seit Beginn feucht ist. Alles zusammen nis. Jetzt scheint es alle zwei, Friedrich: In einer wärmeren
DWD

der Aufzeichnun- führte in diesem Jahr zu den drei Jahre so weit zu sein. Atmosphäre wird mehr Luft-
gen 1951. Gleichzeitig herrscht extremen Hitzewellen. SPIEGEL: Wenn die Sommer so feuchtigkeit gespeichert. Ein
eine extreme Dürre in Europa. SPIEGEL: Wird 2022 auch der heiß werden, wie verändern Grad mehr an Temperatur
Kann man sich über einen heißeste Sommer werden? sich die anderen Jahreszeiten? bedeutet über sieben Prozent
solchen Rekord noch freuen? Friedrich: Das wird der Sommer Friedrich: Meteorologen rech- mehr Luftfeuchtigkeit. Wenn
Friedrich: Sicherlich kann man 2003 bleiben, denn er war noch nen in Zyklen von 30 Jahren. sich da Gewitterwolken bilden
einen sonnigen Tag genießen. und dann vielleicht noch
Was das Ganze aber bedrohlich Luft vom Meer hinzukommt,
macht, sind die Heftigkeit und dann können sich sehr starke
das lange Anhalten dieses Wet- Regenfälle entwickeln.
ters. Schon seit dem Frühjahr SPIEGEL: Was werden wir in den
haben wir zu wenig Nieder- nächsten Jahren für Sommer zu
schlag und erleben eine Dürre. erwarten haben?
SPIEGEL: Wir hatten gleich Friedrich: Im Mittel werden
mehrere Hitzewellen mit bis zu sie immer wärmer werden. Das
40 Grad Celsius in der Spitze. wird nicht jedes Jahr so sein,
Wie entstehen solche extremen denn beim Klima sieht man
Wetterlagen? einen langfristigen Trend, mit
Felix Koenig / Agentur 54 Grad / IMAGO

Friedrich: Wenn wir etwas öst- Zacken, die mal deutlicher


lich von Deutschland und Mit- nach oben oder unten aus-
teleuropa Hochdruckgebiete lie- schlagen. Aber der Trend bleibt
gen haben, geraten wir in eine der gleiche. In den nächsten
südliche Luftströmung. Dann 20 bis 30 Jahren werden
kommt immer wieder heiße Luft wir Sommer wie 2022 wahr-
aus dem Mittelmeerraum hier- Lübecker Bucht im Juli scheinlich zur Regel erklären
hergeflossen. Zusammen mit der müssen. KK

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WISSEN

Mar tin Schutt / picture­alliance / dpa


Versteinerte
Amphibien
»Tambacher
Liebespaar«

Vegetarier der Urzeit


PALÄONTOLOGIE Forscher ergründen eine spektakuläre Ausgrabungsstätte in Thüringen: Anhand der dort
aufgespürten Fossilien und Spuren wollen sie rekonstruieren, wie einige Ursaurier zu Pflanzen­
fressern wurden, weitverzweigte Höhlen gruben – und so dem Siegeszug der Dinos den Weg ebneten.
Nora Klein / DER SPIEGEL

Nora Klein / DER SPIEGEL

Forscher an Fossilienstätte Bromacker: Jeden Tag ein paar Dezimeter Studentin bei Ausgrabung: Puzzleteile eines Dramas

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napp zwei Dutzend Studieren- Neben der Schautafel sind mäch- Anfangs war der junge DDR-Geo-
K de und Jungforscher hocken
am Grund einer turnhallengro-
ßen Grube. Eine aufgespannte Zelt-
tige Steinplatten mit Saurierfährten
zu bewundern. An keiner anderen
Fundstätte weltweit finden sich so gut
loge aus bloßer Neugier an die Stätte
gefahren, von der die legendären Sau-
rierfährten stammten. Sein Vater, Be-
plane spendet ihnen Schatten. Kon- erhaltene Fährten und fossile Kno- sitzer eines Trabis, chauffierte ihn
zentriert hämmern sie Brocken aus chen aus dem Perm nebeneinander. dorthin. Erst daheim, als er die Beu-

Nora Klein / DER SPIEGEL


dem Schluffstein, spalten diese lagen- »Einst erstreckte sich hier ein brei- te aus dem Steinbruch sichtete, ent-
weise mit dem Meißel und tasten tes Flusstal«, sagt Anna Pint und zeigt deckte Martens die weißliche Verfär-
dann über die feinen Rillen und Rip- auf die umliegenden Hänge. Die Ur- bung, die sich als sein erster Ursaurier
pen der freigelegten Oberfläche. Je- saurier am Bromacker, sagt die Paläo- erweisen sollte. Als er seinem Di-
den Tag dringt das Team ein paar ökologin von der Universität Jena, plomvater von seiner Entdeckung
Dezimeter tiefer in die Urzeit vor. lebten in den Ausläufern eines Hoch- erzählte, sprach der von einer »Sen-
Die Funde, die sie hier machen, er- gebirges. Das Flussbett lag vermutlich Forscher Fröbisch: sation«. Für den Jungpaläontologen
möglichen ihnen einzigartige Einbli- auf 1000 bis 1500 Höhenmetern, der Wann lernten die war damit klar, dass er sein Lebens-
Ursaurier kauen?
cke in jene Epoche, als der Aufstieg Fluss hatte hier die reißende Kraft thema gefunden hatte.
der Ursaurier in vollem Gange war. bereits verloren. Jahr für Jahr klopfte Martens fort-
Jeder Stein, den die Paläontologen Das Wasser war eher flach, und es an Steine im Thüringer Wald, oft in
aus dem felsigen Boden der Fossil- floss träge. Mit sich trug es große Begleitung seines Vaters, den er mit
lagerstätte Bromacker im Thüringer Mengen Schlamm, der sich ablagerte seiner Begeisterung angesteckt hatte.
Wald klopfen, kann neue Details preis- und im Laufe der Jahrmillionen unter Doch war es für einen DDR-Bürger
geben. Aus all diesen Puzzleteilen anderem zu Schluffstein verfestigte. nicht leicht, die internationale Fach-
setzen die Forscher und Forscherin- Auf dem damaligen Superkontinent welt für die Fundstätte zu interessie-
nen Stück für Stück ein Drama zu- Pangaea herrschte Wüstenklima, das ren. Erst als Martens die offizielle
sammen, das erzählt, wie Urzeit-Ech- Wasser vieler Flüsse fand nie den Weg Genehmigung erhielt, mit US-Kolle-
sen einst die Kontinente eroberten. bis ins Meer. gen zu korrespondieren, begann sich
Etwas abseits sitzt Thomas Mar- Aufgabe der Jenaer Teammitglie- die Kunde von den Ursauriern aus
tens. Durch eine große Schirmmütze der ist es, das Klima, das im Perm hier Thüringen zu verbreiten.
von der sengenden Sommersonne ge- herrschte, zu rekonstruieren. Sie ha- Für weltweites Aufsehen sorgte
schützt, studiert er das rote Gestein, ben dazu unweit des Steinbruchs eine dann die Präsentation zweier Amphi-
dem er sein ganzes Forscherleben ge- Bohrung in Auftrag gegeben. Fast bien, die als »Tambacher Liebespaar«
widmet hat. Seit nahezu 50 Jahren hat 200 Meter tief ist der Bohrer bereits berühmt wurden. Aneinanderge-
der gebürtige Vogtländer fast jeden ins Gestein vorgedrungen, und noch schmiegt, wurden die beiden Sey-
Sommer am Bromacker verbracht, um immer hat er das urzeitliche Sediment mouria-Exemplare vom Tod über-
Überreste von Tausendfüßern, Kreb- nicht durchstoßen. rascht. Als das Museum in Gotha, wo
sen und Wirbeltieren aus dem Gestein Anhand der Bohrkerne wollen Pint Martens angestellt war, die Ausgra-
zu bergen. Im Zeitalter des Perm, vor und ihre Kollegen jetzt die klimati- bungen einstellte, bat der Thüringer
rund 290 Millionen Jahren, haben die- schen Einzelheiten herausfinden: Wie Ursaurier-Entdecker das Berliner Na-
se Tiere hier gelebt. »Ich beschäftige warm war es? Gab es manchmal turkundemuseum um Unterstützung.
mich schon so lange mit dieser Epoche, Frost? Wie viel Regen fiel im Jahr? Es dauerte fast zehn Jahre, bis die
dass meine Frau sagt, ich selbst lebte Und zu welchen Jahreszeiten? Finanzierung gesichert war. Seit ver-
auch in jener Zeit«, sagt er. Die Ursaurier, so viel ist gewiss, gangenem Jahr haben nun Grabungs-
Das frühe Perm war eine Blütezeit lebten in tropischen Gefilden. Der leiter Jörg Fröbisch vom Naturkunde-
der Landechsen. Am Bromacker tra- Äquator war nicht fern. An den Hän- museum und die Projektpartner in
ten sie in nie zuvor da gewesener Viel- gen des Gebirges, dem der Brom- Jena und Gotha die Grabungen wie-
falt auf. Einige von ihnen buddelten acker-Fluss entsprang, gingen ver- der aufgenommen.
verzweigte Höhlengänge. Andere mutlich heftige Monsunregen nieder. Zunächst bis zum Jahr 2025 wird
waren, als erste Landwirbeltiere der Als Beleg dafür kramt Pint aus das Team um den Berliner Wirbel-
Erdgeschichte, vom Fleischverzehr einem Bauwagen im Grabungscamp tierexperten das Gestein am Brom-
auf Pflanzenkost umgestiegen. Wie- eine Sandsteinplatte hervor. Deutlich acker schichtweise abtragen. Das Ziel
der andere experimentierten erstmals sind darauf winzige Krater zu erken- Alte Spuren ist es, nicht nur einzelne Fossilien
mit dem zweibeinigen Gang. Die nen, die zu Boden prasselnde Tropfen freizulegen, sondern ein ganzes Öko-
Thüringer Fossilfundstätte zeugt von hinterlassen haben: gleichsam ein Bedeutende system. Das gesamte Arsenal moder-
Fossilienstätten
ökologischen Veränderungen, die versteinerter Regenguss, der hier vor in Deutschland ner Analysetechniken will Fröbisch
auch eine Voraussetzung für den spä- 290 Millionen Jahren niedergegangen dazu in Anwendung bringen. So hat
teren Siegeszug der Dinosaurier wa- sein muss. der Paläobiologe Strahlzeit am For-
ren. »Ursaurier« hat Martens die ar- Befriedigt verfolgt Entdecker Mar- Ausgrabungsstätte schungssynchrotron in Grenoble be-
tenreiche Wirbeltierfauna des Brom- tens, welche immer neuen Einzelhei- Bromacker antragt, um das Skelett eines eidech-
ackers getauft. ten das Grabungsteam dem Brom- sengroßen Ursauriers zu durchleuch-
Eine Schautafel am Rand der Gru- acker entlockt. Lange ist er verlacht ten. Er hofft, auf diese Weise einen
be stellt die Stars des Fundorts vor. worden, als er seinen Steinbruch in für die Geschichte des Lebens bahn-
Orobates, ein Tier, das aussah wie die Thüringen mit den berühmten Fund- brechenden Vorgang besser verste-
Kreuzung eines Salamanders mit stätten um Solnhofen oder in der hen zu können: den Übergang von
einem Krokodil; das Amphibium Sey- Grube Messel verglich. Inzwischen der Fleisch- zur Pflanzenkost.
mouria, das watschelte wie ein Waran; ziehen auch andere Paläontologen Nach dem Landgang der Fische im
Solnhofener
und Eudibamus, ein echsenartiges solche Vergleiche. Martens selbst ist Plattenkalk
Zeitalter des Devon blieben die Wir-
Reptil, das bei Gefahr vermutlich al- nur noch als unbezahlter Berater vor beltiere mehr als 50 Millionen Jahre
lein auf den kräftigen Hinterbeinen Ort, Jüngere setzen seine Forschungs- Grube Messel lang Fleischfresser. Wie die meisten
davonrannte. mission fort. S Grafik heutigen Amphibien und Reptilien

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WISSEN

oder Krebse hinterlassen haben. An


vielen Stellen sind auch die Wände
von Tunneln zu erkennen, durch die
ratten- oder gar dachsgroße Tiere
schlüpfen konnten. Sogar Kratzspu-
ren haben sie hinterlassen. Es besteht
kein Zweifel: Diese Baue müssen von
Wirbeltieren stammen.
Welche der insgesamt 14 bisher be-
Vor 305
Millionen Jahren
schriebenen Spezies die Erbauer wa-
ren, ist noch offen. Vermutlich haben
mehrere Arten im Untergrund gelebt.

Illustration: Sandra Budd / frontiersin


»Wir können drei Typen von Gängen
traten erste unterscheiden«, sagt Lorenzo Mar-
chetti. Der Italiener ist der Experte
pflanzenfressende für Spurenfossilien im Team.
Landwirbeltiere Mit grünen Pfeilen markiert er die
Platten am Grubengrund, die er aus
Urzeitechse
auf. dem Fels brechen und dann im Labor
Eudibamus studieren will. Er wird sie dazu in
Streiflicht tauchen, weil so die Fein-
ernährten sie sich entweder von In- fe eines von den Ingenieurwissen- heiten der Oberflächenstruktur be-
sekten, Schnecken und Würmern, schaften entlehnten Verfahrens wer- sonders deutlich hervortreten. Wenn
oder sie machten Jagd auf ihresglei- den diese Knochenmodelle dann vir- Marchetti genügend Platten unter-
chen. »Pflanzen konnten sie nicht tuellen Kräften ausgesetzt. sucht, dann kann er aus den Fragmen-
verdauen«, erklärt Fröbisch. »Denn So können die Forscher heraus- ten, die er sichtbar macht, ganze Tun-
dazu bedarf es der Hilfe bestimmter finden, wie viel Druck und Scherkraft nelsysteme zusammensetzen.
Darmbakterien.« die Gelenke vertragen und für welche Viele Baue, sagt er, führten zu-
Im Verdauungstrakt von Insekten Art von Bewegung sie optimiert sind. nächst spiralförmig in die Tiefe, um
indes siedelten solche Mikroben. Frö- Durch Einsatz sogenannter Foto- sich dann ein bis zwei Meter unter
bisch nimmt deshalb an, dass die ers- grammetrie vermessen die Paläonto- dem Erdboden zu verzweigen. Auch
ten Vegetarier von Insektenfressern logen sodann im Gestein erhaltene Kammern glaubt Marchetti identifi-
abstammen. »Wahrscheinlich eigne- Fährten. Diese können sie mit den ziert zu haben. Er ist überzeugt da-
ten sie sich irgendwann die Darm- animierten Skelettmodellen abglei- von, dass die Tiere dort ihren Nach-
flora ihrer Beutetiere an«, vermutet chen und die Abfolge der Schritte wuchs gehütet haben.
der Berliner Forscher. rekonstruieren. In einigen Fällen münden Gänge
Mit der Umstellung der Ernährung Vor allem aber offenbaren die foto- kleinerer Spezies in die Tunnel der
ging eine tiefgreifende Veränderung grammetrischen Modelle auch Ab- großen. Ein komplexes unterirdisches
der Zähne einher. Im waranartigen drücke von Höhlen und Gängen, die Ökosystem tut sich damit auf, wie es
Orobates etwa, dem häufigsten Pflan- von Tieren gegraben wurden. Je mehr die Biologen mancherorts auch in der
zenfresser des Bromackers, bildeten Steinplatten die Forscher untersu- Gegenwart beobachten. Ein beson-
sich breite Kauflächen. Mikroskopi- chen, desto klarer wird, wie gründlich ders eindrucksvolles Beispiel dafür
sche Abriebspuren im Zahnschmelz urzeitliche Tiere den Untergrund am ist die Gopherschildkröte aus Florida.
zeigen, dass die obere und untere Bromacker durchwühlt haben. Aller- Entdecker Martens: Diese buddelwütigen Reptilien legen
Zahnreihe gegeneinander bewegt orten finden sich Spuren, die Insekten Lange verlacht Tunnel an, in denen Ökologen mehr
wurden. Mit anderen Worten: Die als 360 verschiedene Tierarten ge-
Ursaurier konnten kauen. Lange Zeit zählt haben.
galt das als Schlüsselinnovation, die Möglicherweise, meint Fröbisch,
erst bei den Säugetieren zu finden ist. sei auch der gute Erhaltungszustand
Nicht nur die Ernährung, sondern der Bromacker-Fossilien mit dem
auch Fortbewegung, Brutverhalten Höhlenbauverhalten zu erklären. Er
und Körperwachstum der permzeit- hält es für denkbar, dass viele der
lichen Tiere untersucht das Team. So Tiere in ihrem Bau von einer Über-
schneiden die Forscher mit Diamant- schwemmung überrascht und dann
sägen hauchdünne Scheiben von den von angeschwemmtem Schlamm be-
fossilen Knochen, die sie dann so lan- graben wurden.
ge schmirgeln, bis sie durchsichtig Noch hat das Forscherteam die
sind. Das ermöglicht es, Wachstums- Grabgangsysteme aus dem perm-
ringe im Knochengewebe zu erken- zeitlichen Untergrund nicht veröf-
nen, anhand derer sich die Entwick- fentlicht. Doch sind Marchetti und
lung der Tiere nachvollziehen lässt. Fröbisch zuversichtlich, dass ihre Ent-
Intensiv haben Fröbisch und seine deckungen für Aufsehen in der Fach-
Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in- welt sorgen werden. Schon bald, so
Nora Klein / DER SPIEGEL

zwischen die Fortbewegung der Ur- ihre Hoffnung, wird der Bromacker
zeitechsen studiert. Dazu hat er Com- für die Gangsysteme der Ursaurier
putertomogramme der Fossilien auf- ebenso berühmt sein wie heute schon
genommen, die es ihm erlauben, die für das »Tambacher Liebespaar«.
Skelette digital zu animieren. Mithil- Johann Grolle n

102 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


WISSEN

»Die Welt verändern zu können


ist die Essenz von Freiheit«
SPIEGEL-GESPRÄCH Noch nie wurde so viel über Klimaschutz diskutiert, zugleich werden
Kohlekraftwerke wieder hochgefahren. Die Transformationsforscherin
Maja Göpel darüber, was in Deutschland falsch läuft – und wie wir umdenken können.

Göpel, Jahrgang 1976, ist Honorarprofessorin »Die Menschen sind halt so, Frau Göpel.« SPIEGEL: Kann es diese Normalität in einer
an der Leuphana Universität Lüneburg und Das höre ich in letzter Zeit interessanterwei- dynamischen Welt geben?
ehemalige Generalsekretärin des »Wissen- se vor allem in Kreisen sehr privilegierter Göpel: Der Begriff Normalität ist ja bereits
schaftlichen Beirats der Bundesregierung Glo- Menschen. Dem widerspreche ich. Natürlich wertend und macht mögliche Alternativen
bale Umweltveränderungen«. Ihr Sachbuch ist es bequem, wenn man die eigene Privile- klein. Was dahintersteckt, ist aus meiner Sicht
»Unsere Welt neu denken. Eine Einladung« giensicherung zum Normalzustand erklärt. die Sehnsucht nach Stabilität. Es wird in den
war 2020 ein SPIEGEL -Bestseller. Jetzt hat Die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse nächsten Jahren weiterhin große Umbrüche
sie ein neues Buch veröffentlicht. sagen aber das Gegenteil: Menschen können geben. Wir sollten uns fragen, wie trotzdem
und wollen partnerschaftlich miteinander um- Stabilität, also Erwartungssicherheit, entste-
SPIEGEL: Frau Göpel, der Titel Ihres neuen gehen, zentral ist dabei Vertrauen. hen kann. Dafür entscheidend ist, dass wir
Buchs lautet: »Wir können auch anders«*.
Betrachtet man die Realität, sieht es gar nicht Politökonomin
danach aus: Kohlekraftwerke werden wieder Göpel
hochgefahren, PS-starke Dienstwagen noch
immer subventioniert, und das Land debat-
tiert über den Weiterbetrieb von alten Atom-
kraftwerken. Können wir wirklich anders?
Göpel: Die Welt verändern zu können ist die
Essenz von Freiheit. Dass wir das beherrschen,
haben wir immer wieder bewiesen. Und auch
jetzt sehe ich viele Beispiele. Es gibt Städte und
Kommunen, die die Mobilität neu denken, auch
bei Bauern und Investoren hat die Frage nach
zukunftsfähigen Geschäftsmodellen große Be-
deutung, und in den 25 Jahren, die ich über-
blicken kann, ist noch nie so intensiv über Kli-
maschutz diskutiert worden wie heute. Es wird
auch in Zukunft Widerstand und Beharrung
geben, aber das Thema geht nicht mehr weg.
SPIEGEL: In den vergangenen Jahren hatte der
Umbau zu einer nachhaltigen Wirtschaft Kon-
junktur. Doch spätestens mit dem Ukraine-
krieg haben wir eine Art Nachhaltigkeitsrezes-
sion erreicht. Wollen wir überhaupt anders?
Göpel: Es stimmt, wir sind an einem Punkt
angekommen, an dem die materielle Versor-
gung in der Gegenwart Priorität geworden
ist. Aus einem Gefühl heraus, dass nicht mehr
genug für alle da sei, gibt es dann ein Spek-
trum an Reaktionen, an deren Enden Ver-
zweiflung oder Verdrängung stehen: Bevor
alles zu teuer oder verboten wird, wird noch
schnell ein fetter Geländewagen gekauft oder
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

eine ausgedehnte Fernreise gemacht. Ein Nar-


rativ dürfen wir uns deshalb nicht leisten:

* Maja Göpel: »Wir können auch anders. Aufbruch in die


Welt von morgen«. Ullstein; 368 Seiten; 19,99 Euro.
Das Gespräch führten die Redakteure Philip Bethge und
Kurt Stukenberg.

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 103


WISSEN

klare Ziele benennen, wo wir lang-


fristig hinwollen, was das bedeutet,
und regelmäßig Bestandsaufnahmen
machen, wie viel des Wegs wir schon
geschafft haben und wie wir nach-
bessern können. Das richtet sich vor
allem an die Politik. Sie sollte Rechen-
schaft auf diese Zielerreichung able-
gen. Weder die ökonomische Unwäg-
barkeit noch die ökologische Krise
werden wir ohne mutige, langfristig
angelegte politische Gestaltung in den
Griff bekommen.
SPIEGEL: Das heißt, der Einzelne ist zu
klein, um dabei eine Rolle zu spielen?

Frank Röder / imagebroker / IMAGO


Göpel: Nein, ich bin überzeugt davon,
dass erst der soziale Wandel im Klei-
nen den Wandel im Großen voran-
treibt. Auch aus der Wissenschaft ken-
nen wir das. Verändert man ein Prin-
zip, einen Leitindikator, ein Modell,
dann löst man einen Wandel aus, der
sich über die verschiedenen höheren
oder benachbarten Systemebenen denken. Die erste Adresse bei der Windräder im oder Digitalkonzerne 70 Prozent eines
fortpflanzt. Wir sollten versuchen, je- Sicherung des Gemeinwohls ist wie rheinischen Markts unter sich aufteilen. Inter-
Braunkohlerevier,
weils den einen Schritt zu gehen, der gesagt der Staat. Nicht umsonst rich- Verkehrswende-
vention durch den Staat ist dann
den Beteiligten gerade möglich er- tet sich die Fridays-for-Future-Bewe- aktivisten in Berlin: nicht Planwirtschaft, sondern gern
scheint. In der Summe kann genau das gung direkt an die Politik. Wenn not- »Mir geht es darum, mal das Gegenteil: ein Wiederher-
zu einer Welle werden und Mehrhei- wendige und politisch beschlossene wissenschaftliche stellen marktbasierter Innovations-
Erkenntnisse in die
ten in Demokratien verändern. Veränderungen nicht von allein pas- Mitte der Gesell­
kräfte und fairen Wettbewerbs.
SPIEGEL: Ich werde von Freunden sieren, dann ist sie verpflichtet, die schaft zu tragen« SPIEGEL: Der Strommarkt ist mit sei-
zum Grillen eingeladen, und die sa- Regeln zu ändern. nen vielen Ökoanbietern schon sehr
gen, wir kaufen 20 Kilogramm Fleisch. SPIEGEL: Was ist mit denen, die par- divers. In Ihrem Buch heißt es, dass
Wie soll ich mich verhalten? tout nicht anders wollen? Veränderung zu Kipppunkten führe,
Göpel: Die sehr defensive Variante Göpel: Wir leben in einer repräsenta- ab denen sich ein System nahezu
wäre zu fragen, ob es auch vegetarische tiven Demokratie. Entscheidungen ohne weiteres Zutun automatisch ver-
Gerichte gibt oder ob man etwas Ve- werden durch Mehrheiten gefällt. Wa- ändere. Ist das bei der Energiewende
getarisches mitbringen soll. Inzwischen rum sollte das ausgerechnet bei Wei- schon der Fall?
erlebe ich das aber ganz anders: »An chenstellungen zum Klimawandel Göpel: Es geht um sich beschleunigen-
Vegetarier:innen habt ihr sicher auch oder zur Energieversorgung anders de Trends, die dann sehr schwer auf-
gedacht, oder?« Fleisch ist ein gutes sein? Ich kann mich an kein anderes zuhalten sind. Wenn die Kilowatt-
Beispiel dafür, wie sich die Normen und Feld der Politik erinnern, in dem ge- stunde Strom aus Erneuerbaren bil-
damit auch das Angebot verändern. Ich sagt wird, es müsse ein Konsens in der liger ist als jene aus Kohle, dann ist
esse seit 25 Jahren kein Fleisch mehr. Gesellschaft hergestellt werden, bevor das so ein Trend. Leider haben wir
Am Anfang hieß es noch, wie schaffst wir agieren können. Ich höre dann oft, jetzt einen schrecklichen Krieg, und
du das denn, das ist ja total verrückt! der Staat dürfe nicht intervenieren, kurzfristig ist die Versorgung mit Gas
Jetzt sagt mein Gegenüber oft: Na ja, das sei Planwirtschaft. Meiner Mei- als einem zentralen Energieträger ge-
ich esse noch Fleisch, aber nur zweimal nung nach ist es eher Planwirtschaft, fährdet. Da müssen wir viele der alten
die Woche und in guter Qualität. wenn vier bis fünf Energie-, Agrar- Anlagen hochfahren, damit die Ver-
SPIEGEL: Die Leute haben ein schlech- sorgung nicht zusammenbricht. Aber
tes Gewissen? die Klimakrise ist deshalb nicht ver-
Göpel: Ich würde es positiv ausdrü- Wurst-Wandel schwunden: die fossilen Energieträger
cken: Die neue Normalität ist, dass sind sozial längst delegitimiert. Das
Durchschnittlicher Fleischverbrauch* in Deutschland
jeder frei entscheiden kann. Anders pro Person und Jahr, in Kilogramm Wertesystem hat sich gedreht, ein
als noch vor 20 Jahren wird in Res- Zeichen dafür, dass Transformation
taurants und Kantinen nun Fleisch 95
95,3 wirklich stattfindet. Auch bei der Mo-
und Vegetarisches in gleichermaßen bilität sehe ich Veränderung.
hoher Qualität angeboten, das ist ein 90 SPIEGEL: Inwiefern?
Freiheitsgewinn für alle. Um so etwas Göpel: Kürzlich war ich bei einer öko-
85
in Gang zu setzen, reicht es am An- logischen Woche auf Sylt. Ein großes
fang oft, eine Frage zu stellen. 80 Der Fleischverbrauch in Deutschland ist 81,7 Ärgernis für die Einheimischen ist der
SPIEGEL: Sie haben vorhin dazu ge- im Vergleich zu 1991 um 14,3 Prozent Verkehr, weil einfach alle mit ihren
raten, bei Veränderungen denjenigen 75 gesunken. fetten Autos rüberkommen und auf
Schritt zu gehen, der allen gerade mög- der Insel hoch und runter fahren.
lich erscheint. Aber angesichts des Kli- Selbst diejenigen, die Autos mitbrin-
mawandels bleibt uns nur wenig Zeit. 1995 2000 2005 2010 2015 2020 gen, sind genervt davon. In räumlich
Göpel: Deshalb ist es nie nur eine Ein- * Nahrungsverbrauch, Futter, industrielle Verwertung, Verluste begrenzten Zonen wie Inseln oder
ladung, über Veränderung nachzu- S Quelle: BLE; Wert von 2021 ist vorläufig Innenstädten wird die Veränderung

104 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


WISSEN

bindliche Strategien. Denn bei großen Ver-


änderungen gibt es eine anstrengende Phase
des Durchhaltens. Sie liegt zwischen dem Be-
schluss von Veränderungen und dem Zeit-
punkt, ab dem erste Verbesserungen sichtbar
werden. Wenn nun aber in dieser Zeit ständig
jemand kommt und sagt, aber die Quartals-
berichte, die Landtagswahlen, wir müssen
reagieren, dann wird es wahnsinnig schwer.
Daher sind Entscheidungen wie die des Bun-
desverfassungsgerichts in seinem Klimaurteil
so relevant: Es braucht eine verbindliche Ver-
teilung von Verantwortung, die von heute bis
ins Jahr 2045 nötigen Schritte in ausreichen-
dem Tempo umzusetzen. Auf dem Weg kön-
nen Fehler gemacht, und es kann viel gelernt
werden, aber die Ziele und Richtung werden

Florian Boillot / SZ Photo


nicht mehr infrage gestellt.
SPIEGEL: Infrage gestellt wird Ihre mögliche
Berufung an das Deutsche Institut für Wirt-
schaftsforschung. Es gibt dort Stimmen, die
meinen, Sie seien keine Wissenschaftlerin und
gehörten deshalb nicht dorthin.
zuerst gelingen, weil es dort um jeden Qua- tionskraft zu vertrauen, auch bessere Ange- Göpel: Ich habe mich im Herbst 2020 dazu
dratmeter geht. bote und Lebensmodelle zu entwickeln. entschlossen, den herkömmlichen For-
SPIEGEL: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie SPIEGEL: Wie würde sich eine Welt anfühlen, schungsbetrieb zu verlassen und Wissen-
die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo in der Sie gern leben würden? schaftskommunikation ins Zentrum meiner
eine tiefgreifende Verkehrswende angepackt Göpel: Ich stelle mir eine Welt vor, in der es Arbeit zu stellen. Darf ich mich deshalb nicht
hat, während etwa der Berliner Senat noch keine Plastikmüllberge mehr gibt, in der ve- mehr Wissenschaftlerin nennen? Mir geht es
nicht einmal einen Volksentscheid für eine ganes Essen leckerer schmeckt als seine Alter- darum, wissenschaftliche Erkenntnisse in die
autofreie Innenstadt zuließ. Was läuft in nativen, in der es ein Leichtes ist, nachhaltig Mitte der Gesellschaft zu tragen.
Deutschland falsch? zu reisen. Für mich fühlt sich eine Welt gut an, SPIEGEL: Die »Zeit« kritisierte unlängst die
Göpel: Hidalgo hat gesagt, es gehe ihr um die in der es konstruktive Reibung gibt und gleich- Tatsache, dass Sie Ihr erstes Sachbuch »Unse-
15-Minuten-Stadt. Also dass man jeden wich- zeitig einen respektvollen Umgang. Das neue re Welt neu denken« mit Unterstützung eines
tigen Ort innerhalb einer Viertelstunde er- Paradigma wäre für mich, das Lebendige le- Journalisten geschrieben haben, ihn aber im
reichen kann. Sie hat also ein Angebot ge- bendiger sein zu lassen, das Produktive, das Buch nicht nennen.
macht, das den Frust der Pariser:innen auf- Wertschöpfende, das Kreative zu fördern und Göpel: Dass es so gekommen ist, ärgert mich.
greift, sie würden ständig im Verkehr stecken. nicht zu überlegen, wie wir das Lebendige Es war mein erstes Sachbuch, die Gepflogen-
Dafür müssten viele Komponenten verändert durch etwas Künstliches ersetzen können. Da- heiten der Verlagsbranche waren für mich
werden, etwa bei der Flächenzuweisung, bei raus würden sich sehr andere Energiesysteme, tatsächlich neu. Zwischen dem Verlag und
Sozialwohnungen und Bauvorschriften, damit Institutionen, Kommunikationsräume, öko- Marcus Jauer bestand eine vertragliche Re-
das auch klappt. Bei dem Volksentscheid in nomische Kalküle und Technologien entwi- gelung, die seinem Wunsch, nicht genannt zu
Berlin ging es darum, die Stadt »autofrei« zu ckeln als das, was wir heute normal nennen. werden, entsprach. Mein wiederholter Ver-
machen, die Initiatoren haben also das Ent- SPIEGEL: Was meinen Sie mit dem Ersetzen such, ihn doch dazu zu überreden, war nicht
fernen einer Form der Fortbewegung in das von etwas Lebendigem durch etwas Künst- erfolgreich. Heute würde ich alle Verträge im
Zentrum ihrer Kampagne gerückt, anstatt liches? Zusammenhang vorab anders hinterfragen.
etwas Neues anzubieten. Göpel: Die Techfirmen im Silicon Valley haben Mein persönlicher Umweg war dann, dass ich
SPIEGEL: Der Fokus auf Verzicht war falsch? es geschafft, sich als diejenigen zu inszenieren, in der Öffentlichkeit von »wir« und auch von
Göpel: Der Pariser Ansatz regt die positive bei denen die Welt von morgen erfunden der Mitarbeit eines Journalisten sprach.
Fantasie an, das ist das Starke: 15-Minuten- wird. Aber mit Technologie lässt sich die Kli- Trotzdem bin ich sehr froh, dass Marcus Jauer
Stadt – ah, da will ich hin, allein schon, weil ma- und Biodiversitätskrise nicht lösen. Zu- bei dem neuen Buch der namentlichen Nen-
ich so viel Zeit gewinnen könnte. Das wiede- mindest so lange nicht, bis die Geschäftsmo- nung zugestimmt hat. Es ist übrigens gar nicht
rum wirkt dann integrierend, weil alle vom delle hinter der Technologieentwicklung nicht so leicht, jemanden zu finden, der den eigenen
Verkehr Betroffenen – unabhängig davon, ob auch darauf ausgerichtet sind. Bisher domi- Sprechstil gut einfangen kann.
sie bislang ein Auto hatten oder nicht – ge- nieren dort strukturelle Kurzsichtigkeit, das SPIEGEL: Wollen Sie trotz solcher Erfahrungen
meinsam darüber nachdenken können, was da Schielen auf Aktienkurse und Marktmacht. weiterhin in der Öffentlichkeit stehen und in
Neues kommt und was ihr Beitrag sein kann. Und solche Megakonzerne privatisieren qua- die Auseinandersetzung gehen?
SPIEGEL: Fällt es den Deutschen besonders si die Zukunftsvorstellungen von Gesellschaf- Göpel: Ich kenne viele, die gesagt haben, ich
schwer, sich eine bessere Zukunft vorzustellen? ten. Wir sollten diese wieder demokratisieren. halte das nicht mehr aus, und ich lass das jetzt.
Göpel: So kann man es vielleicht zuspitzen. SPIEGEL: Wie kann das gelingen? Für unsere Demokratie ist das kein gutes Zei-
Viele, die sich die klimaneutrale Welt von Göpel: Zum Beispiel indem wir die Kriterien chen. Ich mache diese ganze Kommunika-
morgen vorstellen, denken jedenfalls als Ers- für Erfolg verändern. Etwa wenn nicht mehr tionsarbeit aus einem Impuls heraus, der mich
tes daran, dass sie nicht mehr in den Urlaub nur das Bruttoinlandsprodukt als gesellschaft- schon bei Luther inspiriert: Hier stehe ich, ich
fliegen können und es Steaks nur für Reiche licher Erfolgsmesser zählt, sondern auch der kann nicht anders. Ob Sie zuhören und die
gibt. Was für ein mieses Leben wird das denn? Zufriedenheitsgrad in der Gesellschaft, intak- Argumente annehmen wollen, diese Entschei-
Wir stellen uns dieses CO2-freie, fleischarme, te Umwelt, Lebensqualität. Zweitens braucht dung liegt bei Ihnen.
reisebeschränkte Leben in den aktuellen die Politik als Ergänzung zur Kurzfristigkeit SPIEGEL: Frau Göpel, wir danken Ihnen für
Strukturen vor, anstatt auf unsere Innova- der Legislaturperioden mehr langfristige, ver- dieses Gespräch. n

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WISSEN

Die Notizen des Henkers


GESCHICHTE Ein Historiker hat das 300 Jahre alte Geschäftsbuch des Scharfrichters Johann Glaser entdeckt.
Anders als im Klischee war der Mann kein Ausgestoßener, sondern reich und angesehen.

m 15. Juli 1700, einem Don-


A nerstag, ritten der Scharf-
richter Johann Jeremias
Glaser und zwei seiner Knechte
ins Dorf Frauenbreitungen, um die
vermeintliche Hexe Catharina
Burkhardt zu foltern. In den Sattel-
taschen befanden sich wahrschein-
lich Daumenschrauben und eine

DE R SP IEG EL
»Maulbirne«, die im Mund des
Opfers so groß geschraubt werden
konnte, dass Zähne und Kiefer bra-

Me inin gen /
chen. Burkhardt war laut Kirchen-
buch das »Weib« eines Fassmachers
und schon vier Monate zuvor wegen

Sta ats arc hiv


des Verdachts auf »Zauberei« fest-
genommen worden. Sie hatte »im
Gefängnis sehr fleißig gebetet«, doch

No ra Kle in /
die Schmerzen, die ihr der gut aus-
gebildete Glaser zufügte, hielt die
Frau nicht lange aus; sie gestand noch
am gleichen Tag.
Nach der Tortur war der Fall aber Glaser-Aufzeichnungen: Aufs Pfefferkorn genau
nicht abgeschlossen. Weil die Delin-
quenten aufrecht und halbwegs bei Verstand 24 Opfer, dazu kamen etwa 100 Folterungen, aber kein anderer Henker des Mittelalters
in den Feuertod gehen sollten, musste Glaser Auspeitschungen und andere Körperstrafen. und der frühen Neuzeit«, sagt Lehmann. Der
die foltergeschwächte Burkhardt zunächst Wie es ihm trotzdem gelang, zu einem der Museumschef arbeitet derzeit an einem Buch
wieder aufpäppeln. Mitte August war es dann wohlhabendsten Bürger der Region zu wer- und hat eine Ausstellung mit dem Namen
so weit: Der Henker kam aus seinem Wohn- den, ist einem 350 Seiten starken Dokument »Der Henker des Herzogs« über das Leben
ort Wasungen im heutigen Thüringen herbei, zu entnehmen, das bis vor Kurzem weitge- Glasers kuratiert, die bis Ende Oktober in
ließ die Todgeweihte in einem Karren zum hend unbeachtet im Staatsarchiv Meiningen Schmalkalden zu sehen ist.
Scheiterhaufen bringen und setzte sie mit- lagerte und erst jetzt ausgewertet wurde. Es Die Fachwerkhäuser der Stadt standen
hilfe von Schwefel in Brand. Nach der auf- handelt sich dabei um ein »Aufzeichenbüch- schon fast alle, als Glaser am 27. Januar 1653
wendigen Arbeit standen ihm und seinen lein«, in dem Glaser während seiner Dienst- geboren wurde. Er besuchte die Elementar-
Mitarbeitern laut Gebührenkatalog um die zeit Einnahmen, Ausgaben und Einkäufe schule und wurde im Anschluss von seinem
20 Taler zu, doch die Verantwortlichen blie- notierte, manchmal bis aufs Pfefferkorn ge- Vater zum Nachfolger auserkoren. In den
ben einen Teil des Salärs schuldig. nau. Die Quelle, in der auch private Notizen Jahren 1680 und 1681 durfte er – als eine Art
Das Quälen und Töten war kein großes zu finden sind, bietet einen einzigartigen Ein- Meisterprüfung – zwei Frauen enthaupten.
Geschäft für Glaser, den Spross einer alten blick in das Berufs- und Familienleben eines Weil das reibungslos vonstattenging, über-
Scharfrichterdynastie. Es war nicht mehr so amtlich bestellten Totmachers – und verän- nahm er etwas später die Stelle des Scharf-
wie zu Zeiten seines gefürchteten Urgroß- dert den oft klischeebeladenen Blick auf das richters im Herzogtum Sachsen-Meiningen
vaters, der Anfang des 17. Jahrhunderts wohl düstere Gewerbe. und begann mit seinen Aufzeichnungen im
deutlich mehr als 500 Menschen ums Leben Es ist dem Historiker Kai Lehmann zu ver- Geschäftsbuch.
brachte und an manchen Tagen zwei oder danken, dass dieser kulturhistorische Schatz Im Herbst 1684 heiratete Glaser Maria
drei Frauen hintereinander folterte. Glasers gehoben wurde. Der Leiter des Museums Catharina Wahl, die ebenfalls aus einer
Ahn kassierte pro Marter etwa vier Taler, was Schloss Wilhelmsburg in Schmalkalden be- Scharfrichterfamilie stammte. Der Bräutigam
zu seiner Zeit dem Gegenwert einer Milchkuh schäftigt sich seit Jahren intensiv mit dem notierte, dass er den 48 Gästen unter ande-
entsprach. So wurde der Uropa zu einem der Thema Hexenverfolgung und wurde während rem 136 Liter Wein, ein ganzes Schwein,
reichsten Männer des heutigen Thüringens. einer Recherche auf das Register aufmerk- einen Hammel und sechs Gänse servierte.
Doch inzwischen war der Hexenwahn weit- sam. Es gibt zwar andere Tagebücher und Die Kosten für das üppige Buffet und die
gehend vorüber, und die Obrigkeit ließ grö- Aufzeichnungen von Scharfrichtern, unter Tanzmusik mit Diskantgeigen am Abend wa-
ßere Milde walten. Vom Köpfen, Rädern und anderem die des Nürnbergers Frantz Schmidt, ren hoch, und normalerweise übernahmen
sonstigen Exekutieren konnte niemand mehr dessen viel beachtete Biografie der amerika- die Eltern die Hochzeitsrechnung. Glaser je-
leben; Johann Glaser brachte es im Laufe sei- nische Geschichtswissenschaftler Joel F. Har- doch zahlte selbst, denn die Geschäfte liefen
ner 44-jährigen Karriere gerade einmal auf rington schrieb. »So gläsern wie Glaser ist bereits prächtig, als er den Bund der Ehe ein-

106 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


WISSEN

ging – was aber weniger mit seinem Lemgo, die sich schon länger mit dem Der Scharfrichter konnte sich und
Henkersjob zu tun hatte. Thema beschäftigt. Die Historikerin seiner Familie ein komfortables Le-
Nachdem er 1681 seinen Dienst hält die Aufzeichnungen Glasers we- ben ermöglichen. Er erwarb mehrere
angetreten hatte, fielen ihm nämlich gen ihres Umfangs für »einmalig«. Häuser, die er zum Teil vermietete,
auch »Abdeckerei«-Rechte zu, die Das Geschäftsbuch sei ein weiterer und investierte in Gärten, unter an-
an das Scharfrichteramt gekoppelt Beweis, dass das Henkersamt nicht derem in eine große Fläche mit Obst-

Nora Klein / DER SPIEGEL


waren. Es ging dabei vor allem um zwangsläufig ein Schicksal war, wie bäumen. Er schaffte eine »Schwitz-
die Entsorgung von Tieren, die im oft behauptet werde, sondern man- Bank« an, spendierte seiner Frau
Stall oder auf der Weide verstorben cherorts »eine Art Hauptgewinn«. Silberknöpfe für die Kleidung und
waren. Bevor sie aus Gründen des Vor allem im Norden des heutigen kaufte englisches Zinngeschirr im
Seuchenschutzes auf dem »Schind- Deutschlands und in den eher protes- Wert von 20 Talern. Außerdem rich-
anger« vergraben wurden, durften tantisch geprägten Regionen hätten Historiker Lehmann
tete er zahlreiche Feste aus, bei denen
ihre Kadaver verwertet werden. Häu- die »Nachrichter«, wie Scharfrichter nach heutigen Maßstäben extrem ge-
te, Felle oder Hufeisen konnten wei- auch genannt wurden, spätestens ab pichelt wurde. Laut seinen Aufzeich-
terverkauft, Fett, Hörner und Kno- dem 17. Jahrhundert hohes Ansehen nungen waren zur Taufe des letzt-
chen zu Kerzen oder Seife weiterver- genossen, vor allem wegen ihres me- geborenen Kindes am 4. September
arbeitet werden. »Damit hat Glaser dizinischen Wissens, sagt Wilbertz. 1707 lediglich 19 Gäste anwesend,
richtig Kohle gemacht«, sagt Histo- So sei die Annahme falsch, dass ein aber es wurden 130 Liter Bier, 16 Li-
riker Lehmann. Scharfrichter aus purer Not bevorzugt ter Wein und 3 Liter Branntwein vor-
Der Scharfrichter legte nicht selbst die Tochter oder Witwe eines Berufs- gehalten. Dazu gab es unter anderem
Hand an das Aas, sondern ließ den kollegen geheiratet habe. Es habe sich etwa 25 Pfund Rindfleisch und
blutigen Job von seinen Knechten dabei wie beim Adel eher um »Stan- 30 Pfund Wildbret, gewürzt mit »gan-
machen. Glaser kümmerte sich ums desbewusstsein« gehandelt. zem und gestoßenem Pfeffer« sowie
Geschäftliche und handelte etwa Jah- Um ihrem Ruf nicht zu schaden, mit Ingwer, Muskat und Safran.
resverträge mit Gerbern aus. Für eine delegierten die meisten Henker alle Seine neun Kinder ließ sich Glaser
Ochsenhaut erhielt er zweieinhalb Aufgaben, die als unehrenhaft galten, viel kosten, vor allem ihre Bildung
Taler, Ziegen- oder Schweinehäute an ihre Mitarbeiter. Dazu zählte auch war ihm wichtig. Das war laut Histo-
wurden im Zehnerpack veräußert. die Reinigung der städtischen Abort- rikerin Wilbertz »alles andere als un-
Dabei profitierte er davon, dass ab gruben und Kloaken sowie der »Hun- gewöhnlich« für einen Scharfrichter
dem Ende des Mittelalters weniger deschlag«, also die Tötung streunen- aus dem 18. Jahrhundert; die zeitge-
Fleisch gegessen wurde und Leder zu der Hunde. Das Fett der Tiere wurde nössischen Quellen belegen, dass et-
einem knappen Gut geworden war. als Heilsalbe gegen Lungenkrank- liche Henkerssöhne studierten oder
Weil er 1685 einen weiteren Abde- heiten verkauft, die Haut zu Hand- anderweitig Karriere machten, etwa
ckereibezirk pachtete und 1691 sogar schuhen verarbeitet. als Ärzte. Glasers Sohn Caspar Mel-
einen kaufte, verdiente Glaser in Sogar bei den Aufgaben der Straf- chior wurde ein angesehener Künstler
manchen Jahren mehr als 500 Taler justiz ließ sich der Henker laut seinen und Orgelbauer, sein Bruder Johann
mit dem toten Vieh. Das entsprach Aufzeichnungen häufig von seinen Friedrich ging auf eine höhere Schule,
mehr als dem 50-Fachen dessen, was Knechten unterstützen: Sie übernah- die gut 30 Kilometer vom Elternhaus
eine Magd bekam. men Auspeitschungen, schnitten Oh- entfernt lag.
Glaser hatte noch eine andere lu- ren ab, verteilten Prügel. Verbren- Der Junge wohnte während dieser
krative Einnahmequelle, und das war nungen oder Enthauptungen, die stets Zeit bei seiner Schwester, die den dor-
die Heilkunst. Als Scharfrichter muss- mit einigem Auflauf verbunden wa- tigen Scharfrichter geheiratet hatte.
te er über Kenntnisse zu Anatomie ren, führte Glaser fast immer selbst »Das Amt des Von seinem Vater bekam Johann
und Arzneimitteln verfügen, um zum durch. Obwohl er im Laufe seiner Scharfrichters Friedrich regelmäßig Geld für Bücher
Beispiel Gefolterte fit fürs Schafott zu Karriere Aufzeichnungen zufolge le- und Kerzen geschickt, weil er »früh
machen. So war es ihm offenbar im- diglich 13 Menschen köpfte, kaufte er war eine Art aufstehen und lernen muss«. Auch
mer wieder möglich, sogar schwer sich einmal eine neue Klinge und Hauptgewinn.« Leckereien wie »Äpfelschnitz« für
kranke Menschen zu kurieren. Ein- später für etwas mehr als zwölf Taler Gisela Wilbertz, »meinen Johann Friedrich« vermerk-
mal gelang ihm das laut seinen Auf- sogar ein repräsentativeres Richt- Ex-Stadtarchivarin te Glaser im Geschäftsbuch. Der Filius
zeichnungen bei einer Frau, der man schwert mit vergoldeter Parierstange. von Lemgo machte Karriere: Er studierte Medizin,
»das Leben bereits abgesagt« hatte, promovierte in den Niederlanden und
ein anderes Mal kümmerte er sich um Folterinstrumente »Maul- wurde Mitglied der Leopoldina.
ein »buckliges Kind« und handelte birne«, »Stachelrolle« Johann Jeremias Glaser starb am
dafür die hohe Summe von acht Ta- 17. Januar 1725, nachmittags um
lern aus. Glaser behandelte Menschen 16 Uhr, im Alter von fast 72 Jahren.
mit Syphilis, versuchte sich an »lah- Sein ältester Sohn Johann Jeremias
men Knien« und wurde sogar bei aus- Junior, der seinen Namen trug und
bleibenden Monatsblutungen um Rat sein Nachfolger als Scharfrichter wur-
gefragt. Seine Honorare schwankten de, machte die letzten Eintragungen
sehr und deuten darauf hin, dass er im Geschäftsbuch. Demzufolge sang
sich an den sozialen Verhältnissen der Schulchor vor dem Haus des Al-
seiner Patienten orientierte. ten sechs Trauerlieder, anschließend
»Auch wenn es lokale und regio- trugen acht Männer den Sarg zum
Nora Klein / DER SPIEGEL

nale Unterschiede gab, gehörte ein Friedhof. 13 Personen nahmen am


Scharfrichter bis zur Mitte des Leichenschmaus teil. Insgesamt be-
18. Jahrhunderts meist zur Schicht liefen sich die Kosten der Beerdigung
der Wohlhabenden«, sagt Gisela Wil- auf 26 Taler.
bertz, ehemalige Stadtarchivarin von Guido Kleinhubbert n

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 107


KULTUR

Holofernes sagt
Adieu
LITER ATUR Der Job eines
deutschen Popstars ist mit dem
Leben eines empfindsamen
Menschen unvereinbar – das er-
zählt Judith Holofernes in
ihrem jetzt erscheinenden Buch
»Die Träume anderer Leute«.
Demonstrativ aufrichtig berich-
tet die frühere Sängerin der
Band Wir sind Helden und spä-
ter mit Soloprojekten berühmt
gewordene Künstlerin in dem
416-Seiten-Werk von Jubel-

Foto o.l.: Muriel Anssens / ›Trilogie des obélisques‹, 1987 von Niki de Saint Phalle / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 Phalle / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Niki Charitable Ar t Foundation / ProLitteris, Zurich
tagen und Momenten der Ver-
zweiflung. Da heißt es zum
Beispiel: »Herbsttouren hatten
mich schon immer in Angst und
Schrecken versetzt, und auch
diesmal war ich schnaubend un-
gläubig, dass ich mich erneut in
diese Lage gebracht hatte.« Es

/ Niki Charitable Ar t Foundation / ProLitteris, Zurich


folgt die Selbsterkenntnis: »Ich
hab die Lernkurve eines Prima-
ten!« Die Autorin Holofernes,
45, schildert ihr Hadern mit der
De-Saint-
Phalle-Werke sexistischen Musikbranche und
ihre Jugendjahre in Freiburg,
wo sie als Tochter einer lesbi-
schen Mutter aufwuchs, vor

Tanz in den Himmel allem aber die Chronik von


20 Popstarjahren voller Selbst-
zweifel und Erschöpfung. Bei
allem Bekenntnis-Charme ist

Foto o.r.: Musée d‘ar t et d‘histoire Fribourg / ›Un rêve plus long que la nuit‹, 1976 Filmplakat von Niki de Saint
AUSSTELLUNGEN Das Kunsthaus Zürich zeigt eine Werkschau der Malerin und das Buch literarisch eine milde
Bildhauerin Niki de Saint Phalle. Im Fokus stehen nicht nur feministische Kassiker, Enttäuschung. In einem Lyrik-
sondern auch Schießübungen, mit denen sich die Künstlerin selbst therapierte. band mit dem Titel »Du bellst
vor dem falschen Baum« hatte
Holofernes 2015 Originalität
er kennt nicht die »Nanas«, die kitschig- dem weiblichen Körper heute als Pionierin feminis- und Sprachwitz bewiesen. Die-
W bunt bemalten Frauenfiguren mit bombas-
tischen Ausmaßen? Die Skulpturen Niki
de Saint Phalles (1930 bis 2002) sind längst Mas-
tischer Kunst gelesen. Dabei haben die »Nanas«
oft riesige Brüste, aber kleine Köpfe und winzige
Hände, so als könnten sie weder denken noch zu-
ser Zauber fehlt ihrem Prosa-
band leider. An dessen Ende
steht eine Rücktrittserklärung
senware, der man sowohl im Kunstunterricht als packen. Das Kunsthaus Zürich unterstreicht nun in »vom Judith-Holofernes-Sein«,
auch als Motiv auf Kaffeetassen begegnet. Den einer Retrospektive die Vorreiterrolle Niki de Saint denn die Autorin wirkt heute
»Nanas« wird fröhliches Selbstbewusstsein zuge- Phalles (bis 8. Januar 2023). Interessanter noch, in einem Start-up-Kollektiv.
schrieben, viele stehen aufrecht und scheinen bis weil radikaler als die gefälligen »Nanas«, ist etwa Trotzdem verspricht sie: »Ich
hinauf in den Himmel zu tanzen. Die größte hieß die zornige Aktionskunst mit »Schießbildern«. werde meine
»Hon«, war 27 Meter lang und in Stockholm be- Dafür formte die Künstlerin Reliefwände aus Gips Kunst auch
gehbar. Dass der Eingang ins Innere der Riesenfrau und mit Farbe gefüllten Beuteln, anschließend weiterhin in
zwischen ihren Beinen lag, war 1966 noch ein zerschoss sie die Assemblagen mit Kleinkaliberge- die Welt hin-
Skandal. Im Inneren hatte der Schweizer Künstler wehren oder lud ihr Publikum zum Ballern ein. aus veröffent-
Jean Tinguely, mit dem de Saint Phalle ab dem Jahr Die Zerstörungswut war Therapie für die Künstlerin, lichen.« HÖB
1971 verheiratet war, einen Vergnügungsraum mit die einem der ältesten Adelshäuser Frankreichs Judith Holofer-
Kino und Aquarium gestaltet, in einer Brust der entstammte. Als Kind vom Vater missbraucht, erlitt nes: »Die Träume
Skulptur befand sich eine Milchbar. Obwohl sie sie als Erwachsene einen Nervenzusammenbruch anderer Leute«.
Kiepenheuer &
nicht Teil des akademischen Diskurses war, wird und bekam in der Psychiatrie Elektroschocks, dann Witsch; 416
de Saint Phalle wegen ihres freien Umgangs mit wandte sie sich als Autodidaktin der Kunst zu. CPA Seiten; 24 Euro.

110 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


Gepanzerte Klänge doch zehn Songs aus den ver­ Melodien, wirkt aber etwas
gangenen drei Jahren. Auf der manieriert: Rückwärts gespielte
MUSIK  Drei beachtete EPs Trackliste stehen Klangland­ Instrumente, Echos und Jazz­
veröffentlichten Jockstrap vor schaften von Tanzmusik über Vocals wollen experimentell
ihrem Debütalbum »I Love You Folk bis zu traditionellem Song­ rüberkommen, klingen dadurch
Jennifer B«. Doch zur ersten LP writing. Dass das gut gehen aber heute nach verstaubt wir­
wäre es, wie Bandmitglied Tay­ kann, zeigt das britische Duo kender 1960er­Avantgarde vom
lor Skye dem »Rolling Stone« etwa auf dem Stück »Concrete »White Album« bis zu The Vel­
erzählte, fast nicht gekommen. Over Water«. Darin manifes­ vet Underground. Unter »jock­

Eddie Whelan
Ein Dieb habe ihm in einem tiert sich eine Melodie zuerst in strap« versteht man im Deut­
Londoner Restaurant den Ruck­ einer trägen Orgel, die sich Jockstrap schen ursprünglich eine Schutz­
sack mit der einzigen Kopie des dann plötzlich in Synth­Arpeg­ ausrüstung für männliche Geni­
Albums geklaut. Der anwesen­ gios auflöst. Humor zeigen talien. Die Band könnte auf
de Rapper Slowthai »verfolgte Jockstrap in »Glasgow«, in dem Wellen glitzernde akustische ihren Panzer aus musikalischer
den Kerl und brachte den Lap­ ein nie ernsthaft geplanter Be­ Effekte klingt wie Joni Mitchells Effekthascherei und Kunstuni­
top zurück«. Zusammen mit such der verregneten schotti­ »California«. »I Love You Jen­ Coolness gut verzichten. Die
Sängerin und Violinistin Georgia schen Stadt besungen wird und nifer B« beeindruckt an einigen weichen Klänge darunter stehen
Ellery veröffentlichte Skye nun das durch Gitarren und wie Stellen mit perfekt arrangierten Jockstrap um einiges besser. BST

Mahner und schen. Da ist zum Beispiel eine


verkohlte Skulptur aus Teak­
Sünder holz mit Darstellungen von
KUNST  Eines der bekanntesten Pflanzen und Tieren. Die be­
Bilder des in Berlin lebenden ziehen sich auf Zeichnungen
Schweizer Künstlers Julian des britischen Forschers Alfred
Charrière, 34, ist vor neun Jah­ Russel Wallace, der schon im
ren entstanden. Auf einer 19. Jahrhundert vor der Abhol­
Fotografie sieht man ihn als zung des Regenwaldes warnte.
kleine Figur in der Ferne, er ist Mit Blei verhüllte Kokosnüsse
auf einen Eisberg gestapft und rufen dagegen die Atomver­
bringt diesen mit einem Löt­ suche der Amerikaner im Pazi­
brenner zum Schmelzen. Heute fik in Erinnerung. Die Langen
jip film&verleih

gehört Charrière zu den gefrag­ Foundation weist darauf hin,


testen Künstlern seiner Gene­ dass für die Ausstellung auch
ration. »Controlled Burn« heißt Solartechnik eingesetzt und die
Szene aus »Hive«
seine an diesem Wochenende entsprechende Anlage später
beginnende Ausstellung. Und nach Namibia geschickt werde.
Ungeheuer schnell ereigneten, verschwunden. natürlich geht es darin ums Außerdem werde man für
Doch eine Frau, die am Steuer Gegenteil, darum, dass vieles den Erhalt des Wolken­ und
KINO Es gibt einen Moment in eines Wagens sitzt und damit in auf der Welt endgültig außer Nebelwaldes in Peru spenden.
diesem Film, in dem sich alles die Stadt fährt, gilt vielen Dorf­ Kontrolle zu geraten scheint. Diese Kompensation könnte
ändert und erstmals ein Lächeln bewohnern als verdächtig, im­ Eingeladen wurde der Wahlber­ bald zur Selbstverständlich­
über das ernste Gesicht seiner mer wieder zischt es »Schlampe« liner von der Langen Founda­ keit werden im Ausstellungs­
weiblichen Hauptfigur huscht: über die Straße. Fahrjie muss tion, die ihren Museumsstand­ betrieb. Denn wie fast alle Ein­
Als Fahrjie (Yllka Gashi) end­ nicht nur gegen die Armut, son­ ort auf einer ehemaligen Rake­ wohner der Industrieländer
lich am Steuer eines Autos sitzt dern auch gegen Vorurteile tenstation der Nato in Neuss haben Künstler, Galeristen und
und losfahren kann, weil sie ankämpfen. Trotzdem gelingt es hat. Viele Werke Charrières, die vor allem aufwendig klima­
gerade ihren Führerschein ge­ ihr, mehr und mehr Frauen für da gezeigt werden, erzählen tisierte Museen selten eine vor­
macht hat, ändert sich ihr Leben ein Projekt zu gewinnen, mit von der Verrücktheit der Men­ zeigbare Ökobilanz. UK
von Grund auf. Die aus dem dem sie Geld verdienen und
Kosovo stammende Filme­ selbstständig werden können. Charrière-
macherin Blerta Basholli erzählt »Hive«, der auf wahren Bege­ Werk
in ihrem Regiedebüt »Hive«, benheiten beruht, ist ein ruhiger
das auf vielen Festivals ausge­ und dennoch ungeheuer schnel­
zeichnet wurde und nun in ler Film. Er gleicht seiner Hel­
die deutschen Kinos kommt, din, die keine Zeit hat, sich der
einfühlsam eine Selbstermäch­ Trauer, der Verzweiflung oder
tigungsgeschichte aus ihrer der Lethargie hinzugeben.
Heimat. Wie andere Frauen in Basholli schafft es allerdings
ihrem Dorf muss Fahrjie mehr auch in kurzen Szenen, emotio­
oder weniger allein für den nale Tiefe zu erreichen und ihr
Unterhalt ihrer Familie sorgen. Publikum zu berühren – nicht
Sie verkauft Honig, für den zuletzt dank ihrer großartigen
die Leute allerdings wenig Geld Hauptdarstellerin Gashi, in
zahlen. Ihr Mann ist seit den deren Gesicht sich die Dramen
Massakern, die sich Ende der eines vom Krieg gezeichneten
Neunzigerjahre im Kosovokrieg Landes spiegeln. LOB
›And Beneath It All Flows Liquid‹, 2019 von Julian Charrière / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Foto: Jens Ziehe

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 111


KU LT U R

»Ich glaube, sie haben uns betrogen,


weil wir arm sind«
KINO Der Österreicher Ulrich Seidl wird für Filme gefeiert, die Tabus brechen. In seinem neuen Werk »Sparta«
geht es auch um Pädophilie. Der Film soll jetzt beim Festival in Toronto Weltpremiere feiern.
Recherchen des SPIEGEL zeigen, dass bei den Dreharbeiten offenbar rumänische Kinder ausgenutzt wurden.

ingeklemmt sitzt Marian Nico- Der Dreh in Satu Mare ist Teil seine pädophile Neigung. Gespielt
E lau zwischen zwei erwachsenen
Männern, die er kaum kennt.
Er ringt mit den Tränen. An diesem
von Seidls jüngstem Projekt. Der
Arbeitstitel des Drehbuchs, das dem
SPIEGEL vorliegt, lautet »Böse Spie-
wird Ewald vom österreichischen
Schauspieler Georg Friedrich.
Was zunächst als ein einziger Film
Sommertag im Juli 2019 ist Marian, le«. Gefördert wurde das Projekt unter gedacht war, wurde später geteilt: Der
ein zierlicher, schüchterner Junge, anderem vom Österreichischen Film- erste Teil feierte unter dem Titel
zehn Jahre alt. Das Zimmer in der institut, vom Eurimages Fund of the »Rimini« auf der vorigen Berlinale
kleinen rumänischen Ortschaft Neco- Council of Europe, vom Medienboard Premiere, der zweite Teil, »Sparta«,
poi, in dem er auf einem Sofa sitzt, Berlin-Brandenburg und von der Mit- der in Rumänien gedreht wurde, soll
wirkt heruntergekommen. teldeutschen Medienförderung. erstmals am 9. September auf dem
Der eine der beiden Männer ist Darin geht es um zwei Brüder, die Festival im kanadischen Toronto ge-
betrunken, ein stämmiger Kerl mit sich bei ihrem demenzkranken Vater zeigt werden. Anschließend soll er
vielen Tattoos. Er schreit Marian auf in Österreich treffen und danach zu- auf dem Festival von San Sebastián
Rumänisch an. Schwach sei er, nicht rück in ihr jeweiliges Leben gehen. in Spanien im Wettbewerb laufen.
wie sein älterer Bruder. Er drückt den Für den einen, Richie Bravo, einen Zu sehen war »Sparta« bislang
Jungen an sich und schüttet Wasser abgehalfterten Schlagerstar, bedeutet noch nicht. Die Programmankündi-
in ein Schnapsglas. Sagt, er solle »den das, in Rimini vor Seniorinnen auf- gung des Festivals von Toronto be-
Regisseur Seidl:
Schnaps« trinken. Marian will nicht, Seine Filme kommen
zutreten. Der andere, im Drehbuch schreibt den Film als die Geschichte
weil er sich schämt. Er will nicht, dass der Wirklichkeit Ewald genannt, trainiert in Rumänien eines »scheinbar impotenten« Pädo-
Leute glauben, er trinke Alkohol. ungewöhnlich nah Kinder im Judo und entdeckt dabei philen, der »vorpubertierenden Jun-
Der andere Mann sitzt dicht an ihn gen« in verlassenen Schulgebäuden
gedrängt. Auch er ist stämmig und hat Kampfsport beibringt. Die Arbeit mit
eine Glatze. Er spricht Deutsch, eine den Laiendarstellern sei nach Zustim-
Sprache, die Marian nicht versteht. mung der Familien »peinlich genau
Berührt ihn am Rücken. Streichelt überwacht« worden.
ihm mit der Hand über den Unter- Nun erheben viele Mitwirkende
arm. Marian versucht, die Hände der des Films schwere Vorwürfe gegen
beiden Männer abzuwehren. Er will den Regisseur. Nach Recherchen des
raus aus dem Zimmer. Irgendwann SPIEGEL soll Seidl die minderjäh-
fängt er an zu weinen. rigen Laiendarsteller, die zum Zeit-
Marian und die Männer sind nicht punkt des Drehs zwischen 9 und
allein. Mit im Raum befinden sich 16 Jahre alt waren, und ihre Eltern
ein Kameramann und der Regisseur bewusst im Unklaren darüber ge-
Ulrich Seidl. Etwa zehn Minuten lässt lassen haben, dass es in dem Film
er die Szene laufen. Erst dann bricht auch um Pädophilie geht. Bei den
er ab. So beschreiben mehrere Perso- Dreharbeiten wurden sie offenbar
nen eine Szene, die der Regisseur im ohne ausreichende Vorbereitung und
Simone Comi / IPA-agency / Terenghi / picture alliance / dpa

Sommer 2019 gedreht haben soll und angemessene Betreuung mit Alko-
die im Drehbuch steht. holismus, Gewalt und Nacktheit kon-
Der Österreicher Seidl, 69, ist frontiert.
einer der bekanntesten deutschspra- Über ein halbes Jahr lang hat der
chigen Filmemacher der Gegenwart. SPIEGEL in Deutschland, Österreich
Filme wie »Hundstage« (2001), »Im- und Rumänien zu Vorwürfen rund
port Export« (2007) oder »Paradies: um die Produktion von »Sparta« re-
Liebe« (2012) laufen auf den großen cherchiert und mit Dutzenden Mit-
Festivals in Venedig, Cannes, Berlin. arbeitern von Seidl gesprochen, da-
Sie gewinnen Preise und werden von runter neun Personen, die beim Dreh
Kritikern gefeiert. Nicht zuletzt dafür, in Rumänien im Winter 2018/19 und
dass sie der Wirklichkeit ungewöhn- im Sommer 2019 dabei waren. Mit
lich nah kommen und Tabus brechen. sieben minderjährigen und zwei er-

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Tim Möller-Kaya / DER SPIEGEL

»Es hat sich echt angefühlt.«

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»Er hat einfach geweint und wollte da raus.«


wachsenen Laiendarstellern sowie mit den gewalttätigen Alkoholiker, vor dem die Weiter schreibt Seidls Anwalt: »Wir ver-
Erziehungsberechtigten von acht Kindern. Mutter mit ihm und seinem Bruder erst we- muten, dass Ihre Informanten Sie über den
Alle Namen der Laiendarsteller und der nige Monate vor dem Dreh geflohen war. Inhalt der Szene, aber auch über den Grund
Erziehungsberechtigten wurden in diesem Mehrere Setmitarbeiter sagen, sie hätten für das Weinen des Kindes falsch unterrichtet
Text geändert. Wie die Crewmitglieder fürch- gewusst, dass Marian mit einem alkoholkran- haben.« Tatsächlich ist es Marian Nicolau
ten sie rechtliche Konsequenzen durch Seidls ken und gewalttätigen Vater aufgewachsen selbst, der dem SPIEGEL schildert, dass und
Produktionsfirma. sei. Einer berichtet, ihm sei durch Kollegen warum er sich unwohl gefühlt habe.
Der SPIEGEL hat die Ulrich Seidl Film- zugetragen worden, der Junge komme aus Adriana Steiner – auch ihr Name wurde
produktion GmbH und den Regisseur selbst einer Familie, wie sie im Film dargestellt geändert – war an dem besagten Tag vor
mit den Vorwürfen konfrontiert. Über seinen werde. »Und dass der Seidl genau weiß, wie Ort. Sie sagt, der Junge hätte seine Reaktion
Anwalt lässt Seidl mitteilen, dass die Eltern man den Marian triggern kann und wie man niemals spielen können: »Er hat einfach
und die minderjährigen Laiendarsteller über zu dem Ergebnis kommt, dass es irgendwie geweint und wollte da raus.« Sie habe gese-
den Inhalt des geplanten Films unterrichtet emotional wird.« Seidl habe echte Emotionen hen, wie Marian sich am selben Tag mehrmals
worden seien. Dabei sei darauf hingewiesen filmen wollen, deshalb sei Marian ausgewählt erbrochen habe, und ist davon überzeugt,
worden, dass es um einen Erwachsenen gehen worden, sagt der Mann. Seidl und seine Mit- dass dies eine körperliche Reaktion auf den
soll, »der sich zu Jungen hingezogen fühlt, arbeiter kommentierten dies auf SPIEGEL - Dreh war.
eine Art Vaterstelle einnimmt«. Unklar bleibt Anfrage nicht. Dem SPIEGEL liegt ein Screenshot aus
jedoch, wie und wann genau dies geschehen Der Mitarbeiter war nicht der Einzige, einer crewinternen WhatsApp-Gruppe vor,
ist. »Hätten die Eltern irgendwelche Einwän- den dieser Drehtag zutiefst beunruhigte. in die am Abend jemand – scheinbar im
de gegen die Drehabläufe gehabt, oder hätten Nachdem die Szene abgebrochen worden Spaß – schrieb: »Bei Marian ist auch noch
sich die Kinder … nicht wohl gefühlt, wären war, sei Marian aus dem Haus gegangen Mittagessen in der Nase. Und bei uns im Auto
sie wohl nicht über diesen langen Zeitraum und habe geweint, erinnert sich eine weitere auch«. Ein Mitglied der Crew sagt: »Für mich
… dabei geblieben«, heißt es mit Blick auf Person. Ein Crewmitglied erinnert sich, der war klar, dass das eine traumatische Erfahrung
einen langen Drehzeitraum vom Winter 2018 Junge habe gesagt, er wolle nicht mehr für diesen Jungen ist.«
bis Sommer 2019. Die Vorwürfe, über die im weiterfilmen. Doch jemand aus Seidls Team Seidls Filme werden von jeher kontrovers
SPIEGEL berichtet wird, beziehen sich jedoch habe Marian unter Druck gesetzt. Eine von diskutiert. Sie behandeln häufig Themen, die
vor allem auf das Ende der Drehzeit – im Seidls Assistentinnen habe gesagt: »Nur noch als Tabu wahrgenommen werden: Sexualität,
Sommer 2019. ein bisschen, dann darfst du nach Hause ge- Körper, Begehren, Tod. Sein Stil erinnert an
Drei Jahre nach diesem Sommer sitzt hen.« Auf eine Anfrage des SPIEGEL reagier- Dokumentationen und basiert darauf, dass
Marian, inzwischen 13 Jahre alt, auf einem te die Assistentin nicht. Laiendarsteller sich mehr oder weniger selbst
Tim Möller-Kaya / DER SPIEGEL

Sofa im Haus seiner Mutter und erzählt von Seidls Anwalt schreibt, zwei Bezugsper- spielen. Das hat ihm einen Ruf als künstleri-
der Aufnahme mit den beiden Männern. »Es sonen hätten sich um das weinende Kind sches Genie eingebracht, das mit »schonungs-
hat sich echt angefühlt«, sagt er leise, aber gekümmert, »Kind und Eltern wollten an- loser« Herangehensweise (ORF) »Abgründe
bestimmt. Was für Seidl im Spiel passierte, schließend die Mitarbeit fortsetzen«. Die des Menschlichen ausleuchtet« (»Süddeut-
passierte für ihn in Wirklichkeit: Der alkoho- Mutter von Marian sagte dem SPIEGEL je- sche Zeitung«).
lisierte Mann, ebenfalls Laiendarsteller, habe doch, an diesem Tag während der Dreharbei- Immer wieder geht es um Macht und Sex.
ihn an seinen eigenen Vater erinnert, einen ten nicht da gewesen zu sein. Oft werden die Filme im Ausland gedreht, in

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der Ukraine oder in Kenia. In »Import Ex- habe – allerdings sei ihnen von den Castern einer Psychologin, sowie eine Kopie des Ver-
port« etwa erzählt er von osteuropäischen gesagt worden, es gehe im Film um »Fußball« trags. Die Eltern der rumänischen Laiendar-
Sexarbeiterinnen und westeuropäischen oder »griechische Kämpfe«. Weder Seidl noch steller wussten das nicht. Offenbar wurde es
Freiern, in »Paradies: Liebe« zeigt er junge die Caster hätten das Thema Pädophilie an- ihnen auch durch die Ulrich Seidl Filmpro-
kenianische Männer beim Sex mit älteren gesprochen. Das bestätigen Personen, die am duktion GmbH nicht mitgeteilt. Der Produk-
Österreicherinnen. Auf Grenzgängen wie die- Casting mitgewirkt haben. Als Popescus Sohn tionsleiter von Seidl schreibt auf Anfrage des
sen beruht sein Erfolg. fragte, ob er in einem Film in der Schule mit- SPIEGEL , auch er habe nichts von diesen
In einem Interview mit der »Zeit« im April spielen dürfe, habe er, der Vater, Ja gesagt. Bedingungen gewusst: »Wir hatten im Winter-
2021 sagte Seidl über seine Arbeitsweise: »Ich Im Film werde es um Judo gehen, hätten ihm drehblock hier eine Serviceproduktion vor
inszeniere die Wirklichkeit, greife bewusst die Caster erzählt. Was könne da schon pas- Ort, die uns schriftlich über die Rahmen-
ein. Aber natürlich gibt es Grenzen.« Wo die- sieren – in der Schule, im eigenen Dorf? bedingungen für die Arbeit mit Minderjähri-
se Grenzen liegen? »Man darf die Menschen Familie Popescu lebt, wie viele der Fami- gen informiert hat. In dieser waren die hier
nicht überreden, etwas zu tun oder zu sagen, lien, in sehr ärmlichen Verhältnissen. Popescu genannten Bedingungen nicht erwähnt.«
was sie eigentlich nicht machen würden. Und ist Ziegenhirte, verbringt den größten Teil des Manche Eltern versuchten allerdings, sich
man darf nichts verschleiern.« Tages mit seiner Herde. Familien teilen sich zu informieren. Sie seien an den Set gekom-
An diese selbst gesteckten Grenzen scheint zu fünft ein Schlafzimmer oder leben in Häu- men, um den Kindern zuzusehen, sagen meh-
sich Seidl bei den »Sparta«-Dreharbeiten sern ohne Bad. Die Mutter eines Jungen arbei- rere Eltern. Dort seien sie jedoch von Setmit-
nicht gehalten zu haben. Vielmehr wurden tet als Pflegerin in Österreich, Popescu hat arbeitern abgewiesen worden. Der Anwalt
die Laiendarsteller durch Seidl offenbar nur mal in einem Schweinezuchtbetrieb in von Seidl begründet dies damit, dass die Kin-
unzureichend aufgeklärt. Der Regisseur soll Deutschland gearbeitet. Der Mindestlohn in der nicht abgelenkt werden sollten.
auch gegen Regeln und Richtlinien verstoßen Rumänien lag 2019 bei etwas mehr als Während des Drehs im Sommer 2019 wa-
haben, die für die Arbeit mit Kindern beim 400 Euro im Monat. An einem Drehtag ver- ren zwei Lehrerinnen als Betreuungspersonen
Film gelten. dienten ihre Kinder zwischen 50 und 60 Euro. eingestellt, doch laut Recherche des SPIEGEL
Seidls Hauptdrehort Baba Novac ist ein In Deutschland müssen bei Filmaufnah- wussten auch sie nichts vom Inhalt des Films
kleines Dorf einige Kilometer außerhalb der men mit Kindern die Eltern, das Jugendamt, und durften die Schule, in der gedreht wurde,
Stadt Satu Mare im Norden Rumäniens. Nur die Schule und ein Arzt dem Dreh zustimmen. nicht betreten. Außerdem waren sie nicht an
die Hauptstraße ist geteert, an den Rändern Als medienpädagogische Fachkraft betreut allen Drehtagen anwesend. Offenbar vor al-
der Ortschaft liegt Schotter, die Häuser sind Inga Brock Kinder, wenn in Deutschland Sze- lem dann nicht, wenn in Baba Novac gedreht
klein und ärmlich. In vielen Vorgärten laufen nen gedreht werden, in denen es um Sex und wurde oder der Dreh abends und nachts statt-
Ziegen, Schweine oder Hühner umher. Es gibt Gewalt geht. »Man muss ein konkretes Dreh- fand. Der Anwalt von Seidl schreibt dazu:
ein Rathaus, ein Kulturzentrum und eine leer buch einfordern, aus dem genau hervorgeht, »Es trifft nicht zu, dass die Protagonisten
stehende Schule, in der viele Szenen von wie diese Szenen umgesetzt werden sollen. nicht betreut waren.« Wer für die Kinder
»Sparta« gedreht wurden. Das müssen auch die Eltern wissen, ihr Wille zuständig gewesen sein soll, wird allerdings
Fast alle von Seidls Laiendarstellern wur- steht über allem.« nicht genauer benannt. Der Produktionsleiter
den hier in der Gegend gecastet. Auch der In Rumänien müssen Eltern sich eigenstän- schreibt: »Die Kinder waren ausnahmslos
Sohn von Sandu Popescu. Das erste Mal hör- dig beim Jugendamt melden, wenn ihre Kin- immer von einer ihnen bekannten Vertrau-
te der Mann von dem anstehenden Dreh, als der einen Film drehen wollen. Außerdem ensperson betreut. Wenn in Ausnahmefällen
ihm sein Sohn davon erzählte. Mitarbeiter brauchen sie wie in Deutschland ein Attest, die Betreuungsperson auch für Castings des
der österreichischen Castingcrew hatten Flyer sowohl von einem Kinderarzt als auch von Films zuständig war, dann nicht an den Tagen
und Infoschreiben an den Schulen rund um der Betreuung.«
die Stadt Satu Mare verteilt. Sie liegen dem Eine Mitarbeiterin Seidls widerspricht
SPIEGEL vor. dieser Darstellung und gibt an, dass beim
»Athletische Jungen im Alter zwischen 8 Filmdreh im Winter durchaus eine Person für
und 17 Jahren« suchte Seidl für seinen Film. Casting und Betreuung gleichzeitig zuständig
Auf einem dazugehörigen Infoschreiben steht: gewesen sei. Eine Psychologin war weder im
»Unser Ziel ist es … Rumänien realistisch wie- Sommer noch im Winter am Set anwesend.
derzugeben und dabei jegliche Vorurteile Und offenbar auch niemand, der die Kinder
oder Stereotypen zu vermeiden.« Von Pädo- auf ihre Rollen vorbereitete. Mehrere Kinder
philie steht dort nichts. berichten, sie hätten irgendwann nicht mehr
Seidls Produktionsleiter schreibt auf An- zwischen Realität und Fiktion unterscheiden
frage des SPIEGEL, dass im Film keine aktiven können. Oft hätten die Kinder auch nicht ge-
Pädophilieszenen vorkämen, sondern sich wusst, dass gerade gefilmt werde, berichtet
diese vor allem im Inneren der Hauptfigur eine von Seidls ehemaligen Mitarbeiterinnen.
abspielten. Daher könne es sein, dass dieser »Es wurde halt nicht so gedreht, dass man
Aspekt des Films nicht direkt angesprochen sagt: Okay, Kamera läuft, Action. Die Kinder
worden sei. »Allerdings fanden im Verlauf der haben es gar nicht gemerkt.«
Dreharbeiten dann meiner Kenntnis nach Auch zu körperlichen Übergriffen soll es
Gespräche statt, in denen Ulrich Seidl diesen bei den Dreharbeiten gekommen sein. So be-
Aspekt des Films den Eltern erklärt hat«, so obachteten zwei Mitarbeiter, dass ein Junge
der Produktionsleiter. Sehr transparent bei einer Szene vor der Schule sein Tanktop
scheint dies aber nicht erfolgt zu sein. Schon ausziehen sollte. Doch er habe das nicht ge-
Tim Möller-Kaya / DER SPIEGEL

die Antwort von Seidls Anwalt, der Haupt- wollt und sich gewehrt. Die Regieassistentin
darsteller nehme eine Art »Vaterstelle« ein habe dem Jungen das Hemd am Ende weg-
und fühle »sich zu den Jungen hingezogen«,
lässt viel Raum für Interpretation.
»Nur noch ein bisschen, gerissen. »Sie hat ihn ausgezogen, und er hat
versucht, sich zu wehren. Sie ist aber mit dem
Die Eltern der minderjährigen Laiendar- dann darfst Leiberl weg und hat es dann irgendwo in die
steller, mit denen der SPIEGEL gesprochen du nach Hause.« Ecke geworfen.« Der Junge habe versucht,
hat, berichten zwar, dass Seidl sie besucht sich das Tanktop zurückzuholen. Sie habe ihn

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an den Schultern gepackt, geschüttelt und


gesagt, das müsse er jetzt machen.
Seidls Regieassistentin schreibt auf An-
frage, die Kinder hätten immer wieder »spie-
BELLETRISTIK SACHBUCH lerisch unsere Grenzen ausgelotet«. Sie habe
als Reaktion auf eine kindliche Provokation
Mutter ist zu dick. So urteilen Geboren in ärmlichen Ver- das Hemd weggeworfen. »Dass das ein Fehler
die Gesellschaft und der hältnissen im weit entfernten war, ist mir während des Drehs der nächsten
Ehemann einer Frau, die Galizien, hat er es in die
trotzdem nicht aufhört, um Hauptstadt Wien und dort Szene selbst bewusst geworden, und ich habe
ihre Selbstbestimmung zu bis ganz nach oben ge- das Shirt nach Abdrehen der Szene geholt,
kämpfen. Ein Roman über schafft. In den 1930er-Jahren zurückgegeben und mich entschuldigt.« Sie
Frauenkörper und die subtile ist Dr. Isidor Geller plötzlich
Gewalt des Familienlebens, mit den Nationalsozialisten bestreitet, das Kind gepackt oder geschüttelt
erzählt aus der Sicht einer konfrontiert. Eine jüdische zu haben.
Tochter. | Platz 14 Geschichte. | Platz 17 Sobald man beim Dreh eines Films das
Gefühl habe, dass sich Kinder unwohl fühlten,
1 (5) Ferdinand von Schirach 1 (1) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben müsse man abbrechen, sagt Tatjana Dern-
Nachmittage Luchterhand; 22 Euro verändern werden Piper; 22 Euro
becher, die in Deutschland als Kindercoach
2 (1) Bonnie Garmus 2 (8) Elke Heidenreich arbeitet. »Es muss für das Kind immer ein
Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro
Vetorecht geben.« Ein solches Vetorecht
scheint es für die Kinder in Rumänien nicht
3 (6) Heinz Strunk 3 (–) Thilo Sarrazin Die Vernunft gegeben zu haben.
Ein Sommer in Niendorf Rowohlt; 22 Euro und ihre Feinde Langen-Müller; 26 Euro Wer mit den Mitwirkenden des Films
spricht, gewinnt den Eindruck, dass hier ein
4 (2) Isabel Allende 4 (4) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben, Regisseur Maß und Verantwortungsbewusst-
Violeta Suhrkamp; 26 Euro was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro
sein verloren hat. Der wenige enge Vertraute
5 (15) Nicholas Sparks 5 (3) Marietta Slomka um sich scharte und andere Crewmitglieder
Im Traum bin ich bei dir Heyne; 22 Euro Nachts im Kanzleramt Droemer; 20 Euro vom Informationsfluss abschnitt. Dem selbst
die erfahrensten Mitarbeiter nicht zu wider-
6 (3) Mariana Leky 6 (2) Pati Valpati sprechen wagten.
Kummer aller Art Dumont; 22 Euro Schlechtes Vorbild, gute Vibes Riva; 22 Euro Während des Sommerdrehblocks habe
Seidl eine weitere im Drehbuch enthaltene
7 (7) Susanne Abel 7 (11) Peter Hahne Szene gedreht, in der eine Gruppe von
Stay away from Gretchen dtv; 20 Euro Das Maß ist voll Quadriga; 12 Euro
Dorfbewohnern auf Ewald und die Kinder
8 (4) Susanne Abel 8 (5) Catherine Belton losgeht. Die Dorfbewohner werden von
Was ich nie gesagt habe dtv; 23 Euro Putins Netz HarperCollins; 26 Euro Männern gespielt, die Gesprächspartner des
SPI EGEL als »Alkoholiker« beschreiben.
9 (–) Karin Slaughter 9 (6) Christiane Hoffmann Einer von ihnen, Iulian Albescu, sagt, er habe
Die Vergessene HarperCollins; 24 Euro Alles, was wir nicht erinnern C. H. Beck; 22 Euro sich in seiner Rolle unwohl gefühlt, aber zu
dem Zeitpunkt kein Geld gehabt, um seine
10 (–) Andreas Eschbach 10 (14) Gnu Miete zu zahlen.
Freiheitsgeld Lübbe; 25 Euro Du schaffst das nicht Riva; 20 Euro
Wenn er trinke, werde er sehr aggressiv,
11 (8) Lucinda Riley 11 (12) Harald Jähner sagt er. Trotzdem habe er von der Filmcrew
Die Toten von Fleat House Goldmann; 22 Euro Höhenrausch Rowohlt Berlin; 28 Euro vor den Drehs Alkohol angeboten bekom-
men. »Sie haben gesagt: Wenn ihr ein Bier
12 (11) Jan Weiler 12 (–) Donna Leon trinken wollt, könnt ihr eines bestellen. Ich
Der Markisenmann Heyne; 22 Euro Ein Leben in Geschichten Diogenes; 22 Euro habe dann ein paar Bier getrunken und ein
Glas Schnaps. Nicht so viel, damit wir noch
13 (9) Michael Kobr / Volker Klüpfel 13 (7) Florian Illies drehen konnten«, so Albescu. Eine Mitarbei-
Affenhitze Ullstein; 24,99 Euro Liebe in Zeiten des Hasses S. Fischer; 24 Euro
terin, die an diesem Tag den Dreh beobach-
14 (–) Daniela Dröscher Lügen über 14 (–) Thomas Piketty Eine kurze Geschichte tete, sagt, da seien zwei »vulnerable Grup-
meine Mutter Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro der Gleichheit C. H.Beck; 25 Euro pen« aufeinandergehetzt worden. »Da habe
ich das erste Mal dieses sadistische Vergnügen
15 (–) Werner Herzog Jeder für sich 15 (13) Klaus von Dohnanyi von Seidl gesehen, diese alkoholisierten Män-
und Gott gegen alle Hanser; 28 Euro Nationale Interessen Siedler; 22 Euro ner auf Kinder loszulassen.«
Albescu erzählt, er habe eines der Kinder
16 (12) Romy Fölck 16 (16) Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt am Ohr gepackt, doch es sei dem Regisseur
Die Rückkehr der Kraniche Wunderlich; 22 Euro Bewegung Insel; 26 Euro
nicht fest genug gewesen. »Er hat gesagt, ich
17 (10) Tess Gerritsen 17 (–) Shelly Kupferberg soll das Kind fester am Ohr ziehen und seinen
Mutterherz Limes; 22 Euro Isidor Diogenes; 24 Euro Kopf schütteln und gröber sein.« Erst dann
habe Seidl gesagt, es sei gut. Ulrich Seidl
18 (–) Lisa Eckhart 18 (18) Henry A. Kissinger selbst äußert sich auf Anfrage des SPIEGEL
Boum Zsolnay; 25 Euro Staatskunst C. Bertelsmann; 38 Euro nicht dazu.
Wahrscheinlich ist es dieser Vorfall, der
19 (–) Alexa Hennig von Lange 19 (19) Laura Malina Seiler
die rumänischen Behörden auf den Plan ruft.
Die karierten Mädchen Dumont; 22 Euro Zurück zu mir Rowohlt; 15 Euro
Am 23. Juli 2019 erhielt die Kriminalpolizei
20 (16) Cay Rademacher 20 (17) Richard David Precht Satu Mare einen Hinweis. Während eines
Die Passage nach Maskat Dumont; 22 Euro Freiheit für alle Goldmann; 24 Euro Filmdrehs in Baba Novac seien Kindern »ver-
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller schiedene Gewalttaten« angetan worden. Sie

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leitete Ermittlungen ein und befragte mehre- in einer sexualisierten Situation, Pose oder
re – jedoch nicht alle – der am Filmdreh be- Kontext gedreht worden«. Trotzdem bleibt
teiligten Kinder. Im abschließenden Bericht
werden die Zeugenaussagen von sechs Min-
die Frage bestehen, wie die Kinder selbst die
Dreharbeiten wahrgenommen haben. Und
DIE MAGIE
derjährigen aufgeführt, die angeben, dass sie
während des Filmdrehs weder verbal noch
ob sie und ihre Eltern ausreichend darüber
informiert worden waren, warum bestimmte DER
körperlich oder sexuell belästigt worden sei- Szenen gedreht wurden und in welchem Kon-
en. Der Name Ulrich Seidl Filmproduktion
taucht im Bericht nicht auf. Im Februar 2022
text sie später im Film stehen würden.
Nach Aussagen der Kinder wurden min-
DEUTSCHEN
wurden die Ermittlungen eingestellt.
Den Vater Sandu Popescu lassen die Er-
destens zwei Szenen mit mehreren Kindern
im Duschraum der Schule gedreht. In der
SPRACHE
mittlungen bis heute nicht los. Beim Besuch einen Szene hätten die Kinder sich nach
des SPIEGEL steht er im weißen Unterhemd einem langen Tag duschen müssen, sagen
und mit verblichener Kappe in seinem Hinter- sie. In einer anderen Szene habe der Haupt-
hof. Als die Polizisten vor seiner Haustür darsteller in der Dusche auf sie gewartet. Mit
aufkreuzten, sei er schockiert gewesen. »Die Handtüchern hätten sie sich gejagt und ge-
Polizisten haben mir vorgeworfen, dass ich lacht. Ein Junge sagt, ihm sei es unangenehm
mein Kind verkauft hätte«, sagt Popescu und gewesen, dabei gefilmt zu werden. »Weil ich
zittert vor Aufregung. »Ich habe zu meiner es nicht gewohnt war, dass mich jemand in
Frau gesagt, die könnten mich dafür ins Ge- Shorts und T-Shirt oder in Unterwäsche
fängnis sperren, die hätten sagen können, dass filmt.« Es ist derselbe Junge, der angibt,
ich mein Kind gequält habe.« Er hat Mühe, mit Friedrich allein in der Dusche gefilmt
sich zu beruhigen. Es sei ein großer Fehler zu haben. Zu dieser Szene sagt er: »Sie ha-
gewesen, dem Regisseur zu vertrauen. ben mir nicht erklärt, warum diese Szene
Sein Sohn erzählt, dass er in Unterhose gedreht wurde.«
mit Georg Friedrich und anderen Kindern Förderer des Projekts, darunter das Öster-
habe drehen müssen. Schlecht habe er sich reichische Filminstitut, der ORF und der Film-
dabei gefühlt. Er sagt das leise und hört dann fonds Wien, teilen auf Anfrage des SPIEGEL
auf zu sprechen. Hat er der Polizei von dieser mit, dass ihnen die Vorwürfe nicht bekannt
Szene erzählt? Nein, sagt der Junge. seien, man diese aber sehr ernst nehme und
Seidl filmte mehrere Szenen, in denen sich ihnen nachgehe. Auch der Bayerische Rund-
die Kinder bis auf die Unterhose entblößten. funk (BR) hat den Film gefördert. Die zustän-
Offenbar ohne Vorwarnung und Wissen der dige BR-Redaktion schreibt: »Wir sind völlig
Eltern. Ein Junge berichtet davon, dass er überrascht und bestürzt von den hier im
mit dem Hauptdarsteller Friedrich unter der Raum stehenden Vorwürfen.«
Dusche habe filmen müssen, während dieser Während Seidl mit »Sparta« in Toronto
unbekleidet gewesen sei und sich im Intim- und San Sebastián auftreten soll, wissen Ma- 208 Seiten, gebunden � 18,00 €
bereich rasiert habe. »Dann hat er mich rian Nicolau, Sandu Popescu und die Eltern Auch als E-Book erhältlich
gefragt, ob ich auch meine Unterhose aus- der Laiendarsteller nach eigenen Angaben
ziehen mag.« Und? »Ich habe Nein gesagt nicht, was aus dem Filmmaterial mit ihren
und gelacht.« Kindern geworden ist. Eine Mutter sagt In „Schöner Schreiben“
Georg Friedrich ließ eine Anfrage des gegenüber dem SPIEGEL , dass sie Seidls
SPIEGEL unbeantwortet. Seidls Anwalt teilt rumänische Assistentin kontaktiert habe, um versammelt SPIEGEL-Redakteur
mit, dass es im Film keinerlei sexuellen Kon- zu fragen, wann der Film erscheine. Die habe Hauke Goos die besten Texte aus
text gebe, auch keine pornografischen oder ihr mitgeteilt, dass er nicht veröffentlicht wer- seiner gleichnamigen Kolumne:
pädophilen Szenen, kein Kind sei »nackt oder de, weil »das Material zu schlecht sei«.
In den Medien Vorwürfe gegen Seidl Jeder einzelne eine Einladung,
zu erheben macht den Eltern Angst. Einige eine Autorin, einen Autor,
haben eine Verschwiegenheitsklausel unter- ein Werk oder
Über die Recherche schrieben, in der steht, dass sie 50 Prozent
Vor zwei Jahren bekamen die freien Journa- der Gage zurückzahlen müssen, sollten sie eine Schreibschule
listen Pascale Müller und Bartholomäus dagegen verstoßen. kennenzulernen und den Zauber
Laffert Hinweise zu Vorwürfen gegen Ulrich Die Eltern sind wütend auf den Regisseur. der deutschen Sprache
Seidls Umgang mit minderjährigen Laien- Erst durch die Recherche des SPIEGEL haben
darstellern in Rumänien. Im Frühjahr 2022 sie erfahren, dass es in dem Film auch um immer wieder
wurde das Thema wieder an sie herangetra- Pädophilie geht. Sie fühlen sich betrogen. Die neu zu entdecken.
gen, von zwei damaligen Setmitarbeiterin- Eltern von acht minderjährigen Laienschau-
nen. Im Mai fuhr das SPIEGEL-Team mit der spielern sagen, dass sie dem Dreh nicht zu-
rumänischen Kollegin Delia Marinescu in gestimmt hätten, wenn sie von dem Thema
die Region um Satu Mare, sprach mit Fami- gewusst hätten. Sie wollen nicht, dass der Film
lien, Laiendarstellern und später auch mit erscheint. Popescu sagt: »Ich glaube, sie ha-
ehemaligen Mitarbeitern der Produktion. In ben uns betrogen, weil wir arm sind.« Seine
Rumänien halfen vor allem die Kinder bei Stimme bebt, wenn er spricht. »Es wäre nicht
der Recherche. Sie wussten, welches Nach- schlimm gewesen, hätten unsere Kinder ein-
barskind noch in dem Film mitgespielt hatte, fach in einem schönen, friedlichen Film mit-
und konnten den Weg zu seinem Haus zei- gespielt. Aber Pädophilie! Gott bewahre!«
gen. Viele Hinweise und Beobachtungen im Lars-Olav Beier, Bartholomäus Laffert,
Artikel stammen von ihnen. Pascale Müller, Delia Marinescu n

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Kopfüber in der Kloake


KULTURKAMPF Die »Harry Potter«-Erfinderin Joanne K. Rowling gilt vielen als transphob,
weil sie Frauen in erster Linie biologisch definiert. In ihrem neuen Krimi »Das tiefschwarze Herz«
befindet sich eine fiktive Prominente in ähnlicher Lage – und wird ermordet.

ine Frau gibt sich seit einer Wei- »Wenn sie Potter« erfolgreich unterlaufen zu Glücklicherweise steht nirgendwo
E le schon als Mann aus. Nun legt
sie unter dessen Namen bereits
ihr sechstes Buch vor. Längst weiß
sich wirklich
ausknipsen
haben. Und doch zeichnet sich all-
mählich etwas Unheimliches ab.
Hinter Robert Galbraith kam plötz-
geschrieben, dass eine performative
oder tatsächliche Überschreitung bio-
logischer Geschlechtergrenzen in fik-
jeder, dass Robert Galbraith tatsäch- wollte, dann lich J. K. Rowling als öffentliche Per- tiven Werken mit Figuren gefeiert
lich Joanne K. Rowling ist, die Erfin- son mit streitbaren Meinungen zum werden müsste, die edel sind, hilfreich
derin des Zauberschülers Harry Pot- bestimmt Vorschein, die nicht wenige Kritike- und gut. Umgekehrt fällt aber auf,
ter. Und alle Welt tut ihr den Gefallen, nicht wegen rinnen und Kritiker als transphob be- dass von »Psycho« bis »Das Schwei-
das literarische Spiel mit den Identi- zeichnen. gen der Lämmer« der wölfische Mann
täten mitzuspielen.
Twitter.« Schon in »Der Seidenspinner« im femininen Schafspelz nur allzu
Bei einer mächtigen Frau, die (2014) hatte sie mit Pippa Midgeley gern als besonders perfider Bösewicht
einem fluiden Geschlechterverständ- eine problematische Transfrau ein- dargestellt wird.
nis in der Realität den Kampf ange- geführt, die dem Helden nach dem Als Künstlerin stünde Rowling
sagt hat, ist das nicht ohne Ironie. Leben trachtet. Cormoran Strike demnach in einer genretypischen
Ursprünglich hatte sie sich hinter »entlarvt« die Attentäterin als Mann Tradition. Als öffentliche Person mit
das Pseudonym Robert Galbraith ge- und droht damit, sie in den Knast zu knapp 14 Millionen Followern auf
flüchtet, um im Schutz der Anony- bringen: »Und das wird kein Spaß für Twitter aber macht sie aus ihrer Ab-
mität eine »erwachsene« Thrillerserie dich, Pippa. Nicht vor der Opera- lehnung geschlechtsidentitärer Um-
um den Privatermittler Cormoran tion.« In »Böses Blut« (2020) wiede- wälzungen keinen Hehl, und das
Strike und seine Mitarbeiterin Robin rum ist die Rede von einem Serien- ganz ohne den Umweg über fiktive
Autorin Rowling:
Ellacott aufzulegen. Gefeiert als Jeanne
killer, der sich seinen weiblichen Op- Figuren.
Nachdem das Debüt, »Der Ruf d’Arc der freien fern mit Perücke und in einem pink- Im identitätspolitischen Kultur-
des Kuckucks«, sich trotz wohlwol- Meinungsäußerung farbenen Mantel nähert. kampf ist Rowling damit ein Schwer-
lender Rezensionen nur schleppend gewicht auf konservativer Seite. Der
verkauft hat, lüftete Rowling 2013 ihr Kampf wird mit Worten geführt, und
Pseudonym kurzerhand selbst. Seit- die »woke« Gegenseite hat für Frauen
dem ist noch jeder neue Band der wie Rowling das angelsächsische
bisher fünfteiligen Reihe zum Selbst- Akronym TERF (»Trans Exclusionary
läufer geworden. Jetzt liegt der Radical Feminist«) in Anschlag ge-
sechste Krimi um den Ermittler Cor- bracht – für radikale Frauenrechtle-
moran Strike vor: »Das tiefschwarze rinnen, die transsexuelle Frauen nicht
Herz«. als Frauen anerkennen. In Deutsch-
Der Erfolg ist nicht nur auf ihren land gilt »Emma«-Herausgeberin
großen Namen und eine weltweite Alice Schwarzer als prominenteste
Leserschaft zurückzuführen. Rowling TERF.
beherrscht ihr Handwerk. Verwinkel- 2020 hatte Rowling ihren Ärger
te Plots, tragende Dialoge, lebendige über eine besonders sensible und pro-
Charaktere und der geschickte Auf- gressive Formulierung in einen heite-
bau von Spannung hat schon die ren Tweet gepackt. Darin fragte sie
»Harry Potter«-Reihe für mehr als sich, ob es für »Leute, die menstruie-
500 Millionen Menschen so unver- ren«, nicht mal ein einfaches Wort
schämt lesbar gemacht. gegeben habe – und tat so, als wäre
Immer will man wissen, wie es ihr selbst dieser Begriff (»Woman«)
weitergeht, und wird beim Lesen bereits entfallen: »Wumben? Wim-
nicht von Literatur aufgehalten. Ihre pund? Woomud?«
süffige Sprache steht im Dienst der Öffentlich stemmte Rowling sich
Debra Hur ford Brown / J.K. Rowling

Geschichte, und die Geschichte dient gegen die Möglichkeit angleichender


der Unterhaltung der Leserinnen und Operationen bei Jugendlichen und
Leser. ein schottisches Gesetz zur Ge-
Zwar scheint es J. K. Rowling schlechtsangleichung – mit irritiertem
tatsächlich gelungen zu sein, als Hinweis darauf, dass demnach auch
Robert Galbraith den Hype um ihre ein Vergewaltiger, wenn er sich als
Person als Schöpferin von »Harry Frau identifiziere, ins Frauengefäng-

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ist aber ein Zwitter«), wird Ledwell aus dem


Kreis der Fangemeinde von einer anonymen
Quelle namens Anomie der Transphobie be­
zichtigt, bedroht, gestalkt. Sie wird Opfer von
Doxxing, ihre privaten Daten werden gehackt
und veröffentlicht.
Ledwell sucht Hilfe bei Cormoran Strike,
der sie nicht ernst nimmt. Der einbeinige Af­
ghanistanveteran kennt sich eben mit dem
Internet nicht so gut aus. Sie überlebt noch
einen Suizidversuch, doch schon auf Seite 118
liegt sie auf dem Highgate Cemetery in ihrem
Blut – erstochen.
Es beginnt ein »Whodunnit« für Leute,
die wirklich wissen wollen, wer die Täterin
oder der Täter ist. Denn auf mehr als
1000 Seiten recherchieren Cormoran Strike
und Robin Ellacott vor dem Computer oder
am Smartphone. Die toxische Stummel­

M. Golejewski / AdoraPress
sprache der Fanforen und Chatrooms wird
ausführlich und in Doppelspalten wieder­
gegeben: »Anomie: wenn sie sich wirklich
ausknipsen wollte, dann bestimmt nicht
wegen Twitter. die will doch nur aufmerk­
Teilnehmende der Trans-Pride-Parade im Juli in Berlin: Der Kampf wird mit Worten geführt samkeit.«
Spürbar ist nicht nur, dass Rowling in die
nis gesteckt werden müsse. Wobei die Zahl Die Vehemenz der Gegnerschaft speist sich Figur der Edie Ledwell eigene Erfahrungen
sexueller Straftäter, die mit Perücke in Toi­ zu einem gewissen Teil sicher auch aus ent­ hat einfließen lassen. Deutlich wird auch, dass
letten oder Umkleidekabinen für Frauen täuschter Liebe. Für nicht wenige junge Le­ sie sich mehr als nur knietief in die Kloaken
stöckeln, Einzelfällen zum Trotz, im Bereich serinnen und Leser lag der Reiz des schillern­ des Internets begeben haben muss. Sie ist
der Schauergeschichten angesiedelt ist. Im den »Harry Potter«­Universums gerade in kopfüber darin verschwunden.
Gegensatz zur Gewalt gegen Transfrauen seiner märchenhaften Diversität. Auch die übrigen Ermittlungen – ein Streif­
oder Transmänner. Und nun entpuppte sich ausgerechnet sei­ zug durch sämtliche Pubs des Londoner West
Abseits ihrer Aktivitäten auf Twitter hat ne Schöpferin als erklärte Gegnerin einer End – sind von Dialogen getragen. Das erklärt
Rowling sich auf ihrem Blog mit einem grund­ besseren, weil bunteren Gesellschaft? Einer auch die für einen Thriller absurde Länge der
sätzlichen Essay zu Wort gemeldet. Darin Welt, in der sich – Abrakadabra! – auch das Geschichte. »Das tiefschwarze Herz« hat im
schildert sie eigene Erfahrungen mit männ­ Geschlecht durch einen magischen Sprechakt Englischen 1024 und epische 1360 Seiten in
licher Gewalt in einer früheren Ehe. Sie for­ verändern lässt? der deutschen Übersetzung. Es ist im Grunde
dert Schutzräume für Frauen und nennt ge­ Der Widerspruch reicht von sachlicher Kri­ gar kein Roman – sondern das Drehbuch der
wisse Auswüchse einer »inkludierenden« tik bis zu Boykottaufrufen, von Demonstra­ nächsten »C. B. Strike«­Staffel der BBC, für
Sprache »entmenschlichend und herabwür­ tionen bis zu Morddrohungen. Rowling wer­ die Rowling als ausführende Produzentin ver­
digend«. Von »Menstruierenden« zu spre­ den gefälschte Tweets mit homophobem In­ antwortlich ist.
chen, das sei für Frauen, die für ihre Weib­ halt untergeschoben. Sogar ihr Pseudonym Damit überhaupt mal etwas passiert, ex­
lichkeit attackiert worden sind, »feindlich und soll Ausweis ihrer Schwulenfeindlichkeit sein, plodiert irgendwann eine Paketbombe. Das
entfremdend«. denn der zweite Vorname des berüchtigten geht aber glimpflich aus. Dann erzählen sich
Zusammen mit mehr als 150 Intellektuel­ Psychiaters Robert G. Heath, der als Begrün­ Strike und Ellacott wieder, was sie auf der
len, darunter Feministinnen wie Margaret der einer besonders bestialischen Konver­ Jagd nach Anomie gerade wieder herausge­
Atwood oder Gloria Steinem, beklagte Row­ sionstherapie gilt, war Galbraith. funden haben – ungeachtet der Tatsache, dass
ling in einem offenen Brief, »die Grenze des­ In dieser aufgeheizten Atmosphäre er­ wir als Leser dabei waren und das längst
sen, was ohne Androhung von Repressalien« scheint nun »Das tiefschwarze Herz«, der wissen.
gesagt werden dürfe, würde »immer enger sechste Band der Reihe um Cormoran Strike. Nebenbei liegen weitere Erzählstränge mit
gezogen«. Das biologische Geschlecht ist Unbefangen lesen kann man ihn nicht. Er ist Stiefsöhnen, Stiefvätern und einer ehema­
nach Rowlings Überzeugung eine Tatsache, auch nicht unbefangen geschrieben. ligen Verlobten in der Gegend herum. Sie
die sich eigenmächtiger Korrektur per Feder­ Das Mordopfer in »Das tiefschwarze tragen nichts zur Handlung bei, liegen aber
strich entzieht. Herz« ist Edie Ledwell, die Schöpferin einer immerhin so lose, dass man sich nicht darin
Wie die Dinge liegen, ist diese Auffassung gleichnamigen Kult­Animationsserie auf You­ verheddert. Dem plätschernden »Binge Rea­
noch immer mehrheitsfähig. Und von einer Tube, aus der Fans ein Onlinespiel entwickelt ding« tut das keinen Abbruch. Der Plot ist
Mehrheit des Publikums lässt sich Rowling haben. Weil in ihren Cartoons ein nicht binä­ nicht sonderlich raffiniert, aber solide und
dankbar als Jeanne d’Arc der freien Meinungs­ rer Friedhofswurm vorkommt (»Ein Wurm konventionell durcherzählt.
äußerung feiern. Umgekehrt blockiert sie auf Am Ende hätte man gern mehr gelesen.
Twitter beispielsweise einen Kollegen wie Vielleicht nicht von Strike und Ellacott, ihrer
Stephen King, der ihr mit dem Tweet »Trans­ Liebesgeschichte oder dem Täter (oder der
frauen sind Frauen« öffentlich die ideologi­ Täterin). Sondern von einer aberwitzig erfolg­
sche Gefolgschaft verweigerte.
Der Widerspruch reicht reichen Schriftstellerin, die der Versuchung
Entsprechend vehement ist der Wider­ von sachlicher Kritik nicht hat widerstehen können, sich mit ihren
spruch einer weniger mächtigen, aber umso Obsessionen als Opfer in die eigene Fiktion
lauteren Minderheit auf Twitter. Tenor der
bis zu Boykottaufrufen und hineinzugespenstern.
Kritik: »F**CK YOU J. K. ROWLING!« Morddrohungen. Arno Frank n

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Das da, das bist du


LITERATUR Vor einigen Jahren schrieb Thomas Melle ein Buch, das berührte, wie nur wenige Bücher
berühren: einen Bericht über seine manisch-depressive Erkrankung, mal traurig, mal witzig, oft wahnwitzig.
Nun erscheint ein neuer Roman. Wie ist es ihm in der Zwischenzeit ergangen? Von Tobias Becker

as Cover erinnert an »Tetris«. Stein- hieß es, ein Superbuch, übersetzt in 22 Spra- für den Sohn des Popstars Sting. Er soff schon
D quader fliegen umher, dicke Brocken,
darauf der Titel des Romans, »Das
leichte Leben«. Das bildet einen schönen
chen, eines jener Bücher, die einen lehren, was
Literatur kann, welche Kraft und Macht sie hat.
Wenn nun Melles neuer Roman erscheint,
morgens, häufte Schulden an, und als die Ma-
nie abklang, kippte er in die Depression.
Kaum vorstellbar, dass der Mann, der da
Gegensatz, das hat Spannung. Und die wird sechs lange Jahre später, dann macht das neu- schrieb, derselbe Mann sein sollte wie der,
noch größer, wenn einem der Name des Au- gierig. Nicht nur auf das neue Buch, auch auf über den er schrieb. War er ja vielleicht auch
tors ins Auge fällt, Thomas Melle. den Menschen, der einen damals so sehr ins nicht.
Angesichts der öffentlichen Leidensge- Herz getroffen hat. Melle gelang es, eine Krankheit, die alle
schichte des Autors wirkt es fast wie ein ironi- Melle schilderte 2016 prägnant und sprach- Grenzen sprengt, zwischen zwei Buchdeckel
sches Statement: Seht her, ich habe meinen lich kontrolliert, wie abgedreht und jenseitig zu pressen. Das hatte etwas ungemein Tröst-
Humor nicht verloren! die Vorstellungswelten sind, in denen er sich liches, gerade für Buch- und Geistesmen-
Melle leidet unter der bipolaren Störung, immer mal wieder bewegt. Er beschrieb Sze- schen. Jemand schießt in Manien, rutscht in
er ist manisch-depressiv. 2016 hat er davon nen, die jeder Beschreibung spotten, »ein hirn- Depressionen, und kein Medikament kann
in einem Buch berichtet, das berührte, wie versengter Clown, der durch die Stadt rast und ihn festhalten, aber die Literatur, die kann es.
nur wenige Bücher berühren, mal traurig, mal Katastrophe auf Katastrophe anhäuft«. Im Sie gibt dem Chaos eine Struktur und eine
witzig, oft wahnwitzig. »Die Welt im Rücken« Berliner Berghain hielt Melle einen Mann für Ordnung.
den jungen Picasso, kippte ihm Rotwein in Es war eine Geschichte, an die alle gern
Thomas Melle: »Das leichte Leben«. Kiepenheuer &  den Schoß, weil er Picasso und seine Bilder glauben wollten, auch Melle selbst, der sich
Witsch; 352 Seiten; 24 Euro. noch nie ausstehen konnte. Sich selbst hielt er seine Geschichte schreibend zurückeroberte,

Regina Schmeken

Schriftsteller Melle: »Die Krankheit ist hinterhältig«

120 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


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sie erzählbar machte – und auf den letzten Jahren manischer Hemmungslosigkeit und Kathrin, einst eine gehypte Schriftstellerin,
Seiten des Buchs formulierte: »Sollte ich eine wahnhaftem Chaos erst vor wenigen Mona- hat sich dafür einen Job als Aushilfslehrerin
weitere Manie haben, möge mir jemand die- ten wieder auf dem Boden der Tatsachen besorgt, Deutsch und Geschichte. Jan macht
ses Buch in die Hand drücken. Dann werden aufgeschlagen ist und sich gerade mühsam als Journalist Karriere, ein »Fernsehfritze mit
diese Zeilen wie ein Gebet sein.« aufrappelt. Denn im Leben eines Manikers ansehnlicher Fanbase«. Aus Kathrin, dem
Nun, das Gebet wurde nicht erhört. Das scheint nichts sicher außer der Depression, Star, wird Kathrin, die Begleitung.
ist die Tragik des Superbuchs, die sich nun die der Manie folgt – allein der Scham wegen, Die Kinder werden älter, die Pubertät
offenbart, da das neue Buch erscheint, das so außer sich gewesen zu sein, jenseits der ploppt auf, und Kathrin sieht sich plötzlich
erste große seit 2016, das Buch mit dem iro- Grenzen der Vernunft. gefangen in einem Käfig, den sie nicht mehr
nisch anmutenden Titel: »Das leichte Leben«. »Es soll ein Porträt des Schriftstellers wer- als golden empfindet. Und so sucht sie den
Es ist ein Roman, der jedem und jeder ans den«, wünscht sich Melle, »kein Porträt des großen Rausch, die entgrenzende Ekstase. Sie
Herz gelegt sei, ein bürgerlicher Familien- Menschen.« Wenn sich das denn mal so klar begleitet ihre Freundin Catharina, die in einer
roman, zeitgenössisch erzählt, mit zeitaktu- trennen ließe. polyamourösen Wohngemeinschaft lebt, zu
ellen Problemen. Und doch muss der neue In seinem ersten Roman »Sickster« erzähl- einer Sexparty, sie kippt dort viel Sekt und
Roman hier nun noch ein wenig warten. te Melle von einem Kapitalismus, der nicht schluckt eine Tavor hinterher, um die Tür zu
Denn Melle, inzwischen 47 Jahre alt, geht die Börsen und Banken crashen lässt, sondern öffnen zum Darkroom ihres Bewusstseins.
es wieder nicht gut. Nicht gut genug jedenfalls das Bewusstsein, ein Roman voll sprach- Sie lässt sich von vier Typen nehmen, unge-
für den Vermarktungszirkus, den ein Verlag lichem Furor, in dem sich die Hauptfiguren, schützt, aber selbst das kommt ihr zu gesittet
rund um einen Autor seiner Klasse und Be- Absolventen einer elitären Internatsschule, vor, zu sauber, zu geschmackvoll, verglichen
kanntheit normalerweise veranstaltet. aus dem Business in den Rausch flüchten, bis mit den Pornovideos, die sie seit einiger Zeit
Melle hat Sorge, sich zu sehr zu veraus- sie in der Psychiatrie landen. Im Roman zu Hause schaut, mit den Tiersexszenen auch,
gaben, eine Lesereise wird es nicht geben, nur »3000 Euro« erzählte er dann von prekären die sie so liebt im Fernsehen. »Sex war immer
zwei Interviews zum Erscheinen des Buchs, Berlinern, die sich an der Discounter-Kasse nur eine schlechte Kopie der ihm vorgeschal-
eines davon mit dem SPIEGEL , und er möch- begegnen, ein Roman über die erschöpfte teten Fantasien.«
te sich auch nicht live treffen, nur per Video Gesellschaft. In beiden Romanen finden sich Kaum vögelt Kathrin wieder, fängt sie auch
telefonieren. Wiedergänger Melles: Der Journalist Magnus wieder an zu schreiben, einen Roman über
Wenige Tage vor dem vereinbarten Termin in »Sickster« ist manisch und psychotisch, ihren »Lolitus«, wie sie Keanu nennt, einen
meldet sich dann seine Lektorin Mona Lang, und auch der obdachlose Ex-Jurastudent An- Schüler von ihr, einen Freund ihrer Kinder,
sie bittet darum, im Hintergrund mithören zu ton in »3000 Euro« ist während einer Manie den sie verbotenerweise begehrt. Das Buch,
dürfen, ein No-Go eigentlich, das weiß sie, abgestürzt. Was folgte, war »Die Welt im Rü- so ihre Idee, soll ihr Begehren bändigen, »zu-
aber Melle mache das Interview so nervös, cken«, das Buch, das sich wie ein Roman las, rück damit in die Buchstaben, zurück, ener-
er brauche anschließend jemanden, der ihn aber die komplett autobiografische Erzählung gisch, in die Kunst«.
beruhigen könne, dass er nicht zu durchlässig seines Lebens war. Melle zeigt in diesem Buch, was er kann,
gewesen sei im Interview, zu viel Quatsch Vielleicht ist das die Tragik nicht des Szenen mit Tempo, pointierte Dialoge, auch
erzählt habe. Die Zeit bis zum Erscheinen des Menschen, aber doch des Schriftstellers Tho- Aphorismen: »Ein Geheimnis ist ein innerer
Textes werde sonst zur Qual. mas Melle, der einer der ganz großen ist in Ort der Einsamkeit.« Und Melle hat, bei aller
»Wenn ich die Krankheit in eine Form brin- diesem Land, dreimal nominiert für den Deut- Schwere seines Gemüts, viel zeitdiagnosti-
ge, so hatte ich gehofft, bringe ich auch mein schen Buchpreis, dreimal für den Mülheimer schen Humor. Kathrins Mann Jan etwa lässt
Leben in eine Form«, sagt Melle dann, als das Dramatikerpreis, dazu Übersetzer von Quen- er eine Affäre beginnen mit einer Praktikan-
Interview schließlich stattfindet. Die Literatur, tin Tarantino und Ben Marcus, von Tom tin oder Volontärin, die Jasmin oder Johanna
so könnte man es auch sagen, sollte ihn retten. McCarthy, Christopher Isherwood, William heißt, wer weiß das schon, und die »eines
»Vielleicht war das ein naiver Glaube.« T. Vollmann. Doch Melles Leben überschreibt dieser herben Männerparfüms« trägt, »die
Das Buch erschien, drei gute Jahre ver- die Fiktion – wenn nicht direkt, dann doch sich die Studentinnen in diesen Tagen gerne
gingen – und dann schoss es Melle in die indirekt, in der öffentlichen Wahrnehmung. auftrugen, wegen struktureller Dinge wahr-
nächste Manie. Anders als die Male zuvor So interessant wie die Geschichte, die sein scheinlich«.
wussten nun alle um ihn herum, wirklich alle, Leben schreibt, kann ein Roman gar nicht Melle kann über Sex schreiben wie nur
was los ist mit ihm. Sie hatten es ja gelesen. sein. wenige, weil er abdrehen kann wie kein Zwei-
Nur er checkte es wieder nicht, auch dann In seinem neuen Buch war es Melle daher ter, aber in diesem Roman ist er nicht nur ein
nicht, als ein Freund ihm sein eigenes Buch wichtig, möglichst tief in die Fiktion einzu- Ekstatiker, sondern auch ein Analytiker des
reichte: Das da, das bist du. treten. »Eine Befreiung« nennt er das. Erst- Sex. Er bringt die existenzielle Verzweiflung
»Die Krankheit ist hinterhältig«, sagt mals finden sich keine Wiedergänger seiner auf den Begriff, die Sexualität oft zugrunde
Melle. Dass er dieses Buch schreiben, dass er selbst. Melle erzählt von Kathrin und Jan, die liegt. Und die Aggression.
alles auf den Begriff bringen konnte – und mal ein Szenepaar waren, »miteinander ab- Besonders gut gelingt ihm das, wenn er
dass die Krankheit sich dann trotzdem seiner gestürzt in höchste Höhen«, bevor sie solide über die Figur des Keanu schreibt, den Schü-
Kontrolle entzog: Er kann es nicht fassen, »es wurden und die große bürgerliche Erzählung ler, den Kathrin begehrt. Keanu ist ein schöner
ist der Wahnsinn«. Im Januar dieses Jahres lebten: Hochzeit, zwei Kinder, ein Muster- Knabe, fein gemeißelt wie eine Skulptur, das
kippte Melles Zustand, und er stürzte in die beispiel des Gelingens. Haar kohlschwarz, ein migrantischer Teen-
Depression. Inzwischen sehe er sich »wieder ager, 15 Jahre alt, noch Jungfrau, der zu Inter-
auf einem guten Weg«, sagt er, um sich so- netpornos wichst – und gierig Nachbarinnen,
gleich zu korrigieren: »auf einem okayen Verkäuferinnen, Lehrerinnen fokussiert. Tar-
Weg«. gets nennt er sie, Ziele. Sein innigster Wunsch:
Melle will nicht so gern darüber sprechen, »Sex war immer in ihnen drin sein.
was ihm in den letzten Jahren genau wider- Keanu will aber nicht mit Frauen ver-
fahren ist, weil er anders als bei der Buch- nur eine schlechte Kopie schmelzen, wie es sonst so gern schmalzig
premiere von »Die Welt im Rücken«, als er der ihm vorgeschalteten heißt, er will sich in ihnen einnisten, »feind-
ein Interview nach dem anderen gab, nicht liche Übernahme«. Keanu ist ein Feldherr des
mit beiden Beinen auf dem Boden der Tat- Fantasien.« Sex. Selbst seine Lehrerin Kathrin starrt er
sachen steht. Oder richtiger: weil er nach zwei Aus »Das leichte Leben« im Klassenzimmer gewollt und abgezählt an,

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 121


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einundzwanzig, zweiundzwanzig … Als Melle selbst kommt aus schwierigen klein-


Kathrin rot wird und wegblickt, ist klar: Kea- bürgerlichen Verhältnissen, hatte einen alko-
FASZINATION nu hat sie, er ist drin in ihrer Fantasie. holkranken Stiefvater. Sein persönlicher Bil-
Keanu kommen die Menschen und die dungsroman begann, als er auf das Bonner
ERDE Welt irreal vor, als wäre alles nur eine Simu- Aloisiuskolleg kam, eine elitäre Jesuitenschu-
lation. So ähnlich wie in »Matrix«, dem le, auf die auch Menschen wie Thomas de
Science-Fiction-Film, den seine Mutter so Maizière und Florian Henckel von Donners-
mochte. Er erlebt die Welt als gigantisches marck gegangen sind. Melle, das Prollkind
Game, die Level kommen und gehen, der Sex unter Reichen und Adeligen, wie er sich selbst
ein »dirty Extralevel«, in dem es irgendwo einmal genannt hat, machte dort 1994 Abitur.
eine Schatzkammer gibt »mit einem Kübel 2010 erschütterte dann ein Missbrauchsskan-
voll Gold und Scheidensekret«. dal das Aloisiuskolleg und mit ihm die Le-
Doch als Keanu dann sein erstes Mal er- benserzählungen jener, die sich mehr mit der
lebt, nicht mit dem Mädchen, in das er ver- Schule und ihrem Milieu identifizierten als er
liebt ist, sondern mit irgendeiner anderen, selbst. Der Roman hat also einen realen Hin-
zugedröhnt auf einem Klo, da schmeckt die- tergrund. Wobei Melle betont, dass er selbst
ses Mädchen »irgendwie nach Kleingeld«. vom Missbrauch nicht direkt betroffen ge-
»Das leichte Leben« ist ein Roman über wesen sei. Aber der Kontrollverlust über das
die sexualisierte Gesellschaft, und Melle eigene Bild: Das ist ein Motiv, das ihn bewegt.
scheut sich nicht, wieder und wieder Sex auch Melle hat dieses Motiv schon einmal lite-
aus weiblicher Perspektive zu beschreiben. rarisch verarbeitet, »Bilder von uns« hieß der
Kathrin durchbricht die bürgerliche Läh- Text, ein Theaterstück, uraufgeführt 2016 in
mung, indem sie sexuell hyperaktiv wird, man Bonn. So wie damals das Stück, so ist auch
könnte sagen, sie gewinnt die Kontrolle über jetzt der Roman nicht das, was man eine Miss-
ihr Leben zurück, indem sie die sexuelle Kon- brauchsgeschichte nennen würde: hier die
trolle aufgibt, sie emanzipiert sich vögelnd. armen Schüler, da die perversen Patres. Mel-
»Im sexuellen Rausch liegt eine Form von les Fokus ist ein anderer. Zum einen stattet er
Freiheit«, sagt Melle. Kathrin, die Lehrerin und zweifache Mutter,
Kathrins Mann Jan hingegen ist ein mittel- mit einem ähnlich gefährlichen Begehren aus,
alter weißer Mann, ein Macher mit Kontroll- sie ist näher an der Schuld der Patres, als man
wahn, dem nach und nach die Kontrolle ent- gemeinhin denken würde. Zum anderen
gleitet. Denn Jan bekommt es mit einem Er- scheint das größte Drama der alten Internats-
presser zu tun, der ihm Fotos aufs Handy buddies nicht der Missbrauch an sich zu sein,
schickt, die einen nackten Jungen zeigen. Der sondern dass durch die Aufdeckung des Miss-
Junge ist Jan selbst. brauchs das Internat beschmutzt und die eige-
Mit den Bildern kommt die Erinnerung: ne Lebensgeschichte beschädigt wird.
288 Seiten, durchgehend vierfarbig, an seine Schulzeit auf einem katholischen Melles Leitfrage: Wie gehen die elitären
gebunden � 24,00 € Internat, an einen perversen Pater, der ihn Macher- und Mackertypen, die aus den Schü-
und die anderen geknipst hat. Jan sucht den lern von damals geworden sind, mit der Op-
Kontakt zu Freunden von damals, aber nicht, ferrolle um, die sie verdrängt hatten? »Ihre
um den Missbrauch aufzuarbeiten, psycho- inneren Bilder stimmen nicht mehr«, sagt er.
logisch oder gar juristisch, sondern um ihn »Ihre Geschichten sind ihnen flöten gegan-
Qualmende Vulkane, zu relativieren. Es ist ein Kampf nicht gegen gen.« Ein Identitätsbruch.
einsame Wüsten, den Täter, sondern ein Kampf dagegen, Opfer Und mit Identitätsbrüchen kennt Melle
traumhafte Atolle zu sein. sich nun wirklich aus. n

und pulsierende Metropolen:


Über 50 faszinierende
Aufnahmen aus dem All und
die spannenden Geschichten
dahinter präsentiert
dieses Buch, basierend auf der
beliebten SPIEGEL-Kolumne
»Das Satellitenbild
der Woche«.
Rainer Unkel

Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg: Ein Kampf dagegen, Opfer zu sein

122 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


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KU LT U R

Streetfood­Karre, quartiert sich die


Heldin für ein paar Wochen auf dem
Gelände einer malerisch gelegenen
Kulturscheune in der Bretagne ein.
Élise arbeitet als Kellnerin. Die Gäs­
te sind erst Musiker, dann rückt die

Kunst des Aufrappelns Tanztruppe des israelischen Choreo­


grafen Hofesh Shechter (der sich hier
selbst spielt) an.
Die klassisch ausgebildete Balleri­
FILMKRITIK Cédric Klapischs »Das Leben ein Tanz« ist ein keineswegs na Élise ist mehr und mehr von der
lässigen, sehr viel zeitgenössischeren
tiefgründiges, aber herzerfrischendes Künstlerinnendrama, das junge, schöne, Kunst von Shechters Tänzerinnen
verliebte Menschen zeigt – und Frankreich wie aus einem Werbespot. und Tänzern fasziniert – und wird
bald eingeladen, trotz ihres lädierten
Knöchels vorsichtig beim Training
as Vergnügen der Zuschaue­ mitzumachen.
D rinnen und Zuschauer an den
Filmen des Regisseurs Cédric
Klapisch hat damit zu tun, dass
Der Tanz sei ein Königreich, das
den Mitteln des Films eigentlich ver­
schlossen sei, hat Wim Wenders über
seine Werke immer ein wenig so seinen Tanzfilm »Pina« (2011) gesagt.
aussehen, als wären sie von der Der Regisseur Klapisch ist ein wild
französischen Tourismuszentrale fi­ entflammter Bewunderer des Tanz­
nanziert worden. Man blickt auf of­ weltstars Shechter und unternimmt
fenbar vorzüglich zubereitetes Essen gar nicht erst den Versuch, das Ge­
und herrliche Ansichten von Stadt heimnis von dessen choreografischer
und Land. Man bewundert ansehn­ und musikalischer Fantasie zu er­
liche, munter trinkende, an großen gründen.
Tischen palavernde Menschen und Er ist durch und durch Fan. Minu­
die Pracht gut gelaunter französischer tenlang wirkt sein Film vollkommen
Lebensart. hingerissen von der Energie der sanft
All das zeigt und feiert auch Kla­ schwingenden und ineinander ver­
pischs neuer Film »Das Leben ein schlungenen, der stürzenden und sich
Tanz« – obwohl er damit beginnt, aufrappelnden Körper.
dass eine hochbegabte Ballerina mit­ Dabei spielt Klapisch klassisches
ten in einer Vorstellung des Ballett­ Ballett und zeitgenössischen Tanz
klassikers »La Bayadère« so böse STUDIOCANAL
nicht gegeneinander aus, er scheint
stürzt, dass sie womöglich nie wieder von beiden gleichermaßen begeis­
tanzen kann. tert zu sein. Die Logik von »Das
Klapisch, Jahrgang 1961, ist be­ Leben ein Tanz« folgt fromm der
kannt geworden mit den schnurrigen alten Künstlerweisheit, dass es beim
Paris­Huldigungen »… und jeder einer schnellen Genesung. Élises Darstellerin Tanzen nicht so sehr darauf an­
sucht sein Kätzchen« (1996) und »So knorriger, verwitweter, in der Provinz Barbeau kommt, wie sich die Menschen
ist Paris« (2008). Er hat in »Der Wein lebender Vater (Denis Podalydès) da­ bewegen, sondern darauf, was sie
und der Wind« (2017) drei Winzer­ gegen hielt noch nie viel von der bewegt.
geschwister in der Provinz fröhlich Tanzkunst und rät der Tochter zur Es ist ein heiter optimistisches
miteinander hadern lassen. Und er Lektüre guter Bücher. Vertrauen in die Veränderungs­ und
hat in seinem Hit »L’auberge espa­ Natürlich steckt in »En corps«, wie Selbstertüchtigungsmacht künstleri­
gnole – Barcelona für ein Jahr« der Film im Original heißt, der Stoff scher Arbeit, das den Film vorantreibt
(2002) vorgeführt, dass französische zu einer finsteren Tragödie, wie sie und seinen Zauber ausmacht.
Studentinnen und Studenten auch im zum Beispiel Darren Aronofskys Dabei will der Regisseur selbst kei­
Ausland nicht vergessen, warum sich Tanzfilm »Black Swan« (2010) erzählt. neswegs originell auftrumpfen oder
ihre Heimat rühmt, die Liebe und die Der Franzose Klapisch ist aber gar das Genre des gestürzten Götter­
Liebesnot überhaupt erst erfunden kein Tragödienregisseur. Er ist ein lieblings neu erfinden. Er weidet sich
zu haben. Spezialist für die kleinen, oft herz­ still vergnügt daran, dass seine von
In »Das Leben ein Tanz« spielt die erfrischend banalen Dramen und Ko­ Marion Barbeau fabelhaft trotzig ge­
junge Tänzerin und Schauspielerin mödien des Alltags, man kann auch spielte Heldin ihre Freude am Dasein
Marion Barbeau die Ballerina Élise. sagen: für die Wonnen des Durch­ wiedergewinnt.
Die erwischt hinter den Kulissen einer wurstelns. Und er lässt das Kinopublikum auf
großen Ballettpremiere ihren Tänzer­ Wie viele von Klapischs Figuren bretonische Felsen am tosenden
freund beim Fremdgehen und kommt scheint auch Élise zu beschäftigt mit Meer, auf festlich gedeckte Tafeln und
vor lauter Empörung dann auf der täglich neu auftauchenden Flirtoptio­ Klapisch ist frisch verliebte junge Leute gucken.
Bühne brutal zu Fall. nen oder Jobs, mit Plaudereien im Ganz wie in der Zeit, als die heut­
Eine Ärztin verordnet der Heldin Café oder mit Nahrungsaufnahme, ein Spezialist zutage verpönte Werbung für franzö­
eine lange Erholungspause. Ein hüb­ als dass sie ihre Niederlagen tragisch für die Won- sische Zigaretten in den deutschen
scher Physiotherapeut (François Ci­ nehmen könnte. Kinos noch die beste Urlaubswerbung
vil) flirtet mit ihr und nährt die Hoff­ Mit einer Freundin und deren Ge­ nen des Durch- für das Land war.
nung auf das medizinische Wunder fährten, einem begnadeten Koch samt wurstelns. Wolfgang Höbel n

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124 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Charlbi Dean Kriek, 32
NACHRUFE Ihren Durchbruch feierte sie
im Frühjahr – beim Festival von

Sammlung Richter / picture alliance / dpa


Cannes. In der Gesellschafts-
satire »Triangle of Sadness«, die
mit der Goldenen Palme aus-
gezeichnet wurde, spielt Charlbi
Dean Kriek eine Influencerin.
Zusammen mit einem männ-
lichen Model bildet sie in dem
Film ein schönes Paar unter lau-
ter Superreichen, die sich auf
einer Luxusjacht vergnügen, bis
das Schiff von Piraten angegrif- part hieß meist Karel Gott. Wie
fen wird. Die südafrikanische er nahm auch sie Lieder in
Schauspielerin begann mit sechs deutscher Sprache auf, darunter
Jahren eine Karriere als Model. »Liebe nimmt, wer Liebe gibt«,
Sie arbeitete für Labels wie ein Stück, das von der Lieblich-
Gucci, erschien auf dem Cover keit gerollter Rs lebt. Die

Thomas Trutschel / photothek / Getty Images


der »Vogue«. In der Modebran- »Charta 77« der Bürgerrechts-
che habe man sie als »gehenden bewegung um Václav Havel, den
und redenden Zahnstocher« späteren Präsidenten der Tsche-
tituliert, hat sie mal gesagt. Sie chischen Republik, unterschrieb
spielte in südafrikanischen sie nicht. Dafür die vom kom-
Filmen wie der Jugendkomödie munistischen Regime initiierte
»Spud« (2010) und war in der »Anticharta«. 1989, im Jahr der
Superheldenserie »Black Light- Wende in der Tschechoslowa-
ning« (seit 2018) zu sehen. kei, unterzeichnete sie die demo-
kratische Petition »Einige Sät-
ze«. Auch nach der Wende sang
Hans-Christian Ströbele, 83 sie weiter, im Laufe ihrer Kar-
Hätte Berlin-Kreuzberg einen König, dann wäre Hans-Christian riere sollen es rund 900 Lieder
Ströbele das Amt mit großer Wahrscheinlichkeit angetragen wor- gewesen sein. Hana Zagorová
den. Und wäre es ihm wirklich angetragen worden, hätte er mit starb am 26. August. SKR
noch größerer Wahrscheinlichkeit abgelehnt. Viermal gewann er in
Friedrichshain-Kreuzberg das Bundestagsdirektmandat, obwohl Abbas Maroufi, 65
Grüne seinerzeit noch keine Direktmandate holten. Ströbele war Er warf einen letzten Blick auf
2002 der Erste. Er schaffte es wieder. 2005, 2009, 2013. Zuvor war Clemens Bilan / epa seine Bücher, auf die Augen sei-
er, der 1939 geboren wurde, den Krieg noch erfuhr und sich später ner Mutter, die Tränen. So schil-
für den Frieden einsetzte, Meisterschütze an der Flak, als Wehr- derte Abbas Maroufi, ein Kriti-
dienstleistender, wie er noch kurz vor seinem Tod erzählte. Nach ker des iranischen Regimes und
der Bundeswehr studierte er Jura und Politische Wissenschaften. einer der bekanntesten Autoren
Er trat in die SPD ein, flog wieder raus. Zu Bekanntheit gelangte er, iranischer Gegenwartsliteratur,
weil er als Anwalt RAF-Mitglieder verteidigte und weil er 1982 Vor der Preisverleihung für 1997 in einem Gastbeitrag für
wegen Unterstützung der RAF zu einer Haftstrafe auf Bewährung »Triangle of Sadness«, der am den SPIEGEL Momente seiner
verurteilt wurde. Er gründete die »taz« mit. Er sammelte Geld für 13. Oktober in die deutschen Ausreise. In seiner Heimat hatte
Waffen, die nach El Salvador gingen. Erst als er genug Politik zu- Kinos kommen soll, sagte sie: er, der 1957 in Teheran zur Welt
sammenhatte für mehr als ein erfülltes Leben, begann seine poli- »Für mich ist es, als hätte ich gekommen war, eine oppositio-
tische Laufbahn so richtig. Ende der Siebzigerjahre war er Grün- schon gewonnen. Ich bin in nelle Kulturzeitschrift heraus-
dungsmitglied der Alternativen Liste für Demokratie und Umwelt- Cannes mit dem Film!« Charlbi gegeben. Das Regime verfolgte
schutz, aus der die Berliner Grünen wurden. 1990 übernahm er für Dean Kriek starb am 29. August ihn dafür, verurteilte ihn zu Ge-
einige Monate den Bundesvorsitz, prägte danach die Partei, wäh- in New York. LOB fängnis, Publikationsverbot und
rend sie durch die Institutionen marschierte. An der Vorbereitung Peitschenhieben. Er reiste aus,
der rot-grünen Koalition in Berlin 1989 arbeitete er mit. Selbst Hana Zagorová, 75 kam nach Deutschland, arbeite-
strebte er nie in die Exekutive. Dass Regierungen Kompromisse Sie hat die Augen weit geöffnet, te nachts in einem Hotel nörd-
machen, akzeptierte er. Dass er sie machen sollte, nicht immer. Den ihr Mund lächelt breit, während lich von Berlin, eröffnete später
Afghanistankrieg, an dem sich Deutschland mit grüner Billigung sie eine tschechische Version eine persische Buchhandlung in
beteiligte, lehnte er stets ab. Um ihn herum veränderten sich Weg- des Hits »The Locomotion« der Kantstraße. Den im Exil auf
gefährten. Manche radikalisierten sich. Andere verliebten sich ins singt. Das Jahr »1980« ist einge- Persisch geschriebenen Roman
bürgerliche Leben. Einige wurden Renegaten, wie Horst Mahler, blendet in dem Video dieses »Fereydun hatte drei Söhne«
in dessen Kanzlei Ströbele anfing, den er vor Gericht verteidigte, TV-Auftritts von Hana Zagoro- hätte er mit 360 Streichungen in
nachdem der sich der RAF angeschlossen hatte, und der später vá, es ist entstanden in Zeiten, Iran veröffentlichen dürfen –
in den Rechtsextremismus driftete. Währenddessen blieb Ströbele in denen sie zu den populärsten also stellte er ihn ins Netz, ohne
eigensinnig, ohne eigenartigen Theorien zu verfallen. Skeptisch Musikerinnen der ČSSR zählte: Streichungen. Werke wie »Sym-
gegenüber der Staatsmacht, aber überzeugter Parlamentarier. Er Neunmal in Folge, von 1977 phonie der Toten« erschienen
hielt Distanz zur Macht, ohne sich von ihr abstoßen zu lassen. Er bis 1985, gewann sie den Musik- auf Deutsch im Insel Verlag.
pflegte, was kaum einem gelingt: staatstragende, vernünftige Que- wettbewerb »Goldene Nach- Abbas Maroufi starb am 1. Sep-
rulanz. Hans-Christian Ströbele starb am 29. August in Berlin. JOS tigall«; ihr männlicher Counter- tember in Berlin. SKR

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 125


PERSONALIEN

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Wie sehr die Boulevardpresse
ihr zusetzte, hat die Herzogin
von Sussex, Meghan, 41, bereits
erläutert. Zuletzt sorgte ihr
Gespräch mit US-Talkmasterin
Oprah Winfrey für Schlagzei-
len. Darin sprach sie über den
Rassismus, der ihr auch von der
royalen Familie entgegenge-
schlagen sei. Fast pünktlich zum
25. Todestag ihrer Schwieger-
mutter, Lady Diana, hat Herzo-
gin Meghan nun in einem Inter-
view mit »The Cut« nachgelegt.
Fotos ihres Sohnes Archie habe
sie nicht, wie in royalen Kreisen
üblich, zuerst an den Pressepool
der Queen gegeben. Sie habe
sich gefragt, warum sie Bilder
ihres Sohnes an Leute über-
reichen sollte, die ihn rassistisch
beleidigen. Bevor sie ihren In-
stagram-Account ruhen ließen,
posteten die Herzogin und Ehe-
mann Prinz Harry Fotos von
Archie daher zuerst in dem so-
zialen Netzwerk. Darüber war
die Klatschpresse nicht erfreut.
Auch das neue Interview sorgt
nicht für Begeisterungsstürme.
Das Paar habe »seine Lektion

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noch immer nicht gelernt«,
twitterte ein Reporter etwa.
Gelernt hat Meghan aus dem
Ganzen aber zumindest eines:
Popularität funktioniert heute
kaum noch ohne Instagram.
Deshalb kommt sie bald dorthin
zurück. EVH

»Fucking crazy« England zurück. Genauer: auf habe es satt«, sagte Osbourne,
ihr Anwesen in der Grafschaft »dass jeden Tag Menschen ge-
»Mama, I’m Coming Home«, Buckinghamshire – eine ganz tötet werden.« Die Schulmas-
sang er schon vor mehr als passend klingende Umgebung saker, der Massenmord 2017 in
30 Jahren – »Mama, ich kom- für den »Prince of Darkness«. Las Vegas, all das sei »fucking
me heim«. Jetzt scheint Ozzy Das hat der frühere Black-Sab- crazy« (das F-Wort benutzt
Osbourne, 73, seine Songzeile in bath-Sänger vor Kurzem der Osbourne in dem ausführlichen
Alex Pangling / Getty Images

die Tat umzusetzen. Der Rock- britischen Zeitung »The Ob- Interview übrigens mehr als
musiker, der in Birmingham server« erzählt. Er begründete ein Dutzend Mal). Zudem wol-
geboren wurde und seit über dies nicht etwa mit seinem le er schlicht nicht in den USA
20 Jahren in Los Angeles lebt, hohen Alter – sondern mit der sterben: »I’m English. I want
will zusammen mit seiner Frau Waffengewalt in den Vereinig- to be back.« Er sei Engländer –
Sharon, ebenfalls Britin, nach ten Staaten von Amerika. »Ich und wolle zurück. SKR

126 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


Unwirklich nahbar Typ, und ich bin noch ganz
befangen«, erklärte die glück-
Keanu Reeves, 58, hat seinem liche Braut danach auf Twitter.
Ruf als nettester Mensch in Reeves selbst, der sich derzeit
Hollywood ein weiteres Mal für den Dreh einer Dokumen-
alle Ehre gemacht und ist, tation über die Formel 1 in
sozusagen als menschlicher Großbritannien aufhält, macht
Spezialeffekt, zur Hochzeits- seit Jahren einen großen Bogen
feier eines englischen Paares um soziale Netzwerke, ist aber
erschienen. Der Bräutigam für seine geradezu unwirkliche
hatte den Schauspieler (bekannt Nahbarkeit bekannt. In der
aus den »Matrix«- und »John U-Bahn von New York City
Wick«-Filmreihen) auf gut überließ Reeves 2011 einer Frau
Glück an der Bar des Hotels mit schwerer Tasche seinen

Chris Pizzello / AP
in Northamptonshire, in dem Platz. Das entsprechende Video
die Trauung gefeiert werden ging viral, ebenso wie die Ge-
sollte, angesprochen und ein- schichte der Notlandung einer
geladen. Nicht nur, dass der Linienmaschine 2019 in Bakers-
kanadische Star dann tatsäch- field. Reeves stand erneut nicht Oscars? Nein, danke! gen eines Vergleichs: Der Co-
lich auftauchte, er posierte nur für Fotos bereit, sondern median sagte, ihn erneut zu den
auch für Fotos mit dem Braut- organisierte den Weitertrans- Der Mann weiß, wie es sich Oscars einzuladen, sei so, als
paar und nahm sich Zeit, mit port seiner Leidensgenossen anfühlt, vor aller Augen ge- hätte man Nicole Brown Simp-
einigen der Gäste zu sprechen. und betätigte sich als launiger demütigt zu werden – und hat son gebeten, »ins Restaurant
»Er war ein so freundlicher Reiseführer, der Wissenswertes keine Lust mehr auf die Ver- zurückzugehen«. Rock spielte
über die kalifornische Stadt anstaltung, bei der das geschah. damit auf die Ex-Frau von
vortrug. Bemerkenswert ist US-Komiker Chris Rock, 57, er- O. J. Simpson an, die 1994 nach
auch der Umstand, dass kein zählte jüngst bei einer Show in einem Restaurantbesuch in Los
aktuelles Bild mit Reeves und Phoenix, er sei von der Acade- Angeles ermordet worden war.
weiblichen Fans oder Kolle- my gefragt worden, ob er 2023 Neu ist allerdings nicht, dass
ginnen existiert, auf denen er wieder die Oscars moderieren Rock mit seinen Gags aneckt,
sie berühren würde. Immer wolle. Er habe abgelehnt. Das der verbale Ausfallschritt ist
schwebt seine Hand, gut sicht- berichtet die Tageszeitung »Ari- eher sein Markenzeichen. Aus-
bar, über der Hüfte. Nicht aus zona Republic«. Im März war teilen kann er, daran hat die
Gabe Ginsberg / WireImage / Getty Images

Vorsicht, wie er in einem Inter- Rock von Will Smith auf offener Ohrfeige nichts geändert, ver-
view mit dem SPIEGEL einmal Bühne geohrfeigt worden, nach- zeihen aber wohl noch nicht:
betonte, sondern aus »Höflich- dem er einen Witz über die feh- Will Smith veröffentlichte im
keit«. Wenn die Menschen »et- lenden Haare von dessen Frau Juli ein Video mit einer weite-
was Nettes über mich sagen«, Jada Pinkett Smith gemacht hat- ren Entschuldigung. Smith sagte
fände er das »nett«. Das Pendel, te. Sie leidet unter kreisrundem darin, er habe versucht, Kon-
so Keanu Reeves, könne schnell Haarausfall, Rock will das nicht takt zu Rock aufzunehmen. Der
in die Gegenrichtung umschla- gewusst haben. Nun allerdings sei aber noch nicht bereit für
gen. FRA steht er selbst in der Kritik we- ein Gespräch. KAE

Lebensgefühl der eher ein Kurzfilm ist denn ein


Musikvideo, sogar selbst Regie.
Millennials Es dürfte wahrscheinlich gerade
Als Popstar Taylor Swift, 32, keine Künstlerin geben, die so
ihren ersten MTV Video Music vollendet das Lebensgefühl der
Award für das »Best Female Millennials verkörpert wie Tay-
Video« erhielt, führte das zu lor Swift – das Selbstbewusst-
einem der größten Popskandale sein von Wunschkindern, denen
der Nullerjahre. 2009 war das, immer zugehört wurde. Sie
der Rapper Kanye West stürm- werde am 21. Oktober ein neues
te auf die Bühne, nahm ihr das Album veröffentlichen, verkün-
Jamie McCar thy / MTV / Paramount Global / Getty Images

Mikrofon weg und behauptete, dete Swift bei der Verleihung


sie habe die Auszeichnung nicht auch gleich von der Bühne aus.
verdient. Selbst der damalige »Midnights« soll aus 13 Lie-
US-Präsident Barack Obama dern bestehen, die nachts ent-
mischte sich in die anschließen- standen sind. Eine Reise durch
de Kontroverse ein. Mittlerwei- »Schrecken und süße Träume«,
le gibt es niemanden, der so oft ein Album über die Dämonen,
den wichtigsten Award »Video denen wir uns stellen müssen.
of the Year« gewonnen hat wie Auch das wieder: ein großes
Swift: Mit »All Too Well« be- Millennialthema. Behütet auf-
kam sie vor Kurzem ein wei- gewachsen zu sein und nun in
teres Mal diese Auszeichnung. eine Welt gestoßen zu werden,
Swift führte in dem Clip, der die voller Krisen ist. RAP

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 127


aus, denn jetzt in ihrem wohlver-
BRIEFE dienten Ruhestand leisten sie ja
nichts mehr. Herr Lindner, mit
dieser Politik können Sie keinen
Blumentopf gewinnen!
Agnès Siémon, Berlin

Ich werde den Verdacht nicht los,


wie lange die russische »Normal- wahl dementsprechend auch nur dass sich bei Christian Lindner
bevölkerung« Putins Staatspro- eine »Spezialoperation«. alle Gedanken ausschließlich ums
paganda noch folgen wird. Dr. Hans Christian Hummel, Hannover Steuersparen drehen. Der alte
Dieter Obst, Wiesbaden Fetisch der FDP eben. Vielleicht
Den Meisterspion und wichtigs- ist das der Grund, weshalb er
Am 30. April 1945 brachte ich ten Saboteur haben Sie verges- einen alten Porsche fährt, den
im Alter von 23 Jahren in der sen: Gerhard Schröder. man in Fankreisen »klassisch«
provisorischen Entbindungssta- Horst Rohr, Grafschaft (Rhld.-Pf.) nennt. Auf solche Autos mit his-
tion katholischer Ordensschwes- torischen Kennzeichen wird näm-
tern in Hochheim im Taunus Da reist die Tochter eines auslän- lich nur eine deutlich ermäßigte
meinen Sohn zur Welt; drei Wo- dischen Potentaten mit ihrem Kfz-Steuer fällig. Auch eine
chen zuvor hatte meine Schwes- kleinen Kind in vier Jahren mehr kirchliche Trauung, ohne Kir-
ter im Bunker ihr Kind geboren. als 20-mal zu ihrer Fernbezie- chensteuer zu bezahlen, deutet
Heimlich hörten wir englisches hung nach München, um mit dem auf eine ausgeprägte Knauserig-
Radio. So kam am 8. Mai die fro- Mann, der dort – in einer übri- keit hin. Steuerrabatte für Gut-
he Botschaft des Kriegsendes gens ziemlich stressigen Funk- verdiener, Hotelbesitzer und
auch an mein Ohr. Nie wieder tion– tätig ist, in einem der teu- SUV-Fahrer sprechen ebenfalls
Krieg – das war uns vor 77 Jahren ersten Hotels der Stadt oder am eine deutliche Sprache.
Zurück im Kalten sonnenklar. Unvorstellbar, aber Tegernsee abzusteigen. Und – Wolfgang Quakernack, Detmold (NRW)
wahr: Krieg in Europa seit dem man höre und staune – bei diesen
Krieg 24. Februar 2022. Mein Heimat- »Lustreisen« gab sie »sich offen- Vernichtende Worte über einen
Nr. 35/2022 Titel: Putins Saboteure land scheint in wenigen Tagen bar keinerlei Mühe, ihre Reisen Bundesminister und Volksvertre-
zurück im Kalten Krieg zu sein. nach München zu tarnen«. Na, ter, leider aber wahrhaftig. Chris-
In der Schule las ich einst »Krieg Wie soll ich das meinen Urenkeln so was! Gut, dass es den SPIEGEL tian Lindner müsste sich in sei-
und Frieden«. Heute lese ich als erklären? und seine cleveren Rechercheure nem Ministeramt endlich über
Lehrerin diese Titelgeschichte Luise-Kathrin Thomalla, Groß Sarau gibt, die uns diesen Skandal auf- Parteipolitik und Klientelinteres-
und bin weiterhin erschrocken (Schl.-Holst.) gedeckt haben. sen hinwegsetzen, nur wird er
darüber, dass wir eine Zeitreise Kaspar Apfelböck, Schwabach (Bayern) nicht über seinen Schatten sprin-
in meine Schulzeit zurück erle- Wer immer noch nicht verstan- gen können.
ben: Wenn ich eine Zeitung aus den hat, dass Russland und China Bodo Weber, Baden-Baden (Bad.-Württ.)
dem Kalten Krieg neben den ak- feindliche, faschistische Mächte Mehr VW und
tuellen SPIEGEL lege, erkennen sind, die unsere Lebensart ver- Melanie Amann spricht mir mit
meine Schüler kaum einen Unter- achten und unser System ver- Gerechtigkeit ihrem Leitartikel aus der Seele.
schied. Wahnsinn. Das macht nichten wollen, dem ist nicht zu Nr. 34/2022 Leitartikel: Christian Potenziell gehöre ich wahrschein-
Angst – und Angst ist ein schlech- helfen. Lindner bestätigt das Klischee vom lich zur FDP-Klientel. Aber dem
ter Ratgeber. Dr. Jean-Arno Topp, München herzlosen Liberalen Führungstrio der Partei – Lind-
Bettina Meinert, Hamburg ner, Buschmann, Wissing – kann
Als flankierende Maßnahme zur FDP-Chef und Finanzminister ich beim besten Willen nicht fol-
Mit viel Detailkenntnis wird auf- Gefährdungsminimierung bietet Christian Lindner will nicht ge- gen. Die Arroganz und Besser-
gezeigt, wie Wladimir Putin, der sich die Verweigerung von Visa mocht werden. Allerdings dürfte wisserei der FDP ist nur schwer
selbst ernannte Zar auf Lebens- für den gesamten Schengenraum ihn eventuell kümmern, ob seine zu ertragen. Die kleinste Partei in
zeit, demokratische Strukturen für russische Staatsbürger an. Partei (noch) gemocht wird. Ich der Ampelkoalition stellt sich lau-
unterlaufen will. »Der gelernte Dass sich blauäugige Politiker weiß manchmal nicht, wohin mit fend quer und tut so, als wäre sie
Geheimdienstler« ist es nicht ge- immer noch dagegen stemmen, meinem Ärger und meiner Wut. von der überwiegenden Mehrheit
wohnt, einen offenen Dialog zu zeigt nur deren fehlende Sensibi- Als Rentnerin bin ich keine Leis- der Bevölkerung gewählt worden.
führen und – wie in einer demo- lität für die Gefahr. Putin und sei- tungsträgerin (mehr), und damit Ihr Credo lautet: nein, nein, nein.
kratischen Gesellschaft üblich – ne Agenten halten offenbar den nach Ansicht von Herrn Lindner So zum Beispiel beim Tempo-
Kompromisse zu suchen. Putin Westen ohnehin für dekadent. auch nicht unterstützungswürdig. limit. Nichts gegen Porsche und
hat sich bereits seit Langem daran Dann entgeht ihnen durch einen Aber habe ich denn nichts geleis- Fairness, aber etwas mehr VW
gewöhnt, nur von Personen um- Visabann auch nichts. tet in der Vergangenheit? Habe und Gerechtigkeit wären aktuell
geben zu sein, die von ihm ab- Thomas Müller, Pforzheim ich nicht jahrzehntelang mit für angebrachter!
hängig sind und ihm nicht wider- die Bildung unseres Nachwuchses Dirk Bohman, Overath (NRW)
sprechen. Wer das tut, hat näm- Der ehemalige KGB-Agent Putin gesorgt? Das zählt offenbar nicht,
lich verloren und keine Zukunft hätte nie Politiker werden dürfen. geschenkt. Aber was ist mit
mehr. Die offensichtliche Angst Statt Politik gibt es für ihn nur denen, die unser Land mit auf- KORREKTUR
vor Gegenrede scheint auch der Krieg und Geheimdienstopera- gebaut haben und für den Wohl- Zu »Putins Schattenkrieger« in
Grund zu sein, weshalb er mit fa- tionen – in Russland, weltweit, stand gesorgt haben, von dem die Heft 35/2022, Seite 9: Die Serie
denscheinigen Begründungen natürlich auch in Deutschland. heutigen »Leistungsträger« und »The Americans« wurde für den
Alexej Nawalny unnachgiebig Sein brutaler Angriffskrieg gegen nicht zuletzt Herr Lindner selbst US-Sender FX produziert, nicht
verfolgt. Es bleibt abzuwarten, die Ukraine ist in seiner Wort- profitieren? Auch sie gehen leer für Netflix.

128 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022


auch ein eklatantes Schwinden
Die Aussage unserer Danke für die Wort- Agenten leben und der Finanzkraft durch das redu-
Umweltministerin schöpfung »Ver- wirken bekanntlich zierte Kirchensteueraufkommen
Steffi Lemke, dass sie wagenknechtung«! im Verborgenen, und den Wegfall der »großzügi-
gen Unterstützung der Amtskir-
ihren Kollegen, Ver- Sie hat mich sehr sie sterben einsam chen durch Steuergelder«. Damit
kehrsminister Volker amüsiert, obwohl es und anonym – es sei wäre ein Transformationsprozess
Wissing, sehr schätze eigentlich zum denn, sie schauen bei Krankenhäusern, Kitas und
und dieser als Winzer Weinen ist, dass der unfreiwillig in den anderen sozialen Einrichtungen
notwendig, bei denen beide Kir-
einen engen Bezug Populismus die ein- SPIEGEL. chen zurzeit die Trägerschaft in-
zur Natur habe, zige Alternative zur Raffaele Ferdinando Schacher, nehaben.
Rorschach (Schweiz)
stimmt mich ja fast Politik der Regierung Bernhard Nothdurft, Irmtraut (Rhld.-Pf.)

euphorisch. So könn- zu sein scheint. Die beschriebene Entwicklung


te es klappen mit Maria Haberl, Simmerath zur Konfessionslosigkeit wird sich
(NRW)
dem Naturschutz. wohl in der Tat nicht aufhalten
lassen. Ich selbst bin schon vor
Werner Ocken, Geestland
(Nieders.) Jahrzehnten aus der katholischen
Kirche ausgetreten, schätze und
unterstütze die evangelischen
Kirchen aber heute als kulturel-
Nr. 34/2022 SPIEGEL- len, sozialen und auch ethisch-
Gespräch mit Umweltministerin moralischen Raum. Ohne Kir-
Steffi Lemke über Nr. 34/2022 Kolumne: Der Nr. 35/2022 Titel: Putins chenmusik, kirchlich geprägte
die Oder-Katastrophe gesunde Menschenverstand Saboteure Kindergärten und Seniorenheime
und wohlerhaltene jahrhunderte-
Mitten ins fossile nen. Oder finanzieren Mama und Unaufhaltsame alte Kirchengebäude wäre unsere
Papa diese ewig? Gesellschaft um vieles ärmer –
Herz Gisela Neudeck, Wiesbaden Entwicklung und zwar im buchstäblichen wie
Nr. 34/2022 Wer sind die Klimaaktivisten Nr. 34/2022 Der Siegeszug der Gottlosen im übertragenen Sinne. Die ma-
der »Letzten Generation«? Die Gesellschaft braucht den terielle Privilegierung der Amts-
konstruktiven Konflikt, außer- Deutschland steht allein da. Trotz kirchen und ihres Apparats aller-
Es ist der traditionelle Antagonis- parlamentarische Protestformen aller Skandale werden zwölf Mil- dings scheint ein Unikum und
mus zwischen legal und legitim. und den Aufruf an die Mächtigen liarden Euro Kirchensteuer an die auch zunehmend nicht mehr zeit-
Nicht alles, was legitim ist, ist le- im Land, zur Besinnung zu kom- Kirche überwiesen. So finanziert gemäß zu sein.
gal. Die Umweltapologeten glau- men. Wirtschaft und Kapitalis- unser Staat die Kirche. Die Kirche Susanne Stein, Hamburg
ben sich in moralisierender Atti- mus bedingungslos zu folgen sollte sich nicht beklagen, dass in-
tüde über Gesetze hinwegsetzen führt in die gesellschaftliche zwischen zwei Drittel der Deut- Die Überschrift ist übertrieben,
zu dürfen. Sie halten ihr Vorge- Sackgasse. Letztlich geht es um schen dafür sind, die Kirchen- doch die Entwicklung ist bemer-
hen für legitim, weil es ja einem unser aller Lebensqualität und steuer abzuschaffen. Die Situa- kenswert. 10 oder 15 Jahre weiter
edlen Ziel, dem Klimaschutz, um das Gemeinwohl, von der tion in anderen Ländern ist mit gedacht, werden die katholische
dient. Wenn das Schule macht heutigen wie von zukünftigen Deutschland nicht zu vergleichen. und evangelische Kirche keine
und obendrein von manchen poli- Generationen sowie von allen Dort ernähren sich die Kirchen Breitenwirkung mehr haben und
tischen Strömungen goutiert Lebewesen. Eine bessere Welt ist ohne staatliche Unterstützung. zu Organisationen werden, die
wird, ist der Rechtsstaat am Ende. möglich. Freilich nur, wenn wir Uta Freising, München fast randständig in der Gesell-
Christoph Schönberger, Aachen sie schaffen. schaft sind. Wobei die Folgen im
Johanna Lebbedies, Stuttgart Wie kommt man darauf, einen geistig-moralischen und spirituel-
Die Straßenblockaden der »Letz- Menschen, der nicht oder nicht len Bereich viel gravierender
ten Generation« treffen die Auto- Prinzipiell sind die Aktionen und mehr einer Kirche angehört, als sind. Denn die christliche Grund-
republik Deutschland mitten in der Zorn über zu wenig vernünf- »gottlos« zu bezeichnen? Ich haltung, die sinnvolle Bedeutung
ihr fossiles Herz und sind daher tige Klimapolitik nachvollzieh- selbst gehöre seit den Siebziger- der Zehn Gebote und Werte wie
genau am richtigen Ort. Solange bar. Aktionen wie das Zudrehen jahren keiner Kirche mehr an. Mit Hilfsbereitschaft und Solidarität
es die Politik versäumt, Men- von Pipelines sind jedoch gar Gottlosigkeit, weil Religionslosig- haben eine tiefe Bedeutung und
schen und Wirtschaft angemessen nicht akzeptabel. Es scheint auch keit, hat das nicht das Geringste müssen erhalten werden.
vor den Folgen der Klimakatas- immer nur darum zu gehen, jenes zu tun. Ich kann die Intelligenz André Maßmann, Duisburg
trophe zu schützen, müssen die »verbieten« zu wollen, das man Gottes im gesamten Universum
Proteste weitergehen. selbst nicht braucht oder in An- wahrnehmen. Ihre unterstellte Wer mag denn noch bei all dem
Alexander Grevel, Vorstand Klimaliste spruch nehmen muss. Das Pro- Gottlosigkeit weise ich von mir. Übel auf dieser Welt an einen lie-
Deutschland, Freiburg blem ist komplexer – und nicht Christa Karola Mangold, Wipperfürth benden Gott glauben? »Nicht-
nur für fossile Energieträger wird (NRW) gläubige« sind nicht gottlos, son-
Ich bin verwundert, mit welcher die Erde geplündert. Ich glaube, dern sie sind Gott los.
Empathie Sie in diesem Artikel das Vorgehen der »Letzten Ge- Es ist noch zu bedenken, dass bei Georg Malkowsky, Bockenem (Nieders.)
dahinschmelzen und die Aktivis- neration« ist eher kontraproduk- der skizzierten Entwicklung der
ten als Märtyrer darstellen. Inte- tiv. Nur mit Unterstützung der Mitgliedszahlen von beiden Kir-
ressant wäre zu erfahren, wie sich breiten Masse ergäben sie Sinn. chen in Deutschland nicht nur ein Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
diese Abbrecher vorstellen, in Aber da sehe ich eher schwarz. Rückbau an kirchlichen Sonder- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
Zukunft ihre Brötchen zu verdie- Stefan Nützer, Malchow (Meckl.-Vorp.) regeln zu erwarten ist, sondern unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 36 / 3.9.2022 DER SPIEGEL 129


HOHLSPIEGEL R Ü C KS P I E G E L

Die SPIEGEL-Podcasts
Zitate
Gutes für Die »Zeit« erwähnt den SPIEGEL -Titel
zu Wirtschaftsminister Robert

die Ohren Habeck (»Die Leidfigur«, Nr. 34/2022):

Jetzt scheint also der Moment da zu sein, auf


den er gewartet hat. Es konnte ja nicht ewig
so weitergehen. Schlagzeilen und Titelseiten,
Lob von links und von rechts, ein Gesetzes-
paket nach dem anderen und dazu jede
Woche ein Umfragerekord. Das vergangene
halbe Jahr machte aus Robert Habeck den
Aus der »Tagesschau«-App beliebtesten Politiker des Landes, den heim-
lichen Kanzler, wie viele meinten, den Krisen-
deuter, die »Leidfigur«, wie der SPIEGEL
Aus dem »Hamburger Abendblatt«: »Am titelte. Keine zwei Wochen her … Ist es nun
Montag gibt es zwei Jahrestage, die einen Geschichte, die sich wiederholt? Oder wie-
Bezug zu Ingrid Bergmann haben. Vor derholen bloß manche die Geschichte? In
40 Jahren ist die großartige schwedische diesen Tagen jedenfalls steht fest: Es läuft
Schauspielerin gestorben. Am selben Tag nicht gut für Robert Habeck – und das liegt
ist ihr 40. Todestag.« diesmal an der Gasumlage. Der Zusatzbetrag
auf der Gasrechnung ist zum Symbol gewor-
Mehr Glück, mehr Geld, mehr den für das Scheitern der Regierung in der
größten Energiekrise seit dem Ende des Zwei-
Zeit, mehr Spaß – Ideen für ten Weltkriegs, vor allem weil auch Firmen
unser Leben haben wir alle. gestützt werden, denen es wirtschaftlich oh-
Aus der Hausordnung einer Pension im Aber wie gehen wir sie an? nehin sehr gut geht.
österreichischen Döbriach
Lenne Kaffka findet Antworten. Die Bietigheimer Zeitung über das
letzte SPIEGEL -Interview mit
Aus der »Rheinpfalz«: »Denn wer derzeit Grünen-Urgestein Hans-Christian
auf die Landkarte Chinas blickt, sieht Ströbele (»Sind Sie erst zufrieden,
Dutzende Städte, in denen sich kleinere wenn ich schwere Waffen fordere?«,
Infektionsstränge ausbreiten.« SPIEGEL .de am 15. Mai):

»Es ist richtig, der Ukraine Waffen zu liefern.


Defensivwaffen, so etwa Panzerfäuste«, wie
er im Mai dem SPIEGEL sagte. Er sei aber
Spannende Recherchen und strikt gegen die Lieferung schwerer Waffen.
Von der Speisekarte eines Campingplatz- politische Hintergründe, Ideen Wenn die ukrainische Armee Geländegewin-
restaurants in Kroatien ne erziele, werde Putin am Ende vielleicht
für ein besseres Leben und sogar taktische Atomwaffen einsetzen. Seiner
Nachrichten für Kinder – Partei hielt er bei aller Kritik bis zuletzt
Aus der »Neuen Westfälischen«: entdecken Sie weitere die Treue. Säße er noch im Bundestag, dann
»Steenkamp war viermal durch »natürlich bei den Grünen«, sagte er dem
die geschlossene Tür einer kleinen Podcasts in unserer Audio- SPIEGEL . »Und wie die es von mir gewohnt
Toilette erschossen worden.« thek auf spiegel.de/audio. sind, würde ich mich störend zu Wort melden.
Weil es so verrückt ist, wie man in diesen Ta-
gen mit Krieg und Frieden umgeht. Das macht
mich zornig.«

Das »Liechtensteiner Volksblatt«


über Enthüllungen des SPIEGEL zum
Versagen der Finanzaufsicht FMA
im Fürstentum (»Das ist nationale
Identität«, Nr. 35/2022):

Das Nachrichten-Magazin kreidet in seinem


Artikel an, dass ein ukrainischer Oligarch
trotz einer »Weissgeld-Strategie« Liechten-
Aus dem dm-Magazin »Alverde« steins noch bis 2019 eine Kleinbank dafür
nutzte, um undurchsichtige Zahlungen
auszuführen. Den Bericht, den der SPIEGEL
Aus der »Frankfurter Allgemeinen«: hierfür heranzieht, hatte die FMA selbst in
»Allerdings hat Biontech die Auftrag gegeben und bezieht sich auf die
Patenvorwürfe schon bei der Curevac- Union Bank. Wie das Nachrichten-Magazin
Klage vehement zurückgewiesen.« an den »Geheimbericht« kam, ist unklar.

130 DER SPIEGEL Nr. 36 / 3.9.2022

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