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Hausmitteilung
Betr.: Trump, Identitäre, SPIEGEL GESCHICHTE

Auslandsreisen von Staatschefs taugen


selten zur Erholung, der Zeitplan ist
eng, die Gespräche folgen in schnellem Takt,
der Jetlag macht alles noch schlimmer. Do-
nald Trumps neuntägige Antrittsreise durch
fünf Staaten des Nahen Ostens und Europas
war ein atemloser, zermürbender Kraftakt.
Streckenweise wirkte sie wie eine Flucht vor
der Russlandaffäre, die den US-Präsidenten
zu Hause zunehmend unter Druck setzt.
Scheuermann in Riad Christoph Scheuermann begleitete Trump
auf der gesamten Reise. Er beobachtete
einen Präsidenten, der sich beherrschte und verbissen darum bemüht war, von
der Welt endlich als Staatsmann wahrgenommen zu werden. Trump hoffe, sagt
Scheuermann, dass der Skandal nach seiner Rückkehr verschwinden werde,
„das wird aber nicht passieren“. Seite 22

U m einen Menschen in einem Text porträtieren zu können, ist Nähe und ein
gewisses Maß an Vertrauen auf beiden Seiten wichtig. Es gibt Recherchen,
bei denen sich Nähe und Vertrauen schnell einstellen, bei manchen aber dauert
Worum geht es?
es lange. Die Recherche von Takis Würger über Melanie Schmitz, Postergirl Wie kann man Parks und andere öffentliche
der „Identitären Bewegung“ in Deutschland, fällt in die zweite Kategorie. Die Grünanlagen mit Leben füllen? Wie kön-
Identitäre Bewegung ist eine rechte Nachwuchs- nen sie zu einem Ort für Gemeinschaft und
organisation, und ihre Mitglieder sind nicht wirklich gemeinsame Aktionen werden? Wie können
daran interessiert, mit Journalisten Zeit zu ver- wir hier Nachhaltigkeit schaffen? Wir suchen
gute Ideen und Projekte, die Grünflächen zu
bringen. Sie fürchten, unter anderem, den Kontroll-
Stadtoasen für die Bürger machen.
verlust. Aber sie wollen sich selbst und anderen be-
weisen, dass sie politisch relevant sind, und so gelang Wie kann man teilnehmen?
es Würger nach mehreren Vorgesprächen, Zugang Mitmachen kann jeder! Die Einreichungsfrist
für den Social Design Award läuft bis zum
SVEN DOERING / DER SPIEGEL

zu Schmitz und den Identitären zu finden. Er traf


sie mehrmals, saß mit ihnen in Kneipen, begleitete 31. August 2017. Die Wettbewerbsunterlagen
und das Onlineformular für die Beiträge gibt
sie auf einer Reise nach Paris – und baute so all-
es unter www.spiegel.de/socialdesignaward
mählich die Nähe auf, die nötig war, um die Identi-
tären zu verstehen. Wer die Identitären genau Wie läuft der Wettbewerb ab?
sind, ob sie eine Gefahr darstellen, beschreibt Aus allen Beiträgen stellen wir die zehn
Würger ab Seite 62 Schmitz, Würger in Halle besten Ideen ab Anfang Oktober 2017 auf
SPIEGEL ONLINE vor. Die Leser können
dann ihrem Favoriten eine Stimme geben.

D ie Rechtspopulisten sind auf dem Vormarsch, in Deutschland, in Frankreich,


in Ungarn, in den Niederlanden, auch in der Türkei. Ihre Wähler sehnen sich
nach einer anderen, angeblich gerechteren Politik. Kritiker dagegen sehen die Ge-
Die Gewinner geben wir am 12. Dezember
2017 in SPIEGEL Wissen 6/2017 und auch
auf SPIEGEL ONLINE bekannt.
fahr eines erstarkenden Faschismus in Europa und ziehen Vergleiche zwischen Er-
doğan und Hitler, zwischen Orbán und Mussolini. Sind solche Vergleiche gerecht- Was gibt es zu gewinnen?
fertigt, oder fehlt ihnen die Substanz? Um Fragen wie diese angemessen beant- Vergeben werden ein Jurypreis und ein
Publikumspreis. Beide Preise sind jeweils
worten zu können, ist es nötig, den Faschismus zu kennen und zu verstehen. Die mit 2.500 Euro dotiert. Der Rechtsweg ist
aktuelle Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE liefert die ausgeschlossen.
nötigen Fakten, Analysen, Hintergründe zum Thema. So re-
cherchierte Uwe Klußmann im lange unzugänglichen Mos-
kauer Sonderarchiv, Walter Mayr sprach mit greisen Fans
von Mussolini, der Historiker Robert Gerwarth diskutiert
im SPIEGEL-Gespräch Ursachen und Formen des Faschismus,
und Dirk Kurbjuweit gibt in einem Essay seine Antwort auf
die Frage, ob Vergleiche zwischen Rechtspopulisten und Fa-
schisten gerechtfertigt sind. Die neue Ausgabe von SPIEGEL In Kooperation mit
GESCHICHTE erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL 22 / 2017 3


HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL
Schriftstellerin Adouani

Dichter vieler Welten


Literatur Die explosiven Bücher unserer
Zeit handeln von Wanderung und
Exil. Viele Autoren müssen ihr Heimat-
land verlassen. Ihre Leitkultur ist
CHRISTOPHER FURLONG / GETTY IMAGES

eine der Erinnerung und der Ankunft:


die neue Weltkultur. Ihre Werke haben
revolutionäre Kraft. Seite 110

Bombe gegen Kinder


Terror Für viele Mädchen war es das
erste Popkonzert ihres Lebens – für
einige das letzte. Nachdem Teeniestar
Ariana Grande in Manchester ihr letztes
Stück gesungen hatte, zündete ein
Islamist seinen Sprengsatz. Nun suchen
Fahnder nach Hintermännern. Seite 14

Auf der Flucht


STEPHEN CROWLEY / NYT / REDUX / LAIF

USA Fünf Staaten, neun Tage, Begeg-


nungen mit Königen, Prinzen, dem
Papst und einer überflüssigen Institution
namens EU – unterwegs mit einem
Präsidenten, der die Welt entdeckt. Und
die Skandale aus seiner Heimat
trotzdem nicht abschütteln kann. Seite 22

4 Titelbild: Illustration: SAMSON für den SPIEGEL, Foto: dpa


Titel Rohstoffe Glimmer bringt Autos zum Glänzen,
stammt aber oft aus dubiosen Quellen 75
Vermögen Allzu oft zerstört der Erbfall
Familien – was kann man dagegen tun? 40 Welthandel Was die Regierung tun kann,
um die Überschüsse in der
Netzwelt Warum es so schwierig deutschen Leistungsbilanz abzubauen 76
ist, den digitalen Nachlass zu ordnen 46
Globalisierung EU-Kommissarin Cecilia
Malmström über Trumps Protektionismus
Politik und unfaire Praktiken der Chinesen 78
Leitartikel Der Westen darf im saudisch- Immobilien Viele Handwerker bleiben
iranischen Konflikt nicht einseitig Partei lieber analog – obwohl digitale Hilfsmittel
ergreifen 8 das Bauen verbilligen könnten 80
Meinung Kolumne: Im Zweifel links /
So gesehen: The Joy of Kirchentag 10 Ausland
Terror Der Anschlag auf die Kinder von Spaniens Sozialisten rücken nach
Manchester 14 links / Wie Indiens Premier Modi den
Der Rechtspsychologe Dietmar Heubrock Nationalismus anheizt 82
erklärt, wie wir uns an Terror gewöhnen 18 Irak Frontbericht aus West-Mossul, wo der
Konzert- und Eventveranstalter verschärfen IS erbitterte Rückzugsgefechte führt 84
r
die Sicherheitsmaßnahmen 21 Malta Files Interne Dokumente decken auf, Mit elegante
USA Unterwegs mit Donald Trump, der den wie der Clan von Präsident Erdoğan an einem Gla s k a ra ff e
Skandalen in seiner Heimat auch zweifelhaften Deal Millionen verdiente 86
im Nahen Osten nicht entkommen kann 22 USA Bernie Sanders sorgt sich um die
Außenpolitik Die Nato findet keine Demokratie in Donald Trumps Amerika 88
Linie im Umgang mit den Provokationen Nahost SPIEGEL-Gespräch mit Ex-Hamas-
des türkischen Präsidenten Erdoğan 28 Chef Khaled Meshal über den Versuch
Debatte Ohne eine Reform des der Islamisten, sich pragmatischer zu geben 90
Beschaffungswesens würde neues Geld
für die Bundeswehr nur versickern 31 Sport
Wahlkampf Der Grüne Jürgen Trittin
über seine Dauerfehde mit Geburtsorte der Formel-1-Piloten / Magische
dem Oberrealo Winfried Kretschmann 32 Momente: Das Jahr des Flitzers 93
Karrieren Die Hochenergiepolitik Football Leaks Das verrückte Geschäft
Sigmar Gabriels wird zur Gefahr für SPD- mit Superstar Paul Pogba 94
Kanzlerkandidat Martin Schulz 34 Doping Die rot-rot-grüne Regierung in
Justiz Im SPIEGEL-Gespräch verteidigt Erfurt will Altkadern des DDR-Dopings
Minister Heiko Maas sein Facebook-Gesetz 37 weiter staatliche Gelder gönnen 96

Deutschland Wissenschaft
Strengere Prüfung von Asylanträgen / Mittelmeerfische erobern Nord- und Ostsee /
Sprengsatzbauteile bei Razzia gefunden / Gefährliche Masern-Impflücke bei
Der Hamburger SV hat hohe Schulden 12 Erwachsenen / Einwurf: Warum man es mit
der korrekten Aussprache übertreiben kann 98
Historiker Ein Geschichtswissenschaftler
greift die Größen seiner Zunft wegen Geschichte Der umstrittene Wiederaufbau
ihres unkritischen Umgangs mit Hitlers der Potsdamer Garnisonkirche beginnt 100
Minister Albert Speer an 48 Freizeit Auf Schleichfahrt – die
Pressefreiheit Darf die Regierung mit ersten serienmäßigen Elektrojachten 103
Verweis auf das Urheberrecht die Veröffent- Zukunft Wie KI-Programme jede
lichung geheimer Dokumente verhindern? 51 menschliche Stimme fälschen können 104
Zeitgeschichte Vor 50 Jahren hat der Medizin In vielen Gegenden Indiens fehlen
Schuss auf den Studenten Benno Ohnesorg Ärzte – dorthin reist der Krankenhauszug 106
die Republik verändert 52
Verkehr Stellte die Deutsche Bahn Kultur
den Bundesländern eine Milliarde Euro „Baywatch“ wird als Kinofilm wiederbelebt /
zu viel in Rechnung? 57 Popidol Ariana Grande als Feindbild
des IS / Kolumne: Besser weiß ich es nicht 108
Gesellschaft Literatur Flucht als das große, welthaltige
Früher war alles schlechter: Internationale Motiv der Gegenwart 110
Geldüberweisungen als Treibstoff für Raubkunst Die Documenta-Künstlerin
Maria Eichhorn sucht nach NS-Raubgut 115 Vom Hersteller
Karrieren / Ärztliches Attest für Models 60 des Testsiegers.
Eine Meldung und ihre Geschichte Wie ein Theater Der Künstler Jonathan Meese
Häftling heimlich Computer bauen macht nun doch seinen „Parsifal“ – in Wien 116
und das Gefängnisnetzwerk hacken konnte 61 Brexit SPIEGEL-Gespräch mit Thriller-
Verführung Wer steckt hinter Autor Robert Harris über Großbritannien
Melanie Schmitz, dem Postergirl der unter Schock 118
„Identitären Bewegung“? 62 Kinokritik Die Literaturverfilmung Öko-TEST Jahrbuch
„In Zeiten des abnehmenden Lichts“ 123 Essen,Trinken und
Kolumne Leitkultur 67 Genießen 2005

Wirtschaft Bestseller 120


Impressum, Leserservice 124 OImmer frisch gesprudeltes Wasser
Ermittlungen gegen Bosch-Mitarbeiter /
Nachrufe 125
Vergleichsportale erwecken falschen O Kohlensäure individuell dosierbar
Eindruck / Warum steigt der Euro wieder? 68 Personalien 126
O Spart Geld
Handel Die Drogeriemarktketten kämpfen Briefe 128
um Kunden, Standorte und Mitarbeiter 70 Hohlspiegel / Rückspiegel 130
Gesundheit Flüchtlinge sollen helfen, den
Pflegenotstand in Deutschland zu lindern 73 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ

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DER SPIEGEL 22 / 2017 5
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2Unverbindliche Preisempfehlung des Herstellers, zzgl. lokaler Überführungs-
kosten. 3Anteil Umweltbonus Bund: 1.500,00 €.
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Der falsche Feind


Donald Trump hetzt gegen Iran und ergreift Partei für Saudi-Arabien – das ist ein Fehler.

E
s war ein surrealer Moment. Da stand Donald Trump Das aber ist nicht sein Ziel, im Gegenteil. Der Präsident
in einem Festsaal in Riad, vor sich die Vertreter von versteht sich glänzend mit den Despoten. Er freut sich,
über 50 muslimischen Staaten, und rief dazu auf, das wenn sie mit ihren Waffenkäufen Jobs in Amerika schaf-
Land zu isolieren, das den Terror in der Welt verbreite. Er fen. Er fühlt sich wohl in ihren goldenen Palästen, die so
meinte nicht etwa Saudi-Arabien, Libyen, Algerien oder ähnlich eingerichtet sind wie sein New Yorker Trump
Pakistan, jene Länder, zu denen die Attentäter der An- Tower. Die Herrscher der Region können das eigentlich
schläge von New York, London, Paris oder Manchester nur als Freibrief für mehr Repression verstehen. „Kampf
eine Verbindung hatten oder in denen sie sich radikalisier- gegen den Terror“, das ist für sie ohnehin meist nur eine
ten. Er meinte Iran, ein Land, dessen Bürger zwei Tage andere Formulierung für den Kampf gegen ihre Kritiker.
zuvor einen eher moderaten Präsidenten gewählt hatten, Dass Trump nun ausgerechnet Iran zum Hauptfeind er-
keineswegs demokratisch, aber eben halbwegs frei, und klärt, freut die sunnitischen Staaten, allen voran Saudi-
die an diesem Sonntag noch immer in den Straßen feierten. Arabien. Das Königreich verbindet eine lange Rivalität
Das große Weltübel, so sieht es Donald Trump, das ist mit Teheran im Ringen um die Vorherrschaft in der Region.
Iran. Ein Land, das zweifellos Unheil stiftet, im Libanon, Und nichts hassen die Machthaber in Riad mehr als das
im Jemen und vor allem in Sy- unter Barack Obama ausge-
rien. Dort ist die iranische Ein- handelte Nuklearabkommen.
mischung besonders fatal und Dass sich Trump nun so ein-
mitverantwortlich dafür, dass deutig auf die Seite der Saudi-
sich das Assad-Regime an der Araber schlägt, ist nicht nur
Macht halten und seine Bür- dumm, sondern gefährlich.
ger abschlachten kann. Aber Denn der Konflikt zwi-
die USA und Iran, und das schen Schiiten und Sunniten
macht die Sache so kompli- ist der neue, große Nahostkon-
ziert, kämpfen im Irak gegen flikt, manche sprechen vom
den „Islamischen Staat“. Und Dreißigjährigen Krieg unserer
zur Wahrheit gehört auch, Zeit. Er hat das Potenzial, die
dass der islamistische Terror gesamte Region zu destabili-
in erster Linie in jenen Staa- sieren. Schon jetzt sind die
ten entstand, deren Vertreter Kriege im Jemen und in Sy-
in Riad so höflich zu Trumps rien im Kern auch Stellvertre-
BALKIS PRESS / ABACA / DDP IMAGES

Rede applaudierten. terkriege zwischen Sunniten


Der fundamentalistische Is- und Schiiten. Der Irak wird
lam, der im „herrlichen König- endgültig zerfallen, wenn sich
reich Saudi-Arabien“ (Trump) der Konflikt zwischen Iran
gepredigt wird, ist der Nähr- und den USA verschärft. Und
boden für Extremisten in aller Freunde Trump, König Salman es war genau dieses Chaos im
Welt. Der derzeitige Qaida- Irak, in dem der „Islamische
Chef radikalisierte sich im Wi- Staat“ erst gedieh.
derstand gegen das Militärregime in Ägypten, das mit dem, Die sunnitisch-schiitische Feindschaft hat eine gefähr-
so Trump, „fantastischen Kerl“ Abdel Fattah el-Sisi an der liche Dynamik, in die sich Europa nicht hineinziehen las-
Spitze heute wieder einem repressiven Höhepunkt zu- sen sollte. Die Frage, wer der bessere Partner ist, Iran
strebt. Die Qaida-nahe „Libysche Islamische Kampfgrup- oder Saudi-Arabien, lässt sich nicht beantworten. Die ira-
pe“ entstand im Kampf gegen Muammar al-Gaddafi. nische Gesellschaft ist relativ modern, das Regime aber
Die Wurzel des islamischen Extremismus liegt in den zutiefst konservativ; in militärischen Fragen haben die
autokratischen Staaten des Nahen Ostens, in der Armut, Revolutionswächter das Sagen, nicht der moderate Präsi-
der Unterdrückung, der Perspektivlosigkeit. Von dort brei- dent. In Saudi-Arabien dagegen fördert das Regime eine
tet er sich aus nach Europa und infiziert junge Briten, vorsichtige Modernisierung, fürchtet aber seinen religiösen
Franzosen und Deutsche, meist mit Migrationshintergrund Apparat und seine traditionellen Bürger.
und einem diffusen Gefühl von Diskriminierung und reli- Mit beiden Staaten muss man reden und den Austausch
giöser Mission. Erst war es al-Qaida, jetzt ist es der IS, fördern. Echte Partner aber können sie nicht sein. Erst
und vielleicht gibt es bald eine Nachfolgeorganisation. recht sollte man ihnen keine Waffen liefern, auch wenn
Um sie zu bekämpfen, braucht es nicht nur eine Anti- das manche Politiker aus CDU und CSU bedauern mögen.
Terror-Koalition, sondern auch einen Kampf gegen die Denn der Preis dafür wird am Ende viel höher sein als
Verhältnisse in jenen arabischen Staaten, die Trump als die Milliarden, die Trump in Riad für die US-Rüstungs-
seine „wunderbaren Freunde und Alliierten“ bezeichnet. industrie eingesackt hat. Juliane von Mittelstaedt

8 DER SPIEGEL 22 / 2017


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Meinung
Jakob Augstein Im Zweifel links

Ajatollah aus Indiana


Das englische Wort „im- erlassen, das die Diskriminierung Homo-
peachment“ klingt, sexueller aus religiösen Gründen gestattet. The Joy
als würde jemand in
Pfirsich eingelegt –
Er hat im Repräsentantenhaus eine Rede
gehalten, in der er beklagt, dass im Biolo-
of Kirchentag
es bedeutet aber, gieunterricht nicht auch die biblische So gesehen Wie Angela
dass man ihn seines Schöpfungsgeschichte unterrichtet werde. Merkel und Barack Obama
Amtes enthebt. Es Und einmal hat er erzählt, dass er niemals wunderbar langweilten
gibt eine Menge Leute, allein mit einer Frau esse, außer mit seiner
die würden Donald eigenen; und dass er an keiner Veranstal- In den Achtzigerjahren gab
Trump beides gönnen – Hauptsache, er tung teilnehme, bei der Alkohol getrunken es eine Sendung mit dem
kommt weg, je schneller, desto besser. werde, solange sie nicht dabei sei. „Billy- amerikanischen Maler
Wirklich? Vorsicht vor Wünschen, die in Graham-Regel“ heißt so etwas in den USA. Bob Ross, sie hieß „The Joy
Erfüllung gehen könnten. Das soll der Moral dienen. of Painting“. Die Folgen
Wir kennen Donald Trump jetzt besser. Wenn man in Deutschland jemanden werden heute noch gezeigt,
Er übt sein Amt mit der zerstörerischen sucht, der ähnlich irre Ansichten hat, meist nachts. Man sieht
Naivität des Kindes aus. Ein böser Candide, landet man bei Beatrix von Storch. Aber Mr Ross 30 Minuten lang
der sich selbst aus dem New Yorker Im- die gilt hier als Bekloppte, nicht als Kan- beim Malen, oft sind es
mobilienparadies vertrieben hat und nun didatin fürs Kanzleramt. Das Gruselige Landschaften. Er steht an
durch die Welt irrlichtert. Auch in der Rol- daran: Pence wäre eine Beruhigung der Staffelei und spricht
le des allmächtigen POTUS schickt er seine für die Öffentlichkeit. Für die Ultrakon- ganz sanft: „Hier noch ein
Twitter-Blitze immer noch als „realDonald- servativen in den USA wäre er der Präsi- kleines bisschen Weiß. Nur
Trump“ in die Welt – wenn das ganze dent, den sie sich in Wahrheit gewünscht noch ein bisschen, und
Leben eine Reality-TV-Show ist, muss man haben. Für alle anderen zumindest einer, Sie haben eine wunderbare
sich der eigenen Wirklichkeit besonders der das Regierungshandwerk versteht. Wolke erschaffen. Kleine
versichern. Aber in gewisser Hinsicht lässt Auch die „New York Times“ wäre zufrie- weiße Wolke.“ Die Sendung
sich sagen, dass Trump der ehrlichste den, die in einem Klagestück über Trump ist eine wunderbare Ein-
Präsident ist, den die USA jemals hatten. schrieb: „Unsere Institutionen hängen schlafhilfe. Wenn man sie
Seine Lügen haben den Vorteil der Durch- von Leuten ab, die über genügend Charak- sieht, weiß man: Die Welt
schaubarkeit. terfestigkeit verfügen, um ihren Pflichten ist in Ordnung.
Sollte Trump in näherer Zukunft über sei- nachzukommen.“ Am Donnerstag traten der
ne Russenkontakte stürzen – Sonderermitt- Gäbe und gelänge also jenes Impeach- ehemalige amerikanische
ler Robert Mueller hat seine Arbeit aufge- ment, dann würde man Trump als Unfall Präsident Barack Obama
nommen –, dann würde ihm sein Vize Mike der Geschichte beiseitewischen und mit ei- und Kanzlerin Angela Mer-
Pence folgen. Und Pence hat, im Gegensatz nem Fundamentalisten im Weißen Haus zur kel beim Evangelischen Kir-
zu Trump, Überzeugungen: Er ist ein evan- Tagesordnung übergehen. Das wäre kein chentag auf. Sie saßen am
gelikaler Reaktionär. Man kann ihn getrost Fortschritt. Brandenburger Tor, am Him-
einen Fundamentalisten nennen. mel schwebten weiße Wol-
Als Gouverneur von Indiana hat Pence An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, ken. Das Motto der Veran-
ein – inzwischen abgeschwächtes – Gesetz Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. staltung hieß „Engagiert
Demokratie gestalten“. Das
klingt, als hätte jemand aus
einer Trommel voll mit Poli-
Kittihawk tikphrasen drei Wörter ge-
zogen. Der Zufall hätte auch
die Wortfolge „Staaten fried-
lich vereinen“ oder „Alterna-
tivlos Nachhaltigkeit leben“
auswählen können. Merkel
und Obama benutzten dann
auf dem Podium die übrig
gebliebenen Lostrommel-
wörter: Barmherzigkeit, Ver-
antwortung, Würde, Glaube,
Menschlichkeit.
Für einen Moment hatte
man das beruhigende Bob-
Ross-Gefühl. Die Welt ist
in Ordnung, solange die
beiden reden, dachte man,
bevor man möglicherweise
ein kleines bisschen ein-
geschlafen ist. Britta Stuff

10 DER SPIEGEL 22 / 2017


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Ermittlungen
Splittermatte bei
Razzia gefunden
Bei einer Razzia im nord-
rhein-westfälischen Neukir-
chen-Vluyn haben Polizei
und Staatsanwaltschaft meh-
rere Utensilien entdeckt, mit
denen sich ein Sprengsatz
bauen lässt. Zudem fanden
sie bei dem Beschuldigten
Ozkan G., 27, und seinen
mutmaßlichen Komplizen
auch eine professionell er-
scheinende Splittermatte. Zu-
sammen mit einem Spreng-

BUNDESPOLIZEI HANNOVER / DPA


satz kann eine solche Matte
eine verheerende Wirkung
entfalten, weil dadurch
Schrapnelle gestreut werden
können. G. besaß legal meh-
rere Waffen, zudem weitere Mutmaßlicher Schleuser, Polizisten bei Festnahme in Hannover
illegale. Er soll sich in der
Vergangenheit als streng gläu-
big bezeichnet haben und Flüchtlinge

Strengere Kontrolle
sich ähnlich wie Islamisten
kleiden. Die Staatsanwalt-
schaft Düsseldorf hat ein Ver-
fahren wegen des Verdachts
der Vorbereitung einer schwe- Bundesamt will mehr Asylentscheidungen überprüfen.
ren staatsgefährdenden Ge-
walttat eingeleitet. Allerdings Das Bundesamt für Migration und Flücht- lingskrise war nur jede hundertste Ent-
sind G. bislang kaum Kontak- linge (Bamf) zieht weitere Konsequenzen scheidung auf mögliche Fehler untersucht
te in radikale Islamistenkrei- aus der Affäre um den rechtsradikalen Sol- worden. Zudem hat das Bamf angeordnet,
se nachzuweisen. Das könnte daten Franco A., der sich als syrischer künftig alle Fälle strenger zu überprüfen,
auch daran liegen, dass die Flüchtling ausgegeben hatte und einen An- in denen Flüchtlinge angeblich zum Chris-
Fahnder Schwierigkeiten ha- schlag geplant haben soll. In dieser Woche tentum konvertiert sind. Zu den Hinter-
ben, ein bei G. sichergestell- hat das Bamf seine Mitarbeiter angewiesen, gründen wollte sich die Behörde nicht äu-
tes Smartphone auszulesen. bei Asylbewerbern, die Syrien als Her- ßern. Anlass könnte ein Fall von groß ange-
Vor Jahren soll er Kontakt kunftsland angeben, stichprobenartig min- legtem Asylbetrug sein: Ende April war in
zu einem bekannten Dschi- destens jede zwanzigste Entscheidung Niedersachsen ein mutmaßlicher Schleuser-
hadisten aus Dinslaken ge- zusätzlich zu kontrollieren. Bevor ein Be- ring aufgeflogen, der iranische und afghani-
habt haben, der inzwischen scheid verschickt werde, solle geprüft wer- sche Flüchtlinge nach Deutschland gelotst
in Syrien ums Leben gekom- den, ob alle Qualitätsstandards eingehalten und ihnen empfohlen haben soll, zum
men ist. fis, jdl wurden. Auf dem Höhepunkt der Flücht- Schein zum Christentum überzutreten. wow

Bundesregierung ter in der Teilzeitfalle verhar- schließende Rückkehr auf Mitarbeitern sei „kein geeig-
Ärger über ren.“ Die Kritik richtet sich eine Vollzeitstelle erhalten netes Letztangebot gewesen“,
auch an die eigene Partei. sollten. Umstritten war vor kritisiert Maag. Aber auch
Teilzeit-Pleite Kanzleramtschef Peter Alt- allem, ab welcher Betriebs- über die SPD herrscht Verär-
Die Frauen in der Unions- maier (CDU) sollte mit Bun- größe der Anspruch gelten gerung. „Auf unsere Bereit-
Bundestagsfraktion sind ver- desarbeitsministerin Andrea sollte. Die von der Union ge- schaft, zunächst einmal bei
ärgert, weil die Regierung Nahles (SPD) eine Einigung forderte Untergrenze von 200 großen Firmen zu beginnen,
kein Rückkehrrecht auf einen finden, teilte ihr jedoch in ist die SPD nicht eingegan-
Vollzeitarbeitsplatz geschaf- dieser Woche mit, dass sich gen“, sagt CSU-Landesgrup-
G. FISCHER / PICTURE ALLIANCE

fen hat. „Beide Koalitions- das Kabinett vor der Bundes- penchefin Gerda Hasselfeldt.
partner haben eine Chance tagswahl im September nicht Nahles habe „bis zur letzten
verpasst“, sagt Karin Maag, mehr mit ihrer Vorlage befas- Minute“ mit ihrem Gesetzent-
Vorsitzende der Gruppe der sen werde. Union und SPD wurf gewartet, kritisiert auch
Frauen in der Unionsfraktion. hatten vereinbart, dass Be- die Vorsitzende der Frauen-
„Nun zahlen besonders Frau- schäftigte einen Anspruch auf Union, Annette Widmann-
en den Preis, indem sie wei- befristete Teilzeit und an- Maag Mauz. ama, cos

12 DER SPIEGEL 22 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
AfD Union
Abwahlanträge Wahlprogramm
gegen Frauke Petry ohne Mütterrente
Vier Monate vor der Bundes- CDU und CSU können sich
tagswahl versuchen partei- weder auf eine Obergrenze
interne Gegner von AfD- für Flüchtlinge noch auf eine

ROLF HAID / PICTURE ALLIANCE / DPA


Chefin Frauke Petry deren Ausweitung der Mütterrente
Direktkandidatur für den einigen: Im gemeinsamen
Bundestag zu verhindern. Wahlprogramm werden beide
Für den Kreisparteitag am Themen wohl nicht auftau-
11. Juni in Petrys Wahlkreis chen. Aus der Union hieß es,
in der Sächsischen Schweiz/ Priesterweihe diese Themen würden voraus-
Osterzgebirge liegen drei Ab- sichtlich im eigenständigen
wahlanträge gegen die Kan- „Bayernplan“ der CSU veran-
didatin vor. Die AfD-Bundes- Katholiken sondern auch um die Rechte kert. Bundeskanzlerin und
sprecherin hat sich mit ihrem Frauen als Priester von Personen“. 2015 seien in CDU-Vorsitzende Angela
harten Kurs gegen den AfD- Deutschland nur noch 58 Merkel lehnt die Forderungen
Rechtsausleger Björn Höcke Eine neue Debatte um Frau- Priester geweiht worden, da- aus München ab. Auf einem
in ihrem sächsischen Landes- en als Priester fordert der her müsse endlich eine Ant- Spitzentreffen der Unionspar-
verband viele Feinde ge- jüngste deutsche Dogmatik- wort auf den Priestermangel teien am vorigen Sonntag im
macht. Petry ist die treibende professor Michael Seewald, her. Frauen für alle Weiheäm- Konrad-Adenauer-Haus wur-
Kraft hinter dem Parteiaus- 29, von der Katholisch-Theo- ter in der Kirche zuzulassen den beide Themen gar nicht
schlussverfahren gegen Hö- logischen Fakultät der Uni- sei eine „behutsamere Verän- besprochen. Merkel und
cke und dessen Unterstützer versität Münster. „Frauen derung“, als es die Abschaf- CSU-Chef Horst Seehofer
Jens Maier, einen Richter aus werden nur aufgrund ihres fung des Zölibats wäre, meint wollen am Donnerstag einen
Dresden, der auf Platz zwei Geschlechts, das sie sich nicht Seewald. Auch für ordinierte letzten Einigungsversuch un-
der sächsischen AfD-Landes- ausgesucht haben, vom ordi- Frauen sollte seiner Meinung ternehmen. Die Chancen
liste kandidiert. Weitere nierten Amt ausgeschlossen“, nach die zölibatäre Lebens- stünden schlecht, hieß es. Da-
Gründe für den Angriff auf kritisiert er in einem Aufsatz form gelten. Seewald wurde gegen geht man in der Füh-
Petry sind nach Angaben aus in der neuen Ausgabe der 2013 zum Priester geweiht; rung beider Schwesterpartei-
AfD-Kreisen, dass sie die Pe- „Herder Korrespondenz“. Es seinen Lehrstuhl hatte in en davon aus, dass es bei den
gida-Bewegung ablehnt und gehe daher bei der Ordination früheren Jahren Joseph Themen Steuererleichterung
ein Strafverfahren wegen von Frauen „nicht nur um Ratzinger, der spätere Papst und Doppelpass eine Verstän-
Meineids gegen sie läuft. ama das Recht von Argumenten, Benedikt XVI., inne. wen digung geben wird. ran

Fußball der Einnahmen aus dem Ti- Albin Ekdal, Alen Halilović, stieg ein negatives Betriebs-
HSV AG: minus cketverkauf, dem Sponsoring Lewis Holtby, Filip Kostić, ergebnis sowie eine „Unter-
sowie der TV-Vermarktung Pierre-Michel Lasogga und Ni- deckung“ von 11,3 Millionen
115 Millionen Euro wollte der HSV demnach mit colai Müller hätten 20 Millio- Euro. Diese „Lücke“, so
Die Fans stürmten das Feld, dem Verkauf einiger seiner nen Euro einbringen sollen. steht es in dem Papier, sollte
die Spieler duschten mit Bier, teuersten Profis abfedern: Dennoch prognostizierte mithilfe zweier Hausbanken
der Trainer war den Freuden- Die Abgänge der Spieler der Finanzbericht für den Ab- geschlossen werden. Im
tränen nahe: Die Szenen im schlimmsten Fall rechnete
Hamburger Volksparkstadion der Report sogar mit einer
am letzten Bundesligaspieltag „Unterdeckung von bis zu
machten die Erleichterung 45 Millionen Euro“.
über den Klassenerhalt deut- Auf Anfrage teilte ein Ver-
lich. Wie wichtig die erste einssprecher mit, dass der
Liga für den HSV ist, der als HSV erst nach Bekanntgabe
einziger Klub der Bundesliga des Jahresabschlussberichts
seit deren Gründung ange- Angaben zu Geschäftszahlen
hört, belegen interne Doku- mache. Zudem habe der Ver-
mente. Ein Report von Ende ein alle Vorgaben zur Lizenz-
2016 analysiert die finanziel- erteilung der ersten wie der
len Risiken für den Fall des zweiten Liga erfüllt. Am 11.
Abstiegs. Er geht von Ver- Mai hatte der Hamburger SV
VALERIAWITTERS / WITTERS

bindlichkeiten der HSV AG, bekannt gegeben, dass der


in die der Verein den Profi- Großinvestor Klaus-Michael
fußball ausgelagert hat, zum Kühne sein Kapital erneut er-
31. Dezember 2016 in Höhe höht hat und mittlerweile 17
von fast 115 Millionen Euro Prozent an der HSV Fußball
aus. Den massiven Rückgang HSV-Fans im Volksparkstadion am letzten Bundesligaspieltag AG hält. hch, rab

DER SPIEGEL 22 / 2017 13


Politik

„Sing mit den Engeln“


Terror Der Bombenanschlag auf ein Teenie-Konzert in
Manchester alarmiert Ermittler und Geheimdienstler in ganz
Europa. Die Briten fürchten weitere Attentate. Und eine Spur
führt zu den gefährlichsten Terroristen der Welt – nach Libyen.

A
m Donnerstag vergangener Woche Behörden, auch weil allein in Großbritan-
landete auf dem Düsseldorfer Flug- nien auf einer Gefährderliste des Geheim-
hafen eine Maschine, an Bord ein dienstes MI5 mehr als 3000 Verdächtige
unauffälliger junger Mann mit britischem stehen und man nicht alle beobachten
Pass. Sein Name: Salman Abedi, geboren kann.
1994 in Großbritannien als Sohn libyscher Aber diese Geschichte ist anders. Weil
Migranten. Kinder und Jugendliche das Ziel waren,
Möglicherweise war er aus Tripolis über weil die Fahnder unter Hochdruck arbei-
Istanbul gekommen. In der Hauptstadt ten müssen, die britische Regierung nach
Libyens leben Abedis Eltern, ein jüngerer der Tat die höchste Terrorwarnstufe ausrief
Bruder, seine Schwester, nach langen Jah- und nun sogar die Armee zur Unterstüt-
ren in England ohne ihn zurückgekehrt in zung der Polizei schickt. Das ist ungewöhn-
die alte Heimat. Er soll sie besucht haben. lich in Großbritannien. Beamte ließen
Vielleicht traf er auch noch andere: Teile durchblicken, es gebe gute Gründe, Angst
Libyens sind in der Hand der Terrorgruppe zu haben vor weiteren Anschlägen.
„Islamischer Staat“. Denn die Fahnder glauben zum Beispiel
Auf jeden Fall verließ Abedi an jenem nicht recht, dass jemand wie Abedi eine
Donnerstag den Düsseldorfer Flughafen solche Bombe allein gebaut haben könne,
nicht. Er stieg nur um in eine andere Ma- obwohl er eine Werkstatt hatte. Falls ihm
schine, die ihn heimbringen sollte. jemand half, dann wusste der, was er tat.
Heim nach Manchester. Die Bombe war grauenhaft effizient. In ei-
Vier Tage später, am Montag, ging er in nem Metallbehälter waren Sprengstoff,
die Manchester Arena, eine der größten spitze Schrauben und Muttern gekonnt ver-
Konzerthallen Europas. Tausende junge teilt, gezündet wurde sie von einer starken
Mädchen kreischten dort beim Auftritt Blei-Säure-Batterie.
ihres Idols, der Teenie-Queen Ariana Den Auslöser trug Abedi beim Anschlag
Grande. Und Abedi, etwa so jung wie die dann wohl in der linken Hand. Er hatte die
Sängerin, hatte eine Bombe bei sich. Bombe in einem blauen Karrimor-Ruck-
Er zündete sie gegen 22.30 Uhr im Foyer sack oder einer schwarzen Weste versteckt.
der Arena, als das Konzert vorbei war und So stand er in der Manchester Arena.
all die Fans zu den Ausgängen strömten. Wenn nicht doch Abedi die Bombe ent-
23 Menschen starben sofort, darunter Abe- worfen hat, könnte der wahre Konstruk-
di selbst, mehr als 100 wurden teils schwer teur noch irgendwo am nächsten Spreng-
verletzt. Das jüngste Opfer heißt Saffie satz basteln. Vielleicht war Abedi nur sein
Roussos, ein Schulmädchen. Saffie wurde „Maultier“, so nennen Ermittler jene
nur acht Jahre alt. Möchtegern-Märtyrer, die für andere die
Es war der schwerste Anschlag in Groß- Bomben ins Ziel tragen.
britannien seit 2005. Regierungschefs aus Die Fahnder gehen davon aus, dass noch
aller Welt kondolierten den Briten, sie mehr Terroristen beteiligt waren, ein gan-
sprachen von Trauer, Mitgefühl und inter- zes Netz. Mehrere Männer wurden inzwi-
nationaler Solidarität im Kampf gegen den schen in Manchester und anderswo festge-
Terror – wie schon so oft in den vergange- nommen. Aber sind das die Richtigen?
nen Jahren: nach Berlin, nach dem An- Und sind da noch mehr? Zudem führen
schlag auf das Bataclan in Paris, nach Brüs- Spuren nicht nur nach Syrien, sondern vor
sel und dem letzten Anschlag in London; allem nach Libyen. Von dort aus drohen
im März war das erst. Und britische Er- dem Westen jetzt neue Gefahren.
mittler, unterstützt von westlichen Ge- IS-Terroristen, so hatte der Londoner
heimdiensten, setzen nun das Puzzle der Regierungsbeauftragte für Antiterrorgeset-
neuen Tat zusammen. Es eilt sehr. ze schon vor Wochen gewarnt, planten An-
Zwar kommen einem manche Teile die- schläge in Großbritannien „in einem Aus-
OLI SCARFF / AFP

ses Puzzles entsetzlich bekannt vor: Ein maß, das vergleichbar ist mit dem Terror
junger Islamist, geboren im Westen, greift der IRA vor 40 Jahren“.
den Westen an, in dem er nie wirklich an- Und die Islamisten sind genauso schwer
gekommen ist. Dazu die Ohnmacht der zu entdecken wie die irischen Attentäter

14 DER SPIEGEL 22 / 2017


Polizisten, Überlebende in Manchester: Weinen in den Armen der Mütter

DER SPIEGEL 22 / 2017 15


Politik

einst. Dabei verfolgt London bereits seit


Jahren die rigideste Antiterrorpolitik in
der EU. Unter der Konservativen Theresa
May, sechs Jahre lang Innenministerin und
seit vergangenem Juli Premierministerin,
wurden die Befugnisse von Geheimdiens-
ten und Sicherheitsbehörden massiv aus-
geweitet.
Wohl in keinem Land der Welt gibt es
pro Kopf mehr Überwachungskameras als
in Großbritannien. 2015 peitschte May ein
Gesetz durch, das Lehrer und Erzieher ver-
pflichtet, radikale Einstellungen von Stu-

MATT STUART / MAGNUM PHOTOS / DER SPIEGEL


denten, Schülern und sogar Kindergarten-
kindern zu melden.
Trotz allem gelingt es Terroristen immer
wieder, Attentate zu verüben – zuweilen
unter den Augen der Behörden. Khalid Ma-
sood, durch dessen Anschlag in der Nähe
des Parlaments fünf Menschen starben, war
der Polizei und den Geheimdiensten seit
Langem bekannt. Aber als möglicher Ter-
rorist galt er nicht. Und auch Salman Abedi
hatte der Inlandsgeheimdienst auf dem Freundinnen Ellie, Becca, Jasmine: „Ich dachte, dass wir jetzt sterben“
Radar, Bekannte sollen vor ihm gewarnt
haben. Aber er galt den Fahndern nur als den Breitscheidplatz ablegte. Narrten bei- boten. Auch Abedis Vater soll Kontakte
Randfigur der islamistischen Szene. de die Behörden? zu ihr unterhalten haben.
Er sei ein Junge gewesen wie so viele in Längst rät der IS seinen Kämpfern im Die mögliche Verbindung Abedis zu li-
Manchester, erzählen jetzt Freunde und Westen dazu, in der Öffentlichkeit auch byschen Extremisten macht jetzt nicht nur
Nachbarn in Fallowfield, einem Viertel im mal eine Bierflasche zu tragen. Ob Abedi britischen Geheimdienstlern Sorgen. Könn-
Süden der Stadt: ein Fan des Fußballklubs von jemandem gesteuert wurde, müssen te es passieren, dass nun auch der libysche
Manchester United, der mit seinen Kum- die Ermittler in Manchester nun klären. Ableger des IS systematisch Attentäter in
peln ausging, auch Alkohol trank. Er sei, Viele Libyer leben in der Stadt, geflohen Europa einsetzt und Anschläge organi-
sagen Bekannte, zwar streng gläubig er- einst vor Muammar al-Gaddafi – wie Abe- siert? Und nicht wie bislang in erster Linie
zogen worden, habe den Koran studiert, dis Eltern auch. die IS-Abteilung für „externe Operatio-
aber durch radikale Ansichten sei er kaum Mehrere dieser Männer sollen kampf- nen“ im syrischen Rakka?
aufgefallen. erprobt sein. Sie hatten sich 2011 zeitweise Nach ihrer Rückkehr aus Syrien hatten
Noch rätseln die Behörden, wann genau der „Libyschen Islamischen Kampfgruppe“ libysche IS-Kämpfer den Ableger 2014 ge-
Salman Abedi sich auf den Weg gemacht angeschlossen. Die Miliz gehörte zu den gründet. Er wuchs schnell. Und wie die
hatte, der in die Manchester Arena führte. Verbündeten des Westens, als sie noch ge- Krieger in der Levante zeichnen sich die
Ein Nachbar erzählte der „New York gen Gaddafi zu Felde zog. Inzwischen ist libyschen Islamisten durch besondere Bru-
Times“ von einem großen Streit in der die Qaida-nahe Kampfgruppe als terroris- talität und Grausamkeit aus. Heute soll
Didsbury-Moschee. Dort hatte Salmans Va- tische Organisation in Großbritannien ver- der libysche IS-Zweig bis zu 10 000 Mann
ter Ramadan Abedi – auch Abu Ismail
genannt – häufig zum Gebet gerufen.
Aber 2015 habe ein Imam in einer Pre-
digt Gewalt verdammt und damit den „Is-
lamischen Staat“ kritisiert. Salman Abedi
sei wütend geworden und habe den Leuten
„Angst gemacht“, so der Nachbar. Der
Imam erinnert sich: „Salman begegnete
mir mit einem Gesicht voller Hass.“
In der Zeit brach Abedi sein Wirtschafts-
studium ab, er flog wohl auch nach Libyen.
Nach Angaben des französischen Innen-
ministers Gerard Collomb, der von briti-
schen Kollegen informiert wurde, soll er
zudem in Syrien gewesen sein. Und er fiel
britischen Terrorfahndern auf.
In den vergangenen Monaten veränder-
te Abedi sich sichtbar. Er ließ sich einen
Bart wachsen, rezitierte auf der Straße Ko-
ranverse, und in der Didsbury-Moschee
tauchte er nicht mehr auf. Er verhielt sich
HANDOUT
REUTERS

ähnlich wie der Berlin-Attentäter Anis


Amri, der seinen westlichen Lebensstil
auch erst kurz vor seiner Todesfahrt über IS-Konvoi in Libyen, Islamist Abedi: Eine Heimat für den Henker?

16 DER SPIEGEL 22 / 2017


JETZT IM HANDEL:
stark sein. Die Region ist eine Durchgangs-
station für Flüchtlinge – es fällt den Isla-
lor Swift oder eben Ariana Grande. Ihr
Publikum besteht vor allem aus Mädchen SCHWERPUNKT
TEAMWORK
misten leicht, Nachwuchs zu rekrutieren. zwischen 12 und 18, für die Grandes offen-
Der IS im Irak und in Syrien pflegt einen sive Sexualität eher ein Symbol des Selbst-
regen Austausch mit dem libyschen Able- vertrauens und der Stärke ist als etwas,
ger. Mohammed Emwazi – der unter dem das man genauso nachahmen soll. Solche
Spitznamen „Dschihadi John“ bekannte Mädchen müssen der Albtraum für jeden
Henker des IS – soll nach seiner Enttar- Islamisten sein.
nung zwischenzeitlich in Libyen eine Hei- College-Mädchen wie Jasmine, Becca,
mat gefunden haben. Er starb aber durch Ellie und Ella, smart und selbstbewusst,
einen amerikanischen Luftschlag in Syrien. sie haben überlebt, und sie erzählen: Aria-
Einige europäische Geheimdienste ge- na Grande sei „ein Powergirl“, sagt die
hen davon aus, dass der IS Führungsfunk- eine. „Sie verbreitet starke Botschaften“,
tionen und wichtige Leute nach Libyen sagt die andere. Von Männern lasse die
verlegt. Denn im Irak und in Syrien könnte sich schon gar nichts sagen.
die Gruppe militärisch womöglich bald Am Montagabend hatten die Mädchen
besiegt sein. sich herausgeputzt. Sie wunderten sich
Im Januar attackierten die USA auch noch, dass beim Eintritt niemand ihre Ta-
den IS-Ableger in Libyen. Schwere Lang- schen kontrollierte. Aber egal, Ariana sei
streckenbomber griffen zwei Stützpunkte dann „so cool“ gewesen. Nach dem letzten
der Islamisten an, die Rede war von mehr Stück drängten die vier zum Ausgang wie
als 80 Toten. Nach Pentagon-Angaben gal- alle. In dem Moment zündete Salman Abe-
ten die Luftschläge IS-Drahtziehern, die di die Bombe. Die Metallstücke am Spreng-
Anschläge in Europa planten. stoff töteten die Menschen in einem ziem-
Und womöglich war Abedis Verbindung lich präzisen Kreis um ihn herum. Die Ge-
zu den Extremisten sehr direkt. Journalis- schosse bohrten sich in Metalltüren, schlu-
ten sprachen mit seinem Vater in Tripolis. gen in Steinwände ein. Die Bombe zerriss
Der sagte, sein Sohn habe die Familie erst auch Abedi selbst.
vor Kurzem besucht: „Ich war geschockt, Die Druckwelle war so stark, dass sie
seinen Oberkörper über den Kreis der Op-
fer hinweg weit in Richtung Ausgang
DIE MÄDCHEN schleuderte. Anhand einer Art Scheckkarte
WUNDERTEN SICH NOCH, konnten ihn Ermittler später identifizieren.
DASS NIEMAND IHRE Becca sagt: „Ich habe sofort an das Ba-
taclan in Paris gedacht.“ Und Jasmine:
Weitere Themen:
TASCHEN KONTROLLIERTE. „Ich stieg in Panik über die Stuhlreihen.
Ich dachte, dass wir jetzt sterben werden.“ ONLINEWERBUNG
als ich die Nachrichten sah“, so Ramadan Am Ausgang sahen die Mädchen blu-
Abedi, „ich kann es immer noch nicht glau- tende Menschen liegen. Einige Körper Wann lohnen sich Anzeigen
ben.“ Salman sei doch „immer gegen sol-
che Angriffe“ gewesen.
waren in Leichensäcke gehüllt. Eltern
starben, die ihre Kinder abholen wollten,
in Suchmaschinen?
Andererseits ordnen die Behörden ein ein verliebtes Pärchen – 17 und 19 Jahre
Facebook-Profil Vater Ramadan Abedi alt – starb, eine 15-Jährige starb. Deren ORGANISATION
zu – es zeigt einen seiner Söhne mit Ma- Mutter trauerte auf Facebook: „Geh und
schinengewehr und dazu die Zeile „Löwe sing mit den Engeln. Mammi liebt dich
Wie die RWE-Tochter Innogy
beim Training“. so sehr.“ Wissen managt
Kurz nach dem Gespräch mit dem Jour- Erst als die vier Freundinnen zu Hause
nalisten, so der britische „Guardian“, hät-
ten Zeugen gesehen, wie Kämpfer der
waren, begannen sie in den Armen ihrer
Mütter zu weinen. FÜHRUNG
Rada-Miliz Ramadan Abedi abführten. Am Tag nach dem Anschlag stand ein Warum MBAs zu egoistischen
Die Miliz arbeitet mit der international an- Ehepaar verloren auf einem Bürgersteig
erkannten, jedoch weitgehend machtlosen in Süd-Manchester, Flüchtlinge aus Syrien. Chefs werden
Regierung in Tripolis zusammen, unter- Die beiden konnten nicht nach Hause,
steht ihr aber nicht. Ihre Leute nahmen denn da flatterte ein Absperrband, überall
auch Salman Abedis jüngeren Bruder waren schwer bewaffnete Polizisten. Hin-
Hashim fest. Ein Rada-Sprecher sagte, ter dem Haus, in dem die beiden Syrer
Hashim Abedi stehe im Verdacht, Kontak- wohnen, steht ein Wohnblock, dort lebte
te zum IS zu haben. Waren es also IS-Leu- Salman Abedis älterer Bruder. ! Auch als digitale Ausgabe erhältlich:
te, die Salman beim Bombenbau beraten Die Frau zeigte auf das Sturmgewehr ei- harvardbusinessmanager.de
haben? Oder die ihm geholfen haben? nes Polizisten: „Genau vor so etwas sind
Und war es Zufall, dass er sich das Kon- wir geflohen“, sagte sie, „normalerweise
zert von Ariana Grande ausgesucht hatte? rufen wir unsere Verwandten in Syrien an
Nur weil da viele Menschen auf engem um zu hören, ob alles in Ordnung ist.“ Nun
Raum zusammenkamen? Oder steckte „steht bei uns das Telefon nicht mehr still“.
mehr dahinter? Clemens Höges, Katrin Kuntz, Tobias Rapp,
Die westliche Popkultur wird heute do- Jörg Schindler, Fidelius Schmid,
miniert von starken Frauen: Beyoncé, Tay- Wolf Wiedmann-Schmidt

DER SPIEGEL 22 / 2017 17


ANDY RAIN / EPA / REX / SHUTTERSTOCK
Polizisten in Manchester am Dienstag: „Präsenz als Anzeichen für drohende Gefahr“

„In Hab-Acht-Stellung“
Bedrohungen Der Rechtspsychologe Dietmar Heubrock erklärt, warum eine gewisse Ungerührt-
heit im Umgang mit dem Terror sinnvoll ist – und wie Sicherheitskräfte trainieren.

Heubrock, 58, ist Direktor dächtnis kaum noch voneinander. Der ein- SPIEGEL: Dabei steigt die Gefahr, selbst Op-
des Instituts für Rechts- zelne Moment geht mit der wachsenden fer zu werden, mit jedem neuen Anschlag.
NORBERT ENKER / DER SPIEGEL

psychologie an der Univer- Fülle ähnlich gelagerter Ereignisse kognitiv Heubrock: Trotzdem würden die meisten
sität Bremen. Er berät unter. Und das spiegelt sich dann in unse- Deutschen mittlerweile wohl aufgewühlter
deutsche Sicherheitsbe- rer Emotion wider: Wir reagieren weniger auf ein schweres Erdbeben in ihrem Land
hörden und forscht zu aufgewühlt, weil wir uns an den Schrecken reagieren als auf einen weiteren Terroran-
Terrorprävention und Tä- gewöhnt haben. schlag. Ein Erdbeben gehört nicht zu un-
ter-Profiling. SPIEGEL: Bedeutet das auch, dass wir uns serer Lebenswirklichkeit, es würde in un-
an die Gefahr gewöhnt haben? seren Breitengraden so singulär hervorste-
SPIEGEL: Herr Heubrock, vor einem knap- Heubrock: Durchaus. Nach den ersten At- chen wie jener erste große Terroranschlag
pen Jahr haben Sie gemutmaßt, wir würden tentaten wurde weitaus vehementer darü- in New York. Aber wenn bei uns die Erde
auf die wachsende Zahl von Terroranschlä- ber diskutiert, ob man Großveranstaltun- regelmäßig beben würde, nähmen wir das
gen irgendwann wie abgestumpft reagieren. gen auf öffentlichen Plätzen meiden solle. mit der Zeit als selbstverständlich hin.
Ist dieser Moment nach dem Anschlag in Viele Menschen fühlten sich derart be- Solch ein Verhalten wäre weder abgebrüht
Manchester nun gekommen? droht, dass sie die Frage stellten, ob sie noch unmoralisch, sondern sinnvoll. Es
Heubrock: Wir haben uns zumindest an den ihr tägliches Verhalten ändern müssten. hilft uns zu überleben. Schon rein physio-
Terror gewöhnt. Ein gutes Indiz dafür ist, Darüber redet heute kaum einer mehr. logisch ist es Menschen nicht möglich, auf
dass wir uns zunehmend unpräzise an die jedes Grauen über längere Zeit mit unver-
Umstände der einzelnen Anschläge erin- minderter Intensität zu reagieren. Das
nern. Das ist beim Angriff auf das World „WIE SOLLEN SICHERHEITS- steht ein Körper nicht durch.
Trade Center anders. Aber das Attentat KRÄFTE AUF EINEN ZEHNJÄHRIGEN SPIEGEL: Was genau würde passieren?
auf „Charlie Hebdo“ in Paris, der Terror
in Stockholm oder die Anschläge in Brüs- REAGIEREN, DER SICH Heubrock: Menschen halten klassische
Stresssituationen nur begrenzt aus. Selbst
sel unterscheiden sich, so viel individuellen IN DIE LUFT SPRENGEN WILL?“ wenn unser Leben bedroht wird und wir
Schmerz sie bedeuten, im kollektiven Ge- uns im Alarmzustand befinden, setzt nach
18 DER SPIEGEL 22 / 2017
Politik

spätestens 20 Minuten eine Erschöpfungs-


phase ein, in der auch körperliche Reak- NEWS MEINUNG STORIES
tionen wie Herzrasen oder Schweißaus-
brüche zurückgehen. Dieser Mechanismus
läuft in anderen Momenten vergleichbar
ab. Das Gehirn blendet bedrohliche Reize
aus und verarbeitet sie nicht mehr bewusst.
Wäre es anders, wären wir bald nicht mehr
handlungsfähig – selbst wenn Herz und
Kreislauf der Belastung standhielten. Das
wissen wir aus den Krankheitsverläufen
schwerkranker Patienten.
SPIEGEL: Von welchen Leiden sprechen Sie?
Heubrock: Zahlreiche paranoid-schizophre-
ne Patienten fühlen sich durchgängig auch
von Kleinigkeiten wie falscher Zahnpasta
oder den Strahlen einer Mikrowelle be-
droht. In der Folge schüttet ihr Körper das
Stresshormon Cortisol in hohen Dosen
aus, und das Gehirn verändert sich derart,
dass die Patienten zusätzlich an schweren
Depressionen leiden. Wir wären eine
handlungsunfähige Gesellschaft, wenn wir
mögliche Gefahren, selbst Terror, nicht ir-
gendwann hinnähmen.
SPIEGEL: Wenn eine gewisse Gleichgültig-
keit hilfreich ist: Lässt sie sich trainieren?
Heubrock: Sicherheitskräfte versuchen das,
indem sie Terrorszenarien durchspielen.
So soll sich eine Routine im Umgang mit
grausamen Situationen einstellen, die die
Schleife aus Betroffenheit und Schock ver-
kürzt oder sogar umgeht. Aber der Erfolg
solcher Strategien ist abhängig von der Per-
sönlichkeitsstruktur eines Menschen. Un-
sere Fähigkeit zu Empathie ist unterschied-
lich stark ausgeprägt, das beeinflusst auch
das Ausmaß der Gleichgültigkeit, mit der
wir auf terroristische Bedrohung reagieren.
Einmal am Tag
SPIEGEL: Zahlreiche Männer und Frauen rea-
gieren inzwischen auf harmlose Szenen mit
mulmigen Gefühlen. Sie sorgen sich, wenn
ein Koffer auf dem Bahnsteig herumsteht;
die Welt anhalten
sie werden misstrauisch, wenn ihr Sitz- DAS WICHTIGSTE VOM TAG
nachbar in arabischer Schrift in sein Handy DAS BESTE AUS DEN SOZIALEN MEDIEN
tippt. Wie passt das zu der These, wir hätten
uns an die Terrorgefahr gewöhnt? UND EMPFEHLUNGEN FÜR IHREN FEIERABEND
Heubrock: Entwicklungsgeschichtlich gese-
hen haben wir in Momenten der Gefahr
zwei Handlungsalternativen: flüchten oder
kämpfen. Für beide Überlebensoptionen
ist das mulmige Gefühl der Bereitschafts-
modus, eine diffuse Hab-Acht-Stellung. Es WWW.SPIEGELDAILY.DE
wird uns trotz aller Gewöhnung immer be-
gleiten. Paradoxerweise fühlen sich viele
Menschen dann besonders mulmig, wenn
Polizisten besonders viel Wert auf ihre
Sicherheit zu legen scheinen. Anders als
viele Politiker behaupten, deuten sie ver-
mehrte Polizeipräsenz als Anzeichen für
drohende Gefahr.
SPIEGEL: Welche negativen Folgen hat es,
wenn sich eine Gesellschaft an ein Leben
mit dem Terror gewöhnt?
Heubrock: Für die Opfer und deren Ange-
hörige ist es bitter, das haben einige ja
nach dem Anschlag auf dem Berliner Die smarte Abendzeitung.
Schenkt Zeit, macht schlau.
DER SPIEGEL 22 / 2017 19
Politik

SAMSTAG, 27. 5., 20.15 – 21.00 UHR | ZDF INFO

Szene Deutschland – Weihnachtsmarkt im vergangenen Dezem- weil sie dadurch maximale Aufmerksam-
Unter Tätern ber beklagt. Die ersten Attentate in Europa keit erzielen können. Sticht ein junges
Mord, Totschlag, Schuld und Verge- waren von Zeichen großer Anteilnahme Mädchen auf einen Polizisten ein, ver-
bung – es ist eine düstere Welt, in die begleitet, da gab es Blumenberge, Kerzen- schafft ihnen das im Zweifel mehr Öffent-
sich Moderator Sascha Bisley begibt. meere und Millionen Einträge in den so- lichkeit als eine weitere Kofferbombe. Wir
zialen Medien. Diese öffentliche Aufmerk- empfinden jede neue Spielart des Terrors
samkeit schmerzt Hinterbliebene einer- als neu konfigurierte Gefahr, an die wir
SPIEGEL GESCHICHTE seits, andererseits birgt sie viel tröstendes uns noch nicht gewöhnt haben. Wir fühlen
SONNTAG, 28. 5., 21.05 – 21.50 UHR | SKY Potenzial. Der Mensch sucht in Krisensi- uns wieder schutzloser und reagieren emo-
tuationen die Gemeinschaft anderer, auch tionaler – bis wir uns auch an diese Va-
Der Kremlflieger – wenn es ihm nicht hilft, seine Lage objek- riante der Bedrohung gewöhnt haben.
Mathias Rust und die Landung tiv zu verändern. SPIEGEL: Sie meinen, wir seien am Ende
auf dem Roten Platz SPIEGEL: In Ländern wie Israel müssen die nur durch immer grausamere Grausamkei-
Am 28. Mai 1987 landet ein deut- Menschen seit Jahrzehnten mit der dau- ten zu beeindrucken?
sches Sportflugzeug im Machtzen- ernden Gegenwart von Terror leben. Was Heubrock: Jeder Terroranschlag ist entsetz-
trum der Sowjetunion, die Bilder können wir von ihnen lernen? lich, und natürlich lässt sich das Leid jedes
aus Moskau gehen um die Welt. Heubrock: Der Blick nach Israel zeigt, dass einzelnen Opfers nicht relativieren. Aber
wir einem typischen Denkmuster des Men- die Täter in Manchester haben mit Sicher-
schen entgegenwirken müssen: Wir bilden heit einkalkuliert, dass zu den Fans der
SONNTAG, 28. 5., 20.15 – 23.30 UHR | RTL Stereotype, um die Geschehnisse unserer Popsängerin viele Jugendliche und Kinder
Welt besser einzuordnen. Lautet ein Ste- zählen. Und sie wissen, dass es nach un-
Mensch Gottschalk – reotyp, dass die Gefahr von Arabern aus- seren Wertvorstellungen ein besonders
Das bewegt Deutschland gehe, wird jeder, der wie ein Araber aus- perfides Ziel war. Diese Schraube wird sich
sieht, zu einer möglichen Bedrohung. Im weiter drehen, und dem werden wir kaum
Ergebnis meiden wir diese Personen. Das Einhalt gebieten können. Blicken wir noch
geschieht oft unbewusst, aber damit sickert einmal nach Israel: Die Tatsache, dass dort
das Stereotyp tief ins gesellschaftliche Le- überall Soldatinnen und Soldaten schuss-
ben ein. Wir wollen uns dem mulmigen bereit mit Maschinenpistolen postiert sind,
Gefühl nicht aussetzen … führt dazu, dass kaum ein Attentäter die
SPIEGEL: … und ersinnen daher Vorurteile. Tat überlebt. Terrorakte verhindert es
ANDREAS FRIESE / RTL

Das ist reichlich desillusionierend. nicht. Sie ereignen sich weiterhin in immer
Heubrock: Aber so funktioniert es. Und weil neuen schrecklichen Formen. Wir haben
Attentäter mit genau diesem Verhalten es mit einer Art Wettrüsten zu tun, und
kalkulieren, machen uns unsere Stereoty- das stellt unsere Sicherheitskräfte auch vor
Entertainer Gottschalk pe am Ende doch angreifbar. ein erhebliches moralisches Problem.
SPIEGEL: Das müssen Sie erklären. SPIEGEL: Welche Entscheidungen kommen
TV-Entertainer Thomas Gottschalk Heubrock: Wir untersuchen in unserem In- denn auf uns zu?
hat zu seiner RTL-Livesendung stitut seit Langem, durch welches Verhal- Heubrock: Es passt nicht zu unserem Welt-
wieder zahlreiche Gäste eingeladen, ten Attentäter vor einer Tat auffallen. Wir bild, Frauen oder gar Kinder zu erschie-
unter anderem Sigmar Gabriel, geben unsere Erkenntnisse auch an Spe- ßen – final zu bekämpfen, wie es im Poli-
Helene Fischer und Sahra Wagen- zialeinsatzkräfte wie die GSG 9 weiter. Um zeijargon heißt. Und natürlich ist das eine
knecht. Terroristen nicht in die Hände zu spielen, zu bewahrende zivilisatorische Errungen-
will ich dazu nicht genauer werden. So schaft. Aber sie macht uns im Abwehr-
viel kann ich sagen: Ganz gleich, ob es kampf gegen den Terrorismus verletzlich.
SPIEGEL TV REPORTAGE sich um islamistischen oder anderen Terror Die Terroristen wissen um unsere kultu-
DIENSTAG, 30. 5., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1 handelt – das Verhalten der Täter ist weit- rellen Hemmungen, und damit müssen wir
gehend identisch, aber sehr oft anders, als uns auseinandersetzen. Wie sollen Sicher-
SOS Familie – die Sicherheitskräfte vermuten. Selbst heitskräfte auf einen Zehnjährigen reagie-
Hilfe für Mütter in Not Sondereinsatzkommandos beherrscht das ren, dessen Verhalten klar darauf hindeu-
Zu jung, zu überfordert, zu arm: Stereotyp, mögliche Attentäter seien in tet, dass er sich und seine Umgebung im
Wenn Mütter nicht mehr weiter- erster Linie arabisch aussehende Männer nächsten Augenblick in die Luft sprengen
wissen, helfen in Braunschweig zwischen 20 und 35 Jahren, die schwarzes wird? Zu solchen Fragen brauchen wir
sogenannte Familienhebammen. gegeltes Haar und einen Schnurrbart tra- politische Entscheidungen und auch eine
gen. Das haben die Köpfe der Terrororga- breite ethische Diskussion.
nisationen erkannt und schicken nun Leu- SPIEGEL: Wofür plädieren Sie?
ARTE RE: te vor, mit denen wir nicht rechnen. Sie Heubrock: Ich rate den Sicherheitsbehörden
DIENSTAG, 30. 5., 22.20 – 23.15 UHR | ARTE durchbrechen die Stereotype, auf die wir regelmäßig, Polizisten und andere Einsatz-
unsere Aufmerksamkeit richten, und das kräfte im Training auch auf Bilder von
Unter Fremden – Eine Reise erschwert es uns, mögliche Attentäter Frauen und Kindern schießen zu lassen.
zu Europas neuen Rechten rechtzeitig zu erkennen. Das 15-jährige Ich finde selbst, dass dieser Ratschlag
Die „Identitären“ sind die Speer- Mädchen in Hannover war so ein Beispiel. furchtbar klingt, und es wäre mir lieber,
spitze einer neuen rechten Be- SPIEGEL: Sie sprechen von der Schülerin, ich müsste ihn nicht geben. Aber bislang
wegung in Europa. Der Journalist die im Februar vorigen Jahres auf einen sind die fiktiven Gegner, anhand derer wir
Manuel Gogos bricht zu einer Polizisten einstach und vom „Islamischen den Ernstfall trainieren, immer junge Män-
Forschungsreise durch Europa auf, Staat“ beauftragt gewesen sein soll. ner. Und damit kommen wir im echten
um diese „Fremden im eigenen Heubrock: Die Terroristen bedienen sich Leben nicht mehr weiter.
Land“ kennenzulernen. der unterschiedlichen Täterprofile auch, Interview: Katja Thimm

20 DER SPIEGEL 22 / 2017


nicht größer sind als DIN-A5-Format. Vor
einigen Tagen ließen die Betreiber probe-
weise vor dem Eingang einen Container
aufstellen, in dem ein Dienstleister Ruck-
säcke und Taschen für die Dauer des Kon-
zerts der Band Kiss verwahrte. Beim Wa-
cken Open Air waren im vergangenen Jahr

CHRISTOPH HARDT / FUTURE IMAGE / ACTION PRESS


erstmals nur Bauchtaschen zugelassen.
„Wir erstellen für jede Veranstaltung ein
eigenes Sicherheitskonzept“, sagt Daniel
Hopp, der Geschäftsführer der SAP Arena
in Mannheim mit bis zu 15 000 Plätzen.
Die SAP Arena hat einen Ernstfall bereits
hinter sich – kein Attentat zwar, aber eine
Bombendrohung während der Liveauf-
zeichnung der Sendung „Germany’s Next
Topmodel“. Tausende aufgeregte Teenager
Taschenkontrolle bei einer Messe in Köln: Bald nur noch Handy, Geldbörse und Schlüsselbund? mussten 2015 binnen wenigen Minuten die
Arena verlassen. „Eine Räumung ohne Pa-

Sicher feiern
nik“, sagt Hopp, „das Entfluchtungskon-
zept hat funktioniert.“ Aber er räumt auch
ein: „Eine absolute Sicherheit kann es
nicht geben.“
Prävention Nach Manchester müssen Besucher von Veranstaltungen Denn zum Innenraum der Hallen und
Stadien kommen jene potenziellen Ziele,
mit Wartezeiten am Eingang rechnen – die die Menge auf dem Hin- oder Rückweg
dabei ist umstritten, was die Kontrollen bringen. passiert: U-Bahn-Stationen, Zuwege, der
Platz vor den Schleusen, wo sich bei stren-

D
er bei Teenagern beliebte Star Veranstalter und Hallenbetreiber ihr Ge- gen Einlasskontrollen Menschentrauben
stand auf der Bühne, als draußen schäft. Neben Ariana Grande sagten in bilden. Dorthin kann ein Attentäter gelan-
der Sprengsatz detonierte. Gregor den vergangenen Tagen weitere Künstler gen, ohne je eine Eintrittskarte oder seine
Meyle, den Jüngsten im Publikum bekannt Konzerte ab, etwa Blondie oder Take That Tasche vorzeigen zu müssen. Der An-
als Pate aus der Kika-Casting-Show „Dein in Großbritannien. schlag von Manchester passierte im öffent-
Song“, brach seinen Auftritt ab. In Deutschland beginnt die Saison für lichen Foyer der Arena, darauf weisen
Der Anschlag auf die „Ansbach Open“ Festivals und Großereignisse nun mit noch auch deutsche Experten hin.
ging vergleichsweise glimpflich aus: Der einmal verstärktem Augenmerk auf die „Es ist nicht möglich und nicht sinnvoll,
Attentäter machte vor einem Sicherheits- Sicherheit. Beim Tourauftakt von Depeche Großevents von ihrer Umgebung abzurie-
mann kehrt, der den Zugang zum Festival- Mode an diesem Wochenende in Leipzig geln“, sagt Bernd Frenz. Der Ingenieur ist
platz in Mittelfranken bewachte. Seine mit werden die Ordner Besucher abtasten und Inhaber einer Firma, die Sicherheitskon-
Metallteilen gespickte und in einem Ruck- zusätzlich Metalldetektoren einsetzen. zepte für Veranstalter erstellt, unter ande-
sack verstaute Bombe zündete der Syrer Große Taschen, Rucksäcke und Helme rem fürs Wacken Open Air und den J. P.-
bei einer Weinstube neben dem Zugangs- sind verboten. Morgan-Firmenlauf in Frankfurt am Main.
tor. Er selbst starb, einige Umstehende Straßensperren könnten etwa bei einer
wurden verletzt. Evakuierung hinderlich wirken.
Wäre der Mann in den Hof neben der „ES IST NICHT MÖGLICH UND Wie schwer es ist, größtmögliche Sicher-
Residenz vorgedrungen, hätte die Stadt NICHT SINNVOLL, GROSS- heit zu gewährleisten, ohne Besuchern
schon im vergangenen Sommer womöglich EVENTS VON IHRER UMGE- den Spaß am Feiern zu vergällen, zeigt
ein Szenario wie nun Manchester erlebt. sich am Münchner Oktoberfest, dem größ-
Bei den diesjährigen „Ansbach Open“ hat BUNG ABZURIEGELN.“ ten Event dieser Art. Schon 2010 ließen
die Stadt neben „vollständigen Taschen- die Verantwortlichen rund ums Festgelän-
kontrollen“ verfügt, dass größere Gepäck- Der Veranstalter Live Nation aus Frank- de Straßensperren errichten, Poller und
stücke nicht mehr mit aufs Gelände dürfen. furt, der neben Depeche Mode auch die riesige Blumenkübel wurden als Blockade
Das Sicherheitskonzept werde „laufend an Sängerin Ariana Grande in Deutschland gegen Auto- oder Lkw-Attacken aufge-
die aktuelle Gefährdungslage angepasst“. betreut, bereitet die Besucher der Festivals stellt. Seit dem Sommer 2016 ist die The-
Paris, Orlando, Istanbul, Manchester, so- „Rock am Ring“ in der Eifel und „Rock im resienwiese umzäunt, Taschen werden
gar im beschaulichen Ansbach: In diesen Park“ in Nürnberg auf „gründliche Ein- kontrolliert, Rucksäcke sind verboten,
Städten wählten islamistische Täter Kon- lasskontrollen und Bodychecks“ vor. Um eine rund vier Millionen Euro teure Laut-
zerte oder Nachtklubs als Orte für ihre At- „rechtzeitiges Eintreffen am Veranstal- sprecheranlage soll Notdurchsagen auf
tacken, mit dem Ziel, feiernde, fröhliche tungsort“ werde gebeten. Mitbringen dürf- dem gesamten Festplatz hörbar machen.
Menschen zu töten. Nach dem jüngsten ten die Zuschauer nur Handy, Geldbörse, Die Besucherzahlen gingen 2016 weiter
Anschlag müssen Besucher nun mit weite- Schlüsselbund und „kleinere Kosmetik- zurück.
ren Sicherheitskontrollen rechnen, zumin- und Arzneibehältnisse“. Eine Bombe mussten die zusätzlichen
dest bei Großveranstaltungen. Schon nach den Anschlägen von Paris Ordner an den Zugängen zu den Zelten
Es steht viel auf dem Spiel: für die Mu- hatten die Veranstalter die Kontrollen ver- nicht aufspüren. Dafür entdeckten sie rund
sik-, Sport- oder Partyinteressierten die schärft. In die Hanns-Martin-Schleyer-Hal- 96 000 Maßkrüge, die Andenkenjäger mit
Freiheit, mit gutem Gefühl ausgehen und le und die Porsche Arena in Stuttgart sol- nach Hause schmuggeln wollten.
feiern zu können; und für die Branche der len Besucher nur Taschen mitbringen, die Anna Clauß, Jan Friedmann, Conny Neumann

DER SPIEGEL 22 / 2017 21


Politik

Ich bin dann mal weg


USA Verstrickt in Lügen und Skandale, reiste Donald Trump durch den Nahen Osten und Europa.
Die Tour sollte ein Neuanfang werden. Und wurde – tja, was? Von Christoph Scheuermann

V
ielleicht beginnt diese Reise nicht me an der Einreise in die USA hindern woll- ermittler ein. Der Druck auf den Präsiden-
erst beim König von Saudi-Arabien, te, wird mit dem Hofstaat des Königs von ten steigt nun mit jedem Tag. Das ist die
sondern schon auf der Flughafen- Saudi-Arabien einen Schwerttanz aufführen, Folie, vor der sich diese Reise abspielt.
toilette der Andrews Air Force Base mit er wird mit den Staatschefs von Kasachstan,
dem euphorischen Ausruf eines Reporters Burkina Faso und Somalia speisen. Der
von Fox News: „Das wird richtig irre!“ America-First-Mann, der sich aus Konflikten „Washington Post“, Sonntag, 21. Mai, Seite 1:
Draußen bricht eines dieser Frühsom- zurückziehen wollte, wird Israelis und Pa- „Ein Kongress-Mitglied fragt sich:
mergewitter auf Washington nieder, die lästinensern den Frieden versprechen. Ein Wird dieses ,Trump-Ding‘ noch lange
grell und laut sind, aber keine Kühlung Mann, der gern Rache schwört, wird in Rom so weitergehen?“
bringen. Drinnen im Abflugterminal des auf den Papst treffen und in Brüssel auf die
Militärflughafens warten 60 Journalisten, Spitze der Europäischen Union, einer Insti- Trump soll in Riad eine Rede halten, eine
Kameraleute und Techniker, dazu eine tution, der er den Untergang wünschte. Grundsatzansprache zum Islam. Ausge-
Handvoll Mitarbeiter des Weißen Hauses Was kann also schiefgehen? rechnet er, der große Islamkritiker. Zuvor
und des Secret Service. Der Präsident wird steht ein Bankett auf dem Terminplan, und
erst am nächsten Tag in die Air Force One wie auf der Theaterbühne treten zunächst
steigen, nach dem Sturm. Die Presse muss „Wall Street Journal“, Samstag, 20. Mai, Seite 1: die Nebenfiguren auf. Stephen Bannon,
vor ihm starten, mit einer Chartermaschine, „Entlassener FBI-Direktor James Trumps Chefideologe, schlendert durch
um seine Ankunft in Riad mitzuerleben, Comey wird öffentlich aussagen“ eine Seitentür in den Saal des König-Ab-
der Hauptstadt Saudi-Arabiens. Von Wa- dullah-Konferenzzentrums. Es folgen mit
shington sind es über Frankfurt am Main Der König kommt im Golfcaddy, als Do- ausladenden Schritten Ivanka Trump und
etwa 15 Stunden Flugzeit, die „New York nald Trump in Riad aus der Air Force One Jared Kushner, das glänzende Paar. Dann
Times“ trägt trotzdem eine Krawatte. steigt. Es ist morgens kurz vor zehn, die stürzt Sean Spicer herein, Trumps Presse-
Riad, Jerusalem, Rom, Brüssel und am Luft ist heiß und trocken, 43 Grad. Kano- sprecher, eine tragische und komische Fi-
Ende noch der G-7-Gipfel auf Sizilien, fünf nenschläge hallen über das Rollfeld, eine gur zugleich, halb Lügner, halb Hofnarr.
Stationen, neun Tage. Donald Trump ent- Militärkapelle spielt. Für ein paar Minuten Menschen offenbaren viel von sich,
deckt die Welt. Man muss sagen, dass die verdampft die amerikanische Innenpolitik wenn sie einen fremden Raum betreten.
Erwartungen an diese Reise nicht allzu in der flimmernden Hitze, das Chaos im Spicers Augen sind glasig und blicken in
hoch waren. Mit Trump kann viel passie- Weißen Haus, die Russlandaffäre. Von die Halbdistanz, er klammert sich an eine
ren, vor allem Katastrophen. Die vergan- links donnern Militärjets heran, bedrohlich schwarze Aktenmappe, aus der einzelne
genen Wochen zeigten, wie unberechen- tief. Trump schaut in den Himmel und Blätter herausschauen. Ivanka Trump und
bar dieser Mann ist, wie dünnhäutig und sieht, wie die Flugzeuge die Farben der Jared Kushner schweben wie Hugo-Boss-
unbelehrbar, wie falsch er Stimmungen amerikanischen Flagge in die Luft malen. Models vorbei. Der Einzige, der sich inte-
und Menschen einschätzt. Was aber, wenn Das ist die Botschaft von König Salman ressiert umschaut, ist Bannon, der Mann,
dieser Präsident nun auf Staatschefs trifft, an Trump: Hier bist du sicher, hier tut dir der dabei half, Trump mit radikalen Sprü-
die ihn nicht hofieren? Was, wenn er sich keiner was. Als wollte der Herrscher einen chen zum Präsidenten zu machen, und den
in der Defensive fühlt oder unterwegs mit Gleichgesinnten begrüßen. König Donald. Trump wieder fallen ließ, wie so viele.
einer Krise fertig werden muss, die er zur Trumps jüngste Affäre nahm vor gut Trump liebt Chaos. Am liebsten arbeitet
Abwechslung nicht selbst verursacht hat? zwei Wochen Fahrt auf, als er den FBI- er umgeben von einem Dutzend Mitarbei-
Trumps Hoffnung war, dem Russland- Chef feuerte. James Comey war seit Mo- tern im Oval Office, die er nach Belieben
skandal und dessen Turbulenzen zu ent- naten damit befasst, den Einfluss Russ- zu sich rufen oder hinauswerfen kann, wie
kommen und einen Neuanfang zu versu- lands auf die Präsidentschaftswahl zu un- ein kleiner König. Vor seinem Zorn ist nie-
chen. Wie sich zeigt, wird diese Hoffnung tersuchen, darunter die Kontakte von mand sicher, sein Stabschef Reince Priebus
unterwegs zerplatzen. Die Enthüllungen Trumps Team zu Wladimir Putins Leuten. genauso wenig wie sein Sicherheitsberater
werden nicht abreißen, die Anhörungen Aus Trumps Sicht war es nur praktisch, Herbert Raymond McMaster, die beide Teil
im Kongress voranschreiten und einen ste- Comey zu entlassen, weil er damit ein Pro- der Delegation sind. Trump genießt die
ten Strom von Schlagzeilen produzieren. blem weniger hatte. Dumm nur, dass ein Zankerei um seine Gunst, auch auf der Rei-
Es wird eine Tour, wie sie bis dahin we- Protokoll bekannt wurde, das der FBI-Di- se. Bannon wird bald nicht mehr dabei sein.
nige Präsidenten unternommen haben. Ein rektor nach einem Treffen mit Trump an- Jetzt allerdings schweift Bannons Blick
zermürbender Kraftakt für Trump, dem gefertigt hatte, daraus geht hervor, dass erst mal über die weißen Tische, an denen
die Fremde zuwider ist, der alles Unge- der Präsident ihn gebeten haben soll, seine Diplomaten und Staatschefs aus muslimi-
wohnte verabscheut und am liebsten im Ermittlungen einzustellen. schen Ländern sitzen, vor goldenen Tel-
eigenen Bett schläft oder zumindest in ei- Drei Tage vor Trumps Abreise setzte das lern, Silberschalen mit Hühnerfleisch, ge-
nem seiner Hotels. Justizministerium daher einen Sonder- backenem Gemüse, Reis in Weinblättern,
Können wir das Ganze nicht kürzer ma- Feigen, Törtchen und Schokolade. Er saugt
chen, soll er seine Berater gefragt haben. Video: die Luft ein, sie schmeckt nach Mandel-
Fünf Tage vielleicht, nein? Auf Trumps Spuren reis und parfümierten Baumwolltüchern,
Trump war von Anfang an der unwahr- spiegel.de/sp222017trump die livrierte Diener bereithalten. Überall
scheinlichste Tourist. Ein Mann, der Musli- oder in der App DER SPIEGEL Männer in weißen Gewändern, keine Frau-
22 DER SPIEGEL 22 / 2017
HOLLANDER / EPA /REX / SHUTTERSTOCK

Politiker Trump in Tel Aviv: Demokratisch gesehen eine Katastrophe, journalistisch eine fantastische Story

DER SPIEGEL 22 / 2017 23


Politik

STEPHEN CROWLEY / THE NEWYORKTIMES / REDUX / LAIF

LAPRESSE / OSSERVATORE ROMANO / DDP IMAGES


Reisender Trump in Riad, mit Papst Franziskus im Vatikan: Er ist jetzt der Teleprompter-Mann, vom Manuskript weicht er nur selten ab

en. Bannon bereitete den Boden für die hatte er den stellvertretenden Kronprinzen den Terror“ und wirbt um Vertrauen. Die-
America-First-Strategie, und jetzt steht er, und Verteidigungsminister ins Weiße Haus selbe Rede hätte auch George W. Bush hal-
der größte Islam-Hasser des Weißen Hau- eingeladen. Der Prinz revanchiert sich nun ten können. Das Problem ist, dass sich für
ses, in der Herzkammer des Islam. mit einem pompösen Dinner in Riad. jeden Satz von Trump, dem Präsidenten,
Er sieht die Koransuren an den Wänden, Trump stemmt seinen Körper aus dem eine Gegenaussage von Trump, dem Kan-
Kristallleuchter schwer wie Kleinwagen, Sessel. Seine Rede zum Islam wird ein rhe- didaten, finden lässt. „Der Islam hasst
die Kuppel in der Mitte. Sein Blick sagt: torischer Spagat. Einerseits muss er die Is- Amerika“, sagte er voriges Jahr. In Riad
Was zur Hölle mache ich hier? lam-Hasser zu Hause zufriedenstellen, die klingt das so: „Der Islam ist eine der groß-
Trump ist nicht der erste Präsident, der ihn gewählt haben. Andererseits darf er artigsten Religionen der Welt.“
im Ausland Zuflucht sucht. Richard Nixon die Araber nicht verprellen, mit denen er Das zeigt nicht nur Wankelmut, sondern
fuhr 1974 auch nach Saudi-Arabien und Is- Geschäfte machen will. ein Desinteresse an Politik.
rael, er wollte Watergate hinter sich lassen. Das Manuskript stammt von Stephen Trump führt eine Regierung, deren Kern
Die Reise sollte ein Ablenkungsmanöver Miller, einem 31-jährigen Berater und Re- seine Familie bildet, am Persischen Golf
sein, Nixon wollte staatsmännisch wirken. denschreiber Trumps, der den Einreise- kommt das gut an. Die Saudis schätzen
Der Plan ging spektakulär schief, nicht lan- stopp für Muslime zusammen mit Bannon am Präsidenten, dass er nicht mit der Men-
ge nach seiner Rückkehr trat er zurück. plante und umsetzte. Die große Frage lau- schenrechtscharta winkt wie einige seiner
Trump wird auf die Bühne gebeten, vor tet: Kann sich Miller mit der Formulierung Vorgänger. Trump braucht Erfolg. Die
ihm sitzen Männer mit schweren Bäuchen „islamischer Terrorismus“ durchsetzen Herrscher vom Golf haben Geld. Am Ende
auf Ledersesseln. Könige, Prinzen, Emire, oder nicht? Dieser Ausdruck ärgert viele reist er mit Rüstungsverträgen im Wert
auch ein paar Demokraten, aus 50 Ländern Muslime, weil er eine direkte Verbindung von 110 Milliarden Dollar ab. Außerdem
der islamischen Welt. Trumps Mundwinkel von ihrer Religion zum Terror zieht; auch haben Saudi-Arabien und die Vereinigten
zeigen nach unten, seine Schultern sind Kushner und McMaster sind dagegen. Arabischen Emirate versprochen, 100 Mil-
vorgesackt. Morgens um neun hatte er ei- Trump sagt, jedes muslimische Land lionen Dollar in den Frauen-Fonds der
nen Termin mit dem König von Bahrain, müsse den Terrorismus bekämpfen, er sagt Weltbank zu stecken, den Ivanka Trump
dann folgte der Emir von Katar. Lächeln, aber auch: Ich bin nicht hier, um Lektionen vor Kurzem ins Leben gerufen hat.
Händeschütteln, Small Talk. Trump hasst zu erteilen. Iran kritisiert er scharf, ein Der Besuch lief ausgezeichnet. „Kein
das. Zum ägyptischen Präsidenten sagte er: Land, das gerade den moderaten Hassan einziger Demonstrant in Sicht“, freut sich
„Tolle Schuhe. Junge, echt nette Schuhe!“ Rohani als Präsidenten wiedergewählt hat. Handelsminister Wilbur Ross.
Der Präsident hat sich bei der Vorberei- Trump spricht von einem Kampf zwischen
tung der Reise so sehr wie nie zuvor auf Gut und Böse, dann sagt er, es komme da-
seinen Schwiegersohn verlassen. Seit Mo- rauf an, den „islamistischen Extremismus“ „New York Times“, Montag, 22. Mai, Seite 1:
naten pflegt Kushner enge Kontakte zum zu bekämpfen. Auf die Formulierung, die „Comey-Drama“
Königshaus. Er kämpft wie ein Besessener seine Hardliner wollten, verzichtet er, ein
dafür, dass sein Schwiegervater Erfolg hat, Indiz, dass der Ton sich mildert. Reuven Rivlin, Israels Staatspräsident,
er will nicht, dass der Eindruck entsteht, Überraschend an Trumps Rede ist ihre lacht, als Trump in Tel Aviv die Gangway
es handle sich um eine Lustreise. Im März Harmlosigkeit. Er betont den „Krieg gegen herabsteigt. „Schön, dass Amerika zurück
24 DER SPIEGEL 22 / 2017
EMMANUEL DUNAND / AFP
MASSIMO PERCOSSI / AP

Ehepaar Kushner-Trump in Rom, Präsident Trump in Brüssel: Nach dem Ausflug in den Orient in der Wirklichkeit gelandet

ist!“ Viele von Rivlins Landsleuten haben Breaking News, „Politico“, Dienstag, 23. Mai: zu springen und Netanyahu vom Pult zu
nicht vergessen, dass Obama auf seiner „Russland rekrutierte Mitarbeiter stoßen.
ersten Nahost-Tour als Präsident auf dem des Trump-Wahlkampfteams, sagt der Als er ans Mikrofon tritt, fällt die Unru-
Weg nach Saudi-Arabien und Ägypten an frühere CIA-Chef Brennan“ he von Trump ab. Er wolle dem israeli-
Israel vorbeiflog. schen Premier für die Gastfreundschaft
Auf der Reise kann man eine Verände- Auch die Palästinenser wissen, wie sie danken, sagt Trump. „Wir hatten ein sehr
rung an Trump spüren. Er wird sicherer, Trump für sich einnehmen können. Ähn- unvergessliches Dinner, eine großartige
disziplinierter, er hält sich mit Ausbrüchen lich wie die Saudi-Araber hängten sie vor Zeit, wir sprachen über sehr, sehr wichtige
zurück, vorerst zumindest. Über Twitter dem Besuch aus Washington riesige Ban- Dinge.“ Amerika stehe fest an Israels Seite.
schickt er keine Drohungen, sondern ner auf, mit dem Gesicht von Donald Mehrfach muss er die Rede für Applaus
Links zu seinen Reden. Seine Berater ha- Trump und dem Spruch: „Die Stadt des unterbrechen.
ben ihn unterwegs offenbar besser unter Friedens heißt den Mann des Friedens will- Trump und seine Delegation waren
Kontrolle. Außerdem bekam er bislang kommen.“ Der Präsident kann sie gar kompliziert bei der Vorbereitung dieser
enorm viel Zuspruch und wenig Kritik, ab- nicht übersehen, als er mit seinem Konvoi Etappe. Erst hieß es, der Präsident werde
gesehen von Zeitungskommentaren, die nach Betlehem fährt, vorbei an einer Mau- in Massada sprechen, einer historischen
die Waffengeschäfte und die allzu große er, wie er sie sicher gern an der Grenze zu jüdischen Festung am Toten Meer. Dann
Nähe zur Herrscherfamilie in Riad ver- Mexiko bauen würde. In Betlehem besich- stellte sich aber heraus, dass Trumps Heli-
werflich finden. tigt er die Geburtskirche und kündigt an, kopter dort nicht landen konnte, und mit
Allerdings klingt Trumps Stimme, wenn den Palästinensern beim Aufbau ihrer der Seilbahn wollte Trump nicht auf den
er spricht, als wäre er auf Valium. Es ist Wirtschaft zu helfen und bei der Bekämp- Berg fahren. Ein Abendessen, das der is-
nicht lange her, da verachtete er Obama fung des Terrors. raelische Verteidigungsminister für Montag
noch dafür, dass er Reden vom Schirm ab- Nachmittags sitzt er mit verschränkten anberaumt hatte, sagten die Amerikaner
las, man wolle doch keinen Präsidenten, Armen auf einem Podium im Israel-Mu- am Abend zuvor kurzfristig ab. Und dann
sagte Trump, der ein Drehbuch benötige. seum von Jerusalem. Am Pult neben ihm musste Netanyahu auch noch sein Kabinett
Inzwischen liest Trump selbst kurze State- erzählt der israelische Ministerpräsident zwingen, zur Ankunft der Air Force One
ments vom Papier ab. Für längere Reden Benjamin Netanyahu gerade, wie toll er neben dem Rollfeld zu erscheinen.
wie in Riad nutzt er einen Bildschirm. seinen neuen Kumpel findet, aber Trump Die Palästinenser seien bereit zum Frie-
Trump ist jetzt ein Teleprompter-Mann. wirkt abwesend. Er dreht den Kopf, blin- den, sagt Trump nun im Museum. „Ich
Vom Manuskript weicht er nur selten ab. zelt ins Publikum, wiegt den Oberkörper weiß, ihr habt das schon oft gehört. Aber
Sein Stab hat aus den Fehlern gelernt, vor und zurück. Die Mundwinkel ziehen ich sage es euch. Sie sind wirklich bereit
eloquent können sie Trump aber nicht ma- sich hoch zu einem Lächeln, das sofort er- dazu, ihre Hand nach dem Frieden auszu-
chen. Nach einer sehr kurzen Führung lischt. Wie immer, wenn er zusehen muss, strecken.“ Das Publikum klatscht jetzt
durch die Holocaust-Gedenkstätte Yad wie andere Aufmerksamkeit bekommen, nicht mehr ganz so heftig. Der Auftritt
Vashem schreibt er in das Gästebuch: „So wird er unruhig. Seine Fingerkuppen tip- zeigt, wie sehr Trump vom Applaus ab-
amazing & will never forget!“ Als hätte er pen aneinander, es sieht aus, als müsse er hängt, wie genussvoll er in der Zustim-
Disneyland besucht. sich beherrschen, um nicht aus dem Sessel mung badet. Wie ein Junkie, dessen Eu-
DER SPIEGEL 22 / 2017 25
Politik

aus der Air Force One steigt, zieht sie ihre


Hand zurück, sie hat das schon in Tel Aviv
getan. Es sieht aus, als wolle sie nicht mit
dem Präsidenten Hand in Hand gehen.
Eine kleine Szene ist das nur, eine Sekun-
de lang vielleicht, unauffällig eigentlich.
Aber die First Lady ist meist sehr be-
herrscht, es ist unwahrscheinlich, dass sie
einfach vergessen hat, dass die halbe Welt
zuschaut. Vielleicht war es Absicht, ein

JONATHAN ERNST / REUTERS


Signal: um zu zeigen, dass sie keine Frau
ist, die sich Befehle erteilen lässt. Glücklich
wird ihr Mann über solche Bilder nicht
sein. Dabei lief es bisher ja gut auf dieser
Reise. Den Saudi-Arabern gefiel Melanias
erhabene Art und natürlich die Tatsache,
Präsident Macron, Ehepaar Trump: Sie stehen voreinander wie zwei Ringer dass sie sich stets im Hintergrund hält und
ihrem Mann die Bühne überlässt. Dass sie
phorie und Befriedigung auf dem Höhe- Hotelpersonal nicht mit „Salam alaikum“ ein für saudi-arabische Verhältnisse relativ
punkt keine Grenze kennt, aber schon grüßt, sondern mit „Buon giorno“. kurzes Kleid trug – geschenkt. Beim Papst
nach kurzer Zeit verblasst und nach einer Eines Abends gegen 22 Uhr streckt ein jedoch trägt Melania dafür einen schwar-
frischen Dosis verlangt. junger Mann den Kopf durch die Tür im zen Schleier über dem Kopf, wie eine Wit-
Wie ist eigentlich die Stimmung an Bord Presseraum des Hotels. Er trägt einen we beim Begräbnis.
der Air Force One? scharf geschnittenen Anzug und sieht aus, Auch Papst Franziskus macht ein Ge-
„Gut“, sagt die „L. A. Times“. als wäre er soeben nach zwei Stunden sicht, als stünde er dem Leibhaftigen ge-
„Ganz okay“, sagt Reuters. Bauchmuskeltraining aus der Eiswanne ge- genüber. Es ist aber nur Donald Trump.
Ein Dutzend Reporter darf mit im Flug- stiegen. „Na, wie geht’s, habt ihr alle noch Dem Präsidenten wird spätestens jetzt klar,
zeug des Präsidenten reisen, der sogenann- Jetlag?“, fragt Jared Kushner. „Wie ist die dass der schöne, unkomplizierte Teil der
te Pool, darunter Nachrichtenagenturen, Lage, genießt ihr die Reise?“ Reise vorüber ist. Er ist in Europa, er kann
die großen Zeitungen und Fernsehsender. Dann spricht er von kurzfristigen und sich nicht mehr darauf verlassen, dass ihn
Der Rest der Presse fliegt in der Charter- langfristigen Möglichkeiten, ambitionierten alle mögen, die er trifft. Nicht nach diesem
maschine voraus, in der eine klare Rang- Zielen und Paradigmenwechseln in Nahost, Wahlkampf, nicht nach seiner Freude über
ordnung herrscht. Vorn links in der Busi- er klingt wie seine eigene Power-Point-Prä- das Brexit-Votum im vorigen Jahr.
nessclass sitzen CBS, ABC, NBC, Fox und sentation. Rechts an der Wand lehnt Ivanka Auch Tochter Ivanka, der Schwieger-
CNN, rechts die „New York Times“, „Wall und hält sich an ihrer Handtasche fest. Nach sohn und Außenminister Rex Tillerson
Street Journal“, AFP, AP und Reuters. zehn Minuten streckt sie den rechten Dau- sind beim Papst. Nicht dabei: der Katholik
Sarah Huckabee Sanders, die stellver- men hoch, die vererbte Familiengeste der Spicer, der sich angeblich nichts sehnlicher
tretende Regierungssprecherin, sitzt auf Trumps, und schwebt mit Jared in die Nacht. gewünscht hätte als den Ring des Papstes
Platz 4D, gegenüber der Toilette, neben Donald Trump ist ein Geschöpf des Me- zu küssen. Offenbar eine diplomatische
Bloomberg. Sean Spicer fliegt bei Trump dienzeitalters, ohne Journalisten und das Gemeinheit des Heiligen Stuhls.
mit. Der Rest sitzt hinten, Sky News, Fernsehen wäre er nicht groß geworden Zum Abschied übergibt Franziskus drei
„Politico“, „Vanity Fair“, dann Techniker, und vermutlich auch niemals Präsident. Bücher als Geschenk an Trump, über die
Kameraleute und ausländische Medien. Trumps Verhältnis zu Medien ist obsessiv, Familie, das gelobte Wort und den Schutz
Die Flugkosten werden unter den Journa- sie sind sein Spiegelbild, das er täglich der Umwelt. „Werden wir lesen“, bedankt
listen aufgeteilt, jeder zahlt den gleichen mehrmals prüft, sein Resonanzraum, seine sich Trump, der gern damit prahlt, in sei-
Preis, ob er ganz vorn oder hinten in der Existenzberechtigung. Er schaut viel Fern- nem ganzen Leben nur ein einziges Buch
Maschine sitzt. sehen, besonders gern Fox News. Zeitun- zu Ende gelesen zu haben: sein eigenes.
Die Stimmung an Bord ist Trump-skep- gen liest er, um sich bestätigen zu lassen, „Wie lief das Gespräch mit dem Papst,
tisch bis -feindlich, auch wenn im Grunde dass sie Schwachsinn schreiben. Mr. President?“, ruft ein Journalist von AP
alle von ihm profitieren. Demokratisch ge- Präsidenten vor Trump hielten auf län- beim Fototermin. „Was für ein Mann!“,
sehen eine Katastrophe, journalistisch eine geren Reisen regelmäßig Pressekonferen- antwortet Trump. „Wir hatten ein fantas-
fantastische Story, messbar in wachsenden zen ab, um Journalisten zu informieren. tisches Treffen.“
Auflagen, Klicks, Hörer- und Zuschauer- Trumps Leute haben aber beschlossen, das
zahlen. Die „New York Times“ hatte Ende Risiko sei zu hoch, dass ihr Boss nach einer
2016 ihr bestes Quartal seit Jahren, mit unbequemen Frage ausraste. Breitbart und Meldung auf CNN.com, Donnerstag, 25. Mai:
über 276 000 neuen Digitalabos. Trump andere rechte Newsportale, die Trump toll „Justizminister Jeff Sessions verschwieg
verkauft sich hervorragend. finden, sind daheimgeblieben, mit netten Treffen mit Russen“
Das Problem ist, dass die meisten mit- Fragen ist also leider nicht zu rechnen.
reisenden Journalisten den Präsidenten Am Donnerstagvormittag ist Trump dort
kaum zu Gesicht bekommen. Wer nicht angekommen, wo er nie sein wollte. Er
Teil des Medienpools von 13 Reportern ist, „New York Times“, Mittwoch, 24. Mai: steigt aus seinem gepanzerten Cadillac und
der den Präsidenten ständig begleitet, sitzt „Spitzenbeamte in Russland diskutierten tritt in das 320 Millionen Euro teure
in einem fensterlosen Presseraum und vorigen Sommer, wie sich Trump-Mit- Europa-Gebäude in Brüssel, wo der Euro-
schaut CNN, liest Twitter und die Zusam- arbeiter beeinflussen lassen könnten“ päische Rat tagt, das Herz der EU. Er ist
menfassungen der Kollegen, die näher jetzt vollends in der Wirklichkeit gelandet,
dran waren. Dass sie in einem anderen Und dann macht sie es wieder. Als Melania nach dem Ausflug in den Orient, wo ihn
Land sind, merken manche erst, wenn das Trump an der Seite ihres Mannes in Rom die Menschen als Heilsbringer empfingen,
26 DER SPIEGEL 22 / 2017
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DER UNERSÄTTLICHE MD17-516

REIMANN-CLAN
Die waghalsigen Deals der
deutschen Multimilliardäre

AUDIS TALFAHRT
Was CEO Stadler falsch macht
Politik

oder zumindest als jemanden, der gutes


Kriegsgerät verkaufen kann.
Er ist in Brüssel mit Donald Tusk und
Jean-Claude Juncker verabredet, dem
Rats- und dem Kommissionspräsidenten,
das Gespräch findet in einem kleinen, un-
scheinbaren Konferenzraum statt. Die bei-
den Europäer wollen dem US-Präsidenten
erklären, wie sie die Welt sehen. Eine Drei-
viertelstunde lang reden die drei Männer
miteinander, hinter verschlossenen Türen.
Später sagt Tusk, man stimme in vielen
Fragen überein. Er sei aber nicht zu „100
Prozent sicher, dass wir eine ähnliche Hal-
tung zu Russland haben“. Er sagt, er habe
Trump eine Botschaft überbringen wollen:
Die Freundschaft zwischen Europa und
den USA basiere auf Werten wie Freiheit,
Menschenrechten und der Würde des Ein-
zelnen. Es ist eine kleine diplomatische
Ohrfeige, ähnlich wie Angela Merkel sie
Trump kurz nach der Wahl erteilt hat.
Danach ist Trump mit Emmanuel Ma-
cron zum Mittagessen verabredet, ausge-
rechnet, schließlich hatte Trump ja aus-
drücklich seine Gegnerin Marine Le Pen
unterstützt. Als die beiden Männer sich für
das Abschlussfoto die Hand geben, greift
der Franzose Trumps Hand und drückt fest
zu, Trump drückt zurück. Einen Moment
lang stehen sie voreinander wie Ringer.
Trump will loslassen, aber Macron drückt
fester, noch fester, bis seine Fingerknöchel
weiß hervortreten. Dann lässt er los.
Wenig später treffen sich die beiden
schon wieder, da eröffnet Trump das neue
Nato-Hauptquartier, hinter sich ein Trüm-
merteil des World Trade Center, neben sich

Der Wütende in Ankara


Angela Merkel. Während Merkel feierlich
über die historische Bedeutung der Nato
redet, spricht Trump mal wieder übers
Geld und die „riesigen Summen“, die 23
der 28 Nato-Mitglieder den USA schulde-
ten. „Ich werde nicht fragen, wie teuer die- Außenpolitik Der Konflikt mit Türkei-Herrscher Erdoğan
ses neue Hauptquartier war“, sagt er dann eskaliert, doch Kanzlerin Merkel will es nicht zum Bruch kommen
noch, „aber es ist wunderschön.“ Die an- lassen: Das Land wird in der Nato gebraucht.
deren stehen neben ihm wie Schüler, Mer-
kel blickt immer wieder zu Boden, Macron

A
grinst. Der Applaus ist gedämpft. Um für ngela Merkel steht neben einem die Agenda des Nato-Treffens an diesem
das gemeinsame Foto in die erste Reihe zu Stück Beton mit der offiziellen Be- Donnerstag beherrschte: Recep Tayyip Er-
kommen, drückt Trump noch schnell den zeichnung „Stützwandelement UL doğan, den Autokraten vom Bosporus, der
Premier von Montenegro zur Seite. 12.41“ und setzt eine feierliche Miene auf. sein Land in eine weitgehend gleichge-
Danach essen sie gemeinsam, am Abend Donald Trump lauscht ungewöhnlich an- schaltete Despotie verwandeln will, Mer-
fliegt Trump weiter nach Sizilien, zum dächtig, und auch der Nato-Generalsekre- kel im Frühjahr als „Unterstützerin des
G-7-Gipfel. Vorher erreicht ihn noch eine tär lässt Rührung erkennen, als die deut- Terrorismus“ schmähte und sich anschickt,
Eilmeldung: Ein Bundesberufungsgericht sche Kanzlerin ein Stück der Berliner Mau- das westliche Verteidigungsbündnis ins
in den USA hat eben bestätigt, dass sein er enthüllt. Chaos zu stürzen.
Einreiseverbot für Muslime nicht rechtens Früher versperrte es am Brandenburger Auf ihrem Gipfel stritten die Bündnis-
war. Tor den Weg nach Westen. Jetzt steht es führer auf offener Bühne um Geld – und
Er muss jetzt wirklich schnell zurück, in vor dem 1,1 Milliarden Euro teuren neuen überdeckten damit einen Konflikt, der in
Washington gibt es genug zu tun. Hauptquartier der Nato, die Merkel in ei- der Allianz mindestens ebenso viel Besorg-
ner knappen Ansprache als Garant von nis auslöst: den Streit mit Erdoğan.
Lesen Sie auch „Zusammenarbeit“, „Freiheit“ und „Ver- Kaum ein Tag vergeht in diesen Wochen,
Seite 88 Bernie Sanders sieht in Trump eine trauen“ preist. an dem der türkische Alleinherrscher die
Gefahr für die Demokratie und bekämpft ihn Die kurze Auflistung westlicher Werte westliche Staatengemeinschaft und insbe-
Seite 90 Ex-Hamas-Chef Khaled Meshal richtete sich an einen Mann, der bei dem sondere Deutschland nicht gezielt provo-
hoffte auf Trump und ist nun enttäuscht Festakt in der zweiten Reihe stand – aber ziert. Erst verhinderte er eine Reise deut-
28 DER SPIEGEL 22 / 2017
Eröffnung des Nato-Hauptquartiers in Brüssel
Von der Werte- zur Wortegemeinschaft

pern oder Jordanien verlegen, ließ Merkel


durchblicken. Und Außenminister Gabriel
verlangte weitere Maßnahmen. Sollte Er-
doğan nicht einlenken, müsste auch die
Bundeswehreinheit im türkischen Konya
abgezogen werden.
Das war konsequent, hätte aber weitrei-
chende militärische Folgen. In Konya näm-
lich sind die Besatzungen jener Awacs-
Aufklärungsflugzeuge stationiert, die den
Einsatz der Nato-Staaten gegen den IS
überwachen. Zögen sich die Deutschen
zurück, geriete die gesamte Operation in
Gefahr.
Dennoch sah sich Gabriel zu seinem
Vorstoß ermuntert, schließlich hatte er sich
zuvor in der Regierung abgestimmt. Bei
einer Telefonkonferenz mit Merkel und
Verteidigungsministerin Ursula von der
Leyen waren die drei am vorvergangenen
Sonntag übereingekommen, dass sich die
Nato in den Incirlik-Streit einmischen müs-
se. Erdoğans Kurs, so lautete die Abspra-
che, habe auch Auswirkungen auf die Sta-
tionierung der deutschen Awacs-Besatzun-
gen in Konya.
EMMANUEL DUNAND / AFP
Doch die Bundesregierung hielt ihre
Linie nicht lange durch. Nachdem Nato-
Generalsekretär Stoltenberg erklärt hatte,
dass der Konflikt „eine bilaterale Frage
zwischen der Türkei und Deutschland“ sei,
schlug Regierungssprecher Steffen Seibert
eine andere Tonlage an. Über „einen et-
waigen Abzug der Awacs aus Konya“ gebe
scher Parlamentarier zu den Bundeswehr- prozessen aburteilen lässt. Auch Außen- es „keine Diskussion“, befand er.
soldaten im Stützpunkt Incirlik mit dem minister Sigmar Gabriel sieht mittlerweile Auf ihrem Gipfel am Donnerstag be-
Argument, Deutschland habe türkischen „die Grenze dessen erreicht, was wir er- schloss die Nato denn auch, die Awacs-Ein-
Offizieren unzulässigerweise Asyl gewährt. tragen können“. Die Bundesregierung, so sätze unter neuem Label fortzuführen. Mit
Dann ließ er einen Besuch von Bundes- forderte er vergangene Woche nach dem Zustimmung der Bundesregierung, die zu-
tagsvizepräsidentin Claudia Roth absagen, Incirlik-Affront, müsse endlich sichtbar Ge- gleich nach Kompromissformeln für das
weil türkische Politiker im Wahlkampf in genmaßnahmen ergreifen. leidige Besuchsproblem suchte. Vielleicht,
Deutschland schlecht behandelt worden Doch die politischen Führer des Westens so die vage Hoffnung der Kanzlerin, werde
seien. setzen weiter auf Beschwichtigung. Nato- sich Stoltenberg ja jetzt, wo sich das Bünd-
In der Nato torpediert Erdoğan die Zu- Generalsekretär Jens Stoltenberg ist ent- nis offiziell dem Kampf gegen den „Isla-
sammenarbeit mit österreichischen Trup- schlossen, Erdoğans Attacken hinzuneh- mischen Staat“ angeschlossen hat, für das
pen auf dem Balkan. Er feuert Hunderte men, weil er die Türkei als Stützpunkt für deutsche Besuchsrecht in Incirlik einsetzen.
Offiziere, die in der Allianz wichtige Pos- Operationen im Nahen Osten braucht. Trotzdem richtet sich die Bundeswehr be-
ten einnehmen. Und er lässt keine Gele- Und auch die Kanzlerin mag sich Erdoğan reits darauf ein, die „Tornados“ nach Jor-
genheit aus, den eigenen Verbündeten nicht zu sehr widersetzen. Sie hat ihr poli- danien zu verlegen.
wüste Drohungen entgegenzuschleudern. tisches Schicksal an das Wohlwollen An- „Deutschland muss weiterhin Druck
„Wenn ihr euch weiter so benehmt“, warnt karas geknüpft, als sie die Türkei zum Tor- ausüben, dass Streitigkeiten unter Bünd-
er vieldeutig, „wird morgen kein einziger wächter für die Flüchtlinge machte, die nispartnern nicht bilateral ausgetragen
Europäer auch nur irgendwo auf der Welt nach Europa streben. werden, sondern im Nato-Rat verhandelt
noch sicher sein.“ Die atlantische Wertegemeinschaft, so werden“, sagt der CDU-Außenexperte Ro-
Die Frage, wie man mit dem Wutpoliti- scheint es, wandelt sich unter Erdoğans derich Kiesewetter.
ker aus Ankara umgehen soll, spaltet in- Druck zur Wortegemeinschaft – ein paar Im Streit um Konya zeichnet sich unter-
zwischen den Westen. In Europa fragen scharfe Sätze gegen den Provokateur, aber dessen eine Lösung ab. Wenn Ankara zu-
sich Politiker und Diplomaten, wie man ansonsten: weiter so, Nato. stimme, dass Flüge dorthin grundsätzlich
noch mit einer Regierung kooperieren Nichts zeigt die Ratlosigkeit im Westen als Nato-Flüge deklariert werden, müssten
kann, die einheimische und ausländische deutlicher als das Hin und Her in der Bun- auch Reisen von Bundestagsabgeordneten
Journalisten in Einzelhaft gefangen hält desregierung nach Erdoğans Incirlik-Be- zur Militärbasis nicht mehr einzeln von
und Zehntausende Richter und Lehrer we- suchsverbot. Wenn es dabei bleibe, müsse der türkischen Regierung genehmigt wer-
gen angeblicher Putschabsichten in Massen- die Bundesregierung ihre Truppe nach Zy- den, schlug Außenminister Gabriel im Ge-

DER SPIEGEL 22 / 2017 29


taktischen Gründen vorangetrieben. Er
glaubte, die Europäer könnten ihm im
Machtkampf mit dem türkischen Militär
behilflich sein.
Inzwischen betrachtet er die EU als eine
Art feindliche Macht. Erdoğan fühlt sich
durch die Kritik aus Berlin, Paris oder Brüs-
sel an seinem autoritären Regierungsstil
beleidigt. Die Entscheidung Deutschlands,
Asylgesuche türkischer Soldaten anzuer-
kennen, wertet er als Beleg dafür, dass
Europa heimlich einen Putsch gegen seine
Regierung unterstützt. Seine Leute ziehen

HANDOUT / EPA / REX / SHUTTERSTOCK


Vergleiche zu Ägypten, wo der Westen
schwieg, als das Militär Präsident Moham-
med Mursi 2013 aus dem Amt jagte.
Erdoğan hat Angst, ihn könnte ein ähn-
liches Schicksal ereilen. Er glaubt, seinem
Interesse sei am ehesten damit gedient,
Härte gegenüber den Europäern zu zeigen,
zu drohen und zu stänkern.
Deutsche „Tornados“ im Stützpunkt Incirlik: „Eine bilaterale Frage“ Bislang reagiert die Kanzlerin auf die
Feindseligkeiten aus Ankara wie auf das
spräch mit Nato-Generalsekretär Stolten- die Frage: Sind die neuen Abgesandten Macho-Gehabe anderer Politiker auch –
berg vor. Die Allianz müsse Ankara dann aus Ankara so zuverlässig wie die alten? mit demonstrativer Gelassenheit. Sie geht
nur informieren. Die Sorge über den abdriftenden Bun- noch immer davon aus, Erdoğan durch Dia-
Die türkische Regierung signalisierte in desgenossen an der Ostflanke des Bünd- log zu Kompromissen bewegen zu können.
Brüssel hinter verschlossenen Türen Zu- nisses ist groß. Doch mehr als Appelle hat Nur was, wenn dieser überhaupt keinen
stimmung. Ansonsten gab es keine Annä- Generalsekretär Stoltenberg nicht zu bie- Kompromiss will?
herung. Merkel sprach 20 Minuten lang ten, wie zuletzt Österreich zu spüren be- Für Erdoğan geht es in der Auseinan-
mit Erdoğan. Sie beklagte die Inhaftierung kam. Das Land gehört zwar nicht zur Nato, dersetzung mit dem Westen vor allem um
von Journalisten und das Besuchsverbot arbeitet aber wie viele andere Staaten mit eine Demonstration seiner Macht. Er ist
in Incirlik, er beschwerte sich über das der Allianz zusammen. Bei der Nato-Mis- davon überzeugt, dass die Europäer auf
deutsche Asyl für geflüchtete türkische sion Kfor im Kosovo etwa sind die Öster- ihn angewiesen sind und einen endgültigen
Offiziere. reicher mit rund 500 Soldaten einer der Bruch mit der Türkei nicht riskieren wer-
Der Streit um die deutschen Flugzeug- größten Truppensteller. den. Türkische Oppositionspolitiker mah-
besatzungen ist nicht der einzige Punkt, Doch die Regierung in Wien hat sich als nen die Europäer deshalb vermehrt zu ei-
an dem Erdoğan die Nato vor sich her- eine der ersten in der EU lautstark für einen nem härteren Kurs. Erdoğan werde erst
treibt. Seine Säuberungsaktionen nach Abbruch der Beitrittsgespräche mit der Tür- dann Ruhe geben, sagt der sozialdemokra-
dem gescheiterten Militärputsch zum Bei- kei starkgemacht, und so bekommt das tische Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu,
spiel haben längst auch das Bündnis er- Land nun Erdoğans Zorn zu spüren – in wenn er spüre, dass sein Handeln Folgen
reicht. der Nato. Seit Monaten blockieren die Tür- habe, wenn etwa Wirtschaftsinvestitionen
Insgesamt mussten mindestens 150 von ken die Entscheidung, die Balkankoopera- aus Europa ausblieben. „Erdoğan versteht
300 türkischen Offizieren ihre Posten in tion mit Österreich fortzusetzen – mit Er- keine andere Sprache.“
Nato-Hauptquartieren räumen, etwa im folg. „Wenn das Bündnis sich zwischen Auch in Deutschland wächst der Druck,
belgischen Mons oder in Brüssel, betroffen Österreich und der Türkei entscheiden dem türkischen Präsidenten entschlossener
sind zudem Militärattachés an Botschaften muss, geht das klar für die Türkei aus“, sagt entgegenzutreten. Sie erwarte „keinen
von Riga bis Brüssel. In internen Papieren ein österreichischer Diplomat. Schlingerkurs“, sondern „eine klare Reak-
des türkischen Generalstabs ist sogar von Er kennt die Doktrin von Nato-Gene- tion“ der Bundesregierung, sagte Bundes-
mehr als 270 zumeist hochrangigen türki- ralsekretär Stoltenberg, wonach die Türkei tagsvizepräsidentin Roth, nachdem die
schen Militärs die Rede, die von Erdoğan „ein Schlüsselland für die Sicherheit in Nachricht von der Absage ihrer Türkei-
gefeuert wurden. Europa“ sei. Kurz: Bevor das Bündnis Er- reise in Berlin die Runde gemacht hatte.
Zwar sind die meisten Stellen inzwi- doğan zur Ordnung ruft, müsste der starke Doch zu einem Bruch zwischen der Tür-
schen wieder besetzt. Doch ist es mit den Mann in Ankara schon offen das Nato-Sta- kei und Deutschland wird es vorerst nicht
Fähigkeiten der neuen Soldaten oft nicht tut infrage stellen. kommen. Und so stellen sich Berlin und
weit her. Über fehlende Fremdsprachen- Manche Politiker in Europa hatten ge- Ankara auf einen Status ihrer Beziehung
kenntnisse klagen Nato-Diplomaten, und hofft, der türkische Präsident würde nach ein, wie er in kriselnden Ehen nicht unüb-
Curtis Scarparotti, Oberbefehlshaber des dem Verfassungsreferendum vom 16. April lich ist: Die Partner gehen getrennte Wege,
Bündnisses, spricht, ganz offiziell, von ei- einen moderateren Kurs einschlagen. Statt- eine Scheidung aber wollen sie vermeiden.
nem „Qualitätsschwund“. dessen führt er sein Land nur noch herri- Im Auswärtigen Amt verwenden sie da-
Das Problem wird verschärft, weil viele scher. Seine Regierung hat eine deutsche für neuerdings einen Begriff aus der Erd-
türkische Soldaten an sensiblen Stellen im Übersetzerin verhaften lassen und ange- geschichte: „Eiszeit“. Matthias Gebauer,
Einsatz sind; etwa bei der Planung der kündigt, die EU-Beitrittsgespräche abzu- Peter Müller, Maximilian Popp, Christoph Schult
Luftraumüberwachung an der Grenze zu brechen, sollte Brüssel sich nicht an den
Russland oder an den streng geheimen Ver- vereinbarten Fahrplan halten. Lesen Sie auch
teidigungsplänen für zahlreiche Nato-Mit- Erdoğan hat die Annäherung an Europa Seite 86 Interne Papiere bringen Millionen-
glieder. Nicht wenige im Bündnis stellen zu Beginn seiner Amtszeit vor allem aus geschäft des Erdoğan-Clans ans Licht

30 DER SPIEGEL 22 / 2017


Politik

Trump-Zuschlag
Debatte Bevor die Bundeswehr neues Geld bekommt, muss das marode
Beschaffungswesen der Truppe reformiert werden. Von Gerald Traufetter

D
ie wesentliche Aufgabe des Wehrbeauftragten ist rung der ausgemusterten Modelle kostete 700 Millionen
das Fordern: mehr Material, mehr Löhne, mehr Euro, das war mehr als der ursprüngliche Kaufpreis.
Respekt für die Soldaten. Doch Hans-Peter Bartels Der Hersteller konnte sich in dem Vertrag auf breiter
kennt die Bundeswehr zu gut, um immer nur nach mehr Front gegen die Beamten durchsetzen, weil Ministerin
Geld zu rufen. Der SPD-Mann spricht vom „Mangel im Ursula von der Leyen den Deal um jeden Preis abschlie-
Überfluss“ in der Truppe. ßen wollte – „Krisenaufschlag“ nennen das die Rüstungs-
Der Mangel ist allerorten sichtbar. Kasernen verfallen, lobbyisten.
für Panzer fehlen Ersatzteile, für Übungen die Munition. Nun steht der „Trump-Aufschlag“ bevor: Rüstungsgüter
Doch zum paradoxen Zustand des deutschen Militärs ge- werden allein deshalb teurer, weil Geld im Überfluss vor-
hört auch der Überfluss. Sobald ein neuer Hubschrauber handen ist. Schon deshalb darf die Bundesregierung den
oder ein neues Transportflugzeug bestellt Forderungen des US-Präsidenten nicht
ist, sprudeln die Milliarden. Jede noch so blind nachkommen. Für eine moderne,
absurde Preiserhöhung wird dann oft klag- einsatzfähige Streitmacht reiche es, die
los akzeptiert. Rüstungsaufgaben auf 1,5 Prozent des
Deshalb wäre es so fatal, wenn nun das Bruttoinlandsprodukts zu steigern, schätzt
Ziel der Nato, zwei Prozent der Wirt- der Wehrbeauftragte Bartels.
schaftsleistung in die Rüstung zu stecken,

Z
ohne weiteres Nachdenken auf Deutsch- unächst sollte das zusätzliche Geld
land übertragen würde. Die Forderung, für qualifiziertes Personal ausge-
die Donald Trump bei seinem Brüssel- geben werden. Neues Kriegsgerät
besuch in dieser Woche bekräftigte, käme nutzt nichts, wenn Leute fehlen, die es be-
einem Blankoscheck für die deutsche Rüs- Die Rüstungsdebatte dienen können. Vor der Bestellung neuer
tungsindustrie gleich. Seit Ausbruch des Konflikts Waffensysteme muss zudem das Koblen-
In der jetzigen Verfassung kann das Mili- zwischen Russland und der zer Beschaffungsamt reformiert werden.
tär die vielen Milliarden Euro gar nicht sinn- Ukraine herrscht in Europa Vorbild dafür könnte die Bundesagentur
voll investieren. Das liegt vor allem an der wieder Kriegsgefahr. Zugleich für Arbeit sein. Neue Ausrüstung sollten
desolaten Lage des Bundesamts für Ausrüs- drängt die neue US-Regie- die Beamten zudem streng nach Priorität
tung, Informationstechnik und Nutzung der rung die Europäer, mehr für bestellen. Vorrang muss jenes Material ha-
Bundeswehr. 9000 Bedienstete arbeiten die eigene Verteidigung zu ben, das für die Einsätze in Mali oder Af-
dort, aber mehr als 1400 Stellen sind nicht tun und ihre Armeen aufzu- ghanistan gebraucht wird. Später muss die
besetzt. Das Personal ist überaltert, frus- rüsten. Aber macht mehr Ausrüstung in Deutschland modernisiert
triert, der technische und juristische Sach- Geld für Verteidigung Europa werden. Derzeit ist häufig nur ein Viertel
verstand nicht immer auf der Höhe der Zeit. wirklich sicherer? Der SPIEGEL aller Schiffe, Flugzeuge und Fahrzeuge
Die Beamten scheitern daran, Verträge begleitet die Diskussion mit überhaupt einsatzbereit.
über neues Gerät mit der Rüstungsindus- kontroversen Beiträgen. Bei all diesen Vorhaben muss das Ver-
trie auszuhandeln. So bleibt häufig ein be- teidigungsministerium mit den Rüstungs-
trächtlicher Teil des derzeit 35 Milliarden konzernen härter umgehen. Vieles, was
Euro schweren Verteidigungshaushalts am Ende des Jahres neu gebraucht wird, darf nicht mehr kostspielig neu ent-
liegen. Kurz vor Toresschluss werden dann Waffensysteme wickelt werden. Momentan sucht das Verteidigungsminis-
gekauft, die eigentlich niemand braucht. terium nach einem neuen Transporthubschrauber. Geeig-
Beispiel Korvetten: In diesem Jahr bestellte das Vertei- nete Modelle gibt es dafür bereits auf dem Markt.
digungsministerium fünf dieser Kriegsschiffe, obwohl bei Wenn doch ein neues, teures Waffensystem entwickelt
den bereits vorhandenen Modellen zum Teil haarsträu- werden soll, zum Beispiel eine Aufklärungsdrohne
bende Baumängel vorliegen. Außerdem sind die Korvetten oder ein neuer Kampfpanzer, dann braucht es eine ge-
nicht ausgelegt für lange Einsätze auf hoher See. Aber meinsame europäische Anstrengung. Das setzt voraus,
der Kauf von tauglichen Fregatten war zuvor gescheitert, dass die europäischen Regierungen koordinieren, wer
weil sich Ministerium und Hersteller nicht einigen konnten. welche Waffensysteme für eine gemeinsame Verteidigung
Die liegen gebliebenen Milliarden sollten nun für die Be- bereitstellt. Die europäische Rüstungsindustrie muss
stellung von Korvetten benutzt werden. Der unsinnige deshalb konsolidiert werden. Es braucht in Europa
Deal kam nur deshalb nicht zustande, weil das Kartellamt keine drei Hersteller für Kampfflugzeuge, die von ihren
intervenierte. Regierungen finanziell am Leben gehalten werden müs-
Die Rüstungsindustrie mit ihrem Heer aus Lobbyisten sen, Gleiches gilt für die Werften entlang der europäi-
weiß, wann die Staatskassen offen stehen. Unter dem schen Küsten.
Eindruck der Ukrainekrise ordnete das Verteidigungs- Ein sturres Festhalten am Zwei-Prozent-Ziel schafft
ministerium im Frühjahr 2015 an, die Panzerflotte um nicht mehr Sicherheit, sondern subventioniert nur eine
100 „Leopard 2“-Panzer zu erweitern. Die Modernisie- ineffektive Rüstungsindustrie. I

DER SPIEGEL 22 / 2017 31


Politik

„Überdosis Realpolitik“
Wahlkampf Der Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin, 62, über die Krise der Grünen
und seine Dauerfehde mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann

SPIEGEL: Herr Trittin, die Grünen sind aus halb setzen wir für die Bundestagswahl der Mobilität. Die ist elektrisch und digital
dem saarländischen Landtag geflogen und auf Themen, die die Zukunft unseres Lan- vernetzt.
haben sich in Nordrhein-Westfalen fast hal- des bestimmen werden. SPIEGEL: Wenn man Zeitungen liest und
biert. Im Bund verheißen die Umfragen SPIEGEL: Zum Beispiel? Nachrichtensendungen schaut, kann man
auch nichts Gutes. Geht es mit den Grünen Trittin: Wir sind nicht bereit, zwei Prozent auf die Idee kommen, Kretschmann und
zu Ende? unserer Wirtschaftsleistung in die Rüstung Sie seien in Wahrheit die Spitzenkandida-
Trittin: Ich kann Sie beruhigen. Wenn ich zu stecken, sondern wollen das Geld in ten der Grünen für die Bundestagswahl.
all die Artikel gesammelt hätte, die den die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und Können Sie verstehen, dass manche Grüne
Grünen in den vergangenen 30 Jahren ein in den Zusammenhalt in Europa investie- Ihre Omnipräsenz nervt?
unmittelbar bevorstehendes Ende prophe- ren. Wir sind gegen eine Sparpolitik, die Trittin: Gar nicht. Winfried Kretschmann
zeit haben, dann fänden wir hier in mei- den Rest von Europa schikaniert. Und na- ist schließlich Ministerpräsident eines wich-
nem Büro keinen Platz. türlich wollen wir eine Klima- und Um- tigen Bundeslandes. Und ich spreche fast
SPIEGEL: Vor ein paar Wochen hat das Al- weltpolitik, die Schluss macht mit der nur zu den Themen, für die ich zuständig
lensbach-Institut eine Umfrage veröffent- Kohle oder der Subventionierung schad- bin: Trump, Nato-Aufrüstung, G 20. Da ist
licht, wonach im Jahr 2010 noch 59 Prozent stoffreicher Dieselautos. derzeit halt einiges los.
aller Deutschen fanden, die Grünen seien SPIEGEL: Ihr Kollege Kretschmann scheint SPIEGEL: Na ja. Sie waren der erste Grüne,
in. Derzeit sind es nur noch 13 Prozent. allerdings noch Gottvertrauen in die deut- der nach der Wahl in NRW in einer großen
Warum sind die Grünen so uncool ge- sche Dieseltechnologie zu haben. Er hat Talkshow saß und die Lage kommentierte.
worden? sich gerade einen neuen Diesel gekauft. Trittin: Ich war zu Anne Will eingeladen,
Trittin: Wir kamen 2009 mit mehr als zehn Trittin: Das ist seine persönliche Entschei- die zu einem Zeitpunkt sendete, als schon
Prozent aus der Bundestagswahl. Dann dung. Zum Glück ist doch nicht alles Pri- alle verantwortlichen Spitzenkandidaten,
gab es die großen Proteste gegen Stutt- vate politisch. Es gibt auch sehr schöne Vorsitzenden, Geschäftsführer hierzu auf
gart 21 und die Reaktorkatastrophe von Dampfloks, nur ist das nicht die Zukunft Sendung gewesen waren. Und dort habe
Fukushima, da ging es noch einmal ich das vertreten, was diese zuvor
weiter nach oben in den Umfragen. gesagt hatten.
Aber auch heute gehen doch viele SPIEGEL: Dennoch haben sich viele
Menschen für grüne Themen auf die Grüne über ihren Auftritt geärgert,
Straße und demonstrieren für weil Sie den Parteifreunden in
Europa, für Klimaschutz und Bür- Schleswig-Holstein geraten haben,
gerrechte. mit der SPD zu regieren, weil
SPIEGEL: Ihr Parteifreund Winfried „mehr vom Kuchen“ übrig bleibe,
Kretschmann sagt allerdings schon wenn man mit einem geschwächten
seit Längerem, die Grünen sollten Partner regiere. Klingen Sie eigent-
nicht immer mit erhobenem Zeige- lich gern so abgebrüht wie Frank
finger vor die Bürger treten. Underwood in „House of Cards“?
Trittin: Da hat er recht, das habe Trittin: Die Nordgrünen hatten ihre
ich schon immer so gesehen. Er klare Priorität für die Ampel bekun-
meint damit ja nicht, dass die Grü- det, nicht ich. Ich habe Herrn Ku-
nen keine Missstände benennen bicki von der FDP zur Ampel ge-
sollten. Es ist zum Beispiel sinnvoll, raten, weil da für ihn mehr bliebe.
die wenigen Reserve-Antibiotika, Das war vielleicht eine Überdosis
die wir noch haben, in der Tiermast Realpolitik. Aber inhaltlich ist für
zu verbieten. Wenn die Fleisch- Grüne die Sache klar: Wenn man
industrie das als Zeigefinger emp- sich anschaut, was Robert Habeck
findet, dann müssen die das wohl in den letzten fünf Jahren beim Aus-
aushalten. bau der Windenergie erreicht hat,
SPIEGEL: Wir verstehen Sie also rich- dann ist die SPD der bessere Koali-
tig: Die Grünen haben alles richtig tionspartner in Kiel als eine CDU,
gemacht, nur die Wähler sind leider die dagegen war.
zu doof. SPIEGEL: Im Moment läuft allerdings
WERNER SCHUERING / DER SPIEGEL

Trittin: Wählerbeschimpfung werden alles in Kiel auf ein Jamaika-Bünd-


Sie von mir nicht hören. Wir haben nis mit Union und FDP hinaus. Wer-
in den letzten Wochen eine Wahl den die Grünen da nicht von zwei
gewonnen und zwei verloren. Also bürgerlichen Parteien zerquetscht?
muss man analysieren, was gut und Trittin: Die Grünen in Schleswig-Hol-
was schlecht gemacht wurde, wenn stein lassen sich nicht zerquetschen,
wir bei der Bundestagswahl näher da können Sie sicher sein. Die wer-
am Ergebnis aus dem Norden als an Parteilinker Trittin den verantwortlich entscheiden.
dem im Westen liegen wollen. Des- „Die Grünen lassen sich nicht zerquetschen“ Interview: René Pfister

32 DER SPIEGEL 22 / 2017


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Politik

GREGOR FISCHER / DPA


SPD-Politiker Gabriel: Keine Nörgelfragen mehr beantworten

Die große Erleichterung


Karrieren Sigmar Gabriel gilt als großer Gewinner der deutschen Politik. Sein spätes Glück als
Außenminister könnte jedoch von begrenzter Dauer sein, wenn die Kampagne
seines Freundes Martin Schulz nicht endlich an Fahrt gewinnt. Von Markus Feldenkirchen

Z
wischen Omsk und Nowosibirsk siger Zuverlässigkeit produziert, ganz egal, sicht.“ Ein Zwinkern, damit die Doppel-
lässt sich der Bundesaußenminister wer gerade ihr Vorsitzender ist. deutigkeit ja nicht untergeht.
ein Käsetellerchen servieren, dazu Der Käse schmeckt, Trauben und Nüsse In all den Jahren, als Gabriel verzweifelt
Trauben, Nüsschen und eine Cola. Light. auch. Nur das Brot lässt Sigmar Gabriel gegen sein Gewicht kämpfte und doch im-
Logisch. Während Sigmar Gabriel auf dem links auf dem Teller liegen. mer verlor, wäre er nie auf die Idee ge-
Weg nach Peking ist, muss sein Nachfolger „Ich bin erleichtert“, sagt Gabriel. Er kommen, über seine Figur zu reden. Wenn
Martin Schulz in Berlin gerade Nörgelfra- streicht sich jetzt tatsächlich über den be- er Journalisten im Restaurant traf, bestellte
gen einer Journalistenrunde über sich er- quemen braunen Pulli, genau an jener Stel- er maximal einen Salat. Er versuchte den
gehen lassen. Fragen zu all den großen le, wo sich noch vor wenigen Monaten ein Eindruck einer ewigen Fastenzeit zu er-
und kleinen Pannen, die die SPD mit em- stattlicher Bauch befand. „In jeglicher Hin- zeugen, die so strikt dann aber doch nicht
34 DER SPIEGEL 22 / 2017
gewesen sein konnte. Jetzt, 20 Kilo später, tern. Zunächst war Frank-Walter Steinmei- sich zugleich mit dem Gedanken getröstet,
kommt er von selbst auf das Thema. er schuld. Schon im August 2014 hatte Ga- alles richtig gemacht zu haben, zum Wohle
Sigmar Gabriel ist endlich im Reinen briel für die nächste Bundestagswahl noch der Partei: „Wenn du so ein Pfropfen auf
mit sich. Hinter ihm liegt ein Jahr, in dem einmal Steinmeier als Kanzlerkandidat ge- der Flasche warst, dann ist es gut, dass du
Depression und Glück so nah beieinander winnen wollen. Ein Jahr später bot er ihm gegangen bist.“
lagen wie sonst nur bei Manisch-Depressi- gar die Kandidatur plus Parteivorsitz an. Für seine letzte Rede als Vorsitzender
ven. Ein Jahr, in dem Gabriel bis zur Aber Steinmeier lehnte beides ab. hatten die Organisatoren des Parteitags
Selbstqual mit der Frage rang, ob er selbst Anfang 2016 begann Gabriel, mit Martin zehn Minuten Redezeit vorgesehen. Als
als Kanzlerkandidat antreten oder die Sa- Schulz über die Frage zu reden, sehr vor- Martin Schulz das hörte, erhöhte er sie auf
che samt Parteivorsitz lieber Martin Schulz sichtig, unschlüssig, ob er tatsächlich los- dreißig. Am Ende sprach Gabriel fast eine
überlassen solle. Ein Jahr, in dem das deut- lassen solle. Die Kanzlerkandidatur hätte Stunde. Als wollte er den Abschied noch
sche Volk ihm per Umfragen klarmachte, er Schulz wohl überlassen. Aber auch den etwas hinauszögern.
dass es ihn satt hatte. In dem es kurz so SPD-Vorsitz, an dem Gabriel so hing? Das Danach fuhr Gabriel schnurstracks zu
aussah, als würde seine eigene Partei ihn war Schulz’ Bedingung. seiner Familie nach Goslar. Es habe sich
vom Hof jagen. Gabriel rang mit sich. Ganz diskret be- angefühlt, „als ob mir ein Gebirge von der
Am Ende dieses Jahres muss Gabriel auftragte er gleich zwei Institute, deutsche Seele gefallen ist“, sagt er rückblickend.
keine Nörgelfragen mehr beantworten. In Meinungsforscher und amerikanische Spe- Er habe keinerlei Bitternis empfunden. Bit-
den Umfragen ist er zum zweitbeliebtesten zialisten für Datenanalyse. Sie sollten he- ter sei er oft im Jahr davor gewesen.
Politiker aufgestiegen, vor Angela Merkel. „Ich habe gedacht: Vielleicht kommt’s
Im März ist er im Alter von 57 Jahren noch
einmal Vater einer Tochter geworden, der
Es habe sich angefühlt, ja noch mal.“ Er macht eine Pause. „Kam
aber nichts. Da ist nichts mehr, was
dritten. Und mit dem Abnehmen klappt’s sagt er, „als ob mir schmerzhaft wäre.“ Während er dies er-
auch endlich.
Bei kaum einem anderen aktiven Politi-
ein Gebirge von der Seele zählt, lässt er die Fingerkuppe seines lin-
ken Daumens über die anderen Fingerkup-
ker liegen Tragödie und Triumph näher gefallen ist“. pen gleiten, ganz geschmeidig, ganz sanft.
beieinander. Das war schon lange so. Im Dann sagt er, dass er sich im vergange-
vergangenen Jahr aber hat Gabriel sich rausfinden, welche Chancen er als Kanz- nen Jahr häufiger gefragt habe: Wie alt
selbst übertroffen. lerkandidat hätte. Die Institute wussten bist du eigentlich, wenn deine Tochter 20
Jetzt, da die Euphorie für den Kandida- nichts voneinander, kamen aber beide im Jahre alt ist? Und wirst du das überhaupt
ten Schulz abgeklungen ist, gibt es sogar Oktober 2016 zu einem vernichtenden Er- erleben, wenn du so weitermachst? „Und
die ersten Genossen, die hinter vorgehal- gebnis. Im November gab Gabriel den In- dann hab ich mir gesagt: Du musst dein
tener Hand fragen, ob Gabriel nicht doch stituten erneut einen Auftrag, wieder die- Leben ändern.“ Vor allem wollte er gesün-
besser selbst angetreten wäre. Es ist ein selbe Fragestellung. Im Dezember noch der leben. Er stellte seine Ernährung um,
klassischer Reflex im Zeitalter der Kurz- einmal. Offenbar hoffte er bis zuletzt auf ließ sich vor Weihnachten offenbar auch
fristigkeit, in dem Menschen binnen weni- einen Beliebtheitsschub. Vergeblich. am Magen operieren, was gleich einen
ger Wochen vom Erlöser zur Belastung Als er seine Entscheidung endlich ge- positiven Effekt auf seine Diabeteserkran-
werden können – und umgekehrt. troffen und verkündet hatte, räumte er kung hatte. „Mein Zucker ist fast weg“,
Gabriel hält das für Blödsinn, auch noch am selben Tag sein Vorsitzendenbüro sagt Gabriel. Er fährt öfters Fahrrad da-
wenn es ihm schmeichelt. „Wenn ich Kanz- und kam nicht mehr zurück. Er blieb auch heim in der hügeligen Umgebung von Gos-
lerkandidat gewesen wäre, wäre ich jetzt allen Vorstands- und Präsidiumssitzungen lar. Das Wichtigste aber sei, dass er nun
nicht mehr Kanzlerkandidat“, sagt er. Die fern – obwohl es bis zum Parteitag, auf weniger Stress habe.
Genossen hätten sich schon nach der Nie- dem Schulz gewählt werden sollte, noch Weniger Stress? Als Außenminister?
derlage der SPD in Schleswig-Holstein zu- fast acht Wochen dauerte. Sei doch ganz einfach, sagt er leicht ge-
sammengetan und versucht, ihn abzusetz- Freunde berichten von einer Phase gro- nervt, er hat das in den vergangenen Wo-
ten. „Spätestens nach der NRW-Wahl hät- ßer Verzweiflung, auch wenn er das be- chen zigmal erklärt. „Schauen Sie sich
ten die mich gekillt.“ Gabriel hält sich die streitet. Nervös las Gabriel damals jedes zum Beispiel meinen morgigen Tag an. Da
Handkante an den Hals, macht zack und Interview mit Martin Schulz. Danach mel- hab ich ja nicht so viele Termine.“
lächelt entspannt. „Diese Schwielowsee- dete sich Gabriel bei seinem Freund und Kurzer Blick also ins Programmheft für
Lage“, sagt er in Anspielung auf den tragi- beschwerte sich über Formulierungen, die seinen Pekingbesuch: 6.45 Uhr Betriebs-
schen Abgang des einstigen Parteichef ihm nicht klar genug waren. Gabriel hatte besichtigung, dann Gespräch mit der stell-
Kurt Beck, „wollte ich unbedingt vermei- das Gefühl, dass Schulz keine eindeutige vertretenden Ministerpräsidentin, Ausstel-
den.“ Nicht etwa, um sich selbst zu schüt- Jobgarantie abgeben wollte. Er war sich lungsbesuch, Dialogforum eröffnen, Rede
zen. „Ich habe so viel Prügel abgekriegt, nicht mehr so sicher, ob Schulz sich an das halten, noch eine Ausstellung besuchen,
das hätte ich auch noch weggesteckt.“ Versprechen gebunden fühlte, wonach Ga- am Bankett teilnehmen, kommunistische
Aber ein solches Fiasko hätte die SPD un- briel einen wichtigen Platz in der Politik Partei besuchen, den Ministerpräsidenten
ter 20 Prozent gedrückt, glaubt Gabriel. behalten werde. treffen, den Außenminister treffen, Presse-
Natürlich stand Gabriel bislang selten Zugleich schossen die Umfragen für die konferenz, Abendessen mit dem Minister,
im Verdacht, allzu selbstlos zu sein. Und SPD in die Höhe. Es war, als hätten die mit Menschenrechtsanwälten treffen, um
natürlich sah er die Chance, die ein Wech- Menschen seit sieben Jahren darauf gewar- 23.30 Uhr ins Hotelzimmer, um 3.45 Uhr
sel ins Außenamt für ihn bot. Aber das tet, dass Gabriel endlich weg sei, um ihre Abfahrt zum Flughafen.
muss die Sorge um die Partei nicht aus- Liebe zur SPD wieder zeigen zu können. So sieht also sein gesundes, entspanntes
schließen. Trotz der jüngsten Rückschläge „Eigentlich war das eine bittere Erkennt- Leben aus, bei dem endlich mehr Zeit für
stehe die SPD dank Schulz heute weit bes- nis“, sagt Gabriel im Flugzeug. „Offensicht- die Familie bleibt.
ser da, als sie mit ihm dagestanden habe, lich warst du das Problem. Wenn deine Als SPD-Chef sei ein typischer Tag weit
sagt Gabriel. „Meine Zeit war einfach um.“ Partei von 22 auf 32 Prozent nach oben stressiger gewesen, sagt Gabriel. Die meis-
Er hatte das schon länger geahnt, aber geht, denkst du automatisch: Das muss ten Parteiveranstaltungen fänden an Aben-
es fiel ihm schwer, sich politisch zu erleich- was mit dir zu tun haben.“ Aber er habe den und Wochenenden statt, wenn die nor-

DER SPIEGEL 22 / 2017 35


Steuern? malen Mitglieder Zeit haben. Die
fielen nun weg. An vielen Aben-
Lass ich machen. den habe er jetzt schon um halb
neun nichts mehr zu tun. „Ich
habe es in den letzten Wochen
sogar geschafft, diese Serie über
die Charité zu schauen.“ Er meint

THILO SCHMUELGEN / REUTERS


eine sechsteilige Krankenhaus-
serie, die dienstags um 20.15 in
der ARD lief.
Das Entspannteste sei aber,
nicht jeden Konflikt in der Partei
selbst lösen zu müssen. Wie we-
nig Loyalität es in der SPD bis- Freunde Schulz, Gabriel
weilen gebe, habe doch der vori- Plötzlicher Rollentausch
ge Montag wieder gezeigt. Da
wurden mittags große Teile des Wahlpro- die Staats- und Regierungschefs arbeiten,
gramms vom Parteivorstand einstimmig werden wir beide ein Bier trinken.“ Als
beschlossen. Schon am Nachmittag aber Minuten später die chinesische Überset-
hätten einige von denen, die mittags zuge- zung folgt, muss auch der Diplomatie-
stimmt hatten, öffentlich rumgenörgelt. automat neben ihm lachen.
Jahrelang hatte sich Gabriel bei Martin Im fernen Deutschland bereitet sich
Schulz über die ungerechte Rollenvertei- Freund Martin derweil auf seinen Beitritt
lung beklagt. „Du hast gut reden in deinem bei „Maischberger“ vor, wo er am Abend
Brüsseler Elfenbeinturm“, schimpfte er im- zum Zustand der SPD und seiner Kampa-
mer wieder. Kannst schön auf roten Tep- gne gelöchert wird. Noch ist offen, welche
pichen den Präsidenten geben. Für alle Folgen der plötzliche Rollentausch für die
bist du der nette Martin. Du hast ja gar Freunde haben wird. In Berlin suchen die
keine Ahnung, wie das ist, wenn du für al- Journalisten schon seit Wochen mit der
les verantwortlich bist. Wenn du dich um Lupe nach möglichen Differenzen zwi-
die ganze Scheiße kümmern musst. Schulz schen Schulz und Gabriel. Mehr als einmal
wehrte sich nur bedingt. Er wusste, dass wurden Vorstöße Gabriels, vor allem in
Gabriel recht hatte. der Europapolitik, als Beleg dafür gewer-
Inzwischen ist Schulz für die ganze tet, dass sie nicht mehr an einem Strang
Scheiße verantwortlich, und Gabriel steht zögen. Dabei hatten sie jeden dieser Vor-
viel auf roten Teppichen rum. stöße miteinander abgesprochen.
Zum Abschluss seiner Chinareise soll es Zwar kracht es immer mal wieder zwi-
eine Pressekonferenz mit dem Kollegen schen Schulz und Gabriel. Schulz klagt
Wang Yi geben. Der Chinese wurde viele dann über die ruppige Art Gabriels, der
Jahrzehnte lang vom Parteiapparat gezielt wiederum über Schulz’ Zögerlichkeit.
zum Außenpolitiker herangezüchtet und Aber nach allem, was man von ihnen hört,
macht daher automatisch alles richtig, oder ist die Freundschaft intakt.
besser: nie etwas falsch. Jede Körperhalb- Allerdings fragt sich schon, ob es klug
drehung Richtung Gast wirkt einstudiert ist, wenn vor allem Gabriel mit Vorschlä-

VLH. und wird mustergültig ausgeführt. gen für ein vertieftes und solidarisches
Gabriel war die letzten Jahrzehnte eher Europa wahrgenommen wird, wo doch
als Antidiplomat unterwegs, war spontan, Schulz sein halbes Leben mit Europapoli-
manchmal auch aufbrausend und verlet- tik zugebracht hat. Beiden ist inzwischen
zend. Jetzt muss er bisweilen schmunzeln, klar, dass es nicht allzu gesund wäre, wenn
wenn die Übersetzerin die Floskeln des Gabriel alle wichtigen Themen besetzten
Wir machen Ihre Chinesen übersetzt. In Gabriels neuer Welt würde. Ob die Einsicht auch Konsequen-
wird ständig etwas „vertieft“, „beschleu- zen hat, ist noch offen.

Steuererklärung. nigt“ oder „gestärkt“, wahlweise „Bezie- Gabriel weiß, dass Schulz und die SPD
hungen“, „Bindungen“ oder „Partnerschaf- im Herbst ein gutes Ergebnis holen müssen,
ten“. Man kann das wahllos kombinieren. damit es auch für ihn weitergeht, als Au-
In Deutschland hatte Frank-Walter Stein- ßenminister oder in anderer Position. Er
meier die Kunst des freundlichen Nichts- werde Schulz mit allem, was ihm zur Ver-
sagens zuletzt zur Perfektion getrieben. fügung stehe, unterstützen, sagt Gabriel.
www.vlh.de Gabriel klingt inzwischen selbst etwas Zugleich betont er, dass er sich nichts mehr
steinmeierig. Man habe schnell einen „gu- beweisen müsse, dass er alles durchhabe.
ten Gesprächsfaden entwickelt“, sagt er „Mein Selbstwertgefühl hängt nicht mehr
zu seinem chinesischen Kollegen, es folgt von dieser Frage ab, was aus mir wird“,
eine ebenfalls gekonnte Körperhalbdre- sagt er. „Ich habe keine Angst mehr.“
hung Richtung Gastgeber. Am Schluss sei- Das mag stimmen. Andererseits würde
ner Ausführungen aber sagt Gabriel, dass er dieses unbekannte Gefühl ganz gern
man sich bald schon beim G-20-Gipfel in noch ein Weilchen länger auskosten: end-
Hamburg wiedersehen werde. „Während lich beliebt zu sein.
36 DER SPIEGEL 22 / 2017
Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Politik

„Bis zum bitteren Ende“


SPIEGEL-Gespräch Justizminister Heiko Maas, 50, über sein umstrittenes Gesetz zur Regulierung
sozialer Netzwerke und seine neuen Rollen als Buchautor und Hassfigur der Rechten

SPIEGEL: Herr Minister, gerade gab es eine


für Facebook unangenehme Enthüllung:
Geheime interne Anweisungen wurden be-
kannt, wie Facebook-Mitarbeiter mit Hass
und Gewaltandrohungen umgehen sollen.
Haben Sie Neues erfahren?
Maas: Meine Vorbehalte haben sich leider
bestätigt: Die Kriterien wirken teilweise
völlig willkürlich und widersprüchlich. Sie
bringen diejenigen, die konkret entschei-
den müssen, in größte Schwierigkeiten.
Die Vorgaben unseres Gesetzentwurfs ge-
gen Hasskriminalität im Netz orientieren
sich dagegen klar am Strafrecht. Und dass
diese Informationen nur durch ein Leak
öffentlich wurden, zeigt überdeutlich, dass
wir die sozialen Netzwerke endlich zu
mehr Transparenz verpflichten müssen.
SPIEGEL: Die vom „Guardian“ geleakten
Unterlagen zeigen, dass Facebook Bilder
von Selbstverstümmelung, Kindesmiss-
handlung oder Tierquälerei nicht immer
löschen will. Und Morddrohungen nur,
wenn diese „glaubhaft“ sind.
Maas: Kein Wunder, dass Facebook die
eigenen Vorgaben bislang geheim hält und
es auch keinem Externen ermöglicht, sich

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


vor Ort bei den Entscheidern ein Bild zu
machen.
SPIEGEL: Sie haben lange im Rahmen einer
Taskforce auf einen Dialog mit den Anbie-
tern gesetzt. Nun haben Sie doch ein Ge-
setz vorgelegt. Ist das der richtige Weg?
Die Unterlagen zeigen, dass Facebook sich
intensiv mit Gewalt und Mobbing befasst.
Maas: Gerade die Taskforce hat gezeigt, SPD-Politiker Maas: „Früher dachte ich, das bessere Argument gewinnt“
dass das leider nicht reicht. 2015 gab es
eine klare Selbstverpflichtung der Netz- SPIEGEL: Rechnen Sie wirklich damit, dass gern bereit, über konkrete Befürchtungen
werke – mit einer Evaluationsfrist bis zum Ihr Gesetz vor der Wahl durchkommt? zu diskutieren, aber gegen diese pauscha-
Beginn 2017. Heute wissen wir: Kaum et- Juristen, Verleger und IT-Verbände laufen len Angriffe wehre ich mich. In manchen
was von den Zusagen wurde eingehalten. dagegen Sturm. Kreisen scheint eine Wahrnehmung zu do-
Auch in Sachen Transparenz hat sich wäh- Maas: Das laufende Gesetzgebungsverfah- minieren, dass das Internet ein rechtsfreier
rend der Arbeit der Taskforce nichts zum ren zielt darauf ab, dass wir noch in dieser Raum sei. Das akzeptiere ich nicht.
Positiven verändert. Deshalb sehen wir Legislaturperiode zum Abschluss kommen SPIEGEL: Ihr Gesetz zwingt Facebook & Co.
keine andere Möglichkeit, als ein Gesetz können. Im Übrigen: Zuerst wurden wir sicherzustellen, dass offensichtliche Rechts-
auf den Weg zu bringen. dafür kritisiert, dass wir in der Taskforce verletzungen binnen 24 Stunden gelöscht
SPIEGEL: Wie groß ist das Problem wirklich? nur herumreden würden, jetzt ist das Ge- werden, sonst drohen saftige Geldbußen.
Über wie viele strafbare Posts sprechen setz angeblich ein Schnellschuss. Mich be- Ihre Kritiker warnen, dass die Netzwerke
wir im Jahr, etwa bei Facebook? stärken die Umfragen, nach denen es in aus Angst davor im Zweifel lieber zu viel
Maas: Auch diese Zahlen veröffentlicht das der Bevölkerung eine Zustimmungsquote löschen – auch legale Inhalte.
Unternehmen bislang nicht. Wir wissen von 70 Prozent für das Gesetz gibt. Maas: Für diese Vermutung gibt es keiner-
weder genau, wie viele Beschwerden es SPIEGEL: Sogar der SPD-nahe Verein D64 lei Beleg oder Erfahrungen.
gibt, noch, wie viele Beiträge gelöscht wer- warf Ihnen vor, eine „Zensurinfrastruktur“ SPIEGEL: Die Sorge ist naheliegend: Jedes
den. Nach unserem Gesetzesvorschlag zu fördern. Unternehmen will Geldbußen vermeiden.
müssten die Netzwerke regelmäßig Berich- Maas: Jedes Gesetz, das Regeln für das Maas: Die Netzwerke werden schon des-
te veröffentlichen, die klar ausweisen, wie Netz aufstellen will, wird in der Netzge- halb künftig nicht vorauseilend zu viel
viele Anträge auf Löschung es gab, wie meinde besonders kritisch diskutiert. Aber löschen, weil das ihr Geschäftsmodell be-
viel tatsächlich gelöscht wurde und wie Nichtstun aus Angst vor dem Shitstorm – drohen würde. Dieses besteht darin, mög-
viele Mitarbeiter daran arbeiten. das ist für mich keine Alternative. Ich bin lichst viel Kommunikation auf ihren Netz-
DER SPIEGEL 22 / 2017 37
werken stattfinden zu lassen – und nicht sich daran zu orientieren – was soll daran
möglichst wenig. schlecht sein?
SPIEGEL: Na ja, wenn erst Strafzahlungen SPIEGEL: Ihr Gesetz stieße vielleicht auf we-
über 50 Millionen Euro drohen, werden niger Widerstand, wenn Sie nicht ein de-

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


die Facebook-Aktionäre schon auf groß- zidiert politischer Justizminister wären.
zügigeres Löschen drängen. Sie wollen kein „Notar der Bundesregie-
Maas: Die Bußgelder, die unser Gesetzent- rung“ sein, sondern ein Kämpfer „gegen
wurf vorsieht, knüpfen nicht an den ein- Rechts“, so steht es auf dem Cover Ihres
zelnen Löschvorgang an. Sie drohen nur, neuen Buchs**. Ist Ihr Gesetz Teil dieses
wenn aus der Masse der Verfahren erkenn- Kampfs?
bar ist, dass Firmen ihrer gesetzlichen Ver- Maas: Buch und Gesetz haben nichts mit-
pflichtung, ein effektives Beschwerdever- einander zu tun.
fahren bereitzustellen, nicht nachkommen. Maas, SPIEGEL-Redakteure* SPIEGEL: Sie können sich nicht künstlich tei-
Wie aktuell bei Twitter, wo nur ein Pro- „Erst kommen die Worte, dann die Taten“ len. Wenn der SPD-Politiker vor rechten
zent der von Nutzern gemeldeten rechts- Umtrieben warnt und der Justizminister
widrigen Tweets gelöscht wurde, das ist SPIEGEL: Anderes Beispiel: Angenommen, ein Gesetz gegen Hasskriminalität im Netz
nicht akzeptabel. Hier scheint noch über- ein Facebook-Nutzer bezeichnet AfD- macht, verschwimmen die Grenzen.
haupt kein funktionierendes Beschwerde- Frauen als „Nazischlampen“, wie er es im Maas: Ein Justizminister, der sich nicht klar
management zu bestehen. Fernsehen gehört hat. Löschen oder nicht? gegen Extremismus – und natürlich auch
SPIEGEL: Vielen Kritikern widerstrebt auch, Maas: Es ist nicht meine Aufgabe, das zu gegen den von rechts – positioniert, ist
dass Facebook & Co. entscheiden sollen, entscheiden. Das Gesetz soll und wird schlicht feige. Unsere Gesellschaft ent-
was rechtlich zulässig ist und was nicht. auch nicht die mögliche strafrechtliche wickelt sich teilweise gerade in eine sehr
Machen Sie die ohnehin übermächtigen Ahndung ersetzen. Es soll die Verantwor- problematische Richtung, mit der ich mich
Plattformen zu Ihren Hilfsheriffs? tung der Netzbetreiber für ihre Angebote auch als Verfassungsminister auseinander-
Maas: Diese Löschverpflichtung für Anbie- stärken. setzen muss.
ter gilt bereits heute, sobald ihnen ein SPIEGEL: Ein Gericht hat den Begriff „Nazi- SPIEGEL: Hetze, Rassismus, Rechtspopulis-
rechtswidriger Inhalt bekannt wird. Sie schlampe“ in Ruhe geprüft. Nach Ihrem mus – Sie operieren in Ihrem Buch ständig
folgt aus den Haftungsregelungen in der Gesetz müsste Facebook blitzartig urteilen. mit juristisch untechnischen Begriffen.
E-Commerce-Richtlinie und im Teleme- Maas: Das müssen sie doch auf Beschwer- Maas: Mein Buch ist ja auch kein Gesetzes-
diengesetz. Wer das kritisieren möchte, den hin jetzt auch schon. Schließlich haben kommentar.
muss die seit Jahren geltende Rechtslage sie auch die Hoheit über ihre Plattformen. SPIEGEL: Trotzdem sind Sie als Autor auch
kritisieren – und nicht das neue Gesetz. SPIEGEL: Aber nicht innerhalb von 24 Stun- Verfassungsminister und Dienstherr des
Wir präzisieren diese Regeln nur und den und nicht unter Bußgeldandrohung. Generalbundesanwalts. Diese Macht be-
sorgen dafür, dass sie überhaupt befolgt Ihr Gesetz wird den Umgang mit Wortbei- unruhigt Leute, die anders denken als Sie,
werden. trägen im Netz grundlegend verändern. aber deshalb keine Straftäter sind.
SPIEGEL: Wieso befürwortet dann sogar Ihr Maas: Die 24-Stunden-Regelung greift nur Maas: Darf ich, weil ich Justizminister bin,
Koalitionspartner, dass eine neutrale Stelle bei offensichtlich rechtswidrigen Inhalten, keine Meinung mehr haben? Das ist wohl
in die Löschverfahren eingebunden wird? bei allen anderen gilt eine Sieben-Tage- nicht Ihr Ernst.
Maas: Mich irritiert, dass einige, die sehr Frist für eine juristische Prüfung. Im Übri- SPIEGEL: Es geht nicht um Redeverbote. Hat
früh lautstark ein solches Gesetz gefordert gen argumentieren Sie ganz im Sinne von ein Justizminister nicht vielleicht eine grö-
haben und denen es zu Beginn nicht weit Facebook. Die würden natürlich am liebs- ßere Mäßigungspflicht als andere?
genug gehen konnte, jetzt wieder einiges ten weiterhin zu wenig und nicht ausrei- Maas: Natürlich hat man als Justizminister
davon infrage stellen wollen. Das Parla- chend geschultes Personal einstellen und besondere Pflichten. Zum Beispiel die
ment ist jetzt am Zug und wird dazu be- sich hinter den selbst gemachten „Gemein- Grundrechte unseres Grundgesetzes zu
raten. Niemand hat was gegen sinnvolle schaftsstandards“ verstecken. Richtig ist: verteidigen.
Anpassungen. Das Grundprinzip der Sank- Mein Fokus liegt nicht auf der Gewinn- SPIEGEL: Ihre Kritiker sagen, Sie setzten
tionierung von Rechtsverstößen durch marge von Facebook, mein Fokus liegt auf sich nur für die Debattenkultur ein, die
Geldbußen ist aber wesentlicher Bestand- der Durchsetzung des Rechts. Ihnen politisch genehm ist.
teil des Gesetzes – so wie es ja auch Herr SPIEGEL: Räumen Sie wenigstens ein, dass Maas: Ich setze mich für eine demokrati-
Kauder immer gefordert hat. der Name „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ sche Debattenkultur ein. Ja, zur Meinungs-
SPIEGEL: Das Grundproblem bleibt doch, verkorkst ist? Immerhin wollen Sie Recht freiheit gehört auch, hässliche Meinungen
dass die wenigsten Posts in sozialen Netz- durchsetzen, keine Netzwerke. zu ertragen, die man selbst für falsch hält.
werken „offensichtlich“ rechtswidrig sind. Maas: Für Gesetzesnamen haben wir noch Aber es gibt auch welche, die für sich zwar
Zum Beispiel verunglimpft eine Facebook- nie einen Preis gewonnen. Aber darauf absolute Meinungsfreiheit einfordern, im
Seite Sie als „Reichsjustizminister“, samt kommt es ja nicht an. Netz und auf der Straße aber andere be-
Profilbild von Adolf Eichmann. Ist das ein SPIEGEL: Wäre es nicht schlauer gewesen, drohen und mundtot machen. Leute, die
offensichtlicher Rechtsverstoß? das Thema auf EU-Ebene anzugehen? T-Shirts tragen, auf denen sie die „Remi-
Maas: Es geht nicht um mich. Aber Nutzer Maas: Hasskriminalität im Netz ist in ganz gration“ von friedlich hier lebenden Mus-
haben uns berichtet, dass sie diese Seite Europa ein Riesenthema, aber bislang hat limen propagieren. Oder Leute, die enga-
gemeldet haben. Zwei Minuten später kam sich niemand vorgewagt, auch aus Angst gierte Menschen wie den Bürgermeister
eine automatisierte Antwort: „Kein Ver- vor dem drohenden Shitstorm. Alle schau- von Tröglitz terrorisieren und aus dem
stoß gegen die Gemeinschaftsstandards en extrem interessiert auf unseren Ansatz. Amt mobben. Ich frage Sie: Was ist mit
von Facebook.“ Unabhängig von einer per- Wir gehen jetzt voran, andere überlegen, der Meinungsfreiheit derer, die im Netz
sönlichen Betroffenheit: Es zeigt, dass bei und auf den Marktplätzen durch Hasskri-
Facebook offenbar kaum wirklich indivi- * Melanie Amann und Marcel Rosenbach im Berliner minalität mundtot gemacht werden? Wie
Justizministerium.
duell geprüft wird, sondern Prozesse sehr ** Heiko Maas: „Aufstehen statt wegducken. Eine Stra- viele Menschen ziehen sich aus öffent-
automatisiert abzulaufen scheinen. tegie gegen Rechts“. Piper; 256 Seiten; 20 Euro. lichen Foren zurück, weil sie die Atmo-
38 DER SPIEGEL 22 / 2017
Politik

sphäre dort nicht mehr aushalten, weil nie- einer Holzlatte krankenhausreif geprügelt. angesichts der Aggressivität der Störer im-
mand sie dort schützt oder ihnen hilft? Verteidigen Sie auch seine Rechte? mer enger nach hinten zusammengerückt.
SPIEGEL: In Ihrem Buch sprechen Sie von Maas: Bis zum bitteren Ende. Ich habe erlebt, wie sich eine friedliche
einer „Amtspflicht“, sich gegen rechts zu SPIEGEL: Bisher sind von Ihnen allerdings Mehrheit vor einer aggressiven, lauten
positionieren. Ist das Netzgesetz für Sie keine großen Mitleidsbekundungen für Ge- Minderheit verängstigt zurückzieht. Spä-
die Erfüllung dieser Pflicht? waltopfer der AfD bekannt … testens da war für mich klar: Ich will den
Maas: Zumindest lässt sich kein Gesetz voll- Maas: Ich bitte Sie, ich habe und ich Menschen auch durch Haltung Mut ma-
ständig aus dem Kontext seiner Zeit lösen. werde immer Extremismus und Gewalt chen, dass es sich lohnt, für die Demokra-
Die sprachliche Verrohung, die wir mitt- jeglicher Art ablehnen. Entscheidend ist tie zusammenzustehen, sich eben nicht zu-
lerweile im Netz finden, erwächst auch die Tat, nicht die Herkunft oder Haltung rückzuziehen.
aus dem europaweiten Anstieg des Rechts- der Täter. SPIEGEL: Sehen Sie das Thema Dialog mit
populismus. Und zum Thema Amtspflicht: SPIEGEL: Warum schildern Sie in Ihrem Rechten seit Ihrem Amtsantritt anders?
Zu oft in der deutschen Geschichte haben Buch dann nur Beispiele von rechts? Maas: Früher habe ich immer gedacht, das
sich Juristen als bloße Rechtstechniker Maas: Sie haben das Buch offensichtlich bessere Argument wird schon gewinnen.
ohne soziale und politische Verantwortung nicht ganz gelesen. Ich kritisiere gewalttä- Heute weiß ich, dass das nicht immer
verstanden – die Folgen waren meist fatal. tige Linksextremisten sehr wohl – ebenso reicht. Gegen Emotionen kann man oft
Wenn Gefahr für die Demokratie aufzieht, wie jede andere Form der Gewalt. Aber: nicht allein rational argumentieren. Men-
muss unmissverständlich klar sein, wo man Rechts motivierte Gewalttaten sind 2016 schen, die sich abgehängt fühlen, wieder
steht. um gut 14 Prozent angestiegen. Links mo- für die Demokratie zu gewinnen ist eine
SPIEGEL: Ihr Gesetz ist also auch ein Instru- tivierte Gewalttaten sind im gleichen Zeit- große Aufgabe für uns alle. Deshalb
ment im Kampf gegen rechte Gewalt? raum um mehr als 24 Prozent gesunken. hielt ich es immer für falsch, inhaltlichen
Maas: Wir wissen doch: Erst kommen die SPIEGEL: Sie wurden am 1. Mai 2016 in Debatten mit der AfD aus dem Weg zu ge-
Worte, dann die Taten. Hasskriminalität Zwickau angepöbelt, regelrecht verjagt. Ist hen – und habe es nie getan.
produziert Opfer, und diese Opfer haben mit den Pöblern noch ein Dialog möglich? SPIEGEL: Sie wirken weniger sorglos als zu
ein Recht darauf, dass man sich um sie Maas: Ich habe meine Rede ja komplett ge- Beginn der Amtszeit. Haben Sie sich we-
kümmert und sie schützt. Das ist Kern des halten – wenn auch unter erschwerten Be- gen der persönlichen Angriffe verhärtet?
Gesetzes. Es richtet sich gegen strafbare dingungen. In Zwickau konnte ich von der Maas: Sagen wir so: Ich bin vielleicht nicht
Inhalte, egal wo sie herkommen. Bühne aus beobachten, dass die Bürger, härter, aber entschiedener geworden.
SPIEGEL: Stichwort Opfer – jüngst wurde die friedlich den 1. Mai feiern wollten, ein- SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen
ein AfD-Politiker angegriffen und mit deutig die Mehrheit waren. Aber sie sind für dieses Gespräch.

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Fahr zur Hölle
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Deutschen in diesem Jahr. Doch für
viele Betroffene wird der Geldsegen zum
Fluch, der die Familie zerstört.
MONIKA KEILER / DER SPIEGEL

40 DER SPIEGEL 22 / 2017


Titel

A
ls Ina Korn hörte, dass ihr Vater im anwaltschaft für Erbrecht vor zwölf Jah- Doch Konrad erzählt seinen Mandanten
Sterben lag, fuhr sie nach Sinsheim ren haben mehr als 1800 Anwälte diesen dann eine andere Version der Geschichte.
ins Krankenhaus und setzte sich an Titel erworben. Die Zahl der offenen Sie beruht auf seiner jahrelangen Erfah-
sein Bett, als ob nichts gewesen wäre. Seit Erbstreitigkeiten vor deutschen Zivilge- rung und geht so: „Ohne vernünftige Re-
der Scheidung ihrer Eltern vor mehr als 30 richten geht in die Hunderttausende, so gelung werden sich Ihre Erben an Ihrem
Jahren hatte sie kaum mit ihrem Vater ge- schätzen Experten. Und der Bielefelder noch offenen Grab zerstreiten. Der Streit
sprochen. Er war ihr aus dem Weg gegan- Notar und Mediator Stephan Konrad, der wird Jahre dauern. Und während die eine
gen, hatte sie verleugnet, ihren Geburtstag sich auf die komplizierten Fälle spezia- Hälfte Sie im Laufe der Zeit vergisst, wird
vergessen, ihr den Unterhalt verweigert. lisiert hat, sagt: „Von hundert Fällen erlebe Sie die andere Hälfte zur Hölle wünschen
Nun aber ergriff er ihre Hand. Eine Stunde ich vielleicht zwei, wo einer der Erben und dafür hassen, was Sie der Nachwelt
lang saß Ina Korn am Bett ihres Vaters, dann sagt: Hier komm, ich verzichte, lass gut angetan haben.“
sagte sie „Auf Wiedersehen, Papa“ und fuhr sein.“
nach Hause. Als sie ihm anderntags eine
Suppe vorbeibringen wollte, war er tot.
Schon in der Bibel steht das Gleichnis
vom verlorenen Sohn, der sein Voraberbe
Frau Ott und die Asche ihres Vaters
So hätte Ina Korn vielleicht doch noch im Ausland verprasst hat und als Bettler Bei Gabriele Ott war eigentlich alles gere-
ihren Frieden mit ihrem Vater gemacht – zurückkehrt. Sein Vater nimmt ihn voller gelt. Sie ist ein Einzelkind. Wenn sie zu
wäre nicht einige Wochen später ihrer Mutter sagte, dass sie gern
ein Brief vom Notar gekommen. Geschwister hätte, bekam sie als
Der letzte Wille ihres Vaters sah Antwort: „Sei froh, so gibt es ein-
folgendermaßen aus: Der Sohn mal keinen Ärger nach unserem
aus zweiter Ehe kriegt so viel wie Tod. Du bist Alleinerbin.“
möglich. Ina Korn und die beiden Als die Mutter 2012 im Alter
anderen Kinder aus erster Ehe hin- von 76 Jahren starb, schien immer
gegen bekommen nur den Pflicht- noch alles klar. Die Eltern hatten
teil. „Am liebsten wäre es mei- ein „Berliner Testament“, das
nem Vater gewesen, uns sogar den heißt, sie setzten sich gegenseitig
vorzuenthalten“, sagt Korn, die bei einem Notar als Alleinerben
heute 49 Jahre alt ist. Sie kämpft ein und bestimmten, dass mit dem
mit den Tränen, wenn sie darüber Tod des zweiten Partners der
spricht. Schlusserbe ihre Tochter sein solle.
Etwa 260 Milliarden Euro wer- Auch dann, wenn der übrig geblie-
den dieses Jahr in Deutschland bene Partner noch einmal heira-
vererbt, eine märchenhafte Sum- ten sollte.
me. Genug, um rechnerisch die ge- Das Berliner Testament gilt als
samten Sozialausgaben des Bun- sichere Regelung. Grundsätzlich
des zu decken. Um alle deutschen darf der zurückbleibende Partner
Kindergärten, Schulen und Uni- das Testament weder ändern noch
versitäten zu finanzieren. Um alle ein neues aufsetzen.
82 Millionen Einwohner Deutsch- Die Mutter war noch nicht lan-
lands zwei Wochen auf Luxus- ge tot, da sagte der Vater, dass er
kreuzfahrt in die Karibik zu schi- nicht allein bleiben wolle. Er mel-
cken. An jedem Tag wird hier- dete sich bei einer Vermittlungs-
MONIKA KEILER / DER SPIEGEL

zulande mehr Geld vererbt, als agentur für Senioren an, bekam
für Lebensmittel ausgegeben wird, Telefonnummern von Frauen in
und vermutlich sind diese Zah- seiner Gegend und begann, sie zu
len sogar „zu niedrig geschätzt“, treffen.
wie es in einer noch unveröffent- Im November 2013 lernte der
lichten Studie des Deutschen In- Vater Frau Z. kennen. Frau Z. war
stituts für Wirtschaftsforschung Tochter Korn: „Mein Vater wollte uns demütigen“ schon Anfang achtzig und selbst
heißt. verwitwet. Eine kleine flinke
Das klingt nach einem Segen für die Er- Freude auf – und erregt damit den Zorn Frau mit grauem Haar, die noch fit genug
bengeneration, immerhin hat in Deutsch- des älteren Bruders. Das Thema Erben war, im Urlaub beim Parasailing mitzu-
land fast jeder Dritte schon einmal etwas zieht sich durch die Weltliteratur, es inspi- machen.
geerbt. Doch vielen bringt das Erbe auch rierte William Shakespeare zu „König Frau Z. habe schon beim ersten Treffen
Unglück. Begünstigte und Zukurzgekom- Lear“, Honoré de Balzac zu „Vater Goriot“ wissen wollen, wie viel Geld der Vater ei-
mene fallen übereinander her. Familien und Thomas Mann zu „Buddenbrooks“. gentlich habe, erzählt Gabriele Ott. Das
zerbrechen am Neid. Der letzte Wille ver- Alle Erbgeschichten haben eines gemein: habe sie nicht misstrauisch gemacht. Wahr-
giftet das Leben der nachfolgenden Gene- Es wird missgönnt, gehasst und gelitten – scheinlich wolle Frau Z. sichergehen, dass
ration, was kein Wunder ist, liefert das und es ist unmöglich vorherzusagen, wer der Vater ihr nicht auf der Tasche liege,
Testament doch womöglich eine Antwort am Schluss mit wie viel dasteht. dachte Gabriele Ott. Der Vater war selbst-
auf die vielleicht wichtigste Frage, die sich Fast jeder seiner Mandanten träume ständig gewesen und hatte eine Eigentums-
jedes Kind irgendwann stellt: Haben mich davon, dass seine Liebe über seinen Tod wohnung im Berliner Westen. Drei Mona-
meine Eltern geliebt? hinauswirke, sagt Notar Konrad aus te nach dem ersten Treffen zog Frau Z. bei
Bei jedem sechsten Nachlass kommt es Bielefeld. „Seine Erben rühmen seine ihm ein. „Er war einfach froh, dass sie da
laut einer Allensbach-Studie zum Streit, Großzügigkeit und behalten ihn in dank- war“, sagt Ott.
bei größeren Erbschaften sogar in jedem barer Erinnerung“, so stelle man sich Gabriele Ott stand ihrem Vater sehr nahe,
vierten Fall. Seit Einführung der Fach- das vor. doch nach dem Einzug von Frau Z. nahm
DER SPIEGEL 22 / 2017 41
Titel

der Kontakt schnell ab. Oft ging niemand Das Gut folgt dem Blut wer was bekommt. Wer leer ausgeht, hat
ans Telefon. Wenn sie spontan vorbeiging, eben Pech gehabt. Die amerikanische Mil-
machte keiner auf. Wenn Frau Z. nicht in Der 12. Deutsche Erbrechtstag im Berliner liardärin Leona Helmsley hinterließ ihrem
der Nähe war, rief der Vater heimlich seine Palace Hotel ist auf den ersten Blick eine Schoßhund Trouble über einen Trust einen
Tochter oder seine Schwester an. Erwisch- nüchterne Angelegenheit. Die meisten Millionenbetrag; das fällt in den USA unter
te Frau Z. ihn, beschimpfte sie ihn und sag- Teilnehmer tragen Anzug, man begrüßt ei- die Testierfreiheit.
te, dass seine Verwandten ihn eh nur ins nander förmlich mit „Herr Kollege“ und In Deutschland hingegen steht allen Söh-
Heim stecken wollten, so erzählt es die diskutiert bei einem Glas Mineralwasser nen und Töchtern die Hälfte des gesetz-
Tochter. Irgendwann beschwor der Vater die Erbfolge nach Paragraf 1922 BGB. lichen Erbteils als sogenannter Pflichtteil
die Tochter: „Bitte ruf mich nicht mehr an Tatsächlich aber werden hier mensch- zu, ob der Erblasser will oder nicht. So
und komm mich auch nicht mehr besu- liche Abgründe vermessen. Es geht um die hat es das Bundesverfassungsgericht vor
chen. Frau Z. kümmert sich jetzt um Gültigkeit von „Mätressentestamenten“, einigen Jahren bestätigt. Alle Kinder müs-
mich.“ um Samenspenden und ihre Folgen, um sen bedacht werden, auch die Ungewollten,
Gabriele Otts Vater starb am 21. Juli Erbschleicherei. Das „Handbuch des Fach- Undankbaren und Unfähigen. Es muss
2016 an Speiseröhrenkrebs. Die Tochter anwalts Erbrecht“, ein 1780 Seiten dicker schon Schlimmes vorgefallen sein, damit
hat ihn im Krankenhaus beim Sterben be- Wälzer, warnt bereits auf Seite fünf: „Je- der Erblasser einem Blutsverwandten den
gleitet. Frau Z. war nicht dabei. Noch am der Erbfall hat seine eigene Geschichte, Pflichtteil entziehen kann. Schlimm ist,
Todestag fuhr Ott zur Wohnung des Vaters, manchmal eine generationenlange. Erb- wenn das Kind versucht hat, die Eltern
um die nötigen Unterlagen für die Beiset- recht entfesselt Triebe, Gewalten und Lei- umzubringen. Vernachlässigung oder eine
zung abzuholen und Kleidung für die Ein- denschaften.“ Ohrfeige reichen nicht.
äscherung auszusuchen. Frau Z. gab ihr Ein Schwerpunkt der Tagung ist die Fra- Ob man das gut oder schlecht findet,
die Unterlagen nicht. Sie verbot ihr, an ge, wie das Erbrecht an die veränderten hängt offenbar stark von der kulturellen
den Kleiderschrank ihres Vaters zu gehen. Lebensweisen der Menschen angepasst Prägung ab. In der Schweiz verlief die
Frau Ott solle für die Einäscherung einfach werden kann. Front in der Debatte über den Pflichtteil
etwas Neues kaufen. Deutsches Erbrecht ist auch Blutrecht. Anfang des 20. Jahrhunderts entlang der
Es folgte etwas, was sich Ott niemals Bei den alten Germanen stand die bluts- Grenze zwischen den deutschsprachigen
hatte vorstellen können. Der Vater hatte, verwandte Sippe an erster Stelle, Testa- und den romanischen Landesteilen, also
so erfuhr sie, knapp vier Wochen nach mente gab es nicht; anders als bei den alten letztlich zwischen Germanen und Römern.
dem ersten Treffen mit Frau Z. zahlreiche Römern, wo der Erblasser seinen Besitz Die Germanen wollten den Pflichtteil er-
Dokumente unterschrieben. Er hatte ihr vergleichsweise freihändig verteilen konn- weitern, die Römer wollten ihn begrenzen.
Vollmachten für die Konten ausgestellt te. Die germanische Tradition lebt bei der In Deutschland sagen die Verteidiger von
und ihr seine Sterbeversicherung über- gesetzlichen Erbfolge bis heute fort. Sogar Blutrecht und altgermanischer Sitte, dass
schrieben. Er hatte ihr lebenslanges Wohn- der Freibetrag bei der Erbschaftsteuer der Antrieb, den eigenen Kindern etwas zu
recht zugesagt und unterschrieben, dass hängt vom Verwandtschaftsgrad ab: Kinder hinterlassen, ein Grund für den Erfolg der
ihr nach seinem Tod alles, was in der Woh- bekommen bis zu 400 000 Euro steuerfrei, zahlreichen Familienunternehmen im deut-
nung sei, zustehe. Der Schmuck der Mut- Enkel normalerweise 200 000 Euro, Urenkel schen Mittelstand sei und dass sich viele Kin-
ter, die alten Fotoalben, die Möbel. Ein- 100 000 Euro. Unverheiratete Partner hin- der auch deshalb so liebevoll um ihre Eltern
fach alles. gegen sind schon ab 20 000 Euro steuer- kümmerten, weil sie hofften, nach deren
Am schlimmsten ist für die Tochter eine pflichtig. „Etwa 90 Prozent der Paragrafen Tod dafür belohnt zu werden. Es diene au-
Unterschrift, von der sie ein paar Tage sind noch auf dem Stand des 19. Jahrhun- ßerdem der Gerechtigkeit, wenn alle Nach-
nach dem Tod des Vaters erfuhr. Ein Bote derts, als nicht eheliche Kinder Bastarde kommen einen vergleichbaren Anteil am
vom Amtsgericht klingelte. Der Anwalt genannt wurden“, sagt der Rechtswissen- Erbe bekämen und nicht einer alles kriege.
von Frau Z. hatte bei Gericht eine einst- schaftler Anatol Dutta von der Ludwig- Doch während sich Geld und Wert-
weilige Verfügung beantragt. Maximilians-Universität München. papiere leicht und auch gerecht aufteilen
Es geht um die Frage, wo der Verstorbe- Doch das Leben der Menschen hat sich lassen, ist das bei Immobilien schon schwie-
ne beerdigt wird. Gabriele Ott möchte ih- verändert. In etwa jeder siebten Familie riger. Und ganz kompliziert wird es bei
ren Vater an der Seite ihrer Mutter bestat- leben inzwischen Kinder aus verschiedenen Erinnerungsstücken. Notare sprechen in
ten. Frau Z. hingegen will den Verstorbe- Elternbeziehungen zusammen. 163335 Ehen solchen Fällen von einem „hohen Affek-
nen bei ihrem früheren Mann beisetzen. wurden allein 2015 geschieden, 35 Prozent tionsinteresse“.
So sei es mit Otts Vater abgesprochen ge- aller Kinder nicht ehelich geboren. Es gibt In Hamburg stritten vier Geschwister
wesen. Und tatsächlich konnte Frau Z. Kinder aus erster Ehe, zweite Ehefrauen, monatelang über die Frage, wer den vom
eine vom Vater unterschriebene Einwilli- dritte Ehemänner. Es gibt angeheiratete Vater ererbten Verdienstorden einer Wohl-
gung vorlegen. Das Gericht entschied, dass Kinder und neue Lebenspartner.  tätigkeitsorganisation bekommen solle, ein
die Trauerfeier ohne die Beisetzung statt- Die Menschen werden älter. Sie haben billiges Blechding ohne materiellen Wert.
finden müsse, bis die Totenfürsorge ein- mehr Zeit, sich wieder zu verlieben, sich Der beteiligte Notar nannte ihn irgend-
deutig geklärt sei. mit ihren Kindern zu zerstreiten, sie brau- wann nur noch „den Scheißorden“. Doch
Das ist nun zehn Monate her. Die An- chen Pflege und wollen das eine Kind für es brauchte ein Mediationsverfahren, bis
wältin von Gabriele Ott sagt, diese Unter- die Zuwendung im Alter belohnen und ein ein Kompromiss gefunden wurde. Der Or-
schriften seien nicht das Papier wert, auf anderes für die Abwendung bestrafen. den wechselt nun alle zwei Jahre den Be-
dem sie stünden. Und dennoch, Berliner Es gibt mehr Freiheiten und mehr Le- sitzer. Wer von den Geschwistern am längs-
Testament hin oder her, erst muss ein benszeit. Das Leben der Menschen ist kom- ten lebt, darf ihn behalten.
Gericht klären, was zu tun ist. Auf diesen plizierter geworden. „Das Gut folgt dem Eine Notarin aus Süddeutschland vermit-
Termin wartet Ott seither. Frau Z. wohnt Blut“: Diesen Satz lernen Jurastudenten in telte jahrelang vergebens im Erbstreit zwei-
noch in der Wohnung. Die Urne des Va- der Erbrechtsvorlesung. Doch wie soll das er Brüder, deren Vater, ein Geschäftsmann,
ters steht in einem kleinen Raum auf dem bei neuen Lebensentwürfen funktionieren? bei einem Unfall ums Leben gekommen
Friedhof, für 32 Euro Miete im Monat, Nach amerikanischem Recht darf der war. Die Brüder, in Trauer vereint, hatten
unbeerdigt. Erblasser weitgehend selbst entscheiden, zunächst friedlich das millionenschwere Im-
42 DER SPIEGEL 22 / 2017
mobilienvermögen des Vaters unter sich
aufgeteilt. Auch bei den Sachwerten waren
sie sich einig. Bis schließlich die Spielzeug-
eisenbahn des Vaters an die Reihe kam.
Der ältere Bruder erhob Anspruch: Er
wisse noch genau, wie er einst mit dem
Vater begonnen habe, die Bahn im Keller
aufzubauen. Der jüngere Bruder hielt ge-
gen: Er könne sich mindestens ebenso ge-
nau daran erinnern, wie der Vater und er
die Bahn anschließend fertiggebaut hätten.
Der Streit um die Eisenbahn dauerte meh-
rere Jahre. Keiner der Brüder konnte sein
millionenschweres Immobilienerbe antre-
ten und genießen, weil ein Kinderspiel-
zeug im Wert von wenigen Tausend Euro
jede Einigung verhinderte.

Frau Korn und der Herrscher


aus der Gruft
Nicht alle Erben sind von vornherein zer-
stritten. Es kommt vor, dass sich die Hin-
terbliebenen eigentlich gern einigen wür-
den, aber es nicht schaffen, weil der Erb-
lasser selbst niedere Absichten verfolgte.
Einige Testamente machen den Erben
detailreiche Vorschriften, wie mit dem Ver-
mögen umzugehen sei. Andernfalls werde
man enterbt. In anderen Testamenten wer-
den noch einmal Kopfnoten an die Kinder
verteilt. Wer etwas getaugt und wer ent-
täuscht hat. Notar Konrad nennt diese Ver-
blichenen mit dem strafenden letzten Wil-
len die „Herrscher aus der Gruft“.
MONIKA KEILER / DER SPIEGEL

Der Vater von Ina Korn ist so eine fins-


tere Figur, jedenfalls aus Sicht seiner drei
Kinder aus erster Ehe. Indem er seinen
Sohn aus der zweiten Ehe zum „Allein-
erben“ ausrief, machte er den anderen
dreien noch einmal klar, was er von ihnen
Tochter Ott: Eigentlich war alles geklärt, dann kam Frau Z. hielt: nichts. Sie werde bis an ihr Lebens-
ende daran denken müssen, ein ungelieb-
tes Kind zweiter Klasse zu sein, sagt Ina
Korn, auch wenn sie ihm am Abend vor
dem Tod die Hand gehalten habe.
Sie und die beiden leiblichen Geschwister
haben nun Anspruch auf den Pflichtteil. Die-
sen durchzusetzen ist kompliziert, weil der
Alleinerbe ihnen verheimlichen kann, wo-
rum es überhaupt geht. Ina Korn weiß, dass
ihr Vater einen Tresor im Keller hatte. Doch
was war drin? Gold, wie sie vermutet?
Korn hätte auch gern ein Andenken an
ihre Großmutter, eine „tolle Frau“. Ein
Foto würde ihr reichen. Doch wen soll sie
fragen? Es gibt keinen Kontakt zur Familie
ihres Vaters. Mit ihrem Halbbruder ver-
MONIKA KEILER / DER SPIEGEL

kehrt sie nur per Anwalt. Korn glaubt, ihr


Vater habe das absichtlich gemacht, um
seine ungeliebten Kinder zu demütigen.
Notar Konrad sagt, er rate seinen Man-
danten immer davon ab, über den eigenen
Tod hinaus die Familie beherrschen zu
Foto von Familienfeier*: „Du bist Alleinerbin“
* Mit Gabriele Ott als Kind (2. v. l.) Mitte der Sechziger-
jahre.

DER SPIEGEL 22 / 2017 43


Titel

wollen. Möchte einer sein Haus nur unter Der britische Ökonom John Maynard einen Konzertsaal und den Friedenspalast
der Maßgabe vererben, dass es im Familien- Keynes glaubte, dass das Erbschaftsprinzip in Den Haag aus, den Sitz des Internatio-
besitz bleibe und nicht verkauft werden der Grund dafür sei, dass „die kapitalisti- nalen Gerichtshofs. Seinen Kindern hinge-
dürfe, sagt Konrad: „Lassen Sie das, es sche Führungsschicht so schwach und gen hinterließ er den Ratschlag: „Die El-
gibt nur Streit, wer drin wohnen muss.“ dumm ist“. Allzu viele Unternehmen fie- tern, die ihrem Sohn enorme Reichtümer
Er schlägt auch vor: „Sprechen Sie schon len unfähigen Kindern in die Hände, das hinterlassen, töten seine Talente und seine
zu Lebzeiten mit Ihren Kindern darüber, bekannte Buddenbrooks-Phänomen: Die Energie und verführen ihn dazu, ein weni-
wem welches Erinnerungsstück am Herzen erste Generation baut auf, die zweite ver- ger nützliches und weniger wertvolles Le-
liegt, und teilen Sie die Dinge auf.“ Und waltet, die dritte macht’s kaputt. Manch- ben zu führen, als er es sonst tun könnte.“
kommt ihm jemand mit der Frage, wie das mal geht es auch schneller, etwa bei der Mehr als 150 Superreiche haben sich
Testament unter Steuerspargesichtspunk- Bochumer Textilerbin Britta Steilmann, in der Organisation Giving Pledge, auf
ten optimiert werden könnte, sagt er: „Sie die bei der Neuausrichtung des vom Vater Deutsch: „Spendenversprechen“, zusam-
sparen gar nichts. Sie sind tot.“ gegründeten Unternehmens scheiterte. mengetan, darunter Großinvestor Warren
Einige Mandanten halten sich an seine Rainer Voss aus Frankfurt hat daraus Buffett und Bill Gates. Sie versprechen,
Ratschläge. Andere nicht. In diesen Fällen seine Lehre gezogen. Als er 48 Jahre alt den überwiegenden Teil ihres Vermögens
lernt Konrad die Erben anschließend viel- wurde, hatte er genug verdient, um nie für gute Zwecke zu spenden. Auch Face-
leicht bei einem Mediationsverfahren ken- wieder arbeiten müssen. Er kündigte sei- book-Gründer Mark Zuckerberg hat kurz
nen. Hier treffen sich alle Beteiligten in ei- nen Job als Investmentbanker und be- nach der Geburt seiner Tochter Max öf-
nem Raum, um ihren Erbstreit beizulegen. schloss, fortan nur noch Dinge zu tun, die fentlich angekündigt, sich von 99 Prozent
Damit Mediationen zum Erfolg führen, ihm entweder Spaß machen oder sinnvoll seiner Facebook-Anteile zu trennen.
haben sich einige einfache Regeln bewährt. erscheinen. Schuhe und Strümpfe zu tra- In Deutschland hat der Multimillionär
Alle Beteiligten müssen im Raum anwe- gen gehört eher nicht dazu. Und so emp- Götz Werner, Gründer der Drogeriemarkt-
send sein, damit niemand das Gefühl hat, fängt er seine Besucher gern barfuß, aber kette dm, seine Unternehmensanteile in
hinterrücks betrogen zu werden. Alle mit einem Seidenschal. eine Stiftung eingebracht, damit sie nach
Nichtbeteiligten, auch Ehepartner, müssen Als Investmentbanker wollte er sein seinem Tod nicht an seine Kinder fallen:
hingegen den Raum verlassen, damit sie Geld vermehren. Nun lautet sein Ziel, es „Mir ist klar geworden, dass eine Erbschaft
niemanden anstacheln können. wieder auszugeben, und zwar restlos. Mit für eine Familie auch eine Tragik sein
Konrad sagt, er baue dann zunächst ein seinen drei erwachsenen Kindern ist alles kann, wenn sie das Leben der Erben de-
Negativszenario auf: Was müsste passie- besprochen. Sie dürften sich keine Hoff- terminiert und sie nicht mehr ihr eigenes
ren, damit sich die Erben verprügeln? „Im nungen machen, ihn eines Tages zu be- Leben leben.“
Negativdenken sind Menschen sehr krea- erben: „Meine Kinder kriegen nichts.“ Und es gibt tatsächlich auch einige Er-
tiv; die Ideen sprudeln“, sagt Konrad, aber Nun ist es nicht so, dass sich Voss für ei- ben, die freiwillig von ihrem Geld abgeben,
so weit wollen es die meisten dann doch nen schlechten Vater hielte. Im Gegenteil. etwa Ise Bosch aus der berühmten Tech-
nicht kommen lassen. Nachdem er seinen Job gekündigte hatte, nikdynastie. „Ich kenne einige Menschen,
Erinnerungsstücke wie etwa Fotoalben, schenkte er den Kindern seine volle Auf- die geerbt haben und deswegen unter
Schmuck oder Bücher werden auf den Tisch merksamkeit, lernte ihre Freunde kennen, Schuldgefühlen leiden“, sagt Bosch, die
gelegt; jeder der Beteiligten darf reihum ging an den Sprechtagen zu ihren Lehrern. seit Jahren größere Beträge für Menschen-
zugreifen. Oder das Los entscheidet. Kon- Er bezahlte auch für Auslandsaufenthalte. rechts- und Frauenprojekte ausgibt, um ihr
rad schreibt die Ergebnisse für alle sichtbar Doch Voss ist davon überzeugt, dass es Gewissen zu erleichtern.
auf einen Flipchart und fotografiert sie ab. der Entwicklung seiner Kinder geschadet Die Frage ist, warum die Politik nicht
Sein wichtigster Ratschlag an die Erben hätte, wären sie mit der Vorstellung auf- stärker zugreift. Bislang ist Deutschland
aber lautet, dass sie nicht verpflichtet seien, gewachsen, sich auf dem Reichtum des ein Paradies für jene, die vom Geld ihrer
den letzten Willen des Erblassers zu erfül- Vaters auszuruhen zu können. „Erben ver- Vorfahren leben. Über 95 Prozent aller
len, wenn dieser nur Streit im Sinn gehabt dirbt den Charakter, Erben ist ungerecht“, Erbschaften sind steuerfrei. Mit etwa sie-
habe. Er sagt: „Ihr seid nicht gebunden an sagt er. „Erben ist einer Leistungsgesell- ben Milliarden Euro trug die Erbschaft-
das, was im Testament steht. Wenn ihr schaft unwürdig.“ steuer im vergangenen Jahr nicht einmal
euch alle einig seid, könnt ihr auch für Ökonomen sagen, dass es der Leistungs- halb so viel zur Staatsfinanzierung bei wie
euch eine komplett andere Lösung finden.“ fähigkeit der Wirtschaft schade, wenn sich die Tabaksteuer.
allzu viele Erben auf dem Geld ihrer Eltern Hier wäre viel zu holen. Doch bei den
Herr Voss und die Charakterfrage ausruhten, wie es heute bereits in Japan Parteien ist das Thema unbeliebt. Nur die
zu beobachten ist. Die Ansicht, dass der Linke spricht sich durchweg für eine dras-
Wenn Deutschlands Puddingkönig Rudolf- Wohlstand in jeder Generation neu ver- tische Erhöhung der Erbschaftsteuer aus.
August Oetker, drei Ehen, acht Kinder, in dient werden sollte, ist in Deutschland we- Die anderen Parteien halten sich mit For-
der Zeitung las, wie sich die Porsches und nig, aber unter Angelsachsen stark verbrei- derungen eher zurück. Das liegt auch da-
Bahlsens mal wieder ums Erbe stritten, ließ tet. Der erzliberale britische Philosoph ran, dass laut Umfragen sehr viele Deut-
er sich nach Angaben seines Biografen Rü- John Stuart Mill forderte 1848 eine pro- sche gegen höhere Erbschaftsteuern sind,
diger Jungbluth den Artikel ausschneiden, gressive Erbschaftsteuer, denn ein Land obwohl sie selbst nur geringe Aussicht auf
kopieren und an seine Sippe verteilen. Das der „Müßiggänger, Verschwender, Tauge- ein größeres Erbe haben.
sollte eine Warnung sein, es nach seinem nichtse“ werde zurückfallen, was sich im Hinzu kommt: Über das Erben zu reden
Tod besser zu machen. britischen Empire unter Queen Victoria ist für viele ein Tabu, so wie auch kaum
Doch vergebens. Kaum lag der Patriarch im 19. Jahrhundert ja dann auch eindrucks- jemand über Gehälter spricht. Nur wenige
Anfang 2007 auf dem Bielefelder Johan- voll bestätigte. wissen, was der Kollege am Schreibtisch
nisfriedhof im Familiengrab, begann unter Der amerikanische Stahlbaron Andrew nebenan verdient, geschweige denn, ob er
den Kindern der Streit über die Frage, wer Carnegie, vor 100 Jahren einer der reichs- ein Haus vermacht bekommt oder doch
das Sagen haben sollte. Bis heute ringt die ten Menschen der Welt, gab einen großen nur Schulden. Eine Politik, die den Deut-
Familie um eine gemeinsame Konzern- Teil seines Vermögens für öffentliche schen ans Geld will, erscheint den Parteien
strategie. Bibliotheken, wissenschaftliche Institute, als zu riskant.

44 DER SPIEGEL 22 / 2017


Herr Libbertz und
der traurige Millionär
Wenn man mit Anwälten für Erbrecht und
Notaren spricht, merkt man schnell, dass
sie den Glauben daran verloren haben,
dass das Erben je einfach werden könnte.
Die meisten sagen, dass die Menschen
eben so seien, wie sie sind.
Gierig.
Rachsüchtig.
Irrational.
Sie sagen aber auch: Wenn man schon
nicht die Menschen ändern kann, könnte
man wenigstens die Abläufe vereinfachen.
Juristen klagen, dass das Erbrecht stiefmüt-
terlich behandelt werde. Vor Gericht wer-
de man hin und her gereicht wie eine heiße
Kartoffel.
Bislang ist das Nachlassgericht für die Er-
teilung eines Erbscheins zuständig, andere
Bereiche des Amtsgerichts oder das Land-
gericht für die Zivilklagen. Ein und derselbe
Fall kann an beiden Stellen mit großem Auf-
wand verhandelt werden: Dutzende Zeugen
werden einbestellt, vom Grafologen, der
feststellen muss, ob die Unterschrift echt ist,
bis zum Hausarzt, der bezeugen soll, dass
der Verstorbene noch nicht dement war, als
er das Testament verfasste.
Die Gerichte sind von der Flut an Pro-
zessen überfordert. Statistisch erfasst wird
das nicht. Wenn man in den Justizministe-
rien der Bundesländer nachfragt, wie viele
Verfahren im Zusammenhang mit Erb-
MONIKA KEILER / DER SPIEGEL

streitigkeiten es gibt, hört man, dass man


sämtliche Betrugs-, Unterschlagungs-, Nö-
tigungs- oder Beleidigungsverfahren im
Hinblick auf Erbschaftsangelegenheiten
händisch auswerten müsste, um auch nur
einen Überblick zu bekommen.
Ehemaliger Investmentbanker Voss: „Erben ist einer Leistungsgesellschaft unwürdig“ Der Bonner Anwalt Andreas Frieser hat
Erbrechtsprozesse erlebt, die sich über Jah-
re hinziehen. Um dessen Herr zu werden,
brauchte man ein eigenes Gericht für Erb-
angelegenheiten. Frieser ist Vorsitzender
des Gesetzgebungsausschusses Erbrecht
im Deutschen Anwaltverein. Er und viele
Kollegen fordern ein „Großes Nachlassge-
richt“, an dem alle Erbangelegenheiten ge-
bündelt verhandelt werden können. „Wir
müssen versuchen, die Streitfälle effizien-
ter zu klären“, sagt Frieser. „Das Erbrecht
ist komplex, die Streitigkeiten nehmen zu.
Es ist an der Zeit, dem zu begegnen.“ Der
Vorschlag liegt dem Justizministerium vor,
man sei im Gespräch, heißt es.
Nur: Bis es so weit ist, könnte viel Zeit
vergehen. Seit Ende der Siebzigerjahre for-
derten Experten eine Instanz, die für alle
Familienfragen zuständig ist. Aber erst
2009 entstand schließlich das sogenannte
Große Familiengericht.
Es gibt aber ein paar Dinge, die sofort
Voss-Kinder 1999: Enterbt und glücklich? helfen können.
In der Münchner Maximilianstraße ste-
hen sich die Schaufenster von Gucci und
DER SPIEGEL 22 / 2017 45
Ewig online
Netzwelt Neben Schmuck und Immobilien liefern zunehmend digitale Nachlässe Gründe für
Erbstreitigkeiten – unter Angehörigen, aber auch mit Anbietern wie Facebook & Co.

W
enn Stephanie Herzog mit ih- als Randproblem angesehen, sagt Her- heißt es in dem Papier. Doch die meis-
ren Mandanten spricht, geht es zog. Das ändere sich gerade rasant. Fast ten AGB sehen das nicht vor. „Da bro-
häufig um Leben und Tod – jeder Deutsche hat eine Mailadresse, delt etwas“, sagt Rechtsanwältin Herzog
die Anwältin hat sich auf Erbrecht 84 Prozent nutzen das Netz, rund 29 Mil- und prophezeit: „Schon bald rollt eine
spezialisiert. Immer öfter wollen ihre lionen sind auf Facebook aktiv. Hinzu Lawine ungeklärter Fragen auf die Ge-
Mandanten neben Immobilien oder kommen Mitgliedschaften bei Fotoporta- sellschaft und die Gerichte zu.“
dem Familiensilber auch über andere len, Karrierenetzwerken und Dating- Es geht dabei nicht allein um einen pie-
postmortale Fragen sprechen: den Zu- plattformen. Mehr als die Hälfte der Be- tätvollen Umgang mit dem Onlineerbe
gang zu E-Mail-Konten, Facebook- völkerung erledigt Bankgeschäfte online. oder um ideelle Werte wie Fotos, Videos
Accounts und Festplatten. Die Anwältin Für viele Hinterbliebene wirft das zu- oder Schriftstücke. In digitalen Accounts
aus Würselen ist damit nicht allein, sätzliche, oft belastende Fragen auf. können erhebliche Werte schlummern –
häufig landen Streitereien ums digitale Was geschieht mit den Nutzerkonten? bei einem über Jahre gepflegten iTunes-
Erbe inzwischen sogar vor Gericht. Was mit den darin enthaltenen Daten? Musikarchiv oder gut sortierten E-Book-
In einem Fall zanken zwei Söhne um Wie kann man vermeiden, dass Bibliotheken kann die Erbmasse schnell
den Rechner des verstorbenen Vaters. „Geisterprofile“ von Verstorbenen wei- in die Tausende gehen. Schon weil Erben
Der eine wähnt auf der Festplatte Be- ter automatisierte Nachrichten ver- auch laufende Verträge übernehmen, ist
weise für Immobilienkäufe, potenzielle schicken? Noch herrscht rund um das di- es in ihrem Interesse, sich einen Über-
Millionenwerte. Der andere will seine gitale Erbe vor allem eines: Ratlosigkeit. blick zu verschaffen – etwaige Gebühren
private Mailkorrespondenz mit dem Va- 93 Prozent der Internetnutzer hätten laufen fortan bei ihnen auf.
ter schützen. Die Sache beschäftigt diesbezüglich keinerlei Vorsorge getrof- Digitales Erben ist kompliziert, etwa
schon die zweite Instanz. fen, ergab eine Umfrage des Digital- wenn der Verblichene eine virtuelle
In einem anderen Fall ist ein 47-Jäh- verbands Bitkom. Drei Viertel gaben an, Brieftasche („wallet“) in der Kryptowäh-
riger plötzlich verstorben. Er hatte ei- sich damit unwohl zu fühlen. rung Bitcoin unterhielt. Hier haben
nen minderjährigen Sohn und lebte in Den Umgang mit den Onlinerelikten Erben nur eine Chance, an die Mittel zu
einer neuen Beziehung. Die neue Part- bestimmen derzeit noch vor allem die kommen, wenn ihnen der Verstorbene
nerin nutzt die bestehenden Bankkon- Anbieter digitaler Dienstleistungen, und genaue Instruktionen und die notwendi-
ten weiter, etwa um online einzukaufen. zwar in den allgemeinen Geschäftsbe- gen privaten Schlüssel hinterlassen hat.
Erbe ist allerdings der Sohn, für den dingungen (AGB). Der Deutsche An- Generell gilt: Internetnutzer gehen nie
die frühere Ehefrau sorgeberechtigt ist – waltverein sprach in einer ausführlichen ganz. Das irdische Dasein mag enden,
und die möchte die Shoppingtouren Stellungnahme bereits 2013 von „er- Datenspuren und Profile bleiben. Offline
gern unterbinden. heblichen praktischen Problemen“. Ei- und abgemeldet ist man mit seinem Tod
Noch vor wenigen Jahren hätten gentlich müsste der gesamte digitale jedenfalls noch lange nicht. Das müssen
selbst viele Kollegen das digitale Erbe Nachlass auf die Erben übergehen, meist andere übernehmen. Helfen kann
dabei der Zugang zu den Mailkonten
der Verstorbenen, denn über sie lassen
sich häufig auch Mitgliedschaften in an-
deren Portalen rekonstruieren.
Mailanbieter gehen unterschiedlich
mit Anfragen um: Bei GMX und
Web.de kann man Konten nach Vorlage
einer Sterbeurkunde löschen lassen und
mit einem Erbschein auch einsehen.
Anbieter wie Yahoo hingegen schließen
das kategorisch aus.
Google bietet für seine Dienste wie
Gmail, YouTube und Picasa an, bei län-
gerer Inaktivität vom Nutzer benannte
Vertrauenspersonen zu informieren
und ihnen auf Wunsch auch Zugang zu
Daten zu gewähren. Nutzer können
aber anweisen, dass ihr Account in die-
MICHAEL WALTER / DER SPIEGEL

sem Fall gelöscht wird.


Auch bei Facebook können Erben
das Konto von Verstorbenen löschen
oder in einen „Gedenkzustand“ verset-
zen lassen. Falls die Kontoinhaber zu
Lebzeiten einen „Nachlasskontakt“ be-

46 DER SPIEGEL 22 / 2017


Titel

stimmt haben, kann dieser das Profil-


bild mit einem Trauerrand versehen
und eine feste Botschaft posten. Aller-
dings darf er weder die gespeicherten
Nachrichten des Verstorbenen lesen
noch dessen Chronik verändern.
Die Weigerung vieler Anbieter, Er-
ben Zugang zu den persönlichen Daten
zu gewähren, sorgt für Konflikte. So
verlangte etwa die Mutter einer Jugend-
lichen, die unter ungeklärten Umstän-
den von einer U-Bahn erfasst wurde
und an den Verletzungen starb, von
Facebook Zugang zu den Inhalten ihrer
Tochter – um zu klären, ob sich darin
Motive für einen Suizid finden ließen.

MONIKA KEILER / DER SPIEGEL

MONIKA KEILER / DER SPIEGEL


Als Facebook sich weigerte, klagte
die Mutter und bekam vor dem Landge-
richt Berlin recht. Die Richter schlossen
sich der Linie des Anwaltsverbands an
und erklärten, der Nutzungsvertrag der
Minderjährigen mit Facebook gehe auf
die Erben über. Die Facebook-Anwälte Rechtsanwalt Libbertz, Testament: „Reden Sie mit allen Beteiligten“
legten Berufung ein. Demnächst wird
eine Entscheidung des Kammergerichts Valentino gegenüber. Der Rechtsanwalt mer am besten, wenn alle schon vor dem
erwartet. Lutz Libbertz hat hier seit vielen Jahrzehn- Todesfall wüssten, was Sache ist.
Erbrechtlerin Herzog sieht sich ten seine Kanzlei. Er hat Dieter Bohlen Die letzte Regel sei erst neu hinzuge-
bislang in ihrer Rechtsauffassung bestä- vertreten und den Münchner Modemacher kommen, sagt Libbertz. In den vergange-
tigt. Sie hält auch viele andere Ge- Rudolph Moshammer. nen Jahren sei ihm etwas aufgefallen. Die
schäftsbedingungen für unwirksam, Libbertz hat die verrücktesten Geschich- Menschen seien immer komplizierter ge-
etwa wenn es um materielle Güter wie ten parat. worden. Früher habe es ausgereicht, ein
E-Books geht: „In den Shops sprechen Eine handelt von einem der reichsten anständiger Kerl zu sein. Heute wolle jeder
viele Anbieter davon, dass sie die digi- Männer Münchens. Der Mann hatte seine was Besonderes sein, Selbstfindung und
talen Güter verkaufen. Im Kleinge- Frau verlassen und fragte im Spaß Lib- Weltreisen, das sei heute Standard.
druckten soll es dann plötzlich nur um bertz immer wieder: „Wenn ich die Alte Libbertz sagt, viele Menschen wollten
Nutzungsrechte gehen“, sagt die An- umbringe, kannst du mich dann raus- auch kein normales Testament mehr, son-
wältin: „Das wird vor deutschen Ge- boxen?“ dern ein Manifest, kompliziert, ellenlang.
richten kaum standhalten.“ Dieser Multimillionär lief herum wie ein Sie wollten noch mal zeigen, dass sie alles
Wer seinen Erben kein digitales Cha- Penner, er trug einen alten Arbeitskittel seien, nur nicht 08/15.
os hinterlassen will, sollte vorsorgen. und abgelaufene Schuhe. Und so wunder- Er rät seinen Mandaten zum Gegenteil.
Verbraucherschützer empfehlen, zu ten sich die Ärzte auf der Notfallstation, „Je einfacher ein Testament, desto weniger
Lebzeiten eine Liste der bestehenden als ein offenbar Obdachloser, der mit ei- anfechtbar ist es“, sagt er. Das ist Regel
Konten samt Passwörtern anzulegen, nem Herzinfarkt eingeliefert worden war, Nummer vier: Alles so schlicht wie mög-
auf einem verschlüsselten USB-Stick laut nach einem Notar schrie. lich halten.
zu speichern, diesen an einem sicheren Der Millionär starb im Krankenhaus, be- Libbertz zieht die Schublade seines
Ort zu verwahren und eine Vertrauens- vor er sein Testament hatte ändern kön- Schreibtischs auf und holt einen Umschlag
person als digitalen Nachlassverwalter nen. Die verhasste Frau erbte alles. Lib- heraus. Darin, ordentlich gefaltet, ein
zu bestellen. Dieser Person kann man bertz hat die neue Partnerin des Mannes weißes Blatt Papier, beschriftet mit blauer
in einer „Vollmacht über den Tod hi- vertreten. Sie ging komplett leer aus. Tinte.
naus“ dann detailliert vorgeben, was Libbertz sagt, eigentlich sei alles ganz
mit Konten, Daten und Endgeräten ge- einfach. Wenn man sich an vier Regeln Testament
schehen soll. halte, könne Ärger beim Erben meist ver- Mein Sohn Roman ist mein Erbe.
Längst haben Unternehmer den mieden werden. Frau Kröpfl erhält 30.000 E für langjäh-
Wirrwarr rund ums digitale Erbe als Regel Nummer eins sei etwas, was er rige hervorragende Tätigkeit sowie 10 %
Geschäftsmodell ausgemacht. Einige auch dem Millionär geraten hätte: Es muss vom Verkaufspreis der Kanzlei.
dieser digitalen Bestatter bieten an, immer ein aktuelles Testament geben, am München, 11. September 2014
gegen monatliche oder jährliche Ge- besten eins, das beim Notar oder Anwalt Lutz Libbertz
bühren schon zu Lebzeiten alle Vorkeh- erstellt und deponiert wurde. Über das
rungen für den letzten digitalen Willen Thema Erben nachzudenken bedeute, sich Im Grunde, sagt Libbertz, sei das
zu treffen. Das erfordert allerdings mit dem eigenen Tod zu befassen. Das falle alles, was man brauche. Ein paar klare
hohes Vertrauen in die Seriosität der den Deutschen offenbar schwer. Nur jeder Sätze und Ende.
Anbieter – nicht wenige dieser Start- Vierte hinterlässt bislang ein schriftliches Alexander Neubacher, Britta Stuff
ups haben schon wieder das Zeitliche Testament.
gesegnet, lange vor ihren Kunden. Nummer zwei: Versuchen Sie gerecht Video: Wie vererbt
Marcel Rosenbach zu sein, benachteiligen Sie niemanden. man richtig?
Mail: marcel.rosenbach@spiegel.de Nummer drei: Reden Sie mit allen Be- spiegel.de/sp222017erben
teiligten, auch wenn es wehtut. Es sei im- oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 22 / 2017 47


Deutschland

„Ignorant“
Historiker Warum wurde ausgerechnet Hitlers Lieblingsminister Albert Speer der einflussreichste
Zeitzeuge für das „Dritte Reich“? Eine Biografie rechnet mit der Geschichtswissenschaft ab.

D
ie große Koalition der Albert- Ophüls oder dem legendären TV-Mode- te Motive: „Bequemlichkeit, Ignoranz, Un-
Speer-Versteher reichte von Willy rator David Frost interviewt. Seine „Erin- wissen, Gleichgültigkeit, Scheu vor der
Brandt bis Helmut Kohl. Als der nerungen“ von 1969 und die „Spandauer Komplexität und Masse der Quellen“.
frühere Nationalsozialist Speer 1966 aus Tagebücher“ von 1975 erzielten Millionen- Als Belege präsentiert der IfZ-Mann er-
dem alliierten Gefängnis in Berlin-Span- auflagen und zählen zu den meistverkauf- staunlich Speer-freundliche Rezensionen
dau entlassen wurde, schickte der damali- ten Werken in deutscher Sprache. von den Großen seines Fachs, etwa Hans
ge SPD-Vorsitzende Brandt einen Strauß In Restaurants sprachen ihn wildfremde Mommsen (1930 bis 2015), Golo Mann
Blumen. Einige Jahre danach – Speer wur- Menschen an. Immer wieder klingelte bei (1909 bis 1994), Klaus Hildebrand oder
de 70 – gratulierte der damalige CDU-Vor- den Speers in Heidelberg das Telefon, weil Eberhard Jäckel, die die Werke Speers
sitzende Kohl mit einem persönlichen Journalisten, Historiker und andere Ge- mit dem Siegel der Wissenschaft adelten.
Schreiben. schichtsinteressierte um Auskunft baten. Die „Spandauer Tagebücher“ seien ein
Ausgerechnet Speer. Liebling Adolf Hit- Der sich reuevoll gebende Speer war der „menschliches Dokument ersten Ranges“,
lers, Stararchitekt im „Dritten Reich“, ab liebste Exnazi der Deutschen. schrieb Mommsen. Solche Texte erschie-
1942 mächtiger Rüstungsminister, zeitweise Nun liegt eine neue Biografie vor, die nen in diversen Medien, auch im SPIEGEL.
designierter Nachfolger Hitlers, verurteil- dem erstaunlichen Aufstieg des Verbre- Kritische Stimmen drangen kaum durch.
ter Kriegsverbrecher. chers nach seiner Haft breiten Raum ein- Als ein Doktorand 1982 die Beteiligung
Von allen hochrangigen NS-Funktionä- räumt. Autor ist Magnus Brechtken, His- Speers an der Verfolgung der Berliner Ju-
ren, die den Untergang ihres mörderischen toriker und stellvertretender Direktor des den offenlegte, diffamierte der Kölner Pro-
Imperiums überlebten, gelang nur Speer angesehenen Münchner Instituts für Zeit- fessor Jost Dülffer die Studie als „Illustrier-
eine spektakuläre zweite Karriere. Der geschichte (IfZ)*. Sein Buch ist auch eine tenreport“. Erst Jahre später schrieb Dülf-
groß gewachsene, gut aussehende Mann Abrechnung mit dem eigenen Berufsstand. fer selbst kritisch über Speer. Heute ist er
vermarktete seine Vergangenheit, erwarb Der 53-jährige Historiker wirft seiner bekannt als Mitglied einer Kommission,
als Zeitzeuge weltweites Ansehen und ver- Zunft „Unvermögen“ vor. die im Auftrag des Bundesnachrichten-
diente damit ein Vermögen. Jahrelang habe Speer unwidersprochen dienstes dessen Geschichte erforscht.
Hunderttausende schalteten ein, wenn „Legenden, Lügen und Märchen“ (Brecht- Da die Beschäftigung mit Biografien lan-
Speer im deutschen oder ausländischen ken) über den Nationalsozialismus und sei- ge als Karrierehindernis an den Universi-
Fernsehen über Hitler Auskunft gab. Er ne eigene Rolle verbreiten können. Hinter täten galt, machte sich von den arrivierten
wurde von Stars wie dem Dokumentarfil- dem „Nicht-selbst-Nachforschen“ der Kol- Wissenschaftlern kaum jemand die Mühe,
mer und späteren Oscargewinner Marcel legen vermutet Brechtken wenig ehrenwer- Speers Angaben zu prüfen:
Etwa dass soziale Außenseiter und ge-
strandete Existenzen bei den Nazis den
Ton angaben – und nicht Intellektuelle wie
Speer. In Wirklichkeit trugen Akademiker
der Generation Speer, geboren um 1905,
das System.
Oder dass Speer sich nach eigenen An-
gaben „nie antisemitisch betätigt“ habe.
Dabei bewilligte der oberste Rüstungs-
organisator 1942 Material für den Ausbau
des Konzentrations- und Vernichtungsla-
gers Auschwitz und kritisierte die Unter-
bringung von Zwangsarbeitern im KZ
Mauthausen – sie sei zu großzügig (SPIE-
GEL 18/2005).
Erst in den vergangenen Jahren hat sich
das öffentliche Bild nachhaltig gewandelt.
Den Beginn des Aufstiegs zum Kronzeu-
gen datiert Biograf Brechtken in den Mai
1945. Schon den amerikanischen Verneh-
mern präsentierte sich der damals 40-jäh-
rige Speer als intelligenter Plauderer, Typ
ERIKA HEINEMANN-RUFER BERLIN

College-Professor.
Speer versuchte, maximale Distanz zu
seinen ehemaligen Parteigenossen her-
zustellen. Als einziger Angeklagter ak-
zeptierte er demonstrativ das Nürnberger

* Magnus Brechtken: „Albert Speer. Eine deutsche Kar-


Autor Fest, Exnazi Speer, Regisseurin Leni Riefenstahl 1972: Geschäft mit der Vergangenheit riere“. Siedler; 912 Seiten; 40 Euro.

48 DER SPIEGEL 22 / 2017


Titelfotos (v. l.): Klaus Mehner/ullstein (Uschi Obermaier); Bridgeman (Rudi Dutschke); Manfred Vollmer/imagetrust (Anti-Vietnamkrieg-Demonstration, Berlin 1968)

www.zeit.de
Ab 1.6.
in der ZEIT
Deutschland

Kriegsverbrechertribunal und bekannte struiert und daraus ein Buch gemacht, das Historiker. Dieser habe erst Speer „kon-
sich zur „Gesamtverantwortung“. zum Kassenschlager wurde. Und da da- krete Hilfe“ beim Täuschen geleistet, dann
Der clevere Architekt nutzte jede Gele- mals kaum ein Wissenschaftler den Holo- dessen Versionen in seine eigenen Bücher
genheit, die anderen Mitglieder der Füh- caust erforschte, blieb Speers Rolle beim übernommen und schließlich diese mit
rungsclique wie Propagandachef Joseph Massenmord unentdeckt. „verblüffender Ignoranz“ und „aggressiver
Goebbels oder SS-Chef Heinrich Himmler Als Speer 1966 das Gefängnis verließ, Uneinsichtigkeit gegen die wissenschaft-
als dümmlich und brutal darzustellen. war das Fundament für eine zweite Kar- liche Aufklärung“ verteidigt.
Eben anders als er selbst zu sein schien. riere gelegt. Einige der mit ihm einsitzen- Speer hatte bereits in der Haft Aufzeich-
Obwohl er bereits 1931 als junger Uni- den NS-Verbrecher hofften schon hinter nungen gefertigt. Sie wiesen jedoch nicht
versitätsassistent der NSDAP beigetreten Gittern auf das Geschäft mit der Vergan- annähernd jene „verführerische Brillanz“
war, präsentierte sich Speer in Nürnberg genheit. Als Speer zu Mithäftling Baldur (Brechtken) auf wie die publizierten Erin-
als unpolitischer Fachmann, der wie viele von Schirach, verantwortlich für die De- nerungsbände. Die Vermutung liegt nahe,
andere von Hitler getäuscht worden sei. portation der Wiener Juden, meinte, dieser dass Fest – ein glänzender Stilist – Speer
Hätten die alliierten Richter gewusst, werde für seine Memoiren eine Million die Feder führte. Zu Lebzeiten hatte Fest
was heute über Speer bekannt ist, wäre er Mark einnehmen, entgegnete Schirach: das bestritten.
wohl zum Tode verurteilt worden. Doch „Das wäre ja gelacht! Das wird viel mehr.“ In einem Brief verlangte Fest von Speer,
die Ermittler gruben nicht tief genug. Sein erstes Interview verkaufte Speer an die Erinnerung „aufs Äußerste“ zu strapa-
Mit seiner Distanzierungsstrategie rette- den SPIEGEL, später schloss er einen Vertrag zieren: „Wo trafen Sie beispielsweise zu
te Speer jedoch nicht nur sein Leben, son- mit dem Verleger Wolf Jobst Siedler (1926 welcher Zeit Hitler; wie äußerte er sich?“
dern unterbreitete dem deutschen Publi- bis 2013). Dieser bat seinen Freund Joachim Brechtken weist darauf hin, dass Jahrzehn-
kum ein „Identifikationsangebot“ (Brecht- C. Fest (1926 bis 2006) dazu, damals ein 40- te nach einem Ereignis das Gedächtnis ent-
ken). Wenn schon die zeitweilige Nummer jähriger Journalist, später bekannt als He- weder nur Bekanntes oder aber nachträg-
zwei des Regimes kein Nationalsozialist rausgeber der „Frankfurter Allgemeinen lich Überformtes preisgibt. Auf diese Wei-
war, sondern ein unpolitischer Fachmann, Zeitung“ und Verfasser zahlreicher Bestsel- se gewonnene, neue Hitler-Zitate waren
der von den Verbrechen angeblich nichts ler zum „Dritten Reich“, etwa einer Hitler- unglaubwürdig.
wusste, dann konnten auch alle anderen Biografie oder dem „Untergang“, der Vor- Als Dokumentenfunde belegten, dass
Deutschen dieses für sich beanspruchen. lage für den gleichnamigen Kinoerfolg. Speer in wesentlichen Punkten gelogen
Schnell erwies sich Speer als Liebling Fest empfand die Zusammenarbeit mit hatte und infolgedessen auch Deutungen
der Journalisten und ihrer Leser. Es wider- Speer als ein „Geschenk der Götter“: „Ei- Fests wankten, ignorierte dieser die Er-
sprach ja auch niemand seinen Aussagen. nen solchen Zeugen – ersten Zeugen! – be- kenntnisse. Es sei ein „Skandal“, empört
1947 ehrte der Oxforder Historiker Hugh kommt eigentlich kein Historiker je.“ Ge- sich Brechtken, dass Fest „immer und im-
Trevor-Roper die Selbstdarstellung Speers meinsam mit Siedler machten sie sich ans mer wieder“ die Unwahrheiten Speers ver-
mit akademischen Weihen: Der Rüstungs- Werk. Sie verbanden das Angenehme mit breitet habe, ihnen „stilistischen Glanz ver-
minister habe moralisch und intellektuell dem Nützlichen, reisten nach Frankreich lieh und diese Kolportagen als Geschichts-
aus Hitlers Entourage herausgeragt. Tre- oder Sylt und arbeiteten an dem Text. schreibung verkaufte“.
vor-Roper hatte für den britischen Geheim- Biograf Brechtken geht mit Fest so Erst in seinen letzten Lebensjahren er-
dienst die Todesumstände Hitlers rekon- scharf ins Gericht wie mit keinem anderen klärte Fest, er sei von Speer getäuscht wor-
den. Nach Brechtkens Recherchen hat Fest
es Speer denkbar leicht gemacht.
Brechtken insinuiert sogar, dass Fest und
dessen Sohn Alexander, langjähriger Ro-
wohlt-Geschäftsführer, Geschichtsfälschung
betrieben haben. Es geht um Fests Buch
„Die unbeantwortbaren Fragen“ (Rowohlt
Verlag). Darin referiert Fest aus Vermer-
ken der Gespräche mit Speer. Da einige
Datierungen offenbar falsch sind, fragt
Brechtken, ob die publizierte Version der
Dokumente mit den Originalen identisch
sei oder Fest „hinzuformuliert“ habe. Er
habe das im Nachlass Fests nicht überprü-
fen dürfen.
Alexander Fest, der Sohn des Histori-
kers, erklärt auf Anfrage, er habe Brecht-
ken keinen Zugang zum Nachlass gewährt,
weil ihm ein Lesesaal fehle und er die Un-
terlagen „nicht in der Welt herumschicken“
wolle. Fest junior bestreitet, dass manipu-
liert worden sei. Brechtkens Spekulation
THOMAS EINBERGER / DER SPIEGEL

sei „ein Witz“.


Brechtkens Kritik zielt auf die Ge-
schichtswissenschaft. Speers Karriere als
Zeitzeuge beruhte zugleich darauf, dass
viele Deutsche ihm folgen wollten. Ob es
ein solches Publikum in Deutschland noch
gibt, wird die Reaktion auf Brechtkens
Biograf Brechtken im Institut für Zeitgeschichte: „Legenden, Lügen und Märchen“ Werk zeigen. Klaus Wiegrefe

50 DER SPIEGEL 22 / 2017


ULI DECK / PICTURE ALLIANCE / DPA
1. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs

Hinterrücks
Und wenn ja: Muss dieses, zumindest in be- stufe, an Ministerien und einzelne Bundes-
sonderen Fällen, nicht hinter die Pressefrei- tagsabgeordnete verschickt werden. Verge-
heit zurücktreten? bens. Doch dann erhielt er die Lageberichte
Sowohl für Journalisten als auch für Be- der Jahre 2005 bis 2012 auf anderem Wege.
Pressefreiheit Die Regierung hörden könnte das Urteil weitreichende Fol- Bald darauf stellte die „WAZ“ sie ins Netz.
gen haben. Zunehmend erlangen Reporter „Ein paar Wochen lang ist gar nichts pas-
nutzt das Urheberrecht, um die bei ihren Recherchen große Mengen elek- siert“, erinnert sich Schraven. Dann habe
Verbreitung von Informationen tronischer Daten und Dokumente, die sie er einen Anruf aus dem Verteidigungsmi-
zu verhindern. Ein Gericht muss oft, zumindest teilweise, im Original veröf- nisterium bekommen. Der Minister, damals
fentlichen. Thomas de Maizière (CDU), „wünsche“,
jetzt entscheiden: Darf sie das? Immer wieder benutzen Behörden, Un- dass die Berichte von der Seite genommen
ternehmen und Privatpersonen das Urhe- würden, habe die Dame gesagt, er sei da-

I
m Morgengrauen des 31. Oktober 2010 berrecht als Werkzeug im Kampf dagegen. rüber „nicht amüsiert“. Schraven war es
greifen deutsche Soldaten ein von Tali- So mahnte das Bundesinnenministerium umso mehr, zunächst jedenfalls, als das Mi-
ban besetztes Dorf an – „Die erste die Seite FragDenStaat.de ab, die eine kri- nisterium nicht mit Geheimschutz, sondern
Schlacht der Bundeswehr in Afghanistan“, tische Stellungnahme des Ministeriums zu hinterrücks mit dem Urheberrecht kam.
schreibt der Reporter der „Westfälischen einer geplanten Wahlrechtsänderung ver- Der münstersche Medienrechtsprofessor
Allgemeinen Zeitung“ („WAZ“) später über öffentlicht hatte. Die Behörde verlor aller- Thomas Hoeren pflichtet dem Journalisten
seinen Artikel. „Gut 300 Fallschirmjäger aus dings den anschließenden Prozess um das bei: Das Urheberrecht solle dem Urheber
Seedorf sitzen auf der Höhe 432 von ihren „Zensurheberrecht“, so der Internetspott. eine wirtschaftliche Verwertung des von
gepanzerten Fahrzeugen ab. Sie marschie- Die Stadt Duisburg versuchte mithilfe ihm geschaffenen Werkes ermöglichen.
ren in loser Reihe vor. In ihrer rechten Flan- des Copyrights die Internetveröffentlichung Dieses Recht werde „zweckentfremdet,
ke afghanische Truppen, die linke Flanke eines Rechtsgutachtens zur Katastrophe bei wenn es gezielt eingesetzt wird, um gegen
sichern amerikanische Gebirgsjäger.“ der Love Parade 2010 zu verhindern. Der unerwünschte Veröffentlichungen vorzuge-
So schildert es die „WAZ“ aus Essen im Grünenpolitiker Volker Beck hat SPIEGEL hen“. Doch das Verteidigungsministerium
Jahr 2012, sie stützt sich auf geheime mili- ONLINE untersagt, einen Aufsatz Becks tat genau das – mit Erfolg. Im August 2015
tärische Lageberichte der Bundesregierung und einen Buchbeitrag von ihm zum Thema gab das Landgericht Köln dem Ministerium
für das Parlament. Der Autor will mit sei- Pädophilie zu publizieren. Damit wollte die Recht, die „WAZ“ nahm daraufhin die Seite
nem Beitrag zeigen, dass die Bundeswehr Redaktion belegen, dass, anders als von vom Netz. Das Kölner Oberlandesgericht
am Hindukusch Krieg führe. Zum Beleg Beck gesagt, beide Texte nahezu identisch bestätigte dieses Urteil. Nun muss der BGH
stellt die Zeitung rund 5000 Seiten der amt- sind. Auch über diesen Fall wird der 1. Zi- entscheiden. Und danach womöglich das
lichen Berichte ins Internet, auf einem ei- vilsenat des BGH in Kürze entscheiden. Bundesverfassungsgericht?
gens eingerichteten Portal. Die Journalisten „Ich fand und finde es wichtig, dass sich Der Urheberschutz lässt eigentlich nur
schwärzten vorher heikle Stellen, um keine die Menschen anhand dieser Lageberichte das Zitieren veröffentlichter Texte zu.
militärischen Geheimnisse preiszugeben. selbst ein Bild davon machen können, was Trotzdem erklärte das Bundesverfassungs-
Inzwischen sind sowohl der „WAZ“-Ar- da in Afghanistan passiert ist“, sagt der gericht in einem Beschluss zu einer Über-
tikel als auch die Lageberichte offline. Die Journalist David Schraven, Gründer der Re- nahme von Literaturpassagen in einem
Bundesregierung ließ deren Veröffentli- chercheplattform Correctiv.org und damals Theaterstück: Wenn es keine merklichen
chung untersagen. Sie verwies nicht auf Ge- Recherchechef bei der „WAZ“. Zwar gibt wirtschaftlichen Nachteile für den Urheber
heimnisverrat, weil es Journalisten seit 2012 es seit 2011 offizielle Veröffentlichungen gebe, könne die Kunstfreiheit Veröffentli-
ausdrücklich nicht mehr verboten ist, auch von Lageberichten. Dort würden allerdings chungen rechtfertigen, die über das Zitat-
geheime Informationen zu veröffentlichen. Angaben zur Entwicklung der Truppenstär- recht hinausgehen.
Stattdessen griff das Verteidigungsministe- ke oder Zahlen über Opfer unter der af- Eine solche Abwägung, so der Karlsru-
rium zu einem Trick und berief sich auf das ghanischen Zivilbevölkerung fehlen, so her „WAZ“-Anwalt Thomas von Plehwe,
Urheberrecht an der kruden Militärprosa. Schraven. müsse der BGH auch hier treffen – zuguns-
Am Donnerstag will nun der 1. Zivilsenat Der Reporter hatte sich zunächst offiziell ten der Pressefreiheit. Der Regierung gehe
des Karlsruher Bundesgerichtshofs (BGH) um die Lageberichte bemüht, die als „Ver- es nicht um den Schutz einer geistigen
entscheiden: Gilt auch für solche amtlichen schlusssache – nur für den Dienstgebrauch“, Schöpfung: „Man will die Verbreitung der
Dokumente der Schutz des Urheberrechts? also mit der niedrigsten Geheimhaltungs- Informationen verhindern.“ Dietmar Hipp

DER SPIEGEL 22 / 2017 51


Deutschland

Ein Mord und viele Lügen


Zeitgeschichte Vor 50 Jahren erschoss ein Westberliner Polizist den Studenten Benno
Ohnesorg. Die Tat löste eine Revolte aus, die die Bundesrepublik verändert hat.

L
ukas Ohnesorg gehört nicht zu den der Mauerstadt inmitten der DDR, auf sieht ihn als grausamen, von der CIA an
Gewinnern im Leben. Der arbeitslo- die gesamte Bundesrepublik über. Die die Macht geputschten Diktator, der rei-
se Programmierer aus Hannover ha- von Soziologen bis dahin als unpolitisch henweise Oppositionelle in den Kerkern
dert mit seinem Schicksal. Er sagt: „Es klassifizierte junge Generation begann seiner Geheimpolizei verschwinden lässt,
wäre schön gewesen, einen Vater gehabt eine Revolte, die in den folgenden Jah- wo sie zu Tode gefoltert werden. Das ira-
zu haben.“ ren und Jahrzehnten das Bewusstsein der nische Terrorregime empört ihn so sehr,
Ohnesorg, 49 Jahre alt, trauert darüber, bundesdeutschen Gesellschaft transfor- dass er dagegen demonstrieren will. Er
dass sein Vater vor seiner Geburt starb; mierte. nimmt sich einen weißen Kissenbezug;
von einem Polizisten erschossen, bei einer Die Gesinnungsgenossen Benno Ohne- „Autonomie für die Teheraner Universi-
Demonstration gegen den Schah von Per- sorgs bildeten jene Bewegung, die die Bun- tät“, schreibt er darauf. Später, als er schon
sien, am 2. Juni 1967 in Westberlin. Benno desrepublik langsam in das liberale, tole- tödlich getroffen ist, wird er dieses Banner
Ohnesorg wurde gerade mal 26 Jahre alt. rante Land verwandelte, das aus dem immer noch umklammern.
Sein Sohn Lukas kam vier Monate später Schatten des Holocaust treten konnte und Rund 4000 uniformierte Schutzpolizis-
zur Welt. heute in aller Welt beliebt ist. ten sind am Abend des 2. Juni 1967 im Ein-
„Es ist eine Familientragödie“, meint Lu- Was aber damals wirklich geschah, blieb satz. Die Kripo schickt 250 Mann, darunter
kas Ohnesorg. „Unsere ganze Familie ist jahrzehntelang umstritten. Täter, Opfer, 88 Kriminalbeamte aus der Abteilung I,
traumatisiert. Meine beiden Onkel und Motive, Tatablauf, Hintergründe: Lange dem Staatsschutz. Sie sollen „wilde De-
meine Mutter, die ihr Trauma an mich wei- haben Lügen, Halbwahrheiten, Ermitt- monstrationen rechtzeitig erkennen“ und
tergegeben hat, wir alle.“ Lukas Ohnesorg lungspannen und Verschleierungsversuche „Störungen verhindern“, wie es im Ein-
sagt über seinen Vater: „Er wurde nur da- einen klaren Blick auf den 2. Juni 1967 er- satzbefehl heißt.
durch bekannt, dass er tot war.“ schwert. Manches kommt erst jetzt, 50 Jah- Die Kripoleute sehen sich als Elitetrup-
Das ist richtig, aber gleichzeitig hat re später, ans Licht. pe, sie tragen keine Uniformen, sondern
der Tod des Benno Ohnesorg vor 50 Jah- Benno Ohnesorg, der an der Freien Uni- leichte Sommeranzüge und sind deshalb
ren das Land verändert. Der Schuss, den versität Romanistik und Germanistik stu- nicht sofort als Polizisten zu erkennen. Nur
der Kriminalobermeister Kurras auf ihn dierte, heiratet sechs Wochen vor seinem bei einigen beult die Dienstwaffe das Ja-
abgefeuert hat, hallte vielfach nach. Er Tod. Auf einem Hochzeitsbild strahlen bei- ckett aus: eine schon zur Nazizeit bei der
markiert – so lässt es sich heute erken- de. Seine Frau Christa mit dem hochge- Wehrmacht beliebte Walther PPK, wie sie
nen – eine Zäsur zwischen dem noch vom steckten langen Haar ist schwanger und auch der Kriminalobermeister Karl-Heinz
Krieg geprägten westdeutschen Nach- schaut ihn verliebt an. Bennos Bekannte Kurras an diesem Tag trägt.
kriegsdeutschland und der modernen Bun- schilderten ihn als politisch besonnenen Gegen 19 Uhr erreicht Ohnesorg die
desrepublik. und privat liebevollen Menschen. Deutsche Oper, wo dem persischen Staats-
Tausende Studenten wussten damals: Es gast und seiner Gattin zu Ehren Mozarts
hätte auch sie treffen können. Noch am Um 20.07 Uhr kommt „Zauberflöte“ aufgeführt werden soll. Die
selben Abend versammelten sich einige Demonstranten können sich nur auf dem
von ihnen, um die dramatischen Ereignisse der Befehl an die Polizisten Bürgersteig gegenüber der Oper versam-
zu verarbeiten. Gudrun Ensslin, damals auf dem Mittelstreifen: meln. Es ist wie in einer Falle: vor ihnen
26 Jahre alt und Doktorandin der Germa- ein Absperrgitter, im Rücken ein Bauzaun.
nistik, später Mitgründerin der RAF, drück- „Knüppel frei. Räumen!“ Ohnesorg steht mit seinem Transparent
te die Stimmung vieler Mitstudenten aus: mitten unter ihnen. Sein Blick ist ernst und
„Mit denen kann man nicht diskutieren, sie Er ist keiner, „der mit der Fahne in der ein wenig ängstlich. Kurz vor acht Uhr fah-
werden uns alle umbringen“, rief Ensslin: ersten Reihe“ steht, wie es sein Sohn Lu- ren der Berliner Bürgermeister Heinrich
„Das ist die Generation von Auschwitz!“ kas sagt; sondern einer, der sich Theater- Albertz, Bundespräsident Heinrich Lübke
In den folgenden Tagen bekam der So- stücke von Bertolt Brecht ansieht, die und dann der Schah, begleitet von einer
zialistische Deutsche Studentenbund (SDS), „Carmina Burana“ hört oder Liebesgedich- Polizeieskorte, vor und eilen unter Buhru-
bis dahin eine kleine linksradikale Gruppe, te von François Villon, vorgetragen von fen und Pfiffen der Demonstranten ins
enormen Zulauf. Der SDS entwickelte sich Klaus Kinski. Opernfoyer. Es fliegen einzelne Tomaten,
zur intellektuellen Avantgarde einer Be- Im Mai 1967 schenkt seine Frau ihm ein Mehltüten und Eier Richtung Oper.
wegung, die so gut wie alles infrage stellte neues Hemd, ein leuchtend-karminrotes, Hinter dem Bauzaun patrouillieren Poli-
und sich die Umwälzung der Verhältnisse das er sich am Freitag, dem 2. Juni 1967, zisten mit Hunden. Dort sind keine Stu-
auf die Fahnen schrieb – nicht nur in der morgens zum ersten Mal anzieht. denten. Aber aus dieser Richtung werfen
Bundesrepublik, sondern gleich in der Viele Westberliner freuen sich an die- ein paar Männer Hartgummiringe in Rich-
ganzen Welt. sem Tag darüber, einer echten kaiserlichen tung Oper, offenbar um die Stimmung wei-
Studenten in Westberlin hatten schon Hoheit zujubeln zu können. Der Schah ter anzuheizen. Die Baufirma wird ihre
im Jahr 1966 gegen den Krieg der USA in von Persien kommt, Resa Pahlewi, mit wei- Rechnung für die Hartgummiringe später
Vietnam und für eine Reform der in un- ßer Paradeuniform und einer Gemahlin, an den Berliner Innensenator senden.
demokratischen Hierarchien erstarrten die eine ganze Juwelensammlung in ihrem Um 20.07 Uhr kommt der Befehl an die
Universitäten demonstriert. Mit dem Tod Haar trägt. Polizisten auf dem Mittelstreifen: „Knüp-
Ohnesorgs sprang der Funke des anti- Benno Ohnesorg hat, wie zahlreiche Stu- pel frei! Räumen!“ Die Beamten schlagen
autoritären Aufbegehrens von Westberlin, denten, ein anderes Bild vom Schah. Er ohne weiteren Anlass auf die Schah-Geg-
52 DER SPIEGEL 22 / 2017
KARSTEN THIELKER / DER SPIEGEL

Hinterbliebener Sohn Lukas Ohnesorg

DER SPIEGEL 22 / 2017 53


Deutschland

ner hinter dem Gitter ein. Die versuchen, Was dann passiert, bezeugt später Hans nesorg zu rekonstruieren. Auf einem Bild
in die nächstgelegenen Seitenstraßen zu Brombosch, der kleine Nachbarsjunge: „In sind die Füße einer Gruppe uniformierter
fliehen. diesem Moment hörte ich einen Knall, sah und ziviler Polizisten zu sehen. Zwei Füße
Eine davon ist die Krumme Straße. Dort den Mann mit dem roten Hemd wanken aber sind nackt, sie stecken in Sandalen,
werden sie von einer Kette aus 30 Schutz- und umfallen. Ich dachte, der ist gestolpert es sind die Füße von Ohnesorg, und er
polizisten gestoppt. Unter ihnen, in Zivil und steht gleich wieder auf. Aber er blieb steht. Es ist das letzte Foto mit ihm, das
mit Anzug und Schlips, steht Helmut Star- liegen. Ich schaute, wo der Knall herge- vor dem Schuss aufgenommen wird. Oh-
ke, als Einsatzleiter des Westberliner kommen war, und sah vor ihm einen Mann nesorg muss den Mann mit der Pistole im
Staatsschutzes, ein Kommunisten- und Stu- stehen, ohne Uniform, mit einer schwar- letzten Moment wohl noch gesehen haben.
dentenhasser. Seine Männer schauen, wer zen Pistole in der Hand. Aus meinem Zeugen hören den Ruf: „Bitte, bitte nicht
auf der anderen Seite der Kette wie ein Blickwinkel stand er vollkommen frei da, schießen!“
Anführer wirkt. Dann prescht immer wie- war unbedrängt. Da wurde mir klar, dass Es ist ein Schuss in den Kopf, aus kurzer
der ein Greiftrupp nach vorn, zerrt den der Knall ein Schuss gewesen und der Distanz. Kurras ist umgeben von seinen
vermeintlichen „Rädelsführer“ zurück hin- Mann im roten Hemd deswegen liegen ge- Kollegen und Vorgesetzten, die Waffe in
ter die eigene Linie, zum Abtransport als blieben war.“ seiner Rechten. Er stützt sich mit dem lin-
Gefangener. Eine Fotoserie und Filmaufnahmen er- ken Arm auf einen Polizisten. Ein anderer
Um nicht das Schicksal der anderen lauben es, die letzten Sekunden von Oh- Beamter steht so nah bei Kurras, dass er
Festgenommenen zu teilen, läuft einer der ihn anschreit. „Bist du denn wahnsinnig,
gejagten Studenten in Panik in einen be-
nachbarten Innenhof. Staatsschützer Karl- „Die Studenten bei hier zu schießen?“ Kurras stammelt nur:
„Die ist mir losgegangen.“
Heinz Kurras und ein Kollege rennen hin- den Krawallen Sofort beginnen Polizisten, die Tat ihres
terher. Sofort strömen Demonstranten und
ein Dutzend Reporter, Fotografen und Ka- werden sich wundern, Kollegen zu vertuschen. Auf der Radio-
Tonaufnahme vom Ort des Geschehens ist
meramänner nach, mit ihnen Ohnesorg,
30 oder 40 Personen, die sehen wollen,
was ihnen blüht.“ 64 Sekunden nach dem Schuss ein Befehl
zu hören: „Kurras, gleich nach hinten! Los!
was passiert. Schnell weg!“ Es wurde nie aufgeklärt, wer
Es ist 20.30 Uhr. Der Innenhof ist klein, dem Todesschützen diese Order zurief.
26 Meter breit, es gibt ein paar Parkplätze, Wer außer seinem Vorgesetzten kann so
einen Schotterstreifen, dahinter wenige einen Befehl gerufen haben? Im ersten Pro-
Meter Rasen, auf denen eine Teppichklopf- zess gegen Kurras wegen fahrlässiger Tö-
stange steht. Der Anführer der Kripomän- tung spielte das Gericht das Tonband gar
ner schnappt den entwischten Studenten nicht erst ab, nach dem zweiten Prozess
an der Teppichstange, reißt ihn nach unten, verschwand das Beweismittel spurlos.
ins Gras. Ein Zivilbeamter bewacht den Es spricht einiges dafür, dass der Kur-
am Boden Liegenden, ein Schutzpolizist ras-Vorgesetzte Helmut Starke den Rück-
prügelt hasserfüllt auf ihn ein. Gegenüber zugsbefehl gab. Starke war in der Wehr-
stehen zwei Demonstranten, etwas un- macht Fallschirmjäger, ein Kriegsheld, Trä-
schlüssig, einer ist Benno Ohnesorg, die ger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse.
ULLSTEIN BILD

linke Hand umklammert sein Transparent. Wir gegen den Feind – dieses Denken präg-
Der andere brüllt: „Hören Sie doch auf, te ihn offenkundig auch in der Nachkriegs-
Sie schlagen ihn ja tot!“ zeit. In seinem Dienstzimmer beim West-
Ein acht Jahre alter Junge, Hans Brom- Tödlich getroffener Benno Ohnesorg berliner Staatsschutz führte er als Verant-
bosch, beobachtet die Szene vom Fenster „Bist du denn wahnsinnig, hier zu schießen?“ wortlicher die Bearbeitungsakte gegen den
einer Parterrewohnung aus. „Polizisten verhassten Sozialistischen Deutschen Stu-
schlugen wie wild auf junge Menschen dentenbund.
ein“, erzählt er später: „Meine Augen ras- Ein Westberliner Freund berichtete da-
ten hin und her. An meiner Turnstange mals der Stasi, was er von Starke erfahren
fiel mir ein Mann im roten Hemd und mit hatte. Laut Starke habe sich die Lage der
Schnurrbart auf – wie ich später lernte: Polizei gegenüber den Studenten „so weit
Benno Ohnesorg. Er war ganz ruhig, stand verhärtet, dass er von den verantwortli-
einfach da. Andere flüchteten bereits wie- chen Männern des Senats die Erlaubnis
der aus dem Hof, um nicht verprügelt zu bekommen hätte, bei großen Ausschrei-
werden. Er blieb stehen.“ tungen von Demonstranten, wo diese Leib
Weil plötzlich noch mehr Polizisten mit und Leben von Polizeibeamten bedrohten,
gezückten Schlagstöcken in den Hof ren- Schießbefehl zu erteilen“.
nen, fliehen die Studenten unter Prügel Starke habe, so steht es in den Stasiak-
wieder hinaus zur Krummen Straße. Oh- ten, außerdem gezürnt, „dass sich die Her-
nesorg ist als einer der letzten noch im ren Studenten bei den nächsten Krawallen
Hof. Dann will auch er zurück zum Aus- wundern werden, was ihnen blüht, die Zeit
gang, doch noch vor den parkenden Autos der weichen Welle wäre endgültig vorbei“.
erwischen ihn Polizisten und prügeln auf Kurras und Starke stehen im Moment
WOLFGANG SCHÖNE

ihn ein. des Schusses nah beieinander. Trotzdem


Eine Filmaufnahme zeigt, wie Karl- behauptet Starke später, er habe nichts ge-
Heinz Kurras ganz unbehelligt, mit ruhi- sehen. Stattdessen hört Starke angeblich
gen Schritten vom Rasen kommend über erst Minuten später, als er längst wieder
den Schotter geht, direkt auf Ohnesorg zu, Waffennarr Kurras im Schießstand, um 1960 auf der Krummen Straße steht, dass ein
seine Waffe in der Hand. Bis zu 400 Mark monatlich für Munition Schuss gefallen sein soll. Dass die Kugel

54 DER SPIEGEL 22 / 2017


JOACHIM BARFKNECHT / PICTURE-ALLIANCE/ DPA

Demonstrantin Ensslin (M.) am Berliner Flughafen Tempelhof im Juli 1967: „Sie werden uns alle umbringen – das ist die Generation von Auschwitz“

getroffen hat, will er erst am nächsten Tag Es sollte nicht der letzte Täuschungsver- Grenzen der Zumutbarkeit zurückgehal-
erfahren haben. Und der junge Mann am such bleiben. Er sei von zehn oder elf De- ten hat.“
Boden, das ganze Blut? Da habe er nur an monstranten brutal zu Boden geschlagen Ähnlich sieht es Axel Springers „Bild“-
einen Steinwurf gedacht. worden und habe Messerbewaffnete gese- Zeitung. Am 3. Juni 1967 schreibt sie über
„Kripo erschoß Student in Notwehr“, ti- hen, behauptet Kurras später in einer Ohnesorg. „Er wurde Opfer von Krawal-
telte die Springer-Zeitung „Welt am Sonn- Falschaussage. len, die politische Halbstarke inszenier-
tag“ zwei Tage später. „Erst Fußtritte, Auch die Polizei steht weiter hinter ihm. ten“. Den Demonstranten wirft der „Bild“-
dann zogen sie die Messer …“ Es war ein In einem Vermerk vom August 1967 heißt Kommentator vor: „Ihnen genügte der
Lügengeflecht. es, man wolle sich am 23. September 1967 Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen.“
Starke ist nicht der Einzige, der plötzlich mit dem Anwalt von Kurras treffen, um Und Springers „B.Z.“, das auflagenstärks-
blind und vergesslich wird. „Die haben sich mit ihm die „aufgezeichneten Tonauf- te Blatt Westberlins, meint: „Wer Terror
alle um Kurras herumgestanden, die nahmen“ des Abends anzuhören. Warum produziert, muß Härte in Kauf nehmen.“
wussten doch genau, was passiert war ein Treffen mit dem Anwalt des Beschul- Die Studenten sind fassungslos: Einer der
durch den Schuss“, erinnert sich Wolfgang digten? Und welche Aufnahme? „Liegt im ihren, der friedlich demonstriert hat, wird
Schöne – er war damals als Fotograf im Panzerschrank“, hat ein Unbekannter erschossen – und sie sollen dafür verant-
Hof dabei. handschriftlich dazu notiert. wortlich sein? „Einflußreiche Leute in die-
Im Krankenhaus Moabit, wohin Ohne- Das klingt so, als hätte die Polizei Be- ser Stadt verhindern, daß die Bevölkerung
sorg eingeliefert wurde, geht die Vertu- weismittel bei sich versteckt. Wer hat das die ganze Wahrheit erfährt“, heißt es in ei-
schung offenbar auf makabre Art weiter. entschieden? Staatsschützer Starke? Hat nem Flugblatt der Evangelischen Studen-
Noch in der Nacht wird Ohnesorg in der er die Vertuschung veranlasst – oder der tengemeinde der Freien Universität. „Die
Klinik das Haar über der Einschussstelle damalige Innensenator? Berliner Zeitungen haben es dahin gebracht,
wegrasiert, wird das Schädelstück mit dem Die Studenten sind schockiert, nicht nur daß niemand mehr den Studenten glaubt,
Einschussloch herausgebrochen, mit einer wegen des Verhaltens der Polizei. Ausge- daß die Bevölkerung sie haßt und sich freut,
Zange. rechnet der protestantische Pastor und Re- wenn sie geprügelt und durch Disziplinar-
Das belastende Schädelstück ist am gierende Bürgermeister Heinrich Albertz maßnahmen eingeschüchtert werden.“
nächsten Tag verschwunden, die Haut greift sie nach dem 2. Juni an und macht Welche Geschichte und welche Prägun-
über dem Loch zugenäht. Im Totenschein sie sogar für den Tod Ohnesorgs verant- gen die Verantwortlichen der Polizei im
steht: „Tod durch Schädelverletzung durch wortlich. „Die Geduld der Stadt ist am Fall Ohnesorg mitbringen, stellt sich erst
stumpfe Gewalteinwirkung.“ Ende“, sagt Albertz: Auf das Konto der nach und nach heraus. Geplant wurde der
Der SPIEGEL hat mit dem Arzt, der da- Demonstranten gingen auch ein Toter und Einsatz vom 2. Juni von Hans-Ulrich Wer-
mals den Totenschein ausstellte, gespro- zahlreiche Verletzte. „Ich sage ausdrück- ner, dem Kommandeur der Westberliner
chen. Er habe den Befund, sagt der Medi- lich und mit Nachdruck, dass ich das Ver- Schutzpolizei. Werner war NSDAP-Mit-
ziner heute, „nicht aufgrund eigener Fest- halten der Polizei billige und dass ich mich glied und hatte sein Handwerk im Zweiten
stellungen, sondern auf Anweisung meines durch eigenen Augenschein davon über- Weltkrieg bei der „Bandenbekämpfung“
damaligen Chefs gemacht“. zeugt habe, dass sich die Polizei bis an die in der Ukraine und in Italien gelernt. SS-
DER SPIEGEL 22 / 2017 55
Chef Heinrich Himmler hatte ihn mit dem
Eisernen Kreuz ausgezeichnet.
Der höhere Vorgesetzte von Kurras, der
Westberliner Kripochef Wolfram Sang-
meister, war – wie der SPIEGEL jetzt he-
rausgefunden hat – ebenfalls NSDAP-Ge-
nosse und außerdem SA-Mitglied. Als jun-
ger Jurist hatte Sangmeister im Krieg für
die Deutsche Umsiedlungs- und Treuhand-
gesellschaft gearbeitet, eine dem Reichs-
führer SS unterstellte Einrichtung, die in
Polen den Holocaust mitvorbereitet hatte.
Sangmeister bescheinigte Kurras, „dass er
sich völlig korrekt verhalten“ habe.
Im November 1967 begann die Haupt-
verhandlung gegen Kurras. Für Otto Schily,
später RAF-Verteidiger, Grünen-Politiker
und SPD-Innenminister, war es der erste
politische Prozess, den er als junger An-
walt bestritt. Er vertrat den Vater Benno
NEU Ohnesorgs und war fassungslos darüber,
dass Beweismittel verschwanden und ver-
Jetzt im nichtet wurden. Der Angeklagte Kurras
Handel saß wieder mit einer Dienstpistole bewaff-
net im Gerichtssaal.
Am 21. November sprach das Landge-
richt Berlin den Kripobeamten vom Vor-
wurf der fahrlässigen Tötung frei. Nach-
dem Schily Revision eingelegt hatte, kam
es zu einer Neuauflage des Prozesses. Im
Dezember 1970 sprach das Landgericht
Kurras erneut frei.
Er wäre wohl verurteilt worden, hätte
das Gericht damals gewusst, was im Mai
2009 bekannt wurde: Kurras war nicht nur
Westberliner Kriminalbeamter, sondern
auch bezahlter Informant für die Ostber-
liner Stasi. Da der manische Waffennarr
jeden Monat Munition im Wert von bis zu
400 D-Mark auf dem Schießplatz verbal-
lerte, reichte sein Polizistengehalt nicht für
das kostspielige Hobby.
Kurras wurde bei der Kripo befördert
und bezog, nachdem er 1987 pensioniert
www.spiegel-biografie.de worden war, 27 Jahre lang, bis zu seinem
Tod im Dezember 2014, seine Beamten-
pension. Einmal erklärte er dem Berliner
Journalisten Uwe Soukup noch am Tele-
fon: „Wer mich angreift, wird vernichtet.
Aus, Feierabend.“
Das macht Lukas Ohnesorg bitter. „Je-
der, der sich mit dem Fall beschäftigt hat“,
sagt er, „weiß, dass mein Vater ermordet
Weitere Themen: wurde. Ich finde es schwer erträglich, dass
die Berliner Polizei und der Senat das ver-
tuscht und bis heute nicht aufgearbeitet
Die Medienkanzlerin haben.“ Kurras gelte offiziell bis heute als
unschuldig.
Kontrolle über ihr Image Lukas Ohnesorg fände es „ein gutes
Symbol“, wenn tatsächlich in Berlin ein
Der Ehemann Platz nach seinem Vater benannt würde,
wie grüne Politiker es vorgeschlagen ha-
Professor unbekannt ben. Für ihn wäre dies allerdings nur ein
erster Schritt: „Ich bestehe auf einer Ent-
schuldigung und einer Entschädigung.“
Das Vertrauen Michael Sontheimer, Peter Wensierski
Twitter: @sontheimer, @wensierski
Freunde auf dem Prüfstand
56 DER SPIEGEL 22 / 2017
Deutschland

Teure
Bummelbahn
Verkehr Jahrelang mussten die
Bundesländer der DB Zuschläge
für Regionalzüge zahlen. Hat der
Schienenkonzern eine Milliarde
Euro zu viel kassiert?

D
ie Zugfahrt zwischen Naumburg
und Nebra in Sachsen-Anhalt ist
eine beschauliche Sache. Eine Drei-
viertelstunde zuckelt der Triebwagen der
Burgenlandbahn durch das Unstruttal. Im-

NORBERT NEETZ / EPD-BILD


mer wieder muss der Zug halten, mal
bremsen ihn marode Gleise aus, mal der
Gegenverkehr. Denn die bloß 30 Kilome-
ter lange Schienenstrecke ist eingleisig, nur
selten kann der Lokführer auf mehr als
50 Stundenkilometer beschleunigen – eine Burgenlandbahn in Sachsen-Anhalt: Tarife wie beim ICE
Zugfahrt wie vor hundert Jahren.
Dabei lässt sich die Deutsche Bahn (DB) ren keine heiße Luft mehr durch das nopolmissbrauch der DB Netz“ und emp-
als Netzbetreiber den Verkehr auf der Land“, sagte er. fahl ihren Mitgliedern, „die entstehenden
Langsamfahrstrecke vom Land teuer be- Dabei ist der Regionalverkehr eine si- Kosten aus Regionalfaktoren … nicht zu
zahlen. Jahrelang musste die Burgenland- chere Einnahmequelle für die Deutsche übernehmen und im Streitfalle Kartellamt
bahn pro gefahrenen Kilometer sogar einen Bahn. Allein in diesem Jahr zahlt der Bund und Preisbehörden einzuschalten“.
höheren Tarif bezahlen als ein ICE auf den Ländern 8,2 Milliarden Euro an Re- Die Bahn zeigte sich unbeeindruckt.
der Hochgeschwindigkeitsverbindung Han- gionalisierungsmitteln, mit denen die Län- Auch als die Bundesnetzagentur begann,
nover–Fulda. der wiederum zum Teil die DB entlohnen. die Rechtmäßigkeit der Sonderzuschläge
Sachsen-Anhalt hat mehrere solcher Lange Zeit war die Bahn in diesem Ge- zu überprüfen, hielt der Konzern an der
Strecken, die die Bahn verrotten ließ und schäft quasi Monopolist. Und so verhielt Praxis fest. Im März 2010 verbot die Wett-
am liebsten schließen wollte. Dass hier sie sich auch: Auf wenig attraktiven Stre- bewerbskontrollbehörde schließlich der
trotzdem noch Züge fahren, ließ sich die cken wurden jahrzehntealte Waggons und Bahn, die Regionalfaktoren zu erheben.
DB fast ein Jahrzehnt lang durch überzo- Lokomotiven eingesetzt. Schienen repa- Sie verstießen gegen „Vorschriften des
gene Rechnungen vergüten. Wohl zu Un- rierte die Bahn nur notdürftig, Stellwerke Eisenbahngesetzes über den Zugang zur
recht: Das Land fühlt sich von der Bahn stammen mitunter noch aus der Kaiserzeit. Eisenbahninfrastruktur“, heißt es in ihrem
geprellt und fordert nun 150 Millionen Wettbewerber wollen beweisen, dass Bescheid. Besonders missfiel den Kontrol-
Euro zurück, plus Zinsen für zehn Jahre – sich auch auf Nebenstrecken Fahrgäste fin- leuren, dass die DB „bislang keine Koope-
insgesamt gut 240 Millionen Euro. den. So ist es schließlich von den Ländern rationsbereitschaft erkennen“ ließ, obwohl
In den nächsten Wochen will das Land- gewünscht. Immer öfter hat die DB des- „zur Rechtswidrigkeit führende Aspekte“
gericht Frankfurt am Main über eine Klage halb Aufträge an private Konkurrenten dem Konzern „lange bekannt“ waren.
Sachsen-Anhalts urteilen. Wenn das Land verloren. Ihr Provinzgeschäft schrumpfte. Seither verzichtet die Bahn auf ihre Son-
gewinnt, könnte die Bahn mit Forderungen Deshalb hat sich die Bahn ihren Regio- derzuschläge. Die bisher von den Ländern
weiterer Bundesländer rechnen, die eben- nalfaktor ausgedacht, jenes umstrittene gezahlten Gelder wollte sie aber nicht
falls betroffen sind. Bundesweit steht für Preissystem, das nun in der Klage Sachsen- zurückerstatten.
die DB offenbar ein Betrag von weit über Anhalts verhandelt wird. Schließlich entschied sich Sachsen-An-
einer Milliarde Euro auf dem Spiel. Son- Wollten Bundesländer mit DB-Wettbe- halt, die Gelder einzuklagen, inklusive Zin-
derzahlungen in dieser Höhe hatten Län- werbern Strecken weiter befahren, die bei sen. Doch auch danach reagierte der Kon-
der an die DB geleistet. der Bahn als unrentabel galten, mussten zern nicht. Die DB will sich zu dem Rechts-
DB-Chef Richard Lutz muss sich nun sie überhöhte Trassengelder zahlen. Hatte streit nicht äußern. Ein Sprecher betont
mit einer Altlast herumschlagen, die sein die Konzerntochter DB Netz bisher auf aber, die Bahn habe „rechtens“ gehandelt
Vorvorgänger Hartmut Mehdorn hinterlas- einzelnen Strecken fünf Euro pro Zug- und die Länder nicht geschädigt.
sen hat. Der hatte Regionalzüge vor allem kilometer berechnet, konnten es nun für Doch als das Landgericht Frankfurt den
als lästiges Übel empfunden. Es war die wenig befahrene Strecken neun Euro sein. Prozess ansetzte, signalisierte die Bahn
Zeit der neoliberalen Bahn-Visionen. Meh- Wie sich diese Regionalfaktoren errechne- plötzlich Gesprächsbereitschaft. Man kön-
dorn wollte mit dem Staatskonzern an die ten, entschied die DB weitgehend nach Be- ne über einen Vergleich reden, ließen DB-
Börse, er träumte von Hochgeschwindig- lieben. Die Bundesarbeitsgemeinschaft des Anwälte das Land wissen. Allerdings nur,
keitszügen, die Berlin mit Moskau ver- Schienenpersonennahverkehrs, ein Zusam- wenn Sachsen-Anhalt vorerst nicht weiter-
binden. Schwach ausgelastete Zugverbin- menschluss der Besteller in Ländern und prozessiere.
dungen in der deutschen Provinz wollte Regionalverbünden, reagierte empört. Be- Dazu war das Land nun nicht mehr
er am liebsten komplett kappen. „Wir fah- reits vor Jahren warnte sie vor einem „Mo- bereit. Andreas Wassermann

DER SPIEGEL 22 / 2017 57


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von acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Q U E L L E : W E LT BA N K
430 Milliarden sind es 2016
Früher war alles schlechter
350
Nº 74: Geldüberweisungen von Migranten
200

50 70
10 Milliarden Dollar
verschickten Migranten
1990 global in ihre 1995 2000
Herkunftsländer

2005

2010

zum Vergleich:
2016
weltweite Entwicklungshilfe 140 Milliarden
100 120
50 Milliarden Dollar 50 50

Dreimal so viel wie Entwicklungshilfe. Ein Mann aus Bangladesch samte offizielle Entwicklungshilfe aller OECD-Staaten dieses
arbeitet auf einer Baustelle in Dubai und schickt jede Woche Jahres (rund 140 Milliarden). Das Volumen solcher Remissen
etwas Geld nach Hause, damit seine Tochter die Ausbildung ist zudem seit der Jahrtausendwende, als nur rund 70 Milliarden
zur Krankenschwester machen kann. Mit dem Geld, das ihm Dollar verschickt worden waren, enorm gewachsen, wie die
sein Sohn aus Deutschland sendet, hat ein Vater in Ghana ein Grafik zeigt. Es könnte noch einiges mehr sein, wenn die Ge-
kleines Taxiunternehmen gegründet. Geldüberweisungen von bühren von involvierten Dienstleistern wie Western Union
Migranten in ihre Heimatländer, sogenannte Remissen, sind oder MoneyGram nicht so hoch wären: Mehr als sieben Pro-
der Treibstoff von Millionen kleinen Karrieren. Addiert man zent gehen dem Absender im Schnitt bei Remissen verloren.
die vielen bescheidenen Geldflüsse, so summierten sie sich Doch auch für dieses Problem gibt es inzwischen eine App,
2016 laut Zahlen der Weltbank zu einem globalen Strom von „Wave – Send Money to Africa“, die bereits für etliche Länder
575 Milliarden Dollar, wovon der Großteil, rund 430 Milliarden, funktioniert. Ihre Nutzer können Beträge von Mobil- zu Mobil-
in Entwicklungsländer floss. Das ist dreimal so viel wie die ge- telefon schicken – gebührenfrei. guido.mingels@spiegel.de

Schönheitsideale Minckwitz: Nein. Das Ganze Minckwitz: Das finde ich gut. Minckwitz: Wenn meine Mo-
Brauchen Models ist ein Witz! Die Mädchen So kann man sehen, dass der dels in Paris arbeiten, brau-
brauchen alle zwei Jahre eine makellose Po in Wirklichkeit chen sie in Zukunft ein Attest.
Gesundheitspässe, neue Bescheinigung. Sie wer- retuschiert ist. Der normale deutsche Kunde
Frau von Minckwitz? den sich ein bisschen was an- SPIEGEL: Warum hält sich die bucht aber sowieso eher Grö-
futtern, gehen zum Arzt, las- Vorliebe für abgemagerte ße 34/36, der mag Size Zero
Louisa von Minckwitz, Agentin sen sich ihren Body- Mädchen denn so nicht. So ein Mädchen bekä-
und früher selbst Model, Mass-Index-Wert be- hartnäckig, dass es me ich sofort zurückgeschickt.
über wirkungslose Gesetze scheinigen. Das ma- ein Gesetz braucht? Für mich ändert sich nicht
chen sie im Mai. Im Minckwitz: Der Fisch viel. Aber Paris als Modestadt
SPIEGEL: Die 12. Staffel von September sind die stinkt vom Kopf her. wird leiden.
„Germany’s Next Topmodel“ Fashion Weeks. Bis Schauen Sie sich SPIEGEL: Wie?
ist vorbei, die Kandidatinnen dahin haben sie ge- Anna Wintour an, Minckwitz: Ein Modehaus wie
THIBAULT CAMUS / PICTURE ALLIANCE / AP

waren wieder unwirklich nug Zeit, sich wieder Chefredakteurin der Chanel wird vielleicht sagen:
schlank. In Frankreich müssen runterzuhungern. „Vogue“, Ikone der Na gut, dann machen wir
Models nun eine ärztliche Be- Das ist gesundheit- Branche. Sie hat doch die große Show in
scheinigung vorweisen, die be- lich viel gefährlicher. Ärmchen, die dün- Zukunft in New York statt in
legt, dass sie nicht untergewich- SPIEGEL: Bald müssen ner sind als die vie- Paris und buchen die Models
tig sind. Bei Missachtung dro- Fotos gekennzeichnet ler Models. da. Da gibt es keinen vorge-
hen Auftraggebern Bußgelder werden, wenn sie SPIEGEL: Was be- schriebenen Body-Mass-In-
bis zu 75 000 Euro oder Haft. retuschiert worden deutet das Gesetz dex. Und dann geht der fran-
Das Ende der Magermodels? sind. Model in Paris für Sie? zösische Staat leer aus. dia

60 DER SPIEGEL 22 / 2017


Gesellschaft
entfernt. Zwischen diesem Raum und der Werkstatt lag
Homeoffice ein Kontrollpunkt, ausgestattet mit einem Wärter sowie
einem Metalldetektor, wie er auch an Flughäfen verwen-
det wird.
Eine Meldung und ihre Geschichte Wie es ein Johnston löste das Problem auf elegante Weise. Er sorg-
te dafür, dass er für den sogenannten Hygienedienst ein-
Häftling schaffte, heimlich einen Com- geteilt wurde. Kurze Zeit später schob er einen metallenen
puter zu bauen und im Internet zu surfen Wagen voller Zahnpasta, Deo, Shampoo durch die Gänge
des Gefängnisses, vorbei an Wärtern und Metalldetekto-

A
dam Johnston ist ein Mörder. Er ist 36 Jahre alt, ren. In Kisten, die immer auf dem Wagen standen, lagen
und fast die Hälfte seines Lebens hat er im Knast versteckt die Computer.
verbracht. Er war lange Zeit einer von gut 2000 Im Unterrichtsraum konnte Johnston die Geräte auf
Insassen des Gefängnisses von Marion im Bundesstaat zwei Holzbretter schrauben, weil sich auch hier selten
Ohio, und offensichtlich hat er sich dort ganz ordentlich Wärter aufhalten. Er versteckte sie hinter der Deckenver-
benommen. Jedenfalls sollten die Mitglieder eines Bewäh- kleidung des Raums und zog dann ein Kabel von den bei-
rungsausschusses demnächst darüber beraten, ob Johnston den Computern zum nächstgelegenen digitalen Verteiler,
ein Teil seiner Haftstrafe erlassen werden könne. Es wäre der die Rechner mit dem Internet verband.
ein wichtiger Tag im Leben von Die technische Infrastruk-
Adam Johnston geworden. tur stand also, jetzt brauchte
Aber diesen Tag wird es wahr- Johnston noch Pass- und
scheinlich nicht mehr geben. Kennwort eines Wärters.
Er hat einen Fehler ge- Johnston, so sagte er es selbst
macht, obwohl man sagen während seiner Vernehmung,
muss, dass er perfekt gearbei- besorgte sich die Zugangs-
tet hat. berechtigung durch „shoulder
Johnstons Geschichte be- surfing“. Er stellte sich ein-
ginnt im Frühjahr 2015, er ist fach hinter einen Wärter, als
zu dieser Zeit in der Recyc- der sich ins Netzwerk ein-
lingwerkstatt des Gefängnis- loggte.
ses eingesetzt, als eine Art Nun war alles bereit.
Vorarbeiter. Selbst gebauter Computer in US-Gefängnis Wann immer Johnston die
Die Arbeit in der Werkstatt Möglichkeit hatte, nutzte er
besteht hauptsächlich daraus, die Computer unter der De-
Computer zu zerlegen. Sie ckenverkleidung und suchte
werden auf Paletten geliefert, im Gefängnisnetzwerk und
die Häftlinge schrauben die im Internet nach Informatio-
Gehäuse auseinander, sortie- nen, die ihm nützlich waren.
ren Festplatten, Grafikkarten, Ein umfangreicher Report,
Platinen. Was als Computer vor Kurzem von der zustän-
reinkam, geht in Einzelteilen digen Aufsichtsbehörde ver-
wieder raus. öffentlicht, zählt auf, wofür
Johnston bemerkt schnell, Von der Website Lessentiel.lu sich Johnston interessierte: Er
dass nicht genau Buch darü- lud einen digitalen Werkzeug-
ber geführt wird, wie viele Computer die Werkstatt er- kasten für kriminelle Hacker aus dem Netz, er manipu-
reichen, wie viele Einzelteile sie verlassen. Er sieht Lücken lierte das Zugangssystem innerhalb des Gefängnisses,
im System, und darin erkennt er eine Chance für sich. stahl die Identität eines Häftlings, beantragte im Namen
Johnston versteht eine Menge von der Welt der Com- dieses Häftlings fünf Kreditkarten und sorgte dafür, dass
puter. Er kann die Geräte nicht nur auseinanderschrauben, die gesamte Post des Häftlings an einen Bekannten seiner
er kann sie auch wieder so zusammensetzen, dass daraus Mutter ausgeliefert wurde. Es war Johnstons Plan, illegale
ein funktionstüchtiger Computer wird. Einer, den man Steuerrückzahlungen auf diese Kreditkarten buchen zu
ans Internet anschließen kann; einer, mit dem man sich, lassen.
mit etwas Glück, in passwortgeschützte Netzwerke hacken Eine Gebrauchsanweisung für diesen Betrug hatte er
kann. Johnstons Gedanke war: Wenn ihm so etwas beim in einem Artikel des Wirtschaftsdienstes Bloomberg ge-
Gefängnisnetzwerk gelingen sollte, dann könnte er seinen funden, den die Ermittler, neben Pornos und Spielfilmen,
Mithäftlingen Dienstleistungen anbieten. Er könnte den ebenfalls auf den Festplatten der Computer gefunden
Kollegen das Leben angenehmer machen und sich selbst hatten.
natürlich auch, weil es im Knast für Dienstleistungen Geld Aufgeflogen war Johnston, weil er nicht wusste, dass
oder Gefälligkeiten gibt. eine Sicherheitsfirma im Auftrag des Gefängnisses den
Es war einfach, all jene Teile zur Seite zu schaffen, die Internetverkehr überwachte. Ein Programm der Firma
nötig waren, um Computer zu bauen. Die Häftlinge ar- schlug Alarm, als Johnston ausdauernd versuchte, Seiten
beiteten in der Recyclingwerkstatt oft allein, kein Wärter im Netz zu erreichen, die von den Administratoren des
sah ihnen dabei zu. Gefängnisnetzwerks aus Sicherheitsgründen blockiert
Schwieriger war es schon, die Computer in die Nähe ei- worden waren.
nes Internetanschlusses zu schaffen. Ein Unterrichtsraum, Adam Johnston ist inzwischen in ein anderes Gefängnis
in dem es einen Netzanschluss gab, befand sich auf der verlegt worden, nach Lebanon, Ohio. Man sucht dort noch
anderen Seite des Gefängniskomplexes, gut 300 Meter nach einer passenden Arbeit für ihn. Uwe Buse

DER SPIEGEL 22 / 2017 61


SVEN DOERING / DER SPIEGEL

Aktivistin Schmitz in Halle

62 DER SPIEGEL 22 / 2017


Gesellschaft

Die unheimliche Frau Schmitz


Verführung Sie posiert auf Instagram in kurzem Rock und wird vom Verfassungsschutz
observiert: Melanie Schmitz ist das Postergirl der „Identitären Bewegung“, einer rechten
Nachwuchsorganisation. Wer ist diese Frau? Und wie gefährlich ist sie? Von Takis Würger

I
n einem unauffälligen Gebäude des Ver- zen – sichere Zukunft“ stand. Es sah für bung. Schmitz lächelt, als sie das singt. Es
fassungsschutzes, in einer stillen Straße einen Moment so aus, als hätten sie ist die perfekte Verführung.
Magdeburgs, am Ende eines Gangs, der Deutschland übernommen. Wer ist diese Frau?
mit geräuschschluckendem Gummi ausge- Melanie Schmitz ist die starke Frau die- Sie empfängt zum Gespräch in der Woh-
legt ist, befindet sich eine Akte über eine ser Leute, das Postergirl der Rechten. nung ihres Freundes. Sie hat Apfelspalten
junge Frau aus Halle. Im Frühjahr erschienen in der österrei- geschnitten, auf den Tisch gestellt und Ro-
Name: Melanie Schmitz. chischen Zeitschrift „Info-Direkt“ drei Sei- sinen darübergestreuselt. Im Hintergrund
Alter: 24 Jahre. ten über sie unter der Überschrift „Aus läuft Singer-Songwriter-Musik. Im Bade-
Beruf: Studentin der Kommunikations- Liebe zum Land“. „Info-Direkt“ gilt als zimmer liegt ein Stapel Magazine, eines
wissenschaften. rechtsextrem. Neben dem Text war ein davon ist die „Sezession“, ein Magazin der
Verdacht: rechtsextrem. Foto zu sehen, auf dem Frau Schmitz ein deutschen Rechten. Im Stapel liegt auch
Melanie Schmitz betreibt auf dem Foto- sehr kurzes Kleid trägt und auf der Schul- ein Sonderheft der „Zeit“ mit dem Titel
portal Instagram einen Account, dort ter ein Baseballschläger aufliegt. „Europas Weg in den Faschismus“.
nennt sie sich „rebellanie“ und postet Fo- In den sozialen Netzwerken publiziert Schmitz sagt, sie sei auf die Identitären
tos von Avocados und von sich im T-Shirt sie nicht nur Bilder von Gemüse. Ab und aufmerksam geworden, als sie ein Video
mit Leopardenmuster. Bei YouTube be- zu schreibt sie auch, was sie über die Welt sah, das vor vier Jahren von der „Généra-
stückt sie einen Kanal unter dem Namen denkt, vor allem über den hellhäutigen, tion Identitaire“, den französischen Iden-
„MademoiselleEnvie“, in ihren Videos europäischen Teil der Welt: „Wie viele An- titären, ins Internet geladen worden war
spielt sie Gitarre und singt. Auf Facebook schläge müssen noch verübt werden. Wie und das „déclaration de guerre“ heißt,
ist ein Foto, das Schmitz mit verschränkten viele Menschen noch sterben, bevor end- Kriegserklärung. Das Video zeigt Nahauf-
Armen zeigt, darunter steht: „Melanie, 24, lich umgedacht wird. Das alles ist kein nahmen von verschiedenen gut aussehen-
kämpft für unser Recht auf Identität.“ Naturgesetz, was wir einfach hinnehmen den, jungen Franzosen.
Recht auf Identität. Das klingt harmlos, müssen. Holen wir unser Land zurück. Sie sagen unter anderem folgende Sätze:
jedenfalls nicht nach rechtsextrem. #glückauf“ „Wir haben aufgehört, an ein globales Dorf
Melanie Schmitz gehört zu einer Grup- Oder: „Die europäischen Regierungen zu glauben und daran, dass die Menschheit
pe, die sich „Identitäre Bewegung“ nennt. müssen mehr Stärke beweisen: der Wille eine Familie ist. Täuscht euch nicht: Dieser
Deshalb beobachtet sie der Verfassungs- eine Nation zu sein, die bejahung der Ei- Text ist kein einfaches Manifest, er ist eine
schutz. Die Gruppe benimmt sich anders genen Kultur und die konsequente Ab- Kriegserklärung.“
als alles, was Deutschland an rechtsextre- wehr von allem, was ihr schadet – also Schmitz sagt, sie habe das gesehen und
men Gruppen kannte. Schmitz und ihre auch die Ablehnung islamistischen Ge- sich erlöst gefühlt, „weil da jemand endlich
Freunde tragen keine Springerstiefel, sie dankgenguts oder zumindest ein gnaden- diese ganzen Gefühle, die ich hatte, auf
distanzieren sich vom Nationalsozialismus, loseres Durchgreifen bei Radikalisieriung.“ den Punkt gebracht hat“. Schmitz fand die
sie sind keine Antisemiten, sie sprechen In einem ihrer Videos singt sie ein Lied deutsche Internetseite der Identitären und
sich gegen Gewalt aus, viele haben studiert. über die Vorteile des Abschiebens. Darin schrieb eine E-Mail mit den Worten: „Hal-
Ihr Vorbild, sagen sie, sei Greenpeace. gibt es den Satz: „Wähl die AfD“. Bisher lo, kann ich aktiv werden?“
Götz Kubitschek, der rechte Verleger schauten knapp 400 000 Menschen dieses Schmitz kommt aus Essen, Stadtteil Bor-
und Kopf hinter der Bewegung, nennt sie Video. Vierhunderttausend ist eine Zahl beck. Als sie drei Jahre alt war, zog sie
die „Speerspitze der neuen Rechten“. für alle, die glauben, man könne solche mit ihren Eltern nach Kalifornien. Der Va-
In Halle, wo Schmitz lebt, mauerten un- Leute ignorieren, weil sie dem breiten Pu- ter handelte dort mit Autos. Mit sieben
bekannte Identitäre ein Wahllokal zu, in blikum unbekannt sind. kam sie zurück nach Essen. Sie ging auf
dem Zuwanderern das Prinzip der deut- Das Video ist gut gemacht. Schmitz ein Mädchengymnasium. Sie hatte Kon-
schen Demokratie nähergebracht werden kann nicht singen, aber man merkt, dass takt zu den Kindern von Migranten.
sollte. Die Jugendorganisation der AfD ar- es ihr Spaß macht. Sie trägt dezente Ohr- Schmitz verstand sich mit ihnen. Ihre Kind-
beitet mit den Identitären zusammen. Als ringe und roten Lippenstift. Sie ist schlank, heit klingt nach Normalität. Man kann lan-
Xavier Naidoo jüngst in den Verdacht ge- hat hohe Wangenknochen und herbstrot ge darin graben und findet nichts, das eine
riet, sich in einem Lied der Sprache der gefärbte Haare. Man schaut sie an und ist Erklärung liefern würde, warum Normali-
Rechtspopulisten zu bedienen, schrieben hypnotisiert von der Inszenierung dieser tät für Melanie Schmitz zu wenig war.
die Identitären auf ihrer Facebook-Seite: Frau. Den Text nimmt man eher unbe- In der fünften Klasse band sie sich eine
„Naidoo könnte ein weiterer Indikator für wusst wahr. Zum Beispiel diese Zeile hier: Krawatte um und trug einen Schottenrock,
unsere Seinsfrage im 21. Jahrhundert sein!“ „Gegen diese Invasion hilft nur eins: Re- später gefiel ihr Heavy Metal, und sie trug
Identitäre störten Theateraufführungen, migration.“ Remigration bedeutet Abschie- Jeans, Leder und Nieten. Sie war Punk,
sprengten Diskussionen und blockierten Goth, Metaller, sie spielte mit neuen Iden-
die Parteizentrale der CDU in Berlin. Iden- Video: Die Inszenierung titäten. Und dabei landete sie irgendwann
titäre kletterten im vergangenen August der „Identitären“ bei der Identitären Bewegung.
aufs Brandenburger Tor und entrollten spiegel.de/sp222017identitaere
Sie zog nach Halle, machte eine Ausbil-
dort ein Plakat, auf dem „Sichere Gren- oder in der App DER SPIEGEL dung zur Grafikdesignerin und begann,

DER SPIEGEL 22 / 2017 63


Gesellschaft

Kommunikationswissenschaften zu studie- im Internet bis zu Ende ansieht, dann wird wird später noch die Rede sein. Sie neh-
ren. Schmitz bemerkte in dieser Zeit, wie klar, warum man sie ernst nehmen sollte. men das Pfefferspray, sagen Danke und
gut Verbindungsstudenten aussehen. Sie Weil es genug Menschen gibt, die sich von stecken dann einen Zettel ein, auf dem
wollte auch ein buntes Band tragen, aber Melanie Schmitz verführen lassen und ihre steht: „Unser Appell an Dich ist: Unterwirf
kaum ein Korps nimmt Frauen auf. Gedanken weiterdenken. Dich nicht. Wehr Dich, es ist Dein Land!“
Schmitz gründete eine Damenverbindung, „meisterpropaganda“ schreibt: „Es gibt Die Botschaften von Schmitz und den
die „Atrytone Assindia“, ihr Band war etliche Videos aus England wo Muslime Identitären sind wie der Pfiff mit einer
blau-weiß-schwarz. „Das war für mich der lautstark marschieren. Wie eine Herde un- Hundepfeife. Für viele ist dieser Pfiff ge-
erste politische Aktivismus, ich wollte ge- kontrollierter Tiere mit Tollwut.“ räuschlos, weil er auf Frequenzen schwingt,
wagte politische Statements setzen. Ehre „b.anderson83“ schreibt: „Total hirnver- die ihnen verborgen bleiben, er bewirkt
und Stolz haben mich fasziniert.“ brannt 2,5-4mio Moslems ins Land zu ho- nichts. Aber manche hören den Pfiff, weil
Schmitz redet zwei Stunden lang. Ihre len wenn’de noch nichtmals die Türken in- sie besonders sensibel für solche Frequen-
Bedingung für ein Gespräch mit dem tegrieren kannst, in dritter Generation.“ zen sind, weil sie schlechte Erfahrungen
SPIEGEL war, dass sie ihre Zitate autori- „europa_erwache“ schreibt: „Wer mit Ausländern gemacht haben, weil sie
sieren darf. Vieles von dem, was sie in dem kommt denn aus besagten arabischen und Feindbilder brauchen. Die Verführung
Gespräch sagt, streicht sie später wieder, afrikanischen Ländern zu uns? Kriminelle, funktioniert nicht dadurch, dass alle einer
wahrscheinlich, weil es ihr zu eindeutig ist, geistig Gestörte, Nichtsnutze ... Kurz um Frau folgen, die sagt, wo es langgeht. Sie
zu rechts, vielleicht zu rassistisch. Was sie der Abschaum.“ funktioniert dadurch, dass das Unsagbare
freigibt, klingt so: „Das allererste und größ- „koenigstochter_4S“ schreibt: „Ich kauf wieder sagbar wird. Wörter wie „Ab-
te Ziel ist es, die Illegalen abzuschieben. morgen auch für meine Schwester und mei- schaum“. Sätze wie: „Alle kulturfremden
Danach kommen für mich, der Logik nach, ne Mutter Pfefferspray und mache nen klei- Einwanderer müssen weg.“
die Leute, die hier seit kurzer Zeit sind nen Waffenschein.“ Anfang des Jahres machen Melanie
und eine Aufenthaltsgenehmigung haben. Dass anonyme Leute ihren Hass ins In- Schmitz und ihre Freunde von den Identi-
Und dann gibt es natürlich die Leute, wo ternet kippen, ist das eine. Vielleicht wäre tären einen Ausflug nach Paris, um Europa
ich mir noch kein Bild gemacht habe, die das alles zu ertragen, wenn Melanie zu verteidigen. Die Identitären sind eine
hier seit 20 Jahren leben.“ Schmitz in ihrer Wohnung bliebe und dort europäische Bewegung, das sollte man mit-
Oder es klingt so: „Schon vor der Asyl- von ihren dunklen Visionen spräche und denken beim Versuch, sie zu verstehen.
krise wurden Leute ins Land gelassen, die ab und zu eine Botschaft ins Internet sen- Sie sind keine Nationalisten.
hier nicht sein müssten. Das fing in den dete. Aber dabei bleibt es nicht. Der Anlass für die Reise ist ein Marsch
Sechzigerjahren an. Wenn sich diese Ein- An einem kalten Februartag nimmt sie der französischen Identitären zu Ehren der
wanderer auch in der dritten Generation einen Karton mit 25 Dosen Pfefferspray Pariser Schutzpatronin Genoveva. Diese
nicht integrieren können, müssen sie wie- und läuft auf den Marktplatz in Halle. Frau ist seit 1500 Jahren tot und wird unter
der gehen. Ganz selbstverständlich.“ „Entschuldigung, wir verschenken Pfef- anderem dafür verehrt, Paris vor den Hun-
Oder so: „Natürlich gibt es Einzelschick- ferspray an Frauen, wollen Sie eins?“ nen bewahrt und nur zweimal in der Wo-
sale, die mir leidtun. Aber neben dem Mit- Eine Frau sagt: „Ich hab schon eins, aber che gegessen zu haben.
leid gibt es auch die Vernunft. Ich denke, warum nicht?“ Eine Gruppe von vielleicht 300 jungen
um unser Volk, unsere Identität und unse- Eine andere sagt: „Danke.“ Menschen marschiert an der Seine entlang
re Lebensart zu bewahren, brauchen wir Eine dritte sagt: „Kann man immer ge- und dann durch ein paar Stadtviertel.
eine Remigration, eine Rückkehr der kul- brauchen.“ Schmitz singt: „Paris Paris Paris c’est nous“
turfremden Einwanderer in ihre Heimat- Als eine weitere Frau fragt, was das soll, (Paris, das sind wir) und „Daesh on t’en-
länder. Kulturfremd, das heißt im Zweifel sagt Schmitz: „Wir wollen, dass Frauen cule“ (etwa: Islamischer Staat, wir ficken
nicht europäisch und nicht integrierbar.“ sich ein bisschen sicherer fühlen, wegen euch in den Hintern).
Melanie Schmitz sagt, ihr Ziel sei es, der sexuellen Übergriffe von Migranten.“ Später gibt es gratis Glühwein, aber
dass es Deutschland als „Identitätsgemein- Nach ein paar Minuten ist der Karton Schmitz trinkt nichts. Ihr Freund sagt: „Wir
schaft“ noch in 100 Jahren geben kann. in Schmitz’ Händen leer. haben eine Aufgabe zu erledigen, ist ja bei
Sie wolle die deutsche Kultur schützen. Keiner der Leute, die eine Dose Pfeffer- Sportlern auch nicht anders, bei uns ist
Welche deutsche Kultur meint sie? Die spray angenommen haben, sieht, dass an das weit verbreitet, nichts zu trinken.“
Kultur Neuköllns im Jahr 2017? Die Kultur den Zugängen des Marktplatzes Melanies Einer der Franzosen, der beim Marsch
der Studentenproteste von 1968? Die Kul- Freunde stehen und aufpassen, falls die Bengalos schwenkte, sieht aus wie ein
tur der Antisemiten von 1938? Die Kultur Polizei oder Schläger der Antifa auftau- Mongole. Er ist der einzige Asiate auf die-
der ersten Kreuzzüge von 1096? chen sollten. Keine der Frauen weiß, dass sem Marsch.
Das Wort „Kultur“ bedeutet dem Wort- der junge, lächelnde rothaarige Mann ne- Darf ein Mongole zu den Identitären ge-
sinn nach „Bearbeitung“. Kultur bewegt ben dieser jungen Frau wegen gefährlicher hören und dabei helfen, Europa vor Über-
sich, wächst, schrumpft, stirbt, erneuert Körperverletzung vorbestraft ist, von ihm fremdung zu schützen?
sich. Aber das ist nicht das Kulturverständ- „Eigentlich nicht“, sagt Schmitz. „Aber
nis von Melanie Schmitz. ist natürlich eine Einzelfallentscheidung.“
Wenn man im Kopf das Deutschland Nach dem Marsch besichtigt Schmitz die
Wirklichkeit werden lässt, das sie sich Kathedrale Notre-Dame. Diese Kirche sei
wünscht, entsteht das Bild eines geister- für sie ein besonderer Ort, weil sich im
haften Landes. Alle kulturfremden Ein-
wanderer würden verschwinden. Fatih
„Unser Appell ist: Jahr 2013 vor dem Altar Dominique Ven-
ner das Leben genommen hat, und diesem
Akin, Elyas M’Barek, Mesut Özil, Sibel
Kekilli, Akif Pirinçci, Cem Özdemir, sie
Unterwirf Dich Mann fühle sie sich verbunden, sagt sie.
Venner, Jahrgang 1935, war ein bekannter
alle wären weg. Deutschland wäre ein nicht. Wehr Dich, es rechtsradikaler Aktivist.
Bevor er sich in den Kopf schoss, legte
Kartoffelland.
Melanie Schmitz formuliert fragwürdige ist Dein Land!“ Venner einen Brief vor den Altar. Der
Ideen, aber wenn man sich ihre Beiträge Brief beginnt mit den Worten: „Ich liebe

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SVEN DOERING / DER SPIEGEL
Identitären-Mitglied Schmitz: Deutschland ein Kartoffelland

das Leben und erwarte nichts jenseits von Linksradikalen geprügelt und dabei mit form. Es zeigt Albert Leo Schlageter, der
ihm, es sei denn das Fortleben meiner Ras- einer Socke zugeschlagen, die er vorher in den 1920er-Jahren verschiedenen Frei-
se und meines Geistes.“ mit Schrauben gefüllt hatte. Müller sagt, korps angehörte und Mitglied der NSDAP-
Schmitz spricht nicht von Rassen, son- die anderen hätten angefangen. Tarnorganisation Großdeutsche Arbeiter-
dern von Kulturen. Vor allem von deren Im Internet gibt es Seiten von Linksra- partei war. Während der Besetzung des
Bedrohung. Und deutscher Kulturfeind dikalen, die auflisten, was Mario Müller Ruhrgebiets führte er eine Gruppe von Sa-
Nummer eins ist für sie der Islam. in der Vergangenheit getan hat, einiges da- boteuren an. Die Nationalsozialisten mach-
Im grünen Ledersessel in Halle sagt sie: von stimmt, zum Beispiel, dass gegen ihn ten Schlageter später zu einer ihrer Ikonen
„Den Islam würde ich in zwei Kategorien Verfahren wegen Widerstands gegen Voll- und nannten ihn den „ersten Soldaten des
einteilen, einmal in den politischen Islam streckungsbeamte und versuchte Gefange- Dritten Reiches“. Müller sagt, Schlageter
und dann in die ganz normale religiöse nenbefreiung liefen. Anderes ist erfunden, sei eines seiner Vorbilder.
Gemeinschaft. Ich finde, dass beides nicht darunter die Behauptung, dass er in einem Der Verfassungsschutz hat über Müller
nach Europa gehört. Der politische Islam Wald lebte. Müller sagt, er habe nie im eine Akte angelegt, weil die Beamten ihn
gehört wahrscheinlich nirgendwo hin.“ Wald gewohnt, aber er sei mal das gewe- für gefährlich halten. In Sachsen-Anhalt
Sie redet und redet, und irgendwann sen, was man einen Nazi nennen dürfe. Er beobachtet der Verfassungsschutz die
tritt hinter ihren Worte eine Frage hervor, spricht von einer „Jugendsünde“. Identitären seit dem vergangenen Septem-
die nicht zur Leichtigkeit der schönen Bil- Es gibt mehrere Männer bei den Identi- ber. In einer Presseerklärung der Behörde
der passt, die es von ihr gibt: Wie gefähr- tären, die früher Neonazis waren und sich stand, es lägen Anhaltspunkte vor, „... dass
lich ist diese Frau? heute davon distanzieren: Der Pressespre- sich die ,Identitäre Bewegung‘ in Sachsen-
Die Tür geht auf, und ein junger Mann cher Daniel Fiß war bei den Jungen Natio- Anhalt gegen die freiheitlich demokrati-
mit elegant pomadisierten roten Haaren naldemokraten, ein weiterer Aktivist aus sche Grundordnung richtet“.
und vielen Tattoos betritt den Raum, es Halle, Dorian Schubert, ebenfalls. Martin Der Chef des sachsen-anhaltischen Ver-
ist Schmitz’ Freund, Mario Müller, der Sellner, ein Anführer der Identitären aus fassungsschutzes Jochen Hollmann sieht
Gründer der Identitären in Halle. Er ar- Wien, gehörte zum Umfeld des österrei- aus, wie man sich einen Verfassungsschüt-
beitet an diesem Tag am Küchentisch im chischen Neonazis Gottfried Küssel. zer vorstellt, man vergisst sein Gesicht in
Nachbarzimmer, er schreibt gerade ein Man könnte mit Blick auf Mario Müller der Sekunde, in der man sein Büro ver-
Buch über die Identitären. und seine Freunde die Frage stellen, was lässt.
Müller, 28, war in der Vergangenheit bei es über einen Menschen aussagt, wenn er Hollmann hat sich die Videos ange-
den rechtsextremem Autonomen Nationa- aktiv war in einer Partei, die auf ihre Pla- schaut, die Schmitz ins Internet stellt. „Frü-
listen aktiv und Mitglied bei den Jungen kate „Ausländer raus“ schreibt und „Gas her haben wir eine Schublade aufgezogen,
Nationaldemokraten, der Jugendorganisa- geben“. Kann so ein Mann harmlos sein? da waren die Rechtsextremen drin. Heute
tion der NPD. Vor Kurzem endete seine Kann er integrierbar sein? gibt es mehr Schubladen“, sagt er.
Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Kör- An Müllers Kleiderschrank hängt ein Hollmann nennt die Gruppe um Frau
perverletzung. Er hatte sich mit sechs Schwarz-Weiß-Foto eines Soldaten in Uni- Schmitz „die Identitären“, das Wort „Be-

DER SPIEGEL 22 / 2017 65


Gesellschaft

mit der „Angst vor Überfremdung“, die


sie schüren, den Boden für Vorfälle wie
die in Bautzen, Clausnitz oder Freiberg.
Es gibt keine Aufforderung der Identi-
tären Bewegung, Ausländern Gewalt an-
zutun. Aber wie ist es zu verstehen, wenn
der Anführer der Identitären, Martin Sell-
ner, auf Twitter schreibt: „Gottseidank hab
ich schon ne Waffe gekauft, bevor der
Asylwahn begonnen hat. Dürfte schwer
sein, jetzt noch was gutes zu bekommen.“
Wenn es nicht darum geht, Gewalt zu
legitimieren, worum geht es dann?
Die Identitären wollen Denkverbote
überwinden und Debatten anstoßen, sagen
viele, mit denen man spricht.
Vielleicht ist die eigentliche Gefahr, die
von Leuten wie Melanie Schmitz ausgeht,
die, dass sie Gedanken ausspricht, die der-
zeit viele Deutsche haben: Sie sagt, es sei
ein Fehler gewesen, die Grenzen aufzuma-
chen. Sie sagt, man müsse kriminelle Asyl-
bewerber abschieben. Sie sagt, vieles laufe
falsch bei der Integration. Aber man muss
genau aufpassen, wie solche Gedanken
sich weiterentwickeln. Es gibt einen Un-
terschied zwischen „kriminelle Ausländer
ausweisen“ und „alle kulturfremden Aus-
SVEN DOERING / DER SPIEGEL

länder raus“. Es ist der Unterschied zwischen


dem deutschen Gesetz und Fremdenhass.
In einem ihrer Videos singt Schmitz, was
sie darüber denkt, durch den Staat beob-
achtet zu werden. Das Video trägt den Ti-
tel: „Ein Gruß an den Verfassungsschutz“.
Rechtes Paar Müller, Schmitz: Hipsterklamotten und Ernst-Jünger-Zitate Schmitz singt: „Ich will euch eines sagen,
Ihr fürchtet uns zu Recht.“
Am Freitag vor einer Woche versuchte
wegung“ lässt er weg. Er glaubt, wenn der Hollmann fürchtet, dass die Identitären Schmitz mit ihren Freunden von den Iden-
Ausdruck „Identitäre Bewegung“ einen ihre Ideologie hinter Hipsterklamotten, titären, in Berlin in das Justizministerium
Weg in den Sprachgebrauch finde, könnten Avocados, Zitaten Ernst Jüngers und Be- einzudringen. Sie wollte damit für Mei-
die Menschen anfangen zu glauben, es han- griffen wie „Ethnopluralismus“ verstecken. nungsfreiheit demonstrieren, sagt sie. Die
dele sich um ein Massenphänomen und Er weiß, dass die Identitären es von sich Polizei verhinderte die Aktion und führte
nicht um eine Gruppe von ein paar Dut- weisen, Rassisten zu sein, aber an diesem Schmitz und die anderen ab.
zend Menschen in Halle an der Saale und Morgen fragt er: „Stimmt dieses Selbstbild, Die Identitären aus Halle posteten Fotos
ein paar Hundert bundesweit. Er zitiert oder ist das eine Selbstbehauptung?“ ihres Auftritts bei Facebook. Darunter
dazu ein wenig Konfuzius: „Wenn die Wor- Hollmann sagt, es stünden genug Men- schreibt „Dirk Heienbrock“: „Wenn’s um
te nicht stimmen, dann ist das Gesagte schen in den Reihen der Identitären, die die Muselmänner, Nafris und Baumwoll-
nicht das Gemeinte.“ eine Vergangenheit in der rechtsextremen pflügfacharbeiter geht haben die Polizisten
Es braucht, andererseits, aber auch nur Szene haben. Man könne zu dem Ergebnis keine Eier in der Hose, wie gut, das sie
einen Mann am Klavier und eine Frau, kommen, dass sie sich nur zivilere Klei- sich endlich mal wieder an ihren Lands-
die singt, um damit 400 000 Menschen dung angezogen und die Haare haben leuten austoben dürfen ...“
zu erreichen und vielleicht zu beein- wachsen lassen, aber darunter die gleichen „Andrea Gierth“ schreibt: „Geht lieber
flussen. Fremdenhasser sind wie zuvor. Man könn- gegen das ausländische Gesindel vor.Aber
Melanie Schmitz nutzt ihre Onlinekanä- te auch denken, diese Menschen bereiteten da habt ihr ja keinen Arsch in der
le auch für Bilder und Videos, in denen Hose.Bleibt weiter Merkels Büttel.Stellt
sie keine politische Botschaft sendet. Auf euch auf die Seite des Volkes.“
Instagram zeigt sie Fotos von sich in Netz- „Miguel Erdmann“ schreibt: „Ich könnt
strumpfhose, davon, wie sie in einem Ba- nur noch kotzen! Aber eins weiß ich, das
deanzug ausschaut und wie sie mit kurzem geht nur noch bis zu einem gewissen Grad
Rock und angewinkelten Beinen in einem
Himmelbett sitzt.
Im Video singt sie: beim DEUTSCHEN dann wird er mit ge-
ballter Faust oder mehr, zurückschlagen.
In den Kommentaren darunter schreibt
„feuerwehr.mann“: „hast du dein pony
„Ich will euch eines Ich bin jedenfalls dabei“
Auf Instagram zeigte Schmitz ein Foto
selbst geschnitten??“ sagen, Ihr fürchtet davon, wie Polizisten sie abführten. Sie
„martinsellner“ schreibt: „:o“ guckt nicht in die Kamera, aber der Betrach-
„mllearchaeo“ schreibt: Alde, bist du uns zu Recht.“ ter bekommt einen klaren Blick in ihr Ge-
heiß!“ sicht. Man kann darin nichts lesen. I

66 DER SPIEGEL 22 / 2017


Gesellschaft

aus einem Land komme, wo schon bei der Begrüßung klar-


gemacht wurde: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.
Als ich klein war, wurde den Jungpionieren auf den
Schulhöfen beim Morgenappell zugerufen: Seid bereit!
Immer bereit!, riefen die Jungpioniere zurück.
Ich war kein Jungpionier, aber ich war bereit. Ich hätte
Guten Tag gern mitgeschrien. Später bin ich dann in alle möglichen
Organisationen eingetreten, aber die gemeinsame Rum-
brüllerei hat mich nicht erlöst. Wenn alle das Gleiche ma-
Leitkultur Alexander Osang über die Kunst chen, fühle ich mich, als wären die Body Snatcher da.
Wir sagen: Mahlzeit. Wir sagen: Muss ja. Wir sagen:
der deutschen Begrüßung Tach. Wir sagen: Dann woll’n wa mal. Wir sagen: Gib der
Tante die Hand.

E
ine Dresdner Buchhändlerin hat mir mal erzählt, dass Wir geben Küsschen. Einmal in Amerika, zweimal in
Thomas de Maizière nicht mehr in ihren Laden kom- Deutschland, dreimal in Frankreich, mindestens, wenn das
me, weil sie sich so über die Flüchtlingspolitik der denn stimmt. Ich kann nicht mehr. Ich falle Leuten um den
Bundesregierung aufgeregt habe. De Maizière wohnt in Dres- Hals, um der Küsserei zu entgehen. Ich ersticke jegliche
den und ist seit Jahren Kunde in der schönen Buchhand- nationale Besonderheit in einer Umarmung. Der Bear Hug.
lung. Aber in letzter Zeit kam er nicht mehr. Die Buchhänd- Das ist meine Methode. Es gibt Ausnahmen. Neulich bei
lerin hätte dem Innenminister gehörig die Meinung gegeigt, der Theaterpremiere habe ich die Bühnenbildnerin zur Be-
sagte sie, doch der schickte seine Frau Bücher kaufen. grüßung geküsst, weil ich sie gut kenne, weil ihr Bühnenbild
Wir haben in unserem Land eine Zivilkultur bei der großartig war und weil sie ein Kussgesicht hat. Wahrschein-
Lösung von Konflikten, schreibt de Maizière in seinen lich begebe ich mich mit so einer Äußerung in die Nähe des
Thesen zur deutschen Leitkultur. Nachdem er die ver- FDP-Mannes Brüderle, aber ich weiß nicht, wie ich das an-
öffentlicht hat, darf er zurück in seine Lieblingsbuchhand- ders sagen soll. Man kann sich verschätzen, aber man sollte
lung, glaube ich. Dafür hat er mich seinen Gefühlen trauen, nicht den
auf dem Hals. Befehlen seines Innenministers.
Mir gehen seine Gebote „Wir Vor ein paar Tagen hat mir
sagen unseren Namen. Wir ge- mein Weinhändler gestanden,
ben uns die Hand“ nicht aus dass er eine Frau aus dem Laden
dem Kopf. Die poltern da seit geworfen habe, die ihn, ohne Be-
Wochen herum wie früher im grüßung, beschimpft hätte. Sie be-
Beichtunterricht der St.-Josef- trat den Laden, studierte die Wein-
Gemeinde Berlin-Weißensee das preise und rief: Dit krieg ick uff
Gebot: Du sollst keine anderen ’m Weinjut allet viel billjer. Der
Götter neben mir haben. Welche Weinhändler, der aus Süddeutsch-
anderen Götter?, fragte ich mich land stammt, imitierte eine Berli-
damals. Ich war zehn und wohnte nerin. Eine Ostberlinerin, denke
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

in Berlin-Prenzlauer Berg. Heute ich. Ich könnte mir vorstellen, dass


frage ich mich: Sagen wir unseren die Frau grundsätzlich die Nase
Namen? Wirklich? voll hatte. Von Prenzlauer Berger
Ich steige am Berliner Haupt- Broten, die 4,50 Euro kosten, von
bahnhof ins Taxi, sage: „Guten Kaffees, die sie nicht aussprechen
Tag“, der Fahrer mustert mich im und auch nicht bezahlen kann,
Rückspiegel, wartet. von all den Therapeuten, die
„Leider nur ’ne kurze Fahrt“, Kleingartenkolonie-Einfahrt in Berlin-Pankow Krankheiten heilen, die sie nicht
sage ich. kennt, und Läden, die Kinder-
„Schönen Schrank och“, sagt der Fahrer. „Dafür ha’ ick jacken verkaufen, die so teuer sind wie ihr Hochzeitskleid.
jetzt ’ne Stunde jewartet oder wat.“ Vor einigen Jahren Von ihrer Heimat, die sie sich nicht mehr leisten kann,
hat mich ein Berliner Taxifahrer nach einem anstrengen- weil Leute wie er sie erobert haben. Er ist ein guter Wein-
den transatlantischen Nachtflug mal mit drei Worten be- händler, soweit ich das einschätzen kann. Er gehört zu
grüßt, als ich meine Reisetasche auf seinen Rücksitz stellte. meinem Leben. Reden ist sein Geschäft. Er braucht die
„Nee. Nee. Nee.“ Die nächsten sechs Worte waren: „Dafür Freundlichkeit, die Geschichte, das Du, das Beispiel. Das
is der Koffaraum da, Scheff.“ kleine Weingut, die jungen Winzer, bei denen er neulich
Die freundlichste Begrüßung der Taxifahrer in Ham- zum Essen war. Er erträgt nörgelnde Kinder und Frauen,
burg, wo ich aus irgendeinem Grund immer nur Kurz- die alle Zeit der Welt haben, sich einen Wein erklären zu
fahrten antrete, geht so: „Ich bin ja verpflichtet, Sie zu lassen, den sie dann nicht kaufen. Er hat auch Probleme,
fahren. Muss ich ja.“ aber damit belästigt er uns nicht. Irgendwann war seine
Ich bin schon bei strömendem Regen durch Hamburg Geduld am Ende. Er schob die Frau aus dem Geschäft.
gelaufen. Das kurze Stück. Nur um diesen Gesprächen Wer in meinen Laden kommt, sagt „Guten Tag“, er-
aus dem Weg zu gehen. klärte mir der Weinhändler.
Geben wir uns die Hand? Ich stand schweigend da, ein leichtes Nicken, das man
Ich habe vor einem Abendessen im Südirak mal einer auch als Kopfschütteln hätte deuten können. Tausend
Frau meine Hand hingestreckt. Die Frau starrte auf meine Seelen in meiner Brust.
Hand wie auf eine Waffe. Ich mag diese ganzen Begrü- Wir geben uns die Hand?
ßungsregeln nicht. Vielleicht hat es damit zu tun, dass ich Ich glaube, es ist komplizierter.

DER SPIEGEL 22 / 2017 67


JÖRG EBERL / ACTION PRESS
Denner

Affären

Der Druck auf Bosch wächst


Im Dieselskandal gibt es neue Klagen und Ermittlungen gegen den weltgrößten Autozulieferer.
In der Dieselaffäre gerät der Zulieferer Bosch immer stärker Staatsanwaltschaft Stuttgart im Zuge der Ermittlungen gegen
in den Mittelpunkt. „Aus unserer Sicht war Bosch ein willi- Daimler ein Verfahren gegen Mitarbeiter eingeleitet: wegen
ger Teilnehmer in dem Skandal“, sagt US-Rechtsanwalt Verdacht auf Beihilfe zum Betrug. Zuvor hatte die Behörde
Steve Berman, der geschädigte Autobesitzer in den USA ver- bereits in der VW-Abgasaffäre gegen Bosch-Manager ermit-
tritt. Fast alle manipulierten Autos, so Berman, hätten eines telt. Auch in der Klage des US-Generalstaatsanwalts gegen
gemeinsam: „Sie waren mit Software ausgerüstet, die Bosch Fiat-Chrysler wird Bosch als Lieferant erwähnt. Die Folgen für
entwickelt hat.“ Am Donnerstag reichte der Anwalt in De- den Zulieferer sind noch unklar. Im Fall VW hat sich Bosch
troit eine Sammelklage gegen General Motors (GM) ein. Die mit den US-Behörden bereits auf die Zahlung von rund 300
Firma Bosch wird darin ebenfalls als Beschuldigte aufgeführt: Millionen Euro geeinigt. Wegen der Belieferung von Fiat-
Das Unternehmen soll die infrage stehenden GM-Modelle Chrysler, GM und Daimler könnten nun weitere Zahlungen
Silverado and Sierra mit Motorsoftware ausgestattet haben. drohen. Bosch hat insgesamt 1,1 Milliarden Euro für Rechts-
Durch Bermans Initiative nimmt der Druck auf Bosch und streitigkeiten zurückgestellt. Zu laufenden Verfahren will der
Konzernchef Volkmar Denner zu. In Deutschland hat die Zulieferer keine Stellung nehmen. haw, sh

HSH Nordbank sei noch das Interesse des


CHRISTIAN OHDE / ACTION PRESS

Flowers und Lone chinesischen Konglomerats


Anbang, heißt es in mit dem
Star erwägen Kauf Prozess vertrauten Kreisen.
In den Datenräumen der Bis Ende Juni sollen konkre-
HSH Nordbank tummelt sich tere Gebote vorliegen. Durch-
derzeit das Who’s who ameri- gespielt werden auch Sze-
kanischer Finanzinvestoren. narien, in denen nur der ge-
Neben Apollo und Cerberus HSH-Nordbank-Zentrale in Hamburg sunde Teil der Bank verkauft
studieren auch Lone Star so- und der Rest abgewickelt
wie J. C. Flowers die Bücher krise von 2008. Alle vier US- HSH. Ob aber einer der In- würde. Schon jetzt wird um
der havarierten Landesbank. Interessenten haben ein Faible vestoren tatsächlich ein ver- eine Verteilung der dabei
Die Haupteigner Hamburg für angeschlagene Banken bindliches Angebot abgibt, drohenden Verluste gepokert.
und Schleswig-Holstein müs- und faule Kredite. Unter ihnen ist fraglich. Ohne Mitgift der Lukrativ ist das Geschäft bis-
sen den Konzern auf Geheiß ist auch Christopher Flowers: staatlichen Eigner gilt die lang vor allem für die vielen
der EU-Kommission bis Ende Der verlor eine Menge Geld Bank als kaum verkäuflich. externen Berater. Allein für
Februar 2018 privatisieren – als Großaktionär der Hypo So ein Deal wäre jedoch sie soll die Bank bislang be-
als Ausgleich für die staatli- Real Estate und hält noch heu- nicht mit den EU-Auflagen reits rund 16 Millionen Euro
che Rettung nach der Finanz- te rund fünf Prozent an der vereinbar. Am ernsthaftesten ausgegeben haben. mhs

68 DER SPIEGEL 22 / 2017


Wirtschaft
Siemens rentenstärkungsgesetz ge-
Stühlerücken im einigt. Die Gesetzesvorlage
soll nun dahin gehend abge-
Aufsichtsrat ändert werden, dass ab 2019
Nach dem geplanten Rückzug alle Arbeitgeber Zuschüsse
von Chefkontrolleur Gerhard zur Betriebsrente in Höhe
Cromme stehen im Siemens- von 15 Prozent des Sparbei-
Aufsichtsrat weitere Personal- trags leisten müssen – und
veränderungen an. Drei Ver- zwar bei sämtlichen mögli-
treter der IG Metall treten chen Formen der Entgeltum-
bei den Wahlen zur Kandida- wandlung. Bisher war diese
tenkür der Mitarbeiter im Zuschusspflicht nur für das

DMITRIJ LELTSCHUK / LAIF


Oktober nicht mehr an, da- neue „Sozialpartnermodell“
runter der Betriebsratschef vorgesehen, bei dem die
des Berliner Dynamowerks Tarifparteien die Betriebsren-
Olaf Bolduan und sein Erlan- ten aushandeln. Außerdem
ger Kollege Hans-Jürgen Har- einigte sich die Koalition da-
tung. Sie scheiden aus Alters- Betriebsrente rauf, die geplanten staatlichen
gründen aus. Auch die Frank- ßen und dafür die Möglich- Zuschüsse für Geringverdie-
furter IG-Metall-Justiziarin Zuschüsse für alle keit der sogenannten Entgelt- ner schon bei einem Monats-
Sibylle Wankel bewirbt sich Arbeitnehmer können ab umwandlung wahrnehmen. einkommen unter 2200 Euro
nicht mehr. Die Juristin war 2019 mit Zuschüssen ihrer Un- Darauf haben sich SPD und zu gewähren. Bislang war
erst im vergangenen Sommer ternehmen rechnen, wenn Union nach langem Streit eine Grenze von lediglich
in den Daimler-Aufsichtsrat sie eine Betriebsrente abschlie- über das geplante Betriebs- 2000 Euro vorgesehen. ase
eingerückt, dem auch Sie-
mens-Chef Joe Kaeser ange-
hört. Sie hatte das Siemens-
Mandat für den bayerischen Vergleichsportale des vzbv zu den fünf meist- ponenten zusammengeführt
IG-Metall-Regionalableger ur- Enttäuschende genutzten Portalen durchge- werden“. Bei der Suche nach
sprünglich von München aus führt hat, zeigt, dass dies nur Ratenkrediten tauchten bei
wahrgenommen, arbeitet als Ergebnisse teilweise der Fall ist. Unter- drei Portalen Angebote, die
IG-Metall-Vorstand neuer- Vergleichsportale wie Veri- sucht wurden Rankings der nicht über das Portal abge-
dings aber in Frankfurt und vox oder Check24 wecken Portale für Kfz-Versicherun- schlossen werden konnten, in
gibt den Posten deshalb ab. bei Verbrauchern offenbar gen, Girokonten und Raten- den Rankings zunächst gar
Die Frauenquote im Siemens- falsche Erwartungen. Eine kredite. Die Methodik der nicht auf. Sie waren über die
Kontrollgremium dürfte trotz- Forsa-Umfrage im Auftrag Sortierung sei oft unklar, so Voreinstellungen heraus-
dem nicht sinken. Auf zwei des Verbraucherzentrale Bun- das Ergebnis. Bei der Suche gefiltert. Vergleichsportale
der drei frei werdenden Plätze desverbands (vzbv) ergab: 48 nach einem Girokonto erfolg- bekommen oft Provisionen,
sollen die Betriebsratschefin Prozent der Nutzer glauben, te beispielsweise bei Check24 wenn sie Kfz-Versicherungen
der Medizintechniksparte dass bei den Portalen die die erste Sortierung nach oder Ratenkredite vermitteln.
Dorothea Simon und Andrea günstigsten Angebote zuerst „Empfehlung und Note“, wo- Trotzdem versuchten sie,
Fehrmann von der bayerischen gelistet werden. Eine Studie, bei die Note vom Portal ver- „den Eindruck zu vermitteln,
IG-Metall-Bezirksleitung in die das Hamburger For- geben werde. Es sei nicht Verbraucherinteressen zu ver-
München rücken. did schungsinstitut iff im Auftrag klar, „wie diese beiden Kom- treten“, so die Autoren. ase

Die Geldfrage Warum steigt der Euro wieder?


USA-Urlauber können sich freuen. Wer derzeit Geld für Zeiten, scheffelten ihr Geld ins Land, und der Dollarpreis
eine Reise umtauscht, kriegt wahrscheinlich mehr Dollar für zog derart an, dass Trump selbst erklärte: „Der bringt
seine Euro als bei der Buchung der Reise angenommen. uns um.“ Entsprechend schlecht sah es für den Euro aus.
Immerhin rund 1,12 Dollar war ein Euro Mitte der Mittlerweile aber hat sich Trump auch in ökonomi-
Woche wert, dabei hatten noch Anfang des Jahres scher Hinsicht entzaubert: Die Kündigung der Nafta
Starökonomen und Devisenhändler düstere Szena- liegt vorerst auf Eis, seine übrigen Wahlverspre-
rien gemalt. Der „Patient Euro“ war damals auf chen kann er allenfalls sehr eingeschränkt einlösen.
knapp 1,04 Dollar abgestürzt, den tiefsten Stand Das wiederum ist schlecht für den Dollar und
seit Januar 2003. Experten hielten gar einen Kurs gut für den Euro. Allerdings kann es mit dem Hö-
von 1:1 bis Ende 2017 oder noch schlechter für aus- henflug der europäischen Währung auch schnell
gemachte Sache. Grund für die Schwarzmalerei wieder vorbei sein, wenn etwa die Europäische
war vor allem der Amtsantritt von US-Präsident Do- Zentralbank der Nullzinszeit später ein Ende bereitet,
nald Trump und seine tönenden Versprechen an die als viele Finanzprofis glauben. Insofern lohnt es sich
heimische Wirtschaft: Schutzzölle, Aufkündigung der Nord- womöglich, die Gunst der Stunde zu nutzen und auch schon
amerikanischen Freihandelszone (Nafta), gigantische Sum- Geld umzutauschen, wenn der USA-Urlaub erst für den
men für die Infrastruktur – Profianleger erwarteten goldene Sommer geplant ist. ase

DER SPIEGEL 22 / 2017 69


Kampf um die Wohlfühlwelt
Handel Windeln, Dinkelkekse und für die Eltern noch eine Flasche Wein: Drogerie-
märkte haben sich als alternative Nahversorger etabliert. Seit der Schlecker-Pleite hat
sich die Branche neu sortiert. Nun will auch Lebensmittelriese Edeka mitmischen.

W
enn chinesische Touristen in gegeben. Bei Rossmann kann man sogar 2015 um. Sobald in einer Fußgängerzone
Deutschland Station machen, direkt mit dem chinesischen Bezahlsystem ein Bekleidungs- oder Deko-Laden dicht-
dann haben sie meist ganz ge- Alipay bezahlen. machen muss, eröffnet dort garantiert we-
naue Vorstellungen, was sie hierzulande Die Ketten genießen vielerorts auch bei nig später einer der „Big Four“. Im Ge-
sehen wollen: Neuschwanstein, den Schwarz- den heimischen Kunden Kultcharakter. schäftsjahr 2015/16 lud allein Marktführer
wald – und Rossmann. Das muss man erst einmal schaffen, wenn dm im Schnitt alle drei Tage zur Einwei-
Der Einkauf bei einer Filiale einer deut- man als Händler eigentlich vor allem Zahn- hung einer neuen Filiale.
schen Drogeriemarktkette gehört inzwi- pasta, Deo und Klopapier im Angebot hat. Gerade in den Metropolen haben sich
schen zum festen Standardprogramm jeder Die Drogeriemärkte sind eine Erfolgs- die Drogeriemärkte als neue Nahversorger
gut organisierten Europareise. Wegen der story für sich. Die Umsätze der Branche etabliert, bei denen der Verbraucher neben
kaufkräftigen Fans aus Asien werden bei wachsen seit Jahren stabil und meist zwei- Babybrei und Lippenstift auch Frischmilch,
dm und Müller die meisten Produkte nur stellig. Mehr als 15 Milliarden Euro setzten Tomatensoße oder Rotwein findet. Die
noch in „haushaltsüblichen Mengen“ ab- Rossmann, dm, Müller und Budnikowsky Verweildauer in den Filialen ist außerge-
70 DER SPIEGEL 22 / 2017
Wirtschaft
dm-Filiale in Konstanz
Die Konkurrenz piesacken

Edeka, der Nummer eins im deutschen Le- schen auch auf dem Rücken ihrer Mitar-
bensmittelhandel, genehmigt. Gemeinsam beiter ausgetragen.
wollen die beiden Unternehmen aus Ham- Mehr als 140 000 Menschen arbeiten bei
burg den Drogeriemarkt aufmischen. den Drogeriemarktketten. Allein dm be-
Das wird nicht einfach. Schon jetzt neh- schäftigt in Deutschland rund 40 000 Mitar-
men sich die Märkte in den Toplagen ge- beiter – fast doppelt so viele wie Kaufhof.
genseitig die Laufkundschaft weg. Manche Die Ketten gelten zwar als attraktive Ar-
Filiale wird nur eröffnet, damit dort nicht beitgeber, schon wegen der hohen Einkaufs-
die Konkurrenz einzieht. Die Ketten kon- rabatte und -gutscheine, mit denen sie ihre
kurrieren nicht nur um jeden Kunden, son- Angestellten belohnen. Immer wieder sor-
dern auch um Mitarbeiter, Mieten und gen aber auch Berichte über geknechtete
Marken. Denn alle in der Branche wissen: Leiharbeiter (Rossmann) oder abgehörte
Die Expansionsdynamik der vergangenen Manager (Müller) für negative Schlagzeilen.
Jahre hat ihre Grenzen. Niemand will Gewerkschafter betonen, dass keiner der
schließlich enden wie Anton Schlecker. großen vier Mitglied im Tarifverbund sei.
„Die Schlecker-Insolvenz war eine Zäsur Angeblich orientieren sich die Löhne am
für den ganzen Markt“, erklärt Roland Al- Einzelhandelstarif, doch wer will das kon-
ter. Der Wirtschaftswissenschaftler von der kret überprüfen?
Hochschule Heilbronn hat ein Buch über Branchenprimus dm und Rossmann, die
die spektakuläre Firmenpleite geschrieben, ewige Nummer zwei, bekämpfen sich im
die 2012 die Branche und die ganze Repu- Laden mit einer unterschiedlichen Preis-
blik erschüttert hatte. Zu Hochzeiten be- strategie: Die Karlsruher setzen auf den
trieb Schlecker europaweit mehr als 10 000 „Dauerniedrigpreis“ – also einen beson-
Filialen und hatte sich die Ketten Idea und ders günstigen Durchschnittspreis für das
Ihr Platz einverleibt. ganze Sortiment. Rossmann wiederum
Von der Pleite hätten alle Wettbewerber lockt die Schnäppchenjäger unter den Kun-
profitiert, so Alters Analyse. Auch die Su- den mit limitierten Sonderangeboten.
permärkte und Discounter. In den vergan- Zu dem konkreten Fall in NRW will sich
genen fünf Jahren haben sie ihr Drogerie- keine Seite näher erklären. Erich Harsch,
angebot kontinuierlich ausgebaut. Doch Chef von dm, kommentiert die Provokati-
die eigentlichen Nutznießer des Falls Schle- on mit den Worten: „Es ist oberste Händ-
cker waren die beiden Marktriesen dm und lerpflicht, dort einzukaufen, wo der Preis
Rossmann. Sie sicherten sich die profita- am günstigsten ist.“ Dirk Roßmann wie-
belsten Standorte. dm, Branchenprimus derum meint: „Es erfüllt uns mit Ehre und
nach Umsatz, betreibt hierzulande inzwi- Stolz, die Günstigsten zu sein.“
schen mehr als 1800 Filialen, Rossmann Eine solche Aggressivität mag sich nicht
mehr als 2050 (siehe Grafik). Müller (534 mit dem Gutmenschenanspruch vertragen,
ANDY RIDDER / VISUM

Läden) hingegen konnte seinen Ruf als den die Drogisten sonst vor sich hertragen.
buntes Kaufhaus vor allem in Klein- und Sie passt allerdings zum Image, das die
Mittelstädten festigen. Einkäufer der Drogeriemarktketten bei
Die Schlecker-Lücke sei längst gefüllt, Lieferanten sowie Herstellern von Kosme-
der Markt nahezu gesättigt, glaubt Wolf- tik, Putz- und Waschmitteln genießen.
gang Adlwarth von der Gesellschaft für „dm und Rossmann spielen ihre Macht
wöhnlich hoch – dank Fotolabor, Wickel- Konsumforschung (GfK). Nun müssten alle gegenüber der Industrie gnadenlos aus“,
tisch und Wasserspender. Beim Imageba- zusehen, wie sie sich langfristig von der erzählt ein Mitarbeiter eines internationa-
rometer Brand-Index fahren die Märkte Konkurrenz differenzieren. Der Spielraum len Konsumgüterherstellers. dm kontert
regelmäßig Spitzenplätze ein. ist begrenzt, die Filialdichte stößt langsam Preiserhöhungen von Markenartiklern
Jeder zweite Euro, der hierzulande für an Grenzen, die Sortimentsbreite scheint gern mit demonstrativ leeren Regalplätzen
Körperpflege ausgegeben wird, landet in nahezu ausgereizt. „Und der Kunde ist
den Kassen von dm & Co. Schon fast neun hochgradig preissensibel“, sagt Adlwarth,
Prozent des Lebensmittelumsatzes in „das führt zu einem enormen Druck.“ Die großen Drogeriemarktketten
Deutschland schlägt bei den Drogeriemärk- Und mitunter zu bizarren Szenen an der in Deutschland 2016
ten zu Buche. Vor allem im schnell wach- Kasse: Im Januar erteilte eine Rossmann-Fi-
senden Biosegment haben sich die Ketten liale im nordrhein-westfälischen Bedburg- Umsatz in Mrd. € Filialen
als günstige Alternative zu teuren Biosuper- Hau einer dm-Mitarbeiterin Hausverbot. Die
märkten und Reformhäusern positioniert. junge Frau hatte 28 Perwoll-Waschmittel, 25 7,5 1825
Doch hinter den Kulissen der heilen Odol-Mundwasser und 75 Guhl-Shampoos
Wohlfühlwelt herrscht ein harter Wettbe- auf das Einkaufsband gepackt. Doch die
werb um Standorte und Marktanteile. Die Rossmann-Filialleiterin vermutete, dass es 6,1 2055
Umgangsformen sind rau, die Margen bei nicht um einen privaten Großeinkauf ging,
Sonnencreme und Duschgel eng, es wird sondern darum, die Regale mit den Sonder-
um jeden Cent gefeilscht. angeboten leerzuräumen. Als sie den Ein- 4,4* 534
Der kleinste Wettbewerber, die Kette kauf stoppte, eskalierte die Situation.
Budnikowsky, versucht seit Jahren, in die- Solche Fremdeinkäufe sind offenbar ein
sem Umfeld zu überleben. Vergangene beliebtes Mittel, die Konkurrenz zu piesa- 0,4** 182
Woche nun hat das Bundeskartellamt eine cken. Und sie zeigen, wie gerade die bei- *angestrebter
Einkaufskooperation zwischen Budni und den Marktführer ihren Wettkampf inzwi- Gesamtumsatz **2015

DER SPIEGEL 22 / 2017 71


und einem Zettel, auf dem steht: „Gleicher Entscheidend dafür wird sein, wie stark
Preis bei weniger Inhalt: Da streiken wir!“ der Onlinehandel das Drogeriegeschäft
Die Kunden goutieren den Service, die Lie- verändert. Die Konkurrenz im Internet hat
feranten fürchten die Pranger-Aktionen. das Potenzial der Sparte längst entdeckt
Die Verbraucher profitieren von dem Hau- und attackiert die stationären Ketten.
en und Stechen: Die Preise für Shampoo Ohne teure Mieten, Platz- und Sortiments-
und Waschmittel sind in Deutschland heute beschränkung scheint der Markt paradie-
noch immer etwa auf dem Niveau der späten sische Umsätze zu versprechen. Amazon
Siebzigerjahre. Fast nirgendwo in Europa will mit sogenannten Dash-Buttons, über
sind Milchpulver und Rasierschaum so billig die automatisch bestimmte Produkte wie
wie hierzulande. Ob sich das allerdings „auf Zahnpasta oder Rasierklingen geordert
die Dauer für die Händler auszahlt“, hält werden, den Einkauf auf Knopfdruck etab-
der Handelsexperte Martin Fassnacht von lieren. Anbieter wie windeln.de oder fla-
der privaten Hochschule WHU für fraglich. coni.com sind zwar nicht profitabel, haben
Dank ihrer Vormachtstellung können aber wichtige Nischen besetzt.
die Branchenführer Produktinnovationen dm, Rossmann und Müller experimen-
nach Gusto pushen oder blockieren. Und tieren derweil mit eigenen Onlineshops.
sie sind schnell darin, diese günstig zu ko- Rossmann und Müller etwa setzen nicht
pieren. Die Eigenmarken machen einen auf den Versand nach Hause, sondern auf
entscheidenden Teil des Umsatzes aus: Bei das Click&Collect-Modell, bei dem bestell-

LARS BERG
dm stammt etwa jedes dritte verkaufte Pro- te Waren in der Filiale abgeholt werden.
dukt aus dem eigenen Portfolio, Rossmann „Die Größe und der Umsatz unseres On-
ist Eigenmarken-Spitzenreiter mit 30 Mar- Budnikowsky-Chef Wöhlke lineshops sind nicht kriegsentscheidend“,
ken und rund 4600 Artikeln. „Extrem auf Effizienz getrimmt“ sagt dm-Chef Erich Harsch. Es sei vor al-
„Viele Handelsmarken haben sich als lem wichtig, den Kunden alle Kanäle an-
starke Brands etabliert“, sagt Fassnacht. Roßmann, der als Jugendlicher mit dem zubieten, „niemand weiß doch heute, wie
Bodylotion der dm-Handelsmarke Balea Fahrrad die Produkte aus der elterlichen sich der Markt wirklich entwickelt“. Dirk
etwa wird in China für bis zu vier Euro Drogerie ausfuhr und zehn Prozent Marge Roßmann glaubt: „Ein gewisser Marktan-
pro Flasche gehandelt. für die Lieferung einstrich. In der Folgezeit teil wird sicherlich ins Netz abwandern.
Dass das Konkurrenzdenken zwischen drängten bis zu 17 unabhängige Ketten auf Aber wir haben vor dieser Entwicklung
Fremd- und Eigenmarken selbst vor der den Markt. Heute existieren bundesweit keine Angst, höchstens Respekt.“ Geld ver-
eigenen Familie nicht haltmacht, zeigt der nur noch knapp 1300 selbstständige Dro- dient jedoch noch keiner im Netz.
Streit um Alnatura: Mehr als 30 Jahre wa- gisten. Gegen dm und Co. haben sie lang- Ein Vorteil der Drogeriekönige könnte
ren Alnatura-Chef Götz Rehn und sein fristig kaum eine Chance. jedoch auch in den Weiten des Webs sein,
Schwager, dm-Gründer Götz Werner, nicht Auch Budnikowsky, 1912 als Seifenspe- dass sie ziemlich genau wissen, was ihre
nur freundschaftlich, sondern auch ge- zialgeschäft gegründet, hatte in den ver- Kunden fühlen und wünschen. Durch ihre
schäftlich eng verbandelt. Dank dm wurde gangenen Jahren zu kämpfen. „Die Bran- beliebten Kundenkarten und -Apps sowie
die Biolebensmittelmarke aus dem hessi- che ist extrem auf Effizienz getrimmt“, die sozialen Netzwerke stehen sie mit Mil-
schen Bickenbach überregional ein Kas- sagt Christoph Wöhlke, 39, Urenkel des lionen Verbrauchern in regem Austausch.
senschlager. Die Drogeriemarktkette wie- Firmengründers. Mehrmals widersetzte Weit früher als andere Branchen haben
derum verdankt Alnatura eine treue, ge- sich die Eigentümerfamilie Wöhlke einem die selbsternannten Spezialisten für Schön-
sundheitsbewusste Kundschaft, die sich bei Aufkauf durch Müller oder Rossmann. heit und Gesundheit den Dialog mit ihren
dm nachhaltig mit Vollkornnudeln und ve- „Durch die Kooperation mit Edeka wollen Kunden gepflegt. Bereitwillig hinterlegen
ganem Brotaufstrich eindeckte. wir erst einmal wieder eine gewisse Wett- die Konsumenten Daten über ihre Person,
Doch 2014 entschied dm plötzlich, eine bewerbsfähigkeit gegenüber unseren Lie- den Haushalt und Familienstand – im
eigene Biomarke zu lancieren. Als Erstes feranten herstellen“, hofft Wöhlke. Tausch gegen Rabatt- und Treuepunkte.
versuchte die Kette ausgerechnet die Öko- Wie sich die neue Zusammenarbeit auf Diese Daten und das damit verbundene
pioniere abzuwerben, die eigentlich für den Zuschnitt der Märkte und das Sorti- Wissen über den einzelnen Kunden wer-
Alnatura produzierten. Der Streit um die ment auswirken wird, ist noch nicht ent- den in Zukunft wettbewerbsentscheidend
Markenrechte zwischen den erfolgsver- schieden. Budnikowsky will offenbar seine sein. Allein die Analyse eines Einkaufs-
wöhnten Familienzweigen beschäftigt nun Filialen in Hamburg auf jeden Fall eigen- bons aus dem Drogeriemarkt verrät mehr
seit mehr als zwei Jahren die Gerichte. Un- ständig weiterführen. Edeka spielt angeb- über die Lebenssituation eines Konsu-
terdessen hat dm fast alle Alnatura-Pro- lich mit dem Gedanken, eine neue Droge- menten als jede GfK-Umfrage. Wer heute
dukte ausgelistet und durch eigene ersetzt. riemarktkette zu gründen, eventuell als einen Schwangerschaftstest kauft, der
Dafür bietet nun Konkurrent Müller einen Shop-in-Shop-Konzept. braucht demnächst vielleicht Folsäuretab-
Großteil der Alnatura-Palette an. „Das wäre grundsätzlich ein neuer An- letten und früher oder später noch Schnul-
Der Geburtstag der Drogerieriesen lässt satz in dem ansonsten doch sehr gesät- ler. Wer eine Leselupe und Anti-Aging-
sich ziemlich genau auf den 1. Januar 1974 tigten Markt“, meint Branchenexperte Creme einpackt, der interessiert sich wohl
datieren. An diesem Tag fiel die Preisbin- Mark Sievers von dem Beratungsunter- bald auch für Inkontinenzeinlagen.
dung für Drogerieartikel, die bis dato die nehmen KPMG. Die Frage ist, in welche Der Datenkrake Amazon hat bekanntlich
Verkaufspreise für Nivea-Creme, Tempo- Richtung sich die Branche entwickelt: großen Erfolg damit, seine gläsernen Kun-
Taschentücher oder Persil-Waschmittel re- „Setzen sich Abo-Modelle für unemotio- den mit maßgeschneiderten Angeboten zu
glementiert hatte. Die Drogistensöhne Dirk nale Produkte wie Waschmittel oder Toi- bombardieren. Das große Vertrauen, das
Roßmann und Götz Werner erkannten lettenpapier durch? Oder gibt es in den die Deutschen ihren Drogeriemärkten ent-
früh das Potenzial der Gesetzesnovelle. Drogeriemärkten irgendwann noch wei- gegenbringen, könnte sich für diese in Zu-
„In den Anfangsjahren gab es deutsch- tere gastronomische Konzepte? Da ist kunft erst richtig auszahlen. Simone Salden
landweit 18 000 Drogerien“, erinnert sich vieles denkbar.“ Mail: simone.salden@spiegel.de

72 DER SPIEGEL 22 / 2017


Wirtschaft

Das Geheimnis des Kulturbeutels


Gesundheit In Pflegeheimen und Kliniken fehlen Tausende Fachkräfte. Können Flüchtlinge helfen,
den Personalnotstand in Deutschland zu lindern? Ein Vorzeigeprojekt will dafür sorgen.

U
m Frau Müller steht es nicht gut. Frau Müller wird auch dazu schweigen, zu integrieren wäre eine Win-win-Situation,
Die graue Perücke ist tief in ihre das liegt in ihrer Natur: Die Patientin ist von der auch Politiker träumen. Allerdings
Stirn gerutscht, den Mund kann sie eine Lehrpuppe aus Kunststoff. Ihr Zim- ist das Vorhaben nicht ganz einfach. Den
nicht schließen. Nach einem Schlaganfall mer befindet sich in einer Schule für ange- Weg zur Integration versperren bürokrati-
ist ihre linke Körperseite vollständig ge- hende Fachkräfte, dem Bonner Verein für sche Hürden, tückische Anerkennungsver-
lähmt, so steht es in ihrer Krankenakte. Pflege- und Gesundheitsberufe. An diesem fahren – und manchmal schlicht unter-
Die Patientin kann nicht sprechen, und Maitag drängt sich eine neue Klasse um schiedliche Vorstellungen davon, was gute
nun stehen Ahmed, Akram und Ramin rat- das Krankenbett: Alle acht Teilnehmer Pflege überhaupt bedeutet.
los an ihrem Bett. sind Flüchtlinge, fünf von ihnen Männer. Das Problem beginnt damit, dass es in
Sie sollen Frau Müller waschen, aller- Die meisten haben schon in ihrer Heimat vielen Herkunftsländern keine ausgebil-
dings liegt die Tücke im Detail. Stellt man als Pfleger gearbeitet. deten Altenpfleger gibt, schon aus kulturel-
sich mit dem feuchten Lappen besser ne- Ihr Kurs ist eine Art Pilotprojekt. Wenn len Gründen. Seniorenheime sind in Syrien,
ben Frau Müllers linke, also die gelähmte es gelingt, die Kandidaten in Kliniken oder Afghanistan oder im Irak so gut wie unbe-
Seite – oder neben die gesunde rechte? Pflegeheime zu vermitteln, wäre das eine kannt. Es gilt als selbstverständlich, dass die
Die Männer schauen sich zweifelnd an. Riesenchance. Für die Geflüchteten. Und Familie Angehörige zu Hause betreut.
„Rechts“, sagt Ramin, „dann schaut sie für das deutsche Gesundheitssystem. Auch um Akram Namahs Mutter da-
mich an, weil sie auf der Seite liegt.“ In der Bundesrepublik werden Pflege- heim in Syrien kümmern sich seine Brüder
„Rechts“, vermutet Akram, „da fühlt sie experten dringend gesucht. Laut Pflege- und Schwestern. Er ist vor anderthalb Jah-
noch ein bisschen.“ bericht der Bundesregierung gibt es in der ren vor dem Krieg geflohen. In Rakka hat-
„Rechts, da ist mehr Platz neben dem Altenpflege 19 000 offene Stellen. Jeder te er als staatlich geprüfter Krankenpfleger
Bett“, sagt auch Ahmed und reißt mit ausgeschriebene Job bleibt im Durch- gearbeitet. Dort brauchte er zwei Jobs, um
Schwung das Gitter neben der Matratze schnitt 162 Tage unbesetzt, in der Kran- zu überleben. „In Syrien kann man als
hoch. Es ist ein Akt der Fürsorge, damit kenpflege sind es 132 Tage. Arbeitgeber Pfleger nur schwer seine Miete zahlen“,
Frau Müller nicht zu Boden fallen kann. wie die Berliner Charité bieten ein „Kopf- sagt der 29-Jährige. In Deutschland sei das
Allerdings ist es auch der Moment, in dem geld“ von 1000 Euro für Hinweise auf aus- anders: „Mein Beruf ist hier sehr an-
die Lehrerin zum ersten Mal einschreitet. gebildete Pfleger, und die alternde Bevöl- erkannt.“ Nur muss Akram selbst als Fach-
„Stopp“, ruft Shilan Fendi von hinten. kerung wird den Mangel künftig noch ver- kraft noch Anerkennung finden.
„Das Bettgitter sollte man nur hoch- schärfen. So prophezeit das Bundesinstitut Seit Anfang Mai kommt er zum Kurs in
klappen, wenn ein Richter das angeordnet für Berufsbildung, dass bis 2025 eine Lücke die Bonner Pflegeschule. In einem halben
hat. In Deutschland nennt man das sonst von 214 000 Fachkräften droht. Jahr sollen alle Hürden beseitigt werden,
möglicherweise Freiheitsberaubung. Und Es könnte eine hoffnungsvolle Gleich- die den Einstieg erschweren: Sprachdefizi-
außerdem: Wir wollen Frau Müllers zeitigkeit sein, dass Tausende junge, bil- te, kulturelle Missverständnisse, Behörden-
Wahrnehmung fördern. Wir beginnen dungshungrige Menschen ins Land gekom- trödelei. „Die Geflüchteten sollen nicht bei
links.“ men sind. Flüchtlinge in die Pflegebranche schlecht bezahlten Helferjobs hängen blei-
ben, sondern die Chance auf einen Einstieg
als qualifizierte Fachkraft bekommen“, sagt
Birgit Schierbaum aus dem Projektteam.
Mit ihrer Kollegin, der Pflegepädagogin
Fendi, will sie in den nächsten drei Jahren
hundert Flüchtlinge begleiten – wenn sich
ein Finanzier findet. „Willkommen in der
Pflege“, heißt ihr Konzept.
Zumindest an einer Stelle sind sie schon
aufgefallen. Die Stiftung der Kreditanstalt
für Wiederaufbau (KfW) hat sie nach einem
Stipendium für den neuen „Special Impact
Award“ nominiert, mit dem Projekte zur
Integration von Flüchtlingen ausgezeich-
net werden. Anfang Juni wird er vergeben,
auch Bundeswirtschaftsministerin Brigitte
Zypries will zur Verleihung kommen. Die
SELINA PFRUENER / DER SPIEGEL

Regierung weiß, dass es ziemlich aufrei-


bend ist, Flüchtlingen echte Perspektiven
zu verschaffen.
Die Sprache ist Akrams geringstes Pro-
blem. Wenn er im Schlaf redet, dann auf
Deutsch, seine Frau hat ihm das neulich
erzählt. Sollte er in seinem Kurs doch ein-
Kursteilnehmer Akram, Ramin, Ahmed: „Arbeiten, so schnell wie möglich“ mal über ein Wort stolpern, dann über das
DER SPIEGEL 22/ 2017 73
IN DER SPIEGEL-APP
Wirtschaft

Geheimnis, was ein Kulturbeutel ist. In wohnt, darf auf maximale Selbstständig-
Rakka hat Akram auf einer Spezialstation keit hoffen. Wann die Besucher gewaschen
für Blutkranke gearbeitet. Die Behandlung werden, wann sie zu Bett gehen wollen,
glich der in Deutschland, aber eines wun- handeln sie selbst mit den Pflegern aus.
dert ihn: „Dass Krankenpfleger in Syrien Den ganzen Tag über erwartet sie ein Pro-
viel mehr Aufgaben übernehmen, die in gramm, vom „Schönheitssalon“ bis zum
Deutschland nur der Arzt erledigen darf“ – politischen Diskurs. Meeth will „das Weite
eigenverantwortlich Infusionen legen oder in die Enge“ holen, wie sie sagt. Inzwi-
Wunden nähen zum Beispiel. schen gilt das auch für ihre Personalpolitik:
Für ihn, Ahmed oder Ramin ist es unge- „Ohne Zuwanderung werden wir in der
wöhnlich, dass sich ihre deutschen Kolle- Pflege in Zukunft nicht auskommen.“
gen oft damit aufhalten, Patienten die Zäh- 90 Mitarbeiter beschäftigt Meeth, ihre An-
ne zu putzen oder sie anzuziehen. Auch sprüche sind hoch. „Wir wollen Begleitung
das übernimmt in Syrien, Afghanistan auf Augenhöhe. Wir schauen genau hin, wer
oder im Irak meist die Familie, die ganze so etwas kann“, sagt sie. Eine, der sie das
Tage bei Angehörigen in der Klinik ver- zutraut, ist Enkeleta Cengu. Seit März ist
bringt. In Bonn kommt deshalb jetzt Frau die 30-Jährige Auszubildende im Senioren-
Müller als Testpatientin zum Einsatz. zentrum. Warum sie die Arbeit mag? „Ich
An ihrem Bett gibt es viele heikle Fragen: sehe Körper, ich sehe Seele, ich sehe Geist“,
An welcher Grenze beginnt in Deutsch- sagt Cengu. Im Mai 2015 ist sie mit ihrem
land die Scham? Dürfen auch Männer Frau- Mann und ihrer Tochter nach Deutschland
en waschen? Und wie kann man Frau Mül- gekommen. Zu Hause in Albanien hat sie
ler mit einem Handtuch so diskret bedecken, als Lehrerin gearbeitet, in ihrem neuen Le-
dass sie sich bei der Körperpflege niemals ben ist das ausgeschlossen. Nachdem ihr
nackt fühlt? „Es geht mir darum, Sie alle zweites Kind zur Welt kam, nahm Cengu
zu sensibilisieren“, sagt Pflegepädagogin an einem Programm teil, mit dem Shilan
Fendi am Ende des Kurstages. Fendi Mütter mit Migrationshintergrund für
Akram hat kein Problem damit, Frau die Pflege fit macht. Cengu kam zum Prak-
Müller frisch zu machen, „wenn sie nichts tikum im Seniorenzentrum. Und blieb.
dagegen hat“. Wenn ihm etwas Sorge be- Mehr als ein Dutzend Flüchtlinge hat
reitet, dann die Frage, wie viele Monate das Heim bis heute beschäftigt. Und es
es dauern wird, bis sein syrischer Ab- gehörte zu den unschönen, aber vergleichs-
schluss anerkannt wird. Was er will, ist ein weise lösbaren Problemen, dass ein Be-
normales Leben. „Arbeiten, so schnell wie wohner anfangs fragte, warum „ein Neger“
Die Glimmer- möglich“, sagt er. Es gibt viele Arbeitgeber, seinen Rollstuhl putze, als ein Mitarbeiter
die auf Pflegekräfte wie ihn warten. aus Eritrea das Zimmer betrat.

Kinder Wenn Ursula Meeth auf Beistand hofft, Schwerer wiegt, dass das Seniorenzen-
dann zündet sie eine Kerze an. Doch bei trum nur wenigen Geflüchteten eine Per-
ihren Ausbildungsstellen waren auch from- spektive für immer bieten kann – vor
Glimmer bringt Lippenstifte, Autolacke und me Bitten vergebens. Für vier von sechs allem wenn ihr Bleiberecht nicht gesichert
Make-up zum Schimmern. Abgebaut wird Plätzen will sich kein Bewerber finden. ist. Voraussetzung für eine Ausbildung ist
es in Indien – in vielen illegalen Minen, von Die 48-Jährige leitet das Seniorenzen- ein Sprachkurs. Asylbewerber aus soge-
den Ärmsten der Armen, darunter Tausen- trum St. Elisabeth in Bornheim-Merten. nannten sicheren Herkunftsländern haben
de Kinder. Kinder wie Badku Marandi. Als Der lichtdurchflutete Neubau schmiegt darauf aber keinen Anspruch. Das Heim
er acht war, stürzte der Stollen ein, in dem sich an einen Hang, vor der Tür duftet der bietet daher jetzt Deutschunterricht an.
er gerade nach den glitzernden Mineralen Lavendel. Alle 80 Plätze des Heims sind Auch der Bundesfreiwilligendienst, den
hämmerte. Er überlebte – und kämpft vergeben, die Warteliste ist lang. Wer hier etwa Bundesgesundheitsminister Hermann
Gröhe (CDU) als leichten Einstieg in die
seitdem gegen die Glimmer-Ausbeutung in Pflege anpries, ist Asylbewerbern aus Län-
seinem Dorf. Wer profitiert von dem bluti- dern wie Albanien, dem Kosovo oder Gha-
gen Geschäft mit dem Glimmer? Wie funk- na verwehrt. Abhilfe gegen den Pflege-
tioniert das globale Netzwerk der Händler? notstand würde auf lange Sicht nur ein
Und wie gehen deutsche Firmen mit dieser Einwanderungsgesetz schaffen.
Form der Kinderarbeit um, wenn sie Glim- Auch was auf Dauer aus Enkeleta Cengu
mer aus Indien für ihre Produkte kaufen? wird, kann niemand wissen. Albanien gilt
als sicheres Herkunftsland. Weil Cengu
einen Ausbildungsvertrag vorlegen konnte,
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SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
SELINA PFRUENER / DER SPIEGEL

tens drei Jahre bleiben. Zwei weitere Jahre


sind möglich, wenn sie im Anschluss einen
festen Arbeitsvertrag bekommt. Danach
aber könnte ihr schlimmstenfalls wieder
die Abschiebung drohen. Trotz Fachkräfte-
mangels, trotz aller Pilotprojekte.
„Das ist doch verrückt“, sagt Meeth.
Pflegeschülerin Cengu „Wir brauchen diese Menschen.“
J E TZ T DI G I TAL L E S E N „Ich sehe Seele, ich sehe Geist“ Cornelia Schmergal

74 DER SPIEGEL 22/ 2017


Kratzer im
Glitzerlack
Rohstoffe Konzerne wie BMW
oder VW verwenden Glimmer,
um ihre Autos zum Glänzen
zu bringen. Das Mineral stammt

CHRISTIAN WERNER / ZEITENSPIEGEL


oft aus dubiosen Quellen.

A
m Eingang der Mine glitzert die
Luft. Mikroskopisch kleine Glim-
merpartikel schweben schwerelos
umher. Sie reflektieren die Sonne, die hier
im ostindischen Tisri für Temperaturen
von teilweise über 40 Grad sorgt. Glimmergewinnung in Indien: Als hätte sie jemand mit Gold oder Silber bestäubt
15 Meter tiefer, in nahezu totaler Fins-
ternis, arbeiten Kinder neben ihren Eltern gionen wie Asien oder Afrika wird im Zeit- gen getroffen“ worden. Die Verantwortung
und Geschwistern. Jungen im Teenager- alter der Elektroautos erheblich zunehmen. für die Arbeitsbedingungen gibt der US-
alter klopfen Steine aus der Wand, die Allein für die Batterien werden Unmengen Konzern an die Zulieferer weiter: Diese
Mädchen und Frauen dann in Weidenkör- an Lithium oder Kobalt benötigt. führten „weiterhin Prüfungen durch“ und
ben an die Oberfläche transportieren. Dort Das Problem mit dem Glitzerstoff Glim- stellten „durch geeignete Schritte“ sicher,
wird kostbarer Glimmer von wertlosem mer zeigt nun, wie schwer es den Auto- dass die „Nulltoleranzpolitik von GM ge-
Geröll getrennt. Es ist eine Knochenarbeit, konzernen fällt, ihre komplexen, weltum- genüber Kinderarbeit“ eingehalten werde.
ohne jede Sicherheit: Die Gruben werden spannenden Lieferketten zu kontrollieren – Das Problem ist, dass solche Verspre-
oft illegal betrieben. und gleichzeitig zu garantieren, dass alle chen von außen kaum zu überprüfen sind.
Insgesamt 20 000 Kinder schuften Schät- Beteiligten die Menschenrechte achten. Noch immer akzeptieren die Autoherstel-
zungen zufolge in solchen Minen, von de- VW, BMW und General Motors (GM) ler nur eine Kontrollinstanz: sich selbst.
nen es Hunderte gibt in den hügeligen Wäl- beziehen Autolacke von einigen der welt- Daimler war gar nicht erst bereit, Namen
dern an der Grenze zwischen den indi- weit größten Lackhersteller, darunter US- von Zulieferern preiszugeben.
schen Bundesstaaten Jharkhand und Bihar. Konzerne wie Axalta und PPG (Werbeslo- Um die Blockadehaltung der Konzerne
Mehr als ein Drittel der Bevölkerung lebt gan: „Wir beschützen und verschönern die zu durchbrechen, haben Menschenrechts-
dort unter der Armutsgrenze. Welt“). Diese kaufen Perlglanzpigmente – aktivisten die Strategie geändert. Statt auf
Die Bedingungen, unter denen die Men- extrem kleine schimmernde Teilchen auf Konfrontation zu gehen, wollen sie die
schen hier arbeiten, stehen in einem ab- Glimmerbasis – von großen Zwischenhänd- Unternehmen zur Mitarbeit bewegen. Die
surden Kontrast zu den Produkten, für die lern, die oft nicht in Indien, sondern bei- neue Organisation „Responsible Mica
der Rohstoff genutzt wird. Die Glitzerstei- spielsweise in China sitzen. Initiative“ verfolgt das Ziel, die Kinder-
ne, die in Tisri und anderswo mühsam Wer die Lieferketten bis zum Ursprungs- arbeit in indischen Glimmerminen bis 2022
abgebaut werden, verleihen Lippenstiften, ort zurückverfolgt, landet über ein Netz abzuschaffen. „Es kann nicht angehen,
Wimperntusche oder Nagellack ihren einheimischer Händler immer wieder bei dass Marken dieses Problem allein den
Glanz – und Hunderttausenden Autos. den kleinen, düsteren Minen im indischen Zulieferern überlassen“, sagt Mitgründerin
Der Glimmerlack sorgt für einen soge- Tisri oder den daran angrenzenden Gegen- Catherine Peyreaud. Um Lieferketten
nannten Perlglanzeffekt. Der lässt die Fahr- den. Auch Recherchen der britischen Zei- nachhaltig zu gestalten, müsse „die Ver-
zeuge schimmern, als hätte jemand sie mit tung „The Guardian“ stützen die These, antwortung geteilt“ werden.
Gold oder Silber bestäubt. dass Glimmer oft aus illegalen Minen stam- Erste Erfolge hat Peyreaud bereits vor-
Dass Glimmer oft aus fragwürdigen me, in denen Kinderarbeit und Schuld- zuweisen: Autolackhersteller wie PPG,
Quellen stammt, wird für die Autokonzer- knechtschaft weit verbreitet seien. Axalta und AkzoNobel haben sich der Ini-
ne zum Problem. Denn BMW oder Volks- Noch 2016 zeigten VW, BMW und GM tiative angeschlossen. Mit dabei sind auch
wagen versprechen nicht nur, dass ihre Au- sich überrascht, dass der Abbau von Glim- die Kosmetikriesen L’Oréal, Chanel, Estée
tos weitgehend sauber und verbrauchsarm mer mit Kinderarbeit verbunden sei, kün- Lauder und Coty sowie der deutsche Phar-
sind; die Fahrzeuge sollen auch unter um- digten aber interne Ermittlungen bei ihren ma- und Chemiekonzern Merck.
weltfreundlichen und humanen Bedingun- Lieferanten an. Mittlerweile teilen die Kon- Nur eine Industrie hält sich bislang
gen entstehen. So wolle man „die Reputa- zerne mit, sie hätten das Problem er- auffallend zurück: die Autobranche. BMW
tion und den Wert des Unternehmens“ kannt – und Gegenmaßnahmen ergriffen. und VW beteuern lediglich, sie begrüßten
langfristig steigern, schreibt VW in seinem So hat sich VW „zu einer zeitweiligen die Initiative. Offiziell hat sich bisher nur
Nachhaltigkeitsbericht. Aussetzung des Einkaufs in bestimmten Fiat-Chrysler angeschlossen.
Den Versprechen der Konzerne müssten Lieferketten“ entschlossen. BMW beteuert, Peter Bengtsen
nun Taten folgen. Das jedenfalls fordern keinen Glimmer aus Indien mehr zu ver-
neben internationalen Organisationen wie wenden – bis der dortige Lieferant garan- Visual Story:
Amnesty International zunehmend auch tieren kann, dass das Mineral ohne Kin- Die Glimmer-Kinder
kritische Aktionäre und Kunden. Denn derarbeit abgebaut wird. GM teilte nur spiegel.de/sp222017glimmer
oder in der App DER SPIEGEL
klar ist: Der Bedarf an Rohstoffen aus Re- mit, es seien „entsprechende Vorkehrun-

DER SPIEGEL 22/ 2017 75


Wirtschaft

Überdruss am Überschuss
Welthandel Angesichts ständig steigender Leistungsbilanzsalden übt sich die deutsche Politik
stets in demonstrativer Ohnmacht – zu Unrecht.

tieren sie Güter und Dienstleistungen aus Was lässt sich gegen die

A
m Ende kapitulierte sogar Wolf-
gang Schäuble (CDU). „Der Über- dem Rest der Welt. Solche Länder, Muster- Ungleichgewichte tun?
schuss ist zu hoch“, gestand der beispiel dafür sind seit Jahren die USA, wei- Finanzminister Schäuble reagiert auf die
Bundesfinanzminister kürzlich im Ge- sen ein Defizit in der Leistungsbilanz auf. Frage stets mit einer Mischung aus Fata-
spräch mit dem SPIEGEL ein. Gemeint war Finanziert wird dieses Minus also durch lismus und Resignation. Die Überschüsse
das Plus in der deutschen Leistungsbilanz, eine Kreditaufnahme im Ausland. Um- seien Ergebnis der Entscheidungen von
das für chronischen Ärger mit Partnerlän- gekehrt steht einem Überschuss stets ein Millionen Verbrauchern und Investoren,
dern, der EU-Kommission und dem Inter- Kapitalexport gegenüber. Zugespitzt for- da könne die Politik nichts ausrichten.
nationalen Währungsfonds (IWF) sorgt. muliert: Die Deutschen finanzieren den „Was soll ich denn machen?“, fragt er dann
Die beanstanden seit Jahren die deut- Überschuss in ihrer Leistungsbilanz selbst, in demonstrativer Hilflosigkeit.
sche Exportstärke. Generationen von ame- indem sie ihre Ersparnisse im Ausland an- Im fortgeschrittenen Stadium der Dis-
rikanischen Finanzministern arbeiteten legen. Im Gegenzug erhalten sie Forderun- kussion verweist Schäuble auch gern da-
sich an den überbordenden Ausfuhrer- gen gegenüber ausländischen Bürgern rauf, dass die Politik des billigen Geldes
folgen der Deutschen ab und geißelten sie der EZB den Kurs des Euro drücke, was
als Attentat auf den ökonomischen Welt- deutsche Waren attraktiver auf den
frieden – und ebenso lange hielt Schäuble
dagegen. Nun fragen sich viele, ob sein Gut gehandelt? Weltmärkten mache. Außerdem müsse
Deutschland wegen der niedrigen Ölpreise
Zugeständnis einen Politikwechsel bedeu- Salden der Leistungsbilanz, in Prozent weniger für seine Energieimporte bezah-
tet oder ob sich der deutsche Kassenwart des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts, 2016 len, was das Plus zusätzlich in die Höhe
weiter in achselzuckendem Fatalismus übt. treibe. Kurzum: Die Politik im Allgemei-
Jedes Jahr aufs Neue erwirtschaften die Deutschland +8,3 nen, ihn im Speziellen treffe keine Schuld.
Deutschen Überschüsse auf Rekordniveau. Doch ganz so machtlos, wie Schäuble
Zuletzt lagen sie bei über acht Prozent Japan +3,9 gern tut, ist die Politik dann doch nicht.
vom Bruttoinlandsprodukt. So hoch wie Der Staat besitzt eine ganze Reihe von
noch nie. Untragbar sei der Zustand, klagt Einflussmöglichkeiten und Stellschrauben,
Italien +2,7
IWF-Chefin Christine Lagarde und wieder- mit denen sich die Ungleichgewichte zwar
holt damit eine Botschaft, die sie schon als nicht beseitigen, aber reduzieren lassen.
+ 1,8
französische Finanzministerin vor acht Jah- China
Ü B E R S C H U S S Mehr investieren
ren unters Volk brachte. Vor Kurzem gab
sie sogar eine Zielgröße aus: Allenfalls vier –1,1 Frankreich D E F I Z I T Zu den klassischen Handlungsempfehlun-
Prozent seien hinnehmbar. gen für die Regierung eines Überschusslan-
Um es vorwegzunehmen: Es gibt keine –2,6 USA des gehört die Forderung nach höheren In-
eindeutige Größenordnung dafür, ab wann vestitionen. Dahinter steht die Überlegung,
der Überschuss eines Landes gefährlich dass auch ausländische Unternehmen und
–4,4 Großbritannien
wird oder ein Defizit harmlos ist. Fest steht Arbeitnehmer profitieren, wenn ein Staat
nur, dass kaum ein Land derart ausdau- Quellen: IWF, Bundesbank Straßen, Brücken oder Kanäle ausbaut.
ernd am Pranger stand wie Deutschland. Deutschland könnte sich problemlos ein
Grund genug für die Berliner Politik zu zusätzliches Investitionsprogramm für sei-
überlegen, ob der Zustand tatsächlich so oder Unternehmen. Sie bauen also Netto- ne Infrastruktur leisten. Der Bund und die
unausweichlich ist. vermögen im Ausland auf. Bei Defizitlän- meisten Länder verzeichnen Überschüsse
dern verhält es sich umgekehrt: Sie gehen in ihren Etats.
Wie entstehen Überschüsse, und Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland Schäuble kontert die Empfehlung ge-
warum gelten sie als gefährlich? ein. wohnheitsmäßig damit, dass die Bundesre-
Ein Land erwirtschaftet einen Leistungs- Problematisch sind Leistungsbilanz- gierung schon viele zusätzliche Milliarden
bilanzüberschuss, wenn es mehr Waren ungleichgewichte nach herrschender Lehre Euro für Investitionen zur Verfügung
und Dienstleistungen ins Ausland verkauft nicht so sehr für Überschussländer wie gestellt habe, vieles davon aber nicht ab-
als von dort bezieht. Wenn es also mehr Deutschland, sondern eher für Defizitlän- fließe, weil Kapazitäten in Planungsämtern
produziert, als es selbst verbraucht. Zu die- der. Bei ungünstiger Entwicklung laufen und der Bauindustrie fehlten.
sem Ungleichgewicht kommt es, wenn die sie Gefahr, ihre Verbindlichkeiten im Aus- Das Argument ist vorgeschoben. Der
Menschen in dem Land ihr Einkommen, land nicht mehr bedienen zu können. Engpass bei Planungskapazitäten könnte
das sie durch die Herstellung von Waren Dann rutschen sie in die Zahlungsunfähig- selbst durch Investitionen beseitigt werden,
und Dienstleistungen erwirtschaften, nicht keit. Für Überschussländer besteht indirekt wäre deshalb allemal ein lohnendes Un-
komplett ausgeben, wenn sie also sparen. eine Gefahr, wenn sie nach einer solchen terfangen. Und bei fortgeschrittener Aus-
Die Ersparnisse, die im Inland nicht zum Pleite Auslandsforderungen abschreiben lastung der heimischen Bauindustrie kä-
Zuge kommen, fließen als Kredite oder Di- müssen. Dadurch können heimische Ban- men eben vermehrt ausländische Unter-
rektinvestitionen ins Ausland. Dort finan- ken und Unternehmen in Schieflage gera- nehmen zum Zuge – was gewollt wäre.
zieren sie Anschaffungen von Bürgern und ten. Mithin haben auch Überschussländer Doch Vorsicht, staatliche Investitionen
Unternehmen. Weil diese Länder mehr ver- ein Interesse, dass sich ihr Außenhandels- entwickeln Nebenwirkungen, die dem Ziel,
brauchen, als sie selbst produzieren, impor- saldo nicht allzu einseitig entwickelt. die Überschüsse abzubauen, zuwiderlau-
76 DER SPIEGEL 22 / 2017
Die Maßnahme ist einfacher umzuset-
zen und auch wieder rückgängig zu ma-
chen als eine Absenkung der Einkommen-
steuer. Doch mit Steuerrabatten wie auch
mit zusätzlichen Investitionen verbindet
sich in der gegenwärtigen Wirtschaftslage
ein erhebliches Risiko. Sie stärken und ver-
längern den Aufschwung. Ökonomen spre-
chen in diesem Zusammenhang davon,
dass die Maßnahme prozyklisch wirkt, was
sie normalerweise vermeiden wollen, um
die irgendwann unweigerlich einsetzende
Rezession nicht zu verschärfen.
Die Politik begibt sich also in einen Ziel-
konflikt. Sie muss sich entscheiden, ob es
ihr wichtiger ist, die Wirtschaft ruckelfrei
wachsen zu lassen oder die Ungleichge-
wichte zu beseitigen. Beides zugleich kann
sie nicht haben.
Höhere Löhne
Eine weitere Möglichkeit, Kaufkraft und
Nachfrage zu steigern, stellen höhere Löh-
ne dar. Weil in Deutschland Tarifautono-
mie herrscht, also Arbeitgeber und Ge-
werkschaften die Lohnhöhe in Eigenregie
aushandeln, besitzt die Politik nur geringe
Einflussmöglichkeiten auf die Tarifpolitik.
Doch angesichts der guten Wirtschaftslage
halten Experten, selbst solche der Bundes-
bank, die Tarifabschlüsse noch für steige-
rungsfähig. Auch Finanzminister Wolfgang
Schäuble sympathisiert mit dieser Haltung.
Es sei kein Problem, wenn die Löhne
vorübergehend stärker steigen als die Pro-
duktivität, finden sie. Eine solche Entwick-
lung würde nicht nur die Kaufkraft der Ar-
beitnehmer merklich stärken, sie würde
auch die Lohnstückkosten, einen Maßstab
DAGMAR SCHWELLE / LAIF

für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volks-


wirtschaft, steigen lassen. Die Angebote
anderer Länder würden damit attraktiver.
Beides würde dazu führen, dass sich die
Ungleichgewichte nivellieren.
Containerterminal im Hamburger Hafen: Überbordender Ausfuhrerfolg Auch ohne direkte politische Interven-
tion hat der Prozess längst eingesetzt. An-
fen. Fließen Milliarden in bessere Verkehrs- wenn damit etwa der Tarif der Einkom- gesichts des Fachkräftemangels lässt er sich
wege, Schulen und Universitäten, verbes- mensteuer begradigt würde. Sie ist nämlich auf Dauer nicht aufhalten. So profitierten
sern sich die Standortqualitäten einer für vier Fünftel der Firmen die Unterneh- die Arbeitnehmer in Deutschland in den
Volkswirtschaft – und damit ihre Wettbe- mensteuer. Sinken deren Tarife, wird die vergangenen Jahren von hohen Lohnab-
werbsfähigkeit. deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähiger. schlüssen. Solange sich die Aussichten für
Um einen solchen Kollateralnutzen zu eine robuste Wirtschaftsentwicklung nicht
Steuern senken vermeiden, ließe sich auf eine Steuer- ändern, werden sie sich auch weiter über
Das Gleiche gilt für Steuersenkungen, eine senkungsvariante zurückgreifen, die der höhere Summen auf dem Lohnstreifen
weitere Standardempfehlung gegen Über- Ökonom Carl Christian von Weizsäcker freuen. Bei den anstehenden Tarifverhand-
schüsse. Dahinter steht die Hoffnung, dass ins Gespräch gebracht hat. Er plädiert da- lungen können sich Arbeitgeber und Ge-
die Bürger mehr Waren aus dem Ausland für, die Mehrwertsteuer zu senken. Sie werkschaften deshalb an der bewährten
ordern, wenn der Staat ihnen zusätzliche entwickelt keine Rückwirkungen auf die Metzger-Maxime orientieren: Darf’s ein
Kaufkraft lässt. Das ist zwar nicht garan- Konkurrenzfähigkeit der heimischen Un- bisschen mehr sein?
tiert, weil das zusätzliche Geld ebenso gut ternehmen, wohl aber auf die Binnen-
in die Anschaffung heimischer Produkte nachfrage. Weniger sparen
fließen könnte, aber auch nicht ausge- Weil in den meisten Branchen Wett- Mehr Möglichkeiten besitzt die Politik, das
schlossen. Die Deutschen könnten zum bewerb herrscht, würden die Händler die Sparverhalten der Bevölkerung zu be-
Beispiel mehr Auslandsreisen buchen oder Entlastung über sinkende Preise an die einflussen. Wenn die Deutschen weniger
italienische statt deutsche Schuhe kaufen. Verbraucher weitergeben. Daraufhin dürf- zurücklegen, schaffen sie auch weniger
Doch Steuersenkungen laufen ebenfalls te der Konsum steigen, wovon inländische Geld ins Ausland, mit dem die Außen-
auf eine Stärkung des Standorts hinaus, wie ausländische Anbieter profitieren. handelsüberschüsse finanziert werden.
DER SPIEGEL 22 / 2017 77
„BeideSeitengewinnen“
Schäuble verteidigt die hohe Sparquote
in Deutschland stets mit dem Hinweis auf
den demografischen Wandel. Weil die Bür-
ger sich nicht allein auf die staatliche Rente
verlassen wollen, sorgen sie privat vor, in- Globalisierung Die schwedische EU-Kommissarin Cecilia
dem sie Geld auf die hohe Kante legen. In
einigen Jahren, so die Argumentation, lös- Malmström, 49, über den richtigen Umgang mit Freihandelsgegner
ten die Rentner ihre Rücklagen auf, dann Donald Trump und die unfairen Praktiken der Chinesen
erledige sich das Problem von selbst.
Der Prozess lässt sich beschleunigen. Je Malmström: Auch wenn wir noch nichts
länger die Deutschen arbeiten, desto we- Genaues wissen: Wir machen schon jetzt
niger müssen sie fürs Alter sparen. Die deutlich, dass manche Vorschläge wie bei-
Rente mit 70 wäre also ein aktiver, zudem spielsweise eine Grenzsteuer oder Buy-
effektiver Beitrag, die Sparquote zu sen- America-Vorschriften in eine protektionis-
ken und damit die Ungleichgewichte ab- tische Richtung gehen. Auch die Methode
zubauen. Fraglich bleibt nur, ob Politiker, der Amerikaner, plötzlich bestimmte Stahl-
gleich welcher Couleur, den Schritt wagen. produkte als sicherheitsrelevant einzustu-
fen, finden wir sehr problematisch.
Den Euro als Reservewährung stärken SPIEGEL: Stahlexporteure aus Deutschland
Großen Anteil am chronischen Leistungs- klagen bereits über Behinderungen.

OLIVIER HOSLET / PICTURE ALLIANCE / DPA


bilanzdefizit der USA hat die Landeswäh- Malmström: Deutschland und andere Län-
rung. Der Dollar gilt weltweit als Reserve- der haben in den USA protestiert. Wir
währung Nummer eins. Aus dieser Rolle müssen immer wieder klarmachen, dass
erwächst eine ständige Nachfrage nach Millionen von US-Jobs vom Handel mit
Dollar. Die USA ziehen, weil sie als letzte der EU abhängen.
Weltmacht als sicherer Hort mit einer sta- SPIEGEL: „Mauern sind kein Weg, um einem
bilen Währung gelten, gleichsam automa- Land wieder zur Größe zu verhelfen“, sag-
tisch Kapital an, ein Vorgang, der die ame- EU-Funktionärin Malmström ten Sie kürzlich in Mexiko. Glauben Sie,
rikanischen Importe anschwellen lässt. dass Trump die Segnungen des Freihandels
Je mehr der Euro dem Dollar als Welt- noch erkennen wird?
reservewährung Konkurrenz macht, desto SPIEGEL: Frau Malmström, eigentlich kön- Malmström: Ich glaube gar nicht, dass Trump
entspannter präsentieren sich die Leis- nen Sie doch froh darüber sein, dass Do- etwas gegen Handel an sich hat. Er war
tungsbilanzsalden. Dann sucht globales Ka- nald Trump zum amerikanischen Präsiden- doch selbst ein Leben lang Händler in sei-
pital vermehrt Anlagemöglichkeiten in der ten gewählt wurde. nem Bereich, der Immobilienbranche. Und
Eurozone, vor allem in Deutschland, ihrer Malmström: Wie kommen Sie denn darauf? hat er nicht eben einen Waffendeal mit
größten und attraktivsten Volkswirtschaft. Das amerikanische Volk hat seinen Präsi- den Saudis über hundert Milliarden Dollar
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass denten gewählt, meine Stimme zählt in abgeschlossen? Der Unterschied ist, dass
der Euroraum seine Probleme entschlos- den USA nicht. für Trump Handel etwas ist, bei dem einer
sen angeht – und sie nicht wie bisher vor SPIEGEL: Gegen Freihandelsabkommen wie gewinnt und einer verliert. Das scheint in
sich herschiebt. TTIP und Ceta zu demonstrieren scheint seinem Charakter angelegt zu sein, und
Dieser Zustrom an Geld würde sich nicht mehr so cool zu sein, wenn man auf das unterscheidet uns. Für uns ist Handel
zwangsläufig in höheren Importen nieder- einmal den ungeliebten amerikanischen etwas, bei dem beide Seiten gewinnen.
schlagen, mithin in einem geringeren Leis- Präsidenten auf seiner Seite hat … SPIEGEL: Wie erklären Sie sich dann, dass
tungsbilanzüberschuss. Zudem würde der Malmström: Da ist etwas dran. Trumps sich viele Europäer, genauso wie Trumps
Eurokurs steigen, was die deutschen Ex- Wahl hat vielen in Europa die Augen ge- Wähler, als Verlierer von Freihandel und
porte verteuern und die Importe verbilli- öffnet, wie wertvoll die EU und interna- Globalisierung sehen. In Strategiepapieren
gen würde. Die Mitglieder der Eurozone, tionale Zusammenarbeit sind. der Kommission heißt es neuerdings, man
allen voran die Bundesrepublik, täten also SPIEGEL: Das gilt offenbar auch für viele müsse die Ängste der Bevölkerung ernst
gut daran, die Konstruktionsfehler des Länder. Weil die USA als Vorreiter für den nehmen. Hören wir da Selbstkritik heraus,
Euro zu beseitigen und ihre Zusammen- freien Handel ausfallen, suchen die sich nach dem Desaster mit TTIP?
arbeit zu vertiefen. einen neuen Partner – die EU. Malmström: Wir haben daran gearbeitet,
All diese Maßnahmen zusammengenom- Malmström: Wir sind auf gutem Weg, noch unsere Handelsverhandlungen transparen-
men, würden den deutschen Leistungs- in diesem Jahr mit Japan, Mexiko und den ter zu machen und wertebasierte Abkom-
bilanzüberschuss vielleicht nicht zum Ver- Mercosur-Staaten Südamerikas Freihan- men auszuhandeln. Wir sind auf Bedenken
schwinden bringen, aber sie könnten einen delsabkommen zu unterzeichnen. Viele eingegangen, mit einer Reform des Inves-
Beitrag leisten, die Lage und das Verhältnis Länder haben den gleichen Instinkt wie titionsschutzsystems hin zu einem Investi-
zu den Partnerländern zu entspannen. wir Europäer: Wenn sich die USA vom in- tionsgericht. Unsere Welt ändert sich ra-
Für die Bevölkerung würde sich der ternationalen System abwenden, dann sant, das erzeugt vielfältige Ängste. In ei-
Kurs ebenfalls auszahlen. Die Bürger wür- müssen wir uns eben selbst darum küm- ner sich wandelnden Welt verschwinden
den zwar länger arbeiten müssen, aber zu mern. Wir wollen gemeinsam zeigen, dass einige Jobs, neue entstehen. So ist das seit
höheren Löhnen, von denen ihnen wegen Freihandel in der Ära Trump nicht der Ver- Hunderten von Jahren. Wenn Arbeitsplät-
niedrigerer Steuern mehr bliebe, in einem gangenheit angehört. ze verschwinden, dann überwiegend nicht
Land mit hervorragend ausgebauten Schu- SPIEGEL: US-Präsident Trump will bei durch den Welthandel, sondern durch den
len, Universitäten und Straßen, ausgestat- sämtlichen Handelsabkommen überprüfen, technischen Fortschritt. Also müssen wir
tet mit einer weltweit begehrten Währung. ob sie Amerikas Wachstum nützen und mehr in Aus- und Fortbildung investieren,
Es gibt schlimmere Perspektiven. die US-Industrie stärken. Wie reagieren damit die Menschen neue Chancen bekom-
Christian Reiermann Sie? men, falls ihr Arbeitsplatz wegfällt. Die
78 DER SPIEGEL 22 / 2017
Wirtschaft

EU muss ihre Investitions- und Sozialfonds SPIEGEL: Sie werden die Mitgliedstaaten abschiedet. Wir brauchen diese Instrumen-
besser nutzen, um ihre Bürger vor dem ra- und deren Parlamente früher mit einbe- te, um uns im Notfall besser gegen unfaire
schen Wandel zu schützen. Vielleicht müs- ziehen müssen. Praktiken verteidigen zu können. Aber
sen wir außerdem noch klarer machen, Malmström: Das stimmt, und darin liegt das ist nur eine Seite. Genauso wichtig ist,
dass wir unsere Standards im Umwelt- eine Chance. Wenn die EU-Mitglieder wol- dass wir mit China ins Gespräch kommen,
schutz, bei der Nahrungsmittelsicherheit, len, dass wir für sie Handelsabkommen wie jetzt etwa beim Globalen Stahlforum.
ganz allgemein bei unseren Werten nicht schließen, die ein reformiertes Investitions- Russland, Korea, die Türkei und die USA
aufgeben, wenn wir Handelsabkommen gericht enthalten, müssen sie eben dafür – wir haben da genau die gleiche Agenda.
abschließen. sorgen, dass ihre Parlamente an Bord sind. Die Chinesen haben versprochen mitzu-
SPIEGEL: Auch der Europäische Gerichtshof So stellen wir sicher, dass die Abkommen, machen, die Amerikaner auch.
verlangt eine schärfere demokratische Kon- die wir über einen Zeitraum von bis zu SPIEGEL: Der deutsche Solarzellenhersteller
trolle der EU-Handelspolitik. Nach einem zehn Jahren verhandeln, von Beginn an Solarworld ist gerade pleitegegangen, für
neuen Rechtsgutachten müssen künftig – eine demokratische Legitimität haben. den kommen ihre Ideen offenbar zu spät?
anders als bisher – nationale Parlamente SPIEGEL: Kommende Woche ist Chinas Pre- Malmström: Das Problem bei Handels-
beispielsweise die umstrittenen Schiedsge- mier Li Keqiang in Brüssel zu Gast. Chinas schutzinstrumenten ist: Es gibt immer zwei
richte absegnen. Präsident hat in Davos gesagt, sein Land Seiten, auch in Deutschland. Einige Unter-
Malmström: Wir hatten das Gericht gebeten, wolle die Rolle eines Champions für Frei- nehmen leiden unter unfairen Praktiken,
Klarheit zu schaffen: Was ist EU-Kompe- handel von den USA übernehmen. Wie Solarworld etwa, andere Unternehmen
tenz, was nicht? Bei etlichen Handels- glaubwürdig ist diese Ankündigung? aber, die aus China Teile für ihre Fertigung
abkommen hatten wir zuletzt Diskussionen. Malmström: Die Rede war sehr gut. In der importieren, profitieren, wenn chinesische
Die Kommission war der Meinung, die Ab- Realität haben wir jedoch leider wenige Produkte billiger werden.
kommen werden von den 28 Regierungen Fortschritte gesehen. Im Gegenteil: Viele SPIEGEL: Mit Verlaub: Das Ergebnis ist ziem-
und dem EU-Parlament ratifiziert, wäh- europäische Unternehmen haben den Ein- lich eindeutig: Es gibt in Europa kaum eine
rend die Mitgliedstaaten sagten, das sei druck, es würde sogar schwieriger. Sie kla- produzierende Solarindustrie mehr.
auch Sache der nationalen Parlamente. gen in China zunehmend über Korruption, Malmström: Nur noch sehr wenige Firmen,
Jetzt sind die Kompetenzen geklärt: Über Rechtsunsicherheit oder schlechte Inter- zugegeben. Wir müssen schneller und ef-
die wichtigsten Teile der Abkommen wird netverbindungen. Die Chinesen müssen fizienter als bislang herausfinden, wo der
demokratisch auf EU-Ebene entschieden, ihren Worten jetzt Taten folgen lassen. Marktpreis für bestimmte Produkte liegt.
während der Teil zu Investitionen national SPIEGEL: Sie haben eine Reihe von neuen Die Amerikaner sind da schneller, das
ratifiziert wird. Nun müssen wir sowohl Anti-Dumping-Maßnahmen wie Strafzölle stimmt. Aber unsere Untersuchungen
innerhalb der Kommission als auch mit vorgeschlagen, um gegen unfaire Handels- scheinen gründlicher zu sein. Lassen Sie
den Mitgliedstaaten diskutieren: Splitten praktiken vorzugehen. Kommen diese es mich so sagen: Wenn es zum Streit vor
wir die Abkommen künftig auf? Verhan- nicht viel zu spät? der Welthandelsorganisation kommt, ge-
deln wir gar nicht mehr auf EU-Ebene Malmström: Wir hoffen, dass das EU-Parla- winnen in der Regel wir.
über den Schutz von Investitionen? ment unsere Vorschläge nun schnell ver- SPIEGEL: Nach der Solarindustrie rollen die
Chinesen nun mit Übernahmen die
Hightech-Industrie auf. Wie kann Europa
strategische Schlüsselindustrien besser
schützen?
Malmström: Auf der einen Seite brauchen
wir ja Investitionen für unseren Wohlstand,
auch aus China, das wollen wir eigentlich
nicht beschränken. Aber es gibt eben auch
diese massive Übernahmewelle, von der
Sie sprechen, und die kann uns schaden.
Europa muss etwas tun, heißt es jetzt. Nur:
was? Wir prüfen gerade die rechtlichen
Möglichkeiten. Einige Länder können
Übernahmen bereits verhindern, jedenfalls
wenn die nationale Sicherheit berührt ist.
SPIEGEL: Die Briten wollen all dies nun für
sich selbst regeln und haben sich für den
Brexit entschieden. Wird es nach ihrem
Ausscheiden ein Freihandelsabkommen
mit Großbritannien geben?
Malmström: Natürlich werden die Briten
unsere Freunde und Partner bleiben. Aber
Großbritannien wird nach seinem Aus-
scheiden ein Drittland sein – und nicht
WANG JILIN / IMAGINECHINA / LAIF

mehr Teil der EU. Wir können über die


Ziele und den Umfang eines solchen Ab-
kommens reden. Doch um die Details zu
verhandeln, werden wir mehrere Jahre
brauchen. Ich halte es für unrealistisch,
dass wir am 1. April 2019 schon ein Han-
delsabkommen haben werden.
Arbeiter in einer chinesischen Autofabrik: „Leider wenige Fortschritte“ Interview: Peter Müller, Christoph Pauly

DER SPIEGEL 22 / 2017 79


Wirtschaft

Mit Senkblei und Simsalabim


Immobilien In Deutschland werden Häuser noch wie vor 50 Jahren errichtet. Digitale Hilfsmittel
könnten das Bauen verbilligen. Aber viele Handwerker bleiben lieber analog.

J
edes Auto ist ein Unikat. Aus Tausen- er. „Wir werden nicht mehr auf der Bau- mungsdefizite eben, die ein Projekt ver-
den Teilen fertigen Arbeiter und Ro- stelle mit dem Statiker diskutieren, wo zögern und es teuer machen. Und die Bau-
boter binnen Stunden ein Fahrzeug eine Wasserleitung hinsoll.“ en in eine Sisyphusaufgabe verwandeln.
wie kein anderes. Sie verbauen Kompo- Nur wenige Akteure in der Immobilien- Nur knapp ein Drittel seiner Zeit, haben
nenten, die rechtzeitig in der richtigen Men- branche gehen ähnlich offensiv vor. Die Studien ergeben, verbringt ein Bauarbeiter
ge am rechten Ort sind: kein Hexenwerk, meisten starten, wenn überhaupt, mit ei- mit Mauern, Malern oder Verputzen. Den
sondern das Ergebnis ausgeklügelter Soft- niger Verspätung ins digitale Zeitalter. Der Rest verschwendet er mit der Suche nach
waresysteme. Der Kunde kann sich sicher Umsetzungsgrad sei „vielfach noch sehr Material und Gerät oder mit Aufräumen,
sein, dass er sein Wunschauto bekommt, gering“, stellt die Unternehmensberatung Umräumen und Transportieren.
zum vereinbarten Termin und Preis. Roland Berger fest. In vielen Bauunterneh- Mit BIM gebe es weniger Leerlauf, so
Auch ein Haus ist ein Unikat. Der Bau- men seien „weiterhin vor allem Papier, Te- lautet das Versprechen, Millionenflops wie
herr wäre allerdings hochgradig naiv, wenn lefone und Faxgeräte in Gebrauch“, wun- die Elbphilharmonie oder der BER-Flug-
er erwartete, dass das Resultat exakt sei- dern sich die Berater. hafen wären damit womöglich zu vermei-
nen Vorstellungen entspricht. Erst recht, Der Rückstand ist umso erstaunlicher, als den gewesen. In jedem Fall hat die Digita-
was Zeitplan und Budget angeht. Denn ge- computergestütztes Bauen in anderen Län- lisierung das Potenzial, Bauen zu verbilli-
plant und gebaut wird in Deutschland oft dern erprobt ist, vor allem in Skandinavien, gen und zu beschleunigen – und letztlich
noch wie vor 50 Jahren: mit Senkblei und und dort deutliche Effizienzgewinne nach- mehr bezahlbaren Wohnraum zu schaffen,
Zollstock, nach Augenmaß und auf Zuruf. weisbar sind. Manager Gröner schätzt, dass der vor allem in den Metropolen rar ist.
Irgendetwas läuft immer schief. Und treibt ein Projekt statt in 18 in 12 Monaten fertig Bislang schob die Bauwirtschaft die Ver-
den Häuslebauer dem Wahnsinn entgegen. sein und bis zu einem Viertel weniger kos- antwortung für die Wohnungsnot gern ab:
Zwei Branchen, zwei Welten: Während ten könnte, wenn „Building Information an die Behörden, die mit immer schärferen
die deutsche Autoindustrie die Fertigung Modeling“, kurz: BIM, auch in Deutschland Anforderungen ans Energiesparen oder an
stetig weiter automatisiert und ihre Zulie- zum Standard würde. BIM bedeutet für das den Brandschutz die Kosten in die Höhe
ferer gewohnt sind, „just in time“ zu lie- Immobiliengewerbe ungefähr dasselbe wie trieben; oder an die Eigentümer, die auf
fern, ist in großen Teilen der Baubranche Industrie 4.0 für Maschinen- und Fahrzeug- steigende Preise für ihre Grundstücke spe-
die Zeit stehen geblieben. Kein anderer bau: die digitale Vernetzung von Menschen, kulierten. Doch offensichtlich hat die Bran-
relevanter Wirtschaftszweig in Deutsch- Anlagen und Produkten. che selbst die prekäre Lage mitverschuldet,
land ist digital so abgehängt, manche Wer mit BIM baut, baut quasi doppelt: weil sie es versäumt hat, sich zu moderni-
Protagonisten weigern sich regelrecht, ihre Zunächst entwirft der Planer ein drei- sieren. Aber warum?
Potenziale auszuschöpfen. Aufschluss darüber gab vor zwei Wo-
Anders lässt es sich kaum erklären, dass
in den vergangenen zehn Jahren die Pro-
Nur knapp ein Drittel chen der „BIM-Anwendertag“ in Mainz,
gut 500 Fachleute tauschten sich im Kur-
duktivität am Bau um gerade 4 Prozent seiner Zeit verbringt ein fürstlichen Schloss über die Feinheiten di-
zugelegt hat. Im verarbeitenden Gewerbe
insgesamt ist sie mit 34 Prozent rund acht-
Bauarbeiter mit Mauern, gitalen Bauens aus. Auf 60-Zoll-Monitoren
präsentierten Softwarefirmen 3-D-Modelle,
mal so schnell gewachsen. „Wir hinken Malern oder Verputzen. bunte Abbilder aus dem komplexen Innen-
weit hinterher“, sagt Christoph Gröner, leben von Bauvorhaben, ein Gewirr von
Gründer und Vorstandschef der Berliner dimensionales Modell des Objekts am Rohren, Trägern, Wänden, Schächten, das
CG-Gruppe. Rechner, und zwar im Detail. Er beschreibt per Mausklick Schicht für Schicht zu ent-
Gröner ist ein Schwergewicht der Im- nicht bloß eine Fliese für das Badezimmer, blättern ist.
mobilienbranche. Schon mit 16 Jahren sondern definiert das Produkt und seine „Und was passiert, wenn ich nachträg-
hatte er auf dem Bau gejobbt, dann Ma- Eigenschaften, die Maße, den Preis, die lich einen Durchbruch brauche?“, fragte
schinenbau studiert; im Vordiplom aber Bestellung, den Liefertermin und zum Teil ein Architekt am Demostand. Es ist ein
beschloss er, sich ganz dem Geschäft mit sogar den Ablauf der Montage. typisches Problem am Bau, eine poten-
Gebäuden zu widmen. Heute, mit 49, ist Auf alle Daten haben die Beteiligten Zu- zielle Fehlerquelle, denn jede Planände-
Gröner nach eigenen Angaben Deutsch- griff, wenn es Korrekturen gibt, am Zeit- rung löst eine Vielzahl ungeahnter Effekte
lands größter Projektentwickler, rund 1,3 plan beispielsweise, können sich alle Ge- aus, sie können die Statik betreffen oder
Millionen Quadratmeter Wohnungen und werke darauf einstellen. Erst wenn sie auf den Verlauf von Leitungen. Dem Archi-
Gewerbeflächen hat sein Unternehmen in ihrem Tablet überall grüne Häkchen sehen, tekten wurde darauf vorgeführt, wie er
Arbeit. „Ich will auch in fünf Jahren noch beginnt das reale Bauen und werden die ein Loch in die virtuelle Betonwand
dabei sein“, sagt er. Platten verlegt. schneidet und für ihn sichtbar wird, wo
Deshalb krempelt er sein Unternehmen Auf diese Weise soll, Simsalabim, das Kollisionen drohen.
um, bis zum kommenden Jahr will Gröner typische Chaos am Bau vermieden werden, Solche BIM-Modelle sind nicht nur drei-
es auf digital getrimmt haben. Und er for- zumindest aber verringert: wenn zum Bei- dimensional angelegt. Mit dem Faktor Zeit
dert dasselbe von allen, denen er Aufträge spiel der Fliesenleger die falschen Platten kommt eine vierte Dimension dazu, mit
gibt, vom Tiefbauer bis zum Fliesenleger. mitbringt oder wenn er gar nicht erst ins der die Dauer der Arbeiten kalkuliert wird,
Nur wer sich auf die Anforderungen digital Bad gelangt, weil dort gerade der Elektri- und mit den Kosten wird eine fünfte ins
vernetzten Planens und Bauens einlasse, ker Anschlüsse legt oder weil der Estrich Spiel gebracht. Manche Modelle beziehen
könne mit ihm im Geschäft bleiben, sagt noch feucht ist. Die üblichen Abstim- sogar eine sechste Dimension ein: die

80 DER SPIEGEL 22 / 2017


Schneller und billiger Just in time
Vorteile des Building Information Modeling Jeder Beteiligte weiß
genau, was wann
wo auf der Baustelle
geschehen soll.

Sechs-
dimensional Neue
Das Gebäude wird Pläne
als 3-D-Modell angefertigt,
Änderungen werden
die 4. Dimension (Zeit), die
allen Beteiligten
5. Dimension (Kosten) und
transparent gemacht,
die 6. Dimension (Wirt-
Fehler so minimiert.
schaftlichkeit) werden
miteinbezogen.

Abbildung: Kerstin Hausknecht

Alle Details Weniger


zu jedem Teil Leerlauf
3-D-Modelle beschreiben Bauarbeiter und
jedes Bauteil: Handwerker verlieren
seine Eigenschaften, kaum Zeit mit warten,
den Preis und die suchen und
Montage. transportieren.

Folgeausgaben, die das Gebäude über den die Methode ihnen mehr Arbeit beschert. Euro. Verbindlicher ist da der Stufenplan,
Lebenszyklus hinweg verursachen wird, Manche haben vielleicht auch nur Bammel den das Verkehrsministerium aufgestellt
für Wartung oder für Energie. vor BIM, weil sich auf Papier Planungsfeh- hat. Spätestens 2020 soll BIM zumindest
In Mainz trafen sich überwiegend Ar- ler besser kaschieren lassen – digitale Mo- in den Infrastrukturprojekten des Bundes
chitekten und Ingenieure – deutlich in der delle dokumentieren sie gnadenlos. zur Anwendung kommen, darunter fallen
Minderheit waren die Handwerker. Viele Der digitale Rückstand hierzulande ist vor allem Vorhaben der Deutschen Bahn
Gewerke bewegen sich bei der Digitalisie- freilich auch der kleinteiligen Struktur der wie der Rheintaltunnel Rastatt.
rung noch auf dem Level 1.0, wie eine Um- Baubranche geschuldet. Es fehlen natio- „Der Erlass des Verkehrsministeriums
frage unter gut 500 Betrieben im Auftrag nale Champions wie in der Autoindustrie, hat Schwung gebracht“, sagt der Münchner
des Zentralverbands des Deutschen Hand- Unternehmen also, die mit ihrer Strahl- BIM-Fachmann Rasso Steinmann. Mehr
werks und der Digitalvereinigung Bitkom kraft andere mitziehen. In Skandinavien und mehr Akteure nehmen nach Meinung
belegt. Demnach ist das Problembewusst- oder Großbritannien gibt es solche Sys- des Bauinformatikprofessors das Thema
sein zwar vorhanden: 71 Prozent der Be- temführer, dort nimmt die Bauindustrie inzwischen ernst. Ihnen bleibt allerdings
fragten betrachten sich eher als Nachzüg- einen größeren Stellenwert ein, und sie ist noch viel zu tun. Die Vorstellung eines
ler, 23 Prozent sehen durch die Digitalisie- mit der Digitalisierung weiter – allerdings Bauarbeiters mit Tablet in der Hand wirkt
rung sogar ihre Existenz gefährdet. Und auch, weil die Politik klare Vorgaben for- heute noch einigermaßen fremd. Und die
dennoch ziehen bemerkenswert wenige muliert hat. Hochkonjunktur, die das Gewerbe gegen-
die Konsequenz daraus: Nur 4 Prozent Dänemark schreibt für alle öffentlichen wärtig beflügelt, mag für tief greifende Ver-
bauen mit BIM. Vorhaben mit einem Volumen von mehr änderungen nicht gerade förderlich sein.
Jens Bille von der Universität Hannover als 670 000 Euro die BIM-Methode vor, Nor- Als in Großbritannien der Immobilien-
versucht, die digitale Idee in die Betriebe wegen für jedes staatliche Projekt. Groß- markt Ende des vorigen Jahrzehnts zusam-
zu tragen. Bille arbeitet an einem hand- britannien hat 2011 eigens eine BIM-Task- menbrach, suchten Wirtschaft und Politik
werkstechnischen Institut, oft aber ist er force eingerichtet. In Deutschland dagegen nach Wegen, den Sektor aufzupäppeln,
unterwegs in Deutschland und spricht vor mangelt es an politischem Nachdruck. und investierten massiv in die Digitalisie-
Mitgliedern von Innungen und Kammern. Das Bundesbauministerium hat zu Jah- rung. Deutschlands Baubranche dagegen
Manchmal fühle er sich, sagt Bille, als ob resbeginn einen Runderlass mit wachswei- hat seit Jahren keine echte Krise mehr er-
er gegen eine Wand rede. chen Formulierungen herausgeschickt. Da- lebt. „Jeder, der bis drei zählen kann“, ver-
Allerdings stehen auch einige Architek- rin bittet Berlin die Länderbehörden ledig- diene derzeit Geld, sagt Projektentwickler
ten, für die rechnergestütztes Entwerfen lich zu prüfen, ob sich ein Projekt für den Gröner. In gewisser Hinsicht sei dies be-
gang und gäbe ist, dem BIM-Ansatz zuwei- Einsatz von BIM eignet, und das auch nur dauerlich: „Es ist kein Leidensdruck da.“
len skeptisch gegenüber. Sie beklagen, dass bei Vorhaben von mehr als fünf Millionen Alexander Jung

DER SPIEGEL 22 / 2017 81


Ausland
Die Faust
im Nacken
Schlechte Zeiten für die
Jungen und Aufsässigen
in der indonesischen Pro-
vinz Aceh – hier setzt die
Staatsmacht die Scharia,
das islamische Recht, mit
Entschlossenheit durch.
Homosexualität und Alko-
hol, enge Jeans und Pop-
musik werden geahndet.
Besonders Punker sind
ein beliebtes Ziel der
Verfolgung. Bei solchen
Razzien werden ihnen
gelegentlich die Haare
rasiert, die punkigen Kla-
motten durch züchtige
Kleidung ersetzt.

ULET IFANSASTI / GETTY IMAGES


Analyse

Der rote Rächer


Die spanischen Sozialisten orientieren sich neu – was bedeutet das?
Er ist wieder da: „El Guapo“, der Schönling, Wirtschaftspro- affären seiner Partei belastet ist, zum Rücktritt zwingen. Mög-
fessor Pedro Sánchez. Am vergangenen Sonntag haben an die licherweise schon im Herbst könnte er sich mit einem Miss-
150 000 Mitglieder der Sozialistischen Arbeiterpartei Spaniens trauensvotum den Madrider Abgeordneten als Regierungs-
einen neuen Generalsekretär gewählt. Mit mehr als der Hälfte alternative vorstellen.
der Stimmen haben sie ihren alten Chef zurückgeholt, den Was bedeutet das für Spanien? Zunächst gefährdet Sánchez’
der Parteivorstand im Oktober zum Rücktritt gezwungen hat- neue Strategie die Stabilität des Landes. Allein um den Haus-
te. Der Grund: Sánchez weigerte sich auch nach zwei verlore- halt für 2017 durchs Parlament zu bringen, muss der Minister-
nen Parlamentswahlen, eine Minderheitsregierung des Konser- präsident die Zustimmung der Basken und Kanarier mit teuren
vativen Mariano Rajoy zu ermöglichen. Eine pragmatischere Zugeständnissen erkaufen. Doch danach könnte das Blatt sich
Haltung vertrat Susana Díaz, die Regierungschefin von Anda- wenden: Falls Rajoy Neuwahlen ausruft, wäre er wohl der
lusien. Sie trat jetzt gegen Sánchez an und verlor. Denn die Gewinner. Denn mehr als die Hälfte der Spanier ordnet sich
Genossen wollten lieber den roten Rächer. Sánchez wird seine der linken Mitte zu. Und die lässt Sánchez nun verwaist zu-
Partei nun wegführen aus der linken Mitte, wo sie einst abso- rück, indem er an den linken Rand rückt. Dort erwartet ihn je-
lute Mehrheiten erzielte. Weg vom reformistischen Kurs in die doch schon reichlich Konkurrenz: die Populisten von Podemos,
sehr linken Gefilde und hinein in einen Pakt mit der Protest- orthodoxe Kommunisten und Separatisten aus dem Basken-
partei Podemos. Sánchez will Rajoy, der durch Korruptions- land und Katalonien. Helene Zuber

82 DER SPIEGEL 22 / 2017


Indien Varadarajan: Vor eineinhalb
„Klima der Gewalt“ Jahren war ich an einer Uni-
versität eingeladen, um eine
Am Montag ist der indische Rede zum Thema Meinungs-
Premierminister Narendra Modi freiheit zu halten. An die hun-
zu Gast in Berlin. Siddharth dert Mitglieder einer Studen-
Varadarajan, 51, Gründer des tenorganisation, die Modis Par-
indischen Onlinemagazins „The tei nahesteht, umringten das
Wire“, warnt vor dessen Politik, Gebäude. Sie drohten, mich
die einen neuen Nationalismus anzugreifen, sollte ich auftre-
ten. Die Polizei musste mich

ZACHARIE RABEHI / DER SPIEGEL


schüre.
nach draußen eskortieren.
SPIEGEL: Modis hindunationa- SPIEGEL: In den vergangenen
listische Indische Volkspartei, Monaten kam es immer wie-
die BJP, führt Indien seit drei der zu Übergriffen durch
Jahren. Wie hat sich das Hindunationalisten. Was
Land verändert? steckt dahinter?
Varadarajan: Es ist intolerant Varadarajan: Solche Fälle hat Hindunationalisten im Bundesstaat Uttar Pradesh
und hypernationalistisch ge- es schon immer gegeben.
worden. Man erkennt das an Nicht das Ausmaß, aber das Aber der lange schweigt, in anderen Ländern erfolg-
der Sprache; an dem, was auf Muster dahinter hat sich ver- wenn Menschen, die seiner reich. Droht Indien eine Ent-
einmal als salonfähig gilt. Ein ändert. Diejenigen, die zum Partei nahestehen, ihre Lands- wicklung hin zur Autokratie
BJP-Mitglied hat kürzlich Beispiel im April einen musli- leute töten. Es ist ein Klima wie in der Türkei oder in
verlangt, dass man die Schrift- mischen Milchbauern gelyncht der Gewalt entstanden. Russland?
stellerin Arundhati Roy vor haben, weil er angeblich Kühe SPIEGEL: Der Premierminister Varadarajan: Es ist verlockend,
einen Militärjeep binden solle, schmuggelte, konnten sich in ist aber sehr beliebt. all diese Länder in einen
weil sie Verwerfliches über dem Glauben wähnen, die Rü- Varadarajan: Weil wir keine Topf zu werfen. Aber Indien
Kaschmir gesagt habe – ange- ckendeckung der Regierung Alternative haben. Ich sehe blickt auf eine lange Ge-
blich. Bis heute hat die Partei zu haben. Wir haben einen wenig, das Modi erreicht hät- schichte des Widerstands zu-
keine Sanktionen gegen die- Premierminister, der sein Mit- te. Er ist gut darin, von rück und hat eine gute Verfas-
sen Mann folgen lassen. gefühl twittert, wenn Terroris- seinen Fehlern abzulenken. sung. Unsere Aussichten
SPIEGEL: Haben Sie auch sol- ten Menschen in Stockholm SPIEGEL: Das Narrativ des star- sind nicht rosig, aber Indien
che Angriffe erlebt? oder London umbringen. ken Führers ist derzeit auch ist eine Demokratie. lh

Fußnote Japan Nur noch 19 Prinzen und am Hof zu bleiben. Stattdes-

91 Tote
Das Spiel mit dem Prinzessinnen stehen bereit, sen plant die Regierung nur
das ist aus Sicht des Tennos das Sondergesetz für Akihito.
alten Kaiser zu wenig für alle Verpflich- Kritiker werfen Abe nun vor,
Japans Premier Shinzo Abe tungen. Außerdem sind viele er lasse die Chance zur Re-
an jedem Tag des Jahres präsentiert sich gern als er- von ihnen im würdigen Alter. form bewusst verstreichen:
2015, das sind die neu- gebener Diener der Monar- Man könnte auf Dauer – wie Denn anders als dem demo-
esten Zahlen, und sie chie. Doch nun hat Abe of- vom Tenno und der Mehrheit kratisch gesinnten Akihito
beschreiben eine gefährli- fenbar den Unmut von Kaiser der Japaner gewünscht – die komme dem Premier der hö-
che Entwicklung – die Ab- Akihito, 83, erregt. Hinter- kaiserliche Personaldecke fische Personalmangel ge-
hängigkeit der Amerika- grund ist ein verdeckt ausge- durch moderne Gesetze ver- legen. Abes reaktionäre An-
ner von starken Schmerz- tragener Konflikt. Er zeigt, breitern, indem etwa Prinzes- hänger möchten den Tenno –
mitteln wie etwa Fentanyl. wie schwer sich Japan mit Re- sinnen ermöglicht wird, nach er wurde bis zur Niederlage
Offenbar werden diese formen tut – und welch frag- ihrer Heirat mit Bürgerlichen im Zweiten Weltkrieg als
„Painkiller“ inflationär ver- würdiges Spiel Abe mit Gott verehrt – wieder
schrieben. Wenn dann dem angeblich verehr- stärker auf diese reli-
der Nachschub ausbleibt, ten Kaiser spielt. Es be- giöse Rolle beschrän-
greifen Abhängige auch gann harmlos, mit ei- ken. Und ihn somit
zu anderen Substanzen. nem Gesetzentwurf, der vom Volk fernhalten.
Die wiederum stammen dem Tenno die Abdan- Ebendies will der Kai-
oft aus Asien. Dealer kung ermöglichen soll. ser verhindern: Er
strecken den Stoff, von Akihito selbst hatte im möchte die relativ offe-
da an ist er gefährlich. vergangenen Jahr den ne Nachkriegsmonar-
Der Skrupellosigkeit der Wunsch geäußert, sich chie aufrechterhalten.
Banden entspricht ihr Pro- zurückzuziehen. Dabei Dazu benötigt er aber
fit: Ein Kilo China-Fentanyl sieht es mit dem Nach- starkes Personal und
etwa kostet rund 4000 wuchs flau aus, die Ver- eine Reform, die ihm
Dollar im Einkauf, auf der greisung der japanischen Abe nun gleichsam mit
IMAGO

Straße bringt es ungefähr Gesellschaft hat auch einer Verbeugung


1,6 Millionen Dollar. das Kaiserhaus erfasst. Kaiserpaar, Abe verweigert. ww

DER SPIEGEL 22 / 2017 83


JACOB RUSSELL / DER SPIEGEL
Zerstörte Straße in West-Mossul: „Als der Prophet hungerte, hat er sich Steine auf den Bauch gelegt – macht es genauso!“

Das letzte Gefecht


Irak Der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ in West-Mossul ist chaotisch und brutal, noch
immer sind bis zu 200000 Zivilisten eingeschlossen. Ein Frontbesuch. Von Christoph Reuter

J
eden Morgen, sobald die Sonne auf- gefechte führt. Im Juni 2014 nahmen die Kellern und Souterrains laut Uno noch im-
geht, kommen sie zu Tausenden. Hu- Terrorkrieger des „Kalifats“ die Stadt ein, mer bis zu 200 000 Menschen. Sie wagen
schen aus dem Schutz der Ruinen oder im Oktober vergangenen Jahres haben ira- die Flucht meist erst, wenn der IS sich zu-
den Schatten der zerstörten Gassen, man- kische Truppen mit der Rückeroberung be- rückzieht. Aber selbst dann bleiben viele,
che ziehen auch gleichgültig in der Mitte gonnen. Nahezu überall ist der IS mittler- aus Angst vor IS-Scharfschützen, vor Plün-
der Hauptstraßen entlang, als könnte ih- weile zurückgedrängt, in Mossul hält er derern, aus Mangel an Alternativen.
nen nichts mehr passieren, nachdem sie Ende Mai fast nur noch die Altstadt west- An diesem Vormittag rollen allein inner-
der Hölle von West-Mossul entkommen lich des Tigris. Und mittendrin kauern in halb einer halben Stunde drei dumpfe De-
sind. Es ist ein Exodus der Müden und Ver- tonationswellen durch die Stadt, gefolgt
störten, aus einer Stadt, die einst die zweit- jeweils von einem riesigen Rauchpilz. Es
größte des Irak war, reich und seit bibli- sind Selbstmordfahrer des IS, von denen
schen Zeiten besiedelt. Tigris sich nach internen Zählungen der Armee
In der Nacht sind sie aufgebrochen, seit Oktober 850 in und um Mossul mit
manchmal von bestechlichen IS-Männern vom IS noch MOSSUL Kleinwagen, Lastern oder Tanklastzügen
an den Kontrollposten vorbeigeschleust, gehaltenes voller Sprengstoff in die Luft gejagt haben.
meist durch die Ruinen schleichend. Ihr Gebiet Wir begleiten eine Einheit der National-
Ziel ist der Bagdad-Kreisverkehr, ein paar polizei, die im Viertel Aakidat unterwegs
Kilometer südlich des Zentrums. Jeder in Altstadt ist. Zu Fuß geht es über Mauerreste und
der Stadt wisse um diesen Weg, sagen die ehemaliges Autowracks, manchmal müssen wir sprin-
Fliehenden, dass hier die Busse stünden, türkisches ten, manchmal geduckt entlang der Mau-
Aakidat Konsulat
die sie in Sicherheit bringen könnten. Bagdad- ern schleichen, denn die IS-Scharfschützen
Wir sind gegen den Strom unterwegs, Kreisverkehr können noch immer irgendwo sein. So
4 km
wollen dorthin, wo der „Islamische Staat“ Flughafen kommen wir zum letzten Posten vor der
(IS) seine zusehends erbitterten Rückzugs- Front, im zweiten Stock eines Hauses ge-
84 DER SPIEGEL 22 / 2017
Ausland

ben kleine Löcher in den Mauern den Mossul haben sie schon Monate vor Be- In West-Mossul beunruhigt uns nicht al-
Blick nach Norden frei: „Da ist der IS“, ginn der Offensive begonnen, einzulagern lein das Dröhnen der Detonationen. Son-
sagt ein Scharfschütze, ohne die Ruinen- und zu horten, was sie auftreiben konnten: dern dieses leichte Zittern des Bodens, das
landschaft aus den Augen zu verlieren. Reis, Bulgur, Bohnen, Oliven, Wasser. ihre Nähe signalisiert. Die Soldaten der ira-
Alle paar Minuten gibt er einen Schuss ab, „Drei Monate hätten wir insgesamt kischen Armee lachen nur: Das sei „out-
vielleicht hat sich da ein Mensch bewegt, durchgehalten, ohne vor die Tür zu ge- going“, sie kennen das Wort sogar auf Eng-
vielleicht war es nur ein Hitzeflimmern. hen“, so Rifai, der Mann mit den Fotos sei- lisch, „das sind sicher die Kameraden von
Aber schon kurz hinter der Front, noch ner toten Cousins auf dem Smartphone. der Mörserposition ein paar Blocks weiter“.
tief im Radius der Mörser des IS, sind Men- Noch ein paar Wochen gibt er denen, die Doch dann ist ein langsam näher kom-
schen. Männer tauchen aus halb zerstörten in der Altstadt eingeschlossen sind. „Dann mendes Surren zu hören, und am Himmel
Häusern auf, sie scheinen froh, dass je- wird das große Sterben beginnen.“ taucht ein Punkt auf. „Eine IS-Drohne“,
mand sich ihre Geschichten anhören will, West-Mossul ist gerade dabei, Opfer ei- rufen die Soldaten und bringen sich in Si-
ziehen einen von Haus zu Haus. ner tödlichen Interessengemeinschaft zu cherheit. Die selbst gebauten Drohnen
„Hier lebten vier IS-Männer, Russen mit werden. Ausgerechnet die sich sonst mit sind mit ein, zwei Kilogramm Sprengstoff
jungen Frauen“, erzählt einer. „Sie waren größtem Misstrauen begegnenden US-Mi- sowie einer Kamera bestückt und werden
sehr brutal, haben uns getreten, wenn wir litärs und die von Iran hochgerüsteten schii- vom IS per Fernsteuerung gelenkt. Ein Sol-
es wagten, sie nur anzusprechen. Als un- tischen Milizen sind sich diesmal einig: dat versucht über Funk, die nächsten Pos-
sere Frauen nicht einmal mehr Milch für In West-Mossul soll der Endkampf gegen ten zu erreichen, irgendwer möge dieses
die Kinder hatten, sind wir trotzdem hin- den IS stattfinden. Dafür haben sie mit der Ding abschießen. Aber die Drohne tuckert
gegangen und haben ihnen gesagt, dass diskreten Tradition des bisherigen Krieges weiter durch die Luft, ist irgendwann ver-
wir hungern.“ Die Antwort der IS-Männer
habe gelautet: „Als der Prophet hungerte,
hat er sich Steine auf den Bauch gelegt –
macht es genauso!“ Ihre Vorräte hätten sie
nicht geteilt. Tage später seien sie ver-
schwunden. Ob geflohen oder von der Ra-
kete getötet, die das Haus der Russen traf?
Schulterzucken der Männer.
Ein paar Meter weiter steht das einstige
türkische Konsulat, ein uralter, verwinkel-
ter Bau mit großem Garten. Dort haben
sie Mohammed und Akram Chudr begra-
ben. „Die beiden haben uns gerettet“, sagt
ihr Cousin Rifai. Als ein IS-Kommando
kam, um das Haus zu besetzen, stellten

JACOB RUSSELL / DER SPIEGEL


die Brüder sich ihnen in den Weg. Einer
der IS-Männer, ein Saudi-Araber, trug ei-
nen Sprengstoffgürtel, es war Wahnsinn,
ihnen entgegenzutreten. Aber im Keller
kauerten 62 Menschen, es war klar, dass
IS-Scharfschützen auf dem Dach ein To-
desurteil für alle bedeutet hätten. Es kam Nationalpolizisten beim Training: Der IS weiß die Schwachstellen zu nutzen
zum Handgemenge, dann tauchte ein tief-
fliegendes irakisches Flugzeug auf und be- gebrochen, den meisten IS-Kämpfern und schwunden, entweder hat sie uns nicht ent-
schoss die Gruppe, woraufhin der Spreng- ihren Familien einen Fluchtweg offen zu deckt, oder sie hatte ein anderes Ziel.
stoffgürtel und die Handgranaten der IS- lassen, wie etwa in Tikrit und Falludscha, In West-Mossul sind die Goldene Divi-
Männer explodierten, das zumindest ver- was die Kämpfe verkürzte und die Verluste sion der Armee, die Emergency Response
muten die Angehörigen. Denn als sie he- der Befreier minimierte. Nicht so hier. Die Division (ERD) und die Nationalpolizei
rauskamen, waren alle Beteiligten tot. Stadt ist abgeriegelt und die Fluchtroute des Innenministeriums im Einsatz, jede
Akram und Mohammed Chudr, zwei un- nach Westen blockiert. Etwa 1200 IS-Kämp- Gruppe hat einen Frontabschnitt zugeteilt
bekannte Helden des Irak. Ihr Cousin sucht fer sind eingeschlossen, oft mit ihren Fami- bekommen. Die Kommunikation unter-
nach Bildern der beiden, zeigt halb ver- lien, sie werden aller Wahrscheinlichkeit einander fällt jedoch zeitweise aus, ein
brannte Körperteile. Das Barbarische der nach die Stadt nicht lebend verlassen. abgestimmtes Vorgehen ist oft unmöglich.
Bilder ist ihre Normalität geworden. Doch auch die Task Forces 1 und 2 der Überdies tauchen immer wieder schiitische
Schließlich wendet ein anderer Verwandter „Goldenen Division“, die die Offensive an- Milizen mit ihren Pick-ups nahe der Front
schüchtern ein: „Vielleicht wollen Sie noch führen, sollen gemeinsam nur noch etwas auf, sind amerikanische Special Forces un-
ein Bild sehen, wie Mohammed vorher aus- mehr als 1200 einsatzfähige Soldaten vor terwegs, bombardieren US-Kampfflieger
sah?“ Doch der Leutnant von der Natio- Ort haben, die Verluste sind hoch. Weshalb aus der Luft. In einem Lager der Goldenen
nalpolizei, der uns begleitet, drängt zum die Nationalpolizei nun allein an einem Division ist eine Gruppe französischer Eli-
Aufbruch, es sei gefährlich zu bleiben. Der ganzen Frontsektor steht, wofür sie nicht tesoldaten gerade dabei, ihre Fahrzeuge
IS habe noch immer überall seine Spitzel. vorgesehen war. Ihre Offiziere fordern lie- zu warten. Die Männer in Camouflage
West-Mossul ist die Hölle auf Erden, und ber Artillerie oder Luftunterstützung an, ohne Rangabzeichen sind in ganz eigener
zwar eine dicht besiedelte. Dass nicht anstatt zu Fuß ins Inferno vorzurücken. Mission unterwegs, sie fahnden nach Fran-
längst Zehntausende verhungert oder ver- Die entscheidende Front gegen die zosen unter den IS-Leuten.
durstet sind, verdankt sich nur der Vorsor- mächtigste Terrororganisation der Welt ist Der IS ist chancenlos in diesem Krieg,
ge der Bewohner. Iraker rechnen stets mit chaotischer, als die Generäle mit ihren ste- doch er weiß die Schwachstellen dieser
dem Schlimmsten, oft zu Recht, und in ten Fortschrittsmeldungen suggerieren. mühsam zusammengehaltenen Koalition

DER SPIEGEL 22 / 2017 85


Ausland

immer wieder zu nutzen. Als wir wenig


später 30 Kilometer südlich der Front in
eigentlich sicherem Gebiet am Provinz-
hauptquartier der Nationalpolizei nahe der
Kleinstadt Hamam al-Alil vorbeifahren,
Ein ruinöses Geschäft
sind plötzlich Schüsse zu hören. Einige Malta Files Ein milliardenschwerer Unternehmer hat dem
Polizisten gehen in Deckung, andere lau- Erdoğan-Clan wohl heimlich Millionen Dollar zukommen lassen.
fen seelenruhig weiter herum. Ist das ein
Ernstfall? Oder eine Übung? Wollte er sich damit die Gunst des Präsidenten erkaufen?
Wir halten lieber nicht an und erfahren

D
später: Ein IS-Kommando ist in ERD-Uni- as Istanbuler Hafenviertel Kasım- Schifffahrtsgesellschaft des an Öl reichen
formen in die Basis gelangt, ohne kontrol- paşa hat sich kaum verändert, seit Landes. Später gründete er seine eigene
liert zu werden. Dann seien die Angreifer Recep Tayyip Erdoğan hier vor Firma Palmali.
aus dem Wagen gesprungen, zwei hätten über 63 Jahren geboren wurde: Holz- Heute gehören Mansimov rund hundert
sich in die Luft gesprengt, die übrigen das baracken reihen sich dicht gedrängt an- Frachter. Er kontrolliert, nach eigenen An-
Feuer auf die verwirrten Polizisten eröffnet. einander. Von den Balkonen hängt die gaben, zwei Drittel des Ölhandels in der
Offiziell töteten sie 3, nach inoffiziellen Wäsche zum Trocknen. Obdachlose schla- Schwarzmeerregion. Der Milliardär gilt als
Informationen etwa 20 Polizisten. Wer ist fen auf Pappkartons. Erdoğan hat sich gut vernetzt. Bei der Amtseinführung von
Freund, wer ist Feind? Die Sicherheitskräf- aus Kasımpaşa bis an die Spitze des tür- US-Präsident Donald Trump im Januar in
te wissen es manchmal nicht. kischen Staates gekämpft. Er ist dabei Washington war er persönlich vor Ort.
Aber auch die von der IS-Herrschaft Be- unglaublich mächtig geworden – und un- Vor knapp 20 Jahren hatte Mansimov
freiten können sich in dieser Hinsicht glaublich reich. seine Unternehmungen auf die Türkei aus-
nicht sicher sein: Im vergangenen Herbst Sein Vermögen wird auf mehr als hun- geweitet – und 2006 die türkische Staats-
begann eine Einheit der ERD in den Dör- dert Millionen Euro geschätzt. Wie er zu bürgerschaft angenommen, angeblich auf
fern und Kleinstädten südlich von Mossul, dem Wohlstand kommen konnte, ist un- Wunsch Erdoğans. „Der geschätzte Herr
immer wahlloser Gefangene zu nehmen, klar. Kritiker werfen dem Präsidenten Kor- Premierminister fragte mich: Warum wirst
sie zu foltern, zu ermorden, Frauen zu ruption und Vetternwirtschaft vor. du kein türkischer Staatsbürger?“, erzählte
vergewaltigen. Der irakische Fotograf Ali Interne Papiere aus dem Konvolut der Mansimov in einem Interview mit türki-
Arkady begleitete die Truppe seit Oktober „Malta Files“, die dem SPIEGEL und sei- schen Medien.
und dokumentierte ihre Verbrechen aus nen Partnern aus dem Recherchenetzwerk Zu dem Geschäft zwischen dem Milliar-
nächster Nähe. Die Bilder wurden vergan- European Investigative Collaborations där und der türkischen Herrscherfamilie
gene Woche im SPIEGEL veröffentlicht (EIC) vorliegen, geben nun einen Einblick gehört ein kompliziertes Konstrukt, das
und machten Schlagzeilen. Bislang gibt in die Geheimgeschäfte der türkischen sich nun mithilfe der „Malta Files“ erst-
es keine offizielle Stellungnahme aus Bag- Herrscherfamilie. Ans Licht gerät ein Deal, mals nachvollziehen lässt: Mansimov gab
dad, doch Arkady wurde aufgrund von der dem Erdoğan-Clan laut den Unterla- den Bau der „Agdash“ im Frühjahr 2007
fingierten Vorwürfen zur Fahndung aus- gen bis heute 23 Millionen Dollar einge- bei der russischen Werft United Shipping
geschrieben. bracht haben soll. in Auftrag. Er nahm dafür einen Kredit
Anders als die ERD hat sich die iraki- Die Verwandlung der Türkei in eine über 18,4 Millionen Dollar bei der Bank
sche Armee innerhalb von Mossul gegen- Kleptokratie beginnt, lange bevor Erdoğan Parex in Litauen auf, die lange Zeit im
über Zivilisten bislang schonend verhalten. massenhaft Oppositionelle verhaften und Verdacht stand, Gelder von Despoten und
Was allerdings mit den Bewohnern gesche- Medienhäuser schließen lässt. Sie vollzieht Oligarchen zu waschen, und die nach der
hen wird, wenn der IS dort besiegt ist, sich zu einer Zeit, da der damalige türkische Finanzkrise zerschlagen wurde.
weiß niemand – genauso wenig ist klar, Premier im Westen noch als demokratischer Zur gleichen Zeit registrierte Erdoğans
wer die Stadt dann kontrollieren wird. Reformer und Hoffnungsträger gilt. Schwager Ziya Ilgen eine Firma auf der
Den Fliehenden aus West-Mossul sind Im Juli 2008 wehrt Erdoğan einen weit- Isle of Man, einer Steueroase in der Iri-
diese Fragen erst mal egal. Erschöpft und reichenden Angriff auf seine Herrschaft schen See. Ilgen, ein ehemaliger Lehrer,
erleichtert, überhaupt mit dem Leben da- ab. Vor dem türkischen Verfassungsgericht
vongekommen zu sein, tragen sie ihre
Habe in Plastiktüten bei sich, in Koffern
gewinnt er die Verbotsverfahren gegen ihn
und seine Partei, die AKP. Als hätte es die-
Mansimov verpflichtete
oder Schulranzen. Nur eine alte Frau hat se juristischen Akte gebraucht, macht sich sich, den Schiffskredit
Schaumstoffmatratzen dabei, zerbeulte seine Familie scheinbar kurz danach da- im Namen der Erdoğans
Töpfe, angebrochene Plastikschüsseln, al- ran, ihre Sonderstellung auszunutzen und
tersschwache Rührlöffel. Keiner der Bus- Geld zu verdienen – und zwar achtstellig. zurückzuzahlen.
fahrer am Bagdad-Kreisverkehr will sie Die Erdoğans übernehmen im Oktober
einsteigen lassen. Ein junger Soldat ver- 2008 den Öltanker „Agdash“ von Mübariz tritt in der Öffentlichkeit nur selten in
sucht ihr zu erklären, dass sie im Aufnah- Mansimov, einem türkischen Milliardär Erscheinung. Er gilt als einer der Ver-
melager neue Töpfe und Schüsseln bekä- aserbaidschanischer Herkunft. Das Schiff mögensverwalter des Clans. Neben Ilgen
me. Vergebens. „Wir haben doch nichts“, ist zu diesem Zeitpunkt so gut wie neu; waren Erdoğans ältester Sohn Burak und
schleudert sie ihm zornig entgegen. „Wir erst ein Jahr ist es her, dass es bei einer sein Bruder Mustafa an der Firma auf der
dürfen nichts verlieren. Wir haben nie et- russischen Werft vom Stapel lief. kleinen Insel beteiligt. BU für Burak, M
was gehabt! Wir haben auch keine Bildung, Mansimov und Erdoğan haben ihre Ge- für Mustafa, ER für Erdoğan und Z für
wir sind arm und ausgeliefert. Wir haben schäftsbeziehung über Jahre hinweg an- Ziya, die Kürzel der Beteiligten stecken
Saddam zugejubelt. Wir haben dem IS zu- gebahnt. Mansimov ist in Baku geboren, offenbar auch im Namen der Firma, die
gejubelt. Wir werden jedem zujubeln.“ hat in der Roten Armee gedient. In den Bumerz Limited.
Der Soldat resigniert. Schließlich findet Jahren des Zusammenbruchs der Sowjet- Für Recep Tayyip Erdoğan sind Politik
die alte Frau doch noch einen Bus, der sie union und nach der Unabhängigkeit Aser- wie Geschäft Familiensache. Sein jüngerer
und ihre zerbeulten Töpfe mitnimmt. baidschans arbeitete er für die staatliche Sohn Bilal leitet unter anderem eine Stif-

86 DER SPIEGEL 22 / 2017


MaltaFiles

SIPA PRESS / ACTION PRESS


Präsident Erdoğan (M.), Familie: Unglaublich mächtig und unglaublich reich

tung, die unter Korruptionsverdacht steht. der Erdoğan-Familie mehr oder weniger Die Erdoğans bemühen sich nach Kräf-
2014 tauchten Mitschnitte eines mutmaß- als Geschenk. ten, ihre Geschäfte mit Mansimov zu ver-
lichen Telefongesprächs auf, in dem Re- Mansimov benutzte das Schiff auch schleiern. 2011 überschrieben sie die Aktien
gierungschef Erdoğan seinen Sohn Bilal nach 2008 weiter, indem er es bei der Bu- von Bumerz auf Sıtkı Ayan, einen türki-
auffordert, mehrere Millionen Dollar merz Limited mietete. Insgesamt kostete schen Unternehmer und Jugendfreund des
Schwarzgeld aus dem Haus zu schaffen. ihn der Deal bis Oktober 2015 etwa 21 Mil- Präsidenten. Es gibt keinen Hinweis darauf,
Auch Erdoğans Schwiegersohn Berat Al- lionen Dollar. dass Ayan die „Agdash“ tatsächlich kaufte.
bayrak ist in der Verquickung von Politik Wieso geht ein erfolgreicher Geschäfts- Ein Dokument legt nahe, dass Erdoğans
und Business geübt. Bevor er 2015 Ener- mann einen derart ruinösen Handel ein? Schwager Ziya Ilgen Eigentümer des Frach-
gieminister wurde, hatte er als CEO eines Weil er sich das Wohlwollen der türkischen ters blieb. Weder Mansimov noch Ayan,
Mischkonzerns geplant, wie man das Steu- Regierung erkaufen will? Zwar gibt es kei- noch die Mitglieder der Erdoğan-Familie
errecht zugunsten des Unternehmens um- ne Hinweise auf eine direkte Gegenleistung waren zu einer Stellungnahme bereit.
gehen könne. Als er dann Minister war, Erdoğans. Jedoch zogen Mansimovs Tür- Erdoğan wird im Westen oft als Ideologe
änderte die Regierung die Steuergesetze kei-Geschäfte nach 2008 wohl deutlich an. wahrgenommen, als Islamist. Die „Malta
wie von ihm zuvor ersonnen – auch das So bekam der Unternehmer vom Staat Files“ zeichnen ein komplexeres Bild – das
geht aus den „Malta Files“ hervor. den Auftrag, den Jachthafen in der Mittel- einer Familie, für die Geld mindestens
Die Werft lieferte die „Agdash“ im meerstadt Bodrum auszubauen, der als ebenso wichtig ist wie politische Überzeu-
Herbst 2007 an Mansimov. Der Frachter „Milliardärsklub“ gilt, da er Prominente gungen.
schipperte ein Jahr lang in Nord- und Ost- wie Prinz Charles oder Bill Gates anzieht. 2015 verlängerte Mansimov den Vertrag
see, bis er im Oktober 2008 an die Bumerz Mansimov hält Aktien an Tekfen, einer mit Bumerz um weitere fünf Jahre. Er mie-
Limited überging. türkischen Baufirma, die er gemeinsam tet die „Agdash“ demnach für 3400 Dollar
Mansimov verpflichtete sich, den Parex- mit der staatlichen Ölfirma Aserbaid- am Tag. Die Erdoğans und ihre Gehilfen
Kredit im Namen der Erdoğans vollständig schans, Socar, 2008 kaufte. Tekfen ist in dürften somit jedes Jahr mehr als eine Mil-
zurückzuzahlen. So wie es aussieht, über- strategische Projekte wie die Baku–Tif- lion Dollar an dem Frachter verdienen.
ließ damit der Unternehmer die „Agdash“ lis–Ceyhan-Pipeline eingebunden. Craig Shaw, Peter Zink

DER SPIEGEL 22 / 2017 87


Ausland

Der Widerspenstige
USA Bernie Sanders begeisterte im Wahlkampf die Jugend, nun bekämpft er Donald Trump –
und warnt die Demokraten davor, sich auf das Thema Russland zu versteifen. Eine Begegnung.

I
m Herzen des Widerstands sieht es aus er mit ausgebreiteten Armen. Nein, dieser konzentrieren? Wenn es immer nur um
wie in einem dieser abgewohnten Best- Mann, der im vergangenen Jahr so viele Russland gehe, meint Sanders, dann sagten
Western-Hotels in der amerikanischen Menschen begeistert hat, ist keine Froh- sich viele Menschen: „Hey, das ist alles in-
Provinz. Plüschiger, blauer Spannteppich, natur. Er strahlt etwas Einzelgängerisches teressant, aber wisst ihr was? Ich kann mir
Chesterfield-Sofas, Holztischchen mit Tou- aus, doch sein Lachen ist trotz seines Al- keine Krankenversicherung leisten. Ich
rismusprospekten. An der Wand hängt ein ters jungenhaft. Er redet direkt, klar, und habe keinen Job. Mein Kind kann nicht
Ölgemälde mit dem Motiv eines nordame- dass er dabei ein wenig steif wirkt, macht auf die Uni. Warum interessiert ihr euch
rikanischen Waldes. ihn authentisch. nicht für meine Bedürfnisse?“ Er sagt: „Ich
Es ist das Washingtoner Büro von Ber- Sind die Institutionen Amerikas stark tue mein Bestes, mich nicht nur in diesen
nie Sanders, Senator aus dem Bundesstaat genug, um Donald Trump zu widerstehen? Trump-Kontroversen zu verstricken.“
Vermont. Der Mann, den viele Wähler lie- „Gute Frage!“, knurrt Sanders zufrieden. Am liebsten redet er über Trumps Haus-
ber als Kandidaten der Demokraten gese- „Das hoffen wir, aber er versucht diese In- haltsentwurf, der „Billionen Dollar an
hen hätten als Hillary Clinton. Ein heute stitutionen anzugreifen.“ Wenn Trump die Steuererleichterungen für das reichste Pro-
75-Jähriger, der junge Menschen im gan- Medien attackiere und versuche, sie ein- zent der Bevölkerung vorschlägt und mas-
zen Land begeisterte, und der jetzt einer zuschüchtern, fragt er, „werden sie dann sive Einschnitte bei Programmen für
der Anführer jener Bewegung ist, die sich stark genug bleiben, werden sie weiter ge- Arbeiter, Senioren, Kinder, Kranke und
als „Résistance“ bezeichnet, als Wider- willt sein, sich ihm entgegenzustellen? Bis Arme“. Er redet von der „desaströsen“ Ge-
stand gegen Präsident Donald Trump. jetzt sind sie es. Wird die Justiz unabhän- sundheitsreform, die laut einer Berech-
Es ist der Mittwoch dieser Woche, es gig bleiben? Ich hoffe es auf jeden Fall“. nung des Kongresses dazu führen wird,
sind verrückte Tage in der amerikanischen Er arbeite nun daran, sagt er, diese dass 23 Millionen Menschen bis 2026 ihre
Politik. Trump ist auf Weltreise, auch diese „Rechtsaußen-Republikaner“ bei den Mid- Krankenversicherung verlieren.
Woche gibt es ständig neue Enthüllungen term-Wahlen nächstes Jahr aus ihren Äm- Und noch wichtiger: „Ich will eine pro-
aus dem Russlandkomplex. Am Vortag hat tern im Kongress zu jagen. Trumps Unbe- gressive Agenda voranbringen, die Ar-
die Regierung einen Haushalt vorgestellt, liebtheit bringt jetzt schon im ganzen Land beiter und junge Leute im ganzen Land
der den Sozialstaat zertrümmern würde. ihre Kandidaten in Bedrängnis. In den kom- begeistern kann.“ Sie klingt in vielen
Die Tage unter Trump sind gekennzeich- menden Wochen stehen Nachwahlen in tra- Punkten wie die Forderung nach einem
net von Chaos und Skandal. ditionell republikanischen Gebieten an. europäischen Sozialstaat, den es in den
Bernie Sanders liegt fast in seinem Die Demokraten haben plötzlich Chancen. USA so nie gab. Eine allgemeine Kranken-
Stuhl, das Gesicht ist wie immer ein wenig Viele Trump-Gegner wollen nicht bis versicherung, ein kostenloses Studium.
gerötet, gestreifte Krawatte, ein weiter, 2018 warten. Sie möchten den Präsidenten Bernie Sanders kennt einen Teil von
dunkelblauer Anzug. Trumps Wählern gut. Viele fühlten sich im
Hat er jemals so dramatische Zeiten er-
lebt? „Das ist ein einzigartiger Moment in
„Die Demokraten haben vergangenen Jahr auch zu ihm hingezogen.
Das gilt insbesondere für die Arbeiter im
der modernen amerikanischen Geschich- der Realität keine Mittleren Westen, die am Ende nicht Hil-
te“, sagt er in seinem charakteristischen
Bernie-Dialekt, kaut auf den Worten he-
Beachtung geschenkt. lary Clinton wählten, sondern Donald
Trump. Denn der versprach die „Neuver-
rum, als wären sie Kartoffeln. Es ist ein Trump schon.“ handlung“ von Freihandelsabkommen und
Erbe aus dem New Yorker Stadtteil Brook- den Wiederaufbau der Industrie. Wenn
lyn, in dem er aufgewachsen ist. Er sagt: aus dem Amt entfernen lassen – wegen Sanders Leute traf, die sich nicht zwischen
„Wir haben einen Präsidenten, der unser des Versuchs, die FBI-Ermittlungen gegen Trump und ihm entscheiden konnten,
Land in eine autoritärere Richtung bewegt, sein Wahlkampfteam zu stoppen. Doch habe er ihnen gesagt, Trump sei ein Lüg-
und zwar in einer Weise, wie wir das noch Sanders ist beim Thema Impeachment zu- ner, der seine Versprechen nicht halten
nicht wirklich gesehen haben.“ rückhaltend. „Wir müssen sehen, wie sich werde, „was sich nun als Wahrheit heraus-
Ist Trump ein Autokrat, oder versteht die Fakten entwickeln“, sagt er. „Wenn wir gestellt hat“. Er glaubt, es sei ein Mythos,
er einfach nur nicht, wo die verfassungs- verfrüht handeln, wenn wir voreilig sind, dass Trumps Wähler Trump nie verlassen
mäßigen Grenzen des Präsidentenamts lie- wenn wir Schlüsse ziehen, die nicht auf würden, egal, was er tue. „Aber ich glaube,
gen? „Die Antwort ist beides“, antwortet genügend Fakten gründen, dann könnte worauf sie empfindlich reagieren, das ist –
Sanders. „Ich glaube, er hat autoritäre Ten- das kontraproduktiv sein. Das Ziel muss sie sehen diesen Kerl ins Amt kommen,
denzen. Dass er sich wohlfühlt mit autori- es sein, alle Amerikaner mitzunehmen.“ und alle hacken auf ihm rum.“
tären Persönlichkeiten wie Putin, Duterte Die Menschen, so könnte man ihn zusam- Sanders gehörte selbst nie zur Demo-
und anderen in der Welt, zeigt mir, dass menfassen, sollen nicht glauben, dass es kratischen Partei. Er bezeichnet sich als
er eine autoritäre Persönlichkeit hat.“ sich nur um einen politischen Angriff auf Sozialist, was in Amerika lange eine Un-
Trump arbeite mit der „Klasse der Milliar- Trump handle. Deswegen sei es eine gute geheuerlichkeit war. Wenn man ihn fragt,
däre“ zusammen, um das Land in Richtung Nachricht, dass der ehemalige FBI-Chef wie es eigentlich passieren konnte, dass
einer Oligarchie zu bewegen. Robert Mueller als Sonderermittler einge- die Demokraten die Arbeiter ausgerechnet
Wenn er spricht, kann man Sanders setzt worden sei. „Da haben Sie jemanden, an einen Milliardär verloren, holt er weit
beim Denken zusehen. Er schaut nicht sein den viele Leute respektieren.“ aus. Das ist sein Thema.
Gegenüber an, sondern die Wand, hoch Machen die Demokraten einen Fehler, „Die Demokraten sind über die Jahre
konzentriert. Wenn er sich erregt, rudert wenn sie sich nur auf das Russlandthema eine Partei geworden, die stark von den

88 DER SPIEGEL 22 / 2017


ALEX WONG / GETTY IMAGES
US-Senator Sanders vor dem Kapitol in Washington bei einer Kundgebung gegen Trumps Gesundheitsreform: „Ein einzigartiger Moment“

Interessen des großen Geldes beeinflusst tischen Programms – aber es ist auch eine gelesen habe, „Shattered“ heißt es, eine
wurde“, sagt er. Deshalb hätten viele Ar- kleine Autobiografie. Er beschreibt, wie schonungslose Innenansicht ihres Wahl-
beiter im Land gesagt: „Na ja, die Demo- er in Brooklyn aufgewachsen ist, als Kind kampfs. Sanders sagt, er sei überrascht
kraten können ganz gut reden, aber sie jüdischer Eltern. Die Familie seines Vaters, gewesen, „dass man drei Redenschreiber
sind auf der Seite der Reichen und der die aus Polen stammte, war von den Nazis braucht, die einem erklären, warum man
Mächtigen.“ So hätten sich viele Leute ge- ermordet worden. Die Erinnerung an den als Präsident kandidiert. Wenn ich nicht
dacht: „Wir mögen Trump auch nicht, aber Krieg und an den Holocaust, schreibt er, wüsste, warum ich kandidiere … wissen
wir lassen es ihn mal versuchen.“ hätte dazu beigetragen, dass sein Leben Sie, man muss wissen, wofür man steht“.
Die Demokraten, sagt er, seien in einer diese Wendung genommen habe. Das Buch erzählt, wie viele Leute an
Frage besonders kurzsichtig gewesen. „Un- Er beschreibt, wie er seine Karriere im Clintons erster Rede beteiligt waren. Dass
ter Obama hat sich die Wirtschaft verbes- Bundesstaat Vermont begann, wie er ver- ihr Wahlkampfteam bis zum Schluss über
sert, absolut.“ Und dennoch „gebe es im gebens versuchte, in den Kongress gewählt der Frage brütete, warum sie eigentlich
ganzen Land Regionen, im Mittleren Wes- zu werden, und es dann mit einer bunten Präsidentin werden wollte. „Das ist ziem-
ten, im Süden, wo es den Arbeitern am Koalition aus Umweltschützern und Ge- lich unglaublich. Wir wussten es vom ers-
Ende von Obamas Amtszeit schlechter werkschaftern zum Bürgermeister der ten Tag an.“ Er habe seine erste Rede
ging“. Er sagt einen harten Satz: „Die De- Stadt Burlington brachte. Und wie er selbst geschrieben. Schließt er aus, 2020
mokraten haben der Realität keine Beach- schließlich als lebenslanger politischer Au- wieder als Präsidentschaftskandidat an-
tung geschenkt. Trump schon.“ Doch San- ßenseiter vergangenes Jahr plötzlich im zutreten? „Was ich darauf immer antworte,
ders hat die Demokraten allein durch seine Zentrum einer Bewegung stand, die sich ist, dass diese Frage verfrüht ist und dass
Kandidatur verändert, obwohl er ihnen im- gegen das Establishment richtete. sich die Medien zu sehr darauf konzen-
mer noch nicht angehört, und er glaubt, Stimmt es, dass er nicht einmal das Wort trieren.“
sie sollten sich ein Beispiel an seiner eige- „Millennials“ kannte, die Bezeichnung für Er muss jetzt gehen, freundlicher Hän-
nen Bewegung nehmen. jene junge Generation, die er so begeistert dedruck, wenig später ist er schon wieder
Diese Woche erscheint nun sein Buch hat? „Stimmt!“, sagt Sanders. Und wie hat im Fernsehen zu sehen. Er redet über das
„Unsere Revolution: Wir brauchen eine ge- er es geschafft, sie so zu begeistern? „Das „grotesk amoralische Budget“, über die
rechte Gesellschaft“ auf Deutsch. Eine Art ist eine gute Frage, und wissen Sie was? Gesundheitsreform. Er wirkt sehr aufrecht,
Testament seiner unerwartet erfolgreichen Ich weiß die Antwort immer noch nicht. sehr ernsthaft und sehr zornig.
Präsidentschaftskampagne. Es ist über wei- Ich weiß es ehrlich nicht.“ Er erzählt, dass Mathieu von Rohr
te Strecken eine Beschreibung seines poli- er gerade ein Buch über Hillary Clinton Mail: mvr@spiegel.de, Twitter: @mathieuvonrohr

DER SPIEGEL 22 / 2017 89


Ausland

„Dieser Prozess wird scheitern“


SPIEGEL-Gespräch Der jüngst abgetretene Hamas-Chef Khaled Meshal über den neuen
Pragmatismus der Islamisten und die Chancen der Nahost-Initiative von US-Präsident Trump

Meshal, 60, war mehr als 20 Jahre lang Chef alten, parteiischen Denkmustern verhaftet schaftliches Problem, das man dadurch lö-
des Politbüros der Hamas. Anfang Mai zog er ist, was unseren Widerstand betrifft. Das sen kann, dass man die Lebensumstände
sich von seinem Posten zurück und wird nun ist ein Fehler. der Menschen unter der Besatzung verbes-
Vorsitzender des religiösen Rates der Bewe- SPIEGEL: Bisher hat die Hamas nie an Frie- sert. Die Palästinenser haben genug von
gung. Trotzdem gilt er weiter als der mäch- densverhandlungen teilgenommen. Hat- endlosen Gesprächen. Wir wollen Frieden,
tigste Mann der Hamas, die von der EU und ten Sie gehofft, das könnte jetzt anders aber keinen neuen Friedensprozess. Dieser
den USA als Terrororganisation eingestuft sein? Prozess wird scheitern.
wird. Die Islamisten gewannen 2006 die pa- Meshal: Die Hamas will aus Prinzip nicht SPIEGEL: Die Hamas hat gerade ein neues
lästinensische Parlamentswahl, zogen sich an einem ungerechten Verhandlungspro- Dokument veröffentlicht, es ist weniger ra-
dann aber wegen des internationalen Drucks zess teilnehmen, dessen einziges Ergebnis dikal als die Gründungscharta von 1988
aus der Regierung zurück. 2007 übernahmen neue Zugeständnisse unseres Volkes sind. und soll offenbar die internationale Isola-
sie im Gazastreifen gewaltsam die Macht. Warum sollten wir verhandeln? Leider tion beenden. Sind Sie enttäuscht, dass dies
Meshal lebt seit 1991 im Exil, zunächst in Ku- sehe ich auch bei der Trump-Regierung keinen Eindruck bei Trump gemacht hat?
wait, dann in Jordanien, wo er 1997 einen keine echte Vision für einen gerechten Frie- Meshal: Wir waren nicht überrascht über
Giftmordversuch durch den israelischen Mos- den. Zugleich ist jeder Ansatz, der die le- diesen negativen Standpunkt des US-Prä-
sad überlebte, später in Syrien. Zu Beginn gitimen Rechte der Palästinenser nicht sidenten. Aber das hat nichts mit unserem
des Bürgerkriegs wechselte er von Damaskus respektiert, zum Scheitern verurteilt. Das Dokument zu tun. Es bildet unsere Ent-
nach Katar. Das Haus, in dem das Gespräch gilt auch für jede Strategie, die Hamas als wicklung der vergangenen zehn Jahre ab
stattfindet, befindet sich in einem Außen- Teil des palästinensischen Widerstands und ist in erster Linie an die Palästinenser
bezirk von Doha und ist nicht als Sitz des ignoriert. gerichtet. Wir wollen darin unsere Vision
Politbüros zu erkennen. Die Sicherheitsvor- SPIEGEL: Trumps Initiative sieht offenbar aufzeigen, aber auch den Willen, mit dem
kehrungen sind streng: Sogar die Kugelschrei- vor, Israel, die arabischen Staaten und die Konflikt pragmatisch umzugehen.
ber der SPIEGEL-Redakteurinnen werden aus- von Präsident Mahmoud Abbas angeführte SPIEGEL: Dann lassen Sie uns über Ihre Vi-
getauscht. moderate Palästinenserfraktion zusammen- sion sprechen. Demnach würde die Hamas
zubringen. Eine Idee ist es, den Konflikt einen palästinensischen Staat innerhalb
SPIEGEL: Herr Meshal, US-Präsident Donald zu entschärfen, indem die wirtschaftliche der Grenzen vor 1967, also vor dem Sechs-
Trump hat eine neue Initiative für Frieden Situation in den palästinensischen Gebie- tagekrieg, zumindest vorläufig akzeptie-
im Nahen Osten angekündigt. In seiner ten verbessert wird. Wie stehen Sie dazu? ren. Bedeutet das, dass Sie das Existenz-
Rede am vergangenen Sonntag in Saudi- Meshal: Die palästinensische Frage ist eine recht Israels de facto anerkennen und eine
Arabien teilte er die islamische Welt in nationale, politische Frage und kein wirt- Zwei-Staaten-Lösung akzeptieren?
„Gut“ und „Böse“. Die Hamas sieht er klar Meshal: Unser politisches Programm zeigt,
auf der Seite der Bösen. dass wir bereit sind, im Rahmen eines na-
Meshal: Wir lehnen diesen Standpunkt von tionalen Konsenses einen Staat innerhalb
Präsident Trump ab. Das zu sagen, war ein der Grenzen von 1967 mit Jerusalem als
Fehler, mehr noch: ein großes Vergehen. Hauptstadt und dem Rückkehrrecht für
SPIEGEL: Trump stellt die Hamas in eine unsere Flüchtlinge zu akzeptieren. Das be-
Reihe mit al-Qaida oder dem IS. Das ist deutet nicht, dass dieses Dokument die
also falsch? Legitimität der israelischen Besatzung an-
Meshal: Wir weisen das aufs Schärfste zu- erkennt. Es bedeutet auch nicht, dass wir
rück. Die Hamas und das palästinensische Teile des palästinensischen Gebiets auf-
Volk leisten legitimen Widerstand gegen geben.
die israelische Besatzung. Unser Wider- SPIEGEL: Wenn Sie von der israelischen Be-
stand ist auf das Gebiet von Palästina be- satzung sprechen, meinen Sie dann nur
schränkt und richtet sich nur gegen die is- die Besatzung des Westjordanlands – oder
raelischen Besatzer. Wir sind keine blut- des gesamten Gebiets, vom Jordan bis zum
rünstigen Mörder, die überall auf der Welt Mittelmeer?
unschuldige Menschen töten. Meshal: Sehen Sie, das Programm ist doch
SPIEGEL: Vor Trumps Nahost-Reise hatten klar: Zum einen geben wir unsere Vision,
Sie von einer „historischen Chance“ ge- unsere Prinzipien und unsere legitimen
sprochen. Was hatten Sie erwartet? Rechte als Palästinenser nicht auf. Dazu
Meshal: Wir sehen einen neuen amerikani- gehört das palästinensische Land, da ma-
FAIRFAX MEDIA / GETTY IMAGES

schen Präsidenten, der anders spricht als chen wir keine Zugeständnisse. Zum an-
seine Vorgänger. Wenn er es ernst meinen deren sind wir aber bereit, im Rahmen ei-
würde, könnte er echten Frieden in dieser nes Konsens einen Staat innerhalb der
Region stiften. Mit einem neuen Ansatz Grenzen vor 1967 zu akzeptieren. Das ist
hätte er erreichen können, woran alle vo- unsere pragmatische, realistische Politik.
rangegangenen Versuche gescheitert sind. SPIEGEL: Da besteht aber ein erheblicher
Bedauerlicherweise haben wir nun gese- Hamas-Mann Meshal Widerspruch zwischen Ihrem Programm
hen, dass die neue US-Regierung in den „Zu Konzessionen bereit“ und Ihrer Vision.
90 DER SPIEGEL 22 / 2017
ALI JADALLAH / ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES
Kämpfer der Kassam-Brigaden im Gazastreifen: „Wir hätten auch lieber hoch entwickelte Präzisionswaffen“

Meshal: Jassir Arafat und Mahmoud Abbas Meshal: Das ist für uns keine Gewalt, das Meshal: Es ersetzt die alte Charta nicht –
haben Israels Existenzrecht anerkannt. ist legitimer Widerstand. Es ist unser Recht, sie ist ein historisches Dokument aus den
Unser Recht auf einen souveränen palästi- die israelische Besatzung zu bekämpfen. Anfängen der Hamas.
nensischen Staat und unsere Selbstbestim- SPIEGEL: Aber Sie zielen auf Zivilisten. SPIEGEL: Ist sie also überholt?
mung wurde von der israelischen Regie- Meshal: Nein, wir zielen auf die Besatzer, Meshal: Sehen Sie, mit politischen Bewe-
rung dagegen niemals anerkannt. Die nicht auf Zivilisten. gungen ist es doch wie mit Lebewesen, sie
internationale Gemeinschaft hat sich daran SPIEGEL: Wenn Ihre Kassam-Brigaden Israel entwickeln sich. Das ist ganz natürlich. Je-
gewöhnt, dass wir Zugeständnisse machen; mit Raketen beschießen, ist es doch reiner des Dokument spiegelt den Entwicklungs-
wir, die schwächere Seite, die unter der Zufall, wen sie treffen. stand unserer Bewegung zu einer bestimm-
Besatzung leidet. Seit Jahrzehnten hat die- Meshal: Wir verteidigen uns mit den be- ten Zeit wider.
se Strategie den Palästinensern überhaupt scheidenen militärischen Mitteln, die uns SPIEGEL: Wie sieht es denn mit der Entwick-
nichts gebracht. Nun verlangt man von der zur Verfügung stehen. Wir hätten auch lie- lung im von der Hamas regierten Gaza-
Hamas, denselben Weg einzuschlagen. ber hoch entwickelte Präzisionswaffen, streifen aus? Dort wurde ein Hardliner des
Aber wir machen da nicht mit. Der Schlüs- um israelische Militäranlagen genau zu militärischen Flügels zum neuen Chef ge-
sel für den Frieden liegt nicht darin, dass treffen. wählt. Die Arbeitslosigkeit ist enorm, die
die Palästinenser weitere Zugeständnisse SPIEGEL: Aber die Menschen, die sterben, Bevölkerung leidet unter Versorgungseng-
machen. Es muss mehr Druck auf den Be- sind oft Zivilisten. pässen, und seit dem Krieg 2014 wurde
satzer ausgeübt werden. Meshal: Nein, die meisten sind Soldaten. kaum Wiederaufbau geleistet. Es gab im
SPIEGEL: Ist Ihre neue Linie lediglich Schau- Auf israelischer Seite gab es im letzten vergangenen Jahr größere Proteste gegen
fensterpolitik, ist es immer noch Ziel der Krieg 2014 70 Tote, 95 Prozent von ihnen das Hamas-Regime. Wieso schaffen Sie es
Hamas, Israel zu vernichten? waren Soldaten. Auf palästinensischer Sei- nicht, besser zu regieren?
Meshal: Wie ernst wir es meinen, zeigt te gab es 2500 Tote, von denen fast 80 Pro- Meshal: Die Proteste richteten sich nicht
doch unser pragmatischer Ansatz. Wir sind zent Zivilisten waren. Die Israelis bombar- gegen die Hamas, sondern gegen Israel.
bereit, einen Staat innerhalb der Grenzen dieren unser Volk in ihren Häusern, sie SPIEGEL: Die Studenten hatten sogar einen
vor 1967 zu akzeptieren. setzen ihre hoch entwickelten Waffen ge- Hungerstreik organisiert, weil sie frustriert
SPIEGEL: Aber würden Sie Konzessionen ma- gen Schulen und Krankenhäuser ein. über die Lage im Gazastreifen sind, weil
chen, um einen Frieden zu ermöglichen? SPIEGEL: Weil die Hamas dort oft auch Waf- sie keine Chance haben, einen Job zu fin-
Meshal: Wenn wir auf der israelischen Seite fen und Kämpfer versteckt. den. Sie beklagten Korruption, Vettern-
ernsthaften Willen zum Frieden spüren, Meshal: Das ist das falsche Narrativ der Be- wirtschaft und die brutale Unterdrückung.
dann sind wir zu Konzessionen bereit. satzer. Meshal: Der Ärger der Menschen in Gaza
SPIEGEL: In dem neuen Dokument ist zwar SPIEGEL: Aber auch die Uno im Gazastrei- richtet sich vor allem gegen jene, die an
nicht mehr die Rede von den Juden als fen hat das bestätigt. den schwierigen Lebensbedingungen dort
Erzfeind, sondern vom „zionistischen Ge- Meshal: Wir benutzen unsere Leute nicht schuld sind: die, die uns belagern und den
bilde“. Doch Gewalt wird nicht ausge- als menschliche Schutzschilde. Gazastreifen blockieren. Aber wie über-
schlossen. Bedeutet das, dass die Hamas SPIEGEL: Ersetzt das neue politische Pro- all gibt es auch in Gaza Menschen, die
weitermacht mit Raketen und Attentaten? gramm die alte Charta von 1988? nicht mit ihrer Regierung einverstanden
DER SPIEGEL 22 / 2017 91
Ausland

Das größte Datenleck


der SPORTGESCHICHTE
erschüttert die Fußballwelt

Meshal, SPIEGEL-Redakteurinnen*
„Mehr Druck auf den Besatzer“

sind. Das sind aber sehr wenige im Ver-


gleich zu den rund zwei Millionen Men-
schen, die unter der Besatzungsmacht
Israel leiden.
SPIEGEL: Gaza ist auch von der ägyptischen
Seite her blockiert. Präsident Abdel Fattah
el-Sisi hat Schmugglertunnels fluten lassen
und Dörfer an der Grenze umgesiedelt und
bombardiert. Fühlen Sie sich auch vom
ägyptischen Regime im Stich gelassen?
Meshal: Wir sind nicht mit allem einver-
standen, was das ägyptische Regime macht.
Aber gute Beziehungen zu Ägypten sind
extrem wichtig für uns. Ägypten ist unser
Nachbar und das bevölkerungsreichste ara-
bische Land. Die Menschen in allen musli-
mischen Ländern sind auf unserer Seite.
SPIEGEL: Die Menschen vielleicht, aber was
ist mit den politischen Anführern?
Meshal: Da gibt es solche, die hinter uns
stehen, und andere, die auf der anderen
Seite stehen. Sie beugen sich dem Druck
durch die internationale Gemeinschaft. Es
gibt keinen Grund dafür, unser palästinen-
sisches Anliegen abzulehnen. Wir mischen
uns nicht in die Angelegenheiten anderer
Staaten ein. Wir sind eine nationale Be-
wegung und konzentrieren uns auf den
Kampf gegen die israelische Besatzung.
SPIEGEL: Sie haben sich nach zwei Jahrzehn-
288 Seiten mit Abbildungen · Klappenbroschur · c 16,99 (D)
ten nicht mehr zum Chef des Politbüros
Auch als E-Book erhältlich
der Hamas wählen lassen. Warum?
Meshal: Es war der richtige Zeitpunkt. Die
Hamas-Führung braucht neue Leute. Au-
Unkontrollierte Geldströme, intransparente ßerdem wollte ich zeigen, dass es in dieser
Weltregion möglich ist, freiwillig aus dem
Firmengeflechte, Spieler, die zu reiner Ware werden – Amt zu scheiden, bevor man tot umfällt.
Football Leaks ist eine Reise zu den Abgründen einer enthemmten SPIEGEL: Nun werden Sie Vorsitzender des
und gierigen Branche. Packend erzählen die SPIEGEL-Redakteure religiösen Rates der Hamas. Haben Sie vor,
eines Tages als Palästinenserpräsident an-
Rafael Buschmann und Michael Wulzinger, wie sie exklusive Einblicke zutreten, als Nachfolger von Abbas?
in die geheimen Verträge und Absprachen zwischen Spielern, Meshal: Ich werde meinem Volk weiter die-
nen. Aber die Präsidentschaft in der pa-
Beratern und Klubs erhielten und die dunklen Geheimnisse lästinensischen Autonomiebehörde ist kei-
des Fußballbusiness enttarnten. ne freie, souveräne Position. Es ist ein Amt,
das von den Bedingungen der Besatzung
bestimmt wird. Deshalb ist diese Position
für die Hamas und mich uninteressant.
SPIEGEL: Herr Meshal, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.

* Nicola Abé und Christiane Hoffmann in Doha.

www.dva.de 92 DER SPIEGEL 22 / 2017


M A R K T H O M P S O N / G E T T Y I M AG E
Sport
4 Emmerich
Rennsport
Mönchengladbach Talentschmiede
6
7 Köln am Rhein
3 10 14
19 Krásná Lípa
5 Tschechien Pascal Wehrlein, geboren in
Hürth Siegen 13 17 Sigmaringen, ist der 21. Deut-
Nordrhein- sche, der bei einem Formel-
Westfalen Geburtsorte deutscher Formel-1-Fahrer, 1 Sebastian Vettel
Gießen die bei Grands Prix gepunktet haben 2 Nico Rosberg 1-Rennen in die Punkteränge
2 Hessen 3 Michael Schumacher fuhr. Beim Grand Prix in
Wiesbaden 4 Nico Hülkenberg Barcelona holte er seine Zäh-
11 5 Ralf Schumacher ler zwei bis fünf. Alle deut-
1 Lindenfels 6 Nick Heidfeld schen Punktefahrer stammen
Heppenheim 7 Heinz-Harald Frentzen aus einem bestimmten Ge-
Bayern 8 Adrian Sutil biet – nämlich südlich einer
9 Jochen Mass Linie, die ungefähr über
10 Wolfgang Graf Berghe von Trips Dortmund und Dresden ver-
21 11 Timo Glock
15 Waiblingen läuft. Auffällig: Viele dieser
20 12 Hans-Joachim Stuck
Stuttgart
Dorfen 13 Karl Kling
erfolgreichen Piloten wurden
München 9 14 Rolf Stommelen im Rheinland geboren, einer
18 15 Hans Herrmann Hochburg des Kartsports. Sie
Sigmaringen 16
Starnberg 8 16 Pascal Wehrlein war schon die Talentschmie-
Baden-Württemberg 17 Stefan Bellof de für Michael Schumacher
18 Christian Danner und Nick Heidfeld. An die-
12 19 Gerhard Mitter sem Sonntag kämpft Pascal
Garmisch-Partenkirchen
20 Hermann Lang Wehrlein in Monaco um wei-
21 Manfred Winkelhock tere Punkte.
COMPB / PEOPLE PICTURE

Magische Momente
„Ich bin nicht der liebe Gott“
Jaume Marquet, 41, über seine Flitzerei als Jimmy Jump beim Champions-League-Finale 2007

SPIEGEL: Das Endspiel der liener fanden mich super. Marquet: Mein bestes! Ich war SPIEGEL: Ende 2012 flitzten
Champions League fand Ich bin nicht der liebe Gott, auch beim Rugby-WM-Finale Sie bei einem Spiel in Berlin,
2007 in Athen statt, Liver- ich kann nicht alle glücklich auf dem Platz und habe Lio- warum hat man Sie seitdem
pool traf auf den AC Mai- machen. nel Messi beim Abschiedsspiel nicht mehr gesehen?
land. Warum sind Sie auf SPIEGEL: Sicherheitskräfte ha- von Mehmet Scholl in Mün- Marquet: Ich bin damals nach
den Rasen gerannt? ben Sie vom Platz gezerrt. chen die Barretina aufgesetzt. Deutschland gezogen, weil
Marquet: Ich bin schon beim Marquet: Und ich musste 500 Das war eine sehr gute Zeit. ich in Barcelona finanzielle
EM-Finale 2004 zwischen Euro Strafe zahlen. Aber am SPIEGEL: Warum? Probleme hatte. Ich hatte
Griechenland und Portugal Ende wollte die Polizei mit Marquet: Weil Flitzen meine kein Geld, musste in einer
geflitzt, daher kannten mich mir Bier trinken. Leidenschaft war, weil ich Kirche schlafen. Da habe
die Griechen. Ich wollte ih- SPIEGEL: 2007 war ein wildes wollte, dass die Menschen ich meine Karriere beendet.
nen in Athen zum EM-Titel Jahr. was zu lachen haben. SPIEGEL: Sie leben nun in
gratulieren, deswegen hatte Lüneburg bei Hamburg.
ich mir auch eine griechische Marquet: Hamburg ist wun-
Fahne umgehängt. derschön und das Klima gut
SPIEGEL: Und warum haben für meinen Bluthochdruck.
Sie Liverpools Torwart SPIEGEL: Am 3. Juni steigt in
Pepe Reina mit einer roten Cardiff das Champions-
Mütze beworfen? League-Finale. Wo werden
Marquet: Das ist eine Barreti- Sie sein?
na, eine katalanische Kopf- Marquet: Ich laufe fast
bedeckung. Damit wollte ich jeden Tag zehn Kilometer
mich für die Unabhängigkeit durch den Wald. Dabei
Kataloniens einsetzen. stelle ich mir vor, dass ich
SPIEGEL: Das ganze Stadion durch ein Stadion flitze,
ULLSTEIN BILD

hat Sie ausgepfiffen. so wie früher. Das werde


Marquet: Nur die Engländer ich auch nächsten Samstag
haben gepfiffen, deren Team machen, und vielleicht
lag nämlich zurück. Die Ita- Marquet 2007 in Athen muss ich weinen. trn

DER SPIEGEL 22 / 2017 93


Sport

Im Bieterkrieg
Football Leaks Beim Transfer Paul Pogbas trieb der Berater Mino Raiola ein doppeltes Spiel
und kassierte 49 Millionen Euro. Die Fifa ermittelt – und beweist dabei ihre Machtlosigkeit.

P
ep Guardiola? „Ein Feigling“, der ins ferregeln verstoßen haben. Das geht aus von 18 Millionen Euro. Ein Honorar also,
„Irrenhaus“ gehöre. Sepp Blatter? einem Untersuchungsbericht der Fifa her- das 20 Prozent der Mindestablösesumme
„Ein seniler Diktator.“ Jürgen vor. Dieses Dokument ließ die Enthüllungs- entsprach.
Klopp? „Ein Stück Scheiße.“ Sportdirek- plattform Football Leaks dem SPIEGEL zu- Der Vertrag legte außerdem fest, dass
toren aus der Bundesliga? „Nichtskönner.“ kommen, der es gemeinsam mit dem Re- Raiola von allen weiteren 5 Millionen Euro
Wenn Mino Raiola, 49, seinen Mund auf- cherchenetzwerk European Investigative über Pogbas Mindestpreis jeweils 3 Millio-
macht, bebt die Fußballbranche. Er ist Collaborations auswertete. nen Euro einstreichen würde – nun also
ganz sicher kein Diplomat. Demnach legte die Compliance-Abtei- 60 Prozent, eine zusätzliche „Contingent
Raiola, der in der Nähe von Neapel zur lung der Fifa-Tochterfirma Transfer Mat- Commission“, wie es in der Vertragsklau-
Welt kam und im holländischen Haarlem ching System (TMS), die beim Fußballwelt- sel heißt. Diese Kommission wurde fällig:
aufgewachsen ist, gilt als eine der schil- verband für die Einhaltung der Regularien Manchester United verpflichtete Pogba für
lernden Figuren der internationalen Spie- bei Spielertransfers zuständig ist, bereits 105 Millionen Euro, 27 Millionen davon
lerberaterszene. Sein Hang zur Selbstbe- Ende August 2016 eine Akte Pogba an. Der reichte Juventus an Raiola weiter.
weihräucherung und zur Provokation ist Verdacht der Fifa-Regelwächter: Juventus Besonders an diesem 60-Prozent-Passus,
so legendär wie sein Verhandlungsge- Turin könnte Raiola bei dem Beraterver- den zusätzlichen 9 Millionen Euro für
schick. trag, den beide Seiten am 20. Juli 2016 ge- Raiola, bissen sich die Fifa-Kontrolleure
Im Fußballbusiness gibt es kaum einen schlossen hatten, an zu erwartenden Trans- fest. Sie nahmen aber nicht den Spieler-
Großkopferten, der nicht schon einmal fererlösen prozentual beteiligt haben. Eine berater ins Visier, sondern den italieni-
von Raiola beleidigt oder beschimpft wur- Beteiligung Dritter, die sogenannte Third- schen Klub. Etwa ein halbes Jahr lang dau-
de. Raiolas Spieler, zu denen Zlatan Ibra- Party Ownership (TPO), ist seit Mai 2015 erte die Untersuchung, im Februar schließ-
himović, Mario Balotelli, Gianluigi Don- verboten. lich erstellte die Fifa einen „Case Transfer
narumma, Henrich Mchitarjan und Paul In der Tat trägt die Vereinbarung mit Report“.
Pogba gehören, lieben ihn dafür. Der Be- Juventus, die Raiola im Namen der Lon- Dieser Untersuchungsbericht belegt
rater mit dem Kanonenkugelbauch ist doner Agentur Topscore Sports Limited einerseits die Machtlosigkeit der Fifa bei
gleichzeitig Schutzschild und Blitzableiter unterschrieb, Züge eines untersagten TPO- ihren Anstrengungen, den Transfermarkt
für sie. Deals. Voraussetzung des Agreements war, zu kontrollieren. Andererseits zeigt er, wie
Seit zwei Wochen ist Raiola allerdings dass der Spieler nicht unter 90 Millionen selbst gut gemeinte Aufklärungsversuche
abgetaucht. Sendepause für die große Euro verkauft würde. Bei diesem Ertrag innerhalb des Weltverbands einfach ver-
Klappe. Dabei stehen viele Fragen unbe- garantierte Juventus Turin Beraterkönig sanden.
antwortet im Raum, auch ziemlich unan- Raiola eine „Fixed Commission“ in Höhe Auf zwölf Seiten kommen die Ermittler
genehme. Fragen, die die Schattenwelt des der Fifa zu dem Ergebnis, dass Juventus
Beratergeschäfts berühren. Es geht um den Turin mit der Contingent Commission
Transfer des teuersten Spielers der Welt, die TPO-Regeln verletzt habe. Das Straf-
des französischen Nationalspielers Paul maß für den Klub, das sie vorschlagen, ist
Pogba, der im vorigen Sommer für die lächerlich: 60 000 Schweizer Franken plus
Rekordablöse von 105 Millionen Euro von 3000 Franken für „falsche Angaben“ plus
Juventus Turin zu Manchester United 2000 Franken „Verwaltungsaufwand“. Das
wechselte. könnte Juve aus der Portokasse zahlen.
Das SPIEGEL-Buch „Football Leaks – Doch seit Februar ist in der Sache nichts
Die schmutzigen Geschäfte im Profifuß- mehr passiert – die Fifa-Disziplinarkom-
ball“ enthüllte, dass Raiola an diesem mission, die für die Ahndung solcher Re-
Transfer 49 Millionen Euro verdient hat. gelverstöße zuständig ist, hat den Fall noch
Es ist das mit Abstand höchste Berater- nicht bearbeitet. Ein Fifa-Sprecher erwi-
honorar für einen Spielerwechsel, das je- derte auf Anfrage lediglich, dass die Firma
mals bekannt wurde, eine Summe, die alle TMS „Informationen zu dieser Angelegen-
Warnrufe von Vereinsbossen wie dem heit angefordert“ habe.
Bayern-Vorstandsvorsitzenden Karl-Heinz Komplett aus der Verantwortung zieht
Rummenigge vor dem überbordenden Ein- sich die Fifa beim zweiten problematischen
fluss der Agenten bestätigt. Aspekt des Pogba-Deals: bei Raiolas Inte-
JACOPO RAULE / GETTY IMAGES

Pogbas Weltrekordtransfer war ein Deal, ressenkonflikten. Die Verträge belegen ein-
der von Anfang an streng roch. Nun stellt deutig, dass der Berater bei dem Transfer
sich heraus: Es ging nicht nur um wahnsin- auf allen drei beteiligten Seiten zugreift –
nig viel Geld. Die Methoden, die Juventus zu den 27 Millionen Euro von Juventus
und Raiola anwandten, waren zweifelhaft: Turin kommen 19,4 Millionen Euro Hono-
Sowohl der Klub als auch der Berater rar von Manchester United sowie 2,6 Mil-
könnten bei der Anbahnung und Abwick- Agent Raiola lionen Euro von Pogba, die ebenfalls Uni-
lung des Geschäfts gegen geltende Trans- Schutzschild und Blitzableiter ted übernimmt.

94 DER SPIEGEL 22 / 2017


HAROLD CUNNINGHAM / UEFA / GETTY IMAGES
Manchester-United-Spieler Pogba (r.): „Einen Hype um den zukünftigen Transfer entfachen“

Bis Anfang 2015 wachte die Fifa über „einen Hype um den zukünftigen Transfer“ sen ist, seine Reputation zu schützen“ und
die Spielervermittler, danach schob sie entfacht hatte. Außerdem war Raiola, wie sich rechtliche Schritte vorbehalte, sollten
diese Aufgabe an die Nationalverbände es in seiner Vereinbarung mit Juve heißt, vertragliche Details zu seiner Rolle bei
ab. In der Premier League ist es zulässig, an die besten Klubs der Welt herange- Pogbas Wechsel veröffentlicht werden.
dass ein Berater bei einem Transfer alle treten, um sie in einen „Bieterkrieg“ um Einer der wenigen, die sich mit Raiola
drei Seiten vertritt. Eine Bedingung ist, den französischen Nationalspieler zu ver- angelegt haben, war Manchester Uniteds
dass er sämtlichen Parteien seine vertrag- wickeln. damaliger Trainer Sir Alex Ferguson. Er
lichen Vereinbarungen offenlegt – vor dem Manchester United wusste von Raiolas hatte Paul Pogba, der im Sommer 2009 als
Transfer. Doppelspiel offensichtlich nichts. Der eng- 16-Jähriger zu Manchester United gewech-
Das hat Raiola gegenüber Manchester lische Fußballverband (FA) könnte den selt war, Anfang des Jahres 2012 in seinen
United offensichtlich unterlassen. Dies Vermittler nun dafür in die Pflicht nehmen, Kader aufgenommen. Raiola verlangte da-
geht aus einem Brief hervor, den Steve dass er beim Pogba-Transfer nicht alle sei- raufhin eine Gehaltserhöhung für den Spie-
Deaville, der Finanzchef des ne Verträge offenlegte; die ler. Als Pogba das Angebot Fergusons ab-
englischen Klubs, am 23. Sep- Fifa ihrerseits könnte eine gelehnt hatte, beschimpfte Ferguson den
tember 2016 an die Kontrol- mögliche Strafe gegen Raiola Berater, der neben Pogba saß, wüst.
leure der Fifa-Tochter TMS durch die FA weltweit aus- Raiola: „Dies ist ein Angebot, das meine
schrieb, als diese den Welt- dehnen; die Frage wäre zu- Chihuahuas – und ich habe zwei Chihua-
rekordtransfer untersuchte. dem, ob Manchester United huas – nicht unterschreiben.“
Manchester United sollte Fra- rechtliche Schritte gegen Ferguson: „Was, glauben Sie, sollte Pog-
gen zur Firma Topscore Raiola einleiten könnte. ba verdienen?“
Sports Limited beantworten, für die Raiola Doch die Wahrscheinlichkeit ist groß, Raiola: „Nicht das hier.“
mit Juventus ins Geschäft gekommen war. dass gar nichts passiert. Nach den Geset- Ferguson: „Saftarsch!“
Deaville erwiderte, das Unternehmen zen des Fußballs legt sich mit den wirklich Diesen Wortwechsel hat Raiola einem
nicht zu kennen: „Tatsächlich hatten wir Mächtigen niemand an. Und Raiola ist sehr Reporter der „Financial Times“ geschil-
von dieser Firma vor Erhalt Ihres Briefes mächtig. Sein Faustpfand sind seine Spie- dert. Im Sommer 2012 wechselte Pogba zu
noch niemals gehört.“ ler, um die jeder große Verein buhlt. Juventus Turin.
Der Fall zeigt, wie einfach es für Berater Juventus Turin wollte sich zum Inhalt In einer Autobiografie schreibt Fergu-
vom Kaliber Raiolas ist, alle Seiten anzu- des Vertrags mit Raiola und zu den Unter- son über Raiola: „Es gibt ein oder zwei
zapfen – und wie irrsinnig, dass er auch suchungen der Fifa nicht äußern. Ebenso Berater, die ich einfach nicht leiden kann,
bei Manchester United abkassiert. Raiola, Manchester United. Der englische Fußball- und Mino Raiola ist einer davon. Ich miss-
so steht es in seinem Vertrag mit Juventus, verband ließ Anfragen unbeantwortet. traute ihm von dem Moment an, in dem
wurde dafür bezahlt, dass er Pogba in den Raiola ließ über eine Kanzlei in Manches- ich ihn sah.“
Medien zum Superstar hochgeredet und ter ausrichten, dass er „grimmig entschlos- Rafael Buschmann, Michael Wulzinger

DER SPIEGEL 22 / 2017 95


Sport

Kriminelle
Mittel
Doping Die rot-rot-grüne Regie-
rung in Thüringen scheut die
Abrechnung mit den Altkadern
des DDR-Dopings. Sie gönnt
ihnen sogar staatliche Förderung.

A
ls die Thüringer Linke, SPD und
Grünen im Dezember 2014 die
deutschlandweit erste rot-rot-grü-
ne Landesregierung bildeten, gaben sie

THOMAS RAUPACH
ein Versprechen: Die Vergangenheit, so
schrieben sie in ihren Koalitionsvertrag,
werde „vielfältig und beispielhaft für die
gesamte Bundesrepublik aufgearbeitet“.
„Konsequent“, „schonungslos“ und „in all Gewichtheber im DDR-Nationalkader 1990: Steroide verabreicht
ihren Facetten“ werde die SED-Diktatur
seziert. Knut Korschewsky, einst strammes SED- lon oder Langlauf, arbeiteten noch heute
Doch wenn es um Ruhm und Ehre des Mitglied, sagt, das Gesetz sei kein Rück- Trainer, die in das DDR-Doping verwi-
Freistaats auf den Wettkampfplätzen die- schritt. ckelt waren.
ser Welt geht, so zeigt sich, bleiben die Die geschichtsklitternde Linie des Lan- Den Thüringer Skiverband führt seit
hehren politischen Ziele auf der Strecke. dessportbunds ist es auf jeden Fall. 2007 Ende vergangenen Jahres Ulrich Wehling.
Das linke Bündnis bugsiert gerade ein Ge- hatte der Verband noch einen Maßnah- Der dreimalige Olympiasieger der Nordi-
setz zur Sportförderung durch den Land- menplan im Kampf gegen Doping be- schen Kombination war zu Zeiten der DDR
tag, das es ehemaligen Dopingfunktionä- schlossen. Trainer, Betreuer, Ärzte, Phy- Sportfunktionär und als Verantwortlicher
ren ermöglicht, weiter im Sportbetrieb zu siotherapeuten und leitende Mitarbeiter für den Leistungssport in das Dopingsystem
bleiben – und zwar staatlich gefördert. sollten in einer Ehrenerklärung versi- eingebunden. Er hat Repressionen gegen
Alle Parteien im Thüringer Landtag chern, dass sie „zu keinem Zeitpunkt“ Trainer und Sportler mitgetragen, die sich
waren dafür, die 23 Jahre alten Richtlinien Dopingsubstanzen „weitergegeben, zu- der Dopingpraxis verweigerten. 1992 hatte
zu verschärfen. Die CDU brachte schon gänglich gemacht, rezipiert oder appli- er sein Amt als Ostbeauftragter des Deut-
2015 einen neuen Gesetzentwurf ins Par- ziert“ haben. Im November 2016 wurde schen Skiverbands wegen seiner Vergan-
lament ein, der endlich alte DDR-Doping- die Ehrenerklärung umgeschrieben. Nun genheit aufgeben müssen.
trainer aus der Förderung ausschließen reicht es, wenn die Trainer versichern, Auch der Hauptgeschäftsführer des
sollte. Es dürften künftig nur noch „Sport- sich künftig „in keiner Weise an Doping- Landessportbunds, Rolf Beilschmidt, reüs-
organisationen“ unterstützt werden, in de- maßnahmen zu beteiligen oder das Do- sierte in der DDR: als Weltklassehoch-
nen keine hauptamtlichen Mitarbeiter be- ping zu unterstützen“. Was früher war – springer, als SED-Kader, Sportfunktionär
schäftigt sind, die früher Dopingsubstan- Schwamm drüber. und Stasispitzel. Er war Chef von Geipels
zen verabreicht oder zugänglich gemacht Ines Geipel, 56, ist eine der rund 12 000 Verein SC Motor Jena, dessen Doping-
haben. Zudem sollten in der Landessport- DDR-Sportler, die systematischem Doping praktiken heute gerichtsbekannt sind. Als
konferenz, welche die Landesregierung ausgesetzt waren. Die Weltklassesprinte- Präsident steht ihm der alte SED-Genosse
berät, auch Dopingopfer vertreten sein. rin trainerte einst beim SC Motor Jena. Peter Gösel zur Seite, der Beilschmidts
Doch der Entwurf für das neue Sport- Dort wurden ihr ohne ihr Wissen Steroide Stasiverstrickung mit den Worten kom-
gesetz, den Rot-Rot-Grün im März endlich in Tabletten verabreicht. 1984 lief sie Welt- mentierte: „Die Vergangenheit interessiert
vorlegte, spart die Vergangenheit aus. rekord mit ihrer Vereinsstaffel, 4 × 100 Me- keinen.“
Sportverbände müssen demnach, wenn ter in 42,2 Sekunden, er gilt noch heute. Die Auffassung scheint sich im Osten
sie staatliche Gelder wollen, „einschlägige Nach der Wende, als das Doping nachge- wieder auszubreiten. Erst kürzlich erklär-
Anti-Doping-Bestimmungen“ anerken- wiesen wurde, ließ sie sich allerdings aus te das einstige Radsportidol Täve Schur
nen. Das heißt, ehemalige SED-Kader mit der Rekordliste streichen. Die Bestmarke, im „Neuen Deutschland“, der DDR-Sport
Dopingvorgeschichte dürfen an den Start, sagte sie, sei mit kriminellen Mitteln er- sei „nicht kriminell, sondern vorzüglich
wenn sie denn heute sauber bleiben. Was reicht worden. aufgebaut“ gewesen. „Wir hatten in der
sie in der DDR taten, spielt keine Rolle. Geipel leitet heute einen Opferhilfever- DDR keine Dopingtoten, anders als im
Wie kam diese Dopingpassage in den ein und sagt, das neue Gesetz sei eine Westen.“ Schur blieb daraufhin der ge-
Entwurf? Brisanterweise findet sich die Farce: „Wir brauchen Glaubwürdigkeit und plante Einzug in die Ruhmeshalle des
Formulierung wörtlich in einer Synopse Transparenz.“ Verstrickte Trainer und Deutschen Sports verwehrt.
des Landessportbunds (LSB) Thüringen Funktionäre dürften auf keinen Fall mit Und Michael Ilger, dem Chef der Sport-
zur Debatte um die Gesetzesreform von staatlichen Geldern gefördert werden. hilfe, schwante, dass wohl eine ganz
2016. „Natürlich lassen wir uns beraten“, Und von denen gibt es noch einige. Fast grundsätzliche Diskussion über die deut-
räumt die SPD-Abgeordnete Birgit Pelke in jedem Verband, so Insider, sei es beim sche Sportvergangenheit nötig sei.
ein, die den Entwurf verteidigt. Der Linke Ringen, Judo, Boxen, Schwimmen, Biath- Steffen Winter

96 DER SPIEGEL 22 / 2017


WIR SIND
ALLE LÜGNER.
WARUM UNS DIE WAHRHEIT SCHWERFÄLLT.

JETZT
L
IM H A N D E

I WEITER VORAN
Wissenschaft+Technik
Tiere Reusch: Sardellen zum Bei- Das sind Meeräschen, eine
„Der Dorsch stirbt spiel. Die schwimmen aus Gattung, die auch im Indus
spanischen Gewässern hoch. heimisch ist. Diese Fische sind
den Hitzetod“ Andere Forscher haben An- extrem lecker, aber auch so
Thorsten Reusch, 51, vom Geo- chovis, Wolfsbarsche, Rote schlau, dass sie kaum an die
mar Helmholtz-Zentrum für Meerbarben aus dem Wasser Angel gehen.
Ozeanforschung in Kiel, über gezogen – alles Fische, die SPIEGEL: Hat der Wandel nicht
die Auswirkung des Klima- man von der Meeresfrüchte- auch gute Seiten? Bei Wärme
wandels auf die Fischbestände theke in Italien kennt. Die nimmt das Planktonwachs-
in Nord- und Ostsee Temperaturen in Nord- und tum zu.
Ostsee sind in weniger als 30 Reusch: Richtig, das Nah-
SPIEGEL: Sie warnen vor ei- Jahren um 1,5 Grad gestiegen, rungsangebot erhöht sich,
nem „dramatischen marinen weit mehr als im globalen auch die Vielfalt wird sich
Wandel“. Müssen wir damit Durchschnitt in den Ozeanen. durch die subtropischen
rechnen, dass bald tropische SPIEGEL: Was bedeutet das? Zuwanderer erhöhen. Doch
Haie in der Deutschen Bucht Reusch: Die Meeresfauna än- die heimischen Arten – ob
schwimmen? dert sich wie im Zeitraffer. In Flunder, Kabeljau oder
Reusch: Das nicht – aber Ro- der Kieler Förde können Sie Scholle – sind die Verlierer.
chen sind vor der Küste Hel- neuerdings bis zu 50 Zentime- Die Sprotten flüchten schon
golands bereits aufgetaucht. ter große Fische beobachten, jetzt im Sommer hoch in die
Und in der Ostsee wurde ein die Algen von den Steinen, kühlen Gefilde im Finnischen
kleiner Thun gesichtet. Lusi- Bunen und Pollern abweiden. Meerbusen.
tanische, also gemäßigt SPIEGEL: Wem geht es am
warme Fischarten, schlechtesten?
schwimmen immer häu- Reusch: Eindeutig dem
figer durch den Skage- Dorsch in der Ostsee.
rak. Sardinen stoßen in Dem droht der Hitze-
kleinen Schwärmen bis tod. Die Tiere brauchen
nach Fehmarn vor. kaltes Wasser zum
SPIEGEL: Ihr Forschungs- Leben. Wenn die Fluten
schiff „Alkor“ befindet weiter aufgeheizt wer-
sich gerade auf Testfang. den, wird der Dorsch
IFM-GEOMAR

Was ist den Kollegen bei uns in 50 bis 80


schon ins Netz gegan- Jahren ausgestorben
gen? Forschungsschiff „Alkor“ sein. slz

Einwurf

Der stumme Erdoğan


Warum auch die korrekte Aussprache falsch sein kann.
Neulich war ich in Schottland in einem verlas- das in keiner Menschenrechtscharta. Denn
senen Dorf mit 18 Buchstaben. „Liegt bei viele radebrechen rum, wenn sie nur den
Edinbörg“, erklärte ich, um den Zungenbre- Mund aufmachen. Jahrelang haben sie Oba-
cher zu vermeiden. Ein Kollege verbesserte: mas Barack auf der ersten Silbe betont und
„Das heißt Edinburro.“ Dabei lachte er fies. den Türken Erdoğan mit g ausgesprochen, ob-
Gelindert wurde meine Blamage durch eine wohl das ğ stumm ist. Die ARD gebietet der-
Internetrecherche: Die Schotten nennen ihre lei Verhunzungen nun im Namen der Moral
Hauptstadt Edinbra (mit rollendem r und kur- Einhalt. „So original wie möglich, so deutsch
zem a). Wir lagen also beide falsch. Um derlei wie nötig“, lautet die Devise. Dadurch aber
Peinlichkeiten zu vermeiden, hat die ARD fühlen sich wiederum manche Zuschauer ge-
eine Aussprachedatenbank geschaffen, die kränkt. Wer aufwuchs, als man noch „I-Be-
diesen Monat 20. Geburtstag feiert. Wir wis- Em“ und „Mickimaus“ sagte, erlebt die Nach-
sen seitdem, dass manch ein Alfred nicht richten im Ersten zuweilen als Folterkammer
Olfred, sondern Älfred heißt und Südkoreas besserwisserischer Gaumenkünstler. Mit dem
See-uhl in Wahrheit Soul. Jan Hofer, Chef- Originalausdruck ist es zudem so eine Sache.
sprecher der „Tagesschau“, findet den aus Mao Zedong, der früher Mao Tse-tung hieß,
380 000 Einträgen bestehenden Zungenschlag- wird in China „Mau Sedonn“ ausgesprochen.
Knigge zwar „ein bisschen pingelig“. Doch Einige Sprachen kennen Laute, die wie Blät-
Leiter Roland Heinemann sagt streng: „Jeder terrascheln oder Schnarchen klingen. Da wird
darf erwarten, dass sein Name richtig aus- es schwer, die Würde des anderen phonetisch
gesprochen wird“, das gehöre zur „Wertschät- zu wahren. Wie heißt noch mal unsere Kanz-
zung anderer Kulturen“. Gott sei Dank steht lerin? An-gela oder Angehla? Matthias Schulz

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Popeln ohne
Scham Impfungen
Dem Gorilla ist nichts Menschliches Unwissenheit schützt
fremd. Man hat die größten aller
lebenden Primaten schon beim
vor Viren nicht
Onanieren erwischt, zur Kontaktauf- Der aktuelle Masern-Todes-
nahme stoßen sie Rülpslaute aus wie fall einer 37-jährigen Frau
Betrunkene im Bierzelt. Und auch aus Essen kommt für Ärzte
zum hingebungsvollen Nasebohren wenig überraschend. Denn
neigen diese Affen, wie dieses Tier viele junge Erwachsene sind
aus Ostafrika schamlos zeigt. nur einmal oder gar nicht ge-
gen Masern geimpft und ver-
fügen deshalb über keinen
ausreichenden Schutz gegen
die gefährlichen Viren. Nach
einer Untersuchung des Ro-
bert Koch-Instituts (RKI) aus
dem Jahr 2013 besitzt nur
knapp die Hälfte aller 30- bis
39-Jährigen irgendeine Form
von Masern-Impfschutz;
selbst bei den 18- bis 29-Jähri-
gen waren es nur knapp 80
Prozent. „Es ist sicher nicht
so, dass alle diese Menschen
sich nicht impfen lassen wol-
len“, sagt die Psychologin
Cornelia Betsch, die an der
Universität Erfurt zum The-
ma Impfentscheidungen
forscht. „Viele wissen einfach
nicht, dass das nötig ist, zum
Beispiel weil sie Masern für
sehr selten oder harmlos hal-
ten.“ Das bestätigt auch eine
Befragung der Bundeszentra-
le für gesundheitliche Aufklä-
rung: Eigentlich empfiehlt die
Ständige Impfkommission am
RKI seit 2010 allen nach 1970
geborenen Erwachsenen, die
gar nicht oder nur einmal
geimpft wurden, sich immuni-
sieren zu lassen. Doch diese
Empfehlung ist drei von vier
Befragten unbekannt. Nur
die vor 1970 Geborenen be-
nötigen in der Regel keine
Impfung, da fast alle von ih-
nen als Kinder an Masern er-
krankten. vh
OLI DREIKE / BARCROFT IMAGES / ANIMAL.PRESS

CYNTHIA GOLDSMITH / DPA

Masern-Virus

DER SPIEGEL 22 / 2017 99


Wissenschaft

BERLINER VERLAG / ARCHIV / PICTURE ALLIANCE / DPA


Reichskanzler Hitler, Präsident Hindenburg am „Tag von Potsdam“ 1933: „Den Nazis war der Bückling zu tief und deshalb peinlich“

Können Steine schuldig sein?


Geschichte Die Potsdamer Garnisonkirche gilt als architektonisches Juwel – aber
auch als Kriegstempel der Hohenzollern und Unheilsort der Deutschen.
Jetzt wird das 1968 vom DDR-Regime gesprengte Gotteshaus wiedererrichtet.

A
m 14. April 1945 erfüllte ein unge- Schlag ohne militärischen Sinn und des- Ulbricht ermutigt, die Ruine zu beseitigen.
heures dumpfes Brummen den halb besonders bitter. Gesprengt wurde an einem Sonntag im
Himmel über Potsdam – Auftakt Auch das höchste Wahrzeichen der Frühsommer, um 10.20 Uhr – zur Gottes-
zur „Operation Crayfish“. 512 britische Stadt, die knapp 90 Meter hohe Garnison- dienstzeit.
Flugzeuge, zumeist schwer beladene Lan- kirche, geriet in Brand. Im Jahr 1735 fer- Fast 50 Jahre nach dieser Rachetat soll
caster-Bomber, hatten sich der Stadt genä- tiggestellt, diente der Barockbau als Land- der Turm wieder emporwachsen. Eine
hert, ein Geschwader von rund 75 Kilo- marke, in deren Schatten sich der Aufstieg kirchliche Stiftung hat rund 28 Millionen
meter Länge. Preußens zur Großmacht vollzog. Die Euro an Geldern eingesammelt. An diesem
Die Einwohner strömten in die Luft- Leibgarde der „Langen Kerls“ saß hier auf Mittwoch gab die Bundesregierung grünes
schutzkeller – für sie fast Alltag. Mehr als harten Bänken. Johann Sebastian Bach tes- Licht. „Unser Antrag auf vorzeitigen Maß-
130-mal war in den letzten Kriegsmonaten tete die Orgel. nahmenbeginn wurde bewilligt“, freut sich
feindliche Luftwaffe über ihren Köpfen auf- Nun, nach dem britischen Luftangriff, Projektsprecher Wieland Eschenburg, „im
getaucht und stets weiter nach Berlin ge- loderten hohe Flammen aus dem Gottes- Herbst rücken die Bagger an.“
flogen. haus. Die 7,5 Meter dicken Mauern aber Mit Kelle und Mörtel will man nun
Diesmal kam es anders. Die Royal Air hielten stand. Erst 1968, als am anderen 2,54 Millionen Backsteine aufstapeln. Um
Force setzte Leuchtmarken im nächtlichen Ende der Welt Chinas roter Kaiser Mao den gewaltigen Tower zu fundamentieren,
Zielgebiet und klinkte 1700 Tonnen Zedong im Namen einer kommunistischen müssen 42 Betonpfähle jeweils 37 Meter
Sprengstoff aus. 1600 Menschen starben, Kulturrevolution alles Alte vernichten tief ins Erdreich gerammt werden. Der
vieles lag danach in Trümmern. Es war ein wollte, fühlte sich auch DDR-Chef Walter Untergrund ist morastig.
100 DER SPIEGEL 22 / 2017
Turmhöhe: 88,47 m

Wetterfahne
Der Deutsche Bundestag misst der Sa- ler zusammen, um das Gebäude (das Vor-
che „nationale Bedeutung“ bei. Das Geld bild des Hamburger Michels ist) als
für den Bauschmuck fehlt allerdings noch. „Schandmal“ und „Walhalla des Absolu-
Einst prangten Pilaster, Trophäenbündel tismus“ niederzuknüppeln.
und Flammenvasen aus Sandstein an der Dass sich in der Breiten Straße 7 die un-
Fassade, insgesamt 450 Ornamente. Auch bequemen Aspekte der Nationalgeschichte
die Haube aus Holz und Kupfer ist noch ballen, ist Freunden und Gegnern klar. Er-
nicht bezahlt. Ohne weitere Spenden wird richtet wurde die Garnisonkirche unter Kö-
die Garnisonkirche ein hässlicher Rumpf nig Friedrich Wilhelm I. Als der Monarch
bleiben (siehe Grafik). zur Fertigstellung die 365 Stufen bis zur
Doch die Macher sind frohgemut, das Glockenkammer erklomm, bedeutete das
Bethaus bis zur „vollendeten Schönheit“ zugleich den Aufstieg einer neuen euro-
fertigzustellen. „Wenn die Gerüste erst ein- päischen Macht. Glockenspiel
mal stehen, nimmt auch die Begeisterung In der Wetterfahne über dem Turmhelm Aussichts-
und die Unterstützerfreude zu“, so Eschen- leuchtete der preußische Adler, Blitze in plattform in 57 m Höhe
burg. den Fängen. Darauf in goldenen Lettern
Volle Kassen soll vor allem der neue der Wahlspruch: „Er weicht der Sonne
Spendenkatalog bringen, der in den nächs- nicht“. Kirchengesang und Gewehrsalven
ten Tagen erscheint. Das Werk listet Hun- erklangen zur Einweihung. Die Englein
derte Steinornamente auf. Gegen Geld auf der Orgel trugen soldatische Behel-
werden Patenschaften vergeben. Die Zei- mung.
ger der Turmuhr kosten 3000 Euro, die gro- Doch Ostelbien rasselte nicht nur mit
ße Glocke 750 000 Euro. Sogar Betonpfähle dem Säbel, es war auch fleißig. Das Land
und der Bauzaun werden angepriesen. sehe zwar aus wie ein „Außenteil der eu-
Städtebaulich, keine Frage, ist die Wie- rasischen Steppe“, hämte der britische His-
dererrichtung ein Gewinn. Mit dem toriker Arnold Toynbee. Dennoch sei es
Barockerbe der größten Kasernenstadt dort gelungen, Rekordernten einzufahren –
Preußens ging die DDR so einfühlsam um, mit dem Vogeldünger Guano.
als würde jemand Wiegenlieder auf der Und Toynbee lobte die Preußen weiter:
Posaune spielen. Mit aller Gewalt wollte „Sie lehrten ihre Nachbarn auch, wie man
die Partei eine moderne Magistrale quer durch die allgemeine Schulpflicht eine
durch die City schlagen, flankiert von ganze Bevölkerung auf einen Stand bisher
asbestverseuchten Sputnikbauten, an de- nicht da gewesener sozialer Tüchtigkeit
nen Treckerreliefs mit lächelnden Kolcho- bringen und durch ein System von all-
sebauern hingen. gemeiner Kranken- und Arbeitslosen-
Für den sozialistischen Traumboulevard versicherung auf einen bisher nicht erreich-
mussten Paläste aus dem 18. und dem 19. ten Stand sozialer Sicherheit gelangen
Jahrhundert weichen. Bis zur Unkennt-
lichkeit habe man den Stadtgrundriss ver-
ändert, urteilt Vizekanzler Sigmar Gabriel
(SPD). Geblieben sei aber lediglich eine
„emotionale Lücke“. noch nicht
Nur, ist auch die Neuauflage einer Kir- finanzierter
che erlaubt, in der die Armee einst die Bauschmuck
Militärzeichen ihrer Gegner wie in einem
germanischen Opferhain aufpflanzte? Wo
Pfarrer im Ersten Weltkrieg zur „geist-
lichen Mobilmachung“ aufriefen?
Seit Jahren wehren sich Kritiker gegen
die Wiedererrichtung des „Soldatendoms“.
Zuletzt im März traten die Unmutsbekund-

Kapelle, Shop,
Barocke Sehnsucht Ticketverkauf, Café,
3D -I O G A ME S & V I DEO P RO DU CTIO N G MB H

Der Wiederaufbau der Potsdamer Ausstellung, Veranstal-


Garnisonkirche tungsräume, Bibliothek

Der Kirchturm wird in historischer Bauweise mit Ziegeln


errichtet. Finanziell gesichert ist bislang nur ein nahezu
schmuckloser Rumpf von 62 Meter Höhe, in den erhal-
tener Originalzierrat eingesetzt wird. Das Geld für die
fehlenden 450 Steinornamente sowie die Turmhaube
aus Holz und Kupfer (Kosten: 9 Mio. €) will die Stiftung ehemaliges
während des Baus durch weitere Spenden einnehmen. Kirchenschiff
Für die mittelfristig angestrebte Wiedererrichtung des
Kirchenschiffs wären rund 50 Mio. € nötig.

DER SPIEGEL 22 / 2017 101


fällen überfrachtet war. „Das berühmte
Bild entstand als Schnappschuss eines Foto-
grafen der ‚New York Times‘“, erklärt der
Historiker Martin Sabrow von der Hum-
boldt-Universität Berlin. „Den Nazis war
der Bückling Hitlers zu tief und deshalb
peinlich.“ Seine Karriere als Ikone machte
das Foto erst später in den Schulbüchern.
Erstaunlich ist auch, dass gegenüber der
Garnisonkirche jenes Infanterieregiment
Nummer 9 stationiert war, aus dessen
Reihen viele Verschwörer des 20. Juli 1944
hervorgingen. Die von Landjunkern durch-
setzte Truppe besaß 29 Stabsoffiziere und
Hauptleute. Etwa 20 von ihnen beteiligten
sich am Widerstand gegen die National-
sozialisten.
Henning von Tresckow, der seine Söhne

ULLSTEIN BILD
1943 in der Garnisonkirche konfirmieren
ließ, plante gleich mehrere Attentate auf
den „größten Verbrecher der Weltgeschich-
Sprengung der Ruine der Garnisonkirche 1968: „Wo nichts mehr steht, wird nichts mehr gefragt“ te“, wie er schrieb. Mal wollte er Hitler
mit der Pistole beseitigen, mal überredete
kann.“ Sein Urteil: „Wir mögen sie nicht bäude haftbar zu machen für politisch un- er einen Offizier zum Meuchelmord. Dann
leiden, aber wir können nicht abstreiten, liebsame Entwicklungen ist absurd“, meint wieder besorgte er vier britische Haft-
dass wir von ihnen Wichtiges und Wert- die Historikerin Anke Silomon. minen und schmuggelte sie 1943 ins „Con-
volles gelernt haben.“ So sieht es auch die Bevölkerung. Eine dor“-Flugzeug des Diktators. Der Spreng-
Als Friedrich Wilhelm I. starb, ließ er Fraktion „Christen brauchen keine Garni- stoff vereiste nach dem Start.
sich in einem schlichten schwarzen Mar- sonkirche!“, die derzeit im Internet um All diese Details soll die Ausstellung im
morsarg in der Garnisonkirche bestatten. Ablehnung wirbt, erhielt bislang 836 Stim- dritten Stock zeigen. Auf 250 Quadrat-
Seinem Sohn Friedrich II. (der „Alte men. Den Pro-Button der Stiftung drück- metern wird sich das Infomuseum erstre-
Fritz“) reichte eine Zinnkiste. ten 23 694 Leute. cken. Die Stiftung wünscht sich eine „Schu-
Aufgewertet zur zentralen Grablege, Gleichwohl stößt das Vorhaben lokal auf le des Gewissens“.
stieg das Bethaus rasch zur symbolischen Widerstand. Vor allem die alten Nutznie- Wenn nur das liebe Geld nicht wäre.
Herzkammer des Staates auf. 1805 kletter- ßer des DDR-Regimes sind sauer. „Die Ja- Noch fehlen neun Millionen Euro, um die
te der Zar von Russland in die Königsgruft, sager durften einst nagelneue Wohnungen Sandsteinornamente zu meißeln. Eine
um dort das Bündnis gegen Napoleon zu am Stadtrand beziehen“, erzählt ein In- Flammenvase wurde bereits testweise her-
bekräftigen. sider. „Jetzt ist die Platte abgewrackt, und gestellt. Die Bildhauer brauchten dafür
1864 gegen Dänemark, zwei Jahre spä- die Leute ärgern sich, dass Zugereiste die 300 Stunden. Um die Kosten niedrig zu
ter gegen die Habsburger, 1870 gegen City prunkvoll umgestalten.“ halten, sollen auch Fräsroboter zum Ein-
Frankreich: Stets diente die Kirche als Büh- Einen Kriegstempel wollen auch die Be- satz kommen.
ne, auf der Preußen die erbeuteten Fahnen fürworter nicht. Ihnen geht es um ein be- Hinzu kommen einige Originalteile, die
seiner Feinde zur Schau stellte. gehbares Denkmal. „Wo nichts mehr steht, nach der Sprengung gerettet wurden, da-
Als Gipfel der Schande gilt der berühmte wird nichts mehr gefragt“, sagt Eschen- runter ein fünf Tonnen schweres Kapitell.
Handschlag Adolf Hitlers mit dem Reichs- burg, „eine grüne Wiese ist kein Ort des Andere Trümmer hatte die DDR in einer
präsidenten Paul von Hindenburg. Nach Erinnerns.“ Im dritten Stock der Kirche Grube als Schutt abgeladen. Sie tauchten
der Wahl im März 1933 (bei der die NSDAP soll ein großes Dokumentationszentrum ebenso wieder auf wie eine verschollen
43,9 Prozent der Stimmen erhalten hatte) entstehen. geglaubte Glocke.
wurde der Festakt zur konstituierenden Sit- Das zerstörte Heiligtum erlebte nicht All diese Teile werden nun in den Kirch-
zung des neuen Parlaments wegen des kurz nur düstere Stunden. Am Eingang zur Kö- turm eingearbeitet. „Der Stein, den die
zuvor ausgebrannten Reichstags in die Gar- nigsgruft neben dem Altar stand zwar der Bauleute verworfen haben, ist zum Eck-
nisonkirche verlegt. Der „Führer“ erschien Kriegsgott Mars, aber daneben auch Mi- stein geworden“, zitiert der zuständige Ar-
in Anzug und Zylinder. nerva, die Göttin der Weisheit. chitekt Thomas Albrecht feierlich Psalm
In Westdeutschland wurde der Termin Zudem darf das Gebäude als Bollwerk 118 der Bibel.
später gern als „Tag der Verführung“ ge- religiöser Toleranz gelten. Es stand meh- Er freut sich, dass der in Siegestaumel
deutet. Hitler habe den Gezähmten ge- reren Konfessionen offen. Lutheraner und und Heldenpathos verstrickte, aber auch
mimt und das konservative Bürgertum ge- Calvinisten feierten hier ihr erstes gemein- von den Idealen der Aufklärung geprägte
täuscht. sames Abendmahl. Schicksalsbau der Deutschen wieder in den
All diese üblen Geschehnisse umwehen Selbst der „Tag von Potsdam“ mit dem Himmel wachsen soll. Technisch gesehen
die gesprengte „Ruhmeshalle Preußens“ berüchtigten Handschlag verlief anders, sei das Ganze sowieso ein Leckerbissen:
nach Ansicht der Gegner bis heute wie ein als die Lehrpläne an den Gymnasien es „Wir planen hier den größten Ziegelbau
Pesthauch. Eine Wiedergeburt der Immo- heute oft beschreiben. Angeblich hatte der der letzten 100 Jahre.“ Matthias Schulz
bilie, heißt es, würde nur Pickelhauben- luziferische Propagandaminister Joseph
Verehrer anlocken oder gar den alten Geist Goebbels das Schauspiel minutiös als Täu- Video: Die Sprengung der
des Militarismus wecken. schungsmanöver geplant. Garnisonkirche in Potsdam
Nur: Können Mauern kontaminiert Neuere Untersuchungen zeigen jedoch, spiegel.de/sp222017kirche
sein? Gibt es eine Schuld der Steine? „Ge- dass der Termin von protokollarischen Zu- oder in der App DER SPIEGEL

102 DER SPIEGEL 22 / 2017


Technik

Still auf
Höchstgeschwindigkeit eines Mopeds; um mit ließe sich immerhin eine Fahrtstrecke
dieses Tempo zu erreichen, bedarf es aber von 100 Kilometern bewältigen – voraus-
der Antriebsleistung eines Ferrari. Für die gesetzt, der Steuermann nimmt auf der

dem See
Bootsfahrt mit Batteriestrom kann es des- elfstündigen Schleichfahrt erhaben hin,
halb nur eine Regel geben: Langsamkeit dass die Segler ihm bei günstigem Wind
ist Trumpf – und Luxus zugleich. stramm davonziehen. Und das am Ende
Nimbus stattet seine E-Jachten mit auch noch grußlos.
Freizeit Eine schwedische einem 50-Kilowatt-Antrieb des deutschen Der Lieferant der Antriebstechnik be-
Systemanbieters Torqeedo aus. Als Strom- trachtet die Stromjacht denn auch als
Bootsfirma baut die speicher dienen zwei unter dem Achter- Orchidee des Wassersports. Elektrische
ersten serienmäßigen Elektro- deck platzierte Lithium-Ionen-Akkus von Flautenschieber für Segeljachten und klei-
demselben Typ, der im BMW i3 zum ne Außenbordmotoren sind das Kern-
jachten – die teuerste Einsatz kommt. Zusammen bunkern sie geschäft der Torqeedo GmbH, die sich mit
Methode, langsam zu sein. gut 60 Kilowattstunden, etwas weniger als gut 20 Millionen Euro Jahresumsatz Welt-
die Speicherkapazität des günstigsten marktführer nennen darf in dem noch

D
en Motorbootfahrer nicht zu grü- Tesla. überschaubaren Feld.
ßen ist unter Seglern ein bewährter Solche Technik ist teuer, erst recht, Als Marktbeschleuniger, glaubt Ge-
Grundsatz. Der stille Windkraft- wenn sie in kleiner Stückzahl vertrieben schäftsführer Christoph Ballin, werden Zu-
nutzer verachtet den lärmenden Wasser- wird. Nimbus plant eine Jahresproduktion lassungsbeschränkungen und Verbote kon-
quirl und seine oft nicht minder auffällige von sechs E-Jachten seiner Baureihe 305. ventioneller Motoren auf Binnengewäs-
Besatzung. Das Modell, schon mit Dieselantrieb für sern wirken. Die E-Jacht, wie sie Nimbus
Jonas Göthberg, Vertriebschef des schwe- rund 250 000 Euro kein Billigboot, kostet anbietet, könnte mangels Alternative zur
dischen Motorjachtproduzenten Nimbus, in der Elektrovariante 100 000 Euro mehr. „Königin der grünen Seen“ aufsteigen,
weiß um das weltanschaulich verminte Frei- Es ist einer der höchsten Aufpreise, die je schätzt der einstige McKinsey-Berater.
zeitgewässer. Doch seine Marke, sagt er, für einen abgasfreien Antrieb verlangt wur- Auch Nimbus-Vertriebsleiter Göthberg
sei vergleichsweise gut angesehen im Lager den. Obendrein hat selten ein Produkt so spricht begeistert von der Stille solcher
der Leisen: „Segler und unsere Kunden deutlich illustriert, mit welchen Kompro- Schutzräume, in der der Genuss des fast
grüßen einander durchaus.“ missen die Fahrt einhergeht, wenn Batte- geräuschlosen Stromantriebs erst Voll-
Hier nach einer wasserdichten Statistik riestrom der Kraftstoff ist. endung finde. Das einzige Vorführboot
zu fragen wäre ebenso töricht wie der Ver- Die Antriebsleistung der E-Maschine indes liegt derzeit auf dem Bodensee, wo
such, das Motorboot grünzurechnen. Es reicht für eine Höchstgeschwindigkeit von einstweilen alle gängigen Antriebsarten
zählt zu den größten Energievergeudern etwa 15 Kilometern pro Stunde. Im kon- erlaubt sind.
der mobilen Spaßgesellschaft. Bei Vollgas stanten Betrieb bei diesem Tempo wäre Göthberg steuert die E-Jacht durch eine
schlucken schon kleinere Exemplare gut der Akku aber bereits nach einer Stunde Hafeneinfahrt. Eine Segeljacht kommt ihm
200 Liter Kraftstoff auf 100 Kilometer. (und somit einer Wegstrecke von 15 Kilo- entgegen. In ihrem Rumpf puckert der
Auch Nimbus liefert Jachten mit mehr metern) leer. Hilfsdiesel. Der Segler hebt freundlich die
als 400 PS aus, will aber keinesfalls den Nimbus empfiehlt den Freizeitkapitänen Hand. Göthberg grüßt zurück.
Wasserrowdie ansprechen. Göthberg be- deshalb eher das Dauertempo eines Jog- Christian Wüst
müht eher den Vergleich zu Volvo. Der gers: um die 9 Kilometer pro Stunde. Da- Mail: christian.wuest@spiegel.de
Autoproduzent wurde mit Innovationen
für Sicherheit und Abgasreinigung be-
kannt. Der Bootsbauer setzt auf umwelt-
schonende Produktionsmethoden und
spritsparendes Rumpfdesign.
Inzwischen haben die nautischen Öko-
streber ihre erste vollelektrisch angetrie-
bene Jacht im Programm. Sie ist knapp
zehn Meter lang und soll eine ähnliche
Mission im Wasser antreten wie einst das
kalifornische Auto-Start-up Tesla auf der
Straße – Elektromobilität als Spaß und
nicht als Notbehelf erlebbar zu machen.
Die Bootsbranche ist damit ein Jahr-
zehnt im Rückstand, was in erster Linie
einer physikalischen Misslichkeit der Hy-
drodynamik geschuldet sein dürfte: Der
Widerstand, den ein Schiff überwinden
muss, ist ungleich höher als bei Landfahr-
WOLFGANG MARIA WEBER / DER SPIEGEL

zeugen; so werden die Nachteile des Elek-


troantriebs im Wasser noch drastischer of-
fenbar.
Ein Sportboot fährt mit etwa 9 Kilome-
tern pro Stunde in einem sehr sparsamen
Modus; dafür genügt fast schon die An-
triebsleistung eines Mopeds. Die schnells-
ten gängigen Motorboote schaffen 60 Kilo-
meter pro Stunde, also etwas mehr als die Motorjacht Nimbus 305 mit Elektroantrieb: Königin im Schutzraum?

DER SPIEGEL 22 / 2017 103


Technik

Hier spricht der Klon


Zukunft Die perfekte Fälschung: Künstliche Intelligenz macht es möglich, die Stimme jedes
beliebigen Menschen im Computer zu erschaffen – und damit böse Spiele zu treiben.

W
er nimmt als Erster einen neuen baren Klon erzeugen. Auf der Homepage dass es auch schnell und billig geht. Die
Song mit Michael Jackson auf? der Firma ist zu hören, wie Barack Obama, Qualität leidet etwas, aber auch die Stim-
Wann lässt sich Elvis mit fri- Hillary Clinton und Donald Trump („This men zweiter Wahl können mitunter schon
schem Liedgut hören? is huge“) über ihre Software fachsimpeln. beeindrucken.
Bald sei es so weit, glaubt Jordi Janer, Der gefälschte Disput ist noch nicht per- Das Pariser Start-up CandyVoice zum
Klangforscher in Barcelona. Seine Firma fekt, aber die Technik kommt allenthalben Beispiel arbeitet an einer App für Smart-
Voctro Labs arbeitet bereits an der nötigen in großen Schritten voran. phones. Der Kunde nimmt damit nur 160
Technik. Sie erlaubt es, beliebige Stimmen Bislang war es langwierig und teuer, Mustersätze auf, und auf den Servern von
im Computer zu klonen. Ein paar Stunden eine Computerstimme zu erschaffen. Ein CandyVoice entsteht daraus ein Modell
Tonaufnahmen vom Original genügen – Sprecher musste für viele Stunden ins Stu- seiner Stimme.
und wenig später erwachen auf ewig Ver- dio und dort Tausende Sätze aufnehmen – Das geht, weil der Computer nicht jedes
stummte zu künstlichem Leben. langsam und schnell, laut und leise, in ver- Mal von Grund auf neu zu sprechen lernt.
Schon Anfang vorigen Jahres verblüffte schiedener Betonung, als Frage, als Auf- Ist er einmal trainiert, verfügt er quasi über
die Firma mit einem singenden Donald forderung. Diese Aufnahmen wurden in eine Allzweckstimme. Dann müssen nur
Trump. Ein kleines YouTube-Video zeigt, einzelne Lautabschnitte zerhackt. Daraus noch die Eigenheiten der gewünschten
wie der damalige Präsidentschaftsbewer- stückelte der Computer dann, je nach Text, Sprecher hinzugemischt werden.
ber eine Jazzballade vorträgt, schwungvoll neue Sätze zusammen (siehe Grafik). Wer will, kann auf der Homepage von
intoniert und mit Mut zum Vibrato. Alles Es bedurfte einiger Tricks, bis eine halb- CandyVoice ein paar Worte ins Mikrofon
nur getrickst, aber recht überzeugend. wegs erträgliche Satzmelodie herauskam. sprechen – wenig später ist die eigene Stim-
Heute ist die Technik einen großen Trotzdem klang die Maschine oft blechern me in vielerlei Verwandlung zu hören: als
Schritt weiter. Die neuesten Kunststimmen und geknödelt, kurz: wie ein Roboter. Frau, als Kind, als Greis. Wie am Mischpult
klingen so gut wie echt. Und sie singen, Heute dagegen hören sich die besten lassen sich auf diese Weise auch neue Stim-
was auch immer man ihnen in den Mund Kunststimmen auf wundersame Weise le- men kombinieren.
legt: jeden Text, jede Melodie. bendig an. Dahinter steckt künstliche In- Theoretisch könnte eine mittelbegabte
Darauf beruht eine der Geschäftsideen telligenz. Sängerin ihren Stimmklon eines Tages mit
von Voctro Labs. „Die Werbewirtschaft“, Der Computer verkettet keine vorgefer- dem Schmelz eines Opernsoprans ver-
sagt Janer, „könnte bekannte Songs auf tigten Wortschnipsel mehr – er spricht ein- edeln lassen. Auch Tempo und Gefühls-
ihre Produkte umschreiben.“ Nicht auszu- fach selbst. Wie das geht, lernt er anhand ausdruck sind im Prinzip steuerbar. Darauf
schließen also, dass schon bald die Beatles von Aufnahmen verschiedener Sprecher. ist die kleine Firma Vivotext in Tel Aviv
„All You Need Is Coke“ anstimmen. Sogenannte neuronale Netze trainieren da- spezialisiert, die der Konzertpianist Ger-
Janer hat seine kleine Firma zusammen mit so lange, bis sie imstande sind, mensch- shon Silbert gegründet hat. Vivotext will
mit drei Kollegen von der Universität ge- liche Laute zu erzeugen. Nach einiger Zeit nächstes Jahr eine App auf den Markt brin-
gründet. Sie gehören dort der Music Tech- gelingt das recht fließend, mit 16 000 Si- gen, die mit Reglern für Fröhlichkeit oder
nology Group an, die für ihre Erfinder- gnalen und mehr pro Sekunde. Das genügt, Melancholie aufwartet.
freude bekannt ist. Eine Forscherin tüftelt um hie und da auch schon ein feines Gehör Die Firma hat ihre Software an den Spiel-
zum Beispiel bereits an künstlichen Chö- zu täuschen. zeugkonzern Hasbro lizenziert. Gut mög-
ren, bestehend aus je zwölf virtuellen Sän- Allerdings hat so eine künstliche Stim- lich also, dass eines Tages interaktive
gern – ein jeder braucht seine eigene Stim- me keinerlei Sprachverstand. Schaltet man Plüschtiere in den Kinderzimmern auftau-
me, damit das Ensemble am Ende lebendig sie ein, so brabbelt sie in unverständlichen chen, die mit den Stimmen der viel beschäf-
klingt. Eines Tages soll es Chorwerke Lauten vor sich hin. Aber sobald der Com- tigten Eltern – oder des neuesten Teenie-
selbstständig vom Blatt einspielen. Oder puter einen Text bekommt, kann er ihn stars – Gutenachtgeschichten vorlesen.
menschlichen Sängern zum häuslichen manierlich sprechen. Die gleiche Technik wäre für Kranke
Üben dienen. Der letzte Durchbruch gelang im ver- hilfreich, die ihre Sprechfähigkeit zu ver-
Die Firma Voctro Labs will ihre Technik gangenen September. Damals stellte die lieren drohen. Sie könnten beizeiten mit
auch für Gesprochenes einsetzen. Eine ers- Google-Tochter DeepMind ein grundle- künstlichem Ersatz vorsorgen.
te Anwendung ist das automatische Syn- gend neues Verfahren vor. Wenig später, Jux und Nutzwert sind hier nicht weit
chronisieren von Filmen. Die geklonte im November, folgte der Softwarekonzern auseinander. Absehbar ist eine Hochkon-
Stimme von Brad Pitt etwa könnte die Rol- Adobe mit einer ähnlichen Technik na- junktur der Telefonstreiche („Hier spricht
len des Schauspielers auf Deutsch oder mens Voco. Franz Beckenbauer“). Es drohen aber auch
auch Kurdisch nachsprechen, und es klän- Zunächst hieß es noch, der Rechenauf- weniger witzige Attentate auf die Gutgläu-
ge in jeder Sprache nach dem echten Pitt. wand für solche synthetischen Stimmen bigkeit. Was, wenn einmal im Internet ein
Start-ups in aller Welt entwickeln der- sei immens, er übersteige die Kräfte pri- Redemitschnitt von Angela Merkel auf-
zeit solche künstlichen Sprecher. Beson- vater Computer bei Weitem. Inzwischen taucht, in dem sie sich über den Propheten
ders forsch geht die kanadische Firma aber konnten pfiffige Unternehmen zeigen, Mohammed lustig macht?
Lyrebird zu Werk, Studenten der Univer- Die Täuschung wäre komplett, wenn es
sität von Montréal haben sie gegründet. Video: So klingen geklonte dazu noch ein Video gäbe: der gefälschte
Lyrebird kann angeblich schon aus einer Präsidentenstimmen Text, vorgetragen von der Bundeskanz-
einminütigen Stimmprobe, notfalls von spiegel.de/sp222017stimme
lerin mit sprachsynchronen Lippenbe-
YouTube heruntergeladen, einen brauch- oder in der App DER SPIEGEL wegungen.

104 DER SPIEGEL 22 / 2017


Erste Versuche in dieser Richtung gab neuronales Netz darauf trainieren, eben- Bengio glaubt, dass weitere Fortschritte
es schon. Der Doktorand Justus Thies an solche Spuren zu verwischen“, sagt der ka- zu erwarten sind. Ein Computer, der
der Uni Erlangen-Nürnberg zeigte an Vi- nadische KI-Pionier Yoshua Bengio. Sein Sprachlaute erzeugt, werde das irgend-
deos von Donald Trump und George W. Labor an der Uni von Montréal hat nicht wann auch mit Bewegtbildern hinbe-
Bush, dass er die Kontrolle über deren Mi- nur die Grundlage für die Sprachsynthese kommen. Statt der Sprachaufnahmen gibt
mik übernehmen kann. Er schnitt Grimas- des Start-ups Lyrebird geschaffen; hier ent- man den lernenden Algorithmen dann
sen in eine Kamera, bewegte den Mund, stand auch die Idee für eine neue Stufe eben Videos zum Trainieren – bis sie
und wie ferngesteuert zeigte sich das glei- maschinellen Lernens – nach Art eines Du- ähnliche Aufnahmen selbst hervorbringen,
che Mienenspiel auf den Gesichtern der ells. „Wir sprechen von feindlichen Netz- im Extremfall täuschend echt. „Unseren
Zielpersonen – Thies’ Software übertrug werken“, sagt Bengio. Das eine lauert auf Glauben an die Wahrhaftigkeit von Bil-
alles in Echtzeit. verräterische Schwachstellen, das andere dern und Tönen“, sagt Bengio, „dürfte das
Bis heute galt: Einer Stimme glaubt man, lernt, sie immer besser zu verbergen. So ganz schön verstören.“
dass sie echt ist. Sie kommt aus der Mitte treiben die beiden Kontrahenten sich Manfred Dworschak
des Körpers, sie ist Teil der Persönlichkeit – wechselseitig voran. Mail: manfred.dworschak@spiegel.de
eigen und unverwechselbar. Nur ein paar
Spezialtalente konnten anderer Leute
Sprechweise nachmachen. Nun kann es
bald jeder.
Die Stimme als Ausweis des Authenti- „Ich will
schen ist damit wohl erledigt. Dumm nur, Kanzler werden.“
dass sie mancherorts bereits als Passwort-
ersatz erprobt wird. Die Firma Nuance bie-
tet eine Stimmerkennung, mit der ein Call-
center Anrufer identifizieren kann. Die
britische Großbank HSBC setzt ein ähn-
liches System beim Onlinebanking ein.
Die Hersteller versichern, mit forensi-
scher Software lasse sich nach wie vor he-
rausfinden, ob ein Mensch spricht oder ein
neuronales Netz, das ihn nachäfft. Es gebe
immer Spuren, die auf künstliche Herkunft
hindeuteten.
Allerdings weiß auch die Gegenseite
sich zu helfen. „Wir könnten ein zweites

In den Mund gelegt


Funktionsweisen von bisheriger Sprachsoftware ... ...und Programmen mit künstlicher Intelligenz
1 2 3 4
Der Computer zerlegt Auf- Um eigene Sätze zu erzeugen, fügt die Programme mit künstlicher Der Computer kann die Stimme einzelner
nahmen eines Sprechers Software die Lautschnipsel nach Bedarf Intelligenz lernen anhand von Sprecher imitieren, indem er auf deren
mit Tausenden Sätzen neu zusammen. An vielen Stellen passt Aufnahmen verschiedener Eigenheiten trainiert wird. Mit solchen künst-
typischerweise in Einzel- dadurch die Sprachmelodie nicht mehr, Sprecher, selbst täuschend lichen Stimmen lassen sich auch Äußerungen
oder Doppellaute. es klingt eckig. Die Holperstellen müssen echte Sprachlaute zu erzeugen. fälschen, die so nie gefallen sind.
aufwendig geglättet werden.
A LEX A ND ER HA S S EN STE IN / B ON G ARTS / G ET T Y I MAG E S

Einzellaut Doppellaut
1

ganzer gesprochener Satz

DER SPIEGEL 22 / 2017 105


Wissenschaft

Heilung auf Rädern


Medizin In vielen Regionen Indiens fehlen Mediziner. Dorthin fährt der Krankenhauszug. Die mobilen
Ärzte operieren kaputte Augen und Knochen – und sie kämpfen gegen das Nichtwissen.

N
irmala Gaukhadkar ist zweimal in die ärmsten Regionen Indiens halt. Heute zu schaffen. Mit einem winzigen Instru-
ihrem Leben in einen Zug gestie- steht der Zug auf einem Abstellgleis an der ment fischen sie die trübe Linse heraus.
gen. Zum ersten Mal, um zu einer Westküste des Landes. Die Luft ist heiß Dann legen sie mit einer dünnen Pin-
Beerdigung nach Mumbai zu fahren. Zum und feucht im Südwesten Maharashtras. zette die Kunstlinse ein. Wie eine implan-
zweiten Mal, um wieder sehen zu können. Rund 300 Kilometer von Mumbai entfernt tierte Kontaktlinse wird sie von nun an im
Sie sitzt in einem Zugabteil, und der liegt Ratnagiri, eine Stadt am Arabischen Auge aufliegen. Zwölf Minuten nach dem
Krankenhauskittel, der um ihre dünnen Meer, berühmt für ihre Mangos. ersten Schnitt tapst die alte Frau nach drau-
Beine schlackert, lässt die 60-Jährige noch Nirmala Gaukhadkar lebt auf einem ßen, die Hand an den Verband gepresst.
schmächtiger wirken als sonst. Ihre Augen Hügel hinter der Stadt. Ihr Enkel hat sie Mehr als 200 OPs dieser Art führen die
wirken nackt, nachdem man ihr die Wim- am Morgen zuvor in die Stadt gebracht. Zugärzte an manchen Tagen aus. Wie am
pern abgeschnitten hat. Sie hat Ohrringe In einer Plastiktüte trug sie das Nötigste Fließband schneiden und nähen sie parallel
und Ketten abgelegt, nur ihre Armreife bei sich: ihre Krankenakte, ihren Geld- auf drei Tragen. In Maharashtra, wo täglich
lugen noch unter den Ärmeln hervor. beutel und eine Flasche Wasser. nur 25 OPs pro Chirurg erlaubt sind, haben
Ein Mann fasst sie an den Schultern, Die Behandlung im örtlichen Kranken- die beiden Chirurgen zum Mittagessen
dreht sie auf den Rücken, sticht mit einer haus wäre nicht teuer gewesen; aber sie ihr Tagwerk bereits erledigt. Sie sitzen im
Spritze neben ihren linken Augapfel und hätte mehr gekostet, als sich die Familie Wohnzimmer in Wagen zwei, der Koch
betäubt das Auge. Gaukhadkars Lid leisten kann. Und es hätte lange gedauert: aus Wagen eins serviert Linsen mit Reis.
schließt sich. Wenige Minuten später reißt 800 Patienten warten auf eine Augenope- Wer durch die engen Gänge des Zuges
ein Assistenzarzt mit Mundschutz die Zug- ration. Im Zug hingegen ist Gaukhadkar läuft, findet eine Zahnarztklinik, einen
tür auf, und Gaukhadkar, etwas wacklig heute die Nummer zwei. Kurz nach zwölf Röntgenraum, zwei OP-Räume und einen
auf den Beinen, läuft langsam in den OP. Uhr mittags kommt sie an die Reihe. Dieselgenerator, der das Krankenhaus auf
Vor drei Monaten begann Gaukhadkars Draußen feuern sich die Lastenträger Rädern mit Strom versorgt.
Welt zu verschwimmen. Das Zeitunglesen an, die Weizen aus einem Güterzug ent- Neben dem grauen Star behandeln die
fiel ihr schwer. Der graue Star hatte be- ehrenamtlichen Ärzte hier Mittelohrent-
gonnen, ihre Linse zu trüben. Es wäre ein-
fach gewesen, ihr zu helfen. Es war nur
Die Männer leiden oft an zündungen, Fehlstellungen der Knochen,
Hasenscharten und jetzt auch Krebserkran-
kein Arzt da, es zu tun. Mundhöhlenkrebs, häufig kungen. Ende Dezember fand im Lifeline
Jedes Jahr kommen Zehntausende Aus-
länder nach Indien, um sich für wenig Geld
eine Folge des weitver- Express die erste Krebs-OP auf Schienen
statt: die Entfernung eines Tumors der
eine neue Hüfte einsetzen zu lassen oder breiteten Tabakkauens. Mundhöhle.
eine geschwungene Nase zu gönnen. In- Der Zug verfügt über fast alles, was auch
diens private Krankenhäuser sind gut aus- laden. Auf einer rostigen Stange wippen eine gute Klinik bietet. Viel schlechter ist
gestattet, aber für viele Einheimische sind zwei Kinder. Es sind die Töchter eines hingegen das örtliche Krankenhaus ausge-
sie zu teuer. Vor allem liegen die Kliniken Wanderarbeiters, der mit einer Spitzhacke stattet: Dort fällt eher auf, was es nicht
in den großen Städten. Fernab von Mum- den Bahnsteig aufreißt. Im Zug sorgt eine gibt. So fehlt schon der typische Geruch
bai, Bangalore und Delhi fehlt es den öf- Klimaanlage für angenehme Kühle. Nir- von Desinfektionsmittel. Patienten und
fentlichen Hospitälern oft am Nötigsten – mala Gaukhadkar liegt auf einer Trage. Krankenschwestern müssen sich zudem
deshalb kommen die Ärzte mit dem Zug Die Ärzte breiten ein Tuch über ihrem eine Toilette teilen, Seife gibt es nicht.
herbei. Kopf aus, nur ein kleines Fenster zeigt ihr Dennoch ist das Civil Hospital Ratna-
Gestiftet von der indischen Eisenbahn Auge im Licht des Mikroskops. Dann set- giri kein schlechtes Krankenhaus. Es ist
und finanziert von der Impact India Foun- zen die Chirurgen den ersten Schnitt. sauber, es gibt Ärzte, die zwar nicht im-
dation, ruckelt der Lifeline Express bereits Auch in Deutschland führt bei fast je- mer zur Arbeit erscheinen, aber durchaus
seit Jahren durchs Land. Sieben Abteile dem zweiten Rentner ein grauer Star zur einen guten Job machen. Auf der Neuge-
hat die Hilfskarawane. Neuerdings gehört Beeinträchtigung des Sehvermögens; in borenenstation kugeln sich die Babys
auch ein Krebsabteil dazu – aus gutem Indien jedoch sind zwei von drei Menschen unter Wärmelampen. Das Patientenzim-
Grund: In den kommenden drei Jahren, über sechzig betroffen. Mangelernährung, mer für die Frauen ist erst eine Woche
so ein Expertenbericht, wird die Zahl der zu viel UV-Strahlung und Tabakkonsum alt und frisch gekachelt. Auf der Entbin-
Krebserkrankungen in Indien von andert- können zum Ausbruch des Leidens füh- dungsstation wächst Schimmelpilz an der
halb Millionen auf über 1,7 Millionen ren – all dies ist in Indien häufig anzutref- Wand, aber auch hier gilt: Die Kranken-
steigen. Schon jetzt sterben jedes Jahr eine fen. Die Linsentrübung ist hier die häufigs- schwestern machen das Beste aus dem,
halbe Million Inder an Krebs, vor allem te Ursache für Erblindung. was sie haben.
an Brust- und Mundhöhlenkrebs. Viele Jeden Tag kocht Gaukhadkar ihr Essen Drei Reihen rostige Betten stehen im
könnten überleben, wenn es in dem Land auf einem Lehmofen; der heiße Rauch Raum. Die Frauen kuscheln ihre Babys im
ein funktionierendes Vorsorgesystem gäbe. steigt in ihre Augen. Zu Beginn der Erkran- Schoß. Vor ihnen steht die Medizinerin
Den Ärzten im Zug geht es daher nicht kung reicht eine Brille. In Gaukhadkars Mehak Sikka – oder, wie sie sich, typisch
nur darum, Krankheiten zu heilen; ebenso Stadium hilft nur noch die Operation. indisch, mit Vornamen vorstellt: Doktor
wichtig ist es, möglichst frühe Diagnosen Ein Metallrahmen spreizt ihr Auge auf. Mehak.
zu stellen. Jeweils für vier Wochen machen Zunächst spritzen sie behutsam eine Flüs- Auch sie arbeitet für den Lifeline Ex-
die Ehrenamtlichen auf ihren Reisen durch sigkeit ins Auge, um Platz zum Operieren press. In den Städten und Dörfern, wo die
106 DER SPIEGEL 22 / 2017
Ärzte Station machen, versuchen sie auch
in den örtlichen Kliniken zu helfen. Gera-
de erklärt Sikka im Krankenhaus die Vor-
teile guter Familienplanung, wichtigstes
Thema: Wie verhütet man?
Große Augen bei den Frauen, dann
Schweigen, dann Kichern.
„Bolo, bolo“ – „sag schon, sag schon!“,
ermuntert Sikka. Sie klatscht, und sie lobt,
und irgendwann gelingt ihr, was im kon-
servativen Indien schon ein beachtlicher
Fortschritt ist: Eine Frau meldet sich, grinst:
ENRICO FABIAN / DER SPIEGEL

„Kondom!“, ruft sie.


Sikka schüttelt ihr die Hand. Die Frau
glüht vor Stolz.
Sikka, 24 Jahre alt, ist eigentlich Zahn-
ärztin; sie hatte aber schnell die Nase voll
von „drilling, filling, billing“, wie sie es
Wartende Kranke im Lifeline Express: Angenehme Kühle nennt: vom Bohren, Füllen, Abrechnen.
Stattdessen hat sie sich dem Lifeline Ex-
press angeschlossen, als erste Zugärztin
überhaupt. Nach einer Zusatzausbildung
betreut sie nun das Abteil für Krebsvor-
sorge. Viele indische Frauen erkranken an
Gebärmutterhalskrebs, weil sie sich beim
Geschlechtsverkehr mit Krebsviren anste-
cken und keinen Zugang zur Vorsorge ha-
ben. Die Männer wiederum leiden oft an
Mundhöhlenkrebs, häufig eine Folge des
weitverbreiteten Tabakkauens.
In ihrer Sprechstunde im Zugabteil zeigt
Sikka Männern einige abschreckende Fo-
tos, wie sie auch auf Zigarettenpackungen
kleben: einen Tumor, der über die Backe
und das Kinn eines Mannes wuchert. Eine
Zunge, belegt mit einem Teppich aus Ge-
ENRICO FABIAN / DER SPIEGEL

schwüren. Heute Vormittag ist ein 30-jäh-


riger Mann in die Sprechstunde gekom-
men, eigentlich wegen Karies. Aber an sei-
ner linken Wange fühlte Sikka verhärtete
Rillen, möglicherweise Krebs.
Danach aber erschien niemand mehr.
Zugärztin Sikka: „Sag schon, sag schon!“ Viele ahnen gar nicht, dass der Krebs sie
bedroht. Also fuhr Sikka, beide Arme
um Aufklärungsmappen geschlungen, ins
Krankenhaus. Dort erklärt sie den Frauen
nun, dass sie sich nach dem Sex und wäh-
rend der Menstruation waschen müssen,
was viele aus Scham nicht tun.
Ihre Arbeit und die der anderen Zug-
ärzte ist auch ein Kampf gegen das Nicht-
wissen – und gegen das Nicht-wissen-Wol-
len. Trotz all der Fortschritte ist Indien in
vielerlei Hinsicht noch immer ein rück-
ständiges Land, in Ratnagiri ebenso wie
in den großen Städten.
Sikka wirbt zwar für die Krebsvorsorge,
war aber selbst nie dort. Eine unver-
heiratete Frau, die zum Gynäkologen
geht? In vielen Gegenden noch immer
ENRICO FABIAN / DER SPIEGEL

undenkbar.
Also wird sie auch am nächsten Tag
wieder über all das reden, wofür Frauen
und Männer in Indien sich zu schämen
gelernt haben. Denn so wie jetzt, sagt
Sikka, könne es in ihrem Land nicht wei-
Patientin Gaukhadkar vor Augenoperation: Schneiden und nähen wie am Fließband tergehen. Laura Höflinger

DER SPIEGEL 22 / 2017 107


„Baywatch“-Stars Efron, Johnson, Rohrbach (3. bis 5. v. l.)

FRANK MASI / PARAMOUNT PICTURES


Kino in Zeitlupe, Szenen für die Dwayne Johnson als neuer
Bademeisterschaft Ewigkeit. Am Dienstag wird
Hasselhoff in Berlin erwartet,
Oberbademeister die Bucht
vor bösen Drogendealern,
zur Europa-Premiere von unterstützt von Darstellern
Nirgendwo wird der ameri- sehserie „Knight Rider“). Baywatch, dem Film (Kino- wie Zac Efron und Kelly
kanische Schauspieler David Hasselhoffs größte Leistung start: 1. Juni). Ein Hollywood- Rohrbach, die möglicher-
Hasselhoff heftiger verehrt dürfte jedoch darin bestehen, studio hatte den originellen weise nicht nur wegen ihrer
als in Deutschland. Mit sei- dem Beruf des Bademeisters Einfall, auch diese alte Serie Schauspielkunst ausgewählt
nem Lied „Looking for Free- die Weihen der Popkultur mit viel heißer Luft auf wurden. Regisseur Seth Gor-
dom“ erzwang er 1989 fast verliehen zu haben. In der Spielfilmlänge aufzublasen. don („Kill the Boss“) insze-
im Alleingang die Öffnung Serie „Baywatch“ liefen in Hasselhoff, mittlerweile 64, niert die Strandparty mit der
der Berliner Mauer. Wie viele den Neunzigerjahren Pamela hat allerdings nur einen nötigen Selbstironie, aller-
deutsche Männer spricht er Anderson und er die Strände kurzen Auftritt auf dem Tro- dings mit ein paar Untenrum-
mit seinem Auto (in der Fern- Kaliforniens entlang, gefilmt ckenen. Dafür rettet jetzt Witzen zu viel. mwo

Einwurf

Bild gegen Bild


Ariana Grande als Symbolfigur unserer Zeit
Nicht jede Hollywoodkomödie birgt einen Moment großer his- samt etwa sieben Milliarden Mal geklickt: aggressive weib-
torischer Wahrheit, doch in „Zoolander 2“ aus dem Jahr 2016 liche Sexualität als ein entscheidendes Element im narziss-
gibt es einen Cameoauftritt der Sängerin Ariana Grande. Er tischen Zeitalter, in dem die eigene Körperlichkeit den Markt-
dauert nur wenige Sekunden. Grande trägt ein Latexkostüm, wert bestimmt. Ariana Grande ist viel mehr als ein Teenie-
sie geht an einem geradezu archetypisch muslimisch aussehen- Idol, sie ist eine Symbolfigur unserer Zeit – und ihre Bilder-
den Mann vorbei. Der raunzt sie an: „Bitch!“ Grande schaut welt ist der Gegenpol zur Bilderwelt des „Islamischen Staa-
kokett und schiebt sich ihren Fetischknebel in den Mund. tes“. Denn auch der IS bedient die Bedürfnisse eines optisch
Das ist der Konflikt unserer Zeit, der viel zitierte Kampf geprägten Zeitalters mit den Mitteln der Popkultur: mit insze-
der Kulturen, verdichtet in ein paar Spielfilmaufnahmen: auf nierten Hinrichtungen, Bekennervideos, dem Onlinemagazin
der einen Seite der radikale Islam, auf der anderen Seite der Dabiq, den Autokolonnen der Kämpfer im sogenannten Kali-
Hedonismus des Westens, verkörpert durch eine 23-Jährige. fat, der emblematischen Flagge – Terror als Lifestyle.
Ein Weltstar, weniger ihrer Hits wegen, sondern weil sie das Was in dem Attentäter Salman Abedi vorging, als er in Man-
Bedürfnis nach Bildern perfekt bedient, kostümiert als Verkör- chester mehr als 20 junge Menschen tötete, kann man nicht wis-
perung sexueller Sehnsucht. Die Grenze zwischen Objekt und sen. Kulturhistorisch gesehen aber war das Attentat auf das Kon-
Subjekt verschwimmt. Mit über 100 Millionen Fans ist Grande zert von Ariana Grande auch ein Akt der Bilderstürmerei: statt
Nummer zwei bei Instagram, ihre Videoclips wurden insge- der Bilder des Lebens Bilder des Todes. Sebastian Hammelehle

108 DER SPIEGEL 22 / 2017


Kultur
Klassiker and Adventures of Jack Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Whitman revisited Engle“ auf Deutsch. Der

Er soll Herausgebern, die


Fund des in den Archiven
des „Sunday Dispatch“
Und wären wir –
frühe Texte in Prosa von ihm verschollenen Frühwerks Bei einem der letzten größeren Attentate
veröffentlichen wollten, mit sorgte in der literarischen war ich zufällig in der Nähe. Der Weih-
dem Tod durch Erschießen Welt für eine offenbar be- nachtsmarkt, auf dem ein doppelreifi-
gedroht haben. Er hatte recht wusstseinstrübende Begeis- ger Lastwagen zwölf Menschen für
damit. Doch ruht der Dichter terung. Die Lektüre der immer unter sich begrub, war „unser
Walt Whitman, unsterblich umständlichen, zerfaserten Weihnachtsmarkt“, der der Familie,
geworden durch sein lyri- und geschraubten Erzählung der Klassenkameraden des Kindes.
sches Großwerk „Grashal- über einen Waisenknaben in Die Nachricht erreichte das Nachbar-
me“, lang schon in Frieden. New York im Geiste eines schaftstreffen im Haus durch das Handy ei-
Deshalb erscheinen nun un- niederen Dickens – schöne ner Mitbewohnerin, die sie schnell weitergab, in die kleine
gestraft gleich zwei Überset- Frauen, ein mieser Anwalt, Gesellschaft hinein, die da mit Wein und Snacks einen
zungen seines 1852 anonym Lärm der Großstadt inklu- Einzug beging. Einige gingen sofort, andere blieben und
in einer Zeitung publizierten sive – lohnt allerdings in kei- teilten ihre Verstörung, und eine dritte Gruppe setzte das
Fortsetzungsromans „Life ner Sprache. es Reden fort, da, wo sie unterbrochen worden war.
Was war angemessen, was taktvoll, was vernünftig und
was vielleicht unvernünftig, aber doch richtig?
Diese zufällige Gruppe spiegelte mögliche Verhaltens-
Moskau und verhasst. Mit dem Gogol- weisen im Umgang mit dem Schock – die Angst und das
Justiz gegen Gogol Zentrum hat er in Moskau ge- Ergriffensein, aber auch die Verleugnung und eine Art
schaffen, was Frank Castorfs von Wut, die sich darin zeigt, dass man sich ungerührt
Die russische Justiz hat ein Volksbühne für Berlin war: zeigt. Die psychologische Forschung sagt: Es gibt Phasen,
absurdes Schauspiel insze- eine Experimentierplattform, die man notwendigerweise absolviert, als ein anthropolo-
niert. Sie hat Moskaus inno- die politisch interessierte gisches Muster. Dazu gehören Erstarrung, Nicht-wahr-
vativstes Theater – das Go- junge Leute anzieht. Die haben-Wollen, dazu gehören Angst, Aggression, Verleug-
gol-Zentrum – von maskier- Staatsanwaltschaft ermittelte nung und schließlich Realisierung des Verlusts (und sei es
ten Bewaffneten abriegeln schon früher wegen angeb- nur jener der Unbefangenheit, des Gefühls von Sicherheit
lassen und die Wohnung von lich unsittlicher Aufführun- im öffentlichen Raum); dazu gehört, wenn es gut geht,
Theaterchef Kirill Serebren- gen, aber Serebrennikow hat- die Akzeptanz und Integrierung des Geschehens: Es ist
nikow durchsucht. Seine Pro- te Freunde mit Einfluss. Nun passiert, ich weiß darum, und es wird mein Leben nicht
duktionsfirma habe Förder- aber scheint der Spielraum unter sich begraben.
gelder unterschlagen, lautet für das Theater enger zu wer- Es gibt Fälle, wir alle kennen sie, da bleibt ein Mensch
die offizielle Erklärung. Die den. Wenn Präsident Putin in einem dieser Stadien stecken. Da ist der Ehepartner
Theaterszene ist entsetzt. am 29. Mai nach Frankreich nicht tot, sondern nur verschollen, da gerinnt die Angst
Noch während Ermittler Ak- reist, wird er dazu lästige zur Paranoia, die Wut verschiebt sich auf „das System“,
ten aus dem Theater trugen, Fragen hören. Denn dort die Trauer wandelt sich in ein Verbot, jemals wieder
verlasen vor dem Gebäude kennt und schätzt man Sere- glücklich zu sein, das auch die eigenen Kinder umfassen
prominente Schauspieler brennikow. Sein Film „Der kann.
einen Aufruf für Serebrenni- die Zeichen liest“ über Wir haben keine Rituale für Terror, noch nicht. Es ist
kow. Er ist das Enfant terrible einen jungen, christlich-ortho- eine Kontingenz, in deren Ertragen wir ungeübt sind. Wir
des Schauspiels, produktiv doxen Fanatiker wurde 2016 wissen nur: Alles muss vorkommen dürfen, alles braucht
und provokant, bewundert in Cannes geehrt. esc seinen Raum und seine Zeit, seine Repräsentanz. Wer
nicht beten kann, der schweigt, oder er redet, bringt Blu-
men zum Ort des Todes oder schreibt sich in den sozialen
Netzwerken die Erschütterung aus dem Kopf. Bewegung
hilft. Fluchttiere – Gnus beispielsweise, nachdem ein
Löwe ein Tier aus der Herde gerissen hat – schütteln sich
buchstäblich den Schock aus dem Körper und rennen,
bis sie sich wieder entspannt am See zum Trinken nieder-
lassen.
Menschen sind weiche Ziele, Kinder die ganz weichen
Ziele. Es entspricht der Logik des Terrorismus, seinen
Schrecken zu steigern. Das stimmt, aber es stimmt ja
auch, was Lessing sagt: „Wer über gewisse Dinge den
Verstand nicht verlieret, der hat keinen zu verlieren.“
So weitermachen wie bisher, das ist politisch sicher das
Richtige. All der Behelf, die Kontrollen am Flughafen, wo
YURI KOZYREV / NOOR / LAIF

wir unsere Schuhe ausziehen, die kleinen Barrieren an


den künftigen Weihnachtsmärkten, ist das nicht die Ver-
leugnung der Tatsache, dass wir verletzlich sind? Und
wenn wir es nicht wären, was wäre damit gewonnen?

An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.


Serebrennikow

DER SPIEGEL 22 / 2017 109


Kultur

Ein Haus
in deiner Brust
Literatur Die explosiven Bücher unserer Zeit handeln
von Wanderung und Exil – und von der Heimat
als einer Erinnerung. Ein neuer literarischer Kanon
entsteht. Von Volker Weidermann

F
liehende sind die Protagonisten un- mich existiert Literatur nicht notwendiger-
serer Epoche. Millionen sind unter- weise in Büchern. Ich weiß nicht, wie ich
wegs von irgendwo nach irgendwo. es genau definieren soll, vielleicht ist es
Namenlose Wanderer, Ertrinkende, durchs ein Modus der Achtsamkeit, eine Wach-
Bild huschende Körper in den Nachrich- samkeit, eine Offenheit für die Komplexi-
tenshows der Welt. Es geht darum, das tät, die Großartigkeit und den Schrecken
Bild einen Augenblick lang anzuhalten, es der Welt.“ Matar ist 46 Jahre alt, sein Vater
scharf zu stellen, zu schauen, ruhig zu wurde 1990 aus der Kairoer Wohnung von
werden. Etwas im Kleinen zu erkennen, Geheimdienstleuten entführt und in ein li-
um es im Großes zu verstehen. Es geht um bysches Gefängnis gesperrt. Matar hat ihn
Literatur. nie wiedergesehen. Niemand weiß, was
Und es geht darum, die Spuren zu er- mit ihm geschehen ist, ob und – wenn ja –
kennen, in denen wir gehen. Die Kultur, wann, wo und wie er gestorben ist. Wo
die in diesen stürmischen Zeiten als Anker seine Leiche liegt. Ein Mensch in nichts
ins Meer geworfen wird, unsere Leitkultur, verwandelt. Irgendwann, nach Gaddafis
hatte sich ja im letzten Jahrhundert in Sturz, befreite man einen blinden Greis
ihren wesentlichen, zukunftsträchtigen Ele- aus einer Gefängniszelle, der hielt ein Foto
menten unter dem Zwang der Verhältnisse von Hisham Matars Vaters in der Hand.
zu einer Auswandererkultur entwickelt. Aber er wusste nichts über den Mann auf
Die Literatur, die Kunst, die Musik, auf dem Bild. Er konnte es ja nicht mal sehen.
die heute alle so stolz sind, waren ja in Matar hat die Geschichte des Verschwin-
einem beispiellosen Exodus außer Landes dens seines Vaters, die Suche nach ihm
getrieben worden. Und dort draußen hat- und seine eigene Fluchtgeschichte in sei-
ten sich die, die das Glück hatten zu über- nem dokumentarischen Roman „Die Rück-
leben, zu Trägern einer neuen, einer Welt- kehr“ aufgeschrieben. Dieser beste der vie-
kultur entwickelt. len beeindruckenden Fluchtromane dieser
Das ist das Fundament, auf dem wir Buchsaison ist eine wundervolle Mischung
heute stehen. aus melancholischen Erinnerungen an die
Und Vertriebene, Geflohene, Verfolgte, wenigen Jahre der Sicherheit, das Auf-
Ausgewanderte sind es auch heute, die wachsen in einem Tripolis der selbstgewis-
eine lebendige, kraftvolle Kultur neu schaf- sen Gegenwärtigkeit: „Es waren die star-
fen. Selbstbewusste Träger einer globalen ken Jahre, in denen meine Eltern trotz der
Leitkultur, die eine Wanderungskultur ist. gewohnten alltäglichen Besorgnisse von
Aus dieser Welt sind einige der interes- dem Vertrauen getragen wurden, dass die
santesten und besten Bücher der vergan- Zukunft ein freundliches Land war.“
genen Monate entstanden. Aus der Welt Und dem ungeheuerlichen Schrecken Matars Buch ist auch ein Buch über
der schwankenden Identitäten, aus einem der Zeit danach. Das Verschwinden des Macht und Ohnmacht der Literatur. Über
Zusammenwirken von beispielsweise dem Vaters. Die Berichte von dessen Bruder, den Vater, der vor allem in seinen Büchern
Besten von Tbilissi (Tiflis) und Berlin, Is- der im selben Gefängnis inhaftiert war und lebte. „Vaters Gedächtnis war eine Art le-
tanbul und Prag, Tunis und Marbach. Ihr der während seiner Haftzeit immer wieder bende Bibliothek“, schreibt Matar in der
besonderes Selbstbewusstsein ziehen diese die Stimme eines Mannes hörte, der Ge- „Rückkehr“. Und die Lehre seines Vaters
Autoren oft aus der Tatsache, dass ihre Bü- dichte rezitierte. Nur Gedichte. Und erst an den Sohn: „Ein Buch auswendig zu ken-
cher in ihrer Heimat verboten wurden, nach dem endgültigen Verstummen dieser nen ist so, als trügest du ein Haus in deiner
dass sie selbst verfolgt werden. Bücher, die Stimme wurde ihm klar, dass es die seines Brust.“
von Autokraten gefürchtet werden, sind Bruders gewesen war, die Stimme von His- Im Gespräch über „Die Rückkehr“ er-
Waffen im Kampf. ham Matars Vater, der sich wohl aus Angst zählt Matar von seinem Aufwachsen in
Der in New York geborene, in Tripolis nur über den Umweg der Dichtung zu er- der Bücherwelt des Vaters, wie sie beide
aufgewachsene, nach Kairo geflohene und kennen geben wollte. Er wusste, sein Bru- zusammen in Kairo Bücher aufstöberten,
seit vielen Jahren in England lebende der würde ihn erkennen. Seine Gedichte, die von der Zensur verboten waren, Kun-
Schriftsteller Hisham Matar sagt: „Für seine Stimme. Doch er erkannte ihn nicht. dera und Dostojewski zum Beispiel. Und

110 DER SPIEGEL 22 / 2017


Georgischer Autor Burchuladze: Ein wärmeres Berlin erschaffen HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

wie beide Elternteile ihn drängten, Litera- erzogen, beunruhigt, verstört, erleuchtet drucksvoll beschrieben, wie ihm in der Iso-
tur zu lesen, „um etwas von der Welt zu und unterstützt von einigen Autoren. Ich lation die Lektüre von Stefan Zweigs
erfahren“. habe mich auf ihre Sätze verlassen, wie „Schachnovelle“ geholfen habe. Zweigs letz-
So funktioniert auch dieses traditions- du dich auf eine Armbanduhr verlässt oder tes Buch, verfasst 1941 im brasilianischen
trunkene und gegenwartsbesessene Buch einen Vogelruf oder ein Geländer, eine Exil, ist die Geschichte eines Häftlings,
Matars. Von der Lektüre Turgenjews ist es Balustrade.“ der mithilfe eines Schachbüchleins dem
nur ein kleiner Sprung zur libyschen Re- So hat das auch der türkische Journalist drohenden Wahnsinn in der Isolationshaft
volution. „Die Grenzen zwischen Literatur und Autor Can Dündar, 55, erlebt, als entkommt. Dündar las das Buch Zweigs
und Leben sind unsicher“, das sei die er im November 2015 als Chefredakteur der mehr als 70 Jahre später und beschreibt die-
Grundgestimmtheit seines Schreibens: „Es Tageszeitung „Cumhuriyet“ wegen des Vor- se lebensrettende Erfahrung in seinem Buch
ist das Berufsrisiko jedes Autors. Man wurfs der Spionage und Mitgliedschaft in so: „Die Epochen überwindende Loyalität,
glaubt, allein zu sein. Aber man muss nur einer terroristischen Vereinigung festgenom- das Licht, die Freundschaft eines Buches,
zurückschauen, um zu begreifen, dass men wurde und in Silivri in Isolationshaft eines Textes … Und natürlich seine Kraft,
jeder Schriftsteller Teil eines Stimmen- kam. Dündar hat in seinem Gefängnistage- dem Menschen, der Menschheit Leben zu
Orchesters ist. Auf diese Weise wurde ich buch „Lebenslang für die Wahrheit“ ein- geben, sie zu verwandeln …“
DER SPIEGEL 22 / 2017 111
Kultur

Inzwischen lebt er in Deutschland, ge- eine direkte persönliche und politische Be- te von nichts.“ Langsam, Tag für Tag ver-
trennt von seiner Frau, weil man ihr den deutung hatte. liere er seine Identität, aber auch das sei
Reisepass entzogen hat, und von seinem „In Georgien“, erzählt er jetzt in einem ein wichtiger Prozess. „Ich gewinne neue
Sohn. „Wir sind nicht mehr so einsam, Kreuzberger Café, „ist es nicht die Regie- Illusionen durch die neue Perspektive.“ Er
wenn wir von den Kämpfen lesen, die die rung, nicht das Militär, nicht die Polizei, übe sich in Verwandlungskunst, schrei-
Menschen vor uns gekämpft haben“, so die die Macht haben, sondern die Kirche. bend: „Ich habe wirklich eine sehr enge
beschreibt er auch seine jetzige Situation, 75 Prozent der jungen Georgier glauben Freundschaft mit Kafka“, sagt er und lä-
im Exil: „Das Regime will uns isolieren, an die Hölle!“ Und wie einfach es da sei, chelt leise. Seine ersten literarischen Texte
vereinsamen, uns glauben machen, dass die Menschen unter Kontrolle zu haben: veröffentlichte er unter dem Pseudonym
wir ganz auf uns gestellt sind. Dass das „Wir brauchen keine NSA. Wir haben die Gregor Samsa. „Wir führen Gespräche. Ich
nicht stimmt, das steht in dem Buch von Hölle“, sagt Zaza Burchuladze. „Das ist fühle es.“
Stefan Zweig.“ Big Brother ohne Überwachung. Die Hölle Die ebenfalls aus Georgien stammende,
Er ist auch froh, einmal, ein einziges Mal, ist in den Menschen. Sie überwachen sich auf Deutsch schreibende Schriftstellerin
nicht nach Erdoğan gefragt zu werden. Die selbst.“ Und Leuten, die sie Ungläubige Nino Haratischwili hat im Nachwort zu
Besessenheit von diesem Mann und seiner nennen oder Blasphemiker, wird der Glau- Burchuladzes Buch über „die Narrenfrei-
Macht sei ja längst ein neues Gefängnis be an die Hölle eben mit Fäusten oder Waf- heit“ der Fliehenden geschrieben: „Ein
eigener Art. Aber er fügt dann doch noch fen beigebracht. bisschen, als wäre man für immer ein Kind,
diese historische Analogie hinzu: „Unser Zaza Burchuladze wurde im Sommer weil man keine Festigkeit hat, weil Dinge
Land ist auf dem Weg in die Situation, die 2012 in der georgischen Hauptstadt auf of- in sich noch so viele weitere Möglichkeiten
Zweig in den Selbstmord getrieben hat.“ fener Straße von Unbekannten angegriffen bergen und z. B. ein Tisch gar nicht nur
„Kafka und ich sind befreundet“, sagt und verprügelt. ein Tisch sein muss, sondern auch ein
der georgische Schriftsteller Zaza Burchu- Mit seiner schwangeren Frau verließ er Schiff oder ein Versteck sein kann – je
ladze, 43, der seit Januar 2014 in Berlin dann das Land. Der Protagonist in „Tou- nachdem, was man behauptet und was die
lebt. Er ist ein ernst und jugendlich wir- ristenfrühstück“ schildert das Berliner Fantasie zuzulassen bereit ist.“
kender Mann, große, schwarze Brille, Familienleben mit dem frisch Geborenen Zaza Burchuladze hat das im Buch als
schwarze Baseballcap, schwarzes Hemd, auch als eine Art Fluchtidylle. Mit dem Va- Utopie der Verschmelzung beschrieben:
schwarze Hose. Er hat einen lustigen, tra- ter, der dem kleinen Mädchen jeden Mor- „Ein kälteres Tbilissi schaffen, ein wärme-
gischen, schönen Roman über das Flücht- gen georgische Musikvideos auf YouTube res Berlin, eine Art Berlinissi.“
lingsleben in Berlin geschrieben. Ein Ho- vorspielt, damit die georgischen Wurzeln Die tunesische Dichterin, Frauenrecht-
helied auf diese Stadt der Toleranz und der nicht verloren gehen. lerin und Journalistin Najet Adouani lebt
Aufnahmebereitschaft einerseits: „Ich lebe In der Wirklichkeit sind Frau und Kind seit vier Jahren in Berlin und sagt heute,
jetzt schon lange in diesem Berlin, das wie zurückgekehrt nach Georgien, erzählt Bur- sie sei froh, mit ihrem Schreiben ein Teil
eine Notdienstapotheke allen rund um die chuladze. „Meiner Frau fehlte hier die Luft der deutschen Kultur geworden zu sein.
Uhr offensteht.“ Andererseits erlebt er die- zum Atmen.“ Sie brauchte das wirkliche Vor zwei Jahren ist „Meerwüste“, ihr ers-
se völlige Freiheit hier aber auch als eine Georgien. Das innere, imaginäre Tbilissi ter Gedichtband, auf Deutsch erschienen,
Leere in sich, ein Vakuum, gefüllt mit der genügte ihr nicht. kürzlich einige neue Texte in einem Sam-
Sehnsucht nach seiner Heimatstadt Tbilissi. Zaza Burchuladze hat keine Wahl. Er melband verfolgter Autoren unter dem Ti-
„Je länger ich Georgien fernbleibe, desto bleibt hier. „Egal wie es kommt. Berlin ist tel „Zuflucht in Deutschland“. Sie war
mehr steigert sich in mir alles Georgische.“ meine Wahl, Tbilissi mein Schicksal“, schon einmal für lange Zeit im Exil, von
Auf jeder Seite schwankt der Erzähler schreibt er. Und fügt hinzu: „Ich bin dazu 1983 bis 1998 zog sie von Zypern über Al-
dieses Buches zwischen dem Glück der verdammt, Tbilissi mit mir herumzutragen gerien, Marokko schließlich in den Liba-
neuen Freiheit und der Trauer über den wie einen Flaschengeist.“ non, bis sie es noch einmal in ihrem Hei-
Verlust von Gefahr und Bedeutung, die er Er ist entschlossen, das Leben fern der matland versuchte. Ihre Bücher waren im-
in der Heimat erlebte. Als selbst der Staats- Heimat auch als Chance zu begreifen, im mer „voller Revolution“, sagt sie. Getragen
präsident ihn im Fernsehen beschimpfte Schreiben und im Leben. „Ich verliere von der „Aufforderung an die Menschen
und sein Schreiben für viele Menschen mich selbst“, sagt er. „Ich stehe in der Mit- aufzustehen“. Immer wieder beschlag-

Bücher mit Migrationshintergrund

Hisham Matar Can Dündar Zaza Najet Adouani Josef Haslinger, Christoph Hein Yavuz Ekinci
Die Rückkehr Lebenslang für Burchuladze Meerwüste Franziska Sperr Trutz Der Tag, an dem
die Wahrheit Touristen- (Hg.) ein Mann vom
Aus dem Engli- Aus dem Arabi- Suhrkamp;
schen von Werner Aus dem Türki- frühstück schen von Leila Zuflucht in 478 Seiten; Berg Amar kam
Löcher-Lawrence. schen von Sabine Aus dem Georgi- Chammaa. Deutschland. 25 Euro. Aus dem Türkischen
Luchterhand; Adatepe. schen von Natia Lotos Werkstatt; Texte verfolg- von Oliver Kontny.
Hoffmann und Mikeladse-Bachso- ter Autoren Kunstmann;
288 Seiten; 178 Seiten;
20 Euro. Campe; 304 Seiten; liani. Aufbau; 16 Euro. Fischer; 288 Seiten; 192 Seiten;
22 Euro. 176 Seiten; 18 Euro. 9,99 Euro. 18 Euro.

112 DER SPIEGEL 22 / 2017


nahmte die Polizei die Bücher, doch sie
sagten ihr auch: „Wir wollen Sie nicht zu
einer Heldin machen“, und legten ihr nahe,
das Schreiben bleiben zu lassen. Doch sie
ließ es nicht.
Natürlich war sie, wie so viele, voller
Hoffnung, als die Menschen auf die Straße
gingen und der sogenannte Arabische
Frühling begann. Doch so schnell wurde
die neue Freiheit von Politikern gekapert
und zum eigenen Nutzen umgedeutet. Sie
konnte nicht mehr bleiben. Nicht einmal
ihren drei Söhnen hatte sie gesagt, dass sie
flieht. Sie glaubten, dass sie in Urlaub fah-
re, für eine Weile. Doch sie wusste, sie
würde lange fortbleiben. Heute sagt sie:
„Tunesien gibt es nicht mehr.“ Sie ist erst
61, aber: „Ich bin alt. Ich werde es nicht
wiedersehen.“
Ihre Gedichte sind einfach und blumig,
ein wenig wie die Gedichte der deutschen
Emigrantendichterin Hilde Domin, die sich
nach ihrem Zufluchtsort Dominikanische
Republik benannte: Grauen und Schönheit,
dicht beeinander. Adouani liebt die Ge-
dichte Schillers. Sie schreibt: „Wie ich den
Himmel hasse / wenn sein blaues Kleid
zerfetzt wird / von den weißen Schädeln.“
Und: „Mein Zuhause trage ich nun in mir
und überallhin mit. / Seidenkleider bedeu-
ten einem erschöpften Frühling nichts.“
Und: „Indessen sitze ich hier allein / und
trinke auf meine Niederlagen.“ Und
schließlich: „Wenn der Schmerz größer ist
als das Wort, / flüchte ich ins Schweigen, /
es ist vertraut / und alles, was mir geblie-
ben ist, / nachdem man die Möwe, die mir
gleicht, / getötet hat.“

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


Sie habe immer der Macht der Wörter
vertraut, sagt Najet Adouani. Und ihr Ver-
trauen in sie wachse von Tag zu Tag, denn
schließlich lieferten die Gegner selbst den
Beweis: „Wenn Wörter keine Macht besä-
ßen, warum sollten sie dann Angst haben?“
Einen Roman der Angst und des wider-
willigen Fliehens aus der deutschen Hei-
mat hat gerade auch der Doyen der deut- Tunesische Dichterin Adouani: Den Himmel hassen
schen Literatur abgeliefert, unser Michael
Kohlhaas, einer, der nicht aufgibt und das
letzte deutsche Jahrhundert stets aufs also bleibt auch er hier. Doch sein Schrei- schweren Sünden: Pfarrerssohn & ab-
Neue beackert und durchpflügt. „Trutz“ ben wird als feindlich betrachtet, beinahe gehauen; Exmatrikulationen mehrfach,
von Christoph Hein, 73, umspannt das könnte es kommunistisch sein. Er flieht selbst von einer Abendschule, die ich be-
Schicksal eines Paares, das vor Hitler nicht mit seiner Frau in die Sowjetunion. Doch zahlt hatte; und heute gehöre ich nicht zu
fliehen will. Sie ist tatkräftig und mutig, auch als antikommunistisch kann man den deutschen, sondern zu den ostdeut-
er, Rainer Trutz, eher zaudernd und vor- sein Schreiben deuten. Das wird er schon schen Autoren. Es gibt ja heute nur noch
sichtig. Eine Fallada-Figur, ein kleiner bald und mit tödlicher Konsequenz er- drei ostdeutsche Autoren, und ich bin, wie
Held, der in die Weltgeschichte gerät. fahren. Peter Hacks einmal sagte, der endgültig
Flüchten – das kennt er nur aus Erzählun- Was ihn, Hein, in seinem Schreiben im- letzte Vertreter der schlesischen Dichter-
gen ferner Länder. mer wieder zum Thema Flucht zurück- schule.“
Und irgendetwas hat das doch wohl mit treibt? Er antwortet mit seiner Biogra- Auch heute habe er Kontakt mit emi-
Schuld zu tun. Der Schuld der Fliehenden. fie des Fliehens, im Schnelldurchgang: grierten Autoren aus der Türkei und aus
Denn so ganz unschuldig muss doch wohl „Flüchtling aus Schlesien, mit 14 Flüchtling Russland. Das Thema lasse ihn nicht los.
keiner fliehen. „Was haben wir falsch ge- aus der DDR, da ich als Pfarrerssohn nicht Inhaltlich einerseits, aber auch durch die
macht, dass wir in unserem Vaterland zur Oberschule durfte, in Westberlin ein Perspektive, an der Seite des Geflohenen.
nicht mehr leben dürfen?“, fragt er in den armer Ostflüchtling, der auf Hilfe ange- Das mit der Flucht verbundene Außen-
blauen Himmel hinein. „Aus unserer Fa- wiesen war; mit dem Mauerbau zwangs- seitertum, es biete „eine Chance für den
milie ist noch nie einer ausgewandert“, weise wieder DDR-Bürger, aber mit zwei Autor, denn er ist nicht nur Außenseiter
DER SPIEGEL 22 / 2017 113
Der Mythos besagt, dass sie hier sicher
sind. Es ist der letzte Ort. Von hier aus ist
keine Flucht mehr möglich. Ist sie wirklich
nicht mehr möglich? Oder ist nur der Glau-
be an die Urgeschichte so stark, dass er
die Menschen lähmt?
„Oh, das weiß ich nicht. Das weiß nur
die Geschichte“, sagt Ekinci und lacht. Und
ernst fügt er hinzu: „Ich habe nur eine
Frage gestellt: Wie gehen wir mit der
Angst um?“
Auch er hat beim Schreiben viel an Kaf-
ka gedacht. An eine Geschichte vor allem,
„Der Bau“. Der unvollendet gebliebene
Bericht von einem Tier, das eine Sicher-
heitshöhle für sich erschaffen hat, aber sein
Leben lang vom Zweifel geplagt wird, ob

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


es die absolute Sicherheit geben kann. Im-
mer kann alles zerstört werden: „Es kann
jemand auf das Moos treten oder hinein-
stoßen, dann liegt mein Bau frei da, und
wer Lust hat, kann eindringen und für im-
mer alles zerstören. Das weiß ich wohl,
und mein Leben hat selbst jetzt auf seinem
Höhepunkt kaum eine völlig ruhige Stun-
Kurdischer Schriftsteller Ekinci: Scham des Überlebenden de, dort an jener Stelle im dunklen Moos
bin ich sterblich, und in meinen Träumen
schnuppert dort oft eine lüsterne Schnauze
mit dem Außen-Blick, gleichzeitig gehört Sinne) nützliche, die das feste Gefüge unaufhörlich herum.“
er als Bürger in bestimmter Weise dazu.“ westlicher Zivilisation stützen und aus- „Sie kommen!“ ist der Ruf, der die Men-
Ein zweiter Held in „Trutz“ ist ein rus- bauen helfen“. schen in dem kleinen Dorf im Walnusstal
sischer Wissenschaftler, der das For- Genau darum geht es ja auch heute, in in Panik versetzt. Menschen am Ende der
schungsgebiet „Mnemotechnik“ entwi- der Wirklichkeit und in den literarischen Flucht, am Ende der Hoffnung. Ekinci er-
ckelt, die Lehre von Ursprung und Form Fluchtgeschichten: um Anerkennung der zählt, was es noch zu tun, noch zu sagen
der Erinnerung. Sein Ziel: alles bewahren, Bereicherung des Lebens, der Kultur, der und zu retten gibt, bevor alles endet.
nichts vergessen. Für seine Übungen wählt fest gefügten Gesellschaften, in die all die „Ich muss über die Dinge schreiben, die
er Emigrantenkinder als ideale Kandidaten Menschen hineinfliehen. Um ein Verständ- mir den Schlaf rauben“, sagt Ekinci. Und
aus. Sie sind gut motiviert und durch das nis für die Not in der Herkunftswelt. Um dass es für ihn überhaupt keine Frage sei,
frische Erlernen der neuen Sprache, all das ihre Geschichten. ob er ein politischer Autor ist. „Kurde sein
Aufnehmen einer neuen Welt, seien sie Der kurdische Autor Yavuz Ekinci, 37, heißt politisch sein“, erklärt er und dass
von einer einmaligen Offenheit. lebt derzeit in Istanbul, stammt aber aus es auch ein großes Schuldgefühl ist, das
Junge Fliehende: die perfekten Gedächt- einem Dorf im kurdischen Gebiet, in dem ihn antreibt. „Die Scham des Überleben-
niskünstler. Bewahrer ihrer alten in der heute Krieg herrscht. Nein, geflohen sei den. Das ist bei uns allen so. Sehen wir
schönen neuen Welt. Und Christoph Hein, er nicht, sagt er bei unserem Gespräch in die Fotos unserer Grundschulklassen, se-
der einst von Welt zu Welt Fliehende, ist Berlin. „Ich bin da einfach hingezogen.“ hen wir vor allem all die, die nicht mehr
ihr idealer Chronist. Seine Familie lebt aber noch dort. Es fin- leben. All die Getöteten.“
So wie es der im Exil gestorbene und den regelmäßig sogenannte Operationen Ekinci gibt in Istanbul eine Reihe kurdi-
in Brody geborene Österreicher Joseph statt. Tausend Soldaten sind ständig vor scher Exilliteratur heraus. „Kurden sind in
Roth in seinem großartigsten Flüchtlings- Ort. „Sie suchen den Feind“, sagt Ekinci. aller Welt verstreut. Sie schreiben in allen
buch, dem Essay „Juden auf Wander- Ob er sich Sorgen mache um seine Familie Weltsprachen“, sagt er.
schaft“, aus dem Jahr 1927 schrieb: „Die- dort? „Oh, alle Menschen in der Türkei Sie tragen Kurdistan mit sich herum wie
ses Buch will nicht von jenen gelesen wer- machen sich Sorgen umeinander.“ Ekinci die anderen Fliehenden Tbilissi oder Schle-
den, die ihre eigenen, durch einen Zufall hat einen erschütternd schönen Roman sien, Tripolis, Kairo, Tunis, Prag, Brody,
der Baracke entronnenen Väter oder Ur- über die Bewohner eines kurdischen Dor- Istanbul. Schreibend und lesend die alte
väter verleugnen. Dieses Buch ist nicht fes geschrieben, das kurz vor der Zerstö- Welt in die neue tragend. Um diese Welten
für Leser geschrieben, die es dem Autor rung steht, „Der Tag, an dem ein Mann um ihre eigene Weltsicht selbstbewusst zu
übel nehmen würden, dass er den Gegen- vom Berg Amar kam“. „Erschütternd erweitern. Der heimischen Leitkultur eine
stand seiner Darstellung mit Liebe behan- schön“, was soll das heißen? Ekinci hat Wanderungskultur hinzuzufügen.
delt statt mit ‚wissenschaftlicher Sachlich- eine Reportage der Angst, die Beschrei- Die eingewanderte, die umherwandern-
keit‘, die man auch Langeweile nennt.“ bung des Dorfes, der Handlungen der de Literatur ist von explosiver, von revo-
Für solche Menschen, fährt er fort, sei sein Dorfbewohner in den Momenten, bevor lutionärer Kraft. Ihre Hoffnung hat Can
Report über die fliehenden Juden der Welt sie alle fürchten müssen, ihr Leben zu ver- Dündar in seiner Zelle so beschrieben:
geschrieben, „die fühlen, dass sie vom Os- lieren, mit einer archaischen Märchenhand- „Sosehr diese Kraft den Eingesperrten er-
ten viel zu empfangen hätten, und die viel- lung umschlossen. Der mythischen Ge- mutigt, so sehr lehrt sie den Einsperrenden
leicht wissen, dass aus Galizien, Russland, schichte der Gründung ihres Dorfes im das Fürchten. Ebendarum werden Text
Litauen, Rumänien große Menschen und Walnusstal. Sie haben sich ihre eigene Ur- und Autor zur Zielscheibe, zensiert und
große Ideen kommen; aber auch (in ihrem geschichte immer wieder selbst erzählt. eingesperrt.“

114 DER SPIEGEL 22 / 2017


Kultur

Die Indiskrete
de Blatt Papier zu einer 12-Stunden-Pro- Situation auf den Dörfern, wo die Berei-
jektion verarbeitet. In den Unterlagen cherung an jüdischem Besitz oft direkter
wurde vermerkt, welcher Käufer was er- abgelaufen sei. Sie erwähnt den Raub geis-
stand – wahrscheinlich im Wissen, dass die tigen Eigentums, den Diebstahl von Paten-
Raubkunst Die Künstlerin Maria Vorbesitzer verfolgt wurden. Vieles dürfte ten, wissenschaftlichen Ergebnissen.
noch bei den Familien der Profiteure sein, Immer geht es der Künstlerin auch um
Eichhorn ist bereits zum Möbel, Geschirr, lauter Erbstücke inzwi- Bildlichkeit. Listen, Dokumente, Stempel
zweiten Mal bei der Documenta schen. Eichhorn will dazu auffordern, sich weisen eine Ästhetik des Rechtmäßigen
vertreten. Ihr Werk für zu melden, falls man von Raubgut in Pri- auf, auch dann, wenn sie Ausdruck mör-
vatbesitz weiß. Sie verlangt Indiskretion derischer Gier sind. Ein weiteres Beispiel:
Kassel wirkt kühl und ist brisant. vor allem in eigener Sache, die Verletzung Ein Sachverständiger taxierte 1938 und
der eigenen Privatsphäre. 1940 im Auftrag der Nazis eine jüdische

A
ls Maria Eichhorn studierte und Ihr Beitrag für die Documenta heißt Kunstsammlung in Breslau. Bald können
sich nicht nur der Kunst, sondern „Rose Valland Institut“, benannt nach der die Besucher der Documenta die Liste des
ebenso dem Punk verpflichtet fühl- Frau, die im besetzten Frankreich heimlich Jahres 1940 betrachten, nachlesen, wo was
te, traf sie eine Entscheidung. Sie würde, notierte, welcher raffsüchtige Fremde wel- hing und stand in der Villa des Witwers
so beschloss sie, nichts machen, das sie che Kunst mitgehen ließ. Vielleicht wird aus David Friedmann. Damals bereicherte sich
langweilen könnte. dem Projekt eine dauerhafte Forschungs- das Reich an seinem Eigentum, handelte
Klingt einfach, aber wem gelingt so et- plattform, vieles am großen Raub sei noch mit dem, was es ihm gestohlen hatte.
was schon über Jahre, Jahrzehnte? zu beleuchten, sagt Eichhorn; sie nennt die Eines dieser Breslauer Bilder, ein Ge-
Eichhorn gab bald, trotz ihres Talents, mälde von Max Liebermann, wurde 2013
die Malerei auf. Sie erzeugt seither andere in der Wohnung von Cornelius Gurlitt ent-
Bilder, vielleicht gar ein anderes Bewusst- deckt. Sein Vater, der Kunsthändler Hilde-
sein beim Betrachter, und sie hat es weit brand Gurlitt, hatte es 1942 angeboten be-
damit gebracht. Wenige Künstler schaffen kommen, gemeinsam mit einem anderen
es auf die Documenta, sie, Jahrgang 1962, Bild aus demselben jüdischen Vorbesitz.
ist nun zum zweiten Mal dabei. Gern hätten die Documenta-Leute den
Alle fünf Jahre eröffnet eine neue gesamten heiklen Bilderbestand der Gur-
Ausgabe dieser Kunstschau, jede erweckt litts ausgestellt, das ist nicht möglich. Statt-
den Eindruck, ein Jahrhundertereignis zu dessen zeigt man Kunst, die die Gurlitts
sein. 2017 wird sie, und das ist tatsächlich selbst schufen: Großvater und Schwester
ein Novum von historischem Ausmaß, an des Kunsthändlers waren Maler. Und man
zwei Orten veranstaltet, in Athen, wo sie hat eine Künstlerin wie Eichhorn, die sich
bereits läuft, und bald auch am Stamm- vor allem Phantomobjekten widmet, ver-
platz Kassel. schwundenen Besitztümern. Auch die
Eichhorn ist im Abgabestress, hat viele meisten Bilder der Familie Friedmann sind
Termine abgesagt; in Ausstellungen prä- noch verschollen. Für Hinweise auf ihren
sentiert sie vieles so, als handelte es sich Verbleib wird in Kassel eine Belohnung in
um Laborsituationen oder Forschungser- Aussicht gestellt.
gebnisse, alles muss exakt sein, die Inhalte, Eichhorn macht das in Absprache mit
LANDESARCHIV BERLIN

die Darstellung. Ihre Kunst kostet Zeit, ist David Toren aus New York, dem Großnef-
dafür aber auch zeitlos. fen des Kunstliebhabers Friedmann. Toren,
Anlässlich der Documenta 2002 gründete geboren 1925, war als Teenager aus Breslau
sie eine zweckfreie Aktiengesellschaft, de- geflüchtet. Als Kind bewunderte er beim
ren Bedeutung aber wächst, weil sie ja Großonkel jenes Liebermann-Bild, das spä-
Kunst ist. Sie bereitet den Kauf einer Im- ter auch Cornelius Gurlitt so gefiel, die
mobilie in Athen vor, die dank Anwendung „Zwei Reiter am Strand“. Nach langem Hin
juristischer Kniffe niemandem gehören und Her wurde es restituiert.
wird. Sie hängt Formulare über solche Vor- Dann ist da das andere Werk, das Hilde-
gänge gern an Museumswände. Sogar das brand Gurlitt 1942 aus Breslau bezog und
von ihr produzierte, in beschrifteten Blech- das wohl seine Tochter 2000 in eine Auktion
dosen archivierte „Filmlexikon sexueller gab. Es handelt sich um ein Liebermann-Pas-
Praktiken“ hat eine Anmutung des Sach- tell mit dem Titel „Die Korbflechter“. Toren
lichen. Immer wieder zeigt die Berliner erhielt das Angebot, es zurückzukaufen. Er
Künstlerin, wie absurd es ist, das Leben in erzählt das am Telefon. Gerade kam das
eine bestimmte Ordnung bringen zu wollen. Pastell in den USA an, fast 80 Jahre nachdem
Auch die Gegenwart ist in Unordnung, der Nazigutachter es bei seinem Großonkel
und auf der Documenta soll das deutlich in Augenschein genommen hatte.
werden. Kriegerische Konflikte, Heimat- Derweil verweigert das offizielle
losigkeit, NSU-Prozess, das alles lassen Deutschland die Annahme einer Klage, die
Künstler in Kassel vorkommen. Eichhorn der betagte Toren in Washington einreich-
wird sich einem nie wirklich aufgeklärten te. Er will, dass die Bundesrepublik die
Tatbestand widmen, dem, wie sie sagt, „le- anderen Werke seiner Familie aufspürt.
JOHN MILLER

galisierten Raub“ während der NS-Zeit. Nun streitet er vor Gericht, damit die Kla-
Sie sichtete alte Versteigerungsprotokol- ge zugestellt werden kann.
le sogenannter Judenauktionen, wie sie Versteigerungsliste, Künstlerin Eichhorn Eichhorn geht der Stoff nicht aus, er
unter den Nazis üblich waren, hat Tausen- Suche nach den Dieben erneuert sich geradezu. Ulrike Knöfel

DER SPIEGEL 22 / 2017 115


Kultur

„Auf jeden Fall wird es Kunst“


Theater Der Künstler Jonathan Meese, vor drei Jahren in Bayreuth als „Parsifal“-Regisseur rausgeworfen,
präsentiert nun einen „Mondparsifal“ des Komponisten Bernhard Lang in Wien.

D
as Theater an der Wien am Rand Gesangslinien sind weitgehend erhalten. paar Bühnenbilder für tolle Schauspiel-
des Wiener Naschmarkts ist ein Der Text dagegen ist eine aus franzö- und Opernregisseure gebaut. Und er hat
schönes, altes Bühnengemäuer, in sischen, englischen, altgriechischen und auch selbst schon ein Theaterspektakel in-
dem seit der Eröffnung vor 216 Jahren deutschen Assoziationsfetzen zusammen- szeniert, 2007 an der Berliner Volksbühne
eine Menge Musikstücke und Dramen gequirlte Neudichtung. Manchmal singen einen grandios chaotischen Trash-Abend
zum ersten Mal vor Publikum präsentiert die Sänger auch einfach Eigennamen wie mit dem Titel „De Frau (Dr. Poundaddy-
wurden, die dann in aller Welt Furore den des Philosophen Martin Heidegger lein – Dr. Ezodysseusszeusuzur)“.
machten. Ludwig van Beethovens fünfte und den des Drogenpropheten Timothy Meese behauptet, er verstehe sich als
Sinfonie zum Beispiel, Johann Nestroys Leary. Lang bezeichnet das Wiener Urauf- Kämpfer gegen Ideologien, gegen Religion,
„Der Zerrissene“ und Franz Lehárs „Die führungsunternehmen als „Metatheater, Politik und „deutschen Wahn“, weshalb
lustige Witwe“. Andere hier uraufgeführte Metatext, Metakomposition“ und nennt er in seinen Bildern und Performances
Werke hatten es dagegen eher schwer. Der die Premiere, die Simone Young dirigieren Nazi-Symbole wie das Hakenkreuz ver-
strenge Johann Wolfgang von Goethe wird, eine „Bombe mit ungewissem Zün- wendet und bei öffentlichen Auftritten und
nannte das „Käthchen von Heilbronn“ des dungseffekt“. Performances immer wieder den soge-
zu Lebzeiten sowieso ziemlich verkannten Jonathan Meese spricht von „Rache“. nannten Hitlergruß gezeigt hat.
Dichters Heinrich von Kleist, 1810 im Fast alle großen Dichtungen handelten von Der ist in Deutschland und Österreich
Theater an der Wien erstmals gespielt, nichts anderem, auch Richard Wagners eigentlich verboten, im Rahmen der Kunst-
„ein wunderbares Gemisch von Sinn und Musikdichtungen, sagt er freudestrahlend freiheit dem Künstler Meese aber mit amt-
Unsinn“. im Theater an der Wien. Fünf Jahre ist es licher Bestätigung erlaubt, auch weil er
Ähnliches könnte für das Werk gelten, her, dass die damalige Leitung der Wag- ihn „verspottet“, wie 2013 ein Gericht in
das der Maler und Performancekünstler ner-Festspiele in Bayreuth stolz verkünde- Kassel befand. „Eine Körpergeste kann
Jonathan Meese an diesem Ort am kom- te, man habe Meese als Regisseur des „Par- nicht ideologisch und nicht für alle Zeiten
menden Wochenende herausbringen will. sifal“ verpflichtet; Premiere sollte 2016 besetzt mit einer bestimmten Bedeutung
Meese sitzt im abgedunkelten Zuschauer- sein; sie freue sich „wahnsinnig“, behaup- sein“, sagt Meese heute. Er habe den
raum des Theaters hinter einem großen tete Katharina Wagner damals. Doch 2014 Hitlergruß „dekontaminiert“. Auf öffent-
hölzernen Arbeitstisch, der auf die Stuhl- wurde Meese gefeuert, sein Konzept sei liche Demonstrationen des Grußes, den er
lehnen im Parkett geschraubt wurde. Er zu teuer und nicht finanzierbar, hieß es „Meesegruß“ nennt, verzichtet er seit
blickt auf eine riesige Holzskulptur mit aus Bayreuth. Die meisten am Musikthea- einiger Zeit.
dem Umriss eines Menschen, die auf der ter interessierten Menschen urteilten da- Mit dem „Parsifal“, sagt Meese, habe er
Bühne aufgestellt ist. Am Kopf der Skulp- mals, dass diese Begründung die wahren sich beschäftigt, seit er 17 gewesen sei, seit
tur sind schwarze, rote und weiße Bänder Motive des Rauswurfs nicht einmal not- 30 Jahren. Sowohl mit der Versdichtung
befestigt, deren Enden von zwölf Tänze- dürftig verschleiere. des Wolfram von Eschenbach aus dem
rinnen gehalten werden. Zu heiter schwin- „Die hatten Angst, dass ich ihren Ri- 13. Jahrhundert als auch mit Richard Wag-
gender Klaviermusik hüpfen die Frauen chard Wagner besudle“, sagt Meese heute. ners 1882 aufgeführtem Bühnenweihfest-
Ringelreihen um den Holzriesen. Jonathan „Das hätte ich nicht getan. Ich hätte Wag- spiel. Der Komponist Lang und der Regis-
Meese schüttelt seine schwarzen, von ein ner, der selbst die Anbetung der Wagne- seur Meese lassen die Geschichte des un-
paar grauen Strähnen durchwirkten Lo- rianer zum Kotzen fand, entheiligt.“ schuldigen Helden und reinen Toren Par-
cken und lacht ein heiseres Lachen, das Der fast stets in einer Trainingsanzugs- sifal und seiner Abenteuer in Amfortas’
klingt, als huste er. Dann spricht er laut jacke auftretende Künstler Jonathan Meese Gralsburg nicht im Mittelalter, sondern in
ins Mikrofon: „Ich sag nur dann was, wenn ist, auch international, bekannt geworden der Zukunft spielen.
ich etwas katastrophal finde.“ mit einer grotesken, betont grobianischen „Die mythischen Wagner-Figuren Parsi-
„Mondparsifal Alpha 1–8“ heißt das Mu- Kunst voller Pop- und Horrorfilmbegeis- fal, Kundry und Klingsor treffen auf eine
siktheaterstück, an dessen Uraufführung terung. Er verzückt sein Publikum mit zukünftige Mondbasis, die von Richard
Meese, 47, hier als Regisseur, Bühnenbild- komischen Geschmacklosigkeiten und Wagner, aber auch von Marlon Brando
ner und Kostümerfinder arbeitet. Der einem wilden, sehr deutschen Eigensinn. und Barbarella bewohnt wird“, berichtet
österreichische Komponist Bernhard Lang, Er hat seine Gemälde und Skulpturen an Meese. Er schwärmt von den Filmen und
60, hat sich im Auftrag der Wiener Fest- vielen Orten der Welt gezeigt. Er hat ein Fernsehserien, die ihn inspiriert haben für
wochen an eine Neufassung des „Parsifal“ seine Bilder und seine Regie, von „Conan
gemacht, die man als Übermalung oder der Barbar“, „Der letzte Tango in Paris“
Überschreibung des beliebten und ein biss- und „Raumschiff Enterprise“ bis „Clock-
chen berüchtigten Bühnenweihfestspiels
des Komponisten Richard Wagner verste- Für die Berliner Version work Orange“ und dem Siebzigerjahre-
Horrorkultfilm „The Wicker Man“.
hen darf.
Es handle sich „nicht um eine Zerstö-
des „Mondparsifal“ wird Tatsächlich ist die riesige Holzskulptur,
die im zweiten Akt des „Mondparsifal“
rung des Originals“, sondern um eine Meese in der Hauptstadt auf der Bühne steht, der Weidenpuppe
„neue Lesart“, hat der von der Musikkritik
hoch geachtete Lang seine Arbeit beschrie-
das Bayreuther Fest- nachempfunden, die im „Wicker Man“ des
Regisseurs Robin Hardy als Brandstoff für
ben. Die Grundstruktur seines „Parsifal“ spielhaus nachbauen. ein Menschenopfer dient. Die Gralsburg
entspricht der des Wagner-Werks, die des Königs Amfortas ist ein Haufen aus

116 DER SPIEGEL 22 / 2017


Mondgestein, in dessen Mitte hinter einem
Glasfenster eine Holzfigur zu erkennen
ist: Der angeblich heilige Gral ist eine
Pinocchio-Vitrine. Rechts ragt aus der
Gralsburg eine überdimensionierte Klopa-
pierrolle auf, links schwebt bald ein Papp-
mascheeraumschiff ein, aus dem zwei Män-
ner in Astronautenanzügen plumpsen. Es
raucht und blitzt und funkelt im Gewitter

JÖRG KIEFEL / COURTESY BY JONATHAN MEESE


aus schlauen Verweisen und fröhlichem
Blödsinn, das hier über die Bühne donnert.
Jonathan Meeses Mutter Brigitte, die in
seinem Werk von jeher eine wichtige Rolle
spielt, wird auf der „Mondparsifal“-Bühne
die ganze veranschlagte Spielzeit von drei-
einhalb Stunden zugegen sein. An der
Rampe der Bühne klebt eine meterhohe
Humpty-Dumpty-Figur, wie man sie aus
Bühnenbildentwurf von „Mondparsifal Alpha 1–8“ in Wien: Lob der Narrheit Lewis Carolls „Alice hinter den Spiegeln“
kennt: ein monumentales Karton-Osterei,
auf das Brigitte Meeses Gesicht geklebt ist.
„Benutzt wird, was im goldenen Sieb
hängen bleibt“, sagt Meese über die Re-
geln seines Spiels mit Referenzen, kein
Zuschauer müsse sämtliche Zeichen und
Symbole begreifen. Mit Alexander Kluge
hat er lange über den „Parsifal“ gespro-
chen, man müsse den Stoff „aufbrechen“
lautete angeblich Kluges zentraler Rat.
„Parsifal ist das Kind, der Künstler. Er weiß,
dass nichts wichtig ist, außer dass man lebt,
dass man nach vorne geht. Er vernichtet
alle menschliche und göttliche Macht, alle
Ideologien.“
Am Regiepult bleibt Meese fast immer
stumm. Er lässt den Theaterprofis aus Cho-
reografie und Technik und seinem Regie-
assistenten weitgehend freie Hand. Sein
Amt als Regisseur definiert er so: „Es darf
nicht verbittert werden, dafür bin ich da.
Was immer es wird, was wir hier machen,
auf jeden Fall wird es Kunst.“
Im Programmheft der Wiener Festwo-
chen nennen Lang und Meese ihren Titel-
helden „Parzefool“. Lang versteht die gan-
ze Arbeit als Fortschreibung der mittel-
alterlichen Literaturform „Laus stultitiae“,
zu Deutsch „Lob der Narrheit“. Im Okto-
ber wollen der Komponist und der Regis-
seur in Berlin eine erweiterte Version ihrer
Arbeit herausbringen, dann unter dem
Titel „Mondparsifal Beta 9–23“.
Meese darf für die Berliner Show das
ganze Theatergebäude der Berliner Fest-
spiele in der Schaperstraße umgestalten.
„Ich werde in Berlin das Bayreuther Fest-
spielhaus nachbauen“, sagt er. Weil er es
den Mächtigen in Bayreuth unbedingt zei-
JAN BAUER / COURTESY JONATHAN MEESE

gen will, wird er plötzlich sehr laut. „Die


Priesterkaste aus politikversauten Arsch-
löchern soll sehen, was ein Gesamtkunst-
werk ist!“ Wolfgang Höbel

Video: Meese erklärt seiner


Mutter den „Mondparsifal“
spiegel.de/sp222017meese
Regisseur Meese: Parsifal als ewiges Kind und Entzauberer aller Ideologien oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 22 / 2017 117


Polizistin vor der
Manchester Arena
am Tag nach
dem Anschlag
„Unbedeutend,
herunterge-
kommen, elend“

ANDREW YATES / REUTERS

„Der Brexit hat Gift freigesetzt“


SPIEGEL-Gespräch Für seine Bestseller lässt Thriller-Autor Robert Harris
das alte Rom und Nazideutschland wiederauferstehen. Inzwischen aber beschleicht
den Briten das Gefühl, den spannendsten Roman schreibt zurzeit die Realität.

118 DER SPIEGEL 22 / 2017


Kultur

SPIEGEL: Herr Harris, wenige Wochen nach- rungsregeln. So wurde überhaupt erst mög- mit Großbritannien verbunden hat. Wo
dem ein Mann auf der Londoner West- lich, dass ein inkompetenter und europa- sind die hin?
minster-Brücke mutwillig vier Menschen feindlicher Mann wie Jeremy Corbyn die Harris: Der Brexit hat ein Gift in die Atmo-
getötet hat, sucht der Terror Großbritan- Labour-Führung übernahm. Mit einem an- sphäre freigesetzt. Heute werden Dinge
nien erneut heim. 22 zumeist junge Men- deren Parteichef wäre uns dieses ganze gesagt, die wir früher nicht mal zu denken
schen starben, als sich ein Selbstmordat- Brexit-Schlamassel vielleicht erspart ge- wagten. Denken Sie an die Olympischen
tentäter bei einem Popkonzert in die Luft blieben. Womöglich hätte dann sogar Do- Spiele in London 2012, da war Großbritan-
sprengte. Wie lange ertragen Ihre Lands- nald Trump der Schwung gefehlt, um die nien ein Vorzeigeland für Toleranz und
leute den Terror noch so stoisch? Wahlen in den USA zu gewinnen. Das Weltoffenheit. Das war vor gerade mal
Harris: Derzeit ist die Stimmung gefasst, alles erinnert mich an den berühmten fünf Jahren, heute ist davon nichts mehr
aber das kann sich ändern. Terror ist für Flügelschlag eines Schmetterlings, der das zu spüren. Jetzt steht unser Land für Frem-
uns nichts ganz Neues. Erinnern Sie sich ganze große Chaos in Bewegung setzt. denfeindlichkeit. Die Boulevardpresse tönt
an die IRA aus Irland, die über 20 Jahre SPIEGEL: Wer ist in dieser Geschichte der schrill, da ist von „Verrätern“ die Rede,
lang gebombt und Zivilisten getötet hat – Bösewicht, wer der Held? von „Saboteuren“. Und Theresa May sagt:
übrigens auch in Manchester. Trotzdem Harris: Ich weiß nicht, ob es hier einen Hel- „Ein Bürger der Welt ist ein Bürger von
gab es in unserem Land nie einen weit- den gibt. Bei der Auswahl des Bösewichts Nirgendwo.“ Das hat für mich schon fast
verbreiteten Hass auf die Iren. Allerdings würde ich mich an Hillary Clintons be- den Ruch des Antisemitismus.
hat die IRA nicht gezielt Kinder und rühmtem Satz von der „großen, rechten SPIEGEL: Antisemitismus?
Jugendliche ins Visier genommen, das Verschwörung“ orientieren. Das Problem Harris: Hass auf alles Internationale, auf
macht diesen Anschlag zu einem der ist nur: Es ist ziemlich schwierig, sich eine Menschen, die angeblich keine Wurzeln
schlimmsten. so bizarre Figur wie Donald Trump einfal- haben, damit machten schon Hitler und
SPIEGEL: Sie haben Thriller geschrieben, in len zu lassen. So einen können Sie nicht Stalin Stimmung gegen die Juden. So sehr
denen Sie sich eine Welt nach dem Sieg erfinden. anders klingt das heute gar nicht. Als The-
Hitlers im Zweiten Weltkrieg vorstellten SPIEGEL: Weltoffenheit, Pragmatismus, To- resa May vom „rot-weiß-blauen Brexit“
oder Rom zu Zeiten Ciceros. Können Sie leranz, das waren immer Werte, die man sprach und dabei vor unserer Fahne und
sich in die Gedankenwelt eines Selbstmord- allerhand Militärgerät posierte, da habe
attentäters hineinversetzen? ich mir gedacht: Wie würde die britische
Harris: In seinem Buch „Der Geheimagent“ Presse reagieren, wenn sich ein deutscher
beschrieb Joseph Conrad 1907 einen Kanzler vor Panzern mit der Deutschland-
Selbstmordattentäter als „gebrechlich, flagge aufstellen würde?
unbedeutend, heruntergekommen und SPIEGEL: In Großbritannien kommt sie da-
elend“. Ich finde, besser kann man es mit durch?
nicht skizzieren. Harris: In Großbritannien erklärt der Zwei-
SPIEGEL: Der Attentäter war ein 22-jähriger te Weltkrieg immer noch sehr viel. Groß-
Brite mit libyschen Wurzeln. Fühlen sich britannien ging daraus mit neuem Selbst-
viele Briten nun in ihrer Ablehnung von bewusstsein hervor. Wir hatten das Gefühl,
Migration und ihrer Entscheidung für den wir haben das Richtige getan. Es ist kein
HORST A. FRIEDRICHS / DER SPIEGEL

Brexit bestätigt? Zufall, dass britische Politiker so oft For-


Harris: Diese Terroranschläge haben mit meln bemühen, die sich darauf beziehen.
Einwanderern aus der EU nichts zu tun – „Die weißen Klippen von Dover“, „Stand
und nur um diese ging es bei der Abstim- alone“, „Our finest hour“ – das hört nicht
mung über den Brexit. Die Attentäter sind auf.
radikalisierte junge Männer, oft mit Wur- SPIEGEL: Ist aber schon über 70 Jahre her.
zeln im früheren britischen Empire. Die Harris: Na und? Man denkt immer, man
meisten von ihnen wurden, wie der Täter könne seiner Geschichte entkommen, ge-
von Manchester, sogar in unserem Land ge- Harris’ Bestseller spielen im Nazi- nauso wie ein Mensch seine Familienban-
boren. Das Paradoxe ist, dass wir wegen deutschland nach einem Sieg Hitlers im de zerschneidet, aber das ist nicht so. Ich
des Brexit künftig womöglich noch weniger Zweiten Weltkrieg und in den letzten schreibe seit Jahrzehnten Romane, die in
kontrollieren können, wie viele Menschen Tagen der Römischen Republik, doch der Vergangenheit spielen, und ich stelle
aus diesen Ländern zu uns kommen. Wir seine Vergangenheit als politischer Jour- fest: Jedes Land ist in seiner Erinnerung
müssen neue Handelsabkommen schließen, nalist konnte der heute 60-Jährige nie gefangen. Jedes Land pflegt seine Mythen.
und es ist völlig offen, wie die Regeln für verleugnen. Der Mann, der früher beim In Frankreich waren alle im Widerstand,
Menschen aussehen werden, die in Groß- britischen „Observer“ schrieb, mischt in Deutschland waren alle gegen Hitler. In
britannien arbeiten oder studieren wollen. sich immer wieder in aktuelle Debatten Großbritannien lebt der Mythos, wir hät-
SPIEGEL: Wenn Sie einen Roman über den ein. In seinem Buch „Angst“ beschreibt ten Deutschland allein besiegt. Sie müssen
Brexit schreiben müssten, wie würde der Harris die zunehmend zügellose und un- nicht tief graben, um dieses Motiv in der
enden? kontrollierbare Finanzindustrie, „Ghost- Brexit-Debatte zu entdecken, ich sage nur:
Harris: Schwer zu sagen. Wahrscheinlich düs- writer“, verfilmt von Roman Polanski mit „Standing alone.“
ter. Immerhin weiß ich, womit ich anfangen Pierce Brosnan in der Hauptrolle, liest SPIEGEL: Wie sehr rutscht Großbritannien
würde. Diese ganze Katastrophe hat ja mit sich in Teilen wie eine Abrechnung mit gerade nach rechts?
einer Kneipenschlägerei begonnen … seinem früheren Freund Tony Blair. Im Harris: Es liegt jedenfalls eine hässliche
SPIEGEL: Im Ernst? Herbst erscheint sein neues Buch rechtsgerichtete Stimmung in der Luft.
Harris: Kein Witz. Ein Labour-Politiker hat- „München“, ein Thriller vor dem Hinter- Auch dadurch sahen sich viele Parlamen-
te einem Kollegen in einer Bar einen Kinn- grund der Verhandlungen zwischen Hit- tarier genötigt, für etwas zu stimmen, was
haken verpasst. Er musste zurücktreten, ler und dem britischen Premier Neville sie gar nicht wollten, nämlich dafür, den
seine Partei verlor die Nachwahlen und Chamberlain über die Zukunft des Su- Austrittsprozess offiziell zu starten. Wer
änderte daraufhin ihre internen Nominie- detenlandes in München 1938. hätte das gedacht, in unserer großartigen
DER SPIEGEL 22 / 2017 119
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten:media control); Demokratie! Ich hoffe aber, die Menschen
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller in Europa vergessen nicht, dass fast die
Hälfte der Bürger hier trotz der ganzen
Belletristik Sachbuch rechten Propaganda dafür gestimmt habt,
in der EU zu bleiben. Das ist mir schon
wichtig: Wir sind keine Insel von wüten-
1 (1) Maja Lunde 1 (2) Andreas Michalsen
den weißen Fußball-Hooligans, die sich
Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro Heilen mit der Kraft der Natur
den Union Jack ins Gesicht malen.
Insel; 19,95 Euro
2 (2) Jussi Adler-Olsen SPIEGEL: Ihr nächstes Buch spielt in den
Selfies dtv; 23 Euro
2 (4) Peter Wohlleben Das geheime Leben Dreißigerjahren, vor dem Hintergrund der
der Bäume Ludwig; 19,99 Euro Verhandlungen zwischen Chamberlain
3 (3) Rebecca Gablé 3 (1) Eckart von Hirschhausen Wunder und Hitler über das Münchner Abkommen.
Die fremde Königin Lübbe; 26 Euro wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
Kann man Vorkriegsdeutschland mit Groß-
britannien nach dem Brexit-Beschluss ver-
4 (4) Gerhard Polt 4 (3) Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive gleichen?
Der große Polt Kein & Aber; 12 Euro Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro Harris: Es gibt Parallelen, ja. Hitler bekam
5 (5) Yuval Noah Harari 1932 bei der Wahl 37 Prozent der Stimmen,
5 (6) Martin Walker Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
die Nazis wurden die mit Abstand größte
Grand Prix Diogenes; 24 Euro Partei. Ich sage nicht, dass wir heute schon
6 (6) Andrea Wulf Alexander von Humboldt so weit sind. Aber: Die Stimmungen äh-
6 (5) Elena Ferrante Meine geniale und die Erfindung der Natur neln sich. Man greift Migranten auf offener
Freundin Suhrkamp; 22 Euro C. Bertelsmann; 24,99 Euro Straße an. Nach dem Anschlag von Man-
7 (10) Robin Alexander chester müssen wir sehen, ob es sich um
7 (7) Carlos Ruiz Zafón Das Labyrinth eine einmalige Aktion handelt oder den
Die Getriebenen Siedler; 19,99 Euro
der Lichter S. Fischer; 25 Euro Start einer Terrorkampagne. Wenn Letz-
8 (7) Roger Willemsen teres der Fall ist, könnte sich diese Stim-
8 (8) Martin Suter Wer wir waren S. Fischer; 12 Euro mung im Land zuspitzen. Und schauen Sie
Elefant Diogenes; 24 Euro
nach Frankreich! Wir beglückwünschen
9 (9) J. D. Vance
Hillbilly-Elegie Ullstein; 22 Euro uns, dass Marine Le Pen nicht Präsidentin
9 (15) Julian Barnes Der Lärm
wurde. Aber sie hat fast jeden dritten Wäh-
der Zeit Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro 10 (11) Hannelore Hoger Ohne Liebe trauern ler erreicht.
die Sterne Rowohlt; 19,95 Euro
SPIEGEL: Welche Rolle spielen die Medien
10 (9) Elena Ferrante Die Geschichte
eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro 11 (8) Christian Nürnberger / Petra Gerster in diesem veränderten Klima?
Der rebellische Mönch, die entlaufene Harris: Der Brexit ist ein Produkt einer jahr-
11 (14) Natascha Wodin Nonne und der größte Bestseller aller zehntelangen Schlammschlacht. Irgend-
Sie kam aus Mariupol Rowohlt; 19,95 Euro Zeiten – Martin Luther Gabriel; 14,99 Euro wann haben die Menschen diesen ganzen
Mist wirklich geglaubt, den ihnen die Bou-
12 (19) Zana Ramadani Die verschleierte
12 (12) Sebastian Fitzek levardpresse täglich auftischt – dass Brüssel
Gefahr Europa; 18,90 Euro
Das Paket Droemer; 19,99 Euro die Bananen gerade macht, dass die Türkei
13 (–) Hannes Jaenicke unmittelbar vor dem EU-Beitritt steht, dass
13 (10) Zsuzsa Bánk Schlafen werden Wer der Herde folgt, sieht nur Ärsche die Migranten, die nach Europa fliehen, an-
wir später S. Fischer; 24 Euro Gütersloher Verlagshaus; 19,99 Euro geblich alle nach Großbritannien wollen.
Manchmal bin ich fast überrascht, dass am
14 (11) John Grisham 14 (12) Krzysztof Charamsa
Der erste Stein C. Bertelsmann; 19,99 Euro
Ende immer noch 48 Prozent der Bürger
Bestechung Heyne; 22,99 Euro für den Verbleib in der EU gestimmt haben.
15 (14) Katrin Weber SPIEGEL: In Ihren Büchern über Cicero be-
15 (–) Donna Leon Sie werden lachen Aufbau; 18,95 Euro schreiben Sie die Endzeit der römischen
Stille Wasser Diogenes; 24 Euro Republik, den Bürgerkrieg und den Auf-
16 (18) Hamed Abdel-Samad Mouhanad
Khorchide Ist der Islam noch stieg Octavians zum Alleinherrscher. Se-
16 (13) Toni Morrison hen Sie die Demokratie heute in Gefahr?
Gott, hilf dem Kind Rowohlt; 19,95 Euro zu retten? Droemer; 19,99 Euro
Harris: Ohne unser Zutun hält sie jedenfalls
17 (–) Juan Martín Guevara / Armelle Vincent nicht. Sehen Sie, die Angriffe auf Cicero
17 (16) Hanya Yanagihara Mein Bruder Che
Ein wenig Leben Hanser Berlin; 28 Euro
und den Senat waren befeuert von sehr
Tropen; 22 Euro reichen Leuten wie Claudius oder Caesar.
18 (–) Karl Ove Knausgård In Amerika oder Großbritannien ist das
Kämpfen heute ähnlich: Milliardäre, extrem reiche
Juan Martín Guevara erzählt
Luchterhand; 29 Euro mithilfe einer französischen Menschen, attackieren Leute mit gemäßig-
Journalistin die Geschichte ten Mitte-links-Positionen. Auf einmal ge-
Knausgård hat den sechsten seines Bruders Che –
und letzten Band seiner hören Schauspieler, Schriftsteller, aber
und bleibt familiär unkritisch
Lebensbeichte, die ein Lebens- auch Journalisten und Lehrer zur soge-
kampf ist, veröffentlicht. 18 (16) Peter Wohlleben Das Seelenleben nannten Elite, Milliardäre wie Murdoch
Die Feuilletons feiern ihn oder Trump dagegen offenbar nicht. Das
der Tiere Ludwig; 19,99 Euro
19 (18) Lucinda Riley Die Schattenschwester ist die Ironie hinter Brexit und Trump: Es
19 (17) Barbara Stollberg-Rilinger sind Angriffe auf eine vorgebliche Elite,
Goldmann; 19,99 Euro
Maria Theresia C. H. Beck; 34 Euro
organisiert von der wirtschaftlichen Elite.
20 (–) Juli Zeh 20 (13) Henning Sußebach Deutschland ab Der ist Europa nämlich lästig, mit all sei-
Unterleuten Luchterhand; 24,99 Euro vom Wege Rowohlt; 19,95 Euro nen Arbeitnehmerrechten und Umwelt-
120 DER SPIEGEL 22 / 2017
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Mit dem Kindle Paperwhite. Und mit Zugang zu Millionen E-Books.
Kultur

standards. Sie wollen Großbritannien zu SPIEGEL: Gilt das auch für Theresa May?
einer Art Singapur machen: eine Freihan- Harris: Es heißt, sie sei die langweiligste
SPIEGEL-Gespräche delszone, ohne Zölle und Steuern. Das Irre Person aller Zeiten. Mich erinnert sie ein
ist, wie offensichtlich das ist! bisschen an Stalin – sehr gerissen, sehr ehr-
live im Bucerius SPIEGEL: Nach Cicero verschwand die De- geizig, aber auch sehr unsicher. Diese blas-
mokratie für mehr als 1800 Jahre aus se Person hinten im Raum, die keiner
Kunst Forum Europa … wahrnimmt und die dann alle abräumt.
Harris: Unsere Demokratie ist viel jünger als Heute kann jemand Zweitklassiges wie
die der Römer, und sie ist in Gefahr. Die Theresa May unser Bismarck werden. Im
Faschismus – Der Aufstieg Bevölkerung teilt sich in zwei Lager, das
passierte in Rom, das passiert in den USA,
Grunde ist das ein Witz.
SPIEGEL: Es mag zynisch klingen, aber Ter-
einer europäischen und das passiert hier. Es gibt keinen Konsens roranschläge wie der von Manchester wer-
über die Grundlagen der Gesellschaft mehr. den sie stärken.
Bewegung SPIEGEL: Europa scheint sich immerhin der- Harris: Ja, wenn sich Theresa May irgendwo
zeit wieder zu fangen. In Österreich, den gut auskennt, dann bei der Inneren Sicher-
Niederlanden und Frankreich haben die heit, schließlich war sie sechs Jahre lang
privat

Nationalisten und Populisten verloren, und Innenministerin. Wie so oft in der Krise
in vielen Städten, nicht nur in Deutschland, werden sich die Menschen hinter ihre
demonstrieren die Bürger Sonntag für politische Führung stellen. Das ändert aber
Sonntag für Europa. nichts daran, dass Frau May wenige Stun-
Harris: Das Grundproblem bleibt: Europa ist den vor dem Attentat in einem Interview
nicht einfach, und in der EU ist nicht alles zu ihrer Gesundheits- und Rentenpolitik
gut. Das macht es schwierig, den Status quo einen der schlechtesten Auftritte hatte, die
zu verteidigen. Es gibt das ja alles, was die ich je von einem britischen Premierminis-
Kritiker der EU vorwerfen: das demokrati- ter im Fernsehen gesehen habe.
sche Defizit, auch die Apathie angesichts SPIEGEL: Wieso gibt es immer weniger kan-
massiver Arbeitslosigkeit vor allem junger tige Typen in der Politik?
Leute. Wer jetzt Europa verteidigt, der ver- Harris: Ja, wo ist ein Roosevelt, wo wenigs-
teidigt das zwangsläufig mit. Und da haben tens ein Tony Blair? Natürlich machen man-
Der Historiker Robert Gerwarth wir wirtschaftliche Verunsicherung, Terro- che Medien das politische Leben schwer.
analysiert die Ursprünge des rismus und Migration nicht einmal erwähnt. Das wird ja immer schlimmer: Wir hinter-
SPIEGEL: Aber für viele der Probleme, die lassen über die sogenannten sozialen Netz-
Faschismus in den europäischen Wirren
Sie ansprechen, ist Europa doch die einzig werke eine leuchtende Spur in unsere Ver-
nach 1918 und erklärt, warum sinnvolle Antwort. Warum fällt es so gangenheit, das wird alles durchforstet. Vie-
gerade in Italien und Deutschland schwer, das zu vermitteln? le große Politiker früher hatten schwere
brutale Diktatoren die Macht eroberten. Harris: Viele Bürger neigen dazu, Stabilität charakterliche Mängel, sie waren Alkoholi-
und Sicherheit als selbstverständlich anzu-
Die Fragen stellen die SPIEGEL- sehen. Und manche langweilt das offenbar,
Redakteure Uwe Klußmann und sie wollen was Neues ausprobieren, daher
wächst die Bereitschaft, Institutionen wie
HORST A. FRIEDRICHS / DER SPIEGEL

Dietmar Pieper.
die EU kaputt zu machen. Was machte
Hitler anfangs so anziehend? Ich will es
Dienstag, 6. Juni 2017, 20 Uhr Ihnen sagen: Er hatte Flaggen, Aufmärsche,
Trommeln. Es gab Aufregung, Spannung,
Bucerius Kunst Forum, etwas anderes als alte Männer im Smoking,
Rathausmarkt 2, 20095 Hamburg die rumsaßen und laberten. Doch wenn
wir mit unserer Demokratie spielen, geht
Tickets sind im Bucerius Kunst Forum und in allen das nicht zu unseren Gunsten aus. Harris, SPIEGEL-Redakteure*
bekannten Vorverkaufsstellen erhältlich. Die SPIEGEL: Wie werden die Brexit-Verhand- „Irgendwie durchwursteln“
Eintrittskarte (10 Euro/8 Euro) berechtigt am lungen laufen, werden da möglicherweise
Veranstaltungstag zum Besuch der Ausstellung uralte Feindschaften wieder wach? ker, Frauenhelden, manches Mal korrupt,
„Max Pechstein. Künstler der Moderne“ Harris: Die Verhandlungen werden gleich aber: Sie waren auch große Persönlichkei-
(20. Mai bis 3. September 2017). am Anfang zusammenbrechen, da bin ich ten. Heute gibt es nur noch Anpasser und
Die Ausstellung ist am Veranstaltungsabend von mir sicher. Es ist wie in einer Beziehung: Leisetreter. Vielleicht begeistern sich auch
19 bis 19.45 Uhr exklusiv für Veranstaltungsgäste Ein Wort gibt das andere, man streitet, und deshalb so viele Leute für so zweifelhafte
geöffnet. Änderungen vorbehalten. am Ende hat das mit Rationalität nichts Figuren vom Kaliber eines Berlusconi oder
mehr zu tun. Ich bin gerade 60 geworden, eines Trump.
und eine Sache habe ich in meinem Leben SPIEGEL: Wir trauen uns jetzt kaum noch
gelernt: Politiker, die das Sagen haben, wis- zu fragen, aber: Wie würde er denn nun
BUCERIUS sen nicht, was sie tun. Sie hangeln sich enden, Ihr Brexit-Roman?
K U N S T durch, von Tag zu Tag, wie wir alle. Wir Harris: Ein Happy End ist wohl ausgeschlos-
FORUM haben da diesen neuplatonischen Wunsch, sen. Eine Katastrophe aber wohl auch. Am
Politiker sollten weise, alte Herren – oder wahrscheinlichsten ist, dass wir uns irgend-
Damen – sein. Nichts davon ist wahr. wie durchwursteln. Das ist etwas klassisch
Britisches.
* Peter Müller und Jörg Schindler vor Harris’ Wohnsitz SPIEGEL: Herr Harris, wir danken Ihnen für
in Kintbury westlich von London. dieses Gespräch.
122 DER SPIEGEL 22 / 2017
HANNES HUBACH / X-VERLEIH
Szene aus „In Zeiten des abnehmenden Lichts“: Defilee für die Arbeiterklasse

Auch der Film spielt weitgehend in einem Haus, dem


von Wilhelm und Charlotte, einer Villa am Rande Berlins.
Aber es ist sehr hell, in fast jeder Einstellung fällt das
Licht durch die Fenster auf die Gesichter. Die letzten Tage
der DDR wirken wie eine Zeit, in der das Licht abnimmt,
Ein Tag im Oktober aber neue Möglichkeiten aufscheinen.
Das Haus ist ein Museum der Utopien und Träume. Ar-
beiterbilder an den Wänden, im Regal die Bände von
Kinokritik Wolfgang Kohlhaase und Matti Marx und Engels, dazwischen ein Leguan, den Wilhelm
in Mexiko mit eigenen Händen gefangen haben will.
Geschonneck verfilmen Eugen Ruges Charlotte hat einen Wintergarten anlegen lassen, mit
Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“. exotischen Pflanzen. Das Mexiko, das sie liebte, hat sie
Kinostart: 1. Juni nun zu Hause. Ein schöner, trauriger Sehnsuchtsort. Der
Film kann ein halbes Jahrhundert in einem Tag verdichten,

A
m Ende passt der Mensch in eine Kiste und sein weil er Lebenszeit verräumlicht.
Leben in eine Schachtel. Wilhelm Powileit hebt Nach und nach kommen Wilhelms Gäste, gehen über
mit seinen von Altersflecken übersäten Händen die Flure, öffnen die Türen und treten in den Garten. Eine
den Deckel eines Pappkartons hoch und betrachtet die junge Frau sagt, dass sie lieber bleiben möchte, statt in
vielen Orden darin. Er ist ein Held des Sozialismus, in den Westen zu gehen. Ihr Blick fällt auf einen Stasimann,
Ostberlin wurde eine Brigade nach ihm benannt. Heute der sie vom anderen Ende des Gartens aus beobachtet.
wird er 90. Es ist der 1. Oktober 1989. Als Wilhelm der Große, der rote Patriarch, auf seinem
Die Zeitung bringt einen Text über ihn: „Ein Leben für Sessel Platz nimmt, um seine Gäste zu begrüßen, geht
die Arbeiterklasse“. Wilhelm legt ihn zu einem vor Jahren der Tag den Jahrhundertweg. Schon halb im Dunkel der
erschienenen Gedenkartikel. Wilhelm (Bruno Ganz) war Demenz versunken, überstrahlt Wilhelm alle, die vor ihm
damals noch viel jünger und sein Haar noch dunkel. Die defilieren, mit jähen Geistesblitzen, die Parteigenossen,
Überschrift war die gleiche: „Ein Leben für die Arbeiter- den Abschnittsbevollmächtigten, die Nachbarn, die er aus
klasse“. Dann muss es wohl stimmen. dem Haus weist, weil ihr Sohn rübergemacht hat.
„In Zeiten des abnehmenden Lichts“, Regie: Matti Ge- Alle ahnen, dass der sieche Jubilar, um den es hier wirk-
schonneck, Drehbuch: Wolfgang Kohlhaase, ist die Verfil- lich geht, der Kommunismus ist. Der Kehraus hat schon
mung von Eugen Ruges gefeiertem Wenderoman aus dem begonnen, bevor die ersten Gäste kommen, der Kater
Jahr 2011. Nein, es ist keine Verfilmung. Es ist eine De- schon eingesetzt, bevor das erste Glas getrunken ist. Der
konstruktion. Eine Unverschämtheit. Ein Hasardeurstück, Film fängt diese Untergangsstimmung mit scharfem Blick,
vorgetragen mit beglückender Chuzpe. bösem Humor und einer gewissen Melancholie ein.
Ruges Roman ist ein Epos über einen sozialistischen Jedes Geräusch, das Kratzen eines Rasierers auf der
Familienclan, in dem Wilhelm so etwas wie der Pate ist. Haut oder das Schlucken von Wasser, ist überlaut. Wie in
Wilhelm flieht im Zweiten Weltkrieg mit seiner Frau Char- Ruges Roman wirken die Geräusche als letzte Lebens-
lotte (im Film: Hildegard Schmahl) vor den Nazis nach äußerungen einer Welt, die bald vergangen sein wird.
Mexiko, sein Stiefsohn Kurt (Sylvester Groth) kommt mit Auch die Kamera bewegt sich behutsam durch diese Welt.
seinem Bruder in sowjetische Gefangenschaft und kehrt Einmal gerät sie aus dem Gleichgewicht. Eine Frau
erst Mitte der Fünfzigerjahre in die DDR zurück. stürmt ins Haus und verkündet, dass Wilhelms Enkel Ale-
Das Buch umspannt fast fünf Jahrzehnte. Ein Großteil xander in den Westen geflohen ist. Die Stimmung des
der Handlung spielt in Ostberlin, ein entscheidender Teil Films verändert sich jäh, es wird dunkel, auf einmal spre-
in Mexiko. Der Film macht daraus eine Momentaufnahme, chen die Menschen lieber hinter verschlossenen Türen.
einen brillanten Jahrhundert-Schnappschuss: die Feier Langsam macht sich die Gewissheit breit, dass kaum einer
zum 90. Geburtstag eines verdienten Helden. an diesen Ort zurückkehren wird. Lars-Olav Beier
Das Buch beginnt 2001 mit dem demenzkranken Kurt,
der von seinem Sohn Alexander besucht wird. Der wie- Video: Ausschnitte aus
derum hat gerade erfahren, dass er unheilbar an Krebs er- „In Zeiten des abnehmenden Lichts“
krankt ist. Kurts Haus wird beschrieben wie eine Gruft. spiegel.de/sp222017kritik
So was kann man gut lesen. Anschauen will man es nicht. oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 22 / 2017 123


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124 DER SPIEGEL 22 / 2017


Nachrufe
NICKY HAYDEN, 35
Es gehörte zu seinem Job, mit
qualmenden Reifen und in
spektakulären Schräglagen
über die Rennpisten zu rasen.

GLOBE PHOTOS / INTERTOPICS


Manchmal flog er von seiner
rund 250 PS starken Maschi-
ne, landete im Kiesbett und
dann im Krankenbett, wo er
lächelnd Selfies machte. Der
Motorradrennfahrer Nicky
Hayden, der bei 218 Läufen
in der MotoGP-Serie an den M. Rumbough Jr, machten
Start ging und 2006 Welt- Merrill zu einer der reichsten

ACTION PRESS
meister wurde, betrachtete Frauen im Filmgeschäft. 1989
das Risiko als Teil seines kaufte sie das Studio RKO
Berufs, sein Motto lautete: Pictures. Die liberale Republi-
„Wer nicht wagt, der nicht kanerin engagierte sich in der
ROGER MOORE, 89 gewinnt.“ Seine Unfälle in Politik und unterstützte meh-
Eigentlich stand er immer ein gutes Stück neben James der Rennserie überstand er rere Stiftungen. Dina Merrill
Bond, den er zwischen 1973 und 1985 in sieben Filmen glimpflich, jetzt traf den US- starb am 22. Mai in East
spielte. Der Engländer betrachtete den Superagenten 007, Amerikaner ein vergleichs- Hampton, New York. kle
Inbegriff der Männlichkeit, mit sichtbarem Amüsement, weise alltägliches Unglück im
während er ihn verkörperte. Das hatte etwas berückend Straßenverkehr. Auf einer STANLEY GREENE, 68
Lässiges. Bevor er die 007-Rolle erstmals übernahm, Fahrradtour in der Nähe von „Fotografie ist meine Sprache,
in „Leben und sterben lassen“, war Moore durch die TV- und sie gibt mir die Möglich-
Serien „Simon Templar“ und „Die 2“ zu einem Fernseh- keit, etwas zu erzählen, was
star geworden. Er war ein großer Ironiker; wenn man mit sonst nicht erzählt wird“, sag-
ihm sprach, hatte man das Gefühl, dass er nichts ernst te Greene einmal. Er gehörte
nahm, vor allem nicht sich selbst. Moore spielte mehr als zu den bekanntesten Kriegs-
eine Rolle, er verkörperte eine Lebenshaltung. Nachdem fotografen seiner Generation

MANU FERNANDEZ / AP
ihn Bond zu einem reichen Mann gemacht hatte, schränkte und sah seinen Job darin, den
er die Schauspielerei stark ein und engagierte sich für Zeitungsleser wachzurütteln –
Unicef. Er habe im Grunde nur zwei Gesichtsausdrücke ge- mit Aufnahmen, die dicht
habt, scherzte er später gern. Ganz unrecht hatte er nicht. dran und brutal ehrlich wa-
Moore, der auch in Actionfilmen wie „Die Wildgänse kom- ren. Einige der Kriegsfotos,
men“ (1978) den zigarrerauchenden Mr. Cool gab, bewies, die er in Afghanistan, Tsche-
dass es in der Schauspielerei nicht auf Vielseitigkeit an- Rimini prallte er mit einem tschenien und Irak machte,
kommt. Ein Star wird man nicht, weil man alles spielen Auto zusammen. Von den waren so schockierend, dass
kann, sondern weil man in einem Bereich besser ist als alle schweren Kopfverletzungen niemand sie drucken mochte.
anderen. Moore machte aus Bond einen Mann, der nichts erholte er sich nicht mehr. Ni- Als Teenager war Greene,
mehr beweisen muss und alles genießen kann – das schaff- cky Hayden starb am 22. Mai aufgewachsen in New Ro-
te kein Bond-Darsteller so wie er. Roger Moore starb am im italienischen Cesena. le chelle, bei der Black-Panther-
23. Mai im schweizerischen Crans-Montana an Krebs. lob Bewegung gewesen. In den
DINA MERRILL, 93 Siebziger- und Achtzigerjah-
Am besten gefiel der in Palm ren dokumentierte er die
GUNNAR MÖLLER, 88 Beach herangewachsenen Mil- Punk-Szene in San Francisco,
Seine berühmteste Rolle lionärstochter an der Schau- bevor er zum Fotojournalis-
hatte der Schauspieler spielerei, dass sie dabei „eine
schon am Anfang seiner Zeit lang das Leben von ande-
Karriere: als verliebter ren Leuten führen“ konnte.
Student Andreas an der Tatsächlich aber gab sie auch
MICHAEL KAMBER / POLARIS / LAIF

Seite von Liselotte Pulver in den mehr als 30 Kinofil-


1955 in dem Lustspiel men, die sie drehte, die coole,
„Ich denke oft an Pirosch- gebildete Frau aus gutem
DPA

ka“. „Eigentlich hätte ich Hause. Ihre Filmpartner wa-


nur den einen Film dre- ren so bekannte Schauspieler
hen müssen“, sagte er, „alle anderen Filme mit mir sind in wie Robert Mitchum, Burt
Vergessenheit geraten.“ Dazu zählen „Hunde, wollt ihr Lancaster, Cary Grant oder
ewig leben“ (1959), „Nacht fiel über Gotenhafen“ (1960), Tony Curtis, sie spielte in Fil-
„Oktoberfest“ (2005) und Margarethe von Trottas „Die men wie „Eine Frau, die alles mus wechselte. Neben vielen
abhandene Welt“ (2015). Außerdem wirkte Möller weiß“ (1957), „Unternehmen anderen Auszeichnungen,
in TV-Serien wie „Das Rätsel der Sandbank“ und „Tatort“ Petticoat“ (1959) oder „Die auch für seine Fotobände,
mit. Schlagzeilen machte er 1979: Möller erschlug im jungen Wilden“ (1961). Das erhielt Greene fünfmal den
Affekt seine Frau. Er wurde zu fünf Jahren Haft verur- elterliche Erbe und das Geld World Press Photo Award.
teilt, aber bereits nach gut zwei Jahren entlassen. Gunnar ihres ersten Mannes, des Col- Stanley Greene starb am
Möller starb am 16. Mai in Berlin. kle gate-Palmolive-Erben Stanley 19. Mai in Paris. kle
DER SPIEGEL 22 / 2017 125
Mühevoller
Beginn
Der britische Musiker Ed Sheeran,
26, hat als Kind gestottert und
konnte – so erzählt er es zumin-
dest – beim Singen keine Melo-
die halten. Er war neun Jahre
alt, als ihm sein Onkel eine CD
des amerikanischen Rappers
Eminem schenkte. Sheerans El-
tern hatten keine Ahnung, was
auf dem Album zu hören war,
sie wussten nicht, dass Eminems
Texte wütend und direkt sind
und das Wort „fuck“ darin kei-
ne unwesentliche Rolle spielt.
Der kleine Ed war beeindruckt:
„Wenn du neun Jahre alt bist
und jemand erzählt derbe Sa-
chen, willst du das auch können.
Also lernte ich es.“ Sheeran
versuchte, Schritt zu halten mit
Eminem, der seine Texte in
beachtlichem Tempo herunter-
rattert, und verlor so sein Stot-
tern: „Das war meine Sprach-
therapie.“ Als er etwa 16 war,

DAVID LEVENE / EYEVINE / PICTURE PRESS


klappte es dann auch mit den
Melodien. Zehn Jahre, zwei
Grammys, zwei Echos und zahl-
reiche andere internationale
Auszeichnungen später hängt
heute sogar ein gemaltes Porträt
des Sängers in der National
Portrait Gallery in London. clv

Im Licht gen sollten. Obendrein sei


der Mann sexistisch. Als
Seit seiner Ernennung zum Beleg dient auch sein Buch
Premierminister durch den „Dans l’ombre“ („Im Schat-
neuen Präsidenten Emma- ten“), das er 2011 gemeinsam
nuel Macron richten sich in mit seinem Parteifreund
Frankreich alle Augen auf Gilles Boyer geschrieben hat.
ihn – und der Mann ist tat- „Marilyn hat kleine Brüste.
sächlich nicht zu übersehen: Normalerweise mag ich das
Edouard Philippe, 46, ein 1,90 nicht. Eine richtige Brust ist
Meter großer, konservativer rund, sie ist komfortabel und
Politiker mit Vollbart. Der einladend, sodass man seine
Hobbyboxer und Autor poli- Nase mit Jubel darin vergra-
tischer Thriller soll Macrons ben kann“, sagt darin der
Wahlversprechen umsetzen. Protagonist, der Frauen als
Doch Organisationen wie „Trophäen“ sieht. Unbeirrt
„Osez le féminisme“ („Wagt von der Kritik an seinem
den Feminismus“) beschwe- literarischen Schaffen will
ren sich: Philippe habe sich in Philippe seine Schriftsteller-
JOEL SAGET / AFP

der Vergangenheit stets ge- karriere fortsetzen, wahr-


gen Gesetze ausgesprochen, scheinlich erscheint im Sep-
die Frauenrechte voranbrin- tember sein neues Buch. pe

126 DER SPIEGEL 22 / 2017


Personalien
Stehaufmännchen gion zu werben. So ein Exem-
plar habe ihm noch gefehlt,
Der ehemalige Boxstar Axel kommentierte der ehemalige
Schulz, 48, bekannt für seine Schwergewichtsboxer die
leutselige Art, hat ein einzig- Übergabe eines Gürtels mit
artiges Ehrenamt übernom- der Aufschrift „1. Branden-
men: als Bierbotschafter des burger Bierbotschafter“. Bier-

HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL


Landes Brandenburg. Seine trinken bezeichnete er als
Aufgabe besteht darin, für sein Hobby, dabei hatte sich
die bundesweit eher unbe- Schulz zuletzt eher gesund-
kannten Biersorten der Re- heitsfördernd betätigt. Als
Unterstützer einer jährlichen
Parkinson-Gala verkauft er
Tombolalose, sucht gern das
direkte Gespräch mit Parkin-
sonkranken und erinnert an
seine Erfahrungen als Boxer. Der Augenzeuge
Auch wenn man zu Boden
gehe, könne man immer wie- „Schwer erträglich“
RALF HIRSCHBERGER / DPA

der aufstehen, lautet seine


Botschaft – eine Lebensweis- Der Theologe Reinhard Schott, 61, hatte sich für eine ägyp-
heit, die Schulz nun auch als tische Familie eingesetzt, die in Ludwigshafen Kirchenasyl
Bierbotschafter verbreiten erhielt. Als die koptischen Christen dennoch abgeschoben
kann. stb wurden, war Schott, Integrationsbeauftragter der Evangeli-
schen Kirche der Pfalz, doppelt enttäuscht: von der Aus-
länderbehörde – und von der Familie, die ihren Helfern nicht
die Wahrheit gesagt hatte.
Pfeffrig oder lau?
„Juristisch war die Familie schon seit September 2016
Das spektakuläre Hollywoodpaar Angelina Jolie, 41, und Brad ausreisepflichtig: ein 32-jähriger Vater, seine 26-jährige
Pitt, 53, lebt in Trennung; hässliche Szenen sollen sich abge- Ehefrau und ihr 6-jähriges Kind. Das Bundesamt für
spielt haben; vor Kurzem keimte Hoffnung, ein Happy End Migration und Flüchtlinge hatte deren Asylantrag abge-
sei doch noch möglich. Jedenfalls kann sich der Betrachter ein lehnt. Anschließend legte der Vater aber noch weitere
Beziehungsdrama erster Güte ausmalen. Doch die beiden Papiere vor, Haftbefehle. Auf denen stand, dass er in
Schauspieler produzieren nicht nur emotionale, sondern auch Ägypten gesucht werde, unter anderem wegen christ-
kulinarische Höhepunk- licher Missionierung und Teilnahme an einer Demonstra-
te. Das befand jeden- tion. Es war umstritten, ob es sich um echte Papiere
falls der französisch- handelte oder nicht. Trotz dieser Unklarheit wollte die
amerikanische Spitzen- Verwaltung im Landkreis Birkenfeld, wo die Familie
koch Justin Kent bei wohnte, die Abschiebung schnell vollziehen.
einer Blindverkostung Kurz vor Ostern flüchtete die Familie in die evange-
des neuen Olivenöls lische Stadtmission in Ludwigshafen. Es ging darum, Zeit
aus dem Hause Pitt-Jo- zu gewinnen, um die Sache zu klären. Ich habe sofort
lie: Es schmecke nach an die Botschaft in Kairo und an das Auswärtige Amt
Spuren von Basilikum geschrieben, mit der Bitte, die Papiere zu überprüfen.
und Zitrone und biete Aber die Verwaltung im Kreis Birkenfeld wollte nicht so
einen würzigen, „fast lange warten. Die Polizei holte die Familie am 9. Mai um
pfeffrigen“ Abgang. 6.45 Uhr aus den Gemeinderäumen, bevor das Ergebnis
Das kalt gepresste Öl vorlag. Das kam dann am selben Tag kurz vor 17 Uhr
stammt von Brangeli- bei der Ausländerbehörde in Ludwigshafen telefonisch
nas Weingut Château an. Schriftlich lag mir die Mitteilung erst am Mittag des
Miraval nordwestlich folgenden Tages vor.
von Saint-Tropez. Der Ich gebe zu, dass ich davon auch enttäuscht war: Die
Küchenchef des legen- Haftbefehle waren eine Fälschung, sagt das Auswärtige
dären Pariser Restau- Amt. Das war schon ein Vertrauensbruch, der Vater hat-
rants Le Chateaubriand, te uns versichert, sie seien echt. Aber kann ich ihm wirk-
Iñaki Aizpitarte, hin- lich einen Vorwurf machen? Was würde man selbst in so
gegen hält den Ge- einer Situation tun, wenn es darum geht, sein Kind und
schmack für lau, die seine Familie zu schützen? Kopten leben sehr gefährlich
Farbe sei zwar schön, in Ägypten, sie werden verfolgt, manche ermordet. Es ist
NIVIERE / LORENVU / NIKO / SIPA

doch er vermisst „die schwer erträglich, dass sie dorthin abgeschoben werden.
Frische der Region“. Ich kann nur alle Behörden bitten, wenigstens so lange
Mit 57 Euro pro Liter damit zu warten, bis wirklich alle Zweifel an den forma-
sei das Öl völlig über- len Abschiebungsgründen zerstreut sind. In diesem Fall
teuert, sind sich die Cannes 2007 wären es ja nur ein paar Stunden gewesen.“
Gourmets einig. ks Aufgezeichnet von Matthias Bartsch

DER SPIEGEL 22 / 2017 127


„Wie bescheuert ist die Menschheit, sich komplett einer seelenlosen
Elektronik auszuliefern, die weltweiten Schaden anrichten kann.“
Erich Janoschek, Kaiserslautern

Faulheit, Desinteresse, Geiz wäre jedoch in nur lokal austauschbaren


Speicherkarten fest eingebrannt und ließe
Dass er die Demokratie stärken könnte,
wage ich zu bezweifeln. Man sollte „NS-
Nr. 21/2017 Der Feind in meinem Rechner – Wie Hacker sich nicht durch den Download von Schad- Devotionalien“ entfernen. Schon bricht der
die Welt attackieren. Wie wir uns schützen können
software manipulieren. Darüber hinaus Bildersturm los, ohne Ansehen der Person.
„WannaCry“ wäre mal ein Anlass für den sind einfache Endgeräte ohne Betriebssys- Da wird das Bild von Kurt von Hammer-
Staat, sich als politischer Akteur zurück- tem viel leichter zu verwalten. Hier liegt stein-Equord abgehängt, nur weil die „Ex-
zumelden. Es sollten für alle – Hersteller, auch eine große Chance für die deutsche perten“ eine Reichswehruniform nicht von
Vertreiber, Netzbetreiber und Anwender – beziehungsweise europäische Industrie, einer Wehrmachtuniform unterscheiden
Pflichten festgelegt werden und Pflichtver- welche ja in Sachen IT-Infrastruktur bisher können. Und nun wird auch das Liederbuch
letzungen mit Strafen belegt werden. Sie wenig zu bieten hat. „Kameraden singt“ verboten. Was ist tra-
schreiben sehr deutlich, dass der Angriff Gerhard Schwartz, Frankfurt am Main ditionsstiftend? Da hört man außer hölzer-
durchaus abgewehrt werden konnte, und nen Theorien und der Berufung aufs Grund-
zwar ohne unzumutbar hohen Aufwand. gesetz nix Handfestes. Aber der „einfache“
Bleiben als Gründe für die Verwundbar- Soldat braucht eine Corporate Identity. Was
keit Faulheit, Desinteresse und Geiz. ist das Ergebnis? Man kann es immer wie-
Achim Bock, Röhrmoos (Bayern) der sehen: selbst gebastelte „Traditionen“
mit höchst bedenklichem Ursprung.

POLARIS / STUDIO X
Betroffen sind ausschließlich Computer, Friedrich Windeck, Schöneiche b. Berlin (Brandenburg)
die mit Microsoft Windows Betriebssyste-
men ausgerüstet sind. Es gibt aber andere Um die Nähe von Teilen der Bundeswehr
Betriebssysteme, die so gut wie unangreif- zur Wehrmacht einzudämmen, nutzt es
bar sind, sogar kostenlos und ständig, oft Nachricht der Erpressersoftware „WannaCry“ wenig, die Kasernen nach Devotionalien
täglich, mit Updates versorgt werden. abzusuchen. Die Soldaten und auch Gleich-
Hans Mende, Hamburg Das Problem ist doch die falsche Denke. gesinnte können sich doch im Fernsehen
Wir müssen davon ausgehen, dass alle Sys- stundenlang entsprechend berieseln lassen.
Bei Ihren Empfehlungen zum Schutz der teme grundsätzlich angreifbar sind. Also Herbert Gros, Röttenbach (Bayern)
persönlichen Daten vergessen Sie ein we- müssen wir alle Daten bereits am Ursprung
sentliches Element: die Wahl des Betriebs-
systems. Linux, insbesondere Ubuntu, ist
verschlüsseln. In Kombination mit einer
ausgefeilten Endpoint Security laufen
Fetisch Wirtschaftswachstum
seit Jahren auch für Computerlaien sehr danach alle Attacken ins Leere. Wo der Nr. 20/2017 Die Globalisierung ist
in der Kritik – es braucht ein neues Leitkonzept
gut zu verwenden. Mangels Angriffen ent- Angreifer nur noch einen unlesbaren
fällt der ganze Aufwand für Virenschutz Datensalat sieht, weiß er nicht mehr, wo Der Beitrag gibt Denkanstöße, hält aber
etc. Für mich gilt seit Windows Vista sor- er rangehen soll. Diese Endpoint Security mehr Wachstum offenbar für eine gute
genfreies Computern mit Ubuntu. Micro- verhindert das Eindringen von unbekann- Sache, ohne zu erwägen, dass das Wirt-
soft nutzt weiterhin alle Möglichkeiten, die ten, unverschlüsselten Daten jedweder Art. schaftswachstum, ein Fetisch des 20. Jahr-
angreifbare Windows-Monokultur zu er- Cassian Felix Corzilius, Berlin hunderts, für viele Probleme verantwort-
halten. Selbst schuld, wer da mitmacht. lich ist – nicht zuletzt für den Klimawandel,
Frank Scholz, Blowatz (Meckl.-Vorp.)
Vorschriften sind für Dumme auf den die Welt zusteuert und der die Zi-
vilisation, wie wir sie kennen, auslöschen
Die heutigen IT-Marktführer und das sie Nr. 20/2017 Der Fall um die Terrorgruppe von Illkirch könnte. Wir sind die erste Generation, die
weitet sich aus
umgebende Ökosystem sind aus vielerlei seine Folgen zu spüren bekommt, und die
Gründen nicht wirklich daran interessiert, Die Entfernung des Bildes von General- letzte, die noch etwas dagegen unterneh-
eine grundlegende Verbesserung herbei- oberst a. D. Kurt von Hammerstein- men kann. Allmählich schließt sich das Zeit-
zuführen; sie verdienen lieber weiterhin Equord, einem entschiedenen Gegner des fenster, in dem wir noch handeln können.
viel Geld mit unzulänglicher Technik so- Nationalsozialismus, im Offiziercasino in Sonja Schuhmacher, Weiden (Bayern)
wie fragwürdigen Zusatzprodukten und Munster spricht für eine aktionistische,
Dienstleistungen, welche zwar Sicherheit oberflächliche, unhistorische und unreflek- Aus Ingenieurssicht ist das nötige Leitmotiv
versprechen, diese aber nicht gewährleis- tierte Vorgehensweise der Verantwort- vollkommen klar: mittelfristig ausgegliche-
ten können. Im Übrigen wollen die Ge- lichen. Ich empfehle denen das Buch ne Leistungsbilanzen. So entstehen weder
heimdienste natürlich auch weiterhin elek- „Hammerstein oder der Eigensinn“ von Überschuldung und übermäßige Arbeits-
tronisch spionieren. Die Gesellschaft Hans Magnus Enzensberger. Wohl wahr losigkeit in Defizitstaaten noch Wohlstands-
braucht jedoch sichere und zuverlässige ist im Kontext dieses „Bildersturms“ das abflüsse, wie sie in Deutschland derzeit
digitale Systeme. Ein wichtiger Schritt hier- Wort Kurt von Hammersteins: „Vorschrif- beim Prekariat zu beobachten sind. Aus-
für wäre die Einführung einfacher und ten sind für die Dummen.“ geglichene Leistungsbilanzen sind leicht er-
sicherer Endgeräte ohne Betriebssystem. Dr. phil. Otto-Eberhard Zander, Göttingen reichbar, wenn sich alle Notenbanken da-
Als „Browser-Terminal“ böten sie zwar rauf einigen. Wenn diese auch das Zinsni-
alle gewohnten Funktionalitäten und wür- Da ist er wieder, dieser an der Karriere ori- veau dauerhaft niedrig genug halten, wer-
den sich nach außen nicht von einem ge- entierte beflissene vorauseilende Gehor- den die Unternehmen wieder investieren,
wohnten PC beziehungsweise Smartphone/ sam. Der hat das NS-System starkgemacht, und Vollbeschäftigung stellt sich ein.
Tablet unterscheiden, ihre Funktionalität der hat die militaristische DDR gestärkt. Dr. Thomas Fehn, Herzogenaurach (Bayern)

128 DER SPIEGEL 22 / 2017


Briefe

Die Postenkleber Ich kenne viele evangelikale Gemeinden,


die Flüchtlingsarbeit betreiben. Soweit
Nr. 20/2017 Wie die SPD-Spitze die verlorene Begeiste-

BARBARA SUPP / DER SPIEGEL


Christen dort Ängste haben, wird auf die
rung für den Kanzlerkandidaten neu entfachen will
Bibel, die eine Ausgrenzung von Fremden
Nein, es ist keineswegs nur ein Versagen ablehnt, verwiesen. Der Islam in seiner ra-
von Ministerpräsidenten. Das Problem ist dikalen Ausprägung wird zwar abgelehnt,
die Konturlosigkeit der SPD insgesamt. aber den Muslimen wird, wie allen ande-
Wer immer nur in einer Koalition mit der ren, die Liebe Jesu entgegengebracht.
Martin-Schulz-Anstecker Union ins Bett geht, braucht sich nicht zu Gerd Warkentin, Augsburg
wundern, wenn die Abkömmlinge noch
Roter Tiger am ehesten zur Mutter CDU ausgerichtet
sind. Die Beischlafsjäger und Postenkleber
Fliegende Autos
Nr. 20/2017 Reise ins Innere der deutschen bei der SPD führen zu einer Degeneration Nr. 20/2017 Was taugen schlaue Assistenzsysteme
Sozialdemokratie im Auto? Eine Testfahrt
dieser geschichtlich grundsoliden Partei.
Kein Wunder, dass den Sozialdemokraten Gerhard Reintzsch, Bonn Selten so gelacht. Was für eine Narretei
so langsam die Beschönigungen für ihre der Technikgläubigen.
Wahlschlappen ausgehen. Und schuld da- Sollte es wirklich Politiker geben, die glau- Alfred Rudolph, Duisburg
ran ist ausgerechnet der Mann, der mit der ben, ihr Getöse würde mich veranlassen,
richtigen Themensetzung wieder Begeis- dem lautesten meine Stimme zu geben? Der Artikel hat treffend aufgezeigt, dass
terung im linken Lager auslöste – Martin Mich schreckt der Weihrauch um Schulz ab. das Automobil nicht für so weitreichende
Schulz. Wenn der rote Tiger am Ende nicht Siewert Brandt, Hamburg elektronische Eingriffe geeignet ist. Aber
als Bettvorleger landen will, sollte er es wäre schon möglich, die automatische
schnellstens begreifen, dass er mit bloßen
Absichten und Ankündigungen nicht viel
Von Generation zu Generation Geschwindigkeitsregelung und die Über-
holverbotskontrolle für alle verbindlich zu
reißen wird. So langsam beschleicht die Nr. 20/2017 Die Regierung vernachlässigt machen. Es gäbe schlagartig wesentlich
die Probleme der Kinder psychisch kranker Eltern
Bürger das Gefühl, dass auch dieser Kan- weniger Gefahr im Straßenverkehr. Dazu
didat sich alle Türen für die Zeit nach der Seit 25 Jahren arbeite ich in einer Fach- müsste aber das Auto von seiner Rolle als
Bundestagswahl offen halten will, bis hin klinik für suchtkranke Frauen und Mütter prestige- und emotionsgeladenes Objekt
zu einer weiteren Großen Koalition. Und mit Kindern. Unsere Klientel vereint alle wieder heruntergeholt werden zu einem
weil die Gefahr besteht, dass wieder nur Probleme dieses Personenkreises. Die Ju- reinen Gebrauchsgegenstand.
faule Kompromisse herauskommen, könn- gendämter sind meistens völlig überfor- Elmar Mostegl, Koblach (Österr.)
ten viele, die große Hoffnungen in diesen dert, sowohl fachlich als auch finanziell.
Mann setzten, sich nun schwer enttäuscht Daher steigert sich die Problematik von
abwenden. Dann aber wohl für eine sehr, Generation zu Generation, wenn auch
sehr lange Zeit. Martin Schulz muss jetzt nicht exponentiell, so doch extrem. Dass

JON FRICKEY FÜR DEN SPIEGEL


beweisen, dass er es ernst meint mit seiner dem so ist, führe ich auf die nicht vorhan-
völlig richtigen Forderung nach mehr Ge- dene Lobby zurück.
rechtigkeit bei uns. Dazu gehört aber et- Mayka Holst, Psychotherapeutin, Wegscheid (Bayern)
was, was zuletzt ausgerechnet seine direk-
te Gegenspielerin – Angela Merkel – 2015 Wenn Sie schreiben, dass eine zentrale An-
auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsdramas laufstelle für betroffene Familien in der
bewies: Courage. Stadt fehle, dann übersehen Sie die flächen-
Peter Trauden, Heilbach (Rhld.-Pf.) deckende Versorgung mit Erziehungs- und Wenn wir mit dem Individualverkehr in
Familienberatungsstellen. Für die Kinder die dritte Dimension vorstoßen, wäre eine
Martin Schulz trägt die alleinige Schuld übernehmen sie Funktionen wie Familien- Autopilot-Funktion sinnvoll, wenn nicht
am Niedergang der SPD in diesem Super- gespräche, Anbindung an andere Hilfe- sogar zwingend erforderlich, um ein Chaos
Wahljahr. Da er nicht müde wird, eine systeme, Nachsorge oder Gruppentherapie. zu verhindern. Aber unserem Straßensys-
mögliche Koalition mit der Linken in Aus- Dr. Alexander Lohmeier, Caritas, Traunstein (Bayern) tem mit einem computergesteuerten Fahr-
sicht zu stellen, wenden sich viele SPD- zeugführer beikommen zu wollen ist ein
Stammwähler ab. Noch gravierender ist Seit vier Monaten haben wir das Projekt absoluter Holzweg. Dafür wären eine auto-
jedoch, dass er ständig eine Vertiefung der „Kinder von psychisch belasteten Eltern“. gerechte Stadt und Landschaft erforderlich.
EU fordert mit gemeinsamem Haushalt Dafür sind wir im Kontakt mit Schulen, Ein Albtraum. Riesige Investitionen – wo-
und EU-Finanzminister. Dabei verkennt Kindergärten, Ärzten. Da aber seitens der für? Nur damit die immer größeren Autos
er die Meinung der großen Mehrheit der Betroffenen große Ängste vorherrschen, ist mit diesen Assistenz-Gimmicks am Leben
Bürger Deutschlands. es nicht so einfach, die Kinder zu erreichen. erhalten werden und den Herstellern noch
Sven Becker, Straubenhardt (Bad.-Württ.) Bonny Redelstorff, Dt. Kinderschutzbund, Wedel (Schl.-Holst.) länger Gewinne einbringen können?
Peter Kurt Stock, Heere (Nieders.)
Nicht ohne Mitgefühl führen Sie die ver-
unsicherte Stimmung in der SPD vor: die
Gesinnungsschnüffelei Dass es gelingen wird, dass das automati-
Last der verpflichtenden Vergangenheit, Nr. 20/2017 Der Streit um Flüchtlinge und ein AfD-nahes sche Fahren sicher und bezahlbar ist, daran
Pastorenpaar spaltet eine Brandenburger Gemeinde
die Enttäuschungen der Gegenwart und habe ich große Zweifel.
die trüben Aussichten für die Zukunft – Tratsch, Denunziation und vor allem Ge- Dipl.-Ing. Manfred Meintker, Möhrendorf (Bayern)
das alles zehrt an der politischen Substanz. sinnungsschnüffelei – schlimmer war es
Was die weitere Entwicklung der Sozial- nicht einmal in der verblichenen DDR. Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
demokratie anbetrifft, so stimmt einen Polit-ideologischer Hickhack, der nichts in (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
auch Schulz eher traurig als zuversichtlich. der Kirche zu suchen hat. sowie digital zu veröffentlichen und unter
Ralf Weber, Basel Dirk Jungnickel, Berlin www.spiegel.de zu archivieren.

DER SPIEGEL 22 / 2017 129


Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Die „Tageszeitung“ über das neue,
digitale Produkt aus dem Hause SPIEGEL,
die Abendzeitung SPIEGEL DAILY:
Aus der Onlineausgabe der Neu und gefährlich ist vor allem die
„Rheinischen Post“ Uhrzeit: 17 Uhr. So früh ist keine digitale
Ausgabe einer deutschen Tageszeitung
zu haben, schon gar nicht als wirklich
Aus den „Nürnberger Nachrichten“: abgeschlossenes Produkt, das „einmal
„1976 schrieb er ,Schweig Bub!‘, eine am Tag die Welt anhält“, wie der
Komödie über eine aus dem Ruder lau- SPIEGEL seinen neuen Tagesreport ge-
fende Konfirmationsfeier. Das Volksstück schickt bewirbt. SPIEGEL DAILY holt
wurde allein in Nürnberg über 700 Mal die Pendler ab und vieles, was sich die
gezeigt und in zahlreiche andere Dia- Redaktion dafür ausgedacht hat, klingt
lekte, sowie ins Katholische, übersetzt.“ zwar banal, ist aber doch ziemlich clever
… DAILY hat jedenfalls das Potenzial, die

Das Nachrichten- Branche zu verändern – wenn das Pro-


dukt tatsächlich zündet. Auf den ersten
Blick spricht zumindest einiges dafür.
Magazin Die Fachzeitung „Horizont“ zum
selben Thema:
Aus dem „Traunsteiner Tagblatt“
für Kinder. Die lange Vorbereitungsphase hat sich
gelohnt: Konzept, Layout und Inhalte –
Klaus Püschel, Leiter des Hamburger alles wirkt durchdacht, hochwertig und
Instituts für Rechtsmedizin, stimmig. Die große Frage ist: Finden
zitiert im „Hamburger Abendblatt“: Produkt und Zielgruppe zueinander?
„Jeder Tote muss das Recht
haben, seine Todesursache zu kennen.“ Die „Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung“ dazu:
Damit auch jeder versteht, wie so ein
Zauberding funktioniert, gab es dazu
vorab eine Art Bedienungsanleitung …
Der größte Vorteil der „smarten Abend-
zeitung“ sei es, dass sie „einen Anfang
und ein Ende“ habe, wobei die Abon-
Aktionsgutschein von Rösch Fashion nenten offenbar vor allem für Letzteres
zahlen sollen, Informationen ohne Ende
gibt es im Netz schließlich umsonst.
Es ist ein interessantes Geschäftsmodell –
so lange jedenfalls, bis sich herumspricht,
dass es noch eine billigere Möglichkeit
gibt, so ein Ende zu finden: gar nicht
Aus der „Waldeckischen Landeszeitung“ erst anfangen.

Das „Handelsblatt“ zum SPIEGEL-


Aus dem „Weserspucker“: „,Lassen Sie Bericht „An der Reihe“ über einen
den industriellen Aufschwung und möglichen Wechsel von Bundesbank-
den frühen Weserbergland-Tourismus des Jetzt testen: Präsident Jens Weidmann zur Euro-
19. Jahrhunderts noch einmal Revue päischen Zentralbank (Nr. 21/2017):
passieren und beenden Sie Ihre Zeitreise „Dein SPIEGEL“ digital
im 20. Jahrhundert, als die national- Mehr Infos unter Hinter vorgehaltener Hand heißt es
sozialistischen Reichserntedankfeste www.deinspiegel.de/info in Berlin: Wenn es nach Merkel und
auf dem Bückeberg bei Hameln bis Schäuble geht, dann ist die Zeit reif für
zu eine Million Menschen anzogen‘, freut einen Deutschen an der EZB-Spitze.
sich das Museum auf viele Besucher.“ Weidmann sei ein allseits geschätzter
und erfahrener Kandidat, gegen den
kaum jemand etwas einwenden könnte
… „Und ein Deutscher wäre mal dran“,
nachdem zuvor ein Niederländer, ein
Franzose und ein Italiener die EZB
Werbung in einem Baumarkt geführt hätten, so die Überlegung, über
in Hattingen (Ruhr) die zuerst der SPIEGEL berichtet hatte.
130 DER SPIEGEL 22 / 2017
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