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Nr. 47 / 18.11.

2017
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der Türkei drohst?
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Mitten in Deutschland:
Hetze und Einschüchterung im Namen Erdoğans
Dänemark dkr 51,–
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Norbert Blüm über Kohl Reiseunternehmen Flixbus Magersucht


„Er wollte Transportmittel „Diese irre Angst
geliebt werden“ der Bescheidenen vor Kalorien“
Für Kind, Kind, Kind,
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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Abläufe
Meine

Hausmitteilung vereinfachen?
Betr.: Titel, Afrika, Krebs, SPIEGEL BIOGRAFIE
In einem System, das

A ls Redakteurin Katrin Elger


bei einer Veranstaltung der
Erdoğan-nahen Union Europä-
alle verbindet.

isch-Türkischer Demokraten in

MATTHIAS FERDINAND DÖRING / DER SPIEGEL


Hamburg auftauchte, waren die
Organisatoren nicht gerade be-
geistert, boten ihr dann aber
doch höflich Tee und Baklava an.
Sie lernte an diesem Abend viel
darüber, wie Feindbilder entste-
hen können. „In den Augen der
türkischen Regierung ist mittler-
weile jeder eine Bedrohung, der Elger in Hamburg
nicht ihren Kurs einschlagen
will“, sagt Elger. Sie beschreibt in der Titelgeschichte, warum sich viele Er-
doğan-Kritiker auch in Deutschland eingeschüchtert, verfolgt, nicht mehr sicher
fühlen. Auf dem Titelbild zu sehen sind: der Journalist Can Dündar, die Bun-
destagsabgeordnete Sevim Dağdelen, der Grünen-Politiker Cem Özdemir
sowie die Anwältin Seyran Ateș. Seite 40

M
anchmal weiß Bartholomäus Grill,
Korrespondent in Afrika, gar nicht
mehr, wo er anfangen soll. Denn er ist allein
für einen ganzen Kontinent mit 54 Staaten
DANIEL ETTER / DER SPIEGEL

zuständig. Diese Woche schreibt er über


zwei ganz unterschiedliche Schauplätze:
Simbabwe, wo offenbar gerade Präsident
Robert Mugabe gestürzt worden ist, und
die eritreische Hauptstadt Asmara, die
Grill wegen ihrer modernistischen Architektur
zum Weltkulturerbe erklärt wurde. „Das
Einzige, was diese beiden Länder verbindet, sind die Diktatoren an der
Staatsspitze“, sagt Grill. „Es sind alte, machtkranke Männer, die ihre Staaten
ruiniert haben.“ Seiten 86, 134

ie Extra-Beilage von SPIEGEL WISSEN „Diagnose Krebs“ widmet sich den


D Fortschritten in der Krebsforschung sowie neuen Behandlungsansätzen.
Weitere Themen: wie die richtige Ernährung das Krebsrisiko senkt, warum
Früherkennungsprogramme in die Kritik geraten sind und wie Krebspatienten
ihre Sexualität gestalten können.
Die digitalen DATEV-Lösungen vernetzen alle Ge-

S elten fand der Chef des Bundesnachrichtendiens-


tes, Bruno Kahl, so deutliche Worte wie diese
Woche bei einer Rede in München: „Statt eines
schäftspartner mit Ihrem Unternehmen. So schaffen
Sie durchgängig digitale Prozesse und vereinfachen die
Partners für die europäische Sicherheit haben wir Abläufe in Ihrem Unternehmen. Informieren Sie sich
in Russland heute eine potenzielle Gefahr.“ Seit fast im Internet oder bei Ihrem Steuerberater.
zwei Jahrzehnten bestimmt Wladimir Wladimiro-
witsch Putin die Geschicke des flächenmäßig größ-
ten Staates der Erde. Die neue Ausgabe von SPIEGEL Digital-schafft-Perspektive.de
BIOGRAFIE beschreibt anhand von aktuellen Bei-
trägen sowie Texten aus vergangenen Jahren den
politischen Aufstieg des „neuen Zaren“, seine Zeit
als KGB-Mann in Dresden und wie er mit Oppo-
sitionellen umgeht. Das Heft erscheint am Dienstag.

DER SPIEGEL 47 / 2017 5


Firefox.com
Erdoğans langer Schatten
Extremisten In kaum einem anderen Land Europas
hat der türkische Staatschef so viel Einfluss wie
in Deutschland. Seine Appelle an den Nationalstolz
haben mit dafür gesorgt, dass eine identitäre
türkische Bewegung entstanden ist, für die nur
eines zählt: die Treue zur Türkei. Seite 40

ARTON KRASNIQI / DER SPIEGEL


Ryanair auf Rädern
Reisen Der Billigbusbetreiber Flixbus verbin-
det ganz Europa. Von Uppsala nach Lissabon,
von Kiew nach Neapel rollen die Busse auf
Tausenden Strecken jeden Tag. So ermöglicht
das Transportmittel der Anspruchslosen
auch neue europäische Berufsbiografien. Plötz-
lich sind etwa Pendlerleben zwischen
Polen und Deutschland möglich. Seite 58
PETER KNEFFEL / DPA

THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL

Bayerisches Endspiel sein Nachfolger als Parteichef und


Ministerpräsident? Eine Viererbande
Parteien In der CSU naht die Stunde will den Durchmarsch von Finanz-
der Entscheidung: Zieht sich Horst minister Markus Söder verhindern. Wie
Seehofer zurück? Und wer wird dann das gelingen soll, ist unklar. Seite 18

8 Titelbild: Fotos: Anna Weise, Milos Djuric, Adam Berry/Getty Images, Dorothee Deis
In diesem Heft

Titel Ausland
Extremisten Getreue des türkischen Die arabische Welt wird säkularer /
Präsidenten Erdoğan greifen Amerikas Abschied von westlichen Werten 84
Andersdenkende in Deutschland an 40 Simbabwe Der Militärputsch beendet die
Ära von Alleinherrscher Robert Mugabe 86
Deutschland Libanon Die Festsetzung von Premier Saad

MONIKA KEILER / DER SPIEGEL


Hariri in Riad hat das Land geeint 90
Leitartikel Warum Europa sich selbst
verteidigen muss 10 Großbritannien Warum die Brexit-Gegner
plötzlich doch Hoffnung haben, den Austritt
Meinung Im Zweifel links / So gesehen: aus der EU stoppen zu können 92
Ein Herz für Georg Fahrenschon 12
Islamischer Staat Die deutsche Aussteigerin
Berlin und Athen schließen ungewöhnliche Maryam A. erzählt von ihrem Alltag im
Allianz / Kostenexplosion und Terminchaos „Kalifat“ zwischen Bomben und Nutella 94
bei Bundestagsneubau / Mehr Personal im Larissa Sarand
Kampf gegen Cyberkriminalität 14
Parteien Eine Viererbande will den Aufstieg
Sport Sie weiß nicht, ob sie geheilt
von Markus Söder in der CSU verhindern 18 Fußball-WM ohne zwei Topnationen / ist; akut magersüchtig ist
Liebeserklärung Warum der Norden die Magische Momente: Surfer sie im Moment jedenfalls nicht.
Symbiose zwischen Bayern und der CSU Sebastian Steudtner über seinen Ritt Die Autorin Larissa Sarand
nie verstehen wird 21 auf einer Monsterwelle 99
liefert Einsichten in eine
Sexismus Wie eine junge Politikerin in der Fußball Der Aufstand der Fans in den
Stadienkurven 100
lebensgefährliche Krankheit –
Berliner CDU zur „süßen Maus“ wurde 22 mit einem Blick für Komik
Karrieren SPD-Chef Martin Schulz kämpft Sommermärchen Ein ehemaliger Funktionär
belastet deutsche WM-Organisatoren 103 in der Katastrophe. Seite 64
um sein politisches Überleben 28
WM-Qualifikation Wie Italien weint 106
Erinnerung SPIEGEL-Gespräch
mit Norbert Blüm über Helmut Kohls
Unversöhnlichkeit 32 Wissenschaft
Oskar Lafontaine über das neue Buch Zu viel Salz vertreibt nützliche Darm-
von Norbert Blüm 36 bakterien / Kühlende Kleidung / Einwurf:
Diplomaten Wie Merkels außenpolitischer Stehen macht schlau! 108
Berater seiner Frau eine Stelle bei der Uno Artenschutz Die Letzten ihrer Art –
zuschanzen wollte 38 dramatische Rettungsaktion
Geschäftsideen Wohngemeinschaften für für die Kalifornischen Schweinswale 110
Todkranke boomen 48 Verkehr Der Toyota-Aufsichtsratschef

ULLSTEIN BILD
Luftfahrt Die behinderte Mutter durfte mit, Takeshi Uchiyamada über das Auto der
der 16-jährige Sohn nicht – Airlines Zukunft 114
verärgern ihre Kunden mit Überbuchungen 51 Archäologie War die Heilkunst der
Kitas Erzieher werden dringend gesucht, Babylonier fortschrittlicher als gedacht? 116
doch die Ausbildung ist unattraktiv 54 Zeitgeschichte Hilferufe aus der Robert Gabriel Mugabe
Tyrannenküche – wie Hitlers Diätköchin
den Naziführer erlebte 118 Er herrscht seit 1980 über
Gesellschaft Simbabwe, erst als Lichtgestalt,
Früher war alles schlechter: Der Siegeszug Kultur dann als Diktator. Inzwischen
von Pasta, Döner und ist er 93 Jahre alt, sein Land
Moussaka / Verhindern Schwiegermütter Große Modigliani-Schau in London /
Initiative Safe Night bekämpft hat er ausgeplündert und
das Kinderkriegen? 56
sexuelle Übergriffe in Nachtklubs / ruiniert. Nun hat das Militär
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum ihn abgesetzt, sein Schicksal
Kolumne: Zur Zeit 120
eine Frau, die – in einen Schal
gewickelt – durch Wien lief, Ärger mit Pop Ein SPIEGEL-Gespräch mit dem ist unklar. Seite 86
dem Gesetz bekam 57 britischen Sänger Morrissey über Trump,
Merkel und die Welt 122
Reisen Flixbus bringt Europäer näher
zusammen 58 Kino Diane Krugers großartiger Auftritt in
Fatih Akins Politthriller „Aus dem Nichts“ 126
Essen Die Autorin Larissa Sarand schildert
im SPIEGEL-Gespräch das Kunstmarkt Eike Schmidt, Direktor der
lebensgefährliche Versteckspiel von Uffizien, über das Sensationsgebot für eine
129
DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL
Magersüchtigen 64 umstrittene Arbeit Leonardo da Vincis
Kolumne Leitkultur 67 Debatte Warum #MeToo nicht mit Sex,
sondern mit Macht zu tun hat 132
Architektur Ein Lokaltermin in
Wirtschaft Asmara, der Hauptstadt Eritreas und
Ökoverordnung light / Die Fehler des der afrikanischen Italianità 134
TV-Managers Thomas Ebeling / Wie man Filmkritik Cate Blanchett brilliert in dem
billige Flüge bucht 68 Kunstfilm „Manifesto“ 138
Energie Ein Ausstieg aus der Braunkohle
ist überfällig – kostet aber Milliarden 70 Jenna Behrends
Digitalisierung SPIEGEL-Gespräch Bestseller 125
Sie beschwerte sich in einem
mit 1&1-Gründer Ralph Dommermuth Impressum, Leserservice 140 offenen Brief an die CDU
über den langsamen Ausbau Nachrufe 141
des Glasfasernetzes und die Übermacht über Sexismus in ihrer Partei.
amerikanischer IT-Konzerne 74 Personalien 142 Wenn man die Politikerin
Karrieren Ein MediaMarktSaturn-Manager Briefe 144 heute fragt, was sich geändert
saß jahrelang offenbar unschuldig in Haft 78 Hohlspiegel / Rückspiegel 146 hat, sagt sie, in der Partei
Geldanlage Wie eine Sparkasse die sei alles wie immer. Nur für ihr
Ersparnisse eines Rentnerpaars verzockte 82 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ Leben gilt das nicht. Seite 22

DER SPIEGEL 47 / 2017 9


Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Schlafende Schöne
Die Pläne für eine Europäische Verteidigungsunion können nur ein Anfang sein.

I
m Städtchen Bergen, an der B 3 zwischen Celle und geküsst wurde. Erstens das Gefühl der Bedrohung durch
Soltau, ist jeden Tag ein kleines europäisches Wunder Russland. Voller Sorge beobachteten vor allem die Osteu-
zu besichtigen. Morgens um sieben klettern niederlän- ropäer die riesigen Manöver der russischen Armee und
dische Soldaten in ihre deutschen Kampfpanzer, an deren die Versuche Moskaus, mit aggressiven Info-Operationen
Turm das Eiserne Kreuz der Bundeswehr prangt. Sie leis- einen Keil in die EU und das transatlantische Verhältnis
ten ihren Dienst in einem deutschen Bataillon, das zu zu treiben. Zweitens der Brexit. Er schwächt die EU, löst
einer niederländischen Brigade gehört, die einer deutschen aber gleichzeitig die britische Blockade gegenüber einer
Division unterstellt ist. Die Panzerbesatzungen der 4. Kom- stärkeren verteidigungspolitischen Integration Europas.
panie sind einheitlich niederländisch, doch wenn der La- Und schließlich Donald Trump. Er übernahm unfrei-
deschütze Schnupfen hat, springt ein deutscher Haupt- willig die Rolle des Geburtshelfers. Seit seiner Wahl ist
gefreiter ein und schiebt die Granaten ins Rohr. klar, dass der alte Kontinent seine Probleme allein lösen
Dass 72 Jahre nach Kriegsende deutsche und niederländi- muss.
sche Soldaten in einem gemeinsamen Kampfbataillon die- Wenn jedoch Brüsseler Bürokraten wie die Außenbe-
nen, ist immer noch außergewöhnlich. So könnte eine euro- auftragte Federica Mogherini den neuen Plan nun als „his-
päische Armee aussehen, aber torisch“ bejubeln, ist erst ein-
lässt sich das Wunder von Ber- mal Misstrauen angebracht.
gen vervielfachen? Viele Euro- In der Verteidigungspolitik
päer hoffen darauf. In Umfra- gab es in der EU schon im-
gen wünscht sich eine große mer ein krasses Missverhält-
Mehrheit seit Jahren eine bes- nis zwischen Anspruch und
sere Zusammenarbeit in der Umsetzung. Warum sollte es
Verteidigungspolitik und mehr jetzt besser sein?
als die Hälfte eine gemeinsa- Bereits die deutsche Über-
me europäische Armee. setzung von Pesco ist abschre-
Auch weil sich die Welt, in ckend bürokratisch: „Ständige
der die Europäer leben, dra- strukturierte Zusammenar-
matisch verändert hat. Terror beit“. Neben vagen Abspra-
in vielen Großstädten, im Os- chen zu mehr Kooperation
ten ein aggressives und auto- bei Rüstungsprojekten und
kratisches Russland, das sei- der Erhöhung der Verteidi-
ALEXANDER KOERNER / GETTY IMAGES

ne destruktive Macht aus- gungsbudgets (an die sich bis-


spielt, im Süden zerfallende her schon kaum ein Mitglied-
Staaten und Bürgerkrieg. staat hielt), bringt Pesco des-
China steigt zur globalen halb vor allem eines: mehr
Supermacht auf, Nordkorea Bürokratie. Die Liste der an
baut Atombomben, und in möglichen Projekten beteilig-
den USA regiert ein Mann, Soldaten auf Truppenübungsplatz Bergen ten europäischen Institutio-
der sich in der Gesellschaft nen ist erschreckend. Und die
von Diktatoren wohler fühlt beiden Faktoren, die eine stär-
als mit seinen alten Verbündeten. Nie war das Gefühl der kere Integration stets verhindern, wurden ausgeklammert:
Unsicherheit in den vergangenen Jahren stärker. nationale Souveränität und die Frage, wer bei Rüstungs-
Das liegt auch am inneren Zustand der EU. Seit Euro- projekten den Ton angibt.
Desaster und Flüchtlingskrise suchen die Proeuropäer in Warum also sollte es dieses Mal anders sein? Weil die
Brüssel, Paris und Berlin verzweifelt nach einer Idee, wie Zeiten so sind, wie sie sind. Europa verändert sich nur
sie das europäische Projekt wiederbeleben könnten. Weil unter großem Druck. Wenn nicht jetzt, wann dann? Pesco
die Umfragen so eindeutig sind, bot sich eine stärkere In- ist nur ein Symbol, ein Rahmen, mehr nicht. Deutschland
tegration der Sicherheits- und Verteidigungspolitik immer und Frankreich müssen dafür sorgen, dass er in den nächs-
schon an, doch die Mitgliedstaaten bremsten. Keine Haupt- ten Jahren mit Inhalten gefüllt wird. Das kann für beide
stadt delegiert die Entscheidung über Krieg und Frieden Länder teuer werden. Es ist den Preis wert. Denn wenn
freiwillig nach Brüssel. alles gut geht, könnte eine Sicherheits- und Verteidigungs-
„Dornröschen“ nannte Kommissionspräsident Jean- union zum ehrgeizigsten europäischen Einigungsprojekt
Claude Juncker deshalb das Projekt einer Sicherheits- und neben Euro und Schengen werden. Auch diese beiden
Verteidigungsunion (englisch: Pesco), die im Lissabonner Vorhaben waren und sind schwierig. Heute ist ein Europa
EU-Vertrag schon angelegt ist. Drei Dinge haben nun ohne sie nicht mehr denkbar.
dafür gesorgt, dass die schlafende Schöne endlich wach- Konstantin von Hammerstein

10 DER SPIEGEL 47 / 2017


Meinung
Jakob Augstein Im Zweifel links

Wir! Werden! Sterben!


In Bonn fand eben ein bati um die Ohren fliegen. Oder aber – neu-
Klimagipfel statt. Un- este Wendung – wir setzen darauf, dass Ein Herz für
ter der Präsident-
schaft von Fidschi.
wir das industriell erzeugte Problem auch
industriell in den Griff bekommen. Stich-
Schorsch
Feiner Zug von der wort: Geoengineering. Warum nicht Kalk- So gesehen Georg Fahren-
Uno, den Insulanern stein in die Luft pusten, um die Sonne schon muss Spar-
die Leitung zu über- zu verdunkeln? Daniel-Düsentrieb-Optimis- kassenpräsident bleiben.
geben, bevor sie unter- mus hat Harald Welzer das genannt.
gehen. Vorher, als man ge- Viele Forscher haben bisher darauf ver- Was soll die Aufregung, so et-
gen den Anstieg der Meere noch wirklich zichtet, uns die drastische Wahrheit zu was ist doch wohl jedem
etwas hätte unternehmen können, wäre sagen. Dabei ist es höchste Zeit für Alar- schon mal passiert: ein For-
kein Mensch auf die Idee gekommen, die mismus. Selbst wenn die Erdtemperatur mular verschlampt, eine Frist
Fidschianer zu fragen. Da ging es um nur um zwei Grad steigt, werden Städte versäumt, die verdammte
Wichtigeres: Autos, Arbeitsplätze, Kühl- wie Karatschi und Kalkutta nahezu unbe- Steuererklärung nicht abge-
schränke – also um uns. Und Mallorca geht wohnbar sein. Steigt die Temperatur um geben. Und die Briefe vom
ja nicht unter. Erst mal nicht. vier Grad, wird die Hitzewelle aus dem Amt legt man dann halt in
Der Meeresspiegel steigt zwar für alle. Jahr 2003, in der Tausende starben, sich eine Schublade. Und wenn
Aber die Holländer ziehen die Deiche jährlich wiederholen. New York wäre sie überquillt, nimmt man die
hoch, und Bangladesch geht unter. Darum im Sommer praktisch nicht bewohnbar – nächste. Manch einer kann
hat der Soziologe Stephan Lessenich ge- die Golfstaaten gar nicht mehr. Es gibt eben nicht mit Geld umge-
sagt: „Wir leben nicht über unsere Verhält- Forscher, die den Arabischen Frühling, der hen, mancher hat Angst vor
nisse, sondern über die Verhältnisse der zu einer fatalen Destabilisierung des Na- Formularen, und mancher ist
anderen.“ Das Problem an dieser Sichtwei- hen Ostens führte, mit dem Klimawandel schlicht ein wenig schusselig.
se ist: Klima wird zu einer moralischen erklären: Am Anfang standen Missernten Auf Georg Fahrenschon
Frage. Manche Leute sagen darum, man und Hungerunruhen. So gesehen wären (CSU) trifft offenbar alles
solle lieber gar nicht von Klimaschutz „Merkels Flüchtlinge“, über die die AfD drei zu, aber das ist doch
sprechen, sondern von Klimagerechtigkeit. schimpft, tatsächlich auch dieser Kanzlerin nicht kriminell, sondern ein
Das sind Optimisten. Sie meinen, die anzulasten, die Deutschland während Unglück, eine Dummheit,
reichen Nordländer würden eher aufs Auto ihrer Amtszeit eben nicht zu einer klima- eine lässliche Sünde. Der
verzichten, wenn sie sich klarmachten, dass politischen Umkehr gebracht hat. Diese Mann war mehrere Jahre
das Leben anderer Menschen auf dem Spiel Forscher sagen für die Zukunft aufgrund lang bayerischer Finanzminis-
steht. Das ist vermutlich eine Illusion. Wir des Klimawandels Migrationsbewegungen ter und ist noch Sparkassen-
nehmen jetzt schon achselzuckend hin, voraus, die alles Bisherige übertreffen. präsident, da kann man doch
dass im Kongo Kinder das Coltan aus den Also: Es geht nicht um Eisbären und nicht verlangen, dass er sich
Bergen kratzen, das wir für unsere Telefo- nicht um Insulaner. Es geht um uns. um jede Kleinigkeit küm-
ne und Autos brauchen. Unsere Fähigkeit Wir haben noch nicht genug Angst. mert. Abgesehen davon
zur Verdrängung ist groß. Wir ziehen es stammt er aus einem Bundes-
vor zu glauben, das Klima werde vor allem An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Fleischhauer land, in dem die Steuer-
den Leuten auf Tuvalu, Tokelau und Kiri- und Markus Feldenkirchen im Wechsel. pflicht für verdiente Mitbür-
ger traditionell nicht so ernst
genommen wurde. Und
verdient hat er zweifellos.
Kittihawk Nein, Georg Fahrenschon
sollte nicht nur straffrei blei-
ben, sondern unbedingt auch
Sparkassenpräsident. In der
biedersten Finanzinstitution
der Welt, wo karierte Krawat-
ten genauso ihren Platz ha-
ben wie kommunale Kultur-
förderung, muss es auch ein
Herz geben für einen echten
Menschen mit all seinen
Schwächen und Unzuläng-
lichkeiten. Für einen, der
auch mal beide Augen zu-
drückt, wenn bei seinen Kun-
den der Dispo ächzt, sagen
wir zum Beispiel bei einem
bestimmten Journalisten.
Schorsch, wir verstehen uns.
Stefan Kuzmany

12 DER SPIEGEL 47 / 2017


Tsipras, Merkel in Berlin 2015

MARKUS SCHREIBER / AP / DPA


Brexit

Bündnis Berlin– Athen


Deutschland und Griechenland kooperieren, um britische EU-Institutionen zu übernehmen.
Die Bundesrepublik Deutschland und Griechenland wollen In der kommenden Woche wollen die Mitgliedstaaten der
EU-Institutionen aus London unter sich aufteilen. Um sich EU in Brüssel über den Umzug der Institutionen entscheiden.
Behörden zu sichern, die wegen des Brexit umziehen müs- Das Bündnis Berlin – Athen gilt als spektakulär, weil beide
sen, haben die Regierungen von Angela Merkel und Alexis Länder in der Griechenlandrettung lange Zeit über Kreuz la-
Tsipras eine ungewöhnliche Allianz geschlossen: Die Grie- gen. Um den Deal in die Wege zu leiten, schickte das Bundes-
chen unterstützen den deutschen Wunsch, die europäische finanzministerium, das in Athen wegen seines Sparkurses in
Bankenaufsicht EBA in Frankfurt am Main anzusiedeln. Im der Eurokrise regelrecht verhasst ist, das Auswärtige Amt
Gegenzug sprechen sich die Deutschen dafür aus, dass die vor – mit dem Auftrag, das gemeinsame Vorgehen zu sondie-
Arzneimittelbehörde EMA nach Athen wechselt. ren. Der diplomatische Umweg hatte Erfolg. rei

Adenauer-Stiftung hatte Merkel in einem persön- re zurücktreten musste, ist


Weg frei lichen Gespräch gesagt, er zurzeit deutsche Botschaf-
werde nicht mehr antreten terin beim Heiligen Stuhl.
für Lammert und Lammert als seinen Um Schavan zu verhindern,
Angela Merkel lenkt ein: Die Nachfolger vorschlagen. Sie hatten mehrere Mitglieder
CDU-Vorsitzende wird die werde sich diesem Vorschlag des Stiftungsvorstands Lam-
Kandidatur von Norbert anschließen, sagte Merkel. mert gedrängt, gegen sie
Lammert zum Vorsitzenden Ursprünglich wollte die anzutreten. Schavan hatte
der parteinahen Konrad- CDU-Chefin ihre Vertraute daraufhin den Verzicht auf
KROHNFOTO.DE

Adenauer-Stiftung unterstüt- Annette Schavan an die Spit- ihre Kandidatur erklärt. Der
zen. Das sicherte sie dem am- ze der Stiftung holen. Die frü- neue Stiftungsvorsitzende
tierenden Stiftungschef Hans- here Wissenschaftsministerin, soll Anfang Dezember ge-
Gert Pöttering zu. Pöttering Lammert die wegen einer Plagiatsaffä- wählt werden. ran

14 DER SPIEGEL 47 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Geheimdienste Flughäfen nen des Flughafenbetreibers
Ärger über BND-Chef Millionengrab werde über 2024 hinaus „ein
strukturelles Defizit für das
In der Bundesregierung gibt Kassel Land von rund 5 Millionen

WERNER SCHÜRING
es Verstimmung über Bruno Der umstrittene Regionalflug- Euro jährlich“ bleiben, so der
Kahl, den Präsidenten des hafen Kassel-Calden wird die Rechnungshof.
Bundesnachrichtendienstes Steuerzahler bis 2024 mehr Der frühere hessische Mi-
(BND). Kahl hatte auf einer als 326 Millionen Euro kos- nisterpräsident Roland Koch
Veranstaltung der CSU-na- Kahl ten. Das ergibt sich aus ei- (CDU) hatte den Flughafen
hen Hanns-Seidl-Stiftung nem vertraulichen Prüf- zum „Leuchtturmprojekt“ für
über die machtpolitischen diert werden müsse. Der Ter- bericht des Hessischen Rech- Nordhessen erklärt, obwohl
Ambitionen Russlands ge- min der Rede war mit dem nungshofs. Die Prüfer werfen es im näheren Umkreis be-
sprochen und der anschlie- Kanzleramt abgestimmt, der Landesregierung Hessens reits Regionalflughäfen gibt.
ßenden Fragerunde gesagt, nicht aber ihr Inhalt. Der vor, mit dem Flughafen trotz Die Prüfer kommen zu dem
„bei der Krim brauchen wir BND teilte mit, die Präsiden- hoher Subventionen kaum Schluss, dass „die umfang-
uns keine Hoffnungen zu ma- ten der Sicherheitsbehörden volkswirtschaftliche Effekte reichen finanziellen Mittel im
chen“. Vor allem an diesem äußerten sich grundsätzlich zu erzielen. Schon der Bau Rahmen anderer Maßnah-
Satz entzündet sich die Kri- in eigener Zuständigkeit. des 2013 eröffneten Airports men wirkungsvoller für die
tik: Die Regierung vertritt die Kahl habe in der Rede auch war mit über 270 Millionen Förderung Nordhessens ein-
Position, dass die Annexion ausgeführt, dass es wichtig Euro etwa dreimal teurer als gesetzt werden könnten. Die
der Krim durch Russland völ- sei, enge Bande zu Russland geplant. Die Passagierzahlen Kosten sind im Verhältnis
kerrechtswidrig sei und revi- zu knüpfen. red blieben mit knapp 65 000 (im zum erwarteten Nutzen nicht
Jahr 2015) und 55 000 (2016) angemessen“. Eine Alterna-
weit hinter den Erwartungen tive wäre laut Rechnungshof,
zurück. Auch neues Gewerbe den Flughafen zum „Ver-
Verkehr rung des Bundesverbands der habe sich kaum angesiedelt. kehrslandeplatz“ herabzu-
Stromnetz stark deutschen Energie- und Was- Selbst nach den Businessplä- stufen. mab
serwirtschaft, an die EU-
genug für E-Autos Kommission.
Die deutschen Energieerzeu- Darin fordert er sie auf,
ger sehen in mehr Elektro- ambitionierte Ziele für den
autos auf den Straßen kein künftigen Anteil von Elektro-
Problem für die Stromversor- autos zu verkünden, damit
gung in Deutschland. „Die seine Branche Planungssicher-

SWEN PFÖRTNER / PICTURE ALLIANCE / DPA


öffentliche Ladeinfrastruktur heit beim Aufbau der Lade-
in Deutschland ist bereit für säulen bekomme. Der Ener-
einen signifikanten Zuwachs gielobbyist widerspricht da-
von elektrischen Fahrzeugen mit Warnungen, dass ein Aus-
in den kommenden Jahren“, bau der Elektromobilität ein
schreibt Stefan Kapferer, der Problem für die Versorgungs-
Vorsitzende der Geschäftsfüh- sicherheit sein könnte. gt

Kassel Airport in Calden


Kriminalität reich nach einem Täter ge-
Mehr Cyberfahnder sucht, der ein vierjähriges
Mädchen missbraucht und
Die Gießener Zentralstelle Videos von der Tat gemacht Rente Der Unterschied geht vor
zur Bekämpfung der Internet- hatte. Auch den Händler, der Westfrauen im allem auf die längere und oft
kriminalität (Zit) soll ihr Per- eine Waffe an den Attentäter ununterbrochene Berufstätig-
sonal im nächsten Jahr ver- vom Münchner Olympia-Ein- Nachteil keit auch von Müttern in Ost-
doppeln und auch für Terror- kaufszentrum verkauft hatte, Seniorinnen aus den alten deutschland zurück: Sie ha-
ermittlungen eingesetzt wer- spürten die Ermittler auf. Bundesländern müssen mit ben durchschnittlich 41 Versi-
den. Das teilte der Leiter der Nach Meinung Mays muss vergleichsweise bescheidenen cherungsjahre gesammelt, bei
Einheit, Andreas May, auf ei- die Justiz mehr Spezialkam- Rentenbezügen auskommen. Westfrauen sind es nur 27,6
ner Tagung des Bundeskrimi- mern für Cyberkriminalität Im Durchschnitt erhalten sie Jahre. Insgesamt jedoch sind
nalamts mit. Statt bisher sie- einrichten. Bislang gebe es eine gesetzliche Altersversor- Frauen bei der gesetzlichen
ben arbeiten künftig zwölf nur eine am Landgericht gung von 618 Euro, wie aus Rente klar im Nachteil. Män-
Staatsanwälte und zwei Infor- Köln. Zudem solle die Ausbil- dem noch unveröffentlichten ner in den alten Ländern kön-
matiker als Cyberanalysten dung der Polizei modernisiert Rentenversicherungsbericht nen im Schnitt mit einer
für die Behörde. Die Zit werden. Jeder angehende Kri- der Bundesregierung hervor- Überweisung von 1131 Euro
spielt bei Ermittlungen zur minalbeamte lerne, eine Fuß- geht. In den neuen Bundes- rechnen, ihre Altersgenossen
Kinderpornografie eine füh- abdruckspur zu sichern, sagte ländern liegt die Durch- im Osten immerhin mit 1116
rende Rolle. Zuletzt hatte sie der Oberstaatsanwalt. „Aber schnittsrente für Frauen bei Euro. Das Bundeskabinett
in einer ungewöhnlichen Öf- eine Datenspur können die monatlich 882 Euro (Stichtag: will am Mittwoch über den
fentlichkeitsfahndung erfolg- wenigsten sichern.“ kno 31.12.2016). Bericht beraten. cos

DER SPIEGEL 47 / 2017 15


Deutschland

Salafismus
Moscheen
unter Verdacht
Das nordrhein-westfälische
Innenministerium bereitet ei-
nen Schlag gegen die salafis-
tische Szene des Landes vor.
Der Düsseldorfer Verfas-
sungsschutz hat dazu bereits
eine Liste mit 19 Moscheen
und Vereinen in Nordrhein-
Westfalen erstellt, in denen
besonders radikal gepredigt
werden soll. Die Aufstellung
liegt nun den Staatsschutz-
dienststellen der Polizei zur
Bewertung und Ergänzung
vor. „Natürlich haben die
NRW-Sicherheitsbehörden
bestimmte Organisationen
besonders im Blick“, sagt ein

HC PLAMBECK / DER SPIEGEL


Sprecher des Ministeriums.
„Bei diesen überprüfen wir,
ob die Voraussetzungen für
ein Vereinsverbotsverfahren
oder auch ein Strafverfahren
vorliegen.“
Anbau des Marie-Elisabeth-Lüders-Hauses in Berlin Moscheen und salafistische
Gruppierungen können ver-
Bundestag der geplanten 190 Millionen schreibungen laufen. Zudem boten werden, wenn sie ge-
Risse in der Euro sind es jetzt fast 250 sollen Gutachter klären, wer gen die verfassungsmäßige
Millionen Euro. die Verantwortung für das Fi- Ordnung verstoßen. Zuletzt
Bodenplatte Ursache für die Mehraus- asko trägt. Die 300 Büros im hatte das Bundesinnenminis-
Ein Neubau des Bundestags gaben sind vor allem Risse in Neubau werden dringend be- terium vor einem Jahr die Or-
wird deutlich teurer und spä- der Bodenplatte des auf den nötigt, da der Bundestag mit ganisation „Die wahre Religi-
ter fertig werden als geplant. ersten Blick fertigen Gebäu- 709 Abgeordneten so groß on“ des Kölner Hasspredigers
Der Anbau des Marie-Elisa- des, die 2015 entdeckt wur- ist wie noch nie. Um die Par- Ibrahim Abou-Nagie verbo-
beth-Lüders-Hauses sollte den und jetzt aufwendig sa- lamentarier unterzubringen, ten. In ihrem Koalitionsver-
ursprünglich 2013 fertig niert werden sollen. Anfang muss nun ein Teil der Bun- trag vereinbarten CDU und
sein – nun können die Abge- September bewilligte die destagsverwaltung nach FDP in Nordrhein-Westfalen,
ordnetenbüros frühestens Baukommission im Parla- Berlin-Moabit ziehen, ins „konsequent Vereinsverbote
2020 bezogen werden. Auch ment unter anderem dafür ehemalige Bundesinnen- gegen islamistische Vereini-
die Kosten explodieren: Statt 35,9 Millionen Euro, die Aus- ministerium. sve, was gungen zu verhängen“. jdl

AfD Baden-Württemberg Dies wäre auch der Zeit-


Chef auf Abruf punkt gewesen, an dem Gö-
gels Vorgänger, AfD-Bundes-
Der neu gewählte Fraktions- sprecher Jörg Meuthen, mit
vorsitzende der AfD in Ba- einer Abwahl hätte rechnen
den-Württemberg, Bernd müssen. Meuthen wechselt
Gögel, verfügt nur über ein ins Europäische Parlament
schwaches Mandat, um seine und will dafür sein Landtags-
zerstrittene Fraktion zu ei- mandat aufgeben. Gögel er-
nen. Laut der unveröffent- hielt erst in der Stichwahl
lichten Satzung der AfD- nach zwei Wahlgängen die
Fraktion muss er sich schon erforderliche Mehrheit. Er
in rund einem Jahr zur Wie- steht bei einigen Parteifreun-
derwahl stellen. Darin heißt den in der Kritik, weil er sich
MARIJAN MURAT / DPA

es: „Wahlen finden zu Be- nicht von dem inzwischen


ginn und in der Mitte der Le- aus der Fraktion ausgetrete-
gislaturperiode statt“ – Letz- nen antisemitischen Abge-
tere ist in Baden-Württem- ordneten Wolfgang Gedeon
berg im Herbst 2018 erreicht. Gögel, Meuthen distanziert hat. fri

16 DER SPIEGEL 47 / 2017


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Vorsitzender Seehofer: Nachfolgestreit voll entbrannt

Hau den Markus


Parteien Der bayerische Finanzminister Söder will CSU-Chef und Ministerpräsident werden.
Eine Viererbande will das verhindern. Allerdings fehlt ein gemeinsamer Plan.

M
arkus Söder hält es nicht mehr auf Auf der Regierungsbank verbleibt ein- Das geht bereits seit Monaten so. Söders
der Regierungsbank. Der bayeri- sam Ilse Aigner. Die Wirtschaftsministerin Denken dreht sich vor allem um die Frage,
sche Landtag debattiert über Ar- plaudert mit niemandem, sie blättert in wie er Ministerpräsident und Parteichef
tenschutz. Die Grünen haben die Aktuelle ihren Akten, immer mal wieder blickt sie werden kann. Deshalb kultiviert er fleißig
Stunde beantragt, weil Pestizide die ein- nach oben in Richtung Pressetribüne. Das Verbündete. Genauso intensiv überlegen
heimischen Insekten dezimieren. Der Fi- Signal ist klar: Sie, die stellvertretende Mi- Aigner und andere Widersacher des Fi-
nanzminister strebt in die hinterste Reihe nisterpräsidentin, hält die Stellung, sie nanzministers, wie sie Söders Aufstieg ver-
seiner Fraktion und schart fünf Parteifreun- sorgt während der Abwesenheit von Mi- hindern können. Seit der Bundestagswahl
de um sich. Die Gruppe unterhält sich an- nisterpräsident Horst Seehofer dafür, dass hat diese Frage neue Brisanz bekommen.
geregt. Es ist unwahrscheinlich, dass Insek- alles funktioniert. Da mag Söder planen, Nach dem schwachen Abschneiden der
ten das Thema sind. was er will. CSU glaubt in der Parteiführung kaum
18 DER SPIEGEL 47 / 2017
Deutschland

Dabei ist keiner von ihnen stark genug, aus der Frontstellung Seehofer gegen Sö-
es allein mit ihm aufzunehmen. Ihre Hoff- der eine wird, in der es heißt: Weber gegen
nung ist eine Ämtertrennung: Der Partei- Söder. Jedenfalls dann, wenn es um den
vorsitzende soll künftig nicht mehr Minis- CSU-Vorsitz geht.
terpräsident sein. Vielleicht lässt sich Söder Allerdings hat Söder seinem Rivalen We-
auf diese Weise noch verhindern. Zumin- ber eines voraus: Er will unbedingt an die
dest könnte man ihm den Weg zur völligen Spitze. Macht fliegt einem nicht zu, man
Machtübernahme verbauen. Dann müsste muss sie wollen. Weber kann sich vorstel-
einer der vier ein Amt übernehmen. Aber len, als Parteichef anzutreten. Er wird sich
wer von ihnen? Und welches Amt? aber auch anderen Lösungen nicht ver-
In Mauth, einem Dorf im Bayerischen schließen, mit denen die CSU erfolgreich
Wald, haben sich die Parteifreunde schon in die Landtagswahl ziehen kann. Es ist
eine ganze Weile den Frust über die Ber- unklar, ob das reichen wird, um Söder zu
liner Politik und Kanzlerin Angela Merkel stoppen.
von der Seele geredet. Die AfD hat hier Weber ist sehr beliebt, was für einen
bei der Bundestagswahl 28 Prozent geholt. Europapolitiker in der CSU ungewöhnlich
Schließlich kommt ein Mann im roten ist. Er ist uneitel, das ist seine Stärke. Die
Karohemd auf den Nachfolgestreit in der eingestickten Initialen auf seinen Hemden
CSU zu sprechen. „Das, was man jetzt sind die einzige Extravaganz, die er sich
mit dem Horst Seehofer macht, ist eine leistet. Politische Inszenierung liegt ihm
ganz schäbige Schmierenkomödie“, sagt jedenfalls nicht.
er. Manfred Weber, der zum CSU-Stamm- In der Partei kommt diese unaufgeregte
tisch gekommen ist, nimmt das gern auf. Art gut an. Als Weber bei der Jungen
„Ich bedanke mich für Ihre Aussage zu Union nach Seehofers Absage für den Par-
Horst Seehofer“, sagt er zu dem Mann im teichef einsprang, rechnete er mit dem
karierten Hemd. Schlimmsten. Doch er bekam genauso viel
Der stellvertretende Parteichef glaubt Applaus wie Söder später am Abend. Und
wie viele andere, dass Söder seit Wochen das, weil er sich als Alternative zu Söder
den Widerstand gegen Seehofer orches- empfahl: „Ich bin keiner, der nur auf den
triert, in der Landtagsfraktion und mithilfe kurzen Applaus schielt“, sagte Weber in
von einigen schnell zu begeisternden Nach- Erlangen und warnte: Die CSU dürfe nicht
wuchskräften in der Jungen Union. die Partei der Vereinfacher sein.
Weber hält das nicht nur für unanstän- Weber wäre die ideale Ergänzung zu Sö-
dig, sondern auch für unklug. „Das Wahl- der, auch weil er aus dem mitgliederstarken
ergebnis von 2008 war für die CSU die bit- Bezirk Niederbayern kommt. Es gibt aber
tere Lehre, dass vor allem der innerpartei- eine kaum zu überwindende Hürde: Dass
die CSU aus Brüssel geführt werden kann,
HANNIBAL HANSCHKE / REUTERS

liche Umgang mit Edmund Stoiber viele


bürgerliche Wähler enttäuscht hat. Das übersteigt die Vorstellungsgabe der meisten
darf uns nicht mehr passieren“, sagt er. CSU-Mitglieder. Ein Wechsel nach Mün-
„Gerade als bürgerliche Partei müssen wir chen oder Berlin würde Webers Chancen,
im Umgang miteinander Vorbild sein, da- an die Spitze der CSU zu rücken, deutlich
für haben die Menschen ein feines Gespür. befördern. Allerdings deutet nichts darauf
Es braucht jetzt Mannschaftsgeist.“ hin, dass er zu diesem Schritt bereit ist.
Weber hält Söder für ungeeignet, die Das ist das größte Problem der Söder-
Nachfolge Seehofers anzutreten. Söder Gegner: Während der Finanzminister die
gehe es um Söder, um die Macht, sonst Partei bis zum letzten Ortsvorsitzenden
jemand, dass Seehofer bei der Landtags- stecke nichts hinter seiner Ambition. We- beackert, verfolgen sie ihre Ambitionen
wahl im kommenden Herbst noch im Amt ber kann bei seinem Widersacher keine nur halbherzig. Ein Werben an der Partei-
sein wird. Der Nachfolgestreit ist voll Idee für die CSU oder für Bayern ent- basis, um Söder zu verhindern, findet der-
entbrannt. Söder hat aus seinem Macht- decken. Er sieht noch nicht mal eine klare zeit kaum statt. Schließlich hat der Partei-
willen nie einen Hehl gemacht. Er sieht Vorstellung davon, wie die CSU bei der vorstand beschlossen, während der Jamai-
seine Zeit gekommen. Seine innerpartei- Landtagswahl im Herbst 2018 ihre absolute
lichen Gegner sammeln sich ebenfalls. An- Mehrheit verteidigen könnte. Weber findet
ders als Söder haben sie aber noch keinen es lustig, dass Söder behauptet, er setze
Schlachtplan. auf eine Teamlösung. Es weiß doch jeder,
Neben Aigner sind Innenminister Joa- dass er allein das Sagen haben will.
chim Herrmann, der Berliner CSU-Lan- Ähnlich wie Seehofer glaubt Weber
desgruppenchef Alexander Dobrindt und nicht, dass die Partei heute noch nur mit
der Europapolitiker Manfred Weber die starken Sprüchen und einem strammen
wichtigsten Gegenspieler Söders. Inhalt- Rechtskurs ihre Erfolge von einst wieder-
DANIEL KARMANN / DPA

lich eint sie nicht viel. Weber und Aigner holen kann. Er hält es für unwahrschein-
gehören zum liberalen CSU-Flügel, Herr- lich, dass die CSU mit Söder die Landtags-
mann ist ein Vertreter der Mitte, und wahl gewinnen kann, das ist seine An-
Dobrindt liegt inhaltlich auf Söders Linie. triebskraft.
Alle vier verbindet vor allem ein Ziel: Sie Dass sein Name in der Nachfolgedebatte
wollen eine komplette Machtübernahme genannt wird, ist Weber nicht unrecht. Es Minister Söder
Söders verhindern. ist möglich, dass in den nächsten Tagen Unbedingt an die Spitze

DER SPIEGEL 47 / 2017 19


kaverhandlungen keine Personaldebatten Zumal Herrmann den Webers und Aig-
zu führen. So viel Zurückhaltung kann ners einen wichtigen machtpolitischen
man vernünftig nennen. Oder naiv. Vorteil voraus hat: Er stammt wie Söder
Ilse Aigner, mit der Weber ein gutes Ver- aus Franken. Und zwei Franken an der
hältnis hat, bildet da keine Ausnahme. Da- Spitze der CSU, dass würden die stolzen
bei wäre sie ideal positioniert, um Söder Ober- und Niederbayern kaum hinneh-
zu stoppen. Sie ist Vorsitzende der ober- men. Auch deshalb würden wichtige Leu-
bayerischen CSU, des mit Abstand wich- te in der Parteihierarchie wie Weber eine

MARCO-URBAN.DE
tigsten Parteibezirks. Sie könnte das Image Spitzenkandidatur Herrmanns unterstüt-
der CSU als rein männerdominierte Partei zen. Sie böte die größte Chance, Söder
ändern. Und sie hat als frühere Bundes- ganz auszuschalten.
landwirtschaftsministerin Erfahrung in der Dann käme Alexander Dobrindt ins
Bundespolitik, die Söder völlig abgeht. Spiel, den vor wenigen Wochen kaum je-
Allerdings hat Aigner in den vergangenen mand als Kandidaten für das Amt des Par-
Jahren all diese Vorteile nicht genutzt. Vor teichefs gesehen hat. Seine Beliebtheit in
fast vier Jahren hat Seehofer sie mal wegen der Partei hält sich in Grenzen. Er ist je-
eines Vorschlags zur Finanzierung von Ener- doch der einzige potenzielle Anwärter, der
giekosten zurückgepfiffen. Seither bemüht schon in Berlin sitzt. Bei den schwierigen
sie sich, seine Musterschülerin zu sein. Das machtpolitischen Verhältnissen wäre es
ist zu wenig, um in der Partei als ernsthafte ziemlich gewagt, die Bundespolitik von
Konkurrentin Söders gehandelt zu werden. München oder Brüssel aus zu steuern. Zu-

THOMAS IMO
Selbst die Kanzlerin, die sich persönlich mit mindest, falls Seehofer zurücktritt.
ihr gut versteht, ist enttäuscht. Aigner habe Dobrindt hat durch sein barsches Auf-
alle Möglichkeiten gehabt und nichts daraus treten bei den Jamaikaverhandlungen an
gemacht, lautet Merkels Urteil. Ansehen gewonnen. „Die Leute bei uns fin-
Auch im eigenen Bezirksverband ist ihre den es gut, wie der Alexander das macht“,
Stellung nicht mehr unumstritten. Obwohl sagt ein Mitglied der Parteiführung, der
sie ihre Leute mehrfach aufforderte, nicht nicht unbedingt zu den Fans des Landes-

ANDREAS MÜLLER / DER SPIEGEL


mehr über Seehofer zu diskutieren, hielten gruppenchefs zählt. „Die haben den Ein-
die sich nicht daran. Bei einem Treffen mit druck, dass keiner unsere Interessen härter
oberbayerischen Abgeordneten vor etwa vertritt.“ Von seinem Förderer Seehofer
vier Wochen ging es plötzlich um das Füh- hat sich der frühere Generalsekretär mitt-
rungspersonal der CSU. Und mehr als ein lerweile emanzipiert.
Drittel der oberbayerischen CSU-Kreisvor- Dobrindt ist aber nur dann eine Option,
sitzenden schrieben einen Brief an See- wenn Söder nicht Ministerpräsident wird.
hofer, in dem sie personelle Konsequenzen Die beiden sind sich inhaltlich zu nahe.
aus der Wahlniederlage forderten. Aigner Ein Parteichef Dobrindt würde den Söder-
war nicht eingeweiht. Effekt eher verstärken als abfedern.
Dennoch hofft die ehemalige Bundes- Am Ende wird es darauf ankommen,
ministerin, selbst Ministerpräsidentin wer- welche Lösung Seehofer vorschlägt. Falls
den zu können. „Wir haben mitnichten nur der CSU-Chef versuchen sollte, einfach
MICHAEL KAPPELER / DPA

an die AfD Stimmen verloren, sondern weiterzumachen, wird in der Partei das
auch an Grüne und FDP“, sagte sie jüngst Chaos ausbrechen. Wenn Söder nicht be-
der „Welt am Sonntag“. „Diese Stimmen rücksichtigt wird, vermutlich auch.
aus dem bürgerlichen Lager sind endgültig Vieles spricht für eine Ämterteilung.
verloren, wenn wir jetzt nur noch auf Laut- Nur sollte die zumindest nach außen ein-
sprecherei setzen und ausschließlich zum CSU-Führungsleute Dobrindt, Aigner, vernehmlich vonstattengehen. Eine Situa-
rechten Rand schielen.“ Herrmann, Weber tion wie 2007 wollen alle vermeiden. Da-
Die Worte waren auf Söder gemünzt. Gegnerschaft zu Söder als einigendes Band mals wurde der Ministerpräsident und Par-
Sie wurden in der Partei als Hinweis darauf teichef Edmund Stoiber zum Rückzug
verstanden, dass Aigner ihre Ambitionen Der ideale Kandidat ist er dennoch nicht. gezwungen. Erwin Huber übernahm die
noch nicht aufgegeben hat. Ob ihr das Ihm fehlt Söders Machtgen. Im Bundes- CSU-Spitze, Günther Beckstein wurde Re-
etwas nützen wird, ist fraglich. In der Land- tagswahlkampf war Herrmann Spitzenkan- gierungschef.
tagsfraktion, die den Ministerpräsidenten didat der CSU. Die Aufmerksamkeit aber Stoiber unternahm alles, um den beiden
wählen muss, hat Söder eine klare Mehr- zog Karl-Theodor zu Guttenberg auf sich, das Leben schwer zu machen. Seine ober-
heit der Abgeordneten hinter sich. Und der frühere Verteidigungsminister, den See- bayerischen Parteifreunde betrieben nur
dass Aigner als Parteichefin neben einem hofer reaktiviert hatte. Eigentlich ist Herr- einen halbherzigen Wahlkampf. Die CSU
Ministerpräsidenten Söder bestehen könn- mann die klassische Besetzung für die verlor bei der darauffolgenden Landtags-
te, glauben selbst ihre Anhänger nicht. zweite Reihe. wahl ihre absolute Mehrheit. Das soll sich
Deshalb ruhen die Hoffnungen derer, Doch seine ruhige Art ist in der jetzigen nicht wiederholen. Zumindest in diesem
die Söder verhindern wollen, auf Innen- Situation ein Vorteil. Der Innenminister Punkt sind sich Söder und seine Gegner
minister Joachim Herrmann. Der hat ge- spricht die konservativen CSU-Anhänger einig. Jan Friedmann, Peter Müller, Ralf Neukirch
genüber Aigner und Weber den Vorzug, an, die von Merkels Flüchtlingspolitik ent-
dass er sich in den Planspielen zur Söder- täuscht sind, ohne liberale Wähler zu ver- Video:
Verhinderung als Ministerpräsident oder schrecken. In der Parteiführung halten ihn Wenn Seehofer spricht
als Parteichef einsetzen lässt. Herrmann deshalb einige für den geeigneten Minis- spiegel.de/sp472017seehofer
ist das Multitool im CSU-Machtkampf. terpräsidenten. oder in der App DER SPIEGEL

20 DER SPIEGEL 47 / 2017


Deutschland

Das bayerische Missverständnis


Liebeserklärung Warum die CSU im Prinzip unzerstörbar ist
(auch wenn alle im Norden ständig das Gegenteil herbeiwünschen)

A
ls ich vor vier Jahren von Berlin den bayerischen Sumpf trockenzulegen. Der Nachweis außerehelich gezeugten
nach München zog, wurde die CSU Dabei wird leicht übersehen, dass das pro- Nachwuchses zum Beispiel ist für die Be-
gerade von der Verwandtenaffäre testantische Sündenverständnis den Süden werbung zum Ministerpräsidenten kein
geschüttelt. Jeden Tag konnte man über nie wirklich erreicht hat. Spezlwirtschaft Handicap, sondern eher Empfehlung. Der
neue Verfehlungen von Abgeordneten le- und Bazitum mögen anderswo Schimpf- Bayer wünscht sich Politiker aus Fleisch
sen, die ihre Ehepartner, ihre Kinder und wörter sein, hier sind sie eine Beschrei- und Blut, keine Pastoren, deshalb verzeiht
Stiefkinder im Landtag beschäftigt hatten. bung des Way of Life. er ihnen auch so manchen Fehltritt. Man
Der Fraktionschef, ein unglücklicher Franz Josef Strauß soll in seiner Zeit könnte sogar sagen, er erwartet diesen ge-
Mensch namens Schmid, hatte auf diese mehrere Millionen Euro auf die Seite ge- radezu. Zur Not wird halt ein Rosenkranz
Weise ein hübsches Sümmchen in Höhe bracht haben, so wird es von bös meinen- mehr gebetet. Das werden sie bei der SPD
von einigen Hunderttausend Euro auf dem den Menschen kolportiert. Einige wissen nie verstehen, dazu sind sie dort zu brav.
Familienkonto zusammengetragen, was sogar die sagenhafte Zahl von 180 Millio- Auch deshalb bekommen die Sozialdemo-
ihm schwer auf die Füße fiel, als die Sache nen Euro zu nennen. Wenn überhaupt, kraten kein Bein auf den Boden.
ans Licht kam. Da half es auch nicht, dass dann haben diese Summen das Ansehen Da Politik im Süden immer etwas von
er darauf verwies, er habe sich im Rahmen des Größten aller Bayern in seiner Heimat Kirmesbetrieb hat, ist man als Politiker gut
des Legalen bewegt. Die Presse ist in sol- eher noch steigen lassen. beraten, sich einer lebhaften, anschauli-
chen Fällen furchtbar chen Sprache zu bedie-
unnachsichtig. nen. Wer in Bayern in die
Da die Landtagswahl erste Reihe aufrücken
bevorstand, sah man in will, muss im Bierzelt be-
den Redaktionen des stehen. Das ist der Test,
Landes das endgültige dem sich bislang noch je-
Ende der CSU-Herr- der Ministerpräsident vor
schaft gekommen. Eini- seiner Krönung unterzie-
ge besonders Weitsichti- hen musste. Damit ist
ge träumten schon von auch ausgeschlossen, dass
einer Regierungsbeteili- es Menschen ganz nach
gung der SPD, sogar ein oben schaffen, die im Hin-
Ministerpräsident der terzimmer des Parteiklün-
SPD schien plötzlich gels reüssieren, vor dem
JOHANNES SIMON / GETTY IMAGES

möglich. Dann, fünf großen Publikum aber


Monate später, war durchfallen. Der Listen-
Wahl in Bayern. Und kandidat, der sich auf die
was geschah? Die CSU Unterstützung des Polit-
unter Horst Seehofer establishments verlässt,
fuhr ihr bestes Ergebnis ist in Bayern nahezu un-
seit Jahren ein. 47,7 Pro- bekannt.
zent, ein Triumph. Böllerschießen auf dem Oktoberfest in München Die Nähe zum Wähler
Ich erzähle das, weil Zur Not ein Rosenkranz mehr führt zu einer gewissen
gerade wieder ganz vie- Unempfindlichkeit, was
le Menschen das Ende der CSU, wie wir Das heißt nicht, dass einen nicht auch in die Kritik im Feuilleton und auf den Mei-
sie kannten, herbeisehen. Dass die CSU Bayern der Nepotismus zu Fall bringen nungsseiten angeht. Die meisten Politiker
unweigerlich schweren Schaden nehmen kann, siehe den Sturz des armen Frak- in Deutschland haben furchtbare Angst, in
wird, wenn es zum offenen Machtkampf tionschefs Georg Schmid. Man darf sich den Medien für ihre Ansichten verprügelt
zwischen Seehofer und seinem Herausfor- halt bei seinen Schiebereien nicht zu dumm zu werden. Das gilt zumal, wenn sie im
derer Markus Söder kommt, gehört zu der anstellen. Oder sich vorher nicht so unbe- Verdacht stehen, irgendwie reaktionär zu
Sorte politischer Voraussagen, die im Zuge liebt gemacht haben, dass die Entdeckung sein. Gerade Konservative freuen sich wie
der Kommentarverfertigung von der An- einer Missetat den Anlass bietet, den Weg kleine Kinder, wenn ihnen in der Zeitung
nahme zur Gewissheit werden. Ich wäre für einen Nachfolger freizuräumen. für ihre Fortschrittlichkeit Beifall gezollt
mir, was den Ausgang der nächsten Land- Das zweite Missverständnis betrifft die wird.
tagswahl angeht, nicht so sicher. Auswahlkriterien für das politische Perso- Den Fehler, die Zustimmung in den
Über die Bayern im Allgemeinen und nal. Weil Bayern als der letzte Hort kon- Medien mit der Zustimmung im Wahlkreis
die CSU im Besonderen herrschen im Rest servativer Werte gilt, wird selbstverständ- zu verwechseln, haben sie bei der CSU nie
der Republik einige Missverständnisse. lich davon ausgegangen, dass die handeln- gemacht. Wenn die „Süddeutsche Zeitung“
Das erste Missverständnis betrifft die Emp- den Akteure an ihren Bekenntnissen zu oder der SPIEGEL die CSU loben, dann
findlichkeit gegenüber Affären jeder Art. einem gottgefälligen Leben gemessen wer- wissen sie in Passau und Ingolstadt, dass
Was haben wir Journalisten uns nicht den. Nichts könnte ferner von der Wahr- sie etwas grundlegend falsch gemacht
schon die Finger wund geschrieben, um heit liegen. haben. Jan Fleischhauer

DER SPIEGEL 47 / 2017 21


Deutschland

Sie nannten sie Maus


Sexismus Vor einem Jahr beklagte Jenna Behrends in einem offenen Brief an die CDU
die Frauenfeindlichkeit ihrer Partei. Was geschah danach? Von Britta Stuff
Der Anfang Sexismus in meiner Partei schweigen will“. Jenna Behrends, geboren am 30.06.1990,
An einem Tag im Herbst 2016, sie ist gera- Er begann mit den Worten: „Liebe Partei“. wohnhaft in Berlin, das Nachfolgende zur
de mal seit sechs Wochen berühmt, sagt In dem Brief stand, dass die CDU Frau- Vorlage bei Gericht an Eides statt.
Jenna Behrends, dass es nun genug sei. en verschrecke, Neueinsteigerinnen wenig Ich heiße Jenna Behrends. Im Zusam-
Man könne sich treffen, aber alles, was be- echte Chancen biete, sie mit Gerüchten menhang mit den gegen mich erhobenen
sprochen werde, müsse vertraulich bleiben. vergraule. Dort stand, dass ihr Affären an- Vorwürfen betreffend einer Affäre mit
Nach diesem Treffen in einem Café in Ber- gedichtet würden, Behrends schrieb: „Lie- Peter Tauber erkläre ich Folgendes:
lin-Mitte, bei dem sie nichts sagt, was ei- be Partei, ich weiß, du lästerst gerne bei Ich hatte keine Affäre, Beziehung o. Ä.
nem vertraulich vorkommt, schickt sie eine zu viel Bier.“ mit Peter Tauber.
lange Mail, mit Bedingungen für diese Ge- Behrends erzählte in dem Brief, dass ein
schichte. Aus dieser Mail darf auch nicht Berliner Senator der CDU auf einem Par- Der Tag, an dem man Jenna
zitiert werden, obwohl die Bedingungen teitag erst ihre zwei Jahre alte Tochter Behrends für eine dubiose Figur hält
ganz normal sind: Sie möchte ihre Zitate „kleine süße Maus“ nannte und dann sie, Die männlichen Hauptfiguren dieser Ge-
autorisieren, ihr Privatleben raushalten. die Mutter, „große süße Maus“. Genau die- schichte sind Frank Henkel, Sven Riss-
Wenn jemand so früh, direkt zu Beginn ser Senator habe später angeblich einen mann und Peter Tauber.
seiner Prominenz, so viel Wert auf Ver- Kollegen aus dem Abgeordnetenhaus ge- Sehr geehrte Frau Stuff, 
schwiegenheit legt und dieser jemand nicht fragt: „Fickst du die?“ ein Gespräch mit Herrn Tauber dazu ist
gerade CIA-Chef ist, ahnt man: Irgendwas Der Senator hieß Frank Henkel, der Kol- nicht möglich.
lief schief. lege hieß Sven Rissmann.
Die Geschichte lief bald überall, auch Sehr geehrte Frau Stuff,
Protokoll der Vorstandssitzung der CDU, weil Behrends eine am Boden liegende Par- im Auftrag von Herrn Henkel danke ich
Bernauer Straße, 11. Oktober 2016: tei noch mal getreten hatte. Es gab nicht Ihnen für Ihre Anfrage. Er wird jedoch für
Es wird über das Wahlergebnis und die eine große Zeitung in Deutschland, die ein solches Gespräch/Interview nicht zur
Debatte, die durch JBs Blog-Eintrag aus- nicht über diesen Brief berichtete und frag- Verfügung stehen.
gelöst wurde, debattiert. Der Vorsitzende te: Ist die CDU eine Partei der Schweine?
Sehr geehrte Frau Stuff,
kritisiert den Blog-Beitrag und verweist Über diesen Teil der Geschichte kann
für politisch-inhaltliche Fragen stehe ich
auf das Kewenich-Papier, demzufolge der- man mit Jenna Behrends ganz gut spre-
gerne jederzeit zur Verfügung. Da ich aber
artige Angelegenheiten zunächst innerpar- chen, selbst hier im Einstein. Sie sagt, dass
aufgrund Ihrer E-Mail davon ausgehen
teilich und nicht öffentlich diskutiert wer- ihr schon klar gewesen sei, dass das für
muss, dass es Ihnen gerade nicht um Fra-
den sollen. Er sei auch persönlich sehr ent- Wirbel sorgen werde, auch dass das harte
gen dieser Art geht, bitte ich um Verständ-
täuscht. Allerdings anerkennt er, dass JB Vorwürfe seien. Doch mit so viel Wirbel
nis, dass ich an einem Gespräch nicht in-
seit der Aussprache in der Kreisgeschäfts- habe sie nicht gerechnet.
teressiert bin.
stelle am 26.09. von weiteren öffentlichen Mitglieder der CDU Berlin begannen
Mit den besten Grüßen
Beiträgen Abstand genommen hat. vor Kameras zu treten und mit Journalis-
Sven Rissmann
ten zu reden. Sie sagten, den Sexismus,
Der Tag, an dem Jenna Behrends den Jenna Behrends beschreibe, hätten sie Sandra Cegla ist seit der Wahl im Sep-
in die Öffentlichkeit trat nie kennengelernt. Es gebe ihn nicht. tember eines von sieben Mitgliedern der
Der alleröffentlichste politische Ort Berlins Zwei Tage nach ihrem Brief erschien CDU-Fraktion der Bezirksversammlung
ist das Restaurant Einstein, Unter den Lin- eine Pressemitteilung auf der Website der Berlin-Mitte, der Fraktion, zu der auch Jen-
den. Hier gehen Politiker hin, wenn sie ge- Frauen-Union Mitte. Es gebe Sexismus in na Behrends gehört. Sie ist eine der beiden
sehen werden wollen, und so drehen alle, der Partei, ja. Aber Behrends sei die Fal- Frauen, die die Pressemitteilung damals
die hier sitzen, dauernd ihren Hals, wie sche, um ihn anzuprangern. Sie selbst habe veröffentlicht haben. Cegla hat lange als
Gänse im Gehege. Jenna Behrends schaut beispielsweise zwei Frauen aus der CDU Kriminalkommissarin gearbeitet, auf ihrer
sich nicht um. Sie spricht so leise, dass erzählt, dass sie eine Affäre mit dem CDU- Homepage steht, sie habe in ihrem Leben
man sie fast nicht hört. Sie ist inzwischen Generalsekretär Peter Tauber hatte. Der „zahlreiche Ermittlungsverfahren geführt“.
seit vier Monaten berühmt. Text endete mit einer Frage: „Wie glaub- Sie bittet in einen fensterlosen Bespre-
Behrends’ Geschichte begann mit den haft ist Jenna Behrends?“ chungsraum.
Wahlen zum Abgeordnetenhaus und zu Behrends sagt, danach habe etwas be- Cegla sagt, Jenna Behrends habe keinen
den Bezirksversammlungen in Berlin. Im gonnen, das sie sich vorher nicht vorstellen Sexismus erfahren, im Gegenteil. Henkel
September 2016 schnitt die CDU bei diesen konnte. Sie sagt, der Tiefpunkt sei gewe- habe sich persönlich dafür eingesetzt, dass
Wahlen schlecht ab, sie bekam 17,6 Pro- sen, als die „Bild“-Zeitung anrief und ihr Behrends einen Listenplatz bei dieser
zent, ein Verlust von 5,7 Prozentpunkten. vorgeschlagen habe, ein Schreiben aufzu- Wahl bekomme. Jenna Behrends sei erst
Fünf Tage nach dieser Wahl, an einem setzen, das ihre Version glaubhafter ma- ein paar Monate zuvor überhaupt das erste
Freitag um neun Uhr morgens, erschien in chen würde. Mal bei der CDU aufgetaucht, es sei abso-
dem feministischen Onlinemedium Edition lut ungewöhnlich, dass jemand so schnell
F ein offener Brief von Jenna Behrends, Ich weiß, dass die Abgabe einer falschen, einen Platz bekomme, auch wenn es nur
die gerade in die Bezirksversammlung von unvollständigen und sonst wie unzutref- um die Bezirksversammlung gehe.
Berlin-Mitte gewählt worden war. Er trug fenden eidesstattlichen Versicherung straf- In den Wochen vor der Wahl sei ihr,
den Titel „Warum ich nicht mehr über den bar ist. Dies voranschickend, erkläre ich, Cegla, aber schon aufgefallen, dass Beh-
22 DER SPIEGEL 47 / 2017
DOMINK BUTZMANN / DER SPIEGEL

Politikerin Behrends: Sprich nicht darüber, dann kannst du bei uns auch mitmachen

DER SPIEGEL 47 / 2017 23


Deutschland

rends gern Vertraulichkeiten austausche. Tochter, sie trafen sich auf einem Spiel-
Unter anderem habe sie ihr erzählt, dass platz.
sie ein Verhältnis mit Peter Tauber habe. Bücker sagt, es sei Behrends ein Her-

HANNIBAL HANSCHKE / REUTERS


Wenn das gewünscht gewesen wäre, hätte zensanliegen, die CDU jünger und weib-
sie dazu sofort auch eine eidesstattliche licher zu machen. Sie sagt, Behrends sei
Erklärung abgegeben. Nicht die Partei mutig. Was sie tat, sei ein selbstloser femi-
habe Gerüchte über Affären gestreut. Es nistischer Akt gewesen. Sie sagt, Behrends
sei Behrends selbst gewesen. Sie sagt: habe gewusst, dass sie sich mit dem Brief
„Wenn jemand wie Jenna Behrends Sexis- schaden werde, und habe das in Kauf ge-
mus instrumentalisiert, wird echten Opfern nommen.
nicht mehr geglaubt.“ Senator Henkel 2016 Bücker sagt, sie habe selbst einmal in
Nur ein dummer Spruch der Politik gearbeitet. Dort wurden unter
Der Tag, an dem man denkt: die den Frauen Namen von Männern weiter-
arme Jenna Behrends und auch mit keinem anderen, dann ver- gegeben, vor denen man sich zu hüten hat-
Es ist inzwischen Sommer, es ist ein sonni- zeiht man Ihnen das Ganze irgendwann.“ te: Grapscher, Typen, die gern schmierige
ger, aber sehr windiger Tag, und Jenna Komplimente machten. Es gehöre zur
Behrends war zu optimistisch. Sie trägt ein Der Tag, an dem man denkt: Jenna politischen Kultur, dass man die Frauen
dünnes Kleid und zittert. Jenna Behrends Behrends ging es um sich selbst mundtot mache, ihnen suggeriere: Sprich
hat etwas Zerbrechliches an sich, sie könn- Carsten Spallek ist zuständig für „Schule, nicht darüber, dann kannst du bei uns auch
te in einem Film wunderbar eine Elfe Sport und Facility Management“, er ist Be- mitmachen. Das sei auch der Grund dafür,
spielen. Und wie so oft, wenn man über zirksstadtrat von Berlin-Mitte. Spallek ist dass sich nach Behrends’ Brief sofort Frau-
Frauen schreibt, ist einem mal wieder nur 46 Jahre alt. Im August 1988, mit 17 Jahren, en gemeldet hätten, um den Männern zur
ein Klischee eingefallen. begann die Politik, sein Leben zu kapern, Seite zu springen. Sie wollten zeigen, dass
Behrends ist Juristin. Wenn man sie et- damals trat er der Jungen Union und der der alte Pakt noch gilt.
was fragt, sieht sie einen erst mal an, als Schüler Union bei. Spallek benutzt oft das Sandra Cegla, die ehemalige Kriminal-
wollte sie herausfinden, was man aus dem Wort Vertrauen, er zitiert einen alten Slo- kommissarin, die die Pressemitteilung mit
Gesagten machen könnte. Ob man vorhat, gan der Deutschen Bank: „Vertrauen ist schrieb, wurde Beisitzerin des Landesvor-
ihr einen Prozess zu machen. der Anfang von allem.“ stands. In ihrer Bewerbungsrede sagte sie,
In vielen Treffen berichtet sie sehr zö- Man müsse einfach wissen, dass man als sie sei tierlieb, aber sie stehe nicht auf süße
gerlich nach und nach, wie es ihr nach ih- Partei nach außen hin geschlossen aufzu- Mäuse.
rem Brief an die CDU ergangen ist. treten habe, sagt er. Es sei keine Art, ein
Dass sie Nachrichten bekommt, in de- Sexismusproblem intern nicht anzuklagen, Der Tag, an dem man denkt: Jenna
nen man ihr rät, zum Psychologen zu ge- um dann direkt nach einer missglückten Behrends macht die Politik kaputt
hen, wenn sie mit dieser Art von Kompli- Wahl mit Dreck zu werfen. Raum 127 im Rathaus Mitte, der Ort, an
menten nicht umgehen könne. Er sagt, „süße Maus“, das sei doch gar dem sich die Fraktion der CDU trifft, ist
Dass sie nie gefragt wird, ob sie nach ei- kein Sexismus gewesen. Es sei ganz nor- klein, er hat vielleicht 30 Quadratmeter.
nem Termin noch irgendwohin gehen will. mal, dass man in einer Partei sich auch Sebastian Pieper ist 38 Jahre alt, er hat
Behrends sagt, sie fühle sich unter Dau- mal aufziehe mit einem dummen Spruch. vier Kinder, ein weiteres ist unterwegs.
erbeobachtung, sie habe in der Fraktion Zu ihm sei auch schon mal gesagt worden: Den ersten Termin musste er absagen, weil
die unattraktiveren Ausschüsse bekom- „Na, mein Dickerchen?“ Er sagt: „Was hal- sein Keller gerade überflutet wurde, als
men. Zu manchen Veranstaltungen kam ten Sie von uns? Wir sagen den Frauen über Berlin ein Unwetter nach dem ande-
sie anfangs auf die Minute, damit sie nicht doch nicht: Prima, dass Sie da sind, dann ren zog.
allein da stehen musste. Sie habe schon können Sie ja hier mal gleich den Abwasch Pieper war vor der Wahl Frank Henkels
Unterstützer, aber kaum jemanden, der machen und einen Kaffee kochen.“ Büroleiter. Er sagt, es sei so: Die Ebene,
das öffentlich zeige. Behrends, sagt Spallek, habe doch ganz auf der in Ortsverbänden Politik gemacht
Gerade kämpft sie einen kleinen Kampf, offensichtlich eine andere Absicht, als der werde, sei eine, auf der die allermeisten
von dem sie selbst gar nicht erzählt hat, CDU zu helfen, sich zu erneuern. Ihr sei kein Geld bekämen, sie würden in ihrer
das tun andere. Auf ihrer privaten Home- es um die eigene Karriere gegangen. Freizeit an Infoständen stehen, Plakate
page hat sie die Adresse der Partei im Im- Jenna Behrends schreibt jetzt ein Buch, hängen. Für viele dieser Leute seien die
pressum angegeben. Die CDU will, dass es wird 2018 erscheinen. Es kamen viele anderen aus der Partei Freunde, man erle-
das geändert wird. Es wurde darüber ab- Verlage und Agenten auf sie zu, die meis- be, wie Kinder kommen, die Mutter stirbt.
gestimmt, eine Frau enthielt sich, danach ten wünschten sich etwas über die CDU Man sorge sich um einander, man küm-
musste sie sich rechtfertigen, warum sie hinter den Kulissen oder über Sexismus. mere sich. Wenn man alles aus der Politik
nicht wie die anderen stimmte. Behrends entschied sich für ein Buch über entfernte, würde man auch die Leute
Sie sagt, sie habe versucht, mit einer Familienpolitik. verlieren.
hochrangigen Frau in der CDU über ihre Es habe eine Sitzung gegeben, so erzählt
Sache zu sprechen. Die Politikerin teilte Der Tag, an dem man denkt: Jenna es jemand aus der Fraktion, in der Sandra
ihr mit, ein Termin sei leider nicht möglich, Behrends ist eine Heldin Cegla, die Kriminalkommissarin, zur stell-
Behrends könne sie aber auf einer öffent- Teresa Bückers Büro liegt in Prenzlauer vertretenden Fraktionsvorsitzenden ge-
lichen Veranstaltung jederzeit ansprechen. Berg, einem Ort, an dem Männer im Spie- wählt werden sollte. Jenna Behrends habe
Auf einem Empfang sei sie dann zu ihr gel schon lange keinen Sexisten mehr er- das unbedingt verhindern wollen, sie habe
gegangen und habe gefragt, wie mit dem kennen. Bücker ist die Chefredakteurin gedroht, die Fraktion zu verlassen, wenn
Thema Sexismus in der Partei denn nun von Edition F, sie hat den Brief von Jenna Cegla gewählt werde. Das habe die CDU-
weiter umgegangen werde. „Am besten Behrends veröffentlicht. Behrends habe Fraktion verkleinert, und sie hätten das
schweigen Sie erst mal“, habe die Politike- ihr irgendwann geschrieben, dass sie gern Vorschlagsrecht für den Bezirksstadtrat
rin gesagt. „Wenn Sie ab jetzt nicht mehr über eine Geschichte reden wolle. Bücker verloren. Es habe Carsten Spallek, den
mit der Presse über die Sache sprechen ist wie Behrends Mutter einer kleinen Mann, dem das Vertrauen in der Politik
24 DER SPIEGEL 47 / 2017
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Deutschland

man sich, als wäre man auf eine geheime


Gesellschaft gestoßen wie in einem James-
Bond-Film, wo eine unscheinbare Tür auf-
geht, und dahinter ist eine Kommandozen-
trale. Plötzlich fällt einem auf: Man war
schon auf Dutzenden, vielleicht sogar Hun-
derten Veranstaltungen, auf denen fast nur
Männer waren, es hat sich immer ganz nor-
mal angefühlt. Aber man war in seinem
ganzen Leben noch nie in einem Raum
mit so vielen Frauen.
An der Wand hängen Sprüche: „Each

DANIEL REITER / EDITION F


time a woman stands up for herself, she
stands up for all women.“ Die meisten hier
sehen aus, als wären sie gerade aus Insta-
gram herausgefallen. Eine Frau hat Dut-
zende Goldketten um den Hals hängen,
Rednerin Behrends bei einer Veranstaltung der Female Future Force: Exotische Armee wie bei einem Rapper. Eine andere trägt
ihren Dutt so hoch, dass sie wie ein Ein-
so wichtig ist, den Job gekostet. Die Frak- „die CDU-Maus“, einfach weil dann alle horn aussieht. Sie wirken wie eine große
tion gab nach, Cegla wurde an diesem Tag wussten, wer gemeint ist. exotische Armee.
nicht gewählt. Manche in der Partei nen- Behrends sagt, sie wisse, dass sie nun An diesem Abend soll in Berlin die
nen das Erpressung. die Maus sei. So sei es, wenn man Sexis- Female Future Force beworben werden.
Pieper sagt, man habe in manchen Si- mus anprangere: Das Gesagte bleibe an ei- Das ist ein digitales Karriere-Coaching-
tuationen schon den Eindruck, dass es nun nem selbst kleben, nicht an dem, der es Programm. Die Idee hatten die Gründe-
eine andere Stimmung in der Partei gebe, ursprünglich gesagt habe. rinnen von Edition F, dem Onlinemagazin,
weniger offen, verkrampft. Er sagt: „Man Sie sagt, natürlich habe ihr das Ganze das Behrends’ Text veröffentlicht hat.
überdenkt seine Worte, gerade wenn Jen- geschadet. Wenn sie irgendwann mal einen An diesem Abend sollen fünf Frauen
na Behrends im Raum ist. Ich denke, das Job wolle, zum Beispiel bei einer Kanzlei, Reden halten, über einen „Life Changing
kann man verstehen.“ dann werde man sie googeln. „Die Leute, Moment“, einen Moment, der ihr Leben
die meine Bewerbung auf dem Tisch ha- verändert hat. Eine Frau schildert auf der
Die Tage, an denen man nicht ben, werden sich dann fragen: Kann man Bühne, dass sie bei einem Bewerbungs-
mehr weiß, was man denken soll ihr vertrauen? Oder plaudert sie Interna gespräch aufs Hotelzimmer gebeten wurde.
Da ist der Mann, der sich sicher ist, dass aus und lässt uns schlecht dastehen?“ Eine hat einen Podcast, sie erzählt eine
Behrends instrumentalisiert wurde. Dass Man werde sich immer fragen: Hatte die Geschichte, die in etwa so geht:
sie von einem Mann manipuliert wurde, nun was mit Peter Tauber oder nicht? Nach einem Sturm liegen am Strand
um Henkel zu schaden. Er habe aus guter Neulich habe sie einen Mann kennen- Hunderte Seesterne. Ein alter Mann beob-
Quelle gehört, dass der Dienstwagen die- gelernt, der sie verunsichert fragte, ob er achtet einen kleinen Jungen, der die See-
ses Mannes mehr als einmal um 23 Uhr ihr ein Kompliment machen dürfe. sterne zurück ins Meer wirft. Er fragt den
vor Behrends’ Wohnung geparkt habe. Behrends sagt, in der Berliner Partei sei Jungen: „Warum tust du das, du wirst nie
Da ist eine junge Frau, sie sagt, die Stim- hingegen alles beim Alten. Darüber klagen alle zurückwerfen können.“ Der Junge öff-
mung in der Partei sei so, wie von Behrends auch andere Frauen: Die Arbeitsgruppe net seine Hand, darin liegt ein kleiner See-
beschrieben. Die Basis der CDU in Berlin zu Sexismus, die eingesetzt werden sollte, stern, er sagt: „Aber für diesen hier macht
sei von Männern geprägt, die ihre Macht habe nie getagt. Die Posten würden noch es einen Unterschied.“
nicht teilen wollten und sich gegenseitig immer hauptsächlich mit Männern besetzt. Eine Frau aus dem Publikum meldet
Posten zuschanzten. Sie erzählt von einem Die Partei sei zu dem Schluss gekommen, sich zu Wort, sie sagt, dass der Podcast die-
CDUler, der neulich eine sehr anzügliche dass sie kein Problem hat. Dass Behrends ser Frau ihr Leben wirklich verändert habe.
Bemerkung gemacht habe. Wenn man das Problem war. Jenna Behrends spricht als Letzte, sie
sie fragt, ob man das aufschreiben dürfe, Behrends ist noch für vier weitere Jahre wird vorgestellt als eine Frau, die es hof-
erschrickt sie. Man dürfe weder ihren Na- in der Bezirksversammlung. Beim Bundes- fentlich in der Politik weit bringen werde.
men nennen noch die Bemerkung zitieren, tagswahlkampf habe sie mitmachen wol- Behrends „Life Changing Moment“ ist
sonst sei der Kollege vielleicht sauer. len, an den Türen klingeln, für die CDU nicht ihr Brief an die CDU, sie erzählt von
Da ist der Mann, kurz vorm Rentenalter, werben. Doch der Direktkandidat der dem Moment, als sie Mutter wurde. Sie
der sagt, dass er sich nicht mit Behrends CDU in ihrem Wahlkreis war Frank Hen- sagt, da sei ihr klar geworden, wie viel
allein in einem Raum setzen würde. Hin- kel, und mit einem Bild Henkels an Türen Politik für Familien noch tun müsse. Sie
terher behaupte sie noch, er habe sie an- zu klingeln sei ihr dann doch unglaubwür- habe zum Beispiel gelernt, dass Windeln
gefasst. dig vorgekommen. Sie habe also in einem stärker besteuert werden als Trüffel, das sei
anderen Wahlkreis mitgemacht. nicht gerecht. Alle im Saal applaudieren. In
Der Tag, an dem man denkt: Diese Frank Henkel spielt in der Berliner CDU dieser Welt ist Jenna Behrends eine Heldin.
Geschichte hat keinen Sieger inzwischen keine große Rolle mehr. Später werden all diese Frauen die Halle
Dass man ein Sexist ist, merkt man an klei- verlassen und wieder in die kalte Luft der
nen Sachen. Ich zum Beispiel an meiner Der Tag, an dem man denkt, dass anderen Welt hinaustreten. Irgendein Typ
Reaktion auf die Frage, zu welchem Ter- Frauen bald die Welt übernehmen. wird sie vielleicht „Maus“ nennen oder
min ich gerade gehe. Zuerst habe ich im- Vielleicht sagen, dass sie wie ein Einhorn aussähen,
mer gesagt: „Ich treffe Jenna Behrends.“ In einer Messehalle in Berlin stehen an ei- und sie werden sich fragen, ob sie etwas
Weil aber niemand wusste, wer Jenna Beh- nem Abend im September 2017 Hunderte sagen sollen oder ob das alles nur schlim-
rends ist, begann ich irgendwann zu sagen, Frauen. Kaum betritt man den Raum, fühlt mer macht. 

26 DER SPIEGEL 47 / 2017


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Deutschland

Im Tunnel
Karrieren Martin Schulz kämpft um seine Wiederwahl als SPD-Chef. Es geht auch um seine Ehre,
er will nicht als Fußnote der Parteigeschichte enden. Von Veit Medick

STEFAN BONESS / IPON / IMAGO


Sozialdemokrat Schulz: „Was wollt ihr?“

E
s ist der Dienstag dieser Woche, im Gerechtigkeit sprechen und Fairness, über wenn ich das Kommunistische Manifest
Hotel Estrel an der Berliner Sonnen- Jobs und Mitbestimmung. „Wir werden wei- Teil zwei schriebe, würde es heißen: Das
allee hat die Eisenbahngewerkschaft terhin dafür kämpfen, dass die Schiene in ist aber dünn“, klagte Schulz kürzlich ge-
zur Tagung geladen. Martin Schulz sitzt diesem Land gestärkt wird“, ruft Schulz. Es genüber seinen Leuten.
in der ersten Reihe des Konferenzsaals, sind Zuckerstückchen für die Eisenbahner. Manche erinnert das trostlose Bild, das
gleich soll er ein Grußwort halten. Schulz So angenehm verbringt Schulz seine Zeit die SPD derzeit abgibt, an das Drama um
lächelt nach links, er lächelt nach rechts, in diesen Wochen selten. Seit dem Debakel Kurt Beck vor neun Jahren. Mit einem fei-
dann tritt Gewerkschaftschef Alexander der SPD am 24. September befindet sich nen Unterschied: Schulz will nicht hinwer-
Kirchner ans Mikrofon. „Ich glaube, viele Schulz in einem Tunnel, der Parteivorsit- fen, im Gegenteil, es sieht so aus, als werde
von uns hätten sich gewünscht, Sie wären zende ist hauptberuflich damit beschäftigt, er auf dem Parteitag im Dezember wie-
heute nicht gekommen“, ruft er mit ernster sein politisches Überleben zu sichern. Das dergewählt.
Miene in Richtung des SPD-Chefs. ist einerseits folgerichtig, andererseits aber Schulz’ Lebensversicherung ist das Ver-
Schulz schreckt auf. Wie bitte? auch kurios, weil die SPD fast schon froh trauen, das die einfachen Parteimitglieder
„Wir hätten uns gewünscht, Sie würden sein müsste, dass sich in dieser Lage über- nach wie vor in ihn setzen. Und die Tatsa-
als Wahlsieger jetzt Koalitionsverhandlun- haupt noch jemand freiwillig für den Job che, dass es in der zweiten Reihe bislang
gen führen“, scherzt Kirchner. Gelächter meldet. Wie seine Vorgänger bekommt niemanden gibt, der ihm wirklich gefährlich
im Saal. Schulz nun zu spüren, was es heißt, Chef werden könnte. Andrea Nahles will nicht.
Gewerkschaftstage mögen dröge Veran- einer notorisch zerstrittenen Partei zu sein. Scholz würde gern – wird von den Minis-
staltungen sein, für Schulz dienen Termine Mal zählt ihn sein Vize Olaf Scholz an. terpräsidenten aber als kleiner Bürgermeis-
wie dieser gerade der Erholung. Endlich Mal rebellieren die Frauen. Dann wieder ter belächelt und steht überdies im Ruf, stets
mal eine halbe Stunde, in der niemand über stichelt Gerhard Schröder. Oder es heißt, die Lippen zu spitzen, aber nie zu pfeifen.
ihn meckert oder den Untergang der Sozi- Schulz habe keine Idee davon, wohin er Manch ein Sozialdemokrat fragt sich,
aldemokratie prophezeit. Schulz darf über die SPD überhaupt führen wolle. „Selbst warum Schulz sich diese Tortur eigentlich
28 DER SPIEGEL 47 / 2017
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und bringt eine Urwahl für den Parteivor-
sitz ins Spiel. Meckert Sigmar Gabriel über
den Wahlkampf, wirft er ihm und allen an-
deren, die „schon seit August Bebel“ in
der Parteispitze seien, Flucht aus der Ver-
antwortung vor. Und gibt es Kritik an sei-
ner Ideenlosigkeit, liebäugelt Schulz mal
kurz damit, all die teure Kunst im Willy-
Brandt-Haus zu verkaufen, die Neo
Rauchs und die Brandt-Statuen, um im Os-
ten zu investieren. Man wolle ihn mürbe-
schießen. „Das schaffen sie aber nicht“,
sagte er neulich zu einem Vertrauten.
Härte und schwache Nerven liegen bis-
weilen eng beieinander. Am Tag nach der
Wahl absolvierte Schulz eine ziemlich ver-
heerende Pressekonferenz, er war unwirsch

HC PLAMBECK / DER SPIEGEL


und unkonzentriert. Später ging er aufs
abendliche Gartenfest des Seeheimer Krei-
ses. Die Pressekonferenz war dort großes
Thema. Während das Publikum am Weiß-
wein nippte, hockte Schulz vorn auf dem
Bühnenabsatz und verlor die Contenance.
Politiker Schulz: Umarmungsstrategie für den Machterhalt „Was wollt ihr?“, schrie er die Reporter an.
„Ihr lebt in eurer Blase und kriegt nichts
antut. Einer seiner Freunde hat ihm neu- Kritiker wieder: Schulz habe kraftlos da- mit vom richtigen Leben!“ Schulz erinnerte
lich gesagt, er sei doch ein freier Mann, er gesessen. Im Willy-Brandt-Haus macht das da eher an einen Türsteher als an einen
habe alles erreicht. Bürgermeister. Europa- Wort von der „begleiteten Parteiführung“ SPD-Vorsitzenden. Später bekamen die Be-
politiker. Kanzlerkandidat. Die Rente sei die Runde. Der Begriff stammt von einem troffenen eine Entschuldigung.
sicher, die Kinder seien aus dem Haus. Phoenix-Korrespondenten, der vor der Ka- Je länger Politiker im Amt sind, desto
Mach doch künftig einfach nur das, worauf mera in der Parteizentrale seinen Eindruck schwieriger wird es, den richtigen Zeit-
du wirklich Lust hast, hat er gesagt. Aber der Lage schilderte, aber in einigen Be- punkt für den Abgang zu finden. Das ist
Lust? Auf dieses Amt? In dieser Situation? richten wird er später Schulz’ Gegnern zu- gerade am Beispiel von Horst Seehofer
Nach dieser Niederlage? geschrieben. Es ist eine mediale Verselbst- und Angela Merkel zu beobachten. Der
Ein Treffen drei Wochen nach der Wahl. ständigung. CSU-Chef weigert sich zu gehen, obwohl
Schulz sitzt in einem Restaurant. Er hat Schulz weiß davon nichts, er fühlt sich seine Partei schon lange unter ihm leidet.
einen Tisch im Separee reserviert, hier ist von seinen Kritikern herausgefordert. Als Er will sich nicht vom Hof jagen lassen.
er vor Blicken sicher, er hat im Wahlkampf sich tags darauf die Fraktion trifft, geht er Und die Kanzlerin sieht es nicht ein, am
genug davon gehabt. Er bestellt Blutwurst zu Andrea Nahles: Er müsse vor den Ab- Ende auf weniger Amtsjahre als Helmut
mit Apfelchutney, dazu ein Wasser. Schulz geordneten mal etwas Grundsätzliches sa- Kohl zu kommen. Sie ist immer noch da,
hat einen schonungslosen Blick auf die gen. Es wird ein 15-minütiger Vortrag. obwohl sie eigentlich alles erreicht hat.
Lage der Partei, auf seine eigenen Schwä- Über den Kapitalismus, sozialdemokrati- Bei Schulz liegen die Dinge anders. Er
chen und die Fehler im Wahlkampf. Aber sche Sünden, die Fehler von Schröders will bleiben, weil er meint, noch gar nicht
klar wird auch, wie sehr die Niederlage in „Drittem Weg“ und den Irrtum von Francis richtig angefangen zu haben. Die Ära
ihm arbeitet. Fukuyamas „Ende der Geschichte“. Schulz Schulz in der SPD, sie soll jetzt erst los-
Niederlagen gehören zur Politik, jeden redet sich in Fahrt. „Wir müssen wieder gehen. So sieht er es.
kann es treffen. Schulz empfindet das Er- die Systemfrage stellen“, impft er den Ge- Völlig undenkbar ist das nicht. Auch
gebnis vom 24. September aber nicht als nossen ein. Die staunen und klatschen. Hans-Jochen Vogel wurde einst einige Jah-
Misserfolg, sondern als Kränkung. Schwere Schulz ist gut. Und er ist zufrieden mit re nach einer gescheiterten Kanzlerkandi-
Niederlagen in der Spätphase von Karrie- sich. Sollen sie doch reden. datur SPD-Chef, weil Johannes Rau und
ren sind für Politiker besonders schmerz- Es ist paradox mit Schulz: Im Wahl- Oskar Lafontaine nicht wollten. Er wurde
haft, weil sie meist nicht mehr die Chance kampf wirkte der 61-Jährige häufig wie ein guter Vorsitzender, der die Partei er-
haben, diese zu korrigieren, sondern damit ein freundlicher Herr. Doch seit der Nie- neuerte, vor allem was die Förderung von
leben müssen, dass sie als Verlierer in Er- derlage zeigt sich hinter seinem unschein- Frauen betraf.
innerung bleiben, egal was vorher war. baren Auftreten enormer Ehrgeiz, auch Ei- Doch für Schulz wird es schwer. Die
Schulz weiß: Schmeißt er hin, würde er telkeit. Jedenfalls dann, wenn jemand sei- Rahmenbedingungen sind anders als 1987.
als bundespolitische Sternschnuppe in die ne Fähigkeiten anzweifelt. Das Parteiensystem ist vielfältiger, Bünd-
Geschichte eingehen. Ein kurzes Flackern Schreibt Olaf Scholz ein Papier zur Zu- nispartner sind schwieriger zu finden. Die
und dann ab ins Nichts. kunft der SPD, schreibt er ein längeres Grünen stehen vor dem Wechsel ins bür-
Für Schulz ist das keine Option. Sein gerliche Lager. Die Kernklientel schrumpft.
Kampf um den Vorsitz ist auch eine Art In der Parteiführung herrscht Misstrauen,
Therapie. Er soll ihm helfen, das Trauma Schulz will Parteichef man kämpft um die wenigen verbliebenen
vom September zu verarbeiten. bleiben, weil er meint, Ämter. Zudem gibt es bis zum Herbst 2018
keine Landtagswahl, über die sich die SPD
Mitte Oktober macht Schulz mit dem
Parteivorstand eine Klausur, die Sozial- noch gar nicht richtig revitalisieren könnte.
demokraten reden über die Gründe ihres angefangen zu haben. Der 24. Oktober, konstituierende Sit-
Versagens. Danach meldet sich manch ein zung des Bundestags. Schulz hat Ärger, es

30 DER SPIEGEL 47 / 2017


Deutschland

gab Personalquerelen. Seine Bundes- für das Gute kämpfen durfte: mehr Demo- Pläne umrissen, die er auf den Regional-
geschäftsführerin Juliane Seifert hat ge- kratie, mehr Mitsprache, mehr Integration. konferenzen testet. Schulz will die SPD
kündigt, weil er hinter ihrem Rücken schon Themen, die ihn über dem Kleinklein wieder als Europapartei positionieren. Zu-
eine mögliche Nachfolgerin angesprochen schweben ließen. Er schwebt jetzt nicht dem meint er zu erkennen, dass für die
hatte. Schulz sitzt im Plenum neben An- mehr, er steckt mitten im Dickicht des in- SPD links mehr Platz ist, weil sich alle
drea Nahles. Er lehnt sich weit nach rechts, ternen Streits. rechts tummeln. Das kann ein Ansatz sein;
sie nach links, die Körpersprache verrät: Wenn er bis 2019 Chef bleiben will, muss die Schwierigkeit ist, dass der Parteirechte
Es könnte schwierig werden mit den bei- Schulz seine neue Rolle lernen. Zu selten Schulz mit einem Linkskurs ein Glaubwür-
den. Nahles hat ein Interesse an einem denkt er bisher die Folgen seines Handelns digkeitsproblem bekommen könnte.
schwachen Parteichef, ihr eröffnet das vie- zu Ende. Sein Urwahlvorschlag ist recht- Am vergangenen Sonntag ist Martin
le Spielräume. lich schwierig. Scheiterte er mit dem Plan, Schulz im Berliner Mercure Hotel, die SPD
Die Pausen nutzt Schulz, um Verbünde- wäre das auch seine Niederlage. hat zu einer jener Veranstaltungen geladen,
te zu treffen. Er setzt sich im Abgeordne- Als er mit Lars Klingbeil kürzlich seinen auf denen die Basis ihr Herz ausschütten
tenrestaurant mit seinem Schatzmeister Wunschgeneralsekretär nannte, erschwer- kann. Einige Sozialdemokraten hocken im
zusammen, später trinkt er mit Sigmar Ga- te das Thomas Oppermann die Wahl Schneidersitz auf dem Boden, sie malen
briel einen Kaffee. Als sie hinausgehen, zum Vizepräsidenten des Bundestags, die ihre Erneuerungsvisionen auf große Plakate
kommt ein Satiriker der „heute-show“ auf Frauen fühlten sich übergangen. Schulz und diskutieren den Weg zur Wiederaufer-
die beiden zu, das Mikrofon in der Hand. musste Oppermanns Gegenkandidatin stehung. Im Saal herrscht eine leicht esote-

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Gabriel durchschaut das Ganze und igno- Ulla Schmidt so lange bearbeiten, bis sie rische Atmosphäre. Einer hat ein Poster ge-
riert den Reporter. Schulz lässt sich in ein ihm zuliebe verzichtete – und sich schließ- malt mit der Aufschrift: „Martin 2021“.
kurzes Gespräch verwickeln. lich mit Tränen in den Augen im Plenum Schulz weiß genau, was der Saal hören
Schulz gehört seit 1999 zur Führung der des Bundestags zeigte. will. „Wir sind eine linke Volkspartei“, ruft
SPD, seit acht Monaten ist er Parteichef, Um seine Macht zu sichern, fährt Schulz er. „Wir dürfen den Begriff des Linken
aber in Berlin ist er in gewisser Weise im- eine Umarmungsstrategie. Er möchte den nicht der Linkspartei überlassen.“ Schon
mer noch ein Neuling. Es gibt Politiker, Vorstand von 35 auf 45 Mitglieder erwei- im Godesberger Programm habe gestan-
die mit ihrer Distanz zur Hauptstadt ko- tern, um Streit auf dem Parteitag zu ver- den, alle wirtschaftliche Macht habe sich
kettieren, um sich mit all jenen zu verbrü- meiden. Sigmar Gabriel hatte das Gre- öffentlicher Kontrolle zu unterwerfen.
dern, die das Regierungsviertel als Chiffre mium einst verschlankt. Schulz will nun „Wenn wir den Raubtierkapitalismus nicht
für die Entrücktheit des Berliner Betriebs sicherstellen, dass alle Strömungen und zivilisieren, frisst er uns auf.“
sehen. Bei Schulz spricht einiges dafür, alle Landesverbände in der Führung ange- Er wolle, sagt Schulz, die gesamte Partei
dass er tatsächlich fremdelt mit der Stadt. messen vertreten sind, auch die kleinen. in die Kursdebatte einbinden. Und ganz
Und mit der Art und Weise, wie hier Poli- Für den Parteitag kann das von Vorteil zum Schluss: „Das Entscheidende ist, dass
tik und Medien funktionieren. sein, weil alle irgendwie bedient werden. die Richtung dann für alle gilt – auch für
Er hat den größten Teil seiner Karriere Der Nachteil ist, dass ohne Reibung der die, die sich nicht durchgesetzt haben.“
in Brüssel verbracht. Das ist ein anderer Eindruck entsteht, es tue sich nichts in der Schön wär’s.
Kosmos als Berlin. Die Grenzen zwischen SPD. Das ist Schulz’ Dilemma: Ihm fehlt
den Parteien sind dort fließender, alle tei- die Macht, die Partei so umzubauen, wie Video:
len irgendwie das gleiche Ziel, Europa zu es für einen echten Neuanfang nötig wäre. Mr. Opposition
stärken. Schulz war lange Parlamentsprä- Außerdem ist noch unklar, wohin Schulz spiegel.de/sp472017schulz
sident, eine schöne Aufgabe, weil er immer die Sozialdemokraten führen will. Er hat oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 47 / 2017 31


HANNES JUNG / DER SPIEGEL

Ehemaliger Sozialminister Blüm: „Am Grab hören alle Gefechte auf“

32 DER SPIEGEL 47 / 2017


Deutschland

„Wir waren wie Kinder“


SPIEGEL-Gespräch Norbert Blüm war der einzige Minister, der in der Ära Kohl 16 Jahre lang
in dessen Kabinett saß. Sein letzter Brief an den Altkanzler blieb ohne Antwort.

Blüm, 82, lebt in einer kleinen Villa in der Bon- hier.“ Geißler antwortete: „Komm, wir ver- Blüm: Der Pfälzer, der Provinzpolitiker, die
ner Südstadt. Er hat eingewilligt, ein Ab- schwinden.“ Birne. Wenn ihr das mit mir gemacht hät-
schiedsgespräch über Helmut Kohl, Heiner SPIEGEL: Und dann? tet, hätte ich gedacht: „Ihr könnt mich
Geißler und die Bonner Republik zu führen. Blüm: Wir sind zur Kirche und haben uns mal.“ Aber er war tief getroffen. Er wollte
Blüm war von 1982 bis 1998 Sozialminister. davor auf eine Mauer gesetzt. Antje Voll- ein Mann sein, der gescheit ist. Und kein
Er sagt, er freue sich auf das Gespräch, aber mer, die ehemalige grüne Bundestagsab- Dummkopf. Er reagierte auf euch aus ver-
er wirkt seltsam aufgeregt. geordnete, kam vorbei und begann, sich letztem Stolz mit Trotz.
mit Geißler über Gott zu streiten. Geißler SPIEGEL: Waren Sie jemals Freunde?
SPIEGEL: Herr Blüm, wie haben Sie erfah- hat in seinen letzten Jahren an Gott ge- Blüm: Wir waren jedenfalls mehr als nur
ren, dass Helmut Kohl gestorben ist? zweifelt. In der Messe dachte ich: „Ich Kollegen. Beruflich haben wir es uns oft
Blüm: Ich glaube, ich habe es im Radio ge- kann auf Geißler leider keine Rücksicht schwer gemacht, er hat im Hintergrund
hört. Ich wusste aus Telefonaten mit Freun- nehmen, ich geh jetzt zur Kommunion.“ getobt, ich auch. Kohl sagte oft: „Mit dem
den, dass er im Sterben liegt. Ich hatte Als ich zurückkam, ist er aufgestanden Blüm kannste viel machen, aber wenn er
mich auf seinen Tod schon eingestellt. und ging auch. „Aber an Jesus glaube ich“, einen roten Kopf hat und ihm die Nacken-
SPIEGEL: Was kam Ihnen in den Sinn? sagte er danach plötzlich im Dom, ohne haare zu Berge stehen, musste aufpassen.“
Blüm: Mitleid. Kohl muss sehr verbittert dass ich ihn gefragt hatte. Was das aber Wir waren beide Dickköpfe, die sich gern
gestorben sein. Er wollte seine Söhne und bedeutet, weiß ich nicht. Wir hätten noch gestritten haben. Ich war zeitweise darauf
Enkel nicht sehen, die meisten Freunde viel zu besprechen gehabt. vorbereitet, von ihm abgeschossen zu
waren auch nicht mehr erwünscht. Ecki SPIEGEL: Wie haben Sie sich verabschiedet werden.
Seeber, sein ehemaliger Fahrer, kannte in an dem Tag? SPIEGEL: Was heißt das?
seinem Leben eigentlich nur den Dienst Blüm: Geißler wollte direkt nach der Messe Blüm: Es gab eine Zeit, da hatte ich immer
für Kohl, aber auch er durfte nicht kom- wieder nach Hause. Er hatte keine Lust, ein Schreiben in meiner Brusttasche, wenn
men. Kohl hätte eigentlich einen anderen danach stundenlang über Kohl reden zu ich zu Kohl ging: „Sehr geehrter Herr Bun-
Abgang verdient gehabt. Bei aller Kritik müssen. Wir haben uns durch den Seiten- deskanzler, ich bitte Sie, dem Herrn Bun-
an ihm, er war doch ein großer Staats- eingang rausgeschlichen. Zwei Wochen vor despräsidenten vorzuschlagen, mich aus
mann. seinem Tod rief Geißler noch mal an und dem Dienstverhältnis zu entlassen. Hoch-
SPIEGEL: Sie haben die Trauerfeier von sagte: „Hör mal, es war doch richtig, dass achtungsvoll, Ihr Norbert Blüm.“ Jeden
Kohl in Speyer besucht. Fiel Ihnen diese wir da hingegangen sind.“ Morgen hat die Sekretärin das Datum aus-
Entscheidung leicht? gewechselt und mir das Schreiben neu mit-
Blüm: Ich habe meinen Freund Heiner Heiner Geißler war zwölf Jahre lang Kohls gegeben. Ich dachte: Wenn ich merke, dass
Geißler angerufen und gesagt: „Hör mal, Generalsekretär. 1989 wollte Kohl ihn nicht er mich rauswerfen will, ziehe ich das Ding
Kohl wird beerdigt. Jetzt gibt’s zwei Mög- mehr für den Posten vorschlagen. Geißler und sage: „Ich gehe!“
lichkeiten. Wir gehen beide hin, oder wir plante wiederum mit der damaligen SPIEGEL: Wie im Western, wo der gewinnt,
gehen beide nicht hin. Aber wir lassen uns Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und der zuerst die Waffe zieht.
nicht gegeneinander ausspielen. Sonst ist dem Ministerpräsidenten Baden-Württem- Blüm: Es war kindisch.
der eine der Anständige, der andere ist bergs, Lothar Späth, einen Putsch gegen Kohl. SPIEGEL: Haben Sie und andere sich in
der Trotzkopf.“ Ich sagte: „Ich bin dafür, Sie scheiterten. Es kam zum Zerwürfnis zwi- Kohls Gegenwart wohlgefühlt?
dass wir beide hingehen. Am Grab hören schen Kohl und Geißler. Blüm: Ja. Die Abende im Kanzlerbungalow
alle Gefechte auf.“ waren unkompliziert. Er hat aber auch
SPIEGEL: Was sagte er? SPIEGEL: Was für ein Mensch war Kohl? gern gelästert und gefrotzelt. Es gab viele,
Blüm: Er sagte: „Mach ich nicht. Ich geh Blüm: Er war jemand, der im Grunde seines die das nicht abkonnten. Ich wusste ihn
da nicht hin.“ Ich rief: „Du Sturkopf! Aber Herzens geliebt werden wollte. Er hat zu nehmen. Einmal fragte er in einer Ka-
gut, dann bleiben wir beide weg.“ Dann seine Gutmütigkeit hinter viel Unsicher- binettssitzung reihum: „Wer hat daheim
haben wir eingehängt. So ungefähr 25 Mi- heit und Aggressivität versteckt. Helmut einen Computer?“ Ich sagte, als ich dran
nuten später rief Geißler wieder an und Schmidt stellte sich selbst nicht infrage, war: „Ich hab leider keinen Computer,
sagte: „Wir gehen.“ Geißler hatte auch keine Selbstzweifel. Ich aber wir haben ’ne elektrische Kaffeema-
SPIEGEL: Sind Sie dann zusammen nach meine das weder positiv noch negativ. Sie schine.“
Speyer gereist? wussten einfach, wer sie waren. Ich glaube SPIEGEL: Glauben Sie im Nachhinein, es
Blüm: Ich hab ihn zusammen mit Friedhelm nicht, dass Kohl mit sich in Übereinstim- wäre besser gewesen, wenn der Putsch von
Ost, Kohls ehemaligem Sprecher, an einem mung war. 1989 geklappt hätte?
Parkplatz auf dem Weg abgeholt. In Spey- SPIEGEL: Warum nicht? Blüm: Nein. Ich habe zwar streckenweise
er gingen wir erst zu einem Vorempfang, Blüm: Woher diese tiefe Angst kam, dass mitgemacht und bin zu den Verschwö-
wo die CDU-Prominenz sich traf. Die ha- man denken könnte, er sei ein Provinztrot- rersitzungen gegangen, weil ich radikal
ben mit uns Alten dann geschäkert und tel, weiß ich nicht. Wenn man ihn traf, hat gegen Kohls Plan war, Geißler abzuser-
posiert. Ich flüsterte Geißler zu: „Hör mal, er oft erzählt, welche Bücher er gerade liest. vieren. Geißler hat mir allerdings lange
wir müssen abhauen, das wird zu fröhlich Das hat keinen interessiert, aber es war ihm nicht gesagt, dass Späth Kohl nachfolgen
wichtig zu signalisieren, dass er nicht die sollte. Der Späth war ein flotter Junge,
Das Gespräch führten die Redakteure Markus Dettmer Birne war, die er im „Stern“ und im … aber Kohl stand mir näher, nicht nur
und Britta Stuff. SPIEGEL: … SPIEGEL war. sozialpolitisch.
DER SPIEGEL 47 / 2017 33
WIE EIN Deutschland

LAND IN DIE
SPIEGEL: Heiner Geißler fiel bei Kohl in Un-
gnade. Sie nicht. Haben Sie mit Kohl je
darüber gesprochen?
Blüm: Einmal saßen wir zu zweit spät-
abends zusammen, ich lag schon halb ein-

DIKTATUR geschlafen im Sessel, da sagte er: „Wollen


wir da noch mal drüber reden, über die
Geißler-Geschichte?“ Ich sagte: „Nein.“
Wir waren halt wie Kinder.
DRIFTET SPIEGEL: Zu seinem Ghostwriter Heribert
Schwan sagte Kohl, Sie seien ein Verräter.

FRANK DARCHINGER
Blüm: Er sagte auch, er habe den Fehler ge-
macht, mir die Sozialpolitik zu überlassen.
Und seine Frau Hannelore habe schon im-
mer gesagt, ich sei ein falscher Fünfziger.
Ich habe das Buch allerdings nie gelesen. Kanzler Kohl, Minister Blüm 1986
SPIEGEL: Warum nicht? „Er war tief getroffen“
Blüm: Selbstschutz. Ich habe mir das erzäh-
len lassen, das reicht. Sache. Du musst jedem, der abweichen
SPIEGEL: 1998 wurde die Kohl-Regierung will, nachlaufen, ihn streicheln oder ihm
abgewählt. Wie haben Sie das Ende er- in den Hintern treten. Eingebildet, wie ich
lebt? bin, würde ich sagen, ohne mich wäre die
Blüm: Ich habe den Kohl oft bewundert. Pflegeversicherung nicht gelaufen. Die war
Der Wahlabend 1998 war so ein Moment. gefühlt zehnmal im Vermittlungsausschuss.
Kohl stand im Adenauer-Haus auf der Büh- Aber wo soll da ein Machterlebnis sein?
ne, Bernhard Vogel und Blüm daneben. SPIEGEL: Sie sind seit fast 20 Jahren
Volker Rühe und der Schäuble hatten sich nicht mehr Politiker. Ist das alles schon
aus dem Staub gemacht. Kohl sagte ganz weit weg?
ruhig: „Ich habe die Wahl verloren, ich neh- Blüm: Sie wollen, dass ich Ihnen von Ent-
me das auf mich. Ich danke meinen Wäh- zugserscheinungen berichte. Sie werden
lern.“ Ich fand damals, dass das Würde hat- sich wundern. Ich habe nicht das Gefühl,
te. Leider hat er es später versemmelt. etwas verloren zu haben. Es regt mich wei-
SPIEGEL: Inwiefern? terhin auf. Ich schimpfe, ich freue mich,
Blüm: Er hat nicht kapiert, dass es wirklich es ist wie früher. Es ist noch nicht vorbei.
vorbei ist. Das fing schon damit an, dass
er weiter im Kanzlerbungalow wohnte. Als 1998 trennten sich die Wege von Blüm und
schon feststand, dass Schäuble die CDU Kohl. Im Dezember 1999 räumte Kohl ein, bis
256 Seiten · Gebunden · A 20,00 (D) übernimmt, hat Kohl noch auf der Präsi- zu zwei Millionen Mark in bar von Spendern
Auch als E-Book erhältlich diumssitzung den Termin für den nächsten erhalten zu haben. Ihre Namen gab er nicht
Parteitag festgelegt. Ich sagte: „Helmut, preis, weil er angeblich ein Ehrenwort gegeben
das ist doch nicht mehr unser Part.“ Er hatte. Wenn man Blüm fragt, warum dieses
SPIEGEL-ONLINE-Korrespondent wollte nicht hören. Er saß weiter in seinem Ehrenwort Kohls Ansehen für immer zerstört
Büro, er ging weiter in die Fraktionssitzun- hat, spricht er erst mal von Kohls Charme.
Hasnain Kazim hat miterlebt, gen. Da hat er mir leidgetan.
wie die Türkei sich in den vergangenen SPIEGEL: Er konnte nicht loslassen. Blüm: Kohl hat mit dem Telefon regiert, in-
Jahren radikalisierte. In seinem Buch Blüm: Ein Lehrer hat mal zu mir gesagt, dem er auch den Kreisvorsitzenden in
Norbert, du wirst nicht an deinen Schwä- Kirchheimbolanden angerufen hat und ge-
zeigt er, wie explosiv die Situation chen scheitern. Du wirst an deinen Stärken sagt hat: „Was, deine Frau ist im Kranken-
im Land ist und was das Ende der scheitern. Kohls Stärke war es, sich so in- haus?“
Demokratie am Bosporus bedeutet – tensiv mit der Partei zu identifizieren, so SPIEGEL: Die Leute mochten ihn?
intensiv wie kein Vorsitzender vor ihm Blüm: Er war jahrzehntelang einer von
für die Türkei, für die Region und nach ihm. Das war im Abgang seine ihnen. Kohl hat sein Leben lang verzwei-
und für Europa. Schwäche. felt um Anerkennung gekämpft, das war
SPIEGEL: Vermissen Sie die Macht? etwas, das die Leute verstanden haben,
Blüm: Meine Macht bestand darin, mich es hat ihr Leben widergespiegelt. Kohl
»Es ist die jüngste Geschichte mit Tomaten bewerfen zu lassen und hatte die gleichen Werte, er war jemand,
16 Jahre durch Entrüstungsstürme zu ge- der mit einem Kloß der Rührung im Hals
der Türkei, und es ist meine hen. Ich kenne alle Reifegrade von Toma- über die Familie reden konnte. Über die
Geschichte in der Türkei.« ten. Ich weiß nicht, ob das Macht war. Freundschaft, über die Ehre. Und dieser
SPIEGEL: Das meinen Sie nicht ernst. Mann hat sie über die Parteispenden ge-
HASNAIN KAZIM
Blüm: Um was durchzusetzen, sagen wir täuscht. Ich glaube, das machte auch den
mal die Pflegeversicherung, brauchen Sie Skandal aus.
weniger Macht, sondern Hartnäckigkeit. SPIEGEL: Er hat damit nicht nur sich selbst
Manche denken, Macht, das ist ein Hebel, geschadet.
den musst du nur umlegen. In Wirklichkeit Blüm: Dieser Skandal hat wie kein anderer
musst du ein Jahr wie ein Klostermönch die CDU erschüttert. Volker Rühe wäre
an nichts anderes denken als an die eine wahrscheinlich Ministerpräsident in Schles-
www.dva.de 34 DER SPIEGEL 47 / 2017
wig-Holstein geworden, so hat er die Wahl
verloren. Auch der Schäuble ist ein Opfer
dieser Zeit. Da sind ein paar politische
Karrieren zerbrochen, er hat diese Men-
schen einfach mit in den Strudel gezogen,
und es war ihm egal.
SPIEGEL: Warum haben Sie dafür gestimmt,
ihm den Ehrenvorsitz zu entziehen?
Blüm: Ich habe immer gehofft, dass der lie-
be Gott kommt und mich aus dieser Situa-
tion rettet. Hat er nicht. Mir fiel beim bes-
ten Willen kein Gegenargument ein, ich
musste so stimmen. Das Ehrenwort war
eine Ausrede, die nicht akzeptabel ist.
Wenn ich mit dem Ehrenwort ein Gesetz
umgehen könnte, dann könnte jeder, der
das Gesetz bricht, sagen, dass er ein Eh-
renwort gab.
SPIEGEL: Hatten Sie eine Möglichkeit, noch
mal mit ihm darüber zu sprechen?
Blüm: Ich hab’s versucht. Ich habe direkt
nach der Entscheidung sein Büro angeru-
fen. Ich sagte zu Jule Weber, seiner Büro-
leiterin: „Ich will den Helmut Kohl spre-
chen.“ Ich wollte sagen: Helmut, ich habe
gegen dich gestimmt. Jule sagte, der ist
nicht da, aber man hörte ihn im Hinter-
grund schreien. Sie sagte dann: „Er ruft
zurück.“
Die Erde. Sie ist Ursprungsort und
SPIEGEL: Haben Sie sich mit Kohl versöhnt?
Blüm: Ich wollte, aber er nicht. Ich habe Heimat aller bekannten Lebewesen.
ihm einen Brief geschrieben, vor zwei Vom All aus betrachtet erkennt man
Jahren. ihre ganze Schönheit.
SPIEGEL: Würden Sie ihn vorlesen?

Blüm zögert kurz, dann geht er in sein Büro


im ersten Stock seines Hauses, und als er
über die Wendeltreppe im Wohnzimmer zu-
rückkommt, hat er ein Blatt Papier in der Hand,
doppelseitig beschrieben. Er räuspert sich,
es fällt ihm schwer, dann liest er.

Blüm: Lieber Helmut, wir beide sind im


letzten Drittel unseres Lebens und nähern
uns dem Finale. Es wird Zeit, Ballast, der
Wer Großes vorhat,
uns bedrückt, abzuwerfen. Wir sollten
unseren Zwist nicht mit ins Grab nehmen.
braucht den Blick aufs Ganze.
Wie immer du dich entscheidest, ich wer-
de dich als einen großen Staatsmann
verehren. Ich konnte mich damals nicht
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Antwort. Es grüßt dich herzlich dein
Norbert Blüm.
SPIEGEL: Kam eine Antwort?
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DER SPIEGEL 47 / 2017 35
Christlicher Sisyphos Blüm: Nein. Nie. Das ist die traurigste Re-
aktion. Nicht zu antworten. Es wäre nicht
so schlimm, wenn er geschrieben hätte: Du
Kritik Oskar Lafontaine über das neue Buch von Norbert Blüm Drecksack, mit so Leuten wie dir rede ich
nicht.

W
enn Norbert Blüm Bilanz Tode verurteilen ließ, retten. Doch das SPIEGEL: Am 12. September starb Ihr
zieht unter der Überschrift tröstet ihn nicht über das Leiden Freund Heiner Geißler.
„Verändert die Welt, aber von Millionen hinweg, die heute unter- Blüm: Ich vermisse ihn. Ich hab viele Leute
zerstört sie nicht“ – dann wird man drückt und gequält werden. Als kennengelernt, die sich Querdenker nen-
neugierig*. Auch darauf, wie er damit 80-Jähriger zeltete er in Idomeni und nen, die draußen immer die große Klappe
umgeht, dass viele seiner Anstrengun- kämpft für eine humane Flüchtlings- hatten, aber wenn die Fetzen geflogen sind,
gen vergebens waren. Denn wie alle, politik. Camus’ Metapher von einem waren die entweder auf der Toilette, krank
die in den letzten Jahren gegen Krieg, glücklichen Sisyphos hat für ihn keine oder ganz still. Geißler hat immer gestan-
Folter und Ausbeutung gekämpft Gültigkeit. Glücklich ist nur, wer sich den wie eine Eins. Bis zum Schluss. Der
haben, kann auch er nicht übersehen, für seine Mitmenschen einsetzt. ist auch gestorben, wie er gelebt hat.
dass weiter Kriege geführt werden Blüms wichtigste Empfehlungen: SPIEGEL: Inwiefern?
und soziale Ungerechtigkeit zunimmt. nie wieder Krieg und ein rigoroses Blüm: Tapfer. Am Tod anderer kannst du
Blüm ist ein guter Erzähler. An- Verbot des Waffenhandels. Hier viel lernen. Wie sie sterben, hat meistens
rührend schildert er die prägenden Er- weicht er allerdings Fragen aus: Wa- was mit dem Leben zu tun. Helmut Kohl
lebnisse seiner Kindheit, die ihn zu rum gibt es immer wieder Kriege? konnte nicht loslassen, er starb langsam,
einem der wichtigsten Sozialpolitiker Warum genehmigt Angela Merkel Rüs- einer, der vom Leben noch was will. Hei-
der CDU werden ließen. Zu den tungsexporte in Kriegsgebiete? Jean ner Geißler hat sein Leben lang gedacht:
Stärken des Buchs gehören die Passa- Jaurès sagte am Vorabend des Ersten Ein Heiner Geißler stirbt nicht. Als er aber
gen darüber, wie die Grundlagen Weltkriegs: „Der Kapitalismus trägt im Krankenhaus verstand, dass es zu Ende
der sozialen Sicherungssysteme ent- den Krieg in sich wie die Wolke den geht, wollte er zum Sterben nach Hause.
standen. Mit Herzblut verteidigt er Regen.“ Will man die Welt friedlicher Er bekam seinen Willen.
machen, dann muss man eine Wirt- SPIEGEL: Sie sagten mal, dass Sie Beerdi-
schafts- und Sozialordnung ändern, gungen eigentlich meiden.
die auf Unfrieden, Kampf und Expan- Blüm: Nicht aus Angst vorm Tod, wenn Sie
sion angelegt ist. „So wie der Konser- das glauben.
vative die sozialistische Vergesellschaf- SPIEGEL: Warum dann?
tung der Wirtschaft abgelehnt hat, Blüm: Ich kriege das Feierliche einfach
so widersteht er der neoliberalen Ver- nicht hin. Ich rette mich sonst mit Späßen,
suchung einer Verwirtschaftung der aber das verbietet sich natürlich, wenn
Gesellschaft“, schreibt Blüm. Aber jemand gestorben ist. Es ist selten, dass
wie soll die fortschreitende Verwirt- bei einer Beerdigung der richtige Ton
schaftung verhindert werden, wenn getroffen wird. Ich war Friedhofsmessdie-
IMAGO

die Machtstruktur der kapitalistischen ner und bewundere noch immer den ka-
Politiker Lafontaine, Autor Blüm 2006 Wirtschaft sie weiter vorantreibt? tholischen Ritus. Da gibt es keine Redner
Widerstand gegen den Neoliberalismus Die Ordoliberalen sahen nach dem und nichts Subjektives. Nur Psalmen. Die
Krieg in der Konzentration der Wirt- meisten Beerdigungsredner sprechen nur
ihren emanzipatorischen Ansatz schaft die größte Gefahr für eine de- über sich selber, sie stehen auf der Bühne
gegen ein in Mode gekommenes be- mokratische und soziale Gesellschaft. und sitzen gleichzeitig in der ersten Reihe
dingungsloses Grundeinkommen, Doch Christ- wie Sozialdemokraten und bewundern sich. Ich bewundere mich
das „den Sozialstaat plattwalzt“. Der schlugen die Warnung in den Wind. auch gern. Aber am Sarg möchte ich das
engagierte Anhänger der christlichen Mit Google, Facebook und Co. hat nicht.
Soziallehre kann durchaus auf Erfolge die Konzentration eine neue Qualität SPIEGEL: Sie gingen auch zur Beisetzung
verweisen: Die Pflegeversicherung erreicht. Heute geht es nicht mehr von Geißler.
ist sein Lebenswerk. Aber er musste nur um die Enteignung der Arbeit- Blüm: Ja. Dort konnte man übrigens auch
mitansehen, wie die Sozialversiche- nehmer im Produktionsprozess, den Unterschied zwischen Helmut Kohl
rung unter die Räder kam. Keine Gna- sondern um die Enteignung des priva- und Angela Merkel erleben. Kohl ging zu
de vor seinen Augen findet das jüngs- ten Lebens durch Internetkonzerne, jeder Beerdigung, wenn er auch reden
te Rentenreformgesetz. Der Ausbau die das Verhalten der Menschen durfte. Sonst kam er nicht. Merkel saß bei
der Betriebsrente beseitige die Gefahr steuern. Alle Anstrengungen müssen der Beerdigung von Geißler ganz normal
der Altersarmut nicht: „Die Reform darauf gerichtet sein, die außer Kon- zwischen den anderen, ging danach zwi-
ist auf dem Boden einer gewerkschaft- trolle geratene wirtschaftliche Macht schen den anderen hinter dem Sarg her,
lichen Insiderpolitik gewachsen und wieder in den Griff zu bekommen. danach zu Kaffee und Kuchen und ver-
nicht auf dem der Solidarität mit den Eine Möglichkeit wären Mitarbeiter- schwand irgendwann.
Schwächsten.“ gesellschaften statt Privateigentum an SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, dass Sie ab
Vorbildlich ist Blüms lebenslanges Produktionsmitteln. Schon der Jesuit und an von Kohl träumen. Noch immer?
Eintreten für die Menschenrechte. Er Oswald von Nell-Breuning, Blüms Blüm: Inzwischen hat es wieder abgenom-
konnte 16 Chilenen, die Pinochet zum Lehrer, plädierte für dieses Modell. men. Im Moment warte ich darauf, dass
Wer, wie Blüm, Widerstand gegen die Heiner mich mal besucht. Er war aber
neoliberale Versuchung leisten will, noch nicht da. Der faule Sack.
* Norbert Blüm: „Verändert die Welt, aber
zerstört sie nicht: Einsichten eines linken Konser- muss auch die Strukturen ändern, die SPIEGEL: Herr Blüm, wir danken Ihnen für
vativen“. Herder; 288 Seiten; 20 Euro. die Welt zerstören. dieses Gespräch.

36 DER SPIEGEL 47 / 2017


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Deutschland

Die witzigsten
Geschichten über
Dame auf P5
Diplomaten Um seiner Frau eine Stelle bei der Uno
in New York zuzuschanzen, ließ der deutsche
Helikoptereltern – Botschafter Heusgen seine Beziehungen spielen.

D
raußen im Land war Christoph die kaputtgehen, dürfte stark über dem Be-
absurd, übertrieben Heusgen all die Jahre nur einer amtendurchschnitt liegen.
von diesen „Noch nie gehört“-Na- Heusgen ist auch schon in der zweiten.
men. Er gab fast keine Interviews, hielt Seine Frau Ina, Anfang 40, ist promovierte
und leider wahr. nur selten eine Rede, saß nicht bei Anne Spitzenbeamtin, hatte zwei Jahre lang im
Will herum. Dem diskreten Herrn Heus- Bundeskanzleramt gearbeitet, war dann
gen reichte es völlig aus, dass er die größ- im Auswärtigen Amt zur stellvertretenden
ten Geheimnisse der Bundesregierung Referatsleiterin aufgestiegen. Eine Turbo-
kannte und die wichtigste Frau des Landes karriere, auch dank CDU-Ticket, wie man
auf ihn hörte: Kanzlerin Angela Merkel. im Auswärtigen Amt flüstert. Die sollte
Schon seit 2005 war Heusgen im Kanzler- nicht abbrechen, nur weil der Mann nach
amt ihr Chefberater für Außen- und Si- New York wollte. Allerdings mochte sich
cherheitspolitik, flog bei jeder Auslands- Ina Heusgen da wohl nicht allein auf die
reise mit, einer der engsten vier, fünf Kraft ihrer eigenen Bewerbung verlassen.
Getreuen. Während andere draußen nur Ihr Mann half nach.
redeten, hatte Heusgen im Amt was zu Am 21. Dezember 2016 schickt Chris-
sagen. Der Rest war Diplomatie, Beschei- toph Heusgen von seiner Dienstadresse im
denheit, die Stille der Macht. Kanzleramt eine Mail an Maria Luiza Ri-
Umso überraschender, dass nun ausge- beiro Viotti; vorher hatte er sie auch schon
rechnet der so dezente Heusgen eine angerufen. Die Brasilianerin war bis 2016
Grenze des Anstands verletzt hat. Seit Botschafterin ihres Landes in Berlin, eine
ein paar Monaten ist der Rheinländer der gute Bekannte von Heusgen, aber vor al-
neue deutsche Botschafter bei den Ver- lem: seit sechs Tagen die designierte Kabi-
einten Nationen in New York. Es war ein nettschefin von António Guterres, dem
Traum, den ihm die Kanzlerin zum Ende neuen Uno-Generalsekretär in New York.
seines Berufslebens, mit 62, erfüllt hat. Es sei schön zu wissen, schreibt Heusgen,
Doch Heusgen ging nicht allein, er ging dass auch Viotti in New York sein werde,
mit seiner Frau. Und damit sie in New wenn er im nächsten Sommer als deut-
York bei der Uno einen gut dotierten Pos- scher Botschafter komme; er kenne ja bis-
ISBN 9783548377490

ten ergatterte, wollte Heusgen offenbar her „kaum jemanden bei der UN“.
mit einer anmaßenden Mail mehr Einfluss Und natürlich sei es sehr nett von „dear
nehmen, als sich das mit seinem Amt ver- Maria Luiza“, dass sie sich bei all dem Tru-
trägt. Die Mail liest sich so unverschämt, bel um ihre Berufung zur Kabinettschefin
als wäre die Uno seiner Gattin die Stelle auch noch die Zeit nehme, sich um sein
schuldig, weil Deutschland zu den größten Anliegen zu kümmern. „Ich danke für die
Zahlern der Weltorganisation gehört. Und Bemühungen, dabei zu helfen, dass meine
ullstein.de/schueler tatsächlich bekam Heusgens Frau ihren Frau Ina eine Stelle in deinem Büro / im
Arbeitsplatz in Manhattan. Büro des Generalsekretärs bekommt.“ An-
Die Ausgangslage war dabei die gleiche bei der Lebenslauf seiner Frau. Dabei hätte
wie bei vielen Botschaftern, die mit Fami- es Heusgen dann besser belassen. Doch es
lie um die Welt reisen. Nur dass Heusgen geht weiter, zu weit. „Wenn man bedenkt,
eben seine Beziehungen spielen lassen welchen Beitrag Deutschland zur UN leis-
konnte. Tatsächlich ist das Leben eines Bot- tet, könnte es attraktiv für dich sein, je-
schafters schwerer, als es das Klischee vom manden in deinem Stab zu haben (auf der
Cocktailempfang in der Residenz vermu- Gehaltsstufe P5, die, wie ich höre, für Ina
ten lässt. Reisen über Staubpisten in Ge- passen würde), der beides hat: einen di-
genden, die aus Dreck, Ärger und diplo- rekten Draht zum Kanzleramt und zum
matischen Notfällen bestehen; Kinder, die Büro des Außenministers (und zu Deutsch-
jeden Tag mit dem Panzerwagen zur Schu- lands künftigem Botschafter bei der UN,
le gebracht werden müssen, damit sie nicht der die Ambition hat, 2019/2020 im Sicher-
entführt werden. Und alle paar Jahre das heitsrat zu sitzen).“
nächste Land, das nicht viel besser ist, be- Tatsächlich sind die Zaunpfähle, mit de-
vor man endlich mal in Paris oder London nen Christoph Heusgen hier wedelt, un-
landet. Das größte Risiko aber ist, mit übersehbar: Deutschlands Uno-Beitrag ist
einem anderen Partner in den Job hinein- mit 161 Millionen Dollar im Jahr zurzeit
zugehen als wieder heraus. Das Auswärtige der viertgrößte, hinter dem der USA, Ja-
Amt weiß schon, warum es nicht über die pans und Chinas. Die engen Verbindungen
Scheidungsrate spricht: Die Zahl der Ehen, zum Kanzleramt hat vor allem er selbst;
38 DER SPIEGEL 47 / 2017
dass auch seine Frau dort mal gearbeitet
hat, ist einige Jahre her. Und der künftige
deutsche Botschafter, zu dem Ina Heusgen
einen so guten Draht hat, ist natürlich wie-
der ihr Mann, der zudem noch betont, dass
er mit Deutschlands Kandidatur für einen
Sitz im Sicherheitsrat künftig noch mehr
zu sagen haben könnte als ohnehin schon.
Da können andere Bewerber um eine
Stelle bei der Uno nur schwer mithalten.
Die gewünschte Gehaltsstufe P5 bringt in
New York im Jahr mindestens 107 459 Dol-
lar brutto. Plus 56 000 New-York-Zuschlag.
Den aber netto. Ein satter Gehaltssprung,
selbst wenn die Lebenshaltungskosten am
Hudson deutlich höher sind als an der Spree.
Immerhin schreibt Christoph Heusgen,
er habe ein schlechtes Gewissen, Viotti zu
DDP IMAGES

belästigen. Aber wenn die Brasilianerin in


New York sei, könne sie vielleicht nach
geeigneten Positionen schauen, auf die sich Merkel-Berater Heusgen: Anmaßende Mail
Ina Heusgen bewerben könne. „Außerdem
ist unser Auswärtiges Amt bereit, Inas Ge- Von der Uno kam auf eine Anfrage des regierung“. Gespräche soll es darüber mit
halt zu übernehmen, falls nötig.“ SPIEGEL nichts zurück. Auch das Kanzler- der Uno auch schon im Oktober 2016 ge-
Viottis Antwort, zwei Tage später, fällt amt wollte sich nicht äußern. Dafür Chris- geben haben – vor der Mail ihres Mannes.
etwas unverbindlich aus. Der Lebenslauf toph Heusgens Sprecher: Dass der Bot- Fragt sich nur, warum Christoph Heusgen
sei beeindruckend. Schon in den nächsten schafter die Mail von seiner Dienstadresse sie dann hätte schreiben sollen, wenn alles
Tagen würden Stellen ausgeschrieben, Ina verschickt habe, sei nicht zu beanstanden. sowieso schon klar gewesen wäre, im In-
Heusgen solle sich doch im Karriereportal Als Abteilungsleiter im Kanzleramt habe teresse der Nation.
der Uno registrieren und bewerben. Mit es zu Heusgens Aufgaben gehört, sich „für Bezahlt wird Ina Heusgen nun offiziell
besten Grüßen. Wie auch immer, am Ende deutsche Kandidatinnen und Kandidaten von der Uno, aber finanziert vom Bund.
bekam Ina Heusgen ihre Stelle. Seit Au- in Internationalen Organisationen einzu- Das sei in manchen Fällen so üblich, be-
gust sitzt sie nun in New York als Referen- setzen“. Dazu habe auch Frau Dr. Heusgen hauptet das Auswärtige Amt. Zum P5-Ge-
tin in der Hauptabteilung Friedenssiche- gehört. Auch das Auswärtige Amt antwor- halt hat es nun allerdings nicht mehr
rungseinsätze der Vereinten Nationen. Sie tete. Kein Wort allerdings zur Mail des Bot- gereicht, nur zu P4. Dafür weisen die Ta-
untersteht damit tatsächlich Generalsekre- schafters, dem offensichtlichen Versuch, bellen in der untersten Stufe 88 351 Dollar
tär Guterres. Beim Auswärtigen Amt läuft Einfluss zu nehmen. Ina Heusgen, so das brutto aus, plus 46 697 netto New-York-
sie unter „entsendet“, also als beurlaubt. Amt, sei „hoch qualifiziert“ und verfüge Zuschlag. Auch davon können die da-
Damit hat sie ein Rückkehrticket, um ihre über das „optimale, für diese Stelle not- heimgebliebenen Kollegen in Berlin nur
Karriere später fortzusetzen, etwa als Bot- wendige Profil“. Dass sie auf dem New- träumen.
schafterin an einer kleineren deutschen York-Posten gelandet sei, liege daher „im Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
Auslandsmission. außenpolitischen Interesse der Bundes- Gunther Latsch, Jörg Schmitt, Christoph Schult

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Präsidenten Erdoğan greifen Andersdenkende in Deutschland an. Warum sich
Erdoğan-Kritiker mit türkischen Wurzeln auch hierzulande nicht frei fühlen können.

40 DER SPIEGEL 47 / 2017


Titel

C
an Dündar zögert. Er schaut sich sident Recep Tayyip Erdoğan stellte Straf- nachrichtendienstes. „Ich werde wohl nie
um, sein Blick wandert durch den anzeige gegen ihn, Dündar saß mehrere wieder ganz ohne Angst leben können“,
Raum, ehe er das Café in Berlin- Monate lang in Untersuchungshaft. Im sagt er.
Mitte betritt. „Sorry“, sagt er. „Routine.“ Sommer 2016 floh er nach Berlin, doch si- Der Journalist verlässt seine Wohnung
Dündar ist der bekannteste Kritiker der cher fühlt er sich auch in Deutschland nur noch selten, er besucht überwiegend
türkischen Regierung. Er hat als Chefre- nicht. Cafés und Restaurants, die er kennt. Er
dakteur der Tageszeitung „Cumhuriyet“ Jeden Tag erhält er Drohungen – über hat sich ein Auto gekauft. Er wollte nicht
einen Artikel über Waffenlieferungen des E-Mail, Twitter, Facebook. Anhänger Er- länger mit dem Taxi fahren, nachdem tür-
türkischen Geheimdienstes an Extremisten doğans beschimpfen ihn als Terroristen kischstämmige Fahrer ihn mehrmals belei-
in Syrien veröffentlicht. Der türkische Prä- oder als Agenten des deutschen Bundes- digt und bedroht hatten.
Dündar hat in Berlin ein deutsch-türki-
sches Nachrichtenportal gegründet, er kri-
tisiert die türkische Regierung weiterhin.
Für Erdoğan ist er damit ein Staatsfeind,
der sich mit den Deutschen gegen die Tür-
kei verschworen habe. Im türkischen Fern-
sehen wurde darüber diskutiert, ob es
nicht besser wäre, ihn von Agenten im
Ausland umbringen zu lassen. Sein Nach-
richtenportal hat er „Özgürüz“ genannt,
das bedeutet „Wir sind frei“. Dabei fühlt
sich Dündar auch in Deutschland längst
nicht mehr frei.
Die Angriffe würden zum Teil aus An-
kara und vom türkischen Geheimdienst
gesteuert, glaubt Dündar. Vor einigen Mo-
naten sprach der Moderator eines türki-
schen Fernsehteams vor Dündars Berliner
Redaktion in die Kamera: „Hier ist das
Nest der Verräter.“ In einem im Internet
veröffentlichten Video sitzt Dündar allein
in einem Café. Jemand kommt auf ihn zu
und sagt: „Sind Sie nicht der Vaterlands-
verräter Can Dündar?“ Auf den Facebook-
Seiten von Erdoğan-Fans wurde das Video
mehr als 20 000-mal angeklickt. Darunter
stehen Kommentare wie „Runter vom
Stuhl und die Fresse polieren, bis der
Dünndarm = Dündar verblutet“. Oder:
„Einen türkischen Namen verdient dieser
Hausköter nicht. Klar würde man ihm ger-
ne eine schallern aber lieber nicht vor so
vielen Zeugen.“
„Wie soll man sich da sicher fühlen?“,
fragt Regierungskritiker Dündar.
Diese Frage stellen sich derzeit viele
Türken, die Erdoğan kritisch sehen, nicht
nur prominente Regimegegner wie Dündar
oder der Kölner Schriftsteller Doğan Ak-
hanlı. Der deutsche Staatsbürger wurde
im Spanienurlaub verhaftet, weil die Tür-
kei ein Festnahmeersuchen gegen ihn an
die internationale Polizeibehörde Interpol
übermittelt hatte. Spanische Richter lehn-
ten die Auslieferung ab. Als Akhanlı im
Oktober endlich wieder deutschen Boden
betrat, traf er am Düsseldorfer Flughafen
zuerst auf einen pöbelnden Türken. Der
Mann drohte Akhanlı, er sei auch in
Deutschland nicht sicher.
Bundestagsabgeordnete wie die Linke
Sevim Dagdelen und der Grüne Cem Öz-
demir erhalten Morddrohungen, weil sie
DAGMAR GESTER

Wohnhaus in Berlin-Neukölln
Fortsetzung der Kämpfe aus der alten Heimat

DER SPIEGEL 47 / 2017 41


sich gegen Erdoğan und seine Politik aus- Wie viele Deutschtürken Sympathien Viele von denen, die im Sinne des tür-
sprechen. Dessen Unterstützer hetzen auf für Erdoğan hegen, weiß niemand genau. kischen Präsidenten agieren, tun dies auf
Facebook gegen Özdemir: „Wer bist du Rat- Man weiß nur, dass mehr als 60 Prozent eigene Faust. Aber Erdoğan hat auch seine
te, dass du der Türkei drohst?“ Auch Frau- der wahlberechtigten Türken hierzulande Handlanger, die Befehle aus Ankara be-
enrechtlerinnen wie Seyran Ateş werden bei der Volksabstimmung im April für Er- folgen. In kaum einem anderen europäi-
bedroht. Sie hatte es gewagt, eine liberale doğans neues Präsidialsystem gestimmt ha- schen Land hat die türkische Regierung so
Moschee zu gründen. Zielscheibe ist eben- ben. Das sind 412 000 Menschen, also nur viele Verbindungen zu seiner türkischen
so die Psychologin und Buchautorin Lale ein kleiner Teil der türkeistämmigen Bür- Basis wie in der Bundesrepublik. Der Mo-
Akgün, die gegen das Kopftuch als Symbol ger in Deutschland. Auch von denen be- scheeverband Ditib mit seinen mehr als
weiblicher Unterdrückung kämpft. teiligt sich nur eine Minderheit an der 900 Gemeinden steht unter direktem Ein-
Fast drei Millionen Men- fluss der Religionsbehörde in
schen mit türkischen Wurzeln Ankara. So kann die türkische
leben in Deutschland. Es ist Regierung die Moscheegänger
also kein Wunder, dass die mit nationalistischem Gedan-
teils brutal ausgetragenen Aus- kengut erreichen. Die Ditib-
einandersetzungen in der al- Imame werden aus der Türkei
ten Heimat hier ihre Fortset- geschickt und erhalten auch
zung finden. Da ist der Kon- ihr Gehalt von dort.
flikt zwischen der Regierung Den Türkischunterricht an
in Ankara und der Minderheit etlichen deutschen Schulen ge-
der Kurden, die in der Türkei ben Lehrer, die von türki-
um Anerkennung kämpfen. schen Behörden ausgewählt
Da ist das Ringen zwischen werden. Im vergangenen Jahr
Modernisierern, die den säku- gründeten Deutschtürken die
laren Staat bewahren wollen, Partei Allianz Deutscher De-
und den religiösen Fundamen- mokraten und warben vor der
talisten, die die Scharia höher Bundestagswahl mit Erdoğans
achten als die Verfassung. Konterfei. Auch die Union Eu-
Seit dem Putschversuch in ropäisch-Türkischer Demokra-
der Türkei im Juli 2016, den ten (UETD) kooperiert eng
laut Erdoğan der islamistische mit der Präsidentenpartei
Prediger Fethullah Gülen ge- AKP. Die UETD organisierte
steuert haben soll, müssen immer wieder umstrittene
sich dessen Anhänger auch in Auftritte Erdoğans oder seiner
Deutschland fürchten. Und je Getreuen in Deutschland.
weiter sich Erdoğan von der Deutsche Sicherheitsbehör-
Demokratie entfernt, je stär- den warnen vor flächen-
ker er auf Nationalismus und deckenden Infiltrationsversu-
Islamismus setzt, desto tiefer chen der türkischen Regie-
werden die Gräben zwischen rung und der Regierungspartei
den Gruppen in Deutschland. AKP. Ein Mann mit Verbin-
Der Hass der Erdoğan-Gläu- dungen zum türkischen Ge-
bigen richtet sich dabei oft heimdienst hatte sich sogar als
gegen jene selbstbewussten Mitarbeiter des Verfassungs-
MILOS DJURIC / DER SPIEGEL

Deutschtürken, die all das ma- schutzes beworben. Bei einer


chen, was sich weite Teile der Sicherheitsüberprüfung flog
Politik und der Gesellschaft in der angehende Doppelagent
Deutschland immer von ihnen auf.
gewünscht haben: Sie bringen Noch beunruhigender als
sich ein, prangern Missstände Erdoğans organisierte Macht
in der eigenen Community an, Journalist Dündar: „Wie soll man sich da sicher fühlen?“ ist vielleicht sein emotionaler
streiten für die Modernisie- Einfluss auf die Türkeistämmi-
rung der Religion. gen hier. Seine Appelle an
Wie hoch der Preis ist, den manche von Hetze gegen Andersdenkende. Doch es den Nationalstolz haben dazu beigetragen,
ihnen dafür zahlen, wissen die meisten sind genug, um ein System der Angst zu dass eine breite identitäre türkische Bewe-
Deutschen bis heute nicht. Die einen be- etablieren. gung entstanden ist, eine Art Gegenbewe-
trachten das Ringen als Konflikt unter Tür- Den Ton gibt Erdoğan anscheinend gung zu den europäischen Identitären, die
ken. Die anderen tun sich schwer damit, selbst vor. US-amerikanischen Medienbe- rechtsextreme und kulturrassistische An-
ausgerechnet Migranten Nationalismus richten zufolge sollen hochrangige türki- sichten pflegen. Die türkischen Identitären
und Rechtsextremismus vorzuwerfen. Erst sche Regierungsvertreter einem ehemali- setzen denen ihre eigenen Ideale entgegen:
seit Erdoğans Anhänger immer massiver gen Berater des US-Präsidenten Donald die Treue zum Vaterland. Und damit ist
liberale Demokraten unter den Deutsch- Trump bis zu 15 Millionen Dollar angebo- nicht Deutschland gemeint.
türken angreifen, rückt verstärkt ins Be- ten haben, wenn er die heimliche Auslie- Als die ersten Gäste an einem Samstag-
wusstsein, dass die Fans des türkischen ferung Gülens in die Türkei ermögliche. abend Anfang November im Hamburger
Präsidenten nicht alle Freunde der frei- Die Botschaft ist klar: Auch wer sich in Lüx Event House eintreffen, läuft zur Ein-
heitlich demokratischen Grundordnung den Westen gerettet hat, kann sich keines- stimmung neben dem Rednerpult ein Film:
sind. falls sicher fühlen. Soldaten robben durch den Dreck, Opfer

42 DER SPIEGEL 47 / 2017


Titel

von Kämpfen werden zu Grabe getragen, ‣ Sie kommen und zetteln einen Putsch doğan-Fans zu tun – und meinen dann, sie
Kinder klettern auf einem Panzer herum, an. handelten im Namen ihres Vorbilds.
und immer wieder schaut Recep Tayyip ‣ Moscheen werden zu Kirchen. Etliche jener Menschen mit türkischen
Erdoğan mit entschlossenem Blick in die ‣ Sie mögen die Tarhana-Suppe ihrer Mut- Wurzeln, die nicht Regimegegner, Politiker
Ferne. ter nicht mehr, fahren aber nach Frank- oder Aktivisten sind, hat die aufgeheizte
Es folgt die Livedarbietung vaterländi- reich und essen Froschschenkel. Stimmung verstummen lassen. Im Büro
scher Gesänge: „Ich würde für dich ster- Wie dieser Vortrag zu den Aussagen der oder beim Schwatz auf der Straße versu-
ben, meine Türkei“, dann wird die türki- UETD passt, sie wolle eine Brücke zwi- chen sie, politische Themen zu vermeiden.
sche Nationalhymne abgespielt. Rund 150 schen Europa und der Türkei bilden, bleibt Ali Ertan Toprak, Vorsitzender der Kur-
Leute haben mittlerweile Platz genommen, ihr Geheimnis. Immerhin sagt Şen später, dischen Gemeinde Deutschland und CDU-
Kristallleuchter hängen von Mitglied, glaubt, dass Staat
der Decke, auf Tischen ist ein und Mehrheitsgesellschaft
Buffet mit türkischen Süßspei- hierzulande noch nicht er-
sen aufgebaut, am Rand hat kannt hätten, wie zerstöre-
jemand eine zerknitterte deut- risch diese Stimmung sei.
sche Nationalflagge drapiert. Auch für ihn selbst werde es
Normalerweise geben sich immer schwieriger. „Ich hatte
in dem Veranstaltungsraum in noch nie so viel Angst wie in
einem Hamburger Gewerbe- den vergangenen zwei Jah-
gebiet türkische Hochzeitspaa- ren“, sagt der 48-Jährige, der
re das Jawort. Heute spricht als Zweijähriger mit seiner Fa-
auf Einladung der UETD Mus- milie nach Deutschland kam.
tafa Şen, ein Berater der tür- Nach Şens Logik gehört To-
kischen Regierung. Titel der prak wohl zu jenen, deren
Konferenz: „Bewahrung und Seele „okkupiert wurde, ohne
Weiterentwicklung der Identi- dass sie es bemerkten“.
tät und Kultur in Europa“. Toprak bezeichnet Erdoğan
Was Şen in den kommen- als Diktator und kritisiert ihn
den zwei Stunden referieren für seine „autoritäre Politik“ –
wird, gewährt Einblick in die und die deutsche Bundesregie-
Gedankenwelt Erdoğans und rung dafür, dass sie Erdoğan
seiner Getreuen. Zu Beginn er- gewähren lasse. „Deutschland
läutert Şen ein Konzept, das hat viel zu lange weggeschaut“,
auch der türkische Staatschef sagt Toprak. Der türkische
immer wieder bemüht hat: die Staatschef habe in den vergan-
Unterscheidung in die überge- genen Jahren ungehindert sei-
ordnete und die untergeordne- ne Strukturen in Deutschland
te Identität. Türke zu sein, das aufbauen können.
sei die übergeordnete Identi- Toprak nennt das nicht „Pa-
tät, erklärt Şen. Alles andere – rallelgesellschaft“, das sei ver-
kurdischer oder alevitischer niedlichend, er sagt „Gegen-
Abstammung zu sein oder in gesellschaft“. Eine „türkische
Deutschland zu leben – gehö- Pegida“ sei entstanden, die
re zur untergeordneten Iden- „aktiv und aggressiv unsere
THEODOR BARTH / DER SPIEGEL

tität. „Erst wenn ihr eure Werte bekämpft und die sich
Überidentität gefestigt habt, nicht von der Ideologie der
könnt ihr euch um die Unter- Rechtsextremen unterschei-
identität kümmern“, sagt Şen. det“. Bitter sei vor allem, dass
Seine Identität zu schützen, sich auch junge Menschen in
sagt er, „bedeutet, sein Vater- der dritten und vierten Gene-
land zu verteidigen“. Buchautorin Akgün: „Der Tod wartet auf Dich“ ration anschlössen, die eine
Präsident Erdoğan hat den demokratische Bildung in
Deutschen vorgeworfen, sie Deutschland genossen hätten.
wollten die Türken dazu zwingen, ihre dass die Türken in Deutschland ihr Bestes Ali Ertan Toprak hat sich auf ein Leben
Herkunft zu verleugnen. „Assimilation ist geben müssten, um erfolgreich zu sein und in Unsicherheit eingestellt. „Ich passe auf,
ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, das Land voranzubringen. Er ärgert sich in welches Lokal ich gehe oder in welches
wetterte er schon 2014 in Köln. „Was pas- sogar darüber, dass die deutsche Flagge im Taxi ich steige“, sagt der Vorsitzende der
siert, wenn wir unsere Identität und Tra- Saal nicht gebügelt wurde. „Das wäre eine kurdischen Gemeinde. Den Grünenpoliti-
dition nicht schützen?“, fragt Şen. Die Ant- Sache des Respekts gewesen!“ ker Cem Özdemir warnte sogar das Bun-
worten führt er in einer Powerpointprä- Viele der Teilnehmer dieses Abends sind deskriminalamt, er möge beim Taxifahren
sentation auf. hier geboren, sprechen akzentfrei Deutsch, vorsichtig sein. Es soll schon vorher Fahrer
Unter anderem heißt es dort: arbeiten als Unternehmer oder Juristen. gegeben haben, die gedroht hätten: „Ich
‣ Hasan wird zu Hans. Was sagen sie dazu, dass durch solche Ver- mach den kalt“ oder „Ich spuck dem ins
‣ Muslime werden zu Ungläubigen. anstaltungen Feindbilder geschaffen wer- Gesicht“. Einmal stieg Özdemir mit sei-
‣ Menschen werden zu Terroristen den? „Ach, man sollte das alles nicht so nem kleinen Sohn ins Auto. Als der Fahrer
‣ Es wächst eine Generation von Verrä- ernst nehmen“, sagt einer der Konferenz- ihn erkannte, raste er plötzlich in angst-
tern heran, deren Treue anderen gilt. gäste. Aber genau das scheinen viele Er- einflößendem Tempo um die Kurven.

DER SPIEGEL 47 / 2017 43


THEODOR BARTH / DER SPIEGEL
Schriftsteller Akhanlı: Als er am Flughafen ankam, traf er zuerst auf einen pöbelnden Türken

Es ist verständlich, dass es in Deutsch- in seinen Facebook-Messenger: „Pass gut sie angeschossen, weil sie Migrantinnen
land eine Scheu gibt, türkeistämmigen auf Dich auf, Du Zuhälter, Nachkomme beriet, die häusliche Gewalt erlebt hatten.
Menschen ihre antidemokratischen Ansich- von Armeniern. Die Zeit für eine Abrech- Ihre Klientin starb, Ateş wurde lebensge-
ten vorzuhalten. Deutsche Neonazis steck- nung ist gekommen.“ fährlich verletzt.
ten 1993 in Solingen ein Haus an, in dem Toprak löscht solche Botschaften meis- „Es muss immer erst etwas passieren, bis
fünf türkeistämmige Menschen starben, tens sofort. „Meine Frau soll das nicht auch wir zivilen Leute Unterstützung bekom-
deutsche Neonazis des NSU ermordeten noch sehen müssen“, sagt er. Toprak wollte men“, sagt Toprak. Pöbeleien und Face-
neun Migranten, die meisten davon stamm- lange Zeit nicht öffentlich zugeben, dass book-Drohungen reichen in der Regel
ten aus der Türkei. Türken in Deutschland er Angst hat. „Diesen Triumph gönne ich nicht als Begründung für Personenschutz
werden immer wieder Opfer von Rechts- denen eigentlich nicht“, sagt er. „Aber ir- aus.
extremisten. Diese Mischung aus Scheu gendwann muss die deutsche Öffentlich- Manche versuchen das Problem zu lösen
und Schuldgefühlen erklärt möglicherwei- keit ja wissen, was hier los ist.“ wie der Heidelberger Rechtsanwalt und
se die Nachsicht, mit der viele in Deutsch- Toprak fühlt sich vom deutschen Staat ehemalige Grünen-Bundestagsabgeordne-
land lange auf rechte Umtriebe von Türken im Stich gelassen. Politiker wie Özdemir te Memet Kılıç: Er geht nicht mehr im Dun-
blickten. oder Sevim Dagdelen haben zumindest keln von der S-Bahn-Haltestelle nach Hau-
Manche türkischen Verbände nutzten bei öffentlichen Auftritten Personenschüt- se, weil er fürchtet, dass ihm jemand folgen
das sogar aus: Wer etwa die problemati- zer, seitdem sie 2016 im Bundestag dafür könnte. Er kontrolliert jedes Mal, bevor
sche Struktur der Ditib ansprach oder den stimmten, den Völkermord an den Arme- er in sein Auto steigt, ob alle Schrauben
türkischen Konsulatsunterricht infrage niern anzuerkennen. Die Polizei geht von an den Rädern noch fest angezogen sind.
stellte, sah sich schnell dem Vorwurf des einer realen Gefahr für die beiden Politiker Hüseyin Tolu, der Bruder der in der Türkei
Rassismus ausgesetzt. aus. Erdoğan hatte damals gesagt, sie hät- inhaftierten deutschen Journalistin Meşale
Toprak sagt, schlimm sei, dass man nie ten „verdorbenes Blut“. Auch die Frauen- Tolu, hat an seinem Haus eine Kamera in-
wisse, wie ernst es die Leute mit ihren Dro- rechtlerin Ateş steht unter Polizeischutz, stalliert, um sicherer zu sein.
hungen meinten. Als er vor einiger Zeit weil sie regelmäßig Morddrohungen erhält. Nicht nur, dass sich etliche mit ihren
für ein Fernsehinterview in einem Ham- In der Ibn Rushd-Goethe Moschee in Ber- Problemen vom deutschen Staat alleinge-
burger Straßencafé saß, sprang ein Türke lin, die sie gegründet hat, dürfen nicht nur lassen fühlen, sie sehen mit Unverständnis,
am Nachbartisch auf und schrie, er solle Frauen neben Männern beten, auch Ho- dass Deutschland die Ditib-Moscheege-
aufhören, „solchen Scheiß über unseren mosexuelle sind willkommen. meinden viele Jahre mit Millionen Euro
Präsidenten zu erzählen“. Die sozialen Ateş weiß, wozu türkische Nationalisten unterstützte. Die Ditib galt lange als Part-
Netzwerke spülen täglich verbalen Unrat fähig sind. In den Achtzigerjahren wurde ner, als gemäßigtes Gegengewicht zu vie-

44 DER SPIEGEL 47 / 2017


Titel

len religiös strengeren Vereinen. Mittler- Nicht allen innerhalb der Ditib gefällt dazu Lebensmittel aus der Türkei, alles
weile hat die Bundesregierung entschie- ein solcher Kurs. Im Verband gab es etliche günstig, alles frisch. Öztürk hat nicht viel
den, die Gelder für Ditib-Projekte dras- Konflikte. Im Frühjahr trat der Vorstand Zeit, er hängt im Zeitplan ein paar Tage
tisch zu kürzen, noch 2016 hatte sie dafür der Ditib-Jugend geschlossen zurück; auch hinterher.
mehr als drei Millionen Euro gegeben. ein Mitglied des Ditib-Vorstands warf hin. Seinen bisherigen Laden in einem be-
Dass Imame im Auftrag Ankaras Anhän- Geblieben sind vor allem jene, die es Er- nachbarten Stadtbezirk musste er aufge-
ger der Gülen-Bewegung ausspioniert ha- doğan gern recht machen. ben. Wenige Tage nach dem Putschversuch
ben sollen, brachte offenbar ein Umden- „Man versucht, gerade unter dem Radar in der Türkei gab es Boykottaufrufe gegen
ken. Etliche Beiträge von Ditib-Mitglie- zu bleiben, und setzt darauf, dass die deut- ihn auf Facebook und in WhatsApp-Grup-
dern in sozialen Netzwerken, die gegen sche Politik das Problem weiterhin igno- pen. Männer standen vor seinem Laden
Christen oder das Weihnachtsfest hetzten, riert oder wieder vergisst“, sagt ein Funk- und bedrängten Kunden und Mitarbeiter.
machten die Sache nicht besser. tionär, der nicht namentlich genannt wer- Ob sie denn wüssten, dass das Geschäft ei-
Wer sich eine Freitagspredigt der Ditib den will. Keiner traut sich mit Kritik am nem Terroristen gehöre?
anhören möchte, kann das problemlos in eigenen Verband in die Öffentlichkeit. „Al- Öztürk, der seit 27 Jahren in Deutschland
der Kölner Zentralmoschee machen. Platz- les wird sofort nach Ankara gemeldet“, lebt, hat nie einen Hehl daraus gemacht,
anweiser vor dem futuristisch anmutenden sagt der Funktionär. Besonders die Religi- dass er der Bewegung Fethullah Gülens an-
Gebäude im Stadtteil Ehrenfeld erklären, onsattachés an den türkischen Generalkon- gehört. Er engagiert sich im örtlichen Un-
wo es zum Frauenabteil geht und wo die sulaten haben ein Auge darauf, dass alle ternehmerverband der islamischen Bewe-
Schließfächer für die Schuhe sind. Höflich auf Regierungslinie bleiben. gung, seine vier Kinder haben Gülen-Schu-
bittet eine Anweiserin die Frauen, ein
Kopftuch anzuziehen.
An diesem ersten Freitag im September
sind mehr als tausend Männer zum Gebet
gekommen und sitzen eng gedrängt auf
dem hellblauen Teppich. Frauen beten
oben auf der Empore. Es ist Opferfest, ei-
ner der wichtigsten islamischen Feiertage.
Sonnenstrahlen fallen durch die Glasantei-
le der Kuppel.
Der Imam spricht zu seiner Gemeinde
von dem Gefühl, nicht in der Heimat leben
zu können. „Egal welche Probleme es dort
gibt, es wird immer der Ort sein, an dem
unser Herz hängt. Dort werden wir begra-
ben werden.“ Später predigt er: „Wenn
wir nicht dazu bereit sind, für unsere Kin-
der, unser Vaterland, unsere Nation und

DMITRIJ LELTSCHUK / DER SPIEGEL


unsere Flagge Opfer zu bringen, dann wer-
den wir selbst zu Opfern.“ Ein Narrativ,
das auch zum türkischen Regierungsbera-
ter Şen passen würde.
Dieser Teil der Ansprache ist nicht an
offizieller Stelle nachlesbar, er ist nur für
die anwesenden Muslime gedacht. Der Di-
tib-Bundesverband gibt zwar vor, transpa- Kurdenvertreter Toprak: „Eine türkische Pegida ist entstanden“
rent zu sein. Die Freitagspredigten sind im
Internet auf der Ditib-Seite einsehbar,
auch auf Deutsch. Allerdings ist das nur Gegen die Imame, die Informationen len besucht. In den zehn Jahren, in denen
ein Teil dessen, was der Geistliche sagt. über angebliche Anhänger der Gülen-Be- er seinen Laden betrieben habe, sei das nie
Von Vaterland, Nation und Flagge ist dort wegung zusammengetragen haben sollen, ein Problem gewesen, sagt der Unterneh-
im Netz nicht mehr die Rede. wurde kein Haftbefehl erlassen. Die Bun- mer. „Klar, wir haben in unserem Laden
Auch die Facebook-Seiten mancher Di- desanwaltschaft hatte dies zwar wegen heftig diskutiert“, sagt Öztürk, „aber alle
tib-Gemeinden erscheinen mehr als Orte dringenden Tatverdachts beantragt, doch kamen wieder, um bei mir einzukaufen.“
politischer Agitation denn der inneren Ein- der Bundesgerichtshof teilte diese Ein- Damit war es nach dem Putschversuch
kehr. Die Ditib im süddeutschen Bad Wur- schätzung nicht und lehnte ab. Die Spitze- in der Türkei vorbei. Beamte des Landes-
zach veröffentlichte den Beitrag eines leien, die manche Sicherheitsexperten an kriminalamts besuchten ihn und sagten, er
UETD-Vorstandsmitglieds, das Deutsch- nachrichtendienstliche Methoden erinnern, stehe auf einer Liste verdächtiger Terro-
land vorwirft, die kurdische Terrororgani- blieben für die Täter bislang weitgehend risten, die der türkische Geheimdienst MIT
sation PKK dürfe ungehindert Kämpfer in folgenlos. Nicht aber für die Diffamierten. den deutschen Behörden übergeben habe.
Deutschland rekrutieren. Mit Geld aus Tolga Öztürk, der in Wahrheit anders Sie empfahlen ihm, vorsichtig zu sein und
Deutschland würden „Menschen in der heißt, steht in einem 800 Quadratmeter keinesfalls in die Türkei zu reisen.
Türkei ermordet“. Die Nachbargemeinde großen Laden, von dessen Decke Kabel Zeitweise kursierten viele solcher Listen,
Bad Waldsee beklagt eine junge Gene- baumeln. Ende Dezember will Öztürk in mal standen Gülen-Funktionäre darauf,
ration, der das neueste Modell ihres einer deutschen Großstadt einen Lebens- mal Polizisten, mal Unternehmer, die mit
Smartphones wichtiger sei als ihr Vater- mittelladen eröffnen. Draußen wirbt ein den angeblichen Staatsfeinden zusammen-
land. „Wie sollen sie ihre Leben geben, um Transparent für die Neueröffnung: Produk- arbeiteten. Nach Einschätzung deutscher
ihr Vaterland zu verteidigen?“ te von Edeka und Metro soll es geben, Sicherheitsbeamter sollten die Listen kurz

DER SPIEGEL 47 / 2017 45


Behörden vermuten, dass der türkische
Geheimdienst MIT vor Jahren bei der
Gründung der gewaltbereiten Rockergang
Osmanen Germania im Raum Frankfurt
am Main mitwirkte. Nach Erkenntnissen
des Verfassungsschutzes sind die meisten
Türkenrocker Nationalisten, die gegen ver-
meintliche Feinde der Türkei agitierten.
Auch besuchten die Osmanen Pro-Erdo-
ğan-Kundgebungen, obwohl der Besuch
politischer Vorträge gemeinhin als rocker-
untypisch gilt. Typisch scheint dagegen ihr
Hang zu Gewalt.
„Es gibt kaum etwas, wovor die zurück-
schrecken würden“, sagt ein Ermittler. In

OZAN KOSE / AFP


einem vertraulichen Lagebericht eines Lan-
deskriminalamts heißt es, wenn Osmanen
auf verfeindete Kurden träfen, sei mit „ex-
Staatschef Erdoğan in Istanbul: Appelle an den Nationalstolz zessiver Gewalt“ zu rechnen. Sie seien
„Wahnsinnige“, die alles täten, beschreibt
ein ehemaliges Führungsmitglied der Os-
vor dem Referendum für Erdoğans Verfas- feindlich, aber doch als problematisch; manen die Brutalität der Gang, die derzeit
sungsreform im April systematisch Angst Aussteiger berichteten von Gruppendruck schätzungsweise 500 Mitglieder hat und
verbreiten. wie in einer Sekte. wie andere Rockergruppen ihr Geld mit
Tatsächlich, Erdoğan gewann das Refe- Den deutschen Behörden zeigt der Nie- Drogenhandel und Zuhälterei verdient.
rendum, wenn auch knapp, mit 51,2 Pro- dergang der umstrittenen Gülen-Bildungs- Osmanen-Rocker arbeiteten als Sicher-
zent. Türken aus Deutschland stimmten mit zentren, wie weit Erdoğans Einfluss hierzu- heitspersonal auf Veranstaltungen der
63,1 Prozent dafür und sicherten so sein au- lande reicht. Es gebe ein Netz potenzieller UETD, einzelne Osmanen unterhalten
toritäres Machtsystem ab. Seit dem Refe- Informanten im ganzen Land. Sie arbeite- gute Kontakte zu UETD-Funktionären.
rendum erhielten die deutschen Behörden ten in Ausländerbehörden, beim Bundes- Ein Bericht des Düsseldorfer Innenminis-
keine angeblichen Terrorlisten mehr. amt für Migration und Flüchtlinge, bei der teriums beschreibt „eine Verbindung des
Sein Laden habe im vergangenen Jahr Polizei, in Sicherheitsunternehmen, in der türkischen Staates zur Rockergruppe Os-
600 000 Euro weniger Umsatz als vorher Privatwirtschaft oder für Ditib. Und dort manen Germania und Vertretern der AKP
gemacht, sagt Öztürk. Der 52-Jährige hätten sie oft Zugang zu Informationen sowie Beratern von Staatspräsident Erdo-
musste nach und nach alle 25 Mitarbeiter über Erdoğans Gegner. Der türkische Prä- ğan“. Demnach empfing Erdoğans Berater
entlassen und eines der beiden Familien- sident brauche nicht aufwendig Zuträger Ilnur Çevik im Oktober 2016 eine Osma-
autos verkaufen. Zwei AKP-Anhänger, die einzuschleusen, sie meldeten sich von nen-Rocker-Delegation in Ankara. Hinter-
eine seiner Mitarbeiterinnen massiv unter selbst. Die deutschen Sicherheitsbehörden her kommentierten die Osmanen das Gip-
Druck gesetzt hatten, zeigte er bei der sehen die Spitzeleien der Türken deshalb feltreffen im Netz: Çevik habe erklärt,
Polizei an. Er hatte Bilder einer Überwa- als bedrohlicher an als etwa die Aktivitäten „man werde stets hinter den türkischen
chungskamera als Beleg. Als er nach sei- russischer Spione im Kalten Krieg. Staatsbürgern stehen, die im Ausland Terror-
nem Besuch bei der Polizei Anrufe erhielt, Tatsächlich sind die Kanäle der türki- organisationen bekämpfen“.
man werde ihn endgültig „vernichten“, zog schen Regierung in die deutsche Wirklich- Nicht nur die Kölner Psychologin Lale
er die Anzeigen zurück. keit überraschend vielfältig. Die deutschen Akgün, 64, findet es „beängstigend, aus wel-
Stattdessen entschied er sich für einen chen Ecken Erdoğan Unterstützung erwar-
stillen Neuanfang: Er verkaufte den alten ten kann“. Sie sagt: „Diese Leute bekämp-
Laden und nahm einen Kredit auf. Sein fen unsere demokratischen Strukturen, und
neues Geschäft trägt einen deutschen Na- man hat es ihnen in den vergangenen Jahren
men, Öztürk will vor allem deutsche Kun- zu leicht gemacht, sich auszubreiten.“ Alle
den gewinnen. Und er hofft, dass seine Facetten der türkischen Gesellschaft bilde-
Gegner nie herausfinden, wer hinter der ten sich eben auch in Deutschland ab. „Man
Neueröffnung steckt. hat viel zu lange so getan, als wäre jede Zu-
Neben den Kurden in Deutschland spü- wanderung ausschließlich eine Bereiche-
ren die Anhänger Gülens, der 1999 in die rung“, sagt sie. „Das war bequem, entspricht
USA auswanderte und seine weltweite aber natürlich nicht der Wahrheit, der poli-
Bewegung seitdem von Pennsylvania aus tische Islam ist keine Bereicherung.“
steuert, den Verfolgungsdruck Erdoğans be- Akgün wird verunglimpft, weil sie sich
sonders. 135 Bildungsvereine der Gülen- auf ihrer Facebook-Seite über ein Gerichts-
Bewegung gab es in Deutschland. Sie be- urteil freut, das deutschen Islamverbänden
trieben zum Beispiel Nachhilfezentren. 55 den Status einer Religionsgemeinschaft
WOLFGANG STAHR / LAIF

mussten sich auflösen, weil Eltern von 8000 versagt. Sie bezeichnet Erdoğan als „Dik-
Kindern und Jugendlichen sie auch aus tator“ und bewertet Kopftücher als Zei-
Angst vor Repressionen abgemeldet hatten. chen für die Unterdrückung der Frau. Eine
Das ist nicht unbedingt ein Verlust für solche Haltung schürt den Hass ihrer
eine liberale, demokratische Gesellschaft. Widersacher.
Zwar galt die streng religiöse Organisation Grünenchef Özdemir „Was bist Du für eine Türkin? Der Tod
Verfassungsschützern nicht als verfassungs- Warnung vom Bundeskriminalamt wartet auf Dich“, habe ihr ein Mann ge-
46 DER SPIEGEL 47 / 2017
Titel

schrieben, den sein Profil als Erdoğan-An-


hänger auswies. Ein anderer habe gehetzt:
„Ich ficke Deine tote Mutter, Deinen toten
Vater, Deine Kinder, Du Nutte Lale“ und
„Ich ficke Dich Rassistin“. Auffallend oft
hätten die Pöbeleien einen sexuellen Be-
zug, sagt die Buchautorin Akgün. „Ich fin-
de es hochinteressant, dass mir gerade die-
se angeblich strenggläubigen Männer mit
dem F-Wort drohen“, sagt sie. Auch wenn
sie natürlich wisse, dass es darum gehe,
sie als Frau herabzuwürdigen: „Was sind
das denn für Moralvorstellungen?“
Akgün hat herausgefunden, dass viele
ihrer Kritiker Erdoğan-Fans sind, weil sie
sich die Facebook-Profile der „Jungs“ ange-
schaut hat. Dort wimmelte es von Fotos mit
türkischer Flagge, Soldaten in Kampfmon-
tur und dem türkischen Regierungschef.
Bei den Jugendlichen komme er gut an,
weil er ihnen bei der Identitätsfindung hel-
fe, die für Jugendliche mit Migrationshin-
tergrund belastend sein könne, glaubt die
Psychologin. Erdoğan gebe ihnen Orien-
tierung, indem er sage: Ihr seid Türken,
egal wo ihr lebt, und das ist gut so.
Das Nachrichten-Magazin
„Wir sind Erdoğan“, hatte einer, der Ak-
gün bepöbelte, als Slogan gepostet, dazu
den pubertären Spruch: „Jeder Mensch
stirbt nur einmal. Wenn wir sterben, lasst
uns wie Männer sterben.“ Früher habe sie
für Kinder.
ähnliche Zuschriften von Gülen-Leuten be-
kommen. „Seitdem die aber gerupft sind
wie ein armes Hühnchen, kommt da nicht
mehr viel“, sagt sie. „Erdoğans Leute ha-
ben jetzt das Monopol.“ Jetzt testen:
Akgün hat viel darüber nachgedacht, „Dein SPIEGEL“ digital
warum Erdoğan so große Macht bekom-
men konnte. Sie erzählt, wie lange die sä- Mehr Infos unter
kularen, gebildeten und europäisch ausge- www.deinspiegel.de/info
richteten Türken in Ankara und Istanbul
das Sagen gehabt hätten. Wer fromm ge-
wesen sei oder vom Land, sei belächelt
worden. Frauen mit Kopftuch durften bis
vor wenigen Jahren keine öffentlichen
Gebäude betreten. „Da hat sich viel Wut
angestaut auf diejenigen, die erfolgreich
waren und die Regeln der Gesellschaft be-
stimmten.“ Erdoğan stellte die Verhältnis-
se auf den Kopf. „Er ist stellvertretend für
die Unterschicht, aus der er kam, reich
und mächtig geworden.“
Das Gefühl der Kränkung hätten die
Türken, von denen viele aus eher bildungs-
fernen Schichten stammten, in Deutsch-
land gleich doppelt gespürt. Sie seien mit
dem Traum von Wohlstand und Prestige
nach Deutschland gekommen und auch
hier wieder auf die hinteren Plätze ver-
wiesen worden. „Erdoğan ist ihr Rache-
gott.“ Jörg Diehl, Katrin Elger,
Martin Knobbe, Maximilian Popp

Video: Wie viel Einfluss


hat Erdoğan in Deutschland?
spiegel.de/sp472017tuerkei
oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 47 / 2017 47


NORA KLEIN / DER SPIEGEL

NORA KLEIN / DER SPIEGEL


Wohnhaus Hermann-Schmidt-Straße 19 in Erfurt, Krankentransport, Mediziner Heiland: Getarnte Intensivstation

Todkranke für WG gesucht!


Geschäftsideen Pflegefirmen gründen vermehrt Wohngemeinschaften für Bettlägerige. Das ist
lukrativ und nutzt ein Gesetz aus, das andere, gut gemeinte Ziele hatte. Von Bruno Schrep

E
r ist Oberarzt einer Palliativklinik Nachts wird der Mediziner häufig durch Die übrigen Bewohner des Hauses, fast
und kämpft jeden Tag gegen Elend laute Geräusche wach: Rumpeln im Trep- alle auch Wohnungseigentümer, wollen die
und Tod. Stephan Heiland versucht, penhaus, Türenschlagen von großen Lie- sogenannte WG wieder loswerden. Sie kla-
die Schmerzen gepeinigter Patienten zu ferwagen, aufgeregtes Stimmengewirr. gen über Lärm, Gestank und ständige Un-
lindern, unheilbar Kranken mit neuen Me- „Manchmal ist es so schlimm“, berichtet ruhe. Sie fühlen sich um ihren Anspruch
dikamenten zu helfen, Sterbenden die letz- er, „dass ich meine Sachen packe und ins betrogen, ungestört zu wohnen. Und weh-
ten Tage zu erleichtern. Wenn er nach Hau- Hotel oder zu meiner Freundin flüchte.“ ren sich gleichzeitig gegen den Vorwurf,
se kommt, nach 12 oder 14 Stunden Dienst, Zweimal, als er morgens zurückkehrte, sie seien unsozial, hätten Vorurteile gegen
möchte er von Leiden und Krankheiten stand ein Leichenwagen vor der Tür. alte und kranke Menschen.
nichts mehr hören und sehen. Im Parterre des viergeschossigen Hauses, Neben dem Palliativarzt Heiland üben
Das ist in seiner Wohnung in der Erfurter das in einer gehobenen Erfurter Neubau- oder übten weitere Bewohner einen medi-
Hermann-Schmidt-Straße 19 nicht möglich. siedlung steht, werden rund um die Uhr zinischen Beruf aus, darunter eine Zahn-
Wenn der 47-Jährige aus dem Fenster im schwerstkranke alte Menschen gepflegt. ärztin und eine pensionierte Ärztin aus
vierten Stock schaut, sieht er oft Rettungs- Die Einrichtung firmiert als „nicht selbst- dem öffentlichen Dienst. Die Arztwitwe
wagen, Sanitäter, flackerndes Blaulicht. Er organisierte ambulant betreute Wohnge- Christina Hahn arbeitete 32 Jahre lang als
sieht Menschen, die auf einer Trage ins meinschaft“. Kritiker halten sie für eine Krankenschwester, jetzt ist sie Rentnerin.
Haus transportiert werden, meistens mit als WG getarnte Intensivstation in einem Wenn sie in ihrem Bett liegt, hört sie von
einer Beatmungsmaske auf dem Gesicht. Privathaus. unten das Piepen der Überwachungsappa-
48 DER SPIEGEL 47 / 2017
Deutschland

rate: „Ich wache manchmal auf und denke, organisierte“ und „nicht selbst organisier- nicht etwa als Anhängsel im fünften Stock
ich bin wieder auf Station.“ Einmal, er- te“ Wohngemeinschaften für Pflegebedürf- eines Pflegeheims geführt werden. Außer-
zählt sie, habe ein fremder Mann bei ihr tige. Bei Ersteren haben sich Bewohner dem dürfen nicht mehr als zwölf Personen
geklingelt und gefragt: „Wo ist der Tote, noch bewusst für ein Leben in einer WG betreut werden. Ärzte und Pflegepersonal
den ich abholen soll?“ entschieden. In ihren Zimmern stehen ei- müssen von außen kommen. Eine 24-Stun-
„Wir alle fühlen uns veralbert“, klagt gene Möbel, hängen private Bilder, es gibt den-Pflege spricht nicht, wie die Gegner
Mediziner Heiland. Wie die anderen Woh- einen Aufenthaltsraum. Die Bewohner denken, gegen die Einordnung als Wohn-
nungseigentümer hatte er unterschrieben, können mitbestimmen, wer in die WG auf- gemeinschaft.
nichts gegen den Einzug von „vorwiegend genommen wird. Jeder kann sich seinen Was für ein Geschäft ein Betreiber mit
älteren Mitmenschen mit gesundheitlichen Pflegedienst selbst auswählen. einer solchen Wohngemeinschaft machen
Einschränkungen“ zu haben, das wollte In nicht selbst organisierten Wohnge- kann, zeigt das Beispiel in der Hermann-
der Käufer der Parterrewohnung so. Alte meinschaften sind die Bewohner meist de- Schmidt-Straße: Die meisten der sechs Er-
Menschen sollten in der Hermann- ment, manche liegen im Koma. Oft wissen furter WG-Patienten müssen laut Aussa-
Schmidt-Straße ein „neues Zuhause“ fin- die Todkranken nicht einmal, wo sie sich gen der übrigen Hausbewohner künstlich
den, hieß es in der beschönigenden Erklä- befinden. Kontakte zu Mitbewohnern gibt beatmet werden. Sie hängen rund um die
rung. „Wir planten bereits gemeinsame es kaum. Uhr an Beatmungsgeräten. Die Kassen
Grillpartys“, erinnert sich Bewohnerin „Ist doch klar, dass hier eine stationäre zahlen für die Betreuung solcher Beat-
Carsta-Maria Fleischmann, „wir freuten Intensivstation betrieben wird“, sagt Gun- mungspatienten, von denen es in Deutsch-
uns echt auf ein Zusammenleben mit Se- nar Retzlaff aus dem ersten Stock, „alles land geschätzt 15 000 gibt, bis zu 20 000
nioren, hatten null Berührungsängste.“ andere ist Verschleierung.“ Der Mann, der Euro im Monat. In Spezialeinrichtungen
Es kamen jedoch fast nur bettlägerige am engagiertesten gegen den Pflegebetrieb oder Heimen kostet die stationäre Versor-
Todkranke: bewegungsunfähig, nicht mehr kämpft, zählt auf, was nach seiner Über- gung solcher Fälle nur rund 5000 Euro mo-
in der Lage, selbst zu essen, ohne Hilfe zu zeugung dafürspricht: „Es gibt ein Schwes- natlich.
atmen oder sich verständlich zu machen. ternzimmer, Besprechungen über Dienst- In den ambulanten WGs können alle
„Anfangs versuchten wir noch, mit den pläne, sogar Vorratskammern.“ Zum Be- Leistungen, beispielsweise Pflegeaufwand
Leuten zu reden“, sagt Fleischmann, „aber weis zeigt er Fotos von Medikamentenla- oder Kosten für teure medizinische Geräte,
da war niemand mehr ansprechbar.“ Unter gern im Keller, die er selbst gemacht hat, den Kassen in einer Art Baukastensystem
diesen Umständen hätte die Hausgemein- und er deutet auf die zusätzlich aufgestell- in Rechnung gestellt werden. „Summiert
schaft niemals ihr Okay gegeben. „Doch ten zehn Mülltonnen vor der Haustür, in man die Vergütung aller ambulanten Leis-
da war es zu spät.“ denen gebrauchtes Verbandsmaterial, Win- tungen, übersteigt das die Kosten für eine
Eigentümer der Parterrewohnung ist das deln und Spritzen entsorgt werden. stationäre Versorgung“, sagt ein Sprecher
Immobilienunternehmen Nieklauson & Die Gesetzeslage ist kompliziert. „Die der AOK Plus für Sachsen und Thüringen,
List mit Sitz in Jena, das Teil einer frag- Grenzen zwischen WG und stationärer Be- bei der mehrere Patienten der Hermann-
würdigen Wachstumsbranche ist. Die treuung verschwimmen immer mehr“, sagt Schmidt-Straße versichert sind. Die ge-
GmbH kauft, wie in Erfurt, barrierefreie der Pflegeexperte Dieter Schnellbach vom naue Höhe der Mehrkosten nennt er nicht.
Wohnungen in Privathäusern. Die Zimmer thüringischen Sozialministerium. Die Un- Spezialeinrichtungen und Heime kön-
werden einzeln an schwer kranke Men- terscheidung ist jedoch wichtig, weil sie nen dagegen über die Pflegeversicherung
schen vermietet, die oftmals keine selbst- bestimmt, wie viel ein Pflegebetrieb ab- nur Pauschalen abrechnen. Außerdem
ständigen Entscheidungen mehr treffen rechnen darf. müssen die Patienten einen Teil der Aus-
können. Die Einweisung erfolgt meist Laut Gesetz muss eine WG in Thüringen gaben, teilweise bis zur Hälfte, selbst zah-
durch Angehörige oder Betreuer, die den „bauliche, organisatorische und wirtschaft- len – ein Anreiz für Versicherte und deren
Senioren das Heim ersparen wollen, eine liche Selbstständigkeit“ besitzen. Sie darf Angehörige, sich für eine ambulante WG
WG für die bessere Lösung halten oder zu entscheiden.
keine Alternative haben. So war das nicht gedacht. Als die Bun-
Die medizinische Betreuung übernimmt Außerklinische Intensivpflege desregierung im Jahr 2014 beschloss, mehr
eine andere Firma, die Linimed GmbH, Anbieter* in Deutschland Geld für die ambulante Pflege auszuge-
Teil eines Pflegekonzerns mit Sitz in Lu- Juli ben, und dafür Milliarden bereitstellte,
xemburg. Die Gesellschafter des Immobi- 2017 hatte sie beste Absichten: Auch Schwerst-
lienunternehmens, die Kaufleute Frank List 1050 kranke sollten die Möglichkeit erhalten,
und Kai Nieklauson, sind über komplizier- zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung
te Verschachtelungen auch an Linimed be-
teiligt – wohl kein Zufall. Rechtsberater
+ 24 %
gegenüber
betreut zu werden. Doch große Pflege-
unternehmen haben aus der gut gemein-
empfehlen Unternehmen, dass Vermieter 950
Januar 2014 ten Idee ein windiges Modell gemacht.
und Pflegedienst nicht identisch sein soll- Sie gründeten Hunderte ambulante Wohn-
ten, Krankenkassen könnten dies nicht an- gemeinschaften, inzwischen gibt es rund
erkennen – deshalb wohl die Konstruktion. 780 solcher Intensiv-WGs. Hinter einigen
Die Patienten werden in der Erfurter Firmen stehen international operierende
WG rund um die Uhr betreut. Das Perso- 850 Investorengruppen.
nal wechselt schichtweise im Acht-Stun- Jan. Schon jetzt müssen in Deutschland drei
den-Rhythmus, ähnlich wie in Kliniken, 2014 Millionen Menschen betreut werden, bis
Heimen und Hospizen. Unten an der Haus- 2050, schätzen Experten des Bundesge-
tür des Mehrfamilienhauses sind Zettel mit sundheitsministeriums, könnte es mehr als
den Namen der WG-Bewohner ange- 780 Intensivpflege-Wohngruppen mit fünf Millionen Pflegebedürftige geben. Mit
bracht. Die Zettel müssen häufig ausge- ca. 5000 Pflegeplätzen stehen der rasanten Zunahme der ambulanten
tauscht werden, die Sterberate ist hoch. derzeit in Deutschland zur Verfügung. Wohngemeinschaften ist, fast unbemerkt
Eine WG im herkömmlichen Sinne sieht von der Öffentlichkeit, eine neue Art Pfle-
anders aus. Der Gesetzgeber kennt „selbst * ambulante Pflege und Wohngruppen; Quelle: Pflegemarkt.com geindustrie entstanden. Leidtragende sind
DER SPIEGEL 47 / 2017 49
die Versicherten der gesetzlichen Kassen, Katja Funke-Schreinert mit, zwei Ge-
die alles bezahlen müssen. schäftsführer wollten „nicht involviert
Viele Angehörige versuchen oft über werden“, ein dritter habe „keine Rück-
Monate und Jahre, ihre kranken Verwand- meldung“ gegeben.
ten gut unterzubringen, weil sie selbst mit Auch die Bewohner der Erfurter Her-
der Betreuung überfordert sind. Doch die mann-Schmidt-Straße 19 sind Leidtragen-
Wartelisten bei Heimen sind lang. Um de der findigen Geschäftsidee der Pflege-
mehr Plätze anzubieten, fehlt den Einrich- unternehmen. Sie fühlen sich im Kampf
tungen das Personal, denn der Schichtbe- gegen die WG in ihrem Parterre im Stich
trieb, die seelische und die körperliche Be- gelassen. Sie haben bei mehreren städti-
lastung sowie die miese Bezahlung schre- schen Ämtern protestiert, beim Gesund-

NORA KLEIN / DER SPIEGEL


cken Bewerber ab. heitsamt, beim Bürgeramt, beim Ordnungs-
Während jene Menschen, die Kranke amt. „Überall wurden wir vertröstet oder
und Alte pflegen, mit kümmerlichen Ge- hingehalten“, klagt Bewohner Retzlaff,
hältern nach Hause gehen, können Pflege- „niemand will an die Sache ran.“
betriebe mit dem WG-Kniff gut kassieren. Typisch sei die Reaktion des Bauamtes,
„Es ist einfach ein zu lukratives Geschäft“, Hausbewohner Fleischmann, Hahn, Retzlaff sagt Retzlaff. Obwohl in dem Haus laut
sagt Branchenkenner Sebastian Meißner „Wo ist der Tote, den ich abholen soll?“ Teilungserklärung nur Privatwohnungen
vom Internetportal Pflegemarkt.com. Bei erlaubt seien, habe das Amt bisher nichts
einer 24-Stunden-Betreuung zu Hause Nacht an eine Beatmungsmaschine ange- gegen die Nutzung als Kranken-WG unter-
pflegten theoretisch mindestens drei Hel- schlossen war, kollabierte unbemerkt. Die nommen. Zwar sei diese Nutzung „formell
fer eine Person. In einer WG dagegen ungelernte Hilfskraft war mit der Überwa- illegal“, teilte eine Sachbearbeiterin den
reichten fünf Pflegekräfte für sechs Patien- chung der Monitore überfordert. Der Not- Bewohnern schriftlich mit. Das Amt sei
ten, eine enorme Ersparnis. Kein Wunder, arzt konnte nur noch den Tod der alten deshalb bestrebt, heißt es in akkuratem
sagt Meißner, dass die Zahl der Intensiv- Dame feststellen. Das sei kein Einzelfall, Behördendeutsch, „einen rechtskonfor-
pflegedienste in nur zweieinhalb Jahren sagt der Düsseldorfer Medizinrechtler men Zustand herbeiführen zu lassen“. Das
um 24 Prozent gestiegen sei. Unter dem Christian Schmitte. Gefährdet seien beson- war im Mai, passiert ist bisher nichts.
Motto „Sicherheit gewährleisten – Gebor- ders alleinstehende Menschen, um die sich „Dass diese WG in Wahrheit ein Gewer-
genheit schenken“ bewirtschaftet der Pfle- niemand mehr richtig kümmere. „Wer bebetrieb ist, steht für mich außer Frage“,
gedienst Linimed, der auch Heime betreibt, schaut da schon genau hin, wie qualifiziert urteilt der Erfurter Juraprofessor Joachim
inzwischen 40 Standorte, überwiegend in das Personal ist?“ Weyand, der an der TU Ilmenau Wirt-
Thüringen. Gesundheitsexperte Lauterbach bewer- schaftsrecht lehrt und die Bewohner un-
„Die Politik hat ungewollt einen riesigen tet die krummen Geschäfte mit Pflege- terstützt. Weyand kam bei einer Ortsbe-
Sog ausgelöst“, sagt SPD-Gesundheitsex- wohngemeinschaften als moralisch ähnlich sichtigung zu dem Schluss, dass die gegen-
perte Karl Lauterbach, auch stellvertreten- verwerflich wie die Ausbeutung von Frau- wärtige Nutzung unzulässig sei: „Das ist
der Fraktionsvorsitzender seiner Partei. en im Rotlichtmilieu: „Schwerstkranke alles, nur kein privates Wohnen.“
Dass ambulante Betreuung besser vergütet Menschen werden missbraucht, um Gewin- Der Streit um Pflege-WGs ist trotz der
werde, hätten alle begrüßt. „Das war ge- ne zu erzielen.“ vielen Gründungen noch immer juristi-
dacht für Eltern, die ihr schwer krankes Die Kassen versuchen, das zu verhin- sches Neuland. Jurist Weyand fand bun-
Kind, das beatmet werden muss, zu Hause dern. „Rechnet ein Dienst die teure Ein- desweit nur einen vergleichbaren Fall. Das
pflegen.“ Oder für Angehörige, die ihren zelpflege ab, aber tatsächlich versorgt nur Amtsgericht Köln gab den acht Eigentü-
gebrechlichen Eltern das Pflegeheim er- eine einzige Fachkraft mehrere Personen, mern eines Neun-Parteien-Wohnhauses
sparen wollten. Dahinter habe die Über- wird das selbstverständlich verfolgt und recht, die dem Besitzer der Dreizimmer-
zeugung gestanden: Ambulante Pflege ist zur Anzeige gebracht“, sagt Axel Wunsch wohnung im Parterre untersagt hatten, wei-
besser als stationäre Versorgung. von der Barmer. Wenn denn die Kasse da- ter an einen Pflegedienst zu vermieten,
Ob das auch in den real existierenden von etwas mitbekommt. Die Chancen der dort vier Wachkoma- und Beatmungs-
Intensiv-Pflege-WGs so ist, darf mitunter dazu sind seit Anfang dieses Jahres immer- patienten betreute.
bezweifelt werden. Auch bieten die Wohn- hin gestiegen: Seitdem dürfen die Prüfer Eine solche Entscheidung würden sich
gemeinschaften viele Einfallstore für Be- des Medizinischen Dienstes ambulante die Bewohner der Herrmann-Schmidt-Stra-
trug. Politiker Lauterbach berichtet, Mit- Wohngemeinschaften inspizieren, auch un- ße auch wünschen. Doch ihr Versuch, mit
arbeiter mehrerer Krankenkassen hätten angemeldet. einem 7:1-Beschluss in der Eigentümerver-
sich bei ihm persönlich über fiese Tricks Die Krankenkasse Barmer hat – ähnlich sammlung die Belästigungen zu verbieten,
mit Pflege-WGs beklagt. wie die AOK – mit dem Pflegedienst Lini- beantwortete die Firma Nieklauson & List
Der Dreh sei simpel: „Man tut so, als ob med mehrere Versorgungsverträge über mit einer Anfechtungsklage, die Akten lie-
es sich um intensive Einzelpflege von Fach- die ambulante Versorgung von WG-Be- gen seitdem beim Erfurter Amtsgericht.
kräften handelte. Genau dies aber ist oft wohnern geschlossen. Die Kasse war dazu Bei einer Anhörung dort wurden die
nicht der Fall.“ Stattdessen setzten die Be- gesetzlich verpflichtet, denn Linimed legte verhärteten Fronten deutlich: Die Woh-
triebe häufig angelernte Hilfskräfte ein, mo- die erforderlichen Nachweise vor. nungseigentümer schilderten ihren Frust
niert Lauterbach. Die müssten unter Zeit- Über Einzelheiten, etwa die Abrech- über die Störungen. Die Vertreter der WG
druck mehrere Patienten versorgen. Gera- nungspraxis oder den Einsatz gelernter erklärten, es sei alles halb so schlimm. Der
de für Menschen, die künstlich beatmet und ungelernter Kräfte, mochte sich die Richter drängte auf einen Vergleich.
würden und ständig überwacht werden Unternehmensleitung von Linimed je- Den wird es nicht geben.
müssten, sei dies lebensbedrohlich. Abge- doch nicht äußern. Auch zu dem Streit
rechnet werde aber die teure Einzelpflege. um die Erfurter Pflege-WG nahmen die Video:
Was dabei passieren kann, zeigte sich Chefs der Firmen Nieklauson & List so- Das Geschäft mit Todkranken
vor vier Jahren in einer Kölner Intensiv- wie Linimed nicht Stellung. Auf Anfrage spiegel.de/sp472017wg
WG. Eine lungenkranke Frau, die Tag und des SPIEGEL teilte die Jenaer Anwältin oder in der App DER SPIEGEL

50 DER SPIEGEL 47 / 2017


Deutschland

in Australien lebende Familie hatte bereits dann umgebucht werden.“ In der Buchung

Ausgesperrt eine zweitägige Reise hinter sich, als sie sei kein Vermerk gewesen, dass der Junge
am Amsterdamer Flughafen Schiphol ge- zu einer Gruppe gehöre oder seine Mutter
trennt wurde. betreuungsbedürftig sei.

am Gate Zum Glück wurden die behinderte Das Alter des abgewiesenen Passagiers
Mutter und ihre kleine Tochter in Hanno- ist für KLM offenbar unerheblich. Für
ver von den Großeltern abgeholt. „Mei- Teenager zwischen 15 und 17 Jahren sei
Luftfahrt Die behinderte Mutter ne Tochter und die neunjährige Enkelin der für allein reisende Kinder verpflich-
wussten doch gar nicht, was los war“, klagt tende Betreuungsdienst nur noch „optio-
war schon im Flugzeug, ihr Karsten Brüggemann, „das Verhalten der nal“. Auch gebe es „keinerlei Aufzeich-
16-jähriger Sohn durfte nicht an Airline ist empörend.“ Bei KLM habe nungen über eine Diskussion, die mit dem
man sich wegen der Überbuchung das Passagier stattgefunden hat“.
Bord – wie Airlines ihre Kunden schwächste Glied herausgesucht, „meine Die Antwort der Fluglinie steht im Wi-
mit Überbuchungen verärgern. Tochter konnte sich nicht wehren“. derspruch zu der Aussage des Jungen, er
Brüggemann sieht in dem Vorgehen ge- habe dem Personal klargemacht, dass sich

P
lötzlich waren sie verschwunden. gen seinen minderjährigen Enkel einen seine behinderte Mutter an Bord der Ma-
Jan Stephen war nur kurz zur Toi- Rechtsbruch. Die Erziehungsberechtigte schine befinde, die er nicht betreten durfte.
lette gegangen, da hatte das Boar- sei nicht gefragt worden, ob ihr Sohn ein- „Es hat einfach niemanden interessiert“,
ding für Flug KL 1911 von Amsterdam fach so allein in Amsterdam bleiben könne. sagt Jan Stephen.
nach Hannover auch schon begonnen. Die „Einer hilflosen Frau ist der Begleiter und Andere Fluggesellschaften sind im Um-
neunjährige Schwester und die Mutter wa- Dolmetscher genommen worden“, sagt gang mit Überbuchungen inzwischen
ren vorgegangen und warteten im Flieger Brüggemann. vorsichtiger geworden. Sie möchten nicht
auf ihn. Air France-KLM, Mutterkonzern der das gleiche Schicksal wie die US-Airline
Aber der 16-Jährige kam nicht. Als der niederländischen Fluglinie KLM, rechtfer- United erleiden. Sicherheitsleute schleiften
Junge sein Ticket unter den Scanner hielt, tigt sich, der Flug sei schließlich überbucht im Frühjahr in Chicago einen Passagier
stand plötzlich ein Mitarbeiter der Flug- gewesen: „Es ist Routine, dass Passagiere über den Maschinenboden zum Ausgang
gesellschaft KLM vor ihm. „Man des Fliegers, der Mann schrie,
sagte mir, dass ich nicht mitflie- Blut lief über sein Gesicht. Ein
gen könne“, erinnert sich der Video der Szene verbreitete
Junge. Die Maschine war über- sich rasant in aller Welt, United
bucht und flog ohne ihn ab. war tagelangen Proteststürmen
Jan Stephens Mutter kann ausgesetzt, der Börsenkurs
seit einem Schlaganfall vor vier rutschte ab, der Vorstandschef
Jahren nicht richtig sprechen musste feierlich versprechen,
und ist gehbehindert. Julia dass so etwas nie wieder pas-
Brüggemann verständigt sich sieren werde.
vor allem durch Gesten und Und nun? Die US-Gesell-
Laute. Ihr Sohn versteht, was schaft Delta zahlt ihren Passa-
sie meint, auf der Reise sollte gieren inzwischen bis zu 2000
er ihr als Betreuer und eine Art Dollar, wenn sie ihren Sitzplatz
Dolmetscher zur Seite stehen. wieder frei machen; im Einzel-
So erzählte er es auch den fall sind sogar knapp 10 000 Dol-
KLM-Angestellten am Flug- lar möglich. Auch bei United
steig. „Ich habe denen die Lage gibt es nach den neuen Unter-
geschildert, aber die zuckten nehmensregeln nun bis zu
nur mit den Schultern.“ 10 000 Dollar Entschädigung.
In diesem Jahr haben Flug- In Europa gelten andere Re-
gesellschaften wegen rabiaten geln. Jan Stephen flog mit vier
Verhaltens immer wieder welt- Stunden Verspätung aus Ams-
weit Schlagzeilen gemacht. terdam ab. In Hannover setzte
Mal dürfen Teenager nicht an er sich in ein Taxi, das sein
Bord, weil sie Leggings tragen, Großvater Karsten Brügge-
mal wird ein Passagier gegen mann für die Fahrt in den
seinen Willen aus dem Flug- Wohnort der Familie besorgt
zeug gezerrt. hatte. Die Rechnung über
Dass Kunden zurückbleiben 164,40 Euro schickte er an-
müssen, passiert regelmäßig, schließend an KLM.
fast alle Airlines überbuchen Die niederländische Flug-
JOANNA NOTTEBROCK / DER SPIEGEL

ihre Flüge. Weil häufig Reisen- linie zeigte sich weniger groß-
de nicht am Gate erscheinen, zügig als ihre amerikanischen
verkaufen die Unternehmen Wettbewerber. Sie zahlte der
gern mehr Plätze, als tatsäch- Familie die in der EU gesetz-
lich vorhanden sind. lich vorgeschriebene Entschä-
Die Folgen dieses Geschäfts- digung von 250 Euro. Außer-
modells bekamen in diesem dem gab sie einen Erfrischungs-
Fall im Juli Julia Brüggemann Passagierin Brüggemann mit Kindern gutschein aus.
und ihre Kinder zu spüren. Die „Es hat einfach niemanden interessiert“ Hubert Gude, Martin U. Müller

DER SPIEGEL 47 / 2017 51


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Nur ein Lächeln als Lohn
Kitas Erzieher sind wichtig und werden dringend gesucht. Warum nur dauert ihre Ausbildung
dann so lange und ist so schlecht bezahlt?

M
it 22 Jahren sollte man oder Technikerschule gleichgestellt
eine eigene Wohnung ha- ist: „Entsprechend bezahlt werden
ben, findet Maximilian die Absolventen nicht“, sagt Anke
Bialas. Mit 22 sollte man auf eige- König, Projektleiterin der Weiter-
nen Beinen stehen. Man sollte bildungsinitiative Frühpädagogi-
nicht wieder bei den Eltern ein- sche Fachkräfte beim DJI. 2014 ver-
ziehen, wenn der Absprung doch dienten Vollzeit-Erzieherinnen in
eigentlich geschafft war. Westdeutschland im Schnitt 2953
Bialas, 22 Jahre alt, wird sich in Euro brutto im Monat, im Osten
absehbarer Zeit keine Wohnung 2765 Euro. Tatsächlich bekommen
leisten können. Nicht einmal ein viele deutlich weniger, weil die
kleines WG-Zimmer. Dabei sind Mehrzahl der Erzieher in Teilzeit
junge Männer wie er auf dem Ar- arbeitet – freiwillig oder weil es
beitsmarkt äußerst begehrt: Bialas nicht genügend Vollzeitstellen gibt.
möchte Erzieher werden. „Ich wusste, dass man in dem
Fast überall im Land klagen Kita- Job nicht reich wird“, sagt Bialas.
leitungen über unbesetzte Stellen, „Aber als ich mir überlegt habe,
auf die sich kaum jemand bewerbe. dass es für mich schwer werden
Mehr als 300 000 Fachkräfte könn- kann, eine Familie zu ernähren,
ten bis zum Jahr 2025 fehlen, ha- hat mich das echt frustriert.“
ben Wissenschaftler des Deut- Schüler privater Ausbildungs-
schen Jugendinstituts (DJI) und institute trifft es noch härter, weil
der TU Dortmund ausgerechnet. sie in den langen Lehrjahren oft
Möchten die Parteien wie ange- draufzahlen. 50 Euro im Monat

NICOLE MASKUS-TRIPPEL / DER SPIEGEL


kündigt nicht nur den steigenden überweist Malin Mila, 19 Jahre alt,
Bedarf an Kitaplätzen decken, son- aus Singen am Bodensee an ihre
dern auch die Qualität der Betreu- Schule. Das Ticket für den Regio-
ung verbessern, würden weitere nalzug, mit dem sie zum Institut
fast 300 000 Kräfte benötigt. pendelt, kostet 56 Euro pro Monat.
Doch um Hunderttausende für Schulbücher muss sie selbst an-
den Erzieherberuf zu begeistern, schaffen. Auch Mila wohnt noch
wird es nicht ausreichen, sich wie bei ihren Eltern, „zum Glück“, wie
bisher auf den Idealismus junger Angehende Erzieherin Mila, Kitakinder sie sagt.
Menschen wie Maximilian Bialas Samstags jobbt sie auf dem Wochenmarkt Warum tut ein junger Mensch
zu verlassen. Der Beruf und vor sich das an? Ließe sich Mila zur
allem die Ausbildung müssten attraktiver ne Tonlage zwischen Empörung und Hin- Krankenschwester ausbilden und nicht zur
werden. gabe. Die „ganz Kleinen“, die Krippenkin- Erzieherin, erhielte sie im ersten Ausbil-
Wohl kaum eine andere Berufsgruppe der, haben es ihm besonders angetan. Sie dungsjahr monatlich rund tausend Euro brut-
muss während der Lehrjahre so leidens- lernten jeden Tag etwas Neues: lächeln, to, könnte sich vielleicht eine kleine Woh-
fähig sein. Angehende Erzieher lernen krabbeln, greifen. nung leisten, öfter mit Freunden ausgehen,
nach dem mittleren Schulabschluss in der „Da kannste stundenlang zusehen“, vom eigenen Geld in den Urlaub fahren.
Regel fünf Jahre lang, vor allem theore- schwärmt Bialas. „Wenn ein Kind mich an- Doch sie hat sich anders entschieden.
tisch. Sie absolvieren eine schulische Aus- lächelt, ist das toll – aber das bezahlt leider Auch sie: aus Idealismus. „Ich wollte im-
bildung zum Sozialassistenten oder Kin- nicht meine Miete.“ Dabei hat Bialas noch mer mit Kindern arbeiten“, sagt Malin
derpfleger, danach eine meist dreijährige Glück gehabt. Er macht seine Ausbildung Mila. Um ihre Eltern ein bisschen zu ent-
Fachschule. Wer das Abitur hat, kann nach in Bayern, bei der Stadt Nürnberg, und er- lasten, jobbt Mila samstags auf dem Wo-
einem einjährigen Praktikum oft direkt in hält dort immerhin rund 350 Euro im Mo- chenmarkt, verkauft Obst und Gemüse.
die Fachschule einsteigen. Doch auch dann nat. In einer Befragung der Weiterbildungs- „Gerade vor den Prüfungen, für die wir
gilt: Während der Ausbildung verdient initiative Frühpädagogische Fachkräfte aus viel lernen müssen, ist das sehr stressig.“
man die meiste Zeit nichts, viele müssen dem Jahr 2014 gab mehr als die Hälfte der Kein Wunder, dass viele nicht durchhal-
sogar dafür bezahlen. Gut die Hälfte aller Vollzeit-Erzieherschüler an, ihre Ausbil- ten. 42 Prozent der angehenden Kinder-
Erzieherfachschulen ist privat, dort ist oft dung vor allem mit dem Geld der Eltern pfleger und 15 Prozent der Sozialassisten-
Schulgeld zu zahlen: 700 Euro und mehr oder durch einen Nebenjob zu finanzieren. ten schließen schon den ersten Teil der
können es pro Schuljahr sein. Zwei von fünf bezogen Bafög. Ausbildung nicht ab. An der Erzieherfach-
Maximilian Bialas ist ein engagierter jun- Im Gegensatz zu den meisten Studie- schule bleiben weitere 8 Prozent auf der
ger Mann. Schon als Jugendlicher leitete renden können Erzieher nicht darauf Strecke. Stefan Sell, Professor für Sozial-
er Ferienlager, heute setzt er sich bei Ver.di hoffen, dass sich die Schulzeit fern der Pra- wissenschaften an der Hochschule Ko-
für die Rechte Auszubildender ein. Wenn xis irgendwann auszahlt. Auch wenn die blenz, sagt: „Die Erzieherausbildung ist
er von seinem Beruf spricht, schwankt sei- Erzieherausbildung formal einer Meister- gleich doppelt unattraktiv: durch die feh-
54 DER SPIEGEL 47 / 2017
Deutschland

lende Vergütung und durch die Länge. Da- Bislang bastelt jedes Bundesland an ei- Dass sich Jaquet für diesen Weg ent-
durch ist es sehr schwer, ausreichend und genen Modellen. Sachsen-Anhalt hat in schied, hat auch mit den Rahmenbedin-
gut qualifizierte Fachkräfte zu gewinnen, einigen Kitas ein revolutionäres, aber um- gungen zu tun. „Für mich war es schon
die man den Eltern versprochen hat.“ strittenes Projekt gestartet. Fachkräfte ler- wichtig, dass ich nur drei Jahre lang lerne
Ohnehin stellt sich die Frage, warum die nen dort nur noch drei statt fünf Jahre und nicht fünf“, sagt er. Das Gehalt sei
Ausbildung so lange dauert. Krankenpfle- lang, arbeiten vom ersten Tag an in einem nicht ausschlaggebend, aber „eines von
ger, Tischler, Chemielaboranten – sie alle Kindergarten oder einer Krippe mit und mehreren guten Argumenten“ gewesen,
lernen maximal dreieinhalb Jahre. „Die bekommen dafür eine Vergütung. „Wir ha- die Ausbildung zu beginnen. Er bezieht
Erzieherausbildung ist ein Überbleibsel ben uns an der dualen Ausbildung orien- gerade seine erste eigene Wohnung.
der klassischen Frauenbildung“, sagt Anke tiert“, sagt Landessozialministerin Petra Für die Stadt Dessau ist das Modell eben-
König vom DJI. „Eine Vorbereitung auf Grimm-Benne (SPD), die das Modell ein- falls praktisch, weil die Auszubildenden
das Berufsleben war nicht wirklich vorge- geführt hat. Wie die Inhalte einer fünf- mitarbeiten, jedoch weniger kosten als ein
sehen.“ Frauen sollten nur beschäftigt wer- jährigen Ausbildung in drei Jahre passen? ausgebildeter Erzieher. „In Wahrheit kön-
den, bis sie heirateten. „Wir haben in der klassischen Erzieher- nen die Azubis aber nicht als vollwertige
Erst seit den späten Sechzigerjahren ausbildung drei große Bereiche: Kinder- Arbeitskraft eingesetzt werden“, kritisiert
können Männer den Beruf lernen. Zu der garten, Hort und Jugendhilfe. Die haben Björn Köhler, Bundesvorstand der Bil-
Zeit seien andere Sozialberufe an die wir getrennt und uns ausschließlich auf dungsgewerkschaft GEW. Im Gegenteil:
Hochschule verlegt worden, so König, „So- Kindergärten fokussiert.“ Deshalb trägt Die anderen Erzieher müssten nicht nur
zialpädagogik oder Grundschullehramt“. der neue, dreijährige Ausbildungsgang die Kinder betreuen, sondern auch den
Sie empfiehlt eine Reform: die schulische den Titel „Fachkraft für Kindertagesein- pädagogischen Nachwuchs anleiten. Er be-
Ausbildung mit der Praxis zu verweben richtungen“. fürchtet, dass mit einem Wechsel zum
und mehr Möglichkeiten zur Spezialisie- Wie das in der Praxis aussehen könnte, dualen System der Beruf abgewertet werde.
rung zu schaffen, etwa in Richtung Sprach- erprobt derzeit Moritz Jaquet aus Dessau. Der Gewerkschafter hat einen Gegen-
förderung, Inklusion, Leitung und Fach- Der 20-Jährige gehört in Sachsen-Anhalt vorschlag: Er plädiert für eine weitere Aka-
beratung. „Das würde den Beruf insgesamt zum ersten Jahrgang, der das neue Modell demisierung – und für die entsprechende
aufwerten, inhaltlich und auch finanziell.“ durchläuft. Sein Arbeitsplatz ist die Kita Bezahlung. „Erzieher sollten an Fachhoch-
Ute Rodenwald und ihre Kolleginnen von Fuchs und Elster, er ist dort der einzige schulen studieren“, fordert er. „Denn sie
der Arbeiterwohlfahrt in Schleswig-Holstein Mann. Vier Wochen durchgängig betreut legen den Grundstein für den weiteren Bil-
spüren täglich, dass etwas passieren muss. er an der Seite einer älteren Kollegin eine dungsweg der Kinder.“
Rodenwald leitet seit fast 20 Jahren die Kita Gruppe Drei- bis Vierjähriger, dann folgen Susmita Arp, Miriam Olbrisch
Dolli-Einstein-Haus in Pinneberg. Werden vier Wochen in der Berufsfachschule. Mail: miriam.olbrisch@spiegel.de, Twitter: @olbi
Mitarbeiterinnen schwanger, kehren sie häu-
fig nicht ins Berufsleben zurück, weil es sich
finanziell nicht lohnt. Und seitdem auch Kin- DasErste.de
der unter drei Jahren einen Rechtsanspruch
auf einen Kitaplatz haben, sei der Markt leer
gefegt. „In Pinneberg profitieren wir von der
Nähe zu Hamburg“, sagt Rodenwald. Auf
dem Land spitze sich die Lage noch zu.
Dabei vermelden Erzieherschulen stei-
gende Anmeldezahlen. Rund 36 000 junge
Menschen beginnen derzeit jährlich eine
Erzieherausbildung, so viele wie nie zuvor.
Doch es müssen noch mehr werden, sagen
Experten. Weil der Anspruch für die unter
Dreijährigen schon bestehe und im Wahl-
kampf eine Ganztagsbetreuung an Grund-
schulen versprochen worden sei. Weil zu-
gewanderte Kinder zu fördern seien und
die Inklusion von Kindern mit Behinde-
rung voranzutreiben sei. Und weil Kinder
heute länger in der Kita blieben als früher:
Die Öffnungszeiten passen sich den Ar-
beitszeiten der Eltern an. Zudem werden
in den kommenden Jahren sehr viele Er-
zieherinnen in den Ruhestand gehen. Be-
sonders schlimm ist die Lage in Ostdeutsch-
land. In Sachsen-Anhalt ist gut ein Viertel
aller Erzieherinnen älter als 55 Jahre.
Eine neue Bund-Länder-Arbeitsgruppe
unter dem Vorsitz von Noch-Bundesfami-
lienministerin Katarina Barley (SPD) soll
versuchen, das Problem zu lösen. „Wir ha-
MONTAG 20. NOVEMBER
ben jetzt die Chance, den Beruf so attrak- 22∶15 Uhr
tiv zu machen, wie er es verdient“, sagt
Barley. Gegen Ende des Jahres will die
Gruppe erste Eckpunkte vorstellen.
DER SPIEGEL 47 / 2017 55
Q U E L L E N : M A R E N M Ö H R I N G , D E H O G A , L E I B N I Z - I N ST I T U T F Ü R L Ä N D E R KU N D E
Früher war alles schlechter
Nº 99: Gastronomische Vielfalt

1975 boten in der Bundesrepublik 20 000 Lokale ausländische Küche an.

2004 sind es geschätzte 85000.

Jede zweite Kneipe kocht ausländisch. „Schweinefleisch süßsauer, 1970, deren Küchen seien allzu „besonders geartet“, um sich
aber aus Rind!“, bestellte Helmut Kohl einst in einem kanto- „längerfristig im Alltag durchzusetzen“. Welch ein Irrtum.
nesischen Spitzenrestaurant, auf Staatsbesuch in China. Das Schon 1975 gab es etwa 20 000 ausländische Gaststätten in der
war 1993, der Eiserne Vorhang war gefallen, zu Hause genoss Bundesrepublik, zehn Jahre später waren es doppelt so viele.
der Kanzler mit seinen Staatsgästen lieber Pfälzer Saumagen. 2004 boten von insgesamt rund 170 000 Restaurants, Cafés,
Abgesehen von einigen Balkangrills führte die Speisegeogra- Schankwirtschaften und Imbissläden, laut Gelben Seiten,
fie Deutschlands bis in die Sechzigerjahre kaum über ehemali- schätzungsweise die Hälfte Gerichte ausländischer Küchen an.
ge deutsche Ostgebiete hinaus, Lokale kochten „Schlesisches Wer heute essen geht, geht meist „zum Spanier“, „zum
Himmelreich“ und „Königsberger Klopse“, Heimatsymbole Asiaten“ oder „zum Libanesen“ um die Ecke. Der deutsche
der Vertriebenen. Die kulinarische Unterentwicklung beende- Gaumen ist globalisiert – so sehr, dass mittlerweile einheimi-
ten erst Gastarbeiter aus dem Süden; Italiener, Griechen oder sche Klassiker wie Sauerbraten oder Kohlroulade schon bei-
Türken. Zwar prognostizierte die Gastronomiefachwelt noch nah wieder hip sind. claas.relotius@spiegel.de

Familie zu viele Kinder zu bekom- Fieder: Das variiert zwischen


Ist die Schwiegermutter das beste men, einfach, weil die Res- Stadt und Land. Auf dem
sourcen sonst nicht für alle Land sind die Familienbande
Verhütungsmittel, Herr Fieder? reichen. meist enger, da hat man mehr
SPIEGEL: Dürfen sich Schwie- Kontakt zur Schwiegermutter
Martin Fieder, 53, biologischer SPIEGEL: Die Schwiegermutter gereltern heutzutage über- und sucht eher bei ihr Rat. In
Anthropologe an der Universität stört beim Kinderkriegen? haupt noch einmischen? der Stadt sind die Menschen
Wien, hat über störende Fieder: Ja, wir haben die Da- unabhängiger. Sie
Familienangehörige geforscht. ten von mehr als 2,5 Millio- schätzen ihre Ruhe
nen Frauen aus 14 Ländern und holen sich Hilfe
SPIEGEL: Herr Fieder, sollten ausgewertet. Frauen, die ent- eher von Freunden
Schwiegermütter Hausverbot weder mit ihrer Mutter oder und Bekannten.
bei Paaren mit Kinderwunsch ihrer Schwiegermutter zu- SPIEGEL: Kann es
bekommen? sammenleben, bekommen im nicht einfach sein,
Fieder: Na ja, eigentlich hat Schnitt 20 bis 25 Prozent we- dass Paare weniger
FRIEDRICH / INTERFOTO

man lange angenommen, dass niger Kinder. Sex haben, wenn


die Schwiegermutter jungen SPIEGEL: Warum? die Schwiegermut-
Paaren bei der Kindererzie- Fieder: Das hat viele Gründe. ter ständig in der
hung hilft. In unserer Studie Meistens raten Schwieger- Nähe ist?
haben wir das Gegenteil fest- mütter und Mütter ihren Fieder: Ja, klar. Das
gestellt: Alleinerziehende Paa- Schwiegertöchtern oder Töch- Filmszene aus „Sissi“, 1955, mit Prinzessin ist natürlich auch
re haben die meisten Kinder. tern davon ab, zu schnell Sissi und ihrer Schwiegermutter Sophie ein guter Grund. cat

56 DER SPIEGEL 47 / 2017


Gesellschaft
die Gegend ein Drogenumschlagplatz sei. Möglich, dass
Gesichtskontrolle ihr Aussehen eine Rolle spielte, Nora Maria Först wird
öfter für eine Südländerin gehalten: Sie hat einen eher
dunklen Teint, dunkle Haare und dunkle Augen. Sie zeig-
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum te ihren Pass vor und sagte, die Polizisten könnten sie
gern durchsuchen, weder nehme sie Drogen noch handle
ein Schal in Österreich gesetzeswidrig sie damit.
ist und zum Fall für die Gerichte wurde Während ein Beamter mit der Funkzentrale sprach, um
die Daten aus dem Pass mit dem Melderegister abzuglei-

N
ora Maria Först wollte in Wien am 11. Oktober chen, machte Först mit dem Handy ein Selfie. Sie wollte
mit der Straßenbahn zu ihrem Freund fahren, als beweisen, dass sie mit Schal zweifelsfrei zu erkennen ist.
sie im 16. Bezirk, laut Anzeige um 23.26 Uhr, Höhe Die Polizisten verlangten schließlich, dass Först 50 Euro
Lerchenfelder Gürtel 57, gegen § 2 Abs. 1 AGesVG ver- Strafe zahlen solle. Sie weigerte sich, weil sie der Meinung
stoßen haben soll. Die Landespolizeidirektion legt ihr das war, die Polizisten hätten ihr immer noch nicht genau er-
folgende Vergehen zur Last: „Die Dame hatte einen Woll- klärt, was sie eigentlich falsch gemacht habe.
schal um das Gesicht gewickelt.“ Im Gesetzestext zu § 2 Abs. 1 AGesVG heißt es: „Wer
Drei Wochen und einen Tag später sitzt Frau Först, eine an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine
29-jährige Psychologin aus Kaiserslautern, im Wiener Büro Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände
ihres Anwalts und erzählt ihre Geschichte. Gegen sie liegt in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr
eine Anzeige vor, wegen Verstoßes gegen das „Anti-Ge- erkennbar sind, begeht eine Verwaltungsübertretung.“ In
sichtsverhüllungsgesetz“, das im österreichischen Volks- den ersten zwei Wochen nach Inkrafttreten des Gesetzes
mund „Burka-Verbot“ heißt. Nora zählte die Wiener Polizei 30 Verstö-
Maria Först will diese Anzeige nicht ße, nur 4 davon betrafen verschlei-
akzeptieren. erte Musliminnen. Acht Anzeigen
Sie lebt seit acht Jahren in Wien, wurden erstattet, Frau Först ist eine
sie hat hier studiert und macht ge- davon. In einem anderen Fall hatte
rade ihren Doktor. Sie habe die die Polizei einen Mann überprüft,
Stadt lange Zeit als „weltoffen und der im Hai-Kostüm Werbung vor
tolerant“ erlebt, sagt sie, doch dann, einem Computergeschäft gemacht
mit den Flüchtlingen, die nach hatte; sie handelte auch in einem
Österreich kamen, habe sich etwas Spielzeugladen, in dem sich jemand
verändert, „wie überall in Europa“. als Lego-Figur verkleidet hatte; sie
Das Burka-Verbot ist Anfang Okto- forderte von jemandem, der im Kos-
ber in Kraft getreten, als Teil des In- tüm des Parlamentsmaskottchens
tegrationsprogramms. Först, die über steckte, sein Gesicht zu zeigen.
sich sagt, schon immer eine aktivis- Als die Polizisten Frau Först
tische Frau gewesen zu sein, geht es gehen ließen, es war um 23.45 Uhr,
längst nicht mehr nur um ihre An- postete sie ihr Selfie auf Facebook
zeige. Sie will dieses Gesetz zu Fall und beschrieb in wenigen Zeilen,
bringen, „koste es, was es wolle“. was geschehen war. Normalerweise,
Sie sagt: „Mir geht es um die Först sagt sie, bekommt sie für einen
freie Religionsausübung und das Beitrag 4 oder 5 Likes, dieses Mal
Recht eines jeden Menschen, sich waren es 1241. In den nächsten
so zu kleiden, wie er oder sie möch- Tagen erhielt sie 623 Kommentare
te.“ Ihr Anwalt nickt. Er ist einer und unzählige E-Mails. Jemand
der prominentesten Strafverteidiger schrieb: „Wow, keep on fighting.“
Österreichs, ein Experte in Sachen Von der Website DerStandard.de Ein anderer meinte: „Wegen euch
Menschenrechte. geht Europa unter. Du widerliche
Wenn Frau Först von jener Nacht erzählt und ihrer Be- Drecksnutte verdünnst dein Blut mit irgendwelchen
gegnung mit der Polizei, dann legt sie Wert auch auf die Arabern.“
Details. Sie war auf dem Weg zur Bahnstation, sagt sie. Dann meldete sich ein Verein für gesellschaftspolitisches
Sie trug einen breiten, beigefarbenen Schal, den sie locker Engagement bei ihr und bot an, sie juristisch zu unterstüt-
über die Schultern geworfen hatte, aus modischen Grün- zen sowie die Gerichtskosten zu übernehmen. Drei Tage
den. Weil sie auf ihrem Handy eine Nachricht las, schaute danach traf Först zum ersten Mal ihren Verteidiger, der
sie nach unten, deshalb verdeckte der Schal ihr Kinn und meint, das Burka-Verbot verstoße gegen Grundrechte.
den Mund. Zwei Inspektoren, die auf Fußstreife waren, Der Fall kommt nun vor das Landesverwaltungsgericht,
sprachen sie an. Den Beamten war sie aufgefallen, weil der Anwalt geht davon aus, dass der Richter das Verfahren
sie, so steht es in der Anzeige, „trotz einer Außentempe- direkt weiterleitet an den Verfassungsgerichtshof. Er sagt,
ratur von 14 Grad Celsius (festgestellt mittels Wetter-App) notfalls ziehe er mit seiner Mandantin vor den Europäi-
ihr Gesicht zur Hälfte mit einem Wollschal vermummt schen Gerichtshof.
hatte“. Die Polizei hat mitgeteilt, einen Schal über den Mund
Die Polizisten machten Först auf „die vorherrschende zu ziehen sei „wohl erst bei Frost“ erlaubt.
neue Gesetzeslage“ aufmerksam. Först antwortete: „Ich Nach zwei Stunden steht Nora Maria Först auf, zieht ih-
verstehe nicht ganz, Sie können mein Gesicht doch sehen. ren Mantel an, setzt sich einen Hut auf, wirft sich den
Und einen Schal werde ich doch wohl tragen dürfen.“ breiten, beigefarbenen Schal über die Schultern und geht
Die Beamten verlangten von ihr, sich auszuweisen, da raus auf die Straße, bei 15 Grad Celsius. Maik Großekathöfer

DER SPIEGEL 47 / 2017 57


Beinfreiheit
Reisen Wer mit Flixbus, einer Armee aus 1000 Reisebussen, über den Kontinent fährt,
zahlt wenig Geld und lernt, dass Europa doch zusammenwächst. Und bekommt
Einblicke in die Lebensträume von Menschen aus allen Welten. Von Juan Moreno

E
s gab früher, was Transportfragen an- Jeder dieser Flixbusse ist eine Kapsel, Deutschland möglich, weil die 150 Kilome-
geht, einige Eigenheiten, die uns gefüllt mit Geschichten und Träumen der ter von Stettin nach Berlin keine zehn Euro
Deutsche von anderen Europäern Reisenden; meist kleinen Geschichten und kosten. Es gibt Erwerbsbiografien, die vor
unterschieden. Wir Deutschen fuhren lan- kleinen Träumen, denn der Bus ist das fünf Jahren noch unmöglich, Reisen, Spon-
ge Strecken mit dem Auto, mit dem Zug, Transportmittel der Anspruchslosen, der tanbesuche und Studienentscheidungen, die
manchmal sogar mit dem Fahrrad. Aber Sparfüchse, der Wenig- bis Gar-nicht-Ver- vor fünf Jahren unbezahlbar waren.
wir fuhren nicht mit dem Bus. Busreisen diener. Es gibt Ausnahmen, häufig in Orten, Im grünen Flixbus kommen Welten
machten Kinder, die in Landschulheime die der Zug nicht anfährt, aber in der Regel zusammen, die sich jenseits davon kaum
verschickt wurden, oder Rentner, die im gilt: Wer nicht muss, fährt nicht Bus. Aber berühren, es sitzt der sparsame Deutsche
Preisausschreiben eine Reise an die Mosel Millionen müssen. Und können. Plötzlich neben der Prostituierten aus Osteuropa,
gewonnen hatten. sind Pendlerleben zwischen Polen und es sitzt der Flüchtling aus Afrika neben
Das ging viele Jahrzehnte lang so. Es war
eine Form des Reisens, die von der Politik
gefördert wurde, weil der deutsche Staat
seine Deutsche Bahn beschützen wollte.
Es gab Gesetze, die verboten, dass Linien-
busse von einer Stadt in die andere fuhren.
Es waren Gesetze aus einer anderen Zeit –
und diese Zeit endete 2013. Im Jahr 2013
trat ein geändertes Personenbeförderungs-
gesetz in Kraft, und seitdem haben freie
Bürger freie Fahrt sogar im Omnibus.
Dies ist die Geschichte über Flixbus, ein
Hipster-Start-up aus München. Aber es ist
auch die Geschichte vom Ende eines deut-
schen Sonderwegs. Vom Beginn einer neu-
en Reisekultur, vom Zusammenwachsen
Europas, von der Erschaffung neuer Be-
rufsbiografien.
Flixbus also. Fünf Jahre alt, über 90 Pro-
zent Marktanteil in Deutschland, größtes
Busunternehmen Europas, mit Expansions-
plänen neuerdings in die USA und, glaubt
man Fachleuten, noch ganz am Anfang.
Über 100 000 europäische Verbindungen
täglich. Voraussichtlich 40 Millionen Fahr-
gäste im Jahr 2017, 30 Prozent mehr als
2016. Von Uppsala nach Lissabon. Von
Kiew nach Neapel. Von Hoyerswerda nach
Alberobello in Apulien. Früher waren diese
Fahrten kaum vorstellbar, weil es die Busse
im großen Deutschland, gelegen mitten auf
dem Kontinent, so schwer hatten. Seit das
vorbei ist, seit man solche Reisen in Minu-
ten über eine App buchen kann, boomt
Busfahren in Deutschland und damit in
ganz Europa. Und Deutschland ist, man
ahnt es fast, die größte Nation von Busfah-
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL

renden geworden, die es in Europa gibt.


Derzeit fallen jeden Tag gut tausend
Flixbusse, weithin sichtbar auf beinahe je-
der Autobahn, über den Kontinent her wie
eine Eroberungsarmee. Ein fein verzweig-
tes Netz wird in der Münchner Flixbus-
Zentrale gespannt. Monat für Monat wird Flixbus-Haltestelle in Berlin: Transportmittel
es dichter.
58 DER SPIEGEL 47 / 2017
Gesellschaft

der Billiglohnkraft aus der Ukraine, es gibt schuldet. In Berlin wird er ins Flugzeug Mertens lebt eine S-Bahn-Fahrt vom
keine Klassen in diesem Bus, keine Unter- steigen, um in die Türkei zu fliegen. Er – Münchner Flughafen entfernt. Aber das
schiede für die Dauer einer Fahrt; eine und das erwähnt Mertens eher beiläufig – billigste Angebot ging nun mal von Ber-
Strecke, ein Preis und ganz viele Leben. wusste schon voriges Jahr im Juli, dass es lin-Schönefeld. Dass er dafür 1200 Kilome-
dieses Jahr die Türkei werden würde. ter fahren muss, mit Hin- und Rückfahrt
Der Geizkragen, Nämlich als er in den Nachrichten die put- gut 17 Stunden im Bus sitzen wird, stört
München–Berlin, 19,90 Euro. schenden Militärs sah. Präsident Erdoğan ihn nicht. Er hat lange gerechnet, viele An-
Heiner Mertens, 59 Jahre alt, Frührentner rief damals die Bevölkerung zum Wider- gebote geprüft. Er spart, wenn er von Ber-
aus München, will nach Antalya, Urlaub stand auf, es kam zu Ausschreitungen, zu lin statt von München abfliegt, mindestens
machen – anders gesagt: Die Türkei kann Schießereien, mehr als 200 Menschen star- 150 Euro. „Macht bei 17 Stunden Fahrtzeit
sich auf etwas gefasst machen. Kurzes, at- ben. Im Anschluss ließ Erdoğan 55 000 8,82 Euro pro Stunde. Das ist Mindestlohn,
mungsaktives Hemd, kurze, atmungsaktive Menschen festnehmen und 140 000 Beam- so viel, wie der Busfahrer verdient“, sagt
Hose, Trekkingsandalen, Nierengürtel. te suspendieren. Mertens. Dann lacht er.
Mertens ist wahrscheinlich einer der größ- Mertens sah all das in den Nachrichten Mertens ist ein unterhaltsamer Mann,
ten Fans, die Flixbus hat. Denn Mertens und dachte: fantastisch. Er dachte an den wenn man ihn nur als Sitznachbarn aus
beschreibt sich als „nicht unerheblich preis- Türkeiurlaub und daran, dass der noch bil- dem Bus kennt. Als Kunde ist er vermutlich
sensibel“. Er ist – eingeklemmt zwischen liger werden würde. Er zahlt jetzt 299 Euro schwierig. Mertens sagt lustige Dinge: „Ach,
Tisch und Sitznachbarn – gern bereit zu be- für zehn Tage Antalya inklusive Flug, Ho- geizige Menschen mögen unangenehme
schreiben, was das bedeutet. Man dürfe nur tel und Halbpension. Zeitgenossen sein. Aber jeder wünscht sie
nicht seinen richtigen Namen nennen. Mertens war auch schon in Ägypten, in sich als Vorfahren, nicht wahr?“
Mertens ist auf dem Weg nach Berlin, Algerien und Tunesien. Auf Mallorca noch Busfahren ist billig. Hamburg–München
und das ist seiner Preissensibilität ge- nie, „Wucherinsel“. für 20 Euro, Köln–Marseille für 50, mit
Glück und Planung auch weniger. Flixbus
steht bereit, wenn selbst der Billigflieger zu
teuer ist. Busse sind unbequemer als Züge,
langsamer als Flugzeuge und unpraktischer
als Autos. Flixbus präsentiert sich gern als
Option, als Teil einer bunten, persönlichen
Transportentscheidung, die jeder Kunde
freiwillig trifft: wie von A nach B? Die
Wahrheit ist, dass der Bus fast immer die
Wahl derjenigen ist, die kaum eine Wahl
haben. Weil sie arm sind, weil sie es nicht
ertragen, mehr Geld auszugeben als nötig.
Flixbus hat das Reisen massiv verbilligt.
Man könnte sagen: demokratisiert. So wie
H&M die Mode und Ryanair den Himmel.
„Ich habe nicht mal geschaut, was die
Bahn kostet. Wozu?“, sagt Mertens. Der
Intercity von München nach Berlin kostet
etwa 120 Euro. Sechsmal so teuer wie der
Bus. Dafür ist man nach knapp sechsein-

Flixbus hat das Reisen demokratisiert


wie H&M die Mode und Ryanair den Himmel.
halb Stunden am Ziel, 50 Minuten Zeit-
ersparnis. „Kein Wunder, dass die Bahn
keine Kunden hat“, sagt Mertens.
Er hat sich einen Sitz weit vorn im Bus
gesucht. Das WLAN ist zwar kostenlos,
aber langsam und begrenzt. Seit Nürnberg
ist Mertens’ Zugang gesperrt. Er hat sich
ein Video angeschaut und damit sein Da-
tenvolumen aufgebraucht. Ansonsten
scheint sich Busfahren kaum verändert zu
haben. Es gibt noch immer keine Bildschir-
me, aber es gibt jetzt Steckdosen. Musik
gibt es auch nicht, die meisten im Bus ha-
ben Kopfhörer im Ohr und schauen auf ihr
Handy. Die Beinfreiheit ist ausreichend,
gegen Ende der Fahrt riecht die Toilette, ob-
wohl man sie „nur im Notfall“ benutzen soll.
der Anspruchslosen Flixbus hat das Busfahren nicht revolu-
tioniert. Im Grunde macht es Flixbus wie
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Gesellschaft

Mertens. Beide verwenden viel Zeit da- Man kann Lena fragen, wie ihre Familie men besitzen die Fahrzeuge, sie reparieren
rauf, den Markt zu sondieren. Sie versu- das findet, wie sie sich ihre Zukunft vor- sie, sie bezahlen die Fahrer, sie sorgen da-
chen zu sparen, ohne zu fragen, ob es mo- stellt. Und Lena wird antworten, in einem für, dass Lenkzeiten eingehalten werden,
ralisch richtig ist, was sie tun. Mertens ist sehr ordentlichen Englisch, aber immer et- dass die Toiletten nicht stinken. Die Un-
es egal, wie viel die Menschen verdienen, was unsicher. ternehmen bekommen dafür zwei Drittel
die ihn bedienen, wenn er für 300 Euro Wahrscheinlich ist das, was sie antwor- des Fahrpreises. Flixbus hat dafür die App,
Urlaub in der Türkei macht, mit Flug, Ho- tet, nicht die Wahrheit. Wahrscheinlich eine Menge Computer, ein eher überschau-
tel und Halbpension. Mertens nutzt nur kommt es ihr merkwürdig vor, Woche für bares Risiko, weil das Unternehmen ja kei-
das, was der Markt hergibt. Woche mit dem Bus nach Deutschland zu nen einzigen Gast wirklich fährt. Und es
Und Flixbus macht dasselbe. Ein smar- fahren, wo sie als Prostituierte arbeitet, hat den Zugang zu den Kunden. Investo-
tes, modernes Unternehmen. Man kann und während einer solchen Fahrt von einer ren gehen davon aus, dass Flixbus bald
bis zu 15 Minuten vor Abfahrt kostenlos anderen Zukunft zu sprechen. eine Milliarde Euro wert sein dürfte.
umbuchen. Die App und die Bezahlung Lenas Wochenenden laufen immer ähn- Es gibt Wochenenden, da läuft es
sind simpel, auf den Tickets und auf der lich. Sie kommt in München an, am neuen schlecht für Lena. Da schläft sie nur mit
Homepage wird man als Kunde geduzt. Busbahnhof. In der Nähe, nie direkt an vier, fünf Männern, weil andere abgesagt
der Haltebucht, wartet ein Mann, mit dem haben. Das reicht nicht mal für die Fest-
Die Prostituierte, sie in Budapest telefoniert hat, der ihr ihre kosten: Flixbus, Hotel, Essen, Getränke,
Budapest–München, 29 Euro. Termine durchgegeben hat. Der Mann manchmal eine Kleinigkeit einkaufen. Sie
An guten Wochenenden fahren Lena und bringt sie ins Hotel, in der Regel nicht weit braucht mindestens zehn Männer, damit
ihre Freundinnen neun Stunden Bus. Dann vom Hauptbahnhof, wo sie in einem Zim- sich die Reise lohnt. Gerade war Oktober-
nehmen sie Flixbus nur für den Hinweg. mer verschwindet, das sie in den nächsten fest. Eine gute Zeit, obwohl die Hoteliers
Von Budapest nach München. Donnerstag Tagen kaum verlassen wird. sagenhafte 300 Euro die Nacht für das Zim-
mer verlangten.
Lena macht das seit zwei Jahren. Sie
weiß nicht, wie lange noch. Es ist gutes
Geld. Sie macht keine Hausbesuche und
Sex nur mit Kondom. Filmen ist verboten,
aber eine Freundin bringt sie jederzeit gern
mit. Eines der Mädchen aus dem Bus.
Den „Nutten-Import“, wie sie die Sache
nennt, gab es schon lange, bevor es Flixbus
gab. Früher wurden die Mädchen im Pri-
vatauto von Ungarn nach Deutschland ge-
fahren. Aber das wurde den beiden Män-
nern, die das Geschäft in München orga-
nisieren, irgendwann zu anstrengend. Es
gab ja dann den Bus. Die Mädchen konn-
ten bequem pendeln, und es war billig.
THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL

Lena hat keine Ahnung, dass sie gegen


das Gesetz verstößt. Sie bietet Sex im
Sperrbezirk an. In Münchens Innenstadt
ist Prostitution verboten. Aber es ist
schwer, sie zu erwischen. Sie bucht keine
billigen Absteigen, nur ordentliche Mittel-
Flüchtling Ezett: Die Schwarzen sind Gruppe B klassehotels. Nie dasselbe zweimal hinter-
einander, und wenn sie anreist, kann man
kurz vor elf am Vormittag geht es los. Ihr Preis sind 150 Euro die Stunde. Die sie nicht als Prostituierte erkennen. Eine
Neun Stunden später, gegen 20 Uhr, sind Hälfte kann sie behalten, die andere Hälfte junge Frau mit Rollkoffer. Eine Lufthansa-
sie in München. Am Montag dann, nach bekommt ihr Zuhälter. „Das ist fair“, sagt Frau, auf den ersten Blick.
vier Nächten, entscheiden sie, wie sie zu- Lena. Sie muss sich um nichts kümmern.
rückkommen. Wieder neun Stunden im Dafür hat sie ja einen „Makler“. Der Flüchtling,
Bus? Oder eine Stunde und 15 Minuten im Ihr Prinzip ist das Prinzip von Flixbus. Mailand–München, 29 Euro.
Flugzeug? Mit Lufthansa, für rund 400 Jemand besorgt die Kunden, ein anderer Wer als Flüchtling in Deutschland an-
Euro. 400 Euro für ein gutes Gefühl. Für macht die Arbeit. Das Geld wird aufgeteilt. kommt, hat einen Traum. Arthur Ezetts
das Gefühl, in einem anderen Leben zu Das ökonomische Geheimnis von Flixbus Traum ist es, Fußballer in Deutschland zu
stecken. In einem Lufthansa-Leben, nicht sind die Algorithmen. Flixbus-Computer werden. Er ist 24 Jahre alt, groß, ein schlak-
in einem Flixbus-Leben. rechnen so lange, bis für jede Strecke und siger Mann mit etwas verlorenem Blick
Für 400 Euro muss Lena mit sechs Män- zu jedem Zeitpunkt der optimale, also der aus Liberia, Westafrika. Arthur sagt, dass
nern schlafen. Andere Mädchen mit acht maximal mögliche Preis feststeht. Für das er eine Pferdelunge habe, ein Herz groß
oder neun, das hängt davon ab, wie gut Unternehmen arbeiten 150 Programmie- wie ein Lederball und den Traum, dass
man gebucht ist. Lena fliegt selten. Es rer – und kein einziger Busfahrer. Das Un- Gott in ihm einen Fußballprofi sieht. Viel-
muss ihr schon sehr gut gehen, damit sie ternehmen besitzt genau einen Bus, weil leicht nicht bei Bayern München, eher ein
das macht. Oder sehr schlecht. das Gesetz das vorschreibt. Wo genau der paar Etagen darunter. Natürlich weiß er
Lena ist eine Frau, die nicht viel redet. steht, weiß nicht mal der Pressesprecher. nicht, wie man in den unteren deutschen
Sie hat lange braune Haare und kleine la- Flixbus ist, wie Uber oder Airbnb, nur Etagen Fußball spielt. Er hat auch lange
ckierte Kunstwerke auf den Fingernägeln. der große Vermittler: Für Flixbus arbeiten gar nicht gespielt. Er war in Libyen damit
Daheim in Ungarn studiert sie Wirtschaft. 300 reale Busunternehmen. Die Unterneh- beschäftigt, auf das verdammte Boot zu
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THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL
Ukrainischer Arbeiter auf der Fahrt nach Berlin: Die Zeit der Polenwitze ist vorbei

kommen und auf dem Weg dahin nicht zu lung. „Ich kenne keinen, der es nicht ge- Comer See, warten Schweizer Zöllner. Der
sterben. schafft hat“, sagt Arthur. erste Bus, Gruppe A, wird durchgewinkt,
„Wer aber ist bereit, die Wüste und das Der Trick sei, den Bus nachts und am er muss nicht mal anhalten. Der zweite
Meer zu durchqueren, um Fußball zu spie- Wochenende zu nehmen. Zöllner könnten Bus, Gruppe B, der Bus, in dem Arthur
len? Wer ist bereit, für eine einzige Chance ja nicht immer arbeiten. Das habe jedenfalls Ezett sitzt, mit seiner Angst und seinem
zu sterben?“, fragt Arthur. Er ist erst seit ein Nigerianer erzählt, der jetzt in Berlin Traum, stoppt. Zöllner steigen ein.
ein paar Tagen in Europa, „frisch vom sei. Arthur wird es in dieser Nacht nicht nach
Boot“. Er ist gerade viel zu glücklich, dass Schon in Libyen wusste Arthur, dass er Deutschland schaffen. Um 12.31 Uhr des
er es geschafft hat, um sich zu fragen, wie im Bus weiterreisen würde. Da habe er folgenden Tages schreibt er per SMS: „They
realistisch sein Traum ist. Arthur wartet den Namen Flixbus zum ersten Mal gehört. take me back from Swiss Border.“ Sie brin-
jetzt auf den Nachtbus nach München. Der Es spricht ihn „Flixbux“ aus. gen mich von der Schweizer Grenze zurück.
müsste gleich kommen. Es ist kurz nach zehn, die Haltestelle ist Auf die Frage, ob er glaube, dass es Absicht
Es war einer der heißesten Tage des Jah- gut gefüllt, als Arthur eine Nachricht auf gewesen sei, die Schwarzen in einen Bus
res. Die Sonne hat Mailand aufgeheizt, der sein Handy bekommt. Es würden zwei zu stecken und die Weißen in einen ande-
Busbahnhof liegt im Westen der Stadt, stei- Busse nach München eingesetzt, schreibt ren, antwortet er nicht sofort. Es ist ihm
nern, abstoßend, mit Toiletten, die nicht die Flixbus-Zentrale. Es gebe Gruppe A egal. Er wusste ja, dass es schwer werden
funktionieren, und einer Uhr, die neun und Gruppe B. Er, Arthur Ezett, gehöre würde. „War vielleicht Zufall“, schreibt er
Stunden vorgeht. zu Gruppe B. später.
Arthur hockt, wie viele Fahrgäste, auf Kurz darauf fahren zwei Flixbusse in Flixbus-Gäste beschweren sich im Inter-
dem Boden. Rucksacktouristen, Familien, den Bahnhof ein. Die Fahrer kontrollieren net, dass die Grenzkontrollen zu lange dau-
Frauen mit Kopftuch, sehr viele Schwarz- die Fahrscheine, sie achten sehr genau da- erten, weil nach Flüchtlingen kontrolliert
afrikaner. rauf, dass jeder im richtigen Bus sitzt. werde. In dem ersten Bus, der durchfahren
„Natürlich bin ich nervös“, sagt er. Die Der erste Bus ist voll, ein paar Schweizer durfte, sind die meisten Gäste sehr zufrie-
anderen auf dem Boot haben ihm erzählt, Familien, da die Route über Chur führt, den. Ihr Bus ist pünktlich.
dass es kaum einer beim ersten Versuch einige Rucksacktouristen aus Deutschland, Keine acht Stunden später steht Arthur
mit dem Bus nach Deutschland schafft. Die einige Italiener, Spanier. Irgendwann fragt Ezett wieder in Mailand. Er ist vom Bahn-
Grenzen würden kontrolliert, man müsse jemand, wo all die Schwarzen seien, die hof Como San Giovanni wieder zurück-
es mehrmals versuchen. Immer wieder. gerade noch neben ihnen an der Haltestel- gefahren. An den schrecklichen Mailänder
Es ist das alte Prinzip von Flucht. Die ei- le gewartet hatten. Sie sitzen im anderen Busbahnhof. Er wartet auf den Bus nach
nen kontrollieren die Grenzen und bauen Bus. Die Schwarzen sind Gruppe B. München. Diesmal fährt nur einer, offen-
Mauern. Die anderen sind verzweifelt und Am Grenzübergang Chiasso, etwa 50 bar war die Nachfrage zu gering für zwei
wollen rein. Natürlich gewinnt die Verzweif- Kilometer nördlich von Mailand nahe dem Busse. Als Arthur zum zweiten Mal an der
Schweizer Grenze ankommt, sind die Zöll-
ner beschäftigt. An den Haltebuchten ste-
Ein nervöser Organismus, der sich stetig der Umwelt hen Kleintransporter, die gerade kontrol-
liert werden, ein anderer Reisebus musste
anpasst. Um ihn herum arrangieren Menschen ihr Leben. das komplette Gepäck ausladen. Arthurs
grüner Flixbus wird durchgewinkt. Später

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aber nicht zurück. Sie verdienen in Mün-
chen, Hamburg und Berlin mehr Geld.
Und sie sind gut integriert. Die Zeiten der
Polenwitze sind vorbei.
„Die polnische Wirtschaft würde sofort
zusammenbrechen, wenn es keine Ukrai-
ner gäbe“, sagt Ilnitska. Sie kann nicht
ganz offen sein, was die Arbeitsbedingun-
gen der ankommenden Ukrainer betrifft.
Schließlich arbeitet sie für eine Agentur,
die Leute anwirbt. Es ist aber kein Geheim-

THOMAS GRABKA / DER SPIEGEL


nis, dass die meisten Landsleute, die sie
am Busbahnhof abholt, Jobs annehmen,
die Polen nicht machen wollen: Landwirt-
schaft, Bau, Putzjobs, solche Dinge. Schwe-
re körperliche Arbeit. Bezahlt werden
Ukrainer schlechter als Polen. Oder sie be-
Arbeitsvermittlerin Ilnitska in Krakau: „Nach Deutschland vielleicht“ kommen denselben Lohn, müssen aber
statt 8 Stunden 14 arbeiten.
an der deutschen Grenze hat er noch mal Für viele Männer und Frauen, die gera- Es ist ein ewiger Globalisierungskreislauf,
Glück, ein paar Stunden darauf ist er in de aussteigen, ist es der erste Besuch in getrieben von einer nie enden wollenden
München. Polen. Es sind unruhige Zeiten. Die Ukrai- Jagd nach billigen Arbeitskräften. Die
Arthur steht jetzt jeden Morgen mit ei- ne ist seit 2014 im Krieg. Im Osten kämp- Ukrainer arbeiten jetzt für einen Lohn, den
nem einzigen Satz im Kopf auf: „Ich bin fen russische und ukrainische Soldaten ge- die Polen nicht mehr wollen. So wie die Po-
der glücklichste Mensch der Welt.“ Er hat geneinander. Einige Regionen wollen sich len für einen Lohn arbeiten, den die Deut-
sich bei der Münchner Polizei gemeldet, abspalten und sich Russland andienen. Der schen nicht mehr wollen. Und Flixbus
die ihn nach Ingolstadt in eine Aufnahme- Rest der Welt hat aufgehört, sich wirklich macht es möglich. Wenn sich irgendwo in
unterkunft gebracht hat. Die Beamten sei- dafür zu interessieren. Die Kämpfe haben Europa eine Lücke auftut, eine Nachfrage,
en unfreundlich, sagt er. Die Polizisten dem Land nicht nur die Krim genommen, wird Flixbus eine Fahrt anbieten. Es gibt
auch. „Sie glauben, sie sind ganz harte sondern auch die Zukunft. Viele, rund eine kaum noch Reibungsverluste, ein nervöser
Hunde“, sagt Arthur. halbe Million, sind allein in den letzten Organismus im stetigen Wandel, der sich
Arthur kann die Leute nicht mehr zäh- drei Jahren nach Polen gegangen. Und sofort seiner Umwelt anpasst. Um ihn he-
len, die er neben sich hat sterben sehen. weil Ukrainer seit dem 11. Juni kein Visum rum arrangieren Menschen ihr Leben.
Bei der Fahrt durch die Wüste, in den mehr für die EU benötigen, dürften es in Ukrainer kommen derzeit für 14 Euro von
Camps der Schmuggler, in dem Boot, mit Zukunft immer mehr werden. Lemberg nach Krakau. Die Polen von Kat-
dem er über das Mittelmeer gefahren ist. „Es werden sicher mehr“, sagt Diana Il- towitz nach London für etwas über 70 Euro.
Schlechter als Libyer einen Schwarzen be- nitska. Sie ist eine junge, sehr freundliche Die drei jungen Flixbus-Gründer hatten
handeln, schafft das auch kein Ingolstädter Frau, die am Krakauer Busbahnhof steht nie vor, selber Bus zu fahren. Genauso we-
Polizist. „Ich habe keine Angst. Was wol- und auf ankommende Ukrainer wartet. nig wie die Airbnb-Macher Ferienwohnun-
len sie mir antun? Was?“ Die Reise habe Ilnitska ist Studentin, aber wie fast alle gen putzen, die Gründer von Uber Stadt-
ihn verändert, sagt er. Man habe ihm die Ukrainer in Polen nur überlebensfähig, pläne lernen wollten. Die großen Ge-
Angst komplett genommen. Er hat jetzt weil sie hart arbeitet. Am Nachmittag als schäftsideen unserer Zeit sind Variationen
erst mal einen Asylantrag gestellt. Er sei Aushilfe in einem abgeranzten Dreisterne- des stets gleichen Ziels: Wie quetscht man
dankbar, sagt er. Auch „Flixbux“ sei er hotel im Zentrum. Und tagsüber bei einer sich zwischen die Kreativen, die Arbeiten-
dankbar. Agentur, die ihre Landsleute an polnische den und ihre Kunden? Wie wird man der
Firmen vermittelt. Diese Agenturen gibt Mittelsmann? Die Plattform? Der Makler?
Die Wanderarbeiter, es überall in Polen. In Breslau beispiels- Wie verkauft man ein Produkt oder eine
Krakau–Berlin, 19 Euro. weise ist eine praktischerweise gleich am Dienstleistung übers Internet, die ein meist
Sie sehen müde aus. Sechseinhalb Stunden Busbahnhof. schlecht oder gar nicht bezahlter Dritter
sollte die Fahrt dauern, es wurden knapp Der polnische Arbeitsmarkt hat ein sehr bereitstellt? Dass Uber Taxifahrer ruiniert
zehn. Man weiß nie, wie lange der Flixbus spezielles Problem. In den vergangenen hat, Facebook Lokalzeitungen, Airbnb
von Lemberg in der Ukraine bis ins polni- Jahren sind rund zwei Millionen Polen ins Wohnungen in Großstädten verteuert, dass
sche Krakau brauchen wird. Manchmal Ausland gegangen. Viele leben jetzt in Flixbus seit Langem von Gewerkschaften
wartet man zwei Stunden an der Grenze, Deutschland, viel mehr als in Großbritan- vorgeworfen wird, die Subunternehmer so
manchmal zwölf. Hier in Krakau, am Bus- nien, was die Briten aber nicht abgehalten zu drücken, dass es für sie kaum möglich
bahnhof, haben sie aufgehört, die An- hat, sich unter anderem wegen „der bloo- ist, davon zu leben – das sind die weniger
kunftszeiten aus der Ukraine anzukündi- dy Poles“ aus der EU zu verabschieden. schönen Seiten dieser Geschichte.
gen. Die Busse kommen, wann sie kom- Das Problem? Die Polen fehlen zu Hau- Diana Ilnitska, die Arbeitsvermittlerin,
men. Flixbus gibt zwar konkrete Zeiten se. Die Arbeitslosenquote sinkt seit Jahren erzählt, dass für viele Ukrainer der Bahn-
an, aber die stimmen selten. Es hängt von und beträgt derzeit 4,7 Prozent. Die Polen, hof in Krakau nur eine erste Station sei.
der Laune der Zöllner ab. die ins Ausland gezogen sind, kommen Viele hätten gehört, dass man im Westen
mehr Geld verdienen könne als in Polen.
Ilnitska schließt nicht aus, dass sie sich ir-
Es sind dieselben Fragen wie bei Uber oder Airbnb: gendwann selbst in so einen Bus setzt.
„Nach Deutschland vielleicht“, sagt sie.
Wie wird man Makler? Wie quetscht man sich dazwischen? Krakau–Berlin bietet Flixbus täglich sechs-
mal an. Keine 20 Euro. I

62 DER SPIEGEL 47 / 2017


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„39 Kilo? Scheiße. Endlich“
SPIEGEL-Gespräch Die Angst vor Kalorien macht den Alltag von Magersüchtigen zum absurden und
lebensgefährlichen Versteckspiel. Die Autorin Larissa Sarand erzählt, wie sie sich beim Verhungern zusah.

Ist es eine gute Idee, einer Essgestörten


Schokolade mitzubringen? Sie zögert kurz,
dann sagt sie Ja und nimmt die Pralinen an.
Sarand ist 29, 1,65 Meter groß und wiegt
heute 52 Kilogramm – ein Erfolg. Es waren
schon mal 39 Kilo. Magersucht trifft viele Mäd-
chen in der Pubertät, aber nicht nur – auch
Jungen, auch Frauen, auch Männer. Auf fast
eine halbe Million schätzt die Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung die Zahl der
Betroffenen. Die Barmer Ersatzkasse regis-
trierte innerhalb von vier Jahren einen Zu-
wachs von über 50 Prozent. Warum ist das
so? Was hilft? Die Berlinerin Larissa Sarand
hat erst in ihrem Blog darüber berichtet, nun
in einem Buch*. Ihr Tonfall: sarkastisch,
manchmal zynisch, mit Blick für Komik in der
Katastrophe. Es ist eine ungewöhnliche Sicht
auf den Kampf mit einer Krankheit, die den
Menschen zu einem „Skelett auf zwei Beinen“
macht – und diejenigen, die es mitansehen
müssen, zum Verzweifeln bringt.

SPIEGEL: Frau Sarand, bald ist Weihnachten.


Für Magersüchtige eine harte Zeit.
Sarand: Ja. Die ganzen Nüsse, Plätzchen,
Schokolade – besinnlich ist da gar nichts.
Überall lauert der Feind.
SPIEGEL: Sie haben Erfahrung mit diesem
Feind. Wie kommen Sie durch, ohne etwas
zu essen? Bei Bürofeiern zum Beispiel?
Sarand: Man wird kreativ als Magersüchti-
ge. Ich hatte immer meine XXL-Strick-
jacke dabei, die mit den großen Taschen.
Darin kann das Essen verschwinden.
SPIEGEL: Das funktioniert?
Sarand: Ja. Die Menschen sind nicht auf-
merksam. Wer kein Problem mit dem
Essen hat, achtet nicht darauf, ob der an-
dere etwas isst. Ich schaffe es, an einer
Tafel mit zwölf Personen keinen einzigen
Bissen zu mir zu nehmen. Es fällt einem
immer etwas ein. Wenn man gezwungen
ist, im Restaurant essen zu gehen, dann
sucht man sich eines mit großen Salatbei-
lagen.
SPIEGEL: Weil Salat nicht so dick macht.
Sarand: Nein! Weil Sie alles, was verboten
ist – Käse, Reis – darunter verschwinden
MONIKA KEILER / DER SPIEGEL

lassen können. Private Einladungen mei-


den Sie, wenn es geht. Wenn nicht, suchen
Sie sich das Stück Kuchen mit den wenigs-
ten Kalorien heraus. Das essen Sie halb
auf. Und danach wird kompensiert.
SPIEGEL: Kompensiert?
Autorin Sarand: „Wahnsinnig dünn“ gilt als Kompliment
* Larissa Sarand: „Friss oder stirb. Wie mir die Magersucht
auf den Magen schlug und ich ihr ins Gesicht“. Schwarz-
kopf & Schwarzkopf; 224 Seiten; 9,99 Euro.
Das Gespräch führte die Redakteurin Barbara Supp.

64 DER SPIEGEL 47 / 2017


Gesellschaft

Sarand: Ja, mit exzessivem Sport, mit ver- SPIEGEL: … stellten Sie fest: Mit mir stimmt les hin, das Studium und drei Jobs und
schärftem Fasten. etwas nicht? Oder: Ich bin magersüchtig? den Tod der Eltern, und jetzt soll sie mit
SPIEGEL: „Friss oder stirb“ heißt Ihr Buch, Sarand: Magersüchtig? Nein. Da wäre ich dem Essen überfordert sein?
Sie beschreiben darin, wie diese Sucht in nicht drauf gekommen. Aber etwas war SPIEGEL: Was soll man tun, als Freund, als
der akuten Phase Ihr ganzes Leben be- nicht in Ordnung. Ich wollte die Pizza oder Angehöriger in dieser Situation? Da sitzt
stimmt. Vieles liest sich komplett skurril. die Nudeln nicht essen und behauptete, jemand vor einem, der dünner und dünner
Extragroße Kochtöpfe zu kaufen, damit das schmecke mir nicht. Ich wollte dauernd wird. Was soll man sagen? „Geht’s dir
man sie auf dem Tisch zwischen sich und zu Fuß gehen und behauptete, es gehe mir nicht gut?“ „Du bist ja wahnsinnig dünn?“
den Freund stellen kann und der nicht um das Geld für das Ticket. Dabei ging es Sarand: Achtung. „Wahnsinnig dünn“ kann
sieht, was man auf dem Teller hat: Kommt um die Kalorien. So fing es an. als Kompliment verstanden werden.
man sich da nicht völlig bescheuert vor? SPIEGEL: Geführt hat es zu jenem Moment, SPIEGEL: Aber ich kann ja nicht so tun, als
Sarand: Man kommt sich die ganze Zeit be- da Sie vor einer Bäckerei stehen und etwas wäre das normal, dass dieser Mensch nur
scheuert vor. Ich habe mir eingeredet, dass essen wollen. Sie wollen es wirklich. Aber noch aus Haut und Knochen besteht!
große Töpfe praktisch sind, wenn man mal Sie können es nicht. Sarand: Natürlich nicht. Aber jemanden
Eintopf kochen will, für viele Leute, für Sarand: Ja. Das war der Zeitpunkt, an dem zum Essen zu zwingen bringt gar nichts.
viele Tage. Gleichzeitig war mir bewusst, mir bewusst wurde, dass ich die Kontrolle Die Krankheitseinsicht, so heißt das, muss
dass das alles verrückt ist. Diese Sucht hat über meine geliebte Kontrolle verloren hat- kommen. Natürlich verstehe ich es, wenn
ja auch Züge einer Angsterkrankung: diese te. Ich merkte: Ich schaffe es nicht. Ich Eltern die magersüchtige Tochter in die
irre Angst vor Kalorien. kriege es nicht fertig, in dieses Geschäft Klinik bringen. Aber auch sie muss aus
SPIEGEL: Der Gedanke: Wenn ich dieses zu gehen, mir ein Stück Kuchen zu kaufen der Krankheit herausfinden wollen. Wenn
Brötchen esse, dann werde ich sofort zum und dieses Stück Kuchen zu essen. Da sie es nicht will, kommt sie mit fünf Kilo
Fettmonster? dachte ich: So ist das jetzt also. Ich kann mehr auf den Rippen nach Hause und hat
Sarand: Wovor diese Angst konkret be- mir nicht mehr helfen. Ich muss mir beim die ruck, zuck wieder weg.
stand, kann ich gar nicht sagen. Ein Arach- Verhungern zuschauen. SPIEGEL: Und man sagt ihr: „Iss doch mal
nophobiker kann seine Angst vor Spinnen SPIEGEL: Da haben Sie begriffen: Ich bin was.“
auch nicht begründen. Die Angst vor Ka- krank? Sarand: Als Magersüchtige könnten Sie
lorien ist ja auch nur Stellvertreter für et- Sarand: Nein, das war später, am Tag mei- demjenigen ins Gesicht schlagen, der das
was ganz anderes: für die Angst vor Kon- ner Verlobung. Als mein damaliger Freund sagt. Sie können nicht einfach was essen.
trollverlust. Sie haben das Gefühl, alles mir den Ring übergab und mich fragte, ob Ich habe das in der U-Bahn erlebt – eine
läuft über Sie hinweg, das Leben, alles. ich ihn heiraten möchte und ob wir zur wildfremde Frau starrt mich an und sagt:
Aber da haben Sie etwas im Griff: die Ka- Feier des Tages essen gehen wollen. Und „Es-sen. Es-sen.“ Ich fand das unheimlich.
lorien. Den Körper. ich dachte: Der Mann kennt mich seit sie- Und übergriffig.
SPIEGEL: Gibt es dabei ein Glücksgefühl? ben Jahren, und jetzt will er mit mir essen SPIEGEL: In Ihrem Bericht kommen erstaun-
Sarand: Der Hunger ist nie angenehm. gehen? Hat der wirklich noch nicht ge- lich viele essgestörte Freundinnen oder Be-
Aber es gibt so etwas wie ein Hunger-High, checkt, dass ich ein Problem habe? Dann: kannte vor. Ich habe mich bei der Lektüre
da schweben Sie irgendwann über der Wie, du hast ein Problem? Ja, du hast ein gefragt: Haben die alle zu viel „Germany’s
Straße, Sie schweben über den Dingen. Problem. Und es hat einen Namen. next Topmodel“ geguckt?
Wie beim Runner’s High im Sport, wenn SPIEGEL: Anorexia nervosa. Sarand: Bei mir und bei denen, die ich ken-
der Körper eigentlich nicht mehr kann und Sarand: Ja. ne, war es nicht so. Aber natürlich ist mir
Reserven mobilisiert. Aber wichtig ist mir, klar, dass solche sozialen Botschaften eine
das zu sagen: Ich habe mir diese Krankheit Rolle spielen. Natürlich ist es nicht egal,
ebenso wenig ausgesucht wie andere Leute „Als Magersüchtige wenn Heidi Klum in ihrer Show eine Kan-
eine Grippe. Die Krankheit hat mich er- didatin wegen Fülligkeit rausschmeißt, die
wischt, nach dem Tod meiner Eltern. könnten Sie dem 52 Kilo wiegt.
SPIEGEL: Der Tod: etwas völlig Unkontrol- ins Gesicht schlagen, der SPIEGEL: 52 Kilo.
lierbares. Sarand: Genau. Wir alle haben Freundin-
Sarand: So ist es. Mein Vater war an Krebs
sagt: ,Iss doch mal was.‘“ nen, die vor dem Spiegel stehen und sich
gestorben. Meine Mutter, die depressiv war, selbst kneifen und kritisieren: „Hier ist zu
hat sich sechs Wochen später umgebracht. SPIEGEL: Und dann stehen Sie irgendwann viel“, „da ist zu viel“, und das Ganze bei
Aber ich – ich machte einfach weiter. Ich auf der Waage und sehen: Ich habe die 40- Größe 38. Diese latente Unzufriedenheit
war 26 und berserkerte durchs Leben. Kilo-Marke geknackt, ich wiege 39. mit dem weiblichen Körper – vielleicht
SPIEGEL: Was heißt das: Sie berserkerten Sarand: Wissen Sie, was ich dachte? Schei- sind wir Frauen dadurch anfälliger für sol-
durchs Leben? ße. Und: endlich. Im selben Moment. che Krankheiten. Aber Männer sind es
Sarand: Ich hatte mehrere Nebenjobs, SPIEGEL: Was ich nicht verstehe: Sie passen auch, nur bringt man einen dünnen Mann
schrieb meine Masterarbeit, meldete mich in Bikinis für zwölfjährige Mädchen, Sie nicht so schnell mit Anorexie in Verbin-
zum Referendariat an, funktionierte. Ein- suchen sich eine Putzstelle, damit Sie bei dung.
mal musste ich an der Uni ein Referat hal- dieser Arbeit noch mal extra Kalorien ver- SPIEGEL: Sucht man nach Gründen für Ess-
ten und sagte zum Dozenten: Ich muss lei- brennen können, Sie essen Wok-Gemüse störungen, dann ist in medizinischen Auf-
der mein Handy auf dem Tisch liegen las- und sortieren noch die Erbsen aus … sätzen vieles im Angebot: extreme
sen, meine Mutter hat sich umgebracht, Sarand: … weil die zu viele Kohlenhydrate Schlankheit als Schönheitsideal, Leistungs-
die Kripo wird sich noch melden. Seinen haben. druck, überfürsorgliche Erziehung, Fami-
Blick sehe ich immer noch vor mir. Ich SPIEGEL: Sie sind permanent am Rechnen lienstreit, Perfektionismus, mangelndes
räumte die Wohnung meiner Eltern aus, und Vermeiden. Und Ihre Freunde merken Selbstwertgefühl, Verunsicherung durch
zerkloppte die Schränke, ich bin nicht zur nichts? die Pubertät.
Ruhe gekommen, über Monate. Dann flo- Sarand: Meine Freunde habe ich scharf ab- Sarand: Ja. Ich glaube, dabei geht es immer
gen mein Freund und ich ein paar Tage gefertigt, wenn sie etwas sagten. Die haben um Autonomie. Und hier bietet sich die
nach Rom. Und dort … sich dann damit beruhigt: Die kriegt ja al- Möglichkeit, das größtmögliche Maß an
DER SPIEGEL 47 / 2017 65
Disziplin zu beweisen – denn das brauchen Sarand: Bloß nicht. Wenn Sie das tun, dann
Sie für Magersucht … geht es immer weiter. Fressen, kotzen, fres-
SPIEGEL: Magersucht ist Hochleistung? sen, kotzen. Bulimie. Eine Freundin hatte
Sarand: Magersucht ist Höchstleistung. mich davor gewarnt, sie hatte es selbst er-
SPIEGEL: Seltsamer Gedanke. lebt. Sie musste sich dazu überwinden, es
Sarand: Ja, da ist ein fader Beigeschmack, mir zu erzählen. Bleib bloß weg von der
wenn ich es sage, aber so ist es. Sie müssen Kloschüssel, sagte sie.
echt die Arschbacken zusammenkneifen, SPIEGEL: Und jetzt? Sind Sie geheilt?
um das durchzuziehen, und dann auch Sarand: Fragen Sie mich in zehn Jahren
noch in Verbindung mit Sport, wenn Sie wieder. Vielleicht ist das wie beim Alko-
die Anorexia-athletica-Variante haben wie holiker: Man kann Alkoholiker sein, aber
ich, also: Hungern und Sport, bis zum Ex- trocken. Vielleicht bin ich dann magersüch-
zess. Bis Sie vor Erschöpfung vom Lauf- tig, aber satt.
band kippen. SPIEGEL: Was essen Sie heute?
SPIEGEL: Was hat Sie gerettet? Sarand: Ich esse relativ ... normal, wollte
Sarand: Ohne meinen Therapeuten würde ich sagen, aber wer isst denn heute schon
ich, glaube ich, nicht mehr hier sitzen. 10 normal? Ich habe einen neuen Freund, bei
bis 15 Prozent der Magersüchtigen sterben dem komme ich mit meinen Spielchen
daran, das ist eine beeindruckende Quote. nicht durch. Da muss ich häufig Döner es-
Manche sterben an körperlichen Folgen, sen, Hamburger, solche Sachen.
andere nehmen sich das Leben. SPIEGEL: Schmeckt’s?
SPIEGEL: Hatten Sie Selbstmordgedanken? Sarand: Es ist geil. Ich bin jetzt auch, sozu-
Sarand: Oh ja. Ich saß auf dem Sofa und sagen als autotherapeutische Maßnahme,
habe Suizidmethoden gegoogelt. Ein Un- keine Vegetarierin mehr, weil ich denke:
fall. An den Baum fahren. Das wäre meine Restriktion ist der Feind. Seitdem ist
Methode gewesen. Aber ich habe es dann Fleisch mein Gemüse. Ich habe da sieben
doch nicht fertiggebracht. Jahre nachzuholen, sage ich mir. Eine Sa-
SPIEGEL: Dem Therapeuten sei Dank? che ist immer noch schwierig: Kippen Sie
Sarand: Auch. Es war ein Feld-Wald-und- Öl in eine Pfanne, und ich fange an zu
PRIVAT
Wiesen-Verhaltenstherapeut, kein Spezia- schwitzen. Öl! 800 Kilokalorien auf 100
list. Aber er war richtig gut. Er verstand Akut Magersüchtige Sarand 2016 Milliliter! Das müssen Sie sich mal vorstel-
nichts von Kalorien – der hat mal ge- Hungern und Sport, bis zur Erschöpfung len! Wer das nicht beängstigend findet …
schätzt, dass eine Tafel Schokolade 80 Ki- okay, ich kann jetzt darüber lachen.
lokalorien hat, stellen Sie sich das vor! SPIEGEL: Wie hat Ihr Körper verkraftet, was
Aber es ging ja gar nicht ums Essen. Der öffnen Sie die vierte Tafel Schokolade, um ihm geschehen ist?
hat sofort geschaut: Woher kommt das? sie in sich hineinzustopfen. Sie zittern, der Sarand: Die Knochen sind brüchig, ich hat-
Ich habe mein Leben verändert und meine Kopf tut Ihnen weh, Sie sind vollkommen te schon mehrere Ermüdungsbrüche, nach
Einstellung zum Leben, habe Dinge been- überzuckert, und Sie müssen weiteressen. dem Sport. Das Herz ist so weit in Ord-
det, die sich falsch anfühlten. Der Weg in Sie stehen vom Sofa auf, machen eine Pa- nung, hoffe ich, die Niere muss man noch
die Krankheit führte über den Verlust mei- ckung Brot leer, setzen sich hin, denken, untersuchen, die Hormone sind natürlich
ner Eltern, und auch der Weg in die Gene- jetzt ist es vorbei, nach einer halben Stun- durch den Wind.
sung war mit Verlusten verbunden, die de geht das Spiel wieder los. Sie schauen SPIEGEL: Wenn Sie gewusst hätten, was Sie
aber wichtig für mich waren, um mein Le- sich beim Einkaufen zu, wie Sie das süße Ihrem Körper antun – hätten Sie sich an-
ben neu zu sortieren. Meine Beziehung fettige Zeug in den Wagen schaufeln, wie ders verhalten?
zerbrach, ich schmiss meine Jobs und auch ferngesteuert. Sarand: Nein. Die Krankheit siegt über die
das Referendariat. SPIEGEL: Was sagt Ihnen da der Körper? Vernunft. Es ist schon seltsam, neben den
SPIEGEL: Und: Sie ließen die Trauer um die Sarand: Er will Fett, Zucker, Kohlenhydrate. körperlichen Folgen habe ich auch sonst
Eltern zu. Er will das, was Sie ihm vorenthalten ha- vieles erlebt, mit dem ich nicht gerechnet
Sarand: Ja. Das brach, als es mir besonders ben. Ich habe mir morgens um drei eine hätte, schräge Sachen. Auch mit Männern.
schlecht ging, über mich herein. Ich habe Familienpizza gemacht, danach eine Pa- Es gibt ja Männer, die auf übergewichtige
mein Telefonbuch durchgeblättert und aus ckung Kekse gegessen, ein Glas Erdnuss- Damen stehen, davon kann man dem Kol-
irgendeinem Grund die Nummer meiner butter mit aufs Sofa genommen und kom- legen in der Kantine ruhig erzählen. Sie
Eltern gewählt. Habe die Ansage gehört: plett geleert. Das ist eklig. Sie fühlen sich können dem Kollegen aber nicht erzählen:
„Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ eklig. Und das geht über Monate. Und Sie Ich mag’s, wenn die fast krepieren, so dünn
Dann hab ich’s kapiert. Sie sind tot. denken: Ich werde eine 200-Kilo-Frau sein. sind die. In meiner schlimmsten Zeit ist es
SPIEGEL: Das war der Tiefpunkt. Man wird mich mit dem Kran aus dem mir mehrmals passiert, dass ich angespro-
Sarand: Ja. Der Tiefpunkt in der tiefsten Fenster holen. chen wurde: Mensch, du siehst ja toll aus,
Phase. Eine Phase, die aus Heulen bestand SPIEGEL: Und dann kotzen Sie? wollen wir nicht mal? Normalerweise ist
und – Fressen. Ruhe, wenn ich sage: Ich habe einen
SPIEGEL: Fressen? Freund. Aber das Nachhaken, mit dieser
Sarand: Fressen. Fressen. Fressen. Es ist „Ob ich geheilt bin? Hartnäckigkeit – aus normalen Anmachen
wirklich erschreckend, wenn Sie das heim- bei Normalgewicht war mir das fremd. Na
sucht, dann, wenn Sie nach dem Hungern Fragen Sie mich in zehn ja, diese Typen, die auf extradünne Frauen
endlich wieder anfangen zu essen. Das Jahren. Vielleicht bin ich stehen, haben ja nicht besonders viel Aus-
geht sehr vielen Magersüchtigen so. Vor- wahl.
her haben Sie nur ein paar Hundert Kalo-
magersüchtig, aber satt.“ SPIEGEL: Gruselig. Frau Sarand, wir danken
rien am Tag zu sich genommen. Und jetzt Ihnen für dieses Gespräch.
66 DER SPIEGEL 47 / 2017
Gesellschaft

gestört waren. Er konnte nie mit irgendwelchen Sorgen


zu ihnen kommen, weil jedes Problem immer mit dem
mithalten musste, was sie erlebt hatten. Hör auf mit dem
Unsinn, Junge, deine Mutter war im KZ.
In einem Apartment am Strand trafen wir einen ehe-
maligen Offizier der israelischen Armee, der heute als
Heimreise Terrorexperte fürs US-Fernsehen arbeitet. Er lebt die Hälf-
te des Jahres in Nevada, die andere in Sofia, dazwischen
ein paar Wochen in Tel Aviv. Das sei steuerlich ungemein
Leitkultur Alexander Osang über günstig. Er hatte eine Figur wie Jean-Claude Van Damme,
einen glatt rasierten Schädel und eine Drachen-Tätowie-
seine Fluchtversuche rung auf der Wade, aber er glaubt an eine bessere, fried-
lichere Welt. Er war zweimal in der David-Hockney-Aus-

G
erade hat ein Leser geschrieben, was ihn an mei- stellung in London. Er liebt Hockney. Er redete über die
ner Kolumne nerve. Ihn nerve, dass ich ständig Leute von Black Cube, die im Auftrag Harvey Weinsteins
erwähne, in New York gelebt zu haben. Ich habe Frauen ausgehorcht haben, wir sahen von seiner Terrasse
nachgeschaut, der Mann hat recht. Pausenlos schreibe aufs Meer, und ich hatte das Gefühl, im Mittelpunkt der
ich: Ich habe in New York gelebt. Brooklyn, New York, Welt zu stehen.
acht Jahre lang. Schon wieder. Ich kann nicht anders. Es Am letzten Morgen in Jaffa erzählte uns ein Mann eine
ist der Stolz des Ostdeutschen, der es in die Welt geschafft Geschichte. Er ist Jude, sein bester Freund ist ein palästi-
hat. Eine zweite Sache, die ich gern erwähne: Ich komme nensischer Fischer. Wenn er dessen Fischladen besuche,
aus Ostberlin. Auch darüber gab es bereits Beschwerden. lasse er seinen Hund draußen. Muslime mögen keine Hun-
Das sind meine Bezugssysteme. Ich habe Ostberlin, und de, sagt er. Einmal aber rannte der Hund ihm in den Laden
ich habe New York. Ich kann sagen, wo ich herkomme hinterher. Er brachte ihn wieder nach draußen. Der Fisch-
und wo ich hinwill. Außerdem war ich als Berichterstatter händler folgte ihm auf die Straße, ein großes Messer in
bei Fußballweltmeisterschaften der Hand. Hör zu, sagte er, ich las-
auf vier Kontinenten. Wenn ich se Juden in meinen Laden, dann
irgendwohin als Experte eingela- kann auch der Hund kommen.
den werde, dann geht es entweder Der Mann lachte fast Tränen.
um Amerika, um deutsch-deut- Und hier, in der Novemberwärme,
sche Befindlichkeiten oder um war es ungemein komisch. Noch.
Fußball. Damit decke ich ein Ein paar Stunden später, als ich
ziemlich breites Spektrum deut- mich in die voll besetzte El-Al-Ma-
scher Interessen ab. schine nach Berlin drängte, stieß
Ein paar Sachen fehlen noch. ich, von nachrückenden Passagie-
Vorige Woche erreichte mich eine ren geschubst, mit meiner Umhän-
Einladung des RBB-Fernsehens. getasche einem alten Mann, der
Es ging um Hitler. Das Phänomen bereits saß, an die Schulter. Der
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

Hitler. Mann regte sich ungeheuer auf. So


Ich konnte nicht, ich war in Is- sehr, dass ich mich nicht entschul-
rael. digte. Zwei Stunden später, irgend-
Tel Aviv im Herbst ist zauber- wo über Südosteuropa, hörte ich,
haft. Man kann noch baden. Im wie der Alte einem Sitznachbarn
Meer trifft man vor allem Russen. erklärte, er sei Holocaust-Überle-
Das ist okay. Ich bin fast Russe. bender. Fragen Sie mich bitte nicht,
Die Menschen in Tel Aviv rauchen Stolpersteine mit einem Brief in Berlin wie, ich habe es überlebt, sagte er.
schon zum Frühstück und sehen Er sei 81. Er fliege nach Berlin, um
dennoch gut aus. Es gibt wenig Bäuche, aber sehr gutes seinen Sohn zu besuchen. Ich hätte dem Mann gern den
Essen. Es gibt Hektik, und dennoch hat man das Gefühl, Nacken massiert, einen Schnaps ausgegeben oder ihn
Zeit zu haben. Man sieht den Leuten oft nicht an, was grundsätzlich über meine guten Absichten informiert.
ihre Geschichte ist. Beim Frühstück in einem französischen In dem Moment war ich eigentlich schon wieder in
Café auf der Dizengoff-Straße saß ein Mann neben uns, Deutschland.
der mich an einen älteren Brandenburger Redneck er- Als wir in der Kälte aus dem Taxi stiegen, im Prenzlauer
innerte. Motorradhelm neben dem Stuhl, kantiges Kinn, Berg, sahen wir gleich den handgeschriebenen Zettel, den
kräftige, weiße Waden und Shorts in Militärfarben. jemand neben die beiden Stolpersteine vor unserem Haus
Allerdings sprach er mit der Kellnerin hebräisch. gelegt hatte. Sie erinnern an Else und Ludwig David, die
Seine Eltern kamen aus Polen, sie überlebten Buchen- hier gelebt hatten, bevor sie von den Nazis nach Auschwitz
wald, er wuchs in Süddeutschland auf und entfloh nach deportiert und ermordet wurden. Der Zettel war mit einer
Tel Aviv, als er 20 Jahre alt war. Wie sich herausstellte, Plastefolie geschützt, aber dennoch schon ein wenig vom
liebt er Kampfhunde und versteht, warum die Deutschen Novemberregen verwaschen. Links und rechts sah man
AfD wählen. Wir unterhielten uns vielleicht 20 Minuten, die Überreste von zwei Blumen. Vermutlich war er am
aber es ging gleich um alles. Kein steifes Herumgetanze 9. November dorthin gelegt worden, von einer Nadine,
wie in deutschen Gesprächen, wo selbst die Sekretärin, deren Opa zu DDR-Zeiten in der Fleischerei im Erdge-
die beim Radiosender anruft, um irgendwas zu gewinnen, schoss gearbeitet hatte, die es heute nicht mehr gibt.
nicht ihren Nachnamen nennt, weil es ihr irgendwie zu In diesem Moment verstand ich endlich, wie sie beim
privat ist. Der Mann sagte, dass seine Eltern verhaltens- RBB auf mich gekommen sind.

DER SPIEGEL 47 / 2017 67


STEFFEN WOLFF / SAT.1 / OBS
Szene aus der Sat.1-Show „Luke! Die Woche und ich“

TV-Industrie

„Ein Schlag ins Gesicht der Kunden“


ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling verärgert Zuschauer, Werbeklienten und Mitarbeiter.
Im Senderkonzern ProSiebenSat.1 wächst der Groll gegen sich wirklich Sorgen machen“, sagt Stephan Vogel, Kreativ-
Vorstandschef Thomas Ebeling, 58. Nach dessen despektier- chef der globalen Werbeagentur Ogilvy & Mather in Europa
lichen Aussagen über die eigenen Zuschauer herrsche „Fas- und Präsident des ADC, des Berufsverbands der Werber.
sungslosigkeit“ und „Entsetzen“, berichten Mitarbeiter und Ebelings Aussage sei daher „ein Schlag ins Gesicht der Kun-
Führungskräfte. Der Aufsichtsrat müsse im Interesse des den und in sein eigenes Gesicht“. Ebeling sagt, seine Äuße-
Unternehmens handeln und den Manager abberufen, heißt rung sei „falsch verstanden worden“. Für wachsenden Ärger
es im Konzern. Ebeling hatte in einer Telefonkonferenz mit in dem Dax-Konzern sorgt zudem Ebelings Führungsstil. Der

FLORIAN PELJAK / PICTURE ALLIANCE / SZ PHOTO / DPA


Analysten gesagt, es gebe Menschen, „die ein biss- Ex-Pharmamanager mit Vorliebe fürs Boxen teile
chen fettleibig, ein bisschen arm“ seien, diese zunehmend aggressiv aus, beschimpfe Mitarbeiter
„Kernzielgruppe“ ändere sich nicht. Mit dieser Äu- als Versager. Von einer „Führerbunkermentalität“
ßerung hatte Ebeling eigentlich die Frage beantwor- ist im Haus gar die Rede: Ebeling lasse Rat und Kri-
ten wollen, wie der TV-Konzern gegen Streaming- tik nicht mehr an sich heran. In diesem Jahr sind
dienste wie Netflix bestehen wolle. Die Aussage die Marktanteile gesunken, Anfang November muss-
schade dem Werbegeschäft der Sendergruppe mas- te ProSiebenSat.1 eine Gewinnwarnung abgeben.
siv, so ein Manager des Hauses. Da Ebeling angekündigt hat, 2019 aufzuhören, sucht
Auch aus der Werbeindustrie kommt Kritik: Aufsichtsratschef Werner Brandt zwar offenbar einen
„Wenn das die Antwort einer der größten privaten Nachfolger. Er scheue sich aber, die Personalie rasch
Sendergruppen auf die Netflix-Frage ist, muss man Ebeling zu klären, heißt es intern. ih

Digitale Medizin gut 318 500 Gesundheits-Apps könnten bald sperrige Analy- litation ließen sich in den USA
Apps sparen in den einschlägigen Stores segeräte in Kliniken und Pra- jährlich sieben Milliarden
von Apple und Google kom- xen ersetzen. Dollar sparen, schätzen die
Milliarden ein men laut den Spezialisten täg- Auch der Aufwand für klini- Experten. Erweist sich die
Der Siegeszug digitaler Hilfs- lich rund 200 neue Anwendun- sche Studien ließe sich durch Software in anderen Bereichen
mittel zur Krankheitsbekämp- gen hinzu, über die Hälfte der die direkte Auswertung der als ähnlich wirksam, könnte
fung und Vorsorge dürfte Softwareangebote greift dabei mit den neuen Methoden die Entlastung sogar 46 Mil-
kaum aufzuhalten sein. Zu auf Sensordaten etwa von gewonnenen Patientendaten liarden Dollar erreichen. Legt
diesem Fazit kommt eine ak- Smartwatches oder Mobiltele- deutlich verringern. Allein in man die Studie zugrunde,
tuelle Analyse der US-Markt- fonen zu. Die elektronischen der Diabetes-Prävention und wären demnach auch in
forschungsfirma IQVIA Insti- Helfer, aber auch neuartige Behandlung sowie bei Asthma- Deutschland Einspareffekte im
tute for Human Data Science. „digitale Biomarker“, etwa Kranken und in der Herz- zweistelligen Milliardenbe-
Zu den bereits existierenden zur Alzheimer-Diagnose, Kreislauf- und Lungen-Rehabi- reich möglich. mum

68 DER SPIEGEL 47 / 2017


Wirtschaft
Konjunkturboom Auch fiel der Zuwachs im ers- Landwirtschaft noch amtierender Landwirt-
Wer bietet mehr? ten Quartal besser aus, als zu- Auf dem Weg zum schaftsminister in Niedersach-
nächst berechnet. Ifo-Kon- sen. „Diese Novelle ist keine
Ein Ende des seit mittlerweile junkturexperte Timo Woll- Massen-Bio Verbesserung, sondern ein
acht Jahren andauernden mershäuser rechnet damit, Bundeslandwirtschaftsminis- Rückschritt, der Tierleid
Wirtschaftsaufschwungs in dass der starke Schwung die- ter Christian Schmidt (CSU) fördert und Massen-Bio den
Deutschland ist vorerst nicht ses Jahres auch das Wachs- ist kurz davor, erneut den Weg ebnet.“ Tatsächlich wer-
in Sicht. Stattdessen nimmt tum 2018 beflügelt. Die Rate Zorn großer Teile der Bio- den darin die umstrittenen
die Konjunktur zusätzlich dürfte um ein paar Zehntel- branche auf sich zu ziehen. Spaltenböden und das
Fahrt auf. Das Münchner Ifo- prozentpunkte höher ausfal- Es geht um eine Neufassung schmerzhafte Schnabel-
Institut rechnet für dieses len. Derzeit rechnen die For- der EU-Ökoverordnung, über kürzen bei Küken unter
Jahr mit einem Wirtschafts- schungsinstitute und die Bun- die Schmidt und seine euro- bestimmten Bedingungen er-
wachstum von 2,3 Prozent. desregierung mit einem Plus päischen Kollegen kommen- laubt. Als Bio würde künftig
Noch vor wenigen Wochen von rund zwei Prozent für de Woche in Brüssel ab- auch die Haltung einiger
hatten die führenden Wirt- das kommende Jahr. „Der stimmen. Sollte Schmidt der Zehntausend Legehennen
schaftsforschungseinrichtun- Aufschwung geht unvermin- Novelle zustimmen, würde er unter einem Dach legalisiert.
gen, zu denen auch das Ifo- dert weiter“, sagt Wollmers- sich über seine Amtskollegen Zudem sollen die Kontroll-
Institut zählt, für 2017 ein häuser, „alle Indikatoren wei- in den Bundesländern hin- intervalle gelockert werden.
Plus von nur 1,9 Prozent sen nach oben.“ Das dürfte wegsetzen, die den Entwurf Ein Sprecher des Ministe-
vorausgesagt. Grund für die auch die neue Bundesregie- vor wenigen Wochen ge- riums sagt, man wolle einen
deutliche Korrektur nach rung freuen. Höheres Wachs- schlossen abgelehnt haben. Rechtsrahmen, der das „dyna-
oben ist ein starker Wachs- tum bringt steigende Steuer- „Das wäre quasi Verrat“ sagt mische Wachstum der
tumsschub im dritten Quartal. einnahmen mit sich. rei Christian Meyer (Grüne), Branche nicht ausbremst“. nkl

Luftfahrt 220 Euro, im April waren es


216 Euro.
„Nachts buchen!“ SPIEGEL: Heißt das, es gibt gar
Wolfgang Riegert, 58, Flugpreis- keine Preissteigerungen?

THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK.NET / IMAGO


experte beim Reiseberater Riegert: Die Verfügbarkeiten
Destinations Ticket Team, für die günstigen Buchungs-
über hohe Flugpreise seit der klassen sind schlecht. Die Flie-
Air-Berlin-Insolvenz ger sind voll. Ich habe gerade
versucht, die Strecke Berlin–
SPIEGEL: Nach der Air-Berlin- München zu buchen. Es gab
Pleite wird Lufthansa vorge- den ganzen Nachmittag kei-
worfen, an der Preisschraube nen Platz, nur im letzten Flie-
zu drehen. Stimmt das? ger in der teuersten Business-
Riegert: Ich halte das für ein Buchungsklasse war noch ein
Gerücht. Beispiel: Hamburg– Sitz zu haben. Schweinehaltung auf Biobauernhof in Brandenburg
München am 1. Dezember. SPIEGEL: Wie geht es weiter?
Der Flug kostet aktuell hin Riegert: Lufthansa hatte schon
und zurück in einer mittleren mit der Einführung des neuen
Buchungsklasse, also umbuch- Europa-Tarifkonzepts die Ra- Ryanair Zukunft eurer Arbeitsplätze
bar und mit Gepäck, ohne ten deutlich erhöht. Es wurde Flugbegleiter sollen gestalten“, heißt es in dem
Steuern und Gebühren damals nur anders verkauft. Aufruf, der am vergangenen
126 Euro. Hätte man am Man kann nun auch einen Ta- sich organisieren Mittwoch veröffentlicht wur-
1. April gebucht, wären es rif ohne Kofferaufgabe bu- Die Kabinengewerkschaft de und zur Illustration Fir-
ebenfalls 126 Euro gewesen. chen. Will man aber die glei- Unabhängige Flugbegleiter menchef Michael O’Leary
In der Businessclass waren es che Leistung wie zuvor haben, Organisation (UFO) will die zeigt, wie er mit Papierflie-
damals wie heute 446 Euro. also auch Gepäck aufgeben, aktuelle Kritik an den Ar- gern beschossen wird. Andere
Ein Eurowings-Flug von Ham- liegt der Preis 30 bis 40 Euro beitsbedingungen bei Ryanair Billiganbieter, argumentieren
burg nach Düsseldorf kostet über dem alten Tarif. nutzen, um bei der Billigflug- die Autoren, hätten längst
SPIEGEL: Welche Tricks gibt es, linie stärker Fuß zu fassen. ähnliche Vereinbarungen ge-
billiger wegzukommen? Im Internet und über eine schlossen und seien gerade
Riegert: Mit der Bahn fahren. Social-Media-Kampagne for- deshalb erfolgreich. Viele
SVEN HOPPE / PICTURE ALLIANCE / DPA

Fliegt man, gilt innerdeutsch dert die Organisation in Ryanair-Flugbegleiter dürften


der Leitspruch: Je früher die Deutschland stationierte Ka- trotzdem zögern, der UFO
Buchung, desto billiger ist sie. binenangestellte auf, mit ih- beizutreten, weil sie Repressa-
Und es gibt einen Kniff: Bucht rer Hilfe eine Personalvertre- lien befürchten. Die Angst sei
man nachts, also außerhalb tung sowie eine Tarifkommis- unberechtigt, versichern die
der Zeiten, in denen Ge- sion zu gründen und so Verfasser, „wir versprechen,
schäftsreisen gebucht werden, bessere Einsatzbedingungen dass kein Arbeitgeber erfährt,
bekommt man oft bessere auszuhandeln. „Lasst uns für wer bei uns Mitglied ist“,
Lufthansa-Flugbegleiterinnen Konditionen als tagsüber. mum eure Rechte kämpfen und die heißt es in der Mitteilung. did

DER SPIEGEL 47 / 2017 69


HANS BLOSSEY / FUNKE FOTO SERVICES

Braunkohleabbau bei Jülich, Nordrhein-Westfalen

70 DER SPIEGEL 47 / 2017


Wirtschaft

Gestern Gold, heute Dreck


Energie Braunkohle beschädigt die deutschen Klimaziele, überflutet die Netze mit
billigem Strom und verhindert so, dass sich Wind- und Solarkraft durchsetzen.
Ein rascher Ausstieg wäre sinnvoll – kostet aber Milliarden und könnte der AfD nutzen.

W
enn Lars Zimmer durch sein auf der großen politischen Bühne gelandet. ein Viertel des im Land produzierten
Dorf läuft, dann kann er sich In Bonn diskutierten in dieser Woche Stroms stammt aus diesem Stoff.
kaum orientieren. Die Bäckerei, 25 000 Delegierte aus 170 Ländern über das Doch so nützlich die krümelige Ener-
die Kneipe, die Straßenschilder – sie sind Klimaabkommen von Paris, mit dem sich giequelle aus dem Miozän für die Nation
weg. Geblieben sind nur noch die Wege, Deutschland völkerrechtlich verbindlich auch war: Jetzt ist sie zu einer Last gewor-
riesige Freiflächen und, mittendrin, der zu einer Einsparung von 40 Prozent Treib- den auf dem Weg in ein neues technolo-
„Dom von Immerath“, die katholische hausgasemissionen bis 2030 im Vergleich gisches Zeitalter. Was gestern noch Gold
Pfarrkirche, von deren Türmen sie neulich zum Jahre 1990 verpflichtet hat – ein To- war, gilt vielen heute bloß noch als Dreck.
die Kreuze abmontiert haben. desurteil für die Riesenbagger. Dekarbonisierung heißt auf Neudeutsch
„Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, Auch in Berlin reden sie über die Kohle, dieser Übergang in eine Ära aus erneuer-
wo die Häuser standen“, sagt der 45-jähri- und Katrin Göring-Eckardt ist wieder da- barer Energie, die nicht aus Kohlenstoff
ge Familienvater: „Es fehlen einfach die bei. Ihre Partei ist es, die in den Verhand- erzeugt wird, sondern vor allem aus der
Bezugspunkte.“ lungen über eine Jamaikakoalition für den Kraft des Windes und der Sonne. Die
Da ist nicht viel übrig von Immerath, Ausstieg aus der Kohle kämpft. Braunkohle behindert diese Entwicklung.
dem Ort, in dem Zimmer seit seiner Dennoch ist das Thema längst nicht Der Strom, der immer noch massenweise
Kindheit lebt. Das Dorf, zwischen Düssel- mehr bloß grüne Liebhaberei. Wie auch aus ihr gewonnen wird, drückt die Preise
dorf und Aachen gelegen, hatte mal 1500 immer die neue Regierung aussehen wird – und macht Gaskraftwerke unrentabel. Da-
Einwohner. Heute sind es noch etwa sie wird handeln müssen. Nicht nur aus bei sollen diese Gaskraftwerke noch ein
20. Lars Zimmer harrt aus, bis die Bagger ökologischen Motiven, sondern auch aus paar Jahre als Brückentechnologie herhal-
des Stromgiganten RWE den Ort errei- energiewirtschaftlichen. ten, bis ein System aus erneuerbaren Ener-
chen und Immerath endgültig dem Die Braunkohle passt nicht mehr in eine gien, Verteilnetzen und Speichersystemen
Braunkohletagebau Garzweiler II weichen Welt, die auf fossile Brennstoffe verzichten etabliert ist.
muss: „Das ist meine Art, dagegen zu pro- will. Die dunkelbraune, bröckelige Mate- Die alte Regierung hat es jedoch nicht
testieren.“ rie, von der allein hinter Zimmers Garten- geschafft, dem Spuk ein Ende zu setzen.
Seit Jahren fressen sich die gewaltigen zaun täglich 100 000 Tonnen aus der Erde Stattdessen werden immer weiter Fakten
Schaufelradbagger aus Süden kommend gekratzt werden, hat einst den wirtschaft- geschaffen, fordert der Abbau weiteren
Richtung Mönchengladbach. Sie folgen lichen Aufstieg Deutschlands befeuert. 170 Tribut. Aktuell ist es eine komplette Auto-
Kohleflözen, die nahe der Oberfläche ver- Millionen Tonnen Braunkohle werden in bahn, die A 61. Sie wird abgerissen, auf
laufen. Wälder, Äcker, Bauernhöfe und Deutschland jedes Jahr gefördert, knapp sechs Spuren mehrere Kilometer weit ver-
Dörfer fallen den Maschinen zum Opfer. legt, um dann im Jahr 2035, wenn sich der
Alles, was stört, wird abgerissen, umgesie- Tagebau durch das Gebiet Garzweiler II
delt und anderswo neu aufgebaut. hindurchgefressen hat, an alter Stelle wie-
Zimmer ist so etwas wie das öffentliche der aufgebaut zu werden.
Gesicht für die Entsiedelung seiner Heimat „Was da passiert, ist der reine Wahn-
geworden. Selbst Reporter aus dem Aus- sinn“, sagt Dirk Jansen, Geschäftsleiter
land haben ihn interviewt und gefilmt auf beim BUND. Erst recht, wenn man beden-
seinem Gang durch das Geisterdorf. Und ke, dass die Kohle, um die es hier geht, ei-
im Mai bekam der Mann mit dem schma- gentlich kein Mensch mehr haben wolle.
len, kahl rasierten Kopf hohen Besuch aus Braunkohle ist zwar deutlich einfacher
Berlin. und billiger abzubauen als die tief liegende
Grünen-Spitzenkandidatin Katrin Gö- Steinkohle im Ruhrgebiet, deren Förde-
ring-Eckardt wollte sich vor geeigneter rung im nächsten Jahr endgültig ausläuft.
Kulisse über die Braunkohle gruseln. Sie Doch hat die Braunkohle einen wesentlich
brachte noch mehr Journalisten mit und geringeren Energiegehalt und ist vor allem
sagte Sätze wie: „Es ist deprimierend, er- deutlich klimaschädlicher als alle anderen
leben zu müssen, wie ein Ort, der umge- fossilen Energieträger.
siedelt werden muss, leer gewohnt wird.“ Selbst modernste Kraftwerke erreichen
Dann saß sie mit Lars Zimmer im Garten, nur Wirkungsgrade von knapp über 40 Pro-
DAVID KLAMMER / DER SPIEGEL

unter Apfelbäumen, und er erzählte ihr zent. Alte Meiler, die in den Sechziger-
von „der großen Katastrophe“, die Tag für und Siebzigerjahren errichtet wurden und
Tag voranschreitet, bis irgendwann alles von RWE noch immer eingesetzt werden,
weg ist. erreichen teilweise gerade mal 30 Prozent.
Oder doch nicht? Braunkohle liegt beim Ausstoß nahezu al-
Lars Zimmer hat wieder „einen Hauch ler Schadstoffe, darunter Quecksilber,
von Hoffnung“. Das sagt er jetzt, Mitte Tagebau-Vertriebener Zimmer oben, bei CO2 ist sie Spitzenreiter. Würde
November. Denn die Braunkohle ist mitten „Das ist meine Art zu protestieren“ Schluss gemacht mit der Förderung der
DER SPIEGEL 47 / 2017 71
Kohle und deren Verstromung, Kohleindustrie in Deutschland sei in kurzer Zeit kaum Ersatz zu
würde das 40-Prozent-Ziel der Re- schaffen.
publik mit einem Schlag erreicht. bedeutende Kraftwerke mit Braunkohle Der Wandel trifft eine Region,
Aber wie? Braunkohle- Hauptenergieträger: Steinkohle die bereits in den letzten Jahr-
Lagerstätten
Vor allem um zwei Regionen zehnten enorme Veränderungen
geht es, um das Rheinische Revier durchlitten hat. Von 80 0000 Jobs
und die ostdeutsche Lausitz, und in der Braunkohle zu Zeiten der
um zwei Energieunternehmen, de- DDR sind 8000 geblieben. Die
ren Überleben an der Braunkohle MITTEL- Erfahrung der „demografisch be-
hängt: RWE im Westen und die DEUTSCHES dingten Entleerung“ der Gegend
Leag im Osten. Zusammen be- REVIER habe sich „tief in das kollektive
schäftigen sie in diesem Geschäfts- Fördermenge 2015 Gedächtnis der Region eingegra-
18,9 Mio. t
feld gut 17 000 Menschen. Die Berlin ben“. Bei den Menschen habe das
Lagerstätten-
Konzerne wehren sich, ihr Ge- vorräte „ein starkes Gefühl dafür hinter-
schäft aufzugeben. 0,4 Mrd. t lassen, wie prekär die eigenen Le-
Jetzt rächt sich, dass die Braun- bensverhältnisse sein können“,
kohle so lange vom Staat gepflegt schreiben die Autoren der Studie.
und gehätschelt wurde. Jahrzehn- Diese psychische Verfassung
telang galt die Doktrin, dass die Leipzig wissen rechte Parteien zu nutzen.
Braunkohle der einzige heimische Köln Gerade hat der Verein Pro Lau-
Energieträger sei, der zuverlässig sitzer Braunkohle Bundestagsab-
auch in hundert Jahren zur Ver- LAUSITZER geordneten in Berlin ein Grund-
fügung stehe. REVIER satzpapier zur Lausitz-Frage mit
Behörden und Politik räumten Fördermenge auf den Weg gegeben. Darin
RWE und Co. deshalb weitreichen- 2015 warnt er die Parlamentarier vor
62,5 Mio. t „einem gesellschaftlichen Zusam-
de Sonderrechte beim Abbau ein.
Lagerstätten-
RWE etwa pumpt im Rheinland vorräte menbruch“ der Region. Die Akti-
über Hunderte Quadratkilometer 1,5 Mrd. t visten haben die Wahlergebnisse
um seine Abbaugebiete herum das RHEINISCHES der Bundestagswahl in den vier
Grundwasser bis zu einer Tiefe REVIER Lausitz-Wahlkreisen zusammen-
von mehreren Hundert Metern ab. Fördermenge Quellen:
Debriv,
gerechnet. Danach ist dort schon
Die Schäden für die Landschaft 2015 Bundes- jetzt die AfD mit 168 000 Stimmen
95,2 Mio. t netzagentur
und die Böden durch Risse, Sen- Lagerstätten- stärkste Kraft vor der CDU
kungen und Verödung sind jetzt vorräte (149 000). Der Verein spricht von
schon enorm. Was passiert, wenn 2,9 Mrd. t Braun- Stein- einem politischen Flächenbrand.
das Wasser in 20 oder 30 Jahren kohle kohle Die politischen Akteure kön-
wieder ansteigen sollte, weiß kein 24,4 16,9 nen bei dem Thema kaum noch
Mensch. Einige Experten fürchten, Beschäftigte gewinnen. Sachsens scheidender
dass Landstriche und Dörfer förm- im Bergbau 2016 Regierungschef Stanislaw Tillich
Anteile an der
lich absaufen könnten. Braunkohle Steinkohle Nettostrom- erneuer- (CDU) hat das gerade wieder er-
Da die Unternehmen langfris- 19852 7480 erzeugung bare lebt. Er hatte, den Kohleausstieg
tige Verträge mit Land und Bund Erdgas 1. Halbjahr 2017, Energien vor Augen, einen Fonds zur Ge-
über Flächennutzung, Abbau- 9,1 in Prozent 37,6 staltung des Strukturwandels ge-
rechte und Mengen geschlossen Kern- fordert. 6,2 Milliarden Euro seien
haben, haben sie keinen Grund, energie nötig. Auch die Neuauflage des
11,5
sich freiwillig von dem Geschäft Quelle:
Kohlepfennigs brachte er ins Spiel.
zu trennen. Im Gegenteil: Bei ei- Quelle: Statistik der Kohlenwirtschaft Fraunhofer ISE Die AfD nahm die Offensive
nem abrupten Ende der Braunkoh- dankbar auf: „Sachsen-CDU ver-
leförderung müssten sie die in Anspruch Der politische Preis für das klimascho- kauft Lausitz-Arbeitsplätze und fordert da-
genommenen Flächen wieder rekultivie- nende Ende der Braunkohle dürfte ein ho- für Geld vom Steuerzahler!“ Es werde en-
ren, den Wasserhaushalt in Ordnung brin- her sein. 17 Milliarden Euro, so hat es die den wie im Ruhrpott, ätzte der sächsische
gen und Dörfer und Straßen wie das Denkfabrik Agora Energiewende kalku- AfD-Fraktionschef Jörg Urban: Sachsen
Autobahnkreuz Jackerath wieder instand liert, dürfte es bis ins Jahr 2040 kosten. In werde bald „ein neues, regionales Armen-
setzen. Ostdeutschland hält man diese Summe für haus ohne Zukunft, aber dafür mit vielen
Das kostet Milliarden. Geld, das RWE viel zu niedrig. Die Ministerpräsidenten Wölfen“.
nicht hat, sondern erst in den letzten Jah- der betroffenen Regionen befürchten nicht Im Westen ist der Ausstieg aus der
ren des Tagebaus verdienen und für diesen nur die Kosten des Strukturwandels, son- Braunkohle für die Politiker weniger ein
Zweck zurücklegen wollte. Bei der Leag dern den Preis, den die Demokratie mög- soziales, sondern in erster Linie ein fiska-
kommt hinzu, dass die Gesellschaft mit licherweise dafür zahlen muss, zumindest lisches Problem. Das liegt an RWE, dem
Sitz in Cottbus tschechischen Investoren dann, wenn er schiefgeht. ehemals so stolzen Energieriesen, und des-
gehört, die das Ganze erst im vergangenen Denn das „schwarze Gold“ ist noch im- sen besonderer Geschichte. Jahrzehnte-
Jahr vom Energiekonzern Vattenfall ge- mer der ganze Stolz der Region. Die Ar- lang galt der Besitz von Anteilen an dem
kauft haben. Manch einer unkt, die Mana- beitsplätze, so heißt es in der Studie Essener Unternehmen als sichere Bank,
ger aus dem Nachbarland hätten beim „Strukturwandel in der Lausitz“ der Hoch- weshalb viele Städte vor allem im Ruhrge-
Kauf mit einkalkuliert, dass der Staat ih- schulen Dresden und Cottbus-Senftenberg, biet an RWE beteiligt sind.
nen am Ende alles wieder abkauft und für seien meist hochwertig und überdurch- In den guten Jahren warfen die Anteile
die Rekultivierung aufkommen wird. schnittlich gut bezahlt. Brächen diese weg, satte Gewinne für die Stadtkämmerer ab.

72 DER SPIEGEL 47 / 2017


Wirtschaft

Geht RWE zugrunde, weil die profitablen giewende konsequent umzusetzen“, sagt So weit die Theorie. In der Region steht
Braunkohlekraftwerke abgewickelt sind, Johannes Teyssen, Chef des Energieriesen hingegen alles am Anfang. Seit Neues-
dann fehlt den Städten die Dividende des E.on, der seine fossilen Kraftwerke im ver- tem gibt es eine Zukunftswerkstatt Lausitz,
Stromkonzerns. Dabei stehen viele Kom- gangenen Jahr aus dem Unternehmen ab- die bis zum Jahr 2020 Strategien für die
munen an Rhein und Ruhr bereits jetzt gespalten hat. Region finden soll. Es gibt eine Innova-
vor dem Bankrott. Das war einer der Grün- Was aber tun mit den Leuten, die in der tionsregion Lausitz GmbH, die mit den
de, warum Nordrhein-Westfalens Minister- Braunkohle beschäftigt sind? Auf dem Pa- Handelskammern und Hochschulen nach
präsident Armin Laschet (CDU) in den pier könnte alles so schön sein: Die Ago- Lösungen sucht. Über 70 Projekte wur-
Sondierungsgesprächen hart gegen den ra-Energieexperten haben eine Studie für den bislang identifiziert, die Wachstum
Anti-Kohle-Kurs der Grünen vorging. die Lausitz vorgelegt, in der sie jährlich in die Region bringen könnten. So sollen
Die Vorstände von RWE werden den 100 Millionen Euro etwa für den Aufbau ei- neue Absatzmärkte in den Metropolen
CDU-Mann vermutlich auch daran erinnert nes Fraunhofer-Instituts fordern, einer For- Berlin, Dresden und Leipzig gefunden
haben, dass die Gewinne aus den Braun- schungslandschaft, in der an einer Indus- werden.
kohlekraftwerken noch etwas anderes fi- trie ohne CO2-Ausstoß gearbeitet werden Ob dies mehr als 20 000 direkte und in-
nanzieren müssen: den Rückbau der Atom- soll. „Ein wirtschaftlich prosperierendes direkte Arbeitsplätze in der Region retten
kraftwerke. Die dafür vorgesehenen Mil- Land wie Deutschland kann den Wandel kann, darf bezweifelt werden.
liarden stecken bilanztechnisch im Kapital der Region ökonomisch problemlos bewäl- Benedikt Becker, Frank Dohmen,
der Braunkohlekraftwerke und deren Ge- tigen“, sagt Agora-Chef Patrick Graichen. Gerald Traufetter, Steffen Winter
winnen. Sind die futsch, muss der Staat am
Ende nicht nur für die Rekultivierung der
Tagebauten zahlen, sondern auch den mil-
liardenteuren Abriss der Nuklearanlagen. DasErste.de
Aus diesem Grund dürften sich die Ener-
giekonzerne einen vorzeitigen Abschied
aus der Braunkohle vom Staat oder von
den Stromkunden bezahlen lassen. Eine,
aus Sicht der Politiker, elegante Lösung
steht bereits parat: die sogenannte Sicher-
heitsbereitschaft aus bislang drei Kohle-
kraftwerken, die praktisch stillgelegt sind
und nur dann wieder aktiviert werden,
wenn das Stromnetz zusammenbricht.
Die an der Sicherheitsreserve beteiligten
Unternehmen bekommen über eine Um-
lage auf die Rechnung der Stromkunden
insgesamt 1,6 Milliarden Euro für die
nächsten vier Jahre dafür, diese Leistung
bereitzuhalten. Die für die Versorgungs-
sicherheit zuständige Bundesnetzagentur
dürfte keine Probleme haben, auf Geheiß
der Politik die verbliebenen Braunkohle-
meiler in die Sicherheitsreserve zu entlas-
sen. RWE hat der Bundesregierung signa-
lisiert, dass sie bei einem entsprechenden
Übergangsgeld bereit wäre, sukzessive auf
ihre Braunkohlekraftwerke zu verzichten.
Doch das Ziel, den CO2-Ausstoß schnell
und nachhaltig zu senken, ließe sich auch
über eine andere Strategie erreichen: einen
höheren CO2-Preis. Energieversorger wie
EnBW und E.on haben vorgeschlagen, den

Brüder
Preis für eine Tonne CO2-Ausstoß von heu-
te rund 6 Euro auf mindestens 25 Euro und
in einigen Jahren auf 30 Euro anzuheben.
Der Charme dieser Idee: Energieträger wie
Sonne, Wind, Wasser, aber auch Gas, die
vergleichsweise wenig CO2 ausstoßen, wür-
den gefördert. Die Geschichte eines deutschen IS-Kämpfers
Zugleich würde das Verbrennen von Öl,
Steinkohle und besonders Braunkohle
deutlich teurer. Der Einsatz zur Strom-
gewinnung würde sich kaum noch lohnen. 22. UND 29. NOVEMBER
Der Anteil der klimaschädlichen Kohle- JEWEILS 20∶15 Uhr
kraftwerke an der Stromerzeugung würde
schnell sinken. „Ein fairer und in wich-
tigen Ländern in der EU einheitlicher CO2- IM ANSCHLUSS AN TEIL 1
Preis wäre der richtige Weg, die Ener- UM 21∶45 UHR DIE DOKU
„SEBASTIAN WIRD SALAFIST“
DER SPIEGEL 47 / 2017 73
Wirtschaft

„Gegen die sind wir alle Zwerge“


SPIEGEL-Gespräch 1&1-Gründer und United-Internet-Chef Ralph Dommermuth, 53, hält US-Digital-
konzerne wie Google und Amazon für kaum mehr einholbar und gibt der Politik daran eine Mitschuld.

CHRISTOPH PAPSCH / DER SPIEGEL


Unternehmer Dommermuth in der United-Internet-Zentrale in Montabaur: „Die Dramatik wird immer noch unterschätzt“

SPIEGEL: Herr Dommermuth, Ihre Branche Papieren, die in Berlin zirkulieren, nicht möglicht, dass die Telekom weiterhin För-
gilt im politischen Berlin gerade als Krisen- die Rede. Stattdessen spricht man von Aus- dergelder für den Vectoringausbau bean-
gebiet. Deutschland rangiert in Sachen bauabschnitten. tragen kann – von den in den vergangenen
schnelles Internet hinter Uruguay und Ko- SPIEGEL: Was heißt das? Jahren vergebenen Milliarden hat sie üb-
lumbien. Wie konnte das passieren? Dommermuth: Damit ist gemeint, dass man rigens rund 80 Prozent erhalten. Zudem
Dommermuth: Das hat vor allem historische auch zukünftig den Glasfaserausbau för- hat der Staat ihr exklusiv besonders lukra-
Gründe. Die alte Bundespost hat Kupfer- dern will, der nicht im Haushalt, sondern tive Ausbaugebiete, die sogenannten Nah-
Doppeladern als Hausanschlüsse fürs Te- an einem Übergabepunkt im Netz endet. bereiche, zugeschlagen. Und gerade macht
lefon verlegt. Die wurden bei der Privati- Also zum Beispiel in den grauen Telekom- sich das Wirtschaftsministerium in Brüssel
sierung an die Telekom übergeben. Sie hat verteilerkästen am Straßenrand. Entschei- stark, dass die Telekom bei neuen Glas-
diese alte Technologie immer weiter aus- dend ist aber, welche Bandbreite im Haus faserhausanschlüssen aus der Regulierung
gebaut und internetfähig gemacht, aber ankommt, wenn Sie künftig beispielsweise entlassen wird und sich ihre Wettbewerber
eben nicht in neue, moderne Glasfaser- Videos in 4K- oder 8K-Qualität streamen größtenteils selbst aussuchen darf. Aus
hausanschlüsse investiert. Nun ist das Kup- wollen. Es müsste besser heißen: Wir för- meiner Sicht gibt es definitiv einen politi-
fer ausgereizt. dern mit unser aller Steuergeldern nur schen Protektionismus zu ihren Gunsten,
SPIEGEL: Deshalb soll künftig, so die jüngs- noch Glasfaserstrecken, die bis in die Häu- neudeutsch würde man sagen: Die Politik
ten Pläne in Berlin, nur noch der Glas- ser führen. Sonst wird sich nicht viel än- ist Telekom-minded.
faserausbau gefördert werden. dern, auch nicht im internationalen Ver- SPIEGEL: Immerhin halten Staat und KfW
Dommermuth: Das wäre schön und sinnvoll, gleich. Leider! zusammen noch rund 30 Prozent am ehe-
aber davon, dass zukünftig ausschließlich SPIEGEL: Hat die Telekom also effektiver maligen Monopol. FDP und Grüne würden
Leitungen, die zu Glasfaserhausanschlüs- lobbyiert als Sie? sie gern verkaufen und die Erlöse in die
sen führen, gefördert werden, ist in den Dommermuth: Es scheint jedenfalls so, als Glasfaserförderung stecken. Was halten
hätte da jemand gut aufgepasst. Auf die Sie davon?
Das Gespräch führten die Redakteure Armin Mahler und Formulierung „Glasfaserausbauabschnitt“ Dommermuth: Ich wüsste zumindest nichts,
Marcel Rosenbach in Montabaur. kommt doch kein Politiker. Das aber er- was dagegenspricht.
74 DER SPIEGEL 47 / 2017
Wirtschaft

SPIEGEL: Der Telekom-Chef schon. Wenn kaufen, müssen Sie zuerst eine Google- Dommermuth: Das ist nicht mein Ansatz.
beispielsweise Amazon, Google oder ein mail-Adresse einrichten, um das Gerät rich- Ich habe nichts dagegen, dass jemand gute
Netzgigant aus China einsteigen würden, tig nutzen zu können und Apps zu laden. Geschäfte macht – aber unter fairen Be-
hätten die womöglich noch weniger Inte- Dieses zwangsweise „Bundling“ müsste dingungen. Es darf nicht sein, dass ein Un-
resse, in den Ausbau zu investieren. Und dringend verboten werden. Als Microsoft ternehmen seine Marktmacht in einem Be-
er sieht die Cybersicherheit in Gefahr. vor Jahren Windows-Nutzern vorschrieb, reich nutzt, um in einem anderen Bereich
Dommermuth: Das Ausbau-Argument wür- den hauseigenen Browser zu benutzen, ein schlechtes Angebot durchzusetzen.
de nur überzeugen, wenn die Telekom bis- schritt die EU ein. Der Marktanteil des In- SPIEGEL: Gibt es in diesem Geschäft über-
her massiv in Glasfaserhausanschlüsse ternet Explorers ging seitdem von 95 Pro- haupt noch Platz für deutsche oder euro-
investiert hätte. Einen Einstieg von Inves- zent auf 8 Prozent zurück – so toll und in- päische Unternehmen?
toren außerhalb der EU mit mehr als novativ kann das Produkt also nicht gewe- Dommermuth: Ja, aber nur in Marktnischen.
25 Prozent könnte die Bundesregierung sen sein. Denn insbesondere im Silicon Valley ist
verhindern. Und Cybersicherheit? Ich bitte SPIEGEL: Immerhin hat die EU-Kommission innerhalb von 65 Jahren ein einzigartiges
Sie. Wir betreiben ein bundesweites Glas- jüngst eine Rekordstrafe gegen Google ver- Ökosystem entstanden, das wir nicht nach-
fasernetz, zu unseren Kunden zählen Bun- hängt, weil die Suchmaschine eigene Shop- bilden können. Es besteht aus einem gro-
desländer, Behörden, Konzerne. Und auch pingangebote bevorzugt, und fordert mas- ßen Kapitalmarkt und risikobereiten Inves-
die Mobilfunkkonkurrenten O2 und Voda- sive Steuernachzahlungen von Apple und toren, die das Thema verstehen, aus Elite-
fone haben keinen Staatsanteil. Amazon. universitäten, die Talente aus der ganzen
SPIEGEL: Sie selbst sind seit 30 Jahren in Dommermuth: Das kommt viel zu spät und Welt anziehen, aus finanzstarken Konzer-
der Branche. Warum haben Sie eigentlich dauert viel zu lange. Apple, Google und nen, die jede Innovation, die irgendwo ent-
nicht viel früher angefangen, in Glasfaser Amazon haben unendlich viel Geld und steht, nachbauen oder kaufen können. Wie
zu investieren? eine unglaubliche Macht über ihre Platt- wollen Sie diesen Vorsprung aufholen?
Dommermuth: Nun ja, ich habe damals als formen. Sie sehen zum Beispiel in ihren SPIEGEL: Dann müssen wir damit rechnen,
One-Man-Show angefangen. Für Investi- Stores, welche Apps gut funktionieren, ko- dass diese Konzerne weiter einen Markt
tionen in eigene Netze brauchen Sie eine pieren diese und bieten sie dann promi- nach dem anderen aufrollen?
große Finanzkraft, die wir erst mit der Zeit nent an. So lief es unter anderem mit Dommermuth: Die Dramatik der Entwick-
erreicht haben. Seit der Übernahme von Apple Music und Google Play bei Spotify. lung wird immer noch unterschätzt. Am
Versatel vor drei Jahren betreiben wir mit Denn selbst wenn Sie – wie Spotify – frü- Anfang hat das US-Ökosystem Hard- und
rund 44 000 Kilometer Länge das zweit- her dran sind und sogar das innovativere Software hergestellt, wie wir Maschinen
größte Glasfasernetz und erweitern es jähr- Produkt haben, können Google und Co. und Autos gebaut haben. Das war nicht
lich um mehr als tausend Kilometer. Sie jederzeit alt aussehen lassen. Viele er- weiter dramatisch. Aber mit der Vernet-
SPIEGEL: Die FDP fordert ein Digitalminis- fahrene Investoren prüfen vor einem Ein- zung drängen die Tech-Konzerne plötzlich
terium, die Kanzlerin favorisiert einen stieg zuerst, ob das, was das jeweilige Start- in alle Branchen. Egal ob Sie ein deutsches
Staatsminister bei sich im Kanzleramt. up macht, auch ein Thema für die großen Buch lesen, eine Reise ab Deutschland bu-
Was wäre besser? US-Plattformen sein könnte. Und wenn chen oder einen deutschen Film sehen wol-
Dommermuth: Die Verteilung auf unter- sie das bejahen, dann lassen sie die Finger len – das machen Sie alles hauptsächlich
schiedliche Ressorts hat nach meiner Beob- davon. Solche Konkurrenten will keiner mit amerikanischen Konzernen. Und so
achtung in den letzten Jahren dazu geführt, haben – gegen die sind wir alle längst geht das Schritt für Schritt weiter. Denn
dass sich am Ende keiner verantwortlich fühl- Zwerge. die Zahl der Nutzer lässt sich nicht mehr
te. Wir sollten die Zuständigkeiten bündeln SPIEGEL: In den USA wird inzwischen sogar beliebig steigern, also müssen die Tech-Rie-
und den- oder diejenigen mit weitreichenden eine Zerschlagung von Konzernen wie sen immer mehr Dienste anbieten, um wei-
Befugnissen ausstatten. Ob Staatsminister Amazon diskutiert. Was halten Sie davon? ter mit 20 bis 30 Prozent zu wachsen. In
oder Ministerium ist nicht entscheidend.
SPIEGEL: Sie haben der CDU im Wahl-
kampf eine halbe Million Euro gespendet,
die größte Einzelspende überhaupt. Wa-
rum, wenn Sie so unzufrieden sind?
Dommermuth: Ich habe als Privatperson ge-
spendet, nicht für das Unternehmen.
SPIEGEL: Mindestens so entscheidend wie
die Qualität der Netze ist das, was darin
passiert. Tut die Politik in Berlin genug im
Umgang mit Giganten wie Google, Face-
book und Amazon?
Dommermuth: Ich will wirklich nicht über
alles mäkeln. Aber wir schauen schon seit
EMILIO MORENATTI / PICTURE ALLIANCE/ AP / DPA

Jahren zu oder reagieren viel zu langsam,


während diese Plattformen ihre Markt-
macht nutzen, um sich in immer mehr Ge-
schäftsfeldern auszubreiten und die Regeln
für den Marktzugang zu bestimmen.
SPIEGEL: Die Angebote dieser Plattformen
scheinen viele Menschen einfach zu über-
zeugen. Haben Sie denn konkrete Hinwei-
se auf Missbräuche der Marktmacht?
Dommermuth: Oh, eine Menge. Wenn Sie
beispielsweise heute ein Android-Handy Smartphone-Nutzer beim Mobile World Congress in Barcelona: „Wir reagieren viel zu langsam“

DER SPIEGEL 47 / 2017 75


Wirtschaft

SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 19. 11., 22.55 – 23.40 UHR | RTL
allen Branchen werden digitale Plattfor- Marktanteil bei Breitbandanschlüssen
Erst Heroin, dann auch noch Crack – men versuchen, sich zwischen die Unter- Kunden in Deutschland, in Millionen
Neue Drogenwelle im Frankfurter nehmen und ihre Kunden zu schieben und
Bahnhofsviertel; Deutsche in der die Regeln zu bestimmen.
Schuldenfalle – Alltag einer Gerichts- SPIEGEL: Wie funktioniert das konkret?
vollzieherin; Auf der Suche nach Dommermuth: Ein Beispiel: Anfang des Jah- 6,4
Passfälschern – Die Bundespolizei in res wurde auf der Consumer Electronics Vodafone
Nigeria. Show ein Gehstock gezeigt, der mit Sen-
soren und GPS ausgestattet ist. Er kann,
wenn er länger nicht bewegt wird oder 13 4,5
Deutsche Insgesamt
ARTE RE: wenn er umfällt und nicht wieder aufge- 1&1
Telekom 32,5
MITTWOCH, 22. 11., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE hoben wird, Angehörige alarmieren. Neh-
men wir an, Sie hätten diesen innovativen
Auf dem Rücken der Frauen – Stock erfunden. Dann müssten Sie trotz-
Die Lastenträgerinnen von Melilla dem damit rechnen, dass jemand, der kei- 3,4
Nora El-Koukhou ist eine marok- ne Ahnung von Gehstöcken hat, Ihnen Unitymedia
3,1 2,1
kanische „Porteadora“. Bis zu das Geschäft wegnimmt. Denn es wird Sonstige Telefónica
70 Kilo schwere Pakete schleppt sie morgen eine mächtige Gesundheitsplatt- O2
als zollfreies „Handgepäck“ an form geben. Die loggt die Menschen ein, Quelle: VATM/ Dialog Consult, Stand 30. Juni 2017
der Grenzstation Barrio Chino von wenn sie auf die Welt kommen, sammelt
Europa nach Afrika. Ein lukratives ihre Lebensgewohnheiten, Fitness- und
Geschäft für die Händler, aber Gesundheitsdaten und vernetzt diese un- SPIEGEL: Was ist an Rocket so spannend?
prekäre und menschenunwürdige ter anderem auch mit modernen Geh- Deren Beteiligungsfirmen kopieren doch
Arbeit für die Lastenträgerinnen. stöcken. Sobald die Plattform den Markt größtenteils amerikanische Geschäftsmo-
beherrscht, wird sie Standards vorgeben, delle. Neue Ideen stecken nicht dahinter.
auch für intelligente Stöcke. Und Sie wer- Dommermuth: Ich hatte auch keine große,
ARTE RE: den dafür bezahlen müssen, wenn Sie mit völlig neue Idee. Ich habe weder die Glas-
MITTWOCH, 23. 11., 19.40 – 20.10 UHR | ARTE Ihrem Gehstock diese Standards nutzen faser noch die E-Mail erfunden. Und auch
wollen. Zusätzlich wird die Plattform am nicht die Homepage oder den Cloud-Ser-
Bernstein-Fieber – Illegaler Ende Stöcke verkaufen. Schritt für Schritt ver. Trotzdem sind wir heute der größte
Raubbau in der Ukraine wird Ihr Produkt also austauschbar, die europäische E-Mail-Anbieter und der füh-
Im Nordwesten der Ukraine wird in Plattform Ihr wichtigster Vertriebsweg rende Webhoster.
großem Stil illegal Bernstein ab- und die Wertschöpfung woanders statt- SPIEGEL: Wie passt das zusammen: der eher
gebaut. Die Polizei scheint im Kampf finden. bodenständige Unternehmer Dommer-
gegen den Raubbau machtlos zu SPIEGEL: Warum wird diese Dramatik nicht muth und der schillernde Rocket-Chef Oli-
sein. Denn hinter dem lukrativen erkannt? ver Samwer, der sich selbst als aggressivs-
Geschäft steckt ein undurchsichtiges Dommermuth: Wer ist denn heute politisch ten Unternehmer im Internet bezeichnet?
aktiv? Jedenfalls nicht die jungen Digital- Dommermuth: Abgesehen davon, dass er
unternehmer. Und dann geht’s unserer superclever ist: Es gibt in unserer Branche
Wirtschaft ja auch gerade gut. Ist doch alles niemanden, der so hart arbeitet wie Oliver
prima. Was auf uns zukommt, wird gern Samwer. Ich bewundere Leute, die ein Ziel
ausgeblendet. haben und über viele Jahre dranbleiben.
SPIEGEL: Sie zeichnen ein düsteres Bild für Noch wichtiger ist aber, dass uns eine gute
deutsche Technologieunternehmen. Freundschaft verbindet.
Dommermuth: Wir haben viele Unterneh- SPIEGEL: United Internet ist aktuell elf Mil-
men mit guten Aussichten, digitales Ge- liarden Euro wert. Sie selbst sind mehrfa-
schäft zu machen. Aber sie müssen nach cher Milliardär. Was treibt Sie noch an?
den Regeln der amerikanischen Konzerne Dommermuth: Das ist eine gute Frage. 1995
spielen. Alle müssen überlegen, wie sie mit habe ich zum ersten Mal Firmenanteile an
Bernstein-Sucher in der Ukraine diesen großen Plattformen klarkommen. Private-Equity-Gesellschaften verkauft, da
SPIEGEL: Zu diesen Wachstumsfirmen zählt war ich 31 Jahre alt und hätte schon nicht
Netzwerk aus Kleinkriminellen, auch Rocket Internet, Sie halten acht Pro- mehr arbeiten müssen. Aber es macht mir
korrupten Beamten und der zent an dieser Start-up-Schmiede, mussten immer noch Spaß. Und natürlich habe ich
einflussreichen Bernstein-Mafia. bisher aber schon einen dreistelligen Mil- auch eine Verantwortung gegenüber den
lionenbetrag abschreiben. Mitarbeitern und den Aktionären.
Dommermuth: Wir haben Rocket Internet SPIEGEL: Sie besitzen immer noch 40 Pro-
SPIEGEL GESCHICHTE vor vielen Jahren zusammen mit Oliver zent des Unternehmens. Waren Sie nie
SONNTAG, 19. 11., 21.45 – 22.40 UHR | SKY Samwer und seinen Brüdern gegründet, in der Versuchung, Ihren Anteil zu ver-
sind später aber wieder ausgestiegen. Pa- kaufen?
JFK – Der letzte Tag rallel dazu haben wir gemeinsam in junge Dommermuth: Anfragen gab es. Doch was
Was genau geschah am 22. Novem- Internetfirmen investiert. Diese Beteiligun- hätte ich am Tag danach gemacht? Ich gehe
ber 1963 in Dallas, als der US-ameri- gen brachten wir in Rocket Internet ein, gern mal segeln, aber nach zwei Wochen
kanische Präsident John F. Kennedy was dazu führte, dass wir beim Börsen- freue ich mich wieder aufs Büro. Also ma-
erschossen wurde? Alte Filmauf- gang 70 Millionen Euro außerordentlichen che ich weiter – mir ist noch nichts Besse-
nahmen, Interviews und Erinnerun- Gewinn ausgewiesen haben. Wenn Sie die res eingefallen.
gen von Augenzeugen zeichnen Abschreibungen erwähnen, sollten Sie das SPIEGEL: Herr Dommermuth, wir danken
diesen tragischen Tag nach. nicht unter den Tisch fallen lassen. Ihnen für dieses Gespräch.
76 DER SPIEGEL 47 / 2017
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Wirtschaft

Am Boden
Karrieren Der MediaMarktSaturn-Manager Michael Rook saß wegen Schmiergeldzahlungen
jahrelang in Haft – vermutlich zu Unrecht. Ein Zivilgericht bezweifelt seine Schuld.

W
enn das eigene Leben plötzlich einzupacken, stellten ein paar Fragen. Der Prozess
zusammenbricht, hilft es, sich Gute zweieinhalb Stunden dauerte der Am 21. Dezember 2012 fällt im Landge-
klare Strukturen zu verordnen. Spuk, dann stand Rook wieder allein in richt Augsburg ein Satz, der es in sich hat.
Morgens um sechs Uhr: fertig angezogen seiner Wohnung. „Wir hatten eine Hopp-oder-top-Entschei-
sein, bevor der Weckdienst kommt. Der Auslöser für die Durchsuchung war dung zu treffen“, sagt der Vorsitzende
Danach 45 bis 60 Minuten Sport. Maxi- ein anonymes Schreiben, das knapp ein Richter Wolfgang Natale vor seiner Urteils-
mal eine Stunde Frühstücksfernsehen. Jahr zuvor bei MediaMarktSaturn einge- verkündung. Top hätte Freispruch bedeu-
Tägliche Zeitungslektüre („Süddeutsche gangen war. Darin wurden Korruptions- tet. Hopp heißt: fünf Jahre und drei Mo-
Zeitung“, „Welt“, „Bild“), dann ein bis vorwürfe gegen zwei Geschäftsführer und nate Gefängnis. Der Richter entscheidet
zwei Stunden Briefe schreiben. Und Tage- eine der Ehefrauen erhoben. Der Konzern sich für hopp.
buch. leitete eine interne Untersuchung ein und Es ist ein ziemlicher Unterschied, ob
Alle zwei Tage Besuch der Anwälte wäh- erstattete später Strafanzeige gegen unbe- man freigesprochen wird oder für über
rend deren Mittagspause. kannt. Die Augsburger Staatsanwaltschaft fünf Jahre in den Knast wandert. Dass
Einmal die Woche Besuch von Richter Natale angesichts der Be-
der Ordensschwester Irmtraut. weislage beides für möglich hielt,
Alle 14 Tage der Einkauf im ge- ist erstaunlich – oder spiegelt das
fängniseigenen Kiosk: löslicher Grundproblem des Falls wider:
Kaffee, Tee und Obst, das man Die Beweislage war eher dünn,
sich einteilt. zumindest im Hinblick auf Micha-
Zweimal im Monat eine Stunde el Rook. Aber der Wille, einen
Besuch von der Ehefrau. hochrangigen Manager zu verur-
„Das hat geholfen, um nicht teilen, war offenbar größer.
durchzudrehen“, sagt Michael Die Staatsanwaltschaft Augs-
Rook. burg, vertreten durch Johannes

MANFRED SEGERER / IMAGO


Rook, hellbraune Haare, mit- Ballis, hatte am Ende des Verfah-
telgroß, offener Blick, ist 53 Jahre rens 45 000 Telefongespräche ab-
alt und war mal Deutschland- gehört, 34 000 SMS, MMS und an-
Geschäftsführer von MediaMarkt- dere Telefondaten gesichert, dazu
Saturn, Europas größtem Elektro- kamen noch 14 Millionen elektro-
nikhändler. Er war für mehr als nische Dateien, also E-Mails und
neun Milliarden Euro Umsatz Media-Markt-Filiale in Leipzig Dokumente.
und rund 26 000 Mitarbeiter ver- Die Beweislage war eher dünn In der Urteilsbegründung heißt
antwortlich, verdiente über eine es, die Kammer stütze ihre Über-
Million Euro im Jahr. Er war ein Lebe- fing an zu ermitteln – irgendwann auch ge- zeugung „maßgeblich“ auf die Erkenntnis-
mann, glücklich verheiratet, hatte einen gen Michael Rook. se aus der Telekommunikationsüberwa-
kleinen Sohn, reiste viel. Es war, wenn Am Ende der Ermittlungen lautet der chung. Angeführt werden dann aber exakt:
man so will, ein ausgefülltes, erfolgreiches Vorwurf, den der zuständige Staatsan- drei Mitschriften eines Telefonats zwischen
Leben. walt Johannes Ballis erhebt: Rook und Bruno Herter und dessen Frau und ein
Das abrupt endete. einer seiner Kollegen, der Regionalma- belangloser SMS-Kontakt zwischen Herter
nager Bruno Herter, sollten über sechs und Rook: „Hallo Michael Sollten wir uns
Der Fall Jahre Schmiergelder in Höhe von insge- morgen sehen, bringe ich Deine Unterla-
Am Morgen des 13. Juli 2011 läutet es samt drei bis vier Millionen Euro ange- gen mit… Gruß an Alle Bruno“ lautet die
Sturm an der Tür von Rooks Münchner nommen haben. Das Geld soll von Wer- SMS an Rook. Der antwortet am nächsten
Wohnung. Rook ist verschlafen, am be- und Marketingfirmen gekommen Tag: „Hallo bruno wir gehen nicht in die
Abend zuvor war er auf einer Party, er sein, die im Gegenzug ihre Werbestände stadt wird uns zu viel da ich später noch
hatte getrunken und kam erst um halb für DSL-Verträge ohne Konkurrenz in zum fußball gehe liebe grüße und mach
eins ins Bett. Er quält sich schlaftrunken über 300 Media-Markt-Filialen aufstellen die haare nicht zu blond micha.“
aus den Kissen, als jemand an die Tür häm- konnten. Es sei, so sagen beide Angeklagten, um
mert: „Machen Sie auf! Sonst brechen wir Das Schmiergeld soll größtenteils in bar eine lockere Mittagessensverabredung an
die Türe ein!“ übergeben worden sein, ein Teil soll über einem Samstagvormittag gegangen, die
„Das war total skurril. Ich stand da im falsche Abrechnungen von Bruno Herters dann nicht zustande kam. Das Gericht dage-
Halbschlaf in Unterhose und dachte: Da Ehefrau bezahlt worden sein. gen sieht darin die Verabredung zur Schmier-
will mich jemand veräppeln.“ Am 9. November 2011 wird Rook fest- geldübergabe – weil Bruno Herter das bei
Vor der Tür standen mehrere Polizisten genommen, obwohl bis dahin und auch einer späteren Vernehmung ausgesagt hat.
und ein Staatsanwalt. Sie hatten einen später nichts von dem angeblichen Herter, der Kollege von Rook, ist der
Durchsuchungsbeschluss dabei und stürm- Schmiergeld bei ihm gefunden worden ist. Hauptbelastungszeuge der Staatsanwalt-
ten mit vorgehaltener Waffe an Rook Stattdessen bestreitet er von Anfang an, schaft, obwohl er selbst einer der Haupt-
vorbei in die Wohnung. Sie durchwühlten Geld erhalten zu haben. Bis heute beteuert angeklagten ist. In einer ersten Befragung
alles, fingen an, Telefone und Aktenordner er seine Unschuld. bestreitet er die Vorwürfe; nachdem die
78 DER SPIEGEL 47 / 2017
JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL
Ex-MediaMarktSaturn-Manager Rook: „Es soll einfach irgendwann vorbei sein“

Beweislage drückender wird, sagt Herter frau an. Ihr Mann müsse nur die Revision in den Räumlichkeiten der Kriminalpolizei
erneut aus und belastet dabei Rook. Her- zurückziehen, dann werde auch das Er- in Augsburg, während der Dienstzeiten
ters ebenfalls angeklagte Frau kommt ein mittlungsverfahren eingestellt, erklärt er von 8 bis 16 Uhr. Die sichergestellten
paar Tage nach der Zeugenaussage aus der der fassungslosen Frau. E-Mails und Dokumente waren außerdem
Haft frei, was für das Paar eine Erlösung „Staatsanwalt Ballis war von Anfang an verschlüsselt, für die Auswertung und Ent-
ist – es hat einen Sohn im Kleinkindalter, voreingenommen“, sagt der Verteidiger schlüsselung hätten die Anwälte eine Spe-
um den sich jemand kümmern muss. eines anderen Angeklagten, ein renom- zialsoftware gebraucht. Dass die Telefon-
Während der Ermittlungen bekommen mierter Strafrechtler. Als Staatsanwalt überwachungsdateien weder verschlagwor-
etliche Beteiligte außerdem den Eindruck, müsse man ja nicht nur Belastendes su- tet noch sortiert waren, die Anwälte sich
dass Staatsanwalt Ballis Rook um jeden chen, sondern auch alles Entlastende zur also quasi wahllos durch Dateien klicken
Preis belastet sehen will. Er soll anderen Kenntnis nehmen. Er habe mit einem Frei- mussten, spielte da eigentlich schon keine
Angeklagten immer wieder unverhohlen spruch von Rook gerechnet, da die Beweis- Rolle mehr.
damit gedroht haben, dass es zu ihrem lage viel zu dünn für eine Verurteilung ge- „Das originäre Recht auf Akteneinsicht
Nachteil sei, wenn sie den ehemaligen wesen sei. Staatsanwalt Ballis, inzwischen beziehungsweise auf Sichtung der Beweis-
Manager nicht belasteten. In einem Haft- Vorsitzender Richter am Landgericht Augs- mittel ist hier in einer Form beschnitten
prüfungstermin habe ihm Ballis gedroht, burg, wollte sich nicht dazu äußern. worden, die ich noch nie erlebt habe“, sagt
seine Frau und seine Töchter würden bit- Hinzu kommt, dass die Verteidiger von Rooks Verteidiger Thorsten Junker. Er
tere Tränen weinen, wenn er, der Staats- Rook sich massiv behindert fühlten – vor legte deshalb Verfassungsbeschwerde ein,
anwalt, ihn zu acht oder neun Jahren allem, als es darum ging, entlastendes Ma- die jedoch abgewiesen wurde. Seine Be-
verurteile, erinnert sich ein Mitangeklagter. terial zu finden. Von den insgesamt 79 000 schwerde vor dem Europäischen Gerichts-
Auch Rook selbst fühlt sich von Ballis Telefonüberwachungsdatensätzen dürfen hof für Menschenrechte wurde allerdings
unter Druck gesetzt: Der Staatsanwalt si- sie lediglich einen Bruchteil einsehen, und zugelassen.
gnalisiert den Verteidigern mehr als ein- das auch nur mit zeitlicher Verzögerung:
mal, dass sich „alles lösen lasse“, wenn Erst knapp einen Monat vor Beginn der Die Firma
Rook gestehe. Und er strengt ein sinnloses Hauptverhandlung wurde einer vollstän- Als das anonyme Schreiben, das die Er-
Ermittlungsverfahren gegen dessen Ehe- digen Einsicht zugestimmt – allerdings nur mittlungen auslöst, im Spätsommer 2010
DER SPIEGEL 47 / 2017 79
Wirtschaft

bei MediaMarktSaturn eingeht, ist die mittelt worden sei und wie die vorgetrage-
Stimmung bei der Metro-Tochter ange- nen Beweise bewertet worden seien.
spannt: Seit Monaten liefern sich der Grün-
der und Minderheitsgesellschafter Erich Das Leben danach
Kellerhals und Eckhard Cordes, als Metro- Das Lachen zu behalten, wenn man den
Chef der Vertreter des Mehrheitsgesell- Glauben an den Rechtsstaat verloren hat,
schafters, eine erbitterte Fehde. Offiziell dürfte schwierig sein. Wenn man erlebt
geht es um die strategische Ausrichtung hat, wie der fünfjährige Sohn sich aus
des Konzerns, um den Onlinehandel. Aber Angst vor den Gefängniswärtern nicht
natürlich geht es auch um Macht, um Ein- mehr zum Besuch traut. Wenn man macht-

STEFAN PUCHNER / PICTURE ALLIANCE / DPA


fluss und um Eitelkeiten. los dabei zuschauen musste, wie die eige-
Als der Metro-Spitze klar wird, dass auch ne Frau immer dünner und erschöpfter
ein Mitglied der Führungsebene von Me- wird, weil der Stress und der Druck zu
diaMarktSaturn unter Verdacht steht, froh- groß werden. Wenn man nicht nur mögli-
lockt man in Düsseldorf. Der Fall eignet cherweise, sondern vielleicht tatsächlich
sich wunderbar, um die Unternehmenslei- zu Unrecht für mehr als dreieinhalb Jahre
tung als rückständig und unprofessionell in Haft saß.
darzustellen. Da Rook als ein Vertreter der Spricht man heute mit Michael Rook, er-
„alten Garde“, als Kellerhals-Mann gilt, lebt man einen fröhlichen, in sich ruhenden
setzt man alles daran, ihn loszuwerden. Der Angeklagter Rook 2012 Mann, dem der radikale Bruch in der eigenen
Name Rook wird Journalisten zugespielt, Radikaler Bruch Biografie nicht sofort anzumerken ist.
Auszüge aus den Ermittlungsakten werden „Es klingt komisch, aber ich habe aus
am Rande von Pressekonferenzen verteilt. geld sowie Schadensersatz zu erhalten. Das dem Ganzen auch Gutes gezogen“, sagt
„Ob Rook tatsächlich Schmiergelder genom- sei ein übliches Vorgehen, wenn Mitarbei- der ehemalige Manager. Es klinge banal,
men hat oder nicht, war denen total egal“, ter dem Unternehmen geschadet hätten aber er genieße das Zusammensein mit sei-
sagt ein ehemaliger MediaMarktSaturn- und dafür strafrechtlich verurteilt seien, ner Familie und seinen Freunden heute
Manager, der das Ganze damals aus der sagt eine MediaMarktSaturn-Sprecherin. mehr, die materiellen Dinge hätten einen
Nähe verfolgt hat. „Der Fall wurde instru- Erst im Rahmen dieses Verfahrens habe geringeren Stellenwert.
mentalisiert, um den Streit mit Kellerhals das Unternehmen Kenntnis von dem Tref- Dass er während seiner Haftzeit nicht
zu gewinnen.“ fen zwischen Herter und Thomas erhalten zusammengebrochen ist, verdankt Rook
Klar wird aber auch: An einer Aufklä- und unverzüglich darauf reagiert. Darüber wohl seiner Familie und Freunden, die ihn
rung des Falls hat man offenbar auch am hinaus wolle man sich nicht zu den Ver- über all die Jahre gestützt haben. Mora-
Firmensitz in Ingolstadt kein großes Inte- fahren äußern. lisch, indem sie während der Verhandlun-
resse. Zu eng sind die Seilschaften zwischen Ausgerechnet die Klage erweist sich für gen anwesend waren, während der Haft
den Betroffenen und den Gründern: Der Michael Rook als Glücksfall. Denn sie wird Kontakt mit ihm gehalten haben; und prak-
Hauptangeklagte Bruno Herter etwa ist gut vor dem Landgericht Itzehoe verhandelt, tisch, indem sie ihm nach der Zeit im Ge-
bekannt mit Mitgründer Leopold Stiefel, weil Rook seinen Wohnsitz im nahen fängnis sofort einen Job als Unternehmens-
der wiederum mit einem der Angeklagten, Quickborn hat. Das ist weit weg von Augs- berater besorgt haben.
der die Schmiergelder gezahlt haben soll. burg und Ingolstadt – und die Richter Auch finanziell hatte Rook Glück: Seine
Und dann gibt es noch Christoph Tho- schauen genau hin. Familie hatte genügend Geld, um die lang-
mas, Inhaber und Geschäftsführer der Fir- Am 31. Mai wird die Klage von Media- wierigen Rechtsstreitigkeiten auszuhalten.
ma Hama. Hama stellt Elektronikzubehör MarktSaturn gegen Michael Rook abgewie- Denn Rooks eigenes Vermögen war
her, Kabel und Stecker etwa, und ist seit sen. In ihrer Begründung lassen die Richter schnell weg, erst wurden die Konten ge-
Jahrzehnten einer der Hauptlieferanten keinen Zweifel daran, dass sie den ehema- sperrt, dann musste er ein Aktienpaket im
der Media- und Saturn-Märkte. Thomas ligen Manager für nicht schuldig halten: Die Wert von knapp 900 000 Euro verkaufen,
ist eng verdrahtet mit der ehemaligen Füh- Angaben von Bruno Herter zur Tatbeteili- weil die Staatsanwaltschaft das angebliche
rungscrew von MediaMarktSaturn; in der gung von Rook seien nicht nur „nicht glaub- Schmiergeld arrestierte. „Andere werden
„Golf-Connection“ treffen sich unter an- haft“, er habe außerdem ein „beachtliches finanziell blitzschnell in die Knie und zu
derem Thomas, Herter und Stiefel regel- Falschbelastungsmotiv“, schreiben die Rich- einem Deal gezwungen. Das ist mir durch
mäßig zum Golfen und Feiern. ter. Auch die umfassende Beweisaufnahme, die Unterstützung meiner Familie erspart
Nach den Hausdurchsuchungen am dieses Mal, anders als im Strafgerichtspro- geblieben“, sagt Rook.
13. Juli 2011 treffen sich Herter und Tho- zess, auch wörtlich protokolliert, habe die Seine Anwälte planen jetzt einen Antrag
mas am Ammersee. Herter übergibt ihm Kammer nicht von Rooks Schuld überzeu- auf Wiederaufnahme des Falls – in der
60 000 Euro in bar sowie eine Uhr zur Auf- gen können. Hoffnung auf einen nachträglichen Frei-
bewahrung. Er erzählt Thomas auch, dass Offiziell äußert sich das Landgericht It- spruch. „In Augsburg ist unserer Meinung
dieses Geld Schmiergeld sei. Das Treffen zehoe nicht zu dem Verfahren. Von Pro- nach ein absolutes Fehlurteil gefällt wor-
wird vor Gericht erwähnt, auch der Pro- zessbeteiligten ist jedoch zu hören, dass den“, sagt Junker. „Wir haben inzwischen
zessbeobachter von MediaMarktSaturn, man sich bei Gericht über die Art und Wei- nicht nur eine umfassende Beweisaufnah-
Rechtsanwalt Norbert Stegemann, ist an- se gewundert habe, wie in Augsburg er- me und das Urteil des Landgerichts Itze-
wesend. hoe, sondern hatten auch die Zeit, weiter
Im Anschluss passiert allerdings: nichts. umfassend Beweismittel zu sichten. Des-
Hama beliefert den Elektronikhändler „Andere werden blitz- halb sind wir der Überzeugung: Da ist
weiter, auch Hama-Chef Thomas ist nach nichts, was Herrn Rook belastet.“
wie vor gern gesehener Gast in Ingolstadt.
schnell finanziell in die Rook selbst will eigentlich nur drei Din-
Stattdessen strengt MediaMarktSaturn Knie gezwungen. Das ist ge: „Ich will Gerechtigkeit und mein Geld
eine Zivilklage gegen Rook an, um über mir erspart geblieben.“ zurück. Und dann soll es einfach irgend-
zwei Millionen Euro angebliches Schmier- wann vorbei sein.“ Susanne Amann

80 DER SPIEGEL 47 / 2017


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Wirtschaft

Beraten und verkauft


Geldanlage Eine Sparkasse hat die Altersvorsorge eines Paares verzockt, das über Jahrzehnte
hinweg Kunde war – sieht sich aber nicht in der Verantwortung.

R
olf Teuscher und seine Frau sind ten eine Anlage, die möglichst genug ab- Eigentlich sollen solche Dokumente die
Sparkassenkunden, wie sie die Wer- werfen sollte, um ihre Krankenkassenkos- Kunden vor Falschberatung schützen. „Es
bung nicht schöner erfinden könnte. ten zu bezahlen. Der Sparkassenberater hat sich in der Praxis aber ziemlich schnell
Das Paar betrieb bis zum Ruhestand eine empfahl, ein bereits vorhandenes Aktien- herausgestellt, dass die neuen Beratungs-
Metzgerei im baden-württembergischen depot gründlich aufzustocken, das auf den protokolle in einem Rechtsstreit vor allem
Königsbach-Stein, direkt um die Ecke zur Namen von Ursula Teuscher lief. Banken und Finanzberatern helfen“, sagt
Bankfiliale. Alles Geld, das sie verdienten, Aktien sind langfristige Anlagen, wer Anwalt Nieding. Verbraucherschützer war-
trugen sie zum Institut ihres Vertrauens. welche kauft, sollte sie liegen lassen kön- nen, dass in die Vordrucke meist vorgefer-
Zeitweise lief sogar das Alarmsystem der nen, am besten über mindestens zehn Jah- tigte Textbausteine eingesetzt würden, die
Bank über das Haus der Familie. re. Die Teuschers allerdings wollten sich so formuliert sind, dass sie die Geldhäuser
Nie hätten die Rentner gedacht, dass sie von einem Teil des Geldes in absehbarer möglichst von jeder Haftung freisprechen.
in genau dieser Sparkasse ein Vermögen Zeit ein lebenslanges Wohnrecht in einem Ursula Teuscher sagt, sie habe ihr Pro-
verlieren würden. Doch genau das sei pas- Haus des Schwiegersohns kaufen. In einem tokoll ungelesen unterschrieben. Schließ-
siert, sagt Rolf Teuscher: „Wir sind über solchen Fall seien Aktien „eine der denk- lich waren die Eheleute Stammkunden.
den Tisch gezogen worden.“ bar schlechtesten Anlageformen“, sagt der Diese Gutgläubigkeit war ein Fehler. In
Tatsache ist jedenfalls: Erhebliche Teile Anlegeranwalt Klaus Nieding. dem Dokument werden der Rentnerin um-
seiner Ersparnisse sind weg, verzockt in Doch das Ehepaar verließ sich auf seine fassende Kenntnisse über inländische Euro-
einer Reihe dubioser Aktiengeschäfte, für Berater von der Sparkasse. anleihen, Aktien deutscher und ausländi-
die niemand mehr verantwortlich sein will – Zu den mühsam erkämpften Neuerun- scher Emittenten sowie Geldmarkt- und
und womöglich auch niemand zur Verant- gen nach der Finanzkrise gehört das soge- Immobilienfonds bescheinigt.
wortung gezogen werden kann. nannte Beratungsprotokoll, das Banken Dabei habe sie in ihrem Leben nicht
Der Fall der Teuschers ist ein Muster- und Finanzberater für ihre Kunden nach eine einzige Aktie gezeichnet, sagt die Se-
beispiel dafür, wie wenig all die Gesetze einem Anlagegespräch erstellen müssen niorin – die Bankangelegenheiten habe im-
zuweilen taugen, die seit dem Ausbruch und das ab dem kommenden Jahr durch mer ihr Mann erledigt. Metzgermeister
der Finanzkrise im Jahr 2008 zum Schutz eine sogenannte Geeignetheitserklärung Teuscher schaute regelmäßig n-tv und ver-
von Bankkunden erlassen worden sind. ersetzt werden soll. ließ sich sonst, vor allem bei größeren Sum-
Es ist ein Dienstagnachmittag im men, auf ihren Bankberater, wie er
Herbst, im schwarzen Pellet-Ofen beteuert.
im Haus der Familie knistert ein 2011 kommt die Eurokrise mit
Feuer, die Einrichtung sieht nach Wucht an den Börsen an – und zwar
sorgenfreiem Rentnerleben aus. genau als die Teuschers an der Mü-
Doch der Eindruck täuscht. ritz Urlaub machen mit der Enkelin,
Im Haus kann das Ehepaar nur sie hören von den Turbulenzen im
wohnen, weil es dem Schwieger- Radio. Rolf Teuscher sagt, er habe
sohn gehört – und der, seit er um bei der Bank angerufen, um ein Ver-
die Misere weiß, keine Miete mehr lustlimit zu setzen. So habe er das
verlangt. Rolf Teuscher, der sein vor dem Urlaub mit seinem Berater
halbes Leben lang Chef war im ei- besprochen, als sich die Lage bereits
genen Laden, ist das sichtlich un- zugespitzt hatte. Am Tag nach sei-
angenehm. ner Rückkehr sei er dann gleich zur
Dass ihre gesetzliche Rente be- Bank gegangen, „da hat mir der Be-
scheiden ausfallen würde, war rater gesagt, es ist etwas schiefge-
dem 74-Jährigen und seiner Frau laufen. Das kriege er aber hin“.
immer klar: 1600 Euro hat das Tatsächlich zeigen die Abrech-
Paar zusammen pro Monat, fast nungsbelege der Teuschers, dass in
die Hälfte geht für die private der Zeit ihres Urlaubs ohne doku-
Krankenkasse und Medikamente mentierten Grund zwei große Pake-
drauf. Deshalb legten die Teu- te mit Porsche- und Daimler-Aktien
schers früh Geld beiseite und ver- verkauft worden waren, mit einem
kauften 2010 schließlich das Haus, Verlust von rund 10 000 Euro.
BORIS SCHMALENBERGER / DER SPIEGEL

in dem sich früher die Metzgerei Am 11. August, also nach Teu-
und ihre Wohnung befanden. Bei schers Rückkehr, geht es im Depot
der Frage, was mit dem daraus re- von Ursula Teuscher dann hoch
sultierenden Geld anzufangen sei, her: Um 9.44 Uhr werden 476 Ak-
wandten sie sich – wie immer – im tien von HeidelbergCement ge-
Juli 2010 an ihre Filiale der Spar- kauft, der Kurs liegt bei 31,965
kasse Pforzheim Calw. Euro. Um 13.48 wird ebendieses
Ihre Vorgaben seien klar gewe- Aktienpaket wieder abgestoßen,
sen, sagen die Teuschers: Sie woll- Rentnerpaar Teuscher: Die Gutgläubigkeit war ein Fehler weil bei 30 Euro Aktienkurs ein
82 DER SPIEGEL 47 / 2017
JETZT IM HANDEL:
Verlustlimit gesetzt wurde. Am Abend
werden dann erneut Aktien von Heidel-
In den nächsten Jahren wurde der Ver-
lust noch größer. Rolf Teuscher sagt, er
KLÜGER
bergCement erworben – diesmal zum Preis
von über 32 Euro pro Stück.
Der Verlust allein durch dieses Hin und
habe deswegen immer wieder mit seinem
Sparkassenberater gesprochen, dann mit
dem Filialleiter und schließlich mit dem
EXPERIMENTIEREN
Her beträgt 1070 Euro. Ähnlich läuft es bei Vorstandsvorsitzenden, den er auch privat
etlichen anderen Papieren. seit Jahren kennt. „Ich wurde immer ver-
Insgesamt werden in dem Depot an die- tröstet.“ Der Berater etwa habe ständig
sem einen Tag Aktien im Wert von fast davon erzählt, „gebeutelte Aktien“ zu
436 000 Euro gehandelt. Und dabei über kaufen, die sich dann wieder erholen
30 000 Euro vernichtet. Bis Ende des Jahres sollten.
summiert sich das Volumen der ge- und ver- Sollte der intensive Handel tatsächlich
kauften Wertpapiere in Ursula Teuschers vor allem auf Anstoß der Bank erfolgt sein,
Depot auf mehr als 1,5 Millionen Euro. stünde dem Rentnerpaar wahrscheinlich
Der panische Handel widerspricht der eine Entschädigung zu. Denn auf den meis-
wichtigsten Regel beim Börsengeschäft, ten Quittungen, die Ursula Teuscher von
der Bank bekam, wurden die verrückten
Transaktionen als „beratungsfreie Order“
Der Sparkassenberater dokumentiert. „Das heißt, der Kunde hat
sie angeblich eigeninitiativ in Auftrag ge-
wollte „gebeutelte geben“, sagt Anwalt Nieding.
Aktien“ kaufen, die sich Die Sparkasse allerdings dementiert die
Darstellung des Rentnerpaares. „Der Ih-
dann erholen sollten. nen seitens der Kunden geschilderte Sach-
verhalt ist unzutreffend“, heißt es auf An-
wie Andreas Beck vom Institut für Ver- frage. „Die fraglichen Transaktionen“ sei-
mögensaufbau erklärt: „Kaufen, liegen las- en „ausschließlich im Auftrag der Kunden“
sen und im Zweifel auch Krisenzeiten mal erfolgt: „Eine Beratung hierzu erfolgte
aussitzen. Allerdings sehe ich so ein un- nicht und war kundenseitig auch gar nicht
sinniges Hin und Her mit Wertpapieren gewünscht.“
bei privaten Depots sehr oft“, sagt Beck. In einem Gerichtsprozess wäre es nun
Denn es bringt der Bank Provisionen – die Sache der Teuschers, das Gegenteil zu be-
sie bei jeder Transaktion kassiert, ob sinn- weisen. Das Seniorenpaar kann aber le- Weitere Themen:
voll oder nicht. So ist es üblich in Deutsch- diglich zig Verkaufs- und Kaufbelege vor-
land.
Schon seit Jahren fordert der Verbrau-
weisen sowie seine Erinnerung – und das
Beratungsprotokoll von der Erstberatung, RANKING
cherzentrale Bundesverband (vzbv), die
Beratung auf Provisionsbasis zu verbieten
das die Sparkasse eher ent- als belastet,
wie so oft in solchen Fällen.
Die 100 besten CEOs der Welt
wie etwa in Großbritannien oder den Nie- Verbraucherschützer fordern deshalb,
derlanden. Es sei offensichtlich, „dass Be-
rater oft vor allem die Anlageprodukte
bei Fragen der Anlageberatung die Beweis-
last umzukehren. „Schließlich verfügt eine
PROJEKTLEITUNG
verkaufen, die ihnen am meisten Geld Bank über zahlreiche Daten, Akten und Was Sie über Multiteaming
bringen – und nicht die, die zum Kunden Gesprächsnotizen, die schnell Licht ins
passen“, sagt vzbv-Finanzexperte Chris- Dunkel einer solchen Angelegenheit brin- wissen müssen
tian Ahlers. gen können“, sagt Anwalt Nieding. „Da
Doch auch beim neuen Regelwerk
Mifid II, das im Januar in Kraft tritt, konn-
besteht ein klarer Informationsvorsprung.“
Mehrere Juristen erklärten dem Paar be- SELBSTMANAGEMENT
ten sich die Verbraucherschützer mit dieser
Argumentation nicht durchsetzen. Das
reits, eine Klage sei zu riskant, vor allem
weil die Sache womöglich verjährt sei.
Lernen Sie die Kunst der
auf EU-Ebene verhandelte Konvolut er-
laubt Provisionen bei der Wertpapierbera-
Denn aus Scham verschwiegen die Teu-
schers ihre Geldprobleme jahrelang. Sie
Reflexion
tung auch in Zukunft – allerdings nur, blieben dem Schwiegersohn das Geld für
wenn die Banken nachweisen können, dass das vereinbarte Wohnrecht schuldig, er-
sie die Qualität der Beratung verbessern. fanden dafür Ausreden und zahlten statt-
In Deutschland gilt dieser Nachweis schon dessen Miete für ihr neues Heim. Ihre Er-
als erbracht, wenn eine Bank ein breites sparnisse schrumpften weiter.
Netz an Filialen auch in ländlichen Regio- Erst als absehbar war, dass ihr Geld
nen betreibt. nicht mehr allzu lange reichen würde, ! Auch als digitale Ausgabe erhältlich:
Dabei sind die Ergebnisse dieser Praxis stoppte Rolf Teuscher sämtliche Handels-
oft absurd, wie das Beispiel der Teuschers geschäfte auf dem Depot seiner Frau und harvardbusinessmanager.de
zeigt. Im Jahr 2011 summierte sich der vertraute sich seiner Tochter an.
Verlust in ihrem Depot durch den wilden Anwalt Nieding will jetzt für das Paar
Aktienhandel auf rund 100 000 Euro – noch einmal prüfen, ob eine Klage nicht
etwa 40 Prozent des Gesamtwertes. Die doch möglich sei. Und Rolf Teuscher über-
Sparkasse berechnete für die zahlreichen legt, wie er einen etwaigen Prozess finan-
Transaktionen in dieser Zeit aber rund zieren kann. „So geht man nicht mit Men-
11 000 Euro an Provisionen. schen um“, findet er. Anne Seith

DER SPIEGEL 47 / 2017 83


Tödliches Zittern
Die Iraner sind Erdbeben gewöhnt, auf dieses jedoch waren sie nicht vorbereitet: Am vergange-
nen Sonntagabend traf es den Nordwesten des Landes mit einer Stärke von 7,3 auf der
Richterskala und riss mindestens 530 Menschen in den Tod. Besonders verheerend wütete das
Beben in der Stadt Sarpol-e Sahab, die fast vollständig zerstört wurde. Die Überlebenden
schlafen nun in Zelten und Autos und wärmen sich an Feuern. Revolutionsführer Ali Khamenei
sprach von einer „göttlichen Prüfung“ für alle Iraner.

Kommentar

Unter Gleichgesinnten
Die Asienreise von Donald Trump war ein voller Erfolg – für Autokraten.
Donald Trumps zwölftägige Tour durch Asien war eine Pilger- Die bombastischen Worte der Bewunderung für seine Gast-
fahrt zu Antidemokraten. Sie weckt damit Erinnerungen an geber zeigen, wie klein die USA in diesem Teil der Welt ge-
seine Nahostreise im Mai, von der vor allem Bilder übrig blie- worden sind. „America First“, das bedeutet inzwischen so viel
ben, wie Trump mit den saudi-arabischen Herrschern einen wie: Amerika steht allein da. Das pazifische Freihandels-
Schwerttanz aufführte. In Asien traf der US-Präsident nun abkommen TPP führen die Teilnehmerstaaten einfach ohne
Männer wie Xi Jinping und Wladimir Putin, die dieselbe Ver- die USA weiter. Doch Macht, das bedeutete für Washington
achtung für Kritik, eine unabhängige Justiz und eine freie auch immer, andere zur Einhaltung der eigenen Werte zu be-
Presse teilen wie er. In Peking beugte er sich dem Wunsch des wegen, vor allem, was Demokratie und Menschenrechte an-
chinesischen Staatschefs, auf Fragen der Presse zu verzichten. geht. Trump aber hat sein Land in eine Isolation geführt, die
In Vietnam, am Rande eines Wirtschaftsgipfels, schien er zu- er mit Machtzuwachs verwechselt.
nächst dem russischen Präsidenten mehr Glauben zu schenken Die US-Außenpolitik erschöpft sich derzeit in Gesten der
als seinen Geheimdiensten. Auf den Philippinen lobte Trump Anbiederung, wo Trump Mächtigen gegenübersteht, und
Präsident Rodrigo Duterte – und durfte diesem zuhören, in Gleichgültigkeit, wo er Unwichtigere trifft. Es ist nicht das
wie er ein Liebeslied sang mit der schönen Zeile „Du bist das Auftreten einer Supermacht, sondern einer Nation, die sich
Licht in meiner Welt“. Wenn sich Trump ein Land malen nach innen wendet, weg vom Rest der Welt.
dürfte, wäre es eine Collage aus Impressionen dieser Reise. Christoph Scheuermann

84 DER SPIEGEL 47 / 2017


Ausland
Islam mende Unterstützung der Prinz verkauft sich als aufge-
„Die Bedeutung von Muslimbruderschaft. Auch klärter Visionär, der er nicht
die Bedeutung der Scharia ist. Während sich Ägypten
Religion nimmt ab“ sinkt in den Maghreb-Staa- zurück zur Militärdiktatur
Michael Robbins, 36, Leiter des ten, während sie in Ländern entwickelt, im Libanon politi-
Arab Barometer, eines wie Jordanien leicht wächst. sches Chaos herrscht, ver-
Meinungsforschungsprojekts SPIEGEL: Ihre Umfragen zei- spricht allein Tunesien eine
diverser Universitäten in den gen auch, dass immer weni- Erfolgsstory zu werden. Und
USA und in Nahost, über Araber, ger Araber der Meinung sind, die brauchen wir so dringend
die weniger beten und glauben nur Männer dürften eine Uni- in dieser Region.
versität besuchen. SPIEGEL: Was macht Ihnen in
SPIEGEL: Seit über zehn Jah- Robbins: Das ist eine unserer Tunesien Hoffnung?
ren befragen Sie Muslime zu Schlüsselfragen. Bildung Robbins: Alle Araber sind un-
Religion und Politik. Was ha- spielt eine zentrale Rolle. zufrieden mit ihren Regierun-
ben Sie gelernt? Erst müssen Frauen lernen gen, auch die Menschen in
Robbins: Wir wollen verste- dürfen, dann außer Haus ar- Tunesien. Doch obwohl es ih-
hen, wie Araber auf ihre Ge- beiten, dann wählen. Die nen wirtschaftlich schlecht
sellschaften blicken, wie sich Umfragen belegen, dass es geht und ihr Staat alles ande-
ihre Einstellung zum Islam die Gesellschaft ist, die ihre re als perfekt ist, sehen sie
und zur Scharia verändert. Machthaber verändert, nicht keine Alternative zur Demo-
Auffällig ist, dass in fast allen umgekehrt. Auch die Einstel- kratie. fio
Ländern die Bedeutung von lung zum Glauben kann nicht
Religion abnimmt. In Ägyp- von oben verordnet werden, Muslime, die täglich beten
ten beten nur noch 37 Pro- der Wandel geht vom Volk in Ägypten, Anteil in Prozent
zent der 18- bis 24-Jährigen aus, allein die Bürger sind da- Quelle: Arab Barometer
täglich, vor sechs Jahren wa- bei die treibende Kraft. 93
ren es fast doppelt so viele. SPIEGEL: In Saudi-Arabien
76
Und nur noch die Hälfte der verspricht der Kronprinz zur- 68
Libanesen und Marokkaner zeit gesellschaftliche Re-
besuchen Koranlesungen. formen. Glauben Sie daran? 37
SPIEGEL: Überrascht Sie das? Robbins: Nein. Saudi-Arabien
Robbins: Absolut! Überrascht ist mit Abstand das konser- 2011 2016 2011 2016
hat uns ebenfalls die abneh- vativste arabische Land, der 18- bis 24-Jährige über 55-Jährige

Russland den Zusatz versehen. Ein offi- dass das US-Justizministerium


POURIA PAKIZEH / AFP

zielles Register „ausländi- den vom Kreml finanzierten


Agentenrepublik scher Agenten“ wird bisher Auslandssender RT (früher:
Internationale Medien gera- nur für Nichtregierungsorga- Russia Today) aufgefordert
ten in Russland unter Druck, nisationen geführt, die Geld hatte, sich als „ausländischer
ihnen droht die offizielle aus dem Ausland erhalten. Agent“ zu registrieren. Die
Kennzeichnung als „ausländi- Bei dem Parlamentsbe- US-Nachrichtendienste sehen
scher Agent“. Das hat das rus- schluss handle es sich um RT als Teil einer Kampagne
Fußnote sische Parlament am Mitt- eine „absolut symmetrische zur Beeinflussung der US-Prä-

16003
woch einstimmig beschlossen. Antwort“ auf Maßnahmen sidentschaftswahl.
Die betroffenen Medien müss- Washingtons, sagte der Vor- Doch die russische Antwort
ten ihre Veröffentlichungen sitzende des zuständigen wirkt nun wie ein Blanko-
wohl mit einem entsprechen- Duma-Komitees. Anlass war, scheck. Die Formulierung ist
Migranten sind in diesem so weit gefasst, dass praktisch
Jahr aus Griechenland in jedes internationale Medium
Länder wie Pakistan, Af- von der russischen Regierung
ghanistan, Bangladesch zum Agenten erklärt werden
oder Nordafrika zurückge- kann – mit dem Ziel, die
reist. Darunter Abgescho- Glaubwürdigkeit dieser Me-
bene sowie 4766 Freiwil- dien zu unterminieren. Als
lige, die mit Flugtickets mögliche Kandidaten wurden
und einer Starthilfe von Voice of America, CNN, aber
bis zu 1500 Euro, zur Ver- auch die Deutsche Welle ge-
fügung gestellt durch nannt. Ausländische Medien
die Internationale Organi- spielen in Zeiten schwinden-
MIKHAIL KLIMENTYEV / AFP

sation für Migration, ein der Pressefreiheit eine wichti-


neues Leben in der alten ge Rolle. Zudem sind einhei-
Heimat wagen. In Europa mische Journalisten abgewan-
sahen diese Flüchtlinge Putin dert, etwa zum russischen
keine Chance auf Asyl. Dienst der BBC. esc

DER SPIEGEL 47 / 2017 85


Ausland

Ende der Gucci-Dynastie


Simbabwe Robert Mugabe regierte das Land seit 37 Jahren, nun hat ihn das Militär abgesetzt.
Hinter dem Putsch steht der Ex-Vizepräsident, der mit Mugabes Ehefrau um das
Erbe des greisen Diktators ringt. Demokratie und Freiheit? Darum geht es leider nicht.

D
ie Söhne des Präsidenten feiern in Mnangagwa hat den Ruf, der brutalste die Panzer, die inmitten des Geschäftsvier-
einem Nachtklub in Südafrika. Ro- Scherge des Präsidenten zu sein. Im Volks- tels stehen. Auch die staatliche Rundfunk-
te Lichtblitze flackern durch den mund heißt er „ngwena“, Krokodil. Er anstalt haben Soldaten besetzt, ebenso den
Raum, Rap tönt aus den Boxen. Robert Ju- diente Mugabe seit der Unabhängigkeit kürzlich in Robert Gabriel Mugabe Inter-
nior Mugabe im Anzug und mit Sonnen- 1980, er war es, der den Unterdrückungs- national Airport umbenannten Flughafen.
brille zieht eine Frau im bauchfreien Top apparat aufbaute. Er gilt zudem als Haupt- War es das nun also mit Mugabe, gehen
zu sich heran. Chatunga Bellarmine, 20, verantwortlicher für die Massaker, bei de- fast vier Jahrzehnte Herrschaft einfach so
sein jüngerer Bruder mit kindlich weichen nen in den Achtzigerjahren bis zu 20 000 zu Ende?
Zügen, filmt die Szene mit dem Handy. Menschen getötet wurden. Und er soll auch „Ich kann nicht glauben, dass wir hier
Dann öffnet Chatunga eine Flasche Cham- beteiligt sein am Verschwinden von Mil- gerade einen Coup erleben“, sagt eine
pagner der Marke Armand de Brignac liarden Dollar aus dem Diamantengeschäft. junge Frau in einem Café in Borrowdale,
Gold und kippt sie über seiner mit Dia- Kein Mann also, der sich seine Abset- einem besseren Vorort von Harare. Wie
manten besetzten Armbanduhr aus. zung einfach gefallen lässt. Womöglich hat- sie können sich wohl die meisten Sim-
„60 000 Dollar am Handgelenk, wenn te er sogar damit gerechnet, es heißt je- babwer noch nicht vorstellen, dass die Ära
dein Vater das ganze Land regiert“, denfalls, er habe seit über einem Jahr an Mugabe vorbei sein soll. Etwa drei Viertel
schreibt er, als er das Foto von der Uhr einem Plan für ein Simbabwe nach der der Bevölkerung haben nie etwas anderes
auf Instagram postet. Kurz darauf lädt er Ära Mugabe gearbeitet. als seine Herrschaft kennengelernt; sie
das Video aus dem Nachtklub auf Snap- Jetzt bekämpfen sich, wenn man so will, haben sich arrangiert mit der Armut, der
chat hoch. die Gucci-Dynastie von Grace Mugabe und Gewalt, der Hoffnungslosigkeit.
Das war Anfang November. Da waren die Lacoste-Fraktion von Mnangagwa. Es Die Restaurants und Läden in Borrow-
es noch rauschhafte Zeiten für die Söhne ist ein Machtkampf, der schon lange inner- dale haben geöffnet, alles ist wie immer,
des Präsidenten von Simbabwe, die kein halb der Regierungspartei Zanu-PF schwelt. die Menschen sind gelassen bis spöttisch.
Geheimnis aus ihrem obszönen Reichtum Doch das Ehepaar Mugabe hat die Kräfte „Ich frage mich, was die First Lady jetzt
machen. Doch seit Anfang dieser Woche des gegnerischen Lagers unterschätzt. tun wird“, sagt ein Wachmann mit einem
sind diese Zeiten vorbei. Denn Mnangagwa hat Verbündete im Lächeln. „Ich denke, sie wird merken, dass
Eine der ältesten Diktaturen des Konti- Militär, darunter auch Armeechef Constan- sie die Dinge zu weit getrieben hat. Sie
nents fällt. Und eine neue, ungewisse Ära tino Chiwenga. Dieser drohte eine Woche sollte im Fernsehen öffentlich um Entschul-
bricht an in Simbabwe. nach der Entlassung des Vizepräsidenten digung bitten und das Land verlassen.“
Robert Mugabe, 93 Jahre alt, der grei- eine Militärintervention gegen „heimtücki- Nur ein paar Ecken weiter sitzt Mugabe
seste Diktator Afrikas, steht unter Haus- sche Tricksereien“ im Umfeld der Regie- in seiner Residenz mit den 24 Schlafzim-
arrest. Er war der ein- rung an. Einen Tag spä- mern fest; auch seine Frau Grace soll sich
zige Machthaber, den ter, am Dienstag, rollten hier aufhalten, von der es erst hieß, sie sei
das Land je hatte. Und SIMBABWE Panzer durch Harare, ins Ausland geflohen. Das Eingangstor
nun hat das Militär sie besetzten Regie- wird von einer Handvoll Soldaten bewacht.
NAMIBIA
ihn über Nacht abge- Harare rungsgebäude. Am Mitt- So könnte eine Ära zu Ende gehen, die
setzt, nach unglaubli- woch riegelte ein halbes einst so hoffnungsvoll begann.
BOTSWANA MOSAMBIK Dutzend Panzer den In den ersten Jahren nach der Macht-
chen 37 Jahren. Es ist
das von Mugabe aufge- Zugang zum Präsiden- übernahme war Mugabe international an-
baute System, das da zu- tenpalast ab. Damit gesehen, vor allem Linke und Vertreter
rückschlägt, gerade als SÜDAFRIKA war der „sanfte“ Staats- der Dritte-Welt-Bewegung feierten ihn als
er seine Ehefrau zur streich vollzogen. Sanft, Helden des antikolonialen Kampfes. Die
Nachfolgerin aufbauen weil kaum Blut floss, britische Königin verlieh ihm einen Orden.
wollte. bislang jedenfalls nicht. Seine schwarzen Landsleute verehrten ihn
Grace Mugabe, 52, „Gucci-Grace“ ge- „Guten Morgen, Simbabwe. Der Präsi- wie einen Messias. Er predigte die Versöh-
nannt, ist eine Frau, die auch mal die dent und seine Familie sind in Sicherheit“, nung zwischen Schwarzen und Weißen,
Freundin ihres Sohnes verprügelt, und verkündete der Armeesprecher in der fuhr einen moderaten Wirtschaftskurs,
genauso rücksichtslos setzt sie ihren Macht- Nacht zum Mittwoch im Staatsfernsehen. schuf eines der besten Bildungswesen und
anspruch durch. Ihr Ziel war der Posten „Wir sind nur dabei, Kriminelle im Umfeld Gesundheitssysteme in Afrika. Simbabwe
des Vizepräsidenten, um nach dem Tod Mugabes auszumachen.“ Es handle sich wurde zum Vorbild für den Kontinent und
ihres Mannes wie in einer Erbdynastie das nicht um einen Staatsstreich, sondern um Mugabe zur Lichtgestalt.
Präsidentenamt zu übernehmen. eine Art bewaffnete Aufräumaktion. Da- Als Bundespräsident Richard von Weiz-
Mugabe hatte am 6. November daher nach wurde zur Beruhigung der Bevölke- säcker im März 1988 zu Besuch kam, wur-
den bisherigen Vizepräsidenten Emmerson rung Chimurenga gespielt, Musik aus dem de Mugabe endgültig in die Riege der
Mnangagwa abgesetzt, um den Platz für Befreiungskampf. Staatsmänner aufgenommen. Hand in
sie freizuräumen – das sollte der schwerste Die Schulkinder, die am Morgen zum Hand lauschten Mugabe und sein Gast
Fehler seiner Amtszeit werden. Unterricht laufen, schauen neugierig auf einem Kinderchor, der ein deutsches Volks-

86 DER SPIEGEL 47 / 2017


AP
Soldaten in Harare: Kein Staatsstreich, sondern eine Art bewaffnete Aufräumaktion

TSVANGIRAYI MUKWAZHI / DPA

Ehepaar Mugabe im Frühjahr 2016: Ein Greis, der bei Empfängen stolperte, einschlief und alte Reden wiederholte

DER SPIEGEL 47 / 2017 87


Ausland

lied sang. „Er ist ein kluger, besonnener dentin. Die potenzielle Thronfolgerin und ren auch Delegierte der SADC, eines Ver-
Politiker, der um Ausgleich bemüht ist“, ihre Fraktion waren dem Alten zu mächtig bunds der Staaten des südlichen Afrika,
lobte Weizsäcker danach. Doch schon da- geworden. Blickt man heute auf diese Zeit sowie ein katholischer Priester.
mals war diese Aussage falsch. zurück, hat man das Gefühl, ein Déjà-vu Mugabe trug Anzug und Krawatte, die
Das Regime hatte gerade einen Massen- zu erleben. Generale posierten freundlich für ein Foto
mord verübt; Mugabe schaltete allen Wider- Grace Mugabe, die 41 Jahre jüngere Ehe- mit dem Mann, den sie gerade aus dem
stand gegen seine Alleinherrschaft syste- frau des Präsidenten, war auch damals die Amt jagen wollen. Und tatsächlich ist Mu-
matisch aus. Und die korrupte Führungs- treibende Kraft hinter diesem Schachzug. gabe noch nicht ganz am Ende, er hat noch
riege der Regierungspartei hatte längst Sie ist in der Bevölkerung wegen ihres ein Druckmittel in der Hand: Die Militär-
begonnen, den Staat auszuplündern. Im Hangs zum Luxus äußerst unbeliebt, ar- führer wollen nicht als reine Putschisten
Jahr 2000, als nicht mehr viel zu holen war, beitet aber schon lange auf die Eroberung gesehen werden. Bei den Bedingungen sei-
hetzte Mugabe seine Kriegsveteranen des höchsten Staatsamts hin. Denn der Ge- nes Abgangs kann der Langzeitherrscher
schließlich auf die Großgrundbesitzer; Tau- waltherrscher an ihrer Seite war längst deshalb wohl durchaus mitreden.
sende weiße Farmer wurden enteignet und senil und hinfällig geworden – ein Tatter- Am meisten fürchten viele Simbabwer
vertrieben. Von da an ging es steil bergab: greis, der bei Empfängen stolperte, bei Sit- einen langen Prozess; und dass Mugabe
Hunger, Hyperinflation, eine Arbeitslosig- zungen einschlief und im Parlament Reden seine Unterstützer mobilisieren könnte.
keit von 90 Prozent, der selbst verschulde- ablas, die er bereits gehalten hatte. Die Dann könnte der sanfte Umsturz doch
te Zusammenbruch der Wirtschaft. Drei Zügel der Macht glitten ihm aus der Hand. noch blutig werden.
bis vier Millionen Simbabwer, rund ein Und Grace Mugabe wollte aufrücken, be- Auch Morgan Tsvangirai äußerte sich
Viertel der Einwohner, flohen ins Ausland. vor es zu spät war. Schließlich stand ihr jetzt, der Anführer der Opposition, der ab
2009 vier Jahre lang Premierminister einer
Einheitsregierung unter Mugabe war. Er
sagte bei einer Pressekonferenz, er unter-
stütze die Militärintervention. „Im Interes-
se des Volkes muss Robert Mugabe sofort
zurücktreten.“ Manche glauben, er könnte
nun womöglich Premier einer Übergangs-
regierung werden; zumindest scheint er
selbst das zu hoffen.
Was würde sich ändern, wenn Mugabe
geht? Die Ein-Mann-Herrschaft ist zwar ge-
stürzt, das Ein-Parteien-Regime aber bleibt.
Die Zanu-PF ist durch und durch korrupt,
ihre Mitglieder haben sich bereichert, sie
wollen keinen Wandel des Systems. Um
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geht
es auch den Militärs nicht. Es geht darum,
der Familie die Macht zu entreißen und
JEKESAI NJIKIZANA / AFP

den Parteifunktionären zurückzugeben.


Und doch ist das Ende der Ära Mugabe
ein tiefer Einschnitt in der Geschichte Sim-
babwes – und Afrikas. Der letzte der zum
Despoten gewandelten alten Befreiungs-
Warteschlange vor Bank in Harare: Hunger, Hyperinflation, Arbeitslosigkeit und Terror kämpfer ist aus dem Amt gejagt.
Dabei hielten Mugabes Anhänger ihn
Und die, die blieben, lebten in Furcht vor nur noch ein Konkurrent im Weg: Vize- lange Zeit für unbesiegbar. Sie glaubten
dem Terror. präsident Emmerson Mnangagwa. an den Spruch seiner Frau Grace, dass der
Mugabe wollte den Niedergang nicht Doch diesmal sieht es so aus, als könnte Alte „noch als Leiche“ Wahlen gewinnen
wahrhaben. Er ließ sich immer und immer sie sich verkalkuliert haben; als könnte werde. Doch jetzt, in der Stunde seines
wieder wählen, auch bei der Präsident- die Lacoste-Fraktion die Gucci-Dynastie Untergangs, werfen ihm sogar die Kriegs-
schaftswahl 2018 plante er anzutreten. Ein hinwegfegen. veteranen vor, die Prinzipien der Staats-
Herrscher auf Lebenszeit wollte er werden. Das „Krokodil“ Mnangagwa, kurzzeitig partei verraten zu haben.
„In seinem Verfolgungswahn sah er über- geflohen nach Südafrika, soll sich auf In einem anderen Video, das man in die-
all Feinde“, sagt Rugare Gumbo, der fast einem Armeestützpunkt am Flughafen auf- sen Tagen sehen kann, sitzt Robert Muga-
ein halbes Jahrhundert loyal an Mugabes halten. Beobachter erwarten, dass er sich be auf einem Sofa, im Interview mit der
Seite stand. Er saß 1964 in einer Gefäng- mit dem Segen der Streitkräfte an die Spit- britischen BBC. Schweißperlen schimmern
niszelle neben Mugabe, er kämpfte als ze einer Übergangsregierung setzt. Über auf seiner Haut. Es geht um den Umgang
Guerillero mit ihm, er bekleidete mehrere Mugabe wiederum gibt es das Gerücht, mit politischen Dissidenten. Niemand dür-
Ministerämter, war Sprecher der Partei. dass er nicht abtreten will. Er versteht of- fe die Verfassung angreifen, sagt Robert
Als er dann im November 2014 aus dem fenbar nicht, dass sich binnen 36 Stunden Mugabe. „Ich bin Premier meines Landes,
Politbüro geworfen wurde, verstand Gum- sein Netzwerk aufgelöst hat, das ihn fast und ich beabsichtige, dieses Land mit Ent-
bo die Welt nicht mehr. Mugabe beschul- vier Jahrzehnte lang an der Macht hielt. schlossenheit zu regieren.“
digte ihn, zu den Drahtziehern eines an- Am Donnerstag durfte er zum ersten Das Video stammt aus dem Jahr 1980,
geblichen Mordkomplotts zu gehören. Mal sein Luxusanwesen verlassen, er wur- Jahr eins seiner Herrschaft. Mugabes Sohn
Mit Gumbo wurden zahlreiche hochran- de in seinen früheren Amtssitz gebracht, Chatunga hat es gerade auf Facebook
gige Parteimitglieder abgesetzt, darunter für ein Treffen mit dem Armeechef und gepostet. Bartholomäus Grill,
15 Minister und die damalige Vizepräsi- dem Verteidigungsminister. Mit dabei wa- Katrin Kuntz, Ray Ndlovu

88 DER SPIEGEL 47 / 2017


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WAEL HAMZEH / SHUTTERSTOCK
Hariri-Plakat in Beirut: Ein Staat, in dem nichts zusammenpasst und der doch irgendwie funktioniert

Trittsicher am Abgrund
Libanon Die Festsetzung von Premierminister Saad Hariri hat für Saudi-Arabien nicht das gewünschte
Resultat gebracht. Die schiitische Hisbollah ist gestärkt, die Bevölkerung geeint.

D
er Libanon ist in einem seltsamen Entwicklungen“ in Sachen Libanon und sondern gegen Saudi-Arabien. „Wie kön-
Taumel. Überall, in den sunniti- Hisbollah an. Die folgten dann auch. nen sie einfach den Premier einsacken?“,
schen Dörfern des Nordens, in Bei- Kaum in Riad angekommen, verlas Saad ereiferte sich ein Parteigänger Hariris auf
rut, in den Hochburgen der schiitischen Hariri am 4. November eine Rücktritts- einer der Spontandemonstrationen. „Die
Milizpartei Hisbollah im Süden, hängen erklärung im dortigen Staatsfernsehen: We- haben damit unser ganzes Land ernied-
nun die gleichen Poster: Kullna Saad, „Wir gen Gefahr für Leib und Leben trete er rigt!“ Auch Präsident Michel Aoun befand:
alle sind Saad“. hiermit zurück. Die Hisbollah und Iran, „Absolut inakzeptabel!“
Ausgerechnet Saad Hariri, über Jahre deutete er an, trachteten ihm nach dem Dass Hariri selbst später bekräftigte, er
verspottet als glückloser Sohn des großen Leben. Was auf den ersten Blick nicht ganz werde keineswegs festgehalten, passte
Rafiq Hariri, als Geschäftsmann geschei- abwegig erschien: 2005 starben Rafiq Hari- nicht zum Ton der Erklärung, die er vom
tert, als Premier seit Ende 2016 ohne For- ri, sein Vater und damaliger Premier, sowie Blatt abgelesen hatte und deren girlanden-
tune, ist zum Helden einer ausnahmsweise 21 weitere Menschen bei einem Spreng- reiches Hocharabisch ihm eigentlich fremd
einmal geeinten Nation aufgestiegen. In stoffanschlag. Als mutmaßliche Täter hat ist. Es passte auch nicht zu seiner Wort-
Abwesenheit. Genauer: weil er auf Besuch ein internationales Sondertribunal mehrere kargheit in Telefonaten mit besorgten Ver-
in Saudi-Arabien offensichtlich nicht ganz Angehörige der Hisbollah angeklagt. wandten, denen er immer wieder einsilbig
freiwillig sein Amt aufgab und nach An- Der Rest von Hariris Einlassungen, dass versicherte, es sei „alles in Ordnung“.
sicht der verdutzten Libanesen und der die Hisbollah sich wie ein Staat im Staate Karl Sharro, ein nach London emigrier-
restlichen Welt seither dort vom Königs- aufführe, war nicht falsch. Nur eben auch ter Architekt und so etwas wie der satiri-
haus festgehalten wird. nicht neu. Und erst im Dezember 2016 hat- sche Chronist des libanesischen Gesche-
Dabei sollte er doch exakt andersherum te Hariri zwei Hisbollah-Minister in sein hens, schrieb nach Betrachten der Hariri-
aufgehen, der Plan Saudi-Arabiens. Des- Kabinett aufgenommen. Fotos: Er vermisse nur noch eine Tages-
sen Minister für die Golfregion, Thamer Der Zorn der Libanesen wandte sich zeitung, die ins Bild gehalten werde mit
al-Sabhan, hatte schon vor Hariris Besuch nach der offensichtlichen Entführung ihres einem Fingerzeig zum Datum – wie es sich
geraunt, es stünden „absolut erstaunliche Regierungschefs nicht gegen die Hisbollah, gehöre für ordentliche Geiselaufnahmen.
90 DER SPIEGEL 47 / 2017
Ausland

Die absurde Episode passt in gewisser 50 km festsetzen. Hisbollah will keine zweite
Weise zu diesem Land, in dem nichts zu- Tripoli
Front und außerdem Ruhe im Libanon.
sammenpasst und das trotzdem irgendwie Ruhe wollen auch die Libanesen. Selbst
funktioniert. Dennoch weckte sie Sorgen. in Tripoli, wo jahrelang geschossen wurde,
Nonstop liefen im libanesischen Rund- bleibt es ruhig. Der einzige „blast“ dieser
funk die Diskussionsrunden, sie ventilier- Tage, was sich mit Explosion übersetzen
ten die Angst vor einem erneuten Bürger- ließe, ist der „cultural blast“, das Kulturfes-
LIBANON
krieg. George, der christliche Geldwechsler Beirut tival des von ehemaligen Kontrahenten be-
aus der Nachbarschaft, erzählte von Hams- triebenen Cafés auf der einstigen Frontlinie.
terkäufen, Mohammed, ein muslimischer Vor Hariris Verschwinden, sagt eine An-
Parkplatzwächter, sprach von besorgten wohnerin, die auf ihrem Balkon früher ein

r
SYRIEN

ee
Inspektionstouren seiner Kunden, ob die Funkgerät hatte, um die Kampfansagen zu

lm
tte
Dächer ihrer Wochenendhäuser in den Ber- verfolgen und rechtzeitig in den Keller zu

Mi
gen winterfest seien. Aber, auch das sehr mehrheitlich kommen, sei der Premier bei Sunniten un-
libanesisch, nach ein paar Tagen der Ver- schiitisches Gebiet beliebt gewesen. „Aber seit die Saudis ihn
wirrung kam der nationale Schulterschluss mehrheitlich entführt haben, sind hier alle solidarisch.“
und dann der Übergang zur Tagesordnung: sunnitisches Die letzte schwere Ballerei weit und breit
Im Spinneys-Supermarkt des Christenvier- ISRAEL Gebiet habe es am Wochenende in den Bergen wei-
tels Aschrafija habe es keine Hamsterkäufe ter östlich gegeben: Pünktlich zum Ende
gegeben, sagt ein Angestellter und fügt an: er 2015 den Krieg gegen die schiitischen der Schonzeit schossen Jäger mit Schnell-
„Sie sind Journalist? Haben Sie schon un- Huthis im Jemen begonnen. Im Juni 2017 feuergewehren auf Vögel, die auf den
ser Sonderangebot an der Fischtheke ge- hat er eine Blockade des aus seiner Sicht Stromleitungen saßen, und brachten das ge-
sehen? Könnten Sie das erwähnen?“ unbotmäßigen Scheichtums Katar verkün- samte Netz des Nordlibanon zum Absturz.
Die Sorge, dass der Libanon nun vor ei- det, auch um dessen Beziehungen mit Te- Die meisten Libanesen sind zwar zu-
ner Regierungskrise steht, geht an der Rea- heran zu kappen. Nun, so das Kalkül, sollte tiefst unzufrieden damit, dass die Hisbol-
lität vorbei. Der Libanon ist gewissermaßen der jähe Rücktritt Hariris die nächste sun- lah den Staat im Würgegriff ihrer militäri-
eine Land gewordene Regierungskrise: Bis nitisch-schiitische Front eröffnen – im Li- schen Macht hat. Aber sie handelt gleich-
Ende 2016 hatte der Libanon für zweiein- banon. Lauter verwegene Anfänge, denen zeitig besonnen genug, um gemeinsam mit
halb Jahre keinen Präsidenten, weil sich die eines fehlt: ein Plan, wie sie erfolgreich zu den anderen Fraktionen das Land aus dem
Fraktionen und ihre ausländischen Schutz- Ende gebracht werden könnten. Krieg herauszuhalten, den sie als auslän-
mächte, vor allem Saudi-Arabien und Iran, Auch im Libanon hat der Fall Hariri dische Besatzungsmacht in Syrien führt.
auf keinen Kandidaten einigen konnten. nach zwei Wochen eine Eigendynamik ent- Der Rest ist zweitrangig.
Seit 2013 ist die Legislaturperiode des Par- wickelt, die nicht gut läuft für die Urheber Da gilt dieselbe Flexibilität, die auch Li-
laments abgelaufen, verlängern sich die Ab- der Krise: Ausgerechnet Hisbollah-Gene- banons Präsident Michel Aoun gezeigt hat:
geordneten immer wieder ihre Amtszeit, ralsekretär Hassan Nasrallah hat in zwei Im Bürgerkrieg erklärte der maronitisch-
da sie sich auf kein neues Wahlgesetz ver- Reden die Chance genutzt, sich staats- christliche Armeegeneral 1989 den syri-
ständigen können. Und Saad Hariri: hatte tragend zu geben. Er mahnte Hariris Rück- schen Besatzern den Krieg, verlor und floh
sich vor seiner Ernennung zum Premier jah- kehr an und äußerte mit sarkastischer nach Frankreich. Seit seiner Rückkehr aus
relang tatsächlich freiwillig aus Angst vor Milde Verständnis für Saudi-Arabien: „Wir dem Exil 2005 paktiert er mit der Hisbol-
Anschlägen im Ausland aufgehalten. sollten ihren Ärger verstehen“ angesichts lah, Assads treuestem Verbündeten, was
Der Libanon balanciert stets am Ab- all der Misserfolge im Jemen und anders- ihm 2016 schließlich den Einzug in den Prä-
grund. Das allerdings tut er trittsicher. Als wo. Aber Riad dürfe deswegen nicht den sidentenpalast sicherte.
2012 der Krieg im benachbarten Syrien ganzen Libanon bestrafen. Nach Hariris Verschwinden nun verkün-
voll entbrannte und Libanons Sunniten Und dann gibt es noch etwas, das weder dete Aoun: Nichts von dem, was der sage,
mehrheitlich gegen Syriens Diktator Ba- zur Spaltung des Libanon beiträgt noch solange er in Riad sei, dürfe man ernst neh-
schar al-Assad standen, während die schii- zur Beliebtheit Saudi-Arabiens: Das Kö- men. Ebenso wenig erkenne er dessen
tische Hisbollah ihre Kämpfer als Hilfs- nigreich möchte offenkundig Israel dazu Rücktritt an, bevor Hariri den nicht per-
truppen für Assad über die Grenze schick- bewegen, seinen nächsten Krieg gegen die sönlich einreiche. Im Libanon.
te, rechneten viele mit dem Schlimmsten: Hisbollah doch bitte schön jetzt zu begin- Das stürzt Saudi-Arabien ins Dilemma.
dass der Libanon in den Strudel des Krie- nen – ausgerechnet der jüdische Staat soll Bliebe Hariri dort, machten ihn die Liba-
ges mit hineingezogen werde. die Arbeit für das saudische Königshaus nesen zur Lichtgestalt der nationalen Ein-
Tatsächlich kam es in Tripoli, der Me- machen. Zwar wird ein solcher Krieg von heit – egal, was er sagt. Und wenn sie ihn
tropole des Nordlibanon, zwei Jahre lang vielen seit Langem erwartet. Doch diesmal wirklich, wie am Mittwoch angekündigt,
immer wieder zu Gefechten zwischen ra- wären die Folgen weit verheerender als nach Paris ausreisen lassen, könnte er
dikalen Sunniten und Assad-Anhängern, 2006, als Israel zum letzten Mal angriff. die jähe Welle der Popularität nutzen und
deren Wohnviertel sinnigerweise getrennt So sehr Israel und Hisbollah ihre Feind- womöglich gar von seinem Rücktritt zu-
werden durch die Syrien-Straße. Doch als schaft schüren: Sie in voller Wucht austra- rücktreten. Vermutlich, um dem vorzubeu-
die Kämpfe 2014 zu eskalieren drohten, gen, das wollen derzeit beide nicht. Zum gen, durfte er am Dienstag von Riad aus
schlossen Hariris sunnitischer Block und einen hat sich das Raketenarsenal der His- verkünden: Er werde bald zurückkehren,
die schiitische Hisbollah ein „Sicherheits- bollah in den vergangenen zehn Jahren aber seine Familie in Saudi-Arabien lassen,
abkommen“. Schlagartig war Ruhe. auf über 100 000 vervielfacht und könnte zu deren Sicherheit, „im Königreich des
Das führt zurück zum mysteriösen Ver- Israel allen Raketenschutzschirmen zum Guten“. Christoph Reuter
schwinden des Premiers. Mohammed bin Trotz massiv treffen. Zum anderen kon-
Salman, Saudi-Arabiens 32-jähriger Kron- zentrieren sich beide auf einen anderen Animation: Wer steckt
prinz, betreibt Außenpolitik wie unter Schauplatz: Syrien. Israel will unbedingt hinter der Hisbollah?
Strom: Um seine Entschlossenheit gegen- verhindern, dass Iran und die Hisbollah spiegel.de/sp472017libanon
über dem Erzfeind Iran zu beweisen, hat sich an der Grenze zum besetzten Golan oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 47 / 2017 91


YUI MOK / PICTURE ALLIANCE
Anti-Brexit-Sticker in London: „Wir können unsere Entscheidung jederzeit zurücknehmen“

Die Träumer
Großbritannien Brexit ist Brexit? Die Premierministerin ist so schwach, die Verhandlungen sind
so kompliziert, dass der Austritt nun leise infrage gestellt wird. Sogar bei den Konservativen.

D
ie Königliche Gesellschaft für Vo- heraufzieht. Vogelschützer, Landschafts- nisterin Theresa May und beklagten die
gelschutz in Bedfordshire ist eine pfleger, karitative Gruppen, so Clegg, sei- mangelnde Energie, mit der die Regierung
sehr britische Institution. Seit 128 en „eine gebrauchsfertige Armee“, die es auf den Brexit zusteuere.
Jahren kümmert sie sich mit Hingabe um zu nutzen gelte. May müsse alles tun, damit Großbritan-
bedrohte Arten wie die Dreizehenmöwe, Ist der Mann übergeschnappt? Im Ge- nien „bis zur nächsten Wahl ein vollstän-
den Haubentaucher oder den Waldlaub- genteil. Tatsächlich ist Clegg nur einer von dig unabhängiger Staat“ sei. Dann folgte
sänger. Nun soll die über eine Million Mit- vielen Prominenten, die daran arbeiten, eine Liste mit Forderungen, als handle es
glieder zählende Organisation auch noch einen fast unaufhaltsamen Zug noch zu sich bei den Absendern um Geiselnehmer
den Brexit stoppen. stoppen. Was vor wenigen Monaten noch und nicht um Regierungsmitglieder. Dass
Die Initiative geht auf Nick Clegg zu- undenkbar war, ist in diesen Tagen, in de- das vertrauliche Memo an die Öffentlich-
rück, einst Vizepremier, Chef der Libera- nen sich das Ringen um den Brexit auf ei- keit drang, ist vermutlich kein Zufall. Ein
len und einer der prominentesten Pro- nen Showdown zu verdichten scheint, weiterer EU-Feind, der Ukip-Politiker Ni-
Europäer im Königreich. Der 50-Jährige Wirklichkeit geworden: Im Land wird wie- gel Farage, warnte alle Pro-Europäer in
hat gerade eine 140-seitige Anleitung zum der die Möglichkeit diskutiert, den Austritt der Regierung vor „Verrat“.
zivilen Ungehorsam veröffentlicht. „How aus der Europäischen Union abzusagen. Kurz vor dem womöglich entscheiden-
To Stop Brexit“ heißt das Werk, und Noch sind es nur vereinzelte Stimmen, den EU-Gipfel Mitte Dezember sortiert
Cleggs Antwort ist eigentlich ganz einfach: aber sie kommen aus allen Parteien und sich die britische Politik mit erfreulicher
Wer den Brexit noch verhindern wolle, sol- gesellschaftlichen Gruppen. Und sie sind Klarheit. Immer seltener ist von einem
le einer großen Organisation beitreten und so gewichtig, dass die Gegenseite nervös „soften“, „harten“, „extremen“ oder auch
den anderen Mitgliedern einbläuen, dass wird. So schrieben Außenminister Boris „glorreichen“ Austritt die Rede. Die Alter-
am Horizont gerade eine menschenge- Johnson und Umweltminister Michael nativen lauten zusehends: Brexit mit allen
machte Katastrophe für Großbritannien Gove vor Kurzem besorgt an Premiermi- Konsequenzen – oder eben kein Brexit.
92 DER SPIEGEL 47 / 2017
Ausland

Beide Gruppen bringen sich in Stellung. rende Außenminister hat sich dafür ausge- wenn der Brexit bisher nur eine Übung im
Und mittendrin die angeschlagene Theresa sprochen, die EU ohne jeden Deal zu ver- Konjunktiv ist, mehren sich die Anzeichen,
May, von der niemand weiß, ob sie noch lassen, sollten die anderen Europäer nicht dass er der britischen Wirtschaft nachhaltig
die Kraft hat, ihr Land wirklich zu führen. endlich einlenken. Was für Großbritannien schaden wird. Immer ungeduldiger fordern
Dass die EU ihr nun ein Ultimatum gestellt ein Desaster wäre. Unternehmer endlich einen erkennbaren
hat, um ihr eine Austrittsrechnung von „Johnsons Ego ist so unersättlich, dass Plan bis Ende des Jahres, weil sie die Vor-
rund 60 Milliarden Euro abzupressen, er den Wagen lieber gegen die Wand fährt, bereitungen für Standortverlagerungen
macht ihre Position nicht komfortabler. als irgendwelche Kompromisse einzuge- nicht länger verschieben können. Mehrere
Unweit von Downing Street sprach Lord hen“, sagt Clegg. Deshalb sei es so wichtig, Banken haben bereits die Entscheidung
John Kerr am vergangenen Freitag vor ge- den Briten klarzumachen, dass der Brexit getroffen, zahlreiche Arbeitsplätze aus
ladenen Gästen, es wurde eine juristische noch zu stoppen sei. London abzuziehen.
Lehrstunde für die Regierung: „Wir kön- Die Zahl derer, die das ähnlich sehen, Die Brexit-Hardliner in der Regierung
nen unsere Entscheidung jederzeit zurück- wächst: Der ehemalige Premierminister aber bleiben trotzig: Das Volk habe im
nehmen“, sagte Lord Kerr da. Der 75-Jäh- Gordon Brown forderte kürzlich, spätes- Juni 2016 gesprochen, und diesen „Willen
rige muss es wissen, er war nicht nur EU- tens im Sommer müsse neu nachgedacht des Volkes“ gelte es unter allen Umstän-
Botschafter seines Landes, sondern auch werden, weil dann offensichtlich werde, den zu respektieren. Jeder Versuch, die
einer der Autoren des berüchtigten Arti- dass die Brexiteers viele ihrer Versprechen Mehrheitsentscheidung von 52 Prozent
kels 50, in dem die EU den unwahrschein- nicht halten können. Auch in Mays eigener der Wähler zu torpedieren, sei „undemo-
lichen Fall regelte, dass jemals ein Mitglied Partei wagen sich immer mehr Abgeord- kratisch“. Dem hält der Labour-Abgeord-
die Union wieder verlassen wolle. nete aus der Deckung: 15 der Rebellen bil- nete Chuka Umunna, einer der profilier-
Was diesen Artikel 50 angehe, so führe dete der „Daily Telegraph“ diese Woche testen EU-Freunde entgegen, die Briten
die Regierung das britische Volk in die Irre, wie auf einer Art „Wanted“-Plakat auf sei- seien nach Strich und Faden belogen
befand Kerr. May tue so, als habe sie den ner Titelseite ab. Die „Brexit-Meuterer“ worden. „Man kann Leuten nicht sagen,
Brexit unwiderruflich ausgelöst, als sie stand darüber. sie erhielten einen neuen Audi mit allen
Ende März die EU-Kommis- Extras, ihnen nach der Ver-
sion von ihrer Austrittsabsicht tragsunterzeichnung eine alte
unterrichtete. „Absichten kön- Rostbeule vorsetzen und
nen sich ändern“, sagte der Di- dann behaupten, Vertrag ist
plomat. Zu behaupten, es gebe Vertrag.“ Umunna ist über-
kein Zurück, sei eine „politi- zeugt: Hätten die Briten im
sche Entscheidung“. Das saß. Sommer 2016 gewusst, was
Die Hardliner in der konserva- sie heute wissen, sie hätten
tiven Partei schäumten. niemals für den Brexit ge-
Dort, so Nick Clegg, lägen stimmt.
inzwischen die Nerven blank. Umfragen in Großbritan-
Zumal kaum noch zu überbli- nien ergeben in diesen Tagen
cken sei, wie oft die regierenden ein chaotisches Bild. Einerseits
SIPA PRESS / ACTION PRESS

EU-Gegner dem Volk schon fal- ist eine wachsende Zahl der
sche Versprechungen gemacht Menschen unzufrieden damit,
haben. „Sie haben gelogen, und wie ihre Regierung die Brexit-
sie lügen einfach weiter. Fehler Aufgabe bewältigt beziehungs-
einzuräumen lässt ihre Eitelkeit weise nicht bewältigt. Ande-
einfach nicht zu.“ rerseits gibt es keine Mehrheit
Der Liberaldemokrat Clegg Pro-Europäer Clegg: „Sie lügen einfach weiter“ für ein neues Referendum.
ist notgedrungen Experte für Sollte eine neue Abstimmung
politische Fehleranalyse. 2010 führte er als Über soziale Medien wollen Aktivisten über den Brexit stattfinden, wäre der wahr-
einer der talentiertesten und beliebtesten nun eine Kampagne starten, in der sie jun- scheinliche Ausgang ein weiteres Kopf-an-
Politiker des Landes seine Partei in eine ge Briten auffordern, ihre Omas und Opas Kopf-Rennen.
Koalition mit den Konservativen – um fünf anzurufen, um sie vor den Gefahren des Unter den EU-Feinden sind inzwischen
Jahre später von den Wählern die Quittung Brexit zu warnen. Vorbild ist die Kampa- fast zwei Drittel bereit, einen „merkbaren
für seinen brutalen Sparkurs zu bekom- gne „Ring Your Granny“, mit der in Irland Schaden“ für die Wirtschaft hinzunehmen,
men. Clegg verlor den Parteivorsitz, im 2015 Stimmung für die gleichgeschlechtli- solange es nur rausgeht aus der EU. Und
vergangenen Juni flog er sogar aus dem che Ehe gemacht wurde. immerhin 20 Prozent der EU-Freunde
Parlament. Er ist nun Autor und Redner, Sie alle fühlen sich ermuntert von den würden sich auf das Chaos nach dem Bre-
strahlt beim Treffen in seinem Büro im vielen Politikern in den restlichen 27 EU- xit freuen, damit den Ausstiegsfanatikern
Südosten Londons aber wieder jenes Staaten, die den Briten die Tür offen hal- „eine Lektion erteilt wird“.
Selbstbewusstsein aus, das ihn einst nach ten. Allen voran der Präsident des Euro- Vollends verwirrend ist schließlich eine
oben brachte. In die Politik will er nicht päischen Rates, Donald Tusk. Der Pole Umfrage, der zufolge eine deutliche Mehr-
zurück, Clegg möchte seinen Einfluss nut- ließ Ende Oktober wissen, es liege „in den heit der Briten nach dem Brexit gern EU-
zen, um die aus seiner Sicht verheerendste Händen Londons, wie das alles endet – Bürger bleiben möchten – mit allen Rech-
Entscheidung der jüngeren britischen Ge- mit einem guten Deal, keinem Deal oder ten zu arbeiten und zu leben, wo sie wol-
schichte rückgängig zu machen. keinem Brexit“. Zuvor hatte er John Len- len. Irgendjemand scheint da etwas nicht
Der Brexit sei zu bedeutend, um ihn ei- non zitiert: „You may say I’m a dreamer, verstanden zu haben.
ner konservativen Partei zu überlassen, but I’m not the only one.“ Eine Frage drängt sich auf: Wenn da so
die zunehmend im Chaos versinke, sagt Für die britische Regierung und ihre viele etwas wollen, ist da auch ein Weg?
er. Und schon gar nicht dürfe man Boris Cheerleader in der Boulevardpresse sind Jörg Schindler
Johnson an die Macht lassen. Der amtie- solche Avancen gefährlich. Denn auch Mail: joerg.schindler@spiegel.de

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DER SPIEGEL 47 / 2017
SIMON PRADES / DER SPIEGEL
Ausland

Das Nutella-Kalifat
Islamischer Staat Die deutsche Aussteigerin Maryam A. berichtet über ihr bizarres
Leben bei der Terrormiliz in Syrien. Ein Vorabdruck aus dem Buch von Christoph Reuter.

Am Anfang stand die Frage: Geht das überhaupt? Kann Plötzlich ein lauter Knall. Ein zischendes Geräusch.
man einer Person, die zwei Jahre lang beim „Islamischen Wir wissen, dass in weniger als zwei Sekunden etwas ein-
Staat“ in Syrien war, den Raum geben, ihre Geschichte schlagen wird. Wir wurden entdeckt.
zu erzählen? Würde jemand, der freiwillig zu dieser

D
Terrororganisation gegangen ist, nicht sich selbst von iese Zeilen aus meiner Zeit beim „Islamischen
Schuld freischreiben oder den IS in ein milderes Licht Staat“ waren die allerersten, die ich vor einigen
rücken wollen? Monaten geschrieben habe. Sie handeln von mei-
Vieles würde sich überprüfen lassen, aber nicht alles. nen letzten Momenten beim IS, genauer: von meiner
Was das Vorhaben erleichterte, war der Umstand, dass Flucht aus dem Kalifat. Sie erzählen davon, wie ich es
es um eine Frau ging: Zwar wurden auch Frauen Teil des nach monatelangen Vorbereitungen endlich schaffte zu
Unterdrückungsapparats. Aber die meisten waren: Haus- entkommen.
frauen im Kalifat, sollten Kinder kriegen und ihrem Warum ich beim Schreiben mit meiner Flucht anfing?
Gatten ein wohliges Heim bieten. Wie auch Maryam A., Vielleicht, weil es mir am leichtesten fiel. Denn die Frage,
so ihr Pseudonym, eine konvertierte Deutsche aus Frank- warum jemand vor dem IS flieht, beantwortet sich jedem
furt am Main, die mit ihrem deutschtürkischen Mann im wie von selbst. Klar, nichts wie weg! Die viel größere
Sommer 2014 nach Syrien reiste. Frage aber lautet natürlich: Wieso bin ich zum IS gegangen?
Es folgten lange Gespräche mit Maryam A. über das Als Frau, als Deutsche, nicht verschleppt mit vorgehaltener
Erlebte und die Gründe, überhaupt zum IS zu gehen. Sie Waffe, sondern: freiwillig. Diese Frage ist nicht so leicht
sitzt derzeit immer noch im Gebiet der Rebellen fest, die zu beantworten. Vor allem ist sie: unangenehmer.
sowohl gegen den syrischen Diktator Baschar al-Assad Wo anfangen? Dass es ein Fehler war? Ja, war es, klar.
wie gegen den IS kämpfen. In monatelangen Gesprächen Aber das sagt sich ebenso rasch und erklärt doch nichts.
über die brüchigen Internetverbindungen Nordsyriens, Wo also anfangen? Dass ich als
aus Fragmenten, die Maryam A. selbst schrieb, und re- Kind sauer war auf meine zerbro-
konstruierten Chatprotokollen entstand dieses Buch, so chene Familie, keinen Bock hatte Wieso bin ich zum
offen und akribisch, wie noch keine Deutsche über ihre
Zeit beim IS gesprochen hat.
auf die Schule, irgendwann einfach
nicht mehr hingegangen bin? Dass IS gegangen? Klar,
ich auf niemanden gehört habe und es war ein Fehler.
S
eit geschlagenen zwei Stunden laufe ich über steini- fand, dass mir niemand zuhört?
ge Äcker. Vor mir der Schmuggler und zwei weitere Dass ich gekifft und in den Tag hi- Aber es gibt keine
Männer. Neben mir zwei Frauen.
Ich male mir aus, was passiert, wenn plötzlich eine
nein gelebt habe, aber dann einen
Menschen traf, der mich verstand, einfache Antwort.
Gruppe IS-Kämpfer auf uns aufmerksam wird. im richtigen Moment da war? Dass
Das wäre das Todesurteil für unseren Schmuggler, bei dieser Mensch Muslim war und mich neugierig machte auf
dessen Familie ich die letzten fünf Tage versteckt leben den Glauben?
musste. In Gedanken versunken sehe ich, wie Abdullah, So ist mein Leben verlaufen, bis ich 19 war und zum
unser Schmuggler, die Hand hebt, um uns zu sagen, Islam konvertierte. Eine Entscheidung, die ich für mich
dass wir stehen bleiben sollen. Sofort gehen alle in die getroffen habe, als Lebensinhalt, nicht, um irgendwohin
Hocke. zu gehen und Bomben zu werfen.
Nachdem sich mein Atem beruhigt hat, höre ich, wieso Wo soll ich weitermachen? Dass ich mich dann verliebte
wir nun auf dem Feld hocken. Das Knacken und Rau- in einen Mann, dessen türkische Mutter mich hasste? Dass
schen eines Funkgerätes. Dazu mehrere Männerstimmen. wir als Paar keine Jobs hatten, kein Geld, keine Wohnung?
Ein Wachposten des IS. Ganz in unserer Nähe. Dass wir empört waren über die Gleichgültigkeit in
Kurz darauf nähert sich auf der Landstraße hinter uns Deutschland gegenüber dem Grauen in Syrien? Und dass
ein Auto. Neben mir legt sich eine der Frauen ganz flach er dann an die falschen Leute geriet, die ihm versprachen,
auf den Boden. Es ist eine warme Augustnacht. Man uns den richtigen Weg zu weisen? Dass ich schließlich
hört immer mal wieder das Bellen der vielen Straßen- mitging aus Angst, ihn sonst zu verlieren?
hunde. Vor uns sieht man die türkische Grenze. Hell be- Ich kann die Frage „Warum bist du zum IS gegangen?“
leuchtet. nicht einfach beantworten. Es gab eine ganze Reihe
Ich denke an die Tage in der Türkei, bevor ich nach von Schritten, Entscheidungen in meinem Leben, durch
Syrien kam. Auf der türkischen Autobahn, 100 Kilometer die ich erst in die Lage gekommen bin, diesen letzten
vor Gaziantep, stand „Aleppo“ auf den Schildern. Das Schritt zu tun. Das entschuldigt nichts. Aber vielleicht
war endgültig der Moment, in dem ich mir das erste Mal erklärt es ein wenig, warum diese letzte Entscheidung
in meinem Leben gewünscht habe, dass mich die Polizei für die Reise nach Syrien nicht Ergebnis eines kometen-
anhält, einbuchtet und zurück nach Deutschland ab- haften Sinneswandels war, keine plötzliche Eingebung,
schiebt. Doch das ist nicht passiert. Und nun ist dieser ab heute alle Ungläubigen abknallen zu wollen, nein.
Wunsch mehr als zwei Jahre her. Sondern, warum es sich damals anfühlte wie bloß ein

DER SPIEGEL 47 / 2017 95


Ausland

weiterer Schritt in die falsche Richtung, als alles sowieso kischen Kleinstadt. Theoretisch so nah – aber eben so gut
beschissen war. wie unmöglich, ohne Hilfe wieder dorthin zurückzukom-
men. Zwei Wochen hier haben mir klargemacht, dass ich

W
enige Tage nach unserer Ankunft in der Stadt nicht den Rest meines Lebens beim IS verbringen will.
Ra’ei an der syrisch-türkischen Grenze ruft Abu Das Haus liegt gegenüber vom Marktplatz, was mir in die-
Bakr al-Baghdadi von der Nuri-Moschee in Mo- sen ersten, ansonsten ruhigen Tagen leider einen Panorama-
sul das „Kalifat“ aus. Ich erfahre das von einer deutschen blick auf das absolute Grauen beschert. Zumindest vom Dach
Bekannten über WhatsApp, denn hier wird es zwar von aus kann ich die 14 oder 15 Leichen syrischer Rebellen sehen,
den Moscheen verkündet, aber wir sprechen ja kein Ara- die zur Abschreckung von der Front hierhergebracht und
bisch. Alle freuen sich. Dafür sind sie ja hergekommen, einfach auf dem Marktplatz abgeladen wurden. Im Hoch-
um endlich im Land der Muslime leben zu können, nicht sommer. Einmal bin ich aus Versehen an denen vorbeigelau-
mehr terrorisiert zu werden von den Ungläubigen, zumin- fen, jetzt in den kommenden Tagen meide ich diesen Weg.
dest glauben sie das. Oder sie sind gekommen, weil sie in Ein paar Tage später sehe ich zufällig von einem Fenster
Deutschland keinen Platz für sich fanden, das glaube ich aus, wie IS-Männer sie abtransportieren, einfach auf einen
eher. Aber was die Ausrufung des „Kalifats“ nun konkret Pick-up werfen. Da ragen die Beine raus. Einer hat Ten-
bedeutet und inwiefern sich etwas für mich verändert, nissocken an, ein anderer noch seine Schuhe. Ich stehe
weiß ich nicht. Ich denke nur: „Echt? Krass!“ Und mache da am Fenster und denke mir: Wie grauenvoll! Die haben
mir vorerst keine weiteren Gedanken darüber. doch auch Verwandte, Freunde, Kinder. Man hätte sie we-
In den nächsten Tagen sollen noch Familien aus Offen- nigstens sofort begraben können. Ich sehe das und versu-
bach eintreffen, zwei Deutschafghanen und deren Ehe- che gleich, es wieder zu verdrängen.
frauen. Und alle werden sie erst einmal hier wohnen. Mit

V
mir, denn mein Mann muss sofort am nächsten Tag ins on meinem Mann gibt es weiterhin keine Nach-
militärische Ausbildungslager, das Muaskar. Schon früh richt, auch nach zwei Wochen nicht. Aber wenigs-
am Morgen muss er los und kann nicht sagen, wie lange tens hat sich spannender Besuch in unserer Frau-
die Ausbildung dauern wird, irgendetwas zwischen zwei en-WG angekündigt. Waliullah und Halima kenne ich nun
Wochen und zwei Monaten. Na prima. Wir wissen nicht schon, aber die anderen beiden bislang nur vom Hörensa-
einmal, ob wir zwischendurch Kontakt haben werden. gen: Natali, eine selbstbewusste, etwas vorlaute Deutsch-
Telefonieren oder SMS schreiben dürfen die Männer wäh- russin aus Trier, hier nun „Umm Ousama“ genannt, und
rend der Ausbildung überhaupt nicht. ihren Mann Hassan alias „Abu Ousama“, einen Pakistaner
Abends auf dem Dach sehe ich, wie nah die türkische aus Offenbach, den ich oft nur „Fußfessel“ genannt habe.
Grenze ist. Am Übergang blinkt und leuchtet es, man sieht Denn er ist trotz elektronischer Weglaufsperre ausgereist.
in der Ferne sogar die Lichter von Kilis, der nächsten tür- Ein paar Tage später treffen die beiden zerstrittenen
Frauen in der Moschee aufeinander: Natali, die Deutsch-
russin, und Halima. Nun keift die eine die andere an, wieso
sie denn ständig über ihren Mann rede und ob sie vielleicht
auf den stehe. Daraufhin bekommt sie die erste Ohrfeige
und schlägt umgehend zurück. In der Moschee. Im Rama-
dan. Im Krieg. Halima ruft gleich ihren Mann Waliullah
an und erzählt ihm das brühwarm, woraufhin er zur Mo-
schee fährt, dort herumschreit und anfängt zu schießen.
Natali ist abgehauen nach Hause, vor ihrer Tür stehen
die Männer und streiten. Waliullah ist stinksauer, dass Na-
tali seine Frau geschlagen hat, kann aber nicht ganz leug-
nen, dass die Ohrfeige irgendwie berechtigt war. Ich kann
alles mithören, weil Natali mich anruft, Waliullah stehe
vor ihrer Tür und brülle die ganze Nachbarschaft zusam-
men. Ra’ei hat ein neues Stadtgespräch.
Einige Tage später müssen die Streitparteien zum Ge-
richt nach al-Bab und erzählen, was los war. Wer sie ge-
meldet hat, haben wir nie erfahren. Aber da wir das Ge-
fühl haben, dass hier sowieso jeder jeden überwacht, wun-
dert es uns nicht, dass irgendjemand geplaudert hat. Dort,
vor dem Gerichtsgebäude, wird dann auch noch Natalis
Kalaschnikow aus dem offenen Auto geklaut.
Die Richter stellen beide Frauen vor die Wahl: Entweder
verzeihen sie sich gegenseitig, oder die eine bekommt
Peitschenhiebe, weil sie die andere als Schlampe tituliert
hat. Die beiden entscheiden sich dazu, einander zu ver-
SIMON PRADES / DER SPIEGEL

zeihen. Aber in der deutschen Community sind die Fron-


ten nun verhärtet.

E
rst Ende August höre ich wieder von meinem Mann.
Er meldet sich plötzlich, er sei nun fertig mit der
Ausbildung. Er klingt ziemlich desillusioniert. Sein
Emir wollte ihn gern in Jarablus behalten, aber dort gibt
es keine freien Wohnungen. Nach einigem Verhandeln ist

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SIMON PRADES / DER SPIEGEL
es ihm gelungen, mit einem anderen Kämpfer zu tauschen, habe ich mehrere Minuten lang ein Piepen im Ohr. Ganz
der aus Ra’ei nach Jarablus will. Aber auch hier in Ra’ei so laut hatte ich mir das nicht vorgestellt. Außerdem wiegt
werden wir nicht so schnell eine eigene Wohnung bekom- das Ding vier Kilo. Aber ich will hier nicht weg, ohne die-
men, sondern nur einen Platz auf der Warteliste. Ra’ei ist sen blöden Kanister wenigstens einmal getroffen zu haben.
beliebt, hier gibt es 24 Stunden am Tag Strom und das Irgendwann klappt das auch, ist aber nicht halb so einfach,
recht gute Handynetz aus der Türkei. Es ist das Rhein- wie es in den Propagandavideos immer aussieht.
Main-Gebiet des IS, so nennen es viele. Sieben oder acht

I
deutsche Familien kenne ich alleine, es dürften noch mehr ch bin nun beim IS, wenn auch nicht ganz freiwillig,
gewesen sein. Und das in einem kleinen Kaff. wie ich finde. Aber ist das hier mein Krieg? Ich denke,
Als mein Mann endlich wiederkommt, hat er mehrere ehrlich gesagt, zu diesem Zeitpunkt darüber kaum
Kilo abgenommen. Er wirkt verbittert darüber, wie die nach. Alles ist neu. Ich versuche, mich einzugewöhnen,
Leute im Muaskar miteinander umgegangen seien. Ewig bin verwundert, wütend über das manchmal unmögliche
habe es Streit gegeben, seien ihnen die gelieferten Essens- Benehmen der anderen Ausländer, erschöpft von den Pro-
rationen nicht ausgehändigt worden. Sie mussten sich zu blemen mit Dingen, die in Deutschland so selbstverständ-
fünft eine Dose Thunfisch teilen, wurden wie Dreck be- lich waren: Strom, Wasser, Telefon. Andere Dinge werden
handelt. Man sei doch hergekommen, um den Menschen mir selbstverständlich, von denen ich zuvor nie gehört
zu helfen, sagt er. Und dann nur Streit. Aber er sieht nicht hatte: etwa der Ribat, was auf Deutsch so viel wie „Posten“
das Ganze als Fehler, sondern findet, dass nur die falschen bedeutet. Für alle Männer beim IS, die bei den kämpfen-
Leute auf verantwortlichen Positionen sitzen. den Einheiten sind, ist der Ribat so etwas wie ihre Dienst-
Er ist sauer auf mich, er hat gehört, dass ich zweimal stelle. Meist ein Haus, in dem ein knappes Dutzend von
für Stunden das Haus verlassen habe in den vergangenen ihnen lebt, Wache schiebt, jederzeit an die Front geschickt
Wochen – einmal zum Fastenbrechen und einmal zur Mo- werden kann. Wenn man nicht gerade frei hat. Dann gibt
schee. Es gibt da keine ganz klaren Vorschriften, was eine es das Muaskar, das militärische Ausbildungslager, das
Ehefrau zu tun hat, wenn ihr Mann im Einsatz ist. Aber alle Neuankömmlinge durchlaufen müssen. Und für jeden
ohne seinen Mann das Haus verlassen, das tue man einfach Lebensbereich gibt es im Kalifat ein Maktab, ein Büro:
nicht, meint er. für die Wohnungszuteilung, für die Witwenversorgung,
In was für einem Kindergarten bin ich hier bloß gelan- für die Lohnauszahlung und so fort. Arabisch sprechen
det, was haben die mit ihm gemacht? Immerhin bringt er die allermeisten der Deutschen hier auch nach längerer
Burger mit aus dem Mexicano-Imbiss in al-Bab. Der Laden Zeit nicht, aber diese Begriffe gehen über in unser Kali-
ist vor allem unter den Ausländern sehr beliebt. Es gibt fatsdeutsch.
Burger und sogar Chicken Crispy. Ich liebe die. War einer der Männer mal ein paar Tage zu Hause,
Der Abend seiner Rückkehr endet früh, denn morgen wurde von den Frauen gleich über ihn hergezogen: Wie,
soll ich schießen lernen. Ich will zwar nicht bei diesem der schon wieder zu Hause? Der hatte doch gerade erst
Patrouillendienst der IS-Frauen mitmachen, aber mich im freie Tage. Dann wurde hinterhergeschnüffelt, ob er auch
Notfall trotzdem verteidigen können. Am nächsten Tag zu den fünf Pflichtgebeten in die Moschee geht.
stehe ich also mit einer Kalaschnikow am Berg und versu- Und dann der ewige Neid: Wer hat welches Haus be-
che, einen leeren Ölkanister zu treffen. Nach jedem Schuss kommen, wer hat welche Möbel? Mein Mann und ich sind

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Ausland

D
uns einig, dass wir mit so etwas nicht gerechnet hatten. er Hype um deutsche Produkte, den es unter den
Wir hatten uns ausgemalt, in Höhlen zu wohnen und ver- Deutschen in Syrien gab, war ein bisschen pein-
schimmeltes Brot essen zu müssen oder von morgens bis lich. Gut, ich habe mir eine marokkanische Ge-
abends unter Beschuss zu liegen. Aber hier ist kein Be- würzmischung aus Deutschland schicken lassen. Die hätte
schuss nötig, die Kleinkriege liefern wir uns untereinander. ich mir auch hier zusammenstellen können. Aber wofür
Das macht sehr, sehr müde. Ich habe schon nach kurzer geht man ins Kalifat, wenn man dann dort doch nur deut-
Zeit überhaupt keine Lust mehr auf die Gesellschaft der sches Shampoo will? Abgesehen von Schokolade, nach
anderen Ausgereisten. der wir – zugegeben – alle verrückt waren. Selbst im Som-
mer, wenn die Aufbrechenden meinten, das ist doch be-

I
n Ra’ei, wo wir für mehr als ein Jahr bleiben werden, scheuert, Schokolade einzupacken, die schmilzt doch so-
teilt sich mein Dasein nach einer Weile regelrecht in fort. Egal, ich friere die ein, aber bringt sie mit!
zwei Parallelwelten: das Leben im Haus, die wenigen Die Aufrufe an jene, die aus Deutschland demnächst
Treffen mit Nachbarn – und meine virtuelle Realität in Te- kommen wollten, klangen verzweifelter, als die Lage wirk-
legram- und WhatsApp-Gruppen, wo wir Frauen aus ver- lich war. Es hieß immer: Bringt dies mit, bringt das mit,
schiedenen Orten Syriens, dem Irak, aber auch aus Deutsch- hier gibt es nichts, nicht mal Shampoo. Dabei gab es das
land und Österreich uns manchmal stundenlang aufhalten. meiste auch hier. Darunter auch, sehr wichtig: Nutella.
Viele aus diesen Onlinegruppen werde ich nur virtuell Nutella und andere Dinge gab es in den sogenannten
kennenlernen. Es wird in den Gesprächen die meiste Zeit Muhajirin-Läden, die waren nur für Ausländer. Also, ein-
um dieselben Dinge gehen, über die wir auch sonst reden: kaufen durfte da jeder, aber den Syrern war es dort zu
Wo bekomme ich dies her, woher jenes, wer kennt die deut- teuer. Da gab es diese kleinen Kinderschokoladenriegel,
sche Hebamme in Manbij, wer vier Stück für 500 Suri, wie wir zu den syrischen Lira sag-
kann mich dahin mitnehmen, ten. Je nach den chaotischen Kursschwankungen waren
Die versklavten woher bekommt man gute Ba- das ein, zwei Euro. Diese Läden waren ein Paradies. Man
Jesidinnen wurden bykleidung, Wanderschuhe oder
Peelings? Einmal gibt es einen
bekam da Sahne, Danone-Puddings aus Europa, Kuchen-
backmischungen, Shampoos. Einmal haben wir sogar Raf-
vergewaltigt, Streit in der WhatsApp-Gruppe, faellos dort entdeckt, diese Kokos-Pralinen.
ob man verhüten dürfe oder Vor allem die Saudis sind gern in diesen Intershops für
verkauft und zum nicht, was die Gelehrten dazu Dschihadisten einkaufen gegangen. Die meisten fuhren
Putzen verliehen. sagen. Die meisten Frauen aus
unserer Gruppe meinen: Nee,
auch teure Geländewagen. Die hatten oft hohe Positionen,
sodass sie sich solche Sachen leisten konnten. Oder sie
darf man nicht! hatten von zu Hause Geld oder beides.
Wenn irgendjemand auf die Idee gekommen wäre, Kritik

E
zu äußern, wären wir auf einem gefährlichen Grat geschlin- s ist stockfinstere Nacht. Abdullah, der Schmuggler,
gert. Zu sagen „Es ist gegen die Menschenwürde, Frauen geht voran, kennt jeden Flecken hier, während wir
als Sklavinnen zu halten“ hätte jede von uns ganz schnell anderen versuchen, so viel wie möglich von unse-
in den Knast bringen können. Das wäre ja Widerspruch rem Vordermann zu erkennen, nicht zu stolpern oder ge-
zum IS, Widerspruch gegen den Islam und damit Leugnung gen einen Baum oder Busch zu rennen.
des Glaubens gewesen. Als Mann ist man bei solchen Vor- Es ist die Nacht meiner Flucht. Während ich in den
würfen schnell tot gewesen. Wir alle hatten Schiss. Nachthimmel schaue, der mit Sternen übersät ist, frage
Es war so kaputt: Da wurden die Mädchen, also die Je- ich mich unwillkürlich, ob mein Mann wohl gerade schläft
sidinnen, der Reihe nach vergewaltigt. Man konnte sie oder wach ist, um die freiwilligen Gebete vor dem Mor-
kaufen, weiterverkaufen und zum Putzen verleihen. Alles gengrauen zu verrichten. Wieder diese Stiche im Magen,
normal. Aber gleichzeitig waren zig Regeln erlassen wor- dieses Schuldgefühl. Aber nun gibt es kein Zurück mehr.
den, dass man ihnen Kleidung, Essen etc. stellen müsse. Ich sollte glücklich oder wenigstens hoffnungsvoll sein.
Die Frauen aus Europa waren fast alle total abge- Aber ich bin es nicht. Obwohl ich ein Jahr lang auf diesen
schreckt davon. Die Frauen aus der Region weniger. Aber Tag gewartet habe, bricht gerade meine Welt zusammen.
selbst solche, die nichts gegen ihre Sklavin zum Putzen Ich habe ausgerechnet den Menschen verraten, für den
hatten, wollten absolut nicht, dass ihr Mann auch eine ich mich überhaupt erst in diesen Albtraum begeben habe.
Sklavin hatte, mit der er dann ins Bett gehen dürfte. Ich habe meine Tasche vollgepackt und die Kat-
Ob die Frauen es ernsthaft glaubten oder es nur zen in den Wäschekorb gesteckt. Ohne die beiden
vorschoben, aber oft kam bei diesem Thema der wollte ich nicht fliehen.
Einwand: Bei Sklavinnen könne man sich ja was Gegen zehn Uhr morgens komme ich in der klei-
holen. Ansteckende Krankheiten. nen Stadt an, die ich eigentlich nur passieren wollte
Es gab im Netz auch Verkaufsplattformen für al- auf dem Weg in die Türkei. Ihr Name soll hier un-
les Mögliche, so etwas wie Markt.de auf WhatsApp genannt bleiben. Denn die Kleinstadt nördlich von
im Kalifat. Da wurden Autos gehandelt oder Waf- Aleppo entpuppt sich als vorläufige Endstation mei-
fen: „Tausche Kalaschnikow gegen Glock-Pistole“. nes Weges, in der ich auch fast anderthalb Jahre
Von so einer Marktgruppe schickte eine der Frau- nach meiner Flucht vom IS noch festsitze, nicht zu-
en einmal einen Screenshot und schrieb: „Wir woll- Christoph rückwill und nicht weiterkann.
ten uns eigentlich ein Auto anschauen und haben Reuter Was mich sehr zermürbt, ist die Ungewissheit
dies hier gefunden.“ Eine Sklavin im Angebot, mit Maryam A.: über das Schicksal meines Mannes. Ich weiß, dass
Mein Leben im
Bild und Detailbeschreibung. Daneben stand das Kalifat er aus dem Gefängnis wieder entlassen wurde, wir
Alter, welche Sprachen sie spricht und ob sie Kinder Eine IS-Aussteigerin konnten ein paarmal über WhatsApp Nachrichten
hat. Einige fanden das amüsant. Aber das waren erzählt. SPIEGEL- austauschen. Ist er wütend auf mich? Ja, das ist er,
die Momente, in denen ich mich gefragt habe: Wo Buch; 256 Seiten; aber tief drinnen weiß er auch, dass es zu Ende geht
bist du hier gelandet? 18 Euro. mit dem IS.

98 DER SPIEGEL 47 / 2017


Sport
Siege Ewige Tabelle der Fußballweltmeisterschaften nach der Drei-Punkte-Regel*
*Drei Punkte pro Sieg, ein Punkt pro Remis.
70

66

45

42
Unentschieden

29
20
17

21

14

12
Niederlagen
Punkte

21
227 218

20
156 140 99

18
17
17

Brasilien WM-Titel Deutschland Italien Argentinien Spanien


26

28

27

20

16
20

12

12

12

13
98 96 93 72 61
19

19

17
16

11
England Frankreich Niederlande Uruguay Schweden

Fußball-WM für das Turnier 2018 in Russ- kationsspiele aber wenig Russland geschafft. Bei
land qualifiziert. Von den erfreulich verlaufen. China einem glücklichen Verlauf
Zwei stolpern Topnationen werden nur die und die USA, zwei Länder könnte Deutschland im
Acht der zehn erfolgreichs- Niederlande und Italien mit großem wirtschaftlichem kommenden Jahr den ersten
ten Fußballnationen der fehlen. Für die Funktionäre Entwicklungspotenzial, ha- Platz der ewigen WM-
WM-Geschichte haben sich der Fifa sind die Qualifi- ben es ebenfalls nicht nach Rangliste übernehmen.
GUNNAR KNECHTEL / LAIF

Magische Momente
„Wow!! Das wird heftig“
Der Extremsurfer Sebastian Steudtner, 32, über einen Rekord-Ritt auf einer Atlantikwelle

SPIEGEL: Am 11. Dezember beim Surfen in hohen Wel- es nur darum, die besten los, fuhr den Wellenhang
2014 gelang Ihnen ein spekta- len auseinander. Ich habe Wellen zu erwischen. hinab. Aber schon nach we-
kulärer Ritt auf einer Riesen- Sicherheitssysteme mitent- SPIEGEL: Wussten Sie, dass nigen Sekunden wollte ich
welle im portugiesischen Big- wickelt, die helfen, schlim- der Brecher, mit dem Sie spä- abbrechen und wieder oben
Wave-Revier Nazaré. Sie wur- me Unfälle zu vermeiden. ter den Award gewannen, ein aus der Wand herausfahren.
den dafür mit einem Preis Ich bin keineswegs respekt- besonderes Exemplar war? SPIEGEL: Warum?
ausgezeichnet. Woher wuss- los, ich weiß, dass die Steudtner: Wir wussten, dass Steudtner: Mein Brett lief un-
ten Sie, dass an jenem Tag Welle mächtiger ist, dass ich da was Großes kommt. Als ruhig, es war kaum zu kon-
der Rekordbrecher heranrollt? nicht alles beherrschen sich die Welle aufbäumte, trollieren. Aber ich konnte
Steudtner: Wir hatten die kann. Aber wenn ich auf dachte ich: Wow!! Das wird nicht mehr aussteigen, ich
Wetterkarten studiert und ge- dem Wasser bin, dann denke heftig. Der Jetski zog mich war zu schnell, die Wasser-
sehen, dass eine besonders ich nicht daran, was alles in die richtige Position vor wand war zu steil. Ich raste
hohe Dünung auf Portugal passieren könnte, dann geht der Welle, ich ließ die Leine einfach irgendwie weiter ge-
zurollt. Auch aus Kalifornien, radeaus, wobei ich mehrfach
aus Hawaii, Brasilien, Frank- fast gestürzt wäre.
reich und England waren SPIEGEL: Wie hoch war die
Surfer angereist. Alle waren Welle?
vor Sonnenaufgang auf den Steudtner: Nach der Auswer-
Beinen. Um zehn Uhr melde- tung des Foto- und Filmmate-
te mir unser Spotter, ein rials wurde sie mit 71 Fuß,
Mann, der oben auf den fast 22 Meter, angegeben.
Klippen nach den höchsten SPIEGEL: Ein sechsstöckiges
Wellen Ausschau hält, dass Haus.
die ersten großen Brecher Steudtner: Der Witz ist, dass
eingetroffen waren. Das war ich an dem Tag eine noch hö-
ULLSTEIN BILD

der Startschuss. here erwischt hatte, aber die


SPIEGEL: Hatten Sie Angst? Aufnahmen waren nicht gut
Steudtner: Ich setze mich seit genug, sodass der Versuch
Jahren mit den Gefahren Steudtner 2015 in Nazaré nicht in die Wertung kam. gp

DER SPIEGEL 47 / 2017 99


Rauchender Protest
Fußball Die Fans in den Kurven der Stadien fühlen sich verkauft und kriminalisiert, die
Stimmung kippt. Hilflos versucht der DFB, zwischen den Fronten zu vermitteln.

D
as Spiel ist noch nicht ganz drei Koch ist eigentlich gekommen, um die nas U-20-Nationalmannschaft im Duell mit
Minuten alt, da sitzt Rainer Koch Wogen zu glätten, den Dialog aufzuneh- deutschen Regionalligisten.
eingenebelt auf der Haupttribüne men: zwischen den hartgesottenen Fans, Sie fühlen sich verkauft, verfolgt, krimi-
des Magdeburger Stadions. „Tolle Fußball- Randalierern und Pyrofreunden auf der nalisiert. Sie schimpfen deshalb auf die
atmosphäre. Genau das, was wir wollen“, einen Seite und dem DFB und den Mana- „Fußball-Mafia DFB“ und deren Helfer in
hat er gerade noch gesagt und durchs wei- gern, die Fußball als Geschäft betrachten, der Polizei, in der Politik und bei der
te Rund geschaut. Jetzt nimmt der Vize- auf der anderen Seite. „Bild“-Zeitung.
präsident des Deutschen Fußball-Bundes In den vergangenen Monaten waren Rainer Koch soll es nun richten, er reist
(DFB) die Brille ab und reibt sich mit die beiden Welten wie niemals zuvor an- durch die Stadien, fotografiert die Protest-
beiden Händen die Augen. Er atmet einandergeraten. Das Fernsehen hatte banner. Er ist unterwegs für den neuen
schwer. brennende Fahnen und Spruchbänder mit Weg des DFB. Mitte August hatte DFB-Prä-
Links die Heimfans, rechts die Ros- Hass in den Stadien gezeigt, Pfeiftiraden sident Reinhard Grindel einen Kurswechsel
tocker, knapp 21 000, ein aufregendes Ost- waren zu hören, sobald ein Funktionär zu verkündet, die Kollektivstrafen für Fans
derby in der dritten Liga. Dann explodiert sehen war. erst einmal außer Kraft gesetzt, mit denen
im Rauch ein Böller, es gibt einen ohren- Das Fußballgeschäft boomt. Nie mach- seit Jahren Ausschreitungen und das Abfa-
betäubenden Knall. Der Magdeburger Fan- ten die Vereine mehr Umsatz, verdienten ckeln von Bengalos und Rauchtöpfen, die
block ist eine feuerrote Wand, erzeugt die Spieler besser, drängte das große Geld Pyroaktionen, geahndet wurden. Es war
durch 50 Bengalos. Der Schiedsrichter un- aggressiver in die Bundesliga. Doch in den eine der wichtigsten Forderungen der Fans
terbricht das Spiel, er hat keine andere Stadien rumort es. an die Fußballbosse.
Wahl: Man sieht nichts mehr. Die Ultras, die lärmende Gruppierung Koch versteht nicht, warum es überhaupt
Nach einigen Minuten ist der Rauch ver- meist jugendlicher Fans, brüllen ihren Är- diesen Kampf der Kulturen im Stadion gibt.
zogen, es geht weiter, Koch hat seine Brille ger über den „scheiß DFB“ heraus. Sie Warum ihm so viel Hass entgegenschlägt.
wieder aufgesetzt; über die tolle Stimmung schreiben „Krieg dem DFB“ und „Fick Die Eintrittspreise? Im Vergleich zur eng-
möchte er nun nichts mehr sagen. Der 58- dich, DFB“ auf ihre Plakate. Damit pro- lischen Liga sehr niedrig. Stehplätze? Gibt
Jährige, im Hauptberuf Strafrichter, redet testieren sie gegen vieles: die Kommerzia- es, „und das wollen wir auch so“. Helene
jetzt über Gesetze, die Polizei, die Gefahr lisierung des Sports, die Aufsplittung der Fischer beim DFB-Pokalfinale? Na ja, sagt
von Pyrotechnik. Er sagt: „Das hier ent- Anstoßzeiten, Kollektivstrafen, das Verbot Koch, das würde man so nicht mehr ma-
spricht natürlich nicht den Regularien.“ von Pyrotechnik. Sie wollen weder Helene chen: „Das war eine Fehleinschätzung.“
Man dürfe nicht zulassen, dass Stadien zu Fischer in der Halbzeitpause des DFB- Auf seinem Smartphone ruft Koch die
rechtsfreien Räumen werden. Pokal-Endspiels in Berlin sehen noch Chi- Umfrage eines Uniprofessors auf. Sie hat
ergeben, dass die Mehrheit der Fans mit
dem Fußball in seiner heutigen Form zu-
frieden ist. Dass die meisten der Meinung
sind, die Ultras nähmen sich zu wichtig.
Aber was sagen solche Umfragen schon
aus? Das Showpublikum ist längst in der
Mehrheit, der Stehplatzfan fühlt sich ab-
gedrängt.
Jan Orth ist Richter am Landgericht
Köln. Der Herausgeber der „Zeitschrift für
Sport und Recht“ beobachtet seit Jahren
den Umgang der Vereine und Verbände
mit den Zuschauern, er befürchtet, dass
die Leidenschaft für den Fußball verloren
geht. „Rauft euch zusammen, Männer“,
fordert er deshalb die Parteien auf, der
„anachronistisch-autoritäre Geltungsan-
spruch“ der Funktionäre habe ebenso aus-
gedient wie das Gehabe der Ultras, dass
„nur sie allein ,die Guten‘ im Fußball-
geschäft sind“.
ODD ANDERSEN / AFP

Wenn es doch so einfach wäre. Der Gra-


ben ist mittlerweile so tief, dass der Kon-
flikt mit Appellen allein nicht mehr zu be-
frieden ist. Der Fußball „bastelt sich sein
Showstar Fischer im Mai beim Pokalfinale: „Das war eine Fehleinschätzung“ neues Publikum“, sagt der TV-Kommen-
tator Marcel Reif. Und in diesem „Raub-
100 DER SPIEGEL 47 / 2017
Sport

JAN HUEBNER / IMAGO SPORT


Ultras von Dynamo Dresden im Mai in Karlsruhe: „Zeichen der Abwehrhaltung“

tierkapitalismus“ habe der traditionelle her Fußball schauen“, sagt Koller, „so ist So unterschiedlich die Gruppen aber
Fan keinen Platz mehr. „Es tut natürlich es gewollt.“ auch sind, sie eint der Hass auf den DFB –
weh, wenn sich die ganz große Liebe als In diese Strategie passen die Kurvenste- und die Ablehnung von Polizei und Justiz.
geldgeile Prostituierte entpuppt hat“, und her nur noch als Stimmungsmacher fürs Und die Wut auf die „Bild“-Zeitung. Vor
das löse eine „üble Eskalation der Worte“ Stadion. Wer sich nicht benimmt, wird be- einer reißerischen Serie über den „Brenn-
aus. kämpft. Manche Vereine würden sich am punkt Stadion“ hatte deren Chefredakteur
Auf einem großen Plakat beschimpften liebsten ganz von diesen Leuten trennen. im August angekündigt, künftig „Gewalt-
Kölner Fans Anfang November den Hof- Dabei sind die Ultras so heterogen wie täter in den Kurven klar identifizierbar in
fenheim-Mäzen Dietmar Hopp, 77, als die gesamte Gesellschaft. Es gibt linke und ,Bild‘ zeigen“ zu wollen.
Sohn einer Hure und eines Nazis. Der An- rechte Ultras, sozial engagierte und solche, Dabei sind die Instrumente der staat-
walt des SAP-Gründers forderte daraufhin, die sich nur dem Fußball verschrieben haben. lichen Sicherheitskräfte auch ohne die
Spiele abzusagen oder abzubrechen, so- Untereinander beharken sich manche, ande- Fahndungshilfe der „Bild“ bereits beacht-
fern sich Schmähungen dieser Art auf den re Gruppen sind miteinander befreundet. lich: Kameraüberwachung, Platzverweise,
Rängen wiederholten. Wegen der Beleidi- Und natürlich gibt es die wirklich ge- Empfehlung von Stadionverboten, Gefähr-
gung stellte er zudem Strafanzeige. waltaffinen und nationalistischen Hooli- deransprache vor den Spielen, Speiche-
Doch wer nach dem Staat fragt, sobald gans. Sie stellen aber schon lange nicht rung von Personendaten.
es im Stadion laut und schmutzig wird, ver- mehr den Fußball in den Mittelpunkt, son- Die Polizei darf Fans sogar präventiv
gisst die Geschichte dieses Sports. „Bis vor dern haben sich wie die „Boyz“ aus Köln in Gewahrsam nehmen, falls sie davon aus-
20, 30 Jahren war Fußball in Deutschland oder die „Desperados“ aus Dortmund ab- geht, dass Fans in der Gruppe Straftaten
ein klassisches Vergnügen für Männer“, gekapselt. Auch die selbst ernannten Krie- begehen wollen. So geschehen im No-
sagt der Zürcher Historiker Christian Kol- ger von Dynamo Dresden, die im Mai in vember 2016, als die Polizei in Hildesheim
ler, der zur Kultur- und Sozialgeschichte Karlsruhe wie eine Armeeeinheit das Wild- 170 Hannover-Anhänger auf einem Park-
des Fußballs forscht. parkstadion enterten, gelten als nationa- platz stoppte. Alles rechtens, urteilte
Erst in den vergangenen Jahren habe listisch-rechts. jüngst das Verwaltungsgericht Hannover.
sich Fußball zu einer Eventsportart ent- Selbst die Gebührenbescheide für einige
wickelt. Mit dem Ausbau der Sitzplätze Fans über jeweils 95 Euro (45 Euro für
und dem Anheben der Preise würden die Kameraüberwachung, Transportkosten, 50 Euro für die Unter-
Vereine eine gezielte Strategie verfolgen: bringung über zwei Tage) seien nicht zu
Man möchte ein Publikum wie in den US- Platzverweise, Daten- beanstanden.
Profiligen haben. „Der Fußball ist heute speicherung – die Instru- Solche Urteile steigern den Hass ebenso
sozial viel heterogener, die ganze Familie wie Polizeiaktionen, etwa beim Nordderby
soll im Stadion und jeden Tag am Fernse-
mente sind beachtlich. Ende September. 170 Werder-Bremen-Ul-
DER SPIEGEL 47 / 2017 101
tras fuhren in eigenen Autos nach Ham- Extreme Fans urteil. Die Rechtsauffassung der Vorsitzen-
burg. Diese Art der Anreise galt der Polizei in den drei höchsten deutschen Fußballligen, den lässt die betroffenen Ultras einlenken.
als gezielte Provokation. Sie stellte die Ul- Saison 2016/17 Nach Rücksprache mit ihrem Anwalt ak-
tras mit gezogener Waffe an ihrem Treff- zeptieren sie den Vorschlag des Gerichts,
punkt auf einem Hamburger Parkplatz. die MPU zu absolvieren. Die Alternative,
Die Personenkontrollen zogen sich bis vor die nächsthöhere Instanz zu ziehen,
nach Spielschluss hin. Bilanz dieser Kon- 843 können sie sich nicht leisten. Einigen ist
trolle: ein Messer, ein Pfefferspray, drei auch die MPU zu teuer, sie kostet mehrere
Sturmhauben, fünf Schlauchschals und Hundert Euro. Am Ende verlieren alle vier
zwei Mundschutze. 1306 ihren Führerschein.
Andreas Ruch, Kriminologe an der Uni- insgesamt Auch wegen der Pyrotechnik entsteht
versität Bochum, forscht zum Verhältnis 3643 immer wieder Streit zwischen den Fans
von Fußballfans und Polizei. Er fand he- und ihren Gegnern. Ausgerechnet vor
raus, dass die meisten Straftaten von Fans einem vereinbarten Termin zum Dialog
jugendtypische Bagatelldelikte wie Ver- zum zwischen Ultras und Funktionären forder-
stöße gegen das Betäubungsmittelgesetz Vergleich 2013/14: te der Präsident des sächsischen Fußball-
oder Schwarzfahren sind. Hinzu kämen 3300 verbandes Geldstrafen in Höhe von meh-
Hausfriedensbruch oder Verstöße gegen 1494 Anstieg gegenüber reren Tausend Euro für das Abbrennen
das Sprengstoffgesetz (Pyrotechnik). Auch 2013/14: der Fackeln.
Körperverletzungen gebe es, meist bedingt + 10,4 % Einige Vereinsvertreter sehen das Pro-
durch die aufgeheizte Stimmung, den Al- blem inzwischen differenzierter. Für viele
koholkonsum und die Rivalität von Fan- Fans sei die Lichtshow „etwas Ästheti-
gruppen. Schwere Straftaten seien die ab- Verletzte Personen sches“, sagt Axel Hellmann, Vorstand der
solute Ausnahme. an den Standorten der drei höchsten Fußballligen Eintracht Frankfurt AG, sie sei aber auch
Tatsächlich ist die Gefahr, im Stadion ein „Ausdruck der Abwehrhaltung, des
1588 davon durch Pyrotechnik
verletzt zu werden, nicht gestiegen, wie Protestes“. Pyrotechnik sei damit ein Teil
die Zahlen der Zentralen Informationsstel- der Jugendkultur, auf die man anders rea-
le Sporteinsätze zeigen (siehe Grafik). 1204 1265 1226 gieren müsse als auf normale Gewalt.
Pro Wochenende kommen rund 350 000 In der vergangenen Woche trafen sich
Menschen zu den Bundesligaspielen, viele die für Sport zuständigen Minister der Län-
164 170 65 52
davon sind jung, männlich, einige ange- der, sie zeigten sich besorgt über die „zu-
trunken. An einem normalen Spieltag im nehmende Gewalt im Fußball“, Pyro sei
vergangenen Jahr verhängte die Polizei ge- 2013/14 2014/15 2015/16 2016/17 aus den Stadien zu verdammen. Für eine
gen 156 Personen freiheitsentziehende Quelle: Zentrale Informationsstelle Sporteinsätze Freigabe „besteht aus meiner Sicht über-
Maßnahmen und stellte 53 Strafanzeigen. haupt kein Spielraum“, sagte Herbert Reul
Zum Vergleich: An einem Kiezwochen- Im Januar erhielten 4 der 15 Ultras die (CDU).
ende kurz zuvor kamen rund 50 000 Men- Ankündigung, ihnen werde der Führer- Doch so einheitlich, wie die Innenmi-
schen auf Sankt Paulis Reeperbahn. Die schein entzogen, nur eine MPU könne dies nister sich nach außen geben, sind sie
Polizei nahm dabei 5 Personen in Gewahr- verhindern. Gegen diese Bescheide klag- nicht. Boris Pistorius (SPD), Innenminister
sam und stellte 19 Strafanzeigen. ten die 4 Betroffenen vor dem Verwal- in Niedersachsen, sieht die Lage kritisch.
Das Fußballstadion ist kein gefährlicher tungsgericht Düsseldorf. Die Vereine seien dafür verantwortlich,
Ort. Aber die Regelverstöße geschehen im Die Vorsitzende der Kammer macht dass Pyros nicht ins Stadion gelangen. Die-
Blickfeld der TV-Kameras und gelangen klar, welcher Rechtsauffassung sie sei. Es ses Problem bekämen sie aber nicht unter
so in die Wohnzimmer der Republik – des- lägen ausreichend Straftaten mit Ansatz- Kontrolle. Er hatte deshalb im August vor-
halb der Ehrgeiz, jeglichen Krawall zu un- punkten für hohes Aggressionspotenzial geschlagen, Pyro freizugeben unter Auf-
terdrücken. Und die Anstrengung, poten- vor. lagen, in „bestimmten Bereichen“. Die
zielle Krawallmacher zu bekämpfen. So führt die Richterin etwa an, dass ei- Idee dahinter: Ließe sich dadurch das un-
Ende Juni vor dem Verwaltungsgericht ner der Ultras einen Duisburger Fan mit kontrollierte Abbrennen von Feuerwerks-
Düsseldorf: Drei junge Männer stehen rau- der Faust geschlagen habe, als dieser sich körpern in Menschenmengen reduzieren
chend vor dem Eingang. Keiner passt hier im Oberhausener Fanblock aufhielt. Dafür oder vermeiden, stiege die Sicherheit.
so richtig hin. Während elegante Frauen wurde der RWO-Ultra zu 40 Tagessätzen In der Halbzeitpause des Ostderbys in
auf dem Weg zur Kö an ihnen vorbeistö- à 15 Euro verurteilt. Als vorbestraft gilt er Magdeburg sitzt DFB-Vize Koch in der
ckeln, drehen sich die Ultras von Rot-Weiß damit nicht. Dies ist erst der Fall, wenn Loge des Präsidenten Peter Fechner. Er
Oberhausen in Jeans und T-Shirt nervös die Strafe 90 Tagessätze übersteigt. Seine hört, wie Fechner die Pyroshow kurz nach
Zigaretten. Sie werden begleitet von ihrem Mitstreiter sind ebenfalls nicht vorbestraft. dem Anpfiff rechtfertigt. „Das war Pyro
Rechtsanwalt und den Mitarbeitern des Einer der Fans legt dem SPIEGEL ein er- zur Untermalung einer Choreografie, das
Oberhausener Fanprojekts. An diesem Tag weitertes Führungszeugnis vor, in dem kei- war keine Aggression“, sagt der Magde-
trifft die 14. Kammer des Gerichts eine ne Eintragungen vermerkt sind. burg-Boss, „wir wissen doch alle, dass das
Entscheidung, die wegweisend für alle Sta- Es reiche aus, wenn durch die Polizei Pyroverbot nicht eingehalten wird.“ Man
dionkurven im Land sein wird. hinreichend konkrete Ansatzpunkte für könne es auch nicht verhindern: „Es hat
Anfang 2016 hatte die Stadt Oberhausen hohe Aggressivität vorlägen, meint die schon falsche Schwangere gegeben, die
bei 15 RWO-Ultras eine Medizinisch-Psy- Richterin. Dafür brauche es kein Gerichts- heimlich Bengalos ins Stadion geschmug-
chologische Untersuchung (MPU) angeord- gelt haben.“
net. Es folgten Einsprüche der Betroffenen Video: Koch isst seine Bockwurst und schweigt.
gegen diesen sogenannten Idiotentest, Die Wut-Fans Mehr kann er hier in Magdeburg nicht tun.
auch der Verein positionierte sich damals spiegel.de/sp472017dfb Jesko zu Dohna, Udo Ludwig, Thilo Neumann,
gegen diese Bestrafung. oder in der App DER SPIEGEL Thorsten Poppe, Tim Röhn

102 DER SPIEGEL 47 / 2017


Sport

Bis heute ist offen, was das alles sollte. Deutschland. Nur um die Höhe sei ge-

Halbgott am Beweise liefert Tognoni nicht, aber auch


für ihn ist die plausibelste Erklärung, dass
die Millionenüberweisung nach Katar mit
feilscht worden, doch wie Tognoni bestä-
tigte: Im Mai 2002 war die Sache durch,
der Vertrag über 250 Millionen unterschrie-

Fifa-Himmel der WM-Vergabe zwei Jahre vorher zu-


sammenhing. Mit möglichen Dankeschön-
Zahlungen an Wahlmänner.
ben. Die Überweisungen nach Katar be-
gannen drei Wochen nach der Zusage.
Deshalb hatte es im Sommermärchen-Rät-
Sommermärchen In der Affäre Die Stimmung in Deutschland sei da- sel auch eine andere Erklärung gegeben: Das
mals so gewesen, dass in der Begeisterung Geld, das ab dem 24. Mai nach Katar floss,
um die WM 2006 in Deutschland für die WM „kein großes Unrechtsbewusst- habe mit dem Zuschuss nichts zu tun gehabt,
gibt es ein Lebenszeichen sein“ geherrscht habe. Man habe „mit Mil- sondern mit der Wiederwahl von Blatter
lionen jonglieren“ können und „alles für zum Fifa-Präsidenten am 28. Mai 2002 in Se-
von der Schlüsselfigur in Katar. machbar“ gehalten, sagte Tognoni. Klar oul. Blatter-Unterstützer Bin Hammam habe
sei, dass man eine WM damals „nicht ein- mit den Beckenbauer-Millionen Wahlkampf

A
m 28. September, morgens um fach so“ bekommen habe, und er wisse, gemacht. Auch diese Theorie weist Tognoni
10 Uhr, erscheint der Zeuge Togno- dass Deutschland dafür „alles getan“ habe. zurück: Er halte es „für sehr unwahrschein-
ni, Guido, Alter 67, Nationalität Das sei nicht „ohne Gefälligkeiten“ gegan- lich“, dass die Zahlung etwas mit der Wahl
Schweizer, bei der Bundesanwaltschaft in gen; „alles andere zu glauben wäre naiv“. zu tun habe; Blatters Chancen auf eine wei-
Bern. Tognoni soll erzählen, was er über Aus anderen Theorien lässt Tognoni da- tere Amtszeit hätten ohnehin gut gestanden.
das Sommermärchen weiß, das mysteriöse gegen Luft heraus. Etwa aus der Zuschuss- Und was sagt nun Mohamed Bin Ham-
Millionengeschiebe rund um die deutsche version, von der Beckenbauer erzählt. Er mam zu allem? Tognoni, der lange in Katar
Fußball-WM 2006. Und noch bevor er behauptete, dass er die zehn Millionen lebte, überraschte die Ermittler damit, dass
beginnt, können sich die Ermittler in ei- Franken an Bin Hammam habe zahlen er etwa einmal im Monat mit dem Mann
nem Punkt recht sicher sein: Kurz wird müssen. Sonst hätte die Fifa den Deut- telefoniert, der für die Fahnder immer noch
diese Vernehmung bestimmt nicht, dafür schen einen WM-Zuschuss verweigert. der große Unbekannte ist. Nicht antastbar.
aber kurzweilig. Tognoni, früher mal Tognoni widerspricht: Es sei klar gewesen, Abgeschirmt in seinem Heimatland. „Bin
Pressechef der Fifa, redet nämlich gern dass es einen Zuschuss gebe, er könne sich Hammam ist in Katar in Bezug auf den
und viel. „nicht vorstellen“, dass der damalige Fifa- Fußball völlig aus dem Verkehr gezogen,
Fünfeinhalb Stunden später wissen die Chef Joseph Blatter „ernsthaft mit dem er ist eine Unperson“, klärte Tognoni die
Schweizer Fahnder, die in der Affäre er- Gedanken spielte“, den Zuschuss „zu ver- Vernehmer auf. Offenbar hat der Emir von
mitteln, zwar immer noch nicht, was wirk- weigern“. Schließlich habe kein Land ein Katar kein Interesse, dass sein Landsmann
lich mit den 6,7 Millionen Euro passiert so gutes Verhältnis zur Fifa gehabt wie über alte Zeiten spricht. Bin Hammam kön-
ist, die rund um die deutsche WM in ne nicht frei reden, auch nicht am Te-
dunklen Kanälen versickert sind. lefon, lässt Tognoni wissen, aber eines
Aber auch Tognoni hält den Kauf von wolle der Mann den Ermittlern hier-
Stimmen, damit Deutschland die mit ausrichten: dass beim deutschen
WM bekommt, für die einleuchtends- Sommermärchen „alles ganz anders
te Erklärung. Und eine Überraschung war, als alle denken“.
hat er noch parat. Erst kürzlich hat Aber wie? Das habe der Katarer
er mit der Schlüsselfigur der Affäre leider nicht gesagt, und er, Tognoni,
gesprochen, die alle Rätsel lösen habe den Eindruck, „dass wir das
könnte: Mohamed Bin Hammam. Bei nicht erfahren“. Bin Hammam verra-
dem Fußballfunktionär aus Katar wa- te niemanden. Eines schloss Tognoni
ren die 6,7 Millionen zunächst gelan- in seiner Vernehmung aus – dass Bin
det. Warum? Für die Ermittler ist Bin Hammam das Geld selbst behalten
Hammam bisher nicht zu greifen, habe. Der Katarer sei reich und groß-
eine Sphinx; Tognoni immerhin hat zügig, ein Geber, kein Nehmer. Das
die Sphinx zum Reden gebracht. Geld habe er deshalb sicher weiter-
Es ging in der Vernehmung um die geleitet, aber er sei zu loyal, um zu
bis heute ungeklärte Geschichte: Im sagen, an wen es ging.
Jahr 2000 erhielt Deutschland den Nach einem möglichen Empfänger
Zuschlag für die WM. Zwei Jahre spä- will Tognoni sogar ausdrücklich ge-
ter gingen 10 Millionen Franken – 6,7 fragt haben: Scheich Saleh Kamel, ein
Millionen Euro – auf verschlungenen Fernsehtycoon aus Saudi-Arabien
Wegen an eine Firma von Bin Ham- und Freund von Bin Hammam. To-
mam, damals ein „Halbgott am Fuß- gnoni erzählte den Ermittlern, dass
ballhimmel“, wie Tognoni sagte, ein Kamel der Fifa 2002 mal finanziell
Mann, der in den Grauzonen der Fifa aus einer Klemme geholfen, aber sein
Dinge möglich machte. Geld nicht zurückbekommen habe.
Sicher ist: Hinter den Millionen, Zahlten also die Deutschen für die
ACHIM SCHEIDEMANN / DPA

die bei Bin Hammam landeten, steck- Fifa zurück? Nein, definitiv nicht,
te der Chef des deutschen Organisa- habe Bin Hammam am Telefon ge-
tionskomitees, Franz Beckenbauer. sagt, an Kamel sei nichts gegangen.
Allerdings hatte er nicht sein eigenes Die Sphinx hatte geredet. Aufge-
Geld nach Katar geschickt. Er hatte klärt hat sie nichts.
es sich geliehen, vom früheren Adi- Rafael Buschmann, Jürgen Dahlkamp,
das-Chef Robert Louis-Dreyfus. Deutsche Nationalspieler 2006: „Mit Millionen jongliert“ Gunther Latsch, Jörg Schmitt

DER SPIEGEL 47 / 2017 103


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Sport

Verhagelter Sommer
WM-Qualifikation Wie Italien unter den Folgen des Ausscheidens leidet

A
m Tag nach der Pleite sind in Mailand National- gerät verfolgen. „Das Rendezvous mit der eigenen Ju-
trikots bereits für sechs Euro zu haben: azurblaue gend“, wie ein Kommentator es nennt, fällt für Millionen
Leibchen, schmal geschnitten, mit vier Sternen auf fußballverrückter Italiener in dem Jahr aus.
der Brust – pro Weltmeistertitel ein Stern. Die Folgen reichen weit über das Spielfeld hinaus. Fuß-
La maglia azzurra, das Trikot der italienischen Fußball- ball ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich Ita-
mannschaft, ist Stoff gewordenes Sinnbild für den Stolz liener in Nord wie Süd einigen können. Entsprechend
einer Nation. Nun will es keiner mehr. Schuld daran ist schwer tragen die Azzurri auf dem Spielfeld seit je an die-
die „Apokalypse“, der „Tod in San Siro“, das 0:0 am Mon- ser Last – sie verkörpern eine „Nationalmannschaft ohne
tag gegen Schweden. Das Aus. Nation“, so der Anthropologe Marino Niola. Italien sei
Kein Wort ist der italienischen Presse zu groß, kein Ver- ein „launisches Vaterland“, das Volk schwanke zwischen
gleich zu gewagt, wenn es darum geht, die Schlappe in euphorischen Schüben und „sich selbst verneinendem Zy-
Hin- und Rückspiel gegen die eher grobschlächtig den Ball nismus“. Italienisch fühlt man sich bevorzugt im Fall des
traktierenden Nordmänner zu beschreiben: das Ausschei- Erfolgs. Im Alltag ist man Piemontese oder Lombarde.
den im Qualifikationsduell für die Fußball-WM 2018. Wie Beziehungsweise: Fan von Juve oder AC Milan.
einst das 52 000-Tonnen-Schiff „Titanic“, so bilanziert die Das Klischee vom filigranen, lebenslustigen, im Ernstfall
„Gazzetta dello Sport“, sei nun auch der azurblaue Fuß- aber laschen Italiener: Auf die Fußball-Nationalspieler traf
balltanker untergegangen – mutwillig es nie zu. Wenn es drauf ankam, war
versenkt von einer verweichlichten und auf sie immer Verlass, auf die humor-
hochmütigen Besatzung. losen, bissigen Azzurri. Die dazugehö-
Dass 2018 ohne die Azzurri um den rige Leidensgeschichte der Deutschen
Titel gekämpft werden wird, hat eine ist lang: 3:4 nach Verlängerung in der
weitreichende Bedeutung für die Be- Hitzeschlacht von Mexiko-Stadt 1970;
wohner des Fußballlandes Italien: Es ein 1:3 im WM-Finale 1982; das 0:2 nach
drohen 32 entsetzlich lange Sommer- Verlängerung im Dortmunder Halb-
tage mit TV-Bildern aus Russland. Die finale 2006.
Italiener werden nur als Zaungäste da- Deutschland-Fahnen mit der Auf-
MARKUS ULMER / IMAGO SPORT

bei sein. Sie haben keinen Zutritt. schrift „Kaputt“ wurden in Rom an
Auch für Nichtitaliener ist die Sache großen Tagen wie diesen geschwenkt.
traurig: Erstmals seit 1958 wird es bei Fußball war immer auch Aufputsch-
der WM keine Modellathleten-Körper mittel in Zeiten von Wirtschafts- und
in hautengem Azurblau zu bewundern Regierungskrisen. Kaum aber sind sie
geben – und kein „Siam’ pronti alla eingebrochen, Italiens „verwöhnte
morte“ zu hören, kein „Bereit zum Nationalspieler Italiens nach dem Aus Riesenbabys“, wie es nun heißt, ist es
Tod“ mit der Hand auf dem Herzen wieder da, das tief im Unterbewusst-
bei der Mameli-Hymne. Kein großes Kino mit italienischen sein verankerte Trauma: dass die Italiener kein Volk sind,
Haudegen in der Hauptrolle, die in die Schulter gebissen das entscheidende Schlachten gewinnt. Die als historisch
werden (wie Chiellini, 2014), sich mitten im Spiel drama- verbuchten Siege von Solferino, Königgrätz und Sedan
tisch die Gesichtsmaske vom Kopf reißen (Abwehrchef im 19. Jahrhundert waren in Wahrheit der militärischen
Bonucci gegen Schweden) oder nach dem Schlusspfiff in Überlegenheit französischer und preußischer Verbündeter
Tränen ausbrechen (Torwartlegende Buffon). zu verdanken.
Hohn und Spott erntet nun allen voran Gian Piero Ven- Grabesstimmung nun, allenthalben. Verflogen sei die
tura. Der am Mittwoch beurlaubte Nationaltrainer, 69 Jahre Hoffnung, „wenigstens im Fußball noch etwas zu zählen“,
alt und zur Strafe neuerdings „Gian Zero“ gerufen – frei schrieb der Mailänder „Corriere della Sera“, dessen Ei-
übersetzt: Hanswurst und Nullnummer –, muss persönlich gentümer ihre Aktien an der Börse zwischenzeitlich um
dafür haften, dass seinen 60 Millionen Landsleuten zwi- fast neun Prozent abstürzen sahen. Die Fachpresse pro-
schen Triest und Trapani bereits jetzt, im November, der phezeit fürs kommende Jahr einen drastisch verminderten
bevorstehende Sommer verhagelt ist. Die linksliberale „Re- Absatz an Fernsehgeräten, Grillware und Fanartikeln. Ein
pubblica“ schäumt, außer dem betagten Trainer könne Signal zur Unzeit, wo sich die Wirtschaft doch nach langen
sich wohl kaum jemand an eine vergleichbare Katastrophe dürren Jahren eben erst zu erholen beginnt.
erinnern: „Generationen von Italienern wussten gar nicht Dem regierenden Sozialdemokraten Paolo Gentiloni
mehr, was ein WM-Sommer ohne WM bedeutet; da musste kommt die schwarze Nacht von Mailand doppelt ungelegen.
schon Gian Zero kommen, um es uns beizubringen – ein Im Frühjahr stehen Neuwahlen an, und schon jetzt liegt in
apokalyptischer Reiter.“ den Umfragen das Lager des ewig untoten Ex-Premiers Sil-
Alle zwölf Jahre stand Italien mit schöner Regelmäßig- vio Berlusconi in Front vor der Protestpartei des Komikers
keit im WM-Finale. 1970 mit Sandro Mazzola, 1982 mit Beppe Grillo. Sollten nun auch noch Millionen enttäuschter
Paolo Rossi, 1994 mit Roberto Baggio, 2006 mit Gigi Buf- Tifosi ihren Zorn mit in die Wahlkabine nehmen? Dann
fon. Und jetzt, 2018? Wird man das Turnier am Fernseh- droht Italien ein denkwürdiger Sommer. Walter Mayr

106 DER SPIEGEL 47 / 2017


Soziale Medien?

Große Geschichten stehen im


Das Reporter-Magazin
Labyrinth am
Höhlengrund
Ein Taucher erkundet eine mit
Süßwasser gefüllte Karsthöhle.
Als Eingang dient ihm eine Öffnung,
die beim Einsturz der Höhlendecke
entstanden ist. Cenotes heißen
solche Kalksteinlöcher. Auf der
Halbinsel Yucatán befinden sich
die längsten Unterwasserhöhlen-
systeme der Welt.

Einwurf

Schlaugestanden!
Warum es sich bei geistigen Tätigkeiten lohnt, aufrecht zu arbeiten
Stehpulte haben schon viele Büroangestellte von ihren körper- henden Denker weniger Geisteskraft zur Verfügung stehen als
lichen Leiden erlöst. Ständiges Sitzen macht den Bauch dick, dem sitzenden. Diese Annahme hat sich in den Experimenten
es verspannt den Nacken und biegt den Rücken krumm. Ar- der israelischen Forscher nicht bestätigt – im Gegenteil. In ei-
beiten in aufrechter Haltung dagegen hilft der Gesundheit auf nem Test zur Farb-Wort-Interferenz sollten Studenten die Far-
und verringert so die Zahl der Krankentage. be, in der Worte geschrieben waren, benennen und nicht die
Doch das Stehen tut nicht nur dem Körper gut, sondern es Worte selbst lesen. Wenn etwa das Wort „grün“ in blauer Tin-
schärft offenbar sogar den Geist. Im Stehen können Testper- te auftauchte, sollten sie blau sagen. Und das gelang den Pro-
sonen sich besser auf mentale Aufgaben konzentrieren als im banden im Stehen deutlich schneller als im Sitzen.
Sitzen, wie der israelische Forscher Yaniv Mama gemeinsam Wie kann das sein? Forscher Mama vermutet, dass das Ste-
mit zwei Kollegen im Fachblatt „Psychological Science“ be- hen das Gehirn unter einen milden Stress setzt – und dieser
richtet. Die Studie wird helfen, das Stehen neu zu bewerten – zwinge es zu mehr Aufmerksamkeit und damit zu einer besse-
und diese Haltung im Alltag häufiger einzunehmen. ren Kognition. Die Ergebnisse geben jenen Schulen in Finn-
Bisher vermuteten viele Mediziner, dass es sich genau an- land recht, wo der Unterricht bereits im Stehen stattfindet.
dersherum verhält. Im Stehen müsse das Gehirn den Körper Und auch bei Koalitionsverhandlungen sollten sich Politiker
ständig vor dem Umkippen bewahren und dazu unablässig aus den Sesseln bequemen, um schneller zu Ergebnissen zu
verschiedenste Muskeln ansteuern. Deshalb würden dem ste- gelangen. Jörg Blech

108 DER SPIEGEL 47 / 2017 Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Wissenschaft+Technik
Erfindungen wollen. Das neuartige Ma- wiederum zu einem Tuch
terial besteht aus Bornitrid verwoben. Im Vergleich zu
Coole Klamotten und Polyvinylalkohol und Baumwolle oder sonstigen
Je stärker sich die Erde er- wurde von den Forschern Kunstfasern leitet es die
wärmt, desto häufiger laufen mit einem 3-D-Drucker als Wärme etwa doppelt so gut
die Klimaanlagen. Deren Faden ausgedruckt, den sie von der Haut weg. ble
energieverschlingender Be-
trieb wiederum erhöht den
Ausstoß von Treibhausgasen kühlende
– und das heizt die Erde Gewebefaser
noch stärker an. Einen Aus-
weg aus dieser Spirale
beschreiben Forscher der
University of Maryland im
Fachblatt „ACS Nano“:
Sie haben einen Stoff ent-
wickelt, aus dem sie kühlen- Wärmeabstrahlung
der Haut
de Anziehsachen herstellen

Ernährung Zahl bestimmter Laktobazil- Deutschland übliche Salz-


„Nützliche Darmbak- len im Darm sank, die Zahl konsum hat womöglich schon
der Immunzellen stieg ebenso nützliche Darmbakterien
terien vertrieben“ wie der Blutdruck. vertrieben und zu einer Ver-
Jeder Deutsche nimmt täglich SPIEGEL: Werden Bluthoch- armung der Mikrobiota bei-
rund neun Gramm Salz zu sich – druckpatienten bald mit einem getragen, was wiederum das
was macht das mit den im Heilmittel aus nützlichen Auftreten von Erkrankungen
Darm siedelnden Mikroorganis- Darmbakterien behandelt? begünstigen könnte. Ich per-
men? Eine Gruppe um den Wilck: Die Wirkung eines sol- sönlich meide Tiefkühlpizzen
Arzt Nicola Wilck, 38, vom Max- chen Mittels würde verpuffen, und andere vorgefertigten
Delbrück-Centrum für Moleku- solange der Salzkonsum zu Nahrungsmittel, weil sie voller
lare Medizin in Berlin präsentiert hoch bleibt. Viel leichter ist es, Salz sind, und esse fast aus-
in „Nature“ eine beunruhigende weniger Salz zu essen. Der in schließlich Selbstgekochtes. ble
TOM ST GEORGE / CATERS / BULLS

Antwort.

SPIEGEL: Sie haben Mäusen


zwei Wochen lang ein sehr
salzhaltiges Futter verabreicht.
Wie haben deren Darmbakte-
rien das vertragen?
Wilck: Bestimmte Laktobazil-
len verschwanden fast völlig –
und zwar ausgerechnet solche,
Fußnote die im Körper die Zahl be-
stimmter Immunzellen regu-

68 Prozent
der Menschen, die beim
lieren. Ohne diese Kontrolle
könnten sich die Immunzellen
zu stark vermehren und über
entzündliche Prozesse Blut-
Sex infolge eines Kreis- gefäße versteifen und damit
laufstillstands gestorben Bluthochdruck bewirken. An-
sind, hatten keine Erste schließend verabreichten wir
Hilfe erhalten. Ihre Part- den Mäusen die guten Lakto-
ner ließen sie sterben, bazillen mit dem Futter – und
ohne auch nur den Ver- tatsächlich normalisierte sich
such einer Wiederbele- der Blutdruck wieder.
bung zu starten. Fast alle SPIEGEL: Gilt das auch für den
Todesopfer beim Liebes- Menschen?
spiel waren Männer. Die Wilck: Ja, das haben entspre-
im „Journal of the Ameri- chende Tests gezeigt. Gesunde
DIRK KRUELL / LAIF

can College of Cardiology“ Probanden nahmen zwei Wo-


veröffentlichten Ergeb- chen lang eine Nahrung mit
nisse sollen aufklären, einer Tagesdosis von zwölf
wie wichtig Reanimation Gramm Salz zu sich – und wir
ist – auch beim Sex. sahen das gleiche Bild: Die Salzabbau in Bernburg (Saale)

DER SPIEGEL 47 / 2017 109


Wissenschaft

DOMINIC BRACCO II / DER SPIEGEL


Requiem für die Vaquita
Artenschutz Weniger als 30 Kalifornische Schweinswale leben noch auf der Erde.
In Mexiko ist eine dramatische Rettungsaktion jetzt gescheitert – vermutlich
das Todesurteil für die Art. Was bedeutet das für den Erhalt anderer bedrohter Tiere?

D
er Gipsdelfin auf dem Steg sieht santen Niedergang einer Tierart, von der sterben bedrohte Arten zu retten, genauso
mitgenommen aus. Die Farbe ist es höchstens noch 30 Individuen gibt – und selten sind wie die Tiere selbst.
abgeblättert. Eine der Flossen wird für das Scheitern einer der spektakulärsten „Wir wussten immer, wie riskant unser
von Klebeband gehalten. Mund und Au- Artenrettungsaktionen der Geschichte. Vorhaben ist“, sagt Lorenzo Rojas Bracho,
gen sind schwarz umrandet. Es wirkt, als In den vergangenen Wochen haben sich Forscher des mexikanischen Nationalinsti-
würde der Meeressäuger lächeln. 65 Experten aus aller Welt in San Felipe tuts für Ökologie und Klimawandel, der
Doch Freude mag hier nicht aufkom- bemüht, den Kalifornischen Schweinswal das Vaquita-Projekt mit anführt. „Aber
men, im mexikanischen San Felipe am in die Zukunft zu retten. Ihr Ziel war es, wir waren uns sicher, dass die Tiere ohne
nördlichen Golf von Kalifornien. Das Tier- möglichst viele der Vaquitas einzufangen, unser Tun verschwinden würden.“
modell gehört zur Ausrüstung des Projekts um die Art vor dem fast sicheren Ausster- Kritik dagegen übt Paul Watson, Grün-
VaquitaCPR. Vaquita (auf Deutsch: kleine ben zu bewahren. der der Organisation Sea Shepherd Con-
Kuh) heißt der am stärksten bedrohte Wal Mehr als fünf Millionen Dollar hat die servation Society. Er nennt die Vaquita-
der Erde, auch Kalifornischer Schweinswal Aktion gekostet. Die Bemühungen waren Fangaktion einen „törichten Plan“, der
genannt. Und CPR steht für „Conserva- jedoch umsonst. Keine einzige Vaquita lebt von Anfang an zum Scheitern verurteilt
tion, Protection and Recovery“ (Erhaltung, jetzt in Gefangenschaft. Eines der Tiere ist gewesen sei. Das Projekt habe die Mini-
Schutz und Erholung), im Englischen auch in der Obhut der Forscher gestorben. Und population der Tiere so sehr gestresst, dass
für eine Wiederbelebung nach einem ein eingefangenes Jungtier geriet in Lebens- es „sogar zum möglichen Aussterben der
Kreislaufstillstand. gefahr – es wurde wieder freigelassen. Vaquitas beigetragen“ habe.
Die Doppeldeutigkeit ist gewollt. Denn Am Ende steht die Einsicht, dass der Zwei Wochen vor dem harten Urteil ist
es geht um Hilfe in höchster Not. Mensch nicht immer richten kann, was er die Hoffnung noch groß. Silbrig glitzert
Das lädierte Vaquita-Modell am Hafen zuvor leichtfertig zerstört hat; und dass der tiefblaue Golf von Kalifornien unter
von San Felipe ist ein Symbol für den ra- schlüssige Konzepte, um akut vom Aus- der Wüstensonne. Eine leichte Dünung
110 DER SPIEGEL 47 / 2017
USA Los Angeles USA
Ausschnitt

MEXIKO
MEXIKO

Golfo de
DOMINIC BRACCO II / DER SPIEGEL

Santa Clara
50 km

Puerto
Peñasco
Vaquita-
Schutz-
San gebiet*
Felipe

Verbreitungsgebiet
der Vaquita
(Kalifornischer Schweinswal)

Verbotszone für
Kiemennetzfischerei
Baja
California
FLIP NICKLIN

*Forschungszone, jegliche Fischerei verboten


Quelle: CIRVA

Netzgehege vor San Felipe, Schweinswal-Suchteam auf der Cortés-See, im Fischernetz ertrunkene Vaquita
„Vergleichbar mit dem Drogenhandel“

wiegt die „Maria Cleofas“ sanft hin und scher lediglich 30 Vaquitas. Inzwischen Kaum hundert Kilometer die Küste hi-
her. Der ehemalige Fischtrawler ist das dürften es noch weniger sein, sagt Taylor. nauf nach Norden strömte hier einst der
Hauptschiff des VaquitaCPR-Teams. Ganz Die Ursache des Sterbens ist unstrittig: Colorado ins Meer. Heute wird dem Fluss
oben auf der „Flybridge“ über der Brücke Die Vaquitas verfangen sich in den Kiemen- schon weit stromaufwärts das Wasser ab-
blicken fünf Forscher durch Fernrohre kon- netzen von Fischern und ertrinken. Zwar gegraben. Doch sein über Jahrtausende ab-
zentriert hinaus auf die fast windstille See. sind solche Netze im Vaquita-Verbreitungs- gelagerter Schlamm bedeckt immer noch
„Dort!“, ruft einer der Experten plötz- gebiet seit 2015 verboten. Gestoppt hat das meterdick den Grund. Von heftigen Gezei-
lich. „56 Grad rechts, 200 Meter vor dem den Niedergang allerdings nicht. tenströmen aufgewirbelt, speist er eines
Boot.“ Auch Barbara Taylors Blick huscht Der Grund: Ein ganz besonderer Fang der produktivsten Meeresgebiete der Erde.
suchend über die Wellen. Tatsächlich: Eine verbirgt sich im nördlichen Golf von Kali- Das Wasser ist milchig trüb und reich
schmale Rückenfinne durchbricht die fornien. In dem Meeresgebiet laicht die an Nährstoffen, hervorragende Lebens-
kaum gekräuselte Wasseroberfläche. Totoaba, ein Fisch von ungeheurem Wert. bedingungen für die Vaquita. Aber auch
„Wir haben einen!“, ruft Taylor, Chefin Bis zu 100 000 US-Dollar kann ein Kilo- für die Totoaba ist das Gebiet ideal. Die
des Vaquita-Suchteams, und greift zum gramm getrocknete Totoaba-Schwimmbla- Fische sammeln sich hier von Dezember
Funkgerät. Einer Feldherrin gleich befeh- se auf den Schwarzmärkten Chinas wert bis März zur Fortpflanzung.
ligt sie alsbald die Flotte kleinerer Fang- sein. Die Chinesen schätzen das lappige Dann ist Totoaba-Hauptsaison. Rund
schiffe, die in der Nähe gewartet haben. Organ als angebliches Heilmittel, etwa ge- 900 illegale Fischerboote sind in der Zeit
„Wanderlust“, „Odyssea“, „Defender“ – gen Blutungen und zur Hautverbesserung. vor allem im Schutz der Dunkelheit im
vorsichtig versuchen die Boote, das Tier Seit 1975 ist die Jagd auf Totoabas ver- Einsatz, schätzt Rojas. Jedes der sieben
einzukreisen. Es herrscht große Anspan- boten, weil die Fischerei das Tier an den Meter langen, offenen Boote, Pangas ge-
nung. Seit Tagen hofft Taylor, Biologin der Rand des Aussterbens brachte. Doch die nannt, lässt Hunderte Meter an Kiemen-
US-amerikanischen National Oceanic and Verlockung ist zu groß. Bis zu 8500 US- netzen ins Meer.
Atmospheric Administration (NOAA), auf Dollar zahlen kriminelle Einkäufer in Me- Auf dem Meeresgrund entsteht auf diese
Momente wie diesen. Wird es endlich ge- xiko für ein Kilo Schwimmblase. Weise ein Labyrinth aus Netzen, eine per-
lingen, eine der Vaquitas zu fangen? „Das ist für die Fischer gut ein halbes fekte Falle, der kaum eine Totoaba, aber
Der Kalifornische Schweinswal ist einer Jahreseinkommen“, sagt Rojas. Der Bio- auch kaum eine Vaquita entkommt.
der am stärksten gefährdeten Meeressäuger loge hat es sich auf dem Oberdeck der „Pa- Artenschützer versuchen seit 2016, die
der Erde. 1997 schätzten Biologen die Zahl cific Monarch“ im Hafen von San Felipe illegal gesetzten Netze zu bergen. Mehrere
des anderthalb Meter langen Zahnwals bequem gemacht. Das Schiff nutzen die Schiffe fahren dafür von San Felipe aus fast
noch auf 567 Exemplare. Zehn Jahre später Forscher als Wohnquartier. Eine mächtige täglich aufs Meer hinaus, ein Katz-und-
waren es nicht einmal mehr halb so viele. Steinmole grenzt den Hafen zur See hin Maus-Spiel mit den Fischern. Die Netze
Seither hat sich die Population weiter ra- ab. Beidseits dehnt sich der feine Sand- sind an der Wasseroberfläche nicht zu se-
sant verringert. 2016 identifizierten die For- strand der Baja California. hen. Die Fischer verankern sie am Grund,
DER SPIEGEL 47 / 2017 111
speichern die GPS-Position in ihren Han-
dys. Die Artenschützer setzen Sonare ein
und ziehen Haken über den Meeresboden,
um die Netze zu finden.
„Seit Frühjahr 2016 haben wir mehr als
300 Netze sichergestellt“, sagt Jean-Paul
Geoffroy von Sea Shepherd. Der Aktivist
lehnt zwar den Versuch ab, die letzten Va-
quitas einzufangen. „Wir sind grundsätz-
lich dagegen, Tiere in Gefangenschaft zu
bringen“, sagt er. An der Bergung der Net-
ze ist seine Organisation jedoch beteiligt.
Die Aktivisten haben dafür ihr Schiff „Far-
ley Mowat“ nach San Felipe entsandt.
Die Crew macht grausige Erfahrungen.
Im Frühjahr 2016 fanden die Artenschützer
in nur drei Wochen drei tote Vaquitas. Die
nächste Totoaba-Saison, so fürchtet Geof-
froy, könnte das Schicksal der Art besie-
geln. „Vergangene Woche haben wir ein
brandneues Totoaba-Netz gefunden“, sagt
DOMINIC BRACCO II / DER SPIEGEL

er, „die Fischer bereiten sich schon auf die


nächste Saison vor.“
Was tun, wenn Tierarten unmittelbar am
Abgrund stehen? Es gibt Vorbilder für die
Tragödie an der Cortés-See, wie der Golf
von Kalifornien auch genannt wird. Im Hin-
terland von San Felipe steigt der Höhenzug
der Sierra de San Pedro Mártir auf. Dort Fischer Nuñez, Tirado, Biologin Taylor
lebt eine Population des Kalifornischen „Wir wollen auch überleben“
Kondors, eines Greifvogels mit einer Flü-
gelspannweite von bis zu drei Metern. Atem aushauchen, ohne dass es jemand Dänische Experten sind dabei, die sich mit
Der majestätische Vogel hat ein ähn- bemerkt.“ den eng verwandten Schweinswalen der
liches Schicksal wie die Vaquita. 1981 leb- Die Forscherin ist eine der erfahrensten Nord- und Ostsee auskennen.
ten in freier Wildbahn nur noch 22 Exem- Meeressäugerexpertinnen der Welt. Aller- Doch gebracht hat es alles nichts.
plare. Die US-Regierung beschloss, alle Vö- orten muss sie mitansehen, wie ihre Es ist der 25. Tag der auf fünf Wochen
gel einzufangen, was bis 1987 auch gelang. Schützlinge in Bedrängnis geraten. Insge- angesetzten Expedition. Und noch immer
In Volieren wurden sie fortan gehalten, die samt 300 000 Schweinswale und Delfine er- lebt keine Vaquita in Gefangenschaft. Das
Population langsam aufgebaut. Seit 1991 trinken jährlich in Fischernetzen, schätzt Suchteam auf der „Maria Cleofas“ braucht
wilderten Biologen die Tiere aus. Heute Taylor. „Wir sind im Notfalleinsatz“, sagt fast Windstille, um die Tiere entdecken zu
gibt es wieder rund 450 Kalifornische Kon- die Biologin, „es ist deprimierend.“ können, kleine, graue Körper in einem un-
dore, mehr als 270 davon in der Wildnis. Taylor hat sich an die Freiluftbar der endlichen Meer.
Das Beispiel zeigt, dass Rettung möglich „Maria Cleofas“ gesetzt. Unweit stehen Ein Jungtier, etwa sechs Monate alt,
ist; wenn Arten in Gefangenschaft ge- ein paar Sonnenliegen. Das Oberdeck des konnten die Experten einige Tage zuvor
züchtet werden können; wenn entschieden Schiffes erinnert mit seinen weißen, gut einfangen. In einer ausgepolsterten Wanne
und rechtzeitig gehandelt wird. Ungleich gepolsterten Sofas an ein Kreuzfahrtschiff. schafften sie die Vaquita in das Netzgehege
schlechter lief es hingegen beim Baiji, ei- Nach Urlaub ist Taylor allerdings nicht zu- nahe der Küste. Aber der Schweinswal rea-
nem Flussdelfin aus Chinas Yangtze. mute. „Wir wollen, dass sich ein Scheitern gierte panisch, ließ sich nicht beruhigen.
1986 trafen sich Delfinexperten in China, wie in China auf keinen Fall wiederholt“, „Nach ein paar Stunden mussten wir ihn
um über die Rettung der Art zu beraten. sagt sie, „deshalb versuchen wir, die letz- zurück ins Meer entlassen“, sagt Taylor.
Auf 100 Individuen wurde die Zahl der ten Vaquitas einzufangen.“ Die Biologin verarbeitet ihre Frustration
Tiere damals geschätzt, allesamt akut be- 2013 sei der rapide Bestandseinbruch künstlerisch. Unten in ihrer Kabine fertigt
droht durch Fischerei, Schiffsverkehr und der Art aufgefallen, berichtet Taylor. Ein sie Zeichnungen der Vaquitas an. Gästen
Industrialisierung am größten Fluss Chinas. Expertengremium beschloss daraufhin die bietet sie an, selbst einen Wal zu aquarel-
Die Biologen diskutierten, fassten Ret- Artenrettungsaktion der Superlative. Be- lieren. Ein malerisches Requiem für die
tungspläne, verwarfen sie wieder. Be- zahlt wird sie von der mexikanischen Re- Tiere. Taylors Herz hängt erkennbar an
schlossen wurde nichts. Ende 2006 suchte gierung, der US-amerikanischen Associa- den Walen. Auch für sie ist die Fangaktion
eine Expedition nach dem Tier. Kein Baiji tion of Zoos and Aquariums sowie priva- eine Qual.
fand sich mehr. Nach Millionen Jahren auf ten Spendern. Die Forscherin sieht jedoch keinen ande-
der Erde war die Art erloschen – als erste Acht Schiffe sind vor San Felipe für die ren Ausweg mehr. „Dabei könnte die Lö-
Delfinspezies, die der Mensch auf dem Ge- Vaquitas im Einsatz. Die Experten haben sung so einfach sein“, sagt sie. Das Seege-
wissen hat. unweit der Küste ein Netzgehege für die biet sei begrenzt, die Zahl der Fischer eben-
„Der Baiji hat uns eine harte Lektion ge- Kleinwale gebaut. An Land ist eine Anlage so. „Die Fischer könnten die Helden in die-
lehrt“, sagt NOAA-Biologin Barbara Tay- mit Haltungsbecken entstanden. ser Geschichte sein; ich glaube, dass es eine
lor, die 2006 in China dabei war, „wenn Tierärzte aus Neuseeland sind angereist. nachhaltige Lösung für alle geben kann.“
eine Art einmal weniger als hundert In- Unterwasserakustiker aus den USA belau- Nur, ist das wirklich so? Was sagen die
dividuen zählt, kann sie ihren letzten schen die Ultraschalllaute der Kleinwale. Fischer dazu, dass sie wegen 30 Klein-
112 DER SPIEGEL 47 / 2017
Wissenschaft

können. Zwar gebe es Patrouil- die Forderungen der Fischer. Das größte
len, erzählen sich die Leute Problem sei aber die Korruption. „Die Si-
im Dorf. Einige der Soldaten tuation ist vergleichbar mit dem Drogen-
seien jedoch geschmiert. handel“, sagt Rojas, „zwei korrupte Beam-
„Es ist gut, die Vaquitas zu te an den richtigen Stellen, und die Sache
retten, sie sind Teil des Mee- ist kaum mehr zu stoppen.“

DOMINIC BRACCO II / DER SPIEGEL


res“, sagt Nuñez, „aber die Unter solchen Bedingungen sei es
Regierung hätte die Sache an- „kaum vorstellbar, dass die Vaquitas noch
ders angehen müssen.“ eine Totoaba-Saison überstehen“.
Wie genau eine Lösung aus- Den Artenschützern läuft nun die Zeit
sehen könnte, wird die Straße davon. Zwar kommt Mexikos Umwelt-
hinunter im Restaurant „El minister Rafael Pacchiano Alamán regel-
Delfin“ diskutiert. Carlos Ti- mäßig nach San Felipe. Er stehe „100-pro-
rado Pineda von der örtlichen zentig“ hinter dem Projekt, sagt Rojas.
Fischereikooperative sitzt Auch Mexikos Präsident Enrique Peña Nie-
dort mit einigen Kollegen zu- to hat die Vaquita-Rettung zur Chefsache
sammen: „Das Netzverbot erklärt.
hat nichts gebracht, die Vaqui- Aber was bedeutet das, wenn es nur
tas verschwinden trotzdem.“ noch Tage dauert, bis die neue Totoaba-
„Die Behörden werden ih- Saison beginnt? Warum gelingt es der Re-
rer Verantwortung nicht ge- gierung nicht, genug Soldaten zu schicken,
recht“, sagt Tirado. 30 000 um die illegalen Fischer zu stoppen?
Menschen lebten in der Re- Das VaquitaCPR-Team hatte große Plä-
DOMINIC BRACCO II / DER SPIEGEL

gion direkt von der Fischerei ne. Eingefangene Vaquitas sollten bald in
auf Garnelen oder Fischarten ein weitläufiges, durch Netze abgesichertes
wie Corvina oder Sierra. „Wir Refugium nahe der Küste gebracht werden.
wollen, dass die Vaquita über- Dort, so hofften die Forscher, könnten sich
lebt“, sagt Tirado, „aber wir die Tiere erholen und fortpflanzen. Später
wollen auch überleben.“ sollten sie und ihre Nachkommen wieder
Die Fischer von Golfo de ausgewildert werden.
Santa Clara haben Alternati- Doch der Plan scheitert endgültig eine
walen um ihren Broterwerb gebracht ven zu den Kiemennetzen ausprobiert, da- Woche vor dem vorgesehenen Ende der
werden? runter Schleppnetze, die an den Booten Expedition. Anfangs läuft noch alles wie
Am folgenden Morgen geht es in aller befestigt werden. Unter Segeln treiben die erhofft an diesem Tag. Um fünf Uhr am
Frühe durch die Wüste nach Norden. Nach Pangas dann langsam seitwärts. Dabei ge- Nachmittag gelingt es dem Team um Bar-
vier Stunden Fahrt tauchen die ärmlichen hen die Garnelen ins Netz. bara Taylor, einen der Kleinwale einzufan-
Häuser von Golfo de Santa Clara auf, ei- Tirado würde die schweinswalfreund- gen und in das Netzgehege zu bringen.
nem kleinen Flecken an der Nordküste der liche Technik gern einsetzen, doch „die Die Vaquita verhält sich ruhig, sie
Cortés-See. Das Dorf, inmitten von Dünen Behörden lassen uns nicht“, sagt er. scheint das Gehege zu akzeptieren. Taylor:
gelegen, existiert nur, weil es das Meer mit Sogar die illegale Totoaba-Jagd ließe „Sie schien das ideale Tier zu sein.“
seinen Schätzen gibt. Etwas anderes als sich stoppen, glauben die Einheimischen. Nach einer Stunde jedoch verschlechtert
Fischen haben die Menschen hier nie ge- Francisco Dominguez sitzt im El Delfin sich der Zustand des Kleinwals rapide. Um
tan. Das Kiemennetzverbot der Regierung mit am Tisch, auch er Fischer seit seiner sieben Uhr abends beschließen die Veteri-
hat ihnen den Lebensunterhalt genommen. Kindheit. Dominguez fordert, die Jagd auf näre, die Vaquita wieder freizulassen.
Die Fischbuden an der Straße sind leer, Totoabas zu legalisieren – aber nur als An- „Sie raste in Panik los“, erinnert sich die
die kleine örtliche Fischfabrik verwaist. In gelsport. Sportfischer, glaubt er, wären be- Tierärztin Frances Gulland an den drama-
vielen Vorgärten stehen die Pangas auf reit, gutes Geld für die Chance zu zahlen, tischen Moment. Nach wenigen Metern
Trailern – stillgelegt für die Vaquita. eine der bis zu hundert Kilogramm schwe- dreht der Schweinswal abrupt um und
Zum Beispiel bei Francisco Nuñez, 42: ren Fische aus dem Ozean zu ziehen. Kie- schwimmt genauso schnell zurück.
Vor 30 Jahren begann der stämmige Mann mennetze brauchte es dann nicht mehr. Drei Teammitglieder springen ins Was-
mit der Fischerei. Seit zwei Jahren ist es Die Schwimmblasen der Totoabas könnten ser, um zu verhindern, dass die Vaquita
ihm nun verboten. 8000 Pesos im Monat, die Fischer legal verkaufen. gegen das Gehege kracht. Sie halten das
360 Euro, bekommt Nuñez als Ausgleich „Die Totoaba-Bestände haben sich er- Tier im Wasser in den Armen. Sie spüren
vom Staat, kaum genug zum Leben für sei- holt“, behauptet Dominguez, „die Art ist keine Atmung mehr. Sie massieren den
ne Frau und ihn, die Familie seines Sohnes nicht mehr akut vom Aussterben bedroht.“ Brustkorb des Wals, verabreichen ihm rei-
Ramon, für seine Enkel. Als Fischer ver- Wäre die Legalisierung des Handels eine nen Sauerstoff und Medikamente.
diente er leicht das Doppelte, sein Sohn Möglichkeit, um die Schweinswale noch Stundenlang kämpfen die Artenschützer
noch einmal dasselbe dazu. zu retten? Die Artenschützer unterstützen um das Leben einer der letzten Vaquitas
„Wir haben hier kaum genug zu essen“, die Idee. „Ich schlage schon lange vor, den der Erde. Es ist zu spät. Um halb elf stellen
sagt Nuñez, der sich nun als Tagelöhner Fischern Lizenzen für eine Totoaba-Lang- sie die Wiederbelebungsversuche ein.
verdingen muss. Mit der illegalen Totoa- leinenfischerei anzubieten“, sagt Rojas. Die Vaquita ist tot. Philip Bethge
ba-Fischerei wolle er nichts zu tun haben, Allerdings müsse garantiert werden, dass Mail: philip.bethge@spiegel.de
sagt er, „aber eine Menge der Leute fahren keine mit Kiemennetzen gefangenen To-
trotzdem raus.“ Vier von fünf Fischern, toabas über einen solchen Markt reinge- Video: Expedition zu
schätzen die Artenschützer, machen in der waschen würden. den letzten Vaquitas
Saison heimlich Jagd auf Totoabas. Sie wis- Auch neue Fischfangmethoden hält der spiegel.de/sp472017delfine
sen, wann sie ungestört aufs Meer fahren Biologe für hilfreich und unterstützt damit oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 47 / 2017 113


Technik

„Tesla ist kein Vorbild“


Verkehr Toyota-Aufsichtsratschef Takeshi Uchiyamada über die Grenzen des Elektroautos,
seinen Glauben an den Wasserstoffantrieb und die japanische „Autoliebe“

Uchiyamada, 71, leitete bei Toyota und die Rückumwandlung zu Strom im


die Entwicklung des Hybridantriebs. Auto gut drei Viertel der ursprünglichen
Die halb elektrischen, spektakulär Energie verloren gehen. Beim Laden von
sparsamen Modelle machten den Batterien hingegen bleibt im Idealfall fast
japanischen Autokonzern zum Inno- alles erhalten.
vationstreiber der Branche. Der Phy- Uchiyamada: Ich stimme Ihnen zu. Das ist
siker führt heute den Aufsichtsrat aber nur dann ein Problem, wenn der
des Unternehmens. Strom aus fossilen Quellen stammt. Eine
nachhaltige Wasserstoffproduktion wird
SPIEGEL: Toyota hat mit dem Hy- das Ergebnis einer ganzheitlichen Energie-
bridantrieb die Tür aufgestoßen wende sein – mit Stromüberschüssen, die
zur massenhaften Elektrifizierung das Netz nicht aufnehmen kann. Und für
der Antriebe, zögert aber mit dem diesen Zweck ist Wasserstoff, bei all seinen
reinen Batterieauto. Hat Sie der Nachteilen eines der besten Speicher- und
Mut verlassen? Transportmedien, weitaus besser geeignet
Uchiyamada: Nein. Wir sind nur als Batterien. Die Ölnationen Arabiens wer-
nicht davon überzeugt, dass das den künftig ihren Wohlstand mit Sonnen-
Elektroauto zwingend ein reines energie sichern, die sie ja ebenfalls im Über-
Batterieauto sein muss. Und auch fluss haben. Wenn sie diese Energie expor-
andere Hersteller und Regie- tieren wollen, bietet sich Wasserstoff an.
rungen teilen unsere Skepsis. SPIEGEL: Ehe der Ölscheich zum Wasser-
Wenn Gesetzgeber, wie in Kali- stoffscheich wird, müsste eine aufwendige
THEKLA EHLING / DER SPIEGEL
fornien und China, solche Autos Infrastruktur von Wasserstofftankstellen
fordern, sind wir vorbereitet errichtet werden. Davon ist noch in kei-
und können sie auch herstellen. nem Land der Welt viel zu sehen.
Wir weisen aber darauf hin, dass Uchiyamada: Noch ist das ein Problem.
ein in China betriebenes Elektro- Aber für Europa, Kalifornien und vor al-
auto wegen des hohen Kohle- lem Japan bin ich sehr zuversichtlich. Im
stromanteils das Klima mehr schä- kommenden Jahrzehnt werden in all die-
digt als unsere sparsamen Hybridfahr- lassen als bisherige Akkus. Arbeiten Sie sen Ländern attraktive Tankstellennetze
zeuge. auch daran? entstehen. In Japan werden bereits heute
SPIEGEL: Was spricht gegen ein Batterie- Uchiyamada: Selbstverständlich tun wir das. 91 Wasserstofftankstellen betrieben. Und
auto, wie es Tesla baut? Diese Technologie wird einen großen Ent- bis zu den Olympischen Spielen 2020 sol-
Uchiyamada: Batterieautos, die große Reich- wicklungsschritt bedeuten. Aber das dau- len es bis zu 180 sein. Aber Sie haben recht,
weiten erzielen, haben einen schweren ert noch. Wir gehen von einer Massenpro- die Infrastruktur ist die größte Hürde.
Akku, für dessen Herstellung viel Energie duktion in vier bis fünf Jahren aus. SPIEGEL: Der schnellste und beste Weg zu
verbraucht wird, sie sind sehr teuer und SPIEGEL: Toyota setzt wegen der Batte- einer klimaschonenden mobilen Gesell-
haben lange Ladezeiten. Solche Autos rieschwächen auf die Brennstoffzelle, also schaft wäre die Abkehr vom Auto als
passen nicht in unser Programm. Tesla ein Elektroauto, das Strom aus getanktem Massenverkehrsmittel. Aber dazu können
ist nicht unser Gegner und auch nicht Wasserstoff gewinnt. Wenn die Feststoff- Sie dem Konsumenten ja schlecht raten.
unser Vorbild. Ich denke, dass die deut- batterie eine Revolution bringt, wird dann Uchiyamada: Das können wir nicht, und das
schen Hersteller Tesla eher als Konkurren- die Brennstoffzelle überflüssig? wollen wir nicht. Die Begeisterung für
ten sehen. Uchiyamada: Das glauben wir nicht. Was- Autos ist in Ihrem Land und auch in mei-
SPIEGEL: Auch die setzen neuerdings aufs serstoff wird in der Energiewirtschaft der ner Heimat ungebrochen. Es gibt ein ja-
Batterieauto. VW, Mercedes und BMW Zukunft als Speichermedium eine bedeu- panisches Wort dafür: „Eisha“. „Sha“ heißt
wollen ein Netz von Schnellladestationen tende Rolle bekommen. Mit zunehmen- „Auto“. Und „Ei“ heißt „Liebe“.
aufbauen, um so das Problem der begrenz- dem Ausbau von Wind- und Solarstrom SPIEGEL: Die Liebe scheint zu schwinden.
ten Reichweite zu lösen. wird überschüssige Energie anfallen, die Es gibt zunehmend junge Menschen, die
Uchiyamada: Einiges deutet darauf hin, dass sich in Wasserstoff umwandeln und spei- gar keinen Führerschein mehr machen.
tatsächlich ein Durchbruch bevorsteht. chern lässt. Hier entsteht automatisch ein Uchiyamada: Das ist ein Phänomen in den
Aber wir müssen erst untersuchen, was Kraftstoffmarkt. Und bei allem Fortschritt Großstädten der Industrieländer. Auf dem
das für die Lebensdauer der Batterie be- wird auch die Feststoffbatterie das Pro- Land und in Schwellenländern ist das an-
deutet. Hier haben wir uns noch kein ab- blem der Reichweite nicht völlig beseitigen. ders. Nur 30 Prozent aller Menschen haben
schließendes Urteil gebildet. Wer Fahrzeuge wie Fernlastwagen und die Möglichkeit, ein Auto zu nutzen. Viele
SPIEGEL: Toyota betreibt eine eigene Ent- Reisebusse ohne Verbrennungsmotor be- freuen sich darauf, diese Freiheit zu genie-
wicklung und Fertigung von Batteriezellen. treiben will, hat keine plausible Alternati- ßen. Weltweit wächst der Markt.
Die Branche setzt große Hoffnungen auf ve zur Brennstoffzelle. SPIEGEL: Wie lange noch?
neuartige Feststoffbatterien, die weit mehr SPIEGEL: Wasserstoff hat den großen Nach- Uchiyamada: Ich weiß es nicht.
Strom speichern und sich schneller laden teil, dass für die Herstellung, den Vertrieb Interview: Christian Wüst

114 DER SPIEGEL 47 / 2017


WIESO WESHALB DARUM.

Foto: Volker Steger, aufgenommen im Max-Planck-Institut für Plasmaphysik


Voodoo am Krankenbett
Archäologie Wie fortschrittlich war die Heilkunst der Babylonier? Berliner Forscher werten mehr
als tausend Keilschrifttexte aus, um die Geheimnisse der assyrischen Medizin zu entschlüsseln.

A
ls Feldherr war König Asarhaddon Sprüche und Rituale wurden als bloßer aus Fragmenten einer Tontafel in der ba-
gefürchtet, als Bauherr berühmt. Hokuspokus abgetan. Vernunft und wis- bylonischen Sammlung der Universität
Er führte Heere bis nach Phrygien, senschaftliches Denken gelten gemeinhin Yale: Das BabMed-Team hatte eine Art In-
nach Lydien, ja sogar bis ins ferne Ägypten. erst als Errungenschaft der Griechen. haltsverzeichnis eines umfänglichen Text-
Und er baute die zerstörte Stadt Babylon Geller hält diese Sichtweise für falsch. korpus vor sich, in dem Mediziner des
wieder auf. Gewiss, die Götter hätten in den Vorstel- Zweistromlands all ihr therapeutisches
Markham Geller allerdings interessiert lungen der Babylonier eine beherrschende Wissen zusammengefasst hatten. „Wir ge-
sich aus einem anderen Grund für den gro- Rolle gespielt. Doch hinderte sie dies da- hen davon aus, dass es sich um ein Stan-
ßen Assyrerkönig: „Es scheint, dass er ran, systematisch zu denken? dardwerk handelt, das in dieser oder ähn-
ziemlich wehleidig war.“ Vor vier Jahren nahmen Geller und sein licher Gestalt auch in anderen Bibliothe-
An der Freien Universität Berlin ist Team die Arbeit am BabMed-Projekt auf. ken Assyriens und Babyloniens stand“,
Geller Leiter von BabMed, einem wissen- „Wir sind schon weit gekommen“, versi- sagt Gellers Mitarbeiterin Ulrike Steinert.
schaftlichen Großprojekt, das die Heil- chert er. Immer deutlicher zeichne sich das „Wenn ein Mann von einem Löwen an-
kunde im antiken Orient beleuchten soll. Gedankengebäude ab, auf das sich die Me- gefallen wird …“, „wenn er von einem
Sein Team wertet dazu mehr als tausend dizin der Babylonier gründete. Dolch verwundet wird …“ „wenn er von
in Ton geritzte Keilschrifttexte aus. Lange Ihre bedeutsamsten Entdeckungen ver- einem Streitwagen fällt …“ – alle Widrig-
Listen von Heilkräutern und Rezepten danken die Berliner Forscher einem Kata- keiten, die das Leben im alten Babylon
zählen ebenso dazu wie Beschwörungsfor- log therapeutisch-medizinischer Werke aus mit sich bringen konnte, sind hier aufge-
meln gegen Schlangenbisse, epileptische der Stadt Assur. Sie rekonstruierten ihn listet. Systematisch von Kopf bis Fuß wer-
Anfälle, Abszesse oder Ohrver- den mögliche Therapien abge-
eiterung. handelt. Psychische Leiden,
Aufschlussreich ist auch der Hautkrankheiten und Gynäkolo-
Briefverkehr der Ärzte und Hei- gie sind gesondert aufgeführt.
ler bei Hof. „Es ist, als hätten wir Mittlerweile kennen die For-
den E-Mail-Server des Palasts ge- scher nicht nur das Verzeichnis,
knackt“, sagt Geller. Besonders das aus bloßen Überschriften
rege tauschten sich die Heilkun- oder Textanfängen besteht. Auch
digen während der Regentschaft Teile des Kompendiums selbst
Asarhaddons aus. In großer Zahl konnten sie unter den erhaltenen
umschwärmten die Leibärzte Tontafeln der Bibliothek von Ni-
und Beschwörer den chronisch nive identifizieren. Weitere bis-
kränkelnden Monarchen, und her unbekannte Puzzlestücke
nicht selten gingen ihre Meinun- vermuten sie in den Magazinen
gen auseinander. der großen Museen, wo noch ein
Beim Nasenbluten seiner kaum zu ermessender Schatz
Majestät hätten die Kollegen Tam- von ungesichteten Keilschrifttex-
ponade falsch appliziert, schimpft ten lagert.
der eine. Einen anderen ärgert, Die Art, wie das therapeuti-
dass sich der König nach einer Fie- sche Handbuch organisiert ist,
berbehandlung über Hitzewallun- deutet schon jetzt darauf hin,
gen beschwerte: „Wozu machen dass es einem ähnlichen Aufbau
wir das denn?“, fragt der Thera- folgt wie zwei den Assyriologen
peut beleidigt. „Was hatte er im bereits bekannte Werke. Bei dem
Sinn, als er sagte: ,Es soll mich einen handelt es sich um eine Art
schwitzen machen‘?“ Ein Dritter Diagnose-Handbuch, in dem
fühlt sich ausgebootet. Ein Rivale Symptome und Prognosen von
mache ihm seine Rolle beim Voll- Erkrankungen erfasst sind. Das
zug von Heilritualen streitig: „Der andere enthält Beschwörungen
kann das nicht“, behauptet der und Rituale, mit denen böse
Briefautor erbost. „Er hält das Geister ausgetrieben oder Götter
Böse nicht fern, er zieht es an.“ milde gestimmt werden sollten.
Doch was für eine Art von Me- Zusammengenommen ist das
dizin war es, die diese Hofärzte dreiteilige Werk umfänglich wie
da betrieben? Bisher, sagt Geller, das Corpus Hippokraticum – und
habe die Heilkunst der Babylo- obendrein systematischer organi-
nier unter Altertumskundlern ei- siert. Geller glaubt auch den Au-
nen schlechten Ruf. Der Lehrmei- tor dieses erstaunlichen Vademe-
nung zufolge stand bei ihnen Heilkundliche Tontafel aus Assyrien (650 v. Chr.) cums aus Assur zu kennen. Die
alles im Bann der Götter, ihre Miteinander von Ärzten und Exorzisten Redaktion der beiden schon län-

116 DER SPIEGEL 47 / 2017


Wissenschaft NDR KULTUR
ger bekannten Handbücher jedenfalls wird feln, wie er einst von den Ärzten Babylons
SACHBUCHPREIS
Esagil-kin-apli zugeschrieben, einem Hof- in entzündete Ohren geträufelt wurde. Tat-
gelehrten und Priester aus dem 11. vor- sächlich konnten die Tester eine anti-
christlichen Jahrhundert. Es scheint, als biotische Wirkung nachweisen, die sich
trete da ein Vorgänger des Hippokrates durch Zedernöl sogar noch steigern ließ.
aus dem Dunkel der Bronzezeit hervor. Er Doch das sind Befunde, die bisher nicht
lebte 600 Jahre vor dem vermeintlichen von pharmakologischen Labors bestätigt
„Vater der Medizin“. wurden.
Unklar allerdings ist, wie erfolgreich die Überirdische Mächte und rational be-
Ärzte Babylons mit all ihrem Wissen hei- gründete Pharmazie standen in der Welt
len konnten. Zumindest einige ihrer Maß- der Babylonier offenbar nicht im Wider-
nahmen muten durchaus rational an. Dass spruch zueinander. Einträchtig arbeiteten
fiebrige Erkrankungen die Gefahr von An- Exorzisten und Ärzte miteinander, beide
steckung bergen, scheint ihnen zum Bei- fühlten sie sich dem Wohl der Kranken
spiel klar gewesen zu sein. So gab ein Arzt verpflichtet.
„strikte Anweisung“, dass niemand von Die Exorzisten hatten den Status von
der Tasse einer erkrankten Patientin trin- Priestern. In Kostüme gewandet, entfalte-
ken dürfe. „Niemand darf sitzen, wo sie ten sie mit Rauch und Trommeln Heilzau-
gesessen hat, und niemand liegen, wo sie
gelegen hat“, fährt er fort.
Auch wird Arzneien verschiedentlich at- „Selbst der Schlaf
testiert, dass sie „probiert und wirksam“
seien. Doch was genau soll das bedeuten? gewährte mir keine Ruhe.
Klinische Tests waren noch nicht erfunden, Ich hörte auf zu essen,

Foto: Klaus Westermann | NDR


die Heilkundigen griffen wohl vor allem
auf die überlieferte Erfahrung ihrer Kolle-
ich glich einem Toten.“
gen zurück.
Blut im Urin, Pusteln auf der Zunge, ber am Krankenbett. Vor allem aber be-
Blähungen, Fieberschübe und juckende schworen sie mit wortgewaltigen Formeln
Ausschläge: Farbig und vielfältig beschrie- den Beistand der Götter. Freizügig ver-
ben die Heilkundigen die Symptome ihrer mischten sie dabei Alltags-Akkadisch mit
Patienten. Dennoch hält Geller alle Versu- unverständlichem Abrakadabra.
che, diese Schilderungen modernen Krank- Zwar rührten diese Heiler neben all dem
heitsbildern zuzuordnen, für voreilig. magischen Zinnober auch pharmazeu-
„Wenn es schon kaum möglich ist, Diagno- tische Tinkturen und Heiltränke zusam-
sen am Telefon zu erstellen, um wie viel men. Überwiegend jedoch war die Phar-
schwieriger ist es dann anhand von 3000 maproduktion das Terrain der Ärzte. Diese
Jahre alten Texten?“, sagt er. gingen, unabhängig vom Tempel, einem
Auch wie wirksam die Salben, Pillen
und Tränke aus der Apotheke der Babylo-
weltlichen Beruf nach. Oft ließen sie sich
fürstlich für ihre Therapien bezahlen und
GEWINNER 2017
nier waren, lässt sich heute kaum mehr sa- waren hoch geachtete Bürger.
gen. Zwar geben die Rezepte präzise
Instruktionen, wie Samen, Wurzeln, Kräu-
Was bei alledem fehlt, sind die Patien-
ten. Sie kommen in den Abertausenden MAGNUS BRECHTKEN
ter oder Früchte zu behandeln seien. In Tontafeldokumenten nur selten zu Wort.
der Pharmaküche des Orients wurde Doch immerhin: Eine vor dem Bürgerkrieg ALBERT SPEER –
gestampft, gewaschen, gepresst und ge- in Syrien entdeckte Stele füllt diese Lücke.
trocknet, es wurde gewogen, geknetet, ge- Auf ihr klagt Adad-bel-ardi, ein örtlicher EINE DEUTSCHE KARRIERE
häckselt und gemischt. Als Lösungsmittel Fürst, sein Leid: Schon als Kind sei sein
dienten Milch, Wein, Fischbrühe, Urin und Körper mit wunden Stellen übersät gewe-
Sesamöl. Das Endprodukt galt es dann, ge- sen. Er sah nur verschwommen, seine Hän-
mäß ärztlicher Anweisung zu schlucken, de schmerzten. „Selbst der Schlaf gewähr- 22.11. | 19 UHR | LIVE IM RADIO
einzureiben oder durch Kupferrohre in te meinen Füßen keine Ruhe“, jammert er
Anus, Ohr oder Vagina dem Körper zuzu- weiter. „Ich hörte auf zu essen, ich glich Preisverleihungs-Gala mit Thea Dorn
führen. einem Toten.“ Der „stechende Schmerz“ und dem Ebonit Saxophone Quartet
Alles nur Voodoo? Oder handelt es sich und die „Attacken der Schläfen“, die ihn
zumindest teilweise um wirkmächtige Prä- plagten, könnten als Migräneanfälle gedeu-
parate? Geller und seine Mitarbeiter wis- tet werden. Frequenzen und Audio-Livestream
sen es nicht. In vielen Fällen ist nicht ein- Kurzum: Adad-bel-ardi war ein schwe-
unter ndr.de/ndrkultur
mal bekannt, was für Kräuter da verarbei- rer Fall. Heiler und Ärzte waren gleicher-
tet wurden. Die Identifikation der meisten maßen überfordert. Der leidende Fürst
Pflanzennamen gelang bisher nicht. wies ihre Dienste zurück und wandte sich
BabMed-Forscherin Steinert weiß nur flehend direkt an die Götter.
von einem Versuch, die Wirksamkeit eines Das aber muss nicht gegen die Heilkunst
Rezepts aus dem Zweistromland zu prüfen: der Babylonier sprechen. Denn wer mag
An der Harvard-Universität untersuchten schon mit Sicherheit sagen, ob selbst heu-
Studenten im Rahmen eines Antikenkur- tige Ärzte dem immer kranken Adad-bel-
ses in Labortests den Saft von Granatäp- ardi hätten helfen können? Johann Grolle
Hören und genießen
DER SPIEGEL 47 / 2017 117
Wissenschaft

HEINRICH HOFFMANN / BPK


DPA

Diktator Hitler bei Besuch einer Feldküche 1941, Schonkostexpertin Manziarly um 1944: „Der F. hat gut gegessen“

Fräulein Marzipani
Zeitgeschichte In den Fängen des Naziführers: Ein Historiker hat die letzten Monate jener
in Vergessenheit geratenen Frau rekonstruiert, die Hitler als Diätköchin dienen musste.

S
ie ist sogar in die Filmgeschichte ein- Dietrich hat die hochbetagte und inzwi- Die Küche des Kurheims belieferte Hit-
gegangen, auch wenn ihr darin nur schen verstorbene Schwester Manziarlys ler mit bekömmlichen Speisen, wenn die-
ein recht kurzer Moment vergönnt ausfindig gemacht, in deren Besitz sich ser auf dem Obersalzberg weilte. Recht
ist: In dem Spielfilm „Der Untergang“ 13 handgeschriebene Briefe von Hitlers bald bereitete Hospitantin Manziarly die
(2004) mümmelt ein greisenhafter Adolf Diätköchin befanden. Die Schriftstücke Mahlzeiten nicht nur zu, sie musste das
Hitler, dargestellt von dem Schauspieler zeugen von einer Zermürbten, die für den Gekochte auch zum Berghof transportie-
Bruno Ganz, am 30. April 1945 im Führer- Diktator und andere Nazigrößen pausen- ren – eine Aufgabe, die sie als Frondienst
bunker einen letzten Teller Pasta mit To- los im Kochtopf rührte. auffasste. „Ich habe so lange zu bleiben,
matensoße. Anschließend bedankt sich der In einem Brief vom 28. August 1944 klag- solange Er da ist“, klagte sie gegenüber
Despot artig bei seiner Köchin: „Das war te die damals 24-Jährige trotz ihrer Jugend ihrer Familie. Schon wenige Tage nach
sehr gut, Fräulein Manziarly.“ bereits über eine angegriffene Gesundheit. Dienstantritt meldet sie ihren Verwandten
Die Frau gab es wirklich. Gemeint ist „Unkontrollierte Ernährung, auch das viele im April 1944: „Was mich ganz mürbe
Constanze Manziarly, die den magenkran- Abkosten“ nagten an Manziarlys Kon- macht, ist die ungeheure Last der Verant-
ken Hitler ab März 1944 mit Schonkost be- stitution. In unmittelbarer Nähe zur Nazi- wortung, die ich damit zu tragen habe.“
kochte. In den letzten Monaten des Krie- elite geriet sie zwangsläufig unter Stress: Hitler, der schon seit den Dreißigerjah-
ges war sie Teil von Hitlers Hofstaat und „Man stößt auf ungeahnte Schwierigkeiten, ren auf Fleisch verzichtete, war indes be-
verbrachte fast jede Mahlzeit und viele die ich nicht berichten kann. Immer m. geistert von ihr. „Ich habe eine Köchin mit
nächtliche „Teestunden“ mit dem obersten 1 Fuß im Grabe, nicht übertrieben!“, einem Mozartnamen!“, schwärmte er –
Nazi. Doch für Historiker blieb sie bislang schrieb sie ihrer Schwester. Mozarts Ehefrau „Stanzerl“ trug den glei-
ein Phantom. Der Knochenjob in der Tyrannenküche chen Vornamen.
So scheiterten die Hitler-Biografen Joa- war keine Berufung für Manziarly. Die Ti- Gegen die bedrängende Umarmung des
chim Fest und Ian Kershaw in ihren Wer- rolerin wollte eigentlich als Lehrerin für Diktators in Form einer Festanstellung
ken bereits bei dem Versuch, Manziarlys Hauswirtschaft arbeiten. Doch ein Prakti- habe sie sich kaum wehren können, glaubt
Namen richtig zu schreiben. Erst dem Inns- kum als „Rohkostdame“ in einer Privatkli- Historiker Dietrich: „Frei nach dem Spiel-
brucker Heimatforscher Stefan Dietrich ist nik bei Berchtesgaden brachte die angehen- film ,Der Pate‘ hat man ihr wohl ein An-
es in einem wissenschaftlichen Aufsatz de Pädagogin zufällig in die Nähe der Macht. gebot gemacht, das sie nicht ablehnen
jetzt gelungen, die reale Person hinter Hit- konnte.“ So schrieb sie am 3. April 1944
lers rätselhafter Mitbewohnerin in der * „Daß Politik durch den Magen geht, spürt niemand so an „meine Lieben“: „Jeder Widerspruch
Wolfsschanze oder später im Führerbun- wie ich“; erschienen in: „Zeit – Raum – Innsbruck“; völlig zwecklos u. ich würde mich höchs-
ker sichtbar werden zu lassen*. Schriftenreihe des Innsbrucker Stadtarchivs, Band 14. tens vor Gericht bringen.“
118 DER SPIEGEL 47 / 2017
Für SPIEGEL-Abonnenten:
Der ihr anvertraute Kostgänger war
nicht einmal eine kulinarische Herausfor-
derung. Hitler tafelte bevorzugt Hirsebrei
Digital-Upgrade nur € 0,50.
oder Quark mit Leinöl. Als Fleischersatz
verzehrte er gehackte Pilze. Seit Kriegs-
beginn gönnte sich der auf soldatische Ge-
nügsamkeit pochende Feldherr zum Nach-
tisch nur noch einen statt zwei geriebener
Äpfel. Seine Köchin wachte derweil über Jetzt
die Einhaltung der Essroutine. „Der F. hat
gut gegessen“, vermerkte Manziarly dann 4 Wochen
gewissenhaft auf der Speisekarte. gratis
Nur in den nächtlichen Plauderrunden
verlor der selbststilisierte Asket regel- testen
mäßig die Beherrschung; hemmungslos fiel
er über das Kuchenbuffet her. „Ich backe
täglich viel, oft stundenlang, aber abends
ist immer alles weg“, kommentierte Man-
ziarly Hitlers Neigung zur Mehlspeise.
Der Tyrann erwiderte die Bemühungen
um sein leibliches Wohl mit einer bizarren
Zuwendung. Im Herbst 1944 ließ er Man-
ziarly „mausgraue dicke Uniformstrümpfe“
schenken – offenbar in dem Glauben, der
modischen Vorliebe der jungen Frau damit
voll zu entsprechen. „Der Chef wurde
über Damengeschmack falsch unterrich-
tet“, amüsierte sich die Chronistin.

Rosenzweig & Schwarz, Hamburg


Um gegenüber unbefugten Mitlesern
ihren wahren Vorgesetzten und ihren je-
weiligen Aufenthaltsort zu verschleiern,
verwendete Manziarly ab Oktober 1944 in
den Briefen nur noch Codenamen: Hitler
selbst firmierte von nun an als „Oberarzt“,
Hitlers Bergfeste bei Berchtesgaden als
„Kurheim“, und die Reichskanzlei in Berlin
bekam den Tarnnamen „Erholungsheim“.
Von den SS-Leuten in Hitlers Umge-
bung wurde die Köchin nur „Fräulein Mar-
zipani“ genannt. Abseits solcher Necke-
reien verlief ihre Mission deprimierend. Ohne Verpflichtung lesen
Einen besonders düsteren Moment erlebte
Bereits ab freitags 18 Uhr
die Bunkergesellschaft, als Hitler kurz vor
seinem Selbstmord mit knackendem Kie- Auch offline lesbar
fer die Einnahme der zuvor verteilten Gift-
kapseln demonstrierte. Bei dieser Gelegen- Auf bis zu 5 Geräten
heit soll sich Constanze Manziarly vor
Schreck auf die Zunge gebissen haben. Inklusive SPIEGEL DAILY – Die neue digitale Tageszeitung
Am Abend des 30. April 1945 kochte sie
eine allerletzte Mahlzeit (Spiegeleier mit
Kartoffelbrei) für ihren Chef – obwohl der
längst tot war. Die posthume Henkersmahl-
zeit sollte offenbar verschleiern, dass Hit-
ler sich der Verantwortung für seine Un-
taten bereits durch einen Schuss in den Ja, ich möchte den SPIEGEL digital testen!
Kopf entzogen hatte.
Nur zwei Tage später war auch das Ich lese 4 Wochen den SPIEGEL digital kostenlos, danach als
Schicksal von Manziarly besiegelt: Ge-
meinsam mit der Sekretärin Traudl Junge SPIEGEL-Abonnent für nur € 0,50 statt € 4,10 pro Ausgabe.
gelang ihr zunächst die Flucht aus der Bun- Ich gehe keine Verpflichtung ein, denn ich kann jederzeit zur
keranlage. Doch am 2. Mai wurde sie von nächsterreichbaren Ausgabe kündigen.
zwei sowjetischen Soldaten festgesetzt.
„Sie wollen meinen Pass sehen“, rief sie
Junge noch zu. Dann verschwand die 25-
Jährige mit den Soldaten in einem U-Bahn- Einfach jetzt anfordern:
Schacht und wurde nie wieder gesehen.
Frank Thadeusz abo.spiegel.de/upgrade
DER SPIEGEL 47 / 2017 119
ARCHIVIO GBB / CONTRASTO / LAIF
Modigliani-Gemälde
ALAMY / MAURITIUS IMAGES

„Le Grand Nu“, 1919,


Modigliani 1906

Ausstellungen
dunkelrote Kanapee, wirken heute eher wie ein besonders
Besetzungskanapee dekoratives Anschauungsmaterial zur aktuellen Sexismus-
debatte. Auch für Amedeo Modigliani galt die Frau bestenfalls
Manchmal sieht alte Kunst noch viel älter aus, als sie ist. Die- als Muse und gehörte auf die Couch. Sich selbst präsentierte
se Erfahrung kann das Publikum demnächst in der Tate der Künstler auf Fotos selbstverständlich angezogen, der
Modern in London machen. Am 23. November beginnt dort Gesichtsausdruck arrogant, die Zigarette lässig in der Hand.
die Schau Modigliani mit Werken des berühmten italienischen Wie hartnäckig solche Klischees in der Kunstwelt sind, zeigt
Malers und Bildhauers, und die Ausstellungsmacher sind ein Eklat am Rande der Verleihung des Preises der Berliner
stolz darauf, eine große Zahl seiner Bilder nackter Frauen prä- Nationalgalerie an die polnische Künstlerin Agnieszka Polska
sentieren zu dürfen. Die Werke hätten, als sie 1917 erstmals im Oktober. Nominiert waren erstmals nur Frauen, insgesamt
gezeigt wurden, Proteste ausgelöst, jetzt bildeten sie das vier Künstlerinnen, die sich nun in einem Statement be-
„Highlight der Ausstellung“. Einen unbekleideten weiblichen schweren, dass in Pressemitteilungen vor allem über ihr Frau-
Körper zu malen war allerdings im frühen 20. Jahrhundert sein gesprochen werde, über ihre Kunst hingegen kaum.
kein Novum, viele Künstler der Geschichte haben nie etwas Damit werde die systematische Ungleichbehandlung von Frau-
anderes gemacht. Doch diese Frauen, wie hingeworfen aufs en in der Kunst verschleiert. uk

Nachtleben Nicke: Die A-Teams werden te. Erst einmal fragen wir: Nicke: Wir können die Türste-
von Veranstaltern gebucht, Wie geht es dir? Wie können her informieren, die dann
Leuchtendes A Betroffene sexualisierter wir dich unterstützen? die gewalttätige Person raus-
Navina Nicke, 31, ist Vorsitzende Gewalt können sich dann an SPIEGEL: Und was unterneh- schmeißen. Wir können die
des Hamburger Vereins Safe sie wenden. Sie sind keine men Sie dann? Betroffenen aber auch zur S-
Night, der gegen sexualisierte Partypolizisten, die interve- Bahn bringen oder einfach
Übergriffe in Nachtklubs vor- nieren, sondern in den Klubs in einem ruhigen Raum mit
geht. einfach nur präsent, sie ihnen reden. Die Polizei
sind ansprechbar, falls etwas haben wir noch nie gerufen.
SPIEGEL: Warum wurde Safe passiert. Man kann sie SPIEGEL: Glauben Sie, dass
Night gegründet? an einem leuchtenden A an Ihre Arbeit einen erzieheri-
Nicke: Als Reaktion auf viele ihrer Kleidung erkennen. schen Effekt hat?
Geschichten aus dem Nacht- SPIEGEL: Wann melden sich Nicke: Allein durch unsere
leben. Es gibt viele sexualisier- Klubbesucher bei Ihnen? Anwesenheit und unsere prä-
te Übergriffe in den Klubs, ge- Nicke: Wenn sie blöde Sachen ventive Arbeit verändert
gen die leider nichts unternom- auf der Tanzfläche erlebt sich schon die Atmosphäre in
JOHANNES ARLT / DER SPIEGEL

men wurde – also machen wir haben – unser oberstes Prin- den Klubs.
das jetzt. Beteiligt waren zu- zip ist die Solidarität SPIEGEL: Was passiert, wenn
nächst vier Hamburger Nacht- mit den Betroffenen. nur Gerüchte verbreitet
klubs und ein Kulturprojekt. SPIEGEL: Was passiert, wenn werden?
SPIEGEL: Safe Night stellt so- sich jemand gemeldet hat? Nicke: Das ist unwahr-
genannte Awareness-Teams Nicke: Es hängt davon ab, was scheinlich und, laut Polizei,
auf. Was ist deren Aufgabe? die betroffene Person möch- Nicke auch extrem selten. red

120 DER SPIEGEL 47 / 2017


Kultur
Pop so stumpf wie der Albumtitel Nils Minkmar Zur Zeit
Alles wird gut
Anders als viele seiner deut-
rüber: platter also, als man
es von ihm erwartet hätte.
Kautz, eigentlich bekannt für
Frust der Freiheit
schen Hip-Hop-Kollegen guten Stil und glaubwürdige In der schönen Stadt Bordeaux wurde
machte der Berliner Musiker Texte, verliert sich auf seinem ich unlängst Zeuge eines Verkehrs-
Prinz Pi bisher nicht die 14. Album dann auch schon unfalls, dessen Besonderheit darin lag,
Selbstbehauptung zu seinem mal in floskelhaften Durchhal- dass außer mir niemand einen Unfall
Thema, sondern die Selbst- teparolen wie „Die besten sah. Eine Radfahrerin war übereilt
offenbarung. Seelenstriptease Zeiten liegen vor uns, auch und unvorsichtig linksherum in eine
statt Bizepsvergleich. Ganz wenn alles dagegenspricht“ Gasse gefahren, aus der gerade ein
schön fragil statt unbesiegbar. oder lässt den Popsänger Bos- Wagen kam. Sie hielt unbeirrt Kurs,
Emo statt Ego. Authenti- se „Nach jedem Tief kommt wollte vorbei, und es schepperte. Der seit-
scher Hip-Hop für Sensible, ein Hoch, Hoch, Hoch“ liche Spiegel ging zu Boden und zu Bruch. Der Wagen
könnte man sagen. Damit wiederholen. Mit „Nichts war war nicht neu. Der Fahrer, ein junger Mann, kaum älter
wurde Friedrich Kautz, heute umsonst“ rückt Prinz Pi er- als die Unfallverursacherin, stieg langsam aus, besah sich
38, vor vier Jahren erfolg- staunlich nah an die blutleere, die Lage und lachte. Die Unfallverursacherin gestikulierte
reich: Drei Nummer-eins- hitradiotaugliche Alles-wird- und erklärte den Grund ihrer Eile. Dann stieg er ein, und
Alben in Folge waren das Er- gut-Kuschelecke im deutschen sie fuhr weiter. Nur Deutsche konnten hier staunen: kei-
gebnis. Jetzt ist sein neues Pop, an die Andreas Bouranis ne Polizei, keine Versicherungsformulare, keine Fotos.
Album Nichts war umsonst er- („Ein Hoch auf uns“) und Einfach ein Scheppern, eine Delle mehr im Wagen, der
schienen. Darauf kommt die Mark Forsters („Die Welt ist dennoch weiterfährt. Der Sinn des Fahrzeugs wurde ganz
für Prinz Pi typische Emotio- klein, und wir sind groß“). offenbar darin gesehen, diesen Menschen von einem Ort
nalität allerdings etwas zu oft Schade. skr zum nächsten zu bewegen. Es war keine Geldanlage, kein
Statussymbol, keine Kindheitserinnerung, kein Medium
zur Verwilderung einer banalen Existenz, kein Raum-
schiff und kein Versprechen. Hierzulande wäre die Sache
womöglich übel ausgegangen. Selten vergessen sich die
Leute so wie hinter ihrem Steuer – und ihnen kommt et-
was in die Quere. Das kann, wie neulich in Berlin ge-
schehen, sogar ein Rettungswagen im Einsatz sein, der
ein Auto blockiert, um einem Menschen zu helfen.
Ein Fahrer flippte aus, denn er müsse doch zur Arbeit.
Deutschland will wieder Exportweltmeister werden,
die hiesigen Arbeitnehmer müssen mit der ganzen Welt
mithalten. Der Druck muss irgendwo raus, und das Auto
ist ein Freiheitsversprechen, in dem der Frust erst so
TWENTIETH CENTURY FOX

richtig zu spüren ist. Statt Revolution gibt es automobile


Wutanfälle. Etwa wenn das Auto berührt wird. Ein Nach-
bar hatte die Angewohnheit, jenen Rechtsabbiegern,
die allzu unvorsichtig über die Kreuzung fuhren und ihn
mit seinen Kindern auf dem grün geampelten Fußgänger-
King-Darstellerin Stone (r.) übergang nicht beachteten, mit dem Ehering aufs Dach
zu klopfen. Er hörte bald damit auf, denn obwohl er von
Kino Sexualität immer stärker be- beeindruckender Statur war, bekam er es mit der Angst
Tennisqueen King wusst wird. Mit großer Ernst- zu tun, als ein biederer Volvo-Fahrer zur Bestie mutierte.
haftigkeit, aber auch viel Kaum anders erging es einer Freundin, die auf das
Als sie gegeneinander an- Sinn für Aberwitz folgen Dach eines Fahrzeugs klopfte, das sie mit ihrem Rad vom
traten, schien es nur eine gro- Faris und Dayton der von Weg abdrängte. Es entlud sich ein unvermuteter und be-
ße, schrille Zirkusnummer Emma Stone wunderbar ver- drohlicher Druck, als würde der Wagen den Unsinn der
zu sein. Doch beim Match körperten King durch eine ganzen Welt symbolisieren, und dennoch hat man ein
zwischen der Tennisqueen Welt, in der Männer noch be- Vermögen dafür bezahlt. Das verdiente Geld wird für die
Billie Jean King und dem Ex- haupteten, dass Frauen an Autos ausgegeben, die man braucht, um Geld zu verdie-
Profi Bobby Riggs, das 1973 den Herd gehörten. Doch nen. Aber das Geld wird zugleich auch vernichtet, denn
in Houston vor 30 000 Zu- Kings Gegner Riggs, den Neuwagen verlieren schnell an Wert. Hart erwirtschaf-
schauern stattfand, ging Steve Carell als selbstgefäl- tetes Geld und nicht wiederzugewinnende fossile Brenn-
es um viel mehr – um Gleich- liges Großmaul spielt, wird stoffe verschwinden im Parkplatzsuchverkehr. Im Auto
berechtigung und die Rolle nicht denunziert, der Film will der Bundesbürger das Versprechen des Westens auf
der Frau in der Gesellschaft. macht aus ihm einen liebens- ein freies Leben einlösen und geht dafür Abhängigkeiten
Battle of the Sexes – Gegen jede werten Clown, der ahnt, dass ein, vor denen er nicht wegfahren kann. Die Einsicht,
Regel heißt deshalb der seine Zeit abläuft. Am Ende dass das verbrennungsmotorgetriebene Automobil in die-
Spielfilm von Valerie Faris verlässt der Zuschauer das ser Form keine Zukunft hat, sondern zum Hobby wird,
und Jonathan Dayton, der Kino beschwingt, allerdings im frustriert den klassischen Automann noch dazu. Keine
sich um das legendäre Duell Bewusstsein, dass im Kampf gute Zeit, um auf Dächer zu klopfen.
dreht und davon erzählt, der Geschlechter nur eine
wie sich King ihrer lesbischen Schlacht gewonnen ist. lob An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.

DER SPIEGEL 47 / 2017 121


JULIANE LIEBERT / DER SPIEGEL

Musiker Morrissey: „Alle sind müde“

„Die Idiotie, mit der ich leben muss“


SPIEGEL-Gespräch Der britische Sänger Morrissey über #MeToo und das Groupiewesen,
das deutsche Imperium und den Brexit als Erfolgsgeschichte der Demokratie

Ob der Brite Steven Patrick Morrissey, 58, der fen fand anlässlich seines neuen Albums „Low SPIEGEL: Mr Morrissey, in Ihrem neuen
sich als Musiker nur Morrissey nennt, nun Ge- in High School“ in Los Angeles statt; es wurde Song „Spent the Day in Bed“ empfehlen
nius ist oder Schrat, Selbstdarsteller oder cho- sehr kurzfristig anberaumt und dann mehrfach Sie, keine Nachrichten mehr zu sehen. Ein
lerischer Poet, wird sich wohl nie endgültig klä- verschoben, Herrschaftsgesten wollen ge- ernst gemeinter Vorschlag?
ren lassen. Ganz sicher ist der Mann aus Man- pflegt sein. Schließlich ist Morrissey doch be- Morrissey: Ja. Die Menschen sollten damit
chester, der in den Achtzigerjahren als Sänger reit zu sprechen. Der Fotograf allerdings wird aufhören um ihrer eigenen geistigen Ge-
der Popband The Smiths berühmt wurde, ein von einem seiner Manager rüde des Raums sundheit willen. Sie müssen aufhören. Die
großer Exzentriker des Pop. Ob Konzert oder verwiesen: „Get out of my hotel!“ Das Pola- Nachrichten sind nur noch Social Enginee-
Interview, er pflegt die Pose der Diva. Das Tref- roidfoto machte die Interviewerin. ring, und dabei geht es um Kontrolle und
122 DER SPIEGEL 47 / 2017
Kultur

nicht um Information. Es gibt keine Nach- Jahren. Ob man den Brexit an sich gut- sagst du: Der Holocaust ist großartig.
richten mehr. Nur noch Kontrolle. heißt, ist eine andere Sache, aber ich Auschwitz war fantastisch. Lasst uns damit
SPIEGEL: Das klingt nach Trumps Fake war sehr stolz auf die Briten, dafür, dass weitermachen. Es ist exakt dasselbe. Wenn
News, aber Sie haben sich gerade bei sie die BBC ignoriert haben, Sky News du mir nicht glaubst, geh in ein Schlacht-
einem Konzert gegen Trump ausgespro- ignoriert haben, die immer sagten: Wenn haus.
chen. wir die EU verlassen, werden wir alle SPIEGEL: Da wir hier in Hollywood sind:
Morrissey: Trump hat so viel Aufmerksam- sterben. Haben Sie die Debatten um Harvey Wein-
keit bekommen, erst recht im Vergleich zu SPIEGEL: Ist der Song „Jacky’s Only Happy stein, Kevin Spacey und #MeToo verfolgt?
anderen Kandidaten – Bernie Sanders zum When She’s Up on the Stage“ tatsächlich Morrissey: Bis zu einem gewissen Punkt,
Beispiel. Obwohl die Medien sagten, er ein Pro-Brexit-Song? Man sagt, Jacky ste- ja, aber dann wurde es zu einem Theater-
werde nicht gewinnen, jeden Tag, alle he für den Union Jack. stück. Auf einmal sind alle schuldig. Jeder,
Überschriften: Trump, Trump, Trump, Morrissey: Das ist die Idiotie, mit der ich der mal zu jemand anderem gesagt hat
Trump! Die amerikanischen Medien haben leben muss. Die Journalisten behaupten, „Ich mag dich“, wird auf einmal wegen se-
Trump geholfen, ja, sie haben ihn erst er- ich würde etwas sagen, was ich gar nicht xueller Belästigung beschuldigt. Man muss
schaffen. Ob sie ihn kritisieren oder über sage. Der Song ist nicht politisch. Das ist diese Dinge in die richtigen Relationen
ihn lachen, das ist ihm egal, er will nur absoluter Unsinn, und sie entschuldigen setzen. Wenn ich jemandem nicht mehr
sein Bild und seinen Namen sehen. Die sagen kann, dass ich ihn mag, wie soll er
amerikanischen Medien haben sich selbst es jemals wissen? Natürlich gibt es extre-
ins Bein geschossen. Seitdem er an der „Das politische Leben me Fälle, Vergewaltigung ist ekelhaft, je-
Macht ist, hat er die Welt erschöpft. Er der physische Angriff ist abstoßend. Aber
grapscht nach allem wie ein kleines Kind. fällt überall auseinander. wir müssen es im Verhältnis sehen. Sonst
Er ist kein Anführer. Er ist ein Ungeziefer. In gewissem ist jeder Mensch auf diesem Planeten
Ein riesiges Ungeziefer. schuldig. Wir können nicht permanent
SPIEGEL: Denken Sie, dass er wiedergewählt
Sinne freut mich das.“ von oben herab entscheiden, was man tun
werden wird? darf und was nicht. Denn dann sitzen wir
Morrissey: Ich hätte nie damit gerechnet, sich niemals bei mir. Sie wollen einfach alle in der Falle. Manche Menschen sind
dass er überhaupt gewählt würde. Ich war negativ sein. ohnehin schon sehr ungeschickt, wenn es
auch während der Anschläge auf das SPIEGEL: Ein anderes Lied vom neuen Al- um Romantik geht. Sie wissen nicht, was
World Trade Center hier in Los Angeles, bum heißt „The Girl from Tel-Aviv Who sie tun sollen, und dann wirkt ihr Verhal-
und die Stadt stand still. Die Menschen Wouldn’t Kneel“, das Mädchen, das nie- ten aggressiv.
waren starr vor Schock. Keine Autos auf mals kniet. SPIEGEL: Was halten Sie davon, dass Spacey,
den Straßen. Es war die gleiche Atmo- Morrissey: Ich liebe diese Stadt. Der Rest eine der Hauptfiguren in einem Film, kurz
sphäre wie bei der Bekanntgabe von der Welt meint es nicht gut mit Israel. Aber vor dem Starttermin ersetzt wird?
Trumps Wahl. Es war, als ob die Welt ge- die Menschen dort sind sehr großzügig und Morrissey: Das finde ich lächerlich. Soweit
endet hätte. Wiederwahl? Kann sein, ich freundlich. Man sollte niemals ein Volk ich weiß, war er mit einem 14-Jährigen in
habe kein Vertrauen in die politische Elite nach seiner Regierung beurteilen. Es ist einem Schlafzimmer. Kevin Spacey war
mehr. sehr selten, dass die Regierung die Wün- 26, der Junge 14. Da fragt man sich doch,
SPIEGEL: Wenn hier ein Knopf wäre, und sche des Volkes widerspiegelt. Auf jeden wo die Eltern des Jungen waren. Man fragt
wenn Sie daraufdrückten, Trump tot Fall nicht in England. Auf jeden Fall nicht sich, ob der Junge nicht ahnte, was passie-
umfiele – würden Sie ihn drücken oder in Amerika. Vermutlich auch nicht in ren könnte. Ich weiß nicht, wie es bei Ih-
nicht? Deutschland. nen ist, aber ich war in meiner Jugend nie-
Morrissey: Würde ich, für die Sicherheit SPIEGEL: Was halten Sie von der antiisrae- mals in Situationen wie dieser. Nie. Mir
der Menschheit. Hat nichts mit meiner per- lischen BDS-Bewegung? Also insbesonde- war immer klar, was passieren könnte.
sönlichen Meinung zu seinem Gesicht oder re von Künstlern, die aus politischen Grün- Wenn man sich im Schlafzimmer von je-
seiner Familie zu tun, aber im Interesse den nicht in Israel auftreten? mandem befindet, muss man sich bewusst
der Menschheit würde ich drücken. Morrissey: Ich bin dagegen. Wenn ich in sein, wohin das führen kann. Darum klingt
SPIEGEL: Aus deutscher Sicht gab es ver- Russland spiele, singe ich nicht für Putin. das alles für mich nicht sehr glaubwürdig.
gangenes Jahr zwei Ereignisse, von de- Ich singe für die Leute da. Es ist absurd Mir scheint es so, als sei Spacey unnötig
nen die Menschen glaubten, sie würden und engstirnig. Politisch korrekt zu sein attackiert worden.
nicht eintreten. Trump – und der Brexit. ist inkorrekt. Es ist absurd. Es bedeutet, SPIEGEL: Soll das auch für die Schauspiel-
Aber den Brexit heißen Sie gut, ist das die Redefreiheit zu verbieten. So klingt rinnen gelten, die mit Weinstein ins Ho-
wahr? die BDS-Bewegung für mich. telzimmer gingen?
Morrissey: Das ist nicht wahr. Der Ausgang SPIEGEL: Sie setzen sich seit Jahrzehnten Morrissey: Die Leute wissen genau, was
des Brexit-Referendums fasziniert mich, für Tierrechte ein. Wenn es in Ihrer Hand passiert. Und sie spielen mit. Hinterher ist
weil er ein Sieg für die Demokratie war. läge, was würden Sie ändern? es ihnen peinlich, oder es gefiel ihnen
Das Volk hat Ja gesagt. Obwohl Westmins- Morrissey: Ich würde das Schlachthaus ver- nicht. Und dann drehen sie es um und sa-
ter Nein gesagt hat. Die politische Elite und bieten. Ich war noch nie in meinem Leben gen: Ich wurde attackiert, ich wurde über-
das Establishment haben Nein gesagt. wählen. Ich habe noch nie meine Stimme rascht, ich wurde in das Zimmer gezerrt.
Nein, nein, nein, wir bleiben in der EU. für irgendeine politische Partei abgegeben. Aber wäre alles gut gelaufen und hätte es
Und die Öffentlichkeit hat die Medien ig- Ich hebe meine Stimme für die Partei auf, ihnen eine große Karriere ermöglicht, wür-
noriert und selbst entschieden, darum ist die das Schlachthaus abschafft. Tiere soll- den sie nicht darüber reden. Ich hasse Ver-
der Brexit sehr wichtig. Er ist der größte ten frei geboren werden und ihr Leben le- gewaltigungen. Ich hasse Übergriffe. Ich
demokratische Sieg in der Geschichte der ben dürfen. Sie sollten nicht als Sklaven hasse sexuelle Situationen, die jemandem
britischen Politik seit vielen, vielen geboren werden. Ich verstehe nicht, wa- aufgezwungen werden. Aber in sehr vielen
rum irgendwer glaubt, Tiere verdienten es, Fällen betrachtet man die Umstände und
Das Gespräch führte die SPIEGEL-Mitarbeiterin Juliane zerhackt zu werden. Wenn du erlaubst, denkt sich, dass die Person, die als Opfer
Liebert. dass das Schlachthaus weiterhin existiert, bezeichnet wird, lediglich enttäuscht ist.
DER SPIEGEL 47 / 2017 123
Kultur

In der gesamten Geschichte der Mu- Ich bin nicht besonders begeistert
sik und des Rock ’n’ Roll gab es Mu- von der EU, aber das ist nicht wichtig.
siker, die mit ihren Groupies geschla- Ich will jedoch kein Teil eines deut-
fen haben. Wenn man die Geschichte schen Imperiums sein. Und ich denke
durchgeht, ist fast jeder schuldig, mit nicht, dass England Teil eines deut-
Minderjährigen geschlafen zu haben. schen Imperiums sein sollte.
Warum nicht gleich alle ins Gefäng- SPIEGEL: Sie halten die EU für ein
nis werfen? deutsches Imperium?
SPIEGEL: David Bowie hat laut Aus- Morrissey: Ja. Und so denken viele
sage der Betroffenen eine 15-Jährige Menschen. Vielleicht ist das der
entjungfert. Auch das eine Bagatelle? Grund, warum die Menschen für den
Morrissey: Das war damals absolut Brexit gestimmt haben. England
üblich. konnte keine Entscheidungen mehr
SPIEGEL: Waren Sie je in solch einer treffen, ohne sich an Deutschland zu

EDUARDO VERDUGO / PICTURE ALLIANCE / AP


Situation? wenden.
Morrissey: Nein. SPIEGEL: Also denken Sie, Angela
SPIEGEL: Weder auf der einen noch Merkel ist die Mutter Europas?
auf der anderen Seite? Morrissey: Nun, sie ist klug genug,
Morrissey: Nein. Niemals, niemals, nicht viel zu sagen. Sie bleibt still,
niemals. was sehr interessant ist. Aber ich bin
SPIEGEL: Ist Provokation ein wichtiges traurig, dass Berlin die Vergewalti-
Element Ihrer Kunst? gungshauptstadt geworden ist.
Morrissey: Was ist Provokation? Sti- SPIEGEL: Die was? Hauptstadt der Ver-
mulation? Sänger Morrissey in Mexiko-Stadt, März 2017 gewaltigung?
SPIEGEL: Sagen Sie manche der pro- Jedem Land seine Geschichte Morrissey: Ja, ja! Wegen der offenen
vokanteren Dinge nur, um sich gegen Grenzen. Viele Menschen denken, es
bestimmte Strömungen in der derzeit all- sehr traurig. Das politische Leben fällt war ein Fehler von Angela Merkel, dass
gemeinen Weltanschauung zu stellen? überall auf der Welt auseinander. In ge- sie am Anfang sagte: „Kommt, kommt alle
Morrissey: Ja, ich meine, man muss die De- wissem Sinne freut mich das, denn schon her!“ Und dann: „Huch, huch, doch nicht!“
batte öffnen. Genauso wie man Israel nicht die Idee von Präsidenten und Minister- SPIEGEL: Sie sind also dagegen, Flüchtlinge
boykottieren sollte. Man muss sich zusam- präsidenten erscheint mir extrem altmo- aufzunehmen?
mensetzen und den Menschen zuhören. disch. Die Vorstellung, dass eine einzige Morrissey: Okay, reden wir über den
Man kann nicht sagen, ich hör dir nicht Person, sei es eine Vater- oder eine Mut- Multikulturalismus. Ich will, dass Deutsch-
zu, du bist nicht meiner Meinung, also hast terfigur, uns vor allem Übel rettet, ist ziem- land deutsch ist. Ich will, dass Frankreich
du unrecht. Das ist auch das Problem mit lich absurd. französisch ist. Wenn man versucht, alles
einem großen Teil der britischen Presse. SPIEGEL: Sie meinen, die Welt geht gerade multikulturell zu machen, hat man am
Sie reden gern mit mir, aber dann drucken durch die Pubertät? Ende gar keine Kultur mehr. Alle euro-
sie ein Interview, in dem sie eben nicht Morrissey: Ja! Die Menschen sind das Esta- päischen Länder haben viele, viele Jahre
schreiben, was ich gesagt habe. Das ist blishment leid. Alle sind müde. Wir glau- für ihre Identität gekämpft. Und jetzt
falsch, denn es ist meine moralische Sicht, ben niemandem mehr. Wir glauben nicht werfen sie sie einfach weg. Ich finde das
nicht ihre. Provokation ist ein zu starkes mehr an die alten Machtstrukturen. Die traurig.
Wort, aber ich bin für Klartext. Armen bleiben arm, egal was passiert. Die SPIEGEL: Aber Sie leben in den USA, die
SPIEGEL: Was ist die letzte Lüge über Sie? Militarisierung der Welt ist überholt, sie in ihrer jetzigen Form entstanden sind,
Morrissey: Dass „Jacky“ ein Song über den funktioniert nicht. Wenn wir also politi- weil Menschen von überallher kamen.
Brexit wäre. Aber so ist die britische Pres- sche Figuren sehen, die nach politischen Morrissey: Jedes einzelne Land hat seine
se. Das ist die „Loony Left“, die verrückte Figuren der Fünfziger modelliert sind, mit Geschichte von Revolutionen und Befrei-
Linke, die sind so extrem. Sie sind inzwi- Krawatte, schönen Schuhen und gutem ung. Andere Länder haben nicht deine Ge-
schen wie das „Dritte Reich“. Sie lassen Anzug, dann ist es ein sehr altmodisches schichte. Es ist nicht einfach, das zu ver-
sich nicht beeinflussen, und man darf kei- Prinzip. So ist die Welt nicht. Es gibt im- binden. Wenn Menschen einwandern, brin-
ne andere Meinung mehr haben. Es ist mer mehr Menschen wie mich auf der gen sie ihre Religion und ihre Sitten mit
sehr, sehr langweilig, und es ist ziemlich Welt, wir sind viele. Wir wollen das nicht und versuchen, die zu etablieren. Und da
gefährlich. Die Menschen sind heute be- mehr, weil es uns unglücklich macht. Es beginnt die Verwirrung.
sessen davon, wo sie politisch stehen. Sie ist vorbei. SPIEGEL: Also sagen Sie, jeder sollte blei-
sind engstirnig. Seien es die Rechten oder SPIEGEL: Was ist die Rolle der Musik in die- ben, wo er ist?
die Linken. Ich bin nicht politisch, ich bin ser Konstellation? Morrissey: (lacht laut) Nein. Aber ich den-
apolitisch, aber ich bin ein menschliches Morrissey: Musik ist das absolut Wichtigste. ke, jedes Land sollte seine Identität bewah-
Wesen, das in der jetzigen Welt existiert. Der Schlüssel zum Überleben. Musik wird ren. Millionen Menschen sind für die deut-
Alles, was wir tun, hat auch mit Politik zu jetzt zensiert, sie wird kontrolliert, damit sche Identität gestorben. Wenn Sie meinen,
tun. Aber wie gesagt, ich habe noch nie in sie nur noch Unterhaltung ist. Trotzdem sie hätten Respekt verdient, dann müssen
meinem Leben irgendeine Partei gewählt. werden alle, die etwas zu sagen haben, ei- Sie ihr Land beschützen.
SPIEGEL: Ja, das sagten Sie. nen Weg finden, das zu tun. Musik ist un- SPIEGEL: Mr Morrissey, wir danken Ihnen
Morrissey: Theresa May ist absurd. Donald ser einziger Freund. für dieses Gespräch.
Trump ist absurd. Sie haben keinen Sinn SPIEGEL: Was denken Sie über die Situation
dafür, wie man Menschen führt. Wenn sie in Deutschland? Video:
sprechen oder dich ansehen, weißt du, sie Morrissey: Jede Sekunde, die ich je in So klingt Morrissey
haben keine Ahnung davon. Theresa May Deutschland verbracht habe, war mir ein spiegel.de/sp472017morrissey
hat keine Ahnung, was sie tun soll. Es ist Privileg. Deutschland war mir ein Freund. oder in der App DER SPIEGEL

124 DER SPIEGEL 47 / 2017


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (2) Dan Brown 1 (2) Peter Wohlleben Das geheime


Origin Lübbe; 28 Euro Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro

2 (3) Sebastian Fitzek 2 (1) Rolf Dobelli Die Kunst


Flugangst 7A Droemer; 22,99 Euro des guten Lebens Piper; 20 Euro

3 (1) Lucinda Riley 3 (4) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt


Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro

4 (–) Joachim Meyerhoff 4 (7) Peter Wohlleben Das geheime


Die Zweisamkeit der Einzelgänger Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro

Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro


5 (5) Axel Hacke Über den Anstand
5 (4) Daniel Kehlmann in schwierigen Zeiten und
Tyll Rowohlt; 22,95 Euro
die Frage, wie wir miteinander
umgehen Kunstmann; 18 Euro
6 (5) Robert Menasse
6 (3) Gregor Gysi
Die Hauptstadt Suhrkamp; 24 Euro
Ein Leben ist zu wenig Aufbau; 24 Euro

7 (6) Ken Follett Das Fundament 7 (10) Gerald Hüther Raus aus
der Ewigkeit Lübbe; 36 Euro
der Demenz-Falle! Arkana; 18 Euro

8 (8) Maja Lunde 8 (9) Richard David Precht


Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro Erkenne dich selbst Goldmann; 24 Euro

9 (7) Kerstin Gier 9 (6) Christian Lindner


Wolkenschloss Fischer; 20 Euro Schattenjahre Klett-Cotta; 22 Euro In der nächsten
10 (10) Marc-Uwe Kling 10 (17) Thorsten Schulte
QualityLand Ullstein; 18 Euro Kontrollverlust Kopp; 19,95 Euro SPIEGEL-Ausgabe
11 (14) Mariana Leky Was man von 11 (8) Herfried Münkler Der
hier aus sehen kann DuMont; 20 Euro Dreißigjährige Krieg Rowohlt; 39,95 Euro am 25.11.2017
12 (13) Andreas Michalsen Heilen
12 (–) Juli Zeh mit der Kraft der Natur Insel; 19,95 Euro
Leere Herzen
Luchterhand; 20 Euro 13 (12) Yuval Noah Harari
Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
Juli Zeh schaut in eine
düstere Zukunft: Ihr neuer 14 (15) Elli H. Radinger Die Weisheit
Roman erzählt von einer
Welt ohne Werte, in der der Wölfe Ludwig; 19,99 Euro Themen
das Geschäft mit Selbst-
mordattentätern blüht 15 (14) Eckard von Hirschhausen Wunder
wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
im Dezember:
13 (9) Sabine Ebert Schwert und Krone.
Der junge Falke Knaur; 19,99 Euro
16 (11) Ferdinand von Schirach /
Alexander Kluge Der Herzlichkeit
der Vernunft
Die Romane und
14 (11) Robert Harris Luchterhand; 10 Euro
München Heyne; 22 Euro
17 (–) Volker Weidermann Träumer.
Sachbücher des Jahres.
15 (–) Jan Seghers Als die Dichter die Macht
Menschenfischer Kindler; 19,95 Euro übernahmen
Kiepenheuer & Witsch; Bestseller, Neuentde-
16 (12) Jojo Moyes 22 Euro
Kleine Fluchten Wunderlich; 12 Euro SPIEGEL-Redakteur Weider- ckungen, Übersehenes –
mann schreibt über einen
17 (13) Jo Nesbø einzigartigen Moment der von Alina Herbing
Durst Ullstein; 24 Euro Geschichte: 1919 gründeten
Schriftsteller die Münchner
Räterepublik
und Mariana Leky
18 (15) Sven Regener
Wiener Straße Galiani; 22 Euro 18 (–) Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive bis Andreas Reckwitz
19 (20) Carmen Korn
Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro
und Yanis Varoufakis
Zeiten des Aufbruchs Kindler; 19,95 Euro 19 (20) Nadia Murad
Ich bin eure Stimme Knaur; 19,99 Euro
20 (16) Walter Moers Prinzessin Insomnia &
der alptraumfarbene Nachtmahr 20 (–) Ijoma Mangold
Knaus; 24,99 Euro Das deutsche Krokodil Rowohlt; 19,95 Euro
DER SPIEGEL 47 / 2017 125
Kultur

WARNER BROS.
„Aus dem Nichts“-Schauspielerin Kruger*: In verblüffendem Tempo und mit roher Direktheit erzählt

Die Unmöglichkeit zu trauern


Kino Diane Kruger spielt in Fatih Akins Film „Aus dem Nichts“ eine Frau, die Vergeltung
will für die Ermordung ihrer Liebsten durch Neonazi-Terroristen – ein Kinoereignis.

D
as behagliche Kleinfamilienleben zogen hat – und jäh begreift, dass sie ihre an die Terrorakte des Nationalsozialisti-
der Katja Şekerci endet an einem Liebsten nie mehr wiedersehen wird. Kru- schen Untergrunds (NSU) erinnert.
verregneten Hamburger Herbst- ger spielt diese Szene mit einer fabelhaften Im Jahr 2004 explodierte in der Kölner
abend. Gerade noch hat man der Heldin Wucht, indem sie fast überhaupt nicht Keupstraße eine auf ein Fahrrad montierte
des Films „Aus dem Nichts“ dabei zugese- spielt. Der Schock lässt ihre Gesichtszüge Nagelbombe vor dem Laden eines türki-
hen, wie sie ihren sechsjährigen Sohn in nicht entgleiten, sondern nur kurz die schen Friseurs, die offensichtlich von Tätern
der Reisebüroklitsche ihres Ehemanns ab- Wangen beben; die Augen röten sich, der des NSU dort platziert worden war. Nur
lieferte und dann gemeinsam mit einer Mund wird schmal; dann ist ihr Gesicht durch Zufall gab es bei dem Anschlag zwar
Freundin, beide in dicke Handtücher ge- wie versteinert von einem Schmerz, der viele Verletzte, aber keine Toten. Zwischen
mümmelt, durch die Dampfwolken eines sich erst mit der Zeit in Zorn verwandeln 2000 und 2006 ermordeten die NSU-Terro-
Hamam spazierte. Nun starrt sie durch die wird. risten Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos,
regenverschmierten Scheiben ihres Autos „Aus dem Nichts“ ist ein Film des Regis- laut Generalbundesanwalt mit Unterstüt-
auf Krankenwagensirenen, Absperrbänder seurs Fatih Akin. Er lief im Mai in Cannes zung ihrer Gefährtin Beate Zschäpe, in deut-
und Polizisten. Als sie aussteigt und An- im Wettbewerb des Filmfestivals und ist schen Großstädten wie Hamburg, Nürnberg
stalten macht, hinter die Absperrung zu für Deutschland im Rennen um die Oscars und München neun Menschen mit türki-
spurten, wird sie von Uniformierten zu Bo- in Hollywood vertreten. Der Film schildert schen und griechischen Wurzeln aus rassis-
den geworfen. Vom Anblick des Tatorts einen Bombenanschlag und seine juristi- tischen Motiven. Viele Jahre lang ermittelten
und der Opfer sei abzuraten, sagt einer sche Aufarbeitung, einen Fall, der stark deutsche Polizisten im Fall der Verbrechens-
der Ermittler. „Das sind keine Personen serie, die man auf den krummen Namen
mehr, das sind Leichenteile.“ „Dönermorde“ taufte, erfolglos im Milieu
Es ist ein klassischer Thrillerauftakt, der Die Polizei forscht der Opfer. Erst 2011 flog das Mordkomplott
die Schauspielerin Diane Kruger, 41, im das Leben der Opfer des NSU auf; Mundlos erschoss Böhnhardt,
Film „Aus dem Nichts“ in der Rolle der dann sich selbst, Zschäpe stellte sich.
Katja Şekerci zeigt. Sie stellt eine junge aus – und rückt zur
Deutsche dar, die einen türkischstämmigen Hausdurchsuchung an. * Mit den Darstellern Samia Chancrin, Denis Moschitto,
Mann geheiratet und mit ihm ein Kind er- Numan Acar.

126 DER SPIEGEL 47 / 2017


In „Aus dem Nichts“ sieht sich die Hel-
din einem nervösen Kommissar (Henning
Peker) gegenüber, der sie fragt: „War Ihr
Mann religiös? War er Kurde? War er
politisch aktiv?“ Ein paar Tage später rückt
der Ermittler bei Katja Şekerci zu einer
Hausdurchsuchung an – schließlich habe
ihr Mann vor seiner Ehe wegen Drogen-
geschäften einige Zeit im Knast gesessen.
DER SPIEGEL live
Für Diane Kruger ist „Aus dem Nichts“
vor allem „ein Film über Trauer. Er be-
schreibt etwas, was in der Realität heute
fast alltäglich geworden ist. Wir sehen uns
in der Uni
die Nachrichten im Netz oder im Fernse-
hen an. Wir erfahren, dass bei einem An-
schlag Dutzende oder Hunderte Menschen
getötet wurden. Man sagt uns, welche Mo-
Sollen wir noch an die
tive der Täter hatte. Aber die Opfer wer-
den auf eine Zahl, eine Nummer reduziert.
Über den Schmerz und die Not der Hin-
Liebe glauben?
terbliebenen erfahren wir nichts“.
Fatih Akins Film will diese gewohnte
Perspektive ändern. „Aus dem Nichts“ ist

Susanne Schleyer
ein Melodram, das mit großer emotionaler
Kraft und in verblüffendem Tempo erzählt
– und stets ganz nah bei seiner Heldin
bleibt. Bei ihrer Empörung, als sie sich da-
ran erinnert, dass sie die Täterin beim Ab-
stellen des Bombenfahrrads beobachtet
hat, und ihr keiner der Polizisten Glauben
schenkte. Bei ihrem Hader mit der eigenen
Mutter und den Eltern ihres toten Mannes,
die in ihrer Verzweiflung die Ehe ihrer Kin-
der durch den Schmutz ziehen. Bei ihren
Diskussionen mit dem Anwalt Danilo (De-
nis Moschitto), der ihr schließlich in einem
dramatischen Moment – in dem schon alle
Hoffnung darauf, dass man die Mörder je
aufspüren wird, verloren scheint – die
Nachricht verkündet, dass die Polizei durch Soziologin Eva Illouz im Gespräch mit SPIEGEL-
einen Tipp doch noch fündig geworden sei.
Die Heldin hatte recht mit ihrem früh ge- Redakteurin Kerstin Kullmann über Anspruch
äußerten Verdacht: „Das waren Nazis!“
Regisseur Akin hat seinen Film in drei und Wirklichkeit eines schönen Gefühls
Kapitel gegliedert. Das erste mit dem Titel
„Familie“ endet mit der Ergreifung der
mutmaßlichen Täter. Das zweite Kapitel
heißt „Gerechtigkeit“ und spielt im Ge-
richtssaal. Auch hier konzentriert sich Donnerstag, 30. November 2017, 18 Uhr
„Aus dem Nichts“ radikal auf seine Haupt-
figur. Die beiden Angeklagten (Hanna Hils- Freie Universität Berlin, Hörsaal 1a,
dorf und Ulrich Brandhoff) sind mal ein
verstocktes, mal ein feixendes Schurken- Habelschwerdter Allee 45,
paar, ihr Anwalt (Johannes Krisch) ist ein
Ekel, dem der Herrenmenschendünkel ins Rost- und Silberlaube, 14195 Berlin
zerfurchte Gesicht geschrieben steht. Wie
das konsequent in einer Hamburger
Regenhölle spielende erste Kapitel ist auch Eine Veranstaltung in englischer Sprache.
das Gerichtssaaldrama atmosphärisch Der Eintritt ist frei. Einlass ab 17.30 Uhr.
streng durchkomponiert – hier herrschen Weitere Informationen unter
die Kälte und die Sterilität des Labors, www.spiegel-live.de und www.facebook.com/derspiegel/events
in dem allein Krugers Figur menschliche
Hitze zeigen darf.
„Der Film soll ein Spiegel für die Zu-
schauer sein. Er bietet ihnen an, sich in
die Haut der Heldin hineinzuversetzen“,
sagt Diane Kruger. Sie spricht am Telefon
DER SPIEGEL 47 / 2017 127
IN DER SPIEGEL-APP

aus ihrer New Yorker Wohnung. Für die Spannungskino; das in Griechenland am
Verhältnisse des deutschen Kinos ist Kru- Strand spielende Kapitel („Meer“) endet
ger, die als Diane Heidkrüger in der Nähe mit einer Schlusspointe, über die sich die
von Hildesheim aufwuchs, ein Weltstar. Kinozuschauer streiten sollen. „Der Film
Sie hat in Paris als Model gearbeitet und ist aus einem Ohnmachtsgefühl heraus ent-
in Wolfgang Petersens Hollywood-Anti- standen“, sagt Fatih Akin. „Angesichts der
kendrama „Troja“ (2004) die schöne Hele- Morde des NSU und des endlosen Prozes-
na gespielt. Sie machte in Quentin Taran- ses gegen Beate Zschäpe musste ich meine
tinos „Inglourious Basterds“ (2009) Jagd Ohnmacht bekämpfen, indem ich mir die-
auf Nazis – und war in Benoît Jacquots sen Film ausdachte. Das war der Impuls –
„Leb wohl, meine Königin!“ (2012) eine auch wenn daraus im Lauf der Zeit eine
ziemlich huldferne Marie Antoinette. „Aus Geschichte entstanden ist, die ihr Eigen-
dem Nichts“ ist ihr erster deutschsprachi- leben entwickelt hat.“ Während er gemein-
ger Film – und ein staunenswerter Akt der sam mit Hark Bohm das Drehbuch zu
Einfühlung und Anverwandlung. Mit Fatih „Aus dem Nichts“ schrieb, war Akin einige
Akin ist sie vor Drehbeginn in jenen Ham- Male im Gerichtssaal in München und sah
burger Straßen und Kneipen unterwegs ge- der Verhandlung gegen Zschäpe zu. „Für
mich ist das einer der wichtigen Prozesse
der deutschen Nachkriegsgeschichte“, sagt
„Fatih Akin und ich er. „Ich verstehe, dass keiner der Men-
schen, die hier Recht sprechen sollen, ei-
wussten, dass er ein nen Fehler machen will. Aber ich sehe
großes Risiko einging, auch, was für eine unglaubliche Belastung
dieses Gerichtsverfahren für die Angehö-
als er mich engagierte.“ rigen der Opfer sein muss.“
Schon vor dem Filmstart in Deutsch-
wesen, in denen der Regisseur seine Kind- land, am 23. November, ist „Aus dem
heit und Jugend verbrachte; mit Akribie Nichts“ in viele Länder der Welt verkauft.
und Fleiß hat sie die Welt der Katja Şekerci Neben euphorischen Reaktionen äußer-
erkundet. „In meiner Arbeit als Schauspie- ten ein paar Kritiker auch Bedenken. Sie
lerin ist es mir zum ersten Mal passiert, warfen dem Regisseur allen Ernstes vor,
dass die Grenze zwischen meinem persön- dass er eine blonde deutsche Schauspie-
lichen Leben und meinem Privatleben ein- lerin ohne Migrationshintergrund die Ehe-
fach weg war“, sagt Kruger. frau eines türkischstämmigen Mannes
Einmal sieht man die Frau, die sie in spielen lasse, der gemeinsam mit seinem
Die Namenlosen „Aus dem Nichts“ spielt, mit Fäusten auf Sohn von Rassisten ermordet wird. „Was
die Täterin im Gerichtssaal losgehen. Ein- ist das denn für eine Argumentation?“,
„Nummer 25“ steht auf dem mal liegt die Hauptfigur, zum Selbstmord zürnt Akin. „Ich drehe Spielfilme. Mein
entschlossen, mit aufgeritzten Handgelen- Job ist die Transformation von Realität.
Grabstein. Oder „Unbekannt“. Oder
ken in der Badewanne. Einmal steuert sie Wenn wir heute das Kino von Rainer Wer-
schlicht „Afrikaner“. Auf vielen draufgängerisch wie eine Actionheldin ihr ner Fassbinder sehen, Filme wie ,Angst
Friedhöfen in Sizilien liegen die Lei- Auto über eine Baubrache, auf der Flucht essen Seele auf‘ oder ,Die dritte Gene-
chen derer, die bei der gefährlichen vor einem Nazifinsterling. In den stärksten ration‘, dann sehen wir ein Porträt von
Überfahrt von Afrika nach Europa Szenen des Films aber verharrt die Kamera Deutschland in den Siebzigerjahren. So
gestorben sind. Wer waren sie? Wer fast bewegungslos auf Krugers von Schmin- erzähle ich in ,Aus dem Nichts‘ vom
trauert um sie? Der Fotograf Max ke und Tränen verschmiertem Gesicht und Deutschland der Gegenwart und von un-
Hirzel hat mit seiner Kamera diejeni- beobachtet, wie aus ihrer Verbitterung der serem Irrsinn.“
Entschluss zur Vergeltung entsteht. Jenseits solcher Überlegungen schildert
gen begleitet, die den unbekannten
Völlig zu Recht hat die Jury des Festivals der Film ein Drama, das auch außerhalb
Toten Gesicht und Würde zurück- in Cannes Kruger im Mai mit dem Preis Deutschlands offenbar unmittelbar zu be-
geben wollen – Anwälte, Mediziner, als beste Schauspielerin ausgezeichnet. „Es greifen ist. Einerseits sicher wegen des ein-
Forensiker, die sagen: „Was wir tun, freut mich unendlich, dass sie als so phä- drucksvollen cineastischen Formbewusst-
ist nicht für die Toten, sondern nomenal und sensationell wahrgenommen seins des Regisseurs, andererseits der un-
für die Lebenden, für ihre Familien.“ worden ist, wie sie wirklich ist“, sagt Fatih erfreulichen Weltlage wegen. „Rassismus
Akin. „Für mich ist die Arbeit mit Schau- ist ein globales Problem“, so der Regisseur,
Sehen Sie die Visual Story im spielerinnen und Schauspielern das, was „deswegen wird diese Geschichte in Un-
digitalen SPIEGEL, oder scannen mich am Filmemachen am meisten interes- garn und Polen genauso verstanden wie
siert.“ Kruger berichtet von ihrer Vertraut- in der Türkei.“ Diane Kruger formuliert
Sie den QR-Code. heit mit dem Regisseur, seitdem sie sich in es kaum anders: „Das Erschreckende ist,
Cannes vor ein paar Jahren zum ersten dass dieser Film überall spielen könnte. In
Mal begegnet sind. „Fatih und ich wussten Amerika, in Frankreich oder sonst wo auf
beide, dass er ein großes Risiko eingegan- der Welt.“ Wolfgang Höbel
gen ist, als er mich für diesen Film engagiert
hat. Ich kann sagen: Für mich ist eine Rolle Video: Ausschnitte aus
meines Lebens daraus geworden.“ „Aus dem Nichts“
„Aus dem Nichts“ ist ein Wunderwerk spiegel.de/sp472017akin
JE TZ T DI G I TAL L E S E N an roher Direktheit und mitreißendem oder in der App DER SPIEGEL

128 DER SPIEGEL 47 / 2017


Kultur

summen sich an Marktpreisen orientieren.


Sie wären so hoch, dass man dafür sogar
ein anderes Gemälde erwerben könnte.
Auch das bringt dieser Rekord also mit sich.
SPIEGEL: Der ist auch deshalb so erstaunlich,
weil eben im Vorfeld darüber gestritten
wurde, ob das Werk nicht als Werkstatt-
arbeit einzuschätzen sei – ob nicht eher
die Gehilfen Leonardos das Bild gemalt
hätten und der Meister selbst kaum betei-
ligt gewesen sei. Warum schlägt sich diese
Diskussion nicht im Preis nieder?
Schmidt: Sie schlägt sich ja nieder! Die Auk-
tionatoren haben einen sogenannten Hope
Value: Sie verkaufen die bloße Möglich-
keit, dass ein solches Bild von der Branche
in Zukunft als Original anerkannt werden
wird. Wäre dies heute schon ein gesicher-
DREW ANGERER / GETTY IMAGES

tes Werk von Leonardo, also ein Bild, das


von allen Spezialisten als unzweifelhaft
angesehen oder einfach hinreichend durch
Quellen dokumentiert ist, dann wäre der
Preis wahrscheinlich noch viel stärker in
die Höhe gegangen.
SPIEGEL: Noch höher ist kaum vorstellbar.
Versteigertes Gemälde „Salvator Mundi“, um 1500: Verkauft wird die Möglichkeit eines Originals Schmidt: Doch. Hinzu kommt, dass das Ge-
mälde nicht einmal im allerbesten Zustand
ist. Die Werke Leonardos im Louvre, in
der National Gallery in London und bei

„Immer mehr Milliardäre“ uns in den Uffizien sind in einem viel bes-
seren Zustand, sie sind zudem in der Ver-
gangenheit nachweisbar, sie haben eine
Kunstmarkt Der Direktor der Uffizien, Eike Schmidt, Rolle in der Kunstgeschichte gespielt: Es
über den jüngsten Rekord in der Auktionsbranche: 450 Millionen Dollar sind gewissermaßen einflussreiche Gemäl-
de. Damit hätten sie natürlich einen viel
für ein Werk, das nur vielleicht von Leonardo da Vinci stammt höheren Marktwert, der aber wegen der
Unverkäuflichkeit ein theoretischer bleibt.
Der deutsche Kunsthistori- Schmidt: Es gibt, lassen Sie mich das vor SPIEGEL: Das Motiv – Jesus als Erlöser – ist
ker Schmidt, 49, leitet seit allem anderen anführen, einen positiven ein christliches. Doch interessieren sich die
2015 die Uffizien in Florenz. Aspekt. Es waren lange die Gemälde der heutigen Käufer überhaupt noch dafür,
Sie sind eines der berühm- klassischen Moderne und später die Werke was gezeigt wird?
DIRK VOGEL / WIWO-FOTO

testen Museen der Welt und der Nachkriegszeit, beispielsweise von Schmidt: Ein Zeichen unserer Zeit ist, dass
besitzen drei Werke Leonar- amerikanischen abstrakten Malern wie bei der Vermarktung solcher Bilder mit christ-
dos. 2019 tritt Schmidt als Jackson Pollock oder Mark Rothko, die lichen Themen das Religiöse nicht gerade in
Direktor des Kunsthistori- Rekorde gebrochen und solche Stile auf den Vordergrund gestellt wird. Man richtet
schen Museums in Wien an. die ersten Ränge geschoben haben – und das Scheinwerferlicht auf andere Aspekte.
jetzt haben wir wieder ein Altmeisterwerk, SPIEGEL: Das Auktionshaus Christie’s ver-
SPIEGEL: Herr Schmidt, 450 Millionen das mit großem Abstand das Feld anführt. wies vor der Versteigerung am Mittwoch
Dollar für ein Renaissancegemälde, Das ist ein sehr gutes Signal für alle Mu- in New York auf die Ähnlichkeit mit Leo-
von dem nicht einmal klar ist, ob es seen, die alte Kunst bewahren, denn eine nardos berühmtestem Werk und sprach
wirklich – wie behauptet – von Leonardo ökonomische Bewertung bedeutet immer von einer „männlichen ,Mona Lisa‘“.
selbst gemalt wurde. Waren Sie über- außerdem eine kulturelle Wertung. Natür- Schmidt: Und doch ist es vielleicht unge-
rascht? lich sehe ich ebenso Nachteile. wöhnlich, dass dieses Sujet nun der abso-
Schmidt: Dieses Resultat kommt nicht aus SPIEGEL: Welche? lute Rekordhalter ist. Es ist eben nicht der
dem Nichts, es ist Teil einer Entwicklung, Schmidt: Staatliche Museen, also auch un- liegende weibliche Akt. Wenn man ein Mu-
die man auf dem Kunstmarkt zuerst in den seres, können bei solchen Auktionen nicht seum hütet wie die Uffizien, das nun ein-
Achtzigerjahren und dann wieder seit dem mithalten. Wenn der Käufer ein solches Bild mal auch ein Schatzhaus vieler christlicher
vergangenen Jahrzehnt beobachten kann: im privaten Tresor verschwinden lässt, ist Kunstwerke ist, dann erscheint diese Wert-
Da lassen sich immer neue Rekordpreise es der Öffentlichkeit entzogen. Eine andere schätzung wiederum durchaus erfreulich.
erzielen, die in bislang ungeahnte Höhen unmittelbare Folge für die Museumsland- Wir sehen es ja hier in Florenz: Die Besu-
getrieben werden. Diese Summen bilden schaft ist diese: Die Uffizien besitzen drei chermassen kommen aus allen Ländern,
den ökonomischen Hintergrund des heuti- große Werke von Leonardo, die natürlich allen Kulturkreisen, und tatsächlich schau-
gen Kunstmarkts direkt ab – es gibt einfach niemals auf den Markt gelangen werden – en sich die Leute die christlichen Werke
immer mehr Milliardäre. aber wir werden sie auch nicht mehr an an- intensiv und mit Bewunderung an. So
SPIEGEL: Nach der Auktion fiel erst einmal dere Museen für Ausstellungen verleihen funktioniert Kulturaustausch im besten
kein Käufername, was aber halten Sie von können. Es wird unbezahlbar sein, sie auf Sinn. Und der Weltkunstmarkt bestätigt
diesen Preisentwicklungen? Reisen zu schicken, weil die Versicherungs- nun diese Offenheit. Interview: Ulrike Knöfel
DER SPIEGEL 47 / 2017 129
DER SPIEGEL – das deutsche Nachrichten-Magazin.
Der neue Film
in
von Fatih Ak
Kinostart
am 23. November

AUS DEM NICHTS


Aus dem Nichts zerbricht Katjas (Diane Kruger) Leben:
Ihr Mann (Numan Acar) und ihr Sohn (Rafael Santana)
sterben bei einem Bombenanschlag. Die Polizei fasst
zwei Verdächtige: Ein junges Neonazi-Paar. Katja will
Gerechtigkeit – für sie gibt es keine Alternative.
AUS DEM NICHTS ist ein Thriller über die Liebe einer
Frau zu ihrer Familie über den Tod hinaus. Der Film
feierte seine Weltpremiere im diesjährigen Wettbewerb
des 70. Festival de Cannes, in dessen Rahmen Diane
Kruger für ihre Darbietung als beste Schauspielerin ausge-
zeichnet wurde. Für Diane Kruger („Inglourious Basterds“,
„The Bridge“) ist es die erste Rolle in einem deutschspra-
chigen Film. Fatih Akin, der bereits internationale Erfolge
mit „Gegen die Wand“ und „Auf der anderen Seite“
feierte, verfasste für AUS DEM NICHTS das Drehbuch
und führte Regie.
Schicken Sie uns eine E-Mail mit Ihrem Namen und Ihrer Adresse an:
kinokarten-verlosung@spiegel.de
Stichwort: AUS DEM NICHTS
Einsendeschluss ist der 24.11.2017, 24 Uhr. Die Gewinner werden im Anschluss
schriftlich benachrichtigt und erhalten die Kinokarten auf dem Postweg. Die Freikar-
ten sind in allen Kinos einlösbar, in denen der Film in Deutschland gezeigt wird. Es
gelten die aktuellen Datenschutzbestimmungen, insbesondere werden die Adressen
der Gewinnspielteilnehmer nicht an Dritte weitergegeben. Der Rechtsweg ist ausge-
schlossen. Missbrauch wird zur Anzeige gebracht.

www.AusDemNichts-DerFilm.de
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und Trailer ansehen. /WarnerBrosSpotlight
Kultur

Die böse Unantastbarkeit


Debatte Die Enthüllungen reißen nicht ab: Wir leisten uns gesellschaftliche Reservate
wilder Macht – nicht nur in der Ökonomie. Von Nils Minkmar

CHELSEA GUGLIELMINO / FILMMAGIC / GETTY IMAGES


Protestplakat in Hollywood vergangene Woche: Das ging über Jahrzehnte

E
s sind keine Werbewochen für uns Männer. Je mehr dem Schutz, den diese Männer durch ihr kulturelles Milieu
Frauen und junge Männer von ihren Begegnungen erfuhren. Das ist in den Aussagen der betroffenen Frauen
mit übergriffigen Berühmtheiten berichten, desto genau zu erkennen. Sie bilden jeweils Markierungspunkte,
düsterer wird das Bild. Neben Harvey Weinstein und die sich zu einem deutlichen und schrecklichen Muster
Kevin Spacey wurden nun so unterschiedliche, in diversen verbinden lassen.
Gruppen hoch angesehene Männer wie der Comedian Viele der Übergriffe gegen Frauen fanden im Hotelzim-
Louis C. K. und der Islamwissenschaftler Tariq Ramadan mer statt oder sogar bei den Männern zu Hause. Die Frau-
mit schweren Vorwürfen konfrontiert. In Frankreich hat en waren eingeladen und gingen freiwillig hin. Doch dann
der Fall Tariq Ramadan längst eine politische Dimension. endete schon die kommunikative Phase der Sache, und
Wer, wie ich selbst, in dem Mann einen interessanten Den- der Missbrauch dominierte die Situation. Es ist immer
ker eines friedlichen europäischen Islam sah, verkannte, dasselbe: Interesse, Flirt und Sexualität sind bloß die Fas-
welchen Kult er um sich herum pflegte und was im Schat- sade, in der sich der Eingang zu einer ganz speziellen
ten der Lichtgestalt offenbar alles möglich war. Man nimmt Hölle befindet.
an, dass gerade solch ein beobachteter und kritisierter Das Muster solcher kulturell ermöglichter sexualisierter
Mann sich stets korrekt benehmen muss, und kommt nicht Demütigung kann man an den Aussagen der Opfer von
drauf, dass dieser Schluss womöglich auch umgekehrt gilt: Bill Cosby erkennen. Cosby war ein beliebter, einflussrei-
Sein Status des umstrittenen Vordenkers befreit ihn von cher und respektierter Schauspieler, heute werden ihm
der Aufsicht kontrollierender Institutionen und verleiht von mehr als 60 Frauen sexuelle Übergriffe, Vergewalti-
ihm eine Macht, die keiner kontrolliert. gungen und Demütigungen vorgeworfen. Das ging über
Was ihnen jeweils vorgeworfen wird, unterscheidet sich Jahrzehnte, Strafverfolgung hatte er kaum zu fürchten. Be-
in der strafrechtlichen Relevanz, von daher folgten unter- verly Johnson, ein ehemaliges Model, hat in einem Text
schiedliche Reaktionen: Ramadan, der wegen Vergewal- für die „Vanity Fair“ beschrieben, wie er vorging. Erst un-
tigung angezeigt wurde, weist die Vorwürfe als ein poli- terhielt er sich, gab Ratschläge für die Karriere und das
tisches Komplott zurück. Der Comedian, der keine phy- Leben überhaupt, dann folgte eine Einladung nach Hause.
sische, allein seelische Gewalt ausübte, gab diese zu. Er Johnson war zu jener Zeit Single und voller Sympathie,
habe aber nicht geahnt, dass Frauen, die unter seiner Pro- ja Bewunderung für den Mann, der in der „Cosby Show“
tektion arbeiten, die Frage nicht angenehm gefunden hät- den lustigen und doch weisen Familienvater Dr. Cliff
ten, ob er schnell mal vor ihnen masturbieren könne. Huxtable gab. Sie ging gern hin. Doch Cosby, so ihre Schil-
Die Fälle sind unterschiedlich, doch die verbindenden derung, war an einem näheren Kennenlernen gar nicht
Elemente sind irritierend stark. Es gibt, so unterschiedlich interessiert. Er servierte ihr einen Cappuccino mit einer
diese Männer in Vermögen, Welteinstellung und politi- heftigen Dosis Betäubungsmittel. Bevor Johnson das Be-
scher Ausrichtung sein mögen, frappierende Ähnlichkeiten wusstsein verlor, realisierte sie noch, in welcher Gefahr
in dem von Zeuginnen geschilderten Vorgehen, aber auch sie sich befand, und protestierte; Cosby ließ von ihr ab

132 DER SPIEGEL 47 / 2017


und setzte sie in ein Taxi. Johnsons Schilderung macht maligen „Fox News“-Boss Roger Ailes angreift, hilft der
ganz deutlich, dass es Cosby nicht um Freundschaft, Liebe Linken. Wer Bill Cosby angreift, schadet der Sache der
oder Sex ging – das sind kommunikative Angelegenheiten. Schwarzen, wer Ramadan angreift, hilft den Salafisten.
Er wollte ein narkotisiertes Opfer und eine Inszenierung, Für ihre Taten tragen allein die Täter die Verantwortung,
in der seine ohnehin schon beträchtliche Macht auf grotes- aber es gibt ein System, das sie begünstigt, ermutigt und
ke Art und durch kriminelle Mittel überhöht würde. ihre Verfolgung verzögert hat. Die Vorfälle wurden ver-
harmlost, als singulär wegdiskutiert und die Opfer diskre-

C
osby äußert sich zu den Vorwürfen nicht, eine Straf- ditiert.
verfolgung ist kompliziert. In Dauer und Häufigkeit Die Branchen der Kultur sind für solche Täter förderlich
der Vorwürfe wäre sein Fall nur mit dem des briti- und schützend zugleich. Die Produktion kollektiver Be-
schen Moderators Jimmy Savile zu vergleichen. Der konn- wunderung in globalem Ausmaß ist das Kerngeschäft des
te über Jahrzehnte missbrauchen, demütigen und verge- unterhaltungsindustriellen Komplexes. Digitalwirtschaft,
waltigen, ohne Strafverfolgung fürchten zu müssen. Savile Medien, Kultur – diese immensen Branchen leben von
suchte seine Opfer in Kliniken, bevorzugt solchen, zu de- Personen, die sich zu Marken gemacht haben. Der Auf-
ren Errichtung er mit Spendengalas beigetragen hatte. stieg der globalen Finanzwirtschaft geht zuerst mit dem
Auch hier eine sadistische Inszenierung von Macht: der Aufstieg der Medienindustrie einher, die Digitalisierung
minderjährige Patient im Krankenbett als Opfer einer hat beide Kräfte noch einmal verstärkt. Wer heute reich
schwerreichen Celebrity. Wer soll den Opfern Glauben ist, wird morgen viel reicher. Wer heute berühmt ist, eine
schenken? Und welche Institution hat ein Interesse daran, Marke, kann mittels klug eingesetzter digitaler Netzwerke
gegen ihn vorzugehen? seinen Ruhm exponentiell steigern, und zwar über Nacht.
Cosby und Savile missbrauchten – so der Vorwurf – Donald Trump bildet die Spitze der Bewegung: Er hat die
Menschen, die von ihnen abhängig waren oder sie bewun- Matrix des Prominenzsystems verraten, als er erklärte,
derten. Dazu benutzten sie elaborierte Pläne, deren wie sein Ruhm ihm Straffreiheit garantiere: „Wenn du be-
Grundlage ihre persönliche Aura war. Weil sie als charis- rühmt bist, lassen sie dich alles machen.“
matische und wertvolle Männer erschienen, traute ihnen In unserer offenen Gesellschaft gibt es Reservate wilder
solche Verbrechen keiner zu, wollte man sie nicht verfol- Macht, in denen Missbrauch ungehindert und straffrei
gen und fühlten sich die Opfer mitschuldig. möglich ist. Die Berichte über Steueroasen und Optimie-
Es geht in diesen Fällen nicht um moderne Casanovas, rungstricks haben einen Einblick in diese Möglichkeiten
nicht um Affären oder um Sex, sondern um Demütigungs- gegeben – den anderen gibt die #MeToo-Debatte.
rituale und Verbrechen, die durch den Missbrauch von Darum ist der organisierte, häufige Missbrauch von
Macht möglich wurden. Darum berührt die Debatte grund- Macht an der Spitze ein grundlegendes politisches und
sätzliche Fragen unserer sozialen Struktur und der Ver- kulturelles Thema. Man wird dem nicht mit der Logik des
fassung unserer Kultur. In ihr geht es keineswegs nur um Skandals beikommen. Auch wenn alle Weinstein- oder
Grenzen von Flirtversuchen, Kleidungstaktiken oder gar Spacey-Filme, alle Ramadan-Bücher und die Shows von
eine neue Prüderie, sondern ganz elementar um die Frage Louis C. K. vergessen sind, wird es neue Fälle geben. Hier
von Machtverteilung und ihrer Kontrolle. Solche Täter – hilft nur eine grundlegende Demokratisierung der Kultur,
anerkannte Männer, die in der Öffentlichkeit hehre Ziele das Durchsetzen von Gleichberechtigung über ein System
und Ideen vertreten – agieren wie Ärzte, Therapeuten fester Quoten und die schulische Erziehung zur Kritik.
oder Priester, die zu Straftätern wurden, sich ihre Taten

A
selbst genehmigten. „Moral self-licensing“ nennt sich die- utoritäten ungestraft hinterfragen zu können, das
ses Phänomen: Ich tue doch sonst so viel Gutes, da fällt war einmal ein wesentliches Ziel der Erziehung,
diese kleine Untat nicht ins Ge- während heute die systemkonforme Optimierung
wicht. Solche Täter sind aber des Individuums als höchstes Ideal des menschlichen Le-
Es geht nicht um nicht wahnsinnig, sondern ge- bens propagiert wird. Man wird entschlossene Sadisten

Flirts, Affären
ben damit wieder, was ihr sozia- nicht davon abhalten können, Verbrechen zu begehen –
les Umfeld ihnen einflüstert. aber man kann Strukturen schaffen, in denen solche Taten
oder Sex, sondern Dass sie nämlich besondere
Männer seien, von Talenten,
zuverlässiger bekannt, schneller verfolgt und vor allem
beendet werden.
um Demütigung Gaben oder sonstiger Qualität,
die sie über die üblichen Regeln
Es beginnt in der Schule mit einer konsequenten Erzie-

und Machtmiss-
hung zum Respekt vor dem anderen Geschlecht und der
des Miteinanders in irdischer Einübung kritischer Fähigkeiten. Und es ist eine tägliche
brauch über sehr Mühsal erheben. Sie erfahren
das schon in kleinsten Interak-
Aufgabe am Arbeitsplatz, auf den vernünftigen Umgang
mit Macht zu achten, sie nicht zu konzentrieren, sondern
lange Zeiträume. tionen. Ein Redenschreiber von
Barack Obama, David Litt,
zu begrenzen, indem man sie teilt. Leider ist der Gedanke,
dass der Chef nicht recht haben muss, weil er nun mal
schreibt in seinen Memoiren, der Chef ist, eher von theoretischer Geltung als praktischer
wie ein Telefonat mit Weinstein auch in banalen Fragen Wirksamkeit. Das ist ein Rückschritt, denn der Westen
lief: Er donnerte eine Schimpfkanonade heraus, dann folg- basiert auf der Idee, dass irdische Macht nicht unum-
te der Hinweis auf die Zahl der gewonnenen Oscars, dann schränkt sein darf, sondern auf kommunikativ realisierter
kamen diverse Drohungen. Bei jedem anderen hätte man Vernunft fußen sollte. Warum diese ebenso bewährte wie
das Gespräch beendet, bei Harvey nahm man es halb zit- einleuchtende Erkenntnis nur für manche sozialen Sub-
ternd, halb lachend hin: So ist er eben, aber was tut er systeme gelten sollte, ist nicht einzusehen, hängt allein
nicht alles für die Sache! an Partikularinteressen. Wir waren schon mal weiter und
Die Verteidigung solcher Täter in ihrem Umfeld läuft sollten uns auf gute Vorbilder besinnen. Am Ende dieser
nach dem Muster der größeren gemeinsamen Sache: Wer Wochen der gruseligen Offenbarungen kann es nur heißen:
Weinstein angreift, schadet Hillary Clinton. Wer den ehe- mehr Pippi Langstrumpf wagen. I

DER SPIEGEL 47 / 2017 133


Kultur

Eritreischer Campari
Architektur Asmara, schönste Hauptstadt Afrikas, ist Weltkulturerbe. Hier treffen sich koloniale
Vergangenheit, düstere Gegenwart – und eine Chance auf Zukunft. Von Bartholomäus Grill

E
in heruntergekommenes Hospital,
trostlose Wohnblöcke, rostige Rekla-
metafeln, deren Farben ausgeblichen
sind. Inmitten dieser Reise durch das Grau,
auf halber Strecke vom Flughafen in die
Hauptstadt von Eritrea, ein Überschallflug-
zeug. Oder ein Raumschiff, in dem gerade
ein paar Außerirdische gestrandet sind.
Bei näherem Hinsehen entpuppt sich
das Objekt als Tankstelle, eine Servicesta-
tion im futuristischen Stil, Baujahr 1938.
Die frei schwebenden Betonflügel spannen
sich 30 Meter, darüber erhebt sich eine
„Pilotenkanzel“ mit der weithin sichtbaren
Aufschrift „Fiat Tagliero“. Benvenuto, will-
kommen im goldenen Zeitalter des Auto-
mobils!
An den stillgelegten Zapfsäulen beginnt
eine Expedition zurück in die Zukunft, in
die Jahre zwischen 1935 und 1941, als das
italienische Kolonialregime im Nordosten
des Kontinents eine kosmopolitische City
schuf: Asmara, Hauptstadt seines afrika-
nischen Imperiums. Man fährt durch pal-
mengesäumte Boulevards und wundert
sich, wie dieses architektonische Juwel in
Vergessenheit geraten konnte. Denn die
Tagliero-Tankstelle ist nur eines von zahl-
losen spektakulären Bauwerken, die da-
mals entstanden sind: Villen, Kaufhäuser,
Bürokomplexe, Industriebetriebe, Kirchen,
Schulen, Kinos, Denkmäler. Ein Panop-
tikum der italienischen Moderne, in allen
Stilrichtungen der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts – Futurismus, Art déco,
Novecento, Bauhaus, Rationalismus, Mo-
numentalismus.
Eine Reihe von Städten konserviert ver-
gleichbare bauhistorische Schätze; Miami,
Tel Aviv, Kapstadt, Dessau oder auch Stutt-
gart mit seiner Weißenhofsiedlung wären
zu nennen. Aber keine kann eine archi-
tektonische Vielfalt und Dichte wie Asma-
ra aufweisen. Das hat nach langem Zau-
dern auch die Kulturorganisation der Ver-
einten Nationen, die Unesco, anerkannt,
indem sie auf ihrer Sitzung in Krakau im
Juli dieses Jahres der eritreischen Haupt-
MICHAEL RUNKEL / MAURITIUS IMAGES

stadt das Gütesiegel Weltkulturerbe ver-


lieh. Nun ist das gesamte historische Zen-
trum geschützt – ein Areal von vier Qua-
dratkilometern mit 4300 erhaltenswerten
Objekten.
Die Antwort auf die Frage, wie eine ver-
schlafene Gebirgsstadt in 2300 Meter Höhe
zu einem derartigen Reichtum kommt,
liegt jenseits des Mittelmeers, in Rom. Dort Fiat-Tagliero-Gebäude: Poesie der Arbeit
hatte einst Benito Mussolini, der faschisti-
134 DER SPIEGEL 47 / 2017
sche Diktator, die Vision von einem „Afri- Im Weltkriegsjahr 1941, als die Italiener Regime wäre, das den Menschen wenig
ca Orientale Italiana“, einem neuen Impe- von den Briten vertrieben wurden, war der Freiheiten lässt. Sie leben in einem armen,
rium Romanum auf afrikanischem Boden, imperiale Traum des Duce ausgeträumt. rückständigen, repressiven Staat, der inter-
gedacht als Siedlungsraum für 6,5 Millio- Doch seine Statthalter hinterließen die national geächtet wird. Junge Eritreer flie-
nen Italiener. Asmara sollte die Metropole schönste und modernste Hauptstadt Afri- hen auf der Suche nach einem besseren Le-
dieses Kolonialreichs werden, eine pracht- kas, und sie könnte auch die lebenswerteste ben zu Tausenden aus dem Land.
volle Stadt der Zukunft. sein – wenn da nicht dieses diktatorische Doch eines konnte die Diktatur den As-
marinos, den Bewohnern der Hauptstadt,
nicht austreiben: die Italianità, die von den
Kolonisten übernommene Lebensart. Sie
ist zu spüren an den warmen Abenden auf
der Avenue der Freiheit, die einst Viale
Mussolini hieß. Modisch gekleidete junge
Männer und Frauen flanieren über den
Corso. Die Alten trinken in Straßenbars
eritreischen Campari, hinter den Tresen
zischen Gaggia-Kaffeemaschinen. Topoli-
nos stottern vorbei, Urmodelle des legen-
dären Fiat 500.
Das Café im Cinema Roma, dem schöns-
ten Lichtspielhaus Asmaras, ist in diesen
Stunden voll besetzt. Die Wände ochsen-
blutrot, ocker, orange, mittendrin ein
schwarzes Ungetüm, ein Projektor, gebaut
von Sorani, Milano. Und am Eingang Ani-
ta Ekberg und Marcello Mastroianni – ein
Originalplakat des Klassikers „La dolce
vita“. Man kommt sich vor wie in einem
ULLSTEIN BILD
Fellini-Film. Und vergisst, in einer afrika-
nischen Stadt zu sein: Asmara, la piccola
Roma, ein Sehnsuchtsort.
Villa unter Palmen in Asmara: Ordnung und Schönheit Im Ausland wurden immer wieder Ein-
wände gegen die Aufwertung Asmaras als
globales Kulturerbe vorgebracht. Würde das
Regime des Präsidenten Isayas Afewerki die-
sen begehrten Status für Propagandazwecke
missbrauchen? Spekulierte man nur auf Zu-
schüsse, um sie dann für ganz andere Zwe-
cke zu verwenden – für den polizeilichen
Unterdrückungsapparat, für das Militär?
„Wir bekamen das oft zu hören. Eritrea
ist isoliert und hat einen schlechten Ruf“,
sagt Medhanie Teklemariam, ein schlanker
Mann mit Moustache und Kassenbrille.
Mehr will er zur Politik nicht sagen. Er ko-
ordiniert das Asmara Heritage Project, die
treibende Kraft bei der „Mission Weltkul-
turerbe“. Medhanie, von Beruf Ingenieur
und Stadtplaner, sitzt im vierten Stock
eines hässlichen Hochhauses, einer der
wenigen Bausünden aus den Neunziger-
jahren. Er legt ein 1300 Seiten dickes
Konvolut auf den Schreibtisch: das Bewer-
bungsdossier für die Unesco. „Damit ha-
ben wir die Gutachter überzeugt.“
Medhanie war dabei, als Asmara bei der
41. Sitzung des zuständigen Unesco-Komi-
tees endlich den Zuschlag erhielt. 20 Jahre
habe das gedauert, sagt er. Dennoch werde
CORBIS NEWS / GETTY IMAGES

weiterhin die Frage gestellt, ob es richtig


gewesen sei, die Zeugnisse einer brutalen
europäischen Fremdherrschaft in den Rang
eines Weltkulturerbes zu heben. Zu Recht.
Denn hinter den Kulissen der importier-
ten Moderne nistet der koloniale Terror.
Café im Cinema Roma: Ein Sehnsuchtsort Die bereits 1889 von den Italienern ok-
kupierte Stadt diente als Nachschubbasis
DER SPIEGEL 47 / 2017 135
Kultur

ERIC LAFFORGUE / HEMIS.FR / LAIF


für den Eroberungsfeldzug, den sie in Team die Originalentwürfe der italieni- jener Epoche stilbildend war, im faschisti-
Abessinien führten, einen grausamen schen Architekten digitalisiert. „Sehen Sie, schen Italien, im nationalsozialistischen
Krieg mit Giftgas und Bombenangriffen. das sind wahre Kunstwerke“, schwärmt er Deutschland und in der stalinistischen
Zugleich war Asmara das Testgelände für und zeigt eine filigrane Bauzeichnung in Sowjetunion. Der im Juli verstorbene rus-
ein urbanes Großexperiment: Hier sollte Pastelltönen: den Palazzo Lazzarini von sische Kunsthistoriker Igor Golomstock hat
die ideale faschistische Stadt entstehen. Roberto Cappellano, Maßstab 1:50, stren- die ideologischen Verwandtschaftslinien
Anno 1938 teilte der Chefplaner Vittorio ger Rationalismus, vollendet 1937. in seinem bahnbrechenden Werk „Totali-
Cafiero das Territorium in funktionale Zo- In den vergangenen drei Jahren wurden täre Kunst“ freigelegt.
nen für Handel, Gewerbe und Industrie 75 000 Pläne gescannt, aber das sei erst der Schon am Anfang des 20. Jahrhunderts
auf und legte Wohnbezirke für die 60 000 Anfang, sagt Medhanie. Man brauche die erschienen in Italien und Russland futuris-
italienischen Siedler fest. Die Afrikaner Hilfe internationaler Experten und viel tische Manifeste, die zur Zerstörung aller
wurden in die „città indigena“ gepfercht, Geld, um die Bauwerke zu sanieren. Er bürgerlichen Kulturtraditionen aufriefen.
die „Stadt der Eingeborenen“. hofft, dass sich durch die Anerkennung Sie priesen die industrielle Zivilisation, das
Der Schweizer Historiker Aram Mattioli Asmaras als Weltkulturerbe die Tür zur Zeitalter der Maschinen, den Rausch der
spricht von „stadtgewordenem Rassismus“. Geschwindigkeit. Ein aufheulendes Renn-
Es war eine Frühform der Apartheid, die auto sei schöner als die Nike von Samo-
sich in das Stadtbild von Asmara einge- Misstrauisch mustert thrake, röhrte der italienische Cheftheore-
schrieben hat. An der Afabet Street, wo tiker Filippo Tommaso Marinetti.
die für die Eritreer bestimmten Viertel be- die Bewohnerin den Der Geist des linken und des rechten
ginnen, reißen die Teerstraßen ab. Jenseits Fremden, der die Spiral- Futurismus lebte in den avantgardistischen
liegen die Quartiere der Armen, eng, Spielarten der Baukunst fort. In Italien be-
schmutzig, stinkend, bis zum heutigen Tag
treppe bestaunt. kämpften die Vorreiter des sogenannten
ohne Infrastruktur. Sie schauen von den Razionalismo alles Alte, Erstarrte, Gestri-
Hügeln im Norden auf das Zentrum hinab, Außenwelt öffnet. Dass die Stadt zu einem ge und begeisterten sich für die große so-
auf die eleganten Wohnzeilen, die stolzen internationalen Zentrum der Architektur- ziale Revolution des Faschismus. Asmara
Amtsgebäude, die Flaniermeile mit den geschichte wird. war der Ort, an dem sie sich frei entfalten
mondänen Cafés, die sie nie betreten. Fachleute, Studenten und Kulturtouris- konnten. „Die Bauten sind viel extrava-
Deshalb dächten viele Eritreer mit zwie- ten könnten dann auch die Verirrungen ganter als in Italien“, stellt der britische
spältigen Gefühlen an die italienische der Moderne besichtigen, die Machttempel, Architekturexperte Edward Denison fest,
Besatzungszeit zurück, sagt Medhanie. in denen Mussolinis Cäsarenwahn ver- Verfasser des Standardwerks über Asma-
„Doch im Gegensatz zu vielen afrikani- ewigt ist. Die Casa del Fascio von Bruno ras Modernismus.
schen Ländern verachten wir die Kolonial- Sclafani etwa, einen wuchtigen Bau in F- Übrigens bettelte auch ein gewisser Le
architektur nicht mehr als Symbol der Un- Form, das Hauptquartier der Faschisten. Corbusier um Projekte im italienischen
terdrückung. Sie ist Teil unserer Identität. Oder den Koloss von Aldo Fornaini, mar- Afrikareich. Kolonialisation müsse „ein
Wir wollen sie bewahren, denn wir haben tialisch wie ein Riesengeschoss, ebenfalls Nachweis von Ordnung, Kraft und moder-
sie mit unserer Arbeitskraft geschaffen.“ ein Parteihaus. Oder die Opera Nazionale nem Geist sein“, schrieb er in einem Brief
Aber die eritreischen Lohnsklaven erhiel- Dopolavoro, einen Arbeiterklub, protziger an Mussolini. Aber es waren ausschließlich
ten doch nur eine lumpige Lira pro Tag? Monumentalismus, den sich auch Hitlers junge italienische Architekten, die nach
„Das war so. Trotzdem sind wir stolz auf Oberbaumeister Albert Speer ausgedacht Asmara entsandt wurden, vorneweg die
unser nationales Erbe.“ haben könnte. Verfechter des Novecento Italiano, die in
Medhanie Teklemariam steigt hinunter All diese Bauwerke drücken eine totali- den Zwanzigerjahren den radikalen Mo-
ins Katasteramt im Erdgeschoss, wo sein täre Ästhetik aus, die in den Diktaturen dernismus verwarfen und in der Rückbe-

136 DER SPIEGEL 47 / 2017


Lichtspielhaus
Cinema Roma von
Sclafani, 1937,
Treppenhaus von
STEFAN BONESS / IPON

Bibolotti, 1944,
Hotelbau von

ULLSTEIN BILD
Borgnino, 1937
Baukunst für den
neuen Menschen

sinnung auf das klassizistische Vokabular stelle von Fiat Tagliero eingeweiht wurde, ten italienischen Mathematiker des Mittel-
eine wahrhaft italienische Baukunst an- soll der Architekt Giuseppe Pettazzi den alters. Der Frau ist das ziemlich egal – sie
strebten. Bauleiter mit einem Revolver gezwungen ist froh, dass sie ein Dach über dem Kopf
Die Bewegung wurde gefördert von der haben, die Stützbalken unter den frei hat.
einflussreichen Kunstkritikerin Margherita schwebenden Betonflügeln wegzuschlagen Genauso denken vermutlich auch die
Sarfatti und schließlich von den Faschisten – der Mann hatte Angst, die Tragflächen Menschen, die in einer langen Schlange
propagandistisch vereinnahmt. Das Nove- stürzten ein. Unheimlich mutet auch das vor einer Farmacia um Medikamente an-
cento entsprach ihren Vorstellungen von Ensemble an der Segeneyti Street an: Da stehen. Sie kämpfen mit den Widrigkeiten
Ordnung und Strenge, es glorifizierte die donnert ein futuristisch gestalteter Apart- des Alltags, die Erhaltung der historischen
Poesie der Arbeit, die Dynamik des Sports, mentblock wie eine gewaltige Lokomotive Bausubstanz ist ihre geringste Sorge. Die
die Schönheit des Krieges, den Heldenmut auf einen Schiffsbug zu, auf die Stirnseite Apotheke liegt an einer Ecke der vormali-
des neuen Menschen. eines Rundbaus im nautischen Stil. gen Piazza Roma, die von Relikten aus
In der kolonialen Musterstadt Asmara Viele Architekten und Ingenieure dieser der frühen Kolonialphase eingerahmt wird,
sollte das Novecento neben dem Raziona- Generation waren zwar ideologisch verblen- von Palästen im neogotischen, klassizisti-
lismo zum prägenden Stil werden, hier dete Opportunisten, aber sie haben Asmara schen, neubarocken, lombardischen und
lässt sich auch ihre Rivalität besichtigen. in eine Schaubühne urbaner Zweckmäßig- maurischen Stil. Ein stiller, melancholi-
An der Denden Street steht zum Beispiel keit verwandelt – und in ein Monument des scher Platz, erstarrte Geschichte, wie hin-
ein Wohntrakt von Cacciatori Merenzi aus Fortschrittsglaubens. Ende der Dreißiger- gemalt von Giorgio de Chirico, dem Meis-
dem Jahr 1938, ein eleganter Bau, die Fas- jahre fuhren 50000 Autos durch die Straßen, ter der Pittura Metafisica und späteren Vor-
sade konkav geschwungen und von fla- die Vertretungen von Fiat, Alfa Romeo oder denker des Novecento, der die seelenlose,
chen Lisenen gegliedert: Novecento aus Lancia waren Kultstätten des Automobilis- kalte, nordische Moderne anprangerte.
dem Lehrbuch. Unweit davon war ein Jahr mus, und es soll in Asmara mehr Verkehrs- Aber wer soll all die Kulturschätze er-
zuvor das Selam eröffnet worden, ein ampeln gegeben haben als in Rom. Heute halten? Woher sollen die Milliarden für
schnörkellos funktionales Hotel nach den funktioniert keine einzige mehr. die Renovierung des Gesamtkunstwerks
Plänen von Rinaldo Borgnino: Rationalis- Die robusten Bauwerke aus Stahl und Asmara kommen? Die Regierung hat
mus in Reinform. Beton aber haben die Jahrzehnte überdau- kein Geld und ist von der Außenwelt
Die Kolonialverwalter bevorzugten kei- ert, sie wurden verschont vom Kahlschlag abgeschnitten. Solange sie diktatorisch
ne Stilrichtung, ihr Motto hieß: Hauptsa- der Sechziger- und Siebzigerjahre, als in herrscht, werden ausländische Sponsoren
che modern, nationalistisch, die kulturelle vielen westlichen Großstädten das moder- kaum einspringen. Abgesehen davon
Überlegenheit Italiens repräsentierend. nistische Erbe zerstört wurde. So besehen lehnt das Regime Entwicklungshilfe ent-
Und so konnten die Architekten auch an- ist es ein glücklicher Umstand, dass es in schieden ab – sie ist in seinen Augen nur
deren modernistischen Strömungen folgen. Eritrea seit der Unabhängigkeit 1993 im- neokoloniale Bevormundung. Und nun
Sie entwarfen Villen nach Bauhausprin- mer an Kapital mangelte. sollen ausgerechnet die Hinterlassenschaf-
zipien, Kinos im Art-déco-Stil, neofuturis- Viele Asmarinos machen sich über den ten der europäischen Terrorherrschaft be-
tische Gebäude. Oder sie verbanden euro- Zustand der Gebäude ohnehin keine Ge- wahrt werden?
päische und afrikanische Bauweisen, die danken und reagieren wie die Bewohnerin Weltkulturerbe, schön und gut. Aber es
orthodoxe Kathedrale Enda Mariam des eines typischen avantgardistischen Hauses: wäre viel dringlicher, Armut und Ungleich-
Ingenieurs Odoardo Cavagnari gilt als be- Misstrauisch mustert sie den Fremden, der heit zu überwinden, damit die jungen
sonders gelungene Fusion. die schneckenförmige Spiraltreppe im In- Leute wieder Zukunftsperspektiven
Manche Konstruktionen waren so ge- neren bestaunt. Ein Meisterstück von Ala- haben und nicht massenhaft weglaufen.
wagt, dass man sich scheute, sie nach der dino Bibolotti, konstruiert nach einer Zah- Allein die fantastische Architektur hält nie-
Fertigstellung freizugeben. Als die Tank- lenfolge von Fibonacci, dem bedeutends- manden in Asmara. I

DER SPIEGEL 47 / 2017 137


Kultur

Der deutsche Videokünstler Julian Rosefeldt hat den


futuristischen Text und die Börsenmaklerin zusammen-
gebracht und gibt dem alten Manifest einen neuen Kon-
text. Ursprünglich waren es zwölf Filme (und ein kurzer
Prolog) von je zehn Minuten, die Rosefeldt 2015 in
einer Installation zeigte. In jedem Film trat eine Frau
Achtung, Kunst! auf (mit einer männlichen Ausnahme), deren Text einzig
aus Collagen künstlerischer Manifeste bestand. Die Aus-
Filmkritik Der Künstler Julian Rosefeldt stellung im Museum Hamburger Bahnhof in Berlin war
ein großer Erfolg, sie wanderte in viele andere Städte,
hat seine Installation unter anderem nach New York. Jetzt wird die Arbeit
„Manifesto“ in einen Film verwandelt. aber einem noch größeren Publikum zugänglich gemacht,
denn Rosefeldt hat seine Kurzfilme zu einem Kinofilm
Kinostart: 23. November zusammengeschnitten. Und nun bekommt man 95 Mi-
nuten am Stück Cate Blanchett. Cate Blanchett. Und

E
in Meer aus hektischen Anzugträgern. Dann Schnitt, noch mal Cate Blanchett. Alle zwölf Rollen werden
und auf einmal sieht man das Gesicht der Brokerin. von der zweifachen Oscargewinnerin gespielt. In man-
Ihr Blick ist streng, konzentriert. Sie verfolgt die chen Episoden gibt es Komparsen, die aber nur flüchtig
Zahlen auf den Bildschirmen, die Kurven, die Ausschläge den Blick auf sich lenken können, denn man sieht nur:
nach unten und oben, um den perfekten Moment abzu- Cate Blanchett. Ob als Obdachloser, als Fernsehmodera-
passen. Zuschlagen, kaufen und verkaufen. Sie sagt: „Mei- torin oder als Trauerrednerin. Ob als Fabrikarbeiterin,
ne Freunde und ich blieben die ganze Nacht wach, disku- als Lehrerin oder als Gastgeberin einer feinen Abend-
tierten bis zu den äußersten Grenzen der Logik. Endlich gesellschaft.
sind all die Mythen und mystischen Ideen überwunden! „Manifesto“ ist ein Kinoexperiment. Einerseits sperrige,
Wir glauben, dass die Herrlichkeit der Welt um eine neue pathetische Manifeste, die nur eingefleischten Experten
Schönheit reicher ist: die Schönheit der Geschwindigkeit.“ bekannt sind. Und andererseits eine der prominentesten
Schauspielerinnen Hollywoods, die
sie verkündet. Blanchett hatte nur
elf Tage Zeit für das Projekt, also
nicht mal einen Tag pro Kurzfilm,
was, so Rosefeldt, „mit dem Dreh-
plan einer sehr billigen Seifenoper
vergleichbar ist“. Dass der Film trotz-
dem wie eine aufwendige Kinopro-
duktion wirkt, liegt, abgesehen von
der Leistung der Schauspielerin, an
den fantastisch ausgewählten Set-
tings. Riesige abgewrackte Fabrikge-
bäude, eine alte, postapokalyptisch
anmutende Satellitenstation, ein sur-
real wirkender Laborraum, ein bis
ins kleinste Detail liebevoll verdreck-
ter und verrauchter Backstagebereich
eines Punkkonzerts.
Die Verbindung aus diesen Orten,
der virtuosen Blanchett und den
Manifesten revolutionärer Künstler
FOTOS: DCM FILMVERLEIH

schafft eine verblüffende Dringlich-


keit. Wenn die Trauerrednerin vor die
Trauergesellschaft tritt und, statt der
üblichen Worte, aus dem „Dadaisti-
schen Manifest“ vorträgt, sinnfrei und
Schauspielerin Blanchett in Variationen: Wiederum mythisch absurd, dann ist das nicht nur lustig,
sondern auch wahr – ja, der Tod ist
Ein merkwürdiger Text für eine Börsenmaklerin, und auch sinnfrei und absurd. Und diese Wirkung entfaltet
doch passend. Er nimmt Bezug auf das „Futuristische Ma- sich im Film noch stärker als in der ursprünglichen Instal-
nifest“ von Filippo Tommaso Marinetti, geschrieben am lation. Man kann sich dem Sog überlassen, ohne Angst,
Beginn des 20. Jahrhunderts, Teil einer ganzen Welle von etwas zu verpassen. Anders als der moderne Ausstellungs-
Avantgarden in der Kunst. Geschwindigkeit, das bezog sich raum, der immer auch Respekt einflößt, wiegt einen
auf schnelle Objekte, Flugzeuge, Autos, überhaupt: Moto- die Popcornatmosphäre in Sicherheit. Im Museum musste
ren. Laut und dreckig, die Maschine als Heilsversprechen der Besucher den Rhythmus selbst bestimmen, entschei-
einer neuen Zeit. Die Faszination der Brokerin für Ge- den, welchen Film er sich ansieht, und man fragte sich
schwindigkeit ist eine andere, sie speist sich aus demateria- ständig, was das jetzt wohl für ein Manifest sei, welche
lisierten Geldströmen, in Höchstgeschwindigkeit über ganze Bedeutung das denn habe. Man war auf der Suche. Im
Ozeane hinweggesendet, um woanders Profit zu machen Kino aber sucht man nicht, man wird gefunden.
und Wert aus nichts zu schöpfen, wiederum mythisch. Xaver von Cranach

138 DER SPIEGEL 47 / 2017


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140 DER SPIEGEL 47 / 2017


Nachrufe
DAVID POISSON, 35 von Schauspielern auf der
Mit schweren Stürzen kannte Bühne glichen, ein Sachbuch
sich der französische Skirenn- zum Thema Oralverkehr. Auf

MICHAL KRUMPHANZL / CTK / DPA


fahrer aus. Vor einigen Jahren die Frage des Richters, warum
hob Poisson in Gröden wie ein solches Buch nötig sei,
ein Hubschrauber ab und wo man es doch mehrere Jahr-
knallte auf die Piste. Er blieb tausende ohne ausgehalten
liegen und fuhr nach kurzer habe, erwiderte Hutchinson:
Behandlungszeit in den Ziel- „Eure arme, arme Exzellenz!
raum. Poisson war extrem Tausend Jahre ohne Oral-
ehrgeizig, er trainiere tagein, verkehr.“ Er verteidigte aber
RUTH BONDY, 94 tagaus bis zum Umfallen, wie auch den britischen Doppel-
Sie war Autorin, Übersetzerin, Radiomoderatorin und sein Coach einmal erzählte.
Journalistin. Sie schrieb mehr als 50 Bücher und war in Drei Jahre nach seinem
Israel als intellektuelle Stimme bekannt. Und sie war eine Horrorsturz hatte der bullige
Holocaust-Überlebende. Für Ruth Bondy war es jedoch Abfahrer seinen größten
wichtig, nicht nur als solche gesehen zu werden, nicht sportlichen Erfolg, als er bei
allein als Zeitzeugin des Grauens. Und so schrieb sie erst der Weltmeisterschaft 2013 in
spät ihre Autobiografie „Mehr Glück als Verstand“, in Schladming die Bronzemedaille
der sie von ihren leidvollen Erfahrungen berichtet. Gebo- gewann. In der vergangenen

BOB THOMAS / GETTY IMAGES


ren wurde sie in Prag, als Teil einer großen jüdischen Fami- Woche bereitete sich Poisson
lie. Sie ging auf eine deutsche Schule, und schon dort im kanadischen Nakiska auf
entdeckte sie ihre Liebe zur Literatur, vor allem zu Franz die Olympiasaison vor. Er war
Kafka. Die Herrschaft der Nationalsozialisten überlebte auf seinen Skiern mit rund
kaum eines ihrer Familienmitglieder, 25 ihrer Verwandten hundert Stundenkilometern
wurden zu Opfern des Holocaust. Sie selbst wurde zu-
nächst in das Konzentrationslager Theresienstadt, dann
nach Auschwitz und schließlich nach Bergen-Belsen depor- agenten George Blake, der
tiert, wo sie von den Briten befreit wurde. In Israel, wohin zur Zeit des Kalten Krieges
sie drei Jahre nach dem Krieg emigriert war, widmete für die Sowjetunion spionierte.
sie sich ihrer großen Leidenschaft: Geschichten erzählen. Hutchinson, der in Oxford
In einem Interview sagte sie einmal: „Israel war ein El- studiert hatte und selbst zum
dorado für Geschichten. Es genügte, ein Gespräch mit je- Establishment gehörte, mach-
mandem anzufangen, im Geschäft, im Bus, beim Recher- te sich einen Namen als einer
chieren – und schon kam eine spannende Lebensgeschichte der angesehensten Anwälte
SAMUEL KUBANI / AFP
zum Vorschein.“ Ruth Bondy starb am 14. November in unter anderem damit, dass er
Ramat Gan, Israel. xvc gegen das Establishment
vorging. Jeremy Hutchinson
starb am 13. November
LIL PEEP, 21 in Lullington, Somerset. red
Seine Songs lud er 2015 unterwegs, als er die Kontrolle
zunächst vereinzelt verlor, stürzte, zwei Fang- GUNNAR ULDALL, 76
auf der Onlineplattform netze durchbrach und gegen Ein kluger und streitbarer
SoundCloud hoch, später einen Baum prallte. David Geist, der den Wirtschafts-
CHAD BATKA / NYT / REDUX / LAIF

wurden seine Musik- Poisson starb noch am standort Hamburg maßgeb-


videos auf YouTube mil- Unfallort, am 13. November lich mitgestaltet hat – so
lionenfach angeschaut, in Nakiska. ulu beschreibt der jetzige Wirt-
im August erschien sein schaftssenator der Hansestadt
erstes Album „Come over JEREMY HUTCHINSON, 102 seinen Vorgänger. Der CDU-
When You’re Sober“. Ein Triumph vor Gericht Politiker Gunnar Uldall ver-
Der US-amerikanische machte den Anwalt über die trat die Fraktion seiner Partei
Emo-Rapper Lil Peep, der Grenzen des United Kingdom viele Jahre lang im Finanz-
eigentlich Gustav Åhr hieß, war auf dem Weg zum Erfolg. hinweg bekannt: Er gewann ausschuss des Deutschen Bun-
Sein extravaganter Kleidungsstil und die auffälligen Tattoos 1960 den Prozess um die Ver- destags, bevor er von 2001 bis
– sowohl auf dem Körper als auch im Gesicht – zogen die öffentlichung der unzensierten 2008 Hamburger Wirtschafts-
Aufmerksamkeit der Modewelt auf sich; er lief für Luxus- Fassung von „Lady Chatter- senator wurde. Zu seinen
marken wie Fendi über den Laufsteg, der Starfotograf Mario leys Liebhaber“ des englischen Schwerpunkten zählten die
Testino fotografierte ihn für ein Magazincover. Doch der Autors D. H. Lawrence. Das Reform der Hafenpolitik und
auf Long Island geborene Musiker, der viel über Einsamkeit Urteil über den Roman, der die Strategie der „wachsenden
und Drogen sang, hatte offenbar selbst Probleme damit. explizite Sexszenen enthält, Stadt“. 2015 wurde der gebür-
Nach der Nachricht von seinem Tod gab sein Manager Chase war ein Meilenstein im Kampf tige Hamburger zum Vorsit-
Ortega auf Twitter bekannt, dass er mit einem Anruf gegen die Zensur und weg- zenden des Wirtschaftsrats
wie diesem schon ein ganzes Jahr lang gerechnet habe. Erst weisend für die Liberalisierung der CDU in der Hansestadt
Stunden zuvor hatte der Rapper auf Instagram ein Video der Gesellschaft. Elf Jahre gewählt und schaffte es, inter-
veröffentlicht, in dem er erklärte, sechs Tabletten des Beru- nach diesem Erfolg verteidigte ne Streitereien zu befrieden.
higungsmittels Xanax zu sich genommen zu haben. der Brite, dessen Auftritte Gunnar Uldall starb am
Lil Peep starb am 15. November in Tucson, Arizona. red vor Gericht nicht selten denen 14. November in Hamburg. red
DER SPIEGEL 47 / 2017 141
Kunst für
Juristen
Der Moderator Jan Böhmer-
mann, 36, wird museal, bleibt
aber angriffslustig. Am kom-
menden Freitag eröffnen er
und die Mitarbeiter der TV-
Produktionsfirma BTF eine
Ausstellung im Düsseldorfer
NRW-Forum. In diesem städ-
tischen Ausstellungshaus
widmen sie sich – sozusagen
als Künstler – dem Thema
Deutschland. Doch soll wohl
auch ein Böhmermann-Klas-
siker eine Rolle spielen, der
von der Türkei inspiriert wor-
den ist. Im März 2016 hatte
der Moderator in seiner Sen-
dung satirische Verse über
den türkischen Staatspräsi-
denten Recep Tayyip Er-
doğan vorgetragen und so
eine diplomatische Krise aus-
gelöst. Ein Strafverfahren
gegen Böhmermann wurde
dann zwar eingestellt – aber
dass das Fernsehgedicht nun
als Kunst zweitverwertet
werden soll, könnte als neuer
Affront verstanden werden.
Laut Alain Bieber, Direktor
des NRW-Forums, ist dieses
Exponat nicht das provokan-
teste in der Schau, für den
lauteren Aufschrei könnte ein
Werk über deutsche Erinne-
rungskultur sorgen. Ohnehin
sei jedes Exponat mit Juris-
ten abgestimmt worden,
diese hätten bereits im Vor-

TIBOR BOZI
feld große Freude an der
Schau gehabt. uk

Adventskalender wohl be- bestellt (zu einem gesalzenen


Schokoladenseiten reits abgeschlossen. Auf Preis), erhält für das betref-
Die Verpflichtung von Jupp deren Vorderseite sieht man fende Türchen nun auto-
Heynckes, 72, als FC-Bayern- comicartige Abbildungen der matisch ein Update zum Auf-
Trainer erfordert großes Im- Spieler, auf Türchen Nummer kleben. Darauf zu sehen:
provisationstalent – bei den 19 aber immer noch: Ancelotti. Heynckes, nicht im Anzug,
Zulieferern des Vereinsfan- Der bekanntermaßen stets stil- sondern in einer Trainings-
shops. Nach der Entlassung voll gekleidete Italiener trägt jacke, aber mit derselben
von Carlo Ancelotti wurde Anzug und steht an einem Weihnachtsgans. So kann die
Heynckes im Oktober zum Holztisch, vor sich ein Teller besinnliche Vorweihnachts-
vierten Mal als Cheftrainer mit einer Weihnachtsgans. zeit für Fans aller Altersklas-
des Münchner Klubs enga- Wer im Onlineshop ein sen sehr lehrreich sein. Die
giert, doch da war die Pro- Exemplar des mit Schokolade christliche Botschaft lautet:
duktion der FC-Bayern- gefüllten Adventskalenders Jeder ist überklebbar. uk

142 DER SPIEGEL 47 / 2017


Personalien
durch den Verkauf eines Pul-
Dinos wieder Kult lovers. Mitte der Achtziger-
Damit hatte das Science jahre war ein Oberteil mit
Museum of Minnesota in den Dinosauriermotiv im Muse-
USA wohl nicht gerechnet: umsshop erhältlich. Auf die-
Gaten Matarazzo, 15, hat dem ses Motiv stieß die Kostüm-
Naturkundemuseum mit designerin der in den Acht-
seiner Hauptrolle als Dustin zigern spielenden Serie – und
Henderson in der Netflix- legte es mit einem lilafarbe-
Serie „Stranger Things“ zu nen Kapuzenpulli neu auf.

MILOS DJURIC / DER SPIEGEL


rund drei Millionen Dollar Den trug der Schüler Dustin
verholfen – nicht etwa durch in der kürzlich erschienenen
Museumsbesuche, sondern zweiten Staffel von „Stranger
Things“. Das Museum begriff
das Verkaufspotenzial; man
produzierte neue Kapuzen-
pullis und warb mit dem
Spruch: „Das Warten hat ein Der Augenzeuge
Ende.“ Mittlerweile wurden
mehr als 80 000 Exemplare
verkauft. Dustin Henderson,
„Im Müll ist viel zu holen“
der unbeholfene 13-jährige Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe
Naturwissenschafts-Nerd, hat meldete in dieser Woche, dass bundesweit etwa
eine enorme Fangemeinde 52 000 Menschen auf der Straße leben, ein Anstieg um
NETFLIX

aufgebaut. red 33 Prozent seit 2014. Klaus Seilwinder, 60, war acht Jahre
lang obdachlos. Nun arbeitet er als Stadtführer in Berlin.

„Ich hatte alles. Einen Job, eine Wohnung in Branden-


terview mit der „Los Angeles burg. Doch da gab es noch den Alkohol. Vor Problemen
Rascher Aufstieg Times“ sagte sie jetzt auf bin ich immer davongelaufen. Auch 2002 nach einem
Die chilenische Schauspiele- die Frage, ob es noch andere Streit mit meinem Chef. An der Bahnhofsmission in Ber-
rin Daniela Vega, 28, protes- Trans-Schauspielerinnen in lin traf ich Leute in der gleichen Situation, Alkoholiker
tiert gegen das Versteckspiel, Chile gebe: „Ich bin wohl die wie ich. Eine richtige Gemeinschaft. Bis zum Abend. Mit
das transsexuelle Menschen erste und einzige.“ Sie habe dem letzten Bier kam der Streit. Das wollte ich irgend-
immer noch mitmachen müs- viel psychische Gewalt erlebt, wann nicht mehr und habe mich allein durchgeschlagen.
sen. Vega ist selbst transse- vor allem wenn sie sich um Erst im Tiergarten, bis ich dort von einer Gruppe Neona-
xuell wie auch die Figur der Rollen beworben habe. Zwar zis verprügelt wurde. Dann in einer Wohngegend beim
Marina, die sie in dem Film spüre sie, dass sich gerade Auswärtigen Amt. Dort patrouillierten abends Polizisten,
„Eine fantastische Frau“ ver- etwas ändere in der Art, wie ich fühlte mich halbwegs sicher. Die Polizisten brachten
körpert. Der Film, der im man ihr begegne. Aber die mir manchmal Kaffee, schauten nach mir. Es gibt ver-
Februar bereits den Silbernen entscheidende Frage sei für schiedene Möglichkeiten durchzukommen. Diebstahl,
Bären für das beste Drehbuch sie, „warum es nicht mehr Drogen, Zeitungen verkaufen, betteln oder – und dafür
auf der Berlinale gewonnen Transsexuelle in allen mög- entschied ich mich – Pfand sammeln. An einer Berufs-
hat, wird von Chile ins Ren- lichen Bereichen gibt, als schule stand ich pünktlich zur Pause am Hof und nahm
nen um den ausländischen Lehrer, als Journalisten und die Flaschen mit. In Mülleimern, an denen viele Touris-
Oscar geschickt. In einem In- in den Wissenschaften“. xvc ten vorbeikommen, ist viel zu holen. Abends habe ich
mich mit anderen Sammlern getroffen. Da wurden die
Flaschen getauscht: Aldi gegen Rewe, Netto gegen
Penny. So sparte ich mir die Wege zu verschiedenen Su-
permärkten. Von dem Pfandgeld kaufte ich ein. Meine
Regel war: erst der Magen, dann die Leber, und wenn
was übrig war, auch die Lunge. In einem Mülleimer fand
ich mal ein Handy. Die Besitzerin rief an. Sie zahlte mir
450 Euro Belohnung. So viel Geld hatte ich lange nicht
mehr. Ich kaufte eine Monatsfahrkarte und konnte
schnell zu den Hilfestellen am Stadtrand kommen oder
mich bei Kälte in die Ringbahn setzten. Ohne Angst, we-
gen Schwarzfahren ins Gefängnis zu müssen. Vor sieben
Jahren war ich am Ende. Der Winter war kalt, ein Kum-
pel nahm mich mit in seine Wohnung, zwang mich in ein
normales Leben. Ich ging aufs Amt, besorgte Papiere,
GREGOR FISCHER / DPA

kam in eine betreute Wohngemeinschaft, machte eine


Entgiftung. Seit 2012 bin ich trocken. Ich hab’s geschafft,
viele andere nicht. Der Senat erhebt keine Statistiken,
sonst müsste er ernsthaft etwas für Obdachlose tun. Es
wird einfach weggeschaut.“ Aufgezeichnet von Maximilian Krone

DER SPIEGEL 47 / 2017 143


„Damit die Menschheit langfristig überleben kann, brauchen wir
weder die alte Weltmacht USA noch die vermeintlich neue Welt-
macht China, sondern eine Weltmacht namens globale Solidarität.“
Raffaele Schacher, Rorschach (Schweiz)

Wie denn aufwachen? Seele verkauft


Nr. 46/2017 Warum China schon jetzt Weltmacht Nr. 1 Nr. 45/2017 Parteivize Olaf Scholz fordert im SPIEGEL-
ist – ein Weckruf für den Westen Gespräch eine Neuaufstellung der Sozialdemokraten
Ich mache mich seit Jahren in Vorträgen Die ganze Arroganz der derzeitigen SPD-
und Aufsätzen darüber lustig, dass karrie- Elite zeigt sich im Interview mit Olaf
rebewusste Wissenschaftler Englisch für Scholz. Auf die Frage, was er aus der

JIM WATSON / AFP


die einzig maßgebliche Wissenschaftsspra- „Schulz-Story“ von Markus Feldenkirchen
che halten. Wenn sie weiterhin Wirtschaft gelernt habe, antwortet Scholz in der ihm
und Politik hinterherlaufen wollen, hätten eigenen Ignoranz und Arroganz: nichts.
sie längst damit beginnen müssen, Manda- Dabei wurde jedem Wähler bei der Lektü-
rin zu lernen! Präsidenten Trump, Xi mit Ehefrauen re dieses Textes bewusst, wie falsch und
Prof. Dr. Peter Finke, Bielefeld unprofessionell man Wahlkampf machen
Der wirtschaftliche, politische und wissen- kann und der Wahlkampf von der SPD
Die Bürger sind fleißig, die Staatsführung schaftliche Aufstieg Chinas sollte vor allem gemacht wurde. Was mir beim Lesen des
aber ist autoritär. Es gibt nur eine Partei, ein Weckruf an die Europäer sein: Wollt Interviews mit Scholz die SPD wieder sym-
Gewaltenteilung ist ein Fremdwort. Wir ihr hereinfallen auf Aussteiger (Brexit), pathischer und wählbarer gemacht hat:
nennen so etwas Unrechtsstaat. Wenn das Separatisten (Katalonien), Nationalisten nichts!
Schule macht, dann gute Nacht, Welt! Hat (AfD, Front National), Subventionsgewinn- Edith Frisch, Düsseldorf
der SPIEGEL das vergessen? ler (Polen, Ungarn), Steuerfluchthelfer
Hartmut Neumann, Aachen (Malta, Irland, Luxemburg), Spalter (Putin) Das Gespräch mit Olaf Scholz scheint eher
und Partikularisten (Trump)? Und nach eine Rechtfertigung als eine Aufarbeitung
Wir wissen, dass Big Data ohne Daten- einem kurzen Hochgefühl in der Bedeu- der SPD-Krise zu sein. In der Analyse von
schutz zu Big Brother wird. In dem Roman tungslosigkeit und letztlich Fremdbestimmt- Scholz fehlt mir ein aus Sicht des SPD-Vol-
1984 nimmt George Orwell den Diktator heit verschwinden? Nur eine einige und kes sehr gewichtiges Thema: Hartz IV. Die-
Stalin als Vorlage für die Rolle des Big auf den westlichen Werten gründende eu- ses unsoziale Monster mag wirtschaftlich
Brother. Dass sie sich in Kürze in dem Ge- ropäische Gemeinschaft kann eine Ant- notwendig gewesen sein. Es hat jedoch die
neralsekretär der Kommunistischen Partei wort auf die chinesische Herausforderung Seele der SPD getroffen und damit „ver-
Chinas, Xi Jinping, dem neuen Führer der sein. Dazu müsste diese Gemeinschaft kauft“. Solange der einfache und ehrliche
Weltmacht, realisieren wird, bedeutet, dass allerdings endlich bürgernäher, transparen- (ehemalige!) SPD-Wähler dafür bestraft
die Weltbevölkerung auf Dauer kaum eine ter und gerechter für alle werden. wird, wenn kapitalistische Unternehmer
Chance haben dürfte, sich einem solchen Dr. Rudolf Winkel, Bad Kreuznach (Rhld.-Pf.) zocken und er sein Erspartes aufbrauchen
Regierungssystem zu widersetzen. Wahr- muss, ist diese SPD nicht zu wählen.
lich ein erschreckender Weckruf. Historisch betrachtet war den chinesischen Wolfgang Zopora, Tauberrettersheim (Bayern)
Hans-Christian von Steinaecker, Kusel (Rhld.-Pf.) Kaisern China genug. Die Huldigungsge-
schenke der Grenzvasallen waren meist Da schaut der stellvertretende Parteivor-
China ist nicht als Konkurrent bedrohlich, weniger wert als die chinesischen Gegen- sitzende Scholz beim bröckelnden Wahl-
sondern als Diktatur, deren Zusammen- geschenke. So wurde der Frieden an der kampf der SPD – genüsslich? – zu und
bruch irgendwann die Welt erschüttern Grenze erkauft. China mag den Weltmarkt weiß hinterher alles besser. Seinen Beitrag
wird. erobern, die kulturelle und militärische He- zur Niederlage der SPD mit seinem sicher-
Joachim Grüner, Frankfurt a. M. gemonie über den Planeten strebt es aber heitspolitischen Fiasko beim G-20-Gipfel
nicht an. Mohammeds flammendes Schwert sieht er nicht. Ein selbstgefälliger Besser-
Die Autoren sind offenbar vom Großstadt- oder Lenins angestrebte Weltrevolution wisser ohne jede Selbstkritik!
zeitgeist beeinflusst: Man macht alle flüch- sind da ein ganz anderes Kaliber. Vieles Paul Korf, Hamburg
tigen Trends mit, zum Profit der Zeitgeist- spricht dafür, dass der Beitrag von Konfu-
designer, die das als „Coolness“ verkaufen. zius’ Erben positiv für die Menschheit ist. Olaf Scholz fordert, den Mindestlohn von
Sie haben versäumt darzustellen, dass das Dr. Karsten Strey, Hamburg 8,84 Euro auf 12 Euro pro Stunde anzuhe-
chinesische Volk vom über 2000 Jahre al- ben. Dieser Vorsatz ist sehr löblich. Jedoch
ten Konfuzianismus und Taoismus geprägt Wie denn aufwachen? Mit sich selbst be- nennt er als Hauptgrund, dass niemand,
ist. Auch längere Phasen von Fremdherr- schäftigte, von sich eingenommene und der in Vollzeit arbeite, im Alter auf öffent-
schaft, Kolonialismus und Kommunismus selbstzufriedene Bürger dieser Welt kön- liche Hilfe angewiesen sein solle. Mit
konnten daran nichts ändern. Die chinesi- nen keine Vision hervorzaubern und keine einem Stundenlohn von 12 Euro wären
sche Volksseele weiß, dass es immer ein mittel- bis langfristigen Strategien entwi- Beschäftigte nach 45 Jahren jedoch wei-
Auf und Ab über lange Zeiträume hinweg ckeln. China hat eine Vision, eine Strate- terhin auf öffentliche Hilfe angewiesen.
gibt, von daher ist zum Beispiel Nachhal- gie, genügend hoch motivierte Bürger und Falls Herr Scholz die Geringverdiener vor
tigkeit ein unbedingtes Muss. Wohin führt das nötige Kapital auf der Habenseite, um Altersarmut schützen wollte, könnte er
denn die kurzfristige „Coolness“? Nur zur seine Vision zu verwirklichen. Eventuell sich dafür einsetzen, dass der aktuelle Ren-
Verschwendung der endlichen Ressourcen ist diese Strategie wesentlich friedlicher tenwert auf gesetzlichem Wege deutlich
und zu Chaos und Niedergang. für die Welt als die des Westens. erhöht wird.
Manfred Schmidt, Iggelheim (Rhld.-Pf.) Bernd Motzkuhn, Leimen (Bad.-Württ.) Gerhard Brauer, Hamburg

144 DER SPIEGEL 47 / 2017


Briefe

Die Fahrräder fehlen werden. Aber das liegt nicht an Ihnen, son- ne neuen Erkenntnisse. Er reproduziert
dern daran, dass diese Idee drei von vier im Wesentlichen Darstellungen, die in der
Nr. 45/2017 Ein rascher Kohleausstieg ist möglich Jamaikaverhandlern völlig fernliegt und deutschen apologetischen Literatur der
Der Ausstieg aus der Kohleverstromung die Industrie sie heftig bekämpft. So bleibt Zwischenkriegszeit bereits vorgetragen
bewirkt nicht nur den Verlust von Arbeits- es in allen Parteien bei großen Worten zur wurden. Insbesondere entbehrt seine
plätzen in den Kohleregionen, sondern Fahrradförderung – und wenigen Taten Kernthese, die belgische Führung habe
macht zugleich eine zuverlässige Stromver- und wenig Geld, um den Fahrradanteil tat- die Abwehr eines deutschen Angriffs von
sorgung unmöglich. Die volatilen Energie- sächlich zu erhöhen. vornherein als Kombination regulärer
quellen Wind und Sonne, die dann im We- Elisabeth Steinfeld, Neu Wulmstorf (Nieders.) und irregulärer Kriegsführung konzipiert,
sentlichen noch übrig blieben, sind nicht jeglicher Quellenbasis. Sie ist ein aus Hy-
in der Lage, das Industrieland Deutschland Armes Belgien!
bedarfsgerecht mit Energie zu versorgen.
Eine Deindustrialisierungswelle, annä- Nr. 45/2017 Ein Historiker wirft einen neuen Blick auf
die Massaker in Belgien 1914 – und entlastet die
hernd vergleichbar mit jener Anfang der
Deutschen teilweise
Neunzigerjahre in Ostdeutschland, wäre
die Folge. Zum Verlust Zehntausender Koh- Dieser Artikel rührt nur im alten Dreck.
learbeitsplätze käme dann der Verlust Hun- Die Massaker in Belgien im August 1914
derttausender Arbeitsplätze in allen Berei- leugnet niemand. Sogar ein renommierter
chen der Volkswirtschaft hinzu. deutscher General, Max Hoffmann (1869

ULLSTEIN BILD
Dr. rer. oec. Dietmar Ufer, Leipzig bis 1927), fand 1923 im Buch „Der Krieg
der versäumten Gelegenheiten“ diese Ver-
Ist es nicht widersinnig, dass im Norden gehen überhaupt nicht angebracht. Im Au-
der Republik Windkraftparks zeitweise gust 1914 wurden Ethe in Südbelgien und Deutsche Soldaten 1914 an der Front in Belgien
stillgelegt oder riesige Strommengen zu Nachbardörfer abgebrannt, Hunderte Be-
Dumpingpreisen in die Netze von Anlie- wohner, Sanitäter und katholische Pfarrer pothesen und wackeligen Indizien dürftig
gerstaaten gedrückt werden, weil bei uns teils gefoltert und dann umgebracht. Es zusammengezimmertes Konstrukt, das
Stromspeicher fehlen und die drei großen war eigentlich ein Krieg gegen eine andere wissenschaftlichen Ansprüchen in keiner
Trassen, die den Windstrom vom Norden Kultur und eine andere Religion: Preußen Weise genügt.
in den Westen und Süden transportieren sol- gegen Katholiken. So hat man es damals Dr. Winfried Dolderer (Berlin), Prof. Dr. Sophie de Schaep-
len, bisher immer noch nicht über das Ent- empfunden. drijver (Penn State University), Dr. Jens Thiel (Berlin), Jakob
Müller (FU Berlin), Dr. Sebastian Bischoff (Universität
stehungsstadium hinausgekommen sind? Jean Fenat, Mussy-la-Ville (Belgien) Paderborn), PD Dr. Christoph Jahr (Berlin)
Dieter Jacob, Freiburg im Breisgau

Zwischen 2015 und 2016 sank der Anteil


Armes Belgien! Nicht nur, dass das kaiser-
liche Deutschland es überfallen, verwüstet
Das ist kein Umweltschutz
Nr. 45/2017 Die Invasion der Mietfahrräder
der erneuerbaren Energien am Primärener- und ausgeplündert hat. Es muss nun ein
gieverbrauch Deutschlands von 14,7 auf weiteres Mal dafür herhalten, an seinem Weniger die SUV-Fahrer als die vielen
14,6 Prozent, obwohl in diesem Zeitraum Schicksal selbst Schuld oder zumindest Münchner, die mit eigenem Fahrrad unter-
zum Beispiel 1624 Windkraftanlagen er- eine Teilschuld zu tragen. Deutschland hin- wegs sind, ärgern sich über besetzte Stell-
richtet wurden. In 32 Jahren sollen min- gegen erscheint zu Unrecht angeklagt. plätze, die von kommerziellen Anbietern
destens 60 Prozent der Energie aus erneu- Kommt das jemandem bekannt vor? Was für lau okkupiert werden. Es gibt in Mün-
erbaren Energien gewonnen werden. Wo- veranlasst Deutsche von heute, sich schüt- chen eh zu wenige Radlständer, besonders
her sollen die noch fehlenden 45 Prozent zend vor Kriegsverbrecher, Mörder und an den U-Bahn-Stationen. Da wäre Ko-
ein militaristisches, antidemokratisches Re- penhagen ein leuchtendes Vorbild! Außer-
gime zu stellen sowie friedliebenden Bür- dem sehe ich nicht ein, dass ich mit meinen
gern unterzuschieben, sie hätten die deut- Steuern oder Tickets des öffentlichen Per-
schen Bluttaten provoziert? Steckt dahin- sonennahverkehrs die Fahrradstellplätze
ter eine klammheimlich-unbegriffene Iden- mitfinanziere und eine Radverleihfirma
PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF

tifikation mit den Tätern? damit Geld verdient, indem sie mich
Helmut Donat-von Bothmer, Bremen und andere Radbesitzer verdrängt. Das ist
kein Umweltschutz, sondern kapitalistische
Ihr Beitrag über Ulrich Kellers Buch Rücksichtslosigkeit, gegen die die Kommu-
„Schuldfragen“ berührt einen Komplex, nen sich wehren sollten.
der im Ersten Weltkrieg und den Jahr- Dr. Angelika Koller, München
Gaskraftwerk in Hamm zehnten danach Anlass einer erbitterten
deutsch-belgischen Kontroverse war. Da- Guter Artikel! Aber wenn Sie suggerieren,
kommen, wenn zukünftig nur noch Elek- bei ging es schon damals um die Frage, dass die Bewegungsprofile uninteressant
troautos durch Deutschland rollen und ob die von deutschen Truppen im August sind, weil kaum jemand mit den Rädern
kein Haus mehr mit Öl geheizt wird? Ganz 1914 in Belgien angerichteten Massaker fährt, übersehen Sie: Die App will die Da-
Deutschland wäre mit Rapsfeldern, Foto- und Verwüstungen durch vorherige bel- ten wie berichtet eben auch sammeln,
voltaikanlagen und Windparks bedeckt. gische Partisanentätigkeit ausgelöst wor- wenn Sie nicht auf dem Fahrrad sitzen.
Mario Schott, Burghaun (Hessen) den waren. Zwar ist vielfach belegt, dass Also im Prinzip immer.
deutsche Soldaten den Eindruck hatten, Dr. Matthias Kraft, Mühldorf am Inn (Bayern)
In Ihrem Artikel fehlen die Fahrräder. von belgischen Zivilisten beschossen zu
Könnten doch durch die Erhöhung des werden. Doch wurde von belgischer Seite Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Fahrradanteils an den zurückgelegten We- ein organisierter bewaffneter Widerstand (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
gen um nur zehn Prozentpunkte 14 Mil- der Zivilbevölkerung stets energisch be- sowie digital zu veröffentlichen und unter
liarden Autokilometer pro Jahr eingespart stritten. Zu dieser Frage bietet Keller kei- www.spiegel.de zu archivieren.
DER SPIEGEL 47 / 2017 145
Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Die „Welt“ zum SPIEGEL-Interview
„Das können wir im Alleingang“ mit
Aus der „Stuttgarter Zeitung“ dem stellvertretenden FDP-Vorsitzenden
Wolfgang Kubicki über den Kampf gegen

Aus der „Neuen Westfälischen“: „Trotz Jetzt im europäische Steueroasen (Nr. 46/2017):

Androhung von Waffengewalt ging der Irland und die Niederlande sperren sich,
Tresor des Marktes nicht auf.“ Handel Luxemburg und Österreich müssen zum
Jagen getragen werden, von den USA,
zumal unter Donald Trump, gar nicht zu
reden. Da liegt es nahe, dass auch
nationale Solodarbietungen salonfähig
werden, selbst tief im bürgerlichen
Aus der „Glocke“ Lager … Auch FDP-Spitzenpolitiker
Wolfgang Kubicki ist im Alleingangmo-
dus. „Keine bilateralen Vereinbarungen,
Aus dem Katalog des „Biber Umwelt- und wir brauchen auch die EU nicht
produkte Versands“: „In die Wolle sind fragen“, preist der Steuerexperte seine
feine Kupferbänder eingestrickt, Vorschläge via SPIEGEL.
denn der Kontakt mit Kupfer macht Bak-
terien unschädlich. Die Socken Die französische Zeitung „Libération“
müssen seltener gewaschen werden und über den Präsidenten der Europäischen
fühlen sich wie eine zusätzliche Kommission Jean-Claude Juncker:
Lunge an den Füßen an.“
So hat er am Tag nach dem Brexit-Refe-
rendum nur zwei Fragen beantwortet,
und auch das nur einsilbig. Der Verfol-
gungswahn seines Umfelds, das jede Kri-
Aus der Tageszeitung „Freies Wort“ tik am „Schutzherrn“ als Frevel sieht, als
Gotteslästerung, macht es nicht einfa-
cher. Wer aus der Reihe tanzt, wird nicht
Aus dem „Hamburger Abendblatt“: geschont: So bezeichnete Jean-Claude
„Jahrelang stand die griechische Regie- Junckers Kabinettschef, der Deutsche
rung in der internationalen Kritik, zu we- Martin Selmayr, den Brüssel-Korrespon-
nig gegen den Schuldenabbau zu tun.“ denten des deutschen Wochenmagazins
www.spiegel-geschichte.de DER SPIEGEL Anfang September vor an-
deren Journalisten als „Arschloch“, das
„Arschlochjournalismus“ betreibe.

Das „Süddeutsche Zeitung Magazin“


zum SPIEGEL-Bericht
Aus dem „Fürstenfeldbrucker Tagblatt“ „Hattu Möhren?“ (Nr. 6/1977):

Das dummdreiste Häschen, das ein Ge-


Aus der „Badischen Zeitung“: „Er in- Lesen Sie dazu: schäft oder eine Amtsstube betritt, könn-
formierte daraufhin die Rettungskräfte, te eine historische Ausnahme sein: Seine
die von dem verdutzten Lastwagen über Entstehung ist recht genau datiert. Zu-
die Ladung aufgeklärt wurden.“ mindest in jenem SPIEGEL-Artikel von
Papstkritik 1977, Autor: der Kabarettist Henning
Luthers geniales Venske. „Der Prototyp“, schreibt Venske
da, „wurde auf dem Festival des politi-

Aus Merkur.de
Marketing schen Liedes im Februar ’76 in Ostberlin
verbreitet: ,Hattu Möhren?‘ Der Apothe-
ker verneint. Frage und Antwort wieder-
Revolte holen sich mehrmals – je nach Geduld
der Zuhörer. Nach Tagen hängt der
Aufstand der Bauern Apotheker ein Schild ins Fenster: Möh-
ren ausverkauft. Dann das Häschen:
,Hattu doch Möhren gehabt …‘ Kenner
erkannten, wohin der Hase lief: Das
Religionskrieg Tierchen, das sich vorwiegend von Kräu-
Der Weg ins Desaster tern und Rinde ernährt, musste dazu her-
halten, die längst institutionalisierten
Schild in Eschenz bei Stein ,momentanen Versorgungsengpässe‘ zu
am Rhein (Schweiz) glossieren.“
146 DER SPIEGEL 47 / 2017
Warum hatte man früher eigentlich
Sparstrümpfe zum Sparen?

Wir können nicht alles erklären, aber wie man


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