Sie sind auf Seite 1von 119

BeNeLux €  7,10 Finnland €  9,10 Griechenland €  7,50 Norwegen NOK  97,– Portugal (cont) €  7,20 Slowakei €  7,40 Spanien

) €  7,20 Slowakei €  7,40 Spanien €  7,40 Tschechien Kc 220,- Printed


Dänemark dkr 67,95 Frankreich €  7,40 Italien €  7,80 Österreich €  6,80 Schweiz sfr  8,90 Slowenien €  7,20 Spanien / Kanaren €  7,70 Ungarn Ft 3390,- in Germany

Vom Star

Putin schlagen?
zum Problemfall
Minister twittert

ROBERT HABECK

Kann die Ukraine


Nachts, wenn der

GEGENOFFENSIVE
KARL LAUTERBACH

Elizabeth II. 1926 – 2022


DIE LETZTE MA JESTÄT
Nr. 37 | 10.9.2022
DEUTSCHLAND € 6,10
HAUSMITTEILUNG

Queen Elizabeth II. | Seite 8

Als SPIEGEL-Redakteur Jörg Schindler 2017 nach London


zog, interessierte er sich kaum für die Queen. »Aber von

Christian O. Bruch / laif


Jahr zu Jahr faszinierte sie mich mehr«, sagt Schindler.
Sie wurde in einem politisch zerrissenen Land zwischen

Finbarr O‹Reilly
Brexit und Boris Johnsons Kapriolen zum »letzten
­un­angefochtenen Pfeiler der Nation«. Aus Schindlers
Titeltext spricht deshalb mehr als nur Respekt vor einer
Jahrhundertfigur, den Nachruf auf die Queen nennt er:
eine Verbeugung. Für die SPIEGEL-Redakteurin Patricia Dreyer war die Queen Inspiration
­unzähliger Texte. Die Königin ertrug sämtliche Irrwege ihres großen Clans, überlebte Moden
und Trends, lächelte sich durch Krisen und ­Katastrophen – und wurde so schon zu Lebzeiten
unsterblich. »Hätte sie eitle Ideen von sich selbst als Super-Queen gehabt, hätte das Ganze
auch schiefgehen können«, sagt ­Dreyer. »Aber sie war völlig uneitel, geerdet. Dass sie Sinn für
Humor hatte, muss in ihrem Job enorm geholfen haben.« Der Tod der ewi­gen Monarchin trifft
das Vereinigte Königreich nicht u ­ n­vorbereitet, aber zu einem schwierigen Zeitpunkt der neu-
erlichen politischen Umwälzungen. Die Königin ist tot, Thronfolger Charles ist umstritten. Was
nun, Great ­Britain?

Rechtspopulisten | Seite 92

Mehr als 13 Millionen Franzosen stimmten bei den Wahlen im April für die
Rechtspopulistin Marine Le Pen, das waren über 41 Prozent der Wähler-
schaft. Nicht genug, um Le Pen in den Élysée-Palast einziehen zu lassen –
Haarverlust?
Rafik Berdoudi

aber das Votum belegte: Frankreich hat keine Berührungsängste mehr mit
rechtsradikalen Politikern. Um zu erfahren, warum das so ist, fuhr SPIEGEL -­
Korrespondentin Britta Sandberg zu einem der prominentesten Rechten des
Landes. Drei Tage lang begleitete sie Robert Ménard, seit acht Jahren Bürger­
meister im südfranzösischen Béziers, bei Teamsitzungen, Gängen durch die Altstadt und Bürger-
Jetzt spürbar
sprechstunden. »Das Verstörende ist, Ménard vertritt unerbittlich radikale, rechte Positionen«, so
Sandberg. »Aber was er für die Stadt macht, findet viel Zustimmung. Vor allem hört er den L ­ euten
reduzieren!
zu. In Frankreich ist gerade das nicht selbstverständlich.« Der erste Kontakt zu Ménard kam über
einen gemeinsamen Bekannten zustande: Der Grüne Daniel Cohn-Bendit ist ein alter Freund von Mit Coffein, Gingko und dem
ihm. Sie kennen sich aus Zeiten, als Ménard noch sehr links war. gesunden pH-Wert 5,5

Edgar Reitz | Seite 118 ANTI-HAARVERLUST1 SHAMPOO


NHE-Pflegeformel regt die Durchblutung
Mehrere Tage verbrachten die SPIEGEL -Redakteure Tobias
Elias Hassos / DER SPIEGEL

in der Kopfhaut an
Becker (M.) und Lars-Olav Beier (r.) mit der Lektüre von Edgar
aktiviert die Haarwurzel
Reitz’ Erinnerungen. Mehr als 600 Seiten lang ist die Autobio-
grafie des Regisseurs und damit wie seine Serie »Heimat« ein 90% der Frauen und Männer bestätigen:
Mammutwerk. In seiner Schwabinger Villa trafen die beiden dichteres Haar²
einen brillant formulierenden 89-Jährigen, der trotz Bronchi-
1 erblich bedingt
tis ohne Ermüdung mehr als zwei Stunden lang über seine 2 Klinisch-dermatologische Anwendungsstudie an 40 Männer
Lieblingsthemen redete: Erinnerung, Zeit, Bilder und, natürlich, »Heimat«. »Wenn Sie eine Pau- und Frauen mit erblich bedingtem Haarausfall über 6 Monate;
Prof. P. Arenberger, Hautklinik, 3. Med. Fak. Karls-Univ. Prag 2009
se machen wollen, sagen Sie bitte Bescheid«, boten die Redakteure ihm an. Die Antwort kam so
schnell wie bestimmt: »Nein! Vielleicht brauchen Sie ja eine Pause?« Bei dem verbalen Konter sebamed Produkte sind in über 120 Studien
spielte vielleicht eine schmerzhafte Erinnerung eine Rolle. Der Impuls, einst das 60 Stunden l­ ange
dermatologisch-klinisch getestet.
Epos »Heimat« in Angriff zu nehmen, verriet er, sei nicht zuletzt von einer vernichtenden Kritik
In Apotheken und Drogeriefachabteilungen und
eines seiner Kinofilme im SPIEGEL ausgegangen.

SPIEGEL EDITION
Preußen löst nicht nur bei Deutschen vielfältige Assoziationen aus: Disziplin,
Pickelhaube und Stechschritt, aber auch reiches Geistesleben, Aufklärung,
­aufregende Architektur. Ob im Konflikt um das Berliner Stadtschloss oder beim
Streit ums Erbe mit den Hohenzollern, das Preußische lebt auch in der Ge­
genwart. Die SPIEGEL EDITION »Preußen und die Hohenzollern« erscheint
am Dienstag. SEBAMED NIMMT IHRE
Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 3
HAUT IN SCHUTZ
INHALT TITEL

8 | Großbritannien  Verneigung
vor Queen Elizabeth II., der
­letzten Majestät
DER SPIEGEL 76. Jahrgang | Heft 37 | 10.9.2022

18 | Wie die Queen alle Krisen


überstand

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel  Wo bleibt
die ­ehrliche Mühsal-Rede von
Kanzler Scholz?

22 | Deutsche Russlandreisende
im Visier von Putins Agenten /
Linke erstatten Strafanzeige
gegen eigene Partei / Der gesunde
Menschenverstand / So gesehen:
Ich, Angela

26 | Energiepolitik  Wirtschafts-
minister Habeck verheddert sich
in der Atomfrage

30 | Regierung  Zweifel an
der Eignung von Gesundheits­

Tolga Akmen / EPA


minister Karl Lauterbach

32 | Lauterbach mauert bei


­Aufklärung haarsträubender
Maskendeals

Die Jahrhundertkönigin 36 | Grüne  Die Abgeordnete


Schahina Gambir soll das
­deutsche ­Scheitern am Hindu-
Sie hat 14 Frauen und Männer zum Premier ernannt. Niemand außer
TITEL  kusch mitaufklären
Ludwig XIV. saß in Europa länger auf dem Thron als Großbritanniens
38 | Antisemitismus  Ein Jude
Queen Elizabeth II. Mit ihrem Tod nach 70 Jahren Regentschaft endet eine und eine Muslima, beide mit
Epoche. Was für ein König wird ihr Sohn Charles III.? | 8, 18 ­Berliner Geschichte, diskutieren
im SPIEGEL -Streitgespräch über
­Judenhass und Nahostpolitik

42 | Bildung  Die Auswahl­


verfahren an Gymnasien treiben
viele Eltern in die Verzweiflung

44 | Kommunen  Die
Geschichte eines Thüringer
Skandal­bürgermeisters

46 | Strafjustiz  Ein Wilderer


Christian O. Bruch / DER SPIEGEL
Reto Klar / FUNKE Foto Ser vices

muss sich vor Gericht für den


Julien Daniel / DER SPIEGEL

Tod einer Polizeianwärterin und


ihres Kollegen verantworten

49 | Wohnen  Die Kosten für


WG-Zimmer sind für viele Stu-
dierende kaum noch zu bezahlen

Karl Lauterbach Peter Doherty Schahina Gambir 50 | Gesellschaft  Warum


Der Gesundheitsminister Der frühere Skandalrocker Die Grünenpolitikerin will das ein Mann aus Münster
stößt manchmal und Heroinjunkie versucht das deutsche Scheitern Baukräne besetzt, Müll hortet
auf Unverständnis. | 30 cleane Leben. | 112 in Afghanistan aufklären. | 36 und Nachbarn bedroht

4 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
DEBAT TE 90 | Türkei  Wie Erdoğan
­Hunderttausende
52 | Internet  Es braucht ein Syrer los­werden will
Recht auf analoges Leben
92 | Frankreich  Der unheim­
liche Erfolg des rechts­
REPORTER populistischen Bürgermeisters

Marlene Gawrisch / WELT / ullstein bild


Robert Ménard
54 | Familienalbum / Ist unser
System in Gefahr?
SPORT
55 | Eine Meldung und ihre
Geschichte  Münzschwund in 95 | So teuer ist das Fußball-
einem Trierer Museum schauen zu Hause / Gibt es hier-
zulande einen Footballboom?
56 | Armut  Anni W. mobilisiert
Menschen, die sich das Leben 96 | Schicksale  Wie der In der Zwickmühle
in Deutschland nicht mehr leisten Fußballprofi Marco Richter
Robert Habeck muss entscheiden, ob drei deutsche Atomkraftwerke
können – so wie sie selbst seine Hodenkrebserkrankung
am Netz bleiben. Dabei setzt ihm nicht nur der politische Gegner zu,
besiegte
sondern vor allem seine eigene Partei. | 26
61 | Kolumne  Leitkultur

WISSEN
WIRTSCHAF T
100 | Die Heilkraft
62 | Lindner zweifelt an der Bewegung / Analyse:
Rettungspaketen / Verschlepptes Braucht Deutschland
Exportverbot für Pestizide eigene ­Löschflugzeuge?

64 | Rüstungsexporte  Der 102 | Wasserwirtschaft  Wie


Saifurahman Safi / Xinhua / eyevine / laif

Hensoldt-Konzern warb in Städte künftig mit Dürren


Saudi-Arabien um Aufträge – und Sturzfluten umgehen wollen
trotz Exportverbots
104 | Rüstungstechnik 
70 | Analyse  Wie es mit Expertin Claudia Major über den
der neuen Intendantin beim Waffenbedarf der Ukraine
RBB weitergeht
108 | Medizin  Droht die
72 | Gewerkschaften  SPIEGEL - Rückkehr der Kinderlähmung
Gespräch mit DGB-Chefin Yas- auch bei uns? Kommt die Kinderlähmung zurück?
min Fahimi über Sozialproteste
Polio ist heimtückisch: Kein Medikament hilft, Lähmungen bleiben
und Lohnrunden in der Krise
oft ein Leben lang. Schon lange soll das Virus ausgerottet werden,
KULTUR nun ist es in New York, London und Jerusalem aufgetaucht. | 108
76 | Konjunktur  In Groß­
britannien spart die Mittelschicht 110 | Saudi-Arabiens ver­
an Heizung und Essen unglückte Eigenwerbung / Neue
Musik von Sudan Archives
78 | Serie Transformation:
Die neue Unabhängigkeit (XII) 112 | Karrieren  Ein Besuch
Nicht Abschottung, sondern bei Peter Doherty, der nun ohne
Flexibilität ist das Mittel gegen Heroin Kunst schafft
die Krise
116 | Fernsehen  Das »Sommer-
haus der Stars« ist feinstes
AUSLAND Trash-TV
Graziano Arici / action press

82 | Truss’ neues Kabinett / 118 | Film  SPIEGEL -Gespräch


­Erneute Eskalation in Tigray mit dem Regisseur Edgar Reitz
über Heimat und Heimweh
84 | Brasilien  Könnte es nach
einer Wahlniederlage Bolsonaros 123 | Buchkritik  Jennifer Egans
zum Putsch kommen? Porträt einer Digitalgesellschaft

88 | Polen  Premier Mateusz Sehnsuchtsmann des deutschen Kinos


Morawiecki kritisiert ­ SPIEGEL-TV-Programm | 37 Bestseller | 122 Edgar Reitz schuf das filmische Mammutwerk »Heimat«. Jetzt hat er
Impressum, Leserservice | 124
die Deutschen für lasche Nachrufe | 125 Personalien | 126
seine Erinnerungen geschrieben. Im SPIEGEL-Gespräch erzählt er,
Russlandpolitik Briefe | 128 Hohlspiegel / Rückspiegel | 130 wie ihn die Kindheit in der deutschen Provinz bis heute prägt. | 118

Titelfoto: Chris Levine / Camera Press / ddp Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 5


Von Churchill lernen
LEITARTIKEL  Je höher die Energiepreise, desto mehr droht die Unterstützung für die Ukraine zu bröckeln. Bundes-
kanzler und Bundespräsident müssen den Deutschen klarmachen: Wer Putin stoppen will, muss Opfer bringen.

neuen Energiepartnerschaften und Investitionen in re-


generative Energien auf dem richtigen Weg. Ja, das ist
zunächst alles teuer. Aber es sind berechenbare Kosten,
während ein Ringen mit einem durch Nachgiebigkeit
­wiedererstarkten Russland ein unkalkulierbares Risiko
darstellen würde.
Woran es fehlt, sind klare Worte der Politik. Nicht
gegenüber Putin, sondern an die eigenen Bürgerinnen
und Bürger. Viele, die sich zum aktuellen Konflikt äußern,
haben die verfehlte Russlandpolitik mitbetrieben und
beleben alte Forderungen (»mit Putin reden«), weil sie
nicht wahrhaben wollen, wie bitter sie sich getäuscht
haben. Andere schweigen, weil sonst der Widerspruch zu
Gamma-Keystone / Getty Images

ihren alten Positionen offenkundig würde.


Besonders auffällig ist, wie wenig vom Bundespräsi-
denten zu hören ist. Obwohl das genau Frank-Walter
Steinmeiers Aufgabe wäre: in schwieriger Zeit zu den
Menschen zu sprechen. Sein früheres Handeln als Außen-
minister hemmt ihn heute in seiner Rolle. Er hätte die
Möglichkeit, Fehler zu reflektieren. Doch das hat er bis-
lang nur ansatzweise getan.

D
Premier Churchill bei en Deutschen steht ein harter Winter bevor. Je Und auch Kanzler Olaf Scholz dürfte sich als Regie-
»Blut, Mühsal, näher er rückt, desto häufiger hört man: Muss das rungschef ruhig öfter mal an seine eigene Zeitenwenden-
Tränen und Schweiß«-
Rede im Mai 1940 sein? Ist es nötig, »für die Ukraine« eine so schwie- rede vom 27. Februar erinnern. Als er sich kürzlich im
rige Lage in Kauf zu nehmen? Gibt es keinen anderen ZDF-Interview zum soeben beschlossenen Entlastungs-
Weg? Lässt sich nicht doch Nord Stream 2 nutzen, mit paket äußerte, blieb völlig unklar, für welches größere
Putin reden? Ziel die Regierung eigentlich 65 Milliarden auszugeben
Die Fragen sind legitim. Die Zumutungen dieses Win- bereit ist. Dass es darum geht, Menschen zu entlasten,
ters werden diejenigen am härtesten treffen, die schon weil sie finanzielle Opfer bringen müssen, für die Ver-
jetzt wenig haben. Auch Teile des Mittelstands, des Fun- teidigung von Demokratie und Freiheit in der Ukraine.
daments des Landes, haben zu kämpfen. Es reicht nicht, dieses Ziel nebenbei zu erwähnen.
Doch wer nach Wegen zur Lösung des Konflikts mit Scholz muss es betonen. Am Mittwoch zeigte er im
Putin fragt, muss sich klarmachen, mit wem er es zu tun Bundes­tag, zu welcher Leidenschaft er fähig ist; aller-
hat. Putin hat kein Interesse an einer gemeinsamen dings war sein Ziel CDU-Chef Friedrich Merz und nicht
­Lösung. Er braucht den Konflikt, profitiert vom Zustand die ihm anvertraute Nation. Scholz muss den Fokus
der Zermürbung, der sich in Deutschland einzustellen ­verschieben, weg vom Nutzen des Waschlappens, hin
droht. Sein Ziel ist es, die globalen Machtverhältnisse zum Nutzen der Last, die die Deutschen jetzt aus Mangel
zugunsten Russlands zu verschieben. Das hat er gerade an Alternativen tragen müssen. »You’ll Never Walk
auf einem Wirtschaftsforum in Wladiwostok wieder ­Alone«? Mit der von ihm zitierten Hymne motiviert
­betont. Die Ukraine ist für ihn nur Mittel zum Zweck. man Fußballfans, aber verängstigte Menschen erreicht
Deswegen trifft die Formulierung, Deutschland quäle Scholz damit nicht.
sich »für die Ukraine«, nicht zu. Deutschland stehen Der britische Premier Winston Churchill hat 1940 eine
schwierige Zeiten bevor, weil Putin es als zentrales Land Nation mit seiner fünfminütigen »Blut, Mühsal, Tränen
des Westens mit im Visier hat. und Schweiß«-Rede zum Kampf gegen Hitler motiviert.
Putin braucht Es nützt nichts, versöhnlicher mit ihm zu reden. Nach Die Zustände sind anders als zu Churchills Zeiten, aber
die Lüge, den weichen Antworten aus dem Westen auf seine Krim-
Annexion 2014 fühlte er sich im Gegenteil bestätigt, die
an seinem Beispiel zeigt sich, was Worte bewirken kön-
nen. Mario Draghi hat 2012 als EZB-Chef eine Krise des
doch Scholz Lage zu eskalieren. Putin bricht Lieferverträge nach Gut- Euro abgewendet, als er zusicherte, er werde ihn bewah-
und Stein- dünken. Es wäre fahrlässig, Nord Stream 2 jetzt doch in ren, »whatever it takes« – was immer es koste.
Betrieb zu nehmen, wie AfD-Chefin Alice Weidel oder Ansprachen, die Zumutungen benennen, zeigen die
meier dürfen der FDP-Politiker Wolfgang Kubicki fordern. Stärke der Demokratie. Putin braucht die Lüge, doch
gern mit der Verlass ist nur darauf, dass Putin lügt. Wenn er also Scholz und Steinmeier dürfen gern mit der Wahrheit
kein Gegenüber ist, mit dem sich verhandeln lässt, und heraus­rücken. In der Demokratie ist das Verhältnis von
Wahrheit er keine anderen Signale sendet, muss Deutschland ohne Politikern und Volk eines unter Erwachsenen.
herausrücken. ihn auskommen. Es ist mit neuen Flüssiggasterminals, Susanne Beyer n

6 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


TITEL

DIE
DIENERIN
GROSSBRITANNIEN  Queen Elizabeth II., die mächtigste Ohnmächtige der Welt, ist tot. Während ihr
Reich schrumpfte, wurde sie selbst immer größer. Eine Verbeugung. Von Jörg Schindler

8 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


TITEL

Annie Leibovitz / Trunk Archive

Monarchin
Elizabeth II. 2007

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 9


TITEL

Hulton Deutsch / Getty Images; Photo 12 / Universal Images Group / Getty; Fox Photos / Getty Images; London Express / picture-alliance / dpa; Hulton Deutsch / Getty Images; Michael Ochs Archives / Getty Images; Mar tyn Hayhow / PA Wire / picture alliance
2

1 3

5 6 7

Die Jahrhundertfrau: 1 | Die Queen mit ihren Kindern Anne, Charles 1957  2 | Elizabeth als Kind 1935 
3 | Die Königin mit Sohn Charles und seiner Partnerin Diana 1981  4 | Königliche Familie vor Schloss Balmoral 1960  5 | Eheleute Philip, Elizabeth 1958 
6 | Die Queen mit ihrer Mutter Elizabeth Bowes-Lyon 1997  7 | Elizabeth mit ihrem Vater George VI. 1946

10 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


TITEL

Das schon wankende Empire war Ihr Sohn, Charles III., wird nun
so groß, dass die Sonne praktisch nie 96 Jahre übernehmen, und beschwerlicher
darin unterging, als Elizabeth im könnte seine Aufgabe nicht sein. Im

A
­Februar 1952 den britischen Thron 1926 Geburt von November wird er 74, er ist selbst ein
Elizabeth Alexandra
bestieg. 15 Länder erkannten sie heu- Mary Windsor am alter Mann, wenn er nach einem Le-
te überhaupt noch als Staatsober- 21. April in Mayfair, ben im Wartestand nun an die Staats-
haupt an. Dieses zweite Elisabetha- London spitze tritt. Nie hat sich ein britischer
nische Zeitalter wird als Ära des kon- 1939 bis 45 Prinz länger gedulden müssen, bis er
Die Königsfamilie bleibt
tinuierlichen Zerfalls in die Annalen während des Zweiten den Thron besteigen durfte. Ihm bleibt
eingehen. Eine Epoche, in der aus Weltkriegs in England. nicht viel Zeit, um all die Ideen umzu-
einem Empire eine Insel an der Peri- 1947 erste Auslands- setzen, von denen er fraglos zahlreiche
pherie Europas wurde. Elizabeth II. reise nach Südafrika, hat. Und anders als seine Mutter ge-
Hochzeit mit Prinz
war die letzte lebende Verbindung Philip gegen Wider- nießt er nicht das unein­geschränkte
in Britanniens faszinierende, wenn stand auch ihrer Eltern Vertrauen eines Großteils der Briten
An einem Frühjahrstag im April 1947 auch nicht immer glorreiche Vergan- 1948 Sohn Charles – schon gar nicht das der 14 anderen
wird geboren, zwei
setzt sich Elizabeth Alexandra Mary genheit als Weltmacht. Auch sie ist Jahre später kommt
Nationen, die fortan mit einem König
Windsor in den Schatten eines Bau- jetzt ­Geschichte. Tochter Anne zur Welt. anstelle einer Königin als Staatsober-
mes im südlichen Afrika, um vor Aber seltsam genug: Während das 1952 Tod Edwards VI., haupt zurechtkommen müssen.
­Millionen Menschen ein Gelübde Reich auf Normalmaß schrumpfte, Elizabeth II. wird Es ist fraglich, ob Charles sich wie
Königin. Krönungszere-
­abzulegen. Der gut siebenminütige wurde seine Königin immer größer. monie im folgenden seine Mutter über sehr lange Zeit so
Schwarz-Weiß-Film, der von dieser Keine Krise, und es gab viele, konnte Jahr in der Westmins- weit zurücknehmen kann, bis er fast
Szene überliefert ist, zeigt eine zier- ihr nachhaltig schaden. Nie war ihre ter Abbey verschwindet. Sie hat damit sich, ihre
liche junge Frau mit durchgedrücktem anachronistische Rolle in einem mo- 1956 erste außenpoliti- Familie, die Krone und in gewisser
sche Bewährungsprobe
Rücken auf einem Stuhl, dessen Leh- dernen demokratischen Staatsgebilde mit der Suez-Krise Weise das ganze Land durch turbu-
ne sie kein einziges Mal berühren ernsthaft in Gefahr. Nicht nach dem 1960 Elizabeths Sohn lente Jahrzehnte gelotst. Aber es gibt
wird. Sie ist soeben 21 geworden, »ein Tod von Prinzessin Diana. Nicht nach Andrew wird geboren, viele, die ihrem erratischen Sohn eine
glücklicher Tag für mich«, sagt sie den widerwärtigen Enthüllungen vier Jahre später ihr ähnlich lautlose Regentschaft nicht
letztes Kind Edward.
ernst. So steht es auf dem Blatt Papier, um die Nähe ihres zweitgeborenen zutrauen.
1981 Medienhype um
das sie vor sich auf einem Chippen- ­Sohnes, Prinz Andrew, zu einem die Hochzeit von Prinz Scheitert er, stellt sich nicht nur für
dale-Tisch liegen hat. pädo­philen Multimillionär. Nicht Charles und Lady Diana das britische Königshaus die Existenz-
Spencer
Mehrfach wechselt die Einstellung nach der Flucht ihres angeblichen frage – auch dem Königreich stünden
in diesen Minuten, jedes Mal rückt Lieblingsenkels Harry und seiner 1982 Falkland-Krieg die stürmischsten Tage seit sehr langer
zwischen Argentinien
ihr die Kamera näher, jedes Mal Frau Meghan aus dem britischen und Großbritannien, Zeit womöglich erst noch bevor.
schaut sie kurz auf, irritiert, unsicher. Königshaus nach Kalifornien. Sohn Andrew ist im Um den epochalen Einschnitt zu
Einsatz.
Als nur noch ihr Kopf den Bildschirm Und selbst als das Vereinigte ermessen, den der Tod der ewigen
füllt, zögert sie einen Moment, dann Königreich, mit jahrzehntelanger 1992 von Elizabeth Königin bedeutet, lohnt ein Blick
aufgrund von Trennun-
sagt sie mit etwas zu schriller Stimme: Verspätung, seine Verantwortung für gen in der Familie und zurück auf 1952, das Jahr, in dem Eli-
»Ich erkläre vor Ihnen allen, dass ich die Unterjochung und Versklavung Skandalen als »Horror- zabeth das Erbe ihres verstorbenen
jahr« bezeichnet
mein gesamtes Leben, möge es lang großer Teile der Welt langsam an- Vaters antrat. Die Nachwehen des
1993 Die Queen wird
oder kurz sein, dem Dienst an Ihnen erkannte, blieb die Frau, deren Vor- steuerpflichtig auf Zweiten Weltkriegs waren damals
und dem Dienst an unserer großen fahren zu den übelsten Mittätern Privatvermögen und überall zu spüren, viele Teile Londons
imperialen Familie widmen werde.« zählten, weitgehend unbehelligt. Kapitalgewinn, die waren noch immer mit Trümmern
Kritik an Zuschüssen
Sie hat Wort gehalten. Für zahllose Briten hatte Elizabeth für das Königshaus übersät. Erst da, nach zwölf elenden
An diesem Donnerstagabend, da längst eine wichtigere Rolle ein- bleibt. Jahren, endete die Rationierung von
75 Jahre, 4 Monate und 19 Tage nach genommen. Als die vergangenen 1997 Unfalltod von Tee. Männer verdienten im Durch-
Lady Diana
ihrem Versprechen, ist Queen Eliza- Jahrzehnte mit ihren Dauerkrisen schnitt neun Pfund die Woche.
beth II. auf ihrem Landsitz Balmoral auch die Britischen Inseln heimsuch- 2010 Hochzeit von In Großbritannien regierte Win-
Enkel William und
in Schottland gestorben. Sie wurde ten, als Terroristen, Spekulanten, Catherine Middleton, ston Churchill, in Deutschland Kon-
96 Jahre alt. Mehr als 70 Jahre lang politische Rattenfänger und Seuchen Urenkel George kommt rad Adenauer, in der Sowjetunion
2012 zur Welt.
hat sie ihrem Volk – oder besser: die Welt durcheinanderwirbelten, Josef Stalin, in China Mao Zedong,
2011 erster Staatsbe-
ihren Völkern – gedient, erst im Juni genügte ein rascher Blick auf die such in der Republik
in den USA sollte Ende des Jahres
feierte die Welt mit ihr das Platin- königlichen Paläste und die Endlos- Irland Dwight D. Eisenhower zum Präsi­
Thronjubiläum. Nur Ludwig XIV., schleife höfischer Rituale, um den 2015 letzter von fünf denten gewählt werden. Der Kalte
König von Frankreich im 17. und Menschen Halt zu geben. Staatsbesuchen in Krieg, der gut 40 Jahre währen sollte,
Deutschland
18. Jahrhundert, saß mit 72 Jahren Die Greisin im Zentrum dieser Ri- verschärfte sich. Im Oktober 1952
und 110 Tagen in Europa länger auf tuale kannte wohl jeder Brite von 2016 Die Queen hatte ließ Churchill auf den australischen
bis zu diesem Jahr
dem Thron als sie. frühester Kindheit an. Elizabeth war etwa 600 Schirmherr- ­Montebello-Inseln die erste britische
Sie war die »Mother of All People« eine Versicherungspolice für eine im schaften ausgeübt. Atombombe testen. Bis zum ersten
für die indigenen Salish in Kanada, Kern verunsicherte Nation. Sicherer 2019 Verwicklung von James-Bond-Roman würde noch ein
Prinz Andrew in den
die »Mama belong big family« für die noch als das Amen in den Kirchen, Epstein-Skandal Jahr vergehen.
Bewohner Papua-Neuguineas, die von denen es auch in Großbritannien 2020 Enkel Harry
In England wurde wie seit fünf
»Great White Mother of Africa« für zusehends weniger gibt. Sie war im- verlässt mit seiner Frau Jahrzehnten am 24. Mai der Empire
Menschen im einstigen Rhodesien mer da, und sie war immer schon da. Meghan die »Firma Day mit Märschen und Fanfaren ge-
Windsor«.
und die »Boss Lady« in Hongkong. Am Ende ist das womöglich die feiert. Große Teile des südlichen Af-
2021 Tod von Prinz
»Te Kotuku Rerengatahi« nannten die größte Dienstleistung ihres Lebens. Philip mit 99 Jahren.
rika waren nach wie vor britisch,
Maori in Neuseeland sie, »Der weiße Jetzt ist sie nicht mehr da. Die ebenso Zypern, Malta, die Golfstaa-
2022 Am 8. September
Reiher, der einzeln fliegt«. Königin ist tot. stirbt Queen Elizabeth II. ten, die West Indies, Hongkong. Erst-
Der Reiher ist nun gelandet. Lang lebe der König? im Alter von 96 Jahren. mals überhaupt wurde auf einer zivi-

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 11


TITEL

len Flugroute, zwischen London und Johan- Titel war das nicht. Die tatsächliche Macht
nesburg, ein Düsenflugzeug eingesetzt. Das Die Krone schwebt, übten im Mutterland der modernen Demo-
britische Weltreich war noch immer so groß, so scheint es, einsam kratie da schon lange das Parlament und die
dass die Sonne darin praktisch nie unterging. Regierung aus. Die Monarchie war Staffage,
Aber es war bei Weitem nicht mehr so über den Dingen. der »würdevolle Teil der Verfassung«, wie es
mächtig wie 30 Jahre davor, als ein Viertel der große Verfassungshistoriker Walter Ba-
der Weltbevölkerung unter Londons Kom- gehot nannte. Altes, teures, wunderbares Ge-
mando stand. Und es war gefährdet. Fünf schirr, das man zu besonderen Gelegenheiten
Jahre zuvor hatte sich Indien bereits in die aus dem Schrank holt, um Gäste zu beein-
Unabhängigkeit verabschiedet; in Kenia tob- te Traditionen und partielle Geschichtsblind- drucken.
te der Mau-Mau-Aufstand. An den Rändern heit im besten Fall als überholt, im schlech- Schon allein deswegen verbat sich ein Ver-
des Reiches verschafften sich die Unterjochten testen als obszön betrachtet werden. Die gleich mit der letzten Elizabeth, die auf einem
Gehör. Das Empire wankte – und mit ihm die Krone schwebt, so scheint es, einsam über englischen Thron gesessen hatte. Bereits in
britische Krone. den Dingen. ihrer Weihnachtsansprache 1953 dämpfte Eli-
Dass die Monarchie nicht gottgegeben, Und verantwortlich dafür war eine 1,60 zabeth II. entsprechende Erwartungen: »Ich
sondern eine allzu menschliche Angelegen- Me­ter kleine Frau ohne formale Schulbildung, fühle mich, offen gestanden, überhaupt nicht
heit ist, hatten in diesem turbulenten 20. Jahr- ohne rhetorisches Talent und ohne Erfahrung, wie meine große Tudor-Vorfahrin, die weder
hundert schon etliche andere europäische die der Zufall einst auf den Thron spülte. mit Ehemann noch mit Kindern gesegnet war,
Königshäuser erfahren müssen. In Portugal Es war nicht vorgesehen, dass sie diese als Despotin herrschte und ihre heimischen
hatte Manuel II. 1910 abgedankt, in Russland Rolle übernehmen würde. Erst nachdem ihr Gefilde nie verlassen konnte.«
folgte 1917 Nikolaus II., in Deutschland und Onkel, Edward VIII., der Liebe zu einer ge- Diese zweite Elizabeth an der Staatsspitze
Österreich ein Jahr später Wilhelm II. und schiedenen Amerikanerin wegen 1936 ab- war ohnmächtig. Sie musste sich etwas ande-
Karl I. Italien ließ sich etwas länger Zeit und gedankt hatte und dessen Bruder »Bertie«, res einfallen lassen, um die Zukunft des Hau-
schaffte die Monarchie 1946 per Referendum Vater zweier Töchter, als George VI. an seine ses Windsor zu sichern. Da traf es sich ganz
ab. Wenige Jahre vor seinem Sturz 1952 war Stelle getreten war, wurde absehbar, dass gut, dass sie selbst mit Ehemann und Kindern
es König Faruk von Ägypten, der prophezei- Großbritannien dereinst wieder eine Königin gesegnet war.
te, schon bald werde es auf der Welt nur noch bekommen würde. Dass es so bald schon sein Schon Elizabeths Ururgroßmutter Victo-
fünf Könige geben: Karo-, Herz-, Pik- und würde, damit rechnete niemand. ria und deren Gatte Prinz Albert hatten einst
Kreuzkönig – sowie den König von England. Elizabeth war auf Reisen in Kenia, als sie geschickt die Familie in den Mittelpunkt
Faruk lag nicht ganz richtig, weder was die am 6. Februar 1952 vom frühen Tod ihres ihrer Regentschaft gestellt, um die Bande mit
Zahl noch was das Geschlecht der Regenten ­Vaters erfuhr. Sie soll keine Träne verdrückt ihren Untertanen zu festigen. Victoria und
betraf. Aber immerhin drei Viertel aller euro- haben. Als ihre Vertraute Pamela Mount­ Albert hatten im Jahr 1840 – ungewöhnlich
päischen Staaten haben die Monarchie heute batten, eine Cousine ihres Mannes, ihr kon- genug für europäische Herrschaftshäuser –
abgeschafft. Zehn sind noch übrig, wenn man dolieren wollte, antworte Elizabeth: »Oh, aus Liebe geheiratet und konnten sich und
den Sonderfall Vatikan nicht mitzählt: Bel- danke. Bedauerlicherweise bedeutet das, dass ihre Sprösslinge daher glaubhaft als britische
gien, Dänemark, die Niederlande, Norwegen, wir zurück nach England müssen. Das bringt Musterfamilie und moralische Autorität
Spanien und Schweden, dazu die Fürsten­ jedermanns Pläne durcheinander.« Sie war ­inszenieren.
tümer Liechtenstein und Monaco sowie das 25 und die Thronfolgerin ihres Vaters. Daheim Die Industrialisierung war gerade drauf
Großherzogtum Luxemburg. Und eben Groß- in London seufzte Churchill: »Sie ist nur und dran, das Land und die Gesellschaft in
britannien. ein Kind.« beispielloser Weise durcheinanderzuwirbeln,
Das dortige Königshaus ist fraglos das Ein Kind ohne Macht, um genau zu sein. alte Gewissheiten wurden in rasantem Tempo
populärste. Es zieht mit seinen Hochzeiten, Zwar wurde aus Elizabeth Windsor am Tag weggefegt. Viele Briten reagierten darauf ver-
Geburten, Trennungen und Intrigen Milliar- ihrer Krönungsfeier, dem 2. Juni 1953, offiziell unsichert, sie sehnten sich nach traditionellen
den Menschen in seinen Bann. Die Monarchie »Elizabeth die Zweite, von Gottes Gnaden Werten. Und die Königsfamilie bediente die-
Britanniens hat, nach einer bald 1000-­jährigen Königin des Vereinigten Königreichs von sen Wunsch. Wenn auch nicht ganz uneigen-
Geschichte, erfolgreich den Übergang ins Großbritannien und Nordirland und ihrer an- nützig.
21. Jahrhundert gemeistert. Es wirkt unge­ deren Königreiche und Territorien, Ober- Während im House of Commons, dem
fährdet selbst in einer Welt, in der vererbte haupt des Commonwealth, Verteidigerin des Unterhaus des britischen Parlaments, immer
Titel, anstrengungsloser Wohlstand, verstaub- Glaubens«. Aber viel mehr als ein hübscher mal wieder Antiroyalisten gegen die Monar-

Erben der Krone Elizabeth II. Prinz Philip


Königin Herzog von Edinburgh
Die königliche Familie
Thronfolger
Nachfahren
Partner Diana Spencer Prinz Charles Camilla Parker Bowles Prinz Andrew Sarah Ferguson
Fürstin von Wales Fürst von Wales Herzogin von Cornwall Herzog von York Herzogin von York
geschieden

Catherine
Middleton Prinz William Prinz Harry Meghan Markle Sophie
Herzogin von Herzog von Cambridge Herzog von Sussex Herzogin von Sussex Prinz Edward
Graf von Wessex Rhys-Jones
Cambridge Gräfin von Wessex
S Grafik


Prinz Prinzessin Prinz Lilibet Archie Harrison Mark Prinzessin Anne Timothy
George Charlotte Louis Mountbatten-Windsor Mountbatten-Windsor Phillips Kronprinzessin Laurence

12 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


TITEL

chie wetterten, wurde der ungeschriebene


Vertrag mit den Commons, den gewöhnlichen
Leuten, zur Überlebensgarantie für das
Königshaus.
Elizabeth und ihr Gemahl Prinz Philip –
noch so ein Paar, das aus Liebe zusammen­
gefunden hatte – knüpften ein Jahrhundert
später nahtlos daran an. Aber sie taten noch
mehr. Sie professionalisierten die Auftritte
ihrer Familie, mit klaren Hierarchien, strikten
Regeln und gegebenenfalls harschen Sank­
tionen.
Senior Royals, Junior Royals, jedes einzel­
ne Mitglied bekam scharf umrissene Aufga­
bengebiete zugeteilt. Das wichtigste: Public
Relations und der Schutz der Corporate Iden­
tity. So wurde die Königsfamilie zur »Firma«,
zum Familienbetrieb. Mit einer Vorstands­
vorsitzenden, deren Chefsessel der britische
Thron war.
Das Produkt, das von dem adeligen Unter­
nehmen beworben wurde, hieß Wohlbe­
finden und Geborgenheit. Am Hof hieß es
bisweilen scherzhaft: »Wir arbeiten in der
Beglückungsindustrie.«
Alexi Lubomirski / ddp

Als Vehikel dienten der Königsfamilie da­


bei die Massenmedien, die in den 1960er-
Jahren ihren endgültigen Durchbruch feier­
ten. Vor allem der technikbegeisterte Philip
war dabei die treibende Kraft. Er war es auch, Brautpaar Harry und Meghan 2018: Sehnsucht nach traditionellen Werten
der Elizabeth 1969 die Zustimmung zur heu­
te legendären BBC-Dokumentation »Royal Geister gerufen, die sie nie wieder loswerden rie der Monarchie«. Marmite ist eine salzige
Family« abrang. würden. vegane Würzpaste, die 1902 in Großbritan­
Die Welt, so Philip, sollte sehen, dass Aber hatte Elizabeth, die Königin, eine nien erfunden wurde und bis heute unter dem
die Monarchin und ihre Lieben »normale, andere Wahl? Alles, was der britischen Krone Slogan »You either love it or hate it« vermark­
hart arbeitende Leute« seien. Tatsächlich über Jahrhunderte Autorität verliehen hatte, tet wird.
beäugte ein Rekordpublikum am Ende war schon in ihrem Krönungsjahr verschwun­ Um nicht von den Zeitläuften überholt und
90 Minuten lang eine stinknormale Familie den oder schwer beschädigt. irgendwann abgehängt zu werden, müsse sich
beim Grillen, Eisessen und anderen banals­ Das Empire zerfiel nach und nach und ging das Königshaus wie das Design der Marmite-
ten Verrichtungen. Traditionelle Royalisten in einen mehr oder weniger losen Bund von Gläser entwickeln, argumentierte Janvrin: in
waren entgeistert. Staaten, das Commonwealth, über. Die winzigen Schritten, sodass man die Unter­
Der Naturfilmer David Attenborough Machtbefugnisse der Queen, ohnehin über­ schiede im Nachhinein nur erkennt, wenn
warnte, der Monarch sei für Briten, was schaubar, wurden von Parlament und Regie­ man ein Glas aus den 1950ern neben eines
Stammeshäuptlinge für indigene Völker sei­ rung immer weiter beschnitten. Theoretisch aus den 2000er-Jahren stellt.
en: »Wenn je ein Mitglied des Stammes in können britische Monarchen Neuwahlen er­ Alle noch bestehenden europäischen Kö­
diese Hütte hineinschaut, dann ist das ganze zwingen, theoretisch auch Gesetzen ihre Zu­ nigshäuser sind auf diese Weise behutsam mit
System des Häuptlings zerstört, und der stimmung verweigern. Aber das war zuletzt der Zeit gegangen. Aber kein anderes hat die
Stamm zerfällt.« Die BBC nahm den Film im Jahr 1708 passiert. Kunst des fortschreitenden Stillstands so per­
alsbald unter Verschluss, er wurde praktisch Die Streitkräfte des Vereinigten König­ fektioniert wie das britische unter Queen Eli­
nie wieder gezeigt. Inzwischen kann man sich reichs fungieren offiziell zwar als »Her zabeth II. Die so vormodern wirkenden Tra­
die vollständige Dokumentation auf YouTube ­Majesty’s Armed Forces«, doch Krieg oder ditionen, mit denen das Land sich und seine
anschauen. Frieden lagen nie in Elizabeths Händen. Ihre Königinnen und Könige feiert – und die aus
Es war nicht das letzte Mal, dass sich Rolle als Oberhaupt der anglikanischen Kir­ sehr viel jüngerer Zeit stammen, als viele
der Pakt mit den Medien, der den einen Ein­ che bekleidete die gottesfürchtige Monarchin ­denken –, wurden dabei nicht angetastet. Im
schaltquoten, den anderen Popularität garan­ mit großer Hingabe. Nur: In einem zuneh­ Gegenteil.
tieren sollte, als ein faustischer herausstellte. mend säkularen Staat war auch diese Rolle Die Ritterschläge, Ordensverleihungen
Das Königshaus hatte die Realitysoap erfun­ nicht viel mehr als eine zeremonielle. und Audienzen, die Londoner Geburtstags­
den, noch bevor der Begriff überhaupt ge­ Um fortbestehen zu können, musste sich parade »Trooping the Colour«, das Royal
boren war. Und die Medien verlangten mehr, auch die britische Monarchie neu erfinden Edinburgh Military Tattoo, die von Kutsche,
immer mehr. Privatsphäre gab es für die Fa­ und dabei zugleich erkennbar bleiben. »Alles Krone und Thronrede umrahmte jährliche
milie irgendwann nicht mehr. Grenzen auch muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es Eröffnungszeremonie des Parlaments: Staats-
nicht. ist«, sagt der Fürstenneffe Tancredi in Giu­ und Beeindruckungstheater, mit dem die Mo­
1997 verfolgten Paparazzi Diana, die Prin­ seppe Tomasi di Lampedusas Roman »Der narchin ihre geballte sanfte Autorität auf gro­
cess of Wales, buchstäblich bis in den Tod. Leopard«. Eine nahezu unmögliche Aufgabe. ßer Bühne inszenierte. Sie zeigte Haltung und
Ein Schock, der Jahrzehnte nachwirkte und Aber eine, der sich Elizabeth mit Ausdauer gab Halt. Wie eine Mutter, die ihr Kind mit
ohne den auch die Geschichte von Charles, stellte. dem immer gleichen Lied in den Schlaf wiegt.
William, Harry und Meghan vermutlich ganz Ihr langjähriger Privatsekretär Robin Zugleich jedoch erlebte das Königshaus
anders verlaufen wäre. Die Royals hatten ­Janvrin entwickelte dazu die »Marmite-Theo­ etliche, kaum merkliche Modernisierungs­

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 13


TITEL

1 4

2 3 5

Ein Leben für die Krone: 1 | Elizabeth II. mit Premier Winston Churchill 1952  2 | Die Königin mit Kanzlerin Angela Merkel 2015 
3 | Queen Elizabeth II. 1953  4 | Die Monarchin mit US-Präsident John F. Kennedy 1961  5 | Elizabeth II. mit Regierungschefin Margaret Thatcher 1979

schübe. Schon Elizabeths Krönungs­ der Ankunft Dianas im Palast wurde Als Diana am 31. August 1997 in
messe 1953 wurde, auf Drängen Phi- daraus ein offener Konflikt. Hier die Paris starb, geriet Elizabeth hilflos

Bridgeman Images; V & A Images / INTERFOTO; Bettmann / Getty Images; Christian Irrgang / Agentur Focus; Anwar Hussein / Getty Images
lips, zum ersten medial ausgeleuch- »Königin der Herzen«, die HIV-Kran- in die vermutlich größte Krise ihrer
teten Massenereignis in der Geschich- ke umarmte und Waisenkinder liebe- Regentschaft. Während vor dem
te der Krone, so wie später alle voll in die Arme schloss; dort die Bucking­ham-Palast und andernorts
Hochzeiten ihrer Kinder und Kindes- scheinbar kalte Queen, die praktisch zahllose Briten öffentlich trauerten,
kinder. nie eine Miene verzog. Keine Herr- saß die Königin schweigend und für
Die Erbfolgeregel, nach der der scherin – eine Beherrschte. die Welt unsichtbar in ihrem schotti-
älteste Sohn eines Monarchen den schen Schloss Balmoral.
Erstanspruch auf den Thron hat, wur- Sie tat das offenbar vor allem, um
de unter Elizabeth abgeschafft. Lang lebe die Königin ihre halbwüchsigen Enkel William
Und als in den 1990er-Jahren Fra- und Harry vor der Wucht des kollek-
gen nach ihrem Reichtum immer lau- Regierungszeitraum britischer Premierminister und tiven Gefühlsausbruchs abzuschir-
-ministerinnen während der Regentschaft Elizabeths II.
ter wurden, begann sie eben, Steuern men. Es funktionierte nicht.
zu zahlen und halbwegs umfängliche »Show Us You Care«, titelte der
Berichte über ihr Vermögen zu Sir Winston Churchill (2. Amtszeit) Queen »Daily Express« stellvertretend für
Sir Anthony Eden Elizabeth II.
veröffentlichen. Millionen – die Queen sollte zeigen,
Vor allem aber tat die Königin im Harold Macmillan dass der Tod ihrer Schwiegertochter
Lauf der Zeit vieles, um sich und ihre ir Ale
Sir Al ec D
Alec oug
ou glalas-H
Douglas-Home s-Hom
s-H ome e sie genauso berührte wie die Men-
Familie nahbarer wirken zu lassen. H arol
HaroldolddW ilils
Wilson son schen in ihrem Land. In Blitzum­
Denn nur so, das erkannte sie gerade E d w a rd H
Edward eath
eat
Heath h fragen sprach sich kurz darauf fast
noch rechtzeitig, würde sich der un- H arol
Haroldold dW ilils
Wilsonson jeder vierte Brite für die Abschaffung
geschriebene Pakt mit ihren Unter- JJames
ames
ame s Callaghan
Calla
allag
ghahann der Monarchie aus. So viele wie nie
tanen auf Dauer sichern lassen. Und aret TThatcher
Margaret hatche
herr ­zuvor.
damit die Zukunft der Krone. JJohn
ohn M Major
ajor
ajor Für einige wenige Tage im
Elizabeths über Jahrzehnte ge­ TTony
onyny Blair
Blair
lair Spätsommer wirkte es, als würde
übtes Prinzip, Gefühle und Privates Gordon Brown
Gordon B row n sich das Volk von seiner Königin ab-
konsequent hinter einer Pflichtenfas- David
D avividdCCameron
amerron
ame wenden.
sade zu verbergen, war in einer Ge- TTheresa
herresa M
he May
ay Und Elizabeth verstand. Mit eini-
Boris Johnson
sellschaft und in einer Medienland- gen Tagen Verspätung begab sie sich
Liz Truss
schaft, in der Inneres immer stärker ins Trauerzentrum London. Und fort-
nach außen gestülpt wurde, zuse- 1950 1970 1990 2010 an zeigten sie und die anderen tra-
hends auf Befremden gestoßen. Mit S Quelle: Munzinger internationales biografisches Archiv, eigene Recherchen genden Säulen des Familienunterneh-
Œ

14 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


TITEL

mens sich stets menschlicher, zugewandter zählte, war die Krone – nicht der Mensch,
und, auch das, fehlbarer. Das Haus Windsor der sie trägt.
wurde nun erst recht zur Charity-Monarchie, Deshalb ist diese Frau auch nach sieben
ein Haus der Kümmerer, das dort half, wo Jahrzehnten auf dem Thron ein Rätsel ge-
sich die Politik für nicht zuständig erklärte. blieben.
Allein die Queen war an ihrem Lebensende Man weiß, dass sie vermutlich die einzige
Förderin von rund 600 Wohltätigkeits­ Königin war, die Öl- und Reifenwechsel be-
organisationen und gemein­nützigen Stif­ herrschte. Sie hatte das im Zweiten Weltkrieg
tungen.
Den jüngeren Royals, allen voran William
gelernt und soll sehr stolz darauf gewesen
sein. Man weiß, dass ihre lebenslange Leiden-
DER SCHUH ZUM
und Harry, kam unterdessen die Aufgabe zu,
in der exhibitionistischen Celebrity-Kultur
schaft den Pferden galt, die sie einst als »die
größten Gleichmacher der Welt« bezeichne- WOHLFÜHLEN
des 21. Jahrhunderts ihren Part zu spielen und te. Bis ins hohe Alter ritt sie täglich selbst, es
dabei die Grenzen des Sag- und Machbaren war eine der seltenen Gelegenheiten, wirklich
für das britische Königshaus neu auszutesten. allein und nicht nur einsam zu sein.
Sie standen für die Moderne, Elizabeth und Man weiß, dass sie einen schelmischen
Charles für die Tradition. Und so hatte die Sinn für Humor hatte. Einmal, als mitten in MODELL
Marke Windsor plötzlich wieder für jeden das der Audienz das Mobiltelefon der früheren PICCADILLY
passende Angebot. Labour-Ministerin Clare Short klingelte, sag-
Aber selbst Elizabeth flirtete, in Maßen, te die Queen: »Gehen Sie ruhig ran, es könnte
mit der neuen Zeit. In ihren wenigen Reden jemand Wichtiges sein.«
an die Nation und bei manchen öffentlichen Aber sonst? Weiß man erstaunlich wenig
Auftritten gab sie sich in ihren letzten Le- über diese Frau mit der Pokermiene.
bensjahrzehnten zarter und persönlicher als Während ihrer Regentschaft hatte das Ver-
früher. einigte Königreich zwölf verschiedene Pre-
Und manchmal fiel sie sogar scheinbar aus mierminister und drei Premierministerinnen
der Rolle, etwa 2012, als sie in einem James- – die dritte, Liz Truss, hatte sie erst am Diens-
Bond-Einspielfilm für die Olympischen Spie- tag auf Schloss Balmoral empfangen. In der
le in London mitwirkte. Oder zu ihrem Pla- einstigen Kolonie auf der anderen Seite des
tin-Jubiläum dieses Jahr, als sie sich mit Pad- Atlantiks amtierten 14 US-Präsidenten. Sie-
dington Bear, dem berühmtesten Kuscheltier ben Päpste residierten im Vatikan.
der Insel, im Palast zum Tee traf. Alles Mittel Zu den Gästen, die sie empfing, zählten
zu dem einen Zweck: das Wohlwollen ihrer Charles de Gaulle, Nelson Mandela, Lech
Untertanen zu konservieren. Walesa, Nikita Chruschtschow, Robert Mu-
Hat sie dabei Fehler gemacht? Sicher. Al- gabe, Julius Nyerere, John F. Kennedy, Ronald
lein die Tatsache jedoch, dass an ihrem Le- Reagan und viele mehr. Was sie über jeden
bensende eine überwältigende Mehrheit der einzelnen von ihnen dachte (und was die
Briten hinter ihr als Monarchin steht, zeigt, Gäste über sie), weiß man nicht. Sie hat Tage-
dass sie offenbar sehr viel mehr richtig als buch geführt. Aber man sollte sich nicht zu
falsch gemacht hat. viel davon versprechen. Das Schreiben be-
Der Preis, den Elizabeth dafür persönlich trachtete sie als Pflichtaufgabe, »wie Zähne­
zahlte, war hoch. Schon in ihrer Geburtstags- putzen«, so hat sie es selbst gesagt. Die Tage-
rede 1947 hatte sie ja nicht nur versprochen, bücher seien »ziemlich dünn«. Außerdem
ihrem Volk bis zu ihrem Tod dienen zu wol- werden sie noch für viele Jahre unter Ver-
len. Um den Menschen des Commonwealth schluss bleiben.
eine »noch großartigere« Zukunft zu sichern, Ihre Regentschaft reicht vom Wiederauf-
sei es zudem vonnöten, »dass wir nicht we- bau nach dem Krieg über die Suezkrise, den
niger als unser ganzes Selbst hingeben«, sag- Kalten Krieg, den Irakkrieg, den Krieg gegen
te sie als 21-Jährige. den Terror bis hin zum Kollaps des Welt­
Sie für ihren Teil hat das getan. finanzsystems, dem Brexit, der Coronapan­
Sie hat sich dafür freiwillig in einen Pflich- demie und dem russischen Angriff auf die
tenkerker sperren lassen, der sehr viel enger Ukraine. Doch so lange man auch sucht, zu
und stickiger ist, als es der ganze Brokat, kaum einem dieser Jahrhundertereignisse gab
das ganze Gold, der ganze Pomp bei Hofe es einen nennenswerten Kommentar von ihr.
glauben machen. Und sie saß darin lebens- Sieht man von gelegentlichen Durchhalte-
lang. parolen im Auftrag der Regierung ab.
Freiheiten, die die Menschen des Westens Dabei stand sie über Jahrzehnte im Zen­ • AUSGEZEICHNETE PASSFORM
im 21. Jahrhundert für selbstverständlich hal- trum der britischen Politik. Jeden Mittwoch
ten, gelten für britische Staatsoberhäupter empfing sie ihre Regierungschefs, denen sie • SUPERBEQUEM-FUSSBETT
faktisch nicht. Nicht die Berufsfreiheit, nicht mehr und mehr als lebende Enzyklopädie und • OPTIMALE AUFTRITTSDÄMPFUNG
die Reisefreiheit, nicht die freie Religions- Beichtmutter diente. Sie kannte wohl jedes
• GEEIGNET FÜR INDIVIDUELLE EINLAGEN
wahl, nicht das Recht auf Freizügigkeit, nicht Staatsgeheimnis seit 1952. Aber politische
der Schutz der Privatsphäre – und die Mei- Meinungsäußerungen oder gar Taten sind von • GEFERTIGT IN DEUTSCHLAND
nungsfreiheit erst recht nicht. ihr praktisch nicht überliefert – von einigen
In einer Zeit, die sich den Individualis- bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen.
mus zum Fetisch erkoren hat, untersagte 1961 reiste Elizabeth gegen den Rat ihrer
sich die Queen fast jeden Anflug von Regierung nach Ghana, um Präsident Kwame
FinnComfort Postfach
persönlicher Lebensgestaltung. Was für sie Nkrumah vom Bruch mit ihrem geliebten 97433 Haßfurt/Main
Katalog/Händler:
Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 15
www.finncomfort.de
TITEL

bis zur Selbstaufgabe in diese Rolle und spiel­


Royal global te meist klaglos mit, wenn die Regierung des
Tages aus politischer Opportunität ihre größte
Auslandsreisen von Queen Elizabeth II. im Zeitraum von 1952 bis 2015 Trumpfkarte, die Kreuzkönigin, zückte.
Commonwealth-Staaten und britische Überseegebiete andere Staaten Dann reiste sie als Goodwill-Botschafterin
um die Welt oder charmierte daheim im Palast
Menschen wie Präsident de Gaulle, um eine
Kanada britische Annäherung an die Europäische
Wirtschaftsgemeinschaft zu erreichen.
Sich ihrem Charme – und ihrer Aura – zu
Bahamas Bermuda entziehen fiel vielen der sonst so beinharten
Männer in Regierungsämtern schwer. Als Eli­
Barbados Indien zabeth im Jahr 1986 nach China reiste und
Jamaika mit Außenminister Geoffrey Howe zum
Kenia Malaysia
Singapur Lunch bei Deng Xiaoping vorbeischaute, be­
merkte sie rasch dessen Nervosität. An Howe
Fidschi gewandt sprach die Königin: »Ich glaube,
20 Besuche Australien Herr Deng wäre zufriedener, wenn man ihm
10 Besuche
sagte, dass er rauchen darf.« Später erinnerte
1 Besuch
Neuseeland sich Howe: »Ich habe noch nie einen Mann
S Quelle: Royal Household glücklicher strahlen gesehen.« Möglicherweise


hat kein anderer Wink der Weltgeschichte das


britisch-chinesische Verhältnis je schneller
entspannt.
Aber lässt sich aus diesen Gesten ablesen,
wie Queen Elizabeth zur EU oder zu China
stand? Nein, und so war es auch gedacht. Im
Idealfall sollte sich diese Königin nie einen
Fehltritt, einen Skandal oder gar eine eigene
Meinung leisten.
Ihre effektivste Taktik sei »silence« gewe­
sen, schreibt der BBC-Moderator Andrew
Marr: zustimmendes Schweigen, tadelndes
Schweigen, eisiges Schweigen, entsetztes
Schweigen, peinlich berührtes Schweigen. Sie
war eine Meisterin des Ungefähren.
Anwar Hussein / Getty Images

Man kann sich kaum ausmalen, wie viel


Selbstdisziplin das über Jahrzehnte erfordert
Camera Press / ddp

haben muss.
Philip, ihr Prinzgemahl, verzweifelte mehr
1 2 als einmal an dieser erzwungenen Passivität.
»Die Monarchie funktioniert nur, wenn du
gelegentlich deinen Hals reckst«, sagte er
Soft Power: 1 | Elizabeth II. auf einem Elefanten in Indien 1960 
2 | Die Königin mit Indigenen in Neuseeland 1977 einst in einem Interview. »Wer nichts tut, weil
er ansonsten kritisiert werden könnte, endet
als Kohlkopf und ist nutzlos.«
Commonwealth und einer Hinwendung zur Irland besuchte, verblüffte sie die Gäste des Cabbage, Kohlkopf, das war einer seiner
Sowjetunion abzuhalten. Bilder der Monar­ Staatsbanketts in Dublin mit einer Begrüßung Kosenamen für Elizabeth.
chin, wie sie nach dem Dinner mit einem auf Gälisch. Aufnahmen zeigen Irlands Präsi­ Aber sie blieb bis zuletzt stur bei ihrer Li­
strahlenden Nkrumah tanzt, gingen um die dentin Mary McAleese, wie sie erst stumm und nie. Nur so, glaubte sie, in streitlustigen Zeiten
Welt. Und wer sie damals nicht sah, der sah dann laut das Wort »wow« artikuliert. wirklich all ihren Untertanen dienen zu kön­
die Szene später in der Fernsehserie »The »Mit dem Vorteil, die Geschichte rück­ nen. Und ihre Untertanen dankten es ihr.
Crown«. Ghana blieb dem Westen treu. wärts betrachten zu können, sehen wir alle Am Ende eines außergewöhnlich langen
Londons Regierungschef Harold Macmil­ Dinge, von denen wir wünschen, sie wären Lebens ist Queen Elizabeth II. aus dem Alltag
lan schrieb später: »Sie liebt ihre Pflicht und anders oder gar nicht geschehen«, sagte Eli­ – und aus der Erinnerung – zahlloser Men­
legt Wert darauf, eine Königin zu sein und zabeth in ihrer anschließenden Rede. Eine schen nicht mehr wegzudenken. Weder im
keine Puppe.« beispiellose Geste von beispielloser Größe, Vereinigten Königreich noch an vielen ande­
Eine ähnliche Parteinahme, mit allen damit ausgesprochen von einer Frau, deren Familie ren Orten auf dem Planeten.
verbundenen Risiken, zeigte sie mehrfach, selbst Opfer eines tödlichen IRA-Anschlags Die mächtigste Ohnmächtige der Welt ist
als es um Irland ging, die einstige Kolonie, die geworden war. allein in Großbritannien und Nordirland Na­
seit dem Ende der britischen Herrschaft nie Nicht überall im Vereinigten Königreich mensgeberin Hunderter Straßen, dazu Schu­
wirklich zur Ruhe kam. 1977 reiste sie, erneut löste der Brückenschlag der Königin Begeis­ len, Kindergärten, Krankenhäuser, Theater,
gegen die Empfehlung Londons, in das vom terung aus. Flughafenterminals, Brücken und Gärten.
Bürgerkrieg wund geriebene Nordirland. Genau deshalb blieben derartige Brüche Nach ihr benannt sind vier jährliche Pfer­
»Nirgendwo wird Versöhnung dringender mit dem Protokoll über all die Jahre so rar. Das derennen auf vier verschiedenen Kontinen­
­gebraucht«, sagte sie später. Polarisieren war Sache der Politik. Die Sache ten, Inseln, Berge und ein beträchtliches Stück
Und als sie 2011, als erster amtierender bri­ der Monarchin war es, über den Dingen zu Antarktis, Flugzeugträger und Regimenter,
tischer Monarch seit 100 Jahren, die Republik stehen, zu versöhnen, da zu sein. Sie fügte sich eine Dampflokomotive, ein Planetarium, eine

16 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


TITEL

Rosenart, ein Hühnchencurry sowie die Toch- Jahrzehnten war die Operation »London Million Menschen werden Spalier stehen,
ter des mehrfachen philippinischen Boxwelt- Bridge«, so der Codename, bis ins kleinste wenn der Sarg mit der Königin in einer der
meisters Manny Pacquiao, die tatsächlich Detail vorbereitet worden. Da sie in Balmoral größten Militärprozessionen der britischen
Queen Elizabeth Pacquiao heißt. verstarb, wird ihr Leichnam zunächst in ihrem Geschichte durch London getragen und in
Ihr Porträt zierte Geldscheine in rund drei kleinsten Palast aufgebahrt werden, in Holy- Westminister Hall aufgebahrt wird.
Dutzend Staaten der Erde. Auf allen briti- roodhouse in Edinburgh, wo die Royal Com- In den kommenden Tagen wird das Ver-
schen Briefmarken ist ihr Kopf zu sehen, und pany of Archers über sie wacht, ihre schotti- einigte Königreich wieder so groß wirken, wie
weil ihn jeder kennt, muss das Land, aus dem schen Bodyguards mit Adlerfedern in den es einmal war, als eine 25-Jährige vor 70 Jah-
die Marken stammen, erst gar nicht darauf Mützen. ren den Thron bestieg.
erwähnt werden. Sie wurde von bedeutenden Ihr Sarg wird entlang der Royal Mile in Am Ende der staatlich verordneten Trauer
Malern verewigt und mindestens 15-mal von Edinburgh getragen, zur St.-Giles-Kathedra- wird man die verstorbene Königin ins knapp
Schauspielerinnen und Schauspielern in Fil- le, wo eine Messe stattfinden soll; anschlie- 40 Kilometer von London entfernte Schloss
men dargestellt. ßend wird er mit dem königlichen Zug von Windsor bringen, wo sie neben Philip bestat-
»Über 50 Jahre und länger hat Elizabeth Edinburgh seine Trauerreise nach London tet werden wird. Erst dann beginnt für den
Windsor ihre Würde, ihr Pflichtgefühl und antreten. An den Bahnübergängen werden Rest des Landes eine Reise ins Ungewisse.
ihre Frisur beibehalten«, sagte die große He- Menschenmassen erwartet, die von Elizabeth Großbritannien ist vorbereitet und ist es
len Mirren 2007 in ihrer Oscar-Dankesrede. Abschied nehmen. Die zehntägige Staats- doch nicht. »Sie hat ihre Aufgabe so gut
»Sie stand mit beiden Füßen fest auf dem Bo- trauer bis zur Beerdigungsfeier in West­ erfüllt, dass man sie fast schon als Teil der
den, einen Hut auf dem Kopf, eine Handta- minster Abbey wird keinen Raum für Über­ natürlichen Ordnung der Dinge wahrgenom-
sche am Arm, und meisterte so viele Stürme. raschungen lassen. men hat, so wie die Jahreszeiten oder das
Ich verbeuge mich vor ihrem Mut und ihrer Das öffentliche Leben in Großbritannien Wetter«, schreibt Andrew Marr. Jetzt klaffe
Beständigkeit.« Dann wuchtete Mirren die wird nun einstweilen weitgehend pausieren. da »ein königinnengroßes Loch in der Mitte
goldene Statue, die sie gerade gewonnen hat- des britischen Lebens«.
te, in die Höhe und rief: »Ladys und Gentle- In mancher Hinsicht erinnert die Situation
men, ich gebe Ihnen ›Die Queen‹!« an das Jahr 1901, als Queen Victoria nach
Wie nimmt man Abschied von einem der- mehr als 63 Jahren auf dem britischen Thron
artigen Vermächtnis? starb und ihr Sohn Edward VII. an ihre Stel-
In den kommenden Tagen werden sich die In den kommenden Tagen le trat. Ein fast 60-jähriger Lebemann, der
Briten, wie sie es so oft in den vergangenen nicht wenigen Briten als Hallodri galt.
Jahrzehnten taten, an höfische Rituale klam- wird das Königreich Viele fürchteten seinerzeit, für das Land
mern. Der Tod ihrer Königin kam für den Hof- wieder so groß wirken, wie könnte ein langer Abstieg begonnen haben.
staat, die Politik, die Medien des Vereinigten Dabei hatte Großbritanniens »imperiales
Königreichs ja nicht überraschend, schon seit es einmal war. Jahrhundert« damals noch viele kraftvolle

Making New Work work: MHP steigert die Digital-


kompetenz in Unternehmen um 30%.
Sara Beit Saeid, Senior Consultant Agile Transformation

Die MHP Management- und IT-Beratung bringt Unternehmen den entscheidenden Schritt weiter: Wir digitalisieren Prozesse und Produkte unserer Kunden
und gestalten mit agilen Workflows nachhaltig deren Zukunft. Ganz im Sinne unseres Purpose: ENABLING YOU TO SHAPE A BETTER TOMORROW.
Jetzt entdecken auf mhp.com/onpurpose
TITEL

MONARCHIE

Der Glanz der alten Zeit


Jahrzehntelang war Elizabeth Windsor eine der prominentesten Frauen auf dem Planeten –
und blieb bis zu ihrem Tod doch ein Rätsel.

Wir kannten sie, nicht wahr? Ein Men- es ihr leichter. Sie verlas Regierungser­ schaft war: Wir sind wie ihr! Für eine Do-
schenalter lang war Elizabeth Windsor klärungen ihrer Premierminister, empfing, kumentation zerrte Charles seine »Mom-
unwandelbar und omnipräsent – auf Titel- wen sie empfangen sollte, winkte, ackerte my« vor die Kamera, man schaute sich
seiten und in Wochenschauen, bei Staats- sich durch Aktenberge, und das war’s. ­gemeinsam Amateurfilme aus seiner Kind-
banketten, Gartenshows, in Punksongs, Einschneidend waren für die Monar- heit an. Charles versuchte ein Gespräch
auf Kaffeetassen und Briefmarken, auf chie die Achtziger, die Diana-Jahre. In in Gang zu bringen, doch die Mundwinkel
Twitter und bei Instagram. Vor Länder- der kalten Ära des Thatcherismus wurde der Queen zeigten nach unten. Ohne Not
spielen wurde, bevor es um König Fußball die Entfremdung der Briten von der Privatsphäre preisgeben – warum?
ging, erst der Queen ­gehuldigt. Bei ­zunehmend hüftsteifen Sippe im Bucking-
­Windsor-Hochzeiten, diesen globalen TV- ham-Palast sichtbar. Man merkte das Dieser Zeitgeist-Widerstand wirkte in den
Events, hatten die Bräute in ihren Tüllwol- ­ausgerechnet an den Jubelstürmen für die letzten Jahren auf einmal wieder hoch­
ken vor ihr zu knicksen. Netflix widmete volksnahe Prinzessin. Die Bemühungen modern – und wohltuend diskret. Eine
ihr eine Serie, »The Crown«, mit Olivia der Queen aus jener Zeit, es Diana ansatz- Superpromi, die nicht schon vor dem
Colman in der Hauptrolle. Egal welcher weise gleichzutun, waren peinlich. Bei Frühstück die drei neusten Selfies vorm
Staatsgast Großbritannien besuchte – die ­Besuchen in Pflegeheimen hielt sie Ab- Badezimmerspiegel hochlädt, die nie­
grausigen Ceaușescus, die coolen Obamas stand zu den Kranken, die Handtasche mandem nachläuft, um niemanden buhlt.
oder der tumbe Trump –, den besonderen wie eine Waffe am Arm. Damals besuchte Was uns entwaffnete, war ihr Humor.
Goldstaub verlieh diesen Besuchen erst ­Elizabeth auch Untertanen zum Tee, saß, Ihr überraschender Auftritt in einem Film
der Handshake mit der Queen. das Kreuz kerzengerade, in feuerrotem für die Eröffnungsfeier der Olympischen
Was die Menschheit auch erschütterte, Kostüm im Mittelklasse-Wohnzimmer, ein Spiele in London, an der Seite von
Elizabeth schien unerschütterlich. Jüngere Bild verkrampfter Sprachlosigkeit. »James Bond«-Darsteller Daniel Craig.
Royals probierten die Flucht aus diesem Wir merkten damals, dass wir sie gar Die Pointe: Die Königin – natürlich
dauerbegafften Leben, offenbarten vor nicht kannten. Was sollte diese Reserviert- ­gedoubelt – springt mit einem Fallschirm
Fernsehkameras oder in Podcasts Welt- heit, wie passte sie mit ihren Oberklasse- aus dem Helikopter, direkt ins Stadion.
schmerz und Seelenpein. Die Queen blieb passionen wie Pferdezucht, der Jagd und Der Tod, der große Gleichmacher,
stoisch, würdevoll. Die fotogene Schön- ihrer geliebten Jacht noch in die Zeit? brachte sie ihrem Volk zuletzt sehr nah.
heit der jungen Königin wich mit den Jah- Als viele um Diana weinten, Elton John In der Coronapandemie starb ihr Mann
ren einer Schablonenhaftigkeit, die ­letzten zu »English Rose« in die Tasten griff, ­Philip, die Queen saß, den Schutzmaß­
Fotos, die von dieser Jahrhundertqueen empfanden es so einige als Affront, dass nahmen gehorchend, isoliert in der Trauer­
gemacht wurden, zeigen eine rührend die Queen die Queen blieb. kapelle. Wie erloschen wirkte sie in den
greise Dame in Schottenrock und grauer In den Jahren nach Diana versuchte Monaten danach, war schmal geworden,
Strickjacke, die Locken puderweiß, ein Prinz Charles, sich wieder anzunähern ans zerbrechlich. Zum Thronjubiläum trat sie
gütiges Lächeln im Gesicht. Volk. Er heuerte die besten PR-Strategen noch einmal in Erscheinung – die Pflicht,
Die Welt veränderte sich immer schnel- an, in den sozialen Medien gab es zu je- nicht wahr? Wir kannten sie nicht anders.
ler, die Queen auf ihrem immer be­deu­ dem Geburtstag Retro-Babyfotos, die Bot- Patricia Dreyer n
tungsloseren Thron blieb, wie sie war.
Wie war das möglich? Elizabeth hatte drei
Eigenschaften, die ihr halfen. Sie war
­uneitel und fantasielos. Und sie konnte
schweigen. Sie erlebte schon als Kind,
dass der Job an der Spitze kein pink­
umwölkter Prinzessinnenkitsch war.
Ihr Vater George wurde König, weil sein
­Bruder, Edward VIII., die Brocken hin-
warf. George war komplexbeladen und
schüchtern, ein Mann, der sich als König
aufzehrte, sich als Stotterer durch öffent­
liche Reden quälen musste, während
des Zweiten Weltkriegs im Land blieb,
als es gegen Hitlerdeutschland ging.
Als sie selbst mit 26 Jahren Königin
Cour tesy of Des Willie / Net flix

wurde, war Elizabeths Programmatik ähn-


lich: den Laden zusammenhalten, dem
zerbröselnden britischen Empire noch
einen Hauch des Glanzes alter Zeiten ver-
leihen, keinen Mist bauen. Dass sie keine Queen-Darstellerin
Intellektuelle war, die Dinge nicht zergrü- Colman
belte oder selbst gestalten wollte, machte

18 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


TITEL

Jahre vor sich, das Königreich befand


sich in einem scheinbar nie endenden
Aufschwung.
Heute sind die Vorzeichen andere.
Das Land, das Charles III. als neuer
König vorfinden wird, ist im Jahr
2022 nicht viel mehr als ein
wunderschöner Inselstaat im Nord-
ostatlantik. Es hat sich in den vergan-
genen Jahren in beispiellosen politi-
schen Grabenkämpfen wund gerie-
ben, seinen Platz als Führungsmacht
in einem europäischen Staatenbund
freiwillig aufgegeben, aber seine neue
Rolle auf der Weltbühne auch sechs
Jahre nach dem Brexit-Votum noch
nicht wirklich gefunden.
Selten zuvor seit dem Act of Union
1707 war das Königreich so uneins. Im
Norden streben die Schotten nach
Unabhängigkeit, im Westen werden
die Rufe nach einer Wiedervereinigung
Nordirlands mit der Republik Irland
lauter. Und selbst im kleinen Wales be-
Jane Barlow / REUTERS

trachten immer mehr Menschen den


Bund mit England nicht mehr notwen-
digerweise als Schicksalsgemeinschaft.
In dieser Situation richten sich nun
wieder alle Augen auf den Thron-
erben. Und wieder sind es vielfach Positionen, auch um zu signalisieren, Elizabeth II. in sein Land und die Welt davon zu
bange Blicke. Denn nicht jeder ist dass die Royals dem Steuerzahler nicht Schloss Balmoral überzeugen, dass er ein guter König
überzeugt davon, dass Charles die allzu sehr auf der Tasche liegen wollen. am vergangenen ist? Und muss das überhaupt sein?
Dienstag:
Soft Power, die ihm nun übertragen Damit wird er aber erst recht stärker Ein Leuchtturm »Eine erfolgreiche Monarchie
wird, ähnlich zu nutzen verstehen im Zentrum des Geschehens stehen. der Tradition und zeigt sich daran, ob es ihr gelingt,
wird wie seine Mutter. Und die Nation weiß um die bis- Stabilität regelmäßig wiederkehrende Regent-
Der 73-Jährige steht von Tag eins weilen besserwisserische Ungeduld schaften von unzulänglichen oder in-
seiner Regentschaft an vor enormen ihres neuen Königs, der sich seit Jahr- kompetenten Königen zu überleben«,
Herausforderungen. Er wird nicht nur zehnten als eine Art Universalgelehr- schreibt der Historiker Nigel Saul von
einen Weg finden müssen, das Ver- ter versteht und auf Gebieten wie der der University of London. England,
einigte Königreich von Großbritan- Architektur, der Landwirtschaft, dem oder später Großbritannien, habe mit
nien und Nordirland zusammen­ Klimaschutz, der Kunst, der Religion, Figuren wie Stephen, Henry VI. oder
zuhalten. Er muss auch die anderen der Politik und anderen gern unge- Charles I. bereits eine ausreichende
14 Königreiche, die er von Elizabeth fragt Ratschläge erteilt hat. Zahl an hoffnungslosen Monarchen
geerbt hat, davon überzeugen, dass Er hat versprochen, sich künftig erdulden müssen.
er der richtige Mann an der Spitze ist. zurückhalten zu wollen. Und er wird Das Haus Windsor wiederum »hat
Nicht wenige, allen voran Austra- als Allererstes versuchen, wie seine zeitweise Soap-Opera-Szenen jen-
lien, könnten die jetzige Gelegenheit Mutter einen Bund mit den einfachen seits der wildesten Vorstellungskraft
nutzen, um die Monarchie abzuschaf- Briten zu schließen. Charles will ein Von Volkes jedes Fernsehproduzenten geliefert«,
fen und sich damit endgültig vom
einstigen Mutterland loszusagen.
nahbarer, ein volksnaher König sein.
Aber werden die Briten das gou-
Gnaden? so Saul. »Aber gleichwohl ist die bri-
tische Monarchie die stabilste und
Ähnliches gilt für die Staaten des tieren? Was werden sie halten von Umfrage unter Briten: erfolgreichste in der Welt.«
Commonwealth, die seiner Mutter so seinem einst geäußerten Gedanken, »Sollten wir die Das hat sie einer bemerkenswert
sehr am Herzen lagen, von denen nicht mehr nur »Defender of the Monarchie abschaffen ausdauernden und bisweilen unter­
oder beibehalten?«,
aber viele Charles mit Misstrauen Faith«, sondern auch »Defender of Antworten in Prozent
schätzten Frau zu verdanken.
beäugen. Dass sie ihn dauerhaft als Faith« zu sein, ein Artikel, der in Queen Elizabeth II. war »ein
60
Oberhaupt akzeptieren, ist längst einer multireligiösen Gesellschaft Leuchtturm der Tradition und der
nicht ausgemacht. einen gewaltigen Unterschied macht? Stabilität inmitten tiefgreifender,
Dabei ist die Brexit-Vision vom Wie werden sie reagieren, wenn er manchmal gefährlicher Umbrüche«. So
»Global Britain« doch aufs Engste mit aus seiner zweiten Frau Camilla ganz 27
hat es Charles selbst im Jahr 2002 ge-
einem britisch dominierten Common- offiziell die Queen Consort macht? sagt, als er seiner Mutter öffentlich zum
wealth verwoben. Die Verzwergung Wie wird sich das Verhältnis zu sei- 50-jährigen Thron­jubiläum ­gratulierte.
Großbritanniens seit den Tagen des nem verlorenen Sohn Harry und sei- An sie direkt gewandt sprach er: »Du
Empire muss noch nicht vorbei sein. ner Schwiergertochter Meghan ent- hast für uns alle etwas Lebenswichtiges
Charles, da kann man sicher sein, wickeln? Wie werden die Medien bei- ab- verkörpert – Kontinuität.«
behalten schaffen
wird das Königshaus verändern. Schon urteilen, die Charles so oft und so Damit allein wird es für den neuen,
S Quelle: YouGov; Umfrage
vor Jahren hieß es, er wolle die »Fir- gehässig in den Mittelpunkt ihrer alten König nicht getan sein. Auch für


unter 1754 Briten vom


30. April bis 2. Mai.
ma« verschlanken, mit weniger Fami- Spottberichterstattung gestellt ha- An 100 fehlende Prozent: ihn gilt: Alles muss sich ändern, damit
lienmitgliedern in herausgehobenen ben? Wie viel Zeit bleibt Charles, um »Weiß nicht« alles bleiben kann, wie es ist. n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 19


DEUTSCHLAND

Marijan Murat / dpa


Sechs Meter lang, zwei Meter breit und in einen Lkw-Anhänger eingebaut: Das mobile Schwimmbecken »Wundine on Wheels«, das am Mittwoch
in Stuttgart vorgestellt wurde, kann an beliebige Orte transportiert werden und soll Kindern das Schwimmenlernen erleichtern. Schon seit
Jahren warnen Experten, dass immer weniger Kinder ausreichend schwimmen können. Die Pandemie, geschlossene Bäder und fehlende Schwimm-
kurse haben die Situation noch verschärft. Das Bademobil wird von einer privaten Stiftung finanziert und soll ab Oktober in Betrieb gehen.

Freiheit vs. Sicherheit


REGIERUNG  FDP und Grüne sperren sich gegen Nancy Faesers Plan, die Daten aller Internetnutzer zu erfassen.

I n der Koalition ist neuer Streit ausgebrochen. Diesmal geht es


um die Sicherheitsgesetze: FDP und Grüne sperren sich gegen
einen Vorstoß von Bundesinnenministerin Nancy Faeser zur
Vorratsdatenspeicherung. Die SPD-Politikerin drängt darauf, zur
sollte zügig an Instrumenten gearbeitet werden, die den Sicher-
heitsbehörden effektiv helfen und die verfassungskonform sind.«
Der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesjustizministerium,
Benjamin Strasser (FDP), kündigt eine »grundrechtsschonende
Bekämpfung von Kindesmissbrauch die IP-Adressen zu speichern, Alternative« an, »die den Ermittlern ein rechtssicheres Instrument
um so Onlinenutzer identifizieren zu können. »Wir brauchen an die Hand gibt«, das »Quick-Freeze«. Hier würden nur bei
­Ins­trumente, um Täter auch im Netz ermitteln zu können«, forder- ­konkretem Verdacht und auf richterliche Anordnung Daten gesi-
te Faeser. Für die Ampelpartner kommt ein Speichern von Daten chert. Das Verfahren hält man im Innenministerium aber nicht für
aller Bürger jedoch nicht infrage. »Die Koalition hat sehr deutlich praxistauglich. Die Pflicht der Anbieter, Telefon- und Internetdaten
gemacht, dass es keine anlasslose Vorratsdatenspeicherung geben aller Kunden zu speichern – etwa wer wann mit wem kommuni-
wird«, sagt nun Digitalminister Volker Wissing (FDP). Diese ziert hat –, liegt in Deutschland seit einer Gerichtsentscheidung
sei »ein unverhältnismäßiger Eingriff in Grundrechte« und von der von 2017 auf Eis. Am 20. September entscheidet der Europäische
Ampel nicht vereinbart. Ähnlich sehen es die Grünen. »Die Vor- Gerichtshof über die Regelungen. Es zeichnet sich ab, dass sie in
ratsdatenspeicherung ist politisch tot«, sagt Fraktionsvize Konstan- weiten Teilen kassiert werden. Eine Speicherung von IP-Adressen
tin von Notz und verweist auf den Koalitionsvertrag. »Deswegen jedoch könnten die Richter ermöglichen. GT, WOW

22 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


Gefahr für zu zwingen. Besonders Mit-
DER GESUNDE MENSCHENVERSTAND
arbeiter der diplomatischen
Russlandreisende
Aiwangers Jagdgründe
Vertretungen Deutschlands
SPIONAGE Das Bundesamt für stehen der Analyse zufolge im
Verfassungsschutz befürchtet, Fokus der russischen Dienste.
dass russische Geheimdienste Aber auch Privat- oder Ge-
verstärkt versuchen, Russland- schäftsreisende werden von den Von Markus Feldenkirchen ten Mann aufmarschieren las-
reisende als Informanten anzu- Behörden als gefährdet einge- sen. Nichts gegen Kindheits-
werben. Deutsche Staatsbürger
könnten künftig »härter und
rücksichtsloser« durch russische
Agenten »bearbeitet« werden,
stuft. So warnt das Auswärtige
Amt Russlandreisende aus-
drücklich vor der Nutzung so-
zialer Medien: »Kritische Äuße-
A m Wochenende war ich wehmut, aber diese Demons-
im Kino. Eigentlich hat- tration war an Lächerlichkeit
ten wir »Bibi & Tina – kaum zu überbieten. Aiwan-
Einfach anders« schauen wol- ger tat fast so, als wäre Win-
heißt es in einer internen Analy- rungen zu aktuellen politischen len, aber der hatte bereits be- netou von Annalena Baer-
se der Kölner Spionageabwehr. Entwicklungen« könnten »mit gonnen. Also landeten wir in bock und Robert Habeck per-
Ziel sei es, die Reisenden als unberechenbaren persönlichen »Der junge Häuptling Winne- sönlich in die ewigen Jagd-
»menschliche Quellen« zu ge- Risiken verbunden« sein. In tou«, und um es gleich zu sa- gründe geschickt worden. Sei-
winnen. Dabei könnten Putins Moskau sei es bereits es zu Poli- gen: Es war ein schöner Film. ne Rede beendete er mit dem
Spione auch Erpressungsmate- zeikontrollen gekommen, bei Gut, die wenig subtile Ausruf: »Es lebe Bayern,
rial – sogenannte Kompromate – denen Mobiltelefone nach Äu- Hauptbotschaft des Films, wo- Deutschland, Winnetou und
einsetzen oder ihre Zielper- ßerungen in Messenger-Diens- nach es nicht auf die Haut- die Meinungsfreiheit.«
sonen in Drucksituationen brin- ten und Social Media durch- farbe eines Menschen ankom- Aiwanger, das muss man
gen, um sie zur Kooperation sucht wurden. SRÖ, WOW me, sondern auf den Charak- ihm lassen, hatte schon immer
ter, ist zwar arg politisch kor- ein Gespür für die wirklich
rekt, man könnte auch sagen wichtigen Dinge. Auf den
Lizenz zum digt. Sowohl Außenministerin »woke«, aber das störte nicht Internationalen Jagd- und
Annalena Baerbock (Grüne) weiter. Warum der Ravens- Schützentagen sagte er mal:
Abschieben als auch Innenministerin Nancy burger Verlag das zum Film
MIGR ATION Der frühere NRW- Faeser (SPD) beanspruchten geplante Kinderbuch aus dem Seine Rede endete
Integrationsminister Joachim den Posten für ihr jeweiliges Programm nahm, blieb mir
Stamp soll Sonderbevollmäch- Ressort; Faesers Ministerium ein Rätsel.
mit: »Es lebe Bayern,
tigter für Migrationsabkommen setzte sich durch. Stamp war Während ich im Kino saß, Deutschland,
im Bundesinnenministerium nach der Niederlage der FDP wurde mir klar, warum so vie- Winnetou und die
werden. Das erfuhr der SPIEGEL bei der NRW-Landtagswahl le Menschen verärgert auf den Meinungsfreiheit.«
aus Kreisen der Ampelfraktio- im Mai aus seinem Ministeramt Eindruck reagieren, Winnetou
nen. Der FDP-Politiker soll ausgeschieden. Noch im Fe- solle ausgemustert werden. »Ich bin überzeugt, Bayern
demnach mit ausländischen Re- bruar hatte der 52-Jährige in Ich glaube, sie verstehen es und Deutschland wären siche-
gierungen Abkommen zur Ghana ein Rückkehr- und Rein- als Angriff auf ihre Kindheit, rer, wenn jeder anständige
Rückübernahme von abgelehn- tegrationszentrum eröffnet, jene vergleichsweise unbe- Mann und jede anständige
ten Asylbewerbern aushandeln. das von NRW unterstützt wird. schwerte Zeit, auf die die Frau ein Messer in der Tasche
Zudem soll er Vereinbarungen Aus dem Bundesinnenministe- meisten von uns versonnen haben dürfte.« Neulich be-
über Visa-Erleichterungen und rium hieß es, über die Beset- zurückblicken. Und Winnetou suchte er in demonstrativer
wirtschaftliche Zusammenarbeit zung des neuen Postens sei bis- gehörte nun mal für viele zur Solidarität einen Bauern,
treffen. SPD, Grüne und FDP lang noch keine Entscheidung Kindheit, auch ich wurde mit gegen den ein Bußgeld ver-
hatten sich in den Koalitions- gefallen. Stamp wollte sich auf ihm sozialisiert. Zu den hängt wurde, weil seine Kühe
verhandlungen auf die Schaf- Anfrage des SPIEGEL nicht äu- schönsten Erinnerungen ge- zu viele Kuhfladen auf der
fung des neuen Amts verstän- ßern. KOR, SEV, WOW hören die Ausflüge zu den Straße hinterlassen hatten.
Karl-May-Festspielen in Elspe. Mir kommt es vor, als
Niemand möchte sich die Hel- kämpfte Aiwanger für das
den seiner Kindheit madig Recht, jederzeit die Sau raus-
Nachgezählt machen lassen. Ich finde das lassen zu können und dafür

107
verständlich. auch noch Komplimente zu
Gemeldete Kampfmittel- Manche Leute aber bleiben bekommen. In Fachkreisen
unfälle in Deutschland* Unfälle
mit 256 Verletzten und 4 Toten ihr Leben lang Kind, zumin- spricht man von grassierender
dest benehmen sie sich so. Aiwangeritis.
Womit wir bei Hubert Aiwan- »Diejenigen, die Cowboy
38 69 ger wären, dem Chef der und Indianer spielen, das wer-
Freien Wähler. Am Tag nach den diejenigen, die später zur
Unfälle mit weißem Phosphor weitere Unfälle dem Kinobesuch sah ich Win- Feuerwehr gehen«, sagte Ai-
netou erneut. Er stand neben wanger bei seiner Rede auf
Aiwanger, auf einer Bühne dem Gillamoos-Volksfest.
beim Gillamoos-Volksfest. Auch das eine Aussage, die
Der stellvertretende Minister- nachweislich falsch ist. Ich
präsident von Bayern hatte zum Beispiel war nie bei der
tatsächlich einen kostümier- Feuerwehr.

171 Verletzte 4 Todesopfer 85 Verletzte


An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
* zwischen 5.1.2010 und 15.2.2022; es besteht keine Meldepflicht. Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quellen: Bundesregierung, Kampfmittelräumdienste


Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 23


CHAPPATTES WELT Schmutzige Wäsche
LINKE  Die #MeToo-Affäre
sorgt weiter für Unruhe inner­
halb der Partei Die Linke. Nun
haben Mitglieder des Kreisver­
bands Rhein-Hunsrück Strafan­
zeige gegen Genossen der Bun­
despartei, des rheinland-pfälzi­
schen Landesverbands und
gegen dessen Ex-Vorsitzende
Melanie Wery-Sims erstattet.
Der Vorwurf: Sie hätten ver­
sucht, einen Sexismusfall in den
eigenen Reihen zu vertuschen.
Demnach sei ein mutmaßliches
Sexismusopfer womöglich von
Parteiverantwortlichen beein­
flusst worden, den Vorfall intern
zu klären – ohne die Ermitt­
lungsbehörden einzuschalten.
Dabei könne es sich um eine
»Strafvereitelung« gehandelt
haben. Die Staatsanwaltschaft
Koblenz bestätigte den Eingang
der Anzeige; es werde geprüft,
ob ein Anfangsverdacht vorlie­
ge. Wery-Sims, die selbst Opfer
von parteiinternem Sexismus
geworden ist und die Linke auch
»Eine Art Analpha- demie habe das noch einmal tungsrückgänge in Mathematik deshalb verlassen hat, wies die
verschärft: »Leider sehe ich zur­ und Deutsch zu beobachten Vorwürfe zurück – genau wie
betisierung« zeit weder präventive noch re­ seien. Hinzu kämen physische der Landesverband. Man habe
SCHULEN  Die Präsidentin des parierende Maßnahmen, die wir und seelische Belastungen: »Bei den aktuellen Fall »in enger Ab­
Wissenschaftszentrums Berlin aber dringend bräuchten.« Die Mädchen sind psychische Pro­ stimmung mit der betroffenen
für Sozialforschung, Jutta All­ Hauptleidtragenden sind für bleme massiv angestiegen, bei Person behandelt und gelöst«.
mendinger, wirft Bund und Län­ Allmendinger Kinder und Ju­ den Jungen der Anteil jener mit Die Bundes-Linken äußerten
dern schlechte Kommunikation gendliche: »Wenn man es dras­ Übergewicht«, so Allmendinger. sich nicht; sie wüssten nichts
und zielloses Handeln in der tisch formulieren wollte, erle­ Die Soziologin hatte die Proble­ von der Anzeige. Deren Verfas­
Corona-Bildungspolitik vor. ben wir eine Art Analphabeti­ me bereits vor mehr als zwei ser üben indes scharfe Kritik:
»Schon vor Corona mussten wir sierung.« Es gebe in den Schu­ Monaten als Mitglied eines Sach­ »Die ›internen Regeln‹, mit
feststellen, dass Kinder in len zu wenig Vorbereitung auf verständigenausschusses in denen die Partei Sexismusfälle
Deutschland je nach Herkunft den nunmehr dritten Pandemie­ einem Bericht an das Gesund­ behandelt, erinnern uns an den
ganz unterschiedliche Chancen herbst – obwohl bei manchen heitsministerium benannt. »Lei­ Umgang der katholischen Kir­
im Bildungssystem haben«, kri­ Schülerinnen und Schülern der hat sich im Bereich der Schu­ che mit den Missbrauchsfällen«,
tisiert die Soziologin. Die Pan­ schon jetzt dramatische Leis­ len wenig getan«, sagt sie. HIM heißt es in ihrer Anzeige. TIL

Ich, Angela
Mit Spannung erwarten Me- das Land, das auch meines ist, den kann bis hin zum Umsturz,
dien und Menschen die Veröf- aus meiner Biografie heraus als der zwar unter diktatorischer
fentlichung der persönlichen Bürgerin in diesem und auch im Herrschaft eine Erlösung, in der
Erinnerungen Angela Merkels, anderen deutschen Staat, der Demokratie aber, die zu schüt­
SO GESEHEN  Exklusiver
für 2024 angekündigt und nun schon lange Vergangenheit zen wir alle verpflichtet sind,
Auszug aus den gleichzeitig in Deutschland, ist, die aber fortwirkt in den eine Unordnung und Hinwen­
Merkel-Memoiren den USA, Großbritannien und Köpfen und in den Herzen und dung zum Chaos bedeutete,
auf den Kanaren erscheinend. auch im Handeln derer, die Ver­ steht am Anfang allen täglichen
Erstmals, heißt es, soll Merkel antwortung tragen, aber auch Bemühens um eine würdige
in dem Werk ganz private Ein- derer, die ein einfaches Leben und gewissenhafte Erfüllung der
sichten und Beweggründe ver- führen ganz ohne den Rückhalt dienstlichen, aus dem Grund­
raten. Dem SPIEGEL liegt eines Apparats oder einer Or­ gesetz der Bundesrepublik
schon heute exklusiv ein Aus- ganisation, die, von hinten ge­ Deutschland sich ergebenden
zug vor, das Protokoll einer bri- dacht, nur dem Wohl der Bürge­ Aufgaben, Rechte und Pflich­
santen Entscheidung. rinnen und Bürger dienen soll ten, ein den Tag strukturieren­
Im Leben einer Politikerin, die und nicht sich selbst, was, wie der Beschluss. So auch heute.
Verantwortung für das Ganze ich gelernt und erfahren habe Und also griff ich zum stein­
trägt und auch tragen muss, für und auch weiß, in Unmut mün­ grauen Blazer. Stefan Kuzmany

24 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


Ausweitung der der Mission beteiligten Ressorts
Akten übermitteln: Kanzleramt,
Ermittlungszone Auswärtiges Amt, Verteidi-
BUNDESTAG  Der Parlamentari- gungs-, Entwicklungs- und In-
sche Untersuchungsausschuss nenministerium. »Auch Vertre-
zur Aufklärung der chaotischen ter des Wirtschafts- und des Fi-
Evakuierung aus Afghanistan nanzministeriums haben sich
weitet seine Ermittlungen aus. mit Fragen rund um den Afgha-
Das Gremium fordert nun auch nistaneinsatz und -abzug be-
die Herausgabe von Akten aus schäftigt und teilweise an wich-
dem Bundeswirtschaftsministe- tigen Runden teilgenommen«,

Gregor Schläger / DER SPIEGEL


rium, dem Bundesfinanzminis- sagte der Grünenpolitiker Ro-
terium sowie der Deutschen bin Wagener. Von den Akten
Gesellschaft für Internationale der GIZ erhoffe man sich Aus-
Zusammenarbeit (GIZ). Bislang kunft über den Umgang mit
sollten nur die unmittelbar an eigenen Ortskräften. KOR

»Häme, Spott, Hass


»Ein Monat warten kostet
keit vielen Menschen fremd ist
und trans Personen oft als sol-
und Drohungen«
200 Euro«
che erkennbar sind. Unwissen-
Die grüne Bundestagsabgeord- heit und mangelnde persönliche
nete Tessa Ganserer, 45, über Begegnungen sind immer ein
Gewalt gegen trans Menschen guter Nährboden für gruppen-
DER AUGENZEUGE  Jörg Knoch, 71, ist Fahrlehrer
bezogene Menschenfeindlich-
SPIEGEL: Frau Ganserer, in keit. Der Hass, der im Netz ge- im hessischen Bischofsheim. Für seine Schülerin-
Münster starb ein trans Mann sät wird, entlädt sich auf der nen und Schüler gibt es kaum Prüfungstermine –
nach einer brutalen Attacke, Straße in realer Gewalt.
in Bremen wurde eine trans SPIEGEL: Der Queer-Beauftrag-
das macht den Führerschein teurer.
Frau schwer verletzt. Sind Sie te der Bundesregierung sagt,
selbst auch schon angegriffen die Tat von Münster müsse auf- »Ich bin seit 1978 Fahrlehrer, Wer 35 Fahrstunden ge-
worden? rütteln. Wird das passieren? seit 21 Jahren betreibe ich macht hat, sollte fit sein für
Ganserer: In zwei brenzligen Ganserer: Ich bin der Überzeu- eine Fahrschule in der Nähe die Fahrerlaubnisprüfung.
­Situationen hatte ich Glück, gung, dass die Mehrheit der von Wiesbaden. Als die Pan- Früher waren weniger Stun-
dass ich nicht allein unterwegs Menschen das Herz am rechten demie in vollem Gange war, den nötig, aber eine Prüfungs-
war. Freund:innen von mir Fleck hat und solche grausamen mussten wir zwischendurch fahrt dauert inzwischen
sind dazwischengegangen, so- Taten verabscheut. Ich hoffe, schließen, das ging trotz Co- 55 Minuten, da kann viel pas-
dass ich entkommen konnte. dass diese Mehrheit nicht zulas- ronahilfe ans Portemonnaie. sieren. Eine normale Fahr-
SPIEGEL: Mit Ihnen und Nyke sen wird, dass dieser Hass unse- Nun läuft das Geschäft wieder stunde kostet bei mir 50 Euro,
Slawik sitzen zum ersten Mal re Gesellschaft weiter vergiftet. normal, wir bilden so viele eine Sonderfahrt, etwa auf der
zwei trans Frauen im Bundes- SPIEGEL: Was tut die Regierung Führerscheinanwärter aus wie Landstraße, 65 Euro. Unter
tag. Welche Anfeindungen ha- für trans Menschen? vor dem ersten Lockdown. 1800 Euro geht beim Führer-
ben Sie persönlich erlebt? Ganserer: Unter der unionsge- Aber jetzt kann der TÜV nicht schein nichts, die meisten Ab-
Ganserer: Seit meinem Coming- führten Bundesregierung wurde genügend Prüfungstermine solventen sind mit 2500 Euro
out werde ich insbesondere in die dringend notwendige Ak- anbieten. dabei. Wenn jemand auf die
sozialen Medien mit Häme, zeptanzarbeit sträflich vernach- Das geht schon mit dem Prüfung warten muss, darf sie
Spott, Hass und sogar Drohun- lässigt. Die Ampelkoalition Führerscheinantrag los, den oder er nicht aus der Übung
gen überzogen. Mir wird per- wird transgeschlechtliche Men- jeder stellen muss, der die kommen. Eine Fahrstunde
manent meine Geschlechtszu- schen, die durch das Transsexu- praktische Prüfung ablegen pro Woche ist ratsam. Einen
gehörigkeit in Abrede gestellt. ellengesetz in ihren Grundrech- möchte. Normalerweise Monat warten schlägt also mit
Das alles ist psychische Gewalt. ten verletzt wurden, entschädi- schickt der TÜV den bearbei- 200 Euro zu Buche.
SPIEGEL: 2021 wurden deutlich gen – mit dem Selbstbestim- teten Antrag nach vier Wo- Jeden dritten Tag muss ich
mehr trans- und homophobe mungsgesetz, einem Nationalen chen an die Fahrschule zurück, tanken. Vor einem Jahr lag
Straftaten registriert, darunter Aktionsplan und den nötigen ich warte mittlerweile bis zu der Liter Super bei ungefähr
viele Körperverletzungen. Wo- ­finanziellen Mitteln für Akzep- 15 Wochen. Und wenn ich 1,70 Euro. Jetzt sind es rund
her kommt der Hass? tanzarbeit. Hasskriminalität dann zehn Menschen zur Prü- 40 Cent mehr. Wenn das so
Ganserer: In jüngster werden wir konse- fung anmelde, heißt es vom bleibt, muss ich die Preise er-
Zeit schüren vor al- quent ahnden, aber TÜV, man könne nur fünf be- höhen. Ich habe immer darauf
lem rechtsgerichtete gruppenbezogene gutachten, weil Fachpersonal geachtet, dass meine Schüler
Kräfte Ängste vor Menschenfeindlich- fehle. Und den anderen kann ökonomisch fahren, jetzt noch
transgeschlechtlichen keit werden wir nicht ich nicht sagen, wann sie umso mehr. Zum Beispiel: im
Menschen. Und das einfach per Parla- drankommen, weil der TÜV dritten Gang beschleunigen,
funktioniert beson- mentsbeschluss aus das selber nicht weiß. Der auf die Autobahn fahren und
ders gut, weil auf- der Welt schaffen. Prüfungsstau wird immer län- vom dritten Gang gleich in
grund mangelnder Für ein gutes, diskri- ger, die Kunden werden unzu- den sechsten schalten.«
Lisa Hör terer

Aufklärung viel Un- minierungsfreies Mit- frieden, die Wartezeiten ma- Aufgezeichnet von
wissenheit existiert, Ganserer einander müssen wir chen den Führerschein teurer. Maik Großekathöfer
Transgeschlechtlich- alle einstehen. ANR

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

Das letzte Tabu


ENERGIEPOLITIK  Mit einem Kompromiss wollte Wirtschaftsminister Robert Habeck
den Atomstreit beilegen. Doch der Vorschlag wirft Fragen auf, ein Unternehmen
rebelliert, Teile der Grünen reagieren empört. Wird der Star der Regierung zum Problem?

D
amit die FDP nicht denkt, Robert Ha­ sie. Seht ihr, sagten die Grünen. Man habe Es ist eine Frage, mit der sie die Grünen
beck würde ihr viel zumuten, muss er ein Wärmeproblem, kein Stromproblem. Und in einige Bedrängnis bringen. Atomkraft blei­
eine Sache so verkaufen, als mutete er Atomkraftwerke geben keine nutzbare Wär­ be hoch riskant, entgegnen die, jeder Meiler
seiner eigenen Partei viel zu. So ist das in me ab, sondern nur Strom. eine tickende Zeitbombe. Vor elf Jahren,
Koalitionen, so macht es der grüne Wirt­ Die Diskussion war damit keineswegs be­ nach dem Reaktorunglück von Fukushima,
schaftsminister am Montag dieser Woche. endet. Aus Industrie und Opposition kam sah das der Großteil der Deutschen auch so.
Nachdem er seine Atompläne vor den Ab­ diese Frage: Wenn jede eingesparte Kilowatt­ Der Krieg in der Ukraine hat das geändert.
geordneten der eigenen Fraktion erklärt hat, stunde zählt, dann hilft doch auch jede Kilo­ Auch die Klimakrise sorgt dafür, dass Kern­
zieht er im Reichstagsgebäude einen Saal wattstunde, die man erzeugen kann, zur Not kraft wieder salonfähiger wird. Unter ande­
weiter zur FDP. Seit Antritt des Ampelbünd­ durch Atomkraft? rem hat Dürre in Europa die Energieerzeu­
nisses war der grüne Vizekanzler noch nie zu gung durch Wasserkraft, die Kühlung von
Besuch in der Fraktion des liberalen Koali­ AKW und den Transport von Kohle per Schiff
tionspartners. Jetzt muss es sein. erschwert.
Er erzählt, wo er gerade herkommt, so er­ Auslaufmodelle In der Union machen wichtige Politiker
innern sich Teilnehmer, dann sagt er: »Sie keinen Hehl daraus, dass sie die Grünen in
Atomreaktoren in Deutschland
können sich vorstellen, dass dort mein Vor­ der Atomfrage triezen werden, solange es
schlag keine große Freude ausgelöst hat.« Das Abgeschaltet zwischen 2011 und 2021 geht. Mit Forderungen nach längeren Lauf­
ist allerdings nicht ganz wahr. Die Grünen Abschaltung zeiten sorgt man verlässlich für Schlagzeilen.
hatten mit Schlimmerem gerechnet. 2022 geplant Die Grünen sind spätestens im Sommer unter
Brunsbüttel
Vielen Parteimitgliedern wäre es am liebs­ Brokdorf
Druck geraten. Sollte Habeck nicht nach­
ten, Habeck würde alle drei aktiven Kern­ Krümmel geben, ließen sich ihm und der Partei jede
kraftwerke wie geplant zum Jahresende ab­ Unterweser Minute ohne Strom und jedes kalte Wohn­
schalten. In der FDP oder der Union würde zimmer zum Vorwurf machen.
Emsland (RWE) 1,3 GW netto
man die Meiler dagegen gern weiterlaufen Der Druck der politischen Gegner und die
lassen, um für die erwartete Stromkrise ge­ Grohnde Wirklichkeit: Zusammen ließen sie eine Idee
rüstet zu sein, zum Beispiel bis zum Frühjahr reifen.
2024. Habeck schlägt einen Kompromiss vor: Habeck kam, so lässt es sich aus vielen
Zwei der drei Meiler sollen zwar nicht weiter­ Gesprächen während des Sommers schließen,
laufen, aber als Reserve bis Mitte April funk­ zur Einsicht, dass er das Risiko eines Strom­
tionsfähig gehalten werden. Da ist ein biss­ Biblis A Grafenrheinfeld ausfalls nicht eingehen will. Dass der Schaden
chen was für die Grünen dabei, ein bisschen Biblis B durch einen Streckbetrieb, also das reduzier­
was für die FDP. Philippsburg 1 te Weiterlaufenlassen mit alten Brennstäben,
Wie man das eben so macht in der Politik. Philippsburg 2 Isar 1 weniger verheerend wäre als der Schaden im
Aber man muss es geschickt anstellen. Und Neckarwestheim 1 Isar 2 Fall eines Blackouts im Winter.
das ist Habeck nicht gelungen. Kaum hatte er (E.on) In den Reihen der Grünen formierten sich
Neckarwestheim 2 1,4 GW netto
sein Konzept verkündet, handelte er sich Är­ (EnBW) 1,3 GW netto parallel allerdings die strikten Atomkraft­
ger mit einem der Kraftwerksbetreiber ein. Gundremmingen B gegner. Sie haben Angst vor einem Reaktor­
Ein Brandbrief, Vorwürfe, Bedenken bei der Gundremmingen C unfall, wollen ihr Lebenswerk schützen oder
FDP, Bedenken bei den Grünen. Erneut kom­ fürchten, dass die Partei es nicht verkraften
men Zweifel auf, ob Habeck seinem Job ge­ Nettostromerzeugung in Deutschland würde, dieses vielleicht letzte Tabu abzuräu­
wachsen ist, und das in Zeiten, in denen nach Energieträgern men. Den Verrat an Brokdorf, Grohnde, Gor­
Deutschland eine Rezession und Stromaus­ Kernenergie Erneuerbare leben, den Orten grünen Widerstands gegen
fälle drohen. 6% Energien die Atomkraft.
Noch im Frühjahr sah es nach einem Ende 46 % Am 17. Juli beauftragte der Vizekanzler
der Atomkraft in Deutschland aus. Als wegen die Netzbetreiber zum zweiten Mal, einen
des russischen Angriffs auf die Ukraine die 381 Stresstest durchzurechnen, mit allen denk­
ersten Forderungen laut wurden, die verblie­ Terawatt- baren Risiken, von denen sich einige über den
stunden
benen Kernkraftwerke länger laufen zu lassen, 2022* Sommer verschärft hatten. Im extremsten
gaben Habeck und Umweltministerin Steffi Fossile Szenario mit allen Risiken gleichzeitig. Die
Lemke einen ersten Stresstest in Auftrag. Energien Experten bekamen erneut den Auftrag zu
48 %
Die vier Betreiber der Stromnetze unter­ klären, was in einer solchen Lage ein Streck­
suchten, ob die Versorgungssicherheit wegen * bis 8. September betrieb über das Ausstiegsdatum 31. Dezem­
des Ukrainekriegs bedroht sei. Nein, sagten S Quellen: World Nuclear Association, Fraunhofer ISE ber hinaus bringen würde.
‰

26 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


Marlena Waldhausen / Agentur Focus
DEUTSCHLAND

Vizekanzler Habeck in seinem Amtszimmer: »Sie können sich vorstellen, dass dort mein Vorschlag keine große Freude ausgelöst hat«

Habecks Leute wollten wissen, ob die Net- e­ twas lindern. Der Beitrag wäre nicht sehr Bis vor Kurzem trafen daher zwei unter-
ze zusammenzubrechen drohen. Zwischen- groß, aber auch nicht null. schiedliche Positionen aufeinander. Habeck
zeitlich waren die Strompreise gestiegen. Also Das reichte, um Habeck die Chance zu hielt den Streckbetrieb für nötig, andere
schoben sie die Frage nach, wie der Einfluss nehmen, die Atomkraftwerke wie geplant ab- ­Grüne wie die Fraktionsvorsitzenden Britta
auf den Strompreis aussähe. zuschalten. Damit hatte er ein Problem mit Haßelmann und Katharina Dröge, die Außen-
Der Stresstest war der erneute Versuch, seiner eigenen Partei. ministerin Annalena Baerbock sowieso der
die Debatte zu umgehen, indem man sie aus Wie groß die Aufregung ist, zeigen Ge- Altlinke Jürgen Trittin und viele Niedersach-
dem Raum des Politischen ins Technische rüchte, die vor einer Weile unter Grünen die sen wollten, dass die Kraftwerke zum Jahres-
drängt. Die politische Leitfrage wäre: Was Runde machten: Der Minister, so wurde er- ende für immer vom Netz gehen.
ist gewollt? Die Technische: Was sagen zählt, habe die Kriterien für den Stresstest so Noch während der Stresstest lief, Ende Au-
die Daten? Und Habeck gewann Zeit. Wann anschärfen lassen, dass die Berechnungen gust, wurde die Idee von der AKW-Reserve
immer die Frage aufkam, was mit den Kern- einen Streckbetrieb zwingend erscheinen las- entwickelt, als Kompromiss. Das hieße tech-
kraftwerken passiere, konnte er sich darauf sen. Einzelne Grüne formulierten sogar den nisch gesehen: Erst einmal gehen die Kraft-
zurückziehen, dass die Experten noch Verdacht, Habeck wolle sich als Kanzlerkan- werke vom Netz, bleiben aber in Bereitschaft.
­rechneten. didat für 2025 empfehlen. Als Politiker, der Sollte eine Prüfung im Dezember oder zu
Dann lagen die Daten vor, und die Netz- die Interessen des Landes über die Überzeu- einem späteren Zeitpunkt ergeben, dass ein
betreiber kamen zu diesem Schluss: Unter gungen der Partei stellt. Risiko fürs Stromnetz droht, würden sie wie-
den beiden pessimistischen Szenarien sei die Sehr viele Grüne würden diese Haltung in der in Betrieb genommen. Aus dem Habeck-
Versorgungssicherheit mit Strom in Deutsch- den allermeisten Fragen unterstützen: Land Ministerium heißt es, das Konzept der Ein-
land gefährdet. Die drei AKW können im vor Partei. Nur wenn es um Atomkraft geht, satzreserve sei dort als eine Option entwickelt
winterlichen Streckbetrieb die Probleme wird für viele daraus ein Vorwurf. worden. Habecks Leute erkundigten sich bei

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

den Betreibern, wie lange sie brau- dem gestört, dem er eigentlich zupass Habeck kann einer Umfrage, wen die Deutschen
chen würden, um abgeschaltete Re- käme. sich als Kanzler wünschten, lag Ha-
aktoren bei Bedarf hochzufahren. In einem Brief an den Staatssekre- momentan beck neulich klar vor Olaf Scholz.
Auf der Fraktionsklausur der Grü- tär im Wirtschaftsministerium, Pat- nicht auf Seit zwei Wochen verändert sich
nen vergangene Woche wurde das The-
ma intensiv diskutiert. Die Gespräche
rick Graichen, formulierte Guido
Knott, Chef von PreussenElektra,
Milde hoffen. die Wahrnehmung. Zuerst sorgte die
Gasumlage, die auch hoch profitablen
zogen sich bis ins Wochenende, als die dem Betreiber des Kraftwerks Isar 2, Zu viele haben Unternehmen Staatseinnahmen be-
Ergebnisse eintrafen. Wann genau die eine harte Botschaft: Der Vorschlag sich geärgert, schert hätte, für heftige Kritik. Ein
Entscheidung für die Reserve getroffen des Ministeriums, »zwei der drei lau- Fernsehauftritt diese Woche setzte
wurde, darüber gehen die Erzählungen fenden Anlagen zum Jahreswechsel
dass er Habeck erneut dem Spott aus. Auch
auseinander. Am Montagvormittag be- in die Kaltreserve zu schicken, um sie für eine Weile nach mehrfacher Nachfrage, ob er im
kam jedenfalls der Fraktionsvorstand bei Bedarf hochzufahren, ist tech- ganz oben Winter mit einer Serie von Insolven-
der Grünen den aktuellen Stand er- nisch nicht machbar«. Der Brief wur- zen rechne, blieb seine Position für
klärt. Alle Details waren da offensicht- de am Mittwoch öffentlich. stand. viele unverständlich. Habeck kann
lich noch nicht klar. Am Nachmittag Knott warnte: »Das Austesten momentan nicht auf Milde hoffen. Zu
trat Habeck vor die Fraktion. einer noch nie praktizierten Anfahr- viele haben sich geärgert, dass er für
In deren Reihen erzählte man spä- prozedur sollte nicht mit einem kriti- eine Weile ganz oben stand. Und zu
ter stolz, die Fraktionsvorsitzenden schen Zustand der Stromversorgung ernst ist die Lage.
und Baerbock hätten Habeck das zusammenfallen.« Anders gesagt: Zu ernst für handwerkliche Fehler,
Nein zum Streckbetrieb aufgenötigt. Wer Atomkraft für eine gefährliche zu ernst für Parteipolitik, für die
Das ist die erste von zwei Deutungen: Technologie hält, könne der Reserve- Rücksicht auf Wahlchancen. Warum
Es spielte sich ein innergrüner Macht- idee auf keinen Fall zustimmen. Ob sollte ausgerechnet das AKW Lingen
kampf ab, und Habeck hat ihn ver- das stimmt, ist derzeit unklar. Es gibt im Emsland nicht als Reserve-AKW
loren. Es gibt auch eine zweite Deu- nicht viele Instanzen, die das unab- quasi in Stand-by gehen? Offiziell,
tung: Habeck musste in der Tat von hängig bewerten könnten. weil es in Norddeutschland weniger
der Idee des Streckbetriebs abrücken, EnBW, der Betreiber von Neckar- riskante Alternativen gebe. Vielleicht
aber er hat mit dem Alternativkon- westheim 2, teilte mit, man sei im aber hat es auch damit zu tun, dass
zept, die AKWs als Reserve bereitzu- Austausch mit dem Ministerium und Niedersachsen das Kernland der
halten, versucht, die Grünen zu über- könne erst danach »die technische Anti-AKW-Fraktion in der Anti-
listen. Denn im Winter dürfte die und organisatorische Machbarkeit AKW-Partei Bündnis 90/Die Grünen
Lage so ernst sein, dass der Notfall des aktuell diskutierten Vorschlags ist und in Niedersachsen Anfang Ok-
eintritt und sie einen Weiterbetrieb bewerten«. Die Betreiber geben sich tober gewählt wird. Partei vor Staat
nicht mehr verhindern können. perplex, dass nach ihren Vorgesprä- also. Das ist immer ein Problem, in
Dann käme es also de facto doch chen mit dem Ministerium nun eine diesen Zeiten ganz besonders.
zum Streckbetrieb, aber erst nach der Einsatzreserve als Lösung im Raum Bei den Grünen ist die Reaktion
Landtagswahl in Niedersachsen in steht. gespalten: Man ist froh, dass der
vier Wochen und nach dem Parteitag. Über Habeck bricht das in einem Streckbetrieb nicht kommt, kann sich
»Es spricht einiges für diese Theorie«, denkbar schlechten Moment herein. aber auch mit der Reserveidee nur
sagt ein Energieexperte aus dem Um- Das Spiel von Lob und Tadel in der Greenpeace-­ schwer anfreunden. Nervös erwarten
feld des Wirtschaftsministeriums, »im Politik folgt einer gewissen Drama- Aktivisten manche Grüne den Wortlaut der an-
Prinzip hat sich Habeck mit dem Re- turgie. Wer steigt, wird irgendwann vor Pressekonferenz gekündigten Gesetzesänderungen.
mit Politiker
servetrick Zeit gekauft.« fallen. Habeck stieg lange. Seine Art, Habeck am Montag
Wie genau sieht der Notfall aus, bei
Wenn das der Plan gewesen sein über Zweifel und Abwägungen zu in Berlin: Stresstest dem die Meiler über den 31. Dezem-
sollte, wurde er allerdings von jeman- sprechen, bescherte ihm viel Lob. In für den Minister ber hinaus laufen sollen? Welche an-
deren Stromsparmaßnahmen müssen
bis dahin ausgeschöpft sein? In der
Fraktionssitzung am Montag bemüh-
ten Abgeordnete immer wieder ein
Bild: Solange in Bayern noch Schnee-
kanonen in Betrieb seien, dürfe kein
Meiler aus der Reserve geholt wer-
den. Es war eine Mahnung an Ha-
beck, die Kriterien für den Reserve-
betrieb der Atomkraftwerke konkret
und eng zu definieren.
Der Bundesvorstand der Grünen
wird bald einen Dringlichkeitsantrag
für den Parteitag Mitte Oktober in
Bonn vorlegen. Ohne Parteitagsbe-
schluss, so die Überzeugung, werde
nie Ruhe einkehren. Anfang der Wo-
che konnte man noch auf eine unkon-
Political-Moments / IMAGO

troverse Angelegenheit hoffen. Jetzt


sieht es eher nach einer Rückkehr
nach Brokdorf aus.
Marina Kormbaki, Benedikt Müller-­
Arnold, Jonas Schaible,
Christoph Schult, Gerald Traufetter n

28 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

Ein Mann zieht durch


BUNDESREGIERUNG  Karl Lauterbach war einer der beliebtesten Politiker Deutschlands. Er versprach
eine Politik nach dem Stand der Wissenschaft. Inzwischen ist er in der Realität angekommen.

Niels Starnick / Bild am Sonntag

Minister Lauterbach: »Populismus nützt sowieso nur kurzfristig«

30 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

U
m zu beweisen, dass alles so gekommen ten dem Land je nach Virusgefahr »Winter-
ist, wie er es wollte, hat Karl Lauter- Auf Talfahrt reifen« oder »Schneeketten« anlegen. Dann
bach ein paar Zettel mitgebracht. Er geriet alles aus den Fugen.
sitzt in seinem Büro im sechsten Stock des »Wie zufrieden sind Sie mit der Arbeit des Kanzler Olaf Scholz, Vizekanzler Robert
Gesundheitsministeriums und zeigt die No- Bundesgesundheitsministers, Karl Lauter- Habeck und ein Tross von Medienleuten flo-
bach?«, Antworten »eher zufrieden« und
tizen, die er sich zu Beginn der Verhandlun- gen im Regierungs-Airbus nach Kanada, alle
»sehr zufrieden«, in Prozent
gen um das neue Infektionsschutzgesetz ge- ohne Maske. Ein gewaltiger Ärger brach los,
macht hat. Sein Sprecher hat das Original 7. April nicht nur öffentlich, sondern vor allem in der
dreimal kopiert. 70 Die Impfpflicht, für die
FDP-Fraktion. Schnell war von Doppelmoral
Lauterbach gekämpft
Lauterbach erklärt die Tabelle, entziffert die Rede. Wer als Politiker selbst keine Mas-
heit
hatte, scheitert im
die Abkürzungen und Pfeile. Da stehen sie, ke im Flieger trage, könne das auch nicht von
60 Bundestag.
i 8.b
e t
Bel Weitere Änderungen
seine Ziele, seine Pandemiepolitik, Stand September den Bürgern erwarten, hieß es.
12.  Juli. Zum Beispiel die Sache mit den Das Kabinett winkte den Entwurf zum In-
­Masken. 50 am Infektionsschutz-
fektionsschutzgesetz zwar unverändert durch.
gesetz werden verab-
Unter dem Punkt »Regeln« hat der Minis- schiedet.
Aber eine Woche später meldete sich Ver-
ter »3 3 G M« notiert. Die Zahlen stehen für 40 kehrsminister Volker Wissing in der Kabi-
jeweils drei Monate, das G für Genesen oder nettssitzung zu Wort. Eindringlich forderte
Geimpft, das M für Maske. Wenn im Herbst er, die Maskenpflicht in Flugzeugen abzu-
die Infektionszahlen wieder steigen, die In- 30 schaffen. Man könne der Bevölkerung nicht
28
tensivstationen überlastet sind, will Lauter- 18. März
erklären, warum dem fliegenden Personal laut
bach, dass die Deutschen in Innenräumen 20 Der Bundestag beschließt Arbeitsrecht eine FFP2-Maske nicht zuzu-
Masken tragen müssen. Änderungen am Infektions- muten sei, den Passagieren aber schon, argu-
Wo genau, das steht in der Tabelle nicht, schutzgesetz: Die Masken- mentierte Wissing. Mehrmals wurde Lauter-
deshalb erklärt er es. Lauterbach wollte Mas- 10 pflicht entfällt in vielen bach von dem FDP-Verkehrsminister dazu
Bereichen.
ken etwa in Restaurants, Diskotheken, Bars. bearbeitet, ebenso wie von Lufthansa-Chef
So weit der Plan. Lauterbach streicht mit dem 0 Carsten Spohr. Der erklärte dem Gesund-
Zeigefinger über das Papier, zeigt auf weitere Jan. April Juli heitsminister in langen Telefonaten, dass sei-
Buchstaben. »Diese Regeln sind alle gekom- 2022 ne Leute die Maskenpflicht über den Wolken
men«, sagt er. S Quelle: Civey-Umfrage für den SPIEGEL vom 1. Jan. bis nicht länger durchsetzen könnten. Viele Län-
’

Geht es nach dem Sozialdemokraten, ist 8. Sept.; Befragte: jeweils mehr als 5000; die statistische
Ungenauigkeit liegt bei bis zu 2,5 Prozentpunkten;
der haben sie ohnehin längst abgeschafft. Für
alles in bester Ordnung. Er hat sich durch- an 100 fehlende Prozent: »eher/sehr unzufrieden«, »unentsch.« Passagiere kann es dieser Tage vom Urlaubs-
gesetzt, musste höchstens kleine Abstriche ziel oder von der Airline abhängen, ob sie
akzeptieren. tionsräson versöhnen, Rückschläge einste- maskiert oder maskenfrei im Flieger sitzen.
Der Mann ist mit sich im Reinen – wie cken und Kompromisse verteidigen, hinter Auch Buschmann legte nach. In der »FAZ«
kann das sein? In den vergangenen Tagen hat denen er nicht immer zu stehen scheint. sagte er mit Blick auf Lauterbach: »Von Pa-
die FDP ein Loch in Lauterbachs Regelwerk Zu nächtlicher Stunde, im Fernsehen oder nikmache halte ich gar nichts.« Es müsse sich
gerissen, indem sie durchsetzte, dass in Flug- auf Twitter, können die Deutschen dann wie- schon »die Hölle unter uns auftun«, ehe seine
zeugen künftig doch keine Maskenpflicht gel- der die reine Lauterbach-Lehre hören, die Fraktion noch einmal die epidemische Lage
ten soll, egal ob das Virus grassiert. Freie Na- Warnungen zur Vorsicht, den Verweis auf die nationaler Tragweite feststellen würde. Auf
sen für freie Fluggäste, es mag wie ein kleiner neueste Studie einer US-Universität. Lauter- Buschmanns Fraktionskollegen müssen die
Sieg der Liberalen wirken, aber er ist symbol- bachs Botschaften erzeugen Unsicherheit und Worte wie ein Anpfiff zum Sturm aufs Tor
trächtig, und Lauterbach verliert damit mehr Verdruss bei vielen Bürgern und politischen gewirkt haben. Die Änderungsanträge zum
als einen Spiegelstrich in seinem Pandemie- Partnern. Gesetzentwurf prasselten nur so herein, einer
konzept. Ist die pandemische Lage wirklich noch so forderte die Streichung von Masken in Flug-
Die Logik des Infektionsschutzgesetzes ernst? Hat sich der Sozialdemokrat verrannt? zeugen, ein anderer in der Gastronomie, ein
steht infrage. Keine Masken im Flieger, wieso Mitunter wirkt Lauterbach allein. weiterer für Veranstaltungen im Außenbe-
dann eigentlich im ebenfalls gut belüfteten Für die Verhandlungen mit der FDP hat er reich. Es ging plötzlich wieder ums Ganze.
ICE? Wieso eine Maskenpflicht für Schüler ab sich dieses Mal richtig munitioniert. Im März, »Das war ein unfassbarer Druck«, sagt Lau-
der fünften Klasse, aber nicht in Büros? Und bei der letzten Reform des Infektionsschutz- terbach, »dem ich lange standgehalten habe.«
wieso eine Pflicht für Restaurants, wo die Mas- gesetzes, da haben sie ihn über den Tisch ge- Doch je mehr sich abzeichnete, dass die
ke ohnehin beim ersten Schluck fallen darf? zogen, so sieht Lauterbach es im Nachhinein. Flugzeugregel nicht zu halten sein würde,
Natürlich hat Karl Lauterbach für all dies Er habe sich einlullen lassen von den juristi- desto mehr suchte der Minister nach einer
eine Erklärung, aber wollen die pandemie- schen Vorträgen des Ministerkollegen Marco Verhandlungsmasse. Ihm fiel die Masken-
müden Deutschen sie hören? In diesen Tagen Buschmann. Damals erreichte dessen FDP, pflicht in Arztpraxen und Gesundheitsein-
droht der Sozialdemokrat sein wichtigstes dass die meisten Schutzmaßnahmen, etwa richtungen ein, gegen die sich die FDP stets
Kapital zu verlieren: den Rückhalt im Volk. das Maskentragen in Supermärkten, im Ge- gewehrt hatte. Am vergangenen Montag in
Der Mediziner, der vor zwei Jahrzehnten in setz fallen gelassen wurden. Nur wenn ein der entscheidenden Sitzung stimmten die Li-
die Politik ging, war immer ein Einzelkämp- Bundesland sich zur Hotspot-Region erklär- beralen zu. Flugzeuge gegen Arztpraxen. Und
fer in der SPD. Das Ministeramt verdankt er te, konnten schärfere Regeln eingeführt wer- so werden die Deutschen in diesem Herbst in
vor allem seinen Talkshowauftritten in der den. Aber dafür musste die Infrastruktur Wartezimmern Maske tragen, aber nicht im
Pandemie, wo er zeitweise wie der einzige schon kurz vor dem Kollaps stehen. Ferienflieger. Oder beim Schunkeln in den
Politiker im Land wirkte, der das Virus begriff, Für die nächste Runde änderte Lauterbach Bierschwaden des Oktoberfestzelts. Da hilft
den Stand der Wissenschaft erklären konnte sein juristisches Team, sah sich dieses Mal für es wenig, dass der Minister an die Festbesu-
und daraus noch handfeste Konzepte zum alle Tricks gerüstet. Über Wochen verhandel- cher appellierte, sich testen zu lassen. Damit
Schutz der Bürgerinnen und Bürger ableitete. ten er und Justizminister Buschmann einen brachte er nur halb Bayern gegen sich auf.
Doch jetzt, ausgestattet mit der Macht Kompromiss, bei dem beide Seiten den Ein- In der FDP ist man sehr zufrieden mit der
eines Gesundheitsministers, bröckelt das Bild. druck hatten, dass sie gut wegkamen. Sie er- neuen Version des Infektionsschutzgesetzes.
Lauterbach muss Fachkompetenz mit Koali- fanden für ihre Regeln griffige Etikette, woll- »Es waren harte, aber faire Verhandlungen«,

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

AFFÄREN

Leichter getalkt als getan


Karl Lauterbach ging mit dem Versprechen ins Amt, umstrittene Maskendeals seines Vorgängers
­aufzuklären. Doch er mauert da weiter, wo Jens Spahn angefangen hat.

Als er ins Amt kam, begleitete ihn ein renzplattform »Frag den Staat«; seitdem
g­ ewisses Misstrauen. Dass einer in der liegt die Sache beim Verwaltungsgericht
­Notaufnahme der deutschen TV-Unter­ Köln. Dort verteidigt heute Lauterbach
haltung glänzte, in den Sprechstunden das angebliche Staatsinteresse an der Ver-
bei Maischberger, Illner und Will, das traulichkeit möglicher Kungelmails von
machte ihn noch nicht zur Idealbesetzung Spahn, der ebenfalls nichts falsch gemacht
für das echte Leben, die Regierungsbank, haben will. »Von Spahn zu Lauterbach hat
das schwierige Ressort Gesundheit. Wür- sich nichts verändert«, sagt »Frag den
de einer, der so viel sprach wie Karl Lau- Staat«-Chef Arne Semsrott. Das Vorgehen
terbach, nicht schnell zu viel versprechen? sei »rechtswidrig«, aber offenbar säßen
Tatsächlich zeigt sich, dass manches die Ministerialen den Skandal lieber aus.
leichter getalkt ist als getan: bei den
­dubiosen Maskengeschäften seines CDU- Im Zweifel ignoriert Lauterbach sogar
Vorgängers Jens Spahn. Der hatte zum Urteile. Eine Maskenanfrage der »Main-

Kay Niet feld / picture alliance / dpa


Beispiel an eine Schweizer Minifirma Post« hatte sein Haus so banal beant­wor­
­namens Emix Aufträge für knapp eine tet, dass das Blatt bis vor das Oberverwal-
Milliarde Euro vergeben. Kaum Minister, tungsgericht Münster zog – und gewann.
erklärte Sozialdemokrat Lauterbach im Doch das Ministerium blockte weiter.
Dezember 2021: »Ich glaube, dass wir die ­Daraufhin drohte ihm das Verwaltungs­
Situation bei den Maskengeschäften, gericht Köln 5000 Euro Zwangsgeld an –
­insbesondere Emix, nicht so belassen ein seltener Vorgang. In der Sache sei das
­können. Das höhlt das Vertrauen in die Minister Spahn im Dezember 2021 nun erledigt, so das Ministerium, ohne
Redlichkeit unserer Beschaffung aus.« Zwangsgeld. Aber fertig gemauert ist noch
Und: »Es muss ganz genau geprüft wer- engeren Sinne vor, sondern ein mit juristi- längst nicht: Man habe in Köln Beschwer-
den, was dort stattgefunden hat.« schen Argumenten geführter Austausch.« de eingelegt, »wegen der grundsätzlichen
Schließlich war Emix jene Firma, die Und weiter? Nichts weiter. Neun Fragen, Bedeutung des Falles«.
für Kontakte ins Ministerium Andrea ein Satz. Lauterbach würde die Omertà schwe-
Tandler angeheuert hatte, Tochter des Der kam von Hanno Kautz, den Lau- rerfallen, wenn es im Bund – wie in
einstigen Ministers Gerold Tandler (CSU). terbach als Sprecher von Spahn übernom- ­Bayern – einen Masken-Untersuchungs-
Sie und ihr Freund kassierten für die men hat – »ein Wahnsinn«, wie es hinter ausschuss gäbe. Doch die Union kann
Deals an die 50 Millionen Euro Provision vorgehaltener Hand aus einer Koalitions- ­daran kein Interesse haben, wegen Spahn.
und bestreiten jedes Fehlverhalten. partei heißt. »Soll der jetzt etwas an­deres »Und in der Regierungskoalition gibt es
Seit den starken Ministerworten sind sagen als früher unter Spahn?« Auf offensichtlich einen Nichtangriffspakt:
rund neun Monate vergangen. »Ich kann SPIEGEL -­Nachfrage, was denn bitte das Man attackiert nicht das Ministerium
nicht erkennen, dass Lauterbach die über- Ergebnis des »mit juristischen Argumen- eines Koalitions­partners«, glaubt Trans-
teuerten Maskengeschäfte von Spahn auf- ten geführten Austauschs« war, antwor­ parenzlobbyist Semsrott.
klärt, nicht mal, dass er das überhaupt tete Kautz, nun einzeilig: »Unseren Ant- So wird es wohl weitergehen mit Wort-
will«, ärgert sich Florian Siekmann, Ob- worten können wir nichts hinzufügen.« akrobatik wie dieser: 2021 hatte das
mann der Grünen im Maskenausschuss Es ist das übliche Frage-Antwort-­ ­Ministerium Maskenlieferungen der Firma
des bayerischen Landtags. Christian Pingpong mit dem Ministerium. Bei Emix-­ Fiege aus dem Nachbarwahlkreis von
­Görke von der Linken im Bundestag klagt: Geschäften zieht sich Lauterbach auf lau- Spahn mit 859 Millionen Euro beziffert,
»Selbst einfachen Fragen weicht das fende Ermittlungen der Staatsanwaltschaft auf Anfrage der Linken jüngst nur mit
­Ministerium immer wieder aus. Man zurück: Es würden »keine möglichen Aus- 505 Millionen. Wie die Lücke zu erklären
­bekommt das Gefühl, unter Spahn wurde künfte blockiert«, nur müsse man sich we- sei, fragte der SPIEGEL . Zurück kam eine
viel unter den Teppich gekehrt und soll gen des Verfahrens öffentlich zurückhalten. Antwort für Kryptologen: Die Anfrage der
jetzt bloß nicht angerührt werden.« Doch schon vor den Ermittlungen, die Linken ziele, anders als frühere, nur auf
Was von der versprochenen Auf­ sich gegen Tandler und Freund, nicht »konkret angefragte Verträge«, nämlich
klärung übrig blieb, sieht so aus. Kürzlich gegen Emix und Spahn richten, weigerte den vom 31. März 2020 samt Nachtrag.
fragte der SPIEGEL , wie der Streit um die sich das Ministerium, Spahns Schriftver- Rückfrage: Welche Beschaffungsverträ-
letzten Emix-Lieferungen ausgegangen ist. kehr mit Tandler herauszurücken. Danach ge gab es denn sonst noch mit Fiege, was
Im Mai 2021 hatte Spahn noch gesagt, der gefragt hatte im Januar 2021 die Transpa- war ihr Inhalt? Antwort Kautz: »Zu wei­
Bund liege mit Emix »im Rechtsstreit«. teren Vertragsdetails erteilt das Bundes­
Nun ließ das Ministerium die Linke im gesundheitsministerium keine Auskunft.«
Bundestag wissen, es liefen »derzeit keine Auch nicht Fiege. Oder Emix. Fiege be-
juristischen Auseinandersetzungen«. Gab Die Antworten aus dem hauptet, alles längst »transparent öffent-
es eine Einigung, hatte der Bund nach­
gezahlt? Warum, wofür? Die Antwort,
Ministerium sind lich dargestellt« zu haben. Und verweist,
wie Emix: ans Ministerium.
zweizeilig: »Es lag kein Rechtsstreit im etwas für Kryptologen. Jürgen Dahlkamp n

32 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

bilanziert Andrew Ullmann, gesundheitspoli- senschaftler nicht mehr glücklich mit dem
tischer Sprecher der Fraktion, »man erkennt Minister, der doch einer der ihren ist.
die Handschrift der FDP.« Aus anderen Teilen Als Lauterbach im März mit Buschmann
der Fraktion heißt es, die Stimmung sei »be- vereinbarte, dass es in den nächsten Monaten
schissen«, aber man mache weiter. kaum noch Schutzmaßnahmen geben würde,
Lauterbach sagt, er sei fast froh, dass das fragten sich manche Beraterinnen, ob das
Airline-Thema aufgekommen sei. »Sonst hät- noch der Mann sei, dessen Ohr sie immer
te ich das nie durchsetzen können« mit den hatten. »Lauterbach wirkt auf mich wie ein
Arztpraxen. Eine Niederlage dreht sich zur Gefangener«, sagte damals die Virologin Me-
Erfolgsgeschichte. »Never let a good crisis go lanie Brinkmann, Mitglied im Expertenrat,
to waste«, sagt Lauterbach. In guten Krisen dem SPIEGEL .
liegt immer auch eine Chance. Inzwischen dürfte sich das Verhältnis ge-
Und überhaupt: Das deutsche Infektions- bessert haben. Immerhin können Masken-
schutzgesetz sei immer noch eines der strengs- pflichten in öffentlichen Innenräumen nun
ten in ganz Europa, der Instrumentenkasten bei erhöhtem Infektionsgeschehen durch die
gut gefüllt. »Ich weiß, dass wir hier mehr Länder erlassen werden. Doch auch mit dem
­machen als in Österreich, in der Schweiz neuen Gesetz folgt Lauterbach nicht allen
und in Frankreich, von Osteuropa ganz zu Empfehlungen des Expertinnenrats. So hat
schweigen.« das Gremium nicht nur das Maskentragen in
Vielleicht liegt da das Problem des Wissen- Innenräumen nahegelegt, sondern auch für
schaftlers Lauterbach: Er sucht die Regel mit möglichst einfache und verbindliche Regeln
dem stärksten Schutz. Das kommt nicht im- geworben. Einfach, das zeigen schon die ver-
mer gut bei den Leuten an. schiedenen Ausnahmeregelungen, wird das
Zweifel an seiner Durchsetzungskraft tut Ganze nicht.
Lauterbach als Ressentiments gegen Wissen- Eine Kluft zwischen dem Politiker Lauter-
schaftler ab. »Das sind hässliche Vorurteile, die bach und der Fachwelt tat sich beim Thema
bislang noch gegen jeden Wissenschaftler in
einem politischen Amt vorgebracht wurden.«
Corona-Impfung auf. Und das liegt vor allem
an Lauterbach selbst.
Das
Was musste der US-Immunologe Anthony
Fauci unter Präsident Donald Trump leiden.
Der Minister ist überzeugt davon, dass die
neuen, angepassten Impfstoffe besser gegen
Finanzmagazin
Lauterbach hat den Kollegen im Sommer in eine Ansteckung mit dem Virus schützen als
den USA besucht. Er hält engen Kontakt zu die alten. Dafür gibt es bislang in Studien ers-
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, te Anzeichen. Also wollte der Minister seine
will seine Coronapolitik an den Empfehlun- Sicht der Dinge im neuen Infektionsschutz- SPIEGEL GELD informiert
gen des Expertinnenrats ausrichten, den die gesetz verankern. Frisch Geimpfte sollten im über Finanzprodukte,
Bundesregierung einberufen hat. »Die Stu- Herbst ohne Maske in Bars oder Restaurants
dienlage kenne ich ja meistens selbst«, sagt sitzen können – aber als frisch sollte eine Imp- Versicherungen und
Lauterbach. fung nur für drei Monate gelten. So lange sei Immobilien – und hilft so
Doch wo er seine wissenschaftlichen Er- nämlich die Ansteckungsgefahr geringer. Die
kenntnisse früher in verständliches Deutsch Idee sorgte für einen Aufschrei. Wollte der
bei Aufbau und Erhalt
übertragen konnte, bleibt er nun hin und wie- Minister die Deutschen etwa in ein »Impf- Ihres Vermögens.
der in der Übersetzung stecken. Und das gilt Abo« zwingen? Das Hetzwort brachte den
auch umgekehrt: Plötzlich waren viele Wis- neuen Gesetzentwurf sofort in Verruf.
Dass Lauterbach zudem jüngeren Leuten, Themen der Ausgabe:
die viele Kontakte haben, per Interview vor-
schlug, sich ein viertes Mal impfen zu lassen,
Die Maskenfrage machte die Lage nicht besser. Sofort meldete Kopf vs. Bauch
sich Stiko-Chef Thomas Mertens zu Wort: Er Wie Sie in Finanzfragen bes-
»Wie würden Sie es bewerten, wenn die kenne keine Daten, die Lauterbachs Empfeh-
Maskenpflicht in Flugzeugen von und nach sere Entscheidungen treffen
Deutschland ab Herbst vorerst entfallen lung stützten. Die Experten stellten sich gegen
würde?«, Angaben in Prozent den Experten im Ministerium.
eindeutig falsch/eher falsch »Ich wurde übel verprügelt«, sagt Lauter-
bach. Dabei habe er doch gar nicht die Imp-
Immobilien
46
fung alle paar Monate erreichen wollen. Aber So bekommen Sie Förder-
eindeutig richtig/eher richtig
die Schlagzeilen waren in der Welt. geld für die Sanierung
43 Lauterbach änderte sein Gesetz, wandelte
seine zwingende Ausnahme für frisch Ge-
»Würden Sie freiwillig eine Maske in impfte um in eine Kann-Regelung. »Wir ha-
Flugzeugen, Bahnen und im ÖPNV tragen, Frank Thelen,
wenn es keine Maskenpflicht geben würde?«, ben überlegt, wozu sich hier verkämpfen?«,
Angaben in Prozent sagt Lauterbach. Wenn der Impfstoff so gut Dirk Müller und Co.
ja, auf jeden Fall/eher ja wirke, wie er hoffe, werde seine Regelung Das taugen die Aktienfonds
ohnehin flächendeckend eingeführt. Und
55 der Promis
wenn nicht, dann war es ja seine Idee gewe-
nein, auf keinen Fall/eher nein sen, den Zwang zu streichen. »Wir gewinnen,
39 one way or another.« Der Erfolg wird zur
S Quelle: Civey-Umfrage vom 6. bis 8. September; Befragte: Ansichtssache.
Nächste Woche als
 

rund 5000; die statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt bei Besonders schmerzhaft für den Mediziner
bis zu 2,5 Prozentpunkten; an 100 fehlende Prozent:
»unentschieden« Lauterbach ist, dass auch die FDP-Leute in-
Beilage im SPIEGEL
Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 33
DEUTSCHLAND

Schlagzeile: »Das mysteriöse Nachtleben von


Karl Lauterbach«
»Ich schlafe gut und genug«, sagt Lauter-
bach. Aber er habe sein ganzes Wissenschaft-
lerleben lang gern abends und nachts gearbei-
tet. Und wenn er dann nach mehreren Stun-
den Lektüre eine Studie für relevant halte,
verbreite er sie eben auf Twitter. Unter seinen
Followern, inzwischen kommt er auf rund
eine Million, gebe es immer noch viele, die
das gern läsen. Lauterbach versteht sich als
Multiplikator, als Spielmacher. Und er will
Prof.Karl Lauterbach / Twitter

sich nicht gängeln lassen, nach dem Motto:


»Das gehört sich nicht für einen Minister!«

Jörg Carstensen / dpa


Nach jedem Tweet schlafe er immer noch gut.
Für seine Partei gilt das nicht unbedingt.
Die Genossinnen und Genossen blicken skep-
tisch auf den Mann, der in der Partei meistens
Partygäste Lauterbach, Kubicki, Scholz*: Der Kanzler bleibt auf Sicherheitsabstand Außenseiter war. Zuspruch von namhaften
Sozialdemokraten ist gerade keiner zu ver-
zwischen gern sagen, dass sie auf »evidenz- ten müssen, bei so vielen Dingen, die gleich- nehmen. Auch der Kanzler schweigt zu seiner
basierte« Politik setzten. In die Ausschüsse zeitig anfallen, das kann er sich nicht vorstel- Performance. Ihm fehlen die Vertrauten, die
bringen sie eigene Experten mit, die ihre li- len.« Unterstützer, die Hausmacht.
berale Linie bestätigen. Hendrik Streeck, Jo- Überforderung? Pah! »Wir machen ein In- Manche Sozialdemokraten zeigen sogar
nas Schmidt-Chanasit und Klaus Stöhr mögen fektionsschutzgesetz nach dem anderen, be- leichte Schadenfreude angesichts von Lauter-
aus Virologensicht Minderheitsmeinungen sorgen Impfstoffe in Milliardenhöhe, machen bachs Schwierigkeiten. Er hat die Erwartungen
vertreten und aus Lauterbachs Sicht damit eine Verordnung nach der anderen und arbei- in seine Fachkenntnis über Jahre hinweg so
irrelevant sein. Doch sie bleiben Professoren ten Tag und Nacht.« hochgeschraubt, dass er stärker an Erfolgen
an Universitäten, deren Urteil zumindest für Lauterbachs enormen Einsatz würde wohl gemessen wird als andere. Stets tat er so, als
manche Zweifel an Lauterbachs Linie sät. Zu- kaum einer bestreiten, allerdings mehrt sich hätte er praktisch fertige Konzepte für einen
mal ihre Haltung den Nerv vieler Deutscher in seinem Haus der Unmut, wie viel Kraft die Umbau des Gesundheitssystems in der Schub-
trifft, die sich mehr Eigenverantwortung und Minister in die Pandemiebekämpfung steckt lade. Ob die Bürgerversicherung oder die Ab-
weniger Vorschriften wünschen. und wie wenig in die sonstige Gesundheits- schaffung der privaten Krankenversicherung –
Das zeigt sich in Umfragen. Als Lauterbach politik. Der Chef treffe zwar gern Experten, kein Projekt schien Lauterbach zu groß.
den Job im Januar antrat, stieg er sofort zum lautet die Klage, aber weniger oft seine eige- In der Pandemie wirkte es dann auf viele
beliebtesten Minister des Kabinetts auf. In- nen Beamtinnen und Beamten. SPD-Leute so, als wollte er mit seinen Talk-
zwischen ist er abgesackt. Aber auch das kann Gerade hat Lauterbach mit Mertens eine showauftritten das Ministeramt erstürmen.
Lauterbach erklären. »Offen gesagt: Ich habe AG innerhalb der Ständigen Impfkommission Jeder Aufritt des Mannes aus dem Rheinland
ja einen einigermaßen schwierigen Job. Viele gegründet, damit die bei Impfempfehlungen ließ den Druck auf Scholz wachsen, öffentlich
wollen von Corona nichts mehr hören. Wir nicht so lange braucht. Zur konstituierenden wie intern.
haben gerade in der Regierung ganz andere Sitzung ging er persönlich. Derweil bleiben Wohl auch in der Euphorie des Wahlsiegs
Probleme.« Er findet: »Rankings dürfen kei- andere Projekte liegen oder werden nur entschieden Scholz und die SPD-Spitze, es mit
ne Rolle spielen. Populismus nützt sowieso noch langsam umgesetzt. Die erste große dem Publikumsliebling zu versuchen. Im Kanz-
nur kurzfristig.« Die Menschen spürten, Krankenhausreform seit 20 Jahren etwa oder leramt steht Lauterbach seitdem unter einer
dass er aus Überzeugung handle. »Beliebtheit eine wirkliche Entlastung für die Kranken- gewissen Beobachtung. Einerseits kann Scholz
aus geteilter Überzeugung – das ist für mich kassen. Oder dringend nötige Verbesserungen froh sein, dass sein Minister in Sachen Corona
wichtig.« für Pflegebedürftige und Heimbewohner. alles abfängt. Andererseits ist Lauterbach für
Allerdings gilt Lauterbach weiterhin als »An Lösungen wird gearbeitet«, schrieb den Kanzler ein wandelndes Risiko. Hand-
einer der am meisten bedrohten Politiker Lauter­bach dazu kürzlich beim Nachrichten- werkliche Ungenauigkeiten in Lauterbachs
Deutschlands, von den Behörden in die dienst Twitter. Doch vorerst scheint er mit Ministerium dürften ihm kaum entgehen.
höchste Sicherheitsstufe eingeordnet. Manche Corona ausgelastet zu sein – und mit der Scholz bleibt auf Sicherheitsabstand. Das
Demo führt an seinem Privathaus vorbei, und Kommunikation. zeigte sich diese Woche, als Lauterbach den
als Lauterbach neulich am Werbellinsee spa- Lauterbachs Ruhelosigkeit, das Senden Kanzler auf einem Berliner Sommerfest traf.
zieren gehen wollte, wäre er ohne Personen- rund um die Uhr, die Hyperaktivität auf Twit- Der Gesundheitsminister war bester Laune,
schutz wohl nicht heil nach Hause gekommen. ter, sie lassen den Minister kauzig wirken und gerade hatte er es geschafft, Kubicki zu einem
Als »Volksverräter« hätten ihn die Menschen nähren Gerüchte, er habe das Amt nicht im gemeinsamen Party-Selfie zu bringen, das
beschimpft, erzählt Lauterbach. »Einige hat- Griff. Vorige Woche machte die »Bild«-Zei- Lauterbach sofort per Twitter verbreitete:
ten ihr Grillgut wurfbereit in der Hand.« tung seine Verlautbarungen zum Thema, »Ab jetzt trägt Wolfgang Kubicki auch
Lauterbach prägt immer mehr den Ein- draußen Maske.«
druck, dass er überfordert sein könnte. Kein Den gleichen Erfolg wollte Lauterbach bei
anderer Vorwurf trifft ihn wohl mehr als die- Scholz einheimsen, erzählt er später in seinem
ser. Der FDP-Mann Wolfgang Kubicki, ein Büro. Damit hätte man auch den unseligen
politischer Rivale, hat ihn jüngst wieder er- maskenlosen Flug von Scholz nach Kanada
hoben. Kubickis Kritik nehme er sportlich, »Viele wollen schön überspielen können. Aber der Kanzler
sagt Lauterbach. »Was meine Leute hier leis- von Corona habe leider kein gemeinsames Foto machen

* Bei einem Sommerfest in Berlin am Dienstag; rechts:


nichts mehr hören.« lassen wollen.
Melanie Amann, Markus Feldenkirchen, Milena
mit den Models Kim Hnizdo, Alena Gerber. Karl Lauterbach Hassenkamp, Veit Medick, Christoph Schult n

34 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

einstürzten. Die Familie wohnte im nieder-


sächsischen Lindhorst. Der Fernseher lief, als
Gambir an jenem Tag von der Schule nach
Hause kam. Aus dem Gerät drangen Wörter,

Herkunft verpflichtet
die bisher nur in den Gesprächen der Eltern
fielen: Taliban, al-Qaida, Afghanistan. Der
Anschlag war ein Schock. »Ich dachte aber
auch: Mist, jetzt sind alle Afghanen schuld«,
erzählt sie. Das Land, das bisher kaum je-
GRÜNE  Schahina Gambir floh als Kind aus Afghanistan nach Deutschland. mand zu verorten wusste, war nun ständig in
den Nachrichten. Und sie habe fortan oft die
Jetzt will sie als Abgeordnete des Bundestags dafür sorgen, Frage beantworten müssen, ob sie muslimisch
dass das deutsche Scheitern am Hindukusch aufgeklärt wird. sei, sagt Gambir.
Die deutsche Asylpolitik war im Alltag der
Familie Gambir spürbar. Als zunächst nur

W
underschön«, ruft Schahina Gambir kostete Deutschland 12,3 Milliarden Euro. Hin- geduldete Flüchtlinge durften ihre Eltern
bei einem Spaziergang durch Min- zu kamen 5 Milliarden Euro für Wiederaufbau weder arbeiten noch zahlte ihnen der Staat
dens Altstadt aus, »wunderschön.« und Entwicklungshilfe. einen Deutschkurs. 2015, als Hunderttausen-
Die 31-Jährige zeigt auf Fachwerkhäuser, Stra- Die Enquetekommission des Bundestags de Geflüchtete nach Deutschland kamen, ging
ßenlaternen, Kopfsteinpflaster. Ein deutsches soll klären, warum Deutschland dennoch in Gambir zu den Grünen. Humanität habe im
Idyll. Minden gehört zu ihrem Wahlkreis. Afghanistan gescheitert ist. Zudem wird ein Zentrum grüner Flucht- und Migrationspoli-
»Hier ist es so urromantisch«, sagt sie. Parlamentarischer Untersuchungsausschuss tik gestanden. »Deren Antwort war für mich
Ist es auch Heimat? Gambir bleibt stehen, die chaotische Evakuierungsmission in Kabul die überzeugendste«, sagt sie.
denkt nach. Sie antwortet mit einer Gegen- beleuchten. Beide Runden nehmen jetzt ihre Als im Februar 2020 ein Rassist in Hanau
frage: »Was ist die Mehrzahl von Heimat?« Arbeit auf. neun Menschen mit Migrationsgeschichte ge-
Gambir stammt aus Kabul, Afghanistan. Gambir war zehn Jahre alt, als am 11. Sep- tötet hatte, beschloss die Politologin, für den
»Es ist das Land meiner Eltern. Ich bin dort tember 2001 die New Yorker Zwillingstürme Bundestag zu kandidieren. Der Anschlag sei
geboren, es wird immer ein Teil von mir sein,
irgendwie«, sagt sie. 1993, da war Gambir
zwei Jahre alt, flüchtete die einer hinduisti-
schen Minderheit angehörende Familie nach
Deutschland. Die Tochter wuchs in einer
­niedersächsischen Flüchtlingsunterkunft auf,
mit Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem zer-
fallenden Jugoslawien. Im »Lager«, wie sie
es nennt.
Auch Deutschland sei ein Teil von ihr –
»das war für mich aber auch lange das Land,
in dem ich immer wieder beweisen musste,
dass ich dazugehöre«, sagt sie.
Seit einem Jahr ist Gambir Bundestags-
abgeordnete, jetzt steht sie vor ihrer ersten
großen Aufgabe: Sie ist Obfrau der Grünen
in der Enquetekommission des Bundestags
zur Aufarbeitung des 20 Jahre dauernden
deutschen Einsatzes in Afghanistan. Ein poli-
tisches Anliegen, das für Gambir auch ein
persönliches ist.
Afghanistan blieb ihre Heimat, Deutsch-
land wurde es. Zwei Länder, die eine gemein-
same Geschichte mit schlechtem Ausgang
teilen.
Nach dem Sturz der Taliban 2001 mühten
sich deutsche Soldatinnen und Soldaten, Di-
plomaten und Entwicklungshelferinnen um
Stabilität und Menschenrechte in Afghanis-
tan. Sie weckten in der Bevölkerung Hoff-
nungen auf ein Leben in Sicherheit und Frei-
heit – zogen aber im Sommer 2021 unver-
richteter Dinge ab. Die Taliban sind zurück
Christian O. Bruch / DER SPIEGEL

an der Macht. Und mit ihnen Angst, Gewalt


und Unterdrückung.
»Wir sind reingegangen mit großen Ver-
sprechen, die wir nicht erfüllt haben«, sagt
Gambir. »Es war ein großes Versagen.«
Rund 93 000 Bundeswehrangehörige waren
im Laufe von zwei Jahrzehnten in Afghanistan
im Einsatz. 59 kamen ums Leben. Der Einsatz Grünenpolitikerin Gambir: »Es war ein großes Versagen«

36 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

ein Schlüsselerlebnis gewesen – »aber auch


der öffentliche Umgang damit: Dass die Tat SPIEGEL TV Programm
in den Medien als fremdenfeindlich bezeich­
net wurde, obwohl die Opfer Deutsche waren,
macht mich bis heute wütend«, sagt Gambir.
Der Spaziergang durch Minden führt vor­
bei am zentralen Friedensplatz. Er zählt zu
den Lieblingsorten Gambirs in der Stadt, rege
sie zum Nachdenken an. Etwa über die Frage,
ob Frieden nur die Abwesenheit von Krieg
bedeute oder doch mehr, erzählt sie. Diese
Frage dürfte sie begleiten, wenn sie die Af­
ghanistanmission aufarbeitet. Es sollte ja eine
Friedensmission sein.
Gambirs Herkunft ist für die Arbeit in der
Enquetekommission Antrieb und Bürde zu­
gleich.
Der Antrieb: »Ich will die Schicksale der
Menschen in Afghanistan für die Öffentlich­
keit sichtbar machen«, sagt sie. Gambir spricht
und versteht in Afghanistan geläufige Spra­

SPIEGEL TV
chen – ein Vorteil, wenn Zeuginnen und Sach­
verständige in der Kommission vorsprechen.
Die Bürde: Afghaninnen und Afghanen, Demonstration für Nord-Stream-2-Öffnung Lubmin
die in Deutschland leben, setzen Hoffnungen
in sie. In ihr Wahlkreisbüro kommen Men­
schen, die Partner oder Kinder aus dem Land SPIEGEL TV MAGAZIN Sind Bioprodukte wirklich günstiger
holen wollen. Die von Hunger, Druck und MONTAG, 12. 9., 23.25 – 0.00 UHR, RTL in Discountern wie Aldi und Penny? Wie
Gewalt berichten, der Angehörige ausgesetzt gut sind die Bioeigenmarken der her-
seien. Rechte Angstmacher – kömmlichen Supermärkte wie Rewe und
»Diese Begegnungen gehen mir immer Wie Nazis die Energiekrise Edeka? Und was ist mit reinen Biosuper-
sehr nahe, und ich versuche im Rahmen mei­ für ihre Zwecke nutzen märkten wie Denns und Bio Company?
ner Möglichkeiten zu helfen«, sagt Gambir. Erst Corona, jetzt die explodierenden Wir haben bei Verbrauchern, Experten
Sie fordert eine einfachere Aufnahme bedroh­ Energiepreise: Immer mehr rechte und Unternehmen in ganz Deutschland
ter Afghaninnen und Afghanen, etwa wenn ­Gruppierungen rufen in Deutschland zu nachgefragt. Alles Bio, oder was?
sie als Ortskräfte für die Deutschen tätig Demonstrationen gegen die Regierung
­waren. »So wie es bisher läuft, kann es nicht auf – von der AfD über die »Freien Sach-
weitergehen«, sagt Gambir und klingt dabei sen« bis hin zu rechtsextremistischen SPIEGEL GESCHICHTE
wie eine Oppositionspolitikerin. Parteien wie »Die Neue Stärke«. Wer FREITAG, 16. 9., 21.40 – 0.20 UHR, SKY
In den Gesprächen mit Hilfe suchenden steckt dahinter? Und was sind deren
Afghaninnen und Afghanen muss sie manch­ Ziele? SPIEGEL TV mit einer Reportage Imperien der Geschichte: China
mal erklären, weshalb die erhoffte Unterstüt­ aus den Demo-Hotspots der Republik. Die Wurzeln der chinesischen Zivili­
zung aus Deutschland nicht schnell genug sation reichen mehrere Jahrtausende
oder gar nicht kommt. Dann steht die Bundes­ zurück. Konfuzianische Werte bilden
tagsabgeordnete, die selbst mit den schwer SAT.1 noch immer die Grundlage für einen
durchschaubaren Anforderungen und Abläu­ DONNERSTAG, 15. 9., 20.15 – 22.30 UHR, SAT.1 Großteil der Gesellschaft, obwohl die
fen der deutschen Einwanderungsbürokratie kommunistische Revolution Mitte des
zu kämpfen hatte, stellvertretend für eben Der SAT.1 Bio-Check! ALDI, vergangenen Jahrhunderts einen drama-
diese. Zwei Heimaten können auch bedeuten: REWE, BIO COMPANY & Co. tischen Bruch mit der Vergangenheit
zwei Loyalitäten. Bio boomt und ist buchstäblich in aller bedeutete. Der Vorsitzende Mao verglich
Im Bundestag gibt es Politiker, die beim Munde. Immer mehr Biolebensmittel sich selbst mit Chinas erstem Kaiser.
Wort Enquetekommission abwinken. Eine finden sich in den Läden, die Nachfrage Der jetzige Präsident, Xi Jinping, ist
»Laberrunde« werde das, heißt es mitunter; deutscher Verbraucher steigt von Tag entschlossen, Chinas Rolle als globale
die Lage in Afghanistan führe doch das deut­ zu Tag. Aber ist Bio wirklich immer Bio? Supermacht weiter zu festigen und
sche Scheitern klar vor Augen – was gebe es Was bedeuten die vielen Biosiegel? auszubauen.
da noch aufzuklären?
Solche Äußerungen ärgern Gambir. »Ich
spüre eine Verantwortung zur Aufklärung –
nicht nur gegenüber der afghanischen Be­
Pilot Film & Television Productions Ltd

völkerung und der Diaspora, sondern auch


gegenüber Bundeswehrkräften und den Mit­
arbeitenden in der Entwicklungszusammen­
arbeit«, sagt sie. Wer sich damit zufrieden­
gebe, das Versagen festzustellen, der mache
es sich zu einfach – so sieht sie das. »Wir müs­
SPIEGEL TV

sen wissen, warum wir versagt haben, damit


sich die Fehler nicht wiederholen.«
Marina Kormbaki n Bioprodukte in Supermarktauslage Konfuzius-Skulptur im chinesischen Nanjing

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 37


DEUTSCHLAND

SPIEGEL: Frau Chebli, Herr Shalicar,


der hebräische Name Arye bedeutet
Löwe, der Name Chebli kommt vom
arabischen Wortstamm Löwenkind,

»Du könntest mein


und Sie sind beide im Sternzeichen
Löwe geboren. Es heißt, Löwen seien
Siegertypen, stünden gern im Ram-

Bruder sein«
penlicht, mit Tendenz zur Selbstver-
liebtheit …
Chebli: Selbstverliebt? Was mich be-
trifft: Ich habe oft Zweifel und hinter-
frage, was ich tue und sage.

»Und du siehst wie


SPIEGEL: Bei mehr als 100 000 Follo-
wern auf Twitter?
Chebli: Das schließt sich ja nicht aus.

meine Schwester aus«


Shalicar: Auch ich war in meiner Ju-
gend alles andere als ein Siegertyp. Ich
war auch nicht selbstverliebt, sondern
habe alles gehasst: den Wedding, mei-
ne Eltern, Deutschland, mich selbst.
SPIEGEL-STREITGESPRÄCH  Sawsan Chebli, 44, Tochter palästinensischer Flücht- Das hat sich in den vergangenen 20
Jahren komplett geändert. Ich bin
linge, und Arye Shalicar, 45, Sohn iranischer Juden, über ihre Kindheit in Berlin, heute in einer anderen Position, damit
Anti­­semi­tismus und den Nahostkonflikt. Chebli war zuletzt Staatssekretärin in der kam auch das Selbstbewusstsein.
Berliner Staatskanzlei, Shalicar ist Sprecher der israelischen Armee in Reserve. SPIEGEL: Hätten Sie beide als Kinder
von Einwanderern in Deutschland ge-
dacht, dass Sie beruflich so erfolgreich
sein würden?
Chebli: Nein, niemals. Was ich aber
immer wollte, war Unabhängigkeit.
Ich wollte nicht dasselbe durchma-
chen wie meine Eltern, wollte nicht,
dass andere Entscheidungen über
mein Leben treffen. Aber ich hätte
nicht im Traum daran gedacht, dass
ich mal Staatssekretärin in Berlin wer-
den und meine Stimme in Deutsch-
land gehört würde.
Shalicar: Die meisten Leute, mit
denen ich in meiner Jugend zu tun
hatte, waren Gangster. Hätten Sie
mich als 18-Jährigen nach meiner Zu-
kunft gefragt, hätte ich gesagt: ent-
weder tot oder Knast. Als 20-Jähriger
habe ich in einer McDonald’s-Filiale
gearbeitet, da habe ich die türkische
Schichtleiterin gesehen und gedacht:
Das schaffe ich vielleicht noch.
SPIEGEL: Wer hat verhindert, dass Sie
auf die schiefe Bahn gerieten?
Shalicar: Zum einen meine Eltern.
Wir waren echt arm, aber schon als
ich fünf Jahre alt war, haben meine
Eltern mir gesagt: Eines Tages gehst
du zur Universität. Hinzu kamen
enge Freunde, die kriminell waren,
aber mich trotzdem abgeschirmt ha-
ben. Mein allerbester Kumpel plante
einen Raubüberfall und sagte zu mir:
»Du kommst da nicht mit. Aus dir
wird mal was.« Ich bin diesen Men-
Peter Rigaud / DER SPIEGEL

schen heute sehr dankbar.


Chebli: Auch bei mir spielten die
­Eltern eine zentrale Rolle, und Men-
schen, die mich an die Hand nahmen

Das Gespräch führte der Redakteur Christoph


Muslima Chebli (r.), Jude Shalicar: »Ich bin nicht sicher, in welche Schublade ich dich stecken soll« Schult in einem Berliner Restaurant.

38 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

und an mich glaubten. Ein Grundschullehrer


zum Beispiel. Als ich eingeschult wurde,
konnte ich kaum Deutsch, wurde aber schnell
Klassenbeste und bekam dann auch eine
Empfehlung fürs Gymnasium.
SPIEGEL: Frau Chebli, Ihre Eltern verließen
das damalige britische Mandatsgebiet Paläs­
tina im israelischen Unabhängigkeitskrieg. In
den Siebzigerjahren kamen sie dann aus dem
Libanon nach Deutschland. Ihr Asylgesuch
wurde abgelehnt, dreimal wurde Ihr Vater in
den Libanon abgeschoben.
Chebli: Ja, als Kind habe ich meinen Vater
in der Abschiebehaft besucht. Das war in
Moabit, fünf Minuten zu Fuß von unserer
Wohnung entfernt. Meine Kindheit war von
einem Gefühl der permanenten Unsicherheit
überschattet. Nicht zu wissen: Darfst du blei­
Felipe Trueba / EPA-EFE

ben? Siehst du deinen Vater wieder? Das war


wohl auch ein Antrieb dafür, dass ich in die
Politik gegangen bin.
SPIEGEL: 1993, Sie waren damals 15, erhielt
Ihre Familie die deutsche Staatsangehörigkeit. Besucher des »Al-Quds-Tags« in Berlin 2019: »Nie bewusst teilgenommen«
Können Sie sich an das Gefühl erinnern?
Chebli: Das werde ich nie vergessen. Diese SPIEGEL: In Ihrer Autobiografie schreiben Sie, SPIEGEL: Frau Chebli, hatten Sie in Ihrer Kind­
Urkunde in der Hand zu halten war für mich arabisch- und türkischstämmige Freunde hät­ heit Kontakt zu Juden?
einer der größten Augenblicke meines Le­ ten gesagt: Hauptsache, du bist kein Jude. Chebli: Kaum. Auch dass ein Anwalt, der mei­
bens. Ich habe damit Freiheit verbunden: die Shalicar: Ja, die wussten anfangs nicht, dass nem Vater geholfen hat, Jude ist, habe ich erst
Freiheit zu reisen, die Freiheit zu leben, die ich Jude bin. Ich sah mit meinen schwarzen später erfahren. Ich hatte eine Schulkamera­
Sicherheit, nicht mehr abgeschoben zu wer­ Haaren aus wie die. din, von der ich wusste, dass sie Jüdin ist. Wir
den, meinen Vater bei mir zu haben. Das war Chebli: Wenn man dich so anschaut – du könn­ haben uns zunächst nicht verstanden. Ich
ein schönes Gefühl. Ich wollte vorher schon test mein Bruder oder Cousin sein. schätze, ich habe sie irgendwie mitverant­
immer dazugehören. Als ich die Urkunde in Shalicar: Und du siehst wie meine Schwester wortlich gemacht dafür, dass meine Eltern
den Händen hielt, dachte ich: Jetzt bist du aus, ehrlich. Wenn man zu uns nach Hause fliehen mussten und ich keine Heimat hatte.
Deutsche. Jetzt gehörst du wirklich dazu. kam, war man in Iran: Persische Poesie und Später wurden wir Freundinnen.
SPIEGEL: Herr Shalicar, Ihre Eltern kamen Teppiche und Essen und Gerüche und Musik, SPIEGEL: Wie wurde in Ihrer Familie über Ju­
ebenfalls Anfang der Siebziger aus Iran nach nichts Jüdisches, keine Menora, wir waren den und den jüdischen Staat gesprochen?
Berlin. Was waren die Gründe? fern von Religion und Mittelalter. Chebli: Der Nahostkonflikt war omnipräsent.
Shalicar: Meine Mutter ist in Teheran groß SPIEGEL: 2001 sind Sie nach Israel ausgewan­ Auch Wut auf Israel. Ich hatte das Glück,
geworden, mein Vater in einer Kleinstadt am dert. Konnten Ihre Eltern diesen Schritt nach­ einen Vater zu haben, der sehr versöhnlich
Kaspischen Meer. Dort gab es viele antisemi­ vollziehen? war und immer das Gute im Menschen sah.
tische Zwischenfälle. Er erzählte, wie sich Shalicar: Das war für uns alle traumatisch. Ich Mein Vater hat die arabischen Staaten übri­
regelmäßig muslimische Jugendliche versam­ bin allein gegangen. Ich habe alle verlassen, gens für das Schicksal der Palästinenser mit­
melten, um Steine über die Mauer zu werfen, die mich hassten, und alle, die mich liebten: verantwortlich gemacht.
die das jüdische Ghetto umgab. Deshalb ver­ meine Freundin, mit der ich sechs Jahre Shalicar: Echt? Solche palästinensische Stim­
ließ er das Land bereits Anfang der Siebziger­ ­zusammen war, meine Familie. Alles, um men hört man sonst kaum.
jahre. Das war damals ein Ausnahmefall. Die in einem Land, das ich nicht kannte, aber SPIEGEL: Woher hatte er diese Einsicht, las er
meisten iranischen Juden verließen erst nach für das ich immer wieder beleidigt wurde, zu viel?
der Islamischen Revolution 1979 das Land. ­leben. Ich habe mich mit dem Opfer identifi­ Chebli: Nein, mein Vater starb als Analphabet.
SPIEGEL: Warum entschieden sich Ihre Eltern ziert, zu dem ich gemacht wurde. Aber er war klug, hatte einen klaren Verstand
für Deutschland, nur ein Vierteljahrhundert SPIEGEL: War es auch eine Flucht vor der kri­ und konnte sehr empathisch mit anderen
nach dem Holocaust? minellen Vergangenheit? Menschen sein. Er hatte oft eine andere Mei­
Shalicar: Mein Vater diente in der iranischen Shalicar: Vielleicht. In Deutschland wäre aus nung als Menschen um ihn herum. Er war nie
Armee. Sein bester Freund, er hieß Bijan, ging mir jedenfalls nichts geworden. Ich hatte Mainstream.
nach dem Militärdienst nach Deutschland und hier so viel Scheiße gebaut, war mit 20 vor­ Shalicar: Mich freut es natürlich, wenn dein
berichtete meinem Vater, dass sich Deutsch­ bestraft, ich musste woandershin. Ich hatte Vater die Verantwortung der arabischen Staa­
land verändert habe und man hier umsonst Glück, dass mir die Richter jedes Mal noch ten für das Schicksal der Palästinenser er­
studieren könne. eine Chance gaben, vielleicht haben sie kannt hat. Ich glaube, dass es ohne die arabi­
SPIEGEL: Haben Ihre Eltern Ihnen gesagt, dass ­gespürt, dass ich nicht wie ihre normalen schen Regime schon lange einen Staat Paläs­
sie Iran wegen des Judenhasses verließen? ­Klienten war. Ich hatte das Abi geschafft, bin tina gäbe. Aber ich kann verstehen, dass du
Shalicar: Meine ganze Jugend über haben zur Bundeswehr gegangen und habe an der früher Israel oder die Juden für das Schicksal
sie mir gar nichts davon erzählt. Überhaupt: Humboldt-Uni und an der Freien Universität deiner Familie verantwortlich gemacht hast,
Jüdisch zu sein hat weder mich noch meine ­studiert. Ich würde sagen, dass ich vor bei­ weil das alle automatisch gemacht haben,
Eltern interessiert. Ich wusste nicht, was das dem Reißaus genommen habe: vor dem ohne zu hinterfragen, und das hat Frust und
heißt. Null. Wir haben nicht koscher gegessen ­Anti­semitismus und vor meiner kriminellen Terror gestärkt, statt Brückenbauer und Frie­
oder Schabbat gehalten, haben keinen jü­ ­Vergangenheit. Aber ich habe auch schöne densaktivismus zu fördern.
dischen Feiertag begangen und sind nie zur Erinnerungen, meine besten Freunde sind bis Chebli: Von meinen Eltern kam, wie gesagt,
Synagoge gegangen. heute Muslime. nichts dergleichen. Als Kind wusste ich, dass

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 39


DEUTSCHLAND

es Israel und den Nahostkonflikt gibt. Ich sichtlich ein Holocaust-Leugner und Juden- mörder Syrien, Kindermörder Jemen, Kinder-
wusste, dass meine Eltern deswegen gehen hasser ist. Begrüßen würde ich, wenn Abbas mörder Iran«.
mussten oder gegangen sind. Es ist ja unstrit- nicht mehr in Berlin empfangen werden wür- Chebli: Viele, die da demonstrieren, erkennen
tig, dass Palästinenser Opfer von Massakern de und hochrangige deutsche Delegationen das Existenzrecht Israels nicht an. Das gehört
und Vertreibung wurden, auch israelische ihn nicht mehr in Ramallah treffen würden, zur Wahrheit. Aber die meisten laufen aus
Historiker erkennen das ja an. Damals zog solange er sich nicht öffentlich für seine, in Solidarität mit den Palästinensern auf Demos
ich den Schluss: Israel und niemand sonst Deutschland strafbare, Holocaust-Relativie- zu Nahost mit.
muss für die Lage der Palästinenser verant- rung entschuldigt. Shalicar: Wenn die Demonstranten das Vor-
wortlich sein. SPIEGEL: In Berlin demonstrieren seit 1996 gehen der israelischen Armee kritisieren und
SPIEGEL: Kürzlich behauptete Machmud Ab- viele Muslime auf dem so genannten Al-Quds- zur Verhältnismäßigkeit aufrufen würden,
bas, Präsident der Palästinensischen Auto- Tag. Welchen Stellenwert hat dieser Tag in könnte ich damit gut leben. Aber Israelflaggen
nomiebehörde im Berliner Kanzleramt, Israel der Community, in der Sie aufgewachsen sind, zu verbrennen und »Juden ins Gas« zu brül-
habe »50 Holocausts« an den Palästinensern Frau Chebli? len – das geht gar nicht. Wenn lokale paläs-
verübt. Können Sie sich erklären, warum Olaf Chebli: Ich wusste lange nicht, dass der über- tinensische Gruppen auf die Straße gehen
Scholz diese Äußerung nicht sofort empört haupt »Al-Quds-Tag« heißt. Für viele Paläs- würden, wenn sie für friedliche Koexistenz
zurückgewiesen hat? tinenser in Deutschland war das einfach ein demonstrieren würden, vielleicht würde ich
Shalicar: Ich nehme an, Scholz war von der Tag, an dem man für Palästina demonstriert. da sogar mitlaufen.
Wucht der Dreistigkeit, mit der Abbas öffent- SPIEGEL: Irans Revolutionsführer Khomeini SPIEGEL: Frau Chebli, 2019 haben Sie zum
lich, und das auch noch im Kanzleramt, den hatte den Tag 1979 ausgerufen, um Jerusalem, ersten Mal an einer Gegendemonstration zum
Holocaust missbraucht und relativiert hat, ge- auf Arabisch »Al-Quds«, zu befreien. »Al-Quds-Tag« teilgenommen. Wie war das?
schockt und wusste nicht so recht, wie er da- Chebli: Das hatten wir überhaupt nicht auf Chebli: Ich stand in der Gegendemo mit mei-
rauf reagieren sollte. Sein Schweigen hat er dem Schirm. Ich habe so viel später erst aus nen israelischen Nachbarn, als eine Frau auf
sicherlich kurz darauf schon bedauert. Außen- Medien erfahren, dass Iran dabei eine Rolle mich zukam und sagte: »Schämen Sie sich
ministerin Baerbock hätte Abbas ganz sicher- spielte und es nicht in erster Linie um die nicht, hier zu sein?« Sie vertrat die Auffas-
lich nicht mehr die Hand geschüttelt danach. Rechte der Palästinenser ging, sondern um sung, ich könne nicht gleichzeitig Palästinen-
Chebli: Ich habe selbst als Sprecherin des Machtpolitik. ser verteidigen und gegen den »Al-Quds-Tag«
Außenministers gearbeitet und kann mich SPIEGEL: Sind Sie selbst dort mal mitgelaufen? demonstrieren. Ein paar Minuten später kam
ganz gut in solche Situationen hineindenken. Chebli: Immer wenn es im Nahen Osten Aus- ein deutscher Jude und sagte: »Bitte machen
Für einen Moment ist man unkonzentriert, einandersetzungen gab, wurde in Berlin Sie weiter.« Ich habe mich nicht wohlgefühlt.
mit den Gedanken schon beim nächsten poli- demonstriert. Und ich war als Kind und Teen­ Ich war da, weil ich nicht möchte, dass sich
tischen Thema. Fakt ist: Diese Aussagen ge- ager oft dabei. Ich habe aber nie bewusst an Judenhass in Deutschland weiter ausbreitet.
hören nirgendwohin. Weder im Kanzleramt einer Al-Quds-Demo teilgenommen. Shalicar: Vielleicht haben die dir das nicht
noch irgendwo anders dürften sie ohne Wi- SPIEGEL: Auf dem »Al-Quds-Tag« wurden abgekauft. Ich bin auch nicht sicher, in welche
derrede stehen bleiben. Was mich so wütend regelmäßig antisemitische Parolen gerufen. Schublade ich dich stecken soll. Du bist eine
macht: Abbas hätte seinen Besuch in Berlin Chebli: Ja, und eine gängige Parole war »Kin- prominente Palästinenserin, du musst ver-
nutzen können, um auf das Versagen der dermörder Israel«. Palästinensische Kinder stehen, dass Juden sich fragen, wer ist diese
internationalen Gemeinschaft hinzuweisen, wurden bei Auseinandersetzungen mit dem Sawsan Chebli eigentlich?
den Palästinensern eine wirkliche Perspek­tive israelischen Militär getötet; für die meisten Chebli: Nein, das verstehe ich nicht. Ich ver-
auf Freiheit und Souveränität zu geben. Es Demonstranten hatte die Parole nach meinem stehe auch nicht, dass, wie es einmal vor­
wäre seine Aufgabe gewesen, Empathie zu Eindruck nichts mit Antisemitismus zu tun. gekommen ist, ein Vertreter eines jüdischen
schaffen für das Leid, das so vielen Palästi- Auch ich wusste damals nicht, dass es ein gän- Vereins zu mir kommt und sagt: »Sie sind
nensern widerfahren ist. Stattdessen hat er giges antisemitisches Motiv in der europäi- Palästinenserin, ich nehme Ihnen Ihren
die Stimme der Palästinenser diskreditiert. schen Geschichte war, Juden Ritualmorde an Kampf gegen Antisemitismus nicht ab.« Da
SPIEGEL: Der Skandalauftritt hat Forderungen Kindern zu unterstellen. läuft doch was gewaltig schief. Der Mann soll-
Nahrung gegeben, deutsche Steuergelder an Shalicar: Das Krasse ist doch, dass es nur te seine eigenen Feindbilder hinterfragen. Es
die Palästinenser zu kürzen. gegen Israel gerufen wird. Ich könnte ja damit ist absurd, dass ich mich für meinen Kampf
Chebli: Einen solchen Auftritt nun als Vor- leben, wenn dieselben, die auf die Straße ge- gegen eine menschenverachtende Ideologie
wand zu nehmen, den Palästinensern grund- hen, auch hin und wieder mal rufen: »Kinder- wie Antisemitismus rechtfertigen muss. Wich-
sätzlich die Unterstützung zu entziehen, hal- tig ist, dass man sich nicht einschüchtern lässt
te ich für unredlich und unklug. Die interna- und weiter für seine Überzeugungen einsteht.
tionalen Hilfsgelder für die palästinensische SPIEGEL: Sie werden zu diesem Termin von
Autonomiebehörde und NGOs in den besetz- Beamten des LKA begleitet.
ten Gebieten werden seit Jahren sehr kritisch »Es sind die extremen Chebli: Ich werde von vielen Seiten gehasst.
beobachtet, von Fachleuten ebenso wie von
politischen Lobbygruppen, die das Ziel haben,
Ideologen, die Von Islamisten, denen ich nicht muslimisch
genug bin, von Leuten in der arabischen und
Palästina und die Zweistaatenlösung zu de- an keiner Lösung palästinensischen Community, die mich als
legitimieren. Vergessen wir nicht: Die Paläs-
tinenser haben keinen Staat, um eine eigene
interessiert sind.«​ Verräterin sehen, von einigen aus der jü­
dischen Gemeinde, die mir vorwerfen, mein
Wirtschaft zu entwickeln und ihre Gebiete zu Arye Shalicar Kampf gegen Antisemitismus sei geheuchelt.
entwickeln. Und letztendlich hat auch Israel Aber die größte Gefahr geht ganz klar von
ein Interesse daran, dass die Institutionen in Rechten und Rechtsradikalen aus, die mich
den besetzten Gebieten funktionieren und »Feindseligkeit geht nicht mundtot machen wollen, weil ich für sie in
Menschen wirtschaftlich halbwegs überleben Deutschland nichts verloren habe.
können. nur von Extremisten aus. Shalicar: Ich habe deinen Namen zum ersten
Shalicar: Ich bin prinzipiell für die finan­zielle Es ist leider auch oft der Mal vor zwei, drei Jahren gehört, dachte
Unterstützung der palästinensischen Zivil-
bevölkerung und gegen eine kollektive Be- sogenannte Mainstream.« »Sawsan«, ein schöner Name. Dann habe ich
ein bisschen geguckt und war mir nicht sicher,
strafung, nur weil ihr Präsident ganz offen- Sawsan Chebli wo du stehst. Aber durch dieses Gespräch

40 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

habe ich ein gutes Gefühl bekommen. Shalicar: Das ist eben die Folge von
Wenn du dich für die palästinensische vielen Kriegen und Terror.
Sache starkmachst, musst du ja nicht Chebli: Und von israelischer Sied­
meine Feindin sein. Ich mache mich lungspolitik.
auch für die jüdische und für die israe­ Shalicar: Das auch. Aber aus Gaza
lische Sache stark. Es sind die extre­ hat Israel die Armee und die Siedler
men Ideologen, die an keiner Lösung abgezogen. Und statt etwas aus dem
interessiert sind. Gebiet zu machen, hat die Hamas die
Chebli: Aus persönlicher Erfahrung Herrschaft übernommen und unter­
muss ich sagen: Feindseligkeit und Un­ drückt die dortige Bevölkerung. Es
versöhnlichkeit gehen nicht nur von gibt auch positive Entwicklungen:
Extremisten aus. Es ist leider auch oft Wer hätte vor fünf oder zehn Jahren
der sogenannte Mainstream. Gleich­ gedacht, dass Israel und die Vereinig­
zeitig sollte man mit dem Vorwurf des ten Arabischen Emirate diplomati­
Antisemitismus nicht beliebig umge­ sche Beziehungen aufnehmen?
hen und darauf achten, dass die Rech­ SPIEGEL: Herr Shalicar, im Februar
ten den Kampf dagegen nicht nutzen, 2021 twitterten Sie: »Es gab KEINEN
um gegen Muslime Stimmung zu ma­ Staat ›Palästina‹ und auch KEIN Volk
chen. Wir sollten uns darauf konzen­ das sich ›Palästinenser‹ genannt hat.
trieren, den echten Antisemitismus zu ›Palästinenser‹ ist eine Erfindung von
bekämpfen! Und es laufen sehr viele Yasser Arafat in den 1960er Jahren.«
Antisemiten in diesem Land herum. Gibt es Ihrer Meinung nach kein pa­
Shalicar: Das Problem geht schon lästinensisches Volk?
­tiefer. Im Duden gibt es nur das Wort Shalicar: Nicht vor 200 Jahren, heu­
»israelkritisch«, es gibt keine Kritik, te fühlen sich die arabischen Men­
die sich gegen ein anderes Land als schen dort als Palästinenser, dieses
Ganzes stellt. Nationalbewusstsein haben sie Arafat
SPIEGEL: Antisemitische Anschläge, zu verdanken.
gewaltsame Übergriffe und Beschimp­ Chebli: Entschuldigung, aber meine
fungen haben in den vergangenen Eltern waren Palästinenser. Und mei­
Jahren zugenommen. In Halle wollte ne Mutter ist es immer noch.
ein Rechtsextremist am Feiertag Jom Shalicar: Vor 1948 waren es die Ju­
Kippur betende Juden in der Synago­ den, die sich Palästinenser genannt
ge töten. Was muss getan werden? haben. Die Araber, die im damaligen
Chebli: Antisemitismus in der muslimi­ Osmanischen Reich lebten, haben
schen Community ist großenteils Is­ sich nach ihren arabischen Stämmen
rael-bezogen. Da setze ich an. Ich war benannt, aber sie fühlten sich nicht
zum Beispiel mit einer Schulklasse, wo als Palästinenser.
die Mehrheit einen arabischen Hinter­ Chebli: Während der Mandatszeit
grund hatte, in Israel. Ich weiß, was das ich dich. Das geht zwanzigmal hin und Jugendlicher gab es die Bezeichnung Palästinenser
mit mir gemacht hat, als ich das erste her, bis ich frage: Was machst du Shalicar (l.) Anfang für jüdische und arabische Bewohner
der Neunzigerjahre,
Mal in Israel war. Das war für mich ein eigentlich so im Leben? Und dann er­ Schülerin Chebli (r.) Palästinas. Das ist nun auch ausrei­
Augenöffner. Es hat mir geholfen zu zählen die meistens, dass es ihnen Mitte der Achtziger- chend belegt und nachlesbar – spä­
verstehen und nicht zu hassen. Ich nicht gut geht, sie ihre Ausbildung ver­ jahre: »Als Kind habe testens seit ein Journalist einmal auf
habe Menschen kennengelernt, die so semmelt haben, kriminell geworden ich meinen Vater Twitter bestritt, dass meine Eltern
in der Abschiebehaft
wie ich Brücken bauen wollen. Heute sind. besucht« »Palästinenser« seien. Ich fände es
spreche ich mit jungen Leuten über SPIEGEL: Eine Zweistaatenlösung zu bedauerlich, wenn wir nun wirklich
meine Biografie und meine Erfahrun­ ermöglichen gehört zum offiziellen darüber streiten müssten, ob wir uns
gen mit dem Judentum und Israel. Ich Ziel deutscher Außenpolitik. Glauben Palästinenser nennen dürfen.
möchte, dass die Kids lernen zu diffe­ Sie noch daran? Shalicar: Das sagt ja keiner.
renzieren, für Frieden und Versöhnung Chebli: Ich habe daran leider große Chebli: Doch, in deinem Tweet sug­
zu kämpfen und nicht zu hassen. Zweifel. Es gibt kaum Entwicklungen, gerierst du das. Mit solchen Aussagen
Shalicar: Ich halte viele Vorträge in die mich hoffen lassen, dass das in soll die palästinensische Identität in­
Deutschland, zum Beispiel für die naher Zukunft möglich ist. frage gestellt werden, dahinter steht
­Organisation Elnet. Da spreche ich mit Shalicar: Ich glaube daran. Nicht heu­ eine bestimmte Politik.
Ministern, Oberbürgermeistern, aber te, nicht morgen. Aber es gab schon Shalicar: Ich vertrete hier nicht ir­
auch Schülerinnen und Schülern, denn 1947 den Teilungsbeschluss der Uno. gendeine israelische Politik. Ich per­
Bildung ist zentral. Ich bin auch sehr Chebli: Nur schau dir doch mal die sönlich glaube an die Zweistaaten­
viel in den sozialen Medien unterwegs, Karte des Teilungsplans an. Damals lösung. Die Palästinenser haben ihren
nehme mir die Zeit, Leuten zu antwor­ gab es immerhin noch ein weitgehend eigenen Staat verdient. Aber wir kön­
ten. Da erlebe ich sehr viel Hass. Der zusammenhängendes palästinen­ nen ihn nicht von heute auf morgen
kommt in meinem Fall sehr oft von sisches Territorium. Das ist mittler­ gründen, denn dann besteht die reale
muslimischen Kids. Die schreiben weile so zerstückelt, dass es schwer Gefahr, dass die Hamas übernimmt.
dann: Hey Aro, komm nach Berlin, ich würde, darauf einen Staat zu errich­ Und dann haben wir keinen Frieden,
f… dich. Ein normaler Mensch würde ten. Und dominante politische Kräfte sondern Krieg.
den ignorieren. In mir erwacht dann in Israel sagen deutlich und unmiss­ SPIEGEL: Frau Chebli, Herr Shalicar,
der Weddinger, ich schreibe dann: verständlich, dass sie einen Staat Pa­ wir danken Ihnen für dieses Ge­
Komm du doch nach Israel, dann f… lästina verhindern wollen. spräch.  n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

Steglitz verwiesen worden. Fahrzeit: ebenfalls


eine knappe Stunde. An einigen anderen
Gymnasien reichte ein Schnitt von 1,1 oder
1,2 offenbar ebenfalls nicht aus. An beliebten

Knallhart ausgesiebt
Integrierten Sekundarschulen (ISS) mit gym-
nasialer Oberstufe ist der Numerus Clausus
(NC) auch oft hoch.
Einige Eltern versuchten alles, um den No-
tenschnitt der Kinder zu verbessern. Eine
BILDUNG  Mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule droht vielen Mutter erzählt, dass sie oft Referate und Auf-
sätze für ihren Sohn überarbeitet habe, damit
Kindern eine Tortur: Die Auswahlverfahren etwa an Gymnasien sei er zumindest auf 1,4 gekommen. »Fair ist
haben ihre Tücken. Besonders nervenaufreibend ist die Lage in Berlin. das nicht, zumal gegenüber Kindern, deren
Eltern nicht helfen können«, sagt die Mutter,
»aber dieses knallharte Aussieben ist auch

F
ür die Einschulungsfeier ihrer Tochter knapp eine Stunde entfernt. »Wir waren bei- nicht fair.«
am Gymnasium haben sich die Strat- de geschockt«, sagt die Mutter. »Wie soll ich Reicht das alles nicht, sind Kinder auf en-
manns ein Auto gemietet. Ein eigenes Lina vermitteln, dass sie mit 1,1 ›zu schlecht‹ gagierte, zahlungskräftige Eltern angewiesen.
besitzen sie nicht, und mit öffentlichen Ver- für ihre Wunschschule ist? Und wie soll ich Manche beauftragen für einige Hundert oder
kehrsmitteln wäre der Weg von ihrer Woh- sie wieder motivieren, Leistung zu bringen?« gar Tausend Euro einen Anwalt oder eine
nung im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg Lina entschied sich dann für eine andere Schu- Anwältin, melden ihr Kind bei einer Privat-
sehr umständlich. Linas neue Schule liegt am le, in Tegel, noch etwas weiter weg. Das ma- schule an –  oder telefonieren verzweifelt
anderen Ende der Stadt, in Tegel. Am ersten che auch schon keinen Unterschied mehr, sagt Schulen in der Nähe nach freien Plätzen ab.
Schultag brauchten sie 45 Minuten dorthin. ihre Mutter. Immerhin möge Lina die Schule. Auch in anderen Bundesländern sorgt der
Seit dem zweiten Schultag bewältigt Lina Eine andere Mutter aus Prenzlauer Berg Schulwechsel für Aufregung. In dünn besie-
die Strecke allein. Um pünktlich zu sein, muss machte ähnliche Erfahrungen. Ihr Sohn habe delten Bundesländern wie Mecklenburg-Vor-
sie gegen 6.30 Uhr die Straßenbahn nehmen, einen Schnitt von 1,0 gehabt, sagt sie. Aber pommern gibt es unter anderem aufgrund
dann in die Bahn umsteigen, dann in den Bus. weil es am Käthe-Kollwitz-Gymnasium so sinkender Schülerzahlen deutlich weniger
Verpasst sie eine Bahn, steht ein zehnminü- viele Bewerber mit einem solchen Schnitt gab, Schulen, auch weniger Gymnasien, als vor
tiger Fußmarsch an. Läuft alles glatt, ist sie sei gelost und ihr Sohn an ein Gymnasium in 20 Jahren. So müssen Kinder oft weite Wege
nach rund 70 Minuten am Ziel. auf sich nehmen.
»Nur fünf Minuten mit dem Rad von uns In Köln fehlten zuletzt rund 400 Plätze an
entfernt gibt es ein Gymnasium, das Lina ger- den Gymnasien. Um den Andrang zu bewäl-
ne besucht hätte«, sagt Karin Stratmann, tigen, führte die Stadt ein Losverfahren ein.
Berlin
»aber dort hat sie trotz eines Notenschnitts Reinicken-
Pankow Diese »Schulplatz-Tombola« bedeute für Fa-
von 1,1 keinen Platz bekommen.« Ihre Toch- dorf milien tagelangen »Dauerstress«, kritisiert
ter verstehe das nicht, sie habe gefragt: Lichtenberg die Elterninitiative »Die Abgelehnten«. Die
»Mama, ich habe doch alles richtig gemacht?« Mitte Stadt hingegen argumentiert, Losen sei
Spandau Marzahn-
Der Wechsel von der Grundschule auf die Friedrichshain- Hellersdorf
Charlottenburg- Kreuzberg »rechtssicher«.
weiterführende Schule ist für viele Kinder in Wilmersdorf Wer in Brandenburg, Thüringen oder Bay-
Tempelhof-
Deutschland hart – und führt nicht nur in Ber- Schöneberg ern aufs Gymnasium will, benötigt einen ent-
Steglitz- Treptow-
lin regelmäßig zu Verdruss. In der Hauptstadt Zehlendorf Neukölln Köpenick sprechenden Notenschnitt oder muss sich in
ist der Übergang von der Grundschule, die in einem Probeunterricht bewähren. In Bayern
der Regel bis zur 6. Klasse geht, auf die wei- hängt fast alles vom Notenschnitt in den Fä-
terführende Schule so geregelt: Eltern geben chern Deutsch, Mathematik sowie Heimat-
drei Wunschschulen an. Hat eine Schule zu und Sachunterricht ab. Schon vor einigen
wenige Plätze für alle, gehen 10 Prozent an Jahren konstatierten Würzburger Forscher,
Härtefälle, 30 Prozent werden verlost, vor- bei einigen Kindern an der Kippe zwischen
rangig an Geschwister, 60 Prozent nach Kri- zwei Schulformen sei die Stressbelastung
terien der Schule vergeben. »von einer Gefährdung des Kindeswohls nicht
Bei schuleigenen Kriterien sind meist Zen- mehr weit entfernt«. Bis heute klagen baye-
suren ausschlaggebend. Einige Schulen setzen rische Eltern über das »Grundschul-Abitur«,
auf gute Noten in bestimmten Fächern, Ein- auch wenn einige Regeln aufgeweicht wurden.
gangstests oder musikalisches Vorspiel. Das In Berlin können letztlich die Eltern ent-
Käthe-Kollwitz-Gymnasium in Linas Nach- scheiden, wo sie ihr Kind anmelden; die Lehr-
barschaft hat ein Punktesystem entwickelt, kräfte sollen bis zum Schnitt von 2,7 eine
um bevorzugt Kinder aufzunehmen, die in Empfehlung fürs Gymnasium in Betracht zie-
Mathematik und Naturwissenschaften (NaWi) hen. Nur was nutzt das, wenn die Schulen
stark sind. Eigentlich Kinder wie Lina. keine freien Plätze haben? Werden Kinder
Ihre Tochter habe immer ein 1,0-Zeugnis abgelehnt, ist die Enttäuschung groß. Dazu
gehabt, sagt die Mutter. Das Lernen falle Lina kommt wochenlange Ungewissheit, wenn El-
leicht, und sie sei Mitglied in der Mathemati- tern dagegen klagen. Sein Sohn habe leichte
HCPlambeck / DER SPIEGEL

schen Schülergesellschaft. Die arbeitet mit dem Depressionen entwickelt, sagt ein Vater, kaum
Käthe-Kollwitz-Gymnasium zusammen. Aus- noch essen wollen, zu nichts mehr Lust gehabt.
gerechnet im ersten Halbjahr der 6. Klasse habe »Ich habe mein Kind nicht wiedererkannt.«
Lina in NaWi jedoch eine Zwei bekommen. Berliner Schul­
Katja Ahrens, Vorsitzende des Bezirks­
Das Bezirksschulamt wies Lina einen direktorin Schäffer elternausschusses Pankow, kennt etliche sol-
Schulplatz an der Grenze zu Brandenburg zu, cher Fälle: »Es ist jedes Jahr das gleiche Thea-

42 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

im Zweifel quer durch die Stadt. Auch dies kann

Kay Nietfeld/dpa
Quer durch die Stadt das Gerangel um Plätze verschärfen. Im ver-
gangenen Schuljahr pendelten 1206 Schülerin-
Anteil der Berliner Gymnasiasten/-innen, deren nen und Schüler an Gymnasien und 1237 an
Gymnasium nicht im eigenen Wohnbezirk liegt,
in Prozent, Schuljahr 2021/22 Integrierten Sekundarschulen aus anderen Be-
zirken nach Pankow – und fast doppelt so vie-
Gymnasiasten/-innen auf diesem Weg
le in umgekehrte Richtung. Insgesamt fuhren
900 48 %
450 Ric Tausende Kinder täglich durch Berlin. Unklar
Friedrichs- htu
1 hain- ng ist, wie oft dahinter der Wunsch der Eltern oder
de eine Entscheidung der Behörden steht.
Wohnort Schule Kreuzberg sS
ch Laut Schulsenat konnten zuletzt 91 Prozent
47 ul
Mitte der Schulwünsche erfüllt werden. Einige El-

w
tern gehen jedoch taktisch vor und wählen im

eg
s
32
Tempelhof-
Zweifelsfall eine Schule, in der mit einiger
Schöneberg ­Sicherheit ein Platz frei ist. Miriam Barton
ging davon aus, dass ihr Sohn mit einem
27 Schnitt von 1,5 an den beliebten Gymnasien
Lichtenberg
in Pankow keine Chance haben würde. Als
26
Erstwunsch gab sie deshalb das Felix-Mendels-
Neukölln sohn-Bartholdy-Gymnasium an. Der Standort
für die Klassen 7 bis 9 wirkt heruntergekom-
23 men, von den Wänden blättert der Putz. Weil
Charlottenburg-
Wilmersdorf
das Äußere viele Familien abschrecke, sei der
NC nicht so hoch, so Bartons Hoffnung.
20 Das Gymnasium am Europasportpark, ein
Pankow Plattenbau aus den Siebzigerjahren, konnte
20 alle Bewerber und Bewerberinnen aufneh-
84 men, erzählt Schulleiterin Katrin Schäffer.
Marzahn-
Schülerinnen und
Hellersdorf »Wir machen guten Unterricht, aber das Ge-
Schüler aus Steglitz-
Zehlendorf gehen 13
bäude ist stark sanierungsbedürftig.« In vielen
im Bezirk Mitte aufs Spandau Räumen lasse sich nur ein Fenster sicher öff-
Gymnasium. nen. Eigentlich sollte die Schule schon 2016
12 saniert werden, nun werde es erst 2026 so
Treptow-
Köpenick weit sein. »Hätte man früher angefangen, hät-
Ri

ten wir in diesem Schuljahr noch eine weitere


ch

un 9
t

g
de Steglitz- 7. Klasse aufmachen können«, sagt Schäffer.
sS Zehlendorf Sanierung und Neubau von Schulen wurden
ch 923
ulw 5 in Berlin jahrelang vernachlässigt. Mancher-
egs Schülerinnen und Schüler,
Reinicken- die im Bezirk Mitte wohnen,
orts sind deshalb Plätze rar. In Pankow fehlten
dorf besuchen ein Gymnasium in diesem Jahr auch nach der berlinweiten Aus-
S Quelle: Senatsverwaltung für
gleichskonferenz noch 175 Plätze an Gym­
‘

Bildung, Jugend und Familie in Berlin in Reinickendorf.


nasien, sagt Bezirksstadträtin Dominique
ter.« Immer wieder werden einigen Kindern im Zweifel in das nahe Latein-Gymnasium Krössin. »Mir tut das unglaublich leid.« Zuletzt
Plätze in anderen Bezirken zugewiesen. »Die- gehen, weil das nachgefragte Theater-Gym- seien pro Jahr rund tausend Schulplätze ge-
se Kinder werden entwurzelt.« Freundschaf- nasium zu weit weg ist. schaffen worden, aber das reiche nicht.
ten im Kiez, Hobbys im Verein – all dies sei In Berlin sei das Wohnortprinzip vor mehr 2016 hat die Stadt eine Schulbauoffensive
für sie schwierig aufrechtzuerhalten. Zudem als zehn Jahren zu Recht abgeschafft worden, gestartet. 2,9 Milliarden Euro seien bisher
würden Klassen an Gymnasien mit bis zu findet Ralf Treptow, Schulleiter am Rosa-Lu- investiert worden und rund 25 000 neue
32 Kindern vollgestopft. Ahrens findet den xemburg-Gymnasium in Pankow. »Jedes Kind Schulplätze entstanden, teilt die Senatsver-
starren Fokus auf die Noten bei der Vergabe- muss die Freiheit haben, eine Schule nach waltung für Bildung mit. Weitere 31 000 Plät-
praxis der Schulen fragwürdig, weil dies zu seinen Interessen zu wählen.« Für freiwillige ze sollen demnach bis zum Schuljahr 2026/27
»Elitenbildung« führe. Warum, sagt sie, könne Wechsler nach Klasse 4 hat Treptow Schnell- geschaffen werden. »Das Bauen dauert«, sagt
nicht die Wohnortnähe ausschlaggebend sein? lerner-Klassen eingerichtet. Der letzte Abi- Krössin. Der Bezirk sei auf Gelder der Stadt
Gibt es an einer Schule in Hamburg mehr Jahrgang seines Gymnasiums erzielte die und das Zusammenspiel mehrerer Senatsver-
Interessenten als Bewerber, werden vorrangig beste Durchschnittsnote Berlins: 1,66. waltungen angewiesen, doch dort werde ge-
Härtefälle, Geschwister und Kinder mit dem Sein Gymnasium vergibt die meisten Plät- rade auf die Bremse getreten.
kürzesten Schulweg aufgenommen. Meist ze an Kinder mit den besten Noten. Das Ver- An einem Freitag im Februar weiß Matthias
können 95 Prozent der Erstwünsche erfüllt fahren sei transparent und halte juristischen Holtmann, Leiter der Max-Beckmann-Ober-
werden. Auch dieses Prinzip hat jedoch Tü- Klagen am ehesten stand, sagt Treptow. Die schule in Reinickendorf, dass er nicht mal
cken. Die Klientel der Schulen spiegelt die Elitenbildung verteidigt er: »Wir dürfen nicht die Hälfte der 346 Bewerberinnen und Be-
Sozialstruktur des Stadtteils wider: Reiche der Ideologie nachhängen, alle Kinder müss- werber aufnehmen kann – und müht sich um
bleiben unter sich, sozial Schwächere ebenso. ten gleich behandelt werden.« Dass er über ein kinderfreundliches Verfahren. »Wir ver-
Außerdem sollen Schulen, so ist es politisch das Losverfahren im Zweifel auch Kinder mit suchen die Rolle der Noten möglichst klein-
gewünscht, Profile entwickeln, also Schwer- 4,0-Schnitt aufnehmen muss, findet Treptow zuhalten.« Zudem hat Holtmann alle Kinder
punkte etwa im künstlerisch-musischen Be- »absurd«, weil sie den Anforderungen oft zu Einzelgesprächen mit ihm oder einem
reich oder bei Naturwissenschaften setzen. nicht gewachsen seien. Kollegen eingeladen. Er will ihnen Wertschät-
Wenn Plätze aber nach Wohnort vergeben Dass ihr Kind eine »gute Schule« besucht, zung entgegenbringen.
werden, muss ein Kind mit Schauspieltalent ist vielen Eltern wichtig, sie schicken es dafür Silke Fokken  n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

Region am liebsten wieder selbst re­


gieren würde. Das Haus Reuß hat sich
von dem »entfernten« Verwandten
inzwischen distanziert. Es beschreibt

»Schwer diktatorisch«
den Adelsspross als »teilweise ver­
wirrten« alten Mann, der »verschwö­
rungstheoretischen Irrmeinungen«
aufgesessen sei.
Der Facebook-Eintrag hatte Wei­
KOMMUNEN  Wie tief weltfremde Wirrköpfe in manchen Gegenden gelt in diesem Jahr ein Abwahl­
verfahren eingebracht. 1118 Bad Lo­
Deutschlands auch in der Politik verankert sind, zeigt der Fall bensteiner stimmten im Juli für den
eines Thüringer Bürgermeisters – der es dann aber doch übertrieb. Rauswurf des Stadtchefs, 977 da­
gegen. Nur waren viel zu wenige
Menschen an die Wahlurne gegangen.

V Der einstige
ernichtender kann man einen kesselt, was nach der »Genfer Kon­ Weigelt blieb im Amt und versprach,
Bürgermeister kaum abwat­ vention« verboten sei. sich »nicht mehr zur Weltpolitik zu
schen. Der Beamte habe sich CDU-Mann In der Disziplinarakte liegt auch äußern«.
»in einem hohen Maße als unzuver­ befand, die ein Facebook-Eintrag Weigelts aus Doch die Rechtsaufsicht grub wei­
lässig erwiesen«. Es sei ein »endgül­
tiger Vertrauensverlust« eingetreten,
Regierung diesem Jahr, in dem »eine systema­
tische Ausplünderung des Volkes
ter und fand Fälle, die zeigen, wie
hemdsärmelig da agiert wurde. Mal
man müsse davon »ausgehen, dass habe das durch die Regierung« behauptet betrieben Mitarbeiter der Stadt einen
auch zukünftig mit Dienstvergehen »Volk aufge­ wird, durch eine Regierung, die ihr Weinstand der Winzergenossen­
zu rechnen ist«. Kurzum: Zu be­ Volk »aufgegeben und verraten hat«. schaft, weil dieser das Personal aus­
fürchten sei eine »nicht wiedergut­
geben und Es ist die Rede von einer Corona- gegangen war. Der Einsatz wurde als
zumachende Ansehensbeeinträchti­ verraten«. Lüge, einer Lüge zum Russlandkrieg, Arbeitszeit angerechnet. Mal wurde
gung des Berufsbeamtentums«. einer Energielüge und »der Lüge einem Hotel Geld zugeschoben, da­
Zu diesen Einschätzungen kommt zum Weltklima«. Juristen sehen da­ mit es auch künftig drei Sterne vor­
nicht der politische Gegner von rin eine Diffamierung von Verfas­ weisen konnte.
Thomas Weigelt, sondern die zu­ sungsorganen. Der Aufsichtsbehörde sagte der
ständige Rechtsaufsichtsbehörde. Die Gedankengänge passen gut zu Bürgermeister, mit dem Einsatz am
Weigelt amtierte seit 2012 als partei­ einer Region, in der eine Truppe mit Weinstand habe er das Marktfest ret­
loser Bürgermeister der thüringi­ dem Namen »Thosa« das Klima auf ten wollen, bei dem Hotel sei es ihm
schen Kurstadt Bad Lobenstein – bis Corona-Demonstrationen prägte. einzig um den Status als Kurstadt ge­
ihn das Landratsamt Saale-Orla- Thosa ist die Abkürzung für »Thürin­ gangen. Weigelts Anwalt erklärt, man
Kreis Ende August vorläufig des ger Oberland steht auf«, eine Vereini­ halte all die Vorwürfe »nicht für trag­
Dienstes enthob. gung, die sich selbst auch »Querden­ fähig«, werde sich aber im Hinblick
Der einstige CDU-Mann, laut sei­ ken-366« nennt – nach der Vorwahl auf das laufende Verfahren zur Sache
nem Xing-Profil früher Küchen-Ein­ von Bad Lobenstein, einer Kleinstadt nicht äußern.
richtungsberater, war einige Tage zu­ mit 5800 Einwohnern. Und dann war da dieser Streit mit
vor bundesweit bekannt worden. Deren bisheriger Bürgermeister dem Lokaljournalisten, der sich über
Weigelt soll einen Lokaljournalisten lud gern auch Heinrich XIII. Prinz Jahre kritisch mit dem Rathauschef
auf einem Marktfest tätlich angegrif­ Rathauschef Weigelt:
Reuß ein, der im benachbarten Saal­ auseinandergesetzt hatte. Weigelt be­
fen haben, was er trotz eines ein­ Ein Beamter, der dem burg ein Jagdschloss besitzt und die hauptet, er habe den Zeitungsmann
drucksvollen Videos des Vorfalls be­ Beamtentum schadet einst verlorenen Latifundien in der nicht berührt. Für die Rechtsaufsicht
streitet. ist der Fall eindeutig: Der Bürger­
Nun läuft ein umfangreiches Dis­ meister habe »mit nicht unerheb­
ziplinarverfahren gegen den Mann, licher Kraft« die Kamera zur Seite
die Dienstvergehen in seiner Amts­ gedreht und den Mann nach hinten
zeit sind offenbar weit vielfältiger. geschoben. Die Kamera sei auf den
Und sie werfen ein Schlaglicht auf Boden gefallen, der Aufprall zu hö­
eine Region in Thüringen, die Sicher­ ren gewesen. Laut Presseberichten
heitsbehörden als Kern einer Szene habe sich der Journalist bei der
aus »Reichsbürgern«, »Querden­ ­Aktion verletzt.
kern«, Esoterikern und AfD-Anhän­ Weigelt darf nun vorläufig seine
gern bekannt ist. Amtsgeschäfte nicht mehr ausüben.
Erste Hinweise auf krude Gedan­ Das Landratsamt Saale-Orla-Kreis
ken des Politikers fand die Aufsicht kürzte ihm die Bezüge zur Hälfte.
auf einem YouTube-Kanal mit dem Man gehe davon aus, dass der Mann
Namen »Anni und Martin«. Es geht nicht Beamter bleibt. Der Bürger­
um Corona und die Proteste gegen meister hat sich inzwischen fach­
die Maßnahmen, Weigelt sagt dort kundigen rechtlichen Beistand
Ende 2021: »Momentan bewegen wir ­geholt. Anwalt Björn Clemens aus
uns ja in Deutschland, ja, wie soll ich Düsseldorf, einst Mitglied der Repu­
es sagen, in schwer diktatorischen … blikaner, verteidigt als Anwalt
Bereichen, die mir als Bürgermeister Rechtsextremisten, zuletzt im Mord­
OTZ / FUNKE

insgesamt auch Sorge bereiten.« Poli­ fall Walter Lübcke.


zisten hätten Demonstranten einge­ Steffen Winter  n

44 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

Der Vollstrecker
STRAFJUSTIZ  Warum wurden in Rheinland-Pfalz eine
Polizeianwärterin und ihr Kollege kaltblütig erschossen?
Der mutmaßliche Doppelmörder geriert sich
im Gerichtssaal als rechthaberisch und abgebrüht.
Er spricht von Notwehr.

Thomas Lohnes / Getty Images


Straßensperre nahe Tatort bei Kusel

A
ndreas S. hat sich durchgesetzt. So ist zweiten Einsatz, in Hand, Arm, Gesicht. Er zisten orientiert, er behauptet: »Schuss Num-
er es gewohnt. Er hat gesagt, was ge- ist 29, sie 24 Jahre alt. Beide sterben. mer 20 war von mir, Schuss Nummer 13 bis
macht werden muss, und dann wird Seit Juni sitzen die »dubiosen Personen« 19 waren vom Herrn K.«
das so gemacht. Im Saal 1 des Landgerichts in Saal 1 auf der Anklagebank. Andreas S. ist Andreas S. gefällt sich in der Rolle des
Kaiserslautern bedeutet das: Auf sein Drän- angeklagt wegen zweifachen Mordes an den Sachverständigen. Tonaufnahmen einer
gen hin werden noch einmal die letzten Wor- Polizisten. Sein Kumpel Florian V. soll ihm Überwachungskamera, etwa einen Kilometer
te des Polizeioberkommissars Alexander K. geholfen haben, Spuren zu beseitigen; er ist vom Tatort entfernt, haben alle Schüsse do-
vorgespielt. angeklagt wegen versuchter Strafvereitelung kumentiert. S. doziert ausführlich, welcher
Der erste Funkspruch des Beamten klingt und wie S. wegen Jagdwilderei in einem be- Schuss seiner Meinung nach wann wo ein-
routiniert. 31. Januar, 4.19 Uhr, auf einer sonders schweren Fall. Zweimal werden im schlug. Er redet und belehrt, als ginge es um
Kreisstraße zwischen zwei kleinen Orten in Prozess die Funksprüche abgespielt, weil An- einen technischen Vorgang, nicht um den Tod
Rheinland-Pfalz: »Dubiose Personen mit viel dreas S. etwas anderes gehört haben will, als zweier Menschen.
Wild im Laderaum«, meldet er an seine der Polizist in seinen letzten Minuten gesagt Es sind irritierende Szenen, die sich vor
Dienststelle in Kusel, er kündigt eine Kon­ hat. Der Zuschauerraum ist voll besetzt, die Gericht abspielen und die Abscheulichkeit
trolle an. Der zweite Funkspruch, keine zwei Stille davor und danach schwer auszuhalten. einer Tat in den Fokus rücken, die bundesweit
Minuten später: Panik, Todesangst. »Kommt Am neunten Verhandlungstag will der Vor- für Aufsehen sorgte. Die Polizeianwärterin
schnell! Die schieße’, die schieße’!« Knall­ sitzende Richter Raphaël Mall erneut wissen, und der Polizist ahnten anscheinend keinen
geräusche. Der Polizist feuert das Magazin wo genau der Beamte Alexander K. stand, Angriff, als sie ausstiegen, sie hatten nur Ta-
seiner Dienstwaffe leer. 14 Schuss. Er selbst als die Schüsse fielen. S. lehnt sich nach vorn, schenlampen in der Hand. Yasmin B. trug ihre
wird mehrfach getroffen, in Gesäß, Arm, Rü- antwortet eilig: »Auf der Straße. Ich vermute, Waffe noch im Holster, als ihre Kollegen sie
cken, Bauch, Brust und Kopf; seine Kollegin dass das der Bauchschuss war.« Er selbst habe tot fanden. Jemand hatte ihr aus kurzer Dis-
Yasmin B., eine Polizeianwärterin in ihrem sich »am letzten Mündungsfeuer« des Poli- tanz ins Gesicht geschossen.

46 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

Wer tut so etwas? Und warum? ins Gesicht zu schießen? Feuerte er Zum frühestmöglichen Zeitpunkt
Nach Ansicht der Staatsanwalt- gezielt auf ihren Kollegen, der flüch- absolvierte er den Jagdschein, damals
schaft war es Andreas S., 39, ein in- tete? Vor allem aber: Warum hätte S. war er 16 Jahre alt. Fünf Jahre später
solventer Bäckermeister aus dem töten sollen? Auf Jagdwilderei stehen pachtete er sein erstes Jagdrevier.
saarländischen Spiesen-Elversberg, in besonders schweren Fällen maxi- Dort kam es im Oktober 2004 zu
Vater von vier Kindern. Ein passio- mal fünf Jahre Freiheitsstrafe, Mord einem Unglück: S. schoss mit der Flin-

Polizeipräsidium Westpfalz
nierter Jäger mit Hang zur Wilderei, heißt lebenslang. te auf Hasen und traf einen Kamera-
der mit seiner illegalen Beute Im Gericht erscheinen frühere Ge- den. Er wurde wegen fahrlässiger Kör-
schwunghaften Handel trieb. Laut schäftspartner von S., Fleischer aus perverletzung verurteilt und musste
Anklage soll er die Polizisten in jener der Region, Jäger, Jagdpächter, Ka- Bäckermeister
Waffen und Jagdschein abgeben, al-
Nacht erschossen haben, damit seine meraden aus dem Schützenverein, Andreas S. lerdings erst 2008. S. hatte sich ge-
Wilderei unentdeckt blieb. Jugendfreunde, der ehemalige Klas- wehrt, Widerspruch eingelegt und war
S. spricht von Notwehr. Am ersten senlehrer. Aus ihren Aussagen ent- vor Gericht gezogen und weiter zur
Prozesstag überrascht er mit einer steht das Bild eines Mannes, der zu Ließ sich S. Jagd gegangen, die Flinte meist unter
anderen Version des Tathergangs: Er viel wollte. Sein Vater starb, als S. einem langen grünen Mantel. »Er
habe mit seinem Gewehr dreimal auf 13 Jahre alt war. Er lernte Bäcker, be-
als »Copkiller konnte sehr schnell schießen, sehr prä-
den Oberkommissar geschossen, ja, suchte die Meisterschule und über- im Knast« zise, sehr schnell nachladen«, sagt ein
aber nur damit dieser aufhöre, auf ihn nahm 2016 den Betrieb von seiner feiern? Bekannter. »Verblüffend war das.«
zu schießen. Sein Kumpel V. habe die Mutter. Seine Devise, so beschreibt Im Juni 2012 erhielt S. seinen Jagd-
Verteidiger von V.
Polizeischülerin getötet, mit einer ab- es der Leiter der Bäckerakademie: schein zurück, dafür prüfte die Be-
gesägten Flinte. Die Beamten will er »Revolution statt Evolution.« hörde seine Zuverlässigkeit erneut,
für Jagdpächter gehalten haben, bis Als Chef trat S. energisch auf, wer er musste ein polizeiliches Führungs-
er vor ihren Leichen stand. Die bei- »auf krank machte«, bekam Ärger. zeugnis vorlegen, der Verfassungs-
den trugen Uniform. Ratschläge kanzelte er ab, wusste al- schutz hatte keine relevanten Informa-
Man sei davon ausgegangen, dass les besser. Ein Freund beschreibt ihn tionen zu S. Wer einen Jagdschein hat,
S. ein Geständnis ablege oder die Vor- als manipulativ, ein anderer als be- ist berechtigt, Waffen zu erwerben.
würfe bestreite, sagt Rechtsanwalt triebswirtschaftlich unbelehrbar. S. Laut Deutschem Jagdverband be-
Kai-Daniel Weil, der die Angehörigen betrieb 21 Bäckereifilialen und Ver- saßen mehr als 403 420 Deutsche im
des getöteten Beamten vertritt. Dass kaufswagen mit bis zu 100 Angestell- Jahr 2021 einen Jagdschein, Tendenz
S. gesteht, in dem einen Fall geschos- ten. Nach vier Jahren ging er pleite. steigend. Sie erlegen legal über zwei
sen zu haben, es in dem anderen je- Andreas S. selbst schildert die Millionen Wildtiere pro Jahr. Das Bun-
doch bestreitet, erstaune sie bei der Niederlage als Glücksfall: Für wenig deskriminalamt zählt jährlich um die
Spurenlage. Geld habe er aus der Insolvenzmasse tausend Fälle von Jagdwilderei. Dieser
Die deckt sich mit den Angaben Inventar zurückgekauft. Er sei zwar Fall sei einzigartig, sagt Verbandsspre-
des mitangeklagten Jagdhelfers Flo- mittelos gewesen, aber habe sich zu cher Torsten Reinwald, im Hinblick
rian V. Die Ermittler halten sie für helfen gewusst und über seine Frau auf die Kaltblütigkeit der Tat und auf
glaubhaft. Demnach war V. dabei, ein eine neue Firma gegründet. Mit der die Dimension der Wilderei mit dem
getötetes Wildschwein einzusam- seien sie zwar auch gescheitert, aber professionellen Handel, den Andreas
meln, als die beiden Beamten S. auf- nur pandemiebedingt. Es klingt über- S. betrieben habe. 2020 scheiterte S.
forderten, Ausweis und Führerschein heblich für jemanden, der 2,4 Millio- bei der Verlängerung seines Jagd-
vorzuzeigen. Die Papiere wurden nen Euro Schulden hatte. scheins – und jagte anschließend ohne
später am Tatort gefunden. Auch was das Jagen angeht, war Erlaubnis weiter. Seine Pistolen und
Die Anklage schildert den Ablauf S. ehrgeizig. Schon mit sechs Jahren Gewehre hatte seine Frau angemeldet.
so: Bei der Kontrolle entdeckte der durfte er den Vater auf die Jagd be- »Das deutsche Reviersystem ist ein
Beamte 22 erlegte Tiere im Laderaum gleiten, auf dessen Zigarettenschach- guter Schutz und erschwert die Wil-
des Kastenwagens und ging zurück teln schießen. Er erzählt es detailreich derei«, sagt Reinwald. Die Pächter
zum Polizeiwagen. S. griff sich seine im Gericht. Nicht ohne Stolz behaup- Vorsitzender der einzelnen Jagdreviere kennen
Richter Mall (M.):
Flinte, feuerte auf die Polizeian­ tet er, im Alter von zehn Jahren auf »Aber Sie kennt
sich untereinander, ein fremdes Fahr-
wärterin, dann auf ihren Kollegen. jedes erdenkliche Tier geschossen zu ganz Deutschland, zeug zu ungewöhnlicher Zeit in einem
Während des zweiten Funkspruchs haben. Herr S.« Jagdrevier falle schnell auf. Zudem
wechselte S. die Waffen: Mit seinem sei es schwierig, illegales Wild an den
Jagdgewehr samt Wärmebildnacht- Mann zu bringen. »Die lückenlose
sichttechnik schoss er zwei weitere Rückverfolgung von Wild – was aus
Male auf den Beamten, lief zu ihm, welchem Revier kommt – fordert der
schoss ihm von unten in den Kopf und Gesetzgeber. Veterinärämter kontrol-
später der Polizistin mit der Flinte lieren stichprobenartig.«
noch einmal ins Gesicht. Das klingt im Gericht in Kaisers-
Die Verteidigung spricht von Vor- lautern anders. Den Menschen, mit
verurteilung und Stimmungsmache. denen S. Geschäfte machte, scheint
Andreas S. sei von Beginn des Ver- es egal gewesen zu sein, woher das
fahrens an zur »Bestie« stilisiert wor- Fleisch stammte, das er ihnen ver-
den, so sein Anwalt Leonard Kaiser. kaufte. Wildhändler und Metzger ge-
Die 4. Strafkammer muss nun klä- ben zu, sich damit zufriedengegeben
ren, was sich in jener Nacht zutrug. zu haben, wenn S. schwadronierte,
Uwe Anspach / dpa

Wie kam es zum Schusswechsel? Wer die Unmengen Wild habe er in Frank-
stand zu welchem Zeitpunkt wo? reich geschossen.
Drehte S. die schwer verletzte Polizei- Ein Ermittler für Wirtschaftskrimi-
anwärterin um, um ihr noch einmal nalität rechnet der Strafkammer vor,

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 47


DEUTSCHLAND

dass S. mit der Wilderei monatlich lich. Seine Rechnung geht auf. In der
12 000 Euro verdiente. S. scheint Wohlfühlatmosphäre spricht S. gern,
leichtes Spiel gehabt zu haben, seine bevor er nachdenkt.
Geschäftspartner zu blenden. So beschreibt er am 12. Verhand­
Oder liegt es an seiner manipu­ lungstag, wie er im Gefängnis isoliert
lativen, narzisstischen Persönlichkeit, und provoziert werde. Richter Mall
die ein anderer Kriminalbeamter erwägt eine mögliche Verlegung:
bei S. erkennen will? Der Beamte »Aber Sie kennt ganz Deutschland,
spricht von einem Muster: Der Herr S.« Andreas S. nickt und sagt:
39-Jährige umgebe sich gern mit »le­ »Aber irgendwann ist auch meine Ge­
bensälteren Personen aus dem Jagd­ duld am Ende. Dann eskaliert’s. Der
bereich«. »Tie­fer­gehende Bindun­ Letzte, der mich herausgefordert hat,
gen« seien S. fremd, Freunde wähle hat das nicht überlebt.« Ein Satz, der

Harald Tittel / dpa


er nach dem »Nützlichkeitsprinzip«. im Raum stehen bleibt. Meint er den
Er könne »freundlich und kontakt­ Polizisten bei Trauerfeier getöteten Oberkommissar?
für getötete Kollegin
freudig« auftreten oder »cholerisch Von S. kommt kein Wort des Be­
und aggressiv«. dauerns, keine Geste des Mitgefühls.
Hinzukommt sein Waffenfimmel. »Der Letzte, Andreas S. scheint all das am Ende Er gibt zu, seine Prozessakte im Ge­
Sie seien eine »narzisstische Prothe­ gleichgültig gewesen zu sein. Im Ge­ fängnis herumgereicht zu haben. Ein
se«, ein Machtinstrument für Men­ der mich richt zitiert ein Kriminalhauptkom­ interessanter Vorgang für jemanden,
schen wie Andreas S., sagte Peter herausgefor- missar aus Chatnachrichten, in denen der sich in der Haft ausgegrenzt fühlt.
Winckler, seit mehr als 30 Jahren Ge­
richtspsychiater und forensischer
dert hat, S. gegenüber Händlern prahlte: »Al­
les Kopfschuss, natürlich!« Der Poli­
Ließ er sich etwa als »Copkiller im
Knast« feiern, wie Florian V.s Ver­
Gutachter, dem SPIEGEL . Man müs­ hat das nicht zist spricht S. direkt an: »Tja, Kopf­ teidiger in der Verhandlung behaup­
se allerdings differenzieren zwischen überlebt.« schuss ist Ihre Visitenkarte.« tet? Ein Mithäftling soll inzwischen
Jägern und Wilderern. Andreas S. nimmt es als Kompli­ im Besitz eines Fotos sein, das
Angeklagter S.
Eine Grenze, die Andreas S. ir­ ment. Er rühmt seine Vorgehenswei­ den Leichnam der getöteten Polizis­
gendwann überschritten hat. Aus­ se, weil er so möglichst viel unbeschä­ tin Yasmin B. zeigt. Für ihre Familie
gerechnet der Mann, der so vielen, digtes Fleisch verkaufen konnte. Er eine weitere Zumutung. Man werde
die im Prozess befragt werden, im­ räumt ein, in großem Stil gewildert sich »nicht alles bieten lassen«, sagt
ponierte – als versierter Jäger und zu haben. Aber nicht für so viel Geld, Olaf Möller, Anwalt der Familie B.,
erfahrener Schütze. Man habe von wie von dem Ermittler errechnet. In und kündigt eine Strafanzeige gegen
ihm mehr lernen können als in der erster Linie habe die Familie von sei­ S. an.
Jagdschule, sagt einer. S. legte dem­ nem Arbeitslosengeld, dem Kinder­ Die Stimmung im Gerichtssaal ist
nach viel Wert auf Tradition und geld für seine vier Kinder und dem aufgeheizt. Das liegt auch an S.’
Brauchtum bei der Jagd. Vielen galt Gehalt seiner Frau gelebt. Auftreten, die vom Gericht bestellten
S. als Leistungs­träger im Schützen­ Das widerspricht einer Nachricht, psychiatrischen Gutachter im Saal
verein, behutsamer Kümmerer, ge­ die S. einem Metzgerssohn schickte. machen sich Notizen, S. hat sich nicht
wissenhafte Aufsichtsperson. »Er Darin schreibt er, er betreibe die Jagd explorieren lassen. Sie registrieren
konnte sich immer durchsetzen«, be­ inzwischen wie einen »richtigen Be­ sein Überlegenheitsgetue, seine Bes­
tont ein befreundeter Rentner. Wer ruf«, vorwiegend in Frankreich. »Hier serwisserei. Dem Oberstaatsanwalt
die Regeln brach, sei von S. einge­ nennen sie mich den Exécuteur.« Den Stefan Orthen platzt in regelmäßigen
nordet worden. Vollstrecker. Abständen der Kragen: »Sie sind An­
S. habe wohl zwei Gesichter ge­ Rückblickend wirkt es so, als wäre geklagter in einem Mordprozess!«
habt, sagt ein Metzger, das zweite S. stolz darauf gewesen, dass man ihn Ermahnungen, die S. an sich ab­
habe er vor dem Prozess nicht ken­ nicht bremsen konnte. Ein Jäger er­ tropfen lässt. Er scheint guter Dinge,
nengelernt. Der Mann erinnert innert sich, wie S. großspurig ankün­ eine hohe Strafe abwenden zu können.
sich an eine rückblickend schicksals­ digt habe, er werde sich »den Weg Sollte er wegen zweifachen Mordes
hafte Begegnung: Auf seinem Hof freischießen«, sollte ihn jemand stop­ verurteilt werden, könnte das Gericht
seien sich der Vater des später ge­ pen wollen. neben einer lebenslangen Freiheits­
töteten Oberkommissars und S. ein­ S. sagt im Gericht, er habe immer strafe auch die besondere Schwere der
mal begegnet. S. habe Wildfleisch Wildbeute vor dem davon geträumt, Scharfschütze bei Schuld feststellen und eine Sicherungs­
Wohnhaus des
abgeliefert. Die beiden Männer sol­ Tatverdächtigen: der Bundeswehr zu werden. Kom­ verwahrung anordnen. S. könnte für
len an­einandergeraten sein, weil der 12 000 monatlich pensierte er mit der Jagd nach Wild Jahrzehnte hinter Gittern landen.
Vater die Art kritisierte, wie S. Wild mit erlegten Tieren die verpasste Chance? Stolz be­ Ein Forstbeamter im Ruhestand
verdient
erlegte: grundsätzlich nur per Kopf­ schreibt er im Gericht seine Ausstat­ kennt die Familie S. seit den Siebzi­
schuss. tung, darunter das Wärmebild-Ziel­ gern. Als Gerüchte aufkamen, S. wil­
Das ist gegen Standards bei der fernrohr für angeblich 12 000 Euro. dere, knöpfte er ihn sich vor: »Wenn
Jagd, sagt Verbandssprecher Rein­ Es wirkt so, als suchte er Anerken­ das stimmt, hau ich dir in die Fress’!«
wald. Bereits in der Jägerausbildung nung und Wertschätzung, selbst hier Andreas S. habe es vehement bestrit­
sei es oberstes Gebot, bei einem Tier im Gericht. ten. Der väterliche Freund schaut ent­
auf den Brustkorb zu zielen und da­ Richter Mall lässt S. gewähren. Der täuscht zur Anklagebank. Er habe ihn
mit Herz und Lunge zu treffen, also gebürtige Saarländer weiß, wie er den gewarnt, ihn an seine Kinder erinnert.
möglichst nur einen tödlichen Schuss Hauptangeklagten, ebenfalls im Saar­ »Ich sagte: Sonst müssen die dich im
abzugeben, um dem Tier Qualen zu land geboren, zum Plaudern bringt: Gefängnis besuchen.«
ersparen. Alles andere widerspreche Mall verkneift sich nicht sein heimat­ Seine Frau hat inzwischen die
dem Tierschutz und berge das Risiko, liches Idiom, macht kumpelhafte Scheidung eingereicht.
privat

Unbeteiligte zu gefährden. Scherze, duzt scheinbar unabsicht­ Julia Jüttner n

48 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

Bafög erhöht, die enthaltene Wohn-


kostenpauschale stieg von 325 auf
360 Euro. Doch einmal abgesehen
davon, dass nur elf Prozent der Stu-

Tränen am Telefon
dierenden Bafög erhalten: Die Pau-
schale reicht laut MMI an knapp zwei
Drittel der Standorte nicht für ein
durchschnittliches WG-Zimmer. Da-
ran wird das nun geplante Entlas-
WOHNEN  Die Kosten für WG-Zimmer in den Hochschulstädten steigen rasant. tungspaket der Ampel, einmalig 200
Studierende fluchen, jobben, verzweifeln – oder ziehen um. Euro für Studierende, wenig ändern.
Die frühere Bundesforschungsmi-
nisterin Anja Karliczek (CDU) sagte

A
ltbau, 31 Quadratmeter, die mer 21,8 Prozent mehr einplanen als einmal, Studierende müssten »ja nicht
Holzdielen mehr als ein Jahr- Durch die vor einem Jahr, im Schnitt nun 335 in die teuersten Städte gehen«. Wie es
hundert alt und leicht ausgetre- Decke Euro. Dahinter folgen Lüneburg (plus aktuell aussieht, können sich viele
ten. Die Warmmiete, 350 Euro, konn- 18,2 Prozent auf 390 Euro) und Erlan- nicht einmal die Mittelklasse leisten.
te sich Annalisa Lotz »gut leisten«, Hochschulstandorte gen (plus 17,9 Prozent auf 448 Euro). Ein weiterer Faktor treibt die Prei-
wie sie sagt. Konnte. Vergangenheit. in Deutschland mit Stefan Brauckmann, Geschäftsfüh- se: Nach den bisherigen Coronawel-
den höchsten Warm-
Bis im Sommer eine Nachricht des mieten für ein neu render Direktor des MMI, führt den len steigt die Nachfrage. »Wegen der
Vermieters bei der Vierer-WG in Er- vermietetes WG- außergewöhnlichen Anstieg zu einem Lockdowns wohnte ein Teil der Stu-
furt eintrudelte: »Anpassung der Mie- Zimmer*, in Euro großen Teil auf die Energiekosten zu- dienanfänger weiter im Elternhaus,
te an die Inflation«. Sie sollte 50 Euro rück. Wer derzeit umziehe und einen um Kosten zu sparen – und weil das
mehr bezahlen, auch die Miete der 2022 2013 neuen Vertrag brauche, zahle deutlich Campusleben ohnehin brachlag«,
Mitbewohner erhöhte sich. »Wir München höhere Tarife. »Mancher Vermieter sagt Brauckmann. In diesem Jahr sei-
dachten: Mist, wie machen wir das – 700 setzt die Abschläge mit Blick auf den en die jungen Menschen in größerer
und schaffen das alle?« 499 Herbst und Winter zudem bereits im Zahl an den Studienort gezogen. »Ein
Lotz, die Internationale Beziehun- Vorfeld höher an«, sagt Brauckmann. Nachholeffekt«.
gen und Sozialwissenschaften stu- Frankfurt am Main »Darum steigen die Wohnkosten auch Gleichzeitig hatten einige Bundes-
diert, schaffte es nicht: Die gestiegene 580 in solchen Regionen stark, in denen länder wegen der Pandemie die Re-
Kaltmiete, die Aussicht, drei Meter 400 die Kaltmieten noch moderat sind gelstudienzeit verlängert. Prüfungen
hohe Räume im Winter beheizen zu Berlin
und der Wohnungsmarkt weniger an- wurden coronabedingt verschoben,
müssen, und Mitbewohner, denen sie 550
gespannt ist als in den Metropolen.« das Studium zog sich in die Länge.
nicht vorschreiben kann, Energie zu Die Mieten seien immerzu Thema »Deshalb wurde das Angebot an pas-
335
sparen – »das war zu viel«. Mitte Au- unter den Studierenden, erzählt An- senden Unterkünften zusätzlich ver-
gust zog sie aus. Hamburg nalisa Lotz aus Erfurt. Sie engagiert knappt«, sagt Brauckmann.
Wie Annalisa Lotz geht es derzeit 536 sich im Studierendenrat, dort be- Evelyn Ruf weiß, wie sich das an-
vielen jungen Menschen. Innerhalb 400 kommt sie mit, was ihre Kommilitonen fühlt. Anfang Oktober möchte die
eines Jahres sind die Warmmieten für umtreibt. »Eine WG nach der ande- 18-Jährige ihr Studium in Erfurt be-
bundesweiter Schnitt
WG-Zimmer im Schnitt um 44 Euro ren« erhalte Mieterhöhungen. Die ginnen. Eine Bleibe hat sie bisher
435
oder 11,4 Prozent gestiegen. Das geht steigenden Energiekosten seien davon nicht gefunden. Ruf kommt aus Ham-
324
aus dem Hochschulstädte-Scoring oft noch nicht abgedeckt. Manche wür- burg, in Erfurt kennt sie niemanden.
2022 des Moses-Mendelssohn-Insti- * durchschnittliche Preise
den zusätzliche Nebenjobs annehmen, »Ich habe auf jede Anzeige geantwor-
tuts (MMI) hervor. Die Studie lag auf Basis von Immobilien- andere bewürben sich auf Stipendien. tet, die ich online gesehen habe«, sagt
anzeigen
dem SPIEGEL exklusiv vor. Neulich habe eine Freundin unter Trä- Ruf. Badewanne? Muss nicht mehr
S Quelle: Hochschulstädte-
Ein Team um Studienleiter Steffen scoring; Stand: jeweils vor nen angerufen, sagt Lotz. »Die war sein. Balkon? Nett, aber nicht nötig.
Pollmann wertete Immobilienanzei- Beginn des Wintersemesters völlig fertig, weil sie nicht wusste, wie Für ihren Traumstudiengang Inter-
gen an allen 95 deutschen Hochschul- sie das alles bezahlen soll.« nationale Beziehungen ergatterte Ruf
standorten mit mehr als 5000 Ein- Das Bundesministerium für Bil- einen Nachrückerplatz. Das sei »gro-
wohnern aus. Demnach kostet das dung und Forschung hat kürzlich das ßes Glück«, sagt Ruf, »einerseits«.
durchschnittliche neu vermietete Weil sie ihre Zusage später erhielt,
WG-Zimmer in Deutschland in die- seien die günstigen Zimmer oft schon
sem Sommer 435 Euro einschließlich vergeben gewesen. »Ein Angebot
Heiz- und Nebenkosten. Strom und unter 400 Euro zu finden wird ver-
Internet kommen hinzu. dammt schwer.« Das Studentenwerk,
Besonders teuer lebt es sich in den wo sie um einen Wohnheimplatz bat,
Metropolen: In Hamburg stieg der schickte postwendend eine Absage.
Zimmerpreis von 500 Euro im Vor- 196 000 Plätze bieten die Studenten-
jahr auf 536 Euro. In Berlin legten die werke bundesweit, bei knapp drei
Preise um 55 Euro auf nun 550 Euro Millionen Studierenden hat nicht mal
zu. In München, auch in vorherigen jeder zehnte eine Chance.
Jahren einsamer Spitzenreiter des Immerhin: Einen Nebenjob hat
Gregor Schläger / DER SPIEGEL

Rankings, zahlen Neumieter rund Evelyn Ruf schon in Aussicht. »Ich


700 Euro – satte 80 Euro mehr. möchte meinen Eltern nicht zu sehr
Den prozentual höchsten Anstieg auf der Tasche liegen«, sagt sie. »Die
maßen die Analysten außerhalb der müssen ihre eigenen Rechnungen be-
Millionenstädte. In Erfurt müssen Studentin Lotz zahlen.«
Wohnungssuchende für ein WG-Zim- Florian Kistler, Miriam Olbrisch n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 49


DEUTSCHLAND

Danach, sagt sie, hätten die Bedro-


hungen begonnen. Einige hat sie mit
dem Handy aufgezeichnet. Die Do-
kumente mit ihren Anzeigen füllen

»Ich werde dich zerstören«


mittlerweile mehrere Leitz-Ordner.
4. 8. 2016: Nicolas T. beschimpft
seine Nachbarin und ihren Ehemann
durch das geöffnete Badezimmerfens-
ter als »Nazi-Schwein«, »Denunzian-
GESELLSCHAFT  In vielen Städten gibt es Menschen, die durch alle tensau« und »erbärmliches Drecks-
schwein«.
Raster fallen. So wie Nicolas T. aus Münster: Er besetzt Baukräne, hortet Müll, 28. 8. 2016: Die Nachbarin bringt
bedroht Nachbarn – und das seit vielen Jahren. Wie kann das sein? den Müll raus. »Komm mir nicht zu
nahe, Tante, dann bist du dran … Mit
so einem Geschmeiß wie dir werde ich

W
enn Nicolas T. sich in die zwei Beamte seine Einkaufswagen. wohl fertig … Du kriegst das gleich vor
Enge getrieben fühlt, klettert Also sitzt er wieder oben. den Kopf!« T. hält einen Bettpfosten
er nach ganz oben. Er sucht So wie 1998 auf einem Kran vor in seinen erhobenen Händen.
sich eine Baustelle, überwindet die dem höchsten Bürogebäude der Stadt. 28. 3. 2017: »Ich werde dich noch
Absperrung, geht zum Fuß des Krans 2004 auf einer Baustelle für ein Ein- fertigmachen. Ich werde dich zerstö-
und schwingt sich an den Gitterstre- kaufszentrum. 2018 auf einem Kran ren … Lass das Denunzieren sein!«
ben den Turm hinauf. Er verbringt in der Nähe der Psychiatrie. Oder Nicolas T. handelt nicht aus bösem
seine Tage dann in der Führerkabine 2020 am Düsseldorfer Hauptbahnhof. Willen. Zwischen ihm und seiner Um-
oder läuft auf dem Ausleger auf und Die Polizei sperrte damals zwei Gleise. welt steht das, was Psychiater eine
ab, lehnt sich über das Geländer und Der Fall von Nicolas T. ist mehr als schwere schizoide Persönlichkeitsstö-
brüllt Dinge wie: »Ihr Nazi-Schweine, eine Lokalposse, er könnte überall in rung nennen und sich vereinfacht so
ihr Verkommenen!« Deutschland spielen. Es ist die Ge- beschreiben lässt: Gleichgültigkeit
Münster in Westfalen, Südviertel, schichte eines Mannes, der durch alle gegenüber sozialen Beziehungen,
ein heißer Donnerstag im August: Ni- gesellschaftlichen Raster fällt. Doku- emotionale Kühle, eine ausgeprägte
colas T., ein hagerer Mann mit zotte- mentiert auf Hunderten Seiten Er- Kränkbarkeit. Sein wunder Punkt, so
ligem Haar, sitzt an der Spitze des mittlungsakten, psychiatrischen Gut- steht es in einem psychiatrischen Gut-
Krans und lässt seine Beine herunter- achten und Gerichtsurteilen. Wie geht achten, sei seine »My home is my
baumeln. Vierzig Meter unter ihm hat eine Gesellschaft mit Menschen um, castle«-Mentalität: die Freiheit, auf
das Ordnungsamt zwei Straßen an die nicht anpassungsfähig sind? Und seinem Grundstück bis zur Unbe-
einer Hauptverkehrsader sperren las- wie viel muss sie aushalten? wohnbarkeit zu lagern, was er mit
sen, vor dem Zaun versammeln sich Seit Nicolas T. auf dem Kran sitzt, viel Aufwand zusammengesucht hat.
Schaulustige. Das Bauunternehmen ist bei seiner Nachbarin wieder Ruhe Durch die Zwangsräumungen, für die
kostet jeder Tag, an dem Nicolas T. eingekehrt. Sie kann das Haus ver- er seine Nachbarin verantwortlich
den Kran besetzt, eine fünfstellige lassen, ohne auf ihrem Handy eine macht, fühle er sich schikaniert.
Summe. Er harrt jetzt schon seit dem Tonaufnahme zu starten. Und wenn Seine Nachbarin hat über die Jah-
18. Tag dort aus. Keiner weiß genau, sie zurückkommt, muss ihr Mann re zu sehr unter Nicolas T. gelitten,
wie er sich so lange da oben versorgt. nicht mehr die Tür für sie aufhalten, als dass sie Verständnis für ihn auf-
Nachbarn wollen beobachtet haben, damit sie schnell im Flur verschwin- bringen könnte. Sie hat eine einst-
wie er Regenwasser mit einem Eimer den kann. Weil sie noch immer Angst weilige Anordnung gegen ihn er-
auffängt. vor T. haben, kommen ihre Namen wirkt, in Gerichtsverfahren als Zeu-
Abseits der Baustelle sitzen drei in diesem Text nicht vor. gin ausgesagt, war Patientin in einer
Sicherheitsleute unter einem Sonnen- Die Siedlung in Münster-Kinder- Traumaambulanz. Sie sagt, manch-
schirm und warten, dass T. wieder haus, in der die beiden seit 43 Jahren mal habe sie das Gefühl, die Kletterei
absteigt. Ihn herunterzuholen hält die leben, in der sie ein Kind großgezo- auf den Kränen sei eine Metapher:
Polizei für zu gefährlich. An diesem gen haben und jetzt ihre Rente ge- »Nicolas T. scheint über allem zu
Morgen habe T. eine Plastikflasche nießen wollen, ist eigentlich eine schweben.«
mit Urin vom Kran geworfen, erzählt ­ruhige Gegend: Die Häuser haben Die Umstände, unter denen Men-
einer, »der Kollege ist nach Hause, Klinkerfassaden, die Hecken sind ge- schen gegen ihren Willen in eine psy-
duschen«. trimmt. Mit ihren Nachbarn hatten chiatrische Klinik eingewiesen wer-
Nicolas T. hat in Münster viele Na- sie bis auf eine Hauswand lange Jah- den können, regeln Landesgesetze.
men. Man nennt ihn hier den »Müll- re nichts gemeinsam. Es muss eine psychische Krankheit
sammler von Kinderhaus«, den »Ver- »Als zum ersten Mal Müllsäcke im oder Störung vorliegen, durch die der
rückten«, einen »Messi«. Seit Jahren
zieht er durch die Straßen, mit einem
»Jetzt geht Garten standen, dachte ich noch, die
räumen das Haus aus«, sagt die Frau
Betroffene sich selbst oder andere er-
heblich gefährdet. Es müssen erst Al-
Fahrrad oder einem Einkaufswagen, alles wieder heute. Da war Nicolas T. gerade ein- ternativen geprüft werden wie eine
und sammelt, was andere wegwerfen. von vorne los, gezogen. Er hatte das Haus zur Hälf- ambulante Betreuung. Und wenn
In seinem Reihenhaus in Münster- te geerbt und seinen Bruder ausbe- festgestellt wird, dass die Vorausset-
Kinderhaus reicht der Müll bis zur
der Müll, die zahlt. Im Garten türmten sich wenig zungen für eine Unterbringung nicht
Decke. Das Ordnungsamt ließ seinen Drohungen, später Lattenroste, Matratzen, Pfand- mehr erfüllt sind, muss der Betroffe-
Garten im April räumen. Nicolas T. die Ratten flaschen und Essensreste. Irgendwann ne sofort wieder entlassen werden.
nennt das Diebstahl. Aus Protest ver- kamen die Ratten. Die Nachbarin ließ Nicolas T. war bereits mehrmals in
brachte er acht Tage auf dem Kran im im Garten.« die Terrassentür nicht mehr offen ste- der Psychiatrie. Zum Beispiel 2016,
Südviertel. Im Juni beschlagnahmten Nachbarin hen und nahm sich einen Anwalt. nachdem er bei einer Zwangsräu-

50 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


DEUTSCHLAND

Etzkorn
Etzkorn

Etzkorn
Kletterer T., Entsorger, zugemüllter Garten: Er war mehrmals in der Psychiatrie, meistens wurde er nach wenigen Monaten entlassen

mung auf seine Nachbarin losgegangen war. Was T.s Psychiater als »querulatorische räder, die bei ihm sichergestellt wurden, wa­
Oder 2017, weil er bei der Polizei konkrete Tendenzen« bezeichnen, kostet den Rechts­ ren geklaut.
Tötungsfantasien geschildert hatte. Meistens staat viel Kraft und Zeit. T. hat in einigen Ver­ Im Südviertel von Münster hat Nicolas T.
wurde er nach nur wenigen Monaten entlas­ fahren Pflichtverteidiger abgelehnt oder Rich­ an Tag 21 vorerst seinen Protest beendet.
sen. Eine Fremdgefährdung lag laut Gutach­ ter in seitenlangen Anträgen für befangen Sichtlich erschöpft sei er die Leiter hinabge­
ten nicht mehr vor. Die Therapie habe bei erklärt. Entscheidungen gegen ihn werden oft klettert, unten nahmen ihn die Sicherheits­
Nicolas T. keine Aussicht auf Erfolg, auch eine erst spät rechtskräftig, weil sie nicht zustellbar männer in Empfang. T. hat eine Scheibe der
Resozialisierung sei unwahrscheinlich. sind oder er Rechtsmittel einlegt. Führerkabine eingeschlagen, weil die Tür ab­
Für eine erfolgreiche Therapie braucht es Im Frühjahr 2019 fand vor dem Landgericht geschlossen war. Er wird sich wegen Haus­
vor allem zweierlei. Die Einsicht, krank zu Münster ein Verfahren statt, das wegweisend friedensbruch und Sachbeschädigung verant­
sein. Und den Wunsch, etwas verändern zu sein sollte für den weiteren Umgang mit Ni­ worten müssen. Drei Wochen soll Nicolas T.
wollen. Nicolas T. hat beides offenbar nicht. colas T. Die Anklage lautete unter anderem nach der Kranbesetzung auf eigenen Wunsch
In der Psychiatrie, sagte er einmal, »mogele« auf Beleidigung, Bedrohung und versuchte in der Psychiatrie verbracht haben.
er sich so durch den Tag. 2018 verschwand er gefährliche Körperverletzung. Im Prozess ging Vergangenes Wochenende ist er nach
von einem Gruppenausflug und besetzte es auch um die Frage, ob T. im Maßregelvoll­ Münster-Kinderhaus zurückgekehrt. Seine
einen Baukran vor der Uniklinik Münster, um zug untergebracht werden soll, ob er für seine Nachbarin berichtet, wie T. auf ihr Dach ge­
auf die aus seiner Sicht unwürdigen Zustände Nachbarn nur lästig oder auch gefährlich ist. stiegen sei und sie von dort bedroht habe.
in der Psychiatrie aufmerksam zu machen. Der Gutachter hielt T. für »kon­trolliert impul­ Sprachaufnahmen und Fotos belegen das.
Neuroleptika, die ihn zwischenzeitlich um­ siv«: Solange er in seinem Haus Müll ansamm­ »Jetzt geht alles wieder von vorne los«, sagt
gänglicher werden ließen, setzte T. immer le, werde er auch ausfällig gegenüber allen, die sie, »der Müll, die Drohungen, bald haben
wieder ab. Ein Arzt, der mit dem Fall betraut ihn daran hindern wollen. Die Wahrschein­ wir wieder Ratten im Garten.«
war, sagt: »Der verlässt die Einrichtungen lichkeit, dass T. handgreiflich werde oder seine Die Stadt, die Baufirma und der Bauherr
immer so, wie er sie betreten hat.« Todesdrohungen wahr mache, sei jedoch ge­ prüfen, Nicolas T. auf Schadensersatz zu ver­
Vor dem Hauseingang von Nicolas T. ring. Er wurde für schuldfähig erklärt und er­ klagen. Vielleicht, heißt es, müsste am Ende
sprießt, mitten auf dem Weg, ein junger Baum hielt eine Bewährungsstrafe. Die Auflage: sein Haus zwangsversteigert werden, um die
zwischen den Pflastersteinen. Die Treppen­ Risperidon, ein Antipsychotikum, zweimal Schulden zu begleichen. Für die Behörden
stufen sind eingestürzt, im Türrahmen, von zwei Milligramm täglich. Ob er es einnimmt, könnte das Problem damit gelöst sein. Seine
Brechstangen zerfranst, wächst inzwischen ist praktisch unmöglich zu kontrollieren. Nachbarn hätten endlich Ruhe. Und für Ni­
Efeu. Nicolas T. hat vor Monaten die Brief­ Im August 2021 hat das Landgericht Müns­ colas T.? Der sagte einmal, sein großer Traum
klappe zugeklebt. Seine Post hängt seitdem ter Nicolas T. erneut zu einer Bewährungs­ sei ein eigenes Gewerbegrundstück. Weit weg
an der Tür: Briefe vom Sozialgericht und von strafe verurteilt. Er hatte seine Nachbarin von den »Kleinbürgern, die sich über angeb­
der Finanzverwaltung, Einschreiben vom Ord­ weiterhin bedroht und damit gegen die einst­ liche Abfälle aufregen«.
nungsamt, Zustellungsbenachrichtigungen. weilige Anordnung verstoßen. Fünf Fahr­ Johanna Jürgens  n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 51


D E B AT T E I N T E R N E T

Das Recht auf ein analoges Leben  Die Digitalisierung


ist eher eine Ideologie als eine Technologie. Sie raubt ihren
Nutzern die Freiheit.
Von Alexander Grau

D Unsere
ie Digitalisierung ist der Fe­ Paradies jenseits aller räumlichen geblicher Unvermeidbarkeit und
tisch unserer Zeit. Mit einer
Mischung aus andächtigem
­Gedanken und sozialen Beschränkungen führt.
Doch Emanzipation, die einer
unter dem Vorwand technischer
oder wirtschaftlicher Notwen­
Staunen und kindlichem Entzücken und Träume Technologie bedarf, ist keine, son­ digkeit, legt eine allmächtige Koali­
feiert man jedes neue Smartphone, werden von dern allenfalls eine Abhängigkeit, tion aus Staatsinstitutionen und
jedes neue Betriebssystem oder jede die sich gut anfühlt. Für viele Wirtschaft ein Netz aus Vorschrif­
andere technische Neuerung.
Algorithmen ­Nutzer ist kaum zu unterscheiden, ten, Normierungen und technischen
­Hingebungsvoll lauscht man den gesteuert. welche Mediennutzung, welche Re­ Standardisierungen über die Le­
Zukunftsvisionen vom autonomen cherche oder welcher Einkauf ihren benswelt der Bürger.
Fahren, von neuen Arbeitsformen, eigenen Wünschen entspricht oder Dieser Glaube an die Unver­
revolutionierten Bildungswelten welche ihnen durch die Algorithmen meidbarkeit der Digitalisierung ent­
oder dem Internet der Dinge. Ob der Internetkonzerne als die eigenen springt einer Mischung aus Auto­
das alles sinnvoll ist, fragt kaum präsentiert werden. Die Trennung hypnose und Interessensteuerung.
­jemand. Allenfalls von ein paar von echtem persönlichem Bedürfnis Nicht zuletzt Konzerne und ein­
Datenschützern oder Entwicklungs­ und digitaler Einflüsterung ist kaum schlägige Thinktanks versuchen seit
psychologen sind hin und wieder mehr möglich. Die Abhängigkeit Jahrzehnten, den Eindruck zu
kritische Töne zu hören. Aber deren von Software, Apps, Netzwerken ­erwecken, technologische Entwick­
Bedenken gehen zumeist unter in und Onlinediensten aller Art nimmt lungsprozesse gehorchten nicht
dem kollektiven Begeisterungs­ immer umfassendere Ausmaße an. menschlichen Absichten und Über­
taumel und in den ökonomischen Ein Leben ohne Smartphone und legungen, sondern geradezu schick­
und sozialen Versprechungen, Internet ist für die meisten Men­ salhaften Dynamiken. Verschärft
die uns von den Auguren der schen kaum vorstellbar und prak­ wird die damit gerechtfertigte
IT-­Industrie eingeflüstert werden. tisch kaum umzusetzen. Das Ver­ Durchdigitalisierung der Gesell­
Die Digitalisierung, sie ist inzwi­ sprechen grenzenloser Freiheit schaft dadurch, dass sie keinen
schen weniger eine Technologie, sie droht im Käfig der Algorithmen und ­Bereich des Lebens ausspart. Wie
ist vor allem eine Ideologie. In den Datenströme zu enden. Die Auto­ keine andere Technologie durch­
öffentlichen Debatten, in den Stel­ nomie, die die Digitalisierung ver­ dringt sie Beruf, Freizeit, Konsum,
lungnahmen der Politik und erst spricht, erweist sich als Schimäre. Unterhaltung, Gesundheit, Kom­
recht in der Selbstdarstellung der Damit wird die technologische munikation. Wir kaufen digital,
IT-Konzerne erscheint sie geradezu Entwicklung zugleich zum Menete­ arbeiten digital und verlieben uns
als Apotheose der Aufklärung und kel eines Liberalismus, der sich digital. Sogar in seiner Eigenschaft
die endgültige Einlösung des Ver­ ­zunehmend in Selbstwidersprüche als Staatsbürger wird der Einzelne
sprechens auf Selbstverwirklichung, verstrickt. Keiner hat das treffender dank diverser Behördenportale in
Freiheit, Demokratie, Teilhabe und zusammengefasst als der amerika­ die Welt der Log-ins, Passworte und
Emanzipation. nische Politologe Patrick J. Deneen Websitemenüs gezwungen.
Diese Erzählung ist auch deshalb in seinem großartigen Buch »Wa­

A
so erfolgreich, weil sie die Digita­ rum der Liberalismus gescheitert uch deshalb ist das so gefähr­
lisierung seit ihren Anfangsjahren ist«. Wir seien, so der Wissenschaft­ lich, weil die Digitalisierung
begleitet und sich tief in die Köpfe ler, »autonom und frei, und doch uns als Person selbst zu ver­
der Menschen eingebrannt hat. genau den Technologien unterwor­ ändern droht, unser Denken, unsere
Schon die exzessiv missbrauchte fen, die uns das Gefühl von Unab­ Gefühle, unsere Wünsche. Natürlich
Metapher vom »global village« hängigkeit vermitteln«. griffen schon Dampfmaschine, Elek­
des Medienphilosophen Marshall Dieser umfassende digitale Zu­ trizität oder Verbrennungsmotor
McLuhan verknüpfte die Sehnsucht griff auf unser Denken, Wünschen massiv in die Gesellschaft, unsere
nach individueller Emanzipation und Handeln wäre selbst dann Arbeitswelt und unser Wertesystem
mit der Vision einer grenzenlos ­bedrohlich, wenn man die Chance ein. Doch letztlich blieben diese
Florian Lechner

interagierenden Weltgemeinschaft. ­hätte, sich ihm zu entziehen. Doch Techniken uns Menschen immer
Und Internetagitatoren wie Nicholas man hat diese Chance nicht. Seit ­äußerlich. Sie machten unser Leben
Negroponte verklärten in viel ge­ Jahrzehnten arbeiten Wirtschaft bequemer und luxuriöser und uns
lesenen Büchern die Digitalisierung Grau, Jahrgang und Staat daran, die Digitalisierung selbst ge­gebenenfalls übergewichtig
1968, ist
zu einem geradezu heilsgeschicht­ Philosoph und
unwiderruflich in den Alltag jedes und rückenkrank. Sie beeinflussten
lichen Ereignis, das die Menschheit Publizist. Er Einzelnen zu implantieren. Gestützt unser Handeln, unseren Tagesablauf,
unaufhaltsam in ein posthistorisches lebt in München. auf das fragwürdige Argument an­ unsere Lebensideale. Aber sie mani­

52 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


pulierten nicht unser Denken. ­Anders die
­digitalen Technologien. Sie ­steuern unsere
Gedanken und entwerfen unsere Träume.

K
arl Marx und Friedrich Engels konn­
ten angesichts der Industrialisierung
noch zwischen Basis, Überbau und
Bewusstseinsformen unterscheiden. Die
­Basis war dabei die »ökonomische Struktur
der Gesellschaft«, der Überbau »die recht­
lichen und politischen Einrichtungen« und
die Bewusstseinsformen die »religiösen, phi­
losophischen und sonstigen Vorstellungs­
weisen«. Im Zeitalter der Digitalisierung ist
diese Trennung obsolet. Hier wird alles eins:
Produktionsweise, Staat, Weltanschauung,
Zeitgeist. Die Digitalisierung amalgamiert
das wirtschaftliche System mit den staat­

Dave Kotinsky / Epic Records / Getty Images


lichen Institutionen, der Kultur und der All­
tagsideologie zu einer stahlharten Legie­
rung, die jedes Handeln und Leben nur im
Rahmen ihrer eigenen Logik zulässt.
Diese Entwicklung unterminiert die Ba­
sis liberaler Demokratien. Zum einen, in­
dem sie den Menschen als Person, als Kun­
de und Staatsbürger entmündigt und zur
Unperson eines »Users« modelliert. Vor
­allem aber, indem sie ihm die Möglichkeit Konzertbesucher: Ein Leben ohne Smartphone erscheint vielen unmöglich
verbaut, sich der Zwangsrekrutierung als
Nutzer der digitalen Welt zu entziehen. um Zahlungsverkehr, Gesundheitswesen, sich ihnen jederzeit entziehen. Man hatte
Denn Freiheit und Autonomie in Zeiten der staatliche Verwaltung, Mobilität oder die Möglichkeit, ohne Elektrizität, Telefon
globalen Digitalisierung bedeuten zunächst ­Bildung geht. Schon die Jüngsten werden, oder Fernseher zu leben. Diese Techniken
und vor allem Freiheit von der Digitalisie­ kräftig flankiert von der Digitalisierungs­ okkupierten nicht unwiderruflich das Le­
rung. Nur der Mensch, der die Möglichkeit propaganda einschlägiger Konzerne und ben. Man konnte sich ihrer immer, und sei
hat, ein analoges Leben zu führen, ist im Stiftungen, in der Schule auf die Eigenlogik es nur temporär, entledigen.
eigentlichen Sinne frei. von Software, Netzwerken und digitaler Anders die Digitaltechnik. Sie droht
Diese Freiheit zu schützen wäre die Kommunikation konditioniert. Ein Leben ­geradezu zur Bedingung des Lebens zu
wichtigste und dringlichste Aufgabe des ohne Smartphone erscheint vielen un­ werden, das Smartphone zu einem unver­
Staates. Doch der Staat schützt sie nicht. möglich. Was für ein ­Armutszeugnis jeder zichtbaren Teil der eigenen Existenz. Und
Stattdessen opfert er sie lieber wirtschaft­ Pädagogik. das nicht nur zeitweise, für ein paar Jahr­
lichen und technologischen Interessen, die Das Recht auf ein analoges Leben wird zehnte oder eine Generation. Einmal in die
als Notwendigkeiten deklariert werden. hierzulande, wenn überhaupt, im Zusam­ menschliche Gesellschaft implantiert, frisst
Wirtschaftliche und technische Entwicklung menhang mit älteren Menschen diskutiert, sie sich wie ein Krebsgeschwür in alle
fallen nicht vom Himmel. Sie sind von die für sich in Anspruch nehmen, weiterhin ­Bereiche individueller und gesellschaft­
Menschen gemacht, also steuerbar. Einem die handschriftlich ausgefüllte Überweisung licher Wirklichkeit.
Staat, der sich der Unverletzlichkeit der bei ihrer Bankfiliale abgeben zu dürfen Die Folgen für die mentale und körper­
»Freiheit der Person« (Artikel 2 des Grund­ oder eine analoge Eintrittskarte an der Mu­ liche Gesundheit jedes Einzelnen, für seine
gesetzes) verpflichtet sieht, kommt daher seumskasse kaufen zu können. psychologische Entwicklung, für die Gesell­
die Aufgabe zu, den Einzelnen vor dem Doch wer das Recht auf ein analoges schaft und die politischen Institutionen ist
Zwangssystem der Digitalisierung nach ­Leben auf den Aspekt der Altersdiskrimi­ unabsehbar. Doch noch immer gilt das
Kräften zu schützen. nierung reduziert, greift zu kurz. Selbst­ Mantra aller Fortschrittsgläubigen: Digitali­
Im Grunde verpflichtet den Staat schon verständlich sollten alte Menschen das sierung first, Bedenken second.
das Gebot des Schutzes der Menschen­ Recht haben, gleichberechtigt am sozialen Umso wichtiger jedoch wäre das Recht
würde, seinen Bürgern ein analoges Leben Leben teilzuhaben, auch wenn sie, aus auf ein analoges Leben. Lebensrelevante
ohne relevante Einschränkung zu ermög­ was für Gründen auch immer, über keinen und unverzichtbare Dienstleistungen müs­
lichen. Denn ein Leben, das unausweichlich, Zugang zum Internet verfügen. Sehr viel sen dauerhaft auch auf analoge und nutzer­
von Geburt an und in allen Bereichen auf entscheidender und grundlegender ist freundliche Weise zugänglich bleiben. Es ist
die Nutzung einer bestimmten Technologie ­jedoch das Recht auf ein analoges Leben schon aus demokratietheoretischen Grün­
verpflichtet wird, ist nicht nur ein unfreies zukünftiger Generationen. Hier wird den nicht hinzunehmen, Menschen auf die
Leben, sondern vor allem eines, dem seine ­entschieden, wie Menschen in Zukunft Anwendung einer Technologie zwingend zu
Würde genommen wurde – auch wenn sich ­leben können oder müssen. verpflichten, die noch Kinder sind oder
dieser Verlust vielleicht gut anfühlt. nicht einmal geboren. Jeder muss das Recht

N
Ein Leben in Würde ist nur dann mög­ atürlich gab es in der Geschichte der haben, digitale Techniken aus seinem Leben
lich, wenn jeder Einzelne selbst entscheiden Menschheit immer wieder neue fernzuhalten und dennoch am Gesund­
kann, welche Aspekte dieses Lebens er Technologien – insbesondere in den heitssystem, am Konsum oder am öffent­
­digital gestalten möchte und welche nicht. vergangenen 200 Jahren. Viele davon sind lichen und politischen Leben vollwertig
Doch zunehmend droht die Totaldigita­ aus unserem Leben kaum wegzudenken. ­teilzuhaben. Wir brauchen das Grundrecht
lisierung aller Lebensbereiche, egal ob es Entscheidend ist jedoch: Wer wollte, konnte auf eine analoge Existenz.  n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 53


REPORTER

Transferdeals, 1992
FAMILIENALBUM Jörn Arfs, 63, aus Hamburg

D as Foto zeigt mich und Diego


Maradona am 16. September 1992
in einem Hotelzimmer in Sevilla.
Sein TV-Interview mit dem inzwischen
Anderthalb Tage lang trug ich die Scheine
mit mir herum – in drückender Hitze
und einer übervollen Stadt, die gerade die
Weltausstellung ausrichtete. Was noch
verstorbenen Moderator Roger Willemsen an meinen Nerven zerrte: Ich war mir bis
ist gerade im Kasten, mir sieht man die zuletzt unsicher, welches Mitglied des
Anstrengungen der vergangenen Tage an. Maradona-Clans denn nun sein autorisier-
Ich arbeitete für das Talkmagazin »0137« ter Geldbote sei. Nachts klopften Männer
beim Bezahlsender Premiere. an die Tür meines Hotelzimmers und säu-
Der damals 32-jährige Maradona selten etwas von einer sofortigen Übergabe.
bestimmte gerade die Schlagzeilen. Die Schließlich hatte die ganze Herzkasperei
»Hand Gottes« war im April 1991 überstürzt ein Happy End: Der Kofferempfänger war
vor der italienischen Justiz nach Buenos der Richtige, und ein etwas übergewichti-
Aires geflüchtet. Gegen ihn liefen Klagen ger, aber gut gelaunter und clean wirkender
und Ermittlungen wegen einer Vaterschaft, Superstar stand uns etwa 15 Minuten für
Drogenhandels, Kokain- und Prostitutions- eine Schalte mit Roger Willemsen zur Ver-
fällen und des Vertragsbruchs mit seinem fügung. Maradona wirkte auf mich keines-
Arbeitgeber SSC Neapel. Nachdem man wegs wie ein Drogenwrack, sondern sehr
ihn in Argentinien mit Kokain erwischt hat- entspannt. Keineswegs der tumbe Junge aus
te, machte er eine Entziehungskur. dem Armenviertel in Buenos Aires. Er
Nach Ablauf einer 15-monatigen Do- schien genau zu wissen, was Sache war.
pingsperre hatte sich Maradona mit seiner Der inhaltliche Output des Interviews
vielköpfigen Entourage in einen Flieger war allerdings überschaubar: Eine Ent-
nach Europa gesetzt. Der einst teuerste ziehungskur dementierte er, als Spieler sei
Fußballer der Welt wollte zum FC Sevilla er so wertvoll wie früher, und immer wieder
wechseln und in Spanien auf seine Freigabe grüßte er seine zahlreichen Fans in Deutsch-
von Neapel warten. land. Trotzdem: Wir wurden sehr viel
Für ein für damalige Zeiten ziemlich zitiert und hatten unseren Scoop gelandet.
üppiges Dollar-Honorar sollten wir das Ein paar Jahre später hörte ich zu meiner
erste längere Interview mit Maradona be- Überraschung, dass Maradona zu einer län-
Privat

kommen, so versprachen es unsere Ge- geren Haftstrafe auf Bewährung verurteilt


währsleute. Ich fuhr ins Zentrum von Sevilla, worden war. Er hatte mit einem Luftgewehr
‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns
kaufte einen grauen Metallkoffer und holte Ihre Geschichte erzählen möchten? auf lästige Journalisten geschossen.
die transferierte Summe von der Bank ab. Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de Aufgezeichnet von Alexander Smoltczyk

HEISSER HERBST abstraktionen zu tun. Wenn SPIEGEL: Sie rauchen noch? tun könnte. Schlagstöcke,
man an die Gesellschaft schreibt, Fuchs: Ich habe schon geraucht, Tränengas, Soldaten, Panzer …
»Ist unser System in kommt die Post nicht an. als ich noch ein Funkeln in SPIEGEL: Trauen Sie unserem
Systeme dieses Typs können den Augen meiner Mutter war. System nicht zu, anders zu re-
Gefahr, Herr Fuchs?« keine Feinde haben. Wenn die Macht des Staates agieren als mit Machtausübung
SPIEGEL: Sachsens Verfassungs- SPIEGEL: Sehen Sie Anzeichen nicht greift, bleibt nur, die gegen widerborstige Körper?
schutz warnt vor systemfeind- für eine Gefährdung des Systems? Machtinhaber loszuwerden. Fuchs: Vielleicht sollten
lichen Unruhen im Herbst. Fuchs: Das politische System hat SPIEGEL: Wie bitte? wir nicht an eine allgemeine
Kann ein System Feinde haben? die Funktion, kollektiv bindende Fuchs: Sehr lässig formuliert. Widerborstigkeit denken,
Fuchs: Der gesunde Menschen- Entscheidungen zu treffen und Das gilt nur im Grenzfall, nicht, sondern eher an die RAF, heute
verstand würde sagen: ja! Ich durchzusetzen. Dafür ist das Me- solange kollektiv bindende Ent- an Phänomene wie die Reichs-
als Systemtheoretiker würde dium Macht erforderlich. Schließ- scheidungen noch bindend sind. bürger. Ansonsten habe ich
erwidern: nein. lich hat nicht jeder Lust, Gesetzen Die Krise würde spätestens den Eindruck, dass unser Staat
SPIEGEL: Weil auch System- zu folgen, zumal in einer zuneh- bemerkt, wenn die Politik auf ziemlich »brav« agiert. ASM
feinde Teil des Systems sind? menden Verbotskultur. Wenn man der Basis ihres Mediums Macht
Fuchs: Wenn man von Systemen mir das Rauchen verbietet, würde reagieren müsste, aber dies nur Peter Fuchs, 73, ist emeritierter
spricht, hat man es mit Höchst- ich eine Revolution anzetteln … noch mit Gewalt gegen Körper Soziologieprofessor.

54 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


und England, aus der Türkei, Nord­
afrika und vom Balkan.

Sechs Sklaven, ein Löwe


Weiler bekommt einen kleinen
Finderlohn. Er freut sich darauf, dass
die Münzen ausgestellt werden. Er
spendet sogar für eine wissenschaft­
liche Publikation zu seinem Fund.
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE  1700 Jahre lang waren Es dauert Jahre, bis die Münzen
römische Münzen in einem Spartopf in der Eifel sicher vergraben. Jetzt sollen gereinigt sind, konserviert, fotogra­
mehr als 300 davon verschwunden sein. Aus einem Museum in Trier. fiert, katalogisiert, nummeriert. 2020
liegt endlich die Publikation vor. Und
Hermann Weiler ist schockiert: Plötz­

E Die wertvollen
s ist der Fund seines Lebens. An Und deshalb ruft er im Juni 2010 lich ist nur noch von 7486 Münzen
jenem späten Freitagnachmittag gleich früh am Montag im Museum die Rede. Wo sind denn die restlichen
Ende Juni 2010, an dem er mit an und meldet seinen Fund. Er bringt Münzen 308? Er schreibt dem Museum. Weist
nichts mehr rechnet, ist Hermann ihn nach der Arbeit persönlich vorbei. wurden nie auf den Fehler hin. Weist darauf hin,
Weiler schon eine Weile mit seinem
Metalldetektor unterwegs. Er hat nur
Ein wenig stolz ist er schon. Es sind
römische Folles, die er gefunden hat.
vor Zeugen dass das Museum anfangs selbst die
Zahl 7800 publiziert hat. Er rechnet
etwas Alufolie gefunden und ein paar Sie haben einen hohen wissenschaft­ durchgezählt. mit Aufklärung.
Eisenringe, die er stets aufhebt, auch lichen Wert – was einerseits schön ist, Aber dann passiert etwas Seltsa­
weil er sich beim nächsten Mal nicht andererseits schade, jedenfalls für mes. Nämlich nichts.
noch einmal danach bücken will. Auf Weiler: Er darf die Münzen nicht be­ Besonders bekümmert scheint
einem Acker nahe dem Dorf Meckel halten. man nicht zu sein. Wir haben die feh­
in der Eifel piept es. Erst leise, zag­ Es stellt sich heraus, dass Weilers lenden Münzen nicht, heißt es aus
haft. Dann noch mal. Er findet eine Münzen im Jahr 313 nach Christi auf dem Museum, und wir wissen auch
alte Münze. Dann noch eine. Dann einem landwirtschaftlichen Guts­be­ nicht, wo sie sind, und wir wissen
noch eine. Und dann immer mehr. trieb in einem Topf vergraben wurden. auch nicht, ob es sie gab.
Zehn. Hundert. Tausende. Er findet Irgendjemand hat vor 1700 Jahren Hermann Weiler ärgert sich. 308
den »Münzschatz von Meckel«. sein Geld versteckt und nie wieder Münzen von besonderem wissen­
Er füllt sich erst die Hosentaschen. abgeholt. schaftlichen Wert verschwinden nicht
Dann holt er einen Stoffbeutel aus Man hätte einiges damit anfangen einfach aus einem deutschen Mu­
dem Auto. Aber er findet immer können damals. Für einen Follis hät­ seum, wo in Deutschland doch sonst
mehr. Irgendwann schüttet Weiler die te ein Mann einen Tag lang auf einem alles seine Ordnung hat. Die schönen
Münzen mit beiden Händen lose in Acker gearbeitet. Man hätte 25 Eier Münzen mit Konstantins Bart. Er
den Kofferraum. Am Ende sind es fast oder einen halben Liter Honig kaufen hat sie alle abgegeben, auch wenn er
50 Kilogramm römische Münzen. können. Ein Paar Sandalen kostete vielleicht gern welche behalten hätte,
Zu Hause legt er seinen Schatz in zwei Folles. Für Weilers Münzen hät­ wenigstens eine. Münzen, das hat
Reihen auf Unterlagen. Fotografiert te man damals sechs Sklaven kaufen die Geschichte ja nun gezeigt, sind
die Münzen. Und zählt. Mehrere können oder einen Löwen. Dass unter nicht einfach weg. Sie sind nur wo­
Stunden lang. Er hat 7794 versilberte seinen Münzen die ersten sind, die anders. Aber wo?
römische Münzen gefunden. Unfass­ Kaiser Konstantin mit Bart zeigen, Er fragt mehrmals nach. Gibt es
bar. ergibt sich erst später. Auch dass es keine Quittungen? Wie viele Münzen
Hermann Weiler erzählt heute am schon damals so etwas wie eine Wäh­ man bekommen hat, wie viele in der
Telefon die Geschichte von damals. rungsunion gab, beweisen die Mün­ Reinigung waren, wie viele zurück­
Römische
Denn sie ist noch nicht zu Ende. Sie zen: Nur etwa die Hälfte wurde in der Fund­stücke, von
geschickt wurden? Alles egal? In
hat eine Wendung genommen, die Kaiserresidenz Trier geprägt. Es fan­ der Website Deutschland, wo jeder Bleistift quit­
ihm nicht gefällt. den sich Prägungen aus Frankreich Volksfreund.de tiert wird?
Hermann Weiler ist kein Histo­ Es gibt keine Quittungen. Der
riker, er ist gelernter Maurer. Und ­Numismatiker des Museums, der den
Schatzsucher. Er hat auch schon mal Schatz entgegengenommen hat, sei
ein Medaillon von Konstantin dem inzwischen verstorben, heißt es. Nach
Großen gefunden, zwei römische der Ablieferung wurden die Münzen
Bronzefigürchen und ein Beil, das nie vor Zeugen durchgezählt. Immer­
3500 Jahre alt ist. hin, das wolle man künftig ändern.
Er interessiert sich für Geschichte, »Was soll ich machen, mich auf den
er ist an der frischen Luft, sein Hobby Kopf stellen und mit den Ohren wa­
TV / Katharina de Mos / Landesmuseum

ist gesund, kostengünstig, und es ist ckeln?«, schreibt der Museumsdirek­


auch ein Abenteuer, ein bisschen. tor genervt an den Schatzfinder.
Allerdings wirklich nur ein biss­ »Wir haben keinerlei Hinweise auf
chen. Für das Schatzsuchen braucht fehlerhaftes Verhalten der damaligen
man eine behördliche Genehmigung. Akteure«, schreibt der Museums­
Brach liegende Felder abzusuchen ist direktor dem SPIEGEL. Hermann
erlaubt, Wald und Wiesen sind tabu. Weiler hat sich einen Anwalt genom­
In Deutschland muss auch das Aben­ men. Er hat Anzeige erstattet, gegen
teuer seine Ordnung haben, und Her­ unbekannt. Hermann Weiler ist ent­
mann Weiler ist ein korrekter Mann. schlossen, seinen Schatz ein zweites
Deshalb hat er selbstverständlich eine Mal zu finden.
Genehmigung. Frauke Hunfeld, Nicola Naber n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 55


REPORTER

#ICHBINARMUTSBETROFFEN

ARMUT   Wer im Mangel lebt, schämt sich oft deswegen. Anni W. will das ändern.
Mit einem einzigen Hashtag auf Twitter hat sie Tausende Menschen mobilisiert, die sich
in Zeiten hoher Inflation das Leben in Deutschland nicht mehr leisten können –
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

so wie sie selbst. Von Dialika Neufeld

56 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


REPORTER

»Hi, ich bin Anni, 39 und habe die die sich das Leben in Deutschland kaum noch de Inflation schiebt sie mit jedem Prozent
Schnauze voll! Ich lebe von Hartz-IV leisten können. weiter an den Rand.
und es reicht ganz einfach nicht! Und das sind viele: 13,8 Millionen Men- »Das macht was mit einem«, sagt Anni W.,
Nein, ich kann keine weiteren Kosten schen in diesem Land gelten laut einem Be- »dieser ständige Mangel, dieses Bewusstsein,
senken. … Nein, ich gebe kein Geld richt des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes dass es nicht reichen wird – das macht einen
›unnütz‹ aus. Ich versuche nur, uns als armutsgefährdet, jedes fünfte Kind. krank.«
einigermaßen gesund und ausge­ Während der Bundesfinanzminister von Vor ein paar Tagen kam ihr zehnjähriger
wogen zu ernähren und meinem Kind »Gratismentalität« spricht, schreiben unter Sohn in die fünfte Klasse, ein höflicher Junge,
den Anschein von Normalität zu Anni W.s Hashtag Arbeitslose, Geringverdie- mit einem schräg fallenden Pony in der Stirn.
­bewahren.« #IchBinArmutsbetroffen nerinnen, Studenten, Rentnerinnen darüber, Als vor zwei Jahren ihre Tochter auf die wei-
Tweet von Anni W. (@Finkulasa) wie es ist, wenn man nicht mehr weiß, wie terführende Schule kam, habe sie noch ein
vom 17. Mai man seinen Kühlschrank füllen soll. Wie geht Tütchen für sie machen können, mit ein paar
es ihnen im Inflationssommer 2022? Schulsachen, Süßigkeiten. »Das war für Ben-
Fast auf den Tag genau drei Monate nachdem jamin jetzt nicht mehr drin.«
sie den Tweet in ihr Handy tippte, an einem »#IchBinArmutsbetroffen hieß für Sie sagt: »Es nutzt nichts, wenn die Po­li­ti­
Donnerstag im August, hat Anni W., die Frau, mich heute im Supermarkt zu stehen, ker jetzt immer sagen, man soll sich ein-
deren Namen inzwischen sogar der Kanzler die Preise zu sehen und fast zu schränken. Ich kann mich nicht mehr ein-
schon einmal gehört hat, noch 60 Euro auf ­weinen. Eigentlich wollte ich endlich schränken – weil alles so auf Kante ist.« Sie
ihrem Konto. meinen Kindern den Wunsch nach macht eine Pause. »Nee«, sagt sie dann, »es
Das muss reichen. Für 14 Tage, an denen einer Wassermelone erfüllen, die ist längst unter Kante.«
sie und ihr Sohn essen müssen, sich kleiden, sie seit Wochen haben wollen. Ich Die Wut kam im Mai, so erzählt es Anni
sich fortbewegen und Rechnungen bezahlen. musste sie wieder enttäuschen.« W. Die Butter kostete auf einmal 43 Prozent
Sie steht in ihrer Küche und brät 400 Gramm Tweet von @LuffyLumen mehr als vor einem Jahr, Geflügelfleisch 23,8
abgelaufenes Hähnchenfleisch, »Innenfilets vom 14. Mai Prozent, Diesel 52 Prozent.
aus der Brust geschnitten«. Mindesthaltbar- Im April war Anni W.s Zeit bei der Tafel
keit: 01.02.22. So steht es auf der Packung. abgelaufen: Damit jeder der vielen Bedür­
Daneben ein großer neonfarbener Aufkleber: WUT ftigen drankommt, arbeitet die Tafel in
»–30 %«. Voerde mit einem Wechselmodell. Anni W.
In der »Tagesschau« am Mittag hat der In der Ferne, hinter ihrer Straße, erkennt man war bis April dran, für ein halbes Jahr, in
Sprecher verkündet, dass die Inflation im das alte Steinkohlekraftwerk der Stadt, einen dem sie sich einmal in der Woche an einem
Euroraum auf einem Rekordhoch sei, bei Kühlturm, drei Schornsteine, lange stillgelegt, Bauwagen anstellen konnte, für Obst, Ge-
8,9 Prozent im Juli, und insbesondere in so wie Anni W.s Arbeitsleben. Nicht weil sie müse. Das fiel nun auch noch weg. Und dann
Deutschland noch weiter steigen werde, bis es so will. Anni W. sagt, sie würde gern wieder las sie diesen Artikel in einem Magazin, in
in den zweistelligen Bereich. Anni W. schiebt arbeiten, bei der Post beispielsweise. Aber dem über Hartz-IV-Empfänger berichtet wur-
das aufgetaute Fleisch in der Pfanne hin und Anni W. ist krank, sie leidet an Arthrose in de, und der Tenor war: Wer von Hartz IV
her und sagt, sie kaufe Fleisch nur noch kurz der Lendenwirbelsäule und seit vielen Jahren nicht leben könne, könne nicht mit Geld
vor Verfallsdatum und friere es dann ein. »An- unter Depressionen. umgehen.
ders kann ich es mir gar nicht mehr leisten.« Es gibt Tage, sagt sie, an denen könne sie »Ich war so wütend«, sagt sie. »Wir sind
Anni W. lebt in Nordrhein-Westfalen, in nichts tun, auch nicht einkaufen oder kochen. keine Hängemattenlieger. Wir sind nicht
Voerde, einer kleinen Stadt am Niederrhein, Dann reicht es nur noch für Konserven oder schuld daran, dass wir armutsbetroffen sind.
in einer »Schimmelwohnung«, wie sie sagt. Tiefkühlpizzen. »Gehen Sie doch mal spazie- Ein Großteil von uns ist krank.« Sie sagt »ar-
Drei Zimmer auf 67 Quadratmetern. An der ren, an die frische Luft«, habe ihr ein Sach- mutsbetroffen«, nicht arm, weil es würde-
Zimmerdecke, über dem Bett ihres Sohnes bearbeiter im Jobcenter gesagt, »dann wird voller klingt. »Ich bin auch nicht sozial
Benjamin*, breitet sich ein nasser Fleck aus das schon.« Aber es wurde nicht. Und nun schwach«, sagt sie, »sondern nur finanziell.«
wie Aquarellfarbe auf einem Blatt Papier. Ihre steht sie hier in ihrer Küche, und die steigen- Im Küchenschrank steckt in Klarsichtfolie
zwölfjährige Tochter lebt seit sechs Monaten Anni W.s Alg-II-Bescheid, »Bewilligung von
bei ihrem Vater. »All You Need Is Love« steht Leistungen zur Sicherung des Lebensunter-
auf einer Leinwand über der Küchentür; es halts« steht darauf, vier Seiten auf Recycling-
klingt wie eine trotzige Behauptung. papier. Das Kindergeld und der Unterhalt von
Ein erstes Treffen hat sie abgesagt. Sie Benjamins Vater werden angerechnet, da-
schrieb eine SMS: »Es ist mir alles zu viel durch haben die beiden also nicht mehr Geld.
gerade.« Nach Abzug aller Fixkosten bleiben zum Le-
Wenn man dann ein paar Wochen später ben 480 Euro.
doch bei ihr im Wohnzimmer sitzt, spürt man: Es gibt ein Tortendiagramm, das das Leben
Da ist eine große Entschlossenheit. Gleich- von Hartz-IV-Empfängerinnen wie Anni W.
zeitig auch Erschöpfung. Sie redet mal laut in bunte dreieckige Stücke unterteilt, in das
und bestimmt, dann wieder geht sie auf den also, was einer Alleinstehenden laut Staat
Balkon und braucht eine Pause. zusteht. 37,26 Euro für Bekleidung und Schu-
Seit der Sache mit dem Hashtag vergeht he; 17,14 Euro für Gesundheitspflege; 155,82
kaum ein Tag, an dem sich Anni W. nicht öf- Euro für Lebensmittel, Getränke, Tabak. Das
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

fentlich mit ihrer Armut auseinandersetzt. Sie sind 5,19 Euro pro Tag und Person – für Früh-
twittert täglich darüber, sie saß in Talkrunden stück, Mittag, Abendessen und Getränke. Wie
mit Experten, stand auf Demos, wurde mit soll das gehen, wenn die Butter fast drei Euro
ihrem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen von kostet? Es klingt wie eine Utopie.
ihrem Sofa in NRW aus unverhofft zur Be- Anni W. erzählt, wie sie an jenem Vormit-
gründerin einer Bewegung von Menschen, tag im Mai auf ihrem Sofa gesessen und einen
langen Thread in ihr Twitter-Profil getippt
* Name geändert. Mit Entlastungsgeld gekaufte Vorräte habe. Sie schrieb: »Ich bin NICHT unsozial,

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 57


REPORTER

SCHAM
Ein typischer Tag beginnt bei Anni W. mit
dem Gedanken an ihre Armut. Es ist Freitag,
der Wecker klingelt um 6.45 Uhr. Und schon
sei das Bewusstsein wieder da: Es wird nicht
reichen, so erzählt sie es. Als Erstes ist da die
morgendliche Frage ihres Sohnes: »Kann ich
mir einen Kakao kaufen in der Schule?«
In seiner neuen Schule gibt es einen Kiosk,
zu dem die Kinder gern gehen. »Benjamin ist
eigentlich ein genügsames Kind«, sagt sie,
»aber ich will, dass meine Kinder mithalten
können.« Also steckt sie ihm einen Euro zu,
der ihr an anderer Stelle wieder fehlt.

Marcus Simaitis / DER SPIEGEL


Benjamin sucht sein T-Shirt, das mit den
Katzen drauf. Fast alles, was er trägt, ist eine
Spende oder gebraucht gekauft, auf Floh-
märkten oder via Ebay-Kleinanzeigen. »Mein
Schatz« nennt Anni W. ihn, »Söhnchen«. Sie
steht in der Küche, schmiert ihm Vollkorn-
Alleinerziehende W. an Sonderpostenstand in Voerde: »Benjamin, das ist nicht drin«
toast mit Käse und sagt: »Komm, setz dich
hin, iss was, ich gehe schon mal spülen.«
faul, dumm oder kann nicht mit Geld umge- Bundesregierung, dass Sie die 13,8 Millionen Neulich bekam Benjamin durch eine Spen-
hen … Ich bin ein Mensch. Keine Zahl, kein armutsbetroffenen Menschen in Deutschland de auch ein Paar Puma-Turnschuhe. »Mama«,
Klischee.« endlich sehen.« sagte er da, »die hat ja gar keiner vor mir
Später fügte sie noch ein Foto von sich Es war ein großer Moment. Sie sei nie ein angehabt. Die sind neu.« Es war sein erstes
­hinzu, eine Frau mit Brille und einem vor- politischer Mensch gewesen, sagt Anni W. Die Paar ungetragene Schuhe.
sichtigen Lächeln, dazu stellte sie einen Auf- richtige Partei für sich habe sie bis heute nicht »Ich habe lange vor meinen Kindern ver-
ruf: »#IchBinArmutsbetroffen. Ich würde gefunden. Und auf einmal ist sie im Fernsehen, bergen können, dass wir arm sind«, sagt Anni
mich freuen, wenn ihr mitmacht. Lasst uns und der Bundeskanzler hört ihr zu. W., »aber jetzt nicht mehr.« Die Freunde ihrer
zeigen, wer wir sind.« Zwei Monate ist das jetzt her. Und die Kinder hätten Geld. »Sie sehen dort ein Le-
Am Abend diskutierte bei Maybrit Illner Wut? Ist immer noch da, sagt Anni W. ben, dass ich ihnen nicht bieten kann.«
Christian Lindner zum Thema »Krieg, Coro- Inzwischen hat sie »Entlastungsgeld« be- »Benjamin, das geht jetzt nicht«, »Benja-
na, Inflation – eine Krise zu viel?«, und bei kommen: einmalig 200 Euro plus 100 Euro min, das ist nicht drin« – diese Sätze müsse
Anni W. in Voerde rauschten ohne Ende Be- Kinderbonus. »Weg«, sagt Anni W., wie Nie- sie noch häufiger sagen in letzter Zeit.
nachrichtigungen rein. Erst waren es Dutzen- selregen, der auf trockenen Boden fällt. Vergangenes Jahr hat Benjamin seinen ers-
de, dann Hunderte, bald wurden es mehrere »Mitte Juli hatte ich nix mehr«, sagt ten Urlaub gemacht. »Nicht mit mir. Sondern
Tausend, die ihrem Aufruf folgten. sie. »Nudeln, passierte Tomaten, das war’s.« mit der Familie seines besten Freundes«, sagt
Da schrieb eine Rentnerin, dass sie unter Von dem Entlastungsgeld habe sie dann Anni W. Dessen Eltern luden ihn ein, nahmen
Schmerzen ihren Rollator zur Tafel schiebe, Vorräte gekauft, Angebote, die sie über die ihn mit in die Niederlande, in eine Anlage mit
zwei Kilometer, jeden Donnerstag, nach nächsten Wochen retten sollen. Sie stehen Freizeitpark. Bei ihrer Tochter an der Schule
32 Jahren Arbeit. in der Küche im Vorratsschrank wie eine gab es nach den Ferien immer ein Buch, in
Da schrieb eine Frau ohne Schilddrüse, Lebensversicherung in Dosen: Chilibohnen, das die Kinder eintragen sollten, was sie erlebt
dass sie sich Tabletten, die ihr helfen, nicht fein gehackte Tomaten, Uncle-Ben’s-Soße hatten. Ihre Tochter schrieb »Spanien« hin.
mehr kaufen könne. im Sonderangebot. Mit dem Rest habe »Sie hat sich geschämt«, sagt Anni W. Das
Da schrieb ein Hartz-IV-Empfänger, dass sie ihrem Sohn ein paar Tage Sommerferien Kind war die ganzen Ferien über zu Hause.
er seit anderthalb Jahren mit einem abgelau- ermöglicht. Sie gingen ein paarmal ins Sie hat noch Pfandflaschen, die sie zum
fenen Personalausweis rumlaufe, weil er sich Freibad, einmal seien sie an die Nordsee Discounter bringen will – das sei ihr Notgro-
die 37 Euro Gebühr nicht leisten könne. gefahren, erzählt Anni W., und sie kaufte schen, sagt sie. Sie steckt die leeren Flaschen
Warum sind diese Menschen nicht viel frü- Benjamin auch noch ein zweites Glas Sprite in Einkaufstaschen, schiebt Benjamin mit sei-
her laut geworden? Und wie sozial ist der im Café. nem Ranzen aus der Wohnung, zieht die Tür
Sozialstaat wirklich? hinter sich zu.
»Eine Sorge weniger«, eine Initiative, die Anni W. war nicht immer arbeitslos, sie ist
unbürokratische Hilfe für Arme anbietet, »War heute unterwegs, Flaschen auch nicht in Armut aufgewachsen. Auf ihrer
pushte den Hashtag weiter. Kurz darauf lan- sammeln. Das ist mir super un­ Anrichte im Wohnzimmer steht ein gerahmtes
dete #IchBinArmutsbetroffen im Deutschen angenehm. Ich erzähle euch davon, Foto aus ihrer Kindheit. Darauf ist sie zu se-
Bundestag. weil auch das ein Teil von #IchBin hen mit Vater, Mutter, der älteren Schwester,
Janine Wissler, Vorsitzende der Linkspartei, Armutsbetroffen ist. Zumindest für alle mit Achtzigerjahre-Frisuren.
die Anni W. »leider unwählbar« findet, stellte mich. Ich bin da immer Abends, Sie wuchs in Kaiserslautern auf, in einem
sich hinters Podium und las einige der Tweets Nachts unterwegs, da sehen mich »ganz normalen Mittelstandshaushalt«, wie
vor. Wenig später wurde Anni W. für einen weniger Menschen. Aber ich habe sie sagt. Ihr Vater habe beim Nähmaschinen-
kleinen Film interviewt, der im Sommerinter- 6.70 € zusammen.« hersteller Pfaff in der Galvanik gearbeitet,
view von Olaf Scholz gezeigt wurde – neben Tweet von @IchEinfachEla jahrzehntelang. Ihre Mutter arbeitete, bis sie
einer Rentnerin aus Thüringen und einem vom 22. August vor Kurzem in Rente ging, als Altenpflegerin.
Facharbeiter aus Berlin. Armut war nie Thema: »Wenn es in meiner
»Sehr geehrter Herr Scholz«, sagte sie in Kindheit etwas nicht gab, dann nur aus Über-
die Kamera, »ich erwarte von Ihnen und der zeugung meiner Eltern und nie des Geldes

58 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


REPORTER

wegen.« So erklärt sie es sich auch, EIN JOB IM den. Weil sie mit dem Entlastungsgeld WILLE
dass sie sich nie Sorgen um die Zu- Vorräte angelegt hat, hat sie Sorge,
kunft machte. Dass sie statt mit dem
SCHICHT- jemand könnte sagen: Die kann ja »Wenn ich Scholz noch einmal sagen
Abitur nur mit der Fachhochschul- DIENST: wohl nicht arm sein. »Hier ist es we- höre: ›Aber wir haben ja geholfen‹,
reife von der Schule ging, um einen WIE SOLL der dreckig noch versifft«, sagt sie. dann springe ich in den Fernseher«,
Vollzeit­job in der Spielhalle anzuneh- Sie hat Kinderfotos an die Wände ge- sagt Anni W. »Glaubt dieser Mensch
men, in der sie vorher auf 450-Euro-
DAS GEHEN, hängt, selbst gemalte Bilder, beschä- wirklich, dass 200 Euro Einmal­
Basis gearbeitet hatte. Es habe ihr ALLEIN digtes Mobiliar versteckt sie unter zahlung reichen? Geht der Mann nicht
Spaß gemacht, sagt sie, Geld wech- MIT ZWEI Deko, legt Deckchen über Flecken, einkaufen? Isst er nicht?«, fragt sie.
seln, Kaffee reichen, sauber machen. zündet Duftkerzen an. Anni W. schiebt den Einkaufswa-
Sie verdiente gut, kaufte sich, wonach
KINDERN? »Die Menschen schämen sich für gen durch die Automatiktür des Dis-
ihr war, Miss-Sixty-Jeans, Essen vom ihre Armut.« Und das sei etwas, dass counters. Sie streift um die Kühltru-
Lieferservice. Dabei habe sie eigent- sie an der ganzen Hashtag-Sache be- hen herum. Sie sagt: »Ich gucke, was
lich studieren wollen, sagt sie, Ger- sonders berühre. Dass sich auf einmal ich einkaufen würde.« »Würde«, sagt
manistik auf Lehramt oder Psycho- Leute zeigen, die sich jahrelang ver- sie jetzt oft, denn das meiste ist zu
logie. Sie habe immer gedacht: »Ich steckt hatten. teuer. »Wenn Rinderhack reduziert
bin jung, ich mache das später.« Anni W. setzt Benjamin an der wäre – das würde ich gern mitneh-
Später kam dann aber der Mann, neuen Schule ab und fährt weiter zum men.« Sie zieht es aus der Truhe: 4,35
kamen die Kinder, »und dann war’s Discounter. Sie fährt einen alten Ford Euro für 500 Gramm. Vor nicht allzu
vorbei«, sagt Anni W. Sie setzte auf Fiesta, ohne den sie, wegen ihrer Rü- langer Zeit war das noch bei 2,99 Euro,
das alte Modell, Mann geht arbeiten, ckenschmerzen, ihren Alltag nicht und selbst das war für sie zu viel.
Frau kümmert sich. Aber der Mann mehr meistern könnte, wie sie sagt. Für den Einkauf hat Anni W. eine
wechselte von Job zu Job, verdiente Sie zieht die Pfandflaschen aus dem Strategie entwickelt. Sie zieht die
zu wenig. Schon mit Benjamin im Kofferraum. Am Pfandautomaten Fleischpackungen aus den Tiefen der
Bauch, erzählt sie, habe sie bei der gibt es auf dem Display diesen Truhe, schaut aufs Ablaufdatum, no-
Tafel gestanden. Einmal boxte ihr in orange­f arbenen Spendenknopf tiert es innerlich und legt sie wieder
der Schlange jemand in den Bauch. »Unterstütze die Tafel«. Einmal, sagt unten rein. Einen Tag bevor das
Nach der Trennung, als es gesund- sie, habe Benjamin versehentlich Fleisch nicht mehr gut ist, kommt Anni
heitlich noch gegangen wäre, habe sie draufgedrückt, und das Geld war weg. W. wieder in den Supermarkt und
sicher mehr als 300 Bewerbungen hofft. Darauf, dass der leuchtende,
geschrieben. Antworten bekommen runde Aufkleber auf der Packung ist.
habe sie kaum. Und wenn Angebote »#IchBinArmutsbetroffen Mit Mozzarella mache sie es genauso.
kamen, dann nur für Jobs im Schicht- ist auch, wenn du in einem Sie kennt die Vorher-nachher-Preise
dienst. Wie soll das gehen, allein mit Krankenhaus die ersten auswendig, bis auf den Cent genau.
zwei kleinen Kindern? Alleinerzie- Tage völlig überwältigt vom Vorher habe die Salami 1,09 Euro ge-
hend zu sein, das ist auch ohne Krank­ Buffet für ›Kassenpatienten‹ kostet. Jetzt koste sie 1,49 Euro. Vorher,
heit ein Armutsrisiko. Jeder dritte bist und dann überlegst, das war die Zeit, bevor Corona die Lie-
Haushalt alleinerziehender Mütter ­lieber dieselben Dinge wie ferketten störte, Russland die Ukraine
oder Väter in Deutschland ist ange- ­Zuhause zu essen, um dich angriff und die Energiepreise explo-
wiesen auf Hartz IV. nicht daran zu gewöhnen.« dierten. Nachher, das ist die Zeit, in der
Das Jobcenter schickte sie in die Mutter W., Tweet von @narbenball sie selbst die reduzierten Preise nicht
Pflege, aber das funktionierte nicht, Sohn Benjamin mehr bezahlen kann. Butter kaufe sie
im Wohnzimmer: vom 25. August
sie begann eine Umschulung zur »Ich will, dass
gar nicht mehr, nur noch Margarine.
Tischlerin, »so ein schöner Beruf«, meine Kinder mit- Sie legt die Waren aufs Kassenband:
sagt sie. Dann streikte ihr Rücken. halten können« Trauben für Benjamin, Brot, auf dem
Viele, die auf #IchBinArmuts
betroffen schreiben, sind chronisch
krank. »Wenn du merkst, du bist in
dieser Situation angekommen, gibst
du dir selbst die Schuld. Dann glaubst
du, du verdienst es nicht anders.«
Sich von diesem Gedanken zu ver-
abschieden sei schwer. Ganz habe sie
das bis heute nicht geschafft.
Sie kenne alle Klischees über
Hartz-IV-Empfänger, all die RTL-2-
Bilder, wo Menschen in Unterhem-
den auf dem Sofa sitzend präsentiert
werden, Dosenbier zum Frühstück.
»Dieses ewige ›Die sind zu faul zum
Arbeiten‹«. Die abschätzigen Blicke,
die Überheblichkeit im Jobcenter,
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

in der Schule.
Man ahnt, wie sehr sie dieser Blick
von außen prägt: Sie wirkt wie auf
der Hut – davor, auch nur ein einziges
Klischee zu bestätigen. Sie will gern
mit ihren Büchern fotografiert wer-

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 59


REPORTER

An diesem Tag steht da @klein_nini im


Wasser der Hamburger Alster, eine allein-
erziehende Mutter mit ihrer Tochter, einem
blonden Mädchen, das sich ein Schild vors
Gesicht hält, auf dem steht: »Uns steht das
Wasser bis zum Hals«. Die Mutter lebt von
einer Erwerbsunfähigkeitsrente, aufgestockt
auf 449 Euro monatlich. Sie habe ihrem Kind
in diesem Sommer genau zweimal ein Eis
kaufen können, sagt sie. Kontostand: 40 Euro
im Minus.
Neben ihr steht @non_conform23, der
Musik liebt und eine Tochter hat, der er
gern mal etwas schenken würde. Bis er vor
Kurzem eine Kleiderspende bekommen
habe, habe er kein einziges heiles T-Shirt im
Schrank gehabt, erzählt er. Um satt zu werden,
ernähre er sich hauptsächlich von Nudeln.

Alexandra P feifer
Und dann ist da @femmewiken, auch eine
alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Han-
dy einen Film der Aktion für TikTok dreht.
Protestierende in der Hamburger Alster: »Wenn es teurer wird … gute Nacht«
Sie sei Betreuerin im Pflegeheim. Sie musste
ihren alten Job in einer Demenz-WG im Juni
steht »Rette mich – kurze Haltbarkeit«, Würste Die Energiepreise stiegen im August um kündigen, erzählt sie, weil sie sich die tägliche
kurz vor dem Ablaufdatum und den einzigen rund 35 Prozent im Vergleich zum Vorjahres- Fahrt dorthin nicht mehr leisten konnte, als
Luxus, den sie sich gönne: eine Dose Spezi für monat. Stromkosten müssen Hartz-IV-Emp- der Benzinpreis auf mehr als zwei Euro den
89 Cent. Das Pfandgeld reicht dann nicht. Sie fänger selbst tragen, beim Heizen übernimmt Liter gestiegen war. Jetzt hat sie einen neuen
zahlt 8,26 Euro drauf. Damit bleiben ihr für den das Jobcenter nur das, was als »angemessen« Job in einem Pflegeheim in der Nähe, aber es
Rest des Monats nicht ganz 52 Euro. gilt. Aber was ist angemessen, wenn die Woh- reiche noch im­mer nicht. Nur dank des
Wenn man sie fragt, was sie fordere, über- nung schlecht isoliert ist und der Kühlschrank 9-Euro-Tickets konnte ihr Sohn so etwas wie
legt sie nicht eine Sekunde und sagt: »200 aus den Neunzigerjahren stammt? Ferien haben, sagt sie.
Euro im Monat mehr«. Das sei die Empfeh- Nahrungsmittel kosteten im August »Ich bin FDP-Wähler«, ruft ihnen ein Spa-
lung des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 16,6 Prozent mehr als vor einem Jahr. ziergänger im Vorübergehen zu, als sie trop-
und daran halte sich die Bewegung. Ob das Nach Auslaufen von Tankrabatt und 9-Euro- fend mit ihren Schildern wieder am Ufer ste-
jetzt Hartz-IV-Empfänger seien, Rentner, Stu- Ticket wird ein neuer Preisschub vorausge- hen, um noch ein Gruppenfoto zu machen.
denten, Asylbewerber – »wir Armutsbetrof- sagt. Ein Experte sprach von einem »Sozial- »Mein Beileid«, ruft @klein_nini ihm
fenen wollen ganz simpel mehr Geld«. Dann Tsunami«, der Deutschland bald erreichen hinterher. Sie habe bisher eine Veränderung
sagt sie noch: »Ich will, dass dieser Pseudo- werde. bei sich bemerkt, erzählt die Alleinerziehen-
Sozialstaat wieder ein Sozialstaat wird.« Anni W. sagt: »Ich will, dass sich etwas de später: »Ich schäme mich nicht mehr
Nach Artikel 20 und 28 des Grundgesetzes ändert. Und zwar jetzt.« Es gehe um Gerech- so«, sagt sie. Sie habe viel Energie investiert,
ist es Pflicht des Staates, sich um soziale Ge- tigkeit. Um Würde. Sie klingt in diesem Mo- nicht arm zu erscheinen, nicht aufzufallen.
rechtigkeit und die soziale Sicherheit der Bür- ment nicht mehr nur wie Anni W. aus Voerde, »Als normaler Bürger durchzugehen«. Aber
ger zu kümmern. Die aber ist im Moment für die Arztserien liebt und Fantasyromane. Sie das sei sie eben nicht. Es klingt wie eine
viele Menschen in diesem Land bedroht. Poli- klingt wie eine Anwältin der Armen. Befreiung.
tiker befürchten Unruhen, einen »heißen Ein Samstagnachmittag Ende August, 380 Nach der Aktion gehen sie die Alsterpro-
Herbst«, gefolgt von einem Wutwinter. Die Kilometer von Voerde entfernt, etwa an der menade entlang, die Schilder unterm Arm,
Anhänger der Armutsbewegung überlegen Stelle, an der die parkenden Autos am dicks- vorbei an den weißen Villen. Sie würden gern
schon, wie sie sich schützen können gegen ten sind und die Fassaden der Villen schnee- noch einen Kaffee trinken. Doch im Café ste-
eine Unterwanderung von rechts. weiß, nicht weit vom Segelklub also, steigen hen sie dann unschlüssig an der Seite. »Stehen
Anni W. und ihre Mitstreiterinnen erleben vier Menschen mit Pappschildern ins trübe Sie hier an?«, fragt jemand. Sie schütteln ihre
eine Regierung, die Entlastung nach Entlastung Wasser der Hamburger Außenalster. Sie wa- Köpfe und gehen. Drei Euro für einen Cap-
verspricht. Nur profitieren davon oft nicht nur ten über Steine, einige barfuß, einige mit puccino. Sie können es nicht bezahlen.
jene, die es am nötigsten brauchten. Mit dem Schuhen, bis das Wasser an ihre Hüfte reicht, Vergangenen Sonntag, zwei Tage nach
9-Euro-Ticket verreisten auch Gutverdiener. dann bis zur Brust. Sie recken ihre Schilder Anni W.s 40. Geburtstag, verkündete Olaf
Den Tankrabatt genossen auch Porsche-Fahrer. in die Höhe. Darauf steht mit handgeschrie- Scholz das neue Entlastungspaket. Der Regel-
Die Energiepreispauschale bekommen nur Er- benen Buchstaben: »Wir gehen unter« und satz für Anni W. und ihre Verbündeten soll
werbstätige, auch diejenigen, die weder Gas- »Übergewinnsteuer jetzt«. Menschen, die auf 500 Euro pro Monat steigen, ab Januar.
heizung noch Auto besitzen, während einige sich nicht mehr verstecken wollen, immer Mit Glück ein Ausgleich für die Inflation.
Rentner und Studierende bei der Tafel anste- wieder hält jemand den Hashtag von Anni Doch bis Januar ist es noch lang. Vor Januar
hen. »Das alles ist nicht gerecht«, sagt Anni W. W. aus Voerde in die Luft: #IchBin kommt der Herbst, dann der Winter.
Armutsbetroffen. Noch am selben Nachmittag, kurz nach-
»Im H4 Satz sind 38 Euro für Strom Auch in Köln und Berlin stehen an diesem dem die Regierung ihr 65-Milliarden-Euro-
vorgesehen, ich zahle für 2 Personen Tag Menschen, die solche Schilder in die Paket bewarb und Scholz sagte: »Wir werden
95 Euro … wenn es teurer wird … Höhe halten. Alle zwei Wochen, immer durch diesen Winter kommen«, schrieb Anni
gute Nacht.« an Samstagen, tragen sie den Protest von W. auf Twitter: Die 51 Euro ab 2023 seien ein
Tweet von @klein_nini Twitter aus auf die Straßen. Anni W. war Schlag ins Gesicht. Sie schrieb: »Wir brauchen
vom 21. August schon häufiger auf diesen Demonstrationen JETZT Hilfe! Sofort! … Wir stehen an den
dabei. Kassen und wissen nicht mehr weiter!« n

60 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


REPORTER

benutzen Taschentücher in den Är-


mel. Vielleicht bemerkte sie, wie rat-
los ich war, jedenfalls setzte sie eine
Maske auf. Wir waren nun sechs
­Maskenträger. Als ich in Izmir ins

Die letzte Maske


Taxi stieg, wollte der Fahrer meine
Hände sehen. Ich zeigte sie ihm, und
er sprühte aus einer kleinen Flasche
großzügig Desinfektionsmittel drauf.
Offenbar waren wir wieder am Aus-
LEITKULTUR Alexander Osang hat zweieinhalb Jahre lang Corona bekämpft. gangspunkt angekommen. Hände­
Mit wechselndem Erfolg. waschen nicht vergessen. Parallel
dazu erörterte der Soziologe Armin
Nassehi im Feuilleton der »Süddeut-

D
ie erste Coronaschutzmaßnah- schen Zeitung« den Zusammenhang
me meines Lebens begegnete von Maske und Identitätspolitik. Frei-
mir in Form von zwei mittel- heit, las ich da, sei ein Korrelat von
großen, hebräisch beschrifteten Ordnung. Wenn Soziologen und Ta-
Handdesinfektionsflaschen auf einem xifahrer übernehmen, haben wir das
Stehtisch beim Empfang des Landes Gröbste überstanden, hoffte ich.
Nordrhein-Westfalen in Tel Aviv. Es Auf meinem Hotelzimmer im 14.
war der 1. März 2020, und wie lang Stock spürte ich ein Erdbeben. Es war
das her ist, sieht man am Stargast des nicht so stark wie die Beben, die ich
Abends. Er hieß Armin Laschet. in Japan erlebt hatte, wo ich nach dem
Zwei Wochen später hinderten Reaktorunglück in Fukushima hin-
mich bewaffnete israelische Soldaten geflogen war, aber mein Kaffeebecher
bereits daran, am Strand zu joggen. tanzte auf dem Tisch. Ich sah auf mein

Alexander Osang / DER SPIEGEL


Man wusste damals noch nicht, dass Handy, wo mir damals in Tokio ein
man unter freiem Himmel relativ si- schwermütiger französischer Fotograf
cher ist. Jaffa wirkte ausgestorben, eine Erdbeben-App eingerichtet hat-
wenn mir doch jemand begegnete, te, die mir in den letzten Jahren im-
wechselte ich die Straßenseite. Für mer mal Nachrichten aus geologisch
den Rückflug nach Berlin empfahl mir aktiven Teilen der Welt schickte.
ein Nachbar, die Lüftung im Flugzeug Aber die App war weg. Vermutlich
voll aufzudrehen. Seine Frau schenk- sich, wenn ich das richtig sehe, wieder Flaschen mit bei einem Update gestorben, wie
te mir zum Abschied eine Tube Des- in Richtung Kauz. Der Bruder einer Handdesinfektions- auch die App, die mir, mit einem
mittel in Tel Aviv
infektionsmittel und eine Tüte mit Freundin, ein Grüner aus Hamburg, im März 2020 leichten Brummen, jahrelang Rake-
Plastehandschuhen. Es gab keine zerstritt sich so sehr mit seiner Fa­ tenangriffe aus Gaza gemeldet hatte.
­Flüge nach Deutschland mehr, ich flog milie, dass er in ein Holzhaus in die Das erschien mir alles irgendwann
nach Amsterdam und nahm einen schwedischen Wälder floh. Die Talk- mal lebenswichtig. Nach der Gefahr
Mietwagen, dessen Innenraum ich shows glichen Tribunalen, in denen ist vor der nächsten. Die einzige
mit Desinfektionsmittel abrieb, als Impfskeptiker vorgeführt wurden. Warn-App, die ich noch besaß, stand
wollte ich die Spuren einer Bluttat Irgendwann verlor die große deut- seit Wochen auf Grün.
beseitigen. sche Volksgesundheitsdiskussion an Auf dem Rückflug, so bildete ich
In den folgenden zwei Jahren ge- Druck, schuld war der Krieg in der mir ein, war ich der letzte Masken-
riet das Händedesinfizieren bei der Ukraine. Als ich in der vorigen Woche mann.
Coronabekämpfung in den Hinter- nach Izmir flog, um dort Flüchtlinge Als ich wieder in Berlin war, spür-
grund, genau wie das ausgedehnte zu treffen, trugen in der Maschine te ich ein Kratzen im Hals. Zunächst
Händewaschen. Ich wartete sehn- vielleicht noch fünf Leute eine Maske. dachte ich, es hinge mit dem neuen
süchtig auf meine erste Impfung. Mich eingeschlossen. Ich mache das Infektionsschutzgesetz zusammen,
Dann auf die zweite und schließlich bis zum Schluss, dachte ich. Auch psychosomatisch. Dann aber bekam
auf die dritte. Es gab Expertinnen und wenn ich in Brandenburger Super- ich Fieber. Zwei negative Schnelltests,
Experten, die dies und das sagten. Es märkten manchmal angesehen wur- das Fieber stieg, der PCR-Test war
gab zunehmend Streit. Durch unser de, als trüge ich ein goldenes Strass- dann positiv. Ich weckte meine Coro-
Viertel lief einmal in der Woche ein kleid. Der Erfolg gab mir recht. Ich na-Warn-App. Armin Nassehi erklärt
Demonstrationszug, der das Lied hatte bisher kein Corona, meine Frau in seinem Essay, dass man sich weni-
»Freiheit« von Marius Müller-Wes- hatte kein Corona. Manchmal fürch- ger wegen der Pandemie sorgen müs-
ternhagen sang. Eines Nachts traf ich tete ich, wir würden so irgendwann zu se als vielmehr wegen des Umgangs
mich im menschenleeren Steglitz mit
Jan Josef Liefers, der sich im Unter-
einer Gefahr für das Überleben der
deutschen Bevölkerung. Die beiden
In Brandenbur- mit ­kollektiven Herausforderungen.
Vielleicht war es das Fieber, aber ich
grund zu befinden schien, nachdem letzten Wirte, die sich einer Durch- ger Super- hatte das Gefühl, da nicht mehr mit-
er sich an einer ironischen Aktion seuchung entzogen. Eines Tages wür- märkten wurde zukommen. Ich habe zweieinhalb
gegen die Coronapolitik beteiligt hat- de der Westernhagen-Zug vor unserer Jahre lang versucht, meine persönli-
te. Karl Lauterbach, jahrelang eher Haustür haltmachen. ich manchmal chen Interessen mit den gesellschaft-
der Kauz der deutschen Sozialdemo- Die Frau neben mir putzte sich un- angestarrt, als lichen abzugleichen, wie das schon in
kratie, wurde von meinen Kollegen entwegt die Nase. Wie Frau Fiedler, meiner sozialistischen Jugend von
behandelt wie ein Weiser aus dem meine Stilistiklehrerin an der Karl- trüge ich ein mir gefordert wurde. Ich will jetzt erst
Morgenland. Inzwischen bewegt er Marx-Universität, stopfte sie sich die Strasskleid. mal nur gesund werden. n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

the_bur tons / Getty Images


Zweifel an Rettungspaketen
KRISE  Im Bundesfinanzministerium gibt es Bedenken gegen die fast 100 Milliarden Euro schweren
­Rettungspakete. Sie sollen die Verbraucher vor Inflation schützen – könnten aber das Gegenteil bewirken.

D as Bundesfinanzministerium (BMF)
weckt Zweifel an Nutzen und Wirk-
samkeit der drei Rettungspakete, die
die Bundesregierung gegen die hohen Ener-
mittlerweile drei Rettungspaketen im Um-
fang von fast 100 Milliarden Euro jedoch
nur eingeschränkt gerecht. Viele Maßnah-
men gewährt sie unabhängig von Einkom-
Fachleute von Bundesfinanzminister Chris-
tian Lindner (FDP). Zu einer solchen Ent-
wicklung kommt es, wenn beispielsweise
Gasversorger die niedrigere Mehrwertsteuer
giepreise aufgelegt hat. »Eine vollständige men und Bedürftigkeit, etwa die einmalige an ihre Kunden weitergeben, die daraufhin
Kompensation verringerter realer Einkom- Energiepauschale von 300 Euro oder einen aber mehr verbrauchen, was wiederum die
men seitens des Staates ist weder leistbar Kindergeldzuschlag von 100 Euro. Preise steigen lässt. Lindners Experten fürch-
noch aus ökonomischer Sicht sinnvoll«, Auch von der geplanten Absenkung der ten zudem, dass die schuldenfinanzierten
heißt es in einer BMF-Unterlage zur Vorbe- Mehrwertsteuer auf den Gasverbrauch pro- Rettungspakete die Haushalte der EU-­
reitung zum Finanzministertreffen aus fitieren alle Haushalte, solche mit hohem Mitgliedstaaten dauerhaft belasten könnten.
Eurozone und EU, das an diesem Wochen- Einkommen sogar überdurchschnittlich, »Zudem bleiben tragfähige Staatsfinanzen,
ende stattfindet. weil sie in der Regel mehr Gas verbrauchen. gerade angesichts eines steigenden Zinsum-
Die Unterstützungsmaßnahmen sollten Das BMF-Papier warnt zudem ausdrück- felds, weiter essentiell«, schreiben sie. Die
aus deutscher Sicht »möglichst zielgerichtet lich davor, dass Hilfsmaßnahmen die Preise wirtschaftliche Lage im Euroraum sei »von
sein und sich nach den Bedürfnissen von weiter treiben könnten. »Insbesondere muss hoher Unsicherheit gekennzeichnet«. Ein
Verbrauchern und Wirtschaft ausrichten«. darauf geachtet werden, durch finanzpoliti- ­Risiko stelle vor allem eine noch höhere In-
Bislang wird die Bundesregierung den sches Handeln den Inflationsdruck nicht flation dar. Aber auch eine weitere Abschwä-
selbst gesteckten Ansprüchen mit ihren noch weiter zu verstärken«, schreiben die chung der Konjunktur sei zu befürchten. REI

62 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


»Schlimmster Winter Energie. Aber die Lage in den Energiefresser 23 000 in Betrieb, 1000 davon
EU-Staaten ist sehr unterschied­ gar rund um die Uhr: Wegen
der Geschichte« lich, in einigen könnten Ratio­ Gaslaterne »Undich­tigkeiten oder Proble­
EU-Währungs­ nierungen notwendig werden. BELEUCHTUNG  Ungeachtet der men bei der Schaltautomatik«
kommissar SPIEGEL: Der IWF fordert einen Krise kommt Berlin mit der könnten diese nicht mehr zu­
Paolo Gentiloni, 67, Krisentopf nach dem Vorbild Umrüstung seiner Gaslaternen verlässig an- und ausgeknipst
warnt vor des Wiederaufbaufonds. kaum voran. Man benötige werden – das jedoch verlange
wirtschaftlichen Gentiloni: Zunächst sollten wohl noch mindestens sieben die »Verkehrssicherungspflicht«.
­Turbulenzen. wir uns bemühen, unsere exis­ Jahre, ehe die historischen 25,5 Kilowattstunden Erdgas
AP

tierenden Kriseninstrumente Leuchten der deutschen Haupt­ verbraucht eine »vierflammige


SPIEGEL: Herr Gentiloni, die ­auszuschöpfen und an die neue stadt auf die 95 Prozent spar­ Gasleuchte«, wenn sie 24 Stun­
hohen Energiepreise bremsen Lage anzupassen, etwa den samere LED-Technik umgestellt den am Tag brennt, hochgerech­
die Konjunktur. Droht der EU Wiederaufbaufonds. Dabei seien, sagt die zuständige Ber­ net aufs Jahr ungefähr so viel
die Rezession? ­haben wir noch einigen Spiel­ liner Senatsverwaltung für Um­ wie ein Zweipersonenhaushalt.
Gentiloni: Das kann niemand raum. Wenn sich der ökonomi­ welt. Das gelte selbst bei dem Eine nur nachts betriebene
ausschließen. Die aktuelle In­ sche Abschwung indes verschär­ jetzt angestrebten »beschleunig­ ­Laterne kommt in etwa auf die
flation wird unsere Wirtschaft in fen und auf den Arbeitsmarkt ten Umbau«. Ursache seien Hälfte. Seit zehn Jahren rüstet
Turbulenzen stürzen, und der durchschlagen sollte, müssen ­begrenzte finanzielle, materielle Berlin seine Gaslaternen um,
kommende Winter könnte einer wir neu nachdenken. Dann und personelle Ressourcen. Von wobei eine Umstellung je nach
der schlimmsten der Geschichte könnte es nötig werden, weitere den einst 44 000 mit Gas be­ Typ bis zu 10 000 Euro kosten
werden. Wir erleben eine so konjunkturpolitische Maß­ triebenen Lampen sind noch kann – pro Mast. SBO
noch nie dagewesene Unsicher­ nahmen in Betracht zu ziehen.
heit. Aber die Zahlen für die SPIEGEL: Viele Experten wollen Gaslaterne auf dem Pariser Platz
EU-Wirtschaft als Ganzes sind grüne und digitale Investitionen
nach wie vor positiv, die Lage von den Schuldenregeln
auf dem Arbeitsmarkt ist gut. ­ausnehmen. Eine gute Idee?
SPIEGEL: Muss Europa Energie Gentiloni: Eine entsprechende
rationieren? Regel zu finden wird nicht
Gentiloni: Das hängt davon ab, leicht. Klar ist aber, dass wir
welche Entscheidungen Russ­ Anreize benötigen für mehr In­
lands Präsident Wladimir Putin vestitionen in die strategischen
trifft und wie wir uns selbst ver­ Felder unserer Politik. Dazu
halten. Einsparungen von Ener­ ­gehören die grüne und die digi­
gie sind schon jetzt notwendig. tale Transformation, aber es
Zwar sehen wir gute Entwick­ gibt noch andere Felder, auf die
lungen beim Füllen der Gas­ einige Mitgliedsstaaten hinwei­

blickwinkel / IMAGO
speicher und beim Sparen von sen, etwa die Verteidigung. MSA

Exportverbot für terium. Chemikalien führten


in ärmeren Ländern wegen
­Pestizide möglich ­unsachgemäßer Anwendung Bahn saniert Strecke ginn auf dem Streckenabschnitt
UMWELTSCHUTZ  Mehrere ­bereits zu etlichen Todesfällen. zwischen den Bahnhöfen Frank­
NGOs werfen Landwirtschafts­ Der Industrieverband Agrar von Mannheim furt und Mannheim soll 2024
minister Cem Özdemir (Grüne) hält ein Ausfuhrverbot für nach Frankfurt sein. Auch die Digitalisierung
vor, ein Exportverbot für ge­ ­»unvertretbar«, die Mittel seien der Leittechnik soll angegangen,
fährliche Pestizide zu verschlep­ wichtig zum Schutz der Ernten. VERKEHR  Die Deutsche Bahn Bahnhöfe sollen renoviert
pen. Ein solches Verbot, im »Deutschland gilt als großer will die hoch frequentierte ­werden. Bislang hat die Bahn
­Koalitionsvertrag vorgesehen, ­Exporteur vieler fraglicher Pro­ ­Strecke zwischen Frankfurt am immer nur einzelne, unzusam­
könne »unverzüglich umgesetzt dukte und Pestizidwirkstoffe«, Main und Mannheim grund­ menhängende Reparaturen auf
werden«, so eine Sprecherin so PAN. Es sei »zynisch, mit sanieren. Die Pläne sollen am ihrem Streckennetz vorgenom­
des Pestizid-Aktions-Netzwerks zweierlei Maß zu messen kommenden Donnerstag auf men. Der Investitionsrückstau
(PAN Germany). Ein Gutach­ und den ärmeren Ländern die einem Schienengipfel vorge­ ist dadurch gewaltig. Die Folge
ten, im Auftrag von PAN und ­Giftcocktails zu überlassen, stellt werden, zu dem Bundes­ sind Verspätungen. Dies gilt in
Organisationen wie der Hein­ die hier verboten sind«. NKL verkehrsminister Volker Wis­ besonderem Maße für die hessi­
rich-Böll- und der Rosa-Luxem­ sing (FDP) eingeladen hat. Der sche Strecke, die im Bahnjargon
burg-Stiftung erstellt, kommt zu 75 Kilometer lange Abschnitt auch Riedbahn genannt wird.
dem Ergebnis, dass ein Verbot soll als erster Bahnkorridor nach Der Bahnhof Mannheim ist
über eine Reform des Pflanzen­ einer Vorgabe des Ministers einer der Schwerpunkte des
schutzgesetzes möglich wäre. so instand gesetzt werden, dass derzeit in Deutschland herr­
Die Pestizidproduzenten wür­ für einige Jahre keine weiteren schenden Chaos bei der Bahn.
den dadurch nicht über Gebühr größeren Baustellen mehr nötig Nach SPIEGEL-Berechnungen
in ihren Rechten verletzt. Ein sein werden. Nach diesem kam im Mai nicht einmal jeder
Frank Bienewald / ddp

Exportverbot von in der EU ­Prinzip will Wissing künftig die zweite Zug pünktlich dort an.
nicht genehmigten Pestiziden wichtigsten deutschen Fern­ Der Ausbau des Korridors vom
fordern die Grünen schon länger, Pestizideinsatz auf
bahnstrecken sanieren. Mit den übernächsten Jahr an dürfte für
die Umsetzung werde »inten­ Teeplantage in Indien erforderlichen Planungen will die Fahrgäste allerdings zu ver­
siv« geprüft, so das Agrarminis­ die Bahn nun beginnen. Baube­ längerten Fahrtzeiten führen. GT

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

Saudi-arabischer
Kronprinz bin Salman
(o. l.), Hensoldt-
Optronics-Leiter Hülle

Unter
(u. l.), Rüstungsverkäu-
fer Chedeau (o. r.),
Hensoldt-Konzernchef
Müller (u. r.), Ausrisse
aus internen Geschäfts-
unterlagen

dem
Radar
Lorem I
RÜSTUNGSEXPORTE  Vertrauliche Unterlagen
der Hensoldt AG offenbaren, wie der Konzern
trotz Exportverbots in Saudi-Arabien
aktiv war. Sogar mit einem berüchtigten
Geheimdienst in Riad wollte das
Rüstungsunternehmen ins Geschäft ­kommen.
Was wusste die an Hensoldt
beteiligte ­Bundesregierung von den Deals?

[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: Getty Images, ddp, picture alliance, Ralph Orlowski / REUTERS

64 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WIRTSCHAFT

A »Wir sind der


m 24. September 2020 herrscht Im gerade vorgestellten Rüstungs- Auf Anfrage weist das Unterneh-
in der Führungsetage der Hen- exportbericht 2021 teilt das Wirt- men »ausdrücklich darauf hin, dass
soldt AG große Aufregung. Der
Porsche der schaftsministerium von Robert Ha- sich die Hensoldt AG und ihre Toch-
deutsche Rüstungskonzern hat von Verteidigungs- beck (Grüne) mit, im Falle Saudi-Ara- terunternehmen zu jedem Zeitpunkt
einem neuen Projekt in Saudi-Ara- industrie.« biens hätten die abgelehnten Anträge und in allen Ländern, in denen wir
bien erfahren. Es geht um Küstenra- aus der Rüstungsindustrie einen tätig sind, an alle relevanten Gesetze,
Thomas Müller,
dare für die Grenzregion zum Jemen, Hensoldt-CEO
Höchststand erreicht. Jahrzehntelang Vorschriften und Richtlinien (intern
wo der Golfstaat mit Verbündeten rühmte sich Deutschland für beson- und extern) halten«.
einen blutigen Krieg führt. ders scharfe Ausfuhrkontrollen. Kei- Interne Unterlagen offenbaren hin-
Andreas Hülle, Mitglied im Exe- ne Waffen in Kriegsgebiete, so laute- gegen, wie Hensoldt eifrig versuchte,
kutivkomitee von Hensoldt, treibt te das Diktum der deutschen Außen- neue Aufträge aus Saudi-Arabien zu
seine Kolleginnen und Kollegen zur politik. Mit der restriktiven Haltung ergattern – unter anderem über Pro-
Eile. »Wir sollten jetzt Pragmatismus wollte das Land seine Rolle als Frie- duktionsstätten im Vereinigten Kö-
BEWEISEN und schnell und profes- densmacht unterstreichen, von der nigreich und Südafrika, für die deut-
sionell diese Opportunity analysieren keine Gefahr mehr ausgehen soll. sche Exportvorschriften nicht gelten.
/ bewerten und ggf. anbieten«, Seit der russischen Invasion in der Die Dokumente wurden dem SPIE-
schreibt der Manager. Seine Bitte an Ukraine ist die Regierung von dieser GEL von der Hackergruppe Lorenz
das Team: zu überlegen, »wie wir das Linie behutsam abgewichen. Sie ge- zur Verfügung gestellt. Wir haben sie
›wuppen‹ könnten«. Im Anhang leitet nehmigt Rüstungsexporte an die uk- anschließend mit unseren EIC-Part-
Hülle eine kurze Beschreibung weiter. rainischen Verteidiger; auch Hensoldt nern geteilt. Nach monatelanger Sich-
Was der Topmanager eine »Oppor- beliefert Kiew. Für Saudi-Arabien in- tung haben wir beschlossen, Inhalte
tunity« nennt, ist eine Anfrage des des gilt die viel beschworene »Zeiten- von öffentlichem Interesse zu publi-
gemeinsamen Streitkräftekomman- wende« nicht. Rüstungsgeschäfte mit zieren. Weder der SPIEGEL noch das
dos, das dem saudi-arabischen dem Königshaus werden nicht geneh- EIC haben für die Unterlagen be-
Verteidigungsmi­nisterium untersteht. migt, zumindest auf dem Papier. zahlt, auch inhaltliche Vorgaben wur-
Riads Armee braucht Radare. Doch es gibt Möglichkeiten, die den keine gemacht. Das Material lie-
Der potenzielle Auftrag sei eine strikten Vorschriften trickreich zu um- fert seltene Einblicke in die ver-
großartige Chance für Hensoldt, gehen. Und offensichtlich hat Hen- schwiegene Welt der Waffenhändler
schreibt auch ein Kollege von Hülle: soldt eine gewisse Perfektion darin, und Rüstungslobbyisten. Und es wirft
»Selbst wenn wir es nicht schaffen seine ökonomischen Interessen bis- die Frage auf, was die Bundesregie-
sollten, diesen zu ergattern, wird die- weilen gegen politische Grund­sätze rung von Hensoldts Aktivitäten in
se Gelegenheit als Lernerfahrung die- und moralische Zweifel durchzuset- Saudi-Arabien weiß – und wie groß
nen, um für alle zukünftigen kurz- zen. Über eigene Rüstungshändler in der Wille der Politik tatsächlich ist,
fristigen Saudi-Arabien/Nahost-Auf- Riad. Über Tochterfirmen im Ausland. Rüstungsexporte zu verhindern.
träge besser vorbereitet zu sein.« Und über findige Lobbyisten in Berlin. Die Verbindungen zu Hensoldt
Der interne Mailverkehr offenbart, Öffentlich spielt das Unternehmen sind eng. Im Dezember 2020 gab der
wie ungeniert Hensoldt versucht, mit sein Engagement in Saudi-Arabien he- Bund bekannt, sich mit 25,1 Prozent
diktatorischen Regimes ins Geschäft runter. Im April erklärte Vorstandschef bei Hensoldt einzukaufen – zum stol-
zu kommen. Denn es geht um mehr Thomas Müller im »Handelsblatt«, zen Preis von 450 Millionen Euro.
als nur diesen Auftrag. Dem SPIEGEL seine Firma sei dort »ausschließlich als Die Große Koalition begründete den
und seinen Partnern von den Euro- Partner« an dem französischen Artil- Schritt damit, dass Hensoldt über »si-
pean Investigative Collaborations lerieortungssystem Cobra beteiligt. cherheits- und vertei­digungsindus­
(EIC) liegen Mails, Präsentationen und Angesprochen auf den Mord an Kha­ trielle Schlüsseltechnologien« verfüge,
Verträge vor, die Hensoldts Vorstöße shoggi sagte er: »Das ist eine schreck- die nicht in die falschen Hände ge-
in den milliardenschweren Rüstungs- liche Tat, und die Verantwortlichen raten sollten. Mit den steinreichen
sektor des Golfstaats nachzeichnen. gehören bestraft. Für uns gilt das Pri- Potentaten des Nahen Ostens durfte
In den Dokumenten bezeichnet mat der Politik. Solange Deutschland sich Hensoldt offensichtlich einlassen.
der Konzern Saudi-Arabien als eines Riad nicht wieder als Partner ansieht, SPD, Grüne und FDP sind im ver-
der wichtigsten Exportländer außer- verbieten sich Exporte für uns.« gangenen Jahr angetreten, einiges an-
halb der Nato-Staaten. Hensoldt bie- ders zu machen. Derzeit arbeitet die
tet sehr besondere Güter feil. Nach Ampelkoalition an einem neuen Rüs-
eigenen Angaben stattet Hensoldt tungsexportkontrollgesetz, das Aus-
Fahrzeuge von saudi-arabischen Globale Präsenz fuhren in Krisengebiete wie Saudi-
Spezialkräften mit Überwachungs- Arabien einen Riegel vorschieben soll.
Standorte der Hensoldt AG Produktionsstandorte
technik aus oder liefert Radare für und Umsatz 2021 nach Der Fall Hensoldt wird zeigen, wie
Vertriebsstandorte
Minensuchboote und Grenzposten. Region, in Mio. Euro gut das gelingt.
Dem berüchtigten Geheimdienst GIP Europa 1191,4
diente Hensoldt ein System zur Droh- davon Deutschland 861,5 Das Unternehmen
nenabwehr an – obwohl der Dienst Nord- Der Ludwig Bölkow Campus ist einer
bekanntermaßen in den Mord an dem amerika jener Orte in Bayern, auf die CSU-
regi mekritischen Journalisten Jamal 44,9 Naher Osten Asien- Politiker stolz sind. In dem Gewerbe-
Khashoggi involviert war. 135,6 Pazifik gebiet südlich von München haben
Wie kann ein deutsches Unterneh- Mio. Euro 58,4 sich Weltkonzerne wie Airbus und
men in Saudi-Arabien so aktiv sein, 1000 Siemens und Hochschulen wie die
Afrika
obwohl für das Land seit 2018 ein Aus- 57,3 Bundeswehr-Universität niedergelas-
100
fuhrverbot gilt? Und warum ausge- 10 Latein-
sen. Mit kräftiger Unterstützung aus
rechnet ein Konzern, der zu rund amerika der Steuerkasse wird in der ­weiß-
S Quelle:
einem Viertel im Besitz des Bundes ist? blauen Idylle auch zu militärischen


Hensoldt 15,7

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

Zwecken geforscht. Laptop und Lederhosen unter der Nummer 1 010 473 985: Hensoldt Bei Xpeller (vom englischen Wort expel,
in Flecktarn. Holding Germany GmbH, Branch KSA. Der also vertreiben) handelt es sich um eine Lö-
Hensoldt hat auf dem Bölkow-Campus Ableger der deutschen Gesellschaft schloss laut sung, die von der britischen Tochterfirma
seinen Stammsitz. Das Unternehmen ging internen Unterlagen auch selbst Verträge ab. produziert wird und kleine Drohnen in großer
2017 aus dem Luftfahrtkonzern Airbus her- Zwar hatten Union und SPD im März 2018 Entfernung erkennen soll. In einer E-Mail an
vor, der sich entschieden hatte, sein Rüstungs- in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt, dass sie Kollegen schrieb Chedeau im April 2018, die
geschäft zu verkleinern. Airbus verkaufte »ab sofort keine Ausfuhren an Länder geneh- Saudis wollten eine »Reichweite von 3 km für
seine Sparte für Verteidigungselektronik an migen, solange diese unmittelbar am Jemen- die Erkennung von Drohnen haben«.
den Finanzinvestor KKR, der daraus den Kon- Krieg beteiligt sind«. Den Konflikt mit Tau- Offiziell sollte der Auftrag mit der staat-
zern Hensoldt formte. Der Name geht auf den senden toten Zivilisten bezeichnete die Uno lichen Telekommunikationsgesellschaft ge-
deutschen Ingenieur Moritz Carl Hensoldt damals als die »größte humanitäre Katastro- schlossen werden, als »Endkunde« nannte
zurück, der schon vor über 100 Jahren an phe unserer Zeit«. Rüstungsexporte nach Chedeau den Staatssicherheitsdienst PSS.
Zielfernrohren für Gewehre tüftelte. Saudi-Arabien wurden trotzdem genehmigt: NGOs machen den Dienst für unzählige
Zum ersten Geschäftsführer der ei- allein für das Jahr 2018 mindestens 416,4 Mil- Menschenrechtsverletzungen wie Folter, Ent-
genständigen Gesellschaft wurde Thomas lionen Euro. führungen und willkürliche Verhaftungen ver-
Müller ernannt, ein Airbus-Gewächs. Müller antwortlich. Angeblich habe der PSS-Chef
ist nicht für Bescheidenheit bekannt. Der Der Waffenhändler in Riad täglichen Kontakt mit Kronprinz Mohammed
CEO bezeichnete seine Firma einmal als »Por- Um vor Ort möglichst schnell arbeitsfähig zu bin Salman, schrieb Chedeau, dem »zukünf-
sche der Verteidigungsindustrie«. Mit rund sein, nahm Hensoldt den französischen Waf- tigen König«.
6300 Beschäftigten und einem Umsatz von fenhändler Sébastien Chedeau von Airbus »MbS«, wie der Kronprinz genannt wird,
rund 1,5 Milliarden Euro gehört das Unter- mit. Er sollte den Standort in Riad aufbauen. betont zwar stets, er wolle das Land moder-
nehmen zwar nicht zu den größten Rüstungs- Chedeau bezeichnete sich im Internet als nisieren und fit für die Zeit nach dem Öl ma-
playern im Lande, aber zu den gefragtesten. »hart arbeitenden« Verkäufer, der über »di- chen. Kritik an der Herrscherclique wird indes
Weltweit beliefert Hensoldt Sicherheits- rekte Kontakte in einige Botschaften« ver- mit drakonischen Strafen belegt. Und manch-
behörden und Streitkräfte mit modernster füge. Sein Spezialgebiet: Saudi-Arabien. mal wartet am Ende der Tod.
Verteidigungselektronik. »Manche Geheimdienstmitarbeiter wissen
Die Radare, Sensoren, Zielerfassungssys- über meine Vergangenheit bei den Spezial- Der Fall Khashoggi
teme und Störsender sind in großen europäi- kräften der saudi-arabischen Marine Be- Am 2. Oktober 2018 um 13.15 Uhr betrat der
schen Rüstungsprojekten wie dem Kampfjet scheid«, prahlte der Franzose in einer E-Mail, saudi-arabische Publizist Jamal Khashoggi
Eurofighter verbaut. Auch die Kampfflugzeu- »das macht es einfacher, das Eis zu brechen.« das Konsulat seines Landes in Istanbul, um
ge der nächsten Generation, FCAS genannt, Chedeau warb, buhlte und organisierte Ge- eine Bescheinigung abzuholen. Stattdessen
sollen mit Technik von Hensoldt ausgestattet spräche mit Militärs und Sicherheitsbehörden, warteten dort seine Killer auf ihn. »Wir durch-
werden. um Hensoldt-Produkte anzupreisen. Bei trennen die Gelenke. Das ist kein Problem.
Die Bundesregierung sicherte sich von An- einem von Chedeaus ersten Projekten ging Am Anfang schneide ich auf dem Boden.
fang an Einfluss auf das Unternehmen. Nach es um die Sicherung von vier Gefängnissen Wenn wir Plastikbeutel nehmen und ihn in
der Gründung erwarb der Bund zunächst eine in Saudi-Arabien. Chedeau bot Hensoldts Stücke schneiden, ist es geschafft. Wir werden
»goldene Aktie«, die laut Satzung Mitspra- Drohnenabwehrsystem Xpeller an. jedes Teil einwickeln«, hatte einer der Ge-
cherechte garantierte. So darf die Regierung heimdienstmitarbeiter zu seinem Kollegen
bis zu zwei Aufsichtsräte stellen und muss gesagt. Die Gespräche wurden später be-
zustimmen, wenn es um den Verkauf von An- kannt, weil der türkische Geheimdienst das
teilen oder die Verlagerung von Know-how Profiteure des Krieges Konsulat offenbar verwanzt hatte.
ins Ausland geht. Erst als immer mehr Details über die Tat
Die Details wurden in einem Sicherheits- Beteiligungen an der Hensoldt AG, in Prozent ans Licht kamen, räumte der Kronprinz ein,
abkommen mit Hensoldt fixiert, das nicht Vermögens- Bundesrepublik dass Khashoggi getötet worden sei. Der Mord
öffentlich ist. Das Verteidigungsministerium verwalter Deutschland sorgte weltweit für Empörung. Die damalige
erklärt auf Anfrage, der Bund dürfe nur ein- Lazard 25,1 Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und ihr
greifen, wenn »sensitive Aktivitäten« in 5,5 Außenminister Heiko Maas (SPD) verurteil-
Deutschland zu »einer Gefährdung der na- ten die Tat »in aller Schärfe«. Angesprochen
tionalen Sicherheitsinteressen« führten. Dem auf Rüstungslieferungen nach Saudi-Arabien,
SPIEGEL liegt dazu auch ein Dokument von andere Rüstungskonzern erklärte Merkel wenige Tage nach dem Ver-
Hensoldt vor. Demnach erfordere es das Ab- 44,3 Leonardo (30,2 Prozent in schwinden Khashoggis, diese könnten »nicht
kommen, dass die Firma die deutsche Regie- italienischem Staatsbesitz) stattfinden«.
25,1
rung »über alle Geschäftsanbahnungen mit Seitdem hat die Regierung gebetsmühlen-
Saudi-Arabien informiert und, wo nötig, Ge- Aktienkurs in Euro artig wiederholt, dass »derzeit keine neuen
nehmigungen einholt.« 25 Genehmigungen für die Ausfuhr von Rüs-
Unwahrscheinlich also, dass die Regierung 12,00 Euro Eröffnungs- tungsgütern nach Saudi-Arabien erteilt« wür-
nichts von den vielfältigen Aktivitäten in 20 kurs beim Börsengang den. Bei bereits bestehenden Genehmigungen
Saudi-Arabien mitbekommen haben soll. 21,00 wirke sie auf Unternehmen ein, mit dem Er-
15
Eröffnungs- gebnis, dass »aktuell grundsätzlich keine Aus-
Der Draht nach Saudi-Arabien kurs fuhren« stattfänden.
Nach der Abspaltung von Airbus knüpfte Hen-
10
soldt an die Geschäftsbeziehungen seines ehe- Der Umweg über die Auslandstöchter
maligen Mutterkonzerns an. Airbus hatte be- Hensoldt ließ sich davon offenbar nicht ent-
reits ab 2009 ein umfangreiches Grenzüber- 5 mutigen. Wenige Wochen nach dem Mord, am
wachungssystem nach Saudi-Arabien expor- Russischer Angriff 27. November, bat der Statthalter in Riad um
tiert. Darauf konnte Hensoldt jetzt aufbauen. 0 auf die Ukraine ein Treffen mit den Special Security Forces.
Das Unternehmen gründete ein Verkaufs- 2021 2022 Die Einheit ist dem Staatssicherheit PSS unter-
büro in Riad, eingetragen im Handelsregister S Quelle: Hensoldt; Stand: 8.September stellt und für die Terrorbekämpfung zuständig.
ˆ

66 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WIRTSCHAFT

Zitat groß - Id mincta ped Spionage, Gegenspionage und der Koordina-


tion sämtlicher Geheimdienstaktivitäten im
ma doluptu sapelluptur? Land liege. Er sei vergleichbar mit der CIA
Me voluptae la sequi nit v oder dem BND, so der Manager.
Den Mord an Khashoggi verniedlichte er
Zitat Name als »Ereignis«. In der internen Firmenpräsen-
tation liest sich das dann so: Nach dem »2018
Ereignis« sei ein ministerielles Komitee ge-
gründet worden, das unter anderem die Me-
thoden des GIP »evaluieren« solle. Auf der
nächste Folie ging es dann wieder ums Ge-
schäft.
Ein besonderes Augenmerk legte Chedau
auf die mutmaßlich von Huthi-Rebellen aus-
geführten Attacken auf Saudi-Arabien. Die-
se greifen Saudi-Arabien immer wieder mit
Raketen und Drohnen an. Im März dieses
Jahres schlugen Geschosse während des Trai-
nings zum Formel-1-Rennen in Dschidda ein
Proteste gegen den Jemen-Krieg,
Ausschnitt aus Hensoldt-Geschäftsan- und trafen eine Anlage des Ölkonzerns
bahnung mit dem Geheimdienst GIP Aramco.
Solche Angriffe sind eine Schmach für die
Herrscherfamilie, weil sie den Eindruck er-
In seinem Schreiben an den Kommandeur wechsel auch an CEO Thomas Müller. Ihm wecken, König Salman sei nicht in der Lage,
der Spezialkräfte warb Chedeau damit, dass dürfte das Werben um die Kundschaft in sein Land zu verteidigen. Deswegen setzen
das Verteidigungsministerium, das Innenmi- Saudi-Arabien nach dem Khashoggi-Mord die Behörden alles daran, Raketen und Droh-
nisterium und die Staatssicherheit PSS zu den also nicht entgangen sein. nen abzufangen. Auch da kann Hensoldts
»prominentesten Kunden« Hensoldts im Kö- Im Juli 2019 warnte Chedeau seine Kolle- Antidrohnensystem Xpeller helfen. Am
nigreich zählten. Seine Firma empfahl er als gen, dass Hensoldts Name in manchen Be- 29. September 2020 gewährte der Geheim-
einen »Hauptausstatter« der saudi-arabischen hörden »komplett verbrannt« sei, weil es als dienst GIP Chedeau eine Audienz, wo er
Behörden in einigen Bereichen der Aufklä- deutsch gelte. Intern zirkulierte ein Schreiben Xpeller präsentieren durfte.
rungstechnik. der saudi-arabischen Seite, sie wolle sich we- In einem unterwürfigen Brief bedankte der
Von der britischen Tochterfirma etwa sei gen des deutschen Exportverbots nach ande- Hensoldt-Mann sich anschließend für die
»Radartechnologie für Überwachungsfahr- ren Ausstattern umsehen. »Transparenz und Professionalität« des Ge-
zeuge der Spezialkräfte« gekommen. Die süd- Also wurde Chedeau erfinderisch. Als neue heimdienstes und versprach, technische und
afrikanische Tochterfirma habe »Lösungen Aufträge für das Grenzsicherungssystem ver- operative Fragen zu beantworten. Auch die,
zur elektronischen Kriegsführung an das Ver- geben wurden, forderte er seine britischen ob es Probleme mit deutschen Behörden ge-
teidigungsministerium geliefert«. Kollegen auf, sich unter ihrem alten Firmen- ben könne.
Solche Auslandsgesellschaften haben di- namen zu bewerben. Auf den Angeboten dür- In einer E-Mail an Kollegen schrieb Che-
verse Vorteile. Einer davon: Produkte mit süd- fe »weder Hensoldt erwähnt noch das Logo deau, es habe ihn »mehr als ein Jahr« gekos-
afrikanischer Technologie kann man in Regio- gezeigt werden«. Es sollten Lösungen angebo- tet, Zugang zum Geheimdienst zu bekom-
nen exportieren, die hierzulande tabu wären. ten werden, die »BAFA FREE« seien. Mit Bafa men. In Klammern fügte er hinzu: »im Kon-
In Hensoldt-Sprech klingt das dann so: Es ist das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhr- text des Journalistenfalls«. Offenbar hatten
ließen sich »Verkaufskanäle« in Länder eta- kontrolle in Eschborn gemeint, das für die ihm die Sanktionen infolge des Khashoggi-
blieren, die von Südafrika »erreichbarer« deutschen Exportkontrollen zuständig ist. Mords die Arbeit erschwert. Von Distanz oder
wären. moralischen Zweifeln ist in seinen E-Mails
[M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: Yahya Arhab, epa-efe, picture alliance, Hani Mohammed / AP

Das Topmanagement trieb den Aufbau von Werben um den Geheimdienst nichts zu vernehmen.
Standorten im Ausland voran. Im Jahr 2019 Der Hensoldt-Mann bandelte sogar mit dem Und es ist auch nicht zu erkennen, dass ihn
unterzeichnete Hensoldt eine Absichtserklä- wichtigsten Geheimdienst des Landes an, dem die Firmenzentrale in Taufkirchen zurück-
rung zur Gründung eines Joint Ventures mit General Intelligence Presidency, kurz GIP. pfiff. Im Gegenteil: Am 1. November 2021
der staatlichen Rüstungsfirma Sami. Ziel sei Jener Organisation, die mutmaßlich in den informierte Chedeau einen deutschen Ver-
es, schrieb Hensoldt damals, eine »lokale Fer- Mord an Jamal Kashoggi verwickelt war. triebsleiter über den geplanten Deal. Der be-
tigung« aufzubauen. In einer internen »Business Opportunity dankte sich und empfahl das Angebot noch
Der Zeremonie sollte laut Unterlagen auch Description« vom Juli 2020 preiste der Fran- zu überarbeiten. Zu verführerisch schien der
Konzernchef Thomas Müller beiwohnen. zose den GIP als den »bedeutendsten Ge- prall gefüllte Geldspeicher des Königs.
Hensoldt stellte die Pläne offenbar sogar dem heimdienst des Landes« an, dessen Fokus auf Ende 2021 nahm das Projekt Gestalt an.
Bund vor, wie eine E-Mail nahelegt, und ver- Auch das Hauptquartier des GIP sollte offen-
wies im Anhang auf die Sicherung von bar mit Hensoldt-Technik beschützt werden.
Arbeitsplätzen in der Hensoldt-Gruppe. Die Chedeau informierte einen Kollegen, dass
Regierung und Hensoldt ließen Fragen zu dem eine Struktur für den Deal gefunden worden
Joint Venture unbeantwortet. sei. Demnach sollte die saudi-arabische Firma
Wenige Wochen später schrieb ein deut- Moteco der Hauptvertragsnehmer werden,
scher Hensoldt-Manager an den Chef der bri-
tischen Konzerntochter, er solle sich bei einer
»Wir sind weiter in Hensoldt würde zuliefern: »Die HENSOLDT-
Technologie (Sensoren und Effektoren und
anstehenden Sitzung auf den Status der »Key täglichem Kontakt mit der Software) sollte nach Saudi-Arabien expor-
Campaigns« konzentrieren, darunter Saudi-
Arabien. Diese seien »entscheidend« für den
Bundesregierung.« tierbar und die Exportlizenz in weniger als
6 Monaten nach Endverbleibserklärung er-
Erfolg von Hensoldt. In Kopie ging der Mail- Stefan Hess, Hensoldt-Cheflobbyist hältlich sein.«

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 67


WIRTSCHAFT

Schiffe der sogenannten Al-Jouf-Klas-


se liefern. Da der Deal über die briti-
sche Tochterfirma läuft, gilt auch hier:
Das Bundesamt für Ausfuhrkontrolle
ist außen vor.
Ob die Regierung dem Deal zu-
gestimmt hätte? Den genehmigten
Export von Patrouillenbooten ähn-
licher Größe und Bauart durch die
deutsche Lürssen-Werft hat sie nach
dem Khashoggi-Mord gestoppt.

Doppeltes Spiel
Doch so sehr sich Politiker der Gro-
ßen Koalition in öffentlichen State-
ments für ihre restriktiven Export-
kontrollen rühmten – hinter den Ku-
lissen wurde Hensoldt unterstützt.
Das legen Unterlagen und E-Mails
zu einem weiteren Auftrag der saudi-
arabischen Marine nahe. Dabei geht
es um fünf Korvetten, die ein Joint
Venture aus der staatlichen saudi-­
arabischen Rüstungsfirma Sami und
der spanischen Werft Navantia baut.
Hensoldt sollte moderne Radare für
die Kriegsschiffe zuliefern, wie eine
Ob das Geschäft damals zustande im Aufsichtsrat war, oder aus Grün- entsprechende Geheimhaltungsver-
kam, geht aus den Unterlagen nicht den der Vertraulichkeit nichts mittei- einbarung vom Dezember 2020 zeigt.
hervor. len«. Burkhard Schwenker erklärte, Als das Geschäft in die heiße Phase
Hensoldt ließ Fragen zu konkreten Geschäfte mit Saudi-Arabien, auch ging, galt bereits das generelle Aus-
Projekten unbeant­wortet. über die Auslandsgesellschaften, sei- fuhrverbot.
en »kein Thema im Aufsichtsrat« ge- Für solche kniffligen Fälle hält
Unter den Augen des Bundes wesen, die Gründung des Ablegers in Hensoldt in Berlin eine eigene Lob-
Dass Firmen versuchen, rechtliche Riad ebenfalls nicht. byistentruppe bereit. Deren langjäh-
Schlupflöcher auszunutzen, um poli- Es hätte für den Bund viele Grün- riger Chef, Stefan Hess, gehört dem
tische Vorgaben zu umgehen, ist de gegeben, misstrauisch zu werden. Exekutivkomitee des Konzerns an,
schon dreist genug. Dass es sich in Angefangen bei der Gründung eines einer Art erweitertem Vorstand. Am
diesem Fall um ein Unternehmen Hensoldt-Ablegers in Riad bis hin zu 27. Januar 2021 informierte der Chef-
handelt, an dem die Bundesregierung dem geplanten Joint Venture mit Auf Wachs- lobbyist mehrere Kollegen in einem

Adobe Photoshop 23.5 (Macintosh) / [M] Lina Moreno / DER SPIEGEL; Fotos: AFP, Joris van Gennip / laif, Getty Images, REUTERS
mit einem Anteil von 25,1 Prozent Sami. Von den vielen Abkommen mit tumskurs »kurzen Update« zu Saudi-Arabien,
der Aktien die Sperrminorität besitzt, saudi-arabischen Partnern mal abge- dass Verhandlungen zu einem »Ab-
müsste in Berlin die Alarmglocken sehen. Dem SPIEGEL liegen insge- Umsatz der kommen« laufen würden. »Wir sind
schrillen lassen. Im Hensoldt-Auf- samt rund ein Dutzend solcher Do- Hensoldt AG, weiter in täglichem Kontakt mit der
in Millionen Euro
sichtsrat sitzen zwei Vertreter des kumente vor. Das meiste sind Ab- Bundesregierung.«
Bundes: der Unternehmensberater sichtserklärungen und Geheimhal- 1500 1474 Die Lobbyarbeit schien zu fruch-
Burkhard Schwenker und Ingrid tungsvereinbarungen, die noch kei- ten. Dafür spricht eine weitere Mail,
Jägering, im Hauptberuf Finanzchefin nen Abschluss darstellen, aber die abgeschickt im April 2021. Darin be-
1250
des Sägenherstellers Stihl. Jägering dazu Bereitschaft signalisieren. richtete Hess von einem Brief, den
leitet den Prüfungsausschuss des Gre- Einer der Aufträge, den Hensoldt der damalige Wirtschaftsminister Pe-
miums und kann sich in dieser Funk- tatsächlich gewinnen konnte, wurde 1000 ter Altmaier (CDU), die damalige
tion über alle wichtigen Geschäfts- im Oktober 2021 unterzeichnet. Da- Verteidigungsministerin Annegret
aktivitäten informieren lassen. mals einigte sich der Konzern mit dem 917 Kramp-Karrenbauer (CDU) und der
Im Herbst vergangenen Jahres for- britischen Rüstungshersteller BAE damalige Außenminister Heiko Maas
derte Jägering einen Bericht zu zwei Systems auf die Lieferung von Rada- (SPD) an die spanische Regierung ge-
Firmen an, die Hensoldt erworben ren für saudi-arabische Marineschiffe. 2017 2020 schrieben hätten. In dem Schriftstück
hatte. Darunter war Kelvin Hughes, »Ich möchte mich bei allen bedanken, habe die Ministerriege zugestimmt,
jene britische Tochter, die unter an- die den Verkaufs- und Ausschrei- Mitarbeiter- 6316
sich mit Spanien auf ein Exportab-
derem an den Geheimdienst GIP lie- bungsprozess in den letzten Jahren zahl kommen zu einigen, das jenem mit
fern sollte. Auch der andere Zukauf, geduldig und enthusiastisch unter- Frankreich ähnelt.
Euroavionics, war gemäß einem Prä- stützt haben«, schrieb der zuständige 4049 Möglicherweise bezog er sich da-
sentationsentwurf in Saudi-Arabien Verkaufsleiter. Das Volumen des Auf- mit auf das »Abkommen über Aus-
aktiv. Wurde Jägering über die Ge- trags beträgt laut internen Unterlagen fuhrkontrollen im Rüstungsbereich«,
schäfte in Nahost informiert? Und rund zwei Millionen Euro. das Deutschland und Frankreich im
wenn ja: Unternahm sie etwas da- BAE bringt im Auftrag des Golf- Oktober 2019 geschlossen hatten. Die
gegen? Auf Anfrage teilte Jägering staats drei ältere Minensucher auf den Bundesrepublik verpflichtete sich da-
mit, sie könne »mangels eigener neuesten Stand. Hensoldt soll als Sub- 2017 2020 rin, dem Export französischer Rüs-
Kenntnis, auch weil es nicht Thema unternehmer neue Radare für die S Quelle: Hensoldt tungsgüter nicht im Wege zu stehen,


68 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WIRTSCHAFT

wenn deutsche Bauteile nur einen kleineren edeutsch-französischen Rüstungsabkommen

FASZINATION
Teil des Gesamtprojekts ausmachen. bei. Seitdem können deutsche Bauteile unter
Galt dieses Schlupfloch künftig also auch bestimmten Voraussetzungen ganz legal nach

ERDE
für Spanien? Hess zumindest schien ganz be- Saudi-Arabien ausgeliefert werden, wenn hie-
seelt: »Vielen Dank … a n … alle, die bisher sige Firmen für Projekte aus den Partnerlän-
da ran beteiligt waren. Dies ist wieder ein dern mit im Spiel sind.
wichtiger Schritt für Hensoldt in Berlin und Für das Korvettengeschäft mit Sami und
hoffentlich ein Schub für unser zukünftiges Navantia kam das Abkommen wohl zu spät.
Marine-Radargeschäft.« Die Spanier sagten den Deutschen nach lan-
Auf Anfrage wollten sich die damals be- gem Zögern ab. Aus Regierungskreisen heißt
teiligten Ministerien zu dem Vorgang nicht es, seit 2018 seien »keine Genehmigungen«
äußern. für den entsprechenden Radartyp nach Saudi-
Ob es wirklich nur an Hess und den Kor- Arabien erteillt worden.
vetten lag oder andere europäische Projekte Doch das nächste Kriegsschiff wird be-
eine Rolle spielten, sei dahingestellt. Im Sep- stimmt gebaut. Und bei Hensoldt hat man das
tember 2021 trat Spanien jedenfalls dem Potenzial der neuen deutsch-spanisch-fran-
zösischen Vereinbarung längst erkannt. In
einer internen Präsentation zu Saudi-Arabien
Woher die Daten kommen wurde empfohlen, »herauszufinden«, wie
Anfang des Jahres schrieb ein langjähriger man daraus Vorteile ziehen könnte.
Informant einem SPIEGEL-Reporter um kurz
vor zwei Uhr nachts: »Lorenz hat Hensoldt Die Unterwerfung
gehackt.« Hensoldt? Die Rüstungsfirma, an Das Rüstungsexportkontrollgesetz, das die
der der Bund für 450 Millionen Euro eine Ministerialen von Robert Habeck zurzeit er-
Sperrminorität erwarb, um »besondere na- arbeiten, wird am Abkommen mit Spanien
tionale Interessen« zu schützen? und Frankreich vermutlich nichts ändern.
Der Informant übermittelte einen Link, der Zeitenwende eben. Europas Rüstungsindus-
ins sogenannte Darknet, dem »versteckten« trie soll gestärkt werden. Da muss die werte-
Teil des Internets, führt. Die Daten sind of- orientierte Außenpolitik, der sich Habecks
fensichtlich gestohlen. Immer wieder gelan- Parteifreundin Annalena Baerbock verschrie-
gen Hacker widerrechtlich in Betriebssyste- ben hat, mitunter zurückstehen.
me, saugen Daten ab und verschlüsseln sie, Hensoldt blickt in eine goldene Zukunft.
legen manchmal sogar die gesamte IT der Der Aktienkurs hat sich seit dem russischen
Firmen lahm. Gegen eine Geldzahlung, zu- Angriffskrieg in der Ukraine um etwa zwei
meist in Kryptowährung, können die Unter- Drittel erhöht, der Konzernumsatz ist im ers-
nehmen die Kontrolle über ihre Daten und ten Halbjahr um 40 Prozent gestiegen, was
Systeme wiedererlangen. Zahlen sie nicht, Hensoldt vor allem mit der Aufrüstung der 288 Seiten, durchgehend vierfarbig,
werden die Daten ins Netz gestellt, so die Bundeswehr begründet. Am Golf will das gebunden � 24,00 €
Drohung. Es ist ein perfides Business. Unternehmen eine eigen­ständige Gesellschaft
Manchmal können gestohlene Daten aber nach saudi-arabischem Recht gründen, die
auch Hinweise auf Straftaten oder anderes den exis­tierenden Ableger der deutschen Hol-
Fehlverhalten liefern. Dann werden sie inte­ ding ­ablöst.
ressant für Journalisten. Doch darf man Ganz freiwillig sind die Pläne nicht. Das Qualmende Vulkane,
diese Daten als Reporter auswerten, für Re- saudische Königshaus verfolgt mit seiner einsame Wüsten,
cherchen nutzen? Die vereinfachte juristi- »Vision 2030« den Aufbau einer eigenen traumhafte Atolle
sche Antwort lautet: Ja. Solange Journalis- Rüstungsindustrie und verpflichtet Unter-
ten Hacker nicht zu Straftaten auffordern nehmen, Bauteile vor Ort zu produzieren und pulsierende Metropolen:
oder anstiften, dürfen sie solches Material und damit Wissen und Technologie zu trans- Über 50 faszinierende
entgegennehmen und darin recherchieren. ferieren. Aufnahmen aus dem All und
Journalistisch ist die Abwägung schwieriger: Hensoldt scheint sich den Vorgaben zu
Unterstützt man auf diese Weise Erpresser? unterwerfen. In einer Präsentation erwog der die spannenden Geschichten
Gibt man Kriminellen damit nicht eine Bühne? Konzern, sogenannte Gimbals vom Typ Ar- dahinter präsentiert
Wir haben diese Fragen debattiert und sind gos II zukünftig in Saudi-Arabien entwickeln dieses Buch, basierend auf der
zu folgendem Ergebnis gekommen: Die über- zu lassen. Diese mit Kameras ausgestatteten
mittelten Daten dienen uns lediglich als Systeme werden beispielsweise unter Kampf- beliebten SPIEGEL-Kolumne
Startpunkt für die Recherche, wir prüfen die drohnen befestigt, um Ziele zu erfassen. Im »Das Satellitenbild
Inhalte, befragen diejenigen, denen wir Vor- Jemen-Krieg kamen die kugelförmigen Ge- der Woche«.
würfe machen, holen Meinungen von exter- räte wohl bereits zum Einsatz, wie Green-
nen Experten ein. Wir stellen den Hackern peace anhand von Videoaufnahmen bei You-
keine inhaltlichen Fragen. Tube herausgefunden haben will.
Und wir veröffentlichen nur, wenn die Re- Mit diesem Schritt hätte Hensoldt gleich
cherche eine hohe gesellschaftliche Rele- zwei Ziele auf einmal erreicht. Das Königs-
vanz hat. Das ist bei umstrittenen Rüstungs- haus wäre besänftigt. Und das Problem mit
deals der Fall. Jedenfalls dann, wenn ein den Exportgenehmigungen hätte sich end-
Unternehmen wie Hensoldt, an dem die gültig erledigt.
Bundesrepublik beteiligt ist, versucht, Märkte Sven Becker, Rafael Buschmann,
zu erschließen, die ihnen eigentlich politisch Matthias Gebauer, Theresa Locker, Nicola Naber,
und moralisch verschlossen bleiben sollten. Niklas Olschewski, Gerald Traufetter n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 69


www.dva.de
WIRTSCHAFT

tenposten zu bewerben. Dabei sahen


sie viele als Buhrows natürliche Nach-
folgerin beim WDR.
Dass man nun eine Hoffnungsträ-
gerin der Senderfamilie auf den für

Liebesgrüße aus Köln


viele Beobachter hoffnungslos erschei-
nenden Posten der RBB-Intendanz
hebt, suggeriert den Willen der ARD,
sich aus eigener Kraft zu reinigen.
Indes demonstriert die neu be-
ANALYSE  Nach dem Skandal um Vetternwirtschaft beim RBB soll nun kannt gewordene mutmaßliche Vet-
die WDR-Managerin Katrin Vernau in der ostdeutschen ternwirtschaft im Landesfunkhaus
Hamburg des NDR, wie massiv die
Anstalt aufräumen – wieder eine Frau aus dem Westen. Eine gute Idee? Probleme der ARD bei der Selbst-
kontrolle sind. Dabei soll im Oktober
der neue Medienstaatsvertrag von

I
m Osten des ARD-Senderver- den Ministerpräsidenten unterzeich-
bunds regiert der Westen. Es ist net werden; es wäre der richtige Zeit-
keinen Monat her, da wurde punkt, genauer zu schauen, was Ver-
Patri­cia Schlesinger als Intendantin waltungs- und Rundfunkräte alles so
des RBB entlassen; vorausgegangen übersehen. Das will die Politik aber
waren Enthüllungen über Boni-Zah- nicht. Sie ist zurzeit vollauf damit
lungen, Beraterverträge und angeb- ­beschäftigt, die multiplen Krisen zu
lich falsch abgerechnete Abendessen. managen. Für die komplizierte Me-
Schlesinger bestreitet die Vorwürfe. dienpolitik hat wohl niemand Kraft

Annika Fußwinkel / WDR


Sie war 2016 aus der Leitungsebene übrig – jedenfalls nicht auf Minister-
Britta Pedersen / dpa

des NDR in Hamburg in die Chefin- präsidentenebene.


nenposition in Brandenburg und Ber- In der zweiten Reihe aber mehrt
lin aufgerückt. Nun folgt ihr als Inte- sich der Widerstand. So fordert der
rimsintendantin Katrin Vernau, die parlamentarische Geschäftsführer der
seit 2015 als Verwaltungsdirektorin CDU-Landtagsfraktion Sachsen-An-
für den WDR in Köln tätig ist. innig erwidert. Dass es mit Vernau Ex-RBB-Chefin halt, Markus Kurze: »Vor dem Hinter-
Vernau findet in der Zweiländer- nur eine einzige Kandidatin gab, die Schlesinger, grund der Selbstbedienungsmentali-
Interimsintendantin
anstalt ein Haus in Aufruhr vor und der Rundfunkrat abnicken sollte, Vernau tät in Teilen der oberen Etagen sollte
sieht sich vor die Doppelaufgabe ge- passte vielen in der Belegschaft nicht. der neue Medienstaatsvertrag nicht
stellt, die Belegschaft zu befrieden und Zumal mehrere potenzielle Kandida- einfach abgenickt werden. Er sollte
Strukturmaßnahmen voranzutreiben. ten und Kandidatinnen nicht einmal nachgebessert werden, vor allem in
Da sind Sensibilität und rustikales Zu- kontaktiert wurden – darunter, so Hinblick auf die Kontrollinstanzen,
packen gleichermaßen gefragt. Letzte- heißt es aus dem ARD-Umfeld, wohl sonst verlieren die Menschen voll-
res kann sie. So gelang es Vernau als auch Ex-­Verteidigungsminister Tho- ends das Vertrauen in den öffentlich-
Verwaltungsdirektorin in Köln, hinter mas de Maizière. Der Findungspro- rechtlichen Rundfunk.«
den Kulissen geräuschlos in #MeToo- zess wirkte abgekartet, und dass an Man kann das als die üblichen kri-
Fälle verstrickte Mitar­beiter abzuwi- dessen Ende eine Kandidatin stand, tischen Aufwallungen von schwarzen
ckeln und gleichzeitig sportliche Spar- die mal Partnerin bei der Unterneh- Fundis gegen die als rot gefärbt gel-
vorhaben anzuschieben. Selbst ihre mensberatung Roland Berger Strate- tende ARD abtun – allerdings könn-
Fans beim WDR sagen allerdings, dass gy Consultants war, erscheint man- te schon die Blockadehaltung aus
Empathie nicht zu ihren Stärken zähle. chen im Haus dann doch arg viel ge- Sachsen-Anhalt reichen, um den Me-
Vernau nimmt gern den eisernen Besen ballte wirtschaftliche Kompetenz auf dienstaatsvertrag zu kippen. Erst
zur Hand. Dafür war ihr der Dank des einem Posten, für den auch journalis- Ende 2020 hat das Landesparlament
WDR-Intendanten und kommissari- tisches Verständnis wichtig ist. dort die Erhöhung des Rundfunkbei-
schen ARD-Vorsitzenden Tom Buhrow Für noch mehr Verdruss sorgt bei trags verhindert (die dann vom Bun-
sicher – der sie nun, wie es heißt, als den RBB-Leuten allerdings, dass Ver- desverfassungsgericht doch noch
Kandidatin für die Position lanciert nau bisher fast nur im Westen gelebt durchgesetzt wurde). In Anbetracht
habe. Die RBB-Rundfunkratsvorsit- und gearbeitet hat. Damit wiederholt des wachsenden Unmuts der Ge­
zende widersprach dem inzwischen. sich ein Fehler, der auch schon bei der bührenzahler steigt auch der Druck
Buhrow war es auch gewesen, der Personalie Schlesinger gemacht wur- auf die Politik, die Sicherheitsstruktur
Mitte August eine historisch einmali-
ge Maßnahme ergriffen hatte: In sei-
de. Auch die kannte sich im Berliner
Umland nicht aus. Programmtech-
Es wäre des Rundfunks zu reformieren; da
braucht es wohl eine wirksamere
ner Funktion als ARD-Frontmann nisch versuchte sie, mit Sendungen der richtige ­externe Aufsicht.
distanzierte er sich im Namen von
acht ARD-Häusern von der Schmud-
zu punkten, die überregional strahl-
ten; das Lokale blieb dahinter zurück.
­Zeitpunkt, Davor aber graut den ARD-Gran-
den. Mit der eiligst vorangetriebenen
delanstalt – und isolierte sie so. Nach Dass sie es trotzdem ernst meint genauer zu Personalie Vernau versuchen sie
der Ächtung folgt mit der Aufstellung
der WDR-Frau nun die Umarmung,
mit dem neuen Job, bekräftigte Ver-
nau durch einen interessanten Move
schauen, was auch, die Feuer innerhalb ihres Rei-
ches nicht auf den gesamten Sender-
Motto: Wir haben euch so lieb, wir bei der internen Vorstellung im Rund- Rundfunk- verbund überspringen zu lassen und
schicken euch unsere beste Frau.
Die Liebesgrüße aus Köln werden
funkrat: Da sagte sie, sie könne sich
gut vorstellen, sich nach ihrer einjäh-
räte alles so die Politik auf Abstand zu halten.
Botschaft: Wir löschen selbst.
in Berlin und Brandenburg nicht so rigen Interimszeit auf den Intendan- übersehen. Christian Buß, Anton Rainer  n

70 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WIRTSCHAFT

»Das muss jetzt schnell gehen –


wir werden sonst lauter«
SPIEGEL-GESPRÄCH  DGB-Chefin Yasmin Fahimi, 54, warnt vor einer Deindustrialisierung der
deutschen Wirtschaft und fordert weitere Milliardenhilfen der Bundesregierung
für Unternehmen und Beschäftigte. Notfalls will sie den Protest auch auf die Straße tragen.

SPIEGEL: Frau Fahimi, Deutschland


steht vor einer Rezession, das alltäg-
liche Leben wird für viele Familien
unbezahlbar, die Zustimmungswerte
der Bundesregierung sind abgestürzt.
Wie schlimm wird diese Krise noch?
Fahimi: Das hängt ganz davon ab, wie
schnell und konsequent die Bundes-
regierung die versprochenen Maß-
nahmen umsetzt. Im Moment ist
­völlig ungewiss, was uns noch bevor-
steht.
SPIEGEL: Laut einer Forsa-Umfrage
halten nur mehr 29 Prozent der Bür-
ger den Staat für handlungsfähig, das
ist demokratiegefährdend niedrig.
Fahimi: Wir sollten Kritik an der je-
weiligen Bundesregierung nicht mit
grundsätzlicher Kritik an der Demo-
kratie verwechseln. Die Menschen
zweifeln nicht an der Staatsform. Sie
sind aber frustriert über eine Verwal-
tung, die nicht mehr funktioniert, weil
sie über die Jahre zusammengespart
wurde.
SPIEGEL: Für viele Menschen dürfte
sich die Funktionsfähigkeit des Staa-
tes vor allem daran bemessen, was er
mit seinem Geld bewirkt. Der Staat
gibt Milliarden für Hilfspakete aus,
viele Menschen merken nur wenig
davon.
Fahimi: Das ist leider wahr, selbst
­reguläre Sozialleistungen kommen ja
häufig nicht an. Das sehen wir etwa
beim Wohngeld, das nicht einmal von
der Hälfte der Berechtigten beantragt
wird. Wir haben manchmal eine ge-
waltige Kluft zwischen Gesetz und
Praxis.
SPIEGEL: Sind die Entlastungspakete
jetzt eine Hilfe?
Marlena Waldthausen / DER SPIEGEL

Fahimi: Das 9-Euro-Ticket war eine


gute Idee, die Einmalzahlung von 300
Euro spüren die Bürger auf ihren
Konten. Anderes wiederum war auch
schlicht falsch. Der Tankrabatt war
eine Entlastung mit der Gießkanne
und hat denjenigen, die es am drin-
gendsten gebraucht hätten, kaum ge-
holfen. Insgesamt reichen die Ent­ Gewerkschafterin Fahimi: »Die Lohn-Preis-Spirale ist ein Märchen«

72 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WIRTSCHAFT

lastungen nicht, die Belastungen sind uns verhandeln. Wer erwartet, dass
schlicht zu groß. Wir fordern deshalb Reale Einbußen wir in dieser Phase die Füße still­
noch in diesem Jahr eine weitere halten und uns auf möglichst niedrige
Erhöhung der Tariflöhne, in Prozent gegenüber dem Vorjahr
Energiepreispauschale von 500 Euro Abschlüsse einlassen, ist schiefge­
pro Person. nominal real* wickelt.
SPIEGEL: Finden Sie es richtig, dass SPIEGEL: Das klingt nach sehr tradi-
3 2,9
die Menschen gegen die hohen Ener- tionellen Klassenkampfparolen.
giepreise auf die Straße gehen? 2 Fahimi: Wir können da schon unter-
Fahimi: Es ist wichtig, dass die Bür- scheiden. Wir sehen den Druck, unter
2
ger ihre Erwartungen an die Politik dem gerade energieintensive Unter-
deutlich machen. Einigen der Grup- 0 nehmen oder soziale Einrichtungen
pen, die zum Protest aufrufen, geht ohne Rücklagen stehen. Aber das ist
−1
es allerdings nicht um konkrete vor allem Sache der Politik: Für diese
­Forderungen. Die wollen unsere Ge- −2 Betriebe muss es Unterstützung ge-
sellschaftsordnung destabilisieren ben, etwa durch ein funktionierendes
−3
und instrumentalisieren dafür die -3,6** Kurzarbeitergeld oder einen Schutz-
Menschen. schirm.
2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
SPIEGEL: Die Linkspartei etwa, die in SPIEGEL: Als das Bodenpersonal der
* abzüglich der Verbraucherpreise; ** vorläufiges Ergebnis auf der Grundlage aller
Leipzig gerade Tausende für eine bis zum 30. Juni vereinbarten Tariferhöhungen Lufthansa streikte, soll es Morddro-
Demonstration mobilisiert hat? S Quelle: WSI hungen gegeben haben, wie die Ge-
Fahimi: Ich kann nicht nachvollzie- werkschaft Ver.di berichtete. Was,
hen, was manche Vertreter der Links- Fahimi: Wir haben immer eine be- wenn die Stimmung im Land kippt
partei so von sich geben. Wenn da sondere Verantwortung. Wir stehen und ins Gewerkschaftsfeindliche um-
etwa über eine Straffreiheit für für eine verantwortungsvolle Tarif- schlägt?
Schwarzfahrer gefaselt wird als politik. Fahimi: Wir werden nicht akzeptie-
­Reaktion auf das 9-Euro-Ticket, dann SPIEGEL: Wenn die Lohnrunden be- ren, dass gesellschaftliche Hetze und
ist das absurder und populistischer ginnen, erwarten viele Beschäftigte politische Aggression das Klima in
Unsinn. Wir als Gewerkschaften wer- einen kräftigen Aufschlag, um die In- der Arbeitswelt prägen. Wir erwarten
den uns nicht vor den Karren solcher flation auszugleichen. Das kann die Respekt, gerade auch, wenn Beschäf-
Initiativen spannen lassen. schwächelnde Konjunktur vollends tigte ihre vollkommen legitimen
SPIEGEL: Auch IG Metall und Ver.di abwürgen. Rechte wahrnehmen und für faire
erwägen doch Proteste, sollten die Fahimi: Unsere Tarifergebnisse sind Arbeitsbedingungen streiken. Als
Entlastungen nicht ausreichen. nicht Verhandlungsmasse für die DGB haben wir bereits eine Kampa-
Fahimi: Das ist auch richtig. Wir sind ­Po­litik zur Lösung historischer Kri- gne gestartet, die heißt: Vergiss nie,
konstruktive Partner der Politik, wir sen. Das kann man nicht auf uns ab­ hier arbeitet ein Mensch.
stehen für diese Demokratie. Aber wälzen. Klar ist: Die Beschäftigten SPIEGEL: Kommende Woche treffen
wir werden uns im DGB genau Ge- müssen einen gerechten Anteil am Sie sich erneut zur konzertierten Ak-
danken darüber machen, wie wir wirtschaftlichen Erfolg der Unterneh- tion im Kanzleramt, um mit Vertre-
unserer Stimme noch mehr Gewicht men bekommen. Die Gewinne und tern von Wirtschaft, Bundesregierung
verleihen – in den Betrieben oder auf Dividenden sind nach wie vor exor- und Bundesbank zu beraten, wie sich
Demonstrationen. bitant hoch. Es gibt für uns keinen die Krise eindämmen lässt. Was soll
SPIEGEL: Wann gehen Sie selbst auf Anlass zur Zurückhaltung bei den dabei herauskommen?
die Straße? Löhnen. Natürlich achten wir dabei Fahimi: Ich erwarte belastbare Ergeb-
Fahimi: Das hängt von der Politik ab. auf die wirtschaftlichen Spielräume nisse. Es ist wichtig, dass wir uns über
Wir halten etwa einen Gaspreisdeckel der Stand­orte. die zentralen Fragen austauschen:
für dringend notwendig. Jetzt soll SPIEGEL: Ökonomen warnen vor Wie bekämpfen wir die Inflation?
eine Expertenkommission darüber einer Rezession. Macht Ihnen das kei- Wie stellen wir eine Energieversor-
beraten. Meine Botschaft an die Bun- ne Angst? gung zu bezahlbaren Preisen sicher?
desregierung ist: Wir werden nicht Fahimi: Die Rezession hat ja nichts Wie schützen wir Standorte und Be-
einfach die Hände in den Schoß legen. mit der Lohnentwicklung in Deutsch- schäftigung?
Wir werden auch nicht wochenlang land zu tun. Die Lohn-Preis-Spirale SPIEGEL: In den kommenden Wochen
auf eine Einladung zu Gesprächen ist ein Märchen. Das Problem sind starten die wichtigen Tarifverhand-
warten. Das muss jetzt schnell ge- die explodierenden Energiepreise, ge- lungen der IG Metall, von Ver.di und
hen – wir werden sonst lauter. störte Lieferketten und die Gefahr, der IGBCE. Werden die dann vom
SPIEGEL: Wie wollen Sie denn sicher- dass Kaufkraft und Binnennachfrage Kanzleramt eingesungen?
stellen, dass Ihre Proteste nicht von sinken. Das sollte uns zusätzlich mo- Fahimi: Die Tarifverhandlungen dür-
Rechtspopulisten und »Querden- tivieren, die Reallöhne anzuheben. fen keinerlei Gesprächsgegenstand
kern« unterwandert werden? Ich halte es nicht für angemessen, den in der konzertierten Aktion sein.
Fahimi: Von Hasspredigern haben wir Menschen Verzicht zu verordnen. Eine Diskussion über Löhne hat im
uns immer distanziert. Wir demons- SPIEGEL: Halten Sie es für angemes- Kanzleramt nichts zu suchen. Das
trieren unter unserer eigenen Flagge. »Ich halte es sen, in derart unsicheren Zeiten mit war von Anfang an unsere Bedin-
Unsere Vorstellungen passen über-
haupt nicht zu Rechtspopulisten, die
nicht für ange­ Streiks zu drohen?
Fahimi: Selbstverständlich.
gung.
SPIEGEL: Die Ampelkoalition will Ein-
zum Beispiel alle Russlandsanktionen messen, den SPIEGEL: Produktionsausfälle könn- malzahlungen der Unternehmen an
ablehnen. Menschen ten so manches Unternehmen in die ihre Beschäftigten bis 3000 Euro von
SPIEGEL: Haben die Gewerkschaften Pleite treiben. Steuern und Abgaben befreien. Das
in der Krise eine besondere ökono- Verzicht zu Fahimi: Das können die Arbeitgeber klingt nach einer Vorlage für die Kon-
mische Verantwortung? ver­ordnen.« vermeiden, indem sie ordentlich mit zerne, sich einmalig großzügig zu

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 73


Teste jetzt WIRTSCHAFT

gelungen ist, die Gasspeicher aufzufüllen und


kostenlos alternative Lieferungen sicherzustellen. Das
stimmt mich optimistisch, wird aber nicht
­reichen. Wir haben uns alle darauf verlassen,
Podcasts und dass Gas die Brückenenergie ist, während wir

Marlena Waldthausen / DER SPIEGEL


aus der Kohle und der Kernkraft aussteigen.
Es ist deshalb richtig, kurzfristig vor allem
Hörbücher eine Renaissance der Kohleverstromung zu
ermöglichen. Vor allem aber müssen wir den
Umstieg auf die Erneuerbaren schneller
­schaffen.
SPIEGEL: Das wird den Unternehmen nicht
helfen, die jetzt akut in Not geraten.
Fahimi (M.), SPIEGEL-Team* Fahimi: Natürlich ist die aktuelle Lage besorg-
niserregend. Einige Unternehmen kommen
­ eigen und bei den regulären Lohnerhöhun-
z an ihre Grenzen, und es droht ein Domino-
gen eher zu knausern. effekt, der zu einer Deindustrialisierung in
Fahimi: Nein. Das ist eine Aufforderung der Deutschland führen könnte. Das wäre eine
Bundesregierung, auch unabhängig von Tarif- Katastrophe. Die Bundesregierung muss be-
verhandlungen über zusätzliche Entlastungen drohte Unternehmen absichern und dafür
zu reden. Wenn Teile der anstehenden Tarif- sorgen, dass dort ein Mindestmaß an Produk-
abschlüsse jetzt zeitweise steuerfrei gestellt tionskapazitäten erhalten bleibt, um in einer
werden, begrüßen wir das. besseren Phase die Standorte wieder hoch-
SPIEGEL: Die Koalition plant 65 Milliarden fahren zu können. Wer jetzt den Laden dicht-
Euro für ihr jüngstes Entlastungspaket ein, macht, kommt nie wieder. Das muss uns klar
gerade mal die Hälfte ist durch den Bundes- sein.
haushalt gedeckt. SPIEGEL: Fürchten Sie eine neue Massen-
Fahimi: Ich mache mir Sorgen, dass im Gegen- arbeitslosigkeit?
zug einfach an anderen Stellen gekürzt wird. Fahimi: Ohne aktives Gegensteuern kann es
Wir sehen das im Haushalt des Gesundheits- in einigen Bereichen zu nennenswerten Ent-
ministeriums, wo der Bundeszuschuss für den lassungen kommen, während wir anderswo
Gesundheitsfonds reduziert wird. Das kann weiter unter dem massiven Fachkräftemangel
zu höheren Beiträgen der gesetzlichen Kran- leiden. Das wäre eine schizophrene Lage, ein
kenkassen führen und die Entlastungen für absoluter GAU. Die Folgen für den sozialen
die Menschen wieder entwerten. Solche Re- Frieden in unserem Land will ich mir nicht
chentricksereien machen wir nicht mit. vorstellen.
SPIEGEL: Woher soll das Geld stattdessen SPIEGEL: In der Pandemie ging man davon
kommen? aus, Arbeitsplätze lediglich über einen klar
Fahimi: Ich halte es für richtig, Übergewinne begrenzten Zeitraum hinüberretten zu müs-
von Krisenprofiteuren abzuschöpfen. Sinnvoll sen. Das Kurzarbeitergeld galt da als Allheil-
wären außerdem eine Vermögensteuer, eine mittel. Kann das auch diesmal funktionieren?
höhere Stufe beim Spitzensteuersatz, eine Fahimi: Wir können den Verlauf von Krisen
Vermögensabgabe. Wir können die Kosten nicht vorhersagen. Es geht darum, irgendwie
nicht einfach den Gering- und Normalver- durch den Winter zu kommen. Danach ent-
dienern überlassen. spannt sich die Lage hoffentlich wieder.
SPIEGEL: All das fordern die Gewerkschaften SPIEGEL: Sie waren mal Generalsekretärin der
seit Jahren erfolglos. Warum sollte sich das SPD. Fällt es Ihnen heute schwer, die Genos-
ausgerechnet unter einem FDP-Finanzminis- sinnen und Genossen in der Regierung zu
Nach der kostenlosen Testphase kostet ter ändern? kritisieren?
die Podimo-App nur 4,99€ im Monat. Hier Fahimi: Wir machen ein breites Angebot, wie Fahimi: Ganz und gar nicht. Ich habe mich
große Vermögen zur Finanzierung der not- noch nie davor gescheut, meine eigene Partei
kannst du unbegrenzt Hunderte exklusive wendigen Entlastungen eingesetzt werden zu kritisieren, wenn es mir notwendig er-
Podcasts ohne Werbung sowie 10 Stunden können. Wenn die Politik auf all diese Op­ schien. Ich empfinde meine Erfahrungen an
Hörbücher mit einer Auswahl von über tionen verzichtet, muss sie im Zweifel auf das verschiedenen Stellen der SPD eher als nütz-
Einhalten der Schuldenbremse verzichten. lich für meine heutige Arbeit. Ich weiß, wie
20.000 Titeln hören. Jederzeit kündbar, SPIEGEL: Sie haben Anfang Mai gegenüber Regierung, Ministerien und Parteien funktio-
keine Vertragsbindung. dem SPIEGEL gewarnt, bei einem sofortigen nieren. Und ich weiß, wo die Grenzen der
Gasstopp Russlands könnten ganze Branchen Politik liegen.
verschwinden, es drohe ein Niedergang der SPIEGEL: Wie erklären Sie sich denn, dass die
Industrie. Inzwischen schickt Wladimir Putin Umfragewerte der SPD und von Kanzler Olaf
Scanne dafür hier tatsächlich kein Gas mehr durch die Pipe­- Scholz derart abgestürzt sind?
den QR Code line Nord Stream 1. Waren Sie da zu alarmis- Fahimi: Das sind Stimmungen, die sich im
tisch? Zweifel wieder drehen. Ich glaube, wir wer-
Fahimi: Im Gegenteil. Wir sind inzwischen den erst am Ende der Legislatur wirklich ein-
zwar besser auf den Winter vorbereitet. Ich schätzen können, wer in der Koalition erfolg-
bin beeindruckt, wie es der Bundesregierung reich war und wer nicht.
SPIEGEL: Frau Fahimi, wir danken Ihnen für
* Kevin Hagen und Cornelia Schmergal in Berlin. dieses Gespräch. n

74 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


Gehen Sie auf Zeitreise
im SPIEGEL-Archiv
Mit SPIEGEL+ können Sie in allen Titeln bis hin zum ersten Heft von
1947 stöbern. Zusätzlich genießen Sie die aktuelle digitale Ausgabe
freitags ab 13 Uhr, alle S+-Artikel auf SPIEGEL.de und vieles mehr.

Kostenlosen Probemonat starten:


abo.spiegel.de/plus3

Jetzt
1 Monat
gratis
WIRTSCHAFT

die britische Wirtschaft; die Bank of


England sagt einen langen Abschwung
voraus. Die Teuerungsrate ist über 10
Pro­zent gestiegen – und könnte bis

Broken Britain
zum kommenden Jahr auf 20 Prozent
hochschießen, mahnt die Investment­
bank Goldman Sachs. Selbst der
»Daily Telegraph«, Sprachrohr der
Konservativen, spricht von »Broken
KONJUNKTUR  In Großbritannien ist schon Realität, was Deutschland womöglich Britain«, dem zerbrochenen Britan­
nien.
bevorsteht: Wirtschaft und Konsum stecken im Würgegriff der Inflation. »Die wirtschaftliche Ausgangslage
Die Mittelschicht spart am Essen, und die Armen stellen die Heizung ab. könnte kaum schwieriger sein«, sagt
Nicolai von Ondarza, Großbritannien­
experte der Stiftung Wissenschaft und

I
m Kühlraum der Londoner Metz­ »Es wird tere Zukunft wappnen, die fast alle Politik: »Es wird ein sehr, sehr harter
gerei P. J. Frankland & Son hängen
kiloschwere Rindfleischbrocken.
ein sehr, hier erwarten.
Wer in diesen Septembertagen
Winter für das Land.« Noch härter
als für Deutschland, Frankreich oder
Die Klimaanlage bläst uner­müdlich sehr harter durch Großbritannien reist, bekommt Italien.
Kaltluft auf die kostbaren Stücke. Es Winter.« eine Ahnung, was Deutschland be­ Die Briten müssen zusätzlich zur
brummt und summt. In normalen Zei­ vorstehen könnte, wenn es schlecht Energiekrise die Nachwirkungen des
Nicolai von Ondarza,
ten ist das Lager Martin Franklands Stiftung Wissen- läuft. Der europaweite »Energie­ Brexits schultern. Weiten Teilen der
Schatzkammer. Jetzt ist es vor allem schaft und Politik sturm«, wie die »Financial Times« Wirtschaft fehlt Personal, weil ost­­eu­
sein größter Energiefresser. titelte, hat im Königreich bereits mehr ro­päische Arbeitskräfte in Scharen die
Drei Wochen lang müssen die bes­ sichtbare Schäden angerichtet als jen­ Insel verlassen haben. Zudem seien die
ten Stücke reifen: bei null bis zwei seits des Ärmelkanals. Importkosten für Lebensmittel oder
Grad Celsius. Dann schreitet Frank­ Hunderttausende Briten sind außer­ Chemikalien wegen neuer bürokrati­
land, ein bulliger Endvierziger mit stande, ihre Strom- und Gasrechnun­ scher Vorschriften und aufwendigerer
Kurzhaarschnitt, Shorts und eintäto­ gen zu begleichen. Zehntausende Kontrollen gestiegen, so Ondarza.
wierter Krone auf dem Handrücken, haben sich der von anonymen Orga­ Auch Martin Frankland leidet un­
zur Tat. Er wetzt seine Messer und nisatoren gegründeten Web-Initiative ter den Brexit-Folgen. Kurz nachdem
zerlegt die Brocken: in T-Bone-, Sir­ »Don’t Pay« angeschlossen. Millio­ sein Land aus Zollunion und Binnen­
loin- und Filetsteaks. So macht er es nen haben Angst, im Winter frieren markt ausgestiegen war, gingen die
seit 31 Jahren, seit sein Vater und er zu müssen. Preise für Importfleisch hoch: Enten­
die Metzgerei eröffneten. Die Zahlen sind miserabel: brust aus Frankreich etwa kostete
Der Familienbetrieb hat in diesen Metzger Frankland:
schlechter als bei jedem anderen der statt 7,95 Pfund plötzlich 10 Pfund
drei Jahrzehnten etliche Krisen über­ Nur noch 60 statt sieben großen westlichen Industrie­ pro Kilo. Mittlerweile sind es sogar
standen: den BSE-Skandal, den Aus­ 150 Kunden am Tag staaten (G7). Schon jetzt schrumpft 13,60 Pfund. »Ich musste meine Mar­
bruch der Maul- und Klauenseuche, gen drastisch senken«, sagt er, »sonst
Rezessionen, die Coronapandemie. wären die Preise zu hoch für unsere
Aber »diese Krise wird härter und Kunden, dann kauft das niemand
länger sein«, sagt Frankland. Er spürt mehr.« Statt 75 Prozent Aufschlag
sie ­bereits. Statt 2400 Pfund zahlt er nimmt er nur noch 20 Prozent. Trotz­
nun fast 5000 Pfund (rund 5750 dem sinken die Umsätze.
Euro) jährlich für Strom; das Gros Am späteren Morgen betritt ein
davon geht für den Kühlraum drauf. Mann im Priesterhemd das Geschäft.
Sein Fleisch kauft er durchschnittlich »Wie viel kostet die Entenbrust?«
30 Prozent teurer ein als zu Jahres­ Er zeigt auf eine 600-Gramm-Pa­
beginn. Und anstelle von rund 150 ckung.
Kundinnen und Kunden kommen an »9,99, Sir.«
einem normalen Tag nur noch 60. »Danke, dann komme ich am
Noch hält er durch. Samstag wieder.«
Franklands Horrorszenario ist, »Der wird nicht kommen«, sagt
dass sein relativ günstiger Stromdis­ Frankland, als der Geistliche weg ist.
counter bankrottgehen könnte, so wie »Das letzte Mal hat er Weihnachten
bereits Dutzende andere Versorger. Entenbrust gekauft, damals für sieben
Dann würde er einen neuen Anbieter Pfund die Packung.« Gerade Kunden
suchen müssen, und seine Energie­ aus der Mittelschicht sparten jetzt
kosten würden sich nochmals verviel­ beim Fleisch: Sie kämen seltener –
fachen. »Dann macht unser Geschäft und kauften eher billigere Teilstücke.
keinen Sinn mehr.« Auch Linda Quayle merkt den
Jeremie Souteyrat / DER SPIEGEL

Wie Frankland ergeht es gerade ­Abschwung. Es riecht nach Chanel


vielen Kleinunternehmen in Groß­ No. 5 in ihrem kleinen Brautmoden­
britannien. Ihre Energierechnungen geschäft im Londoner Süden. Vorn
vervielfachen sich, die Einkaufskos­ im Präsentationsraum glitzern und
ten steigen, und die Umsätze brechen funkeln Dutzende elfenbeinweiße
ein. Weil die Verbraucher ihr Geld Brautkleider, wenn das Schein­wer­fer­
bei­sammenhalten, sich für eine düs­ licht auf die Pailletten trifft. Doch

76 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WIRTSCHAFT

neuerdings geleitet Quayle ihre Kundinnen Der Eingriff ist ökonomisch wie ökolo­
immer häufiger in ein schmuckloses Hinter- gisch fragwürdig. Subventioniert werden alle
zimmer: zu den Vorführmodellen und 1-b- ­Haushalte, arm wie reich. Und die künstlich
Kleidern. Die Prunkstücke können sich viele niedrig gehaltenen Preise sorgen dafür, dass
Frauen nicht mehr leisten. weniger Energie eingespart wird. Doch Truss
»Bis vor einigen Monaten hatten die Bräu- sieht keine Alternative. Zu groß ist die Gefahr,
te üblicherweise ein Budget von 2000 Pfund dass die Krise die Gesellschaft zerreißt.
für das Kleid. Jetzt sind es selten mehr als Noch halten Menschen wie Raymond Bar-
1200 Pfund«, berichtet die Mittfünfzigerin ron-Woolford sie zusammen.

Jeremie Souteyrat / DER SPIEGEL


Quayle. Viele würden sogar nach Kleidern Der drahtige Mittsechziger mit Spitzbart
für 300 oder 400 Pfund fragen. Aber für so und strahlenden Augen betreibt We Care,
wenig Geld finde sich selbst im Hinterzimmer nach eigenen Angaben die größte unabhän-
oft nichts Passen­des. Es werde inzwischen gige Lebensmitteltafel des Landes. Barron-
viel bei ihr geweint, erzählt Quayle. Woolford lebte einst selbst auf der Straße,
Eigentlich müsste sie ihre Verkaufspreise später wurde er Aktivist und Immobilien-
heraufsetzen. Schließlich habe sich der Ein- unternehmer. Heute versorgen er, seine
kauf bei den Herstellern verteuert – und die Brautmodenhändlerin Quayle ­Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im süd­
Energierechnungen mehr als verdreifacht. östlichen Londoner Stadtteil Lewisham rund
Nur: Wer käme dann noch? fe ab 1. Oktober nicht mehr leisten. Fast jeder 100 Familien pro Tag mit Lebensmitteln:
Stattdessen überlegt Quayle, ihr Geschäfts- Fünfte lässt aus Geldmangel bereits Mahl- Brot, Nudeln, Gemüse, was die angeschlos-
modell zu ändern. »Von 20 Kundinnen in den zeiten aus. senen Supermärkte übrig haben. Sogar Ge-
letzten Tagen haben 8 gefragt, ob ich auch Angesichts dieses Desasters erntete Boris richte zum Aufwärmen bereitet We Care für
Kleider verleihe. Vielleicht ist das ein Weg, Johnson Spott und Hohn, als er seine Lands- die Bedürftigen zu.
um durch die Rezession zu kommen.« leute bei einem seiner letzten Auftritte als Womöglich nicht mehr lange.
Dass die Energiekrise das Königreich der- Premier bat, sich neue Wasserkessel zu »Nach Weihnachten werden wir wahr-
art hart trifft, mag manche erstaunen. Sitzen ­kaufen. »Es kostet Sie vielleicht 20 Pfund«, scheinlich schließen müssen«, sagt Barron-
die Briten nicht auf enormen Gas- und Ölvor- sagte Johnson. »Aber Sie werden jedes Jahr Woolford. »Diese Krise trifft uns auf breiter
kommen in der Nordsee? War das Land nicht 10 Pfund bei der Stromrechnung sparen.« Front.« Die Strom- und Gasrechnung für die
noch zur Jahrtausendwende Europas größter Seine Nachfolgerin Liz Truss verbreitete Tafel und den dazugehörigen Wohltätigkeits-
Erdgasproduzent? erst einmal Blut-Schweiß-und-Tränen-Rhe­ laden sei von monatlich 68 auf 498 Pfund
So war es. Seither ist die Fördermenge um torik: »Wie stark der Sturm auch sein mag: hochgeschossen. »Unser Versorger hat an-
70 Prozent geschrumpft. Etliche große Felder Ich weiß, dass das britische Volk stärker ist.« gekündigt, dass wir künftig bis zu 30 000
sind weitgehend erschöpft, manche geschlos- Am Donnerstag wurde sie dann konkret – und Pfund im Jahr zahlen müssen.« Zugleich sind
sen. Neue Vorkommen zu erschließen wäre kündigte an, den Preisdeckel für Strom und die Umsätze des Shops, der die Tafel mit­
teuer und aufwendig. Und so muss das König- Gas nicht auf 3549 Pfund steigen zu lassen, finanziert, um die Hälfte eingebrochen. Und
reich heute mehr als die Hälfte seines Gases sondern bei 2500 Pfund einzufrieren. Die von den Supermärkten kommen nicht mehr
importieren. Nun rächt sich, dass die nationa- Differenz übernimmt der Staat. so viele Produkte wie früher: weil sie weniger
le Energieversorgung auf billigen, stets verfüg- Ein extrem teures, umstrittenes Manöver: Umsatz machen, kaufen sie zögerlicher ein.
baren heimischen Brennstoff vertraut hat – 130 bis 150 Milliarden Pfund könnte es die Selbst wenn die Energierechnung für We
und dann kaum an die sinkende Förderung Steuerzahler laut »Financial Times« kosten. Care nach Truss’ Eingriff nicht weiter steige,
angepasst wurde. Noch 2021 kam mehr als Und weil Truss angekündigt hat, die Ge­winne könne sich die Tafel aus eigener Kraft nicht
40 Prozent des britischen Stroms aus Gaskraft- der großen Energiekonzerne nicht per Son- mehr finanzieren, fürchtet Barron-Woolford.
werken; in Deutschland waren es 13 Prozent. dersteuer abzuschöpfen, sondern sogar Ab- Er versucht jetzt, über Crowdfunding 25 000
Hinzu kommt: Die Briten können kaum gaben für Unternehmen zu senken, wird der Pfund aufzutreiben.
Re­serven anlegen, was sie besonders verwund­ Staat neue Schulden machen müssen. Aus- Es sind Menschen wie Sarah Jackson*, die
bar macht. Ihre Speicherkapazität liegt nicht gerechnet jetzt, da die Bank of England die seine Hilfe brauchen. Die alleinerziehende
einmal bei einem Zehntel der deutschen. Das Zinsen drastisch anhebt. Frau, 32, hat gerade eine Wochenration Le-
größte Reservoir wurde 2017 dicht­gemacht, bensmittel abgeholt: Nudeln, Müsli, Fisch-
weil es der Regierung von Theresa May nicht konserven, Paprika, Pflaumen. Für sie, ihre
wichtig erschien: damals, als der Gaspreis beiden Kinder und ihre schwer kranke Mutter.
niedrig war. Britische Preisbremse Die müsse sie pflegen, sagt Jackson. Des-
Fuel Poverty, Energiearmut, ist zum ge- Preisdeckel* für Gas- und Stromkosten
wegen könne sie nicht mehr als Putzfrau arbei-
flügelten Wort im Königreich geworden. Erst privater Haushalte in Großbritannien, ten und müsse von knapp 900 Pfund Sozial-
recht seit die Energieaufsicht Ofgem an­ in Pfund pro Jahr
3549
hilfe leben. Umso härter hat sie die Nachricht
gekündigt hat, den Preisdeckel für private übernimmt ihres Gas- und Stromversorgers getroffen. Der
Haushalte massiv anzuheben. Für einen be- der Staat verlange statt 98 nun 235 Pfund Abschlag pro
von Liz Truss beschlossene
scheidenen Verbrauch von 2900 Kilowatt- 2500-Pfund-Grenze Monat. Und anders als bei Hartz-IV-Empfän-
stunden Strom und 12 000 Kilowattstunden 2100 gern in Deutschland übernimmt der britische
Erdgas pro Jahr dürfen Versorger von privaten Staat in der Regel keine Heizkosten.
Haushalten bereits bis zu 1971 Pfund einfor- 1227 1209 1121 1223 1370 »Ich habe keine Idee, warum die Energie
dern: fast 700 Pfund mehr als im Herbst 2021. so teuer geworden ist«, sagt Sarah Jackson.
Vom 1. Oktober an sollte dieser Preisdeckel Sie schaue keine Nachrichten und lese keine
auf 3549 Pfund springen. Zeitungen. Aber sie versucht nun, irgendwo
45 Prozent der befragten Briten gaben in 1. Okt. 1. April 1. Okt. 1. April 1. Okt. 1. April ab 1. Okt.
dicke Pullover, Handschuhe und Daunen­
einer Umfrage des Meinungsforschungsinsti- 2019 2020 2020 2021 2021 2022 2022 jacken für ihre Familie aufzutreiben.
tuts Opinium an, sie könnten sich diese Tari- * bei einem Jahresverbrauch von 2900 Kilowattstunden
Ihr Plan: im kommenden Winter über-
Strom und 12.000 Kilowattstunden Gas haupt nicht heizen.
* Name geändert. S Quellen: The Guardian/Ofgem Claus Hecking  n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 77


WIRTSCHAFT

DIE NEUE
Serie Transformation  Die neue Unabhängigkeit – wirklich selbst versorgen? Wie viel internationale
Teil XII: Pandemie und Ukrainekrieg haben sichtbar Vorarbeit steckt in einem Auto? Wie kommt ein
gemacht, wie verflochten die Weltwirtschaft Haus ohne fossile Energien aus? Das SPIEGEL-Wirt-
ist – und wie anfällig für Störungen. Viele Nationen, schaftsressort geht diesen Fragen in einer Serie
Unternehmen und private Haushalte streben nach und beschreibt, wie viel Autarkie möglich ist –
nun nach Unabhängigkeit. Aber wer kann sich schon und wo sie an Grenzen stößt.
UNABHÄNGIGKEIT

Gefangen in der Kriegswirtschaft


GEOPOLITIK  Deutschland war der Gewinner der Globalisierung. Jetzt, da die Welt
erneut in Blöcke zerfällt, droht es zum Verlierer zu werden. Wie lässt sich das verhindern?

N
och vor ein paar Jahren wäre Als Softpower der Globalisierung, ganz anderes Konzept die Runde
es wahrscheinlich ein Skandal so die Idee, könnte die Bundesrepu- macht.
gewesen, was die EU-Kommis- blik am besten die üppigen Friedens- Die Union, so empfehlen EU-Poli-
sion in der vergangenen Woche auf dividenden einstreichen, die mit dem tiker aus West wie Ost, solle sich in
67 eng beschriebenen Seiten in Um- angeblichen Ende der Geschichte ver- der Festung Europa einmauern, weit-
lauf gebracht hat. Die EU-Mitglied- bunden waren. Wandel durch Handel gehend autark wirtschaften und künf-
staaten hätten die Eingriffe in ihre lautete die Hoffnung, und am Ende tig vor allem mit befreundeten Staa-
nationalen Hoheitsrechte empört zu- siegt die Demokratie, wie einst in der ten Handel treiben, etwa der G-7-
rückgewiesen; Unternehmensführer DDR. Gruppe. Eine »wertegeleitete Politik«
wären auf die Barrikaden gegangen; Heute liegt dieser Plan in Trüm- verspricht Außenministerin Annalena
Ökonomen hätten das Papier als den mern. Autokraten wie Chinas Staats- Baerbock, und die Ampel kündigt
Beginn von Kommando- und Staats- chef Xi Jinping oder der türkische den bevorzugten Austausch mit jenen
wirtschaft gegeißelt. Alleinherrscher Recep Tayyip Erdo­ Ländern an, die »grundlegende Wer-
Heute löst das Konzept keinen ğan haben den Primat der Politik auf te der liberalen Demokratie teilen«.
großen Aufschrei aus, obwohl es den ihre Weise zurückgebracht, und so ist Nord-Stream-2-­
Müssen die Europäer lernen, wieder
Einstieg in eine Art Kriegswirtschaft es kein Wunder, dass in der europäi- Pipeline: Einmauern in Blöcken zu denken?
beschreibt. Brüssel darf der Wirt- schen Staatengemeinschaft nun ein und autark werden Das wäre ein Fehler. Zum einen
schaft künftig Befehle erteilen, wenn bleibt ein energie- und rohstoffarmer
es im europäischen Binnenmarkt zu Kontinent wie Europa auf den Aus-
»außergewöhnlichen, unerwarteten tausch mit möglichst vielen Welt­
und plötzlichen Krisenereignissen« regionen angewiesen. Zum anderen
kommt. hat gerade die jüngste Vergangenheit
Firmen müssten dann auf Anwei- erwiesen, wie schnell aus Gesinnungs­
sung Vorräte anlegen, Auskunft über freunden Handelsgegner werden kön-
ihre Geschäfte geben oder die Pro- nen. Für den ehemaligen britischen
duktion umstellen. Die Staaten­ Premier Boris Johnson war der Aus-
gemeinschaft will sich so für »geo- tritt aus der EU das wichtigste Thema
politische Instabilitäten, Naturkata­ seiner Amtszeit, gemeinsame Werte
strophen oder andere Notlagen« rüs- hin oder her. Der frühere US-Prä­
ten. Nächste Woche stellt Kommissions- sident Donald Trump sah in der Ein-
chefin Ursula von der Leyen den Plan fuhr europäischer Autos sogar »ein
für ihr neues »Notfall-Instrument« Sicherheitsrisiko«.
bei einer Grundsatzrede in Straßburg Das zeigt: In der neuen Ära der
vor. Willkommen in der neuen Welt Geopolitik ist nicht Abschottung das
des starken autonomen Staates. Mittel der Wahl, sondern die Fähig-
Seit Corona den Welthandel aus- keit, Krisen flexibel zu überwinden.
gebremst und Wladimir Putin die Wie das Schilfrohr, das sich im Orkan
­Ukraine überfallen hat, haben auch biegt, während die Eiche zerbricht.
die Europäer begriffen, dass die Welt So beschreibt der deutsche Prince-
eine andere geworden ist. 30 Jahre ton-Ökonom Markus Brunnermeier
lang hatten vor allem die Deutschen in einer eindrucksvollen Analyse der
in der schönen Illusion gelebt, dass Coronakrise das Prinzip der »Resi-
nach dem Mauerfall nicht mehr die lienz«. Robustes Standhalten reicht
Paul Langrock / laif

Staaten, sondern grenzenlos agieren- in der Krise nicht aus. Die Gesell-
de Konzerne und Großorganisationen schaft muss den Schock kreativ verar­
wie der In­ternationale Währungsfonds beiten, damit sie »zurückfedern kann«,
die Geschicke der Welt lenken würden. wie Brunnermeier das nennt. Für die

78 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WIRTSCHAFT

sätzliche Kraftwerke befeuern. Klimawandel


durch Handel, das war der Kern der deut-
schen Energiestrategie.
Die muss nun neu gedacht werden – und
zahlreiche politische Debatten, die längst er-
ledigt schienen, beginnen von Neuem. Ist es
ratsam, die Laufzeiten der verbliebenen Kern-
kraftwerke zu verlängern? Soll in Deutsch-
land Fracking-Gas gefördert werden? Hilft es,
JONATHAN ERNST / REUTERS schädlichen Kohlenstoff aus der Industrie
unterirdisch einzulagern?

Olivier Matthys / dpa


Bislang hat Deutschland solche Fragen

Shen Hong / dpa


samt und sonders mit Nein beantwortet. Wa-
rum auch nicht, es gab ja die günstige Putin-
Energie.
US-Präsident Joe Biden, EU-Kommissionschefin von der Leyen, Chinas Staatschef Xi: »Gute Krise« Auf dem Feld der Industriepolitik hat das
Umdenken bereits begonnen. Die Regierung
Bundesrepublik würde es bedeuten, sich der bevorzugt in »Best-Cost Countries« an, wie will Gas im autokratisch regierten Katar kau-
neuen Weltlage nicht entgegenzustemmen, das in der Sprache der Unternehmensberater fen und den umstrittenen Handelsvertrag mit
sondern intelligent anzupassen. Indem sie hieß. Heute knüpfen sie vermehrt autonome Kanada ratifizieren. Im Herbst steht erneut
sich aus ihrer Energie- und Rohstoffabhängig- regionale Fertigungsketten, um die Zahl der das EU-Abkommen mit den rohstoffreichen
keit löst, die Zahl ihrer Handelspartner er- Transporte zu verringern, Handelshemmnis- Mercosur-Staaten Südamerikas auf der Tages-
höht, mehr Wert auf Sicherheit legt. Und vor se zu umgehen und den CO2-Fußabdruck zu ordnung, und die Bundesregierung muss ent-
allem: nicht immer von »Wirtschaft, Wirt- senken. scheiden, ob sie ihre bislang ablehnende Hal-
schaft, Wirtschaft« redet, so der ukrainische Viele Rohstoffe sind knapp und teuer, und tung aus wirtschaftlichen Gründen aufgibt.
Präsident Wolodymyr Selenskyj, wenn es um so lassen die Hersteller mitunter komplette Nehmen Olaf Scholz und seine Leute ihr Wort
Politik gehe. Komponenten neu konstruieren, für die sie von der Zeitenwende ernst, liegt die Antwort
Das alles bedeutet keine Deglobalisierung, weniger Risikomaterial benötigen. Oder sie auf der Hand: Wer mehr wirtschaftliche Auto-
aber es erzwingt eine Neuaufstellung in Welt- bauen Reservekapazitäten auf, für den Fall, nomie will, muss die Zahl seiner Lieferanten
wirtschaft und -politik. Und wollen Deutsch- dass ihr Hauptlieferant seine Beschäftigten in und Materialquellen erhöhen: im Inland, in
land und die EU »die Sprache der Macht ler- Quarantäne schicken oder die Fabrik aus an- Europa und im Rest der Welt.
nen«, wie von der Leyen das genannt hat, so deren Gründen schließen muss. Das ­wiederum Die Neuerfindung gilt auch für Deutsch-
wird das etwas kosten: wirtschaftlich, poli- treibt Aufwand und Preis. Würde die Pkw- lands Stellung in Europa. In den vergangenen
tisch, sozial. Produktion konsequent regionalisiert, so Jahren hatte es die Bundesregierung weit-
Beispiel Verteidigung: Das deutsche Rol- schätzen Experten, würde sich ein europäi- gehend dem französischen Präsidenten Em-
lenspiel, ökonomisch ein Riese, militärisch sches Auto um 30 Prozent verteuern. manuel Macron überlassen, die Rolle Euro-
ein Zwerg, ist seit Putins Angriffskrieg ob­ So kommt es, dass sich die tot geglaubte pas im Zeitalter der Macht- und Geopolitik
solet. Will Deutschland daraus die richtigen Inflation in der industrialisierten Welt mit zu definieren. Doch Macron ist geschwächt,
Schlüsse ziehen, muss es seine Rüstungsindus- Macht zurückgemeldet hat, und die meisten seit er in der Pariser Nationalversammlung
trie stärken und dauerhaft mehr Geld in die Experten gehen davon aus, dass es dabei keine Mehrheit mehr hat. Die Briten liefern
Bundeswehr stecken, über die verkündeten bleibt. Steigende Preise sorgen für steigende nach dem Brexit ein lehrreiches Beispiel, wie
100 Milliarden Euro hinaus. Zinsen, für mehr Unsicherheit und weniger das Streben nach »mehr Souveränität« zu
Zugleich gilt, dass ein Euro, der in die mi- Kaufkraft, vor allem auf den unteren Stufen kollektiver Verarmung führen kann. Und
litärische Sicherheit fließt, nicht zugleich für der Einkommensskala. Nichts also, was für Italien droht nach den Wahlen Ende des
soziale Sicherheit ausgegeben werden kann. den gesellschaftlichen Zusammenhalt der ­Monats der Rückfall in den Populismus, mit
Raketen oder Rente – das ist ein Widerstreit, Bundesrepublik und anderer EU-Staaten be- allen Folgen, die das für die Finanzen des
auf den die deutschen Parteien bislang nicht sonders förderlich wäre. Landes wie den Zusammenhalt Europas ha-
vorbereitet sind. Vor allem aber legt die neue Weltlage die ben kann.
Mit ähnlichen Konflikten ist im internatio- Lebenslügen der deutschen Energiepolitik Es wird auf die Deutschen ankommen,
nalen Handel zu rechnen. Jahrzehntelang offen. Bis zum russischen Einmarsch in die wenn der Kontinent zu einer neuen Resilienz-
pflegten Deutschlands Konzerne und Fami- Ukraine war nur Eingeweihten klar, wie sehr Strategie finden will. Getreu dem Motto, das
lienfirmen dort zu produzieren, wo es in der die Klimawende auf billigen Energie- und Winston Churchill zugeschrieben wird: »Ver-
Welt am billigsten war. Das drückte die Prei- Rohstofflieferungen aus dem Ausland grün- schwende nie eine gute Krise.«
se und kam vor allem den heimischen Ver- det. Inzwischen sind die Abhängigkeiten für Dass die Bundesrepublik das kann, hat sie
brauchern zugute, die sich über günstige Fern- alle offenkundig. bewiesen. Nach der Ölkrise reduzierte die
sehgeräte, Handys oder Computer freuten. Für die Elektrifizierung des Autoverkehrs Wirtschaft ihren Brennstoffbedarf. In den Kri-
»Wir waren nicht naiv – wir waren gierig«, werden riesige Mengen Lithium und seltene senjahren nach der Einheit senkte sie ihre
beschreibt EU-Wettbewerbskommissarin Erden aus China benötigt. Um den Ausbau Arbeitskosten, nicht zuletzt mit der Hilfe Ost-
Margrethe Vestager die Einstellung der Euro- der Wind- und Sonnenenergie zu flankieren, europas. Im Gefolge der Finanzkrise wurde
päer. sollte günstiges Russlandgas Dutzende zu- die Republik zum Gewinner der Globalisie-
In der neuen Welt der Geopolitik dagegen rung.
geht Sicherheit vor Effizienz. Seit der »Lock- Diesmal besteht das Problem vor allem
down« in den Sprachgebrauch der deutschen darin, dass für das Überleben im neuen Auto-
Manager übergegangen ist, haben sie begon- nomie-Zeitalter politische Entscheidungen
nen, zusätzliche Vorräte anzulegen, alterna- »Wir waren nicht naiv – nötig sind. Unbequeme zumal, in Berlin wie
tive Lieferwege aufzutun, weitere Geschäfts- in Brüssel. Die neue Unabhängigkeit, die neue
partner zu suchen. Die Autokonzerne des wir waren gierig.« Krisenfestigkeit – sie dürften teuer werden.
Landes etwa siedelten ihre Fabriken früher Margrethe Vestager, EU-Kommissarin Michael Sauga n

80 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


AUSLAND

Al Drago / CNP / Polaris / laif


Acht Jahre lebten sie im Weißen Haus, jetzt hängen dort ihre offiziellen Porträts: Mit ein paar Jahren Verspätung enthüllten der ehemalige
US-Präsident Barack Obama und seine Frau Michelle am vergangenen Mittwoch zwei Wandgemälde – seines mutet fotorealistisch an,
ihres zeigt sie in klassisch-romantischer Pose. Traditionsgemäß hätte Obama-Amtsnachfolger Donald Trump zu dieser Zeremonie in den
­Washingtoner Regierungssitz einladen müssen, nun aber war es der amtierende Präsident und Obama-Weggefährte Joe Biden.

Divers, aber erzkonservativ


Krise das Außenministerium führen und sich in einer höchst
­angespannten politischen Weltlage beweisen.
Suella Braverman führt künftig das Innenministerium – und
erbt die radikale Migrationspolitik ihrer Vorgängerin Priti Patel.
ANALYSE   Großbritanniens künftiges Kabinett wirkt Dass die Tochter indischstämmiger Eltern Gnade gegenüber
erstaunlich progressiv – doch der Schein trügt. ­politischen Asylsuchenden aus Irak oder dem Iran walten lässt,
ist trotzdem unwahrscheinlich. Um die umstrittenen Abschiebe-
Fast könnte man Liz Truss für eine Ikone der Gleichberechti- flüge nach Ruanda durchzuführen, beabsichtigt sie sogar, aus
gung und Diversität halten. Am Dienstag stellte die neue der Europäischen Menschenrechtskonvention auszutreten.
­Premierministerin ihr Kabinett vor – und das kommt bemer- Somit ist zu vermuten, dass die Neuen erzkonservative und
kenswert vielfältig daher, zumindest auf den wichtigen radikalere Politiker sind als ihre Vorgänger. Zudem sind sie
Posten: Innen-, Außen- und Finanzministerium werden von nicht einmal wirklich divers, denn traditionell wählt Großbritan-
­Suella Braverman, James Cleverly und Kwasi Kwarteng nien sein politisches Personal aus einem exklusiven Pool von
geführt. Keiner von ihnen ist weiß – progressive Politik kann Absolventinnen und Absolventen der Eliteuniversitäten Oxford
man deshalb aber nicht unbedingt von ihnen erwarten. und Cambridge. Um den Parteivorsitz traten mit Truss und
Schatzkanzler Kwarteng gilt als leidenschaftlicher Anhänger Rishi Sunak zwei Oxford-Absolventen gegeneinander an. Von
des freien Markts. Umverteilung des gesellschaftlichen Wohl- den Topleuten der Premierministerin waren sowohl Kwarteng
stands und Unterstützung der Armen stehen nicht im Politik- als auch Braverman in Cambridge.
handbuch des Margaret-Thatcher-Bewunderers. Cleverly Großbritannien steht vor einer wirtschaftlichen Krise, die die
­verdankt sein Amt seiner Treue zu den Mächtigen. Schon als Regierung schnellstmöglich bewältigen muss. Dabei wären neue
­Boris Johnson noch Bürgermeister von London war, arbeiteten Blickwinkel von Nutzen. Doch Truss hat bei ihrem Kabinett aufs
beide zusammen. Jetzt muss der Neue während Krieg und Bewährte gesetzt – mit neuem Anstrich. Muriel Kalisch

82 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


Wahlkampf mit Putin 300 Prozent sitzt uns die Pistole
auf der Brust«, sagte ein Ver-
ITALIEN  Wenige Wochen vor bandsmanager in italienischen
der Wahl am 25. September sor- Medien. Diese Unzufriedenheit
gen in Italien die explodieren- der Italiener nutzt Lega-Chef
den Energiepreise für Proteste. Matteo Salvini für seine Kampa-
Gastronomen und Einzelhänd- gne, indem er Zweifel an der Ef-
lerinnen haben ihre Strom- und fizienz der Sanktionen gegen
Gasrechnungen in ihre Schau- Russland streut. »Die Sanktio-
fenster gehängt, und Barbetrei- nen haben nicht Putin, sondern
ber servieren Drinks bei Kerzen- uns in die Knie gezwungen, und
licht. In Städten wie Neapel und der Krieg geht weiter«, sagt der
Perugia haben Arbeitslose vor Rechtspopulist, der sich einst

Ben Cur tis / AP


Kameras ihre Rechnungen ver- auf dem Roten Platz in Moskau
brannt. Auf Twitter verbreitet im Putin-T-Shirt fotografieren
sich der Hashtag »IoNonPago« ließ. »Putin selbst hätte es nicht
(»Ich zahle nicht«). Massen- besser sagen können«, twitterte Um Lebensmittelrationen streitende Frauen in Tigray
demonstrationen wie in Prag, daraufhin Sozialdemokrat Enri-

»Man fühlt sich


wo 70 000 Menschen gegen die co Letta (PD). Im rechten Lager
hohen Rechnungen auf die Stra- sorgt Salvini dagegen für Unru-

so schrecklich hilflos«
ße gingen, gibt es bislang noch he – Spitzenkandidatin Giorgia
nicht, doch der Druck wächst. Meloni (Fratelli d’Italia) er-
Italiens Einzelhandels- schrak, als der Verbündete
und Dienstleistungsverband neben ihr vor Publikum von den
ÄTHIOPIEN  Der Arzt Fasika Amdeslasie über neu
Confcommercio warnt, es Sanktionen sprach. Sie muss
seien 370 000 Arbeitsplätze in fürchten, dass der Westen an entfachte Kämpfe um die Region Tigray
120 000 Unternehmen in Ge- ihrer Bündnistreue zweifelt, falls
fahr. »Bei Preissteigerungen von sie die Wahl gewinnt. HOR Fasika, 41, ist Straße nach Nahrung, ehemali-
­ hirurg am »Ayder
C ge Lehrer etwa oder Menschen,
Hospital« in die mal ein Geschäft hatten –
Bedrohte Mehrheit im Parlament hat. Mekele, dem wich- die haben jetzt gar nichts mehr.
Laut Recherche versucht Ägyp- tigsten Kranken- Sie ernähren sich von Blättern
Journalistinnen
Privat

tens Regierung, führende Par- haus in Tigray. und Wurzeln. Und die Leute
ÄGYPTEN  Das Regime von Prä- teimitglieder loszuwerden, die vom Land können oft gar nicht
sident Abdel Fattah el-Sisi geht in Korruptionsfälle verwickelt SPIEGEL: Herr Fasika, am in die Städte gelangen: Auf dem
erneut gegen den unabhängigen seien – ein Machtkampf inner- 26. August kam der Krieg zu- Land sterben die Menschen ein-
Journalismus vor. Am Mittwoch halb der Eliten also, der nicht an rück in die tigrayische Haupt- sam und allein.
wurden vier Journalistinnen des die Öffentlichkeit gelangen soll- stadt Mekele. Wie haben Sie SPIEGEL: Das Gesundheitssys-
Onlinemagazins »Mada Masr« te. »Mada Masr« ist eine der diesen Tag erlebt? tem ist zusammengebrochen?
angeklagt. Rana Mamdouh, letzten unabhängigen Medien- Fasika: Als die erste Bombe fiel, Fasika: Wir schätzen, dass
­Beesan Kassab, Sara Seif Eddin plattformen des Landes. Ihre war ich in unserem Kranken- 80 Prozent der Gesundheitsein-
und Lina Attalah sollen sich der Website ist nur im Ausland haus. Ein Kindergarten war ge- richtungen im Krieg zerstört
Veröffentlichung von Fake zu öffnen, in Ägypten ist sie troffen worden. Ich rannte so- wurden, ja. Die Infrastruktur ist
News, des Missbrauchs sozialer ­blockiert. Trotz Drohungen fort in die Notaufnahme. Dort nicht funktionsfähig, unsere Re-
Medien und der Beleidigung und Verhaftungen hält die Re- kamen fünf oder sechs verletzte gierung und die NGOs können
von Parlamentsabgeordneten daktion an ihren journalisti- Frauen an, und es gab vier Tote. sich wegen Benzinmangels
schuldig gemacht haben. Hin- schen Standards fest. Verhaftete Zwei Körper waren zerfetzt, die nicht bewegen, ebenso wenig
tergrund ist die aktuelle Bericht- Redaktionsmitglieder kamen in anderen beiden waren Jugendli- unsere Krankenwagen. Es ist
erstattung von »Mada Masr« der Vergangenheit erst frei, che, einer hatte einen aufgeris- eine schreckliche Situation.
über die ägyptische »Partei der nachdem international Druck senen Brustkorb. Man fühlt sich SPIEGEL: Was hat sich seit dem
Zukunft der Nation«, die eine ausgeübt worden war. so schrecklich hilflos. Und man Ausbruch der Kämpfe geändert?
Ägypten ist eines der gefähr- denkt: Es könnte auch die eige- Fasika: Dass wieder Menschen
lichsten Länder für Journalisten, nen Angehörigen treffen. in Kämpfen sterben, das hat
die permanent überwacht, einge- SPIEGEL: Selbst während des sich geändert. Denn während
schüchtert und mit Schmierkam- Waffenstillstands Ende März ge- des Waffenstillstands war
pagnen verunglimpft werden. langte nur sehr wenig Hilfe es relativ ruhig. Auch wenn es
Beim Index der Pressefreiheit nach Tigray. Wie ist jetzt die kein Frieden war.
von »Reporter ohne Grenzen« ­humanitäre Lage? SPIEGEL: Warum, glauben Sie,
fiel das Land zuletzt auf Platz Fasika: In ganz Tigray gibt es kümmert sich die Welt so wenig
168 von 180. Rund 20 Medien- keinen Strom mehr. Im Kran- um den Konflikt zwischen der
schaffende sind derzeit inhaf- kenhaus haben wir nur einen Volksbefreiungsfront von Tigray
tiert, unter ihnen auch der pro- kleinen Generator für Notope- und der Zentralregierung?
minente Journalist und Aktivist rationen. Es gibt nicht mehr ge- Fasika: Wir sind sehr arme
Khaled Desouki / AFP

Alaa Abdel Fattah. Seit April be- nügend Medikamente oder Menschen. Unsere Leben schei-
findet er sich im Hungerstreik, Sauerstoff. Viele Menschen nen in dieser materialistischen
laut Angehörigen hat sich sein konnten wir deshalb nicht ret- Welt kaum Bedeutung zu haben,
Zustand in den vergangenen Wo- ten, sie sind gestorben. In der da wir im Moment wenig zur
»Mada Masr«-Chefin Attalah chen massiv verschlechtert. BOL Stadt suchen jetzt viele auf der Weltwirtschaft beitragen. FSC

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 83


AUSLAND

Wahlkampfbanner
in der Hauptstadt
Brasília

Nick Hannes / Panos Pictures


Mit Gott und Gewehren
BRASILIEN  Das größte Land Südamerikas steht vor der wichtigsten Wahl seit dem
Ende der Militärdiktatur. Kann der alte Arbeiterführer Lula den Präsidenten
Bolsonaro besiegen? Und würde der Rechtsextremist nach einer Niederlage putschen?

A Es geht um
n einem Morgen im August, eine Brücke in die Gegenwart, in der Seine Worte hallen durch den Hof.
zwei Monate vor der Wahl, plötzlich alles wieder auf dem Spiel »Ebenso unbegründete wie unbewie­
holt den ehemaligen Richter steht. die Frage, in sene Attacken stellen nicht nur die
Flávio Bierrenbach die Vergangenheit Deshalb steht Bierrenbach an die­ was für einem Integrität unseres Wahlsystems in­
ein. 45 Jahre ist es her, da war Bier­
renbach schon einmal hier im Innen­
sem symbolischen Ort nun selbst auf
einer Bühne, ein 82-jähriger, gebeug­
Land die frage, sondern unsere so hart er­
kämpfte Demokratie.« Bierrenbach
hof des Rechtswissenschaftlichen In­ ter Mann mit kahlem Kopf, der darauf Brasilianer blickt kurz auf.
stituts der Universität São Paulo. Er hinweist, dass die rote Farbe der Kra­ künftig leben Knapp tausend Menschen drängen
stand neben dem Aufzug und be­ watte, die er unter seinem grauen An­ sich an diesem Morgen, an dem sich
wachte einen Fluchtweg, als sein Mit­ zug trägt, kein politisches Bekennt­
wollen. die Epochen überlappen, zwischen
streiter Goffredo Telles einen Brief nis sei. Bierrenbach nestelt kurz an den Arkaden, Professorinnen des In­
an die Nation vorlas, in dem er das einem Blatt Papier, das vor ihm auf stituts, ihre Studierenden, frühere
damals in Brasilien regierende Militär einem Pult liegt, dann hebt er seine Ministerinnen, Anwälte, Bankiers
zu einer Abkehr von der Diktatur auf­ Stimme und trägt aus einem neuen und Künstlerinnen, die Vertreter des
forderte. Brief an die Nation vor, den in den Industrieverbands in ihren Business­
Die Worte, die die Zeitungen ins Tagen zuvor Hunderttausende Brasi­ anzügen, Gewerkschafter mit roten
Land trugen, gingen in die Geschichte lianer im Netz unterzeichnet haben. Baseballkappen.
ein. Sie markieren den Beginn der bra­ »Was wir erleben, ist ein Moment Was sie vereint, ist die Wut auf
silianischen Demokratie und schlagen größter Gefahr«, ruft Bierrenbach. einen Präsidenten, der den Staat seit

84 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


AUSLAND

fast vier Jahren mit Füßen tritt. Der ihn be- auf eine düstere Gegenwart. 33 Millionen Frage ist, ob ausgerechnet Lula dieser Mann
spuckt, verspottet und entkernt und dessen Brasilianerinnen und Brasilianer werden nicht sein kann.
»autoritäre Schwärmereien« nicht nur Bier- mehr regelmäßig satt, auch weil die Lebens- Die Leute, die sich an einem Sonntag Ende
renbach an den Kapitolsturm in Washington mittel jede Woche teurer werden. Durch Co- Juli auf den Tribünen einer Olympiasport-
2021 erinnern. rona hat das Land Millionen Arbeitsplätze halle in Rio de Janeiro eingefunden haben,
Wie all die anderen, die aus dem Brief vor- verloren. Der Regenwald schrumpft immer dürften Zweifel daran haben. Tausende sind
lesen, erwähnt er Jair Bolsonaro nicht beim schneller, weil den Umweltkontrolleuren sys- an diesem Morgen gekommen, um Bolsona-
Namen, aber natürlich meint er ihn, wenn er tematisch das Budget entzogen wurde. Im ros ersten großen Wahlkampfauftritt zu er-
sagt, dass im heutigen Brasilien kein Platz Bildungsministerium verfassen heute reak- leben. Viele tragen gelbe T-Shirts, auf die jene
mehr sei für Putschgedanken. »Diktatur und tionäre Evangelikale den Lehrplan für die Schlagworte gedruckt sind, um die ihr Denken
Folter sind Vergangenheit«, sagt Bierrenbach. öffentlichen Schulen. Universitäten, Kunst- kreist: Gott, Vaterland, Familie, Freiheit.
So sieht es also jetzt aus, in den letzten hochschulen und Theater, die Orte des kriti- Manche halten Trump-Schilder in die Luft.
Wochen vor der Präsidentschaftswahl. Es geht schen Denkens sind, werden kaputtgespart, Während bärtige Männer in Kampfstiefeln
wieder um Grundsätzliches. Es geht um die weil Bolsonaro sie als Brutstätten des Kom- und Camouflage-Hosen durch den Innen-
Frage, in was für einem Land die Brasilianer munismus diffamiert. raum zum Kaffeestand tigern, laufen Bolso-
künftig leben wollen. Dazu kommt ein Hass, der zu tiefen Rissen naros Parteigenossen wie Gladiatoren auf
Alles deutet darauf hin, dass diese Wahl in vielen brasilianischen Familien führt und die Bühne.
ein Stresstest wird, in dem sich erweisen muss, aus politischen Rivalen Feinde macht. »Es Der frühere Wissenschaftsminister Marcos
wie wehrhaft die größte Demokratie Latein- brauchte jemanden, der das Land befrieden Pontes ist dabei, ein ehemaliger Astronaut,
amerikas nach vier Jahren Bolsonaro ist. kann«, sagt der frühere Präsident Michel der sich aus Rücksicht auf die Flacherde-­
Glaubt man den Umfragen, dann verdich- ­Temer im Gespräch mit dem SPIEGEL . Die Theoretiker in Bolsonaros Universum regel-
tet sich das Rennen zu einem Duell zwischen mäßig bei der Frage windet, ob die Erde rund
dem Amtsinhaber und dem früheren Präsi- ist. Oder der Abgeordnete Daniel Silveira,
denten Luiz Inácio Lula da Silva. So gut wie Bolsonaros Bilanz der im Frühjahr zu einer mehrjährigen Haft-
alle relevanten Umfrage-Institute sehen Lula Umfragen zur Präsidentschaftswahl strafe verurteilt wurde, weil er mehrfach zu
derzeit vorn, einige halten sogar einen Sieg in Brasilien, Wahlabsicht in Prozent Gewalttaten gegen die Richter des Obersten
im ersten Wahlgang für möglich, aber was die Lula da Silva Bolsonaro Gerichts aufgerufen hatte. Silveira ist heute
Leute umtreibt, ist etwas anderes. hier, weil Bolsonaro ihn per Präsidialdekret
1. Wahlgang 2. Wahlgang*
Sie fragen sich, wie Bolsonaro reagierte, begnadigt hat.
wenn es so kommen sollte. Ob er eine Nieder- 41 51 Wer an Gott glaube, brüllt ein Einheizer,
lage eingestehen oder das Land ins Chaos 35 39 der möge seine Hände heben. Kreischend
stürzen würde. Ähnlich wie sein Vorbild Do- ­gehen alle Hände hoch. »Ein Applaus für
nald Trump arbeitet der Präsident seit Mo- Staatsverschuldung Brasiliens in Prozent ­Jesus!«
des BIP
naten daran, das Vertrauen in den Wahlpro- Dann spielt ein Countryduo einen Song,
zess zu untergraben. 100 der Bolsonaro als gottesfürchtigen Anführer
Abgesehen hat er es dabei vor allem auf 95 Amtsantritt des Volkes rühmt. Die Menschen singen sich
Bolsonaro 91,9
die Wahlcomputer, die Mitte der Neunziger- 90 warm für den Auftritt eines Mannes, der ihrer
jahre die betrugsanfälligen Papierwahlschei- 85 Wut auf ein korruptes politisches Establish-
ne abgelöst haben. Obwohl diese Urnen nicht 85,6 ment vor der Wahl 2018 eine Stimme gab.
mit dem Internet verbunden sind, stellt Bol- Obwohl Bolsonaro seit Jahrzehnten als
sonaro es so dar, als könnten Hacker in sie Abgeordneter im Parlament saß, sahen sie in
2018 2019 2020 2021 2022
eindringen. Er kann das nicht belegen, aber ihm einen sauberen, politisch unkorrekten
dieser Unsinn hat sich in den Köpfen vieler Inflationsrate, Veränderung
Außenseiter, der schon zu einer Zeit mit seiner
11,2**
Leute festgesetzt. gegenüber dem Vorjahr Hetze provozierte, als die große konservative
Flankiert werden die Zweifel von seltsa- in Prozent 8,3 Masse schwieg. Aufgrund der Diktaturerfah-
men Umfragen, die zurzeit in den Social-Me- rung galten rechte Positionen in der Öffent-
dia-Kanälen des Präsidenten zirkulieren und 3,7 3,7 3,2
lichkeit als verpönt. Wer sich äußern wollte,
Bolsonaro einen Erdrutschsieg prognostizie- tat dies in der Anonymität des Internets.
ren. Sollte es für seine Unterstützer überra- Dann kamen die quälenden Jahre der Re-
schend anders kommen, kann es für sie wo- 2018 2019 2020 2021 2022 zession, in die Brasilien unter Lulas Nachfol­
möglich nur eine sinnvolle Erklärung geben: gerin Dilma Rousseff schlitterte; die Korrup-
Wahlbetrug. Und dann? Ernährungsunsicherheit – Anteil der tionsskandale rund um den Ölkonzern Petro-
Niemand weiß, wie die Sicherheitskräfte Haushalte, in denen Personen von Hunger bras, die Massendemonstrationen, Rousseffs
bedroht sind, in Prozent
reagieren, sollten radikalisierte Bürger tat- Impeachment; und mit der Zeit formierte sich
sächlich den Kongress oder das Wahlgericht leichte … moderate oder schwere … eine Wutbürger-Bewegung, die Bolsonaro
stürmen. Die Polizisten, die sich um den keine … Ernährungsunsicherheit heute in die großen Hallen folgt. »Mito« rufen
Schutz dieser Gebäude kümmern, sind zu sie ihn, Mythos.
20,5 30,7
großen Teilen Bolsonaro-Wähler. Auf wessen Als Bolsonaro wenig später in einem wei-
Seite stehen sie, wenn ihr Kandidat erklärt, 2020 2022 ßen Hemd auf der Bühne steht, erinnert er
ihm sei die Wahl gestohlen worden? Wem daran, wie er als Hinterbänkler oft zu später
dienen die Generäle, die unter Bolsonaro erst- 34,7 28,0 Stunde zum leeren Plenarsaal sprach. Mit sei-
mals wieder auf so vielen Schlüsselstellen nem leichten Lispeln, das viele Jungpolitiker
gesamt: 55,2 gesamt: 58,7
im Staatsapparat sitzen, dass der Politologe inzwischen imitieren, weil es als authentisch
André Singer schon jetzt von einer »Militär- *Stichwahl, wenn ein Kandidat im 1. Wahlgang nicht die gilt, erzählt er von einem Gespräch, das er
absolute Mehrheit der gültigen Stimmen erhält
regierung« spricht? **Durchschnitt von Januar bis Juli 2022
vor Jahren mal in einer Hinterland-Absteige
Eine angespannte Ungewissheit liegt über S Quellen: IMF, OECD, Vigisan; Pollingdata; Mittelwert verschie- geführt habe. Bolsonaro sagt, er habe nicht
 

Brasilien. All die Szenarien, die die Analysten dener Umfragen; Stand: 8. September; an 100 fehlende Prozent:
andere Kandidaten; Umfrage zur Ernährungssituation
schlafen können. Also redete er mit dem Ty-
jetzt durchspielen, verstellen dabei den Blick des Brazilian Research Network on Food and Nutrition pen an der Rezeption, der von ihm wissen

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 85


AUSLAND

wollte, warum er in die Stadt gekommen sei.


Er wolle Präsident werden, erklärte Bolsona-
ro, deshalb bereise er das Land.
»Wir prusteten vor Lachen«, sagt Bolso-
naro. »Dann hab ich ihn gefragt: Was ist wahr-
scheinlicher? Dass ich es schaffe oder dass du
das Hotel kaufst? Und er sagte: Ich kauf das
Hotel.« Ein Traum sei wahr geworden, ruft
Bolsonaro in das jubelnde Gelächter seiner
Anhänger, die sich mit Underdog-Storys wie
diesen identifizieren. Die Frage ist nur, ob das
reicht, um eine zweite Chance zu bekommen.
Weil Bolsonaro weiß, dass er heute eine
Bilanz rechtfertigen muss, spricht er kurz über
ein paar Infrastruktur-Großprojekte. Er streift
die Mordrate, die leicht gesunken ist, was ihm
zufolge an der abschreckenden Wirkung der
Schusswaffen liegt. Vor allem aber widmet er
sich einem milliardenschweren Sozialhilfe-
paket, das er gerade erst durch den Kongress
bekommen hat.
Es sei schwierig, sagt Bolsonaro. In seiner
Amtszeit gab es eine Pandemie, eine Dürre,
zuletzt den Krieg in der Ukraine. Dazu kom-
men angeblich die Fesseln, die ihm das Obers-
te Gericht anlegt, indem es regelmäßig seine

Nick Hannes / Panos Pictures


Dekrete kippt. Jetzt steigert er sich in Rage
und ruft den Menschen in der Halle zu, dass
»diese Schwerhörigen in ihren schwarzen Ro-
ben« ein letztes Mal die Stimme seines Volkes
hören sollten, das einen Wahlbetrug nicht
tolerieren werde.
Covid-Impfung in Brasília: Bolsonaro nannte Corona eine »leichte Grippe«
Aus einem Lautsprecher dröhnt plötzlich
das rhythmische Marschieren von Soldaten.
»Niemals wird auf meinem Stuhl ein Kom-
munist sitzen«, brüllt er, ehe er den Saal auf-
fordert, ihm nachzusprechen: »Ich schwöre,
dass ich mein Leben für die Freiheit geben
werde.«
Vor Bolsonaro hat seine Frau Michelle
zehn Minuten lang geredet. In ihrem hoch-
geschlossenen, grün schimmernden Kleid sah
sie wie aus wie eine Figur aus der amerikani-
schen Serie »The Handmaid’s Tale«. Die Prä-
sidentengattin erzählte, wie sie jeden Diens-
tag nach Büroschluss am Schreibtisch ihres
Mannes sitze, um zu beten. Gott, sagte sie,
habe Jair Messias Bolsonaro ein Versprechen
gemacht. Er habe eine Vorsehung für Brasi-
lien, und sie werde sich erfüllen.
»Nur Gott holt mich hier raus«, so hat es
Bolsonaro selbst schon öfter formuliert, und
er meint damit sein Amt. Auf den »Märschen
für Jesus«, an denen er seit einer Weile regel-
mäßig teilnimmt, redet er so und in den evan-
gelikalen Kirchen, deren Gottesdienste er mit
seiner Frau besucht, um die wachsende Zahl
evangelikaler Wähler zu umgarnen. Anderer-
seits transzendiert er sein Mandat zu einer
heiligen Mission, was in einem Land, dessen
Verfassung die strikte Trennung von Staat
Nick Hannes / Panos Pictures

und Kirche vorsieht, durchaus Fragen auf-


wirft.
»Aber so ist es doch«, sagt Damares Alves,
die bis vor Kurzem Ministerin für Frauen,
Familie und Menschenrechte war und jetzt
als Senatorin kandidiert. »Wenn Gott nicht
Obdachlose in Brasília: 33 Millionen Brasilianer werden nicht regelmäßig satt will, dass er im Amt bleibt, dann wird er nicht

86 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


AUSLAND

wieder gewählt. Wir sind Christen, daran Lira gehört wie rund 300 weitere Abge-
glauben wir.« ordnete zu einer »Centrão« genannten Grup-
Niemand verkörpert den religiösen Wahn pe ideologiefreier Parteien, ohne deren
dieser Regierung so sehr wie diese 58-jährige Unterstützung in Brasília kaum jemand re-
Pastorin, die Anfang 2019 schlagartig bekannt gieren kann. Politiker wie Lira sind Mehr-
wurde, als sie in einem Internetvideo die neu heitsbeschaffer, die sich ihre Loyalität be-
anbrechende Zeit mit den Worten beschrieb, zahlen lassen. Eigentlich hatte Bolsonaro
dass Jungs jetzt Blau tragen würden und Mäd- angekündigt, aufzuräumen mit dieser alten
chen Rosa. Viehmarktpolitik, aber stattdessen arrangier-
Im Grunde, sagt Alves, sei die Trennung te er sich nun.
von Staat und Kirche »Heuchelei«. »Ich schaf- Viele Brasilianer glauben Bolsonaro nicht
fe es ja auch nicht, Jesus draußen zu lassen, mehr, dass er es ernst meint mit dem Kampf
wenn ich mein Büro betrete. Er lebt in mir. gegen Bestechlichkeit und Kungelei. Die Fra-
Warum dürfen nur Gewerkschaften über Poli- ge ist, ob sie zu einem Mann überlaufen, der
tik sprechen?« in Bolsonaros Reden nur als Ex-Häftling vor-
Das ist die Erzählung, die Alves strickt: kommt.
dass ihre Regierung den Unsichtbaren ein Ge- 19 Monate saß Luiz Inácio Lula da Silva

Mauro Pimentel / AFP


sicht gegeben habe. Dass ihr Ministerium die im Gefängnis. Korruptionsermittler hatten
Kindersterblichkeit gesenkt habe, indem es ihn beschuldigt, während seiner Zeit als Prä-
vielerorts in eine nicht mehr existente Jugend- sident Geschenke von Baufirmen angenom-
hilfe investierte. »Management ist das Re- men zu haben. Bei der Wahl 2018 lag er in
zept«, sagt sie, »keine Korruption.« Politiker Bolsonaro, Ehefrau
Führung, bis ein Gericht ihm die Kandidatur
Was Alves nicht sagt, ist, dass Korruptions- verbot, weil er im Gefängnis saß. Als man
skandale nur ans Licht kommen, wenn es ein in dem er sich immer wieder neu als Retter ihn im November 2019 wieder freiließ, war
Interesse gibt, den Spuren nachzugehen. Im- präsentiert. Bolsonaro längst im Amt. Der Richter, der
mer wieder mal war etwas aufgepoppt, beim In der Pandemie nannte Bolsonaro Coro- ihn verurteilt hatte, wurde später für be­
Kauf von Coronaimpfstoffen etwa oder im na eine »leichte Grippe«, Menschen mit fangen erklärt, nachdem geleakte Audio­
Bildungsministerium. Bolsonaros ältester ­Masken waren für ihn »Schwuchteln«. Wäh- mitschnitte belegten, wie er mit den Ermitt-
Sohn Flávio legte sich eine neue Villa zu, die rend er seinen eigenen Impfausweis mit lern konspirierte. Alle Verfahren und An-
er sich allein von seinem Senatorenlohn kaum einem 100-jährigen Geheimhaltungssiegel klagen gegen den Ex-Präsidenten wurden
leisten kann. versehen ließ, starben in Brasilien fast aufgehoben.
»Es gibt keine Beweise«, sagt Alves. Ihr 700 000 Menschen an Corona. »Na und?«, Lula hatte lange gezögert, ob er sich die
»Thermometer für die Zustimmung« sei die sagte er einmal, als ihn eine Reporterin im Strapazen eines Wahlkampfs noch mal antun
Straße, meint sie, und angesichts der Zunei- April 2020 auf die ungewöhnlich hohen möchte, aber als er an einem Morgen im Au-
gung, mit der die Menschen sie erdrückten, ­Opferzahlen ansprach. gust in der Stadt Garanhuns im armen Nord-
könne sie den Umfragen nicht trauen. Genau Das Leid der anderen berührt ihn nicht. osten Brasiliens auf einer Bühne steht, merkt
dies sei auch der Grund, weshalb Bolsonaro Es gab verschiedene Momente, in denen die man ihm das Alter nicht an. Seine Stimme ist
für eine transparentere Auszählung der Stim- Brasilianer an ihre Fenster traten, auf Töpfe noch rauer als früher, aber er ist genauso geis-
men werbe. Er wolle verhindern, dass die trommelten und ihn zum Teufel wünschten, tesgegenwärtig wie vor zwölf Jahren, als er mit
Linke Zweifel anmeldet, falls er im ersten aber jedes Mal verhallte der Lärm, ohne dass Beliebtheitswerten aus dem Amt ausschied,
Wahlgang schon gewinnen sollte. etwas geschah. die nie ein anderer Präsident erreichte.
Der Informatiker Rafael Azevedo, der Bolsonaro hatte vorgesorgt, indem er Ge- In den Stunden vor dem Auftritt hatte er
beim Wahlgericht in Brasília die Abteilung treue an die sensiblen Stellen im Staatsappa- seine Begleiter an den Ort geführt, an dem er
für Technologie leitet, kann eine andere Ge- rat setzte. Vor allem zwei Männern hat Bol- geboren wurde. Verwandte haben die Lehm-
schichte erzählen. Im Wahljahr 2018, sagt sonaro zu verdanken, dass er jetzt wieder hütte originalgetreu wiederaufgebaut, die
Azevedo, sei Bolsonaro mal da gewesen, um kandidieren kann. Der eine ist Augusto Aras, holzbefeuerte Küche, den Verschlag im Hof,
sich über die Sicherheit der Urnen zu infor- der als Generalbundesanwalt unangenehme der als Toilette diente.
mieren. Während Azevedo ihm am Beispiel Ermittlungen unterdrückt. Der andere ist Ar- Lula war Metallarbeiter, Gewerkschafts-
eines Wahlcomputers auseinandersetzte, wie thur Lira, der als Präsident des Abgeordneten- führer, in den letzten Jahren der Diktatur
das System funktioniert, stellte Bolsonaro ein hauses die Eröffnung eines Amtsenthebungs- gründete er die Arbeiterpartei mit. Als ihn
paar Fragen. Am Ende seines Vortrags wollte verfahrens blockiert. Mehr als 130 Anträge die Brasilianer 2002 zum ersten Präsidenten
Azevedo wissen, ob er noch immer zweifelte. auf ein Impeachment liegen bei Lira in der aus der Arbeiterschicht wählten, brachen gol-
Bolsonaro schüttelte den Kopf. Dann sagte Schublade. Keinen hat er angetastet, aber das dene Jahre an. In Garanhuns erinnert er da-
er, jetzt müsse man nur noch das Volk über- hat seinen Preis. ran, wie Putzfrauen damals zum ersten Mal
zeugen. genug verdienten, um sich eine Flugreise zu
Sein Handeln, sagt der Politologe André leisten. Wie junge Schwarze es aus einfachsten
Singer, habe sich vollkommen von der Wirk- Gespaltenes Land Verhältnissen auf öffentliche Universitäten
lichkeit entkoppelt. Bolsonaro schaffe sich Über Wochen beobachteten die SPIEGEL- schafften.
eine eigene Wirklichkeit, in der er sich als Redakteure Marian Blasberg und Jens Noch einmal aufbrechen, um einen Unfall
Kämpfer gegen ein System inszeniere, das ­Glüsing Brasiliens Präsidenten Jair Bolso- der Geschichte zu korrigieren, wie Lula diese
sich gegen ihn und seine Anhänger verschwo- naro und seinen Herausforderer Luiz Jahre unter Bolsonaro sieht – kann das ge-
ren habe. ­Inácio Lula da Silva im Wahlkampf. Sie lingen? Sollte er noch mal die Chance be-
»Dass niemand genau sagen kann, woraus sprachen mit einer Ex-Ministerin und kommen, dann muss er mit Millionen Men-
dieses System besteht«, sagt Singer, »spielt in ­Vertrauten Bolsonaros, mit Historikern schen klarkommen, die davon ausgehen, dass
ihrem Delirium keine Rolle. Es ist so gewollt.« und Analysten und begleiteten Lula er die Wahl gestohlen hat. Bolsonaro wird
Bolsonaros vorrangiges Ziel, sagt er, sei die auf einer Reise in ­seinen Geburtsort im kaum einfach aufgeben. Und seine Anhänger
Zerstörung des Systems. Er kennt nur diesen Nordosten Brasiliens. Dabei spürten werden sicher nicht verschwinden.
Modus: den Angriff, den Konflikt, das Chaos, sie, wie pola­risiert die Gesellschaft ist. Marian Blasberg, Jens Glüsing n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 87


AUSLAND

»Deutschlands Politik hat Europa


­gewaltig geschadet«
POLEN  Regierungschef Mateusz Morawiecki geht hart mit der Bundesregierung ins Gericht: Berlin habe
in der Ukrainekrise zu zögerlich gehandelt. Die Kritik an der Rechtsstaatlichkeit
seines Landes tut er als Vorwand ab – es gehe auch darum, Warschau zu schwächen.

Morawiecki, 54, ist seit 2017 Ministerpräsident Morawiecki: Es geht doch nicht immer um Werte, und das Geld fließt wie Blut aus der
der nationalkonservativen Regierung in die kopernikanische Wende in der Politik, Nase, so sagt man in Polen, also sehr langsam.
­Warschau. Als Jugendlicher engagierte er sich sondern um ganz einfache Entscheidungen. SPIEGEL: Wie wird sich die Ukrainekrise auf
im Widerstand gegen die kommunistischen Im Juni hat die EU beschlossen, der Ukraine Deutschlands Rolle in Europa auswirken?
Machthaber. Er studierte Geschichte und spä- neun Milliarden Euro zu geben. Kiew muss Morawiecki: Es wird deutlich, dass die deut-
ter BWL, arbeitete in hohen Positionen für Beamte, die Feuerwehr, Ärzte, Krankenpfle- sche Energiepolitik in Trümmern liegt. Der
Banken. Aufsehen erregte er im März, als er ger, Polizisten bezahlen, der Staat muss über- Ausstieg aus Kohle und Atom war verfrüht,
gemeinsam mit PiS-Chef Jarosław Kaczyński, leben und hat in Kriegszeiten natürlich Pro- über den Bau von Nordstream 1 und 2 und
dem tschechischen Premier Petr Fiala und dem bleme, Steuern einzutreiben. Deshalb muss die damit verbundene Abhängigkeit von
damaligen slowenischen Ministerpräsidenten es schnell gehen. Der deutsche Standpunkt Russland müssen wir gar nicht reden. Deutsch-
Janez Janša als einer der ersten Regierungs- ist entscheidend. Ich verstehe schon, dass lands Politik hat Europa gewaltig geschadet.
chefs in das umkämpfte Kiew reiste. manches Zeit braucht, aber vieles sollte auch SPIEGEL: Haben die Länder in Osteuropa ent-
ganz einfach sein. Ein Beispiel: 2016 hat die sprechend an Bedeutung gewonnen?
SPIEGEL: Herr Premierminister, Polen gilt im EU in kürzester Zeit Milliarden an die Türkei Morawiecki: Ganz eindeutig, ja, unsere
Ukrainekrieg als Vertreter eines harten Kur- überwiesen, um die Flüchtlinge dort zu unter- ­Stimme wird viel mehr gehört. Wir hatten
ses gegenüber Moskau, Deutschland eher als stützen. Heute verteidigt die Ukraine unsere schließlich recht mit all unseren Warnungen
Bremser. Stimmt der Eindruck noch?
Morawiecki: Der Standpunkt der Deutschen, Premier
vor allem in den ersten Kriegsmonaten, war ­Morawiecki
sehr enttäuschend. Wir sind überzeugt, dass
die Ukraine nicht nur ums eigene Überleben
kämpft, sondern für die Freiheit Europas.
Wenn die Ukraine fällt, wäre es nur eine Fra-
ge der Zeit, bis Putin das nächste Land atta-
ckiert. Enttäuschend war für die Polen, dass
die Deutschen ihre Fehler in der Energiepoli-
tik so spät eingesehen haben. Putin benutzt
Pipelines als Waffen, sie sind für ihn ein Ins-
trument der Kriegsführung. Die Ukraine hat
den Feind schneller zurückgeschlagen, als die
Deutschen Entscheidungen zustande gebracht
haben.
SPIEGEL: Der vereinbarte Ringtausch – Polen
liefert der Ukraine Waffen, Deutschland er-
setzt diese aus den Beständen der Bundes-
wehr – funktioniert immer noch nicht.
Morawiecki: Es zählt nicht, was auf dem
Papier steht, sondern was wirklich umgesetzt
wird. Polen hat Waffen im Wert von schon
jetzt deutlich mehr als zwei Milliarden Dollar
geliefert, 300 Panzer und anderes schweres
Gerät. Berlins Zögern, die Untätigkeit, stellt
den Wert des Bündnisses mit Deutschland
ernsthaft infrage. Und das sagen nicht nur wir.
Ich höre das auch von etlichen anderen Re-
gierungschefs in Europa.
SPIEGEL: Kanzler Olaf Scholz hat eine Zeiten-
wende angekündigt. Verstehen Sie, dass es
Wolf Lux

Zeit braucht, sich von alten politischen Ge-


wissheiten zu verabschieden?

88 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


AUSLAND

vor Russland. Gegenüber Moskau haben sich die Schwächung Polens geht, will ich nicht
die Deutschen immer sehr versöhnlich ge- sagen. Es spielen auch falsche Vorstellung
zeigt, haben sich verneigt. Vielleicht wissen über unser Land und der Radikalismus etli-

Archiv Heinrich Hoffmann / Bayerische Staatsbibliothek / bpk


das viele in Deutschland nicht: Der Handel cher – auch einiger polnischer – Europaabge-
mit den Ländern der Visegrád-Gruppe, also ordneter eine Rolle. Zum Glück konnten wir
Tschechien, der Slowakei, Ungarn und Polen, in Europa die Einheit wahren, als es darum
hat ein deutlich höheres Volumen als der mit ging, Sanktionen gegen Russland auf den Weg
China, den USA oder Frankreich. Solche Part- zu bringen.
ner sollten die Deutschen hegen und pflegen, SPIEGEL: Ihr alter Partner, der Ungar Viktor
statt Polen paternalistisch von oben herab zu Orbán, versucht, eine harte Haltung gegen-
behandeln. über Moskau zu vermeiden. Verstehen Sie
SPIEGEL: Ihre Regierung will von Deutschland ihn noch?
1,3 Billionen Euro Entschädigung für die Zer- Morawiecki: Neulich habe ich Ergebnisse
störung im Zweiten Weltkrieg. Glauben Sie, eines Meinungsforschungsinstituts gelesen.
dass Sie das Geld jemals erhalten werden? Sie zeigten, dass die große Mehrheit der
Morawiecki: 6,2 Billionen Złoty, das ist gar Ungarn über den Krieg genauso denkt wie
nicht mal so eine fantastische Summe. Das Zerstörtes Warschau im Zweiten Weltkrieg Orbán – ob mir das nun gefällt oder nicht.
Budget der gesamten Bundesrepublik, also SPIEGEL: Weil Orbáns Partei die Mehrheit der
der Haushalt des Bundes zusammen mit dem SPIEGEL: Aber das ist 30 Jahre her. Medien in Ungarn beherrscht.
der Länder, ist fast so groß. Polen ist das Land, Morawiecki: Jedoch hat es mentale Spuren Morawiecki: Auch nicht mehr als der politi-
das im Zweiten Weltkrieg am meisten zerstört, im Denken der heutigen Richterschaft hinter- sche Mainstream in Westeuropa die Medien
aber nie dafür entschädigt wurde. Wir werden lassen und gewisse Gepflogenheiten, deshalb dort, eine abweichende Meinung zu haben
zunächst mit einer diplomatischen Note an wollten wir unsere Justiz reformieren. Ich ist schwer. Bisher hat Ungarn den Sanktio-
die Berliner Regierung herantreten. Zudem sehe eher bei den europäischen Institutionen nen stets zugestimmt. Deshalb sehe ich noch
halten wir die juristischen Analysen der Deut- ein Problem mit der Rechtsstaatlichkeit, weil immer eine Grundlage für die Zusammen-
schen für falsch, wonach Polen 1953 in einem sie sich Rechte anmaßen, über Polens Justiz- arbeit.
Abkommen mit der DDR auf Reparationen reform zu urteilen, die ihnen laut EU-Vertrag SPIEGEL: Ihre Partei PiS stand einer weiteren
verzichtete. Die Sowjetunion zwang Polen gar nicht zustehen. Vertiefung der EU stets kritisch gegenüber.
damals dazu. Die Polen konnten von einem SPIEGEL: Sie vermuten politische Ziele hinter Hat sich dieser Standpunkt geändert, seit
sozialistischen »Brudervolk« schlecht Ent- den Vorwürfen aus Brüssel? Europa in der Ukrainekrise enger zusammen-
schädigung fordern. Moskau hat seinen da- Morawiecki: Ich habe vielen meiner Kollegen gerückt ist?
maligen Statthalter in Warschau, Bolesław in Europa immer wieder zu erklären versucht, Morawiecki: Es gibt Bereiche, in denen sich
Bierut, genötigt zuzustimmen, das polnische dass unsere Justizreform die Rechtsstaatlich- eine weitere Integration lohnt, aber auch Be-
Parlament wurde in der Frage nicht gehört. keit in Polen nicht schädigt, sondern wieder- reiche der Ideologie, die enorme Spannungen
Bei den Vereinten Nationen wurden darüber herstellt. Sie haben es nicht verstanden, sie erzeugen. Dort sollte man den Nationalstaa-
keine Ratifizierungsdokumente hinterlegt. wollten es nicht verstehen oder haben ganz ten ihre Kompetenzen lassen.
Wir erkennen das Abkommen nicht an. Wir andere Ziele im Sinn, als sie behaupten. SPIEGEL: Sie meinen etwa die Gleichberech-
wollen in Berlin Gespräche führen und dazu SPIEGEL: Was meinen Sie? tigung von Homosexuellen?
auch Vertreter Israels einladen – schließlich Morawiecki: Polens Bedeutung wächst, wir Morawiecki: Diese Menschen sind in Polen
waren die Hälfte der polnischen Opfer Bürger haben geholfen, die Sanktionen gegen Russ- gleichberechtigt, es gibt hier keine Diskrimi-
jüdischer Herkunft. Möglicherweise werden land durchzusetzen, wir haben in der Vise­ nierung. Wir sind der Meinung, dass eine
wir später mit unseren Forderungen auch an grád-Gruppe mit Rumänien und Bulgarien weitergehende Integration nicht automatisch
internationale Gerichte herantreten. Wir wer- eine gemeinsame mittelosteuropäische Politik besser ist als Vielfalt. Ein Beispiel: Die nörd-
den auf der ganzen Welt unseren Report ver- auf die Beine gestellt. Als das bei Weitem lichen Länder wollen, dass die EZB den Leit-
treten, der nicht nur menschliche und mate- größte Land zeigen wir die Probleme der zins erhöht, um die Inflation zu stoppen. Die
rielle, sondern auch Verluste an Kulturgütern ­Region auf. Polen ist eine Lokomotive der südlichen Länder fürchten, das könnte ihre
berücksichtigt. Entwicklung in Europa. Wir artikulieren die Wirtschaft ersticken. Was soll die EZB tun?
SPIEGEL: Brüssel hat rund 35 Milliarden Euro Erfahrungen und Interessen der Länder, die SPIEGEL: Aber einer Verteidigungsunion
an Coronahilfen eingefroren, weil es Zweifel den Kommunismus erlebt haben. Wir reprä- könnte Polen zustimmen?
an der Rechtsstaatlichkeit in Polen gibt. Ist sentieren eine Vielfalt in Europa, und Vielfalt Morawiecki: Wir fordern seit Jahren Schritte
dieser Streit noch zu befrieden? ist ein Wert an sich. Vielleicht gefällt unsere in diese Richtung. In der Ukrainekrise hat
Morawiecki: Wenn die EU-Kommission und Rolle nicht allen. sich gezeigt, dass der stärkste Garant der Si-
zwei der wichtigsten westlichen Hauptstädte, SPIEGEL: Sie behaupten also, die Kritik des cherheit die USA sind. Wäre die Ukraine im
also Paris und Berlin, zu dem Schluss kom- Europäischen Gerichtshofs und der EU-Kom- Rahmen einer europäischen Verteidigungs-
men, dass wir in Zeiten des Krieges zusam- mission soll Polen schwächen? politik von Deutschland abhängig, gäbe es
menhalten müssen, dann ja. Heute werden Morawiecki: Dass es ein Vorwand ist, sieht sie heute schon nicht mehr.
gegen Polen, das die Ostflanke der EU ver- man schon daran, dass in Spanien das SPIEGEL: Wie kann der Ukrainekrieg enden?
teidigt, vollkommen falsche Argumente an- ­Richterwahlgremium und die Richter auf fast Morawiecki: Weitere Sanktionen werden der
geführt. die gleiche Weise berufen werden wie bei uns. russischen Wirtschaft immer mehr schaden.
SPIEGEL: Was hat Rechtsstaatlichkeit mit Nur stört es dort keinen. Dass es nur um Noch kann Putin so tun, als wäre alles in
Krieg zu tun? ­Ordnung. In einer Diktatur müssen sich die
Morawiecki: Ich halte die Vorwürfe gegen uns Herrschenden nicht um die Meinung des
für absurd. Die Deutschen haben nach der ­Volkes kümmern. Aber in ein paar Monaten
Wiedervereinigung die gesamte Richterschaft wird dieses System erodieren. Vielleicht gibt
und die Staatsanwälte der DDR durchleuch- es keine Revolution, aber steigenden Druck,
tet, und nur 30 Prozent durften weiterarbei-
ten. Bei uns blieben die kommunistischen
»Polen ist eine Lokomotive den Krieg zu beenden. Jetzt müssen wir der
­Ukra­ine durch einen harten Winter helfen.
Richter im Amt. in Europa.« Interview: Jan Puhl  n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 89


AUSLAND

kommen mehr als 200 000 Iraker und


Afghanen.
Längst jedoch ist die Stimmung

Die Unerwünschten
im Land gekippt. Laut einer Umfrage
des türkischen Meinungsforschungs­
instituts Metropoll wollen 82 Prozent
der Türkinnen und Türken, dass
die Geflüchteten nach Syrien zurück­
TÜRKEI  Einst hat Präsident Erdoğan Geflüchtete mit offenen Armen empfangen. kehren.
Die Opposition setzt Erdoğan ein
Nun verschärft seine Regierung auf Druck der Opposition die knappes Jahr vor den Präsident­
Migrationspolitik massiv. Syrer werden illegal in ihre Heimat abgeschoben. schaftswahlen massiv unter Druck,
indem sie ihm vorwirft, die Geflüch­
teten ins Land geholt zu haben – an­

I
brahim Bader hatte sich nach halbe Million Syrerinnen und Syrer geblich zum Schaden der Türkei.
seiner Flucht aus Syrien in der in ihr Heimatland zurückgekehrt, an­ Immer öfter kommt es zu Über­
Türkei ein neues Leben aufge­ geblich allesamt auf eigenen Wunsch. griffen gegen Migrantinnen und Mi­
baut. Eine britische Firma in Istan­ Recherchen des SPIEGEL und Berich­ granten. Und damit keine neuen
bul  stellte ihn als Social-Media- te von Menschenrechtsorganisatio­ Flüchtlinge ins Land kommen, hat
Manager ein, mit seiner Frau und nen zeigen jedoch, dass manche von die Regierung die Grenze zu Syrien
seinen zwei Töchtern war er in eine ihnen zur Rückkehr genötigt, mit­ inzwischen mit einer Mauer abge­
Neubauwohnung in Istanbul gezogen. unter sogar verschleppt wurden. riegelt.
Bader stellte sich auf eine Zukunft »Die türkische Regierung will Ge­ Ibrahim Bader hat bereits vor sei­
in der Türkei ein, bis an einem Mor­ flüchtete außer Landes schaffen, egal ner Festnahme miterlebt, wie die Be­
gen im Januar Polizisten in seine ob mit legalen oder illegalen Mitteln«, dingungen für Syrerinnen und Syrer
Wohnung ein­drangen. sagt die Österreicherin Natalie Gru­ in der Türkei immer schwieriger wur­
Sie richteten Maschinenpistolen ber, deren internationale Hilfsorgani­ den. Er sei auf der Straße beleidigt
auf ihn, berichtet er. Sie legten ihm sation Josoor sich um Geflüchtete im und bespuckt worden, erzählt er. Ein
Handschellen an und karrten ihn auf türkisch-griechischen Grenzgebiet Nachbar sei von einem Angreifer mit
eine Polizeistation. Bader verbrachte kümmerte und im August die Arbeit einem Messer lebensgefährlich ver­
eine Nacht in einer Zelle, ohne zu unter anderem auf Druck der Behör­ letzt worden.
wissen, warum. Erst nachdem seine den eingestellt hat. Vermieter weigern sich, Wohnun­
Frau einen Anwalt verständigt hatte, Einst verfolgte Präsident Recep gen an Syrerinnen und Syrer zu ver­
erfuhr er, dass ihn die Behörden be­ Tayyip Erdoğan gegenüber Schutz­ geben. Laut einer Metropoll-Umfrage
schuldigten, Mitglied der Terrormiliz suchenden eine Politik der offenen Istanbuler lehnt mehr als die Hälfte der Türken
­Migrantenstadtteil
»Islamischer Staat« zu sein. Tür. Die Türkei nahm etwa 3,7 Mil­ Fatih: Längst ist
Syrer als Nachbarn ab. Die Regierung
Bader, 30 Jahre alt, hatte sich als lionen Syrerinnen und Syrer auf, die Stimmung im hat auch die Reisefreiheit für Migran­
Ingenieurstudent in Aleppo an den mehr als jedes andere Land. Hinzu Land gekippt tinnen und Migranten stark einge­
Protesten gegen Diktator Baschar
al-Assad beteiligt. Er habe in Syrien
deshalb zweimal für mehrere Mona­
te im Gefängnis gesessen, sagt er.
Nachdem IS-Terroristen seinen Bru­
der und seinen Onkel ermordet hat­
ten, floh er 2014 in die Türkei. Nun
werfen die türkischen Ermittler aus­
gerechnet ihm vor, IS-Unterstützer
zu sein. »Es ist wie in einem schlech­
ten Film«, sagt er.
Bis heute haben die türkischen
Behörden keine Belege für Baders
Schuld präsentiert. Trotzdem sperr­
ten sie ihn für rund vier Monate in
verschiedene Abschiebegefängnisse
in der Türkei.
Bader teilte sich die Zelle zum Teil
mit mehreren Dutzend Gefange­
nen.  Er schlief im Sitzen auf dem
Emin Ozmen / Magnum Photos / DER SPIEGEL

Boden, wurde immer wieder be­


schimpft. Erst als ihn die Wärter
drängten, schriftlich zu versichern,
dass er freiwillig nach Syrien zurück­
kehren wolle, begriff er, warum er
festgenommen wurde. »Die Türkei
will Geflüchtete wie mich schnellst­
möglich loswerden«, sagt er.
Nach Angaben der türkischen
Regierung sind seit 2016 rund eine

90 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


AUSLAND

schränkt. Bader kann seine Schwester in te seine Partei die Wahl im kommenden Jahr
Gaziantep, im Südosten der Türkei, nicht gewinnen.
mehr besuchen, weil er Istanbul nicht ver­ Das Migrationsfrage hat in der Türkei so
lassen darf. sehr an Bedeutung gewonnen, dass sich in­
Sein Anwalt hat im Mai immerhin erwirkt, zwischen eine rechtsextreme Partei gegründet
dass Bader aus dem Gefängnis freikommt und hat, deren Programm sich fast ausschließlich
vorerst nicht nach Syrien abgeschoben wird. darauf konzentriert, die Flüchtlingszahlen
Er wagt sich seither jedoch kaum mehr auf zu senken. Sie zeichnet das Zerrbild einer
die Straße. Die Behörden haben seinen Pass Türkei, die von Syrern regiert wird und in der
einbehalten. Bader ist damit de facto illegal es verboten ist, Türkisch zu sprechen.
im Land. Er kann keinen Arzt aufsuchen und Jahrelang war es die Opposition, die die
kein Bankkonto eröffnen. Er muss jederzeit Regierung ermahnte, Menschenrechte zu ach­

Emin Ozmen / Magnum Photos / DER SPIEGEL


damit rechnen, erneut festgenommen und ten. Beim Thema Migration haben sich die
nach Syrien abgeschoben zu werden. Aus Rollen vertauscht: Inzwischen überschlagen
Angst vor Repressionen will er seinen echten sich Oppositionsparteien geradezu mit immer
Namen nicht nennen. drastischeren Vorschlägen für Repressionen
Bader denkt nun darüber nach, mit seiner gegen Schutzsuchende, während Erdoğan bis­
Familie über die Ägäis nach Griechenland lang auf die Einhaltung von Asylstandards
zu fliehen, auch wenn er weiß, wie gefährlich gepocht hat.
das ist. »Solange wir an der Macht sind, werden
Die türkische Regierung und die EU haben Syrer Bader wir Gottes Untertanen, die bei uns Zuflucht
2016 einen Deal geschlossen, wonach die gesucht haben, nicht zurück in die Arme von
Türkei Geflüchtete an der Weiterreise nach Mördern schicken«, sagte er noch im vergan­
Europa hindern soll – dafür erhielt sie bislang Erdoğan sieht die Lösung genen Jahr.
sechs Milliarden Euro.
Ankara setzt die Erklärung jedoch seit
für das türkische Je näher jedoch die Wahlen rücken und je
tiefer die Umfragewerte für die Regierungs­
einigen Monaten nicht mehr um, weshalb die ­Flüchtlingsproblem in partei AKP sinken, desto weniger scheint
Flüchtlingszahlen in Griechenland wieder
steigen. Seit Jahresbeginn versuchten nach
­Syrien. Erdoğan gewillt, an seinem Kurs festzuhalten.
Wie sein Rivale Kilicdaroglu sieht er die
Angaben der griechischen Regierung mehr Lösung für das türkische Flüchtlingsproblem
als 150 000 Migrantinnen und Migranten, inzwischen vor allem in Syrien.
über den Grenzfluss Evros aus der Türkei Wenige Kilometer hinter der Grenze, in
nach Griechenland zu gelangen. über 80 Prozent, in Wahrheit dürfte der Wert der nordsyrischen Provinz Idlib, hat die tür­
Griechische Sicherheitskräfte wehren sie doppelt so hoch sein. Die Lira hat dramatisch kische Regierung mitten in der Steppe meh­
oft mit Gewalt ab. Gerade erst starb ein fünf­ an Wert verloren. Teile der türkischen Mittel­ rere Tausend Häuser errichten lassen. Die
jähriges Mädchen aus Syrien auf einem Eiland schicht drohen zu verarmen. Region wird von der islamistischen Miliz
im Evros, weil ihr weder türkische noch grie­ Und auch wenn Migrantinnen und Mi­ Haiat Tahrir al-Scham kontrolliert, einer
chische Sicherheitskräfte helfen wollten. granten häufige jene Jobs annehmen, die Verbündeten Ankaras.
Die Stadt Bolu liegt auf halbem Weg zwi­ Türkinnen und Türken nicht machen wollen, Ein Mitarbeiter der türkischen Katastro­
schen Istanbul und Ankara. Bislang war die hat sich bei vielen Menschen dennoch der phenschutzbehörde Afad führt durch die
Region vor allem bekannt für ihre Berge, Wäl­ Eindruck festgesetzt, dass die Geflüchteten Siedlung, die nach Präsident Erdoğan benannt
der und Seen. Viele Türkinnen und Türken die Schuld an der Misere tragen. ist. Kinder spielen im Staub. Händler ver­
kommen hierher, um Urlaub zu machen. Nun Die Opposition verstärkt die Ressen­ kaufen Obst an einem Marktstand. Der
aber ist Bolu zum Symbol geworden für die timents, indem sie die Wirtschaftskrise direkt Afad-Beamte zeigt auf eine Moschee und
wachsende Feindseligkeit gegenüber Geflüch­ mit Erdoğans Flüchtlingspolitik in Verbin­ eine Schule, die die Türkei betreibt. »Hier
teten in der Türkei. dung bringt. »Die Regierung gibt den Syrern liegt die Zukunft Syriens«, sagt er.
Tanju Özcan, Sozialdemokrat und Bürger­ Geld, das sie eigentlich dem türkischen Volk Bislang leben in den Afad-Häusern vor
meister von Bolu, 48 Jahre alt, hat untersagt, geben sollte«, sagt Özcans Parteifreund, der allem syrische Binnenvertriebene. Die tür­
Schilder in arabischer Schrift aufzuhängen. Chef der Republikanischen Volkspartei, kische Regierung hat jedoch angekündigt,
Er wollte Ausländer dazu zwingen, zehn­ ­Kemal Kilicdaroglu. »Die DNA der Türkei eine Million Syrerinnen und Syrer aus der
mal so viel Steuer für Wasser zu bezahlen wie wird verändert.« Türkei ins Grenzgebiet schaffen zu wollen.
türkische Staatsbürger. Kürzlich annul­lierte Kilicdaroglu hat angekündigt, sämtliche Erdoğan lässt offen, wie genau die Umsied­
er den Kauf von zehn Friedhofsplätzen durch Syrerinnen und Syrer zurückzuschicken, soll­ lung funktionieren soll. Die wenigsten Ge­
einen Iraker. »Ich will nicht, dass sie sich in flüchteten wollen freiwillig zurück, sie fürch­
Bolu niederlassen und hier begraben werden«, ten vermutlich Vergeltung durch das Assad-
sagte er. Ungleich verteilt Regime.
Ein Gericht leitete ein Verfahren gegen Ankara bemüht sich unterdessen um bes­
Özcan wegen Anstiftung zu Hass und Dis­ Registrierte Geflüchtete aus Syrien sere Beziehungen nach Damaskus. Erdoğan
kriminierung ein. Der Bürgermeister sieht Türkei 3.737.369 betrachtete Assad seit 2011 als Feind und
sich im Recht. Neun von zehn Türken würden führte im Norden Syriens indirekt Krieg
so denken wie er, sagt er beim Gespräch im EU 1.019.924 gegen ihn.
Rathaus. »Das Flüchtlingsthema betrifft nicht Libanon 840.929 Seine Sorge, die Präsidentschaftswahl zu
Bolu in erster Linie, sondern ist ein Problem verlieren, ist aber offenbar so groß, dass er
für die gesamte Türkei.« Jordanien 672.952 sich lieber mit Assad arrangiert, als weiter
Die Solidarität mit Schutzsuchenden Irak 254.561 Syrerinnen und Syrer in der Türkei zu beher­
nimmt in der Türkei auch deshalb ab, weil das bergen.
Land selbst in einer schweren Wirtschafts­ Ägypten 136.727
Şebnem Arsu, Giorgos Christides,
krise steckt. Die Inflation liegt offiziell bei S Quelle: UNHCR, Stand: 31. Dez. 2021 Maximilian Popp n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 91


AUSLAND

R
obert Ménard trinkt keinen Tropfen Al­
kohol, nie. Auch keinen Kaffee oder
Tee. Er isst auch kein Fleisch. Und er

Unheimlich erfolgreich
mag keinen Stierkampf. Das sind viele Grün­
de, die gegen einen Bürgermeisterposten in
Südfrankreich sprechen. Stierkampf gehört
hier zur Religion. Und seine Stadt ­Béziers liegt
inmitten von Weinanbaugebieten.
FRANKREICH  Einer der prominentesten Rechten des Landes war einst »Ich weiß, klingt alles schwierig«, sagt Mé­
nard, 69, blaues Leinenjackett und wie immer
Trotzkist, unterstützt heute Marine Le Pen und ist als Bürgermeister etwas zerknautscht im Gesicht. Es ist ein hei­
beliebt wie keiner seiner Vorgänger. Was die Sympathiewerte des Politikers ßer Sommerabend in Béziers, 19 Uhr, Apéritif­
Robert Ménard über den Rechtsruck Frankreichs erzählen. zeit. »Aber ich mag keinen Alkohol. Und das
Ritual, gemeinsam dem Tod beizuwohnen,
fand ich schon immer befremdlich.«
Ménard sitzt auf einer Caféterrasse in der
Altstadt von Béziers. An den Tischen neben­
an werden Ricard und Rosé getrunken. Er
bestellt Mineralwasser mit Zitrone. Vor zwei
Jahren wurde Ménard als Bürgermeister von
Béziers wiedergewählt, mit knapp 70 Pro­
zent, das waren 20 Prozentpunkte mehr als
bei seiner ersten Wahl. Damit ist er einer der
beliebtesten Bürgermeister Frankreichs.
Ein Mann, der vor einiger Zeit sagte, er den­
ke nicht daran, in den Schulen seiner Stadt
Kinder syrischer Flüchtlinge aufzunehmen. Der
auf Twitter beklagte, dass angeblich niemand
mehr aus Frankreich ausgewiesen werde. Der
Sinti und Roma hartnäckig »Zigeuner« nennt.
Der immer wieder krude Thesen vertritt: Als
in London Sadiq Khan zum Bürgermeister ge­
wählt wurde, verbreitete er die rechtsextreme
Verschwörungstheorie des »grand remplace­
ment«, nach der eine europäisch-christliche
Bevölkerung in Europa Schritt für Schritt durch
eine muslimische ersetzt werden solle.
Robert Ménard, parteilos, einst Journa­
list und Mitgründer der Organisation »Repor­
ter ohne Grenzen«, gehört zur Riege jener
Rechtsaußen-Politiker, die im Land immer
mehr politische Funktionen übernehmen: Seit
Kurzem sitzen sie mit 89 Abgeordneten im
Parlament in Paris, schon zuvor regierten sie
in Regionalräten und Rathäusern. Der Ent­
teufelung der Partei Le Pens folgt nun die
politische Teilhabe der Rechtspopulisten an
der Macht. Die vielen Wählerstimmen für den
»Rassemblement National« (RN) entsetzten
bei den Präsidentschaftswahlen im Mai halb
Europa. Die Frage ist nur, was sie bedeuten:
Sind die Franzosen aus Überzeugung an den
rechten Rand gerückt – oder aus Verzweif­
lung? Und warum ist Ménard auf einmal so
populär, nicht nur in seiner Stadt?
Ab September wird er regelmäßiger Gast in
einem prominent platzierten Talkformat des
Nachrichtensenders LCI sein. Schon jetzt kom­
mentiert er dort regelmäßig das politische Ge­
schehen. Auf den ersten Blick wirkt Ménard
wie einer von vielen Rechten: ein Populist, aus­
Julien Daniel / MYOP / DER SPIEGEL

länderfeindlich, nationalistisch. Dann wieder


argumentiert er überraschend klug, auch weil
er ständig die eigenen Vorurteile widerlegt. In
den vergangenen Monaten verteidigte er die
Politiker Ménard
im Rathaus Politik Emmanuel Macrons, wenn es um die
von Béziers Ukraine oder das Krisenmanagement während
der Pandemie ging. Marine Le Pen hingegen

92 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


AUSLAND

kritisiert er offen für ihre antieuropäi- weil es ihm eine Bühne verschafft. begebieten und Einkaufszen­tren in
sche Haltung, ihre Putin-Bewunderung ­Irgendwann beklagte er, der »Front der Peripherie der Stadt voran. Der
und ihren Vorstoß, das Tragen des National« werde im politischen System Paris Mittelstand zog ebenfalls an den
Kopftuchs in der Öffentlichkeit für nicht hinreichend repräsentiert, der Stadtrand, das historische Zentrum
Musliminnen unter Strafe zu stellen. Partei müsse mehr zugehört werden. FRANKREICH verfiel. Als Ménard ins Rathaus ein-
Aber er verteidigt Le Pen auch. Er Vor den Präsidentschaftswahlen rief zog, setzte er eine Frist von zwei Jah-
Montpellier
sagt, sie benenne die richtigen Prob- Ménard dazu auf, Marine Le Pen zu ren für die Sanierung historischer
leme, allen voran die Einwanderung, wählen, obwohl er sich seit Jahren wei- Béziers Fassaden. In dieser Zeitspanne gab es
auch wenn sie nicht die richtigen Lö- gert, ihrer Partei beizutreten. Er wolle staatliche Hilfen, danach Strafen.
sungen bereithalte. »Sie sagt Dinge, unabhängig bleiben, sagt er. »Ich bin ein autoritärer Bürger-
die andere sich vor lauter schlechtem Béziers ist klassisches Beuteland meister«, sagt er im Café – was ein
Gewissen nicht zu sagen trauen. Aber für den »Rassemblement National«. Blick auf seine erste Amtszeit bestä-
man muss Missstände benennen kön- Die Mittelmeerstadt gilt als einer der tigt. Da erließ er unter anderem ein
nen, um sie zu ändern.« Dann schaut ärmeren Orte Frankreichs mit einem Verbot, im öffentlichen Raum auf die
er einen an: »Sie in Deutschland, Sie überdurchschnittlich hohen Anteil an Straße zu spucken. Und ein anderes,
haben ja immer ein besonders Rentnern und einer Arbeitslosigkeit Wäsche auf den Balkonen der Alt-
schlechtes Gewissen.« von 23 Prozent. Bei den Jungen ist stadt zu trocknen oder Satelliten-
Die Franzosen mögen ihn, weil er die Zahl noch höher. 34 Prozent der schüsseln an den historischen Fassa-
rechts, aber nicht dumpf ist. Ménard Bewohner leben unterhalb der offi- den anzubringen. Für unter 13-Jährige
rettet die Ehre jener, die für den RN ziellen Armutsgrenze, im Landes- erfand er eine vorübergehende Aus-
gestimmt haben, weil sie Macron durchschnitt sind es nur 14,6 Prozent. gangssperre zwischen 23 Uhr und
nicht mehr ertragen, aber auch nicht Der Ausländeranteil ist hoch. Ein- 6 Uhr morgens.
jede Zeile des Parteiprogramms Le wanderer aus dem Maghreb in zwei- 2015 ließ er Plakate aufhängen, die
Pens unterschreiben würden. Er gibt ter oder dritter Generation leben in Donald Trump hätte drucken lassen
ihnen das beruhigende Gefühl, dass der Stadt, außerdem große Familien können: »Von nun an hat die Polizei
man als Rechter auch differenziert der Sinti und Roma. einen neuen Freund«, stand darauf.
sein kann. Wenn der Rechtsaußen- 54 Prozent erzielte die Rechts­ Daneben war eine halb automatische
Politiker Éric Zemmour Frankreichs partei im Juni bei den Präsident- Pistole zu sehen, die er für die Sicher-
Untergang beschwört, weist Ménard schaftswahlen in Béziers. Die seit den heitskräfte hatte anschaffen lassen.
noch einen Weg aus der Misere. Er Wahlen so oft zitierte Spaltung Frank- Das Plakat hängt bis heute im Rat-
mag Lösungen. reichs verläuft nicht nur zwischen haus. Ménard provoziert gern, auch,
In den acht Jahren, in denen er Bür- Norden und Süden, zwischen urba- um auf sich aufmerksam zu machen.
germeister der 80000-Einwohner- nen Zentren und ländlichen Gebie- Er sagt: »Ich bin nichts rechtsextrem,
Stadt Béziers ist, schrumpfte die Liste ten. In feinen Haarrisslinien zeichnet ich bin nur rechts.«
der linken Opposition in der Stadt auf sie sich ebenso entlang der Mittel- Zuweilen irritiert er mit Positions-
sechs Prozent zusammen, die klassi- meerküste ab, wobei Gewinner und wechseln. Als 2015 die ersten syri-
schen Konservativen sind in der Be- Verlierer hier nah beieinander woh- schen Kriegsflüchtlinge kamen, droh-
deutungslosigkeit versunken. Viele nen. In Montpellier, einer herausge- te er, die Flüchtlinge würden nicht
rechtspopulistische Politiker versagen putzten Universitätsstadt mit knapp lange in der Stadt bleiben können. In
an der Macht, ihre Wahlerfolge ver- 300 000 Einwohnern, 60 Kilometer diesem Frühjahr, als Ukrainerinnen
glühen schnell. Robert ­Ménard drehte, von Béziers entfernt, kam Emmanu- und Ukra­iner zu Tausenden vor dem
einmal gewählt, erst richtig auf. Jeden el Macron bei den Präsidentschafts- Krieg in ihrer Heimat flüchteten, ent-
Morgen ab 7.30 Uhr sitzt er mit sei- wahlen auf 72 Prozent. schuldigte er sich für seine damaligen
ner Labradorhündin im Rathaus, um Zur Geschichte von Béziers gehört Äußerungen: Er habe gewisse Dinge
8 Uhr ist die erste Mitarbeiterbespre- die des Abstiegs der Stadt. Im gesagt, die er bedauere. »Ich schäme
chung. Im Süden Frankreichs ist das 19. Jahrhundert war der Ort dank des »Musikalischer mich, dass ich das getan habe, denn
eine Zumutung, aber Ménard hat die Weinanbaus unfassbar reich gewor- Brunnen« in der es war moralisch nicht richtig.«
Altstadt von Béziers:
Dinge, die er tat, schon immer mit gro- den. Dann brach das Geschäft mit Gewinner und
Seine politischen Gegner werfen
ßer Geste erledigt. dem Wein ein. Ménards Vorgänger Verlierer wohnen nah ihm vor, er orientiere sich immer da-
Als Generalsekretär von »Repor- im Rathaus trieb den Bau von Gewer- beieinander ran, was für ihn gerade von Nutzen
ter ohne Grenzen« reiste er einst um sei. Das Interessante aber ist, dass
die Welt, um Journalisten aus Gefäng- seine vielen Ausrutscher ihm nie ge-
nissen freizukämpfen. Vor den Olym- schadet haben. Warum das so ist?
pischen Spielen in China 2008 klet- »Ich kann Ihnen diese Frage nicht
terte er auf die Pariser Kathedrale beantworten«, sagt der Politiker. »Ich
Notre-Dame, um eine Flagge zu his- weiß nur, dass viele, die mich wählen,
sen, die die olympischen Ringe als weder Rassisten noch Rechtsextreme
Handschellen zeigte. Aber warum sind. Aber sie haben keine Lust mehr,
näherte sich der Linke ab 2010 den in Wohnblöcken zu leben, in denen
rechten Strömungen im Land an? Dealer unter ihren Fenstern stehen,
Weggefährten von ihm sagen, seine vor denen der Müll stinkt. Sie wollen
Julien Daniel / MYOP / DER SPIEGEL

zweite Frau habe viel damit zu tun. ihre Ruhe haben. Und ich kann sie
Sie sitzt für eine Gruppierung, die verstehen.«
sich »diverse Rechte« nennt, seit Jah- Ein Mann kommt ungefragt an Mé-
ren als Abgeordnete im Parlament. nards Tisch, weiße Socken in den offe-
Vielleicht liegt es einfach daran, nen Sandalen. Er fragt, ob er nicht der
dass sich Ménard gern gegen den poli- Bürgermeister sei, den man manchmal
tischen Mainstream positioniert – auch im Fernsehen sehe. »Ich finde gut, was

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 93


AUSLAND

Sie da sagen«, lobt er. »Sie reden Klar- »Ich weiß der Sozialwohnungen dort ist hoch, misten enthauptet wurde. Ab der
text, das mag ich. Außerdem ist die der von Einwandererkindern in den ersten Klasse soll hier demnächst
Stadt viel schöner geworden, seit Sie nur, dass Schulen ebenso – auch wenn diese Englisch unterrichtet werden. Ménard
im Rathaus sind.« viele, die Statistik in Frankreich offiziell nicht lässt gerade Einfamilienhäuser in der
»Sehen Sie«, sagt Ménard, »war
das nun ein Rechtsextremer? Ist es
mich wählen, geführt werden darf. Das Gleichheits-
prinzip der Republik un­tersagt Erhe-
Nähe bauen, die er unter Marktwert
verkaufen will. Mittelschichtsfamilien
rechts, was er sagt? Ist es rechts zu- weder Rassis- bungen nach ethnischer Zugehörig- sollen in das Viertel kommen, um die
zugeben, dass einige Probleme, die ten noch keit. Ménard gab trotzdem bekannt, Ghettoisierung aufzuheben. Es ist
wir hier haben, mit der Einwande- er habe eine Zählung muslimischer eines der Projekte, die es schwer ma-
rung zu tun haben?«
Rechtsextre- Schüler durchführen lassen. Es folgte chen, Ménard ausschließlich als har-
Seit seinem Amtsantritt hat sich me sind.« ein öffentlicher Aufschrei. »Dabei ma- ten Rechten zu sehen. Als er Anfang
viel geändert in Béziers: Für die P
­ lace Robert Ménard chen das alle, nur spricht keiner dar- des Jahres Marine Le Pen über die
Jean Jaurès – »früher ein staubiger über«, sagt er. »Die Schuldirektoren Baustelle führte, wusste die nicht so
Platz mit vielen Autos und viel Hun- schauen sich die Vornamen an und die recht, was sie sagen sollte. Was sie da
dekacke«, so Ménard – hat ein Land- in der Kantine gegessenen Gerichte. gerade besichtigte, war das Gegenteil
schaftsarchitekt breite Blumenbeete Danach weiß man Bescheid.« ihres Ausländer-raus-Kurses.
mit Lavendel und im Wind wehenden Robert Ménard ist selbst ein Ein- Die Immobilienpreise sind leicht
Gräsern entworfen. Ein »musikali- wanderer. Er wurde in Oran, Algerien, gestiegen in Béziers. Das ehemalige
scher Brunnen« lässt jeden Abend geboren; seine Eltern kamen 1962 Stadtgefängnis wird zurzeit zu einem
bunt angestrahlte Fontänen in die Luft nach Frankreich. Kurze Zeit später Hotel mit Restaurant umgebaut; einer
wachsen, zum Klang französischer zogen sie nach Béziers. Die Ménards der Investoren ist der Schauspieler
Chansons der Sechziger- und Siebzi- wohnten in einem der großen Sozial- Christopher Lambert. In der Altstadt
gerjahre. Es ist der Sound einer Zeit, bautürme in Devèze. Aus seiner Her- hat der Start-up-Unternehmer Tho-
der die Rechtspopulisten bis heute kunft bezieht Ménard bis heute die mas Langlois-Meurinne, 43, ein altes
nachtrauern, weil Frankreich, so sehen Legitimation, Dinge zu sagen, die sich Stadtpalais gekauft, das er nun res-
sie es, da noch heil war, französischer andere nie erlauben würden. »Ich taurieren lässt. Der Unternehmer
und übersichtlicher. Keine Woke-Be- habe dort gelebt, ich weiß, dass man sagt,er halte sich von allem Ideologi-
wegung, keine LGTB-Aktivisten stör- Sinti und Roma und Muslime nie im schen fern. »Aber ich mag die Tat-
ten die Definitionen von gut und böse. selben Häuserblock wohnen lassen sache, dass dieser Bürgermeister
Das Schöne am Job eines Bürger- darf. Ich weiß, dass 90 Prozent der wirklich arbeitet.«
meisters sei, sagt Ménard, dass sich Frauen, die hier vor den Schulen auf Seit einigen Monaten gibt sich Mé-
vieles sehr schnell ändern lasse. Er Präsidentschafts-
ihre Kinder warten, verschleiert sind. nard zunehmend moderat. In einem
muss es nur anordnen. Als auf der kandidatin Le Pen, Das müssen wir ändern.« Meinungsbeitrag für den »Figaro«
frisch renovierten Allée gleich neben Bürgermeister Im Januar wird Ménard in Devèze schrieb er vor Kurzem, Macron sei
dem Brunnen die Drogendealer wie- Ménard in Béziers die bilinguale Samuel-Paty-Schule er- gegenüber dem Linkspopulisten Jean-
im Januar: Warum
derkamen, die man mit der Umge- haben ihm seine
öffnen – einen lichten Neubau, be- Luc Mélenchon das weitaus geringe-
staltung eigentlich hatte vertreiben vielen Ausrutscher nannt nach jenem Lehrer, der im Ok- re Übel. Er befreit sich gerade aus der
wollen, ließ Ménard alle Parkbänke nicht geschadet? tober 2020 bei Paris von einem Isla- Rolle des Parias, der er einmal war.
abbauen, auf denen sie sich trafen. Jeden zweiten Mittwoch empfängt
Seitdem sind die Dealer weg. Und er zur Bürgersprechstunde im Rat-
nun irgendwo anders in der Stadt haus. An einem heißen Sommermor-
unterwegs. gen sitzt er dort einem 64-Jährigen
»Es fällt mir schwer, das zuzuge- gegenüber, der Arbeit sucht, weil er
ben, weil ich seine Werte nicht teile, mit den knapp tausend Euro, die er
aber er macht seine Arbeit als Bürger- im Monat hat, nicht auskommt.
meister gut«, sagt Caroline Gaillard, »Was haben Sie denn gelernt?«,
Redaktionsleiterin der Zeitung »Midi fragt Ménard ihn. – »Ich bin Koch,
Libre«. Ménard habe den Bewohnern aber aufgrund eines Rückenleidens
dieser Stadt ihren Stolz zurückgege- kann ich nicht lange stehen.«
ben. »Das Zentrum sieht jetzt anders Ménard sagt, er habe zwei Prinzi-
aus, auch wenn die Armut geblieben pien bei diesen Gesprächen: Er führe
ist.« Gaillard sagt, sie habe neulich sie nie allein, und er lüge die Leute
einen Moment erlebt, der sie erstaunt nicht an. »Ein Koch im Sitzen ist aber
und berührt habe. Es war in den his- schwierig zu vermitteln«, sagt Mé-
torischen Arenen von Béziers. Dort, nard. »Meinen Sie nicht?«
wo sonst die Stierkämpfe stattfinden, »Das habe ich mir auch schon ge-
sollte es ein Konzert geben. Als Mé- dacht«, antwortet der Mann. Aber
nard zu seinem Platz ging, seien die vielleicht gäbe es ja etwas anderes?
Leute aufgestanden und hätten ap- Ménard schüttelt den Kopf: »Das
plaudiert. Minutenlang, einfach so. sieht schlecht aus. Aber ich könnte
Aventurier Patrick / Abaca Press / ddp

Noch immer sind an die 70 Prozent mal schauen, ob wir bei Ihrer Woh-
der Schulen in der Stadt vom Erzie- nung etwas machen können.«
hungsministerium in Paris als »priori- Kurze Zeit später verlässt der
tär zu fördern« eingestuft worden – Koch das Rathaus. Seine Lage ist die-
was nichts anderes heißt, als dass sie selbe wie zuvor. Aber er sagt, es sei
mitten in sozialen Notstandsgebieten schön gewesen, dass ihm überhaupt
liegen. Eines davon ist das Viertel De- mal jemand zugehört habe.
vèze abseits des Zentrums. Der Anteil Britta Sandberg n

94 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


SPORT
Ex-National-
spieler Michael
Ballack als
Moderator

Das zahlen Fußballfans in Deutschland


Normale Monats- Deutsch- Sky Magenta- RTL+4 England Sky Amazon
preise1 von Pay- land Sport2
TV-Sendern und DAZN Amazon3 BT Sport
Spiele der: Spiele der:
Streamingdiensten
mit Rechten an Frauen- Women's
Fußballübertra- Bundesliga Super League
gungen, 2022/23 Premier
1. Bundesliga

93
League

2. Bundesliga EFL (2. Liga)

League One
Euro monatlich kosten 3. Liga
(3. Liga)
in der Summe Verträge
mit allen Bezahlanbie- Champions
tern in Deutschland, League
die Spiele der großen
nationalen und Europa League
internationalen
Fußballligen übertragen. Conference
In England belaufen sich League
die Kosten in dieser
Saison auf zusammen
92 Euro. Preis in € 32 29,99 16,95 8,99 4,99 55,24 27,08 9,74

ActionPictures / IMAGO
zu 2021/22,
für Deutschland +2 € +15 € +1 €
S Grafik
™

1) ohne Neukunden-Aktionen, Sky Bundesliga-Abo mit Vertragsbindung; 2) ohne Telekom-Vertrag; 3) Preiserhöhung ab 15. September 2022;; 4) vormals TVNow

Die Fußballsaison ist wieder in vollem Gang, und viele Fans sind auf der Zinne. Wer sich alle Spiele der Profis live am Rechner oder auf dem
Fernsehbildschirm ansehen will, muss sich inzwischen bei fünf Anbietern anmelden. Und bezahlen. Zuletzt hat der Streamingdienst
Dazn seinen Preis für das Fußballschauen verdoppelt. Das dürfte allerdings nicht das Ende sein, die Preise haben das englische Niveau erreicht.

GUT ZU WISSEN Sonntagabenden einen Markt- schlechtesten Teams die besten


anteil von etwa zehn Prozent. Talente zuführt, fördern die
Gibt es in Deutschland einen »Basisfaktor bei Medien-
sportarten ist die Spannung«,
Chancengleichheit, Titelver­
teidigungen sind selten. Eine
Footballboom? sagt Thomas Horky, Medien-
wissenschaftler mit Schwer-
Rolle spiele auch der große
Körpereinsatz. »Wir wissen aus
punkt Sport, es müsse »einen Forschungen zu anderen Sport-
In den USA ist American besonderes Interesse« zu offenen Ausgang geben«. An- arten, dass gewalthaltige, ag-
Football die beliebteste Sport- ­haben, 2018 waren es noch ders als im Fußball mit Serien- gressive Szenen hohe Einschalt-
art. Mittlerweile ist das 2,23 Millionen. Das ist meister Bayern München wer- quoten bringen«, sagt Horky.
Spiel auch in Deutschland auf ­be­achtlich; für eine Football­ de in der NFL Abwechslung Attraktiv ist die Sportart
dem Vormarsch. Seit einigen euphorie spricht es nicht. geboten. Gehaltsobergrenzen ­zudem wegen des Saison­finals
Jahren laufen Spiele der Natio- Alexander Steinforth, und das Draftsystem, das den »Super Bowl« – ein Hybrid­
nal Football League (NFL) ­NFL-Geschäftsführer für produkt aus Pop und Sport, auf
bei ProSieben, der Streaming- Deutschland, sieht das anders: das besonders ProSieben setzt.
dienst Dazn hat ebenfalls »Die Gruppe der ›avid fans‹, Die ausgedehnten Werbe-
Über­tragungsrechte. In dieser also derjenigen, die mit sehr pausen waren lange ein Hin­
Woche gab RTL bekannt, viel Leidenschaft dabei sind, der­nis bei den Übertragungen.
ab 2023 die Spiele im linearen zählt bei uns 3,3 Millionen.« Viele hätten sie als störend
Fern­sehen zu zeigen. Eine Studie habe ergeben, emp­funden, so Horky, »aber
Gibt es einen NFL-Boom dass Football nach Fußball der die Sehgewohnheiten ändern
John Angelillo / UPI / laif

in Deutschland? Die Allens­ Sport sei, mit dem die meisten sich durch Second-Screening«.
bacher Marktanalyse vom Leute »medialen Kontakt« Während der Unterbrechungen
Juni zählte fast 10 Millionen ­hätten. Bei Dazn spiele die schauten Zuschauer nicht
­Deutsche, die sich für Football NFL »eine sehr zentrale Rolle«, mehr auf den Fernseher, son-
interessieren. Davon gaben sagt Programmchef Michael dern lenkten sich am Smart-
2,88 Millionen an, ein »ganz Bracher. ProSieben hat an Spieler der Los Angeles Rams phone ab. MRK

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 95


SPORT

Fußballer Richter

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

96 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


SPORT

»Der einhodige Bandit«


SCHICKSALE  In den vergangenen Monaten erkrankten drei Profis der Fußballbundesliga an
Hodenkrebs. Marco Richter von Hertha BSC erzählt, wie ihn die Diagnose
aus der Bahn geworfen hat und wie die Kollegen auf seine Tumorerkrankung reagierten.

E
inen Tag vor der Abreise seiner Mann- in der Nähe von Birmingham. Vor der Ab-
schaft ins Trainingslager nach England reise will er noch etwas erledigen. Seit Län-
sendet der Stürmer Marco Richter, 24, gerem plagen ihn Beschwerden im Genital-
vom Bundesligisten Hertha BSC ­seinem bereich. Er lässt sich von Mannschaftsarzt
­Berater Kai Psotta per WhatsApp ein Bild- Hi-Un Park einen Termin bei dem Urologen
symbol mit drei Buchstaben. Bernhard Ralla machen.
SOS.
In einer weiteren Nachricht schreibt Rich- SPIEGEL: Herr Richter, warum sind Sie nicht
ter, er werde das Trainingslager verpassen: früher zum Arzt gegangen?
»Ich fliege nicht mit.« Psotta sieht die Mit- Richter: Die Beschwerden haben mich nicht
teilungen beim Einkaufen im Supermarkt belastet. Sie waren manchmal da und dann
seines Wohnorts Poing bei München. Er ruft für eine Woche wieder weg. Ich habe mir kei-
seinen Klienten sofort an, erreicht ihn in nen Kopf gemacht. Irgendwann habe ich
einem Café in Berlin-Charlottenburg. einen kleinen Knoten gespürt. Ich dachte, es
An jenem Tag Mitte Juli ringt Richter am wäre vielleicht eine Zyste. Ich habe mir keine
Telefon um Worte, berichtet von einer uro­ großen Gedanken gemacht. Es gibt ja auch

Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL


logischen Untersuchung, bei der sich heraus­ Angenehmeres für einen Mann.
gestellt habe, dass er Hodenkrebs habe, um- SPIEGEL: Sie haben es verdrängt?
gehend operiert werden müsse. Er kämpft mit Richter: Es war kein direktes Verdrängen. Ich
den Tränen. Im Lokal sind zwei Mitspieler von wollte mich mit der Sache nur nicht beschäf-
Hertha BSC, aber er will mit niemandem reden. tigen. Es gab andere Themen, die mir wich-
In seinem Kopf tobt ein Sturm. Sechs Wochen tiger waren. Die sportliche Situation bei
danach trifft sich Richter mit dem SPIEGEL , er Tätowierter Oberarm von Profisportler Richter
­Hertha zum Beispiel. Nur einmal habe ich
wundert sich immer noch darüber, wie er ­gegoogelt, was los sein könnte mit mir. Ich
­damals reagiert hat: »Ich weiß eigentlich gar 57 Kilometer hin, 57 Kilometer zurück. Mit stieß sofort auf das Thema Hodenkrebs. Aber
nicht, warum ich nach der Diagnose in das 14 Jahren wechselte er zum FC Augsburg, wo dass ich so was haben könnte, war für mich
Café gefahren bin. Ich wusste einfach nicht, sein Vater als Jugendtrainer arbeitete. Neben ausgeschlossen.
was ich machen sollte, wohin mit mir.« dem Fußball absolvierte er eine Ausbildung SPIEGEL: Wann haben Sie mit Ihrer Freundin
Marco Richter ist einer der begehrtesten zum Einzelhandelskaufmann. Mit 19 Jahren über die Beschwerden geredet?
Offensivspieler der Bundesliga, ein Fußballer, unterschrieb er einen Profivertrag. 2021 nahm Richter: In den letzten Wochen, als die
dessen Karriere immer bergauf ging. Doch in der Juniorennationalspieler ein lukratives Schmerzen schlimmer wurden. In den Tagen
diesem Sommer wurde ihm unvermittelt der ­Angebot von Hertha BSC an, der Weg in ein vor der Abreise ins Trainingslager habe ich das
Boden unter den Füßen weggezogen. sorgenfreies Leben war geebnet. Stechen im Hoden sogar beim Rennen gespürt.
Bei einer Untersuchung am 11. Juli erfährt Der Junge vom Land mit den fußballer­
er, dass sich in seinem linken Hoden ein typischen Tätowierungen auf dem Arm fühlt Nach dem Vormittagstraining am 11. Juli fährt
14,5 Millimeter großer Tumor gebildet hat. Die sich wohl in der Hauptstadt, zieht mit seiner Richter in die Praxis des Urologen, bei dem
Diagnose trifft ihn wie ein Blitzschlag: »Da Freundin Charlotte in eine Wohnung in Char- auch andere Hertha-Fußballer Patienten sind.
war sofort die Angst, die Angst ums Leben und lottenburg. Modernes Mobiliar, hell gestriche-
davor, nie wieder Fußball spielen zu können.« ne Wände. Vom Flur führt eine Treppe auf eine Richter: Wir haben uns sofort gut verstanden.
Inzwischen ist Richter genesen. Anderthalb Dachterrasse, von der aus die beiden den Fern- Auf einer Tür waren die Unterschriften der
Monate nachdem ihm der Tumor entfernt sehturm am Alexanderplatz sehen können. Spieler und einiger Deutschrapper zu sehen.
wurde, stand er in der Bundesligapartie der In der ersten Spielzeit bei Hertha erzielt Ich habe auch gleich unterschrieben. Danach
Hertha bei Borussia Dortmund am vorver- er sechs Tore, aber das Team steckt im Ab- musste ich mich hinlegen. Der Arzt hat mich
gangenen Wochenende wieder auf dem Platz. stiegskampf, schafft erst in der Relegation den untersucht, einmal fest auf die Stelle gedrückt,
Aber der Schock der schweren Krankheit, Klassen­erhalt. Im Italienurlaub während der wo der Knoten war. Der Schmerz war brutal.
sagt Richter, stecke immer noch tief in ihm. Sommerpause tankt Richter Kraft für die neue Danach wurde ein Ultraschall gemacht. Und
Wie geht ein Sportler, der sich darauf ver- Saison. Er will endlich mit der Hertha durch- dann kam schon der Satz, dass es sicher ein
lassen muss, dass sein Körper immer funktio- starten. Tumor ist.
niert, mit so einer Erfahrung um? Die Trainingseinheiten und Testspiele An- SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert?
Richter stammt aus Bayern, wuchs in fang Juli laufen gut. Richter, ein lustiger, leb- Richter: Der Arzt hat versucht, mir die Angst
­Dörfern bei Augsburg auf. Als er sieben war, hafter Typ, genießt hohes Ansehen in der zu nehmen, er meinte, dass die Heilungs­
entdeckte der FC Bayern sein Talent. Die El- Mannschaft, strotzt vor Energie und freut sich schancen gut seien. Ich solle mir keine Sorgen
tern fuhren ihn zum Training nach München, auf das Trainingslager in Burton upon Trent ­machen. Ich konnte kaum reden und habe

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 97


SPORT

co bekommt von uns in dieser Situation jede


erdenkliche Unterstützung. Wir hoffen, dass
er schnellstmöglich gesund wieder in unseren
Kreis zurückkehrt.«
In der Charité schlägt der Oberarzt einen
Operationstermin am nächsten Morgen vor.
Richter zögert kurz. Dann willigt er ein. Der
Mediziner erklärt ihm, dass die Werte der
Biomarker des Krebsgeschwürs im linken
­Hoden niedrig seien. Das könne ein Zeichen
sein, dass der Tumor gutartig sei. Gewissheit
bringe aber erst eine Biopsie und eine Unter-
suchung des erkrankten Gewebes.
Die Mediziner raten Richter dringend,
vor der Operation noch etwas zu erledigen,
was für seine Lebensplanung wichtig werden

Sven Simon / ullstein bild


­könnte – und ermuntern ihn zu einem Besuch
in der Samenbank. Richter überlegt nicht
lange und fährt direkt vom Krankenhaus in
das Labor.

Richter: Es war zuerst ein komisches Gefühl


Torschütze Richter am vergangenen Sonntag in Augsburg: »WUUUUUUHUUUUUU!«
für mich, das zu machen. Aber ich will un-
a­ ngefangen zu weinen. Man verbindet mit so te er einmal in einem Trainingsspiel einen bedingt Kinder haben. Zwei Stunden nach
einer Nachricht so viele Dinge. Ein Tumor, jüngeren Kollegen zusammen, der ungenaue dem Termin in der Samenbank habe ich
Krebs! Das Wort hört sich richtig schlimm an. Flanken schlug. Sein damaliger Coach Heiko einen Anruf erhalten, dass alles gut gelaufen
Ich musste an meine Eltern denken, meine Herrlich fragte später, was der Wutausbruch sei, dass die Spermien gut arbeiten, schnell
Freundin. Kann ich noch mal Kinder bekom- sollte. Er antwortete: »Na, ich wollte doch genug sind. Das war eine große Erleichterung
men? Der nächste Gedanke war beim Fußball, unbedingt gewinnen.« für mich.
ob es für mich überhaupt noch mal was wird Auch den Kampf gegen den Tumor geht
als Fußballer. Richter wie einen Wettkampf an. Während Am Abend liest er auf seinem Handy die Mit-
die Mannschaft ins Trainingslager abfliegt, teilungen von Freunden, Bekannten, ehema-
Für das Gespräch mit dem SPIEGEL ist Rich- fährt er ins Krankenhaus, um einen Opera- ligen Mitspielern, ehemaligen Trainern und
ters Berater Kai Psotta, der für die Agentur tionstermin zu vereinbaren. Man sagt ihm, Vereinsmanagern, es sind Hunderte. Profi-
Sports 360 arbeitet, nach Berlin gekommen. frühestens in einer Woche sei ein Slot für den fußball ist ein Haifischbecken, eine Arena der
Er zeigt ein Ultraschallbild, auf dem der Tu- Eingriff frei. Das dauert ihm zu lange. Ego-Shooter. Jeder kämpft für sich allein.
mor zu sehen ist. Richter dreht sich zur Seite Er bespricht sich mit Hertha-Teamarzt Auch Richter wurde in seiner Karriere schon
weg und guckt zum Fenster hinaus. Wenn er Park, der ihn in die Universitätsklinik Charité von Trainern ungerecht behandelt, von Team-
über seine Erkrankung spricht, kann er die schickt. Auf dem Weg dorthin gehen auf sei- kollegen geschnitten. Jetzt erlebt er die Bran-
Tränen manchmal nicht unterdrücken, er ver- nem Handy Anrufe und Mitteilungen ein. Die che von einer anderen Seite.
dichtet die Ereignisse, als wäre alles an zwei Nachricht von seiner Krebserkrankung hat Um 21.52 Uhr schreibt sein Trainer Sandro
Tagen abgelaufen. Psotta korrigiert die zeit- sich herumgesprochen. Hertha hat ein mit Schwarz aus England: »In Gedanken sind wir
liche Abfolge, einmal sagt er: »Marco, ich Richters Management abgestimmtes State- bei Dir und werden Dir helfen. Schicke Dir
glaube, du verdrängst da was.« ment zur Krebserkrankung des Stürmers Energie. Gruß Coach.« Eine Minute später
Nach der Untersuchung beim Urologen ­herausgegeben. Sportchef Fredi Bobic: »Mar- bekommt Richter ein Video zugesendet, das
informiert Richter seine Eltern und seine seine Mannschaftskameraden gedreht haben.
Freundin, die ihren Urlaub in den USA ab- Alle Spieler und Betreuer stehen im Halbkreis
bricht und sich auf den Weg zurück nach Ber- Risiko für Junge zusammen. Sie wissen, dass Richter am nächs-
lin macht. Am Nachmittag kommt er nach ten Morgen operiert wird. Herthas Vize­
Hause. Er ist allein. »Ich habe mich aufs Sofa Hodenkrebs-Neuerkrankungen nach Alters- kapitän Kevin-Prince Boateng sagt: »Wir sind
gruppen in Deutschland 2017 und 2018
gesetzt und einfach nur die Wand angestarrt.« in Gedanken bei dir und wünschen dir viel
Er telefoniert mit seiner Mutter Daniela, die Fälle je 100.000 Erfolg morgen.« Dann applaudieren die Fuß-
Zuversicht ausstrahlt, ihrem Sohn erklärt, 0 5 10 15 20 25 baller mehr als eine Minute lang.
80 Jahre
dass er diesen Kampf gewinnen werde. Rich- und älter
Am nächsten Morgen fährt Richter um
ter greift zur Playstation, um sich abzulenken. 6.45 Uhr in die Charité. Seine Mutter erwar-
Er zockt, bis es dunkel ist, legt sich ins Bett, 70-79 tet ihn im Krankenhaus. Psotta schickt eine
doch an Schlaf ist nicht zu denken. 60-69 Nachricht: »Los, Kämpfer, du packst das.«
Marco Richter sieht nicht so aus, als könn- Um zehn Uhr wird Richter operiert. Als er
te er einem athletischen Innenverteidiger Pro- 50-59 aufwacht aus der Narkose, bekommt er ein
bleme bereiten. Er ist schmächtig. Diesen 40-49
Wassereis. »Es war ein Capri«, sagt er. An
Nachteil gleicht er mit Schnelligkeit aus, er mehr kann er sich kaum erinnern.
ist trickreich mit dem Ball und torgefährlich. 30-39 Er erfährt: Der Tumor war bösartig. Der
Vor drei Jahren verhalf er der U-21-Auswahl rechte Hoden sei aber nicht befallen. Doch es
20-29
des Deutschen Fußball-Bundes mit seinen gibt noch keine Entwarnung. Eine Computer-
Treffern zum Einzug ins Finale der Europa- 10-19 tomografie muss zeigen, ob der Krebs bereits
meisterschaft. gestreut hat. Wenn ja, hätte das womöglich
Er hat einen unbändigen Willen. Als Rich- 0-9 Jahre weitere Operationen und Chemotherapie
ter noch für den FC Augsburg kickte, stauch- S Quelle: RKI oder Bestrahlung zur Folge.


98 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


SPORT

Richter ist einer von drei Bundes- mit seiner Freundin Charlotte, die einen Man muss darüber lachen. Das tut
ligaprofis, bei denen in den vergange- Bachelor in Betriebswirtschaftslehre hat gut. Mir hilft das, wenn Späße darü-

Cal Spor t Media / Alamy / mauritius images


nen Monaten Hodenkrebs festgestellt und jetzt einen Master in Marketing- ber gemacht werden. Es hilft mir, alles
wurde. Timo Baumgartl, 26, von management macht, ihr zweijähriges zu verarbeiten. Aber es wird noch
Union Berlin musste sich nach der Zusammensein. Das Wohnzimmer ist lange dauern. Wenn das Thema mei-
Operation einer Chemotherapie unter- mit Luftballons in Herzform dekoriert. ner Krankheit aufkommt bei Gesprä-
ziehen, ebenso der ivorisch-französi- Richter hat am Mittag einen Termin in chen im engeren Freundeskreis, mer-
sche Stürmer Sébastien Haller, 28, von der Charité, wo er das Ergebnis der ke ich, dass ich sehr kurz angebunden
­Borussia Dortmund. Für beide wird es Computertomografie erfahren soll. Früh bin, nicht viel dazu sage, weil mich
wohl noch eine Weile dauern, bis sie am Vormittag meldet sich der Hertha- das alles noch so sehr bewegt. Es sind
fit genug sind für einen Erstligaeinsatz. Teamarzt bei ihm, der den Befund schon so viele Gedanken in meinem Kopf.
Baumgartl kennt Richter aus der kennt: Der Krebs hat nicht gestreut. Und immer noch kommen mir
U-21-Nationalmannschaft. Sie tau- Richters Stimme stockt, als er von manchmal die Tränen.
schen sich über ihre Behandlungen dem Anruf erzählt. Wieder kommen
aus. Richter besorgt sich die Handy- ihm die Tränen. Sein Berater Psotta Fußballer leben in einer Blase. Ihr All-
nummer von Sébastien Haller, schreibt fragt, ob er das Video zeigen darf, das tag besteht aus Training, Spielen, Rei-
dem Kollegen aus Dortmund eine Charlotte an jenem Morgen gedreht sen, Sponsorenterminen. Sie werden
lange Nachricht. Haller schickt ihm hat. Richter hat nichts dagegen. Man von den Klubs abgeschottet, damit

Matthias Koch / IMAGO


eine Sprachnachricht zurück und ver- sieht ihn auf dem Sofa im Wohnzim- sie sich auf den Sport konzentrieren
spricht, dass sie sich schon bald auf mer sitzen und hört, wie Charlotte können, damit sie funktionieren.
dem Platz wiedersehen werden. die Frage stellt: »Was hat der Arzt Marco Russ hat ein Buch geschrieben
Richter hat auch Kontakt zu Marco gesagt?« Richter antwortet: »Ich bin über seine Erkrankung, in dem er
Russ, einem ehemaligen Verteidiger gesuuund. Keine Chemo.« Er strahlt über seine Nervosität vor dem ersten
An Krebs erkrankte
von Eintracht Frankfurt, bei dem 2016 Bundesligaprofis über das ganze Gesicht. Spiel und die Reaktionen der Fans
Hodenkrebs festgestellt worden ist. Haller, Baumgartl: Als er am 29. Juli erstmals nach der berichtet. Richter glaubt: »Sollten ir-
Bei einer Dopingkontrolle war seiner- Sie tauschen sich Operation auf dem Hertha-Trainings- gendwann komische Kommentare
zeit ein erhöhter Beta-HCG-Wert über ihre Behand­ gelände erscheint, bildet die Mann- kommen, ist das nichts, was mich
lungen aus
­aufgefallen. Die Antidopingagentur schaft zur Begrüßung ein Spalier. Boa- ­treffen könnte. Ich habe nur noch
vermutete zunächst unerlaubte, leis- teng hält ein Trikot in der Hand mit einen Hoden. Na und? Es funktioniert
tungsfördernde Substanzen in Russ’ Richters Rückennummer 23 und der alles.«
Körper. Die Staatsanwaltschaft rück- Aufschrift: »Wir haben dich vermisst«. Vorigen Sonntag erzielte er beim
te bei dem Fußballer an, durchsuchte Die Spieler klatschten, pfeifen, jubeln, Spiel der Hertha in Augsburg den
seine Wohnung und den Spind in der Richter umarmt jeden einzelnen. Treffer zum 2:0-Endstand. Auf dem
Mannschaftskabine, ohne Doping­ Anfang August steigt er ins Trai- Weg Richtung Tor habe er »Bammel
substanzen zu finden. Stattdessen er- ning ein. Eigentlich ist Richter kein gehabt«, die Chance womöglich zu
klärten Urologen dem Abwehrspieler, Freund von Kraftübungen und Kon- vergeben. Aber dann spielte er den
dass seine erhöhten Werte durch ditionstraining. »Aber da war ich das Torhüter eiskalt aus. Hertha BSC
einen bösartigen Tumor am Hoden erste Mal froh, dass ich Läufe machen schickte den Tweet heraus:
hervorgerufen wurden. darf. Wenn der Trainer gewollt hätte, »WUUUUUUHUUUUUU! Fußball
Russ wurde operiert, erhielt zwei dass ich drei Stunden trainieren soll, kann so schön sein!«
Chemotherapien, nahm Dutzende hätte ich drei Stunden trainiert.« Richter sagt, die Erfahrung mit der
Kilo zu und anschließend wieder ab. Er genießt es, wieder im Kreis der Krankheit habe ihn verändert, er ge-
Insgesamt 285 Tage quälte er sich Kollegen zu sein. Boateng ruft ihm nieße das Privileg, Fußballer zu sein,
durch die Reha bis zu seinem Come- zu: »Marco, jetzt rennst du noch seinen Kindheitstraum zu leben,
back. »Es gab beschissene Tage und schneller um die Ecken, weil du nicht mehr als je zuvor. Er hat einen Men-
Wochen«, sagte Russ damals, in denen mehr so viel tragen musst.« Ein be- talcoach, der ihm Tipps gibt, wie er
»mich alles ankotzte«. Mittlerweile gilt freundeter Bundesligaspieler, den seine Flugangst im Griff halten kann.
er als genesen und arbeitet als Spiel- Richter hin und wieder über den Mit ihm spricht er auch über die Er-
analyst für Eintracht Frankfurt. Stand der Genesung auf dem Laufen- lebnisse in diesem Sommer.
In der Fußballbranche wird disku- den hält, schreibt ihm: »Also bist du Männer, die schon Krebs in einem
tiert, ob die Häufung von Fällen in jetzt der einhodige Bandit.« Hoden hatten, haben ein erhöhtes
diesem Sommer möglicherweise mit Risiko, dass auch der andere Hoden
dem Sport zusammenhängt. Es gibt SPIEGEL: Wie gehen Sie mit den Sprü- erkrankt. Richter geht künftig öfter
dafür bisher keine eindeutigen wissen- chen um? zum Urologen. Viele Sportkollegen
schaftlichen Hinweise. Hodenkrebs Richter: Zum Glück kann ich über das, und Freunde haben ihm geschrieben,
tritt vor allem bei jungen Männern auf. was passiert ist, jetzt auch mal lachen. sie hätten sich zur Vorsorge ange­
Manche Vereine raten ihren Spielern meldet. »Sogar mein Friseur in Berlin
daher zur Vorsorgeuntersuchung. Am war wegen meines Falles beim Arzt«,
Esstisch in seiner Wohnung in Char- In kurzer Hose und Adiletten erzählt Richter.
lottenburg denkt Richter kurz darü- Es kommt selten vor, dass prominente Fußballer Journa­ Auf Instagram hat er einen Appell
ber nach, ob der Fußball schuld sein listen zu sich nach Hause einladen. Das Gespräch mit den gepostet, an alle jungen Männer, die
könnte an seiner Erkrankung. »Was SPIEGEL-Redakteuren Rafael Buschmann und Gerhard glauben, ihnen könne eine solche
könnte da sein? Ich habe in all den Pfeil über seine Krebserkrankung wollte Marco Richter je­ Krankheit niemals widerfahren.
Jahren vielleicht zweimal einen doch lieber in einer vertrauten Umgebung führen. In kur­ »Lasst euch regelmäßig durchchecken
Schuss in die Genitalien bekommen. zer Sporthose und Adiletten empfing der Profi die Gäste in und spielt nicht die Harten. Der früh-
Ich sehe keinen Zusammenhang.« seiner Wohnung. Richter erzählte von seinen Ängsten zeitige Gang zum Arzt war mein gro-
Richter konnte am 15. Juli das Kran- und darüber, wie er nach der Genesung im Büro seines ßes Glück!«
kenhaus verlassen. Am 20. Juli feiert er Trainers stand: »Coach, wann darf ich wieder spielen?« Rafael Buschmann, Gerhard Pfeil n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 99


WISSEN

Then Chih Wey / Xinhua / eyevine / laif


Das Hamsterrad steht für nervige Routinen, für fruchtloses Sich-Abstrampeln im Alltag. Die regenbogenfarbene Installation »Wheel«, die jetzt
im ArtScience Museum in Singapur gezeigt wird, will die Bedeutung umkehren und für die Heilkraft der Bewegung vor allem für die Psyche
werben. In der Schau »Mental: Colours of Wellbeing« geht es um seelische Gesundheit, aber auch um Vorurteile gegenüber psychischen Krank­
heiten. Ein anderes interaktives Werk verwandelt menschliche Hirnströme in kunstvolle Bilder.

Geflügelte Feuerwehr
ist eine Premiere: Erstmals werden derlei Maschinen offiziell
in Deutschland beim Kampf gegen ein Feuer genutzt.
Lindon Pronto vom European Forest Institute befürwortet
derlei Einsätze. In einem Dokument hat Pronto zusammen
ANALYSE  Erstmals wird ein Waldbrand
mit einem Kollegen eine »Fachempfehlung Waldbrand­
in Deutschland mit größeren Löschflugzeugen bekämpfung aus der Luft« veröffentlicht. »Vegetationsbrände
bekämpft. Lohnt sich eine eigene Flotte? werden am Boden gelöscht«, heißt es darin – aber auch, dass
Brandbekämpfung aus der Luft »unter idealen Bedingungen« die
Um Sinn oder Unsinn von Feuerwehrfliegern tobt in Deutsch- Ausbreitung verlangsamen könne und Feuerwehrleute am Bo-
land ein Glaubenskrieg. »Ich verstehe die Begeisterung für den die Chance bekämen, den Brand effektiver einzudämmen.
Löschflugzeuge nicht«, hat etwa Ulrich Cimolino, der Vorsitzen- Das Bundesinnenministerium hat noch im Juli erklärt,
de des Arbeitskreises Waldbrand im Deutschen Feuerwehrver- ­Hubschraubern den Vorzug zu geben. Grüne und FDP setzen
band, im Interview mit dem SPIEGEL erklärt. Seit mindestens sich hingegen für den Kauf von Starrflüglern ein. Angesichts
20 Jahren, so sein Argument, hätte Deutschland die Maschinen des Brandes im Harz machte sich auch Niedersachsens SPD-­
im Ernstfall über die europäische Zusammenarbeit in der Innenminister Boris Pistorius für ein »von Bund und Ländern
Gefahren­abwehr anfordern können. »Das machen wir aber mitgetragenes System zur zentralen Vorhaltung von Lösch­
nicht. Weil offenbar der Bedarf nicht da ist.« flugzeugen und Helikoptern« stark.
Seit vergangenem Montag nun bekämpfen zwei in Braun- Georg Schirmbeck, Präsident des Deutschen Forstwirtschafts-
schweig stationierte Canadair-CL-415-Löschflugzeuge aus Italien rates, forderte ebenfalls die Beschaffung von Fliegern. Es könne
den Brand am Brocken im Harz. Sie nehmen Wasser aus einem nicht sein, dass Italien mit Löschflugzeugen aushelfen müsse.
See auf und lassen es binnen kürzester Zeit gezielt über dem »Was wäre, wenn die im Heimatland wegen Bränden benötigt
Feuer ab. Der Einsatz der zweimotorigen Propellermaschinen werden?« Christoph Seidler

100 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


Trübe Aussichten Länder strenge Grenzwerte. Auf SPIEGEL -­ nativen zu den knapp gewordenen Fäll­
Anfrage bestätigten indes die Umweltminis­ mitteln gibt. Eine biologische Methode zur
ABWASSER  Den deutschen Kläranlagen ge­ terien in Schleswig-Holstein, Niedersachsen Phosphat­eliminierung mit bestimmten
hen wichtige Chemikalien aus – mit wo­ und Mecklenburg-Vorpommern, dass sie Mikro­organismen etwa funktioniert zwar,
möglich fatalen Folgen für Flüsse und Seen. ihre Wasserbehörden per Erlass anweisen, ist aber weit weniger effizient als die che­
Vor allem sogenannte Fällmittel sind gegen­ den Betreibern von Kläranlagen auch dann mische Reinigung. JOE
wärtig kaum noch zu bekommen. Das sind die Einleitung von Wasser in Flüsse und Ka­
bestimmte Eisen- oder Aluminiumsalze, für näle zu gestatten, wenn der Phosphatgehalt
deren Herstellung meist Salzsäure benötigt den geltenden Grenzwert überschreitet.
wird. Die wiederum wird wegen steigender Für die Gewässer sind das trübe Aussich­
Energiekosten von vielen Herstellern nicht ten. Nach dem trockenen Sommer führen
mehr produziert, das Geschäft lohnt sich die meisten ohnehin wenig Wasser. Schon
nicht. Ohne Fällmittel jedoch können Klär­ warnen Experten vor einer »verordneten
anlagen nicht effektiv arbeiten, denn die Eutrophierung«, denn Phosphat fungiert als

Ruper t Oberhäuser / mauritius images


Salze binden bei der chemischen Wasser­ Düngemittel für Algen und Wasserpflanzen.
reinigung die darin gelösten Phosphorver­ Durch deren übermäßiges Wachstum sinkt
bindungen, die sich daraufhin mit dem Klär­ der Sauerstoffgehalt – viele Lebewesen
schlamm mischen. Die Mangellage könnte ­verenden, der See kippt schließlich um. In
die kommunalen Kläranlagen dazu zwingen, einzelnen Gewässern gebe es wahrschein­
Abwässer mit hohem Gehalt an Phosphat lich rasch Probleme, heißt es von der Deut­
in Gewässer einzuleiten. Eigentlich gelten schen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Klärwerk Emscher­mündung
dafür vonseiten der Wasserbehörden der Abwasser und Abfall. Zumal es kaum Alter­

»Die Kommunikation muss


hat. Mit schlechter Kommuni­ mer Ihrer Studie waren inzwi­
kation kann man viele Men­ schen schon mehrfach mit dem

viel einfacher sein«


schen verlieren. Sie muss viel Coronavirus infiziert, aber fast
einfacher sein. 60 Prozent noch gar nicht. Wie
SPIEGEL: Was meinen Sie damit passt das zur angeblichen
konkret? Durchseuchung?
PANDEMIE  Cornelia Betsch, 43, Psychologin an
Betsch: Es sollte zum Beispiel Betsch: Jede Erhebung hat eine
der Universität Erfurt und Mitglied im Corona-­ klar sein, wer sich nach jetzi­ Verzerrung. Die Menschen in
ExpertInnenrat des Kanzleramts, über die neuesten gem Erkenntnisstand wann und unserer Befragung sind etwas
womit impfen lassen sollte. In impfbereiter als der Durch­
Ergebnisse der »Cosmo«-Studie zum psychischen Schweden etwa wird das über schnitt und deswegen vielleicht
Befinden der Bevölkerung sehr simple Grafiken verdeut­ auch mehr darauf bedacht, In­
licht. Konkrete Informationen fektionen zu vermeiden.
SPIEGEL: Frau wissen, welche Impfempfehlung zu kommunizieren ist besser, SPIEGEL: Die angepassten Omi­
Betsch, wie für Kinder gilt. als Angst vor dem Virus zu ver­ kron-Impfstoffe werden jetzt
Metodi Popow / IMAGO

ernst nehmen die Betsch: Dieses Unwissen ist breiten – vor allem weil es ja erwartet – Sie sagen in Ihrer
Deutschen ­dramatisch. Um die Kinderimp­ große Gruppen gibt, für die im Studie aber, dass sie die allge­
Corona im drit­ fung hat es eine Menge wider­ Moment keine vierte Impfung meine Impfbereitschaft nicht er­
ten Pandemie­ sprüchliche Informationen und empfohlen wird. Für die gibt es höhen werden. Warum?
sommer? poli­tisches Gezerre gegeben, da wenig, was sie jetzt konkret tun Betsch: Die Menschen, die sich
Betsch: Corona ist nicht mehr steigen vermutlich viele Men­ können, da kostet angstbesetzte nicht impfen lassen wollen, än­
die einzige Krise im Bewusst­ schen irgendwann aus und wis­ Kommunikation Vertrauen. dern ihre Haltung nicht mehr,
sein der Menschen. Sie suchen sen vielleicht auch nicht, wer SPIEGEL: Sieben Prozent der das haben wir in den letzten Be­
jetzt häufiger nach Informatio­ in dieser Frage die Kompetenz Teilnehmerinnen und Teilneh­ fragungen immer wieder gese­
nen zum Ukrainekrieg und zum hen. Vor allem die bereits Ge­
Klimawandel als zu Covid-19. Impfstation in Hannover impften warten jetzt auf den an­
Das ist aber auch nicht über­ gepassten Impfstoff.
raschend. SPIEGEL: Was ist Ihr Fazit nach
SPIEGEL: Was hat Sie denn fast 70 Befragungen?
überrascht? Betsch: Wir haben viel gelernt
Betsch: Wir waren erstaunt, wie und sind im Umgang mit dem
viele Menschen immer noch Virus kompetenter geworden.
nicht den bestmöglichen Schutz Wir können uns selbst testen,
vor dem Virus haben. Unter fast alle sind schon mal geimpft
den jüngeren Befragten haben worden, wir können Masken
Michael Matthey / picture alliance / dpa

mehr als 20 Prozent nicht die tragen. Das gibt uns ein Stück
empfohlenen drei Impfungen. unserer Selbstwirksamkeit zu­
Und bei den 60- bis 74-Jährigen rück, zumindest wenn keine
hatten 55 Prozent keine vier viel schlimmere Virusvariante
Impfungen. Da hatte ich auf kommt. Wenn ich im vollen
mehr gehofft. Supermarkt in einer langen
SPIEGEL: Sie haben auch heraus­ Schlange stehe, trage ich eben
gefunden, dass nur 38 Prozent eine Maske. Das ist etwas, was
der Eltern von Minderjährigen ich selbst entscheiden kann. JKO

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 101


WISSEN

Das erratische Element


WASSERWIRTSCHAFT  Ausgetrocknete Flüsse hier, geflutete Quartiere dort – Deutschlands Städte
sind auf die Folgen des Klimawandels nicht vorbereitet. Forscher entwickeln
Methoden, mit denen sich Wassermassen und Dürren zugleich beherrschen lassen.

N
ur wenige Meter neben dem genen Jahr vor allem an der Ahr fast s­ yn­drome« bezeichnen: ein Kollaps
Neubau des Bundesnachrich­ 200  Menschen starben. Und Bes­ des funktionierenden Wasserkreis­
tendienstes in Berlin schaufeln serung ist nicht in Sicht. Mit jedem laufs in der Stadt.
derzeit zwei Bagger ein gigantisches Grad mehr an Erderwärmung werden Radikale Vorschläge kommen in­
Loch. Und Touristen wie Einheimi­ die Regenmengen nach Einschätzung zwischen sogar von Institutionen, die
sche fragen sich, was für ein Bau­ von Experten global um bis zu drei nicht unbedingt für Fortschrittlichkeit
projekt dort entstehen soll. Doch das Prozent zunehmen. Der Deutsche bekannt sind. »Wir müssen uns mit
Loch ist einfach nur ein Loch – und Wetterdienst warnt vor den Fluten. aller Kraft auf die Schwammstadt
zugleich das größte sichtbare Zu­ Doch das Land stellt sich nur mühsam konzentrieren«, forderte etwa kürz­
geständnis der Hauptstadt an den darauf ein. Laut einer Studie für das lich der Abwasserchef der Berliner
Klima­wandel. Umweltbundesamt hatten bis Ende Wasserbetriebe, Andreas Irmer, im
Am 29. Juni 2017 wurde Berlin ab 2016 gerade einmal 50 Prozent aller Berliner »Tagesspiegel«.
neun Uhr am Morgen von sintflut­ Großstädte in der Bundesrepublik Die Schwammstadt ist ein Ideal,
artigen Wolkenbrüchen heimgesucht. eine Klimaanpassungsstrategie ent­ nach dem etliche Stadtplaner, Inge­
Von einem »Jahrhundertregen« war wickelt. nieure und Architekten die Städte
hinterher die Rede. Innerhalb von Um die Gefahr abzuwehren, konsequent umbauen wollen. Am
18 Stunden fiel ungefähr so viel Nie­ werden zudem oftmals altmodi­sche liebsten möchten die Neuerer ganze
derschlag wie gewöhnlich in einem Instrumente genutzt – wie das Rie­ Straßen aufreißen und begrünen
Vierteljahr. Die Kanalisation lief über, senloch in Berlin-Mitte. 16 750 Ku­ ­lassen.
ein trübes Gemisch aus Regen- und bikmeter Wasser soll die größte Wenn es regnet, sollen diese Wie­
Brauchwasser aus den Haushalten der ­Re­gentonne Westeuropas im Not­fall sengürtel so viel Wasser aufnehmen
Hauptstadt flutete die Straßen. Autos fassen. Ein Desaster wie im Juli und speichern wie möglich. Gereinigt
versanken in Wassermulden, Keller 2017 ließe sich damit teilweise lin­ Neu gestalteter wird das Straßenwasser in diesen grü­
Hans Tavsens Park
liefen voll. Die Dreckbrühe ergoss dern. Doch eine zeitgemäße Lösung, in Kopenhagen nen Oasen über natürliche Klärwerke
sich in die Spree, ein ökologischer um eine Stadt dauerhaft wetterfest im Normalzustand, – Pflanzen, Erdreich und Mi­kro­
Albtraum. zu machen, sehen Experten in dem nach Starkregen organismen filtern die schädlichen
Im Nachhinein wirkt die Sintflut ­Projekt nicht. Schon gar nicht taugt (Entwürfe): Inhaltsstoffe des Wassers heraus, be­
»Mit aller Kraft auf
von Berlin wie der Vorbote jener es, um jenen Missstand zu beheben, die Schwammstadt vor es tiefer in den Boden sickert. So
­K atastrophe, bei der im vergan­ den Fachleute als »urban stream konzentrieren« würden nebenbei die Grundwasser­

102 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WISSEN

Beauty & the Bit / SL A (2)


speicher wieder aufgefüllt, die im Sommer Deshalb blickt Architektin Rudolph-Cleff sen sind extrem schnell. In dem Moment, wo
vielerorts in Deutschland stark ­beansprucht mit Bewunderung nach Peking. »China hat die einen Vertrag unterschreiben, sind sie
sind. Zugleich würden die wie Schwämme schon verstanden und ist ein Hoffnungsträ- schon fast am Bauen«, sagt Rudolph-Cleff.
vollgesogenen Böden der Biotope bei Dürre ger.« Das Land steht allerdings auch besonders Auch in der Nachbarschaft Deutschlands
kostbares Nass an die Pflanzen ringsum ab- unter Druck. Dort leben 18 Prozent der Welt- haben manche Länder ihre Lektion offenbar
geben. bevölkerung, doch China hat nur rund sieben schneller gelernt. In Dänemark setzten Re-
»Wenn wir so weitermachen wie bisher, Prozent der globalen Wasserressourcen. genmassen am 2. Juli 2011 die Hauptstadt
landen wir im Chaos«, mahnt die Architektin Wohl auch deshalb gelingt dort zügig, was Kopenhagen unter Wasser. Der Schaden be-
Annette Rudolph-Cleff, 56, Professorin für hierzulande häufig lange dauert. »Die Chine- lief sich auf mehrere Milliarden Euro. Laut
Stadtentwicklung an der TU Darmstadt. Mit Statistik sollte so etwas nur alle 480 Jahre
Sorge beobachten sie und ihre Kollegen die passieren. Doch drei Jahre später regnete es
zunehmende Versiegelung von Böden. Jedes Besonders saugfähig erneut heftig.
Jahr wird in Europa Grund von der Größe Die Kopenhagener Stadtverwaltung re-
Berlins in Stadtfläche verwandelt. Wasser Wie Schwammstädte Überflutungen mindern agierte: Allein im Stadtviertel rund um den
und Wasser speichern
kann hier kaum noch versickern und muss Sankt-Kjelds-Platz wurden 35 000 Quadrat-
oberirdisch abfließen. Die Böden verarmen Regen versorgt Verdunstendes
meter Beton- und Asphaltfläche aufgerissen
unter Asphalt und Zement. die Stadt mit Wasser sorgt und zu Regenwasserschutzgebieten umge-
Mit einem Versiegelungsgrad von 35 Pro- Wasser. für Abkühlung. baut. Dafür opferten die fahrradbegeister-
zent gilt die Hauptstadt Berlin als gefährlich ten  Kopenhagener sogar einen Teil ihrer
zubetoniert. Anderswo ist es noch schlimmer: ­Radwege.
Hamburg kommt auf 39 Prozent, in München Stadtplaner weltweit feiern das Kopen-
sind gar 44 Prozent der Stadtfläche zu­ge­baut. hagener Viertel inzwischen als Musterbeispiel
Inzwischen lässt sich vielerorts die fatale einer Schwammstadt. Bäume und Büsche
Dynamik der traditionellen Stadtplanung er- durch- sorgen dafür, dass die grünen Inseln im Quar-
begrünte
kennen. Unter der US-amerikanischen Wüs- Gebäude
lässige tier auch stärkere Regenfälle aufsaugen kön-
tenstadt Las Vegas oder der chinesischen Gehwege nen. Mulden und kleine Hügel wurden künst-
Hauptstadt Peking gibt es praktisch kein lich geschaffen, um die Oberfläche des
Grundwasser mehr. Hier wird seit Langem Schwamms zu vergrößern, Wasser, das nicht
Auffangbecken
mehr Wasser verbraucht, als eigentlich zur vor Ort versickert, wird durch eine neue Pipe-
Verfügung steht. Gleichzeitig werden die line im Boden direkt zum Hafen und ins Meer
Städte immer wieder überflutet. geleitet.
Im Juli 2012 kamen in Peking durch eine Ob in Kopenhagen oder in Peking, die
Überschwemmung fast 80 Menschen ums Köpfe hinter dem Umbau sind Anhänger der
Leben, der Gesamtschaden: umgerechnet gut sogenannten Slow-Water-Bewegung. Ihr Prin-
anderthalb Milliarden Dollar. Die Katastro- zip: Wasser kann man nicht besiegen, es soll
phe löste eines der radikalsten Umbaupro- Grün- fließen wie von der Natur vorgesehen. Was
jekte der Gegenwart aus. Die chinesische Re- flächen und im Wassermanagement bisher üblich war, ist
gierung verabschiedete 2015 das sogenannte Teichanlagen des Teufels, etwa der Bau von Kanälen, Däm-
als Zwischen-
Schwammstadt-Programm, das 30 Pilotstäd- speicher men und Stauseen.
te umfasst. Sie sollen bis 2030 so umgebaut unter- Das Manifest dieser Bewegung veröffent-
werden, dass 80 Prozent des Regen­wassers irdisches lichte im Juni die US-Journalistin Erica Gies.
Reservoir Grundwasser
vor Ort gespeichert und wiederverwendet Schon der Titel ihres Buchs deutet an, warum
werden können. S Grafik das erratische Element aus Sicht der Autorin


Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 103


WISSEN

ein undankbarer Gegner ist: »Wasser gewinnt


immer« – oft auch, indem es ungenutzt ver­
schwindet.
Weil ganze Regionen Deutschlands unter

»Die Ukrainer wissen


immer längeren Dürreperioden leiden und
der Extremregen kaum versickert, sinken vie­
lerorts die Grundwasserspiegel. Die unter­

sehr genau, wohin sie


irdischen Reservoirs aber sind wichtige Trink­
wasserquellen. Bei allen Bemühungen, sie
aufzufüllen, wird oft übersehen, dass in Haus­

feuern müssen«
halten kostbares Trinkwasser verschwendet
wird – etwa mit der Toilettenspülung.
Dafür würde auch das sogenannte Grau­
wasser taugen, also das, was aus der Wasch­
maschine oder der Dusche in den Abfluss
läuft. Würden Toilettenspülungen in Deutsch­ RÜSTUNGSTECHNIK  Die Ukraine will wichtige Territorien von den Russen
land mit aufbereitetem Grauwasser betrie­
ben,  ließen sich allein in einem Vierper­ zurückerobern. Die Sicherheitsexpertin Claudia Major nennt die
sonenhaushalt jährlich etliche Tausend Liter Geräte, die dafür wichtig sind, und sagt, welche Rolle Bastellösungen
Trinkwasser sparen. à la MacGyver wirklich in diesem Krieg spielen.
In Mannheim haben sich die Bewohner
einer Siedlung von 192 Sozialwohnungen
auf ein Experiment eingelassen. Sie verwen­ Major, Jahrgang 1976, leitet die Forschungs- ihr Narrativ etablieren. Die Erzählung der
den recyceltes Grauwasser in ihren Wohnun­ gruppe Sicherheitspolitik an der Stiftung Wis- Ukraine lautet: Wir sind zwar die Schwäche­
gen. Ein mutiger Schritt, meint Architektin senschaft und Politik (SWP), einer der wich- ren, aber wir sind schlauer. Ich bin mir nicht
Rudolph-Cleff: »Das hat in Deutschland noch tigsten deutschen Forschungseinrichtungen sicher, ob wir im Westen den Einfluss solcher
überhaupt keine Akzeptanz.« für außen- und sicherheitspolitische Fragen. Waffen ausreichend abschätzen können. Mög­
Es bedurfte eines psychologischen Tricks, Die SWP berät vor allem den Bundestag und licherweise haben wir die technischen Fähig­
die Skeptiker zu überzeugen: Das gefilterte die Bundesregierung. Major ist seit 2010 Mit- keiten der Ukraine unterschätzt.
Grauwasser der Siedlung wird in einem Teich glied im Beirat zivile Krisenprävention des SPIEGEL: Inwiefern?
gesammelt. Und in den haben die Projekt­ Auswärtigen Amts und Expertin für europä­ Major: Während der Sowjetzeit war die
leiter Fische gesetzt, um zu signalisieren, dass ische Verteidigungs- und Militärpolitik sowie Ukra­ine eine wichtige Waffenschmiede. Dort
in dem recycelten Wasser Lebewesen gedei­ die Nato. wurden Raketenteile, Flugzeugtriebwerke
hen können. und große Transportflugzeuge hergestellt.
Dabei ist die Technik längst weiter. In Sin­ SPIEGEL: Frau Major, die Ukraine zeigt in Viele Produktions- und Forschungsstätten
gapur etwa hat sich eine Kläranlage darauf ­diesem Krieg enormen Erfindungsreichtum. blieben erhalten. Im Bereich der Waffenent­
spezialisiert, das sogenannte Schwarzwasser Die Soldaten montieren Raketenwerfer auf wicklung verfügt das Land also über enorme
aus der Klospülung zu verarbeiten. Nach auf­ Buggys oder verwandeln Hobbydrohnen in Expertise. Die Neptun-Seezielflugkörper bei­
wendigen Filterprozessen ist es so sauber, dass tödliche Waffen. Welche Rolle spielt Improvi­ spielsweise, die das Flaggschiff der russischen
es als Trinkwasser genutzt werden kann. sationstalent in diesem Krieg? Schwarzmeerflotte versenkt haben sollen,
Das wäre Konsumenten hierzulande kaum Major: Dieses Improvisationstalent ist beein­ wurden in Kiew entwickelt. Vielleicht kennen
zu vermitteln. Doch diverse Studien sagen druckend. Psychologisch bringen Berichte wir schlicht nicht alle Waffenprogramme des
voraus, auch in Deutschland könnten die über solche Entwicklungen sicher einen Vor­ Landes.
Grundwasserspiegel etlicher Städte in den teil für die Ukraine. Der militärische Nutzen SPIEGEL: Professionelle Waffenentwicklung
kommenden Jahrzehnten wegsacken, wäh­ ist schwer zu beurteilen. Beide Seiten wollen ist das eine, aber die ukrainischen Einheiten
rend gleichzeitig der Trinkwasserbedarf auf­ werden weltweit für ihre Kreativität gefeiert.
grund steigender Temperaturen zunimmt. Sie haben es angeblich sogar geschafft, die
Toilettenwasser in Flaschen könnte die Zu­ amerikanische Harm-Anti-Radar-Rakete mit
kunft sein. Mig-29-Kampfjets abzufeuern, obwohl beide
Viele Projekte findet man abseits der Zen­ Waffensysteme eigentlich nicht kompatibel
tren. Etwa am Rand von Mannheim, auf dem sind. Dafür wurden sie mit der TV-Figur
Riedberg in Frankfurt am Main oder im ­MacGyver verglichen, einem Daniel Düsen­
Münchner Stadtbezirk Moosach. Dort haben trieb, der für jedes noch so abwegige Problem
Wissenschaftler eine renovierungsbedürftige eine Lösung bastelt.
Siedlung zum Reallabor erkoren. Major: Ja, es zeugt von Kreativität und Im­
Anhand der Gebäude haben die Forscher provisationstalent, Hobbydrohnen für militä­
durchkalkuliert, welche Effekte Baumaßnah­ rische Zwecke umzuwidmen oder einzelne
men unter künftigen Klimabedingungen ha­ Systeme zu modifizieren. Aber das sieht man
ben. So errechneten sie, bei welcher Art von oft in Konflikten. Auch der »Islamische Staat«
Dachbegrünung am meisten Regenwasser hat schon Billigdrohnen mit Sprengsätzen be­
Melina Mörsdor f / DER SPIEGEL

verdunstet, wodurch das Quartier gekühlt stückt. Wir sind vielleicht auch deshalb so be­
wird. Doch reichen solche überschaubaren eindruckt von diesen Methoden, weil wir eher
Maßnahmen? nach Lehrbuch agieren. Ich erinnere an die
»Es ist ein guter Anfang«, meint Rudolph- Debatte, die hier über die Ausbildungszeit am
Cleff: »Eine große Lösung kann es nicht Gepard oder an anderen westlichen Waffen
geben. Jede Stadt ist aufgefordert, lokale geführt wurde. Nun sehen wir, dass die Ukra­
Lösungen zu finden.« ine gut mit dem Gerät zurechtkommt, auch
Frank Thadeusz n Forscherin Major wenn die Soldaten nicht strikt nach Bundes­

104 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WISSEN

REUTERS
Panzerhaubitze 2000 aus deutscher Produktion im Donbass: »Mindestens ebenso wichtig wie die Waffen sind die Aufklärungsdaten«

wehrlehrbuch ausgebildet wurden. Kriege sind Major: Russland hatte in den vergangenen Jah- struktur vor Luftangriffen schützen, kürzlich
Ausnahmesituationen, da gibt es immer aus der ren die Erfahrung gemacht, dass es mit Kriegen war er dort erstmals im Einsatz. Reichen die
Not geborene technische Innovationen. Egal seine Ziele erreicht. Beispielsweise in Geor- 30 Stück, die Deutschland liefert?
wie man deren Effekt beurteilt: Die Ukraine gien, in Syrien oder 2014 in der Ukraine bei Major: Politisch war der Gepard ein wichtiger
wird weiter westliche Waffen benötigen. der Eroberung der Krim und von Teilen des Schritt, denn damit hat sich Deutschland erst-
SPIEGEL: Die haben in diesem Krieg schon Donbass. Wir gingen deshalb davon aus, dass mals auf die Lieferung der geforderten schwe-
früh eine Rolle gespielt, etwa moderne Pan- Moskau eine kampferfahrene Armee besitzt. ren Waffen eingelassen. Die Bundesregierung
zerabwehrwaffen. Wie wichtig sind sie in der Russland hatte zudem nach dem Krieg in Geor- wollte damals auf der Konferenz in Ramstein,
aktuellen Lage? gien 2008 eine fundamentale Reform begon- als über Unterstützung für die Ukraine be-
Major: In den ersten Kriegswochen waren nen und hätte eigentlich gut aufgestellt sein raten wurde, nicht mit leeren Händen daste-
leichte Waffen wie die Javelins entscheidend. müssen. Wir haben aber unterschätzt, dass hen. Sicher wäre es gut, wenn die Industrie
Damit konnten die Ukrainer russische Konvois vieles im Sande verlaufen ist und sich Korrup- oder die Bundeswehr noch mehr liefern wür-
stoppen. Solche großen Trosse sehen wir nun tion durch die Armee frisst. Zudem waren die den. Aber bevor nur die Waffen bereitgestellt
nicht mehr. Mindestens ebenso wichtig wie Interventionen der Russen zeitlich und auf werden, die zufällig gerade vorhanden sind,
die Waffen aber sind die Aufklärungsdaten. recht kleine Gebiete beschränkt, und Moskau sollten die Länder ihre Lieferungen besser
Hier unterstützen die USA massiv, aber auch setzte nur Teile der Streitkräfte ein. Jetzt will koordinieren und an den Bedarf der Ukraine
die Ukraine hat gute Informationen. Das Sa- Russland ein ganzes Land erobern. Ich warne anpassen.
tellitennetzwerk »Starlink« ist enorm hilfreich jedoch nach wie vor davor, die russische Ar- SPIEGEL: Wie beurteilen Sie denn etwa die
und die Informationen aus der Bevölkerung. mee abzuschreiben. Lage im Donbass?
Damit können sie ihre Waffen gezielter nutzen. SPIEGEL: Warum? Major: Dort sehen wir einen kleinteiligen Stel-
Die Ukrainer wissen dank der Daten aus den Major: Die russische Armee hat sich inzwi- lungskrieg mit geringen Geländegewinnen
USA sehr genau, wohin sie feuern müssen. schen angepasst. Die Art der eher altmodi- für die Russen. Die ukrainische Armee konn-
SPIEGEL: Was für Daten sind das? schen Kriegsführung mit den massiven Artil- te zuletzt die russische Feuerwalze nur durch
Major: Wahrscheinlich erhalten die Ukrainer leriebeschüssen, die wir derzeit im Donbass westliche Artillerie wie den Mehrfachraketen-
Hinweise zu Truppenbewegungen, Standor- sehen, ist ein Ergebnis davon. Russland führt werfer Himars oder die Panzerhaubitze 2000
ten und Informationen über den Zustand der nun den Krieg, den es gut beherrscht. Auch stoppen. Diese Waffen halten den russischen
­russischen Streitkräfte. Sie könnten aber auch die Führungsstrukturen sind inzwischen bes- Vormarsch auf. Damit sind Schläge weit hin-
konkrete Koordinaten für Angriffe erhalten. ser organisiert. Trotz der enorm hohen Zahl ter die russischen Linien möglich. Diese Na-
Es war ja auffällig, wie gut die USA schon vor von geschätzt bis zu 50 000 Toten und Ver- delstichstrategie, mit der Kiew Logistiklinien
dem Krieg über Truppenbewegungen der rus- wundeten richtet sich Russland derzeit auf und Depots zerstört, schwächt die russischen
sischen Armee informiert waren und sie auch ein längerfristiges Szenario ein. Das zeigt das Kräfte und bindet sie, weil sie diese Infra-
öffentlich gemacht haben. Dekret von Putin zur Aufstockung der Streit- struktur und Logistik besser schützen müssen.
SPIEGEL: Warum lagen so viele Expertinnen kräfte. Damit will er die Verluste ausgleichen. Zudem demoralisiert sie die russische Armee.
und Experten mit ihren Prognosen vom SPIEGEL: Der Flugabwehrkanonenpanzer Für die ukrainische Moral ist das gut. Aber es
schnellen russischen Sieg daneben? Gepard soll in der Ukraine wichtige Infra- ist keine Rückeroberung.

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 105


WISSEN

SPIEGEL: Jetzt haben die Ukrainer eine Of- zen – diesen Mechanismus müssen wir durch-
fensive im Süden des Landes bei Cherson Schweres Gerät schauen.
gestartet. Wie erfolgreich sind sie damit? SPIEGEL: Hat Putin noch moderne Waffen?
Major: Der ukrainische Generalstab hat eine Waffen für die Ukraine Major: Russland hat sicher noch einige mo-
Nachrichtensperre verhängt, die Informations- von der Ukraine gefordert derne Panzer oder Kinschal-Hyperschall­
lage ist also dünn. Es sieht aber nach ersten internationale Militärhilfe* raketen – möglicherweise nur in kleiner Zahl.
vorsichtigen Erfolgen für Kiew aus. Das Wort Die Frage ist, ob der Einsatz kriegsentschei-
Offensive ist jedoch irreführend. Die Ukraine Gepanzerte Fahrzeuge dend wäre. Das glaube ich eher nicht. Denn
hat keine Panzerarmeen, die sie losschicken 2000 für Russland geht es darum, die besetzten
kann. Es geht zunächst darum, die russischen 720 (davon 152 ausstehend) Gebiete zu kontrollieren. Da helfen auch kei-
Kräfte zu schwächen und sie dann hoffentlich ne Hyperschallraketen.
hinter den Dnipro zurückzudrängen. Für eine z. B. M113 SPIEGEL: Kann der Abnutzungskrieg dazu
klassische Offensive fehlt es an Soldaten und Mannschafts- führen, dass Russland und die Ukraine doch
transporter
Feuerkraft. Darum sollen Teile der russischen wieder verhandeln?
Armee von der Versorgung abgeschnitten wer- Major: Dass eine der beiden Parteien siegt,
den. Dabei haben die ukraini­schen Einheiten erscheint derzeit unwahrscheinlich. Russland
Schwächen des Gegners wie etwa die Abhän- ist nicht von seinem Ziel, die Ukraine aus­
gigkeit von Eisenbahnlinien gut erkannt und zulöschen, abgerückt und hat kein Interesse
ausgenutzt. Doch es bleibt die Frage, ob diese an Verhandlungen. Offenbar glaubt Moskau
Offensive ukrainische Stärke oder immer noch an einen Sieg. Meiner Meinung nach ist der
russische Schwäche zeigt. einzige Weg, Russland an den Verhandlungs-
SPIEGEL: Sie haben bereits im April im tisch zu holen, ein militärischer Erfolg der
Haubitzen
­ PIEGEL die Lieferung schwerer Waffen ge-
S Kaliber 155 mm Ukraine. Ein Waffenstillstand allein wird
fordert. Eigentlich müssten Sie nun zu- 1000
der Region aber langfristig keinen Frieden
frieden sein, oder? sichern.
257 (66)
Major: Der Umfang der Waffenliefe- SPIEGEL: Warum nicht?
rungen ist enorm. Aber wenn die Ukraine Major: Wir können den militärischen Konflikt
Territorium zurückerobern will, dann wird vielleicht einfrieren, aber der politische
das nicht reichen. Man braucht, pauschal for- Konflikt dahinter ist nicht gelöst. Bei einem
muliert, dafür eine dreifache Überlegenheit. Waffenstillstand kämen Fragen zur Souverä-
In Städten steigt dieser Faktor sogar auf die z. B. M777 nität der Ukraine auf den Tisch. In welchen
Haubitze
siebenfache Überlegenheit an – an Per­sonal Bündnissen wird sie Mitglied, in welchen
und Material. Wir reden dann über Kampf- Grenzen wird sie bestehen, welche Sicher-
und Schützenpanzer, Luft- und Artillerie- heitsunterstützung bekommt sie? Die west-
unterstützung. lichen Staaten müssten ihre militärische
SPIEGEL: Sie fordern, der Ukraine westliche Unterstützung danach sogar intensivieren.
Kampfpanzer zu liefern? Panzer Solange Russland nicht von der Idee lässt,
Major: Die westlichen Staaten haben schon dass die Ukraine kein eigenständiger Staat
500
viel gemacht. Das letzte militärische Hilfspaket sein darf, wird Putin wohl nur auf die nächs-
260 (8)
der USA ist gigantisch. Teilweise stehen die te Gelegenheit warten. Solange die Ukraine
europäischen Streitkräfte inzwischen selbst nicht unter dem Schutz der Nato steht, wäre
z. B. T-72
ziemlich blank da. Polen hat mehr als 200 Pan- Kampfpanzer ihre einzige Möglichkeit für einen gesicherten
zer geliefert. Aber es ist nun mal so, dass die Frieden eine glaubwürdige Verteidigung, also
­Ukraine damit die besetzten Gebiete kaum die Aufrüstung.
zurück­erobern kann. Dafür fehlt ihr Mobilität, SPIEGEL: Und wenn die Ukraine auf den Don-
gepaart mit Feuerkraft und Schutz. Sie brauch- bass und die Krim verzichtet?
te gepanzerte Truppentransporter, Schützen- Major: Dann hätte Russland einen Teil seiner
panzer, Kampfpanzer. Ziele mit militärischen Mitteln erreicht.
SPIEGEL: Deutschland könnte zumindest ei- Krieg lohnt sich, könnte es dann schlussfol-
nige alte Leopard 1 zur Verfügung stellen. gern. Sobald sich die Armee erholt und neu
Major: Bundeskanzler Olaf Scholz hat am aufgestellt hätte, ­könnte Moskau wieder
Mehrfach-
ver­gangenen Mittwoch im Bundestag betont, raketenwerfer losschlagen. Russland behandelt die besetzten
dass er die Einschätzung von US-Präsident 300
Gebiete ja nicht als Verhandlungsmasse, son-
Joe Biden teilt und Alleingänge ablehnt. Da- dern betrachtet sie als eigenes Territorium.
39 (4)
hinter steht offenbar die Sorge vor einer Es- Wir müssen die Ukraine dauerhaft unterstüt-
kalation mit Russland. Offiziell verweist man zen, sonst bleibt die Sicherheitslage in Euro-
ja darauf, dass auch kein anderes Land solche pa prekär.
Waffen liefert. Ich glaube, dass Deutschland SPIEGEL: Nun wurde erneut in Ramstein be-
mit­ziehen würde, wenn jemand aus der west- z. B. Himars raten – die Ukraine erhält vor allem Ausrüs-
lichen Staatengemeinschaft den ersten Schritt tung für den Winter. Reicht das aus?
macht. Major: Es ist zumindest sinnvoll. Munition,
SPIEGEL: Sehen Sie nicht die Gefahr einer Es- Treibstoff, Transportfahrzeuge und Ersatz-
kalation? Russland ist Atommacht. teile sind kriegsentscheidend – nicht nur
Major: Die Sorge nehme ich sehr ernst. Aber schwere Waffen. Eine militärische Weisheit
die Gefahr eines russischen Atomschlags [M] Gaetan Bally / KEYSTONE / picture alliance; Lance Cpl. Jennifer E. Reyes / lautet: Am Ende gewinnt derjenige den Krieg,
APFootage / Alamy / mauritius images; Alan Wilson; ZUMA Wire / IMAGO
halte ich derzeit für gering. Die russischen der Lücken bei Material und Personal am bes-
* in den vier genannten Waffenkategorien vom 24. Januar
nuklearen Erpressungsversuche sollen uns bis 3. August ten wieder auffüllen kann.
davon abhalten, die Ukraine zu unterstüt- S Quelle: Ukraine Support Tracker / IfW Kiel Interview: Jörg Römer n


106 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WISSEN

die Durchimpfungsrate in Deutschland nur


bei 92 Prozent, in einzelnen Landkreisen, vor
allem in Bayern und Baden-Württemberg,
deutlich darunter, so Diedrich. »Solange wir
nicht 95 Prozent erreicht haben, hat das Virus
immer eine Chance.«
Die Kinderlähmung ist heimtückisch. Es
gibt keinerlei Medikamente dagegen. Treten
die Lähmungen einmal auf, bleiben sie oft ein
Leben lang. Ist die Atemmuskulatur betrof-
fen, besteht Lebensgefahr. »Polio ist eine un-
heilbare Krankheit, viele der Betroffenen
enden im Rollstuhl«, sagt Diederich. Allein

William Daniels / panos pictures / VISUM


in Deutschland litten zudem rund 50 000
Menschen – Patienten aus der Zeit der großen
Polioepidemien der Vierziger- und Fünfziger-
Jahre – am sogenannten Postpoliosyndrom,
bei dem sich Jahrzehnte nach der akuten Er-
krankung die Beschwerden deutlich ver-
schlimmern.
Dabei sind die Poliokranken, die unter
Zwölfjährige Patientin in Pakistan: »Eine unheilbare Krankheit« Symptomen leiden, immer nur ein winziger
Teil der Wahrheit. Auf einen gelähmten Pa-
tienten können mehrere Hundert asympto-
matisch verlaufende Fälle kommen. »Sobald
das Virus entdeckt wird, muss das als Notfall

Comeback der
angesehen werden«, sagt Aidan O’Leary,
­Direktor des Polio-Eradikationsprogramms
bei der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Kinderlähmung
»Wenn man nicht schnell handelt, können die
Fallzahlen explodieren.«
Auch in New York zeigten – für Covid-19
eingeführte – Abwassertests, dass das Polio-
virus schon im Mai in Rockland County vor-
MEDIZIN  Seit 34 Jahren versucht die WHO, das Poliovirus auszurotten. kam und sich im Juli und August wohl
Doch jetzt breitet es sich wieder aus – nicht nur in ärmeren Ländern. ­verbreitet hat. Im Norden wie im Süden, in
Orange County, Sullivan County und in der
Stadt, New York City.

A
shwin Vasan sitzt in seinem Büro über Der junge Mann, dessen Identität geheim Für Vasan ist der Kampf gegen Polio ein
den Dächern von Queens, hinter den gehalten wird, war nicht gegen Kinderläh- persönlicher. Seine Tante starb in Indien an
schallschluckenden Fensterscheiben mung geimpft. Er war den Angaben zufolge Kinderlähmung, während sie Medizin studier-
liegt die Skyline Manhattans. Draußen pul- auch nicht ins Ausland gereist. Allerdings hat- te. Sein Onkel, der in Madras lebt, ist bis heu-
siert das Leben, U-Bahnen gleiten, in der te er acht Tage vor Beginn der Symptome te durch Polio rechtsseitig gelähmt. Der Polio-
Sonne schimmernd, scheinbar lautlos über »eine große Versammlung« in seiner Gemein- ausbruch vor seiner Haustür in den USA sei
Hochgleise. Im grauen Anzug, vor sich zwei de besucht. »frustrierend«, sagt Vasan. »Kinderlähmung
Smartphones, eine Lesebrille und eine Dose Bereits im März war in Israel ein Fall von ist eine Krankheit, von der wir dachten, wir
Selters, berichtet Vasan über die dritte Virus- Kinderlähmung bei einem dreijährigen Mäd- hätten sie fast eliminiert, mit Sicherheit aber
erkrankung, die nach Covid-19 und den Af- chen aufgetreten. Zuvor hatte es dort 30 Jah- unter Kontrolle. Jetzt kommt sie wieder.«
fenpocken dieses Jahr die 8,8-Millionen-­ re lang keinen Ausbruch gegeben. Im August Seit 1988 schon läuft das Polio-Eradika-
Metropole New York heimzusuchen droht: wurde das Virus im Abwasser von London tionsprogramm der WHO. Die Weltgesund-
Polio, die Kinderlähmung. gefunden. Schon Ende 2021 hatte es einen heitsorganisation will – mit finanzieller Unter-
Harvard-Absolvent Vasan ist seit März Polioausbruch mit 20 Infizierten, zwei davon stützung vor allem von den G7-Staaten und
Leiter des New York City Department of mit Symptomen, in der Westukraine gegeben. Nichtregierungsorganisationen wie der Bill
Health and Mental Hygiene. Mit mehr als »Die Fälle sind ein Warnzeichen. Überall & Melinda Gates Foundation – das Virus mit
6000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und dort, wo die Impfquote zu niedrig ist, kann einer globalen Schluckimpfungskampagne
einem Haushalt von 1,6 Milliarden Dollar ist Polio jederzeit wieder auftreten, solange das ausrotten, als zweites Virus nach den Pocken.
es die größte städtische Gesundheitsbehörde Virus noch nicht ausgerottet ist«, sagt Sabine Trotz vieler Rückschläge ist der bisherige Er-
der USA. Diedrich, Leiterin des Nationalen Referenz- folg beachtlich. 1988 war das Virus in mehr
Im Juli war nördlich der Stadt, in Rockland zentrums für Poliomyelitis und Enteroviren als 125 Ländern endemisch, innerhalb eines
County, ein junger Mann an einer akuten Läh- am Robert Koch-Institut. Auch in Deutsch- Jahres traten schätzungsweise bei rund
mung der Beine erkrankt, außerdem litt er an land, wo 1990 der letzte einheimische Polio- 350 000 Menschen, vor allem bei Kindern,
Fieber, Nackensteife, Rückenschmerzen, fall auftrat, könne dies, so Diedrich, theore- Poliolähmungen auf – das waren fast 1000
Übelkeit. Sein Arzt vermutete zunächst eine tisch passieren. pro Tag. Im gesamten Jahr 2021 gab es nur
Rückenmarksentzündung, dann wurde in Regelmäßige Untersuchungen des Abwas- noch knapp 700 Fälle.
einer Stuhlprobe des Mannes das Poliovirus sers auf Polioviren gibt es in Deutschland Lediglich 6 davon wurden durch das ur-
nachgewiesen. Poliomyelitis gilt in den USA nicht. Die Messergebnisse eines ersten Pilot- sprüngliche Poliovirus verursacht, den so-
seit 1979 als ausgerottet, seither gab es nur projekts dazu in Berlin werden wohl erst im genannten Wildtyp. Er ist nur noch in zwei
seltene Einzelfälle, zuletzt 2013. kommenden Jahr veröffentlicht. Dabei liege Ländern endemisch: in Pakistan und Afgha-

108 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


WISSEN

nistan, auch wenn in den vergange- wickelt. »Dieser neuartige Impfstoff »Wenn man Gemeinde, in der wir uns engagieren
nen zwölf Monaten doch wieder ver- ist entscheidend«, sagt Impfexperte müssen, das stimmt«, sagt er vorsich-
einzelte Fälle in Malawi und Mosam- Orenstein. Noch stehe die Vakzine nicht schnell tig. Aber es gehe nicht darum, die
bik auftraten. Wenn die Situation so allerdings nicht in ausreichender handelt, Menschen anzuprangern oder zu be-
geblieben wäre wie 1988, stünde die
Ausrottung jetzt wahrscheinlich kurz
Menge zur Verfügung.
Der Weg hin zu einer Ausrottung
können die schämen, sondern sie zu verstehen –
und zu informieren.
bevor. des Poliovirus ist dabei eigentlich Fallzahlen Die Gesundheitsämter in Rock-
Doch in den Nullerjahren geschah, ganz einfach: impfen, impfen, impfen. explodieren.« land County richteten nach Bekannt-
was man zwar in der Theorie für mög- Doch in Rockland County, wo der werden des Falls umgehend Pop-up-
Aidan O’Leary,
lich gehalten, aber nie wirklich ein- New Yorker Poliofall auftrat, liegt Direktor des Polio- Impfzentren ein und warben auf
kalkuliert hatte: Abgeschwächte die Impfquote für Kinder sehr nied- Eradikations­ Flyern in Englisch, Spanisch und hai-
Impfviren aus der Schluckimpfung, rig. Seit Beginn der Coronapandemie programms der WHO tianischem Kreol für die Polioimmu-
die mutiert und wieder virulent ge- ist sie sogar noch einmal gefallen: nisierung. Lokalmedien zufolge blieb
worden waren, verbreiteten sich in von 67 Prozent auf 60 Prozent. In das Interesse eher gering.
Regionen mit zu niedriger Impfquote einigen Gemeinden beträgt sie unter Walter Orenstein hat sich intensiv
und verursachten Lähmungen, genau 40 Prozent. auch wissenschaftlich mit der Frage
wie das Wildvirus. Diese mutierten Rockland County hat schon früher beschäftigt, wie man die Impfbereit-
Impfviren verursachten im vergange- mit Krankheitsausbrüchen Schlagzei- schaft erhöhen kann. Er erinnere sich
nen Jahr mehr als 100-mal so viele len gemacht. Im April 2020 gab es gut daran, wie 1955 der erste Polio-
Poliofälle wie der Wildtyp. Auch dort die höchsten Pro-Kopf-Corona- impfstoff in den USA eingeführt wur-
die Fälle in New York, Israel, London zahlen im gesamten Bundesstaat. Das de. »Ich war sieben Jahre alt und ein
und der Ukraine wurden dadurch aus- County ist Heimat mehrerer ortho- echter Impfgegner«, erzählt er, »ich
gelöst. doxer jüdischer Gemeinden, deren wollte einfach nicht mit einer Nadel
Besonders dramatisch wirkte sich Mitglieder sich traditionell oft gegen geimpft werden.« Seine Mutter habe
dabei wahrscheinlich eine Entschei- Impfungen sperren. Auch der mit ihn erst mit viel Mühe überzeugen
dung der WHO aus. Ab dem Jahr Polio infizierte Mann gehört nach In- müssen.
2016, als die Ausrottung des Virus in formationen der »New York Times« Damals habe das Poliovirus jedes
greifbarer Nähe schien, empfahl sie, einer »großen orthodoxen jüdischen Jahr rund 15 000 US-Amerikaner mit
den sogenannten Typ 2 des Poliovirus Gemeinde des Bezirks« an. Die Be- Lähmungen zurückgelassen. All die-
künftig aus der Schluckimpfung (in hörden bestätigen das nicht. ses Leid sei heute vergessen: die rie-
der ursprünglich Typ 1, 2 und 3 ent- Vasan ist sich der Brisanz dieser sigen Säle mit Kindern in eisernen
halten waren) herauszulassen. Information bewusst. »Das ist eine Lungen, die mühsamen Gehübungen
Der letzte Fall mit einem Typ-2-­ mit Beinschienen. Das Vergessen tra-
Poliovirus lag damals 17 Jahre zurück. ge entscheidend dazu bei, dass die
»Die Entscheidung ist also nicht ohne Der verschenkte Sieg Impfquoten vielerorts zu niedrig sei-
Grund erfolgt«, sagt Walter Oren­ en, sagt Orenstein. Diedrich sieht die-
stein, Medizinprofessor an der Emo- Auftreten der 552 Polio-Fälle in den letzten 12 Monaten* se Entwicklung ebenfalls in Deutsch-
ry University in Atlanta, Georgia, und Wildtyp 1 mutiertes Impfvirus: Typ 1 Typ 2 Typ 3 land: »Wachgerüttelt würden auch
Vorsitzender des WHO-Beratungs- wir wahrscheinlich erst, wenn es wie-
ausschusses für Immunisierungen und zwei Fälle in der der ein gelähmtes Kind gibt.«
Ukraine Ende 2021
impfstoffbezogene Implementie- Fall in New Ashwin Vasan sieht noch andere
rungsforschung. Doch nur drei Jahre York im Juli Ursachen für Impfmüdigkeit. »Es gibt
2022 einziger Fall mit
später war die Typ-2-Immunität in mutiertem Impfvirus eine gut finanzierte, gut koordinierte
Typ 3 bei einem
der Bevölkerung offenbar so weit ge- Mädchen in Israel Antiwissenschaftsbewegung, die das
sunken, dass die Zahl der Poliofälle, (März 2022) Vertrauen in Impfungen über Jahr-
die von mutierten Typ-2-Impfviren Wildtyp 1 zehnte hinweg untergraben hat«, sagt
verursacht wurden, explodierte. endemisch er. Corona und die Desinformation
in Afghanistan
Zwar wird in Ländern wie den und Pakistan in den sozialen Medien hätten das be-
USA, Großbritannien und auch in schleunigt. Auch die Motivation der
Deutschland immer noch gegen den Geldgeber der Polio-Eradikations-
Typ 2 geimpft. Allerdings seit etwa Weltweit 1000 kampagne ließ in den vergangenen
der Jahrtausendwende mit einem Tot- gemeldete Jahren spürbar nach.
impfstoff, der in den Muskel gespritzt Polio-Fälle 1980 750 Trotz aller Probleme ist Kampa­
bis 2021, alle
wird und zwar vor Krankheit und Virustypen
gnendirektor Aidan O’Leary aber
Symptomen schützt, aber nicht ver- tatsächliche 500 sicher, dass das Poliovirus am Ende
hindert, dass das Virus an andere wei- 60.000 Fallzahlen sind doch noch ausgerottet werden wird.
geschätzt wesentlich 250
tergegeben wird. Damit lässt sich das höher, z.B. 350.000 Rund 90 Prozent der Fälle mit den
Virus nicht ausrotten. 40.000
Fälle für 1988
0
mutierten Impfviren träten derzeit in
Inzwischen hat die WHO deshalb nur drei afrikanischen Regionen auf,
2016 2021
eine neuartige Schluckimpfung ent- sagt er: im Nordjemen, im Osten der
Fälle nach
wickeln lassen, die gegen Typ 2 wirkt 20.000 Virustyp Demokratischen Republik Kongo und
und deren abgeschwächtes Impfvirus in Nordnigeria. Auf diese drei Regio-
nicht mehr so leicht mutieren kann. nen müsse man jetzt einen Großteil
0
Sie ist zwar noch nicht offiziell zu- der Anstrengungen konzentrieren.
gelassen, wird aber von der WHO in 1980 1990 2000 2010 2020 »Solange das Poliovirus noch irgend-
einer Liste für den Notfallgebrauch * 31. August 2021 bis 30. August 2022;
2015 wo zirkuliert«, sagt O’Leary, »ist jede
weltweit, bei Einsetzen der Lähmung, ohne
geführt. Neuartige Schluckimpfungen Virusfunde aus Umweltbeobachtung Wildtyp 2 … 2019 Wildtyp 3 … Region der Welt in Gefahr.«
zu Typ 1 und 3 werden ebenfalls ent- S Quelle: WHO, Our World in Data … für ausgerottet erklärt Veronika Hackenbroch, Marc Pitzke n
†

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 109


KULTUR Ausweitung der
Tanzzone
POP  Zur Musik zu klatschen
hat einen schlechten Ruf. Hat
was von Volksfest, nicht von
Party, auf die man gern will. Su-
dan Archives bricht mit dieser
traurigen Tradition. Gleich im
Opener ihres zweiten Albums
»Natural Brown Prom Queen«,
das jetzt erschienen ist, lässt die
US-amerikanische Musikerin
zum Refrain klatschen; aller-
dings keine alten Leute, son-
dern einen alten Drumcompu-
ter. Der Song »Home Maker«
ist so Soul, wie Soul es im Jahr
2022 sein kann, ein Song, der
die Vertracktheit der Gegenwart
in sich trägt, ohne vergessen
zu haben, wer Curtis Mayfield
war – und wozu man gut tanzt.
Brittney Parks, wie Sudan Ar-
chives eigentlich heißt, ist Ende
zwanzig und verstand schon vor
drei Jahren auf ihrem Debüt­
album »Athena« Tradition als
Konstrukt. Sie schafft einen
­afrofuturistischen Sound, der
sich seiner Wurzeln bewusst ist
und zugleich zeitlos zeitgeistig
wirkt. Auf »Athena« rehabili-
tierte sie die Geige, befreite
sie aus gefühlsduseligen David-
NEOM / AFP

Garrett-Gefilden, fügte sie neu


»The Line«-Simulation
und passend ein in progressiven
R & B. Auf »Natural Brown
Prom Queen« mischt sie nun

Dystopie in der Wüste


Kampfansagen mit Selbstzwei-
feln, Coolness mit Hormonen,
jazzige Bläser mit Discostrei-
chern, Rap und auch Trap
mit Saiteninstrumenten wie der
YOUTUBE-HITS  Saudi-Arabiens Werbung für eine neue Megacity will hip und öko Bouzouki oder Zither. Sudan
aussehen – leider ist sie nur zum Fürchten. Archives, die nicht nur singt
und Geige spielt, sondern ihre
Songs auch mitschreibt und co-

E ine Bevölkerung von neun Millionen Men-


schen will Saudi-Arabien bis 2045 in einer
neuartigen Megacity am Roten Meer unter-
bringen. »The Line« soll sich in einer einzigen,
kömmlichen Stadt herum. Grau ist es, herbstlich,
und der Verkehr staut sich. Die Heldin aber folgt
einem mysteriösen Licht, gegen den Strom der
Passanten, bis sie durch ein verchromtes Möbius-
produziert, praktiziert so etwas
wie die wortwörtliche Umset-
zung des Filmtitels »Everything
Everywhere All at Once«. Man
170 Kilometer langen Linie von Ost nach West band springt – und endlich, von aller Erden- könnte aber auch von einer kul-
erstrecken, nur 200 Meter breit, aber 500 Meter schwere befreit, lächelnd durch das vertikal be- turellen Ausweitung der Tanz-
hoch. Zwischen verspiegelten Fassaden, so will grünte Atrium von »The Line« schwebt. Zu den zone sprechen. SKR
es der geschäftsführende Kronprinz Mohammed Klängen einer bombastischen Variante von
bin Salman, möge in der Einöde die lebenswer­ »What a Wonderful World« lässt sie im Flug spie- Sudan Archives
teste Stadt auf dem Planeten entstehen, klima- lerisch die Hand durch Wasser gleiten, wird
neutral und autofrei. Das Projekt greift auf das von einem Jungen bestaunt, der mit einem Robo-
alte Konzept der linearen Bandstadt zurück, prä- ter spielt, und landet endlich in einem Dach­
sentiert sich aber als futuristisches Update garten, wo gerade kleine Mädchen unterrichtet
mit künstlicher Intelligenz und Hochgeschwin- werden, mutmaßlich nicht über die blutige Ver-
digkeitsbahn. gangenheit des Kronprinzen.
Ein Trailer, mit dem Saudi-Arabien auf You- Der Clip schafft es mit seinem technizistischen
Tube für seine ehrgeizige Vision wirbt, ist bereits Totalitarismus, in nur einer Minute unabsichtlich
Edwig Henson

mehr als 47 Millionen Mal aufgerufen worden – an eine ganze Reihe dystopischer Horrorfilme zu
geht allerdings kräftig nach hinten los. Traurig erinnern. Was immer dort in der Wüste entstehen
sitzt die (unverschleierte) Heldin in einer her- wird – leben will man da nicht. FRA

110 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


Schön durchgeknallt dafür das Haus am Waldsee in Parcours vorbei an Krankenbet-
Berlin-Zehlendorf zu einer ten, digital collagierten Werken
KUNST  Eine solche Anstalt hat Krankenstation umgestalten, zu auf Trennvorhängen und ex­
es wohl noch nie gegeben: besuchen ab nächstem Don- zentrisch kostümierten Puppen
»Female Remedy« heißt eine nerstag. Der Ausstellungsort ist zu werden.
surreal-schräge, feministische ideal, das Haus ist keine weit- Für den 16. und 17. Septem-
Kunstkombination von Ausstel- räumige Ausstellungshalle, son- ber ist im »Hospital Hekmat«
lung, Performance und Maga- dern eine ehemalige Fabrikan- zudem die Varietéshow »Symp-
zin, in der es um Frauen in tenvilla mit vielen Zimmern. tom Recital: Music for Wild
einem quasireligiösen Sanato- Eines davon macht Hekmat ­Angels« angekündigt. Ein Kunst-
rium geht. Die Diagnosen sind zum Operationssaal, eines zur magazin zur Schau verbindet
unklar, die Methode der Erlö- Kapelle, ein weiteres in Anleh- schließlich die Ästhetik der
sung aber eindeutig: Patientin- nung an weibliche Medizinge- Sechziger- und Siebzigerjahre
nen und Krankenschwestern ge- schichte zu einem Masturba- mit Pornobildern, ironischem
ben sich reuelos Delirien und tionssaal – schließlich versuch- Krankenschwester-Fetisch und
Leila Hekmat

sexuellen Gelüsten hin. Krank- ten Ärzte im 19. Jahrhundert, schön durchgeknallten Texten.
sein ist für sie ein Weg zur vermeintliche Hysteriepatien­ Hekmat selbst schreibt in ihrer
Selbstfindung. tinnen mit Orgasmen zu heilen. Krankenhausgeschichte: »Ich
Hekmat-Collage Die in Berlin lebende US- »Female Remedy« verspricht bin gern ein Freak, denn alle an-
»Lucy Goose« Künstlerin Leila Hekmat wird ein skurriler und amüsanter deren sind langweilig.« CPA

Feminismus ohne Schwarzer das letzte Wort in Balbek-­Unterkunft


den Debatten über sich selbst
Nachwuchs zu geben. Dabei ist es nicht
(Computerdarstellung)

KINO  Alice Schwarzer ist mit nur ein Generationenkonflikt,


fast 80 Jahren noch höchst um- der um Schwarzer tobt.
triebig, mischt mit bei aktuellen Schon zu Gründungszeiten
Debatten um Abtreibungsrecht der »Emma« war die Zeitschrift
und Ukrainekrieg – und strickt unter Feministinnen wegen
so immer weiter am eigenen ihres vereinfachenden Weltbilds
Mythos als wichtigste Feminis- umstritten. 2020 erschien ein
tin Deutschlands. Ihr politisches Sammelband über die polemi-
und intellektuelles Erbe sichern sche Zeitschrift »Die Schwarze
soll wohl auch das Filmporträt Botin«, der eindrücklich doku-
»Alice Schwarzer« (Kinostart: mentiert, was es bereits in

balbek bureau
15. September) von Sabine den Siebzigerjahren an intellek-
Derflinger. Und auf den ersten tuellen Gegenpositionen etwa
Blick tut das der freundlich- von Elfriede Jelinek gab. Davon
konventionelle Dokumentarfilm ist im Film »Alice Schwarzer« Neu wohnen richtet. Nun will Balbek mit dem
auch. Schwarzers biografische nichts zu erfahren. So erscheint Bau erster Einheiten beginnen
Stationen werden abgewandert, in ihm Feminismus letztlich in Butscha und zählt auf Unterstützung aus
ihre aufsehenerregendsten als eine ­Bewegung, der der KRISEN  Schon länger zählt der dem Ausland.
Auftritte im Fernsehen aus den Nachwuchs und die intellektuel- Architekt Slava Balbek aus Im Oktober sollen in der
Archiven geholt und ihre wich- le Schärfe fehlen. Wenn das Kiew zu den erfolgreichsten In- Um­gebung der zurückeroberten
tigsten Mitstreiterinnen befragt. kein Grund ist, sich Sorgen zu nenausstattern der Ukraine, die Stadt Butscha Unterkünfte
Man sieht harmonische Sze­ machen. HPI von ihm eingerichteten Hotels, ­entstehen, in die 12 bis 15 Fami-
nen aus dem Redaktionsalltag Firmensitze und Restaurants lien aus Butscha, Mariupol
der »Emma« und auch aus fielen wegen ihrer Coolness und der Südukraine einziehen
der Beziehung mit der Fotogra- international auf. Er ist selbst könnten. Für die Kosten von
fin Bettina Flitner. zudem Teilhaber eines Cafés, 990 000 US-Dollar setzt man
Auf den zweiten Blick ent- nach Kriegsbeginn im Februar auf Spenden, etwa 20 Prozent
hüllt sich jedoch ein Elend. Mit fing er an, Mahlzeiten zu orga- sind laut Balbeks Team schon
55 Jahren dürfte die Sängerin nisieren. Bald wurden von ihm geschafft. Vor allem US-Ameri-
und Schauspielerin Jasmin und anderen Unternehmern kaner und Briten haben dem-
Tabatabai die jüngste der inter- täglich Tausende in der Stadt nach größere Beträge über­
viewten Schwarzer-Fans sein. versorgt. Zugleich arbeiteten er wiesen, einige lokale Hersteller
Eine neue Generation an Femi- und seine Leute – von denen wollen sich mit Materialliefe-
nistinnen wird nicht direkt be- viele selbst in andere Landes­ rungen beteiligen, etwa mit Be-
fragt – womöglich, weil die sich teile oder ins Ausland flüchte- wegungs- und Brandmeldern.
an Schwarzers Positionen zu ten – bald wieder an einem Man gehe davon aus, sagt eine
Kopftuch, Transgender und architektonischen Projekt. Im Mitarbeiterin, das Spendenziel
Prostitution reiben würde. Statt- März wurden unter dem Titel zu erreichen, »einen Plan B gibt
Alice Schwarzer / privat

dessen werden unbenannte »Re:Ukraine« im Internet Ent- es nicht«. Das Ziel sei es, das
Frauen auf Demos, die sich würfe für schnell zu fertigende ­Pilotprojekt bald abzuschließen,
Schwarzer
etwa für Sexarbeit aussprechen, (Privat-
Unterkunftsmodule veröffent- »damit die Familien noch vor
von Derflinger kurz als Stich- aufnahme) licht, jeder darf die Pläne nutzen. der Kälte in beheizte Unter-
wortgeberinnen benutzt, um Weltweit wurde darüber be­ künfte einziehen können«. UK

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 111


KU LT U R

Fremd in seiner eigenen Haut


KARRIEREN  Der ehemalige Skandalrocker Peter Doherty hat sich auf ein Kliff in der Normandie zurückgezogen.
Er malt dort, schreibt Songs und versucht, kein Heroin zu nehmen. Von Philipp Oehmke

E »Ich vermisse
s dauert einige Minuten, dann Rockmusik, die um die Jahrtausend- Crackkonsum zum ersten Mal seit fast
öffnet sich das grün-metallische
Tor zum Anwesen, und ein
das Leben als wende begraben schien von R&B,
Hip-Hop und Elektro. Während seine
20 Jahren längerfristig eingestellt. Bis
zu diesem Tag, wie er – allerdings
Schotterweg führt zu einer Reihe von Junkie. Wie Vorgänger, von Jim Morrison bis Kurt ohne jeden Stolz und ohne jede Über-
Häusern. Um eingelassen zu werden, Menschen, Cobain, wenigstens versuchten, ihre zeugung – konstatiert. Und seine
hatte man sich erst bei Peter Dohertys Exzesse weniger öffentlich zu leben, Hände sind nur mit Abstrichen
Frau Katia melden müssen, die ir-
die im Krieg schien Doherty eine Kunst daraus zu sauber. »Solange ich so dick bin, sind
gendwo im Auto unterwegs war. Sie waren, ihn machen, eine durch die britische Bou- alle beruhigt. Erst wenn ich wieder
wiederum hatte ihre Eltern angeru- vermissen.« levardpresse nahezu gigantisch an- dünn werde, dann gibt es Anlass zur
fen, bei denen Peter und sie wohnen, getriebene Erzählung seines Unter- Sorge. Es gibt keine dicken Junkies.«
die dann Peter wecken mussten. Er gangs zu schaffen, der Popstar und Das Haus, in dem er jetzt lebt, liegt
selbst hat kein Telefon. Er nimmt das Supermodel, die Kokainvideos, auf einem Kliff über dem Meer und
nach eigenen Angaben seit fast drei Crack, Gefängnis und sogar Tote wie bietet einen spektakulären Blick auf
Jahren kein Heroin und auch kein seine Freundin Amy Winehouse. Er die Bucht und den Ärmelkanal. Neben
Crack mehr, und um die Wahrschein- war der Protagonist – den Begriff der Terrasse im Gras liegen große von
lichkeit zu erhöhen, dass das so bleibt, ­Opfer würde er brüsk ablehnen – den Hunden abgenagte Knochen, von
darf er unter anderem kein Handy eines um die Jahrtausendwende neu- denen Hornissen die letzten Fetzen
haben. en, durch das Internet radikal be- Fleisch zerren. Weiter hinten im Ge-
Zwei beeindruckende Hunde, ein schleunigten Boulevardjournalismus. büsch hat Doherty einen Bienenstock,
Husky und ein Bullmastiff, kommen Dass er einer der begnadetsten doch irgendetwas stimmt nicht mit
den Schotterweg heruntergeschossen, Songwriter seiner Generation ist, trat den Bienen heute, und er macht ihn
ihre Schwänze wedeln, möglicherwei- dabei in den Hintergrund. Wenn er schnell wieder zu.
se kommen sie in freundlicher Ab- mal drogenfrei wäre, hatte er dem Das Anwesen, das aus mehreren
sicht. Hinter ihnen, in fleckigen Spee- »Guardian« 2019 gesagt, wäre er eine Häusern besteht, gehört den Eltern
do-Shorts und Badelatschen, Peter Doherty-Materialien: Kraft, mit der man rechnen müsste. seiner Frau. Sie haben Doherty auf-
Gemälde, Collagen,
Doherty. Seine Bewegungen sind Zeichnungen,
Dann hätte er Geld, Selbstachtung genommen. Er selbst betreibt zusam-
langsam und taumelnd, aber die Au- Schreibmaschinen- und saubere Hände – und tatsächlich men mit seinem Libertines-Bandkol-
gen funkeln freundlich. Er entschul- ausrisse hatte er bald darauf den Heroin- und legen und Hassfreund Carl Barât ein
digt sich, er habe, so früh am Morgen, Hotel in dem früher schäbigen engli-
erst die verfluchte Fernbedienung für schen Strandort Margate, eigentlich
die Eingangspforte suchen müssen. wäre da sein Platz, doch dort gibt es
Es ist Montagmittag in einem Küsten- eine große Drogenszene, und es wäre
örtchen in der Normandie, in andert- wohl unmöglich gewesen, clean zu
halb Tagen wird Doherty in Berlin bleiben. Überhaupt hatte er wegge-
erwartet, um dort eine Ausstellung musst aus England, wo ihn jeder
seiner Kunst zu eröffnen. Die Galerie kennt. Hier, in der Normandie, kann
hatte mich gebeten, ein Vorwort für er nicht eben mal zum Bahnhof ge-
den Ausstellungskatalog zu schrei- hen, um Heroin zu scoren, wie Do-
ben. Meine Bedingung war, ihn dafür herty es nennt. Außerdem lässt er sich
besuchen zu können, darum bemühe einmal im Monat eine Injektion ge-
ich mich seit Jahren. ben, die die Wirkung von Heroin
Der Peter Doherty, den ich nun blockt. Früher habe man sich Medika-
vorfinde, hat mit 43 Jahren sicherlich mentendepots unter die Haut setzen
20 oder 30 Kilo mehr als Pete Doher- lassen, sagt er, jetzt tun es zum Glück
ty, wie man ihn früher nannte, den Spritzen.
Sänger und Gitarristen der Libertines Er macht einen Espresso, wirft sich
und Babyshambles, Boyfriend von dann ein schmutziges Handtuch über
Supermodel Kate Moss, öffentlicher die Schulter und verkündet, nun zum
Junkie und Crackhead und das Skan- Aufwachen im Meer schwimmen zu
Julien Daniel / DER SPIEGEL

dalöseste, was Rock ’n’ Roll damals gehen. Wir nehmen einen Privatweg
zu bieten hatte, ein Wunder, dass er herunter zum Strand, der verschlafen
es überlebt hat. in der Mittagssonne liegt. Zeus, der
Mit den Libertines stand Pete Do- Husky, kommt mit. Schlafen, schwim-
herty Anfang der Nullerjahre für die men, essen, das sei sein Leben hier,
Wiederbelebung einer tot geglaubten sagt Doherty, er sei in einer sehr frü-

112 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


KU LT U R

Julien Daniel / DER SPIEGEL

Suchtkranker Doherty in seinem Garten: »Solange ich so dick bin, sind alle beruhigt«

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 113


KU LT U R

hen Phase der Genesung, die Lungen immer Materialien. Totenköpfe, Spritzen, Reptilien
noch kaputt vom Crack. oder Pfeifen sind einige seiner Motive. Es
Im Haus oben hat er in einem Terrassen- gibt nichts zu verheimlichen. Denn das große
zimmer ein kleines Studio mit einigen Gitar- Gesamtkunstwerk, in dessen Schlund er alles
ren und einem E-Piano aufgebaut, und unten und vor allem sich selbst stets reingeworfen,
im Ort hat er ein Atelier in einer alten Lager- für das er im wörtlichen Sinn geblutet hat,
halle. Dort verbringt er zwei bis drei Nächte das war er immer auch selbst. Mit diesem
in der Woche, arbeitet an Gemälden und Alles-aufs-Spiel-Setzen entspricht Doherty
Collagen. Einige der Sachen, die er hier ge- dem Typus des Rockstars des längst vergan-
macht hat, sind seit diesem Freitag in der genen 20. Jahrhunderts. Einem aussterben-
janinebeangallery in Berlin zu sehen. den Typus, dessen Schaffen stets auch in
Im Sommer hat er einige Konzerte mit sei- der Bedingungslosigkeit bestand, in der Kom-
ner alten Band The Libertines gespielt, unter position unmöglicher Konstellationen: ein
anderem in der Wembley-Arena, und zusam- Fremder in seiner eigenen Haut, »Stranger
men mit Carl Barât versucht, die teils ikoni- in My Own Skin«, wie er in einem Song sei-
schen Songs, die er als 20-Jähriger geschrie- ner Band Babyshambles gesungen hat und
ben hat, zu neuem Leben zu erwecken, was wie auch eine der in Berlin gezeigten Colla-
als Drogenrekonvaleszent mit fast Mitte vier- gen heißt.
zig vielleicht schwieriger war als gedacht. Die Nach dem Schwimmen, als wir nass am
Libertines hatten damals den Weg mitgeebnet Strand sitzen, sagt Doherty, er habe noch nicht
für die zahlreichen Gitarrenbands der Nul- gefrühstückt. Er schlägt vor, in einem Strand-
lerjahre (Arctic Monkeys, Franz Ferdinand, restaurant mit Plastikspeisekarten zwei Piñas
Kings of Leon), sie selbst aber implodierten coladas zu bestellen. Wir sind die einzigen
nach nur zwei Alben, Spannungen zwischen Gäste, was auch daran liegen mag, dass das
Doherty und Barât, Dohertys Drogenabstür- Restaurant an diesem Vormittag von einem
ze. Nächste Woche wollen Doherty und Barât Schwarm kleiner Fliegen heimgesucht wird,
mit der Arbeit an einem neuen Album begin- die sich zu Tausenden auf Tischen, Stühlen,
nen, auf Jamaika, einem neutralen Drittland, in den Piñas coladas und auf uns niedergelas-
nachdem Barât nicht zu Doherty nach Frank- sen haben. Wir sitzen uns mit den Händen in
reich kommen wollte und Doherty nicht zu der Luft fuchtelnd gegenüber, und selbst Do-
Barât nach England. herty findet, das habe etwas Dystopisches.
Es ist ein klarer Tag, und als Doherty sich »Wir werden uns an sie gewöhnen«, sagt

Fotos: »Notebook« / VG Bild-Kunst, Bonn 2022; »Complete fucking annihilation« / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Foto: Matthias Bergemann; Soeren Eberhardt-Biermann
mit den Füßen über den Kies ins Meer tastet, er dann und fühlt sich sichtlich wohl. Er hat
meint er, am Horizont die Schemen der Küs- seine erste Piña colada ausgetrunken und be-
te Englands zu sehen. »There is England«, stellt eine weitere.
sagt er, unerreichbar und doch nah. In seinen Ist das kein Problem, Alkohol für einen
Lyrics hat Doherty sich häufig an einer ro- Suchtkranken?
mantisierten, magischen, dekadenten Version Für ihn nicht, sagt Doherty. Er bekomme
Englands abgearbeitet, dem Land der William ja monatlich seine Depotspritze mit Buvidal.
Blakes und Oscar Wildes, und vielleicht sogar Sie bremst nicht nur die euphorisierende Wir-
am früheren Morrissey. Er hat es Albion ge- kung des Heroins, sie lindert auch Entzugs-
nannt, nach dem antiken Namen für Groß- Doherty-Werke
erscheinungen. Und außerdem wisse er ohne-
britannien, und in seinen Songs und seinen hin nicht, ob er so weitermachen wolle.
Bildern taucht Albion an verschiedenen Stel- »Ehrlich gesagt, vermisse ich das Leben
len immer wieder auf.
Auch in der Berliner Ausstellung begrüßt
»Contain yourself als Junkie ein bisschen.«
Wie?
den Besucher gleich gegenüber vom Eingang (seriously) – reiß »Ja, das tägliche Ziel. Den Sinn. Die Kame-
auf einer Leinwand das rote Kreuz der eng-
lischen Flagge, gemalt mit Dohertys eigenem
dich zusammen, und raderie mit den anderen Junkies. Das Suchen
nach einer Vene. Es ist wahrscheinlich ein
Blut: »Union Jack, Blut auf Leinwand«, so zwar ernsthaft.« bisschen wie bei Menschen, die im Krieg wa-
Titel und Untertitel. Als Junkie kam Doherty ren und ihn vermissen, wenn sie wieder zu
immer wieder mit Blut in Berührung und war Hause sind.«
geübt im Umgang mit Spritzen. Und so be- Katia, seine Frau, sagt er, habe ihm das
gann er um 2005, sich mit seinen Spritzen Leben gerettet. Zwischen 2003 und 2019 war
auch Blut abzunehmen und als Farbe zu be- Doherty in zahlreichen Entzugskliniken von
nutzen. Es war praktisch, Blut gab es immer. Thailand bis Mauritius, hat unterschiedlichs-
Selbst als es später schwieriger für ihn wurde, te Ansätze kennengelernt. Doch egal wie gut
brauchbare Venen zu finden. es lief, überzeugt war er nie. Irgendwann hat-
Doherty stellte fest, dass Leute bereit wa- te er immer wieder Lust, rauszugehen und
ren, sehr viel Geld für seine Blutgemälde zu Heroin zu kaufen. Seine letzte Station war
zahlen, was auch für einen Rockstar-Junkie dann eben der Strandort Margate, wo er mit
kein unerheblicher Faktor war. In der Galerie Carl Barât das Hotel übernommen hatte, das
in Berlin kostet »Union Jack« 10 000 Euro. sie renovieren und zu den Albion Rooms ma-
Das Blut, es steht inzwischen beinahe für ein chen wollten. Doherty zog mit zwei Hunden
eigenes Subgenre in Dohertys Schaffen, das in das heruntergekommene Gebäude und
sonst aus Gemälden, Collagen Zeichnungen blieb dort, auch noch, als es schon renoviert
und Installationen besteht; Blut, Farbe, Blei- werden sollte, während sein Freund Carl ver-
stift, Schreibmaschinenausrisse sind seine Musiker Doherty bei Ausstellungseröffnung suchte, ihn rauszuschmeißen.

114 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


KU LT U R

»Es gibt einen einzigen anderen Junkie im


Ort, einen Kellner in einem Café. Ich mag ihn
sehr. Ich würde ihn dir gern vorstellen.«
Doch dann fällt ihm ein, dass Katia nicht
möchte, dass er ihn trifft. Also vielleicht lieber
nicht.
Zwei Tage später, am vergangenen Mitt-
woch, steht Peter Doherty dann auf der Tor-
straße in Berlin vor der Eingangstür der Ga-
lerie und spielt mit einer nur leicht verstimm-
ten Gitarre, die er kurzerhand einer seiner
Installationen entnommen hat, den Velvet-
Underground-Klassiker »I Can’t Stand It«.
30 bis 40 geladene Gäste singen animiert von
Doherty den Refrain mit.
Doherty war es möglicherweise vorher ein
bisschen satt gewesen, bei der Eröffnungs-

Julien Daniel / DER SPIEGEL


party in der Galerie Fragen zu seinen Werken
zu beantworten, an deren Entstehung er sich
selbst nicht mehr so genau erinnern konnte.
Da war der Totenkopf auf dickem vergilbtem
Papier, der mit Graham Greenes Roman
Künstler Doherty in seinem Atelier: Einmal pro Woche bringe sich in diesem Ort einer um
»Brighton Rock« zu tun hatte und dessen
Protagonisten Pinkie Brown, über den Do-
Es war so was wie Dohertys Endstation, türlich niederschlägt. Wenn ich arbeiten herty seit Jahren einen Song schreiben woll-
er wurde noch mehrmals verhaftet, Infektio- ­wollte, hatte ich immer nur ein kurzes Zeit- te. Dieses Papier, sagt Doherty, gebe es nur
nen, Krankenhausaufenthalte, er begann mit fenster, es musste schnell gehen und ohne in Thailand. Er müsse das Bild dort gemacht
dem Heroinblocker, was dazu führte, dass er Unterbrechung.« haben.
nur noch Crack nahm. Nach einer letzten ka- War es besser? Im hintersten Raum der Galerie wird
tastrophalen Verhaftung während einer Li- »Vielleicht. Als ich noch Drogen nahm, ­Dohertys Typewriter-Art gezeigt, Ausrisse
bertines-Tour 2019, bei der er seine Hosen spürte ich starken Druck, große Werke her- aus Schreibmaschinenseiten, auf denen
runterzog, in die Polizeistation urinierte und zustellen, große Songs zu schreiben, um recht- ­Szenen, Befindlichkeiten oder auch nur un-
drei Tage vollgepinkelt und stinkend in einer fertigen zu können, wie ich lebte.« verständliches Zeug zu lesen sind und die
15-Mann-Zelle gehalten wurde, war plötzlich Heute, sagt er, spüre er kaum noch Druck, manchmal Muster bilden. Es sind kurze
Schluss. Er ließ Drogen und Alkohol für die er schlafe die meiste Zeit. Gucklöcher in Dohertys Kopf, manchmal
gesamte Tourcrew verbieten, absolvierte die »Muss ich also zu Crack und Heroin zu- lustig, manchmal Furcht einflößend. Jedes
verbleibenden Shows nüchtern und zog sich rückkehren, um diese Songs zu schreiben? dieser Werke kommt mit einer Audioaufnah-
mit Katia in die Normandie zurück. Dann Wenn ich in den nächsten fünf Jahren keinen me von Teilen des Textes, die Doherty drei
kamen die Covid-Lockdowns, und seither ist guten Song schreibe: vielleicht. Es wäre dann Tage vorher zu Hause noch schnell eingelesen
es so geblieben. ein Trade-off: healthy or happy.« hat und die jetzt auch in der Galerie zu hören
Peter Dohertys Atelier liegt in einer alten Neulich, sagt er, habe er mal wieder Keta- sind.
Lagerhalle am Ortsrand. Sie ist durch Sperr- min genommen, das Pferdebetäubungsmittel, Die Ausstellung ist eindrucksvoll ge­
holzwände in verschiedene Räume aufgeteilt. nach einem Libertines-Konzert, ein Typ einer worden, große Werke wie der Blut-»Union
In der Parzelle nebenan ist ein Boxstudio. anderen Band hatte eine ganze Tüte dabei. Jack« wechseln sich mit Zeichnungen ab oder
Dohertys Atelier sieht aus, als würde darin Es sei großartig gewesen, sagt er. Er habe dann Installationen, die meist von Dohertys ma-
tatsächlich gearbeitet. Leinwände mit begon- versucht, Gitarre zu spielen, aber es sei gischem Albion-England handeln. Rechts
nenen Gemälden stehen auf Staffeleien, die schwierig gewesen, eine Melodie zu finden. ­hinten steht ein Stück Wand aus Dohertys
Sperrholzwände sind beklebt mit Zeichnun- Auf einer Leinwand, die auf der Staffelei Zimmer in dem Hotel in Margate: ein Stück
gen und Ausrissen, es gibt Sessel mit geblüm- steht, ist eine angefangene Zeichnung der eingerahmte, gelb bekritzelte Mauer. Der
ten Polstern, eine Fender Telecaster ohne Klippen des Ortes zu sehen. Doherty inspi- Umriss von Großbritannien ist zu sehen,
Saiten. Dohertys einziges Zugeständnis an so ziert die Bleistiftlinien. Sie sehen düster aus ein verkehrtes Hakenkreuz, ein Herz, das
etwas wie eine Garderobe ist inzwischen ein und unheimlich, obwohl es ja ein freundlicher Pfundzeichen, dazu eine Telefonnummer,
Trilby-Hut, ansonsten trägt er Badelatschen, Badeort ist. wahrscheinlich die vom Dealer, sagt Doher-
Badeshorts, T-Shirt. Auf dem Weg zum Ate- In Wirklichkeit sei es ein Selbstmordort, ty, und die Aufforderung: »Contain yourself
lier hatte er noch ein paar Bier geholt und sagt Doherty. Die Klippen. Einmal pro Woche (seriously).«
öffnet die Flaschen jetzt mit den Zähnen. Oft bringe sich hier einer um, in manchen Wochen Doherty steht neben dem Stück altem Putz
sagen Musiker oder Künstler, dass es zu nichts sogar drei, die meisten Fälle würden geheim und trinkt Rum. Er fragt, wie die Nacht hier
führe, unter Drogeneinfluss Kunst herzustel- gehalten. Einem Freund Dohertys gehört hier in Berlin wohl weitergehen könnte. »Contain
len, meist käme großer Käse dabei heraus. ein jahrhundertealtes, plüschiges Hotel. Der yourself (seriously)« hat er auch seine Aus-
Doherty konnte das offenbar immer gut, Freund erkenne die Lebensmüden, die in sein stellung genannt. Reiß dich zusammen, und
merkt er nun einen Unterschied? Hotel kommen, um zu sterben. Kein Gepäck, zwar ernsthaft. Man will es ihm wünschen.
»Er muss zu merken sein. Drogen haben zum Beispiel, sei ein Merkmal, sagt Doherty. Womöglich bleibt er dann ein Fremder in sei-
so einen starken Einfluss auf einen generellen Manchmal folge der Besitzer ihnen, um im ner Haut, mit dieser Klage geht es in dem
Seinszustand. Wo du bist, wen du triffst, letzten Moment einzugreifen. Song »Stranger in My Own Skin« nämlich
wie viel Zeit du allein verbringst. Als Junkie Und ausgerechnet hier ist er gelandet, um weiter: Warum hat er sich je in sich selbst
ist man viel allein, weil andere Menschen sein Leben zu retten, es sei komisch, sagt er. eingesperrt, so allein in der Kälte.
auf keinen Fall in deiner Nähe sein wollen. »Aber soll ich etwas verraten?« Und dann geht Peter Doherty hinaus in die
Ich war als Junkie oft einsam, was sich na­ Ja, bitte. Berliner Nacht. Sie ist noch nicht kalt.  n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 115


KU LT U R

So etwas wie echte Emotionen


FERNSEHEN  Warum »Das Sommerhaus der Stars« nicht nur ein TV-Format ist – sondern auch ­
ein Archiv bizarrer Fehlinterpretationen des Konzepts Liebe

Das »Sommerhaus« ist ein klassisches


­ usammenpferch-und-Wegsperrformat, bei
Z
dem man sich vorstellen kann, dass Soziolo-
gen sich das Schauspiel heimlich unter der
Bettdecke anschauen. Es ist laut und oft kaum
aushaltbar ordinär, aber es löst momentan
vielleicht als einziges Format die Hoffnung
ein, dass man bei Sendungen dieser Art tat-
sächlich etwas über die Menschen lernen
kann. Das macht das »Sommerhaus« unterm
Strich zum wohl besten Realityformat derzeit.
Die Sendung bedient sich eines brutal di-
daktischen Kniffs: Klassische Ensemblemit-
glieder des deutschen Trashwesens, die ihre
Schrillpersona beim Formathopping längst
professionalisiert haben, treten hier zusammen
mit ihren Lebenspartnern an, die in den
­meisten Fällen noch keine oder kaum TV-Er-
fahrung haben – das evoziert so etwas wie
echte Emotionen, weil die Trashneu­linge da-
mit zu S
­ tellvertretern der Zuschauerinnen und
Zuschauer werden, die staunend
bis ­entsetzt zu erfassen versu-
chen, wo sie hier reingeraten sind.
Mit diesem Überfordertsein
sprengen die gar nicht prominen-
ten Parts nicht selten die zurecht-
gelegten Strategien ihrer ein biss-
chen prominenten Gefährtinnen
und Gefährten. Was Spannungen
und Streit produziert. Jedes Paar,
das wird klar, hat hier seine Soll-
bruchstelle, und dabei zuzuschau-
en, wie dieser Knackpunkt immer
weiter perforiert wird, macht die-
ses Format so interessant. Es ist
dabei nicht zwingend nötig, mit
den ausgestellten Menschen und
ihrem früheren Schaffen in Forma-
ten wie »Bauer sucht Frau« vertraut
zu sein – in der aktuellen Staffel
Fotos: RTL; Stefan Gregorowius / RTL; Stefan Gregorowius / RTL

Szene aus »Das Sommerhaus der Stars«, Teilnehmer*: »Ich liebe Sexy Time mit meinem Hasilein« saust der Pro­minenzwert der Teil-
nehmer nach Ex-Fußballer Mario

M
anchmal beantwortet das Fernsehen »Sommerhaus der Stars« eingezogen, jener Basler und, mit Abstrichen, der Trash-TV-­
etwas verspätet doch noch die Fra- Sozialverdichtung im Realityfernsehen, in der Ikone Kader Loth rasant talwärts. Man muss
gen, mit denen es einen zuvor allein RTL an den teilweise schon porösen Funda- nicht wissen, wer diese Menschen sind, weil
gelassen hat. »Bist du mein Feind, oder bist menten von acht Partnerschaften rüttelt. Und man sie eigentlich sowieso schon kennt – viel-
du eigentlich mein Partner?«, wollte Lisa man darf nach den Erfahrungen der vergan- leicht nicht von »Deutschland sucht den Super-
Weinberger 2020 im Trash-TV-Format genen sechs Staffeln davon ausgehen, dass star«, aber womöglich vom Kegelausflug.
­»Couple Challenge« von ihrem Freund, dem Weinbergers Freund-oder-Feind-Unklarhei- Die im »Sommerhaus« ausgestellten Bau-
österreichischen YouTuber Marcel Dähne, ten in den kommenden Wochen abschließend fälligkeiten des menschlichen Wesens sind
wissen – er hatte ihre Panikzustände bei di- geklärt werden. faszinierend universell: Da ist das Paar, das
versen Prüfungen grob weggelacht und sich sich zunächst ironisch über die anderen er-
auch sonst vor allem selbstvernarrt gezeigt. * Links: Cosimo Citiolo, Nathalie Gaus; rechts: Katharina hebt – und dessen Scheinsouveränität jäh
Nun ist das Paar ins gerade neu gestartete Hambuechen, Eric Sindermann. endet, weil die beiden am Ende eben doch

116 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


KU LT U R

Einfach
auch nur gemocht werden wollen. Oder das
Paar, bei dem der Mann sich ganz selbstver-
ständlich als Denker und Lenker produziert
und seine Frau so routiniert auf ihr Äußeres
reduziert, dass er diese Dauerverletzungen

wissen
selbst nicht mehr bemerkt. Und das Paar, bei

m eh r
dem die Frau ihren Partner auch für die kleins-
te Gefühlsregung auswringen muss wie einen
schon halb eingetrockneten Spüllappen. Das
»Sommerhaus« ist nicht nur ein TV-Format,
sondern auch ein stetig wachsendes Archiv
der Paarkonflikte und bizarren Fehlinterpre-
tationen des Konzepts Liebe.
Dass diese Leistungsschau fauliger Ge-
schlechterideen mitunter zu einer hoch­
explosiven Brühe gärt, zeigten die beiden
jüngsten Staffeln. Auf ein Kammerspiel voller
perfiden Mobbings und Hetze folgte ein Lehr-
stück in toxischer Männlichkeit. So wenig
unterhaltsam das jeweils im klassischen Sinn
war, so berechtigt fand es seinen Platz zwi-
schen all den kitschseligen Verkuppelfor­
maten: Als tragischer Epilog und plakativer
Disclaimer zeigt das »Sommerhaus«, wohin
eine Beziehung steuern kann, sobald die
­Dreamdates vorbei sind.
In der neuen Staffel liegt das Augenmerk
zum Auftakt ganz auf Eric Sindermann, der
sich im Trash-Genre bislang als koitusfixierter
Modezar präsentierte. »Ich liebe Sexy Time
mit meinem Hasilein«, sagt er denn auch im
»Sommerhaus«, was seine Partnerin Katha-
rina Hambuechen, die als Analystin arbeitet, Jetzt
sichtlich peinlich berührt. Sie habe sich nicht
ganz freiwillig fürs »Sommerhaus« entschlos- am
sen, sagt sie sinngemäß. Sindermann (dessen
Großvater übrigens der SED-Politiker Horst
Kiosk
Sindermann war, zu DDR-Zeiten Präsident
der Volkskammer) habe die Beziehung zwi-
schenzeitlich beendet, als sie ihre Teilnahme
verweigert hatte.
Nun sitzt sie also doch im »Sommerhaus«,
diesem Bauernhof in Bocholt, und schämt
sich, als ihr Freund nackt in den Pool springt
und über das gemeinsame Sexleben und ihre
Familie spricht – das sei anders besprochen
gewesen. Sie erzählt im Gespräch mit ihren
Mitinsassinnen, er erniedrige sie auch in All-
tagssituationen, um sich selbst groß zu fühlen.
Und sie begleitet ihn auf seine Bitte dann doch
mit auf die Toilette, um »Pipigeräusche« zu
Das Nachrichten-
machen und so Sindermanns Harnfluss anzu-
regen. »Psschschhhhh«, macht sie. »Hasi, du
Magazin für Kinder
bist die allerschönste Frau, die ich kenne«,
sagt er. Viel trister kann eine Psychostudie Für alle Kinder, die mitreden wollen.
kaum werden. Verständlich und spannend erklären SPIEGEL-Autoren aktuelle
In der letzten Einstellung der Auftaktfolge
schwenkt die Kamera über das schon am Themen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Technik. Dazu kommen
zweiten Tag zerrüttete Teilnehmerfeld. Als Büchertipps, Comics und kreative Ideen zum Mitmachen.
Soundtrack erklingt dazu eine mit klassi-
schem Brausen aufgemotzte Coverversion
des Beatles-Lieds »Eleanor Rigby«: »Ah, look
at all the lonely people!« Und tatsächlich be-
antwortet das »Sommerhaus« einem auch
beim Zuschauen bereits nach der ersten Fol- Mehr erfahren:
ge eine schon länger gärende Frage – ob man
zu zweit auch einsamer sein kann als allein. www.deinspiegel.de
Anja Rützel n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 117


KU LT U R

»Unendliches Erzählen –
das ist mein Ideal«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Der Filmemacher Edgar Reitz hat mit seiner Mammutserie »Heimat«
ein einzigartiges Epos geschaffen. Nun erscheint seine
Autobiografie. Hier erzählt er von Heimweh, Fernweh und der Kunst der Erinnerung.

Reitz, 89, ist der große Sehnsuchtsmann des SPIEGEL: Was hielten Sie damals für den heranwächst, der nichts anderes will als weg.
deutschen Kinos, er hat Film- und Fernseh- Grund? Das Fernweh: Das war die treibende Kraft.
geschichte geschrieben. Sein Epos »Heimat«, Reitz: Der Hunsrück ist eine hügelige Land­ Wenn ich an der Küste aufgewachsen wäre,
mehr als 60 Stunden lang, gilt als Vorläufer schaft. Und ich habe mich schon als Kind ge­ wäre ich vielleicht Seemann geworden.
der modernen Serienerzählungen und ist doch fragt, was hinter dem nächsten Hügel ist. SPIEGEL: Haben Sie auch die Kehrseite ken­
bis heute einzigartig geblieben. Eine Jahrhun- Manche Familien hatten sogar Verwandte in nengelernt?
dertchronik, ausgehend vom fiktiven Dorf Dörfern hinter dem großen Höhenrücken, Reitz: Das Heimweh? Ja, das ist merkwürdig.
Schabbach im Hunsrück. Aus der Region in dem Idarwald. Das war eine fremde Welt, die Mit der Heimat hängen im Deutschen lauter
Rheinland-Pfalz war Reitz selbst einst auf­ mich fasziniert hat. Wehbegriffe zusammen. Fernweh, Heimweh.
gebrochen, nun legt er seine Autobiografie SPIEGEL: Haben Sie sich in der dörflichen Alles tut immer weh. Im dritten oder vierten
vor, auch sie ein Großprojekt mit mehr als ­Region eingeengt gefühlt? Semester wurde ich krank, eine massive
600 Seiten*. Reitz empfängt in einer Villa in Reitz: Mit der Enge kann man sich arrangieren. Grippe mit hohem Fieber. Und da kam das
Schwabing nahe dem Englischen Garten, einer Das haben die Eltern ja auch getan. Ich weiß Heimweh. Aber nicht nach den Eltern, son­
der teuersten Gegenden Münchens und wohl nicht, woher das kommt, dass in einer Familie, dern nach unserem Dorfdoktor. Der wurde
auch des ganzen Landes. in der keiner studiert hat, plötzlich ein Junge Onkel Doktor genannt und wohnte im
Haus gegenüber. Ich lag in meiner Bude in
SPIEGEL: Herr Reitz, Sie leben seit 35 Jahren München und dachte: Ich will nicht zugrun­
in diesem Haus. Ist es Heimat für Sie? de gehen, ich brauche jetzt meinen Onkel
Reitz: Ich bin hier zu Hause, mehr, als ich es Doktor.
jemals an einem anderen Ort gewesen bin. SPIEGEL: Die medizinische Versorgung in
Aber es wäre doch ein bisschen gewagt, etwas München dürfte damals besser gewesen sein
Heimat zu nennen, das am Gartenzaun endet. als im Hunsrück.
SPIEGEL: Was ist mit den Nachbarn, dem Vier­ Reitz: Die Frage, welchem Arzt man vertraut,
tel, der Stadt? ist nicht so sehr eine Frage der Kompetenz.
Reitz: Es gibt immer mehr Nachbarn, die wir Es ist eine Frage der Verbundenheit.
überhaupt nicht kennen, irgendwelche In­ SPIEGEL: Warum sind ausgerechnet Sie zum
vestoren. Und es gibt Häuser, die aufwendig Chronisten einer Region geworden, die Sie
restauriert wurden, aber in denen kein in jungen Jahren so entschieden verlassen
Mensch lebt. ­haben?
SPIEGEL: Kann Heimat zu teuer werden, um Reitz: Als ich meine ersten Filme machte, fühl­
noch Heimat zu sein? te ich mich hingezogen zur Avantgarde. Das
Reitz: Ja! Die Preise haben sich so entwickelt, hieß: Finger weg von allen großen Konzepten,
dass man an einem solchen Ort eigentlich uns interessierten zersplitterte Erscheinun­
gar nicht mehr leben kann. Das alles ist gen, Gefühle, Beziehungen. Was zählte, war
Elias Hassos / DER SPIEGEL

­gespenstisch. die kleine Form, die Momentaufnahme. Es


SPIEGEL: München ist Deutschlands teuerste herrschte Erzählverbot. Aus dieser atomisier­
Stadt. Was hat Sie einst weggetrieben aus ten Modernität wäre ich nie rausgekommen,
Ihrer ersten Heimat, dem Hunsrück? wenn ich nicht in eine künstlerische Krise ge­
Reitz: Auf so eine Frage gibt man sich sein stürzt wäre.
Leben lang immer wieder neue Antworten. SPIEGEL: Diese wurde 1978 ausgelöst durch
Ich habe die Entscheidung in einem Alter ge­ Plakat und Druckfahnen der Reitz-Memoiren eine negative Filmkritik des SPIEGEL , schrei­
troffen, in dem man noch nicht wirklich weiß, ben Sie.
was man tut. In dem man auch noch nicht Reitz: Sie war nicht wirklich ursächlich. Aber
weiß, was man verliert. Es war ein Schritt ins ich habe das in dem Moment so empfunden:
Vage, ins Dunkle. eine ungerechte, zynische Kritik, die einen
wahnsinnigen wirtschaftlichen Schaden an­
* Edgar Reitz: »Filmzeit, Lebenszeit. Erinnerungen«. »Der Begriff Heimat gerichtet hat.
rührt in jedem
Rowohlt Berlin; 672 Seiten; 30 Euro. Erscheint am 13. Sep­ SPIEGEL: Aus heutiger Sicht ist es unvor­
tember.
stellbar, dass Filmkritiker eine solche Macht
Das Gespräch führten die Redakteure Tobias Becker und
Lars-Olav Beier. Menschen etwas an.« hatten.

118 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


KU LT U R

dich nicht um.« Genau das aber taten Sie


­fortan: zurückschauen, jahrzehntelang. Es
ist die Quelle Ihrer Kunst geworden.
Reitz: Das ist wahr. In der Krise damals muss­
te ich mich fragen, ob es eine gute Idee war,
dass ich meinen Eltern davongelaufen und
Filmemacher geworden bin. Es hat mich kaum
ernährt. Warum war ich nicht ein Uhrmacher
geworden wie mein Vater? Ich stieß auf eine
Figur, die ich aus einer alten Erzählung meiner
Mutter kannte: von einem im Dorf, der eines
Tages sagt, er gehe ein Bier trinken – und
dann erst Jahrzehnte später zurückkommt.
Da dachte ich: Das ist die Figur, mit der ich
mein Leben erzählen könnte. Und ich fing an,
eine Geschichte zu schreiben.
SPIEGEL: Der Ausgangspunkt von »Heimat«.
Reitz: Zunächst schrieb ich gar nicht, um da­
raus einen Film zu machen, sondern um mir
selbst zu erzählen, wer ich bin. Als ich dann
auf der Berlinale einen Redakteur des WDR
traf, habe ich dem gesagt: »Ich habe in mei­
nem Garten eine Ölquelle gefunden.« Da
schaute er mich verdutzt an. »Ich habe etwas
gefunden, worüber ich mein ganzes weiteres
Leben lang Filme machen kann.«
SPIEGEL: Das war Ihnen in dem Moment
schon klar?
Reitz: Mir war klar, dass es nie enden würde,
wenn ich damit einmal begönne. Der Re­
dakteur war alarmiert: »Wie sollen wir so
was finanzieren? Bring das in handlichere
­Formen.«
SPIEGEL: Es wurde ein Epos, das alle Grenzen
sprengte. Mehr als 60 Stunden Film, mehr als
30 Jahre Arbeit.
Reitz: Ja, ja, in dieser Zeit passierten die selt­
samsten Dinge. Kinder, die in meiner Produk­
tion gezeugt wurden, arbeiteten später als
­Assistenten im Team. Beim letzten Film, »Die
andere Heimat«, waren Leute aus drei Gene­
rationen dabei. Mein Sohn hat die Produktion
gemacht, mein Enkel war Kameraassistent.
SPIEGEL: Haben Sie in all den Jahrzehnten
schon mal gedacht: Verdammt, ich will hier
raus?
Reitz: Jeden Tag. Während der Dreharbeiten
im Hunsrück habe ich mich an den Wochen­
enden meist in mein Auto geschmissen und
bin nach Paris gedampft. Man sollte es kaum
glauben, aber vom Hunsrück ist man in drei
Stunden in Paris. Ich bin freitagabends nach
Elias Hassos / DER SPIEGEL

Drehende los, und als ich um Mitternacht da


war, hab ich mich irgendwo am Boulevard du
Montparnasse in eine Kneipe gesetzt und ge­
dacht: scheiß »Heimat«! Zwei Tage später bin
ich zurück – und hab weitergemacht.
SPIEGEL: Der Titel »Heimat« war zunächst
umstritten.
Reitz: Mein Film »Der Schneider von nau diese Gesellschaft hatte kulturell das Reitz: Nichts lag mir ferner, das Wort »Hei­
Ulm« sollte in 20 Kinos anlaufen. Der ­Sagen. mat« hat mich regelrecht angeekelt. Es gab ja
­ PI EGEL erschien mit seiner Kritik am
S SPIEGEL: Es ist schön, dass Sie uns als nach­ den sogenannten Heimatfilm, das einzige rein
­Montag, drei Tage vor der Premiere. Bis geborenen Kollegen das nicht übel genommen deutsche Filmgenre. Peinlich: eine Ansamm­
­Donnerstag hatten 18 der 20 Kinos den haben. lung von Kitsch und falschen Gefühlen und
Film abgesetzt. Das hing damit zusammen, Reitz: Ich habe gezögert vor diesem Gespräch. verlogener Weltsicht. Sich hinter einem idyl­
dass die kom­plette libe­rale, linksintellek­ SPIEGEL: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie lischen Heimatbegriff zu verschanzen, nach­
tuelle Gesellschaft den ­S PIEGEL las. Das Ihr Lieblingslehrer Ihnen beim Abschied dem man gerade erst eine nationale Katas­
war die Bibel dieser Gesellschaft. Und ge- aus dem Hunsrück einst hinterherrief: »Dreh trophe hinter sich gebracht hatte: Das ging

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 119


KU LT U R

für mich gar nicht. Ich favorisierte wirklich mein Leben ist und was die
ursprünglich »made in Germany«. Fiktion.
SPIEGEL: Warum der Sinneswandel? SPIEGEL: Wussten Sie das denn selbst?
Reitz: Durch Bernd Eichinger, den Reitz: Ich traf kürzlich meine erste
Filmproduzenten. Er spielte eine klei- Ehefrau, ich habe ihr das Kapitel über
ne Nebenrolle und sah, dass jemand unsere Hochzeit zu lesen gegeben.
»Heimat« als Arbeitstitel auf die Meine Erinnerung ist vollkommen so
Klappe geschrieben hatte. »Das ist wie der Film. Und das kann nicht
es«, rief er. »So musst du den Film sein, im Film gibt es eine Hochzeits-
nennen, wenn du Erfolg haben szene, aber da sind völlig andere Per-
willst.« sonen an einem völlig anderen Ort
SPIEGEL: Was war sein Argument? zu einer völlig anderen Zeit. Da hat
Reitz: Begründet hat er das nicht. mein Film meine eigene Erinnerung
­Eichinger war ein Bauchmensch. Und überschrieben. Ich traf also meine
es stimmt ja: Der Begriff rührt in je- Ex-Frau und fragte sie, was sie von
dem Menschen etwas an. unserer Hochzeit weiß. Und komi-
SPIEGEL: Ist der Begriff nicht spezi- scherweise hat auch sie nur den Film
fisch deutsch? Er lässt sich kaum in im Kopf. Sie hat den Film so oft ge-
andere Sprachen übersetzen. sehen, dass sie ihn auch für ihr Leben
Reitz: Ich habe immer gesagt: Das Ge- hält.
fühl kennt jeder, aber das Wort haben SPIEGEL: Ihre Situation als Filme-
wir. Und so kamen unsere Filme in macher ist speziell, aber einen ähn-
Frankreich, Italien und vielen ande- lichen Effekt erleben viele Menschen.
ren Ländern unter dem deutschen Bei Hochzeiten geht es nicht zuletzt
Titel ins Kino: »Heimat«. um Bilderproduktion.
SPIEGEL: Wie blicken Sie heute auf Reitz: Und hinterher schauen sich die
den Begriff? Menschen die Fotos wieder und wie-

Elias Hassos / DER SPIEGEL


Reitz: Er fängt schon wieder an zu der an, bis die Fotos irgendwann die
schimmeln. Wenn ich an die Rechten Erinnerungen ersetzen. Es werden
denke, wird mir unbehaglich. Man Albumserinnerungen.
möchte nicht jemand sein, der denen SPIEGEL: Wie haben sich die Men-
Futter liefert. Aber es ist lange gut schen wohl erinnert, als es noch keine
gegangen, vielleicht geht es weiter Fotos gab?
gut. Ein verstümmelter, ideologisch Reitz: Die Erinnerungsbilder im Kopf
durchsetzter Heimatbegriff wächst Archivordner in Die Bäume wurden 1934 gepflanzt, waren nicht so konkret. Ich stelle mir
nur da, wo die Leute außer ihrem Reitz’ Arbeitszimmer Reitz ist zwei Jahre älter. »Ich erzähle vor, dass die Erinnerung zum Teil völ-
Misthaufen nichts kennen. Das gibt eigentlich auch sehr gerne im Gehen«, lig bilderlos war, ausgefüllt mit Ge-
es gar nicht mehr so oft, die moderne sagt er. »Aber es ist heiß, ich muss ein fühlen und Ahnungen.
Kommunikationsgesellschaft klärt wenig aufpassen.« Dann redet er doch SPIEGEL: Das Erinnern sei ein kreati-
vieles auf. Die Leute wissen heute, weiter, langsam, aber hoch konzen­ ver Prozess, schreiben Sie.
dass es die Welt um sie herum auch triert, ein packender Erzähler. Reitz: Und hinter dem Erinnern lauert
noch gibt. das Vergessen.
SPIEGEL: Aber entsteht ein Heimat- Reitz: Regieführen ist ein mündlicher SPIEGEL: Vielleicht ist Erinnern ohne
gefühl nicht erst dann, wenn sich Beruf. Regieführen heißt: die Leute Vergessen gar nicht möglich.
Menschen nach außen abgrenzen, verführen, etwas zu tun. Ich locke sie Reitz: Gerade dadurch, dass wir Lü-
hier die Heimat, dort die Fremde? erzählend auf fremdes Gelände. cken in der Erinnerung haben, kön-
Reitz: Heimat ist kein Eigentum. Hei- SPIEGEL: Je länger wir in Ihren Me- nen wir von Vergangenem erzählen.
mat gehört keinem. In dem Moment, moiren gelesen haben, desto neidi- Weil wir die Lücken füllen. Das ist
wo man sie für sich reklamiert, ist es scher sind wir geworden. Neidisch in einem Film nicht anders als in
keine Heimat mehr, dann ist es Terror. darauf, dass sich jemand so detail- der Literatur. Nur dass die Bilder
SPIEGEL: Kann es so etwas wie eine reich, so bunt, so lebendig erinnern eines Films so konkret sind wie kein
digitale Heimat geben? kann. Was ist Ihr Geheimnis? Satz in der Literatur, wie kein Ge-
Reitz: Es gibt mentale Heimaten im Reitz: Ich habe ein präzises Detail- mälde. Bis auf die Hautpore genau.
Internet, die einen Provinzialismus gedächtnis. Vor allem die Bilder er- Wir erleben einen Film, als wäre es
ohne Provinz zustande bringen. Die- innere ich so genau, dass ich sie fast die Wirklichkeit. Eine aufregende
se Internetblasen voller Menschen, nachzeichnen könnte. Aber Fiktion Mischung.
die sich vorher nie wirklich begegnet und Wirklichkeit sind bei mir seltsam SPIEGEL: Warum gibt es in Ihrer Auto-
sind, die nichts voneinander wissen vermischt. biografie kaum Fotos?
und kennen als ihre Manien und ihre SPIEGEL: Das müssen Sie erklären. Reitz: Ich habe sehr dagegen gekämpft,
verbohrten Verrücktheiten. Das ist Reitz: Ich habe immer wieder erlebt, ich wollte am liebsten gar keine. Die
mir unheimlich. dass Zuschauer meine »Heimat«-Fil- Bilder sollen im Kopf entstehen.
me für absolute Realität gehalten ha- SPIEGEL: Diese Erzählweise nennen
Reitz kuriert eine Bronchitis aus. Sei­ ben, als wären sie eine Dokumenta- Sie das »Großvaterprinzip«. Warum?
ne Augen tränen, er setzt auch drin­ »Hinter tion. Einmal hat man mir sogar einen Reitz: Mein Großvater war ein begna-
nen immer wieder eine Sonnenbrille dem Erinnern Preis verliehen für historische For- deter Erzähler. Ihm genügte die Rea-
auf. Die Runde einigt sich, ein paar schung in der Zeitgeschichte. Ich lität nicht, er ging über sie hinaus,
Minuten durch den Garten zu spazie­ lauert das musste meine Autobiografie schrei- damit die Story anfängt zu glühen.
ren, unter hohen Buchen hindurch. Vergessen.« ben, damit die Leute wissen, was Einmal sagte er: »Wenn ich alles nur

120 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


KU LT U R

so erzähle, wie es wirklich war, dann versteht möglich ist. Denn die Heimkehrer sind das Reitz: Wer bleibt, hat die Freiheit, seine Hei-
ihr mich nicht.« Ärgernis der Heimat. mat zu verändern. Er muss die Heimat nicht
SPIEGEL: Die Erzählkunst hatte also schon SPIEGEL: Warum das? für die pflegen, die weggegangen sind.
Wurzeln in Ihrer Familie? Reitz: Sie wollen, dass die Pantoffeln noch vor SPIEGEL: Geht das: voranschreiten, ohne mit
Reitz: Und in der Landschaft. Der Hunsrück dem Bett stehen, so wie damals, als sie weg- der Vergangenheit zu brechen?
war ein rein bäuerliches Milieu, 400 Dörfer, gegangen sind. Sie kommen aus den großen Reitz: Wir brechen jeden Moment mit der
keine Stadt. Und es gab fast in jedem Dorf Städten zurück und sagen: »Ihr müsst Butzen- Vergangenheit. Ich habe ein Lebensmotto,
einen, der erzählen konnte. Es gab eine regel- scheiben an den Fenstern haben.« Es sind im- das ich mir beim Münchner Komiker Karl
rechte Tradition, die heißt im Hunsrücker mer die Heimkehrer, die auf die regionalen Be- Valentin geborgt habe: »Solange ich lebe,
Dialekt: »Stickelcher verzählen«. Stickelcher sonderheiten pochen. Sie verlangen von denen, muss ich damit rechnen, dass ich weiter-
sind kleine, abgeschlossene Geschichten. Sie die sie zurückgelassen haben, dass die Zeit still- lebe.« Das ist ein weiser, wunderbarer
stammten alle aus der Erfahrungswelt der steht. Ihr Heimweh erlaubt keine Veränderung.­ Satz.
Leute – und wiesen gleichzeitig weit darüber SPIEGEL: »Weggegangen – Platz vergangen«, SPIEGEL: Herr Reitz, wir danken Ihnen für
hinaus. Es ging auch um Leben und Tod, um heißt es in einem Kindergartenvers. dieses Gespräch.  n
die grundlegenden Fragen. Nicht nur um Er-
eignisse, auch um Erkenntnisse.
SPIEGEL: Sehen Sie sich als Pionier des hori-
zontalen Erzählens, das so in Mode gekom-
Chronik einer Sehnsucht
men ist? Wir denken an die Serien mit immer
neuen Staffeln und mäandernden Subplots
auf HBO, Netflix und Amazon Prime?
Reitz: In Italien, wo »Heimat« sehr populär
ist, schreiben sie in den Zeitungen, »Heimat«
sei die Mutter aller Serien. Ich sehe das eigent-
lich nicht so, weil die erfolgreichen Serien
heute meist einem anderen Prinzip folgen.
Sie haben zwar durchgehende Figuren, aber
sie erzählen auf das Ende hin. Ich nicht. »Hei-
mat« folgt keiner Spannungsdramaturgie. Es
gibt keinen Schluss. Ich habe diese Erzählform
immer die epische genannt. Unendliches Er-
zählen: Das ist mein Ideal.
SPIEGEL: Obwohl »Heimat« eine Fernsehpro-

Concorde Film / ddp


duktion war, haben Sie großen Wert darauf
gelegt, dass sie auf der Leinwand zu sehen ist.
Reitz: Wenn es mir gelang, dass die Leute bei
den großen Premieren zehn Stunden oder
länger im Kino sitzen blieben, dann erst war
es für mich ein gelungenes Werk. Die Zu- Über die Bewohner des fiktiven Dorfs
schauer sollten in einen anderen Zeitstrom Schabbach im Hunsrück drehte Reitz drei
geraten, die Filmzeit. Staffeln einer TV-Serie und ­zuletzt den
SPIEGEL: Binge-Watching nennt sich das ­heute. ­Kinofilm »Die andere Heimat« (2013).
Reitz: Das Schöne an der Erzählwelt ist, Mehr als 60 Stunden umfasst das Mam-
dass sie ohne Schwerkraft ist. Es kann Se­ mutwerk. Es geht um Hochzeiten und

Concorde Film / ddp


rien gelingen, die Zuschauer so sehr in ihre Ehe­brüche, Hungersnöte und politische
Welt zu ziehen, dass sie da nicht wieder raus­ ­Umbrüche. In den Familienschick-
möchten. salen spiegelt sich die Geschichte der
SPIEGEL: Dann müsste »Heimat« weiter- ­Deutschen.
erzählt werden.
Reitz: Immer weiter, ja. Aber Filmemachen
ist anstrengend. Und man wird älter. Das muss
man leider sagen.
SPIEGEL: Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie
sich der Hunsrück über die Jahre und Jahr-
zehnte verändert und seine Eigenarten ver-
liert. Haben Sie versucht, Ihre alte Heimat im
Film zu bewahren?
Reitz: Es gibt den Hunsrück für mich zweimal,
einmal in meinem Film und einmal in der
Wirklichkeit. Und die beiden sind nicht de-
ckungsgleich. Wenn ich von Heimat spreche,
ist es der Hunsrück in meinen Filmen. Den
habe ich mir selbst zusammengebastelt. Wenn
ich heute in den realen Hunsrück komme,
Concorde Film / ddp

fühle ich mich dort fremd. Das ist das Fatale


an der Heimat: dass man sie verlassen muss,
um seinen Horizont zu erweitern. Und dass
eine Rückkehr dann irgendwann nicht mehr

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 121


KU LT U R

FÜR ALLE, DIE BELLETRISTIK SACHBUCH


AUF DER SUCHE SIND Ein Roman nach wahren Die Autorin nimmt ihre
Tragödien: Der Physiker Leser mit auf Reisen
NACH EINEM JOB Max Planck bangt 1944
um seinen in Berlin
oder zumindest mit in
ihre Erinnerungen an
verhafteten Sohn Erwin. Paris, Mailand und andere
MIT SINN! Der seines Freundes
Albert Einstein quält sich
Orte. Sie wolle eigentlich
gar nichts erleben – nur
derweil in einer Schweizer immer wieder woanders
Psychiatrie. | Platz 20 sein. | Platz 2

PĖŚ�����÷IJ� 1 (1) Ferdinand von Schirach 1 (1) Brianna Wiest  101 Essays, die dein Leben
xĖŊ���ά�4Ėī��� Nachmittage Luchterhand; 22 Euro verändern werden Piper; 22 Euro
Ŕ�÷�ī����IJ
2 (2) Bonnie Garmus 2 (2) Elke Heidenreich
Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro

3 (4) Isabel Allende 3 (3) Thilo Sarrazin  Die Vernunft


Violeta Suhrkamp; 26 Euro und ihre Feinde Langen-Müller; 26 Euro

4 (6) Mariana Leky 4 (–) Maja Göpel


Kummer aller Art Dumont; 22 Euro Wir können auch anders Ullstein; 19,99 Euro

5 (3) Heinz Strunk 5 (4) Kurt Krömer  Du darfst nicht alles glauben,
Ein Sommer in Niendorf Rowohlt; 22 Euro was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro

6 (7) Susanne Abel 6 (–) Katrin Eigendorf  Putins Krieg –


Stay away from Gretchen dtv; 20 Euro
Wie die Menschen in der Ukraine
für unsere Freiheit kämpfen S. Fischer; 24 Euro
7 (8) Susanne Abel
Was ich nie gesagt habe dtv; 23 Euro
7 (5) Marietta Slomka
Nachts im Kanzleramt Droemer; 20 Euro

8 (–) Anna Benning  Dark Sigils –


Was die Magie verlangt Fischer; 19 Euro
8 (6) Pati Valpati
Schlechtes Vorbild, gute Vibes Riva; 22 Euro

9 (5) Nicholas Sparks


9 (17) Shelly Kupferberg
Im Traum bin ich bei dir Heyne; 22 Euro
Isidor Diogenes; 24 Euro

10 (11) Lucinda Riley 10 (11) Harald Jähner


Die Toten von Fleat House Goldmann; 22 Euro
Höhenrausch  Rowohlt Berlin; 28 Euro

Ab 13 Jahren · Broschur · 14,00 € 11 (14) Daniela Dröscher  Lügen über 11 (–) René Pfister
ISBN 978-3-522-30601-0 · 192 Seiten
meine Mutter Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
Ein falsches Wort DVA; 22 Euro

12 (9) Karin Slaughter 12 (8) Catherine Belton


Die Vergessene HarperCollins; 24 Euro Putins Netz HarperCollins; 26 Euro

Um mit dem eigenen Beruf etwas zu 13 (12) Jan Weiler 13 (–) Lisa Jaspers / Naomi Ryland / Silvie Horch
bewegen, muss man keine Greta oder Der Markisenmann Heyne; 22 Euro (Hg.)  Unlearn Patriarchy Ullstein; 22,99 Euro
Malala sein. Es gibt viele Wege, die Welt
14 (16) Romy Fölck 14 (12) Donna Leon
zu verbessern. Aber was macht eigentlich Die Rückkehr der Kraniche Wunderlich; 22 Euro Ein Leben in Geschichten Diogenes; 22 Euro
einen erfüllenden und sinnstiftenden Job
aus? 15 (10) Andreas Eschbach 15 (7) Peter Hahne
Freiheitsgeld Lübbe; 25 Euro Das Maß ist voll Quadriga; 12 Euro
Welche Wege stehen nach Schule, Aus-
bildung oder Studium offen? SPIEGEL- 16 (17) Tess Gerritsen 16 (10) Gnu
Job&Karriere-Expertin Helene Flachsen- Mutterherz Limes; 22 Euro Du schaffst das nicht Riva; 20 Euro
berg zeigt in diesem innovativen
Ratgeber, welche Branchen zu 17 (15) Werner Herzog  Jeder für sich 17 (9) Christiane Hoffmann
und Gott gegen alle Hanser; 28 Euro Alles, was wir nicht erinnern C. H. Beck; 22 Euro
bestimmten Stärken und Bedürf-
nissen passen, welche Berufe im 18 (13) Michael Kobr / Volker Klüpfel 18 (14) Thomas Piketty  Eine kurze Geschichte
Bereich Nachhaltigkeit ganz neu Affenhitze Ullstein; 24,99 Euro der Gleichheit C. H.Beck; 25 Euro
entstanden sind und wie man
erkennt, ob ein Unternehmen 19 (–) Alex Capus 19 (–) Michel Friedman
wirklich „grün“ ist.
Susanna Hanser; 25 Euro Fremd Berlin Verlag; 20 Euro

20 (–) Steffen Schroeder  Planck oder Als das Licht 20 (13) Florian Illies
seine Leichtigkeit verlor Rowohlt Berlin; 22 Euro Liebe in Zeiten des Hasses S. Fischer; 24 Euro
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller

122 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


www.thienemann-esslinger.de
KU LT U R

stütze macht. Es ist alles erfahrbar


und der Mensch komplett durch-
schaubar. Egan erzählt in einem
­Kapitel von einem herzerwärmend
ungelenken Datensammler, der sich

Fast wie im Märchen


ausrechnet, wie er am besten die Kol-
legin anspricht, mit der er zusammen
sein will: »Wenn ein Zwiegespräch
acht Sprechzeilen lang stockt ..., dann
liegt die Wahrscheinlichkeit, dass
BUCHKRITIK  Mit »Candy Haus« schreibt Jennifer Egan ihr fulminantes Porträt es weiter stockt, bei 80 Prozent.«
einer digitalisierten Gesellschaft fort. Dazugelernt hat die Menschheit nichts. Gleichzeitig hat etwa der Sohn von
Salazar eine Protestorganisation auf-
gebaut, die mit Fake-Identitäten ge-

I
m Jahr 2010, als Facebook die nau solche Pro­gnosen verfälscht.
Zahl von 500 Millionen Nutzern Auch wenn es im neuen Buch um
übersprang und die CD gerade die Freiheit viel schlimmer steht als
dabei war, den Kampf gegen den im ersten Teil, schreibt Egan keine
Download zu verlieren, schrieb die rein dystopische Literatur, keine
US-Autorin Jennifer Egan einen ­kapi­talismuskritische Abrechnung
­aufsehenerregenden Gesellschafts­ mit dem Silicon Valley. Ihr Blick ist
roman: »Der größere Teil der Welt« ­so toll, weil sie im Grunde davon
erzählte als Kaleidoskop, wie sich ­erzählt, wie Verheißung – auf eine
Leben und Denken durch das Internet bessere Welt, auf ein klareres Sein –
grundlegend ändern. Fast alle der vie- Menschen immer und immer wieder
len Figuren waren mit einer sterben- steuert, während sie sich selbst nie
den Musikindustrie verbandelt. ganz kennen und ihr Handeln deshalb
Es ging um Gegenwart und Ver- ganz andere Konsequenzen hat als
gangenheit des Produzenten Bennie gedacht.
Salazar und um dessen Förderer Über den Entstehungsprozess von
Lou Kline, einen koksenden Player Bix Boutons erstem sozialen Netz-
alter Schule, um Salazars Assistentin werk schreibt Egan etwa: »Bix hatte
­Sasha, um die Punkband Flaming dabei stets an die Gemälde des Jüngs-
­Dildos und die Exzessversuche ihrer ten Gerichts gedacht ..., allerdings

Pieter M. Van Hatten


Teeniemitglieder – und um Bix Bou- ohne die Hölle, denn die Schwarzen,
ton, einen schwarzen Mark Zucker- so glaubte er, würden in einer körper-
berg, der vor allen anderen erkennt, losen Sphäre von Hass erlöst werden,
dass das Internet die Menschheit der sie in der physischen Welt be­
­prägen wird. Ans Ende des Romans hinderte und hemmte.« Einige Jahre
­setzte Egan einen abgehalfterten ­später lösen Bix’ Innovationen statt-
­Gitarristen, der sich vor einem von ner: Die Musikindustrie existiert vor Autorin Egan dessen den viralen Sog aus, der dazu
Handys überwachten Riesenpubli- allem noch unter dem Schlagwort führt, dass Menschen ihr Innerstes
kum ­aufbäumt, einen großen, ana- »Vermächtnis«, Salazar ist irrelevant der Welt preisgeben.
logen Rockmoment schafft, erhaben geworden, und Lou ­Kline liegt im Trotzdem bleibt der Wunsch von
und auf die Weise dreckig, die nichts Sterben, dafür werden nun ihre Kin- Egans Figuren nach einer fast reli­
mit den Schlieren auf einem Laptop- der zu Hauptfiguren. giösen Erlösung, fällt jeder und jede
bildschirm gemein hat. Kultur und Denken werden von immer wieder darauf rein. Über die
Egans Roman war witzig, weise Daten bestimmt, auch Filme können Gefühle von Klines Tochter beim
und Furcht einflößend. Zu Recht dank Algorithmen mit Standard­ Hochladen ihres Lebens ins Kollek-
­bekam sie dafür einen Pulitzerpreis. situationen à la »Protagonist erreicht tivbewusstsein schreibt Egan: »Roxy
In jedem Kapitel wechselte sie virtu- einen Tiefpunkt, bei Nacht, auf Stra- kommt es vor wie eine Naturgewalt,
os Perspektiven und Erzählformen, ße in Stadt« aufgebaut werden. Vor eine Strömung, die ihr Bewusstsein
eines bestand aus einer Powerpoint- allem hat Bix Bouton mit seinem über die Grenzen ihres Selbst in eine
Präsentation. Egan erzählte nicht nur Konzern Mandala 2016 das »Kollek- unendlich größere Sphäre zieht. Sich
vom Internet, ihr Roman funktionier- tivbewusstsein« geschaffen, einen darin aufzulösen und mit allem zu
te selbst wie die Kacheloberfläche Hit, dem sich bald kaum einer mehr vermischen – das ist ihre Sehnsucht!«
eines sozialen Netzwerks. entziehen kann: Wer sein Bewusst- Egan erzählt von Kollateralschä-
Jetzt, zwölf Jahre später, legt Egan sein in diesem Netzwerk teilt, »alle den der Glückssuche, die entstehen,
einen zweiten Teil ihres Projekts Wahrnehmungen, alle Gefühle, und weil sich der Mensch selbst nicht
vor: »Candy Haus« verhält sich zum das von Geburt an«, bekommt selbst durchschaut. Ihr Buchtitel beschreibt
Vorgänger wie ein passendes Puzzle- Zugriff auf die anonymisierten Er­ Es ist alles dazu die Märchenhütte aus Lebku-
stück. Ästhetisch bleibt sie ihrem innerungen aller anderen, die es ihm erfahrbar und chen, der man nicht wider­stehen
­experimentellen Stil treu. Doch die gleichgetan haben. kann, obwohl der Ofen schon längst
Wandlung der Welt ist fortgeschritte- Ein Ex-Junkie, der sich fragt, was der Mensch angefeuert ist. Das Haus hat bei
aus seinem Drogendealer wurde, deshalb kom- Egan aber nicht die Hexe gebaut. Das
­findet dort zum Beispiel heraus, dass waren Hänsel und Gretel schon
Jennifer Egan: »Candy Haus«. Aus dem ame-
dieser zuletzt dabei beobachtet wur- plett durch- selbst.
rikanischen Englisch von Henning Ahrens.
S. Fischer; 416 Seiten; 26 Euro. de, wie er in einem Gefängnis Liege- schaubar. Eva Thöne n

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 123


INTERNE T www.spiegel.de
T WIT TER @derspiegel
Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail spiegel@spiegel.de FACEBOOK facebook.com/derspiegel

Impressum SPORT Leitung: Udo Ludwig, Lukas Rilke, REDAKTIONSVERTRE TUNGEN Service
Jörn Meyn (stellv.). Redaktion: Peter Ahrens, Anne DEUTSCHL AND
HER AUSGEBER Rudolf Augstein (1923 – 2002) Armbrecht, Matthias Fiedler, Michael Fröhlingsdorf, BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin; Leserbriefe
Jan Göbel, Nina Golombek, Benjamin Knaack, Deutsche Politik, Wirtschaft Tel. 030 886688-100; SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg,
CHEFREDAKTION Steffen Klusmann ( V. i. S. d. P.), Marcus Krämer, Danial Montazeri, Thilo Neumann, Deutschland, Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft
Gerhard Pfeil www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966,
Dr. Melanie Amann, Thorsten Dörting, Clemens Höges Tel. 030 886688-200
Mail: leserbriefe@spiegel.de
INVESTIGATION Teamleitung: Rafael Buschmann; DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4,
STR ATEGIE & OPER ATIONS Susanne Amann;
01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0
Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir auch
Philipp Löwe, Johanna Röhr, Anne Seith Roman Höfner, Roman Lehberger, Nicola Naber,
Christoph Winterbach
gern per Mail entgegen: hohlspiegel@spiegel.de
DÜSSELDORF Markus Böhm, Lukas Eberle,
BL AT TMACHER Judith Horchert, Juliane von Koordination SPIEGEL TV : Thomas Heise Tobias Großekemper, Benedikt Müller-Arnold, Hinweise für Informanten
Mittelstaedt, Oliver Trenkamp Miriam Olbrisch. Autorin: Katja Thimm. Jägerhofstraße Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und Informa-
MEINUNG & DEBAT TE Anna Clauß, Lothar Gorris, 19-20, 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01
NACHRICHTENCHEF Stefan Weigel Alexander Neubacher tionen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen folgende
FR ANKFURT AM MAIN Matthias Bartsch, Tim
Wege zur Verfügung: Post: DER SPIEGEL , c/o Investigativ,
MANAGING EDITORS Birger Menke, LEBEN Leitung: Anke Dürr, Frauke Lüpke-Narberhaus, Bartz, Fellnerstraße 7-9, 60322 Frankfurt am Main,
Nike Laurenz (stellv.). Redaktion: Irene Berres, Antje Tel. 069 9712680 Ericusspitze 1, 20457 Hamburg; Telefon: 040 3007-0,
Dr. Susanne Weingarten Stichwort »Investigativ«; Mail (Kontakt über Website):
Blinda (Teamleitung Reise), Franziska Bulban, Markus K ARLSRUHE Dietmar Hipp, Stephanienstraße 30,
CREATIVE DEPARTMENT Bente Kirschstein; Deggerich, Maren Keller, Heike Klovert, Dr. Heike Le 76133 Karlsruhe, Tel. 0721 22737 www.spiegel.de/investigativ. Unter dieser Adresse finden Sie auch
Elsa Hundertmark Ker, Eva Lehnen, Marthe Ruddat, Katherine Rydlink, LEIPZIG Peter Maxwill, Postfach 310315, eine Anleitung, wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente
Sandra Schulz, Sebastian Späth, Julia Stanek, Nina 04162 Leipzig durch eine PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten
REDAKTIONELLE ENT WICKLUNG Matthias Weber. Autoren: Jule Lutteroth, Marianne Wellershoff
MÜNCHEN Jan Friedmann können. Der dazugehörende Fingerprint lautet:
Streitz; Friederike Freiburg, Jonas Mielke, Franca
Quecke, Maximilian Rau, Ole Reißmann JOB & K ARRIERE (BEREITGESTELLT VON (Koordination Nachrichten), Martin Hesse, Rosental 10, 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC
MANAGER MAGAZIN NEW MEDIA) Leitung: 80331 München, Tel. 089 4545950
CHEFS VOM DIENST Print: Anke Jensen, Jörn Helene Endres, Sophia Schirmer (Leitung Start). Ombudsstelle
BADEN-WÜRT TEMBERG Christine Keck
Sucher. Online: Patricia Dreyer, Anselm Waldermann; Redaktion: Benjamin Ansari, Tanya Falenczyk, Helene Der SPIEGEL hat für Hinweise zu möglichen Unregelmäßig-
Melanie Ahlemeier, Lisa Erdmann, Björn Hengst, Flachsenberg, Florian Gontek, Katharina Hölter, Maren REDAKTIONSVERTRE TUNGEN/ keiten in der Berichterstattung eine Anlaufstelle eingerichtet:
Hoffmann, Markus Sutera, Verena Töpper KORRESPONDENTENBÜROS AUSL AND
Olaf Kanter, Nicolai Kwasniewski, Jonas Leppin, ombudsstelle@spiegel.de. Sollten Sie als Hinweisgeber
Florian Merkel, Malte Müller-Michaelis, Charlene BANGALORE Laura Höflinger
GESCHICHTE Leitung: Jochen Leffers, Dr. Eva-Maria BANGKOK Maria Stöhr dem SPIEGEL gegenüber anonym bleiben wollen, schreiben
Optensteinen, Dr. Dominik Peters, Dr. Jens Radü, Sie bitte an den Rechtsanwalt Tilmann Kruse unter
Schnurr. Redaktion: Dr. Felix Bohr, Solveig Grothe,
Daniel Raecke, Martin Wolf BRÜSSEL Markus Becker (Büroleitung), Ralf
Christoph Gunkel, Dr. Katja Iken, Dr. Danny Kringiel, hinweisgeber-spiegel@bmz-recht.de
Frank Patalong, Martin Pfaffenzeller Neukirch (Reporter Europapolitik), Michael Sauga
AUTOREN/REPORTER DER CHEFREDAKTION (Autor), Rue Le Titien 28, 1000 Brüssel,
Susanne Beyer, Ullrich Fichtner, Thomas Schulz Redaktioneller Leserservice
DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, Alexandra Tel. +32 2 2306108, rv.bruessel@spiegel.de Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966
HAUPTSTADTBÜRO Dirk Kurbjuweit Klaußner (stellv.). Redaktion: Antonia Bauer, Claudia K APSTADT Fritz Schaap, P. O. Box 15107,
Beckschebe, Marco Wedig Mail: leserservice@spiegel.de
Leitung: Dr. Melanie Amann, Sebastian Fischer, ­ Vlaeberg 8018, Cape Town, South Africa
Martin Knobbe, Christoph Hickmann (stellv.), Wolf SCHLUSSREDAKTION Christian Albrecht, Gartred LONDON Jörg Schindler Nachdrucke in Medien aller Art
Wiedmann-Schmidt (Teamleitung Innere Sicherheit). Alfeis, Gesine Block, Regine Brandt, Lutz Diedrichs, LOS ANGELES Philipp Wittrock Lizenzen für Texte, Fotos, Grafiken oder Videos
Redaktion: Maik Baumgärtner, Sophie Garbe, Florian Ursula Junger, Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse, MEXIKO-STADT Jens Glüsing, Kontakt, Beratung: www.gruppe.spiegel.de/syndication
Gathmann, Kevin Hagen, Milena Hassenkamp, Marina Stefan Moos, Sandra Pietsch, Fred Schlotterbeck,
Kormbaki, Timo Lehmann, Veit Medick, Ann-Katrin Tel. +52 55 56630526 und Bestellung: syndication@spiegel.de,
Sebastian Schulin, Sandra Waege Tel.: 040 3007-3540 für Deutschland, Österreich, Schweiz.
Müller, Serafin Reiber, Anna Reimann, Sven Röbel, MOSK AU Christian Esch, Christina Hebel, ­
Jonas Schaible, Sven Scharf, Christoph Schult, Christian PRODUKTION Leitung: Petra Thormann; Kathrin Glasowskij Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Für alle anderen Länder: The New York Times Licensing,
Teevs, ­Severin Weiland. Autoren, Reporter: Sven Becker, Beyer, Christoph Brüggemeier, Michele Bruno, Tel. +7 495 3637623 Simone Daley, Mail: simonedaley@nytimes.com,
Markus Feldenkirchen, Matthias Gebauer, Konstantin Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Britta Romberg, NAIROBI Heiner Hoffmann, Tel. +254 111 341478 Telefon: +44 20 7061 3507, ISSN 0038-7452
von Hammerstein, Fidelius Schmid. Politik Hamburg: Martina Treumann, Katrin Zabel
Benjamin Schulz (Nachrichtenchef); Marc Röhlig, NEW YORK Marc Pitzke, Bernhard Zand
Nachbestellungen SPIEGEL -Ausgaben der letzten Jahre
Alwin Schröder BILDREDAKTION Leitung: Mascha Zuder, Jose PARIS Britta Sandberg, 4, Rue Goethe, 75116 Paris,
Blanco (stellv.), Mareile Mack (stellv.); Claudia Apel, Tel. +33 158 625120 sowie alle Ausgaben von SPIEGEL GESCHICHTE
DEUTSCHL AND/PANOR AMA Leitung: Jörg Diehl, Tinka Dietz, Sabine Döttling, Torsten Feldstein, und SPIEGEL WISSEN sind unter amazon.de/spiegel
PEKING Georg Fahrion, Christoph Giesen
Cordula Meyer, Hendrik Ternieden, Janko Tietz, Philine Gebhardt, Thorsten Gerke, Niklas Hausser, innerhalb Deutschlands nachbestellbar.
Dr. Markus Verbeet. Redaktion: Birte Bredow, Lisa Signe Heldt, Gillian Henn, Daniel Hofmann, Andrea ROM Frank Hornig, DER SPIEGEL , c/o Stampa
Duhm, Katrin Elger, Silke Fokken, Maik Großekathöfer, Huss, Rosa Kaiser, Jan Kappelmann, Petra Konopka, Estera, Via dell’Umiltà 83/C, 00187 Rom Historische Ausgaben Historische Magazine Bonn,
Hubert Gude, Kristin Haug, Armin Himmelrath, Matthias Krug, Charlotte Lensing, Theresa Lettner, SAN FR ANCISCO Alexander Demling www.spiegel-antiquariat.de, Telefon: 0228 9296984
Philipp Kollenbroich, Annette Langer, Katrin Langhans, Nasser Manouchehri, Parvin Nazemi, Nicole Neumann, SAO PAULO Nicola Abé
Gunther Latsch, Benjamin Maack, Peter Maxwill, Peer Peters, Inka Recke, Jens Ressing, Franziska Abonnement für Blinde Audioversion:
Christopher Piltz, Alexander Preker, Ansgar Siemens, Schade, Oliver Schmitt, Ireneus Schubial, Erik SYDNEY Anna-Lena Abbott, Johannes Korge
TEL AVIV P. O. Box 8387, Tel Aviv-Jaffa 6803466,
Deutsche Blindenstudienanstalt e. V., Telefon: 06421 606265;
Sara Wess, Jens Witte, Jean-Pierre Ziegler. Autoren, Seemann, ­Maxim Sergienko, Martin Trilk, Anke
Reporter: ­Jürgen Dahlkamp, Annette Großbongardt, Wellnitz Israel elektronische Version: Frankfurter Stiftung für Blinde,
Julia Jüttner, Beate Lakotta, Alfred Weinzierl, Dr. Klaus Mail: foto@spiegel.de WARSCHAU Tel. +48 22 6179295, Telefon: 069 9551240
Wiegrefe. SPIEGEL Foto USA: Susan Wirth, Tel. +1 917 3998184 rv.warschau@spiegel.de
Berlin: Juliane Löffler, Guido Mingels, Hannes Schrader Abonnementspreise
L AYOUT Leitung: Dagmar Nothjung, Reinhilde Wurst; WASHINGTON Roland Nelles, René Pfister, Inland: 52 Ausgaben € 291,20, Studenten Inland: 52 Ausgaben
WIRTSCHAF T/NE TZWELT Leitung: Markus Brauck, Michael Abke, Lisa Debacher, Lynn Dohrmann, Bettina 1202 National Press Building, Washington, D. C. 20045, € 197,60, Auslandspreise unter www.spiegel.de/auslandsabo,
Yasmin El-Sharif, Judith Horchert (Netzwelt), Isabell Fuhrmann, Ralf Geilhufe, Linna Grage, Fabian Greve, Tel. +1 202 3475222
Mengenpreise unter abo.spiegel.de/mengenpreise
Hülsen, Stefan Kaiser, Cornelia Schmergal. Redaktion: Louise Jessen, Jens Kuppi, Annika Loebel, Barbara WIEN Walter Mayr
Benjamin Bidder, Michael Brächer, Florian Diekmann, Rödiger STÄNDIGE FREIE AUTOREN Ann-Dorit Boy, Abonnentenservice Persönlich erreichbar
Kristina Gnirke, Simon Hage, Dr. Claus Hecking, Giorgos Christides, Arno Frank, Oliver Das Gupta, Mo.–Fr. 8.00–19.00 Uhr, Sa. 10.00–18.00 Uhr
Henning Jauernig, Dr. Matthias Kaufmann, Nils TITELBILD Teamleitung: Johannes ­Unselt;
Jochen-Martin Gutsch, Leo Klimm, Jasmin Lörchner, SPIEGEL -Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg
Klawitter, Torsten Kleinz, Matthias Kremp, Alexander Suze Barrett, Alexandra Grünig, Pia Pritzel
Juan Moreno, Max Polonyi, Wiebke Ramm, Anja Rützel
Kühn, Maria Marquart, Martin U. Müller, Anton Rainer, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070
GR AFIK & INTER ACTIVE Leitung: Ferdinand DOKUMENTATION Leitung: Cordelia Freiwald,
Stefan Schultz.
Kuchlmayr, Dr. Matthias Stahl (stellv.); Cornelia Kurt Jansson; Zahra Akhgar, Nikolai Antoniadis, Mail: aboservice@spiegel.de
Berlin: Patrick Beuth, Simon Book, Markus Dettmer,
Baumermann, Alexander Epp, Guido Grigat, Max Dr. Susmita Arp, Verena Barchfeld, Lars Böhm, Eva
Max Hoppenstedt, Michael Kröger, Theresa Locker.
Heber, Frank Kalinowski, Anna-Lena Kornfeld, Chris Bräth, Viola ­Broecker, Dr. Heiko Buschke, Almut
Autoren, Reporter: David Böcking, Christian
Kurt, Niklas Marienhagen, Aida Marquez Gonzales, Cieschinger, ­Johannes Eltzschig, Klaus Falkenberg,
Reiermann, Marcel Rosenbach, Gerald Traufetter
Gernot Matzke, Lina Moreno, Klaas Neumann, Michael Catrin Fandja, Dr. Matthias Fett, Janine Große, Imko
(Chefkorrespondent)
Niestedt, Dawood Ohdah, Bernhard Riedmann, Haan, Thorsten Hapke, Susanne Heitker, Carsten Abonnementsbestellung
AUSL AND Leitung: Mathieu von Rohr, Britta Lea Rossa, Hanz Sayami, Alexander Trempler Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt Hunger, Stefanie
Jockers, Michael Jürgens, Tobias Kaiser, Renate Kemper- bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an:
Kollenbroich (stellv.), Katrin Kuntz (stellv.),
Maximilian Popp (stellv.), Christoph Scheuermann
DESIGN/UX Katja Braun, Anna van Hove Gussek, Ulrich Klötzer, Anna Köster, Ines Köster, Mara SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg –
(stellv.), Özlem Topçu (stellv.). Redaktion: Monika KORREKTOR AT Sebastian Hofer
Küpper, Peter Lakemeier, Julia Lange, Rainer Lübbert, oder per Fax: 040 3007-3070, www.spiegel.de/abo
Bolliger, Alexander Chernyshev, Francesco Collini, Sonja Maaß, Nadine Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff,
Fiona Ehlers, Lena Greiner (Teamleitung Globale TEXTPRODUCING Leitung: Helke Grusdas; Marvin Milatz, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Ich bestelle den SPIEGEL
Gesellschaft), Muriel Kalisch, Steffen Lüdke, Katharina Angela Ölscher, Gesche Sager, Stefan Schütt, Holger Claudia Niesen, Dr. Gerret von Nordheim, Sandra
Graça Peters, Jan Petter, Jan Puhl, Alexandra Rojkov, Uhlig, Valérie Wagner Öfner, Ulrike Preuß, Axel Rentsch, Thomas Riedel, Sara i für € 5,60 pro gedruckte Ausgabe
Anna-Sophie Schneider, Lina Verschwele. Autoren, Maria Ringer, Friederike Röhreke, Andrea Sauerbier, i für € 0,70 pro digitale Ausgabe (der Anteil für das
DATENJOURNALISMUS Leitung: Marcel Pauly; Marko Scharlow, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina
Reporter: Marian Blasberg, Susanne Koelbl, Nadia
Holger Dambeck, Patrick Stotz, Achim Tack Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Andrea Schumann- E-Paper beträgt € 0,69) zusätzlich zur gedruckten Ausgabe.
Pantel, Christoph Reuter, Thore Schröder.
Berlin: Julia Amalia Heyer, Aleksandar Sarovic Eckert, Anna Schwarz, Ulla Siegenthaler, Meike Stapf,
SOCIAL MEDIA & LESERDIALOG Leitung: Ayla Tuisko Steinhoff, Dr. Claudia Stodte, Rainer Szimm, Der Bezug ist monatlich kündbar.
WISSEN Leitung: Michail Hengstenberg, Olaf Kiran, Angela Gruber (stellv.). Redaktion: Kai Bonte Dr. Marc Theodor, Andrea Tholl, Nina Ulrich, Louisa Alle Preise inkl. MwSt. und Versand. Das Angebot gilt
Stampf, Kurt Stukenberg. Redaktion: Dr. Philip Bethge, (Forum), Philipp Dreyer, Ariane Fries (Teamleitung Uzuner, Peter Wahle, Dr. Charlotte Weichert, Peter nur in Deutschland.
Marco Evers, Johann Grolle, Dr. Veronika Hackenbroch, Community), Luisa Höppner, Aleksandra Janevska, Wetter, Karl-Henning Windelbandt, Anika Zeller,
Arvid Kaiser, Guido Kleinhubbert, Julia Koch, Julia Charlotte Klein, Sebastian Maas, Petra Maier Malte Zeller Bitte liefern Sie den SPIEGEL an:
Köppe, Julia Merlot, Jörg Römer, Nils-Viktor Sorge (Teamleitung Google Web Stories), Annina Metz, NACHRICHTENDIENSTE AFP, AP, dpa,
(Teamleitung Mobilität), Felix Wadewitz. Autoren, Robert Schlösser, Kim Staudt, Katharina Zingerle Los Angeles Times/Washington Post, New York Times,
Reporter: Rafaela von Bredow, Christoph Seidler. SEO Teamleitung: Insa Winter; Alexandra Knape, Reuters, sid
Berlin: Susanne Götze, Kerstin Kullmann, Hilmar SPIEGEL-VERL AG RUDOLF AUGSTEIN Name, Vorname des neuen Abonnenten
Bastian Midasch, Heiko Stammel, Hanna Zobel
Schmundt, Frank Thadeusz. Autor: Jörg Blech GMBH & CO. KG
VIDEO Leitung: Frauke Böger, Anne Martin (stellv.). Anzeigen: Hannes Engler
KULTUR Leitung: Stefan Kuzmany, Eva Thöne, Laura Redaktion: Benjamin Braden, Sven Christian, Dennis
Backes (stellv.). Redaktion: Felix Bayer, Tobias Becker, Deuermeier, Manuel Genolet, Birgit Großekathöfer, Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 77 vom 1. Januar 2022 Straße, Hausnummer oder Postfach
Christian Buß, Xaver von Cranach, Nora Gantenbrink, Janita Hämäläinen, Martin Jäschke, Heike Janssen, Mediaunterlagen und Tarife: www.spiegel.media
Oliver Kaever, Ulrike Knöfel, Carola Padtberg, Jurek Marco Kasang, Carolin Katschak (Teamleitung Talk), Vertrieb: Torben Sieb
Skrobala, Katharina Stegelmann. Autoren, R ­ eporter: Eckhard Klein, Andreas Landberg, Jonathan Miske,
Lothar Gorris, Sebastian Hammelehle, Wolfgang Höbel. Fabian ­Pieper, Rachelle Pouplier, Dr. Isabella Reichert, Herstellung: Silke Kassuba
PLZ, Ort
Berlin: Lars-Olav Beier, Elisa von Hof, Philipp Oehmke, Leonie Voss, Christian Weber
Hannah Pilarczyk, Tobias Rapp. Autoren, Reporter:
Andreas Borcholte, Enrico Ippolito CHEFS VOM DIENST BEWEGTBILD Bernd Czaya,
Dirk Schulze, Martin Sümening Mail (notwendig, falls digitaler SPIEGEL erwünscht)
REPORTER Leitung: Özlem Gezer, Hauke Goos
(stellv.). Redaktion: Barbara Hardinghaus, Timofey AUDIO Leitung: Sandra Sperber, Yasemin Yüksel, Olaf
Neshitov, Dialika Neufeld, Jonathan Stock, Antje Heuser (Chef vom Dienst). Redaktion: Imre Balzer, Ich zahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweise zu AGB,
Windmann. Autoren, Reporter: Uwe Buse, Marc Hujer, Adrian Breda, Philipp Fackler, Robert Hauspurg, Lenne Datenschutz und Widerrufsrecht finde ich unter
Frauke Hunfeld, Alexander Osang, Alexander Kaffka, Marius Mestermann, Regina Steffens, Martin GESCHÄF TSFÜHRUNG Thomas Hass www.spiegel.de/agb
Smoltczyk, ­Barbara Supp Vornweg-Brückner (Vorsitzender), Stefan Ottlitz

USA: DER SPIEGEL (USPS no 01544520) is published weekly by SPIEGEL VERLAG. Known Office of Publication: Data Media (A division of Cover-All Computer Services Corp.), 2221 Kenmore Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten
Avenue, Suite 106, Buffalo, NY 14207-1306. Periodicals postage is paid at Buffalo, NY 14205, Postmaster: Send address changes to DER SPIEGEL, Data Media, P.O. Box 155, Buffalo. NY 14205- SP-IMPR, SD-IMPR (Upgrade)
0155, e-mail: service@roltek.com, toll free: +1-877-776-5835; Kanada: SUNRISE NEWS, 47 Silver Shadow Path, Toronto, ON, M9C 4Y2, Tel +1 647-219-5205, e-mail: sunriseorders@bell.net

124 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Karl Lamers, 86
NACHRUFE Er wuchs bescheiden auf, dafür
1974 sein Debüt, die Geschichte
einer Frau (Sylvia Kristel), die
dachte er später dann in ganz ihre Sexualität entdeckt. Knapp
großen Linien. Der CDU-Politi­ neun Millionen Menschen
ker Karl Lamers wurde in Kö­ ­sahen den Erotikfilm allein in
nigswinter geboren. Seine Fami­ Frankreich. »Nicht mein Er­
lie sei arm gewesen, erzählte folg«, sagte Jaeckin, »es war ein
Lamers einmal. Der Vater starb gesellschaftliches Phänomen« –
im Zweiten Weltkrieg, als La­ der kurze Moment zwischen
mers noch keine zehn Jahre alt dem Beginn der sexuellen Be­
war. Das Interesse an Politik freiung und dem Durchbruch
gab er trotzdem an seinen Sohn der Pornografie. Nach seinem
weiter. Im Alter von 20 Jahren letzten Film, »Gwendoline« von

Ramin Rahimian / The Washington Post / Getty Images


trat Lamers in die CDU ein, von 1984, widmete er viel Zeit der
1980 bis 2002 saß er im Bundes­ Pariser Galerie, die er mit seiner
tag, zwölf Jahre davon als Frau betrieb. 2019 war dort eine
außenpolitischer Sprecher der Ausstellung mit Fotografien zu
Fraktion. Gemeinsam mit Wolf­ sehen, inspiriert vom Rattan­
gang Schäuble verfasste Lamers sessel, in dem Emmanuelle auf
1994 ein Papier zur Europapoli­ dem Filmplakat sitzt. Just
tik, das sich heute noch aktuell ­Jaeckin starb am 6. September
liest. Die Ostpolitik Deutsch­ in der Bretagne. FEB
lands habe wesentlich »im Zu­
sammenwirken mit Russland Lars Vogt, 51
auf Kosten der dazwischen lie­ Er war eine ungewöhnliche Fi­
genden Länder« bestanden, gur im Betrieb der klassischen
Frank Drake, 92 heißt es darin. Diese Fehler gelte Musik, wo wenig so gern insze­
Seit es die Menschheit gibt, fragt sie sich: Sind wir allein im Univer­ es zu beheben – durch eine niert wird wie das Ringen des
sum? Die Götter waren jahrhundertelang die Antwort, die Außer­ ­Einbindung der Länder in die
irdischen sind es heute. Sollte eines Tages der Kontakt hergestellt EU und die »vertiefende Verfes­
werden, wäre das auch sein Verdienst. Anfang der Sechziger be­ tigung« des europäischen Staa­
gann Frank Drake, mit einem Radioteleskop in Green Bank in West tenbundes. Bis zuletzt setzte
Virginia den Himmel abzusuchen, um Muster in Radiowellen sich Lamers für die Idee einer
­finden, die Hinweise auf außerirdische Intelligenzen geben sollten. starken EU ein. Er war ein
Rasch wurde er einer der wichtigsten amerikanischen Astronomen. Mann mit festen Überzeugun­
Als die Nasa sich in den Siebzigern der Suche nach Außerirdischen gen, der sich gleichzeitig nicht

Giorgia Ber tazzi


widmete, war Drake dabei – er war mitverantwortlich für die gol­ gegen Änderungen sträubte.
denen Datenplatten, mit denen die Nasa die Menschheit anderen Gern zitierte er ein chinesisches
Intelligenzen vorstellte, sie wurden den Sonden mitgegeben, die Sprichwort: »Wenn der Wind
das Sonnensystem verlassen. 1984 wurde Drake Leiter des Seti-Pro­ der Veränderung weht, bauen
jekts (Search for Extraterrestial Intelligence). Es gebe ungefähr die einen Mauern, die anderen genialischen Individuums mit
100 Milliarden Sterne, sagte er einmal. Wer außerirdisches Leben Windmühlen.« Karl Lamers dem Erbe des Abendlandes.
finden wolle, müsse rund zehn Millionen Sonnensysteme durch­ starb am 27. August. SOG Dem Pianisten und Dirigenten
suchen, bislang sei das nur für einige Zehntausend gelungen. Er Lars Vogt ging es eher ums
war sich sicher, dass der Kontakt klappen würde. »Eines Tages wer­ Just Jaeckin, 82 ­Miteinander. Selbstverständlich
den von den Sternen irgendwo da draußen Antworten auf die »Die Erotik ist auf dem Gipfel konnte er die vertracktesten
­ältesten, wichtigsten und aufregendsten Fragen kommen, die die eines Berges«, sagte der Regis­ Werke spielen, den Klavierkon­
Menschheit sich je gestellt hat«, schrieb er 1962. Frank Drake seur in einem Arte-Dokumen­ zerten von Johannes Brahms
starb am 2. September in Aptos in Kalifornien. RAP tarfilm über »Emmanuelle« galt seine besondere Zuneigung.
mal, »wer den Gipfel über­ Doch für ihn zählte die Virtuo­
schreitet, fällt in die Pornogra­ sität des Spiels weniger als die
Barbara Ehrenreich, 81 fie.« Just Jaeckin, 1940 in Vichy Freude am gemeinsamen Musi­
Patrick van Katwijk / WireImage

Sie war wahnsinnig neugierig. Das zeigt ein Blick geboren, machte sich zunächst zieren. Vogt war einer der
auf die Bücher, die sie im Laufe ihres Lebens ge­ als Modefotograf einen Namen, ­erfolgreichsten deutschen Pia­
schrieben hat. Über Krebs, über den Krieg, über sein größter Coup war eine Auf­ nisten der vergangenen Jahre,
Sex, über die Frauenbewegung, über die Mittel­ nahme von Jane Fonda, nackt er spielte mit allen großen
schicht, über die Gier, über die Freude am ekstati­ am Strand. »Emmanuelle« war ­Orchestern, war Pianist in Re­
schen Tanz. Berühmt wurde Barbara Ehrenreich sidence bei den Berliner Phil-
Patrice Picot / Gamma-Rapho / Getty Images

allerdings mit einem Werk über die amerikani­ harmo­nikern, seit 2012 Pro­
sche Unterschicht. »Arbeit poor« hieß die 2001 erschienene Under­ fessor in Hannover und seit
cover-Reportage, für die sie Ende der Neunziger drei Monate lang 2020 ­Chef­dirigent des Orches­
in Mindestlohnjobs arbeitete – und dann darüber berichtete, wie tre de Chambre in Paris. Als
radikal die Arbeitsmarktreformen der Clinton-Ära das Land verän­ Mitbegründer des Projekts
dert hatten. Ehrenreich wuchs in einer linksliberalen Familie auf, Rhapsody in School engagierte
studierte Biologie und wurde Autorin und Aktivistin. Sie engagierte er sich für klassische Musik an
sich für den Feminismus, gegen Armut und schrieb für fast jedes den Schulen. Am 5. September
­liberale Medium der USA. Barbara Ehrenreich starb am 1. Septem­ erlag Lars Vogt in Erlangen
ber in Alexandria in Virginia. RAP einer Krebser­krankung. RAP

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 125


PERSONALIEN

Das große
Schwarze
Manchmal ist ein spektaku-
läres Kleid die Antwort auf alle
­Fragen. Wochenlang musste
sich die Schauspielerin Florence
Pugh, 26, mit Gerüchten herum­
schlagen. Sie spielt die Haupt­
rolle in »Don’t Worry Darling«,
dem neuen Film der Regisseurin
Olivia Wilde, der seine Premiere
beim Filmfest von Venedig hatte.
Sie habe sich mit Wilde ver­
kracht, hieß es. In Venedig war
die Spannung spürbar, Pugh
würdigte Wilde keines Blickes.
Was war da los? Wilde wird
eine Affäre mit dem Superstar
Harry Styles nachgesagt, er
spielt im Film Pughs Mann.
Pugh wiederum soll sich darüber
geärgert haben – und darüber,
dass Wilde »Don’t Worry Dar­
ling« nun vor allem mit den
Sexszenen von Styles und Pugh
bewirbt. Wilde wiederum tat so,
als wäre Pugh kompliziert. Sie
nannte die Schauspielerin »Miss
Flo«, »Fräulein Flo«, das zickige
Mädchen, um sie als schwierig
dastehen zu lassen. Was tun,
wenn man kurz vor dem Welt­

Guglielmo Mangiapane / REUTERS


ruhm steht und zeigen muss,
dass man über die Niederungen
der Set-Intrigen erhaben ist?
Man kommt in einem Valentino-­
Kleid auf den roten Teppich,
das sagt: Ihr seid klein. Und ich
bin groß. RAP

Frei von Furcht abscheulich, »hideous«, zu gel­ ten. Also suchte Sim Rat bei
ten, erzählte er nur engen Ver­ Vorbildern. Vor allem der
Sein halbes Leben hat Oliver trauten davon. Für sein erstes »Smalltown Boy«-Sänger Jim­
Sim, 33, Sänger der britischen Soloalbum »Hideous Bastard« my Somerville wurde zu einem
Band The xx, im Pop verbracht. löste er das Geheimnis nun auf. Mentor: Er singt mit im Song
Und doch brauchte er bis jetzt, »Es war total impulsiv. Mein ­»Hideous«. »Scham ist für mich
um die wahrscheinlich wich­ Plan war, das Lied einfach zu wie Verstecken«, sagt Sim.
tigsten Zeilen seines Lebens zu veröffentlichen, damit wäre es »Wenn ich mich weiterhin ver­
schreiben: »Been living with dann in der Welt, fertig, aus«, stecken würde, hätte ich ein
HIV / Since seventeen / Am I sagte der offen schwule Musiker ­Album mit Liebesliedern ge­
Casper Sejersen

­hideous?« Tatsächlich lebt er, dem SPIEGEL . Seine Mutter macht und darin über alles
seit er 17 Jahre alt ist, mit seiner mahnte ihn, sich auf die Fragen Mögliche gesungen, nur nicht
HIV-Infektion. Aus Furcht, als der Öffentlichkeit vorzuberei­ über meine Ängste.« BOR

126 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


Ehrenmann im berg ausgesprochen. Zu der
Verleihung ­erschienen viele
Eldorado Freunde und Weggefährten des
Udo Lindenberg, 76, war sicht- Musikers, zum Beispiel Otto
lich gerührt, als er vor einigen Waalkes, Johannes Oerding,
Tagen im Hamburger Rathaus Olivia Jones, Corny Littmann
seine Auszeichnung als Ehren- und Jan Delay. Lindenberg kam
bürger entgegennahm: »Ham- 1946 im westfälischen Gronau
burg bleibt meine goldene zur Welt und trampte im De-
Start- und Landebahn. Mein zember 1968 als junger Schlag-

Matt Grace / Amazon Studios


persönliches Eldorado«, sagte zeuger nach Hamburg, um dort
er. Lindenberg ist erst der zwei- an die Elbe, die Reeper­bahn
te Musiker – nach Johannes und das Jazzlokal ­Onkel Pö
Brahms –, dem diese Ehre zu- sein Herz zu verlieren. Schon
teilwird. Bislang konnten sich seit vielen Jahren wohnt er im
31 Männer und 5 Frauen mit Hotel Atlantic an der Alster.
der höchsten Auszeichnung, die Lindenberg erzählte in seiner
die Hansestadt zu vergeben Rede auch von den großen Elbisch für dende Fragen gewesen, um
hat, schmücken. Lindenberg ist Träumen, mit denen er damals sich die Figur anzueignen, so
die Nummer 37. In der Ab­ in Hamburg ankam, und davon, Fortgeschrittene Clark. Dass sie selbst Englisch
stimmung des Senats hatte eine wie er sie verwirklichte. Die Ungefähr so, wie sich die wa­ und Walisisch spreche, habe
große Mehrheit dafür votiert, Stadt sei immer gut zu ihm lisische Schauspielerin Morfydd ihr dabei sehr geholfen. Das
dem selbst ernannten Panik­ ­gewesen – und als es ihm mal Clark, 33, ihrer Rolle als Elbin Milliardenprojekt »Die Ringe
rocker die Auszeichnung nicht gut ging, seien es die Galadriel in der Serie »Die Rin- der Macht« bricht seit seinem
­zukommen zu lassen. Nur die Hamburger Ärzte gewesen, die ge der Macht« näherte, wird Start am 2. September auf Ama­
AfD hatte sich gegen Linden- ihm geholfen hätten. NGA sich J. R. R. Tolkien das gedacht zon Prime Video Zuschauer­
haben. Der Autor des Epos rekorde. In dem Fantasyepos,
»Der Herr der Ringe« war ja das die Vorgeschichte des »Herr
Sprachwissenschaftler – und die der Ringe«-Epos erzählt, ver-
Fantasiewelt, aus der seine Bü- körpert Clark die Figur, die in
cher hervorgingen, basierte auf den berühmten Kinofilmen des
Tolkiens erster Leidenschaft: Regisseurs Peter Jackson von
Bevor er Romane schrieb, Cate Blanchett gespielt worden
­erfand Tolkien Kunstsprachen, war. Insgesamt fünf Staffeln der
zum Beispiel Sindarin, die Serie sind geplant. Für Clark,
­Elbensprache. Sie basierte auf die ­bislang unter anderem in
dem Walisischen. In einem der ­Literaturadaption »David
Interview mit dem Online­ Copperfield – Einmal Reichtum
magazin »Looper« berichtete und zurück« (2019) und der
Clark nun, wie sie sich auf die ­Miniserie »Dracula« (2020) zu
Chris Emil Janßen / ddp

Dreharbeiten vorbereitet habe. sehen war, ist dies der Durch-


»Was ist die Sprache von Gala- bruch. Wenn sie Walisisch spre-
driels Herzen?«, habe sie sich che, so Clark, seien ihre Emp-
gefragt. »In welcher Sprache findungen »viel romantischer
denkt sie?« Das seien entschei- und tiefer«. LOB

Kampf gegen den Bildern aus dem queeren All- Whistleblower Edward Snow- Sacklers zu kappen. Im Film
tagsleben New Yorks; ihre be- den. Ihr Goldin-Film beschäftigt »All the Beauty and the Blood­
Mäzen rühmteste Fotoserie hieß »Die sich vor allem mit dem poli­ shed« wird die Fotografin als
Die Arbeit von Frauen, die als Ballade von der sexuellen Ab- tischen Engagement der Künst- tolles Vorbild an Aufrichtigkeit
Prostituierte ihr Geld ver­ hängigkeit«. Die bisexuelle und lerin gegen die Familie Sackler, und Furchtlosigkeit präsentiert.
dienen, sei bis heute mit viel zeitweise bitterarme Künstlerin die zu den reichsten Familien Über ihre Zeit als Prostituierte
Scham behaftet, sagt die Foto- gehörte dieser Subkultur lange der USA zählt. Der von den sagt Goldin darin: »Die Sex­
grafin Nan Goldin, 68, in einem selbst an. Ihre heute auf dem Sacklers regierte Arzneikonzern industrie ist einer der härtesten
neuen Film über ihr Leben. Kunstmarkt teuer gehandelten Purdue gilt als mitverantwort- Jobs der Welt.« HÖB
»Deshalb spreche ich hier zum Fotografien hat Goldin in soge- lich für die Opioidkrise in den
ersten Mal darüber, dass ich nannten Slide Shows in vielen USA. Nebenbei waren die Sack-
eine Weile in New York selbst wichtigen Museen der Welt prä- lers berühmte Kulturmäzene –
Sexarbeiterin war.« Goldin sentiert, demnächst sind sie und Goldin selbst opioidabhän-
­äußert sich in dem bei den Film- in einer großen Werkschau in gig. Seit 2017 hat Goldin
festspielen in Venedig vor­ Stockholm zu sehen. Der nun in ­gemeinsam mit anderen Akti-
gestellten Dokumentarfilm mit Venedig präsentierte Film über vistinnen und Aktivisten Kunst-
dem Titel »All the Beauty and die Künstlerin ist wiederum häuser wie das New Yorker
the Bloodshed«. Die amerika­ ein Werk der US-Dokumentar­ Guggenheim-Museum und die
nische Fotografin wurde in den regisseurin Laura Poitras, Londoner Tate Gallery dazu ge-
Nan Goldin

Achtzigerjahren berühmt mit die mit »Citizenfour« berühmt bracht, ihre oft sehr lukrativen
kühlen, oft wunderbar schroffen ­wurde, einem Film über den Sponsorverbindungen zu den

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 127


BRIEFE Land scheiterte, so verdanken
wir ihm nicht nur die Wieder­
vereinigung Deutschlands, son-
dern auch die Erkenntnis, dass
Russland nach (!) der Ära Putin
den Weg ins »europäische Haus«
finden muss!
Hans-Jürgen Ferdinand, Aachen
Der Westen hätte auf die weit- Unbestritten bleibt, dass Gorba-
reichenden außenpolitischen Zu- tschow die Wiedervereinigung Auch wenn dieser kommende
geständnisse Gorbatschows mit Deutschlands ermöglicht hat. Es Winter gefühlt kälter werden
maximaler Kooperation, vertrau- ist schäbig und feige, ihm nicht wird, ein Blick in die Gesichter
ensbildenden Maßnahmen und von offizieller Seite die letzte von Michail und Raissa auf dem
besonders mit einem hocheffi- Ehre erwiesen zu haben. Dank SPIEGEL -Titelbild wird mich je-
zienten ökonomischen Wieder- ist heutzutage offenbar keine des Mal aufs Neue von innen er-
aufbauplan für die marode Sow- Kategorie mehr. wärmen.
jetwirtschaft reagieren müssen. Sylvia Pürthner, Wiesbaden Karsten Thormaehlen, Wiesbaden
Das ist das tragische Vermächtnis
dieser Jahrhundertfigur. Heute In der Verwendung von Super­ Gorbatschow war gemeinsam mit
zahlen wir die Quittung. lativen sollte man bekannter­ Helmut Kohl der Architekt, zu-
Dr. Volker Brand, Bad Oeynhausen (NRW) maßen vorsichtig sein, aber wenn mindest Förderer des aus deut-
ich Michail Gorbatschow als den scher Sicht historisch wichtigsten
Nun ist auch Michail Gorba­ vielleicht bedeutendsten Staats- Ereignisses der Nachkriegszeit.
tschow verstorben, ein Mann, der mann des 20. Jahrhunderts be- Ungezählt die Konrad-Adenauer-
in der westlichen Welt hochge- trachte, liege ich wahrscheinlich oder Willy-Brandt-Gedächtnis-
achtet, in Russland aber eher nicht ganz daneben. Danke für stätten, -plätze und -straßen.
Spasibo, hoch verachtet wurde und wird. das, was Sie für Deutschland, »Gorbi« hätte es verdient, wenn
Putin hat dann am 7. Mai 2000 Europa und den Rest der Welt der Potsdamer Platz in Berlin
Herr Gorbatschow! übernommen – und jetzt haben geleistet haben, Herr Gorbat- künftig seinen Namen tragen
Nr. 36/2022  Titel: Michail Gorbatschow – wir alle den Salat. Von einem schow. Ich bin 1976 geboren und würde. Ohne ihn keine Wieder-
Der Anti-Putin »Wind of change« sangen die durfte in einem von Frieden und vereinigung.
Scorpions 1990. Heutzutage bläst Wohlstand gezeichneten Umfeld Christoph Schönberger, Aachen
Nach vielen Wochen endlich wie- uns ein ganz anderer, sehr rauer aufwachsen. Das habe ich in letz-
der eine SPIEGEL -Titelgeschich- Ostorkan voll ins Gesicht! ter Konsequenz auch Ihrer Politik
te, die Hoffnung macht. Sie er- Klaus Jaworek, Büchenbach (Bayern) zu verdanken. Spasibo! Note eins
innert angemessen an den für
mich einflussreichsten Staatsmen- Michail Gorbatschow hat als Ers-
Matthias Kaiser, Schutterwald
(Bad.-Württ.) für Einseitigkeit
schen des 20. Jahrhunderts. Und ter im damaligen Ostblock er- Nr. 35/2022 Ex-Verfassungsrichter
das im ganz und gar positiven kannt, dass Werte wie Freiheit Den wichtigsten Satz dieser Andreas Paulus wirft Russland im
Sinne. Auch wenn er am Ende, und Demokratie Voraussetzun- zehn Seiten langen Titelgeschich- SPIEGEL-Gespräch den Missbrauch
des Völkerrechts vor
wie vom Autor beschrieben, zum gen für das Überleben eines Staa- te hat der russische Journalist
ungewollten Lehrmeister eines tes sind. Die Abwesenheit dieser und Autor Mikhail Zygar ge- »Im Irak ging es den USA und
Autokraten wurde. Ohne Mi­chail Werte in der damaligen DDR be- schrieben: »Putin wird man ver- ihren Partnern auch um verbotene
Gorbatschows Reformgeist und deuteten ihr Ende. Das war ihm gessen, an Gorbatschow wird Waffen.« Windelweich schönge-
seinen Glauben an freiheitliche klar. Daher galt er bei den Ost- man sich erinnern.« Damit ist schrieben, Herr Paulus! Der zwei-
Werte säßen ich und viele meiner deutschen natürlich als Hoff- alles über diesen Jahrhundert- te Irakkrieg begann mit einer
Mitmenschen vielleicht noch im- nungsträger, bei den Nomenkla- politiker gesagt. Lüge, vorgetragen von US-Außen-
mer hinter Mauern und Stachel- turkadern aber als Verräter. Die Uwe Tünnermann, Lemgo (NRW) minister Colin Powell. Und er en-
draht in einem anderen Land. Geschichte hat gezeigt, wer sich dete mit einem vernichteten Land
Gorbatschow war ein mutiger am Ende durchgesetzt hat. Möge Der Tod Gorbatschows erinnert und nach Schätzung 500 000 zi-
und aufrichtiger Visionär; in einer man ihn nie vergessen. uns an einen Staatsmann, der sich vilen Toten. Mit »Völkerrecht« hat
Gesellschaft, deren Alltag von Andreas Meißner, Tutzing (Bayern) um ein friedliches Zusammen­ das nichts zu tun.
Gewalt, Unterdrückung und Sta- leben der Europäer mit Russland Walter Wigand, Hamburg
gnation geprägt war, hat er an Nur wenige verdienen die Titel bemühte. Er zeigte, wie ein ein-
menschlichen Wandel geglaubt. »Legende« und »Vorbild«, ob im zelner Mensch die Welt verän- Es ist hübsch zu lesen, wie behut-
Leider hat sich dieser Wandel in Sport, in der Kultur oder in der dern kann. Auch wenn Gorba­ sam die ehemaligen Studenten
seiner Heimat bis heute (noch) Politik. Michail Gorbatschow war tschow letztlich mit seinen Re- mit ihrem gestrengen Dozenten
nicht vollzogen. Der Geist der beides. Treffend sagte er 1989: formbemühungen im eigenen umgehen, aber das täuscht nicht
alten Sowjetunion ist in der Per- »Gefahren warten nur auf jene, die darüber hinweg, dass die Wider-
son Wladimir Putins omniprä- nicht auf das Leben reagieren« – sprüche und Lücken in den Argu-
sent. Bleibt zu hoffen, dass es also auf jene, die ignorant, selbst- KORREKTUR mentationsketten selbst denen
auch im System Putin einen ähn- herrlich, selbstverliebt und abge- Zu »Spiel mit Grenzen« in Heft auffallen, die nicht vom Völker-
lich demokratisch gesinnten Re- hoben agieren. Für ihn waren das 35a / SPIEGEL SPEZIAL 2022 »Sys- recht kommen. Jetzt könnte
former gibt, der in erster Linie Selbstbestimmungsrecht, die Un- tem-Sprenger«, Seite 106: Der Mensch sich auf ein »Geht’s noch,
nach seinem Gewissen handelt abhängigkeit der Völker und die Konsum von Pornografie durch lieber SPIEGEL ?« beschränken
und entsprechend den Status quo Freiheit das Nonplus­­ultra. Und Minderjährige ist grundsätzlich oder doch wenigstens die Note
infrage stellt. nicht zuletzt die Menschlichkeit. nicht strafbar, wohl aber das Ver- eins für Einseitigkeit vergeben.
Cindy Baginski, Potsdam Dr. Marko Michels, Schwerin breiten an unter 18-Jährige. Hans-Joachim Olgemann, Krefeld

128 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022


sich in völlig unproduktiven Kämp­
Sanna Marin hat uns Man kann sich auch Was Sie schildern, fen auf Nebenschauplätzen, wobei
Frauen keinen Gefal- zu zweit als Single kann einem den die wirklich drängenden Problem­
len getan. Sich selbst fühlen. Vor zwei Glauben nehmen, den felder auf diesem Planeten nicht
mit der notwendigen Konsequenz
erst recht nicht, denn Jahren habe ich mich Glauben an die angegangen werden.
vermutlich wird sie nach 40 Jahren end- Menschlichkeit, an Alfons Schmidt, Olsberg (NRW)
fortan nur noch auf gültig von meinem das Recht und nicht
die Länge ihrer Shorts Mann getrennt, bin zuletzt an diesen René Pfisters Beklemmung ange­
sichts der Auswüchse linker Identi­
und ihre Partytaug- jetzt 80 Jahre alt und angeblich so lieben- tätspolitik ist im Großen und Gan­
lichkeit reduziert. genieße das Leben den und allmächtigen zen verständlich. Diese jedoch zur
Schwierig, wenn und mache viele Gott. wesentlichen Ursache für das Er­
starken der »Neuen Rechten« und
Selbstinszenierung Reisen, freue mich Hans Neubig, Goldkronach
populistischer Entgleisungen zu
zum Bumerang wird. über gute Gespräche (Bayern)
erklären, geht eindeutig zu weit.
Susanne Oberheide, Dortmund und viele nette Be- Das in rechten Kreisen beliebte und
kannte und hoffe, inzwischen weitverbreitete Narra­
tiv von der angeblich bedrohten
dass es noch eine Meinungsfreiheit zu bedienen,
Weile so weitergeht. auch in bester aufklärerischer Ab­
Monika Hentschel-Fehn, sicht, ist für die pluralistische De­
Kleinostheim (Bayern) mokratie weitaus schädlicher, als
Nr. 35/2022  Ein 17-Jähriger
verlor in Mariupol seine ganze
die ohnehin vom Mainstream ge­
Nr. 35/2022  Kolumne: Die da Nr. 35/2022  Eine Singlereise Familie – wie lebt man weiter ächteten Übertreibungen linker
unten durch die Lüneburger Heide nach einem solchen Verlust? Identitätspolitiker es jemals sein
können.
Rüdiger Paul, Wedel (Schl.-Holst.)
Gefühlvoll, schaft, die im Vergleich zur Ukra­ solche zu kennzeichnen, werden
ine in Frieden und Wohlstand sie als exemplarisch behandelt. Als alter förderschullehrender
tieftraurig, wütend lebt, sollte es einmal mehr darum Ich jedenfalls habe von der Be­ Mensch finde ich eine derartige
Nr. 35/2022  Ein 17-Jähriger verlor in gehen, Solidarität zu zeigen. Das zeichnung »Mensch mit der Mög­ genderorientierte Sprachentwick­
­ ariupol seine ganze Familie – wie lebt
M Jammern über gestiegene Kosten, lichkeit, schwanger zu werden« lung sehr schade, unter anderem
man weiter nach einem solchen Verlust? die Angst vor dem Verlust von für eine Frau in meinem Alltag da ich das zunehmende Angebot
Privilegien halten wieder mehr noch nie gehört. Dass massenhaft der leichten Sprache toll fand. Er­
Machen Sie unbedingt weiter da­ und mehr Einzug in der öffentli­ »Fake-Transfrauen« sich Zugang leichtert Gendern Menschen mit
mit, den Krieg in der Ukraine chen Diskussion. Man kann nur zu Damentoiletten verschaffen Handicaps oder Nichtmutter­
auch anhand von Einzelschick­ hoffen, dass die Politik ihren Kurs könnten, sagt aus meiner Sicht sprachlern das Verständnis, die
salen zu erzählen. Der Artikel beibehält und wir hier unseren mehr über die Fantasien derer, Kommunikation? Fördert das die
schafft es, dass man sich – bei al­ solidarischen Beitrag weiter leis­ die das ernsthaft für ein relevan­ Integration? Die komplizierten
ler Unterschiedlichkeit zu unserer ten werden. tes Problem halten, als über das Abkürzungen, Anglizismen, Neue­
Situation – in Kolja hineinverset­ Andrea Maria Klepper, Rüsselsheim geplante Selbstbestimmungsge­ rungen sind schon für mich (Abi,
zen kann und mit ihm fühlt und (Hessen) setz. Und nein, niemand wird Studium, aber alt) ein Problem.
hofft, dass er das Erlebte irgend­ zum Gendern gezwungen, auch Name und Wohnort der Redaktion
wann verarbeiten kann. wenn etwa frühere Kabarettisten bekannt
Christoph Zschucke, Bremen Niemand wird zum sich offenbar vor nichts so fürch­
ten wie davor, ihr Publikum »Zu­ Eine scharfe und differenzierte
Diese Schilderung bewegt den Gendern gezwungen schauer« und »Zuschauerinnen« Sicht der Dinge. Einmal mehr als
hartgesottensten Menschen, ist Nr. 35/2022  Debatte: Die Bedrohung zu nennen. Wo gelegentlich lesenswerter Artikel, der hoffent­
an Authentizität wahrscheinlich der Meinungsfreiheit freundliche Ignoranz völlig aus­ lich vermeintliche Besserwisser
nicht zu übertreffen. Sehr gefühl­ reichend wäre, wird jede noch so zum Nachdenken anregt. Wer
voll, aber gleichzeitig tieftraurig Man kann nur hoffen, dass sich sonderbare Aussage zum Maß­ Menschen auslädt, die ihm nicht
bis zur Wut über das Geschehen. Menschen wie Herr Pfister, wel­ stab für eine Debatte erhoben, genehm sind, verkennt, dass er
Helmut Haller, Breisach am Rhein che die Werte der freiheitlichen die sich dann nicht mehr um den eben genau dadurch torpediert,
(Bad.-Württ.) Demokratie schätzen und gefähr­ Regel-, sondern um den Ausnah­ was ihm doch angeblich so wichtig
det sehen, weithin Gehör ver­ mefall dreht. ist, nämlich die Vielfalt der Mei­
Als ich in den Hausmitteilungen schaffen. In seinem Beitrag führt Steffen Kraft, Berlin nungen. Kein Wunder, dass sich
den Kurzbericht von Alexandra er viele Beispiele an, die zeigen, mancher nicht mehr mitgenom­
Rojkov las, habe ich mir zweimal welche absurden Auswüchse das Jetzt weiß ich wieder genau, wa­ men, gar mundtot gemacht fühlt
überlegt, ob ich den Beitrag wirk­ gut gemeinte Bestreben, Minder­ rum ich SPIEGEL lese! Artikel wie und diese aufgeregten Debatten
lich lesen soll. Mir war klar, dass heiten zu respektieren, treiben diese zeugen von einem Weit­ nicht mehr ernst nimmt.
er mich sehr traurig und wütend kann. blick und einem Problembe­ Maren Bielarz, Herne (NRW)
machen wird. So war es dann Sonja Hartung, Waldsolms (Hessen) wusstsein des Verfassers, welche
auch. Kolja hat unermessliches aufgrund der Komplexität der
Leid erfahren und lebt weiter, Irgendwie kann ich mich des Ein­ gegenwärtigen politischen und
entwickelt sogar Ziele. Da bleibt drucks nicht erwehren, dass hier sozialen Lage selten in dieser Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
einem nur tiefe Bewunderung für ein Popanz aufgeblasen wird. An­ Klarheit anzutreffen sind. Unsere gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
den Jungen. Für uns als Gesell­ statt absurde Auswüchse eben als Gesellschaft und Politik verliert unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 37 / 10.9.2022 DER SPIEGEL 129


HOHLSPIEGEL R Ü C KS P I E G E L

Zitate
Der »Kölner Stadt-Anzeiger« beschreibt
die Wirkung eines SPIEGEL -Berichts über
die Energiepolitik des grünen Bundes-
wirtschaftsministers (»Habeck will
zwei Atomkraftwerke als Notreserve«,
SPIEGEL .de am 5. September):

Es ist Montagabend gegen halb sechs, als Ro-


bert Habeck über die Fraktionsebene des
Deutschen Bundestages marschiert und die
Inserat bei Ebay-Kleinanzeigen
Werden Sie Höhle des Löwen ansteuert, die Sitzungsräu-

Aus dem Bonner »General-Anzeiger«: Klimaschutz- me der FDP. Das Nachrichten-Magazin DER
SPIEGEL ist gerade mit einer Exklusivmel-
»Die Nosferatu-Spinne hat acht Beine, dung rausgekommen, die die Liberalen ratlos
ist gelb-bräunlich gefärbt, wird bis zu fünf beauftragte:r und auch etwas wütend zurücklässt. Von
Zentimeter groß und ist derzeit in aller einem Streckbetrieb der verbleibenden drei
Munde – nicht zuletzt, weil sie giftig ist.« Weiterbilden mit E-Learning – deutschen Atomkraftwerke bis zum Frühjahr
wann und wo Sie wollen will der grüne Bundeswirtschaftsminister und
Vizekanzler nichts wissen, von einer Lauf-
zeitverlängerung inklusive neuer Brennele-
mente schon gar nicht. Beides hatte die FDP
mit Nachdruck gefordert.

Die »FAZ« zu den SPIEGEL -Recherchen


zum Film »Sparta« des Regisseurs Ulrich
Seidl (»Ich glaube, sie haben uns betrogen,
Aus dem »Oberbayerischen Volksblatt« weil wir arm sind«, Nr. 36/2022):

Pünktlich vor der Welturaufführung von


Aus dem »Berliner Kurier«: »Sparta« brachte der SPIEGEL einen Bericht
40 Mitarbeiter arbeiten hier, für sie alle über die Dreharbeiten in Rumänien: Dort sei
gilt bereits die 40-Tage-Woche. im Umgang mit Kindern nicht die notwendi-
ge Sorgfalt aufgewendet worden. Einige der
halbwüchsigen Laiendarsteller sahen sich zu
Handlungen vor der Kamera aufgefordert,
die ihnen deutlich unangenehm waren. Min-
Von der Website der »Stuttgarter Zeitung« destens soll Seidl die Darsteller und deren
Eltern unzureichend über sein Projekt infor-
Mit miert haben; dass es um einen Pädophilen
Aus der »Süddeutschen Zeitung«: ging, wurde ihnen nicht gesagt … Seidl re-
»Walter Kempowski, diesem mittlerweile
Abschluss- agierte prompt mit einer Stellungnahme, in
etwas der Zeit gefallenen, großen zertifikat der er »Ambivalenzen zwischen Fürsorge und
­Schriftsteller, habe ich viel zu verdanken.« Missbrauch« einräumt, diese allerdings in den
Mittelpunkt seines künstlerischen Interesses
stellt: hinschauen statt ausblenden. Er hält
aber ausdrücklich fest: »Es ist kein Kind nackt
Eine Auswahl der Inhalte: oder in einer sexualisierten Situation, Pose
oder Kontext gedreht worden.« Das Wort
+ Kernprobleme der nachhaltigen Kontext ist in diesem Zusammenhang mit
Entwicklung Vorsicht zu lesen, denn dieser entsteht ja häu-
+ internationale und nationale fig erst beim Schnitt.
Klimaschutzziele
Die »Hamburger Morgenpost« über den
+ nachhaltige Energieerzeugung vom SPIEGEL aufgedeckten Justizskandal
und -umwandlung um einen Gerichtsgutachter (»Reichsbürger
im Arztkittel«, Nr. 33/2022):
Vom Buffet eines Kreuzfahrtschiffs
+ Initiierung von kommunalen
Klimaschutzaktivitäten
Wer Dr. Klaus Maurer im Internet sucht, wird
+ Handlungsfelder Energie, schnell fündig. Auf YouTube gibt es etliche
Aus einer Anzeige der Sparkasse in der Verkehr, Abfall, Suffizienz Videos, in denen der Arzt seine Ansichten
»Dewezet«: »Am Ostufer von Bodenwerder und Nachhaltigkeit über die »faschistischen Verhältnisse« im »il-
entstehen im Neubaugebiet ›Wohnen an legalen BRD-System« ausbreitet und dabei
der Weser‹ im ersten Bauabschnitt nicht nur etliche Verschwörungstheorien, son-
21 Grundstücke für freistehende Einfami- dern auch geschichtliche Ereignisse munter
lien mit schöner Süd-West-Ausrichtung Alle Kurse und Infos unter durcheinander wirft. Der SPIEGEL berichte-
als Wohlfühlort für Ihr neues Zuhause.« te zuerst über seinen Fall.
akademie.spiegel.de
130 DER SPIEGEL Nr. 37 / 10.9.2022

Das könnte Ihnen auch gefallen