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SENIOREN

Haushaltshilfe?
Bestohlen von der
der Kunden
LUFTHANSA
Saniert auf Kosten

Und wie neue Therapien helfen.


Warum durchwachte Nächte krank machen.
SCHLAFLOS
Baerbocks
GAZAKRIEG

Israel-Dilemma
DEUTSCHLAND
Nr. 15 | 6.4.2024
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Elisabeth Pähtz | Schachgroßmeisterin

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Die
HAUSMITTEILUNG deutsche
Titel | Seiten 8, 11, 14 Beteiligung
Im Medizinstudium lernte SPIEGEL -Redakteurin Veronika
­Hackenbroch viel über Schlafphasen und ihre Funktion, doch am
Unrecht
wie gefährlich es ist, dauerhaft schlecht und zu wenig zu
­schlafen, wurde ihr erst bei der Recherche für die aktuelle
Privat
Privat

Titelgeschichte klar. »Alle sorgen sich um ihren Cholesterin­


spiegel, das Rauchen, Bewegungsmangel«, sagt sie. »Aber wie
wichtig guter Schlaf ist, um gesund zu bleiben, wird völlig unterschätzt.« SPIEGEL -Redakteurin
Jule ­Lutteroth überwachte während der Recherche ihren Schlaf zeitweise mithilfe eines Smartwatch-
Trackers. Das Ergebnis war verunsichernd: »Obwohl ich bislang keine Probleme hatte, fragte
ich mich, ob mein Schlaf wirklich so schlecht ist, wie die App suggerierte: zu kurz, zu wenig Tief-
schlaf, zu viele Unterbrechungen.« Der Rat von Schlafexpertinnen und -experten war dann aber
ein­deutig: Diese Tracker sind nicht zuverlässig, schlafen Sie besser ohne!

Israel | Seite 22

Dominik Butzmann / DER SPIEGEL


Als SPIEGEL -Redakteurin Marina Kormbaki Außenministerin
Annalena Baerbock kürzlich in Israel begleitete, vernahm sie
einen neuen, ungewohnt harten Ton bei der Grünen. Baerbock
tadelte die Israelis für ihre Kriegsführung, mahnte Schutz
für Zivilisten in Gaza an. Zurück in Berlin, fiel Kormbaki und
SPIEGEL -Redakteur Christoph Schult im Gespräch mit Regie-
rungsbeamten und Diplomaten auf, dass es neben Israel und
­Palästina zunehmend häufig um Deutschland und seinen inter-
nationalen Ruf ging. »Die Solidarität mit Israel ist nach wie vor groß«, sagt Kormbaki, »aber
jetzt zeigt sich: Sie birgt hohe diplomatische Kosten für die Bundesrepublik.« Botschaften und
Auslandsbüros politischer Stiftungen melden, dass lokale Partner auf Abstand gehen, in der Uno
werden deutsche Diplomaten geschnitten. Kormbakis Eindruck: »Deutschlands neuer Ton ge­
genüber Israel ist auch der Versuch, das eigene Ansehen zu retten.«

Notre-Dame | Seite 70

Als die Kathedrale Notre-Dame am Abend des 15. April 2019 brann-
te, war Britta Sandberg gerade als SPIEGEL -Korrespondentin in ­Paris
angekommen. Den aufsteigenden Rauch konnte sie damals von der
Straße vor ihrem Büro aus sehen. Als erste deutsche Korresponden-
tin besuchte sie kurz darauf das zerstörte Kirchenschiff, das ohne In diesem Buch gehen
Dach war, mit verkohlten Holzbalken vor dem Altar. Nun besichtig-
te Sandberg die Jahrhundertbaustelle erneut, stieg über Leitern,
SPIEGEL-Autorinnen und
sprach mit Architekten, Schreinern, Steinmetzen. Und sie traf Didier Wissenschaftler den Spuren
DER SPIEGEL

Cuiset, den Chef der Gerüstbauer, den sie bat, ganz oben den wie-
der auf­gebauten Vierungsturm besichtigen zu dürfen. Die Vorschrif-
deutscher Akteure in der
ten ließen das nicht zu, leider, sagte Cuiset. »Wobei man ja mal eine Sklaverei nach: von der mittel-
Ausnahme machen kann. Kommen Sie mit!« Und so stand Sandberg auf einmal in 40 Meter Höhe
»mitten im Himmel von Paris, in dem sich nach fünf Jahren endlich eine Lücke geschlossen hat«. alterlichen Leibeigenschaft über
deutsche Kaufleute und
S-Magazin, 11 FREUNDE
Plantagenbesitzer der Kolonial-
Bitte lächeln! Wie man mehr Freundlichkeit in eine Welt bringt, die sie dringend braucht, erkun- zeit bis zu den Gefangenen
det die neue Ausgabe des S-Magazins. Da darf ein Beitrag über den gelben Smiley als globales
Wohlfühl-Logo nicht fehlen, der hinter den Kulissen knallhart vermarktet wird. im Zweiten Weltkrieg.
Außerdem entführt die Stilbeilage des SPIEGEL auf die Partys der Sex-Positi-
vity-Bewegung. Freundlichkeit ist dort schon deshalb angesagt, weil sie am
ehesten ans erotische Ziel führt.

Seit dieser Woche bietet SPIEGEL .de den SPIEGEL+-Abonnenten noch mehr:
Sie können alle Artikel des Fußball-Magazins 11 FREUNDE bei uns digital ­lesen;
rechtzeitig vor der EM in Deutschland, als Teil ihres Abos, ohne Aufpreis. Seit
Ende 2023 gehört 11 FREUNDE zur SPIEGEL -Gruppe.

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 3


www.dva.de
INHALT TITEL

8 | Insomnie Neue Hoffnung


bei Schlaflosigkeit
DER SPIEGEL 78. Jahrgang | Heft 15 | 6.4.2024
11 | Sind getrennte Betten gut
für die Beziehung?

14 | Warum Jugendliche anders


schlafen

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel Christian
Lindners törichtes Spiel mit
dem Koalitionsbruch

18 | Kritik an Aktionsplan gegen


Wohnungslosigkeit / Neuer
KSK-Chef / Sorge um Kita-­
Finanzierung / Partei­jugenden
gegen »Palästina-Kongress« /
Die Gegen­darstellung

22 | Diplomatie Grat­wanderung
der Bundesregierung zwischen

recep-bg / Getty Images


Kritik an und Loyalität zu Israel

25 | Islamismus Plante die


Hamas Anschläge auf Juden in
Europa?

27 | Grüne Das Scheitern von

Endlich wieder richtig schlafen Familienministerin Lisa Paus

30 | Proteste Eine Klima­


aktivistin, eine Jungbäuerin
TITEL Millionen Menschen in Deutschland liegen nachts wach. Die wenigsten und ein Fußballfan im
gehen zum Arzt, denn kaum jemand weiß, wie gefährlich Schlaflosigkeit für SPIEGEL -Streitgespräch

Körper und Psyche ist. Dabei kann neues Wissen helfen, aus dem Teufelskreis 34 | Strafjustiz Was die
aus Erschöpfung und Ruhelosigkeit auszubrechen. | 8, 11, 14 mutmaßliche Ex-Terroristin
Daniela Klette erwartet

36 | Terrorismus Die Geschichte


der letzten RAF-­Generation

42 | Kriminalität Diebstahl
im eigenen Haus – der Albtraum
einer Pflegebedürftigen

45 | Islam Die Kommer­


Christian Charisius / picture alliance / dpa

zialisierung des Fastenmonats


Parkwood Enter tainment / Sony Music

Ramadan
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

REPORTER

46 | Familienalbum / Welches
Gras ist gerade im Trend?

47 | Eine Meldung und


Lisa Paus Mesut Özil Beyoncé Knowles ihre Geschichte Wie eine
Die Familienministerin droht Der Fußballer wurde als Welt- Der US-Superstar provoziert Stadträtin aus Neuss
an ihrem wichtigsten Projekt zu meister gefeiert und als Konservative mit dem Country- in einer südkoreanischen
scheitern. | 27 Erdoğan-Fan geschmäht. | 84 album »Cowboy Carter«. | 115 Sexdoku landete

4 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
48 | Identität Porträt des 84 | Karrieren Ein Foto und
jüdischen Berliners Ilja, seine Geschichte – Mesut Özils
der nach Israel geht, um dort Weg ins Abseits
zu helfen

53 | Kolumne Leitkultur WISSEN

90 | Überraschende Holz-
WIRTSCHAF T arbeiten der Steinzeitmenschen /
­Analyse: Die Politik der EU
54 | Ausbau der E-Lade- unterstützt die Produktion

Ismael Abu Dayyah / AP


struktur hinkt / Mehr Busfahrer ­klimaschädlicher Lebensmittel
aus dem Ausland
92 | Klimawandel Warum
56 | Karrieren Lufthansa- Störche inzwischen auf Müll­
Chef Carsten Spohr spart sich deponien überwintern und
zum Erfolg es ­ihnen dort erstaunlich gut geht Risse in der Staatsräson
International wächst die Kritik am militärischen Vorgehen Israels im
60 | Standort Die Industrie 95 | Technik Braut KI das Gazastreifen. Auch die Bundesregierung gerät unter Druck. Die
jammert über die hohen Strom- bessere Bier? diplomatischen Kosten für die Solidarität mit Israel sind hoch. | 22
preise – zu Recht?
96 | Raumfahrt Elon-Musk-
63 | Analyse Große Investoren Konkurrent Kam Ghaffarian im
nutzen die günstigen Immobilien- Porträt
preise, um zu kaufen
98 | Kliniken Eine Assistenz-
64 | Bauern Wie junge Land- ärztin hat keine Lust mehr auf
wirte in die Zukunft blicken ihren Job

66 | Merchandising
Das ­lukrative Geschäft mit KULTUR
EM-Sammel­bildchen

BKA / picture alliance / dpa (2)


100 | Comeback von Stefan
Raab / Gaunerserie »Crooks«
AUSLAND
102 | Biografien Die posthum
68 | Hoffnung für die türkische erscheinenden Memoiren von
Demokratie / Feministischer Wolfgang Schäuble
Protest in Italien
106 | Aktivismus Der Nieder- Gesichter der Gewalt
70 | Frankreich Die Wieder­ länder Boyan Slat will die Bis in die Neunzigerjahre mordete die RAF in Deutschland. Viele
auferstehung der Pariser Meere vom Plastikmüll befreien Fälle sind bis heute nicht aufgeklärt. Nach der Festnahme
­Kathedrale Notre-Dame von Ex-Terroristin Klette hoffen Ermittler auf neue Spuren. | 34, 36
109 | Kino Die Berliner
74 | Russland Wie das Regime Regisseurin Soleen Yusef und
einen Jugendlichen wegen ihr Film »Sieger sein«
Landesverrats verurteilte
110 | Diskurs SPIEGEL -­
76 | Israel Sicherheitsexperte Gespräch mit dem Historiker
Eran Etzion über das Per Leo und dem Philosophen
brutale Vorgehen der Armee Daniel-Pascal Zorn über
in Gaza die Auswirkungen ihres Buchs
»Mit Rechten reden«
78 | USA Steve Bannon
bereitet eine nationalpopulistische 115 | Albumkritik Beyoncés
Faba-Photograhpy / Getty Images

Revolution vor »Cowboy Carter« erobert


­Country für die schwarze Musik
80 | Ruanda Die Diktatur, zurück
die der Westen liebt

SPORT

83 | Länge des Golfkurses Hessen statt Afrika


beim Masters in Augusta, USA / SPIEGEL-TV-Programm | 26 Bestseller | 113
Aktuelle Daten zeigen: Immer mehr Weißstörche und andere Zug-
Hall of Fame: Jasmin Paris, Impressum, Leserservice | 116 vögel verbringen den Winter in Deutschland, statt weit nach
Nachrufe | 117 Personalien | 118
­Ultramarathonläuferin Briefe | 120 Letzte Seite | 122 Süden zu fliegen. Was hält sie hier und mit welchen Folgen? | 92

Titel-Illustration: DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 5


Krawallmacher Lindner
LEITARTIKEL Will der FDP-Chef das Ende der Ampelkoalition provozieren?
Es wäre eine Riesendummheit.

rechts, das 49-Euro-Ticket, das 100-Milliarden-Euro-Son-


dervermögen für die Bundeswehr. Bei vielen Bürgerin-
nen und Bürgern blieb vor allem das Bild der Liberalen
als Krawallmacher am ungeliebten Ampeltisch haften.
Die Umfragen für die FDP sind seit Wochen schlecht.
Lindner reagiert darauf mit der trotzigen ­Ansage,
ihn interessiere nur eine Umfrage – die der kommen-
den Bundestagswahl. Glaubt er das wirklich?
Mit den Äußerungen der vergangenen Tage erweckt
Lindner den Eindruck, er wolle die Konfrontation in
der Ampel zuspitzen. Bei der Aufstellung des Haushalts
müssen demnächst Milliarden eingespart werden,
doch er kündigt neue Steuersenkungen an und eine

Amin Akhtar / WELT / ullstein bild


»Wirtschaftswende«.
In Berlin kursieren Gerüchte, Lindner wolle seine
Ampelpartner mit immer neuen Zumutungen so
weit in die Ecke treiben, bis es selbst für SPD und Grüne
­keinen anderen Ausweg mehr gibt als das Ende der
­Koalition. Es gibt dafür ein historisches Vorbild: das
Ende der sozialliberalen Koalition im Jahr 1982.
Tatsächlich erinnert manches an die damalige Lage:

A
FDP-Vorsitzender ls Christian Lindner vor zwei Jahren auf einem die Wirtschaftsflaute, der Streit über weniger oder mehr
Lindner FDP-Parteitag für den Koalitionsvertrag warb, Staat. Damals warb der FDP-Wirtschaftsminister Otto
fiel ein bemerkenswerter Satz: Als Regierungs- Graf Lambsdorff dafür, hart zu sparen, Steuern zu sen-
partei könne es sich die FDP künftig erlauben, anderen ken und den Sozialstaat einzudämmen – ein Affront für
die scharfkantige Rhetorik zu überlassen und selbst weite Teile der SPD. Das »Lambsdorff-Papier« gilt heute
»einvernehmlicher und verbindlicher, einladender zu als wichtiger Schritt auf dem Weg zum Ende der sozial­
formulieren«, sagte er. liberalen Koalition und dem Wechsel der FDP zur Union.
Das war ein sehr vernünftiger Vorsatz des FDP-Vor- Manche in Lindners Partei sehnen sich nach einem
sitzenden. Er hat sich nicht daran gehalten. neuen Lambsdorff-Papier, um die erschöpften Ampel-
Der Finanzminister ist derzeit vor allem mit Angriffen partner dazu zu bringen, der Sache ein Ende zu
präsent. Mal stellt er den Zeitpunkt für den Kohleaus- ­machen. Es wäre für Lindner eine elegante Lösung:
stieg infrage – das geht gegen die Grünen. Dann meldete Die Schuld am Koalitionsbruch trügen die anderen.
er Zweifel am Bürgergeld an, dem Lieblingsprojekt Nur ist die Lage heute für die FDP eine fundamental
der SPD. Seine haushaltspolitischen Ideen lassen sich andere als vor 42 Jahren. Es gibt für sie machtpolitisch
als Kampfansage an beide Koalitionspartner lesen. keine andere Koalitionsoption, kein Auffangbecken für
Ein­vernehmlich und verbindlich klingt Lindner nicht. die FDP-Minister. Für eine schwarz-gelbe Mehrheit
Was treibt den FDP-Chef? Der bevorstehende Par- mit der Union wie 1982 reichte es nicht. Ein Ende der
teitag spielt eine Rolle. Dort will Lindner die Liberalen Ampel würde wahrscheinlich schnell zu Neuwahlen
als eigenständige Kraft präsentieren. Aber womöglich ­führen. Das würde den Umfragen zufolge vor allem der
gibt es noch andere Motive. Bei Grünen und SPD AfD nutzen. Die FDP liefe Gefahr, zum zweiten
­vermuten viele, Lindner lege es darauf an, die Partner Mal in ihrer Geschichte aus dem Bundestag zu fliegen.
so zu provozieren, dass diese am Ende entnervt die Es wäre dann auch das politische Ende Lindners.
­Koalition verlassen. Ein sehr gefährliches Spiel. Sein Kurs könnte selbstzerstörerisch sein. Auf ein
Ihm und seiner Bereits in den ersten Monaten seiner Amtszeit war Ende der Ampel hinzuarbeiten wäre eine politische Tor-
Partei bleibt der Finanzminister in seine alte Oppositionsrolle
­geschlüpft, er gab den Regierungskritiker innerhalb der
heit, mit der sich die FDP als staatstragende und sta­
bilisierende Kraft dieser Republik verabschieden würde.
keine andere Koalition. Es ist eine Aufführung, die sich abgenutzt Es gibt genügend Gründe weiterzuregieren: den Krieg
Wahl: Sie hat, weil sie durchschaubar ist. Vielleicht ist das ein Russlands gegen die Ukraine, die drohende Wahl von
Grund, warum es für die FDP gerade so schlecht läuft. Donald Trump zum US-Präsidenten, das Erstarken
müssen durch- Weil selbst die eigenen Anhänger es längst durchschaut des Rechtsextremismus. Lindner und seiner FDP bleibt
halten und haben. ­keine andere Wahl: Sie müssen durchhalten und
Die Erfolge der FDP in der Regierung gehen dabei ­Kompromisse eingehen. Und die scharfkantige Rhetorik
­Kompromisse weitgehend unter – steuerliche Entlastungen, die ­anderen überlassen. So schwer es auch fallen mag.
­eingehen. ­Reform des Staatsbürgerschafts- und Einwanderungs- Severin Weiland n

6 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


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TITEL

ICH KANN

NICHT

SCHLAFEN
8 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024
TITEL

INSOMNIE Jeder dritte Mensch in Deutschland kommt nachts nicht richtig zur Ruhe.
Schlafmangel lässt das Risiko für Depressionen, Herzinfarkt, Demenz und Übergewicht steigen.
Betroffene verzweifeln oft. Dabei könnte vielen geholfen werden.

S
chlafen war für Barbara J., 56, fast ihr Deutschland jeder Dritte zumindest gelegent- licht-Anteil, verwischt die Unterschiede zwi-
halbes Leben lang ein Drama. Die Sport- lich unter Ein- oder Durchschlafstörungen schen Tag und Nacht. Bei LED-Lampen ist
therapeutin wurde beim leisesten Ge- oder wacht viel zu früh auf. Andere wiederum das Spektrum noch störender für den Schlaf
räusch wieder wach, bis zu achtmal pro Nacht. beschäftigen sich abends so lange mit ihrem als bei den alten Glühbirnen.
»Ich habe immer Ohrenstöpsel benutzt. Im Handy, dass sie morgens kaum wach werden. Unser Tagesrhythmus wird unregelmäßi-
Schlafzimmer durfte kein Lichtchen scheinen. Frauen sind von Schlafstörungen deutlich ger. Viele Frauen und Männer ächzen unter
Ich habe es mit Entspannungs- und Atem- häufiger betroffen als Männer. der Doppelbelastung durch Beruf und Fami-
übungen versucht«, berichtet sie. »Nichts hat Die benötigte Schlafenszeit ist genetisch lie. Nachts feiern wir, spielen am PC und Han-
geholfen.« bedingt, altersabhängig und individuell sehr dy oder sitzen zu lange vor dem Fernsehgerät.
Wie bei vielen Frauen fingen die Schlaf- unterschiedlich, Albert Einstein soll mehr als Streamingdienste wie Netflix halten uns weit
probleme mit den Kindern an. J. war 31 Jah- zehn Stunden pro Nacht geschlafen haben, über die Stunden des Sendeschlusses wach,
re alt, als ihre Tochter geboren wurde, vier während Napoleon Bonaparte angeblich vier den es bei ARD und ZDF bis Mitte der Neun-
Jahre später kam ihr Sohn zur Welt. »Meine Stunden reichten. Doch nur wenige kommen zigerjahre gab. Die Deutschen werden immer
Kinder schliefen lange nicht durch. Mein Ex- mit fünf oder sechs Stunden aus. älter, viele bewegen sich zu wenig und neh-
Mann war mir nachts keine Hilfe. So blieb Jugendliche benötigen laut der US-ameri- men zu. Das beeinträchtigt ebenfalls die
alles an mir hängen«, schildert sie. Tagsüber kanischen National Sleep Foundation durch- Schlafqualität.
wechselte sie Windeln und Hosen, ging auf schnittlich acht bis zehn Stunden Schlaf. Und

D
den Spielplatz, kochte, putzte, spielte, räum- Erwachsene, je nach Alter, sieben bis neun. ie alljährliche Umstellung von der Win-
te auf. Abends, wenn der Vater zu Hause war, Aber rund die Hälfte der Menschen in ter- auf die Sommerzeit hat uns soeben
Fotos: Oscar Wong, Yana Iskayeva, Janiec Bros, Cavan Images, Pony Wang, Erica Shires, Murat Deniz, Tatyana Aksenova, recep-bg, Oleg Breslavtsev (2), d3sign, Basak Gurbuz

gab sie Trainingskurse, und nachts, wenn das Deutschland schläft kürzer als empfohlen. wieder eine Stunde Schlaf geraubt. Der
Mädchen oder der Junge weinte, tröstete J. Schlaflosigkeit gab es wohl schon immer. gesundheitliche Preis hierfür ist Studien zu-
sie und brachte ihnen zu trinken. Wenn sie Sorgen, das Alter, Krankheiten hielten die folge erheblich. 2020 ergab eine Untersuchung
krank waren, saß sie an ihrem Bett. Die tiefe Menschen wach. Die alten Griechen, Shake- US-amerikanischer und schwedischer For-
Müdigkeit, die sie empfand, hielt sie damals speare und Goethe beschrieben die quälende scher, die Daten von rund 160 Millionen Pa-
Derman, Maria Korneeva, Djavan Rodriguez, Frederic Cirou (3), Mikkel William, Westend61, Filmstax, J. Horrocks, iStockphoto (2), SolStock / Getty Images

für normal. »Ich dachte, das ist eben so, wenn Sehnsucht nach dem Schlaf. Doch die Art und tientinnen und Patienten ausgewertet hatten,
man Kinder hat.« Weise, wie wir heute leben, verschlimmert dass in der Woche nach der Zeitumstellung
Dann kamen Eheprobleme, und J. grübel- das Problem. allein in den USA schätzungsweise etwa
te nachts, ob sie sich trennen sollte. Als die Mit der Erfindung der Glühbirne haben 150.000 medizinische Diagnosen zusätzlich
Kinder neun und fünf Jahre alt waren, zog sie wir die Nacht abgeschafft. »Wenn es nachts gestellt werden, weltweit rund 880.000.
mit ihnen aus. Sie lernte ihren neuen Mann zu hell ist, schlafen wir schlechter«, sagt Tatsächlich sind Schlafmangel und Schlaf-
kennen, sie fanden ein Haus im Grünen in ­Christian Cajochen, Leiter des Zentrums für störungen ein wichtiger Risikofaktor für De-
der Nähe von Freiburg im Breisgau. Äußerlich Chrono­biologie an den Psychiatrischen Uni- pressionen, Übergewicht, Diabetes, Herz-
war alles gut, doch die Schlafprobleme blie- versitätskliniken Basel. Satellitenbilder zei- Kreislauf-Erkrankungen, ein schwaches Im-
ben – und ihre Erschöpfung wuchs. gen, dass es heute nur noch wenige Orte in munsystem, Konzentrationsstörungen und
Zuletzt habe sich ihr Leben fast nur noch der zivilisierten Welt gibt, in denen nach Son- Demenz. Laut einer Studie, die 2023 bei
um den Schlaf gedreht, erzählt sie. In ihrem nenuntergang wirklich Dunkelheit herrscht. einem Kongress des American College of Car-
Beruf muss sie fit sein, sie steht vor Patientin- Unsere Städte sind hell erleuchtet. Künst­ diology vorgestellt wurde, hatten Menschen
nen und Patienten, die sie zum Mitmachen liches Licht, insbesondere mit hohem Blau- mit Schlafstörungen ein um 69 Prozent er-
animieren muss. »Ich hatte keine Kraft, keine höhtes Risiko, binnen neun Jahren einen
Energie. Ich dachte, ich schaffe es körperlich Herzinfarkt zu erleiden. Besonders gefährdet
nicht mehr.« Nachmittags war sie so matt, dass ZEITUMSTELLUNG auch hier: Frauen. Umgekehrt können Krank-
sie sich hinlegen musste, und ihr graute vor Seit 1980 gibt es in Deutschland die Mittel- heiten wie Depressionen, Demenz, Parkinson
den Abendkursen, die sie mehrmals pro Woche europäische Sommerzeit in ihrer heutigen oder auch eine Coronainfektion zu Schlaf-
gab. Hatte sie frei, war sie oft zu müde, um Form. Die Umstellung der Uhren erhöht das störungen führen.
etwas zu unternehmen oder Freunde zu tref- Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen »Jeder Mensch schläft mal schlecht, das ist
fen. Lieber ging sie um neun Uhr ins Bett. »Ich und Verletzungen, zeigen Studien. »Wahr- völlig normal«, sagt Dieter Riemann, der die
dachte«, sagt sie, »ich sei ernsthaft krank.« scheinlich ist es so, dass bei Menschen, Abteilung für Klinische Psychologie und Psy-
Tatsächlich wächst bei vielen Menschen die ohnehin ein erhöhtes Risiko für eine chophysiologie am Universitätsklinikum Frei-
die Verzweiflung, wenn es Nacht wird in bestimmte Krankheit haben, die Zeit­ burg leitet. Doch ist der Alltag beeinträchtigt
Deutschland. Rund sechs Millionen nahmen umstellung der auslösende Faktor sein und treten die Schlafprobleme mehr als drei-
2022 wegen Schlafstörungen, medizinischer kann, der diese Krankheit zum Ausbruch mal pro Woche und mindestens einen Monat
Fachbegriff: Insomnie (von lateinisch somnus, bringt«, sagt der Chronobiologe Henrik lang auf, solle man ärztlichen Rat suchen.
Schlaf), ärztliche Hilfe in Anspruch. Die Zahl Oster. Vermutlich wirke sich der Schlaf­ »Es muss dringend ein Bewusstsein dafür
der Betroffenen steigt, zwischen 2012 und verlust und die damit einhergehende entstehen, dass Schlaf nicht etwas ist, das man
2022 nahm sie laut einer Analyse der Barmer- Erhöhung des Stresshormons Cortisol mal so nebenbei weglassen kann«, sagt der
Ersatzkasse um mehr als ein Drittel zu. Dabei negativ auf den Körper aus. Schlafforscher und -mediziner Ulf Kallweit
gehen viele nicht zum Arzt. Angaben der von der Universität Witten/Herdecke, der in
Techniker-Krankenkasse zufolge leidet in Bonn eine schlafmedizinische Praxis betreibt.

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 9


TITEL

»Schlaf bedeutet ja nicht einfach nur, dass ich haben. Man weiß immer mehr darüber, wie
zwischendurch das Licht im Gehirn ausschal- RESTLESS LEGS das empfindliche Gleichgewicht zwischen
te, sondern er hat sehr viele wichtige Funk- Das Restless-Legs-Syndrom kann den Schlaf und Wachsein gesteuert wird, welche
tionen. Schlaf ist von zentraler Bedeutung für Schlaf massiv stören. Betroffene empfinden Kleinigkeiten es stören können, welche Rolle
die Gesundheit und vor allem auch die Hirn- dabei ein unangenehmes Unruhegefühl Stress, zu viel Licht und falsche Ernährung
gesundheit des Menschen.« in den Beinen. Es handelt sich um eine spielen und was man tun kann, um aus dem
neurologische Krankheit, bei der unter Teufelskreis auszubrechen.

F
orscherinnen und Forscher vermuten, anderem im Labor die Eisenwerte unter- »Wir wissen heute viel mehr über die Ursa-
dass die Nervenzellen des Gehirns im sucht werden sollten. Das Syndrom chen von Schlafstörungen. In einigen Berei-
Schlaf eine Art Reset erfahren und da- kann medikamentös behandelt werden. chen wurden sensationelle Fortschritte ge-
durch am nächsten Morgen wieder aufnahme- macht«, sagt Riemann von der Uni Freiburg.
fähiger für neue Reize sind. Ausreichender Neue Medikamente versprächen selbst Men-
und guter Schlaf spielt eine wichtige Rolle Griff zu bekommen, kaufen sich Schlaftees, schen mit extremen Schlafstörungen endlich
dabei, Gelerntes im Langzeitgedächtnis fest- Baldrian, Melatonin-Gummibärchen, schwe- Hilfe. Es gebe keinerlei Zweifel mehr, dass
zuschreiben. re Bettdecken und Ratgeberbücher – meist kognitive Verhaltenstherapien vielen Schlaf-
Zudem wird vor allem im Schlaf, das haben ohne großen Effekt. Bei vielen dauert es lan- losen helfen könnten. Sie lernen dabei den
Tierversuche gezeigt, eine Art Müllabfuhr des ge, bis sie sich professionelle Hilfe suchen, richtigen Umgang mit grübelnden Gedanken
Gehirns aktiv, das »glymphatische System«. wenn sie es überhaupt tun. und Stress, sollen sich an vorgeschriebene
Über diese winzigen Abflusswege werden Wer sich Hilfe suchen will, hat mit neuen Zeiten im Bett halten.
wohl auch beim Menschen im Schlaf Proteine Problemen zu kämpfen, denn es gibt viel zu Sporttherapeutin Barbara J. stieß vergan-
abtransportiert, die sich im Gehirn abgelagert wenige Spezialisten. In Deutschland sind rund genen Herbst in der Zeitung auf eine Anzeige:
haben, etwa das Beta-Amyloid, das eine 1300 Ärztinnen und Ärzte mit der Zusatz- Die Uniklinik Freiburg suchte für eine Studie
­wesentliche Rolle bei der Entstehung der Alz- bezeichnung »Schlafmedizin« tätig. Herz- Menschen mit Schlafbeschwerden, die bereit
heimerkrankheit spielt. spezialisten gibt es fast dreimal so viele. Es waren, eine kognitive Verhaltenstherapie zu
Nehmen die Menschen ihre eigene Schlaf- fehlt Geld für die Forschung, außerdem gibt machen. »Das ist die wirksamste Methode,
losigkeit nicht ernst? Doch! Aber viele schä- es zu wenige Hausärztinnen und -ärzte, die die wir haben«, sagt Riemann, der sich seit
men sich, weil Insomnie in unserer Leistungs- wenigstens die Grundlagen der schlafmedi- rund 40 Jahren mit dem Thema Schlaf be-
gesellschaft stigmatisiert ist. Wer nicht schla- zinischen Behandlung praktizieren. Mancher- schäftigt und federführend an der deutschen
fen kann, gilt schnell als unfähig oder nicht orts müssen Betroffene länger als ein halbes und europäischen Leitlinie zur Behandlung
belastbar. Jahr auf einen Diagnoseplatz in einem Schlaf- von Insomnie mitgewirkt hat. Insgesamt
Andere glauben, dass ihnen sowieso nie- labor warten. Bis die richtige Therapie ge- ­sollen an der »Isleepwell«-Studie mehr als
mand helfen kann. Sie akzeptieren die nächt- funden ist, kann es Jahre dauern. 400 Menschen deutschlandweit teilnehmen,
liche Qual als Teil ihres Lebens oder versu- Dabei gibt es Hoffnung selbst für Men- um herauszufinden, wo die Vor- und Nach-
chen viel zu lange, das Problem allein in den schen, die seit vielen Jahren Schlafprobleme teile einer Onlinetherapie und einer Behand-
lung in Präsenz liegen.
In der Studie dürfen die Patientinnen und
Patienten pro Nacht zunächst nur für wenige
Stunden schlafen. Mittagsschlaf ist nicht vor-
gesehen, ebenso wenig Lesen, Fernsehen oder
Essen im Bett. Wer nachts nicht schlafen kann,
soll aufstehen, Schlafmittel sind tabu.
»Wenn Betroffene diese Instruktionen be-
kommen, reagieren sie normalerweise ent-
setzt«, erzählt Riemann. »Dann erkläre ich
die Logik: Es ist eine Art Schlafdiät.« Ziel sei
es, dass Körper und Geist die einfache Formel
wieder erlernen: Bett = Schlafen. Wer sich an
die Vorgaben hält, ist gewöhnlich nach weni-
gen Tagen so müde, dass er abends zügig in
den Tiefschlaf gleitet und damit auch seltener
wach wird.

H
at die Schlafdiät gut angeschlagen, wird
die Bettzeit behutsam wieder ausge-
dehnt, bis das individuell richtige Maß
gefunden ist. Die Hälfte der Behandelten re-
agiere sehr gut auf die Therapie, ein weiteres
Viertel spüre eine Verbesserung. »Eine Wun-
derheilung gibt es leider nicht«, sagt Riemann.
An einem kalten Januartag sitzt Barbara
J. zum sechsten und damit letzten Mal im
Büro des Instituts bei ihrer behandelnden
Jeannette Petri / DER SPIEGEL

»Ich dachte, ich schaffe es Psychologin Fee Benz. Die Sporttherapeutin


wirkt glücklich: »Ich schlafe jetzt ohne Ohren-
körperlich nicht mehr.« stöpsel, fühle mich ausgeruht und voller Ener-
Barbara J., Sporttherapeutin gie. Und das ganz ohne Medikamente. Es geht
mir super. Sogar meine Augenringe sind ver-
schwunden.«

10 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


TITEL

PARTNERSCHAFT

SOLLTEN PAARE IM SELBEN BETT SCHLAFEN?


Meine Frau und ich haben getrennte Schlafzimmer.
Das ist gut für unsere Beziehung, könnte aber schlecht für die Gesundheit sein.

Dies ist eine Nachricht an meine Frau: Diese Phasen, die bei Erwachsenen etwa
Schatz, wir haben womöglich ein Problem. 20 Prozent des Schlafs ausmachen und
Es könnte sein, dass wir aus gesundheit­ gegen Ende der Nacht verstärkt auftreten,
lichen Gründen bald wieder in einem Bett gelten als wichtig etwa für die Gedächtnis­
schlafen müssen. bildung. Ausgedehnte und ungestörte
Seitdem wir dafür ausreichend Platz REM-Phasen sollen zudem das allgemeine
haben, leisten sich meine Frau und ich ge­ Wohlbefinden steigern. »Durch gute
trennte Schlafzimmer. Damit sind wir REM-Phasen kann die mentale Gesund­
nicht allein. In einer repräsentativen Um­ heit erhalten bleiben«, sagt Studienautor
frage im Auftrag des SPIEGEL gaben Henning Johannes Drews.
23 Prozent der zusammenlebenden Eltern Ein Forschungsteam der University of
an, allein zu schlafen. Arizona kam 2022 zu einem ähnlichen
Dafür gibt es gute Gründe. Meine ­Ergebnis, ohne sich mit REM-Phasen zu
Frau und ich sind sehr unterschiedliche beschäftigen. Seine Studie mit 1007 Pro­
Schlaftypen. Unsere inneren Uhren sind bandinnen und Probanden zeigte, dass al­
nicht aufeinander abgestimmt. Sie ist lein schlafende Menschen insgesamt eine
­Lerche, steht früh auf. Ich bin Eule, bleibe geringere Schlafqualität sowie größere Ri­
gern lang wach. siken haben, an Schlafstörungen zu leiden

MirageC / Getty Images


Auch unser Wärmeempfinden könnte und an Depressionen zu erkranken, als
unterschiedlicher kaum sein. Meine Frau Paare, die sich ein Bett teilen. Die Ergeb­
friert, wenn ich schwitze. Bei 21 Grad nisse hätten ihn und das Team überrascht,
Raumtemperatur braucht sie zwei De­ sagte Studienautor Michael Grandner bei
cken, trägt Wollsocken und schaltet noch der Veröffentlichung.
ein elektrisches Heizkissen ein. Zudem hat Ambauen. »Als unser Kind kam, wurde Sollten meine Frau und ich für unsere
sie einen sehr leichten Schlaf, wird von der der Schlaf noch schlechter. Zwei Men­ Gesundheit also zurück ins gemeinsame
kleinsten Bewegung wach, kann schen, die mich ständig weckten.« Ehebett? Nicht unbedingt. Beide Unter­
Lichtquellen rund ums Bett nicht ertragen. Sie hätten dann »erst mal auf Zeit« in suchungen haben Korrelationen festge­
Und Geräusche erst recht nicht. unterschiedlichen Räumen geschlafen und stellt. Doch die Zusammenhänge müssen
Wenn ich schlafe, habe ich keine nach ein paar Monaten entschieden, dabei nicht kausal sein. Vielleicht haben die For­
­Kapazitäten für akustische oder sonstige zu bleiben. »Wir leben super damit«, sagt schenden nur herausgefunden, dass Men­
Signale. Ich höre nicht, was meine Frau Ambauen. schen mit gesundheitlichen Problemen
hört – mein Schnarchen. Weil auch eine Schon 2009 fanden Somnologen im oder schlechterem Schlaf die Nächte lieber
Gaumen­segeloperation nichts daran ge­ Schlaflabor der Uniklinik Wien heraus, allein verbringen. Daraus ließe sich nicht
ändert hat, haben wir uns für getrennte dass die nächtlichen Bedürfnisse von Frau­ ableiten, dass gemeinsames Schlafen ge­
Schlafzimmer entschieden. So hat sie ihre en und Männern häufig so unterschiedlich sünder sei.
Ruhe und ich ein Bett, in dem ich mich sind, dass getrennte Schlafstätten sowohl »Manche Menschen können besser
nach Belieben ausbreiten kann und auf für die Gesundheit als auch für die Be­ schlafen, wenn sie die Nähe und Gebor­
niemanden Rücksicht nehmen muss. ziehung sinnvoller sein können als das genheit eines Partners oder einer Partnerin
Obwohl wir so deutlich besser schlafen, klassische Ehebett. spüren«, sagt Birgit Högl, Professorin für
fühlte es sich lange wie ein Makel an. »Die beste Schlafsituation ist die, bei Neurologische Schlafmedizin an der Medi­
Wenn Gäste zu Besuch waren und die ge­ der alle gut schlafen und bei denen die zinischen Universität Innsbruck. »Andere
trennten Betten sahen, war mir das un­ psychologischen Grundbedürfnisse befrie­ werden nachts schon durch ­kleine Störun­
angenehm, und ich verspürte den Impuls digt werden«, sagt Ambauen. Meine Frau gen wach und brauchen wirklich ihre
zu erklären, dass in unserer Beziehung und ich scheinen also eine gute Entschei­ Ruhe, um schlafen zu können.« Für eine
­alles in Ordnung sei. dung getroffen zu haben. Wo ist dann das gute Beziehung sei es ­sicher förderlich,
»Viele von uns haben immer noch ver­ Problem? wenn beide ausgeschlafen sind.
innerlicht, dass das gemeinsame In-einem- In den vergangenen Jahren sind zwei Meine Frau und ich werden an unserer
Bett-Schlafen das richtige Schlafen als voneinander unabhängige Studien zu dem Schlafroutine nichts ändern. Allein bin ich
Paar sei«, sagt die Schweizer Paar- und Ergebnis gekommen, dass das Teilen des trotzdem selten, weil sich unser Sohn
Psychotherapeutin Felizitas Ambauen. Bettes die Schlafqualität erhöhen und Ge­ nachts meist irgendwann zu mir schleicht.
»Getrennte Betten werden als Vorstufe sundheitsrisiken minimieren kann. Im Mit Kindern das Bett zu teilen ist laut der
zur Trennung erachtet.« Juni 2020 fand ein Forschungsteam der Studie aus Arizona für die Gesundheit so
Dies sei »einer der größten Mythen Universität Kiel heraus, dass die Dauer ziemlich das Schlimmste, was man ma­
über Paarbeziehungen«. Sie selbst und ihr des sogenannten REM-Schlafes zunimmt, chen kann, weil es vielen Eltern Stress be­
Partner seien ein Beleg dafür. »Ich schlief wenn Paare zusammen schlafen. reite. Mich stört mein Sohn nicht, ich be­
schon immer sehr schlecht, wenn wir REM steht für Rapid Eye Movement, merke kaum, dass er da ist. Ich schlafe ja.
in einem Bett die Nacht verbrachten«, sagt also schnelle Bewegung der Augen. Malte Müller-Michaelis n

11
TITEL

Bernd Har tung

Patientin im Schlaflabor

12 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


TITEL

Mitgebracht hat sie eine dicke gelbe Map­ gesunde Schläfer erleben. Diese Phasen treten
pe, in der sie ihre Schlafaufzeichnungen der Schlechter schlafen im Alter vor allem während des REM-Schlafs auf, der
vergangenen Wochen verwahrt: wann sie ins besonders wichtig für die Stabilisierung von
Bett ging, wie lange sie geschlafen hat, wie 24-Stunden-Rhythmus wichtiger Biomarker, Gedächtnisprozessen ist.
nach Altersgruppe und Uhrzeit
oft sie wach wurde und wie sie sich fühlt. An­ »Bei Insomnie-Patienten vermuten wir,
fangs durfte sie erst um 23 Uhr ins Bett und Körperkerntemperatur dass der Stressfaktor oft die Schlaflosigkeit
musste schon um 5 Uhr aufstehen. »Ich konn­ Cortisol Melatonin selbst ist, also das Sichbefassen mit der Schlaf­
te mich kaum wach halten und zählte die Mi­ Erwachsene Schlafphase losigkeit und der Angst vor einer weiteren
nuten, bis ich ins Bett durfte«, sagt sie. Nach schlaflosen Nacht«, so Riemann. Dass bei

Amplitude
wenigen Tagen schlief sie zum ersten Mal seit diesen Patienten wichtige Phasen und Ab­
vielen, vielen Jahren durch, »ein Wahnsinns­ läufe des Schlafs gestört sind, könnte mög­
gefühl«. licherweise auch eine Erklärung dafür
Inzwischen hat sie ihr richtiges Schlafmaß sein, warum Schlafstörungen das Risiko für
12:00 18:00 00:00 06:00 12:00
gefunden: sieben Stunden. »Das hätte ich nie­ psychische Krankheiten erhöhen, etwa eine
mals erwartet«, sagt J., »ich brauche viel we­ ältere Erwachsene Depression.
niger Schlaf, als ich immer dachte.« So glatt ab circa 65 Jahren Schlafphase Auch klassische Schlafmittel wie Benzo­
wie bei Barbara J. laufe es nicht bei allen, sagt Amplitude diazepine, Zopiclon oder Zolpidem, die auf
Psychologin Benz. »Es ist teilweise wirklich das Gehirn dämpfend wirken, können nega­
hart, besonders im Winter, wenn die Nächte tiven Einfluss auf wichtige Prozesse haben,
so lang sind. Doch wer es durchzieht, kann die während des Schlafs ablaufen sollten.
es schaffen.« 12:00 18:00 00:00 06:00 12:00 Unter anderem unterdrücken sie den REM-
Eine Patientin habe nach zehn Tagen ver­ Schlaf, was sich negativ auf die Erholung
zweifelt angerufen, erzählt Benz, sie habe Dauer der Schlafphasen, unseres Gehirns und damit auf das Gedächt­
abbrechen wollen und dann doch weiterge­ nach Alter, in Minuten nis und die Leistungsfähigkeit auswirken
600
macht. Der Durchbruch kam zwei Wochen kann. Benzodiazepine können abhängig ma­
Zeit bis zum
später. »Sie sagte mir, jetzt sei ›der Dämon Einschlafen chen und erhöhen das Risiko einer Demenz.
ausgetrieben‹ worden. Das Wortbild lässt ah­ 500 nächtliche Hoffnung weckt deshalb ein neues Medi­
nen, wie groß ihr Leidensdruck war.« Wachphasen kament, das sich in seinem Wirkmechanismus
von allen früheren Schlafmitteln unterschei­

D
400
as »zentrale Problem« der Insomnie sei Tiefschlaf det: Daridorexant, ein sogenannter Orexin-
chronischer Stress, sagt Schlafmediziner Rezeptorantagonist, der seit 2022 in der EU
Kallweit. »Oft fangen die Schlafstö­ 300 zugelassen ist und erstmalig für eine längere
REM-Schlaf
rungen in einer besonders stressigen Lebens­ Behandlung von Schlafstörungen eingesetzt
phase an«, erklärt er, »und hören nicht wieder 200 werden darf. Daridorexant hat – nach bis­
auf, auch wenn die Situation eigentlich bes­ herigem Kenntnisstand – kein Abhängigkeits­
ser ist.« Leicht- bis potenzial. Der Wirkstoff hemmt die Wachheit
100
Bei Stress steigt das Stresshormon Cortisol Mitteltiefer Schlaf vermittelnde Wirkung des Botenstoffs Orexin
im Blut an. Unter akutem Stress erhöht Cor­ und fördert den Schlaf.
tisol unsere Aufmerksamkeit und Konzen­ 0 Das neue Medikament zeigt, wie wichtig
trationsfähigkeit, es macht uns wach. Dabei 5 15 25 35 45 55 65 75 85 Grundlagenforschung in der Schlafmedizin
folgt der Cortisolspiegel einem natürlichen S Quellen: »Nature« (2018); Carskadon & Dement (2011) ist: Forscher entdeckten die Rolle des Orexins


Tagesrhythmus: Morgens ist er vergleichs­ im Schlaf-Wach-Rhythmus, als sie die Krank­


weise hoch und abends niedrig, sodass wir »Schlechte Schläferinnen sagen häufig, heit Narkolepsie erforschten, bei der Patien­
gut einschlafen können. dass sie die ganze Nacht kein Auge zugemacht ten immer wieder, auch tagsüber, krankhaft
»Aber wenn Stress ein Dauerzustand ist, hätten«, sagt Psychologe Riemann aus Frei­ einschlummern – da es ihnen am wach ma­
dann kann die Wirkung des Cortisols ins burg. »Tatsächlich schlafen sie anders als ge­ chenden Orexin fehlt.
Gegenteil umschlagen«, sagt Henrik Oster, sunde Menschen. Ihr Schlafprofil sieht so aus,

A
Direktor des Instituts für Neurobiologie an als wären sie in einer Habachtstellung.« Stu­ uch das Hormon Melatonin wird als
der Universität Lübeck. dien konnten zeigen, dass die Patientinnen Schlafhilfe benutzt. Der Botenstoff be­
Wie man in Tierexperimenten festgestellt und Patienten mehr Mikro-Wachphasen als wirkt, dass Körpertemperatur, Blut­
habe, könne ein dauerhaft erhöhter Cortisol­ druck und Energiebedarf abends sinken – es
spiegel dazu führen, dass im Gehirn synap­ ist das Signal für den Körper, müde zu werden
tische Verbindungen gekappt werden und KALTE FÜSSE und einzuschlafen. Als Arzneimittel zugelas­
neuronale Netzwerke schlechter funktionie­ Viele Frauen liegen mit kalten Füßen im sen sind in Deutschland Melatoninpräparate
ren. Es könne im Gehirn »fast zu einer Art Bett und können nicht einschlafen. Vor mit verlängerter Wirkung, etwa für autistische
von neurodegenerativer Veränderung kom­ rund 20 Jahren zeigte eine Studie aus der Kinder mit Schlafstörungen und für Erwach­
men«, sagt Oster, die die Konzentration, die Schweiz einen Zusammenhang zwischen sene ab 55 Jahren. Kurz wirksames Melatonin,
Denkfähigkeit und auch den Schlaf negativ der Einschlafdauer und der Temperatur das in Drogerien und Apotheken frei verkäuf­
beeinflussen könne. Was wir spürten, sei der Füße und Hände. Zum Einschlafen lich ist, kann man einnehmen, wenn man
schwerste Müdigkeit und Erschöpfung. senkt der Körper seine Temperatur ab. nach einer Fernreise ein paar Tage lang an
Hält der Schlafmangel länger an, kann ein Kalte Füße signalisieren, dass das nicht Jetlag leidet und wieder in den richtigen Zeit­
Teufelskreis entstehen. Oft erleben die Pa­ nötig ist, und die Betroffenen bleiben rhythmus kommen will.
tienten nachts dann ein »Hyperarousal«, eine wach. Die Empfehlung der Forschenden: Wer am Wochenende bis in die Puppen
Art Übererregung im Gehirn. Häufig schwe­ Abends ein warmes Fußbad nehmen, schläft und dann am Montag früh rausmuss,
ben Insomnie-Betroffene zwischen den Wel­ Wollsocken tragen oder sich eine kann ebenfalls in eine Art Jetlag geraten. Ge­
ten: Physiologisch gesehen schlafen sie, doch Wärmflasche ins Bett legen. nauso geht es oft Menschen, die regelmäßig
sie glauben, wach zu sein, und wälzen in einer nachts arbeiten müssen: Schichtarbeiterin­
Art Dauerschleife die Probleme des Tages. nen, Krankenpflegern, Polizistinnen und

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 13


TITEL

TEENAGER

20 MINUTEN, DIE VIELES ÄNDERN WÜRDEN


Jugendliche in der Pubertät kommen oft nur schwer aus dem Bett,
sind morgens unkonzentriert und leiden an Schlafmangel. Woran liegt das?

Mit der Pubertät ändert sich alles. Haare Der Schlafbedarf bleibe aber gleich, es schlauer, früher heimzugehen, um den
sprießen, Hormone schießen über, Launen Teenager müssten also eigentlich morgens Schlafbedarf auszugleichen. Die Eulen-­
nehmen zu, und die Bereitschaft schwin- länger schlafen. Doch an Schultagen geht Pubertierenden sind die Partymäuse.«
det, das Licht zu löschen, wenn Eltern dies das nicht. Bei einer Umfrage in Deutsch- Auf Dauer kann ernster Schlafmangel
anmahnen. land erfüllte jeder achte Jugendliche die bei Jugendlichen zu psychischen Er­
Dass Teenager abends nicht schlafen Kriterien von chronischem Schlafmangel, krankungen, Wachstumsstörungen und
wollen, hat nichts mit Rebellion zu Mädchen waren besonders betroffen. ­Übergewicht führen. Und zu Konzen­­
tun, sondern ist körperlich bedingt: Ihre Manche Jungen und Mädchen lassen trations- und Lernschwierigkeiten. Um
innere Uhr verschiebt sich nach hin- vor der Schule den Wecker im Fünf­ zu ­garantieren, dass Teenager in der ­Schule
ten. Aus Frühaufstehern werden Nacht- minutentakt klingeln, müssen noch im aufnahmefähig sind, müsste der Unterricht
menschen. Bett den ersten Kaffee trinken, um über- später beginnen. Darauf ­nehmen jedoch
Ein Grund dafür ist mangelnder Schlaf- haupt wach zu werden. kaum Schulen in Deutschland Rücksicht.
druck. »Jugendliche können viel länger Wegen des Schlafmangels unter der Die Söhne von Charité-Forscher Glos
wach bleiben, ohne müde zu werden«, be- Woche spreche man bei Jugendlichen haben Glück: An ihrer Schule fängt
stätigt Barbara Schneider, Sprecherin der auch von sozialem Jetlag, sagt Schneider. der Unterricht für die Oberstufe erst um
Arbeitsgruppe Pädiatrie der Deutschen »Am Wochenende kommen sie dann 8.30 Uhr an. »Als Kinder waren beide
Gesellschaft für Schlafforschung und nicht aus dem Bett, weil sie den Jetlag aus- ­totale Frühaufsteher«, sagt Glos. »Heute
Schlafmedizin. Dies liege wahrscheinlich schlafen. Zumindest wenn sie dürfen.« kommen sie morgens nur schlecht aus
an den vielen Umbauprozessen in ihrem Die vielen verlorenen Stunden ließen dem Bett. Der spätere Schulbeginn hilft
Körper. sich aber nicht komplett nachholen, sagt ihnen da sehr.«
»Viele Eltern denken, dass sich ihre Glos. »So wie man nicht richtig vorschla- Tatsächlich konnte 2013 eine Studie
Kinder einfach falsch verhielten und fen kann, kann man nur begrenzt nach- der Universität Basel zeigen, dass schon
abends das Handy weglegen müssten«, er- schlafen. Bekommt man unter der Woche 20 Minuten späteres Aufstehen die
zählt die Medizinerin. »Da ist was Wahres jeden Tag ein, zwei Stunden zu wenig Schlafdauer und Tagesform von Jugend­
dran, doch kein Jugendlicher wird um Schlaf, schläft man deswegen ja nicht am lichen positiv beeinflusst.
acht Uhr schlafen, nur weil man ihm das Wochenende 16 Stunden.« Zumal das häu- »Die Diskussion haben wir oft geführt.
Handy wegnimmt.« fig auch die Zeit zum Feiern ist. Der Punkt wird verstanden, aber nicht
Auch der Somnologe Martin Glos, der Wie gut ein Jugendlicher lange Party- ­umgesetzt«, sagt Schlafmedizinerin
an der Berliner Charité forscht, kennt nächte verkrafte, hänge von seinem gene- Schneider. »Die Lehrerverbände sind nicht
die Vorurteile. »Früher herrschte die An- tisch festgelegten Chronotypen ab, sagt einverstanden. Weil sie dann später an­
nahme vor, dass Jugendliche morgens in Schneider. »Die Eulen haben da einen fangen und länger arbeiten müssten.«
der Schule so unaufmerksam sind, weil sie Vorteil. Sie schlafen am nächsten Tag aus, Regelmäßige Schlafzeiten scheinen sich
undiszipliniert sind oder zu lange ausge- selbst wenn es hell ist. Die Lerchen hin- laut einer aktuellen Schweizer Studie
hen. Heute weiß man, sie werden abends gegen können nicht so lange schlafen und ­positiv auf Heranwachsende auszuwirken.
um zehn Uhr einfach nicht müde.« stehen irgendwann doch auf. Für sie wäre Jungen und Mädchen mit einem festen
Schlafrhythmus schlafen besser und länger,
was möglicherweise ihre psychische Ge-
sundheit schützt.
Druck hingegen könne schaden, warnt
Schneider. »Es gibt Jugendliche, die um
neun Uhr im Bett liegen und denken, sie
müssten schlafen, um am nächsten Mor-
gen leistungsfähig zu sein. Klappt das
nicht, kriegen manche eine richtig große
Not, beginnen zu grübeln und kommen
erst recht nicht zur Ruhe.« Dann drohe
eine Einschlafstörung.
Wann sind Sorgen berechtigt? »Wichtig
ist, dass es am Wochenende und in den
­Ferien anders läuft«, sagt die Me­dizinerin.
»Solange Jugendliche dann sieben, acht
Stunden schlafen und danach im Rahmen
Ryan J. Lane / Getty Images

ihrer Pubertät fröhlich sind, ist es okay,


unter der Woche auch mal ­angespannt
und unkonzentriert zu sein. ­Sollte es auch
in Ferienzeiten Probleme mit dem Schla-
fen geben, sollte dies abgeklärt werden.«
Irene Berres, Jule Lutteroth  n

14
TITEL

Künstlern, die mitunter berufsbedingt die


Nacht zum Tage machen. Bei ihnen kommt
neben chronischem Stress eine weitere Haupt-
ursache für Schlafstörungen hinzu: ein Leben
gegen die innere Uhr.

S
o erging es Tobias Münzhauer, der sei-
nen echten Namen nicht in diesem Zu-
sammenhang veröffentlicht sehen will.
Der 39-jährige Berufsmusiker sieht erschöpft
aus. Bis in den späten Abend hat er in seinem
Berliner Studio an einem Projekt gearbeitet.
Sein Job prädestiniert für Schlafprobleme:
Neben unregelmäßigen Arbeitszeiten lastet
auf ihm der finanzielle Druck der Selbststän-
digkeit. Hinzu kommen Tourneen im Aus-
land, Jetlags und gelegentlich unvorteilhafte
Schlafgelegenheiten.
Vor etwa zwei Jahren sei es losgegangen, er
habe nächtelang nur wenige Stunden s­ chlafen
können und zeitweise vor sich hingedämmert.
Gegen die Müdigkeit am Tag trank Münzhauer
große Mengen Kaffee. »Ich habe mich wie fern-
gesteuert gefühlt, völlig neben der Spur«, sagt
er. Während einer Südamerikatournee seien
die Beschwerden so schlimm geworden, dass
er sich auf der Bühne kaum noch auf den Bei-
nen habe halten können.
Einen Auslöser seiner Beschwerden sieht
er auch in einer turbulenten Beziehung. Wäh-
rend Münzhauer es gewohnt war, spätestens
um Mitternacht ins Bett zu gehen, blieb seine
Partnerin oft bis in die frühen Morgenstunden

Katrin Binner / DER SPIEGEL


wach und schlief anschließend bis lange in »Jetlag kann man
den Tag hinein. »Unsere Schlaf- und Wach-
phasen waren völlig unterschiedlich – wir nicht ­verhindern.«
haben beide versucht, uns anzupassen, aber Tanja Becker, Pilotin
das war auf Dauer aussichtslos.« Nach der
Trennung fand er nicht in seinen eigenen
Rhythmus zurück. Seine innere Uhr, der so- weniger stark an die Tageszeit an«, sagt sein ter leiden darunter. Die Folge sind oft massi-
genannte zirkadiane Rhythmus, war aus dem Kollege Henrik Oster, der in Lübeck forscht. ve Schlafstörungen.
Takt geraten. Der SCN steuere den Prozess. »Man kann Um gut zu schlafen, sollte man sich täglich
Die oberste Steuerungszentrale unseres sich die inneren Körperuhren wie ganz viele mindestens 30 bis 60 Minuten bei Tageslicht
Schlaf-Wach-Rhythmus im Gehirn ist der sich drehende Kreisel vorstellen«, so Oster, draußen aufhalten, empfiehlt Cajochen. Drei
supra­chiasmatische Nukleus (SCN). Dieser »die elastisch miteinander verbunden sind, Stunden vor dem Zubettgehen sollte man sich
Nervenkern sendet wie eine Zentraluhr und der SCN hat als größter Kreisel am meis- nicht mehr viel Licht aussetzen, damit die
­Signale an untergeordnete Steuerzentren, im ten Einfluss.« Melatoninproduktion im Gehirn zum richti-
Gehirn, aber auch im Körper selbst. Leider ist die innere Uhr sehr störanfällig. gen Zeitpunkt startet.
Die Aktivität des SCN hängt ab von Licht Schalte man nachts ein Licht an, das einen

T
und Dunkelheit. Wenn es hell wird, gelangen hohen Blaulicht-Anteil habe, sinke der Me- obias Münzhauer hat vieles ausprobiert:
Lichtsignale aus dem Auge zum SCN, der da- latoninspiegel innerhalb von Minuten stark, Hausmittel, alternative Medizin, Mela-
raufhin eine Region im Hirnstamm dazu sagt Oster. Dann könne es schwierig werden, tonin – nichts brachte den gewünschten
bringt, Wachsignale an die Großhirnrinde zu wieder einzuschlafen. Vor allem Schichtarbei- Erfolg. Anfangs habe er auf Cannabis gesetzt,
senden. Dunkelt es abends, wird vom SCN erzählt er. Er merkte jedoch schnell, dass ihm
ein anderer Nervenkern aktiviert, der die die Joints zwar beim Einschlafen halfen, er
Wachsignale hemmt. Zugleich führt Dunkel- KOFFEIN aber schlechter durchschlief. Aus Sorge vor
heit dazu, dass aus einer kleinen Hirn­region, Menschen reagieren unterschiedlich auf einer zu starken Gewöhnung hörte er schließ-
der Epiphyse, Melatonin ausgeschüttet wird, Kaffee: Manche können spät am Tag Kaffee lich damit auf. Münzhauers Hausarzt ver-
das unserem Körper signalisiert: Jetzt beginnt trinken, ohne dass es den Schlaf behindert, schrieb ihm Benzodiazepine, sie brachten
die Ruhephase. andere tun danach kein Auge zu. Koffein hat keine nachhaltige Verbesserung.
»Die innere Uhr steuert viele Körperfunk- eine durchschnittliche Halbwertszeit von Seine Beschwerden besserten sich, als er
tionen, Hormone, den Stoffwechsel, Herz und etwa vier Stunden. Nach dieser Zeit wirkt seinen Lebensstil radikal änderte, so schildert
Blutdruck, und auch sehr viele weitere Orga- noch die Hälfte des konsumierten Koffeins er es. Ihm half es, seinen Tagesablauf minutiös
ne werden von diesem zentralen Ort koordi- im Körper. Die Empfehlung lautet daher: durchzuplanen, und er konsumierte kaum
niert«, sagt Christian Cajochen, Chronobio- Wer Schlafprobleme hat, sollte den letzten noch Koffein. Abends stellt er Smartphone
loge aus Basel. Kaffee zur Mittagszeit konsumieren. und Monitor so ein, dass der Blauanteil des
»Jede einzelne Körperzelle hat ihre eigene Lichts verringert wird. Außerdem lernte
innere Uhr und passt ihre Funktion mehr oder Münzhauer Entspannungstechniken wie Pro-

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 15


TITEL

gressive Muskelrelaxation und Achtsamkeits- der sie in Hamburg um die Alster laufen wür-
meditation. Er treibt jetzt regelmäßig Sport. SCHNARCHEN UND SCHLAFAPNOE de. Auch wenn das in Seoul mitten in der
Die Kombination der Veränderungen zeigte Schnarchen ist nicht gesundheitsschädlich, Nacht ist. Sie vermeidet es, sich zur falschen
bei ihm schließlich Erfolg. kann jedoch ein Zeichen für eine Schlaf­ Zeit Tageslicht auszusetzen.
Könnte Bewegung ein simples Mittel sein, apnoe sein und sollte daher abgeklärt

O
um gesunden Schlaf zu fördern? Die Daten- werden. Bei dieser weitverbreiteten Schlaf­ b man eine Nacht mit wenig Schlaf als
lage ist nicht eindeutig. Aus vielen Studien störung setzt die Atmung aus, in besonders belastend empfindet, macht nach Be-
ließe sich schlussfolgern, dass körperliches schweren Fällen Hunderte Male pro Nacht ckers Selbstbeobachtung einen großen
Training die Schlafqualität oder -Dauer ver- und mitunter minutenlang. Durch den Unterschied aus. »Ich habe für mich versucht,
bessern kann. Dieser positive Befund fand Sauerstoffmangel im Blut erwacht der eine gewisse Gelassenheit zu finden, denn
sich vor allem bei älteren Menschen. Wer je- Schlafende immer wieder kurz. Das Risiko wenn man daliegt und denkt: ›Ich kann nicht
doch unter ernsthaften Schlafstörungen lei- für Herzinfarkte, Schlaganfälle, Depressio­ schlafen‹, kann man sicher sein, dass man
det, wird diese kaum durch Bewegung allein nen und für Verkehrsunfälle steigt deutlich nicht schläft.« Pro Woche ein, zwei Nächte
in den Griff bekommen. an. Lange wurde die obstruktive Schlaf­ nicht gut zu schlafen, kann der Körper ver-
Fitness, Disziplin und ein regelmäßiger apnoe als typisch männliche Krankheit an­ kraften – solange man die anderen Nächte auf
Rhythmus, so gut es eben geht, das ist gesehen, doch inzwischen weiß man, seine Kosten kommt. Beckers Tipp: den Schlaf
auch das Rezept der Lufthansa-Pilotin Tanja dass nächtliche Atemaussetzer ebenso bei als etwas Positives ansehen und ihm mehr
Becker. Sie ist Senior First Officer für den Frauen auftreten. Risikofaktoren sind Alter Raum geben.
Airbus A330 und den A340, sie fliegt im und Übergewicht. Fachleute empfehlen eine Älteren Menschen fällt eine solch positive
­Monat zwei- bis dreimal über viele Zeit­ Gewichtsreduktion. Auf Schlafmittel, Betrachtung häufig nicht leicht. Typischer-
zonen hinweg. Häufig ist sie unterwegs in Alkohol und auf Schlaf in Rückenlage sollte weise brauchen sie länger zum Einschlafen
die USA, nach Kanada, Asien und Südame- verzichtet werden. als Jüngere, sie liegen nachts länger wach und
rika. Drei bis sieben Tage dauert ein solcher wachen oft morgens deutlich früher auf – man
Einsatz. spricht von seniler Bettflucht.
Viele Otto-Normal-Schläfer sind nach fühlen sich stärker psychisch und physisch Das liegt an einer Reihe körperlicher Ver-
einer einzigen zu kurzen Nacht völlig erledigt. eingeschränkt. änderungen: Die Melatoninausschüttung wird
Die 42-Jährige hat zwei Kinder, fünf und sie- Das können Ein- und Durchschlafstö­ im Alter geringer, die Körpertemperatur steigt
ben Jahre alt, ist Mitbegründerin eines Start- rungen sein, Konzentrationsschwierigkei- etwas früher in der Nacht wieder an, und bei
ups, das sich unter anderem um Lichtsteue- ten und Schläfrigkeit am Tag, Reizbarkeit, der Cortisolausschüttung ist die Differenz
rung in Flugzeugkabinen kümmert, und hat Übelkeit, Kopfschmerz oder Magen-Darm-­ zwischen Tag und Nacht nicht mehr so aus-
sich als Coach selbstständig gemacht. Wie Beschwerden. geprägt (siehe Grafik auf Seite 13).
kommt sie bei der Fliegerei und all den ande- »Jetlag kann man nicht verhindern, aber Bei Frauen beginnen oder verschlimmern
ren Aufgaben zu ihrem Schlaf? man kann dem Körper helfen, besser damit sich Schlafprobleme häufig in den Wechsel-
»Als ich mit der Langstrecke anfing, hat zurechtzukommen«, sagt Becker. Ihr Trick: jahren. So war es auch bei Christine K. aus
mich das Reisen sehr angestrengt. Ich wusste, »Ich bleibe immer ungefähr in der deutschen der Nähe von Bonn, die bei Ulf Kallweit in
dass ich etwas ändern muss«, sagt Becker. Zeit.« Nur wenn sie länger als 72 Stunden an Behandlung ist.
Geholfen habe ihr die wissenschaftliche Aus- einem Zielort sei, stelle sie ihre Uhr um. Fliegt Ab Mitte vierzig fing die heute 64-Jährige
einandersetzung mit dem Thema. die Kapitänin etwa von Frankfurt nach Seoul, an, sich tagsüber schlapp und erschöpft zu
2016 schrieb sie als studierte Luftfahrt­ landet sie dort gegen 10.40 Uhr Ortszeit, nach fühlen. Abends schlief sie zwar ein, doch im-
systemtechnikerin an der Charité eine Dok- deutscher Zeit ist es 2.40 Uhr. Während mer häufiger lag sie stundenlang wach, so
torarbeit über Jetlag und fand heraus, dass es draußen Mittagshektik herrscht, zieht sie im schildert sie ihre allnächtlichen Probleme. Sie
große individuelle Unterschiede gibt. Von Hotel die Verdunklungsvorhänge zu und geht befolgte alle Ratschläge für gesunden Schlaf,
zehn Menschen haben im Schnitt vier keine zu Bett. versuchte es, wenn sie nachts wach lag, mit
Jetlag-Symptome. Die anderen spüren Folgen Sie isst zur deutschen Mittagszeit und joggt Lesen, einem Schluck Wasser, verdunkelte
der Zeitverschiebung, zwei bis drei von ihnen zu der Zeit im Fitnessklub des Hotels, zu das Schlafzimmer und kühlte es auf 17 Grad
herunter – nichts half.
Als ihr Mann an Krebs erkrankte und
sie zeitweise um sein Leben bangte, wurde
es schlimmer. Nachts, und bald auch tags-
über, kreisten ihre Gedanken und ließen
sie keine Ruhe finden. Wie getrieben ging
sie jede Nacht dreimal auf Toilette, bekam
im Bett Angstattacken. Häufig schlief sie
so unruhig, dass sie, wenn sie aufwachte,
die Bettdecke am Boden fand. Tagsüber
war K. gereizt, jede Kleinigkeit ärgerte
sie. »Wenn nur jemand zu laut gesprochen
hat, hat mich das aggressiv gemacht«, erzählt
sie.
K. ließ sich durchchecken beim Arzt: die
Schilddrüse, Eisen, Vitamine, alles in Ord-
nung. Sie ließ sich an der Nase operieren, um
Norman Zeb / Getty Images

besser Luft zu bekommen, und sogar testen,


ob sie an ADHS litt – doch eine Ursache
für ihre Schlafstörung konnte niemand fin-
den. Sie machte eine Psychotherapie, die
Digitaluhr bei Nacht ihr zwar half, die schwierige Phase, bis es
ihrem Mann wieder besser ging, durchzu-

16 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


TITEL

stehen – doch schlafen konnte sie immer noch Mit dieser Frage hat sich die Neurologin Aus Sicht der Schlafmedizin könnte man
nicht. Birgit Högl beschäftigt, die an der Medizini­ diese Bedingungen als ungünstig bezeichnen.
Vor zwei Jahren suchte sie bei Kallweit schen Universität Innsbruck den Bereich »Doch die Mosetén reagieren mit erstaun­
Hilfe. Da Christine K. bereits eine Psycho­ Schlafmedizin leitet. Sie wollte wissen: Haben licher Gelassenheit auf die häufigen Unter­
therapie machte, versuchte Kallweit, ihr Lei­ Menschen, die fernab der Zivilisation leben, brechungen.« Keiner der Menschen, mit
den mit Arzneimitteln zu lindern: zunächst die gleichen Schlafprobleme wie wir? denen sie dort gesprochen habe, beklage sich
mit Melatonin, dann mit anderen typischen Über eine Freundin kam die Wissenschaft­ angesichts des nächtlichen Lärms und der
schlaffördernden Medikamenten, mit müde lerin in Kontakt mit den Mosetén. Die indi­ Notwendigkeit, aufstehen zu müssen, und
machenden Antidepressiva und dem neuarti­ gene Volksgruppe lebt im bolivianischen niemand sei deswegen gestresst. »Ich würde
gen Daridorexant. »Nichts davon hat mir ge­ ­Urwald in abgeschiedenen Kommunen, die nicht sagen, dass ihr Schlaf krankhaft zer­
holfen«, sagt K. ­teilweise fern von Straßen und ohne Elektri­ stückelt ist. Sie finden sich einfach mit den
Kallweit versuchte es weiter. »Oft hilft es, zität sind. Gegebenheiten ab. Wenn es notwendig ist,
wenn man die Schlafstörung nicht isoliert »Wenn es dort gegen 19 Uhr dunkel wird, stehen sie auf, und danach legen sie sich wie­
sieht, sondern alle 24 Stunden des Tages in ziehen sich die Menschen in ihre Holzhütten der hin.«
die Therapieüberlegungen einbezieht«, er­ zurück und schlüpfen unter die Moskito­ Eine Segmentierung des Schlafs aktiv zu
klärt er. »Trotzdem muss man manchmal viel netze«, erzählt Högl. Oft lägen sie im Dun­ betreiben, hält Högl für falsch. »Beim Schlaf
ausprobieren.« keln, Kerosinlampen nutzten sie aus Kosten­ kommt es nicht nur auf die Gesamtdauer in­
Seit einem Jahr nimmt K. morgens ein gründen nur zeitweise, auch Kerzen seien nerhalb der 24 Stunden an, sondern auch auf
Antidepressivum. »Inzwischen«, erzählt zu teuer. die richtige Abfolge der einzelnen Schlaf­
sie, »geht es mir besser.« Tagsüber sei sie Bis zum Sonnenaufgang verbrächten die stadien, auf die Kontinuität und darauf, dass
zwar manchmal erschöpft – aber deutlich Mosetén etwa elf bis zwölf Stunden Zeit im der Schlaf dann für Menschen am erholsams­
seltener als früher. Vor allem sei ihre stän­dige Bett, ­kauten Kokablätter, unterhielten sich, ten ist, wenn es Nacht ist.«
Gereiztheit verflogen. Nachts liege sie jetzt hätten Sex. Und schliefen. Zumindest den gelassenen Umgang mit
deutlich weniger wach. Und sollte es doch dem Schlaf könnten wir vielleicht von den

D
einmal passieren, dass sie wach werde und ass die langen Nächte nicht nur erhol- Mosetén lernen. »Wir sollten versuchen, den
nicht mehr einschlafen könne, nehme sie sam sind, erlebte die Forscherin selbst. Schlaf als Geschenk zu sehen. Ich freue mich
das entspannt hin. »Ich lese einfach ein biss­ »Es ist drückend heiß, auch nachts. Die immer, wenn ich ins Bett gehen darf«, sagt
chen, dann schlafe ich wieder ein«, sagt sie. Betten sind aus Holzplanken gezimmert, da- Forscherin Högl. »Und wenn ich nachts auf­
Das qualvolle Gedankenkreisen sei völlig rauf liegen dünne Bastmatten. Die Kinder wache, schaue ich auf die Uhr und denke:
verschwunden. liegen bei den Eltern im Bett. Wenn draußen Super, ich habe noch zwei Stunden. Dann freu
Gelassenheit, sagen Schlafforscher, könn­ Tiere schreien und Hunde bellen, stehen sie ich mich wieder.«
te am Ende einer der wesentlichen Schlüssel auf, um mögliche Raubtiere oder Eindring- Julian Aé, Irene Berres, Veronika Hackenbroch,
zu einem guten Schlaf sein. linge zu verscheuchen.« Jule Lutteroth, Katerine Rydlink, Nina Weber n

SÜDSUDAN: Achok Issac ist erleichtert nach


der Geburt ihres Babys. Unsere Hebamme
Martha A. Jacob ist an ihrer Seite.
© Oliver Barth / msf
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DEUTSCHLAND

DPolG Bayern / dpa


Den bayerischen Polizisten mangelt es: an Jacken und Mützen, an Blusen und Hosen, insgesamt an 21 Uniformteilen. Vieles sei erst nach Monaten
lieferbar, so der Landesverband Bayern der Deutschen Polizeigewerkschaft. Um auf diesen Missstand hinzuweisen, hat die Gewerkschaft
ein Video mit Schauspielern drehen lassen. »Und, wie lange wartest du schon?«, fragt ein Polizist seine Kollegin. »Vier Monate«, sagt sie. Dann
­steigen sie beide aus dem Streifenwagen, nur in Unterhose.

Zu wenig für Wohnungslose


BAUMINISTERIUM Die Strategie der Bundesregierung im Kampf gegen Wohnungslosigkeit stößt auf Kritik.

E in Aktionsplan des Bauministeriums weckt Zweifel, ob


Deutschland die Wohnungslosigkeit bis 2030 beenden kann.
Anfang März hatte das Ministerium von Klara Geywitz (SPD)
einen Referentenentwurf vorgelegt. Der bilde zwar einen »soliden
Kündigungen. Grünenpolitikerin Steinmüller kritisiert, der »viel-
versprechende Housing-First-Ansatz« komme zu kurz. Dieses
Konzept sieht vor, Menschen zuerst eine dauerhafte Wohnung zu
vermitteln. Steinmüller fordert ein Programm mit mindestens
Rahmen«, die Maßnahmen seien aber »bei Weitem noch nicht aus- 50 Millionen Euro für 2025, »um dem großen Bedarf gerecht zu wer-
reichend«, sagte die Grünenabgeordnete Hanna Steinmüller dem den«. Das Bauministerium teilt auf Anfrage mit, der Aktionsplan bil-
SPIEGEL . In Deutschland waren im Verlauf des Jahres 2022 mehr de nicht »alle derzeit laufenden und künftig vereinbarten Maßnah-
als 600.000 Menschen betroffen, wie die jüngste Hochrechnung men« gegen Wohnungslosigkeit ab. Das Vorhaben einer neuen
der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) er- Wohngemeinnützigkeit werde separat verfolgt. Kritik an Investitio-
gab. Als wohnungslos gilt, wer auf der Straße lebt, aber auch, wer nen in den sozialen Wohnungsbau der Länder wies ein Sprecher zu-
etwa in einer kommunalen Unterkunft oder bei Bekannten unter- rück. Die Bundesmittel in Höhe von 18 Milliarden Euro bis 2027
kommt. Aus Sicht der BAG W sei der Aktionsplan »sehr vage«. So würden zu einer »Renaissance« führen. Die Regierung hat sich zum
fehle etwa eine Ausweitung der Schonfristregelung auf ordentliche Ziel gesetzt, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden. MES

18 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


FDP will flexibler müsse die Rüstungsindustrie
DIE GEGENDARSTELLUNG
ihre Kapazitäten »drastisch stei-
aufrüsten
Kafkaesk
gern«, dazu sollten »langfristige
SICHERHEIT Die FDP will sich Abnahmegarantien für Muni-
auf ihrem Bundesparteitag tion und wichtige Waffensyste-
Ende April für mehr Flexibilität me vereinbart werden«. Im
in der Rüstungsindustrie einset- Gegenzug müsse die Industrie Von Alexander Neubacher davon womöglich jeden Mo-
zen. Man benötige »eine Zei- eine bestimmte jährliche Pro- nat neu. »Es bedarf einer um-
tenwende bei den Rahmenbe-
dingungen für Investitionen
und Innovationen im Sicher-
heitsbereich«, heißt es in einem
duktion garantieren. Zudem
will die FDP die Zusammen-
arbeit zwischen ziviler und mili-
tärischer Forschung erleichtern.
S tellen Sie sich eine Frau
Anfang dreißig vor;
nennen wir sie Josefine
K. Sie ist alleinerziehende
fangreichen Einzelfallberech-
nung«, heißt es in der Studie:
»Die Komplexität ist sehr
hoch.«
Leitantragsentwurf des Vorstan- Die Bundesländer sollten dem- Mutter einer fünfjährigen Ich habe den Namen Josefi-
des. Er liegt dem SPIEGEL vor. nach in ihren Landesgesetzen Tochter, für die der Vater kei- ne K. für das Fallbeispiel ge-
»Regulatorische Hürden für In- bestehende Zivilklauseln ab- nen Unterhalt zahlt. Außer- wählt, weil ich beim Lesen der
vestitionen in die Rüstungs- schaffen und darauf hinwirken, dem lebt K.s pflegebedürftiger Studie das Gefühl hatte, in
industrie müssen in der EU und dass Hochschulen freiwillige Vater mit im Haushalt. Jose­ einem Roman von Franz Kaf-
in Deutschland abgebaut wer- Verpflichtungen für nichtmilitä- fine K. hat kürzlich den Job ka gelandet zu sein, wie die
den«, heißt es. Die FDP will rische Forschung streichen. Sol- verloren, als ihr Arbeitgeber Hauptfigur »K.« in Kafkas
künftig auch Investitionen in die che Klauseln seien angesichts pleiteging. Sie macht jetzt »Schloss« oder »Josef K.« in
Rüstungsindustrie »als nachhal- »der Zeitenwende nicht mehr eine von der Bundesagentur »Der Prozess«.
tig« einstufen lassen. Zudem zeitgemäß«, so die FDP. SEV für Arbeit finanzierte Um- Kafkas Figuren verzweifeln
schulung in Teilzeit. Wie man an Regeln, die sie nicht
sich denken kann, ist K. auf ­ver­stehen, an einer vertrack-
Entwicklungshilfe lungsmittel ausgemacht, gut vier Unterstützung vom Staat an- ten Bürokratie, die
Prozentpunkte mehr als im Jahr gewiesen. sich nicht ­bezwingen lässt.
in Lila davor. Die Linke Möhring wirft Was schätzen Sie: Mit wie
GLEICHSTELLUNG Das Ent- dem Ministerium »Purple-­ vielen Behörden muss K. in Familienministerin
wicklungsministerium will ab Washing« vor, also nur behaup- Kontakt treten, damit sie die
dem Jahr 2025 neue Projekte tetes Engagement: »Wer Frauen- Hilfe bekommt, die ihr gesetz-
Paus will das
grundsätzlich nur noch fördern, rechte stärken will, braucht mehr lich zusteht? Bürokratieproblem
wenn sie zur Gleichstellung der finanzielle Mittel statt weniger Die Antwort finden Sie in lösen: mit weiteren
Geschlechter beitragen. Im Jahr
2021 hätten 64 Prozent der Neu-
Geld und Wohlfühl-Feminis-
mus.« Hintergrund der Kritik:
einer Studie, die der Natio­nale
Normenkontrollrat, ein unab-
5000 Bürokraten.
zusagen diesem Kriterium ent- Der Anteil der Entwicklungsgel- hängiges Beratungsgremium Der Kinderzuschlag
sprochen, im Jahr 2025 sollen der am Bruttonationaleinkom- der Bundesregierung, vor eini- wird schätzungsweise nur für
es 93 Prozent sein. Das geht aus men ging bereits 2023 gegenüber gen Tagen veröffentlicht hat. 35 Prozent der berechtigten
einer Antwort des Ministeriums 2022 wohl zurück und wird 2024 Hier die Kurzversion: Kinder tatsächlich abgerufen.
auf eine schriftliche Frage der voraussichtlich noch einmal Bei der Familienkasse muss Zuschüsse für Schulausflüge,
Linkenabgeordneten Cornelia deutlich sinken, schätzt das Ent- K. Kindergeld und Kinderzu- Nachhilfe oder Sportvereine
Möhring hervor. Insgesamt ha- wicklungsministerium laut schlag beantragen, bei der beantragen sogar noch weit
ben Mittel »mit dem Haupt- einem Bericht aus dem Sommer. Wohngeldstelle etwa den Zu- weniger Berechtigte. Der
oder Nebenziel zur Gleichstel- Inzwischen zeichnet sich ab, schuss zur Miete. Bei der Bun- Rest? Hat offenbar kapituliert.
lung der Geschlechter beizu­ dass dem BMZ sogar noch weni- desagentur für Arbeit be- Lisa Paus, die zuständige
tragen« im Jahr 2022 demnach ger Geld zur Verfügung stehen kommt K. ihr Arbeitslosen- Bundesfamilienministerin von
37,21 Prozent aller Entwick- wird als gedacht. JOS geld, beim Jugendamt einen den Grünen, hat erklärt, wie
Unterhaltsvorschuss für ihre sie das Bürokratieproblem lö-
Tochter. sen würde: durch noch mehr
Das Finanzamt ist für K.s Bürokratie. Sie möchte eine
Nachgezählt Kinderbetreuungskosten und neue Behörde mit 5000 Stel-
den Alleinerziehendenfreibe- len gründen, mit dem schönen
Kontenabfragen über das 1,40 trag zuständig. Das Sozialamt Namen »Familiencenter«. Die
Bundeszentralamt für
Steuern, in Millionen zahlt ihr Sozialhilfe und Hilfe bestehenden Behörden wür-
zur Pflege ihres Vaters. Und den damit nicht abgeschafft.
1,14 Die Abfragen helfen
zum Beispiel bei der dann hat K. noch mit der ge- Sollte Josefine K. künftig zum
1,01 Vollstreckung von setzlichen Krankenkasse und Beispiel Bürgergeld beziehen,
Forderungen und der gesetzlichen Pflegeversi- müsste sie sich dann sowohl
bei der Bekämpfung cherung zu tun. an das Jobcenter als auch an
von Steuerbetrug.
Kontostände werden Insgesamt, so die Studie das Familiencenter wenden.
nicht übermittelt.* des Normenkontrollrats, muss Kafka ist seit fast 100 Jah-
Josefine K. acht verschiedene ren tot. Aber solange es Politi-
0,84 Millionen Abrufe Stellen kontaktieren, um kerinnen und Politiker wie
kamen von Gerichtsvollziehern.
zwölf verschiedene Leistun- Lisa Paus gibt, sind seine Bü-
0,56 Millionen Abfragen gen zu beantragen. Und einige cher unsterblich.
kamen von Behörden, zum Bei-
spiel Finanz- und Sozialämtern.
2020 2022 2023
* Unter anderem ist abrufbar, wann Konten, Depots und Schließfächer angelegt An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und
oder aufgelöst wurden. Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quelle: Bundesfinanzministerium


Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 19


CHAPPATTES WELT Drohen Kitas weitere
Geldnöte?
FAMILIENPOLITIK In der SPD
wachsen die Sorgen, dass die
Probleme vieler Kitas sich ver-
schärfen könnten. Hintergrund
ist eine auslaufende Förderung:
Bislang unterstützt der Bund
die Länder im Rahmen des
Kita-Qualitätsgesetzes mit rund
zwei Milliarden Euro im Jahr,
um die Kinderbetreuung zu
verbessern. Fachpolitiker be-
fürchten, dass die finanzielle
Unterstützung danach ganz ein-
gespart werden könnte – auf-
grund der angespannten Haus-
haltslage für 2025. Sollte der
Bund keine dauerhafte finan-
zielle Hilfe zusagen, »wäre das
eine Katastrophe, für die zual-
lererst die Kinder und Familien
im Land die Rechnung zahlen«,
sagt der SPD-Bundestagsabge-
ordnete Erik von Malottki.
»Wir müssen so früh wie mög-
lich dafür Sorge tragen, dass
Kinder gut auf ihr späteres Le-
ben vorbereitet werden«, so
Kritik an Nachwuchsorganisationen so- ernden zionistischen Siedlerko- der Co-Sprecher des »Forum
wie der Jüdischen Studieren- lonialismus und ethnischer Säu- DL21«, einer linken Gruppie-
»Palästina-Kongress« denunion Deutschland hervor. berung des gesamten besetzten rung in der SPD. Von Malottki
ANTISEMITISMUS Israelfeind- Sie warnen, dass sich Gruppen Palästinas« und stellen Israels verweist auf Studien, laut
liche Gruppen planen vom und Personen an der Veranstal- Existenzrecht infrage. Das Mas- denen Lese- und Sprachkompe-
12. bis 14. April in Berlin einen tung beteiligen, »die gegen die saker der Hamas mit 1200 ge­ tenz von Kindern und Jugendli-
»Palästina-Kongress«. Nun for- Existenz Israels agitieren, das töteten Israelis sowie die Ver- chen in den vergangenen Jah-
dern die Jugendorganisationen Massaker des 7. Oktobers als le- schleppung von israelischen Gei- ren abgenommen hat. Es brau-
von SPD, Union, FDP und Grü- gitimen Widerstandsakt oder seln in den Gazastreifen erwäh- che daher »ein klares Signal,
nen die Bundespolitik und die die Hamas als Guerillagruppe nen die Kongress-Initiatoren dass wir in Infrastruktur inves-
Stadt Berlin auf, »gegen den und Freiheitskämpfer bezeich- nicht – sie sprechen hingegen tieren, die es ermöglicht, dass
Antisemitismus und die Terror- nen und sich gegen eine friedli- von einem »Genozid in Gaza«. alle Kinder in Deutschland gut
verherrlichung, die von dem che Koexistenz aussprechen«. Der Senat wird die Veranstal- aufwachsen«. Das Kita-Quali-
›Kongress‹ auszugehen drohen, Die Veranstalter des »Palästina- tung nicht verbieten, prüft aber tätsgesetz der Ampelkoalition
laut zu werden«. Das geht aus Kongresses« fordern ein »Ende ein politisches Betätigungsver- war Ende 2022 verabschiedet
einem Aufruf der politischen des seit über 76 Jahren andau- bot gegen Einzelpersonen. CSC worden. SOG

Neuer KSK-Chef Operationen zur Landes- und Letzte Generation Ganz offen soll der Prozess aber
Bündnisverteidigung zugesagt. auch nicht sein: »Klar ist aber,
BUNDESWEHR Das Kommando Bei einem Besuch sagte Kanzler sucht Ideen dass unsere Basis feststeht: Wir
Spezialkräfte (KSK) der Bundes- Olaf Scholz kürzlich, der Ver- EUROPAWAHL Die Letzte Ge- haben das Ziel einer sicheren
wehr bekommt einen neuen band werde einen Beitrag leis- neration will Bürger beteiligen, und gerechteren Welt für alle.«
Kommandeur. In einer internen ten, »dass niemand unser Land, um zentrale Positionen für ihren Ein fertiges Konzept für die Be-
Personalrunde entschied Vertei- dass niemand unser Bündnisge- Europawahlkampf zu erarbei- teiligung gibt es noch nicht, ent-
digungsminister Boris Pistorius biet angreift«. Der bisherige ten. »Wir werden die deutsche sprechend auch keinen Zeit-
(SPD), dass Brigadegeneral Ale- KSK-Chef Ansgar Meyer wech- Gesellschaft einladen mitzuent- plan. Gewählt wird allerdings
xander Krone die Führung der selt zum Zentrum Innere Füh- scheiden und wirkliche Mitbe- bereits am 9. Juni. Die Letzte
gut 1500 KSK-Soldaten über- rung der Bundeswehr. Er war stimmung ermöglichen«, sagte Generation hatte erst Anfang
nehmen soll. Der Eliteverband seit 2021 im Amt, nachdem Carla Hinrichs, die dem Füh- Februar erklärt, eine eigene Lis-
ist auf die Befreiung von Geiseln Skandale im Verband bekannt rungsgremium der Gruppe an- te bei der Europawahl antreten
im Ausland und für Missionen geworden waren. Brigadegene- gehört. Die Gruppe denke unter lassen zu wollen. Die nötigen
hinter feindlichen Linien trai- ral Krone befehligte zuletzt die anderem über Onlinetreffen, Unterschriften hat sie gesam-
niert und mit modernster Tech- Panzergrenadierbrigade 37, er runde Tische oder Social-Me- melt, mittlerweile ist die Grup-
nik ausgestattet. Für die kom- war im vergangenen Jahr somit dia-Abstimmungen nach, um so pe daher auch zur Wahl zuge-
menden Jahre hat die Bundesre- auch Kommandeur der Land- fünf zentrale Positionen zu er- lassen. Da keine Sperrklausel
gierung die Kommando-Kräfte streitkräfte des schnellen Ein- arbeiten. Es sollen verschiedene gilt, erhofft sie sich mindestens
bei der Nato auch für mögliche greifverbands der Nato. MGB Formate zum Einsatz kommen. ein Mandat. JOS

20 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024

b-11770681
»Für uns ein SPIEGEL: Wieso nicht?
Probst: Viele gehörlose Men-
Riesenschritt« schen sind funktionale Analpha-
Julia Probst, 42, ist Stadträtin beten. Deutsch ist für sie eine
im bayerischen Weißenhorn Fremdsprache, beim Lesen be-
und eine von wenigen ge­ kommen sie nicht 100 Prozent
hörlosen Politikerinnen in der Informationen. Das gilt vor
Deutschland – wie auch allem für Texte, bei denen Kon-
Heike Heubach, die seit Ende text und Hintergrundwissen
März im Bundestag sitzt. fehlen. Ich selbst bin durch das

Roderick Aichinger / DER SPIEGEL


Verbot der Gebärdensprache
SPIEGEL: Frau Probst, mit Heike lautsprachlich aufgewachsen,
Heubach hat der Bundestag seit also mit Deutsch. Ich habe erst
Kurzem seine erste gehörlose später Gebärdensprache ge-
Abgeordnete. Was bedeutet das lernt, deswegen kann ich die
für gehörlose Menschen in Schriftsprache lesen.
Deutschland? SPIEGEL: Sie sitzen seit 2022 im
Probst: Für uns ist das ein Rie- Stadtrat. Wie wurde damals auf

»Ich bin selbst gar kein Kiffer«


senschritt nach vorn. Mit Heike Ihren Einzug reagiert?
Heubach nimmt die Gesell- Probst: Alle haben sich darüber
schaft der Hörenden uns Gehör- gefreut, dass jetzt eine gehör­
lose wahr. Ich freue mich sehr lose Person im Rat ist. Was das
DER AUGENZEUGE Wenzel Červený, 62, aus Asch-
für sie. Aber die vielen behin- Organisatorische betrifft, wurde
dertenfeindlichen Kommentare nicht viel diskutiert. Man hat heim bei München will professionell Cannabis
in den sozialen Medien zeigen, mich einfach gefragt, was ich anbauen. Offenbar um das zu verhindern, hat ihm
dass die Gesellschaft es nicht ge- brauche.
wohnt ist, Menschen mit Behin- SPIEGEL: In Deutschland gibt es
die Gemeinde einen Spielplatz vor die Tür gebaut.
derung in ihre Mitte zu lassen. rund 80.000 Gehörlose, offen-
SPIEGEL: Wieso hat es fast bar nur zwei von ihnen sind als »Ich bin Cannabis-Aktivist. Doch bei einigen Anwoh-
75 Jahre gedauert, bis der Bun- Politikerinnen in Parlamenten Seit mehr als zehn Jahren nerinnen und Anwohnern gab
destag seine erste gehörlose Ab- oder Kommunalparlamenten handle ich unter anderem mit es Bedenken, ich könnte eine
geordnete bekommt? aktiv. Wie kann die Gesellschaft Industrie-Cannabis-Produk- Drogenszene in Aschheim
Probst: Für gehörlose Menschen dafür sorgen, dass es mehr wer- ten, bisher habe ich CBD- etablieren. Es wurde Stim-
ist es schon immer schwierig ge- den? Blüten und -Öle in meinen mung gegen mich gemacht,
wesen, gute Bildung zu bekom- Probst: Das größte Problem Hanfshops verkauft. Auf die vor allem von den Freien
men. Gebärdensprache war seit sind die Kosten für die Dolmet- Legalisierung habe ich mich Wählern. Man wollte mir den
dem Mailänder Kongress im scher. Der Staat muss umden- rechtzeitig vorbereitet. Schon Mietvertrag kündigen, doch
Jahr 1880 bis in die Achtziger- ken und unterstützen, auch in im vergangenen Sommer habe das hat nicht geklappt.
jahre in Europa als Kommuni- den Ortsverbänden. Es muss ich nach einer passenden Im- Und auf einmal, vor rund
kationssprache verboten. Auch die Möglichkeit geben, ein nie- mobilie für einen Anbauver- zwei Wochen, war da dieser
heute noch gibt es wenig gehör- derschwelliges Angebot zu ein gesucht. Anfang Novem- Spielplatz. Es sind nur zwei
lose Menschen, die das Abitur bekommen. Wenn ich einen ber sind wir dann in die rund Wippen und ein kleines blau-
ablegen und studieren. In der Antrag auf Unterstützung stel- 1600 Quadratmeter großen es Haus – direkt vor meiner
Gesellschaft werden Gehörlose le, brauche ich ein Gutachten Räume in Aschheim eingezo- Tür. Ich wusste gar nicht, dass
oft einfach vergessen. Im Fern- über meine Gehörlosigkeit gen, für rund 20.000 Euro ein Spielplatz so schnell ge-
sehen gibt es nur den Sparten- und muss mein Vermögen, Kaltmiete im Monat. nehmigt werden kann. Das
sender Phoenix, auf dem »Ta- mein Einkommen und meinen Zuvor habe ich mich mit Geld hätten sie lieber in be-
gesschau« und »heute-journal« Schulabschluss offenlegen. der Gemeinde abgesprochen reits vorhandene Spielplätze
in Gebärdensprache gedol- Das sind Dinge, die für mich und einen Businessplan vor- in der Gegend stecken sollen.
metscht werden. Deshalb ist es mit meinem Recht auf Inklu- gelegt, schließlich wollte ich Nun steht mein ursprüng­
für mich so wichtig, dass der sion nichts zu tun haben. Sie weder provozieren noch mei- licher Plan in den Sternen,
Einsatz von Dolmetschenden bremsen mich und andere in ne Existenz gefährden. Alles denn im Abstand von
selbstverständlicher wird. der Teilhabe an der Gesell- war peinlich genau auf das 200 Metern zu einem Spiel-
SPIEGEL: Welche Art der Unter- schaft aus und im Engagement Gesetz abgestimmt: Für 500 platz darf kein Cannabis-An-
stützung brauchen gehörlose in der Politik. ESW, KUB Mitglieder sollten rund 25 Ki- bauverein sein. Abhalten lasse
Politikerinnen und Politiker? logramm Cannabis angebaut ich mich aber nicht. Ich habe
Probst: In erster Linie brauchen werden, denn an jeden dürfen mehrere Container für den
wir Dolmetschende für Gebär- ja pro Monat 50 Gramm abge- Anbau bestellt, wenn es hier
densprache. Sie sind weder As- geben werden. Daneben woll- nicht geht, stelle ich sie eben
sistenten noch Betreuer, son- te ich Vorträge, Workshops woanders auf. Und in meinen
dern ein »Werkzeug«, um die und Schulungen zum Thema Räumen kann ich dann einen
Sprachbarriere abzubauen. anbieten, also echte Aufklä- Treffpunkt für den Verein ein-
Spontane Termine hängen da- rungsarbeit leisten. Ich bin richten – gekifft wird halt auf
von ab, ob Dolmetscher verfüg- selbst gar kein Kiffer. Es sollte der anderen Seite des Hauses,
bar sind. Mir helfen auch Video- ein vorbildlicher Betrieb wer- der Konsum ist ja nur in Sicht-
Jascha Pansch

konferenzen mit Untertiteln, den, eine Blaupause für ganz weite verboten.«
damit kommen aber nicht alle Probst Deutschland. Aufgezeichnet von Katherine Rydlink
Gehörlosen zurecht.

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

Außenministerin
Baerbock in Tel Aviv

Deutsches
Dilemma
Dominik Butzmann / photothek / IMAGO

DIPLOMATIE Die Bundesregierung schlägt gegen-


über Israel einen neuen, harten Ton an.
Aus Sorge um die Menschen in Gaza. Und aus
Sorge um Deutschlands Ruf in der Welt.

22 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


DEUTSCHLAND

E »Wir haben viel Soft


s ist laut auf der Terrasse der deutschen Baerbock hat ihr Ministerium angewiesen,
Vertretung in Tel Aviv. Von der Straße mit Jordanien einen Plan für mehr Hilfstrans-
dringen Motorenlärm und Sirenengeheul Power in der arabischen porte nach Gaza zu erarbeiten. Mitte April
hinauf, sodass Annalena Baerbock mitunter
schwer zu verstehen ist. Aber die Bundes-
Welt verloren.« will sie eine Delegation von Völkerrechts­
experten nach Jerusalem entsenden, die mit
außenministerin lässt sich vom Krach nicht be- Niels Annen, Staatssekretär (SPD) israelischen Regierungsvertretern über die
irren. Baerbock ist zum sechsten Mal seit Be- Kriegsführung sprechen sollen. Offensichtlich
ginn des Gazakriegs nach Israel gereist. Sie will misstraut sie Israels Führung.
an diesem Dienstag vor Ostern eine Botschaft Ja, Deutschland trage eine Verantwortung
platzieren. Eine Botschaft des Verdrusses. schen drängen? Steht Deutschland auch dann für die Sicherheit Israels, betont Baerbock.
Es gebe »1000 Argumente von unter- an der Seite Israels? Deutschland trage aber auch »eine Verant-
schiedlichen Akteuren«, woran es liege, dass Bei einigen in der Bundesregierung wächst wortung für das internationale Recht«, sagt
zu wenig Lebensmittel in den Gazastreifen die Skepsis. Aus Sorge um die Zivilbevölke- sie auf der Terrasse der deutschen Botschaft.
gelangten, sagt die Grünenpolitikerin sichtlich rung in Gaza. Aber auch aus Sorge um das Es ist ein Hinweis darauf, dass die Loyali-
genervt. Ihr sei es egal, »wer jetzt wann wie internationale Ansehen Deutschlands. Bot- tät Deutschlands nicht bedingungslos ist. Das
wo an welcher Stelle recht hat«. Für so etwas schaften melden derzeit alarmiert an die Bun- Völkerrecht setzt ihr Grenzen.
sei keine Zeit. »Es kommt allein darauf an, desregierung, dass sich Deutschlands Ruf ver- Deutschlands internationales Ansehen
dass wir die Hilfe jetzt nach Gaza reinkrie- schlechtere. Israel ist dabei, sich global zu gründet nicht zuletzt darauf, dass es glaubhaft
gen«, sagt Baerbock. Ihr Ton ist hart, tadelnd. isolieren. Und Deutschland als seinen Ver- Lehren aus seiner verbrecherischen Vergan-
Ihre Worte sind fordernd. Dass Baerbock, bündeten gleich mit? genheit gezogen hat. Aus eigener Erfahrung
eine selbst erklärte »Freundin« Israels, so Mit der wachsenden Not in Gaza verschie- setzten sich deutsche Regierungen vehemen-
spricht, zeigt: Es hat sich etwas verschoben ben sich die Prioritäten in der deutschen Nah- ter als andere für Menschenrechte, Demo-
im Verhältnis zu Israel. ostdiplomatie. Der Angriff auf Fahrzeuge einer kratie und Rechtsstaatlichkeit ein. Doch seit
Als der Bundeskanzler anderthalb Wochen Hilfsorganisation, bei dem vor wenigen Tagen dem 7. Oktober bekomme man den Vorwurf
vor der Außenministerin in Jerusalem war, sieben Mitarbeiter starben, bestärkt die Zwei- zu hören, man messe mit zweierlei Maß, heißt
klang auch Olaf Scholz ungewohnt kritisch. fel an der Verhältnismäßigkeit von Israels es in Regierungs- und Diplomatenkreisen.
In der Pressekonferenz mit Israels Premier Gegenschlag. Bei ihren früheren Israelbesuchen Eine häufige Frage laute: Warum verurteilt
Benjamin Netanyahu ging Scholz auf Distanz hatte Baerbock das Schicksal der noch rund ihr, dass Russland Krankenhäuser in der
zu dessen Kriegsführung. Zwar sei Israels 130 im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln in ­Ukraine bombardiert, aber nicht, dass Israel
Kampf gegen die Terrororganisation Hamas den Vordergrund gerückt. Diesmal konzen­ palästinensische Kliniken beschießt? Mit dem
legitim. Aber: »So wichtig das Ziel auch sein trierte sie sich auf das Leid der Palästinenser. Verweis darauf, dass Israels Gegenschlag ein
mag, kann es so furchtbar hohe Kosten recht- Nach Angaben der Hamas-kontrollierten Massaker auf seinem Staatsgebiet voranging,
fertigen? Oder gibt es andere Wege, Ihr Ziel Behörden wurden seit Kriegsbeginn mehr als dringen die Deutschen kaum durch.
zu erreichen?«, sagte Scholz. Der Kanzler 33.000 Menschen getötet. Schätzungen der Die diplomatischen Kosten für Deutsch-
sprach Mahnungen aus, getarnt als Fragen. Weltbank und der Vereinten Nationen zu- lands Solidarität mit Israel seien groß, heißt
»Die Sicherheit Israels ist deutsche Staats- folge stehen mehr als die Hälfte der rund 2,3 es in der Regierung. Besonders in der arabi-
räson.« Das ist ein Kernsatz im bundesrepu- Millionen Einwohner des Gazastreifens »am schen Welt, aber nicht nur dort. Die seit dem
blikanischen Selbstverständnis. Scholz sagte Rande einer Hungersnot«. Mehr als eine Mil- russischen Überfall auf die Ukraine verstärk-
ihn, als er am 12. Oktober, fünf Tage nach dem lion Menschen sind obdachlos. ten Bemühungen um die Gunst der Staaten
Überfall der Hamas auf Israel, im Bundestag Humanitäre Fragen stellten sich jetzt »in Afrikas, Lateinamerikas und Südostasiens
sprach. Er bekräftigte das Bekenntnis: »In viel eindringlicherer Härte«, sagt Baerbock hätten gelitten.
diesem Moment gibt es für Deutschland nur über den Dächern von Tel Aviv. Kurz zuvor Nicaragua hat die Bundesrepublik vor dem
einen Platz: den Platz an der Seite Israels.« hat sie den Grenzübergang Kerem Schalom Internationalen Gerichtshof in Den Haag ver-
»In diesem Moment« – aus heutiger Sicht im Süden Israels besucht, von wo aus Last- klagt. Der Vorwurf: Beihilfe zum Völkermord
scheint diesem Satz etwas Vorläufiges anzu- wagen mit Hilfsgütern nach Gaza fahren. Im im Gazastreifen. In der Bundesregierung
haften. Er liest sich, als ahnte Scholz da schon, Gespräch mit den Grenzbeamten gewann rechnet man nicht damit, dass die Klage Erfolg
in welches Dilemma der Gazakrieg die Bun- Baerbock wohl den Eindruck, dass die Israe- hat. Und doch schwingt verletzter Stolz mit,
desregierung stürzen würde. Tun sich jetzt lis nicht alles unternehmen, um eine Hungers- wenn Diplomaten über das Verfahren reden.
Risse auf in der Staatsräson? not zu verhindern. Sie glaubt offenbar, die Ausgerechnet Nicaragua, selbst kein Leucht-
Nach dem Überfall der Hamas auf Israel Dinge selbst in die Hand nehmen zu müssen. turm der Freiheit, schickt sich an, Deutschland
am 7. Oktober, als die Terroristen mehr als vorzuführen. Das tut weh.
1200 Männer, Frauen und Kinder töteten und In der Uno werden deutsche Diplomaten
rund 240 Menschen entführten, war Berlins bedrängt, wenn sie sich zu den Gräueltaten
Solidarität groß. Keine andere EU-Regierung der Hamas äußern. Bei der jüngsten Sitzung
entsandte ihre Vertreter so oft nach Jerusa- des Exekutivrats der Unesco am 22. März in
lem. In internationalen Institutionen setzte Paris wurde die deutsche Vertreterin von Tei-
sich die Bundesregierung für Israels Interes- len der Versammlung ausgebuht, als sie von
sen ein. Sie lieferte Rüstungsgüter. der sexualisierten Gewalt der Terroristen
Doch die Reaktion Israels erweist sich als sprach. Dass die deutsche Kandidatin bei der
Praxistest für die Belastbarkeit des deutschen Wahl für ein Richteramt am Internationalen
Beistands. Je länger der Krieg dauert, desto Strafgerichtshof durchfiel, deuten einige als
stärker zeigen sich Absetzbewegungen. Noch Strafe für Deutschlands Haltung pro Israel.
Abdel Kareem Hana / AP

sind sie vor allem rhetorischer Art. Die Schär- Im vertraulichen Gespräch mit arabischen
fe in Baerbocks Ton, die Zweifel in Scholz’ Regierungsvertretern sei der Ton keineswegs
Worten. Aber was, wenn das Leiden in Gaza rau, berichten Diplomaten. Die arabischen
schlimmer wird? Was, wenn Israels Regierung Führer zeigten sich oft erstaunlich pragma-
Ernst macht mit ihren Plänen für eine Boden- tisch. Doch der Druck der »arabischen Stra-
offensive in Rafah, wo sich 1,4 Millionen Men- Zerstörtes Auto von Helfern in Gaza ße«, also aus der Bevölkerung, die sich stark

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 23


DEUTSCHLAND

mit der Sache der Palästinenser identifiziere, satzes«, sagte der Außenpolitiker Nils Schmid
veranlasse die Regierungen, demonstrativ auf Ende Februar dem SPIEGEL. Der Vorstoß war
Abstand zu Deutschland zu gehen. mit der Partei- und Fraktionsführung abge-
Die Bundesregierung bemüht sich um sprochen. SPD-Chef Lars Klingbeil zog nach.
Schadensbegrenzung. So stattete Baerbock In einer außenpolitischen Grundsatzrede sag-
auf ihrer Nahostreise dem neuen palästinen- te er, es gebe »erhebliche Zweifel«, dass Israel
sischen Regierungschef Mohammad Mustafa in seinem Recht auf Selbstverteidigung das
einen Besuch ab, obwohl er noch nicht ver- Völkerrecht achte.
eidigt war. Unmittelbar vor ihrem Eintreffen Zwei Tage zuvor hatte Kanzler Scholz beim
in Ramallah teilten Außen- und Entwicklungs- Treffen mit Netanyahu gesagt: »Wir können
ministerium mit, dass sie die Hilfe für Paläs- nicht dabei zusehen, wie Palästinenser ver-
tinenser erhöhten. Ob es dem Image nützt? hungern. Das sind nicht wir, das ist nicht, wo-

Kay Niet feld / dpa


Kurz nach Baerbock reiste Niels Annen, für wir stehen.« Im Kanzleramt hatten sie
Staatssekretär im Entwicklungsministerium, lange an diesen Worten gefeilt. Scholz geht
in das Westjordanland, er ist häufig in Nahost. zwar nicht so weit wie Baerbock. Aber diese
Annen sagt: »Wir haben viel Soft Power in Regierungschefs Netanyahu, Scholz* Äußerung markiert eine Abkehr von seiner
der arabischen Welt verloren.« Position zu Beginn des Krieges, als er »keine
Annen war in der vorigen Legislaturperio- allem Außenministerin Baerbock verpflich­ Zweifel« hatte, dass Israel im Kampf gegen
de Staatsminister im Auswärtigen Amt. Da- tet sieht.« die Hamas das Völkerrecht einhalten werde.
mals, nach dem großen Flüchtlingszuzug von Der frühere EU-Parlamentspräsident und Der Satz missfiel damals vielen in der SPD,
2015/2016, stand Deutschland in arabischen SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist Vor- aber sie schwiegen. Jetzt wird die Kritik am
Ländern hoch im Kurs. Dass das Land rund sitzender der FES. Der Gazakrieg schlage sich israelischen Vorgehen von Tag zu Tag lauter.
eine Million Syrer aufgenommen hat, rech- im Arbeitsalltag der Stiftung nieder, sagt er. Niemand dürfe am Verteidigungsrecht Is-
nete man den Deutschen hoch an. »Die Bun- »Ein Beispiel: Kinder unserer israelischen raels rütteln, sagt Bundestagsvizepräsidentin
desrepublik stand stets zur Sicherheit Israels Ortskräfte sind in Gaza als Soldaten am Krieg Aydan Özoğuz (SPD) und erinnert daran,
und zu seinem Existenzrecht. Trotzdem wa- beteiligt – an dem Krieg, vor dem wir unsere dass die Hamas »weiter furchtbare Kriegsver-
ren in der arabischen Welt die Erwartungen Ortskräfte in Gaza und deren Kinder beschüt- brechen« begehe. »Israels Verteidigung darf
gegenüber Deutschland sehr hoch, die Be- zen mussten.« aber nicht zu Vergeltung werden«, fordert sie.
ziehungen freundschaftlich«, sagt Annen. Die Kritik an Deutschland führt Schulz auf Israels Botschafter in Berlin, Ron Prosor,
Er erklärt sich das auch mit dem entwick- einen Generationenwandel zurück. »Die öf- nimmt die lauter werdende Kritik mit Sorge
lungspolitischen Engagement Deutschlands fentliche Zurückhaltung der Bundesregierung zur Kenntnis. »Wir hören unseren Freunden,
und dessen Unterstützung für einen künftigen bedarf zunehmend der Erklärung, weil die Deutschland und den USA, aufmerksam zu«,
palästinensischen Staat. Heute spürt Annen Erinnerung an die deutschen Verbrechen aus sagt er. Es mache aber einen Unterschied, ob
eine Entfremdung: »Zurzeit registrieren wir der Nazizeit verblasst – und mit ihr das Ver- man Israel gegenüber konstruktiv oder mit
vor allem bei unseren zivilgesellschaftlichen ständnis für die Verpflichtung Deutschlands »erhobenem Zeigefinger« auftrete, während
Partnern in der Region eine große Enttäu- gegenüber Israel«, sagt er. Diese Verpflichtung Israel gegen die Hamas kämpfe.
schung über unsere als einseitig wahrgenom- bestehe fort, sie bleibe Staatsräson. Zugleich Man dürfe jetzt »keine Täter-Opfer-Um-
men Position.« aber werde von Deutschland zu Recht erwar- kehr« betreiben, sagt auch die CDU-Abge-
Besonders die politischen Stiftungen, die tet, dass es zum internationalen Völkerrecht ordnete Julia Klöckner, Mitglied in der
weltweit Repräsentanzen haben, sind ein stehe. Schulz kommt zu dem Schluss: »Nicht Deutsch-Israelischen Wirtschaftsvereinigung.
Frühwarnsystem. Sie stehen in direktem Kon- nur wir als Stiftungen, die deutsche Diploma- »Das Blutbad, das Quälen von israelischen
takt zu örtlichen Vereinen, bekommen Stim- tie insgesamt steht unter Druck.« Menschen durch die Hamas musste zu einer
mungen unmittelbar mit. Ganz gleich ob man Berlin versucht, diesen Druck vorsichtig Reaktion Israels führen«, so Klöckner.
mit Vertretern der CDU-nahen Konrad-Ade- zu mindern. Baerbock ist das eine Ventil, das Der Gazakrieg stellt die Regierung vor eine
nauer-Stiftung spricht, der SPD-nahen Fried- andere ist die SPD. »In der SPD wachsen die Zerreißprobe. Einerseits ist sie der Sicherheit
rich-Ebert-Stiftung (FES) oder der Grünen- Zweifel über die Verhältnismäßigkeit des Ein- Israels verpflichtet, andererseits muss sie hel-
nahen Heinrich-Böll-Stiftung, ob in Nordafri- fen, den Tod von Zivilisten in Gaza zu verhin-
ka oder in Nahost – die Schilderungen ähneln dern. Den Israelis will sie weiterhin Rüstungs-
sich. Sie handeln von Ablehnung, Vertrauens- Stimmungswechsel güter liefern, über Gaza lässt sie Hilfspakete
verlust, erschwerten Arbeitsbedingungen. abwerfen. Regierungsvertreter bemühen sich
Langjährige Partnerorganisationen kündigten Befragte in Deutschland, die das militärische gar nicht erst, diesen Widerspruch aufzulösen.
Vorgehen Israels im Gazastreifen für
die Zusammenarbeit auf, Veranstaltungen wür- gerechtfertigt bzw. nicht gerechtfertigt Stattdessen ist viel von Dilemmata die Rede.
den abgesagt, es gebe Boykottaufrufe. Man halten, in Prozent Kanzleramt und Auswärtiges Amt sind ge-
verprelle Menschenrechtler und Friedensakti- willt, dieses Spannungsverhältnis noch eine
gerechtfertigt nicht gerechtfertigt
visten – also jene, die man doch stärken wolle, ganze Weile auszuhalten. Der Ansehensver-
60
klagt eine deutsche Vertreterin. lust sei der Preis, den Deutschland dafür zah-
»Deutschland hat in der arabischen Welt le, dass es als einer von nur wenigen Staaten
ein massives Glaubwürdigkeitsproblem«, 40 in Jerusalem noch Gehör finde. Der Draht zu
sagt Ronja Schiffer, die das FES-Büro in K
­ airo den Israelis sei wichtig, um auf eine Verbes-
leitet. »Unsere zivilgesellschaftlichen Partner 20
serung der Lage in Gaza hinzuwirken und
erachten Deutschlands Haltung gegenüber dem Ziel einer Zweistaatenlösung näherzu-
Israels Kriegsführung in Gaza als zu unkri- kommen, heißt es in Berlin.
tisch. Sie fragen uns, wie sich die von 0 Es klingt nach einem Plan. Vielleicht ist es
Deutschland gebilligte Militäroperation Dez. Jan. Febr. März aber nur eine Hoffnung.
mit wertebasierter und feministischer Außen- 2023 2024 Marina Kormbaki, Christoph Schult  n
politik vertrage, der sich die Ampel und vor S Quelle: Forschungsgruppe Wahlen für ZDF-»Polit-


barometer«; mindestens 1234 Befragte; an 100 fehlende


Prozent: »weiß nicht«; die statistische Ungenauigkeit der Lesen Sie auch ‣ Ein israelischer Sicherheitsexperte
* In Jerusalem im März. Umfrage liegt bei bis zu drei Prozentpunkten über die Brutalität der Armee in Gaza | 76

24 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


DEUTSCHLAND

vier festgenommenen Männer auf


dem Handy fanden, führten die Er-
mittler auf die Fährte.
Die deutschen Fahnder gehen da-

Pistolen im Plastiksack
von aus, dass die Hamas bereits seit
vergangenem Frühjahr mögliche An-
schläge in Europa vorbereitet. Beam-
te des Bundeskriminalamts (BKA)
konnten in Flugdatenbanken rekon­
ISLAMISMUS Plante die Terrororganisation Hamas Anschläge auf Juden in struieren, dass der mutmaßliche
Hamas-­Terrorist Abdelhamid Al A.
Europa? Vor Weihnachten nahm die Polizei vier Verdächtige fest. von Februar 2023 an achtmal nach
Fotos auf einem Handy führten die Fahnder inzwischen zu einem Waffenversteck. Berlin reiste. Mal flog er von der li-
banesischen Hauptstadt Beirut über
Kopenhagen ein, mal kam er aus

D
ie zwei Männer in dem blauen deutschem Boden – das hat es bislang ­Catania auf Sizilien. Bei der Einreise
Citroën C3 Picasso hatten auf- nicht gegeben. wies der mutmaßliche Islamist sich
fälliges Gepäck dabei, als Bun- Sollte die Miliz ihre Strategie än- mit einem italienischen Reisepass für
despolizisten sie hinter der deutsch- dern und von der Bundesrepublik aus Flüchtlinge aus.
polnischen Grenze auf der A15 in Anschläge vorbereiten, würde dies In Deutschland hatte Al A. 2015
Brandenburg anhielten. Einen lan- die Sicherheitslage hierzulande dra- Asyl beantragt – ohne Erfolg. Einige
gen Holzstock, ein Zelt, Rucksäcke, matisch verschlechtern. Auch andere Jahre lang lebte er als Geduldeter in
ein Paar Gummistiefel, eine Schaufel. Gruppen wie der »Islamische Staat« Brandenburg, dann verschwand er.
An den Hosen der beiden klebte versuchen, den Terror nach Deutsch- Nach Überzeugung der Ermittler
Matsch. land zu tragen. Entsprechend alar- stand Al A. seit Jahren in engem Kon-
Sie seien in Polen spazieren gegan- miert waren Staatsschützer und Poli- takt zu Khalil Al Kharraz, dem in-
gen, der Stock habe beim Wandern tiker nach den Festnahmen vor zwischen toten Vizekommandeur der
geholfen, sagten Mohamed B. und ­Weihnachten. »Wir müssen alles da- Kassam-Brigaden im Libanon – so
Abdelhamid Al A. bei der Kontrolle für tun, damit Jüdinnen und Juden in nennt sich der militärische Arm der
auf dem Rückweg nach Berlin. Ein unserem Land nicht abermals um ihre Hamas. Kharraz soll für Auslands-
harmloser Ausflug zweier alter Freun- Sicherheit fürchten müssen«, sagte operationen der islamistischen Ter-
de, mehr nicht. Bundesjustizminister Marco Busch- rororganisation zuständig gewesen
Doch die deutschen Fahnder ge- mann (FDP). sein und nach Erkenntnissen des Bun-
hen davon aus, dass der Trip Mitte Recherchen des SPIEGEL zeigen desnachrichtendiensts einst Selbst-
Oktober 2023 ganz anderen Zwecken nun: Die Hinweise, dass die Hamas mordattentäter für Anschläge in Israel
diente. Sie haben den Verdacht, dass 1, 2 | In Bulgarien
Gefolgsleute in Europa beauftragt rekrutiert haben. Sein Kampfname:
Mohamed B. und Abdelhamid Al A. vergrabene Schuss- habe, zu den Waffen zu greifen, sind Abu Khaled.
einen Auftrag für die islamistische waffen 3 | Trauernde ernst zu nehmen. Das mutmaßliche Am 5. Oktober 2023 reiste ein wei-
Terrororganisation Hamas erledigen bei der Beerdigung Depot in Polen konnten die Behörden terer mutmaßlicher Hamas-Mann
des Hamas-Kom­
sollten: ein Depot unter der Erde mandeurs Kharraz im
zwar nicht ausfindig machen – dafür von Beirut über die Türkei nach Ber-
­ausfindig zu machen, in dem Waffen Libanon im November entdeckten sie andernorts ein Waffen- lin. Nazih R. erreichte mit einem Flug
lagern. 2023 versteck. Fotos, die sie bei einem der der Pegasus Airline um 8.35 Uhr die
Knapp zwei Monate nach dem Hauptstadt. Wie eine spätere Aus-
Ausflug nahm die Polizei die beiden wertung von Handydaten ergab, hielt
Verdächtigen sowie zwei weitere er sich an den nächsten beiden Tagen
mutmaßliche Komplizen fest. Der vermutlich in Polen auf, gemeinsam
Generalbundesanwalt in Karlsruhe mit Mohamed B., der in Berlin lebt
wirft den im Libanon geborenen und für einen Fahrdienst arbeitet. Je-
Männern vor, Terroristen der Hamas nem Mann also, der eine Woche spä-
zu sein. ter zusammen mit Abdelhamid Al A.
Mehrfach hätten sie nach einem 1 2 von der Polizei in der Nähe der pol-
geheimen Versteck der Organisation nischen Grenze auf der Autobahn an-
gesucht. Ihr mutmaßliches Ziel: die gehalten wurde.
Waffen nach Berlin zu bringen und Die Ermittler glauben, dass beide
dort zu bunkern. Für mögliche An- Fahrten der Suche nach Waffen dien-
schläge auf jüdische Einrichtungen. ten, die hinter der Neiße an einem
Eine entsprechende Warnung hatten abgelegenen Ort vergraben worden
die deutschen Behörden vom israe­ sein könnten.
lischen Geheimdienst erhalten. Fahnder beschatteten die Verdäch-
Die Festnahmen vor Weihnachten tigen und beobachteten, wie Moha-
schreckten das Land auf. Jahrzehnte- med B. mehrfach ein Restaurant am
lang war Deutschland für die Islamis- Görlitzer Park in Berlin-Kreuzberg
ten der Hamas nur eine Art Rück- besuchte. Wie sich herausstellte,
Mahmoud Zayyat / AFP

zugsraum, kein Operationsgebiet. kennt der Lokalbetreiber Ibrahim El


Anhänger sammelten Spenden für R. den Vizekommandeur der Kassam-
die Organisation, palästinensische Brigaden, Kharraz, seit vielen Jahren.
Vereine verbreiteten Propaganda in 3 Kharraz hielt sich zeitweise bei ihm
ihrem Sinn. Aber Hamas-Terror auf in Berlin auf und ist wiederum auch

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

mit dem mutmaßlichen Hamas-Terroristen


SPIEGEL TV Programm Nazih R. bestens bekannt.
Nach und nach erschlossen sich die Ermitt-
ler ein Geflecht, das nach dem Überfall der
Hamas auf Israel am 7. Oktober blutige Pläne
in Europa schmieden könnte. »Wir müssen
damit rechnen, dass gezielt Gewalt gegen
Jüdin­nen und Juden verübt werden könnte«,
warnte Verfassungsschutzchef Thomas Hal-
denwang Ende Oktober im SPIEGEL .
Als am 20. November kurz vor Mitternacht
der mutmaßliche Hamas-Mann Al A. mit
einer Maschine der Fluggesellschaft Sundair
am Berliner Flughafen ankam, ließen ihn die

SPIEGEL TV
deutschen Beschatter nicht mehr aus den
­Augen. Sie beobachteten, wie er sich in der
»Teufelsaustreiber« B. mit mobilem Fixierbett Sonnenallee in Neukölln eine neue SIM-Kar-
te kaufte und hektisch telefonierte. Doch noch
am selben Abend ließ er sich wieder zum
SPIEGEL TV mission, die konsequent danebenlag. Flughafen bringen und reiste über Istanbul
MONTAG, 8. 4., 23.25–0.00 UHR, RTL Der Anschlag in Hanau, bei dem ein nach Beirut zurück.
rassistischer Attentäter den 22-jährigen Der Grund für den überhasteten Aufbruch
»Nature23« – Der selbsternann- Vili-Viorel Păun am Steuer seines Autos war offenbar ein Luftschlag der israelischen
te Exorzist aus dem Internet ermordete, nachdem der dreimal ver­ Streitkräfte im Süden Libanons. Bei dem
Marcus B. alias »Nature23« behauptet, gebens versucht hatte, den Notruf ­gezielten Drohnenangriff auf ein Auto starb
er habe eine besondere Gabe: Er könne zu erreichen. Und der chaotische G20- der Kassam-Vizekommandeur Kharraz alias
Menschen von »bösen Dämonen« be­ Gipfel in Hamburg. Vier Einsätze, bei Abu Khaled. Auf einem Video der Beerdigung
freien. Auf YouTube wirbt der Mann mit denen der Polizei gravierende Fehler drei Tage später im palästinensischen Flücht-
Videos, die ihn bei extremen Ritualen unterlaufen sind. Doch wie steht es um lingslager Raschidija entdeckten die deut-
zeigen. Im Visier hat er dabei vor allem die Fehlerkultur bei der Staatsmacht? schen Fahnder neben Hamas-Kämpfern auch
junge und kranke Frauen. SPIEGEL TV hat Abdelhamid Al A. Er half dabei, den Sarg zu
mit dem »Teufelsaustreiber« und seinen tragen, die Menge skandierte: »Die ganze
Opfern gesprochen. Welt ist Hamas.«
DIE GRÖSSTEN GEHEIMNISSE Auch seine Kontaktpersonen in Berlin
Messer, Schlagringe DER 90ER schien der Angriff auf Hamas-Kommandeur
und Randale – Kharraz hart zu treffen. In überwachten Ge-
Bundespolizisten im Einsatz SONNTAG, 7. 4., 20.15–22.20 UHR, KABEL EINS sprächen betrauerten sie den Tod Abu Kha-
Die Gewaltintensität an Berliner Bahn­ leds. Er vermisse seine Stimme schon jetzt,
höfen hat deutlich zugenommen. Die Folge 1 sagte der Berliner Gastronom Ibrahim El R.
Bundespolizei überprüft daher regelmä­ Der Fall der Berliner Mauer am 9. Novem­ und spielte alte Audionachrichten des Hamas-
ßig, ob das »Verbot des Mitführens von ber 1989 läutet das »Jahrzehnt der Topterroristen auf dem Handy ab.
gefährlichen Gegenständen« eingehalten Freiheit« ein. Die Scorpions singen vom Trotzdem setzten die Männer ihre Pläne
wird. Eine Reportage über bizarre Waffen­ »Wind of Change«, der Musiksender offenbar fort. Kurz nachdem der mutmaßliche
funde, einen renitenten Hooligan und ein Viva bringt frischen Wind in deutsche Hamas-Mann Al A. im Dezember wieder
bekifftes Pärchen, das sich mit den Wohnzimmer, und im Kino jagt ein nach Deutschland gereist war, nahm das Bun-
Einsatzkräften anlegt. Blockbuster den nächsten: »Pretty deskriminalamt ihn und die zwei anderen
Woman«, »Bodyguard«, »Pulp Fiction«. Verdächtigen in Berlin fest, Nazih R. verhaf-
Die Rankingshow »Die größten Geheim­ tete die Polizei in Rotterdam. Seitdem sitzen
nisse der 90er« erzählt die Geschichten die Männer in Untersuchungshaft. Ihre Ver-
SPIEGEL TV GESCHICHTE hinter den Kultfilmen, -songs und teidiger ließen Anfragen zu den Vorwürfen
SONNTAG, 7. 4. 23.35–0.20 UHR, ZDF -gadgets der Dekade. Hollywoodschau­ unbeantwortet.
spieler Ralf Moeller, Sänger Sasha mit Hinweise auf ein Hamas-Versteck in Polen
Terra X History: Ehefrau Julia Röntgen, Comedian Tom haben sich bislang nicht bestätigt. Dafür
Polizei im Kreuzfeuer – Gerhardt und andere Prominente suchen machten BKA-Beamte auf dem Handy des
Die großen Skandale nach Antworten. Dabei gilt es, Hinweise Kreuzberger Lokalbetreibers Ibrahim El R.
54 Stunden Chaos beim Gladbecker zu kombinieren und zehn spektakuläre eine verräterische Entdeckung. Sie stießen
Geiseldrama. Die NSU-Sonderkom­ Geheimnisse des Jahrzehnts zu lüften. auf Fotos, die im vergangenen Sommer in
Südbulgarien aufgenommen worden waren.
Die Bilder zeigen eine Kiefer, vor der ein
schwarzer Plastiksack aus der Erde lugt, da-
rin: mehrere angerostete Pistolen, Magazine
und ein Schnellfeuergewehr.
Die deutschen Ermittler konnten den Bul-
garen den Ort der Aufnahme nennen – und
die Beamten wurden tatsächlich fündig. Sie
SPIEGEL TV

Kabel Eins

brachten die Schusswaffen auf eine Wache in


der Stadt Plowdiw.
Windschutzscheibe nach Hanau-Mord 2020 Popstar Sasha mit Ehefrau Röntgen Jörg Diehl, Wolf Wiedmann-Schmidt n

26 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


DEUTSCHLAND

A
n einem Dienstag Anfang Fe­
bruar darf Lisa Paus sich selbst
loben. Die Familienministerin

Gegen die Wand


steht auf einer Bühne in Prenzlauer
Berg. Sie ist notgedrungen wegen der
Berliner Wahlwiederholung noch ein­
mal für die Grünen im Wahlkampf.
Der Abend soll der Höhepunkt sein.
GRÜNE Seit fast zwei Jahren ist Lisa Paus im Amt. Ausgerechnet Grünenchefin Ricarda Lang fragt
Paus nach ihren Erfolgen.
ihr Großprojekt Kindergrundsicherung droht zu Also los.
scheitern. Die Familienministerin hat sich verhoben. Da sei ihr Einsatz für Demokratie­
förderung, fängt Paus an. Sie spricht
minutenlang. Zweiter Punkt: ihre Ein­
samkeitsstrategie. Auch hier holt die
Ministerin aus. Und, natürlich: die
Kindergrundsicherung.
Es ist eine bemerkenswerte Aus­
wahl. Bei keinem der drei Themen
kann Paus tatsächlich einen Erfolg
verkünden. Damals nicht und heute
immer noch nicht.
Das Demokratiefördergesetz liegt
zwar im Bundestag, wird dort aber
von der FDP blockiert. Die Liberalen
sehen darin nur grüne Klientelpolitik.
Die Einsamkeitsstrategie macht auf
dem Papier viel her, bringt aber prak­
tisch kaum etwas.
Und die Kindergrundsicherung,
Paus’ wichtigstes Projekt, steht vor
dem Scheitern. Zumindest dürfte es
nicht so kommen, wie Paus sich das
vorstellt. Für sie und ihre Partei wäre
das ein Desaster. Die Kindergrund­
sicherung ist das einzig nennenswer­
te sozialpolitische Projekt der Grünen
in dieser Regierung.
Natürlich liegt es nicht nur an der
Ministerin. Der Ampel fehlt das Geld,
für die Koalitionspartner hat das The­
ma keine Priorität. Es liegt aber, so
sehen es immer mehr grüne Partei­
freunde, auch an Paus selbst. An
ihrem fehlenden Verhandlungsge­
schick, ihrer Kommunikation.
Wie konnte es so weit kommen,
dass Paus mit der Kindergrund­
sicherung jenes Projekt in den Sand
setzt, das mit ihr verbunden ist wie
kein anderes? War die Sozialreform
schlicht eine Nummer zu groß für sie?
Ein Tag im April 2022, in Husum
an der Nordsee ist der Parteivorstand
der Grünen zur Klausur zusammen­
gekommen. Um die Energiewende
soll es gehen, um Windkraft und Was­
serstoffbusse. Aber eigentlich dreht
sich alles um Anne Spiegel, die Frau,
die da noch Familienministerin ist,
Julia Steinigeweg / DER SPIEGEL

auch wenn alle wissen: Sie kann es


nicht bleiben.
Kurz nach der Flutkatastrophe
an der Ahr war sie, die damalige
Umwelt­ ministerin in Rheinland-
Pfalz, in den Urlaub gefahren. Sie
hatte sich anschließend in Widersprü­
Ministerin Paus: Auf Konfrontationskurs che verstrickt und am Abend vor dem

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

Grünen­treffen in einem emotionalen


Statement vor laufenden Kameras
versucht, sich zu retten. Gegen Rat­
schläge aus der eigenen Partei.
Die Grünenspitze tagt an jenem
Frühlingstag in einem schmucken
Backsteinhotel. Anne Spiegel ist per
Video zugeschaltet. Es geht in diesen
Stunden darum, sie davon zu über­
zeugen, dass es vorbei ist. Die Sonne
scheint, die Vögel zwitschern, und man­
che Grüne kämpfen erkennbar mit den
Tränen. Am Ende gibt Spiegel nach.
Eine logische Nachfolge gibt es
nicht. Gesucht wird: eine Frau vom
linken Flügel. Eine, die Ahnung vom
Thema hat, vor allem aber Ruhe in
das Ministerium bringt. Es darf keine
zweite Fehlbesetzung geben.
In dieser Situation fällt die Wahl
auf Lisa Paus. Im Bundestag hatte sie
sich vor allem mit Finanzpolitik be­
schäftigt. Paus’ großer Vorteil: die

Soeren Stache / dpa


Kindergrundsicherung. Sie hat das
Konzept bei den Grünen mitentwi­
ckelt, es in den Koalitionsvertrag ver­
handelt. Verschiedene Leistungen für
Kinder sollen damit gebündelt und
einfacher zugänglich gemacht wer­ Grüne Paus beim rung als dem »wichtigsten sozialpoli­ garten im Frühjahr 2023, vor ihr steht
den. Nicht alle Familien wissen, was Besuch eines tischen Projekt« der Regierung, das eine Donauwelle. Was soll sonst noch
­Musik­kindergartens:
ihnen zusteht. Feministische 2025 kommen soll. Nur dass die FDP von ihr bleiben? Paus überlegt. Dass
Paus soll mit dem Projekt der Par­ Volkswirtin den Koalitionsvertrag offenbar an­ sie die erste bekennende Feministin
tei einen neuen sozialen Anstrich ge­ ders interpretiert. Für die Liberalen in dem Amt sei. Dass sie anpacke.
ben. Die Grünen wollen mit mehr als geht es nur darum, die Leistungen für Eine feministische Volkswirtin – so
nur Klimaschutz verbunden werden. Kinder aus einkommensschwachen gefällt Paus sich offenbar.
Mit der Kindergrundsicherung kön­ Familien zu digitalisieren und leichter Doch gerade ihr Umgang mit Zah­
nen sie zeigen, dass sie nicht nur eine zugänglich zu machen. Paus’ Pläne len wird ihr immer wieder zum Ver­
Partei für Besserverdiener sind. sind ihnen zu teuer. hängnis. Denn in den nächsten Mo­
So verschmilzt die Politikerin Lisa Diese Differenzen hätte Paus aus­ naten wird es bei der Kindergrund­
Paus mit diesem einen Thema. Kein halten können. Erst mal den Inhalt sicherung nur noch ums Geld gehen.
Chaos verursachen – und die Kinder­ des Gesetzes festzurren, geräuschlos Paus pocht auf die 12 Milliarden. Fi­
grundsicherung durchbringen, das weitermachen. Das, was ihre Partei nanzminister Christian Lindner will
sind ihre Aufträge. von ihr erwartet hat. ihr maximal 2 zugestehen. Paus kor­
Anfangs scheint der Plan aufzu­ Doch Paus geht auf Konfronta­ rigiert ihre Forderung nach unten auf
gehen. »Ich bin durchsetzungsstark«, tionskurs. Sie drängt darauf, dass die 2 bis 7 Milliarden. Es ist ein peinliches
verspricht Paus in einem Gespräch Leistungen für Kinder erhöht werden. Tauziehen. Am Ende sichert Lindner
mit dem SPIEGEL kurz nach ihrem »Wie sonst sollen wir Kinderarmut Paus 2,4 Milliarden für ihr Groß­
Amtsantritt. Zu dem Termin erscheint angehen?«, fragt sie in einem Ge­ projekt zu. Kinderarmut wird Paus
sie mit Jeansjacke und Brille. Sie wirkt spräch mit der »Süddeutschen Zei­ damit nicht beenden.
locker, nahbar. Sie wolle gestalten, tung«. Um ihrem Plan Wucht zu ver­ Zwischendrin glaubt Paus wohl
wirklich etwas bewegen, sagt Paus. leihen, meldet sie in der Regierung immer wieder, sie könnte bald eine
In ihrem ersten Jahr arbeitet sie zwölf Milliarden Euro für das Projekt Einigung verkünden. Zum Beispiel
geräuschlos. Paus sichert Geld für das an. Die Zahl wird an Medien durch­ an einem Tag im Juni 2023, als Bun­
Kita-Qualitätsgesetz. Sie macht sich gestochen. Paus muss nun erklären, deskanzler Olaf Scholz und sie ge­
stark für die Rechte von trans Men­ wie sie das Geld ausgeben will. Sie meinsam die Potsdamer Familien­
schen und für pflegende Angehörige. kann keine Rechnung vorlegen. Oder kasse besuchen. Ein Rundgang durch
Statt vom sperrigen Bundesministe­ will es nicht. eine der Behörden, in der Familien
rium für Familie, Senioren, Frauen »Natürlich könnte ich das vorrech­ künftig die Kindergrundsicherung be­
und Jugend spricht Paus lieber von »Wir müssen nen«, sagt Paus später. »In der Bun­ antragen könnten. Beide lächeln
einem Gesellschaftsministerium. Of­ unseren desregierung sind die Zahlen be­ glücklich in die Kameras.
fiziell ändert sie den Namen nicht. kannt. Aber ich trage so etwas nicht Nach dem Besuch beginnt die
Nur nicht zu viel Gewese machen. Sozialstaat in der Öffentlichkeit aus.« Was sou­ Sommerpause. Einen Gesetzentwurf
Im Hintergrund werkelt eine fitter, verän klingen soll, hinterlässt den gibt es immer noch nicht. Die Lage
Arbeitsgruppe aus mehreren Minis­
terien an einem Eckpunktepapier zur
nicht fetter Eindruck: Paus hat keinen Plan.
Dabei wäre sie gern die Ministerin,
ist festgefahren. Also entscheidet sich
Paus für die nächste große Geste: Sie
Kindergrundsicherung. Paus ver­ machen.« die Kinderarmut in Deutschland be­ will dem Wachstumschancengesetz
schickt es im Januar 2023. Überall Johannes Vogel, endet. Das erzählt sie bei einem Tref­ von Lindner im Kabinett nicht zu­
spricht sie von der Kindergrundsiche­ FDP-Politiker fen in einem Café im Berliner Tier­ stimmen. Der Finanzminister solle ihr

28 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


DEUTSCHLAND

lieber mehr Geld für die Kindergrundsiche­ Die Einführung rückt in weite Ferne. Die rischen Geschäftsführer der FDP-Bundestags­
rung geben. Bundesagentur für Arbeit moniert, wenn sie fraktion, Johannes Vogel, nicht ausgereift
Linke Grüne sehen darin eine Heldinnen­ kein fertiges Gesetz bis Ende Februar habe, genug. »Wir müssen unseren Sozialstaat fitter,
tat: Paus will Lindner in die Knie zwingen. könne sie nicht bis 2025 mit der Umsetzung nicht fetter machen«, ärgert er sich. So sehen
Die Realos sind verärgert. Wirtschaftsminister fertig werden. Diese Deadline ist längst das die Liberalen.
Habeck steht da, als hätte er seine Leute nicht ­gerissen. Paus wird ihr Ziel nicht erreichen Auch unter Grünen muss man mittlerwei­
im Griff. Ihr Mut hilft Paus wenig, weil sie können. le nicht mehr lange suchen, bis man welche
sich offenbar vorher nicht den Rückhalt der Vergangenen Monat gehen zumindest die findet, die den Kopf schütteln. Die der Mei­
grünen Kollegen gesichert hat. Sie bekommt Gespräche weiter. Paus hat die zuständigen nung sind, dass Paus sich verrannt, dass sie
nicht mehr Geld für ihr Projekt. Sie stimmt Bundestagsabgeordneten zu sich ins Ministe­ ungeschickt verhandelt habe, mindestens ka­
dem Wachstumschancengesetz am Ende zu. rium geladen. Die Reform ist immer noch tastrophal kommuniziert. Die 5000 neue Stel­
Gewonnen hat sie nichts. Stückwerk. Größter Streitpunkt ist die Frage, len in Zeiten des Sparhaushalts für nicht ver­
Dieser Modus ist Paus’ größtes Problem. ob eine neue Behörde geschaffen werden soll. mittelbar halten oder schlicht für unangemes­
Sie versucht, mit einer wuchtigen Geste ihre Paus will, dass Familien die Leistungen künf­ sen. Die sich den Kopf zerbrechen, wie sich
Verhandlungsgegner zu überwältigen. Nur tig beim sogenannten Familienservice bean­ das alles zu einem guten Ende führen lässt.
kümmert sie sich vorher nicht um den Rück­ tragen können. Das Ganze soll weg von den Zitieren lassen sie sich damit nicht, sie wol­
halt in den eigenen Reihen. Ohne Allianzen Jobcentern, raus aus der Schmuddelecke des len nicht die eigene Ministerin anschießen.
ist sie regelmäßig die Verliererin. Sozialstaats, wie sie es sieht. FDP und SPD Aber nachvollziehbar ist Paus’ kompromiss­
Und so muss sich Paus mit dem zufrieden­ rechnen vor, was das an unnötigen Finanz­ lose Hartleibigkeit auch in den eigenen Rei­
geben, was Finanzminister Lindner ihr zu­ mitteln koste. Anstatt um Geld für arme Kin­ hen längst nicht mehr für alle.
gesteht. Im August 2023 sitzt die Familien­ der kämpft Paus jetzt also um Geld für neue Den Parteifreunden fällt auf, wie wenig die
ministerin mit ihm und Arbeitsminister Staatsbedienstete. Ministerin versucht, mit Emotionen für ihr
­Hubertus Heil in der Bundespressekonferenz. Paus könnte deeskalieren, sie könnte ein­ Anliegen zu werben. 5,6 Millionen statt
Man hat sich auf Eckpunkte für die Kinder­ lenken, damit ihr Projekt am Ende nicht ganz 1,9 Millionen Kinder will sie künftig errei­
grundsicherung geeinigt. Paus ulkt mit Lind­ platzt. Den Familien dürfte es egal sein, wo chen. Das sind 3,7 Millionen Kinder, deren
ner, als könnte sie inhaltliche Differenzen sie das Geld bekommen: beim Jobcenter oder Leben besser werden könnte. Viele Geschich­
einfach weglachen. beim Familienservice – Hauptsache, den Kin­ ten, die sich erzählen ließen. Paus nutzt diese
Immerhin: Lindner nennt die Kinder­ dern ist geholfen. Chance kaum.
grundsicherung bei diesem Anlass »ein zen­ Doch Paus probiert es lieber wieder mit Der Druck aus den eigenen Reihen ist groß.
trales Reformvorhaben dieser Legislatur­ Wucht. In einem Interview am vergangenen Ein Teil der Grünen erwartet von ihr schlicht,
periode in der Sozialpolitik«. Und: »Ich bin Wochenende bekräftigt sie eine Zahl, die bei dass sie die Kindergrundsicherung endlich
eigentlich zufrieden mit dem, was wir gemein­ der FDP schon zuvor auf massiven Wider­ liefert. Der Staat soll dafür sorgen, dass alle
sam erarbeitet haben.« Er macht eine Pause, stand gestoßen ist: 5000 Stellen will Paus Kinder bekommen, was ihnen zusteht, ohne
schaut auf seine Sprechzettel. Paus lacht auf, neu aufbauen, um den Bürgern die Sozial­ dass jemand extra zum Amt muss.
legt kurz eine Hand auf seinen Arm und sagt: leistungen zugänglich zu machen. Sie wolle Viele Grüne finden, dass man sich von der
»Das kannst du auch sein.« damit von der »Holschuld der Bürger zur FDP nicht herumschubsen lassen dürfe. »Ab­
Später lobt sie sich selbst: Die Kindergrund­ Bringschuld des Staates« kommen. gesehen davon, dass die bislang vorgesehenen
sicherung sei ein »echter Paradigmenwechsel«. »Bringschuld«? Paus hat das Wort zwar Gelder nicht mal reichen, um Kinderarmut
Sie habe das »politisch durchverhandelt«. nicht zum ersten Mal verwendet. Doch jetzt endgültig zu bekämpfen: Es ist ein absolutes
Doch von »durchverhandelt« kann keine nennt Christian Lindner Paus’ Äußerung Armutszeugnis, dass die Kindergrundsiche­
Rede sein. Nach diesem Tag ist nichts gelöst. »verstörend«. Mit ihrem Interview hat Paus rung zu scheitern droht«, sagt Katharina
Paus’ Gesetzentwurf landet zur Beratung im die FDP provoziert. Das ist nicht geräuschlos. ­Stolla, Co-Vorsitzende der Grünen Jugend.
Parlament. Er macht einige Fachpolitiker im Das ist unnötig. Grüne und SPD müssten jetzt beweisen, dass
Bundestag ratlos. Jetzt zeigt sich, dass zu Vielen in der FDP gilt Paus als inkompe­ sie an der Seite von Kindern in Armut stehen.
Paus’ strategischem Ungeschick auch hand­ tent. Ihr Entwurf ist dem Ersten Parlamenta­ »Das bedeutet: Schluss mit den Kompromis­
werkliche Fehler kommen. sen, her mit der Kindergrundsicherung.«
Der Entwurf sei in keinem Zustand gewe­ Dabei ist es ja auch Paus’ mangelnde Kom­
sen, »in dem man in einem normalen parla­ promissbereitschaft, die dem Projekt den Garaus
mentarischen Verfahren hätte weitermachen machen könnte. Der Zeitplan ist nach wie vor
können«, kritisiert SPD-Fraktionsvizin Dag­ völlig unklar, SPD und FDP dringen weiter auf
mar Schmidt. Viele praktische Details haben Veränderungen. Die Fronten sind verhärtet.
Paus und ihre Leute nicht geklärt. Bei welcher Womöglich wird die Ampel die Kindergrund­
Behörde sollen Familien Leistungen beantra­ sicherung am Ende einfach begraben – und
gen? Kann eine Behörde den Antrag anneh­ damit auch Paus’ Scheitern besiegeln.
men und dann an eine andere Behörde wei­ Das aber will die Ministerin nicht glauben.
tergeben? Lässt das Grundgesetz das über­ An einem Abend im März feiern die Grünen
haupt zu? SPD und FDP haben den Eindruck, im Bundestag den Frauentag nach. Paus
dass Paus die Kritik an ihrem Entwurf nicht spricht auf der Bühne über rechte Angriffe
ernst nimmt. auf den Feminismus. Das Thema bewegt die
Die Koalitionspartner befürchten, dass die Partei, Paus bekommt Zuspruch. Bei Wein
Ministerin mit dem Gesetz neue Probleme und vegetarischen Häppchen kommt man an­
Hans Christian Plambeck / laif

schafft. Der Entwurf wird auch an die Länder schließend ins Plaudern, auch über die Kin­
verschickt. Der Bundesrat wirft Paus vor, dergrundsicherung. Zitieren darf man aus
Büro­kratie nicht ausreichend zu reduzieren. solchen Gesprächen nicht. Nur so viel: Auf­
Der Widerstand gegen das Projekt ist unter gegeben hat Lisa Paus nicht. Sie gibt sich
den Ländern so groß, dass vielen bereits klar ­überzeugt, immer noch – die Kindergrund­
ist: Das Projekt dürfte irgendwann im Ver­ sicherung komme.
mittlungsausschuss landen. Finanzminister Lindner Milena Hassenkamp, Jonas Schaible n

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DEUTSCHLAND

»Klaut unsere Ideen!


Wir klauen ja auch«
SPIEGEL-STREITGESPRÄCH Wie viel Blockade verträgt das Land?
Carla Hinrichs von der Letzten Generation, Theresa Schmidt von der Landjugend und Thomas Kessen
vom Fußballfan-Verband »Unsere Kurve« diskutieren über ihre Formen des Protests.

Die drei Personen, die sich Ende März im monatigen Bewährungsstrafe verurteilt, weil vestors bei der Deutschen Fußball Liga zu ver­
Hauptstadtbüro des SPIEGEL treffen, sind mit sie in Frankfurt am Main einen Stau verur­ hindern, störten Kessen und seine Mitstreiter
Protesten erfolgreich. Sie ziehen große Auf­ sacht hatte. Spiele: Sie warfen Tennisbälle und Spielzeug­
merksamkeit auf sich, aber auch Wut. Mit­ Kessen, 35, ist Sprecher des Fußballfan-Ver­ autos auf den Rasen. Erfolgreich: Die DFL
einander gesprochen haben sie bislang nicht. bands »Unsere Kurve«, der mehr als 300.000 knickte ein.
Hinrichs, 27, ist Sprecherin der Letzten Ge­ Fans vertritt. Um den Einstieg eines Großin­ Schmidt, 27, ist Bundesvorsitzende des Bun­
neration. Seit Anfang 2022 stören die Klima­ des Deutscher Landjugend. Sie kommt von
aktivisten den Verkehr, indem sie sich auf Stra­ Das Gespräch führten die Redakteurin Deike Diening einem Hof in Hessen und fuhr bei den Bauern­
ßen festkleben. Hinrichs wurde zu einer zwei­ und der Redakteur Markus Feldenkirchen. protesten auf dem Trecker nach Marburg. Die

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DEUTSCHLAND

wollen nicht mehr blind abnicken, dem kommen seit den Bauerndemos
was die vermeintlich Mächtigen so junge Landwirte zu mir und sagen:
sagen – egal ob es um Bauern, Klima Es ist eh egal, was ich sage, ich bin für
oder um Fußball geht. Immer mehr die Gesellschaft rechtsextrem. Das
Gruppen der Gesellschaft werden sich darf einfach nicht sein! Bei den De-
heute ihrer eigenen Macht bewusst, mos haben wir zur Ordnung aufgeru-
was wiederum hierarchische Systeme fen. Leider haben wir nicht alle davon
infrage stellt. Nach meiner Wahrneh- abbringen können, Plakate zu zeigen,
mung wird noch erstaunlich wenig auf denen Umsturzfantasien oder
protestiert. In Frankreich zum Bei- Verschwörungstheorien standen.
spiel sieht das anders aus. Trotzdem darf nicht das schwärzeste
Hinrichs: Ja, da ist noch Luft nach Schaf die Farbe der gesamten Herde
oben. bestimmen.
SPIEGEL: Frau Schmidt, sind Sie schon SPIEGEL: Haben Sie sich mal gefragt,
einmal ausgebremst worden von Kli- warum der Protest der Bäuerinnen
maaktivisten der Letzten Genera- und Bauern für viele extreme Rechte
tion? so attraktiv wirkt, dass sie sich dem
Schmidt: Ich wohne in einem 100-Ein- anschließen wollen?
wohner-Dorf in Hessen. Wenn ich Schmidt: Wenn es so viel Unzufrie-
nicht Bundesvorsitzende der Land- denheit gibt in der Gesellschaft, ins-
jugend wäre und deshalb öfter nach besondere mit der Regierung, versu-
Berlin müsste, hätte ich außerhalb des chen natürlich auch extremistische
Fernsehens vielleicht noch gar nichts Gruppen, da mitzuschwimmen.
von der Letzten Generation mitbe- Hinrichs: Theresa, ich stimme dir zu:
kommen. In Berlin gab es aber mal Es ist schwer, einen Protest zu kon­
eine Veranstaltung, die ich wegen trollieren, wenn man so viele unter-
Klima­protesten nicht rechtzeitig er- schiedliche Menschen zusammen-
reicht habe. bringt. Ich bin euch auch dankbar für
SPIEGEL: Waren Sie genervt davon? eure Abgrenzung. Aber es gibt trotz-
Schmidt: Mit den zunehmenden Pro- dem andere Bäuerinnen und Bauern,
testen war ich schon irgendwann mal die das nicht schnell genug getan
genervt, ja. ­haben.
SPIEGEL: Frau Hinrichs, haben Sie Kessen: Das Problem, nicht alle unter
sich persönlich schon mal gestört einen Hut bringen zu können, haben
­gefühlt von anderen Protesten, zum wir alle drei. Niemand kann Hundert-
Steffen Roth / DER SPIEGEL (3)

Beispiel von denen der Bauern, die tausende Menschen orchestrieren,


mit ihren Traktoren Autobahnabfahr- und wenn, dann wäre das ebenfalls
ten blockierten? gefährlich. Trotzdem ist es interes-
Hinrichs: Am meisten Emotionen ruft sant, dass gerade rechte und rechts-
bei mir wohl ein Bahnstreik hervor, radikale Akteure wesentlich leichter
weil ich auf die Bahn angewiesen bin. bei den Bauernprotesten andocken.
Ich nutze das Auto kaum. Aber tief Theresa, warum seid ihr für die sexy-
Bauernproteste richteten sich zunächst Aktivisten Hinrichs, in mir meldet sich auch da eine Stim- er als zum Beispiel die Letzte Gene-
gegen die Sparbeschlüsse der Ampel Kessen, Schmidt: me, die sagt: Du darfst nicht genervt ration?
»Unsere Anliegen
vom vergangenen Dezember: Die Sub- teilen Millionen
sein! Protest ist wichtig und richtig Schmidt: Wir sind nicht sexy für
ventionen für Agrardiesel sollten ab- vernünftige Men- – volle Solidarität mit Menschen, die Rechtsextreme! Unsere Anliegen tei-
geschafft werden, ebenso die Steuerbe- schen« aufstehen und protestieren! Wirklich len Millionen vernünftige Menschen.
freiung für landwirtschaftliche Fahr- stört mich aber, wenn Protest in eine SPIEGEL: Den bislang erfolgreichs-
zeuge. Inzwischen geht es um fast alles, rechte Ecke abdriftet. Das macht mir ten Protest vertreten Sie, Herr Kes-
was in den vergangenen Jahrzehnten Angst. sen. Den Investoreneinstieg bei der
schiefgelaufen ist. SPIEGEL: Wo beobachten Sie das? Deutschen Fußball Liga, den Sie
Hinrichs: Vor allem bei den Bauern- ­verhindern wollten, wird es nicht
SPIEGEL: Frau Schmidt, Frau Hinrichs, protesten. Ich finde, da hat man sich ­geben. Was muss eine Protestform
Herr Kessen, in letzter Zeit hatte man einfach zu langsam und nicht klar ge- haben, damit sie heutzutage erfolg-
den Eindruck, dass gerade das halbe nug abgegrenzt. Aber ich weiß natür- reich ist?
Land blockiert wird, von den unter- lich, dass man nie sagen darf: »die« Kessen: Ich habe hier die leichteste
schiedlichsten Gruppen: von der Bauern, »die« Klimaaktivisten, »die« Rolle, weil sich unser Protest ja nur
Letzten Generation über Verdi und Fußballfans. Das sind ja immer viele im Fußballkosmos bewegt, einem
die Lokführer bis hin zu den Bauern. verschiedene Menschen, die da zu- ­abgeschlossenen Raum, der deutlich
Wo soll das hinführen? sammenkommen. kleiner und überschaubarer ist und
Hinrichs: Ja, es wird gerade viel pro- Schmidt: Wir von der Landjugend ha- in den sich alle Beteiligten freiwillig
testiert. Das zeigt ganz grundlegend, ben uns klar abgegrenzt, immer wie- ­hineinbegeben.
wie groß die Unzufriedenheit in der der, gegen jede Art von Extremismus. SPIEGEL: Das mag sein. Aber warum
Gesellschaft ist. Es zeigt, dass viele Wir machen schon seit Jahrzehnten ist die DFL letztlich eingeknickt und
mit dem Kurs der Regierung nicht Präventionsarbeit gegen Rechtsex­ hat ihre Pläne komplett zurückgezo-
mehr mitgehen. tremismus im ländlichen Raum und gen?
Kessen: Ich denke, es ist eher ein Aus- laden zum Beispiel auch die AfD Kessen: Wir Fans sind seit 20, 30 Jah-
druck von Emanzipation. Die Leute nicht zu Veranstaltungen ein. Trotz- ren gut organisiert. Wir haben viel

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DEUTSCHLAND

Manpower, gepaart mit immer professionel- an angemeldeten Aktionen beteiligen. Mist teilen es mit unseren Mitstreitern. Ist etwa
leren Strukturen in der Gremien und mittler- ausbringen oder Bäume hinlegen war nicht Kartoffelbrei auf einem Gemälde, das mit
weile auch Pressearbeit. Wenn Journalisten abgesprochen und sicher auch nicht geneh- einer Glasscheibe geschützt ist, Gewalt? Wir
früher eine Fanstimme haben wollten, sind migt. glauben, nicht. Oder eine Straßenblockade:
sie zum Stadion gegangen und haben irgend- SPIEGEL: Der Letzten Generation wurde vor- Auch wenn sie vom Gesetz her als Nötigung
jemandem das Mikrofon unter die Nase ge- geworfen, sie würde mit ihren Aktionen auch interpretiert werden kann, denken wir, dass
halten. Das hat sich spätestens seit Corona Tote durch Behinderung von Rettungskräften sie nicht gewaltvoll ist. Ist das Zeigen eines
gewandelt. Da waren die Stadien zu. Mittler- in Kauf nehmen. Eine Radfahrerin geriet in Galgens mit der Ampel Gewalt? Da würde
weile fragen sie uns direkt. Berlin unter einen Betonmischer, und es hieß, ich sagen: Ja, klar. Ich glaube, diese Linie
SPIEGEL: Wer ist auf die Idee gekommen, aus ein Rettungswagen sei wegen einer Klebe- kann man bei den Bauern noch etwas besser
Protest Tennisbälle auf den Rasen zu werfen aktion der Letzten Generation nicht recht- ausbaldowern.
und so Spiele zu unterbrechen? zeitig zur Unfallstelle gekommen. SPIEGEL: Herr Kessen, war der Verzicht auf
Kessen: Die Tennisbälle waren zuletzt eine Hinrichs: Mit dem Unfall hatten wir nichts zu jegliche Form von Gewalt bei den Fußball-
Protestform des Ultrabündnisses »Fanszenen tun. Es wurde auch in einem Gutachten von protesten von Anfang an Konsens?
Deutschland«. Sie werden allerdings schon der Berliner Staatsanwaltschaft bewiesen, Kessen: Wir haben zwei Jahrzehnte Erfah-
seit Jahren immer mal wieder genutzt, auch dass unser Protest keine Auswirkungen auf rung mit Protest, und inzwischen hat auch
bei Protesten gegen steigende Ticketpreise den Tod der Radfahrerin hatte. der letzte Fan beim Fünftligisten gelernt:
oder den zunehmenden Einfluss der TV-Sen- SPIEGEL: Sind also die Proteste einzelner Wenn man ein Bengalo-Leuchtfeuer zündet,
der. Wir haben aber keinen Fanpräsidenten Bauern unterm Strich gefährlicher für die All- wird danach der Bengalo problematisiert.
oder dergleichen, der die Ansagen macht, gemeinheit als die der Letzten Generation? Wenn man sein Thema inhaltlich nicht be-
und alle folgen ihm. Die Fanszene ist ziemlich Kessen: Offenkundig. schädigen will, darf der Protest selbst nicht
anarchisch, überall entstehen Initiativen. Hinrichs: Ich glaube, dass Theresa und ich mehr Aufregerpotenzial haben als die Inhal-
Wenn wir das Gefühl haben: Hier ist ein The- viele Ziele teilen: eine sichere Gesellschaft, te, die man anprangert.
ma, das uns alle umtreibt, wie beim DFL- die sozial gerecht ist, wo sich niemand kaputt- SPIEGEL: Haben Sie keine Angst, dass sich
Investor, dann versuchen wir, uns trotzdem arbeiten muss und die Lebensmittelpreise Ihre Proteste einmal gegenseitig kannibali-
schnell abzusprechen und den Protest zu or- nicht durch die Decke gehen. Aber man kann sieren? Dass die Leute irgendwann kein Wohl-
chestrieren. nicht sagen, dass man eine friedliche, gerech- wollen, kein Verständnis mehr für Sie haben,
Hinrichs: Für mich ist dabei am eindrücklichs- tere Welt will – und dann gewaltvoll auf die weil ständig die ganze Republik lahm liegt?
ten der Aspekt des Störens. Zu sagen: Ich bin Straße gehen. Das passt nicht zueinander, das Kessen: Ich glaube, es ist nicht an uns, diese
bereit, konsequent zu unterbrechen, zu stö- schließt sich gegenseitig aus. Deswegen trai- Frage zu beantworten. Wir sind ja alle Inte­
ren. nieren wir Menschen und zeigen ihnen, wie ressenvertreter unserer Anliegen. Da wäre es
SPIEGEL: Das hat Ihnen gefallen, klar. man friedlich protestieren kann. Wie man sich schwierig zu sagen: Unsere Sache muss jetzt
Hinrichs: Ja, natürlich. Weil ich daran glaube! zum Beispiel von der Polizei richtig wegtragen zum Wohle aller zurückstehen.
Kessen: Wir drei haben ja gemein, dass wir lässt. Hinrichs: Eine diffuse, generelle Grundge-
für die eigenen Inhalte Aufmerksamkeit er- Schmidt: Auch ich sage: Wenn bei solchen nervtheit im Sinne von »Es reicht jetzt mal«
regen wollen. Das geht natürlich am besten, Protesten jemand zu Schaden kommt, ist das kriege ich jetzt schon mit. Und das ist okay.
wenn man einen gewohnten Ablauf stört: das Schlimmste, was passieren kann. Wir tun Mir reicht es ja auch.
Wenn ein Fußballspiel plötzlich 130 statt 90 alles dafür, damit es friedlich und gewaltfrei SPIEGEL: Echt?
Minuten dauert, weil 30 Minuten lang Tennis- verläuft. Hinrichs: Mir reicht es absolut, dass wir im-
bälle fliegen, macht das Eindruck. SPIEGEL: Alles ja offenbar nicht. mer noch protestieren müssen. Ich habe da
SPIEGEL: Bisher war es das Markenzeichen Kessen: Meine Wahrnehmung ist, dass die so gar keinen Bock mehr drauf. Der Klebe-
der Letzten Generation, den Verkehr lahm- Letzte Generation sehr stark darauf achtet, protest hat mein ganzes Leben verändert. Ich
zulegen, Straßen und Kreuzungen zu blockie- dass alles friedlich bleibt. Gleichzeitig sehe werde wahrscheinlich mein Jurastudium
ren. Jetzt haben die Bauern das auch gemacht. ich bei Treckerprotesten fast immer, dass nicht zu Ende führen können, weil ich nach
Frau Hinrichs, sind Sie sauer, weil die bei Ih- ­Ampeln symbolisch am Galgen baumeln. Da den Urteilen eventuell vorbestraft bin. Ver-
nen geklaut haben? denk’ ich mir: Ein Wertekanon wäre vielleicht mutlich werde ich mal im Gefängnis sitzen
Hinrichs: Nein, auf gar keinen Fall. Wir sagen auch bei euch Bauern eine gute Idee gewesen. für meine Überzeugungen. Es wäre so er­
immer: Bitte klaut Protestformen, klaut Um klarzumachen: Ey, Galgen sind keine ak- frischend, eine Regierung zu haben, die kon-
Ideen, klaut Bannersprüche, klaut das, wo zeptable Demonstrationsform. Nicht mal als sequent daran arbeitet, dass wir uns hin zu
wir unser Gehirnschmalz reinstecken. Solan- Bild. einem gerechten, fairen, zukunftssicheren
ge euer Protest die Kriterien erfüllt, die uns Schmidt: Das haben wir während unserer Land entwickeln. Dann müssten wir nicht
wichtig sind, also Friedlichkeit, Allgemein- ­Demos, in unseren Stellungnahmen, unseren protestieren.
wohl, Gerechtigkeit, dann klaut! Wir klauen Share-Pics und unseren Videobotschaften Kessen: Warum wird die Frage nach den läs-
ja auch. deutlich gemacht! Die Mehrheit unserer tigen Protesten überhaupt uns gestellt und
SPIEGEL: Anfang März haben Bauern auf der Bauernproteste ist definitiv friedvoll und nicht denen, die für die Missstände verant-
B5, einer Landstraße in Brandenburg, mitten ­gewaltfrei verlaufen, entsprechend unseren wortlich sind? Allein unser Fußballprotest:
in der Nacht Misthaufen auf der Fahrbahn demokratischen Werten. Die Fans mussten sich ständig dafür recht-
verteilt, außerdem sollen auch Baumstämme SPIEGEL: Frau Hinrichs, können Sie Frau fertigen, warum sie Tennisbälle werfen und
auf die Straße gelegt worden sein. Es gab drei Schmidt Tipps geben, wie man Menschen auf die Spiele unterbrechen. Die DFL hat in der
zum Teil schwere Unfälle mit fünf Verletzten. friedlichen Protest trainiert? ganzen Zeit drei dürre Pressemitteilungen
Frau Schmidt, haben Sie den Eindruck, dass Hinrichs: Man kann das nur schwer ver­ geschrieben, warum sie einen Investor will.
der Bauernverband noch die Kontrolle über gleichen. Der Bauernprotest ist spontan aus SPIEGEL: Haben Sie es irgendwann einmal
die Geister hat, die er rief? einem Momentum heraus entstanden, und bereut, Ihr Jurastudium für die Letzte Gene-
Schmidt: Das ist sicher ein Beispiel dafür, wie es ist natürlich viel schwieriger, im Nach­ ration aufgegeben zu haben, Frau Hinrichs?
Dinge außer Kontrolle geraten können. Du hinein Einfluss zu nehmen. Wir bei der Letz- Hinrichs: Offiziell habe ich pausiert. Und nein,
kannst einfach nicht bei jedem Einzelnen ver- ten Generation überlegen ganz genau: Was ich bereue nicht, dass ich mich morgens im
hindern, dass er mal aus der Reihe tanzt. Aber nimmt die Gesellschaft als Gewalt wahr? Das Spiegel angucken kann und für etwas auf­
der Bauernverband und wir sagen immer: nur haben wir in einem Papier ausgearbeitet und stehe, das ich für richtig halte. Ich kann nicht

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DEUTSCHLAND

anders: Ich kann nicht ein Jurastudium ab­ sich um Verletzungen sorgen, kann ich nach­
solvieren, wenn das Klima und unser Planet vollziehen, ihr Körper ist ihr Kapital. Aber
zerstört werden. sie sind auch diejenigen, die am meisten pro­
SPIEGEL: Man hat Sie zu zwei Monaten Haft fitieren von dem vielen Geld, das im Profi­
auf Bewährung verurteilt, weil Sie vor zwei fußball steckt. Tatsächlich hatten sie ja keine

Michael Kuenne / PRESSCOV / ddp


Jahren in Frankfurt am Main einen Stau ver­ realen Nachteile, sie mussten nur pausieren,
ursacht haben. Finden Sie es ungerecht, dass wenn die Bälle flogen.
noch keine Bäuerin, kein Bauer für eine ähn­ SPIEGEL: Frau Hinrichs, was sagen Sie der
liche Tat verurteilt wurde? Alleinerziehenden mit Kind, die auf dem Weg
Hinrichs: Rechtssysteme arbeiten langsam. zum Arzt von Ihnen aufgehalten wird?
Das System wird sicherlich noch darauf rea­ Hinrichs: Ich versuche, zu erklären: Hey, es
gieren, dass einige Bauern so gestört haben, Klimaaktivistin in Berlin im März geht auch um deinen Arsch, den wir zu retten
dass sogar Menschen verletzt wurden. Ich versuchen. Und egal, wie wütend sie über
finde eher die Diskussion in der Öffentlichkeit unsere Proteste sind – die meisten Leute ver­
spannend. Als wir angefangen haben, uns »Vermutlich werde stehen unser Anliegen. Sie möchten auch,
festzukleben, gab es vom ersten Tag an laute ich mal im Gefängnis dass ihre Kinder eine gute Zukunft haben.
Stimmen, die riefen: Sperrt sie ein, packt sie SPIEGEL: Frau Schmidt, was sagen Sie den­
hinter Gitter, wir müssen die Gesetze ver­ sitzen für meine jenigen, die von den Traktoren genervt sind?
schärfen. Bei den Bauernprotesten gab es das Überzeugungen.« Schmidt: So viele waren das gar nicht. Ich bin
nicht. selbst mit dem Schlepper nach Marburg
Carla Hinrichs
SPIEGEL: Warum wohl? ­gefahren und hatte immer das Gefühl von
Hinrichs: Ihr Bauern fordert etwas, das inner­ Solidarität in der Bevölkerung. Der Großteil
halb des bestehenden Systems lösbar ist, wäh­ versteht, dass es hier um nachhaltige Le­
rend wir für die Klimagerechtigkeit das ganze bensmittelerzeugung und eine enkelgerechte
System infrage stellen: die Arbeit der Politiker ­Zukunft für unsere Betriebe geht. Umfragen
und das ökonomische System, auf dem alles haben ja auch gezeigt, dass 80 Prozent uns
fußt. Es ist einfacher, Wandel innerhalb eines unterstützt haben. Aber weil wir diese Unter­

Sebastian Räppold / Matthias Koch / IMAGO


Systems zuzulassen. stützung nicht verlieren möchten, sind wir
SPIEGEL: Frau Schmidt, wären Sie bereit, für jetzt runter von der Straße und setzen auf
Ihre Anliegen ins Gefängnis zu gehen? Gespräche mit der Politik.
Schmidt: Recht und Gesetz stellen eine harte SPIEGEL: Also erst einmal keine Blockaden
Leitplanke dar, und ich würde daher keinen mehr?
Grund liefern, verhaftet zu werden. Ich wür­ Schmidt: Das heißt nicht, dass die Bundes­
de mich auch nicht gegen die Polizei stellen. regierung nun aufatmen kann. Aber es dauert
Denn dann würde die Chance, meine Forde­ nicht mehr lange, da wird wieder jeder Tre­
rungen durchzubringen, stark sinken. Warum Hertha-Fans beim Protest im Februar cker auf den Feldern gebraucht. Und wir
du verurteilt wurdest, Carla, kann ich nicht Bauern können auch mit Argumenten über­
beurteilen, da war ich nicht dabei. zeugen. Wir haben Plakataktionen geplant,
Hinrichs: Auch jeder Richter beurteilt das an­ »Protest muss immer laden zu Gesprächen auf die Höfe ein, und
ders. Ich selbst halte meine Straßenblockaden in Kauf nehmen, wir wollen mit Abgeordneten reden, um so
nicht für strafbar, denn wir befinden uns in
einer Notlage, und Stören ist das Einzige, was dass Leute Nachteile unsere Themen in die Parlamente zu bringen.
Da bleiben wir hartnäckig.
wir derzeit machen können. Auch Gerichte erleiden.« SPIEGEL: Frau Hinrichs, Sie haben ange­
haben das schon so gesehen. Der eine Richter Thomas Kessen
kündigt, dass die Letzte Generation sich fort­
stellt das ganze Verfahren ein. Der andere an nicht mehr auf die Straße kleben wird.
spricht einen frei. Und ein Dritter gibt zwei Warum?
Monate Haft auf Bewährung für eine 20-mi­ Hinrichs: Zuletzt sind nicht mehr so viele
nütige Straßenblockade. Menschen wie erhofft zu uns gestoßen. Das
SPIEGEL: Wann würden Sie ins Gefängnis lag auch daran, dass die Aggression auf der
­gehen, Herr Kessen? Straße gegen uns wirklich beängstigend wur­
Kessen: Ich hoffe, gar nicht. Aber ich finde es de. Wer an einem Tag verkloppt und bespuckt
beeindruckend, wenn jemand sagt: Ich gehe wird, entwickelt eine Hemmschwelle, sich am
lieber ins Gefängnis und kann dafür morgen nächsten Tag wieder zu engagieren.
noch in den Spiegel sehen. SPIEGEL: Sie haben eine neue Protestform
Julius Schrank / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Was haben Sie denen entgegnet, die angekündigt: »ungehorsame Versammlun­
durch Ihren Fußballprotest Nachteile hatten gen«. Was soll das sein?
– den Fans, die genervt von den Spielunter­ Hinrichs: Die »ungehorsamen Versammlun­
brechungen waren, oder den Spielern, deren gen« sollen sein wie eine Straßenblockade,
Verletzungsrisiko erhöht war, weil sie in den Demonstrierende Bauern in Berlin im Januar
nur mit ganz vielen Menschen und ohne Fest­
Pausen abkühlten? kleben. Außerdem treten wir bei der EU-Wahl
Kessen: Protest muss immer in Kauf nehmen, an, um unsere Anliegen ins Parlament zu tra­
dass Leute Nachteile erleiden. Aber ich habe »Das schwärzeste Schaf gen. In diesem Land gibt es viele Menschen,
gegenüber dem Bauern- und dem Klimapro­ die keine Lust mehr haben, eine Partei zu
test einen Vorteil: Wer sich nicht für Fußball darf nicht die Farbe wählen, die wieder nur das kleinste Übel ist.
interessiert, war von unserem Protest nicht der gesamten Herde Für die wollen wir da sein.
betroffen. Unter den Stadiongängern hatten SPIEGEL: Frau Schmidt, Frau Hinrichs, Herr
wir 80 Prozent Zustimmung, den Rest halte bestimmen.« Kessen, wir danken Ihnen für dieses Ge­
ich für vernachlässigbar. Dass die Sportler Theresa Schmidt spräch. n

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DEUTSCHLAND

Frank, es gebe in Sachen RAF noch immer


20 offene Verfahren.
Zwar gelang es dank neuer technischer
Methoden, DNA-Spuren zu gewinnen. Seit

Neue Spur zu alten Fällen


2001 etwa ist bekannt, dass am Tatort des
Rohwedder-Mordes ein Haar des RAF-Man-
nes Wolfgang Grams gefunden wurde. Grams
aber hatte sich bereits 1993 bei einem Zugriff
STRAFJUSTIZ Seit Zielfahnder die Ex-Terroristin Daniela Klette erschossen. Auch für einen Sprengstoffan-
schlag auf das Gefängnis in Weiterstadt 1993
festsetzten, hofft der Generalbundesanwalt, zahlreiche ungeklärte erhielt man DNA-Treffer, die auf Staub, Klet-
RAF-Morde aufrollen zu können. te und Garweg deuteten. Hinweise auf ihren
Aufenthaltsort erhielt man dadurch nicht.
Die neue Hoffnung auf entscheidende Er-

D
ie Polizisten konnten es offenbar kaum Die Terroristen töteten zehn Menschen, da­ mittlungserfolge speist sich bei GBA und BKA
glauben, als ihnen Ende Februar einer runter 1989 den Deutsche-Bank-Chef Alfred vor allem aus den Funden in Klettes Wohnung.
der größten Erfolge der deutschen Kri- Herrhausen und 1991 den Chef der staatlichen Die Ermittler stellten ein Waffenarsenal sicher:
minalgeschichte gelang. Wie Postboten klin- Treuhand-Anstalt, Detlev Karsten Rohwed- ein Schnellfeuergewehr und eine Maschinen-
gelten sie im fünften Stock eines Mehrpartei- der (siehe Seite 36). Mehrmals verübten sie pistole, eine Pistole Walther P 5 und eine Heck-
enhauses in Berlin-Kreuzberg. Sprengstoffanschläge. Die meisten Taten sind ler & Koch P7, die bereits 1984 bei einem RAF-
Es öffnete eine Frau mit weißen Haaren, nicht aufgeklärt. Eine schmerzhafte Leerstelle. Überfall auf ein Waffengeschäft im rheinland-
sie legte einen italienischen Pass vor. Erst ihre Dutzende Ermittler des Bundeskriminal- pfälzischen Maxdorf erbeutet worden war.
Fingerabdrücke zeigten, wer sie wirklich war: amts (BKA) sollen sich auf Geheiß des Gene- Darüber hinaus fanden sich fast 200.000
Daniela Klette, Ex-Terroristin der RAF, eine ralbundesanwalts (GBA) nun jeden Fall noch Euro in bar und zwei CDs, die als »Archiv«
der meistgesuchten Personen des Landes. einmal vornehmen. Gegen Klette, so heißt es, beschriftet waren. Darauf sollen Hinweise zum
Mehr als 30 Jahre hatte sie sich versteckt. sei bis Ende des Jahres mit einer Anklage zu Fälschen von Kfz-Papieren zu finden sein. In
Der Durchbruch beflügelt seither die Er- rechnen. Sie steht beim GBA wegen dreier zwei Koffern etliche Handys sowie »diverse
mittler. In Niedersachsen verstärkt die zu- Terrortaten unter Verdacht, die ihr neben dem Unterlagen mit RAF-Bezug«, wie die Beamten
ständige Staatsanwaltschaft Verden die Fahn- absehbaren Raubprozess einen zweiten Pro- notierten. Auch der Originalausweis von Kom-
dung nach Klettes Komplizen, die weiterhin zess einbringen dürften. plize Burkhard Garweg, der 1993 abgelaufen
verschwunden sind: Ernst-Volker Staub und Die weiteren Ermittlungen zur dritten Ge- ist, lagerte in Klettes Wohnung.
Burkhard Garweg. Als Räuberbande sollen neration werden wohl deutlich mehr Zeit in Der Draht zwischen den beiden war im
die drei seit 1999 gemeinsam Supermärkte Anspruch nehmen. In den Blick rücken dürfte Untergrund offenbar eng. Auf Klettes Handys
und Geldtransporter überfallen haben, um dabei auch noch einmal Birgit Hogefeld. Sie gilt fanden sich Bilder Garwegs, der in Berlin auf
ihren Lebensunterhalt zu sichern. als ein Kopf der dritten Generation. »Ich bin einem Bauwagenplatz lebte. Bei ihrer Festnah­
Gegen Klette wiegen die Beweise schwer, sicher: Hogefeld weiß alles«, sagte ein Ermittler me gelang es Klette noch, Garweg zu warnen.
es gibt mehrere DNA-Treffer. Eine Anklage schon vor Jahren. Hogefeld wurde 1996 zu le- Der Einsatz am 26. Februar in Berlin-
vor dem Landgericht Verden in Niedersachsen benslanger Haft verurteilt. Sie nannte keine Kreuzberg verlief unglücklich. Die Polizisten
solle »schnell« erfolgen, heißt es in Justizkrei- Mittäterinnen und Mittäter. Sie kam 2011 frei, vor Klettes Tür waren Zielfahnder aus Nieder-
sen. Klette sitzt im 80 Kilometer entfernten lebt unauffällig in einer hessischen Großstadt. sachsen. Sie hatten einen Tipp bekommen,
Frauengefängnis Vechta in Untersuchungshaft. Das geplante Großprojekt ist für den GBA allerdings schon vor Monaten. Unten vor der
Sie schweigt zu sämtlichen Vorwürfen. wohl auch der Versuch, eine Schmach wett- Haustür stand ein Streifenwagen der Berliner
In Karlsruhe will Generalbundesanwalt zumachen. Nachdem sich die RAF 1998 auf- Polizei, den die niedersächsischen Kollegen
Jens Rommel den Fall Klette zum Anlass gelöst hatte, ging es bei den Ermittlungen nie zur Unterstützung gerufen hatten. Die GSG 9,
­nehmen, die Rätsel der dritten RAF-Genera- nennenswert voran. Vor fünf Jahren klagte die Elitetruppe der Bundespolizei, war wohl
tion zu lösen, die von 1984 bis 1993 wütete. der damalige Generalbundesanwalt Peter in Alarmbereitschaft, allerdings nicht vor Ort.
Wolfgang Rattay / REUTERS

Verhaftete Klette bei der Ankunft Mutmaßlicher Prozess­ort


in Karlsruhe am 7. März Landgericht Verden

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DEUTSCHLAND

Wie wir
Die Gewerkschaft der Polizei in Berlin kri-
tisiert den Einsatz. In Anbetracht der Waffen
in Klettes Wohnung sei es »reines Glück«,
dass kein Kollege verletzt worden sei. »Genau

20 Jahre
für solche Festnahmen haben wir durchaus
fähige Spezialeinheiten in der Hauptstadt.«
Hochrangige Polizisten in Berlin spotten,

länger leben
es sei wie im Fernsehkrimi gewesen, wo der
Kommissar alles allein mache, ohne Spezia-
listen hinzuzuziehen. Andere sprechen von
»einem der peinlichsten Einsätze in der Ber-
liner Kriminalgeschichte«. Die Kollegen aus
Niedersachsen hätten die Situation schlecht
vorbereitet und falsch eingeschätzt. Das Lan-
deskriminalamt Niedersachsen wollte sich auf
Anfrage inhaltlich nicht zu der Sache äußern.
Der Chef des Bundeskriminalamts, Holger
Münch, spielt die merkwürdigen Umstände
der Festnahme drei Wochen nach dem Einsatz
in einem Interview herunter. Es habe sich um
eine »Routineüberprüfung« gehandelt, »eine
von über 1000 Routineüberprüfungen«. Es
sei keineswegs klar gewesen, dass man auf
Klette treffe.
Nachdem die Beamten geklingelt haben,
soll Klette an Garweg zwei Kurzmitteilungen

320 Seiten, gebunden � 26,00 € � Auch als E-Book erhältlich.


geschickt haben. In der ersten Nachricht
schreibt sie wohl, dass es klingle. In der zwei-
ten heißt es sinngemäß: Es ist das LKA, sie
haben mich. Garweg flüchtet daraufhin und
telefoniert noch mit einer älteren Dame, die
er unter falschem Namen regelmäßig betreut:
Er habe gerade »Probleme«.
Mehrere Staatsschützer bestätigten dem
SPIEGEL , Klette sei bei der Festnahme etwa
drei Minuten nicht unter Kontrolle gewesen.
In dieser Zeit sei sie im Bad gewesen und habe
gespült. Im Bad sei anschließend ein Handy
ohne SIM-Karte gefunden worden. Schrieb
sie also die Nachrichten an Garweg, als die
Polizei bereits in ihrer Wohnung war?
Auch in eigener Sache gibt es für die RAF-
Ermittler offenbar einiges aufzuklären.
Jörg Diehl, Hubert Gude, Thomas Heise,
Roman Lehberger, Claas Meyer-Heuer,
Ansgar Siemens, Wolf Wiedmann-Schmidt n

SPIEGEL-Bestsellerautor Jörg Blech lüftet das Geheimnis


der Gesundheit und legt den ultimativen Masterplan für
Leib und Seele vor.
Er räumt mit Mythen der Medizin auf und zeigt uns die
wahren Bedürfnisse unseres Körpers. Denn die meisten
Alterserkrankungen sind gar nicht vorbestimmt.
Acht einfache Regeln zeigen: Wer seinen Körper kennt,
Hauke-Christian Dittrich / picture alliance / dpa

kann selbst mehr für seine Gesunderhaltung tun als die


besten Ärzte.
Uli Deck / picture alliance / dpa

Generalbundesanwalt
Rommel

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 35 www.dva.de


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Rentner Armee Fraktion


TERRORISMUS Die Festnahme der Ex-Terroristin Daniela Klette und die Jagd auf ihre beiden Genossen
holt die bleiernen Jahre der RAF zurück in die Gegenwart. Klette, Staub, Garweg:
die Geschichte dreier Menschen, die als Revolutionäre antraten und offenbar als Räuber endeten.

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ls es für sie vorbei war mit der RAF. Als phantomen – war nicht nur unklar, wer da unauffällig. Immer wieder überfielen sie of-
natürlich noch geschossen werden schoss und bombte, sondern auch, wofür fenbar Supermärkte, Geldtransporter, ver-
konnte, aber nur noch für das klein- eigentlich. schwanden danach wie ins Nichts. Das hatten
bürgerliche Leben, das sie früher so verachtet Die RAF dieser Zeit, zu der auch Staub, sie bei der RAF gelernt. Überfälle aus dem
hatten. Für das Geld, das dieses Leben kos- Klette und Garweg gerechnet werden, tötete Untergrund, zuschlagen und abtauchen, das
tete, die Miete, der Tanzverein, das Hunde- Topmanager wie Deutsche-Bank-Chef Alfred machte die Ex-Terroristen für die Öffentlich-
futter. Als es vorbei war mit dem Kampf, der Herrhausen und Manager der zweiten Reihe keit weiter interessant. Sie und die dritte RAF-
nun doch nicht weiterging. Vorbei mit der wie Siemens-Vorstand Karl Heinz Beckurts. Generation, die ansonsten längst zu einer
Stadtguerilla, der Pistolero-Pose und der Wut Sie erschoss den Chef der Treuhandanstalt, Fußnote der Geschichte geworden war.
auf das »Schweinesystem«. Detlev Karsten Rohwedder, aber auch den 1977, in jenem Herbst, den man später den
Als das alles vorbei war, da wollten die 20-jährigen US-Soldaten Edward Pimental, »deutschen« nennen würde, stellte die RAF
Letzten der RAF offenbar nur noch eines: nur um mit seinem Truppenausweis auf die die Machtfrage. Sie tat das mit derselben
ihre Ruhe. Sie wollten unsichtbar, vergessen Rhein-Main Air Base der Amerikaner zu Selbstüberschätzung, mit der die Köpfe der
sein, keine Heroen des Widerstands. kommen, für einen Bombenanschlag mit zwei ersten Generation, Andreas Baader und Gud-
Die letzten drei von der Fahndungsliste, Toten. Und sie jagte 1993 als letzten Akt den run Ensslin, schon 1968 Kaufhäuser ange-
Daniela Klette, Ernst-Volker Staub, Burkhard leeren Neubau der Justizvollzugsanstalt im steckt hatten. Und mit derselben Brutalität,
Garweg, standen sinnbildlich für das, was die hessischen Weiterstadt in die Luft – ein An- mit der die RAF 1972 in der »Mai-Offensive«
RAF mal war, eine mörderische Polit-Splitter- schlag, an dem offenbar Klette, Staub und sechs Bombenanschläge in 14 Tagen verübt
gruppe, die in die Geschichte der Republik Garweg beteiligt waren, wie DNA-Spuren hatte. Im Springer-Verlag, in der Polizeidirek-
einging. Und für das, was vom Anspruch, die vom Tatort nahelegen. tion Augsburg, vor dem Hauptquartier der
Welt zu verändern, wohl übrig blieb: gewöhn- Während sich die Republik in all diesen US-Streitkräfte in Heidelberg. Schon da hat-
liche Kriminelle, die vor allem an sich selbst Jahren ohne die RAF verändert, reformiert, te es Tote gegeben; kein Problem für die RAF.
dachten. liberalisiert hatte, vor allem mit dem Marsch »Bullen sind Schweine, natürlich kann ge-
Die Jagd auf die »RAF-Rentner« öffnet durch die Institutionen, auf den sich die schossen werden«, hatte Ulrike Meinhof 1970
noch einmal den Blick auf ein fernes Land, Gemäßigten der 68er-Revolte gemacht hat- klargestellt. Rücksicht auf Menschen? Nicht
die Bundesrepublik der Siebziger-, Acht­ ten, wirkten die RAFler mit jedem Anschlag wenn es gegen das angeblich faschistische
ziger-, Neunzigerjahre und die Bedeutung, mehr wie wütende Trotzkinder. System- System ging, den Imperialismus, den Kapita-
die der Terror der »Roten Armee Fraktion« sprenger, die sich Aufmerksamkeit herbei- lismus, den Staatsapparat, der sich einem Um-
damals für die kollektive Psyche hatte. Die bombten, wenn es denn für Wirkung schon sturz entgegenstellte. Der deutsche Herbst
Angst. Der Hass. Die Hysterie. nicht reichte. 1977 war für die RAF so etwas wie das End-
Als die Geschichte der RAF begann, mit Irgendwann waren sie dann erschöpft, aus- spiel im Kampf der »Sechs gegen 60 Millio-
der ersten Generation, Andreas Baader, gebrannt, ideologisch schon lange, nun auch nen«, wie der Schriftsteller Heinrich Böll den
Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Horst aktivistisch. 1998 erklärte die RAF ihre Selbst- Terrorkrieg genannt hatte.
Mahler, wuchs der Terror noch aus einer Wut, auflösung. »Die Stadtguerilla in Form der Meinhof hatte sich 1976 in ihrer Zelle in
die viele im Land teilten. Da waren die ent- RAF ist nun Geschichte«, hieß es in einem Stuttgart-Stammheim aufgehängt; danach
rüsteten Bürger, die in der SPIEGEL -Affäre Acht-Seiten-Schreiben. Nach 33 Toten in wollte die RAF die anderen »Stammheimer«
für die Pressefreiheit auf die Straße gegangen 23 Jahren, nach 10 Todesopfern, die allein auf freipressen – Baader, Ensslin, Jan-Carl Raspe
waren. Die empörten Studenten, die gegen das Konto der dritten Generation gingen. Das und Irmgard Möller. Sie wähnte sich auf Au-
den Muff ihrer Nazi-Eltern aufgestanden wa- Pamphlet enthielt stilistische Elemente, die genhöhe mit dem Staat, verschleppte Arbeit-
ren. Gegen ihr Verdrängen, Vergessen, Ver- Fahnder Ernst-Volker Staub zuschreiben. geberpräsident Hanns Martin Schleyer, ließ
schweigen der braunen Jahre. Das letzte Faszinosum, das die RAF seit- sich von einem palästinensischen Terrorkom-
Am 2. Juni 1967 hatten die Rebellen auch dem noch bereithielt, war der Untergrund. mando helfen, das die Lufthansa-Maschine
das erste Blut gesehen. Der Polizist Karl-Heinz Wie es drei Menschen schafften, 34 Jahre un- »Landshut« entführte.
Kurras erschoss den wehrlosen Studenten erkannt zu leben und – was die Sache noch Aber der Staat ließ sich nicht erpressen, es
Benno Ohnesorg in einem Berliner Hinterhof. ungewöhnlicher machte – dabei nicht gerade gab keine Augenhöhe, und danach schien die
Anfangs schien die Gewalt der RAF noch ein RAF so tot wie ihre Anführer Baader, Ensslin
ideologisches Fundament zu haben, als Kon- und Raspe. Sie hatten sich nach der Befreiung
zept einer Gegengewalt, und mit der Ideologie der »Landshut«-Geiseln in ihren Zellen um-
auch Unterstützer in linken Kreisen. Ein Fun- gebracht.
dament, das sich die spätere RAF im Blut- Der Staat ließ sich nicht »Alle Hoffnungen waren futsch, Ratlosig-
rausch mit jedem Attentat mehr wegschoss.
Spätestens mit der dritten Generation – bis
erpressen, es keit machte sich breit«, sagte später die RAF-
Frau Sigrid Sternebeck über die Zeit nach dem
heute in Teilen eine Generation von Terror- gab keine Augenhöhe. »Deutschen Herbst«. Mit zehn frustrierten

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Aussteigern setzte sie sich in die DDR ab, auch Grams lebte, stieß sie auf Klette, nahm
bekam dort einen neuen Namen, ein neues sie fest. Klette musste ihre Fingerabdrücke
Leben, kleinbürgerlich-sozialistisch. Ein Le- abgeben, dann ließ man sie laufen, offenbar
ben, das bis zur Wende hielt; dann flogen wieder in die Arme der RAF. Wobei ihre Jah-
sie auf, gingen ins Gefängnis. Andere Kader re danach im Nebel versinken.
saßen nach 1977 in Bagdad fest. Einige wur- Bevor sie Ende der Achtzigerjahre in den
den nach der Rückkehr nach Deutschland Untergrund ging, sah man sie öfter in den
verhaftet, andere Genossen kamen bei Schie- besetzten Häusern der Hamburger Hafen-
ßereien mit der Polizei ums Leben. straße, damals ein bundesweiter Hotspot der
Als 1982 binnen weniger Tage auch die linken Anarcho- und Gewaltszene. Und mit
Führungsclique der zweiten Generation, ihr – so zu lesen in einem anonymen Schrei-
Christian Klar und Brigitte Mohnhaupt, ge- ben aus der Hafenstraßen-Szene – hielt sich
schnappt wurde, schienen die Fahnder am dort »über längere Zeit« auch jener Mann auf,
Ziel: Die RAF war tot oder im Knast. der bei Ermittlern als Klettes Freund galt und
War es das? War es nicht. etwa zur selben Zeit verschwand: Ernst-Vol-
Wenn man sich auf eines bei der RAF ver- ker Staub.
lassen konnte: dass sie so egoman und selbst- Staub, Jahrgang 1954, kam aus Hamburg.

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referenziell war, dass die Befreiung der Mit- Dort war er an der Uni eingeschrieben,
kämpfer aus dem Knast bei ihr immer gleich Sprachwissenschaften, Phonetik, später noch
neben dem Systemumsturz kam. Mindestens Rechtswissenschaften. Bis 1982. Dann verlor
sollten die inhaftierten Genossen zusammen- sich seine Spur zum ersten Mal, allerdings
gelegt werden, um aus dem Gefängnis den Ernst-Volker Staub
nicht für lange. Sie führte in ein Haus an der
Kampf weiterführen könnten – noch so ein Berger Straße in Frankfurt-Bornheim.
Fantasma, auf das sich der Staat nicht einließ. Am 2. Juli 1984, abends um acht, guckte
So kam die dritte Generation, die Zeit, in der Elektromeister Eduard Glowka gerade
der sich auch Daniela Klette, Ernst-Volker die »Tagesschau«, als es plötzlich laut rumste,
Staub und später Burkhard Garweg ins Bild »wie wenn in meinem Schlafzimmer ein Stuhl
der RAF schieben. umfiele«. Kurz danach klingelte es an seiner
Da ist zunächst mal Klette: geboren 1958 Tür: Eine blonde Frau, die angeblich in der
in Karlsruhe, Mutter gelernte Zahnärztin, Va- Wohnung obendrüber auf die Katzen auf-
ter Handelsvertreter, eine Tochter aus gutem passte, fragte höflich nach, ob Wasser durch
Haus. Wie so viele, die danach den Breaking- die Decke gekommen sei; ihr sei leider ein
Bad-Weg Richtung Weltrevolution und Ter- Eimer umgefallen. Glowka guckte nach: kein
rorkrieg gingen. Wasser, dafür ein Einschussloch in seinem
Schon auf dem Gymnasium schien durch, Linoleumboden, von oben, durch die Decke.
dass sie nicht die Sorte Mädchen mit rosa- Er rief die Polizei, die stürmte die Woh-
farbener Schleife im Haar werden wollte, die nung eine Etage höher, und neben dem RAF-
in die Küche passt und zu den Konventionen Mann Helmut Pohl, zweite Generation, über-
braver Bürgerlichkeit. Sie verteilte Flugblät- rumpelten die Greifer noch fünf mutmaßliche
ter, wie sich ein früherer Lehrer kürzlich in Terroristen, bevor die an ihre Waffen heran-
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den »Badischen Neuesten Nachrichten« er- kamen. Einer von ihnen: Staub.
innerte, »sehr radikal«, gegen den Vietnam- Die Fahnder stießen auf ein »Pharaonen-
krieg, den Kapitalismus. Überhaupt müsse grab«, wie so etwas damals beim Bundeskri-
man auf alle, die für den Kapitalismus ver- minalamt hieß. 8400 Blatt Papier, ein Kon-
antwortlich sind, mal einen Anschlag machen, Daniela Klette
volut an Terrorplanungen. Vermerke wie
soll sie gesagt haben. »Bullen, Fahndung« oder »3 x 400 g TNT«.
Es folgten: Proteste gegen Atomkraft, die Auch ein Ausspähbericht für einen möglichen
Startbahn West, die Nato. Schließlich lande- Kaufhausüberfall, von dem man aber besser
te sie in Wiesbaden bei der Roten Hilfe, jener die Finger lassen solle: »Können wir verges-
Gefangenenbetreuung, die als Vorfeldorga- sen, weil man da nicht anders fahren kann als
nisation der RAF galt, noch legal, aber schon den Bullen direkt in die Arme.«
Sprungbrett in den bewaffneten Kampf. Dazu Namen, mögliche Anschlagsopfer,
Damals lernte sie die beiden »Wiesbade- allerdings so viele, dass die Polizei denen von
ner« kennen, Wolfgang Grams und Birgit Ho- Karl Heinz Beckurts und Ernst Zimmermann,
gefeld, die später zu den Führungsfiguren der die Jahre später tatsächlich von der RAF um-
dritten RAF-Generation aufsteigen sollten. gebracht wurden, keine besondere Bedeutung
Und 1982, da war Klette Mitte zwanzig, ent- beimaß.
deckte die Polizei bei ihr die erste Spur zur Für die Richter war die Sache im Prozess
RAF. In einem Erddepot lag die Kopie eines klar: Staub sei spätestens im Juni 1983 in die
Kfz-Scheins, der ihrer Mutter gehörte. Wie RAF gegangen. Sie verurteilten ihn wegen
er dahin kam, was genau Klette mit der RAF Mitgliedschaft in einer Terrorvereinigung,
zu tun hatte? Unklar. Urkundenfälschung und unerlaubten Waffen-
Der nächste Fahndungstreffer im Umfeld besitzes zu vier Jahren, die er bis 1988 absaß.
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der RAF noch im selben Jahr: Die Polizei hat- In der Haft hatte er viel Zeit, auch zum
te gerade Mohnhaupt und Klar festgenom- Schreiben; das Ergebnis lässt darauf schlie-
men, die Spitze der zweiten Generation. Sie ßen, dass er sich weiter radikalisierte und
durchsuchte Wohnungen möglicher RAF- in die szenetypische Paranoia abdriftete. »Auf
Sympathisanten. Und in einer, in der offenbar Burkhard Garweg jeden Fall fällt das ganze hier unter sämtliche

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uno-menschenrechts- und antifolterdeklara- für die medizinische Versorgung. Dass die Garweg brach die Schule ab, verweigerte
tionen«, klagte er. Mal war ihm zu warm, marxistische Terrororganisation PKK immer den Wehrdienst, meldete sich vermutlich des-
dann zu kalt, mal war es zu laut, mal zu still. Spalier stand, schien ihn nicht zu stören, im halb in Berlin an, wo man nicht zum Bund
Der Wandspiegel in der Zelle verfälsche seine Gegenteil; er setzte sich dafür ein, das PKK- eingezogen wurde. Er ging dann aber nicht
Gesichtsfarbe, der Boden sei permanent sta- Verbot in Deutschland aufzuheben. Garwegs in die Mauerstadt, sondern, was für deutsche
tisch aufgeladen. Alles nur »zum mürbe­ Mutter, gelernte Medizinfachangestellte, gab Verhältnisse ähnlich exterritorial war, in die
machen«. als Beruf später mal schlicht »Menschenrecht- Hafenstraße. Dort lernte er Staub und Klette
Einer Frau aus dem Unterstützerumfeld lerin« an. kennen.
schrieb er rund 200 Briefe und Postkarten, In der Schule schrieb Burkhard Garweg Was sie zusammenschweißte? Was Garweg
die dem SPIEGEL vorliegen. Auch hier wech- für »Clinch«, eine linke Schülerzeitung. Die dazu trieb, gerade mit diesen beiden in den
selten sich Phrasen und Posen aus dem RAF- Schriftstellerin Sarah Khan, auch bei »Clinch«, Untergrund zu gehen und später, nach der
Kosmos ab. Er lobte Mao, auch Che Guevaras erinnerte sich in der »Süddeutschen Zeitung« RAF-Zeit, mutmaßlich mit ihnen auf Raub-
»Episoden aus dem Revolutionskrieg« (»gut an einen Jungen mit weichem Gesicht, bei züge? Alles offene Fragen, schon damals, als
beschrieben, wie sich die einzelnen menschen dem sie sich eher gewundert habe, dass er Garweg verschwand, auch noch 1998, als ein
im kampf verändern, hin zum neuen«). Er einmal bei einem Treffen von einer kommen- Insider aus dem Bundeskriminalamt klagte:
theoretisierte über die »weltweite ökonomi- den Gewalt orakelt habe. Garweg und Ge- Zu Garweg »weiß keiner was Genaues«. Und
sche krise«, über »das ende der inneren ent- walt, das schien ihr nicht zusammenzupassen. auch heute noch.
wicklung des imperialismus«, der auf dem Damals. In den Fachbüchern zur RAF kommen die
Weg in die »innere verwesung« sei. drei höchstens mal am Rande vor. Garweg
Und als die Frau schrieb, sie würde gern wurde nie angeklagt. Ohne die DNA-Technik
Mutter werden und Hebamme, riet Staub ab: und ihre Möglichkeiten, Menschen noch Jah-
»schließlich bleibt’s hier imperialismus, ob du re später mit einem Ort und einer Tat zu ver-
nun n gör hast oder nicht.« binden, wäre die Beweislage gegen ihn noch
Als Staub 1988 rauskam, tauchten er und dünner. So aber stand Garweg auf der Fahn-
Klette in der Hamburger Hafenstraße auf. dungsliste deutscher Ermittlungsbehörden
Staub musste sich regelmäßig bei der Polizei weit oben, Belohnung für Hinweise zur Er-
melden – eine Auflage des Gerichts, das greifung des Trios: mindestens 150.000 Euro.
»überzeugt« war, er werde »weitere Strafta- Die Blutspur der dritten Generation be-
ten« begehen. Das letzte Mal ließ er sich im gann schon 1985, nur ein halbes Jahr nachdem
Februar 1990 auf einem Revier blicken. Dann die RAF mal wieder am Ende schien, mit der
Fotorepor t Polizeifoto / picture-alliance / dpa

war er weg. So wie Klette. Und außerdem Verhaftung von Staub und den Genossen in
einer, der fast noch ein Junge war, als die bei- Frankfurt am Main. In einem RAF-Pamphlet
den ihn in der Hafenstraße aufgabelten. Burk- von 1992 wird die Razzia in Frankfurt als Tief-
hard Garweg. punkt beschrieben; »für uns war es tatsächlich
Garweg wurde 1968 in eine Akademiker- so, dass niemand von denen, die in den Jahren
familie hineingeboren und lernte dort, wie vorher die Politik der Guerilla mitentwickelt
das ist, sein Leben einer Mission zu widmen. hatten, übrig geblieben war.« Deshalb sei auch
Sein Vater, Anatomieprofessor, hatte seine »niemand von uns, die heute in der RAF sind,
Stelle an der Hamburger Uniklinik gekündigt, vor 84 schon dabei« gewesen. Behauptete die
um auf dem Kiez als eine Art Armenarzt eine dritte Generation zumindest.
Praxis aufzumachen. Später gründete er einen Die Köpfe hinter der neuen RAF waren
Verein, um Geld nach Kurdistan zu schicken, Klette-Freundin Hogefeld die beiden Klette-Freunde aus Wiesbaden:

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Klaus Mehner / ullstein bild

HERR / AP

Birgit Hogefeld, die selbst für RAF- base mit zwei Toten. Und am Abend 1 | US-Hauptquartier stützer und hoffte auf ein Bett für
Verhältnisse als ultrahart galt – »Die zuvor die Ermordung des US-Solda- in Frankfurt am ein paar Tage. Stattdessen quartierten
Main nach Bomben-
gurgelt morgens mit Salzsäure«, hieß ten Pimental, der in einer Wiesbade- anschlag am 11. Mai sich die neuen RAFler als Unter­mieter
es unter Gesinnungsgenossen. Und ner Bar in eine Venusfalle der RAF 1972 2 | Journalistin in Wohnungen ein, wenn die Besitzer
Wolfgang Grams, über den Eva getappt war. Eine Genossin, vermut- Meinhof bei einer vor­ gerade im Ausland waren. Und fuhren,
Haule, auch eine Hauptfigur der drit- lich Hogefeld, hatte ihn angeflirtet und läufigen Fest­nahme in wenn möglich, mit Bussen und Bah-
Berlin am 1. Mai 1970
ten Generation, später sagte: »Ohne aus der Bar gelockt, die RAF erschoss 3 | Er­schossener nen, nicht mit einem lila Porsche, deut-
ihn und seine Zähigkeit, mit der er Pimental in einem Waldstück, um an Student Ohnesorg in lich zu schnell, gegen die Einbahnstra-
alle praktischen Probleme angefasst seinen Truppenausweis zu kommen. Berlin am 2. Juni 1967 ße, wie noch Andreas Baader.
und gelöst hat, wäre das nicht gegan- Dass große Teile der linken Szene 1989 bombte ein Kommando den
gen. Wir waren wenige, wir hatten so entsetzt waren von der Kälte dieses Deutsche-Bank-Chef Alfred Herr­
gut wie nichts in der Hand, kaum Mordes, an einem einfachen Solda­ten hausen per Lichtschrankenzünder in
Waffen, kein Geld, wenig Erfahrung aus einer armen Familie, beeindruck- den Tod, 1991 erschoss ein RAF-Killer
in der Organisation der Illegalität.« te die Mörder nicht. »Wir haben nicht aus 63 Meter Entfernung den Treu-
Ideologisch verlegte sich die RAF diesen verklärten, sozialarbeiteri- handchef Detlev Rohwedder. Immer-
nun auf den Kampf gegen den so­ schen Blick«, hieß es in einer Erklä- hin, bei Rohwedder fand die Polizei
genannten militärisch-industriellen rung der Gruppe. am Tatort ein Handtuch und in dem
Komplex. Die Europäische Gemein- 1986 starben Siemens-Forschungs- Handtuch ein Haar, das Grams ver-
schaft, Deutschland an der Spitze, sei vorstand Karl-Heinz Beckurts und loren hatte. Aber ob er deshalb auch
auf dem Weg zur Weltmacht, das der kaum bekannte Ministerialdirek- der Schütze war?
müsse man mit Gleichgesinnten in tor Gerold von Braunmühl aus dem 1990 dann der erste Anschlag, der
anderen Staaten stoppen. Auswärtigen Amt. später mit einem aus dem Trio in Ver-
Im Januar 1985 ermordete die Für die Ermittler begannen frus­ bindung gebracht wurde: Am 25. Fe-
französische Terrorgruppe Action Di- trierende Jahre. Beckurts? Von Braun­ bruar, einem Sonntag, fuhr ein VW
recte einen General aus dem franzö- mühl? Wenn es die traf, konnte es Golf morgens in Eschborn vor ein
sischen Verteidigungsministerium; Tausende treffen, wie sollte man die Verwaltungsgebäude der Deutschen
unterzeichnet war das Bekenner- alle schützen? Bank, an Bord 45 Kilogramm Spreng-
schreiben mit »Kommando Elisabeth Vor allem: Die dritte Generation stoff. Kurz danach sollte eine Zeit-
von Dyck«, dem Namen einer toten hinterließ weniger Spuren, kaum Fin- schaltuhr die Bombe zünden, was die
RAF-Frau. Eine Woche später klin- gerabdrücke. Obwohl die DNA-Tech- Männer im Pförtnerhäuschen wohl
gelte ein RAF-Kommando im baye- nik die Ermittlungsarbeit revolutio- kaum überlebt hätten.
rischen Gauting an der Tür von Ernst niert hat, kann die Polizei die meisten Aber der Zünder versagte, die Er-
Zimmermann, Vorstandschef der Mo-
toren- und Turbinen-Union (MTU),
Taten bis heute nicht konkreten Tä-
tern zuordnen. Bei Zimmermann
Die dritte mittler bekamen ihre Chance und
fanden mehrere Haare – von Klette.
die den Antrieb für den Tornado- etwa hatte das Kommando keine Generation So wie ein Jahr später: Da ballerte ein
Kampfjet und den Leopard-Panzer Handschuhe getragen, aber trotzdem hinterließ RAF-Kommando mehr als 250-mal
baute. Der Terrortrupp fesselte Zim- keine Fingerabdrücke hinterlassen. über den Rhein auf die US-Botschaft
mermann auf einem Stuhl und schoss Hatten sie sich die Fingerkuppen ab- weniger in Bonn. Wieder Klettes Haare in
ihm in den Hinterkopf – Szenen einer gesprayt? Spuren, einem Auto, das bei dem Attentat
Hinrichtung. Anders als die erste Generation eine Rolle gespielt hatte.
Ein paar Monate später der Bom- stand die dritte auch nicht plötzlich kaum Finger- Staub soll zwar schon den An-
benanschlag auf die Rhein-Main-Air- vor Haustüren vermeintlicher Unter- abdrücke. schlag auf die Rhein-Main-Airbase

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DB Jürgen Mahnke / picture-alliance / dpa


Kur t Strumpf / AP
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1985 mit vorbereitet haben, wenn verdient, aber es sei keine Perspek- 1 | Auto von Deut- bei Klettes Festnahme in ihrer Woh-
man seiner RAF-Genossin Eva tive, »wenn daraus kaum was folgt«. sche-Bank-Chef nung auf. Und sie wussten, wie man
Herrhausen in
Haule glauben kann. In einer Ge- Weiter zu eskalieren bringe politisch Bad Homburg 1989 das Werkzeug benutzt, früher für den
heimnachricht an eine inhaftierte nichts mehr. Die RAF wollte sich nun 2 | Gesprengter Umsturz, nun offenbar für den Le-
Terroristin schrieb sie nämlich, mit Hausbesetzern verbünden, Fe- Gefängnisneubau im bensunterhalt.
Staub habe damals »mit den hexen ministinnen, Linken aus der unter- hessischen Weiter- Der notorische Anspruch, als re-
stadt 1993
an der airbase geredet«. Als die Bom- gegangenen DDR, für eine »Gegen- 3 | Mutmaßliches volutionäre Avantgarde die Welt zu
be hochging, saß er aber schon im macht von unten«. Das alles klang Foto von Garweg verändern, und die Hybris, das mit
Bau. mehr nach Arbeitskreis als nach aus neuerer Zeit 30, 40 Untergrundkriegern zu schaf-
Dass er und vermutlich auch Untergrund und vor allem ziemlich fen, das alles wurde nun anscheinend
­Garweg am Tatort eines RAF-An- ratlos. ersetzt durch schnöden Realismus:
schlags waren, dafür gibt es nur in 1993 erschoss sich Wolfgang wie man genug Geld heranschafft, für
einem Fall ein Indiz. In Weiterstadt. Grams. Die GSG 9 hatte ihn auf dem ein Dach über dem Kopf, Essen, Klei-
Nachdem ein RAF-Kommando den Bahnhof von Bad Kleinen in Meck- dung. Möglicherweise noch mit
­Gefängnisneubau in Schutt und Asche lenburg-Vorpommern gestellt; Birgit einem Extraaufschlag für die er-
gelegt hatte – mit 123 Millionen Mark Hogefeld wurde festgenommen. Da- schwerten Bedingungen, im Unter-
bis heute die Gewalttat mit dem größ- mit hatte die dritte Generation nach grund leben zu müssen.
ten Schaden in Deutschland –, fand dem Glauben an ihre Mission auch Am 30. Juli 1999 lauerten drei
man eine Leiter. Die Sprossen waren ihre Anführer verloren. 1998 dann Vermummte mit zwei Autos einem
mit Teppich umwickelt, und an dem das Ende: Wir sind dann mal weg. Geldtransporter vor einem Einkaufs-
Teppich klebten Haare von Staub,Klet- Der Abschiedsbrief enthielt die Na- zentrum in Duisburg auf. Das terror-
te und einer dritten Person; die Er- men aller toten Terroristinnen und typische Arsenal – Panzerfaust,
mittler glauben: von Garweg. Ein Terroristen und den Satz: »Das Ende Sturmgewehr, Maschinenpistole – er-
Beweis, dass die drei mit der Leiter dieses Projekts zeigt, dass wir auf die- füllte seinen Zweck; diesmal musste
über die Gefängnismauer geklettert sem Weg nicht durchgekommen nicht einmal geschossen werden. Ver-
waren, ist das nicht. Möglicherweise sind.« Als wäre das nicht spätestens schreckt öffneten die Geldfahrer
waren sie auch nur in einer Wohnung 1977 klar gewesen. den Angreifern die Panzertüren. Das
gewesen, in der dieser Teppich vor- Was nun? Ein Deal mit dem ver- Trio entkam mit mehr als einer Mil-
her mal lag. hassten Staat, wie ihn andere gemacht lion Mark.
Aber Klettes Nähe zu den RAF- hatten, kam für Klette, Staub und Als die Ermittler im Jahr 2000
Spitzen Grams und Hogefeld, Staubs Garweg nicht infrage. Noch mal Ge- Spucke und Abriebspuren im Flucht-
Haftjahre, die ihn offenbar nur noch fängnis für Staub wohl erst recht auto und an einer Sturmhaube unter-
mehr ausgehärtet hatten, das alles nicht. Zu kalt, zu warm, zu laut, zu suchten und zwei passende Namen
spricht dafür, dass zumindest die bei- leise. Sie blieben im Untergrund und dazu fanden, Klette und Staub, dach-
den zur Kommandoebene gehörten. beschlossen offenbar, wie andere Bür- Die Ermittler ten sie erst mal an die Rückkehr der
Zu denen, die mitschossen und mit-
bombten.
ger auch, sich ihren Lebensunterhalt
mit dem zu verdienen, was sie gelernt
ahnten nicht, RAF. Einen Neuanfang, eine vierte
Generation. Bald würde es wieder
Weiterstadt war der letzte An- hatten. dass sie Anschläge geben. Vulgäres Gangster-
schlag der RAF. Schon ein Jahr vor- Für Klette, Staub und Garweg hieß all die Jahre tum hielten die Fahnder damals noch
her, 1992, hatte sie in ihrem Pamphlet das wohl: Sie hatten das Werkzeug, für extrem unwahrscheinlich und lei-
geschrieben, zwar hätten es »Typen die Schnellfeuerwaffen, eine Panzer- ziemlich teten deshalb auch gleich ein neues
wie Herrhausen und Rohwedder« faust – manches davon stöberte man versagten. Terrorverfahren ein.

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Allein, es kamen keine Anschläge mehr; Trio in 13 Monaten noch viermal. Einmal ein Gesichtserkennungstool von Reportern,
das Trio hatte das Geld, mehr wollte es nicht. zogen sie mit 50.000 Euro ab. Aber erst als die sie auf der Website eines Tanzvereins wie-
Die mutmaßlichen Panzerknacker Klette und die Dreierbande 2016 in Cremlingen in der derfanden, aber die Recherche abbrachen.
Staub waren weg, verschollen, vergessen, Nähe von Wolfenbüttel mehr als eine Und dann gab es einen Hinweis aus der Be-
vielleicht sogar schon verstorben. Die Ermitt- ­Million Euro aus einem Geldtransporter hol- völkerung; wie, woher, dazu schweigen die
ler hatten keine Ahnung. te – bekanntes Muster: Panzerfaust, Sturm- Ermittler bis heute.
Vor allem ahnten sie nicht, dass sie selbst gewehr –, war Schluss. Seitdem kein Überfall Klette lebte in einem Mehrfamilienhaus in
all die Jahre ziemlich versagten. Das däm- mehr. Berlin-Kreuzberg; falscher Name, aber im-
merte ihnen erst, als 2015 in Stuhr bei Bremen Wieder schien sich das Trio in Luft aufzu- merhin ein richtiges Leben. Mit Bekannten,
wieder ein Trio auftauchte – und den Fahn- lösen. Und das, obwohl die Polizei frische mit Nachbarn und zwischendurch einem
dern klar wurde, dass in der Zwischenzeit Fahndungsfotos hatte. Scharfe Bilder von Mann an ihrer Seite, der offenbar nichts von
wohl eine ganze Reihe von Überfällen auf das Staub bei einem Autohändler, der ihm ein ihrer Vergangenheit wusste. Ihr altes Leben
Konto der alten RAF-Truppe gegangen war. Fluchtauto verkaufen sollte, unscharfe von hielt sie so gut versteckt wie ihre Waffen –
Überfälle, bei denen man die Täter bisher Garweg. darunter eine Panzerfaust, eine Knarre aus
woanders vermutet hatte. Wie konnten sie danach noch unerkannt, RAF-Beständen, mit denen sie wieder auf
Die Sache in Stuhr erschien wie eine Kopie unauffindbar bleiben? Staub konnte, Garweg Raubtour hätte gehen können. Und so raffi-
von Duisburg 1999. Wieder drei Vermummte, auch. Klette nicht. Es war Klette, die nun Jah- niert verborgen wie das Gold, 1,2 Kilo, das
wieder stoppten sie einen Geldtransporter, re später als Erste entdeckt wurde. Erst über sie in einem Möbelstück gebunkert hatte. Ver-
wieder vor einem Einkaufsmarkt, wieder mit mutlich nicht genug, um ausgesorgt zu haben;
Panzerfaust und Sturmgewehr. Nur dass sie wenn, dann wohl nur für bescheidene Ver-
die Tür nicht aufbekamen. Dreimal schossen hältnisse. Aber vielleicht hatte das Trio 2016
sie, der Fahrer aus dem gepanzerten Trans- beschlossen, dass es jetzt mal reichen müsse.
porter winkte nur, um klarzumachen, er kön- Dass frisches Geld aus neuen Überfällen das
ne da auch nichts machen. Risiko nicht mehr aufwog, doch noch erwischt
Das Trio floh, ohne Beute, und dann ging zu werden.
auch noch die Sache mit dem Brandsatz für Garweg hatte in letzter Zeit ziemlich ein-
den Fluchtwagen schief: Der Ford Focus fiel fach in einer Wohnwagensiedlung gehaust;
der Polizei unbeschädigt in die Hände und zwei Hunde, die auf neuen Fotos dösend
mit ihm der Jackpot: Spuren von Klette, neben ihm liegen, schienen ihm zu gehören.
Staub, diesmal auch von Garweg. Nun ist er wieder untergetaucht, wie Staub;
Damit rollte die Fahndung an, funkten die bis Redaktionsschluss keine Spur. Die Hoff-
Synapsen des Polizeiapparats, ergaben sich nung der Ermittler, jetzt falle ein Stein nach
immer mehr Verbindungen. Zwei Super- dem anderen, erfüllte sich bei ihnen erst mal
marktüberfälle in den Jahren 2006 und 2009 nicht. Vermutlich waren sie all die Jahre da-
in Nord- und Westdeutschland rechnet die rauf vorbereitet, dass es einen von ihnen tref-
Polizei heute dem Trio zu, Beute: mehr als fen könnte und die anderen würden flüchten
270.000 Euro. Nur fünf Tage vor Stuhr ein müssen. Das kannten sie, das war ihr Leben
weiterer Raub mit 60.000 Euro Beute, aber in der RAF. Die einen im Knast, die anderen
auch das reichte offenbar nicht. draußen. Der Kampf hat aufgehört. Die
AP

Das Leben im Untergrund schien das Flucht geht weiter.


Geld nur so zu verbrennen. Nach dem ver- Jürgen Dahlkamp, Bertolt Hunger,
masselten Coup in Stuhr versuchte es das Ehemalige RAF-Führungsfigur Grams Christopher Piltz, Sara Wess  n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

Feindin in meinem Haus


KRIMINALITÄT Es ist der Albtraum aller Pflegebedürftigen: Eine private Hilfskraft sollte sich
um eine gelähmte Frau kümmern und nutzte die Situation offenbar schamlos aus.

S
ie hätte von Anfang an misstrauisch sein Die sogenannte 24-Stunden-Pflege durch Schlafzimmer im Obergeschoss kommt sie
sollen, sagt Birgitta F. Die Vermittlungs- häusliche Betreuungskräfte wird oft von Frau- mit einem Treppenlift. Wenn sie im Bett liegt,
agentur, deren Dienste sie regelmäßig en aus Polen oder anderen osteuropäischen kann sie nicht einmal den Kopf heben. Sie
in Anspruch nahm, hatte ihr die Pflegehilfs- EU-Ländern übernommen, weil sie Nieder- braucht Hilfe beim Essen, beim An- und Aus-
kraft Justyna G. aus Polen angeboten. Sie lassungsfreiheit genießen und mit vergleichs- kleiden, beim Toilettengang, beim Zähne-
solle schnell anrufen, sonst sage G. womöglich weise wenig Lohn zufrieden sind. Kontrollen putzen. Auch ihre beiden Hunde kann sie
noch jemand anderem zu, so erinnert sich gibt es kaum. Wer in Deutschland in an- nicht mehr streicheln.
Birgitta F. an das Gespräch. Die Helferin erkannten Pflegeberufen dauerhaft arbeiten Telefonieren und per Spracherkennung
arbeite gerade für wenige Tage in Olpe – ge- möchte, benötigt eine staatliche Zulassung Nachrichten schreiben kann sie allein: indem
rade mal 100 Kilometer von dem Ort bei Gie- und muss unter anderem ein polizeiliches sie im Sitzen ihren schlaffen rechten Arm so
ßen entfernt, in dem F. lebt. Führungszeugnis vorlegen. Das gilt allerdings lange pendeln lässt, bis sie ihn mit Schwung
Als sie am 2. September vergangenen Jah- nicht für häusliche Hilfskräfte. neben sich auf das Sofa werfen kann, wo ihr
res mit Justyna G. telefonierte, habe sie im Inwieweit eine Agentur deren Qualifika- Handy liegt, das sie mit der verbliebenen Be-
Hintergrund jemanden schreien gehört. Das tionen überprüft, bleibt ihr überlassen. Zwar weglichkeit ihrer Finger aktiviert. Einmal in
sei nur eine alte Frau, die sich mit G.s Nackt- gibt es seit drei Jahren eine DIN-Norm, wo- der Woche kommt jemand vom Sozialdienst
katze nicht vertrage, weil sie diese für eine nach sich die zertifizierten Anbieter zu fairen der Gemeinde, um sie zu duschen. Die übrige
Ratte halte, habe Justyna G. erklärt. Arbeitsbedingungen, einer Kundenberatung Zeit lässt sie sich von einer Betreuungsperson
»Hätte ich mir nur mehr Gedanken darü- durch Pflegefachkräfte, zu kundenfreundli- versorgen, die sie privat beschäftigt und die
ber gemacht«, sagt F. Denn möglicherweise, chen Verträgen und einer Eignungsprüfung bei ihr wohnt.
das stellte sich im Nachhinein heraus, hatte von Betreuungskräften verpflichten. Doch Offiziell werden solche Personen »Haus-
die Schreierei noch einen anderen Grund als diese Norm ist unverbindlich. wirtschaftskräfte« genannt, heißt es beim Me-
nur das Haustier. Im Fall von Birgitta F. lagen der Agentur dizinischen Dienst, tatsächlich übernehmen
Die Frau, von der F. für die nächsten Wochen im September 2023 zwar einige Arbeitszeug- sie in der Praxis weitreichende pflegerische
im Alltag unterstützt und gepflegt werden soll- nisse von Justyna G. vor sowie eine Gewerbe- Aufgaben. Das ist oft eine Folge davon, dass
te, kam zwar kurz darauf bei ihr an, reiste aber anmeldung als »Reinigungskraft, Haushalts- die Pflegeversicherung nur einen Teil der Kos-
nach nur drei Tagen nachts wieder ab. Nicht hilfe«, aber ein polizeiliches Führungszeugnis ten deckt: Wer zu Hause gepflegt werden
ohne zuvor offenbar mehrere Tausend Euro fehlte. Justyna G. hatte auch Zeugnisse als möchte, bekommt einen qualifizierten Pflege-
von F.s Bankkonto auf ihr eigenes überwiesen »Betreuerin und Haushaltshilfe« oder »Pfle- dienst oft nur zum Teil bezahlt; auf keinen
und einen Verkaufsauftrag für Wertpapiere in gefachfrau und Haushaltshilfe« vorgelegt. Bei Fall eine 24-Stunden-Betreuung.
sechsstelliger Höhe erteilt zu haben. Zudem einem 94-Jährigen mit Pflegegrad IV war sie Die Alternative ist, sich in Eigenverant-
habe die Pflegekraft, sagt F., drei Computer demnach für dessen »Körperpflege« und das wortung pflegen und dafür das Pflegegeld
mitgenommen, ein iPad, dazu mehrere Koffer Wechseln von Windeln »am Tag und zur auszahlen zu lassen. Diese Lösung ist für
voller Schuhe und Kleider sowie verschiedene Nacht« verantwortlich gewesen. ­Angehörige, Freunde oder andere privat Hel-
Elektrogeräte, insgesamt »Materialien im Wert Birgitta F. ist habilitierte Medizinerin und fende gedacht. Tatsächlich wird die Unter-
von mehr als 8000 Euro«. Auch Bankkarten hat seit einigen Jahren ALS – eine Krankheit stützung im Alltag dann häufig über Hilfs-
und Autoschlüssel seien verschwunden. mit stetigem Muskelabbau, die vor allem kräfte aus Osteuropa organisiert, die zu
Birgitta F. hat Anzeige erstattet. Die Staats- durch den Astrophysiker Stephen Hawking ­Tagessätzen zwischen 80 und 100 Euro
anwaltschaft Gießen ermittelt wegen Com- bekannt wurde. Die Erkrankung ist bei ihr ­arbeiten. Entweder in einem sogenannten
puterbetrug, Diebstahl und Körperverlet- erst im Alter ausgebrochen »und nur langsam Entsendemodell, als Arbeitnehmer einer aus-
zung. Der Inhaber der Vermittlungsagentur fortschreitend«, sagt die 75-Jährige, »aber ländischen Agentur. Oder als selbstständige
findet mitfühlende Worte für die weitgehend Spaß macht es auch nicht«. Inzwischen kann Gewerbetreibende. Beides bewege sich in
hilflose Frau: Es sei »eine schlimme Sache«, sie ihre Arme fast nicht mehr bewegen, ihre einer rechtlichen Grauzone: »Weil es gesetz-
die Frau F. »von der 24 Std.-Pflege-Hilfskraft« Finger nur noch mit Mühe. Selbst mit Hilfe lich so nicht vorgesehen ist, gibt es dafür
Justyna G. »angetan wurde«, schreibt er. kann sie nur noch wenige Schritte gehen. ­keine besonderen Regeln«, erklärt Biva-
Die Frage ist, ob und wie sich das hätte In ihrer Wohnung sitzt sie meist auf dem Rechtsexperte Sutorius.
verhindern lassen. Und wer eigentlich Men- Sofa, der Rollstuhl steht neben ihr. In ihr Birgitta F. war kurzfristig auf der Suche
schen schützt, die aufgrund von Alter und nach einer Betreuerin. Ihr deutscher Vermitt-
Krankheit besonders verletzlich sind. ler präsentierte Justyna G. – F. sollte mit ihr
Die Polizeiliche Kriminalstatistik erfasst einen Beschäftigungsvertrag über fünf Wo-
keine Berufe von Tatverdächtigen. Deshalb chen für 85 Euro am Tag abschließen. Die
gibt es keine Zahlen zu Diebstahlsdelikten
durch Pflegende. Der Kölner Rechtsanwalt
»Es müsste Kontrollen Agentur stellt normalerweise für die Vermitt-
lung zusätzlich 10 Euro pro Tag in Rechnung.
Markus Sutorius vom Pflegeschutzbund Biva geben und ein polizeiliches Vorab erhielt Birgitta F. einen Personal-
sagt: »Dass Sachen verschwinden, kommt
schon mal vor, aber von einem solch krassen
Führungszeugnis.« bogen: Justyna G. habe »gute Deutsch-Kennt-
nisse«, sei Apothekerin, vom Wesenstyp her
Fall höre ich zum ersten Mal.« Mutmaßliches Diebstahlopfer F. »ruhig« und habe elf Jahre lang in verschie-

42 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


DEUTSCHLAND

Euro nach Polen, auf ein Konto, das auf G.s


Namen lief. Sie habe zudem versucht, so F.,
ihr Wertpapierdepot zu versilbern – für mehr
als 100.000 Euro. Als sie am nächsten Mor-
gen aufgewacht sei, berichtet F., sei Justyna
G. weg gewesen.
Mit minimalem Akkustand auf dem Han-
dy sei es ihr gelungen, Hilfe herbeizurufen,
eine Nachbarin und eine Freundin. »Sonst
wäre ich da oben vertrocknet«, sagt Birgitta
F., »und niemand hätte es bemerkt.«
Die Überweisungen konnte F. mithilfe der
Sparkasse am nächsten Werktag stoppen,
auch die Aktienverkäufe; aber noch Wochen
später habe Justyna G. über F.s Mailaccount
versucht, die Sparkasse davon zu überzeugen,
ihr das Geld zu überweisen. Auch einen Nach-
sendeantrag bei der Post stellte die Pflegerin
offenbar. Eines Tages erhielt F. die Auftrags-
bestätigung eines Nachsendeantrags an eine
Anschrift in einer polnischen Kleinstadt.
Ihr sei vom Betreiber der Pflegeagentur
nicht gesagt worden, dass er Justyna G. bisher
noch nie vermittelt hatte, sagt F. Schon gar
nicht habe sie erfahren, dass sie eigentlich von
einer anderen Agentur vermittelt worden sei,

Angelika Zinzow / DER SPIEGEL


der Justyna G. auch nicht bekannt war; die
Firma habe die Frau offenbar auf Facebook
rekrutiert. »Zumindest müssten die Agenturen
klarstellen, woher sie die Leute haben«, sagt
F. »Und es müsste Kontrollen geben und we-
nigstens ein polizeiliches Führungszeugnis.«
Pflegebedürftige F.: »Das ist natürlich sehr ansprechend für eine Diebin«
Anwalt Sutorius von der Biva sieht die
­Vermittler schon jetzt rechtlich in der Pflicht:
denen »Hilfs- und Pflegesituationen« in es im Behördendeutsch heißt, »unter Fäl- »Die müssen schauen, dass nur anständige
Deutschland gearbeitet. schung der Unterschrift der zu pflegenden Betreuungskräfte in die Pflegefamilien ver-
Angesichts der Eckdaten – geboren 1987 Person versucht haben, eine Kontoauflösung mittelt werden.«
und elf Jahre Berufserfahrung in Pflege und sowie Überweisung eines Geldbetrages zu Nicht alle Details des Falls, wie ihn Birgit-
Seniorenbetreuung – »konnte man sich aus- erreichen«. Seit 2023 läuft in Siegen gegen ta F. schildert, lassen sich überprüfen. Die
denken, dass das so nicht sein konnte«, sagt Justyna G. zudem ein Ermittlungsverfahren wichtigsten Angaben aber ließen sich verifi-
F. Tatsächlich ist Justyna G. nur Pharmazeu- wegen Diebstahls eines Kleinwagens, eben- zieren, insbesondere durch die Kontoauszüge,
tisch-Technische Angestellte und hat in einer falls im Zusammenhang mit einer Betreuung. die dem SPIEGEL vorliegen.
Apotheke gearbeitet, wie sie dem SPIEGEL Dieser Vorfall datiert vom 2. September 2023 Am 7. September, um 16.47 Uhr, gingen
bestätigte. – just dem Tag, an dem F. erstmals mit G. von F.s Bankkonto zunächst 385 Euro auf das
F. stört, dass die Agentur sie als wohlha- telefonierte und im Hintergrund das Geschrei Konto von Justyna G., Verwendungszweck:
bende Medizinerin präsentiert habe. Da wer- wegen der angeblichen Nacktkatze war. »Vorauszahlung und Reisekosten«; das war
de nach dem, was andere Assistentinnen ihr Am Abend des 5. September kam G. bei der Tag, an dem die Pflegerin Frau F. um einen
erzählten, mit ihrem schönen Haus und der ihr an, mit einem Volvo C30. Schon nach zwei Vorschuss gebeten hatte. Am 8. September
schönen Aussicht geworben, »das lockt die Tagen habe G. sie gebeten, ihr im Voraus Geld gab es ab 22.07 Uhr insgesamt 21 weitere Vor-
Leute geradezu an«. Dazu heiße es, bei ihr sei zu überweisen, berichtet F. Dabei habe die gänge – darunter auch ein Dauerauftrag über
wenig zu tun, sie sei gelähmt an Armen und Hilfskraft gesehen, wie F. ihre Bankgeschäfte 6591,97 Euro an G.s Konto, Verwendungs-
Beinen, und es gebe viel Freizeit. »Das ist na- tätigt und wo sie ihre Karten und Notizen zweck: »char Spende«, der aber scheiterte.
türlich sehr ansprechend für eine Diebin.« Die verwahrt. »Am nächsten Tag hat sie sich selbst Dazu mehrere Wertpapierverkäufe, wenig
Vermittlungsagentur bestreitet diese Angaben an meinen Schreibtisch gesetzt«, sagt F., an- später eine Einzelüberweisung von 6591 Euro,
nicht; die Schilderung der Wohnverhältnisse geblich nur, um eine Nummer aufzuschreiben. mit Verwendungszweck »Hilfe«. Weitere
sei »Bestandteil unseres Fragebogens«, aller- Am Abend des 8. September, als Birgitta Überweisungen ähnlicher Summen scheiter-
dings komme es »niemals zu übertriebenen F. bereits im Bett lag, habe die Helferin sich ten, weil sie das Buchungslimit überschritten.
oder ›rosaroten‹ Beschreibungen«. schließlich bei ihr beschwert, ihr angeblich Anderes, etwa die Einrichtung einer Giro-
Von den Behörden hat F. inzwischen er- mehrere Schlaftabletten in den Mund gelegt pay-Freischaltung oder insgesamt sieben Wert-
fahren, dass ihre Pflegerin »polizeibekannt« und gesagt, sie solle jetzt schlafen. Immerhin papierverkäufe, gelang. Danach tastete sich
sei. Auch im Kreis Olpe in Nordrhein-West- ein Handy habe sie ihr neben das Bett gelegt, G. in kleineren Schritten an das Überweisungs-
falen soll Justyna G. ihre Tätigkeit als Pflege- sagt F. limit heran, mit 1000 Euro als »Spende« und
person für ältere Menschen ausgenutzt haben. Dann sei G. nach unten gegangen und habe 3000 Euro für »Hunde«, alles auf das Konto
In Siegen ist laut Auskunft der Staatsan- sich offenbar, so F., an ihrer Apple-ID zu von G., bis das Limit praktisch ausgeschöpft
waltschaft seit 2022 ein Ermittlungsverfahren schaffen gemacht. Es gelang ihr demnach, war. Um 23.47 Uhr war vorläufig Schluss.
gegen sie anhängig. Es geht um den Verdacht diese auf sich umzuschreiben und so einen Der Inhaber der Vermittlungsagentur teil-
des versuchten Betrugs und der Urkunden- E-Mail-Account zu kapern. Von F.s Sparkas- te dem SPIEGEL mit, er habe Justyna G. seit
fälschung; »die Beschuldigte soll hier«, wie senkonto überwies sie offenbar rund 10.500 dem Vorfall bei F. nicht mehr erreichen kön-

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 43


DEUTSCHLAND

MIT LUST nen. Dem SPIEGEL gelang es aber, Kontakt


zu ihr aufzunehmen. G. bestreitet die Vor-
würfe überwiegend, »in 90 Prozent der Fälle

IN DIE
ist hier nichts wahr«, antwortet sie per Mail,
mithilfe eines Übersetzungstools. Sie habe
»niemanden ausgeraubt«, schreibt sie, auch
keine Kleidung weggenommen, die ihr auch

ZUKUNFT!
gar nicht passen würde: Sie wiege 45 Kilo,
F. dagegen »etwa 70« – was nicht stimmt, die
pflegebedürftige Frau ist zierlich. Sie habe
auch von F. keine Post in die genannte Klein-
stadt in Polen erhalten. Sie wisse auch »nichts
über Anlageportfolios«.
G. klagt über »die ganze Hölle«, die F. ihr
bereitet habe. Es seien zuvor auch andere
Pflegekräfte bei F. gewesen, »also hätte ihr
jeder etwas wegnehmen können«.
Überweisungen größerer Summen auf ihr
Konto räumt sie ein – allerdings, so ihre Ver-
sion, habe F. »einen Anflug von Freundlich-
keit« gezeigt und ihr das Geld selbst über-
wiesen, »etwa 10.000 Euro, soweit ich mich
erinnere, für die Rettung von Hunden«.
Eine Auseinandersetzung indes habe es
danach noch gegeben. Möglicherweise habe
F. auch deshalb die Überweisungen bereut.
320 Seiten, gebunden � 24,00 € � Auch als E-Book erhältlich. Dass sie der hilflosen Frau Schlaftabletten ver-
abreicht habe, bestreitet sie. Ebenso wie die
Vorwürfe in Olpe. Sie sei in Deutschland auch
weder vorbestraft, noch gebe es eine Anklage.
Der Vermittler sagt, es habe zwischen Bir-
gitta F. und Pflege-Hilfskräften immer wieder
Schwierigkeiten gegeben; F. habe auch zuvor
schon Pflegekräfte des Diebstahls beschuldigt,
so der Vermittler, sie wirke auch manchmal
verwirrt auf ihn. Dass die Diebstahlvorwürfe
gegen G. im Kern zutreffen, bezweifelt der
Vermittler indes nicht. Inzwischen hat F. eine
andere Agentur, mit der sie zufrieden ist.
Bis man ein polizeiliches Führungszeugnis
bekomme, dauere es etwa zwei Wochen, sagt
der Mann, der G. vermittelt hat. Frau F. habe
aber kurzfristig Bedarf gehabt. In den sechs
Jahren, in denen er als Vermittler tätig sei,
habe es zuvor »niemals eine Veranlassung«
gegeben, ein polizeiliches Führungszeugnis
zu fordern. Zudem gebe es in Polen kein poli-
zeiliches Führungszeugnis.
Zu oft beherrscht Angst unser Denken: Seit dem Vorfall bestehe die Agentur aber
Statt mit dem Besten rechnen wir mit dem Schlimmsten. darauf, von potenziellen Hilfskräften drei
­Adressen mit Telefonnummern von Haushalten
Nicht als Verhängnis, sondern als Möglichkeit erzählt zu bekommen, in denen sie innerhalb der zu-
SPIEGEL-Autor Ullrich Fichtner, was uns in den kommenden rückliegenden zwölf Monate im Einsatz waren.
Er versichere sich dann, sagt der Inhaber der
Jahrzehnten erwartet. Welche neuen Horizonte und Agentur, »in persönlichen Telefonaten«, dass die
Chancen werden sich einem heute geborenen Kind im Angaben stimmen. Die Vermittlungsgebühren
Laufe seines Lebens eröffnen? Basierend auf aktuellen für den Monat September habe er F. erlassen.
Birgitta F. sagt, sie habe lange gezögert,
Forschungen und Recherchen entwirft Fichtner ob sie ihre Geschichte öffentlich machen soll.
ein so realistisches wie faszinierendes Bild der Zukunft. Sie wolle aber andere Menschen warnen und
hoffe auch, dass sich politisch etwas bewege.
Sie selbst sei einigermaßen glimpflich aus der
Sache herausgekommen. »Im Kopf bin ich
total klar wie immer, ich habe nur Lähmungen
an Armen und Beinen«, sagt sie. »Andere
sind blind, taub oder dement und können sich
nicht so wehren wie ich.«
Dietmar Hipp  n

www.dva.de 44 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


DEUTSCHLAND

Temu angeblich einen »Blitzdeal«-Rabatt –


und kann sich die Wohnung günstig dekorie­
ren. Das sieht dann fast so aus wie bei vielen
Deutschen kurz vor Weihnachten. Statt »Mer­

Fast wie Weihnachten


ry Christmas« strahlt als Leuchtschrift eben
»Eid Mubarak« am Fenster.
In fundamentalistischen Milieus kommt
das nicht gut an. Auf YouTube wettern Isla­
misten gegen die Annäherung an weihnacht­
ISLAM Der Kommerz macht in Deutschland auch vor dem Fastenmonat liche Bräuche. Allah verbiete es, die Sitten
Ramadan nicht halt. Manchen Muslimen geht das zu weit. der Ungläubigen zu kopieren.
Auch liberalere Imame treibt die Frage um,
wie viel weihnachtliche Inspiration und Kon­

D
er Ramadankalender XXL des Dort­ Sicht vieler Unternehmen ist das eine inte­ sumlust der heilige Monat vertragen kann,
munder Süßwarenhändlers Sugar­ ressante Zielgruppe. ohne dass er sinnentstellt wird. »Es ist ein
gang überragt mit seinen 110 Zen­ Es gibt die Ramadankalender bei Amazon schmaler Grat«, sagt Scharjil Khalid von der
timeter Höhe so manches Kindergarten­ oder Ebay, eine große Drogeriemarktkette Ahmadiyya-Gemeinde, die mehrere Dutzend
kind. 30 Türen hat er, für jeden Tag bietet sie in ausgewählten Filialen an, auch Moscheen in Deutschland betreibt. Die Gläu­
im Fasten­monat eines. Dahinter verstecken einige Supermärkte. Meistens sind darauf bigen sollten bestrebt sein, »sich von den vie­
sich Schokoriegel, Bonbons oder Fruchtgum­ Motive wie Moscheen, Sterne oder der Mond len Reizen und materiellen Verlockungen, die
mis – alles halal, also nach islamischer Glau­ abgebildet, nach dem sich der islamische Ka­ uns umgeben, bestmöglich loszusagen und
benslehre rein, ohne Schweinegelatine etwa. lender richtet. Aber auch Comicfiguren oder sich auf Gott zu fokussieren«. Konsum und
In einem der Kalender soll sogar ein »golde­ ein geflügeltes Reittier kommen vor. Mit Kommerz passten dazu nicht.
nes Ticket« versteckt sein. Der Finder ge­ einem solchen soll der Prophet Mohammed Wenn aber jemand sein Haus schmücke,
winnt eine Spielekonsole. Einen Zehn-Euro- in den Himmel geritten sein. um den Kindern so die Wichtigkeit des Ra­
Rabattcode für den nächsten Einkauf gibt es Ramadan ist insgesamt ein guter Monat madan zu vermitteln, sei das in Ordnung.
für alle noch dazu. für Produkte mit Islambezug: Es gibt Spiel­ Ebenso, wenn ein Ramadankalender als
Seit Mitte März bis zum Beginn der Feier­ moscheen aus Pappe, blinkende Lichterket­ Countdown für das Festgebet diene. Wenn es
lichkeiten zum Fastenbrechen am 9. April ten, Gebetsteppiche, Koranständer. Das Leip­ allerdings nur darum gehe, einen Ritus zu
fasten fromme Musliminnen und Muslime in ziger Unternehmen Spreadshirt hat Baby­ kopieren, weil es Süßigkeiten oder Geschen­
aller Welt. Zwischen Morgendämmerung und strampler und -mützen mit dem Schriftzug ke gibt, dann sei das problematisch, sagt Kha­
Sonnenuntergang verzichten sie darauf, zu »Mein erstes Ramadan« im Angebot, dazu lid. Gefastet wird in der Regel erst ab Beginn
essen und zu trinken. Tanktops oder Turnbeutel, auf denen auf Ara­ der Pubertät.
Erfunden wurde der Ramadankalender für bisch »Eid Mubarak« steht, »gesegnetes Samir El-Rajab, Imam mit libanesischen
Kinder wohl von einer deutschen Arabistin, Fest«. Besonders beliebt seien neben Shirts Wurzeln an der Hamburger Al-Nour-Mo­
die sich vom Adventskalender inspiriert fühl­ auch Hoodies und Sticker zum Thema, heißt schee, sieht die Sache pragmatisch. »Natür­
te. Zuvor gab es diesen Brauch so nicht. Das es bei dem Unternehmen. lich profitieren Geschäftsleute von solchen
XXL-Format für knapp 80 Euro ist inzwi­ Der chinesische Billiganbieter Temu treibt Ideen und vermarkten sie«, sagt er. In seiner
schen ausverkauft. den Kommerz auf die Spitze: abwaschbare Gemeinde konnten sich die Kinder selbst Ra­
»Bei uns ist der Ramadankalender ein Moschee-Tattoos, Kaffeetassen, auf denen madankalender basteln. Die Süßigkeiten da­
Topseller«, sagt Sugargang-Chef Adrian Bal­ islamisch anmutende Motive erscheinen, so­ für bekamen sie von der Moschee geschenkt.
begi. Beim Verkaufsstart 2022 habe sein bald man etwas Heißes eingießt, oder Silikon­ »Es ist eine schöne Tradition und eine gute
Unternehmen 2000 Exemplare verkauft. In armbänder, auf denen »Ramadan« steht. Und Sache, wenn sich Kulturen gegenseitig be­
diesem Jahr seien es 8000 gewesen. Er sehr viele Accessoires mit Mondsichel und reichern«, sagt er.
sei im Gespräch mit einer großen Super­ Sternen. Wer schnell zuschlägt, bekommt bei Katrin Elger, Asia Haidar  n
marktkette, die den Kalender kommendes
Jahr deutschlandweit in ihre Geschäfte brin­
gen wolle.
Wie er sich den Erfolg erklärt? »Ich glaube,
das trifft bei vielen Muslimen einfach einen
Zeitgeist. Vor allem bei den jungen Leuten,
die sich viel in den sozialen Medien bewe­
gen«, sagt er. Die Jugendlichen fühlten sich
durch das Angebot gesehen und wertge­
schätzt, vermutet er.
Als die ersten Kalender vor einigen Jahren
auf den Markt kamen, waren sie noch eine
Art Multikulti-Skurrilität. Mittlerweile sehen
manche in ihnen den Beweis, dass der Kom­
merz auch vor dem heiligen islamischen Fas­
tenmonat keinen Halt mehr macht. Obwohl
es aus religiöser Sicht vorrangig um Konsum­
Arnulf Hettrich / IMAGO

verzicht und Enthaltsamkeit gehen sollte. Ein


Grund, warum einige mit der Entwicklung
hadern.
Gut fünf Millionen Menschen muslimi­
schen Glaubens leben Schätzungen zufolge
hierzulande, und die Zahl wächst stetig. Aus Ramadankalender: Alles halal, also nach islamischer Glaubenslehre rein

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REPORTER

Freiheit, 1965
FAMILIENALBUM Klaus Schümann, 75, aus Breitenbach, Schleswig-Holstein

A uf dem Foto bin ich mit meinen Freund Hans-Joachim


(vorn) beim Konservieren des Ladebaums der MS »Widar«
auf ­hoher See zu sehen. Ich trage nicht mal Schuhe, und
auch sonst verstoßen wir gegen alle Sicherheitsbestimmungen, ha-
ben aber sichtlich Spaß.
Es ist der Sommer 1965. Der Verband Deutscher Reeder hatte
die Aktion »Schüler zur See« für die Sommerferien ins Leben
­gerufen. Man hoffte auf mehr Begeisterung für die Berufe in der
Schifffahrt, um dem schwindenden Interesse an der Seefahrt
­entgegenzuwirken. Das war genau das Richtige für den Freund
und mich. Wir waren 17 Jahre alt und gingen noch zur Schule.
­Gemeinsam bewarben wir uns um einen Platz mit Aussicht auf
die weite Welt. Es klappte. Und so wurden wir Mannschafts­
mitglieder auf dem Massengutfrachter MS »Widar« der Seereede-
rei Frigga. Die Sommerferien standen ins Haus, und wir sollten
uns in Emden einfinden, wo die »Widar« im Dock lag.
An Bord wurden wir herzlich vom Schiffszimmermann, dem
Bootsmann und einem Matrosen in Empfang genommen. Unsere
Route brachte uns von Emden nach Genua, wo wir Koks löschten
und mit der Schmutzgang Luken fegten. Ein Streik der Hafen­
arbeiter bescherte uns eine Liegezeit von neun Tagen. Mehr als Zeit
­genug, um in den leeren Luken Fußball zu spielen und Genua zu
­erkunden. Wir fuhren schließlich ins nordafrikanische Melilla, um
Kupfererz zu laden, waren im norwegischen Narvik und ­lernten
auf See neue Begriffe und neue Fertigkeiten: das Spleißen mit Stahl­
Privat

trossen, was eine Technik des Verflechtens von Schiffstauen ist;


die ­Fullbrass entleeren, die an der Reling hängende Mülltonne; Rost für uns, zwei Wochen länger an Bord bleiben zu dürfen – Mobil­
klopfen im Kettenkasten. Wir konnten auch beim Kalfatern zur telefone gab es ja noch nicht. Beruflich gingen wir schließlich
Hand gehen, dem Versiegeln des hölzernen Sonnendecks. doch andere Wege. Das Fernweh aber ist geblieben. Mich hatte die
Der Höhepunkt unserer Reise war der Moment, in dem wir ­Seefahrt so sehr begeistert, dass ich vier Jahre später noch ein-
in der Biskaya kurz das Ruder übernehmen durften: Nach Angaben mal zur See fuhr – als Tellerwäscher auf der Jungfernfahrt der TS
des Kapitäns wechselten wir minimal den Kurs und konnten später »Hamburg« nach Südamerika!
eine kleine Schlangenlinie im Kielwasser erkennen. Aufgezeichnet von Frauke Hunfeld
Die Fahrt dauerte letztlich acht Wochen, die Ferien nur sechs. ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre Geschichte erzählen möchten?
Der Kapitän holte sich über Norddeich Radio die Genehmigung Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de

CANNABIS sche Wirkung hinaus auf Geruch, zu prüfen. Das geht durch Optik chen, nach Papaya oder Mango,
Geschmack, Beschaffenheit testen. oder den Geruch. Manchmal aber auch nach Treibstoff,
»Welches Gras ist Da kannte ich mich ganz gut aus. muss ich das Cannabis auch rau- Knoblauch oder Schweißfüßen.
­gerade im Trend, SPIEGEL: Woher?
Dresemann: Ich glaube, einige
chen. Beruflich konsumiere ich
aber nur so viel wie notwendig.
SPIEGEL: Menschen rauchen
Cannabis, das nach Schweiß­
Herr Dresemann?« meiner Erfahrungen sind mitt- SPIEGEL: Welches Gras liegt füßen riecht?
lerweile verjährt. ­gerade im Trend? Dresemann: Das Aroma von
SPIEGEL: Sie sind einer der SPIEGEL: Ausspucken kann man Dresemann: Fruchtig-verspielte Schweißfüßen muss bei Canna-
e­ rsten Cannabis-Sommeliers in bei der Verkostung als Cannabis-­ Aromen sind zurzeit gefragt. bis nichts Schlechtes sein. Wie
Deutschland. Wie wird man das? Sommelier eher schlecht. SPIEGEL: Welche Geschmacks- beim Käse. Manche
Dresemann: Ich bin eigentlich Dresemann: Ein Teil meines noten unterscheiden mögen das. JLE
Agraringenieur. Als in Deutsch- Jobs ist es, Produktionsstätten Sie bei Cannabis-Sorten?
Maximilian Koenig

land Cannabis als Arzneimittel auf der ganzen Welt zu besuchen Dresemann: Die Bandbreite an Tim Dresemann, 38,
zugelassen wurde, suchten Unter- und das Cannabis dort – im Aromen ist enorm groß: Canna- ist Cannabis-Som-
nehmen nach Mitarbeitern, die Rahmen der rechtlichen Mög- bis kann nach einer gemischten melier bei der Berli-
Cannabis über die pharmazeuti- lichkeiten – für unser Portfolio Süßigkeitentüte vom Kiosk rie- ner Sanity Group.

46 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


Menschen, die gern an Haken von der
Decke hängen, andere wollen von ihr

Mit Latex und Merkel-Raute


Stromschläge verpasst bekommen.
Sie bedient Latex-, Leder- und Lack-
fetischisten, bietet Vampirspiele an
und eine Gummizelle.
Fragt man sie, was Politik und
EINE MELDUNG UND IHRE GESCHICHTE Wie eine Stadträtin BDSM gemeinsam haben, sagt sie:
aus Neuss in einer südkoreanischen Sex-Dokumentation landete Manche Stadtratssitzungen seien
schon Folter. All diese Anträge. Der
Streit. Das politische Gegockel.

Y Es sei ihr
ulia Vershinina sagt, schon als sich als Kandidatin in der Kommunal- Vershinina sagt, sie versuche ihr
Kind habe sie gewusst, dass sie politik aufstellen zu lassen. »Am An- Wissen über Kunst und Kultur mit
irgendwie anders sei. fang ging es vor allem um die Provo- ein Anliegen, ihrer Arbeit im Stadtrat zu verknüp-
Die Szenen in alten Kinderbü- kation«, sagt Vershinina, aber auch mit Vorur­ fen. Dort engagiert sie sich im Kultur-
chern, in denen gequält wird, habe
sie immer wieder gelesen. Till Eulen-
einer Satirepartei werde in Deutsch-
land kein Sitz im Stadtrat geschenkt.
teilen gegen­ ausschuss. Besonders liegt ihr das
Kunstmuseum in Neuss am Herzen,
spiegel und den Glöckner von Notre- Sie sei ein Mensch, der gern Neues über Sex­ das Clemens Sels Museum. Auch
Dame habe sie geliebt. Wo andere ausprobiere. Im Vorfeld der Wahl sei arbeiterinnen wenn sie Teil einer Satirepartei sei,
Kinder sich gruselten, begann es bei sie von Haustür zu Haustür gezogen, würde sie die Arbeit im Stadtrat ernst
ihr zu kribbeln. Diese Faszination, sagt habe mit Bürgerinnen und Bürgern
aufzuräumen, nehmen.
Vershi­nina, sei bis heute geblieben. geredet und Unterschriften gesam- sagt sie. Lokale Medien berichteten über
Vershinina wurde im russischen melt, um zu kandidieren. »Das war Vershinina. Dieses Jahr wurde auch
Sankt Petersburg geboren, kam als harte Arbeit«, sagt Vershinina. die »Bild«-Zeitung auf sie aufmerk-
15-Jährige mit ihrer Familie nach Os- Offenbar konnte sie die Menschen sam, nachdem sie in der Netflix-Serie
nabrück. Mit Anfang zwanzig begann überzeugen. Im Jahr 2020 zog sie für »Risqué Business« auftrat – als Do-
sie, Kunstgeschichte in Düsseldorf zu »Die Partei« in den Stadtrat von mina. Die Doku-Serie spielt in der
studieren. Sie interessierte sich vor Neuss ein. Der Bürgermeister habe aktuellen Staffel in Deutschland und
allem für die Schwarze Romantik und gesagt, er lasse die Kommunalpolitik den Niederlanden und wurde von
die Klassische Moderne. Sie verstand, nicht in den Dreck ziehen. Aber das einer südkoreanischen Produktions-
dass ihre Faszination für Folter, De- habe sie ja auch nie vorgehabt, sagt firma entwickelt. Im Mittelpunkt ste-
mütigung und Rache mehr war als Vershinina. Den größten Gegenwind hen verschiedene Sexualpraktiken
eine Faszination. Die Romane des habe ihre Partei in Neuss bislang mit und -vorlieben. Vershinina sagt, mit
Marquis de Sade verschlang sie, da­ ihrer Plakatkampagne »Nazis töten« der Anfrage aus Südkorea sei es ge-
runter »Die 120 Tage von Sodom«, einstecken müssen. »Dabei stimmt wesen wie mit ihrem Mandat im
später wurde sie Teil der sogenannten das ja«, sagt Vershinina. Nazis töteten Stadtrat von Neuss: Sie probiere halt
Schwarzen Szene sowie der BDSM- andere Menschen. gern aus. Wenig später stand sie in
Community (»Bondage & Discipline, Vershinina sagt, ihr Job als Domi- einem Berliner Sado-Maso-Studio
Dominance & Submission, Sadism na habe sie sehr viel Toleranz gelehrt. mit den Moderatoren Shin Dong-yup
& Masochism«). Sie erfand eine Figur Auf Plakaten posierte sie mit Latex- und Sung Si-kyung und führte sie in
namens Vivian Vaine, die lange rote kostüm und Merkel-Raute, als Super- die BDSM-Welt ein.
Haare hat und enge Latexkostüme heldin oder als Sexarbeiterin mit dem Ist Neuss eigentlich tolerant, Frau
trägt, und begann, als Domina zu Slogan »Körper verkaufen statt Seele Domina Vershinina,
Vershinina? Im Vergleich zu was,
arbeiten. Es machte ihr Freude. verkaufen«. Nichts Menschliches sei Schlagzeile von fragt sie, Saudi-Arabien?
Bis auf ihren Job als Domina führt ihr fremd. Zu ihren Kunden zählen bild.de Es sei ihr ein Anliegen, mit Vor-
Vershinina, 36, wie sie selbst sagt, ein urteilen gegenüber Sexarbeiterinnen
sehr bürgerliches Leben. Ihr Ehe- aufzuräumen. Es rege sie auf, dass
mann arbeitet im Steuerfachwesen, Feministinnen wie Alice Schwarzer
zusammen besitzen sie eine Eigen- und Politiker wie Gesundheitsminis-
tumswohnung. Auch das, sagt Vershi­ ter Karl Lauterbach immer noch den
nina, sei normal in der BDSM-Szene. Sexarbeiterinnen ihre Mündigkeit ab-
Ein Großteil der Anhänger sei bürger- sprechen würden. Sie sei das beste
lich. Und eher unpolitisch. Ihr Mann, Beispiel dafür, dass das nicht stimme.
sagt Vershinina, interessiere sich Fragt man Vershinina, wie sie Poli-
schon eher für Politik. tik mache, sagt sie: »Mit meinem ge-
Im Jahr 2015 trat ihr Mann in »Die sunden Menschenverstand.«
Partei« ein, die von dem Satiriker Strebt sie eine politische Karriere
Martin Sonneborn gegründet worden an? Nein, sagt Vershinina. Ihre Amts-
war. Er fragte, ob seine Ehefrau auch zeit als Stadträtin ende nächstes Jahr,
mitmachen wolle. Vershinina sagt, sie nach fünf Jahren. Danach würde sie
habe die Idee interessant gefunden, gern wieder etwas Neues ausprobie-
die etablierten Parteien mal etwas ren, beispielsweise bei der Tanzshow
aufzumischen. Im aktuellen Wahlpro- »Let’s Dance« mitmachen.
Nikitzo

gramm von »Die Partei« steht zum Fragt man Vershinina, was bei der
Beispiel eine »Abfuckprämie« für nächsten Stadtratssitzung auf dem
SUV oder die Abschaffung von Ama- Programm stehe, sagt sie: die Landes-
zon. Sie trat ein. Später wurde sie ge- gartenschau. Dann muss sie los.
fragt, ob sie sich vorstellen könne, Nora Gantenbrink n

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REPORTER

Der Plural von


Heimat

Helfer Ilja am Strand


von Tel Aviv

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REPORTER

Er könnte von dem anderen Fußballspiel


IDENTITÄT Ilja fragt sich, ob für ihn als Jude die Zeit gekommen ist, erzählen, Jahre später. Der Stadionsprecher
habe Wahlergebnisse durchgesagt. Die NPD
um aus Deutschland fortzugehen. Er reist von Berlin nach Israel, hatte an Stimmen gewonnen. Um ihn herum
um zu helfen, und muss feststellen, dass er sich im Krieg sicherer hätten die Menschen auf den Rängen gebuht.
fühlt als zu Hause. Von Jonah Lemm und Ofir Berman (Fotos) Er könnte davon erzählen, dass am 7. Ok­
tober in seiner Stadt Hamas-Sympathisanten
Süßigkeiten an Passanten verteilten.

I
lja hat eine Baseballkappe. Sie ist dunkel­ Also bat ich Ilja, ihn begleiten zu dürfen. Ich Er könnte davon erzählen, wie bewegt er
blau, und vorn, über dem Schirm, ist ein wollte wissen, wonach dieser jüdische Mann war, als er einen Monat danach das Statement
Davidstern eingestickt. aus Berlin in Israel suchen würde. von Robert Habeck sah. Der Wirtschaftsmi­
Er sagt, er habe früher nie darüber nachge­ Einen Tag nach dem Flug steht Ilja auf nister sagte: »Die Sicherheit Israels ist unsere
dacht, ob er die Kappe aufsetzt oder nicht. Ilja, einem staubigen Acker südlich von Tel Aviv Verpflichtung. Deutschland weiß das.«
61 Jahre alt, kurze graue Haare, blaue Augen und dreht Kohlrabis aus der Erde. Er reißt die Er könnte von seiner Kappe mit dem Da­
hinter einer Brille, trug sie einfach, wenn er Blätter ab, wirft die Kohlrabis in einen schwar­ vidstern erzählen.
durch die Straßen seiner Stadt lief, durch Berlin. zen Eimer. Auf dem Acker sagt Ilja: »Germany is a
Manchmal, bei einem Spaziergang, blieb er ste­ Gerade hatte eine Frau mit Fischerhut ihm special country, you know.«
hen, wenn er einen Stolperstein sah, und las die und anderen Freiwilligen erklärt, was zu tun Es ist ein besonderes Land.
Namen, eingraviert in Messing. Er fragte sich: sei, wenn plötzlich Raketen durch den­ Im vergangenen Sommer traf ich mich mit
Wer waren diese Menschen? Und warum haben blauen Himmel fliegen. Sie sagte: »Euer ers­ Ilja vor einem Café in Berlin, es war eine unse­
sie es nicht rechtzeitig rausgeschafft? ter Instinkt wird sein, Schutz zu suchen. rer ersten Begegnungen. Er sagte: »Wenn ich
Am Flughafen, an einem Sonntagmorgen Aber hier gibt es keinen Schutz. Legt euch das Gefühl hätte, dass ich den Stern nicht
im Januar, trägt Ilja seine Kappe nicht. Es ist auf den Bauch, haltet die Hände über den mehr offen zeigen kann, müsste ich darüber
kurz nach zehn, Gate C21. Unten, auf der Kopf, und denkt an etwas Schönes.« Sie nachdenken zu gehen.«
Landebahn, starren vermummte Polizisten reichte ein Ich-habe-die-Sicherheitshinweise- Dann kam der Überfall der Hamas. In Ber­
in den Morgen. Neben ihnen ein Flugzeug, verstanden-Formular auf einem Klemmbrett. lin malten Menschen Hakenkreuze an die
bewacht von einem Panzerwagen mit einer Ilja, der noch nie einen Raketenalarm er- Überreste der Mauer, schrieben daneben »Kill
Maschinenpistole auf dem Dach. lebt hat, unterschrieb es wie andere eine Juden«, warfen Molotowcocktails auf eine
Flug LY 2372, von Berlin nach Tel Aviv. Quittung. Synagoge, brüllten auf einer Demonstration
Oben, vor einer Fensterfront, steht Ilja und Ein Hubschrauber fliegt über den Acker. »Scheiß Juden!«
hält sein Smartphone in der Hand. Auf dem Irgendwo heult leise eine Sirene. Niemand Und Ilja saß an einem Abend mit seinem
Display schimmert eine Meldung des Berliner schaut auf. Sohn und seiner Frau am Esstisch und dis­
»Tagesspiegel«, erst einen Tag alt. »Mann und Ein Australier fragt: »Woher kommst du?« kutierte darüber, woran man den Moment
Frau sprechen Hebräisch und werden atta­ Ilja sagt: »Berlin.« erkenne, an dem man gehen sollte. Ob nicht
ckiert« steht da. Ilja atmet tief ein. Seine Antwort auf diese Frage ist immer allein die Angst reiche, die der Sohn, 27 Jah­
Es nervt ihn. Dass er zum ersten Mal da­ Berlin. Nie Deutschland. re alt, nun spürte, wenn er über die Sonnen­
rüber nachdenkt, ob er in Deutschland ver­ Der Australier fragt: »Deutschland, huh, allee lief, vorbei an Hauseingängen mit Pa­
stecken muss, was er ist. Dass er darum ge­ wie ist es da so, für Juden?« lästinafahnen. Dieses Wenn-sie-nur-wüssten-
beten hat, dass man auf den Fotos in diesem Ilja könnte jetzt viel sagen. Er könnte er­ Gefühl. Dass er fürchtete, irgendjemand
Artikel nicht sein ganzes Gesicht sehen soll. zählen von dem Fußballspiel. Anfang der könnte ihm ins Gesicht schauen und erken­
Dass er darum gebeten hat, im Text anders Achtzigerjahre, ein Länderspiel, er war als nen, dass er Jude ist, woran auch immer.
zu heißen als in echt. Zuschauer im Stadion. Die Hymne sei erklun­ Ilja dachte darüber nach, ob er seine Kap­
Er sagt: »Ich habe mich immer als freien, gen. Und Ilja habe gemerkt, dass neben ihm pe auf der Straße noch tragen sollte. Er trug
stolzen Juden verstanden.« jemand die falsche, die erste Strophe des sie nicht mehr.
Unten hieven Männer in Neonjacken Kof­ Deutschlandlieds sang. Der Verkehr in Tel Aviv schiebt sich über
fer in die Maschine. Ilja sagt: »Auf lange Sicht den Asphalt wie ein müdes, langes Tier.
kann ich das nicht: mich verstecken. Dann ­Motoren röhren. Autos hupen. Es ist ein lau­
muss ich mir etwas anderes überlegen.« ter Abend geworden. Wir sitzen vor Iljas Ho­
Etwas anderes überlegen heißt: Deutsch­ tel, er erzählt sein Leben nach. Es begann
land verlassen. 1962 in einem Land, das es heute nicht mehr
Ilja wandert an diesem Morgen nicht gibt.
aus. Er reist nach Israel, zum ersten Mal seit Ilja wurde geboren in Odessa, heute in
dem 7. Oktober, nach dem Massaker der der Ukraine, damals Sowjetunion. Ein Land,
­Hamas, weil er helfen will. Zehn Tage lang das unter »Nationalität« in seinen Pass
auf Feldern, im Krankenhaus, wo auch immer. »Jude« schreiben ließ. Seine Großväter, sagt
Die Idee kam ihm im November. Er fragte Ilja, hatten für dieses Land gegen die Nazis
Bekannte in Israel, was er tun könne. Sie gekämpft.
­sagten: nicht viel, außer Geld spenden. Aber Sie verließen Odessa, als er 16 war. Seine
Ilja wollte nicht nur spenden. Er suchte im Mutter wollte ihn davor schützen, dass er für
Internet nach Aufgaben für Freiwillige, tage­ einen anderen Krieg eingezogen wird, den in
lang. Er schrieb mir damals: »Mal sehen, Afghanistan. Und sie wollte dafür sorgen, dass
ob es eine Verwendung für mich gibt …« Ich ihr Sohn werden kann, was er werden möch­
fragte mich, warum jemand freiwillig in ein te, auch wenn er Jude ist. Ilja weiß, wie es sich
Land im Krieg reist, in dem es vielleicht kei­ anfühlt, eine Heimat verlassen zu müssen. Er
ne Verwendung für ihn gibt. Um Kartoffeln sagt: »Auch ich wollte da weg. Aber das Ge­
zu ernten? hen, das ist immer traurig.«
Ich fragte mich, wer da gerade wen drin­ Zweifelnder Ilja Während er spricht, ist da ein Rest Her­
gender braucht: Israel Ilja? Oder Ilja Israel? kunft. Er rollt das R. Er sagt, er denke mittler­

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REPORTER

nirgends so sicher wie hier. Ja, am 7. Oktober


war Israel hilflos. Aber danach hat das Land
angefangen, sich konsequent zu verteidigen.
Würden an all den anderen Orten auf der Welt
Juden konsequent verteidigt? Dort würden
die Fahnen auf Halbmast gesetzt, die Leute
würden denken: Schade um die Juden, dass
sie bald alle ausgerottet sind. Und dann wür-
de es für die Mehrheit des Landes am nächs-
ten Tag weitergehen wie vorher.«
Wenige Minuten, nachdem er das gesagt
hat, feuert die Hamas Dutzende Raketen in
Richtung Tel Aviv. Sie werden abgefangen,
bevor sie die Stadt erreichen. Eine nicht weit
von dem Acker, auf dem Ilja am Vormittag
Kohlrabi aus dem Boden gezogen hat.
Zu fünft stehen sie um einen Esstisch, da-
rauf Challa, das traditionelle jüdische Zopf-
brot, Salz, Wein. Freitagabend, Schabbat. Ilja
ist bei der Familie eines alten Schulkameraden
Baumaterial in Iljas eingeladen, Sascha.
Wohnung in Israel
In Odessa gingen sie in dieselbe Klasse, sie
teilten ein Leben in einer Stadt, in der auf dem
weile auf Deutsch. Auf Russisch mache er noch Luft entgegenblies, sagte er: »Ich fühle mich Markt Bäuerinnen Jiddisch sprachen und in
zwei Dinge: zählen und fluchen. sofort zu Hause.« der heute kaum noch Juden leben. Die eine
Nach Deutschland kamen er und seine Fa- Das erste Mal in Israel war er Anfang der Familie floh nach Deutschland, die andere nach
milie am 4. Februar 1979. Als Flüchtlinge, Achtziger, sagt er, in den vergangenen Jahren Israel. Der eine kam in ein Lager mit Schäfer-
ohne Papiere und mit kaum mehr als Bett- kam er mindestens einmal im Jahr her. Seit hunden davor, der andere in einen Kibbuz, in
wäsche und Büchern im Gepäck. In West- Ende 2022 hat er auch einen israelischen Pass. dem er Orangen pflückte. Der eine lebt heute
Berlin lebten sie in einem Notaufnahmelager. Und eine Wohnung in Tel Aviv. Boxen mit in einem Land in Frieden, in dem er darüber
Wie war das? Nägeln stehen darin herum, Farbeimer, Kabel nachdenkt, ob er eine Kappe mit Davidstern
»Du kommst als Jude nach Deutschland, hängen aus der Wand. In sechs Monaten soll auf der Straße tragen kann. Der andere lebt in
als Erstes bist du im Lager, und drum herum sie bezugsfähig sein. Eigentlich war es so ge- einem Land im Krieg, in dem der Davidstern
gehen Wächter mit Schäferhunden. Leicht plant: Winter in Israel, Sommer in Deutsch- auf Hunderten Flaggen aus den Fenstern hängt.
komisch war es schon«, sagt Ilja. land. Jetzt ist sich Ilja mit diesem Plan manch- Sie singen mit all der Kraft ihrer Stimmen
Nach einem Jahr hätten sie eine Sozial- mal nicht mehr so sicher. und klopfen dabei im Takt auf das Holz, dass
wohnung bekommen, erzählt er. Ilja lernte Wie fühlt er sich in Israel zu Hause, in das Geschirr klirrt: »Schalom Aleichem«.
die Sprache, lernte mehr Wörter als die vier, einem Land, das ihm so fremd ist? Friede sei mit euch, dienende Engel, Boten
die er schon in Odessa gekannt hatte, aus den Ilja sagt: »Fast alle sind hergekommen, des Höchsten, des Königs aller Könige, des
russischen Kriegsfilmen: »Hitler«, »kaputt« weil sie als Juden dem Tod knapp entkommen Heiligen, gelobt sei er.
und »nicht schießen«. In Berlin putzte er sind oder Bürger zweiter Klasse waren, weil Ilja singt mit, er kann den hebräischen Text
­Büros, lud in einem Supermarkt Paletten ab, sie bedroht wurden oder sich nicht wohlge- auswendig, irgendwann beugt er sich herüber
ging aufs Studienkolleg, auf die Uni, studier- fühlt haben. Diaspora heißt: in der Minderheit und sagt: »Ich habe keine Ahnung, was sie
te Informatik, dann Wirtschaft, promovierte sein. Das Gefühl, das hinter sich zu lassen, singen.«
schließlich. verbindet.« Sie brechen das Brot, streuen Salz darauf.
Er liebt Berlin inzwischen. In Berlin ist sei- Ist Berlin Diaspora? »Als Jude: ja. Als Sie trinken vom Wein. Sie essen Lachs und Kar-
ne Familie, sind seine Freunde, ist sein Leben. Mensch: nein.« toffeln. Sie setzen sich auf die Couch im Wohn-
Berlin ist wie selbstverständlich an der Käse- Heimat ist ein kompliziertes Gefühl. Hat zimmer. Der Fernseher läuft ohne Ton, israeli-
theke mit Menschen plaudern und ohne Na- er keine? Oder zwei? Irgendwann fragt Ilja: sche Soldaten geben stumme Interviews. Der
vigationssystem durch die Stadt fahren. »Gibt es eigentlich einen Plural von Heimat?« Sohn des Freundes, er ist Anfang dreißig, steht
Seit 1986 hat Ilja die deutsche Staatsbür- Auf der Straße in Tel Aviv tritt ein junger auf, sein graues T-Shirt rutscht hoch. Hinten, im
gerschaft. Aber er ist kein Deutscher, sagt er. Israeli aus der Lobby des Hotels, er trägt Flip- Bund seiner Jeans, klemmt eine Pistole.
Er ist Jude. Ilja sagt, er kenne keinen Juden Flops, kurze Hose und zündet sich einen Joint Ilja spricht nicht über Angst, zumindest
in Deutschland, der sich selbst einen Deut- an. Über seiner Schulter hängt ein Gewehr. nicht mit mir, außer wenn er sagt, dass er
schen nennen würde. Hat Ilja nach dem 7. Oktober Zweifel, dass ­keine hat. Stattdessen macht er Witze. Mir ist
Heimat ist ein kompliziertes Gefühl. Liebe, Israel Schutzraum für Juden auf dieser Welt noch nie ein Mensch begegnet, der so viele
Furcht, Hass, das scheint bei fast allen Men- sein kann? Er sagt: »Man muss schon besoffen Witze kennt und sie so passgenau in Gesprä-
schen ähnlich zu funktionieren. Aber Heimat? sein, um zu sagen, das hier ist ein sicheres che werfen kann. Lange vor dem 7. Oktober
Man kann versuchen, sie aus anderen Ge- Land. Und trotzdem fühle ich mich gerade fragte ich Ilja, wie es ihm geht. Er antwortete:
fühlen herzuleiten: Geborgenheit, Gewohn- »Ein Jude aus Tel Aviv und ein Jude aus New
heit, Vertrautheit. Heimat ist dort, wo man York telefonieren. Fragt der Jude aus Tel Aviv:
die Sprache spricht. Heimat ist dort, wo man Wie ist die Lage bei euch? Sagt der Jude aus
viele Jahre seines Lebens verbracht hat. Hei- New York: Ernst, aber nicht hoffnungslos –
mat ist dort, wo man die Menschen versteht. und bei euch? Sagt der Jude aus Tel Aviv:
Ilja spricht kein Hebräisch. Er hat nie in »Man muss schon besoffen Hoffnungslos, aber nicht ernst.«
Israel gelebt. Er sagt, er fremdle mit der Kul-
tur. Aber als er nach der Landung in Tel Aviv
sein, um zu sagen, das Ilja kann ernst und nicht ernst zugleich
sein, wenn er diese Witze erzählt. Er lächelt
aus dem Flughafen trat und ihm die warme hier ist ein sicheres Land.« kurz, erwartungsvoll, ob man kapiert, was er

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REPORTER

eigentlich sagen will. Die Witze sind sein Mit- Flammenbäumen, Baustellenzäune mit Graf- an ihr. Später wird er sagen, sie sei ihm lange
tel gegen die Hoffnungslosigkeit, um ihr doch fiti daran: »Hamas = ISIS«. in Erinnerung geblieben. Vielleicht, weil sie
irgendwie eine Pointe abzuringen. Ben sagt: »Das ist ja so, als wären in der entlastend ist, für Menschen wie ihn, die die-
Die ersten Tage der Reise ist Ilja auch mit Bundesrepublik 10.000 Leute ausgelöscht sen Krieg nicht wollen, ihn aber für unver-
zwei Freunden aus Berlin unterwegs. Da ist worden, mit einem Anschlag. Was machst ’n meidbar halten.
der, der erzählt, er wollte schon am 7. Oktober dann als Land? Und warum lassen die denn In Israel trägt Ilja wieder seine Kappe mit
los, kämpfen. Sie hätten ihm gesagt, als An- nicht die letzten 100 Geiseln frei? Die Kinder, dem Davidstern. Einmal sagt er: »Du hast
fang 60-Jähriger, der noch nie ein Gewehr in die da sterben, das will keiner. Andererseits mich vor ein paar Tagen gefragt, wie ich mich
der Hand hatte, sei er leider untauglich. Er will man nicht noch einmal 1000 tote Israelis fühle, hier zu sein. Es ist natürlich schrecklich.
trägt Kippa und hat sich ein Hertha-BSC-Sitz- haben. Keinen Krieg zu führen, das ist doch Aber ich fühle mich auch stark. Ich fühle mich
kissen mitgebracht, falls er bei der Feldarbeit keine Option, nachdem so etwas passiert ist.« stark, weil wir hier zusammenstehen und zu-
auf die Knie muss. Er soll hier Daniel heißen. Er wirkt in diesem Moment verzweifelt. sammen trauern. Ich fühle mich stark, weil
Und da ist der, Ende fünfzig, der stundenlang So, als ob er nicht verstehen könnte, dass die ich meine Kappe aufsetze, ohne darüber
zuhören kann, fast ohne ein Wort zu spre- Welt sie nicht versteht. nachdenken zu müssen, ob ich sie aufsetze
chen, der in Deutschland selten in die Syna- Es ist auch ein Krieg, den sie bis jetzt kaum oder nicht.«
goge geht und dessen Frau und Mutter sich gesehen haben. An einem Vormittag sitzen Der Gazastreifen liegt gut 60 Kilometer
gesorgt hatten, ihm könnte etwas in Israel sie auf einer Terrasse am Meer, Musik dudelt südlich von Tel Aviv, das ist näher als Dort-
zustoßen. Er soll hier Ben heißen. aus den Boxen, am Strand baggern Menschen mund an Köln. Die Fahrt nach Gaza geht vor-
Zusammen ernten sie Süßkartoffeln. Sie nach einem Volleyball. Ilja sagt: »Schön hier, bei an grünen Hügeln, Bananenplantagen,
packen in einer Lagerhalle Äpfel in Kisten. oder? Als würden nicht gerade Menschen Bunkern am Straßenrand mit Einschuss­
In einer Küche kippen sie Tomatensauce in sterben, gar nicht weit von hier.« löchern. Ilja hat gehört, dass es einen Park-
Bottiche mit Nudeln, legen Salat und Oliven In der zweiten Woche in Israel beschließt platz gibt, nicht weit von der Grenze, an dem
auf Brote, tragen Alufolienschälchen zu Autos Ilja, dass er dem Krieg näher kommen will. Zivilisten Soldaten mit Essen versorgen. Er
von Männern, die warnblinkend darauf war- Zuerst in einem Krankenhaus in Beer Sche- hat schon aus Deutschland heraus Geld ge-
ten, das Essen weiterzufahren, an die Front. va, einer Stadt im Süden des Landes. Maschi- schickt, sie hätten davon Hähnchenschnitzel
In einer Synagoge sprechen sie Totengebete nen piepsen, auf den Liegen fletschen verwun- gekauft. Vorhin hat ihm jemand einen Stand-
neben Vätern, die ihre Söhne verloren haben. dete Männer die Zähne vor Schmerz. Ilja steht ort geschickt. Jetzt will er dabei sein, wenn
Fast jeden Abend sitzen sie danach zu- vor einem Soldaten im Rollstuhl, sein linkes die Soldaten Schnitzel essen. Irgendwann
sammen, in vollen Restaurants, mal bei Fisch, Bein ist eingegipst. Der Soldat erzählt, wie er lotst das Navi uns auf einen Schotterweg.
mal bei Falafel, und diskutieren die Lage des und seine Truppe einen Tunneleingang in Gaza Und dann stehen dort Menschen in Jeans
Landes. gefunden hätten, und dann: Explosion, Schüs- hinter Klapptischen, darauf Coladosen, Wein-
Ilja: »Wenn das so passiert wäre, könnte se, Blut. Fünf seiner Kameraden seien tot. gummi, Töpfe voll Bohnen. Es sieht aus wie
jeder Depp, der sich wählen lässt, eine Dik- Danach erzählt der Soldat eine andere Ge- ein Stand auf einem Straßenfest. Es riecht
tatur einrichten. Auf dem legalen Weg.« schichte aus Gaza, die davor passiert sei. nach Suppe.
Er redet über die gescheiterte Justizreform Eines Nachts seien sie wach geworden, weil Vor den Klapptischen sitzen Soldaten, sie
von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, sie über Funk eine Information bekamen: Da löffeln aus Plastikschalen, drehen sich Ziga-
gegen die er im vergangenen Jahr hier auf der sei ein Mensch, 50 Meter entfernt. Sie hätten retten, singen die israelischen Popsongs mit,
Straße demonstriert hat. schießen können, aber sie schossen nicht, sagt die aus einer Bluetooth-Box scheppern. Sie
Daniel: »Ja, aber wenn wir von Demo- der Soldat im Rollstuhl. Stattdessen hätten tragen grüne Uniformen und Gewehre mit
kratie sprechen, dann kommt die Demokratie sie geschaut, wer da kommt. Es sei ein paläs- »FCK HMS«-Stickern auf den Griffen. Pick-
von denen, die das Volk wählt.« tinensischer Vater mit seiner Tochter gewe- ups rattern vorbei, aus ihren Fahrerhäusern
Ilja: »Komm, hör doch mit der Scheiße auf! sen, auf der Suche nach Hilfe. Sie hätten ihm winken Männer. Ilja winkt zurück. Am Ho-
Die haben Hitler auch gewählt. Und zwar Essen gegeben, Wasser und einen Schlafsack. rizont hängt dunkler Rauch wie Stahlwolle.
demokratisch mit der einfachen Mehrheit.« Es ist eine Geschichte, an der man nichts Eine der Helferinnen sagt, man könne er-
Ein anderes Mal sprechen sie über die Fra- überprüfen kann. Ilja zweifelt keinen Moment kennen, wo Gaza liegt, wenn man schaue, wo
ge, ob radikale Muslime die größte Gefahr für
Juden seien. Israelbesucher Ilja an
Ein Bekannter, dessen Sohn in Gaza kämp- der Grenze zu Gaza
fe, sagt: »Viele dieser Menschen sind indok-
triniert, sie hassen Juden von Kindesalter an.«
Ilja: »Aber das haben die Deutschen da-
mals doch auch! Und man hat es trotzdem
geschafft, dass wir heute mit ihnen zusammen
in einem Land leben können.«
Am Ende jedes Abends stehen vor ihnen
leere Teller und die gleichen Fragen im Raum,
die sie nicht beantwortet bekommen, egal wie
oft sie sie sich gegenseitig stellen: Wie kriegt
man die Geiseln zurück? Wann endet der
Krieg? Und wie?
Es ist ein Krieg, den keiner von ihnen will
und den sie trotzdem für unvermeidbar hal-
ten. Hier, sagen sie, wird auch ihre Existenz
verteidigt.
Auf einer Autofahrt bricht es aus dem stil-
len Ben heraus. Draußen zieht die Stadt vor-
bei, stiller und leerer als sie es vor dem Krieg
war, verspiegelte Hochhäuser, Alleen aus

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REPORTER

der Rauch ist. Ein Soldat sagt: »Rauch be- Bücher, viele davon haben jüdische Autoren. eine Pergamentrolle, auf der Schma Israel
deutet Erfolg.« Er sagt auch: »Schießen bringt Bücher über die Geschichte Israels, Bücher steht, das Glaubensbekenntnis der Juden.
niemals Leben. Aber manchmal muss man über die Judenverfolgung in Europa. Ilja ist Höre Israel! Der Ewige, unser Gott, der
schießen. Und wenn man schießen muss: so jemand, der die Bücher in seinem Wohn- Ewige ist eins.
schieß!« zimmer wirklich gelesen hat. Manche Juden in Berlin überlegten nach
Die israelischen Soldaten schießen. Im Mi- Sein liebstes ist »Die Welt von Gestern« dem 7. Oktober, ob sie ihre Mesusa abnehmen
nutentakt, Artillerie, von irgendwoher, dass von Stefan Zweig. Zweig schreibt darin: »Die sollten. Aus Furcht, dass der Paketbote oder
es knallt und der Boden vibriert. Ilja blickt in Welt, in der ich aufgewachsen bin, und die die Nachbarn von außen erkennen könnten,
den Himmel. So dicht wie jetzt war er noch von heute und die zwischen beiden, sondern wer in dieser Wohnung lebt. Ilja sagte schon
nie in seinem Leben an Krieg. Plötzlich sagt sich immer mehr für mein Gefühl zu völlig vor der Reise, wenn er seine Mesusa abnimmt,
er: »Ich bin der ewige Jude.« verschiedenen Welten.« dann nur, weil sie das Letzte ist, das er in den
Boom! Die Artillerie. Die Nacht spannt sich über Tel Aviv wie Koffer packt.
Ilja zuckt nicht. Er sagt: »Es passiert ja rein ein löchriges Bettlaken. Es ist unser letzter Es ist ein Samstag, Ende Februar. Die Me-
gar nichts Neues, hier und auf der Welt. Und Abend in Israel, wir sitzen auf einer Bank susa hängt noch.
da ich ja nicht persönlich gemeint sein kann, am Meer, die Promenade ist leer, ab und zu Iljas Heimat, die in Berlin und die in Israel,
als Ilja, weil die Hamas und alle, die uns sonst kommt ein Jogger vorbei. Ich frage Ilja, hat sich weiter verändert. Israel hat weit­
gern auslöschen würden, mich nicht persön- wie es für ihn wäre, wenn sein Sohn jetzt in gehend Kontrolle über den Gazastreifen er-
lich kennen, bin ich als ewiger Jude gemeint. Gaza im Einsatz wäre. Er erzählt, dass sein rungen und eine Bodenoffensive in Rafah
Ich kann davor nicht wegrennen. Ich kann Sohn tatsächlich mit 18 Jahren den Plan hat- angekündigt. Joe Biden hat sich für einen
nicht konvertieren, meinen Namen ändern. te, zur israelischen Armee zu gehen. Die El- »vorübergehenden Waffenstillstand« ausge-
Weil ich trotzdem Jude bleibe. Und das Gute tern haben es ihm, einem Einzelkind, aus- sprochen, Olaf Scholz mehr Hilfslieferungen
ist: Deswegen will ich es auch gar nicht. Dann geredet. für Gaza gefordert. Noch immer sind mehr
bleibe ich lieber ich.« Ist er froh, dass sein Sohn nicht gegangen als 100 israelische Geiseln in der Gefangen-
Ilja hat einen DNA-Test gemacht, vor ei- ist? »Ja.« Wäre er heute stolz? »Die Sorge schaft der Hamas. In Berlin wurden einem
niger Zeit. Er rieb ein Wattestäbchen an die wäre unerträglich. Im Nachhinein, wenn alles jüdischen Studenten Knochenbrüche ins Ge-
Innenseite seiner Wange, steckte es in ein gut gegangen ist, dann kann man sagen, man sicht geprügelt.
Fläschchen und schickte es zu einem Unter- sei stolz.« Er scheint nicht das erste Mal über Wir sitzen vor dem Bücherregal. Ilja sagt,
nehmen, das diese Analysen anbietet. Nach solche Fragen nachgedacht zu haben. ihm sei einiges klar geworden, nachdem er
einigen Tagen kam das Ergebnis: 83,6 Prozent In den Antworten liegt die Grausamkeit wieder in Berlin angekommen war. Er habe
aschkenasischer Jude. der Geschichte. Damit jüdische Menschen verstanden, dass er zwei Heimaten hat. Plu-
Ilja glaubt nicht an Gott. Zumindest nicht überleben können, müssen manche von ihnen ral. Und, dass er sich keine von ihnen nehmen
an den mit dem Rauschebart, sagt er. Seine ihr Leben riskieren. Freunde, Bekannte, die lassen will.
Eltern seien mit ihm nie in die Synagoge ge- eigenen Kinder. Ein jahrtausendealter Kampf, Nicht weit entfernt von seiner Wohnung
gangen. In Odessa sagte eine Lehrerin, sie dem sich niemand von ihnen entziehen kann. zieht in diesen Momenten eine Demonstra-
war auch Jüdin, zu ihm: »Du musst für eine Egal ob in Deutschland oder Israel. tion vorbei. Mehr als 1000 Menschen trotten
Eins lernen, damit du später eine Drei be- Als wir am Mittag darauf auf dem Weg einem Lastwagen hinterher und schwenken
kommst.« Ilja habe gespürt, was sie meinte, zum Flughafen sind, zurück nach Berlin, sagt Palästinaflaggen. Sie brüllen: »Wir sind hier,
und trotzdem bei seiner Mutter nachgefragt. Ilja, er wolle auch dort wieder seine Kappe wir sind laut, weil man uns die Heimat klaut!«
Die Mutter sagte: »Weil wir Juden sind.« mit dem Davidstern tragen. Ich war mir in Und: »From the river to the sea, Palestine will
Er habe damals verstanden, dass Men- diesem Moment nicht sicher, ob er das wirk- be free!« Diese Leute wollen, dass es mindes-
schen schlechter auf ihn blicken, weil er Jude lich tun würde. tens eine Heimat von Ilja nicht mehr gibt.
sei, sagt Ilja. Ohne aber, dass er verstand, was An der Tür vor seiner Berliner Wohnung Erst nach diesem Besuch glaube ich zu ver-
das überhaupt heißt: ein Jude sein. hängt, am rechten Pfosten, eine Mesusa. Es stehen, was diese Reise nach Israel für ihn
In seiner Wohnung in Berlin stehen heute ist der jüdische Haussegen, eine längliche außerdem bedeutet hat. Sie war der Versuch,
an einer Wand im Wohnzimmer Hunderte Schriftkapsel, kürzer als ein Bleistift, darin gegen die Hilflosigkeit anzukommen, die ­viele
Juden seit dem 7. Oktober empfinden. Sie war
ein Weg, Kontrolle über die eigene Identität
zurückzugewinnen. Ilja ist überzeugt, dass
Juden wehrhaft sein müssen. Also will er sich
wehren. Und wenn das Einzige, das er in Is-
rael tun kann, ist, Kartoffeln zu ernten, erntet
er Kartoffeln. Und wenn das Einzige, das er
in Deutschland tun kann, ist, seine Kappe zu
tragen, trägt er seine Kappe.
Die Kappe, sie ist sein Mittel, seine Heimat
zu verteidigen.
Ilja sagt, er habe sie wieder getragen, beim
Spazierengehen, im Supermarkt. Manche
Menschen hätten am Kassenband geguckt,
nicht feindselig, eher erstaunt. Dass da je-
mand mit einem Davidstern rumläuft, einfach
so. Sieht man ja nicht so oft.
Ilja sagt: »Ich bin zu dem Schluss gekom-
men, dass man sich als Jude in Deutschland
auch jetzt nicht verstecken muss. Und dass
Gast Ilja am Schabbattisch bei einem
ich mich nicht verstecken will.«
Schulfreund und dessen Familie Er sagt, ich könne doch seinen richtigen
Vornamen im Text verwenden: Ilja. n

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REPORTER

vor Kurzem dem SPIEGEL gab. Auf


drängende Nachfragen meiner Kolle-
gen erklärte sie, warum und für wen
sie bei der Preisverleihung der Berli-
nale applaudierte, für wen eher nicht,

Ich war’s nicht


so lange, bis mir schwindlig wurde.
»Das Wort ›Apartheid‹ hat Sie
nicht vom Klatschen abgehalten, das
Wort ›Abschlachten‹ schon?«, fragte
der SPIEGEL .
LEITKULTUR Alexander Osang über die deutsche Lust an Unschuldsbekenntnissen »Ich habe weder für das eine noch
das andere geklatscht«, sagt Claudia
Roth. »Meine Zustimmung fand der

N
eulich stand ich hinter dem glaubwürdige Appell für eine politi-
Bahn-Gewerkschafter Claus sche Lösung und einen nachhaltigen
Weselsky in der Schlange. Es Frieden.«
war beim Bäcker in den Galeries La- Dafür hätten sicher auch Mah-
fayette, dem französischen Kaufhaus moud Abbas und Benjamin Netanya-
in der Berliner Friedrichstraße. We- hu geklatscht, König Charles, Donald
selsky lächelte die blonde Backwaren- Trump und der Papst. Der letzte deut-
verkäuferin an. sche Politiker, der so die Welt umarm-
»Wie immer?«, fragte sie. te, war Stasi-Chef Erich Mielke, der
Er nickte. seinen Parteifreunden zurief: Ich lie-
Sie schnitt ein Viertelstück von be doch alle.
einem – wenn ich das richtig sah – Vor 28 Jahren, als Mielke noch leb-
Mischbrot ab, wickelte es ein, reichte te und die Galeries Lafayette eröffne-
es über den Tresen, Claus Weselsky ten, wohnte ich um die Ecke im aller-
nahm es und ging. Das Brot wirkte letzten Plattenbau des DDR-Woh-
winzig an dem großen Mann. Er trug nungsbauprogramms, der erst drei
Privat

einen ausrasierten Schnurrbart, ein Jahre nach dem Mauerfall fertig wur-
enges Mäntelchen und spitze Schuhe. de. In dem Viertel wohnten Katarina
Er sah aus, als wäre er aus einer ande­ besuchte eine polytechnische Ober- Autor Osang in Witt, Angela Merkel, aber auch der
ren Zeit angereist. Er hätte eine Figur schule, lernte Schienenfahrzeug- der Friedrichstraße Dramatiker Rolf Hochhuth und die
gegenüber der
aus einem Joseph-Roth-Roman sein schlosser, bevor er Lokführer wurde. Galeries Lafayette in
Treuhandchefin Birgit Breuel. Im
können, der Bezirkshauptmann von Dort stand auch der Satz: »Er war nie Berlin 1996 Supermarkt sah ich ab und zu die ehe-
Trotta aus dem »Radetzkymarsch« Mitglied der SED.« maligen Politbüromitglieder Günter
zum Beispiel. Ich stellte mir vor, wie Das ist eine interessante Art, Bio- Schabowski und Kurt Hager, die aus
Weselsky allein mit dem Viertel grafien zu schreiben. Dinge, die man Wandlitz nach Mitte gezogen waren.
Mischbrot seine Wohnung betrat, die nicht war, dachte oder tat. Einmal beobachtete ich, wie Kurt Ha-
spärlich eingerichtet war, ein Kalen- Ich war in der DDR nie Jungpio- ger, der im SED-Politbüro für Kultur
der mit historischen Lokomotiven an nier, Panzerfahrer oder Quartalstrin- zuständig gewesen war, an der
der Wand. Wahrscheinlich hatte das ker. Ich habe nie auf einen Mauer- Fleischtheke »Bierwurst« bestellte,
alles mit der hämischen Berichterstat- flüchtling geschossen, Fidel Castro aber von der Verkäuferin immer wie-
tung über ihn zu tun, mit Weselskys geküsst oder einen sozialistischen der erklärt bekam, dass sie nur »Bier-
unzeitgemäßer Sturheit und meiner Ehekredit in Anspruch genommen. schinken« hätte. Auf Hagers Ein-
ganzen Warterei auf irgendwelchen Wieso sollte Claus Weselsky in der kaufszettel aber stand Bierwurst.
zugigen deutschen Bahnhöfen. SED gewesen sein? Weil er sächselt? Niemand half ihm, ich auch nicht. Ich
Vielleicht war der Mann, der gera- Weil er einen Oberlippenbart trägt? war noch nicht so weit. Unsere Straße
de mit dem Brotviertel abging, auch Weil er eine Diesellok durch den Be- hieß zunächst Otto Grotewohl, wie
gar nicht Claus Weselsky. zirk Dresden fuhr? Und wieso steht der erste Ministerpräsident der DDR,
Ich habe mal einen älteren in seiner Wikipedia-Biografie nicht: später Wilhelm, wie der preußische
­S PIEGEL -Kollegen auf der Leipziger Er war nie Mitarbeiter der Staats­ Soldatenkönig. Unser Hausmeister
Buchmesse getroffen, der mich, glau- sicherheit? Ist das nicht verdächtig? sagte, sie werde demnächst der
be ich, aus ideologischen Gründen In seinem neuen Netflix-Special Ku’damm des Ostens. Daraus wurde
verachtete. Ich grüßte ihn, er grüßte macht sich der britische Comedian nix. Auch das französische Kaufhaus
nicht zurück. Ich grüßte noch mal, er Ricky Gervais über unsere Bekennt- hat sich in Berlin, das von einem
sagte scharf: »Wir kennen uns nicht!« niskultur lustig. Er erklärt, er werde Hamburger Kollegen immer nur »die
Ich habe damals befürchtet, den in seine Twitter-Biografie eintragen Kackstadt« genannt wird, nie durch-
Verstand zu verlieren wie Ingrid lassen, dass er kein Faschist sei. Das gesetzt. Im Sommer schließen die
Bergman in »Gaslight«, später im Ho- ist, sagt er, als würde er eine Schule Galeries Lafayette wohl endgültig.
tel googelte ich den Namen des Kol- betreten und dort jedem erklären, Als Weselsky mit seinem Viertel-
legen und identifizierte ihn auf einem dass er nicht pädophil sei. »Die Kin- Ich war kein brot weg war, fuhr ich mit der Roll-
Foto. Er war’s wohl. Ich glaubte nun der können nackt rumrennen«, ruft treppe in die Herrenabteilung und
auch Weselsky im Internet wiederzu- Ricky Gervais. »Sie sind sicher! Ich Panzerfahrer kaufte mir einen grauen Cordanzug
erkennen. Bei dieser Recherche las bin kein Pädo!« und habe zum halben Preis. Ich brauche ihn
ich gleich seinen Lebenslauf auf Wiki- Die fiktive Schulszene erinnert nicht, aber seine Farbe schien die
pedia quer. Er entstammte demnach mich an das Interview, das die deutsche auch nie Fidel richtige Geschichte über mich zu
einer Dresdner Neubauernfamilie, Kulturstaatsministerin Claudia Roth ­Castro geküsst. ­erzählen. n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 53


WIRTSCHAFT

Patrick Pleul / dpa


Tesla-Produktion in Grünheide

Teslas Deutschland-Problem
E-MOBILITÄT I Der US-Autobauer tut sich hierzulande schwerer als in anderen Märkten. Schon 2023 brach
der Absatz des Elektropioniers ein – und verschlechtert sich weiter.

D er E-Auto-Vorreiter Tesla hat in


Deutschland schon länger größere
Probleme als auf dem Weltmarkt. Das
zeigen Absatzzahlen des Autoindustrie-Por-
um ein Drittel, erst im Auftaktquartal 2024
brachen sie ein. Das Ausmaß der Schwäche
hierzulande überrascht, zumal der deutsche
Gesamtmarkt für E-Autos 2023 noch wuchs.
weitreichende zweiwöchige Produktions-
pause einlegen, weil nach Angriffen von
Huthi-Milizen auf Schiffe im Roten Meer
wichtige Teile fehlten.
tals Marklines, die dem SPIEGEL vorliegen. Deutschlands Marktführer, der VW-Kon- Die Entscheidung der Bundesregierung,
Demnach verkaufte der von Multimilliardär zern, steigerte 2023 mit Töchtern wie Audi, die Kaufprämie für E-Autos Mitte Dezem-
Elon Musk geführte Konzern bereits 2023 Škoda und Seat seinen Absatz von 120.200 ber zu streichen, kann Teslas Absatzminus
weniger Autos als im Jahr zuvor – gegen den auf 146.800 E-Autos. 2024 rutscht der Tes- zum Jahresbeginn nicht allein erklären. An-
Trend anderer europäischer E-Auto-Märkte. la-Absatz weiter ab: Im Januar und Februar dere Hersteller steigerten zeitgleich ihren
Hatte Tesla 2022 noch 69.900 Autos in verkaufte der E-Auto-Bauer, der sein einzi- Absatz in Deutschland: Mercedes rückte mit
Deutschland ausgeliefert, waren es 2023 ges europäisches Werk in Grünheide nahe 6900 verkauften Stromern in den ersten
nur noch 63.600. In den Niederlanden da- Berlin betreibt, nur noch 9200 Fahrzeuge. beiden Monaten näher an Tesla heran, auch
gegen vervierfachte Tesla 2023 seinen Ab- In der Vorjahresperiode waren es noch BMW (5200 Fahrzeuge) und Hyundai mit
satz, auf 19.600 Autos. Frankreich holte mit 11.900. Der Zeitraum lag noch vor dem seiner Hauptmarke und der Tochter Kia (3900)
63.100 verkauften Modellen (2022: 29.400) Brandanschlag auf die Stromversorgung des holten auf. Der VW-Konzern rutschte da-
beinahe Deutschland als größten Tesla-Ab- Tesla-Werks in Brandenburg, der mehrtägi- gegen ebenfalls ab: Nach 15.200 verkauften
satzmarkt in Europa ein. Weltweit steigerte ge Produktionsausfälle zur Folge hatte. Al- E-Autos Anfang 2023 waren es im Januar
der Autobauer seine Verkäufe 2023 noch lerdings musste die Fabrik im Januar eine und Februar 2024 nur noch 12.400. ADE

54 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


Mehr Handel Oppositionsanhänger Lücken im Ladenetz punkt. Gegenüber einer Erhe-
bung vom Sommer 2023 ist das
mit der Türkei in Istanbul
E-MOBILITÄT II Deutschlands eine leichte, aus Sicht des Lob-

Tolga Ildun / ZUMA Wire / action press


EU Nach den Kommunal­ Autokonzerne fordern einen byverbands aber unzureichende
wahlen in der Türkei fordern schnelleren Ausbau der Lade- Verbesserung. Deutschlandweit
führende EU-Politiker, die wirt- Infrastruktur, um den E-Auto- kommen auf einen Ladepunkt
schaftlichen Beziehungen mit Absatz anzukurbeln. Der Nach- im Schnitt 21 E-Autos und Plug-
dem Land zu vertiefen. »Die holbedarf sei »in der ganzen in-Hybride – eine Stagnation.
Wahl war ein Signal, dass sich Europäischen Union enorm«, Zuletzt lag die Zahl der Lade-
die Türkei in Richtung Demo- sagt Hildegard Müller, Präsiden- punkte in der Bundesrepublik
kratie bewegt«, sagt Bernd tin des Verbands der Automo- bei rund 115.000. Um die von
­Lange (SPD), Vorsitzender des bilindustrie (VDA). In ganz der Bundesregierung geplante
Handelsausschusses im EU-Par- dem habe das Wahlergebnis ­Bulgarien etwa gebe es weniger Million im Jahr 2030 zu er­
lament. »Die EU sollte deshalb ­gezeigt, dass es »Potenzial für Ladepunkte als in der Region reichen, müsste der Ausbau
darüber nachdenken, das Zoll- einen demokratischen Wandel Hannover. Aber auch in dreimal so schnell geschehen, so
abkommen mit dem Land im Land gibt«. Präsident Recep Deutschland klaffen laut VDA Müller. Die VDA-Kalkulation
­auszubauen.« Konkret schlägt Tayyip Erdoğan habe seine weiterhin gewaltige Lücken: In basiert auf Zahlen der Bundes-
Lange vor, die bisher auf Indus­ ­Niederlage eingestanden und mehr als drei Viertel aller Ge- netzagentur und des Kraftfahrt-
triegüter konzentrierte Handels­ sei »nicht in gewohnte Muster meinden gibt es keine Schnell­ Bundesamts vom Herbst 2023,
zone um Dienstleistungen und verfallen«. Zuletzt hatten sich lademöglichkeit, 39 Prozent aktuellere Werte sind nicht ver-
zusätzliche landwirtschaftliche Brüssel und Ankara auch poli- bieten überhaupt keinen Lade- fügbar. SH
Produkte zu erweitern. Bei tisch angenähert. Nach langem
staatlichen Beihilfen müssten Zögern hatte die Türkei dem
die Vereinbarungen ebenfalls Nato-Beitritt Finnlands und Müller
»modernisiert werden«, fordert Schwedens zugestimmt und der
Lange. Auch David McAllister EU signalisiert, bei der Durch-
(CDU), Chef des Auswärtigen setzung der Sanktionen gegen
Ausschusses im EU-Parlament, Russland zu helfen. Der EU-
will die Beziehungen verstär- Außenbeauftragte Josep Borell
ken, wenn sich die positive Ent- hatte Anfang der Woche die
wicklung der vergangenen Mo- »ruhige und professionelle Aus-
nate bestätige. »Die Türkei ist führung der Kommunalwahlen«
strategisch wichtig«, sagt er. Zu- in der Türkei gelobt. MSA

Stadtbahn sucht

Marco Urban
neu eingestellt werden, steht in
einem internen Strategiepapier.
Fahrerinnen Zudem benötige der VRR rund
VERKEHR Der Verkehrsver- 540 Kräfte für seine Stadt- und
bund Rhein-Ruhr (VRR) fordert Regionalbahnen. Insgesamt Siemens zieht deutsche Softwarekonzern von
die Bundesregierung auf, mas- müssten im ÖPNV bis 2030 Weltrang, zieht laut Zeki weni-
siv Arbeitskräfte aus dem Aus- deutschlandweit 110.000 Fach- ­Top-Forscher an ger KI-Talente an. Unter ihnen
land anzuwerben. »Ohne quali- kräfte angeworben werden, um KI Siemens und seine Medizin- seien aber relativ viele exzellen-
fizierte Zuwanderung wird es das Angebot deutlich auszuwei- technik-Tochter Healthineers te Forscher. Die Schwergewich-
nichts mit der Verkehrswende«, ten. Im Schienenverkehr werde werben unter deutschen Kon- te der deutschen Industrie sind
sagt Oliver Wittke, Vorstands- die Zahl der Fahrten im VRR zernen am erfolgreichsten um laut der Personalberatung
sprecher des Unternehmens. Je- bis 2045 um 209 Prozent zu- Entwickler der künstlichen ­besonders wichtig, um Deutsch-
des Jahr müssten allein für die nehmen, auf den Busstrecken ­Intelligenz (KI). Das zeigt der land einen Spitzenplatz im
Busse seines Verkehrsverbunds betrage der Zuwachs 189 Pro- Report »The State of AI Talent« ­globalen KI-Wettlauf zu sichern.
1700 Fahrerinnen und Fahrer zent. Hinzu komme die große der britischen Personalberatung Zwei Drittel der besten KI-Ta-
Zahl von Beschäftigten aus der Zeki. Für ihre Analyse nutzten lente arbeiteten hierzulande bei
VRR-Busse im Depot Babyboomer-Generation, die die Berater einen globalen In- Großkonzernen, deutlich mehr
demnächst in Rente gehen. dex von KI-Experten außerhalb als in anderen Ländern, wo
Außerdem steigere die immer Chinas, der sich an der Zahl Start-ups und mittelgroße Fir-
kürzer werdende Arbeitszeit, wissenschaftlicher Publikatio- men eine größere Rolle spielen.
etwa durch den gerade erreich- nen sowie an Auszeichnungen Insgesamt hole Deutschland im
ten Tarifabschluss der Lokfüh- oder Beförderungen in Unter- Werben um die besten Köpfe in
rergewerkschaft GDL mit der nehmen orientiert. Demnach der künstlichen Intelligenz auf.
Deutschen Bahn, den Personal- ziehen die beiden im Dax no- Die noch immer hohe Abwan-
bedarf. Die Studie des VRR tierten bayerischen Konzerne derung von KI-Entwicklern in
geht von einer schrittweisen besonders viele renommierte die USA werde inzwischen
Einführung der 35-Stunden- KI-Fachkräfte an. Auch Bosch durch Zuwanderung, etwa aus
Woche aus. Um Wachstum und ist gleich zweimal unter den Großbritannien, Frankreich
Wohlstand zu sichern, sagt Top Ten der deutschen KI- oder Italien, mehr als kompen-
Revier foto / IMAGO

VRR-Chef Wittke, müsse das Arbeitgeber vertreten, mit siert. Eine Branche sei aber auf-
Personal verstärkt auch jenseits ­seinem Stammhaus und seinem fällig abwesend in seinem Ran-
der europäischen Grenzen Center for Artificial Intelli­ king, sagt Zeki-Chef Tom Hurd:
­gesucht werden. GT gence. SAP dagegen, der einzige die deutschen Banken. ADE

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 55


WIRTSCHAFT

Der
Chefpilot
KARRIEREN Die einst stolze
­Lufthansa ist zum nationalen
­Ärgernis geworden, mit schlechtem
Service und zu wenig Personal.
Warum ist ihr Vorstandsvorsitzender
Carsten Spohr trotzdem ­
erfolgreicher als seine Vorgänger?

Felix Schmitt / Agentur Focus


Patrick Pleul / picture alliance / dpa

Abgestellte Jets während der Pandemie

56 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


WIRTSCHAFT

E
r fährt nicht ins Büro, er fliegt. Flug- kommen sind, aufgrund der erforderlichen dete Spohr aus, insbesondere das Wohl des
zeuge hat er genug, als Vorstandsvor- Spezialkenntnisse. Sondern weil Spohr liefert. Kunden. 2022 verlor die Lufthansa in einem
sitzender der Lufthansa. Die Zentra- Die Coronajahre ausgenommen, in denen der der wichtigsten Airline-Rankings ihren fünf-
le des Konzerns befindet sich auf dem Konzern aus dem Dax flog, erwirtschaftete ten Stern, eine Auszeichnung, auf die Spohr
Frankfurter Airport. An diesem Freitagmor- er oft Rekordgewinne. Im vergangenen Jahr immer stolz gewesen war.
gen Ende März hebt Spohr von München aus waren es knapp 1,7 Milliarden Euro, immer- Hinzu kommen Mängel, für die das Unter-
ab, wo er mit seiner Familie wohnt. hin das drittbeste Ergebnis in der Firmenge- nehmen nicht immer etwas kann. Triebwerke
8.45 Uhr, Terminal 2, eine Viertelstunde vor schichte. Ein erheblicher Teil des Gewinns machen Probleme. Weil die Hersteller nicht
Abflug von LH99. Spohr trifft an Gate 16 ein. stammt nicht aus dem Reisegeschäft, sondern hinterherkommen, fehlen Sitze und ganze
Anzug, Krawatte, Aluköfferchen. Er gibt einem von Töchtern wie Lufthansa Technik, dem Maschinen. 280 neue Flugzeuge sind bestellt.
nicht einfach die Hand, sondern läuft mit aus- Weltmarktführer für Flugzeugwartung. Spohr gibt zu: »In den vergangenen beiden
gestrecktem Arm auf einen zu. Siegerlächeln. Aus Sicht der Aktionäre mag Spohr der Jahren konnten wir nicht immer durchgängig
Spohr sagt, er habe eben noch mit seinen Töch- ideale Konzernchef sein. Nicht jedoch für die ein Premium-Erlebnis bieten.« Anfang Fe­
tern gefrühstückt, das sei der Vorteil an diesem Fluggäste. Die Lufthansa, einst eine bundes- bruar appellierte er an seine Belegschaft: 2024
9-Uhr-Flug, »haben Sie auch Kinder?«. republikanische Institution, ist zum natio­ müsse das Jahr werden, »in dem wir die Kun-
Er kann das: Nähe herstellen, Leuten ein nalen Ärgernis geworden. Flugzeuge sind denzufriedenheit wieder nach oben bringen«.
gutes Gefühl geben. Dennoch ist er schwer verspätet oder heben gar nicht erst ab, weil So oder ähnlich sagt er das alle paar Jahre.
zu greifen. Menschen, die eng mit ihm zu- Piloten fehlen. Hinzu kommen Kofferchaos Erstmals 2014, als er Lufthansa-Boss wurde.
sammengearbeitet haben, sagen: Spohr strah- und Streiks. Die Internetseite hängt sich auf, Nun sollen 100 Minimaßnahmen die Kun-
le mitunter eine Kälte aus, die selbst für einen das Callcenter ist überfordert. Die Ticketprei- den versöhnen: ein Aperitif auf Langstrecken,
Konzernlenker ungewöhnlich sei. Sobald er se sind hoch wie lange nicht, der Service an eine zweite warme Mahlzeit, Schokolade. Es
jedoch im Mittelpunkt stehe, sei er mit seinem Bord war zuletzt bescheiden. ist lange her, dass die Lufthansa weltweit Stan-
Ruhrpott-Charme unschlagbar. Und Spohr Vielflieger lästern über »Carsten Spar« und dards setzte, wie vor 20 Jahren, als sie als
steht gern im Mittelpunkt. Nach dem Kranich seine »Spohrmaßnahmen«, wenn an Bord erste Airline Internet in Flugzeugen anbot.
ist er das zweitwichtigste Maskottchen der mal wieder die Milch aus ist. Es kommt auch In Wahrheit war der einzelne Passagier für
Lufthansa, nach außen wie nach innen. vor, dass ein Aufsichtsrat von einem Flugha- Lufthansa nie sonderlich wichtig. Andere
»Haben Sie alles im Griff?«, ruft er der fen aus bei Spohr anruft und es »zum Kotzen« ­Airlines hätscheln ihre Stammgäste mit
Lufthansa-Mitarbeiterin am Gate zu. Die findet, dass sein Gepäck nicht da ist. ­Upgrades. Spohr sagt: »Wenn Sie das zu häu-
Frau bejaht. Spohr, gönnerhaft: »Das wusste Vieles, was schiefläuft, sind Nachwehen der fig machen, schüren Sie nur falsche Erwar-
ich doch, dass Sie alles im Griff haben!« Sie Coronazeit. Damals entließ Spohr 30.000 Mit- tungen.«
zeigt auf einen jungen Mann hinter sich: »Das arbeiter, nun sucht er hände­ringend welche. Der ehemalige Lufthansa-Manager Tho-
ist mein Sohn.« Spohr fragt: »Sind Sie auch Jeden Monat stellt er mehr als 1000 Leute ein. mas Sattelberger maulte vor einigen Jahren
bei der Lufthansa?« Während der Pandemie zählte einzig das auf Facebook, die Airline behandle ihre bes-
Der Sohn antwortet, er mache eine Aus- Überleben des Konzerns, alles andere blen- ten Kunden »wie #Vieh«. Manchmal trifft
bildung zum Übersetzer und sei zu Besuch Spohr aber auch auf Fans.
hier. Eine Ausbildung sei wichtig, ruft Spohr, Es ist kurz vor 10 Uhr, als LH99 in Frank-
»ich selbst habe zwei«. Er ist Ingenieur und Überflieger furt landet. Sobald die Anschnallzeichen er-
Pilot. »Machen Sie Ihre Ausbildung zu Ende, loschen sind, dreht sich ein Reisender in Rei-
und dann kommen Sie zu uns!« Die größten Luftfahrtkonzerne, nach Umsatz im he 4 zu Spohr um: »Are you Mister Carsten?«
Geschäftsjahr 2023, in Milliarden Dollar
Spohr steigt als einer der Letzten ins Flug- Er sei ein Geschäftsreisender aus Singapur,
zeug ein. Sein Personenschützer, bislang un- Delta Air Lines (USA) verbringe einen Großteil seiner Zeit in Flug-
sichtbar, sitzt bereits auf Platz 6D, Business- 54,7 zeugen. Spohr sagt: »You can feel my life.«
class. Spohr hat 6C. Bevor er sich hinsetzt, United Airlines Holdings (USA) Der Herr bittet um ein Selfie, für die Freun­-
wechselt er ein paar Sätze mit den Flugbe- 53,7 de in der Heimat. Spohr lacht in die Handy-
gleiterinnen, auch im hinteren Teil der Ma- kamera.
American Airlines (USA)
schine, und schaut ins Cockpit. Weil die Maschine zu früh gelandet ist,
52,8
Spohr sagt, jeder Lufthanseat repräsentie- dauert es eine Weile, bis die Gangway für den
re das Unternehmen. »Bei obersten Führungs- Deutsche Lufthansa Group (Deutschland) Ausstieg herangerollt wird. Das ist nicht Auf-
kräften wie ein Staatschef, der sein Land ver- 39,1 gabe der Airline, sondern des Flughafens.
tritt. Oder wie ein Chefarzt bei der Visite.« Air France-KLM (Frankreich) Spohr ist genervt.
Das verlange Disziplin. Während des Flugs 33,1 Auf die Passagiere warten Busse, auf Spohr
liest er Akten und trinkt Orangensaft. Emirates Group* (Vereinigte ein schwarzer Van. Sein Personenschützer
Spohr ist die Lufthansa. Die Lufthansa ist Arabische Emirate) nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, Spohr
Spohr. Fast 750 Flugzeuge, rund 100.000 Mit- 32,6 hinten rechts. Im Getränkehalter liegen Er-
arbeiter, 300 Beteiligungen und Tochterunter- International Airlines Group (BA, frischungstücher, er steckt einige davon ein.
nehmen. Darunter allein 13 Fluglinien: Swiss, Iberia, Vereinigtes Königreich) Sein Pressesprecher, der ihn ebenfalls beglei-
Austrian Airlines, Brussels Airlines oder der 32,4 tet, überreicht ihm eine dunkelblaue Mappe
Billiganbieter Eurowings. Nur die Hälfte der Southwest Airlines (USA)
mit Kranichlogo, darin ein Redemanuskript.
Flugzeuge gehört noch zur Kernmarke. Als Spohr sie öffnet, fällt ihm eine Packung
26,1
Im Mai ist der 57-Jährige seit zehn Jahren Fisherman’s-Friend-Pastillen entgegen. Die
im Amt. Sein Vertrag wurde im März 2023 China Southern Airlines (China) legt sein Vorzimmer bei, wenn er irgendwo
vorzeitig verlängert, um weitere fünf Jahre. 22,6 länger sprechen muss, wie gleich im Digital
Sollte Spohr ihn bis zum Ende erfüllen, wird Turkish Airlines* (Türkei) Hangar. Dem Ort, an dem die Lufthansa an
er der am längsten Amtierende auf diesem 18,4 ihrer Zukunft arbeitet.
Posten sein. Die Altersgrenze von 60 Jahren China Eastern Airlines (China) Laut Eigen-PR will sie dort »neue digitale
wird damit außer Kraft gesetzt. 16,1 Maßstäbe setzen mit spürbarem Effekt für
Spohr gilt derzeit als alternativlos. Nicht * Umsätze im Geschäftsjahr 2022 unsere Kund:innen«. Oder, weniger pathe-
nur, weil gute Airline-Chefs schwer zu be- S Quellen: Unternehmen, Airways, Futu tisch: Das Unternehmen versucht die Digita-


Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 57


WIRTSCHAFT

lisierung nachzuholen, die es bislang


verschlafen hat. Dabei verkauft die
Unter Großen Sein Vater war Ingenieur, er arbei-
tete in einer Baufirma und flog viel.
Lufthansa jedes zweite Ticket online, »Es war ein schönes Gefühl, wenn
eine halbe Million Menschen nutzt mein Vater nach zehn Tagen Südame-
täglich die App, alle zwei bis drei Mi- rika wieder nach Hause kam«, sagt
nuten füllt sich virtuell ein A380. Spohr. Schon damals habe er Flug-
Spohr geht durch die Büros, Mit- zeuge geliebt.
arbeiter scharen sich um ihn. Spohr Spohr war Schulsprecher, später
sagt: »Es wurde höchste Zeit, wir wa- Sprecher des Pilotenlehrgangs. Seit
ren zu langsam im Digitalen.« Er 1994 ist er durchgängig bei der Luft-
klingt noch immer überrascht, wenn hansa. Weggefährten sagen, er habe
er erzählt, wie er für seine Familie vor bereits damals ausgestrahlt, dass er

Larr y Downing / Reuters


zwei Jahren eine Reise in die USA ganz nach oben wollte. Ein Vor­
buchte. Und von dort über Island und gesetzter riet ihm, seine Brust nicht
London zurück nach Deutschland, ganz so stolz zu schwellen.
mit Lufthansa, British Airways und 1
Spohr war Assistent des damaligen
United Airlines. Vorstandsvorsitzenden Jürgen We-
Die Apps der Wettbewerber seien ber, der als sein Ziehvater gilt. Später
deutlich einfacher zu bedienen ge- verantwortete er Kooperationen mit
wesen. »Unsere eigene hatte zu viele anderen Fluglinien und leitete das
Unterpunkte. Ich konnte genau se- Frachtgeschäft. Als 2011 ein neuer
hen, wie zu viele Abteilungen bei der Konzernboss gesucht wurde, fiel die
App mitgeredet hatten.« Das Merk- Wahl jedoch auf den damaligen

Rober t Haas / SZ Photo / picture alliance / dpa


würdige an der Anekdote: Spohr er- Swiss-Chef Christoph Franz. Spohr
zählt sie, als hätte er mit alldem nichts wurde lediglich Chef der Airline Luft-
zu tun. Als wäre er ein normaler Luft- hansa. Er war vorerst ausgebremst.
hansa-Kunde und nicht der oberste In dieser Zeit soll er einen »gna-
Chef. Nun soll die App so simpel wer- denlosen Korpsgeist« entwickelt ha-
den wie die von Uber. Mit ihr hat ben, erzählt einer, der dabei war.
Spohr gute Erfahrungen gemacht. Spohr habe sich mit Leuten umgeben,
Unten in der Halle haben sich die ihm für seine Karriere nützlich
mehr als 200 Mitarbeiter versam- 2 erschienen. Wir gegen die. Wer für
melt. Spohr betritt die Bühne, über- mich ist, wird belohnt. Jeder andere
fliegt seinen Spickzettel, spricht dann ist mein Gegner. Spohrs Büro lag
frei. Er schwört die Menge ein wie nahe dem Flight Operations Center
ein amerikanischer Fernsehprediger. (FOC). Das Kürzel hatte bald eine
Es geht nach vorn, doch der Weg ist neue Bedeutung: Friends of Carsten.
weit, das ist ungefähr der Inhalt sei- »Das war mein Team im Airline-
ner Rede. Vorstand«, sagt Spohr. »Eine einge-
Spohr spaziert auf und ab, fuchtelt, schworene Truppe.«
Jonas Walzberg / picture alliance / dpa

scherzt, trinkt Wasser in großen 2014 wurde Spohr doch noch Vor-
Schlucken. Als eine Frau in der ersten standschef, nach monatelanger Su-
Reihe ihre Cola umkippt, hechtet che. Manchen galt er als Verlegen-
Spohr zu ihr und bringt ihren Ruck- heitskandidat. Kein Jahr später er-
sack in Sicherheit. eignete sich das Unglück, das ihm
Nach einer halben Stunde zieht er seinen Ruf als Krisenmanager ein-
sein Sakko aus. Zwei Mitarbeiter wol- brachte. Ein psychisch kranker Pilot
len es ihm abnehmen, er legt es lieber 3 der Tochter-Airline Germanwings
selbst über einen Stuhl, das wirkt ließ ein Flugzeug willentlich abstür-
nicht so bossig. zen. Die Maschine zerschellte in den
Wie er im weißen Hemd vor der französischen Alpen, 150 Menschen
Menge steht, erinnert er an den SPD- starben. Spohr zeigte Gesicht, küm-
Wahlkämpfer Gerhard Schröder, der merte sich um die Angehörigen, re-
sich auf Marktplätzen die Stimme dete nichts schön.
wund schrie. Einmal raunzte der er- Jemand, der mit ihm im Krisenstab
mattete Schröder: »Hol mir mal ’ne saß, sagt: Spohr sei sichtlich betroffen
Flasche Bier, sonst streik ich hier.« gewesen. Es sei ihm nicht um seine
Spohr hat noch Kraft, aber keinen Karriere gegangen, sondern um die
Ton. Er ruft seinem Digitalchef zu: Sache. Doch als er die Krise gemeis-
»Also, ein paar Mikros können Sie tert hatte, sei ihm anzumerken ge-
noch kaufen, Herr Schmitt, auf meine wesen, wie unantastbar er nun war.
Oliver Roesler

Kostenstelle!« »Er glaubte, er könne fortan übers


Spohr stammt aus Wanne-Eickel. 4 Wasser gehen.«
Den Heimatslang hat er abgelegt, die Dass er Krise kann, bewies er auch
Direktheit ist geblieben. Wenn er 1 | Manager Spohr mit US-Präsident Barack Obama 2014 in der Coronazeit. Um den Konzern
staunt, ruft er: »Hammer!« Geht er 2 | Mit Grünenpolitikerin Annalena Baerbock 2021 3 | Mit vor der Pleite zu bewahren, stieg der
Kanzler Olaf Scholz, Ministern Robert Habeck, Volker Wissing
zur Toilette, sagt er: »Ich muss mal 2023 4 | Mit Hessens Ministerpräsident Boris Rhein 2023 Bund als Aktionär ein, hinzu kam
für kleine Mädchen.« ein Rettungspaket in Milliardenhöhe.

58 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


WIRTSCHAFT

Spohr zahlte das Geld vorzeitig zu- pe streikt immer: die Piloten, die Raum C6 9.09, Spohrs Büro. Von
rück, noch bevor die Pandemie zu Flugbegleiter oder wie zuletzt das dort aus ist der Blick frei aufs Vorfeld.
Ende war. Die Lufthansa war wieder Bodenpersonal und die Lufthansa Ein Bildschirm an der Wand zeigt
unabhängig, was bei den übrigen An- Technik. eine Weltkarte, darauf sind im Wech-
teilseignern gut ankam. Die Streiks sind nicht nur ärger- sel minutengenau die aktuellen Flug-

Ar thur Till / ATP images / picture alliance


»Wenn er im Krisenmodus frei lich, sondern auch teuer. Anfang bewegungen der Airlines zu sehen.
schwimmen muss, ist Spohr brillant«, März bezifferte die Lufthansa die Lufthansa: 104 Flüge, rund 20.000
sagt ein Insider. Im täglichen Business Kosten auf 100 Millionen Euro, Ende Passagiere. Swiss: 53 Flüge, 5.300
wirke er weniger inspiriert, bisweilen März bereits auf 250 Millionen. Passagiere. Und so weiter.
erstaunlich ungenau. Spohr sagt: »In meiner Position darf Wie wird Spohr damit umgehen,
Als mehrere Vorstände sich zu- man sich nicht erpressen lassen.« Es eines Tages nicht mehr Mister Luft-
letzt wegen Budgetfragen überwar- seien schon Airlines pleitegegangen, hansa zu sein? Hat er Angst vor der
fen, hätte man sich ein Machtwort »weil sie den Forderungen der Ge- Leere? Spohr verneint. Er zeigt auf
von Spohr gewünscht. Spohr gelingt werkschaften nachgegeben haben.« ein Foto auf seinem Schreibtisch, da-
das Kunststück, bodenständig zu wir- Später ergänzt er: »Lieber ein paar Großaktionärs-
rauf seine Frau und seine Töchter. Soll
ken und doch über den Dingen zu Tage ohne Lufthansa als irgendwann Vertreter Gernandt: bedeuten: Es gibt noch ein Leben
schweben. ganz ohne Lufthansa.« Strategie »nicht ohne neben dem Beruf. Und danach.
Seine Achillesfersen, heißt es in- Auch um die Gewerkschaften aus- ­Fragezeichen« Im Umfeld des Konzerns heißt es:
tern, seien seine Eitelkeit und verletz- zuhebeln, hat er den Konzern um- Karl-Ludwig Kley, der Vorsitzende
ter Stolz. Wie neulich, als ein Ge- gebaut. Es ist der womöglich radikals- des Aufsichtsrats, habe es versäumt,
werkschafter ihm vorhielt, Spohr te Eingriff seit der Privatisierung des einen Nachfolger für Spohr aufzu-
habe vor Mitarbeitern gesagt: Trotz Staatskonzerns vor drei Jahrzehnten, bauen. Im Vorstand ist kein Kron-
des Streiks sitze er abends »ent- er soll dafür sorgen, dass die Milliar- prinz in Sicht, niemand, der aus dem
spannt« in seiner »Villa« auf der dengewinne weiterhin verlässlich flie- Stand heraus übernehmen könnte,
Couch. Spohr schaute sich daraufhin ßen. Was keineswegs sicher ist. zumal gerade vier von sechs Mitglie-
das Video von seinem Auftritt an. Der Spohr schrumpft die Kernmarke dern das Unternehmen verlassen.
Funktionär habe ihn falsch zitiert, und gründet neue Fluglinien. Damit »Herr Kley wird einen Namen im
sagt er. Er habe »erschöpft« gesagt. umgeht er die zementierten üppigen Kopf haben, wenn die Nachfolge an-
Und auch nicht »Villa«. Spohr sagt, Gehälter der Lufthansa-Crews. Im steht«, sagt Spohr. Außerdem fördere
er habe das als »derartiges kulturelles jüngsten Ableger, Lufthansa City Air- man junge Leute, setze sie auf an-
Foul« empfunden, dass er sich bei- lines, sollen die Lohnkosten pro Flug- spruchsvolle Jobs.
nahe bei dem Mann gemeldet hätte. zeug jährlich ein bis zwei Millionen Wäre das Unternehmen reif für
Irgendwer muss ihm am Ende davon Euro unter denen der Lufthansa lie- eine Frau an der Spitze? Spohr sagt:
abgeraten haben. gen. Discover Airlines hat nicht ein- »Bis 2025 wollen wir 25 Prozent weib-
Dann zeigt Spohr einem noch Hal- mal einen eigenen Tarifvertrag. liche Führungskräfte haben.« Aber
le 5, wo alles begann. »Hier hatte ich Spohrs zweite Säule sind Zukäufe. Ingenieurwesen studierten auch heu-
meinen ersten Job als Praktikant.« In Aktuell will er sich die italienische te leider noch mehrheitlich Männer.
der Mitte stehen zwei Flugzeuge. Die Fluglinie ITA einverleiben, ein wei- Jemand, der mal im Aufsichtsrat
Boeing 747-8 »Bayern« wird repa- teres Übernahmeziel ist die portugie- saß, sagt: Spohr sei bislang nicht als
riert, weil sie auf dem Rückflug von sische TAP. Beide sind schwer ange- großer Frauenförderer aufgefallen.
Buenos Aires vom Blitz getroffen schlagen und werden von ihren jewei- »Das Thema Diversität passt zu ihm
wurde. Die 787-9 »Kiel« wird durch- ligen Regierungen unterstützt. Allein wie eine Kuh zum Fahrradfahren.«
gecheckt. wären sie kaum überlebensfähig, als Wenn es doch einmal eine Frau in
Spohr nimmt einen mit ins Cock- Teil der Lufthansa womöglich schon. den Vorstand schaffte, hielt sie sich
pit, man soll ihn dort aber nicht foto- Spohr nennt das einen »dezentra- dort nicht lange. Traditionell ist es so:
grafieren. Solche Bilder können un- len Ansatz«. Dass davon längst nicht Frauen sind Assistentinnen oder Flug-
glücklich wirken, wenn der Börsen- jeder so überzeugt ist wie er, zeigt die begleiterinnen. Spohr nennt sie bis
kurs im Sinkflug ist oder mal wieder vergleichsweise maue Bewertung des heute manchmal »Stewardessen«, ein
die Piloten streiken. Als das Kinder- Konzerns an der Börse. Auch der Wort aus der Zeit, als man noch
magazin »Dein SPIEGEL« ihm einmal größte Anteilseigner ist skeptisch. »Fräulein« oder »Friseuse« sagte.
ein Fotoshooting mit Kapitänsmütze Karl Gernandt, die rechte Hand Es ist ein bisschen wie in alten
vorschlug, lehnte er ab. des Milliardärs Klaus-Michael Kühne, »James Bond«-Filmen: Der Mann ist
Das Cockpit ist ein Ort, wo ein Pi- dem 17,5 Prozent an der Lufthansa der Held, die Frau nur Beiwerk.
lot sich mächtig fühlen kann. Und an gehören, lobt Spohrs Fähigkeiten als Spohr ist 007-Fan. Er hat alle Fil-

250
dem er seine große Verantwortung Manager. Seine Strategie sei jedoch me gesehen, mehrmals. Auf Flügen
spürt. »Jeder meiner 11.000 Piloten- »nicht ohne Fragezeichen«: »Das schaut er sie sich trotzdem immer
kollegen kann eines dieser komplexen simple Addieren von Airline-Marken wieder an. Sein Lieblings-Bond ist
Flugzeuge fliegen«, sagt Spohr. Und allein halten wir noch nicht für ein Roger Moore. »Der hatte die meiste
jeder von ihnen sei kurzfristig durch Konzept. Die einzelnen Flugbetriebe
Millionen Selbstironie.« Man möge aber nicht
einen Kollegen ersetzbar. Zugleich sei könnten sich wie ein Sammelsurium Euro von Bond auf seine Rolle bei der Luft-
»diese Tätigkeit einzigartig und führt aus Einzelkönigreichen entwickeln.« hansa schließen. Wobei: Eines ver-
deshalb zu einem Elite-Bewusstsein, Ein Konzern müsse führbar bleiben. kosteten die binde beide.
auch bei ihrer Gewerkschaft«. Man Dann wird Gernandt wieder opti­ »Bond ist größer als der jeweilige
kann das so verstehen: Die Piloten mistisch: »Gerade das Führen kann Streiks die Darsteller, so ist das natürlich auch
und ihre Funktionäre sollen sich mal Spohr.« Lufthansa im mit der Lufthansa und ihrem Chef«,
nicht so wichtig nehmen.
Die Gewerkschaften zählen zu
Ob Spohrs Kalkül aufgeht, wird
sich womöglich erst herausstellen,
ersten Quartal. sagt Spohr. Zum ersten Mal an diesem
Tag klingt er fast ein wenig demütig.
Spohrs größten Gegnern. Eine Grup- wenn er nicht mehr im Amt ist. Quelle: Lufthansa Alexander Kühn, Martin U. Müller n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 59


WIRTSCHAFT

Jahreswechsel einen Zuschuss strich.


Pro Tonne Stahl mache das elf Euro
– unerwartete Kosten, die Konkur-
renten im Ausland nicht hätten. »Da-

Die Legende vom


mit wird unsere internationale Wett-
bewerbsfähigkeit stark geschmälert«,
klagt der Manager. Und das in einer

teuren Strom
Zeit, da sein großer Abnehmer, die
Bauwirtschaft, in der Krise steckt. Er
spüre »einen immensen Preisdruck«.
Demnächst wird ESF noch mehr
Strom benötigen. Der italienische
STANDORT Die Industrie macht die hohen Energiekosten verantwortlich für ­Mutterkonzern Feralpi hatte noch vor
die schleppende Konjunktur. Jammern die Lobbyisten zu Recht? dem Höhepunkt der Energiekrise
­entschieden, gut 220 Millionen Euro in
eine bessere Schrottaufbereitung und

U
we Reinecke, 59, steht vor dach, die Luft schimmert, es fliegen ein neues Walzwerk in Riesa zu inves-
einem Riesenhaufen Schrott. Funken. Im Walzwerk wird der Stahl tieren. Reinecke zieht das durch, doch
Das ist sein Geschäft. Tonnen- später zu Stäben und Drähten ver- er macht sich Sorgen: »Die Politik muss
weise bringen Lastwagen und Güter- arbeitet. Das Produkt landet in Brü- sich überlegen, wie der Netzausbau
züge Altmetall nach Riesa, eine Klein- cken und in Stahlbeton für den Bau. finan­ziert werden kann, ohne dass
stadt zwischen Dresden und Leipzig. »Im Vergleich zum Hochofen, wo mit Strom dadurch immer teurer wird.«
In Reineckes Firma, den Elbe-Stahl- Erz und Kohle neuer Stahl gekocht Bremsen die Stromkosten das
werken Feralpi (ESF), werden die wird, schont unser Verfahren deutlich Wachstum? Der Bundesverband der
Teile bei ohrenbetäubendem Lärm die Ressourcen«, wirbt Reinecke. Deutschen Industrie sieht das so. We-
durch eine Trommel in der Halle ge- Doch der Werkdirektor hat ein gen der »im internationalen Vergleich
jagt. Bagger hieven den Schrott in Problem: Seine Fabrik braucht massig hohen Energiekosten« werde die hie-
meterhohe Körbe. Strom. Derzeit 540 Gigawattstunden sige Wirtschaft auch in d ­ iesem Jahr
Das ausgesiebte Eisen landet in (GWh) pro Jahr, so viel wie gut Stahlwerk in Riesa, nicht über ein Miniplus hinauskom-
einem sogenannten Elektrolichtbogen­ 200.000 Haushalte. Strom ist teuer. Werkdirektor men. Die führenden Wirtschaftsfor-
Reinecke: Millionen
ofen. Bei 1650 Grad wird aus dem Elf Millionen Euro müsse er allein an Zusatzkosten, die
schungsinstitute schreiben in ihrem
Schrott neuer Stahl. Orangefarben Netzentgelten pro Jahr mehr ausge- Konkurrenten im Frühjahrsgutachten, dass die Wettbe-
glüht das Metall unter dem Hallen- ben, weil die Bundesregierung zum Ausland nicht hatten werbsfähigkeit bei energie­intensiven

Iona Dutz / DER SPIEGEL (2)

60 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


WIRTSCHAFT

Gütern gelitten habe. In einer Umfrage der wie Hüser es formuliert. Der Zinkpreis hatte
Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG gaben Elektrizität für die Industrie sich stabilisiert, das Strompreispaket der
57 Prozent der befragten internationalen ­Bundesregierung half, die Kosten zu senken.
Konzerne an, dass die Energiekosten sie an Durchschnittlicher Strompreis für Neuab- »Wenn alles zusammenpasst, dann gehen wir
schlüsse in der Industrie, Jahresverbrauch
Investitionen in der Bundes­republik hinder­ 160.000 bis 20 Mio. Kilowattstunden (kWh), wieder in den Markt«, sagt der Chef. »Wir
ten. Die Regierung diskutierte über einen sub­ in Cent je kWh müssen ganz genau abpassen, wann.«
ventionierten Industriestrompreis, konnte Auf dem Werkgelände wird der Wirt­
sich aber nicht einigen. Beschaffung, Netzent- EEG-Umlage schaftsminister auffällig wohlwollend emp­
gelt, Vertrieb, Abgaben, Stromsteuer
Andererseits sind die Preise seit dem ver­ weitere Umlagen
fangen. Die Beschäftigten applaudieren ihm.
gangenen Jahr deutlich zurückgegangen, der »Danke, Robert Habeck!«, hat Glencore auf
Staat hat die energieintensive Industrie be­ 40 ein Transparent drucken lassen. »Wir stehen
reits mit Milliarden entlastet – mit Preiseffek­ wieder unter Strom.«
ten, von denen Privatleute und Gewerbe­ Die gute Stimmung hat ihren Grund – und
betriebe nur träumen können. ihren Preis. Glencore profitiert von der
20
Eine Frau stemmt sich vehement gegen das Strompreiskompensation, einer Subvention,
gängige Narrativ der Industrie, Marie-Luise die etwa 340 besonders energieintensive Be­
Wolff, 65, die Präsidentin des Bundesverbands triebe erhalten. Sie soll ausgleichen, dass der
der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW). 0 EU-Emissionshandel Gas- und Kohlestrom
Die Managerin war Teil der Expertenkommis­ 2016 2018 2020 2022 Jan. verteuert. 340 Unternehmen, das klingt über­
sion der Bundesregierung, als dem Land ein 2024 schaubar, allerdings standen diese Großver­
Gasmangel drohte, sie ist Chefin des Darm­ braucher zuletzt für ein Viertel des gesamten
Strompreise für Unternehmen* in aus-
städter Energiekonzerns Entega. Wolff gilt als gewählten Ländern, erstes Halbjahr 2023,
Strombedarfs der Industrie. Der Staat ver­
unkonventionell. Sie ist nebenher Roman­ in Cent je kWh zichtete mit der Strompreiskompensation in
autorin und kommt schnell zum Punkt. »Die den vergangenen Jahren jeweils auf rund
Wirtschaftsverbände tun sich keinen Gefallen, Niederlande 24,87 800 Millionen Euro. Und die Sache ist ziem­
die ganze Zeit über die angeblich hohen Ener­ Italien 24,20 lich fragwürdig, da der Anreiz schrumpft, auf
giepreise zu schimpfen.« Sie redeten nur den grünen Strom umzusteigen.
Standort schlecht. »Wirtschaft ist zu mindes­ Frankreich 22,21 In diesem Jahr mache die Megasubvention
tens 50 Prozent Psychologie«, sagt Wolff. Deutschland 20,55 die Kilowattstunde um etwa vier Cent billiger,
»Die Preise sind doch schon längst wieder rechnet Marco Wünsch, Energieexperte der
auf dem Niveau von vor der Krise.« Kleine bis EU-Durchschnitt 19,64 Beratungsfirma Prognos, vor. Bei Großhan­
mittlere industrielle Abnehmer müssen bei Spanien 14,42 delspreisen von 5,5 Cent und Nebenkosten
neuen Stromverträgen nach Angaben des von 1,5 Cent je kWh müssten stromintensive
Dänemark 13,51
BDEW im Schnitt 17,65 Cent je Kilowattstun­ Betriebe also nur noch »sehr niedrige« drei
de (kWh) zahlen, was den Jahren 2017 bis 2020 Norwegen 10,36 Cent je kWh bezahlen. Ganz schön billig.
entspricht – und da ist die allgemein hohe In­ Die Nebenkosten sind so gering, weil der
flation nicht berücksichtigt. Zum ­Vergleich: Staat sie künstlich am Boden hält. Unterneh­
Produktionsentwicklung in Deutschland,
Die günstigsten Tarifangebote für Privatleute indexiert**
men und Verbraucher müssen seit Juli 2022
beginnen bei 25 bis 26 Cent je kWh. keine EEG-Umlage für den Ausbau grüner
Verantwortlich sind mehrere Faktoren. Industrie (verarbeitendes Gewerbe Energien mehr zahlen. Für produzierende
und Bergbau)
Gas ist billiger geworden. Erneuerbare Ener­ Betriebe senkte die Bundesregierung zudem
energieintensive Industriezweige
gien deckten voriges Jahr erstmals mehr als die Stromsteuer auf das europäische Mindest­
die Hälfte des Stromverbrauchs in Deutsch­ 110 maß von 0,05 Cent je kWh – während Privat­
land. Am wichtigsten für die Unternehmen: leute und andere Gewerbebetriebe gut zwei
Der Staat hat die EEG-Umlage abgeschafft 100 Cent je kWh berappen müssen.
und die Stromsteuer für produzierende Be­ Obendrein bekommen energieintensive
90
triebe gesenkt. Energieintensiven Firmen Firmen beträchtliche Rabatte auf die Netz­
­gewährt er zudem beträchtliche Rabatte und 80 entgelte. So erhalten Betriebe mit extremem
Kompensationen. »Das Grundlamento, dass Stromverbrauch bis zu 80, in manchen Fällen
die Energiekosten zum immer größeren 70 90 Prozent Nachlass auf die Netzgebühren.
Standortnachteil würden, kann ich in der Von diesen Konditionen profitieren Unter­
Breite nicht nachvollziehen«, sagt Lion Hirth, nehmen, die ein knappes Drittel des indus­
Professor der Hertie School in Berlin. triellen Stroms der Republik verbrauchen.
2016 2018 2020 2022 2024
Deutschland könnte auch konjunkturell Kompliziert? Schwer zu durchschauen?
das Gröbste hinter sich haben. Die Industrie­ * bei einem Stromverbrauch von 2 Mio. bis 20 Mio. kWh pro Selbst Fachleute blicken kaum durch. Es gibt
Jahr, ohne Mehrwertsteuer und erstattungsfähige Steuern und
produktion legte im Januar um ein Prozent Abgaben; ** energieintensive Industriezweige 2015 = 100 Sonderregelungen für jeden Kostenblock,
zu – der erste spürbare Anstieg seit elf Mo­ S Quellen: BDEW, Eurostat, Destatis Kompensationen hier und Rabatte dort, re­
­

naten. »Energiepreise und Inflation haben gional unterschiedliche Netzentgelte, ver­


sich beruhigt«, meint Bundeswirtschaftsminis­ Vor zwei Jahren rutschte die Hütte mit ihren schiedene Beschaffungsstrategien von Betrieb
ter Robert Habeck. Alles gut also? etwa 800 Beschäftigten in eine doppelte Krise. zu Betrieb. Und nicht jeder Betrieb profitiert
Habeck ist an einem wolkigen Februartag zu Die Energiekosten stiegen, zugleich sank der gleichermaßen und sofort. Wer Strom zu den
Besuch in Nordenham an der Weser-Mündung. Zinkpreis, der an der Londoner Metallbörse für hohen Preisen des vergangenen Jahres auf
Die 28.000-Seelen-Kommune beherbergt die die ganze Welt abgebildet wird. 14 Monate lang längere Zeit im Voraus gekauft hat, muss
letzte Zinkhütte der Republik, gegründet 1906. stand die stromintensive Produktion still. Ein ­natürlich noch warten, bis die aktuelle Ent­
»Diese Stadt ist sozusagen mit der Hütte groß Jahr lang waren die Beschäftigten in Kurzarbeit. spannung bei ihm ankommt.
geworden«, sagt Geschäftsführer Thomas Hüser. Doch seit Ende 2023 fährt der Rohstoff­ Ein grüner Wirtschaftsminister, der strom­
Zink aus der Wesermarsch landet beispielswei­ konzern Glencore, dem die Hütte gehört, den fressende Betriebe künstlich am Leben
se in Dachrinnen und Armaturen. Betrieb »langsam, aber sicher« wieder hoch, hält? Habeck sieht das Thema aus einer an­

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 61


WIRTSCHAFT

deren Perspektive. Erstens will er un­ BDEW-Präsidentin Wolff hält da­


gern den Totengräber der Industrie gegen. Die Strompreise in Deutsch­
geben, schon gar nicht vor der Bun­ land würden weiter sinken, sagt sie.
destagswahl. Zweitens betont er Darauf deuteten Termingeschäfte für
grundsätzliche Fragen. Es gehe da­ die kommenden Jahre hin, die Unter­
rum, Wohlstand mit Klimaschutz zu­ nehmen derzeit mit ihren Lieferanten
sammenzubringen. »Das ist die Auf­ abschlössen. »Deutschland liegt so­
gabe unserer Zeit«, intoniert Habeck wohl im europäischen als auch im
derzeit unablässig. »Daran werden weltweiten Vergleich bei den Strom­

Sina Schuldt / picture alliance / dpa


wir am Ende gemessen werden.« preisen im Mittelfeld«, sagt Wolff.
Der Vizekanzler hatte deshalb mo­ Deutschland sei kein Billigenergie­
natelang für einen subventionierten land, beim Strom ohnehin nicht –
Industriestrompreis von sechs Cent aber auch nicht mehr beim Gas. Aber
je kWh geworben – konnte sich aber das sei eigentlich kein Problem. »Die
nicht durchsetzen. Neuerdings argu­ Stärken des deutschen Standortes lie­
mentiert er, dass die Großhandels­ gen doch ganz woanders«, sagt Wolff.
preise auch ohne den staatlichen Mehr Innovationen, bessere Ma­
­Deckel bei sechs Cent angekommen Deutschlands«, erklärt Firmenchef Zinkhütte in schinen. Da sei die Bundesrepublik
seien, zum Teil sogar darunterlägen. Peter Carlsson. Nordenham: viel konkurrenzfähiger, als es die
Produktion wieder
»Die Preise, das sehen Sie alle, sind Northvolt brauche langfristig hochgefahren Brandreden der Industrielobbyisten
runtergegangen«, sagte Habeck kürz­ Strom für fünf bis sechs Cent je kWh, vermuten ließen. »Bei den Patenten
lich vor der versammelten Spitze »vorzugsweise darunter«, sagt Carls­ liegt Deutschland hinter den USA
der deutschen Chemieindustrie in son. Technisch sei das machbar, Wind­ an zweiter Stelle«, zitiert Wolff eine
Berlin. strom lasse sich für vier Cent pro­ ­Statistik.
Er weiß, dass das bestenfalls die duzieren. Doch noch müssen Groß­ Zu den unbequemen Wahrheiten
halbe Lösung ist. Großhandelspreise abnehmer in der Region etwa das gehöre, so Wolff, dass manche Produk­
sind keine Endkundenpreise. Schließ­ Dreifache zahlen. Daher erwägt tionsprozesse der Grundstoffindustrie
lich werden noch Netzentgelte und Ab­ Carlsson eine direkte Beteiligung aus dem Land verschwinden werden.
gaben, Umlagen und Steuern drauf­ an nahe gelegenen Windparks. Auf Die Herstellung von Ammoniak ist
geschlagen. hohe Netzentgelte würde er gern ver­ extrem energieintensiv. Der Stoff wer­
Die Betreiber der Stromleitungen zichten. de künftig aus grünem Wasserstoff
legen ihre Milliardeninvestitionen in Auch Glencore in Nordenham fernab von Deutschland produziert
neue Netze auf die Verbraucher um. würde gern auf erneuerbare Quellen und per Schiff importiert werden. Bei
Weitere Milliarden kostet es, wenn umstellen. Doch der Bedarf der Zink­ Ammoniak mag das verschmerzbar
im Norden mehr Windstrom erzeugt hütte ist riesig. Wenn die Produktion sein. Aber könnte die Autonation auf
wird, als die Leitungen weiterreichen wieder voll anläuft, kommen die Nie­ eigenen Stahl verzichten?
können. Dann müssen Windradbe­ dersachsen auf einen Stromverbrauch Stahlmanager Reinecke will mit
treiber entschädigt werden und Kraft­ von gut 700 GWh pro Jahr. Ein klei­ seiner Schrottverwertung zu denen
werke im Süden einspringen. Das ner Windpark reicht dafür nicht aus. gehören, die weiter gebraucht werden
wird noch jahrelang so gehen. Am liebsten hätte Glencore eigene in Deutschland.
Habeck hat auch für dieses Pro­ Windräder in der nahen Nordsee. Auch er würde sich gern an Wind-
blem eine Idee. Sie heißt »Amortisa­ Doch bei den Offshore-Auktionen der oder Solarparks in der Region betei­
tionskonto«: Die Kosten des Netz­ Bundesnetzagentur erhielten die bei­ ligen. Allerdings sei das nicht einfach.
ausbaus sollen nicht sofort und kom­ den Ölkonzerne BP und TotalEner­ Northvolt Die Genehmigungsverfahren dauer­
plett auf die Kundschaft umgelegt gies den Zuschlag, für insgesamt 12,6 ten ewig, die Vorgaben seien büro­
werden, sondern über Jahrzehnte Milliarden Euro. Eine kleinere Fläche brauche kratisch, und immer häufiger gebe es
gestreckt. Ob das Konzept jemals um­ ging an den Kraftwerkriesen RWE. langfristig nun Akzeptanzprobleme »seitens der
gesetzt wird und, wenn ja, wie, ist Die erfolgreichen Bieter müssen die­ Strom für fünf Bevölkerung, aber auch von Vertre­
offen. se Investitionen wieder hereinholen tern aus Kommunalparlamenten«.
Der Minister fände es auch prima, und werden wohl kaum günstigen bis sechs Was Habeck die Balance von Kli­
wenn Industriebetriebe den Strom Offshore-Strom an die Industrie lie­ Cent je kWh, maschutz und Wohlstand nennt – hier
nahe gelegener Wind- und Solarparks
direkt nutzen können – und sich da­
fern können, befürchten sie bei Glen­
core. Jetzt hofft das Unternehmen auf
»vorzugsweise kippelt sie bedenklich. In Sachsen
stehen Kommunal- und Landtags­
mit bestenfalls die Netzentgelte spa­ einen Solarpark, der in der Nähe von darunter«. wahlen an. Die AfD hat in den Um­
ren. Den schwedischen Batterieher­ Nordenham entstehen soll. Peter Carlsson, fragen Aufwind. Die Partei sammelt
steller Northvolt würde es freuen. Doch das ist Zukunftsmusik. Aktu­ Northvolt-CEO nicht zuletzt die Stimmen jener Bür­
Das Unternehmen baut in Schles­ ell macht der Zinkhütte vor allem die ger, die die Energiewende ablehnen.
wig-Holstein eine 4,5 Milliarden Euro Lage am Weltmarkt zu schaffen. In Für den Schrottverwerter ist der
teure »Gigafactory«, die im Betrieb vielen Regionen ist Energie immer Umstieg auf Erneuerbare alternativ­
so viel Strom verbrauchen soll wie noch viel günstiger als hierzulande. los. Irgendwann wird Gas- und Koh­
Hunderttausende Haushalte. Die Fa­ »Unternehmen mit direkten Kon­ lestrom schlicht zu teuer sein, um
brik, die Batteriezellen made in Ger­ kurrenten in den USA hat die Entspan­ damit Schrott einzuschmelzen. Rei­
Chris Emil Janßen / IMAGO

many liefern soll, gilt als Zukunfts­ nung der vergangenen Monate wenig necke könnte natürlich Solaranlagen
hoffnung für grüne Mobilität aus gebracht«, sagt Hertie-School-Profes­ auf die Firmendächer schrauben las­
Deutschland. Der Zugang zu güns­ sor Lion Hirth. »In den USA sind die sen. Doch bei dem Strombedarf wäre
tiger Energie ist ein entscheidender Energiepreise ebenfalls deutlich zu­ das eher ein symbolischer Akt.
Standortfaktor für Northvolt – »deut­ rückgegangen.« Und liegen insgesamt Benedikt Müller-Arnold,
lich besser als in anderen Regionen deutlich niedriger als hierzulande. Alexander Preker, Gerald Traufetter n

62 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


WIRTSCHAFT

bank wurden im Januar 2024 in


Deutschland knapp 14,7 Milliarden
Euro Baukredite an private Haushal­
te vergeben, der höchste Wert seit
März 2023.

Zarter Aufschwung
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD)
braucht dringend positive Nachrich­
ten aus der Wohnungswirtschaft. Sein
Ziel von 400.000 neu gebauten Woh­
nungen im Jahr war zuletzt in weite
ANALYSE Auf dem Immobilienmarkt zeigen sich erste Anzeichen einer Ferne gerückt. So nahm er jüngst die
erfreulichen Frühindikatoren aus der
Trendwende: Große Investoren nutzen die günstige Gelegenheit, Branche zum Anlass, Hoffnung zu
um zu kaufen. Mieter und private Interessenten haben wenig davon. verbreiten: »Vieles spricht dafür, dass
sich der Wohnungsbau jetzt stabili­
sieren könnte«, sagte er auf einem

W
er zuletzt den Worten von Festakt des Zentralverbands Deut­
Deutschlands wichtigsten sches Baugewerbe.
Immobilienmanagern lausch­ Bauministerin Klara Geywitz (SPD)
te, konnte das Gefühl bekommen, das will gar enorm gestiegene Zahlen für
Tief auf dem Wohnungsmarkt sei Baugenehmigungen in Nordrhein-
überstanden. »Für die LEG ist der Westfalen, in Berlin und in Rhein­

Mario Mar tinez / Westend61 / IMAGO


Höhepunkt der Immobilienkrise vor­ land-Pfalz gesehen haben. Weil in­
bei«, sagte etwa Lars von Lackum, zwischen Bodenpreise und Material­
Chef des zweitgrößten Vermieters kosten zurückgingen, komme der frei
LEG aus Düsseldorf, bei der Vorstel­ finanzierte Wohnungsbau wieder in
lung seiner Jahreszahlen vor gut vier Gang.
Wochen. Die Bewertungen seiner Be­ »Da fangen die ersten Unterneh­
stände zögen wieder an, nachdem das men schon wieder an, neu zu kalku­
Jahr 2023 ein Annus horribilis für sein lieren, und stellen fest: Der Neubau
Unternehmen gewesen sei. Rolf Buch, kann sich wieder lohnen«, sagte Gey­
Chef des größten deutschen Woh­ des Immobilienverbands Deutsch­ Wohnhaus witz der »Welt«.
nungskonzerns Vonovia, klang ein land IVD. Gerade erst war er auf der in Berlin Das wäre eine echte Trendwende
paar Tage später ähnlich zuversicht­ Immobilienmesse Mipim im franzö­ am Markt. Doch bisher sind Scholz
lich: »Wir sehen uns am Vorabend sischen Cannes, wo sich die Immobi­ und Geywitz mit ihrem Optimismus
einer sehr langen Aufwärtsbewe­ lienzunft Jahr für Jahr unter Palmen allein. Die Zahlen zeigen keine Wie­
gung«, sagte er in einer Telefonkon­ bei Champagner und Austern trifft. derbelebung des Neubaus. Im Gegen­
ferenz mit Journalisten. Die Stimmung sei deutlich konstruk­ teil: Die Behörden bewilligten im
Bei beiden Konzernen landet wie­ tiver als im Vorjahr gewesen. »Viele Januar den Bau von nur 16.800 Woh­
der mehr Geld in der Kasse, sie wol­ Anwesende hatten keine Lust mehr nungen. Das waren 23,5 Prozent we­
len deshalb die Dividendenausschüt­ auf das Gejammer.« niger als ein Jahr zuvor. Im Vergleich
tungen an ihre Aktionäre und Aktio­ Auch Daten seines Unternehmens zum Januar 2022 brach die Zahl sogar
närinnen erhöhen. Vonovia verkauf­ belegen, dass es wieder bergauf geht: um 43,4 Prozent ein.
te 2023 Immobilien im Wert von 3,7 In Berlin, Deutschlands wichtigstem Die Konzernchefs Buch und La­
Milliarden Euro, 85 Prozent mehr als Markt, ist die Zahl der Verkäufe von ckum erklärten bei der Vorstellung
geplant. Noch ein Jahr zuvor hatte Mehrfamilienhäusern demnach im ihrer Jahreszahlen, dass sie derzeit
sich der Markt durch den Überfall vierten Quartal 2023 gegenüber dem keine neuen Bauprojekte anschöben.
Russlands auf die Ukraine in Schock­ Vorquartal um rund 30 Prozent ge­ »Wir haben die Projekte in der Schub­
starre befunden: Um die Inflation zu stiegen. »Wir erleben gerade eine un­ lade und den Spaten sozusagen auf
bekämpfen, hob die Europäische gewollte Renaissance des Bestands«, Wieder dem Lkw«, sagte Buch. »Aber wir
Zentralbank (EZB) mehrmals die sagt Schick. Weil sich Neubauprojek­ mehr Deals können derzeit leider nicht anfangen
Leitzinsen stark an. Plötzlich konnten te oft nicht mehr rechneten, griffen zu bauen. Denn die Kosten sind zu
sich Kaufwillige Objekte nicht mehr Investoren stattdessen bei Bestands­ Anzahl verkaufter hoch, und damit wären es auch die
leisten. Wo keine Nachfrage ist, fallen objekten zu, die im Schnitt nur halb Mehrfamilienhäuser Neubaumieten.«
in Berlin
die Preise: Mehrfamilienhäuser ver­ so teuer seien. So bleibt die Wiederbelebung auf
200
billigten sich 2023 um 20 Prozent, wie Sah es im Oktober vergangenen 184
dem Immobilienmarkt vorerst pro­
Daten des Kiel Instituts für Weltwirt­ Jahres noch danach aus, dass die Bau­ fessionellen Akteuren vorbehalten.
schaft zeigen. Es war der stärkste zinsen in Richtung fünf Prozent klet­ Sie können sich über steigende Ver­
Rückgang seit Erfassung der Daten tern könnten, sind sie seither deutlich kaufszahlen und höhere Mieteinnah­
vor rund 60 Jahren. unter die Marke von vier Prozent ge­ men freuen, weil das Angebot an
100
Nun aber nutzen vor allem inter­ fallen. Christine Lagarde, Präsidentin Wohnungen stark begrenzt bleibt.
nationale Investoren die Gelegenheit der EZB, ließ auf der jüngsten Presse­ Schon im vergangenen Herbst hatte
zum Wiedereinstieg. »Die Kombina­ konferenz nach der Zinsentscheidung LEG-Chef Lackum angekündigt, die
tion aus günstigen Preisen und sich relativ klar durchblicken, dass mit Mieten »so stark wie regulatorisch
stabilisierenden Zinsen macht Inves­ einer ersten Zinssenkung auf der Sit­ 0
möglich« steigern zu wollen. Für
titionen wieder attraktiv«, sagt Jürgen zung am 6. Juni zu rechnen sei. Q1 Q1 Deutschlands Mieterinnen und Mie­
Michael Schick, Immobilienunterneh­ Auch Privatkäufe werden wieder 2022 2023 ter sind das keine guten Aussichten.
mer aus Berlin und Ehrenpräsident attraktiver. Nach Zahlen der Bundes­ S Quelle: Schick Immobilien Henning Jauernig n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

Markthändler Fuchs, Gschoßmann: »Ich muss mir den Hof schon selbst zutrauen«

bayerische Landwirtschaftsministerin Mi-


chaela Kaniber für eine halbe Stunde vorbei-
kommt. Mit teurer Daunenjacke, eleganten

Grüne Herzen
Pumps und perfekt geschminkt steht sie vor
den leger gekleideten Frauen und Männern.
»Ihr seids Macher«, ruft sie. »Lasst euch kein
schlechtes Gewissen einreden.« Bevor sie wei-
terzieht ruft sie noch: »Die wahren Grünen
BAUERN Auf dem Höhepunkt der Treckerproteste besuchen seids ihr und koa andere.«
Die Aktion in der Fußgängerzone ist Teil
55 junge Leute in Bayern einen Kurs, der sie auf die eines zehnwöchigen Kurses. Die Teilnehmer
Zukunft als Landwirte vorbereiten soll. Was sind ihre Sorgen? sind zwischen 18 und 31 Jahre alt. Sie alle
wollen Landwirte werden oder sind es
schon, viele werden die Höfe ihrer Eltern

O
h, nein, nicht schon wieder ein Traktor! umsonst?«, fragt ein älterer Herr. Vor einem übernehmen. Die meisten haben eine land-
Direkt am Eingang zur Fußgängerzone, halben Jahr wäre die Aktion hier wahr- wirtschaftliche Ausbildung, manche studie-
auf einem der wichtigsten Plätze Mün- scheinlich gelangweilter betrachtet worden. ren noch.
chens, dem Stachus, steht der grüne Fendt. Also vor jenen Bauernprotesten, in deren Sie alle eint: Genau so, wie ihre Eltern-
Daneben ein Anhänger, an dem ein Plakat Umfeld auch rechte Schreihälse unterwegs generation Landwirtschaft betrieben hat, wer-
hängt: »Regional konsumieren, statt impor- waren. Das hat viele skeptisch gemacht, wel- den sie nicht weitermachen. Manche müssen
tieren«. Schon wieder Bauern, die protestie- che Kräfte bei den Landwirten eigentlich nur nachjustieren, etwas umsteuern, andere
ren wollen? Ah, nein, die wollen nur reden. das Sagen haben und worum es denen wirk- sich komplett neu erfinden. Der Kurs soll den
Sie haben sogar ein großes grünes Herz aus lich geht. jungen Leuten neue Perspektiven öffnen –
Holz mitgebracht. Es steht mitten auf dem 55 junge Leute aus der Landwirtschaft sind politisch wie persönlich.
Platz. Zu essen gibt es auch. an diesem Morgen im März nach München Im Januar hat der Kurs begonnen, auf dem
Johanna Fuchs, 18, richtet Zwiebelkuchen gekommen, in eine aufgeraute Stimmung Höhepunkt der Bauernproteste: 13 junge
auf einer Servierplatte an. Die junge Frau will ­hinein. Sie haben Pavillons aufgebaut. Die Frauen und 42 Männer zogen in ein Seminar-
einmal den Hof ihrer Eltern in Freyung, Nie- Themen dort: Demokratie, Zukunft, Vielfalt. haus am Ammersee, reisten nach Berlin und
derbayern, übernehmen, mit Milchkühen und Ihre Aktion ist eine Mischung aus Charme- Brüssel. Organisiert vom Bauernverband,
Ackerbau. »Hallöchen«, ruft sie einem jungen offensive, Selbstvergewisserung und Sinn- jener Vereinigung, die die Landwirte Anfang
Paar zu. »Derfts gern alles nehmen.« Fuchs suche. Eine junge Generation, die Sorge hat, des Jahres wegen Subventionskürzungen
hat ein offenes Lächeln, sie ist auf Anhieb zwischen hohen Ansprüchen der Gesellschaft, beim Agrardiesel auf die Straße trieb und die
sympathisch. dem Mäandern der Politik und den Erwar- Republik lahmlegte. Und jetzt machen sie hier
Das Pärchen kommt näher an den Stand, tungen der Eltern zerrieben zu werden. Nun auf versöhnlich?
mit jenem leichten Misstrauen, das Passanten wollen die Nachwuchslandwirtinnen und Was außerhalb der Landwirtschaft kaum
meist haben, wenn ihnen jemand etwas -landwirte zeigen, dass sie in der Mitte der jemand weiß: 1948, nach dem Zweiten Welt-
schenken will. Ein Touristenpaar steht etwas Gesellschaft stehen. Und dass sie Ideen für krieg, gründete der Verband eine »Bauern-
unschlüssig vorm Zwiebelkuchen. »It’s made die Zukunft haben. schule« und bald darauf eine »Bäuerinnen-
with products from our farms«, sagt Fuchs, Der Auftritt in München ist auch ein Poli- schule«. Darin sollten den Landwirtinnen und
mit Produkten vom eigenen Hof. »Ist das tikum. Man merkt das spätestens, als die Landwirten demokratische Werte vermittelt

64 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


WIRTSCHAFT

Der Kurs war auch eine Auszeit vom All-


tag. Sie mussten nicht noch in den Stall, aufs
Feld und ins Büro und hatten ihr alltägliches
Umfeld von Familien, Dorf und Freunden
für ein paar Wochen verlassen. Sie hatten
Zeit für andere Gedanken. Nur an zwei Wo-
chenenden fuhren sie nach Hause. Johanna
Fuchs ging an einem dieser Wochenenden
mit ihrem Vater zum Essen in ein Wirtshaus,
hörte die Leute über den Bürgermeister
schimpfen und fühlte sich seltsam fremd. Am
Ammersee wurden sie ermutigt, Dinge selbst
in die Hand zu nehmen. Im Wirtshaus hörte
sie Genörgel, aber keine Bereitschaft, selbst
was zu ändern.
Fuchs haben die Besuche auf Betrieben
gefallen, die neue Geschäftsideen haben. Sie
erzählt von Start-up-Gründern, die Fisch-
zucht im Container und eine Direktvermark-
tungs-App vertreiben. »Das macht Mut.« Sie

Jana Islinger / DER SPIEGEL (3)


selbst steht bereit, den Betrieb der Eltern im
Bayerischen Wald zu übernehmen – und hat
eigene Ideen. Sie spürt die Verantwortung.
Der Hof sei das »Herzstück der Familie«, seit
Generationen geführt. Noch habe der Hof 35
Milchkühe in Anbindehaltung. Das sei nicht
Aktion auf dem Münchner Karlsplatz: Charmeoffensive in der Stadt
mehr zeitgemäß. Das Grundstück liege mit-
ten im Dorf, ein größerer Umbau sei schwie-
werden, sie sollten lernen, ihre Rolle als ef- irgendeine Art von Planungssicherheit oder rig. Sie überlegt, es mit Gastronomie zu ver-
fektive Produzenten in der entstehenden kann sagen, wie es in fünf Jahren zu Hause suchen. Doch der Vater hänge an den Milch-
­Agrarindustrie zu finden und die Höfe selbst auf dem Betrieb ausschauen wird«, ruft Jung- kühen. »Da müssen wir miteinander reden
zu gestalten. Das waren die Vorläufer des heu- landwirt Lorenz Dilger in die Menge. und gemeinsam einen Weg finden.«
tigen Grundkurses, der 1994 entstand. Jeden Tag wertete der Kurs aus, wie Me- Markus Gschoßmann, 27, hat als ältestes
Und jetzt, 2024, geht es wieder um die dien über die Bauernproteste berichten. von vier Kindern den Hof gemeinsam mit den
Demokratie. Rechtsextreme versuchen, die Traktorreifen brennen, Politiker werden be- Eltern neu ausgerichtet. Die Schweinemast
Bauerndemos zu unterwandern, in Brüssel drängt. »Wir wussten, das wird auf uns zu- haben sie vor einem Jahr beendet, die Fami-
wüten Landwirte im EU-Viertel, und man- rückfallen«, sagt Johanna Fuchs. Das Miss- lie setzt jetzt vor allem auf Gemüse. Er tippt
cher fragt sich: Sind das Einzelfälle, oder trauen, Landwirte könnten nach rechts ge- viel auf seinem Smartphone herum, in steti-
driften viele Landwirte ab? Und wieder sind rückt sein, nagt an den jungen Leuten. gem Kontakt mit Kunden, wie er erklärt. Er
Bauern verunsichert, weil sie ihre Rolle in »Bauern werden als konservativ angesehen. verkauft Zwiebeln und Kartoffeln an Hof­
einer sich neu ordnenden Agrarbranche fin- Wir wurden zu Unrecht in eine rechte Ecke läden, Supermärkte, Gastronomen, Kantinen
den müssen. gedrängt«, meint die Jungbäuerin. »Wir brau- und direkt ab Hof.
All das spielt in den Kurs für die Landwirte chen alle Parteien.« Ein paar Minuten nach der Landwirt-
in Bayern hinein. Hier zeigen sich die großen Ein Aktivist der Letzten Generation wur- schaftsministerin kommen auch die leibhaf-
Themen im Kleinen. Die jungen Leute spre- de per Video nach Herrsching zugeschaltet. tigen Grünen am Stand auf dem Stachus vor-
chen über ihre Zukunftspläne, den Druck, Er habe erklärt, warum er sich engagiert, be- bei: Fraktionschefin Katharina Schulze und
wenn Kredite für Investitionen in Millionen- richtet Fuchs. »Was die Ziele bei Klima und die Landtagsabgeordnete Mia Goller. Schulze
höhe aufgenommen werden, Problemen mit Naturschutz anbelangt, sind wir nah beiei­ isst Zwiebelkuchen, ein junger Landwirt
den Eltern, die mitentscheiden. Und von nander.« Über die Wege dorthin müsse man kommt dazu. »Unsere Mädels waren fleißig«,
Todesfällen in der Familie, die alles ver­ eben diskutieren. Auch die langjährige Zen- lobt er die Häppchen. »Und was haben die
ändern. tralratspräsidentin der Juden in Deutschland, Jungs gemacht?«, fragt eine der Grünen und
Im Seminarraum kleben Steckbriefe der Charlotte Knobloch, kam nach Herrsching, trifft zielsicher einen Nerv. Die Rollenauf­
Kursteilnehmer an der Wand, gruppiert um erzählte, wie sie als Kind auf einem Bauern- teilung zwischen Männern und Frauen, über
das Foto einer Kuh, die in den Raum blickt. hof vor Nazis versteckt wurde. Generationen verinnerlicht, schütteln manche
Darüber das Kursmotto: »Herzschlag Land- der Junglandwirte nicht so leicht ab.
wirtschaft – Zusammenhalten, Zukunft ge- Johanna Fuchs hat Hauswirtschaft gelernt.
stalten«. »Binnen Tagen gab es ein total Für die meisten Männer bedeute das immer

11
­vertrautes Miteinander«, erzählt Fuchs. »Da noch: kochen, waschen, putzen. »Ich bin
sind einige dabei, die ihr Packerl zu tragen doch mehr als eine Hausfrau.« Im vergange-
haben.« nen Sommer hat sie allein eine Alm geführt.
Als die Proteste starten, halten sie es in der Prozent Gäste bewirtet, elf Kühe versorgt und Milch
Abgeschiedenheit am Ammersee nicht mehr zu Käse verarbeitet. Ab Herbst möchte sie
aus, sie wollen mitdemonstrieren, auf die Sor- ihre Meisterausbildung angehen, zusätzlich
gen ihrer Generation aufmerksam machen. der landwirtschaftlichen eine landwirtschaftliche Ausbildung machen.
Am sechsten Kurstag fahren sie zu einer ­Betriebe in Deutschland »Ich muss mir den Hof schon selbst zutrauen.
Demo nach Augsburg. Sie haben sich grüne
Herzen aufgeklebt. Zwei Teilnehmer spre-
­werden von Frauen geleitet. Ich brauch nicht unbedingt einen Landwirt
als Mann.«
chen auf der Bühne. »Niemand von uns hat Quelle: Destatis; Stand: 2020 Maria Marquart n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 65


WIRTSCHAFT

tionsübergreifende Leidenschaft, »da sam-


meln die Eltern mit den Kindern zusammen«.
Ein Tütchen mit sechs Bildern kostet einen
Euro, und jedes Mal ist ungewiss, welche Sti-

Ein klebriges Geschäft


cker im Inneren auf den Käufer warten. Wer
alle 728 Motive zusammenbekommen möch-
te, muss im Zweifel mehrere Hundert Euro
investieren, der Weg zum Ziel ist gepflastert
von zahllosen Dubletten.
MERCHANDISING Neuer Produzent, altes Laster: Zur Fußballeuropameister­ Warum tun sich so viele Sammler das
schaft im Sommer werden wohl wieder Hunderte Millionen Sticker gekauft. an? Bowen Ruan, Dozent für Marketing an
der Universität von Iowa, hat eine eigene Er-
klärung für das erfolgreiche Geschäft mit den

E
r habe die besten Fußballvereine der bands Uefa ein Album vorgelegt. Doch nun Stickeralben: »Menschen schätzen unvoll-
Welt geleitet, erzählt Trainerikone José drängt Topps mit Macht auf den Markt der endete Dinge mehr als fertige«, sagt er. »Auch
Mourinho in einem Werbespot, doch Klebebilder. Kurz vor der Akquisition der EM- wenn das ökonomisch keinen Sinn ergibt, weil
eines sei ihm bislang verwehrt geblieben: Rechte war Topps vom US-Riesen Fanatics Letztere objektiv natürlich wertvoller sind.«
eine europäische Nationalmannschaft zu geschluckt worden. Das Unternehmen, das Ruan hat das Phänomen in mehreren Ex-
managen. »Aber warum nur eine, wenn ich unter anderem Sport­memorabilien vertreibt perimenten untersucht. Er fragte Versuchs-
doch alle haben kann?«, fragt Mourinho. und Sportwetten abwickelt, wurde bei der personen etwa, wie sehr sie der Verlust einer
Dann hält er ein Stickeralbum in die Kamera, jüngsten Finanzierungsrunde mit rund 31 Mil- Stempelkarte für das Café um die Ecke
mit dem Logo der Fußballeuropameister- liarden Dollar bewertet. Es heißt, Firmengrün- schmerzen würde, die ihnen nach acht Be-
schaft 2024. der Michael Rubin wolle die Lizenzen aller suchen einen Preisnachlass einbrächte. Das
Mourinho bewirbt mit Clips wie diesem wichtigen Turniere und Sportligen abgreifen. Ergebnis: Den größten Frust schoben nicht
ein Kultprodukt: das Sammelheft für Klebe- Auch die der Fußball-WM, die noch bis 2030 etwa die Probanden, die ihre imaginäre Bo-
bildchen, das seit Jahrzehnten zu jeder EM bei Panini liegen. nuskarte bereits vollständig abgestempelt
erscheint. Der Verkauf sollte ein Selbstläufer Ob es dabei stets legal zugeht, wird mittler- hatten und nur noch ihre Belohnung hätten
sein, für den es keine Werbung bräuchte. weile vor Gericht verhandelt. Panini und abholen müssen, sondern jene, die sieben von
Doch mit Mourinhos Hilfe sollen sich sam- Fanatics werfen sich gegenseitig unlautere acht Stempeln gesammelt hatten.
melwütige Fußballfans in diesem Sommer an Geschäftspraktiken vor, beide streiten sich Auch andere Versuche stützten die These:
eine Neuerung gewöhnen: Heft und Sticker über die Vergabe der Sammelkarten-Rechte Fast fertige Dinge, die von den Besitzern
werden erstmals vom US-Unternehmen für mehrere US-Sportligen, ein ebenfalls selbst vollendet werden können, haben für
Topps aus New York produziert. hochlukrativer Markt. Wie viel Geld Topps sie einen höheren Wert. »Der Weg wird mehr
Es sei das mit Abstand »größte Projekt der mit seiner Stickerpremiere bei der EM 2024 genossen als das Ende«, sagt Ruan.
Firmengeschichte«, sagt Patrick Rausch, erwirtschaften will, will Chefvermarkter Bei den Stickerheften komme vermutlich
Topps-Vermarktungschef für Europa und Rausch nicht verraten. Auch bei den Produk- noch die Spannung hinzu, nicht zu wissen,
Asien. »Das Stickeralbum ist nach wie vor tionsmengen könne er nicht ins Detail gehen, ob im nächsten Tütchen nun endlich das er-
das Produkt des Turniers, und wir werden klar sei aber, dass die Klebebilder in ganz sehnte Bild von Manuel Neuer wartet oder
diese Kultur weiter vorantreiben.« Verkaufs- Europa vertrieben werden, zusammen kom- doch nur die sechste Exemplar eines slowa-
start für das Heft: der 4. April. me man auf viele Hundert Millionen. Die kischen Angreifers. »Das Stillen der eigenen
Über Jahrzehnte war das Geschäft mit Hauptabsatzmärkte seien Deutschland und Neugierde ist ein weiterer Faktor, der moti-
Fußballstickern mit einem Namen verbun­ Großbritannien, wo 2028 die nächste EM viert weiterzumachen«, sagt Ruan. So lange,
den: Panini. Das Unternehmen aus dem ita- stattfindet. bis alle Sticker beisammen seien – dann sinke
lienischen Modena brachte zur WM 1970 »Die Zielgruppe reicht von 6 bis 99 Jahre«, das Interesse am eigenen Album rapide.
in ­Mexiko erstmals ein Album auf den sagt Rausch. Die Sticker seien eine genera- Thilo Neumann n
Markt, 48 Seiten, 288 Klebebildchen, sie
zeigten die Stars des Turniers, von Becken-
bauer bis Pelé.
Bis heute ist Panini Werbepartner des
Weltverbands Fifa, zu jeder WM-Endrunde
präsentiert die Firma ein neues Stickerheft.
Um es zu füllen, begeben sich Fußballfans in
aller Welt auf die Jagd nach den Bildern von
nigerianischen Stürmern, südkoreanischen
Innenverteidigern oder dem Torwart aus
Honduras, dessen Namen man zwar noch nie
gehört hat, der aber genauso seinen Platz im
Album hat wie Ronaldo oder Messi.
Das Geschäftsmodell ist zuträglich. Im
WM-Jahr 2018 nahm die Panini-Gruppe laut
eigenen Angaben erstmals mehr als eine Mil-
liarde Euro ein. Zahlen, die auch bei der Kon-
kurrenz Begehrlichkeiten weckten.
Douglas Magno / AFP

2022 wurde bekannt, dass Topps den bis-


herigen Platzhirsch ausgestochen hatte bei der
Lizenzvergabe, zwar nicht für Welt-, aber für
die Europameisterschaften. Seit 1980 hatte
Panini bei jedem Turnier des Kontinentalver- Mädchen vor Panini-Sticker-Wand in Brasilien 2022: »Menschen schätzen unvollendete Dinge«

66 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


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AUSLAND

Daniel Ceng / EPA


In der taiwanischen Stadt Hualien inspizieren staatliche Helfer ein Wohnhaus. Die Insel wurde von dem schwersten Erdbeben seit einem Vierteljahr-
hundert erschüttert. Nahe dem Epizentrum im Osten sackten Gebäude ab und brachen Straßen ein. In Hunderttausenden Haushalten fiel der
Strom aus. Die Behörden meldeten zunächst zehn Tote und mehr als 1000 Verletzte. Taiwan ist im Vergleich zu anderen Regionen gut gegen Erdbeben
gewappnet. Es gibt strikte Bauvorschriften, Verstöße werden rigide geahndet. Diese Maßnahmen haben wohl eine größere Katastrophe verhindert.

Hoffnung auf mehr


Wahlversprechen schuldig geblieben. Sein autoritärer Kurs funk-
tionierte jahrelang auch, weil viele zu Wohlstand kamen. Nun
bröckelt der Rückhalt für ihn.
Die Machtverhältnisse werden sich vorerst nicht ändern, auch
ANALYSE Die Kommunalwahlen in der Türkei machen
die autokratischen Strukturen bleiben. In der Stadt Van wurde
Mut: Auch Autokraten sind besiegbar. ein prokurdischer Politiker zunächst vom Bürgermeisteramt aus-
Die Opposition muss sich nun beweisen. geschlossen, erst nach Protesten annullierte die Hohe Wahlbe-
hörde diese Entscheidung. Hunderten Oppositionellen droht ein
Kaum jemand hätte das für möglich gehalten: Die Kommunal- Politikverbot.
wahlen in der Türkei haben gezeigt, dass Recep Tayyip Erdoğan Dennoch geht von dieser Wahl ein wichtiges Signal aus: Denn
und seine AKP verlieren können. Die Opposition hat gar in tra- der säkularen CHP gelang es, einen übermächtigen Gegner zu
ditionellen Erdoğan-Hochburgen gewonnen. Besonders ist auch, bezwingen. In den kommenden Jahren kann sie auf kommunaler
dass künftig in elf Rathäusern Bürgermeisterinnen sitzen wer- Ebene beweisen, dass sie es besser macht als die Regierungs­
den, zudem triumphierten Kandidatinnen in Dutzenden kleinen partei. Nicht auszuschließen, dass nun andere Zeiten anbrechen
Gemeinden. Der Präsident und seine Partei haben ihre schwerste und der Erfolg bei der gespaltenen Opposition einen Neuanfang
Niederlage erfahren – und akzeptiert. Das macht Hoffnung in bewirkt. Ihren Präsidentschaftskandidaten für 2028 dürfte sie
einem Land, in dem die Demokratie schwer gelitten hat. mit Ekrem Imamoğlu, 52, bereits gefunden haben. Der Bürger-
Gut ein Jahr nach der Präsidentschaftswahl war das Votum meister von Istanbul hat Erdoğans Kandidaten in der Stadt
ein Stimmungstest für Erdoğan. Nationale Themen dominierten ­deklassiert und gilt als Hoffnungsträger. Wenn die CHP das Mo-
den Wahlkampf. Das Land steckt in einer tiefen wirtschaftlichen mentum nun klug nutzt und es schafft, sich zu erneuern –
Krise, Erdoğan hat die Not vieler Bürgerinnen und Bürger dann könnte sich der Gedanke festsetzen, dass eine andere Türkei
nicht abwenden können und ist damit eines seiner zentralen möglich ist. Anna-Sophie Schneider

68 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


Aufstand der Wahlkampf erklärte Meloni Nato-Soldaten in Polen
demonstrativ: »Ich bin Giorgia,
Übermütter ich bin eine Frau, ich bin eine
ITALIEN In wenigen anderen Mutter.« Nun will sie die Ge-
europäischen Ländern haben burtenrate zu einer »absoluten
Paare so wenig Lust auf ein Priorität« ihrer Arbeit ­machen.
Baby: 1,2 Kinder bekommt eine Doch für Malnerich und ihre
Italienerin durchschnittlich im Mitstreiterin Francesca Fiore
Verlauf ihres Lebens. Im ver- greifen die Pläne zu kurz. Sie
gangenen Jahr fiel die Geburten- setzen sich für den Ausbau von
zahl auf einen neuen Negativ­ staatlicher Kinderbetreuung
rekord – die Gründe dafür und die gleichberechtigte Auf-

Wojtek Radwanski / AFP


­sehen viele Frauen in der man- teilung von Care-Arbeit in
gelhaften Familienpolitik ihres der Partnerschaft ein. Und vor
Landes. »Wir haben ein völlig ­allem wollen sie mit dem er­
unzureichendes Sozialsystem, drückenden Mythos der perfek-
fast keine Kinderbetreuung«, ten italienischen Mutter bre-
sagt Sarah Malnerich, 44, Auto- chen, die sich lächelnd für ihre

»Es gibt kein Entweder-oder«


rin und selbst Mutter. Kitaplätze Familie aufopfert. »Scheiß­
seien selten und teuer, Mütter mutter« nennen sie sich daher,
müssten ihre Arbeitszeit dras- Mamma di merda. Ihren gleich-
tisch reduzieren. Zwar hat die namigen Blog starteten die
USA UND EUROPA US-Verteidigungsexperte Spencer
Regierung von Giorgia ­Meloni Frauen 2016, heute schreiben
ein Milliardenprogramm an­ sie Bücher, inszenieren Theater- Boyer über die Zukunft der Nato
gekündigt, um Familien zu stücke und touren durch ganz
­fördern, mit mehr Geld und Italien. Die Zeit der devoten Boyer war bis 2023 SPIEGEL: Schon die Obama-Re-
Steuererleichterungen. Im Mutter, sagen sie, sei vorbei. DTT im Pentagon für gierung, der Sie ebenfalls ange-
die Verteidigungs- hörten, hat den außenpoliti-
beziehung zwi- schen Fokus der USA von Europa
Rolex-Gate in Konto landeten. Der Betrag: schen Europa und nach Asien verlegt. Grundsätz-
300.000 Dollar. Der politische Nato zuständig. lich verfolgt auch Joe Biden
den Anden Druck auf die Präsidentin ­diesen »pivot to Asia«. Was
PERU Ihre Vorliebe für edlen wächst, den ungewöhnlichen SPIEGEL: Herr Boyer, aus Sorge heißt das für Europa?
Schmuck könnte Präsidentin Reichtum zu erklären – ihr mo- vor einem Trump-Comeback Boyer: Als der Begriff aufkam,
Dina Boluarte zum Verhängnis natliches Gehalt liegt bei etwa wird in der EU über einen eige- arbeitete ich im US-Außen­
werden: Seit ihrem Amtsantritt 4200 Dollar. In Peru müssen ge- nen Nuklearschutzschirm disku- ministerium. Ich war nie ein
2022 trägt sie auffällig oft Luxus- wählte Amtsträger alle Wertan- tiert. Was halten Sie davon? Fan dieser Formulierung,
uhren, darunter eine Rolex im lagen über umgerechnet etwa Boyer: In meinen Augen ist die- weil sie das Konzept dahinter
Wert von 14.000 US-Dollar. Aus- 2500 Euro offenlegen. Boluarte se Frage derzeit nicht zielfüh- ­missinterpretiert. Damals
gerechnet während einer Rede behauptet, die Luxusgüter legal rend. Dafür ist die transatlanti- war die Lage in Europa etwas
zur Armutsbekämpfung soll erworben zu haben: »Es liegt in sche Sicherheitsarchitektur viel ru­higer, deshalb wollten wir
sie sich mit einem 18.000 Dollar meiner DNA, dass ich nicht kor- zu verzahnt. Der Fokus sollte stärker auf den Indopazifik bli-
teuren Modell geschmückt ha- rupt bin.« Sollte sie keine über- darauf liegen, wie man gemein- cken – nicht anstelle Europas,
ben. Das enthüllten investigati- zeugende Erklärung für ihren sam die Ukraine unterstützen sondern zusätzlich. Es ist kein
ve Medien im März. Am Kar- Reichtum vorlegen, könnte sie kann in Sachen Munition, Luft- Entweder-oder.
freitag brach die Polizei die Ein- wie mehrere Amtsvorgänger verteidigung, Ausbildung und SPIEGEL: Republikanische Stra-
gangstür zu Boluartes Residenz vom Kongress aus dem Amt ge- längerfristig auch Nato-Kompa- tegen sagen exakt das Gegen-
auf, um nach weiteren Uhren jagt werden. Die Abgeordneten tibilität. Jede Diskussion, die teil: Die USA sollten sich aus
zu suchen – ohne Erfolg. Die können einen Staatschef wegen davon wegführt, wie die Ukrai- Europa zurückziehen und auf
Staatsanwaltschaft ermittelt nun »moralischer Unfähigkeit« ne gewinnen kann, führt zu Asien konzentrieren.
auch wegen eines Cartier-­ ­absetzen. Viermal hat Peru seit Spaltung. Auch Debatten über Boyer: Das ist eine Fehleinschät-
Armreifs und Überweisungen 2018 den Präsidenten gewech- den genauen Zeitplan für die zung. Natürlich ist China die
»unbekannter Herkunft«, die selt. Um ihre angeschlagene Re- ukrainische Nato-Mitgliedschaft bedeutendste langfristige He­
vor ihrem Amtsantritt auf ihrem gierung zu stabilisieren, hat sind momentan nicht hilfreich. rausforderung, aber Russland ist
­Boluarte gerade sechs Minister SPIEGEL: Einige Analysten spre- die größte akute Bedrohung.
ihres Kabinetts ausgetauscht. chen darüber, dass die nicht be- Wir können uns schlicht nicht
Umfragen zufolge wird sie nur setzten Landesteile der Ukraine den Luxus leisten, uns eine Re-
Luis Iparraguirre / Peru Presidency / REUTERS

von neun Prozent der Bevölke- in die Nato aufgenommen wer- gion herauszupicken. Auch den
rung unterstützt. Viele Peruaner den könnten. Mittleren Osten k ­ önnen wir
machen sie für den Tod von Boyer: Das würde zu großen nicht vergessen. Sich in Europa
Justice / Cour tesy of Brennan Center

49 Menschen während Protest- Komplikationen führen. Ich halte zu engagieren be­deutet nicht,
märschen gegen die Regierung es für sehr schwierig, ein geteiltes die Bedrohung durch China zu
vor einem Jahr verantwortlich. Land, in dem ein fortwährender unterschätzen. Es wäre fatal,
Dass sie noch im Amt ist, ver- Konflikt herrscht, in die Nato zu wenn bei den ­Verbündeten der
dankt sie ihrem Bündnis mit holen. Die beste Art, der Ukrai- Eindruck entstünde, wir wür-
mehreren Rechtsparteien – und ne zu helfen, ist, sicherzustellen, den nicht ­begreifen, dass die Si-
diese haben derzeit wenig Inte­ dass sie Putin eine nachhaltige cherheit Europas essenziell ist
Boluarte mit Luxusuhr resse an ihrer Absetzung. JGL strategische Niederlage zufügt. für die ­Sicherheit der USA. CDI

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 69


AUSLAND

DIE BAUSTELLE
DES PRÄSIDENTEN

Patrick Zachmann / Magnum Photos

Notre-Dame mit
neuem Vierungsturm

70 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


AUSLAND

FRANKREICH Fünf Jahre nach dem Brand von Notre-Dame gehen die Restaurierungsarbeiten der Pariser Kathe-
drale zügig voran. Es ist ein nationaler Kraftakt, der die laizistische Republik seltsam eint. Von Britta Sandberg

M
an sieht ihn schon von Weitem wie- Das Bedürfnis, der trauernden Nation gleich hinter der Kirche. Auf den Schränken
der, den schmalen Vierungsturm, der Trost zu spenden, war groß – auch wenn dies- und Schreibtischen liegen bis heute Reliquien
160 Jahre lang verlässlich in den Pa- mal kein Terroranschlag für das Unglück ver- der Schicksalsnacht: Teile von alten Ziffer-
riser Himmel ragte. Ein 96 Meter langes Mo- antwortlich, keine Toten zu beklagen waren. blättern, die ins Kirchenschiff herabfielen. Ge-
nument aus Holz und Blei, Mitte des 19. Jahr- Am nächsten Tag verkündete Macron in einer schmolzene Bleiklumpen vom Dach der Kirche.
hunderts entworfen, in Paris nur »la flèche« Rede an die Nation, er wolle das Monument Villeneuve war am 15. April 2019 nicht in
genannt. Der Pfeil. innerhalb von fünf Jahren wieder aufbauen Paris, er hat weder den Vierungsturm ein-
Es ist selten, dass im Himmel Lücken ge- lassen – schöner als je zuvor. Die Trümmer stürzen sehen noch die Flammen auf dem
schlossen werden müssen. In diesem Fall war der Kathedrale rauchten da noch. Aber Ma- Dach lodern. »Und das war gut so, ich hätte
es dringend notwendig. Fast fünf Jahre lang cron sagte: »Wir können das, weil wir ein Volk es nicht ertragen. Ich habe mir auch danach
sahen die Pariserinnen und Pariser in ein von Erbauern sind.« keine Bilder davon angesehen.« – Wirklich,
trauriges Nichts, wenn sie an Notre-Dame Es war eine riskante Wette auf die Zukunft. kein einziges? – »Ich weiß, klingt komisch.
vorbeigingen und hochschauten. Das Nichts Er wusste, dass er sich an diesem Versprechen Erst seit der Turm wieder auf dem Dach steht,
erinnerte sie an ein nationales Trauma: an wird messen lassen müssen. Aber Macron ist kann ich mir das antun.«
den Abend des 15. April 2019, an dem erst auch ein Spieler. Viele der Präsidenten der In Villeneuves Containerbüro hängen Ta-
Rauch von dem gotischen Bauwerk aufstieg Fünften Republik sind Risiken mit Großbau- bellen mit lang gestreckten Rechtecken in ver-
und kurz danach Flammen aus dem Dach stellen eingegangen: Der Sozialist François schiedenen Farben. Sie zeigen Beginn und
schlugen. Ende einer Bauphase – wie ein abstraktes
Bei jeder Katastrophe gibt es diesen Mo- Kunstwerk, das nur Eingeweihte verstehen.
ment, in dem die Hoffnung stirbt, man könne Die Baustelle Notre-Dame ist ein komplexes
das Drama noch abwenden. An jenem Abend logistisches Unternehmen. Man hat sie in
im April war es die Minute, in der der Turm 140 Einzelbaustellen aufgeteilt, anders wäre
glühend in die Tiefe stürzte. An beiden Seine­ man den technischen Herausforderungen des
ufern links und rechts der Île de la Cité stan- Wiederaufbaus nicht gerecht geworden.
den damals Menschen und schrien. Sie woll- In den vergangenen fünf Jahren hat sich
ten nicht glauben, was sie sahen. Villeneuve mit nichts anderem beschäftigt als
Fernsehsender schickten die Bilder der mit dieser Jahrhundertbaustelle. Die ersten
brennenden »flèche« um die Welt, so wie sie anderthalb Jahre nach dem Brand vergingen
am 11. September 2001 die einstürzenden Stephane Lemouton / Bestimage / action press
mit Sicherungsarbeiten, die Kirche galt lange
Türme des World Trade Center gezeigt hat- als einsturzgefährdet. Villeneuve ließ Hun-
ten. Und im November 2015 die Aufnahmen derte von Steinen untersuchen, um zu prüfen,
verzweifelter Menschen, die sich über Fenster wie stark die Hitze sie beschädigt hatte und
aus dem Pariser Konzertsaal Bataclan vor ob sie noch verwendbar waren. Notre-Dame
Terroristen des »Islamischen Staates« retteten und er sind jetzt fast eins.
und hilflos an der Fassade hingen. Der 61-Jährige streift den linken Ärmel
Frankreich fühlte sich an diesem Abend seiner Strickjacke hoch, darunter wird die
erneut als Opfer. Nach den Terroranschlägen Spitze des Vierungsturms sichtbar. »Der
des Jahres 2015, bei denen 146 Menschen nimmt den gesamten Arm ein und auf der
starben, nach dem IS-Attentat in Nizza im Brust geht es weiter mit Tattoos«, sagt Ville-
Jahr darauf und den wochenlangen, gewalt- neuve. Seit dem Brand hat er sich die halbe
tätigen Demonstrationen der Gelbwesten im » WIR KÖNNEN DAS, WEIL WIR Kathedrale auf die Haut stechen lassen: den
Winter 2018 brannte auch noch Notre-Dame. EIN VOLK VON ERBAUERN SIND. « geretteten Nordturm, den Südturm, zwei Fa-
Das »Epizentrum unseres Lebens«, wie Prä- Emmanuel Macron, Präsident belwesen der Fassade, den kupfernen Hahn.
sident Emmanuel Macron später sagen würde. Er sagt, er musste etwas tun, um das fast Ver-
Was natürlich maßlos übertrieben war. Mitterrand ließ in den Achtzigerjahren den lorengegangene immer bei sich zu haben.
Viele Franzosen waren zuletzt als Kind in Louvre renovieren und gab eine gläserne Py- Ist das nicht ein wenig irre? – »Nennen wir
der Kathedrale, bei einem Schul- oder Fami- ramide in Auftrag. Georges Pompidou hinter- es Leidenschaft, ich habe schon mit 16 ein Mo-
lienausflug. Sehr viele von ihnen sind Athe- ließ Paris den lange umstrittenen Bau des dell von Notre-Dame nachgebaut. Ich liebe die-
isten, Muslime oder Juden. Seltsam berührt Centre Pompidou. Es dürfte dem geschichts- se Kirche, und ich bin längst nicht der Einzige.«
stellen sie in dieser Nacht trotzdem fest, wie bewussten Macron gefallen, dass er nun als Als der Vierungsturm Mitte Februar wie-
viel sie mit diesem Bau verbindet. Und sei es jüngster Präsident seit 1958 Bauherr eines der der auf dem Dach errichtet wurde, sollen
nur, weil er einfach immer da war. ältesten Monumente des Landes wird. selbst die breitschultrigsten Zimmerleute
Notre-Dame ist katholisch, gehört aber ­Tränen in den Augen gehabt haben. Andert-
dennoch irgendwie allen. Die Kirche hat die Philippe Villeneuve ist seit 2013 Chefarchitekt halb Jahre lang hatten zuvor die vier führen-
Revolution, die Pariser Kommune und zwei von Notre-Dame, zuständig für die Erhaltung den Holzverarbeitungsbetriebe des Landes,
Weltkriege überlebt. Die ersten Glocken, die und Restaurierung der Kathedrale. Er hatte eigentlich Konkurrenten, zusammengearbei-
nach erbitterten Kämpfen im befreiten Paris sich auf die nationale Ausschreibung beworben, tet. Ein einzelner Betrieb hätte die Aufgabe
im August 1944 läuteten, waren die von Notre- es war sein Traumjob. »Ohne den Architekten angesichts der engen Zeitvorgaben nie um-
Dame. Es fühle sich so an, als wäre einem Eugène Viollet-le-Duc, der Notre-Dame im 19. setzen können. So produzierten alle vier die
engen Familienmitglied etwas zugestoßen, Jahrhundert entscheidend verändert hat und 1000 Eichenholzelemente für den Turm.
sagte Jean-Luc Mélenchon von der linkspopu- auch den Vierungsturm entwarf, wäre ich selbst 250 Unternehmen und zahlreiche Gewer-
listischen Partei »La France insoumise«, ein nie Architekt geworden«, sagt Villeneuve. Seit ke arbeiten hier parallel, darunter Gemälde-
bekennender Atheist, in der Brandnacht. fast fünf Jahren ist sein Büro ein Baucontainer restauratoren, Steinmetze, Dachdecker, Fach-

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 71


AUSLAND

schreiner, Klima- und Heizungstechniker, die Entwürfe, desto größer sind die Chancen deraufbau, die die Regierung gegründet hat-
Archäologen und Gerüstbauer. Mehr als für eine originalgetreue Rekonstruktion.« Im te. Er ließ sich mit Axt im Wald vor ausge-
2000 Frauen und Männer sind an der Wieder- Juli 2020 sprach sich eine nationale Fach- wählten Eichen für den neuen Dachstuhl
auferstehung der Kathedrale beteiligt. kommission einstimmig für einen historischen fotografieren und vermittelte allen das be-
Der nationale Kraftakt wird finanziert von Wiederaufbau aus. ruhigende Gefühl, dass die Fünf-Jahres-Frist
340.000 privaten Spendern, die insgesamt Es gehört zu den Eigenheiten des politi- nicht so irre war, wie sie klang.
846 Millionen Euro aufbringen. Schon drei schen Systems Frankreichs, dass keine Kom- Im vergangenen August verunglückte der
Tage nach dem Brand überstieg die Summe mission, kein Parlament am Ende über die inzwischen 74-Jährige auf einer Wanderung
jene aller Spenden, die die Franzosen jährlich Entwürfe entscheidet. Sondern der Präsident. in den Pyrenäen tödlich. Macron widmete
an die zehn größten karitativen Organisatio- Die monarchische Geste hat die Revolution »dem Soldaten, der an den Himmel glaubte«,
nen des Landes überweisen. Ziemlich viel überlebt. Aber Emmanuel Macron zeigte sich wie er sagte, eine nationale Trauerfeier im
Geld für einen Haufen alter Steine, kritisieren weise. Wenig später stimmte er einer original- Hof des Pariser Invalidendoms.
manche. Aber sie bleiben in der Minderheit. getreuen Rekonstruktion zu. Heute trägt ein gläserner Konferenzsaal
Für Emmanuel Macron kommt der Geld- mit Blick auf die Türme von Notre-Dame den
segen zur rechten Zeit. Willkürlich und ohne In der laizistischen Fünften Republik gehört Namen des Verstorbenen. Dessen Nachfolger,
Abstimmung mit den Experten hatte er nach Notre-Dame nicht der Kirche, sondern dem Philippe Jost, nutzt den Saal gern für Inter-
dem Brand die Frist für den Wiederaufbau Staat. Dieser stellt die Kathedrale den Katho- views. Jost war Stellvertreter des Generals,
verkündet. Fünf Jahre, das klang gut, und liken lediglich zur Ausübung ihres Glaubens auch er ist ein gläubiger Katholik und hat zu-
außerdem würden 2024 auch die Olympi- zur Verfügung. So will es ein Gesetz von 1905. vor im Verteidigungsministerium gearbeitet.
schen Spiele in Paris stattfinden. Es machte Emmanuel Macron zum obersten An diesem Morgen im März kann er vom
Man hat ihm damals Größenwahn vorge- Bauherrn, die Regierung ist zuständig für alle großen Konferenztisch aus die neue »flèche«
worfen und einen fahrlässigen Umgang mit Renovierungsarbeiten und deren Finanzierung. in fast 100 Meter Höhe sehen, unvorstellbar
Patrick Zachmann / Magnum Photos

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einem denkmalgeschützten Monument. 1 | Mitarbeiterin bei Kirchenfenster- vor fünf Jahren. »Es hat nur funktioniert, weil
Kunsthistoriker und Architekturexperten Restau­rierung 2 | Arbeiter, vergoldeter ganz Frankreich ans Krankenbett von Notre-
­Kupferhahn auf Turmspitze 3 | Eingerüsteter
schrieben einen offenen Brief an den Präsi- Turm 4 | Chefarchitekt Villeneuve
Dame geeilt ist«, sagt der 63-Jährige. »Was
denten. Sie warnten davor, den Wiederaufbau 5 | Steinmetze mit Heiligenskulptur wir hier gerade erleben, ist ein unglaubliches
mit einer politischen Agenda und einer Jah- kollektives Abenteuer.«
resfrist zu verbinden. Nur zwei Tage nach dem Brand ernannte Diese Baustelle sei auch eine Demonstra-
Es gab noch eine Sorge: Macron hatte er- Macron einen ehemaligen General zum Sonder- tion des Willens. »In einer Welt der Krisen und
klärt, er wolle auch der zeitgenössischen beauftragten für den Wiederaufbau. Der 70-jäh- angesichts der oft düsteren Stimmung dieses
Architektur einen Platz einräumen beim Wie- rige Jean-Louis Georgelin war zuvor Chef des Jahrzehnts bot das Drama um Notre-Dame
deraufbau. Seither kursierten sonderbare Ent- Generalstabs der französischen Streitkräfte und die einmalige Gelegenheit, sich nicht dem
würfe für einen modernen Turm. Einige Nato-General in Bosniens Hauptstadt Sarajevo Schicksal zu ergeben, die Herausfor­derung
Architekten schlugen eine Spitze aus Kristall gewesen. Außerdem hatte er Einsätze in Afgha- anzunehmen und die ganze Nation hinter die-
vor, »als Symbol für die Fragilität unserer Ge- nistan und an der Elfenbeinküste geleitet. Und sem Projekt zu einen. Emmanuel Macron hat
schichte«. Andere wollten ein Gewächshaus er war gläubig. Ein Katholik, der den Staats- das schon in der Brandnacht ­erkannt.«
und Bienenstöcke auf dem Dach von Notre- apparat gut kannte. Georgelin sagte zu. Der
Dame unterbringen. Wieder andere wollten Ruhestand gefiel ihm ohnehin nicht. »Wissen Sie, was die Schönheit eines Gerüsts
das Dach von unten beleuchten, damit es aus Er bezog ein Büro im Élysée-Palast, nah ausmacht?«, fragt Didier Cuiset. »Es ist die
der Ferne zu sehen sein würde. Irgendwann beim Präsidenten, und erklärte allen Kriti- Ästhetik einer perfekten Geometrie.« Cuiset
meldete sich Frankreichs Stararchitekt Jean kern, er sei es vom Militär gewohnt, eine steht in 40 Meter Höhe auf einer Plattform
Nouvel zu Wort. Sein Einwand: Es sei nicht Taskforce zu leiten – warum also nicht die direkt vor dem Vierungsturm, mitten im Him-
zwangsläufig modern, das Vorhandene durch Operation Wiederaufbau? Von da an war der mel über Paris. Man kann den wiederauf­
etwas Neues zu ersetzen. General vor allem für eines zuständig: die gebauten Turm von hier mit Händen greifen,
Er habe die Diskussion über all diese idio- Einhaltung von Macrons Fünf-Jahres-Plan. das matte Eichenholz berühren, sehen, wo
tischen Ideen nie gebremst, sagt Notre-Dame- Georgelin leitete das »Établissement pu­ die nur drei Millimeter dicke Bleischicht mit
Chefarchitekt Villeneuve. »Ich wusste, je irrer blic«, die öffentliche Einrichtung für den Wie- den hakenförmigen Verzierungen beginnt.

72 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


AUSLAND

Cuiset ist Chef der Gerüstbauer hier, seine wohnen soll. Mittlerweile wird der Wert des gezeigt hat, wozu wir fähig sind«. Macron hat
Firma hat sich auf denkmalgeschützte Bauten Anwesens auf mehr als 50 Millionen Euro dem Projekt zugestimmt.
spezialisiert. Sie rüstete schon die Kathedrale geschätzt.
in Metz ein, ebenso den Louvre in Paris und Nebenan lebt der reichste Mann der Welt Es gibt vieles, was den Erzbischof und den Prä-
das Schloss von Versailles. Seit fünf Jahren und der großzügigste Großspender für Notre- sidenten entzweit. Vor einigen Wochen wur-
wohnt Cuiset drei Tage die Woche in einer Dame. Bernard Arnault, Besitzer des Luxus- de auf Initiative von Macron das Recht auf
WG in Paris, um beim Wiederaufbau von No- konzerns LVMH, gab 200 Millionen für den Abtreibung in der Verfassung verankert. Der-
tre-Dame dabei sein zu können. »Viele Leute Wiederaufbau – doppelt so viel wie sein ewi- zeit ist ein Gesetzentwurf für Sterbehilfe in
denken, ein Gerüst sei nur ein Haufen Metall, ger Konkurrent, der Milliardär und Kunst- Vorbereitung – Themen, die Monseigneur
aber das stimmt nicht«, sagt er. »Es kann ein sammler François Pinault. nicht gefallen. Bei Notre-Dame aber sind sich
Kunstwerk sein. Wenn ich eines zeichne, füge Draußen regnet es, aber Monseigneur ist die beiden einig. »Im kommenden Dezember
ich Rohre hinzu, die es statisch gar nicht guter Dinge an diesem Vormittag. Vor weni- wird der Präsident den Katholiken die Kirche
braucht, damit es schöner aussieht. Weil ich gen Tagen fand das Richtfest des neu aufge- für die Ausübung ihrer Religion zurückgeben.
möchte, dass es dem Monument gerecht wird, bauten Dachstuhls von Notre-Dame statt. Im Und wir werden ihm dafür danken.«
das es umgibt.« Dezember hatte Laurent Ulrich den Hahn für Gläubige, Pariser und Touristen werden
Dann klettert der 58-Jährige entgegen aller den Vierungsturm geweiht, in dessen Innerem dann eine Kathedrale entdecken, die heller
Sicherheitsvorkehrungen auf ein Absperr- sich die Reliquien von zwei Heiligen, die die und strahlender ist als je zuvor. Die Steine
gitter, um Fotos zu machen. Auch dieses Brandnacht überstanden, ein kleiner Teil der und Säulen im Inneren des Kirchenschiffs ha-
Kunstwerk ist vergänglich, es wird gerade ab- berühmten Dornenkrone Jesu Christi und seit ben nach aufwendigen Arbeiten ihre ur-
gebaut. Zu den Olympischen Spielen im Som- Kurzem auch ein Pergamentpapier mit den sprüngliche Farbe zurückerhalten. Restaura-
mer soll so wenig Metall wie möglich den Namen der am Wiederaufbau beteiligten toren befreiten sie, Schicht für Schicht, vom
Blick auf Notre-Dame trüben. Handwerker befinden. Schmutz vergangener Jahrhunderte. Sie sind
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Sophie Carrère / DER SPIEGEL

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Ein paar Meter tiefer, im neuen alten Dach- Wenn nicht Unwetter oder andere Ka­ nun wieder »blond«, wie die Fachleute sagen.
stuhl der Kathedrale, riecht es nach Weih- tastrophen hinzukämen, dann werde er Diese Farbe gibt dem Kirchenschiff etwas un-
nachten und frischem Eichenholz. Zu sehen ­Notre-Dame am 8. Dezember eröffnen gewohnt Plastisches, fast Dreidimensionales.
ist hier die originalgetreue Rekonstruktion ­können, sagt Ulrich. Der ursprünglich ge- Eine Tiefe, die jahrzehntelang von Grautönen
der mittelalterlichen Dachstruktur, die der plante Termin vom 15. April 2024 musste überlagert wurde.
Brand vernichtet hatte. Alle Eichenstämme wegen erschwerter Arbeitsbedingungen wäh- Auch die Farben in der neogotischen Sa­
wurden manuell mit der Axt bearbeitet, von rend der Pandemie und starken Winden ab- kristei sind zum ersten Mal wieder sichtbar.
Zimmerleuten, die die alten Techniken noch gesagt werden. Die Restauratorinnen, die sie reinigten, wun-
beherrschen. Keine Folklore, wie sie sagen, Er habe sich Sorgen gemacht in den ver- derten sich, wie schreiend bunt dieser Raum
sondern eine Methode, die das Holz stabiler gangenen Jahren, sagt der Erzbischof. »Frank- einmal war, wie tiefblau die Decke, wie rosa
macht. Per Hand bearbeitet, kann man dem reich ist ein gespaltenes Land geworden, eine die Fresken.
Kern des Baumstamms besser folgen. An- zerklüftete Gesellschaft. Aber Notre-Dame Notre-Dame ist nun tatsächlich schöner als
schließend wurden die Balken mit Holzdü- hat es geschafft, unsere Nation für einen Mo- zuvor.
beln zusammengefügt. ment zu einen.« Ganz vorn am Altar steht eine Pietà aus
Im Garten des Erzbischofs von Paris blü- Monseigneur Ulrich will, dass der Brand dem 18. Jahrhundert, die Darstellung Marias
hen die Narzissen, von Weitem hört man Kir- vom 15. April nicht vergessen wird, auch mit dem vom Kreuz abgenommenen Jesus
chenglocken. Die katholische Kirche darf in wenn er vielleicht nur auf einen Kurzschluss Christus. Am Abend des 15. April war das
Frankreich keine Kirchensteuer erheben und oder einen anderen banalen Grund zurück- flüssige Blei vom Dach der Kirche direkt in
ist ärmer als die deutsche, dafür aber wohnt geht. Die Ursache steht bis heute nicht fest. die offene rechte Hand von Jesus geflossen
Monseigneur Laurent Ulrich sehr schön. Eine Der Erzbischof hat eine Ausschreibung ver- und hatte die gesamte Skulptur mit schwar-
vermögende Witwe vermachte der Diözese anlasst für sechs neue Kirchenfenster in der zen Spritzern beschmutzt. Heute ist davon
Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren Kathedrale. Sie sollen von zeitgenössischen nichts mehr zu sehen. Nur das Blei in der
1600-Quadratmeter-Stadtpalast samt Privat- Künstlern gestaltet werden, »um eine Spur Handfläche haben die Restauratoren be­
kapelle im 7. Arrondissement, mit der einzi- zu hinterlassen von dem Ereignis, das Notre- lassen. Als Erinnerung an einen besonderen
gen Auflage, dass hier der jeweilige Erzbischof Dame tief verwundet hat. Und das dennoch Moment. n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 73


AUSLAND

sant gestiegen. Das Menschenrechtsprojekt


Perwyj Otdel zählte im vergangenen Jahr
etwa 100 neue solcher Strafverfahren. 2022
dokumentierten unabhängige russische Me-

»Mama, glaub ihnen


dien nur etwas mehr als 20 Ermittlungen, sie
betreffen neben Hochverrat auch etwa die
Zusammenarbeit mit ausländischen Staaten

nicht, dass ich


und Organisationen.
Perwyj Otdel hat sich auf Strafsachen spe-
zialisiert, die hinter verschlossenen Türen

mich ­aufhängen würde!«


verhandelt werden. Viele der erfahrenen Ju-
risten des Projekts müssen inzwischen vom
Exil aus arbeiten. Paragraf 275 sei so vage
formuliert, dass den Behörden viel Spielraum
für Interpretation bleibe, sagt Dmitrij Sair-
RUSSLAND Der Deutschrusse Kevin Lick ist 17, als er wegen angeblichen Bek, Leiter von Perwyj Otdel. Es reichten
kleine Spenden für eine ukrainische Organi­
Landesverrats am Schwarzen Meer festgenommen wird. Seit mehr als sation oder kritische Reden im Ausland wie
einem Jahr sitzt der Schüler in Haft. Seine Mutter hofft auf Hilfe aus Berlin. im Fall des Putin-Kritikers Wladimir Kara-
Mursa. Ein Moskauer Gericht verurteilte den
Oppositionellen zu 25 Jahren Haft.

W
iktorija Lick weiß noch, wie sie an Seine Mutter sagt, sie und ihr Sohn seien In den Verratsfällen seien mehrheitlich Un-
der braunen Tür des Cafés rüttelte. mit dem Urteil nicht einverstanden. schuldige betroffen, oft willkürlich ausge-
Ihr Sohn Kevin stand an diesem Landesverrat ist die schärfste juristische wählt, sagt Sair-Bek. Sie würden vom FSB,
22. Februar 2023 neben ihr. Die beiden woll- Keule, die Wladimir Putins Sicherheitsappa- der dem Kreml seine Effizienz demonstrieren
ten nach stundenlanger Fahrt im Touristenort rat schwingt, wenn er angebliche innere Fein- müsse, zu Staatsfeinden abgestempelt: Be-
Adler unweit des Schwarzen Meeres endlich de bestrafen will. Als Feind kann sich in Russ- weise würden konstruiert, Beschuldigte durch
etwas essen. In wenigen Stunden wollten sie land jede und jeder verdächtig machen, die Provokationen dazu gebracht, sich zu belas-
weiter, vom nahe gelegenen Flughafen Sotschi Putin und seinen Angriffskrieg nicht unein- ten. Auch Folter setze der Sicherheitsapparat
nach Deutschland. Doch überall waren an geschränkt unterstützen. ein. Kaum einer der Betroffenen spreche da-
diesem Wintertag die Rollläden herunterge- Dass das Regime selbst gegen Minderjäh- rüber, sagt Sair-Bek. Nicht nur aus Angst,
lassen, Nebensaison. rige wie Kevin Lick vorgeht, zeigt, wie um- sondern weil der russische Staat ihnen jede
Plötzlich sei ein grauer Kleinbus heran- fassend Putins System versucht, die Bevöl- Möglichkeit nehme, sich zu äußern.
gefahren, sagt Lick und deutet auf die kleine kerung einzuschüchtern. Jede Form des Pro- Beschuldigte wie Kevin Lick werden von
Straße vor sich. Nach mehr als 13 Monaten tests und der Kritik soll im Keim erstickt den Sicherheitsbehörden weitgehend von der
ist sie Ende März an jenen Ort im Gebiet werden. Außenwelt isoliert, sie und ihre Angehörigen
­Sotschi zurückgekehrt, an dem der russische Die Zahl der Strafverfahren wegen Landes- können sich kaum wehren.
Staat ihr den Sohn entriss. verrats ist seit Beginn des Ukrainekriegs ra- In Adler am Schwarzen Meer recken Ende
Vier, vielleicht fünf Mitarbeiter des In- März 2024 die ersten Touristen ihr Gesicht
landsgeheimdienstes FSB seien herausge- in die Frühlingssonne. Wiktorija Lick, eine
UKRAINE
stürmt, hätten sie und den damals 17 Jahre schlanke, hochgewachsene Frau, blickt sich
alten Kevin umzingelt, sagt die Mutter. Die um. Wird sie verfolgt? Nachrichten, die sie
Männer hätten begonnen zu filmen. Einer der Krim mit dem SPIEGEL austauscht, löscht sie wie-
Beamten sagte: »Lick, Kevin Wiktorowitsch, RUSSLAND der. Ihr Handy hat sie vor dem Treffen aus-
Sie sind festgenommen nach Artikel 275 we- Maikop geschaltet. Als ein grauer Kleintransporter an
gen Landesverrats.« Schwarzes Sotschi ihr vorbeifährt, zuckt die 48-Jährige zusam-
Kevin Lick ist der jüngste Beschuldigte, Meer men. In den vergangenen Monaten habe sie
Adler
der bisher in Russland wegen Landesverrats 200 km 15 Kilogramm abgenommen, sagt sie.
verurteilt wurde. Er ist in Deutschland Lange hat die Mutter über die Inhaftierung
­geboren, besitzt neben der deutschen die rus- ihres Sohnes geschwiegen, nur wenige Freun-
von Russland besetzte Gebiete
sische Staatsbürgerschaft. Zuletzt lebte er mit de und ihr Mann Ulrich haben davon gewusst.
seiner Mutter in der südrussischen Stadt Mai- S Quellen: Institute for the Study of War, AEI’s Critical Threats Den Nachbarn in Maikop habe sie erzählt,


Project; Stand: 2. April 2024; Karte: OpenStreetMap


kop in der kleinen autonomen Republik Ady- ihr Sohn, ein hervorragender Schüler, sei nach
geja im Nordkaukasus. Mehr als sechs Zug- Moskau gezogen, um dort seine Ausbildung
stunden braucht man von dort nach Adler. zu beenden. Heute schäme sie sich für die
Im Dezember 2023 verurteilte ein Gericht Lüge. Sie wischt sich Tränen aus dem Gesicht.
den Schüler zu vier Jahren Gefängnis und einem Die deutsche Botschaft in Moskau bittet sie
weiteren Jahr, in dem er weder seine Region erst nach Kevins Verurteilung um Hilfe.
noch das Land verlassen darf. In der Pressemit- Noch am Abend der Festnahme habe sie
teilung des zuständigen obersten Gerichtshofs eine Verschwiegenheitserklärung beim FSB
Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL

heißt es, der Jugendliche habe zwischen De- in Maikop unterschreiben müssen, erzählt sie.
zember 2021 und Februar 2023 »auf dem Gebiet Sie müsse über die Ermittlungen schweigen,
der Stadt Maikop aus Unzufriedenheit mit dem sonst sehe sie ihr Kind nicht wieder, habe es
politischen Kurs der Russischen Föderation und geheißen. Die Mutter musste für jede Ge-
der von den Streitkräften ausgeführten Spezial- richtssitzung eine neue Vereinbarung unter-
operation in der Ukraine« Militärstützpunkte zeichnen, sagt sie. Bis heute darf sie nicht über
fotografiert, danach Fotos per E-Mail an einen den Prozess reden. Der Anwalt der Licks äu-
Vertreter eines ausländischen Staates geschickt. Straße von Kevins Festnahme in Adler ßert sich nicht, wahrscheinlich musste der

74 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


AUSLAND

Man kann nur spekulieren, wie der Schü-


ler ins Visier des Geheimdienstes gerückt war.
War es eine kritische Äußerung in der Öffent-
lichkeit? Hat ihn jemand angeschwärzt?
Die Mutter will dazu nichts sagen, will
auch nicht darüber sprechen, wie politisch ihr
Sohn ist. Sie schüttelt auf der Bank in Adler
bloß mit dem Kopf. Sie sagt, sie habe erst nach
der Festnahme erfahren, dass er jeden Tag
die Nachrichten verfolgt habe. Sie habe sich
gewünscht, dass er Arzt werde, in seinem
­Geburtsland Deutschland, wo sie ihm mehr
Chancen ausrechnet.
Die Rückkehr nach Deutschland bereiteten
die beiden monatelang vor. Anfang September
2022 fuhren sie nach Moskau. Kevin ließ im
deutschen Konsulat seinen russischen Wohnort
in den deutschen Pass eintragen, um seinen
letzten Aufenthaltsort kenntlich zu machen.
Die Mutter beantragte im Visazentrum Papie-
re für die Einreise nach Deutschland. Anfang

Dmitr y Serebr yakov / DER SPIEGEL


Februar 2023 wollten sie Kevin in der Militär-
behörde in Maikop abmelden, um das Land
verlassen zu können. Kevin ist als Russe ver-
pflichtet, irgendwann den Wehrdienst abzu-
leisten. Die beiden zeigten die bereits gekauf-
ten Flugtickets für die Reise nach Frankfurt
über Istanbul vor, sagten, dass Kevin in
Mutter Lick im russischen Adler mit Foto des Sohnes: »Ich bin an allem schuld«
Deutschland studieren wolle. Doch die Mit-
arbeiter hätten sich geweigert, ein entsprechen-
Jurist ebenfalls ein Dokument unterschreiben, Für Kevin sei der Umzug im Sommer 2017 des Papier auszustellen, erzählt Wiktorija Lick.
üblich bei solchen Verfahren in Russland. nach Russland schwer gewesen, er habe an- Einen Tag später, am 9. Februar, habe die
Inzwischen hat die Mutter mit Angehöri- fangs kaum Russisch gesprochen, musste die Behörde die Mutter allein einbestellt. Damals
gen anderer politischer Gefangener gespro- sechste Klasse wiederholen. Er fiel auf in Mai- habe sie sich nichts dabei gedacht. Heute sei
chen und entschieden zu erzählen, wer Kevin kop, durch seinen leichten deutschen Akzent, klar, dass die Behörden ihre für den 18. Fe­
ist, wie er behandelt wird. Sie will ihm eine seine Statur. Seine Mutter zeigt ein Klassen- bruar geplante Ausreise verhindern, Kevin
Stimme geben – und hofft auf Deutschland. foto, auf dem ihr Sohn alle anderen überragt. im Land halten wollten.
Wiktorija Lick setzt sich auf eine Bank, In der Schule wurde er gemobbt. Schüler hät- Stundenlang sei sie auf dem Militäramt
holt Fotos ihres Sohnes aus einer Tasche. Ein ten ihm einen Zettel mit der Aufschrift »Fa- wegen fadenscheiniger Gründe festgehalten
schlaksiger Jugendlicher mit runder Brille, schist« auf den Rücken geklebt. worden, sagt Wiktorija Lick. Polizisten nah-
der ernst in die Kamera schaut. Der Junge habe nur einen wirklichen men sie wegen angeblicher Beleidigung fest,
»Wieso bin ich 2017 nur mit ihm aus Freund gefunden, mit dem er durch die Wäl- ein Gericht verurteilte sie zu zehn Tagen Haft,
Deutschland zurück hierhergekommen?«, der zog, um Pflanzen zu bestimmen und sie das Urteil liegt dem SPIEGEL vor. Die Flug-
fragt sie. »Ich bin an allem schuld.« mit seiner roten Sony-Kamera zu fotografie- tickets nach Deutschland verfielen.
Kevin habe neben der Schule freiwillig ren. Vor allem verbrachte er Zeit mit seinen Nach ihrer Freilassung buchte die Mutter
Kurse für Biologie und Chemie an der Uni- Büchern. Auf Bildern von seinem Zimmer, neue Tickets: für den Zug nach Adler am
versität belegt. Wiktorija Lick zeigt zahlreiche die seine Mutter schickt, stapeln sie sich noch 22. Februar, für das Flugzeug am 23. Februar.
Urkunden und Auszeichnungen von Schul- heute auf dem Schreibtisch. Warum der FSB Kevin nicht schon vor seiner
wettbewerben. Zuletzt gewann der Junge Die Mutter will, dass aus ihrem Sohn ein- Abreise abführte, bleibt unklar.
die gesamtrussische Schülerolympiade in mal etwas wird. Sie arbeitet viel in ihrem Be- Die Beamten des Inlandsgeheimdienstes
Deutsch, damit hätte er an jeder guten Uni- ruf als Kindermasseurin, um ihrem Sohn eine bringen ihn am 22. Februar mit seiner Mutter
versität des Landes einen Studienplatz er- gute Ausbildung zu ermöglichen. »Ich habe zurück nach Maikop. In der Nacht verhören
halten. Dazu habe er eine Prämie von um- gearbeitet, gekocht und geputzt, damit er ler- sie den Jungen über Stunden, nachdem sie
gerechnet 2000 Euro bekommen. Geld, mit nen kann.« An Samstagen hätten die beiden die Wohnung der Familie durchsucht haben,
dem die Mutter den Anwalt bezahlt. zusammen Pizza gebacken. so erzählt es Wiktorija Lick. Schließlich habe
Kevin Lick wuchs die ersten zwölf Jahre Ihre Schilderungen lassen sich nicht bis ins ihr Sohn seine Schuld eingestanden, wie aus
seines Lebens in Deutschland auf, im rhein- Detail verifizieren, doch sie sind plausibel. der Erklärung des Gerichts hervorgeht. War
land-pfälzischen Montabaur. Seine Mutter, Eine enge Freundin nennt die Beziehung zwi- es die Müdigkeit? Der Schock?
die nur die russische Staatsbürgerschaft be- schen Mutter und Sohn »innig und vertrau- Die Mutter will auch dazu nichts Genaues
sitzt, sagt, sie habe sich allein um ihn geküm- ensvoll«. Kevin habe schon als Kind gewusst, sagen. Nur dass ihr Sohn sich bei der Urteils-
mert. Ihr damaliger Mann, ein Deutscher, was er wollte, Wiktorija Licks heutiger deut- verkündung im Dezember 2023 an die Gitter-
habe sie beide wenige Monate nach der Ge- scher Mann Ulrich nennt Kevin »strebsam stäbe des Käfigs im Gerichtssaal geklammert
burt verlassen. Kevin sei von seinem Vater und bescheiden«. Er hat sie vor einigen Jahren und gefragt habe: »Aber wofür denn?«
nur der deutsche Pass geblieben. im Internet kennengelernt, die beiden haben Auf Landesverrat stehen in Russland für
Wiktorija Lick sagt, sie habe sich in in Georgien geheiratet. Wiktorija und Kevin Minderjährige mindestens sechs bis zehn Jah-
Deutschland irgendwann einsam gefühlt, da- Lick waren dabei, zu Ulrich nach Süddeutsch- re, für Erwachsene zwölf Jahre Haft bis le-
mals habe noch ihr Vater in Maikop gelebt. land zu ziehen an jenem Februartag 2023, als benslänglich. Kevin Lick bekam vier, unter
Sie gab dem Heimweh nach. sie am Schwarzen Meer Pause machten. anderem weil er zur angeblichen Tatzeit min-

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 75


AUSLAND

derjährig war, seine Schuld eingestanden und


Schülerwettbewerbe gewonnen habe, so zu­
mindest erklärt es das Gericht.
Es gehe ihrem Sohn in der Haft schlecht,

»Dinge, die als verboten


sagt Wiktorija Lick. Kevin, der inzwischen
volljährig ist, sitze mit erwachsenen Mördern
zusammen. Zeitweise habe man ihn in eine

galten, sind nun erlaubt«


Sechsmannzelle gesteckt, im Juni vergange­
nen Jahres hätten ihn zwei Mitgefangene zwei
Tage lang verprügelt, ohne dass die Gefäng­
nismitarbeiter reagiert hätten. Die Männer
hätten den Jugendlichen gewürgt, gegen den
Kopf getreten, eine Zigarette auf seiner Hand ISRAEL Der frühere Diplomat Eran Etzion zeigt sich besorgt
ausgedrückt. Lick habe ihren Sohn so zuge­
richtet im Gerichtssaal gesehen, Anzeige habe über eine zunehmende Brutalität der Armee im Gazakrieg – und warnt
er nicht erstatten wollen: »Mama, im Gefäng­ vor einer Eskalation im Konflikt mit Iran.
nis herrschen andere Gesetze.«
Zweimal im Monat darf Wiktorija Lick
ihren Sohn für etwa zwei Stunden sehen. Ein­ Etzion, 57, arbeitete mehr als 20 Jahre lang in rium veröffentlicht, nicht wesentlich ab von
mal in der Woche trage sie kiloweise Essen der israelischen Regierung. In den Neunziger- den israelischen Statistiken. Ich denke, dass es
ins Gefängnis, manchmal Bücher. Momentan jahren war er im Außenministerium an Frie- in diesem Fall einfach ein operativer Fehler war.
bringe sich Kevin in Haft Geometrie bei. Ihr densverhandlungen beteiligt, später plante er SPIEGEL: Der Beschuss nacheinander von drei
Sohn habe Angst, sagt Lick. »Mama, wenn als Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats Fahrzeugen, ohne Rücksprache und Absiche­
sie dir sagen, dass ich mich aufgehängt habe, den Rückzug Israels aus dem Gazastreifen. Er rung – das klingt eher nach einem strukturel­
glaub das nicht! Dann wurde ich wahrschein­ gründete 2019 eine Partei, leitet nun ein Start- len Problem im israelischen Militär.
lich ermordet«, habe er ihr mehrmals gesagt. up und ist als Berater tätig. Seit Jahren enga- Etzion: Wenn man sich das Verhalten der isra­
Das Auswärtige Amt in Berlin bestätigt, die giert er sich außerdem in den Protestbewegun- elischen Armee nach dem 7. Oktober in Gaza
deutsche Botschaft in Moskau setze sich seit gen gegen Premierminister Benjamin Netan­ anschaut, muss man sehr besorgt sein: Es
Monaten für einen direkten Kontakt zu Kevin yahu sowie gegen die Justizreform. Etzion scheint so, dass Dinge, die als verboten galten,
Lick ein, bisher ohne Erfolg. Seit etwa zwei empfängt am Mittwochabend am Küchentisch nun erlaubt sind.
Jahren verweigerten die russischen Behörden seines Hauses in Schoresch, einer Gemeinde SPIEGEL: Immer wieder gibt es Berichte, dass
Haftbesuche bei deutschrussischen Doppel­ in der Nähe von Jerusalem. unbewaffnete Zivilisten in Gaza hingerichtet
staatlern, heißt es in einer Antwort auf eine würden. Die liberale Tageszeitung »Haaretz«
Anfrage des SPIEGEL. Moskau behandle Per­ SPIEGEL: Herr Etzion, am Montag feuerten schrieb kürzlich von »kill zones«, Tötungs­
sonen mit einer russischen und einer zweiten israelische Soldaten im Gazastreifen Raketen zonen, in denen israelische Soldaten angeb­
Staatsangehörigkeit ausschließlich als Russen. auf drei Fahrzeuge der Hilfsorganisation lich ohne Vorwarnung schießen. Auf Social
Die deutschen Behörden weisen deshalb seit World Central Kitchen, obwohl deren Route Media kursieren massenhaft Videos, in denen
Längerem in Reisewarnungen darauf hin, dass vorab abgesprochen worden war und die Soldaten die Zerstörung von Gebäuden oder
sie im Fall einer Festnahme nichts tun könnten. Autos gekennzeichnet waren. Sieben Mit­ die Misshandlung von Gefangenen feiern.
Trotzdem bemühen sich deutsche Diplo­ arbeiter wurden getötet. Was haben Sie ge­ Wie erklären Sie solche Brutalität?
maten um Kontakt zu Lick aus »humanitären dacht, als Sie davon hörten? Etzion: Einiges davon hat mit der allgemeinen
Gründen«, wie es aus dem Umfeld der deut­ Etzion: Überrascht hat es mich nicht. Die Zahl Atmosphäre im Land zu tun. Der 7. Oktober
schen Botschaft heißt. Lick kann schlecht se­ der zivilen Opfer in diesem Krieg ist sehr hoch. war ein einmaliger Schock. Große Teile der
hen, hat Arthritis. Dass der Jugendliche chro­ Im Übrigen weichen die Zahlen, die das von Bevölkerung leiden unter posttraumatischen
nisch krank ist, bestätigt auch das Gericht in der Hamas kontrollierte Gesundheitsministe­ Belastungsstörungen oder sind depressiv. Bei
seiner Mitteilung zum Urteil. manchen entsteht das Gefühl, dass man Ver­
Zuletzt besuchte die Mutter ihren Sohn am geltung üben darf. Das überträgt sich auf die
vergangenen Donnerstag. Sie berichtet, dass Armee, in der es bereits vorher problemati­
er einen Brief der deutschen Botschaft und sche Einstellungen und Verhaltensmuster gab.
weitere Post erhalten habe, neuerdings auch SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
mit ihr telefonieren dürfe. Etzion: Den Einfluss von radikalen Rabbinern,
Die Familie hat Berufung eingelegt, am von rechten Fundamentalisten, der Siedler­
Mittwoch bestätigte ein Gericht in Maikop das bewegung – dem messianischen Teil der isra­
Urteil. Es bleibt bei vier Jahren Haft. Lediglich elischen Gesellschaft. Die haben ihre Macht
das einjährige Reiseverbot und weitere Auf­ in den unteren Rängen, in den Kampfeinhei­
lagen wurden aufgehoben. Das Berufungsge­ ten und im Offizierskorps in den vergangenen
richt machte jetzt erstmals deutlich, welchen Jahren systematisch ausgebaut. Gleichzeitig
ausländischen Staat Kevin den Behörden zu­ sind viele Mitglieder des liberalen säkularen
folge unterstützt haben soll: Deutschland. In Teils der Gesellschaft schon seit Längerem
Kürze wird der Jugendliche in eine Strafkolo­ nicht mehr bereit, eine Militärkarriere einzu­
nie überstellt, vermutlich Hunderte Kilometer schlagen. Mehr und mehr Menschen aus der
Ofir Berman / DER SPIEGEL

entfernt. »Vielleicht gibt es ja eine Chance, dass Peripherie und aus sozial benachteiligten
er gegen russische Gefangene im Westen aus­ Schichten treten an ihre Stelle.
getauscht wird?«, fragt Wiktorija Lick hoff­ SPIEGEL: Wieso gelingt es der Armeeführung
nungsvoll auf ihrer Bank am Meer. nicht, in der Truppe für mehr Disziplin zu
Dafür gibt es bislang keinerlei Anzeichen. sorgen?
Christina Hebel, Etzion: Disziplin ist grundsätzlich nicht ihre
Mitarbeit: Alexander Chernyshev n Sicherheitsanalyst Etzion Stärke. Das liegt an unserer Kultur, wir Israe­

76 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


AUSLAND

Yahya Sinwar hatte sich bei der Planung des


7. Oktober wohl ohnehin schon damit abge­
funden, die Macht in Gaza zu verlieren.
SPIEGEL: Kann Israel die Hamas vollständig
besiegen, wie es Netanyahu verspricht?
Etzion: Nein, denn sie ist ja Teil des gesell­
schaftlichen Gefüges. Nicht zuletzt auch im
Westjordanland, wo sie leider als Folge des
7. Oktober noch wesentlich populärer ge­
worden ist. Diejenigen Israelis, die sich ernst­
haft mit der Lage beschäftigen, wissen, dass
es höchstens um eine militärische Neutra­
lisierung gehen kann. Der ideologische
­Einfluss der Hamas bleibt bestehen, solange
sich der Bevölkerung keine Alternativen
­bieten. Es geht darum, Herzen und Köpfe
zu gewinnen.
SPIEGEL: Wann endet die Ära Netanyahu?
Etzion: Der Tatbestand, dass er sich so lange
an der Macht hält, zeigt leider, wie sehr er das
demokratische System geschwächt hat. Die

AFP
Zerstörung in Gaza-Stadt: »Die meisten Israelis haben davon wenig Ahnung«
Mehrheit der Israelis, die nach dem 7. Oktober
unter Schock stand, kommt nun zur Besin­
lis halten uns ungern genau an Regeln. Aber Ansicht, dass frühere Friedensbemühungen nung. Die Protestbewegung in Kombination
die ethischen Normen der Armee sind ja wegen der Palästinenser gescheitert seien. mit dem steigenden Druck aus dem Ausland
­festgeschrieben. Tatsächlich schafft es die SPIEGEL: Wie wird der Gazakrieg enden? wird Netanyahu zu Fall bringen. Drei Viertel
Führung nicht durchzusetzen, dass sie ein­ Etzion: Es gibt meiner Meinung nach drei mög­der Israelis sind seit sechs Monaten konstant
gehalten werden. Die obersten Komman­ gegen diese Regierung.
liche Szenarien. Erstens: Israel bleibt für un­
deure fürchten die Reaktionen auf harte bestimmte Zeit Besatzungsmacht. Zweitens: SPIEGEL: Über allem schwebt die Gefahr eines
­disziplinarische Maßnahmen. Das könnte Eine Kombination von palästinensischen Ak­ großen Kriegs gegen die Hisbollah im Liba­
der Kampfkraft schaden. Vielleicht sind sie teuren – darunter Familienclans – übernimmt non. Seit dem 8. Oktober beschießen sich die
mit bestimmten Verhaltensweisen auch ein­ die Kontrolle oder zumindest einen Teil davon,
israelische Armee und die Schiitenmiliz. Zu
verstanden. Wichtig ist zudem: Die Armee gegebenenfalls durch Abkommen mit Israel. Beginn dieser Woche wurde eine diplomati­
ist für einen solch langen Krieg nicht kon­ Drittens, für mich die wünschenswerte Op­ sche Vertretung Irans in Damaskus bombar­
zipiert. tion: Regionalmächte wie Jordanien, Ägypten, diert, mehrere hochrangige Kommandeure
SPIEGEL: Weil sie auf eine hohe Zahl von Re­ die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi- wurden getötet. Will Israel eine Eskalation
servisten setzt, die möglichst schnell wieder Arabien übernehmen zusammen mit der Pa­ provozieren?
in ihre Berufe zurückkehren sollten? lästinensischen Autonomiebehörde die Kon­ Etzion: Allen Verantwortlichen sollte klar sein,
Etzion: Ja, das ist ein wesentlicher Grund. Die trolle. Das ist der Plan, den die US-Regierung
dass ein dritter Libanonkrieg oder gar ein
zum Reservedienst eingezogenen Soldaten bereits mit arabischen Regierungen erörtert großer Krieg mit Iran nicht in Israels Interes­
sind das Rückgrat der Wirtschaft. hat. Eine solche Bereitschaft, sich unter dense sind. Wir führen bereits seit sechs Monaten
SPIEGEL: Ist die Verrohung einiger Soldaten richtigen Rahmenbedingungen für die Been­ Krieg. Die Stimmung in der Bevölkerung ist
auch ein Ergebnis der Netanyahu-Ära, in der digung des Konflikts und eine Zweistaaten­ schlecht, die Kosten sind extrem hoch, und
manche Regelverstöße gar gefeiert wurden? die ökonomischen Schäden durch einen sol­
lösung zu engagieren, gab es noch nie. Das ist
Etzion: Das geht über Netanyahus Regierungs­ eine sehr gute Nachricht. chen Krieg wären enorm.
zeit hinaus. Das ist vielmehr ein Ergebnis der SPIEGEL: Worauf wird es hinauslaufen? SPIEGEL: Warum dann dieser Angriff auf das
Besatzung, die ja bereits seit 1967 dauert. Be­ Etzion: Wir steuern wahrscheinlich auf die ers­
iranische Konsulatsgebäude, der international
stimmte brutale Verhaltensweisen aus dem te Option zu, denn die aktuelle Regierung wird
zu Empörung geführt hat?
besetzten Westjordanland sehen wir nun auch die Bedingungen für die dritte Option auf kei­
Etzion: Leider ist es so, dass Premierminister
andernorts, teilweise von Polizisten bei Pro­ Netanyahu schon lange nicht mehr im natio­
nen Fall erfüllen. Eine neue Regierung könnte
testen von Israelis gegen die Regierung. nalen, sondern im eigenen Interesse handelt.
es vielleicht. Ich denke, eine Mehrheit der Isra­
SPIEGEL: Man bekommt den Eindruck, dass Zudem sind die wichtigsten Köpfe im Sicher­
elis wäre für diese Lösung, weil sie versteht,
vielen das Leid in Gaza gar nicht bewusst ist. welche Gefahren die anderen Optionen bergen. heitsapparat durch das Versagen am 7. Okto­
Etzion: Die meisten Israelis haben davon we­ SPIEGEL: Netanyahu betont immer wieder, ber geschwächt. Sie setzen ihm möglicher­
nig Ahnung, kennen auch nicht die weltwei­ dass die Armee unbedingt auch Rafah im äu­ weise nicht genug entgegen.
te Meinung über den Krieg. Das ist fast wie ßersten Süden Gazas erobern müsse. Dorthin SPIEGEL: Wer sonst kann verhindern, dass es
in Russland, eine eigene Realität. zu einem großen Krieg kommt?
sind mehr als eine Million Zivilisten geflohen.
SPIEGEL: Israel ist immer noch eine liberale Etzion: Das ist ein Ablenkungsmanöver, um Etzion: Vor allem die Amerikaner, die ja be­
Demokratie mit freier Presse. den Krieg zu verlängern. Die Grenze dort lie­reits kurz nach dem 7. Oktober ihr Veto gegen
Etzion: Bedingt frei. Manche Medien werden ße sich auch nicht kontrollieren, wenn wir vor
einen israelischen Präventivschlag eingelegt
von der Regierung beeinflusst. Andere Me­ Ort wären. Die Ägypter wollen das nicht, weilhaben. Sie führen fortlaufend Gespräche. Iran
dien blenden die Realität aus, weil sie auf die sie dann wie Kollaborateure aussähen. selbst war auch nicht bereit für einen solchen
Wünsche der Bevölkerung eingehen und nicht SPIEGEL: Was aber wird dann mit den ver­ Krieg. Es ist sehr schwer absehbar, wie nun
abschrecken wollen. bliebenen Hamas-Kämpfern? die Reaktion auf den Angriff ausfallen könn­
SPIEGEL: Umfragen zufolge ist eine Mehrheit Etzion: Besagte ausländische Truppen müssten te. Ich denke aber, auch wenn es zur Eskala­
der Israelis weiter für den Krieg. in Gaza die Kontrolle übernehmen, die Hamas tion käme, würden die USA vermittelnd ein­
Etzion: Die Menschen sind traumatisiert und müsste weichen. Im Idealfall würde sie die schreiten.
desorientiert. Und es gibt die grundlegende neue Realität akzeptieren. Die Führung um Interview: Thore Schröder  n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

Weißen Haus aufgeben.« Bannon gibt


sich überzeugt, dass Trump gewinnen
wird, aber er sieht sich als medialen
Arm der MAGA-Bewegung, die in sei-

Einpeitscher von rechts


nen Augen inzwischen größer ist als
Trump. »Wir stehen viel weiter rechts
als Trump.« Der ehemalige Präsident
sei in Wahrheit ein »Moderater«, und
das muss nicht als Kompliment ge-
USA Steve Bannon, der ehemalige Chefstratege des US-Präsidenten, kämpft für meint sein. Bannon jedenfalls legt
Wert auf die Feststellung, dass er kein
eine nationalpopulistische Revolution in den Vereinigten Staaten. Wer wissen will, Konservativer sei: »Wir stehen rechts
was eine zweite Amtszeit von Donald Trump bedeuten würde, sollte ihm zuhören. außen.« Hinter ihm hängt eine Fahne
mit dem Kopf eines riesigen Adlers.
Man kann Bannon als einen mo-

S
teve Bannon sitzt in seinem Again«-Bewegung (MAGA) möglich dernen Robespierre sehen, als einen
Podcast-Studio im Bundesstaat war – und sie endete so jäh, wie sie Mann, der darauf achtet, dass die Glut
Montana und sagt, die Deut- begonnen hatte. Nach nur sieben Mo- der Leidenschaft in seiner populisti-
schen hätten sich lange genug wie naten flog Bannon aus dem Weißen schen Revolution nicht erlischt. Wenn
Kinder verhalten. Damit sei nun Haus. Er musste gehen, weil er sich mit man verstehen will, was der Welt
Schluss. »Wir Amerikaner haben ver- mächtigen Leute überworfen hatte, ­bevorsteht, wird Trump noch einmal
standen, welchem Schwindel wir auf- unter anderem mit Trumps Tochter gewählt, sollte man ihm zuhören.
gesessen sind«, sagt Bannon. »Ihr Ivanka und deren Ehemann Jared Für Bannon verläuft der politische
finanziert ein großartiges soziales Kushner. Noch wichtiger dürfte gewe- Graben nicht in erster Linie zwischen
Netz mit einer guten Krankenversi- sen sein, dass Bannon seine Meinung links und rechts, zwischen Republika-
cherung und bezahlt Leute dafür, dass noch nie verbergen konnte, dass er nern und Demokraten. Sondern zwi-
sie früher in Rente gehen. Und die Trump als nützliches, wenn auch etwas schen nationalistischen Populisten,
amerikanischen Arbeiter sollen für simples Instrument einer weltweiten wie er einer ist, und der »Einheitspar-
eure Verteidigung aufkommen?« populistischen Revolution betrachtet. tei« jener Politiker jedweder Couleur
Bannon lacht kurz und kehlig. Dann Wenn Trump eines nicht leiden und Partei, die zur Sicherheitskonfe-
sagt er: »Wir werden nicht mehr für kann, dann sind es Mitarbeiter, die renz in München pilgern oder zum
eure Sicherheit garantieren.« sich selbst für schlauer halten als ihn. Trump-Anhänger Weltwirtschaftsforum in Davos: Re-
Bei einem Zoom-Call am Oster- »Ich bin nicht der Typ, der sich in beim Sturm auf das gierungschefs, Minister und Abgeord-
montag wirkt Bannon, als wäre er nie Hierarchien einfügt«, sagt Bannon, Washingtoner Kapi­ nete, die für offene Grenzen eintreten,
weg gewesen. Das volle graue Haar wenn man ihn fragt, ob er in eine zwei- tol am 6. Januar für freien Handel und eine Welt, in der
2021: Treue Kamera-
fällt ihm immer noch wild in die Stirn, te Regierung Trump einziehen würde. den, die auch in die Landkarte nicht mit Gewalt ver-
seine Klamotten sehen aus, als hätte »Ich habe so viel Macht wie noch nie, dunklen Stun­den zu ändert wird. Es sind Leute, für die
er sie in einem Secondhandshop ge- das würde ich nie für einen Job im ihm hielten Bannon nur Verachtung übrig hat.
kauft. Nur im Gesicht ist er etwas
schmaler geworden, verglichen mit
jener Zeit, als er noch im Weißen
Haus hinter Donald Trump stand und
den Eindruck erweckte, als könne er
selbst nicht ganz glauben, wohin es
ihn verschlagen hat. Er? Chefstratege
des amerikanischen Präsidenten?
Bannon, 70, war schon immer ein
Anarcho, ein Mann, dessen Karriere
seltsam chaotisch verlief. Nach der
Schule war er sieben Jahre lang in der
U. S. Navy, machte mit Anfang dreißig
einen Abschluss an der Harvard Busi-
ness School. Er kam offenbar zu Geld,
weil er bei einem Deal Anteile an
»Seinfeld« erworben hatte, einer Sit-
com über einen jüdischen Stand-up-
Comedian und dessen Freunde in Man-
hattan. »Seinfeld« wurde zur Ikone
eines großstädtischen Humors – und
Carol Guzy / ZUMA Press / picture alliance

es ist nicht ohne Ironie, dass sie bis heu-


te mit dem Leben eines Mannes ver-
bunden ist, der auf seinem Weg nach
rechts erst Chef des Krawallmediums
»Breitbart« wurde und dann – im Au-
gust 2016 – die Präsidentschaftskam-
pagne von Donald Trump übernahm.
Es war eine Karriere, wie sie wohl
nur in Trumps »Make America Great

78 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


AUSLAND

Die »Davos-Partei«, wie Bannon sie nennt, rack Obama sei gar nicht in den USA geboren
treibe die USA in einen Krieg gegen ein Russ- und deshalb ein illegitimer Präsident. Eine
land, »das im Zweiten Weltkrieg unter enor- Lüge, die sich leicht widerlegen ließ und die
men Opfern die Wehrmacht aufgehalten und bald doch fast die Hälfte aller streng konser-
so das Leben von Millionen amerikanischen vativen Wähler glaubte – einfach weil Trump
Soldaten gerettet hat«. Moskau sei kein Geg- und seine Leute sie ständig wiederholten.
ner, sondern ein potenzieller Verbündeter. Er Nun, 13 Jahre später, ist Trump der erste Prä-
rate den Europäern, schnell Frieden mit Wla- sident in der Geschichte der Vereinigten Staa-
dimir Putin zu schließen. Auf den Einwand, ten, der sich vor vier Strafgerichten verant-
dass ein solcher Deal nur zustande komme, worten muss.
wenn sich der Kremlchef große Teile der Bisher schadet ihm das nicht, weil Trump
­Ukraine einverleiben dürfe, entgegnet Ban- seinen Anhängern eingeredet hat, die Ver-

Ron Sachs / CNP / Sipa USA / picture alliance


non: »We don’t give a fuck.« fahren seien eine Intrige der Linken. Bannon
Wie jeder Eiferer teilt Bannon die Welt in glaubt, dass er dieses Erfolgsrezept auf ande-
Gut und Böse ein, in Vertraute und Verräter. re Länder übertragen kann. Die Umfragen
Auf der einen Seite stehen die treuen Kame- der AfD in Deutschland etwa ließen sich auf
radinnen und Kameraden, die auch in jenen 50, vielleicht 60 Prozent hochtreiben, sagt
dunklen Stunden zu Trump gehalten haben, Bannon. »Ich werde den ›War Room‹ in deut-
als der Ex-Präsident nach dem Sturm auf das scher Sprache herausbringen.« Der Podcast
Kapitol in Schimpf und Schande das Weiße soll »War Room Berlin« heißen. Er sucht zwar
Haus verließ: Richard Grenell, der ehemalige noch nach einem Moderator, aber die politi-
US-Botschafter in Deutschland, Michael Populist Bannon
sche Richtung steht schon fest. Die Eliten in
Flynn, Trumps ehemaliger Sicherheitsberater, Deutschland bereiteten den Weg in die »öko-
oder Marjorie Taylor Greene, die republika- glaubt, sie hätten in Trumps erster Amtszeit nomische, kulturelle und soziale Zerstörung«.
nische Abgeordnete aus Georgia. Sie alle war- versucht, die Agenda des Präsidenten zu blo- Das ist der Sound.
nen in Bannons Podcasts in den schrillsten ckieren. »Wenn sich Trump wirklich daran- Allerdings hat er bereits ein paar Mal an-
Tönen vor jenen Kräften, die angeblich Ame- macht, den administrativen Staat zu zerschla- gekündigt, eine Art rechte populistische Inter-
rika zerstören wollen: die Kommunistische gen, wird jeder Tag ein neues Stalingrad.« nationale aufzubauen. Geklappt hat das bisher
Partei Chinas, linke Spinner, die an den Kli- Bannon freut sich darauf, so scheint es nie. Und er hat ein Problem, das schon vielen
mawandel glauben, und faule Europäer, die jedenfalls. Trump ist gut fürs Geschäft, das Eiferern zum Verhängnis wurde: Wer an die
auf Kosten des kleinen Mannes in Amerika weiß Bannon. Wenn er wieder Präsident wer- Revolution glaubt, ist kaum zum Kompromiss
in der sozialen Hängematte fläzen. den sollte, will Bannon nicht nur über Politik fähig. Im vergangenen Herbst hat Bannon ge-
Die Verräter sitzen natürlich in der Regie- sprechen, sondern sie auch machen. Seine holfen, Kevin McCarthy zu feuern, den repu-
rung von Joe Biden. Aber in die Gruppe der Show »War Room« ist gespickt mit martiali- blikanischen Sprecher des US-Repräsentanten-
Gegner fallen auch Republikaner wie Floridas schen Kriegsmetaphern und gehört zu den hauses. McCarthy war der MAGA-Bewegung
Gouverneur Ron DeSantis oder Nikki Ha- erfolgreichsten politischen Podcasts in den zu weich, weshalb der ultrarechte Abgeord­nete
ley – Politiker also, die Trump herausgefor- USA. Im »War Room« ist der Covid-Impfstoff Matt Gaetz den Antrag stellte, ihn abzuwäh-
dert haben und die Bannon als Büttel einer eine Teufelsdroge, die das Gewebe von Föten len. Was schließlich gelang.
globalen Elite betrachtet, die mit ihren Mil- enthält, und Bill Gates ein Mann, der den Nach langen Kämpfen einigten sich die Re-
liarden Interessen durchsetzt. Bannon sieht Bürgern eine Kryptowährung injizieren will. publikaner auf Mike Johnson als Nachfolger,
sich in einer Schlacht, die keine Nachsicht und Vor allem hämmert Bannon seinen Hörern einen erzkonservativen evangelikalen Chris-
schon gar keine Höflichkeiten zulässt. Haley, ein, dass Trump die Wahl gestohlen worden ten aus Louisiana. Die MAGA-Bewegung fei-
lange Zeit stärkste Rivalin Trumps, nennt sei und Biden ein illegitimer Präsident sei. erte den Coup. Für einen Moment schien es,
Bannon im Zoom-Call »dumm wie einen Hält man Bannon entgegen, dies sei schon als würde der neue Fraktionschef der Regie-
Stein und gefährlich«. Selbst auf Trump blickt deshalb Blödsinn, weil der Supreme Court rung Biden den Geldhahn zudrehen. Aber
er misstrauisch. Er fühlt sich seiner Mission keine Sekunde daran gedacht hat, die Präsi- Johnson ließ sich, wie fast alle seine Vorgänger,
verpflichtet, nicht einem einzelnen Mann. dentschaft Bidens anzuzweifeln, entwickelt auf Kompromisse mit den Demokraten ein,
Was, wenn Trump sich darauf einlässt, einen er eine Theorie, die so verworren ist, dass es weil er das Land nicht ins Chaos stürzen woll-
halbwegs moderaten Republikaner wie Tim Stunden brauchte, sie zu entkräften. In einem te. Nun denkt er gar darüber nach, der Ukrai-
Scott zum Kandidaten für das Amt des Vize- Interview mit dem Journalisten Michael ne neue Hilfsgelder zu bewilligen. Für Bannon
präsidenten zu machen, den Senator aus ­Lewis 2018 sagte Bannon, beim Kampf um nackter Verrat. »Johnson wird rausgeschmis-
South Carolina? Oder, noch schlimmer: Nik- die Macht seien die etablierten Medien der sen werden, weil er uns gefickt hat.«
ki Haley? »Ich sage immer: Schließt es nicht eigentliche Feind. »Man bekämpft sie, indem Nur: Wer soll ihm nachfolgen? Matt Gaetz,
aus«, sagt Bannon. »Die Chance liegt nicht man das ganze Gebiet mit Scheiße flutet.« der die krude Theorie verbreitete, die Antifa
bei null.« Flood the Zone with Shit – dieser Spruch Ban- und nicht etwa Trump-Fans steckten hinter
Was ihm Hoffnung einflöße, sei die »In­ nons wurde auch berühmt, weil er die innere dem Sturm auf das Kapitol? Oder Marjorie
stitutionalisierung« der MAGA-Bewegung. Logik für Trumps Aufstieg offenbart. Taylor Greene, die Bidens Rede zur Lage der
Die Heritage Foundation in Washington habe Trump betrat die große politische Bühne, Nation im Kongress mit einer MAGA-Kappe
ein Netzwerk von rechten Denkfabriken ge- als er im Jahr 2011 zu behaupten begann, Ba- auf dem Kopf verfolgt hat? »Revolutionen
schaffen, um eine zweite Amtszeit Trumps sind immer chaotisch«, seufzt Bannon.
vorzubereiten. Es ist, wenn man so will, der Robespierre wurde von ehemaligen Mit-
Versuch, der rechten Revolution Richtung und streitern angeklagt und am 28. Juli 1794 auf
Ziel zu geben. Die eigentliche Schwierigkeit der Place de la Concorde geköpft. Fragt man
bestehe nicht darin, die Präsidentschaftswahl Bannon, ob er nicht fürchte, dass die Spirale
im November zu gewinnen, glaubt Bannon. »Revolutionen sind immer der Radikalisierung die amerikanische Demo-
Sondern darin , den »deep state« auszuräu- kratie zerstöre, sagt er: »Wir zerstören unser
chern – also jenen riesigen Apparat aus Tau- chaotisch.« Land nicht. Wir retten es.«
senden Karrierebeamten, von denen Bannon Steve Bannon René Pfister  n

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AUSLAND

Gute Nachrichten bevorzugt


RUANDA Vor 30 Jahren verübten die Hutu an den Tutsi einen Völkermord, Hunderttausende starben. Heute gibt
es kaum Kriminalität, die Wirtschaft wächst. Der Westen feiert das Land als Erfolgsmodell.

S
ie begrüßt die Mörderin mit einer herz- Kontinent. Nun will Ruanda Europa gar In Émilienne Mukansoros Haus, das sie als
lichen Umarmung. »Wie geht es dir?«, Flüchtlinge abnehmen. »Dialogzentrum« wiederaufgebaut hat, sitzen
fragt Émilienne Mukansoro den Gast. Der kleine Staat mit nur knapp 14 Millio- die einstigen Feinde zusammen. Sie hat den
Dann setzen sich die beiden auf eine Veranda, nen Einwohnern ist zum wichtigen politischen Zimmern Namen gegeben wie »Menschlich-
unter ihnen glitzert der Kivu-See in der Son- Player geworden, in Afrika und darüber hin- keit« oder »Das Morgen«. In der Küche
ne, Vögel zwitschern. aus. Der Westen liebt Ruanda – die Erzählung schnippeln Freunde Gemüse, ihr Haus ist zum
1994 drangen an diesem Ort Schreie aus vom Fortschritt und wirtschaftlichen Aufstieg Dorftreffpunkt geworden.
den Büschen. Hier in der Gegend um Kibuye nach dem Genozid. VW hat sich dort ange- Mukansoros Vater war im Zentrum des
im Westen Ruandas wütete der Mob beson- siedelt, Außenministerin Annalena Baerbock Dorfs mit einer Machete zerhackt worden.
ders schlimm. Von 250.000 Tutsi überlebten war im Dezember zu Besuch, um ein Bion- Auch ihre Mutter und acht ihrer Geschwister
8000. Die anderen wurden zerstückelt, er- tech-Werk zu eröffnen. Doch glaubt man wurden brutal ermordet. Dennoch ist sie vor
stochen, erschossen, erschlagen – von radi- Menschenrechtsorganisationen, ist der Staat sechs Jahren hierher zurückgekehrt. »Ich will
kalen Hutu im Blutrausch, aufgehetzt durch eine Diktatur, die Kritiker brutal unterdrückt alles dafür tun, dass so etwas nie wieder vor-
Propaganda im Radio. Etwa 85 Prozent der und in der die Geschichte des Völkermords kommt. Ich will nie wieder besiegt werden«,
Bevölkerung identifizierten sich damals als als politische Waffe eingesetzt wird. sagt die 56-jährige Psychotherapeutin.
ethnische Hutu. Die ruandische Regierung unter Präsident Trotz der staatlichen Anordnung wissen die
Émilienne Mukansoro ist Tutsi, ihre Fami- Paul Kagame hat verordnet, dass es nur noch Menschen vielerorts noch immer, zu welcher
lie wurde in weiten Teilen ausgelöscht, heute »ein Ruanda« gibt, Hutu und Tutsi als ethni- Gruppe der Nachbar, die Nachbarin gezählt
arbeitet sie mit den Tätern von einst zusam- sche Kategorien werden nicht mehr genutzt, werden, Hutu oder Tutsi. Täter und Opfer oder
men. Sie glaubt, dass Versöhnung möglich solcher »Divisionismus« wird unter harte Stra- deren Hinterbliebene haben nur selten direkt
ist – irgendwann. fe gestellt. Traditionelle Dorfgerichte haben miteinander über den Genozid gesprochen.
Epiphania, die Mörderin, ist Hutu. Vor die Täter von 1994 zur Verantwortung gezo- Émilienne Mukansoro will das ändern.
30 Jahren hat sie mit ihrem Ehemann die eige- gen, es gibt einen monatlichen Reinemachtag, Sie redet ungern über Politik. Fragt man
ne Nichte umgebracht, er schlitzte der Sechs- in dem alle zusammen die Straßen kehren. Die sie, ob Ruanda ein autokratisches Land ge-
jährigen den Hals mit der Machete auf. Der Nation packt gemeinsam an, so das Zeichen. worden sei, antwortet sie: »Wir brauchen
Vater des Mädchens, das sie ermordeten, war einen starken Mann wie Kagame.« So ähnlich
Tutsi, »verseuchtes Blut« sollte es in der Fa- formulieren es viele hier. Die Sorge vor einem
milie nicht geben. Wiederaufflammen des Konflikts sitzt tief.
Mukansoro und Epiphania, die nur ihren Präsident Paul Kagame hält den Staat seit
Vornamen preisgibt, standen damals auf 1994 fest im Griff. Mit seiner Rwanda Patriotic
zwei Seiten des Mordens, das im April 1994 Front (RPF), einer Armee aus Tutsi-Kämp-
begann und mehr als drei Monate andauer- fern, hat er im Sommer 1994 die Interaham-
te. 800.000 Menschen starben. Die Uno hat we-Milizen aus radikalen Hutu niedergeschla-
wenige Wochen nach dem Gemetzel ein gen und so den Völkermord gestoppt. Die im
­Tribunal für Ruanda gegründet, um die Land stationierten Uno-Friedenstruppen hin-
Jan Grarup / laif

Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Die Ver- gegen waren bereits kurz nach Ausbruch der
brechen wurden offiziell als Genozid ge­ Gewalt gegen die Tutsi weitgehend abgezo-
ahndet – erstmals in der Geschichte der gen, sie hatten das Land sich selbst überlassen.
­Vereinten Nationen. Ruandisches Mädchen, Leichen 1994
Nach dem Genozid wurde Kagame Vizeprä-
Am 7. April jährt sich der ruandische Völ- sident, im Jahr 2000 Präsident.
kermord zum 30. Mal. Im ganzen Land wer- DEMOKRATISCHE UGANDA Kagame begegnet der Angst vor einem
AFRIKA
den Gedenkveranstaltungen abgehalten, REPUBLIK KONGO Rückfall in mörderische Zeiten mit der ab-
Kränze niedergelegt, Bars und Restaurants soluten Kontrolle seiner Bevölkerung. Ein
haben geschlossen. Staatsgäste aus aller Welt dichtes Netz aus Spitzeln und das kompro-
reisen an. Sie blicken in die grausame Ver- Goma
misslose Vorgehen gegen Kritiker sollen seine
RUANDA
gangenheit, aber auch auf ein Ruanda, das Macht sichern. Ab 2016 hat seine Regierung
sich inzwischen als »Singapur Afrikas« ver- Kivu-See Kigali nach Recherchen von Medien die israelische
marktet, als wirtschaftliches Erfolgsmodell, Kibuye Spionagesoftware Pegasus eingesetzt.
als vereinte und aufstrebende Nation. Wer Victoire Ingabire in ihrem Haus in
In der Hauptstadt Kigali sieht es heute in einer ruhigen Seitenstraße von Kigali besucht,
Teilen aus wie in Europa. Es gibt ein moder- kann den Überwachungsstaat in Aktion er-
nes Konferenzzentrum, eine autofreie Fuß- TANSANIA leben. Ingabire ist die bekannteste Opposi-
gängerzone, deutsche Blitzersäulen säumen 50 km BURUNDI
tionspolitikerin, sie hat eine Partei gegründet,
die Straßen. Die ruandische Armee beteiligt verbrachte acht Jahre im Gefängnis. Ihre Ein-
sich an Friedensmissionen auf dem ganzen S Grafik, Karte: OpenStreetMap gangstür ist mehrfach verriegelt, »damit die


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1 2

Guillem Sar torio / DER SPIEGEL (4)


3 4

1 | Frauen bei der Feldarbeit nahe Kivumu 2 | Oppositionspolitikerin Ingabire in Kigali 3 | Psychotherapeutin Mukansoro bei Kibuye 4 | Passanten
in der Fußgängerzone der Hauptstadt Kigali

Polizei nicht so schnell hereinstürmen kann«, zimmer, als sie über ihre Disqualifizierung zählen, dass ihre Angehörigen in Ruanda ver-
sagt sie. Die 55-Jährige zeigt auf den Hügel spricht. An den Wänden hängen zahlreiche haftet worden seien, sie berichten von Ruf-
hinterm Garten: »Dort parkt immer dasselbe Jesusbilder und Kreuze. »Ich lebe hier wie in mordkampagnen in den sozialen Medien oder
Auto, das mich beobachtet.« einem Gefängnis in meinem eigenen Haus.« regierungsnahen Zeitungen. Sie alle zeichnen
Nach dem Besuch bei Ingabire wird das Während und nach dem Genozid hatte es das Bild eines Präsidenten, der über Leichen
SPIEGEL -Team von einem Mann mit Schirm- auch brutale Racheakte gegen Hutu durch geht. Die Bertelsmann Stiftung stuft Ruanda
mütze, der sich als Passant tarnt, fotografiert Kagames Tutsi-Kämpfer von der RPF gege- inzwischen als »harte Autokratie« ein. »An
und später auf dem Motorrad verfolgt. Für ben, mutmaßlich mit Tausenden Opfern, da- der fragilen politischen Grundlage Ruandas
Ausländer ist das nur verstörend – für Ruan- runter Zivilisten. Diese Taten finden im offi- wird sich wohl wenig ändern, es sei denn, das
derinnen und Ruander kann eine solche Er- ziellen Narrativ Ruandas nicht statt, gedacht Regime entschließt sich zu einer grundlegen-
fassung gravierende Konsequenzen haben. wird nur der Tutsi-Opfer. Die RPF gilt als Be- den politischen Liberalisierung«, heißt es in
Im Juli finden in Ruanda wieder sogenann- freiungsbewegung. einer aktuell veröffentlichten Einschätzung.
te Präsidentschaftswahlen statt. Bei der vori- Victoire Ingabire wägt ihre Worte genau Nicht nur Kritiker Kagames geraten schnell
gen »Wahl« bekam Kagame 99 Prozent der ab, spricht einerseits vom »Genozid gegen ins Visier. Auch wer nicht ins Bild des neuen,
Stimmen. Ingabire wurde als Kandidatin aus- die Tutsi« und andererseits von »Verbrechen fortschrittlichen Ruandas passt, wird aus dem
geschlossen. 2012 war sie wegen Terrorismus, gegen die Menschlichkeit« seitens der RPF. Weg geräumt. Straßenverkäuferinnen, Sex-
Verharmlosung des Genozids und Divisionis- »Unser Land ist auch 30 Jahre nach dem Völ- arbeiterinnen, Autowäscher, Bettler, Obdach-
mus verurteilt worden. In einer Rede hatte kermord nicht geeint«, sagt sie. Fast alle Mit- lose und Drogenabhängige werden von spe-
sie damals gesagt, Versöhnung könne es nur streiterinnen und Mitstreiter ihrer Partei sei- ziellen Greiftrupps eingesammelt und in so-
geben, wenn auch der Hutu-Opfer gedacht en im Gefängnis oder verschwunden. genannte Transitzentren gebracht. In solchen
werde. »Natürlich war das eine politische Ent- Der SPIEGEL hat mit zahlreichen Regime- Umerziehungslagern werden sie über Mona-
scheidung«, sagt sie in ihrem Sessel im Wohn- kritikern im Ausland gesprochen. Viele er- te unter unmenschlichen Bedingungen fest-

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AUSLAND

gehalten. Die Regierung spricht davon, Men­ entlang zu einem Anleger, hier dockt sein
schen zu »reformieren«. Prestigeprojekt: die »Kivu Queen«, ein Bin­
Menschenrechtsorganisationen haben die nenkreuzfahrtschiff der Luxusklasse.
Missstände umfangreich dokumentiert, auch Auf der oberen Etage gibt es einen Whirl­
der SPIEGEL hat darüber berichtet. Die Euro­ pool, unten in der Bar den besten Cham­

Florian Gaer tner / photothek / IMAGO


päische Union hat vor Jahren vergebens da­ pagner, im November hatte das Schiff seine
rum gebeten, diese Haftzentren inspizieren Jungfernfahrt, knapp 1700 Euro kostet eine
zu dürfen. Spricht man mit westlichen Diplo­ Nacht an Bord. Ein Spieler des französischen
maten in Kigali, scheint das Interesse an einer Fußballklubs Paris Saint-Germain hat sich das
Aufklärung nicht hoch zu sein. »Der Westen bereits geleistet, allerdings ist die ruandische
schaut gern weg, er will lieber die Erfolgs­ Tourismusbehörde Sponsor des Vereins. Die
geschichten aus Ruanda hören«, sagt Lewis Regierung investiert in ihr gutes Image.
Mudge, Ruandaexperte der Nichtregierungs­ Euphorisch erzählt Munya, wie er mit sei­
organisation Human Rights Watch. Er und Präsident Kagame ner Werft in Kibuye gelandet ist. Seine Groß­
sein Team recherchieren seit Jahren zu Men­ mutter stammt von den Hügeln hinter der
schenrechtsverletzungen in Ruanda. Mudge Bucht, sie wurde 1994 im Genozid ermordet.
darf inzwischen nicht mehr einreisen. Munya wuchs auf der Insel Idjwi im Kivu-See
Interviewanfragen des SPIEGEL an Kaga­ auf, auf kongolesischer Seite. Eigentlich woll­
me blieben erfolglos. Doch ein enger Ver­ te der Geschäftsmann dort investieren, in sei­
trauter lädt ein: James Kabarebe, Ex-Stabs­ ner Heimat. Doch in der Demokratischen
chef der Armee, General a. D., mittlerweile Republik Kongo hätten es ihm Korruption

Guillem Sar torio / DER SPIEGEL


Staatsminister im Außenministerium. Der und fehlende staatliche Strukturen schwer
65-Jährige war 1994 mit Kagame zusammen gemacht.
auf Kigali vorgerückt, er wurde später dessen Also schaute er sich auf ruandischer Seite
rechte Hand und stieg über die Jahre immer um. Er wandte sich ans Verteidigungsminis­
weiter auf. In seinem Büro ist es warm und terium, das ein geeignetes Grundstück besaß.
stickig, doch der ehemalige Militär sitzt in »Binnen 40 Minuten saß ich beim Minister
Anzug und Krawatte aufrecht in seinem Stuhl, Terrasse eines Luxushotels am Kivu-See
am Schreibtisch, und der fragte nur: Wie kön­
keine Schweißperle auf der Stirn. nen wir dich unterstützen?«, erzählt er. Der
Kabarebe versucht gar nicht, Ruanda als Und Ruanda hilft sogar, europäische Probleme Minister hieß damals: James Kabarebe.
Demokratie darzustellen. »Wenn uns auto­ zu lösen. Gegen Bezahlung will es Asylbewer­ Am Ende pachtete Munya zwar nicht das
kratische Herrschaft solch einen Fortschritt ber aus Großbritannien aufnehmen. Das Ziel Grundstück des Ministeriums, sondern Land
gebracht hat, ist es das Beste, was man ma­ des Deals für die Regierung in Kigali ist offen­ seines Onkels. Doch aus Kigali bekommt er
chen kann. Dann sollten alle Länder unsere sichtlich: London kann den afrikanischen Part­ viel Unterstützung, wie er sagt. Ein notwen­
Autokratie kopieren!«, sagt der Minister. Da­ ner nun nicht mehr wegen Menschenrechts­ dig gewordenes Gesetz für Binnengewässer –
nach redet er über sein Lieblingsthema: den verletzungen kritisieren, sonst könnte man ja wurde schnell geschrieben. Ermäßigungen auf
Krieg im Nachbarland Demokratische Repu­ keine Geflüchteten dorthin schicken. Stromkosten – unkompliziert gewährt.
blik Kongo. »Die Regierung dort ist korrupt, Auch Deutschland bevorzugt gute Nach­ Versöhnung durch Fortschritt und Wohl­
sie ist zusammengebrochen, die geflohenen richten aus Ruanda. Der Vorsitzende der stand, kann das funktionieren? Es ist zumin­
Völkermörder aus Ruanda haben den Osten CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander dest die Idee Ruandas: Wer viel zu verlieren
des Landes unter ihre Kontrolle gebracht«, Dobrindt, war neulich in Kigali und offenbar hat, der kämpft nicht.
schimpft Kabarebe. Er kennt den Kongo gut, derart begeistert, dass er danach einen ähn­ Eines Tages, erzählt Munya, habe ein Mit­
hat die kongolesische Rebellengruppe ADFLC lichen Flüchtlingsdeal vorschlug. arbeiter weinend in der Ecke gehockt. Er hat­
1997 dabei unterstützt, die Hauptstadt Kin­ Zur Erfolgsgeschichte, die auf den Ruinen te festgestellt, dass er einen neuen Kollegen
shasa zu erobern, als die dortige Regierung des Genozids entstanden ist, gehört auch: Die aus einem anderen Zusammenhang kannte:
gegen die Tutsi im Land vorgehen wollte. Die Wirtschaft wird dieses Jahr vermutlich um Dessen Eltern hatten seine Eltern umge­
ruandische Regierung vertritt ihre Interessen knapp sieben Prozent wachsen, das ist weit bracht, 1994. Es hat gedauert, aber heute
im Nachbarland zur Not auch militärisch. über dem afrikanischen Durchschnitt. Und die arbeiten die Söhne zusammen, Hand in Hand.
Derzeit führt erneut eine proruandische Regierung tut alles dafür, damit es so bleibt. Während am Seeufer Prestigeprojekte ent­
Rebellengruppe Krieg im Osten Kongos, sie Das lässt sich unweit von Émilienne Mu­ stehen, sind im Dorf von Émilienne Mukan­
nennt sich M23 und hat die Millionenstadt kansoros Haus beobachten, die Hügel hinab, soro viele Häuser aus Lehm gebaut, die Stra­
Goma umzingelt. Millionen Menschen sind an der zerklüfteten Küste des atemberaubend ßen ungeteert. Die Menschen ernähren sich
auf der Flucht, eine humanitäre Katastrophe schönen Kivu-Sees. von dem, was in ihren Gärten wächst. Ruan­
ist längst eingetreten. Die M23 werden maß­ 1994 trieben hier noch die Leichen. Nun da gehört weiterhin zu den 45 am wenigsten
geblich aus der Hauptstadt Kigali ausgerüstet, ragt in einer abgeschiedenen Bucht eine Art entwickelten Ländern der Welt. »Wir brau­
sagt die Uno. Kabarebe bestreitet das. Es gibt Hangar empor, lautes Hämmern und Klopfen chen unbedingt mehr Entwicklung auf dem
viele Theorien, worum es Ruanda gehen ist zu hören. Roger Munya, 54, empfängt am Land«, sagt die Therapeutin.
könnte: Rohstoffe, Einfluss, vordergründig Eingang der ersten Bootswerft Ruandas, auf Vor einiger Zeit, berichtet sie, sei eine
Schutz der dortigen Tutsi. »Es erinnert an die dem Handy zeigt er die Bilder von Super­ Gruppe Kinder an ihrem Haus vorbeigelau­
Invasion Russlands in der Ukraine«, sagt ein jachten, die er hier künftig bauen möchte. fen. Eines von ihnen habe gerufen: »Ich liebe
europäischer Diplomat. Frankreich, Belgien Im Hangar wird gerade ein Schiff aus Alu­ dieses Haus, es sieht so hübsch aus.« Das an­
und die USA haben scharfe Kritik geäußert. minium zusammengeschweißt, eine Fähre, dere habe entgegnet: »Ich hasse dieses Haus,
Dennoch gilt das ostafrikanische Land wei­ beauftragt von der ruandischen Regierung. man sollte es zerstören.« Das Kind müsse von
terhin als enger Partner Europas. Kagames Sie soll mehrere Orte auf dem Kivu-See ver­ den Eltern den Hass von früher eingetrichtert
Lieblingsspruch lautet: »Afrikanische Lösun­ binden. »Es gab hier vorher nichts, wir haben bekommen haben, sie stammten wohl aus
gen für afrikanische Probleme.« Das kommt alles aus dem Boden gestampft, mussten sogar einer Täterfamilie. Die Wunden von 1994, sie
im Westen gut an. Denn es klingt viel besser die Schweißer ausbilden«, erzählt Munya. sind noch lange nicht geheilt.
als Forderungen nach mehr Entwicklungs­hilfe. Dann läuft er einen schmalen Pfad am Ufer Heiner Hoffmann  n

82 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


SPORT
6908 Meter
lang ist der 18-Loch-Kurs heute
und damit rund 800 Meter länger
2024
als bei der ersten Austragung
des Turniers 1934.

Langer Schlag
6218
Gesamtstrecke des Golfkurses 1940
bei den Masters in Augusta,
ausgewählte Jahre,
in Metern
6648
0
6666 2002
2003

6126
1934 6899
6309 2023
1950
6808
2006

6383
1960
6867
2022
6387 6835
2000 2019

S Grafik


Um heute mit Golfprofis mitzuhalten, muss sich der Kurs des Augusta National Golf Club strecken. Als das Masters 1934 zum ersten Mal ausgetragen
wurde, schlugen die Teilnehmer mit Drivern mit Holzkopf ab. Inzwischen sind die Profis oft Modellathleten – und bei Golfbällen und -schlägern
­wurden Naturmaterialien abgelöst durch Kunststoffe, Carbon oder Titan. Der Ball fliegt immer weiter. Seit 1987 erhebt die PGA Tour Daten zur durch-
schnittlichen Abschlagsweite der Profis. 239,6 Meter schafften die Golfer damals, in der Saison 2023 lag der Wert bei 274,2 Metern.

HALL OF FAME dem Frozen Head State Park ­ arum sie teilnehmen möch-
w
ausgebrochen war. Auf seiner ten. Danach wählt Cantrell
Jasmin Paris, fast 55 Stunden dauernden
Flucht legte der Häftling rund
40 Teilnehmer aus, die Start-
nummer 1 vergibt er an den­
Ultramarathonläuferin 12 Meilen zurück. Cantrell
fand, dass in einer solchen Zeit
jenigen, von dem er überzeugt
ist, es nicht ins Ziel zu schaf-
auch 100 Meilen möglich sein fen. Jener Läufer wird als »hu-
Was ist wohl schlimmer? lauf der Zeit. »Ich war kurz da- sollten, also ungefähr 160 Kilo- man sacri­fice« bezeichnet, als
Die 100 Meilen, die in unter vor, in Ohnmacht zu fallen«, meter. So kam es 1986 zur ers- Menschenopfer. Ein Dokumen-
60 Stunden gelaufen werden sagte sie. Die Britin sprach von ten Ausgabe, bei der niemand tarfilm aus dem Jahr 2014
müssen? Die rund 16.500 Hö- Halluzinationen wegen des das Ziel erreichte. zeigt, wie viel Durchhaltever-
henmeter, die man zurück- Schlafmangels und von ihrer Interessenten müssen in mögen die Athleten mitbringen
legt? Oder die Sträucher mit Entschlossenheit, bei ihrer drit- einem Aufsatz erklären, müssen. Die Strapazen sind
ihren Stacheln, durch die ten Teilnahme am Barkley-­ wohl ein Grund dafür, warum
man muss, wenn es keinen an- Marathon die volle Distanz zu das Startgeld 1,60 US-Dollar
deren Weg gibt? schaffen. Paris arbeitet als beträgt.
Seit 1986 haben sich mehr als ­Dozentin für Kleintiermedizin Warum macht man da frei-
1000 Ultramarathon­läufer am an einer Universität, ist zwei­ willig mit? Jasmin Paris will
Barkley-Marathon im ­Frozen fache Mutter und hat seit einer Menschen inspirieren, Dinge
Head State Park im US-Bundes- Operation vor rund 20 Jahren wieder in Angriff zu nehmen,
staat Tennessee versucht. Die kein vorderes Kreuzband mehr die sie aufgeschoben haben,
meisten gaben auf. Nur 20 Läu- im linken Knie. weil Familie oder Beruf dazwi-
fer haben es geschafft – und Die Idee für den Barkley- schengekommen sind. Eigent-
Jacob Zocherman

unter ihnen ist jetzt eine Frau. Marathon kam Gary Cantrell, lich wäre ihr Erfolg ein schöner
Jasmin Paris, 40, überquerte nachdem der Mörder Martin Abschluss ihrer Ultrasport­
vor knapp zwei Wochen die Luther Kings 1977 aus dem Ge- karriere, doch sie möchte mit
Ziellinie 99 Sekunden vor Ab- fängnis Bru­shy Mountain nahe Paris der Quälerei weitermachen. JAN

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 83


SPORT

KARRIEREN
Der Verlorene
Mesut Özil war Spielmacher der deutschen Weltmeistermannschaft von 2014,
offenbar will er aber mit dem Land, für das er den Titel
errungen hat, nichts mehr zu tun haben. Die Geschichte einer Entfremdung.

M
esut Özil gibt Rätsel auf. Der ehe- rauf zu erkennen ist, dass er auf seiner linken 2013 zerstritten sich die beiden. Es gab
malige Nationalspieler, als Kind tür- Brust die Symbole der rechtsextremen Orga- geschäftliche Differenzen, aber auch private
kischer Einwanderer in Gelsenkir- nisation Graue Wölfe als Tätowierung trägt. Gründe. Im gemeinsamen Büro in Düsseldorf
chen geboren, hat Deutschland den Rücken Ist aus dem deutschen Weltmeister ein tür- wurden von einem Tag auf den anderen die
gekehrt. Er lebt jetzt in Istanbul, schottet sich kischer Nationalist geworden? Schlösser ausgetauscht, ein neues Manage-
ab, reagiert nicht auf Nachrichten. Der Kellner im Breidenbacher Hof serviert ment für die Vermarktung Mesut Özils ein-
Sein Vater sagt, auch er habe kaum noch Käsekuchen. »Schön süß«, sagt Mustafa Özil gesetzt.
Kontakt zu seinem Sohn. und lächelt. Fortan beobachtete Mustafa Özil den
Im Raucherzimmer des Hotels Breiden- Als Vater eines Nationalspielers hat er die ­Werdegang seines Sohnes nur noch aus der
bacher Hof in Düsseldorf läuft gedämpfte Welt der Fußballstars kennengelernt. Einmal, Distanz. Als Mesut Özil 2014 in Rio de Ja-
Musik. Mustafa Özil, 56, schlank, eleganter erzählt er, sei im Teamhotel der DFB-Auswahl neiro den Weltmeisterpokal in die Luft
Anzug, Schal, zündet sich einen Zigarillo an ein Händler mit Luxusuhren aufgetaucht. Ei- stemmte, saß sein Vater zu Hause vor dem
und erzählt, dass er noch nie bei seinem Sohn nige Spieler hätten wahllos eingekauft, auch Fernseher.
zu Besuch war. Vor einer Weile wollten sie sein Sohn. Einfach zum Vergnügen. Mesut Özil wurde nicht nur als Fußballer
sich in Istanbul treffen, aber Mesut habe den Fußball, ein bisschen Luxus und die beklatscht, sondern auch als Beispiel für ge-
Termin verschwitzt, sei an jenem Tag shoppen ­Videospielkonsole – das sei alles gewesen, lungene Integration. Mühelos schien er zwi-
gegangen. wofür Mesut sich interessiert habe, sagt schen den Kulturen hin und her zu dribbeln.
Mustafa Özil haucht einen Rauchring in die ­Mustafa Özil. Dass jetzt über seine Ge­ Mal schüttelte er nach einem Länderspiel in
Luft und drückt sich noch tiefer in den Sessel. sinnung spe­kuliert werde, sei absurd. »Der der Mannschaftskabine mit nacktem Ober-
Mesut Özil, der Spielmacher der Weltmeis- Junge hat mit Politik nichts am Hut. Er ist körper Kanzlerin Angela Merkel die Hand,
termannschaft von 2014, war ein Genie am kein Nationalist.« mal pilgerte er nach Mekka und posierte im
Ball. Ein brillanter Techniker, elegant und mit Der Vater verteidigt seinen Sohn. Die Sym- langen Gewand vor der Kaaba.
Übersicht, der Tore vorbereitete und häufig bole der Grauen Wölfe – die Gruppierung hat 2010 wurde Özil in Potsdam ein Bambi
selbst schoss. Er spielte für berühmte Klubs, auch in Deutschland mehr als 12.000 Anhän- verliehen. Auf der Bühne bedankte er sich
bei Real Madrid, dem Arsenal in London. ger – habe Mesut sich stechen lassen, ohne artig – und verschwieg, dass er auch als Fuß-
Im Sommer 2018 beendete der Eklat um eine klare Haltung damit zu verbinden. Mus- baller nicht nur gute Erfahrungen in Deutsch-
Fotos mit dem türkischen Präsidenten Recep tafa Özil versteht es als eine Art Trotzreak- land gemacht hatte.
Tayyip Erdoğan seine Laufbahn in der Natio- tion, sein Sohn wolle provozieren. Oft mokierten Fans sich über seine lässige
nalmannschaft. In den Jahren danach wandte Mustafa Özil stammt aus Devrek, einer Art, spotteten über seinen Akzent oder hetz-
Özil sich immer stärker von Deutschland ab. Stadt in einer Bergbauregion an der Schwarz- ten gegen ihn, weil er bei der Nationalhymne
Offenbar will er mit dem Land, für das er in meerküste der Türkei. Als Kind kam er nach nicht mitsang. Der ehemalige Nationalspieler
Rio de Janeiro den WM-Titel erkämpft hat, Deutschland, wuchs im Ruhrgebiet auf, lern- Mario Basler machte sich einmal über Özil
nichts mehr zu tun haben. te Schlosser und verdiente später sein Geld lustig und meinte, er wirke auf dem Fußball-
Die Geschichte des Ausnahmefußballers als Gastronom. Als sich abzeichnete, dass sein platz wie ein »toter Frosch«.
Mesut Özil ist die Geschichte eines Verstoße- jüngster Sohn das Zeug zum Fußballprofi Im Mai 2018, gut vier Wochen vor Beginn
nen – und einer Entfremdung. Er wohnt seit ­hatte, wurde er dessen Berater. Und steuerte der Fußball-WM in Russland, veranstaltete
2021 fest in der Türkei. Über seinen Alltag Mesuts atemberaubende Karriere. die Stiftung Turken, die Stipendien an türki-
dort ist wenig bekannt. 2019 heiratete er in sche Studenten im Ausland vergibt, eine Gala
Istanbul, einer seiner Trauzeugen war im Londoner Hotel Four Seasons. Özil und
Erdoğan. Vergangenes Jahr beendete Özil İlkay Gündoğan, ein anderer Nationalspieler
nach schwankenden Leistungen bei dem Erst- mit türkischen Wurzeln, waren mit einigen
ligisten Istanbul Başakşehir seine Profikarriere, anderen türkischstämmigen Premier-League-
mit gerade mal 34 Jahren. Spielern zu der Feier eingeladen worden. Der
Es gab Gerüchte, er werde als Trainer die türkische Präsident Erdoğan hielt als Ehren-
türkische Nationalmannschaft übernehmen. gast eine Rede und traf die Fußballer in einem
Wegen seiner Nähe zu Erdoğan werden Özil Nebenraum.
aber auch politische Ambitionen nachgesagt. Ein Fotograf der türkischen Nachrichten-
Angeblich, hieß es, solle er einen Minister- agentur Anadolu schoss ein paar Bilder. Am
Steffen Roth / DER SPIEGEL

posten in der Türkei erhalten. nächsten Morgen verbreitete Erdoğans Partei


Tatsächlich verbringt Özil viel Zeit im Fit- AKP die Fotos. Auf einem überreicht Özil
nessstudio. Bilder seiner aufgepumpten Mus- dem Präsidenten ein Trikot von Arsenal. Özil
keln postet er nach den Einheiten an seine hatte Erdoğan in den Jahren zuvor schon
vielen Follower. mehrfach getroffen, ohne dass es Gerede
Vorigen Juli war Özil dann auf einem Foto ­gegeben hatte. Diesmal aber war es anders.
zu sehen, das für Aufregung sorgte, weil da- Vater Özil in seinem Haus in Düsseldorf »So einer hat es nicht verdient, das deutsche

84 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


SPORT

Sercan Kucuksahin / Anadolu / picture alliance

Fußballer Özil bei Süper-Lig-


Spiel im Februar 2023

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 85


SPORT

Turkish Presidency Press Ser vice / AP / dpa


Guido Bergmann / dpa
Nationalspieler Özil mit Kanzlerin Merkel 2010, mit Mitspieler Gündoğan und Staatspräsident Erdoğan 2018: »Ich stehe zu meinem Land«

­ rikot zu tragen«, hieß es. »Verpiss dich nach


T tigt. Bei dem Turnier ging es darum, den WM- Pokal-Finale in Berlin mit den Spielern im
Anatolien.« Titel zu verteidigen. Bierhoff hatte nicht mit- Schloss Bellevue zu treffen.
Mustafa Özil wühlen die Ereignisse von bekommen, dass zwei seiner Nationalspieler Özil, erzählt Reinhard Grindel, sei erst
damals immer noch auf. Aus einem Fototer- vor der Abreise ins Trainingslager nach Süd- nach einigem Zögern bereit gewesen, ein
min war plötzlich Politik geworden, eine Art tirol noch einen Termin in London hatten. Flugzeug nach Berlin zu besteigen. Der ehe-
Kulturkampf. Als Bierhoff dann im Netz die Fotos sah, malige DFB-Chef, der 2019 sein Amt räumte,
Gündoğan wurde danach genauso ange- ahnte er, dass es Kritik hageln werde. Medien schildert haarklein die Abläufe und Ereignis-
feindet wie Özil, anfangs litt er unter den Be- kommentierten, die Begegnung mit dem Auto- se von damals. Manchmal gibt Grindel ganze
schimpfungen sogar noch mehr als sein Kol- kraten zeuge von einem bedenklichen Werte- Dialoge aus seiner Erinnerung wieder, es
lege. Aber irgendwann schüttelte er das alles bild der Fußballer, und forderten ihren Raus- wirkt wie ein Kammerspiel.
ab. In England entwickelte er sich als Fuß- wurf aus dem WM-Kader. Der Grünenpolitiker Vor dem Termin bei Steinmeier trafen sich
baller weiter, vergangenes Jahr wurde er zum Cem Özdemir warf den Sportlern vor, sie hätten die Fußballer, ihre Berater, Bierhoff und der
Spielführer der Nationalmannschaft ernannt. sich als Wahlhelfer für Erdoğan missbrauchen damalige Bundestrainer Joachim Löw in der
Mustafa Özil findet es kurios: Warum führ- lassen; in der Türkei stand im Juni 2018 die Suite von Grindel im Hyatt-Hotel in Berlin.
te die Fotoaffäre bei seinem Sohn zum Bruch Präsidentschaftswahl an. Der damalige DFB- »Ich habe da sehr sensibel geredet«, erzählt
mit seinem alten Leben in Deutschland, wäh- Präsident Reinhard Grindel erklärte in einem Grindel, »ich habe den beiden Spielern er-
rend Gündoğan jetzt der Mann ist, der die Statement, die Sportler hätten mit der Aktion klärt: Da ist Wahlkampf in der Türkei, und
DFB-Auswahl im Juni bei der Heim-Europa- die Integrationsarbeit des Verbands torpediert. Erdoğan steht nicht für die Werte des DFB.
meisterschaft anführen wird? »Es war schon erschreckend, plötzlich wur- Das müssen wir kritisieren.«
Oliver Bierhoff sitzt in einem Café im den die dargestellt wie Staatsfeinde«, sagt Gündoğan habe abermals bekräftigt, sich
­Bayerischen Hof in München auf einer moos- Bierhoff. mit seiner Heimat Deutschland zu identifizie-
grünen Couch. Der ehemalige Direktor des Er führte Krisentelefonate mit den Spie- ren. Dann hätten alle Özil angeschaut, der sag-
Deutschen Fußball-Bundes (DFB) und Team- lern. Gündoğan erkannte, wie heikel die Lage te, er sei nur gekommen, weil der Bundestrainer
manager der Nationalmannschaft hat selbst war. Er erklärte, die Fotos seien kein politi- es ihm aufgetragen habe. Es sei Ramadan, er
noch gegen Mesut Özil Fußball gespielt. Bier- sches Statement gewesen, sie hätten sich aus wolle nach Hause und mit seiner Familie essen.
hoff, Europameister von 1996, kickte manch- Höflichkeit und »Respekt vor unseren türki- Grindel macht eine kurze Wirkungspause
mal zum Spaß bei Trainingspartien der DFB- schen Wurzeln« mit Erdoğan fotografieren und verdreht die Augen. Dann erzählt er, wie
Auswahl mit, oft war dann Özil sein Gegner. lassen. Er war smart genug zu erkennen, dass Löw in einem Nebenzimmer auf Özil einge-
»Und ich glaube, Mesut hat nie ein Tor er nicht einfach abtauchen konnte. Ihm war redet und ihm erläutert habe, dass für ihn die
gegen mich gemacht«, sagt Bierhoff und klar, dass prominente Fußballer Vorbilder WM vorbei sei, wenn er das Treffen platzen
grinst. sind, dass sie auch für ihre Aktivitäten abseits lasse. Erst um kurz vor sechs habe Löw Özil
Özil war nicht unbedingt ein Trainings- des Fußballplatzes Verantwortung tragen. überredet, doch zu Steinmeier zu fahren, er-
weltmeister. »Aber wenn es ernst wurde auf Özil hingegen schwieg. Er sei nicht der Typ zählt Grindel. »Die sind deshalb zu spät ge-
dem Platz, dann war Mesut da«, sagt Bierhoff. gewesen, sagt Bierhoff, der gern öffentlich kommen zu dem Termin.«
Er war eine Laufmaschine, eine Passmaschine, über seine Motive und Gedanken redete. Zu- Nach der Unterredung mit Steinmeier wur-
ein Kämpfer. Ein Spielmacher eben. dem sei er der Meinung gewesen, er müsse den vor dem Schloss Bellevue Fotos geschos-
Bierhoff mochte Özil. »Diszipliniert, höf- sich für nichts entschuldigen. Offenbar glaub- sen. Der Bundespräsident lächelte milde. Auf
lich, sensibel«, so habe er ihn kennengelernt. te Özil, die Aufregung würde sich legen. Doch seinem Facebook-Account postete er: »Hei-
Sie hatten ein gutes Verhältnis. Nach dem Sieg mit jedem Tag wurde die Debatte über das mat gibt es auch im Plural.« Özil wurde mit
im WM-Finale 2014 gegen Argentinien nahm Foto heftiger. Im Netz bekriegten sich Özils dem Satz zitiert: »Ich bin hier aufgewachsen
Özil Bierhoff in den Arm und sagte: »Oliver, Kritiker mit seinen Unterstützern, die Foren und stehe zu meinem Land.«
jetzt können sie nicht mehr über uns behaup- quollen über von Beschimpfungen und ras- Grindel dachte, die Affäre sei damit be-
ten, dass wir nichts gewinnen.« sistischen Kommentaren. endet. Doch den Kritikern war Özils Aussage
In den Jahren nach dem WM-Triumph Wieder war es Gündoğan, der die Initia­tive nicht kraftvoll genug. Und so begleitete das
habe Özil wie befreit gewirkt, sagt Bierhoff. ergriff. Er schlug ein Treffen mit Bundesprä- Erdoğan-Thema die Nationalmannschaft ins
Oft entschied er Spiele bei seinem damaligen sident Frank-Walter Steinmeier vor. Die Idee WM-Vorbereitungstrainingslager nach Süd-
Klub Arsenal fast im Alleingang. war, abermals ein Foto zu machen, diesmal tirol. Gleich neben dem Übungsplatz war für
Als die Sache mit den Erdoğan-Fotos pas- mit dem richtigen Staatsoberhaupt. Das Bun- Journalisten ein Medienzelt aufgebaut wor-
sierte, im Mai 2018, war Bierhoff mit den Vor- despräsidialamt wurde kontaktiert. Stein- den. Weil es sportlich nicht viel zu berichten
bereitungen für die WM in Russland beschäf- meier war einverstanden, sich vor dem DFB- gab, fragten die Reporterinnen und Reporter

86 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


SPORT

jeden Tag, wann Özil auf der Inter- »Man hat es Kriterien, ein vollwertiger Deut- kann sich Bierhoff aber dennoch nicht
viewbühne erscheinen und sich end- scher zu sein, die ich nicht erfülle?« vorstellen. »Ich habe ihn weder poli-
lich erklären würde. Aber er kam nie. das Gefühl, Reinhard Grindel meint, erst Özils tisch noch radikal erlebt.«
Mesut Özil bewegte sich damals dass er mit stoisches Schweigen habe bewirkt, Mitte Juni beginnt in Deutschland
im Kreis der Nationalspieler wie in
einer Blase, als gäbe es die Erdoğan-
Deutschland dass die Sache aus dem Ruder gelau-
fen sei. Die Fans hätten ein Bekennt-
die Fußballeuropameisterschaft. In der
DFB-Auswahl spielen Männer mit
Debatte da draußen gar nicht. Er trai- abgeschlos- nis zu Deutschland verlangt, aber da Wurzeln in Sierra Leone, Nigeria,
nierte konzentriert, hatte seinen Spaß sen hat.« sei ja nichts von ihm gekommen. Bis Ghana, der Elfenbeinküste, der Tür-
mit den Kollegen. Einmal nahm Löw heute hat Özil kein ausführliches kei. Innenverteidiger Antonio Rüdiger,
Oliver Bierhoff,
seinen Spielmacher nach einer Ein- ehemaliger Interview über seine politische Hal- ein gläubiger Muslim, postete Mitte
heit in den Arm und drückte ihn lange DFB-Direktor tung gegeben, auch eine Anfrage des März ein Foto, das ihn auf einem Ge-
wie einen Sohn. SPIEGEL blieb unbeantwortet. betsteppich zeigt. Der Zeigefinger der
Bei einem Testspiel gegen Öster- Der moderne Fußball ist mehrdeu- rechten Hand ist nach oben gestreckt.
reich in Klagenfurt aber wurde deut- tig, jedes Bild, jede Äußerung, jede Der ehemalige Chef der »Bild«-Zei-
lich, wie vergiftet die Atmosphäre Geste wird sofort interpretiert. tung, Julian Reichelt, behauptete da­
inzwischen war. Özil und Gün­doğan Gleichzeitig verlangen Fans und Me- raufhin bei X, der Fußballer habe eine
wurden von deutschen Schlachten- dien Eindeutigkeit. Sportler sollen islamistische Geste gezeigt. Rüdiger
bummlern im Stadion ausgepfiffen. eine Meinung haben, zur Politik, zu erstattete Anzeige wegen Beleidigung
Löw und Bierhoff waren verzweifelt. Missständen, zu großen gesellschaft- und Volksverhetzung. Und auch der
Zwei Tage vor Ende des Trainings- lichen Fragen, sie sollen Zeichen set- DFB reagierte schnell und meldete den
lagers wurde ein Medientag mit allen zen und Zeichen deuten; wer diese Vorgang bei der Zentralstelle zur Be-
Nationalspielern im Mannschafts­ Zeichensprache nicht beherrscht und kämpfung der Internetkriminalität.
hotel veranstaltet. Die Sonne schien, nur Fußball spielen will, hat es schwer. Mustafa Özil gibt dem Kellner ein
es war heiß. Irgendwo im Garten plät- Oliver Bierhoff sucht den Grund reichliches Trinkgeld, zieht sich einen
scherte ein Brunnen. für die Eskalation auch bei den Ver- dicken Mantel über und tritt hinaus
Gündoğan nahm tapfer vor aus- antwortlichen. »Der DFB, wir alle hät- auf die Straße. Um die Ecke, auf der
gewählten Medienvertretern Platz ten uns klar für eine Linie entscheiden Königsallee, drängen sich die Men-
und machte noch mal seinen Stand- müssen. Entweder aus dem Kader schen. Die Sonne scheint. Er schaut
punkt klar: Der Ärger tue ihm leid, streichen oder voll hinter Mesut ste- in den blauen Himmel, holt tief Luft
er habe mit dem Erdoğan-Foto keine hen, aber dann richtig, ohne Wenn und und sagt unvermittelt, er lebe gern in
politische Botschaft senden wollen. Aber. Dieser Spieler gehört zu uns. Düsseldorf, »ist doch gut hier«.
Es war auch ein Tisch mit dem Na- Wir verstehen seine Beweggründe. Er Er sagt, sein Sohn fühle sich nicht
menskärtchen von Özil vorbereitet, ist und bleibt einer von uns. Punkt.« akzeptiert in Deutschland, nicht res-
die Journalisten reihten sich davor Bierhoff hat die Entwicklung Özils pektiert. Und erzählt dann von sich,
auf, als belagerten sie eine Festung. in den vergangenen Jahren beobach- von Einreisekontrollen am Flughafen,
Ex-Profi Özil im Juli
Aber wieder erschien Özil einfach 2023*: Tätowierung
tet. »Man hat schon das Gefühl, dass wo er als Einziger aus der Schlange ge-
nicht, er blieb auf seinem Zimmer. einer rechtsextremen er mit Deutschland abgeschlossen zogen worden sei. Von einem Besuch
Danach war er erledigt. Gündoğan Gruppierung hat«, sagt er. Eine Radikalisierung auf dem Amt, es ging um die Aufent-
hatte in den Augen der Kritiker Ein- haltserlaubnis seiner damaligen Frau.
sicht gezeigt, Özil aber galt als Ver- Es fehlten Unterlagen. Der Beamte
weigerer. Sein Schweigen wurde als habe sie angeschnauzt. Bitte nicht in
Zeichen gedeutet, dass er sich nicht diesem Ton, habe er entgegnet, sagt
von Erdoğan distanzieren wolle. Özil. Er zahle hier Steuern wie jeder
Grindel spielte nach dem Eklat andere Bürger dieses Landes auch.
beim Medientag mit dem Gedanken, »Ich lebe seit 50 Jahren in Deutsch-
Özil zu suspendieren. DFB-Direktor land, aber immer noch kommt es mir
Bierhoff erläuterte dem Chef je- so vor, als wäre ich nicht so viel wert
doch, dass es für Bundestrainer Löw wie andere. Das ist nicht schön. Das
keine Option sei, einen seiner wich- bekommen die Deutschen gar nicht
tigsten Spieler zu opfern – wegen so mit«, sagt Mustafa Özil.
eines Fotos. Vor gut einem Jahr hat sich Mesut
Bierhoff setzte darauf, dass die De- Özil mit Ex-Bundestrainer Joachim
batte über Özil verstummen würde, Löw ausgesprochen. Löw war ent-
wenn das Turnier erst einmal angefan- täuscht von Özils abruptem Rücktritt
gen habe. Aber dann ging in Russland aus der Nationalmannschaft.
alles schief. Die DFB-Auswahl schei- Manchmal besucht Özil seine Mut-
terte bereits in der Vorrunde, Özil ter in Gelsenkirchen oder Freunde im
wurde zum Sündenbock erklärt, mit Ruhrgebiet.
hängendem Kopf ging er vom Platz. Mustafa Özil sagt zum Abschied,
Dreieinhalb Wochen später gab er habe die Hoffnung nicht aufgege-
Özil seinen Rücktritt aus der National- ben, dass sein Junge sich irgendwann
mannschaft bekannt. In einem wüten- mit Deutschland versöhne. Dem
den, mit Vorwürfen gespickten State- Land, in dem er geboren wurde, in
ment stellte er damals eine Frage, auf dem er als Fußballer so viel erreicht
die er nie eine Antwort bekam: »Gibt hat. Vielleicht werde es noch zwei
oder drei Jahre dauern, bis es so weit
* Mit dem Personal Trainer Alpar Aksaç in sei. Er werde warten.
ddp

­Istanbul. Rafael Buschmann, Gerhard Pfeil  n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 87


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Ivan Pedretti / World Nature Photography Awards


Der Sand so schwarz, der Berg so weiß: Der italienische Landschaftsfotograf Ivan Pedretti stammt von Sardinien, dieses Bild aber schoss er
im Südosten Islands. Es zeigt den Strand auf der Halbinsel Stokksnes, dahinter den Berg Vestrahorn. Vor allem aber fängt die Aufnahme
einen Teil jener Magie ein, die viele Menschen mit dem Vulkaneiland im Nordatlantik verbinden. Eine Jury in London sah das auch so und zeichnete
Pedretti jetzt mit dem World Nature Photography Award in der Kategorie Landschaften aus.

Fleischeslast
Lebensmittel­system. Getreide-, Gemüse- und Obstproduzenten
bekämen vergleichsweise wenig Geld aus den EU-Kassen.
Fleisch, Eier und Milch verantworteten zusammen 84 Prozent
der Treibhausgase im Agrarsektor. Ihr Nutzen für die Ernäh-
ANALYSE Die EU fördert die Produktion
rung falle indes wesentlich geringer aus: Europäer bezögen nur
k­ limaschädlicher Lebensmittel besonders stark. etwas mehr als ein Drittel ihres Kalorienbedarfs aus Lebens­
Das sollte sich ändern. mitteln tierischen Ursprungs.
Die Steuerzahler in der EU, so die Forscher, bezahlten der-
Europäer essen zu viel Fleisch, Eier und Milchprodukte. Damit zeit nicht nur für ein System, das gesundheits- und klimaschädlich
schaden sie nicht nur ihrer Gesundheit, sondern auch dem Kli- sei, sondern zudem auch regelwidrig: Rund zwölf Prozent der
ma. Unterstützt wird dieser Missstand durch die Politik der Subventionen finanzierten Lebensmittel, die in Drittstaaten ex-
Europäischen Union. Das ist das Ergebnis einer Studie aus den portiert wurden, darunter Russland, China und die USA. Öffent-
Niederlanden, die jetzt in der Fachzeitschrift »Nature Food« er- liche Zuwendungen seien aber nur legal, so die Autoren, wenn
schienen ist. davon Agrarprodukte für den europäischen Markt gefördert
Der größte Teil aller EU-Agrarsubventionen – 82 Prozent – würden. Die Experten plädieren dafür, die EU-Subventionen für
fließt demnach entweder direkt in die Tierhaltung oder in die die Landwirtschaft nach Umwelt- und Klimakriterien neu aus­
Futtermittelproduktion. Von den gut 55 Milliarden Euro, die von zurichten. Laut der Forscherin Anniek Kortleve, die ebenfalls an
der EU jährlich an Bauern verteilt werden, gehen etwa 45 Mil- der Studie beteiligt war, könne die EU-Agrarpolitik auch so ge-
liarden Euro an diesen besonders klimaschädlichen Zweig der staltet werden, dass eine nachhaltige Lebensmittelproduktion für
Landwirtschaft. Studienautor Paul Behrens von der Universität Landwirte finanziell attraktiv werde. Auch Konsumenten sollten
Leiden hält dies für »besorgniserregend«, denn die Agrar­ sich umstellen: »Eine pflanzenreichere Ernährung ist dringend
subventionen behinderten den Übergang zu einem nachhaltigen erforderlich«, heißt es in dem Papier. Susanne Götze

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Existenzbeweis für den ­ rgebnis, von den Forschern jetzt ver­
E ausgerottet. Gleiches widerfuhr dem
öffentlicht in der britischen Fachzeitschrift Bali-Tiger, der 1937 zum letzten Mal gesich-
Geistertiger »Oryx«: Das gefundene Haar stammt tet wurde. Einzig der Sumatra-Tiger
ARTENSCHUTZ Der Java-Tiger wurde 2008 ­zweifellos von einem Java-Tiger. Nun wol- hält sich bis heute in der Wildnis, allerdings
offiziell als ausgestorben erklärt, mehr als len Forscher in der Region im Westen gibt es frei lebend kaum noch 400 Tiere
drei Jahrzehnte nach der letzten bestätigten der Insel nach weiteren Hinweisen auf die dieser Unterart. Schätzungsweise weitere
Sichtung. Nun mehren sich Hinweise, dass Tiere suchen. 200 Exemplare der Raubkatze leben
mindestens eine der Großkatzen auf der Vereinzelt hat es früher schon Berichte in Zoos. ME
dicht besiedelten indonesischen Hauptinsel über Sichtungen gegeben, aber sie konnten
doch noch existieren könnte. Am 18. Au- nicht bestätigt werden. Manche Zeugen
gust 2019 will ein Landbewohner im Wes- ­hatten den Java-Tiger mit dem kleineren
ten Javas im Wald einen Tiger gesehen ha- (und ebenfalls existenzbedrohten) Java-
ben, worauf ein Forscher die Stelle Tage Leoparden verwechselt. Vor Jahren
später näher untersuchte. Er fand dort pas- wurden zahlreiche Kamerafallen in einem
sende Spuren großer Tatzen und Klauen­ Nationalpark aufgestellt, um die Gerüchte

Ed Restle / Museum Wiesbaden


abdrücke – sowie ein einziges Haar in abzuklären. Doch auch sie lieferten
einem Zaun, über den das Tier womöglich keine Anhaltspunkte für die Existenz des
gesprungen war. Java-­Tigers.
Das Haar wurde von der indonesischen Ehedem war das Raubtier weitverbreitet
Naturschutzbehörde genetisch untersucht auf der Insel. Nachdem es intensiv bejagt Ausgestopfter Java-Tiger
und unter anderem mit Proben eines ausge- worden war und überdies große Teile seines im Museum Wiesbaden
stopften Museumstigers verglichen. Das Lebensraumes verloren hatte, galt es als

»Sie flogen perfekt« viel komplexer als ein Faustkeil, dem unteren Teil des Stamms, abgeschabt wurde. Manche
der bisher als das technologi- wo das Holz besonders dicht ­Stücke haben die Steinzeitmen-
Der Archäologe sche Spitzengerät der Steinzeit und hart ist. Den weicheren Be- schen mit Reibsteinen oder
Dirk Leder, 42, gilt. Tatsächlich ist die Holzbe- reich der Markröhre sparten Gras geglättet. Teilweise wur-
vom Niedersäch­ arbeitung wahrscheinlich ge- die Steinzeitmenschen gezielt den defekte Speere auch längs
sischen Landes­ nauso alt wie die von Stein, also aus. Sie mussten also den gespalten, um ein neues Werk-
amt für Denkmal­ zweieinhalb bis drei Millionen Stamm abschlagen, die Äste und zeug daraus zu fertigen. Man
Privat

pflege über Jahre. Vielleicht müsste man die Rinde entfernen, die Spitzen hat also Holz recycelt. Bisher
die komplexen Holzwaffen eher von der Holzzeit sprechen formen und womöglich auch kannte man das Spalten von
der Neandertaler als von der Steinzeit. über dem Feuer härten. Außer- Holz erst aus der Zeit vor etwa
SPIEGEL: Was ist so schwierig dem haben sie die Speere 10.000 Jahren. Nun wissen wir,
SPIEGEL: Herr Leder, die daran, einen Speer aus Holz zu so ­dimensioniert, dass mehr Ge- dass es auch schon mehrere
Schöninger Speere gelten als die bauen? Man nimmt einen lan- wicht im vorderen Drittel lag. Hunderttausend Jahre vorher
­ältesten gut erhaltenen Jagd- gen Ast und spitzt ihn vorn an, Dadurch flogen sie perfekt. gemacht wurde.
waffen der Welt. An der Fund- fertig ist die Jagdwaffe. SPIEGEL: Woher wissen Sie SPIEGEL: Welche Tiere
stelle in einem ehemaligen Leder: Das könnte man denken. so genau, wie das Holz bearbei- jagten die Neandertaler mit den
­niedersächsischen Tagebau ha- Tatsächlich war die Sache viel tet wurde? ­Schöninger Speeren?
ben Sie weitere Gegenstände komplizierter. Alle Schöninger Leder: Wir sehen an den Enden Leder: Das hauptsächliche Jagd-
entdeckt. Welche? Speere wurden jeweils nach der Speere, dass das Holz wild waren Wildpferde. Sie
Leder: Wir haben Speerspitzen einer Art Rezept in fünf oder ­gehackt wurde, von den abge- schleuderten die Speere aber
und Schaftfragmente gefunden sechs standardisierten Schritten schnittenen Ästen sind noch ebenso auf Rothirsche, Wisente
sowie 80 uns bisher unbekannte gefertigt – und zwar aus einem Narben in der Oberfläche zu se- und Auerochsen. Mit Wurf­
Werkzeuge. Die Jäger der Alt- Baumstamm, nicht aus einem hen. Es gibt auch typische Mus- hölzern erlegten sie wohl
steinzeit, also vermutlich Nean- Ast. Die Speerspitze kommt aus ter, die zeigen, dass die Rinde schnellere, kleinere Tiere wie
dertaler, haben sie vor etwa Vögel, Hasen oder Füchse.
300.000 Jahren offenbar ge- SPIEGEL: Die Fundstätte der
nutzt, um Fell oder weiche Teile Speere soll wegen ihrer heraus-
von Pflanzen zu bearbeiten. ragenden Bedeutung für die
Auch diese Artefakte sind alle Menschheitsgeschichte ins
MINKUSIMAGES / Niedersächsisches Landesamt für Denkmalpflege

aus Holz gefertigt. Unesco-Weltkulturerbe aufge-


SPIEGEL: Was verrät uns das nommen werden. Helfen die
über die technischen Fähigkeiten neuen Funde dabei, diesen An-
unserer Verwandten? trag zu unterstützen?
Leder: Sie waren wohl echte Leder: Davon gehe ich aus.
Meister im Umgang mit Holz. ­Bisher hatten wir zehn Speere
Bisher haben wir sie vor allem und zwei Wurfhölzer, jetzt
mit dem Bearbeiten von Stein ­kennen wir knapp 200 hölzerne
in Verbindung gebracht. Daher Artefakte. Die neuen Entde-
auch der Name: Steinzeit- ckungen erhöhen den Wert der
mensch. Vergleichbar frühes Fund­stelle. Sie unterstreichen
Holz wurde nur an vielleicht den besonderen Charakter von
Altsteinzeitliches
zehn Orten gefunden. Schönin- Wurfholz zur Jagd auf
Schöningen. Ich denke: Für
gen ragt hier heraus. Die Holz- Hasen und Vögel den Unesco-Antrag kann das
werkzeuge und -waffen sind nur hilfreich sein. CHS

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WISSEN

Störche auf Müllhalde

Bernd Petri
Vogelglück auf der Deponie
KLIMAWANDEL Bis nach Afrika? Von wegen. Störche und andere Zugvögel überwintern
zunehmend in Europa und suchen sich ein überraschend hässliches Domizil.

D
er weiß-schwarze Vogel breitet seine Flü- Seit Jahrhunderten ist bekannt, dass die und Bayern mehr Störche auf als früher, vor
gel aus, drückt die dürren Beine durch Vögel in Afrika überwintern. Doch von Jahr allem in der kalten Jahreszeit. Daten der dies-
und stößt sich in einer fließenden Bewe- zu Jahr ziehen weniger in den Süden, zumin- jährigen Winterstorchzählung des Natur-
gung vom Grashügel ab. Anders als seine Art- dest legen einige nicht mehr die gesamte Stre- schutzbundes Deutschland (Nabu) belegen
genossen, die im Herbst nach Afrika aufgebro- cke zurück. Sie scheinen den Tausende Kilo- die ­Entwicklung.
chen sind, hat dieser Storch eine Müllhalde im meter langen, lebensgefährlichen Flug zu Forschende staunen über die neuen Flug-
hessischen Büttelborn zum Überwintern ge- meiden. Während der immer milderen Winter routen und über die Sesshaftigkeit der Stör-
wählt. Er ist nicht allein. An diesem Winter- finden sie in Deutschland ausreichend Nah- che, sie sind aber auch besorgt: Welche Kon-
morgen sind gut 200 weitere Störche dort. Die rung: Mäuse, Würmer und eben Abfall. sequenzen hat es, wenn Störche und andere
Tiere haben gelernt: Auf der Deponie finden Störche benötigen weite, offene Land- Vögel im Winter in Deutschland bleiben? Ist
sie etwas zu fressen, selbst bei Minusgraden. schaften: Feuchtgebiete, Wiesen und Wei- auch das eine unerwünschte Folge des Klima-
Der Storch landet auf einem dampfenden den oder Kulturlandschaften mit offenen wandels? Und wie reagieren die Ökosysteme
Haufen Biomüll. Dutzende folgen ihm. Wäh- Bach- und Teichufern, wie es sie häufiger darauf?
rend Lastwagen weiteren Abfall ankarren, im Osten als im Westen und Süden Deutsch- Unterschiedlichste Menschen wollen diese
staksen die Störche hindurch und picken lands gibt. Und doch halten sich mittler­ Fragen nun beantworten. Sie spüren Nester
­Futter heraus. weile auch in Hessen, Baden-Württemberg auf, beobachten die Tiere und dokumentieren

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WISSEN

deren Leben manchmal mithilfe von für den sogenannten Weißstorchen- In Studien wiesen Forschende
Herzfrequenzmessern, GPS-Sendern zensus in 54 Ländern Europas, Nord- Siegeszug nach, dass Störchen das Leben auf
oder Fußringen. Zu ihnen gehören afrikas und Asiens die Brutpaare. des Storchs Deponien bisher gut bekommt. Tiere,
der Naturschützer Bernd Petri vom Basierend auf dem Wert schätzen die direkt neben einer Müllhalde brü-
Nabu, der sich in Hessen um eines der Fachleute anschließend auch für Brutpaare je 100 km² ten, haben nicht nur mehr Nach-
bedeutendsten Weißstorchschutzge- Deutschland den Bestand. »Ich bin wuchs, die Jungvögel haben auch eine
biete Deutschlands kümmert. Und sicher, dass es mehr Störche geworden 0 2 4 6 höhere Überlebenschance als andere,
Männer wie Horst Usinger, der bei- sind. Auch weil wir sehen, dass im 1993 2003* das zeigen erste Daten aus Portugal.
nahe täglich auf Feldern in Büttels- Winter immer mehr hierbleiben«, Laut der Studie eines portugiesi-
born Störche zählt. Wissenschaftle- sagt Petri, der mit einem Nabu-Team schen Forschungsteams stieg die Zahl
rinnen wie Andrea Flack vom Max- herausfinden will, wann und wo Stör- der dort überwinternden Störche von
Planck-Institut für Verhaltensbiologie che in Deutschland leben und brüten. rund 1000 im Jahr 1995 auf mehr als
in Radolfzell und der Vogelforscher Im vergangenen Herbst hatte der 14.000 im Jahr 2015. Gab es 1994
Franz Bairlein, der fast 30 Jahre lang Nabu die Bevölkerung aufgerufen, noch etwa 3000 Brutpaare, zählten
das Institut für Vogelforschung in Winterstörche zu melden. Der Rück- 2013 2022 Ornithologen im Jahr 2014 mehr als
­Wilhelmshaven geleitet hat. lauf war enorm: Rund 1500 Meldun- 11.000. In Spanien war der Zuwachs
Es gebe eine Reihe von Vogelarten, gen gingen zwischen dem 1. Novem- vergleichbar hoch, neuere Zahlen er-
die ihre Wege verändert hätten, sagt ber 2023 und dem 31. Januar 2024 hoffen sich die Forschenden von den
Bairlein. »Der Storch ist kein Einzel- ein. Die größte Ansammlung umfass- aktuellen Erhebungen.
fall.« Aber »er ist das Paradebeispiel te insgesamt 350 Weißstörche. »Noch wissen wir allerdings nicht,
für den Zusammenhang von Klima- Petri hat das Auto abgestellt, die wie sich das Leben im Müll langfristig
Zugrouten ausge-
wandel, Naturschutz und Vogelzug«. Dämmerung hat eingesetzt, er steht wählter Störche** auswirkt«, sagt Flack. Störche hätten
Bernd Petri schaltet den Allradantrieb am Dreher See und blickt durch das Kurzstrecke schon Haushaltsgummis gefressen
ein. Er ist bei Büttelborn von der Stra- Objektiv seines Fotoapparats auf das bis 2000 km oder sich an Plastik verschluckt und
ße auf einen Feldweg abgebogen. Die gegenüberliegende Ufer der Kiesgru- seien verendet. Wie viele Störche
EUROPA
Temperatur draußen liegt unter null be: schwarz-weiße Flecke. Störche. jährlich am Müll sterben, ist nicht er-
Grad. Es ist spät am Nachmittag, die »Unverkennbar«, sagt Petri. »Aber fasst. Aber es ist ein europaweit be-
Sonne steht tief. Vereinzelt sind Mö- diesen Rastplatz haben wir noch nie Mittelstrecke kanntes Problem. Laut Flack stürben
bis 4000 km
wen zu sehen, Gänse und Kolkraben. beobachtet.« von den besenderten Störchen auf-
Wo sind die Störche? Suchend schaut Störche verhalten sich individuell fallend viele auf oder in der Nähe von
Langstrecke
Petri aus dem Autofenster in die und spontan. »Das ist ihre Super- ab 4000 km Müllhalden.
Moorlandschaft. kraft«, sagt Andrea Flack, die mit Nur woran? Werden Tiere, die sich
Petri ist Ornithologe und stellver- ihrem Team am Max-Planck-Institut AFRIKA auf Müllkippen ernähren, auf Dauer
tretender Nabu-Landesvorsitzender das Verhalten von Weißstörchen krank? Nehmen sie gefährliche Bak-
in Hessen. Der 62-Jährige ist in Büt- ­erforscht. Die Mitarbeiter statten terien auf? Flacks Team geht mit der
telborn aufgewachsen. »In meiner die Tiere mit Sendern aus, die rund Universität Posen solchen Fragen in
Kindheit verließen Störche Büttel- 30 Gramm wiegen, Solarpanels ha- * Die Zahlen Baden- einem neuen Forschungsprojekt in
born und das hessische Ried. Für ben und Daten über das Mobilfunk- Württembergs von 1999 bis
2007 sind unvollständig.
Polen nach, erste Antworten erwartet
­immer, so schien es«, sagt er. Später netz in Echtzeit schicken. Die For- ** Bewegungsdaten von 44 sie erst in ein paar Jahren. Genauso
Störchen von 2009 bis 2024
beschloss er, sich inständig um die schenden haben so unter anderem des Nabu Bergenhusen gut könnten die Tiere aber auch an
Tiere zu kümmern. Nun leben hier festgestellt, dass Störche sich an vie- S Quelle: Nabu Altersschwäche oder ungesicherten
“

selbst im Winter zeitweise mehr als len Orten in Europa in immer größe- Leitungen in der Nähe des Nestes
300 von ihnen. »Es ist der größte rer Zahl an Deponien niederlassen. sterben. Vor allem Jungstörche gehen
deutsche Überwinterungsplatz – das »Die Vögel haben gelernt, dass während der ersten Übungsflüge oft
ist sensationell«, sagt Petri. Siedlungen und Deponien vorteilhaft an einem Stromschlag zugrunde.
Ab Mitte der Fünfzigerjahre zähl- für sie sind«, schildert Andrea Flack. 8.45 Uhr am Morgen, eine neue
ten Vogelbeobachter in Deutschland In Deutschland sind Störche die ein- Storchsafari. Und wieder sind erst
jedes Jahr weniger Störche. Ende der zigen Großvögel, die sich dem Men- einmal keine Störche in Sicht. Petri
Achtzigerjahre gab es nur noch knapp schen eng angeschlossen haben. Sie hält auf einem Parkplatz in Darm-
3000 Brutpaare, im Winter war kaum bauen Nester auf Dächern, in Strom- stadt, mobile Lagebesprechung mit
ein Exemplar zu sehen. Weil Auen masten und Baumstümpfen und war- dem Team: »Sie haben nicht an der
zerstört wurden, Bauern intensiver ten auf Deponien auf die nächste Grube übernachtet«, sagt eine Kolle-
Landwirtschaft betrieben und Pesti- ­Ladung Müll. »Würde es ihnen dort gin, die noch früher als er losgezogen
zide vielen Insekten den Tod brach- schlecht gehen, würden sie sich wo- Ornithologe Petri: ist, zur Kiesgrube, dann kreuz und
ten, konnten die Vögel nicht überle- anders niederlassen«, sagt Flack. Safari in quer durch das Schutzgebiet.
ben. Seit Anfang der Neunzigerjahre Die Verhaltensbiologin untersucht, den Bruchwiesen Gut eine halbe Stunde später wer-
gibt es wieder mehr Störche, auch wie sich Vögel gegenseitig beeinflus- den die Vogelbeobachter in den
weil die Natur inzwischen oft besser sen. »Störche sind sozial, lernfähig Bruchwiesen bei Büttelborn fündig.
geschützt wird. An immer mehr Or- und flexibel«, sagt sie. Sehe einer auf Die Bruchwiesen sind Teil des größ-
ten brüten sie in Kolonien, also vielen der Reise in den Süden einen guten ten Niedermoorgebiets in Hessen und
Nestern auf engstem Raum. Rastplatz und lasse sich dort nieder, erstrecken sich über knapp 80 Hek­tar
Schätzungsweise 11.200 Brutpaa- folgten kurz darauf weitere. »Störche im Vogelschutzgebiet Hessische Alt-
re hatten im Jahr 2023 Nester in handeln opportunistisch«, sagt Flack. neckarschlingen.
Deutschland. Hinzu kommen Jung- Damit seien sie gut gerüstet für eine Auf den Wiesen wartet Horst Usin-
vögel und Einzelgänger, weshalb For- Welt, die sich auch infolge des Klima- ger mit seiner Kamera. Bis zur Rente
schende von gut 30.000 Störchen in wandels rasant verändert und zahl- waren dem 76-Jährigen Störche egal,
Leo Petri

diesem Frühjahr ausgehen. Derzeit reiche Arten dazu zwingt, sich anzu- dann stieß er im Internet auf den
zählen Ornithologen und Freiwillige passen, um nicht auszusterben. ­Livestream der Storchen-Webcam im

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 93


WISSEN

Die Passage gilt wegen schwieriger Wind-


verhältnisse als besonders anstrengend. Stör-
che, die von Nordeuropa kommen, fliegen
häufig nur noch bis nach Spanien. Dort über-
wintern sie vermehrt direkt neben Müll­
halden. »In der Folge ist der Bestand des
Weißstorchs in Westeuropa stark angestie-
gen«, sagt Bairlein.
Gleichzeitig scheint der Bestand im Osten
zurückzugehen. Möglicherweise liegt es da­
ran, dass mittlerweile in vielen Gegenden
Polens Landwirtschaft betrieben wird, wo
früher Feuchtwiesen waren. Auf der Route
über Zypern und den Nahen Osten werden
außerdem besonders viele Vögel gefangen
und gejagt, was die Tiere enorm stresst. »Ihre
Überlebenschancen sind nachweislich gerin-
ger als die der Westzieher«, sagt Bairlein.
Insbesondere Vögel, die üblicherweise kur-

Bernd Petri
ze und mittlere Strecken zurücklegen, ver-
halten sich anders als früher. Laut Zählungen
Ruhende Störche an Kiesgrube: »Sozial, lernfähig und flexibel« in Nordamerika haben sich die Überwinte-
rungsgebiete von mehr als 250 Vogelarten um
hessischen Münster. »Ich beschloss hinzu- Deutschlands Störche lassen sich grund- einen halben bis anderthalb Kilometer pro
fahren, und als ich ankam, war es, als wenn sätzlich in Ost- und Westzieher einteilen. Alle, Jahr nach Norden verschoben. In Europa ist
der Storch auf mich gewartet hätte«, sagt die ungefähr westlich der Elbe leben, ziehen es ähnlich.
Usinger. »Er flog in zwei Meter Höhe an mir über die Westroute durch Frankreich und Spa- Auch die Zugzeiten der Tiere haben sich
vorbei zu seinem Nest. Herrlich.« nien zum Teil bis nach Mali und in den Sene- verändert. Innerhalb von 50 Jahren wurden
Usinger blieb eine Weile, beobachtete das gal in Westafrika. Die Tiere, die östlich der etwa auf Helgoland Mönchsgrasmücke, Zilp-
Tier und stellte fest: Der Storch trägt einen Elbe zu Hause sind – auch die aus Polen, zalp oder Trauerschnäpper immer früher im
Ring mit Buchstaben und Ziffern am Bein. Ungarn und anderen osteuropäischen Län- Jahr gesichtet. Im Durchschnitt kommen die
»Damals wusste ich nicht, wozu das gut ist«, dern – fliegen über die Türkei, Israel und Vögel zehn Tage früher auf die Insel, nur
sagt er. Mittlerweile weiß Usinger: Die Ringe Ägypten nach Äthiopien, nach Ost- bis Süd- 3 von 23 beobachteten Arten halten sich an
sind für Störche wie Personalausweise für afrika. den alten Zeitplan.
Menschen. Sie zeigen, wo ein Storch geboren Die Westzieher fliegen also traditionell Manchmal könnten die Vögel ihren Nach-
ist und welches Institut ihn markiert hat. Wis- eine Strecke, die um mehrere Tausend Kilo- wuchs dennoch nicht versorgen, sagt Bairlein.
senschaftler können anhand der Funde und meter kürzer ist als die Ostroute. Doch selbst Sie kämen zwar früher zurück, aber relativ
Fänge einzelner Tiere das Leben eines Storchs diesen kürzeren Weg legen viele von ihnen zu spät, um genug Insekten für die Aufzucht
und sogar ganzer Populationen verfolgen. nicht mehr vollständig zurück. des Nachwuchses zu finden. Gemessen an
In Deutschland gibt es drei Beringungs- »Immer weniger Störche überfliegen anderen Vögeln hätten Störche Überlebens-
zentralen, auf Helgoland, Hiddensee und in die Meerenge von Gibraltar«, sagt Bairlein. vorteile: Sie fressen nahezu alles, und weil
Radolfzell. Ohne Erlaubnis einer Zentrale einzelne bis zu 35 Jahre alt werden, können
oder der zuständigen regionalen Behörden sie ihre Erfahrungen weitergeben. »Das ist
ist es verboten, Freilandvögeln einen Ring Überwinterer bei Kleinvögeln nicht der Fall«, sagt Bairlein.
anzulegen. Daher seien sie stärker gefährdet, wenn sich
Usinger steckt sich einen Vogelring auf den Störche, die zwischen November 2023 und die Natur wegen des Klimawandels, gerode-
Januar 2024 in Deutschland gesichtet und
Zeigefinger. Auf dem schwarzen Kunststoff gemeldet wurden ter Wälder oder trockengelegter Moore ver-
steht in weißer Schrift: DEW 1V098. DE steht ändere.
für Deutschland, W weist auf das Institut für Anzahl der Hamburg Der nächste Morgen. Auf der Deponie
Vogelforschung in Wilhelmshaven hin, auch Beobachtungen in Büttelborn hocken erneut mindestens
bekannt als Vogelwarte Helgoland. 1V098 ist 1–9 150 Tiere mit eingezogenem Kopf auf einem
die individuelle Nummer des Tieres. 10–19 Hang. Gut 50 Störche wühlen sich auf dem
Wer markierte Vögel sieht oder Ringe fin- 20–29 Berlin Hausmüllzwischenlager durch Plastiktüten
det, kann sie bei den Beringungszentralen ≥ 30 und falsch entsorgte Lithiumbatterien auf der
oder Naturschutzorganisationen wie dem Suche nach bekömmlichem Abfall.
Nabu melden. Die Fachleute prüfen die In- Jetzt im Frühling kehren immer mehr
formationen und bündeln sie in einer Daten- ­Vögel aus Afrika und Spanien dorthin zurück.
bank. Wie die Trackingdaten von Sendern Köln Dresden
Sie gesellen sich zu Möwen und Spatzen, die
helfen sie Forschenden dabei, das Leben der ebenfalls im Biomüll picken. Und zu Uhus,
Vögel nachzuvollziehen. Für die zurücklie- Frankfurt Uferschwalben und Kuckucken, die auf
genden Jahre belegen die Daten, wie Störche dem Gelände brüten. Auch Rotmilane und
und andere Zugvögel ihre Flugrouten geän- Anzahl
Schwarzmilane, sogar die in Deutschland sel-
dert haben. Sie passen sich an die Folgen des der Tiere tenen Steinschmätzer hat Ornithologe Petri
Klimawandels an. 300 dort schon gesehen. »Wäre dieser Ort keine
»Auswertungen zeigen, dass wir im Winter 100 Deponie«, sagt Petri, »er wäre wie die Bruch-
mehr Zugvögel in Mitteleuropa haben als 30 wiesen eines der hochwertigsten Naturschutz-
noch vor einigen Jahrzehnten«, sagt der München gebiete in Hessen.«
­Ornithologe Franz Bairlein. S Quelle: nabu-naturgucker.de; Stand: 31. Januar 2024 Alina Schadwinkel  n
­

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WISSEN

Der belgische Mikrobiologe Verstrepen


verspricht sich verschiedene Anwendungen
von KI in der Lebensmitteltechnik: bei alko-
holfreien Bieren, Weinen oder Spirituosen

Der Computer
und bei Fleischersatz. »Mit den Modellen
können wir vegane und nachhaltige Alter-
nativen entwickeln, die näher am Original

lernt schmecken
sind«, hofft er.
Steckt in Designeraromen, von einer KI
optimal abgestimmt auf den menschlichen
Geschmacks- und Geruchssinn, womöglich
eine Gefahr? In Keksen und Tiefkühlpizzen,
TECHNIK Künstliche Intelligenz soll der Lebensmittelindustrie helfen, neue Eiscremes und Limonaden könnten sie Kon­
Aromen zu finden, um Verbraucher künftig noch leichter zu verführen. sumenten dazu verführen, noch mehr davon
zu essen und zu trinken. Schon jetzt gelten
mehr als zehn Prozent der Bevölkerung als

U
m zehn Uhr morgens traten Freiwillige Produkte mit Käsegeschmack können Her- abhängig von hoch verarbeitetem Lebensmit-
an einer Universität in Belgien zu steller unter mehr als 1000 wählen. Selbst tel. Die möglichen gesundheitlichen Folgen:
einem Experiment an: Zweimal die erfahrene Entwickler in der Lebensmittel- Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, De-
Woche tranken sie Bier, insgesamt 250 ver- industrie verlieren da mitunter den Überblick. menz.
schiedene. Nach jeder Blindverkostung ver- »Mit unserem KI-Modell können wir das Zu- Studien zeigen, dass Fertignahrung im Hirn
gaben sie Noten. Wie bitter war das Bier? sammenspiel der Aromen korrekt vorhersa- ein ähnlich hohes Level des sogenannten
Schmeckte es metallisch, nach Karamell oder gen«, sagt Verstrepen. Glückshormons Dopamin hervorruft wie die
nach Roquefort? War ein Hauch von ver- Nach dem Training ihres KI-Modells stell- Suchtstoffe Nikotin oder Alkohol. Verantwort-
branntem Toast zu riechen? Oder eher von ten die belgischen Forscher es auf die Probe. lich dafür seien vor allem ein hoher Anteil an
Früchten? Sie ließen die KI für ein alkoholisches und gesättigten Fetten, Zucker und Weißmehl. Zu-
Mit den Daten aus den Bewertungsbogen ein nicht alkoholisches Bier vorhersagen, sätze wie Aromen würden »als mächtige Ver-
trainierten Forscher anschließend ein Modell welche Inhaltsstoffe die Getränke schmack- stärker« wirken, schreiben Wissenschaftler um
der künstlichen Intelligenz. Ihr Ziel: dem hafter machen würden. Sie empfahl einen die Psychologin Ashley Gear­hardt von der
Computer Geschmack beibringen. Mix aus zehn Komponenten, eine Kombina- University of Michigan in einem kürzlich ver-
Künstliche Intelligenz erobert die Wirt- tion, auf die ein Mensch wohl nicht gekom- öffentlichten Artikel im Fachblatt »BMJ«.
schaft rasant. In der Pharmaindustrie hilft sie, men wäre. Das Ergebnis, so berichteten die Kevin Verstrepen sagt, er hoffe, dass KI-
neuartige Wirkstoffe zu entwickeln, in der Forschenden kürzlich im Fachjournal »Na- Modelle nicht gezielt dazu genutzt werden,
Landwirtschaft, Wasser und Pestizide richtig ture Communica­tions«, schmeckte den Test- die süchtig machenden Eigenschaften schäd-
zu dosieren. Und auch die Lebensmittelindus- trinkern im Schnitt besser als das nicht KI- licher Substanzen zu verstärken. Verbessere
trie mit ihren Fertigprodukten möchte sich optimierte Bier. Künstliche Intelligenz als man die Aromen eines Produkts ein wenig,
nun von KI helfen lassen. Brauereigehilfe. führe das nicht direkt in eine Abhängig-
Neue Geschmackseindrücke zu erschaffen Der Technologiekonzern IBM entwickelte keit, sagt er. Für die Gesundheit sieht der
ist für Hersteller von Nahrungsmitteln kost- zusammen mit einem Aromaproduzenten ­Forscher in der künstlichen Geschmacks­
spielig. Oft sind viele Tests nötig, bis ein Pro- ein Programm, das aus Tausenden aroma­ intelligenz eher Chancen. »Nehmen Sie alko-
dukt Marktreife erreicht. Gleichzeitig wün- tischen Molekülen gewünschte Geschmacks- holfreies Bier«, sagt er. »Wenn wir die Re­
schen sich Verbraucher stetig Neues; die kompositionen zusammenstellt. Längst ar­ zepturen ­weiter verbessern, trinken die
Mehrheit aller neuen Fertiglebensmittel hält beiten Forscher außerdem daran, mit KI-­ ­Menschen am Ende nicht mehr Alkohol, son-
sich keine fünf Jahre in den Geschäften, bis Modellen ganz neue Aromamoleküle zu er- dern we­niger.«
sie von neuen Kreationen verdrängt wird. In schaffen. Martin Schlak n
diesem kulinarischen Wettlauf hoffen die
Unternehmen auf KI. Sie soll Kosten in den
Entwicklungsabteilungen senken und teure
Produktflops verhindern.
Für die Bier-KI bestimmte ein Team um
den Mikrobiologen Kevin Verstrepen von der
Universität Löwen und dem Biotechnologie-
institut VIB-KU im Labor die chemischen
Eigenschaften der 250 Biere; ein Brauerei-
konzern war an dem Projekt beteiligt. Neben
den Fragebogen der Blindverkoster werteten
die Forschenden online abgegebene Verbrau-
cherbewertungen aus. Anhand dieser Daten
Boaz Rottem / Alamy / mauritius images

fanden KI-Modelle dann selbstständig heraus,


wie sich verschiedene Inhaltsstoffe wie Alko-
hol und Aromen im Bier auswirken.
»Aromen sind komplex«, sagt Verstrepen.
Kombiniere man mehrere Inhaltsstoffe, be-
einflussten sie sich gegenseitig. Wie bitter ein
Bier sei, hänge nicht nur von Bitterstoffen ab,
sondern auch vom Alkohol- und Zuckergehalt
sowie den fruchtigen Komponenten. Im Bier
stecken mehrere Hundert Aromastoffe, für Belgische Biere in Brüsseler Bar: Ein Hauch von verbranntem Toast

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 95


WISSEN

die schmalen Augen zusammen: »Ich


habe immer versucht, unter dem Ra-
dar zu bleiben.«
Ganz so uneitel ist er dann auch
wieder nicht. Den Aufmacher des
Magazins »Forbes« mit seinem Kon-
terfei und dem Titel »Space Baron«
hat er sich eingerahmt und gut sicht-
bar auf einen seiner Wohnzimmer-
tische gestellt.
Wenn es um die Weltraumaben-
teuer amerikanischer Milliardäre
ging, stand bisher das Duell von
­SpaceX-Gründer Elon Musk und
Blue-Origin-Gründer Jeff Bezos im
Mittelpunkt des öffentlichen Interes-
ses. Kam Ghaffarian hingegen kann-

Intuitive Machines / ABACAPRESS / picture alliance


te außerhalb der Szene kaum je-
mand – obwohl er ein halbes Dutzend
Raumfahrtunternehmen aufgebaut
hat und der einzige der superreichen
Himmelsstürmer ist, der mit der
Raumfahrt bereits jetzt eine Menge
Geld verdient statt verbrennt.
»Kam Ghaffarian hat als Unter-
nehmer bei null angefangen und ist
zu einer der ganz großen Figuren der
Raumfahrt geworden«, sagt der frü-
Sonde »Odysseus«: Ein guter Deal
here Nasa-Vizewissenschaftschef
Thomas Zurbuchen, der jetzt als Pro-
fessor an der ETH Zürich arbeitet.
»Ich würde ihn auf eine Stufe mit
Elon Musk stellen.« Der gebürtige

Der nach den Sternen greift


Iraner habe eine besondere Fähigkeit:
»Er ist zielstrebig und extrem gut ver-
netzt. Ich kenne niemanden, der so
gut mit Regierungsangestellten um-
gehen kann.«
RAUMFAHRT Als mittelloser Jugendlicher kam der Iraner Kamal Ghaffarian Schon früh kam Ghaffarian an
Aufträge der Nasa. 1994 gründete er
einst in die USA. Heute ist der 65-Jährige erfolgreicher Weltraumunternehmer, das Raumfahrtunternehmen Stinger
ihm gelang die erste private Mondlandung. Und er hat noch große Pläne. Ghaffarian Technologies (SGT). Um
an das nötige Startkapital zu gelan-
gen, verpfändete er sein privates

D
ie Geschichte, die Kamal »Ich habe immer meinen großen Haus im festen Glauben, dass sich
»Kam« Ghaffarian erzählt, Traum verfolgt«, sagt Ghaffarian, 65. dies irgendwann bezahlt machen wür-
klingt wie ein Märchen aus Es ist der »American Dream« hoch de. Ghaffarian ging volles Risiko. Und
Tausendundeiner Nacht. Sie beginnt zwei: vom Parkplatzwächter zum Ty- gewann.
1964 im Morgenland, im iranischen coon – und nun auch noch Mond­ Schon seit Jahrzehnten vergibt die
Isfahan: mit einem sechsjährigen eroberer. Für diesen Traum wanderte Nasa Aufträge an private Unterneh-
Jungen, der in heißen Sommer­
­ der Sohn eines Basarhändlers mit men. Im Idealfall spart das Kosten:
nächten im Vorgarten seiner Eltern 19 Jahren aus, in die Vereinigten Staa- Die Materialbeschaffung klappt billi-
stundenlang zum Himmel schaut und ten von Amerika, mit geliehenen 2000 ger und schneller, Personal wird zü-
von Reisen zu den Sternen träumt. Dollar und dem unerschütterlichen giger eingestellt und notfalls wieder
Sie setzt sich fort 1977 in den Vor- Glauben an das Land der unbegrenz- entlassen. Ghaffarians erste Firma
orten von Washington, D. C.: mit ten Möglichkeiten. Heute ist er Mil- SGT, die er 2018 an den Militärdienst-
einem armen jungen Einwanderer, liardär, und die unbemannte Mond- leister KBR verkaufte, war einer die-
der nächtelang Parkplätze bewacht landung nennt er »das erste Kapitel«. ser Auftragnehmer. SGT erhielt Mil-
und Autos einparkt, um sein Doppel- Ghaffarian sitzt an diesem Früh- liarden Dollar, um etwa den Betrieb
studium zu finanzieren, das ihm den lingstag auf einer gemütlichen Couch der Internationalen Raumstation ISS
Weg in die Raumfahrtindustrie eb- in seiner lichtdurchfluteten Landvilla zu unterstützen.
nen soll. nördlich der US-Hauptstadt und er- »Ghaffarian Das Geld investierte Ghaffarian in
Und sie endet, vorerst, im Februar zählt seine Lebensgeschichte. Zwi- den Aufbau weiterer Weltraumfir-
2024: mit der erfolgreichen »Odys- schendurch lässt er die Blicke über kann nicht men. 2016 gründete er das Unterneh-
seus«-Mission, der ersten privaten die weiten Grünflächen seines An- still sitzen.« men Axiom, zusammen mit dem
Raumsonde, die ein Raumfahrtmogul wesens schweifen. Seit der »Odys- Thomas Zurbuchen,
­Nasa-Veteranen Michael Suffredini.
mit seiner Firma heil auf den Mond seus«-Mission häuften sich die Inter- ehemaliger Nasa- »Suff«, wie sein Partner in der Bran-
gebracht hat. viewanfragen, stöhnt er und kneift Wissenschaftsvize che genannt wird, war ein Jahrzehnt

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WISSEN

lang der verantwortliche Nasa-Manager für


die ISS. Insgesamt hat er 30 Jahre Erfahrung
»Wir werden künftig seinen Temperaturmessungen soll es Stellen
auf der Mondoberfläche finden, die kalt genug
im Raumfahrtbusiness. ­Spaceshuttles sehen, die im für stabile Wassereisvorkommen sind. Der
Axioms Hauptgeschäft bestand anfangs
darin, Weltraumtouristen zur Internationalen
Stundentakt zu einer Rohstoff ist entscheidend, wenn man Statio-
nen auf dem Erdtrabanten aufbauen will.
Raumstation zu fliegen. Hierzu mietete Ghaf- Stadt im Kosmos abfliegen.« Auch bei Intuitive Machines hat Ghaffa­rian
farians Unternehmen gebrauchte »Dragon«- Kam Ghaffarian einen ehemaligen Nasa-Topmanager mit ins
Raumkapseln von Elon Musks Firma SpaceX Boot genommen: Co-Gründer und CEO
an, die bereits Profiastronauten zur ISS ge- ­Stephen Altemus, einst Vizechef des bemann-
bracht hatten. Diese Kapseln starteten mit ten Raumfahrtprogramms, heuerte nach
wiederverwendbaren SpaceX-Raketen des 24 Dienstjahren bei ihm an. Und auch Intui-
Typs »Falcon 9«. Das sparte Kosten. tive Machines macht Umsatz mit der Nasa.
Bei bisher drei Flügen innerhalb von zwei 10 bis 20 Jahren zum Alltag gehören. Sogar Für den Transport von einem halben Dutzend
Jahren hat Axiom acht Männer und eine Frau Reisen in andere Sonnensysteme hält er bin- kleinen Instrumenten auf die Oberfläche des
zur ISS befördert. Betreut wurden die zah- nen der kommenden drei, vier Jahrzehnte für Mondes hat das Unternehmen 77 Millionen
lenden Gäste von je einem Astronauten oder möglich. Voraussetzung seien große, aber Euro US-Steuergeld bekommen.
einer Astronautin mit Flugerfahrung, ehe- machbare Technologiesprünge: »Die Rechen- Für die Nasa ist das ein guter Deal. »Kaum
maligem Nasa-Personal. power und Speicherkapazität, die künstliche eine US-Mission zur Planetenforschung kos-
Beim ersten Mal, im April 2022, transpor- Intelligenz, die Quantencomputer, all das ent- tete bis dahin weniger als eine Milliarde Dol-
tierte Axiom drei Superreiche aus den USA, wickelt sich rasant.« Die Energie für künftige lar«, erzählt Zurbuchen. »Ich fand die Aus-
Kanada und Israel auf die Raumstation. Sie superschnelle Raumschiffe oder Mondbasen sicht faszinierend, dass wir für ein Zehntel
richteten dort einiges Chaos an, wie der deut- könnten Mini-Kernreaktoren liefern, die in davon etwas entwickeln und Wissenschaft auf
sche Astronaut Matthias Maurer später be- seinem Unternehmen X-Energy entwickelt dem Mond betreiben können.«
klagte. Die Weltraumtouristen seien »des- werden. Kam Ghaffarian ist kein Midas. Bei seinen
orientiert und mit ihrem Arbeitspensum kom- Ghaffarian sei ein Visionär durch und Unternehmen und Projekten läuft längst nicht
plett überfordert« gewesen. durch, »getrieben von neuen Ideen«, charak- alles glatt. So ist der Aktienkurs von Intuitive
Inzwischen hat Axiom sein Geschäfts­ terisiert ihn der frühere Nasa-Vize Zurbuchen. Machines, der während der Mondmission
modell umgestellt und befördert staatliche »Er kann nicht still sitzen.« Pendelflüge zu hochgeschossen war, wieder deutlich gesun-
Astronauten aus Partnerländern der Nasa zur Mond und Mars, man kann das für Größen- ken. Offenbar zweifeln manche Investoren
ISS, die sich einen einfacheren Zugang zum wahn halten. Aber neben Ghaffarian verfol- daran, dass das Geschäftsmodell dauerhaft
Weltall wünschen. So waren Anfang dieses gen auch andere Weltraumunternehmer wie trägt. Und die Kernreaktorenfirma X-Energy
Jahres ein Türke, ein Schwede und ein Italie- Jeff Bezos oder Elon Musk solche Ziele. musste kürzlich eine geplante F ­ usion mit an-
ner an Bord. Die nächste Mission ist für Der Weg dorthin führt über unzählige un- schließendem Börsengang absagen, augen-
Herbst geplant. bemannte Missionen, Ghaffarians Firma In- scheinlich war das Anlegerinteresse nicht groß
Aktuell sind diese Touren wohl noch ein tuitive Machines, welche die »Odysseus«- genug. Laut »Forbes« ist Ghaffarians Ver-
Zuschussgeschäft. Die Flüge rechnen sich of- Sonde zum Mond brachte, bereitet schon die mögen seit Anfang 2023 von 3,8 Milliarden
fenbar erst bei vier verkauften Sitzen zum nächste vor. Noch in diesem Jahr soll ein wei- auf zuletzt 2,3 Milliarden ­Dollar zusammen-
kolportierten Preis von je rund 55 Millionen terer Landeroboter zum Mondsüdpol ge- geschrumpft.
Dollar. Aber Axiom hat sich kürzlich einen schossen werden. Aber von solchen Rückschlägen, verkün-
höchst lukrativen Auftrag gesichert: Das te- Dann wird auch ein deutsches Experiment det Ghaffarian, werde er sich nicht aufhalten
xanische Unternehmen entwickelt den Raum- mit an Bord sein: Auf einem Hüpfroboter, der lassen. »Ich will nicht eines Tages der reichs-
anzug für die geplante Rückkehr amerikani- vom Lander ausgesetzt werden soll, haben te Mann sein, der auf dem Friedhof begraben
scher Astronauten zum Mond, zusammen mit das Deutsche Zentrum für Luft- und Raum- liegt«, sagt er. »Das ist das Schöne an den
dem Modeunternehmen Prada. Allein für fahrt (DLR) und die Freie Universität Berlin Vereinigten Staaten: Du kannst die Kraft des
dieses Projekt sollen von der Nasa mehr als ein sogenanntes Radiometer installiert. Mit Kapitalismus nutzen, Geld verdienen und es
1,2 Milliarden Dollar fließen. einsetzen für den nächsten Schritt nach vorn.«
Vor allem aber bereitet Ghaffarian mit sei- Und um seine eigenen Träume zu leben.
ner Firma ein Mammutprojekt vor: den Bau Seit dem 20. Juli 1969, als der elfjährige
einer eigenen Raumstation. Zuerst sollen ­Kamal im fernen Isfahan vor dem Schwarz-
dazu ab 2026 Module an der bestehenden ISS Weiß-Fernseher der Nachbarsfamilie mit­
angedockt werden. Später soll die Axiom- fieberte bei der Mondlandung von Neil
Station eigenständig um die Erde kreisen. Und Armstrong und Edwin Aldrin, hegt Ghaf­
mit Weltraumtouristen gutes Geld verdienen. farian den Wunsch, irgendwann selbst ins All
Ghaffarian prophezeit der Raumfahrt zu fliegen. Bei Axiom habe er bisher der zah-
einen noch nie da gewesenen Boom: »Wir lenden Kundschaft den Vortritt gelassen, sagt
werden künftig Spaceshuttles sehen, die im er: »Aber 2026 wird das erste Modul unserer
Stundentakt zu einer Stadt im Weltraum mit eigenen Raumstation eröffnet. Also wird mein
künstlicher Schwerkraft, Unternehmen und Traum wahr werden.«
anderen Einrichtungen abfliegen«, sagt er bei Für Ghaffarian ist es einfacher, ins All zu
dem Besuch auf seinem Anwesen. »Tägliche reisen als in seine alte Heimat. Seit 43 Jahren
Reisen zum Mond, wo es ein Habitat geben hat er sich nicht mehr nach Iran gewagt. Er
wird, in dem Menschen leben und arbeiten. ist amerikanischer Staatsbürger, Geheimnis-
Greg Kahn / DER SPIEGEL

Wöchentliche Flüge zum Mars, wo Menschen träger, und die Mullahs würden ihn mit sei-
arbeiten und leben werden. Und vielleicht nem Raumfahrtwissen womöglich nie wieder
sogar monatliche Reisen außerhalb unseres herauslassen.
Sonnensystems.« Einen wie ihn könnten sie dort gut ge­
Regelmäßige Mond- und Marspendel­­ brauchen.
flüge, glaubt Ghaffarian, könnten schon in Unternehmer Ghaffarian Claus Hecking, Christoph Seidler n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 97


WISSEN

so digitalisieren, dass die Arbeit tatsächlich


erleichtert wird, hätten wir rechnerisch rund
30.000 ärztliche Vollzeitstellen mehr zur Ver-
fügung«, sagt Henriette Neumeyer, stellver-

Abschied vom Traumjob


tretende Vorsitzende der Krankenhausgesell-
schaft, eines Interessenverbands für Kliniken.
»Das Personalproblem wäre damit mit einem
Schlag gelöst.«
Die viele Bürokratie frustriere Ärztinnen
KLINIKEN Die 26-jährige Fidelis Stuchtey wollte als Ärztin Patienten und Ärzte, sagt Neumeyer. »Dennoch sehen
wir bei den Kliniken wenig erfolgreiche Hand-
v­ ersorgen, dann schmiss sie hin. Viele Nachwuchsmediziner habe, Prozesse zu verschlanken.«
verzweifeln an den Arbeitsbedingungen in Krankenhäusern. Als Assistenzärztin habe Fidelis Stuchtey
für die Entlassungsberichte schriftlich fest-
halten müssen, welche Diagnose bei einer

V
ielleicht hätte mehr Zeit für Fidelis Krankenhausärztinnen und -ärzte. »Wir Patientin oder einem Patienten gestellt wurde
Stuchtey einen Unterschied gemacht. kämpfen gegen einen zunehmenden Mangel und was sie und ihre Kollegen dagegen unter-
Zeit, um zuzuhören, um Dinge nach- an, weil es seit Jahren versäumt wurde, die nommen hatten. Diese Briefe mussten von
zulesen; Zeit, um Fragen zu stellen. Bis vor Zahl der Studienplätze zu erhöhen.« Auch Oberärzten kontrolliert werden, dafür wur-
etwas mehr als einem Jahr arbeitete die ausländische Ärzte könnten diese Lücke nicht den sie ausgedruckt. Die Oberärzte notierten
26-Jährige als Assistenzärztin auf der Kinder- füllen. ihre Anmerkungen handschriftlich auf dem
krebsstation einer Münchner Klinik. Die Wenn Menschen wie Stuchtey aufgeben, Papier, Stuchtey tippte sie am Computer ab,
Arbeit mit Jugendlichen habe sie besonders ist das ein riesiges Problem. Es gibt Ideen, wie druckte das Schreiben wieder aus und gab es
gemocht, erzählt sie. »Der Pain Point ist da sich der Trend stoppen ließe, doch die Um- den Patienten mit nach Hause.
nicht unbedingt, dass ein Blutwert schlecht setzung scheitert häufig an der Realität in den Ob das nicht digital ginge, habe sie gefragt.
ist.« Wichtig sei auch, ob man sich in der Kliniken. Nein, sei die Antwort gewesen. Inzwischen
Schule konzentrieren könne, wie es mit Krankenhäuser werden pro Fall bezahlt. werde ein digitales Verfahren genutzt, schreibt
Freunden laufe, die psychische Belastung. Dafür zahlen die Kassen eine festgeschrie­ die Klinik auf Anfrage, nur der Versand an
Die Zeit für solche Gespräche habe ihr oft bene Summe. Liegt eine Patientin länger als Praxen oder andere Kliniken erfolge über-
gefehlt. Zu oft. Auch deshalb sei sie gegangen. für ihren Fall vorgesehen auf Station, be- wiegend auf Papier.
Nach einem Jahr sollte ihr Vertrag als As- kommt das Krankenhaus dafür nicht mehr Stuchtey sagt, sie habe jeden Tag auf
sistenzärztin verlängert werden, doch Stuch- Geld. Um trotzdem Gewinne machen zu kön- ­Station eine Liste dabeigehabt. Fast jeden Tag
tey wollte nicht. Zu viel Bürokratie, zu wenig nen, müssen die Häuser also möglichst viele sei sie länger geworden: Sie notierte Krank-
Weiterbildung und Wertschätzung, so fasst Fälle abhandeln. heiten und Behandlungen, die sie besser ver-
sie die Probleme zusammen. Die Politik hat die Probleme der Abrech- stehen wollte. Auf Station habe sie es nicht
Am 30. Dezember 2022 zog sich Stuchtey nungspraxis erkannt. Bundesgesundheits­ geschafft nachzulesen, und zu Hause sei sie
zum letzten Mal den blauen Kasack über und minister Karl Lauterbach will ihnen mit seiner zu platt gewesen.
versorgte ihre Patienten. Seitdem arbeitet sie Krankenhausreform begegnen. Der Hart- »Einige Oberärzte haben gesagt: Ich wür-
in einem Start-up, in die Klinik möchte sie erst mannbund sieht darin Potenzial, den Druck de dir gern erklären, warum die Behandlungs-
mal nicht zurück. »Schon als Kind wollte ich auf die Häuser etwas zu lindern. Allerdings leitlinien sind, wie sie sind, aber ich weiß ein-
Ärztin werden«, sagt Stuchtey. »Aber im Stu- ist die Reform noch nicht beschlossen. Und fach nicht, wann.« Stuchtey zieht die Wörter
dium wurde mir klar, dass das nur eine Option selbst wenn sie beschlossen wird, dauert es, in die Länge, als würde sie die Verzweiflung
ist, dass es noch andere ­Optionen gibt.« sie umzusetzen. nachahmen, die offenbar auch ihre Vorgesetz-
Stuchtey hat getan, worüber viele andere Rund die Hälfte der befragten Assistenz- ten damals spürten.
offenbar zumindest nachdenken. Laut einer ärztinnen und -ärzte gab in der Hartmann- »Ich hätte mir Teachings gewünscht«, sagt
Umfrage des Hartmannbunds, einer Vertre- bund-Umfrage an, den ökonomischen Druck sie, »dass jemand mit Erfahrung mir Dinge
tungsorganisation für Mediziner, erwägt mehr bei ihrer täglichen Arbeit zu spüren. »Alles beibringt.« Auch im Umgang mit den Patien-
als ein Drittel der Assistenzärzte in Deutsch- muss schnell gehen, Gespräche mit Patienten ten wollte sie etwas lernen. Wie sagt man
land, den Beruf aufzugeben. Verlässliche Zah- sind eher unerwünscht und lästig«, schrieb einer Mutter, dass der Krebs sich wieder
len, wie viele es tatsächlich tun, gibt es nicht. eine Person ins Freitextfeld. ­ausbreitet? Natürlich habe sie solche Situ­
Die Umfrage stammt aus dem Jahr 2021, eine Die Auswertung zeigt auch: Über 70 Pro- ationen in der Uni geübt. Ausreichend auf
neue wird gerade vorbereitet. Fachleute sind zent der Assistenzärzte arbeiten teils weit den Alltag in der Klinik vorbereitet habe
sicher: Geändert hat sich ­seitdem nicht viel. mehr als 45 Stunden pro Woche. Trotzdem sie das nicht.
Dabei wird jede einzelne Person ge- gab mehr als die Hälfte der Befragten an, Sollten Mitarbeitende in Einzelfällen das
braucht, die diagnostizieren, operieren und nur »manchmal bis nie« zufriedenstellend Gefühl haben, sich in einer Situation allein-
therapieren kann. Tausende Ärztinnen und viel Zeit für ihre Patientinnen und Patienten gelassen zu fühlen, könne das individuell in
Ärzte fehlen schon jetzt bundesweit in Klini- zu haben. Auch weil rund drei Stunden pro regelmäßig stattfindenden Gesprächen the-
ken, in Hausarztpraxen sind es noch mehr, in Tag in Bürokratie fließen: Datenerfassung, matisiert werden, schreibt Stuchteys alter
ländlichen Regionen besonders. Wenn die Do­kumentation, Anmeldung von Diagnostik, Arbeitgeber. Außerdem gebe es Workshops,
geburtenstarken Jahrgänge bald in Rente ge- ­Therapien oder Operationen. die speziell auf Assistenzärzte ausgerichtet
hen, wird das Loch noch größer werden, rund »Würden wir konsequent nicht notwen- seien. Einiges davon wurde seit 2023 einge-
die Hälfte der Ärzte in Deutschland ist über dige Bürokratie abbauen und Krankenhäuser führt, als Stuchtey schon weg war.
50 Jahre alt. Und nicht nur sie werden älter, Einige der größten klinischen Arbeitgeber
die ganze Gesellschaft wird es. Älter – und äußern sich auf SPIEGEL -Anfrage ähnlich.
kränker. Beim Klinikverbund Sana gebe es seit Jahren
»Für alle Kliniken wird es immer schwerer,
freie Arztstellen zu besetzen«, sagt Michael
»Schon als Kind wollte ich kontinuierlich mehr medizinisches Personal,
auch mehr Assistenzärzte, heißt es. »Dies
Weber, Präsident des Verbands leitender Ärztin werden.« spricht für ein interessantes Aufgabenfeld,

98 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


WISSEN

Station einer Uniklinik. Nach einem Jahr hat-


te sie ein Angebot von einem Start-up in New
York, das sie mehr reizte als die Arbeit in der
Klinik. Inzwischen ist sie zurück im Kranken-
haus, in Teilzeit.
Gemeinsam mit zwei anderen Ärzten
hat Latz ein Buch geschrieben: »Wege aus
der Klinik«. Nach ihrer Kündigung hätten
viele Kolleginnen und Kollegen bei ihr nach-
gefragt. Mit dem Buch wolle sie jenen helfen,
denen es schwerfalle zu entscheiden, ob sie
gehen wollen und können. »Mediziner arbei-
ten jahrelang darauf hin, einmal Ärzte zu
sein«, sagt sie. »Deshalb ist es nicht leicht,
diesen Job zu verlassen.« Sicherheit hänge
daran, Identität.
Man muss nicht alles hinnehmen, findet
Latz. Ȇberall reden die Arbeitgeber von
New Work und der Viertagewoche, im Kran-
kenhaus gibt es manchmal nicht mal Sprudel-
wasser für die Mitarbeitenden.« Vieles sei
nicht zeitgemäß in der Branche. Immer wie-
der höre sie, dass gerade Jüngere angeschrien
würden, der Ton unangemessen sei.
Den Kliniken sei bewusst, dass Hierarchien
bestünden – und nicht in die Zukunft wiesen,
sagt Neumeyer von der Krankenhausgesell-
schaft. Mit Investitionen etwa in Führungs-
Workshops täten sich die Häuser dennoch
schwer: »In der wirtschaftlich sehr angespann-
ten Lage bewusst zu sagen, dass man sich Zeit
und Geld für Workshops nimmt, ist für viele
Häuser nicht leicht.«
In der Umfrage des Hartmannbunds wur-
den die Teilnehmenden auch gefragt, wie sie
sich das Gesundheitssystem im Jahr 2040
vorstellen. Mehr Zeit für die Aufklärung
von Patienten wünschen sich viele, mehr
­Pflegepersonal, mehr automatisierte Doku-
mentation. Aber auch: weniger Hierarchie,
flexi­blere Arbeitszeitmodelle, Fortbildungen.
Anna Aicher / DER SPIEGEL

Dinge, die in vielen Branchen schon Standard


sind.
Die meisten Medizinstudierenden wollen
später mit Patienten arbeiten. »Die Kliniken
sollten den Leuten zuhören und sie ernst neh-
Medizinerin Stuchtey: Zu viel Bürokratie, zu wenig Weiterbildung und Wertschätzung men mit ihren Forderungen«, sagt Fidelis
Stuchtey. »Sie müssen endlich verstehen, dass
gute Arbeitsbedingungen und ausgezeichne- Ruck durch die Verantwortlichen gehen, die gutes Personal das A und O ist. Und dass man
te Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten.« Arbeitsbedingungen substanziell zu verbes- etwas dafür tun muss, es zu halten.«
Der Klinikbetreiber Helios schreibt, freie Stel- sern«, sagt Verbandschef Weber. Stuchtey arbeitet heute in einem Unter-
len könnten in der Regel schnell nachbesetzt »Vielen Kliniken fällt es tendenziell schwe- nehmen, das sich für grüne Finanzen und Kli-
werden. Außerdem setze man unter anderem rer, freie Stellen für Ärztinnen und Ärzte in maschutz einsetzt, sie ist für Personal- und
auf Workshops wie Ultraschallkurse oder Si- Weiterbildung zu besetzen«, sagt Thomas Organisationsentwicklung zuständig. Sie
mulationstrainings. »Gute Weiterbildung ist Menzel, Vorstand des Klinikums Fulda und komme aus einer Unternehmerfamilie, viel-
für alle Ärzte ein wesentliches Kriterium für Vorstandsvorsitzender der Allianz Kommu- leicht sei ihr der Schritt auch deshalb leicht-
die Auswahl und auch das Fortführen eines naler Großkrankenhäuser. In den nächsten gefallen, sagt sie. Hier könne sie etwas Gutes
Arbeitsverhältnisses.« Jahren werde sich die Lage verschärfen, ins- tun, Einfluss nehmen.
Der Klinikbetreiber Asklepios räumt ein, besondere im Norden und im Osten. »Der Wütend sei sie nicht, sie habe ja eine Ar­-
dass zum Beispiel der hohe Dokumentations- Wettbewerb zwischen den Branchen um beit, die ihr Spaß mache. Doch manchmal
aufwand als Belastung empfunden werden gute Mitarbeiter nimmt ebenfalls zu«, so fehle ihr die Medizin. Ob sie sich vorstellen
könne. Mit verschiedenen Arbeitszeitmodel- Menzel. »Medizinstudierende gelten auch könne, einmal zurückzugehen? »Nein«, sagt
len wolle man gegensteuern. außerhalb der Krankenhäuser als wertvolle sie, »nicht, solange das System ist, wie es ist.«
Die Frage ist, ob all das reicht, um Nach- Mitarbeitende.« Die Klinik schrieb damals in ihr Zeugnis:
wuchs zu gewinnen und zu binden. Seit Jah- Auch Anne Latz findet: Viele Kranken- »Wir verlieren eine außerordentlich tüchtige
ren appellieren Ärztevertretungen, es brauche häuser tun zu wenig, um gute Leute zu halten. und schwer zu ersetzende Mitarbeiterin, was
mehr Medizinstudienplätze, weniger Büro- Die 33-Jährige arbeitete nach dem Studium wir sehr bedauern.«
kratie, mehr Wertschätzung. »Es muss ein als Assistenzärztin auf der psychosomatischen Anika Freier n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 99


KULTUR

Halmich, Raab 2007

Alex Grimm / REUTERS


Lasst die Nippel ruhen
UNTERHALTUNG Seit Stefan Raab seine Rückkehr in die Öffentlichkeit angeteasert hat, sind viele Menschen
­aufgeregt. Sie scheinen sich nichts mehr zu wünschen als ein Comeback des Brachialhumors. Warum?

N ach Jahren der Aufmerksamkeits­


abstinenz zeigte sich auf Instagram
nun Stefan Raab – deutlich dicker, als
man ihn erinnert. Sieht man Raab in seinem
lem aufgebaut hatte: auf dem Ausstellen von
Menschen, die komisch heißen, komisch
sprechen, komisch aussehen oder sich ko­
misch verhalten. Die von ihm per Tastatur
passiert. Das sei eben Kult, sagen Raab-
Fans oft mit der Argumentationskraft
von Anhängern eines tatsächlichen Kults.
Will man diese serielle Selbstbestätigungs­
Comeback-Post womöglich im Fatsuit oder zu Knallchargen vernippelt und in sein show wirklich zurückhaben, in Kombi­
von einer KI verspeckt, versteht man noch Witzfigurenkabinett eingehegt wurden, wo nation mit dem nach unten trampelnden
weniger, warum so viele Menschen nach sei­ sie nur darauf hoffen konnten, irgendwann »TV total«-Hämehumor? Bei allem Ver­
ner etwas undurchsichtigen Ankündigung abgenutzt zu sein und von anderen Nippel­ ständnis für Nostalgie: Viel Gefühl für zeit­
auf Instagram so aufgeregt auf seine mög­ opfern abgelöst zu werden. Bei »Schlag den gemäße Unterhaltung kann man von einem
liche Wiederkehr vor die Fernseh­kameras Raab« kämpfte er sich verbissen durch nie Mann kaum erwarten, der ernsthaft glaubt,
hofften. Viele von ihnen waren enttäuscht, enden wollende Disziplinen, als schwitzte was die Menschen gerade am dringendsten
dass Raab einen erneuten Boxkampf gegen und schnaufte er gerade nicht vor Millionen brauchten, seien zwei Menschen, die sich
Regina Halmich ankündigte und (bislang) Menschen, sondern nur beim alljährlichen ­öffentlich schlagen. Oder treibt es ihn nach
keine neue TV-Präsenz. Aber warum? Holzstammweitwurf in Kleingröbersdorf. Jahren der Abgeschiedenheit bloß deshalb
Der angedickte Insta-Raab erin­nerte sofort Diese Showverweigerung kann man, zurück in die Öffentlichkeit, weil er immer
daran, worauf er sein Image, ein lustiger je nach Geschmack, erfrischend authentisch noch nicht verwunden hat, dass er zwei-
Mensch zu sein, in seinem Frühwerk bei oder repetitiv langweilig finden, wenn mal von einer Frau im Boxring ver­möbelt
Viva und schließlich bei »TV total« vor al­ sie im Kontext einer Unterhaltungssendung wurde? Anja Rützel

100 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


Mirren (l.) in »White Bird« Schwere Jungs aufleben lässt, geht es in rasen-
der Fahrt von Berlin über
SERIEN Zwischen Österrei- Wien nach Marseille. Eigentlich
chern und Deutschen tun sich will der Berliner Charly
zuweilen kulturelle Abgründe ­(Frederick Lau) nur ein ruhiges
auf. Die Gaunerserie »Crooks« Leben ­leben, aber seine kri­
zeigt sie so: Wiener Gangster minelle Vergangenheit hat ihn
versuchen in Berlin, eine Poli- eingeholt und an die Seite des
Larr y Horricks / Lionsgate / Leonine

zistin zu bestechen, der deut- schweren Wiener Jungen ­Joseph


sche Ganove steht ungläubig (Christoph Krutzler) gestellt.
daneben. Dafür benutzen die Der aus Österreich stammende
­Österreicher zur Schadensbe- Regisseur und Autor Marvin
grenzung das farbigere Vokabu- Kren setzt bekannte Genre-
lar: »Nimm ihr die Buff’n ab!«, Puzzlestücke famos unterhalt-
fordert der eine den anderen sam zusammen und zündet ein
auf – und meint die Pistole. Zitatfeuerwerk irgendwo zwi-
Auch wenn in der Netflix-Serie schen Jean-Paul Belmondo und
Glückskeks mit Julien (Orlando Schwerdt) steht größtenteils Deutsch gespro- Bud Spencer. Zugleich macht
in der Schule eines elsässischen chen wird, können Untertitel der »4 Blocks«-Regisseur die
Zuckerguss Dorfs dem jüdischen Mädchen also eine gute Idee sein. So wie Gangsterfantasie ganz zu seiner
FILME Der deutsch-schwei­ Sara (Ariella Glaser) bei, als diese Szene funktioniert die eigenen: Er spart nicht mit Film-
zerische Regisseur Marc Foster ­Nazischergen versuchen, jüdische ganze Serie: Vor einer grandio- blut – und lässt seine Helden
hat Blockbuster inszeniert Menschen zu deportieren. sen Kulisse, die große euro­ doch so verletzlich erscheinen,
(»James Bond 007: Ein Quan- Dann aber bebildert Foster die päische Thrillertraditionen der wie Belmondo sich das nicht
tum Trost«) und nun einen ­Träumereien des jungen Helden- Sechziger- und Siebzigerjahre vorzustellen gewagt hätte. KAE
schauderhaft verkitschten Film paars mit symbolischem Bom-
über die Deportation jüdischer bast – und lässt in einer Rah- Szene aus »Crooks«
Kinder aus dem besetzten menhandlung die Schauspielerin
Frankreich gedreht. Er lässt da­ Helen Mirren in der Rolle einer
rin unter anderem jenen weißen jüdischen Erzählerin, die den
Vogel flattern, der dem Film Holocaust überlebt hat, nicht
den Namen gibt und natürlich bloß mit gereckter Faust »Vive
den Traum von einem freien l’humanité!« rufen, sondern
Leben verkörpert. Zum Teil ist auch Glückskekssprüche auf­
»White Bird« eine einfühlsame sagen wie: »Man vergisst so viele
Ballade über die erwachende Dinge im Leben, Güte jedoch
Liebe zweier Teenager in mörde­ vergisst man nie.« Ein Holo-
rischen Zeiten. Der einst an caust-Erinnerungsfilm mit unge-

Net flix
Kinderlähmung erkrankte Junge nießbarem Zuckerguss. HÖB

Spaziergang Flechten – und damit schon beinahe hinü-


ber ins Naturmuseum Sencken­berg, wo ein
im Märchenwald eher wissenschaftlicher Zugang gepflegt
AUSSTELLUNGEN »Die Natur muss gefühlt wird. Das Sinnliche kommt auch hier nicht
werden«, schrieb 1810 der Naturwissen- zu kurz. Als Besucher kann man etwa über
schaftler Alexander von Humboldt an Kopfhörer das akustische Leben im Wald
­Goethe. In dessen alter Heimat in und um studieren. Gewürdigt werden außerdem
Frankfurt bieten derzeit gleich drei parallele Proteste zugunsten der Wälder, wie beim
Ausstellungen einem städtischen Publikum Bau der Startbahn West in Frankfurt, und
die Gelegenheit, genau das zu tun: der Na- Aktionen wie »7000 Eichen – Stadtverwal-
tur nachzufühlen – in ihrer Erscheinungs- dung statt Stadtverwaltung« von Joseph
form als »Wälder«. Im Deutschen Roman- Beuys. Für die dritte Variante dieses musea-
tik-Museum geht es um die Entdeckung des len Blätterwalds muss man nach Bad Hom-
Waldes als Spiegel menschlicher Empfind- burg, wo im Sinclair-Haus das Romantische
samkeit und lebendiges Gegenüber, wie er mit dem Zeitgenössischen »in einen Dialog
sich ab 1800 in Malerei und Dichtung aus- tritt«, wie es im modernen Ausstellungs-
drückte. Der Wald verlor seinen Schrecken, deutsch heißt. Sinnliches Highlight ist hier
er wurde erhaben und zur Quelle von Le- eine von der Künstlerin Agnes Meyer-Bran-
genden, bot aber auch einen frühen Anlass, dis aus den Duftstoffen von Bäumen destil-
auf seine Gefährdung durch menschliche lierte Substanz namens »One Tree ID«,
Sven Tränkner / Senckenberg

Eingriffe hinzuweisen. Hier begegnen wir die sich Besucher wie ein Parfüm auftragen
dem zur Märchenfigur gewordenen Wolf und damit, vielleicht bei einem anschlie-
ebenso wie dem Borkenkäfer, der Nemesis ßenden Spaziergang, die Fichten und
eines ohnehin kränkelnden Ökosystems. ­Buchen im nahen Taunus verwirren kön-
Ausgestellt ist unter ­anderem das Mikro­ nen. Sofern einem nicht der Wolf in die
skop von Goethe, durch dessen Okular es Quere kommt, der im Hoch­taunus nicht nur
Senckenberg-Exponat »Flechtenholz« hineingeht in die Welt der Moose und eine Märchenfigur ist. FRA​

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 101


KU LT U R

Ehepaar Schäuble nach


Ankunft am Berliner
Flughafen Tegel 1999

102 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


KU LT U R

Auch Minister BIOGRAFIEN Wenige Monate


nach seinem Tod erscheinen die
­Memoiren Wolfgang Schäubles.

sind nur Es entsteht das Bild eines poli­


tischen Lebens am Limit: Er hat
sich aufgeopfert, ohne Rücksicht

Mängelwesen auf Gesundheit und Familie –


ein Elder Statesman, der nie an
der Spitze des Staates stand.

A
nfang Mai 2010 lag Wolfgang Schäub-
le mit hohem Fieber im Bett, als ihn
Bundeskanzlerin Angela Merkel anrief.
Unter den Großen der Weltpolitik herrsche
Sorge, dass die Krise Griechenlands auf den
gesamten Euroraum übergreifen könnte. Es
drohe die zweite Weltwirtschaftskrise inner-
halb kurzer Zeit.
Schäuble, damals Finanzminister, ließ sich
»gegen jede ärztliche Vernunft« von der Bun-
deswehr nach Brüssel fliegen. Als ihn der
deutsche Botschafter am Flughafen abholte,
bat der Minister erst mal um Hilfe. »Mein
Kreislauf drohte wegzusacken, es ging mir
richtig elend.« Schließlich wurde er mit dem
Rettungswagen zur Notaufnahme des Brüs-
seler Uniklinikums gefahren. Der Chefarzt
eröffnet ihm: »Sie sind sehr krank.«
Als kurze Zeit später der amerikanische
Finanzminister seinen Besuch in Berlin an-
kündigte, lag Schäuble nach mehreren Kreis-
laufzusammenbrüchen abermals in der Not-
aufnahme, diesmal in Offenburg. Es ging auf
Mitternacht zu, ein Flug mit der Bundeswehr
am nächsten Morgen hätte sich nicht mehr
organisieren lassen.
Es ist erstaunlich, dass Minister selbst in
dramatischen Momenten nur mit fristgerech-
tem Termin auf die Flugbereitschaft zugreifen
können. Davon abgesehen, erinnert die Ge-
schichte eher an einen leicht altmodischen
Agentenfilm als an das seriöseste Gewerbe
der Welt, die Bundespolitik: Schäuble wies
einen Sicherheitsbeamten an, ihm Anzug,
Rasierapparat und Zahnbürste zu holen. Per
Hubschrauber wollte er sich aus dem Kran-
kenhaus von Offenburg nach Stuttgart brin-
gen lassen, um dort den ersten Linienflug nach
Berlin zu nehmen. Am nächsten Morgen
saß er an seinem Schreibtisch im Berliner
­Finanzministerium, um seinen amerikani-
schen Kollegen zu begrüßen, als wäre nichts
gewesen. »You look pretty well«, habe der zu
ihm ­gesagt.
Arne Weychardt / Agentur Focus

Wolfgang Schäuble schildert die Szenen in


seinen nun posthum erscheinenden Memoi-
ren. Es sind nur zwei von vielen Momenten,
in denen klar wird, dass Schäuble, der Staats-

Wolfgang Schäuble: »Erinnerungen. Mein Leben in der


Politik«. Klett-Cotta; 565 Seiten; 38 Euro.

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diener, auch ein Mann mit einem ge­ der Siebziger- und Achtzigerjahre mühens schuldig werde. Es ist das
wissen Hang zur Selbstzerstörung mag er damit typisch gewesen sein, Motto eines fast tragischen Herois­
war, ein Getriebener, der sich auf­ kulturell war er von ihnen weit mus, das zu einem Leitmotiv von
opferte, ohne Rücksicht auf die Ge­ weg, obwohl er seinem Alter nach Schäubles Leben wurde: Wer wagt,
sundheit oder gar die Familie. eigentlich ein Achtundsechziger war: gewinnt und hat doch an der Last zu
2010 litt er an den Spätfolgen des Beatles, Rolling Stones, den Summer tragen.
Attentats auf ihn, aber er hatte auch of Love, Woodstock, das kenne er Als Altkanzler habe der Sozialde­
Krebs. Die Krankheit hielt er in der ­alles eher aus nostalgischen Rück­ mokrat eines Tages überraschend bei
Öffentlichkeit geheim, bis er ihr blicken im Fernsehen. Schäubles Schäuble angerufen, um ihm zu er­
schließlich im Dezember 2023 erlag. ­kulturelle Heimat war die badische klären, wie das Kanzleramt funktio­
Da war das Buch gerade fertig. Provinz mit ihren Institutionen: Kir­ niert, für das Schäuble nun zuständig
Selbst dessen Niederschrift scheint che, Gemeinderat, Sportverein. war. Die beiden verbindet einiges: der
einigermaßen turbulent verlaufen zu Viele politische Entwicklungen knorrige Pragmatismus, das, wie
sein: Schäuble hat es gemeinsam mit dieser Jahre habe er, wie er heute wis­ Schäuble es nennt, »zähe Durcharbei­
zwei Co-Autoren verfasst, dem Poli­ se, damals noch gar nicht begriffen. ten der Akten«, aber auch die öffent­
tikwissenschaftler Jens Hacke und Auch damit ist er typisch, für eine lichkeitswirksamen Ausflüge ins Tief­
dem Historiker Hilmar Sack. Im Union, die gesellschaftspolitisch den sinnige. Schmidts »freudlosen aske­
Nachwort berichten die von einem Anschluss verloren hatte und deshalb tischen« Regierungsstil allerdings
Wettlauf gegen die Zeit. Schäuble sei ab 1969 in der Opposition war. Die fand selbst Schäuble »eher trist«.
schon zu krank gewesen, um den Text SPD regierte mit der FDP, erst unter Ohne dass er hier den derzeitigen
in Ruhe zu Ende zu bringen. Willy Brandt, dann unter Helmut Bundeskanzler Olaf Scholz erwähnt,
Auf mehr als 600 Seiten geht es Schmidt. kommt einem fast unweigerlich die
um die Stürme und um die Flauten Brandt, den CDU und CSU heftig heutige Ampelkoalition in den Sinn,
des Weltgeschehens. Um die Wieder­ bekämpft haben, hielt Schäuble spä­ wenn Schäuble die Spätphase von
vereinigung, die CDU-Spendenaffä­ ter für einen der großen Kanzler der Schmidts Kanzlerschaft beschreibt:
re. Die vielen Krisen: Euro-, Finanz-, Bundesrepublik. Und Schmidt kommt »Gesamtgesellschaftlich hatte sich der
Flüchtlings- und Corona-. Das alles in Schäubles Buch eine spezielle Rol­ Pessimismus immer stärker verbrei­
wird, teils unter Rückgriff auf das le zu. Sie überrascht, wenn man sich tet«, »die Leute hatten den Glauben
SPIEGEL -Archiv, geschildert, weniges daran erinnert, dass die Union mit­ verloren, dass es aufwärts gehen
allerdings neu bewertet. Dafür ist hilfe der abtrünnigen FDP den Sozial­ könnte«. Dazu der »gesinnungsethi­
Schäuble einfach zu loyal, selbst nach Wahlplakat demokraten gestürzt hat. sche Dauerprotest dieser Jahre«. Bei
dem Tode noch. Und so ist das Buch für Schäuble 1972: Schmidt habe ihn als jungen Ab­ Petra Kelly, damals Star der jungen
»Ich habe das, so
vor allem dann interessant, wenn er beschäftigt wie ich
geordneten tief beeindruckt, schreibt grünen Partei, habe man »vernünf­
nicht allein die Aktenlage referiert, immer war, zunächst Schäuble, als der davon sprach, dass tigerweise gleich mitheulen müssen,
sondern wenn dabei ein Bild entsteht. gar nicht bemerkt« wer politisch handle, trotz allen Be­ weil die Welt so traurig war«. Das ist
Das Selbstporträt des Ministers als etwas boshaft, aber treffend.
gebrochener Held. Da spricht er, da sprechen nicht die
Akten.

S
chäuble, geboren im September Sein Mann, um die verfahrene
1942, hatte keine Erinnerungen Lage zu retten, war Helmut Kohl.
mehr an den Zweiten Welt­ Der habe schließlich, wie Schäuble
krieg, in der Armee hat er nie ge­ schreibt, »auf seine Art immer Le­
dient. Wie so viele Männer seiner bensfreude versprüht«. Ein Katholik.
Generation hat er den Heroismus, Anders als Wolfgang Schäuble, der
die Härte gegen sich selbst, die den als Sohn einer württembergischen
Jungen der Nachkriegsjahre noch Protestantin im eigentlich katholi­
­anerzogen wurde, im Beruf ausge­ schen Baden evangelisch erzogen
lebt. In extremen Arbeitstagen von wurde (sein katholischer Vater wurde
16 oder 17 Stunden. deshalb exkommuniziert, tatsäch­
In seinem Buch erinnert er sich lich) und sich vielleicht gerade des­
daran, dass seine Mutter einige Zeit halb zum Superprotestanten entwi­
nicht mehr mit ihm geredet habe, als ckelt hat: fleißig, gläubig, immer
er 1972 zum ersten Mal für den deut­ ­bereit, sich selbst nicht so wichtig zu
schen Bundestag kandidierte. »Ich nehmen.
habe das, so beschäftigt, wie ich im­ 1982 kam es zum Machtwechsel,
mer war, zunächst gar nicht bemerkt. Schäubles Aufstieg begann. Er war
Später hat sie mir deutlich gemacht, Parlamentarischer Geschäftsführer
dass sie böse auf mich gewesen sei. der CDU-Fraktion. Kohl leitete die
Schließlich hätte ich wissen müssen, »geistig-moralische Wende« ein, wie
was ich meiner Frau und meiner er das damals nannte. Schäuble
­Familie antat – meine erste Tochter schreibt: »Zur gesellschaftspolitischen
war gerade erst geboren.« Wende zählte für mich ganz wesent­
Konrad-Adenauer-Stiftung

Aber Schäuble ging als CDU-Bun­ lich das Herbeiführen eines fühlbaren
destagsabgeordneter nach Bonn und Stimmungsumschwungs. Wir wollten
machte im Lauf des folgenden Jahr­ wieder mehr Zuversicht vermitteln.
zehnts Karriere. Seine Familie sah er Nicht jammern und verzagen, son­
künftig eigentlich nur noch am Wo­ dern den Menschen wieder Vertrauen
chenende. Für die abwesenden Väter in die Zukunft geben.«

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Doch kurz nachdem Deutschland wieder


eins war, schoss am 12. Oktober 1990 ein psy-
chisch kranker Mann auf ihn: »Zwischen der
rauschenden Nacht vor dem Reichstag und dem
Attentat in meinem Wahlkreis lagen gerade
einmal neun Tage. Neun Tage! Das ist die prä-
gendste Erfahrung, die ich in meinem Leben
gemacht habe. 1990 wurde dadurch politisch
wie privat zum zentralen Jahr meiner Biografie,
die seitdem ein Davor und ein Danach kennt.«
Gerade noch Steuermann der Weltge-
schichte mit fast übermenschlichen Kräften,
war Schäuble nun körperlich beschädigt, der
erste bundesdeutsche Spitzenpolitiker im
Rollstuhl. Seine Gesichtszüge veränderten
sich in diesen Jahren, das jungenhafte Leuch-
ten verschwand, aus dem übermütigen Ma-

Dieter Bauer / IMAGO


cher wurde ein Elder Statesman, der nie an
der Spitze des Staates stand.
Auch wenn er über Jahre als Kohls Nach-
folger galt, Kanzler wurde er nicht. Ebenso
wenig Bundespräsident, obwohl er im Ge-
spräch war. Und selbst die Berliner CDU woll-
te als Kandidaten für das Amt des Regieren-
den Bürgermeisters jemand anders haben.
Schäuble zählt das alles auf, ohne zu kla-
gen. Auch nicht darüber, dass er 2000 als
CDU-Vorsitzender wieder zurücktreten muss-
te. Das politische Opfer für Kohls Spenden-
affäre, es blieb ihm überlassen. Das Verhältnis
der beiden zerbrach, sie haben nie wieder
miteinander geredet.
Nun diente Schäuble Angela Merkel eben-
so loyal, wie er Kohl gedient hatte. Dem Drän-
gen des CSU-Chefs Edmund Stoiber, Merkel
nach der Flüchtlingskrise zu stürzen, gab er
ebenso wenig nach, wie er allen Versuchen
widerstanden hatte, Kohl abzulösen.
Mario Vedder / ddp

Für Merkel findet Schäuble in seinem Buch


größtenteils gute Worte. Schlecht weg kommt
bei ihm Gerhard Schröder. Den hielt er für
»substanzlos«. Anders als Oskar Lafontaine.
Minister Schäuble mit Kanzler Kohl 1986, mit Altkanzler Schmidt 2011: Wie das Amt funktioniert
Als Schäuble nach den Schüssen auf ihn im
Krankenhaus lag, hat Lafontaine ihn besucht,
Der Teil der Deutschen, der Kohl damals Verfahren im Speziellen dargestellt hat, ist die beiden haben lange geredet. Lafontaine,
nicht gewählt hat, dürfte anderer Ansicht sein. Schäuble auch rückwirkend jedes Zögern damals SPD-Kanzlerkandidat, war wenige
Doch Schäuble hat über den Kohl jener Jah- fremd. Die Gelegenheit war da, Kohl und Monate zuvor von einer psychisch kranken
re in seinem Buch nur Gutes zu sagen. Er lobt Schäuble haben zugepackt. Und damit er- Frau schwer verletzt worden, es hat die beiden
dessen Teamgeist, dessen »Fähigkeit, sich mit lebte die »skeptische Generation« (so der offenbar verbunden, wenngleich sie politisch
»starken und klugen Charakteren zu umge- Soziologe Helmut Schelsky) völlig unerwar- weit auseinanderlagen.
ben«, dessen »umsichtigen Führungsstil« und tet einen heroischen Moment historischer Schäuble ist kein Ideologe, auch wenn er
schließlich dessen Geschick, als es um die Größe. sich ausdrücklich als Konservativer bezeichnet.
Wiedervereinigung ging: »Kohl war eben Schäuble schildert diese Zeit in seinem Sein Selbstverständnis fußt auf einem Satz
nicht nur ein Macht-, sondern auch ein be- Buch als »Dauerbelastung mit sehr wenig Immanuel Kants: Der Mensch ist aus krum-
sonderer Instinktpolitiker. Im Einheitsjahr Schlaf und eingeschränktem Familienleben«. mem Holz geschnitzt. »Verführbar, ängstlich,
bewegte er sich zum Erstaunen seiner Kritiker Damals Bundesinnenminister, war er an der irrational«, schreibt Schäuble. Er grenzt sich
völlig trittsicher: wie ein Elefant mit Samt- Seite Kohls die entscheidende Figur und han- so vom idealistischen Weltbild der Linken ab,
pfoten.« delte die Verträge mit der dahinschwindenden von deren, wie er meint, Fehler und Missver-
DDR aus. ständnis, die Menschen nicht so zu nehmen,

D
er Fall der Mauer im November 1989 wie sie sind: Mängelwesen. Hier hat er sich
und die Wiedervereinigung ein knap- ein Wort des konservativen Anthropologen
pes Jahr später waren für Kohl wie für Arnold Gehlen ausgeliehen. Es klingt wie das
Schäuble der Höhepunkt ihrer politischen Credo eines Helden voller Zweifel.
Laufbahn. Anders als dem »Zeit«-Heraus- Denn, so schreibt er, im Laufe seines Le-
geber Theo Sommer, der in seinem 2022 Der Fehler der Linken sei: bens habe er gelernt, »dass es nämlich oft,
­erschienenen Memoiren die tiefen Zweifel
der Linksliberalen und Linken an der Wieder- die Menschen nicht so wenn nicht sogar meist anders kommt, als wir
denken«.
vereinigung überhaupt und am gewählten zu nehmen, wie sie sind. Sebastian Hammelehle  n

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Der junge Mann und das Meer


AKTIVISMUS Boyan Slat will die Ozeane vom Plastikmüll befreien. In eine Strategie des Verzichts,
wie Greta Thunberg sie fordert, hat er kein Vertrauen. Er setzt auf technische Lösungen.

B
oyan Slat macht irgendwas
falsch. Und irgendwas macht
er richtig. Jedenfalls muss es
einen Grund dafür geben, dass Greta
Thunberg auf der ganzen Welt er-
kannt wird – und Boyan Slat nicht
einmal auf seiner eigenen Party.
Mit abwesendem Lächeln steht er
neben duftenden Blumenbeeten in
einem Park am Ufer des Chao Phraya
und versucht, sich die komplizierten
Namen wichtiger Leute zu merken.
Den von Patchawarat Wongsuwan
zum Beispiel, Umweltminister und
stellvertretender Premier von Thai-
land, und auch der Gouverneur von
Bangkok ist da. Ventilatoren bringen
surrend die feucht-schwüle Luft in Be-
wegung. Die Kameras des thailändi-
schen Fernsehens laufen. Remco van
Wijngaarden kennt er schon, das ist
der Botschafter seines Heimatlands,
der Niederlande. Oder Victor Wong,
der in Myanmar, Laos und Thailand
die Geschäfte von Coca-Cola leitet.
Er bezahlt die Party hier: »Unveiling
Interceptor 019: The New Cleanup
Solution in the Chao Phraya River«.
Zwischen all den Uniformen und
teuren Anzügen wirkt er wie ein
Praktikant, seltsam deplatziert in sei-
nen Cargohosen, der bleichen Haut,
mit Dreitagebart und langen Haaren,
die ihm auf die Schultern und über
die Augen fallen. Eine Mischung aus
Heilsbringer und Maskottchen, si-
cherlich ein Nerd.
Boyan Slat, geboren 1994, sucht
seit mehr als zehn Jahren nach Wegen,
ein Problem zu lösen, unter dem auch
Thailands Flüsse wie der Chao Phraya
leiden: Plastikmüll. Während Um-
weltaktivisten der Generation Z wie
Greta Thunberg für ein Plastikverbot
sind, setzt er auf Technologie. Sein
Angebot, sagt er, biete eine »aufregen-
de Alternative«, die in eine Welt pas-
se, »auf die wir uns freuen können«.
Teil seiner Lösung ist der »Inter-
Arno Frank / DER SPIEGEL

ceptor«. Die futuristische Kreuzung


aus Ponton und Katamaran ankert
hinter dem Park am Ufer, ist 24 Meter
lang, solarbetrieben und theoretisch
in der Lage, täglich bis zu 50 Tonnen
NGO-Gründer Slat: Blaue Sonnenbrille aus Ozeanplastik Treibgut aus dem Fluss zu fischen.

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In Abwandlungen ist dieses Mo- da nicht 1000 Abfangjäger? Ist das


dell bereits weltweit im Einsatz – in nicht eine titanische Aufgabe?
Malaysia und Indonesien, in Vietnam, »Ja, klar«, sagt Slat und erinnert
Jamaika, der Dominikanischen Re- in diesem Moment an Elon Musk, der
publik und in den USA. In Los An- auch oft den Eindruck macht, als ir-
geles belegt der »Interceptor 007« ritiere ihn der Kleinmut seiner Kriti-
mit dem Ballona Creek einen begra- ker. Es brauche eben mehr schlaue
digten Kanal in voller Breite. Hier, in Leute, die sich ȟber die wirklichen
Bangkok, ist der Strom beinahe einen Probleme den Kopf zerbrechen«.

The Ocean Cleanup


halben Kilometer breit. Das Schiff Gegen steigende Meeresspiegel
wirkt wie ein Spielzeug. Ist das nicht reagierten Niederländer seit Jahrhun-
nur ein Scheinlösung? Ein Teesieb derten schließlich auch nicht mit Pro-
gegen die Sturmflut? test. Sie setzten auf technische Lösun-
Boyan Slat sagt, das sei »eine in- gen – und bauten höhere Deiche. Das
teressante Frage«. Und erklärt, dass Ocean-Cleanup-Schiff lautet: »Technik hat uns reingerit- Festkleben auf Straßen oder das Be-
eben »jeder Fluss anders« und der »Interceptor 019«: ten, also reitet sie uns vielleicht auch schmieren von Kunstwerken mit Kar-
Futuristische
Chao Phraya von Wissenschaftlern Kreuzung aus Ponton
­wieder raus.« toffelbrei nennt Slat eine »symboli-
der ältesten Universität Thailands und Katamaran Zu seinem Ansatz gehört, sich von sche Sabotage des Systems« und wird
aufwendig untersucht worden sei. der Komplexität eines planetarischen kurz sarkastisch: »Viel Erfolg!« Seine
Windrichtung, Strömungsverhältnis- Problems wie der Klimakrise nicht Methode ist vielmehr die Koopera-
se. Kameras zeichneten den Weg des lähmen lassen zu wollen: »Weil das tion mit dem System. Das System
Mülls auf, einzelne Plastikflaschen Problem so gewaltig erscheint. Und weiß das zu schätzen.
wurden mit GPS-Trackern verfolgt. immer gewaltiger wird, je länger man Gerade von rechter Seite, das hat
Der »Interceptor 019« liege also »an es betrachtet.« Slat gemerkt, wird er gern gegen
der strategisch günstigsten Stelle«, Slat denkt wie ein Ingenieur, und ­Greta Thunberg ausgespielt. Dort die
sagte er und nippt an einer Plastik- als solcher konzentriert er sich lieber Mahnerin, hier der Macher. Hier die
flasche mit Trinknahrung. auf einen Nebeneffekt des fossilen Schmerzensfrau, dort der Posterboy
Slat erzählt, wie er mit 16 Jahren Zeitalters: das Polyethylen auf Erdöl- des Ökoliberalismus.
beim Tauchen in Griechenland mehr basis und seine fatalen Folgen – den Dazu passt Slats Verbindung zu
Plastiktüten als Fische gesehen habe. Plastikmüll. dem libertären Investor Peter Thiel,
Wie er vom »Great Pacific Garbage Der »Interceptor 019«, das Boot, der Donald Trump unterstützte und
Patch« hörte, dem gigantischen Wir- ist keine wütende Forderung, keine »Freiheit und Demokratie für nicht
bel aus Müll im Pazifik. Wie er sich klagende Petition. Es ist da, man kann kompatibel« hält. Nachdem Slat 2013
»ganz naiv« fragte, »ob man das nicht es betreten. Und ihm dabei zusehen, sein Studium der Luft- und Raum-
reparieren kann«. Wie er für ein wie es arbeitet und funktioniert. Ein fahrttechnik abbrach, um sich ganz
Schulprojekt zu Hause im niederlän- automatisches Laufband hebt aus The Ocean Cleanup zu widmen,
dischen Delft den Prototyp einer dem Wasser, was die Strömung ihm konnte er das wegen eines Stipen-
schwimmenden Barriere und die Idee zugetrieben hat, und leert es in einen diums von Thiel. Slat hatte keine Pro-
entwickelte, das Plastik einzufangen. von sechs Containern. Angetriebene bleme damit, sich von einer solchen
Wie ihm Crowdfunding zunächst eine Pflanzen. Den Kadaver eines Fisches, Figur unter die Arme greifen zu las-
Machbarkeitsstudie und 2013 dann umschwirrt von Fliegen. Und überall sen: »Thiel fand meine Idee wohl ein-
die Gründung seiner in Rotterdam Tüten, Zahnbürsten, Schuhe, Fla- fach cool. Und es wäre doch eine
ansässigen Organisation ermöglichte: schen, Puppen aus Plastik – das Schande, wenn Unterstützung für die
The Ocean Cleanup. Wie seitdem eigentliche Ziel des Abfangjägers. Die gute Sache nur auf Menschen mit be-
also der wuschelhaarige Junge die vollen Container werden an Land stimmten politischen Ansichten limi-
Welt rettet. ­gebracht, wo der Müll getrennt, wei- tiert bliebe, oder?«
Und liebt die Welt nicht Geschich- terverarbeitet oder sachgerecht ent- Marc Benioff, Tech-Milliardär und
ten von jungen Menschen, die anpa- sorgt werden soll. Eigentümer des »Time«-Magazins,
cken, was frühere Generationen ha- Vor dem surrenden Laufband er- findet Slat ebenfalls cool. Die öko-
ben liegen lassen? Slat adressiert ein zählt Slat einem Reporter der »South logisch engagierte Band Coldplay hat
wichtiges Teilproblem dessen, was China Morning Post« die Geschichte, nach dem »Interceptor 005« auch
auch die Schwedin Thunberg um- wie er mit 16 Jahren beim Tauchen den kommenden »Interceptor 020«
treibt. Doch auf manche wirkt er bei- in Griechenland mehr Plastik als Fi- in Indonesien finanziert. Ein kurzer
nahe wie ihr Gegenspieler. sche gesehen hat. Gleiches erzählt Flirt mit Elon Musk hingegen endete,
Das hat Ursachen, kuriose wie er einer Korrespondentin der Zei- als, wie ein Insider berichtet, dem
handfeste. Die Botschaft von Greta tung »De Telegraaf«, die danach Milliardär dämmerte, dass The Ocean
Thunberg ist so simpel wie dringlich: noch ein Selfie mit ihm möchte. Cleanup nie profitabel sein würde.
»So kann es nicht weitergehen!« Be- Slat zieht dafür seine Schwimmwes- Slats Bekanntschaften sind das
wegungen wie Fridays for Future, te aus und setzt seine blaue Sonnen- ­Ergebnis von Netzwerkerei und zahl-
Letzte Generation oder Extinction »Technik brille aus Ozeanplastik auf. Beide reichen Abendessen unter vier Au-
Rebellion beziehen ihren Elan aus hat uns lächeln glücklich, als wäre das Pro- gen – das Gegenteil basisdemokra­
einer pessimistischen Weltsicht, die
auch Boyan Slat nicht für unbe­
rein­geritten, blem gelöst.
Auf der Barkasse zurück zum Ufer
tischer Diskussionsrunden, wie sie
bei Fridays for Future üblich sind.
gründet hält. Er aber hat keine Be- also reitet wird der »Interceptor« immer kleiner. Als er die Bewegung in einem Neben-
wegung gegründet, sondern eine sie uns 1000 Flüsse weltweit, hat The Ocean satz einen »Todeskult« nennt, nimmt
NGO mit rund 90 Mitarbeitern. Und Cleanup ausgerechnet, sind für er es sofort wieder zurück: »Ich ver-
sucht nach Wegen, wie es eben doch vielleicht auch­ 80 Prozent des Plastikmülls in den stehe ja, woher diese Einstellung
weitergehen könnte. Seine Botschaft wieder raus.« Ozeanen verantwortlich. Bräuchte es kommt. Sie gehen davon aus, mensch-

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liches Wachstum und eine gedeihen­ Problemen, die bereits mit den Me­
de Umwelt könnten nicht neben­ thoden der Wissenschaft oder Tech­
einander existieren. Wer das glaubt, nik gelöst worden sind.« Richtig und
bringt sich gegen die komplette falsch, das ist für den Tüftler eine
menschliche Zivilisation in Stellung. technische Frage.
Wenn wir dieser Philosophie folgen, Dabei stolperte er selbst von Tief­
führt uns das buchstäblich zurück schlag zu Tiefschlag. Sein erstes Sys­
in die Höhlen.« tem zum Einsammeln von Plastik­
Weniger heizen? Weniger fliegen? müll im Pazifik? Gescheitert am ho­
Weniger konsumieren? Sparsamer hen Wellengang und Konstruktions­
sein? Vor der eigenen Haustüre keh­ fehlern. Derzeit ist eine neue, ver­
ren? Das könnte, sagt Slat, unseren besserte Variante im Einsatz. Eine

The Ocean Cleanup


ökologischen Fußabdruck vielleicht andere Anlage im Rio Motagua in
halbieren: »Aber die Hälfte ist nicht Guatemala scheiterte an der schieren
ambitioniert genug, wenn wir die Luft Masse an Plastikmüll, die der Fluss
1
und die Ozeane reinigen wollen.« bei Regenzeit mit sich führt. Der Mo­
Er glaubt, dass die Menschheit tagua sei schmutziger, sagt Slat, als
nicht weniger, sondern mehr Wachs­ manche Müllhalde.
tum braucht: »Das ist auch eine so­ Sein Kreuzzug gegen das Plastik
ziale Frage. Wir müssen reicher wer­ hat Slat in den vergangenen zehn Jah­
den, damit die sechs Milliarden, die ren von den Ozeanen in die Fluss­
nicht im wohlhabenden Teil der Welt mündungen geführt und von den
leben, ebenfalls Zugang zu effizienten Flüssen auf die Müllhalden. Ist es von
und sauberen Technologien haben.« hier nicht nur noch ein kleiner Schritt
Sein Optimismus wirkt aufreizen­ zu den strukturellen Gründen für das
der als der handelsübliche Pessimis­ Problem, in die Politik?
mus. Es scheint, als fessle uns die »Ich würde mich lieber auf das
­Dystopie mehr als die Utopie. Greta konzentrieren, worin ich gut bin. Ich
Thunberg, sagt Slat, arbeite gegen die bin gut in unpolitischen Lösungen.

The Ocean Cleanup


Natur des Menschen. Er hingegen Was ich mache, damit können Leute
wolle versuchen, sie sich zunutze sich identifizieren – ganz egal, ob
zu machen. sie rechts, links progressiv oder re­
2
Es gibt ein hübsches Gleichnis aus aktionär sind.«
der Verhaltensforschung, das viel Deswegen verteidigt er auch seine
über diese Natur und den unter­ Zusammenarbeit mit Coca-Cola. Das
schiedlichen Umgang damit verrät. Unternehmen verkauft im Jahr mehr
Darin geht es um die »Salzfalle«, mit als 100 Milliarden Plastikflaschen –
der Buschmänner in der Savanne Pa­ von denen nicht wenige im Ozean
viane fangen. Man muss nur unter landen. Als offizieller Partner von
den Augen des neugierigen Tiers ein The Ocean Cleanup hat Coca-Cola
enges und langes Loch in einen Ter­ auch den »Interceptor 019« in Bang­
mitenhügel bohren und darin Salz kok bezahlt. Als globaler Gigant, sagt
verstecken. Neugier wird den Pavian Slat, leiste die Firma auch »unersetz­
dazu bringen, die Hand in das Loch liche« logistische Hilfe: »Die wissen
zu stecken. Hat er einmal seine Salz­ einfach, wen man in Guatemala oder
beute gepackt, wird er die zur Faust Thailand anrufen muss, und da spre­
geballte Hand nicht mehr zurückzie­ chen wir von der Regierungsebene!«
Amaur y Paul / AFP

hen können – und kann leicht gefes­ Die Frage, wie weit Boyan Slat ge­
selt werden. Das Tier müsste nur die hen und mit wem er sich noch ein­
3
Faust öffnen, also loslassen, dann lassen würde, beantwortet er erst
wäre es frei. Dazu ist es aber nicht in nach langem Nachdenken. »Eines
der Lage. Seine Gier verbietet es. den sollten wir beschreiten. Und ich 1 | Müllsammelboot meiner ersten Prinzipien ist der Kon­
Erzählt man diese Geschichte glaube: Das ist die Technologie.« »Interceptor 019« sequenzialismus. Also die Verantwor­
auf dem Fluss Chao
einer Aktivistin der Letzten Genera­ So sagt er es auch, als er endlich Phraya in Bangkok
tungsethik. Ich bewerte Handlungen
tion, sagt sie: »So ist es. Wir sind die­ auf die Bühne gebeten wird. Nur drei 2 | Transportband an danach, ob sie im Ergebnis universell
ser Pavian. Wir müssen lernen loszu­ Minuten braucht Slat, seine Mission Bord 3 | Aufgelesener einen positiven Effekt haben.«
lassen!« Erzählt man die Geschichte zu erklären, seine ausladenden Ges­ Müll aus dem Chao Konsequenzialistischerweise hat
Phraya
Slat, lächelt er und sagt: »Wir müssen ten wirken perfekt einstudiert. Er es einen positiven Effekt, wenn er
das Loch größer machen!« schleudert den Entscheidern kein sich nun mit dem Team von Coca-
Er will nicht ausschließen, dass »How dare you?» entgegen, son­ Cola und deren Teams aus PR-Spe­
Loslassen eine Lösung sein kann. dern bedankt sich beim Establish­ zialisten fotografieren lässt. Die Leu­
Doch Menschen würden sich gegen ment für die Unterstützung. Herzlicher te vom Brausekonzern tragen identi­
alles wehren, was sie als Verzicht oder Applaus. sche Polohemden, gleichberechtigt
Einschränkung empfinden – bis hin Nennt man seinen Optimismus auf der Brust die Schriftzüge von The
zum Leugnen, dass es überhaupt ein naiv, schüttelt er den Kopf: »Ich glau­ Ocean Cleanup und Coca-Cola.
Problem gibt: »Was immer also der be nicht, dass es für jedes Problem Richtig und falsch, das ist für den
beste Weg ist, ein dringendes Pro­ eine technische Lösung gibt. Aber es Aktivisten eine taktische Frage.
blem schnell und effektiv zu lösen – gibt wirklich eine endlose Liste von Arno Frank n

108 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


KU LT U R

temberg für den Streamingdienst Disney+ die Sportlehrer Herr Che (Andreas Döhler),
von der Kritik gelobte Miniserie »Sam – Ein der sie schließlich überredet und in sein
Sachse« über einen schwarzen Polizisten in Team aufnimmt. Nach anfänglichen Gemein-
Ostdeutschland. »Sieger sein« beruht auf heiten gegenüber der Neuen geht es in ein

Aus der
ihren Kindheitserinnerungen und hatte im Turnier zwischen Berliner Bezirken – und
Februar auf der Berlinale Premiere als Eröff- Monas Mannschaft muss sich im Finale gegen
nungsfilm der Sektion Generation Kplus für die Wohlstandskinder aus Charlottenburg

Deckung
Filme, die sich an ein junges Publikum richten. zusammenraufen.
»Ich wollte schon immer einen Kinderfilm Das Schöne an »Sieger sein« ist auch, dass
machen. So wie ›Hanni & Nanni‹ oder ›Bibi der Plot keine präpubertäre Romanze für
& Tina‹, aber für Kanaken«, sagte Yusef kürz- Mona vorgibt: Hier dürfen vorrangig die
lich in einem Interview. Das Ergebnis ist ein Mädchen miteinander verkehren und sich
KINO Die Regisseurin Soleen Balanceakt, der ihr mit Chuzpe und gutem über Ressentiments hinweg arrangieren,
Ballgefühl gelingt. »Sieger sein« ist keine sei- Jungs spielen nur als nervige Brüder oder
Yusef erzählt in ihrem Jugendfilm fige Komödie, auch kein bedrückendes Sozial- Fußballkonkurrenz eine Rolle. Mit ihrem bes-
»Sieger sein« über ein fußball­ drama. Es ist etwas Spielerisches zwischen ten Kumpel Harry (Rankin Duffy) findet
begeistertes Flüchtlingsmädchen Tiefgang und Leichtigkeit, das es im deut- Mona über dessen eigene Ausgrenzungser-
schen Kino nur selten zu sehen gibt. Schon fahrungen zusammen. Er ist schwul.
an einer Berliner Brennpunktschule.
gar nicht, wenn es um die Lebenswirklichkeit Nicht ganz so umsichtig ist Yusefs Umgang
Es ist ihre eigene Geschichte. von Migranten geht. mit den Sprachbarrieren ihres migrantischen
Mit ihrer Hauptdarstellerin Dileyla Agir- Personals. Immer wieder lässt sie Mona die
man, die sich jeglicher Niedlichkeit verwei- vierte Wand zum Zuschauer durchbrechen:

I
ch hasse es hier«, sagt Mona mit mauli- gert, aber dennoch bezaubert, erzählt Yusef, »Ach so, in meinem Kopf sprechen übrigens
gem Blick direkt in die Kamera. Sie liegt wie Mona durch ihre Fußballbegeisterung Teil alle perfektes Deutsch«, sagt sie einmal. Das
mit einer Platzwunde an der Stirn auf eines chaotischen Mädchenfußballteams wäre ein guter Kniff, um auf stereotype Ak-
dem Boden. Gerade hat eine Mitschülerin ihr wird. Und schließlich doch noch ihren Frieden zente komplett verzichten zu können. Zu
einen Fußball an den Kopf gekickt. Das hat mit der neuen Heimat macht, in die sie nie Hause sprechen Mona und ihre Familie dann
man dann davon, wenn man sich aus der kommen wollte. Yusef stellt das ungeschönt jedoch ein Gemisch aus kurdischem Dialekt
­Deckung wagt. Zuvor hatte sich die ­Elfjährige dar: Nicht jeder »Scheiß-Flüchtling«, wie und gebrochenem Deutsch, das artifiziell und
zum ersten Mal getraut, einen Ball, der ihr Mona sich einmal selbst nennt, wollte seine inkonsequent wirkt. Echte Schülerinnen und
zufällig vor die Füße gerollt war, mit richtiger Heimat verlassen, um es im vermeintlich Schüler aus dem Wedding, die härtere Ban-
Wucht ins Tor zu schießen, nachdem sie sich schönen und reichen Deutschland besser zu dagen gewohnt sind, dürften sich zudem über
wochenlang nur als Zaungast der auf dem haben: »Ich wollte nicht weg«, sagt sie trotzig, verbale Wattebäusche wie »Loser« kaputt-
Schulhof trainierenden Mädchenmannschaft »Ich wollte bleiben, bei meiner Tante Helin lachen, die Drehbuchautorin Yusef als fiese
genähert hatte. Ein Volltreffer! »Wow, was und bei meinen Freunden.« Beleidigungen ausgibt. Ebenso wie über das
für ein Schuss«, staunten selbst die toughen Tante Helin, verschollen in den Wirren berlinernde Gutmenschenklischee Herr Che,
Mädchen, die das stille Flüchtlingskind bis zu des syrischen Bürgerkriegs, ist ihr feministi- der den Sozialromantikrevoluzzer schon im
diesem Tag entweder ignoriert oder gehänselt sches Vorbild, eine bewaffnete Widerstands- Spitznamen trägt und sich unermüdlich für
hatten. Wegen ihrer komischen Klamotten. kämpferin, die ihrer Nichte Selbstbewusst- die Kids einsetzt.
Oder wegen ihrer Fremdheit, obwohl die sein einimpft und ihr den ersten Fußball Das sind verzeihbare Zugeständnisse an
meisten dieser Girls ebenfalls eine Migra- schenkt. Aber das Ballspiel gehört in die ver- das bürgerliche Elternpublikum, dem sich die-
tionsgeschichte haben. Mona gehört selbst klärte Bolzplatzkindheit zu Hause, nicht in se urbane Integrationssaga auch andient – zur
bei den Underdogs nicht dazu. den feindseligen Wedding. Weshalb Mona Selbstvergewisserung und Beruhigung. Ein
In vielen anderen auf Erbauung zielenden zunächst zögert, ihr Talent vor den anderen bisschen Bullerbü im Brennpunktkiez.
Jugendfilmen wäre der mutige Kick aufs Tor Schülerinnen zu zeigen. Es ist der engagierte Andreas Borcholte  n
wohl der erlösende Durchbruch zu Respekt
und Freundschaft gewesen, ein Integrations-
märchen. Aber »Sieger sein« ist kein Mär-
chen. Monas Weg zu einem vorläufigen Hap-
py End ist härter, realistischer, voller Rück-
schläge und düsterer Rückblenden in ihre
kriegszerstörte Heimat Syrien. Aber auch
voller Komik, turbulenter Fußball-Action und
Pennäler-Hickhack mit Berliner Lokalkolorit.
Man spürt in jeder Szene, dass die Regisseu-
rin viel Leidenschaft aus eigener Erfahrung
schöpft.
Soleen Yusef, 1987 in der Autonomen Re-
gion Kurdistan im Nordirak geboren, kam im
Alter von neun Jahren mit ihren Eltern nach
Deutschland, sie waren aus politischen Grün-
den geflüchtet. Wie Mona besuchte Yusef eine
Grundschule im Berliner Wedding, der als
Stephan Burchardt / DCM

Problembezirk gilt. 2016 brachte sie den in


ihrem kurdischen Heimatort Duhok spielen-
den Debütfilm »Haus ohne Dach« heraus und
gewann mehrere Preise. 2023 drehte die Ab- Hauptdarstellerin Agirman in »Sieger sein«
solventin der Filmhochschule Baden-Würt-

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 109


KU LT U R

»Entweder wir reden miteinander –


oder du machst dich zum Arschloch«
SPIEGEL-GESPRÄCH Das Buch »Mit Rechten reden« von Per Leo und Daniel-Pascal Zorn
erregte 2017 große Aufmerksamkeit. Wie denken der Historiker und der Philosoph heute darüber?

Im Jahr 2017 erschien das Buch »Mit Rechten Zorn: Es bietet immer noch die Möglichkeit, Arschloch. So verwandle ich mein Dilemma
reden«, und über das Buch gab es vermutlich Dynamiken des politischen Diskurses zu ver­ in das des anderen.
mehr Rederunden als Interviews mit AfD-­ stehen. Zum Beispiel in der Beschreibung des SPIEGEL: Es scheint trotzdem nach wie vor
Mitgliedern. Laut Untertitel war das Buch ein Provokationsspiels … wenig fruchtbare Gespräche mit Rechten zu
Leitfaden, doch wer handfeste Ratschläge er- SPIEGEL: … bei dem eine Behauptung reicht, geben. Sie sind nach Erscheinen des Buchs
wartet hatte, wurde mit einer Abhandlung um Empörung und Zurückweisung hervor­ 2017 zu vielen Diskussionsrunden eingeladen
konfrontiert, die so leicht nicht ins Alltägliche zurufen. Die dann mit Eskalation oder Jam­ worden, auch in Redaktionen, unter anderem
zu übersetzen ist. mern beantwortet wird. die vom SPIEGEL . Was ist davon geblieben?
Die These von »Mit Rechten reden« ist, Zorn: Gemeint ist ein Deutungsmuster, das Leo: Es gab zunächst eine große Bereitschaft,
dass nicht Ideologie bestimmt, was rechts ist, jede Reaktion automatisch einordnet: Man unsere Überlegungen in die Praxis zu über­
sondern eine bestimmte Art der Kommuni­ provoziert, erhält eine erwartbare Antwort setzen. Als Autor kann man sich eigentlich
kation. Literarisch erzählen die Autoren von und sieht so das eigene Narrativ bestätigt: nicht mehr wünschen. Man beschreibt etwas,
einem fiktiven Informanten aus der rechten Wer seine Meinung sagt, wird angegriffen und und die Gesellschaft sagt: Okay, berate mich.
Szene und beschreiben die Linke in einem ausgegrenzt – also ist die Demokratie in Ge­ Leider waren die Impulse nicht nachhaltig.
Theaterstück. fahr. Auf diese Weise sorgt ständige Provo­ Aus meiner Sicht waren die Redaktionen oder
Ihr Buch sei keine Aufforderung gewesen, kation für ständige Selbstbestätigung. andere Akteure, die das Problem sahen, nicht
tatsächlich mit Rechten in den Dialog zu treten. SPIEGEL: War das Buch vielleicht zu an­ bereit, Lernprozesse in Gang zu setzen.
Es sei ihnen darum gegangen, ein immer spruchsvoll? SPIEGEL: Zum Beispiel?
gleich ablaufendes Reiz-Reaktions-Schema Leo: Es ist bei aller literarischen Verspieltheit Leo: Es ist wohl gerade einer der schwersten
zwischen Rechten und ihren Kritikern zu tatsächlich anspruchsvoll. Aber wäre es bes­ Jobs im Journalismus, ein gutes Interview mit
durchbrechen. ser gewesen, weniger anspruchsvoll zu schrei­ AfD-Politikern zu führen. Aber es ist möglich.
Leo, 51, ist Historiker und Schriftsteller. ben? Nein. Für mich lautet der Schlüssel­ Nur müssen die Redaktionen bereit sein,
Zorn, 42, lehrt Theoretische Philosophie an begriff des Buchs: Problem. Wir stellen uns die Kolleginnen oder Kollegen, die es gerade
der Bergischen Universität Wuppertal. einem Problem. Es hat sich tendenziell ver­ führen, Fehler machen zu lassen. Aus diesen
schärft seitdem, aber es ist und bleibt ein müssten die Redaktionen dann kollektiv ler­
SPIEGEL: Herr Leo, Herr Zorn, heute ist Problem. Was ist die Antwort auf ein Pro­ nen. Aus meiner Sicht bräuchte es dazu ers­
die AfD stärker denn je. Wenn Sie zurück­ blem? Denken. Und das ist ohne Mühe nicht tens den Mut, sich selbst als Teil eines Feld­
schauen, was haben Sie mit Ihrem Buch er­ zu haben. experiments zu betrachten. Zweitens eine
reicht? Zorn: Das Problem zu beschreiben bedeutet Leitlinie, die Kriterien des Scheiterns und
Leo: Insgesamt ist das Resümee ernüchternd. zurückzutreten von einem allzu schnellen Gelingens formuliert. Und drittens eine Mi­
Natürlich hatten wir gehofft, die Gesellschaft Urteil, das die eigene Position und somit schung aus Professionalität und Demut: we­
ein bisschen klüger zu machen. Diese Hoff­ auch die Feindposition bestätigt. Denn damit niger Weltrettung, mehr Handwerk!
nung ist enttäuscht worden. gerät man in einen ideologischen Wettlauf. SPIEGEL: 2017 dachten viele noch, man müss­
Zorn: Wir haben das Buch als Eingriff in Stattdessen kann man sich fragen, ob das, te nur mit den »Leuten da draußen« reden,
eine Debatte verstanden, die durch Pola­ was in der Auseinandersetzung mit den ihnen Verständnis entgegenbringen, dann
risierung blockiert war: Linke gegen Rechte. ­Rechten passiert, auch für einen selbst rele­ würde sich das Abdriften nach rechts wieder
Gesellschaftlich gesehen, haben wir nicht vant ist. erledigen. Das scheint nicht aufgegangen
viel erreicht. Das ist aber für eine Interven­ SPIEGEL: Ihre Antwort lautet: Es ist relevant zu sein.
tion nicht ungewöhnlich, weil sie eben auch für einen selbst. Was bedeutet das dann für Zorn: Nein, denn es ist Quatsch zu glauben,
erst mal provozieren und Blockaden lösen das Gespräch mit Rechten? man müsste einfach nur die Sorgen der Men­
muss. Leo: Zum Beispiel dass man das Gegenüber schen ernst nehmen. Das ist ein Teil davon,
Leo: Ich bin ja eher der Optimist von uns vor die Wahl stellen kann, statt es sofort auf klar. Aber nicht jede Sorge hat ihre Berechti­
­beiden, Daniel eher der Pessimist. Für mich eine Position festzulegen. Wer auf eine ag­ gung. Man sollte nicht alle ernst nehmen.
­persönlich hat sich seitdem viel getan. Durch gressiv provozierende Rede freundlich und SPIEGEL: Wie beurteilen Sie den Umgang der
unser Buch habe ich zum Beispiel gelernt, differenziert reagiert, stellt sein Gegenüber Medien mit Rechten heute?
dass man Demokratien nicht einfach retten vor ein Dilemma: Entweder du gehst auf mein Zorn: Man kann verschiedene Rollen des Jour­
oder reparieren kann. Man muss sie begreifen Angebot ein, indem du meine diskursive Hal­ nalismus beschreiben: zum einen die der neu­
und dann durch Praxis mit Leben füllen. tung annimmst, aber dann bist du raus aus tralen Position, die verschiedene Stimmen in
SPIEGEL: Kann uns das Buch heute noch der Provokationslogik. Oder du willst deine der Gesellschaft repräsentiert. Dann gibt es
­weiterhelfen? harte Haltung unbedingt behaupten, aber einen Journalismus, der mittlerweile aktivis­
dann musst du eskalieren. Entweder wir re­ tisch agiert, um eine bestimmte Perspektive
Das Gespräch führte die Redakteurin Frauke Böger. den miteinander – oder du machst dich zum voranzutreiben. Drittens gibt es noch die Posi­

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Victoria Jung / DER SPIEGEL


Milos Djuric / DER SPIEGEL

Historiker Leo Philosoph Zorn

tionen, die 2017 von rechts formuliert wur- SPIEGEL: »Nazis raus!« werden immer selbstverständlicher. Weil
den: das Narrativ von der »Lügenpresse« zum Leo: Genau. sie aber nicht der Profilierung, sondern der
Beispiel. Das bringt den Journalismus in ein Zorn: Die Bedingungen haben sich seit 2017 ­Mobilisierung dienen, normalisieren sie
Dilemma. Denn jetzt muss er natürlich mit- sogar noch verschlechtert. Damals gab es ­Narrative, die von rechts kommen. Und dazu
bedenken, inwiefern er dieses Narrativ nicht einen liberalen Anti-rechts-Diskurs und einen gehört das Feindbild der Wokeness. Mittler-
bestätigt, ohne aktivistisch zu sein. Das ist linken Anti-rechts-Diskurs. In beiden ging weile müsste man in den Diskurs interve­
eine komplexe Aufgabe, für die es kein Pa- es um die Verteidigung der Zivilgesellschaft nieren und sagen: Hört auf, dieses Spiel zu
tentrezept gibt. gegen die Rechten. Inzwischen sind die Posi- spielen, sucht eine pragmatische politische
Leo: Das lässt sich verallgemeinern, glaube tionen des rechten und liberalen Spektrums Rhetorik.
ich. Es gibt für den Umgang mit der AfD kei- näher aneinandergerückt: Beide verstehen SPIEGEL: Und was ist mit dem SPIEGEL ?
ne Patentrezepte. Es gibt höchstens eine gol- die Linke als Bedrohung, etwa wegen deren Leo: Der SPIEGEL ist eine journalistische
dene Regel: Sei dir bewusst, dass rechte Rhe- vermeintlicher Wokeness, ein Kampfbegriff, Wundertüte, offen für alle Richtungen und
torik dich vor ein Dilemma stellt. Sollten wir den sowohl Rechte wie Liberale verwenden. sämtliche Qualitätsgrade. Na ja, dann trifft
zum Beispiel AfD-Politiker auf den »Müll- In diesen Begriff lässt sich einiges reinschieben, die Kritik wohl in Teilen auch auf ihn zu.
haufen der Geschichte« wünschen? Das wäre was als Feindbild funktioniert. Und sobald der Zorn: Ich kann es nicht so richtig beurteilen,
der eine Pol des Dilemmas: Man dramatisiert liberale Diskurs bereit ist, das Feindbild der weil fast alle Artikel hinter der Bezahlschran-
den Gegensatz und befeuert damit das popu- Wokeness ebenfalls zu adressieren, gibt es ke sind. Apropos liberal …
listische Narrativ des »Wir gegen die Eliten«. Anschlussfähigkeiten. SPIEGEL: Sie sprachen von Intervention. Wer
Oder aber man übernimmt die rechte Rheto- SPIEGEL: Wenn man manchen Liberalen zu- müsste intervenieren?
rik und normalisiert so extremistische Posi- hört, scheint dieser Schritt schon gemacht. Zorn: Die Frage müsste eher lauten: Wie müss-
tionen. Das ist der andere Pol des Dilemmas. Zorn: Deswegen mein Pessimismus. Es ist auf- te man intervenieren? Und in diesem Sinne
Zorn: Sich genauso zu verhalten wie der Geg- fällig, dass für Liberale in Politik und Medien frage ich mich, wie man unser Buch heute
ner, sich immer weiter hinaufzueskalieren, das Provokationsspiel eine immer größere schreiben müsste. Nicht jede Intervention ist
das ist der ideologische Deadlock. Rolle spielt. sinnvoll.
Leo: Eine Szene auf der Buchmesse 2017 war SPIEGEL: Wen meinen Sie? SPIEGEL: Im Moment sehen wir zum Beispiel
für mich das Sinnbild dafür: Vor dem Podium Zorn: Politiker wie Christian Lindner und Demonstrationen für die Demokratie im gan-
eines rechten Kleinverlags trafen Identitäre Marco Buschmann, aber auch Friedrich zen Land.
und Linke aufeinander und versuchten, sich Merz oder Markus Söder, Medien wie die Leo: Die sind beachtlich. Für mich haben
wechselseitig mit dem gleichen Schlachtruf »Welt«, aber in Teilen auch »Die Zeit« und sie aber auch dystopischen Charakter. Die
niederzubrüllen. den »Tages­spiegel«. Populistische Taktiken gesamte Gesellschaft tritt an, doch niemand

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­beansprucht mehr, irgendeine Position zu


­ ertreten. Alle sagen nur noch: Wir retten das
v
»Die Welt wäre nicht gische Transformation mit der sozialen Frage
verbinden. Und auf der Rechten würde ein
Ganze im Namen der Demokratie. ­besser, wenn legitimer Konservativismus nicht die Angst
Zorn: Auch die Demonstration für Demokra-
tie trifft auf ein Narrativ von rechts: Wenn du
die Rechte weg wäre.« vor Migration schüren, sondern die mensch-
liche Würde vor den Logiken der Vernützli-
nicht einverstanden bist mit der Politik, dann Per Leo chung schützen.
werden sie dich ausschließen. Sie werden dich Zorn: Die Diskussion in den USA ist schon
als Nazi beschimpfen. viel weiter. Da wird die Frage aufgeworfen:
SPIEGEL: Würden Sie immer noch wie in Was ist, wenn dieser Liberalismus, der sich
Ihrem Buch dazu raten, das Wort Nazi nicht konsolidiert werden kann. Die Zivilgesell- als einzige Alternative zum Totalitären prä-
zu benutzen? schaft sagt: Wir sind für Demokratie. Das sagt sentiert, den Menschen nichts mehr an­
Zorn: Das war der pragmatische Vorschlag, aber die andere Seite auch. zubieten hat außer ein Leben in einer ghet-
um das Grundnarrativ der Rechten nicht zu SPIEGEL: Und dann? toisierten Siedlung oder als Arbeiter, der
bestätigen. Denn sie rechnen ja schon damit, Zorn: Man könnte die Demonstrationen mit keine Chance hat, irgendwie weiterzu­
als Nazis bezeichnet zu werden. Wir haben Formen der Auseinandersetzung flankieren, kommen?
diesen Unterschied zwischen Nazis und Rech- die das Paradox wieder aufheben, zum Bei- SPIEGEL: Auch hierzulande kann das alte bun-
ten gemacht, der tatsächlich in der gesamten spiel mit einer positiven Nebenerzählung: desrepublikanische Versprechen, dass alles
Buchrezeption nicht verstanden wurde. einer republikanischen Demokratie mit immer besser wird und man den Kindern ein
SPIEGEL: Sich selbst haben Sie als Nicht-­ ­aktiver Teilhabe, mit Formen der Solidarität, besseres Leben als das eigene bieten kann,
Rechte und Nicht-Linke bezeichnet. Was also mit alldem, was die dominante neo­ gefühlt schon seit einer Weile nicht mehr ein-
soll das heißen? liberale Erzählung ausschließt. Damit könn- gelöst werden.
Leo: Eine übersehene Pointe unseres Buchs te man ein Angebot machen. Wenn man Leo: Deswegen gibt es ein Grundgefühl,
liegt darin, dass wir zu unserem imaginären das nicht macht, wird die Kluft immer dass du dir den Arsch aufreißt, aber keinen
rechten Gesprächspartner sagen: Wir haben tiefer. Zentimeter vorankommst. Das wird in Tei­
kein Problem damit, dass du rechts bist. Wir Leo: Aber die Alternative zur Kluft wäre eben len der Linken durchaus gesehen. Öffent­
haben ein Problem damit, wie du es bist. Fra- nicht die Gemeinschaft, sondern die Pluralität lich sichtbar ist im Moment aber vor allem
gen wie »Was heißt Deutschsein?« oder »Was der Visionen. Wir brauchen eine Pluralität eine identitätspolitische Linke, die sich
ist eine Grenze?« sind ja legitim. Doch die der Visionen. Derzeit ist das politische Feld vom Universalismus verabschiedet hat und
Rechten stellen sie nicht als Frage, weil die so entkernt, dass sich eine pseudobunte Ein- das identitäre Denken von rechts spiegelt.
Antwort immer schon feststeht. Nämlich: heitsfront der »Demokraten« und eine »de- Dagegen gälte es, ein Linkssein der Eman­
Unsere Identität ist bedroht. Widerspruch mokratische« Wutbewegung wechselseitig zipation, der Teilhabe, der Gerechtigkeit zu
kann nur noch als Feindschaft interpretiert verstärken und so das ganze System lahmle- stärken.
werden. Unsere Position dagegen ist die der gen. Man kann nur hoffen, dass es irgend- SPIEGEL: Was ist mit den Konservativen?
Pluralisten. Es gibt da einen schönen Impe- wann zu einer Renaissance der politischen Leo: Wenn Sie damit die CDU meinen, dann
rativ: Handle stets so, dass sich die Gesamt- Konkurrenz kommt. steht die vor allem im Osten vor einem
zahl der Möglichkeiten vergrößert. Die Welt SPIEGEL: An politischer Konkurrenz herrscht ­großen Problem. Rhetorisch mobilisiert die
wäre nicht besser, wenn die Rechte weg wäre. doch kein Mangel. AfD gegen die Grünen, aber das strategische
Sie wäre besser, wenn sich rechte Positionen Leo: Es gibt eine taktische Konkurrenz der Ziel ist die Zerstörung der CDU. Vor allem
so artikulierten, dass sie mit Pluralität verein- Parteien, aber kaum politische Energie. Das in den ostdeutschen Bundesländern kann die
bar sind. Gezänk in der Ampel erregt mehr Aufmerk- CDU, egal was sie macht, nur verlieren.
SPIEGEL: Zurück zu den Demonstrationen samkeit als der Wettstreit zwischen Regierung Wenn sie sich von der AfD auch nur tolerie-
der vergangenen Wochen: Sie halten die für und Opposition. Dabei müsste man nur in ren lässt, wäre das ein Wahlkampfgeschenk
­kontraproduktiv? positive Ideen verwandeln, was der Populis- für die Ampelparteien. Wenn sie dagegen
Zorn: Das Paradoxe daran ist, dass der Block, mus als Ressentiment bewirtschaftet. Auf der mit der Linken koaliert, würde es die AfD
gegen den man demonstriert, gerade dadurch Linken etwa müsste man endlich die ökolo- nur noch stärker machen. Ich bin sehr vor-
sichtig mit historischen Analogien, aber
Demonstration gegen rechts ein parlamentarisches System, das die Re­
in München am 11. Februar gierungsbildung nur noch um den Preis
der Selbstaufgabe zulässt: Das erinnert tat-
sächlich an die Spätphase der Weimarer
­Republik.
Zorn: Nur weil eine Partei sich das Etikett gibt,
konservativ zu sein, heißt das nicht, dass sie
es auch ist. Das sind Liberale, die eine ein-
dimensionale, marktwirtschaftlich orientier-
te Form von Liberalismus repräsentieren. Die
CDU ist in einer strategischen Krise, weil
Angela Merkel die Parteiprogramme anderer
Parteien adaptiert hat. Das Profil der CDU
wurde dadurch abgeschliffen. Da funktioniert
das Narrativ von den Altparteien natürlich
irgendwann.
Lukas Schulz / ddp images

SPIEGEL: Machen Ihnen die Rechten eigent-


lich Angst?
Leo: Die AfD treibt als Minderheit von 20
bis 30 Prozent die restlichen 70 bis 80 Pro-
zent vor sich her. Das ist einschüchternd. Und
­bestimmte marginalisierte Gruppen in der

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Gesellschaft haben zu Recht Angst vor einer


AfD-Regierung. Die Demonstrationen der
vergangenen Wochen haben diesen Men-
schen ein starkes Signal der Solidarität ge-
sendet. Ich selbst habe keine Angst, mich BELLETRISTIK SACHBUCH
würde die Diskriminierung ja wahrschein­
lich nicht treffen. Dennoch fühle ich mich
nicht wohl in Deutschland gerade. Stärker In einer Bar lernt Kunstdetektiv »Meine Mutter«, so resümiert
Allmen den kultivierten der Autor, »war ihr Leben lang
als die Bedrohung eines Bösen, das auf Sammler Adrian Weynfeldt unglücklich.« Er fächert das
uns zukommt, empfinde ich die Unfähigkeit, kennen. Als der feststellt, dass Leben einer Frau auf, das von
das Gute zu denken. Ich habe eher Angst ein Bild aus seiner Sammlung Knappheit und Zwängen
fehlt, engagiert er Allmen. beherrscht war. Und zeigt, wie
vor der Selbstabschaffung der Republik. Doch es bleibt nicht bei Familie und Herkunft Identität
SPIEGEL: Und Sie, Herr Zorn? Diebstahl. | Platz 2 formen. | Platz 10
Zorn: Ich halte die Idee, dass das Gefühl im-
mer der grundlegendere Ausdruck eines Men-
schen ist, generell für falsch. Aber vielleicht 1 (1) Jussi Adler-Olsen 1 (1) Peter Hahne
Verraten dtv; 26 Euro Ist das euer Ernst?! Quadriga; 12 Euro
finde ich Dummheit beängstigend. Die
Dummheit, die jeder Dogmatismus hat, weil 2 (3) Martin Suter 2 (3) Uwe Wittstock
sie sehr schnell ins Autoritäre und in Gewalt Allmen und Herr Weynfeldt Diogenes; 26 Euro Marseille 1940 C. H. Beck; 26 Euro
umschlagen kann. Ich verstehe unter Dumm-
heit Idiotie, und das bedeutet, das Eigene zum 3 (2) Rebecca Ross 3 (4) Florian Illies
Divine Rivals Zauber der Stille S. Fischer; 25 Euro
Maßstab zu machen. In diesem Sinne sind LYX; 24 Euro
idiotische Formen der Kommunikation nor- 4 (2) Volker Busch
4 (–) Trude Teige Und Großvater
maler geworden. Kopf hoch! Droemer; 20 Euro
atmete mit den Wellen Fischer; 24 Euro
Leo: Umgekehrt ist die Ermutigung zur Klug-
heit seltener geworden. Idiotie nicht entste- 5 (5) Axel Hacke Über die Heiterkeit in schwierigen
5 (10) Carissa Broadbent The Serpent Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der
hen zu lassen wäre eigentlich eine Aufgabe and the Wings of Night Carlsen; 18 Euro Ernst des Lebens sein sollte DuMont; 20 Euro
des Bildungssystems.
Zorn: Aber wir erleben gerade ein multiples 6 (8) Ingrid Noll 6 (6) Leonie Schöler
Systemversagen. Ein Bildungssystem, das Gruß aus der Küche Diogenes; 26 Euro Beklaute Frauen Penguin; 22 Euro
sehr einseitig auf Wettbewerb ausgerich­
7 (9) Jörg Hartmann 7 (7) Brianna Wiest 101 Essays, die dein Leben
tet ist, politische Bildung in der Schule, die
Der Lärm des Lebens  Rowohlt Berlin; 24 Euro verändern werden Piper; 22 Euro
vernachlässigt wird, und so weiter. All das
wirkt zusammen und führt dazu, dass die 8 (16) Sebastian Fitzek 8 (9) Rüdiger Safranski
Ideen verschwinden, die notwendig sind, Die Einladung Droemer; 24 Euro Kafka Hanser; 26 Euro
um unsere Gesellschaftsform aufrechtzu-
erhalten. 9 (6) Gabriel García Márquez Wir sehen 9 (10) Uschi Glas
uns im August Ein Schätzchen war ich nie Mosaik; 24 Euro
SPIEGEL: Herr Leo, haben Sie noch etwas Kiepenheuer & Witsch; 23 Euro

­Optimismus am Schluss? 10 (16) Didier Eribon


10 (7) Stephan Schäfer
Leo: Wenn ich mit einem Gassenhauer von
25 letzte Sommer park x ullstein; 22 Euro
Eine Arbeiterin Suhrkamp; 25 Euro
Hölderlin antworten darf: Wo aber Gefahr
ist, wächst das Rettende auch. Ich bin 11 (12) Ronald Reng
11 (17) Ursula Poznanski 1974 – Eine deutsche Begegnung Piper; 24 Euro
­umgeben von Leuten, deren Problembe- Die Burg Knaur; 24 Euro
wusstsein in den letzten Jahren enorm ge- 12 (11) Giovanni di Lorenzo Vom Leben und
wachsen ist. Ich habe mich noch nie so un- 12 (11) Elizabeth Strout anderen Zumutungen Kiepenheuer & Witsch; 25 Euro
wohl in meinem Land gefühlt. Aber gleich- Am Meer Luchterhand; 24 Euro

zeitig macht mir mein persönliches Umfeld 13 (18) Annett Gröschner / Peggy Mädler / Wenke
13 (12) Barbara Kingsolver Seemann Drei ostdeutsche Frauen betrinken
Mut. Demon Copperhead dtv; 26 Euro sich und gründen den idealen Staat Hanser; 22 Euro
Zorn: Resilienz besteht eben nicht nur darin,
ein Demokratieschild hochzuhalten oder auf 14 (13) Bonnie Garmus 14 (8) Manfred Lütz
der Buchmesse zu demonstrieren. Sondern Eine Frage der Chemie Piper; 26 Euro Der Sinn des Lebens Kösel; 30 Euro
im Bedenken eines vielfältigen Bedingungs-
zusammenhangs, einer anspruchsvollen Aus- 15 (5) Rebecca Yarros 15 (17) Wilhelm Schmid
Iron Flame – Flammengeküsst dtv; 32 Euro Den Tod überleben Insel; 12 Euro
einandersetzung.
Leo: Der Resilienzgedanke gefällt mir. Es 16 Jan Frerichs
16 (15) John Grisham (–)
wird immer von der wehrhaften Demokratie Die Entführung Heyne; 24 Euro
Wilde Kirche Patmos; 20 Euro
gesprochen, aber Wehrhaftigkeit kann nur
die letzte Option sein. Bevor die AfD das 17 (4) Louise Penny 17 (–) David Goggins
Can’t Hurt Me Riva; 22 Euro
Vierte Reich errichtet, muss man sie ver­ Ein sicheres Zuhause Kampa; 23,90 Euro
bieten. Aber wenn es so weit wäre, hätten 18 (–) Latife Arab Ein Leben zählt nichts –
wir im Grunde schon verloren. Resilienz 18 (14) Alex Capus Das kleine Haus als Frau im arabischen Clan Heyne; 22 Euro
statt Wehrhaftigkeit: Das wäre ein besseres am Sonnenhang Hanser; 22 Euro

Motto, weil es nicht von der Bedrohung durch 19 (–) Hendrik Cremer Je länger wir schweigen,
19 (19) Haruki Murakami Die Stadt und desto mehr Mut werden wir brauchen
die anderen ausgeht, sondern von einem ihre ungewisse Mauer DuMont; 34 Euro  Berlin Verlag; 22 Euro
positiven Selbstentwurf. Darin liegt Hoff-
nung. 20 (–) Karsten Dusse Achtsam morden 20 (–) Ewald Frie Ein Hof und
SPIEGEL: Herr Leo, Herr Zorn, wir danken durch bewusste Ernährung Heyne; 24 Euro elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro
Ihnen für dieses Gespräch.  n SPIEGEL-Bestseller werden im Auftrag des SPIEGEL ermittelt von »BuchMarkt« und media control. Informationen unter spiegel.de/bestseller

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 113


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KU LT U R

neys »Blackbird« Rechnung trägt, die


sie zusammen mit den jungen schwar-
zen Countrysängerinnen Tanner
Adell, Brittney Spencer, Tiera Kenne-
dy und Reyna Roberts aufnahm.

Restitutionspop
Im Hip-Hop-Rodeo »Spaghettii«
erklärt die heute 82-jährige Linda
Martell, eine Pionierin des Black
Country, wie gefangen man sich in
Genrekonventionen fühlen kann.
ALBUMKRITIK Superstar Beyoncé provoziert das konservative Amerika mit Martell war 1969 die erste Afroame-
»Cowboy Carter«, das die afroamerikanischen Wurzeln des Country zelebriert. rikanerin, die in der Grand Ole Opry
auftreten durfte, der heiligen Country­
halle in Nashville. Sie erinnerte sich

S
pätestens seit ihrem Album in einem Interview einmal daran, dass
»Lemonade« von 2016 ist es sie von weißen Zuschauern belästigt
nicht mehr Beyoncés alleinige wurde, die während ihrer Auftritte
Mission, gute R&B-, Dance- oder rassistische Beleidigungen riefen.
Popsongs zu veröffentlichen. Mit Als Beyoncé 2016 zusammen mit
42 Jahren hat sie 32 Grammys in der der Band Dixie Chicks ebenfalls in
Vitrine, mehr als Taylor Swift, und ist Nashville bei den Country Music As-
zu einer Leitfigur afroamerikanischer sociation Awards ihren bis dato ersten
Empowerment-Gesten geworden. In- Countrysong »Daddy Lessons« sang,
zwischen geht es ihr zunehmend um gab es in den sozialen Medien viele
einen gesellschaftspolitischen Über- Hasskommentare. Es ist dieses Erleb-
bau, darum, den Raum schwarzer nis, das Beyoncé wohl meinte, als sie
Künstlerinnen und Künstler in der auf Instagram die Motivation hinter
Popkultur zu verteidigen und aufzu- »Cowboy Carter« erklärte: »Es ent-

Parkwood Enter tainment / Sony Music


zeigen, wie deren Einfluss in der stand aus einer Erfahrung, die ich vor
­Vergangenheit marginalisiert wurde. Jahren gemacht habe, als ich mich
Beyoncés Kunst ist Restitutionspop, nicht willkommen fühlte«, schrieb sie.
die Rückeroberung dessen, was wei- Deshalb sei sie tiefer in die Geschich-
ßer Pop sich angeeignet und als seins te der Countrymusik eingetaucht. Die
verkauft hat. Kritik, mit der sie konfrontiert wurde,
Wie die Countrymusik. Nachdem habe sie dazu gezwungen, »die Gren-
Beyoncé 2022 auf »Renaissance« die zen, die mir auferlegt wurden, zu
House- und Dance-Musik wieder überwinden«.
nach Hause geholt hat, sind nun die großen Fangemeinde, dem »Bey­ Sängerin Beyoncé Country Music ist ohne Black
Americana-Wurzeln dran. »Cowboy Hive«, zu tun – und gab schließlich ­Culture nicht zu denken. Das Banjo,
Carter« ist der zweite Teil, »Act II«, nach. Schlüsselinstrument der amerikani-
einer geplanten Trilogie. Auf dem Beyoncé ist clever genug, sich schen Bluegrass-, Folk- und Country-
­Cover posiert sie erneut auf dem ­mithilfe zweier über jeden Zweifel musik, wurde einst von afrikanischen
­Rücken eines Pferdes, diesmal jedoch ­erhabenen Countryikonen gegen Sklaven eingeführt. Es waren weiße
in den amerikanischen Farben ge­ ­Kritik abzusichern. Altmeister Willie Musiker, die sich beim Blues und Gos-
kleidet, in einer Hand die Zügel des Nelson sagt zwei ihrer Songs wie ein pel bedienten. Die Verschränkungen
­galoppierenden Schimmels, in der Radiomoderator an: »Sometimes you von Soul und Country wurden immer
anderen eine US-Flagge – Schönheits­ don’t know what you like until some­ wieder durch schwarze Künstler hör-
königin und Homecomingqueen zu- one you trust turns you on to some bar gemacht, von Chuck Berry und
gleich. »Them big ideas are buried real good shit«, ermutigt er alle Tra- Ray Charles, aber auch von Sänge-
here«, die großen, alten Ideen sind ditionalisten und Skeptiker, sich auf rinnen wie Candi Staton oder Bettye
hier begraben, singt sie im ersten, pro- Beyoncé einzulassen. LaVette. Durch die strenge Einteilung
vokanten Song des Albums, »Ame- Und die Übermutter Dolly Parton der Charts in Musikgenres kam es je-
riican Requiem« – einem Abgesang erzählt im Intro zu Beyoncés Cover- doch nur selten zu Durchmischungen
darauf, wie und von wem die US- version ihres Hits »Jolene«, dass jene von R&B (schwarz) und Country
amerikanische Kultur vermeintlich Rivalin namens »Becky with the good (weiß). Beyoncé, mit der ganzen
repräsentiert werden soll. hair«, über die Beyoncé einst auf Macht ihres Superstar-Ruhms, tritt
Mit ihrer vorab veröffentlichten ­»Lemonade« sang, sie an die Frau nun an, diese musikalische Rassen-
Squaredance-Single »Texas Hold ­erinnert habe, die auch ihr einst den trennung endgültig abzuschaffen.
’Em«, einem der wenigen echten Mann habe ausspannen wollen, das »Cowboy Carter« sei aber eigent-
Countrysongs des Albums, schrieb gleiche »Flittchen«, so Parton, »nur lich gar kein Countryalbum. »This is
Beyoncé Geschichte als erste schwar- mit anderer Haarfarbe«. a ›Beyoncé‹ album«, stellte die Sän-
ze Frau, die je die Spitze der »Bill- Beyoncé ist nicht die erste schwar- Schönheits­ gerin klar, prall gefüllt mit ihrem ur­
board Hot Country Songs«-Charts ze Frau, die sich im Countrygenre ver- eigenen Amerika-Sound, Rap, Soul,
eroberte. Als ein Radiosender im sucht. Seit Jahren kämpfen sich Afro- königin Latin-Klängen und sogar Belcanto-
Bundesstaat Oklahoma sich weigerte, amerikanerinnen in der traditionell und Home­ Gesang. »Act III«, so ahnt man, muss
den Song zu spielen, weil Beyoncé weiß gelesenen Cowboymusik nach sich um Rock ’n’ Roll drehen, die letz-
ja keine Countrysängerin sei, bekam oben. Eine Tatsache, der Beyoncé in comingqueen te Bastion weißer Popmusik.
er es mit einem Shitstorm ihrer sehr ihrer Coverversion von Paul McCart- zugleich Andreas Borcholte  n

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 115


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116 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
John Sinclair, 82 Maryse Condé, 90
NACHRUFE Wahrscheinlich waren Pop, Poli­ Als ihr erster Roman erschien,
tik und Größenwahn nie wieder war sie schon über 40 Jahre alt.
so eng beieinander wie Ende »Ich habe mit dem Schreiben
der Sechziger im linksradikalen erst begonnen, als meine eige­
Drogenuntergrund der USA: nen Probleme ein Ende hatten«,
»Ihr wolltet größer sein als die sagte sie einmal. Maryse Condé
Beatles, ich wollte, dass ihr kam als Kind des schwarzen
­größer werdet als Mao«, soll der Bürgertums im französischen
Rock-Impresario, Dichter, Überseedépartement Guade­
­Drogenprophet und König der loupe auf die Welt, ging für das
­Hippies John Sinclair der Band Studium nach Paris. Das Erbe
MC5 hinterhergerufen haben, des Kolonialismus beschäftigte
nachdem sie ihn als Manager sie ihr Leben lang – und anders
herausgeworfen hatten. Darum als die antikolonialen Helden­
ging es Sinclair: Hedonismus und figuren Frantz Fanon und Aimé
Umsturz, Marihuana und Ma­ Césaire, zu denen sie aufschaute,
schinengewehre. Die MC5 waren erlebte sie das Scheitern der
die Hausband der White Panther Emanzipation durch Dekolonia­
Party, die Sinclair mitbegründet lisierung und machte es zum
Ziv Koren / Polaris / laif

hatte und die die militanten Thema ihrer Bücher. Als Schrift­
Black Panther unterstützen soll­ stellerin bekannt wurde sie
te. Wobei die Patronengurte, durch die ­Familiensaga »Ségou:
mit denen er die Detroiter Band Les murailles de terre« (»Segu.
ausstattete, eher Schmuck wa­ Die Mauern aus Lehm«), 1984
ren: Die eigentlichen Waffen erschienen, in der sie die Ge­
Daniel Kahneman, 90 gegen das Establishment sollten schichte der westafrikanischen
Er kam dem Menschen auf die Schliche, ein Verdienst, für das er schwarze Musik und bewusst­ Familie Traoré erzählt. Dass
2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geehrt seinserweiternde Drogen sein.
wurde. In oft sehr schlichten Experimenten studierte er, wie Pro­ Die Band entwickelte daraus
banden in Alltagssituationen Entscheidungen fällen. Er wies einen eigenen Sound: sexy, kra­
nach, dass sie dabei einer Vielzahl von Trugschlüssen und Fehl­ wallig und mit einem Gespür
einschätzungen aufsitzen. Zeitlebens bereitete es Daniel Kahne­ für Riffs. Ihr Song »Kick Out
man Vergnügen, gängige psychologische Theorien zu demontieren. the Jams«, zuerst veröffentlicht
Der Mensch, so seine Erkenntnis, lässt sich von Intuitionen leiten, auf ihrem Debütalbum aus dem
und diese sind oftmals falsch. Kahneman erschütterte damit das Jahr 1969, gilt heute als eine Art
Weltbild der Ökonomen, das auf der Vorstellung von rational Ursong des Punk. Sinclair geriet
­handelnden Marktteilnehmern beruhte. Er war ein Kind jüdisch-­ ins Visier der Sicherheitsbehör­
litauischer Eltern und wuchs in Frankreich auf. Die Familie konnte den. Er wurde angeklagt, 1968

Arnold Jerocki / Getty Images


sich vor den Nazis verstecken und wanderte nach dem Krieg nach an den Planungen zu einem An­
Palästina aus. Erste Erfahrungen als Psychologe sammelte Kahne­ schlag auf ein CIA-Gebäude
man bei der israelischen Armee, wo er ein Verfahren zur Auswahl ­beteiligt gewesen zu sein. Ins
von Offiziersbewerbern ersann. Die Prüfer, so zeigte er, hatten zu­ Gefängnis kam er allerdings,
vor ihr Urteilsvermögen überschätzt und allzu sehr ihrem ersten weil er einer verdeckten Ermitt­
Eindruck von einem Bewerber vertraut. Im Jahr 2011 fasste Kahne­ lerin zwei Joints angeboten hat­
man seine Erkenntnisse in einem fulminanten Werk zusammen: te. Nach seiner Entlassung war
»Schnelles Denken, langsames Denken« erwies sich als eines der Sinclair als Dichter, Sänger, sich Glück und Unglück nicht
einflussreichsten Wissenschaftsbücher des 21. Jahrhunderts, prall­ ­Musiker, Produzent, DJ und Es­ entlang politischer Linien ver­
voll mit tiefen Einsichten in die Natur des Menschen und lebens­ sayist aktiv. Zeitweilig lebte teilen, macht die eigentümliche
nahen Alltagstipps. Beispiel: Wie lässt sich die Kaffeekasse füllen? er in Amsterdam. John Sinclair Kraft dieses Buchs aus. Als 2018
Stell die Spendenbüchse unter ein Bild, auf dem ein Augenpaar starb am 2. April in Detroit. CBU ein Belästigungs- und Korrup­
zu sehen ist. Wer sich beobachtet fühlt, spendet ungefähr dreimal tionsskandal die schwedische
so viel. Daniel Kahneman starb am 27. März. JG Akademie erschütterte und kein
Nobelpreis für Literatur ver­
geben wurde, lobte eine soge­
Hans Joachim Meyer, 87 nannte Neue Akademie, ge­
Es gab einige Kirchenleute, die nach dem Ende der bildet aus schwedischen Kultur­
Jörg Carstensen / dpa

DDR in die Politik gingen. Hans Joachim Meyer war schaffenden, einen alternativen
ein besonderer Glücksfall. Eigentlich Sprachwissen­ internationalen Literaturpreis
schaftler, berief der DDR-Ministerpräsident Lothar de aus. Man entschied sich für
Maizière ihn im März 1990 an die Spitze des Ministe­ ­Maryse Condé. Ihr umfang­
riums für Bildung und Wissenschaft. Aufgabe: die reiches Werk umfasst Romane,
Leni Sinclair / Getty Images

DDR-Wissenschaft in die Bundesrepublik zu überführen. Kurt Bie­ Theaterstücke, Essays und


denkopf holte den gebürtigen Rostocker dann nach Sachsen, wo die Autobiografie »Das un­
er Staatsminister für Wissenschaft und Kunst wurde. Als Präsident geschminkte Leben«. Maryse
des Zentralkomitees der deutschen Katholiken legte er sich 1999 Condé starb in der Nacht
in der Frage der Schwangerenkonfliktberatung mit dem Papst an. zum 2. April in Südfrank­-
Hans Joachim Meyer starb am 29. März in Potsdam. RED reich. RAP

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Barbie und
ihre Männer
Ihr wurde eine eigene Barbie-
puppe gewidmet, die sogar die
Wellen ihres blonden Haars
akkurat nachahmt – den Film
»Barbie« mag Shakira, 47,
trotzdem nicht. Auslöser für die
Abneigung der kolumbiani-
schen Popsängerin waren offen-
bar zwei junge Männer: ihre
neun und elf Jahre alten Söhne.
Sie hätten, so offenbarte es
­Shakira im Gespräch mit dem
Magazin »Allure«, den »Bar-
bie«-Film von Regisseurin Greta
Gerwig gehasst und ihn als
»entmannend« empfunden.
Und die Mutter? Stimmt dieser
Einschätzung zu. »Ich mag
­Popkultur«, sagt die Sängerin,
»wenn sie versucht, Frauen
zu stärken, ohne Männern die
Möglichkeit zu nehmen, Män-
ner zu sein, um auch zu be-
schützen und zu versorgen.« Es
ist eine erstaunliche Botschaft
für eine Frau, die spätestens seit
ihrem Rachesong gegen Ex-
Freund und Fußballstar Gerard
Piqué für ihre eigene Form
von »Female Empowerment«
gefeiert wird – und ein altba-

Kevin Mazur / MTV / Getty Images


ckenes Bild von Männlichkeit.
Shakira, so hört man es aus
ihrer Filmkritik ­heraus, hat
nichts gegen Frauen, die stark
sind. Solange die
Kens dieser Welt immer ein we-
nig stärker sein dürfen. SKR

Pure Angeberei Firma Skkn als Werke des vertreibt (und jetzt vorsichts­
Künstlers Donald Judd aus. Das halber auf Unterschiede zu
Sie gehört zu jenen Frauen, die erzürnte wiederum die Judd- den Originalen hinweist). Das
sich vieles leisten können und Stiftung, die von der Tochter Problem: Selbst erlaubte Nach-
ihre Trophäen auch herzeigen: des verstorbenen Minimalisten bauten würden der Vielshop­
Janet Mayer / Cover-Images / IMAGO

große Villen, teure Mode, Teslas geleitet wird und ein waches perin wenig bringen. Für alle
Cybertruck. Doch in einem Auge auf dessen Erbe hat. Nur Judd-Kunden gilt das »kate­
YouTube-Video aus dem Jahr ausgewählte Hersteller dürfen gorische« Verbot, die Möbel für
2022 scheint es Influen­cerin Nachbauten der Möbelentwürfe Marketingzwecke zu verwen-
Kim Kardashian, 43, beim Prah- produzieren. Die Stiftung reichte den. Anders gesagt: Öffent­
len etwas übertrieben zu haben. nun sogar Klage ein, gegen liches Angeben ist verboten –
Da gab sie einen Tisch und dazu ­Kardashian und jene Firma, die und das würde Kardashian den
passende Stühle im Büro ihrer die unautorisierten Repliken Spaß wohl verderben. UK

118 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


Lob für Mama Mit Breakdance Welten, die unser Hier und Jetzt
übersteigen«. Vielleicht war
Ehemalige Kinderstars haben nach Greifswald ­Elíasson selbst darüber erstaunt,
oft ein kompliziertes Verhältnis Eigentlich ist Ólafur Elíasson, dass er nun beseelende Kirchen­
zu ihren Eltern. Schließlich sind 57, für vergänglichen Zauber kunst schafft, auf Instagram
die es, die ihre Kinder zu Cas­ berühmt. Der dänisch-isländi­ ­erinnerte er in dieser Woche
tings schleppen, sie nicht selten sche Künstler, der in seinem jedenfalls an seine Verwurze­

Samir Hussein / WireImage / Getty Images


unter Druck setzen, damit die Berliner Atelier ein riesiges lung im Säkularen. Als Teenager
Kleinen den Traum der Großen Team beschäftigt, schafft mit sei er in der skandinavischen
leben. So ähnlich war es bei Wasser, Nebel und Licht unver­ Breakdance-Szene aktiv gewe­
Schauspielerin Kirsten Dunst, gessliche Kunsterlebnisse. Dass sen, ist da zu lesen, man sieht
41. Mit drei Jahren drehte sie der Großteil von ihnen nur ein Magazincover aus jenen
ihren ersten Werbespot, es ging ­vorübergehend bewundert wer­ Jahren, auf dem er abgebildet
um Frühstücksflocken. Ihre den kann, macht einen Teil ist. Das Tanzen auf der Straße
Mutter, eine ehemalige Flug­ ihres Reizes aus. Viele dürfte es hat laut Elíasson sogar seine
begleiterin bei Lufthansa, wäre daher überrascht haben, als Perspektive zu Architektur und
selbst gern im Showbusiness der von Versailles bis Shanghai Raum geprägt – Caspar David
­gewesen, erzählte Dunst jetzt würde. Um welchen Regisseur viel beschäftigte Künstler ein­ Friedrichs Taufkirche in Greifs­
dem »Daily Telegraph«. Den­ es sich handelte, verriet Dunst willigte, ein Werk für die Ewig­ wald profitiert nun davon. UK
noch sei sie ihrer Mutter dank­ nicht. Später in ihrer Karriere keit zu hinterlassen – und das
bar, denn diese habe sie vor den stand ihr die Regisseurin Sofia ausgerechnet in einer Kirche
dunklen Seiten der Industrie Coppola bei, die sie beim Cas­ in der deutschen Provinz. An
geschützt. »Wo immer ich hin­ ting von »The Virgin Suicides« ­diesem Wochenende werden
ging, meine Mutter war dabei.« kennenlernte und die ihr Selbst­ Bleiglasfenster im Greifswalder
So ähnlich sei das auch nach vertrauen stärkte. »Ich weiß, Dom eingeweiht, die Elíasson
einer unangenehmen Begeg­ wie selten und wertvoll es ist, so zu Ehren des großen romanti­
nung mit einem Regisseur ge­ eine Art von Mentorin zu fin­ schen Lichtmalers Caspar David
wesen. Dunst war 16, er habe den«, sagte Dunst. Dank Cop­ Friedrich entworfen hat. Tat­
sie in seinem Film besetzen pola habe sie auch das Selbstbe­ sächlich erzeugen die Farben
wollen, ihr aber eine »total un­ wusstsein gehabt, zu ihren nicht der 3383 mundgeblasenen
angemessene Frage« gestellt. ganz hollywood­perfekten Zäh­ Scheiben eine Stimmung im sa­
»Ich erinnere mich, dass ich da­ nen zu stehen. Einige Menschen kralen Raum, wie man sie von
saß und wusste, dass etwas hätten sie zu überreden ver­ Friedrichs Gemälden kennt. Al­

Steffen Jänicke / DER SPIEGEL


nicht stimmte, aber keine Ah­ sucht, sich die Zähne machen lerdings hat sich Elíasson gegen
nung hatte, was ich tun sollte.« zu lassen. Ein Produzent von eine gegenständliche Darstel­
Nach dem Casting habe sie ­»Spiderman« habe sie gar zum lung entschieden. Sie würde
ihrer Mutter alles erzählt. Und Zahnarzt gefahren, so Dunst. nicht zu seinem Stil passen, fin­
die entschied, dass die Tochter Sie sei einfach im Auto sitzen det er, außerdem gebe erst
nicht in dem Film mitspielen geblieben. LBA die Abstraktion »Zugang zu

Das Ende der Jagd wolle. Sondern wegen der phy­


sischen Beanspruchung. »Ich bin
Der britische Filmemacher nicht jemand, der hinter einem
Ken Loach, 87, ist eine lebende Monitor sitzt und von dort aus
Legende. Mit dem Klassiker in­szeniert«, sagte Loach. »Ich
»Kes« wurde er 1969 berühmt; bin zwölf Stunden am Tag auf
während einer langen Karriere den Beinen.« Man müsse den
drehte er gefühlvolle Dramen, Namen jedes Teammitglieds
die soziale Verwerfungen auf kennen und mit allen in Verbin­
den britischen Inseln in herz­ dung bleiben. Seine Schilderung
zerreißenden Geschichten sicht­ gibt eine ­Ahnung davon, wie
bar machten. Loach gehört zu die Emotionalität seiner Filme
dem erlauchten Kreis von Film­ zustande kommt: »Jeder Be­
regisseuren, die zweimal die teiligte ist wie ein Teekessel auf
Goldene Palme in Cannes ge­ dem Herd, kurz vor dem Ko­
winnen konnten: 2006 für »The chen. Diesen Grad an emotiona­
Wind That Shakes the Barley« ler Energie hochzuhalten ist eine
und zehn Jahre später für »Ich, Herausforderung.« Die Energie
Alan Chapman / Dave Benett / Getty Images

Daniel Blake«. Im Herbst 2023 müsse er selbst miterschaffen,


lief sein Film »The Old Oak« in und das gehe nicht im Sitzen:
den deutschen Kinos an – und »Man muss sie jagen.« Im hohen
wahrscheinlich wird es sein letz­ Alter würde Loach sich gern
ter gewesen sein. Dem Online- selbst ­erlauben, etwas ­anderes
Filmmagazin »IndieWire« sagte zu tun: »Es wäre schön, wenn
Loach nun, er glaube nicht, ich den Grillen lauschen könnte,
dass er einen weiteren Film ma­ ohne dabei ein schlechtes Ge­
chen könne. Nicht weil er nicht wissen zu haben.« KAE

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 119


BRIEFE gute Gründe haben. Ihr diese
Entscheidung dann zu verwei­
gern kommt einer Entmündi­
gung gleich.
Roland Rabusch, Gudow (Schl.-Holst.)

Der Diskussion in ihrer ganzen


Bandbreite liegt der tief verwur­
tragen? Diesmal das englische Thema erschienen. Überflüssig zelte Leitgedanke in viel zu vie­
Königshaus. Die tragischen Kran­ wie ein Kropf. Wen interessiert len Köpfen zugrunde, dass jede
kengeschichten sind schon denn so was? Als ob unsere Zeit Frau zwingend eine Mutter zu
schlimm genug für die Familien. keine relevanteren Themen hät­ sein hat und eine Mutter eine
Nur warum das nun zum Top­ te, über die der SPIEGEL berich­ Heilige ist. Man kann den Ge­
thema dieser Woche bei Ihnen ten könnte. danken auch anders verfolgen:
gemacht wird, verschließt sich Dr. Stephan Marks, Stegen (Bad.-Württ.) Wer nicht abtreiben will, darf es
mir total. Überlassen Sie diese selbstverständlich lassen, auch
Geschichten doch den »Bunten Dass der SPIEGEL sich an dem wenn objektive Gründe, man
Blättern«, und widmen Sie sich Hype rund um das Thema von kann es auch Verantwortung
wieder Ihrer journalistischen Prinzessin Kate und ihrer Erkran­ nennen, eigentlich gegen eine
Kernkompetenz. kung beteiligt, macht die ganze Mutterschaft sprechen. Umge­
Bernd Weber, Eutin (Schl.-Holst.) Sache nicht besser, sondern aus kehrt muss das Gleiche gelten;
meiner Sicht nur schlimmer. Ich eine Frau, die das Kind aus wel­
Menschen wie Ihre Redakteure finde, die Medien sollten das gan­ chem Grund auch immer nicht
tragen zu alldem bei. Am Don­ ze Thema ruhen lassen und damit
nerstag den neuen SPIEGEL ge­ die königliche Familie in Ruhe
kauft – Titelseite abgerissen, und lassen. KORREKTUREN
Sie befeuern das den Bericht werde ich auch nicht Dr. med. Stefanie von Engelmann, Zu »Der Schlichter von Neu­
lesen. Sie befeuern das alles noch Einhausen (Hessen) kölln« in Heft 50/2023, Seite 46:
noch und finden sich wahrscheinlich Im Text wird eine Aussage des
Nr. 14/2024 Titel: Drama royal auch noch toll. Ich finde es völlig SPD-Politikers Martin Hikel wie­
daneben. Wie eine dergegeben, wonach ein Israeli
Seit Jahren schätze ich Ihre inte­ Martina Möller, Marienberg (Rhld.-Pf.) aus einer Veranstaltung des Kul­
ressanten und wirklich guten Ti­ Entmündigung turvereins Oyoun »rausgeschmis­
telgeschichten vor allem aus Poli­ Was mich empört, ist die nicht zu Nr. 13/2024 Der Paragraf 218 spaltet das sen« worden sei. Dies ist unrich­
tik, Wirtschaft und Wissenschaft. übersehende Scham der Royals Land und die Koalition tig, es soll sich um einen türkisch­
Gerade in diesen wirklich schwie­ über die Krankheit Krebs. Die stämmigen Musiker gehandelt
rigen Zeiten ist Ihr guter Journa­ »Krebsbeichte« von Kate kam Ich bin zwar schon 80 Jahre alt haben, der wegen vermeintlicher
lismus so viel wert und vor dem nur, weil der öffentliche Druck zu und habe mit dem Thema nichts Übergriffe zum Gehen aufgefor­
Hintergrund von Fake News so hoch wurde nach dem Fotobe­ mehr zu tun, aber es regt mich dert worden sein soll.
wichtig. Diese Woche bin ich al­ trug. Leben wir etwa noch im auf, dass sich der Staat oder die Zu »Die Unerwünschten« in
lerdings sehr enttäuscht – bitte Mittelalter, in dem man den Be­ Kirchen in dieses Thema einmi­ Heft 11/2024, Seite 78: Igor Popow
überlassen Sie doch den Boule­ troffenen die Schuld für die schen. Die Frauen bekommen die ist russischer Staatsbürger, nicht
vardmedien die Geschichten über Krankheit gab – oder sind wir Kinder und haben sie ein Leben lettischer. Zudem war an anderer
eine Bevölkerungsgruppe, die aus nicht inzwischen im 21. Jahrhun­ lang und müssen deshalb auch Stelle nicht eindeutig formuliert,
der Zeit gefallen ist. Die angemes­ dert, in dem man über diese allein darüber entscheiden dür­ dass die neuen Immigrations­
sene Rubrik für diese Themen Krankheit, ihren Ursprung und fen. Keine Frau wird gezwungen gesetze keine lettischen Staats­
wäre »Personalien«. ihre Auswirkungen bestens in­ abzutreiben. Aber die Kinder, die bürger betreffen.
Isfer Aslam, Bad Homburg (Hessen) formiert ist? Diese Royals haben geboren werden, sollten willkom­ Zu »Das Märchen vom soliden
natürlich das Recht auf ein Privat­ men sein. Elektroauto« in Heft 12/2024,
Ich abonniere doch Deutschlands leben, aber daneben sind sie auch Elke Gurlit, Köln Seite 100: Im Text wird die »hö­
größtes und traditionsreichstes Personen der Öffentlichkeit, die here Belastung von Bremsen« als
Nachrichtenmagazin und nicht Einrichtungen für krebskranke Ich wurde 1960 als uneheliches ein Faktor genannt, der mög­
etwa das »Goldene Blatt«. Menschen unterstützen. Sie die­ Kind einer minderjährigen Mut­ licherweise die Lebensdauer
Matthias Kaiser, Schutterwald nen für viele Betroffene als Vor­ ter geboren. Damals hatte meine von E-Autos reduzieren könne.
(Bad.-Württ.) bild und sollten daher der Welt Mutter keine Wahl, ob sie mich Tatsächlich werden Bremsen
diese Krankheit, egal in welcher bekommen sollte oder nicht. von Elektroautos weniger belas­
Wird über die Schicksalsschläge Form auch immer, nicht verheim­ Aber sie hatte das Glück, dass tet als bei Verbrennern, können
bei den Royals seriös und mit Em­ lichen oder, schlimmer, sich dafür sie von der ganzen Familie un­ deswegen aber früher rosten –
pathie berichtet, kann das dazu schämen. terstützt wurde, und ich hatte wie zuvor im Text richtig be­
beitragen, eigenes Erleiden bes­ Brigitte Wolfsteiner-Thielmann, das Glück, von allen geliebt zu schrieben.
ser zu ertragen. Und die Art und Hohennahr-Altenkirchen (Hessen) werden. Bei vielen ungewollten Zu »Also habe ich es gemacht«
Weise, wie Prominente die Situ­ Schwangerschaften ist es aber in Heft 13/2024, Seite 104: Die
ationen bewältigen, beispielge­ Der SPIEGEL hat diese merkwür­ leider nicht so. Und es wird sich Antwort von Jan Philipp Reemts­
bend sein. dige Obsession mit den Wind­ wohl kaum eine Frau die Ent­ ma auf die SPIEGEL -Frage nach
Hans Rentz, Waging am See (Bayern) sors. Ich lese ihn regelmäßig seit scheidung zu einem Schwanger­ den Gründen für den erstarken­
den Siebzigerjahren, nun ist – ge­ schaftsabbruch leicht machen. den Antisemitismus in Deutsch­
Wie oft muss ich diese journalis­ fühlt zum fünfzigsten Mal – schon Wenn sie sich aber dafür ent­ land ist versehentlich als SPIEGEL-
tischen Tiefschläge denn noch er­ wieder eine Ausgabe zu diesem scheidet, wird sie in der Regel Einlassung gekennzeichnet.

120 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


Mainstream-Politikers schreibt,
Über die Osteraus­gabe Selten so traurig und Was für ein grund­ wie wir das häufig erleben, son­
des SPIEGEL habe doch bewundernd anständiger dern aus der Überzeugung eines
ich mich geärgert. nach fünf Seiten ­Charakter! Danke für vermeintlich freien und unab­
hängigen Denkers.
Oder habe ich Ihre im SPIEGEL zurück­ das herzerwärmende Dr. Aref Hajjaj, Bonn
Botschaft nicht geblieben. Diese Interview.
­verstanden: Das Menschen sind Katja Mackens-Hassler, Das Interview mit Jan Philipp
christliche Abendland ­einfach bewunderns­ Hamburg Reemtsma ist sehr beeindruckend
und zeigt uns allen auf, dass die­
wankt von Krise zu wert. ser Mann einer unserer großen
Krise – wie das Udo Kramer, Lins am Rhein Denker ist und immer war! Der
­britische Königshaus? (Rhld.-Pf.) Kampf gegen das Vergessen und
die Dummheit Ewiggestriger ist
Gregor Böckermann,
Neu-Isenburg (Hessen)
unsere Aufgabe.
Markus Zimmer, Homburg (Saarl.)
Nr. 13/2024 Alltag auf einer Nr. 13/2024 SPIEGEL-Gespräch
Nr. 14/2024 Titel: Drama royal Kinderintensivstation mit Jan Philipp Reemtsma
So musste er
will, ist genauso zu respektie­ gerührt. Danke für den einfühlsa­ Wire­card war). Da fragt man sich, scheitern
ren. Sie verdient Vertrauen auf men Text. Während des Lesens wofür hat man Wirtschaftsprüfer Nr. 13/2024 Vor zehn Monaten wurde
ihre Urteilsfähigkeit und das be­ habe ich meinen gesunden Sohn und Berater? Wahrscheinlich hat Oliver Kahn als CEO bei Bayern München
dingungslose Engagement der (neun Monate alt) im Arm und bin hier Gier den Verstand gefressen. entlassen. Unterwegs mit einem, der mit
seiner Vergangenheit kämpft
Ärzte. einfach nur dankbar, dass es ihm Günter Weber, Filderstadt (Bad.-Württ.)
Martina Gromeier-Pautke, Holm gut geht. Der Text macht demütig Wenn man den interessanten Ar­
(Schl.-Holst.) und zeigt, was wirklich wichtig ist Die Überschrift hätte besser »Die tikel gelesen hat, weiß man, dass
im Leben und nicht für Geld zu Verblendeten« geheißen. Nicht da nicht alles mit rechten Dingen
kaufen ist. Ich ziehe meinen Hut die Hochstapler sind die Täter, zugegangen ist. Sehr wahrschein­
Nicht für Geld zu vor allen Pflegefachkräften. sondern die Gesellschaft, die sich lich ist seine Ent­lassung auf seine
Katharina Schütz, Hatten (Nieders.) blenden lassen will. Es gibt zahl­ Ehrlichkeit zurückzuführen? Die
kaufen lose Beispiele dafür, wie wir uns diplomatischen Äußerungen fie­
Nr. 13/2024 Die Pflegekräfte auf einer Jeder, der Kinder oder Enkel hat, verführen lassen, nicht zuletzt len ihm offensichtlich sehr
Kinderintensivstation in Tübingen leisten die gesund sind, sollte sich jeden durch Donald Trump. schwer!
Schwerstarbeit Tag darüber freuen und hoffen, Irmela Christen, Berlin
Dr. med. Christian Peter Dogs, Lindau
dass das so bleibt. Aber wenn man (Bayern)
Eine an die Nieren gehende erfährt, dass nur 65 Prozent der Das ganzseitige Aufmacherfoto
­Recherche. Arbeitsumfeld und Intensivbetten für Kinder genutzt zeigt alle Nuancen eines meis­
Stressfaktoren auf der Kindersta­ werden können, so ist das sehr be­ Ein großer Denker terhaften Porträts: Entschlos­­
tion 34 sind sehr einfühlsam er­ drückend. Dieser Bericht hat wie­ senheit, Nachdenklichkeit, Nie­
fasst. Doch die Lektionserkenntnis der einmal deutlich gemacht, dass Nr. 13/2024 Jan Philipp Reemtsma im dergeschlagenheit. Der Text
SPIEGEL-Gespräch über sein Millionen-
von Herrn Uwe Imig: »Der der SPIEGEL sich immer wieder erbe, die Entführung und die Literatur arbeitet anschaulich das Macht­
Mensch hat keine Kontrolle über durch besondere Reportagen von gefüge innerhalb des FC Bayern
seinen Körper, er besitzt ihn anderen Medien abhebt. Bisher habe ich Herrn Reemtsma mit den beiden Noch-Potentaten
nicht«, und »Kein gesellschaftli­ Uwe Pankel, Hamburg als einen reflektierten und aus­ Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rum­
cher Status, kein beruflicher Erfolg gewogen formulierenden Wis­ menigge heraus, in dem eigen­
der Eltern und keine gute Schul­ senschaftler und Autor wahr­ ständiges Denken und Handeln
note haben je beim Überleben ge­ Die Verblendeten genommen. Dass er jedoch in unerwünscht sind. So musste der
holfen« – dies sind geniale sozio­ seiner uneingeschränkten Solida­ »Titan« scheitern.
kulturelle Erfahrungsaussagen für Nr. 13/2024 Wie Immobilienpleitier rität zu Israel »gedanklich« so Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.)
René Benko seine reichen Geldgeber
die Menschen schlechthin. um den Finger wickelte weit geht, von arabischen Staaten
Hans Hilgers, Adelmannsfelden wie Ägypten und Saudi-Arabien Warum der SPIEGEL Leuten wie
(Bad.-Württ.) Der Beitrag über den Hochstapler zu erwarten, Truppen nach Is­ Kahn – arrogant, einfältig und
Benko hat bei mir klammheim­ rael zu schicken, um dieses Land faul – eine Bühne bietet, da kom­
Ich bin seit etwa 20 Jahren liche Freude ausgelöst. Endlich in seinem, wie er völlig unre­ me ich nicht mehr mit.
SPIEGEL -Leserin, und zum ersten trifft es die Milliardäre und nicht flektiert sagt, »Verteidigungs­ Ludwig Bieger, Nürnberg
Mal hat mich ein Artikel zu Tränen die kleinen Leute (wie es bei krieg« zu unterstützen, ist er­
schütternd und eines seriösen Kahn, der Tipico-Titan – oder
Autors unwürdig. Natürlich hat wenn die Gier den Multimillionär
Aus der SPIEGEL-Redaktion er bei seiner Hamas-Kritik recht. antreibt, den armen Tipico-Bubis
Zehntausende Fans fiebern Woche für Woche dem Unverständlich ist aber, dass die letzten Groschen abzuzo­
Fußballquiz auf SPIEGEL.de entgegen – nicht weil
es das schwierigste wäre, sondern weil es das er die »großen« und »kleinen« cken! Rückschlüsse auf seinen
cleverste ist, mit ausgefallenen Fragen, besonderen Sünden der Besatzungsmacht Is­ Charakter sind erwünscht.
Fakten und spannenden Geschichten. Pünktlich rael seit 1967 im Westjordanland Bogislaw Miescke, Grasberg (Nieders.)
zur Heim-EM stellt SPIEGEL-Redakteur Marco und im Gazastreifen völlig aus­
Fuchs die 150 besten Fragen zusammen. Das Buch
»Mailand oder Madrid?« erscheint am 11. April blendet. Be­sonders irritierend Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
im Verlag Kiepenheuer & Witsch, hat 192 Seiten und ist es, dass er das nicht aus gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
kostet 12 Euro. der Geisteshaltung etwa eines unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 15 / 6.4.2024 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Volksfront-Alarm HOHLSPIEGEL

Werbeschild auf einem Anhänger an einer Straße


ZEITREISE Als Frankreichs Präsident Georges Pompidou im April 1974 in Hannover:

starb, witterte die vereinigte Linke die Chance, an die


Macht zu kommen. Bürgerlichen Franzosen schauderte davor.
Nr. 15/1974 »Nach Pompidou
eine Volksfront?«

Ein großes politisches


Erbe hinterließ Georges Aus der »Allgemeinen Zeitung der Lüneburger Heide«:
Pompidou nicht. Er hatte
das Land ein wenig mo­ »Jesus Christus wird im Abendgottesdienst
dernisiert, die französi­ am Sonntag, 24. März, um 18 Uhr in der
sche Autoindustrie geför­ Hanstedter St.-Georgs-Kirche erwartet.«
dert, Schnellstraßen durchs Land ziehen
lassen. Ansonsten hatte der »Bonvivant« Regierungschefs Giscard Aufsteller einer Metzgerei in der Fußgängerzone in
die Politik seines Vorgängers Charles de d’Estaing, Schmidt 1974 Aschaffenburg:

AP
Gaulle im Wesentlichen fortgesetzt.
Nach Pompidous Tod zeichnete sich kein Verstaatlichung aller Schlüsselindustrien
klarer Nachfolger ab. Zur Präsidentschafts­ versprochen. Und, vielleicht noch schlim­
wahl traten Sozialisten, Kommunisten mer, die Einführung einer Vermögensteuer.
und Sozialliberale mit ihrem Kandidaten Die Konservativen stellten gleich drei
François Mitterrand an. Es drohte die Kandidaten auf. Gaullist Valéry Giscard
»Volksfront« – und dieser Begriff bescherte d’Estaing setzte sich im Mai 1974 knapp
damals bürgerlichen Franzosen noch gegen Mitterrand durch und bildete mit
immer einen Schauer der Angst. dem neuen Bundeskanzler Helmut Schmidt
Die Vorstellung, »Rote« könnten in die fortan ein »Tandem« der französisch-
»geheiligten Palästen der Pariser Ministe­ deutschen Partnerschaft. Rechtsextremist
rien« einziehen, sei der Bourgeoisie ein Jean-Marie Le Pen erreichte im ersten
»Gräuel« gewesen, schrieb der SPIEGEL . Wahlgang nur 0,7 Prozent der Stimmen.
Frankreichs herrschende Klasse war über­ Sieben Jahre später wurde François
zeugt: Schon nach wenigen Monaten unter Mitterrand doch noch Präsident – ohne
Mitterrand wäre die Wirtschaft ruiniert. Frankreichs Wirtschaft dem Ruin preis­
Schließlich hatte die vereinigte Linke die zugeben. Rainer Lübbert Aus der »Süddeutschen Zeitung«:

»Nachdem der erste Schuh bereits 2005


gefunden wurde, entdeckten Einheimische
Asyl für Großwild
expertin Anja Weisgerber (CSU) kaum ein 2022 laut Messner den zweiten Schuh am
Weg an der Aufnahme der Tiere vorbei: Fuß des Diamir-Gletschers.«
»Es ist diplomatische Gepflogenheit, Ge­
schenke anderer Länder anzunehmen«,
SO GESEHEN Warum Bayern Hinweis an einem Parkhaus-Kassenautomaten in einem
sagte sie der »Bild«-Zeitung. Nach deren
20.000 Elefanten aufnehmen will Berechnungen würden etwa 18 Elefanten in Berliner Einkaufszentrum:

einer Boeing 747 Platz finden, was über


Im Konflikt mit dem afrikanischen Staat 2200 Hin- und (leere) Rückflüge erforder­
Botswana wegen geplanter Einfuhr­ lich machen würde. Alternativ könnten alle
erschwernisse für Großwild-Jagdtrophäen Elefanten auf einmal in einem Container­
bahnt sich eine Lösung an: Der Freistaat schiff Platz finden, hier wäre allerdings
Bayern will einlenken. Vorangegangen war noch für Futter und Pflege zu sorgen.
die Drohung des botswanischen Präsiden­ Als größtes Problem galt bis vor Kurzem
ten Mokgweetsi Masisi, der Bundesrepu­ die Unterbringung der Tiere. Es wäre ein
blik Deutschland 20.000 wilde Elefanten Areal von der Größe Brandenburgs nötig.
zu schenken, um den Deutschen die Pro­ Hier will nun überraschend Bayern ein­
bleme des Zusammenlebens praktisch er­ springen: »Die Elefanten sind im Freistaat
lebbar zu machen. herzlich willkommen«, sagte Weisgerber
Weil sich die Bundesregierung bisher auf einer gemeinsamen Pressekonferenz Aus der »Verdener Aller-Zeitung«:
einer ernsthaften Auseinander­ mit dem bayerischen Ministerpräsidenten
»Die Bahn kommt beim Flottenausbau
setzung mit der geplanten Markus Söder. 37 Elefanten will Söder in
­vo­ran, bei der Unpünktlichkeit aber nicht.«
Schenkung verweigert, den Dienst der Gebirgsjägerbrigade 23 stel­
könnten hohe Kosten den len, er plane bereits eine Alpenüberque­
ohnehin belasteten Bun­ rung unter seinem Kommando. »Wir über­ Öffnungszeiten eines Spirituosen- und Weingeschäfts
deshaushalt weiter nehmen damit föderale Verantwortung«, im niedersächsischen Gronau:

strapazieren. so Söder: »Von der CSU haben wir über


Gleichwohl führt die Jahre so viele Rindviecher in den Rest
nach Ansicht der der Republik geschickt – jetzt sind mal wir
Völkerverständigungs­ dran.« Stefan Kuzmany
AP

122 DER SPIEGEL Nr. 15 / 6.4.2024


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S-Magazin Nr. 22: Kindness Warum Freundlichkeit zum Trend in Beruf, Sex und Alltag wird

Mehr als ein Lächeln


Der Smiley hat die digitale
Kommunikation geformt,
die Popkultur geprägt – und
schmückt seit Jahrzehnten
Super­markt- wie Luxus-
produkte. Denn das Symbol
für alles Positive ist vor
allem ein Markenzeichen
KINDNESS

S-Magazin
Das Stilmagazin vom SPIEGEL
April 2024

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»Ich glaube an das Gute und an menschliche Beziehungen«, sagt Tom Dixon. »Wir können viel übers Geschäft sprechen, am Ende geht
es in jedem Business darum, Beziehungen zu pflegen und anderen freundlich zu begegnen«, so der britische Designer im Gespräch
zu dieser Ausgabe. »Mein Job, das Entwerfen, ist ein Weg, freundlich zu sein zu Menschen, zum Leben und zum Planeten.«
Was Dixon, 64, der von einer langjährigen Mitarbeiterin als »King of Kindness« bezeichnet wird, Zeit seiner Karriere selbstver-
ständlich schien, beschreibt Zukunftsforscherin Oona Horx Strathern in ihrem Essay als unausweichlichen Trend: Unser pro-
fitgetriebenes Wirtschaftssystem habe zu viele Missstände produziert, Arbeitnehmer und Umwelt gestresst und ausgebeutet.
»Respekt, Aufmerksamkeit und Anstand könnten die Triebfedern einer neuen Ökonomie sein«, die das Wir an erste Stelle stellt.
Statt um »größer, schneller, billiger« gehe es heute um eine nachhaltige Arbeitsethik mit entsprechenden Arbeitszeitmodellen
und einem Bewusstsein für die Umwelt. Das Motto lautet: Erst der Mensch, dann der Planet – die Gewinne folgen. »Erfolg-
reiche Unternehmen müssen Gutes tun«, zitiert Horx Strathern die britische Wirtschaftsexpertin Mary Portas. Genau das
hat sich auch die Smiley Company vorgenommen, die seit mehr als 50 Jahren Geschäfte mit dem ikonischen Lächel-Logo
macht. Nun will ihr Chef mehr Gutes für die Welt initiieren. Wie das gelingen soll, lesen Sie ab Seite 12. Viel Freude bei der Lektüre
Foto Titel: The Smiley Company / SmileyWorld Limited ; Mode: Eden Jetschmann; S. 28: Lila Donnolo; Illustration: Fabienne Chapot. Mode diese Seite: Baumwollpullover von Woolrich, 270 Euro; Uhr: Carl F. Bucherer, Patravi ScubaTec Verde, 44,6mm, 6250 Euro

24 30 14

04 Magazin I 12 Das harte Geschäft mit der Happiness 28 Appetit auf Gutes
Klassiker: Die Boutonnière / Was für Eine Begegnung mit Nicolas Loufrani, Spitzenkoch Sebastian Junge verwendet
ein Blick: Manege frei in Londons Chef der Smiley Company, der regionale Zutaten, unterstützt Sozial-
Broadwick-Soho-Hotel / Lebenskunst die Rechte an dem berühmten gelben unternehmen und hat für sein Team
aus dem Ashram Grinsegesicht gehören moderne Arbeitsmodelle eingeführt
06 Magazin II 14 Frohnaturen 29 Außer Atem
Herzenssache von Timon und Acht Menschen mit acht verschiedenen Die Kolumne von Wolfgang Höbel
Melchior Grau / Couture aus Autoteilen / Nationalitäten zeigen uns ihr schönstes Leserbriefe, Impressum
Wein-Kolumne: High Glass Lächeln. Ein Gute-Laune-Modeshooting
30 Das gezeichnete Interview
08 Streetstyle 22 Was bedeutet Freundlichkeit? Von und mit der niederländischen
Die Farben von Taipeh Ein Designer, ein Profisegler, ein Mode- Modeunternehmerin Fabienne Chapot
experte und eine Soziologin antworten
10 Auftakt
Die Zukunfts- und Trendforscherin 24 Sex Positivity
Oona Horx Strathern über Kindness als Von wegen pervers: Eine Bewegung feiert
Währung einer neuen Wirtschaftsform Sexualität und Intimität in allen Spiel-
arten – in der Mitte der Gesellschaft. Ein
Report und Tipps zur Selbsterfahrung

S-Magazin / 01.24 3
MAGAZIN

Rundum gut
Der Name ist Programm:
Das Hamburger Start-up
»Wildplastic« sammelt
in der Natur herum-
liegendes Plastik ein
und verarbeitet es zu
Design-Müllbeuteln, die
wiederum recycling-
fähig sind. Für 25, 35,
60 und 120 Liter Abfall.
wildplastic.com

Das Ego steht uns im Weg


Gestern und heute Der französische Dichter und Sensationsreporter
Jean Lorrain 1893 mit Blume im Knopfloch und der ehemalige Skandal-
Die karitative Organisation Mata Amritanandamayi
rocker Pete Doherty bei der Eröffnung der Ausstellung »Beyond Fame – Math setzt sich für mehr Liebe auf der Welt ein.
Die Kunst der Stars« im NRW-Forum Düsseldorf 2023 im Dandylook
Swami Amritaswarupananda Puri, 67, vertritt die
Lehre der Gründerin Amma weltweit auf Konferenzen.
Hier erklärt er im Interview, wie Liebe Konflikte
Die Boutonnière lösen hilft – im Kleinen wie im Großen.
Klassiker Von skandalerprobten Rockern erwartet man viel, aber
nicht unbedingt einen Auftritt im Anzug mit Blume im Knopfloch, — S-Magazin: Mit ihrer Aktion »Embracing the world – Die Welt umarmen« ist Amma
wie ihn Pete Doherty im vorigen August zu einer Ausstellungseröff- als spirituelle Führerin weltberühmt geworden. 40 Millionen Menschen hat sie bereits
nung hinlegte. Sein rosafarbenes Knopfloch-Accessoire – eine soge- umarmt. Ihr Glaube basiert auf Liebe. Verlässt Sie der Glaube manchmal, wenn Sie die

Fotos Klassiker: Pete Doherty: Andreas Rentz/Getty Images; Jean Lorrain: The Print Collector/Getty Images; Hotel Broadwick Soho; Swami: Mata Amritanandamayi Math
nannte Boutonnière – passte zum mittlerweile rosigen Teint des Mu- Welt betrachten? Amritaswarupananda: Es stimmt: Überall beobachten wir
sikers und zur aktuellen Mode: Dieses Frühjahr lässt etwa Dolce & eine geistige Erosion von Werten, und es ist eine große Herausforderung,
Gabbana Mohnblumen aus Stoff aus Sakkos sprießen, Dior Varianten Liebe in einer Welt zu fördern, in der Gier vorherrscht. Die Gier begann
aus Perlen und Schmucksteinen. So frühlingshaft die Boutonnière langsam, wuchs und bekam irgendwann die Oberhand. So entstand ein Un-
auch anmutet, sie hat eine ernste Historie: Zu Zeiten der Französi- gleichgewicht in allen Bereichen des Lebens, in Familien, in Unternehmen,
schen Revolution trugen Adlige auf dem Weg zum Schafott eine rote in der Politik – und in den Religionen. — Fast alle Religionen sagen, dass die gött-
Nelke im Revers, um ihrer Unerschrockenheit Ausdruck zu verlei- liche Botschaft die Liebe ist. Wieso sind so viele Konflikte weltweit religiös motiviert?
hen. Während der Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Das Problem besteht darin, dass jede Religion eine äußere und innere Seite
Jahrhunderts machten Sozialisten und Kommunisten ihre Gesinnung hat. Wenn wir uns auf die innere konzentrieren, also auf die Spiritualität
durch eine rote Blüte kenntlich. Heute tauchen Boutonnières bei fest- als Basis aller Religionen und die Einzigartigkeit der Schöpfung in einer
lichen privaten Anlässen auf oder etwa zur Erinnerung an Kriegsop- vielfältigen Welt, dann verblassen die äußeren Unterschiede. Aber solange
fer an Gedenktagen in Großbritannien oder Frankreich. Für Fans wie diese Einheit nicht erkannt wird, werden sich Religionen weiter bekämpfen.
den ehemaligen Brioni-Chef Umberto Angeloni, der dem Accessoire ­— Wie können wir selbst Konflikten entgegenwirken? Ich bin überzeugt davon,
ein Buch widmete, entfaltet die Boutonnière ihren Zauber jedoch zu dass jeder Einzelne das Potenzial hat, freundlich zu sein. Das ist unsere wah-
­jeder Gelegenheit. Er zitiert den Floristen und Designer Wolfgang re Natur. Wenn also jeder ein kleines Licht anzündet, indem er selbstlos
Thom: »Eine Blume an einem Mann offenbart, dass er empfänglich handelt, wird das eine große Wirkung haben. — Und wie soll das genau gehen?
ist für die Schönheit des Lebens.« Silvia Ihring Alles Gute und Schlechte beginnt zu Hause. Hier muss man die richtige Kul-
tur schaffen. Wenn Sie Ihre Kinder jeden Tag umarmen, nicht mechanisch,
sondern von ganzem Herzen, wird diese Liebe zu Ihrem Kind fließen. Die
Kinder werden dem Beispiel folgen. Selbst wenn sie mal vom Weg abkom-
men, werden sie später zu dieser Kultur zurückkehren. In diesem Sinne sagt
Amma: Mütter sind die mächtigsten Menschen auf dieser Welt. — Im vorigen
Jahr haben Sie bei der UN-Klimakonferenz in Dubai eine interreligiöse Zusammenkunft
Was für ein Blick! geleitet. Wie kann das bei der Bewältigung globaler Probleme helfen? Solche Konfe-
Britische Opulenz renzen sind wunderbar. Gespräche helfen aber nur dann, wenn wir gemein-
Spiegel aus Muranoglas, Tapeten sam Spiritualität praktizieren. Diskussionen darüber, welcher Gott der größ-
und Teppiche in allen Farben,
Kunstwerke, wohin man schaut, und
te ist, bringen uns nicht weiter. — Auf gemeinsame Umweltziele konnten sich die
die wohl zauberhafteste Bar in Lon- Teilnehmer in Dubai einigen, warum fällt der Konsens bei anderen Themen so schwer?
dons Westend: Sieben Jahre lang hat Wegen unserer Egos. Jeder will gewinnen. Eine friedvolle Welt kann aber
Interieur-Designer Martin Brudnizki
»The Broadwick Soho« renoviert nicht aus dem Sieg eines Landes und der Niederlage des anderen entstehen.
und das Boutique-Hotel in einen Wir brauchen eine reifere Sicht auf die Welt. Reife entsteht aus Verständnis,
elegant-exzentrischen Hotspot der
Stadt verwandelt. Ab 500 Euro pro
und Verständnis wächst aus Liebe. Diese Werte bedingen einander. Ohne
Nacht, broadwicksoho.com Liebe sind Konflikte nicht lösbar.  Barbara Markert

4 S-Magazin / April 2024


MAGAZIN

High Glass
Die Weinkolumne

Der Winzer Martin Tesch von der


Nahe ist ein Vordenker in der Wein­
branche. Vor gut 25 Jahren hat der
promovierte Mikrobiologe das 300
Jahre alte Familienweingut in Lan­
genlonsheim bei Bad Kreuznach
mit dem umfassenden Weinange­
bot seiner Eltern entrümpelt und
ausschließlich auf trockenen Ries­
ling gesetzt. 2002 ersetzte er den da­
mals obligatorischen Naturkorken
durch einen edlen Drehverschluss
und füllte seine Flaschen mit grad­
linigen, völlig trocken gegorenen
Rieslingen ohne jedes Chichi: »Ge­
füllt wie gewachsen«, lautet seine
Losung bis heute – auch auf die Ge­
Für jede Ausgabe von S spenden fahr hin, dass nicht jeder Konsu­
Herzenssache »Diese handgefertigten Tassen stammen von der bil­ Prominente ein privates Objekt. ment mit dieser Kompromisslosig­
denden Künstlerin Yi Ten Lai. Wir haben mit ihr gemeinsam studiert Diesmal: die Brüder Timon, keit zurechtkommt. Tesch hat neue
34, und Melchior Grau, 33. Das
und die Unikate vor einigen Jahren gegen eine unserer Leuchten ge­ Duo führt das international Fans gefunden. Seine Rieslinge wer­
tauscht. Die Tassen berühren uns jeden Tag. Teetrinken ist ein Ritual, tätige Leuchtenunternehmen den mittlerweile auf Musikfestivals
»Grau«, das seine Eltern 1986
ausgeschenkt und durchaus auch
das uns – so wie Licht – eine sinnliche Erfahrung schenkt und uns unter dem Namen des Vaters
Tobias Grau gegründet hatten. gebechert. Es ist die leichte, ehrliche
erlaubt, einen Moment innezuhalten. Für uns liegt die größte Kraft Schicken Sie Ihr Gebot bis Art seiner in Langenlonsheim und
der Kunst darin, uns immer wieder dazu zu bringen, unser Leben neu 15.04. an herzenssache@
spiegel.de. Der Erlös geht auf
Laubenheim gewachsenen Weine,
zu betrachten. Deshalb faszinieren uns Kunstwerke, die uns im Alltag Wunsch der Brüder Grau an den die weder zu aromatisch noch zu
Verein SunHelp International, rund sind und das am besten kön­
begegnen. Es fällt uns schwer, diese einzigartigen Stücke weiterzuge­ der Menschen in Entwicklungs-
ländern zu nachhaltiger Energie nen, was Wein tun sollte: animieren
ben, aber wir sind sicher, sie werden auch andere inspirieren.« verhilft. sunhelp.de
und inspirieren. Teschs Publikum
ist weniger altersweise als neugie­
rig und fühlt sich in der Regel auf
dem Kiez in Sankt Pauli wohler als
in Schwarzwälder Kurorten.
01 02 03
Der unwiderstehliche Riesling »T«
Ein bisschen von 2022 (9,90 Euro, weingut-tesch.de)
etwa kommt mit Leichtigkeit und fei-
Spaß für mehr ner Frucht daher, ganz so, als gäbe es
Recycling keine Klimaerwärmung. Tesch fin­
Für eine seiner ersten Kollek­
det Antworten auf die Erwärmung
tionen vor fast 30 Jahren im Weinberg, sodass er auch künftig
verarbeitete Jeremy Scott noch »cool ­climate«-Weine im küh­
alte Papierkittel; jüngst zeigte
der amerikanische Designer len Rheintal produzieren kann, die
erstmals Highfashion aus Au­ stimulieren anstatt zu sättigen. Da-
tomobilresten. Für »Re:Style«,
eine Plattform zur Förderung
für gestaltet er gerade seine Wein­
von Zirkularität von Hyundai, berge um und pflanzt neu. Seit 2022
entwarf der 48-Jährige Roben helfen ihm dabei gut 30 Menschen mit
Fotos: Herzenssache. Grau/Alex De Brabant; Hyundai ReStyle

aus Gurten, Airbags oder


Scheibenwischern. Scott, der und ohne Handicap von »proTeam
schon Adidas-Schuhe mit Himmelsthür«. In kleinen Teams
Flügeln oder Moschino-Kleider setzen sie Pflanzstangen, ziehen
mit McDonald’s-Logo verse­
hen hat, will nicht nur zeigen, Wuchsdrähte oder brechen Triebe aus.
was möglich ist, sondern stets Bis zur ersten Lese und Abfüllung
Spaß bereiten. »Es gibt schon
genug ernste Dinge auf der des »Himmelsthür«-Weins werden
Welt«, sagt er. »Die Kleider noch ein paar Jahre vergehen. Aber
sollen die Leute zum Lachen die Zukunft hat mit der neuen Be­
bringen und so auf Probleme
aufmerksam machen.« pflanzung bereits begonnen. S
01/02 Robe und Anhänger Stephan Reinhardt, 56, bewertet jährlich
aus der Kollektion Re:Style etwa 4000 Weine für die Wein-Enzyklopä-
von Scott für Hyundai die »Robert Parker Wine Advocate«.

6 S-Magazin / April 2024

2024
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STREETSTYLE

1 / Sean, 29, und Rabi, 34, 2 / Lisa, 36, Ernährungswissenschaftlerin 4 / Akachukwu, 41, Dozent 6 / Kershaw, 27, Verkäufer,
beide Boutiquenbesitzer Mantel: Tommy Hilfiger; Kleid: 2%; Jackett: Kaerlanbo; Hemd: Gucci; und Ian, 26, Finanzberater
Sean (links): Sweater, Jackett, Mütze, Shirt: Uniqlo; Hut: aus einem Kaufhaus Hose: Exact; Tasche: Tianhongdaishu; Kershaw (links): Jackett: Pini Parma;
Hose, Ringe und Schuhe: Vintage aus in Taipeh; Schuhe: Jeffrey Campbell Schuhe: Kurt Geiger Hemd: Brooks Brothers; Hose: Vintage;
dem eigenen Store 0311; Armreif aus Gürtel: handgemacht in Taiwan;
Thailand 3 / Angel, 38, Hausfrau und Mutter, 5 / Will, 32, Hotelmanager ­Schuhe: Loake; Mütze: Barbour.
Rabi: Lederponcho, Rock, Armwärmer und Kevin, 36, Redakteur Mütze: CA4LA; Jackett und Jeans: aus Ian: Jacke: Aero Leather; Hemd: Lativ;
und Mütze: Vintage aus dem eigenen Angel: Mantel: United Arrows; Schuhe: Korea; Tasche und Schmuck: vom Markt Hose: Barnstormer; Schuhe: New
Store Gucci; Hose und Sweater: Sandro. in Marokko; Shirt: Uniqlo Balance M990
Kevin: Mantel: Celine; Hoodie: Saint
Laurent; Schuhe: Bottega Veneta; Kette: 7 / Yerim, 32, Hausfrau und Mutter
Chanel; Mütze: Goopimade Mantel: Renej; Kleid: Best Belli
­Vin­tage; Schuhe: Jinny Kim

8 S-Magazin / April 2024


STREETSTYLE

Die Farben von


Taipeh
Fotos und Text: Katharina Pfannkuch

Wer als Europäerin zum ersten Mal in Taipeh


in ein Café geht, wird überrascht: Handta-
schen und Tüten landen hier nicht auf dem
Boden oder über der Stuhllehne. Das Perso-
nal bringt eine Box aus Holz, Korb oder
Stoff, in der alles Platz findet. Diese Geste
ist typisch für Taipeh. In der Hauptstadt
Taiwans, dieser Insel im Westpazifik, dieser
kleinen Demokratie im Schatten Chinas,
bekannt für Mikrochips oder Bubble Tea,
ist man sogar zu Taschen freundlich.
Jeder Neunte der knapp 23 Millionen
Einwohner des Landes lebt in Taipeh. Das
Wahrzeichen der Stadt, der »Taipei 101«,
ragt 508 Meter in die Höhe. Die Form des
Wolkenkratzers erinnert an ein Bam-
busrohr: eine schlichte und bestechende Sil-
houette – so wie die vieler Menschen, die
3
rund um den Turm flanieren. Labels werden
2
hier nicht zur Schau getragen, gedeckte Töne
dominieren, etwa bei der Mode des tai-
wanischen Streetstyle-Labels »Goopi-
made«, die auch international gefragt ist.
Die farbenfroheren Roben des Design-Duos
»Nicole + Felicia« kommen weltweit
ebenso gut an und wurden schon von
Taylor Swift und Jennifer Lopez getragen.
Taiwanische Mode kann glamourös
sein. Ihre Vielfältigkeit zeigt seit 2018 die
Taipei Fashion Week. Im Herbst wurden dort
die Lagenlooks des Labels Irensense
gefeiert. Aber: »Taiwans Modeindustrie ist
noch in der Nische«, sagt Tseng Yan-Wei
von Irensense. Die breite Masse folge den
Trends aus Südkorea. Viele Modeläden
werben mit »Made in Korea«; von den Titeln
taiwanischer Magazine lächeln K-Pop-Stars
wie Jennie Kim von der Band Blackpink.
Seit die 28-Jährige mit einer Stepptasche von
4 5 COS auf Instagram posierte, sieht man das
Modell über unzähligen Schultern hängen.
Für individuellere Looks sorgen
die vielen Vintage-Stores. In ihrem Laden
0311 Vintage im Stadtteil Shilin verkaufen
Sean und Rabi vor allem Unikate aus Eu-
ropa und den USA. Deren Alter und Her-
kunft, etwa bei französischen Seglerhosen
aus den Vierzigern, sind hier wichtiger als
Labels. »Der Vintage-Trend zieht seit fünf
Jahren immer mehr an«, sagt Sean.
Vintage-Mode ist auch in Zhong­
shan nicht zu übersehen. Durch die schma-
len, von Bäumen und Blumentöpfen ge-
säumten Straßen des Viertels schlendern
viele Touristen. Neben Boutiquen reihen
sich Cafés und Restaurants. Wer einen der
derzeit angesagten Fischerhüte erstanden
hat und mit seiner Tüte einkehrt, wird die
Freundlichkeit Taipehs erleben – und erst
mal einen Korb bekommen. S
6 7

S-Magazin / 01.24 9
AUFTAKT

Währung zum Glück


Nicht nur für Weltverbesserer: Die
neue Nettigkeit zahlt sich aus

Der freundliche Kapitalismus


Die Kindness-Ökonomie möchte ein neues Wertesystem der Wirtschaft
etablieren. Denn: Profitstreben allein ist weder zeitgemäß noch Erfolg
versprechend. Wer wachsen will, muss künftig nett sein. Von Oona Horx Strathern

Der englische Begriff Kindness bedeutet mehr, als nur nett zu sein. Es geht keine Rolle. Ein Umdenken muss stattfinden, denn im Geschäftsleben geht
um Respekt, Aufmerksamkeit, Anstand – und ja, auch um Freundlichkeit. es künftig nicht mehr nur um den Wert, also Gewinne, sondern um Werte.
Diese Attribute sind grundsätzlich nie eine schlechte Idee, schon gar nicht Die Kindness Economy ist ein Gegentrend zur bestehenden Grund-
in der Wirtschaft von heute. Sie könnten sogar die Triebfeder einer neuen struktur westlicher Wirtschaftssysteme, sie weist den Weg von der reinen
Ökonomie sein. Die sogenannte Kindness Economy folgt dem Motto »people, Industriegesellschaft zur postindustriellen Dienstleistungs- und Wissensgesell-
planet, profit« – der Mensch oder das Wir steht an erster Stelle. Damit stellt schaft. Die jungen Generationen stellen den »Old Deal« infrage. Die über-
die Kindness-Idee das traditionelle Businessdenken nach »größer, schneller, kommenen Arbeitsformen der Industriegesellschaft, die auf das klassische
billiger« auf den Kopf. Ernährermodell ausgerichtete Nine-to-five-Logik – all das hält nicht mehr.
Firmen wie Patagonia sind die Vorreiter. »Gewinn zu machen ist Stattdessen sprechen wir über die Vier-Tage-Woche oder hybride Arbeitsmo-
nicht das Ziel«, sagt der Gründer und CEO des kalifornischen Herstellers delle wie 2:3:2, die zwei Tage im Büro, drei Tage im Homeoffice und zwei
von Outdoor-Bekleidung Yvon Chouinard. »Ein Zen-Meister würde sagen, Tage Freizeit vorsehen. Die Machtpositionen im Herzen der Wirtschaft ver-
die Gewinne kommen, wenn Sie alles andere richtig machen.« Der Schwanz schieben sich – zunächst vom Kapital zur Arbeit. Denn die wirklich knappe
dürfe nicht mit dem Hund wedeln, wie in vielen Unternehmen, wo die Fi- Ressource heute ist die menschliche Arbeitskraft: Fachkräftemangel in Pflege,
nanzen sämtliche Entscheidungen bestimmen, so Chouinard. »Wir finanzie- Gastronomie, Verwaltung und Handwerk bringt das bisherige System zu Fall.
ren Maßnahmen, die der Umwelt zugutekommen, damit wir die nächsten Das Bewusstsein für Unternehmensethik wächst stetig bei den Ge-
100 Jahren im Geschäft bleiben.« Seit den Siebzigerjahren setzt Chouinard nerationen Y und Z. Laut einer Studie des Weltwirtschaftsforums von 2023
zudem auf eine menschenfreundliche Arbeitsethik und eine flexible Zeit- würden sich 50 Prozent dieser Zielgruppe weigern, für einen Arbeitgeber
einteilung. Er ist überzeugt, dass das nicht nur für die Mitarbeiter besser ist, zu arbeiten, »der sich nicht proaktiv um mehr Nachhaltigkeit auch im Sinne
sondern auch für die Erträge. Sein Unternehmen bot als eines der ersten in der Mitarbeiterführung bemüht«. Wer Gewinnmaximierung priorisiert, ver-
den USA kostenfreie Kinderbetreuung für seine Angestellten an. Rund 50 nachlässigt solche Aspekte. »Vieles, was Menschen tun, ist nicht optimal für
Prozent der Beschäftigten sind heute weiblich. sie«, schreibt Robert Shiller, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften,
Das Interesse an »freundlichen« Wirtschaftsstrategien ist groß, weil in seinem Buch »Narrative Economics«. Unsere Gesellschaft brauche neue
das »unfreundliche« System zu viele Missstände für Arbeitnehmerinnen und inspirierende Vorbilder in diesem Veränderungsprozess. »Vieles, was in der
Arbeitnehmer produziert hat: Mitarbeiter etwa, die in die innere Emigration Wirtschaft passiert, hängt von den Geschichten ab, die wir uns erzählen«,
gehen und nur noch ein Pflichtprogramm abspulen oder ihren Arbeitsplatz so Shiller, der die Verbreitung von Narrativen mit einer Epidemie vergleicht.
frustriert verlassen. Als Elon Musk den Kurznachrichtendienst Twitter, heute »Es entstehen neue Varianten, die meisten verflüchtigen sich wieder – aber
X, übernahm, verkündete er, alle zu feuern, die nicht dazu bereit seien, lange einige setzen sich durch.« So wie die Geschichte von Patagonia, die andere
und hart zu arbeiten. Unternehmen wie der Fahrdienst Uber und der Ver- Unternehmen inspiriert. »Diese Storys werden zu einer Art kulturellem Gen,
sandhändler Amazon sind seit Jahren mit Geschichten über ausgebeutete Ar- das uns ebenso wie die Märkte antreibt.«
beitnehmer in den Schlagzeilen. Der Stress wächst: für die Beschäftigten, für Kindness könnte als eine Art Werte-Währung für das Geschäftsleben
die Unternehmer und für den Planeten. Eine Umfrage von Hewlett-Packard fungieren. Eine Firma hätte dann etwa einen »Chief Kindness Officer«, und
(HP) aus dem vorigen Jahr, der »Work Relationship Index«, ergab, dass nur mit KPIs wären nicht mehr Key Performance Indicators gemeint, sondern
27 Prozent der HP-Wissensarbeiter in zwölf Ländern ein gesundes Verhält- Kindness Performance Indicators, die noch zu bestimmen wären. Die Kind-
nis zu ihrem Job haben. Und gerade einmal 29 Prozent der 15 000 Befragten ness Economy wird eine entscheidende Rolle spielen, sagt auch die britische
gaben an, dass ihre Tätigkeit durchweg die Bedürfnisse nach Sinn, Selbstbe- Wirtschaftsexpertin Mary Portas: »Der aktuelle Zustand wird hinterfragt.
stimmung und Verbundenheit erfülle. Hewlett-Packard-CEO Enrique Lores Das gibt Unternehmen wie Kunden die Möglichkeit, neu zu definieren, was
Porträt: Aria Sadr Salek/Zukunftsinstitut

verkündete daraufhin: »Niemand sollte sich entscheiden müssen zwischen Kapitalismus sein sollte und will.« Das ist mehr als ein Appell, es ist das Den-
dem notwendigen Geldverdienen und der persönlichen Zufriedenheit bei ken der Zukunft. Erfolgreiche Unternehmen müssten Gutes tun, so Portas,
der Arbeit.« Was allzu oft als gegensätzliche Kräfte verstanden werde, gehe damit sie nicht nur wachsen, sondern etwas beitragen zum Fortschritt. S
in Wahrheit Hand in Hand, so Lores.
Viele große Unternehmen wie HP müssen heute darum kämpfen, Oona Horx Strathern, 61, ist Trendforscherin des von ihr mitgegründeten
Mitarbeiter zu halten, neue Talente anzuwerben und ihre Gewinne zu be- Zukunftsinstituts in Wien. Die gebürtige Irin gibt einen jährlichen
Home Report heraus über aktuelle Architektur- und Wohntrends. Ihr
haupten. Kindness in der Unternehmenskultur war bislang schlichtweg nicht aktuelles Buch: »Kindness Economy – Das neue Wirtschaftswunder«
Teil ihrer DNA, spielte im Denken der Führungskräfte und Eigentümer ist im September im Gabal-Verlag erschienen.

10 S-Magazin / April 2024


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LUMAS.COM
12
FEATURE

S-Magazin / April 2024


Sty-
le!Apri
Abbildung: The Smiley Company / SmileyWorld Limited; Porträt: Florence Moncenis; Produkte: Maison Deux, Dsquared, Mesika
FEATURE

Das Geschäft mit dem Lächeln


Der Smiley strahlt von T-Shirts, Süßigkeiten oder Hausschuhen. Seit mehr als fünf Jahrzehnten verkauft »The Smiley
Company« Lizenzen für das ikonische Logo. Doch wie bleibt dieses universelle Symbol für Glückseligkeit auch in Zukunft
bei Laune? Die Antwort fand Smiley-Chef Nicolas Loufrani durch eine Midlife-Krise. Von Bianca Lang

Das Business mit der Freundlichkeit nervt manchmal. Man ­ ewegung, die Wohltätigkeitsorganisationen und Sozialunter-
B
sieht es Nicolas Loufrani an, er hat nicht den besten Tag. nehmen unterstützt, nicht finanziell, sondern, indem sie deren
Das Januar-Wetter in London, wo seine Firma »The Smiley Geschichten veröffentlicht. Loufrani will die Aufmerksam-
Company« sitzt, hilft auch nicht gerade; in ein paar Tagen keit aufs Positive lenken, so wie sein Vater vor über 50 Jahren,
flüchtet er in die Sonne Dubais. Der Mann hat viel zu tun. und »gesellschaftlich etwas bewirken«, sagt er beim Kurku-
Vor ihm auf dem Tisch liegen zwei Mobiltelefone. Über 450 ma-Latte mit Mandeln im »The Conduit«. Der Members Club
Lizenzen in mehr als 150 Ländern hat er derzeit vergeben, das in Covent Garden bezeichnet sich als »Treffpunkt für Weltver-
macht rund 68 Millionen Produkte jährlich in den Branchen besserer« oder solche, die es gern wären. Nicolas ist Mitglied, 01
Mode, Design, Beauty, Kunst oder Food und circa 530 Millio- den Smiley hat er heute geschultert als Muster auf seinem
nen Euro Umsatz. Es gibt den Smiley auf Juwelen, Teppichen Eastpak-Rucksack. Das Logo ist nun in gemeinnütziger Mis-
und Snacks. Damit gehört »The Smiley Company« in die ers- sion unterwegs, das trifft den Zeitgeist. »Etwas, das so simpel
te Reihe der größten IP-Vermarkter weltweit hinter Disney, funktioniert wie der Smiley, muss sich ständig neu erfinden,
Coca-Cola, Universal oder Hello Kitty. um ikonisch zu bleiben«, sagt Michael Cherman, Gründer des
IP bedeutet Intellectual Property, also geistiges Eigen- Streetwear-Labels »Market«, das mit Smiley kooperiert.
tum. Der sonnengelbe Kreis mit den zwei ovalen Punkten als Einfache Darstellungen von lachenden Gesich-
Augen und dem abgewinkelten, gebogenen Strich als Mund tern gab es schon in der Steinzeit oder auf Tonkrügen in 02
gehört Loufrani: Seine Firma besitzt die Rechte an dem Bild in der ­Antike. Als gelbes Gesicht mit schwarzen Zügen trat es
über 100 Ländern der Erde. Wer das Feelgood-Logo kommer- erstmals Anfang der Sechzigerjahre in Erscheinung, um eine
ziell verwenden möchte, muss dafür zahlen. Von einem ­­gebran- ­Radioshow in New York zu bewerben. Kurz darauf wurde der
deten T-Shirt etwa, das für zehn Euro verkauft wird, bleiben freischaffende Artdirector Harvey Ball aus Massachusetts von
36 Cent bei ihm hängen. Ein geniales Geschäftsmodell, für das einer Versicherung mit einer Kampagne beauftragt, um die
es mehr brauche als einen Anwalt und ein paar Assistenten, so Stimmung unter deren Angestellten aufzuhellen. Er zeichne-
­Loufrani. 50 Designer, Produktentwickler und Branchenmana- te einen gelben Smiley, der in den folgenden Jahren millio-
ger kümmern sich darum, werten Trends aus, sprechen poten- nenfach als Pin verkauft wurde, ließ sich aber nie die Rechte
03
zielle Kooperationspartner an. Nur einen Smiley auf ein belie- ­sichern. Und ging quasi leer aus.
biges Produkt zu drucken reiche nicht, die ­Produkte müssten Die Geschichte wurde oft erzählt, viele schreiben Ball die
»cool sein«. Der Smiley sei zwar ein Symbol für Freundlich- Erfindung des Smileys zu. »Es geht ums Markenzeichen, nicht
keit, Empathie und Optimismus, »aber vor allem eine Marke darum, wer was erfunden hat«, sagt Loufrani. »Mein Vater
– und entsprechend ein hartes Geschäft«, so der Franzose, der hat den Smiley zu einem Geschäftsmodell gemacht.« Logos
mit seinem Dreitagebart und dem Pink-Floyd-Shirt unterm seien meist schlichte Designs, der Apfel von Apple etwa, der
Holzfällerhemd eher wie ein Kreativer aussieht als wie ein Swoosh von Nike oder das Krokodil von Lacoste. Entscheidend
Manager. Er spricht schnell mit französischem Akzent und viel sei, wer sie populär gemacht habe, so Loufrani. Diese eine 04

über Wettbewerb, Strategien, Deals, Return Value. simple Version eines Lächelns, die sein Vater entworfen
Loufrani wurde 1971 in Paris geboren, zwei Wochen vor habe, sei eben das Logo, das sich durchgesetzt habe. »Es fällt
dem berühmten Smiley. Sein Vater Franklin, damals Journalist schwer, sich vorzustellen, dass so ein einfaches Symbol über-
und Berater der Zeitung »France Soir«, wollte den negativen haupt j­emandem gehört«, schrieb der »Guardian« zu dessen
Nachrichten um Vietnamkrieg und Studentenproteste positive 50. Geburtstag vor zwei Jahren. Aber mittlerweile sei Loufra-
Geschichten entgegensetzen unter dem Titel »Zeit für ein Lä- nis typischer Smiley »fest mit der Popkultur des 20. Jahrhun-
cheln«, die er mit dem lachenden Gesicht illustrierte. Er schaffte derts verwoben«. Denn anders als beim Krokodil oder Apfel
es, sich das Bildchen als Markenzeichen sichern zu lassen. Die denkt man beim Smiley nicht zunächst an ein Logo, sondern
Gelddruckmaschine lief schnell an: Agfa kaufte das Logo für an das Gute, das er verkörpert. Man kann ihn schwerlich
Filmverpackungen, Levi’s für Jeans und Mars, um seine M&M- nicht mögen. Wer angelächelt wird, freut sich. Und so zaubert
Schokolinsen mit Smiley-ähnlichen Aufdrucken aufzupeppen. der Smiley ein Lächeln auf jedes Gesicht, ob unter eine gute
Loufrani brachte den kleinen Kerl groß heraus. Bei Friedens- Schularbeit gekritzelt oder in Kakaoform auf dem Cappuccino.
märschen in den Siebzigerjahren formierten sich Protestieren- Als Nicolas die Firma Ende der Neunzigerjahre von
de zu einem Menschen-Smiley. Sohn Nicolas nennt die gelbe seinem Vater übernahm, war die Glückssträhne des Smiley
Frohnatur seinen Zwilling. Sie hätten eine innige Beziehung, jedoch vorbei. Das Grinsegesicht war zu einem Massenphä-
»eine Symbiose«, sagt er. Aber es war nicht immer einfach. nomen verkommen, ein allgegenwärtiges Dauerlächeln, das
Sie sind gut gealtert – der Smiley und sein großer Bruder auch die Raverszene der späten Achtzigerjahre erobert hatte
wirken noch jugendlich. Vor ein paar Jahren stellte sich Nicolas – und bald mit der sogenannten Acid-Bewegung und deren
01
jedoch die Sinnfrage. Er fühlte sich leer und ging zum Coach. »Es Drogenkonsum assoziiert wurde. »Mein Vater hatte die Kon-
Chef
reichte mir einfach nicht mehr, leichte und lustige Produkte zu trolle verloren über den Smiley und mit Lizenzen die ganze Nicolas Loufrani, 52, führt
machen«, sagt er. Es war wohl ein Gute-Laune-Overkill oder, Welt kolonialisiert«, sagt Loufrani. die Smiley Company
wie Loufrani sagt, »eine klassische Midlife-Krise – ich brauchte Ein Relaunch musste her. Loufrani erkannte die 02
für mich selbst etwas Positives«. Als Folge engagiert sich The Chancen des Internets und die Vielfältigkeit seines Marken- Interieur
Decke von Maison Deux
Smiley Company nun ernsthafter und tiefgründiger. Neben zeichens. Er stellte sich vor einen Spiegel, mimte verschiedene
03
einem Schulprogramm zur Förderung von emotionaler Intelli- Gefühlsausdrücke – traurig, wütend, enttäuscht – und zeichnete Mode
genz bei Kindern hat das Unternehmen die Nachhaltigkeitsini- sie als simple Grafiken. Die erste Generation digitaler Emoticons Look aus der Kooperation
tiative »Future Positive« ins Leben gerufen – und diesen Aus- war geboren, eine neue globale Sprache. Was Nicolas und viele mit Dsquared

druck, der ähnlich allgemein ist wie die Smiley-Darstellung, andere belustigte, entsetzte zunächst seinen Vater: »Du rührst 04
Juwelen
auch gleich als Markenzeichen sichern lassen. Vor fünf Jah-
Armband mit Brillanten
ren gründete Loufrani zudem das »Smiley Movement«, eine (Fortsetzung auf Seite 20) von Messika

S-Magazin / 01.24 13
»Freundlichkeit ist ein Gefühl von Hoffnung, das uns alle formt.« Alessandro, 37

Style!
Smileys: The Smiley Company / SmileyWorld Limited

Alessandro trägt ein Hemd von Olymp, Piercings und Schmuck von Thomas Sabo

14 S-Magazin / April 2024


»Sie bildet das Herz unseres Wesens – und verblasst leider oft mit der Zeit.« Bodi, 29

Heiter weiter
Im echten Leben hat der Smiley viele Gesichter. Unsere Models leben in Deutschland und haben acht
verschiedene Nationalitäten. Sie sind zwischen neun und 81 Jahre alt – Männer, Frauen, ein Kind, eine nonbinäre
­Person. Sie zeigen uns ihr schönstes Lächeln und erklären, was Kindness für sie bedeutet.
Fotos: Eden Jetschman, Styling: Jürgen Claussen

Bodi trägt ein Polohemd von MCM und das Diamantcollier »Rivière« von Bucherer, Perlenkette: privat

S-Magazin / 01.24 15
»Kindness ist eine Kraft, eine tägliche Entscheidung zu mehr Vertrauen.« Menguy, 27

Menguy trägt ein Stricktop von Polo Ralph Lauren

16 S-Magazin / April 2024


»Sie bedeutet für mich, jedem Menschen mit Offenheit zu begegnen.« Eden, 31

Eden trägt ein Smokinghemd von Olymp, ein Fransentop von Prada, darüber eine Lederjacke von Polo Ralph Lauren

S-Magazin / 01.24 17
»Es braucht auch Charme und Humor für eine gute Atmosphäre.« Monica, 76

Monica trägt eine Schluppenbluse und Ohrringe von Dior, Kette Rodium-Paladium mit Anhänger aus Feueremail von Freywille

18 S-Magazin / April 2024


»Ohne Lachen wäre die Welt schrecklich langweilig.« Yuna, 9

Yuna trägt eine Kapuzenstrickjacke von Moncler

S-Magazin / 01.24 19
»Man kann jedes Problem mit einem Lächeln lösen.« Saadia, 46 Jahre

Saadia trägt einen Body aus Seidensatin von Max Mara, Ohrringe von Zaafar
und Brillant-Ohrstecker »Krone« von Wempe

Produktion: Bianca Lang-Bognár / Haare & Make-up: Evin Yeyrek mit Produkten
von YSL Beauty / Fotoassistenz und Casting: Mengyu Zhou

(Fortsetzung von Seite 13)

meinen Smiley nicht an«, schrie er. Und beruhigte sich bald, denn das Inter- Egal, ob sie in der Luxusboutique oder im Supermarkt verkauft werden – alle
net wollte mehr. Die Emoticons dominierten schnell jeden Chat. Nicolas stellte Produkte mit dem Smiley müssen sorgfältig designt und kuratiert sein. Loufrani
sie zur freien Verfügung auf die Firmenwebsite. Inzwischen zeigt sich der spricht viel davon, dass er sein Eigentum beschützen müsse. In seinen ersten
Smiley mit mehr als 3000 verschiedenen Gesichtern. »Geld haben wir nie Jahren als Chef führte ihn sein Beschützerinstinkt regelmäßig vor den Richter:
damit verdient«, sagt er. Die Emojis von heute sind Kopien, leicht abgewan- AOL, der Möbelhändler Pier Import oder Walmart machten Werbung mit gel-
delt im Design. »Mit den Emoticons habe ich nur den Smiley promotet.« ben, lachenden Kreisen. Nicolas Loufrani verklagte alle wegen vermeintlich
Loufrani fädelte in den folgenden Jahren Kollaborationen ein mit unberechtigter Nutzung und verkämpfte sich ein paarmal: Harvey Ball etwa
Luxushäusern wie Moschino, Armani oder Dior sowie mit angesagten Street- durfte seinen Smiley in den USA weiter für wohltätige Zwecke verwenden. Ball
wear-Labels. Er kooperierte mit Künstlern und Stylisten. Der Franzose, der ist mittlerweile tot, seine »World Smile Corporation« weitgehend bedeu-
in seinen Zwanzigern für den Londoner Modemacher Ozwald Boateng tätig tungslos. Die Loufranis haben den Kampf um den Smiley gewonnen.
gewesen war und privat Designobjekte aus den Siebzigerjahren sammelt, Vater Franklin kommt immer noch jeden Tag ins Büro, um nach ihm
bewies ein gutes Gespür für zeitgemäßen Stil und die richtigen Partner. zu sehen. Er ist eine Frohnatur wie seine Schöpfung. Nicolas wirkt dagegen
Banksy malte den Smiley auf Köpfe von bewaffneten Polizisten etwas erschöpft. Die Zahnlücke, die er vom Vater geerbt hat, zeigt er nur bei
und unterstrich laut »Guardian« damit dessen wiedergewonnenes »Image einem seltenen Lächeln. Er pendelt zwischen Paris, London und Ibiza. Jedes
als Kultobjekt«. Bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in London Zuhause schmücken nur wenige Smiley-Produkte. Ob in der Einrichtung
2012 tanzten Tausende einen lachenden Kreis. Werte wie Inklusivität und oder im Leben – es kann schnell zu viel werden mit dem Smiley. Deshalb
Freundlichkeit, die der Smiley transportiert, kommen bei Designmarken gut führt Nicolas einen »Panda-Planner«, eine Art Achtsamkeitsnotiz­buch mit
an: 65 Firmen von Urban Outfitters über Michael Kors bis Karl ­Lagerfeld Panda-Emblem. Termine oder Zahlen finden sich darin keine, stattdessen
feierten den Rundkopf mit Kollektionen zu seinem 50. Geburtstag. Plas- tägliche Affirmationen, persönliche Ziele und Errungenschaften. »Dankbar-
tikschuhe von Crocs oder eine Millionenteure Uhr von Richard Mille er- keit, Freundlichkeit und positives Denken sind mir extrem wichtig. Ich will
zeugten einen Hype und waren in Stunden ausverkauft. Als »Evolution« mich privat nur noch auf das Positive konzentrieren«, sagt Nicolas Loufrani.
bezeichnete der Mediendienst »Business of Fashion« die Neuausrichtung Das Geschäft mit dem Smiley hat ihn – trotz aller Erfolge – wohl nicht so
des Unternehmens zur globalen Lifestylemarke. richtig happy gemacht.

20 S-Magazin / April 2024

2024
Tim Berresheim
„Himmelszeichnerei“
Fineart-Pigmentdruck hinter Acrylglas | Schattenfugenrahmen Basel, 15mm, Ahorn natur | 145 x 180 cm

Am Anfang war das Wort, das Feuer und die Kunst. Tim Berresheim untersucht unsere Gegenwart als Übergang in
eine neue digitale Zeit und inszeniert mit archaischer Kraft eine Evolution des Menschen und der Kunst.
Das NRW-Forum präsentiert spektakuläre Bildwelten sowie außergewöhnliche Augmented-Reality-Inszenierungen
Berresheims. Die umfassende Retrospektive versammelt sein Frühwerk und aktuelle, exklusiv für diese Ausstellung
konzipierte Arbeiten – analoge und digitale Kunst treffen aufeinander.

Tim Berresheim – Neue Alte Welt | 17. Feb. – 26. Mai | NRW-Forum Düsseldorf | printed by WhiteWall.com

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PROTOKOLLE

Wie macht uns Design glücklich, Tom Dixon?


01 02 03 04 05

Der britische Designer Tom Dixon hat unter anderem für Cap- III Mit sozialen Unternehmen zusammenarbeiten
pellini und Habitat Möbel entworfen, bevor er 2002 sein
gleichnamiges Designstudio gründete. Er wird international Zwischenmenschliche Beziehungen auch im Business zu pflegen
für seine originellen Designs geschätzt, viele seiner Entwürfe ist für mich fundamental. Deshalb schaue ich mir die Arbeitsbe-
sind in Museen wie dem MoMa in New York ausgestellt. Hier dingungen bei jedem unserer Produzenten an. Zuletzt war ich
Porträts: Pete Navey; Lampe: Tom Dixon Studio; Stuhl: Allegra Martin; Korkmöbel: DRS Project/ One Park Drive, Peer Lindgreen
nennt der 64-Jährige fünf Wege zu freundlichem Design. in Jaipur bei einer Teppichfabrik, für die 20 000 Frauen von zu
01
Hause aus arbeiten. Über Kameras in den Dörfern kann man Kreativchef
I Das Leben einfacher machen die Entstehung eines Produkts verfolgen. Zudem betreibt das Für seine Verdienste
um das britische Design
Sozialunternehmen viele Bildungs- und Gesundheitsinitiativen. wurde Tom Dixon
Design ist eine Möglichkeit, das Leben zu verbessern. Die Be- 2001 mit dem Order
deutung von Licht wird dabei oft unterschätzt. Dabei kann die of the British Empire
IV Konzepte vorantreiben, die der Erde helfen ausgezeichnet
richtige Beleuchtung jeden Raum optimieren, am Arbeitsplatz
Bedingungen schaffen, um die Augen zu schonen, zu Hause für Seit acht Jahren experimentiere ich mit einem Projekt zur 02
Autodidakt
mehr Entspannung sorgen. Mit geschickter Beleuchtung kann Regeneration der Ozeane. Dafür haben wir vor den Bahamas Dixon hat nie eine
die Lichtverschmutzung in der Natur reduziert werden. Tech- Metallstühle ins Meer gelassen, auf denen mithilfe einer Tech- Designschule besucht,
nologien wie LED vereinfachen das Leben, durch ihren gerin- nik namens Biorock und Sonnenenergie natürlicher Zement es aber stets verstanden,
Experiment, Kunst
geren Stromverbrauch sind sie günstiger und nachhaltiger. wächst. Muscheln und Korallen siedeln sich darauf an. Jedes und Kommerz zu vereinen
Objekt wird mit den Jahren zum Unikat, zwei Stühle haben
03
wir an ein Museum in Nürnberg verkauft.
II Mit umweltfreundlichen Materialien arbeiten Produktneuheit
Tragbare, wiederauflad-
Kork ist unschlagbar. Die Korkeichen müssen 25 Jahre kultiviert bare LED-Lampe aus der
V Wohlfühlatmosphäre schaffen Kollektion »Portables« für
werden bis zur ersten Ernte. Danach kann nur alle sieben Jahre drinnen und draußen
geerntet werden, das erhält den Waldbestand und bindet Koh- Ich habe eine Freundin, die erst mal das Licht in einem Res-
04
lenstoff. Kork riecht gut, fasst sich gut an, ist warm und wirkt taurant checkt, bevor sie hingeht. In der Regel ist die Beleuch- Konzeptkunst
schalldämpfend. Zudem zählt er zu den wenigen kohlenstoff- tung an vielen Orten schlecht, sie ist einfach zu hart: Das Licht Stuhl aus einem Umwelt-
positiven Rohstoffen der Welt. Ich arbeite viel mit dem Mate- kommt oft direkt von oben, dadurch sieht jeder hässlich aus. schutzexperiment,
das im Meer Zement
rial, auch wenn es bisher kommerziell nicht sehr erfolgreich Ich tauche lieber die Wände in Licht, beleuchte Möbel von wachsen lässt
ist. Ich glaube aber an Nachhaltigkeit durch Qualität. Wenn hinten, von unten nach oben oder zur Seite. Oder empfehle,
05
ich in einem Antikshop ein Objekt sehe, das ich vor 15 Jah- Lieblingsobjekte anzustrahlen und manche Ecken nur mit ei- Materialien-Meister
ren entworfen habe, dann beweist das ja auch seine Relevanz. ner Kerze zu erhellen. Kork-Outdoormöbel

22 S-Magazin / April 2023


PROTOKOLLE

Was bedeutet Freundlichkeit? Eine Frage, drei Antworten Protokolle: Bianca Lang und Barbara Markert

Boris Herrmann 01 02

I
Ich bin grundsätzlich zu einem Sponsor genauso freundlich wie zur Kassiere-
rin im Supermarkt, versuche jedem wertschätzend und ohne Vorbehalte zu
begegnen. Diese Einstellung ist für mich auch wesentlich fürs Mannschaftsse-
geln: An Bord hat jeder eine bestimmte Verantwortung. Mein Job ist es, das
Team zu motivieren und zu inspirieren. Alle müssen daran glauben, dass wir
gemeinsam etwas erreichen können. Für persönliche Probleme oder große
01 Boris Herrmann,
Egos gibt es keinen Platz und für Auseinandersetzungen keine Zeit. Auf dem 42, ist Berufssegler
Schiff herrschen Routine und Gemeinschaft. Dazu braucht man Teamplayer. und Mitgründer des
Segelsportteams »Ma-
Jeder Einzelne ist für die Stimmung an Bord mitverantwortlich, spontane lizia«. 2023 stellte er
Emotionen werden zurückgehalten. Und wenn ein anderes Schiff überholt, mit seiner Crew einen
zeigt man Solidarität und hält die Moral an Bord weiter hoch. 24-Stunden-Geschwin-
digkeitsrekord auf
Ich habe mit dem Segelboot sechsmal die Erde umrundet. Der ständige Kon-
takt mit der Natur lehrt Bescheidenheit. Ich bin viel alleine gesegelt und habe 02 »Resort Shirt« aus

Foto: Olymp
Bio-Leinen von Boris
dadurch an Souveränität gewonnen. Sie hilft mir, den Druck rauszunehmen Herrmann für Olymp,
und Freundlichkeit auch im Alltag zu leben. 89,95 Euro

03 04
Julian Daynov

II
Ich öffne gern Türen für andere, das macht mir Freude. Im Januar habe ich auf
der Modemesse Pitti Uomo das Sonderprojekt »Neudeutsch« betreut: Dafür
durfte ich 20 junge deutsche Marken auf die Messe nach Florenz einladen. Sie bil-
den meines Erachtens einen guten Schnitt durch die neue Generation von Desi-
gnern, die heute Deutschland prägt, auch wenn sie ihre Wurzeln teils anderswo
haben. Ich habe ihnen die Bühne bereitet – viele dieser Brands können sich einen
03 Julian Daynov, 37,
Messeauftritt sonst nicht leisten. Ich helfe gern. Nicht weil ich etwas erwarte, son- war Mode-Einkäufer
dern weil es mich erfüllt. Ich glaube, Freundlichkeit ist eine Art, dem Negativen für Saks Fifth Avenue
in New York, hat den

Foto: Pitti Imagine; Raffaello Rossi


in der Welt etwas entgegenzusetzen. Wenn man gutes Karma verbreitet, kommt Luxushändler Lane
es zurück. Die Deutschen gelten ja oft als unfreundlich. Ich habe, seit ich als Craw­ford in Hongkong
Teenager aus den USA kam, nie Schlechtes erfahren. Weil ich allen freundlich be- beraten und unter
anderem für Seidensti-
gegne. Vielleicht hat mir diese Art auch geholfen für »Neudeutsch«. Es brauchte cker entworfen
wohl einen Nichtdeutschen wie mich, um deutschen Designern ein Forum zu geben,
04 Genderneutrale
weil Deutsche oft blind sind für die Talente im eigenen Land. Nach dem Hose für Raffaello
Motto: Das Gras ist anderswo grüner. Ich glaube, das Gras hier ist grün genug. Rossi, 269 Euro

05 06
Auma Obama

III
Ich empfinde das Wort »Freundlichkeit« gerade in der deutschen Sprache als
schwierig. Mir gefällt das englische Wort »mindfulness« besser. Es geht nicht nur
banal darum, nett zu sein, sondern um Rücksichtnahme und Achtung gegenüber
anderen. Hier spielen auch die guten Sitten eine Rolle oder die Art, wie wir uns
im öffentlichen Raum benehmen – etwa im Flugzeug: Alle wollen gleichzeitig aus
dem Flieger raus. Lassen wir anderen den Vortritt, ist das achtsam. Und daraus
05 Auma Obama, 64, Motiv Bags f
kann dann Freundlichkeit erwachsen. ist Autorin, promovierte Motivgröße 315 B
Farben Blau =
Leider geht diese Rücksichtnahme heute vor allem durch unseren Social-Me- Germanistin und Sozio-
Foto: Elke Pouchet; aumaobama.de

login. Die Halbschwester


dia-Konsum verloren. In der digitalen Welt schränken wir den Umgang miteinan- des ehemaligen US-Prä-
der ein. Aber Freundlichkeit und Achtung müssen geübt werden. Bei meiner Stif- sidenten setzt sich für
Kinder ein unter anderem
tung in Kenia arbeite ich mit Kindern, die gar kein Handy besitzen. Das Internet mit ihrer Hilfsorgani-
ist für sie ein Ort, um Informationen zu finden, nicht Freunde. Sie haben den sation »Auma Obama Tasche Stella
Foundation – Sauti Kuu« Druck Siebd
Umgang miteinander noch nicht verlernt. Für die persönliche Entwicklung ist es
06 Tasche von
wichtig, sich direkt auszutauschen und nicht nur virtuell. Wir müssen wieder ler- bagsforhelp.de für
nen, Empathie und Emotionen zu zeigen. Denn das ist das Coolste überhaupt. Sauti Kuu, 10 Euro

S-Magazin / 01.24 23
SEX POSITIVITY

02

Fotos: Amorelie; BOF; Kinky Galore

24 S-Magazin / April 2024


SEX POSITIVITY

»Wer ficken will, muss freundlich sein«


Ohne Tabus: Die Sex-Positivity-Bewegung spiegelt ein wachsendes Bedürfnis nach offen gelebter Sexualität
in all ihrer Vielfalt. Entsprechende Partys und Workshops sind längst kein Treffpunkt für Minderheiten
mehr, sondern in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Von Bianca Lang & Lesley Severin

Wer zum ersten Mal eine sexpositive Party besucht – egal, ob Nur 20 bis 30 Prozent der Gäste hätten Sex auf seinen Partys,
eine queere oder eine eher hetero-orientierte –, macht schon erzählt Jan Ehret, der größte Veranstalter sexpositiver Events
im Vorfeld interessante Erfahrungen. Eine Begleitung nach in Deutschland. »Kinky Galore« heißt seine Veranstaltungs-
der anderen sagt ab. Die Hemmung vor den eigenen sexuel- reihe, die Clubs von Freiburg bis Hamburg füllt. Jede Party ist
len Fantasien und denen anderer scheint größer zu sein als die in der Regel ausverkauft, bis zu 2500 Gäste tummeln sich in
anfängliche Neugier. Die Sex-Positivity-Bewegung hat wohl den Clubs zwischen Sexschaukeln, Strafbock und Spielpony
noch einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten. – wie bei einer riesigen sexy Mottoparty. Die Szene sei nicht
Sex Positivity meint nichts weiter als die grundsätz- so »knüppel­ernst«, sagt Ehret, der die Musik auflegt. Als DJ
lich positive Haltung gegenüber Sexualität in all ihren ge- hat er im berüchtigten »Kitkat« in Berlin begonnen, einem
waltfreien Spielarten. Sexualität wird als Ausdruck der per- der ersten Clubs in Deutschland, in dem Sex offen praktiziert
sönlichen Freiheit und Lust verstanden, die offen gelebt und wurde. Ehret geht es weniger um Tabubruch – als um Spaß: 01

genossen werden darf – auch jenseits klassischer Monogamie. Alle sollen strahlen, sagt der 44-Jährige, der fest liiert ist und
Die Einvernehmlichkeit sämtlicher Handlungen gilt als obers- Vater dreier Kinder. Sein Kinky Galore Club hat mittlerweile
tes Gebot. Die Bewegung setzt seit Ende der Neunzigerjahre um die 20 000 Mitglieder.
fort, was als sexuelle Befreiung in den Sechzigerjahren be- Seit Corona habe das Geschäft an Fahrt aufgenommen,
gann. »Wir verstehen Sex als eine gesunde und natürliche sagt er. Das Bedürfnis nach Körperlichkeit ist in der Pande-
Aktivität, einen Teil des Menschseins, einen Weg zu einem mie gestiegen und geblieben, das Angebot an Intimitäts- oder
glücklichen Leben«, sagt Lila Donnolo, jahrelang Bewohnerin Tantra-Workshops, Tutorials und expliziter Unterhaltung
sexpositiver WGs in Berlin und New York, Podcasterin und wuchs mit. Der führende Anbieter für intime Lifestyle-
selbst ernannte »Intimitätsspezialistin«. Wenn wir unseren produkte EIS gibt an, der Verkauf von Sexartikeln für Männer
Fantasien nachgehen, fühlen wir uns lebendig, so Donnolo. und Frauen habe sich während der Pandemie teils vervier-
Oft werde Sex Positivity allerdings mit Promiskuität facht. Das Unternehmen Ritex verzeichnete 2023 den höchs- 02
verwechselt. Lila lebt nicht promiskuitiv. Ihr geht es um Frei- ten Umsatz mit Kondomen und Gleitgels in seiner Geschichte.
heiten, darum, offen mit ihren Bedürfnissen umzugehen, nicht An Kondomen mangelt es auch auf den frivolen Par-
isoliert zu sein. Niemand, der auf eine sexpositive Veranstal- tys nicht – Safer Sex ist selbstverständlich in der Szene. Bei
tung geht, muss Sex haben. Die Events seien sehr respektvoll, Ehret sind Medical-Awareness-Teams im Einsatz, bei »Stu-
erzählen Besucher. Alles kann, nichts muss. Die »New York dio Lovemasters« wacht die Security. Benimmt sich jemand
Times« stellte nach einem Besuch einer poly­amourösen Party daneben, wird er oder sie rausgeschmissen. Passiere aber sel-
fest, »nie zuvor mehr glückliche und nüchterne Menschen um ten, sagt Ehret. Es dominieren Gemeinschaftsgefühl und Ver-
zwei Uhr morgens in einem Club« gesehen zu haben. Viel- trauen. Zwanzig Prozent seiner Gäste sind Singlefrauen, die
leicht wird Sex nirgendwo bewusster praktiziert als in dieser meisten kommen regelmäßig. Weil die Atmosphäre stimmt.
Szene – oft sogar ohne Alkohol oder Drogen. In Donnolos Weil man sich gegenseitig Komplimente macht, die Outfits
WG lautete die erste Regel, mit keinem der anderen Bewoh- lobt. Das sei doch logisch, so Ehret: »Wer ficken will, muss
ner Sex zu haben, um Konflikte zu vermeiden. Gästen von freundlich sein.«
sexpositiven Partys empfiehlt Donnolo, sich beim ersten Be- Das Online-Dating-Portal Bumble startete 2023 eine
such vorzunehmen, nicht gleich aktiv zu werden, sondern sich »Kindness is sexy«-Kampagne für eine respektvolle Dating-
erst mal zu akklimatisieren. Kultur. Und fand in einer Umfrage heraus, dass Kindness für
Daran stört sich niemand. Der Veranstalter der Ham- 85 Prozent der Deutschen die wichtigste Charaktereigenschaft
burger Partyreihe »Studio Lovemasters« bezeichnet seine bei der Partnerwahl ist. Dabei kam es besonders auf Ehrlich-
Events als »Clubbing 2.0«: Die Gäste tanzen zu Electrobeats, keit (55 Prozent), Empathie (51), emotionale Offenheit (38)
seien nur sexier zurechtgemacht als üblich. Ohne explizite und Komplimente oder Bestätigung (35) an.
Aufmachung kein Einlass. Man sieht viel Leder und Haut, ei- Viele dieser Tugenden kommen auf einer sexpo-
nige stehen in Unterwäsche herum, andere tragen Hemd zur sitiven Party oder bei einer Tantra-Session zum Ausdruck.
01
Lackhose. Es wird getanzt, geknutscht, ge­fummelt, zu späte- Die Teilnehmer lächeln sich an, tanzen miteinander, suchen Lila Donnolo
rer Stunde auch nackt – eine Gemeinschaft der Nichtprüden. Kontakt zu anderen, streicheln sich, wenn gewünscht, spüren Die Sex-Positivity-
Aktivistin bei einem
Es sind Paare dabei, viele Männer und Frauen sind aber al- den Herzschlag eines Fremden. Es sind schöne, intime und Intimitätsvortrag auf
lein gekommen, darunter die 20-jährige Julia, die nur ein paar befreiende Momente. Manche verschwinden in Playrooms, einer Konferenz des
Mediendienstes
Riemchen trägt. Sie ist gekommen, weil hier keiner komisch die nur Paaren offen stehen. Andere verabschieden sich früh
»Business of Fashion«
guckt oder bewertet, sie die Musik mag und Sex. Die Party nach Hause. Alles ist offensichtlich, nichts geschieht mit Hin-
sei ein Safe Space – und niemand sauer bei einem Nein. »Ob tergedanken. Und genau das ist das Geheimnis. Es gibt keine 03
Jan Ehret
heute etwas passiert, weiß ich noch nicht. Kommt darauf an, versteckten Blicke oder verhohlene Anmache. Es wird offen Der Veranstalter der
wer fragt«, sagt sie. Die meisten Besucher bei »Studio Love- geflirtet, ehrlich geantwortet: Man erlebt Sex, aber keinen deutschlandweiten
»Kinky Galore«-
masters« sind mindestens doppelt so alt wie Julia, Normalos Sexismus. Keiner scheint beleidigt. Das ist deutlich angeneh-
Partys mit seiner
mit normalen Körpern, viele mit Tattoos. mer als der Besuch manch klassischer Party. Partnerin Sarah

S-Magazin / 01.2024 25
SEX POSITIVITY

Lust auf Hedoné


In der griechischen Mythologie ver-
Klit Ball
Die sexpositive, kinky Techno-Party-
PinkLabel.TV
Dass Pornografie auch jenseits von

mehr?
körpert Hedone die Freude und das reihe hat ihren Ursprung im Underg- Pornhub und xHamster funktionieren
Vergnügen. Als Tochter von Eros und round des Hamburger Kiez. Die Partys und unsere Fantasie mit ästhetischen
Psyche verbindet sie Liebe und Seele. richten sich an »Kinksters, Queers, Bildern beflügeln kann, beweist
Das sexpositive Seminar Hedoné steht Hedonists, Polynormals, Fetishists«. Pink-Label.TV. Die Bezahl-Strea­ming-
Sexpositive Festivals und entsprechend im Zeichen der menta- Überall stehen Spielmöbel herum, Plattform bietet Independent-Pornos
Partys, Erotikfilme im len und körperlichen Verbindung. Im hinter schwarzen Vorhängen befinden – modern, inklusiv und divers, sowohl
Sommer veranstaltet Hedoné ein spi- sich verschiedene Spielwiesen. In den im Hinblick auf sexuelle Vorlieben als
Arthouse-Stil oder Intimi- rituell und lustvoll geprägtes Festival sogenannten Playrooms kann jeder auch auf Körperbilder. Mittlerweile hat
täts-Tutorials via Instagram in einem Schloss bei Leipzig. Geboten seinen Vorlieben nachgehen. Ein die 2012 lancierte Website über 2000
werden Workshops zu Tantra, Tao und Awareness-Team stellt die Einhaltung (teils preisgekrönte) Arthouse-Erotik-
– wer seine Sexualität neu
Atemarbeit sowie geführte Zeremo- der Konsensregeln sicher. filme im Angebot, von Hard- und
erleben möchte, hat viele nien. Wunsch der Veranstalter ist es, Softcore-Pornografie über experimen-
Ort: Hamburg
Möglichkeiten. Zehn Tipps: »das Bewusstsein zu stärken, unse-
Preis: 25 Euro
telle und historische Produktionen bis
ren Körper weicher zu machen und hin zu Dokumentationen und Tutorials
Termine: klitball.club
Blockaden zu lösen, die Wünsche und etwa zum Thema Squirten (weibliche
Bedürfnisse verdecken«. Ejakulation). Die deutsche Pornowis-
senschaftlerin Madita Oeming emp-
Ort: In der Nähe von Leipzig fiehlt PinkLabel.TV im Gegensatz zu
Preis: Auf Anfrage, hedone.berlin den üblichen Fast-Porno-Webseiten.
Termin: 24. bis 29. Juli
Stundenhotel 2.0: Mitten in Hamburg Preis: Ab 9,99 € im Monat,
liegt das laut Betreiber »geheime, Tempelnächte https://pink­label.tv/on-demand/
sinnliche« Loft, das stundenweise
Seine Temple Nights beschreibt
gemietet werden kann. Ob zum Lunch­
Initiator Michael Kreuzwieser als
date oder Intermezzo am Abend, die
»Forschungs- und Erfahrungsräume,
stilvollen Suiten warten nicht nur mit
in denen sich mehr Sinnlichkeit,
Designmöbeln auf, sondern auch mit
Verspieltheit und Intimität erfahren«
Wein, Anregungen für guten Sex und
lassen. Diese Nächte bei sphärischen
entsprechenden Spielzeugen. Zudem
Klängen, gedämpftem Licht und dem
finden hier regelmäßig Events und Temple of Lika Geruch von Palo-Santo-Hölzern wer-
Workshops statt wie zum Beispiel
Die Betreiber des Temple of Lika den sowohl für Einsteigerinnen und Geliebte auf Zeit
»Rope Club«, »Orgasmic Dance« oder
errichten eine Art »Orgienzelt« (für Einsteiger als auch für Fortgeschrittene
»Bondage for Beginners«. In ihrem Podcast sprechen die Sexar-
maximal 30 bis 40 Personen), etwa auf angeboten. Einsteiger können den gan-
beiterinnen Lenia Soley und Luisa
Ort: Aus Diskretionsgründen ist die dem »Nowhere Festival« in Spanien. zen Abend auch ohne Berührung für
vollkommen ungeniert über Themen
Adresse geheim. Nach der Buchung Sie organisieren BDSM-Workshops, sich gestalten. Auch für Fortgeschrit-
wie Partnertausch, Gruppensex, Hand-
erhalten Gäste die Anschrift per Mail: veranstalten Tänze, stellen Perfor- tene gilt: Nichts muss passieren. Nach
jobs oder etwa Squirten, also die weib-
room8-hh.de mance-Kunst aus und bauen »einen einer kurzen Erläuterung bezüglich
liche Ejakulation. Zudem veranstaltet
Preis: Das günstigste Paket opulenten und erotischen Raum« zur der Konsens- und Safer-Sex-Regeln
Soley regelmäßig Workshops, Temple
»Lunchdate« startet bei 150 Euro Selbsterfahrung auf. Auch im Berliner werden die Teilnehmenden angeleitet,
Nights und Retreats für Frauen.
(Mo. bis Fr., zwischen 11 und 14 Uhr). »Kitkat Club« finden Events statt: sich durch den Raum zu bewegen und
Dauer: 2 Stunden Samtvorhänge und ein Meer aus Kissen die anderen spielerisch wahrzuneh- Ort: Online, Berlin und andere Orte
und Decken schmücken dort ein mär- men, durch achtsames Innehalten, Preis: Der Podcast ist kostenlos auf den
chenhaft dekoriertes Zelt, in dem die tiefes Atmen, Blickkontakte, zärtliche bekannten Streaming-Plattformen zu
Lust an der Lust entfacht werden soll. Berührungen und Erkundungen ande- hören. Die Retreats beginnen bei 300
rer Körper. Jedem ist überlassen, wie Euro, die Tempelnächte bei 40 Euro.
Ort: Spanien weit er oder sie dabei geht. Termin: 9. Mai (»Temple Night in Berlin«),
Preis: Auf Anfrage, temple-of-lika.com geliebte-auf-zeit.de
Termin: 1. bis 7. Juli Ort: Berlin
Preis: Ab ca. 27 Euro
Dauer: 4 Stunden
Planet Bibi Termine: kreuzwieser.org
Auf ihrem Instagram-Account »Planet
Bibi« behandelt die Intimitäts-Coa-
chin Bibi Brzozka die unerschöpf-
liche Themenwelt weiblicher und
männlicher Sexualität – und zwar auf
Liebelei
Kinky Galore
behutsame und nachvollziehbare Art. Wer tiefer in die Welt des sogenann-
Sie berichtet von eigenen Erlebnissen Auf den deutschlandweiten, sexpositi- ten Kink, also der ungewöhnlicheren
und versucht, Frauen und Paaren mit ven Veranstaltungen sind ausdrücklich Praktiken wie Soft-Sadomaso oder
alle Menschen erwünscht – unabhän-
Trusted Bodywork
konkreten Hilfsangeboten zu einem Fesselspiele eintauchen möchte, an
erfüllteren Liebesleben zu verhelfen. gig von Alter, Geschlecht, sexueller Ob ganzheitliche Körperarbeit, Mas- Onlinekursen, Audio-Sessions wie
So erklärt sie ohne Scham, wie etwa Orientierung oder körperlichen Ge- sage mit Elementen aus dem Tantra, »Collective Masturbation« interes-
Sex mit einem nur halb erigierten gebenheiten. Auf einer Art Erwachse- Workshops oder Sexualberatung siert ist oder monatliche »Lustletters«
Penis gelingen kann oder wie Frauen nenspielplatz gilt es, bei Technobeats – die Website »Trusted Bodywork« mit Sex-Challenges für Paare erhal-
mithilfe von Massagestäben intensive- den Erfahrungshorizont zu erweitern, bietet ein Adressverzeichnis für ten möchte, ist bei Katharina Bonk
re oder multiple Höhepunkte erleben ohne dabei die Grenzen anderer zu seriöse Anbieter und Anbieterinnen genau richtig. Liebelei versteht sie als
können. Bei Workshops demonstriert überschreiten. Ein Awareness-Team mit zertifizierter Ausbildung (Certified »enthemmtes Laboratorium der Lust«,
sie manchmal, wie sie sich selbst sorgt für die Einhaltung der Regeln. Sexological Bodyworker). Initiatorin in dem sich neue erotische Potenziale
befriedigt. Wer es gesehen hat, ist be- ist Martina Weiser, die Betreiberin von schöpfen lassen. Sie animiert dazu,
Ort: Erfurt Deutschlands größtem Tantramassage-
eindruckt von der Sinnlichkeit dieser »feuchtfröhlich zu experimentieren«.
Termin: 27. April, weitere Städte und studio »Ananda« in Köln.
Frau und Intensität der Erfahrung.
Termine, kinkygalore.net Ort: Online, liebelei.co
Instagram: @planetbibi Preis: Ab 35 Euro Infos: trustedbodywork.com Preise: Von 24 bis 129 Euro

26 S-Magazin / April 2024


Podcast

Hinhören, mitreden
Sie sind unterwegs oder haben alle Hände voll zu tun? Dann hören Sie rein
in das Podcast-Angebot des SPIEGEL. Vielfältig, tiefgründig und erzählstark.
Überall, wo es Podcasts gibt, und auf spiegel.de/audio

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HIER KOCHT DER CHEF

Junger Spinat mit gehacktem Ei


ESSEN MIT BOTSCHAFT und Kartoffelschaum
Diesmal: Von den Gerichten, die Sebastian Junge in seinem biozerti- Zubereitungszeit: 2 Stunden
fizierten Restaurant »Wolfs Junge« in Hamburg serviert, profitieren nicht Rezept für 4 Personen
als Zwischengang oder Vorspeise
nur die Gäste – sondern auch die Umwelt gewinnt.
Zutaten:
Spinat:
400 g frischer Spinat,
50 g Butter, 1 kleine Gemüsezwiebel,
½ Knoblauchzehe, gerieben,
Salz, Pfeffer und Muskat

Eier:
2 hart gekochte (10 Minuten) Eier,
30 ml Olivenöl,
2 Esslöffel fein geschnittener Schnittlauch,
1 Esslöffel fein geschnittene Petersilie,
Salz und Pfeffer

Kartoffelschaum:
200 g geschälte,
gekochte mehligkochende Kartoffeln,
200 ml Vollmilch, 170 ml Gemüsefond,
50 g Butter,
Salz, Pfeffer, Muskat
(wenn vorhanden Rauchsalz)

Eingelegte Radieschen:
5 Radieschen, in feine Scheiben geschnitten,
75 ml Essig, 75 ml Wasser,
3 g Salz, 25 g Zucker,
2 Wacholderbeeren, 1 Lorbeerblatt

Zubereitung:
Legen Sie die Radieschen am Vortag ein. Hierfür
werden Essig, Wasser, Salz, Zucker, Wacholder und
Lorbeer aufgekocht. Kochende Flüssigkeit auf die
Radieschenscheiben in einem Glas oder einer Schüssel
geben und über Nacht kalt stellen.

Kochen Sie den frischen Spinat für wenige Sekunden


in kochendem Salzwasser. Kalt abschrecken und an-
schließend gut auspressen.

Die Eier können Sie hart kochen, kalt abschrecken,


pellen und grob durchhacken. Anschließend mit den
übrigen Zutaten vermengen.

Kochen Sie die Kartoffeln gar. Milch, Gemüsefond,


Butter, Salz, Pfeffer und Muskatnuss aufkochen und
zusammen mit den Kartoffeln mindestens 2 Minuten
glatt mixen, sodass die Masse homogen und ohne
Stücke ist.

Zerlassen Sie die Butter für den Spinat mit fein ge-
schnittenen Zwiebelstreifen und dem geriebenen
Knob­lauch. Vorsichtig anschwitzen. Anschließend
geben Sie den Spinat hinzu und schmecken alles mit
Salz, Pfeffer und Muskatnuss ab. Der Spinat muss
vorab gut ausgedrückt sein. Wenn der Spinat heiß ist,
Vorbild Spinat mit Kartoffelpüree und Spiegelei: Viele Gerichte von Sebastian Junge, 36, nehmen das Aromenprofil von können Sie alles anrichten. Spinat mittig platzieren,
Kindheitsklassikern auf. Für Küche und Haltung wurde der Hamburger mehrfach mit dem grünen Michelin-Stern ausge- gehacktes Ei darauf drapieren und seitlich großzügig
zeichnet. Junge arbeitete zuvor unter anderem im »Hotel Vier Jahreszeiten«, im Restaurant »Gutsküche Wulksfelde« und in Kartoffelschaum anrichten. Am Ende wird alles mit
der Weinwirtschaft »Kleines Jacob«, alle in Hamburg, ehe er 2018 sein eigenes Restaurant eröffnete. ein paar Scheiben eingelegter Radieschen garniert.

»Meine Bühne, auf der ich weitergebe, was mir wichtig ist, ist mein Restaurant. Es geht mir um
die Wertschätzung von Mensch, Tier und Natur. Entstanden ist meine Leidenschaft während meiner
Ausbildung. Dort habe ich erlebt, wie viel in Küchen verschwendet wird und wie gering das Interesse
an der Geschichte von Lebensmitteln ist. Ich versuche, es besser zu machen. Wir stehen in engstem
Kontakt zu unseren Bio-Landwirten, tauschen uns aus, wie wir uns unterstützen können. Wir
­betreiben sogar einen eigenen Acker, auf dem wir Gemüse nach Demeter-Kriterien anbauen.
Alles, was wir am Abend servieren, stammt aus eigener Herstellung – von der aufgeschlagenen
Butter über die Blutwürste bis zur Praline beim Dessert. Ein Beispiel für unsere Idee von Land-
Fotos: Achim Multhaupt; Illustration: Uli Knörzer

wirtschaft und den Umgang mit Nutztieren: Wenn wir Geflügel und Eier verarbeiten, achten wir
­darauf, dass das Produkt von Zweinutzungshühnern stammt. Bei dieser speziellen Rasse legen die
Hühner Eier und die Gockel werden nicht getötet, sondern gemästet. Ich rechne aus, wie viele
Lebensmittel wir benötigen, und vereinbare mit dem Landwirt eine garantierte ­Abnahme. Von
Anfang an wollte ich ein Arbeitgeber sein, wie ich ihn mir selbst wünschen würde: einer, der
Sachen anders macht, die oft schieflaufen in der Gastronomie. Eine Vier-Tage-Woche, wenige
Überstunden und eine faire Bezahlung gehören dazu. Mir ist wichtig, mich anderen gegenüber
so zu verhalten, wie ich selbst gern behandelt werden möchte: mit Respekt und auf Augenhöhe.«
»Wolfs Junge«, Zimmerstraße 30, 22085 Hamburg. wolfs-junge.de

28 S-Magazin / April 2024


AUSSER ATEM MEINUNGEN

War’s das mit nett? Ausgabe 21 Impressum

Wolfgang Höbel versucht, Schritt zu halten SPIEGEL-Verlag


Rudolf Augstein GmbH & Co.KG,
mit dem Lauf der Zeit
Ericusspitze 1,
20457 Hamburg,
Telefon 040 3007-2394

Herausgeber:
Rudolf Augstein (1923–2002)

Chefredakteur:
Dirk Kurbjuweit (V. i. S. d. P.)

Verantwortlich für Anzeigen:


»S wird immer besser. Eine Hannes Engler
Bereicherung zum SPIEGEL. Anzeigenobjektleitung:
Bitte mehr davon.« Doris Schmidt
Jens Meyer Objektleitung:
Manuel Wessinghage
»Ich habe jede Seite gelesen
Redaktion:
oder aufgehoben wie die brookmedia Management
coole Strecke mit den Fotos GmbH, Straßenbahnring 13,
der KI-Künstlerin. Bei der 20251 Hamburg
derzeitigen Flut an schlech- Redaktionsleitung:
Manche Menschen halten Freundlichkeit für Schwäche. Die eine oder ten Meldungen und furcht- Bianca Lang-Bognár,
baren Bildern hat es so Andreas Möller (Stv.)
andere Alpha-Person, die mir mal privat nahe war, gehörte dazu – und
ebenso einige meiner Chefs. Was die Chefs angeht, erinnere ich mich an gutgetan, etwas Aufbauen- Artdirektion:
eine dröhnende Führungskraft, die es mir und den anderen Leuten der des und Fortschrittliches zu Johannes Erler
Belegschaft ausdrücklich verbot, das Leitungspersonal zu grüßen. lesen. Euer Magazin zeigt, Grafik:
Auch untereinander sollten die Angestellten das Hallo-Sagen besser es gibt so viele gute Ideen, Bureau Johannes Erler
bleiben lassen, so die dringende Empfehlung. Der Chef – die Führungs- so viele tolle Menschen, die Autoren und Mitarbeiter
figur war eher nicht zufällig ein Mann – fand, das Grüßen sei sowohl bewegen. Den SPIEGEL dieser Ausgabe:
Zeitverschwendung als auch ein falsches Signal. »Die Umgangsformen habe ich erst danach gele- Christian Baulig,
sen. Leider war die Ausgabe Fabienna Chapot,
in diesem Haus sind mir zu nett«, sagte er einmal. »Sie zeigen: Die
Wolfgang Höbel,
Leute hier sind zu wenig gefordert und arbeiten nicht hart genug.« recht düster. Da greife ich
Oona Horx Strathern,
Die Unternehmensführung und das Beziehungsmanagement lieber zu Eurem Magazin.« Silvia Ihring,
von heute sind geprägt durch die erfreuliche Mode der Achtsamkeit. Shirin Hornecker Thomas Künzel (Lektorat),
Mitarbeitende, die einander zugewandt sind und sich mit Freund- Barbara Markert,
»Die Ausgabe hat mich tief Katharina Pfannkuch,
lichkeit begegnen, gelten ganz anders als früher als besonders leis-
bewegt, sie macht Mut, für Stephan Reinhardt,
tungsfähig. Führungskräfte, die Interesse an der Gemütslage ihrer Lesley Sevriens,
Untergebenen andeuten und Mitgefühl demonstrieren, können nach Veränderung einzustehen.« Dr. Susanne Weingarten
Ansicht von Psychologinnen und Psychologen prächtige Erträge zu- Antje Lehrke
Fotos Modestrecke:
stande bringen und souverän Krisen meistern. Eden Jetschmann
Selbst in privaten Fragen wie der Wahl des Sexualpartners gibt es »Fasziniert hat mich
Bildbearbeitung
Hinweise darauf, dass die alte Regel, nach der sich die Attraktivität von der Artikel über PIXACTLY media GmbH,
Menschen durch abweisendes und charakterlich fragwürdiges Verhalten KI. Ein Thema, Hamburg
steigern lässt und also Piesepampel und Schreckschrauben einen Bonus
das mich, Jahrgang Druck:
bei der Zuchtwahl haben, ihre Gültigkeit verliert. Manchmal staune appl druck GmbH, Wemding
ich, wie populär das »Seid nett zueinander«-Mantra der Wertschätzungs-
1947, bisher eher mit
coachs mittlerweile ist. Sogar einst auf ihre Ekelhaftigkeit ausnehmend Furcht als mit Zuver-
stolze Personengruppen des deutschen Alltagslebens, sagen wir Münch- sicht erfüllt hat. Was
ner Taxifahrer und Berliner S-Bahn-Kontrolleure, gehen mittlerweile daran liegt, dass ich
mit einem zementierten Lächeln im Gesicht ihrer Arbeit nach. Okay, so gut wie nichts da-
ein paar Ausnahmerüpel gibt es noch.
Im tiefsten Innern traue ich der Charmeoffensive trotzdem
von verstehe. Dank
nicht. Ich fürchte eher: Die netten Jahre sind schon wieder vorbei. Viel- Ihrer Berichte habe
leicht, weil trotz der Coachings in Achtsamkeit und Wertschätzung ich einen tieferen
Millionen von Menschen weiterhin Leitgestalten verehren, die gruselig Einblick gewonnen. RM0
Verachtung für ihre Untergebenen demonstrieren, wie es Anna Wintour, Die Fotos von Nina
www.blauer-engel.de/uz195
Dieses Druckerzeugnis ist mit dem

Heidi Klum oder Elon Musk tun. Vielleicht, weil massenhaft junge Frauen Blauen Engel ausgezeichnet.

Puri sind wunder-


und junge Männer, die sonst gern die Vokabel »nice« gebrauchen,
sich in sozialen Medien an den Auftritten von besonders grimmigen schön und ich fand
Rapstars und Macho-Hasspredigern weiden. Vielleicht, weil Politi- die Beschreibung des
kerinnen und Politiker aus der Bedrohung durch Kriege, Klimakrise Werdegangs eines
und Wirtschaftsnot inzwischen wieder die Behauptung ableiten, für solchen KI-Bildes
einen liebenswürdigen Ton seien die Zeiten nun mal zu rau.
in höchstem Maße
Der Dichter Bertolt Brecht, der am Ende seines Lebens über
die nicht eingelösten Heilsversprechen des Marxismus trauerte, faszinierend und
schrieb: »Ach, wir / Die wir den Boden bereiten wollen für Freund- sogar verständlich.«
Das nächste S-Magazin
lichkeit / Konnten selber nicht freundlich sein.« Klar ist es auch heute Dorothea Zimmermann
Ihnen hat das S-Magazin gefallen?
Arbeit, den Zustand der Welt zu verbessern. Wir sollten es mit Lie- Wir freuen uns über Ihre Zuschriften
benswürdigkeit und einem Lächeln im Gesicht tun – und Freundlich- »Das Format ist an s-magazin@spiegel.de.
keit nicht bloß als Businesstool oder Beziehungsstrategie, sondern schrecklich.« Unsere nächste Ausgabe erscheint
Esther Bangert im August 2024.
als Waffe einsetzen. S

S-Magazin / 01.24 29
DAS GEZEICHNETE INTERVIEW

FABIENNE CHAPOT
Wer in den Niederlanden ein Fest besucht, sieht in der Regel gleich mehrere ihrer farbenfrohen Kleider. Die
Feiern des Lebens sind ihr Laufsteg. Fabienne Chapot hat sich mit gut gelaunt femininen und erschwinglichen
Damen-Looks einen Namen in der Mode gemacht – ohne entsprechende Ausbildung. Nach ihrem Studium der
Kommunikationswissenschaften in ihrer Heimatstadt Amsterdam reiste sie nach Bali und gründete, inspiriert
vom Inselhandwerk, 2006 ihr eigenes Label. Zunächst entwarf sie Schmuck, fuhr mit dem Fahrrad Amsterda-
mer Händler ab. Heute verkauft die 42-jährige Halbfranzösin auf der ganzen Welt Kleidung für alle Körperty- Schreiben Sie an s-magazin@spiegel.de, wie
Ihnen die Ausgabe gefallen hat. Als Dankeschön
pen, vertreibt online auch »pre-loved pieces« und betreibt elf Boutiquen, eine davon in Deutschland. Sämtliche verlosen wir unter den Einsendern eines der
Prints sind von Hand gestaltet. Für die Antworten in diesem Interview griff die Chefin selbst zum Pinsel. Chapot! signierten Bilder von Fabienne Chapot

Ihre beste Inspiration? Welche Farbe hat das Glück? Welche Fähigkeit hätten Sie gern?

Was ist typisch holländisch an Ihnen? Wie sehen Sie sich selbst? Ihr größter Traum als Kind?
Die Idee der Rubrik stammt aus T, dem Style-Magazin der New York Times (»The Illustrated Interview«)

Was ist Ihr Lieblingskleidungsstück? Wovor haben Sie Angst? Wie sieht Ihre französische Seite aus?

30 S-Magazin / April 2024

FvB
Floris van Bommel
9th generation shoemaker
since 1734

Philipp Lahm
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Founder Philipp Lahm-Stiftung

Celia Šašić
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Die Idee der Rubrik stammt aus T, dem Style-Magazin der New York Times (»The Illustrated Interview«)

Der Verkaufserlös dieser Sonderedition kommt wohltätig der Kinder- und Jugendförderung der Philipp Lahm Stiftung zugute.
Floris van Bommel brandstores: Düsseldorf, Hamburg, Köln, Nürnberg, Stuttgart

FvB Philipp Lahm SS24_S-Magazin 1-1 (DE).indd 1 13-3-2024 09:00:43


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