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MILLIARDEN-ZOFF

Industriellen Thiele
Das toxische Erbe des
WUTREDE
Die verlorene Ehre
ostdeutscher Männer

Und wie andere es schaffen.


Wagenknechts
unheimliche Allianz

Warum die Deutschen so schwer vom Pkw loskommen.


FRIEDENSBEWEGUNG
DEUTSCHLAND
Nr. 9 | 25.2.2023
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HAUSMITTEILUNG

Verkehr  | Seite 8

Der Stau auf deutschen Straßen, überfüllte Busse und verspätete Bahnen
kosten Menschen den letzten Nerv und die Wirtschaft Milliarden. Ein acht-
köpfiges SPIEGEL -Team schaute sich an, wie ein Leben mit weniger Zeit
hinter dem Steuer aussehen könnte. Lukas Kissel besuchte eine Familie im
Peter Rigaud

Allgäu, die nicht ohne Auto kann, und eine in einer autofreien Siedlung in
Köln. Arvid Haitsch ließ sich in Paris erklären, wie Pkw aus der Metropole
vertrieben werden sollen. Simon Book lernte am Sendlinger Tor in Mün-
chen, wie irre kompliziert und teuer es ist, ein bestehendes Nahverkehrsnetz fit zu machen für die
Verkehrs- und Klimawende. »Wir bräuchten bundesweit Hunderte Projekte wie am Sendlinger
Tor«, sagt er. Doch das sei finanziell und logistisch kaum zu stemmen. Vor allem nicht mit der Ampel-
koalition in Berlin, die sich zerstritten hat über den richtigen Weg raus aus dem Verkehrschaos.
Titel-Autor Gerald Traufetter begleitet seit Beginn der Legislaturperiode Bundesverkehrsminister
Volker Wissing (FDP). Der ist ein treuer Diener seines Parteichefs, des Porsche-Fahrers Christian
Lindner. Aus persönlichen Gesprächen mit dem Minister weiß Traufetter: »Wissing macht sich
eigentlich nichts aus Autos, vor allem nicht den schnellen – wie dem, das Lindner fährt.«

Influencerinnen | Seite 44

Redakteurin Katrin Elger (l.) fielen auf Instagram in den vergan­

Oliver Dietze / DER SPIEGEL


genen Monaten immer wieder Accounts junger deutscher Mus­
li­minnen auf. Der von Grafikdesignerin Bahar Karbuz aus
­Hannover etwa, die eine Comicfigur mit Hijab entworfen hat.
Oder jener von »Namika der Schreiberin«, die sich in ihren
­Videos mit Extremisten anlegt. Sie sprach mit den beiden
­Frauen darüber, welche Chancen die sozialen Medien Musli-
minnen mit Kopftuch bieten. Bei Sportstudentin Seher Danisman bekam Elger eine Einführung Haarverlust?
ins Bouldern. Danisman ist 21 und Gründerin des Start-ups Fitspirated. Sie coacht muslimische
Frauen und hostet den Podcast »Fit Muslima«. »Die drei lassen sich weder von den Vorurteilen
gegenüber Frauen mit Kopftuch ausbremsen noch von den Anfeindungen aus manchen musli­
Jetzt spürbar
mischen Milieus«, sagt Elger.
reduzieren!
Ukraine  | Seite 54
Mit Coffein, Ginkgo und dem
Vor einem Jahr marschierten russische Truppen in die gesunden pH-Wert 5,5
Julia Kochetova / DER SPIEGEL

­Ukraine ein, auch die Stadt Irpin nordwestlich von Kiew


wurde heftig beschossen. Hunderte Häuser wurden bei ANTI-HAARVERLUST1 SHAMPOO
dem Angriff beschädigt, darunter ein Apartmentge­bäude
NHE-Pflegeformel regt die Durch-
mit rund 140 Menschen in der Universitätsstraße.
Die SPIEGEL -Reporter Christoph Scheuermann (l.) und blutung in der Kopfhaut an
Thore Schröder (M.) sprachen mit den Bewohnern, aktiviert die Haarwurzel
­zusammen mit den Mitarbeitern Halyna Rudyk (2. v. l.) und 90 % der Frauen und Männer
Fedir Petrov (2. v. r.) sowie der Fotografin Julia Kochetova (r.) porträtieren sie eine Gemeinschaft,
bestätigen: dichteres Haar²
die im Krieg um ihr Haus kämpft. Die Bewohner gewährten Zugang zur Chatgruppe des Hauses,
in der sie sich über Ängste und Hoffnungen austauschten. »Dieses Haus ist wie eine Ukraine in 1 erblich bedingt
Miniatur: In diesem Mikrokosmos zeigt sich, wie tiefgreifend der Krieg auf das Leben der Men- 2 Klinisch-dermatologische Anwendungsstudie an
40 Männer und Frauen mit erblich bedingtem
schen einwirkt«, sagt Scheuermann. Haarausfall über 6 Monate; Prof. P. Arenberger,
Hautklinik, 3. Med. Fak. Karls-Univ. Prag 2009

Ostdeutschland  | Seite 48

Der Thüringer Literaturwissenschaftler Dirk Oschmann ist sebamed Produkte sind in über 120 Studien
Doro Zinn / DER SPIEGEL

­überzeugt: Karriere machte er nur, weil er seine ostdeutsche dermatologisch-klinisch getestet.


­Herkunft verschwiegen hat. Doch damit ist Schluss. Zornig In Apotheken und Drogeriefachabteilungen.
und zugespitzt prangert Oschmann im SPIEGEL -Gespräch mit
Autorin Frauke Hunfeld Verleumdung, Verächtlichmachung
und Ungleich­behandlung von Menschen im Osten an, die die
westdeutsche Mehrheitsgesellschaft »NICHT WAHRHABEN
WILL«. Als Hunfeld bei der Freigabe seiner Zitate anmerkte, dass Wörter in Großbuchstaben
als Schreien verstanden werden können, antwortete er: »Das kann so bleiben.«
SEBAMED NIMMT IHRE
Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 3 HAUT IN SCHUTZ
INHALT TITEL

8 | Mobilität  Das Auto ist


beliebt wie nie – dabei müssten
die Deutschen dringend
DER SPIEGEL 77. Jahrgang | Heft 9 | 25.2.2023
runter vom Gas. Sollte man
sie umerziehen?

15 | Jahrzehntelang wurde bei der


Bahn nur gespart, jetzt sind
Schienen, Weichen und Stellwerke
in einem schlimmen Zustand

DEUTSCHLAND

6 | Leitartikel  Wie künstliche


Intelligenz zum Segen wird

18 | Grüne erhöhen Druck auf


Hans-Georg Maaßen / Streit um
Wasserverbrauch von geplanter
Chipfabrik / Russische Söldner
sollen auf die Sanktionsliste /
Die da unten

22 | Proteste  Die Petition


von Sahra Wagenknecht

Michael Kappeler / dpa


zum Ukrainekrieg unterstützen
Hunderttausende Deutsche.
Was treibt diese Leute an?

26 | Justiz  Der Völkerrechtler


Claus Kreß hält wenig von

Die Auto-Aggression der Idee der Bundesregierung


eines hybriden Tribunals für
­Wladimir Putin

MOBILITÄT  Die einen wollen alle Privat-Pkw aus den Städten verbannen, die anderen 29 | Ukrainekrieg  Die Indizien
können nicht darauf verzichten. Die einen fordern breitere Autobahnen, die für eine militärische Unter­
stützung Russlands durch China
anderen ein Tempolimit. Fans und Feinde des Automobils stehen sich zunehmend mehren sich
unversöhnlich gegenüber. Auch in der Ampelkoalition. | 8
30 | Koalition  Die Ampel­
partner streiten über den
Haushalt

34 | Demokratie  Besuch bei der


Berliner Wahlverliererin Franziska
Giffey, die einfach weitermacht

36 | Kommunen  Mike Josef


kam als Kind aus Syrien nach
Deutschland – jetzt soll er die SPD
in Frankfurt am Main retten
Chelsea Lauren / Shutterstock

38 | Schicksale  Warum
Birgit Püve / DER SPIEGEL

Missbrauchsopfer Andreas S.
sich vom Staat verraten fühlt
Mar vin Rupper t

44 | Islam  Der Erfolg


muslimischer Influencerinnen

Cate Blanchett Felix Lobrecht Kaja Kallas 47 | Mein Fall  Oberstaats­


Ihre Rolle als abstürzende Star- Der Comedian über die Härten Estlands Premierministerin anwältin Hildegard
dirigentin in »Tár« könnte seiner Kindheit in Neukölln hat früher als andere vor Putin Bäumler-Hösl über die Siemens-
ihr den Oscar einbringen. | 108 und Humor als Superkraft | 112 gewarnt. | 84 Korruptions­affäre

4 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023 Die Zusatzthemen vom Titelbild sind orange her vorgehoben.
DEBAT TE SPORT

48 | Ostdeutschland  SPIEGEL-­ 87 | Die erfolgreichsten ­Rad-


Gespräch mit dem Leipziger rennfahrer / Welche
­Germanisten Dirk Oschmann über Vorteile hat ein sechseckiger
Wut, Häme und Demokratie Tischtennisschläger?

88 | Tradition  Die Nordische


REPORTER Kombination steht vor dem
Olympia-Aus
52 | Familienalbum / Wie
erforscht man den Zufall? 90 | Missbrauch  Warum
es so schwer ist, Psychoterror
53 | Ein Zeugnis und seine im Sport zu unterbinden
Geschichte  Warum eine

ddp
Schülerin in Pinneberg plötzlich
verschwand WISSEN Lasst uns in Frieden
Millionen Deutsche sind gegen Waffenlieferungen an die Ukraine
54 | Ukraine  Porträt einer 92 | Gefährliche Medikamente /
und für Verhandlungen mit Putin. Formiert sich eine neue Bewegung?
Hausgemeinschaft in Analyse: Die wunderbare
Und wer steckt dahinter? | 22
Irpin, die zu Beginn des Kriegs Wirkung der Viertagewoche
von russischen Truppen
beschossen wurde 94 | Verhaltensforschung 
SPIEGEL- Gespräch mit dem Bio-
60 | Kolumne  Leitkultur logen Lars Chittka über Bewusst-
sein und Gefühle von Bienen

WIRTSCHAF T 98 | Archäologie  Warum

David Dare Parker / The New York Times / Redux / lai


Oberschichtkinder in der
62 | Behörden informieren Frühen Neuzeit womöglich
Unternehmen über Recherchen / besonders oft starben
Nur wenig Investitionen in KI
100 | Forschung  Ist HIV
64 | Dynastien  Um das bald heilbar?
Erbe des Unternehmers Heinz
Hermann Thiele ist ein
erbitterter Streit entbrannt KULTUR

70 | Energie  SPIEGEL- Gespräch 102 | Klimawandel und


mit dem Milliardär Andrew Kunst in Paris / Christoph Waltz
­Forrest, der mit grünem Wasserstoff als sadistischer Chef Der Wasserstoffbaron
die Industrie revolutionieren will Mit dem schmutzigen Abbau von Eisenerz wurde Andrew Forrest
104 | Musik  Die Ballermann- zum Multimilliardär. Nun will der Australier den ­Planeten mit grüner
73 | Analyse  Warum Commerz- Ikone Ikke Hüftgold Energie retten. | 70
bank und Co. gerade auf dem Weg zum ESC
vor Kraft kaum laufen können
107 | Literatur  Ein Vater erklärt,
warum weichgespülte
AUSLAND Kinder­bücher langweilig sind

74 | Irans Geiseldiplomatie / 108 | Kino  Todd Fields


Erdoğans Krisenmanagement kontroverses Dirigentinnen-
drama »Tár«
76 | Überwachung  Im Umfeld
von Julian Assange häufen 110 | Essay  Herfried Münkler
sich Einbrüche und Spähangriffe über den Erschöpfungskrieg
Jochen Eckel / SZ Photo

80 | Russland  Kremlkennerin 112 | Karrieren  SPIEGEL-


Catherine Belton über einen Gespräch mit dem
möglichen Putsch gegen Putin Comedian Felix Lobrecht

82 | Peru  Was steckt hinter 115 | Ausstellungskritik


den Unruhen? Die Guerrilla Girls kämpfen für
Diversität in der Kunst Zusammen oder getrennt?
84 | Estland  Wie Premierminis- SPIEGEL-TV-Programm | 41 Bestseller | 106 Die Koalitionäre streiten über den Haushalt von 2024. Kann Finanz­
Impressum, Leserservice | 116
terin Kaja Kallas zu einer Nachrufe | 117 Personalien | 118
minister Lindner die Schuldenbremse einhalten und ohne
­Wortführerin in der EU aufstieg Briefe | 120  Letzte Seite | 122 ­Steuererhöhung auskommen? Der Kanzler springt ihm intern bei. | 30

Titelfotos [M]: Olaf Itrich / AUTO BILD; Getty Images (10) Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 5
Was draus wird, entscheiden wir
LEITARTIKEL  Künstliche Intelligenz ist kein Grund zur Panik. Sie kann uns zu besseren Menschen machen.

Die andere Frage lautet: Ist es überhaupt richtig, den


Menschen vor allem über Intelligenz zu definieren? Oder
haben wir nun die Chance, neu über uns nachzudenken?
Im Grundgesetz heißt es nicht: Die Intelligenz des
Menschen ist unantastbar. Sondern: die Würde. Diese
leitet sich nicht aus Fähigkeiten ab, sondern daraus, dass
der Mensch aus sich selbst heraus Sinn und Zweck ist. Er
hat einen Willen (wie frei, ist umstritten, aber immerhin).
Er kann Verantwortung übernehmen.
KI hat keine Würde, keinen Willen, keine Verantwor-
tung. Sie empfindet keinen Stolz, wenn sie einen Doktor-
titel in Physik erwirbt, und schämt sich nicht, wenn sie
ein Volk überwacht. KI-gesteuerten Drohnen ist es egal,
ob sie einen Kriegsverbrecher jagen oder ein Kind.
Der Mensch kann leiden. KI kann das nicht. Der in-
telligenteste Mensch ist da dem dümmsten Tier näher als
selimaksan / Getty Images der klügsten Maschine – was auf andere Weise nachdenk-
lich machen kann. Einen Menschen kann man töten, be-
leidigen, verletzen und ihn sozial verkümmern lassen. KI
nicht. Wenn man sie ausschaltet, ist sie einfach weg.
Banal? Keineswegs. Eine Maschine ist eine Maschine
ist eine Maschine – und es ist immer der Mensch, der

A
Schüler mit ls der beste Schachspieler der Welt zum ersten Mal entscheidet, ob daraus etwas Großartiges wird oder etwas
Roboterhand von einem Computer besiegt wurde, tauchte die Furchtbares. Deshalb wird der Mensch durch die Fort-
bange Frage auf: Was macht den Menschen noch schritte der KI keineswegs machtlos und unwichtig, son-
aus, wenn eine Maschine schlauer ist? 1997 war das, als dern, im Gegenteil, mächtiger und wichtiger. Er muss
Garri Kasparow gegen die Software DeepBlue verlor. lernen, mit dieser Macht umzugehen, ähnlich wie er ler-
Heute würde künstliche Intelligenz (KI) über Schach nen musste, die Verantwortung zu schultern, die auf der
lachen, wenn sie lachen könnte. Sie kann das Spiel in Menschheit lastet, seitdem Atomwaffen einsatzfähig sind.
kürzester Zeit lernen – und ist besser als jeder Mensch. Optimisten sagen, KI nimmt uns die Arbeit ab und gibt
Vor ein paar Monaten hat das Unternehmen OpenAI sein uns Freiraum, uns um die wirklich wichtigen Aufgaben
Programm ChatGPT öffentlich zugänglich gemacht. Es zu kümmern. Sie kann unglaubliche Datenmengen ver-
schreibt eigenständig Texte, nicht bloß zusammenkopiert, dauen und vielleicht kluge Lösungen für komplexe Pro-
sondern selbstständig generiert – »erdacht«, könnte man bleme finden. Was Pessimisten sagen, kann man sich
fast sagen, wenn das nicht zu menschlich klänge. denken. Und natürlich ist die Bedrohung enorm.
Was schon lange zu ahnen ist, kann bei ChatGPT jeder Aber wer entscheidet, ob am Ende mehr Gutes heraus-
sehen: Künstliche Intelligenz wird den Menschen in den kommt? Es werden nicht Maschinen sein, sondern Men-
nächsten Jahren in etlichen kreativen Disziplinen gefähr- schen – allerdings nur sehr wenige Menschen. Digita­
lich nah kommen. Manche behaupten, der Siegeszug der lisierung begünstigt Machtkonzentration. Wenn nicht
KI werde die Welt ähnlich stark verändern, wie es das alles täuscht, wird diese Dynamik im Zeitalter der künst-
Internet getan hat. lichen Intelligenz zunehmen – und es könnten neue Tech­
Sofort kommen die Angstszenarien wieder. Dem Men- giganten entstehen, gegen die aktuelle Konzerne wie
schen gehe die Arbeit aus. Er werde von der KI ersetzt, Apple, Google und Microsoft mickrig erscheinen.
sei der Verlierer im Wettlauf um Kreativität und Klugheit. Wird es möglich sein, KI demokratisch zu kontrollie-
Stimmt das? ren? Wird sie sich regulieren lassen? Werden europäische
Die eine Frage ist, inwieweit das, was mit KI bezeich- Unternehmen überhaupt mitmischen in diesem Markt,
net wird, mit menschlicher Intelligenz überhaupt ver- den bislang die USA und China dominieren?
gleichbar ist. Tatsächlich gibt es enorme Unterschiede. Das Erste, was nötig wäre, um hier mitentscheiden zu
Wenn ein Baby eine Sprache lernt, lernt es auch etwas können: nicht am Rand stehen und nörgeln, sondern mit-
über die Welt, in der es lebt. KI lernt Sprache nur als machen, mitspielen, ausprobieren. Deutschland und Euro-
statistische Wortproduktion. Das führt schnell zu unan- pa müssen sich in diesen neuen Markt stürzen, mit Geld
Der Mensch gemessener Kommunikation, wie zuletzt der launische und guten Leuten – und der Zuversicht, dass dabei große,
kann leiden, ChatGPT-Ableger in Microsofts Suchmaschine Bing be- tolle Dinge entstehen können.
wies, der etwa einem Reporter der »New York Times« Mehr Enthusiasmus als bislang wäre schön. Der Ärger,
KI kann nahelegte, seine Frau zu verlassen. Microsoft limitierte die Ängste und der Frust kommen zuverlässig von allein.
das nicht. etwas später die Verwendung des Bots. Markus Brauck n

6 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


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TITEL

Vom Fetisch zum Feindbild


MOBILITÄT  Der Kulturkampf um die Zukunft des Autos teilt die Republik in zwei Lager.
Die einen verteufeln den Pkw als Dreckschleuder, die anderen stilisieren
ihn zur Ikone der Freiheit. Der Zwist könnte sogar die Ampelkoalition sprengen.

Paul Langrock / laif

Berliner Stadtring

8 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


TITEL

D
Nichts kann das Auto aufhalten. Nicht ein- mehr beim Auto geben muss. Um die Klima-
mal der wachsende Teil der im Stau verplem- ziele zu erreichen, heißt es in einer gerade
perten Lebenszeit. In Ballungsräumen ste- veröffentlichten Studie der Agora Verkehrs-
cken Berufspendler auf das Jahr zusammen- wende, müsste der ÖPNV-Anteil an der
gerechnet zwei, in Berlin und München rund ­Verkehrsleistung von 15 Prozent vor Coro-
drei Tage fest. Sie sitzen in Fahrzeugen, die na auf 24 Prozent 2030 und gar 37 Prozent
immer größer und schwerer werden, was die 2045 ansteigen.
ohnehin maroden Straßen nur noch mehr zer- Doch wie immer, wenn es ums Auto geht,
stört. 830 000 Kilometer Straße gibt es in wird es ideologisch, zerfällt das Land in zwei
Die Deutschen sind nicht nur ein Volk, das Deutschland, davon 13 155 Kilometer Auto- Lager. Die einen verteufeln den Pkw als
Autos liebt, vom Autobau lebt und unendlich bahn – ein gigantisches Netz, eine riesige Flä- Dreckschleuder, die anderen stilisieren ihn
viel Zeit in Autos verbringt. Sie besitzen auch che, doch unter der enormen Belastung schon zur Ikone der Freiheit. Die einen leben eher
wahnsinnig viele. jetzt vielerorts ein Sanierungsfall. in den Zentren der Großstädte, die anderen
60 Millionen Fahrzeuge sind hierzulande Die Bahn wäre gern eine Alternative – eher an der Peripherie oder auf dem Land.
zugelassen, davon 48,7 Millionen Pkw. Ein aber sie ist schon jetzt überlastet. Auf 38 400 Bei der Wahl in Berlin mündete diese Lager-
Rekord. Innerhalb von 15 Jahren stieg die Kilometer ziehen sich Gleise durch das Land, bildung in einem zweifarbigen Bild: Die In-
Zahl um 20 Prozent. Rechnet man pro Pkw 50 000 Züge verkehren darauf täglich, be- nenstädter wählten grün, die Außenbezirke
vier Sitze, könnte man die komplette Bevöl- fördern 4,8 Millionen Passagiere sowie eine schwarz. Lastenrad kontra Diesel.
kerung jederzeit doppelt durch die Gegend Million Tonnen Güter. Auch hier ist die Ten- In der Hauptstadt lässt sich besonders gut
kutschieren. denz stark steigend. Auch hier droht der Kol- studieren, welches Spaltpotenzial das Auto
Rund 670 Milliarden Kilometer legt diese laps. Die Pünktlichkeit der DB sank im ver- mittlerweile hat. Auf der Berliner Friedrich-
Fahrzeugflotte pro Jahr zurück, eine Strecke gangenen Jahr auf katastrophale 62 Prozent, straße gerieten Autohasser und Autofreaks
galaktischen Ausmaßes, 5000-mal so lang wie noch ein Rekord, diesmal ein n ­ egativer. In aneinander wie störrische Kinder bei einem
die Entfernung der Erde zur Sonne. Nur im manchen Regionen ist jeder zweite Zug mehr Sandkastenspiel: Als die bisherige grüne Ver-
ersten Corona-Lockdown 2020 saßen die als sechs Minuten verspätet. kehrssenatorin Bettina Jarasch einen Teil der
Deutschen weniger am Steuer. Schon im Jahr Hinter allen diesen Zahlen verbergen sich Strecke in einem Verkehrsversuch während
darauf drehte sich der Trend: Etliche Bus- nicht nur Frust und Stress, sondern auch im- der Pandemie für den Autoverkehr sperrte,
und Bahnfahrer stiegen auf den eigenen Pkw mense Klimaschäden. Der Verkehr trägt mit erzwangen erboste Anwohner und Geschäfts-
um, entflohen dem Ansteckungsrisiko Sitz- 147 Millionen Tonnen Treibhausgasen einen leute vor Gericht die Wiederöffnung – um
nachbar. Anteil von fast 20 Prozent an Deutschlands kurz darauf von der Senatorin zu lernen, dass
Die Industrie freut es. Es werde in Zukunft Kohlendioxidausstoß. Seit Jahren ändert sich der Verkehrsversuch nun zwar ende, ihr Stra-
»nicht weniger, sondern mehr individuelle Mo- daran kaum etwas. Eigentlich müssten die ßenabschnitt aber stattdessen endgültig zur
bilität« geben, jubelte Hildegard Müller, Prä- Emissionen sinken, um sieben Millionen Ton- Fußgängerzone werde.
sidentin des Verbands der Automobilindustrie nen jährlich, um bis 2030 auf 85 Millionen Im vergangenen Spätsommer wurde eine
(VDA) zu Beginn der Pandemie. Die Progno- Tonnen zu fallen. Erreicht wird gerade mal 220 Jahre alte Eiche in Mitte überregional
sen der Verkehrsforscher geben ihr recht. Bis ein Bruchteil davon. berühmt. Der Baum in einem Innenhof sollte
2030 sollen im Vergleich zu 2010 noch einmal Die Schwierigkeit besteht darin, dass einer Tiefgarage weichen. Was das zuständi-
zehn Prozent obendrauf kommen. neben dem ökologischen zugleich ein öko- ge Amt routiniert durchgewinkt hatte, sahen
Das eigene Auto ist den Deutschen heilig. nomisches Problem gelöst werden muss. Zwi- Anwohner und Umweltaktivisten als Frevel,
Ingenieurskult, Symbol des Wirtschaftswun- schen 80 und 100 Milliarden Euro, schätzen kaum zu vereinbaren mit dem Anspruch, eine
ders, die Autohersteller als letzte Bastion hie- Experten, verliert die Volkswirtschaft jährlich klimagerechtere, lebenswerte, staufreie Stadt
siger Industriekonzerne auf Weltniveau, nicht durch den Stillstand im Verkehr. zu schaffen. »Baum gegen Benz« titelte der
zuletzt auch der eigentümliche Stolz auf die Nirgends ist der Bedarf, das Gemeinwesen »Tagesspiegel« – und traf damit den Sound
Autobahnen – die Gründe sind bekannt. zu modernisieren, größer. Und längst ist klar, der Stadt.
Allem politischen, klimatischen, zeitgeis- dass es dafür einen Abschied vom Immer- Passend dazu trägt die Ampelkoalition
tigen Wandel zum Trotz: Die Zahl der hier- gerade einen Kulturkampf um die Autobah-
zulande zugelassenen Autos wächst weiterhin nen aus. »86 Prozent aller Pkw-Halter in
schneller als die Bevölkerung, 580 Autos Deutschland macht Autofahren Spaß«, heißt
­kamen zuletzt auf 1000 Bundesbürger. Wäh- es aus dem FDP-geführten Verkehrsministe-
rend von Barcelona bis New York Parkbuch- rium, »und das ist gut so.« Olaf Scholz reih-
ten zurückgebaut werden, will man sie hier- te sich ein in die lange Riege der deutschen
zulande noch breiter werden lassen – die Autokanzler, als er Mitte Februar die welt-
immer beliebteren SUVs brauchen einfach größte VW-Fabrik in Wolfsburg besuchte –
Platz. und den Konzern als Vorbild für das »Mo-
Die Bevölkerung stimmt mit dem Gaspedal dell  Deutschland« rühmte. Wer hingegen
ab: 69 Prozent der Deutschen halten ihren lieber Fahrrad fährt wie die Grünenpolitike-
Pkw für wichtig bis unverzichtbar, junge Men- rin Julia Willie Hamburg, die jüngst in den
schen gar für wichtiger denn je. Auch oder VW-Aufsichtsrat berufen wurde, wird von
gerade weil sie in der Stadt leben und die der Boulevardpresse als »Auto-Hasserin«
überfüllten, vollgeschnupften, verspäteten ­beschimpft.
Busse und U-Bahnen satthaben. Die FDP will mehr Asphalt für noch mehr
Jeder vierte junge Städter zwischen 18 und freie Fahrt, die Grünen fordern ein Tempo-
34 Jahren gibt mittlerweile an, auf sein Auto limit und Schluss mit neuen Autobahnen.
angewiesen zu sein. Und während Fridays for Beide Parteien haben ihre Klientel fest im
Future weiter für eine CO2-freie Mobili- Blick. Frontfiguren des Disputs sind Bundes-
Daniel Hofer

tät  demonstrieren, legen mehr Menschen verkehrsminister Volker Wissing (FDP) und
denn je die Führerscheinprüfung ab: 3,6 Mil- Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck
lionen waren es im vergangenen Jahr. Rekord. Minister Wissing (Grüne). Anfang März soll der Streit angeb-

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 9


TITEL

Florian Generotzky / DER SPIEGEL

Maria Feck / DER SPIEGEL


»Ich habe ja ein grünes Gewissen, »Das Auto ist für viele Städter
aber so ist es utopisch, auf ein Auto zu verzichten.« zur Last geworden.«
Eva-Maria Hartmann, Krugzell Robert Henrich, Ex-Daimler-Manager

lich beigelegt werden, in einem erneuten Ko- rück. Auch das Deutschlandticket für 49 Euro Die Hartmanns lieben das Leben auf dem
alitionsausschuss. sorgt am Ende für »induzierten Verkehr«, für Land. Hier gebe es gute Jobs, und trotzdem
Der unversöhnliche Briefwechsel zwischen Fahrten, die durch das Angebot überhaupt könne man nach Feierabend raus auf eine
Habeck und Finanzminister Christian Lindner erst entstehen. schnelle Bergtour. Die etwa zehn Kilometer
(FDP) zur Etatplanung lässt indes kaum An- Solange Verkehrsplaner und -politiker also von Krugzell nach Kempten radelt Sebastian
näherung erwarten. Zumal sich in beiden La- hier einen Stau beseitigen und dort eine neue Hartmann fast an jedem Arbeitstag, bei Son-
gern, Lastenrad- wie Autofahrer, mit der Ver- U-Bahn bauen lassen, ändert sich an dem ne, bei Regen, bei leichtem Schnee. Eva-
ächtlichmachung des jeweils anderen eben Prinzip Immer-mehr nichts. Nur: Wer traut Maria Hartmann hat eine Teilzeitstelle und
verlässlich Stimmung machen lässt. sich, dieses tradierte System infrage zu stellen? fährt nur dreimal pro Woche in die Stadt. Mit
Lange Zeit wurde Verkehrspolitik nach Bislang, so die DFG-Forscher, sei noch jeder dem Bus? Da winken beide ab. Der fahre viel
dem Prinzip Karotte gemacht. Es brauche nur Verkehrsminister vor wirksamen »Push«- zu selten, zu manchen Tageszeiten hat der
eine »Ausweitung und Verbesserung der An- Maßnahmen zurückgeschreckt, weil »ange- Fahrplan fast zweistündige Lücken.
gebotsqualität«, um die Menschen zum Um- nommen wird, dass sie in weiten Teilen der »Der ÖPNV ist derzeit relativ teuer, un-
stieg vom eigenen Pkw auf öffentliche Ver- Bevölkerung unbeliebt sind und womöglich flexibel und lückenhaft«, sagt Sebastian Hart-
kehrsmittel zu bewegen, den sogenannten eine Wiederwahl gefährden«. mann. »Ich habe ja ein grünes Gewissen, aber
Pull-Faktor, der den Kunden anzieht. Dahin- Push und Pull. Drücken und Ziehen. Zu- so ist es utopisch, auf ein Auto zu verzichten.«
ter stand die Idee, dass sich das Gute praktisch ckerbrot und Peitsche. Die über allem schwe- Also steht vor dem Haus doch ein Auto, ein
von allein durchsetzt, wenn man es nur bende Frage lautet: Lässt sich ein Volk, dem Škoda Yeti, angeschafft, als das Kind kam.
hübsch genug anpreist. das Auto quasi per Erbgut mit in die Wiege Das Allgäu ist kein Extrembeispiel, wenn es
Mittlerweile herrscht in der Fachwelt Kon- gelegt wurde, vom eigenen Kfz überhaupt um schlechte Nahverkehrsanbindung geht.
sens, dass Attraktivität allein nicht mehr ge- entwöhnen? Und wenn ja, wie? Die Region ist ländlich, aber strukturstark.
nügt. Nur mit zusätzlichem Druck, dem so- Und trotzdem funktioniere es nicht ohne
genannten Push-Faktor, lassen sich die Leute Das Auto auf dem Land Auto, sagt Eva-Maria Hartmann, »wenn man
aus ihrem alten Trott schubsen. Hohe Park- Ohne Auto leben? Schön, wenn man es kann, nicht als Einsiedler leben will«.
gebühren in der Innenstadt sind ein solcher sagen viele. In der Großstadt vielleicht, als Es sind diese Beispiele, die auch Verkehrs-
Push-Faktor, sie machen individuelle Mobili- Single. Aber auf dem Land doch nicht, nicht minister Wissing gern bemüht. Es ist sein Ar-
tät unbequem und lästig. Um den Infarkt ab- als Familie! gument gegen weniger Straßen, weniger Park-
zuwenden, müsse den Menschen das Auto- Familien wie die Hartmanns: Nach dem plätze, gegen Tempolimits: Menschen wie die
fahren gründlich verleidet werden, schreiben Studium zogen sie in seine Heimat, das All- Hartmanns seien aufs Auto angewiesen. Aller­
die Autoren einer aktuellen Studie der Deut- gäu, er kommt aus der 2000-Einwohner-Ort- dings kommen die zu völlig anderen Schluss-
schen Forschungsgemeinschaft (DFG). schaft Krugzell, seine Eltern wohnen hier. folgerungen als Wissing. Sie versuchen, das
Denn insgesamt steigt die Mobilität weiter Sie kauften ein Einfamilienhaus, begannen Auto, sooft es geht, stehenzulassen.
an. Jede gut gemeinte Tat – jedes neue öffent- beide einen Job bei einer Energieagentur in Wenn Eva-Maria Hartmann zur Arbeit
liche Verkehrsangebot, jeder Stau, der be- Kempten und wurden wie 14 Millionen Deut- fährt, dann meist per Mitfahrgelegenheit.
seitigt wird, oder Kosten, die sinken –, alles sche zu Pendlern. 20 Prozent des Verkehrs Dazu nutzt sie die Plattform fahrmob.eco, ein
verursacht mehr Verkehr. Sinkt die Fahrtzeit in Deutschland gehen allein auf das Konto Portal, das Fahrende und Mitfahrende in der
in die Innenstädte, ziehen die Pendler immer ­dieser Spezies, des Albtraums der Verkehrs- Region vermittelt. Die »lokale Mitfahrzen­
weiter aufs Land, legen längere Strecken zu- planer. trale« entstand mit privaten und öffent­

10 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


TITEL

Autoland Deutschland Emissionen im Verkehrssektor in Deutsch-


land, Ziele laut Klimaschutzgesetz und
Prognosen anhand der aktuellen Maßnahmen,
Im Stau verbrachte in Millionen Tonnen CO2-Äquivalenten
Stunden je Fahrer im Flensburg
Jahr 2022, pro Stadt 32 Stunden

Prognosen
20 60
150 einschließlich
40 10 Sofortprogramm
60 historische Verkehr
Emissionen
Autobahnen
100
Zielpfad nach
Klimaschutzgesetz

Hamburg Berlin
56 Stunden 71 Stunden 50

Zielpfad
bis 2045
0

2000 2010 2020 2030 2040


Leipzig

670
46 Stunden

Köln
Mrd. Kilometer
38 Stunden legte die deutsche Fahrzeug-
flotte im Jahr 2021 innerhalb
Dresden der Republik zurück.
Aachen
41 Stunden
38 Stunden
Der Verkehrssektor ver-
ursacht fast 20 Prozent der
Darmstadt
47 Stunden Emissionen Deutschlands.
Abschnitte und Bauwerke der deutschen
Stuttgart Fernstraßen in schlechtem oder sehr
37 Stunden schlechtem Zustand, Anteil in Prozent

Autobahnen
17,1
Bundesstraßen
München 33,8
Freiburg 74 Stunden
43 Stunden Brücken
11,5

Mittlere tägliche Fahr- und Standzeiten Beförderungskapazität nach Verkehrsträger, Brücken nach Baujahren,
von Pkw in Deutschland, in Prozent* Personen pro Stunde und Fahrbahn** Fläche in Millionen Quadratmetern

Fahrt 3 % Parken an sonstigen Pkw-Mischverkehr Bundesstraßen Autobahnen


Standorten, inkl. 1500 bis 2000 8
Einkaufen Bus
5%
5000

46 Minuten Fahrrad 6
12.000
werden Autos
im Durchschnitt zu Fuß
4
täglich gefahren. 15.000
Straßenbahn
Parken Parken bei 18.000 bis 20.000
zu Hause der Arbeit 2
84 % 7% Bahn 40.000
bis
* Abweichung von 100 Prozent rundungsbedingt
** 3,5 Meter Breite
60.000 0
S Quellen: Inrix, Mobilität in Deutschland 2017, TUMI, Umweltbundesamt, Agora Energiewende, Expertenrat für Klimafragen, Bast;
š

Zustandserfassung aller deutschen Autobahnen von 2017/18, Bundesstraßen 2019/20, Brücken 2022; mittlerweile können
einzelne Fahrstreifen in einem anderen Zustand sein 1940 1960 1980 2000 2020

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 11


TITEL

Marktreife zu entwickeln«. Während


die Fahrdienste immer nur Verluste
anhäuften, garantiert der Verkauf von
Limousinen und SUV bis heute hohe
Margen. Entsprechend konzentrieren
sich Konzerne wie Mercedes-Benz
wieder ganz auf den Verkauf von
­Luxuskarossen.
Zu besichtigen ist das nirgendwo
so eindrucksvoll wie im Design Cen-
ter von Mercedes-Benz in Sindelfin-
gen. Einmal in der Woche besucht der
Vorstand die »heilige Halle«, wie sie
den futuristischen Präsentationsraum
bei Mercedes ehrfurchtsvoll nennen.

Florian Generotzky / DER SPIEGEL


Dann werden die Prototypen der
Sandra Stein / DER SPIEGEL
nächsten Modellgeneration in den mit
grauem Teppichboden ausgelegten,
fußballfeldgroßen Raum gefahren
und vom Designchef Gorden Wage­
ner vorgeführt.
Der schwärmt dabei von »sinn­
licher Reinheit«, »Schönheit«, »Sex-
Appeal« und der Erotik des Namens
»Ich gewinne Freiheit« ohne »Hier herrscht Mercedes. Zuletzt hat Wagener hier
eigenen Pkw. jeden Tag Stau.« die neuen Modelle für die Jahre 2023
und 2024 präsentiert, von der auf-
Inga Feuser, Köln-Nippes Ingo Wortmann, Münchner Verkehrsbetriebe
gemotzten E-Klasse bis zum Maybach
SL. Größer, schneller, luxuriöser und
lichen Fördergeldern, sie war aber nen mit Mercedes-Stern zu verkau- vor allem teurer, lautet die Devise.
keine Idee des Landkreises oder eines fen, boten sie ihren Kunden einen Konzernchef Ola Källenius will Mer-
Unternehmens, sondern eines Bür- Fuhrpark mit Hunderten Fahrzeugen, cedes zur wertvollsten Luxusmarke
gers: Helmut Scharpf, ehemaliger buchbar in Städten wie Ulm gegen der Welt machen.
Lehrer und Kämpfer für die Verkehrs- ein geringes Entgelt. »Das eigene Källenius verfolgt diesen Weg am
wende, der von sich sagt, er habe Auto ist für viele Städter bereits zur konsequentesten. Aber BMW und
­viele Ideen, wenn der Tag lang ist. Last geworden«, sagte Henrich da- Audi bewegen sich in die gleiche
Vor Jahren setzte er sich bereits mals – und klang fast wie ein Green- ­Richtung: Sie setzen auf luxuriösen
dafür ein, zwei Carsharing-Autos in peace-Aktivist. Indivi­dualverkehr für jene, die es sich
sein Heimatdorf Ottobeuren zu ho- Seine Worte entsprachen der da- leisten können. Alternative Mobili-
len – und habe sich damit »eine blu- maligen Konzernstrategie: Der Auto- tätskonzepte haben die Premiumher-
tige Nase« geholt, wie er sagt. »Wenn bauer wollte sich zu einem Mobili- steller nicht mehr im Angebot. Nicht
Sie Flyer an jeden Haushalt verteilen tätskonzern wandeln. Er wollte Ver- mal mehr als Idee.
und keine einzige Rückmeldung be- kehrsprobleme lösen, statt die Städte Als einziger deutscher Autoher-
kommen, dann ist das frustrierend«, weiter zu verstopfen. steller bietet VW noch einen eigenen
sagt er. Erst nach persönlicher An- Später tat sich Daimler sogar mit Fahrdienst an, die Sammel-Shuttles
sprache hätten manche das Angebot dem Erzrivalen BMW zusammen, um Volk der der Tochtermarke Moia rollen bislang
ausprobiert. Denn wozu ein Auto »einen neuen globalen Player« für Pendler allerdings nur durch Hannover und
teilen? In der Region herrsche »Voll- digitale Fahrdienste zu erschaffen. Hamburg. Und selbst dort, im eng be-
motorisierung«. Zwei der erfolgreichsten Premium- Entfernung der grenzten Einzugsgebiet, hat sich der
Eigentlich wollten sich die deut- hersteller der Welt, so die Botschaft, Arbeitsstätte von Service bisher nicht durchgesetzt,
schen Autokonzerne um Leute wie würden gemeinsam die Zukunft Berufstätigen zu sein Anteil am Gesamtverkehr liegt
die Hartmanns kümmern. Ihnen nicht der Mobilität gestalten, in der Autos ihrem Wohnort 2020, bei homöopathischen 0,1 Prozent.
mehr nur Autos verkaufen, sondern zunehmend geteilt und gemietet in Prozent Ein wesentlicher Grund: Moia ist
Mobilitätsdienstleistungen. Die Her- ­werden. 50 km und mehr 5 % zwar billiger als ein Taxi, aber erheb-
steller versprachen Carsharing und Heute ist von dieser Vision wenig lich teurer als der ÖPNV. Kunden
Shuttledienste, um sie abzuholen und geblieben. Mercedes-Benz und BMW wechselnde 25 bis nutzen den Dienst vorwiegend am
in die Stadt, zum Arzt, zum nächsten haben ihren Service ShareNow an den Arbeitsstätte unter Wochenende und nachts, wenn we-
2% 50 km
Bahnhof zu bringen. Ein Auto nicht europäisch-amerikanischen Autokon- 14 % niger Busse und Bahnen unterwegs
mehr besitzen, sondern benutzen, so zern Stellantis (Fiat, Chrysler) ver- sind.
lautete das Versprechen, von dem sich kauft. Der hat dem einst so vielver- Aktuell sind in Hamburg mehr als
auch Verkehrsforscher eine neue Ära sprechenden Start-up erst mal einen 800 000 Autos zugelassen, ein Plus
der Mobilität erhofften. Sparkurs verordnet, Personalabbau von elf Prozent gegenüber 2012. Eine
Robert Henrich ist der geistige Va- inklusive. Entwicklung, die fast schon irrwitzig
ter der Mobilitätsdienste in Deutsch- In den Vorständen der Autoher- erscheint angesichts von Stauproble-
land. 2008 baute er Car2go, den Car- steller, sagt Henrich, habe sich »bisher unter 10 bis men und Klimadebatte: »Das Wachs-
sharing-Service des Daimler-Kon- kein strategischer Wille herausgebil- 10 km unter 25 km tum des Pkw-Bestands übertrifft
50 % 29 %
zerns, auf. Für die Stuttgarter war es det, Mobilitätsdienstleistungen be- deutlich das Wachstum der Bevölke-
eine Revolution: Statt nur Limousi- harrlich und konsequent bis zur S Quelle: Mikrozensus rung«, sagt Henrich, der nach seiner


12 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


TITEL

Daimler-Zeit zu Moia wechselte und dort bis Und so altern Spannbetonbauwerke nicht
Juli 2022 Chef war. Schneller, größer, schwerer kontinuierlich, sondern versagen schlagartig,
Doch ohne Mobilitätsdienste wie den von weil sie sogenannte Spannungskorrosion er-
Moia wird die Verkehrswende kaum gelingen. Entwicklung des VW Golf vom Modell 1 (1974) leiden. Diese heimtückische physikalische
zum Modell 8 (2019)*
Insbesondere das sogenannte Ridepooling – Eigenschaft macht es noch dringlicher, die
gemeinsame Fahrten mehrerer Kunden – + 9 cm Höhe Bauwerke zu sanieren oder ganz zu ersetzen.
wäre geeignet, den Verkehr erheblich zu ent- + 56 cm Länge 800 bis 900 Brücken in Deutschland müss-
lasten. Zugleich würde der ÖPNV gestärkt, + 484 kg Gewicht ten eigentlich bald erneuert werden. Aber pro
weil der individuell genutzte Pkw an Bedeu- + 19 cm Breite Jahr schaffen Verwaltung, Ingenieure und
tung verliert. Das ergab jedenfalls eine Studie + 61 PS Leistung Baufirmen nur gut 200. Curbach und seine
des Instituts für Verkehrswesen am Karlsruher Leute haben deshalb ein Verfahren erprobt,
Institut für Technologie (KIT). Per App buch- das die Sanierung beschleunigen soll. Sie ver-
bare Kleinbusse wären sogar geeignet, die Durchschnittliche Merkmale von Autos, die wenden eine Matte von Carbonfasern, die
Pkw-Abhängigkeit der Landbevölkerung zu für den deutschen Markt produziert werden, unter der Brücke oder zwischen Fahrbahn-
Veränderung gegenüber 1980, in Prozent
verringern, analysiert Agora Verkehrswende. belag und Brückenkonstruktion aufgebracht
Bislang scheitern solche Konzepte am Leergewicht Leistung wird.
Preis. Erst wenn sich das autonome Fahren Höchstgeschwindigkeit Länge Bei drei Autobahnbrücken der A 5 am
durchsetzt, könnten die hohen Kosten der Frankfurter Westkreuz kam das Verfahren
Ridepooling-Dienste sinken. Dann nämlich 100 erstmals zum Einsatz. Innerhalb weniger Wo-
fiele der wesentliche Kostenfaktor weg: der chen war die Flussüberquerung instand ge-
Fahrer. 80 setzt, sie soll weitere 20 Jahre halten, min-
Wie schnell es dazu kommt? Vielen Städ- destens. Gemessen an der Lebenszeit einer
60
ten fehle schlicht »der Mut, das Autofahren Brücke von 80 Jahren ist das eine Menge.
unattraktiver zu machen«, sagt Henrich, etwa 40 »Wir können uns auf diese Weise Zeit si-
durch Einfahrtbeschränkungen und deutlich chern«, sagt Curbach.
höhere Parkgebühren, wie sie in anderen 20 Curbach ist Bauingenieur, kein Verkehrs-
europäischen Metropolen wie London oder planer. Er forscht an Lösungen und hält sich
Paris längst selbstverständlich sind. »Ohne 0 raus aus der politischen Debatte. Planung und
diese Maßnahmen«, sagt er, »bleiben Mobili- Bau von Autobahnbrücken sollen beschleu-
tätsdienstleistungen zwangsläufig eine Rand- 1980 1990 2000 2010 2020 nigt werden, um den Sanierungsstau zu be-
erscheinung.« seitigen, hat die Ampelkoalition vereinbart.
Fahrzeugbestand nach Typ, Dieses Ziel soll per Gesetz zum überragenden
Der Kampf um die Autobahnen Veränderung gegenüber 2016, in Prozent öffentlichen Interesse erhoben werden, was
Das ganze Elend von gut 13 000 Kilometern Minis, Kleinwagen, Kompaktwagen Umweltprüfungen obsolet machen würde.
Autobahn lässt sich gleich hinter dem Dresd- Mittel- und obere Mittelklasse Oberklasse Doch Bundesverkehrsminister Wissing und
ner Hauptbahnhof besichtigen. In einer seine FDP wollen mehr: neue Autobahnen,
SUV andere
schmucklosen Halle, 600 Quadratmeter groß, mehr Fahrstreifen, größere Kreuze.
lagern die Schwachstellen, zumindest baulich 100 Das Konfliktpotenzial ist enorm. Im Koali­
betrachtet, in Form einzelner Brückenträger. 80
tionsvertrag ist lediglich von Brücken und
Manfred Curbach sammelt sie, um an ihnen Schienen und Stromtrassen die Rede, nicht
zu studieren, wann ein Bauwerk gesperrt wer- 60 von Straßen. Verkehrsminister Wissing will
den muss und wie man Risse und Brüche wie- 40 kein Verkehrsmittel gegenüber anderen be-
der heilen kann. vorzugen. Das klingt salomonisch, de facto
Curbach ist Direktor des Instituts für Mas- 20 bedeutet es ein Weiter-so fürs Auto.
sivbau in Dresden. Der 66-Jährige hat nicht 0 Jedenfalls knüpft die FDP einen schnelle-
mehr lange, bis er an seinen Nachfolger über- ren Ausbau der Bahn an die Bedingung, dass
gibt, und deshalb redet er den Zustand auch 2016 2017 2018 2019 2020 2021 2022
neue Straßenprojekte genauso beschleunigt
nicht schön. »Ich bin nicht der Typ, der von werden. Für die Grünen ist das inakzeptabel.
Herausforderungen spricht«, sagt er, »ich Neu zugelassene Pkw in Deutschland pro Selbst ein Kompromiss platzte Ende Januar
spreche von Problemen.« Jahr, nach Antrieb, in Millionen im Koalitionsausschuss: kein Neubau von
Und die gibt es zu Tausenden. Von den Benzin Diesel Hybrid Elektro
Autobahnen mehr, stattdessen ein milliarden-
40 000 Brücken sind 4600 in einem nicht schwerer Ausbau der bestehenden, auch mit
mehr ausreichenden Zustand, knapp 700 da- Sonstige mehr Spuren.
von ungenügend. Das Schlimme daran ist: 2 Zugleich mehr Milliarden für die Schiene.
»Die meisten wurden zwischen 1960 und Es wäre ein Deal nach Lützerath-Machart
1980 gebaut, und sie kommen alle gemeinsam gewesen: großer Fortschritt, erkauft mit einer
1,5
in diesen kritischen Zustand«, sagt Curbach. symbolträchtigen Räumung urgrüner Klima-
Babyboomer-Brücken nennt man sie in der positionen. Nach dem verheerenden Echo
Branche. 1 von Lützerath können sich die Grünen das
Beschleunigt wird ihre Abnutzung von nicht noch einmal erlauben.
dem Verkehr, der über sie hinwegbraust. Die 0,5 Entnommen hatte Minister Wissing seine
Zahl der Lkw steigt, deren Gewicht auch. Mit Kompromissliste dem Bundesverkehrswege-
fatalen Auswirkungen durch die Schwingun- plan, einem Konvolut mit Verkehrsprojekten,
0
gen, die die Laster erzeugen. Ein Problem, 270 Milliarden Euro teuer, bis 2030 zu reali-
das man bei der Planung vor vielen Jahrzehn- 2016 2018 2020 2022 sieren. Es stammt aus dem Jahr 2016, als Kli-
ten in dieser Größenordnung noch nicht kann- maschutz oder eine Verkehrswende politisch
* Die Werte können je nach Ausstattung abweichen
te. »Ein Laster entspricht ungefähr 30 000 S Quellen: RND, ADAC, Bundesministerium für Digitales
noch so gut wie keine Rolle spielten. Damals

Pkw«, sagt Curbach. und Verkehr, Kraftfahrt-Bundesamt ging es vor allem darum, den Verkehr schnel-

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 13


TITEL

ler zu machen. Weshalb sich die Ko­ statt 0,0. Das heißt: Für ein Fünftel nach Bonn – mal dauere das ins­
alitionäre schriftlich zusicherten, alle Stadt-Land- der Bewohner wird ein Privatstell­ gesamt 50 Minuten, mal eine gute
Vorhaben noch einmal zu prüfen. Schere platz vorgehalten. Verbreiteter Stan­ Stunde, je nachdem, wie die Bahn
Viele Straßenbauprojekte vertragen dard im deutschen Planungsrecht ist mitmacht. Kosten? Nicht mehr als
sich nicht mit dem Klimaschutzgesetz Hauptverkehrsmittel 1,0: Jede Wohnung braucht einen 70 Euro im Monat, so viel bezahlt er
von 2019. nach Siedlungstyp, Parkplatz. für sein Jobticket. Sehr viel billiger
Inzwischen hat sich die Ampel in in Prozent In einem der Mehrfamilienhäuser, als jedes Auto.
der Autobahnfrage so verhakt, dass zu Fuß Fahrrad Erdgeschoss, erste Tür links, wohnen Verkehrsminister Wissing sagte
ein Ausweg äußerst ungewiss ist. Am ÖPNV Auto* Inga und Stefan Feuser mit ihren zwei kürzlich: »Autofahren bedeutet Frei­
1. März soll ein weiterer Koalitions­ Töchtern. Im Flur entschuldigt sich heit.« Auch Inga Feuser nimmt das
Kleinstadt, Dorf
ausschuss den Streit beilegen. Die Inga Feuser, der Boden sei etwas F-Wort in den Mund. Nur klingt es
Grünenspitze will ihn eigentlich ab­ 18 7 6 69 schmutzig – der Dreck aus Lützerath. bei ihr anders. Es sei fatal, in der
sagen. Stattdessen solle auf der Koali­ Stadt Dort hat die 40-Jährige ein paar Tage Autodebatte immer von Verzicht zu
tionsklausur in Meseberg vom 5. bis 20 9 7 63 zuvor demonstriert. sprechen, sagt sie, denn sie verzichte
6. März eine Lösung geschmiedet Inga Feuser ist eigentlich Gymna­ gar nicht. Wenn sie ihre Kinder ohne
werden. Doch die Sozialdemokraten mittlere Stadt siallehrerin, derzeit gönnt sie sich ein Angst auf die Straße lassen könne,
beharren auf das Treffen im Kanzler­ 22 12 7 59 Sabbatical als Vollzeit-Klimaaktivis­ bedeute das mehr Lebensqualität.
amt. Großstadt tin: als Co-Bundesvorsitzende von »Ich gewinne Freiheit.«
Dafür hat nach SPIEGEL -Informa­ »Teachers for Future« und Bezirks­ Ähnliche Siedlungen wie in Köln
24 14 12 50
tionen der zuständige Fraktionsvize abgeordnete in Köln-Nippes für die gibt es auch in Münster oder Ham­
Detlef Müller eine neue Liste mit Metropole Wählergruppe »Klima Freunde«. burg. Sie bleiben Ausnahmen. Im
Autobahnprojekten erstellt. Es sind 27 15 20 38 Beim Thema Auto wird sie schnell Stellwerk 60 endet die Utopie am
deutlich weniger als jene 144 Projek­ * Fahrer und Beifahrer
leidenschaftlich. Vielleicht gebe es nördlichen Quartiersrand hinter
te, die Wissing beim vergangenen S Quelle: Mobilität in einzelne Städter, die es wirklich be­ einem Stoppschild und einer Ampel.


Koalitionsausschuss beschließen las­ Deutschland 2017;


Abweichung von 100 Prozent
nötigten – dann schiebt sie dieses Da liegt die Kempener Straße: Auto­
sen wollte. Die neue Liste liegt schon rundungsbedingt »Aber« hinterher: »Aber viele haben verkehr auf mehreren Spuren, Stell­
seit Wochen bei Olaf Scholz im Kanz­ das Auto nur, weil sie es vor langer plätze in der Straße, der Radweg ist
leramt. Zeit gekauft oder geerbt haben und von einem Auto teilweise zugeparkt.
es nicht hinterfragen. Es ist eben nor­ Deutsche Normalität.
Das Auto in der Stadt mal, ein Auto zu haben.« Zwei extreme Welten. Gibt es eine
Im Stadtteil Nippes in Köln, hinter Feusers schafften ihr Auto 2016 ab, dazwischen?
Pollern, die die Einfahrt versperren, als sie in die Siedlung zogen. Eine Er­ Anne Klein-Hitpaß, 47, ist Be­
beginnt die autofreie Utopie: schma­ leichterung, sagt ihr Mann Stefan. Nie reichsleiterin Mobilität am Deutschen
le gepflasterte Wege und weit und mehr Parkplatzsuche, nie mehr Rei­ Institut für Urbanistik. Die Berliner
breit kein Auto zu sehen, weder fah­ fenwechsel. Forscherin gehört dem Arbeitskreis
rend noch geparkt. Zwischen den Für ihre täglichen Wege braucht »Akzeptanz« in Wissings Experten­
Gärten und Häusern kleine Spielplät­ die Familie kein Auto mehr. Die ältere beirat »Klimaschutz in der Mobilität«
ze, Grünflächen, Bänke und Fahrrad­ Tochter läuft zur Schule, die jüngere an. Das Gremium steht vor einer fast
schuppen. wird mit dem Rad zur Kita gebracht. unmöglichen Aufgabe, da der Minis­
Der Name der Siedlung, Stell­ Als Inga Feuser noch unterrichtete, ter sämtliche Änderungen unter den
werk 60, erinnert noch daran, dass fuhr sie meist mit dem Rad zur Bahn­ Vorbehalt stellt, dass alle zustimmen
hier mal ein Ausbesserungswerk der station, von dort mit dem Zug zu ihrer und freiwillig mitmachen. Schon das
Eisenbahn stand. Mitte der Neunziger­ Schule. Stefan, der als Archäologe an Wort »Verkehrswende« ist ihm zu di­
jahre beschlossen die Bürger, einen der Uni arbeitet, fährt mit dem Rad rigistisch. Klein-Hitpaß sieht das de­
autofreien Kiez zu schaffen – damals zum Hauptbahnhof und mit dem Zug zidiert anders: »Wenn wir die Klima­
eine exotische Idee. Und so entstand ziele ernst nehmen, werden wir um
das Quartier, 2013 wurde es fertig­ unpopuläre Maßnahmen nicht he­
gestellt. rumkommen. Eine Akzeptanz aller
Heute leben etwa 1500 Bewohner wird es nicht geben.« Das müsse auch
in mehr als 430 Wohneinheiten, gar nicht sein.
hauptsächlich Mehrfamilien- und Es sei eine Frage der klugen Pla­
­einige Einfamilienhäuser. Das Viertel nung: Wenn eine Straße gesperrt wer­
hält alles vor, was es fürs Leben ohne de, bleibe das befürchtete Chaos oft
Privatauto benötigt: Tiefgaragen mit aus. »Verkehr verhält sich nicht wie
Fahrradstellplätzen. Eine »Mobili­ Wasser«, das in die nächste Ritze
tätsstation« mit Transportwagen, läuft. Der bequemste Weg werde ge­
Fahrradanhänger und Rollstuhl zum wählt, und das müsse nicht immer das
Stephan Floss / DER SPIEGEL

Leihen. Zwei Carsharing-Stationen. Auto sein. In Kopenhagen etwa stehe


Und eine Quartiersgarage mit Auto­ das Fahrrad an erster Stelle, weil man
stellplätzen am Siedlungsrand. damit schnell durch die Stadt komme,
Dort stehen noch einige Privat­ »nicht, weil dort alle umweltbewuss­
autos – ein Kompromiss aus der Pla­ te Idealisten sind«.
nungsphase. Der Arbeitskreis hätte Klein-Hitpaß hat nicht nur die Me­
die Siedlung gern komplett autofrei tropolen im Blick. Der größte Teil der
durchgesetzt, aber Stadt und Investor »Menschen mögen keine deutschen Emissionen entstehe im
waren skeptisch. Wer hätte da eine suburbanen »Siedlungsbrei« zwi­
Wohnung gekauft? Und so wurde ein Veränderung.« schen Stadt und Land, sagt sie. Dort
Stellplatzschlüssel von 0,2 vereinbart, Angela Francke, Verkehrswissenschaftlerin könnten Schnellbusse mit eigenen

14 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


TITEL

BAHN

»Zu alt, zu voll, zu kaputt«


Weil jahrzehntelang nur gespart wurde, sind Schienen, Weichen, Stellwerke marode. Jetzt will Verkehrs­
minister Volker Wissing Zigmilliarden für die Sanierung ausgeben. Bekommt er das Geld?

Berthold Huber kann sich gut an den Huber, mittlerweile Vorstand für die plötzlich die Ausfälle.« Jeder Ingenieur
­ oment erinnern, an dem ihm klar wur-
M Netze, sitzt in einem gesichtslosen kenne diese Gesetzmäßigkeit. Auch bei
de, dass etwas schiefläuft. Verdammt ­Konferenzraum am Potsdamer Platz, der ihm im Konzern. Warum keiner etwas
schief. Es war kurz vor Weihnachten 2021, genauso grau ist wie das Wetter draußen. ­dagegen getan habe? Huber: »Weil es
das Land steckte tief in der Pandemie. Vor ihm liegt ein Stapel zusammen­ nicht finanziert war.«
Für die Bahn waren das gute Zeiten, getackerter Schaubilder. »Präsentation für Pro Kopf gebe Deutschland deutlich
­zumindest, was die Flüssigkeit des Ver- BM Wissing« steht auf dem Deckblatt. weniger Geld für die Bahn aus als Öster-
kehrs angeht. Die Pünktlichkeit lag bei Das Schriftstück hatte er dabei, als er am reich, und als die Schweiz sowieso. Nur
rund 80 Prozent. vierten Adventswochenende 2022 mit sei- bei den Zielen macht der Staat keine Ab-
Aus Sicht von Huber, damals Personen- nem Chef Richard Lutz wie ein Büßer striche: Bis 2030 sollen doppelt so viele
verkehr-Vorstand bei der Deutschen beim Verkehrsminister vorsprechen muss- Menschen mit der Bahn fahren, mindes-
Bahn, nicht gut genug. Inmitten der Pan- te. Es war das Ergebnis einer General­ tens 25 Prozent aller Güter über die
demie, noch dazu an Feiertagen, hätte die inventur, die er gleich nach seiner Amts- ­Schiene transportiert werden. Aus Hubers
Quote deutlich höher sein müssen. übernahme im vergangenen Sommer an- Sicht ist das eine Illusion.
Als die Passagiere dann im Frühjahr geordnet hatte. Ein fundamentales Problem: Viele Wei-
2022 zurückkamen, nahm das Drama sei- Huber hat keine Lust, die Sache schön- chen, Gleise und Stellwerke sind ähnlich
nen Lauf: Die Pünktlichkeit sank erst zureden. »Zu alt, zu voll, zu kaputt.« So alt – und gehen mehr oder weniger gleich-
auf 70 Prozent und stürzte dann weiter ab fasste er die Lage für den Verkehrsminis- zeitig kaputt. »Eisenbahn erneuern dauert
auf knapp über 60 Prozent. Und weil sich ter zusammen. Die Bahn fährt auf Ver- so wahnsinnig lang«, sagt Huber. Am Vor-
ein Viertel aller Zugfahrten auf gerade mal schleiß, seit der Reform Anfang der tag habe er zusammen mit Wissing den
zehn Prozent des Gesamtnetzes konzen­ 1990er-Jahre, als die Bahn den Haushalt Bau von 27 Kilometern Lärmschutzwän-
trieren, pflanzen sich kleinste Störungen entlasten sollte. Das sei wie bei einem den gestartet. »Wissen Sie, wann die fertig
kaskadenartig fort. Entlang der Problem- Haus, das nicht erneuert werde. »Plötzlich sind? Im Jahre 2028.«
korridore in Nordrhein-Westfalen und geht alles ganz schnell bergab.« Der Verkehrsminister hat sich vorge-
Rheinland-Pfalz war 2022 nicht einmal Huber gerät in Rage, wenn er darüber nommen, den Sanierungsstau aufzulösen.
­jeder zweite Fernzug pünktlich. Der spricht. Es fallen drastische Worte, er haut Auf 50 Milliarden Euro wurden die Kos-
Hauptbahnhof Koblenz etwa kam auf mit der Handkante auf den Tisch. »Eine ten bislang geschätzt. In Hubers Präsenta-
eine Pünktlichkeitsquote von nur 41 Pro- Weiche hält rund 20 Jahre«, ruft er in den tion für Wissing steht nun eine andere
zent, Bonn auf 46 Prozent. Raum, dass es hallt, »und dann beginnen Zahl: bis zu 80 Milliarden. Die Schäden
sind größer als angenommen, der Ver-
Landauf landab zu spät schleiß ist höher, die Baukosten sind ex-
plodiert. Finanziert werden soll das unter
Pünktliche Halte je Bahnhof, anderem durch den Verkauf der Trans-
Anteil in Prozent
Hamburg Hbf.
porttochter Schenker, die Investmentban-
60 Prozent oder weniger ken sollen bereits mandatiert sein.
65 %
über 60 Prozent Bahn-Experten sind sich zudem einig,
Berlin Hbf. dass über den Sanierungsstau hinaus
Anzahl der Halte pro Jahr 68 %
­Strecken neu oder zumindest ausgebaut
20.000
werden müssen. Eine neue Hochge­
80.000
schwindigkeitsstrecke zwischen Hannover
Korridore Köln Hbf. Dresden Hbf. und Bielefeld etwa, damit die Ost-West-
mit höchster 57 % 82 % Verbindung im Land schneller wird, oder
Auslastung Göttingen ein Neubau auf der Strecke Hannover–
59 %
Hamburg. Anders lasse sich der Deutsch-
landtakt, mit dem die Metropolen der
Repu­blik künftig im Halbstundenrhyth-
mus ­verbunden werden sollen, nicht
Bonn Hbf. verwirk­lichen.
46 % Huber wird das als Vorstand nicht
Regensburg mehr erleben. Sein Vertrag endet in zwei
52 % Jahren. Die Zeit will er aber nutzen: Noch
2023 werde die Bahn mit drei Milliarden
Euro bei der Sanierung in Vorleistung
München Hbf. gehen. Man könne die Investitionen »in
Züge mit einer Verspätung bis zu 5 Minuten werden 70 % unser überaltertes und störungsanfälliges
von der Deutschen Bahn als pünktlich gewertet. Schienennetz« nicht länger aufschieben.
S Quellen: Holger Dambeck, Serafin Reiber,


Zugfinder, Deutsche Bahn, BMDV,


eigene Berechnungen Gerald Traufetter n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 15


TITEL

soll, werde er »auf einigen Strecken in


Deutschland das Angebot deutlich einschrän-
ken«. Man könne den Betrieb nicht überall
aufrechterhalten, »wenn die subventionierte
Konkurrenz quasi umsonst fährt«.
Auch die städtischen Verkehrsunterneh-
men sehen dem neuen Angebot mit gemisch-
ten Gefühlen entgegen. Das System, sagt
Wortmann, sei schon heute »an der Über-
füllungsgrenze«. Es müsste eigentlich überall
so investiert werden wie am Sendlinger Tor.
Allein seinem Verkehrsverbund fehlten zwei
Milliarden Euro für die nötige Verdopplung
der Bus- oder Tramflotte und einen dichte-
ren U-Bahn-Takt mit 50 Prozent mehr Fahr-
zeugen.

Simone Perolari / DER SPIEGEL


Unter normalen Umständen müssten dafür
die Tarife steigen. Wortmann indes soll auf
Einnahmen verzichten. Nur für dieses Jahr
rechnet der Chef mit einem Defizit von über
100 Millionen Euro bei seinen Münchner Ver-
kehrsbetrieben, trotz der zugesagten Zuwen-
dungen von Stadt, Land und Bund. Die Ver-
kehrswende, glaubt Wortmann, »kann durch
»Wir lernen Paris wieder lieben.« das 49-Euro-Ticket ins Stocken geraten«.
Carlos Moreno, Stadtplaner
Verkehrswissenschaftlerin Angela Francke
von der Universität Kassel fehlt es an einer
klaren verkehrspolitischen »Prioritätenset-
Spuren und von Arbeitgebern vermittelte te über: Baustellenbesichtigung am Send- zung«. Sie hat zu Preissystemen im ÖPNV
Fahrgemeinschaften die Zahl der Fahrten ver- linger Tor, mit 13 sich kreuzenden Linien, promoviert – und das 9-Euro-Ticket aus dem
ringern. Mit E-Bikes könnten auch Fernrad- 1600 U-Bahn-Abfahrten und einer Viertel- vergangenen Sommer wissenschaftlich inten-
wege für Distanzen bis 15 Kilometer attraktiv million Fahrgästen am Tag der wohl höchst- siv begleitet. Den jetzigen Nachfolger, das
werden. frequentierte Bahnhof der Stadt. »Hier 49-Euro-Ticket, hält Francke für immens
»Menschen mögen keine Veränderung, herrscht jeden Tag Stau«, sagt Wortmann. wichtig in seiner Signalwirkung. Es gebe
aber sie gewöhnen sich schnell um«, sagt Die vielen Fahrgäste hätten kaum mehr ­»keine bessere Marketingstrategie für den
die Forscherin. Das sehe man dort, wo die Platz gefunden in dem 1980 zuletzt erweiter- ÖPNV«. Allerdings sieht die Professorin auch
Parkgebühren spürbar erhöht wurden. Plötz- ten Bauwerk. Seit damals habe sich der Ver- die Gefahr einer »Produktenttäuschung«,
lich verschwinden viele Dauerparker von kehr verdreifacht. Bis 2030 werde er sich wenn nicht nun im Gleichschritt mit der Preis-
der Straße. Sie regt an, die allgemeine Auto- noch einmal verdoppeln. Also hat Wortmann senkung auch eine massive Ausweitung des
bequemlichkeit zu hinterfragen. Wieso gelten seine Leute angewiesen umzubauen, für »ge­ Angebots und Investitionen in die Infrastruk-
300 Meter Laufweg zur nächsten Bushalte- ordnete Umsteigebeziehungen« zu sorgen, tur stattfänden.
stelle als guter Wert, zum eigenen Auto aber die »Leistungsfähigkeit des Bauwerks« zu In Wien, wo seit 2012 das 365-Euro-Ticket
als kaum zumutbar? steigern, die »bauliche Grenze« auszuloten. für einen boomenden ÖPNV und neidische
160 Millionen Euro werden investiert, seit deutsche Bürgermeister sorgt, habe man den
Der ÖPNV: Retter in der Krise sechs Jahren wird gebaggert, gebuddelt, Flatrate-Tarif zig Jahre lang vorbereitet, den
Verkehrswende. Ingo Wortmann seufzt. Sagt ­gesägt, gefräst, vereist und »bergmännisch Nahverkehr ausgebaut, die Autos Schritt für
sich so leicht. Doch für den Chef der Münch- vorangetrieben«. Bei laufendem Betrieb. Schritt aus der Innenstadt verdrängt – und
ner Verkehrsbetriebe (MVG) bedeutet sie: 2024 soll alles fertig sein. dann erst den Preis auf einen Euro am Tag
umplanen, umbauen. Geld investieren, das Schon heute stürmen jeden Tag 400 000 gesenkt. Auch in London seien vor der Ein-
er nicht hat. In München-Moosach zum Bei- Pendler die Landeshauptstadt. Die wiederum führung der City-Maut erst einmal das ört­
spiel. Seit vergangenem November betreibt erstickt am Verkehr, hat die höchste Stau- liche Netz ausgebaut und die Bustakte ver-
Wortmanns MVG hier ihren modernsten Be- quote der Republik. Corona hat daran nichts dichtet worden. »Diese Vorbereitung gab es
triebshof. Zehn Jahre lang haben sie geplant, geändert. Das im Mai startende Deutschland- in Deutschland nicht.« Bleibe zu hoffen, sagt
an der Werkstatt, dem neuen Prüfstand, der ticket sollte den Verkehrsinfarkt abmildern, Francke, dass das ad hoc eingeführte Ticket
Tankstelle und der Waschanlage. Alles aus- die Menschen zum Umsteigen bewegen, ein Impuls werde, »um gewohntes Verhalten
gelegt auf Diesel-Lkw, bis sie vor etwa ­endlich die »Mobilitätswende« voranbrin- zu ändern«.
sieben Jahren merkten, dass der Elektrobus gen. Tatsächlich dürfte die Bus-und-Bahn- Ein anderes Beispiel für eine erfolgreiche
die ­Zukunft ist. Also wurden 20 Busparkplät- Flatrate vor allem für viel Frust bei den Fahr- Verkehrswende heißt La Félicité, die Glück-
ze wieder gestrichen, um die Trafos und gästen sorgen – und das langfristige Ziel ge- seligkeit. Diesen Ort will Stadtplaner Carlos
Schaltschränke für die 56 Ladepunkte unter- fährden. Moreno als Erstes zeigen. Rund um ein altes
zubringen. Es fängt schon damit an, dass ein vor allem Hochhaus der Pariser Stadtverwaltung, in
Ergebnis: Nur noch 170 Busse haben in bei jungen Menschen beliebtes Angebot dem- bester Lage an der Seine, ist eine Art urbanes
Moosach Platz. »Gerade eröffnet und schon nächst wohl deutlich ausgedünnt wird: der Dorf entstanden: Sozial- und Luxuswohnun-
jetzt viel zu klein«, sagt der örtliche Leiter. Flixbus. Erst vor wenigen Jahren begann er gen, Hotel, Schwimmbad, Markthalle, Dach-
Einige Kilometer stadteinwärts streift sich als Billigalternative zu Bahnfernfahrten, nun gärten, der Hof voller Fahrräder.
MVG-Chef Wortmann, zugleich Präsident kündigt Flixbus-Chef André Schwämmlein Morenos Leitbild der 15-Minuten-Stadt
des Verbandes Deutscher Verkehrsunterneh- Kürzungen an. Mit dem Start des 49-Euro- wurde von Bürgermeisterin Anne Hidalgo
men, gelbe Gummistiefel und eine Warnwes- Tickets, an dem Flixbus nicht beteiligt werden zum Programm der französischen Hauptstadt

16 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


TITEL

erkoren. Die Idee: Alles für den täg- Sie selbst fahren laut Wissing in Minister? Von der Parteiführung?
lichen Bedarf soll innerhalb einer Teure Wende einem Golf nach Frankreich in den Keiner weiß es so recht. Aber Wis­
Viertelstunde erreichbar sein. Das Urlaub. sings Ministerium wirkt momentan
steigere auch die menschliche Nähe, Betriebskosten des Der Minister wohnt in einem klei- wie paralysiert.
öffentlichen Personen-
so Moreno. »Wir lernen die Stadt nahverkehrs, in Euro nen Dorf in Rheinland-Pfalz. Nach Doch wo genau bleibt dann der
wieder lieben.« Berlin fährt er häufig mit dem Zug, viel beschworene nötige Push, der
Es ist die Antithese zur funktio- bis Mannheim lässt er sich aus Zeit- sanfte Druck? Für den Umstieg auf
nell getrennten Stadt, mit den Büro- gründen noch mit dem Auto bringen. Bus und Bahn gibt es dazu ein ein-
türmen und Villen im Westen, den 48,2 Mrd. In seiner Zeit als rheinland-pfälzi- drucksvolles wissenschaftliches Ex-
Arbeitervororten im Norden, den Prognose scher Verkehrsminister hat er die ver- periment aus Australien, wo zwei
Schlafstädten der Mittelschicht im für 2030 krustete Struktur der Verkehrsbetrie- Krankenhäuser ihrem Personal kos-
Osten und Süden, dem kommerziell be umgekrempelt, was ihm durchaus tenlose Monatskarten für den ÖPNV
entseelten touristischen Zentrum. Sympathien der Grünen aus Mainz spendierten. Nur das eine hat im sel-
Moreno will die »Segregation« be- 25,5 Mrd.
einbrachte. ben Schritt auch die Parkplätze für
enden. Die Pendlerbewegung könne 2018 Auch zu Beginn der Ampelkoali- die Mitarbeiter kostenpflichtig ge-
man sich physisch als gewaltiges Pen- tion schien es noch so, als wäre er der stellt. Und nur dort ließen Ärztinnen
del vorstellen, das die Stadt durch- Richtige für die Verkehrswende. Be- und Pfleger ihr Auto daraufhin zu
schlägt. Vier Millionen Menschen S Quelle: Roland Berger/ herzt griff er etwa bei der maladen Hause.


täglich durchqueren Paris auf dem Intraplan/Florenus im


Auftrag des VDV; ohne
Bahn ein. Doch beim Thema Auto Bei Grünen und Liberalen liegen
Weg zur Arbeit, die meisten in über- Infrastrukturkosten scheint seine Reformgrenze erreicht. die Vorstellungen, wie sich eine Ver-
füllten Schnellbahnen, immer noch Man könne Autobahnen getrost aus- kehrswende am besten vollziehen
zu viele über die notorisch verstopf- bauen, weil sie dem Klima nicht scha- lässt, auch sonst weit auseinander. Die
te Ringautobahn Périphérique, die den würden, wenn sie künftig nur von FDP lehnt sowohl Ordnungsrecht als
Kernstadt und Vororte trennt. Elektroautos befahren würden. Eine auch höhere Belastung für klima-
Im Innern löst sich die Stadt be- unter Experten höchst umstrittene schädliches Verkehrsverhalten ab,
reits vom Auto. Es begann mit einer Theorie. etwa eine Einführung der Pkw-Maut,
Stadtautobahn am Seine-Ufer, die Die Grünen erklären sich solche eine Abschaffung des Dienstwagen-
in eine Promenade verwandelt wur- Aussetzer mit den vielen verlorenen privilegs, einen Wegfall klimaschäd-
de – anfangs für den Sommer, spä- Landtagswahlen. Parteichef Lindner licher »Fiskalinstrumente« wie der
ter dauerhaft. In der Pandemie er- habe ihn ganz offenbar an die Leine Pendlerpauschale und der Diesel­
fand sich Paris als Fahrradstadt mit genommen und daran erinnert, dass subventionen. Fast jede der Maßnah-
Pop-up-Radwegen neu. Die zentrale die FDP ein liberaler Hort zu sein hat. men, die etwa das Umweltbundesamt
Hauptstraße Rue de Rivoli wurde auf Beim Verkehr bedeutet das: keine (UBA) für ein klimagerechtes Ver-
eine Autospur verengt – und auch die Verbote und schon gar keine Steuer- kehrssystem vorschlägt, verstößt ge­
ist reserviert für Busse, ­Taxen und erhöhungen, um irgendwelche grü- gen mindestens eines der liberalen
Rettungswagen. Vor mehreren Schu- nen Marotten zu finanzieren. Dogmen.
len wurden autofreie »Kinderstra- Selbst Wissings eigene Ministeria- Die Bundesbehörde lässt trotzdem
ßen« ausgerufen. Der nächste Schritt: le sind ratlos: Eine neue Regelung für nicht locker. Zuletzt demonstrierte
Von 120 000 Straßenparkplätzen soll die Lkw-Maut haben sie geschrieben, sie, dass sich ein Tempolimit kaum
gut die Hälfte verschwinden – und um Lastwagen mit hohem CO2-Aus- vermeiden lässt: Die Maßnahme wür-
das in einer Stadt, wo kaum jemand stoß deutlich mehr zu schröpfen. Der de die Emissionen deutlich stärker
einen Stellplatz auf dem eigenen Entwurf: einkassiert. Ein neues Stra- senken als bislang gedacht, ergab eine
Wirtschaftsminister
Grundstück hat. Habeck: Unversöhn-
ßenverkehrsgesetz mit mehr Möglich- Studie mit einem modernen Ver-
Populär sei das anfangs bei den licher Briefwechsel keiten, das Tempo in den Städten zu kehrsmodell, das auch verändertes
Parisern nicht gewesen, lacht Carlos mit Christian Lindner drosseln: ebenfalls einkassiert. Vom Verhalten berücksichtigt. Das Limit
Moreno. Ein Vorteil: In einer der würde sofort wirken und nicht erst
am dichtesten besiedelten Metropo- in einigen Jahren oder Jahrzehnten.
len Europas besitzt nur ein Viertel »Was sollen wir machen? Das dürfen
der Haushalte ein Auto, es gibt ja die wir ja nicht vorschlagen«, seufzt
Metro. einer, der Wissing berät. Seine Partei,
die FDP, hat ein Gutachten in Auftrag
Wo bleibt der sanfte Druck? gegeben, das die UBA-Studie wider-
Das Verhältnis von Volker Wissing zu legen soll.
Autos ist ein pragmatisches. Kein Ver- Ein fatales Signal, auch an Leute
gleich zu dem seines Parteivorsitzen- wie die Hartmanns aus dem Allgäu.
den Christian Lindner, der sich stolz Die Familie hat kapituliert – und
in seinem Porsche 911 ablichten lässt. ein Zweitauto angeschafft. Einen
Wissing ist tiefgläubiger Protestant, Elektrokleinwagen für die Alltags­
Bernd von Jutrczenka / picture alliance / dpa

ein Calvinist, und er hasst das Herum- wege, immerhin. Den Verbrenner
geprotze mit Autos. wollen sie für Ausflüge behalten. »Wir
In vertrautem Kreis erzählt er gern hatten uns lange gegen ein zweites
die Geschichte, wie eine lokale Wirt- Auto gewehrt«, sagt Eva-Maria Hart-
schaftsgröße in Begleitung der Ehe- mann.
frau mit einer auffälligen Luxus­ Es klingt wie das Eingeständnis
karosse zu Besuch kam. Und wie un- einer Niederlage.
angenehm es dem Ehepaar Wissing Simon Book, Simon Hage,
war, dass das Auto gut sichtbar für Arvid Haitsch, Martin Hesse,
die Nachbarn vor der Haustür stand. Lukas Kissel, Gerald Traufetter n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 17


DEUTSCHLAND

Paul Langrock
Mitglieder der Kulturinitiative »Spree:publik« holten am vergangenen Sonntag diesen vor lauter Schlamm und Dreck kaum zu erkennenden Roller
vom Grund der Spree. Unbekannte hatten ihn ins Wasser geworfen. Das Problem in Zeiten der E-Mobilität ist nicht nur der Sperrmüll: Roller,
E-Bikes und E-Scooter enthalten Akkus mit toxischen Substanzen, die das Wasser belasten, wenn sie verrotten. Die Aktivisten schipperten mit
einem selbst gebauten Floß über die Spree und fischten allen möglichen Schrott aus dem Wasser. Nach einigen Metern war das Floß voll.
Das Motto der Initiative: »Wasser ist für alle da.«

Konzept für Geflüchtete


EINWANDERUNG  SPD-Migrationsexperte will EU-Solidaritätsmechanismus aussetzen.

D er SPD-Migrationsexperte Lars Castellucci drängt auf eine


Entlastung der Städte und Gemeinden bei der Aufnahme
von Geflüchteten. In einem Positionspapier schlägt der Vize-
vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag ein zweistufiges
eingeführten EU-Solidaritätsmechanismus aussetzen. Er soll vor
­allem die Mittelmeerländer entlasten. In der aktuellen Lage führe
dieser »zu einer noch ungleicheren Verteilung in Europa«, heißt
es in dem Papier, und werde ad absurdum geführt. »So nimmt etwa
Verfahren vor. Wer nicht schutzbedürftig sei, solle »gar nicht erst Deutschland, das bereits rund eine Million Ukrainerinnen und
auf die Kommunen verteilt werden«, so seine Forderung, sondern ­Ukrainer aufgenommen hat, Geflüchtete aus Italien auf. Gemessen
nur diejenigen, denen bereits ein Aufenthaltsrecht zugesprochen an der Bevölkerungszahl habe Italien aber nur eine verschwindend
worden sei. Gleichzeitig müssten die Asylverfahren beschleunigt geringe Anzahl ukrainischer Geflüchteter aufgenommen.« Um
und Abschiebungen von Ausländern ohne Bleiberecht forciert wer- den Städten und Gemeinden finanziell unter die Arme zu greifen,
den. »Die gesetzlichen Möglichkeiten müssen konsequent genutzt schlägt der SPD-Politiker vor, sie bei ihren Altschulden zu
werden, etwa unter verstärkter Einbeziehung der Bundespolizei entlasten. »Der Investitionsrückstand in den Kommunen beträgt
bei der Rückführung von Straftätern und Gefährdern«, heißt es in 160 Milliarden Euro«, heißt es in dem Papier. »Sie sind generell
dem Papier. Außerdem will Castellucci den im vergangenen Jahr unterfinanziert.« WOW

18 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


Drohnen für Bambi aber nur jeweils auf ein Jahr
DIE DA UNTEN
befristet war. Die Förderquote

Team Glücksland
TIERSCHUTZ Bundeslandwirt- beträgt 60 Prozent der Anschaf-
schaftsminister Cem Özdemir fungskosten einer Drohne,
(Grüne) will dieses Jahr zwei höchstens aber 4000 Euro. An-
Millionen Euro zur Rettung von tragsberechtigt sind Jagdvereine
Rehkitzen vor Mähdreschern und Jägervereinigungen oder Von Anna Clauß Lobpreisung des Freistaats
zur Verfügung stellen. Mit dem andere Organisationen auf zusammen. Geht’s noch
Geld sollen Drohnen bezuschusst
werden, die den Wildnach-
wuchs in Feldern und Wiesen
vor dem Abmähen aufspüren
Kreisebene, die sich der Pflege
der Wildbestände und der
Rettung des Nachwuchses ver-
schrieben haben. Jedes Jahr
D ie Zeit des freiwilligen
Verzichts hat begonnen.
In Bayern wird das
Fasten mit Kundgebungen ein-
prägnanter? Regelmäßig flutet
der CSU-Chef die Öffentlich-
keit mit Begriffspaaren wie
»Raumfahrt und Rosenkranz«
helfen und so vor den tödlichen in der Erntesaison kommen geläutet, auf denen sich oder »Gigabit und Gams-
Erntemaschinen bewahren. Tausende Rehkitze ums Leben. Politiker gegenseitig gut ein- bart«. Manches aus Söders
Die Fluggeräte sollen nach den Laut Landwirtschaftsministe- schenken. Die Ampel sei »die Wortschwall bleibt aber auch
Vorstellungen Özdemirs künftig rium sind moderne, mit Wärme- schlechteste Bundesregierung, hängen. »Team Vorsicht«
flächendeckender zum Einsatz bildkameras ausgestattete die Deutschland je hatte«, etwa, »Insekten fressen«
kommen. Der Grünenpolitiker Drohnen mit Abstand das effek- sagte CSU-Chef Markus Söder. oder die Charakterisierung
verlängert damit ein Programm, tivste Mittel, um den Wild- Der wiederum sei ein »Ego- des Kanzlergrinsens als
das von seinem Ministerium nachwuchs vor dem tödlichen Shooter«, der seine Meinung »schlumpfig«.
bereits in den vergangenen bei- Schneidwerk der Mähdrescher häufiger wechsle als der FC Ja, Söder polarisiert, über-
den Jahren aufgelegt wurde, zu retten. REI Nürnberg seine Trainer, gaben zeichnet, aber er sortiert auch
SPD und FDP zurück. Wörter wieder aus, wenn er
Über die Show der starken wie mit dem Wort »Asyltou-
Söldner im Visier Die EU müsse bei ihrem nächs- Sprüche, die ich bei der CSU rismus« 2018 die Grenzen des
ten Sanktionspaket gegen Russ- in Passau live verfolgen durfte, Anstands schrammt. Eigent-
UKR AINEKRIEG Die CDU for- land Anfang März vor allem konnte ich dieses Jahr nur
dert schärfere Sanktionen gegen den stark wachsenden wirt- müde lächeln. Söders Geholze Markus Söders
russische Söldner. »Wagner ist schaftlichen Arm mit Strafmaß- gegen grüne Ideologen, die
mit geschätzten 50 000 Söld- nahmen belegen. Laut einer den Bayern angeblich die In-
Sprache ist derb
nern heute eine essenzielle Stüt- von der CSU-nahen Hanns- dianerkostüme vom Leib und prollig,
ze im russischen Angriffskrieg Seidl-Stiftung unterstützten reißen oder sie zum Gendern aber auch direkt.
gegen die Ukraine«, sagt die Studie setzt Wagner mit ihr ver- und Madenverspeisen zwin-
CDU-Bundestagsabgeordnete bundene Firmen wie M Invest, gen wollen, wurde auch mit lich, so mein subjektiver Ein-
Katja Leikert. Darum solle die Meroe Gold, Bois Rouge und Alkohol nicht lustiger. druck als Mitarbeiterin eines
Bundesregierung Sanktionen Lobaye ein, um Konzessionen Aber bevor ich weiter die Nachrichten-Magazins, gibt
gegen die Wagner-Gruppe auf etwa zum Goldabbau in Afrika Rede eines Politikers negativ es in Deutschland womöglich
EU-Ebene durchsetzen. Leikert: wahrzunehmen. Daraus finan- bewerte, in der über andere kein größeres politisches Rhe-
»Wir Europäer müssen sie deut- ziere die Söldnertruppe einen hergezogen wird, wäre es toriktalent als ihn.
lich stärker ins Fadenkreuz neh- Teil ihrer Einsätze, so Leikert. gerade in der Fastenzeit ange- Söder mag kein netter
men.« Neben der Ukraine sei Darüber hinaus müssten bracht, innezuhalten und Mann sein, aber in der Not
auch das Engagement der Söld- Sicherheitsfirmen, die als Stroh- Entsagung zu üben. Zum Bei- geht der Mensch nicht
ner auf dem afrikanischen Kon- firmen für Wagner agierten, spiel, indem ich auf notwen- zum netten Anwalt, sondern
tinent ein Grund, die im Auftrag untersucht und gegebenenfalls dige und kritische Politiker- zu dem, der ihn aus dem
des Kreml kämpfende Gruppe sanktioniert werden, fordert die kommentierung verzichte. Schlamassel zieht. Klar ist
stärker ins Visier zu nehmen. CDU-Politikerin. CSC Schließlich gilt es in schweren der bayerische Ministerpräsi-
Zeiten wie diesen, das Posi- dent ein »Macher«, so wie es
tive nicht aus den Augen zu auf Plakaten der CSU-Ultras
verlieren. in der Passauer Halle zu lesen
Nachgezählt Also: Die Aschermitt- war. Wäre es anders, ginge
wochsansage des bayerischen er am Wochenende zum Golf-
Umsatz des Gastgewerbes* in Deutschland, in Milliarden Euro** Ministerpräsidenten war ver- spielen, statt in der Nürnber-
2019 ständlich, mitreißend, voller ger Vesperkirche die Essens-
96 Energie. Söder kann Politik so ausgabe für Bedürftige zu
Beginn der 2022
Coronapandemie 84 vermitteln, dass jeder Stamm- unterstützen, wie er es letzten
tischbruder ihn versteht. Soll- Sonntag nach dem Gottes-
ten wir uns nicht über jeden dienst tat.
2020 2021 Politiker und jede Politikerin So also klingt es, wenn
59 58 man bei der Bewertung von
freuen, die für Klarheit in De-
+45 %
ggü. 2021 batten sorgen? Politik zumindest versucht,
Söders Sprache ist derb gebotene Kritik auszublen-
und prollig, aber auch kreativ den. Ich bezweifle, dass ich
–13% und direkt. Bayern sei mit dem Fasten 40 Tage lang
ggü. 2019 »Glücksland«, fasste er die durchhalte.

An dieser Stelle schreiben Anna Clauß, Markus Feldenkirchen und


* u. a. Gastronomie, Beherbergungsgewerbe, Caterer; ** preisbereinigt Alexander Neubacher im Wechsel.
S Quellen: Dehoga, Destatis, eigene Berechnung


Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 19


CHAPPATTES WELT Beweise gelöscht?
SK ANDALE  In der Cum-ex-­
Affäre um die Hamburger Bank
M. M. Warburg verlangen die
parlamentarischen Aufklärer
die Herausgabe elektronischer
Unterlagen vom Justizminis­
terium in Nordrhein-Westfalen.
»Wir müssen verhindern, dass
beweiserhebliche Daten un­
wiederbringlich gelöscht wer-
den«, sagt Richard Seelmaecker,
CDU-Obmann im Untersu-
chungsausschuss (PUA) der
Hamburger Bürgerschaft. Bun-
deskanzler Olaf Scholz (SPD)
steht im Verdacht, er habe als
Erster Bürgermeister der Hanse-
stadt die Bank schonen wollen.
Scholz bestreitet die Vorwürfe.
Bei dem Material handelt es
sich unter anderem um E-Mails
der Hamburger Finanzbehörde.
Sie wurden 2021 von der Staats-
anwaltschaft Köln in Gewahr-
sam genommen. Der PUA
möchte die Mails auswerten.
Doch der nordrhein-west­
fälische Justizminister Benjamin
Druck auf Maaßen Überarbeitung des Disziplinar- Rassismus gegen Weiße« für Limbach (Grüne) verweigert
rechts biete dafür Gelegenheit. Aufregung gesorgt. Die CDU das bislang. Womöglich handle
PARTEIEN  Die Grünen fordern Dabei müsse laut Emmerich will ihn aus der Partei werfen. es sich zum Teil um Material,
eine Verschärfung des Diszipli- ­geprüft werden, ob an Spitzen- Freitag voriger Woche tauschte das für die Ermittlungen nicht
narrechts, um Ex-Verfassungs- beamte im Ruhestand strengere sich Maaßen mit dem 2020 aus relevant sei und geschützte
schutzchef Hans-Georg Maaßen Maßstäbe angelegt werden kön- der SPD ausgeschlossenen ­Informationen Dritter enthalte.
die Pension kürzen zu können. nen. Das Innenministerium sah Rechtsaußen-Publizisten Thilo Dann sei eine Löschung vor­
»Es kann nicht sein, dass er im- bisher keine Handhabe, gegen Sarrazin aus, wie aus dessen geschrieben, so Limbach. Die
mer wieder antidemokratische Maaßen vorzugehen. Die Hür- Umfeld bestätigt wurde. Bei ­Prüfung des umfangreichen Ma-
Parolen verbreitet, den Holo- den, Beamten die Pension zu dem Treffen »privater Natur« in terials dauere an. Seelmaecker
caust verharmlost und dafür kei- kürzen oder gar zu streichen, einem Berliner Restaurant habe setzte dem Minister ein Ultima-
ne rechtlichen Konsequenzen sind hoch. Zuletzt hatte der man unter anderem über das tum bis zum 7. März. Es sei »es-
spürt«, sagt Marcel Emmerich, ­Ex-Verfassungsschutzchef mit Parteiausschlussverfahren senziell«, dass die Daten kom-
Grünen-Obmann im Innenaus- ­Äußerungen über eine angeb- ­gesprochen. Zu Details wollten plett übermittelt würden. Der
schuss. Eine von Innenministerin lich »grün-rote Rassenlehre« sich weder Sarrazin noch Ausschuss sehe ein »zwingendes
Nancy Faeser (SPD) geplante und einen »eliminatorischen ­Maaßen äußern. SRÖ, VME, WOW öffentliches Interesse«. SMS

Verzögerte Kontrolle ter sind veränderte Zugangs­ Satirische Qualitäten der Wasserbedarf und der Ab-
regelungen vorgesehen. Ihr Ge- wasseranfall steigen.« Meister
PARLAMENT  Der Personalrat päck könnte bald jederzeit kon­ INVESTITIONEN   In Sachsen- attestierte dieser ­Stellungnahme
der Bundestagsverwaltung trolliert werden. Daraus ergeben Anhalt streiten Regierung und »satirische Qualitäten« und
bremst das neue Sicherheitskon- sich aus Sicht der Mitarbeiter- Opposition über den geplanten ­beschwerte sich beim Landtags-
zept für den Bundestag aus. Die vertretung zahlreiche Fragen. Bau einer Chipfabrik des US- präsidenten. Die Staatskanzlei
Sicherheitsbeauftragten der Offiziell wurde der Personalrat Konzerns Intel. Hintergrund ist nahm sich daraufhin der Sache
Fraktionen hatten sich auf Initia- mit den geplanten Maßnahmen der erwartete Wasserverbrauch. an, SPD-Umweltminister Armin
tive von Parlamentspräsidentin jedoch noch nicht befasst. Bun- Im Fall des Tesla-Werks in Willingmann antwortete per-
Bärbel Bas (SPD) auf Zugangs- destagspräsidentin Bas hatte die Brandenburg hatte das Thema sönlich – und beteuerte erneut,
verschärfungen für die Bundes- Verschärfung nach der Razzia bereits zu Streit geführt. Der keine weiteren Details nennen
tagsgebäude verständigt. Die gegen die Reichsbürger Ende Grünenabgeordnete Olaf Meis- zu können. Meister hat nun
Änderungen sehen unter ande- 2022 angemahnt. Dabei war ter erkundigte sich in einer Klei- bei Ministerpräsident Reiner
rem vor, dass sich Abgeordnete auch die frühere AfD-Abgeord- nen Anfrage nach dem Bedarf Haseloff (CDU) Einsicht in
künftig an den Eingängen aus- nete Birgit Malsack-Winkemann von Intel, wo mögliche Quellen sämtliche relevanten Akten be-
weisen müssen, zudem soll der festgenommen worden. Zudem liegen und welche Umweltaus- antragt, um sich selbst ein Bild
Ehemaligenausweis früherer gab es in den vergangenen wirkungen erwartet werden. von der Wasserversorgung zu
Parlamentarier keinen Zutritt ­Jahren mehrfach Vorfälle, bei Die Antwort fiel unter Verweis machen. »Die Landesregierung
mehr ermöglichen. Auch für die denen Störer mithilfe der AfD auf Betriebsgeheimnisse knapp mauert total«, sagt der Grüne,
Mitarbeiterinnen und Mitarbei- ins Parlament gelangten. FLO aus: »Es ist zu erwarten, dass »das ist schon dreist.« MXW

20 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


»Planungs- und Durchgängen. Hierfür gibt
es einen neuen städtebaulichen
Ausführungsfehler« Wettbewerb.
Wolfgang Kubicki, 70, Bundes- SPIEGEL: Wird es Cafés, Läden,
tagsvizepräsident und Vorsitzen- Restaurants geben?
der der Baukommission des Kubicki: Wir sind uns alle einig,
­Ältestenrats, über explodierende dass wir ein offenes Parlament
Kosten beim Bau neuer Bundes- bleiben wollen. Aber aus
tagsgebäude ­Sicherheitsgründen können wir
solche Flächen leider nicht
SPIEGEL: Herr Kubicki, die Er- ­anbieten, weil sie Einfallstore

Philipp Schmidt / DER SPIEGEL


weiterung des Marie-Elisabeth- für mögliche Terroranschläge
Lüders-Hauses sollte bereits wären.
2014 fertig werden. Wann kön- SPIEGEL: Was sind die größten
nen die Parlamentarier ein­ Probleme?
ziehen? Kubicki: Die Planungen müssen
Kubicki: Wir wollen den Bau mit allen Berliner Akteuren,
spätestens 2024 eröffnen und also dem Abgeordnetenhaus,

»Viele sind traurig«


nutzen können. Derzeit wird der Senatsverwaltung und dem
er betriebsbereit gemacht, was Bezirk, sowie der Bundesanstalt
­wegen der Anbindung an das für Immobilienaufgaben abge-
bestehende komplexe System stimmt werden. Auch die Deut-
DIE AUGENZEUGIN  Tatjana Malinin, 51, arbeitet als
eine technisch herausfordernde sche Bahn als Nachbar und
Angelegenheit ist. Eigentümer der S-Bahn ist in- Ärztin in der Erstaufnahmeeinrichtung Neu­
SPIEGEL: Ursprünglich sollte volviert. Das ist sportlich. münster. Vor 22 Jahren kam sie aus der Ukraine –
der Anbau 190 Millionen Euro SPIEGEL: Was bedeutet das für
kosten. Dann bewilligte der die Kosten?
heute versorgt sie auch Kriegsflüchtlinge.
Bundestag eine maximale Kos- Kubicki: Ursprünglich wurde
tenobergrenze von 332,3 Mil­ von knapp einer Milliarde Euro »Der Gesundheitszustand ist auch Arzt, wir sind im Jahr
lionen. Reicht das? für das Bauvorhaben ausge­ unserer Patienten hängt meist 2000 über ein humanitäres
Kubicki: Nein. Inzwischen ste- gangen. Bei den derzeitigen davon ab, woher jemand Programm nach Deutschland
hen wir bei 366 Millionen Euro. enormen Steigerungen der Bau- kommt. Menschen, die aus gekommen, um hier zu arbei-
SPIEGEL: Warum liefen die Kos- kosten könnte das gesamte Vor- Afrika geflüchtet sind, stehen ten. Seit 2018 bin ich Fachärz-
ten so aus dem Ruder? haben im Bereich des Luisen- oft unter Schock. Etwa jeder tin für Allgemeinmedizin in
Kubicki: Planungs- und Ausfüh- block Ost, also nicht nur für die Zweite hat psychische Proble- der Erstaufnahmeeinrichtung
rungsfehler haben zu einer er- Parlamentsbauten, zwei Milliar- me wie Schlafstörungen, Pa- in Neumünster. Mein Arbeit-
heblichen Verzögerung geführt. den Euro weit überschreiten. nikattacken oder depressive geber ist die Notarzt-Börse, die
Der Komplex muss nun ent- SPIEGEL: Damit ist es eines der Verstimmungen. Fast alle ha- sich in allen Landesunterkünf-
sprechend der EU-Richtlinie teuersten Bauvorhaben der ben den Weg zu uns ohne me- ten in Schleswig-Holstein um
der neuen Bundesimmissions- ­Republik. Werden die Büros dizinische Hilfe zurückgelegt. die medizinische Versorgung
schutzverordnung genügen. überhaupt noch gebraucht? Vielen müssen wir zunächst kümmert. Bei uns bekommen
Die Folgen sind gravierend: die Kubicki: Bereits vor 30 Jahren erklären, wie unser Gesund- Geflüchtete sofort die Hilfe,
komplette Neuplanung und wurde beschlossen, dass der heitssystem funktioniert: dass die ihnen gesetzlich zusteht. Es
der Austausch der Energie- und Deutsche Bundestag auch auf sie erst einmal einen Termin gibt Tage, da nehmen wir
Heiztechnik im Untergeschoss. diesem Areal Gebäude errich- machen und womöglich mit mehr als 100 Menschen auf,
Sichtbares Zeichen hierfür sind ten würde. Der Platzbedarf ist Wartezeit rechnen müssen. die wir alle durchchecken und,
die kürzlich errichteten großen in den vergangenen drei Jahr- In der Ukraine gab es bis- wenn nötig, hausärztlich be-
Schornsteine an der Dachkante zehnten kontinuierlich gewach- lang eine gute medizinische handeln. Damit entlasten wir
des Gebäudes. Diese waren so sen, was nicht allein mit der Versorgung. Viele Menschen, auch die Praxen vor Ort.
nicht vorgesehen. ­Anzahl der Abgeordneten zu- die von dort zu uns kommen, Zu unseren Aufgaben
SPIEGEL: Auch die Planungen sammenhängt. Teile der Bun- sind vor allem traurig. Sie hat- ­gehört, die Geflüchteten auf
für Neubauten des Bundestags destagsverwaltung sind derzeit ten nicht vor, ihr Land zu ver- ­Infektionskrankheiten wie
an der Spree sind vom Tisch. im gesamten Stadtgebiet unter- lassen, Familien mussten ohne ­Tuberkulose und Malaria zu
Klingt nach Chaos wie beim gebracht. Dafür müssen Liegen- ihre Männer fliehen, wissen untersuchen. Der Impfstatus
Flughafen BER. schaften über Jahre hinweg nicht, wie lange sie hier blei- wird überprüft; falls es keine
Kubicki: Das Architektenbüro ­teuer angemietet und erhalten ben werden. Nicht alle spre- Dokumentation gibt, wird
hatte 2009 einen herausragen- werden. Diese Kosten fallen chen Fremdsprachen. Die nach Stiko-Empfehlung ge-
den Entwurf vorgelegt. Dieser weg, sobald die Neubauten fer- freuen sich dann, wenn sie bei impft. Wir arbeiten fast wie
stand aber noch in der Tradition tig sind. SEV mir Russisch oder Ukrainisch normale Hausärzte, nur halt
der Bestandsbauten aus den hören. So entsteht schnell ein mit Dolmetschern: Bei Erkäl-
Achtzigerjahren und dem Ge- Vertrauensverhältnis, weil sie tungen, Bauchschmerzen,
T. Trutschel / photothek / IMAGO

danken eines monolithischen mir in ihrer Muttersprache er- Grippe sind wir da. Und wenn
Abschlusses für die Bundestags- zählen können, was ihnen auf jemand mit einer chronischen
gebäude. Davon haben sich dem Herzen liegt oder welche Krankheit hierhergekommen
­jedoch alle etwas verabschiedet. Beschwerden sie haben. ist, kümmern wir uns um die
Wir wollen stattdessen eine Ich habe in der Ukraine weitere Versorgung.«
­lockere Bebauung, mit publi- Kubicki Medizin studiert. Mein Mann Aufgezeichnet von Sara Wess
kumswirksamen Höfen und

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 21


DEUTSCHLAND

trete etwa die AfD, deren Vorsitzender Tino


Chrupalla die Petition von Wagenknecht und
Schwarzer bei Twitter teilte, »menschenver-
achtende Positionen«. »Mit denen will ich mich

Ein bisschen Frieden


nicht gemeinmachen«, so Käßmann. »Dann
sollen die ihre eigene Demo veranstalten.«
Der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter
hat derweil eine Gegeninitiative zu Schwarzer
und Wagenknecht gestartet. Er und andere
PROTESTE  Wladimir Putins Krieg verunsichert viele Deutsche. Um die Linke Unterzeichner schreiben darin: »Hundert­
tausende ukrainische Frauen und ihre Kinder
Sahra Wagenknecht formiert sich eine neue Friedensbewegung. hierzulande, deren Männer, Brüder und
Was treibt die Menschen an, die dieser Tage auf die Straße gehen? Und Väter gerade auf dem Schlachtfeld kämpfen,
welche Rolle spielen Rechtsextremisten? staunen nur vor diesen Ideologen, die ›den
Frieden‹ per Manifest bestellen – koste es, was
es wolle.«

N
ein, sagt sie, sie sei keine »Putin-Ver- titionsplattform oder gegenüber dem SPIEGEL Die Auseinandersetzung zeigt, dass die
steherin«. Und mit rechten Scharf- von der AfD oder Putins Propaganda distan- Deutschen mehr als 30 Jahre nach dem
machern habe sie schon gar nichts am zieren, wollen mit ihnen nichts zu tun haben, ­Mauerfall immer noch nicht wissen, wer sie
Hut. Antje Döhner-Unverricht sieht sich als sagen sie. Ihnen sei unwohl bei dem Gedanken, sein wollen. Die durchmilitarisierte DDR hat-
eine von Millionen Deutschen, die ein Ende dass Rechtsextreme ihre Position teilen. Aber te sich vermeintlich dem Weltfrieden ver-
des Krieges in der Ukraine herbeisehnen. Und ihre Haltung ist ihnen zu wichtig, um sich schrieben. In Westdeutschland gab es als
die finden, dass die Politik zu wenig dafür tut. ­deshalb nicht zu engagieren. Von außen ist ­Reaktion auf das Wettrüsten von Nato und
Also handelte die 52-Jährige aus Dresden: schwer zu sagen, wer den Großteil der Unter- Warschauer Pakt eine starke Friedensbewe-
Sie unterzeichnete das »Manifest für Frieden« zeichner ausmacht: die Gemäßigten oder gung. Der Kosovokrieg in den Neunziger­
der Publizistin Alice Schwarzer und der Lin- die Radikalen. jahren erschütterte dann pazifistische Gewiss-
kenpolitikerin Sahra Wagenknecht. Das »Ma- Wagenknecht und Schwarzer warnen vor heiten in Ost und West. Spätestens am
nifest« fordert Bundeskanzler Olaf Scholz einem »Weltkrieg« und »Atomkrieg«, sie 24. Februar 2022 aber erkannten viele Deut-
dazu auf, Verhandlungen zwischen Russland ­fordern den Kanzler auf, »die Eskalation sche, dass sie sich um zentrale Themen herum-
und der Ukraine zu unterstützen. »Ein Kom- der Waffenlieferungen zu stoppen« und sich gemogelt hatten: die eigene Wehrhaftigkeit
promiss mit Putin ist keinesfalls die Kapitula- für »Friedensverhandlungen« zwischen der etwa oder die Frage, wie mit einem zuneh-
tion der Demokratie«, sagt Döhner-Unver- Ukrai­ne und Russland einzusetzen. Was fehlt: mend aggressiven Russland umzugehen sei.
richt. Sie spricht ruhig, reflektiert. eine schlüssige Erklärung, wie Verhandlungen Was also tun? Bundeskanzler Olaf Scholz
Als Psychologin betreut sie auch traumati- mit jemandem wie Russlands Präsidenten ge- versucht seit Kriegsbeginn einen Balanceakt
sierte Menschen, die »wegen der Situation des hen sollen, der offensichtlich nicht verhandeln zwischen Unterstützung und Zögerlichkeit,
Krieges in Sorge sind und damit schwer um- möchte. Brems- und Gaspedal. Als wollte er beide La-
gehen können«. Weil auch eine klare Abgrenzung gegen ger bedienen. Das mag in Teilen sogar gelun-
»In meiner täglichen Arbeit geht es darum, rechts fehlt, werden die Friedensbewegten hef- gen sein. Zugleich aber läuft der Kanzler
miteinander im Dialog zu bleiben«, sagt tig kritisiert. Aus Wagenknechts Partei, der ­Gefahr, beide Lager zu enttäuschen.
­Döhner-Unverricht. »Das fehlt mir derzeit in Linken. Aber auch die ersten prominenten Wie gespalten die Deutschen sind, zeigt
der Politik.« Unterzeichner setzen sich schon wieder ab. Die auch eine aktuelle Umfrage des Online-­
Die Dresdnerin lehnt Waffenlieferungen Theologin Margot Käßmann unterstützt zwar Befragungsinstituts Civey im Auftrag des
an die Ukraine ab. »Russland wird mit allen weiter das »Manifest«, möchte aber nicht auf ­ PIEGEL . Immerhin 63 Prozent der Befragten
S
Mitteln den Krieg für sich entscheiden wollen, die Demonstration in Berlin gehen. »Es wird sind der Ansicht, die Bundesregierung solle
wir eskalieren immer weiter, wo soll das vom rechten Rand versucht, die Kritik an Waf- sich stärker als bisher für Friedensverhand­
­enden?« fenlieferungen zu kapern«, klagt Käßmann. lungen zwischen der Ukraine und Russland
Wie Döhner-Unverricht denkt fast jeder »Mir ist nicht egal, mit wem ich gehe.« So ver- einsetzen. Aber die Deutschen wollen nicht
zweite Mensch in Deutschland. Seit Wladimir Frieden um jeden Preis. 42 Prozent der Be-
Putin vor einem Jahr die Ukraine überfiel, ist fragten sagen sogar, das Ziel solcher Verhand-
die Gesellschaft gespalten. Die einen sind für Die Angst kehrt zurück lungen solle die Wiederherstellung der Gren-
Waffenlieferungen an die Ukraine. Die ande- zen der Ukraine vor der Annexion der Krim
ren sind dagegen, mal mehr, mal weniger stark, »Sorgen Sie sich, dass es zu einem Atomkrieg 2014 sein. 33 Prozent sagen, dass die Ukraine
kommen könnte?«, Angaben in Prozent
weil sie fürchten, dass der Krieg dadurch es- die Wiederherstellung ihrer Landesgrenzen
kalieren oder ewig weitergehen könnte. ja nein unentschieden vor dem russischen Angriff 2022 fordern s­ ollte.
Es wurden viele offene Briefe für und gegen Und nur 17 Prozent sind dafür, dass sie Ge-
Deutschlands Rolle in diesem Krieg geschrie- biete hergeben.
ben, mit prominenten Unterstützern hier wie 40 46 Als Teile der deutschen Politik und Öffent-
dort. Aber was nun passiert, nämlich der Ver- 41 lichkeit im Januar von Olaf Scholz die Liefe-
such, eine neue große Friedensbewegung zu 20
rung von Kampfpanzern in die Ukraine ein-
etablieren, das hat es lange nicht gegeben in forderten, setzte Alice Schwarzer eine Mail
Deutschland. Mehr als eine halbe Million 13 an Wagenknecht auf mit dem Vorschlag, eine
0
Menschen haben das »Manifest für Frieden« gemeinsame Petition zu starten und eine
von Schwarzer und Wagenknecht schon unter- Apr. Juli Okt. Jan. Demonstration am Brandenburger Tor vor-
schrieben. An diesem Wochenende ist eine 2022 2023 zubereiten. 69 Erstunterzeichner konnten sie
Großdemo geplant. gewinnen, darunter namhafte Personen wie –
S Quelle: Civey-Umfrage für den SPIEGEL; Befragungszeit-
Rechtsextremisten mobilisieren fleißig, um räume: je ein Monat; jüngster Befragungszeitraum vom 23. Jan. neben Käßmann – den früheren CSU-Politiker
den Aufmarsch zu kapern. Menschen wie bis 22. Febr.; Stichprobengröße: mindestens 5000 Befragte;
die statistische Ungenauigkeit der Umfrage liegt bei bis zu
Peter Gauweiler, den Ex-Vizepräsidenten der
Antje Döhner-Unverricht, die sich auf der Pe- 2,5 Prozentpunkten EU-Kommission Günter Verheugen und auch

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ddp
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Von Rechtsextremen gekaperte Demonstration in München, »Friedensmanifest«-Initiatorinnen Wagenknecht, Schwarzer: Radikale mobilisieren
Bettina Flitner / laif

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DEUTSCHLAND

die Schauspielerin Katharina Thalbach oder mauer auch schaden: Wie wollte man der CDU
den Musiker Reinhard Mey. vorwerfen, im Landtag mit Abgeordneten der
Ob Schwarzer und die anderen genau wuss- AfD zu stimmen, wenn die eigenen Mitglieder
ten, auf wen sie sich bei Wagenknecht einge- mit den Rechten auf die Straße gehen?
lassen haben? Schon seit Jahren gibt es Kritik, Am Ende beschloss der Linkenvorstand,
Wagenknecht würde die Unterstützung von Wagenknechts Demonstration nicht zu unter-
Rechtsextremen in Kauf nehmen und bewusst stützen. »Eine solche Absage an die Hundert-
diese Klientel ansprechen. Sie gilt als Schirm- tausenden, die bisher schon das ›Manifest
herrin der »Querfront«, einer Verbindung für Frieden‹ gezeichnet haben, ist nachgerade
zwischen Linken und extrem Rechten. selbstzerstörerisch«, schimpfte daraufhin
Kurz nach dem Start des Aufrufs nährte die Wagenknecht-treue Abgeordnete Sevim
unter anderen Wagenknechts Ehemann Oskar Dağdelen. »So handelt die Spitze einer Sekte,
Lafontaine diesen Verdacht. Er gab der frühe- aber keine verantwortungsvolle linke Partei.«
ren RTL-Moderatorin Milena Preradovic ein Die Abgeordneten Klaus Ernst und Alexander
Interview, deren YouTube-Kanal bei Ver- Ulrich erklärten, der Vorstand habe sich »aufs
schwörungsideologen und extremen Rechten Peinlichste blamiert«.

HC Plambeck / DER SPIEGEL


äußerst beliebt ist. Ob denn auch AfD-Politi- In der Partei werden solche Wortmeldun-
ker und -Wähler zur Demo kommen könnten, gen genau beobachtet. Dass es in Wagen-
wurde Lafontaine gefragt. Es gebe keine »Ge- knechts Lager längst die Überlegung gibt, eine
sinnungsprüfung«, betonte er. neue Partei zu gründen, verschärft die Dis-
Eine Verbindung Wagenknechts zu »Quer- kussion. Seit Monaten weicht Wagenknecht
denkern« und Rechten gibt es schon lange. Fragen nach einer Neugründung aus.
Während der Ukrainekrise 2014 unterschrieb Das »Manifest« ist aber längst nicht mehr
sie einen Appell der sogenannten Friedens- »Ein Kompromiss mit Putin nur ein Thema für den rechten oder linken
winter-Initiative. Zu den Demos kamen auch
Verschwörungsideologen wie Ken Jebsen so- ist keinesfalls die Kapi­ Rand. Jenseits von Extremisten, Verschwö-
rungstheoretikern und Wagenknecht-Fans gibt
wie szenebekannte Neonazis. Wagenknecht tulation der Demokratie.« es unzählige Menschen, die den Wunsch
war damals Fraktionsvorsitzende der Linken. Antje Döhner-Unverricht, Psychotherapeutin
nach einem baldigen Frieden durch Verhand-
Nach massivem Protest aus der eigenen Partei lungen teilen. »Ich habe unterschrieben, weil
sagte sie ihre Teilnahme an einer der Demos ich zeigen will, dass ich mit der Politik nicht
ab. Einschätzung der extrem Rechten. Denn: Weil einverstanden bin«, sagt die Schriftstellerin
Jetzt stellt sich die Frage nach Wagen- sich die Linke immer wieder von Wagen- Sonja Ruf. »Wenn ein Junge einen anderen
knechts fragwürdigen Allianzen erneut. Tat- knecht distanziere, müsse eigentlich AfD wäh- auf dem Schulhof angreift, würde ich dem
sächlich tauchen hinter Wagenknecht dieselben len, wer Wagenknecht-Positionen teile. Zudem Zweiten nie eine Waffe in die Hand drücken.
Akteure auf wie schon beim »Friedenswinter« hält sich die AfD seit Jahren für die glaubwür- Denn es gibt nun mal nur einen einzigen
2014: Jürgen Elsässer etwa, Chefredakteur des digste Partei der Straße. Gegen eine wie auch ­Schulhof für alle. Da braucht es andere
rechtsextremen Magazins »Compact«, das für immer geartete »Querfront« hat die Bundes- ­Lösungen.« Sie selbst sei Pazifistin, sagt die
die Teilnahme an Wagenknechts Protest wirbt. AfD nichts, im Gegenteil. Alles, was sie stärker 55-Jährige aus Saarbrücken. Dabei sei ihr
Wagenknecht und er kennen sich seit Langem. macht, ist willkommen. ­»jeder willkommen, der sich für die Sache des
1996, als sich Elsässer noch zum linken Spek- In den ostdeutschen Gliederungen der AfD Friedens einsetzt«.
trum zählte, verfassten die beiden gemeinsam hatte Wagenknecht schon immer viele Fans. Für Frieden will sich auch Ali Demirhan
ein Buch. Ein Kreisverband in Sachsen-Anhalt warb einsetzen. Er ist stellvertretender Betriebs-
Elsässer trat diese Woche beim »Patrioti- 2021 sogar auf einem Plakat mit ihrem Konter- ratsvorsitzender bei der Hamburger Spar-
schen Aschermittwoch« im thüringischen Ron- fei, wogegen Wagenknecht juristisch vorging. kasse und Fraktionsvorsitzender der Grünen
neburg auf, Besucher hatten sich Reichsflaggen Ersten AfD-Funktionären dämmern aber mitt- im Stadtrat des schleswig-holsteinischen
auf die Wangen geschminkt. Eine »Querfront« lerweile auch die Risiken dieses Kurses. Leute Geesthacht. »Alice Schwarzer und Sahra Wa-
müsse entstehen, rief Elsässer in den Saal, von wie Sahra Wagenknecht seien »Konkurrenten genknecht sind für mich keine Vorbilder«,
Björn Höcke bis Sahra Wagenknecht. »Diese der AfD«, mailte der Landesvorstand Sachsen- sagt der 57-Jährige. »Ich habe nicht wegen
Kräfte müssen alle ohne Abgrenzung zusam- Anhalt jüngst an die Mitglieder. der beiden unterschrieben. Aber der Inhalt
menkommen, dann entsteht Widerstand«, Auch wenn ihre Wortmeldungen »zustim- spricht mir aus der Seele.« Sowohl Russland
brüllt Elsässer. »Ein einiges Volk kann niemals mungswürdig scheinen oder geradehin so klin- als auch die Ukraine setzten immer mehr Waf-
besiegt werden.« Alle sollten am Wochenende gen, als kämen sie von der AfD«, solle man fen ein, so Demirhan, immer mehr Menschen
mit nach Berlin zur Demo kommen, Freund- nicht unreflektiert Beiträge dazu teilen. Oder kommen ums Leben. »Es kann aber kein
schaft mit Russland sei möglich. »Wir sind wenigstens darauf hinweisen, »dass die Äuße- Ende ohne Verhandlungen geben.« Das heiße
Putin-Versteher«, rief Elsässer – und die Men- rungen im Gegensatz zum Programm der je- nicht, dass die Ukraine kapitulieren oder die
ge im Saal antwortete mit einem Chor von weiligen Partei stehen« und dass »wer diese russische Besetzung von Gebieten hinnehmen
»Druschba«-Rufen. Politik haben will, AfD wählen muss«. müsse. »Aber wir müssen auch differenzieren,
Zu Wagenknechts engen Unterstützern In Wagenknechts Noch-Partei, der Linken, wieso Russland sich so von der Nato bedroht
zählt auch der Musikproduzent und Ex-Lin- tobt derweil ein heftiger Streit um das »Mani- fühlt.«
kenabgeordnete Diether Dehm, der sich selbst fest«. Der Parteivorstand stellte sie zur Rede. Von Regierungsmitgliedern wie Annalena
als »Verschwörungstheoretiker« bezeichnet. Doch Wagenknecht ließ die Frage offen, ob Baerbock und Olaf Scholz wünscht er sich,
Der Wagenknecht-loyale Abgeordnete Andrej man AfD-Vertreter auf der Demonstration dass sie auf Länder wie China, Indien, Brasi-
Hunko ging vor wenigen Wochen in Aachen haben wolle. Es hieß nur, man werde sie nicht lien und die Türkei zugehen. »Wir brauchen
mit AfD-Politikern auf die Straße. wegschicken. große Player, die Zugang zu beiden Seiten ha-
Besonders erfreut über Wagenknechts En- Für viele Linke gehört die Abgrenzung nach ben und vermitteln können.« Anders als seine
gagement ist man in der Bundesspitze der AfD. rechts zum Identitätsmerkmal. Besonders den Parteikollegin Baerbock glaubt Demirhan
Die von ihr und Schwarzer initiierte Demo Landesverbänden in Thüringen oder Sachsen- nicht an einen Sieg der Ukraine. »Gegen eine
würde der AfD enorm helfen, so die interne Anhalt würde eine Aufweichung der Brand- Atommacht kann man nicht gewinnen.«

24 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

Demirhan steht in der Tradition der Frie- Gemeinden erlebe sie derzeit eine »große,­
densbewegung, die in Deutschland nach dem Frieden nicht um jeden Preis tiefe Kriegsangst«, berichtet die Theologin Käß-
Grauen, das die Deutschen mit dem Zweiten mann. »Viele können nicht schlafen.« Die Theo-
»Sollte die Ukraine aufhören, sich militärisch
Weltkrieg verursacht haben, besonders stark zu verteidigen, um den Krieg schnellstmöglich
login kritisiert, dass in der Debatte vor allem
war. Die Wurzeln seiner Partei liegen auch in zu beenden?«, alle Angaben in Prozent über Waffen gesprochen werde. »Für mich geht
dieser Bewegung. Heute jedoch hat sich die es nur darum: Wie kommen wir möglichst
Spitze der Grünen meilenweit von der dama- stimme eindeutig nicht /eher nicht zu schnell zu einem Waffenstillstand? Und können
ligen Haltung entfernt. unentschieden stimme eindeutig /eher zu wir den wirklich nur herbeibomben? «
Um diese Entwicklung zu verstehen, muss Gemeinsam mit der Deutschen Friedens-
man zurückgehen in die Neunzigerjahre. Im 66 12 22 gesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegne-
Jahr 1999, die neue rot-grüne Bundesregierung rinnen (DFG-VK) und mehr als 15 weiteren
war erst ein paar Monate im Amt, musste sie Friedensgruppen hat Käßmann für dieses Wo-
sich zum Krieg im Kosovo verhalten. Die Grü- »Angenommen, die Ukraine würde Friedens- chenende zu Aktionen in mehr als 20 Städten
nen wollten auf einem Sonderparteitag klären, gespräche mit Russland führen. Was sollte das geladen. Was sich dort unter dem Motto »Stoppt
ob sie einer Beteiligung der Bundeswehr an Ziel der Verhandlungen für die Ukraine Ihrer das Töten in der Ukraine – für Waffenstillstand
Meinung nach sein?«
einem laufenden Nato-Einsatz zustimmen. und Verhandlungen« versammeln will, liest sich
»Ich stehe auf zwei Grundsätzen«, rief der Westdeutschland Ostdeutschland in Teilen wie ein Who’s who der Friedensbewe-
grüne Außenminister Joschka Fischer in den gung. Doch ob die Friedensveteranen an alte
aufgeheizten Saal. »Nie wieder Krieg, nie wie- Wiederherstellung der Grenzen vor der Erfolge anknüpfen können, ist fraglich.
der Auschwitz. Nie wieder Völkermord, nie Annexion der Krim 2014 Der damalige Protest richtete sich gegen
wieder Faschismus.« Kurz vorher hatte Fischer 47 die geplante Stationierung amerikanischer
einen Farbbeutel an den Kopf geschmettert 31 Mit­telstreckenraketen in Europa, die, wie die
bekommen. Am Ende stimmten die Grünen Wiederherstellung der Grenzen vor Beginn des Kritiker fürchteten, einen auf Europa be-
dem Einsatz zu. russischen Angriffs 2022 grenzten Atomkrieg wahrscheinlicher mach-
Fischer begründete seine Politik mit Lehren 32 ten. Die 300 000-Teilnehmer-Demonstration
aus der deutschen Geschichte. Das Ziel könne 35 im Bonner Hofgarten, Oktober 1981, geriet
nicht Frieden um jeden Preis sein. Wenn Völ- zum gesellschaftlichen Großereignis, bei dem
kermorde verhindert werden sollten, müsse Übergabe ukrainischer Gebiete als Gegen- der Weltstar Harry Belafonte ebenso mit von
man bereit sein, das Militär einzusetzen. leistung für sofortigen Rückzug Russlands der Partie war wie Coretta Scott King, die
Auch der Grünenpolitiker Winfried Nacht- 14 Witwe des Bürgerrechtlers Martin Luther
wei stimmte damals für Fischers Kurs, obwohl 24 King. Ebenfalls dabei: SPD-Politiker wie
er sich immer als Friedenspolitiker gesehen ­Erhard Eppler und (auch damals schon) Oskar
hatte. Doch die Auseinandersetzung mit deut- Lafontaine, die quer zu Bundeskanzler Hel-
schen Gräueltaten auf dem Gebiet der ehe- »Werden die Gegner der Lieferung von mut Schmidt standen, der eine Stationierung
maligen Sowjetunion und eine Delegations- Kampfpanzern an die Ukraine Ihrer Meinung der Raketen befürwortete.
nach von den Medien und der Öffentlichkeit in
reise nach Sarajewo 1996 veränderten ihn: Deutschland ausreichend wahrgenommen?« Der heutige Bundeskanzler taugt weniger
»Da wurde die Einsicht unausweichlich, dass gut als Gegner und Feindbild der Bewegung.
Waffengewalt zum Schutz von Bevölkerung eher nein/auf keinen Fall unentschieden Er ist anders als sein Vorbild Helmut Schmidt,
notwendig und legitim sein kann.« eher ja/auf jeden Fall indifferenter. Als Hoffnungsträger für die Frie-
Der 76-jährige Nachtwei, der gerade einen densbewegten taugt Scholz aber erst recht
Artikel über die deutschen Verbrechen in der 46 9 45 nicht. Schrittweise öffnete seine Regierung sich
Ukraine ab 1941 fertig geschrieben hat, sagt: für die Lieferung immer schwereren Geräts:
»Es gibt auch den Wunsch, nie wieder wehrlos Auf die Helme folgten die Panzerfäuste, die
zu sein. Auch das ist eine Lektion aus dem »Gibt es zurzeit in Deutschland eine Haubitzen, der Flakpanzer Gepard, die Rake-
deutschen Vernichtungswahn und dem Zwei- Begeisterung für Militarisierung, die Sie für tenwerfer und schließlich das Versprechen von
ten Weltkrieg. Das wird von vielen, die sich falsch halten?« Schützenpanzern und Kampfpanzern.
zu Pazifisten erklären, ignoriert.« An die »Manifest«-Zeichner hat Scholz eine
stimme eindeutig nicht/eher nicht zu
Ja, er teile den Wunsch, dass das Töten auf- klare Botschaft: »Ich teile diese Überzeugung
unentschieden stimme eindeutig /eher zu
hört. Aber dann folgt seine Liste der Kritik- dieses Aufrufs nicht«, sagte der Bundeskanzler
punkte: Geschichtsvergessenheit, Empathie- 50 9 41
am Donnerstag im Talk mit Maybrit Illner.
losigkeit, eine Verharmlosung des Überfalls, Aber er versprach den Deutschen auch: »Was
eine Verzerrung der Fakten. Er wirft den Fans ich mir ganz fest vorgenommen habe, ist, dass
von Schwarzer und Wagenknecht »Appease- ich in dieser Zeit das Richtige tue. Dass ich mich
ment mitten im Angriffskrieg« vor. »Sollte Deutschland Ihrer Meinung nach die nicht drängen lasse, dass ich keine falschen,
jährlichen Ausgaben für die Bundeswehr im
Jüngere Grüne sehen es meistens ähnlich. Vergleich zu heute eher erhöhen oder eher überstürzten Entscheidungen treffe, dass ich
»Ich kann die emotionale Regung voll nach- senken?« keine Dinge tue, die hinterher alle bedauern,
vollziehen. Alle wollen Frieden«, sagt die sondern dass ich dafür sorge, dass unser Land
29-jährige Abgeordnete Jamila Schäfer. »Aber eindeutig/eher erhöhen diese schwierige Zeit gut übersteht.«
manche verwechseln die pazifistische Ziel- heutige Ausgaben beibehalten Für diesen Krieg gebe es kein Drehbuch,
setzung mit der pazifistischen Methode.« eindeutig/eher senken pflegt Scholz gern zu sagen. Man kann nur
Auch Schäfer sieht sich als Pazifistin. »Aber hoffen, dass dem Kanzler in der aufgeheizten
68 19 13
ich gebe mich nicht damit zufrieden, in ver- Stimmung zwischen all den Petitionen und
zweifelte Ratlosigkeit zu verfallen, sobald ein S Quellen: Civey-Umfragen für den SPIEGEL vom 20. bis Demonstrationen nicht die Regie entgleitet.
21. Febr., bei der Frage nach dem Ziel von Verhandlungen
Aggressor einen Krieg beginnt.« bis 22. Febr.; mindestens 5000 Befragte; die statistische
Eine andere tragende Säule der alten Frie- Ungenauigkeit der Umfragen liegt bei bis zu 2,5 Prozent- Melanie Amann, Susanne Beyer,
punkten, bei der Frage nach Begeisterung für Militarisierung bei Markus Feldenkirchen, Gunther Latsch,
densbewegung in Westdeutschland, die evan- bis zu 2,6, bei der Frage nach dem Ziel von Verhandlungen für
Timo Lehmann, Cordula Meyer,
Befragte aus Westdeutschland bei bis zu 2,9 und aus Ost-
gelische Kirche, ist ihren alten Reflexen hin- deutschland bei bis zu 4,8 Prozentpunkten; an 100 fehlende Ann-Katrin Müller, Tobias Rapp, Marc Röhlig,
gegen weitestgehend treu geblieben. In den Prozent: »weiß nicht / etwas anderes« ­Jonas Schaible, Sara Wess  n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 25


DEUTSCHLAND

»Deutschland darf viel mehr tun«


JUSTIZ  Wann wird die Bundesrepublik zur Kriegspartei, und wie ließe sich Wladimir Putin
vor Gericht stellen? Der Völkerrechtler Claus Kreß, 56, räumt mit falschen Argumenten auf und erklärt,
wie die internationale Gemeinschaft ein Sondertribunal aufstellen müsste.

SPIEGEL: Professor Kreß, Bundeskanzler Olaf Kreß: Eine Beteiligung an der Planung kon- völkerrechtliche Gewaltverbot mit Füßen zu
Scholz hat sein langes Zögern beim Liefern kreter militärischer Operationen der Ukraine treten. Die Entfesselung des Angriffskriegs
von Leopard-Panzern an die Ukraine damit könnte zu einem Kipppunkt werden. ist die Ursünde, die das Tor geöffnet hat für
begründet, er wolle verhindern, dass Deutsch- SPIEGEL: Was wäre die Konsequenz? alle weiteren Übel. Hierzu gehören auch die
land Kriegspartei wird. Werden wir nach dem Kreß: Man müsste dem Uno-Sicherheitsrat zahllosen Tötungen ukrainischer Soldaten im
Völkerrecht zur Kriegspartei, wenn wir immer die Ausübung des Rechts auf kollektive Gefecht, die nicht als Kriegsverbrechen ge-
mehr schwere Waffen schicken? Selbstverteidigung anzeigen. Ein solcher Brief ahndet werden können. Wegen des Verdachts
Kreß: Ich hatte längere Zeit den Eindruck, nach New York wäre vermutlich politisch von Verbrechen der Aggression kann der
dass sich die deutsche Politik hinter dem Völ- ebenso unerwünscht wie der dann auch nahe- Internationale Strafgerichtshof nach seinem
kerrecht versteckt. Die Rechtslage ist klar: liegende Status als Kriegspartei. Doch noch- Statut in diesem Fall leider nicht ermitteln –
Deutschland darf der Ukraine dabei helfen, mals: An der völkerrechtlichen Erlaubtheit anders als bei den anderen völkerrechtlichen
sich zu verteidigen. Deutschland dürfte sogar der kollektiven Verteidigung der Ukraine be- Verbrechen.
noch mehr tun. stünde kein Zweifel. Würde Russland auf eine SPIEGEL: Es ginge also vor allem um die poli-
SPIEGEL: Was meinen Sie? solche kollektive Selbstverteidigung mit mi- tische Dimension?
Kreß: Deutschland dürfte gestützt auf das kol- litärischen Angriffen gegen Ziele der Vertei- Kreß: Für die unmittelbaren Opfer der Ag-
lektive Selbstverteidigungsrecht direkt mili- diger reagieren, würde es erneut das Gewalt- gression ist es doch ein elementarer Punkt,
tärisch an der Seite der Ukraine in den Kon- verbot verletzen. die Urheber eines solchen Kriegs zur Verant-
flikt eingreifen. Die in der deutschen Debatte SPIEGEL: Derzeit wird diskutiert, wie man die wortung zu ziehen. Doch es geht um noch
im Mittelpunkt stehende Frage »Kriegspartei Verantwortlichen für den Angriffskrieg be- mehr: Dringend geboten ist die Bestätigung
ja oder nein« hat mit der Frage, in welchem langen könnte. Warum ist das so schwierig? des völkerrechtlichen Gewaltverbots für die
Umfang Deutschland die Ukraine unterstüt- Der Internationale Strafgerichtshof ermittelt Zukunft. Nach den Aggressionen Deutsch-
zen darf, gar nichts zu tun. Es geht um eine doch schon wegen Kriegsverbrechen und Ver- lands im Zweiten Weltkrieg haben die Ame-
politische Festlegung, die man ja auch poli- brechen gegen die Menschlichkeit und mög- rikaner, aber eben auch die Sowjetunion,
tisch gut begründen kann. licherweise auch Völkermord. darauf gedrängt, mit dem Nürnberger Prozess
SPIEGEL: Welche Waffen wir liefern, ist also Kreß: Diese Ermittlungen erfassen einen be- für die Zukunft einen starken internationalen
völkerrechtlich irrelevant? deutsamen Teil des Unrechts, sie sind sehr Präzedenzfall gegen den Angriffskrieg zu
Kreß: Mich hat gestört, dass deutsche Politiker wichtig. Aber ohne das Verbrechen der Ag- ­setzen.
der Vorstellung Raum gegeben haben, dass gression bleibt eine zentrale Dimension außen SPIEGEL: Welche russischen Verantwortlichen
Deutschland durch Waffenlieferungen das vor: Die Entscheidung der russischen Füh- würden in den Fokus eines Sondertribunals
Völkerrecht verletzen könnte – und dass die- rung, diesen Krieg zu beginnen und damit das für das Verbrechen der Aggression rücken?
ses wiederum Russland berechtigen würde, Kreß: Es ginge um den Führungszirkel Russ-
gegen Deutschland vorzugehen. Das ist falsch, lands. Dazu können auch diejenigen gehören,
solange die Ukraine diese Waffen zur erlaub- die ohne eine entsprechende verfassungs-
ten Verteidigung einsetzt. rechtliche Stellung einen maßgeblichen Ein-
SPIEGEL: Ab welchem Punkt würde Deutsch- fluss auf die Planung, Vorbereitung, Aus­
land denn zur Kriegspartei? lösung und/oder Durchführung des Angriffs-
Kreß: Man sollte von Gewaltverbot und kriegs haben.
Selbstverteidigungsrecht ausgehend fragen: SPIEGEL: Also zum Beispiel Jewgenij Prigo-
Wann wird die Unterstützung der individu- schin, Chef der russischen Söldner-Gruppe
ellen Selbstverteidigung der Ukraine zu einer Wagner?
eigenen Gewaltanwendung Deutschlands, die Kreß: Wenn die Ermittlungen den Verdacht
eine Berufung auf das kollektive Selbstver- erhärten würden, dass er mitbestimmend auf
teidigungsrecht erforderte? Das wäre sicher die Aggression Einfluss nimmt, dann würde
der Fall, wenn Deutschland eigene Soldaten er zu denen gehören, die sich vor einem Son-
einsetzte, wenn etwa die deutsche Luftwaffe dertribunal erklären müssten.
Marcus Simaitis / DER SPIEGEL

oder deutsche Panzer mit deutschen Soldaten SPIEGEL: Es ist doch unrealistisch, dass
besetzt in der Ukraine zum Einsatz kämen. sich die Führungsriege um Wladimir Putin
Dann wäre Deutschland auch Kriegspartei. tatsächlich einem internationalen Gericht
SPIEGEL: Die USA sollen Koordinaten von stellen muss.
russischen Munitionsdepots oder Kasernen Kreß: Heute erscheint das natürlich eher un-
auf ukrainischem Boden nach Kiew übermit- wahrscheinlich. Denn dafür müssten Putin
telt haben. Überschreitet Washington damit und seine Getreuen zum Prozess erscheinen,
die Grenze? Juraprofessor Kreß und das werden sie nicht tun. Aber es könnte

26 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

irgendwann zu einem Regierungs­


wechsel in Russland kommen. Wenn
die neuen Machthaber dann das be­
gangene Unrecht aufarbeiten wollten,
sind Verhaftungen und Überstellun­
gen der Verdächtigen möglich.
SPIEGEL: Darauf deutet nichts hin.
Kreß: So hieß es auch oft vor den
­Prozessen zum Jugoslawienkrieg
gegen Slobodan Milošević, Radovan
Karadžić oder Ratko Mladić. Aber es
kam anders. Im Übrigen wären schon
internationale Ermittlungen ein wich­
tiges Zeichen an die Weltgemein­
schaft. Und welche symbolische Kraft
hätten ein Haftbefehl und eine fun­
dierte, öffentlich zugängliche Anklage­
schrift gegen Putin und Co. Eine im­
mense!
SPIEGEL: Außenministerin Annalena
Mikhail Klimentyev / SPUTNIK / REUTERS

Baerbock hat vor einigen Tagen die


Gründung eines sogenannten hybri­
den Sondertribunals vorgeschlagen.
Was halten Sie davon?
Kreß: Wenig.
SPIEGEL: Könnten Sie das näher er­
läutern?
Kreß: Das »hybride« Gericht, das der
Ministerin vorschwebt, wäre kein
internationales Gericht. Es wäre ein Kriegstreiber Putin starken internationalen Präzedenzfall Strafgerichtshofs zu schließen. Das
ukrainisches Gericht, das in Den gegen Aggression wünschen, der sie ist zwar ein Prozess, der dauern wird.
Haag angesiedelt wäre und ukraini­ für die Zukunft selbst in Zugzwang Doch Ministerin Baerbock hat sich in
sches Recht sprechen würde. Und es brächte. Beide Regierungen weigern Den Haag zu Recht dafür ausgespro­
bestünde die Gefahr, dass es in einer sich bislang, den eigenen Einsatz mi­ chen, ihn anzugehen.
Enttäuschung endet. litärischer Gewalt einer internationa­ SPIEGEL: Wie wollen Sie einem inter­
SPIEGEL: Wieso? len Kontrolle zu unterwerfen. Diese nationalen Tribunal Legitimität ver­
Kreß: Bei einem im Kern ukrainischen Staaten haben zwar nichts dagegen, schaffen?
Tribunal würde Putin nach dem gel­ wenn gegen das Verbrechen der Ag­ Kreß: Hierfür gibt es ein klares Mo­
tenden Völkerrecht als amtierendes gression vorgegangen wird, solange dell: Die Vereinten Nationen und die
Staatsoberhaupt Immunität genie­ es die russischen Verdächtigen trifft. Ukraine schließen einen Vertrag. Die­
ßen. Wie wollen Sie der ukrainischen Aber das Unbequeme am Völkerstraf­ ser Vertrag wird vom Generalsekretär
Bevölkerung vermitteln, mit beträcht­ recht ist eben, dass es auf alle an­ im Namen der Vereinten Nationen
lichem Aufwand ein Tribunal einzu­ gewendet werden muss. Genauso abgeschlossen, nachdem ihn die
setzen, das gegen den Hauptverdäch­ hatte es übrigens Robert Jackson, der ­Uno-Generalversammlung darum er­
tigen nicht vorgehen kann? Zudem Ankläger der USA, bei der Eröff­- sucht hat.
muss von einem Tribunal ein wir­ nung des Nürnberger Prozesses ver­ SPIEGEL: Manche behaupten, dazu sei
kungsvolles Signal zur Bekräftigung sprochen. nur der Uno-Sicherheitsrat berechtigt
des universellen Gewaltverbots aus­ SPIEGEL: Sie befürworten ein inter­ – in dem Russland ein Vetorecht hat.
gehen. Ein solches Signal kann aber nationales Tribunal gegen die Ver­ Kreß: Das überzeugt nicht. Der lang­
nur ein internationales Tribunal sen­ antwortlichen in Russland. Nur wird jährige Rechtsberater der Vereinten
den, das in der Nürnberger Tradition sofort der Vorwurf aus dem globalen Nationen, Hans Corell, hat jüngst mit
steht und den internationalen Tat­ Süden kommen, dass der Westen Nachdruck bestätigt, dass die Gene­
bestand der Aggression anwendet. schnell mit dem Völkerrecht dabei ist, ralversammlung so wie beschrieben
SPIEGEL: Baerbock hat einen Master- wenn es um die Verurteilung anderer an der Gründung eines internationa­
Abschluss in internationalem Recht. geht, sich aber selbst diesem Recht len Tribunals mitwirken kann. Auch
Wie beurteilen Sie es, dass ausgerech­
»Die Frage nicht unterwerfen will. hier dienen angebliche völkerrecht­
net sie das hybride Modell favorisiert? nach der Kreß: Die Frage nach der Glaubwür­ liche Zweifel der Bemäntelung eines
Kreß: Ich vermute politische Gründe, Glaubwürdig­ digkeit des Westens ist gerade beim fehlenden politischen Willens.
nicht zuletzt den Schulterschluss mit Verbrechen der Aggression leider be­ SPIEGEL: Es gibt auch ein politisches
Frankreich und Großbritannien. Bei­ keit des rechtigt. Daher sollte man eine zwei­ Argument gegen dieses Tribunal: Es
de sind für das »hybride« Modell. ­Westens ist gleisige Strategie fahren, die darin ist unklar, ob man dafür überhaupt
SPIEGEL: Wollen Paris und London
womöglich das Verbrechen der Ag­
beim Ver­ besteht zu sagen: Jetzt wird ein spe­
zielles Gericht eingerichtet, weil wir
eine Mehrheit der Staaten gewinnen
kann.
gression nicht verfolgt sehen, weil sie brechen der das völkerrechtliche Signal in diesem Kreß: Ich bin nicht für die Einrichtung
selbst schon Angriffskriege geführt Aggression dramatischen Notfall schnell brau­ eines Sondertribunals um jeden Preis.
haben? chen. Gleichzeitig gilt es, für die wei­ Ich bin nur dafür zu haben, wenn
Kreß: Weil die Regierungen dieser
leider tere Zukunft die prinzipienwidrige hierfür eine überzeugende Mehrheit
beiden Staaten, so fürchte ich, keinen ­berechtigt.« Lücke im Statut des Internationalen in der Generalversammlung gewon­

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 27


DEUTSCHLAND

Flexibles Vorteilsangebot. nen werden kann. Bislang hat man indessen


gar nicht versucht, für eine solche Mehrheit
Lesen Sie den SPIEGEL, zu werben. Ohne einen solchen Versuch wirkt
der Hinweis auf die hohe Mehrheitshürde wie
eine Prophezeiung, die darauf angelegt ist,
solange Sie möchten. sich selbst zu erfüllen.
SPIEGEL: Es würde helfen, wenn man die
Flexibel bleiben. wichtigsten europäischen Partner, nämlich
Kurze Laufzeit, monatlich kündbar Franzosen und Briten, an seiner Seite hätte.
Kreß: Ja, aber Deutschland darf im Dienst
25 % Rabatt. der guten Sache auch einmal vorangehen.
Die ersten 52 Ausgaben für nur € 4,20 statt € 5,60 pro So haben es die Bundesregierungen in den
Ausgabe letzten knapp 25 Jahren Verhandlungen zum
Verbrechen der Aggression gehalten, dies
Kostenloser Versand. stets auch mit Blick auf die besondere his­
Wöchentliche Lieferung frei Haus innerhalb Deutschlands torische Verantwortung Deutschlands. Bei
Noch mehr. dem jetzt gebotenen nächsten Schritt wäre
man in Europa im Übrigen keineswegs allein.
Inklusive der Beilagen SPIEGEL Bestseller und SPIEGEL Geld
Denn bei den meisten Europäern, die
sich bislang intensiv an der Diskussion
­beteiligen, gibt es großen Zuspruch für ein
internationales Sondertribunal als Teil der
soeben skizzierten zweigleisigen Strategie.
Zwölf europäische und außereuropäische
Einfach jetzt anfordern: Staaten, darunter auch die Ukraine, haben
sich kürzlich in einem Papier dafür aus­
abo.spiegel.de/flexibel25 gesprochen.
SPIEGEL: Die deutsche Politik hat jetzt fast ein
oder telefonisch unter 040 3007-2700 Jahr gebraucht, um sich überhaupt zu einer
Position durchzuringen. Wie bewerten Sie
(Bitte Aktionsnummer angeben: SPAZ-002) dieses Zögern?
Kreß: Ich habe es nicht verstanden. Im Grun­
de genommen war am 24. Februar 2022, dem
25 % Tag der Entfesselung des Angriffskriegs, klar:
Jetzt muss das Verbrechen der Aggression auf
sparen im
ersten Jahr die internationale Tagesordnung. Leider hat
dieses Verbrechen nicht nur in der deutschen
Politik, sondern in der westlichen Politik ins­
gesamt im langen Vorfeld des Angriffskriegs
keine Rolle gespielt.
SPIEGEL: Was hätte das geändert?
Kreß: Selbst jemand wie Putin ist daran inte­
ressiert, dass seine internationale Reputation
nicht in tiefste Abgründe stürzt. Da macht es
einen Unterschied, ob man ihm nur signali­
siert, dass ein Angriffskrieg gegen die Ukrai­
ne ein politischer Fehler wäre, oder ob man
sagt, es wäre ein völkerrechtliches Verbre­
chen. Generell gilt: Wenn die völkerrechtliche
Strafbarkeit der Aggression mittel- und lang­
fristig eine präventive Bedeutung erlangen
soll, dann muss man sie auf der internationa­
len Ebene genauso konsequent thematisieren
wie diejenige von Völkermord, Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und Kriegsver­
brechen.
SPIEGEL: Irgendwann wird man über das Ende
des Kriegs verhandeln müssen. Könnte man
solche Gespräche mit einem Präsidenten füh­
ren, den man zugleich vor Gericht bringen
will?
Kreß: Das Völkerstrafrecht ignoriert die
schmerzlichen Dilemmata der internationalen
Beziehungen nicht. Humanitäre oder politi­
sche Gründe können erzwingen, dass man
sagt, das Strafrecht muss jetzt hintanstehen.
Interview: Rafael Buschmann, Ralf Neukirch n

28 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

Firmen an die russische Rüstungsindustrie


geliefert würden. Eine Analyse der ukraini-
schen Streitkräfte habe demnach gezeigt, dass
in 10 von 27 untersuchten russischen Waffen
wie Raketen, Hubschraubern und Drohnen
oder deren Überresten Mikrochips aus den
Niederlanden verbaut gewesen seien.
Seit Monaten machen in Sicherheitskreisen
einiger Länder zudem Berichte die Runde,
wonach chinesische Firmen Satellitenbilder
vom Kampfgebiet an die russische Seite lie-
fern sollen. Die US-Regierung setzte deswe-
Konstantin Kalishko / ddp

gen kürzlich die chinesische Satellitenfirma


Changsha Tianyi Space Science and Techno-

Sven Hoppe / dpa


logy Institute auf ihre Sanktionsliste. Deren
Bilder seien erlangt worden, um der für be-
sondere Brutalität bekannten russischen Söld-
Russische Su-27, Politiker Baerbock, Wang: »Grundlose Spekulationen und Verleumdungen« nertruppe Wagner »Kampfoperationen in der
Ukraine« zu ermöglichen.
In Berlin liegen zudem Informationen vor,
wonach China handelsübliche Drohnen an

Geheimdeal mit Moskau?


russische Abnehmer liefert, die auch zu Auf-
klärungszwecken im Krieg genutzt werden
können. Militärs bezeichnen solche Geräte
als Dual-Use-Objekte.
Nach SPIEGEL-Informationen werden die-
UKRAINEKRIEG  Die USA und Deutschland haben China vor Waffen­ se Drohnen durch vom chinesischen Staat
kontrollierte Import-Export-Firmen über die
lieferungen an Russland gewarnt. Nach SPIEGEL-Informationen Vereinigten Arabischen Emirate an die russi-
sollen Peking und Moskau aber bereits über den Kauf von 100 Kampf­ schen Streitkräfte geliefert. Nach Angaben
drohnen verhandeln – die schon im April geliefert werden könnten. von Personen, die mit der Analyse der Ge-
schäfte vertraut sind, verwenden russische
Einheiten die Drohnen tatsächlich zur Auf-

U
S-Außenminister Antony Blinken ver- davon bei ihren Angriffen in der Ukraine ein- klärung an der ukrainischen Front.
zichtete auf die üblichen diplomatischen gesetzt. Die Opfer waren oft Zivilisten, die Wohl auch deswegen sprachen Bundes-
Floskeln, als er von seinem Treffen mit Russen zielten auf Wohnhäuser, Kraftwerke, kanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenminis-
dem chinesischen Chefdiplomaten Wang Yi Fernwärmeanlagen. terin Annalena Baerbock (Grüne) Wang Yi
am vergangenen Wochenende in München In einem weiteren Schritt soll Bingo planen, bei der Münchner Sicherheitskonferenz auf
berichtete. »Die Sorge, die wir jetzt haben, Komponenten und Know-how nach Russland mögliche militärische Unterstützung Moskaus
basiert auf Informationen, die wir haben, wo- zu liefern, damit dort eine Produktion auf- durch Peking an. »Ich habe bei meinem letz-
nach China erwägt, Waffen zu liefern«, sagte gebaut werden kann. So sollen rund 100 Droh- ten Gespräch mit Vertretern Chinas klar ge-
Blinken dem Sender CBS. »Wir haben sehr nen im Monat gebaut werden können. sagt, dass das nicht akzeptiert werden kann«,
klargemacht, dass das ein ernstes Problem für Schon im vergangenen Jahr soll es in China sagte der Kanzler am Donnerstag in der ZDF-
unsere Beziehung verursachen würde.« Pläne gegeben haben, das russische Militär Sendung »Maybrit Illner«.
China keilte umgehend zurück. Ein Spre- deutlich handfester zu unterstützen als bislang Wang soll nach SPIEGEL- Informationen
cher des Außenamts warf Blinken Desinfor- bekannt. Nach SPIEGEL -Informationen soll kühl auf die deutsche Konfrontation reagiert
mation vor. Doch nach SPIEGEL -Informatio- damals ein Unternehmen unter Kontrolle der haben. China, so soll er behauptet haben, hal-
nen geht die geplante Kooperation zwischen chinesischen Volksbefreiungsarmee geplant te sich an die Regeln.
Peking und Moskau sogar weiter, als es bei haben, Ersatzteile für russische Kampfjets vom Auch das chinesische Außenministerium
Blinken anklang. Typ Su-27 und weitere Modelle zu liefern. dementierte gegenüber dem SPIEGEL Waf-
Demnach sollen das russische Militär und In dem Zusammenhang soll bereits die Er- fenlieferungen an Russland, ohne auf die kon-
der chinesische Drohnenhersteller Xi’an Bin- stellung falscher Frachtpapiere geplant ge- kreten Vorwürfe einzugehen. »Es ist eine be-
go Intelligent Aviation Technology über die wesen sein, um die Teile für die Militär­ kannte Tatsache, dass Nato-Staaten, ein-
Massenproduktion von Kamikazedrohnen maschinen als Ersatzteile für die zivile Luft- schließlich der USA, die größte Waffenquelle
für Russland verhandeln. Die Informationen fahrt erscheinen zu lassen. für das Schlachtfeld in der Ukraine sind, aber
bringen eine neue Qualität in die Debatte Im Januar berichtete der niederländische sie behaupten immer wieder, dass China mög-
über eine mögliche militärische Unterstüt- öffentlich-rechtliche Rundfunk NOS, dass licherweise Waffen an Russland liefert. Dies
zung Russlands durch China. niederländische Mikrochips über chinesische ist ein bekannter Trick, der kurz nach Aus-
Bingo soll sich bereit erklärt haben, bruch der Ukrainekrise angewendet und
100 Drohnen des Prototyps ZT-180 zu produ- ­offenbar wurde«, teilte ein Ministeriumsspre-
zieren, zu testen und sie dem russischen Ver- cher über die chinesische Botschaft in Berlin
teidigungsministerium bis April zu liefern. mit. »Wir fordern die Nato auf, grundlose
Nach Einschätzung von Militärexperten soll
jede ZT-180 einen Sprengkopf von 35 bis
Jede chinesische ZT-180 Spekulationen und Verleumdungen gegen
China in der Ukrainefrage einzustellen.« Die
50 Kilogramm tragen können. soll einen Sprengkopf russische Botschaft in Berlin ließ Fragen des
Das Design dürfte dem der iranischen Ka-
mikazedrohne des Typs Shaheed-136 ähneln,
von bis zu 50 Kilogramm SPIEGEL unbeantwortet.
Melanie Amann, Maik Baumgärtner, Matthias
heißt es. Die russische Armee hat Hunderte tragen können. Gebauer, Martin Knobbe, Fidelius Schmid  n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 29


DEUTSCHLAND

se zu verteilen, Lindner kämpft mit


ausufernden Defiziten.
Die Rücklagen aus dieser Zeit des
Überflusses sind entweder ver­

Beichtstunde in Berlin
braucht oder verplant. Frische Kre­
dite, während der Coronapandemie
nach Bedarf und Belieben aufge­
nommen, sind auch kein Ausweg
mehr. Seit diesem Jahr hält sich Lind­
KOALITION  Die Fronten in der Regierung verhärten sich. Grüne und ner wieder an die Vorgaben der
Schuldenbremse, die ihm nur sehr
SPD fordern beim Streit um den Haushalt mehr Geld für ihre begrenzt erlaubt, in den Dispo zu
Herzensprojekte, FDP-Finanzminister Lindner stemmt sich gegen neue gehen.
Steuern und Schulden. Jetzt hat der Kanzler Position bezogen. Dass er das geschafft hat, macht
Lindner mächtig stolz. 2024 will er
seinen Erfolg wiederholen. Die Vor­

A
m späten Nachmittag des Ro­ SPIEGEL -Informationen am Ende gabe des Grundgesetzes lasse sich
senmontags versammelte sich auf die Seite seines Finanzministers. Schulden- nicht von einem Jahr aufs andere be­
das Dreigestirn der Koalition Das Ergebnis: Auch beim Etat fürs disziplin liebig aushebeln, argumentiert er.
im Kanzleramt. Doch nach Späßen nächste Jahr wird sich die Ampel an Doch so steht der Finanzminister
und Ausgelassenheit war Bundes­ die Schuldenbremse halten, höhere Nettokreditaufnahme vor riesigen Finanzierungslücken.
kanzler Olaf Scholz (SPD), Vize­ Steuern oder andere Einnahme­ des Bundes*, in Um die im vergangenen Jahr zwi­
Milliarden Euro
kanzler Robert Habeck (Grüne) und verbesserungen bleiben ausgeschlos­ schen den Ressorts vereinbarten Etat­
Finanzminister Christian Lindner sen. Als ausgleichender Moderator 215 ansätze zu finanzieren, fehlen ihm
(FDP) nicht zumute. Zu sehr hatte möchte der Kanzler dem nach fünf zwölf Milliarden Euro, rechnete Lind­
der öffentlich gewordene Briefwech­ verlorenen Landtagswahlen ange­ ners Haushaltsstaatssekretär Werner
sel zwischen Habeck und Lindner schlagen und dünnhäutig wirken­ Gatzer Mitte Januar seinen Kollegen
über die künftige Haushaltspolitik in den  FDP-Chef ein Erfolgserlebnis 130 aus den anderen Ressorts vor.
der Woche zuvor auf die Stimmung gönnen. 115 Das ist nicht Lindners einziges
der Koalitionäre geschlagen. Auch wenn sich der Finanzminis­ Problem. Hinzu kommen noch ein­
In dem wenig freundschaftlichen ter fürs Erste in seiner Linie bestätigt mal bis zu 70 Milliarden Euro, die
Schriftverkehr ging es vor allem um sehen dürfte, seine Aufgabe wird da­ die Ressorts zusätzlich ausgeben
die Frage, ob die Regierung frische durch nicht einfacher. Lindner steht 46 möchten.
Einnahmen braucht, um die Lücken vor den schwierigsten Etatverhand­ 25 Vieles davon ist reines Wunsch­
in der Finanzplanung zu stopfen – lungen seit vielen Jahren. Nichts, was denken, das meiste wird Lindner in
sprich Steuererhöhungen. seinen Vorgängern die Arbeit erleich­ 2020 21 22 23 2024 den Chefgesprächen mit den Kabi­
Habeck ist dafür, Lindner dagegen. terte, steht ihm noch zur Verfügung. * gerundet; 2023: Soll; nettskollegen wegverhandeln, die
2024: Prognose
Bei dem mehr als zweistündigen Deren größte Herausforderung be­ S Quellen: BMF, eigene
kommende Woche beginnen. Doch
Krisentreffen schlug sich Scholz nach stand lange darin, üppige Überschüs­ Recherche einige Mehrausgaben scheinen unaus­
weichlich. So steht fest, dass Vertei­
digungsminister Boris Pistorius (SPD)
mehr Geld bekommen soll. Im Ge­
spräch ist eine Summe zwischen fünf
und zehn Milliarden Euro.
Als Major der Reserve kennt Lind­
ner die Geldnöte der Truppe gut.
Außerdem möchte er dem Neuling
im Kabinett, der es in kürzester Zeit
an die Spitze der Beliebtheitsskala
geschafft hat, einen guten Start er­
möglichen.
Auch der Finanzminister selbst
trägt zu seinen Geldnöten bei. So
brachte Lindner vergangene Woche
Steuerentlastungen für die Wirtschaft
ins Gespräch, die einen zweistelligen
Milliardenbetrag kosten dürften
(SPIEGEL 8/23). Zudem will er die
Aktienrente, ein liberales Lieblings­
Lars-Josef Klemmer / EPA-EFE / ddp

projekt, 2024 aufstocken. Kosten­


punkt: weitere zehn Milliarden Euro.
Lindners unentschiedene Botschaft
ermutigt die Koalitionspartner, zu­
sätzliche Wünsche anzumelden, die
vor allem sozialpolitische Maßnah­

* Bei der Eröffnung des LNG-Terminals in


Partner Habeck, Scholz, Lindner: Wer muss zurückstecken? Wilhelmshaven am 17. Dezember.

30 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

Einfach
men betreffen. Die gesetzlichen Kranken-
kassen brauchen Milliarden vom Bund, um
ihr Defizit auszugleichen, und auch die
­Pflegeversicherung steht vor einer Reform.
Ganz zu schweigen davon, dass Länder und

wissen
Kommunen am Bund zerren, um zusätzliche

m eh r
Milliarden für die Unterbringung von Flücht-
lingen loszueisen.
»Wenn der Finanzminister zehn Milliar-
den Euro in eine Aktienrente investieren
kann, dann muss es auch möglich sein, an-
dere Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag
umzusetzen, nämlich pflegebedürftige Men-
schen zu unterstützen«, findet Heike Baeh-
rens, gesundheitspolitische Sprecherin der
SPD-Fraktion.
Weil der Haushalt in Zahlen gegossene
Politik ist, feilschen alle Beteiligten verbissen
um ihre Vorhaben. Auch die Grünen befürch-
ten, dass in Zeiten leerer Kassen einige ihrer
Herzensanliegen auf der Strecke bleiben, zum
Beispiel die Kindergrundsicherung. Sie steht
im Koalitionsvertrag, Lindners Aktienrente
oder die »Superabschreibung« für Unterneh-
men allerdings auch.
Jetzt rächt sich, dass die Ampelparteien,
anders als zuvor die Große Koalition, ver-
säumt haben, ihre Prioritäten festzulegen.
Niemand weiß, welches Projekt Vorrang ge-
nießt.
Angesichts von Lindners Etatplänen er-
klärt jeder die eigenen Wünsche zu zentralen
Vorhaben der Koalition. »Der Koalitions- Jetzt
vertrag ist weiterhin die Grundlage für die
Haushaltsaufstellung«, sagt Sven-Christian am
Kindler, haushaltspolitischer Sprecher der
Grünenfraktion. Zeitenwende hin oder her.
Kiosk
Besonders bangen die Grünen um ihr so-
zialpolitisches Prestigeprojekt, die Kinder-
grundsicherung. »Gerechte Chancen für Kin-
der gibt es nicht zum Nulltarif«, sagt Kindler.
Es gehe um »eines der Schlüsselprojekte des
Koalitionsvertrages«.
Unter den Grünen geht die Sorge um, FDP
und SPD könnten dem geplanten Etat-Auf-
wuchs des Verteidigungsministeriums alles
andere unterordnen – auch die Sicherheit im
eigenen Land. »Russland fordert die Nato
nicht nur militärisch heraus«, sagt Sara Nan-
ni. Die grüne Verteidigungspolitikerin ver-
weist auf Mängel bei kritischer Infrastruktur
Das Nachrichten-
und Cyberabwehr und auf die im vergangenen
Jahr vereinbarten Kürzungen bei Auswärti-
Magazin für Kinder
gem Amt und Entwicklungsministerium, die
sich auf mehrere Milliarden belaufen. Für alle Kinder, die mitreden wollen.
»Wenn wir uns jetzt weniger statt mehr in Verständlich und spannend erklären SPIEGEL-Autoren aktuelle
den Ländern des Globalen Südens engagie-
ren, konterkariert das unsere diplomatischen Themen aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Technik. Dazu kommen
Bemühungen um die Isolation Russlands.« Büchertipps, Comics und kreative Ideen zum Mitmachen.
Sicherheit sei mehr als der Verteidigungshaus-
halt. »Finanzminister Lindner scheint das aus-
zublenden«, so Nanni. Die FDP habe die
Zeitenwende nicht vollzogen.
Gefragt nach möglichen Geldquellen für
ihre Lieblingsvorhaben, schlagen Grüne den Mehr erfahren:
Abbau umweltschädlicher Subventionen vor,
wie er im Koalitionsvertrag verabredet ist. www.deinspiegel.de
Etliche Milliarden Euro ließen sich laut Um-

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 31


DEUTSCHLAND

weltbundesamt einsparen, zum Beispiel mit Bundeshaushalt vorbei. Doch die SPD-Idee,
der Kürzung der Pendlerpauschale. Geld aus dem »Doppelwumms« für normale
Alternativ verweisen sie auf die Locke- Ausgaben umzuwidmen, findet Lindner un-
rung der Schuldenbremse – wohl wissend, verantwortlich, seine Juristen halten sie gar
dass die FDP nicht mitziehen würde. Plan C für verfassungswidrig. Sie sind davon über-
könnte eine Steuerreform sein, die Geld zeugt, dass das Vorhaben beim Bundesver-
bringt, heißt es bei den Grünen: Niedrigere fassungsgericht in Karlsruhe landen und
Sätze für Ärmere, höhere für Reichere. Auch scheitern würde.
eine einmalige Vermögensabgabe ist im Ge- Ermutigt durch den Rosenmontagsbei-
spräch. stand des Kanzlers, macht sich Lindner lieber
Weitere Ideen? »Wenn wir es schaffen, daran, das Projekt Haushalt 2024 vorzeigbar
konsequenter gegen Finanzkriminalität vor- zu machen – und zwar so, dass es den FDP-
zugehen, sorgen wir für mehr Gerechtigkeit Glaubenssätzen zu Steuern und Schulden
und erhöhen die Staatseinnahmen«, sagt Grü- ebenso gehorcht wie den Vorgaben des
nen-Haushälter Bruno Hönel. »Da darf der Grundgesetzes.
Finanzminister keine Zeit verlieren.« Bis der Haushaltsentwurf Mitte März vom
FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai Kabinett beschlossen wird, setzt Lindner auf
zeigt sich genervt von den wiederholten Ver- sein Verhandlungsgeschick, die Einsicht an-
suchen der Koalitionspartner, die finanz­

Dominik Butzmann
derer Ressortkollegen, die Fähigkeit seiner
politische Duldsamkeit der FDP zu testen. Beamten zu kreativer Buchführung – und
»SPD und Grünen sollte mittlerweile klar nicht zuletzt auf Hoffnungswerte.
sein, dass es mit der FDP keine Steuererhö- So spekuliert der Liberale darauf, dass
hungen und strukturellen Mehrbelastungen SPD-Chefin Esken die Steuereinnahmen kräftiger sprudeln als
geben wird«, sagt er. Der Koalitionsvertrag zuletzt gedacht. Die Chancen dafür stehen
schließe solche Vorhaben aus. Er sei es leid, sagt Esdar. »Wir haben dazu Vorschläge nicht ganz schlecht, denn die im Herbst
SPD und Grüne ständig darauf hinweisen zu unterbreitet – etwa eine einmalige Vermö- ­vergangenen Jahres als sicher angenommene
müssen. »Wir sollten vielmehr unsere An- gensabgabe oder die gezielte Besteuerung Rezession fällt geringer, wenn nicht sogar
strengungen darauf fokussieren, unsere Wett- von Krisengewinnen.« ganz aus. Die verbesserte Wirtschaftsla-
bewerbsfähigkeit zu stärken und Entlastungs- Doch Scholz weiß: Steuererhöhungen sind ge  dürfte ihm einige Milliarden Euro in
schritte vorzunehmen«, meint der General- mit Lindner und dessen FDP nicht zu ma- die Kasse spülen, was die Not ein wenig
sekretär. chen, genauso wenig wie eine abermalige ­lindert.
Die Fronten in der Koalition verhärten Ausnahme von der Schuldenbremse. Er hat Lindner ist zudem entschlossen, die Neu-
sich, und mitunter nehmen die Streitereien kein Interesse daran, die Liberalen vorzu- verschuldung, die ihm die Schuldenbremse
bizarre Züge an. Dieser Tage beugen sich die führen. Er braucht die FDP, ohne die seine fürs nächste Jahr erlaubt, vollständig auszu-
Partner immer wieder über den Koalitions- Koalition keine Mehrheit hätte und er selbst schöpfen. Sie liegt nach aktuellen Berech-
vertrag, um nach Argumenten für ihre gegen- nicht Kanzler wäre. Also rüttelt Scholz weder nungen des Finanzministeriums bei rund
seitigen Sticheleien zu suchen. an der Schuldenbremse, noch unterstützt er 15 Milliarden Euro.
Bei den Grünen heißt es etwa, der Vertrag Pläne für höhere Abgaben. Hinzukommen sollen noch einmal 10 Mil-
schließe »mit keinem Wort« Steuererhöhun- Die SPD mag davon nicht begeistert sein, liarden Euro für die Aktienrente. Sie zählen
gen aus. Damit haben sie sogar recht. aber sie wird ihrem Kanzler folgen. Man kön- bei der Schuldenbremse nicht mit, weil
Diese Vorhaltung parieren sie in der FDP ne jetzt keine neuen Koalitionsverhandlun- dem Zuschuss an die Rentenkasse eine For-
mit dem Verweis auf das Sondierungspapier, gen führen, heißt es in ihren Reihen. derung des Bundes in gleicher Höhe gegen-
das vor den Koalitionsgesprächen entstand. In der Parteispitze kursiert nun auch eine übersteht. Lindner plant also mit einer Neu-
Dort stehe auf Seite zehn der Satz: »Wir wer- andere Finanzierungsidee für all die strittigen verschuldung von mindestens 25 Milliarden
den keine neuen Substanzsteuern einführen Vorhaben. Die 200 Milliarden Euro aus dem Euro.
und Steuern wie zum Beispiel die Einkom- »Doppelwumms«, wie Scholz den Fonds zur Sollte er die Finanzierungslücken bis Mit-
men-, Unternehmen- oder Mehrwertsteuer Dämpfung der Energiepreise nannte, werden te März nicht vollständig schließen können,
nicht erhöhen.« Aus Sicht der FDP beschreibt voraussichtlich nicht ausgeschöpft. Dieses will er sich mit einer sogenannten Globalen
die Passage den Geist, dem sich die Koalitio- Geld ließe sich nutzen, um Projekte der Koali­ Minderausgabe behelfen. Dieser Etatposten
näre verpflichtet fühlten. Doch mehr als ein tion zu finanzieren, schlagen Genossen vor. macht klar, dass Geld im Haushalt fehlt, das
Jahr später ist davon wenig übrig geblieben. Das sei doch eine gesichtswahrende Lösung erst noch eingespart werden muss. Nur steht
Kanzler Scholz will keinen der beiden für Lindner. noch nicht fest, wo.
­Koalitionspartner verprellen. Allerdings Tatsächlich zeigte der liberale Finanz­ Eine weitere Möglichkeit wäre, einen so-
wächst der Druck auch in den eigenen minister im vergangenen Jahr ein erstaun­ genannten Handlungsbedarf auszuweisen.
Reihen: Seine Genossen fordern mehr
­ liches Faible für Finanzierungen am regulären Dabei gibt die Regierung zu, dass in ihren
Geld für Soziales. SPD-Chefin Saskia Esken Planungen eine Lücke klafft. Sie lässt aber
zeigte sich offen für eine Vermögensabgabe offen, wie sie das Loch schließen wird.
und forderte ein Sondervermögen für Mit solchen Tricks könnte sich Lindner
­Bildung. Zeit kaufen und Mitte März ein halbwegs
Generalsekretär Kevin Kühnert deutete stimmiges Zahlenwerk vorlegen. Zum Schwur
eine erneute Ausnahme der Schuldenbrem- »Wenn wir es schaffen, käme es erst im Juli, wenn das Kabinett den
se an. Und Wiebke Esdar, Sprecherin der konsequenter gegen endgültigen Regierungsentwurf für den Haus-
Parlamentarischen Linken in der SPD, bringt halt 2024 beschließt.
ganz offen Steuererhöhungen ins Gespräch, ­Finanzkriminalität vor­ Bis dahin muss Lindner die Löcher nach-
um zentrale Punkte wie die Kindergrund­ zugehen, sorgen wir vollziehbar gestopft haben.
sicherung finanzieren zu können.
»Wenn es dazu Mehreinnahmen bedarf, für mehr Gerechtigkeit.« Milena Hassenkamp, Marina Kormbaki,
Christian Reiermann, Jonas Schaible,
muss auch das in Erwägung gezogen werden«, Bruno Hönel, Grünenpolitiker Christian Teevs, Severin Weiland  n

32 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


Beide gleich. Denn beide arbeiten im
Wer von Handwerk. Tischler Thorsten Hein digitalisiert Mar-
keting und Vertrieb seiner eigenen Holzmanufaktur
und organisiert Lernworkshops für Kitas und Schulen.
beiden Priyanka Balamohan ist Bäcker- und Konditormeis-
terin, geprüfte Betriebswirtin und Prokuristin ihrer

arbeitet Familienbäckerei mit 25 Mitarbeiterinnen und


Mitarbeitern.

mehr mit Ohne Expertise geht im Handwerk nichts. Dafür sorgen


die duale Berufsausbildung, Fort- und ständige

dem Kopf? Weiterbildung. Jetzt entdecken, wie viel Köpfchen


im Handwerk steckt: www.handwerk.de/neudenken
DEUTSCHLAND

sie politisch groß wurde. Man muss Sie ist angefasst von dem Ergebnis,
lange suchen, um in diesem Wahl- verunsichert, so ganz erklären kann
ergebnis einen Aspekt zu finden, der sie sich das alles noch nicht. Manch-
sich für sie halbwegs wohlwollend mal rauscht alles innerlich wieder an

»Allet jut«
deuten lässt. ihr vorbei. Der Wahlsonntag, 16 Uhr.
Ihre alte Koalition hat rechnerisch Sie sitzt zu Hause, bekommt die ers-
noch eine Mehrheit. Vielleicht das. ten internen Trends. Platz zwei, aber
Aber Giffey gibt nicht auf. Sie son- nur knapp hinter der CDU, das ist die
diert, lotet aus, holt sich den Rückhalt Botschaft. Giffey steigt halbwegs er-
DEMOKRATIE  Nach ihrer Wahlniederlage in Berlin ihrer Partei, belauert die CDU. Weil leichtert ins Auto, aber als sie am Fest-
die Sozialdemokraten hauchdünn vor saal Kreuzberg ankommt, wo ihre
kämpft Franziska Giffey an vielen Fronten um den Grünen landeten, hat sie noch Partei das Ergebnis feiern will, kur-
ihre Karriere. Besuch bei einer Frau, die einfach eine Chance. Sie ist erst 44, könnte sieren schon neue Zahlen, düstere.
immer weitermacht. noch einmal versuchen, das Links- Sie telefoniert mit der SPD-Spitze,
bündnis neu zu starten, von vorn hofft, bangt, aber am Ende ist klar:
­anzufangen, mit neuen Leuten und Sie hat verloren. Giffey erzielt das

S »Wenn ich das


ie liest gerade alles. Auf dem neuen Ideen für die Hauptstadt. schlechteste SPD-Ergebnis der Nach-
Handy, in den Zeitungen, egal. Jedenfalls dann, wenn ihr Vorsprung kriegsgeschichte, ist bei ihren Auf-
Sie liest die Kommentare, die lese, wir vor den Grünen in der kommenden tritten den Tränen nahe.
über sie geschrieben werden. Die klebten alle Woche auch amtlich bestätigt wird. »Das hat niemand erwartet. Das
Analysen, die ihren Absturz nach-
zeichnen. Berichte, wenn irgendwo
an unseren Aber geht das? Ist das anständig,
nach dieser Niederlage einfach wei-
war schon ein Schock«, sagt sie.
Eigentlich, so sieht sie es, sei doch
Stimmen nachgezählt werden. Den Posten. Ich terregieren zu wollen? Warum macht alles halbwegs gut gelaufen, seit sie
Spott, der sich über sie ergießt. Nicht hab doch noch sie nicht was Schönes, warum klebt Regierende wurde. Krisenpakete,
mal den Hass erspart sie sich. sie an der Macht? Wohngeldreform, Sozialticket, sie
Facebook, Instagram. »Schaue ich gar nichts »Ach, wissen Sie«, sagt Franziska kann ihre Projekte im Schlaf auf­
mir alles an«, sagt Franziska Giffey. entschieden!« Giffey. »Wenn ich das lese, wir kleb- sagen. »Wir haben ein Wirtschafts-
»Wenn man erst mal drin ist, liest man ten alle an unseren Posten. Da sage wachstum über dem Bundesschnitt,
weiter. Die Energie wird einem ab- ich ganz ehrlich: Ich hab doch noch unsere Betriebe sind nicht reihenweise
gezogen, die Laune wird schlecht. Es gar nichts entschieden!« Sie rede ge- pleitegegangen, wir hatten keine
ist eigentlich verrückt, völlig kontra- rade nur mit anderen Parteien. »Das Blackouts, keine Engpässe«, sagt Gif-
produktiv.« Giffey zuckt mit den ist ja wohl in einer Demokratie legi- fey. Wenn man ihr zuhört, klingt es,
Schultern, lacht. Ist halt so. tim. Diese Kampagnen. Die sind nicht als hätte die SPD eigentlich eine Al-
Vielleicht findet sich ja irgendwo fair.« Sie schaut trotzig und nickt. So. leinregierung verdient.
da draußen ein Hinweis darauf, wie Das muss mal raus. Dabei hat sie Fehler gemacht,
es jetzt weitergeht? Mit ihr, mit Ber- Ich soll irgendwo kleben? Gaga. mehrere. Hat in den Sondierungen
lin, mit der Politik? So klingt es. 2021 erst bürgerlich geblinkt und ist
Mittwochnachmittag, das Rote Giffey packt sich gerade die Tage dann links abgebogen. Hat selbst jene
Rathaus, erster Stock. Franziska Gif- voll, mit Sondierungsgesprächen, mit weitermachen lassen, die für die ver-
fey hat sich auf das schwarze Leder- Abstimmungen, hier eine Nachfrage, unglückte Wahl verantwortlich wa-
sofa ihres Büros gesetzt. Links kann da ein Doorstep. Nebenbei regiert sie, ren. Ihr Wahlkampf war eine Kam-
sie auf den Berliner Dom blicken, Rotes eröffnet die Berlinale, beruhigt ihre pagne der Herzchen und der guten
rechts auf die Marienkirche am Ale-
xanderplatz, viel mehr Hauptstadt
Debakel Parteifreunde, hält sie in Videoschal-
ten auf Stand, aus dem Büro, aus dem
Laune. Dabei waren viele Menschen
in Sorge. Was die Folgen des Kriegs
geht nicht. Giffey mag das Panorama Zweitstimmenergeb- Auto. Allein der Mittwoch: morgens angeht, ihren drohenden Wohlstands-
so sehr, dass sie nach ihrem Einzug nis der SPD bei den ein Gipfel zur Jugendkriminalität, verlust. Oder sie waren sauer, über
Wahlen zum Berliner
vor gut einem Jahr zwei Bilder hat Abgeordnetenhaus,
mittags die Ehrung eines Filmteams, die Stagnation und die Baustellen, die
aufhängen lassen, auf denen die Bau- in Prozent abends eine Diskussionsveranstal- Poller in der Friedrichstraße. Giffeys
werke vor ihren Fenstern einfach tung zur Widerstandskraft ukraini- Kampagne passte nicht zum Lebens-
noch mal verewigt sind. 60 scher Frauen. Dazwischen kleinere gefühl in der Stadt.
Nun muss sie womöglich bald raus bis 1989 nur
Treffen, Besprechungsrunden. Gibt »Ich glaube einfach nicht, dass das
hier. Bilder wieder abhängen, Sachen 50 West-Berlin es News? Hat sie was übersehen? Bild stimmt, dass in Berlin nichts
packen, aus, vorbei. Kann alles pas- Schert jemand aus? Bei den Grünen, funktioniert«, sagt sie. »20 Jahre vor
sieren – wenn es schlecht läuft. 40
in der eigenen Partei? mir haben andere Verantwortung
»Kaffee?«, fragt sie. Alle Menschen brauchen Pausen, ­gehabt, ich 13 Monate.« Sie braucht
Giffey, noch vor Kurzem ein Star Erholungsphasen, Räume der Refle- noch Zeit – so sieht es Giffey.
30
in der SPD, hat die Berlinwahl ver- xion, um Krisen und Stress zu ver- Der Mittwochmittag, Raum 338 im
loren, ist abgestürzt auf rund 18 Pro- arbeiten. Für Politiker sind Wahlnie- Roten Rathaus. Während die Grünen
zent, 10 Prozentpunkte hinter die 20 derlagen da oft hilfreiche Zäsuren. Es mit der CDU sondieren, stellt Giffey
CDU, abgestraft für die Gewalt in der geht danach ruhiger zu. Bei aller Ent- die Ergebnisse ihres zweiten Gipfels
18,4 *
Silvesternacht, die Verwaltungsmisere, 10 täuschung: Die Klarheit, dass bald gegen Jugendgewalt vor. 90 Mil­lionen
die Schulprobleme, das ganze Berli- andere regieren, entspannt. Endlich Euro sollen in die Prävention fließen,
ner Elend. Eine Demütigung, für sie Zeit zum Nachdenken. in Programme für Sozialarbeit, in
0
und das Bündnis mit Grünen und Lin- Aber Giffey, so scheint es, kann ­Jugendzentren, Sporteinrichtungen,
ken, das Giffey erst ein gutes Jahr an- 1950 2023 gerade nicht viel nachdenken. Viel- im März soll der Senat den Plan
führt. Keiner ihrer Senatoren hat ein S Quelle: Amt für Statistik leicht will sie das auch gar nicht. Sie ­beschließen. Giffey jagt einmal durch
Direktmandat gewonnen. Giffey Berlin-Brandenburg; wirkt, als wollte sie die Krise einfach die Ergebnisse, strukturiert, konkret,
* vorläufiges Ergebnis,
selbst hat in Neukölln verloren, wo Stand: 13. Februar wegarbeiten. klar wie ein CEO.

34 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

gut zu, aber wie es weitergeht, weiß in Wahr-


heit niemand. Der Wahlkampf hat Giffey und
die Grünen entfremdet. Unter der CDU zu
arbeiten wäre für viele Sozialdemokraten erst
recht eine Zumutung. Und gäbe es in ihrer
Partei überhaupt noch fähige Leute für einen
Neuanfang?
Giffey hat dieser Tage mit ihrem Vater
­gesprochen, der sein Leben lang fernab der
Politik verbrachte, im Osten eine Firma auf-
baute, um Autos zu reparieren. Mach das
nicht um jeden Preis, hat er ihr gesagt.
Giffey fand das gut. »Es geht immer wei-
ter«, sagt sie. »Haste ’n schlimmen Bruch,
irgendwas passiert, alles schwierig, aber okay,
musste halt das Beste draus machen.« Ihr
­Lebensstil habe sich durch die Politik nicht
verändert. »Ich hab hier ’ne Mietwohnung,
einen Edeka um die Ecke. Allet jut.« Es klingt
wie: Gibt schon auch noch andere Sachen als
diesen Job.
Das kann Fassade sein, reine Taktik. Giffey
weiß, wie man machtpolitisch Druck aufbaut,
um nach vorn zu kommen. Aber sie hat auch
Brüche hinter sich, weiß, was es heißt, neu
anfangen zu müssen. Als die Mauer fiel, war
sie elf, ihre Eltern verloren den Job, mussten
beruflich umsteuern. Als Giffey Lehrerin wer-
den wollte, kam eine Kehlkopfschwäche da-
zwischen. Die Ärzte sagten ihr, für das Lehr-
amt sei ihre Stimme zu schwach. Giffey machte
was anderes, studierte Verwaltungswissen-
schaften. Mit U-Turns hat sie in ihrem Leben
Stefan Boness / DER SPIEGEL
bisher keine Probleme gehabt.
Aber einfach so verschwinden dürfte sie
kaum, das hätte sie längst tun können. Wenn
einen alle abschreiben, macht sie erst recht
weiter – Giffey tickt da wie ihr Genosse
Scholz.
Regierende Bürgermeisterin Giffey: »Musste halt das Beste draus machen«
Sie muss aufpassen, dass sie neben den
vielen Stimmen nicht noch ihre Glaubwürdig-
Ihre Bildungssenatorin soll auch noch et- Andreas Geisel, der Stadtentwicklungssena- keit verliert, indem sie fürs Weiterregieren
was sagen. Sie lässt sich Zeit, spricht schläfrig tor, der als früherer Innensenator die verpatz- Prinzipien aufgibt, die sie im Wahlkampf ver-
von Heldinnen in Quartieren und von Orten, te Wahl zu verantworten hatte. Raed Saleh, trat. In der Verkehrspolitik, der Stadtentwick-
»an denen man auch mal chillen« könne. »Ich der Fraktionschef, in dessen Amtszeit die lung. Sonst ginge es bei der nächsten Wahl
kann Ihnen sagen: Mitternachtssport. Toll. Kurve der SPD nur eine Richtung kannte: wohl noch steiler bergab.
Super. Das finden die Jugendlichen sehr nach unten. Bloß die Aussicht, weiterregieren Die Hoffnung der Linken, endlich große
cool.« Kurz darauf: »Ja. Ich denke, ich höre zu können, schützt sie dieser Tage. Schwindet Wohnungsunternehmen zu enteignen, durch-
mal auf, weil sie ja bestimmt noch Fragen die Macht, dürften viele stürzen. Giffeys SPD kreuzt sie schon mal. Sie lehnt den Plan ab,
­haben.« gleicht einem Kartenhaus. will Alternativen suchen, um mehr Wohn-
Hat aber niemand. Jedenfalls nicht an die Der Frust sucht sich andere Ventile, in klei- raum zu schaffen. »Die Frage der Enteignun-
Bildungssenatorin. nen Runden, in vertraulichen Nachrichten. gen müssen wir in den Sondierungen klären«,
Giffeys Lage ist schlecht, die ihrer Partei In der SPD kursiert dieser Tage eine SMS, sie betont sie. »Meine Position dazu ist bekannt.
ist noch schlechter. Die lange Regierungszeit ging von Andreas Köhler an Andreas Geisel, Ohne eine Klärung kann kein Koalitionsver-
der SPD hat überdeckt, wie chaotisch die Ber- den Senator. Köhler war mal SPD-Abgeord- trag unterschrieben werden.«
liner Sozialdemokraten sind, wie personell neter in Berlin, ist heute Anwalt, vertritt auch Es ist später Nachmittag, im Treppenhaus
ausgezehrt. In Berlin werden Menschen Se- Giffey. »Lieber Andreas«, schreibt Köhler an warten schon die nächsten Gäste, die weiteren
natoren, die es anderswo auf den Posten des Geisel. Die Wahl sei ein »Desaster« gewesen. Sondierungen müssen vorbereitet werden,
Kassenwarts schaffen würden, wenn über- »Es braucht nun inhaltliche und personelle am Abend kommt der ukrainische Botschaf-
haupt. Giffey weiß das. Sie ist genervt von Konsequenzen. Da Du Hauptverantwort­ ter ins Rathaus.
der Performance ihrer Leute, enttäuscht von licher für die Nachwahl bist, empfehle ich Dir Giffey entschuldigt sich. Sie müsse sich
der fachlichen Qualität, den personellen Eng- als gut gemeinten freundschaftlichen Rat zu- wenigstens noch mal frisch machen. Zwei Mi-
pässen, auch wenn sie davon profitiert. Nie- rückzutreten und den Weg frei für Erneuerung nuten, mehr ist nicht drin.
mand, wirklich niemand wird ihr innerpar- zu machen.« Giffey kennt die SMS dem Ver- Vielleicht braucht sie doch mal eine Pause.
teilich gerade gefährlich. nehmen nach auch. Einen Moment, um wirklich nachzudenken,
Nach diesem Ergebnis müsste eigentlich Sie telefoniert viel, bespricht die Lage, mit ob sie das eigentlich alles noch will. Das mit
eine Welle der Veränderung durch Giffeys Klaus Wowereit, mit Olaf Scholz, mit anderen Berlin, der SPD und der Politik.
Landesverband gehen, aber noch sind alle da. wichtigen Sozialdemokraten. Alle reden ihr Veit Medick n

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DEUTSCHLAND

einnahmen, sagt er. Aus Sicht der SPD spricht


aber vor allem eines für ihn: »Er hat die rich-
tige Geschichte«, sagt Josefs Parteifreundin
Ina Hartwig, die Kulturdezernentin der Stadt.
Josef und seine Eltern lebten als Angehö-
rige einer aramäisch-christlichen Minderheit
im Norden Syriens. Die Familie sei von den
Machthabern verfolgt worden, erzählt er.
1987 wanderte sie aus und kam in einer Sied-
lung am Stadtrand von Ulm unter.
Josef sagt, er erinnere sich gut an diese
vielen verzweifelten Momente der Unsicher-
heit, mit denen sich Flüchtlingsfamilien auch
heute herumschlagen müssen: Wird die Auf-
enthaltsgenehmigung verlängert? Klappt es
mit einer Arbeitserlaubnis? Woher das Geld
nehmen für den Beitrag zum Fußballverein?
Ein evangelischer Pfarrer habe der Familie
damals sehr geholfen, sagt Josef. Das werde
er nie vergessen.

Peter Jülich
Wahlkämpfer Josef Er schaffte es von einer Vororthauptschu-
mit Passanten
le über den zweiten Bildungsweg an Hoch-
schulen in Frankfurt, so erzählt es Josef. Vor
20 Jahren sei er in die Stadt gekommen, mit
kaum mehr als einem alten Ikea-Regal, einer
Matratze und einer kaputten Kaffeekanne.

Ein Mann mit


In einer Juravorlesung lernte er seine heu-
tige Ehefrau kennen, mit der er zwei Kinder
hat. Er bekam einen Job als Gewerkschafts-

Geschichte
sekretär, dann schickte ihn die SPD als De-
zernenten ins Rathaus und nun ins Rennen
um das höchste Amt der Stadt. »Ich habe hier
mein Glück gefunden«, sagt Josef, »und ein
Stück davon möchte ich zurückgeben.« Das
KOMMUNEN  In Frankfurt am Main blamierte Oberbürgermeister alles passt zum Lebensgefühl einer Großstadt,
in der mehr als die Hälfte der Bevölkerung
Peter Feldmann sich und seine Partei. Jetzt soll es der einen ausländischen Pass oder einen Migra-
Sohn einer Einwandererfamilie aus Syrien für die SPD richten. tionshintergrund hat.
Die politische Konkurrenz könne solche
Geschichten nicht bieten, freuen sich die SPD-

S
traßenwahlkampf ist hart an diesem lung wegen Vorteilsannahme, peinliche Auf- Leute. Die CDU tritt mit einem ehemaligen
trüb-kalten Samstagmorgen im Febru- tritte, schließlich die Abwahl. Finanzdezernenten an, der im Wahlkampf
ar – erst recht, wenn man in Frankfurt Mehr als 95 Prozent der Menschen, die sehr seriös auftritt, aber oft auch bieder wirkt
am Main ist und von der SPD kommt. Mike im November über Feldmann abstimmten, wie ein Sparkassendirektor.
Josef versucht es trotzdem auf einem Wo- votierten gegen ihn. Also fast alle. Wenn am Die Frankfurter Grünen hätten mit der in
chenmarkt in der Innenstadt. Er hat sich einen 5. März sein Nachfolger oder seine Nachfol- Iran geborenen Bürgermeisterin Nargess
dicken Schal um den Hals gewickelt und hält gerin gewählt wird, will Josef eine Mehrheit ­Eskandari-Grünberg eine Politikerin mit
Werbekarten in der Hand, auf denen »Für gewinnen. Wie soll das gehen? Flüchtlingsgeschichte wie Josef nominieren
Frankfurt« und sein Name steht. Mike Josef ist die letzte Hoffnung der können. Sie hätte sogar den Vorteil, dass sie
Josef, 40, kam als vierjähriger Junge mit Frankfurter SPD. Aber auch ihre große Chan- Feldmann seit dessen Abwahl im Amt des
seiner Familie aus Syrien nach Deutschland, ce. »Ich werde gar nicht mehr so oft auf ihn Stadtoberhaupts vertritt. Doch eine »Fin-
er hat sich hochgearbeitet bis zum Planungs- angesprochen«, sagt Josef tapfer über seinen dungskommission« – eine Kungelrunde der
dezernenten der Stadt. Er ist ein freundlicher, Vorgänger, der zuletzt als »Pattex-Peter« ver- Parteigranden – schlug lieber eine Bundes-
zurückhaltender Mann mit runder Brille und spottet wurde. Er sei ein völlig anderer Typ, tagsabgeordnete aus Unterfranken vor, die
leiser Stimme. Einige Passanten auf dem beteuern seine Parteifreunde. Kein selbstver- vor mehr als zehn Jahren mal Umweltdezer-
Markt huschen an ihm vorbei. Andere ver- liebter Populist, der sich wie Feldmann an nentin in der Stadt war.
wickeln ihn in lange Gespräche über verkehrs- Auftritten mit Amtskette erfreue, sondern ein Wenn Josef den Feldmann-Malus über-
beruhigte Straßen, Wohnungsmangel oder empathischer Zuhörer, der sich mit Argumen- winde, habe er gute Chancen, glauben auch
Sportplätze mit Kunstrasen. Josef antwortet ten fundiert auseinandersetze. Politikerinnen und Politiker anderer Parteien
ausführlich, auch auf mehrere Nachfragen. Im vergangenen Jahr hatte sich Josef deut- im Frankfurter Rathaus. Ein bisschen Abstand
Manchmal muss ein Parteifreund ihn daran lich von Feldmann distanziert und mit ande- zu seiner eigenen Partei scheint dabei jeden-
erinnern, dass noch mehr Menschen mit ihm ren SPD-Vorständen ein parteiübergreifendes falls nicht zu schaden. Beim Wahlkampf auf
reden wollten. Bündnis für dessen Abwahl geschmiedet. In- dem Markt hält er plötzlich ein Bündel kleiner
Josef hat einen komplizierten Auftrag von haltlich setzt er andere Schwerpunkte als der roter Aufkleber hoch, die ihm gerade jemand
seiner Partei übernommen. Er soll den Scher- inzwischen aus der SPD ausgetretene Feld- in die Hand gedrückt hat. Darauf steht, gram-
benhaufen beseitigen, den Peter Feldmann mann. Josef pflegt enge Beziehungen zur matikalisch etwas gewagt: »SPD geht gar
als Oberbürgermeister hinterlassen hat: Kor- Wirtschaft. Die Zukunft der Stadt hänge auch nicht – außer Mike Josef«.
ruptionsvorwürfe, erstinstanzliche Verurtei- an sicheren Jobs und soliden Gewerbesteuer- Matthias Bartsch  n

36 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


SPIEGEL GELD  Leseprobe

Wie erkläre ich Kindern, was Inflation ist? sicher nicht mit Finanzzeitschriften kommen und Fachartikel
Die gestiegenen Preise führen dazu, dass sich viele Familien nicht vorlesen. Wenn das Kind aber nachfragt und die Zusammenhänge
mehr so viel erlauben können wie früher. Aber wie spreche verstehen will, dann könnte man sagen: »Das ist auch für mich
ich mit meinen Kindern etwa darüber, dass diesen Monat der schwierig, ich weiß das auch nicht ganz genau.« Und dann kann
Zoobesuch ausfällt? Eine Expertin gibt Rat. man zusammen recherchieren. So lernt das Kind, wo und wie es
sich informieren und Antworten auf komplexere Fragen finden
SPIEGEL: Kann das nicht auch belastend und überfordernd sein, kann. Es gibt ja kindgerechte Internetseiten, die das gut aufberei-
das Haushaltsbuch am Abendbrottisch durchzugehen? ten, oder Nachrichtenformate im Fernsehen extra für Kinder.
Langmeyer: Man muss nicht zu konkret werden. Gerade im Das kann man sich gemeinsam anschauen, etwas lernen und es
Grundschulalter haben Kinder noch kein Verständnis von den als Ansatz für ein Gespräch nutzen. So kann man vielleicht auch
Summen, aber man kann schon sagen, was da alles zusammen- über Sorgen der Kinder sprechen, die sich aus einer Krise ergeben.
kommt, dass das eine ganze Menge ist und dass man deshalb SPIEGEL: Ab welchem Alter sollte man mit der Finanzerziehung
arbeiten geht. Und man kann ihnen erklären, dass vieles teurer beginnen?
geworden ist und dass am Monatsende jetzt gerade vielleicht Langmeyer: Kinder kommen früh mit den Themen Geld und
weniger übrig bleibt als früher oder sogar gar nichts mehr. Finanzen in Kontakt. Ein- oder Zweijährige sitzen im Einkaufswa-
SPIEGEL: Sie sprechen die Inflation an, ein komplexes Thema. Wie gen, sehen, wie bezahlt wird, und spielen das im Kaufmanns­
können Eltern ihren Kindern erklären, wie es dazu kommt? laden nach. Insofern kann man gar nicht sagen: Jetzt kommt
Langmeyer: Das ist natürlich nicht ganz einfach, weil es ja nicht das Kind in die Schule, und jetzt geht es los. Das ist ein schlei­
mal jeder Erwachsene richtig versteht. Ich muss meinem Kind chender Prozess.

Nächste Woche im SPIEGEL: 2714 Euro gaben die Deutschen im Schnitt 2021 für Versiche-
rungen aus. Doch welche Policen brauchen Sie wirklich? Antworten in SPIEGEL GELD.

Weitere Themen
• Geldanlage: Die Zinswende macht Anleihen
wieder attraktiv SPIEGEL GELD ist die viermal im Jahr erscheinende
• Interview: Reality-TV-Star Evelyn Burdecki Finanzbeilage des SPIEGEL. Sie informiert
erklärt, warum sie sich selbst um praktisch und verbrauchernah über Geldanlagen,
ihr Geld kümmert Immobilien, Steuerfragen und Versicherungen.
DEUTSCHLAND

Die Wiederschlechtmachung
SCHICKSALE  Als Junge hat ihn ein Arzt sexuell missbraucht. 34 Jahre später bekommt Andreas S. eine
­Entschädigung vom deutschen Staat – 28,20 Euro pro Tat. Von Lukas Eberle und Maik Großekathöfer

A
n einem Nachmittag im Dezember
rechnet Andreas S. mit dem deutschen
Staat ab. Er sitzt in einer Stadt im
Münsterland an seinem Laptop und schreibt
einen Brief an Hubertus Heil, Bundesminister
für Arbeit und Soziales. Vor ihm auf dem
Schreibtisch liegen Geldscheine, einmal
20 Euro, einmal 5 Euro, dazu ein Umschlag.
»Sehr geehrter Herr Bundesminister«,
schreibt S., »ich sende Ihnen die 4. Rückzah-
lung meiner Geldleistungen gemäß Opferent-
schädigungsgesetz mit der Bitte um Rück-
führung in die Staatskasse.« Er druckt den
Brief aus, unterschreibt. Dann steckt er das
Schreiben und das Geld in den Umschlag,
greift sich eine Jacke und macht sich auf den
Weg zu seinem Anwalt.
Vor etwas mehr als drei Jahren stellte An-
dreas S. einen Antrag auf Opferentschä­digung.
Im Juni 2022 überwies ihm der deutsche Staat
4398,53 Euro. Ein Kinderpsychiater hatte ihn
sexuell missbraucht, als S. noch ein kleiner
Junge war. Er sagt, der Arzt habe ihn insge-
samt 156-mal erniedrigt. Er hat ausgerechnet,
welche Summe er für jeden Übergriff bekom-
men hat – es sind 28,20 Euro.
Für Menschen wie Andreas S. gibt es in
Deutschland das Opferentschädigungsgesetz,
kurz OEG. In Paragraf 1 heißt es: Wer auf-
grund eines tätlichen Angriffs eine gesund-
heitliche Schädigung erlitten hat, erhält eine
Versorgung. Das Gesetz soll die Folgen von
Gewalttaten ausgleichen: Der Staat bezahlt
Geld als Wiedergutmachung für die Verbre-
chen, die andere begangen haben.
Andreas S. ist heute 49 Jahre alt, und er
fühlt sich nicht entschädigt, er fühlt sich ge-
demütigt; durch die Summe und durch das
Verfahren. Deswegen hat er sich entschieden,
das Geld zurückzuzahlen, in 156 Raten. Er
will den Minister mit seinen Briefen quälen,
»Er hat mich überall berührt.« ein wenig so, wie man ihn gequält hat. Seit
Oktober schickt S. einmal im Monat 25 Euro
an die Bundesregierung: 28,20 Euro abzüg-
Andreas S., Antragsteller lich einer Pauschale für Porto und Versand.
Die Briefe sind seine Form des Protests
gegen das OEG, für das das Ministerium ver-
antwortlich ist und damit auch Heil. Weil S.
sichergehen möchte, dass das Geld ankommt,
Arne Piepke / DER SPIEGEL

sendet er die Briefe nicht mit der Post,


­sondern übergibt sie seinem Anwalt. Zur
Kanzlei kann er laufen. Der Anwalt beauf-
tragt einen Gerichtsvollzieher damit, die
Schreiben an das Ministerium zuzustellen,
Wilhelmstraße 49, 10 117 Berlin.

38 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

Andreas S. sagt, es gehe ihm darum, seine dert, nach nebenan zu gehen und sich auszu- Bericht im Fernsehen schlagartig klar gewor-
Würde wiederherzustellen. Die 28,20 Euro ziehen, auch die Unterwäsche. den, dass er ein Missbrauchsopfer ist.
pro Missbrauch schadeten ihm mehr als zu Aschoff habe von ihm verlangt, Gymnas- Einige Monate danach ermittelte die
helfen. »Das fühlt sich für mich eher an wie tikübungen zu machen. Liegestütze. Eine Staatsanwaltschaft Hildesheim zum ersten
die schlechte Bezahlung einer sexuellen Brücke. Alles nackt. Aschoff habe die Posen Mal gegen Wulf Aschoff, wegen des Verdachts
Dienstleistung.« mit einer Polaroidkamera fotografiert. »Er des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Der
Nachdem er den Brief beim Anwalt ab- hat mich überall berührt«, sagt S. Der Arzt zeitliche Zusammenhang ist Zufall.
gegeben hat, muss S. eine rauchen. Er ist ein habe gesagt: Ich gebe dir Selbstbewusstsein. Es gab damals Eltern, die genauer hin­
sportlicher Mann und arbeitet im Gesund- Aschoff habe einen Reflexhammer über die sahen, als es die Mutter von S. getan hatte.
heitswesen, er hat einen Sohn, ist alleinerzie- Innenseite seines Oberschenkels gestrichen, Sie zeigten Aschoff an. Die Akten zu dem
hend. Manchmal ist er ein erfolgreicher Ma- das habe bei ihm eine Erektion ausgelöst, sagt Verfahren liegen im niedersächsischen Lan-
nager, der auf Geschäftsreise in die USA fliegt. S. Dann habe Aschoff seinen Penis mit den desarchiv in Hannover, darin finden sich
Manchmal ein Gebrochener, der tagelang Händen stimuliert, bis er ejakulieren musste. ­Protokolle von Zeugenaussagen: Eine Frau
nicht aufstehen kann, weil ihn die Vergangen- Schon nach dem ersten Besuch in der Kli- berichtete der Polizei über Aschoffs Be­
heit einholt. Noch 152 Briefe. nik habe er seiner Mutter, die selbst Ärztin handlungen ihres 13-jährigen Sohnes. Auf
war, davon berichtet, dass ihn Aschoff zwi- Anweisung habe der Junge »an seinem Penis
Der Missbrauch schen den Beinen angefasst habe. »Hab dich herumspielen« müssen, danach habe Aschoff
An einem regnerischen Morgen im Januar nicht so«, habe sie geantwortet. das erigierte Genital ihres Sohns vermessen,
steht Andreas S. vor einem Fachwerkhaus in S. sagt, er habe nach den Sitzungen »mit einem Lineal«. Ein 14-jähriger Junge
Holzminden, einer Kleinstadt zwischen Kas- »Schuld und Scham« gespürt, »doch ich konn- schilderte der Polizei eine Untersuchung so:
sel und Hannover. In den Fenstern hängen te nicht einordnen, was da mit mir geschieht«. »Er sagte, er wolle sehen, ob ich es schaffen
bunte Bilder und Sterne aus Papier, auf einem Er sei als Kind oft traurig gewesen, habe sich würde, einen Steifen zu kriegen.« Aschoff
Schild steht: »Albert-Schweitzer-Therapeuti- zurückgezogen, was für seine Eltern erst recht wies damals alle Vorwürfe zurück.
kum, Fachklinik für Kinder- und Jugendpsy- ein Grund gewesen sei, ihn zur Therapie zu Zu den Akten gehört eine Stellungnahme
chiatrie«. Es ist das Haus, in dem er als Junge schicken. von Aschoffs Anwälten, sie schreiben, dass
missbraucht wurde. Vier Jahre lang, wie er Als er 14 Jahre alt war, habe er sich zum »Meinungsverschiedenheiten über ärztliche
sagt, fast jeden Mittwoch. ersten Mal geweigert, sich während der Be- Untersuchungsmethoden« nicht vor Gericht
Er sei in den vergangenen Jahren mehrmals handlung auszuziehen. Aschoff habe das ak- ausgetragen werden sollten, sondern »in der
hier gewesen, erzählt S., als er die Eingangstür zeptiert und ihn nie wieder angefasst. Bis er fachlichen Berufswelt«. Die Staatsanwalt-
öffnet. »Wer Angst vor Spinnen hat, muss 17 war, ging S. noch zu ihm. schaft sah das ähnlich und stellte das Verfah-
Spinnen anfassen. Ich komme manchmal hier- Nach 45 Minuten beendet er an diesem ren 1997 ein.
her, weil es hilft, das Trauma zu bewältigen.« Morgen seinen Besuch und verlässt die Klinik. S. sagt: »Ich hätte kotzen können.«
S. geht am Empfang vorbei, betritt das Warte- Länger hält er es in dem Haus nicht aus. Er wandte sich an die Ärztekammer Nie-
zimmer, in dem er als Junge saß. Die grüne dersachsen, damit Aschoff seine Zulassung
Rutsche aus Holz gab es damals schon. Auf Die Enttarnung als Arzt verliert. »Ich wollte nicht, dass er
einer Bank liegt ein Kuscheltier, ein Pferd. Im August 1996 war Andreas S. 22 Jahre alt sich immer weiter an Kindern vergreifen
Ein paar Meter weiter befindet sich das und studierte im Rheinland. Er erinnert sich, kann.« Die Landesärztekammer verwies ihn
Büro des Chefarztes. Früher saß hier Dr. med. wie er in seiner Wohnung gesessen und die an die Approbationsbehörde der Bezirksre-
Wulf Aschoff, ein angesehener Kinder- und »Tagesschau« geguckt habe, einen Beitrag über gierung Hannover, die ihn zu einem Gespräch
Jugendpsychiater. In den Achtziger- und den belgischen Kinderschänder Marc Dutroux. bat. Man wollte wissen, was ihm bei Aschoff
Neunzigerjahren behandelte er in Holzmin- In dem Moment, so erzählt er es, seien seine widerfahren war.
den mehr als 7000 Mädchen und Jungen. Wie Finger und die Beine taub ge­worden, er habe Wie sich S. erinnert, dauerte der Termin
viele von ihnen er missbrauchte, ist unklar. geweint und sich gefühlt wie in Trance. etwa 90 Minuten. Danach habe er auf dem
Aschoff untersuchte die Kinder in einem Heute weiß S., dass es eine Stressreaktion Flur des Amtsgebäudes erneut die Kontrolle
kleinen Raum neben seinem Büro. Das Zim- seines Körpers war. Er sagt, ihm sei durch den über sich verloren.
mer gibt es noch, »K104«, so steht es auf Was dann passierte, schildert er so: Auf
einem Schild neben der Tür. »Das Tatzim- dem Heimweg im Auto beschloss er, sich das
mer«, sagt S. und geht hinein. Ein kleiner »Ich komme manchmal hierher, Leben zu nehmen. Er fuhr nach Holzminden,
Tisch, eini­ge Regale, eine dunkelgrüne Liege. holte aus der Praxis seiner Mutter Schlaf­- und
Aschoff sei ein breiter Mann gewesen, unge- weil es hilft, das Schmerztabletten, legte sich ins Bett und
fähr 1,90 Meter groß, sagt S. Er schluckt. Es Trauma zu bewältigen.« ­spülte die Pillen mit Alkohol runter. Aber
kämen gerade viele Gefühle hoch, »Traurig- zehn Minuten später erbrach er sich. Schließ-
keit, Ekel«. lich fand ihn seine Mutter.
Er war zehn, als er 1984 zum ersten Mal Die Approbationsbehörde in Hannover
in die Klinik kam, mit dem Rad. Er hatte beauftragte den Kinder- und Jugendpsychia-
Schlafstörungen, konnte sich in der Schule ter Jörg Fegert, Aschoffs Untersuchungs­
schlecht konzentrieren, deswegen hatten ihm methoden zu prüfen. Fegert las Kopien der
seine Eltern einen Termin besorgt. S. sagt, die Ermittlungsakten und sprach mit Zeugen,
Behandlung habe um 16 Uhr begonnen. Er auch mit Andreas S. Sein Ergebnis ist ein-
erinnert sich an viele Details, an die Cord- deutig: Aschoff habe über einen langen Zeit-
hosen, das Ziegenbärtchen des Arztes. An raum den als Arzt »besonders privilegierten
dessen feuchte Hände, den Körpergeruch, Zugang zum Körper« ausgenutzt, um »sexuel-
Arne Piepke / DER SPIEGEL

»süßlich, mit einem Hauch Fisch«. le Befriedigung« zu erhalten. Er schreibt in


Die Untersuchungen seien immer gleich seinem Gutachten, Aschoff habe durch »pä-
abgelaufen, sagt S., er habe zunächst im Büro dophile Handlungen mehreren Patienten
von Aschoff gesessen, um Fragen zu beant- nachhaltig geschadet«.
worten: Wie gefällt dir dein Körper? Ona- Klinik-Warteraum in Holzminden Wenige Tage bevor die Behörde 1998
nierst du? Danach habe ihn Aschoff aufgefor- Aschoff die Zulassung als Arzt wegnahm, ging

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 39


DEUTSCHLAND

er mit 55 Jahren in den Ruhestand. Circa wenn ihn ein Geruch an den Täter Das Gesetz

18 000
Dann sickerte Fegerts Gutachten an erinnere. So sei das auch gewesen, als Im Dezember 2019 füllte Andreas S.
die Presse durch. Die Staatsanwalt­ er sich zum zweiten Mal umbringen das achtseitige Formular aus, das er
schaft Hildesheim eröffnete ein zwei­ wollte. Er habe im Zug gesessen, im sich von der Website des Sozialmi­
tes Strafverfahren, weil sich nach den Sommer 2019, als er plötzlich etwas nisteriums heruntergeladen hatte,
Medienberichten neue Zeugen ge­ Entschädi- Süßlich-Fischiges wahrnahm. »Da »Antrag auf Leistungen für Gewalt­
meldet hatten. habe ich den Missbrauch durchlebt, opfer«. Er beantwortete die Fragen
Die Polizei durchsuchte nun gungsanträge als würde er in dem Augenblick ge­ handschriftlich.
Aschoffs Haus und stellte zahlreiche gab es 2020 schehen.« Tatzeit: »1984 bis 1988«.
Fotos und Videos nackter Patienten in Deutschland. S. sagt, er habe Panik bekommen. Tatort: »Albert-Schweitzer-Thera­
sicher. Der ehemalige Chefarzt­ Und sich später über »eine Quelle« peutikum, Holzminden, Pipping 5«.
wurde des sexuellen Missbrauchs Die Ämter ein Narkosemittel besorgen wollen. Ist Strafanzeige erstattet worden?
von Kindern und Jugendlichen an­ genehmigten Während er zu Hause auf die Liefe­ »Die Tat wurde über viele Jahre voll­
geklagt. rung für die Überdosis gewartet habe, ständig abgespalten. Als Bilder und
Zum Prozess gegen Aschoff kam
davon etwa sagt er, habe er »in einem lichten Erinnerungen wieder auftauchten,
es nicht. Zwei Tage bevor er sich vor ein Viertel. ­Moment« die 112 angerufen. war die Tat strafrechtlich verjährt.«
Gericht verantworten sollte, beging Mittlerweile trägt er eine Ampulle Zu welchen körperlichen und/oder
Quelle: Weißer Ring
er Suizid. mit Ammoniak bei sich, er schnüffelt seelischen Gesundheitsstörungen hat
Andreas S. sagt, Aschoff habe daran, wenn er meint, Aschoff zu rie­ die Gewalttat geführt? »Komplexe
ihm zuvor eine Postkarte geschickt. chen. Auch wegen einer »psychischen posttraumatische Belastungsstö­
Darauf habe ein Satz aus dem Mat­ Störung« hat Andreas S. einen Be­ rung.« Er ergänzte, dass er Flash­
thäus-Evangelium gestanden: »Rich­ hinderungsgrad von 50, er gilt damit backs, Albträume, Panikattacken
tet nicht, damit ihr nicht gerichtet als schwerbehindert. habe.
werdet.« Er sitzt in Berlin neben seiner Dann schickte er alles an das nie­
Ein Satz wie ein Fluch. ­Therapeutin. Sie sagt, er sei deutlich dersächsische Landesamt für Soziales,
stabiler als zu Beginn der Behandlung. Jugend und Familie, Außenstelle
Die Therapien »Womit ich aber nicht ausschließe, Braunschweig. Der Tatort, in seinem
Die Fliedner Klinik am Berliner dass es ihm immer mal wieder richtig Fall Holzminden, bestimmte darüber,
­Gendarmenmarkt ist eine Ambulanz schlecht gehen wird.« Drei Monate welche Behörde für ihn zuständig ist.
und Tagesklinik für Psychiatrie und lang war S. teilstationär in der Flied­ Andreas S. hatte keine Geldsorgen,
Psychotherapie, es gibt Räume mit ner Klinik, kurz vor Ende des Auf­ er wollte die Entschädigung nicht aus
grauem Teppich und roten Sesseln, enthalts entschied er sich, eine Ent­ finanziellen Gründen. »Ich wollte An­
auf dem Tisch ein Korb mit Äpfeln schädigung nach dem OEG zu be­ erkennung«, sagt er, »ich musste im­
und Bananen. Als sich Andreas S. antragen. mer um alles kämpfen, um meine
hier vorstellte, im September 2019, Behandlungen, die Therapieplätze,
berichtete er von Traurigkeit, An­ ich war immer Bittsteller.«
spannung, innerer Unruhe. Der Bundestag hat das Opferent­
»Herr S. hatte Albträume und schädigungsgesetz 1976 beschlossen,
Flashbacks. Er war antriebslos. Äu­ einstimmig. Es wurde seitdem ein
ßerte Suizidgedanken«, sagt seine paarmal überarbeitet, aber der Leit­
Therapeutin, bei der er bis heute alle gedanke ist derselbe geblieben.
zwei Wochen einen Termin hat. Die »Wenn es der staatlichen Gemein­
Ärzte in der Klinik stellten eine post­ schaft nicht gelingt, Gewalttaten völ­
traumatische Belastungsstörung fest, Es kämen gerade viele Gefühle hoch, lig zu verhindern, so muss sie wenigs­
»hervorgerufen durch den sexuellen sagt er, »Traurigkeit, Ekel«. tens für die Opfer dieser Straftaten
Missbrauch als Kind«, wie der leiten­ einstehen«, heißt es in einer Broschü­
de Oberarzt sagt. re des Sozialministeriums.
Hinter Andreas S. lagen bis dahin Wer als Opfer anerkannt wird,
diverse Stationen in psychiatrischen kann eine Grundrente bekommen, sie
Kliniken und psychotherapeutischen liegt momentan zwischen 164 und
Praxen. Fünfmal ambulant, viermal 854 Euro im Monat, unabhängig vom
stationär. Einkommen. Andreas S. sagt, auf so
Seine Diagnosen lauteten: Anpas­ eine Rente habe er gehofft, als lebens­
sungsstörung, schwere depressive langes Zeichen des Staates, der ihn
Episode, sonstige Reaktion auf schwe­ nicht vor Aschoff beschützt habe.
re Belastung. Und weil eine Rente verdeutliche,
Trotzdem ist es Andreas S. ge­ dass er bis zu seinem Tod ein Opfer
lungen, Karriere zu machen. Er bleibe. So weit die Theorie.
hat zunächst als Projektmanager In der Praxis funktioniere das Ge­
und Geschäftsführer gearbeitet, heu­ setz nicht, erklärt der Weiße Ring.
te ist er in führender Position bei Laut dem Verein, der sich um Ver­
einer gemeinnützigen Organisation brechensopfer kümmert, gab es 2020
Arne Piepke / DER SPIEGEL

tätig. rund 18 000 Entschädigungsanträge


Andreas S. erzählt, dass er manch­ in Deutschland, nur etwa ein Viertel
mal glaube, in einer Menschenmenge davon genehmigten die Ämter. Zwi­
Wulf Aschoff zu erkennen. Und die schen 40 und 50 Prozent lehnten sie
Erinnerungen an den sexuellen Miss­ Tatort »K104« heute ab, der Rest bekam häufig den Stem­
brauch kehrten schlagartig zurück, pel »erledigt aus sonstigen Gründen«.

40 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

Dazu zählen der Tod des Antragstellers und


die Rücknahme eines Antrags. SPIEGEL TV Programm
Am 11. Dezember 2019 bestätigte das Lan-
dessozialamt Andreas S. den Eingang seines
Antrags. Danach hörte er monatelang nichts.
Im Oktober 2020 erkundigte er sich nach dem
Stand der Dinge. Er erfuhr, dass inzwischen
nicht mehr der Tatort bestimme, welches Amt
zuständig sei, sondern der Wohnort des An-
tragstellers. Seine Unterlagen lägen jetzt beim
Amt für Soziales Entschädigungsrecht des
Landschaftsverbands Westfalen-Lippe in
Münster. Als sich S. dort meldete, wusste man
erst mal von nichts. »Ich werde mich in Ge-
duld üben und abwarten«, schrieb S. an das
Amt. Seit er den Antrag gestellt hatte, war
fast ein Jahr vergangen.
Kurz darauf tauchte seine Akte in Münster
auf, doch ständig musste S. Unterlagen nach-
reichen, von seiner Krankenversicherung,

SPIEGEL TV
seinen Therapeuten. Er hatte Angst, dass sein
Anliegen abgelehnt würde und ihn das aus
der Bahn werfen könnte. Im April 2022 erfuhr
Sozialer Brennpunkt Duisburg-Marxloh
er, dass er persönlich nach Münster kommen
müsse. Für eine »Begutachtung«, wie es im
Entschädigungsrecht heißt. SPIEGEL TV ARTE RE:
Weil der Staat keine Steuergelder ver- MONTAG, 27. 2., 23.20 – 0.00 UHR, RTL MONTAG, 27. 2., 19.40 – 20.15 UHR, ARTE
schwenden will, muss der Antragsteller im
Zweifel einem Gutachter beweisen, dass ein Sahra Wagenknecht, Alice Welterbe Ohridsee – Europas
Zusammenhang besteht zwischen dem ge- Schwarzer und die AfD ältester See vor dem Kollaps
sundheitlichen Schaden, den er geltend macht, Die deutsche Friedensfront verrutscht Der Ohridsee ist mit rund 1,4 Millionen
und der Tat, der er zum Opfer gefallen ist. Für nach rechts. Jahren der älteste See Europas und
jemanden, der bei einem Überfall ein Auge ein Wunder der Natur. Doch durch
verloren hat, ist das leicht. Für jemanden, der Leerstand trotz Wohnungsnot Über­fischung und Verschmutzung sind
als Kind sexuell missbraucht wurde, ist das In den Brennpunktvierteln von Duisburg ­einzigartige Spezies im See vom Aus­
oft unmöglich. Weil die Folgen komplex sind bleiben Schrottimmobilien unbewohnt. sterben bedroht. Die beiden Anrainer­
und nicht immer offensichtlich. staaten Nordmazedonien und Albanien
Am 20. April 2022 um kurz nach acht Uhr haben jedoch unterschiedliche Inte­
betrat S. das Amt für Soziales Entschädi- RTL ZWEI ressen und Umweltschutzgesetze: Das
gungsrecht, es befindet sich in einem sechs- DIENSTAG, 28. 2., 21.15 – 23.15 UHR, RTL ZWEI führt zu Konflikten.
stöckigen Klinkerbau im Zentrum von Müns-
ter. Er und der Gutachter, ein psychologischer Mensch Retter – Folge 3
Psychotherapeut, begrüßten sich mit Hand- Wenn andere in Gefahr sind, leisten VOX
schlag. S. sagte, dass er angespannt sei, dass Medizinerinnen und Sanitäter an SAMSTAG, 25. 2., 20.15 – 0.10 UHR, VOX
er fürchte, dass nach dem Termin sein Selbst- ­vorderster Front Erste Hilfe – ob in der
zerstörungsprogramm anspringe und er sich Notauf­nahme des Klinikums Hanau, Kleine Profis – Wenn Kinder
etwas antue. auf den Straßen Frankfurts oder beim Karriere machen
Dreieinhalb Stunden saß er im Amt und Festival in Nürnberg. Bei »Rock im Berühmt werden und im Rampenlicht
beantwortete Fragen. Er sprach über Aschoff Park« schiebt Notärztin Astrid K. Sonder­ stehen – der Traum vieler Kinder
und den Missbrauch, über seine Therapien schichten. Mit einem Bänderriss, und Jugendlicher. Ein Blick hinter die
und die Klinikaufenthalte, über Suizidver- einer verbrannten Hand oder zum Aus­ Kulissen zeigt, wie viel Ehrgeiz, Disziplin
suche, ADHS und Wutanfälle. Er sollte auch nüchtern landen die Patienten im und Entbehrung hinter dem Erfolg der
Fragen beantworten, die er als Zumutung ­Sanitätszelt. Der Notfallsanitäter Chris vermeintlichen Wunderkinder steckt.
empfand. Er sollte erzählen, was er verdient, Grüne versorgt in Frankfurt meist Sechs kleine Profis – sechs Wege zum
wie hoch seine Kaltmiete ist, ob er eine Nah- ältere Menschen: Dann heißt retten Erfolg. Der Werdegang von Deutschlands
rungsunverträglichkeit besitze. Der Gutachter oftmals kümmern.  außergewöhnlichsten Talenten.
wollte wissen, ob er Haustiere habe und schon
mal in Haft gesessen habe, er fragte, wie oft
er Geschlechtsverkehr habe und wie er sich
danach fühle. S. musste Testbögen ausfüllen,
es waren mehr als 200 Fragen.
Vier Wochen später musste er zu einem
zweiten Termin ins Amt kommen, der Gut-
SPIEGEL TV / VOX

achter stellte ihm mitunter dieselben Fragen


wie beim ersten Besuch.
SPIEGEL TV

Heute sagt S. über die Termine in Müns-


ter: »Ich bin mir vorgekommen wie ein
­Ange­klagter vor Gericht, der im Verdacht Notärztin K. »Mini-Picasso« Mikail Akar

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 41


DEUTSCHLAND

steht, sich Leistungen vom Staat zu er­ chend qualifiziert sind. Laut dem Landschafts­
schleichen.« verband ist eine Verfahrensdauer von meh­
Was der Staat einem Opfer wie S. bezahlt, reren Monaten für einen Antragsteller »nach­
hängt davon ab, für wie schlimm er das Leid vollziehbar belastend«, es seien jedoch
des Betroffenen hält. Eine Skala soll den so­ »komplexe Prüfschritte« nötig, die ihre Zeit
genannten Grad der Schädigungsfolgen an­ brauchen. Man habe Andreas S. begutachten
geben, abgekürzt GdS. Sie reicht von 0 – kei­ lassen, um »zwischen den Auswirkungen der
ne Folgen – bis 100 für schwerstgeschädigt. Gewalttaten und den anderer Ereignisse«
Ab einem GdS von 30 erhalten die Opfer eine trennen zu können. Fragen zum Sexualver­
Grundrente. Er will nicht aufhören, halten zählten zum medizinischen Standard.
Im Juni 2022, zweieinhalb Jahre nachdem jeden Monat Geld Bei einem zweiten Termin würden »in der

Arne Piepke / DER SPIEGEL


er den Antrag gestellt hatte, erhielt S. den an Hubertus Heil zu schicken. Regel« keine Fragen wiederholt.
Bescheid. Das Amt in Münster hatte für ihn Schon länger fordern Traumaexperten, das
einen GdS von 20 festgelegt, nur für den Zeit­ OEG zu vereinfachen: Es soll genügen, wenn
raum von Dezember 2019 bis Februar 2022 der Therapeut, der ein Opfer behandelt, dem
Schreiben an den Minister
hatte man ihn mit 30 eingestuft. Die Behörde Staat bestätigt, dass die psychischen Folgen
sprach ihm zwar eine Rente zu, aber nur rück­ des Patienten auf sexualisierte Gewalt zurück­
wirkend und auf die gut zwei Jahre begrenzt. gen mit dem »Opfer(ent-)schädigungsgesetz« zuführen sind. Anfang nächsten Jahres tritt
»Der Betrag in Höhe von 4398,53 Euro wird schilderte. eine Reform des sozialen Entschädigungs­
auf Ihr Konto gutgeschrieben«, stand in dem Dass S. sich vom deutschen Staat im Stich rechts in Kraft, darüber werden auch Opfer
Bescheid. gelassen fühlt, wundert Fegert nicht. Er findet, von schweren psychischen Gewalttaten und
Über den Moment, in dem er begriff, was die OEG-Anträge würden zu oft auf eine Wei­ Impfgeschädigte anerkannt. Doch für Men­
dort stand, sagt S.: »Mein erster Gedanke war, se geprüft, die Menschen wie S. nicht gerecht schen wie Andreas S. ändert sich wohl nichts.
mich vor das Amt in Münster zu stellen und werde. »Es steht häufig der unausgesproche­ Für die Antragsteller soll es zwar leichter wer­
mir aus Protest eine Kugel in den Kopf zu ne Vorwurf im Raum, ein Opfer, das gut im den, ihr Leid nachzuweisen, die Beweislast
schießen.« Alltag zurechtkommt, sei kein richtiges Op­ wird aber weiter bei ihnen liegen. Es wird
Im Bericht des Gutachters kann man nach­ fer.« So würden Narben aufgerissen. nach wie vor Begutachtungen geben. Was es
lesen, wieso das Amt im Fall von S. so ent­ Welche Summe Andreas S. als Entschädi­ nicht geben wird: ein Beschleunigungsgebot
schieden hatte. S. versorge seinen Sohn, heißt gung zustehe? Fegert zuckt mit den Schultern. für die Verfahren und eine Clearingstelle für
es, er könne allein wohnen, sei reisefähig, er Er meint, jede Tabelle, die Leid aufrechne, Betroffene, die mit ihrem Bescheid unzufrie­
arbeite und sei auf keinen gesetzlichen Be­ müsse im Einzelfall scheitern. Fegert plädiert den sind.
treuer angewiesen. Der GdS beziehe sich »auf für ein Mitspracherecht des Opfers, die zen­ Jörg Fegert hat sich überlegt, wie er S. per­
Einschränkungen im Funktionsniveau«, trale Frage müsse lauten: Was könnte dem sönlich Anerkennung zollen kann. Er will es
schreibt der Gutachter, »nicht auf das subjek­ Menschen das Gefühl geben, dass man sein mit einem Schmuckstück tun, mit einem Ring
tiv empfundene Leid«. Leid gesehen hat? »Einfach jedem Opfer ir­ aus Silber, auf dem ein sich aufrichtender
Das Gutachten aus Münster kann man so gendwelche Geldsummen zu zahlen heilt die Mann mit geschwellter Brust zu sehen ist. Der
zusammenfassen: S. hat sein Trauma und die Wunden jedenfalls nicht.« Ring wurde für S. handgefertigt.
Folgen allein bewältigt, ihm geht es zu gut, Der SPIEGEL hat das Sozialministerium Andreas S. sagt: »Herr Fegert hat mich mit
als dass der Staat sich kümmern müsste. in Berlin und den Landschaftsverband in dieser Geste voll erreicht.« Manchmal ist ein
Münster um ein Gespräch über das OEG und symbolischer Akt wertvoller als Geld.
Die Anerkennung den Fall von Andreas S. gebeten. Beide Be­
In Ulm sitzt Jörg Fegert in seinem Büro vor hörden wollten sich nur schriftlich äußern. Die Antwort
einer meterhohen Bücherwand. Der Profes­ Das Ministerium teilt mit, dass allein die Ein paar Tage vor Weihnachten sitzt Andreas
sor, der Andreas S. für das Gutachten über Bundesländer dafür zuständig sind, das OEG S. zu Hause in einem Videocall mit Arbeits­
Wulf Aschoff befragte, ist heute Ärztlicher umzusetzen. Man habe »weder Aufsichts- kollegen, als es an der Tür klingelt. Der Post­
Direktor der Klinik für Kinder- und Jugend­ oder Weisungsbefugnisse noch Kenntnisse bote übergibt ihm ein Einschreiben, Absender
psychiatrie und Psychotherapie am Univer­ über einzelne Fälle«. Die Länder seien auch ist das Bundesministerium für Arbeit und
sitätsklinikum. Er sagt, es habe damals eine dafür verantwortlich, dass Gutachter ausrei­ Soziales, so wird er es später erzählen. Er
Fülle von Anhaltspunkten gegeben, letztlich findet darin einen Brief und zwei kleine Um­
sei aber »die sehr differenzierte Aussage« von schläge, in denen Bargeld liegt. Es ist das Geld,
S. der Grund gewesen, wieso er empfohlen Treffen mit Tränen das er im Oktober und November nach Ber­
habe, Aschoff die Zulassung als Arzt zu ent­ Nachdem sich Andreas S. entschlossen lin geschickt hat.
ziehen. hatte, dem SPIEGEL seine Geschichte Der dreiseitige Brief stammt von Rolf
Auf seinem Schreibtisch steht eine Skulptur zu erzählen, folgten mehrere Treffen in- Schmachtenberg, dem Staatssekretär im Mi­
aus Bronze: Ein Geistlicher mit gerafftem Ge­ nerhalb von drei Monaten. Die Gesprä- nisterium. Er schreibt, Hubertus Heil habe
wand hält einem Kind von hinten eine Hand che über seine Vergangenheit waren für ihn gebeten, sich in seinem Namen zu melden.
vor den Mund. Fegert hat sich in den vergan­ S. belastend. Nach den Terminen muss- Und dass das Ministerium die Geldscheine
genen Jahren mit dem Missbrauch in der Kir­ te er weinen und schlief schlecht, wie nicht annehmen und in die Staatskasse zu­
che beschäftigt, er gilt als führender Experte er den Redakteuren mitteilte. Trotzdem rückführen könne. S. möge dem Ministerium
für Kinderschutz. Dass er sich intensiv mit wich er keiner Frage aus und brach kein »auch keine weiteren Geldübersendungen«
sexualisierter Gewalt in Institutionen beschäf­ Interview ab – weil er mit dem Fall ab- zukommen lassen. Am Ende schreibt er: »Für
tigt, »geht auf den Fall Aschoff zurück«. Fe­ schließen und für andere, die ein ähnli- Ihren weiteren Lebensweg wünsche ich Ihnen
gert meint, sein Fachgebiet und der Kinder­ ches Schicksal haben, etwas verändern viel Kraft, Gesundheit und alles Gute.«
schutz in Deutschland haben Andreas S. viel wolle. S. hatte nur eine Bitte: Er wollte Andreas S. sagt: »Blablabla.« Er will nicht
zu verdanken. seinen Rufnamen nicht veröffentlicht aufhören, jeden Monat 25 Euro an Hubertus
25 Jahre lang hatten die beiden keinen sehen; in diesem Artikel wird er deswe- Heil zu schicken. »Ich ziehe das durch.« Auch
Kontakt – bis S. ihm im vergangenen Sommer gen Andreas genannt, das ist ein weite- wenn das Geld jedes Mal zurückkommt, wird
eine E-Mail schrieb, in der er seine Erfahrun­ rer Vorname von ihm. er es nicht behalten. Sondern spenden.  n

42 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


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Oliver Dietze / DER SPIEGEL


Sportlerin ­Danisman in Trierer Kletterhalle

»Hey Bruder, jetzt sind wir dran!«


ISLAM Frauen mit Kopftuch nutzen Social-Media-Plattformen wie Instagram und TikTok, um sichtbarer
zu werden und sich zu vernetzen. Damit ecken sie auch bei manchen Muslimen an.

S
eher Danisman sucht Halt an der Steil- und ihr Coachingangebot für sportinteressier- man Erfolg haben will«, sagt die Unternehme-
wand. Konzentriert arbeitet sich die te muslimische Frauen macht sie auf Insta­ rin. Sie verdiene mit Fitspirated inzwischen so
21-Jährige in der Trierer Kletterhalle gram und TikTok. Dort postet sie Ernährungs- viel, dass sie sich selbst gut finanzieren könne.
»Cube« nach oben vor, Griff für Griff, Tritt tipps, gibt Ratschläge, wie man während des Die Chance, sich über die sozialen Medien
für Tritt. Vom Boden bis zur Decke sind es islamischen Fastenmonats Ramadan fit bleibt, ein neues Geschäftsmodell aufzubauen oder
15 Meter. Danismans schwarzes Kopftuch oder tauscht sich mit ihren Followerinnen eine eigene Öffentlichkeit zu schaffen, nutzen
aus Nylonstoff sitzt so eng, dass es nicht ver- ­darüber aus, in welchen Hallenbädern es verschleierte Frauen, auch Hijabis genannt,
rutschen, sich keine Haarsträhne lösen kann. männerfreie Schwimmzeiten gibt. Den Link inzwischen in fast allen Branchen.
Es stammt aus ihrer eigenen Kollektion. dazu, wo frau den Burkini kaufen kann, den Die Szene muslimischer Influencerinnen
Ein schlecht sitzender Hijab beim Training Danisman beim Baden trägt, liefert sie gleich ist in Deutschland zwar längst nicht so groß
sei »mega nervig«, sagt die Sportstudentin, mit. Dazwischen veröffentlicht die Sportlerin wie in Großbritannien und Nordamerika oder
als sie wieder festen Grund unter den Füßen Videos und Fotos von sich beim Bungee-­ in islamisch geprägten Ländern wie Indone-
hat. Weil sie mit den Kopftüchern der gängi- Jumping, Kraft- und Ausdauertraining, Snow- sien und in den Vereinigten Arabischen Emi-
gen Sportartikelhersteller unzufrieden gewe- boarden und Wandern in den Alpen. raten. »Hierzulande blieb es lange still, aber
sen sei, habe sie sich einen speziellen Anbie- Gut 5200 Menschen folgen ihr auf Insta­ inzwischen wimmelt es nur so von Accounts
ter in der Türkei gesucht. Über diesen ver- gram. Das ist im Vergleich zu erfolgreichen muslimischer Frauen«, sagt Kulturwissen-
treibt sie nun von Trier aus ihre eigene Serie Fitness-Influencerinnen wie Pamela Reif, die schaftlerin Fatma Sagir, die an der Universität
in Deutschland. 19,99 Euro das Stück, be- es auf neun Millionen Follower bringt, eine Freiburg zu dem Thema forscht.
druckt mit dem Schriftzug »Fitspirated«. So kleine Zahl. Doch Seher Danisman sucht gar Im Sportsektor sind neben Fitspirated Sei-
heißt ihr Start-up. kein möglichst großes Publikum, sondern ein ten wie »Fit mit Fatma« oder »boxgirlberlin«
Werbung für den »rutschfesten« Hijab, weibliches und muslimisches. »Eine gute Ziel- entstanden, deren Macherin ebenfalls Hijab
aber auch für ihren Podcast »Fit Muslima« gruppenadressierung ist das A und O, wenn trägt und Boxtraining für Musliminnen an-

44 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

bietet, alles halal. Es gibt Erziehungs- »Viele verzich- gesprochen fühlten, sagt Danisman. Frau mit Kopftuch an, dass sie sich
expertinnen, Reisebloggerinnen, Co- Viele verzichteten auf Sport in der häufig erst gar nicht auf eine Stelle be-
miczeichnerinnen. Besonders stark ten auf Sport Öffentlichkeit, weil sie Angst vor ne- werben würde, weil sie sich wegen
vertreten sind die modeinteressierten in der Öffent- gativen Reaktionen hätten: gehässige ihrer Religion schlechte Chancen da-
Hijabistas, so heißen die Shopping-
queens der islamischen Welt. Das
lichkeit, weil Kommentare zum Kopftuch oder
­Anfeindungen, weil eine Frau einen
rauf ausrechne. Mehr als die Hälfte sei
bei Bewerbungsgesprächen schon mal
Wort leitet sich von Fashionista ab. sie Angst Burkini trage. Auf unterschiedlichen danach gefragt worden, ob sie bereit
Manche von ihnen haben Zehntau- vor negativen Instagram-Seiten berichten Musli- sei, den Hijab während der Arbeitszeit
sende Followerinnen. minnen darüber, welche Erfahrungen abzulegen. Für die meisten ist das aus
In den Kommentarspalten neben
Reaktionen sie im Freibad gemacht haben oder religiösen Gründen undenkbar. Auch
den Beiträgen werden die Frauen ge- haben.« wie gerne sie schwimmen gehen wür- deshalb sind die Möglichkeiten, die
feiert und mit Emoji-Herzen beju- Seher Danisman, den, aber sich nicht trauten. »Hab Instagram oder YouTube bieten, so
belt – oder mit Hass überschüttet. Start-up-Gründerin Angst, dass ich blöd angemacht wer- attraktiv für die Frauen.
Von Leuten, die den Islam ablehnen – de oder rausgeschmissen werde von Grafikdesignerin Bahar Karbuz,
genauso wie von reaktionären Mus- den Leuten, die da arbeiten«, schreibt 31, hat vor einem halben Jahr einen
limen oder Islamisten, denen nicht eine. Oder: »Ich traue mich noch Job in einer Kreativagentur in Han-
passt, wie sich die Frauen präsentie- nicht. Wir müssen mehr werden.« nover gefunden. In ihrer Branche
ren: selbstbewusst, manche stark ge- Doch die Vorstellung, verschleierte gebe es durchaus Unternehmen, die
schminkt und in engen Hosen, einige Frauen könnten im öffentlichen Leben Wert auf Diversität legten und zu de-
mit einer pointierten Meinung im sichtbarer werden, bereitet vielen Is- ren Selbstverständnis Mitarbeiterin-
innermuslimischen Diskurs. lamkritikerinnen und Islamophoben nen mit Hijab passten, sagt sie.
»Die Frauen können in den sozia- enormes Unbehagen. Aus rassisti- In ihrer Freizeit nutzt Karbuz In-
len Medien selbst darüber bestim- schen Gründen – oder aber, weil sie stagram und TikTok als kreative
men, wie sie sich darstellen möchten. fürchten, dass dadurch der Druck auf Spielflächen. Sie sitzt in einem Café
Das verleiht ihnen Handlungsmacht«, Musliminnen, die sich nicht verhüllen in der Innenstadt Hannovers und
sagt Forscherin Sagir. Häufig grenzten wollen, immer größer werden könnte. zieht ihr Tablet aus der Tasche, um
sie sich dabei sowohl zur nichtmus­ Das ist auch der Hintergrund für ein paar ihrer Arbeiten zu zeigen. An
limischen Gesellschaft als auch zu den ewig währenden Streit darüber, diesem Winternachmittag trägt sie ein
jenen westlichen Medien ab, von ob es Lehrerinnen oder Erzieherin- weißes Wollkleid, weiße Turnschuhe
denen sie sich stigmatisiert fühlten. nen bei der Arbeit erlaubt sein sollte, und ein beiges Kopftuch. Auf Insta­
Viele Hijabi-Influencerinnen ver- einen Hijab zu tragen. gram folgen ihr mehr als 1000 Leute,
arbeiteten in ihren Beiträgen ihre Er- Laut einer Erhebung des Bundes- bei TikTok sind es fast 12 000.
fahrungen mit antimuslimischem Ras- amts für Migration und Flüchtlinge Karbuz hat ihr eigenes Comic-Ich
sismus. Die Frauen setzten sich aber bedecken rund 30 Prozent der Musli- erschaffen: eine Figur mit Kopftuch,
auch vom traditionellen Verständnis minnen in Deutschland ihr Haar. In großen Augen und langen Wimpern.
Illustratorin Karbuz:
etwa in der Familie oder in der mus- Humorvolle Comics
einer Kurzstudie des Deutschen Zen- In einem kurzen Video sitzt Comic-
limischen Community ab, sagt Sagir. mit einer Prise trums für Integrations- und Migra- Bahar barfuß auf dem Sofa und zeich-
Sportlerin Seher Danisman lebt Alltagsrassismus tionsforschung gab fast jede zweite net etwas auf ihrem Tablet, darüber
noch nicht lange in Trier. Bis vor ein steht der Spruch »But you don’t look
paar Monaten wohnte sie bei ihren like an artist« (»Aber du siehst nicht
Eltern in Saarbrücken. Ihre Kundin- aus wie eine Künstlerin«). In der
nen coachte sie dort online von ihrem nächsten Szene hat ihr Avatar plötz-
ehemaligen Kinderzimmer aus. Da- lich wild abstehende Locken auf dem
nismans Eltern sind kurdische Gast- Hijab – eine Frisur wie sie der ver-
arbeiter aus der Türkei. »Für die bei- storbene US-Fernsehkünstler Bob
den ist es nicht leicht nachzuvollzie- Ross hatte – und malt in Anlehnung
hen, womit ich Geld verdiene«, sagt an dessen Werke eine Landschaft mit
sie. »Trotzdem sind sie stolz, dass ich Bäumen auf eine Leinwand.
es geschafft habe, mein eigenes Unter- Humorvolle Comics mit »einer
nehmen aufzuziehen, und haben im- Prise Alltagsrassismus« seien ihr
mer versucht, mich zu unterstützen.« Ding, sagt Karbuz. »Das ist der beste
Danisman ist mit neun Geschwis- Weg für mich, damit umzugehen.«
tern aufgewachsen, sechs Mädchen, Manche Erlebnisse sind aber so
drei Jungs. Nur sie selbst und die Mut- ernst, dass sich schlecht Witze darü-
ter trügen ein Kopftuch, sagt sie. Da- ber machen lassen. Eines davon hat
nisman hat sich mit 18 Jahren dafür die Künstlerin in einer Bilderstrecke
entschieden. Bis zu diesem Zeitpunkt mit dem Titel »Mein Tuch, Dein
habe sie es nur angezogen, wenn sie Hass« verarbeitet. Darin geht Comic-
betete, erzählt sie. »Für mich hat es Bahar nachts die Straße entlang und
sich aber irgendwann immer unnatür- wird von einem unbekannten Mann
licher angefühlt, den Hijab danach angepöbelt: »Wenn ich jetzt ne Knar-
Joanna Nottebrock / DER SPIEGEL

wieder abzulegen. So, als würde ich re hätt’, würd’ ich dich abknallen.«
jedes Mal ein Stück Identität neben Und: »Scheiß Islamist.« Da sei etwas
dem Gebetsteppich liegen lassen.« in ihr zerbrochen, sagt sie.
Die Nachfrage nach ihren Kursen Von Diskriminierung berichten
sei auch deshalb so hoch, weil es nur fast alle Frauen auf ihren Accounts.
wenige Fitnessangebote gebe, von Vielen Musliminnen missfalle zudem,
denen sich muslimische Frauen an- wie sie dargestellt würden. Fast im-

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 45


DEUTSCHLAND

mer geschehe das im Kontext von »Das wird »Namika die Schreiberin«, 24 000 lich auf Instagram nachlesen lässt.
Flucht, Migration, Krieg und Terro­ Follower auf Instagram, 14 000 auf »Mit diesen Geschichten aus meinem
rismus, sagt Kulturwissenschaftlerin jetzt gleich ein TikTok, kennt diese Klientel zur Ge­ Leben will ich anderen Frauen Mut
Fatma Sagir. »Junge Musliminnen richtig giftiges nüge. Auf ihrem Kanal bietet die Heb­ machen. Vielleicht erkennt die eine
haben das Bedürfnis, dem aktiv etwas
entgegenzusetzen. Da ist es kein
Video.« ammenstudentin Frauenhassern aller
Art Paroli. Wenn einer auf TikTok
oder andere dann, dass sie von ihrem
eigenen Mann mehr Unterstützung
Wunder, dass sich fernab der alther­ Namika postuliert, er habe »einen ganz ande­ einfordern kann.«
gebrachten Medien im Digitalen eine ren Respekt vor einer Frau, die Burka Immer wieder klagt sie auch Miss­
kulturelle Transformation vollzieht.« trägt«, kontert sie mit einem Video, in stände in Moscheen an, etwa, dass die
Ohne Risiko ist das für die Frauen dem sie laut lacht und sagt: »Nee, Bru­ Frauenbereiche oftmals Abstellkam­
nicht. Denn wer sich im Internet der, nee. Das wird jetzt gleich ein rich­ mern glichen. Für Namika ist klar,
­exponiert, macht sich zur Zielscheibe. tig giftiges Video.« Und dann zieht sie dass bei den Verantwortlichen endlich
Der Spaß an der Selbstdarstellung über das »eklige Weltbild« des »miso­ die Botschaft ankommen müsse:
der Hijabis kommt nicht in allen gynen Typen« her. Sie erklärt ihren »Hey Bruder, jetzt sind wir dran!«
­muslimischen Milieus gut an. Die Followerinnen, warum eine Frau nicht Wichtig ist ihr zu betonen, dass jene,
Frauen widersprechen in vielerlei Jungfrau sein müsse, um heiratswürdig die sie angreift, nur eine kleine Min­
Hinsicht den Vorstellungen reak­ zu sein. Und sie ärgert sich in einem derheit seien. »Unschön an meiner
tionärer M ­ uslime von einer guten TikTok-Beitrag darüber, dass ein selbst Arbeit ist, dass ich damit zum Teil
Gläubigen: Diese soll ihr Heil vor erklärter »Obermufti« versuche, das Islamhasser füttere«, sagt sie. »Aber
­allem im Dasein als Mutter und Ehe­ Leiden der Frauen in Iran unter dem es hilft ja nichts. Kritik ist wichtig.«
frau suchen. Wer einen Hijab trägt, Mullah-Regime kleinzureden. Namika hat eigentlich einen deut­
hat sich demütig und tugendhaft zu Namika ist nicht ihr echter Name. schen Vornamen, sie ist konvertiert.
verhalten. Kopftuch und Lippenstift? Im Internet bewegt sich die 31-Jähri­ Zum Islam habe sie mit elf Jahren
Ein ­Skandal! Falsche Wimpern? Der ge anonym, trägt auf Fotos oder in über ihren Stiefvater, einen Nord­
Weg ins Paradies ist schon fast ver­ Videos einen Gesichtsschleier oder afrikaner gefunden, erzählt sie. Das
schlossen. eine medizinische Maske. Auch in Kopftuch trage sie, seitdem sie 15 ist.
Wer einen Eindruck davon gewin­ diesem Artikel möchte sie nicht er­ In ihrer Heimatstadt Dresden habe
nen will, wie groß die Empörung zum kennbar sein. »Es geht um meine Si­ sie einiges durchmachen müssen, ihr
Teil ist, muss sich nur die Kommenta­ cherheit und die meiner Kinder«, sagt damaliger Schulleiter habe sie des­
re zu Beiträgen von Busra Caramella sie. Nicht einmal die Stadt, in der sie halb sogar angeschrien und verlangt,
anschauen. Ihr Instagram-Account lebt, will sie veröffentlicht sehen. dass sie es wieder ablege.
»Call me Büsi« mit fast 100 000 Fol­ Namika sitzt in einem Café in der Beiträge auf »Namikas Schnack«,
lowern ist eine Mischung aus Fashion­ Nähe des Hauptbahnhofs, ihren Roll­ so heißt der Account, sind meistens
show, Comedy und Aktivismus gegen koffer hat sie in der Ecke geparkt. Im sehr persönlich, beschreiben Aus­
antimuslimischen Rassismus. In ihren Moment pendelt sie zwischen ihrem schnitte aus ihrem Leben. Dazu ge­
Videos sieht sie immer top gestylt aus, Wohnort und ihrem Ausbildungs­ hört auch, dass sie sich als Jugendli­
Busra macht Werbung für verschiede­ Hebammenstudentin
platz. »Das ist alles wahnsinnig an­ che einst selbst im salafistischen Spek­
ne Modemarken, zwischendurch ver­ Namika: Bewegt sich strengend«, sagt sie. Aber ihr Mann trum bewegt hat. Es sei ein harter
gibt sie auch mal einen Rabattcode für im Internet anonym helfe, wo er könne – was sich natür­ Lernprozess gewesen, bis sie verstan­
eine »Spielmoschee« aus Pappe oder den habe, wie immens die Schatten­
postet komödiantische Einlagen. Da­ seiten der Bewegung seien, sagt sie.
rin bespielt sie einen Wäscheständer Heute ist sie religiös nur schwer
als Harfe oder stolpert in ihrer Abaja, einzuordnen. »Viele würden wahr­
einem langen Gewand, über den Ge­ scheinlich sagen, ich sei konservativ,
betsteppich. weil ich ein Kopftuch trage«, sagt sie.
Busra ist lustig, viele feiern sie da­ »Aber ich will mich da gar nicht so
für, immer wieder aber wird sie be­ genau festlegen.« Wie für so viele an­
schimpft: »Sowas nennt sich Musli­ dere gibt es auch für Namika keine
min? Kein Schamgefühl mehr«, pos­ passende Schublade. Unter dem Hi­
tet einer. »Kranke Seele«, ein anderer. jab steckt ein freier Geist.
Extremistische Onlineprediger Seit fünf Jahren ist sie nun als »Na­
widmen sich teils stundenlang den mika die Schreiberin« im Internet
vermeintlichen Verfehlungen von unterwegs. Neuerdings postet sie
Musliminnen wie ihr. Ihre YouTube- auch Interessantes aus ihrem Stu­
Videos haben Titel wie »Schämt Euch dium, zum Thema Kaiserschnitt oder
Ihr Hijabis« oder »Fake Hijab«. Auf zur Frage, was eine Schwangere tun
einem YouTube-Kanal verflucht ein sollte, wenn ihre Fruchtblase platzt.
selbst ernannter Prediger die Frauen Eigentlich sehne sie sich danach, »in
und stellt sie auf dieselbe Stufe wie Social-Media-Rente« gehen zu kön­
»Terrorgruppen«. Sinngemäß sagt er nen, sagt sie. Ihr Traum: eine eigene
außerdem, Allah sei zwar noch bereit, Hebammenpraxis, in der sie auch
einem »Mann, der in die Moschee Workshops für muslimische Frauen
Gesche Jäger / DER SPIEGEL

uriniert«, zu verzeihen – aber keiner anbieten kann. Aber noch kann sich
Hijabista. 158 000 Abonnenten hat Namika nicht von ihrem Instagram-
der Kanal, das Video wurde fast Account lösen: »Das hieße ja, den
14 000-mal abgerufen. Darunter Frauenfeinden in den sozialen Me­
Kommentare wie: »Bruder, deine dien das Feld zu überlassen.«
­Videos inspirieren mich.« Katrin Elger  n

46 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


DEUTSCHLAND

men hatte die Beamten erst warten


lassen, dann in falsche Stockwerke
geschickt. Die nächste Durchsuchung,
die neben Firmen auch Wohnungen
umfassen sollte, setzte Bäumler-Hösl

Schwarze Kassen, gelbe Zettel


daher für sechs Uhr morgens an.
Am 15. November 2006 trafen die
rund 200 Kräfte von Polizei, Staats-
anwaltschaft und Steuerfahndung wie
erhofft nur den Wachdienst im Sie-
MEIN FALL  Hildegard Bäumler-Hösl ermittelte mens-Gebäude an. Der »Herr der
in einem der größten deutschen Wirtschaftsskandale. schwarzen Kassen« kam in Untersu-
chungshaft. Dann geschah etwas, das
Bäumler-Hösl nicht erwartet hatte:

U
m sechs Uhr morgens klingel- Siekaczek packte aus. »Ein leitender
ten die Ermittler bei Reinhard Mitarbeiter soll ihm gesagt haben:
Siekaczek. Der grauhaarige ›Wenn was von der Staatsanwalt-
Mann mit der eckigen Brille, ein lang- schaft kommt, dann waren das nicht
jähriger Siemens-Mitarbeiter, galt der wir, das waren Sie.‹ Ab diesem Zeit-
Staatsanwaltschaft als »Herr der punkt hat er Material gesammelt.«
schwarzen Kassen«. Über ein globa- Der Kronzeuge übergab den Beam-
les Firmengeflecht hatte er offenbar ten Hunderte Dokumente. »Es war
Schmiergeld in Millionenhöhe bereit- damals, wie möglicherweise in vielen
gestellt. anderen Unternehmen auch, Ge-
»Siekaczek las den Haftbefehl we- schäftspolitik, verdeckte Zahlungen ins
gen Untreue über Konten in der Ausland abzuwickeln«, so die Ermitt-
Schweiz«, sagt Hildegard Bäumler- lerin. »Um das zu dokumentieren, gab
Hösl heute. Dann habe er gesagt: »Sie es eine komplette schwarze Buchhal-

Gajanin Goram / action press


haben 20 Millionen Euro reinge- tung.« So unterzeichneten der kauf-
schrieben. Ich sage Ihnen auswendig: männische und der technische Projekt-
200 Millionen.« leiter wichtige Dokumente auf Post-its.
Bäumler-Hösl ermittelte damals, »Es gab Vordrucke, auf denen stand:
2006, als Staatsanwältin seit gut ›Hier bitte Post-it aufkleben‹. Der Plan
einem Jahr in der Sache, die als einer war, die Klebezettel zu entfernen, wenn
der größten Korruptionsskandale in die Staatsanwaltschaft kommt.« Die
die deutsche Wirtschaftsgeschichte lich nicht legal sind«. Die Ermittlerin Kronzeuge Unterlagen wurden im Keller versteckt,
eingehen würde. Siemens-Leute hat- entschloss sich, die Kollegen des Lan- Siekaczek (r.) später in einem Tresor in der Schweiz
mit Verteidiger
ten sich jahrelang schwarzer Kassen, deskriminalamts (LKA) einzubinden. 2008
und – wie gesetzlich vorgeschrieben –
fingierter Beraterverträge und zahl- »Wir dachten uns, dass das eine grö- zehn Jahre lang aufgehoben.
reicher Briefkastenfirmen bedient. ßere Geschichte würde.« Die sauber dokumentierte Schat-
Sie hatten Schmiergeld an Geschäfts- Über das LKA erfuhr Bäumler- tenbuchhaltung sei ein »Paradies« für
partner und korrupte Beamte gezahlt, Hösl von Geldwäscheverdachtsmel- die Staatsanwälte gewesen. »Es war
um Aufträge zu sichern –  es ging dungen und dubiosen Konten in der alles da. Die erste Anklage war nach
um 330 Projekte, 4300 Zahlungen, Schweiz, die auf einen führenden Sie- rund zehn Monaten fertig. Das ist
insgesamt 1,3 Milliarden Euro, wie mens-Mitarbeiter zurückzuführen erstaunlich schnell für Wirtschafts-
Medien später weltweit berichteten. waren: Reinhard Siekaczek. Der heu- strafsachen.«
Der Vorstandsvorsitzende und der te 72-Jährige gilt als Schlüsselfigur Eines konnte Siekaczek den Er-
Aufsichtsratschef traten zurück, die des Korruptionssystems. »Mit ihm mittlern allerdings nicht liefern: die
Staatsanwaltschaft München I führte habe ich mich wochenlang intensiv Namen der Schmiergeldprofiteure.
etwa 350 Verfahren wegen Untreue beschäftigt«, erinnert sich Bäumler- »Er wusste nicht, was in Russland
und Bestechung. Der Konzern zahlte Hösl. »Ich konnte seine Kontoaus- passierte oder in Saudi-Arabien. In
eine Milliardenbuße. züge auswendig. Jeden.« seinen Unterlagen war vermerkt, wel-
Bäumler-Hösl, damals Gruppen- Die Staatsanwälte besuchten ihre che Summe wann an wen ausgezahlt
leiterin in der Korruptionsabteilung der Kollegen in der Schweiz. Dort stießen worden war. Nicht aber, an wen das
Münchner Staatsanwaltschaft, sagt: sie auf eine »komplexe Firmenstruk- Geld weiterging.«
»Das war ein Fall, der alle Dimensionen tur, die später auch der Nukleus des Im Juli 2008, rund anderthalb Jah-
gesprengt hat.« Die 59-Jährige, heute Ermittlungsverfahrens war«, auf dif- Bäumler-Hösl, 59, re nach seiner Verhaftung, wurde der
ist Oberstaats­
Oberstaatsanwältin, sitzt in ihrem fuse Zahlungen und Geldströme. anwältin in München.
Kronzeuge Siekaczek zu zwei Jahren
Büro im Münchner Norden und sagt: Mit einem Karton voller Unterla- auf Bewährung sowie der Zahlung
»Siemens ist eingeprägt, da kann ich gen fuhr Bäumler-Hösl zum Ermitt- von 108 000 Euro verurteilt. Siemens
auch nachts um drei noch jedes Datum lungsrichter und beantragte Durch- rühmt sich seither eines neuen, stren-
nennen.« suchungsbeschlüsse und Haftbefehle. geren Compliance-Systems. Und Hil-
Am 15. September 2005 landete Bereits kurz zuvor hatte es eine Raz- degard Bäumler-Hösl leitet heute die
ein anonymer Brief auf ihrem Tisch, zia bei Siemens gegeben, italienische Abteilung für Wirtschaftsstrafsachen
Bernd Wackerbauer

so erzählt sie es, jemand schrieb von Behörden waren der Korruption bei der Staatsanwaltschaft München
»schlimmen Handlungsweisen« bei ebenfalls auf der Spur und hatten um I. Dort harrt nun ein anderer Skandal
Siemens, von »Schweigegeld« und Rechtshilfe gebeten. »Chaotisch« sei der Aufklärung: der Fall Wirecard.
»Geld für Aktionen, die wahrschein- die Razzia verlaufen, das Unterneh- Sara Wess  n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 47


D E B AT T E O S T D E U T S C H L A N D

Waltraud Grubitzsch / picture alliance / ZB


Protestierende Maschinenbauer in Leipzig 1993: »Das Bild vom Westen war extrem positiv«

»Man grenzt die Ostmänner


systematisch aus«
SPIEGEL-GESPRÄCH Gut 30 Jahre nach der Vereinigung sei Deutschland gespalten und mehr denn je von
Verachtung für den Osten, von wirtschaftlicher und politischer Ungleichheit geprägt, sagt der
Leipziger Autor und Germanist Dirk Oschmann. Ein Gespräch über Wut, Häme und Demokratie nur für wenige.

SPIEGEL: Herr Oschmann, Sie sind zornig. SPIEGEL: Sie sind ein ostdeutscher Profes- was man sich landläufig unter einem Ostdeut-
Warum? sor, der … schen vorzustellen versucht.
Oschmann: Weil ich finde, dass wir an dem Oschmann: Ich reagiere hochgradig allergisch, SPIEGEL: Was stellt »man« sich landläufig
Punkt angelangt sind, an dem die Ungleich- wenn man mich zum Ostdeutschen zu ma- unter einem Ostdeutschen vor?
heit zwischen Osten und Westen in einem chen versucht. Oschmann: »Ostdeutsch sein« ist eine behaup-
so ungeheuerlichen Ausmaß auf Dauer ge- SPIEGEL: Aber Sie sind doch Ostdeutscher, tete Identität. Es verbinden sich damit ganz
stellt ist, dass man das nicht mehr hinnehmen oder nicht? viele negative Konnotationen: dass »die Ost-
kann. Oschmann: Was soll das sein? deutschen« angeblich faul sind, dass sie dumm
SPIEGEL: Auf wen sind Sie zornig? SPIEGEL: Einer, der im Osten Deutschlands sind, dass sie unfähig sind, dass sie feige sind,
Oschmann: Auf wechselnde Regierungen und geboren ist. Wenn ich jemanden frage: »Bist dass sie keine Verantwortung übernehmen
ihren mangelnden Willen, an dieser enormen du Hamburger?«, dann gibt es auch eine wollen, dass sie sich hässlich kleiden, dass sie
Ungerechtigkeit etwas zu ändern. Jetzt be- ­Antwort. nicht richtig sprechen können. Und so weiter.
kommen sie zunehmend durch die Wahl- Oschmann: Das ist etwas anderes. Sie können Das sind die Stereotype, die immer wieder
ergebnisse die Quittung. mich fragen, ob ich Gothaer bin. Ich bin Go- aufgerufen werden. Ich finde das falsch, und
thaer. Ich bin Thüringer, ich bin Deutscher, ich finde es unfair. Darüber verliert man die
Das Gespräch führte die Redakteurin Frauke Hunfeld. und ich bin Europäer. Aber ich bin nicht das, Fähigkeit, die einzelnen Menschen zu sehen,

48 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


in ihren Lebenszusammenhängen, in ihrem
Gewordensein, in den Lebenschancen, die sie
»Das Sächsische wird Oschmann: Warum sollte der Osten westdeut­
sche Zeitschriften lesen, in denen er gewohn­
hatten oder eben nicht hatten. ­genommen, um Leute ins heitsmäßig gemaßregelt und verächtlich ge­
SPIEGEL: Sie haben Ihren Kindern angedroht,
das Taschengeld zu streichen, sollten sie Säch­
Lächerliche zu ziehen.« macht wird? Verbale Entgleisungen im Minu­
tentakt, das ist die Regel im Reden über den
sisch sprechen. Warum? Osten.
Oschmann: Weil die gesellschaftliche Diskri­ SPIEGEL: Dem SPIEGEL werfen Sie wegen
minierung sofort einsetzt, wenn man das tut. eines Titelbilds von 2019 Macht- und Medien­
Sächsisch ist die Verlierersprache. Das Säch­ Kämpfe gegen den Westen geführt und um­ missbrauch vor.
sische ist das, was genommen wird, wenn es gekehrt. Man hat Bilder voneinander ent­ Oschmann: Das Cover zeigte in Anspielung
darum geht, Leute ins Lächerliche zu ziehen, wickelt. Die Menschen im Osten hatten ein auf einen sächsisch sprechenden Pegida-De­
sie dumm dastehen zu lassen. Es gilt als der extrem positives Bild vom Westen, das ganz monstranten, der zum Meme wurde, einen
hässlichste Dialekt. Eine Kollegin hat mir mal anders war als das offizielle, von der Regierung schwarz-rot-goldenen Anglerhut mit der
unter Tränen erzählt, dass sie aus dem Erz­ vermittelte. Man wollte so werden wie der Wes­ Unterzeile: »So isser, der Ossi«. Der Angler­
gebirge kommt, aber nur mit ihrer Mutter und ten, man wollte Westen sein. Der Westen fühl­ hut als Sinnbild für Nationalismus, provin­
Großmutter noch Sächsisch spricht. Sie hat te sich hingegen überlegen. 1990 hat die Hoff­ zielle Beschränktheit, Primitivität und oben­
Schulungen gemacht, um ihr Heimatidiom nung eingesetzt, dass man sich annähert. Der drein für billigen, schlechten Geschmack.
loszuwerden. Westen hat diesen Blick auf den Osten aber Eines der meistgelesenen Magazine nutzte da
SPIEGEL: »Der Osten – eine westdeutsche Er­ nicht abgebaut. Das sind nach wie vor »die seine volle Medienmacht, um rund 18 Prozent
findung«: So heißt Ihr Buch, das jetzt erschie­ armen Brüder und Schwestern«, auf die man der Bevölkerung zu verleumden, vom Westen
nen ist. Aber der Osten Deutschlands hat ein herabblickt, die man alimentieren muss, wozu aus und für ein westdeutsches Publikum, das
anderes System erlebt und andere Erfahrun­ man dann auch einen Ostbeauftragten braucht. hier seine Vorurteile bestätigt finden kann –
gen gemacht und macht sie bis heute. Das ist SPIEGEL: Was haben Sie gegen einen Ost­ und soll. Das steht nur exemplarisch für die
doch keine Erfindung. beauftragten? maximale kommunikative Asymmetrie zwi­
Oschmann: Die Erfindung liegt in den Konno­ Oschmann: Es ist Ausdruck von Paternalis­ schen West und Ost und für den systemati­
tationen, die sich damit verbinden sollen, in mus. Es ist keine Lösung dafür, diese Abhän­ schen, medial forcierten Totalausschluss des
den Zuschreibungen, den Unterstellungen. gigkeit zu verändern, diese Unterordnung, Ostens aus der Gesamtgesellschaft. Der Osten
Daraus erwächst, dass man Ostdeutschen be­ auch die sprachliche Herabwürdigung. Gegen wird komplett als fremdes, abnormes und
stimmte Dinge nicht zutraut, dass man sie in all das hat sich zunehmend trotzige Ableh­ peinliches Element markiert. Pünktlich zum
bestimmte Positionen nicht lässt. Wenn von nung entwickelt. Aber auch Resignation. Aus 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls brachte
den Staatssekretären nur vier aus dem Osten meiner Sicht ist die Sonderbehandlung eine der SPIEGEL schon mit dem Cover die ge­
kommen, dann gibt es ein Problem der Teil­ Form der Ausgrenzung dieser ganzen ostdeut­ samte Maschinerie der Herabwürdigung und
habe. Und das betrifft die Wirtschaft, das be­ schen Lebenszusammenhänge. Ich fände es Häme in Gang.
trifft die Wissenschaft, das betrifft das Militär, besser, wenn die Probleme in ihren regionalen SPIEGEL: Die Unterzeile lautete: »Klischee
das betrifft die gesamte Gesellschaft. Komplexitäten wahrgenommen würden. So und Wirklichkeit: Wie der Osten tickt – und
SPIEGEL: Das Aufwachsen in der DDR hat wie es regionale Probleme gibt, die in Nord­ warum er anders wählt«. Und der Text war
andere Spuren hinterlassen als das Aufwach­ rhein-Westfalen anders sind als in Bayern. von einem Kollegen aus Sachsen geschrieben
sen in der BRD. SPIEGEL: Apropos Spiegel: Warum wird im und entlarvte Klischees.
Oschmann: Das ist völlig klar. Aber dieses Osten so wenig SPIEGEL , »Stern«, »Zeit« Oschmann: Hat man das Cover gesehen, wird
Aufwachsen wird diffamiert. Ich erinnere gelesen? der Text sofort zur Nebensache; was immer
mich an eine Lehrveranstaltung Anfang der da stehen könnte, interessiert nicht mehr. Das
Neunziger eines Professors aus dem Westen. Cover aber bleibt ein für alle Mal im Gedächt­
Der sprach über die kollektive Deformation nis, denn es brennt sich ein, bis alle Hirnfasern
des Ostens, weil die Kinder gemeinsam in der schwarz und verkohlt sind.
Krippe auf den Töpfchen gesessen haben. SPIEGEL: Finden Sie nicht, dass Zuspitzung
SPIEGEL: Christian Pfeiffer aus Niedersachsen. und Ironie erlaubt sein müssen auf einem Co­
Oschmann: Der Professor war nicht Christian ver? Kürzlich hatten wir bei einem Bundes­
Pfeiffer selbst, sondern ein Jurist, der sich auf wehrtitel eine Soldatin in Uniform, die auf
Pfeiffers Behauptungen bezog. Da saßen nicht einem Bobbycar mit Kanone herumfährt.
nur Studenten in diesem Hörsaal in Jena, son­ Oschmann: Ich finde, dass das vor dem Hin­
dern auch noch eine ganze Reihe von älteren tergrund der gesamtgesellschaftlichen Situa­
Lehrern, die den Vortrag als Weiterbildung tion etwas anderes ist. Bei der Bundeswehr
besuchten. Der Jurist hat sich hingestellt und kommen die Leute aus dem ganzen Land und
diese 200 Leute erst mal komplett diffamiert. gehören zu uns allen.
SPIEGEL: Das ist lange her. SPIEGEL: Sie könnten sich aber auch diffamiert
Oschmann: Ja. Aber Sie wussten sofort, wo­ oder veralbert fühlen. Sie geben im Zweifel
von ich rede. Das zeigt doch, wie mächtig ihr Leben.
Doro Zinn / DER SPIEGEL

diese Bilder waren und sind. Oschmann: Ja, trotzdem würde ich sagen, dass
SPIEGEL: Sie sprechen von »dem Westen«, es anders funktioniert. Es ist immer ein Unter­
der ausgrenzt und verhöhnt. Ist der Westen schied, ob die ohnehin Starken sich auf Kos­
auch eine Erfindung? Ihre? Wird jetzt zurück­ ten der ohnehin Schwächeren lustig machen
erfunden? oder umgekehrt.
Oschmann: »Der Westen« ist eine radikale Oschmann, Jahrgang 1967, Abitur in Gotha, SPIEGEL: Interessanterweise war an diesem
Zuspitzung. Es ist der Versuch, einen Spiegel studierte und lehrte in Jena, Canterbury Titelbild eine ostdeutsche Grafikerin beteiligt.
vorzuhalten. Und natürlich ist das in der Ver­ (England) und an diversen Hochschulen der Die war der Meinung, das verstehen die Leu­
USA. Er ist Professor für Literaturwissenschaft
einfachung und Schematisierung ungerecht. in Leipzig. Sein Buch »Der Osten – eine
te als Ironie, als Zuspitzung, genauso wie sie
Das soll es auch sein. In der Frontstellung des westdeutsche Erfindung« ist bei Ullstein verstehen, dass eine blonde Frau Antje im
Kalten Krieges hat der Osten ideologische erschienen. Käse keine Drogen hat, auch wenn es auf

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 49


D E B AT T E O S T D E U T S C H L A N D

weil sie bei den von Westdeutschen durch-


geführten Evaluierungen den Kriterien nicht
entsprochen haben. Die frei gewordenen Posi-
tionen wurden dann von Westdeutschen be-
setzt, die wiederum den Nachwuchs aus dem
Westen mitgebracht haben.
SPIEGEL: Und warum ist das mehr als 30 Jah-
re lang so geblieben?
Oschmann: Weil Eliten sich aus sich selbst
rekrutieren, wenn man nicht gezielt gegen-
steuert. Es ist einfach die Gleichheit in der
Herkunft, die Ähnlichkeit in der Einstellung,
die man voraussetzen kann, wenn die anderen
aus ähnlichen Zusammenhängen kommen.

Odd Andersen / picture alliance / dpa


Professoren aus dem Westen ziehen sowohl
wissenschaftliche Mitarbeiter als auch Pro-
fessoren aus dem Westen nach. Jüngere aus
dem Osten beispielsweise, die Anfang der
Neunzigerjahre Abitur gemacht und ein Stu-
dium aufgenommen haben, durften im – letzt-
lich naiven – Vertrauen auf eine funktionie-
rende Demokratie mit einem gewissen Opti-
Präsident Gauck, Kanzlerin Merkel beim Singen der Nationalhymne 2013: »Doch nur ganz wenige«
mismus durchaus annehmen, die gleichen
Startbedingungen wie ihre gleichaltrigen
einem SPIEGEL -Titel über die Niederlande sinnig hätte an meinem Ursprung, an den Er- Kommilitonen aus dem Westen zu haben. Im
so gemalt ist. innerungen der Jugend festhalten wollen.« Nachhinein zeigt sich, dass davon überhaupt
Oschmann: Will man im Westen akzeptiert SPIEGEL: Aber er bleibt ein Affe, bei Kafka, keine Rede sein konnte, weil, abgesehen vom
werden, dann gibt es drei Muster, mit seiner oder? Abitur, alles Notwendige gefehlt hat: die fi-
Herkunft aus dem Osten umzugehen. Ent- Oschmann: Ein entscheidender Aspekt ist in nanziellen Voraus­setzungen, die Netzwerke,
weder man distanziert sich ganz klar und wie- der Perspektive des Affen, dass das Affentum der Stall­geruch, die »Verwandtschaft im Ha-
derholt immer: Das war ein Unrechtsstaat. der anwesenden Akademiemitglieder nur un- bitus«, die dazu anhält, ein Denken und Han-
Oder bedient die Olaf-Schubert- oder Cindy- wesentlich länger zurückliegt. deln »sympathisch« oder »unsympathisch«
aus-Marzahn-Methode: vorauseilende Selbst- SPIEGEL: Sie sind Professor für Literaturwis- zu finden. Das gesamte kulturelle, symboli-
ironisierung. Oder man verschweigt seine senschaft. Angela Merkel war Bundeskanzle- sche, soziale und ökonomische Kapital, das
Herkunft. rin, Joachim Gauck Bundespräsident und Mat- ja nur als West­kapital existiert. Deshalb fin-
SPIEGEL: Haben Sie auch Ihre Herkunft ver- thias Sammer Sportchef des FC Bayern Mün- den Karrieren auch mehr als 30 Jahre nach
schwiegen? chen. Widerspricht das nicht Ihren Thesen? der Wiedervereinigung ausschließlich ent-
Oschmann: Ja. Wie viele derjenigen aus dem Oschmann: Es sind dann doch nur ganz weder im Westen oder über längere Stationen
Osten, die gegen alle Widerstände und gegen ­wenige. Der Anteil Ostdeutscher in Spitzen- im Westen statt.
alle Wahrscheinlichkeit erfolgreich geworden positionen in Wissenschaft, Verwaltung, Juris- SPIEGEL: Sind Sie für eine Ostquote?
sind, habe ich meine Herkunft verschwiegen prudenz, Medien und Wirtschaft beläuft sich Oschmann: Nein. Weil man sich natürlich
oder nur zur Not thematisiert. auf durchschnittlich 1,7 Prozent, nur ein klei- dann immer fragt: Bin ich das jetzt nur, weil
SPIEGEL: Wie geht das in Ihrem Kontext? Man ner Bruchteil der deutschen Universitäten ich der Quoten-Ostler bin?
nennt bewusst seinen Geburtsort nicht? wird von einer Person ostdeutscher Herkunft SPIEGEL: Das klassische Argument, auch gegen
Oschmann: Man lässt zum Beispiel die Vita mit geleitet. Wenn Ostdeutsche es doch geschafft die Frauenquote. Verstehen kann man das,
dem Studium anfangen. Das ist in der Wissen- haben, dann oft, weil in einer Krise die alten aber sollte man sich diese Eitelkeit leisten?
schaft nicht komplett unüblich, aber es ist trotz- Spielregeln nicht mehr galten. Angela Merkel Oschmann: Es muss anders gehen. Es muss ein
dem auffällig, dass der Geburtsort gerade bei stieg nach der Spendenaffäre auf, Joachim Bewusstsein dafür entstehen, welche Signal­
ostdeutschen Wissenschaftlerinnen und Wis- Gauck wurde nach dem Rücktritt von Christian wirkung welche konkreten Entscheidungen
senschaftlern häufig nicht genannt ist. Wo Wulff Bundespräsident. Germanistikprofesso- haben. Gerade an Universitäten ist sehr viel
gegen alle Erwartung ein Aufstieg gelungen ren oder ‑professorinnen aus dem Osten gibt von Diversität die Rede. Der Osten ist dabei
ist, war das Verleugnen, Verschweigen, impli- es im Bereich neuere deutsche Literatur nur nie mitgemeint.
zite und explizite Distanzieren von der Her- vier oder fünf – von Hunderten; in anderen SPIEGEL: Ostdeutsche hätten kein Interesse
kunft aus dem Osten oft die Grundvorausset- akademischen Fächern ist die Lage ähnlich. an Spitzenpositionen, zitieren Sie aus einer
zung. Da ich jedoch diese Kunststückchen der SPIEGEL: Warum ist das so? Studie.
Assimilation schon oft erfolgreich aufgeführt Oschmann: Es ist so, weil im Osten ein Eliten- Oschmann: Ja. Praktische Studie. Die Ost-
habe und nicht zuletzt dadurch in meine jet- wechsel nach 1990 zunächst absolut nötig war. deutschen sind selbst schuld, weil sie Angst
zige, zweifellos komfortable Position gelangt Das war ganz wichtig, weil viele Leute ent- vor Verantwortung haben, generell zu be-
bin, die ungefähr derjenigen des Affen Rot­ weder politisch korrumpiert waren oder sogar quem sind und das »Streben in die Elite« nicht
peter in Kafkas »Bericht für eine Akademie« für die Staatssicherheit gearbeitet haben oder gelernt haben.
entspricht, werde ich das nicht wieder tun. SPIEGEL: Klingt wieder wie die Begründung
SPIEGEL: Der Affe Rotpeter ahmt den Men- für den Frauenmangel in Spitzenpositionen.
schen und seine Verhaltensweisen nach, um Aber warum streben so wenige Ostdeutsche
der Gefangenschaft zu entrinnen. Und soll zum Beispiel in den Geisteswissenschaften
einer Akademie berichten, wie ihm das ge- »Es ist viel von Diversität eine Promotion oder Habilitation an?
lungen ist.
Oschmann: Er sagt wörtlich: »Diese Leistung
die Rede. Der Osten Oschmann: Viele aus dem Osten studieren
Geisteswissenschaften, um Lehrer zu werden.
wäre unmöglich gewesen, wenn ich eigen- ist dabei nie mitgemeint.« Die soziale Sicherheit ist ein wichtiger Faktor,

50 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


weil die nicht weitverbreitet ist. Man sammenhänge. Der Osten hat das zise diejenigen, die von den sozialen
weiß möglicherweise auch zu wenig Geld nicht gehabt nach 1990, um im und leider auch öffentlich-rechtlichen
über die Finanzierungsmöglichkeiten großen Stil Wohneigentum nicht nur Medien besonders gern als Wutbür-
einer Promotion, oder man rechnet zu kaufen, sondern es auch zu erhal- ger, AfD-Wähler, Nazis, Rassisten
sich als Ostdeutscher keine Chance ten und zu sanieren. Dadurch ist die oder einfach als unzurechnungs­
dafür aus, weil die Rollenvorbilder jetzige Schieflage entstanden. fähige, stammelnde Primaten präsen-
fehlen. Das ist ein dynamisch wach- SPIEGEL: Und ist sie reparabel? tiert werden. Die Beispiele werden
sender Effekt: Je weniger Ostdeutsche Oschmann: Sie ist irreparabel, weil von den Medien oft zur Bestätigung
in Spitzenpositionen als Vorbilder der Osten nach wie vor sehr viel der eigenen Vorurteile gezielt ge-
sichtbar sind, desto weniger Ostdeut- ­weniger Geld verdient. Das führt sucht, damit sie im nächsten Schritt
sche können sich vorstellen, auf sol­ dazu, dass man eben weiterhin nicht als ­repräsentativ hingestellt werden
che Positionen Anspruch zu erheben Einkommen erhöhen und Vermögen ­können.
oder gar dorthin zu gelangen. Ost- aufbauen kann, um dann vielleicht SPIEGEL: Warum haben Sie das Buch
deutsche Eltern haben zudem oftmals Besitztümer zu erwerben. Es verste- geschrieben: zornig, undifferenziert,
keine Möglichkeit, ein langes Stu­ tigt sich also das Problem und poten- pauschal, wie Sie es selbst formulie-
dium  zu finanzieren. Ich habe es ziert sich mit dem Vererben. Aber ren? Und das als Professor für Litera-
am eigenen Leib erfahren. Meine natürlich muss es Hebel geben, mehr turwissenschaft, was ja eigentlich die
Eltern haben überhaupt nicht ver- ökonomische Gerechtigkeit herzu- Spezialdisziplin ist für Zwischentöne
standen, warum ich nach dem Ende stellen. Man kann nicht das man­ und Subtext?
des Studiums nicht Lehrer werde. gelnde Demokratievertrauen bekla- Oschmann: Die Forderung nach Dif-
Und als ich erklärt habe, dass ich gen und das andere nicht sehen wol- ferenzierung ist der charakteristische
mehrere Jahre kein richtiges Geld ver- len: dass es zwischen der sozialen Ausdruck für das radikale Nichtwahr-
dienen wer­de, haben meine Eltern ge- Frage und der Demokratie einen Zu- habenwollen der gesamten Situation.
dacht, ich wäre komplett verrückt sammenhang gibt. Dass die Leute Differenzieren heißt hier nichts ande-
geworden. Meine Mutter war zu der 22,5 Prozent weniger verdienen und res, als den Wald vor lauter Bäumen
Zeit arbeitslos. Mein Vater ist Metall- dann weniger Vertrauen in die Demo- nicht sehen zu wollen. Es ist höchste
arbeiter. kratie haben. Zeit, den Wald in Erinnerung zu rufen.
SPIEGEL: Wissen Ihre Studentinnen SPIEGEL: Sie behaupten, dass kaum Eine repräsentative Demokratie, in
und Studenten, dass Sie aus dem Os- eine gesellschaftliche Gruppe nach der man sich nicht adäquat repräsen-
ten kommen? 1990 so diskriminiert worden sei tiert findet, hat mehr als nur ein Pro-
Oschmann: Ich glaube, in den letzten wie die Ostmänner. Was ist mit den blem. Sie ist nämlich keine. Oder nur
Jahren ist es deutlicher zu Bewusst- Frauen? Und mit den in Deutschland eine von wenigen für wenige. Und
sein gekommen. Das hängt auch da- geborenen Migrantenkindern? SPIEGEL-Titelbilder möglicherweise hat derjenige, der im
mit zusammen, dass ich es ab und zu Oschmann: Von den Frauen zu reden zum Thema Osten groß geworden ist, ein feineres
mal thematisiere, wenn es sich ergibt. und von Menschen mit Migrations- ­Ostdeutschland Empfinden für Spielarten der bloßen
Und ich habe im vorigen Jahr ein geschichte ist wichtig, erscheint mir (Nr. 34/1992, Demokratiesimulation. Dann wun-
36/2018, 35/2019)
DDR-Literatur-Seminar abgehalten. hier aber nur als Ablenkungsmanö- dert sich der Westen, wenn der Osten
Das habe ich vorher nicht gemacht. ver. Mein Thema ist nicht der Ver- der Demokratie in Teilen den Rücken
Mir war klar, dass ich mit DDR-Lite- gleich, sondern die seit über 30 Jah- kehrt, insbesondere unter den jungen
ratur nicht in Verbindung gebracht ren währende systematische und be- Leuten. Und das finde ich das Ge-
werden darf, wenn ich selbst eine legbare Ausgrenzung der ostdeut- spenstische.
Chance auf Karriere haben will. Dass schen Männer. Man nimmt ihnen SPIEGEL: Ist das eigentlich nur eine
ich nicht als jemand dastehen darf, Selbstentfaltungschancen, man ver- innerdeutsche Nabelschau? Oder
der aus der DDR kommt und sich mit höhnt sie, macht sie lächerlich und mehr?
DDR-Literatur befasst. demütigt sie in jeder denkbaren Wei- Oschmann: Auch wenn es auf den
SPIEGEL: Reden wir über Geld: Die se, und anschließend wundert man ­ersten Blick so aussieht, geht es nicht
Vermögen sind ungleich verteilt. Im sich, dass diese Männer eine »Pro­ Merkel-Gegner in nur um Deutschland. Die deutsch-
Finsterwalde 2017:
Osten verdient man weniger, und blem­zone« bilden. Erst fabriziert »Man verhöhnt sie, deutsche Situation ist nur ein spezi-
man hat weniger. man das Problem, dann stellt man macht sie lächerlich fischer Fall aufgrund der historischen
Oschmann: Es sei denn, man ist überrascht fest, dass es eines ist. Prä- und demütigt sie« und geografischen Vorbedingungen.
aus dem Westen. Große Teile des Auch in anderen Ländern gibt es ein
Wohneigentums im Osten gehören Reichtums-, Macht- und Kommuni-
Westdeutschen. Nirgendwo in ganz kationsgefälle. Das gibt es zwischen
Europa gehört den Leuten vor Ort Westeuropa und Osteuropa, zwi-
so wenig selbst wie in Ostdeutsch- schen den Küsten und den Fly-over-
land. States in den USA, in England, Frank-
SPIEGEL: Ist das für den Mieter nicht reich oder Italien. Es sind verschie-
egal, wem seine Wohnung gehört? dene Fälle. Aber mit einem ähnlichen
Nehmen Ostdeutsche weniger Miete Effekt.
von Ostdeutschen? SPIEGEL: Und nun? Was passiert,
Oschmann: Das weiß ich nicht. Und wenn Ihr Buch erscheint? Werden Sie
das würde ich auch nicht glauben. dann Rektor oder Ausgestoßener?
Dem Mieter ist es vielleicht egal, nicht Oschmann: Keine Ahnung. Meine
egal ist die generelle Verteilung des gern zur Ironie aufgelegte Frau sagt,
Hermann Bredehorst

Wohneigentums. Das macht ja was wenn das erscheint, brauchen wir


mit Leuten, wenn sie sagen können, Polizeischutz.
das gehört den Leuten von hier. Ich SPIEGEL: Herr Oschmann, wir danken
verstehe schon die historischen Zu- Ihnen für dieses Gespräch. n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 51


REPORTER

Lotusblüte, 1975
FAMILIENALBUM Julia Ruf, 47, aus Hamburg

E s gibt kein Foto, das mir mehr bedeutet als dieses. Ich war ein
Findelkind, wurde vor der Tür eines Waisenheims in Seoul
abgelegt, das war im Frühjahr 1975. Dieses Bild ist das einzige,
das es von mir aus dieser Zeit gibt. Wie winzig ich darauf bin, ich
wog gerade mal 2,6 Kilo.
Man gab mir den Namen Jang Kyung Sook. Jang ist in Korea ein
Name wie hier Müller, Meyer, Schulz. Ich hatte mal gehört, Kyung
Sook bedeute so etwas wie aufgehende Lotusblüte, aber neulich
sagte mir eine Koreanerin, es könnte auch Feuer, das wie die Sonne
scheint, heißen. K-7666 wird wohl eine Registratur sein.
Vier Monate später landete ich mit einer Maschine von KLM in
Frankfurt am Main. Ein Ehepaar aus Schleswig-Holstein hatte mich
adoptiert. Insgesamt sechs Kinder sollen wir an Bord gewesen sein,
die Stewardessen haben uns rausgetragen.
Meine Eltern haben mir später erzählt, dass sie mich erst nicht
erkannt hätten, weil ich so anders aussah als auf dem Bild mit
der Decke und dem Zettel: Speckig und rund sei ich bei meiner An-
kunft gewesen, ich hatte wohl viel gezuckerten Tee bekommen.
Ich bin dann an einem See aufgewachsen, etwa eine Stunde
Autofahrt von Hamburg entfernt. In der Schule war ich das einzige
Kind, das anders aussah als alle anderen. Da gab es keinen Ali und
keine Ayşe. Manchmal wurde ich gehänselt, Schlitzauge und so, da
habe ich mir schon öfter gewünscht, so wie die anderen auszusehen.
Aber in der Pubertät fand ich es irgendwie cool, anders zu sein.

Privat
Ich habe noch eine Schwester und einen Bruder, die leiblichen
Kinder meiner Eltern. Das hat aber nie einen Unterschied gemacht.
Ich hatte nie das Bedürfnis, meine biologische Mutter zu suchen, Auf meinem Bild steht auch ein Datum, der 19. April 1975. Ob
denn mir hat es an nichts gefehlt. Das Leben hat mir eine große, das tatsächlich mein Geburtsdatum ist, weiß ich nicht, es wurde
lebhafte Familie geschenkt, die ich liebe und die mich liebt. geschätzt. Vielleicht bin ich auch ein paar Tage früher oder später
In Südkorea war ich bis heute nie. Ich kann auch nicht gut mit geboren. Dann wäre ich vom Sternzeichen allerdings nicht Widder,
Stäbchen essen. Deutschland ist meine Heimat. Fremd gefühlt habe sondern Stier. Deshalb lese ich immer beide Horoskope.
ich mich hier nur in der Coronazeit. Im Bus sind Leute von mir Aufgezeichnet von Antje Windmann
weggerückt oder sogar ausgestiegen, wenn sie mich sahen. Als wäre ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie uns Ihre Geschichte erzählen möchten?
ich gefährlich. Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de

SCHICKSALE
Handeln etwas Gutes machen, ten umgehen können. Oft entste- seit zwölf Jahren, aber immer
»Wie erforscht man den Zufall nutzen. hen genau daraus Innovationen. in anderen Teilen der Welt.
SPIEGEL: Sie forschen zum Zu- SPIEGEL: Den Zufall zuzulassen Ein Zufall führte zu einem
den Zufall, fall. Wie erforscht man ihn denn? bedeutet, Erfolg zu haben? Wiedersehen.
Herr Busch?« Busch: Wir schauen, wie gehen Busch: Eine gewisse Offenheit SPIEGEL: Welcher?
Menschen mit Zufällen um. hilft. Zufälle lassen sich sogar Busch: Ein Treffen während
SPIEGEL: Ist alles Zufall oder Nehmen sie sie wahr? In Lang- provozieren. Auf die Frage, was der Pandemie. Wir waren einen
nichts? zeitstudien verfolgen wir, was man beruflich macht, kann man Abend in New York aus.
Busch: Vieles ist Zufall, aber nicht Menschen aus Zufällen machen. auch antworten: Ich bin Unter- SPIEGEL: Und was ist Gutes
alle Zufälle sind bloße Zufälle. Ist aus einer zufälligen Begeg- nehmer, lese philosophische daraus geworden?
SPIEGEL: Was ist der Unter- nung ein Projekt entstanden? Bücher und spiele Klavier. Das Busch: Unsere Tochter. BHA
schied? SPIEGEL: Was ist Ihr Ergebnis? erhöht die Chance, dass sich der
alamy / mauritius images

Busch: Bloße Zufälle sind un- Busch: Der Zufall spielt eine rie- Gesprächspartner interessiert. Christian Busch, 39, ist
erwartete Ereignisse, die sige Rolle im Leben. Unsere For- SPIEGEL: Was war der größte Professor für Wirtschaft an
man einfach nicht hat kommen schung zeigt, dass besonders er- Zufall in Ihrem Leben? der New York University
sehen. Aber wir können aus folgreiche Führungskräfte Busch: Meine Ehefrau. und Autor von »Erfolgsfaktor
diesen Zufällen durch eigenes gut mit dem Unerwarte- Wir waren Freunde Zufall«; Murmann; 2023.

52 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


Der unklare Aufenthaltsstatus
eines Schülers sei nichts Ungewöhn-
liches, sagt die Klassenlehrerin. Man-
che Schüler geben auf. Manche Leh-
rer gewöhnen sich daran. Andere
kämpfen um jeden. Sie müssen Schü-
lern beibringen, wie man einen Stift
hält oder wie man von links nach
rechts schreibt statt umgekehrt. Das
war aber nicht Nourhans Problem.
EIN ZEUGNIS UND SEINE GESCHICHTE Eine 14-jährige Schülerin in Pinneberg Drei Jahre lang haben die Lehrerin-
will Elektrotechnik studieren. Ihr Zeugnis nen ihr Deutsch beigebracht, Rech-
ist hervorragend. Dann wird sie nachts von der Polizei abgeholt. nen, Lesen, Physik, Chemie.
Und dann fehlte sie bei der Zeug-
nisausgabe. In ihrem Zeugnis stand,

N »Warum
ourhan saß ganz vorn in der ihrer Beurteilung, sie sei wissbegierig. sie könne sich gut an Regeln und Ab-
ersten Reihe, bevor es passier- Höflich. Zielstrebig. Begabt in Ma- sprachen halten.
te. Sie war zierlich und klein. thematik und Naturwissenschaften. drei Jahre »Wir verstehen, dass es Regeln
Oft ruhig, fast unscheinbar. Beschei- Sie lernte schnell Deutsch. Sie wurde investieren gibt«, schreibt die Rektorin in einem
den, sagen ihre Lehrerinnen. Sie trug
eine Brille und ein helles Kopftuch,
zur Schülervertreterin gewählt. Sie
wollte Elektrotechnik studieren, wie
und dann Brief an die Behörden.
Die Regel der Ausländerbehörde
Farbe: Altrosa. Sie mochte Chemie- ihr Bruder, der schon länger in wegwerfen?« lautet, dass Nourhan mit ihrer Mutter
Experimente, Dinge in Säure auflösen Deutschland lebt, mit einem Studen- freiwillig nach Rumänien ausreisen
oder Salzwasser verdampfen. Das tenvisum, und ihr half. Sie hatte die solle, denn dort hatte sie schon ein
Salz bleibt zurück, das Wasser ver- Flucht hinter sich gebracht, eine Spra- Asylverfahren erfolgreich durchlaufen
schwindet. Dann verschwand das che gelernt, den Wechsel vom Jemen nach ihrer Einreise nach Europa.
Mädchen eines Tages selbst. nach Pinneberg vollbracht. Wenn nichts weiter passiert und Ru-
Geboren wurde Nourhan vor Drei Wochen vor der Zeugnisaus- mänien der Rücknahme zustimmt,
gabe stand Nourhan völlig verängstigt wird Nourhan möglicherweise nach
des Jemen. Eine Stadt, deren Muni- mit ihrem Bruder vor einer der Leh- Rumänien abgeschoben werden.
tionsfabriken Ziel von Angriffen sind rerinnen. Sie hielt ein Schreiben in Experimente im Chemieunterricht
und in der die schiitischen Huthi-Re- der Hand, der Bruder redete von Ab- mochte Nourhan. Was jetzt passiert,
bellen herrschen, die sich selbst schiebung. Jemand riet ihr, sie solle wirkt selbst wie ein Experiment. Eines
»Unterstützer Gottes« nennen. Seit doch einfach woanders übernachten, an Menschen. Was bleibt zurück?
fast zehn Jahren kämpfen die Trup- denn die Polizei komme gern nachts, »Wir verstehen nicht«, schreibt
pen des ehemaligen Präsidenten Hadi dann sind die meisten Menschen zu die Rektorin, »dass eine Schülerin mit
gegen die Huthi-Rebellen. Das Land Hause. Aber sie blieben. einer so positiven Entwicklung und
ist vom Krieg zerfressen. Eines Tages im Januar kam sie nicht Prognose unser Land verlassen muss.«
Durch den Hunger sind laut Unicef mehr zur Schule. Ihre Klassenlehrerin Eine von Nourhans Lehrerinnen
mehr als eine halbe Million Kinder in wartete einen Tag, zwei Tage, drei schreibt: »Was ist das für eine Politik?
akuter Lebensgefahr. In den Flücht- Tage. Sie wusste: Das war nicht Nour- Warum drei Jahre investieren und
lingslagern sind manche Familien hans Art, so lange zu fehlen. Dann er- dann wegwerfen? Das ist ein absoluter
so arm, dass sie sich fragen müssen, fuhr sie: Die Polizei hatte sie abgeholt, Widerspruch in allen Debatten über
ob sie die Fahrt des Kindes ins Kran- morgens noch vor Schulbeginn, und die Asylpolitik. All die Rufe nach In-
kenhaus bezahlen können oder nicht sie mit ihrer Mutter in die Landes- tegration und Fachkräften sind nichtig,
besser Brot kaufen, damit der Rest der unterkunft für Ausreisepflichtige nach wenn wir uns diesen Fall anschauen.«
Familie nicht verhungert. Es ist ein Boostedt gebracht. Nourhan meldete Laut einer Studie des Instituts der
Ort, an dem täglich Entscheidungen sich noch einmal bei ihrer Klassenleh- Deutschen Wirtschaft ist der Mangel
über Leben und Tod getroffen werden. rerin, entschuldigte sich und fragte, ob bei den Elektrikfachkräften groß, sie
Nourhan und ihre Mutter trafen sie die Unterrichtsmaterialien von nun seien das »Nadelöhr der Energiewen-
2018 die Entscheidung, nicht mehr an vielleicht per E-Mail bekommen de«. Nourhan wollte eine werden.
dort leben zu wollen, und flohen über könne. Nourhans Zeugnis Vielleicht ergibt nicht jede Regel
Rumänien nach Pinneberg, nordwest- einen Sinn, auch wenn man sich da-
lich von Hamburg. Pinneberg hat kei- ran hält. Vielleicht scheitern manche
ne Munitionsfabriken, die Stadt ist Experimente.
bekannt für ihre Baumschulen. Hier
herrschen keine Rebellen, dafür ist die
Jonathan Stock ▪
CDU stärkste Partei. Nourhan wohn-
te in einem Altbau in einer ruhigen Anmerkung der Redaktion: In einer früheren
Straße und besuchte seit 2019 ganz in Version dieses Textes entstand der Eindruck, dass
der Nähe eine Gemeinschaftsschule. Nourhan in Rumänien womöglich eine Abschie-
bung nach Serbien drohen könnte. Wir hatten auf
Nourhan, sagen ihre Lehrerinnen die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ver-
dort, hätte es schaffen können. Das wiesen, die von Vorwürfen solcher sogenannter
ist ungewöhnlich, denn viele schaffen Kettenabschiebungen in Rumänien berichtet.
es nicht. Sie sind zu traumatisiert, ha- Das war irreführend, denn diese Vorwürfe
beziehen sich auf Abschiebungen von
ben keine Schulerfahrung, keine Fa- Asylsuchenden, jedoch nicht auf anerkannte
milie, die sich kümmert. Bei Nourhan Flüchtlinge wie Nourhan. Wir haben den
war das anders. »Fleißig«, steht in Hinweis daher entfernt.

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 53


REPORTER

Drohnenaufnahme der Universitätsstraße 16 im März 2022

»WACH AUF, JURIJ,


ES IST KRIEG«

Im März 2022, kurz nach Putins Angriff, wurde ein Wohngebäude in Irpin
UKRAINE 
durch russischen Beschuss schwer beschädigt. Seitdem versuchen
die Bewohner, das Haus zu retten – und ringen darum, dass die Gemeinschaft nicht zerbricht.
Von Christoph Scheuermann, Thore Schröder und Julia Kochetova (Fotos)
54 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023
REPORTER

Apartment 52, hören Sie auf, daheim Wasser- Etagen hoch, zwanzig. Die Stadt baute die
pfeife zu rauchen. An dem Gestank im Vor- Brücke über den Irpin-Fluss aus und die
raum erstickt man fast. Schnellstraße nach Kiew, die Einwohnerzahl
Liebe Nachbarn, bitte respektiert das Eigen- verdoppelte sich binnen weniger Jahre. Mos-
tum anderer. Öffnet die Autotüren bitte vor- kalenko nahm eine Stelle als Immobilien­
sichtig, Dellen können teuer werden!!! makler an und organisierte am Wochenende
Guten Tag! Jemand hat eine Pelargonie aus Schaschlyki, Grillpartys. Er brachte die Be-
dem dritten Stock im mittleren Treppenaufgang wohner des Hauses zusammen, manchmal
gestohlen. Können Sie den weißen Topf bitte führten sie im Innenhof Theaterstücke auf. In
zurückstellen? Die Pflanze müssen Sie nicht einem Stück spielte er einen Mann, der das
zurückgeben. Ich danke Ihnen!! Herz einer Prinzessin gewinnen sollte. Die
Aus dem Bewohner-Chat der Prinzessin war seine Nachbarin Anna. Mos-
Universitätsstraße 16 im Februar 2022, kalenko fing an, Irpin zu mögen.
kurz vor dem russischen Einmarsch Anna Schtscherbina wohnt eine Etage hö-

N
her in Apartment 37, zusammen mit ihrer
ummer 16 ist ein unauffälliges Mutter. Sie hat schwarze Haare, läuft in rosa-
Haus. Ein schmaler Riegel quer farbenen Pantoffeln durch ihre Wohnung und
zur Straße, vier Etagen hoch, sagt über sich, sie sei eine emotionale, manch-
mit drei Treppenaufgängen und mal impulsive Frau. Wenn man sie fragt, ob
60 Apartments, Eigentums- Jurij und sie ein Paar seien, lacht sie und sagt:
wohnungen zumeist, ein bis zwei Zimmer, Wir sind gute Nachbarn.
Küche, Bad, Balkon. Errichtet 2014, mit Am frühen Morgen des 24. Februar 2022
schlichter Fassade und Parkplätzen im Hof. ruft sie ihn an: »Jurij, wach auf, es ist Krieg.«
Zu dem Gebäude gehören ein Spielplatz mit Moskalenko antwortet: »Ach was, das wird
einer Rutsche, zwei Schaukeln und einer Wip- an uns vorbeiziehen.«
pe, daneben ein Platz zum Grillen. Das Haus Nummer 16 ist eine selbst ver-
Das Haus steht in Irpin, nordwestlich von waltete Gemeinschaft mit einem gewählten
Kiew. Ende März 2022 fielen Granaten auf Eigentümerrat und einer Vorsitzenden, eine
das Gebäude, Wohnungen brannten aus, wie Minidemokratie. Wie in vielen Apartment-
in Hunderten Häusern in Irpin in jenen Wo- gebäuden in der Ukraine gibt es eine Chat-
chen, Tausenden im gesamten Land. Es hätte gruppe, in der sich die Bewohner austauschen,
das Ende sein können, aber das war es nicht. über Grillfeste, Mülltrennung, Abwasserroh-
Für die Bewohner der Universitätsstraße 16 re. Mal schreiben sie sich drei Nachrichten
war es der Anfang. am Tag, mal mehrere Dutzend, die Abschrift
Bis vor einem Jahr wohnte hier eine Ukra­ der wichtigsten Nachrichten der vergangenen
ine in klein: stadtmüde Kiewer, Pendler, Fami­ zwölf Monate füllt 100 Seiten. Sie erlauben
lien aus dem Donbass im Osten, 140 Men- neben Interviews mit Bewohnern einen Blick
schen ungefähr. Klempner, Schweißer, Er­ in eine Gemeinschaft, die vom Krieg ausein-
zieherinnen, Steuerberater, ein Haus von andergerissen wird.
Aufsteigern, die sich kleine Träume gekauft 24. Februar 2022, 7.20 Uhr, gesendet von
hatten, 40, 50 Quadratmeter groß. Lena Olijnyk, Wohnung 32: @Tante Sweta,
In Wohnung 28, mittlerer Treppenaufgang, gibt es im Haus unten einen Raum, den man
war eine Journalistin mit ihrem Sohn nach als Luftschutzkeller nutzen kann?
der Scheidung von ihrem Mann gezogen, sie Swetlana Bilokon ist die Hausmeisterin,
mochte die Kiefern vor dem Fenster. In Woh- die Bewohner nennen sie Tante Sweta. Sie
nung 5, linker Aufgang, lebte eine Lehrerin habe nie damit gerechnet, dass russische
mit ihrem Mann, um für ihren Sohn Ruhe zu er immer noch nicht glauben, dass er im Mittel- Truppen ihr Land angreifen, sagt sie. Sweta
finden, dem die Ärzte eine leichte Form von punkt dieser Geschichte steht. Moskalenko meldet sich per Videotelefonat aus Kalifor-
Autismus bescheinigen. In Wohnung 24, mitt- war im Jahr 2014 nur nach Irpin gekommen, nien, wohin sie geflohen ist. Niemand im
lerer Aufgang, wollte ein Mechaniker mit sei- um für seine Eltern eine Wohnung auszubauen, Haus habe Vorkehrungen für den Fall getrof-
ner Frau, seiner Tochter, einem Kater und die sie im Haus gekauft hatten. Irgendwie, sagt fen, dass ein Krieg ausbricht, sagt sie. Aber
seiner umfangreichen Sammlung an Schall- er heute, sei er in der Universitätsstraße hängen sie habe daran geglaubt, dass sich Jurij gut
platten und CDs den Ruhestand genießen, bis geblieben. Womöglich wegen Anna aus dem um das Gebäude kümmert.
Anfang der Neunzigerjahre hatte er in Tscher- zweiten Stock, wer weiß. Inzwischen nennen Am ersten Tag der Invasion landet eine
nobyl gearbeitet. Wohnung 30, oben unter ihn manche Bewohner einen Helden. Vorhut russischer Truppen mit Hubschraubern
dem Dach, war gerade fertig renoviert, ein Moskalenko wuchs mit seinen Eltern in am Flughafen Hostomel, eine Viertelstunde
Soldat hatte sie gekauft, Vater eines vier Mo- einem Einfamilienhaus in Kiew auf, sein Va- mit dem Auto von der Universitätsstraße ent-
nate alten Sohnes. Sie alle zog es nach Irpin, ter war beim Inlandsgeheimdienst, seine Mut- fernt. Jurij Moskalenko schaufelt mit anderen
an den Stadtrand von Kiew, sie mochten die ter bei der staatlichen Immobilienverwaltung. Bewohnern Sand vom Spielplatz in Plastik-
Ruhe hier, die Kiefern, die klare Luft, die nied- Er studierte Wirtschaft in Kiew und arbeitete säcke und schichtet sie vor der Treppe im
rigen Wohnungspreise. mal hier, mal da. Verkaufte Pauschalurlaube, Untergeschoss auf. Ein gefliestes Büro mit
Jurij Moskalenko wollte nie hierher. Er ist dann Fortbildungen, dann IP-Adressen. Am zwei Schreibtischen, in dem vielleicht 30 oder
39 Jahre alt und lebt in Wohnung 33, rechter Wochenende ging er auf Partys und in Klubs, 40 Menschen Platz finden, wird ihr Luft-
Aufgang, ein schlaksiger Typ, der meist Trai- seine Lieblingsmusik ist Deep House. Er mag schutzkeller. Es ist die Phase des Kriegs, in der
ningsanzug trägt und Kent-Zigaretten raucht, Schach und vertieft sich gern in komplexe
fast so dünn wie Zahnstocher. Wenn er nach Aufgaben, Probleme ziehen ihn an.
draußen in den Hof geht, steigt er in gefütterte Als er vor neun Jahren nach Irpin kam, Hausbewohner Moskalenko,
Gummistiefel und schaut belustigt, als könnte schossen Apartmentblöcke in die Luft, zehn Schtscherbina

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 55


REPORTER

ein Großteil der Bewohner hofft, dass die Ihre Tante ist schlecht zu Fuß und leidet unter 18.51 Uhr, gesendet von Ljoscha Kossen­
Kämpfe über das Haus hinwegziehen wie ein Angststörungen. Wie hätten sie da gehen sol­ ko, Wohnung 49: Repariert werden? Eine
Unwetter. Die Gemeinschaft bunkert sich ein. len, fragt Olena Didy­tschenko heute. ganze Etage ist weg!
12.42 Uhr, gesendet von Tetjana Les­ Am Morgen des 24. März treffen russische Anfang April fahren Jurij Moskalenko und
setschko, Wohnung 29: Da brennt irgendwas Geschosse die Universitätsstraße 16. Später Anna Schtscherbina zurück zum Haus. Mos­
in Richtung Butscha, der Rauch ist graublau. werden die Bewohner die Reste von zwei kalenko sieht geborstene Fenster, rußge­
Russische Truppen nähern sich Irpin, Woh­ SSCH-2-Projektilen finden, die etwa 20 Me­ schwärzte Balkone, in der vierten Etage ste­
nung 32 verlässt das Haus zuerst, in einem ter über der Erde explodieren und Tausende hen nur noch die Backsteinmauern. Das Dach
roten Honda, später folgen die Apartments Pfeile durch die Luft schießen, sogenannte sieht aus, als wäre es von einer riesigen Kral­
41, 1, 4, 5 und 14. Einige fahren zu Verwand­ Flechettes, um möglichst viele Menschen zu le heruntergerissen worden. Moskalenko hät­
ten oder in ihre Ferienhütten, weg von Irpin, töten. Ihor Didytschenko tritt vor die Tür und te zu Verwandten oder Freunden fahren kön­
die meisten fliehen nach Süden oder Westen. sieht Rauch im Haus. »Mädels, es brennt, wir nen, wie viele Bewohner, aber er entscheidet
Oleksandr Adamljuk bewegt sich in die müssen hier raus!«, ruft er. Wenig später fal­ sich dagegen. Er will das Haus retten. Er
Gegenrichtung, an die Front. Er ist Soldat, len Teile des Dachs herab. nimmt einen Schlafsack und legt sich in seine
Wohnung 30, und seit 2015 bei der Armee. Erst am nächsten Tag können sie Jurij an­ eiskalte Wohnung.
Zusammen mit seiner Frau hat er sich in die rufen, als es wieder Handyempfang gibt, sie Der Soldat Oleksandr Adamljuk sagt spä­
Kiewer Gegend versetzen lassen, Ende Febru­ erzählen ihm von dem Brand, von den Ein­ ter, dass er im Dachgeschoss die schwere Me­
ar planten sie mit ihren beiden Söhnen den schlägen. Jurij ist es, der den Kontakt zur Fa­ talltür aufbrechen musste, weil sich der Rah­
Umzug in die Universitätsstraße. Dann kam milie hält. Drei Tage später wird Irpin befreit. men von der Hitze verzogen hat. Dahinter
der Befehl: bereit machen zum Einsatz. Fami­ 26. März, 12.41 Uhr, gesendet von Jurij sieht er nur Trümmer und Asche. Alles Er­
lie Adamljuk wird nie in die Wohnung ein­ Moskalenko: Verifizierte Informationen be- sparte, umgerechnet 50 000 Euro, hat er in
ziehen. züglich unseres Hauses. Dach ausgebrannt, die Wohnung investiert. Im Schlafzimmer

25. Februar, 6.52 Uhr, gesendet von Außenmauer am ersten Treppenaufgang be- findet er die Reste der Wiege, die er für seinen
­ ksana Krawtschenko, Wohnung 1: Gibt
O deckt mit Ruß, aber in vielen Wohnungen sind vier Monate alten Sohn gekauft hatte. Es ist
es im Keller noch Platz? die Fenster noch da. die Phase des Schocks.
6.59 Uhr, gesendet von Anja Rjesnik, Es ist Moskalenkos erste Nachricht seit Jurij Moskalenko beschließt, mit weiteren
Wohnung 19: Ja. Beginn des Angriffs, er teilt den anderen Be­ Bewohnern Wache zu halten wegen mögli­
6.59 Uhr, gesendet von Oksana Kraw­ wohnern mit, was er von Didytschenko gehört cher Plünderer. Das Haus ist eine halbe Ruine,
tschenko: Kann ich eine Katze mitbringen? hat. Es klingt beherrschbar, nach kleinen er will sie beschützen. Im Chat schlägt er vor,
Acht Tage nach Beginn der Invasion be­ Schäden, vielleicht ist das auch Jurijs Hoff­ einen Generator für 500 Euro zu kaufen, da­
schließen auch Jurij Moskalenko und Anna nung. Am 29. März lädt eine Bewohnerin die mit er und die anderen Bewacher ihre Handys
Schtscherbina, Irpin zu verlassen, in einem ersten Fotos des Hauses hoch. aufladen können. »Brauchen wir wirklich
Autokonvoi. 16 Menschen, vier Autos, ein 18.37 Uhr, gesendet von Stas Wolowo­ einen Generator?«, fragt die Vorsitzende der
Hund, vier Katzen, ein Papagei. Die Flucht­ denko, Wohnung 31: Meine Wohnung gibt Eigentümergemeinschaft. »Warum leihen wir
phase hat begonnen. es nicht mehr. Sie ist abgebrannt. nicht einen?«, fragt Wohnung 26. »Hey, war
7. März, 10.41 Uhr, gesendet von Nata­ 18.37 Uhr, gesendet von Janina Belinska, nur ein Vorschlag«, schreibt Anna Schtscher­
scha Marjetschewa, Wohnung 50: Ich hof- Wohnung 15: Meine auch. bina. »Warum können wir uns in Zeiten wie
fe, dass unsere lieben Nachbarn in Sicherheit 18.48 Uhr, gesendet von Stas Wolowo­ diesen nicht einfach gegenseitig helfen?«
sind, aber sie melden sich nicht. Es gibt keinen denko: Die Hälfte des Gebäudes muss repa- Die Hausgemeinschaft besteht nun aus
Strom und keine Kommunikation in unserer riert werden. denjenigen, die aus der Ferne spitze Fragen
Stadt. stellen, und jenen wie Jurij und Anna, die tags­
Olena Didytschenko hat sich Vorräte be­ über im Haus sind und Trümmer beseitigen.
sorgt, Mehl, Nudeln, Kartoffeln und Vitamin­ Hauskater »Ice«, Die Mehrheit ihrer Nachbarn ist über das hal­
tabletten, sie lebt mit ihrem Mann Ihor und Seitenansicht des Wohngebäudes Nr. 16, be Land verstreut oder ins Ausland geflohen.
ihrer Tante in Wohnung 43, rechter Aufgang, Familie Werbyzky, Im April fahren auch Switlana und Kostja
zweiter Stock. Sie sind die Letzten im Haus. Granatenreste Maschara wieder nach Irpin, die Familie mit

56 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


REPORTER

dem autistischen Sohn. Sachar hat immer wie- schreibt in den Chat, man komme erst dann nja pro Wohnung einsammeln und Leute fürs
der nach seinem Zuhause gefragt. nach Irpin zurück, wenn Präsident Wolodymyr Helfen bezahlen.
In der Wohnung sind die Fenster zersplit- Selenskyj den Sieg verkündet. Wohnung 42 Moskalenko richtet ein PayPal-Konto ein
tert, die Rahmen herausgesprengt, das Lami- sagt, sie könne keine schweren Lasten heben, und eröffnet bei verschiedenen Banken Euro-
nat hat sich gewellt, überall liegt Ruß. Sachars habe aber Arbeiter gefunden, die beim Auf- und Dollarkonten für Spenden aus dem Aus-
Tischfußballspiel ist zu einem Klumpen ver- räumen helfen, für 2,50 Euro die Stunde. Woh- land. Auf Facebook schaltet er eine Seite frei,
schmort. Switlana Maschara zeigt später ein nung 28 überweist Geld, Wohnung 29 ebenfalls. sie heißt: »Die Erfolgsgeschichte eines zer-
Foto davon und sagt, als Sachar sein Schlaf- Jurij Moskalenko schreibt, er könne mit Anna störten, aber unbesiegten Hauses«.
zimmer betrat, habe er gerufen: »Warum ha- und den anderen nicht alles allein machen. Das 7. Juni 2022, 17.24 Uhr, gesendet von
ben sie mein Bett angezündet?« Haus hat einen Anführer, aber zu wenige Helfer. Jurij Moskalenko: Einige Apartments wer-
Anhand von Satellitendaten weist das Uno- Immer wieder überweisen Bewohner Geld den in der näheren Zukunft nicht bewohnbar
Forschungsinstitut Unitar Mitte April in Irpin auf ein Gemeinschaftskonto, um die Arbeiten sein, deshalb müssen wir acht Familien helfen.
1060 zerstörte oder beschädigte Gebäude aus. zu finanzieren, mal 50 Euro, mal 130 Euro, Falls jemand bereit ist, unseren Nachbarn
Die Universitätsstraße 16 wird als »schwer be- für ein neues Dach reicht das nicht. Moska- gegen die Zahlung der Nebenkosten zu helfen,
schädigt« markiert. Laut Polizei wurden wäh- lenko holt Angebote von Dachdeckern ein. schickt hier ein + oder schreibt mir direkt.
rend der dreiwöchigen russischen Belagerung Er bittet auch die Stadt um Hilfe, doch die 18.31 Uhr, gesendet von Switlana Afa-
in der Stadt 269 Menschen getötet und knapp finanziert nur Dächer, die zu höchstens 30 Pro- nasjewa, Wohnung 42: +
1000 verwundet. In Irpin schlugen ukrainische zent zerstört sind. Es ist die Phase, in der sich Die Familie Maschara kennt Switlana Afa-
Kämpfer die russischen Truppen zurück, des- die Gemeinschaft an die Welt wendet. nasjewa aus Wohnung 42 nicht, die ihr Apart-
wegen wurde die Stadt derart zerstört. 8. Mai, 19.31 Uhr, gesendet von Jurij ment zur Verfügung stellt. Switlana Mascha-
Während Olaf Scholz in Berlin vor einem Moskalenko: !!!Heute starten wir ein Projekt, ra kann wieder ihrer Arbeit als Englisch- und
Atomkrieg warnt, überlegen die Bewohner um Spenden in der Ukraine, Europa und den Ukrainischlehrerin an einer Berufsschule in

der Universitätsstraße, wie sie ihr Haus wie- USA für die Sanierung unseres Hauses zu sam- Irpin nachgehen. Dennoch reicht das Gehalt
deraufbauen können. meln. der Eltern gerade für die Nebenkosten und
25. April, 15.10 Uhr, gesendet von Jurij Die Verwaltung von Irpin schätzt, dass eine die Therapiestunden, die Sachar mehr braucht
Moskalenko: Allein für das Dach brauchen Milliarde Euro nötig ist, um die Stadt wieder denn je. Seine Mutter erzählt, dass seit dem
wir nach jetzigem Stand 2 500 000 Hrywnja. aufzubauen. Auf der Website Irpinhelp.com Tag, als er ihre zerstörte Wohnung gesehen
Wenn wir das Dach nicht vor dem Winter ab- können Bewohner Fotos ihrer beschädigten hat, seine Arme und Beine immer wieder un-
decken, wird das Haus ruiniert sein. Also Leu- Häuser hochladen und um Unterstützung kontrolliert zucken.
te, das ist ein Problem für alle … engagiert euch. werben. Unter den Besitzern der Gebäude Mitte Juni schlägt die Vorsitzende der
2,5 Millionen ukrainische Hrywnja sind entsteht ein Wettbewerb um Spenden. Eigentümergemeinschaft vor, Jurij Moskalen-
umgerechnet rund 63 000 Euro, etwas mehr 28. Mai, 12.38 Uhr, gesendet von Anna ko zum neuen Vorsitzenden zu wählen. Jurij
als 1000 Euro pro Partei, aber diese Schät- Schtscherbina: Liebe Gruppe!!! Ich verstehe habe sich mit Anna »in Kriegszeiten« um das
zung wird sich als zu niedrig erweisen. Und alles, harte Kriegszeit, fehlende Finanzen, die Haus gekümmert. »Er hat gute Ideen und
nicht alle können es sich leisten, 1000 Euro Entfernung zu UNSEREM HAUS!!! Aber mei- setzt sie um.« Aus Jurij, dem Partyorganisator,
zu bezahlen. ne Güte, interessiert das wirklich nieman- soll Jurij, der Chef, werden.
Jurij Moskalenko wird zum Manager der den??? Findet ihr keine Zeit, einen halben Tag 24. Juni, 10.35 Uhr, gesendet von Jurij
Sanierung. Er will das Haus unbedingt wie- zu kommen und zu helfen??? Moskalenko: Achtung! Große Geldsammel-
deraufbauen, das Dach reparieren, die Fens- 13.23 Uhr, gesendet von Ira Schurjako- aktion. Wir müssen übers Wochenende den
ter, die Wohnungen, er will wieder Grillaben- wa, Wohnung 12: Wir könnten 5000 Hryw- gesamten vierten Stock mit einer Plane ab-
de veranstalten, er will Musik und vielleicht decken.
ein Theaterstück mit einer Prinzessin. Er will Drei Monate nach dem russischen Angriff
sein altes Leben zurück. Familie Didytschenko, hat das Haus noch immer kein Dach. Moska-
Ende April schickt er einen Aufruf an die ausgebrannte Waschmaschine im Hof, lenko macht drei Vorschläge: Entweder wir
Bewohner zum Beseitigen der Trümmer, aber Sanierer Moskalenko, Schtscherbina, decken das Haus provisorisch mit einer Plane
die meisten antworten nicht. Wohnung 31 Brandschaden im Haus ab, oder wir bauen ein neues Dach aus eige-

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 57


REPORTER

nen Mitteln, oder wir beantragen Fördergel­ Moskalenkos Dilemma ist, dass er mit seiner
der. Er ist für Fördergelder, aber die Gemein­ Strategie, sich ein stabiles Dach finanzieren zu
schaft kann sich nicht einigen. Die Entschei­ lassen, von den Entscheidungen anderer, von
dung verzögert sich. Immer wieder dringt Hilfsorganisationen, abhängig ist. Zudem hat
Wasser in den dritten Stock, wenn es regnet. es Monate gedauert, alle erforderlichen Doku­
Die Bewohner eilen dann mit Eimern, Hand­ mente zusammenzustellen. Er kann jetzt kaum
tüchern und Wischlappen herbei. zurück. Einige im Haus geben Moskalenko die
Es geht nicht mehr um ein Dach, sondern Schuld dafür, dass sich die Sanierung hinzieht,
um die große Frage, wie jeder Einzelne von weil die Prüfung der Anträge dauert.
ihnen in die Zukunft blickt: Ist es riskant, nach 5. Oktober, 22.23 Uhr, gesendet von Ju­
Hause zurückzukehren? Was, wenn die Rus­ rij Moskalenko: Gute Neuigkeiten: Wir be­
sen unser Haus noch mal angreifen? Lohnt es kommen einen Zuschuss.
sich, meine Wohnung zu sanieren? Werden Die Renaissance-Stiftung des US-Philan­
wir den Krieg gewinnen? thropen George Soros hat knapp 19 000 Euro
Manche suchen ihr Glück woanders, weit versprochen, damit kann man Teile des Be­
entfernt von Irpin. Es ist die Phase der Ent­ tongürtels im obersten Geschoss finanzieren.
fremdung. Wohnung 26 wandert nach Kroa­ Ende Oktober steht ein Großteil des Hau­
tien ab. Iryna Troskot, die Journalistin aus ses leer, auch wenn es wieder Strom, Wasser
Wohnung 28, lebt seit Anfang April in den und Gas gibt. Nur ein Dutzend Wohnungen
Niederlanden. sind belebt, darunter Nummer 24, mittlerer
Troskot ist 41 und hat sich nach der Schei­ Aufgang. Mykola Werbyzky lebt hier, der Me­
dung von ihrem Mann im Frühjahr 2021 die chaniker aus Tschernobyl. Er ist 62 Jahre alt,
Wohnung unter dem Dach gekauft, um mit ben, aber idealerweise sollten alle Materialien die Bewohner nennen ihn Louis de Funès,
dem jüngeren ihrer beiden Söhne ein neues ins Tschechische übersetzt werden. Kann je­ weil er so aussieht wie der französische Ko­
Leben aufzubauen. Nach Kriegsbeginn war mand helfen? miker und genauso viel lacht.
sie nicht lange in der Ukraine geblieben, im 18.16 Uhr, gesendet von Natascha Hrysch­ Werbyzky war bis 1992 in Tschernobyl für
Chat hat sie die Fotos ihrer ausgebrannten tschenko, Wohnung 26: Die internationale Drucksensoren zuständig, heute überwacht
Wohnung gesehen. Freunde in den Nieder­ Standardsprache ist doch Englisch. Bist du er in Kiew die Instandhaltung von Zeitungs­
landen hatten sie eingeladen, bei ihnen zu sicher, dass wir uns mit Tschechisch abmühen häuschen. Er war mit seiner Familie bereits
wohnen. Als es ihren Gastgebern zu eng wur­ sollen? am 1. März in ihr kleines Sommerhaus süd­
de, brauchte Troskot eine Alternative. Im Spätsommer gehen die internationalen westlich von Kiew geflohen, kehrte aber bald
Seit Juni lebt sie nun in einer Flüchtlings­ Spenden zurück, die Universitätsstraße be­ nach Irpin zurück, um wichtige Teile seiner
unterkunft. Per WhatsApp schickt sie Fotos kommt zu spüren, wie das Interesse der Welt Plattensammlung zu retten. Werbyzky sagt,
von dem Container, in dem sie mit ihren Söh­ an der Ukraine schwindet. Nach einem Jahr, er habe der ukrainischen Territorialverteidi­
nen wohnt: zwei Etagenbetten, drei Stühle, so berichten sie, hätten sie umgerechnet gung seine Hilfe angeboten, aber dort habe
ein Schreibtisch. Aus der Besitzerin von Woh­ 3300 Euro an privaten Zuwendungen einge­ es geheißen, man brauche keine alten Krieger
nung 28 ist eine Geflüchtete geworden. sammelt, dazu 600 US-Dollar und 700 Euro wie ihn. Also half er Jurij und Anna im Haus.
In der Universitätsstraße eskaliert der auf den internationalen Konten. Ihre Face­ 9. November, 10.14 Uhr, gesendet von
Streit um die Frage, ob das Haus nur provi­ book-Seite hat im Februar 196 Likes. Die Laryssa Lytwyn, Wohnung 10: Ich habe eine
sorisch abgedeckt oder das Dach fachmän­ Hoffnung ruht auf den Hilfsorganisationen. Frage an den Vorsitzenden der Hausgemein­
nisch ersetzt werden soll. Wohnung 26 Mitte September kündigt Moskalenko an, schaft: Werden wir ohne Dach in den Winter
schreibt im Chat: Bin für ein neues Dach, aber dass in der obersten Etage Betonarbeiten be­ gehen?
erst, wenn der Krieg zu Ende ist. Wohnung ginnen. Auf die Backsteinmauern muss ein 18.56 Uhr, gesendet von Jurij Moskalen­
39 schreibt, in Bezug auf die Plane bleibe Verstärkungsring aus Beton gegossen werden, ko: Mit Dach.
sie skeptisch, »bin zwar kein Ingenieur, die Kosten belaufen sich auf 14 300 Euro, Auch im November gehen die Arbeiten
habe aber starke Zweifel an der Machbar­ weitaus mehr als geplant. Einige Eigentümer kaum voran, die Handwerker arbeiten
keit und Effektivität«. Jurij Moskalenko will schreiben, sie wollen erst auf die Entschei­ schlampig. Moskalenko verkündet, dass die
eine permanente Lösung, er telefoniert mit dung der Hilfsorganisationen warten, bevor deutsche »Help«-Stiftung zugesichert habe,
Hilfsorganisationen und holt Kostenvor­ sie selbst mehr Geld zuschießen. die Finanzierung des Dachs zu übernehmen,
anschläge ein. 19. September, 8.32 Uhr, gesendet von allerdings erst im Januar oder Februar, »was
Neue Schätzung für die Kosten der Dach­ Natascha Hryschtschenko, Wohnung 26: zu spät ist«. Sein Vorschlag: Jede Eigentümer­
sanierung: 100 000 Euro. Man beschließt, das Ich warne euch hiermit offiziell. Wenn meine partei wirft 500 Euro in einen Topf, um das
oberste Geschoss mit Dachpappe abzudich­ Beiträge dazu verwendet werden, die Beton­ Dach selbst zu finanzieren.
ten. Jede Partei solle sich an den Kosten be­ verstärkung zu finanzieren, dann werde ich 4. Dezember, 21.53 Uhr, gesendet von
teiligen, 17 Euro für Einzimmer-, 26 Euro für alle Zuwendungen, monatliche Zahlungen Natascha Hryschtschenko, Wohnung 26:
Zweizimmerwohnungen. und weitere Beiträge stoppen. Ich gebe nicht auf. Ich warte auf das Geld. Kein
Ende August informiert Jurij Moskalenko 9.40 Uhr, gesendet von Swetlana Bilo­ Schwachsinn. Nur die Fakten … Ich warte bis
das Haus, dass er bei zwei Hilfsfonds Anträ­ kon, Wohnung 36: Bin auch dagegen. zum nächsten Sommer.
ge auf Unterstützung stellen wird, für jeweils 9.42 Uhr, gesendet von Anna Rjesnik, In Wohnung 42, der vorläufigen Unter­
150 000 Euro: bei einem ukrainischen Fonds, Wohnung 19: ???Was geht hier vor, erklär kunft von Familie Maschara, breitet sich
der mit EU-Mitteln und Geldern aus Deutsch­ das??? Feuchtigkeit aus. Als in der zweiten Dezem­
land finanziert wird; und bei der deutschen 2. Oktober, 17.03 Uhr, gesendet von berwoche auf dem Dach der Schnee schmilzt,
Stiftung »Help – Hilfe zur Selbsthilfe«. Am Anna Rjesnik: Ich hab euch immer gesagt, fließt das Wasser regelrecht aus den Wänden.
31. August wird er zum neuen Vorsitzenden dass uns kein Hilfsfonds unterstützen wird. 29. Dezember, 15.32 Uhr, gesendet von
der Eigentümerversammlung gewählt. Jurij Moskalenko: Guten Tag zusammen.
1. September, 16.14 Uhr, gesendet von Diejenigen, die sich bei der Uno um Hilfs­
Jurij Moskalenko: Guten Tag, wir versuchen, Bewohnerin Switlana Maschara, güter beworben haben, können Heizlüfter bei
uns bei einer tschechischen Stiftung zu bewer­ Mann Kostja, Sohn Sachar mir abholen.

58 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


FRAUEN
REPORTER

Es wird ruhiger in der Universitätsstraße.


Die Arbeiten am Dach werden nun von einer

UNDERCOVER
Handwerkerbrigade aus der Westukraine
durchgeführt, sie kommen voran. Moskalen­
ko ist dabei, einen weiteren Antrag auf Unter­
stützung einzureichen, bei der Stiftung einer
französischen Baumarktkette.
6. Februar 2023, 22.47 Uhr, gesendet von
Jurij Moskalenko: Die Arbeiten an der Be-
tonverstärkung und an den Lüftungskanälen
sind abgeschlossen.
Ende Februar, kurz vor dem Jahrestag des
Kriegsbeginns, sitzt Switlana Maschara, die
Lehrerin, mit ihrem Mann und ihrem Sohn
in Wohnung 42 und denkt über ihre Zukunft
nach. Es ist die Phase der Erschöpfung. Ihr
Sohn habe wegen der modrigen Luft in der
Wohnung einen Reizhusten entwickelt, sagt
sie. Vor dem Krieg hatten Switlana und Kost­
ja Maschara überlegt, in ein größeres Apart­
ment zu ziehen und ein zweites Kind zu be­
kommen. »Haben wir denn kein gutes Leben
verdient?«, fragt Kostja. Switlana streicht sich
Tränen aus dem Gesicht.
Ihor und Olena Didytschenko, die wäh­
rend des Beschusses in Wohnung 43 ausharr­
ten, sind mit ihrer Tante bei einem Freund in
Kiew untergekommen. »Irpin war für uns eine
kleine Schweiz«, sagt Olena Didytschenko.
Eine saubere Vorstadt mit Bäumen und Vogel­
gezwitscher. Nun ist ihre Zukunft wieder so
ungewiss wie früher. Wenn das Dach fertig
ist, wollen sie in die Universitätsstraße zu­
rück, vielleicht im Sommer, sagt Olena Di­
dytschenko. Auch sie ist Jurij dankbar. Er
habe das Haus gerettet.
Oleksandr Adamljuk, der Soldat aus Woh­
nung 30, kehrt kurz vor dem Jahrestag der
Invasion in die Universitätsstraße zurück. Er
trägt Uniform und spricht leise, in kurzen Sät­
zen. Es sei das dritte Mal seit Kriegsbeginn, 384 Seiten mit Abb., gebunden � 24,00 €
dass er zum Haus komme. In den vergange­ Auch als E-Book erhältlich.
nen Monaten fuhr er einen Umweg, um sich
den Anblick der Zerstörung zu ersparen.
Er steigt ins Dachgeschoss, zu seiner Woh­
nung. Adamljuk zeigt auf eine Backstein­ Schon seit dem Kaiserreich stehen Agentinnen ihren männlichen
wand, dort war die Küche, hier das Kinder­ Kollegen in nichts nach – sie stehlen Dokumente,
zimmer mit der Burgentapete, dort der Bal­
rekrutieren Informantinnen und enttarnen feindliche Spione,
kon. Auf seinen Kopf fällt Schnee. Er sagt:
»Ich werde alles wieder aufbauen.« doch ihr Einfluss auf die Geschichte wird bis heute unterschätzt.
Zwölf Monate Krieg haben die Bewohner Ann-Katrin Müller und Maik Baumgärtner haben
der Universitätsstraße 16 hinter sich. Im Hof
geheime Fälle der vergangenen hundert Jahre recherchiert
stapeln sich Backsteine und Mineralwolle.
Das Dach ist immer noch nicht fertig. Die und mit ehemaligen und aktiven Geheimagentinnen gesprochen.
meisten Bewohner warten ab, wie sich der Hier erzählen sie ihre Geschichten und zeigen,
Krieg entwickelt. Moskalenko kämpft weiter.
wer die Frauen waren, die der heutigen Generation
Mykola Werbyzky, der Louis de Funès aus
Apartment 24, dreht die Musik im Wohn­ von Spioninnen den Weg ebneten.
zimmer lauter, gerade läuft der Song »Still
Loving You« von den Scorpions. Das Haus
habe sich verändert, sagt Werbyzky, vor allem
durch Jurij. Die Gemeinschaft sei stärker ge­
worden. »Es wird nicht wie früher«, sagt er.
»Es wird viel schöner.«
Jurij und Anna leben jetzt zusammen in
Wohnung 37, zumindest bis die Handwerker
fertig sind.
Mitarbeit: Fedir Petrov, Halyna Rudyk n www.dva.de

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 59


REPORTER

loren und die Mercedes-Hinterachse


rostet, serienmäßig. Vielleicht sagen
sie in deutschen Talkshows gern
»Kampfpanzer«, weil es so stabil
klingt. Anne Will schnaubt das Wort

Die Achse des Bösen


aus wie ein Kommando. Die Frau am
Mercedes-Telefon wusste sofort be­
scheid. Sie bot mir zwei Termine für
die Kulanz-Überprüfung an. Einen in
Reinickendorf, früh um halb sechs.
Alexander Osang über die Klimakleber und die Kulanz
LEITKULTUR  Den anderen in Berlin-Schönefeld,
des Mercedes-Gottes drei Tage später um 7.30 Uhr. Ich
nahm Schönefeld. Reinickendorf um
halb sechs klingt wie ein Einberu­

I
ch hatte noch nie einen Neu­ fungsbefehl. Wir treffen uns fünf Uhr
wagen. Seit zehn Jahren fahre ich dreißig am Borsigturm und marschie­
einen Mercedes Kombi, den vor ren nach Osten.
mir ein Braunschweiger Apotheker Die Kollegen in Schönefeld waren
besaß. Den TÜV empfinde ich wie im Morgendunkel sehr munter und
eine Matheprüfung oder eine Darm­ freundlich. Sie fotografierten meine
spiegelung. Ich gebe mein Auto ab Hinterachse und schickten die Bilder
und warte auf mein Schicksal. Ich nach Stuttgart, wo sich klären würde,
hatte gerade wieder Prüfung. wie groß das Herz von Mercedes ist.
Durchgefallen. Dann war Ruhe. Ich rief immer mal
»So«, sagte der Kollege von der die Berliner Nummer an, die sie mir
Alexander Osang / DER SPIEGEL

»SternWarte«. Zwei Buchstaben nur, gegeben hatten, schaffte es aber nie,


aber ich hörte seinen Kummer. Setzen bis nach Schönefeld durchzukom­
Sie sich erst mal hin. Ich habe leider men. Einmal fragte ich eine Frau am
keine guten Nachrichten. Ich träume Telefon, ob sie nicht einfach mal rü­
bis heute von Prüfungen in Mathe, bergehen könnte, in die Werkstatt.
aber auch in Russisch und in »Grund­ Sie hieß Plischke.
lagen des sozialistischen Journalis­ »Ich sitze im Homeoffice in Meck­
mus«, was ja noch weniger Sinn er­ lenburg-Vorpommern«, sagte Frau
gibt. Mein Auto ist aus dem Westen, das Auto, um es nach Afrika zu Der Tacho im Plischke.
aber mein Unterbewusstsein befindet ­verschicken. Meinen gebrauchten entscheidenden Ich fühlte mich einem Gott ausge­
Moment: 12.31 Uhr,
sich offenbar noch im Kalten Krieg. Alfa hatte ich zehn Jahre vorher für 200 000 Kilometer liefert. Er meldete sich schließlich und
In meinen Träumen sind alle vorbe­ 600 Mark an einen Kaukasier ver­ zeigte Gnade. Der Daimler-Gott zahl­
reitet, haben gut geordnete Hefter. kauft, nachdem der Katalysator auf te die Hinterachse. Ich sollte das Auto
Ich habe nur lose Blätter. der Autobahn gebrannt hatte. Meinen Montagfrüh um sechs Uhr nach Schö­
Die SternWarte ist preiswerter als Polski-Fiat musste ich Anfang der nefeld bringen. Der Mann am Counter
meine offizielle Mercedes-Werkstatt Neunziger in Karlshorst stehen las­ gab mir eine Fahrkarte zurück in
in Marzahn und auch bodenständiger. sen, weil er nicht mehr ansprang. Ein die Stadt. Ich fragte, wo die nächste
In Marzahn tun die Leute immer so, paar Tage später spielten darin die S-Bahn-Station ist, er machte eine
als wäre ich eine Zumutung mit mei­ Kinder der Nachbarschaft. Das war’s. vage Handbewegung. Ich sah in sei­
nem mittelalten Mercedes. Sie sehen Ich könnte hier aufhören. Ich weiß nen ­Augen, dass er den Weg noch nie
nicht mehr aus wie Fahrzeugschlosser, ja, dass Autos, ähnlich wie Christian gegangen war. Es war dunkel und kalt,
sie tun so, als arbeiteten sie in ihren Lindner, nicht mehr in die Zeit pas­ ich lief an einer Straße entlang, durch
Werkstätten an einer Raumfähre. sen. Ich habe die Fantasie, dass ich eine steppenartige Landschaft auf ein
»Die Hinterachse ist durchgeros­ auf der Stadtautobahn in einen Kli­ Licht zu, es hätte die Startbahn des
tet«, sagte der Mann am Telefon. »Da makleber-Stau gerate, aussteige und BER sein können. Ich verstand, wa­
sind wir bei drei- bis viertausend weiterlaufe, mein Auto einfach zu­ rum sich die Regierende Bürgermeis­
Euro.« Im finanziellen Teil wechseln rücklasse. So wie Michael Douglas in terin Franziska Giffey auch um die
Schlosser gern in den Plural. »Falling Down«, nur fröhlicher. Ein Berliner Außenbezirke kümmern
»Das ist ja das ganze Auto nicht Hans im Glück. wollte. Nach einer halben Stunde er­
mehr wert«, sagte ich und erwartete Aber ich hatte 199 000 Kilometer reichte ich eine Station, die aussah,
Widerspruch, aber da kam keiner. auf dem Tacho. Ich hätte gern als wäre sie aus DDR-Zeiten übrig ge­
Mein gesamtes Autoleben zog an 200 000 geschafft. So viel wie mit blieben. Irgendwann kam ein Zug, der
mir vorbei. Ich sah den Volvo, den keinem meiner anderen Autos. Das mich zurück in mein Leben brachte.
ich gebraucht bei einem schwarzen
Händler namens Leroy in Bay Ridge,
wäre ein Abschluss gewesen.
»Rufen Sie doch bei Mercedes an«,
Ich weiß ja, Zwei Wochen später beobachtete
ich auf der Autobahn nördlich von
Brooklyn, kaufte und später im Con­ sagte der SternWärter. »Ich glaub, die dass Autos, Berlin den Kilometerzähler meines
tainer mit nach Berlin nahm. Bei Hinterachse könnte als Kulanz be­ ähnlich wie Autos. Ich saß auf dem Beifahrersitz,
einem leichten Auffahrunfall in Pots­ trachtet werden.« weil meine Frau meinen Fahrstil nicht
dam löste der Beifahrer-Airbag aus, »Kulanz?«, fragte ich. Christian erträgt, und fotografierte die magi­
obwohl da gar niemand saß. Die Re­ »Die rostet ja oft durch«, sagte er. Lindner, nicht sche Zahl. 200 000. Ein Beweis für
paratur wäre teurer als der ganze Vol­ Unsere Panzer fallen aus, wir fäl­ die deutsche Ingenieurskunst und ihre
vo, behauptete ein Schlosser in Tem­ schen Abgaswerte der Volkswagen, mehr in die Endlichkeit. Der letzte Rekord mei­
pelhof, gab mir »’n kleenen Taler« für wir haben unsere letzten Kriege ver­ Zeit passen. nes Lebens. n

60 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


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WIRTSCHAFT

Kritische Nachfragen
Einsichtnahmen in das Transparenzregister in
Deutschland, in Millionen

1,2

1,0

0,8

Florian Gaer tner / Photothek / Getty Images


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0,4

0,2

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2018 2019 2020 2021 2022
S Quelle: Bundesverwaltungsamt Bundesfinanzministerium in Berlin

Behörden geben Recherchen preis


ANTIKORRUPTION  Eigentlich soll das Transparenzregister helfen, fragwürdige Geldströme offenzulegen. Doch
Firmen werden über Anfragen von Journalisten teils vorab informiert – auch von deutschen Behörden.

D ie deutschen Behörden informieren


Firmeneigentümer seit mehr als zwei
Jahren darüber, wenn Journalisten
oder Aktivisten über ihre Unternehmen Er-
i­ nformiert wird oder sogar gar nicht infor-
miert werden darf.« Fabio De Masi, Ex-Bun-
destagsabgeordneter (Linke) und Fellow bei
der Bürgerbewegung Finanzwende, spricht
spiel Deutschlands, Österreichs und der
Niederlande folgen und möglicherweise
einen Schritt weitergehen: Firmeninhaber
könnten bald die Berufsgruppe der anfra-
kundigungen beim Transparenzregister von einer »fragwürdigen Praxis«, auch weil genden Person erfahren oder sogar deren
­einholen. Nach SPIEGEL -Informationen ha- man es zuweilen mit schwer kriminellem Namen; in Litauen werden Namen schon
ben im Jahr 2021 Firmen 247 Anträge auf ­Milieu zu tun habe. So wurde die maltesische jetzt weitergegeben. Hintergrund für das
Auskunft über mögliche Rechercheanfragen Journalistin Daphne Caruana Galizia 2017 Vorgehen Luxemburgs ist ein Urteil des
gestellt, in 119 Fällen haben die Behörden mit einer Autobombe in die Luft gesprengt. Europäischen Gerichtshofs vom November,
die Informationen tatsächlich übermittelt. Der slowakische Journalist Ján K
­ uciak wur- das den öffentlichen Zugang zu Transpa-
2022 waren es bereits 309 Anträge und de 2018 erschossen, der griechische Ent­ renzregistern nicht im Einklang mit dem
176 Weitergaben. Heribert Hirte, Vorstands- hüllungsjournalist Giorgos Karaivaz 2021. Schutz personenbezogener Daten sieht.
mitglied von Transparency International Sie alle hatten zu Firmen und deren Geld- Seit der Entscheidung haben etliche Länder
Deutschland, sieht darin eine Gefahr für strömen sowie zu Organisierter Kriminalität ihre Transparenzregister für die Öffentlich-
­zivilgesellschaftliche Organisationen oder recherchiert. keit geschlossen. In Deutschland können
Journalisten: »Bei Geldwäsche und ähn­ Anfang Februar verkündete auch Lu- Firmeneigentümer erfahren, dass zu ihnen
lichen Verdachtsanzeigen ist es ein allgemei- xemburg Pläne, Firmen über Recherchen zu recherchiert wird – allerdings nicht, von
ner Grundsatz, dass der Betroffene nicht informieren. Das Land will damit dem Bei- wem genau. CHU

62 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


»Die Leute vertrauen Schäfer Teure Jobs statt voller unterlagen zeigen nun, dass das
Geld aus Berlin wohl vor allem
Google« Einkaufsmeilen in den Aufbau von Stellen fließt.
Mercedes-Technologievorstand HANDEL  Ein Prestigeprojekt So sollen etwa in Bremen ins­
Markus Schäfer, 57, erklärt, wa­ der Bundesregierung zur Ret- gesamt 107 Personenmonate für

PR / Daimler AG
rum seine Kunden künftig von tung der Innenstädte droht zur mehr als eine Million Euro finan-
einem Silicon-Valley-Riesen na- kostspieligen Arbeitsbeschaf- ziert werden. In Nürnberg sind
vigiert werden und die Stuttgar- fungsmaßnahme zu werden. es sogar 250 Personenmonate
ter ihren Widerstand aufgeben. Mit »Stadtlaboren für Deutsch- für gut 1,7 Millionen Euro– bei
gieren? Da müssen wir anerken- land« wollte Ex-Bundeswirt- verhältnismäßig geringen Sach-
SPIEGEL: Herr Schäfer, lange nen: Die Leute vertrauen Google. schaftsminister Peter Altmaier kosten von 280 000 Euro. Auf
fürchtete die deutsche Auto- Die verstehen, dass da viele ihrer (CDU) den Handel in ausge- diese Weise werde »kaum die
industrie Big-Tech-Konzerne. Daten reingehen und es die Ge- wählten Kommunen weiter­ Weiterentwicklung der Innen-
Jetzt arbeiten Sie bei der Navi- nauigkeit, die Verlässlichkeit und entwickeln. Mehr als zehn Mil- stadt an sich« unterstützt, sagt
gation eng mit Google zusam- die Verkehrsprognose verbessert. lionen Euro standen für das jemand, der Städte regelmäßig
men. Haben Sie plötzlich keine Von Here nutzen wir weiter Projekt bereit, um etwa ein zur Entwicklung ihrer Zentren
Angst mehr? hochauflösende Karten für das ­digitales »Leerstands- und An- berät. Die personelle Ausstat-
Schäfer: Die Autoindustrie automatisierte Fahren, die haben siedlungsmanagement« auf­ tung einzelner Teilprojekte
­entwickelt sich von einer me- sich deutlich weiterentwickelt. zubauen, vom Ministerium sei sehr üppig ausgefallen. Das
chanischen zu einer Software- SPIEGEL: Was kann die neue großspurig als »Tinder« für In- Bundeswirtschaftsministerium
Industrie. Früher waren unsere Karten-App besser? nenstädte tituliert. Die Projekt- gab keinen Kommentar ab. SBO
Anknüpfungspunkte mit den Schäfer: Google Maps hat mehr
Techkonzernen begrenzt. Jetzt als 200 Millionen »Points of
müssen wir uns neu fragen, mit ­Interest« mit Informationen, Bil-
welchen Partnern wir unseren dern und Bewertungen zu Res-
Anspruch, in der Digitalisierung taurants oder Geschäften. Frü-
führend zu sein, am besten er- her hatte man nur vier oder fünf
füllen können. Bewertungen zu Restaurants.
SPIEGEL: Vor ein paar Jahren Wenn ein Kunde ab jetzt in der
kaufte Mercedes mit Audi und Navigation nach einem Restau-
BMW den Kartenspezialisten rant sucht, sieht der eine völlig
Here, um einen Maps-Konkur- neue Welt. Und er muss nicht
renten aufzubauen. Ist die Stra- mehr sein Telefon ans Auto an-
tegie gescheitert? schließen, um seine bevorzugte
Schäfer: Die Frage ist am Ende: Karte zu nutzen und seinen
Johannes Arlt

Was nutzt der Kunde zum Navi- Lieblingsort zu finden. ADE


Bremer Innenstadt

Unternehmen ton Consulting Group (BCG)


­schwächeln bei KI
unter rund 2700 Entscheidern EU stärkt Chinesen München, das im Januar in der
aus Branchen wie Konsumgüter, gleichen Frage zugunsten von
DIGITALISIERUNG  Während Energie, Finanzen, Gesundheit im Streit mit Audi Audi entschieden hatte. Zwar hat
sich Hightech-Konzerne wie und Telekommunikation in MARKEN  Das Amt der Euro- die EUIPO-Entscheidung keine
Google oder Microsoft mit der 21 Ländern. Demnach sind die päischen Union für geistiges unmittelbaren Folgen für Nio in
Ankündigung neuer KI-Produk- meisten Firmen weit davon ent- Eigentum (EUIPO) hat sich im Deutschland, die Chinesen gehen
te überschlagen, fremdelt die fernt, KI-Projekte in ­Bereichen Markenstreit zwischen dem in dem hiesigen Verfahren je-
Mehrheit der Unternehmen wie Lieferketten, Personal­ Autobauer Audi und dem chine- doch in die nächste Instanz und
noch mit der künstlichen Intelli- wesen, Produktion oder Marke- sischen Wettbewerber Nio auf sehen sich durch die EU-Ent-
genz. Das ergab eine Umfrage ting im großen Stil umzusetzen. die Seite des Newcomers aus scheidung gestärkt.
der Beratungsgesellschaft Bos- Auf einer Skala von 0 bis 100 Asien geschlagen. Nio hatte Dass Autohersteller um
lag die durchschnittliche KI-Reife 2016 für ein Elektro-SUV beim ­Markenrechte streiten, ist zwar
branchenübergreifend zwi- EUIPO den Modellnamen ES6 nicht ungewöhnlich. Die Aus­
schen 35 und 45. Laut BCG be- eintragen lassen, lange bevor einandersetzung zwischen Audi
nötigen Unternehmen teilweise das Start-up aus dem chine­ und Nio findet jedoch in einer
fast anderthalb Jahre, bis ihre sischen Hefei Autos in Europa Phase statt, in der chinesische
Anwendungsfälle großflächig im zum Verkauf anbot. Fünf Jahre Hersteller den deutschen An-
Einsatz sind. Dabei würde sich später, am 11. Oktober 2021, bietern massiv Marktanteile
ein größeres Engagement in der hatte Audi bei der EUIPO be­ streitig machen, vor allem bei
Zukunftstechnologie für die Fir- antragt, den Namen zu löschen. Elektroautos. So kamen die
men auszahlen, sagen die Bera- Er verletze die Markenrechte Premiumhersteller Mercedes,
ter: Je nach Höhe der Investitio- von Audi, weil er mit dem S6 BMW und Audi 2022 bei reinen
nen lasse sich der Umsatz um zu verwechseln sei. Die Leute E-Fahrzeugen in China auf we-
etwa 6 bis 20 Prozent steigern. könnten denken, es gehe um eine niger als ein Prozent Markt­
KI-Vorreiter investieren gemäß elektrische Version der Audi-Li- anteil. Seit Herbst verkauft Nio
Sven Hoppe / dpa

der Analyse im Schnitt etwa mousine. Die EU hat den Antrag auch Autos in Deutschland,
4 Prozent ihrer Erlöse in künst- auf Löschung nun ab­gewiesen. hat den ES7 aber angesichts des
liche Intelligenz, Nachzügler Damit stellt sich die Behörde Rechtsstreits mit Audi in EL7
­lediglich 2,7 Prozent. SH gegen ein Urteil des Landgerichts umgetauft. MHS

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 63


WIRTSCHAFT

225 Millionen Euro Honorar


DYNASTIEN Heinz Hermann Thiele war einer der reichsten Männer der Republik – und ein Machtmensch,
der weder Beratern noch der Familie traute. Nun streiten seine Kinder und die Witwe erbittert
ums Erbe. Mittendrin: der Testamentsvollstrecker, der vom Letzten Willen ungewöhnlich stark profitiert.

D
er Patriarch ist tot, doch sein Wenige Tage darauf wechselte listen Vossloh kontrolliert und war ein
Thron erinnert immer noch Brühmüller auf die andere Seite des Jahr vor seinem Tod als Großaktionär
an ihn: ein Designerschreib- Schreibtischs. bei der Lufthansa eingestiegen.
tisch mit konisch geformter Thiele hatte ihn zum Testaments- Der Patriarch hat ungeheuren
Platte, dahinter ein schwerer Büro- vollstrecker gemacht. Brühmüller Reichtum hinterlassen, aber auch ge-
stuhl in schwarzem Leder. Von hier verkaufte seine Kanzlei und kümmer- kränkte Seelen, verletzte Egos und
aus dirigierte der Selfmade-Milliardär te sich fortan um den Nachlass des ungestillte Begehrlichkeiten. Weder
Heinz Hermann Thiele sein Industrie- Alten und – wie seine Gegner be- seiner zweiten Frau Nadia noch seiner
reich: den Zuliefererkonzern Knorr- haupten – um die Mehrung seines Tochter Julia und schon gar nicht sei-
Bremse, seine Beteiligungen an Luft- eigenen Reichtums. nem Sohn Henrik wollte er Zugriff auf
hansa und Vossloh. Der Platz hinter Thieles Schreib- das Firmenimperium gestatten, statt-
In dem teuer, aber keineswegs tisch ist zum Symbol eines Erbstreits dessen plante er, das Vermögen in eine
protzig eingerichteten Büro inmitten geworden, wie ihn die Republik selten Familienstiftung zu überführen.
der denkmalgeschützten Zentrale von erlebt hat. Es geht um eines der größ- Doch er starb, ehe die Stiftung
Knorr-Bremse in München arbeitete ten deutschen Vermögen – mehr als installiert war, und arbeitete mit sei-
er bis vor gut zwei Jahren. Auf dem 15 Milliarden Euro – und das Ver- nen Beratern bis zu seinem Tod an
Tisch lagen selten mehr als ein Tele- mächtnis einer der umstrittensten möglichen Änderungen seines 2018
fon, ein Abreißblock, eine Schale mit Unternehmerikonen des Landes. Thie- aufgesetzten, rechtsgültigen Testa-
Stiften. Einen Computer hatte Thiele le hatte den Lkw- und Bahnzulieferer ments. So bleibt Raum für Interpre-
nicht, E-Mails und Dokumente ließ Knorr-Bremse zu einem globalen tationen, was wirklich Thieles letzter
er sich von seiner Sekretärin ausdru- Technologieführer für Bremssysteme Wille war. Es entstand ein Macht-
cken. Ganz alte Schule. Wer einen entwickelt, den Bahntechnik-Spezia- vakuum und der Verdacht, Thieles
Termin beim Machtmenschen HHT vormals stiller Helfer Brühmüller
hatte, so sein internes Kürzel, musste wolle diesen leeren Raum füllen – mit
auf einem der beiden kleineren Stüh- Das Vermächtnis des Patriarchen sich selbst.
le auf der anderen Seite des Schreib- An mehreren Gerichten kreisen
tischs Platz nehmen. Wie das Thiele-Erbe aussehen soll. Aktuelle Beteiligungen, Verfahren um die Rolle des Testa-
Erbschaften, Besitzwechsel nach Vererbung, in Prozent
Hochdekorierte Manager, Ge- mentsvollstreckers, die Staatsanwalt-
schäftspartner und auch seine Kinder Enkel von schaft München ermittelt. Thieles
Vorerbin* Julia
Julia Thiele-Schürhoff, 51, und Hen- Nadia
Heinz
Thiele-
Witwe Nadia wirft Brühmüller vor,
rik Thiele, 55, haben hier im Laufe Hermann er wolle sich um einen dreistelligen
Thiele Schürhoff
Thiele
der Jahre gesessen. Manch einer ver- Millionenbetrag bereichern und sich
ließ das Büro eingeschüchtert, wü- über ein von ihm selbst überarbeite-
tend oder gar weinend. Thiele konn- jährliche Ausschüttungen tes Stiftungskonzept dauerhaft Ein-
te gnadenlos gegenüber Menschen Heinz Hermann Thiele
fluss auf das Firmenimperium si-
sein, die seinen Ansprüchen nicht Familienstiftung chern.
genügten – und das waren eigentlich An Nadia Thieles Seite streiten
fast alle. prominente Juristen: der frühere
Kaum jemand saß so oft auf den CSU-Politiker und Anwalt Peter Gau-
Stühlen vor dem Schreibtisch des KB Holding Vossloh weiler sowie Thomas Fischer, ehemals
Patriarchen wie Robin Brühmüller, Richter des 2. Strafsenats am Bundes-
54, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater indirekt gerichtshof (und SPIEGEL -Kolum-
und über viele Jahre Thieles beflis- nist). Gauweilers Ausdauer ist legen-
sener Diener. Schon sein Vater hatte TIB Vermögens-
Knorr-
där. Er hat einst im Streit um die In-
für den Milliardär gearbeitet, bis dann und Beteiligungs- solvenz des Medienmagnaten Leo
Bremse
holding
im Jahr 2000 der Sohn übernahm. gehen Kirch ein gutes Jahrzehnt lang ge-
Leute, die Brühmüller kennen, be- nach Nadia Thieles
schreiben ihn als still und geradezu Tod ein Strafverfahren losgetreten und
Stella über
devot, sein Verhältnis zu Thiele sei Privat- Opes schließlich einen Milliardenvergleich
Vermögens-
immobilien Immobilien
»von Befehl und Gehorsam« geprägt verwaltung GmbH erzwungen. Nun zieht er erneut alle
gewesen. Bis zum 23. Februar 2021. * Erbin auf Zeit Register, Verfahrensbeteiligte sehen
Thieles Tod. S Quellen: Unternehmen, eigene Recherche Parallelen zum Fall Kirch, selbst die

64 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


WIRTSCHAFT

Dieter Mayr / manager magazin

Heinz Hermann Thiele (1941 bis 2021) hinterließ Immobilien und Firmenanteile im Wert von 15 Milliarden Euro. Doch weil er
nicht wollte, dass seine Erben darüber frei verfügen können, bündelte er das Vermögen in einer Stiftung. Unklar ist, wer sie führt.
Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 65
WIRTSCHAFT

Regierung Oberbayerns ist mit einer


Klage konfrontiert.
deten und seine Familie traumatisier-
ten. Er war misstrauisch, bisweilen
»Meine und den Vorstand ein. In seinem Büro
fragte er Henrik vor versammelter
Brühmüller, der Mann im Auge des cholerisch, konnte nicht loslassen, größte Mannschaft, was er sich dabei ge-
Orkans, schweigt. In seinem Umfeld
heißt es, er handle schlicht nach den
seine Eitelkeit war geradezu krank-
haft. Den ehemaligen Knorr-Bremse-
Schwäche ist dacht habe, mit den Journalisten zu
reden. Einen Tag später reichte der
Buchstaben des Testaments. Ja, er Vorstandschef Klaus Deller setzte er mangelnde Sohn die Kündigung ein. 2017 trat er
könne gar nicht anders. Die Vorwür-
fe gegen ihn resultierten aus der Ent-
nach erfolgreichem Börsengang vor
die Tür, obwohl er ihn lange wie einen
Menschen- für geradezu lächerliche 25 Millionen
Euro seinen Erbanspruch ab. Nach
täuschung von Thieles Witwe Nadia, Ziehsohn gefördert hatte. Thiele kenntnis.« dem Tod seines Vaters bereute er die-
dass der Verstorbene sie in seinem wirkte missgünstig, er konnte es nicht Heinz Hermann sen Schritt, ging vor Gericht, gab an,
Letzten Willen schlechtergestellt ertragen, dass jemand an seiner statt Thiele er habe damals unter dem massiven
habe als seine Tochter Julia. Nadia glänzte. Immer häufiger tauschte er Druck seines Vaters gehandelt. In ers-
Thiele äußert sich nicht zu dem Streit. in seinen späten Jahren Manager aus, ter Instanz ist Henrik Thiele mit die-
kehrte 2020 in den Aufsichtsrat zu- sem Versuch gescheitert. Er äußert
Der Baumeister rück und regierte von dort aus in das sich nicht zu alledem.
Heinz Hermann Thiele ist einer dieser Unternehmen hinein. Der alte Thiele hatte ihm und sei-
Nachkriegsunternehmer, die binnen Und so blieb die Thronfolge un- ner Tochter Julia Jahre zuvor ein Drit-
einer Generation ganz Großes schu- geklärt. Denn seinem Sohn Henrik tel der Anteile an der Familienholding
fen. 1941 als Sohn eines Anwalts in oder seiner Tochter Julia traute er Stella übertragen, die wiederum das
Mainz geboren, studierte er nach der seine Nachfolge noch weniger zu als Gros der Knorr-Bremse-Aktien hält.
Schule Jura und startete 1969 als den angestellten Topmanagern. Jetzt besitzt nur noch Julia Anteile.
­Sachbearbeiter in der Patentabteilung Henrik stand kurz vor dem Auf- Mit Vertrauen in seine Kinder hatte
von Knorr-Bremse. Dort stieg Thiele stieg in den Vorstand, er hatte sich das allerdings weniger zu tun.
schnell auf und rückte 1979 in die Ge- zuvor bei Knorr-Bremse in Spanien »Geben Sie meiner Tochter niemals
schäftsleitung auf. Er musste miterle- und Hongkong zu profilieren versucht Geld, sie kann nicht damit umgehen«,
ben, wie die Firma an einem Streit der und durchaus Ambitionen, selbst ein- soll Thiele einmal gesagt haben. Er
Eigentümerfamilien zu zerbrechen mal Chef zu werden. Doch sein Vater habe nie gewollt, dass Julia Einfluss
drohte. Mit der Deutschen Bank han- soll ihm signalisiert haben, dass er auf seine Unternehmen erhält. Ope-
delte Thiele einen der ersten Manage- nicht das Zeug zum CEO habe, er- rativ tätig war sie wie Thieles zweite
ment-Buy-outs der deutschen Ge- zählt man sich im Unternehmen. Frau Nadia lediglich in der Wohltätig-
schichte aus. Er übernahm die insol- Zum Bruch kam es 2015, als im Wirt- keitsorganisation Knorr-Bremse Glo-
venzbedrohte Firma, die Bank erließ schaftsmagazin »Bilanz« eine kriti- bal Care. Zudem sitzt sie im Auf-
einen Teil der Schulden, per Hand- sche Geschichte über die Thieles er- sichtsrat der Knorr-Bremse. Insider
schlag, wie der Alte stolz erzählte. Auf schien, für die Henrik sich ohne Wis- berichten, Thiele habe die Tochter
der anderen Seite des Verhandlungs- sen seines Vaters als Gesprächspart- zwei Jahre vor seinem Tod aus dem
tischs saß Alfred Herrhausen, der spä- ner zur Verfügung gestellt hatte. Gremium entfernen wollen. Der um
ter von der RAF ermordet wurde. Am Montag nach Erscheinen des den Ruf des Unternehmens besorgte
Es war die Zeit der Deutschland- Artikels bestellte Thiele seinen Sohn damalige Aufsichtsratschef Klaus
AG, mächtige Männer in exklusiven
Zirkeln, die Thieles unternehmeri-
sches Leben prägte. Binnen 20 Jahren
formte er Knorr-Bremse mit Instinkt,
Risikobereitschaft und gnadenloser
Härte zum Weltmarktführer mit zu-
letzt 7,1 Milliarden Euro Umsatz. Für
Gewerkschaft und Betriebsrat war
Thiele wegen seiner Rationalisie-
rungsprogramme ein »Steinzeitunter-
nehmer«. Aber zur Wahrheit gehört
auch, dass er ständig investierte und
sich als Eigentümer zehn Jahre lang
keine Dividende zahlte.
»Geld interessierte ihn nur als Roh-
stoff, um seine unternehmerischen
Ideen umzusetzen«, sagt ein Vertrau-
ter. Neben seinen Firmen faszinierten
den Milliardär Immobilien: Bauen,
umbauen, planen, bis zum Schluss
brachte er sich in den Architekten-
wettbewerb für das Areal nördlich der
Thorsten Jochim / VISUM

Knorr-Bremse-Zentrale ein. »Thiele,


der Baumeister«, beschreibt ihn ein
Wegbegleiter rückblickend.

Die Kinder
Bei allem unternehmerischen Genie
hatte Thiele auch Schwächen, die Mit seinem Sohn Henrik überwarf sich Thiele und fand ihn 2017 mit 25 Millionen Euro ab.
schon zu Lebzeiten sein Werk gefähr- Seine Tochter Julia hält Firmenanteile im Wert von rund 1,7 Milliarden Euro.
66 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023
WIRTSCHAFT

Mangold habe Thiele gerade noch daran hin- Falls dies »aus welchen Gründen auch immer«
dern können. Falls das zutrifft, wäre es einer nicht geschehe, sei »als angemessene Vergü-
der seltenen Fälle, in denen Thiele sich in Per- tung … der Betrag anzusehen, der sich aus den
sonalfragen hätte reinreden lassen. Julia Thie- allgemeinen Vergütungsrichtlinien gemäß den
le-Schürhoff selbst möchte zu den Familien- Empfehlungen des Deutschen Notarvereins«
themen nichts sagen. ergebe. Das klingt harmlos, ist es aber nicht.
Die Neue Rheinische Tabelle des Notarver-
Die Witwe eins sieht als Grundvergütung für den Testa-
Vertraute Thiele seiner zweiten Frau Nadia mentsvollstrecker bei Vermögen von mehr
mehr als seinen Kindern? Der Patriarch lern- als fünf Millionen Euro 1,5 Prozent des Brut-
te die gebürtige Ukrainerin beim Kauf einer tonachlasswertes vor. Thiele hinterließ rund
Uhr im Juweliergeschäft Bucherer kennen, 15 Milliarden Euro, das ergibt eine Grundver-
wo sie als Verkäuferin arbeitete. Die beiden gütung von 225 Millionen Euro.
heirateten 2011, seitdem wich sie nicht von Wollte Thiele das wirklich? Auch Leute,
seiner Seite. Thiele bezeichnete seine knapp die Thiele nahestanden, beschreiben ihn un-
35 Jahre jüngere Frau als Glücksfall, Nadia umwunden als geizig. Er flog stets Economy,
ertrug seine Launen, begleitete ihn zu Termi- war schwer vom Kauf eines neuen Jacketts
nen und auf Geschäftsreisen. Als Partygirl gilt zu überzeugen und soll mit Brühmüller stets
sie nicht, geht in der Freizeit lieber schwim- über dessen Stundensätze als Wirtschafts-
men. Thiele soll sich ihr auch in geschäftlichen prüfer gefeilscht haben.
Dingen anvertraut haben, aus Firmenangele- Gegenüber Knorr-Bremse-Aufsichtsrat
genheiten hielt sich die studierte Germanistin Mangold soll Thiele erklärt haben, er wolle
indes heraus. Brühmüller zwischen 600 000 und eine Mil-
Thiele wollte sie offenbar versorgt wissen, lion Euro pro Jahr zahlen. Mehrere Personen
ohne ihr Einfluss auf seine Firmen zu geben – aus Thieles Umfeld sagten dem SPIEGEL Ähn-
das jedenfalls ergibt sich aus dem Testament. liches. »Brühmüller bekommt als Testaments-
Sie ist darin als Vorerbin eingetragen, formal vollstrecker eine Million, er will sicher mehr,
geht der Löwenanteil der Familienholding aber mehr bekommt er nicht«, zitiert eine Das
also an sie über. Sie kann jedoch nicht über dieser Personen den Erblasser.
das dort gebündelte Vermögen verfügen, es Aufgeschrieben hat Thiele das offenbar Finanzmagazin
geht in die zu gründende Stiftung, so wie nach nicht, obwohl er nach Erstellung des Testa-
ihrem Tod auch das etwa eine Milliarde Euro ments immer wieder Änderungen mit seinen
schwere Immobilienvermögen. Nadia erhält Beratern diskutierte. In einem Entwurf aus
Ausschüttungen, wie auch Julia und die En- dem Dezember 2019 hatte Korte eine Decke- SPIEGEL GELD informiert
kelkinder. Lediglich einige Privathäuser hat lung eingebaut. Thiele strich die Formulierung
die Witwe direkt geerbt. und schrieb »Rahmenvorgabe« daneben. über Finanzprodukte,
Sie könnte großen Einfluss auf das Erbe Was er damit meinte, ist umstritten, zu Versicherungen und
ihres Mannes ausüben, wenn ihr in der Fami- einer Vereinbarung jenseits des Verweises auf
lienstiftung eine entsprechende Stellung zu- die Neue Rheinische Tabelle ist es wohl nie Immobilien – und hilft so
teilwürde. Die Stiftung wird als Hauptaktio- gekommen. Im Jahr 2020 wandten Thiele und bei Aufbau und Erhalt
närin bei Knorr-Bremse und Vossloh das Sa- sein Steuerberater sich erst einmal anderen
gen haben. Nur solange die Stiftung nicht Themen zu. Der Patriarch spielte mit dem Ihres Vermögens.
steht, übt Testamentsvollstrecker Brühmüller Gedanken, sein Vermögen aus steuerlichen
die Stimmrechte für die Thiele-Aktien aus. Gründen in die Schweiz oder nach Österreich
Diese Machtlosigkeit will die Witwe nicht zu verlagern, verwarf die Idee aber wieder. Themen der Ausgabe:
hinnehmen. »Man darf Nadia nicht unter- Außerdem absorbierte der Einstieg bei der
schätzen, sie hat einen eisernen Willen«, sagt Lufthansa seine Aufmerksamkeit. Versicherungen
ein Freund der Familie. Sie fürchte, dass Brüh- Ende 2020 sollte es einen weiteren Termin
müller seine Stellung in der Stiftung zemen- zu Testament und Vergütung geben. Zu dem So decken Sie Lebensrisiken
tiere und Entscheidungen treffe, die nicht dem kam es indes nicht mehr. Im November er- richtig ab
Letzten Willen ihres Mannes entsprächen. krankte Thiele. Obwohl er sich nicht richtig
Aber wie genau sah der eigentlich aus? erholt hatte, flog er an Weihnachten nach
Uruguay, wo er eine Rinderfarm und ein Aus- Geldanlage
Das Testament bildungszentrum unterhielt. Dort verschlech-
Von 2015 an arbeitete Heinz Hermann Thie- terte sich sein Zustand, nach seiner Rückkehr
Die Zinswende macht
le mit Brühmüller, seinem Anwalt Heinz Kor- kam er nicht mehr zurück in die Firma. Anleihen wieder interessant
te sowie verschiedenen Notaren an seinem
Testament, das schließlich am 7. Juni 2018 Die Justiz
notariell beglaubigt wurde. Für den erbitterten Nach Ansicht der Witwe und ihrer Anwälte Inflation
Zank sorgen vor allem zwei Regelungen in hätte Brühmüller Thiele über die Bedeutung Wie Sie mit Ihren Kindern
dem achtseitigen Dokument: die Vergütung der Vergütungsklausel im Testament aufklä-
des Testamentsvollstreckers und die Vorgaben ren müssen, was er nicht getan habe. Sie klag- über Ihr Geld reden
für die Familienstiftung, die später durch eine ten deshalb beim Nachlassgericht auf Abbe-
Satzung ausgestaltet werden sollte. rufung des Testamentsvollstreckers.
Zur Bezahlung Brühmüllers schreibt Thie- Mails zwischen Brühmüller und Thieles
le im Testament, die »weiteren Details über Anwalt Korte deuten darauf hin, dass keiner
Art und Höhe der Vergütung« werde er mit der beiden den Alten ins Bild setzen wollte. Nächste Woche als
dem »Testamentsvollstrecker vereinbaren«. »Weiß HHT, was die vorgesehene Regelung
Beilage im SPIEGEL
Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 67
WIRTSCHAFT

in Euro kostet?«, fragt Korte den Tes- ten Instanz zu Fall bringen, die Sache hend Thieles Konzept. Danach darf
tamentsvollstrecker noch Ende No- liegt beim Oberlandesgericht. Halt verloren Nadia weiterhin dem Stiftungsrat an-
vember 2019. Ob die beiden den Pa- gehören. Der soll indes keine nennens-
triarchen bis zum Schluss im Dunkeln Die Stiftung Aktienkurs von Knorr- werten Kontrollrechte gegenüber dem
Bremse, in Euro
ließen, und wenn ja, ob sie dies in Ginge es in dem Erbstreit nur um den Vorstand haben. Dort sitzen Brühmül-
böser Absicht taten oder Angst vor Lohn des Testamentsvollstreckers, ler, Tochter Julia und eine noch zu be-
dem Zorn Thieles hatten, ist strittig. man könnte das unwürdige Gescha- 100 nennende Person. Das Gremium kann
Korte äußert sich nicht. cher schnell zu den Akten legen. selbst Nachfolger für ausscheidende
Brühmüller selbst hatte im Dezem- Schließlich hat keiner der Beteiligten 80 Vorstände bestimmen. Wer den Vor-
ber 2015 in einer Mail an Korte er- Geldsorgen. Doch es geht um deutlich 62,82 sitz übernimmt, ist offen.
klärt, angesichts des hohen Nachlass- mehr, darum, wer im Firmenimpe- 60 Am 1. Dezember 2022 teilte die bei
wertes sei eine Begrenzung der Ver- rium künftig das Sagen hat. der oberbayerischen Landesregierung
gütung sachgerecht, man könne sich Thiele wollte die Macht in der Fa- 40 angesiedelte Stiftungsaufsicht mit,
dabei an der Bezahlung der Knorr- milienstiftung bündeln. Insider be- 23. Februar 2021 dass der von Brühmüller vorgelegte
Bremse-Vorstände orientieren. Heu- richten, dass auch jene 17 Prozent an 20 Todestag von Entwurf einer Satzung anerken­
Heinz Hermann
te hält er eine Größenordnung von Knorr-Bremse, die Tochter Julia über Thiele nungsfähig sei, es fehlten nur noch die
0
225 Millionen Euro für angemessen. die Holding Stella hält, nach dem Wil- Namen für die Gremien. Nadia Thie-
Das Nachlassgericht lehnte die Ab- len des Vaters in die Stiftung eingehen 2019 2021 2023 les Anwälte haben daraufhin die Stif-
berufung Brühmüllers ab, unter an- sollten. Im Testament ist von den An- tungsaufsicht vor dem Verwaltungs-
Stand: 22. Februar; jeweils
derem mit dem Argument, dass Thie- teilen der Tochter nicht die Rede. Of- Mittwochs-Schlusskurse gericht auf Unterlassung verklagt.
le als Volljurist sicher verstanden fenbar suchte der Patriarch jedoch S Quelle: Refinitiv Die Aufsicht dürfe die Stiftung so

‚
Datastream
habe, was der Verweis auf den Notar- Wege, den Einfluss der Tochter zu nicht zulassen, solange gegen Brüh-
verein bedeute. Vertraute zweifeln begrenzen. Zu Thieles Entwurf für müller ermittelt werde, und damit Tat-
das an. Sie erzählen sogar, Thiele die Stiftung, den er im November sachen schaffen. Die Anwälte monie-
habe das Jurastudium abgebrochen, 2019 erstellt hat, gibt es offenbar eine ren, dass Brühmüller für den Stiftungs­
weil er sich mehr für schwere Maschi- handschriftliche Anmerkung des Patri­ rat Personen vorgesehen habe, die
nen interessiert habe und seine erste archen, dass es eine Stimmbindungs- Thiele dafür niemals in Betracht ge­zo­
Frau schwanger wurde. Thiele habe vereinbarung zwischen ihm und der gen hätte. Etwa den früheren Knorr-
damals Geld verdienen müssen und Tochter geben solle. Bremse-Vorstand Lorenz Zwing-
keine Zeit mehr zum Studieren ge- Thieles Stiftungsentwurf sah neben mann, mit dem Thiele sich überwor-
habt. Wenn es um Verträge ging, habe einem dreiköpfigen Vorstand einen fen hatte, angeblich ein Freund Brüh-
er mitunter dilettantisch gehandelt, Stiftungsrat vor, der eine starke Kon- müllers. Zwingmann äußert sich dazu
sagt jemand, der eng mit ihm zusam- trolle über den Vorstand ausüben nicht. Zudem hat Brühmüller für das
menarbeitete. Ob das stimmt, lässt sollte. Er sei »das entscheidende Gre- Gremium einen Anwalt nominiert,
sich kaum noch nachvollziehen. mium«, merkte Thiele zu einer Be- der ihn bei seiner Tätigkeit als Thieles
Nadia Thieles Anwälte jedenfalls sprechung am 7. November 2019 Testamentsvollstrecker beraten hat.
lassen nicht locker. Fischer legte bei handschriftlich an. In diesem Stif- Die Anwälte der Witwe sehen darin
der Staatsanwaltschaft München ein tungsrat sollte demnach auch seine einen Interessenkonflikt.
Gutachten vor, Brühmüller habe sich Frau Nadia sitzen und, wie es aus »Meine größte Schwäche ist man-
mit der Vergütungsregelung womög- ihrem Umfeld heißt, »das Gesicht der gelnde Menschenkenntnis«, hat Thie-
lich des Betrugs und der Untreue Stiftung werden«. Genau das Gleiche le gegenüber Vertrauten einmal ein-
schuldig gemacht. Die Staatsanwalt- reklamieren Fürsprecher von Julia geräumt. Die Gräben, die dadurch
schaft bestätigt einen Anfangsver- Thiele-Schürhoff für die Tochter. aufgerissen wurden, scheinen unüber-
dacht, sie hat Brühmüllers Büro Diesem Lager neigt offenbar Brüh- brückbar: Witwe, Kinder und Testa-
durchsucht und Zeugen vernommen. müller zu, er überarbeitete dahinge- mentsvollstrecker haben sich inein-
Ein Sprecher des Testamentsvoll- ander verbissen – und mit ihnen eine
streckers erklärt, die Vorwürfe gegen Heerschar von Anwälten und Bera-
Brühmüller »entbehren jeder sach- tern, deren Honorare die Erbmasse
lichen Grundlage und sind haltlos«. ähnlich schmälern dürften wie Brüh-
Sie seien bereits vor Gericht entkräf- müllers Vergütung.
tet worden. Derweil schlingert der Weltmarkt-
Gemeint ist das Nachlassgericht, führer Knorr-Bremse dahin. Niemand
das mit harschen Worten auf eine Be- traut sich strategische Weichenstel-
schwerde der Witwe und ihrer An- lungen zu, der Aktienkurs ist seit
wälte reagierte. Brühmüller und Kor- Thieles Tod eingebrochen. Und erst
te hätten glaubhaft bestätigt, dass wenn die Stiftung zugelassen ist, er-
Thiele über die Höhe der Vergütung halten wohl auch die Bürger Bayerns
aufgeklärt worden sei. Es dränge sich ihren Anteil an Thieles Erbe. Die Erb-
der Verdacht auf, dass der Vorstoß bei schaftsteuer von mehreren Milliarden
Hannelore Förster / IMAGO

der Staatsanwaltschaft ein Versuch Euro, eine der höchsten in der Ge-
sei, den Testamentsvollstrecker öf- schichte des Freistaats, würde dann
fentlich zu degradieren. Fischer und fällig. Das Geld liegt bereit, es kommt
Gauweiler hätten die Staatsanwälte unter anderem aus dem Verkauf von
nicht darüber informiert, dass das Ge- Lufthansa-Aktien. Von diesem unter-
richt die strafrechtlichen Vorwürfe nehmerischen Traum des Patriarchen
bereits geprüft und verworfen habe. haben sich die Erben bereits verab-
Nadia Thiele und ihre Anwälte Seiner Witwe Nadia vermachte Thiele auf Lebenszeit schiedet.
wollen Brühmüller nun in der nächs- Immobilien im Wert von rund 1 Milliarde Euro. Martin Hesse n

68 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


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WIRTSCHAFT

»Ich kann ein Nein nicht als


Antwort akzeptieren«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Andrew Forrest, 61, wurde mit Eisenerz zum Milliardär –
nun will ausgerechnet er grünen Wasserstoff in riesigen Mengen
produzieren, um die Industrie klimafreundlich zu machen. Kann das funktionieren?

SPIEGEL: Herr Forrest, Sie wurden mit dem die meisten Industriekonzerne. Das war also Sie haben Hunderte Millionen Euro inves­
Abbau von Eisenerz zum zweitreichsten Men- sicher nicht der Antrieb. 2011 bin ich als Fir- tiert Gehen Sie vor allem eine teure Wette
schen Australiens. Ihr Unternehmen ist jedes menchef zurückgetreten, seither bin ich Phi­ ein?
Jahr für mehr als zwei Millionen Tonnen CO2 lanthrop. Wir haben uns mit moderner Skla- Forrest: Ach, wer mich kennt, weiß, dass ich
direkt verantwortlich – nun wollen Sie zum verei, Plastikverschmutzung, d ­ igitaler Un- nicht so gern Risiken eingehe. Die Leute hö-
weltgrößten Hersteller von grünem Wasser- gleichheit, Kinderkrebs und vielen anderen ren und lesen nur, dass wir mit Fortescue Fu-
stoff werden. Woher rührt Ihr ökologischer Problemen der Welt befasst, für die es sehr ture Industries (FFI) ein großes Rad drehen,
Sinneswandel? schwer ist, Geld einzusammeln. Ich habe im- aber sie sehen nicht, dass wir einen sicheren
Forrest: Unser Unternehmen interessiert sich mer wieder überlegt, wie Philanthropie dazu Plan B haben. Wir können uns voll in grünen
schon seit fast zehn Jahren dafür, wie man beitragen kann, die Klimakrise aufzuhalten. Wasserstoff stürzen, ohne unser erfolgreiches
Wasserstoff mit grüner Energie herstellen SPIEGEL: Und, wie? Geschäft bei For­tescue zu gefährden. Von den
kann. Aber es gab tatsächlich einen Moment Forrest: Die Wahrheit ist: Sie kann es nicht. Gewinnen dort …
in meinem Leben, der mich hat umdenken Sie könnten das ganze Geld von Jeff Bezos, SPIEGEL: … 6,2 Milliarden US-Dollar Netto-
lassen. Ende 2015 hatte ich einen schweren Bill Gates oder Andrew Forrest auf den Tisch gewinn im vergangenen Geschäftsjahr ...
Unfall. Weil ich immer nach dem Motto gelebt legen und sagen: Löst das Problem der Klima- Forrest: ... investieren wir jedes Jahr zehn Pro-
habe, »In jedem Rückschlag liegt eine Chan- erwärmung. Es brächte nichts. Die einzige zent in FFI. Wir glauben, dass die Technologie
ce«, habe ich danach angefangen, Ökologie Macht, die groß genug ist, um die globale Er- vorhanden ist, um grünen Wasserstoff bald in
zu studieren. Nach vier Jahren hatte ich mei- wärmung aufzuhalten, sind diejenigen, die ­Mengen zu produzieren, die mit der Öl- und
nen Doktor in Meeresökologie. sie verursachen – die Wirtschaft. Und die Gasindustrie konkurrieren können.
SPIEGEL: Das hat Ihnen die Augen ­geöffnet? Politik, die sie unterstützt. Deshalb bin ich SPIEGEL: Bis 2030 wollen Sie weltweit 15 Mil-
Forrest: Ich habe im Studium gelernt, dass die wieder im Geschäft. lionen Tonnen grünen Wasserstoff produzie-
russische Tundra eine Art gigantischer gefro- SPIEGEL: Noch ist das Geschäft mit grünem ren. Noch haben Sie nicht ein einziges Kilo-
rener Ozean ist, zweieinhalbmal so groß wie Wasserstoff allerdings eine Nische. gramm hergestellt. Wie soll das gehen?
die Landfläche Australiens. Darin liegen orga- Forrest: Das stimmt nicht. Das Angebot ist Forrest: Wir werden 2024 mit der Herstellung
nisches Material, Methan und Kohlendioxid. sehr klein, aber die Nachfrage ist riesig. starten, das ist sogar ein Jahr früher als ur-
Entweicht das, könnte die Temperatur in der SPIEGEL: Im industriellen Maßstab wird sprünglich geplant. Bei fünf Projekten steht
Atmosphäre schnell um zehn Grad Celsius an- grüner Wasserstoff bisher nicht eingesetzt. in diesem Jahr die finale Investitionsentschei-
steigen. Diese Erkenntnis war für mich ein ech- dung an, da sind wir also sehr weit.
ter Wendepunkt. Einen Monat nach der Ab- SPIEGEL: Kritiker monieren, Ihre ­Ziele seien
schlussfeier bin ich nach Davos geflogen. Ich Lukratives Eisenerz unrealistisch hoch. Können Sie Ihre Verspre-
saß bei einem Dinner, zu dem hochrangige chen einhalten?
Wirtschaftsführer aus der Öl- und Gasindustrie Gewinn nach Steuern der Fortescue Metals Forrest: Ja. Als ich 2003 anfing, Eisenerz ab-
Group, in Milliarden US-Dollar
als Hauptredner eingeladen waren. Ihre Bot- zubauen, war BHP das größte Bergbauunter-
schaft an dem Abend war, dass dieser ganze 10 nehmen der Welt, mit einer Fördermenge von
grüne Energiekram nie funktionieren werde. 75 Millionen Tonnen pro Jahr. Ich habe mit
Die Welt müsse sich daran gewöhnen, dass die 18 Millionen angefangen, jetzt fördern wir
8 10 % des Gewinns werden in
Temperatur um drei Grad ansteigt, und lernen, das Energieunternehmen fast 200 Millionen Tonnen, und das ist nur
damit zu leben. Ich kam von diesem Abend- Fortescue Future Industries Eisenerz.
essen und dachte: Wir dürfen unseren Planeten investiert. 6,2 SPIEGEL: Soll heißen: Vertraut mir, ich be-
6
nicht diesen Leuten überlassen. Grüner Was- komme alles groß?
serstoff bietet der Welt die Chance, tatsächlich Forrest: Es liegt in der Natur von For­tescue,
zu null Emissionen zu kommen – statt das mit 4 Projekte schnell groß und wirtschaftlich extrem
»Net Zero«-Zielen nur rechnerisch zu erreichen. effizient zu machen.
SPIEGEL: Sehen Sie grünen Wasserstoff in ers- SPIEGEL: Sie werden oft als Elon Musk der
ter Linie als vielversprechendes Geschäft – 2 Energiebranche bezeichnet. Verstehen Sie
oder beruhigen Sie damit Ihr Gewissen? das als Kompliment oder als Beleidigung?
Forrest: Gemessen am Umsatz stößt die Forrest: Ich will Elon Musk nicht schlecht-
Fortes­cue Metals Group weniger CO2 aus als 0 machen. Ich versuche einfach, ein nützliches
2010 2014 2018 2022 Leben zu führen und ab und zu ein bisschen
Das Gespräch führte die Redakteurin Isabell Hülsen. S Quellen: Refinitiv, Unternehmen Zeit zu haben, es zu genießen.


70 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


WIRTSCHAFT

David Dare Parker / The NewYorkTimes / Redux / laif


Unternehmer Forrest
auf dem Gelände der
Eisenerzmine Solomon
in Westaustralien

SPIEGEL: Ihre Kritiker meinen, Sie SPIEGEL: Um Ihre angekündigten der Preis ist vor allem eine Frage von
seien ähnlich wie Musk ein Meister 15 Millionen Tonnen Wasserstoff zu Größe.
großspuriger Ankündigungen. Ihre produzieren, brauchen Sie Unmengen SPIEGEL: Sie meinen, wenn Sie erst
Fans sagen, wie Musk stellten Sie al- grüner Energie, etwa 200 Gigawatt mal in riesigen Mengen produzieren,
les infrage und akzeptierten ein Nein Kapazität bis 2030 – das ist beinahe sinkt der Preis automatisch?
nicht als Antwort. so viel, wie 2021 weltweit installiert Forrest: Niemand hat bisher Wasser-
Forrest: Ich kann doch ein Nein nicht wurde. Wo wollen Sie so viel Ökostrom stoff in großen Mengen hergestellt,
als Antwort akzeptieren. Ihre Kinder, herbekommen? wir werden der Welt beweisen, dass
meine Kinder und all deren Kinder Forrest: Wir sind in 70 Ländern unter- das möglich ist. Und dann sinken
werden sonst eine Erde erben, die ver- wegs gewesen, um herauszufinden, auch die Preise. Der technologische
ödet. Wir können es uns nicht leisten, wo große Mengen erneuerbarer Ener- Fortschritt hilft zusätzlich. Die Kosten
diese Schritte nicht zu gehen. Ich habe gie verfügbar sind, aber keine Kun- für grünen Wasserstoff werden bis
eine Gruppe gleich gesinnter Kämpfer den – also Städte oder Fabriken in der 2030 um 75 Prozent sinken, vor allem
um mich herum, wir haben ein riesi- Nähe –, an die der Strom verkauft weil die Elektrolyseure deutlich grö-
ges indus­trielles Erbe, ein supererfolg- werden könnte. So bekommen wir ßer und effizienter werden. Und wir
reiches Unternehmen, ein fabelhaftes den niedrigsten Preis. Wir waren in wissen, dass wir genug Kunden haben,
Management – das sollte herausge- Afrika, im Nahen Osten, in Zentral- die grün produzieren wollen, um dem
fordert werden, etwas wirklich Nütz- asien, in Lateinamerika, wir haben Planeten keinen Schaden zuzufügen.
liches zu tun: Go Green, beweist der
Industrie, dass das geht und dass es
profitabel ist.
21,4
Milliarden
die ganze Welt bereist, um die güns-
tigsten Quellen für natürliche Strom-
erzeugung zu finden. Und wir haben
SPIEGEL: Die USA investieren mit
dem Inflation Reduction Act (IRA)
massiv in grüne Energie, die EU be-
SPIEGEL: Als Kind haben Sie stark ge- weit mehr gefunden, als die Welt je- fürchtet, dass dadurch I­ nvestitionen,
stottert. Sie haben das aus eigener US-Dollar mals verbrauchen wird. insbesondere im Wasserstoffsektor,
Kraft überwunden und sich als junger SPIEGEL: Bis vor Kurzem waren die aus Europa abgezogen werden. Sind
Börsenmakler den Spitznamen »Sil- Gas­preise so hoch, dass der daraus her- diese Befürchtungen gerechtfertigt?
berzunge« erarbeitet – jemand, der
Vermögen gestellte konventionelle Wasserstoff Forrest: Die Angst ist absolut berech-
andere überzeugt. Ziehen Sie daraus machen teurer war als grüner. Jetzt sind die tigt, aber die Perspektive ist die fal-
die Gewissheit zu schaffen, was Ihnen Forrest zum Gaspreise wieder gesunken. Wie wol- sche: Es braucht makroökonomische
niemand zutraut? len Sie da wettbewerbsfähig werden? Hebel, damit die Welt aufhört, sich
Forrest: Gute Führung ist die Fähigkeit, zweitreichs- Forrest: Um den Preis mache ich mir selbst zu zerstören. Der IRA ist ein
eine Vision zu vermitteln, von der die ten ­Menschen gar keine Sorgen. Wir könnten jeden solcher Hebel. Die Europäer sollten
Leute sagen: Ja, das funktioniert. Tropfen Wasserstoff oder Ammoniak aufhören, mit den USA darüber zu
Wenn Sie das als Silberzunge bezeich-
Australiens. verkaufen. Noch mal: Das Angebot streiten, dass Biden die grüne Wende
nen, dann bin ich damit einverstanden. Quelle: Forbes ist klein, die Nachfrage ist riesig. Und so aggressiv subventioniert. Nicht

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 71


WIRTSCHAFT

Nordamerika ist unsere Konkurrenz, sondern te Weg ist, um die grünen Moleküle zu trans- ziert, das CO2 abgeschieden und zurückver-
die fossile Industrie, ein Multitrillionen-Dol- portieren, können wir keinen festen ­Vertrag schifft. Die Technologie ist noch recht neu,
lar-Markt, der unseren Planeten kaputt macht. unterschreiben. Das sind technische Fragen. aber sie funktioniert und ermöglicht es, die
Anstatt also mit den USA zu debattieren, soll- SPIEGEL: Die Sie bald lösen müssen. Das erste existierende fossile LNG-Infrastruktur über-
te Europa einfach selbst alle Hebel in Bewe- Schiff mit grünem Wasserstoff soll 2024 hier all auf der Welt zu nutzen.
gung setzen. Die Leute betteln doch darum, ankommen. SPIEGEL: Ließe sich der ganze Aufwand nicht
von fossilen Brennstoffen loszukommen. Forrest: Ja, die Zeit ist knapp. Die Teams ha- reduzieren, wenn der Wasserstoff nicht zur
Sie brauchen nur etwas, was sie schnell ins ben sich im letzten Dreivierteljahr einmal im Industrie transportiert würde, sondern die
Handeln bringt. Monat getroffen. Das ist für uns ein 35-Mil- Industrie dorthin verlagert würde, wo der
SPIEGEL: Das heißt, die EU sollte vor allem liarden-US-Dollar-Investment, wir nehmen Wasserstoff billig ist?
eine Menge Geld auf den Markt werfen? das wirklich ernst. Forrest: Das wäre bestimmt effizienter, nur
Forrest: Wenn die EU clever ist, beobachtet sie SPIEGEL: Der Markt kommt in Deutschland hilft das der europäischen und der deutschen
jetzt genau, was in Amerika passiert. Die USA und der EU schwer in Gang, auch weil es an Wirtschaft nicht unbedingt. Und wir müssten
gehen gerade ins Risiko, und die EU kann sich Infrastruktur fehlt, an Häfen und Pipelines. immer noch Wasserstoff nach Europa bringen.
anschauen, was ökonomisch funktioniert und Was braucht es aus Ihrer Sicht am drin­ Wenn die Menschen hier nachhaltig leben
was nicht – und das Modell dann kopieren. Ich gendsten? wollen, brauchen sie grüne Elektronen und
gehe davon aus, dass die USA die Summe, die Forrest: Ich habe einiges Vertrauen in Deutsch- grüne Moleküle.
da gerade an Steuerhilfen und Subventionen land. Ich meine, Sie halten doch den Welt- SPIEGEL: Es könnten zumindest Vorprodukte
fließt, alle drei bis vier Jahre in Form von wirt- rekord für den schnellsten Bau eines LNG- im Nahen Osten oder in Nordafrika herge-
schaftlichem Wachstum und zusätzlichen Steu­ Import-Terminals. stellt werden.
ereinnahmen zurückbekommen. Das wird ein SPIEGEL: Sie hoffen, dass sich diese Geschwin- Forrest: In den Industriestaaten wurden be-
großartiges Investment für die US-Regierung. digkeit, die dem Ukrainekrieg und der Angst reits Hunderte Milliarden Dollar an Infra-
SPIEGEL: In Deutschland haben Sie mit dem um Versorgungssicherheit geschuldet war, struktur verbaut. Das woanders zu wieder-
Energiekonzern E.on vereinbart, dass Sie bis wiederholen lässt? holen würde 10 oder 20 Jahre kosten und
2030 fünf Millionen Tonnen grünen Wasser- Forrest: Das ist von nationalem Interesse, und noch mal Hunderte Milliarden. Die Trans-
stoff nach Europa liefern. Einen bindenden wir versuchen gerade, das zu wiederholen. portkosten sind dagegen gering, viel niedriger
Vertrag gibt es bis heute nicht. Warum nicht? Wir haben ein Co-Investment mit dem als bei fossilen Brennstoffen, sodass das kein
Forrest: Das liegt nicht am fehlenden Willen deutsch-niederländischen Unternehmen TES, großer Aufwand ist. Und wenn wir Wasser-
beider Seiten. Sondern daran, dass einzelne um eine Importanlage für LNG und grünen stoff irgendwann mit einem großen Schiff, wie
Schritte in der Lieferkette noch optimiert wer- Wasserstoff in Wilhelmshaven zu bauen. Die wir es gerade entwerfen, hierher bringen,
den müssen. Bis wir genau sagen können, ob wird pünktlich fertig. Wir werden dort Was- dann ist auch die Reise grün.
wir reinen Wasserstoff verschiffen oder Ammo- serstoff in Form von tiefgekühltem flüssigem SPIEGEL: Herr Forrest, wir danken Ihnen für
niak oder Methan, und welches der effizientes- Methan anlanden. Das Methan wird regasifi- dieses Gespräch. n

mehr
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WIRTSCHAFT

Niels Nauhauser von der Verbraucher­


zentrale Baden-Württemberg.
Auch die Gesellschaft als Ganzes
guckt in die Röhre. Denn das Geld, das
die Banken kassieren, fehlt bei den Ge­

Mit bestem Gruß von


winnen, die die Notenbanken an die
Staatshaushalte abführen. »Das ist ein
massiver Transfer von Geld, das den
Steuerzahlern zusteht, hin zu Banken«,

Madame Lagarde urteilt De Grauwe. 2022 fuhr die EZB


bereits 1,6 Milliarden Euro Verlust ein
und muss ihre Risikovorsorge anzapfen.
Er ist dafür, die Mindestreserve,
ANALYSE  Die Zinswende beschert den Banken satte Extragewinne – risikolos. die Banken bei der EZB hinterlegen
müssen, zu erhöhen und nicht mehr
zu verzinsen. Ein Vorschlag, den der

D
er digitale Jubelschrei war recht Ökonom Peter Bofinger ablehnt. »Die
putzig. »Jaaaaa! Wir sind wie­ Banken würden Guthaben, die Kun­
der im Dax!«, trompetete kürz­ den bei ihr halten, zu Niederlassun­
lich eine Angestellte der teilstaat­ gen außerhalb des Euroraums trans­
lichen Commerzbank auf LinkedIn, ferieren, vor allem nach London, wo
der Social-Media-Plattform für die es keine Mindestreserve gibt.«
großen Gefühle des Berufslebens. An­ Die Banken rechtfertigen ihre
lass der Ekstase war der Wiederauf­ Hartleibigkeit damit, dass sie jahre­
stieg in den Deutschen Aktienindex lang für die Niedrigzinspolitik der
(Dax). Den hatte die Bank 2018 ver­ EZB gebüßt und auf ihre Einlagen
lassen müssen, um einer gewissen Strafgeld gezahlt hätten. Das stimmt,
Wirecard AG den Vortritt zu lassen. aber nur teilweise: an vermögende
Jetzt endet die Zweitklassigkeit – Kunden gaben sie die Strafzinsen wei­
vor allem dank günstiger Umstände, ter; zudem übersteigen die heutigen

Thomas Pirot / laif


zu denen die Commerzbank nichts Zinsgewinne laut Barkow Consulting
beigetragen hat. So umfasst der Dax die Verluste von 16,1 Milliarden Euro,
heute 40 Unternehmen, nicht mehr die zwischen 2014 bis 2021 angehäuft
30 wie früher; er ist also weniger ex­ wurden, inzwischen bereits deutlich.
klusiv. Zudem wurde ein Index-Platz bewegung Finanzwende ausgerech­ EZB-Präsidentin Die Sparkassen argumentieren mit
frei, weil sich mit dem Industriegase- net. Ein »Free Lunch«, wie es ihn der Lagarde einer angeblichen »Langfristkultur«
Produzenten Linde der wertvollste Theorie nach gar nicht geben dürfte. bei den Krediten hierzulande. Das
deutsche Konzern gen New Yorker Die Summen werden steigen. Die schließe aus, »dass die Einlagenzinsen
Börse verabschiedete; eine Blamage EZB wird im März die Einlagenzinsen ebenso schnell wie die Leitzinsen stei­
für den Finanzplatz Frankfurt. auf 3,0 Prozent anheben; weitere gen können«. Komisch nur, dass die
Vor allem profitiert das Institut Schritte dürften inflationsbedingt fol­ Kosten der Baufinanzierung ähnlich
von einer Mitgift der Europäischen gen. Dass der anstrengungslose Son­ schnell und massiv stiegen wie die
Zentralbank (EZB), die die Gewinne dergewinn der Commerzbank 2022 Leitzinsen, während die Sparzinsen
der Finanzbranche und deren Aktien substanziell ausgefallen sein dürfte, der Kunden wie festgefroren scheinen.
beflügelt. Das Haus von Christine wird schon daran deutlich, dass sie im Die Institute setzen offenbar auf die
­Lagarde bietet attraktive Zinsen auf eigentlichen Kreditgeschäft eher sta­ Trägheit der Kunden – gerade die Deut­
Einlagen, die Geschäftsbanken bei gnierte, Tausende Kunden verlor – schen sind in Gelddingen enorm behä­
der EZB hinterlegt haben. Sie belau­ und trotzdem den Zinsüberschuss big. »Zins-Hopping« von Bank zu Bank
fen sich aktuell auf 4,3 Billionen Euro. 2022 von 4,8 Milliarden auf 6,5 Mil­ machen die wenigsten. Das erklärt,
Der sagenhafte Betrag ist das Er­ liarden Euro steigern konnte. Der Back in wieso die Institute keinen Wettlauf um
gebnis der Krisenpolitik der EZB, über Gewinnsprung beflügelte die Aktie Business Kundeneinlagen starten. Nur wenige
die sich Banker sonst gern in Rage re­ und sicherte die Dax-Rückkehr. buhlen mit attraktiven Tagesgeldzin­
den. Die Notenbank hatte am Kapital­ Die Kunden der Banken haben we­ Tagesgeldmarge* sen um Neukunden, etwa Trade Repu­
markt jahrelang Staatsanleihen auf­ nig von der »Subvention«, wie Paul deutscher Banken, in blic. Wobei der Onlinebroker es nur
Prozent
gekauft, um die Schuldenlast der Euro­ De Grauwe von der London School of am ­Rande auf Zins-Hopper abgesehen
staaten zu drücken. Verkäufer waren Economics den Einlagenzins nennt. 3
hat, er setzt auf Wertpapieranleger.
zumeist private Großbanken, seltener So liegt der Tagesgeldzins aktuell im Dass sich die Lage grundlegend
Sparkassen und Volksbanken. Schnitt bei etwa 0,6 Prozent. Laut dem 2 ändert, ist nicht zu erwarten. Immer­
Den Erlös, den sie von der EZB für Research-Haus Barkow Consulting hin, die Commerzbank, die Tagesgeld
1
den Verkauf ihrer Anleihen erhielten, zahlen mehr als 80 Prozent der Spar­ bis jetzt mit 0,25 Prozent vergütet,
haben sie wieder bei der Zentralbank kassen gar keinen Tagesgeldzins – die 0 wird den Satz in Kürze auf 0,4 Pro­
geparkt, seit der Zinswende zu statt­ Banken geben die Zins­wende kaum zent anheben. Weil die EZB den Ein­
lichen Konditionen: aktuell 2,5 Pro­ an Sparer weiter, dafür explodiert ihre −1 lagenzins mindestens auf 3,0 Prozent
2000 2023
zent. Das spült Europas Banken jähr­ Gewinnmarge (siehe Grafik). »Ange­ hochschraubt, bleibt das Zinsspiel für
lich 115 Milliarden Euro risikolose sichts der Schere könnte sich für das * durchschnittlicher Inter- Banken aber ein einträgliches Ge­
bankenzins abzüglich durch-
Übergewinne in die Kassen. Allein Bundeskartellamt die Frage aufdrän­ schnittlicher Tagesgeldzins schäft. Und das auch noch risikolos.
für Privatkunden
deutsche Adressen profitierten mit gen, ob unzulässige Preisabsprachen S Quelle: Barkow Consulting;
Da fällt das Jubeln leicht.
25 Milliarden Euro, hat die Bürger­ den Wettbewerb aushöhlen«, sagt Stand: 31. Dez. 2022 Tim Bartz n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 73


AUSLAND
Ukrainian Presidential Press Office / AP / dpa

Starke Geste vor dem ersten Jahrestag des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine: US-Präsident Joe Biden hat am Montag zum ersten Mal seit
der Invasion das Land besucht. »Ein Jahr danach hält Kiew stand. Und die Ukraine hält stand. Die Demokratie hält stand«, sagte er. Zum
Abschied umarmten sich Biden und sein ukrainischer Amtskollege Wolodymyr Selenskyj an der Gedenkmauer für die gefallenen Verteidiger.
­Selenskyj nannte den Besuch »Historisch. Rechtzeitig. Mutig.« Und: »Ein äußerst wichtiges Zeichen der Unterstützung für alle Ukrainer.«

Teherans Geiseldiplomatie
­ önigreich wiederbeleben möchte. Er war Sprecher dieser Orga-
K
nisation. Das Regime in Teheran wirft ihm die Mitverantwortung
für die Planung von Terroranschlägen in Iran vor. Sharmahds
­Familie hat die Vorwürfe bestritten, doch eine Unschuldsvermu-
ANALYSE   Mit dem Todesurteil gegen einen
tung existiert in diesem Fall nicht.
Deutsch-Iraner wollen die Mullahs offenbar Druck Das Urteil kam genau einen Tag nachdem neue EU-Sanktio-
auf Berlin ausüben. nen gegen Vertreter des iranischen Regimes in Kraft getreten wa-
ren – sie waren als Reaktion auf die brutale Repression der Pro-
​ ichts an dem Prozess gegen den Deutsch-Iraner Jamshid
N teste in Iran verhängt worden. Europäische Politiker, unter ihnen
­Sharmahd erweckte einen Anschein von Rechtsstaatlichkeit. Baerbock, haben das Regime wiederholt scharf kritisiert.
Der 67-Jährige war 2020 in einer Geheimdienstoperation Irans Regime hat eine lange Geschichte der sogenannten Geisel-
aus Dubai entführt worden, seither ist er in Iran inhaftiert. Die diplomatie. Mit der Inhaftierung von Doppelstaatlern hat es in
Familie des Dissidenten kann nur sporadisch mit ihm telefo­ der Vergangenheit etwa versucht, eigene Gefangene im Ausland
nieren. Höchstwahrscheinlich wurde er unter Folter zu einem freizubekommen oder eingefrorene Vermögen freizupressen.
Geständnis gezwungen. Zugleich macht das Regime auch im Ausland Jagd auf Oppositio-
Jetzt hat ihn ein Revolutionsgericht in Teheran zum Tode nelle und Kritiker. So wurde 2019 der Aktivist Ruhollah Zam,
­verurteilt. Außenministerin Annalena Baerbock kündigte der im französischen Exil lebte, bei einem Besuch im Irak ent-
eine »deutliche Reaktion« an, die vorerst darin bestand, dass führt, nach Iran gebracht, und später dort hingerichtet.
Deutschland den iranischen Gesandten einbestellt und zwei Mit dem Urteil gegen Sharmahd scheint Teheran vor allem
­Diplomaten als unerwünschte Personen deklariert hat. zwei Dinge zu bezwecken: Druck auf Deutschland und andere
Sharmahd, der von 2003 an in den USA lebte, engagierte westliche Länder einerseits, die Einschüchterung der iranischen
sich für Tondar, eine Oppositionsgruppe, die das iranische Oppositionellen im Exil andererseits. Monika Bolliger

74 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


Kinderlos in Korea niedriger. Paare heiraten immer Wandel hin zu einer Gesell- »Kim Jiyoung, geboren 1982«
später, viele entscheiden sich schaft, die Frauen wertschätzt hat die Autorin Cho Nam-joo
In der südkoreanischen Haupt- gegen Familie – auch wegen der und sie als Mütter unterstützt. am Beispiel ihrer Protagonistin
stadt Seoul gibt es Kinder- hohen Wohnungspreise und Bil- Laut dem britischen »Econo- nachgezeichnet, wie Frauen
­mu­seen, Familiencafés und ein- dungskosten. Die Regierung re- mist« hat das patriarchal ge- ihr Leben lang in Familie und
ladende Spielplätze. Nur an agiert mit teuren Förderpaketen; prägte Südkorea unter 29 Län- Beruf benachteiligt und diskri-
­Kindern mangelt es. Die Ge- mehr als 200 Milliarden US- dern die schlechtesten Bedin- miniert werden. Das Buch wur-
burtenrate hat ein Rekordtief Dollar wurden in den vergange- gungen für arbeitende Frauen. de zum Bestseller. Erst wenn
erreicht. 0,78 Kinder bekommt nen 16 Jahren ausgegeben. Wenn sie ein Kind bekom- sich die sozialen Strukturen in
jede Südkoreanerin im Durch- Doch Geld allein, glauben men, müssen viele ihren Job ihrer Heimat änderten, hat
schnitt, meldet das nationale viele Südkoreanerinnen, wird aufgeben – für hoch qualifizier- Cho in einem Interview gesagt,
Statistikamt. Nirgends auf der das Problem nicht lösen. Sie te Südkoreanerinnen keine »können wir es mehr genießen,
Welt ist die Fruchtbarkeitsrate fordern einen grundlegenden gute Option. In ihrem Roman Kinder zu haben«. KGP

»Das Versagen verbergen«


TÜRKEI  Wohl im Juni wird gewählt – verschlechtern
die Erdbeben Erdoğans Chancen?

Özer Sencar, 75, ist Sencar: Die Regierung scheint


Gründer und Chef im Krisenmanagement nicht er-
des türkischen Um- folgreich zu sein. Sie versucht,

Rebecca Langard / SIPA / action press


frageinstituts Me- dieses Versagen vor der Öffent-
Medyascope

tropoll. Hier erzählt lichkeit zu verbergen. Sie be-


er, warum die Regie- tont zum Beispiel, dass ein sol-
rung nach dem Erdbeben Stim- ches Erdbeben überall auf der
men verlieren dürfte – und am Welt große Zerstörungen hätte
Ende trotzdem siegen könnte. anrichten können und dass auch
andere Regierungen deshalb
SPIEGEL: Herr Sencar, wie wird nach einem solchen Erdbeben
sich die Erdbebenkatastrophe in hilflos gewesen wären. Protest gegen Macrons Rentenreform in Paris
der Türkei auf die Präsident- SPIEGEL: Glauben Sie, dass die
schafts- und Parlamentswahlen Wähler Erdoğans AKP abstra- Plötzlich Während Abgeordnete des
auswirken? fen werden? Linksbündnisses NUPES laut
Sencar: Zum jetzigen Zeitpunkt Sencar: Wir werden bei der ers- staatstragend im Parlament herumkrakeelten,
ist es verfrüht, die Frage zu ten Umfrage nach den Erdbe- Noch ist vollkommen unklar, den Arbeitsminister einen
­stellen. Es kann sein, dass Sie ben sehen, dass die AKP Stim- wie der Streit um die geplante »Mörder« nannten und sich
keine Antwort bekommen men verlieren wird. Wie sehr, Rentenreform der französischen zahlreiche Zurechtweisungen
oder die Leute unwirsch reagie- hängt davon ab, wie weit die Regierung ausgehen wird. Fest einfingen, distanzierten sich die
ren. Sie sind mit den Erdbeben Regierung und die Opposition steht aber schon jetzt: Eine Par- stets in Kostüm oder Krawatte
beschäftigt, sie sind traurig. es schaffen, ihre Sicht auf das tei hat besonders von den laut- und Anzug auftretenden
SPIEGEL: Wie war die Stimmung Erdbeben und seine Schäden in starken Parlamentsdebatten der Rechtspopulisten sichtlich vom
vor den Erdbeben? die öffentliche Meinung zu tra- vergangenen Wochen profitiert. Geschrei der Konkurrenz.
Sencar: Unsere letzte Unter­ gen. Wenn es der Opposition Laut einer Umfrage des Insti- Die Abgeordneten des
suchung stammt vom Januar. gelingt, die mangelnde Vorbe- tuts Ifop-Fiducial konnte sich ­NUPES würden sich wie eine
Die Allianz von Präsident reitung wirksam zur Sprache zu die rechtspopulistische Partei Horde wild gewordener Punks
­Recep Tayyip Erdoğan kam auf bringen, wird sich das auf die Rassemblement National (RN) in einem besetzten Haus ver­
47 Prozent der Stimmen, das Wählergunst niederschlagen. beim Streit um die Reform halten, kritisierte ein um Würde
Wahlbündnis der Opposition SPIEGEL: Kann es passieren, als glaubwürdigste Kraft der bemühter RN-Parteichef in
auf 38 Prozent. dass die Wahlen wegen der Ka- Opposition profilieren. 37 Pro- einem Fernsehinterview diese
SPIEGEL: Gehen Sie davon aus, tastrophe verschoben werden? zent der Befragten haben Woche. Der erst 27-jährige RN-
dass die Erdbeben dieses Bild Sencar: Die Regierung fährt demnach eine »gute Meinung« Vorsitzende, Jordan Bardella,
verändern werden? ­bereits seit Juli 2022 eine sehr von der prominentesten RN- steht laut Ifop-Umfrage auf der
umfassende Wahlkampagne, Vertreterin, Marine Le Pen. Beliebtheitsliste französischer
die sie mit Krediten aus dem Damit liegt Le Pen nur einen Politikerinnen und Politiker auf
Ausland finanziert. Es wäre Prozentpunkt hinter Präsident Platz 16, gerade einmal zwei
außerordentlich schwierig, die- Emmanuel ­Macron und rückt Plätze hinter Premierministerin
se ­Finanzierung für eine auf unter die Top Ten der beliebtes- Élisabeth Borne. Ihr hat Macron
Yusuf Sayman / DER SPIEGEL

den Herbst oder später ver- ten französischen Politikerinnen bisher die Umsetzung der Ren-
schobene Wahl aufrechtzuer­ und Politiker auf. tenreform überlassen. Der
hal­ten. Kurzum, ich erwarte Der Erfolg des RN geht auch Linkspopulist und NUPES-Mit-
nicht, dass Erdoğan die Wahlen auf die Strategie der neuen Par- begründer Jean-Luc Mélenchon,
verschiebt – er glaubt, dass er teiführung zurück, sich als der die Proteste im Parlament
die Wahlen trotz des Erdbebens glaubwürdige, seriöse politische anführte, liegt hingegen abge-
Erdoğan-Plakat in Antakya gewinnen kann. ÖT Alternative zu positionieren. schlagen auf Platz 20. BSA

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 75


AUSLAND

Im Schleppnetz
ÜBERWACHUNG  Einbrüche, Diebstähle, Abhöraktionen: In der Unterstützerszene des WikiLeaks-Gründers
Julian Assange häufen sich seit Jahren die Merkwürdigkeiten. Wer dahintersteckt,
ist unklar – aber die Betroffenen haben ihre Vermutungen. Von Jörg Schindler und Jens Glüsing

Paula Winkler / DER SPIEGEL


1

Dukas / Universal Images / Getty Images


Justin Tallis / AFP

2 3

76 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


AUSLAND

D
as Implantat ist etwa vier mal Im Visier: terungen und sogar mutmaßliche das »Afghan War Diary« und die
sechs Zentimeter groß, goldum- 1 | IT-Sicherheits­ Morddrohungen. Mal kam einer An- »Iraq War Logs«. Letzteres eine
randet und enthält eine einge- experte Müller-Maguhn wältin in London der Laptop abhan- Sammlung von gut 390 000 Geheim-
2 | WikiLeaks-Gründer
schweißte Doppelbatterie. Es steckte Assange auf Postern,
den, mal wurden einer Journalistin, die dokumenten aus dem 2003 begonne-
auf der Platine eines – eigentlich – ab- Ansteckern und über Assanges Fall recherchierte, me- nen Irakkrieg, das größte Datenleck
hörsicheren Krypto-Telefons, versehen Broschüren dizinische Daten gestohlen. In die in der US-Militärgeschichte.
mit einem Edelstahldeckel, darauf die 3 | Ecuadorianische Kanzlei von Assanges spanischen Ver- Es kommt noch schlimmer für die
Seriennummer 0 317410-03 311. Botschaft London teidigern wurde auf bizarre Weise ein- Regierung Barack Obamas, als der
»Wie ordentlich die gelötet ha- gebrochen. In Ecuador wird ein schwe- Whistleblower Edward Snowden drei
ben«, sagt Andy Müller-Maguhn, als discher Softwareentwickler seit fast Jahre später das ganze Ausmaß des
er Fotos des Implantats, eines soge- vier Jahren unter fadenscheinigen weltumspannenden US-Überwa-
nannten Field Programmable Gate Gründen im Land festgehalten. An- chungsapparats offenlegt. Snowden
Array, auf seinem Computer zeigt. Es derswo berichteten Assange-Unterstüt- handelt zwar auf eigene Faust, bei
sei ausgestattet mit Chips aus US-Pro- zer, die anonym bleiben wollen, von seiner Flucht, die ihn über Hongkong
duktion und mit einem Frequenz­ ähnlichen gespenstischen Vorfällen. nach Moskau führt, hilft ihm jedoch
ortungsgerät nicht aufzuspüren. Dass sie im Zusammenhang mitei- eine Mitarbeiterin von WikiLeaks.
Er hat es durch Zufall in seiner nander stehen, lässt sich nicht belegen. Julian Assange wird damit endgültig
Wohnung in Südostasien entdeckt, Auch konnten in keinem Fall zweifels- zum Staatsfeind der USA.
versteckt in einem stationären Tele- frei die Urheber ermittelt werden. Es Der Australier lebt zu diesem Zeit-
fon, über das er früher etliche Male könnte sich um Zufälle handeln. »Aber punkt in der ecuadorianischen Bot-
mit Julian Assange und Journalisten wer soll das glauben?«, fragt Assanges schaft in London, wohin er 2012 ge-
aus aller Welt sprach. »Die waren in Anwalt Aitor Martínez. Er glaubt eher flohen ist, um sich einer etwaigen
meinen Privaträumen – das fühlt sich, an eine konzertierte Kampagne von Abschiebung in die USA zu entzie-
ehrlich gesagt, nicht so toll an.« US-Behörden, deren oft zweifelhafte hen. Der damalige Vizepräsident Joe
Müller-Maguhn hat gezögert, so Methoden WikiLeaks etliche Male of- Biden nannte ihn einen »Hightech-
ausführlich mit dem SPIEGEL zu spre- fengelegt hat. »Es ist eine Vendetta Terroristen«.
chen, für den er seit Jahren als freier gegen Julian Assange«, sagt der Spa- Während Obamas Regierung
Mitarbeiter tätig ist. Edward Snowden, nier. Und im Fokus stünden nicht nur Whistleblower wie Chelsea Manning
die NSA, die CIA, der BND: Unter Weggefährten und Familienmitglieder und Edward Snowden mit aller Härte
etlichen Artikeln stand der Name des von Assange, sondern auch Anwälte des Gesetzes verfolgt, steht sie bei
51-Jährigen, der einst Sprecher des und Journalisten, die von Gesetzes WikiLeaks vor einem Problem. As-
Chaos Computer Clubs war. Er kennt wegen besonders vor Abhörmaßnah- sange hat seine Plattform beizeiten
sich bestens aus mit Überwachung. men geschützt sein sollten. als Medienunternehmen registrieren
Seit er selbst überwacht zu werden Eindeutige Beweise für ihre Vor- lassen und sich selbst zum Chefredak-
scheint, ist er vorsichtig geworden. würfe haben weder Martínez noch teur ausgerufen; er wurde mit Jour-
Zumal vieles darauf hindeutet, dass Müller-Maguhn noch andere Unter- nalistenpreisen überhäuft. Medien
die Merkwürdigkeiten in seinem Um- stützer von Julian Assange. Aber vie- genießen auch in den USA ausdrück-
feld im Zusammenhang mit einem der le Indizien, eidesstattliche Erklärun- lichen Schutz durch die Verfassung.
berühmtesten Häftlinge der Welt ste- gen, Dokumente, die ein beklemmen- Dann kommt das Jahr 2017, das in
hen: Julian Assange. Der WikiLeaks- des Bild ergeben. dieser Geschichte einen besonderen
Gründer hockt seit April 2019 in Um die Zusammenhänge besser Platz einnimmt. Es bringt im Januar
einem Londoner Hochsicherheitsge- zu verstehen, sagt Müller-Maguhn, nicht nur einen neuen Präsidenten,
fängnis und kämpft gegen seine Aus- lohne es sich, daran zu erinnern, wie ­Donald Trump, sondern auch eine
lieferung in die USA, wo ihm in einem peinigend und peinlich vergangene neue WikiLeaks-Enthüllung: »Vault 7«.
Spionageprozess bis zu 175 Jahre Haft WikiLeaks-Enthüllungen vor allem Es ist einer der größten Coups in der
drohen. Da der Rechtsweg weit fort- für die USA waren. Geschichte der Plattform, Tausende
Screenshot aus
geschritten ist, könnte sein Schicksal Botschaftsüber­
2010 veröffentlicht die Enthül- Seiten mit streng geheimen Infor­
bald besiegelt sein. wachungskamera: lungsplattform – in Kooperation mit mationen über die Überwachungs-
Das sind schlechte Nachrichten »Eine Vendetta gegen Medien wie der »New York Times«, instrumente der CIA, eine Blamage
auch für die Weggefährten Assanges, Assange« dem »Guardian« und dem SPIEGEL – für den von Trump nominierten CIA-
von denen Müller-Maguhn einer der Direktor Mike Pompeo.
profiliertesten ist. Der Deutsche ver- Und der nimmt das nicht einfach
waltet über die Wau Holland Stiftung so hin.
Spenden an WikiLeaks, er hat Assange Am 13. April 2017 redet Pompeo
regelmäßig besucht, als dieser sich vor einem Washingtoner Thinktank.
noch in der ecuadorianischen Bot- WikiLeaks, sagt er, »bewegt sich wie
schaft in London versteckte. Er wird ein feindlicher Geheimdienst und
im sogenannten Mueller-Report über spricht wie ein feindlicher Geheim-
die mutmaßliche russische Einfluss- dienst«. Die Organisation kooperiere
nahme auf die US-Präsidentschafts- mit Staaten wie Russland und sollte
wahl 2016 namentlich genannt. Ins daher auch wie ein feindlicher Ge-
Vereinigte Königreich oder die Ver- heimdienst eingestuft werden.
einigten Staaten reist Müller-Maguhn Pompeos Ausführungen sind nicht
schon lange nicht mehr. nur rhetorisch bemerkenswert, son-
Der Deutsche ist nicht der Einzige dern auch juristisch bedeutsam. Mit
aus dem Dunstkreis von WikiLeaks, der Umdefinition von WikiLeaks zum
der seit Jahren sonderbare Dinge er- Geheimdienst ermöglicht er es seiner
lebt. Darunter Einbrüche, Einschüch- CIA, fortan viel härter gegen die Or-

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 77


AUSLAND

ganisation vorzugehen. Jeder, der zu nah dran schüchterungsüberwachung«. Mit »wir«


ist an Assange, ist damit potenziell Freiwild. meint er US-Geheimdienste und deren Ver-
Unter Verweis auf US-Geheimdienstquel- bündete. Er hat einmal gelesen, dass es zu den
len berichtet ein Investigativteam von Yahoo Methoden des britischen Geheimdienstes MI6
News Jahre später, Pompeo habe seinen Leu- gehöre, gegnerische Individuen in ein »Sta-
ten gesagt, es gebe »keine Grenzen«. Man dium der Verzweiflung« zu treiben. Bei ihm
habe die Totalüberwachung von WikiLeaks selbst sei das noch nicht gelungen, sagt Müller-
diskutiert, erwogen, Assange zu entführen Maguhn halb belustigt. Aber er kenne Men-
oder gar zu töten. Pompeo weist das zurück, schen, die näher dran seien zu verzagen.
räumt aber auch ein, »Teile« des Yahoo-­ Einer davon lebt seit fast vier Jahren gegen
Artikels seien »wahr«. Der 59-Jährige, der es seinen Willen gut 10 000 Kilometer entfernt

Eric Thayer / REUTERS


unter Trump bis zum Außenminister brachte, von Berlin – in Ecuadors Hauptstadt Quito.
gilt heute als möglicher Präsidentschafts­ Ola Bini erzählt, dass er im Park oft beim
bewerber für die Wahlen 2024. Joggen diese Männer gesehen habe, angezogen
Was damals noch niemand weiß: Julian As- Pompeo wie normale Spaziergänger, aber mit durch-
sange kann in seinem Botschaftsexil in Knights- trainiertem Körper und Sprechfunkgeräten. Vor
bridge fortan nichts mehr tun, ohne dabei aus- seiner Haustür habe oft ein Polizeiauto geparkt;
spioniert zu werden. Die für die Botschaft zu- hatte, die er nie angewählt habe. Müller-­ einmal fotografierte er einen Wagen, aus dessen
ständige spanische Sicherheitsfirma UC Global Maguhn vermutet, man habe ihm einen Troja- Hinterfenster eine Antenne ragte, die auf seine
späht den berühmten Gast offenbar rund um ner untergejubelt. Beweisen kann er es nicht. Wohnung gerichtet gewesen sei. »Ich weiß nicht,
die Uhr aus – angeblich im Auftrag der CIA. Die Im Herbst 2020 schickt er Unterlagen ver- wozu meine Gegner fähig sind«, sagt Bini, als
Vorwürfe, die die Firma bestreitet, haben drei siegelt und per Express an einen Anwalt im er an einem Sonntagmorgen mit dem Rad zum
ehemalige UC-Global-Bedienstete erhoben; so Ausland. Statt über Nacht kommt die Post Gespräch in ein Café in Quito kommt. Leib-
stehen die Anschuldigungen auch in einer ­Klage erst drei Tage später unversiegelt an. Die wächter begleiten ihn, sie seien ihm von einer
gegen die CIA, die vier amerikanische Journa- DHL erklärt ihm dazu auf Nachfrage nur, Menschenrechtsorganisation gestellt worden.
listen und Anwälte im August 2022 vor einem »dass diese Sendung auf Anweisung des deut- Ola Bini ist vermutlich einer der bestüber-
New Yorker Gericht eingereicht haben. schen Zolls geöffnet worden ist«. Und kurz wachten Menschen in Ecuador. Drei oder vier
Menschen, die Assange in der Botschaft be- darauf verlässt er seine Berliner Wohnung für Sicherheitsdienste seien ihm auf den Fersen,
suchen, geraten demnach ahnungslos vor Ka- einen Einkauf, als er zurückkehrt, steckt ein sagt der 40-Jährige. Dabei hätte er auch ohne
merafallen; Kopien ihrer Pässe, Aufzeichnun- Gegenstand in seinem Türschloss, das sich die ständige Überwachung kaum eine Chance
gen privater Begegnungen gelangen in falsche nicht mehr öffnen lässt. Die Polizei vermutet zu entkommen: Jeden Freitag muss er sich
Hände. Zu den Betroffenen gehören Promi- einen Einbruchsversuch. Es ist der 3. Novem- bei der Staatsanwaltschaft melden, darf das
nente wie Yoko Ono, Pamela Anderson, Mi- ber 2020, der Tag der US-Präsidentschafts- Land nicht verlassen. »Diese Situation macht
chael Moore, aber auch Journalisten wie der wahl. »Lustiger Zufall«, sagt Müller-Maguhn. mich psychisch kaputt«, sagt er.
Snowden-Enthüller Glenn Greenwald und Mit- Jetzt reicht es ihm. Gegen Ende des Jahres Der Albtraum begann an jenem 11. April
arbeiter des SPIEGEL sowie etliche Anwälte. nimmt sich der Assange-Freund einen Anwalt 2019, als Julian Assange in London festge-
Pressefreiheit? Mandantengeheimnis? Zählen und erstattet Anzeige im Fall des Implantats nommen wurde. Ola Bini saß an diesem Nach-
in der Ära Pompeo offenbar nicht mehr überall. in seiner asiatischen Wohnung, des Trojaner- mittag im Wartesaal des Flughafens von Quito,
Und einer, für den sich die Überwacher verdachts und des versuchten Einbruchs. Die er wollte nach Tokio fliegen, um sich in einem
besonders zu interessieren scheinen, ist der womöglich manipulierten Telefone stellt er Kampfsport weiterzubilden. Polizisten nah-
deutsche Computerspezialist Andy Müller- dem Landeskriminalamt Berlin zur Verfü- men ihn in Gewahrsam.
Maguhn. Wohl nicht nur, wenn er Julian gung, ohne große Hoffnung, dass die Urheber Der Schwede ist 2013 nach Ecuador gekom-
­Assange in London besucht. identifiziert werden können. men. Er kämpft für ein freies Internet, eine
Am Anfang habe er noch an seiner Wahr- Umso größer ist seine Überraschung, als multinationale IT-Firma hatte ihn entsandt, sie
nehmung gezweifelt, sagt Müller-Maguhn ihm schließlich die Bundesanwaltschaft mit- bildeten junge Ecuadorianer in Internetsicher-
heute. Dass er bei der Einreise nach London teilt, sie habe wegen der mutmaßlichen Aus- heit aus. Er ist zwar mit Assange befreundet
stets ausgiebig befragt worden sei und ihm spähung von Telekommunikation einen Prüf- und hat ihn nach eigenen Angaben »mehr als
bei Fahrten von der Botschaft Autos gefolgt vorgang eingeleitet. Andy Müller-Maguhns 15-mal« in seinem Londoner Botschaftsasyl
seien, habe er als Teil eines Katz-und-Maus- vermeintliche Paranoia hat nun ein Akten- besucht. Zuletzt habe er im Januar oder Fe­
Spiels verstanden. Dann aber, seit Mitte 2017, zeichen: 3 ARP 692/20-3. bruar 2019 Kontakt zu Assange gehabt. Seine
hätten sich die Vorfälle gehäuft. Und mit dem »Es ging in all den Jahren darum, mich Arbeit in Ecuador habe damit jedoch nichts zu
Implantat in seinem asiatischen Krypto-Tele- überdeutlich wissen zu lassen: Wir sind hinter tun gehabt, beteuert Bini: »Ich habe nie mit
fon, das er im März 2018 entdeckte, sei eine dir her.« Müller-Maguhn nennt das »Ein- Julian Assange zusammengearbeitet, ich war
Grenze überschritten worden. nie ein Mitglied von WikiLeaks.«
Was seither folgte, habe an den »Rand der Die Behörden Ecuadors glaubten ihm
Surrealität« geführt, sagt Müller-Maguhn. Überwachtes Umfeld nicht. Dort hat sich der Wind in Sachen As-
Einmal, im Juni 2019, wartet er in Mailand Als Großbritannienkorrespondent Jörg sange gedreht, seit der linke Präsident Rafael
auf seine Frau, da entdeckt er auf der gegen- Schindler und Kollegen Assange vor Jahren Correa im Mai 2017 aus dem Amt geschieden
überliegenden Straßenseite einen »ungepfleg- in der ecua­­dorianischen Botschaft besuch- ist. Weshalb die Nachfolgeregierung von Le-
ten Typen«, der durch eine Plastiktüte ein ten, legte der WikiLeaks-Gründer einen nín Moreno den WikiLeaks-Gründer unbe-
Teleobjektiv auf ihn richtet. »Als er sieht, dass Schalter unter einer Marienstatue um: Es dingt loswerden wollte, ob und welchen Ein-
ich ihn sehe, haut er ab.« ertönte »White Noise«, das Rauschen soll fluss die USA darauf nahmen, ist seither
Einmal meldet sich die Telekom, um ihm Abhören erschweren. Dass auch Assanges Gegenstand wilder Spekulationen.
wegen des hohen Datenverbrauchs seines Umfeld von Überwachung betroffen sein Acht Stunden lang, sagt Bini, sei er am Flug-
Krypto-Handys einen neuen Vertrag anzu- könnte, erfuhr Latein­amerikakorrespondent hafen festgehalten worden, habe weder einen
bieten. Dabei nutzt er das Gerät kaum. Als Jens Glüsing in Quito. Nach dem Hinweis, Anwalt noch die schwedische Botschaft infor-
er das Handy untersuchen lässt, stellt sich dass er belauscht wer­den könnte, buchte mieren dürfen. Schließlich kam er in eine Art
heraus, dass es Verbindungen zu IP-Adressen er sein Hotel noch mal um. Untersuchungsgefängnis. »Ich wurde in eine

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AUSLAND

Zelle mit acht oder zehn Leuten ge- »Dieses Maß Ende, draußen ist es schon dunkel, einen diplomatischen Pass zu besorgen,
steckt, musste auf dem Boden schla- steht er praktisch nur noch. um ihn in ein anderes Land bringen zu
fen.« Im Gefängnis durfte er endlich an Einschüch- Es ist nicht nur Assanges zuneh- können. Nach dem Wiener Überein-
einen Anwalt empfangen. »Man be- terung habe mend verzweifelte Lage, die Martínez kommen über konsularische Beziehun-
schuldigte ihn, er würde die Regierung
destabilisieren, die Beweise würden
ich noch umtreibt. Der 41-Jährige hat persön-
lich erlebt, was es heißt, einen Staats-
gen genieße ein Diplomat Immunität,
wenn er von einem Entsendeort zum
sie nachliefern«, sagt sein Verteidiger. nie erlebt.« feind der USA zu verteidigen. Auch nächsten reist. Assanges vor der Lon-
Später warfen sie ihm einen »Angriff Aitor Martínez, bei ihm begann die Serie von Selt- doner Botschaft lauernde Häscher
auf Computersysteme« vor. Anwalt samkeiten offenbar im Frühjahr 2017, ­wären demnach, so die Theorie, zur
Als nach fast drei Monaten keine als CIA-Chef Pompeo WikiLeaks zum Untätigkeit verdammt gewesen.
Beweise vorlagen, stellte sein Anwalt feindlichen Geheimdienst erklärte. Das Außenministerium in Quito
beim Obersten Gerichtshof einen An- Martínez und seine Frau waren sei- habe den Plan akzeptiert, »wir hatten
trag auf Haftprüfung. Bini wurde in nerzeit beruflich in Paraguay. Auf einer China, Serbien, Griechenland, Kuba,
allen Punkten recht gegeben, er kam Straße in Asunción habe ein Fremder Bolivien und Venezuela als mögliche
aus dem Gefängnis. Aber die Ermitt- den Arm seiner Frau ergriffen, ihr auf Zielländer identifiziert und nie, wie
lungen liefen weiter, Bini musste bis Englisch zugeraunt: »Passen Sie auf Ihr später behauptet wurde, Russland«.
zu einem Urteilsspruch im Land blei- Mobiltelefon auf!« Im Hotel seien auf Mitte Dezember sei alles startklar ge-
ben. Sein Anwalt berichtete von ihrem Handy plötzlich 230 Screenshots wesen, der 25. sollte Tag X werden.
Morddrohungen, Freunde und Kolle- mit privaten E-Mails, SMS und Bildern Und dann, mitten in den finalen
gen seien bedrängt worden. aufgeploppt, angeblich gesendet von Fluchtplanungen, suchten Einbrecher
Im Januar 2022 begann der Pro- Martínez’ Telefon. »Als wir dann über- Martínez’ Kanzlei in Madrid heim.
zess. »Präsentieren Sie endlich Be- stürzt abreisten, folgte uns am Flug­ Noch so ein Zufall, der kaum zu
weise«, bat der genervte Richter am hafen ein Mann mit Stöpsel im Ohr, der glauben ist.
vierten Verhandlungstag die Staats- zum Abschied freundlich winkte.« Es gibt ein Video des Vorfalls, weil
anwaltschaft. Erfolglos. Schließlich Vergangenes Jahr, sagt der Anwalt, die ansonsten professionell vorgehen-
wurde der Prozess wieder und wieder sei in seiner Madrider Wohnung ein- den Einbrecher eine Überwachungs-
vertagt – bis Bini am 31. Januar dieses gebrochen worden. Gestohlen wurde kamera übersahen. Und so sieht man,
Jahres überraschend freigesprochen nichts. Das aber werde noch über- wie an jenem 17. Dezember um 2.12
wurde. Ein Happy End aber lässt wei- troffen von dem, was in der Nacht Uhr morgens drei Maskierte mit Win-
Softwareentwickler
ter auf sich warten: Da die Staatsan- Bini, von Staats­
zum 17. Dezember 2017 geschah. termänteln und Taschenlampen die
waltschaft Berufung einlegte, wird anwalt konfisziertes Assanges Anwaltsteam hatte den Kanzlei betreten und sich eilig an
dem Schweden weiterhin die Ausrei- Material: Kaum zu Plan ersonnen, dem Londoner Bot- Computern, Schränken und Schub-
se verwehrt. Am Tag nach dem Urteil, glaubende Zufälle schaftsflüchtling mit Ecuadors Hilfe laden zu schaffen machen.
sagt Bini, »hat meine Überwachung Sie scheinen etwas zu suchen –
sogar noch zugenommen«, die Men- einen Server, vermutet Martínez –,
schen, die ihn beschatteten, trügen aber nicht zu finden. Bargeld für eine
nun offen ihre Waffen. Weihnachtslotterie lassen sie liegen.
Die Verzögerungen haben unter- Nach sechs Minuten türmen sie. Doch
dessen ihren Zweck erfüllt: Die Öf- kurz bevor sich die Tür schließt,
fentlichkeit verlor allmählich das kommt einer hastig zurück, ver-
Interesse, der Staatsanwalt musste schwindet in der Kanzleiküche und
sich keinen unbequemen Nachfragen rennt schließlich mit einer Schinken-
stellen. Eine Gesprächsanfrage des keule davon. »Ein Schinken!«, ruft
Dolores Ochoa / picture alliance / AP

SPIEGEL lehnte er ab. Womöglich Martínez, »Wahnsinn!« Seine Stim-


wird sich nie klären lassen, wer die me überschlägt sich nun fast. Er weiß
Verantwortung für die vier Jahre bis heute nicht, wer die Heißhungri-
dauernde juristische Farce trägt. gen in seiner Kanzlei waren.
»Für uns steht jedoch außer Frage, Was er weiß, ist dies: »Ich habe in
dass Julian Assange, die Organisation meinem Leben viele heikle Fälle be-
WikiLeaks und alle, die Julian um- treut. Ich bin bedroht worden, manch-
geben, systematisch überwacht und mal sogar von der Polizei. Dieses Maß
eingeschüchtert werden – ob Unter- an Einschüchterung aber habe ich
stützer, Journalisten, Anwälte oder noch nie erlebt.« Nach all den Jahren
Familienmitglieder.« Aitor Martínez im WikiLeaks-Sturm zweifelt Martí-
sagt das in einem überhitzten Bespre- nez nicht daran, dass hinter den oft
chungsraum an Madrids Avenida de spurlos verübten Einbrüchen, Dieb-
State Attorney General’s Office / picture alliance / AP

Menéndez Pelayo, in der Kanzlei des stählen und Drohungen US-Geheim-


prominenten Menschenrechtsanwalts dienste und ihre Helfer stecken.
Baltasar Garzón. Und daher sei die Vorstellung so
Martínez, ein jugendlich wirken- beängstigend, dass Julian Assange
der Spanier mit grünem Pullover und tatsächlich in die USA ausgeliefert
schwarzem Bart, ist seit bald zehn werden könnte. Dort hat man zwar
Jahren Julian Assanges Rechtsvertre- immer wieder versichert, der Wiki-
ter. Während er erzählt, werden Was- Leaks-Gründer werde einen fairen
serflaschen zu Personen, Krypto- Prozess bekommen.
Handys zu Botschaftsräumen, Stifte »Aber«, sagt Martínez, »was sind
zu Kameras. Oft springt er auf, um- Versicherungen der USA nach alldem
rundet den Besprechungstisch. Am eigentlich noch wert?« n

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AUSLAND

»Die Moskauer Elite spricht


über ­Putins Ablösung«
RUSSLAND  Kaum jemand im Westen kennt die russische Führungsschicht so gut
wie die britische Journalistin Catherine Belton. Hier erklärt sie, wer ­
Zugang zum Präsidenten hat – und wann es mit ihm zu Ende gehen kann.

SPIEGEL: Frau Belton, seit Ihrem Bestseller ne Moskaus Status auf der Weltbühne wieder- SPIEGEL: Wie hat es Putin geschafft, die Elite
»Putins Netz« gelten Sie als Expertin für den herstellen. Dafür ist Putin bereit, alle Errun- auf seine Linie zu bringen?
Präsidenten und sein Umfeld. Haben Sie den genschaften der vergangenen 20 Jahre zu Belton: Das fing schon in den Achtzigerjahren
Angriff auf die Ukraine kommen sehen? opfern. während seiner Zeit als KGB-Offizier in Dres-
Belton: Nein, die Invasion hat mich wirklich SPIEGEL: Es gibt also niemanden, der ihn zum den an. Damals schuf der Geheimdienst ein
überrascht. Ich war in der Nacht auf den Frieden bewegen könnte? Netzwerk aus Tarnfirmen, um Technologie in
24. Februar 2022 zu Hause in London und Belton: Einige seiner engen Verbündeten sind die Sowjetunion zu schmuggeln. Während des
verfolgte die Entwicklungen auf Twitter. Da- nicht glücklich über die ­aktuelle Lage. Igor Zusammenbruchs der Sowjetunion sicherten
her war ich wach, als Putin um vier Uhr in Setschin, der Präsident von Rosneft, oder Ser- sich ehemalige KGB-Männer die Kontrolle
einer Rede den Krieg ankündigte. geij Tschemesow, der das staatliche Rüstungs- über ­einige strategische Wirtschaftssek­toren
SPIEGEL: Wie haben Ihre Quellen in Russland konglomerat leitet und mit dem Putin seit sei- und Geldströme. Man förderte Unternehmer
darauf reagiert? nen Dresdener Tagen befreundet ist, sehen und machte manche von sich abhängig.
Belton: Alle, mit denen ich gesprochen habe, ihre Wirtschaftsimperien wegen der Sanktio- SPIEGEL: Warum stieg aus dieser Gruppe aus-
waren ähnlich überrascht. Man war davon nen unter Druck. Aber ich fürchte, sie trauen gerechnet Putin zum Machthaber auf?
ausgegangen, dass Putin pragmatisch bleiben sich nicht, gegen den Krieg zu protestieren. Belton: Auf den ersten Blick ist das erstaunlich,
würde. Meine Quellen hatten erwartet, dass SPIEGEL: Manche Oligarchen haben vorsich- immerhin stand er in der Hierarchie des KGB
er die Unabhängigkeit von Donezk und Lu- tige Kritik geübt. Für wie glaubwürdig halten nicht besonders hoch. Laut seiner eigenen Aus-
hansk anerkennen, vielleicht auch Truppen Sie das? sagen hat er in Dresden nur sinnlose Berichte
dorthin schicken würde. Mehr aber nicht. Belton: Der Rohstoffmilliardär Roman Abra- verfasst – auch wenn er seine Rolle vielleicht
SPIEGEL: Wen haben Sie befragt? mowitsch hat sich im Frühjahr bei den geschei- kleiner redet, als sie tatsächlich war. Doch Putin
Belton: Aus meiner Zeit in Russland verfüge terten Friedensgesprächen mit der Ukraine hatte ein großes Talent.
ich über viele Kontakte. ­Einige sprechen als Vermittler angeboten. Derzeit spielt er eine SPIEGEL: Welches?
weiterhin mit mir, meist über verschlüsselte Rolle beim Gefangenenaustausch. Aber ich Belton: Er war gut darin, anderen Leuten ge-
Messenger. Es handelt sich um Beamte, di- bin mir nicht sicher, ob er sich wirklich distan- nau das vorzuspielen, was sie sehen wollten.
plomatische Kreise, Bankiers, Milliardäre. ziert hat – immerhin hat er noch einen direk- Er war ein regelrechtes Chamäleon, hielt sich
SPIEGEL: Zuletzt war zu lesen, dass Putin sich ten Kanal zu Putin. Andere Oligarchen wie im Hintergrund, gab sich bescheiden – ob-
isoliert habe. Wer hat noch Zugang zum Pjotr Awen oder Michail Fridman, die im Aus- wohl er bald nach seiner Rückkehr nach Sankt
Machthaber? land leben, haben den Krieg öffentlich als Petersburg mit seinen Freunden aus Geheim-
Belton: Putin spricht viel mit Nikolaj Patru- »Katastrophe« bezeichnet. Den Präsidenten dienst und Mafia die Wirtschaft der Stadt an
schew, dem Chef des Sicherheitsrats. Bei einer haben sie aber nicht direkt kritisiert. Sie sind sich riss. So erarbeitete er sich einen Ruf als
Ratssitzung kurz vor Kriegsbeginn schrieb er anfällig für Druck aus dem Kreml, weil sie Mann, der Probleme effizient löst.
Putin quasi vor, was zu tun ist. Er sagte, die Geschäftsinteressen in Russland haben. SPIEGEL: Aus dem Sankt Petersburger Rat-
USA nutzten die Ukraine als Plattform, um haus wurde er in den Kreml befördert …
Russland zu schwächen. Deshalb müsse man Belton: ... und gab sich auch dort bescheiden.
angreifen. Das war ungewöhnlich in einem Umfeld, in
SPIEGEL: Niemand hat widersprochen? dem jeder um den eigenen Vorteil kämpfte.
Belton: Früher befand sich Putin auf einem Also erkor Boris Jelzin ihn zum Nachfolger,
Mittelweg zwischen seinen a­ ggressiven Ge- als er infolge einer Finanzkrise, eines Beste-
heimdienstlern und den liberaleren Kräften. chungsskandals und sinkender Umfragewer-
Aber in den vergangenen zwei Jahren hat er te abtreten musste. Jelzins Leute dachten,
sich klar auf die Seite der Falken geschlagen: dass sich dieser unscheinbare Mann loyal
Tonangebend ist neben Patruschew auch Ju- verhalten und ihren liberalen Kurs fortsetzen
rij Kowaltschuk, ein mit dem KGB verbunde- würde. Das Chamäleon hatte sie getäuscht.
ner Banker, den Putin seit den frühen Tagen SPIEGEL: Was charakterisiert Putins Präsident-
in Sankt Petersburg kennt. schaft?
SPIEGEL: Wie sieht Putin die Welt? Belton: Vor allem die Verflechtung von Oli­
Phil Dera / laif

Belton: Er wirkt paranoid. Sein innerer Zirkel garchie, Geheimdienst und Organisierter Kri-
und er scheinen überzeugt, dass die USA sei- minalität. Über sein Netzwerk verfügte Putin
ne Herrschaft mit allen Mitteln untergraben. über eine Schwarzgeldkasse, mit der seine
Nur ein Sieg in der Ukraine, so glaubt er, kön- Autorin Belton Leute Medien, Gerichte und Strafverfolgungs-

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AUSLAND

behörden gefügig machten. Als die Macht im


Innern gesichert war, startete man klassische
KGB-Operationen im Ausland.
SPIEGEL: Wie das?
Belton: Putins Leute säten Uneinigkeit in den
westlichen Demokratien, indem sie Fake
News verbreiteten, Politiker bestachen und
extremistische Bewegungen unterstützten.
Zugleich erpresste man Europa mit der Ab-
hängigkeit von Öl und Gas. Einer der ersten
Orte, an dem man dieses Arsenal an KGB-
Methoden einsetzte, war die Ukraine.
SPIEGEL: Wann begann das?
Belton: Putin war schockiert, als sein kreml-

Mikhail Metzel / ZUMA Press / ddp


freundlicher Handlanger, Wiktor Januko-
wytsch, 2004 die Wahlen gegen den prowest-
lichen Wiktor Juschtschenko verlor. Also
drosselte er die Gaslieferungen durch die
­ukrainischen Pipelines, bis Juschtschenko
einen Deal akzeptierte, bei dem ein Gashänd-
ler des Kreml mutmaßlich Schmiergelder an
die ukrainische Führung weiterleitete. Damit Machthaber Putin, Veteranen bei Militärparade in Moskau: »Ein regelrechtes Chamäleon«
aber war der Präsident beschädigt und verlor
die Unterstützung der Bevölkerung. Von da Belton: Für das Frühjahr ist eine neue russi- chen einen Deal mit den USA. Allerdings bin
an mischte sich die russische Führung immer sche Offensive geplant. Zwar schickt der Wes- ich mir nicht sicher, ob ihnen über den Weg
stärker in die Ukraine ein – bis zur völker- ten Waffen, aber vielleicht kommen diese zu trauen ist.
rechtswidrigen Besetzung der Krim und dem nicht rechtzeitig an. Russland hat 143 Millio- SPIEGEL: Was kann der Westen tun, um diesen
Stellvertreterkrieg im Donbass ab 2014. nen Einwohner – die Ukraine nur rund Krieg zu beenden?
SPIEGEL: Der Krieg tobt jetzt seit einem Jahr, 40 Millionen. Was die schiere Quantität an- Belton: Es ist wichtig, dass der Westen weiter-
Hunderttausende Soldaten sind tot oder geht, wird Putin gewinnen. Er scheint bereit, hin überlegene Waffentechnik liefert. Ich
­verletzt, das Uno-Hochkommissariat für Hunderttausende Männer zu opfern. weiß, das klingt paradox, aber Putin wird
Menschenrechte hat die Zahl der zivilen To- SPIEGEL: Spielt Putin auf Zeit? nicht klein beigeben. Er wird weitermachen,
desopfer auf mehr als 7000 beziffert. Die Belton: Wahrscheinlich ist er von der Einigkeit solange er noch eine minimale Chance sieht,
Sanktionen schaden Russland, dennoch be- des Westens im ersten Kriegsjahr überrascht. den Krieg zu gewinnen.
gehren dort nur wenige Menschen auf. Für Aber er spekuliert wohl darauf, dass wir frü- SPIEGEL: Eine militärische Pattsituation wäre
wie wahrscheinlich halten Sie eine Revolte? her oder später das Interesse verlieren wer- nicht genug?
Belton: Die meisten Menschen in Russland den. Putin ist überzeugt davon, dass der Wes- Belton: Nein, eine Niederlage Russlands ist
sind deprimiert, aber verängstigt. Man kann ten fett und faul ist. notwendig.
mit 15 Jahren Gefängnis bestraft werden, nur SPIEGEL: Nehmen wir an, die Ukraine wäre SPIEGEL: Wie lautet Ihre Prognose?
weil man den Krieg als Krieg bezeichnet. in der Lage, Russland eine Niederlage beizu- Belton: Es steht zu befürchten, dass sich dieser
Wenn es eine Revolte geben sollte, wird sie bringen. Was würde passieren? Krieg noch lange hinzieht. Die Zeit ist nicht
von der Elite ausgehen. Meine Informanten Belton: Dann würde sich etwas bewegen. Ver- auf der Seite der Ukraine. Die ukrainische
reden derzeit in einer Weise über Putin, wie antwortliche Politiker würden sich weigern, Wirtschaft ist durch diesen Krieg viel stärker
ich es nie zuvor gehört habe. Putins Befehlen zu gehorchen. Er würde geschädigt, allein durch das schiere Ausmaß
SPIEGEL: Inwiefern? selbst als die größte Bedrohung für die Stabi- der Zerstörung. Je länger der Krieg andauert,
Belton: Der Krieg hat ihren Reichtum und lität des Landes wahrgenommen. Es könnte desto teurer wird er für den Westen.
Einfluss zunichtegemacht. Meine Quellen se- zu einer Wiederholung der Geschichte kom- SPIEGEL: Räumen Sie Verhandlungen keiner-
hen mit Schrecken, dass Russland seine Soft men: zu einer Situation wie in den Achtziger- lei Chancen ein?
Power verloren hat und isoliert dasteht: ein jahren, als fortschrittliche Kräfte innerhalb Belton: Selbst wenn Putin jetzt einer Art Waf-
zweites Nordkorea, mit mehr Nuklearwaffen. der Sicherheitsdienste jene Reformen anstie- fenstillstand zustimmen würde – der Konflikt
Die Moskauer Elite spricht über Putins mög- ßen, die zum Ende der Herrschaft der Kom- wäre nicht vorbei. Nehmen wir an, er würde
liche Ablösung, über mögliche Nachfolger. munistischen Partei führten. einem Deal zustimmen: Russland bekommt
SPIEGEL: Wann erfolgte dieser Stimmungs- SPIEGEL: Wer könnte Putin ablösen? Donezk und Luhansk, verzichtet im Gegen-
umschwung? Belton: Sicherheitsratschef Patruschew steht zug auf Cherson und Saporischschja. Würde
Belton: Ein Wendepunkt war der September, in diesem Krieg als engster Verbündeter an Putin dann Ruhe geben? Das wird niemals
als Putin sein Versprechen brach und eine Putins Seite. Dennoch ist er darauf bedacht, passieren. Die Falken im Kreml würde ein
Teilmobilisierung verkündete. Seither ist er dass sein Sohn Dmitrij das Präsidentenamt solcher Deal nur ermutigen.
nicht mehr unantastbar. Meine Informanten eines Tages übernehmen wird. Gut möglich, SPIEGEL: Warum?
sprechen vermehrt davon, dass Russland his- dass die beiden pragmatisch handeln: Sobald Belton: Russland würde sich sechs Monate,
torisch eben ein Land der Putsche sei. sie Putin los sind, drehen sie sich um und ma- vielleicht ein Jahr Zeit nehmen, um seine Ar-
SPIEGEL: Wann ist es so weit? mee aufzurüsten und dann erneut versuchen,
Belton: Das kann dauern. Man wird einen die Ukraine einzunehmen. Oder die Falken
Umsturz erst wagen, wenn Russland gravie- im Kreml sagen sich: Prima, wir sind mit unse-
rende militärische Verluste erleidet. Solange rer Strategie durchgekommen – jetzt lasst uns
es eine Chance gibt, dass Putin den Krieg ge- »Er wird weitermachen, im Baltikum angreifen. Dieser Konflikt hat
winnt, wird niemand gegen ihn vorgehen.
SPIEGEL: Wie sehen Sie die Chancen, dass die
solange er noch das Potenzial, in einen ewigen Krieg auszu-
arten, der unser aller Sicherheit gefährdet.
Ukraine Russland militärisch schlägt? eine Chance sieht.« Interview: Katja Iken, Martin Pfaffenzeller n

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AUSLAND

te den Mann mit dem riesigen Strohhut, der


als Ersatz für einen verhinderten Kandidaten
einer kleinen Linkspartei angetreten war. In
der ersten Runde gewann er überraschend

Gejagt wie die Tiere


mit knapp 19 Prozent – genug, um als Favorit
in die Stichwahl gegen die Zweitplatzierte,
die rechtsgerichtete Keiko Fujimori zu kom-
men. Die Tochter des Ex-Präsidenten Alber-
to Fujimori, der 1992 eine Diktatur errichtet
PERU  Seit Dezember protestieren Tausende gegen die Absetzung hatte, ist in großen Teilen der Bevölkerung
verhasst. Und so stimmten viele für Castillo,
des linken Präsidenten, die Polizei geht mit extremer Härte um ihren Sieg zu verhindern.
gegen die Demonstranten vor. Die Ereignisse wecken ein altes Trauma Doch der Mann mit dem Sombrero war
bei den ­Menschen, die schon so viel überstanden haben. vom Amt überfordert. Seine Regierung ver-
sank in Korruption, binnen 497 Tagen ver-
schliss er 78 Minister. Zweimal versuchte

D
ie Blumen, die Trauernde hinterlassen sei ein bedächtiger Mann gewesen. Selfies auf der Kongress, ihn wegen »moralischer Un­
hatten, sind verschwunden; das Blut, seinem Handy vom Tag der Demonstration fähigkeit« abzusetzen, einer umstrittenen
die Knochensplitter und die Reste von zeigen ihn lächelnd, mit schütterem Haar, in Klausel der Verfassung. Am 7. Dezember
Hirnmasse hat jemand fortgespült. Nur ein blauem Polohemd. »Er warf keine Steine«, wollten die Abgeordneten ein drittes Mal
weißes Rechteck auf dem Asphalt erinnert sagt seine Schwester. Sie selbst habe sich nie abstimmen, Castillo kam ihnen zuvor: Er
noch an die Stelle vor der Hausnummer 929 für Politik interessiert. Jetzt kämpft sie um verkündete im Fernsehen, er werde den
der Avenida Aban­cay im Zentrum von Lima, Gerechtigkeit für ihren Bruder. Kongress vorübergehend auflösen und bis
wo der 55-jährige Bauarbeiter Víctor Santis- Santisteban, erzählt sie, sympathisierte mit zu Neuwahlen per Dekret regieren – so wie
teban starb. »Bitte nicht betreten«, hat je- Ex-Präsident Pedro Castillo, dessen Abset- einst Diktator Fujimori. Auf dem Weg in die
mand auf die Gehsteigplatten gepinselt. Da- zung Anfang Dezember die Unruhen ausge- mexikanische Botschaft, wo seine Familie
ran hält sich zehn Tage nach Santistebans Tod löst hatte. »Víctor hat sich mit Castillo identi- Zuflucht suchen wollte, wurde er von den
niemand mehr. fiziert.« Wie Castillo kam er aus einer Anden- eigenen ­Sicherheitsleuten verhaftet. Castillos
Santisteban war Todesopfer Nummer 58 provinz, der Vater war Kleinbauer. Vizepräsidentin Dina Boluarte übernahm die
in dem Konflikt, der Peru seit mehr als zwei Castillo war Dorfschullehrer in einer dieser Präsidentschaft.
Monaten in Atem hält. Eine Freundin hatte ärmeren Provinzen gewesen. Er hatte den Seither gehen die Anhänger Castillos fast
Santisteban gebeten, sie bei einem der Protest- Bewohnern des Hochlands eine Stimme täglich auf die Straße, sie fordern Boluartes
märsche gegen die Regierung zu begleiten, die verliehen, von den Eliten in der Hauptstadt Rücktritt und sofortige Neuwahlen. »Dina
fast täglich durch das Zen­trum der Hauptstadt hingegen wurde er verachtet und belächelt. Asesina!«, skandieren sie. »Mörderin Dina!«
ziehen, so erzählt seine Schwester Elizabeth. Seine Absetzung fördert nun ein altes Trauma Mindestens 60 Menschen sind in dem Kon-
»Er war kein Terrorist, wie die Regierung zutage. flikt bislang ums Leben gekommen, die meis-
behauptet«, sagt sie. »Er kam aus der Provinz, Im Juni 2021 war Castillo zum Präsidenten ten bei Einsätzen der Sicherheitskräfte im
er liebte die Musik der Anden.« Santisteban gewählt worden. Kaum jemand in Lima kann- Süden. Das Militär und die Polizei hätten
»gesetzeswidrig mit tödlichen Waffen« auf
die Demonstranten gefeuert, befand Amnes-
ty International.
Aber auch die Demonstranten sind nicht
zimperlich: Vermummte versuchten, Flug-
häfen zu stürmen, attackierten Sicherheits-
kräfte mit Steinschleudern. Ein Polizist ver-
brannte in seinem Auto. Demonstranten blo-
ckierten Überlandstraßen, Treibstoff und
Lebensmittel wurden knapp. Doch die Ran-
dalierer sind eine Minderheit, die meisten
Demonstranten bleiben friedlich.
Nach Chile und Kolumbien, die vor und
während der Coronapandemie von Massen-
demonstrationen erschüttert wurden, ist Peru
der dritte Andenstaat in Aufruhr. Dabei er-
lebte das Land viele Jahre lang ein starkes
Wirtschaftswachstum. Peru ist weltweit der
zweitgrößte Kupferproduzent, es exportiert
Gold und andere Edelmetalle. Dennoch hat
es keine Regierung geschafft, die Kluft zwi-
schen Arm und Reich zu schließen. Mehr als
70 Prozent der Peruaner arbeiten in der in-
formellen Wirtschaft.
Antonio Melgarejo / EPA

Sie waren es auch, die am stärksten unter


der Pandemie litten. Perus Regierung hatte
den wohl strengsten Lockdown Lateiname-
rikas verhängt. Aber die meisten Peruaner
konnten es sich nicht leisten, wochenlang zu
Demonstrantin, Polizisten: »Ich wollte nur um Frieden bitten« Hause zu bleiben. Und die Regierung erwies

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AUSLAND

sich als unfähig, die Lage zu managen. anderes, dann nannten sie seinen zwei- Sie war 14, als Soldaten ihren
In keinem anderen Land starben im ten Nachnamen. Yacsavilca, der ist sel- ­ ater mitnahmen, weil sie ihn ver-
V
Verhältnis so viele Menschen an der ten.« Gemeinsam mit ihrer Tochter dächtigten, mit der Guerilla zu kol-
Seuche, fast 220 000. Viele erstickten klapperte sie die Krankenhäuser ab, laborieren, berichtet sie. »Sie er-
jämmerlich, weil es zu wenig Sauer- bis sie ihn fanden: »Wir sahen noch, schossen ihn und verscharrten ihn in

Sebastian Castaneda / REUTERS


stoff für die Beatmungsgeräte gab. wie sie ihn in einem Plastiksack auf ein einem Massengrab.« Ihr Vater sei ein
»Peru leidet unter einem Post- Auto luden und in die Leichenhalle Opfer des »Terruqueo« gewesen. So
Covid-Trauma«, sagt der Schriftstel- brachten.« Später fuhren sie zu der nennen es die Peruaner, wenn die
ler Gustavo Gorriti, einer der besten Stelle, wo er starb. Santisteban sei wäh- ­Sicherheitskräfte oder Politiker Un-
Kenner des Landes. »Das ist eine der rend der Proteste von einem »harten schuldige willkürlich des Terrorismus
Ursachen für die Unruhen.« In drei Gegenstand« auf der rechten Seite des bezichtigen.
Jahren kamen und gingen fünf Staats- Kopfes getroffen worden, verkündete »Terruqueo« bekam Aroni auch
chefs, einer blieb nur wenige Tage im ein Arzt der staatlichen Gesundheits- jetzt zu spüren, als sie mit ihrer Fahne
Amt. Bloß sieben Prozent der Peru- fürsorge. Das habe zu einem »Schädel- zu den Protesten ins Stadtzentrum
aner vertrauen Umfragen zufolge bruch« geführt. Regierungsvertreter fuhr. Es sei der erste Protestmarsch
ihren Volksvertretern. insinuierten da­raufhin, Santisteban sei ihres Lebens gewesen, beteuert sie.
Die derzeitige Bewegung wird nicht vom Stein eines Demonstranten ge- »Ich wollte nur um Frieden bitten.«
zentral gesteuert. Kleinbauern, Ge- troffen worden. Sie habe die Polizisten angefleht: »Es
werkschaften, indigene Frauengrup- Das bezweifeln nicht nur die An- reicht mit den Verschwundenen und
pen, illegale Minenarbeiter und Stu- gehörigen. Auf Überwachungsvideos dem Blutvergießen!«
denten rufen über die sozialen Medien ist zu sehen, wie ein Polizist aus etwa Die Appelle prallten ab. »Sie ha-
zu den Protesten auf. In Lima sammeln Getty Images drei Meter Entfernung eine Tränen- ben uns gejagt wie die Tiere«, berich-
sie sich an einem Donnerstagnachmit- gasgranate auf Santisteban feuerte. tet Aroni. Sie habe gesehen, wie ein
tag im Februar auf der Plaza Dos de »Sein Kopf ist förmlich explodiert«, Polizist mit einer Tränengasgranate
Mayo, wenige Blocks vom Kongress sagt die linke Kongressabgeordnete auf Santisteban feuerte. Sie sei ihm
entfernt. Einige haben sich in die rot- Sigrid Bazán. »Ein Stein hätte kaum zu Hilfe geeilt. Zu spät.
weiße Nationalflagge gehüllt, einer solche Verletzungen verursacht.« Bei der nächsten Demonstration
trägt eine Plastikflasche mit Hydrogen- Zum gleichen Schluss kommt ein In- wurde sie festgenommen. 48 Stunden
carbonat-Lösung, um sich gegen Trä- vestigativprogramm im peruanischen verbrachte sie im Gefängnis. Dann
nengas zu schützen. Sie sind aus allen Fernsehen, das Fehler und Schlampe- wurde sie freigelassen und wie ein
Teilen des Landes gekommen, einige reien bei den Untersuchungen auf- Star empfangen. Sie hielt eine Rede,
sind seit dem 8. Dezember hier, dem deckte. Die Staatsanwaltschaft ermit- erst auf Spanisch, dann auf Quechua.
Tag nach dem Sturz Castillos. Viele telt noch. »Warum trampeln sie uns nieder? Ich
Jens Glüsing

kamen in der staatlichen Universität Es gibt eine Augenzeugin der Tat, verstehe das nicht!«, rief sie. »Ich
unter, bis die Polizei den Campus die selbst zu einer Heldin der Protest- kämpfe nicht mit Knüppeln oder Stei-
stürmte. Nun schlafen sie in Parks und Abgesetzter bewegung geworden ist, Aída Aroni nen, ich bringe nur meine Seele und
auf Plätzen im Stadtzentrum. ­Präsident Castillo, Chilcce, eine Indigene vom Volk der mein Herz. Ich bin eine Indigene und
Vor dem Sitz einer Gewerkschaft Nachfolgerin Quechua. Fotos von ihr gingen um stolz darauf.« Ihr Video wurde allein
haben einige Indigene Kokablätter Boluarte, Aktivistin die Welt: Sie zeigen sie mit schwar- auf Twitter mehr als 130 000-mal an-
Aroni: Fünf Präsi­
und Weihrauch entzündet, der süße denten in drei Jahren zem Hut und rotem Rock, wie sie geklickt. Jetzt macht sie sich Sorgen
Geruch hüllt die Protestierenden ein. einer Phalanx gepanzerter Polizisten um ihre Familie. »Ich will meinen
Ihr Ziel sei »die Einnahme von Lima«, gegenübertritt, die Nationalflagge Söhnen keine Probleme bereiten.«
sagt ein Redner. Die Aufstände began- schwenkt. Aroni stammt aus der Re- Aufgeben will sie auch nicht. »Für
nen zwar im Süden, entschieden wird gion Ayacucho. Die galt als Wiege der den Frieden gehe ich weiter auf die
der Konflikt jedoch in der Hauptstadt. maoistischen Guerilla »Leuchtender Straße.«
Die Millionenmetropole am Pazi- Pfad«, die in den Achtzigerjahren Bis dahin ist es ein weiter Weg. Die
fik verkörpert die Zentralgewalt und große Teile des Landes terrorisierte. Präsidentin hat einen Rücktritt aus-
damit jene korrupte Politiker- und Dabei sollen fast 70 000 Menschen geschlossen; der Kongress weigert
Bürokratenkaste, die die indigene Be- ums Leben gekommen sein, viele sich, die Wahlen vom regulären Ter-
völkerungsmehrheit seit den Zeiten starben von der Hand der Sicherheits- min 2026 auf Ende des Jahres vorzu-
der spanischen Kolonialherrschaft kräfte. ziehen. Boluarte hat ein Bündnis mit
unterdrückt. Viele leben in riesigen Aroni, 52, ist eine kleine Frau mit der Rechten geschlossen, auch der
Elendsvierteln in der Wüste vor den lebhaften dunklen Augen. Im Eisen- mächtige Fujimori-Block im Parla-
Toren der Stadt. Víctor Santisteban warenhandel ihres Sohnes im Zent- ment unterstützt sie. Sie will die Kri-
war einer von ihnen. rum von Lima erzählt sie ihre Ge- se aussitzen. Vergangene Woche ließ
Ursprünglich kam Santisteban aus schichte. Es ist die Geschichte des sie das Zentrum von Lima abriegeln
der Provinz Yauyos in den Bergen. vergessenen Perus, das sich jetzt, und verbot alle Demonstrationen.
Zehn Jahre lang hatte er sein Glück mehrere Jahrzehnte nach dem Bür- Den verstorbenen Víctor Santiste-
als Wanderarbeiter in Argentinien ge- gerkrieg, zu Wort meldet. ban hat seine Familie unterdessen
sucht, vor ein paar Monaten war er Aroni wuchs auf in einem Dorf in beigesetzt. Zuvor war während der
nach Peru zurückgekehrt. »Er kaufte den Bergen, das mitten im Einfluss- Totenwache eine Gruppe von
ein kleines Grundstück ohne Strom- gebiet der Guerilla lag. Ihre Eltern Demonstranten vor dem Haus seiner
und Wasseranschluss in einem Vor- pflanzten Kartoffeln und Quinoa an, Schwester aufmarschiert. »Sie woll-
ort«, erzählt seine Schwester. Als hielten ein paar Kühe. Das Militär ten den Sarg mitnehmen und im Zen-
Bauarbeiter fand er Arbeit. habe ihr Dorf bombardiert. »Ich sah trum aufbahren«, sagt seine Schwes-
Über TikTok hatte die Schwester damals, wie Menschen bei lebendi- ter Elizabeth. »Aber ich will nicht,
vom Tod eines Demonstranten erfah- gem Leib verbrannt wurden«, erin- dass er zum Märtyrer wird.«
ren. »Erst dachte ich, es wäre jemand nert sie sich. Jens Glüsing n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 83


AUSLAND

Brüssel eingestehen mussten, dass


Kallas mit ihrer Einschätzung Putins
recht hatte. Sondern auch daran, dass
sie auftritt wie jemand, der sich im

Europas Kassandra
Scheinwerferlicht der Weltgeschichte
wohlfühlt.
Kallas’ Bestätigung als Premier-
ministerin gilt als sehr wahrscheinlich,
wenn die Esten am 5. März ein neues
ESTLAND  Ministerpräsidentin Kaja Kallas hat früher als andere Regierende Parlament wählen. Die Umfragen se-
hen ihre liberale Partei Reform stabil
vor Wladimir Putin gewarnt. Wer ist die Frau, die nun als bei 30 Prozent. Danach kommt lange
mögliche Nato-Generalsekretärin genannt wird? Von Nadia Pantel niemand, dann bei jeweils um die 20
Prozent die rechtspopulistische Partei
Ekre und die Mitte-Partei ­Zentrum.

I
n der Familie von Kaja Kallas er- Bereits im Januar 2022, als die Wie ist aus der 45-jährigen Kallas, die
zählt man sich zwei Arten von meisten in Europa sich noch erzähl- erst seit zwei Jahren im Amt ist, eine
Geschichten über die Jahre in ten, man müsse ja nicht in Panik ver- der profiliertesten Mahnerinnen
Sibirien. Da sind die Geschichten von fallen, nur weil Russland mehr als Europas geworden?
Hunger, Kälte und Angst. Darüber, 100 000 Soldaten zur ukrainischen Mitte Dezember 2022 in Berlin, die
dass sowjetische Soldaten Kallas’ Grenze schickt, handelte Kallas. Sie abschließende Podiumsdiskussion des
Mutter 1949 mit ihrer Mutter und forderte Unterstützung für die Ukrai- Digitalgipfels der Bundesregierung.
Großmutter in einen Viehwaggon ne. Und lieferte Waffen. Kanzler Olaf Scholz soll erklären, wie
sperrten und nach Osten deportier- Ihre Warnungen wurden damals es in Deutschland mit der Digitalisie-
ten, noch hinter Nowosibirsk. Und routiniert vermeldet, es war der Bal- rung vorangeht. Er sitzt dort in der
dann sind da die Geschichten, über tensound, an den sich alle gewöhnt scholzschen Knittrigkeit, die es aus-
die sie lachen. Darüber, wie sie eine hatten: Putin ist gefährlich, wir müssen sehen lässt, als könnte er sich ange-
Nähmaschine in den Viehwaggon ge- die Nato im Osten stärken, stoppt nehmere Dinge vorstellen für so einen
schleppt haben und wie diese Maschi- Nord Stream. Nach dem 24. Februar Freitagnachmittag. Neben ihm hat
ne ihnen ein kleines Einkommen si- sagte Kallas dasselbe, aber jetzt hörte Kallas Platz genommen. Sie strahlt.
cherte, weil sie an einem Ort, an dem man ihr zu. Aus der Premierministerin »Es ist eine große Ehre für mein Land,
es außer ein paar Holzhütten nichts eines 1,3-Millionen-Einwohner-Landes Staatsfrau Kallas
dass ich heute hier bin. Wenn man
gab, für andere Menschen Kleider wurde eine weltweit beachtete Politi- mit Nato-Chef sieht, wo wir herkommen und wo wir
ausbesserten. »Meine Großeltern ha- kerin, die nun sogar als Anwärterin auf Stoltenberg und heute sind, dass wir gleichwertig mit
ben Schreckliches erlebt«, sagt Kaja die Nachfolge von Jens Stoltenberg als Premier Johnson, Deutschland sind, das bedeutet uns
mit Präsident
Kallas, »und sie haben mir beige- Nato-Generalsekretärin gilt. Macron: Im Schein-
sehr viel«, sagt Kallas.
bracht, dass man feiern muss, am Le- Das liegt nicht nur daran, dass sich werferlicht der Sie ist hier als leuchtendes Beispiel
ben zu sein.« die Regierenden in Berlin, Paris und Weltgeschichte eingeladen, als Premierministerin von
Kallas sitzt an dem ovalen Tisch, »E-Estonia«, dem digitalen Vorreiter
an dem sie als Regierungschefin Est- der EU. Und Kallas liefert. »Wir ha-
lands Gäste aus dem Ausland emp- ben ja schon alles ausprobiert. Sie
fängt. Zwei Tage später wird sie sich haben den Vorteil, dass Sie von unse-
hier mit dem US-Verteidigungsminis- ren Fehlern lernen können«, sagt sie.
ter Lloyd Austin treffen, eine Woche Spontaner Applaus im Saal. »Natür-
zuvor war der schwedische Premier lich gibt es einen Unterschied, ob man
Ulf Kristersson zu Besuch. das für ein Land mit 84 Millionen
Sie alle kennen die Geschichte Bürgern macht oder für ein Land
ihrer Großeltern, sie wissen, dass die Ihrer Größe«, grummelt Scholz. »Wir
Premierministerin die Tochter einer haben seit 2007 Erfahrungen, wie
Leon Neal / REUTERS

Frau ist, die als Baby nach Sibirien man Cyberangriffe aus Russland ab-
deportiert wurde und nur mit viel wehrt«, sagt Kallas.
Glück überlebte. Die Geschichte Das Bild, das von dieser Diskus-
stand in einem Gastbeitrag von Kallas sionsrunde bleibt, ist das einer Frau,
in der »New York Times«, sie erzähl- die in perfektem Englisch von Erfol-
te sie in einer Rede vor dem EU-Par- gen erzählt, während neben ihr ein
lament im März 2022, zwei Wochen Mann mit mittelmäßiger Laune von
nachdem Russland die Ukraine über- den Herausforderungen des Födera-
fallen hatte. lismus spricht.
Für den zweiten Teil von Kallas’ Ein Underdog muss sich immer
Familiengeschichte bleibt selten Zeit. mehr anstrengen. Kallas hat das so
Für die Rückkehr aus Sibirien und für tief verinnerlicht, dass man sie, wenn
das Gefühl, das die Großeltern ihren man sie länger begleitet, oft warten
Kindern und Enkeln weitergegeben sieht. Sie wartet auf der Sicherheits-
haben: Uns kann man nicht mehr konferenz in München Mitte Februar
Odd Andersen / epa

kleinkriegen. Kallas sagt, sie habe zu auf Frankreichs Präsident Emmanuel


Hause gelernt, dass manche Men- Macron, zu dessen Machtverständnis
schen sich in harten Zeiten von ihrer es gehört, gern als Letzter einen
besten Seite zeigen. Raum zu betreten. Sie wartet ebenso

84 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


AUSLAND

in dem kleinen estnischen Dorf Varbola allein


vor 20 leeren Stühlen, weil die Rentner, die
sie eingeladen haben, ihren Kaffee noch nicht
ausgetrunken haben.
Wenn Kallas bei dem Interview in ihrem
Büro in Tallinn von Digitalisierung spricht,
wird deutlich, dass es für Estland nie nur da-
rum ging, wie man elegant aus dem Papier-
zeitalter herausfindet. Sondern dass diese
Digitalisierung zur Überlebensstrategie des
Landes gehört, weil sie Estland zum Ge-
sprächsthema macht. »Wenn Menschen nicht
wissen, dass es dich gibt, dann bemerken sie
auch nicht, wenn du verschwindest«, sagt
­Kallas. Es ist die estnische Lehre aus 51 Jahren
sowjetischer Besatzung. »Als der Eiserne Vor-
hang fiel, haben Frankreich und Deutschland
uns nicht vermisst. Aber wir, wir haben euch
vermisst. Wir haben die Freiheit vermisst.«
Wie stellt man es an, nicht noch einmal
vergessen zu werden? »Wir müssen nützlich
sein, wir müssen zeigen, dass man uns
braucht.« Kallas zählt auf, wie Estlands Mi-
litär an der Seite Frankreichs nach Mali ging,
wie estnische Rettungshelfer gerade nach den
Erdbeben in der Türkei helfen.
Kallas hat für diesen Interviewtermin ein
gelb leuchtendes Kleid angezogen, auf der
Brust eine Brosche in blau-schwarz-weiß, den
Farben Estlands. Die ist auf dem gelben Hin-
tergrund unübersehbar. Zur Verteidigungs-
politik dieses Landes, das knapp 300 Kilo-
meter Grenze mit Russland teilt, gehört nicht
nur eine Anhebung des Militärbudgets auf
drei Prozent. Zur Verteidigungspolitik gehört
auch, der Welt zu zeigen, dass man existiert.
Ein Nachmittag im Februar, eine Stunde
Autofahrt von der Hauptstadt Tallinn ent-
fernt. Kallas besucht die Vereinigung der pri-
vaten Waldbesitzer. Estland besteht zur Hälf-
te aus Wald. Wer nicht über Bodenqualität
und die Bedürfnisse von Birken sprechen

Leon Neal / AP
kann, braucht sich als estnischer Premier gar
nicht erst zu versuchen.
Die Waldbesitzer haben Tannenzweige Politikerin Kallas bei Nato-Truppen in Tallinn: Frieden ist nicht gleich Frieden
ausgelegt, damit Kallas auf dem Weg vom
Auto zu Lagerfeuer und Würstchen auf dem ja, und außerdem ist das ein kleines Land, dem Land, ihr Vater war in der Hauptstadt.
vereisten Boden nicht ausrutscht. Eine Stun- und wir kennen uns.« »Ich hatte wahnsinnige Angst, ich dachte, ich
de lang wird ausschließlich über Bäume ge- Für Kallas gilt das ganz besonders. Ihr Va- sehe meinen Vater nie wieder. Ich kannte ja
sprochen. Am Rand steht Anniki Leppik, die ter, Siim Kallas, war eine der zentralen Figu- all die Geschichten, was die Russen mit den-
für die Waldbesitzer Büroarbeiten erledigt, ren der estnischen Unabhängigkeitsbewegung jenigen machen, die sich wehren.«
in Wanderschuhen und Parka. »Wie Kallas und Präsident der estnischen Zentralbank. Kallas erzählt diese Episode auch, weil sie
durch die Welt reist, das ist so ein bisschen 2002 wurde er Premierminister. Von 2004 an unterstreicht, was sie seit Russlands Krieg
wie Superwoman, die ist ja überall«, sagt Lep- war er EU-Kommissar Estlands. Über Kaja gegen die Ukraine wie ein Mantra wiederholt:
pik. Nur pflegen sie hier im Wald einen spe- Kallas’ erste Hochzeit berichtete die Klatsch- Frieden ist nicht gleich Frieden. »Als der
ziellen Umgang mit Superhelden. Am Ende presse, weil sie schon mit Anfang zwanzig zur Zweite Weltkrieg endete, begann man in
gibt es kein gemeinsames Gruppenfoto, keine Prominenz des Landes gehörte. Als sie mit Westeuropa mit dem Wiederaufbau. Für uns,
Selfies mit Kallas. Stattdessen schenken sie 33 entschied, in die Politik zu gehen, und ins im Osten Europas, ging der Stalinismus wei-
ihr eine Flasche frisch gezapften Birkensaft. estnische Parlament gewählt wurde, kommen- ter. Die Deportationen, die Morde, die Unter-
Auf dem Weg in den Wald hat Kallas mit tierte die Presse, dass sie wohl kaum könne, drückung, der Mangel.« Jedes Kind wisse,
Fahrer und Assistentin bei einem Imbiss was ihr Vater kann. dass Krieg schrecklich sei, sagt Kallas. Und
gehalten. Frikadelle und Kohlsalat für
­ Die Berühmtheit ihres Vaters brachte nicht erklärt denjenigen, die fordern, die Ukraine
7,80 Euro. Die Leute an ihren Tischen schauen nur frühe Aufmerksamkeit mit sich, sondern möge schnellstmöglich einen Frieden mit
kurz auf, als die Premierministerin mit ihrem auch eine politisierte Kindheit. Kallas erinnert Russland aushandeln, wieder und wieder, wie
Tablett vorbeiläuft, dann essen sie weiter. sich, wie am 20. August 1991 sowjetische Pan- es sich anfühlt, wenn das Ende der Bomben
»So ist das in Estland«, sagt Kallas. »Wir zer nach Estland geschickt wurden, nachdem nicht das Ende der Gewalt bedeutet.
lassen einander in Ruhe.« Ein Mann winkt das Land sich unabhängig erklärt hatte. Sie Auf den ersten Blick baut Kallas’ Wirk-
ihr zu. Kallas begrüßt ihn mit Namen. »Na war 14 Jahre alt und bei ihren Großeltern auf macht darauf auf, dass sie als Zeugin das Bild

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 85


AUSLAND

eines dunklen Russlands zeichnet, das man im


Westen nicht wahrhaben wollte. Doch ihr Ein-
»Wir mussten unser Erfolge wie EU- oder Nato-Beitritt präsen-
tieren konnte, sind vorbei«, sagt der Politik-
fluss ist auch deshalb so groß, weil sie von der ­Verhältnis zum wissenschaftler Tõnis Saarts von der Uni-
Zukunft erzählt. Von einer Zukunft, die Est-
land schon lebt und die, wenn es nach ihr geht,
Staat ­komplett ändern.« versität Tallinn. Das Selbstbild des ständig
aufstrebenden Landes habe sich abgenutzt,
auch für die Ukraine möglich werden soll. zugleich steige die Zahl derjenigen, die von
Von 2014 bis 2018 war Kallas Abgeordne- Inflation und steigenden Energiepreisen hart
te im EU-Parlament. Sie wurde in dieser Zeit getroffen werden. Eine starke Linke gibt es
von der Nachrichtenseite »Politico« als eines in Estland nicht, wer Angst vorm Abstieg
der einflussreichsten Parlamentsmitglieder Angriff auf die Ukraine fühlt sich für Estland hat, wendet sich an die rechtspopulistische
ausgezeichnet. Sie war dabei, als das Asso- wie ein Streifschuss an. Wenn Russland die Ekre. Kallas nennen die Rechten eine
ziierungsabkommen der EU mit der Ukraine Ukrai­ne mit der Begründung angreift, das »Kriegsprinzessin«, ihre Sicherheitspolitik
unterzeichnet wurde. »Mein Vater hat für die Land »zu befreien«, warum sollte diese Logik »hysterisch«. Doch an der grundsätzlichen
Esten den EU-Beitritt mit vorbereitet. Und nicht auch für Estland gelten? außenpolitischen Ausrichtung des Landes
eine Generation später bin ich aufseiten der Jedes Jahr ausgerechnet am 24. Februar will keiner von Kallas’ Kontrahenten etwas
EU und bereite den Beitritt des nächsten feiert Estland seine Unabhängigkeit. Dieses ändern. Niemand in Estland fordert den Aus-
­Staates vor«, sagt sie. Für Kallas ist die EU Jahr wird aus der Feier auch ein Gedenktag tritt aus der Nato oder eine Annäherung an
das Versprechen, dass es vorangeht. für den Angriff auf die Ukraine am selben Moskau. »Die Ekre ist eine Partei, die sich
Auf ihrem Instagram-Profil sieht man Kal- Datum. Die estnische Unabhängigkeit be- in erster Linie an Männer richtet, viele der
las selten Hände schütteln. Sie umarmt. Zum schreibt Kallas nicht wie etwas Gegebenes. Ekre-Wähler halten nicht aus, dass Estland
Beispiel die Präsidentin des EU-Parlaments, Sondern wie etwas, für das sie selbst gekämpft zum ersten Mal von einer Frau regiert wird«,
Roberta Metsola, die sie als Freundin be- hat. Kallas war 18 Jahre alt und studierte noch sagt Saarts.
zeichnet. Oder EU-Kommissionspräsidentin Jura, als sie parallel anfing, in einer Kanzlei Will man erleben, wie Kallas ihre freund-
von der Leyen, die sie im Gespräch nur Ursula zu arbeiten. »Menschen, die nur ein kleines lich-diplomatische Art aufgibt, muss man sie
nennt. Als Kallas 2018 ein Buch über ihre bisschen älter waren als ich, haben damals auf Männer in der Politik ansprechen. »Frauen
Zeit als Europaabgeordnete schrieb und be- unseren Staat neu erfunden.« 1992 wurde der müssen doppelt so hart arbeiten«, sagt Kallas,
tonte, wen sie alles kennenlernte, machte die Historiker Mart Laar mit 32 Jahren estnischer »und trotzdem wird ständig unsere Kompe-
estnische Presse sich lustig. Heute meldet Premierminister. »Wir mussten unser Verhält- tenz infrage gestellt.« Ein Parteikollege habe
der öffentliche Rundfunk: »Estland profitiert nis zum Staat komplett ändern«, sagt Kallas. ihr mal geraten, sich männlicher zu geben,
massiv von Kallas’ internationaler Sicht­ Zu Sowjetzeiten sei man ein Held gewesen, um Erfolg zu haben. Inzwischen hat sich Kal-
barkeit.« wenn man die Besatzer beklaut habe. Heute las für Fragen zu ihrem betont femininen Auf-
Kallas nutzt ihre Reichweite, um ihre zählt Estland zu den am wenigsten korrupten treten eine Standardantwort zurechtgelegt.
außenpolitischen Überzeugungen durchzu- Staaten der EU. Sie habe bis zu ihrer Wahl zur Premierminis-
setzen. Sie fordert, dass Wladimir Putin als Auf ihren Wahlplakaten, die in diesem Fe- terin gar keine Hosen besessen und nun nur
Kriegsverbrecher der Prozess gemacht wird. bruar überall in Tallinn hängen, sieht man welche gekauft, weil die praktischer seien,
Sie pocht darauf, dass die Ukraine den Krieg oben in der Ecke das Symbol ihrer Partei. Es wenn sie bei einem Truppenbesuch auf Pan-
gewinnen müsse und dass allein die Ukraine ist ein Eichhörnchen, das zum Sprung ansetzt. zer klettern müsse.
definieren könne, wann so ein Sieg erreicht Ein Eichhörnchen? Kallas sagt: »Es ist fleißig Redet man mit Menschen, die Kallas gut
sei. Und sie tut alles dafür, dass der Krieg nicht und immer aktiv, und es bereitet sich gut vor, kennen, sagen die, sie entwickle am meisten
aus dem Fokus der Medien gerät. damit es durch den Winter kommt.« Kraft, wenn sie Widerstand spüre. Kallas
Wie ernst sie den Schulterschluss mit der Nur will und kann sich nicht jeder in Est- selbst sagt über Estland das Gleiche wie über
Ukraine meint, lässt sich auch daran ablesen, land mit dem Eichhörnchen identifizieren. ihre Großeltern: »Unsere Geschichte gibt uns
dass Estland mehr als 60 000 Flüchtlinge auf- Sosehr Kallas außenpolitisch glänzt, ihre in- die Fähigkeit zu wissen, dass wir die härtesten
genommen hat, gemessen an der Bevölkerung nenpolitische Bilanz ist durchwachsen. »Die Zeiten überstehen können.« Um diese Ge-
mehr als jedes andere EU-Land. Der russische Jahre, in denen man den Esten ständig neue schichte zu verstehen, empfiehlt sie, das
Mahnmal für die Opfer des sowjetischen
Kommunismus zu besichtigen, das unter
ihrem Vorgänger errichtet wurde.
Das Mahnmal steht am Rand von Tallinn,
gleich an der Ostsee. Man geht dort einen
langen Gang hoch, an dessen Wänden Namen
von Menschen stehen, die verschleppt oder
umgebracht wurden. 75 000 Menschen, ein
Fünftel der estnischen Bevölkerung, wurden
von 1940 bis 1991 von den kommunistischen
Besatzern getötet, verhaftet oder deportiert.
Man könnte es bei dieser Zahl belassen. Doch
im Mahnmal wurde ein Obstgarten ange-
pflanzt. Über einem Halbrund aus Apfelbäu-
men steht in großen Lettern ein Gedicht. Es
beschreibt, wie ein Gewitter ein Bienenvolk
überrascht. Auf der Wand, um das Gedicht
Birgit Püve / DER SPIEGEL

herum, sitzen 12 000 Bienen, nachgebildet


aus Metall, handtellergroß. Es ist windig und
dunkel an diesem Februarabend, keiner der
Apfelbäume trägt Knospen. Aber die Bienen
erzählen von der Hoffnung, dass ein neuer
Premierministerin Kallas mit Waldbesitzern: »Ein bisschen wie Superwoman« Frühling kommt. n

86 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


SPORT

250

Steiler Karrierestart 200

Siege der erfolgreichsten Straßenrennradfahrer* nach Alter

Mit 24 Jahren gewann Tadej Pogačar im Februar


zum 50. Mal bei einem Profiradrennen. Nur dreimal
150

Panoramic International / IMAGO


wurde diese Marke im Feld der erfolgreichsten
Fahrer in jüngerem Alter erreicht: von
Merckx, Sagan und Cavendish. 100

Siege Pogačars
jeweils zum
Vergleich
50 Siege

0
Alter 20 25 20 25 20 25 20 25 20 25 20 25 20 25 20 25 20 25 Pogačar beim
Tadej Marcel Alfredo Peter Tom Bernard Mark Rik Van Eddy Merckx, Einzelzeitfahren
Pogačar, Kittel, Binda, Sagan, Boonen, Hinault, Caven- Looy, Belgien
Slowe- Deutsch- Italien Slowa- Belgien Frankreich dish, Belgien
nien** land kei** Groß- * mindestens 50 Siege
vor ihrem 26. Geburtstag;
S Quelle: procyclingstats.com britannien** ** noch aktiv


Mit dem Start des berühmten Mehrtagesrennens Paris–Nizza am Sonntag kommender Woche nimmt die Radsportsaison in Europa Fahrt auf.
Auch in diesem Jahr wird das Duell von Tour-de-France-Sieger Jonas Vingegaard aus Dänemark und Superstar Tadej Pogačar im Mittelpunkt
des Interesses stehen. Wie überragend die Qualitäten des 24-jährigen Slowenen sind, zeigt diese Grafik: Mit der Zahl seiner bisherigen Erfolge
in so jungen Jahren gehört Pogačar schon jetzt in die Reihe der ganz Großen seines Sports.

GUT ZU WISSEN Die optimale Trefffläche Sich mit dem Schläger


für den Ball, der sogenannte zu befassen ist eine Wissen­
Bringt ein sechseckiger Sweetspot, ist beim eckigen
Schläger leicht verschoben
schaft. Es gebe, so Herweg,
10 000 unterschiedliche Beläge
­Tischtennisschläger Vorteile? und verbreitert, »aber eine
­Revolution für den Sport
und noch mehr Hölzer. Man­
che in der Branche sagen, jeder
ist das nicht«, sagt Herweg. Schläger sei ein Unikat: Da­
Man könnte denken, ein Tisch­ Bundes. Man könnte theore­ Das Modell ist von einem durch dass die Beläge Gummi­
tennisschläger sei ein Tisch­ tisch also sogar mit einem schwedischen Hersteller ent­ produkte sind, überwiegend
tennisschläger: etwa 25 Zenti­ Schläger antreten, der so groß wickelt worden, mit dem Naturmaterialien also, ver­
meter lang, 15 Zentimeter breit, ist wie im Tennis. Das macht ­extrovertierten Möregårdh ändert sich jeder Belag im
1,6 Zentimeter dick – und vor nur niemand, weil Tischtennis hat er ein Aushängeschild ­Laufe der Zeit. Ein perfektes
allem rund. Der schwedische »viel zu schnell für so einen ­gefunden; das Ganze Feld für Tüftler: Noppen
Weltklassespieler Truls Möre­ unhandlichen Schläger wäre«, ist auch cleveres Produkt­ innen, Noppen außen, lange
gårdh zeigt, dass es anders geht. sagt Herweg. Und weil viele management. Noppen, kurze Noppen –
Der 21-Jährige spielt mit einem Spieler, was die Wahl ihres das ist entscheidend für die
sechseckigen Modell, und Schlägers angeht, treu sind: ­Rotation des Balls.
dass man damit erfolgreich sein »Es gibt Spieler, die mit einem Wie sehr die Topspieler an
kann, hat er bewiesen: 2019 Holz ihre gesamte Karriere ihrem Gerät hängen, erkennt
wurde er Vizeweltmeister. ­bestreiten«, sagt Herweg, man auch, seit der Weltver­
Ein Schläger mit sechs die zuvor beim Weltverband band mehr Farben für den
Liu Xu / Xinhua / IMAGO

Ecken: Ist das überhaupt er­ für Material zuständig war: schwarz-roten Schläger zuge­
laubt? »Das Regelwerk kennt, »Ich kenne Spieler, die würden lassen hat. Statt Rot sind nun
was Form und Größe angeht, eher ihre Partnerin wechseln auch Blau, Grün, Pink, Lila er­
keine Begrenzung«, sagt Clau­ als ihren Schläger.« laubt. Davon hat bisher aber
dia Herweg, die Präsidentin Möregårdh ist ein anderer kaum jemand aus der Weltspit­
des Deutschen Tischtennis- Spielertyp, er probiert gern. Möregårdh ze Gebrauch gemacht. AHA

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 87


SPORT

Alleskönner ohne Lobby


TRADITION  Die Nordische Kombination ist die letzte Männerdomäne der Olympischen Winterspiele.
2026 wollten die Frauen zum ersten Mal dabei sein. Doch das IOC ließ sie abblitzen –
und droht nun, die gesamte Sportart aus dem Programm zu nehmen, zugunsten coolerer Disziplinen.

Xinhua / action press

Athletinnen beim olympischen Snowboardcross-Lauf in Zhangjiakou 2022: »Es geht um Einschaltquoten, Marketing und Konsum«

88 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


SPORT

A
ls Svenja Würth glaubte, ihrem nicht vorlegen. Diese seien »vertrau-
Traum von Olympia einen lich«, aber mit den internationalen
Schritt näher zu kommen, saß Verbänden geteilt worden.
sie gerade beim Abendessen mit ihrer An diesem Wochenende starten die
Mutter. Es war an einem Freitag ver- Kombinierer bei der Nordischen Ski-
gangenen Juni in einem oberbayeri- WM im slowenischen Planica. Vorher
schen Restaurant, erzählt Würth. Sie machen zwei IOC-Funktio­näre in ei­
schaute auf ihrem Smartphone live nem Videotelefonat mit dem ­SPIEGEL
eine Pressekonferenz des Internatio- deutlich, dass eine Sportart allein auf-

Beautiful Spor ts / IMAGO


nalen Olympischen Komitees (IOC) grund ihrer Tradition nicht Teil des
in Lausanne, bei der verkündet wurde, olympischen Programms bleiben kön-
welche Sportarten und Disziplinen Teil ne. Das Kriterium laute: Popularität.
der Winterspiele 2026 sein würden. Die Deutschen trifft das drohende
»In Mailand und Cortina d’Ampezzo«, Aus besonders hart. Außer Norwe-
hörte sie einen IOC-Verantwortlichen gen gewinnt in der Nordischen Kom-
sagen, werde es »eine Rekordzahl an bination kein Team so verlässlich
Frauenwettkämpfen« geben. Medaillen wie das des Bundestrai-
Würth machten diese Worte Hoff- ners Hermann Weinbuch. Seit den
nung: Die Nordische Kombination ist Spielen 2002 in Salt Lake City ist die

Dominik Angerer / EXPA / picture alliance


zwar seit 1924 olympisch – antreten Auswahl nie ohne Podiumsplatzie-
durften bisher aber nur Männer. Wür- rung geblieben. Nach der IOC-Ent-
de das IOC nun also erstmals auch scheidung, sagt Weinbuch, habe er
Frauen zulassen? sich gefühlt, »als hätte man uns die
Doch als eine Grafik mit den neu- Pulsadern aufgeschnitten«.
en Wettbewerben eingeblendet wur- Im vergangenen Dezember sitzt
de, habe sie verzweifelt nach der Nor- Weinbuch nach einem Weltcuprennen
dischen Kombination gesucht, erin- im österreichischen Ramsau am Dach-
nert sich Würth. »Bis ich kapierte: stein am Tisch eines Hotelrestaurants
Wir stehen da gar nicht drauf.« Olym- und wirkt ratlos. Der 62-Jährige ist seit
pia, das begriff sie in diesem Moment, 2026 nicht zuzulassen und auch den Olympiasieger 27 Jahren Cheftrainer der deutschen
würde für sie als Sportlerin eine Illu- Männern keine Garantie für 2030 zu Geiger, Kombinie­- Männerauswahl. Weinbuch hat Ath-
re­rinnen Jenny
sion bleiben. »Es fühlte sich an, als geben. 2026 dürfen die Männer nur Nowak (M.), leten wie Ronny Ackermann, Björn
hätte man mir den Boden unter den deshalb noch antreten, weil sie sich Svenja Würth (r.)*: Kircheisen und Eric Frenzel zu Top-
Füßen weggezogen.« bereits seit Jahren auf die Spiele vor- »Was ist denn stars gemacht, unter ihm wurden sie
Das olympische Programm unter- bereitet haben. Allerdings reduzierten das für ein Unsinn?« Olympiasieger, Weltmeister, Deutsch-
liegt einem steten Wandel. Je nach die Olympiamacher die Startplätze lands Sportler des Jahres. Nun bangt
Zeitgeist werden Disziplinen hinzu- von 55 auf 36. Es ist ein Tod auf Raten. er um sein Lebenswerk.
gefügt oder gestrichen. Mittlerweile Für Svenja Würth, 29, ist die Ent- Dem IOC, sagt Weinbuch, seien
sind Trendsportarten wie Skateboar- scheidung eine Enttäuschung. Bis vor die Zuschauerzahlen aus Asien und
den und Klettern Teil der Sommer- drei Jahren war sie erfolgreiche den USA wichtiger als der sportliche
spiele, in Paris wird 2024 erstmals im ­Skispringerin, einst gewann sie WM- Wert einer Disziplin. Die guten deut-
Breakdance um Medaillen gekämpft. Gold im Mixed-Team. Die Winter- schen TV-Einschaltquoten zählten da
Bei den Wintersportarten fahren die spiele 2014 und 2018 verpasste sie, wenig, weil die Bundesrepublik nur
Athletinnen und Athleten immer häu- zuletzt wegen eines Kreuzbandrisses ein kleiner Markt sei. Außerdem feh-
figer auf Buckelpisten oder fliegen mit im linken Knie. 2020 wechselte sie zur le ein Weltstar wie etwa die Freestyle-
Skiern oder Snowboards über mons- Nordischen Kombination, unter an- Parade- Skiathletin Eileen Gu, der auf Insta­
tröse Sprungschanzen – Bilder, die derem weil sie hoffte, dort ebenfalls disziplin gram 1,7 Millionen Menschen folgen.
sich gut vermarkten lassen. Allein im Chancen auf Olympia zu haben. Nun Gu, in San Francisco geboren, startet
vergangenen Olympiazyklus 2017 bis habe sie ihr größtes Ziel verloren, sagt Medaillenspiegel für seit 2019 für China.
2020/21 nahm das IOC 7,6 Milliarden Würth. »Dem IOC geht es nicht um die Nordische Kombi- Er verstehe, sagt Weinbuch, dass
nation bei den
Dollar ein, vor allem mit dem Verkauf den Sport. Es geht ihm um Einschalt- Olympischen Winter- die Attraktivität eines Sports heutzu-
von Fernsehrechten. quoten, Marketing und Konsum. Wir spielen 1924 bis 2022 tage auch an Klicks und Likes in den
Traditionssportarten wie die Nor- Athleten sind nur der Spielball.« sozialen Medien gemessen werde.
dische Kombination, die keine spek- Das IOC begründet seine Entschei- Gold Silber »Aber kann das alles sein?«
takulären Bilder liefern können, ha- dung mit der geringen Attraktivität Bronze Am folgenden Morgen, beim Welt-
ben es da schwer. Die Kombination der Nordischen Kombination. Sie cup in Ramsau, wird deutlich, woran
vereint Skispringen mit Skilanglauf, habe bei den jüngsten Winterspielen Norwegen die Wettbewerbe der Kombinierer
die Athleten gelten als die Alleskön- global gesehen das mit Abstand ge- 15 12 8 kranken. Das Skispringen der Frauen
ner des Wintersports. Für das Sprin- ringste Interesse bei den Zuschauern Deutschland startet um 8.45 Uhr, das der Männer
gen brauchen sie Koordination und geweckt – angefangen bei den Ein- 12 7 9 um 9.25 Uhr. Nur wenige Zuschauer
Feingefühl, dazu einen leichten Kör- schaltquoten über die Medienreso- Österreich haben sich zu dieser Uhrzeit an der
perbau. Für den Langlauf müssen sie nanz bis hin zu den Zugriffen in den 3 2 11
Schanze eingefunden, darunter eine
einen muskulösen Oberkörper und sozialen Netzwerken. Genaue Zahlen Gruppe Schüler, ohne die es wohl nur
Finnland
kräftige Beine mitbringen. will das IOC auf Anfrage des SPIEGEL halb so laut wäre. Trotzdem schwärmt
Das ist beeindruckend, aber für Zu- 4 8 2 der Stadionsprecher von einer »Rie-
schauer nicht sexy – so sieht es wohl Japan senstimmung«.
* Oben: in Oberstdorf Anfang Februar; unten:
das IOC. Und so entschied es im Som- 232 Gelaufen wird erst Stunden später,
beim Weltcup im österreichischen Ramsau
mer, die Frauen bei den Winterspielen im Dezember 2022. S Quelle: IOC nach Mittag. Auch Weinbuch findet

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 89


SPORT

das nicht optimal: nicht für die Athleten, nicht von Monaco, mehrmaliger Olympiateilneh-
für die Zuschauer. Bei einem Wettkampf, der mer im Bob, ist IOC-Mitglied.
morgens beginnt, dürfe nicht erst am Nach- Der Skiweltverband Fis hingegen hat seit
mittag der Sieger feststehen, sagt er. »So lan- dem Abtritt seines Präsidenten Gian Franco

»Falsche
ge sitzt keiner vor dem Fernseher.« Kasper an sportpolitischem Einfluss verloren.
Seitdem das Olympia-Aus droht, bastelt Kasper stand mehr als zwei Jahrzehnte an der
Weinbuch fieberhaft an neuen Wettkampf- Spitze des Verbands und galt als bestens ver-

Loyalitäten«
formaten, mit mehr »Action- und Eventcha- netzt. Er war IOC-Mitglied und zwischenzeit-
rakter«. Er denke da an eine Art Hindernis- lich Teil des Exekutivkomitees. Auch von der
rennen mit Steilkurven, Bodenwellen und ehemaligen Fis-Generalsekretärin Sarah
Slalompassagen, mit dem Getränkehersteller ­Lewis hieß es, sie habe gute Verbindungen in
Red Bull als Partner. Ob das die Sportart ret- die IOC-Zentrale in Lausanne.
ten kann? »Uns läuft die Zeit davon.« Kasper starb 2021 mit 77 Jahren, Lewis MISSBRAUCH  Nadine Dobler
»Wir müssen jüngere Zielgruppen für unse- arbeitet nicht mehr für die Fis. »Es ist offen- von der Unabhängigen Anlaufstelle
ren Sport begeistern«, sagt auch Lasse Otte- sichtlich, dass die Arbeitsabläufe und die
sen, 48, der seit 2012 als Renndirektor für den Kommunikation früher besser funktioniert für Betroffene von Gewalt erklärt,
internationalen Skiverband Fis den Wett- haben«, sagt Fis-Renndirektor Ottesen. »Es warum es so schwer ist, Psycho-
kampfkalender koordiniert. »Im TikTok-Zeit- hat vieles einfacher gemacht, als unsere Leu- terror im Sport zu unterbinden.
alter brauchen wir Formate, die in sozialen te noch im IOC saßen.«
Medien funktionieren.« Seit Monaten sam- Für die Nordischen Kombinierer ist es
melt er bei den nationalen Verbänden Ideen schon schwierig, sich innerhalb des eigenen Dobler, 43, arbeitet seit vergangenem Jahr für
ein, führt zahllose Diskussionen mit Aktiven Verbands Gehör zu verschaffen. Kaspers die Unabhängige Anlaufstelle bei Gewalt und
und Funktionären. Es ist schwer, einen Kon- Nachfolger im Präsidentenamt, der schwedi- Missbrauch im Spitzensport, einer Initiative
sens innerhalb des Weltcupzirkus zu finden. sche Milliardär Johan Eliasch, eilt der Ruf des Vereins Athleten Deutschland. Sie ist
»Es gibt Hürden, über die der eine oder voraus, dass er sich nicht sonderlich für die ­Sozialarbeiterin und erfuhr als Kind selbst
andere noch nicht springen will«, sagt Trainer nordischen Disziplinen interessiere und sei- ­sexuelle Gewalt im Fußball.
Weinbuch. Nationen mit eher sprungstarken nen Fokus eher auf den Alpinsport lege.
Athleten stellten sich gegen neue Wettkampf- Und so wirkt es, als stemmten sich die SPIEGEL: Frau Dobler, körperliche, psychische
formate, die tendenziell zugunsten von Lang- Kombinierinnen und Kombinierer weitge- und sexualisierte Gewalt war bis vor einigen
laufexperten gingen – und umgekehrt. Selbst hend in Eigenregie gegen den drohenden Jahren ein Tabuthema im Sport. Tatsächlich
aus seiner Mannschaft kriege er hin und wieder olympischen Tod. Helfen soll ein Entwick- sind laut aktuellen Untersuchungen rund
zu hören: »Was ist denn das für ein Unsinn?« lungsprogramm, bei dem sportlich erfolgrei- 75 Prozent der Sportlerinnen und Sportler
Einer der Skeptiker ist der DSV-Athlet Vin- che Nationen schwächere Länder mit Know- davon betroffen. Wer meldet sich bei Ihnen?
zenz Geiger, 25. Seinen größten Triumph fei- how unterstützen. Das IOC will die Medail- Dobler: Bei uns melden sich Menschen jeden
erte er 2022 bei den Olympischen Spielen in lenvergabe bei Olympia künftig diverser ge- Alters aus allen Sportarten. Wir können da
Peking, als er Gold im Einzel von der Normal- stalten. Bei den vergangenen drei Spielen nicht eine Sportart ausmachen, die besonders
schanze gewann. Zusammen mit dem Nor- standen immer dieselben vier Nationen auf gefährdet oder anfällig für Gewaltmissbrauch
weger Jarl Magnus Riiber ist er einer der Stars dem Podest: Deutschland, Norwegen, Öster- wäre. 90 Prozent der Ratsuchenden kommen
der Szene. Red Bull sponsert ihn, 2022 lan- reich, Japan. Nordamerikaner, Russen oder aus dem olympischen Sport. Männer melden
dete er bei der Wahl zu Deutschlands Sport- Chinesen dagegen fehlten in der Weltspitze sich häufiger, wenn sie nicht mehr aktiv im
ler des Jahres auf Rang zwei. Zur Marke taugt – und damit dem IOC als Absatzmarkt. Sport sind.
das trotzdem nicht: Bei Instagram folgen Gei- DSV-Trainer Weinbuch zweifelt am Erfolg SPIEGEL: Welche Hilfe erwarten die Anrufe-
ger nur etwa 15 000 Menschen. des Hilfsprogramms. »Wie soll ein Übersee- rinnen und Anrufer?
Geiger findet die Debatte über neue For- land in 3 Jahren die Expertise erlangen, für Dobler: Manche wollen sich vergewissern, ob
mate Quatsch. Auch die würden nicht mehr die wir 20 gebraucht haben?« Gerade beim das, was ihnen widerfahren ist, überhaupt
Popularität bringen. »Unser Hauptproblem Skispringen werden die technischen Grund- schlimm genug für eine Meldung ist oder ob
ist, dass wir keine Lobby haben.« lagen bereits im Jugendalter geschult, dies es einfach ganz normal im Leistungssport ist.
Andere Nischensportarten im olympischen lasse sich nicht so einfach aufholen. Sie brauchen eine Einordnung. Die meisten
Programm sind bisher nicht gefährdet. Der Bei den Frauen ist das Problem noch größer. Anrufenden melden sich aber mit konkreten
Dachverband für Bob- und Skeletonsport Die Norwegerin Gyda Westvold Hansen, 20, Vorfällen, die ihnen zugestoßen sind. Wir
IBSF etwa zählt weltweit gerade einmal dominiert die Konkurrenz nach Belieben und können dann eine juristische oder psycholo-
1100 Aktive, nur wenige Länder verfügen hat in dieser Saison jeden Weltcup gewonnen. gische Erstberatung anbieten, etwa um zu
über die nötigen Eiskanäle. Ein möglicher Hinter ihr tragen die Deutschen, Japanerinnen, prüfen, ob strafrechtliche Dinge vorliegen
Ausschluss von Olympia wurde bislang trotz- Österreicherinnen und Italienerinnen ihren oder ob dem Ratsuchenden eine Therapie
dem nicht diskutiert – auch weil der Sport eigenen Wettkampf aus: den um Platz zwei. helfen würde. Unsere Hauptaufgabe besteht
mächtige Fürsprecher hat: Der Präsident des Allein deswegen wäre die Teilnahme an meist darin, die Betroffenen in dem weiteren
Weltverbandes sitzt im Exekutivkomitee, im Olympia wichtig, argumentiert die DSV-Ath- Prozess zu begleiten.
höchsten IOC-Gremium; auch Prinz Albert letin Svenja Würth. Beim Skispringen der SPIEGEL: Kürzlich hat der Wasserspringer Jan
Frauen sei die Situation ähnlich gewesen, be- Hempel öffentlich gemacht, dass er jahrelang
vor die Disziplin 2014 olympisch wurde. Seit- von seinem Trainer sexuell missbraucht wur-
dem habe sich in der Weltspitze »brutal viel de. Kommt es häufiger vor, dass die Erleb-
getan« sagt sie, weil die Verbände mehr in nisse wie bei ihm Jahrzehnte zurückliegen?
das Frauen-Skispringen investierten. Dobler: Es ist durchaus normal, dass Betrof-
»Es gibt Hürden, über die Für Svenja Würth ist die Chance vertan, fene erst nach Jahrzehnten, mit Abstand und
der eine oder andere ihr Traum bleibt unerfüllt. Sie wird bei den vielleicht auch inspiriert durch die Geschich-
nächsten Winterspielen wohl schon in ihrem ten anderer, den Mut und die Kraft haben,
noch nicht springen will.« eigentlichen Beruf arbeiten: als Polizistin. über ihr Erlebtes zu sprechen. Es kann dann
Hermann Weinbuch, Bundestrainer Matthias Fiedler, Thilo Neumann n sein, dass die vermeintlichen Täter und da-

90 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


SPORT

mals Verantwortlichen gar nicht mehr hat die Deutsche Reiterliche Vereini­ die Intervention eine Schlüsselrolle.
im Amt sind. Dennoch wollen die Be­ gung beispielsweise ihre Satzung ge­ Die meisten Vorkommnisse fallen
troffenen neben persönlicher Unter­ ändert, um besser gegen Täter vor­ nicht unter das Strafrecht, was nicht
stützung ihr Erlebtes melden und gehen zu können, und sie hat einen heißt, dass sie darum weniger schlimm

Peter Johann Kierzkowski


dokumentiert haben. Vereine und Betroffenenrat gegründet, der ange­ für die Betroffenen wären. Das Safe-
Verbände sollen darüber informiert, hört wird. Sport-Zentrum könnte einheitliche
die heutigen Funktionäre sensibi­ SPIEGEL: Bund und Länder haben Safe Richtlinien und Empfeh­lungen für
lisiert und das Bewusstsein für Fehl­ Sport gegründet, einen Trägerverein, Vereine und Verbände bereitstellen.
verhalten geschärft werden. der als Anlaufstelle für Betroffene die­ Auch über Sanktionsmöglichkeiten
SPIEGEL: Warum haben die Betroffe­ nen soll. Derzeit wird verhandelt, Ratgeberin bei Verdachtsfällen, über Empfehlun­
nen so lange stillgehalten? unter welchen Bedingungen diese Or­ Dobler gen für Lizenzentzug oder Negativ­
Dobler: Das haben sie nicht immer, ganisation arbeiten soll. Ist das eine listen sollte gesprochen werden.
einige haben ihr Erlebtes sehr wohl Konkurrenzorganisation zu Ihrer? SPIEGEL: Die Nationalspielerinnen
innerhalb des Sportsystems gemeldet. Dobler: Nein. Wir begrüßen alle Ini­ Amelie Berger und Mia Zschocke ha­
Es ist aber nichts passiert. tiativen, die dafür sorgen, dass den ben als Erste auf Fälle von Psychoter­
SPIEGEL: Warum macht es der Sport Betroffenen geholfen wird. Wir sind ror im Handball aufmerksam g­ emacht.
den Betroffenen so schwer? formal nur für Kaderathletinnen und Nach den ­SPIEGEL-Berichten haben
Dobler: Es wird immer wieder gesagt, -athleten zuständig, auch wenn wir sich mehr als 50 Betroffene bei Ihnen
dass der Sport ein Spiegel der Gesell­ niemanden aus anderen Bereichen gemeldet. Waren Sie überrascht?
schaft sei. Das mag in einigen Berei­ abweisen. Die neue Stelle unterschei­ Dobler: Ja, ein solches Ausmaß konn­
chen stimmen. Der Sport ist zugleich det nicht zwischen Breiten- und Leis­ ten wir nicht ahnen. Ich denke, viele
eine in sich geschlossene Gesellschaft tungssport und füllt so die Lücke. Spielerinnen fühlten sich ermutigt, ihre
mit eigenen Regeln und Vorgängen. SPIEGEL: Expertinnen und Berater, Geschichte auch zu teilen. Sie hatten
Gerade im Leistungssport gibt es gro­ die an dieser Neugründung beteiligt den Wunsch, dass es endlich aufhört.
ße Abhängigkeiten. Dazu kommen sind, haben nach unserer Kenntnis SPIEGEL: Bei unserer Recherche hör­
häufig ungleiche Machtverhältnisse die Idee entwickelt, auch ein Sank­ ten wir das Argument, dass es im Spit­
zwischen Schutzbefohlenen und Au­ tionssystem zu installieren, mit dem zensport eben etwas ruppiger zugehe
toritätspersonen. Die Betroffenen Vereine und Verbände für Gewalt­ als anderswo. Was müssen Athletin­
stoßen zudem immer wieder auf fal­ taten im Sport bestraft werden kön­ nen und Athleten ertragen?
sche Loyalitäten und teils familiäre nen – nach dem Vorbild des Anti­ Dobler: Die Diskussion, was Athletin­
Strukturen, die es schwer machen, dopingkampfs. Gibt es demnächst nen und Athleten ertragen müssen,
Missstände anzusprechen. womöglich sogar ein Antigewalt­ wird immer ohne die Betroffenen ge­
SPIEGEL: Gibt es Sportverbände, die gesetz für den Sport? führt. Da liegt der Fehler. Gerade jun­
vorbildlich reagiert haben? Dobler: Das Bundesinnenministerium ge Sportler wissen oft noch gar nicht,
Dobler: Ja, wir arbeiten vor allem mit hat alle wichtigen Interessengruppen Handball-National- wo ihre Grenzen sind, wenn sie diese
Landessportbünden sehr gut zusam­ eingeladen, um ein »Zentrum für Safe spielerinnen Berger, ständig überschreiten müssen und
Zschocke: »Ein
men. Es gibt auch Fachverbände, die Sport« aufzubauen. Es soll auf den drei solches Ausmaß
auch wollen, um erfolgreich zu sein.
sich dem Thema interpersoneller Ge­ Säulen Prävention, Intervention und konnten wir nicht Man muss ihnen beibringen, dass es
walt sehr gewissenhaft widmen. So Aufarbeitung basieren. Für mich spielt ahnen« individuelle Grenzen gibt und dass
sie die auch benennen dürfen, ohne
gleich als unfähig für den Leistungs­
sport zu gelten.
SPIEGEL: Woher sollen Trainer ihr
Rüstzeug dafür bekommen?
Dobler: Meines Wissens spielen Fragen
der körperlichen, psychischen und se­
xualisierten Gewalt in der ­Ausbildung
der Trainer bisher eine untergeordne­
te oder überhaupt keine Rolle.
SPIEGEL: Sind wir inzwischen generell
zu verweichlicht für die Qualen des
Leistungssports?
Dobler: Ich habe früher selbst Fußball
gespielt, und ich weiß, dass Spitzen­
sport auch mal wehtun kann und dass
ein rauer Ton auf dem Platz dazu­
gehört. Darüber wird sich niemand be­
schweren. Wir müssen allerdings sen­
sibler werden für die Fälle, in denen
Grenzen überschritten werden und wo
Gewalt eingesetzt wird. Fälle, in denen
Menschen andere Menschen kleinma­
chen, um ihr eigenes Ego zu erhöhen.
Wir brauchen eine Diskussion über den
Skjalg Bøhmer Vold

Leistungssport und dessen Werte. Wir


glauben nicht daran, dass Hochleistung
Peter Rigaud

nur mit Gewalt erreicht werden kann.


Interview: Erik Eggers, Udo Ludwig n

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 91


WISSEN

Eugene Hoshiko / AP
In einer luftdichten Plastikkabine mit großen Fenstern sollen Ausflügler schon bald gen Weltraum schweben können, für den Auftrieb sorgt ein mit
­Helium gefüllter Ballon. Der Prototyp des Zweisitzers – neben der Pilotin oder dem Piloten ist Platz für einen Fahrgast – wurde jetzt von dem
­japa­nischen Start-up Iwaya Giken in Tokio vorgestellt. Die Reise würde in ungefähr zwei Stunden in eine Höhe von etwa 25 Kilometern führen, damit
der Passagier einen Blick ins All genießen kann. Nach einem Stündchen geht’s wieder abwärts. Kosten soll der Spaß ungefähr 180 000 Dollar.

Glücklicher und gesünder


Firma (minus 57 Prozent) als im Vergleichszeitraum ein Jahr
­zuvor. Der Clou: Die Umsätze der Firmen blieben konstant, sie
stiegen im Durchschnitt sogar geringfügig um 1,4 Prozent.
»Vor der Studie bezweifelten viele, dass die Produktivitäts­
ANALYSE  Das erstaunliche Ergebnis einer Studie
steigerung die Arbeitszeitverkürzung ausgleichen würde –
zur Viertagewoche bei voller Bezahlung hält Lehren aber genau das haben wir herausgefunden«, sagte der beteiligte
für Unternehmen bereit. ­Soziologe Brendan Burchell von der University of Cambridge.
»Viele Mitarbeiter waren sehr daran interessiert, selbst Effizienz­
Sechs Monate lang galt in 61 Unternehmen aus verschiedenen gewinne zu erzielen. Lange Besprechungen mit zu vielen Perso­
Branchen in Großbritannien eine ungewöhnliche Dienstanwei­ nen wurden abgekürzt oder ganz geschwänzt. Die Arbeitnehmer
sung. Rund 2900 angestellte Frauen und Männer sollten im waren viel weniger geneigt, die Zeit totzuschlagen, und suchten
­Rahmen der weltweit größten wissenschaftlichen Untersuchung aktiv nach Möglichkeiten, ihre Produktivität zu steigern.«
zur Viertagewoche pro Woche einen Tag weniger arbeiten – Viele der Firmen gaben einfach jeden Freitag frei; andere ver­
und das bei voller Bezahlung. Das Ergebnis der Studie hat ein teilten die Schichten so, dass die Arbeitszeit zwar um 20 Prozent
Team um Forschende der University of Cambridge jetzt vor­ reduziert wurde, aber das Geschäft auch am Freitag oder am
gestellt: 71 Prozent der teilnehmenden Angestellten sahen sich Wochenende weiterlaufen konnte. Die frei gewordene Zeit nutz­
viel weniger vom Burn-out bedroht; und 39 Prozent fühlten sich ten die Beschäftigten für Erledigungen, Hausarbeit, Unterneh­
viel weniger gestresst, als sie es vor Beginn der Studie waren. mungen mit der Familie und auch für die Pflege älterer Angehö­
Dass die Viertagewoche die Beschäftigten glücklich macht, riger. Es ist gut möglich, dass die Vorteile der Viertagelöhner
war gewiss zu erwarten. Aber auch die beteiligten Unternehmen von Dauer sein werden. Nach Abschluss der Studie werden
hatten einen Nutzen. Die Zahl der Krankentage fiel um 65 Pro­ 92 Prozent der beteiligten Unternehmen die Viertagewoche bis
zent, darüber hinaus verließen viel weniger Arbeitnehmer ihre auf Weiteres beibehalten. Jörg Blech

92 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


Was die Wüste über Rover »Perseverance« vom Mars auf die dort keines gibt. Und am einfachsten wird
Erde schickte, zum Verwechseln. Ein wich­ es vermutlich sein, Gesteinsproben vom
den Mars verrät tiger Unterschied indes kann anhand der Mars zur Erde zu bringen, weil es hier viel
ASTROBIOLOGIE  In der chilenischen Ata­ bisherigen Daten und Bilder nicht geklärt bessere Messgeräte gibt. Der Rover »Perse­
cama-Wüste haben Forschende eine Forma­ werden. Allen Widrigkeiten zum Trotz gibt verance« hat bereits mehrere Gesteinsstü­
tion aus Steinen entdeckt, die einer Land­ es in der chilenischen Wüste Leben (etwa cke in Metallröhrchen auf dem Marsboden
schaft auf dem Mars verblüffend ähnelt. An in Form von Bakterien) – für den Mars ist abgelegt, die dereinst in einer Rückhol­
der Red Stone (Roter Stein) getauften diese Frage noch offen. mission mitgenommen werden sollen. CHS
­Formation herrscht eine extreme UV-Strah­ Immerhin lag es nahe, die roten Steine in
lung, es ist knochentrocken, das Mineral der Atacama-Wüste als Übungsmaterial
Hämatit färbt die Sedimente rot, bestimmte für jene Roboter zu benutzen, die auf dem
Ablagerungen der Gesteine weisen darauf Mars Hinweise auf Leben finden sollen.
hin, dass einmal Wasser geflossen sein muss. Doch dieser Praxistest endete ernüchternd.
Bedingungen wie auf dem Roten Planeten. Die verschiedenen Geräte konnten in den
»Es sieht aus wie im Jezero-Krater Proben aus der Wüste »nichts oder so gut
auf dem Mars, wo gerade der Rover ›Perse­ wie nichts« finden, so der Mikrobiologe
verance‹ seine Untersuchungen anstellt«, Azua-Bustos – obwohl das Material nach­
sagt der an der Erkundung beteiligte Mikro­ weislich Bakterien enthielt.
biologe Armando Azua-Bustos. Tatsächlich Für die weitere Mars-Erkundung bedeu­
ähnelt die im Fachblatt »Nature Commu­ tet das zweierlei. Falls die Roboter auf dem Jezero-Krater
nications« vorgestellte Atacama-Szenerie Planeten keine Hinweise auf Leben finden auf dem Mars

NASA
auch optisch jenen Bildern, die der Nasa- werden, muss das nicht bedeuten, dass es

»Jeder zweite Ältere


dem, was sie mal in jungen Jah­ SPIEGEL: Welche Medikamente
ren leistete. Folglich werden sind für Ältere besonders

nimmt potenziell gefährliche


Arzneimittel viel schlechter als ­bedrohlich?
früher über die Nieren ausge­ Thürmann: Bedenklich ist die

Medikamente«
schieden. Wir haben Systeme, dauerhafte, hoch dosierte
die unsere Darmbewegungen ­Einnahme von Protonenpum­
koordinieren oder unsere Au­ penhemmern wie Pantoprazol,
gen einstellen. Im Alter können Omeprazol oder Lansoprazol.
MEDIZIN  Die Ärztin und Pharmakologin Petra
die Nebenwirkungen von Sehr viele Menschen nehmen
T­ hürmann, 62, verrät, warum der Körper im Alter ­Medikamenten in diese Systeme diese Wirkstoffe gegen saures
­besonders von Nebenwirkungen bedroht eingreifen, sodass der Darm Aufstoßen und Magenbeschwer­
­träge wird oder man nicht mehr den. Diese Medikamente, die
ist und wie man überflüssige Pillen vermeidet. scharf sehen kann. hinten auf »prazol« enden,
SPIEGEL: Wie häufig nehmen ­bewirken bei Älteren ein sehr
SPIEGEL: Frau Thür­ SPIEGEL: Was macht Medi­ ­ältere Menschen potenziell ­hohes Risiko für Osteoporose,
mann, gemeinsam kamente im Alter denn gefähr­ schädliche Medikamente? also Knochenbrüchigkeit,
mit etwa 60 Fach­ licher? Thürmann: Nach unseren und können zu Oberschenkel­
leuten haben Sie Thürmann: Der Stoffwechsel ­Analysen von Verordnungs­ halsfrakturen führen. Und
Jakob Studnar

untersucht, welche etwa ändert sich im Laufe des daten aus dem Jahr 2021 sie erhöhen das Risiko für be­
Medikamente Lebens dramatisch, das fängt nimmt in Deutschland ungefähr stimmte bakterielle Darment­
für Menschen ab schon mit Ende 30 an. Da lässt jeder zweite ältere Mensch zündungen und wahrscheinlich
65 Jahren gefährlich sein unsere Nierenfunktion nach, bei über 65 Jahren mindestens auch für Lungenentzündungen.
­könnten. Was haben Sie heraus­ einer 80-jährigen Person be­ ein ­Medikament, das potenziell SPIEGEL: Was ist ein weiteres
gefunden? trägt sie nur noch die Hälfte von gefährlich ist. Beispiel?
Thürmann: Wir sind auf Thürmann: Es gibt frei verkäuf­
187 Wirkstoffe gestoßen, die liche Inhaltsstoffe, vor denen ich
eine potenziell inadäquate warne: Doxylamin oder auch
­Medikation darstellen, so Diphenhydramin sind in gängi­
die wissenschaftliche Bezeich­ gen Grippe- und Erkältungsmit­
nung. Wir haben sie in einer teln enthalten und werden darin
neuen, sogenannten Priscus-­ auch als Schlafmittel eingesetzt.
Liste aufgeführt. Das Zeug kann aber bei älteren
SPIEGEL: Priscus ist lateinisch Menschen erhebliche Denkstö­
und heißt auf Deutsch alt. Wie rungen bewirken, und wir halten
kann es sein, dass so viele Arz­ es wirklich nicht für geeignet.
neimittel auf dem Markt sind, SPIEGEL: Was können Ältere
die alten Menschen schaden oder deren Angehörige tun?
können? Thürmann: Gemeinsam zur
Thürmann: Viele Arzneimittel, Ärztin oder zum Arzt gehen,
die von älteren Menschen ein­ um die ganzen Verschreibungen
IMAGO / Westend61

genommen werden, wurden in zu besprechen. Oft wird man


den Zulassungsstudien nur an fündig und entdeckt, dass das
jüngeren und gesünderen Perso­ eine oder andere Medikament
nen getestet. gar nicht mehr nötig ist. BLE

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 93


WISSEN

Bienenintelligenz-Forscher Chittka

Andrea Ar tz / DER SPIEGEL


Der Herr der Bienen
SPIEGEL-GESPRÄCH  Sie können zählen, erkennen menschliche Gesichter und nutzen
Werkzeuge: Nach 30 Jahren Forschung an Bienen ist Lars Chittka
davon überzeugt, dass seine Versuchstiere ein Bewusstsein und Gefühle haben.

Chittka, 59, ist Professor an der Queen Chittka: Die Tiere in Ihrem Garten und ins­ SPIEGEL: Wieso ausgerechnet Bienen? Könn­
Mary University in London. In einer besondere die Bienen, an denen ich forsche, ten wir ebenso über die Realität der Regen­
Vielzahl von Experimenten wies er nach, sind ganz anders als wir: Sie nehmen die Welt würmer oder der Tausendfüßler sprechen?
dass sich Honigbienen und Hummeln bei anders wahr, sie kommunizieren anders, sie Chittka: Jedes Tier ist auf seine Weise inte­
­Intelligenztests wie vernunftbegabte Wesen organisieren ihre Gesellschaften anders. Wir ressant. Aber für die Bienen gilt das beson­
verhalten. haben hier also eine faszinierende alternative ders, schon wegen ihrer sozialen Organisa­
Realität vor uns. tion, ihrer Intelligenz, ihrer Kommunikation
SPIEGEL: Professor Chittka, Sie sagen, wer SPIEGEL: Irdische Außerirdische gewisser­ und ihrer Fähigkeit, komplexe Konstruktio­
nach Aliens sucht, der solle im eigenen Garten maßen … nen zu bauen. All das können Tausendfüßler
schauen. Was meinen Sie damit? Chittka: So kann man es sagen. und Regenwürmer nicht.

94 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


WISSEN

SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch wollen die sie mit ihren Versuchstieren
Sie Ihre Leser davon überzeugen, Facettenreiches Lebewesen durchführen, nicht auch mit Bienen
dass Bienen eine Art von Bewusstsein und Hummeln machen kann. Auch
haben*. Wann hat sich diese Erkennt­ Fähigkeiten und Eigenschaften von Bienen, die im Experiment mit Philosophen hatten wir Kontakt.
untersucht werden
nis bei Ihnen herausgebildet? Die stehen der Vorstellung, dass In­
Chittka: Diese Einsicht hat sich lang­ Bienen haben unterschiedliche Persönlichkeiten. Das zeigt sekten Bewusstsein oder Gefühle ha­
sam entwickelt. Wenn mir jemand sich zum Beispiel in ihrem Futtersuch-Verhalten: Einige ben könnten, sehr viel offener gegen­
vor 30 Jahren verkündet hätte, dass Individuen fliegen geradlinig und effizient die immer gleichen über als die Physiologen.
Blüten an, andere probieren immer neue Futterquellen aus.
­Bienen ein Bewusstsein haben, dann SPIEGEL: Es gibt den Aufsatz des Phi­
hätte ich darüber gelacht. Inzwischen losophen Thomas Nagel, der die Fra­
kann man zumindest ernsthaft da­ ge aufwarf, wie es wohl ist, eine Fle­
rüber diskutieren, ohne dass die dermaus zu sein. Können Sie uns,
­Leute glauben, man wäre verrückt nach 30 Jahren Forschung, sagen, wie
geworden. es ist, eine Biene zu sein?
SPIEGEL: Gab es auf dem Weg zu Ihrer Chittka: Dazu sollten wir uns klarma­
Erkenntnis Schlüsselmomente? chen, was für diese Tiere wichtig ist.
Chittka: Wir untersuchen das Lern­ Da sind zunächst die Blüten: Für uns
Start
verhalten und die Intelligenz der sind die nur hübsch, für Bienen da­
­Bienen seit Jahrzehnten. Aber selbst gegen die primäre Nahrungsquelle.
nachdem wir festgestellt hatten, dass Deshalb spielen sie in ihrer Welt
Bienen zählen können, dass sie Bienen können zählen. Chittka trainierte die Tiere, auf einem eine herausragende Rolle. Ein zweiter
Feld nach drei von vier Zelten eine Futterstelle anzufliegen.
menschliche Gesichter erkennen kön­ Als er die Abstände veränderte, verfehlten sie ihr Ziel – ein wichtiger Punkt ist, dass die Bienen-
nen und dass sie viele weitere er­ Beweis, dass sie sich an der Zahl der Markierungen, nicht an und Hummelarbeiterinnen steril sind,
staunliche Fähigkeiten haben, habe der Distanz orientieren. sie paaren sich nicht. Deshalb kann
ich diese Tiere immer noch unter­ man mit hoher Wahrscheinlichkeit
Reihe pyramidenförmiger Zelte
schätzt. Ich erinnere mich daran, dass davon ausgehen, dass Sex in ihren
mich vor 15 Jahren ein Student ge­ Gedanken keine Rolle spielt. Zum
fragt hat, ob Bienen möglicherweise Dritten wissen wir inzwischen vieles
Gefühle haben. »Völliger Unsinn«, über ihre Wahrnehmungswelt.
habe ich ihm geantwortet. SPIEGEL: Dann lassen Sie uns über die
SPIEGEL: Heute sehen Sie das anders? Sinne der Bienen reden. Welcher da­
Chittka: Es gab eine Beobachtung, die von ist dominant?
Futterstelle an alter Position, aber hinter dem vierten Zelt
mir die Augen geöffnet hat. Wir woll­ Chittka: Geruchs- und Sehsinn stehen
ten das Verhältnis der Bienen zu ihren ungefähr auf gleicher Stufe, sind aber
Fressfeinden studieren und haben Bienen können komplexe Muster erkennen. Chittka keine Supersinne. Bienen haben we­
konnte ihnen beispielsweise beibringen, das Bild eines
dazu die Angriffe sogenannter Krab­ bestimmten menschlichen Gesichts unter mehreren der Adleraugen noch Hundenasen.
benspinnen simuliert, die in Blüten anderen herauszufinden. SPIEGEL: Immerhin riechen Honig­
sitzend auf Beute lauern. Ähnlich wie bienen gut genug, um sie als Ersatz
Chamäleons nehmen diese Raubtiere für Drogenhunde in Betracht zu
dabei die Farbe der Blüte an. Diese ­ziehen …
Situation haben wir im Labor nach­ Chittka: Ja, es hat Versuche gegeben,
gestellt, indem wir einen gut getarn­ Bienen an Flughäfen einzusetzen.
ten Spinnenroboter gebaut haben, Denn sie können lernen, so ziemlich
der die anfliegende Hummel kurz alles mit Belohnungen zu assoziieren,
packt und dann wieder freilässt, als auch völlig unbiologische Düfte wie
Simulation einer erfolglosen Beute­ den von Dynamit oder Kokain. Aber
greiferattacke. Die Hummeln haben Die Biene wird mit diese Versuche sind abgebrochen
nach dieser Erfahrung ihr Verhalten einem Porträt trainiert worden, weil die Bienen zu viele
drastisch verändert. Sie haben jede ­Fehler machten. Ihre Nase ist eben
einzelne Blüte sorgfältig begutachtet, doch nicht so empfindlich wie die der
ehe sie darauf gelandet sind. Manch­ Bienen können Werkzeuggebrauch erlernen. So schaffen Hunde.
mal mieden sie sogar Blüten, die sie es, eine Scheibe mit Zuckerwasser an einem Faden unter SPIEGEL: Wie steht es um die Augen?
eigentlich völlig sicher waren, gerade einer Plexiglasscheibe hervorzuziehen. In Ihrem Buch sagen Sie, Bienen
so, als ob sie da ein Gespenst gesehen könnten »schneller« sehen. Was soll
hätten. man sich darunter vorstellen?
SPIEGEL: Bei einem Menschen würde Chittka: Die zeitliche Auflösung ihrer
man in dieser Situation sagen, er ist Sehreize ist höher. Klassische Neon­
traumatisiert. röhren zum Beispiel gehen 50-mal pro
Chittka: Richtig. Natürlich ist das kein Sekunde an und aus. Menschen neh­
formeller Nachweis dafür, dass Bie­ men das nicht wahr, für Bienen ist das
nen Gefühle haben. Aber erstaunt wie Stroboskoplicht in der Disco.
waren wir damals schon. Wir haben Belohnung SPIEGEL: Nun haben die Bienen ihren
dann mit Wissenschaftlern, die an Sehsinn aber sicher nicht entwickelt,
Ratten, Vögeln oder Primaten for­ um das Flackern unserer Neonlampen
schen, diskutiert, ob man die Tests, Artgenossinnen, die dieses Verhalten sehen, eignen sich den auflösen zu können. Wozu dann?
Trick an und geben ihn auch weiter – ein Nachweis der Chittka: Bienen fliegen schnell, sie er­
Fähigkeit zum Lernen durch Nachahmung. reichen bis zu 30 Stundenkilometer.
* Lars Chittka: »The Mind of a Bee«. Princeton
University Press; 272 Seiten. S Grafik Eine Biene, die mit solchem Tempo


Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 95


WISSEN

Versuchsaufbau zur Mustererkennung bei Hummeln

Andrea Ar tz / DER SPIEGEL

Blickwinkel / IMAGO
Hummel auf Nahrungssuche

mitten durch eine Blumenwiese fliegt, wird SPIEGEL: Und Magnetfelder? Können die Bie- Chittka: Bis zu einem gewissen Grad schon.
von allen Seiten mit Reizen bombardiert. Sie nen die auch messen? Gerade bei den sozialen Insekten gibt es vie-
muss schnellstmöglich diejenigen Blüten he- Chittka: Ja, das können sie. Allerdings wissen le sehr eindrucksvolle Verhaltensweisen, die
rauspicken, von denen sie weiß, dass sie eine wir bisher noch nicht, wie sie es tun. Auch wo eindeutig instinktgeleitet sind. Nehmen Sie
Belohnung versprechen. Und sie muss dabei sich der Magnetsinn befindet, ist noch nicht zum Beispiel den Bau von Honigwaben: ein
vermeiden, mit Ästen, Stängeln oder anderen geklärt. Konstrukt, das in seiner Regularität, Sym-
fliegenden Insekten zu kollidieren. Das geht SPIEGEL: Bienen haben einen elektrischen und metrie und Funktionalität außerhalb der Men-
nur, wenn sie sehr schnell gucken kann. einen magnetischen Sinn. Haben Sie noch schenwelt ohne Beispiel ist.
SPIEGEL: Welche Rolle spielen dabei die mehr Supersinne, die uns fehlen? SPIEGEL: Doch so vernünftig diese Waben
­Farben? Für ein Tier, das sich besonders für Chittka: Ja. Anders als wir sind Bienen emp- auch aussehen, so sind sie doch nichts als ein
Blüten interessiert, muss das Farbensehen findlich für die Polarisation des Lichts. Das Produkt des Instinkts, wollen Sie sagen?
wichtig sein. ist sehr nützlich, weil sie sich bei ihrer Navi- Chittka: Genau. Wobei zumindest subtile De-
Chittka: Absolut. Nur dass die Farbwahrneh- gation an der Sonne orientieren. Wenn die tails auch durch Erfahrung beeinflussbar zu
mung der Bienen anders ist als die unsere. Sie Sonne unsichtbar ist, weil sie zum Beispiel sein scheinen. Es gibt Studien, wo man Bienen
sehen zum Beispiel Ultraviolett. Das erlaubt hinter einem Berg oder einer Wolke steht, in Plastikwaben aufwachsen ließ. Und tat-
es ihnen, mehrfarbige Muster auf Blüten zu müssen die Bienen rekonstruieren, wo sie sich sächlich waren die Bauten, die diese Bienen
erkennen, die für uns einfarbig sind. versteckt. Und das tun sie mithilfe der Pola- später als Erwachsene produzierten, beein-
SPIEGEL: Das heißt, wir legen Blumengärten risation des Sonnenlichts. flusst von den Waben, in denen sie aufge-
an, aber deren eigentliche Pracht können wir SPIEGEL: Die Sinne der Bienen scheinen also wachsen waren. Und es geht sogar noch wei-
gar nicht sehen? sogar noch vielfältiger zu sein als die unseren. ter: Es gibt Hinweise darauf, dass Bienen beim
Chittka: In gewissem Sinne ist das richtig. Die Trotzdem gehen die meisten Menschen davon Bau ihrer Waben vorausschauend planen.
Schönheit, die sich den Bienen zeigt, bleibt aus, dass ihr Verhalten eher dem gefühlloser SPIEGEL: Wie das?
uns verborgen. Roboter gleicht. Zu Unrecht? Chittka: Das hat François Huber schon Anfang
SPIEGEL: Zum Seh- und Geruchssinn kommen Chittka: Das hängt davon ab, wie Sie »Robo- des 19. Jahrhunderts beschrieben. Er hat die
bei den Bienen noch weitere Sinne hinzu. ter« definieren. Wenn Sie darunter eine Ma- hölzernen Bienenstöcke modifiziert, in denen
Chittka: Ja, erstaunlich sind vor allem die schine verstehen, die in ihrem Verhalten nur die Bienen gehalten werden. Normalerweise
Antennen. Wenn man sie sich in die Men- strikt vorgegebenen Instruktionen folgt, dann bauen sie ihre Waben von oben nach unten.
schenwelt übersetzt vorstellt, wären sie arm- können wir bei den Bienen schon sagen: Da Als er an der Decke eine Glasscheibe mon-
lange Sinnesorgane. Der Name »Fühler« sug- steckt mehr drin in diesen Köpfen. Wir und tierte, die zu glatt ist, um Waben daran zu
geriert, dass sie nur dem Tastsinn dienen. andere Forschergruppen haben diese Tiere in befestigen, bauten die Bienen plötzlich von
Tatsächlich aber können Antennen noch viel unseren Experimenten vor vielerlei Heraus- unten nach oben. Und als er auch noch einen
mehr. Sie sind zugleich Nase und Zunge der forderungen gestellt, denen sie in ihrem natür- gläsernen Boden einzog, da begannen die Bie-
Biene. Und obendrein können sie elektrische lichen Leben nicht begegnen. Und sie schaffen nen ihre Konstruktion an den Seitenwänden.
Felder analysieren. es, diese Probleme zu lösen, obwohl die Evo- SPIEGEL: Das ist in der Tat bewundernswert,
SPIEGEL: Wozu das? lution sie nicht dafür programmiert haben zumal die Abfolge der notwendigen Arbeits-
Chittka: Das ist zum Beispiel bei der Futter- kann. schritte dann ja eine völlig andere ist. Trotz-
suche wichtig. Bienen können anhand elek­ SPIEGEL: Wollen Sie damit etwa sagen, dass dem: Wieso sprechen Sie von vorausschau-
trischer Felder abschätzen, wann eine Blüte diese Insekten Probleme durch Anwendung ender Planung?
zuletzt besucht worden ist. Jedes Mal wenn von Vernunft lösen? Chittka: Das zeigt sich beim nächsten Experi-
eine Biene oder eine Hummel auf einer Blüte Chittka: Bei manchen der Intelligenztests, die ment. Nachdem sich die Bienen nämlich von
landet, kommt es zu einem Austausch elekt- wir in unserem Labor durchgeführt haben, der einen Seitenwand beginnend bis in die
rischer Ladungen. Nachfolgende Nektar- trifft dies durchaus zu. Jedenfalls folgen sie Mitte des Hohlraums vorgearbeitet hatten,
sammlerinnen erkennen das und wissen des- offenbar keinem angeborenen Instinkt. befestigte Huber auch an der gegenüberlie-
halb: Diese Blüte wurde gerade geleert, da ist SPIEGEL: Ist denn die Unterscheidung zwi- genden Wand eine Glasscheibe. Und siehe
im Moment nichts zu holen. schen »Instinkt« und »Vernunft« sinnvoll? da: Tage bevor die Bienen an dieser Wand

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WISSEN

angekommen waren, änderten sie »Flieg drei in Ihrer Forschung dagegen vor allem mit einer Belohnung, also mit einem
die Richtung ihrer Konstruktion um für die nicht instinktgesteuerten Fä­ Tropfen Zuckerwasser, zu assozi­
90 Grad. Es war also, als hätten sie Kilometer higkeiten. Sie haben vorhin gesagt, ieren. Anschließend haben wir ge­
gemerkt: »Wenn wir so weiterma­ Richtung Bienen könnten zählen. Was meinen guckt, ob die Bienen auch dann,
chen, dann kriegen wir ein Problem.«
SPIEGEL: In Ihrem Buch sagen Sie, das
Südsüdwest, Sie damit?
Chittka: Diese Erkenntnis beruht auf
wenn es keine Belohnung mehr gab,
genau dieses Foto anfliegen. Ungefähr
räumliche Denken sei der Schlüssel da gibt’s was Experimenten, die wir schon in den 80 Prozent haben es tatsächlich ge­
zur Intelligenz der Bienen. Wie kom­ zu ­essen.« Neunzigerjahren gemacht haben. Wir schafft.
men Sie darauf? haben dazu auf einem Feld pyrami­ SPIEGEL: Ein weiterer Ihrer Befunde
Chittka: Sicher ist jedenfalls, dass die denförmige Zelte zwischen Stock und ist, dass Bienen auch fähig sind,
räumliche Orientierung ein zentraler Futterstelle aufgestellt, weil wir wis­ Werkzeuge zu gebrauchen?
Faktor in der Evolution der Bienen sen wollten, ob sich die Bienen an Chittka: Ja, um das zu testen, haben
gewesen sein muss. Denn im Gegen­ solchen Landmarken orientieren. Die wir ein Experiment gemacht, bei
satz zu vielen anderen Insekten ha­ Bienen mussten dann lernen, an dem sie an einem Faden ziehen müs­
ben Bienen eine Heimat, also eine zwei dieser Zelte vorbeizufliegen und sen. Ein klassischer Intelligenztest,
Basis, zu der sie zurückfinden müs­ nach dem dritten zu landen, weil da den man auch an vielen Vogel- oder
sen. Vor allem für Bienenarten, die eine Belohnung wartete. Dann haben Primatenarten durchgeführt hat. Da­
solitär, also nicht in sozialen Gemein­ wir den Abstand der Zelte verändert, bei wird den Tieren sichtbar, aber
schaften leben, ist es eine Katastro­ und tatsächlich: Als wir die Zelte außerhalb ihrer Reichweite Futter
phe, wenn sie sich verirren. Denn sie in dichterem Abstand platziert ha­ präsentiert, und um daran heranzu­
sind alleinerziehende Mütter. Wenn ben, sind die Bienen im Schnitt vor kommen, müssen sie an einem Faden
sie nicht heimkehren, ist ihre gesam­ dem eigent­lichen Ziel gelandet; als ziehen. Wir haben den Bienen eine
te Brut verloren. wir ­dagegen den Abstand vergrößer­ horizontale Schale als künstliche
SPIEGEL: Der Selektionsdruck, sich ten, flogen sie über das Ziel hinaus. ­Blüte angeboten, in deren Mitte eine
orientieren zu können, ist also hoch? Sie haben sich also tatsächlich von Vertiefung mit Zuckerwasser war.
Chittka: Extrem hoch. Und die He­ der Zahl der Landmarken leiten Doch die Schale lag unter einer Plexi­
rausforderung ist enorm. Wenn Sie ­lassen. glasscheibe. Um heranzukommen,
einmal ohne Landkarte und ohne SPIEGEL: Bis wohin können sie denn mussten die Hummeln lernen, sie an
Smartphone gewandert sind, dann zählen? einem Faden unter dieser Scheibe
werden Sie wissen, wie schwierig es Chittka: Bis vier, soweit wir wissen. hervorzuziehen.
ist. Sie müssen sich sehr genau an SPIEGEL: Sie sagten weiterhin, Bienen SPIEGEL: Und das können sie tat­
­einzelne Bäume, Felsen oder andere könnten menschliche Gesichter er­ sächlich?
Landmarken erinnern. Und Sie müs­ kennen. Wie haben Sie das heraus­ Chittka: Sie können sogar noch mehr.
sen den Sonnenstand lesen können. gefunden? Wenn andere Hummeln hinter einer
Und all das über große Distanzen, Chittka: Anfang dieses Jahrhunderts Glasscheibe sitzen und zugucken, wie
denn Bienen fliegen weit, viele Kilo­ gab es unter Psychologen eine Kon­ ihre Artgenossin an dem Faden zieht,
meter. Wir haben hier im East End troverse darüber, ob wir Menschen dann erlernen sie diese Technik auch.
von London einmal Bienenstöcke mit Gesichter nur dank eines spezialisier­ Dieses Wissen verbreitet sich in der
Hummelvölkern aufgestellt und Tau­ ten Moduls in unserem Gehirn unter­ Gemeinschaft sehr schnell. Man kann
sende Tiere individuell markiert. scheiden können. Damals waren wir mithilfe sozialer Netzwerkanalysen
Dann haben wir die Öffentlichkeit so beeindruckt von den visuellen genau nachvollziehen, wie ein Tier
aufgerufen zu gucken, wo sie die ­Tiere ­Fähigkeiten der Bienen, dass wir vom anderen lernt.
wiederfinden. Die am weitesten ent­ ­gedacht haben, wir probieren es ein­ SPIEGEL: Das heißt, es bildet sich
fernten tauchten im Hyde Park auf, fach mal aus. unter Ihren Hummeln eine Art Strip­
acht Kilometer von hier. SPIEGEL: Und was ist herausge­ penzieherkultur?
SPIEGEL: Die wohl berühmteste kog­ kommen? Chittka: Genau. Der in der Verhal­
nitive Leistung der Honigbienen ist Chittka: Wir haben den Bienen tensforschung üblichen Definition
ihr Schwänzeltanz. Auch der ist ­verschiedene Schwarz-Weiß-Fotos zufolge handelt es sich hier um »Kul­
abgeleitet aus ihrem räumlichen
­ Chittka, SPIEGEL-­ menschlicher Gesichter angeboten tur«, also um ein von einer Gruppe
­Denken? Redakteur* und ihnen beigebracht, eines davon erlerntes Verhalten, das sich bei an­
Chittka: Mit Sicherheit. Schließlich deren Gruppen der gleichen Tierart
dient der Schwänzeltanz der Über­ nicht findet.
mittlung von Koordinaten im Raum. SPIEGEL: Haben die einzelnen Bienen
Über ihren Tanz teilt eine Biene ihren eigentlich voneinander unterscheid­
Stockgenossinnen mit, in welcher bare Persönlichkeiten?
Entfernung und in welcher Richtung Chittka: Ja, das kann man so sagen.
vom Stock aus sich eine Futterstelle Ich tue mich zwar ein bisschen schwer
befindet – ein einzigartiges Verhalten. mit diesem Begriff, aber zumindest in
Kein anderes Tier kann den Artge­ dem Sinne, dass die Individuen unter­
nossen sagen: »Flieg drei Kilometer schiedliche psychologische Merkmale
Richtung Südsüdwest, da gibt’s was haben, die sie konsistent über den
zu essen.« Verlauf ihres Lebens hin zeigen, müss­
Andrea Ar tz / DER SPIEGEL

SPIEGEL: So eindrucksvoll der te ich die Frage bejahen.


Schwänzeltanz auch sein mag, so SPIEGEL: Von was für psychologischen
zählt er doch zu den instinktiven Ver­ Merkmalen sprechen Sie denn da?
haltensweisen. Sie interessieren sich Chittka: Nehmen Sie das Lernverhal­
ten. Es gibt bestimmte Tiere, die
* Johann Grolle in London. schnell Farben lernen können. Und

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WISSEN

wenn man dann guckt, wie schnell sie Düfte


oder Muster erkennen, stellt man fest: Ja,
auch darin sind sie gut.
SPIEGEL: Sie zeichnen sich also dadurch aus,
besonders gute Schüler zu sein. Haben Sie

Arme reiche Kinder


noch andere Persönlichkeitsmerkmale
­untersucht?
Chittka: Es gibt zum Beispiel Individuen, die
immer nur eine Art von Blüte besuchen, und
andere, die ständig neue ausprobieren. Auch
das ist eine Eigenschaft, die sie ihr ganzes ARCHÄOLOGIE  Auf einem alten Friedhof fanden Forscher die Gebeine
Leben lang beibehalten.
SPIEGEL: Gibt es unter Bienen auch so etwas
von Kindern aus der Oberschicht des 17. und 18. Jahrhunderts.
wie eine Persönlichkeitsentwicklung? Ver­ Trotz ihrer Abstammung hatten sie keine Chance – ihre Überreste
ändern sie sich im Alter? ­künden von traurigen Schicksalen.
Chittka: Durchaus. Es gibt bestimmte fest­
gelegte Übergänge im Lebenslauf von Honig­

W
bienen. Kurz nachdem sie geschlüpft sind, enn der siebte Geburtstag kam, war Knochen von zwei Kleinkindern hervor und
befassen sie sich mit Aufgaben innerhalb des für viele Heranwachsende auf dem hält einen leicht verbogenen Oberschenkel­
Stocks. Sie bauen Waben und versorgen die Land die Kindheit vorbei. Mädchen knochen einer Dreijährigen unter das Licht
Larven mit Nahrung. Erst später, wenn sie und Jungen mussten dann raus aufs Feld, den einer Lampe. »Eindeutig Rachitis«, sagt Jung­
ein oder zwei Wochen alt sind, fangen sie an Erwachsenen helfen, bei Wind und Wetter. klaus.
mit dem Wachdienst am Stockeingang und Abends kehrten sie in zugige Häuser zurück, Die Krankheit geht auf Fehlernährung und
noch später auch mit Ausflügen, um Nektar in denen auch das Vieh lebte. vor allem auf einen Mangel an Sonnenlicht
zu sammeln. Mit jeder dieser Phasen gehen Den Kindern in Städten erging es nicht bes­ zurück: Der Körper produziert dann zu wenig
sensorische und psychologische Veränderun­ ser. Exkremente und Abfälle wurden im 17. Vitamin D, die Knochen werden weich. Unter
gen einher. und 18. Jahrhundert vielerorts auf die Straße dem Gewicht der Körper verbiegen sie sich.
SPIEGEL: Wenn so eine Biene dann irgend­ gekippt, überall lauerten Infektionsgefahren. Heranwachsende können während der ersten
wann zu ihrem Jungfernflug aufbricht, was, Wirksame Medikamente gab es kaum. Fieber­ Lebensjahre so etwa extreme O-Beine aus­
glauben Sie, empfindet sie? Hat sie Angst? Ist te der Nachwuchs, blieb oft nur die Hoffnung bilden.
sie aufgeregt? Oder kennen Bienen solche Art auf Gottes Gnade. Jungklaus fand bei 42 Prozent der unter­
von Gefühlen nicht? In der Frühen Neuzeit starben deswegen suchten Wolfenbütteler Kinderskelette Hin­
Chittka: Es gibt keinen formellen Beweis für in vielen Regionen Euro­pas auch ohne Pan­ weise auf Rachitis. »Ein extrem hoher An­
den Gefühlszustand bei irgendeinem Tier. Die demien 30 bis mancherorts sogar 60 Prozent teil«, sagt sie. Das gilt vor allem im Vergleich
einzige Art, bei der man die Frage nach den der Kinder noch vor ihrem zwölften Geburts­ zu Kindern, die auf dem Land lebten: Sie
subjektiven Empfindungen beantworten tag. wurden wohl häufig einseitiger ernährt und
kann, ist der Mensch, denn wir können da­ War es wenigstens um den Nachwuchs der aßen oft Mehlpapp, litten aber nicht unter
rüber sprechen. Bei Tieren dagegen müssen oberen Gesellschaftsschichten besser bestellt Lichtmangel. Als die Forscherin vor einigen
wir uns mit Wahrscheinlichkeiten begnügen. als um die Kinder der Arbeiter- und Bauern­ Jahren eine Skelettserie aus dem bäuerlichen
Wenn Ihr Hund jault und seine verletzte­ familien? Hatten die Töchter und Söhne der Brandenburg untersuchte, fand sie nur selten
Pfote schützt, wenn sich dazuhin bestimmte Reichen und Gebildeten bessere Aussichten, Hinweise auf Rachitis.
Stresshormone in seinem Blut finden, dann die ersten Lebensjahre zu überstehen? Mitglieder der Oberschicht hingegen lie­
dürfen wir davon ausgehen, dass er vermut­ Eher nicht. Mancherorts waren ihre Chan­ ßen ihren Nachwuchs offenbar kaum nach
lich eine unangenehme Schmerzempfindung cen sogar besonders schlecht. Darauf deuten draußen, vielleicht aus Angst, dass ihm etwas
hat. Ob man auch bei Bienen von Emotionen Ergebnisse eines vom Land Niedersachsen zustoßen könnte. Tatsächlich war die Zeit
sprechen kann, das haben wir gerade erst geförderten Forschungsprojekts hin, in dessen nach dem Dreißigjährigen Krieg, unter dem
­begonnen zu erkunden. Aber jetzt, wo wir Mittelpunkt ein ehemali­ger Friedhof in Wol­
die Büchse der Pandora einmal aufgemacht fenbüttel steht. Auf dem Areal wurden im Durch Rachitis
haben, stellen sich in der Tat diese Art von 17. und 18. Jahrhundert Mitglieder wohlha­ verformter
Fragen. bender und zum Teil einflussreicher Familien Kinderknochen
SPIEGEL: Was, glauben Sie, denken Ihre Hum­ bestattet, dazu einige ihrer Mitarbeiter. Aus­
meln denn von Ihnen? grabungen in einem Teilbereich förderten die
Chittka: Ich bezweifle, dass sie irgendetwas Überreste von insgesamt 79 dieser Menschen
von mir denken. Dafür wende ich den ein­ zutage, unter ihnen waren 26 Kinder bis zwölf
zelnen Tieren wahrscheinlich zu wenig Jahre.
­Aufmerksamkeit zu. Aber ich hatte vor ein Die Untersuchung der Gebeine deutet auf
paar Jahren eine interessante Korrespondenz eine traurige Kindheit. Die Mädchen und Jun­
mit einer Frau aus Schottland, die eine be­ gen waren von ihren Müttern und Vätern
hinderte Hummelkönigin unter ihre Fittiche nicht nur schlecht ernährt, sondern wohl auch
genommen hatte. Sie schilderte sehr ein­ am Spiel unter freiem Himmel gehindert wor­
drucksvoll, wie freundschaftlich ihr Verhältnis den. Für viele eine tödliche Kombination.
wurde, und hat das auch mit Fotos belegt. Die Laut Anthropologin Bettina Jungklaus, die
Hummel hat diese Frau, die ihr Schutz und das Forschungsprojekt startete, bilden die
Dirk Opitz / DER SPIEGEL

Futter gegeben hatte, offenbar erkannt und ­Bestatteten einen »guten repräsentativen
wusste, dass von ihr nur Gutes zu erwarten Querschnitt der damaligen städtischen Ober­
war. schicht«. In ihrem Labor in Northeim ver­
SPIEGEL: Professor Chittka, wir danken Ihnen wahrt die Wissenschaftlerin die Gebeine aus
für dieses Gespräch. n Wolfenbüttel in Pappkartons. Sie zieht die

98 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


WISSEN

auch Wolfenbüttel erheblich zu leiden Heutzutage wäre das dank adäquater


hatte, gefährlich: Viele zwielichtige Alternativen zur Muttermilch kein
Gestalten streiften durch die Gegend, Problem. Damals kam das rasche
vor allem ehemalige Söldner. Ende der Stillzeit für viele Kinder
Immer wieder werden bei Bau­ einem Todesurteil gleich.
arbeiten Friedhöfe aus dem Mittel­ Kindern, die nicht an die Brust
alter und der Frühen Neuzeit frei­ durften, wurden Tiermilch, Fleisch­
gelegt, doch die Wolfenbütteler Kno­ brühe oder gar Biersuppe gegeben;
chen sind etwas Besonderes. Dank Ersatzkost, die oft Durchfallerkran­
eines gut erhaltenen und penibel ge­ kungen hervorrief. Vor allem fehlte
führten Begräbnisbuchs von 1747 und einem Teil des Nachwuchses Vitamin
eines Lageplans der Gräber lassen C. Einige Kleinkinder, deren Gebeine
sich die Überreste in den meisten in Wolfenbüttel ausgegraben wurden,
­Fällen auf ganz bestimmte Menschen erhielten offenbar so wenig davon,
zurückführen. Für die Forschung sei dass ihre Knochen schon deutliche
das ein seltener Glücksfall, sagt Jung­ Hinweise auf Skorbut offenbarten –
klaus, so könnten zeitgenössische jene Krankheit, die auch Tausende
Archivquellen wie Gerichtsakten, Seefahrer dahinraffte. Der Mangel
Krankenberichte und Leichenpredig­ führte zu anderen Folgeerkrankun­
ten mit den Erkenntnissen aus der gen: Aus einer Erkältung wurde
Knochenuntersuchung verknüpft schnell eine Entzündung der Nasen­
werden. nebenhöhlen – und dann eine poten­
Die Anthropologin holt Überreste ziell tödliche Infektion der Hirn­-

Dirk Opitz / DER SPIEGEL


aus Parzelle 56, Grab 47, hervor; sie häute.
stammen mit großer Sicherheit von Die Mütter, die nicht stillten,
einem Mädchen namens Ilsa Doro­ wussten es nicht besser – und standen
thea. Ilsa starb am 4. Juli 1660 im überdies unter großem Druck. Stillen
­Alter von 14 Monaten und ist ein mindert die Chancen auf eine
Kind des Hofgerichtssekretärs Julius Schwangerschaft, und Kinderreich­
Conrad Stockhausen und seiner Frau Anthropologin heit kann von der Mutter aufs Kind tum war erwünscht. Agnes Catharina
Agnes Catharina, Erbin eines reichen Jungklaus mit übertragen werden, doch das war mit Stockhausen war beispielsweise zwi­
Gebeinen: Schlechte
Kaufmanns. Das Paar wohnte in Ernährung und Sicherheit nicht das Einzige, was dem schen Frühling 1645 und Sommer
einem repräsentativen Fachwerkhaus mangelndes Sonnen- Stockhausen-Nachwuchs zusetzte. 1662 fast durchgehend schwanger;
und besaß laut zeitgenössischen Quel­ licht Hinzu kam mit großer Wahrschein­ nur einmal gab es eine Pause, die
len reichlich edle Kleidung, Schmuck lichkeit eine Ernährung, die anfällig etwa zwei Jahre währte. Denkbar ist
und Zierrat. Außerdem gab es in für Magenprobleme und Infektionen natürlich, dass sie zwischendurch
­seinem Heim eine gut aus­gestattete machte. eine oder gar mehrere Fehlgeburten
Bibliothek, die wohl vor allem vom Jungklaus war während ihrer erlitt.
Vater genutzt wurde: Seine Wirbel­ Untersuchungen immer wieder über »Die gebärfähigen Frauen waren
säule verriet, dass er sich oft über den schlechten Zustand von Kiefern mehr schwanger als nicht schwan­
­Bücher oder Akten gebeugt haben und Zähnen erstaunt. Viele der Be­ ger«, sagt Historikerin Wagener-­
muss. statteten hatten starke Karies, auch Fimpel. Das ging vielen an die Sub­
»Stockhausen dürfte über die Jah­ die Kinder. Die Anthropologin führt stanz, zumal Geburten viel gefähr­
re eine beachtliche Bildung erworben das vor allem auf eine »unausge­ licher waren als heute. Es gab daher
haben«, sagt die Historikerin Silke wogene Kost mit zahlreichen Süß­ nicht nur eine enorme Kindersterb­
Wagener-Fimpel, die als Mitarbeite­ speisen« zurück. Handelslisten, die lichkeit, sondern auch eine hohe
rin des Niedersächsischen Landes­ Historikerin Wagener-Fimpel auswer­ ­Müttersterblichkeit. Wagener-Fimpel
archivs in Wolfenbüttel am For­ tete, unterfüttern den Befund, denn stieß bei ihren Recherchen in den zeit­
schungsprojekt beteiligt ist. Was dem es wurde viel Marzipan und Konfekt genössischen Dokumenten immer
Bücherfan offenbar fehlte, war Wis­ gekauft. »Zuckerhaltige Speisen gal­ wieder auf Fälle von Frauen, die
sen über Kindergesundheit – das war ten als Zeichen des Wohlstands«, sagt schwanger, bei der Geburt oder im
zur damaligen Zeit schlicht wenig sie. Wochenbett verschieden. Einer dieser
vorhanden. Die Stockhausens erlitten Viele Kinder der damaligen Elite Fälle sticht heraus, wie Anthropolo­
daher ein damals übliches Schicksal: fielen dem Siechtum anheim, weil sie gin Jungklaus feststellen musste.
den Verlust gleich mehrerer Töchter Stubenhocker und Naschkatzen wa­ Im Grab mit der Nummer 60
und Söhne. ren. Allerdings starben auch viele, konnte die Forscherin wahrscheinlich
Das Ehepaar musste innerhalb bevor sie überhaupt genügend Zähne den seltenen Fall einer »Sarggeburt«
von 21 Jahren sieben ihrer zwölf Kin­ zum Süßigkeitenessen hatten. nachweisen. Die darin liegende Frau
der zu Grabe tragen; fünf davon wa­ Es gibt keine genauen Statistiken war hochschwanger, als sie im Alter
ren unter oder gerade zwei Jahre alt,
die anderen beiden starben im Alter
»Zuckerhal­ zur Säuglingssterblichkeit im Mittel­
alter und in der Frühen Neuzeit. Einig
von 37 Jahren starb. Durch den Druck
der Fäulnisgase, die sich nach der Be­
von neun und zwölf. Im Fall der tige Speisen sind sich Experten aber, dass die Mut­ stattung im Körper ansammelten,
Stockhausens ist die hohe Mortalität galten als terbrust den entscheidenden Unter­ könnte der Fötus posthum noch her­
wahrscheinlich auch darauf zurück­
führen, dass die Mutter Syphilis
Zeichen des schied machte. Dort, wo lange gestillt
wurde, ging es den Kindern besser –
ausbefördert worden sein. Die Knö­
chelchen, die von ihm übrig blieben,
­hatte; ihre Knochen zeigen laut Jung­ Wohlstands.« und es gibt Hinweise, dass Frauen in entdeckten Jungklaus und ihr Team
klaus die dafür typischen »pfirsich­ Bettina Jungklaus, den oberen Schichten der Gesell­ zwischen den Beinen der Mutter.
kernartigen Strukturen«. Die Krank­ Wissenschaftlerin schaft vergleichsweise früh abstillten. Guido Kleinhubbert n

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WISSEN

immun, und nach der Transplantation war


Brown es auch. Er konnte seine Medikamen­
te absetzen – und war von HIV geheilt.
Einer ähnlichen Prozedur unterzogen die
Düsseldorfer Ärzte 2013 auch ihrem Patien­
ten. Inzwischen hat er seit mehr als vier Jah­
ren seine HIV-Medikamente abgesetzt.
Jensen gibt sich angesichts des Erfolgs be­
scheiden. »Natürlich ist die Entwicklung der
HIV-Medikamente der bedeutendere wissen­
schaftliche Schritt«, sagt er. Immerhin hätten
die Medikamente Millionen Menschen welt­
weit ein gutes Leben mit HIV ermöglicht. Sie
würden dafür sorgen, dass HIV-Positive nicht
mehr ansteckend seien, und, prophylaktisch
eingenommen, verhindern, dass Gesunde sich
mit dem HI-Virus infizieren.
Doch »man muss immer versuchen, den

Dr. Reinbacher / KES


nächsten Schritt zu denken, und sich nicht mit
dem zufriedengeben, was man schon erreicht
HI-Viren unter dem hat«, meint Jensen. Das Ziel sei immer, Pa­
Elektronenmikroskop
tienten tatsächlich zu heilen.
2011 war sein Patient an einer akuten mye­
loischen Leukämie (AML) erkrankt. Die ers­
te Chemotherapie schlug zwar an, doch im
September 2012 kam der Blutkrebs zurück.

»Man sollte Symbole


Die einzige Chance auf Heilung war eine
Stammzelltransplantation, bei der das Im­
munsystem des Patienten durch das eines

nicht unterschätzen«
Spenders ersetzt werden würde.
In der deutschen Datei für Knochenmark­
spender (DKMS) fanden sich fünf passende
Spenderinnen und Spender für ihn – eine von
ihnen trug die gleiche genetische Mutation in
FORSCHUNG  Er hatte Leukämie und HIV – jetzt ist er von beiden sich, die auch schon den »Berliner Patienten«
von HIV geheilt hatte. Im Februar 2013 be­
­Krankheiten befreit. Wie der Fall eines Düsseldorfer Patienten kam der Mann, nachdem seine eigenen Im­
helfen könnte, neuartige Therapien zur Heilung von HIV voranzutreiben. munzellen durch eine aggressive Chemothe­
rapie zerstört worden waren, die Stammzel­
len der Spenderin infundiert.

S
chon Anfang 2013 ahnte Björn Jensen, Seit 1996 können sogenannte antiretrovirale Zunächst lief alles glatt, doch im Juni 2013
dass dieser Patient sein Leben prägen Medikamente das 1983 erstmals beschrie­bene kam die Leukämie zurück. Diesmal behan­
würde. Jensen, Oberarzt an der Klinik Virus in Schach halten. Die damals neuartige delten ihn die Ärzte mit einer vergleichswei­
für Gastroenterologie, Hepatologie und Infek­ Therapie beendete die Schreckensära von se neuartigen Form der Immuntherapie: Sie
tiologie am Universitätsklinikum Düsseldorf, Aids, in der die immungeschwächten, bis zum verabreichten ihm ein Medikament, das seine
war von Kollegen um Unterstützung bei der Skelett abgemagerten Körper der Kranken Krebszellen für das Immunsystem besser
Behandlung gebeten worden. von Infektionen zermürbt wurden. Die Le­ sichtbar machte, und infundierten ihm mehr­
Der Patient war seit 2008 HIV-positiv, benserwartung von HIV-Positiven – zumin­ fach Lymphozyten, also weiße Blutkörper­
einer von damals mehr als 60 000 mit dem dest dort, wo die Medikamente zur Verfügung chen seiner Spenderin. »Ab da«, so Jensen,
Virus infizierten Menschen in Deutschland. stehen – ist seitdem fast normal. »war die Leukämie weg.« Der Patient lebe
HIV ist Jensens Fachgebiet, er gilt als Exper­ Doch die antiviralen Mittel können das inzwischen seit zehn Jahren ohne Blutkrebs,
te für besonders komplizierte Fälle. Sein Virus nicht endgültig aus dem Körper ver­ ein Rückfall sei unwahrscheinlich.
­Auftrag: Er sollte dabei helfen, den Mann zu treiben. Werden sie abgesetzt, kommt es gna­ Trotzdem war 2014 kein leichtes Jahr. Der
heilen – und damit schaffen, was zuvor nach­ denlos zurück. Patient habe immer wieder unter Fieber ge­
weislich nur bei einem einzigen anderen Manche Menschen aber können dank einer litten, alte Viruserkrankungen, etwa mit Her­
­Patienten auf der Welt geglückt war. genetischen Besonderheit den Erreger selbst pesviren, seien durch die nach einer Stamm­
In dieser Woche konnte Jensen das Ende unter Kontrolle halten. Durch eine Mutation zelltransplantation nötige Schwächung des
seiner Mission verkünden. Der Patient ist seit im Erbgut sind sie gegen HIV weitgehend Immunsystems aufgetreten und hätten mit
vier Jahren vom HI-Virus befreit und gilt als unempfindlich. Rund ein Prozent der euro­ Medikamenten bekämpft werden müssen.
geheilt. Die erfolgreiche Therapie haben Jen­ päischen Bevölkerung verfügt über diese be­ »Aber ab Mitte 2015 war klar: Wir können
sen und seine Kollegen jetzt im Fachjournal sonderen Kräfte. uns jetzt mit Thema Nummer zwei beschäf­
»Nature Medicine« dokumentiert. Es ist ein 2009 konnten Mediziner die Mutation tigen, nämlich HIV«, so Jensen.
besonderer Erfolg für Jensen und ein bedeu­ erstmals gezielt nutzen. Damals berichteten Die Mediziner konzentrierten sich nun auf
tender für die Medizin allgemein: Der The­ Ärzte der Charité über den HIV-positiven das sogenannte Reservoir, das HI-Viren im
rapieerfolg könnte wichtige Erkenntnisse »Berliner Patienten« Timothy Brown, der Körper bilden. HIV baut sein Erbgut unter
auch für andere HIV-Patienten bergen. wegen einer Leukämieerkrankung eine anderem dauerhaft in die sehr langlebigen
2013, als Jensen die Behandlung aufnahm, Stammzelltransplantation erhielt. Der Spen­ Gedächtniszellen des Immunsystems ein.
war HIV zwar längst kein Todesurteil mehr. der war durch seine Genmutation gegen HIV Dort schlummert es und kehrt zurück, sobald

100 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


WISSEN

die HIV-Medikamente abgesetzt wer- Jensen ist überzeugt, dass sich aus Alternative zur täglichen Einnahme
den. Auch andere Immunzellen spie- dem Fall viel lernen lässt für Hei- von Tabletten werden. Forscher der
len für das Reservoir eine wichtige lungsansätze. Etwa für den »shock National Institutes of Health der USA
Rolle. and kill approach«, bei dem latente führten dazu eine Studie durch. Sie-
Zwar war das Immunsystem durch Viren aus dem Reservoir reaktiviert ben Patienten erhielten den neuen

Universitätsklinikum Düsseldor f
die aggressive Chemotherapie vor der und dann durch das Immunsystem Antikörper-Mix, sieben Patienten nur
Stammzelltransplantation weitge- oder Medikamente bekämpft werden. eine Placebo-­Infusion. Keiner der Pa-
hend zerstört worden. Und das neue Oder für den »block and lock ap- tienten aus der Antikörpergruppe
Immunsystem der Spenderin, das ihm proach«, bei dem die Virusreaktivie- musste innerhalb der ersten 28 Wo-
übertragen worden war, konnte die rung aus dem Reservoir verhindert chen nach Beginn der Therapie wie-
HI-Viren wegen der Mutation in werden soll. Interessant ist der Fall der Medikamente schlucken – in der
Schach halten. »Aber es gibt trotzdem auch für Forscher, die genetische oder Placebogruppe war dies hingegen bei
noch Rückzugsorte für die Viren, so- immunologische Methoden erproben. »Es gibt sechs von sieben Patienten der Fall.
genannte sanctuary sites«, erklärt So sollen etwa durch Genmanipu- Auch die in der Leukämie- und
Jensen. Die Forscher fahndeten des- lation Immunzellen so verändert wer-
­trotzdem noch Lymphombehandlung sehr erfolg-
halb im Körper nach Virusspuren. den, dass sie resistent gegen eine HIV- Rückzugsorte reich eingesetzte Immuntherapie mit
»Manche der Tests waren nicht Infektion werden. 2019 berichteten für die Viren.« sogenannten CAR-T-Zellen wird in
eindeutig negativ, aber auch nicht ein- chinesische Forscher im »New Eng- den USA derzeit in einer ersten Stu-
Björn Jensen,
deutig positiv«, so Jensen. Doch es land Journal of Medicine« von einem Klinikarzt
die an 18 HIV-Patienten erprobt. Da-
sei klar gewesen, dass es sich nur um HIV-positiven Patienten mit Leukä- bei werden T-Zellen des Immunsys-
äußerst geringe Reste von Virus­ mie. Ähnlich wie bei dem Patienten tems zunächst entnommen und dann
material handeln könne, wahrschein- aus Düsseldorf hatten sie ihm Stamm- im Labor gentechnisch so manipu-
lich sogar größtenteils um nicht ver- zellen eines Spenders transplantiert – liert, dass sie sehr präzise und effektiv
mehrungsfähige Sequenzen. jedoch ohne die Mutation im Erbgut, das gewünschte Ziel – in diesem Fall
Auch die immunologischen Unter- die HIV kontrollieren konnte. Statt- das HI-Virus – bekämpfen.
suchungen stimmten die Ärzte op­ dessen versuchten die Forscher den Vor 25 Jahren erschien die Heilung
timistisch. Das Immunsystem der Stammzellen die schützende Muta- von HIV noch utopisch. Heute ist sie
Spenderin, so stellten sie fest, hielt tion mithilfe sogenannter Crispr-Gen- noch nicht klinischer Alltag – aber
die HI-Viren gut unter Kontrolle. Und scheren zuzufügen. erscheint erstmals greifbar. Der »Düs-
das, obwohl es zunächst noch gar Das Experiment scheiterte zwar, seldorfer Patient« sei zunächst nur
nicht mit voller Kraft arbeitete. Als der Patient konnte nicht von seiner ein Symbol dafür, dass Heilung bei
die Ärzte die immunsupprimierenden HIV-Infektion geheilt werden – offen- einer HIV-Infektion grundsätzlich
Medikamente absetzten, konnte das bar ist das Verfahren komplizierter möglich sei, so Jensen. »Aber man
neue Immunsystem ohne Fesseln als zunächst gedacht und zudem ris- sollte Symbole nicht unterschätzen.«
arbeiten. Im November 2018 stoppten kant. Doch die Idee wird von der Wis- Für viele der beteiligten Wissen-
die Ärzte auch die HIV-Medikation. senschaft weiterverfolgt. schaftler, erzählt Jensen, sei es ein
Anfangs musste der Mann zwei- In den USA wurde kürzlich auch sehr emotionaler Moment gewesen,
mal pro Woche auf HI-Viren unter- mit einer Studie begonnen, in der For- den Patienten nach seiner Heilung
sucht werden. Die Mediziner waren scher und Ärzte das HIV-Erbgut mit- das erste Mal persönlich zu treffen.
vorsichtig. »Aber nachdem die ersten hilfe von Crispr-Genscheren direkt »Vorher hatten sie ja nur seine Zellen
zwei Jahre rum waren, waren wir sehr aus dem Erbgut von Reservoirzellen im Labor gesehen.« Und natürlich
optimistisch«, erzählt Jensen. Inzwi- der Patienten herausschneiden wol- werde auch er seinen ›Düsseldorfer
schen, nach mehr als vier Jahren ohne len. Ebenso könnte eine Kombination Patienten‹ nie vergessen. »Er hat
HIV-Medikamente, gilt sein Patient von gegen das HI-Virus gerichteten mich zehn Jahre lang begleitet.«
als geheilt. Antikörpern für HIV-Positive eine Veronika Hackenbroch n

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Zukunft gestalten.
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KULTUR

Aurélien Mole / Pinault Collection


Danh-Vo-Installation

Vor dem Sturm


­ hema unserer Zeit: dem Klimawandel und einer vom Menschen
T
bedrohten Natur. Konzipiert wurde sie von Emma Lavigne, der
neuen Direktorin der Pinault Collection, die seit zwei Jahren in der
Bourse de Commerce im Pariser Hallenviertel zu sehen ist. Der
Auftrag, die Gefahren des Klimawandels und die Fragilität unseres
KUNST  Eine Ausstellung in Paris widmet sich dem
Daseins zum Thema zu machen, soll vom Hausherrn selbst er­
Klimawandel auf besondere wie verstörende Weise. teilt worden sein, dem Kunstsammler und Multimilliardär François
Pinault.

E ines der spektakulärsten Werke steht gleich in der Rotunde


der alten Getreidebörse von Paris: scheinbar wild aufeinander­
getürmte Eichenbaumstämme, die von drei Holzgerüsten
­zusammengehalten werden wie ein künstlicher Wald. In den kom­
Zur Ausstellung gehören eine Videoinstallation mit dem Titel
»Tschernobyl«, in der Besucher durch ihren eigenen Schatten
zu Protagonisten werden, ein Acht-Minuten-Video des Künstlers
Hicham Berrada von irritierender Schönheit sowie ein Saal, in
menden Monaten wird Kapuzinerkresse die Arbeit des dänisch- dem Gemälden von Cy Twombly zerbrechliche Holzskulpturen des
viet­namesischen Künstlers Danh Vo überwuchern. Die Ausstellung Spaniers Daniel Steegmann Mangrané gegenüberstehen. BSA
»Avant l’orage« (»Vor dem Sturm«) widmet sich dem großen »Avant l’orage« in der Bourse de Commerce in Paris bis 11. September.

Die kleinsten Teiche gend die Idee, so unterhaltsam großer Freude sind und warum eine sympathische Auf­forderung
ihre Umsetzung. Das Buch ist Erwachsene diesen Blick in der zum Hinschauen. Wer sie ge­
SACHBÜCHER  Das Winzige, mal im dialogischen Plauderton Regel verloren haben. Und es lesen hat, wird seine Umgebung
Nebensächliche und Vergäng­ gehalten, mal anekdotisch auf­ geht um das Große und Ganze, mit anderen Augen sehen. FRA
liche hat die reizvolle Eigenschaft, gelockert. Es geht um das mikro­ in dem Pfützen eine öko­logisch
immer größer, zentraler und skopische Leben, dem die Pfüt­ wichtige Rolle spielen. ­Ergänzt
­beständiger zu werden, je länger ze eine Wiege sein kann, und sind diese subtilen Exkurse um Ursula Kosser,
­Susanne Bergius:
man sich damit beschäftigt. ihre möglichen Ursachen – von kulturgeschichtliche Ausfall­ »Die Wunderwelt
Ursula Kosser und Susanne Ber­ den Fußspuren eines Elefanten schritte und Fotografien aus aller der Pfützen.
gius ­haben das getan und sich bis zu den Furchen eines Pan­ Welt, von Kenia bis zum eigenen Eine Hommage an
über ­etwas Banales gebeugt, das zers. Es geht darum, dass diese Hinterhof. »Die Wunderwelt der das kleinste Ge-
wässer der Erde«.
wir nur allzu leicht als Ärgernis kleinsten aller Teiche etwa Kin­ Pfützen« ist keine wissenschaft­ oekom; 136 Sei-
abtun: die Pfütze. So nahelie­ dern oder Hunden ein Anlass zu liche Grundlagenarbeit, eher ten; 19 Euro.

102 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


Küssen verboten nisten diesen Askese­twist auf-
nehmen, macht die Auftaktfolge
NETFLIX  Die Verschwendung, sehenswert: Sie hatten fälsch­
diese grässliche Verschwen- licherweise angenommen, an
dung! Da karrt eine TV-Produk- einem klassischen Verpaarungs-
tion eine Gruppe glänzend ge- format wie »Love Island« teil-
launter, körperlich attraktiver zunehmen, wo ­sexuelle Tände-
und vögelfroher weiblicher und leien dringend erwünscht sind.
männlicher Singles in ein tro­ Die deutsche Besetzung ist gut
gecastet und im besten Sinne
Andrew Casey / Amazon Studios

pisches Luxusresort – und eröff-


net ihnen dort überraschend, komplett schamfrei, was aller-
dass die Hände in den nächsten dings die vorgeb­liche Grund-
Wochen (und zehn Folgen) botschaft des Formats ins Wan-
bitte über der Bettdecke bleiben ken bringen könnte.
und jegliche Fummelei, selbst Eigentlich kann man »Too
Waltz in »The Consultant«
Küssen, verboten ist. Am Hot to Handle« als Plädoyer für
28. Februar startet auf Netflix tiefgründige menschliche
Psycho als Chef sich die CompWare-Mitarbeiter »Too Hot to Handle: Germany«, ­Bindungen lesen, geknüpft durch
Craig (Nat Wollf) und Elaine die deutsche Interpretation gute Gespräche statt gemeinsa-
SERIEN  Fast wirkt es so, als hät- (Brittany O’Grady), die versu- des US-amerikanischen Reality- mer Lakenwälzerei. Dagegen ist
ten die Serienmacher eine Wette chen, mehr über ihn und seine Originals, bei dem jede kör­ natürlich nichts zu sagen. Aber
abgeschlossen: Wie psychopa- Ziele herauszufinden. Dabei perliche Annäherung die Ge- die selbstbestimmten Singles
thisch kann ein Unternehmens- persifliert die Serie teilweise hu- winnsumme von 200 000 Euro wirken mit ihren promiskui­ti­
berater eigentlich wirken, wenn moristisch ein kapitalistisches empfindlich dezimiert. Auch ven Bettkonzepten in der
er von Christoph Waltz gespielt Ausbeutungssystem, etwa wenn Mastur­bation ist verboten, und ­ersten, noch nicht zölibatsbelas­
wird? In der Amazon-Serie Craig sich zwischen seinen Re- allein das aufrichtige Entset- teten Folge so vergnügt, dass
»The Consultant« ver­körpert cherchen über die düstere Ver- zen, mit dem die zehn jungen die Idee der Monogamie mäßig
der zweifache Oscarpreisträger gangenheit des geheimnisvollen Protagonistinnen und Protago- überzeugend scheint. ARÜ
den sadistischen Regus Patoff, Unternehmensberaters ehrlich
der eingestellt wurde, um das freut, von diesem Beachtung
Geschäft der Firma CompWare, für seinen Computerspiel-Pitch
die appbasierte Spiele vertreibt, zu bekommen – wohl wissend,
auf Vordermann zu bringen. Zur dass Patoff zuvor einen Mit-
Begrüßung schnüffelt er im Stil arbeiter zu sexuellen Handlun-
des Serienmörders Jean-Baptiste gen gezwungen hat. In der
Grenouille (»Das Parfüm«) zu- ­Maschinerie des Großkonzerns
nächst an einzelnen Mitarbeite- ist dann eben doch jeder sich
rinnen und Mitarbeitern und selbst der Nächste. Die myste-
entlässt jemanden, der ihm aus riöse ­Atmosphäre der Serie, die
Geruchsgründen nicht passt. von Waltz auch mitproduziert
Ebenso kündigt er unbarmher- wurde, lässt die Handschrift des

Paul Hepper / Net flix


zig einer Angestellten im Roll- Fernsehautors Tony Basgallop
Darsteller in
stuhl, die wenige Sekunden erkennen, der bereits das Dreh- »Too Hot to Handle:
zu spät zu einem Meeting auf- buch für die Horrorserie »Ser- Germany«
taucht. Ihm entgegen stellen vant« schrieb. FRN

Chuba Selbstermächtigung und der Charts, im Dezember wurde Chuba mit


zwei 1Live-Kronen ausgezeichnet. Nun
Sehnsucht ist ihr erstes Album erschienen: »Glas« ist
MUSIK  Ginge es nach ihrem Namen, müsste so frisch, rotzig und tough, als hätte man
sie eigentlich Schlager singen. Nina Katrin SXTN, Shirin David und Peter Fox ein Up-
Kaiser, das klingt nach selbstbewusst süßen date verpasst. Man kann es nicht leise und
Schmachthits. Aber die Hamburgerin hat kaum im Sitzen hören. Wuchtige Bässe und
sich etwas anderes überlegt – zum Glück. Bläser treiben Nina Chubas Stimme immer
Schließlich will sie »ein Haus für meine weiter voran, etwa bei »Mangos mit Chili«
Mama an der Küste von Catania / zum Früh- oder bei »Femminello«, einem sauren
stück Kanapees und ein ›Wildberry Lillet‹«. ­Sommerhit, der eigentlich keiner ist. Die
Und wer es nach oben schaffen will, »zum 24-Jährige singt von Selbstermächtigung und
Mars«, wie sie weitersingt, oder wenigstens Sehnsucht nach einem »Mehr«, das gar
in die Spotify-Charts, der macht natürlich nicht weiter ausgedeutet werden muss. Chu-
Hip-Hop. Kaiser gab sich also einen Namen, ba versteckt sich nicht hinter Subtilität,
der für etwas mehr Straßenglaubwürdigkeit auch das jungen Mädchen brav antrainierte
sorgt. Nicht nur deshalb hat es Nina Chuba »Nein, danke« ist ihr fremd, Chuba nimmt
im vergangenen Jahr weit nach oben mit vollen Händen, was sie möchte. Sie
­geschafft: »Wildberry Lillet«, ihre fröhlich tourt »durch die Charts, wenn ich da grad
Sony Music

breitbeinige Aufsteigerhymne, katapultierte hinwill«. Bisher wollte sie, hoffentlich


sie mehrere Wochen auf den ersten Platz bleibt es so. EVH

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 103


KU LT U R

Stephan Schütze
»Anders und bekloppt«
MUSIK  Ausgerechnet Matthias Distel will Deutschland beim Eurovision Song Contest vertreten.
Als Produzent war er für den berüchtigten Schlager »Layla« mitverantwortlich, als Kunstfigur Ikke Hüftgold
ist er der leibhaftige Ballermann – der grölende Gegenentwurf zur glitzernden ESC-Konkurrenz.
Miriam Stanke / DER SPIEGEL
Miriam Stanke / DER SPIEGEL

Miriam Stanke / DER SPIEGEL

Sänger Hüftgold in Dortmund 2016, Hüftgold-Darsteller Distel, Hüftgold-Perücke, Goldene »Layla«-Single: »Alles andere als ein Musikologe«

104 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


KU LT U R

E
in Mann sitzt auf einem Stuhl, mit Kle- An der Wand des Besprechungszimmers den letzten Platz. Seit dem Sieg von Lena
beband und Handschellen gefesselt wie hängt ein Gemälde im Graffiti-Stil: »Freigeist Meyer-Landrut 2010 mit »Satellite« sind die
ein Entführungsopfer der RAF. Über statt geistfrei«. In der Ecke steht ein lebens- Lieder aus Deutschland achtmal untergegan-
den Kopf hat er eine Papiertüte gestülpt und großer Pappaufsteller von Ikke Hüftgold. gen. Ginge es in diesem Wettbewerb um Fuß-
summt »Satellite« von Lena Meyer-Landrut. Beim Gedanken daran, dass er womöglich ball statt Musik, dümpelte Deutschland chro-
Als seine unsichtbaren Peiniger ihn davon wirklich bald als sein ungehobeltes Alter Ego nisch abstiegsgefährdet am Ende der Tabelle.
befreien, kommt zum Vorschein: Ikke Hüft- vor einem Millionenpublikum auftreten Eine Tatsache, die Distel schon aus sport­
gold, Karikatur und Kultfigur einer Szene, in könnte, bekommt Distel nach seinen eigenen lichen Gründen nicht schulterzuckend auf sich
der Musik allein der Beschleunigung alkoho- Worten angeblich »Durchfall«. beruhen lassen möchte.
lisierter Ausgelassenheit dient. Trotzdem will er’s wissen. Und die Chan- Er verfolgt den ESC seit seiner Kindheit
Hüftgold ist der Ballermann in Person. Er cen stehen nicht mal schlecht, dass er Deutsch- und nimmt den Wettbewerb ernster, als es
trägt einen orangefarbenen Overall, Bartstop- land am 13. Mai beim ESC-Finale in Liverpool sein eigener Beitrag nahelegt. Wie ein Trainer
peln im Gesicht und eine zottelige Perücke. vertreten wird. Das »Lied mit gutem Text« nach einer Serie von Niederlagen fragt er sich:
Sein Zustand hindert ihn nicht, aus behaarter wäre das erste Lied mit deutschem Text, seit »Welche Schlüsse können wir aus diesem De-
Brust sein »Lied mit gutem Text« mehr zu 2007 Roger Cicero mit »Frauen regier’n die saster ziehen?« Ikke Hüftgold, das weiß auch
grölen als zu singen: »Wir brauchen endlich Welt« den 19. Platz belegte. Und es wäre Distel, kann nicht die Lösung sein: »Wir brau-
mal ein Lied ohne Saufen, wir brauchen end- das erste Mal, dass mit dem Partyschlager ein chen dort einen Mark Forster, wir brauchen
lich mal ein Lied ohne Sex.« urdeutsches Genre ins Rennen geschickt wür- einen Apache 207, wir brauchen meinetwegen
In Anspielung auf das legendäre Video zu de. Denn einen englischen, französischen eine Nena! Wo ist denn Udo Lindenberg,
Bob Dylans »Subterranean Homesick Blues« oder italienischen Ballermann – also eine wenn der ESC ruft? Und wo bleibt die Stim-
hantiert Hüftgold mit Texten auf Papier­ auf Betäubung spezialisierte Unterhaltungs- me des Publikums?«
bogen, die, anders als bei Dylan, den Vortrag kultur mit einem musikalisch-industriellen Zuletzt hatte das Publikum die Wahl, als
unterlaufen: »Diese Person ist für den ESC Komplex – gibt es nicht. der federführende NDR noch mit Stefan Raab
nicht geeignet«, steht da, »Alkoholiker« oder Es treffen zwei gegensätzliche Konzepte zusammenarbeitete. Seitdem wurde die Fra-
»Kettenraucher«. Nach drei Minuten ist das von Ausgelassenheit aufeinander. Hier die ge, wer es in den Vorentscheid schafft, oft von
Gestampfe im Viervierteltakt und das »Lala- tendenziell heterosexuelle Variante der Party- Expertengremien gefällt. Für 2016 gab es
lala« vorbei. Am Ende wird der Zausel wieder schlager, dort die seit einiger Zeit überwie- nicht einmal einen Vorentscheid, da hatte man
mit einer Tüte zum Schweigen gebracht. gend queere Veranstaltung eines europäi- sich intern auf den damals wegen seiner
Mit diesem ungewöhnlichen Clip hat sich schen Gesangswettbewerbs. Hier reaktionä- reichsbürgerlichen Schwurbeleien problema-
Ikke Hüftgold gegen mehr als 900 Mitbewer- res Liedgut im Stil von »Saufi, saufi«, dort der tischen Xavier Naidoo festgelegt – und muss-
ber durchgesetzt und das letzte Ticket für progressive Pop à la »Rise Like a Phoenix«. te ihn nach öffentlichen Protesten wieder
die Teilnahme am deutschen Vorentscheid Hier Badelatschen und T-Shirt, dort Stöckel- fallen lassen. (Naidoo hat sich 2022 vage von
für den »Eurovision Song Contest« (ESC) am schuhe und Glitter. früheren Aussagen distanziert.)
3. März gesichert. Wobei es vermutlich we- Allein die Kandidatur für den Vorentscheid Ikke Hüftgold sprengt insofern das System,
niger der Song war, mit dem Hüftgold über- ist ein gewagtes, aber umso interessanteres als er 52 Prozent der Teilnehmerinnen und
zeugen konnte – als der Typ selbst. Experiment. Vielleicht sogar eine Kampf­ Teilnehmer einer Umfrage auf TikTok für sich
Der Typ selbst heißt eigentlich Matthias ansage. Ein ausgestreckter Mittelfinger, der gewinnen konnte. Die Beteiligung der Kür-
Distel. Der 46-Jährige hat Baumkletterer ge- das Markenzeichen von Ikke Hüftgold ist. zestvideoplattform ist der neueste Versuch,
lernt, einen Betrieb für Gartenarbeiten auf- Dabei wäre es für Matthias Distel ein das Auswahlverfahren zu verjüngen und zu
gebaut – und empfängt an diesem Tag im Leichtes, die Ecken und Kanten des Ikke Hüft- demokratisieren. Unumstritten ist die Figur
Februar in seiner Firma im Gewerbegebiet gold mit Kajal um die Augen und lackierten aber nicht. Distel hat »Layla« mitproduziert
eines Örtchens bei Montabaur im Wester- Fingernägeln ein wenig fluider zu gestalten, und als Ikke Hüftgold mit »Dicke Titten, Kar-
wald. Zu Ikke Hüftgold verhält sich Matthias queerer: »Ich will das aber nicht«, sagt er: »Es toffelsalat« seinen Durchbruch gehabt. Sexis-
Distel wie Victor Frankenstein zu seinem ist doch meine schöpferische Freiheit, so zu mus mag er sich dennoch nicht vorwerfen
Monster, wie Dr. Jekyll zu Mr Hyde. sein, wie ich mich fühle. Ich habe nichts gegen lassen. Elemente des Partyschlagers, meint
Auf einem Tisch im Foyer ist die gerahmte den geschminkten Mann, das ist nur nicht so er, könne man schon in den Zwanzigerjahren
Eigentumsurkunde der Europäischen Union meins. Der geschminkte Mann würde aber finden. Er sei »alles andere als ein Musiko-
für das geistige Eigentum am Namen »Sum- auch nie so rumlaufen wie ich.« loge«, sagt er, aber »damals waren die Gas-
merfield« aufgestellt – der Plattenfirma von Nun würde Deutschland mit Ikke Hüft­ senhauer auch immer frivol, fröhlich, hatten
Distel. Daneben wartet eine Kiste mit Gold- gold – erstmals seit Stefan Raab mit seinem etwas mit Zusammenkunft zu tun, mit Ge-
und Platin-Auszeichnungen für »Layla« da­ »Wadde hadde dudde da?« vor 23 Jahren – nussmitteln und Vermehrung«.
rauf, ausgepackt zu werden. DJ Robin & einen Kandidaten ins Rennen schicken, dem Ganz zu schweigen von Edelschlagern wie
Schürze, die Urheber des Skandalschlagers die Freude am Klamauk wichtiger erscheint »Siebzehn Jahr, blondes Haar« von Udo Jür-
von 2022, sind Schützlinge von Summerfield als ein Platz auf dem Siegertreppchen. Ironie gens oder »Santa Maria«, wo Roland Kaiser
Records. Am Eingang ist hinter Glas aufge- als Notwehr, weil die Anbiederung keinen singt: »… hielt ich ihre Jugend in Händen«.
listet, welche Provinzen alle zum Hüftgold- Erfolg gebracht hat. Aber kann Deutschland Distel fügt hinzu: »Und zwar auf irgendeiner
Imperium gehören: Summerfield Group, ironisch sein? einsamen Insel, wo keiner der jungen Dame
Summerfield Booking, Summerfield Media, In der Geschichte der Veranstaltung be- hätte helfen können.« Distel meint das nicht
Summerfield Music, Summerfield Events, legten nur Norwegen und Belgien häufiger ironisch: »Es sind immer nur die Radikalen,
Summerfield Publishing – und Winterfield die diese ganzen gereizten Diskussionen an-
Records für das Geschäft mit dem Après-Ski. triggern. Die große, breite Mitte, die wir in
Sommerfeld war der deutsche Nachname Deutschland haben, ist tolerant. Alles, was
des Kumpels, der Matthias Distel dazu bewo-
gen hat, spaßeshalber mal einen Ballermann-
»Wenn wir den Spaß sich ganz rechts und ganz links bewegt, ist
halt auch intolerant bis zum Anschlag.«
Hit zu schreiben. Also hat er spaßeshalber sein ­angreifen, dann Falls er den branchenüblichen Zynismus
Unternehmen so genannt. »Seitdem geht es
eigentlich nur bergauf«, sagt Distel wie einer,
fallen wir in eine nationale pflegen sollte, sein eigenes Publikum heimlich
zu verachten, dann verbirgt Distel ihn ge-
der das noch immer nicht glauben kann. Depression.« konnt. Es sei ein »unschätzbares Gut, dass es

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 105


KU LT U R

diese Schützenfeste gibt, die Volksfeste, das


Oktoberfest oder den Karneval«. Und er sieht
sich »tatsächlich in der Verantwortung, als
Teil einer großen Musikmaschinerie« die
BELLETRISTIK SACHBUCH Menschen zum »Tanz und zur Freude« anzu-
halten: »Wenn wir den Spaß angreifen und
Nach 30 Jahren Ehe will Als im November 1945 schlecht- oder kleinreden, dann fallen wir in
die Icherzählerin ihren die Nürnberger Prozesse eine nationale Depression.« Die Welt, wie sie
Mann verlassen und ­begannen, wurden
reflektiert die gemein­ ­Korrespondenten aus der ist, sei schon traurig genug.
same Vergangenheit. ganzen Welt auf Schloss Auch davon könnte Distel ein Lied singen,
Wie ist es zu ihrer Ent­ Stein untergebracht, dem Sitz wenn er denn wollte. 2021 hatte er eine Pro-
scheidung gekommen? der Familie Faber-Castell.
Und ist eine Liebe, die Germanist Uwe Neumahr er- duktion für das voyeuristische Wohnungs-
so lange hielt, überhaupt zählt, wie die Prozesse ihr tauschformat »Plötzlich arm, plötzlich reich«
gescheitert? | Platz 15 Leben veränderten. | Platz 20 vorzeitig abgebrochen. Die Kinder, mit denen
gedreht werden sollte, hatten »offensichtlich
1 (1) Simon Urban / Juli Zeh 1 (1) Prinz Harry psychische und soziale Probleme«, die dem
Zwischen Welten Luchterhand; 24 Euro Reserve Penguin; 26 Euro
Sender Sat.1 und der Produktionsfirma be-
2 (3) Jojo Moyes 2 (3) Elke Heidenreich kannt gewesen sein müssten. Da hörte für
Mein Leben in deinem Wunderlich; 25 Euro Ihr glücklichen Augen Hanser; 26 Euro Hüftgold der Spaß auf. Distel ging in einem
anklagenden Video an die Öffentlichkeit, er-
3 (2) Ewald Arenz 3 (2) Brianna Wiest 101 Essays, die dein stattete Anzeige. Und riskierte, dass ihn eine
Die Liebe an miesen Tagen Dumont; 24 Euro Leben verändern werden Piper; 22 Euro
Klage der mächtigen Gegenseite im schlimms-
4 (4) Bonnie Garmus 4 (4) Michael Thumann ten Fall ruinieren würde.
Eine Frage der Chemie Piper; 22 Euro Revanche C. H. Beck; 25 Euro Lange kann er über Kinderarmut reden,
Einsamkeit im Alter, Integration von Migran-
5 (5) Dörte Hansen 5 (–) Ewald Frie ten durch die Vermeidung von Ghettos: »So-
Zur See Penguin; 24 Euro Ein Hof und elf Geschwister C. H. Beck; 23 Euro ziale Probleme, die man lösen könnte, wenn
6 (6) Mariana Leky 6 (5) Torsten Sträter Du kannst alles lassen, man sie nur richtig angehen würde.« Mittel-
Kummer aller Art Dumont; 22 Euro du musst es nur wollen Ullstein; 19,99 Euro
fristig könne er sich vorstellen, »dass es bei
mir in Richtung Politik geht«. Auch das sagt
7 (8) Sebastian Fitzek 7 (7) Stefanie Stahl er ohne ironische Reserve. Es klingt nicht ein-
Mimik Droemer; 24 Euro Wer wir sind Kailash; 22 Euro mal größenwahnsinnig. Nur pragmatisch.
Mit Mr Hüftgold fremdelt Dr. Distel seit
8 (7) Arno Geiger 8 (–) Christoph Heusgen geraumer Zeit. Vermutlich ist es der Gegen-
Das glückliche Geheimnis Hanser; 25 Euro Führung und Verantwortung Siedler; 24 Euro
wind einer irritierten Öffentlichkeit, der die
9 (9) Colleen Hoover 9 (10) Kurt Krömer Du darfst nicht alles glauben, Figur noch in der Luft hält. In gewisser Weise
It starts with us – Nur noch einmal was du denkst Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro ist sie überhaupt erst aus dem Gegenwind-
und für immer dtv; 20 Euro kanal hervorgegangen.
10 (12) Andrea Wulf Auf Ochsentour am Ballermann sei Distel,
10 (11) Ferdinand von Schirach Fabelhafte Rebellen C. Bertelsmann; 30 Euro
noch unbekannt, mit Stinkefingern empfan-
Nachmittage Luchterhand; 22 Euro
11 (6) Richard David Precht / Harald Welzer gen und mit Bierbechern beworfen worden:
11 (10) Annie Ernaux Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung »Irgendwann bin ich auf die Bühne und habe
Der junge Mann Suhrkamp; 15 Euro gemacht wird, auch wenn sie keine ist die Leute aufgefordert: Mittelfinger hoch! Als
 S. Fischer; 22 Euro Nächstes habe ich mir ein Bier über den Kopf
12 (14) Charlotte Link geschüttet. Und dann war der komplette
Einsame Nacht Blanvalet; 25 Euro 12 (16) Oliver Hilmes Druck raus.«
Schattenzeit Siedler; 24 Euro
13 (13) Tommy Jaud Komm zu nix – Nix erledigt Am Ballermann habe er gelernt, »wie man
und trotzdem fertig Fischer Scherz; 15 Euro 13 (13) Michelle Obama triggert und polarisiert«. Es gehe darum, »an-
Das Licht in uns Goldmann; 28 Euro ders zu sein, anders und bekloppt«, sagt
14 (12) Virginie Despentes ­Distel, denkt eine Weile nach und fügt hinzu:
Liebes Arschloch Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro 14 (15) Ulrike Herrmann Das Ende »Aber positiv bekloppt!« International, das
des Kapitalismus Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
sei ihm bewusst, werde Ikke Hüftgold wohl
15 (–) Julia Schoch Das Liebespaar
des Jahrhunderts dtv; 22 Euro 15 (14) Karolina Kuszyk In den keine Begeisterungsstürme auslösen. Inter-
Häusern der anderen Ch. Links; 25 Euro national wird es vielleicht sogar irritieren,
16 (–) Karl Ove Knausgård Die Wölfe aus dem dass er auf den ersten Blick mit Till Linde-
Wald der Ewigkeit Luchterhand; 30 Euro 16 (11) Gerhard Wisnewski verheimlicht – mann verwechselt werden könnte, dem Sän-
vertuscht – vergessen 2023 Kopp; 16,99 Euro ger von Rammstein.
17 (15) Jonas Jonasson
Drei fast geniale Freunde auf dem Weg 17 (20) Claudia Kemfert Den Vorentscheid will Distel unbedingt
zum Ende der Welt  C. Bertelsmann; 24 Euro Schockwellen Campus; 26 Euro gewinnen, das Finale wird dann nur noch
­Zugabe sein: »Wenn Ikke Hüftgold nach
18 (–) Michael Köhlmeier 18 (9) Hamed Abdel-Samad Liver­pool fährt und dort null Punkte be-
Frankie Hanser; 24 Euro Islam  dtv; 24 Euro kommt, dann werden wir diese null Punkte
mit so viel Spaß bekommen wie noch nie.«
19 (–) Clemens J. Setz 19 (8) Manfred Krug Ich bin zu zart
Monde vor der Landung Suhrkamp; 26 Euro für diese Welt Kanon; 24 Euro
Matthias Distel selbst hofft auf eine
­Zugabe nach der Veranstaltung: »Abends
20 (19) Susanne Fröhlich 20 (–) Uwe Neumahr dann in die Kneipe auf ein Bier mit Jürgen
Getraut Knaur; 18 Euro Das Schloss der Schriftsteller C. H. Beck; 26 Euro Klopp, das wär’s!«
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); Informationen unter spiegel.de/bestseller Arno Frank n

106 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


KU LT U R

in aller Regel nicht das Problem der


Kinderliteratur ist, im Gegenteil. Viel
zu viele Bücher erinnern an jene
Bastel­scheren aus Plastik, mit denen
sich kein noch so ungeschicktes Kind

Fitnessstudio für die Seele


schneidet. So richtig Spaß aber hat
mit ihnen auch niemand.
Kinderbücher sind viel zu oft viel
zu bemüht, keine richtige Literatur,
sondern Mittel zum Zweck. Und der
LITERATUR  Sollen Verlage aus Kinderbuchklassikern heißt: Erziehung.
Wenn Verlage in Kinderbücher ein­
Wörter wie »fett« streichen? Ein Vater erklärt, warum man den eigenen greifen, dann ist das daher auf eine Art
­Nachwuchs beim Vorlesen besser nicht in Watte packt. folgerichtig: ein Zeichen der Hoch­
achtung ebenso wie eines der Gering­
schätzung. Man traut dem Genre al­

W
er einem sensiblen Gemüt lerhand zu, bloß keine Kunst.
etwas Gutes tun will, der Passen die Klassiker der Kinderlite­
kann es schonen. Oder er ratur noch in die Zeit? Nun, es sind
kann es behutsam mit Reizen kon­ Klassiker, sie passten also zunächst ein­

Ronald Dumont / Hulton Archive / Getty Images


frontieren, um es langsam an sie zu mal in ihre Zeit – und ziehen einen Teil
gewöhnen. Was wäre dafür besser ge­ ihres Reizes heute auch daraus, dass sie
eignet als Literatur? nicht völlig in unsere passen. In der Lü­
Die Fantasie muss fliegen, auch in cke kann sogar ihr Kraftzentrum liegen.
dunkle Ecken. Schon klar, die Lücke verlangt nach
Der britische Verlag Puffin Books, einer Übersetzungsleistung. Aber wa­
der zu Penguin Random House ge­ rum diese Aufgabe den Kindern und
hört, hat sich gegen die Literatur und Eltern wegnehmen – und beide um
für das Schonen entschieden und den Dialog betrügen, den mit der
Werke des Bestsellerautors Roald Kunst und den miteinander?
Dahl geglättet. Es geht um weltbe­ Was gedruckt ist, ist nicht in Stein
kannte Kinderbücher wie »Charlie handle sich um eine »absurde Zen­ Bestsellerautor gemeißelt. Das ist die erste Regel gu­
und die Schokoladenfabrik«, »Matil­ sur«. Ich neige zu der Ansicht, dass Dahl 1971: ten Vorlesens. Die zweite: Vorlesen
Weitreichende
da« und »Hexen hexen«. Es geht um er recht haben könnte. Eingriffe
für Kinder sollte eine Einladung zum
mehrere Hundert Eingriffe, nicht nur In den vergangenen Jahren haben Dialog sein, und sei es über böse Wör­
sprachliche, auch inhaltliche. Buchverlage dem Zeitgeist gern mal ter und Regeln der Höflichkeit.
So scheinen Begriffe wie »ver­ den Rotstift in die Hand gedrückt. In Väter tauchen in Kinderbüchern
rückt« und »Idioten« den sogenann­ Astrid Lindgrens Pippi-Langstrumpf- eher selten auf. Eine Zeit lang habe ich
ten Sensitivity Readern in Zeiten all­ Büchern ist Pippis Vater auf Deutsch mich darüber geärgert, heute lese ich
gemeiner Kränkbarkeit zu hart zu nun »Südseekönig«. In Otfried Preuß­ an den Stellen, an denen »Mama« steht,
sein, ebenso abfällige Bezeichnungen lers »Kleiner Hexe« wurde eine Fa­ schon mal »Papa«. Was im Übrigen
für Dicke. Ein »enorm fetter« Junge schingsszene überarbeitet, in der sich auch in anderen Fällen keine schlechte
in »Charlie und die Schokoladen­ Kinder als Türken verkleidet hatten. Idee ist, um Stereotypen und fehlender
fabrik« ist deshalb jetzt nur noch Aber so weitreichende Eingriffe wie Vielfalt entgegenzuwirken: die Namen
»enorm«, seine riesigen Fettwülste im Fall Dahl gab es wohl noch nie. und Geschlechter der F ­ iguren ändern,
sind nur noch Wülste. Weibliche Figu­ Wer die grotesken, manchmal ma­ aus Anton eine Ayse machen.
ren sind dafür quasi befördert worden: kabren und düsteren Werke des Losgelöst davon, habe ich an ein
Aus Kassiererinnen und Sekretärin­ ­Autors kennt, dem drängt sich der Vorlesebuch vor allem einen An­
nen wurden Naturwissenschaftlerin­ Verdacht auf, dass aus einem Aben­ spruch: Es soll nicht langweilen –
nen und Geschäftsführerinnen. teuerspielplatz ein Bällebad werden nicht die Kinder, vor allem aber nicht
Ich habe zwei Kinder, drei und sollte. Verletzungen ausgeschlossen. mich. Und das meine ich nicht mal
sechs Jahre alt, denen ich viel und gern Auch ich wünsche mir das Leben egoistisch, ich glaube nur, dass die
vorlese. Und vielleicht liegt es daran, meiner Kinder konfliktfrei. Aber des­ Umschlag der Kinder es merken würden. Ihnen
englischen
dass mir die Empörungsbereitschaft halb doch nicht die Literatur, die ich ­Buchausgabe von
selbst scheint es häufig gar nicht da­
fehlt, um nach Verboten zu schreien, ihnen vorlese. Vielleicht wünsche ich »Hexen hexen« rum zu gehen, was vorgelesen wird.
wenn ich mal ein Wort in einem Buch mir die Literatur sogar konfliktreich, Sondern dass. Vorlesen ist ein Ritual,
unpassend finde. Ebenso fehlt mir die damit sie auf die Konflikte, die das das Geborgenheit vermittelt, ein Ge­
Empörungsbereitschaft, mich über die Leben bereithält, vorbereitet sind. meinschaftserlebnis. Das funktioniert
Empörten zu empören. Wahre Lite­ Literatur sollte kein Safe Space nur, wenn alle im Moment sind.
ratur hat Widerstandskraft, wahre sein, auch nicht Literatur für Kinder. Wenn gute Kinderbücher etwas
Kinderliteratur auch. Sie übersteht ein Literatur kann im Gegenteil ein Fit­ lehren, im schulischen Sinne, dann
paar Streichungen oder Änderungen. nessstudio für die Seele sein: der nur dies: Spaß an der Sprache, am
Und das N-Wort in einem alten Kin­ Raum, in dem man sich an Abgründe Spiel mit Sinn und Unsinn, Freude an
derbuch würde ich meinen Kindern herantastet, unangenehme und am­ der Kunst.
sicher auch nicht vorlesen, sondern es bivalente Gefühle kennenlernt. Der sicherste Weg aber, um Kin­
elegant ersetzen. Dass Kinderbücher in jüngerer dern den Spaß zu verderben, waren
In diesem Fall aber twitterte selbst Zeit immer wieder entschärft werden, schon immer Verbote.
der Schriftsteller Salman Rushdie, es täuscht darüber hinweg, dass Schärfe Tobias Becker n

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lischen Wörter für »Ratte« und »Kunst« for-


men. Es geht also um abgründige Abscheu-
lichkeiten und das große Ganze der Kultur-
produktion in diesem Film.
»Tár« zeigt die Titelheldin als #MeToo-
Täterin, die von jungen Musikerinnen sexuel-
le Gefälligkeiten einfordert. Als Hochschul-
dozentin, die einen ihrer Studenten verhöhnt,
weil der als nonbinäre Person für die Musik
des Machos Johann Sebastian Bach kein In-
teresse aufbringen mag. Als manische Ver-
tuscherin eigener Schuld, die nach dem Selbst-
mord einer Frau, mit der sie offenbar eine
Affäre hatte, hektisch den Computer ihrer
engsten Mitarbeiterin nach verräterischen
Mails durchsucht.
»Sie ist zugleich außergewöhnlich emp-
findsam und unglaublich brutal«, sagt Regis-
seur Field beim Zoom-Interview über seine
Hauptfigur.
Tatsächlich war ein Kinodrama lange nicht
mehr so umstritten wie dieses, das bei den
Filmfestspielen in Venedig Premiere hatte und
nun in die Kinos kommt. »Rückschrittlich«
sei der Film, behauptet zum Beispiel der Re-
zensent der US-Intellektuellenzeitschrift »The
New Yorker«. Er stelle die Meinungen und
Lebensweisen von Menschen, die sich dem
Gendermainstream und dem Kommerz ver-
weigern, als »schäbig, dreckig, erbärmlich«
dar. Andere Kritikerinnen und Kritiker feiern
den Film als raffiniertes Meisterwerk und, so
der Londoner »Guardian«, als »verblüffenden
Triumph, der die Streitfragen der Cancel Cul-
ture ins Visier nimmt«.
Regisseur Field selbst wirkt ausgeruht und
ausgesprochen gut gelaunt. »Es freut mich,
dass die Menschen so viele verschiedene Din-
ge in meinem Film entdecken«, sagt er. »Ich
vermute, die vielen Sichtweisen haben damit
Piero Oliosi / Polaris / laif

zu tun, dass der Film Fragen stellt, die zeitlos


sind. Vor allem die Frage danach, wie Macht
funktioniert und was an ihr politisch ist.«
Im Film ist Tár mit einer Orchestermusi-
kerin liiert, die von Nina Hoss gespielt wird.
Filmemacher Field, Darstellerin Blanchett: Glorreiche Rückkehr Zusammen mit der gemeinsamen Tochter be-
wohnen die beiden Frauen in Berlin ein schö-
nes, kühl eingerichtetes, in brutalistischem
Betondesign erbautes Apartment. Im Kinder-

Rattenrennen in Hollywood
zimmer bekommt die Dirigentin von der
Tochter einmal ein selbst gemachtes Puppen-
orchester gezeigt – und entdeckt, mehr er-
staunt als erzürnt, dass jede der Figuren einen
Taktstock in den Händen hält. Die Orchester-
KINO  Der Regisseur Todd Field und die Schauspielerin Cate Blanchett bastelarbeit sei missglückt, sagt sie schroff.
»Das ist doch keine Demokratie!«
schildern in »Tár« einen Fall von Genie und Übergriffigkeit. Der Film Blanchett ist die perfekte Wahl für die Ver-
ist heftig umstritten – und hat wohl gute Chancen bei der Oscarverleihung. körperung jeglicher aristokratischer Kunst-
auffassung. Ihre Heldin ist eine Hohepries-
terin am Altar der Musik. Mit vorgerecktem

E
ine strahlende Heldin, die den Zu- schichte. Cate Blanchett spielt einen Star der Kinn, theatralisch in den Raum hineinhor-
schauerinnen und Zuschauern mit Musikwelt, rund um den Globus als Dirigen- chend, lässt sie am Pult den Dirigierarm ener-
ihrem coolen Blick, der Eleganz ihrer tin berühmt und Chefin der Berliner Phil- gisch herabsausen. Im Frack macht sie eine
Körpersprache und viel Charme eine Stunde harmoniker, die im Beruf wie im Privaten großartige Figur, in Bühnentalks und im Ge-
lang ans Herz wächst, erweist sich im neuen rücksichtslos handelt und nicht bloß sinnbild- spräch mit Studierenden pflegt sie die Attitüde
Film des Regisseurs Todd Field mehr und lich über Leichen geht. huldvoller Herablassung.
mehr als tyrannische Schurkenfigur. »Tár« Aus den Buchstaben des Nachnamens von Zu bewundern ist hier die Selbstinszenie-
erzählt eine »Dr. Jekyll und Mr Hyde«-Ge- Lydia Tár, der Hauptfigur, lassen sich die eng- rung einer genialischen Kunstverrückten –

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und die Hybris eines Menschen, der gewann. »Mir ging es nie darum, Es geht auch für den besten Film und die beste Re­
glaubt, den Moralgesetzen der übri­ einen bestimmten Stil zu entwickeln«, gie, ist Fields Werk nominiert.
gen Menschheit selbstverständlich sagt er. Er sei ein Erzähler, mehr nicht. um die »Wissen Sie, als ich 2006 meinen
enthoben zu sein. Seine wichtigste Regel bestehe darin, Ver­logenheit letzten Film gedreht habe, geschah
Er hätte den Film »Tár« nicht ge­
schrieben und nicht gedreht, hätte
nur Dinge zu machen, die er selbst für
unbedingt notwendig hält. Das soll
der Film­ das in einer anderen Welt. Mir kommt
es vor, als wäre es 100 Jahre her«, sagt
Blanchett sich nicht schon während auch erklären, warum er trotz der Re­ industrie seit der Regisseur. Er scheint selbst zu
der ersten Überlegungen für das Pro­ sonanz und Auszeichnungen für seine #MeToo. staunen, wie glorreich er zurück­
jekt bereit erklärt, die Hauptrolle zu ersten Spielfilme vor »Tár« eine derart gekehrt ist in eine Branche, die mit
übernehmen, sagt Field. »Jede Schau­ lange Pause eingelegt hat. »Ich wollte Eigenarten und Verrücktheiten wie
spielkarriere ist nur so interessant wie meine Kinder aufwachsen sehen«, den seinen sonst grundsätzlich wenig
die Risiken, die man mit ihr eingeht«, sagt Field; mit seiner Familie lebt er anfangen mag.
hat Blanchett über ihre Arbeit gesagt. im US-Ostküstenbundesstaat Maine. Es gibt minutenlange Monologe in
Lydia Tár sei »eine Märchenfigur«, »Ich habe mir nach ›Little Children‹ »Tár«, etwa wenn Blanchetts Heldin
in der Realität sei jemand wie sie nicht geschworen, mich höchstens durch in einem Interview über den Rang
vorstellbar, findet Field. Um das zu ganz besondere Umstände noch mal von Dirigenten wie Leonard Bern­
begreifen, müsse man nur Társ Erfolg weglocken zu lassen.« stein räsoniert. Es gibt Einblicke in
mit dem echter Dirigentinnen der Der Film, mit dem Field nun zu­ das Mitbestimmungsgebaren von Or­
Musik­geschichte abgleichen. »Meine rückkehrt, ist ein Meisterwerk der chestern wie den Berliner Philharmo­
Figur ist eine Frau, die in sämtlichen Vieldeutigkeit. Er zeigt die Dirigentin nikern, die im Film übrigens von ihren
fünf großen Orchestern der USA Tár als Spiegelbild männlicher Macht­ Kolleginnen und Kollegen aus Dres­
Chefdirigentin war und jetzt die Ber­ monster wie Harvey Weinstein. Aber den dargestellt werden. Vor allem gibt
liner Philharmoniker leitet. In der eben auch als stolze, durchaus ver­ es rätselhafte Gruselszenen, in denen
­Geschichte der klassischen Musik hat letzliche Frau. Er berichtet vom Lu­ die Heldin einer Art Paranoia verfällt,
es so eine Frau nicht gegeben. Und xus der Klassikwelt, deren Stars im nächtens durch ein tickendes Metro­
warum nicht? Es liegt keineswegs da­ Privatjet von Kontinent zu Kontinent nom geweckt wird oder vor einer
ran, dass Frauen schlechter dirigieren reisen. Er schildert die Absurdität des hexenhaften Nachbarin in Todesangst
würden als Männer.« Shitstorms, der über gefallene Me­ erstarrt.
Einmal habe er eine der Orchester­ dienprominente hereinbricht. Er hört Blanchetts Heldin behält ihre Fas­
musikerinnen, mit denen er für den woken Studierenden zu, wenn sie in zination, auch nachdem sie als Böse­
Film arbeitete, eine Geigerin, danach der Eliteausbildungsstätte Juilliard wichtin entlarvt ist. Ihre skandalöse
gefragt, ob sie sich eine zukünftige School Moralurteile über berühmte Entzauberung und deren Folgen, ihre
Klassikwelt vorstellen könne, in der Komponisten fällen. Flucht in die USA und nach Asien
echte Chancengleichheit zwischen Vor allem aber macht »Tár« die sind als Höllensturz inszeniert – so
Männern und Frauen herrsche, be­ Verlogenheit der Musik-, Medien- meisterhaft, dass manche Kritikerin­
richtet Field. »Sie hat mich laut aus­ und Filmindustrie deutlich, deren nen und Kritiker behaupten, in den
gelacht.« Chefs sich mitschuldig machen, in­ letzten 20 Minuten erzähle der Zwei­
Field ist Jahrgang 1964, ein außer­ dem sie wegsehen, wenn erfolgreiche einhalb-Stunden-Film bloß einen Fie­
gewöhnlich sorgfältiger Rechercheur Künstlermenschen sich gruselig be­ bertraum der Hauptfigur.
und ein berüchtigt skrupulöser nehmen. Der Film lässt sich ohne Auch musikalisch ist Fields Film
Außenseiter unter den amerikani­ Mühe als Anklage gegen die Ver­ erfreulich verwegen, indem er die
schen Regisseuren. »Tár« ist sein ers­ druckstheit und Selbstgerechtigkeit Heldin unter anderem mit Musik von
ter Kinofilm seit 16 Jahren. Bis heute der Filmleute von Hollywood nach Anna Thorvaldsdottir arbeiten lässt.
hat er nur insgesamt drei lange Spiel­ #MeToo begreifen. Insofern ist es Als Gustav Mahlers »5. Sinfonie«
filme gedreht. Die beiden ersten wur­ eine überraschende Volte, dass Holly­ vorkommt, geht es sogleich um deren
den von der Kritik und vom Publi­kum wood ebendiesen Film nun bejubelt. Rolle in der Kinogeschichte, in der
sehr gemocht. Blanchett ist für ihre Darstellung der berühmten Verfilmung von Thomas
Konzertszene in
In  »In the Bedroom« mit Sissy Dirigentin eine Favoritin für den »Tár«: Spiegelbild
Manns »Tod in Venedig«. »Wir müs­
Spacek erzählte er 2001 herzergrei­ ­Oscar als beste Hauptdarstellerin. In männlicher sen Visconti aus unseren Köpfen be­
fend von einem braven Kleinstadt­ fünf weiteren Kategorien, darunter ­Machtmonster kommen«, schnauzt die Dirigentin
ehepaar im Nordosten der USA, das Tár ihre Musikerinnen und Musiker
mit dem gewaltsamen Tod des ein­ an – und die erhöhen geradezu pa­
zigen Sohns nicht klarkommt. In nisch das Tempo.
»Little Children«, unter anderen mit Macht könne nur entstehen, wo es
Kate Winslet, schilderte er 2006 be­ die Bereitschaft zur Unterwerfung
rührend und mit leisem Humor das gebe, sagt der Regisseur Field. »Das
Zerbröckeln der US-Mittelschicht ist in einem Matriarchat nicht anders
am Beispiel einer ziemlich katastro­ als in einem Patriarchat.«
phalen Vorstadt-Lovestory, die in Würde dieser Film über eine Frau,
Boston spielt. die sich schwerer Übergriffe schuldig
Florian Hoffmeister / Focus Features

Field hat vor seiner Regiearbeit als macht, womöglich ganz anders aus­
Jazz-Studiomusiker gearbeitet und sehen, wenn eine Regisseurin die Ge­
war als Schauspieler unter anderem schichte inszeniert hätte? Todd Field
in Woody Allens Film »Radio Days« hält schon die Frage für dumm. »Ich
(1987) und Stanley Kubricks »Eyes habe diesen Film geschrieben. Ich
White Shut« (1999) zu sehen. habe ihn inszeniert. Es ist ein Film,
Schon früh hat er Kurzfilme ge­ kein Akt der Identitätspolitik.«
dreht, für die er auch mal einen Preis Wolfgang Höbel n

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Wie beendet man einen Erschöpfungskrieg?


ESSAY  Im russischen Krieg gegen die Ukraine scheint keine Verhandlungslösung in Sicht – doch irgendwann
wird er wohl damit enden. Wer aber Frieden will, muss über den Krieg nachdenken. Von Herfried Münkler

E
igentlich ist es eine Binsen­ Seiten akzeptabler Waffenstillstand historischer Tiefe betrieben worden.
weisheit: Wer einen Krieg be­ möglich ist. Wohlgemerkt, ein Waf­ Von ihr könnte man bezüglich der
Amin Akhtar / WELT / ullstein bild

enden will, muss wissen, um fenstillstand und kein Friedensver­ Beendigung von Kriegen jetzt wohl
welchen Typ von Krieg es sich han­ trag, denn den wird vorerst keine einiges lernen, vor allem was Kriege
delt. Staatenkriege folgen anderen der beiden Seiten abschließen, weil betrifft, die nicht mit dem eindeu­
Gesetzmäßigkeiten als Bürgerkriege, das mit Zugeständnissen verbunden tigen Sieg einer Seite enden. Der
symmetrische Kriege haben eine wäre, die sowohl Putin als auch Dreißigjährige Krieg ist dafür ein
­andere »Grammatik« als asymme­ ­Selenskyj überfordern würden. gutes Beispiel: Zweimal wollte man
trische Kriege, auf den Angreifer Doch selbst ein Waffenstillstand hat ihn in einem eilig ausgehandelten
ist mit anderen Mitteln einzuwirken zur Voraussetzung, dass der Krieg Vertrag beenden, aber sowohl der
Der Politologe
Münkler, Jahrgang als auf den Verteidiger, und ein in der Ukraine gründlich analysiert Lübecker als auch der Prager Frie­
1951, gilt als ­Erschöpfungskrieg ist etwas anderes wird, um eine Strategie zu seiner den haben ihn nur für kurze Zeit
herausragender als ein Niederwerfungskrieg. Man Beendigung zu entwerfen. Das ist abflauen lassen, dann loderte er
Experte für Ideen­ muss einen Krieg gedanklich erfas­ der intellektuell wie moralisch här­ wieder hoch. Man hatte beim Frie­
geschichte und hat
sich in zahlreichen sen, um ihn beenden zu können. tere Weg als der des Verhandlungs­ densschluss die Ursachen und Moti­
Arbeiten mit dem Wer sich dem Denken verweigert, voluntarismus oder einer Zwangs­ ve des Krieges nur unzureichend
Wesen des Krieges wird beim Tun keinen Erfolg haben. entwaffnung der angegriffenen und bedacht. Erst Maximilian von
beschäftigt. Man spricht jetzt viel vom »reinen materiell unterlegenen Seite. Trauttmansdorff, entscheidender
Herzen«, statt »klaren Verstand« Es gibt in der deutschen Gesell­ Konstrukteur des Friedens von
einzufordern. Letzterer ist indes er­ schaft, vor allem in deren sich als Münster und Osnabrück, hat das
forderlich, um einen Krieg, wie den intellektuell verstehenden Kreisen, getan. Um alle strittigen Fragen aus­
in der Ukraine, beenden zu können. eine tiefe Aversion gegen das »Den­ zuverhandeln, hat man von 1644
Und der Verstand hat es nun einmal ken des Krieges« – als wäre man bis 1648, also mehr als vier Jahre,
an sich, dass er die dem Herzen zu­ damit schon auf die schiefe Bahn gebraucht, während der Krieg un­
geschriebenen Wünsche und Emp­ geraten, als führte die Analyse vermindert weiterging. Die Parteien
findungen deprimiert. ­unmittelbar in den mentalen Belli­ nutzten das Schlachtfeld, um ihre
Ja, es ist deprimierend, die Kons­ zismus. Es ist Berührungsangst, Position am Verhandlungstisch zu
tellationen in der Ukraine zu analy­ die viele vor dem »Denken des verbessern. Erst als klar war, dass
sieren, hat man es inzwischen doch Krieges« zurückschrecken lässt. nichts mehr zu verbessern war,
mit einem Erschöpfungskrieg zu Doch wer die Berührung mit dem unterschrieb man einen Vertrag, der
tun, der nicht schnell enden wird. Schrecklichen scheut, kann des in Grundzügen schon vorlag.
Wer in dieser Konstellation Ver­ Schrecklichen nicht Herr werden.

W
handlungen fordert, muss wissen, Die Formel vom »Nichtseinsollen as lernen wir daraus für
dass es Erschöpfungsverhandlungen des Krieges« (Habermas) bleibt die Gegenwart? Zum einen,
sein werden: Keine Seite rückt von kraftlos, wenn es keinen gibt, der dass Verhandeln und
ihren Maximalzielen ab, solange sie das Nichtseinsollen durchzusetzen Kämpfen sich keineswegs ausschlie­
darauf setzen kann, im weiteren bereit und in der Lage ist. Das ßen. Das ist nur ­anders, wenn eine
Fortgang des Krieges ihre Position ­haben auch die Verfasserinnen des Seite um Waffenstillstand nach­
zu verbessern. Auf den Krieg in der »Manifests für Frieden« gespürt, sucht, was in der ­Regel heißt, dass
Ukraine bezogen: Vorerst ist weder weswegen sie ihren Friedensappell sie die weitere Verfolgung ihrer
am Verhandlungstisch noch auf dem nicht an den Friedensbrecher im Kriegsziele aufgibt und die schwä­
Schlachtfeld ein Ende in Sicht. Da­ Kreml, sondern an die angegriffene chere Position am Verhandlungs­
rauf kann man in dreierlei Weise Seite adressiert haben. So ist das, tisch hinnimmt. Und zum anderen,
­reagieren: voluntaristisch darauf zu wenn man »reinen Herzens« daher­ dass schlecht vorbereitete Friedens­
bestehen, dass jetzt verhandelt wer­ kommt. Es ist etwas faul, wenn schlüsse nur auf zeitweilige Waffen­
den müsse, egal welche Erfolgsaus­ ­Politiker sich pietistischer Begriffe stillstände hinauslaufen, bei denen
sichten das habe; der angegriffenen bedienen. Es zeigt an, dass sie das nach kurzer Zeit der Krieg wieder
Ukraine keine Waffen und Muni­ »Bohren dicker Bretter« scheuen. aufflammt, dabei womöglich noch
tion mehr zu liefern, damit sie klein Es gibt hierzulande eine gut aus­ an Intensität gewinnt, weil die Par­
beigeben muss, was auf ihre Kapitu­ gestattete Friedens- und Konflikt­ teien zwischenzeitlich neue Verbün­
lation vor Russland hinausläuft; forschung. Das Wort »Krieg« hat dete gewonnen haben. Die häufig
noch einmal darüber nachzuden­ man allerdings vermieden, und zu hörende Formel »Wer verhan­
ken, welche Voraussetzungen erfüllt dementsprechend ist auch keine delt, schießt nicht« gilt nur vor
sein müssen, damit ein für beide vergleichende Kriegsforschung mit Kriegsbeginn; hat der Krieg begon­

110 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


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Ersten Weltkrieg so, und das dürfte


auch jetzt in der Ukraine im April/
Mai 2022 so gewesen sein. Ist der
Erschöpfungskrieg erst einmal in
Gang gekommen, hat sich das Zeit-
fenster für eine schnelle Kriegsbeen-
digung geschlossen. Von jetzt an ist
klar, dass derjenige, der als Erster
Kompromissbereitschaft zeigt, bei
den Verhandlungen am unteren
Tischende sitzt. Wer zuerst zuckt,
hat verloren. Also halten alle Seiten
an ihren Maximalzielen fest. In der
Folge werden Verhandlungen nach
den Vorgaben der Ermattungsstrate-
gie geführt. Die Diplomatie wird

The National Galler y, London / akg-images


zur »Fortsetzung oder Begleitung
des Krieges mit anderen Mitteln«.
Die Aufgabe derer, die den Krieg
tatsächlich beenden wollen, läuft
also darauf hinaus, nach Mitteln
und Wegen zur Auflösung dieses
Dilemmas zu suchen. Dazu müssen
sie abermals »den Krieg denken«.
Wer nur auf den Frieden schaut, be-
greift nichts und vor allem: bewirkt
nen, kann davon keine Rede mehr schaft tritt hier die Leidensbereit- Gesandte im nichts. Bewegung kommt in die fest-
sein. Das zeigt sich auch beim Krieg schaft der Bevölkerung als Grund- Rathaussaal von gefahrene Lage erst, wenn die Seite
Münster (Gemälde
in der Ukraine: Die Verhandlungen lage der Ermattung. Das Ende vieler von Gerard
mit den weiter reichenden Zielen,
über Getreidetransporte durchs Kolonialimperien ist über die Dauer ter Borch, 1648) die sie mit Kriegsgewalt durchzuset-
Schwarze Meer wurden geführt, von Kriegen erzwungen worden. zen sucht, einsieht, dass sie diese
während geschossen wurde, und Manifeste zum Frieden, in denen die Ziele nicht oder nur zu einem für
auch der mehrfache Austausch von Aufständischen zur Aufgabe des sie unbezahlbaren Preis erreichen
Gefangenen fand statt. Widerstands und zur politischen Re- kann. Die Seite mit den weiter rei-
Was also heißt »Erschöpfungs- signation gegenüber der Kolonial- chenden Zielen ist per definitionem
krieg«? Und was bedeutet das für macht aufgerufen wurden, sind nicht der Angreifer, im jetzigen Fall also
die Art der Verhandlungen über ein bekannt, auch dann nicht, wenn Russland. Damit die politische und
Ende des Krieges? In der Regel pla- es sich beim Kolonialherrn um eine militärische Führung Russlands be-
nen Landmächte ihre Kriege nach Atommacht handelte. greift, dass sie ihre Ziele nicht errei-
den Vorgaben der Niederwerfungs- Es gibt in der Geschichte auch chen kann, muss sich die Ukraine
strategie. Sie setzen auf die Ent- Erschöpfungskriege, die aus dem im Erschöpfungskrieg als durchhalte-
scheidungsschlacht, in der es darum Scheitern von Niederwerfungsstra- fähig erweisen. Das sicherzustellen
geht, den Gegner wehrlos zu ma- tegien resultierten. Der Erste Welt- ist nicht zuletzt die Aufgabe des
chen. Landmächte präferieren einen krieg, nicht nur von den Deutschen, Westens, wenn er dafür sorgen will,
kurzen Krieg und einen Friedens- sondern auch von Franzosen und dass die Ukraine den Krieg »nicht
schluss, in dem der Sieger seinen Russen als ein kurzer Krieg geplant, verliert«. Also muss er Waffen und
Willen durchsetzt. Das hatte auch ist ein Beispiel dafür. Ende 1914 war Munition liefern.
Putin in der Ukraine zum Ziel; klar, dass der Krieg, wenn er nicht Aber wie ist die Ukraine an den
er ist damit am unerwartet hartnä- umgehend beendet würde, auf Verhandlungstisch zu bringen, so-
ckigen und effektiven Widerstand einen Erschöpfungskrieg hinauslief. lange sie ihre politisch defensiven
der Ukrainer gescheitert. Das Beste, was man erreichen könne, Kriegsziele, die Wiederherstellung
Es gibt aber auch Kriege, die soll Generalstabschef von Falken- der territorialen Souveränität vor
nach den Vorgaben der Ermattungs- hayn im November 1914 zu Reichs- Kriegsbeginn, nicht erreicht hat?
strategie geplant werden. Seemächte kanzler von Bethmann Hollweg Vermutlich nur durch westliche Si-
haben eine Neigung dazu, wenn gesagt haben, sei ein Unentschie- cherheitsgarantien, die sicherstellen,
sie aufgrund ihrer geografischen den. Das öffentlich zu erklären, hat dass die russische Seite, sollte sie
Lage und ihrer militärischen Fähig- er sich jedoch nicht getraut. nach einiger Zeit den Krieg wieder
keiten selbst unangreifbar sind, eröffnen, es mit stärkeren Kräften

D
während sie die Gegenseite qua ie Einsicht in das Scheitern als nur denen der Ukraine zu tun
Handelsblockade »aushungern« der Niederwerfung und die hätte. Heißt: Wer im Westen den
können. Das zieht sich freilich über Aussicht auf einen Erschöp- Wer nur auf Krieg in der Ukraine wirklich been-
längere Zeit hin. Die Ermattungs- fungskrieg ist das Zeitfenster, in dem den Frieden den will, muss politische Risiken
strategie zielt darauf, die Zeit zur Gespräche zur Kriegsbeendigung er- eingehen. Wer dazu nicht bereit ist,
strategischen Ressource zu machen. folgversprechend sind. Das Problem wird seinem Fortgang bloß tatenlos
Das gilt auch für den Partisanen- dabei ist, dass die Einsicht in das zuschauen müssen – auch wenn er
krieg, den Mao bekanntlich als den Scheitern der ursprünglichen Strate- sich im Schein-Aktivismus ergeht,
»lange auszuhaltenden Krieg« defi- gie auf beiden Seiten selten zur vor allem: den Angegriffenen zur sofortigen
niert hat. An die Stelle von Seeherr- selben Zeit Platz greift. Das war im Kriegsbeendigung aufzufordern. ▪
Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 111
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»Wenn der Klügere nachgibt,


gewinnen immer die Dummen«
SPIEGEL-GESPRÄCH  Felix Lobrecht ist der zurzeit erfolgreichste Comedian Deutschlands, oft wird er auf seine
goldene Rolex und seine prolligen Witze reduziert. Ein Gespräch über die Verfilmung seines Buchs
»Sonne und Beton«, seine Jugend in Berlin-Neukölln und das Gefühl, von oben herab behandelt zu werden.

Lobrecht, 34, hat für unser Treffen das Büro SPIEGEL: Sie sind 1988 in Mettingen geboren mit Nokia-Handys mit Prepaidkarten. Inwie-
seiner Firma in einem Hinterhof in Berlin vor- und zogen im Alter von vier Jahren nach Ber- fern war dieser Sommer für Sie besonders?
geschlagen. Es ist ein sehr großes, sehr leeres lin, nachdem Ihre Mutter an Krebs gestorben Lobrecht: Das war einfach die Zeit, in der ich
Büro. Nur er ist an diesem Tag im Februar da. war. Ihr Vater war von einem Tag auf den selbst Teenager war. Und es ist die Zeit, lange
Er trägt eine blaue Gucci-Adidas-Trainings- anderen mit drei Kindern allein. bevor Neukölln cool oder hip war. Das hat mir
jacke. An seinem rechten Handgelenk sieht Lobrecht: Ja. Meine Mutter kam aus Ostwest- auch mal Franziska Giffey bestätigt, als ich sie
man die Tätowierung 4:44. So heißt das falen, mein Vater kommt aus Berlin, der ist getroffen habe. Damals war Neukölln in den
13. Studioalbum von Jay-Z. 44 steht auch für Neuköllner. Weil man in West-Berlin bis 1990 Schlagzeilen wegen Jugendkriminalität, Ge-
den Bezirk Neukölln, in dem der Comedian keinen Wehrdienst leisten musste, kamen walt, Armut und der Rütli-Schule. Gefühlt war
aufgewachsen ist. viele Menschen aus Westdeutschland in die das so was wie der Tiefpunkt von Neukölln.
Der Berliner verwaltet mittlerweile ein Stadt. Mein Vater hat in der Zeit noch gearbei- Mir war es wichtig, dass der Film diese Zeit,
Lobrecht-Imperium inklusive Modemarke tet, auf dem Bau, er hat dort meinen späteren Anfang der Nullerjahre, in einem sogenannten
und eigenem Newcomer-Comedy-Label. Was Patenonkel kennengelernt. Der kam aus Ost- Brennpunkt authentisch wiedergibt. Und dass
er macht, so scheint es, wird so golden wie die westfalen, wollte der Wehrpflicht entkommen es nicht die Story der krassesten Jungs aus
40 000 Euro teure Rolex, die zu seinem Mar- und hat meinen Vater oft in seine Heimat mit- dem Viertel ist. Denn die Geschichten der
kenzeichen geworden ist und die er auch an genommen. Dort hat mein Vater meine Mut- Krassesten sind schon oft ­erzählt. Es gibt in
diesem Tag trägt. Lobrecht hat in den vergan- ter kennengelernt. Sie haben sich verliebt und »Sonne und Beton« keine Schießereien, keine
genen Jahren einen kometenhaften Aufstieg drei Kinder gekriegt. Mich und meine zwei Messerstechereien, die Jungs sind keine
hingelegt, den man sonst zuletzt nur bei Rap- jüngeren Geschwister. Mein Vater hatte zu der Gangster. Natürlich gibt es all das auch, aber
pern wie Apache 207 oder Capital Bra in die- Zeit die Schnauze voll von der großen Stadt der Film erzählt einfach aus der Perspektive
sem Land beobachten konnte. Und das in einer und ist zu meiner Mutter nach Ostwestfalen von so vier kleinen Keks, die dort leben und
Szene, deren Image so räudig war, wie die gezogen, dort sind wir alle geboren. nun mal irgendwie dort zurechtkommen und
Witze von Mario Barth. Vorletztes Jahr titelte SPIEGEL: Ihr Aufwachsen in Neukölln mit aufwachsen müssen.
die ›New York Times‹ über Lobrecht: »Brin- einem alleinerziehenden Vater, der von Wit- SPIEGEL: So wie Sie?
ging Some Cool to German Comedy«. Auf- wenrente und Kindergeld lebt, haben Sie auch Lobrecht: Ich war damals auf jeden Fall auch
tritte von ihm kann man bei Netflix streamen. in Ihrem Bestsellerroman »Sonne und Beton« nicht krass oder gefährlich. Ich war klein,
Den Podcast »Gemischtes Hack«, den Lob- verarbeitet, der nun, von David Wnendt ver- blond und schmächtig. Deshalb habe ich dann
recht gemeinsam mit Tommi Schmitt betreibt, filmt, in die Kinos kommt. Gerade lief er auf irgendwann ja auch mit dem Pumpen ange-
hören jede Woche fast eine Million Menschen. der Berlinale. Im Vorspann steht: »Es war fangen. Dann hatte ich zwar immer noch ein
alles genau so. Vielleicht aber auch nicht.« Babyface – aber eben mit Sixpack.
SPIEGEL: Herr Lobrecht, als wir dieses Ge- Lobrecht: Ja genau. Denn ich bin nicht Lukas, SPIEGEL: Im Film geht es auch viel um die
spräch vereinbarten, sagte Ihre Agentin im aus dessen Sicht das Buch erzählt ist. Und ich Frage: Gibt der Klügere nach – oder tritt der
Vorfeld, Sie wollten einfach nur ein Gespräch bin auch keiner der vier Jungs, die in Film und Klügere nach? Wie lautet Ihre Antwort?
und auf keinen Fall so eine Geschichte, bei Buch vorkommen. »Sonne und Beton« ist Lobrecht: Na ja, wenn der Klügere nur nach-
der man mit Ihnen zum Kotti geht oder durch nicht meine Biografie, aber das Gefühl gibt, gewinnen am Ende immer die Dummen.
die Neuköllner Gropiusstadt läuft. Warum? der Jungs und den Vibe, all das kenne ich na- Aber manchmal muss man auch gut sein las-
Lobrecht: Das ist so die erste Idee, die eigentlich türlich. Jeder der vier hat etwas von mir in sich. sen. Das ist eine Von-Fall-zu-Fall-Entschei-
alle Journalisten haben und von der jeder ge- SPIEGEL: Der Film spielt in Neukölln im dung. Ich kann für beide Seiten Pro- und Kon-
fühlt denkt, es sei eine ultra-krass-kreative Idee. ­Hitzerekord-Sommer 2003. Gerhard Schröder tra-Argumente finden. Das muss jeder in dem
Da dachte ich mir: Ne komm, wir können uns regiert das Land, die Jugend telefoniert noch Moment dann für sich abwägen. Ich denke
doch auch einfach wie zwei erwachsene Men- nur meistens: Choose your battles.
schen irgendwo reinsetzen und uns unterhalten. SPIEGEL: Gibt es heute noch Dinge in Ihrem
SPIEGEL: Machen Sie diese Spaziergänge nicht Leben, für die Sie sich prügeln würden?
gern, weil Sie Dinge langweilen, auf die viele Lobrecht: Klar. Ich bin aber überhaupt nicht
kommen? scharf drauf.
Lobrecht: Im Comedysprech gibt es Witze, SPIEGEL: Im Film verschanzt sich Lukas nach
die einfach sehr offensichtlich sind. Die nennt einer ungewollten Schlägerei mit Dealern in
man »hacky«. Ich finde es, glaube ich, einfach »Die Geschichten seinem Zimmer und dreht laut den Arschfick­
ein bisschen hacky.
der ­Krassesten sind song des Rappers Sido auf. Ist der Aggro-Ber-
lin-Sound der Nullerjahre auch der Sound-
Das Gespräch führte die Redakteurin Nora Gantenbrink. schon oft erzählt.« track Ihrer eigenen Jugend?

112 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


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Auflage, damit ich nicht schon wieder von der


Schule fliege. Und deshalb war ich dann mal
bei einem Schulpsychologen. Aber da war ich
auch schon so 15, 16.
SPIEGEL: Sie haben mit 23 Ihr Abitur nach-
geholt, haben in Marburg studiert. Warum
schafft es der eine raus aus dem sogenannten
Brennpunkt und der andere nicht?
Lobrecht: Ich kann hier nicht für alle Men-
schen im Brennpunkt sprechen. Was mich
betrifft, würde ich sagen, dass ich einfach
enormes Glück hatte mit meinem Vater. Mein
Vater hat zwar keinen Schulabschluss und ist
kein Intellektueller, aber er hat immer viel
Zeitung und Bücher gelesen, hat gute Musik
gehört und war immer sehr kulturell interes-
siert und offen. Sogar für Hip-Hop. Und dann
hab ich noch eine Tante, die Künstlerin war
und nach dem Tod meiner Mutter so etwas
wie meine weibliche Bezugsperson gewesen
ist. Sie war immer sehr beeindruckend für
mich, hat immer so ihr Ding gemacht und von
ihrer Kunst gelebt. Das hat mir gezeigt, dass
man auch ohne klassischen Nine-to-five-Job
sein Leben gestalten kann. Und ich habe
­immer viel Sport gemacht. Vor allem beim
Breakdance waren halt so coole Jungs, meis-
tens mit migrantischem Hintergrund, die ihre
Energie für Headspins verbraucht haben statt
für Scheißebauen, und das hat mich geprägt.
(Auf Lobrechts iPhone geht ein Anruf ein. Der
Moderator Tommi Schmitt ruft an. Lobrecht
wimmelt ihn ab.) Schöne Grüße von Tommi
Schmitt!
SPIEGEL: Danke. In dem Podcast »Gemischtes
Hack«, den Sie zusammen mit Tommi Schmitt
betreiben, haben Sie letztens die Abschaffung
von Gymnasien gefordert. Sie haben dafür
einen Shitstorm kassiert. Würden Sie dennoch
sagen, eine Welt voller Gesamtschulen wäre
die bessere?
Lobrecht: Ja. Ich bin natürlich kein Schul­
experte, aber ich halte es immer noch für eine
gute Idee, wenn sich Milieus mischen, es mehr
Austausch zwischen verschiedenen sogenann-
ten Schichten gibt.
SPIEGEL: Glauben Sie ganz grundsätzlich da-
Mar vin Rupper t

ran, dass eine gerechte Welt möglich ist?


Lobrecht: Eine gerechtere schon, ja. Eine ge-
rechte Welt vermutlich nicht. Da wüsste ich
Allroundtalent Lobrecht: »Choose your battles« nicht mal, wie die aussehen sollte. Denn selbst
wenn am Ende einfach alle dasselbe Geld ha-
Lobrecht: Ja. Ich habe sehr früh angefangen, immer so richtig in einen Film versetzt: ben und dieselbe Bildung genießen, sind ja
Hip-Hop zu hören. Am Anfang vor allem »Vom Bordstein bis zur Skyline« war schon manche Menschen, ganz banal gesagt, immer
R & B und Ami-Rap. Als dann Anfang 2000 einfach ein grandioses Album. Damals. noch hübscher als andere. Und es ist ja nun
diese Aggro-Berlin-Welle startete, war das SPIEGEL: Der Song hat eine Textzeile, die lau- mal so, dass es hübschere Menschen in unse-
wirklich krass für uns. Mit diesem Hamburger tet: »Aua, aua, aua«. Würden Sie Ihre eigene rer Gesellschaft einfacher haben. Deshalb,
Hip-Hop, der vorher den Deutschrap domi- Jugend so beschreiben? machen wir uns nichts vor, werden wir ver-
niert hat, konnte ich mich null identifizieren. Lobrecht: Nein. Meine Jugend hat viele Emo- mutlich nie alle von derselben Startlinie los-
Das hab ich nicht mal kapiert. Also wenn bei tionen gleichzeitig angeknipst. Wir waren viel laufen. Aber ich finde, zumindest die Linien,
den Absoluten Beginnern das Rudel tollt und draußen, haben viel Fußball gespielt und ge- die man problemlos anpassen könnte, bei
die Füchse, da hab ich mich immer gefragt: lacht, deshalb wäre mir nur »Aua, aua, aua« denen könnte man es zumindest versuchen.
Alter, was für Füchse? zu negativ. SPIEGEL: Sind Sie für das bedingungslose
SPIEGEL: Waren Sie damals Team Sido oder SPIEGEL: Hatten Sie als Kind therapeutische Grundeinkommen?
Team Bushido? Hilfe, um den Tod Ihrer Mutter zu ver­ Lobrecht: Ich bin auf jeden Fall dafür, dass man
Lobrecht: Beides. Ich fand Sido und B-Tight arbeiten? gerade in einem reichen Land wie Deutschland
immer ziemlich funny – gerade diese Aids- Lobrecht: Nein. Ich musste irgendwann mal die Bürgergeldsätze zur Grundsicherung so
und Sekte-Sachen. Aber Bushido hat einen zum Schulpsychologen, aber das war eine weit anhebt, dass man in Würde davon leben

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kann. Ob man das bedingungsloses »Wer sich mit Vorschuss erhalten, vorher habe ich nicht schneiden kann. Ich habe mal
Grundeinkommen nennt, ist dann mich mit Nebenjobs und kleinen Büh- einer großen Qualitätszeitung ein
auch egal. mir beschäf- nenauftritten durchgeschlagen und Interview gegeben, die Frau war nett,
SPIEGEL: Sie besuchen nach eigenen tigt, der muss habe mich immer im Dispo bewegt. wir hatten einen guten Vibe. Am
Aussagen nur die 1Live Krone und
den Deutschen Comedypreis. An-
einfach ein SPIEGEL: Später schlugen Sie das
Angebot einer Managementfirma
Ende erschien ein Porträt von mir,
über dem ganz fett stand: »Der Mil-
sonsten vermeiden Sie typische paar vermeint- aus, die Sie unter Vertrag nehmen lionär aus dem Getto«. Da habe ich
Rote-Teppich-Veranstaltungen, ob- liche Wider- wollte. Die Firma bot Ihnen eine Mil- gedacht: wow. Das ist das Einzige,
wohl Sie längst selbst ein Promi sind. lion Euro. was von zwei Stunden Gespräch jetzt
Warum?
sprüche Lobrecht: Ja. Aber zu diesem Zeit- hängen geblieben ist.
Lobrecht: Ist einfach nicht mein Vibe. ­aushalten.« punkt dachte ich mir schon: Jetzt SPIEGEL: Und das fanden Sie unge-
Wenn ich dann dort bin, frage ich schaff ich die Million auch ohne recht?
mich nämlich meistens: warum? euch. Lobrecht: Ja, weil ich weiß, worüber
SPIEGEL: Jetzt sind Sie Millionär und SPIEGEL: Warum reden Sie eigent­- wir gesprochen haben. Und am Ende
haben irre viele Fans. Das macht doch lich oft in Podcasts, aber selten mit wurde ich einfach nur dargestellt wie
etwas mit einem. Ist man da wirklich ­Zeitungen und Magazinen? Finden ein reicher Assi. Ich rede vielleicht
noch geerdet? Sie das Format Podcast einfach mo- manchmal etwas derb. Aber ich finde
Lobrecht: Ich gebe mir auf jeden derner? mich gar nicht asozial. Und ich glau-
Fall sehr viel Mühe, einfach im nor- Lobrecht: Nicht nur. Ich habe schon be, es ging mir vor allem um die Per-
»Sonne und Beton«-
malen Leben stattzufinden. Es gibt Darsteller in der
auch schlechte Erfahrungen gemacht. spektive, aus der der Artikel über
ja nichts Langweiligeres, als wenn Neuköllner Gropius­ Ich fühle mich mittlerweile besser mich geschrieben wurde. Ich hatte
ich in Zukunft nur noch auf der stadt damit, wenn man Gesagtes von mir einfach das Gefühl, dass man so von
­Bühne Jokes darüber mache, wie oben herab auf mich guckt. Und ­diese
ich mit meiner S-Klasse auf Tour Haltung begleitet mich einfach schon
von einem Fünfsternehotel ins nächs- mein Leben lang.
te fahre. Aber ich habe das große SPIEGEL: Haben Sie manchmal Angst,
Glück, dass weder meine Familie dass man Ihnen Ihr ganzes Leben
noch mein Freundeskreis irgend­ ­d iesen Assi-Stempel aufdrücken
etwas mit dem Showbusiness zu tun wird?
haben. Und wenn ich mit denen he- Lobrecht: Angst nicht. Das klingt mir
rumhänge, dann ist auch einfach alles zu ausgeliefert. So als könnte ich
normal. nichts dagegen tun. Ich kann ja selbst
SPIEGEL: Heinz Strunk hat über Co- bestimmen, mit wem ich mich in Zu-
medy in Deutschland gesagt, dass kunft treffe und mit wem nicht mehr.
»da, wo Comedy draufsteht, meistens Aber ich verstehe schon, dass es be-
Scheiße drin ist«. Würden Sie dem stimmte Menschen gibt, denen klare
zustimmen? Narrative lieber sind als eine komple-
Lobrecht: Nö, aber ich kann schon xere Dialektik. Wer sich mit mir be-
nachvollziehen, dass man das denken schäftigt, der muss einfach ein paar
kann, wenn man eher so oberflächlich vermeintliche Widersprüche aushal-
auf die Szene guckt und vielleicht vor ten. Aber das ist dann eben so, das
allem Fernsehcomedy kennt. Ich bin muss ich selbst ja auch.
auch kein großer Fan von deutscher SPIEGEL: Sie haben im Podcast mit
Fernsehcomedy. Die Perlen findet Sandra Maischberger erzählt, dass Sie
man eher versteckt auf YouTube oder unter »depressiven Phasen« leiden.
Instagram. Stehen diese im Zusammenhang mit
SPIEGEL: Sie haben mal gesagt, »Hu- dem Druck, den so eine große Hallen-
mor ist eine der besten Soft Skills auf tournee, die Sie spielen, zwangsläufig
der Welt. Ich würde jedem raten, sich mit sich bringt?
Humor anzueignen.« Ist Humor nicht Lobrecht: Nicht nur. Mit dem Trubel
nur Ihr Super-Soft-Skill, sondern auch kann ich mittlerweile ganz gut um-
eine Art Panzer zwischen Ihnen und gehen. Viel schwieriger sind die Off-
der Welt? phasen, weil ich da mit meinen Ge-
Lobrecht: Nein. Wenn überhaupt, ist danken alleine bin – ohne Ablenkung.
mein Panzer das Pumpen. Nicht der Und ich weiß, dass viele Ängste, die
Humor. Ich würde meinen Humor ich in der Vergangenheit hatte, irra-
eher als eine Art des Umgangs zwi- tional sind. Ich arbeite mittler­weile
schen mir und der Welt bezeichnen. sehr intensiv an meiner psychischen
Auch meine Geschwister und meine Gesundheit, das habe ich jahrelang
Familie sind übrigens sehr lustig. vernachlässigt.
SPIEGEL: Gab es einen bestimmten SPIEGEL: Ihr zweites Bühnenpro-
Moment, an dem Sie realisiert haben: gramm hieß »Hype«. Was machen
Constantin Film Verleih (3)

Jetzt hab ich es geschafft? Sie, wenn Ihr eigener Hype irgend-
Lobrecht: Am ehesten vielleicht noch wann vorbei ist?
der Moment, als ich 2014 den Buch- Lobrecht: Damit beschäftige ich mich
vertrag für »Sonne und Beton« unter- dann, wenn es so weit ist.
schrieben habe. Ich habe einen für SPIEGEL: Herr Lobrecht, wir danken
meine damaligen Verhältnisse guten Ihnen für dieses Gespräch.  n

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Sammlung unter die Lupe zu nehmen.


Das Ergebnis war für mich unfassbar
deprimierend.« Obwohl mehr Frauen
in Gestaltung und Design tätig waren
als etwa in der Malerei, zeigte das

Die Wut hinter den Masken


MKG in 150 Jahren nicht eine Einzel-
ausstellung einer Grafikdesignerin.
Die Guerrilla Girls formierten sich
im Jahr 1985. Damals brüstete sich
das Museum of Modern Art in New
AUSSTELLUNGSKRITIK  Seit fast 40 Jahren kämpft das Kollektiv Guerrilla Girls für York damit, einen Überblick über die
mehr Frauen in der Kunstwelt – nun wird es in Hamburg gefeiert. bedeutendste Malerei und Bild­
hauerei geben zu wollen – und wähl-
te dafür Werke von 13 Frauen sowie

D
as neue Poster der Guerrilla 152 Männern aus, die zudem vor­
Girls sieht aus wie eine Wer- wiegend aus Europa und den USA
bung vom Bäcker. Es hängt im stammten. Sieben Frauen stank diese
Hamburger Museum für Kunst und Praxis gewaltig, seitdem kämpfen
Gewerbe (MKG), zu sehen ist ein die wütenden Feministinnen hinter
Plunderteiggebäck. Auf den ersten Gorillamasken gegen Galerien und
Blick fällt nicht auf, dass daneben ein Museen, deren Auswahl ihnen zu
kleiner Krümel liegt. Erst eine Text- männerlastig oder ethnisch unausge-

Sammlung MK&G, Hamburg (2)


zeile macht darauf aufmerksam: wogen erscheint. Schwarz gekleidet
»Dieses Franzbrötchen repräsentiert zog die Truppe in den ersten Jahren
die 400 000 grafischen Arbeiten im durch New York, verteilte Flyer und
MKG. Dieser Krümel steht für die Aufkleber und hängte illegal Plakate
Arbeiten von Frauen: 1,5 %.« auf.
Seit fast 40 Jahren formulieren die Auch das wohl bekannteste Plakat
US-amerikanischen Guerrilla Girls von 1989 ist in Hamburg zu sehen.
solche Vergleiche mit bitterem Nach- Darauf liegt eine nackte Frau mit dem
geschmack. Das Kollektiv hat sich kanischen Malerin. Die Kamera lässt Plakat aus den Rücken zum Betrachter. Die Figur
dem Kampf gegen Benachteiligung sie ausgeschaltet. Seit ihrer Gründung Siebzigerjahren, ­bezieht sich auf ein Gemälde des
Zeitschriftencover
von Frauen in der Kunstwelt ver- sind mehr als 60 Frauen bei den Guer­ von 2021 ­französischen Malers Jean-Auguste-­
schrieben. Als »Gewissen der Kunst- rilla Girls aktiv gewesen, alle anonym, Dominique Ingres. Das Kollektiv ver-
welt« schauen die Feminis­tinnen aus Angst um die eigene Karriere – passte der Frau eine Gorillamaske
­genau hin, wie viele Einzelausstellun- und um den Blick nicht auf persön- und schrieb dazu: »Müssen Frauen
gen es von Frauen gibt, wie viele liche Interessen zu lenken. »Heute nackt sein, um ins Met. Museum zu
Künstlerinnen oder People of Color würden wir das wohl anders machen, kommen?« Sie hatten ausgerechnet,
in Sammlungen vertreten sind. heute braucht Aktivismus ein Gesicht. dass im Metropolitan Museum New
Etwa 100 Poster, Plakate und Flyer Aber wir ziehen das jetzt durch.« Sie York nur 5 Prozent der Werke von
aus vier Jahrzehnten Guerrilla Girls sei nicht überrascht gewesen vom Frauen stammten, während 85 Pro-
zeigt das MKG nun in einer Gruppen- Hamburger Proporz – sondern der- zent der Akte weiblich waren.
schau über feministisches Grafik­ maßen schockiert, »dass ich lachen Auch wenn bei Ankäufen heute al-
design mit insgesamt 400 Arbeiten musste. Wir schreiben das Jahr 2023, les fair zugehe in dem Sinne, dass sich
von Frauen. Weil die Guerrilla Girls und die Zahlen sind noch schlechter alle Menschen im Museum gerecht
nach so vielen Jahren eine Instanz als anderswo«. vertreten fühlten, würden die Depots
sind, lässt sich an ihrem ständigen Ruf Das Problem sei: Die Energie des noch sehr lange andere Strukturen ab-
nach Veränderung eine Kulturge- Umschwungs helfe vorrangig dem bilden. »Sammlungen sind widerstän-
schichte der Institutionenkritik erzäh- Ausstellungsbetrieb. In Sammlungen dig. Wenn wir nur noch Werke von
len. Gleichzeitig sind sie mittlerweile hingegen gehe es schleppend voran. Frauen kauften, brauchten wir weite-
selbst museale Objekte. Braucht man Weiterhin werden vor allem Männer re 150 Jahre, bis wir bei 50 Prozent
sie überhaupt noch? gesammelt, sagen die Guerrilla Girls. sind«, sagt Julia Meer.
Das MKG mag miserabel dastehen Auch das MKG habe in den vergan- Kann man innerhalb dieses Dis-
in Sachen Gleichberechtigung, aber genen 25 Jahren hauptsächlich Arbei- kurses eine Ausstellung machen, die
in den vergangenen Jahren hat sich ten von männlichen Gestaltern ge- trotzdem Unterhaltungswert hat? Das
auch viel getan beim Geschlechter- kauft, bestätigt Julia Meer, Leiterin MKG versucht es mit niedrigschwel-
proporz. Auf Biennalen oder Grup- der Sammlung Grafik und Plakat und liger Fröhlichkeit – und das gelingt
penausstellungen herrscht in der Re- Kuratorin der aktuellen Ausstellung. ganz gut. Der Raum mit Werken der
gel Diversität. In Museen sollen reine Über solche Schieflagen wird kaum Guerrilla Girls strahlt in Pink und
Frauenausstellungen langjährige Ver- gesprochen: Als die Guerrilla Girls Gelb, in der Ecke ein Kissenberg,
säumnisse ausgleichen. Galeristen, vor einigen Jahren 383 europäischen »Das Ergebnis drum herum die ironischen Slogans
Auktionshäuser und Sammler wenden Museen 14 Fragen zur Diversität ihrer der Aktivistinnen. Humor sei ihre
sich der Kunst von Frauen zu, wo- Sammlungen stellten, gaben drei Vier­
war für beste Waffe, sagt Frida Kahlo, gerade
durch auch die Preise steigen. tel keine Auskunft. mich unfass­ wenn Menschen anderer Meinung
Ein Anruf in New York bei den Julia Meer will die Designgeschichts­ bar depri­ seien. »Wenn man jemanden zum La-
Guerrilla Girls. Es meldet sich eine schreibung in dem Hamburger Haus chen bringt, hat man für einen kurzen
Künstlerin mit dem Pseudonym Frida nun korrigieren. »Die Guerrilla Girls mierend.« Moment sein Gehirn erreicht.«
Kahlo, nach der verstorbenen mexi- waren für uns der Anlass, unsere Julia Meer, Kuratorin Carola Padtberg n

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Petter, Jan Puhl, Alexandra Rojkov, Anna-Sophie Haan, Thorsten Hapke, Dr. Dorothee Heincke, Susanne
Schneider, Lina Verschwele. Autoren, Reporter: Christian GR AFIK & INTER ACTIVE Leitung: Ferdinand Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Hoffmann, Bertolt
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116 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Greg Foster, 64 Tony Marshall, 85
NACHRUFE Es war 1984 alles angerichtet Opernsänger wäre er gern ge­
für die Goldparty in der Hei­ worden oder zumindest Chan­
mat. Der US-amerikanische sonnier im Stil von Charles
Hürdenläufer Greg Foster hatte ­Aznavour. Als nach seinem abge­
in den anderthalb Jahren vor schlossenen Gesangsstudium sei­
den Olympischen Spielen in Los ne Single »Aline« erfolglos blieb,
Angeles kein 110-Meter-Rennen auf der Tony Marshall mit leicht
mehr verloren, war sogar Welt­ fran­zösischer Akzentlasur eine
meister geworden. Sein ewiger deutsche Adaption des Welthits
Konkurrent, Renaldo Nehemiah, des Sängers Christophe sang,
war zum American Football und auch weitere Veröffent­
­gewechselt, bei den US-Trials lichungen floppten, überzeugte
beherrschte Forster die Konkur­ ihn Produzent Jack White, das
renz. Doch es kam anders. Im Genre zu wechseln. Mit »Schöne
Finale zögerte er beim Start für Maid« startete Marshall, der
den Bruchteil einer Sekunde, 1938 als Herbert Anton Bloeth
Foster glaubte zunächst an einen geboren wurde, 1971 seine

NG Collection / INTERFOTO
­Fehlstart. Eine fatale Fehlein­ ­Karriere als Stimmungsschlager­
schätzung: Sein Landsmann sänger. Oft waren seine Hits
­Roger Kingdom sprintete zu wie »Komm gib mir deine Hand«
Gold, Foster wurde Zweiter – mitklatschtaugliche Aufforde­
mit 0,03 Sekunden Rückstand.
»Am liebsten hätte ich alle
­Rennen im Vorfeld verloren,
Nadja Tiller, 93 wenn ich nur dieses eine gewon­
Als die Wienerin 1958 in dem Film »Das Mädchen Rosemarie« eine nen hätte«, sagte er danach.
Edelprostituierte spielte, schien der ganze Muff der Fünfzigerjahre Foster hatte seine Erfolge, er
mit einem Mal weggeweht zu sein. Nadja Tiller verkörperte diese wurde dreimal Weltmeister.
Figur mit einer Mischung aus Selbstbewusstsein, Charme, Intelligenz Doch er stellte nie einen Welt­
und Erotik, die man auf der Leinwand selten findet. Sie war ein rekord auf und konnte auch
Star des deutschen Nachkriegskinos, allein 1955 liefen sieben Filme bei Olympia kein Gold holen.
mit ihr an. In jenem Jahr spielte sie in dem Familiendrama »Die 1988 in Seoul lief er mit einem

Heinrich / POP-EYE
Barrings« eine lebenslustige Adlige. Auch heute wirkt es noch betö­ gebrochenen Arm. Eine wage­
rend, wie sie ihrem älteren Ehemann in einer Szene klarmacht, mutige Entscheidung: Seine
dass sie Spaß und Glück keineswegs auf morgen vertagen will. ­Tiller Ärzte hatten ihm gesagt, dass er
ging in ihren Darstellungen weit über das Klischee der Femme fatale den Arm bei einem möglichen
hinaus. Einige Jahre lang wurde sie auch in internationalen Pro­ Sturz vielleicht nicht mehr rungen zum zeitlich begrenzten
duktionen besetzt. Der große Wurf gelang ihr nicht, obwohl sie sich ­würde bewegen können. Privat Ausflippen, zum herzhaften
im Starensemble des Gangsterfilms »Rififi in Paris« (1966) mühelos hatte Foster 1985 einen Schick­ Über-die-Stränge-Schlagen, um
gegenüber einem Leinwandtitanen wie Jean Gabin behaupten salsschlag zu verkraften: Bei dem humorlosen Erwerbsleben
konnte. Von den Siebzigerjahren an war sie in Fernsehproduktionen einem Verkehrsunfall starben und der unklaren Zukunft zu
wie »Es muss nicht immer Kaviar sein« (1977) und »Das Traum­ vier Verwandte, darunter entfliehen. Mit »Bora Bora«
schiff« (1983) zu sehen und adelte diese mit ihrer Präsenz. Zwischen­ seine Mutter. In der Spätphase vertonte er 1978 die Reisesehn­
durch tauchte sie immer wieder in Kinofilmen auf, zuletzt 2009 seiner Karriere wurde Foster sucht der Deutschen, die sich
in »Dinosaurier« – an der Seite ihres Ehemanns Walter ­Giller, mit des Ephedrin-Dopings über­ mit Italien längst nicht mehr ab­
dem sie schon früher gespielt hatte. Auch mit 80 Jahren konnte führt und für drei Monate ge­ speisen ließ, sondern auf ein
sie mit ihrer Vitalität jeden Film bereichern. Nadja Tiller starb in der sperrt. Greg Foster, der an der »Paradies im Sommerwind«
Nacht zum 21. Februar in Hamburg. LOB seltenen Krankheit Amyloidose zielte. Die besungene Südsee­
litt und sich 2020 einer Herz­ insel ernannte Marshall 30 Jah­
transplantation unterzogen re später kurz nach seinem
Volkmar Sigusch, 82 ­hatte, starb am 19. Februar in 70. Geburtstag zum Ehrenbürger.
Allgegenwärtig ist der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch noch ­Maywood, Illinois. BKA Die größte künstlerische Befrie­
immer in populären Diskursen vor allem durch eine seiner Wort­ digung dürfte ihm sein Engage­
schöpfungen aus den 1990er-Jahren: Die Begriffe »Cis-Mann« und ment am Frankfurter Volks­
»Cis-Frau« gehen auf ihn zurück. Das sind Menschen, deren Ge­ theater gewesen sein, wo er ab
schlechtsidentität mit dem in ihrem Geburtsregister eingetragenen 2005 die Rolle des Milchmanns
Geschlecht übereinstimmt. Sie unterscheiden sich dadurch von Tevje im Musical »Anatevka«
»Trans-Männern« und »Trans-Frauen« – mit der Einführung dieser spielte. Trotz gesundheitlicher
Begrifflichkeit war es Sigusch gelungen, Transsexualität sprachlich Probleme veröffentlichte er 2021
anzuerkennen und einzuordnen: »Wenn es Cissexuelle gibt, dann mit »Der letzte Traum« noch ein
muss es auch Transsexuelle geben. Das heißt, die sind ganz normal.« Album, darauf auch ein gemein­
Als Leiter des (nach seiner Emeritierung 2006 abgewickelten) sames Lied mit seinen Söhnen
Tony Duffy / Getty Images

Frankfurter Instituts für Sexualwissenschaft hat Sigusch mensch­ Pascal und Marc: »Father &
liche Sexualität und Gesellschaft stets zusammengedacht und Sons«, die deutsche Version des
sich ihnen interdisziplinär genähert. Sein Leben lang hat er für die Cat-Stevens-Klassikers ­»Father
Befreiung der Sexualität und der Lust gestritten. Volkmar Sigusch and Son«. Tony Marshall starb
starb am 7. Februar in Frankfurt am Main. MRE am 16. Februar. ARÜ

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 117


PERSONALIEN

Dem
Geschmack
nach
Man kennt ihn aus Filmen wie
»Die Tribute von Panem«, »Der
große Crash – Margin Call« oder
zuletzt »Whitney Houston: I
Wanna Dance with Somebody«.
Stanley Tucci, 62, ist seit Jahr­
zehnten ein erfolgreicher Holly­
woodschauspieler. Er drängt sich
aber nicht nach vorn, spielt eher
im Hintergrund. Vielleicht weil
seine wahre Liebe gar nicht dem
Film gilt. Sondern dem Essen.
Dem SPIEGEL sagte Tucci nun:
»Für mich ist die Kulinarik die
vollkommenste Kunstform. Weil
sie, anders als der Film, flüchtig
ist. Weil man sie im Moment
­genießen muss.« Tucci, dessen
Großeltern aus Sizilien in die
USA eingewandert waren, hatte
zuletzt eine Kulinarikshow auf
CNN, in der er der italienischen
Küche seiner Vorfahren nach­
reist. In seinem Buch »Taste. Mein
Leben für Küche und Kamera«
berichtet er nicht nur von lauten
und langen Familienessen,
­sondern auch vom Mundhöhlen­
krebs, dessen Behandlung ihn
fast den Geschmackssinn gekos­
tet hat. Monatelang musste er
sich mit Flüssignahrung zufrie­
dengeben. »Ich kann immer noch
nicht alles essen. Steak etwa geht

Matt Holyoak / CNN


nicht. Aber diese Beeinträchti­
gung macht mich auch neugieri­
ger. Ich bin jetzt darauf ange­
wiesen zu experimentieren.« XVC

Wahrer Traum ­ udamel, »für mich wird ein


D schen Jugendorchesters. Seit­
Traum wahr«. Als kleiner Junge dem geht es für ihn weiter nach
Er galt schon früh als Wunder­ habe er vor seinen Stofftieren oben. Dudamel arbeitete als
kind am Dirigentenpult, nun so getan, als ob er die New Yor­ Musikdirektor der Los Angeles
Genaro Molina / L A Times / Getty Images

geht die Erfolgsgeschichte von ker Philharmoniker dirigierte. Philharmoniker und der Oper in
Gustavo Dudamel, 42, weiter. Dudamel wurde als Sohn zweier Paris. Auch in New York stand
Der Venezolaner wird ab der Musiker in Barquisimeto ge­ er schon am Dirigentenpult. Das
Saison 2026/27 Musikdirektor boren. Seine musikalische Aus­ erste Mal mit Mitte zwanzig und
der New Yorker Philharmoniker. bildung begann er früh bei großer Lockenpracht. Damals
Das ist noch eine Weile hin, aber »El ­Sistema«, einem Musikför­ sei er ein »wildes Tier« gewesen,
in dieser Woche stattet ­Dudamel derprogramm für Kinder und sagte Dudamel nun. Das sei er
schon mal einen Antrittsbesuch ­Jugendliche. Schon mit 18 wurde noch immer, »nur mit weniger
ab. Er liebe New York, sagte er Chefdirigent des venezolani­ Haaren«. EVH

118 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


Triumph der »geschlach­tet« worden, so die
Regisseurin. Vor allem männ­
großen Dame liche Kritiker hätten sie heftig at­
Gerade hat sie hier ihren neuen tackiert. Dieses Mal war alles
Film »Ingeborg Bachmann – anders. Bei der Pressekonferenz
Reise in die Wüste« vorgestellt, wurde sie mit Lob überschüttet,
von einem früheren Besuch die anwesenden Journalistinnen
hat die deutsche Regisseurin und Journalisten applaudier-
­ argarethe von Trotta, 81, aller-
M ten ihr und sprachen ihr große
dings keine allzu guten Erin­ Aner­kennung für ihr Lebens-
nerungen an die Berlinale. In werk aus. Dafür war ihr bereits

Frazer Harrison / Getty Images


den Sechzigerjahren fing sie im Dezember ein europäischer
als Schauspielerin an, bevor sie Filmpreis verliehen worden.
bei ihren ersten Filmen Regie Nun bekannte ein Filmkritiker
führte. 1983 war sie auf dem gar, dass sie seine persönliche
Festival mit ihrem Freund- »Ikone« sei. Trottas »Reise in
schaftsdrama »Heller Wahn« die Wüste« läuft im Wettbewerb
vertreten. Damals sei sie der Ber­linale. Der Film erzählt
von einer feindseligen deut- von der schwierigen Liebes­ »Schaut, wie süß ein viel gelikter Kommentar
schen Presse regelrecht beziehung zwischen der öster- dazu, also: »Hör auf damit. Du
reichischen Literatin Bachmann ich jetzt bin« hast es übertrieben. Akzeptier
(Vicky Krieps) und dem Schwei- Nach ihrem Auftritt bei der es und leb weiter.« Das ­Alter
zer Schriftsteller Max Frisch Grammy-Verleihung (Foto oben) ohne Verjüngungsmaßnahmen
(Ronald Zehrfeld). Als auch schlug M ­ adonna, 64, Häme über zu akzeptieren, wie der Kom-
Trottas Hauptdarsteller auf der ihr ­offensichtlich gestrafftes mentar es verlangt, ist als Frau
Pressekonferenz erklärten, Gesicht entgegen. Nun kontert im Scheinwerferlicht natürlich
wie großartig die Arbeit mit ihr sie zynisch auf Twitter: »Schaut, nicht leicht. Verzichtet eine Frau
gewesen sei, wurde es der Re­ wie süß ich jetzt bin, nachdem auf Eingriffe, heißt es schnell,
gisseurin zu bunt. Jetzt müsse die Schwellung von der OP sie sei »alt geworden«. Dann
aber mal jemand was Gemeines ­zurückgegangen ist. Lol.« Dazu wird sie unsichtbar, das belegen
­sagen, forderte sie und erntete postete sie ein Foto, das sie ­Studien. Nimmt sie die Hilfe von
Lachen aus dem Saal. Nein, das mit langen roten Zöpfen, Cap – Schönheits-OPs in Anspruch,
wollte niemand. Im Gegenteil. und einem auffallend eben­ muss sie sich dafür rechtfertigen.
Zwei Tage später erwähnte Ste- mäßigen Gesicht zeigt. Die Pop­ Frauen können es also nicht
Michael Timm / action press

ven Spielberg, der auf der Berli- ikone hat sich also mal wieder richtig machen. Das weiß auch
nale einen Goldenen Ehren­ neu erfunden. Aber das passt Madonna. Vielleicht hat sie
bären erhielt, Trotta in seiner offenbar nicht in das noch im- sich deshalb entschieden, die
Dankesrede als eine Regisseurin, mer vorherrschende Frauenbild. Diskussionen um ihren
die ihn inspiriert habe. Mehr »Just stop. You overdid it. Just Körper nicht still über sich
Auszeichnung geht kaum. LOB accept it and move on«, lautet ergehen zu lassen. JGA

Teurer Spaß profitieren. Wie sehr das wirk-


lich auf die beiden zutrifft, ent-
Die Promi-Hochzeit des Jahres hüllen nun skurrile Details der
2022 feierten Brooklyn Beck- Hochzeit. Laut »Daily Mail«
ham, 23, und Nicola Peltz, 28: haben sich Brautvater Peltz und
eine Festivität über drei Tage die Eventplanerinnen Arianna
mit 500 Gästen, darunter Venus Grijalba und Nicole Braghin
und Serena Williams, Eva Lon- gegenseitig wegen deren Hono-
goria und die Spice Girls Mel C rar verklagt (Hunderttausende
und Mel B. Klar, das Paar dürfte US-Dollar). Peltz soll die Hälfte
allein durch die berühmten und vor der Feier angezahlt, aber
reichen Eltern einen illustren ­inzwischen zurückverlangt ha-
Bekanntenkreis haben: Brook- ben, weil er die beiden bereits
lyn Peltz Beckham ist der Sohn vor der Hochzeit entlassen
des Fußballstars David und der habe. Grijalba und Braghin wie-
Axelle / Bauer-Griffin / FilmMagic / Getty Images

Modedesignerin Victoria Beck- derum fordern angeblich das


ham; seine Frau die Tochter rest­liche Gehalt, sie hätten
eines der reichsten Hedgefonds- 17 Stunden am Tag für die Feier
Manager der USA, Nelson seiner Tochter geschuftet. Der
Peltz. Beide stehen unter star- Braut, behaupten die Planerin-
kem »Nepo-Baby«-Verdacht nen, seien die weißen Blumen
(abgeleitet von »Nepotismus«), nicht weiß genug gewesen, die
so bezeichnete ein Artikel des Gästeliste habe sie wieder
»New York«-Magazins Promi- und wieder abändern wollen.
kinder, die maßgeblich vom So etwas kann wohl nur ein
Geld und Status ihrer Eltern echtes Nepo-Baby. JGA

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 119


BRIEFE Nicht nur ein
Teilzeitjob
Nr. 7/2023  Lehrer und Bestsellerautor
Ewald Arenz spricht über ­unglückliche
Schüler und fordernde Eltern

Studiendirektor Ewald Arenz


Freiwilligkeit reicht genommen haben. Sie sind not­ zeigt sich erfrischend offen, au­
wendig und unabwendbar! Da thentisch, selbstkritisch, selbst­
nicht ist glaubwürdige Überzeugungs­ ironisch und erfreulich pragma­
Nr. 7/2023  Der gesunde Menschen­ arbeit der Politik gefordert. tisch und unideologisch. Unver­
verstand: Guten Flug! Udo Bauer, Wedel (Schl.-Holst.) stellte Sprache, klare Kante – ein
Interview-Genuss. Wenn dem­
Markus Feldenkirchen trifft den Markus Feldenkirchen halte ich nächst auch eine Lehrkraft aus
Nagel auf den Kopf. Der Beitrag für einen der oder gar den zur der Haupt- oder Gemeinschafts­
jedes Einzelnen kann selbstver­ Zeit besten Journalisten in schule mit vollem und vielfäl­
ständlich zur Einsparung von Deutschland. Dass er für sich und tigem Lehrauftrag, intensiver
Energie und CO2 beitragen. Ge­ die Klimakleber einen Fernurlaub ­Elternarbeit und überlangen Kon­
löst wird das uns alle bedrohende für den »gestressten Geist« for­ ferenzen im SPIEGEL zu Wort
Problem Klimawandel so aber dert, finde ich allerdings sehr kommt, ebenso unverstellt, wer­
nicht. Das geht nur über struk­ ­elitär. In Deutschland sind viele den Sie journalistisch Erstaun­
turelle Lösungen, die »von oben« Menschen mit dem Auto unter­ liches geleistet haben.
kommen müssen. Dies beinhaltet wegs, die zur Arbeit, zur Kita, Heiner Mees, Rosengarten (Bad.-Württ.)
natürlich auch Verbote. Hier ist zum Arzt oder ins Krankenhaus
zunächst die Politik gefragt. Und müssen. Zum Urlaub für ihre »ge­ Die Romane von Ewald Arenz
Widerwärtige die traut sich in diesem Fall nicht stresste Seele« fahren die dann sind zweifellos eine Bereicherung
so richtig. Manchmal in der Ver­ mit ihrem Golf Diesel, älteres für die deutsche Literatur. Als we­
Machenschaften gangenheit hat sie sich aber Baujahr, an die Ostsee. Sich das niger bereichernd empfinde ich
Nr. 8/2023  Titel: Ihr Job: Wahlbetrug. durchaus getraut: In den Siebzi­ Recht zu nehmen, diese Men­ die Tatsache, dass durch seine
Ihr Preis: 15 Millionen gerjahren wurden Sicherheitsgur­ schen auf einer öffentlichen Stra­ Aussagen der Eindruck entsteht,
te in Autos vorgeschrieben. Spä­ ße zu nötigen, halte ich im Gegen­ man könne als Lehrkraft neben­
Kommt, Leute, die Geschichte ter kam das Rauchverbot in Gast­ satz zu Herrn Feldenkirchen für her noch Bücher schreiben und
glaubt doch kein Mensch! Da las­ stätten. Beide Veränderungen zutiefst verachtungswürdig. sich vormittags eine Runde auf
sen sich angeblich supergeheime sind von der Gesellschaft längst Ekkehard Engels, Bréhal (Frankreich) einem Sofa ausruhen – falls nicht,
Superprofis von Journalisten, ge­ akzeptiert. Eins ist in beiden Fäl­ sei man wohl zu perfektionistisch
tarnt als potenzielle Interessen­ len aber sicher: Mit Freiwilligkeit Der Beitrag klingt für mich ein oder mache sich einfach selbst zu
ten, mittels verdeckten Kameras wäre das nicht erreicht worden. wenig wie eine trotzige Ausrede: viele Probleme. Dass Herr Arenz
übertölpeln – eine Strategie, wie Beim Thema Klimawandel geht Wenn die Politiker keine struk­ mit seinen wöchentlich 16 Unter­
man sie aus B-Movies bei der es nun um deutlich mehr. Es geht turellen Lösungen zum Bremsen richtsstunden fast 10 Stunden
Überführung von Drogenbaro­ um unsere Zukunft als Mensch­ der Erderwärmung schaffen, unter einer Vollzeitstelle liegt,
nen kennt. Auch ist »bis zu 15 Mil­ heit. Die Politik muss jetzt liefern, kann man auch weitere Fernrei­ bleibt leider unerwähnt.
lionen« ein eher lächerlicher Be­ sicher auch mit zunächst unbe­ sen machen. Für mich bleibt die Sarah Ruhnau, Borken (NRW)
trag angesichts der Reichweite quemen Geboten und Verboten. Erkenntnis: Zum Abschwächen
der angedienten Aktionen; so viel Dr. Franz Thoren, Renningen (Bad.-Württ.) der Erderwärmung braucht es Schade, dass der SPIEGEL den
machen manche Despoten in schnelle strukturelle Lösungen Eindruck erweckt, der Bestseller­
einer Woche. Mir scheint es hier Endlich eine Stimme, die sich seitens der politisch Verantwort­ autor hätte eine besondere Kom­
eher so zu sein, dass die Jungs um wohlwollend vom Bashing gegen lichen und ein sofortiges verant­ petenz, die Arbeit von Lehrer­
Tal Hanan auf unserer Seite sind: die jungen Klimaaktivisten ab­ wortungsvolles Verhalten des kollegen zu bewerten, die weit
mal testen, wie weit Menschen zu hebt und deren Engagement Einzelnen, denn jeder verbrann­ mehr unterrichten und manche
gehen bereit sind, um ihre wertschätzt, anstatt sich an die te Energieträger verschärft die Dinge etwas genauer nehmen.
­Demokratie zu schützen. Dazu Stimmungsmache gegen diese Lage, und Strukturveränderun­ Interessant wäre es gewesen, bei
mussten sie natürlich »aufflie­ Generation zu kleben, die doch gen dauern leider. den Vorschlägen der Kultusminis­
gen«, um die Bedrohung glaub­ nur versucht, das zu reparieren, Michael Ruffert, Hamburg terkonferenz nachzuhaken. Was
haft dokumentieren zu können. was unsere Generation verbockt würde Herr Arenz tun, wenn man
Klaus Roemer, Zweibrücken (Rhld.-Pf.) hat, und das ohne Gewalt. Wie ihm Vollzeitunterricht verord­
allerdings ein »klimafreundliches KORREKTUR nete? Mit 40 Jahren Unterrichts-,
Die in der Recherche genannten Reisen« nach Thailand aussehen Zu »Schädel für den Staatsgrün­ Korrektur-, Verwaltungs- und
Ziele der Wahlbetrüger legen den soll, erscheint mir schleierhaft. der« in Heft 8/2023, Seite 36: Im Klassenfahrtenerfahrung gilt
Schluss nahe, dass ein Land wie Wolfgang Vieler, Darmstadt Text kann möglicherweise der ­meine Kritik der SPIEGEL -Re­
Deutschland mit einem funktio­ Eindruck entstehen, es handle daktion, die das Interview nicht
nierenden öffentlich-rechtlichen Die individuellen Einschränkun­ sich um 18 Menschenschädel, die angemessen einordnen kann.
Mediensystem und kritischen gen, die durch den Kampf gegen im Bismarck-Museum in Schön­ Matthias Walther, Münster
Zeitungen ein gutes Stück weit den Klimawandel notwendig hausen an der Elbe liegen und
gegen diese widerwärtigen Ma­ ­werden, werden wir so ertragen von den Erben Otto von Bis­ Der Überschrift stimme ich zu,
chenschaften gewappnet sein lernen müssen, wie wir sie bereits marcks nicht abgeholt werden. doch dann las ich »gut bezahlter
­sollte. Oder? bei den derzeitigen Gas- und Es handelt sich jedoch um Tier­ Job, der einem viel freie Zeit
Thomas Clemen, Norderstedt (Schl.-Holst.) Energie-Folgemaßnahmen hin­ schädel. lässt«. An welcher Märchen­

120 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


Berufsschule und im Abitur. Diese
50 Argumente Danke für das aus­ Ihr Nachruf auf Hans müssen erst erstellt werden, bevor
­unterschiedlicher gezeichnete und Modrow ist recht man sie korrigieren kann. Ich gön­
Menschen – klasse, wichtige Interview positiv ausgefallen, ne Herrn Arenz sein schönes Ober­
stufenlehrer-Dasein, aber es bildet
prima, eine gute mit Eva Illouz – gut was mich insofern in keinem Satz die Realität an den
journalistische Idee. gefragt und gut ge­ irritiert, als er ein verschiedenen Schularten ab.
Bei aller Aufregung: antwortet. Sehr gut. verurteilter Wahlfäl­ Karl-Heinz Richter, Villingendorf
Alle anderen Haupt­ Siegfried Ullmann, Alfter (NRW) scher war. In einer (Bad.-Württ.)

städte vergleichbarer Demokratie halte ich


Größe sind noch Wahlfälschung für Terminator des
erheblich schlimmer. eine so schwerwie­ Kahlschlags
Gut für uns, Berlin zu gende Straftat, dass
haben. das Weglassen ein zu Nr. 7/2023  SPIEGEL-Gespräch mit
­ ertelsmann-Chef Thomas Rabe über
B
Klaus Wellhardt, Essen positives Bild ergibt. den Kahlschlag bei Gruner + Jahr

Nr. 7/2023  SPIEGEL-Gespräch Rüdiger Mueller, Meckenheim


(NRW) War das Interview mit Herrn
Nr. 7/2023  Berlin – mit der Soziologin Eva Illouz
50 Argumente, die Hauptstadt über die neuen Fundamentalis- Rabe – der ein bisschen ja auch
zu lieben oder zu hassen ten an der Macht in Israel Nr. 8/2023  Nachrufe Ihr Chef ist – das Einzige, was
dem SPIEGEL zum Untergang
seines großen Nachbarn Gruner +
schule unterrichtet der Mann? Da zahlen muss. An diesen Schulen Rufschädigung dieses Berufsstan­ Jahr eingefallen ist? Und warum
wollte ich auch hin! Ach so, erfuhr ist man eben nicht um 13.00 Uhr des beiträgt. Der nicht weiter haben Sie sich nur im Ressort
ich beim Weiterlesen, nur 16 Un­ fertig. Mein Arbeitstag beginnt ­informierte Leser sagt sich: Da ist »Wirtschaft« um das Thema ge­
terrichtsstunden, zeitweise nur um 7.15 und endet nicht immer mal einer, der die Wahrheit spricht kümmert? Viel interessanter ist
14 Schüler. Die Wirklichkeit sieht um 17.00 Uhr, und Korrekturen – es ist wirklich nur ein Teilzeitjob! es gesellschaftspolitisch: Die Ber­
anders aus. In Berlin unterrichten erfolgen meist am ­Wochenende. Doch ein Gymnasiallehrer mit vol­ telsmänner zerpflügen mit Bull­
Lehrer 26 Stunden, das heißt, sie Martin Schlu, Bonn ler Stundenzahl (23 bis 26 Stun­ dozern unwiederbringliche jour­
sind Klassenleiter von mindestens den) hat eine vollwertige Arbeits­ nalistische Biotope, die man mit
zwei, manchmal drei Klassen. Ich bin seit 38 Jahren Lehrer an stelle. Es klingt überheblich, wenn gutem Willen, Fantasie, vor allem
Also haben sie mindestens 56 Gymnasien und kann dem Kolle­ Herr Arenz die Überforderung der aber mit gedrosselter Geldgier
Schüler zu betreuen. Dazu kom­ gen Arenz in allen Bereichen nur Kollegen ihrer Unorganisiertheit hätte erhalten können. Es ist
men zwei bis drei Sitzungen pro zustimmen. Die Ratschläge zur und nicht den großen Klassen und ­alarmierend, dass dem sich oft so
Woche – natürlich nach dem Behebung der Probleme des Leh­ aufwendiger Verwaltungsarbeit ­kritisch gebärdenden SPIEGEL
Unterricht. Die Anzahl der Klas­ rermangels scheinen mir jedoch zuschreibt. Als Funktionsträger nichts zu diesem spektakulären
senarbeiten ist vorgeschrieben. nicht von Fachleuten gemacht in Direktorenstellung mit nur Kulturverlust eingefallen ist. Sie
Dazu kommen Leistungskontrol­ worden zu sein, die den Alltag in 16 Stunden in der gymnasialen geben seitenlang dem Terminator
len und Laborberichte. Ich habe Lehrerkollegien kennen: Teilzeit Oberstufe und ohne die Arbeit des Kahlschlags Gelegenheit zur
einmal ausgerechnet, dass ich arbeiten in der Regel Lehrkräfte, mit zum Teil nervigen, erzie­ Selbstdarstellung. Die Besat­
27 Arbeitstage à 8 Stunden benö­ die in ihrer Familie Erziehungs- hungsunwilligen oder -unfähigen zungsmitglieder des zwangshava­
tige, wenn ich für deren Korrektur oder Pflegeaufgaben überneh­ Eltern und pubertierenden Kin­ rierten Dickschiffs G + J hingegen
10 Minuten ansetze. Pro Halbjahr! men. Eine Reduzierung der Teil­ dern der 8. und 9. Klassen kann kommen nicht zu Wort. Keine
Deutschlehrer brauchen zwei zeit führt nur zu einer Verschie­ man leicht solche Töne spucken. Silbe ist Ihnen der beherzte Rück­
Stunden für einen Schüleraufsatz. bung des Mangels in andere Felder Solidarität sieht anders aus! tritt der Chefredaktion von GEO
Die Herbst- und Winterferien sind gesellschaftlicher Arbeit, in denen Anne Chavez, Frankfurt am Main wert. Keine Zeile über die Folgen
also »Korrekturferien«. es auch schon Arbeitskräfteman­ für die große Zahl von Freien, die
Gabriele Herbach, Hoppegarten gel gibt. Die Verwaltungsarbeit zu Es ist schön, wie Herr Arenz sich ins Bodenlose fallen. Das ist ein­
(Brandenb.) reduzieren ist ein Tropfen auf den über seine gut bezahlten 16 Unter­ seitig, das ist unjournalistisch.
heißen Stein. Wichtiger wäre es, richtsstunden an einer gymnasia­ Das wäre Ihnen nicht passiert,
Ich kenne Ewald Arenz nicht als die Menge an Stoff deutlich zu re­ len Oberstufe freut, die ihm Zeit wenn Sie unabhängig von Ber­
Schriftsteller, aber das, was er als duzieren, sich zu fragen, was jun­ schenken für seinen zweiten Beruf telsmann wären. Ist das Thema
Lehrer von sich gibt, ist unsäg­ ge Menschen wirklich können und als Autor. Kolleginnen und Kolle­ für Sie mit dem Gespräch erle­
lich. Natürlich würde auch ich wissen müssen, und sich auf diese gen, die in den Burn-out geraten, digt? Oder machen Sie doch noch
gerne nur in der Oberstufe­ Kernkompetenzen und -inhalte zu stellt er als unorganisiert dar, weil einen beherzten Vorstoß und las­
mit den B ­ esten der Besten konzentrieren. sie nicht »schlampig« korrigieren sen sich von Bertelsmann erlau­
philosophisch-­literarische The­ Martin Wilms, Hamburg können. Englisch und Geschichte ben, die ganze traurige Geschich­
men erörtern, aber das ist leider zu unterrichten ist natürlich auch te darzulegen? Und vielleicht
nicht der Normalfall. Mein Nor­ Als Autor schätze ich Ewald etwas ganz anderes als beispiels­ traut sich jemand – nehmen Sie
malfall besteht im Alltag einer Arenz sehr. Im Interview zeigt er weise Technologie in IT-Berufen einen Freien! –, etwas Scharfzün­
Gesamtschule aus Kindern mit sich als kompetenter Lehrer und oder Mediengestalter an einer giges beizusteuern.
über 80 Prozent ­Migrationsanteil sympathischer Zeitgenosse, der Berufsschule, wo sich die Innova­ Jörgpeter von Clarenau, Hamburg
und Inklusionskindern, Eltern, die Schwierigkeiten mit seinen tionen im Halbjahresrhythmus
die ihre Kinder vernachlässigen, eigenen Kindern nicht beschö­ überholen. Dafür muss der Unter­
oder Kindern, die so arm sind, nigt. Allerdings erweist er seinen richt permanent aktualisiert wer­ Leserbriefe bitte an leserbriefe@spiegel.de
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
dass man ihnen das Material Lehrerkolleginnen und -kollegen den. Gleiches gilt für Klassen­ gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und
kaufen oder mal das Essen be­ einen Bärendienst, indem er zur arbeiten und Prüfungen an der unter SPIEGEL.de zu archivieren.

Nr. 9 / 25.2.2023 DER SPIEGEL 121


L E TZ T E S E I T E

Pfeffer in der Beuys-Akte HOHLSPIEGEL

Bekanntmachung in der »Süddeutschen Zeitung«:


ZEITREISE  Numerus clausus? Nicht mit Joseph Beuys: Wiederholt besetzte »Der Verein ›Bindung stärken‹ e. V. wurde
er mit Studenten das Sekretariat der Düsseldorfer Kunstakademie – und am 23.01.2023 aufgelöst.«
erstritt 1973 vor Gericht seine Rückkehr ins Professorenamt.
Nr. 9/1973:  »Pfeffer drin« Von Dewezet.de:

Die anderen Klassen der


Kunsthochschule hatten
um die 30 Schüler, doch

Bernd Müller / picture-alliance / dpa


Joseph Beuys hielt jeden
Die »Neu-Ulmer Zeitung« über den Fuchsbandwurm:
Numerus clausus für
zutiefst undemokratisch. »Hunde, die Herrchen oder Frauchen im
Zu seinen bereits knapp Wald frei laufen lassen, sind potenzielle
270 Studierenden wollte er gut 60 abgewie­ Überträger.«
sene Bewerber aufnehmen. Als seine Vor­
gesetzten das ablehnten, stürmte der Künst­ Beuys bei einer
Protestaktion Aus der »Siegener Zeitung«:
ler mit den Anwärtern das Sekretariat.
»Und wenn sie mit Panzern kommen«, soll »Insgesamt gibt es weltweit 199 Reise­
er gerufen haben, »ich bleibe.« ter, protestierte ebenfalls gegen die Entlas­ pässe.«
Bereits im Jahr zuvor hatte er das erfolg­ sung. Auch wenn er vielen Bürgern nur als
reich durchexerziert, schon öfter war er »Scharlatan« galt, war Beuys auch dank des
Von der Website eines Lunchbox-Herstellers:
angeeckt. Er habe »gleich den Pfeffer« in hohen Wiedererkennungsfaktors von Filz­
seiner Personalakte drin gehabt, klagte hut und Anglerweste eine Berühmtheit. »Das Essen kann somit unbeschwert ver­
Beuys später. Nach dem neuerlichen Eklat Die Kündigung wurde kurz darauf per zerrt werden.«
reichte es Wissenschaftsminister Johannes Gerichtsentscheid aufgehoben, ein jahre­
Rau: Er kündigte Beuys fristlos und ließ langer Rechtsstreit endete erst 1980 mit
Schild an einem Parkplatz in Leonberg (Bad.-Württ.):
ihn mitsamt Anhängerschaft von der Polizei einem Teilerfolg für Beuys: Er durfte bis
abführen. Panzer brauchte es nicht. zum Erreichen des Rentenalters sein Atelier
Manche von Beuys’ studentischen Fans in der Kunstakademie weiter nutzen.
traten in den Hungerstreik, andere insze­ Die Titelgeschichte der SPIEGEL -
nierten den Meister hinter Stacheldraht als Aus­gabe beschäftigte sich mit den Folgen
Opfer der Staatswillkür. Eine Reihe Promi­ der D-Mark-Aufwertung auf Preise und
nenter, von Heinrich Böll bis Gerhard Rich­ Löhne. Rainer Lübbert

Aus einem Wohnungsangebot in Esslingen auf Ebay-


Kleinanzeigen.de:

Hopfen und Gates


WHO, seine persönliche Urheberschaft des
Coronavirus, seine Unterjochung von »Das gesamte Grundstück des Gebäudes
­Milliarden Angestellten mit der Horrorsoft­ ist nahezu uneinsichtig, sodass ausreichend
ware Windows sowie seine Bestrebungen, genießt werden kann.«
SO GESEHEN  Die neue Teufelei
die Bevölkerung mit Handystrahlen und­/
des superreichen Impf-Satans oder verimpften Mikrochips zu kontrollie­ Der »Tagesspiegel« über die US-Republikanerin Nikki
ren, wurden von den Medien jahrelang als Haley:
Das Abendland ist dem Untergang einen krude Verschwörungstheorien abgetan.
weiteren Schritt näher gerückt: Was der Das ist nun nicht mehr möglich. Viren und »Allein mit ihrer Existenz erschüttert
»Große Bevölkerungsaustausch« durch die Strahlen schön und gut, aber wenn es ums sie das vorherrschende Bild der modernen
Regierung Merkel und ihre Flüchtlings­ Bier geht, lassen sich die Menschen nicht Frau, die überwiegend links wählt,
politik begonnen hat, soll der »Große Ge­ mehr einlullen. Jetzt müssen endlich kriti­ feministisch ist und für das Recht auf
tränkeaustausch« nun vollenden – offenbar sche Fragen gestellt werden. Abreibung eintritt.«
eine weitere Teufelei des für seine satani­ Wieso kauft sich einer, der nach eigenen
sche Weltherrschaft bekannten US-Milliar­ Angaben doch gar »kein großer Biertrin­
Verkehrsschild an einer Kreuzung in Berlin:
därs Bill Gates. ker« ist, bei einer Brauerei ein? Warum will
Diese Woche ist aufgeflogen, dass Gates Gates, der sich doch angeblich um die Ge­
ins Biergeschäft eingestiegen ist. Überein­ sundheit der Menschheit sorgt, nun ausge­
stimmenden Medienberichten zufolge hat rechnet am Alkoholkonsum verdienen?
er 10,8 Millionen Aktien der Hei­ Und überhaupt: Was will er uns da eigent­
neken-Brauerei erworben lich einflößen?
und dafür etwa 900 Millio­ Denn vielleicht ist alles noch mal anders.
nen Euro investiert. Vielleicht passt alles zusammen, vielleicht
Das kann kein Zufall sein. stecken Impf-Gates und diese saubere
Was hat er vor? Brauerei schon viel länger unter einer De­
Gates’ im cke, nur schämen sie sich jetzt nicht mehr,
Internet ausführ­ es zuzugeben. Anders ist es nicht zu erklä­
lich dokumentierte ren: Heineken schmeckte doch schon im­
Verwicklungen mit der mer wie wässrige Medizin. Stefan Kuzmany

122 DER SPIEGEL Nr. 9 / 25.2.2023


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